Musikfreunde | Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Mai/Juni 2017

Zu anderen Gipfeln

Lionel Bringuier

Lionel Bringuier, 31, der nun mit den Wiener Symphonikern im Musikverein debütiert, wurde schon als 28-Jährger Chef des Tonhalle-Orchesters Zürich. Die Schweiz wird er bald hinter sich lassen. Sein Weg führt zu anderen Gipfeln.

Es war ein Sieg der Jugend. Und ein Abschied von den alten, allerdings äußerst verdienten Männern. Zu Ende der Saison 2013/14 trat als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich zurück; neunzehn Jahre lang hatte er das Orchester geleitet, geprägt, geformt. Mit ihm zusammen zogen sich Elmar Weingarten als Intendant des Orchesters sowie der Präsident der Trägergesellschaft zurück. Die Trias hatte Bedeutendes geleistet und war in Ehren ergraut. Darum war da und dort ein Seufzer der Erleichterung zu vernehmen; die Zeichen standen klar auf Generationenwechsel. Als Präsident gewonnen wurde ein mit allen Wassern gewaschener, bestens vernetzter Vollblutpolitiker aus der Stadt Zürich. Und für die Nachfolge in der Intendanz war Ilona Schmiel geholt worden, die in ihren neun Jahren beim Beethovenfest Bonn ebenfalls manches in Bewegung gesetzt hatte. Von Paris nach Los Angeles Schwieriger gestaltete sich die Wahl eines neuen Chefdirigenten. Das Orchester hatte nach Verjüngung auch auf dem Dirigentenpodium gerufen – was verständlich war, hatten dort doch neben Zinman Großmeister wie Bernard Haitink, Herbert Blomstedt oder Kurt Sanderling den Ton angegeben. Der Blick des Wahlgremiums fiel daher auf Andrís Nelsons, der sich jedoch lange zierte und dann in letzter Minute der Umarmung entzog. So war guter Rat teuer. Just in diesem Augenblick fiel der Name von Lionel Bringuier, dem 1986 geborenen Franzosen, der zur Gruppe jener sehr jungen Dirigenten gehört, die in unseren Tagen so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Tatsächlich war Bringuier, als David Zinman in Zürich anfing, gerade einmal neun Jahre alt. Er ging zur Schule und besuchte das Konservatorium seiner Vaterstadt Nizza, in das er als Fünfjähriger eingetreten war.

Fleißig übte er sich auf dem Cello und am Klavier. Früh im Jahr 2000 konnte er sich dann im Conservatoire national supérieur de musique et de danse in Paris einschreiben; in der berühmten Hochschule widmete er sich neben dem Cello auch dem Dirigieren. Im Juni 2004 schloss er seine Studien ab, und schon machte er beim Ensemble Orchestral de Paris seine ersten Gehversuche als Dirigent. Im Herbst 2005, er stand damals kurz vor seinem neunzehnten Geburtstag, war ihm das Glück besonders hold: Beim Dirigentenwettbewerb im Besançon errang er den Grand Prix und auch gleich noch den Publikumspreis. Im Publikum anwesend war Ernest Fleischmann, seines Zeichens Intendant des . Er sprach eine Einladung nach Los Angeles aus, wo Bringuier bei einem Vordirigieren 2006 seine 150 Konkurrenten hinter sich ließ und im Jahr darauf die Position als Assistenzdirigent antrat. Kurznachrichten aus dem Orchester Chefdirigent war damals kein Geringerer als Esa-Pekka Salonen, und mit seinen 21 Jahren war Bringuier der jünste Dirigent, der je vor dem Los Angeles Philharmonic gestanden ist. Auf Salonen folgte 2009 . Bringuier blieb und machte Assistentenkarriere; erst wurde er Associate Conductor, schließlich Resident Conductor. Daneben arbeitete er als Chefdirigent mit dem Orquesta Sinfónica de Castilla y León im nordspanischen Valladolid, dies in den Jahren 2009 bis 2012. Nicht zu vergessen schließlich die Gastauftritte, zum Beispiel einen von Ende November 2011 beim Tonhalle-Orchester Zürich. Wer auf dem Laufenden war, der wusste, dass sich das Orchester einen jungen Chef wünschte. Dass die Musiker der Intendanz nach jenem Konzert in einer dichten Reihe von Kurznachrichten mitteilten, der und kein anderer solle es sein – das wurde dann ein Jahr später bekannt. Als verkündet wurde, dass Lionel Bringuier im Herbst 2014 die Nachfolge David Zinmans als Chefdirigent des Tonhalle- Orchesters Zürich antreten werde. Glamouröser Amtsantritt

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Das Wohlwollen war umfassend. Auf Anhieb erschien Lionel, wie er bald genannt wurde, als ein ungemein sympathischer, wenn auch etwas scheuer junger Mann. Dass er abgesehen von einigen Begrüßungsworten kein

Deutsch sprach, schuf kein Problem; immerhin drückte er sich auf Französisch aus, in einer Schweizer Landessprache. Und dass er in seinen Aussagen unverbindlich blieb, war leicht zurückzuführen auf das jugendliche Alter und die Situation eines künstlerisch Verantwortlichen, der noch wenig Vorstellungen davon hatte, wohin die Reise gehen sollte. Allerdings wurden schon damals auch Fragen laut. Ob Lionel Bringuier in seinem Alter von 28 Jahren wirklich der Richtige sei, das unter Zinman selbstbewusst gewordene Orchester zu steuern?

Der Amtsantritt war glamourös. Die große Gesellschaft hatte sich versammelt, Gustavo Dudamel war eigens angereist, ebenso der Architekt Frank Gehry, der den neuen Konzertsaal in Los Angeles, die Walt Disney Hall, entworfen hat, und natürlich Esa-Pekka Salonen, der als Dirigent und Komponist in einer Person erstmals auf dem für Zürich neu geschaffenen „Creative Chair“ Platz nahm. „Karawane“ hieß das Stück Salonens für Chor und Orchester, das sein Schüler Lionel Bringuier im Eröffnungskonzert der neuen Ära aus der Taufe hob. In Erinnerung blieb auch das atemberaubende Kleid der Pianistin , die ihren Einstieg als Artist in Residence gab, und eine etwas zu knallig geratene „Symphonie fantastique“. Man schrieb die Lautstärke der noch geringen Vertrautheit des Dirigenten mit dem Saal zu … Getrennte Wege Inzwischen sind zwei Spielzeiten vergangen – und ist alles in Brüche gegangen. Mitten im Sommer 2016 wurde bekannt, dass der auf vier Jahre geschlossene Vertrag mit Lionel Bringuier nicht verlängert werde, sondern zum Ende der Saison 2017/18 auslaufe. Die Musiker und ihr junger, so sehr erwünschter Chefdirigent – sie konnten zueinander nicht kommen. In der Öffentlichkeit wiederum stieß auf Unverständnis, dass sich im Vorfeld einer Volksabstimmung von Mitte Juni 2016, in der es um ein ebenso wertvolles wie kostspieliges Bauprojekt rund um den Zürcher Konzertsaal ging, der Chefdirigent kein einziges Mal um Zustimmung zu dem Vorhaben warb. Für das Orchester, das den Bau wünschte, ist die Abstimmung gut ausgegangen. Sozusagen objektiv Vielleicht ist es aber auch so, dass die coole Art Lionel Bringuiers, Musik in Klang bringen zu lassen, in Zürich noch nicht greifen konnte – das verdeutlicht auch die CD-Edition mit der Orchestermusik Maurice Ravels, die er mit dem Zürcher Orchester herausgebracht hat. Bringuier scheint eher zur Tradition der „exécution“ zu neigen, deren bedeutendster Vertreter im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert Pierre Boulez war. Anders als die „interprétation“, die offen zu den subjektiven Momenten bei der klanglichen Verwirklichung eines Notentextes steht, glaubt die in der Neuen Sachlichkeit der zwanziger Jahre verwurzelte „exécution“ an die Möglichkeit, ein Stück Musik sozusagen objektiv, ohne persönliche Beigaben des Interpreten in Klang bringen zu können. Indessen braucht es für eine „exécution“, die ebenso anzieht wie eine „interprétation“, ein Maß an Charisma, das Lionel Bringuier in der Schweiz noch nicht voll entfalten konnte. Sein Weg geht weiter. Die Begabung ist da, eine jugendliche Ausstrahlung, die ihm gewiss noch lange erhalten bleiben wird, und eine gewinnende Art. Damit wird Bringuier nach dem gewiss schmerzlichen Lehrstück, das mit seinen Anfängen verbunden ist, seine Laufbahn erfolgreich weiterverfolgen können.

Peter Hagmann Peter Hagmann, promovierter Musikhistoriker und diplomierter Organist, ist seit 1972 als Musikkritiker tätig. Nach Anfängen in Basel kam er 1986 zur „Neuen Zürcher Zeitung“, in deren Feuilleton er zwischen 1989 und 2015 als Redakteur tätig war. Unter dem Titel „Mittwochs um zwölf“ betreibt er auf www.peterhagmann.comeinen Blog für klassische Musik.

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