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Sendung vom 11.12.2006, 20.15 Uhr

Dr. Erhard Eppler Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-forum. Unser heutiger Gast ist Dr. Erhard Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit in den Jahren 1968 bis 1974. Damit hat Dr. Eppler unter drei Bundeskanzlern agiert: in der großen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger, in der ersten sozial-liberalen Koalition unter und dann, wenigstens für kurze Zeit, auch unter . Als Vor-, Quer- und Nachdenker apostrophiert, war Erhard Eppler fast lückenlos Mitglied des SPD-Präsidiums in den Jahren 1973 bis 1989 und Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission von 1975 bis 1992. Ich freue mich, dass er heute hier ist: Ganz herzlich willkommen, Herr Dr. Eppler. "Politik ist die angewandte Liebe zur Welt, jedenfalls zu den Menschen." Dieses Zitat wird der Philosophin Hannah Arendt zugeschrieben. Sie haben ja nun sehr lange Politik gemacht, Sie haben sie geprägt im Parlament und außerhalb des Parlaments: Würden Sie denn sagen, Hannah Arendt hat recht? Oder hat sich die Politik seitdem doch ein bisschen gewandelt? Eppler: Ich glaube, dass es nie ganz so war, wie Hannah Arendt das formuliert hat. Aber es ist in der Tat sehr schwer, Politik zu machen, wenn man die Menschen nicht mag, denn dann kommt etwas Zynisches dabei heraus und jedenfalls nichts Gutes. Reuß: "Politik ist Kampf um Macht, aber eben auch wertendes Streiten und streitendes Werten darüber, wie wir leben und wie wir dezidiert nicht leben wollen." Dieses Satz stammt von Ihnen. Würden Sie sagen, dass er heute noch gültig ist? Eppler: Ja, das ist heute noch gültig. Aber ich möchte doch eine kleine Nuance anbringen. Vor etwa 30 Jahren haben wir in der Politik wirklich die Frage gestellt: "Wie wollen wir leben?" Heute stelle ich fest, dass die Frage meistens lautet, "Wie müssen wir leben?", um uns in der globalisierten Ökonomie behaupten zu können, um die Klimakatastrophe zu vermeiden usw. Hier hat sich also eine gewisse Akzentverschiebung ergeben. Reuß: Sie haben einmal gesagt, die Politikverdrossenheit sei eigentlich gar keine Politikverdrossenheit, denn die Leute seien nach wie vor an Politik interessiert. Es gäbe eher einen Verdruss darüber, dass Politik nicht mehr stattfinde. Was findet denn stattdessen statt? Eppler: Na ja, das ist vielleicht doch eine etwas scharfe Formulierung. Ich würde das heute jedenfalls so ausdrücken wollen: Die Menschen spüren, dass die Politiker nicht so mächtig sind, wie sie tun, und dass sie vieles gar nicht entscheiden können. Wenn z. B. ein internationaler Konzern, der eine ordentliche Rendite hat, dennoch einige Tausend Leute entlässt, dann können weder der Kanzler oder die Kanzlerin noch der Wirtschaftsminister irgendetwas dagegen tun. Die Menschen spüren, dass der Staat in gewissem Sinne sogar erpressbar geworden ist. Da wird von der Seite der Konzerne z. B. gesagt: "Wenn ihr die Unternehmenssteuern nicht deutlich senkt, dann machen wir eben mit unseren Investitionen einen weiten Bogen um euer Land herum und ziehen möglicherweise auch das noch ab, was wir bereits investiert haben." Wie gesagt, die Möglichkeiten, Politik zu machen, sind heute jedenfalls im Nationalstaat wesentlich geringer als zu der Zeit, als ich Mitglied der Regierung gewesen bin. Reuß: Sie haben einmal den Schweizer Humanisten Jacob Christoph Burckhardt zitiert, der meinte, dass Macht an sich böse sei, weil sie eine Gier sei: unendlich, unerfüllbar und daher notwendig destruktiv. Sie selbst haben einmal Macht definiert als die Fähigkeit, Menschen zu einem bestimmen Verhalten zu veranlassen. An anderer Stelle haben Sie gesagt: "Als politischer Mensch hat mich Macht immer fasziniert." Worin besteht die Faszination der Macht? Eppler: Die Faszination besteht einfach darin, dass man etwas bewirken kann, was man ohne Macht nicht könnte. Im Übrigen habe ich Burckhardt nie zugestimmt. Burckhardt hat dann Recht, wenn die Macht nur noch um der Macht willen erstrebt oder behauptet wird. Er hat dort nicht Recht, wo die Macht erstrebt wird, um bestimmte Dinge für die Menschen zu bewirken. Insofern hat er also nicht Recht. Reuß: Auf Sie geht die schöne Unterscheidung zwischen Strukturkonservatismus und Wertkonservatismus zurück. Sind Sie selbst ein Wertkonservativer? Und wenn ja, welche Werte gilt es Ihrer Ansicht nach zu bewahren? Eppler: Diese Unterscheidung habe ich vor 31 Jahren gemacht, und zwar im Zusammenhang mit der aufkommenden Ökologiediskussion. Ich habe damals als einen dieser Werte z. B. die unzerstörte Natur gesehen. Aber natürlich gibt es auch Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit usw. Ich meine in der Tat, dass es ganz verschiedene Arten von Konservativen gibt. Es gibt Konservative, denen geht es vor allem darum, bestimmte Machtverhältnisse zu bewahren. Diese Menschen nenne ich die Strukturkonservativen. Ich hätte sie auch Machtkonservative nennen können. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die geradezu revolutionär werden müssen, um bestimmte Werte bewahren zu können. Ich habe das damals exemplifiziert an dem Streit über die Autobahn, die den Hochschwarzwald überqueren sollte. Damals haben die Bergbauern im Schwarzwald rebelliert, aber auch die Jusos in Freiburg. Beide wollten sie diese herrliche Natur nicht zerstört wissen. Es gibt also auch eine gewisse Art von revolutionärem Wertkonservatismus. Reuß: Von dem französischen Moralisten Joseph Joubert stammt der schöne Satz: "Politik ist die Kunst, die Menge zu leiten - nicht wohin sie gehen will, sondern wohin sie gehen soll." Kann man das heute in der Mediendemokratie, die doch sehr häufig populistisch ist und vielleicht sogar sein muss, auch noch so sehen? Wie weit reicht heute die Führungspflicht und die Führungsmöglichkeit der Politik? Eppler: Sie haben sicherlich recht: Heute ist Politik häufig die Kunst herauszufinden, was die Menschen gerne haben wollen – und dieses dann zu tun. Aber wenn ich z. B. an das denke, was im Zentrum meiner politischen Existenz lag, nämlich an die Ostpolitik von Willy Brandt, dann sieht das anders aus. Als Willy Brandt damit anfing, wollten die meisten Menschen in Deutschland dies nicht. Als er es durchgesetzt hatte, wollten es dann auch die meisten Menschen bei uns im Lande so. Das heißt, sie haben ihm dann bei der nächsten Wahl erneut eine Mehrheit gegeben. Aber dazwischen musste er doch seine politische Existenz aufs Spiel setzen, um das durchzusetzen. Er hat also tatsächlich, und das war auch bei Adenauer in ähnlicher Weise so gewesen, die Menschen dorthin geführt, wohin sie ursprünglich nicht wollten. Reuß: "Es stimmt nicht, dass sich in der Politik von Hause aus ein besonders windiger Menschentyp tummelt. Aber es stimmt, dass Menschen in der Politik noch rascher und gründlicher deformiert werden als anderswo, und zwar um so heilloser, je weniger sie dessen gewahr werden." Auch dieser Satz stammt von Ihnen. Worin besteht denn die Gefahr der Deformation in der Politik? Sind das die Insignien der Macht? Ist es das ständige Tummeln in der Öffentlichkeit? Woran liegt das? Eppler: Ich muss vielleicht noch etwas anderes vorausschicken. Ich habe später einmal gesagt, ich unterscheide eigentlich nur noch zwei Sorten von Politikern: die einen, die in diesem Geschäft nur deformiert werden oder überwiegend deformiert werden, und die anderen, die in diesem schrecklichen Geschäft trotz allem reifer werden. Reuß: Wenn Sie das quantifizieren sollten, wie groß ist der Anteil der einen und der anderen? Eppler: Drei zu eins. Aufgrund meiner doch recht engen Verbundenheit mit Willy Brandt würde ich ihn zu der zweiten Kategorie rechnen. Ich habe Willy Brandt, als er 50 Jahre alt war, nicht besonders geschätzt. Ich war ihm gegenüber sehr kritisch. Als er 75 Jahre alt war, habe ich ihn verehrt. Das heißt, da ist in diesem Geschäft eine erstaunliche Reifung, auch menschliche Reifung geschehen, die ich, wie gesagt, bei vielen anderen, auch anderen Kanzlern, so nie empfunden habe. Nun aber zu Ihrer Frage, woher diese Deformierung eigentlich kommt. Diese Deformierung kommt zunächst einmal von etwas ganz Praktischem, nämlich vom Terminkalender. Ein führender Politiker macht ja seinen Terminkalender nicht selbst, sondern das macht ihm irgendeine Mitarbeiterin. Und dann wird gewissermaßen manipuliert: Morgens um 8.30 Uhr hat er den ersten Termin – und dann geht das durch bis abends um 23.00 Uhr. Da gibt es zwischendrin überhaupt keine Zeit zum Nachdenken, zum Überlegen: "Was machst du da eigentlich? Muss das sein?" Die Hektik des politischen Betriebs ist also schon mal ein Grund. Dann gibt es daneben eben auch noch diesen Zwang zum Kampf. Wer eine Machtposition hat, muss sie zuerst einmal erkämpft haben. Dann muss er sie permanent verteidigen. Das führt häufig dazu, dass letztlich die Frage, wozu man denn diese Macht eigentlich verwenden möchte, ganz in den Hintergrund tritt und die Macht nur noch um der Macht willen erkämpft oder verteidigt wird. Da beginnt meiner Überzeugung nach die Deformation. Wenn man das mal einige Jahre lang so gemacht hat, dann leidet die Humanität. Reuß: Waren Sie selbst auch in dieser Gefahr? Eppler: Ich glaube, in der zuerst genannten Gefahr war ich in der Tat. Die Hektik des Betriebs drohte mich aufzusaugen. Man nimmt dann so manche menschliche Rücksicht einfach nicht mehr. Man kümmert sich z. B. um die eigenen Mitarbeiter und deren Probleme überhaupt nicht mehr. In dieser Gefahr stand ich durchaus. In der zweiten Gefahr, dass ich die Macht nur noch um der Macht willen erstrebt hätte, war ich, wie ich glaube, nie. Als ich nämlich nicht mehr das tun konnte, was ich in der Regierung tun wollte – in der Regierung Schmidt –, bin ich eben gegangen. Reuß: Wenn man als politischer Beobachter Politikern zuhört, dann hat man oft den Eindruck: "Ja, was der erzählt, das kann ich nachvollziehen, das ist richtig." Dann hört man einem anderen Politiker zu, der das genaue Gegenteil erzählt, das jedoch auch in sich schlüssig und plausibel klingt. Gibt es Ihrer Ansicht nach überhaupt Wahrheit – ich meine nicht Wahrhaftigkeit – in der Politik? Oder ist Wahrheit, wie der Volksmund sagt, nur der Name, den wir unseren wechselnden Irrtümern geben? Eppler: Ich behaupte ja, dass Politik überhaupt nicht zuständig ist für Wahrheit. Wahrheit kann man nämlich nicht beschließen. Was die historische Wahrheit, was die philosophische Wahrheit, was die religiöse Wahrheit ist, ist der Politik und übrigens auch dem Staat entzogen. Jeder Staat, der Wahrheit dekretieren will, wird totalitär, wird unmenschlich. Aber der Tatbestand, dass die Politik für Wahrheit nicht zuständig ist, dispensiert die Politiker nicht von der Notwendigkeit der Wahrhaftigkeit. Dies ist aber etwas ganz anderes. Ich behaupte, dass in der Politik sehr viel weniger gelogen wird, als manche behaupten. Stattdessen findet in der Politik Folgendes statt: Jeder stellt den Aspekt der Wirklichkeit dar, der seinen Zielen entgegenkommt. Das heißt, ich hatte in meiner ganzen politischen Arbeit eigentlich nie das Gefühl, dass ich die Menschen belogen hätte, dass ich also bewusst etwas gesagt hätte, was ich selbst nicht glaube. Aber ich habe auch nie die Behauptung aufgestellt, dass ich den Menschen permanent die ganze Wahrheit sage, denn das konnte ich nicht – und nebenbei gesagt, das wollte ich auch nicht. Wenn ich z. B. als Entwicklungsminister dafür geworben habe, dass wir mehr tun müssen für Afrika – mit der Begründung, dass wir, wenn wir das nicht tun, in 20, 30 Jahren unglaubliche Migrantenströme bekommen werden, Migrantenströme, wie wir sie heute ja in der Tat haben –, dann habe ich natürlich gleichzeitig nicht auch noch gesagt, wie viele Schwierigkeiten es gibt, die richtige Entwicklungspolitik zu machen und wie oft dabei etwas schief geht usw. Das heißt, ich habe einen Aspekt der Wirklichkeit dargestellt, der meinen Zielen entsprach – und habe es natürlich anderen überlassen, den anderen Aspekt darzustellen. Nehmen Sie als anderes Beispiel eine Tarifverhandlung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dort ist es doch selbstverständlich, dass die Gewerkschaften alle Argumente vorbringen, die für eine Lohnerhöhung sprechen, und die Unternehmer alle Argumente, die dagegen sprechen. Keiner lügt, aber keiner hat die ganze Wahrheit. Reuß: Ich würde hier gerne eine kleine Zäsur machen; wir werden gleich noch einmal zur Politik zurückkommen. Ich möchte unseren Zuschauern jetzt gerne den Menschen Erhard Eppler näher vorstellen. Sie sind am 9. Dezember 1926 in Ulm geboren und sind dann im baden- württembergischen Schwäbisch-Hall aufgewachsen. Das ist eine Stadt, die heute so um die 35000 Einwohner hat. Sie waren das vierte von sieben Kindern. Wie sind Sie aufgewachsen? Ihr Vater war Lehrer und später Oberstudiendirektor; er sei streng, aber korrekt gewesen, so kann man lesen. Wie war Ihre frühe Kindheit, wie war Ihre Familie? Eppler: Ich wohne ja jetzt wieder in meinem Elternhaus und bin dadurch auf Schritt und Tritt mit meiner Kindheit konfrontiert. Ich glaube, das war eine glückliche Kindheit, und zwar einfach deshalb, weil wir so viele Kinder waren. Ich bin wohl weniger von meinen Eltern erzogen worden als von meinen größeren Geschwistern. Wenn eine Mutter sieben Kinder hat, dann kann sie einfach nicht auf alles aufpassen. Sie hat uns auch viel Freiheit gewährt und der Vater war meistens ohnehin nicht da. Wenn es sieben Kinder in einer Familie gibt, dann ergibt das natürlich eine unglaublich große Anzahl von Beziehungen untereinander: Diese vielen Beziehungen haben mich eigentlich geprägt. Ich kann daher Kinder, die alleine aufwachsen müssen, eigentlich nur bedauern. Reuß: Ich mache gleich einen großen Sprung: Sie haben 1946 Abitur gemacht und anschließend in Frankfurt, Bern und Tübingen Englisch, Deutsch und Geschichte studiert. In Bern begegneten Sie dann erstmals , dem späteren Bundesinnenminister, der dann aber 1950 wegen der Wiederbewaffnung als Innenminister zurückgetreten ist. Sie haben Heinemann einmal als Ihre politische Leitfigur bezeichnet. Was hat Sie an diesem Mann so fasziniert, dass Sie später gemeinsam mit ihm, Jürgen Schmude und Johannes Rau die Gesamtdeutsche Volkspartei mitbegründet haben? Eppler: Ich muss vielleicht noch hinzufügen, dass ich bereits 1943 ein Notabitur bekommen habe, als ich Flakhelfer geworden bin. Danach kam ich zum Arbeitsdienst und dann auch noch zu den Panzerjägern. Später, nach zwei Jahren in Uniform, saß ich dann wieder in der Schulbank und habe das Abitur nachgemacht. Ich sage das deshalb, weil ich ja zu der Generation gehöre, die den Nationalsozialismus noch sehr bewusst miterlebt hat. Ich war natürlich auch selbst in der HJ usw. Was mich an Gustav Heinemann damals, als er 1948 in der Heiliggeistkirche in Bern einen Vortrag hielt, so fasziniert hat, war seine ungeheure Gewissenhaftigkeit und Nüchternheit. Ich war ja dieses schauerliche Pathos der NS-Größen, dieses Geschrei, dieses Gebrüll usw. gewöhnt. Und da stand nun einer in dieser Kirche und redete ganz ruhig. Jeder Satz stimmte. Er verströmte auch nicht diese damals übliche Wehleidigkeit. Er kam aus Essen, war damals ja auch Oberbürgermeister von Essen und hat nicht darüber gejammert, dass alles kaputt ist. Stattdessen hat er erzählt, wie man jetzt wieder alles aufbaut, wie sich die Demokratie im Ruhrgebiet entfaltet usw. Das war einfach eine völlig andere Geisteshaltung: Da ist mir sozusagen diese Alternative namens Demokratie in Gestalt einer Person erschienen. Reuß: Sie haben 1956 die Gesamtdeutsche Volkspartei wieder verlassen und sind in die SPD eingetreten. Wenn man als Außenstehender Ihren Werdegang betrachtet - liberales Elternhaus, auch den Ideen Friedrich Naumanns verhaftet, bekennender Christ, der seinen Glauben auch lebt – dann kann man ja auf die Idee kommen zu sagen: Möglicherweise hätte Erhard Eppler auch in die CDU oder in die FDP eintreten können. Warum sind Sie gerade zur SPD gegangen? Eppler: Es ist schon so, dass ich mir unmittelbar nach dem Krieg sogar überlegt habe, ob ich nicht zur CDU gehe, und zwar unter dem Einfluss eines Mannes, dem ich bis zum heutigen Tage dankbar bin. Das war Gerhard Storz, der spätere Kultusminister in Stuttgart. Er gehörte zu den drei Autoren des "Wörterbuchs des Unmenschen", dieser sehr berühmten Artikelserie, die unmittelbar nach dem Krieg von Wilhelm E. Süßkind, Dolf Sternberger und eben Gerhard Storz geschrieben wurde. In den fünfziger Jahren gab es diese Artikelserie dann als Buch unter dem Titel "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen". Storz war jedenfalls an dieser Artikelserie über die Sprache des Nationalsozialismus beteiligt: Ein beträchtlicher Teil der Artikel stammte von ihm. Er hat mich damals sozusagen mit einbezogen in dieses Nachdenken über die Sprache und das hat mich bis zum heutigen Tag geprägt. Ich habe durch ihn ein sehr viel besseres Verhältnis zur Sprache bekommen, als ich das durch irgendeinen Universitätsprofessor bekommen hätte. Storz hat damals in Schwäbisch- Hall die CDU gegründet – und da war ich wirklich nahe dran zu sagen, "Ich helfe dir!". Aber ich habe das dann nicht getan und ich bin mir auch ganz sicher, dass ich spätestens mit Heinemann ohnehin wieder ausgetreten wäre aus der CDU. Reuß: Sie haben dann 1951 promoviert und waren anschließend als Gymnasiallehrer tätig bis zur Ihrer Wahl in den im Jahr 1961. Das war damals eine recht spannende Wahl, denn die CDU/CSU hat ihre absolute Mehrheit, die sie 1957 gewonnen hatte, wieder verloren. Die SPD hingegen hat bei dieser Wahl so um die fünf Prozent hinzugewonnen. Diese Wahl stand sicherlich noch unter dem Eindruck des Baus der Berliner Mauer, der ja unmittelbar davor geschehen war. Wie war denn die politische Stimmung damals im Jahr 1961? Eppler: Ich habe damals im Nordschwarzwald kandidiert und dieser war ja nun nicht gerade typisch für das ganze Deutschland, aber wenn ich mich richtig erinnere, dann war es wohl so, dass die Menschen das Gefühl hatten, Adenauers sei jetzt wohl bald zu Ende. Adenauer war damals bereits 85 Jahre alt und deshalb hat ja auch die FDP so viele Stimmen bekommen, weil sie nämlich gesagt hatte: "Wir wollen zwar noch einmal in die Regierung mit der Union, aber nicht mehr mit Adenauer!" Das hat die FDP nach der Wahl jedoch nicht durchgehalten. Wie war die Stimmung? Nun, auch der Bau der Mauer hat bei vielen Menschen in unserem Land den Eindruck erweckt, dass da etwas zu Ende gegangen ist und dass man hier nun neu nachdenken müsse. Genau das ist dann ja in Berlin im Umfeld von Willy Brandt geschehen. Reuß: Als Sie damals in den Bundestag gekommen sind, war das ja eine ziemlich bewegte Zeit. Zwei Jahre später musste Adenauer dann doch abtreten und wurde Kanzler. 1965 wurde Ludwig Erhard in der Bundestagswahl auch noch einmal bestätigt. Ein Jahr später brach dann aber die Koalition zwischen der Union und der FDP wegen Haushaltsfragen auseinander und es kam zur ersten Großen Koalition. Hat sich damit für Sie die Arbeit als Bundestagsabgeordneter geändert, weil Sie ja plötzlich Mitglied der Regierungsfraktion waren? Wird man da anders wahrgenommen? Eppler: Es hat sich da schon einiges verändert. Als Oppositionsabgeordneter muss man ja eigentlich nur sagen, was falsch ist. Als Regierungsabgeordneter hingegen muss man dann auch mal sagen, was richtig ist. Damals gab es ja diese sehr große Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze. Obwohl ich als relativ links galt, habe ich nie verstanden, warum man gegen diese Notstandsgesetze sein konnte. Denn es ging dabei ja darum, die alliierten Vorbehaltsrechte abzulösen. Wenn man das nämlich damals nicht gemacht hätte, dann hätten wir nach der Wiedervereinigung 1990 zuerst einmal Notstandsgesetze machen müssen – was natürlich schauerlich gewesen wäre. Ich habe damals jedenfalls für die Notstandsgesetze gestimmt und hatte von daher keine grundsätzlichen Schwierigkeiten mit der Großen Koalition. Mir wäre aber schon damals eine kleine Koalition mit der FDP lieber gewesen, was ja zumindest theoretisch möglich gewesen wäre. Schließlich bin ich dann ja sogar als Minister in dieser Großen Koalition gelandet und fand sie eigentlich im Hinblick auf das menschliche Klima im Kabinett usw. durchaus angenehm. Reuß: Sie waren ab 1968 für die Entwicklungshilfe zuständig. War das damals noch stärker als heute Teil der Außenpolitik? Stand die Entwicklungshilfe damals noch, wenn ich das so provokant sagen darf, unter dem Diktat der Hallstein-Doktrin, also unter dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung für das gesamte deutsche Volk? Wurde damals also Entwicklungshilfe nach Willfährigkeit vergeben, nach dem Motto, "Wer die DDR anerkennt, bekommt keine Entwicklungshilfe von uns!"? Eppler: Dagegen habe ich natürlich mit mehr oder minder großem Erfolg von Anfang an angekämpft. Es war ja so: 1961 war dieses Ministerium gegründet worden, weil Adenauer einen Posten für brauchte – nicht deswegen, weil er besonders viel für die Entwicklungshilfe übrig gehabt hätte. Damals bekamen zunächst einmal diejenigen Länder Entwicklungshilfe, von denen man ganz sicher wusste, sie werden die DDR nicht anerkennen. Das waren schon ziemlich viele Länder. Dann bekamen diejenigen Länder etwas, bei denen man Angst hatte, sie könnten die DDR anerkennen. Da waren es dann noch viel mehr Länder. Das heißt, die deutsche Entwicklungshilfe wurde sehr, sehr zerstreut und war nicht konzentriert. Es ist übrigens bis zum heutigen Tag eine Schwierigkeit, das zu konzentrieren. Ich habe damals in der Tat auch gegenüber meinem Parteivorsitzenden und damaligen Außenminister Brandt darauf gepocht, dass die Entwicklungshilfe nach eigenen Kriterien vergeben wird. Ein solches eigenes Kriterium war z. B. die Frage, was ein Land denn mit der Entwicklungshilfe anstellt: Gibt es dort eine Verwaltung, mit der man wirklich arbeiten kann? Das hat sich dann aber alles erst durchgesetzt, als die Ostpolitik erfolgreich war. Reuß: Sie sind auch unter Kanzler Willy Brandt Entwicklungshilfeminister geblieben. Nachdem Brandt im Mai 1974 zurückgetreten und Helmut Schmidt Bundeskanzler geworden war, waren Sie nur noch wenige Wochen im Amt. Es gab wohl hauptsächlich Differenzen über den Haushalt Ihres Ministeriums. Man hat aber, wenn man das alles so nachliest, schon den Eindruck, dass es da nicht nur um Haushaltsfragen ging. Sie haben später einmal gesagt: "Der Anlass, nämlich die Haushaltskürzung, wäre für mich heute kein Grund mehr zum Rücktritt." War Ihr Rücktritt aus Ihrer Sicht dennoch nötig, weil es vielleicht auch um ein unterschiedliches Politikverständnis zwischen Helmut Schmidt und Ihnen ging? Eppler: Ich habe diesen Rücktritt nie bereut – obwohl ich damals sehr wohl befürchtete, ich würde ihn eines Tages bereuen. Nein, ich habe ihn nie bereut. Sie haben ganz recht, denn auf der einen Seite war es so: Ich war Chef eines doch relativ kleinen und nicht sehr mächtigen Ressorts und umgeben von drei Ressorts, die sehr mächtig waren, nämlich dem Außenministerium, dem Finanzministerium und dem Wirtschaftsministerium. Wenn man da beim Kanzler nicht einen gewissen Rückhalt hat, dann wird man erdrückt: Man zieht dann bei allen Konflikten den Kürzeren. Das war bei Brandt nicht so gewesen. Willy Brandt hatte sich zwar nicht mit großem Elan für die Entwicklungshilfe eingesetzt, aber ich konnte im Konfliktfall doch immer damit rechnen, dass Brandt nicht einfach auf die andere Seite fällt. Bei Schmidt war das leider umgekehrt, vor allem auch bei all den Leuten, die bei ihm im Kanzleramt saßen, bei Manfred Schüler und wie sie alle hießen. Ich hatte daher das Gefühl, dass ich da nicht mehr hinpassen würde. Ich will jetzt aber nicht im Einzelnen erläutern, warum das so war. Vor allem hatte ich jedoch das Gefühl: "Du wirst das, was du dir vorgenommen hast in der Sache, in dieser Regierung nicht machen können!" Und Minister zu sein, nur um Minister zu sein? Das wollte ich nicht und so bin ich nach sieben Wochen gegangen, habe also meinen Rücktritt erklärt. Dies hätte übrigens mein Verhältnis zu Helmut Schmidt nicht belastet, denn wenn ein Minister und ein Kanzler nicht einig sind, dann muss einfach der Minister gehen, denn der Kanzler kann da ja nicht gehen, das ist klar. Dies habe ich also durchaus eingesehen. Aber dass Schmidt dann nachher der Presse erklärt hat, "Jetzt habe ich ihn rausgeworfen", das hat mich verletzt, das war nicht anständig von ihm. Reuß: Haben Sie sich denn später mit Helmut Schmidt darüber irgendwie verständigen können? Haben Sie sich, wenn schon nicht ausgesöhnt, denn das wäre hier wohl wirklich ein zu großes Wort, so doch zumindest ausgesprochen mit Schmidt? Eppler: Nein, darüber haben wir uns eigentlich nie ausgesprochen. Wir hatten dann ein doch relativ normales Verhältnis – obwohl in den Büchern von Helmut Schmidt mehr Schlimmes über mich steht als in meinen über ihn. Ich hatte jedenfalls immer großen Respekt vor ihm und seine Begabungen auf den verschiedensten Gebieten habe ich immer anerkannt. Aber wir hatten in der Tat ein unterschiedliches Politikverständnis. Die Schwierigkeiten zwischen Schmidt und mir gerade in diesem Kontext kamen daher, dass er unsere Differenzen in die Weber'schen Kategorien von Gesinnungs- und Verantwortungsethik gebracht hat. Dies war nach meiner Überzeugung aber völlig schief. Es ging nämlich nur darum, dass ich meine Verantwortung anders definierte: räumlich weiter, nämlich bis in die Entwicklungsländer, und zeitlich weiter, wie z. B. in Fragen der Ökologie und der Frage, was mit unseren Kindern und Enkeln wird, wenn wir so weitermachen. Damit war natürlich das Gespräch zwischen uns beiden fast nicht mehr möglich, weil er einfach in anderen Kategorien dachte als ich. Reuß: Kann das alles nicht auch mit einem unterschiedlichen Verständnis von Macht zusammenhängen? Ist Helmut Schmidt vielleicht doch mehr ein Machtpolitiker gewesen? Von Carl Friedrich von Weizsäcker gibt es ja den schönen Satz: "Wie kann ein Politiker das langfristig Notwendige tun, wenn es kurzfristig den Wahlerfolg bedroht?" Ist es nicht ein Problem, das eine parlamentarische Demokratie grundsätzlich hat, dass langfristig angelegte Themen, deren Lösung kurzfristig vielleicht sogar Nachteile mit sich bringt, nur sehr schwer durchzusetzen sind? Eppler: Ja, aber ich glaube nicht, dass da der entscheidende Unterschied zwischen Helmut Schmidt und mir lag. Ich habe diese Schwierigkeit ja sehr wohl gesehen und auch die daraus resultierenden taktischen Notwendigkeiten. Ich glaube in der Tat, dass ich eben z. B. die Ökologie für etwas Wichtiges hielt und er nicht. Ich hielt das Thema der Dritten Welt für etwas ganz Wichtiges und er nicht. Das hatte mit unserem Machtverständnis eigentlich nur wenig zu tun. Reuß: Sie waren von 1973 an Landesvorsitzender der SPD in Baden- Württemberg. 1976 waren Sie dann auch Spitzenkandidat bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Bei dieser Wahl konnte jedoch die CDU ihre absolute Mehrheit noch einmal ausbauen, sie legte nämlich von 52 auf 57 Prozent zu. Jetzt wage ich mich mal ein bisschen weit vor und hoffe, Ihnen dabei nicht zu nahe zu treten: Ich habe den Eindruck, dass Ihnen ein Auftritt in einem Bierzelt keinen besonderen Genuss verschafft. Es gibt andere Politiker, denen ich das ebenfalls unterstellen würde wie z. B. Günter Verheugen oder dem vor einem Jahr verstorbenen oder vielleicht auch Richard von Weizsäcker. Sie haben einmal gesagt: "Man darf fragen, ob die Gaben, die heute nötig sind, um Bundeskanzler zu werden, dieselben sind, die man braucht, um Bundeskanzler zu sein." Das gilt möglicherweise nicht nur für das Amt des Bundeskanzlers, sondern auch noch für etliche andere Ämter. Ist es also so, dass Kandidaten heute stärker im Hinblick auf Medientauglichkeit, auf Öffentlichkeitswirksamkeit ausgesucht werden, und vielleicht sogar ausgesucht werden müssen? Eppler: Na ja, das stimmt wohl schon. Aber meine Partei wäre ja glücklich, wenn sie noch einmal die Wahlergebnisse hätte, die ich damals trotz allem eingefahren habe. Viel schwieriger war für mich 1976 und 1980 die Tatsache, dass ich Spitzenkandidat in Baden-Württemberg war und jeder wusste, dass ich im Konflikt mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler lag. Es gab in diesem Zusammenhang übrigens eine interessante Erfahrung. Helmut Schmidt und ich traten 1980 nur in zwei Wahlkreisen gemeinsam bei einer Wahlveranstaltung zu den Landtagswahlen auf: Genau dort waren dann eben auch die Wahlergebnisse wesentlich besser als anderswo. Reuß: Sie haben sich in Ihrer Partei sehr früh für die Ökologie eingesetzt und sich damals, wie Sie bereits erzählten, u. a. gegen den Bau von Autobahnen durch Naturschutzgebiete gewandt. Dennoch ist gerade in Baden- Württemberg der Nukleus der Grünen Partei entstanden. Wäre es zu scharf formuliert, wenn man sagen würde, dass Sie so eine Art von ungewolltem Wegbereiter der Grünen waren? Eppler: Das kann man so und so sehen. Meine Überzeugung war jedenfalls, dass das Thema "Ökologie" bis ins 21. Jahrhundert hinein ein ganz entscheidendes politisches Thema sein wird. Gerade in letzter Zeit begreifen wir ja, dass es so ist, wenn man sich z. B. das Stichwort "Klimawandel" vor Augen führt. Ich wollte, eben weil das für mich ein entscheidendes Thema war, dass eine der beiden großen Parteien dies aufnimmt, und da ich nun einmal Sozialdemokrat war, wollte ich das natürlich in der SPD machen. Das hat die baden-württembergische SPD im Großen und Ganzen auch zu etwa drei Vierteln mitgemacht. Es gab nur ungefähr ein Viertel, das herumgestänkert hat, wenn ich das mal so salopp sagen darf. Aber die Integration dieser Themen in unsere Partei ist in Baden-Württemberg doch im Großen und Ganzen gelungen. Die Schwierigkeit war aber die, dass jedermann wusste, dass Helmut Schmidt als Kanzler von all dem nichts hielt. Und deshalb ist ganz einfach die Grüne Partei entstanden: zuerst einmal nämlich überwiegend aus vergrätzten Sozialdemokraten, also aus Leuten, die das eigentlich zusammen mit mir hätten machen wollen. In Schleswig-Holstein war die Situation eine ähnliche. Diese Leute merkten also, dass sie sich innerhalb der SPD nicht durchsetzen konnten, denn die entscheidenden Impulse kamen nun einmal aus Bonn, also von Helmut Schmidt. So ist dann gerade in Baden- Württemberg eine beträchtliche Grüne Partei entstanden. Ich entsinne mich noch sehr genau, dass ich weder vorher noch nachher so viel Post bekommen habe wie nach der Landtagswahl 1980, nach der ich ja als Fraktionsvorsitzender zurückgetreten bin. Das waren alles Leute, die mir geschrieben haben: "Wir wussten, dass wir im Herbst SPD wählen müssen gegen Strauß" – Strauß war damals nämlich bereits Kanzlerkandidat der Union – "und deshalb haben wir jetzt einmal Grün gewählt. Aber wir wollten damit natürlich nicht dir persönlich was antun." Nun gut, aber so war es eben. Man könnte also genauso gut sagen, dass Helmut Schmidt der "Vater" der Grünen als Partei gewesen ist, wie man das von mir sagen kann. Denn dass dieses Thema wichtig wurde, das war ja nicht mein Verdienst, sondern das war einfach ein Tatbestand. Reuß: Mit Blick auf die Zeit muss ich jetzt einige Themen überspringen. Ich wäre z. B. gerne noch auf die Friedensbewegung zu sprechen gekommen. Aber ein anderes Thema scheint mir doch noch bedeutsamer zu sein und das würde ich nun gerne ansprechen. Sie haben nämlich am 17. Juni 1989 zum Tag der Deutschen Einheit im Deutschen Bundestag eine sehr bedeutende Rede gehalten. Sie wollten, wie Sie selbst sagten, die deutschlandpolitischen Kontroversen abbauen und im Bundestag eine gemeinsame Deutschlandpolitik ermöglichen. Sie haben dabei natürlich noch nicht wissen können, dass der Fall der Mauer dann doch so schnell kommen wird. Das wusste damals nämlich noch niemand. Dennoch klangen Ihre Worte in dieser Rede fast schon ein bisschen prophetisch, denn Sie sagten: "Wir haben bisher nicht präzise sagen können, was in Deutschland geschehen soll, wenn der Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrostet." War Ihnen denn der Grad der Fragilität der DDR damals schon bewusst? Eppler: Ja. Das kam daher, dass ich damals vielleicht – so seltsam das auch klingen mag – der einzige Politiker in der Bundesrepublik gewesen bin, der Kontakt zu allen relevanten Strömungen in der DDR hatte. Ich hatte erstens Kontakt zur SED durch die Gespräche, die wir damals von Seiten der SPD- Grundwertekommission mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED führten. Ich hatte zum anderen Kontakte zur Kirche in der DDR, u. a. auch aufgrund der Kirchentage. Denn ich war ja z. B. in Erfurt, in Halle usw. immer wieder auf den Kirchentagen in der DDR gewesen. Reuß: Sie waren zweimal Kirchentagspräsident, wie man an dieser Stelle vielleicht sagen sollte. Eppler: Und ich hatte drittens Kontakt mit der tatsächlichen Opposition in der DDR, also mit Leuten wie Schorlemmer und seiner Gruppe. Von daher hatte ich insgesamt mehr Einblick in die DDR als die meisten anderen. Als ich den Auftrag bekam, zum 17. Juni 1989 vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen, war ich zuerst einmal sehr unsicher darüber, was ich da sagen sollte. Ich bin dann zunächst einmal spazieren gegangen und dabei ist mir klar geworden, dass das alles ja ziemlich dramatisch werden wird. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass die SED die letzte Chance, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, verpasst hatte. Das hing mit unserem Papier zusammen, das wir gemeinsam mit den Vertretern der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR geschrieben hatten und das dann aber von Kurt Hager ganz schnell wieder zurückgepfiffen wurde. Reuß: Sie meinen das Grundsatzpapier. Eppler: Ja, ich meine dieses damals entstandene Dialogpapier zwischen SPD und SED. Ich war 1989 allerdings der Meinung, dass es noch ungefähr zwei Jahre dauern würde, bis die DDR zusammenkracht. Das ging dann aber, wie wir heute wissen, doch schneller. Aber ich war vielleicht der Erste, der überhaupt über den Zusammenbruch der DDR öffentlich nachdachte. Letztlich hing das natürlich schon auch alles mit meiner "Nase" zusammen, mit meinem Gespür: Ich konnte das alles nicht beweisen, aber ich war dann eben keineswegs überrascht, als das alles noch ein bisschen schneller ging. Reuß: Sie sind, wie gesagt, bekennender Christ, Sie waren zweimal Kirchentagspräsident, obwohl Sie Ihren Glauben nie als Monstranz vor sich hergetragen haben. Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube? Welche Bedeutung hatte er für Ihre Politik? Eppler: Er hat mir vielleicht am meisten geholfen in der Zeit, als ich nichts bewegen konnte – außer den Fäusten, die auf mir herumtrommelten. Da war es schon ganz wichtig zu wissen, dass das letzte Urteil nicht von der "Bild- Zeitung" und auch nicht von Parteifreunden oder Parteigegnern gefällt wird. Darüber hinaus war es so: Ich hatte zwar das Gefühl, dass ich sehr wohl etwas tun müsste, aber ich hatte dabei nie die Vorstellung, dass ich nun die Welt retten müsse – denn das liegt ja nun doch in anderen Händen. Das gibt einem dann doch eine gewisse Gelassenheit. Reuß: Ein schönes Schlusswort. Ich darf mich bei Ihnen, Herr Dr. Eppler, ganz herzlich bedanken für dieses interessante und freimütige Gespräch. Ich möchte gerne, wenn Sie erlauben, mit einem Zitat über Sie enden. Es stammt von dem Politologen Kurt Sontheimer, der einmal über Sie schrieb: "Der politische Lebenslauf Erhard Epplers gehört in die Geschichte der Bundesrepublik. Er repräsentiert eine andere, etwas abgewandte Seite dieser Geschichte, die nur am Rande zum Zuge kam, die aber gleichwohl daran erinnert, dass das Verlangen nach dem Besseren, Menschlicheren und Wahrhaftigeren in der Geschichte der Bundesrepublik seinen berechtigten Platz findet." Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Dr. Eppler. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-forum, heute mit Dr. Erhard Eppler, dem ehemaligen Bundesminister und SPD-Vordenker. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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