Plenarprotokoll 15/175

Deutscher

Stenografischer Bericht

175. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Inhalt:

Begrüßung des ehemaligen Botschafters des 2004 über eine Verfassung für Staates Israel in Deutschland, Herrn Schimon Europa Stein ...... 16437 A (Drucksachen 15/4900, 15/4939, 15/5491) ...... 16347 D Glückwunsch zum Geburtstag des Abgeord- neten ...... 16345 C – Zweite und dritte Beratung des von Begrüßung der neuen AbgeordnetenCarl den Abgeordneten Michael Roth (He- Eduard von Bismarck, Roland Dieckmann ringen), Günter Gloser, Dr. Angelica und Hans Forster ...... 16345 C Schwall-Düren, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der SPD sowie Wahl der AbgeordnetenDoris Barnett als den Abgeordneten Rainder stellvertretendes Mitglied in der Parlamentari- Steenblock, (Köln), schen Versammlung des Europarates ...... 16345 D Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten nung ...... 16345 D Entwurfs eines Gesetzes über die Absetzung der Tagesordnungspunkte 24 und 26 16347 B Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 16347 B Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Drucksachen 15/4925, 15/5492) . . . . 16347 D Tagesordnungspunkt 3: – Zweite und dritte Beratung des von Eidesleistung des Wehrbeauftragten den Abgeordneten , Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Gerd Präsident ...... 16345 A Müller, weiteren Abgeordneten und Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des der Fraktion der CDU/CSU einge- Deutschen Bundestages ...... 16345 B brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Ange- Tagesordnungspunkt 4: legenheiten der Europäischen Union (Drucksachen 15/4716, 15/5492) . . . . 16348 A a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Ratifizierung der c) Beschlussempfehlung und Bericht des europäischen Verfassung: Für ein starkes Ausschusses für die Angelegenheiten der und soziales Europa ...... 16347 C Europäischen Union b) – Zweite Beratung und Schlussabstim- – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD mung des von der Bundesregierung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- eingebrachten Entwurfs einesGeset- NEN: Stärkung der Rolle des Deut- zes zu dem Vertrag vom 29. Oktober schen Bundestages bei der Beglei- II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. , Donnerstag, den 12. Mai 2005

tung, Mitgestaltung und Kontrolle rechtsänderungsgesetzes – §§ 232 a, 233 c europäischer Gesetzgebung StGB (… StrÄndG) (Drucksache 15/5326) ...... 16387 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, (CDU/CSU) ...... 16387 B Dr. , Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter Erika Simm (SPD) ...... 16390 A und der Fraktion der FDP:Für mehr Jörg van Essen (FDP) ...... 16391 B Mitsprache des Deutschen Bundes- tages bei der Rechtsetzung der Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Europäischen Union nach In-Kraft- DIE GRÜNEN) ...... 16392 B Treten des Verfassungsvertrags Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär (Drucksachen 15/4936, 15/4937, 15/5492) 16348 A BMJ ...... 16394 A Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 16348 C Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 16395 C Dr. (CDU/CSU) ...... 16351 C Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 16397 B Franz Müntefering (SPD) ...... 16355 C Dr. (FDP) ...... 16359 A Tagesordnungspunkt 30: Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 16361 A a) Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident der deutschen Beteiligung an der inter- (Bayern) ...... 16363 C nationalen Sicherheitspräsenz im Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Kosovo zur Gewährleistung eines siche- DIE GRÜNEN) ...... 16347 B ren Umfeldes für die Flüchtlingsrück- kehr und zur militärischen Absiche- Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident rung der Friedensregelung für das (Bayern) ...... 16367 D Kosovo auf der Grundlage der Resolu- Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 16368 B tion 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) ...... 16371 A 1999 und des Militärisch-Technischen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Abkommens zwischen der internationa- (FDP) ...... 16371 D len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Ju- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ goslawien und der Republik Serbien DIE GRÜNEN) ...... 16372 D (jetzt: Serbien und Montenegro) vom Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 16374 D 9. Juni 1999 (Drucksache 15/5428) ...... 16399 A (SPD) ...... 16375 D b) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer Peter Hintze (CDU/CSU) ...... 16377 B (Hamburg), , Dr. Klaus (fraktionslos) ...... 16380 A W. Lippold (Offenbach), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 16380 D Bürgernähe durch Vereinfachung des Dr. (CDU/CSU) Kfz-Zulassungsverfahrens (Erklärung nach § 31 GO) ...... 16382 B (Drucksache 15/4505) ...... 16399 B (Emstek) (CDU/CSU) c) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Erklärung nach § 31 GO) ...... 16383 A (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Namentliche Abstimmung ...... 16384 A Bereitstellung von Informationen über Allgemeine Betriebserlaubnisse (ABE) Ergebnis ...... 16383 D und EG-Typgenehmigungen auch für nationale und internationale Behörden (Drucksache 15/4930) ...... 16399 B Tagesordnungspunkt 5:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 2: Ute Granold, Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen), Dr. Jürgen Gehb, weiteren a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE CSU eingebrachten Entwurfs eines … Straf- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 III

Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung den gegenseitigen Schutz von Kapi- des Umsatzsteuergesetzes talanlagen (Drucksache 15/5444) ...... 16399 C (Drucksachen 15/4978, 15/5362) . . . . 16400 D b) Antrag der Abgeordneten Christa – Zweite Beratung und Schlussabstim- Reichard (), Dr. Christian Ruck, mung des von der Bundesregierung , weiterer Abgeordneter und eingebrachten Entwurfs einesGeset- der Fraktion der CDU/CSU:Trinkwas- zes zu dem Vertrag vom 28. März sermanagement in Entwicklungs- und 2000 zwischen der Bundesrepublik Schwellenländern durch die verstärkte Deutschland und der Bundesrepu- Einbeziehung der Privatwirtschaft ver- blik Nigeria über die Förderung und bessern den gegenseitigen Schutz von Kapi- (Drucksache 15/5451) ...... 16399 C talanlagen (Drucksachen 15/4980, 15/5362) . . . . 16401 A c) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Ge- – Zweite Beratung und Schlussabstim- meinsame Position der Europäischen mung des von der Bundesregierung Union zum Waffenembargo gegenüber eingebrachten Entwurfs einesGeset- der Volksrepublik China zes zu dem Vertrag vom 17. Oktober (Drucksache 15/5467) ...... 16399 C 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Guatemala über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- Tagesordnungspunkt 31: talanlagen (Drucksachen 15/4981, 15/5362) . . . . 16401 A a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs – Zweite Beratung und Schlussabstim- eines Gesetzes zur Novellierung des mung des von der Bundesregierung Verwaltungszustellungsrechts eingebrachten Entwurfs einesGeset- (Drucksachen 15/5216, 15/5475) ...... 16399 D zes zu dem Vertrag vom 30. Oktober 2003 zwischen der Bundesrepublik b) Zweite und dritte Beratung des von der Deutschland und der Republik Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Angola über die Förderung und den eines Gesetzes zur Durchführung der gegenseitigen Schutz von Kapitalan- Verordnung (EG) Nr. 805/2004 über lagen einen Europäischen Vollstreckungstitel (Drucksachen 15/4982, 15/5362) . . . . 16401 A für unbestrittene Forderungen (EG- Vollstreckungstitel-Durchführungsge- – Zweite Beratung und Schlussabstim- setz) mung des von der Bundesregierung (Drucksachen 15/5222, 15/5482) ...... 16400 A eingebrachten Entwurfs einesGeset- zes zu dem Abkommen vom 1. De- c) Zweite und dritte Beratung des von der zember 2003 zwischen der Bundes- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs republik Deutschland und der eines Gesetzes zur Umsetzung der Volksrepublik China über die För- Richtlinie 2003/105/EG des Europäi- derung und den gegenseitigen schen Parlaments und des Rates vom Schutz von Kapitalanlagen 16. Dezember 2003 zur Änderung der (Drucksachen 15/4983, 15/5362) . . . . 16401 B Richtlinie 96/82/EG des Rates zur Be- herrschung der Gefahren bei schweren – Zweite Beratung und Schlussabstim- Unfällen mit gefährlichen Stoffen mung des von der Bundesregierung (Drucksachen 15/5220, 15/5443) ...... 16400 B eingebrachten Entwurfs einesGeset- zes zu dem Vertrag vom 19. Januar d) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- 2004 zwischen der Bundesrepublik desrat eingebrachten Entwurfs einesGe- Deutschland und der Demokrati- setzes zur Änderung des Hochbaustatis- schen Bundesrepublik Äthiopien tikgesetzes über die Förderung und den gegen- (Drucksachen 15/4738, 15/5241) ...... 16400 D seitigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksachen 15/4984, 15/5362) . . . . 16401 B e) – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung f) Beschlussempfehlung und Bericht des eingebrachten Entwurfs einesGeset- Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- zes zu dem Vertrag vom 28. August nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- 1997 zwischen der Bundesrepublik neten , Dirk Fischer (Ham- Deutschland und der Kirgisischen burg), Eduard Oswald, weiterer Republik über die Förderung und Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

CSU: LKW-Sonntagsfahrverbot in Bundesregierung: Verordnung zur Ände- Deutschland beibehalten rung der Verordnung über genehmi- (Drucksachen 15/1876, 15/2374) ...... 16401 C gungsbedürftige Anlagen und zur Än- derung der Anlage 1 des Gesetzes über g) Beschlussempfehlung und Bericht des die Umweltverträglichkeitsprüfung Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- (Drucksachen 15/5218, 15/5288 Nr. 2.1, nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- 15/5483) ...... 16403 A neten (Bayreuth), , Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zusatztagesordnungspunkt 14: der FDP: Gesamtverkehrskonzept Süd- baden – Bündelung von Schiene und a) Beschlussempfehlung des Ausschusses Straße im Rheingraben nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermitt- (Drucksachen 15/2470, 15/4015) ...... 16401 D lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Ein- führung einer Strategischen Umwelt- h) Beschlussempfehlung und Bericht des prüfung und zur Umsetzung der Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Richtlinie 2001/42/EG (SUPG) nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- (Drucksachen 15/3441, 15/4119, 15/4236, neten , Dirk Fischer 15/4501, 15/4540, 15/4922, 15/5479) . . . (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Ab- 16403 C geordneter und der Fraktion der CDU/ b) Beschlussempfehlung des Ausschusses CSU: Führerscheinbürokratie verhin- nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermitt- dern – Führerscheintourismus beenden lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Um- (Drucksachen 15/3716, 15/4484) ...... 16401 D setzung von Vorschlägen zu Bürokratie- i)–m) abbau und Deregulierung aus den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Regionen schusses: Sammelübersichten 201, 202, (Drucksachen 15/4231, 15/4673, 15/4938, 203, 204 und 205 zu Petitionen 15/5178, 15/5480) ...... 16403 C (Drucksachen 15/5349, 15/5350, 15/5351, 15/5352, 15/5353) ...... 16402 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Zusatztagesordnungspunkt 3: der SPD: Kritik des FDP-Vorsitzenden an a) – Zweite Beratung und Schlussabstim- Gewerkschaftsfunktionären in Deutsch- mung des von der Bundesregierung land eingebrachten Entwurfs einesGeset- (SPD) ...... 16404 A zes zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Karl-Josef Laumann (CDU/CSU) ...... 16405 C Strafsachen zwischen den Mitglied- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ staaten der Europäischen Union DIE GRÜNEN) ...... 16406 D (Drucksachen 15/4233, 15/5487) . . . . 16402 C Dr. (FDP) ...... 16408 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung BMWA ...... 16409 B des Übereinkommens vom 29. Mai Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 16411 A 2000 über die Rechtshilfe in Strafsa- chen zwischen den Mitgliedstaaten Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . 16412 B der Europäischen Union (FDP) ...... 16413 B (Drucksachen 15/4232, 15/5487) . . . . 16402 C (SPD) ...... 16414 D – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung (CDU/CSU) ...... 16416 A eingebrachten Entwurfs einesGeset- zes zu dem Protokoll vom 16. Okto- (SPD) ...... 16416 D ber 2001 zu dem Übereinkommen Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . 16418 A über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Dr. (SPD) ...... 16419 B Europäischen Union (Drucksachen 15/4230, 15/5487) . . . . 16402 D Tagesordnungspunkt 6: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bericht der Bundesregierung über die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 V

Lage behinderter Menschen und die (CDU/CSU) ...... 16432 C Entwicklung ihrer Teilhabe (Drucksache 15/4575) ...... 16420 C Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundes- regierung für die Belange behinderter b) Antrag der Abgeordneten Antje Menschen ...... 16434 B Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas (fraktionslos) ...... 16436 B Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am öf- fentlichen Leben konsequent sichern Tagesordnungspunkt 7: (Drucksache 15/4927) ...... 16420 D Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN c) Antrag der Abgeordneten Antje und der FDP: 40 Jahre diplomatische Bezie- Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas hungen zwischen der Bundesrepublik Storm, weiterer Abgeordneter und der Deutschland und Israel – Im Wissen um Fraktion der CDU/CSU: Sexuelle Über- die Vergangenheit die Zukunft gestalten griffe gegen Menschen mit Behinderung (Drucksache 15/5464) ...... 16437 A wirksam unterbinden und Hilfsange- bote für Betroffene verbessern (Wiesloch) (Drucksache 15/4928) ...... 16421 A (SPD) ...... 16437 A Hermann Gröhe (CDU/CSU) ...... 16438 C in Verbindung mit (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 16439 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Dirk Niebel (FDP) ...... 16441 B Antrag der Fraktionen der SPD und des Dietmar Nietan (SPD) ...... 16442 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Er- Hildegard Müller (CDU/CSU) ...... 16443 D folge in der Politik für behinderte Men- schen nutzen – Teilhabe und Selbstbestim- Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU) ...... 16445 A mung weiter stärken (Drucksache 15/5463) ...... 16421 A Tagesordnungspunkt 8: in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Urteils des Zusatztagesordnungspunkt 6: Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische Wohnraumüberwachung) Antrag der Abgeordneten (Müns- (Drucksachen 15/4533, 15/5486) ...... 16446 A ter), Dr. , Rainer Brüderle, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: , Bundesministerin BMJ . . . . 16446 B Diskriminierung von Menschen mit Behin- Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 16447 D derung beim Fahrkarten- und Ticketkauf verhindern – Teilhabe ermöglichen Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/5460) ...... 16421 B DIE GRÜNEN) ...... 16449 D Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär (FDP) ...... 16451 B BMGS ...... 16421 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 16423 A DIE GRÜNEN) ...... 16452 D Horst Schmidbauer (Nürnberg) Rainer Funke (FDP) ...... 16452 D (SPD) ...... 16424 B Hermann Bachmaier (SPD) ...... 16453 A Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 16455 A DIE GRÜNEN) ...... 16426 C Joachim Stünker (SPD) ...... 16456 C (CDU/CSU) ...... 16427 B Petra Pau (fraktionslos) ...... 16457 A Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 16428 A Frank Hofmann (Volkach) Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 16429 B (SPD) ...... 16458 A Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 16430 D (CDU/CSU) ...... 16459 A VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Tagesordnungspunkt 9: Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Erste Beratung des von den Abgeordneten (Heilbronn), Bernhard Kaster, Rainer Funke, Hans-Joachim Otto (Frank- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der furt), Daniel Bahr (Münster), weiteren Abge- CDU/CSU: Die Zukunfts- und Wettbe- ordneten und der Fraktion der FDP einge- werbsfähigkeit der Großstädte in Deutsch- brachten Entwurfs einesGesetzes zur land sichern Änderung des Parteiengesetzes (Drucksache 15/5332) ...... 16460 D (Drucksache 15/3097) ...... 16475 D Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 16461 A Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 16475 D Marga Elser (SPD) ...... 16462 B (SPD) ...... 16477 A Peter Götz (CDU/CSU) ...... 16463 A Dorothee Mantel (CDU/CSU) ...... 16478 A Gisela Piltz (FDP) ...... 16464 D (BÜNDNIS 90/ Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16480 C DIE GRÜNEN) ...... 16465 C Inge Wettig-Danielmeier (SPD) ...... 16482 A Marie-Luise Dött (CDU/CSU) ...... 16467 A Jörg Tauss (SPD) ...... 16482 D

Tagesordnungspunkt 10: Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- a) Antrag der Abgeordneten , Jörg sen Tauss, (Starnberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe sowie der Abgeordneten , Beckmeyer, Reinhold Robbe, Gerd Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, weite- Andres, weiterer Abgeordneter und der rer Abgeordneter und der Fraktion des Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Ko- Rainder Steenblock, Michaele Hustedt, operation von Bund und Ländern in Albert Schmidt (Ingolstadt), weiterer Ab- der Hochschulpolitik verstärken – Um- geordneter und der Fraktion des BÜND- setzung des Bologna-Prozesses in NISSES 90/DIE GRÜNEN: Maritimen Deutschland beschleunigen Standort Deutschland stärken – Inno- (Drucksache 15/5465) ...... 16484 B vationskraft nutzen b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: – zu dem Antrag der Abgeordneten Bericht zur Realisierung der Ziele des Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Bologna-Prozesses Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, wei- (Drucksache 15/5286) ...... 16484 B terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: „Meer für morgen“ – Im- pulse für die maritime Verbundwirt- in Verbindung mit schaft – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Michael Goldmann, Horst Friedrich (Bay- Zusatztagesordnungspunkt 7: reuth), Jürgen Koppelin, weiterer Abge- Antrag der Abgeordneten Marion Seib, ordneter und der Fraktion der FDP:See- , , weiterer schifffahrt und Küstenschutz in Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Deutschland stärken CSU: Reibungslose Umsetzung der Ziele (Drucksachen 15/4862, 15/5099, 15/4847, des Bologna-Prozesses in Deutschland ge- 15/5417) ...... 16468 A währleisten – Länderkompetenzen beach- ten Annette Faße (SPD) ...... 16468 C (Drucksache 15/5449) ...... 16484 C Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 16469 C BMBF ...... 16484 C Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Thomas Rachel (CDU/CSU) ...... 16485 D DIE GRÜNEN) ...... 16471 D Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE Eberhard Otto (Godern) (FDP) ...... 16473 A GRÜNEN) ...... 16487 B (SPD) ...... 16473 D (FDP) ...... 16488 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 VII

Dr. (SPD) ...... 16489 B spruchs- und Anwartschaftsüberführungs- gesetzes Marion Seib (CDU/CSU) ...... 16490 C (Drucksachen 15/5314, 15/5488) ...... 16494 A Petra Pau (fraktionslos) ...... 16494 A Tagesordnungspunkt 13:

Antrag der Abgeordneten , Tagesordnungspunkt 19: Peter H. Carstensen (Nordstrand), , weiterer Abgeordneter und der Frak- Antrag der Abgeordneten Dr. Conny Mayer tion der CDU/CSU:Ländliche Räume (Freiburg), Dr. Christian Ruck, Annette durch eine moderne und innovative Land- Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und wirtschaft stärken und damit Arbeitsplätze der Fraktion der CDU/CSU: Frauen in den sichern Krisenregionen Subsahara-Afrikas stärken (Drucksache 15/5249) ...... 16492 B (Drucksache 15/4390) ...... 16495 A

Tagesordnungspunkt 14: Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung nes Gesetzes zur Änderung des Absatz- und Landwirtschaft fondsgesetzes und des Holzabsatzfondsge- – zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele setzes Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta (Drucksachen 15/4641, 15/5468) ...... 16492 C Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ordneten , Volker Beck Tagesordnungspunkt 15: (Köln), Ulrike Höfken, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion des BÜNDNIS- Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, SES 90/DIE GRÜNEN: Wälder natur- Dr. , Dr. Klaus W. Lippold nah bewirtschaften – Waldschäden (Offenbach), weiterer Abgeordneter und der vermindern – Gemeinwohlfunktionen Fraktion der CDU/CSU: Langfristiges Ge- sichern und Holzabsatz steigern samtkonzept zur Reduzierung der Schad- stoffbelastung in der Luft notwendig –zudem Entschließungsantrag der Abge- (Drucksache 15/5330) ...... 16492 D ordneten Cajus Julius Caesar, Peter H. Carstensen (Nordstrand), Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zu der Unter- Tagesordnungspunkt 16: richtung durch die Bundesregierung: Waldzustandsbericht 2004 – Ergebnisse Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines des forstlichen Umweltmonitorings – Gesetzes zur Errichtung einer „Bundesstif- – zu dem Antrag der Abgeordneten tung Baukultur“ Dr. Christel Happach-Kasan, Hans- (Drucksachen 15/4998 (neu), 15/5485, 15/5490) 16493 B Michael Goldmann, Daniel Bahr (Müns- ter), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Bessere Rahmenbedingun- gen für die Charta für Holz Tagesordnungspunkt 17: – zu der Unterrichtung durch die Bundes- Antrag der Abgeordneten Dr. Michael regierung: Waldzustandsbericht 2004 Meister, Heinz Seiffert, Stefan Müller (Erlan- – Ergebnisse des forstlichen Umwelt- gen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion monitorings – der CDU/CSU: Einführung von Real Estate Investment Trusts in Deutschland (Drucksachen 15/4516, 15/4502, 15/4431, (Drucksache 15/4929) ...... 16493 D 15/4500, 15/5356) ...... 16495 B

Tagesordnungspunkt 18: Tagesordnungspunkt 21: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Unterrichtung durch die Bundesregierung: tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Bericht der Bundesregierung über die For- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines schungsergebnisse in Bezug auf Emissions- Ersten Gesetzes zur Änderung des An- minderungsmöglichkeiten der gesamten VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Mobilfunktechnologie und in Bezug auf ge- Lensing, Hermann Gröhe, Katherina Reiche, sundheitliche Auswirkungen Jochen Borchert, , Leo (Drucksache 15/4604) ...... 16496 A Dautzenberg, Vera Dominke, Ingrid Fischbach, Klaus-Peter Flosbach, Jürgen Klimke, Julia Klöckner, Dr. Hermann Kues, Dr. Günter Krings, Bernward Müller (Gera), Tagesordnungspunkt 22: Hildegard Müller, Werner Wittlich und Cajus Erste Beratung des von der Bundesregierung Julius Caesar (alle CDU/CSU) zur namentli- eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- chen Abstimmung über den Entwurf eines zes zur Änderung des Allgemeinen Eisen- Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober bahngesetzes 2004 über eine Verfassung für Europa (Tages- (Drucksache 15/5408) ...... 16496 B ordnungspunkt 4 b) ...... 16497 D

Tagesordnungspunkt 23: Anlage 4 Antrag der Abgeordneten , Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Marlene Mortler, Ursula Heinen, weiterer Ab- Klaus-Peter Willsch und Axel E. Fischer geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: (Karlsruhe-Land) (beide CDU/CSU) zur na- Mehr Verbraucherschutz durch eindeuti- mentlichen Abstimmung über den Entwurf ei- gere Kennzeichnung und sendungsbezo- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober gene Rückstandsuntersuchungen von Ge- 2004 über eine Verfassung für Europa (Tages- flügelfleischimporten in die EU aus ordnungspunkt 4 b) ...... 16498 B Drittländern (Drucksache 15/5247) ...... 16496 C Anlage 5 Nächste Sitzung ...... 16496 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Gerd Müller, Doris Meyer (Tapfheim) und Rudolf Kraus (alle CDU/CSU) zur namentli- Anlage 1 chen Abstimmung über den Entwurf eines Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 16497 A Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa (Tages- ordnungspunkt 4 b) ...... 16498 D Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Anlage 6 , Dr. , Marlene Mortler, Eduard Oswald, Dr. Klaus Rose, Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen Wolfgang Zeitlmann, , Artur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- Auernhammer, Dr. Hans-Peter Uhl, zes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), über eine Verfassung für Europa (Tagesord- Dr. Wolfgang Bötsch, , nungspunkt 4 b) Daniela Raab, Dagmar Wöhrl, Kurt J. Rossmanith, Georg Girisch, Matthäus (CDU/CSU) ...... 16500 A Strebl, , Dr. Egon Jüttner, (CDU/CSU) ...... 16500 C Dorothee Mantel, , Bartholomäus Kalb, Karl-Theodor Freiherr Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) von und zu Guttenberg, , (CDU/CSU) ...... 16501 A Dr. Peter Paziorek, Hans Raidel, , Norbert Geis, Renate Blank (CDU/CSU) ...... 16501 B (Altötting) und Dr. Wolfgang Götzer (alle Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 16502 A CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Ver- (CDU/CSU) ...... 16502 C trag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfas- sung für Europa (Tagesordnungspunkt 4 b) . . 16497 A Thomas Dörflinger (CDU/CSU) ...... 16503 B Albrecht Feibel (CDU/CSU) ...... 16504 C

Anlage 3 (CDU/CSU) ...... 16505 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Thomas Rachel, Marie-Luise Dött, Werner (CDU/CSU) ...... 16506 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 IX

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) ...... 16506 D Anlage 8

Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU) ...... 16507 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Ländliche Räume durch eine Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 16507 B moderne und innovative Landwirtschaft stär- ken und damit Arbeitsplätze sichern (Tages- Robert Hochbaum (CDU/CSU) ...... 16507 D ordnungspunkt 13)

Klaus Hofbauer (CDU/CSU) ...... 16508 C Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 16524 D

Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD) ...... 16509 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 16525 D Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) . . . 16526 D Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 16509 B Marlene Mortler (CDU/CSU) ...... 16527 C Dr. (CDU/CSU) ...... 16509 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16528 D Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 16510 A Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16530 B Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16510 C

Hartmut Koschyk (CDU/CSU) ...... 16510 C Anlage 9 Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 16512 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung (CDU/CSU) ...... 16512 D des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatz- Stefan Müller (Erlangen) fondsgesetzes (Tagesordnungspunkt 14) (CDU/CSU) ...... 16513 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 16531 A Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 16514 A (SPD) ...... 16532 A (CDU/CSU) ...... 16515 B Cajus Julius Caesar (CDU/CSU) ...... 16532 D (Weiden) Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) ...... 16515 D (CDU/CSU) ...... 16533 D

Dr. (SPD) ...... 16516 B Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 16534 C Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 16517 C Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16535 B Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU) ...... 16518 C

Matthias Sehling (CDU/CSU) ...... 16519 C Anlage 10 Marion Seib (CDU/CSU) ...... 16520 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Langfristiges Gesamtkonzept Johannes Singhammer (CDU/CSU) ...... 16521 B zur Reduzierung der Schadstoffbelastung in der Luft notwendig (Tagesordnungspunkt 15) (CDU/CSU) ...... 16522 B Astrid Klug (SPD) ...... 16536 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16522 D Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) ...... 16537 B

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 16523 D DIE GRÜNEN) ...... 16538 B Birgit Homburger (FDP) ...... 16540 A Dr. Werner Schnappauf, Staatsminister Anlage 7 (Bayern) ...... 16540 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker und Götz-Peter Lohmann (beide SPD) zur Abstimmung über Anlage 11 den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Anspruchs- und Anwartschaftsüber- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung führungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) . 16524 B des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung X Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 einer „Bundesstiftung Baukultur“ (Tagesord- Anlage 15 nungspunkt 16) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Petra Weis (SPD) ...... 16541 D – Antrag: Wälder naturnah bewirtschaften – Renate Blank (CDU/CSU) ...... 16542 C Waldschäden vermindern – Gemeinwohl- funktionen sichern und Holzabsatz stei- Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE gern GRÜNEN) ...... 16543 D – Entschließungsantrag: Waldzustandsbe- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . 16544 C richt 2004 – Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings – Achim Großmann, Parl. Staatssekretär BMVBW ...... 16545 A – Antrag: Bessere Rahmenbedingungen für die Charta für Holz – Unterrichtung durch die Bundesregierung: Anlage 12 Waldzustandsbericht 2004 – Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings – Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Tagesordnungspunkt 20) des Antrags: Einführung von Real Estate In- vestment Trusts in Deutschland (Tagesord- Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 16559 A nungspunkt 17) (CDU/CSU) ...... 16560 C Nina Hauer (SPD) ...... 16545 D Cajus Julius Caesar (CDU/CSU) ...... 16561 B Stefan Müller (Erlangen) (CDU/ CSU) ...... 16546 D Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16562 D Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 16547 C Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16564 A (FDP) ...... 16548 C Anlage 16 Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Bericht der Bundesregierung über die For- des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- schungsergebnisse in Bezug auf Emissions- rung des Anspruchs- und Anwartschaftsüber- minderungsmöglichkeiten der gesamten Mo- führungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) bilfunktechnologie und in Bezug auf Erika Lotz (SPD) ...... 16549 B gesundheitliche Auswirkungen (Tagesord- nungspunkt 21) Maria Michalk (CDU/CSU) ...... 16550 D Renate Jäger (SPD) ...... 16565 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16552 B Helge Braun (CDU/CSU) ...... 16566 A Werner Wittlich (CDU/CSU) ...... 16567 B (FDP) ...... Anlage 14 16568 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Simone Probst, Parl. Staatssekretärin des Antrags: Frauen in den Krisenregionen BMU ...... 16568 D Subsahara-Afrikas stärken (Tagesordnungs- punkt 19) (Meschede) (SPD) ...... 16553 A Anlage 17 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Gabriele Groneberg (SPD) ...... 16554 B des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 16555 B rung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (Ta- gesordnungspunkt 22) Dr. Conny Mayer (Freiburg) (CDU/CSU) ...... 16556 B Karin Rehbock-Zureich (SPD) ...... 16569 C Ulrich Heinrich (FDP) ...... 16557 B Eduard Lintner (CDU/CSU) ...... 16570 B Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ BMZ ...... 16557 D DIE GRÜNEN) ...... 16571 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 XI

Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 16571 C zogene Rückstandsuntersuchungen von Ge- flügelfleischimporten in die EU aus Drittlän- Achim Großmann, Parl. Staatssekretär dern (Tagesordnungspunkt 23) BMVBW ...... 16572 A Manfred Helmut Zöllmer (SPD) ...... 16572 D Gitta Connemann (CDU/CSU) ...... 16574 B Anlage 18 Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung GRÜNEN) ...... 16576 A des Antrags: Mehr Verbraucherschutz durch eindeutigere Kennzeichnung und sendungsbe- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 16577 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16345

(A) (C) Redetext

175. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Jochen Borchert gratulieren, der am 25. April seinen Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 65. Geburtstag feierte. Sehr herzlichen Glückwunsch! Sitzung ist eröffnet. (Beifall) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Sodann teile ich mit, dass der Kollege Peter Harry Eidesleistung des Wehrbeauftragten Carstensen am 20. April sein Mandat niedergelegt hat und als sein Nachfolger Carl Eduard von Bismarck am Der Deutsche Bundestag hat in seiner 169. Sitzung 25. April 2005 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundes- am 14. April 2005 Reinhold Robbe zum Wehrbeauftrag- tag erworben hat. Herzlich willkommen, lieber Kollege ten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes über den von Bismarck! Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages leistet (Beifall) dieser vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grundge- setzes vorgesehenen Eid. Der Kollege hat am 4. Mai auf (B) seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzich- (D) Herr Robbe, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir zu tet. Als Nachfolger hat der AbgeordneteRoland kommen. – Herr Robbe, ich bitte Sie jetzt, den Eid zu Dieckmann am 6. Mai 2005 die Mitgliedschaft im Deut- sprechen. schen Bundestag erworben. Herzlich willkommen, Kol- (Die Anwesenden erheben sich) lege Dieckmann! (Beifall) Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Für den Kollegen Reinhold Robbe, der am 11. Mai Bundestages: auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver- Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle deszichtete, hat mit Wirkung von heute, dem 12. Mai 2005, deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha- der uns aus der 14. Wahlperiode bereits bekannte Kol- den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze lege Hans Forster die Mitgliedschaft im Deutschen des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge- Bundestag erworben. Auch Sie, Kollege Forster, herz- wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann lich willkommen! üben werde. So wahr mir Gott helfe. (Beifall) Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege Präsident Wolfgang Thierse: als stellvertretendes Mitglied aus der Par- Herr Wehrbeauftragter, Sie haben dem Gesetz ent-lamentarischen Versammlung des Europarates ausschei- sprechend den Eid gesprochen. Ich wünsche Ihnen alles det. Nachfolgerin soll die Kollegin Doris Barnett wer- Gute für Ihr verantwortungsvolles Amt. den. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Doris Barnett als Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Ver- Bundestages: sammlung des Europarates gewählt. Vielen Dank. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene (Beifall im ganzen Hause) Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ- ten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Präsident Wolfgang Thierse: gem. Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO BT: Umstellung des Liebe Kolleginnen und Kollegen, zunächst will ich Zahlungstermins für die Sozialversicherungsbeiträge noch vor Beginn unserer Diskussionen dem Kollegen (siehe 174. Sitzung) 16346 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Präsident Wolfgang Thierse (A) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren rung: Verordnung zur Änderung der Verordnung über (C) (Ergänzung zu TOP 30) genehmigungsbedürftige Anlagen und zur Änderung der Anlage 1 des Gesetzes über die Umweltverträglich- a) Erste Beratung des von denFraktionen der SPD und des keitsprüfung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Umsatz- – Drucksachen 15/5218, 15/5288 Nr. 2.1, 15/5483 – steuergesetzes Berichterstattung: – Drucksache 15/5444 – Abgeordnete Marie-Luise Dött Überweisungsvorschlag: Winfried Hermann Finanzausschuss (f) Birgit Homburger Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Kritik Haushaltsausschuss gem. § 96 GO des FDP-Vorsitzenden an Gewerkschaftsfunktionären in Deutschland b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Reichard (Dresden), Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, weiterer Ab- ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Trinkwasser- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Erfolge in der Poli- management in Entwicklungs- und Schwellenländern tik für behinderte Menschen nutzen – Teilhabe und durch die verstärkte Einbeziehung der Privatwirtschaft Selbstbestimmung weiter stärken verbessern – Drucksache 15/5463 – – Drucksache 15/5451 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Innenausschuss Entwicklung (f) Sportausschuss Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsame Position Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der Europäischen Union zum Waffenembargo gegen- Ausschuss für Bildung, Forschung und über der Volksrepublik China Technikfolgenabschätzung – Drucksache 15/5467 – Ausschuss für Tourismus Überweisungsvorschlag: ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) ter), Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne- Auswärtiger Ausschuss ter und der Fraktion der FDP: Diskriminierung von Men- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schen mit Behinderung beim Fahrkarten- und Ticketkauf verhindern – Teilhabe ermöglichen ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache – Drucksache 15/5460 – (Ergänzung zu TOP 31) (B) Überweisungsvorschlag: (D) a) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Rechtsausschuss zes zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitglied- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend staaten der Europäischen Union Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Drucksache 15/4233 – Ausschuss für Tourismus (Zweite und dritte Beratung 154. Sitzung) ZP 7 Beratung des Antrags Abgeordneten der Marion Seib, – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung und der Fraktion der CDU/CSU:Reibungslose Umsetzung des Übereinkommens vom 29. Mai 2000 über die der Ziele des Bologna-Prozesses in Deutschland gewähr- Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitglied- leisten – Länderkompetenzen beachten staaten der Europäischen Union – Drucksache 15/5449 – – Drucksache 15/4232 – ZP 8 Erste Beratung des vonden Fraktionen der SPD und des (Erste Beratung 154. Sitzung) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsende- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der gesetzes Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 16. Oktober 2001 zu dem – Drucksache 15/5445 – Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen Überweisungsvorschlag: zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Union Rechtsausschuss – Drucksache 15/4230 – Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Erste Beratung 154. Sitzung) Landwirtschaft Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschus- ZP 9 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Karl-Josef ses (6. Ausschuss) Laumann, Dagmar Wöhrl, , weiterer Ab- – Drucksache 15/5487 – geordneter und der Fraktion der CDU/CSU:Sozialdumping Berichterstattung: durch osteuropäische Billigarbeiter Abgeordnete Erika Simm – Drucksache 15/5168 – Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Sibylle Laurischk Rechtsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschuss Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und heit (15. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundesregie- Landwirtschaft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16347

Präsident Wolfgang Thierse (A) ZP 10Erste Beratung des vonder Fraktion der CDU/CSU einge- Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Ham-(C) brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Unter- burg), Dietrich Austermann, Eduard Oswald, nehmensnachfolge weiterer Abgeordneter und der Fraktion der – Drucksache 15/5448 – CDU/CSU: Notwendige Investitionen in die Überweisungsvorschlag: deutsche Verkehrsinfrastruktur bereitstellen Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/5325 – Haushaltsausschuss gem. § 96 GO Überweisungsvorschlag: ZP 11Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. , Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Heinz Seiffert, , weiterer Abgeordneter und der Ausschuss für Tourismus Fraktion der CDU/CSU: Herausforderungen der Globali- Haushaltsausschuss sierung annehmen, Unternehmensteuern modernisieren, Staatsfinanzen durch mehr Wachstum sichern Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages – Drucksache 15/5450 – überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) genabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Entwurf eines von den Fraktionen der SPD und Haushaltsausschuss des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- ZP 12Beratung des Antrags r de Fraktionen der SPD und des brachten Vierzehnten Gesetzes zur Änderung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Steuervereinfachung im des Arzneimittelgesetzes Vollzug – Vorteil für Bürger, Betriebe und Verwaltung – Drucksache 15/5316 – – Drucksache 15/5466 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Landwirtschaft ZP 13Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Äuße- Ausschuss für Bildung, Forschung und rungen des Bundesministers der Finanzen zu Haushalts- Technikfolgenabschätzung risiken für den Bundeshaushalt 2005 und zur Mehrwert- Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – steuer Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: weit erforderlich – abgewichen werden. a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bundes- (B) Ferner wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 24 kanzlers zur Ratifizierung der europäischen Ver- (D) und 26 abzusetzen. Die Vorlagen unter Punkt 28, die fassung Freibetragsregelungen, Hinzuverdienstmöglichkeiten und den Zusatzpunkt „Arbeitnehmer-Entsendegesetz“ betref- Für ein starkes und soziales Europa fen, sollen am Freitag bereits um 9 Uhr und die Vorlagen b) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des unter Punkt 29 – Klimaschutz – nach der Debatte zum von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Steuerrecht beraten werden. wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Schließlich mache ich auf nachträgliche Überweisun- Europa gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: – Drucksachen 15/4900, 15/4939 – Der in der 169. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich (Erste Beratung 160. Sitzung) dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwie- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- sen werden. schusses für die Angelegenheiten der Europäi- Gesetzentwurf der Abgeordneten Dirk Fischer schen Union (20. Ausschuss) (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. – Drucksache 15/5491 – Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter Berichterstattung: und der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung Abgeordnete Michael Roth (Heringen) des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- gesetzes Rainder Steenblock – Drucksache 15/5102 – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Überweisungsvorschlag: – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) ordneten Michael Roth (Heringen), Günter Innenausschuss Gloser, Dr. Angelica Schwall-Düren, weiteren Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Rainder Steenblock, Volker Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages Beck (Köln), Ulrike Höfken, weiteren Abge- überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem ordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- Ausschuss für Tourismus zurMitberatung überwiesen SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- werden. wurfs eines Gesetzes über die Ausweitung 16348 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Präsident Wolfgang Thierse (A) und Stärkung der Rechte des Bundestages rung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen (C) und des Bundesrates in Angelegenheiten der Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Europäischen Union Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat – Drucksache 15/4925 – nun der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch- (Erste Beratung 160. Sitzung) land, Gerhard Schröder. – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ordneten Peter Hintze, Dr. Wolfgang Schäuble, DIE GRÜNEN) Dr. Gerd Müller, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- Gerhard Schröder, Bundeskanzler: wurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundes- Herren! Die vergangenen Tage standen nicht nur in tages in Angelegenheiten der Europäischen Deutschland, sondern in der ganzen Welt imZeichen Union des Erinnerns und des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren. – Drucksache 15/4716 – Ein besonders bewegendes Erlebnis war für mich die (Erste Beratung 160. Sitzung) Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag in Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Moskau. Ich habe die vonPräsident Putin ausgespro- ses für die Angelegenheiten der Europäischenchene Einladung als Ehre und als Auszeichnung unseres Union (20. Ausschuss) Landes verstanden, so wie ich auch die Einladungen von – Drucksache 15/5492 – Präsident Chirac im vergangenen Juni in die Normandie und von Ministerpräsident Miller im vergangenen Au- Berichterstattung: gust zur Erinnerung an den Warschauer Aufstand als Abgeordnete Michael Roth (Heringen) Zeichen der Verbundenheit und des Vertrauens in unser Peter Altmaier Land empfunden habe. In der Teilnahme des deutschen Rainder Steenblock Bundeskanzlers an diesen Gedenkveranstaltungen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger drückt sich die Wertschätzung aus, die das demokrati- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sche und vereinte Deutschland in der Staatengemein- richts des Ausschusses für die Angelegenheiten schaft genießt. 60 Jahre nach dem Ende des von der Europäischen Union (20. Ausschuss) Deutschland begonnenen Krieges sind wir ein geachteter und geschätzter Partner in der Welt. Diese Tatsache (B) – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des sollte uns mit Dankbarkeit erfüllen. (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Stärkung der Rolle des Deutschen Bundesta- GRÜNEN und der FDP) ges bei der Begleitung, Mitgestaltung und Kontrolle europäischer Gesetzgebung Meine Damen und Herren, mit der Kennzeichnung „historisch“ sollten wir einen sparsamen, einen vernünf- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabinetigen Umgang pflegen. Aber die Verfassung der Euro- Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, päischen Union, über die wir heute zu beschließen ha- Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter ben, verdient dieses große Wort. Sie ist, wie könnte es und der Fraktion der FDP anders sein, nur Menschenwerk. Sie erfüllt naturgemäß Für mehr Mitsprache des Deutschen Bun- nicht alle Hoffnungen und sie bannt nicht alle Ängste. destages bei der Rechtsetzung der Europäi- Der Verfassungstext ist aber ein sehr guter und fairer schen Union nach In-Kraft-Treten des Ver- Kompromiss, in harter Arbeit vom Konvent formuliert, fassungsvertrags unter der umsichtigen Leitung von Valéry Giscard d’Estaing. Ich spreche wohl für Sie alle, meine Damen – Drucksachen 15/4936, 15/4937, 15/5492 – und Herren, wenn ich Giscard d’Estaing und sämtlichen Berichterstattung: Mitgliedern des Verfassungskonvents, vor allen den Abgeordnete Michael Roth (Heringen) deutschen Vertretern, unseren Dank und unseren Re- Peter Altmaier spekt für die geduldige, schwierige, aber eben alles in al- Rainder Steenblock lem erfolgreiche Arbeit ausspreche. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregie- GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- rung zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa ten der CDU/CSU) werden wir später namentlich abstimmen. Lassen Sie mich stellvertretend für alle nur zwei deut- Zu einem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und sche Namen nennen: Erwin Teufel, bis vor wenigen Ta- des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein interfraktionel- gen noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ler Entschließungsantrag vor. von dessen Sachkunde in Brüssel mit Respekt gespro- chen wurde, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- (Beifall im ganzen Hause) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16349

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) und , Wer von ihnen hätte damals von einer europäischen(C) Verfassung, von einem in Frieden, Freiheit und Wohl- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) stand vereinten Europa auch nur zu träumen gewagt, da- – ich glaube, Sie lernen es nie – mals, in den Trümmern der Städte, damals, als die Tore der Konzentrationslager endlich aufgesprengt wurden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und der Blick der Völker entsetzt die Leichenberge und DIE GRÜNEN) die ausgemergelten Skelette wahrnahm, damals, als sich hinter Millionen deutscher Soldaten die Tore der Kriegs- der in den entscheidenden Monaten des Konvents mit gefangenenlager für bittere Monate und Jahre schlossen, Energie und Begeisterung, aber auch durch großes Ver- damals, als sich ein Gefühl der Erlösung einstellte, aus handlungs- und Vermittlungsgeschick maßgeblich zum dem sich allmählich, wie es Richard von Weizsäcker Gelingen des Verfassungswerkes beigetragen hat. 40 Jahre später in einer mutigen und wegweisenden Rede ausgesprochen hat, ein Gefühl der Befreiung zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ entwickeln begann, weil den Mörderkommandos der SS DIE GRÜNEN) und der Feldgendarmerie das blutige Handwerk gelegt Alle, die mit ihnen zusammenwirkten, haben in vielen wurde, weil die von Anhängern und Mitläufern getra- Tagen und Nächten in der Tat das Bestmögliche geleis- gene Nazidiktatur, die Leid, Tod und Zerstörung über tet. Durch die Vertretung der Mitgliedstaaten, der Euro- Europa gebracht hatte, endlich gebrochen war? päischen Kommission, des Europäischen Parlaments Nein, den Überlebenden war es damals nicht in den und aller nationalen Parlamente im Konvent hat die neue Sinn gekommen, von einer europäischen Verfassung für Verfassung eine breite demokratische Legitimation. die Völker des Kontinents auch nur zu träumen, Völker, Durch die Verfassung wird die Europäische Union ent- die als gute Nachbarn friedlich zusammenleben. Keiner scheidungsfähiger und zugleich politisch führbar bleiben. wagte zu hoffen, dass jener Menschheitstraum von Durch die Verfassung wird die Europäische Union demo- Frieden, Solidarität und Freiheit jemals unsere Reali- kratischer, auch bürgernäher. Das Europäische Parlament tät bestimmen und unseren Alltag formen würde. Wirk- wird gestärkt und erhält mehr Mitwirkungsrechte. Dielich keiner? Nicht ganz. In Buchenwald, in Dachau, in nationalen Parlamente erhalten zusätzliche Informations- Flossenbürg und Mauthausen, also in den Zellen des Wi- und Kontrollrechte. Die Bundesregierung ist bereit, dem derstandes der Lager und der Zuchthäuser, wurde von auch in einer Vereinbarung mit dem Deutschen Bundes- der Notwendigkeit der Einheit Europas – wenn auch nur tag Rechnung zu tragen. flüsternd – gesprochen. Ich nenne stellvertretend die Na- men Eugen Kogon, Jorge Semprún, Joseph Rovan, Fritz (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erler, Helmuth von Moltke und Eugen Gerstenmaier. Im (D) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Widerstand der europäischen Völker gegen den Faschis- CDU/CSU) mus leuchtete das Licht des vereinigten Europas eben in den dunkelsten Jahren unserer Geschichte zum ersten Die Zuständigkeiten zwischen der nationalen und der Mal und ganz, ganz zaghaft auf. Europa – so viel ist europäischen Ebene werden in der europäischen Verfas- klar – wurde aus der Not geboren, aus der Notwendig- sung klarer getrennt. Und die Verfassung trägt mit dem keit – im wahrsten Sinne des Wortes –, einer Notwendig- Entscheidungsmodus der doppelten Mehrheit dem keit, der schließlich auch die Vernunft gehorchte. Aus urdemokratischen Prinzip „Ein Bürger, eine Stimme“dem Elend des Seins wuchs ein neues Bewusstsein, ein wirklich Rechnung. Deshalb kann es auch insoweit kei- neuer Geist. nen Zweifel geben: Wer in Europa mehr Demokratie will, der muss für diese Verfassung stimmen. Der Krieg war noch nicht beendet, als drüben in Washington Jean Monnet – damals der Beauftragte des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Freien Frankreichs für die Versorgung der Armeen, die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der jenseits des Atlantik kämpften – die ersten Pläne für den CDU/CSU) Zusammenschluss Europas zu entwerfen begann, zu- Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, in sammen mit seinen amerikanischen Kollegen, unter ih- diesem Augenblick nicht allzu kleinlich und detailver- nen George Ball, den wir später als den Architekten der sessen auf den einen oder anderen Halbsatz in diesem Außenpolitik von John f. Kennedy kennen und auch oder jenem Paragraphen des Gesamtwerks zu starrenschätzen lernten. Vergessen wir nicht – jetzt erst recht – einen Halbsatz, der unseren Erwartungen vielleichtnicht –, dass die besten Köpfe der amerikanischen Nach- nicht völlig entspricht –, sondern einmal innezuhalten, kriegsdiplomatie zu den Vätern Europas gehörten: vielleicht sogar ein paar Schritte zurückzutreten, um un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sere Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, mit DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der den Augen der Älteren unter uns zu betrachten, jener, die CDU/CSU und der FDP) Zeugen und Opfer der Verheerungen des 20. Jahrhun- derts waren, also aus der Sicht unserer Väter und Mütter, George F. Kennan und Dean Acheson, die Konstrukteure unserer Großmütter und Großväter, die uns – 60 Jahre des Marshallplans. Sie bestanden darauf, dass die Euro- nach dem Ende der europäischen Katastrophen – gerade päer in einem gemeinsamen Gremium die Verwaltung in diesen Tagen des Gedenkens wieder so nahe gerückt der amerikanischen Milliarden verantworteten, das west- sind. liche Deutschland eingeschlossen, das zunächst von 16350 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Besatzungsmächten vertreten wurde. Das Monnetprojekt Gemeinschaft zur Europäischen Union, einer Wirt-(C) für die gemeinsame Kontrolle der deutschen und franzö- schafts- und Währungsunion samt Europäischer Zentral- sischen Montanindustrie trat später unter dem Namen bank, beschlossen. Als Zielpunkt wurde übrigens das Schumanplan ins Leben. Jean Monnet und RobertJahr 1980 ins Auge gefasst. Das war ein wenig zu opti- Schuman fanden ihre kongenialen Partner in Konradmistisch, wie wir wissen. Die Entwicklung nahm unsere Adenauer, dem italienischen Christdemokraten Geduld de etwas länger in Anspruch. Indes: Es waren Gasperi und dem belgischen Sozialisten Paul-HenriBrandt und Pompidou, denen es gelang, Großbritannien Spaak – die Gründerväter Europas. unter der Führung des konservativen Edward Heath, der ein bekennender Europäer war und ist, ins gemeinsame Charles de Gaulle hat 1954 als leidenschaftlicher Re- Boot zu holen. Sie waren es auch, die für Spanien, Portu- präsentant des klassischen Nationalstaates Monnetsgal und Griechenland nach der Befreiung aus ihren auto- Konzept der europäischen Verteidigungsunion zu Fall ritären Regimes das Tor zu Europa aufgeschlossen ha- gebracht. Es war ein Glücksfall, dass er sich nach derben. Rückkehr ins Amt der historischen Logik gebeugt hat: De Gaulle erkannte die französisch-deutsche Koopera- Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt und der Liberal- tion als produktive Keimzelle Europas und er setzte sie konservative Giscard d’Estaing haben in ihrer Zeit das als Motor in der europäischen Einigung ins Werk – ein europäische Werk aus Passion und Überzeugung fortge- bewundernswerter Wandel, der die Größe dieser unge- setzt. Sie bahnten dem Euro mit der so genannten Wäh- wöhnlichen Persönlichkeit bezeugt. Ohne die deutsch- rungsschlange den Weg. Der Christdemokrat Helmut französische Aussöhnung und Partnerschaft wäre dasKohl und der Sozialist Francois Mitterand waren es europäische Einigungswerk nicht möglich gewesen.schließlich, die mit demVertrag von Maastricht das Auch das ist Verpflichtung. Rahmenwerk der Europäischen Union geschaffen haben, und zwar den Rahmen für das ganze Europa, das auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jene Völker und Staaten einschließt, die im vergangenen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Jahr der Europäischen Union beigetreten sind, und das CDU/CSU und der FDP) auch jene willkommen heißt, die im Jahr 2007 dazukom- Die Verständigung zwischen de Gaulle und Konradmen werden. Adenauer und das gemeinsame Werk desÉlysée-Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trags haben wir gemeinsam mit unseren französischen DIE GRÜNEN) Freunden und Partnern zum 40. Jahrestag in einer ge- meinsamen Sitzung gefeiert. Auch das ist ein Ereignis, Übrigens – das sollten wir bei einer Würdigung politi- das sich 1945 kein Deutscher und wohl auch kein Fran- scher Leistungen nicht unterschlagen –: Francois (B) zose vorstellen konnte. Und auch das gehört zu einerMitterand und haben die deutsche Einheit (D) Verpflichtung, die wir alle miteinander haben. Allein Europa eingebunden. In dieser Tradition und Konti- Nachfolger von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer nuität wollen Jacques Chirac und ich die deutsch-franzö- haben übrigens entsprechend dem Gesetz der europäi- sische Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen. schen Einheit und der Logik der deutsch-französischen Mein Zusammenwirken mit dem französischen Staats- Zusammenarbeit politisch gehandelt. Diese besondere präsidenten – lassen Sie mich das voller Dankbarkeit Bindung zwischen Deutschland und Frankreich ist für hier anmerken – steht in seiner Intensität, seiner Aufrich- unsere und für alle nachkommenden Generationen Erbe, tigkeit, seiner Zuverlässigkeit und auch seiner Herzlich- aber eben auch zugleich Verpflichtung. keit dem unserer Vorgänger nicht nach. Meine Damen und Herren, viele sehen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ allzu einseitig nur als Strategen der Ostpolitik. Ich wäre DIE GRÜNEN) der Letzte, der diese historische Zäsur und diese groß- artige Leistung unterschätzte. Denn die Entspannungs- Meine Damen und Herren, bei den Beratungen zur politik der damaligen sozial-liberalen Koalition war der europäischen Verfassung hat sich die deutsch-französi- eigentliche Anfang des gesamteuropäischen Wandelssche Partnerschaft im Interesse unserer Völker und im und Umbruchs. Interesse der gesamten Europäischen Union einmal mehr bewährt. Diese Verfassung, über die wir heute abstim- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men, ist das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der in der Geschichte der europäischen Integration FDP) wahrlich ohne Beispiel ist. Historisch steht die Verfas- sung in der Kontinuität eines Europas, das seine Lehren Willy Brandt hat aus tiefer Überzeugung wieder und aus der leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts gezo- wieder betont, dass sich seine Ostpolitik konsequent aus gen hat. Insoweit ist die Verfassung sowohl ein Doku- der Westpolitik Konrad Adenauers ergeben hat, dass sie ment der Selbstvergewisserung als auch ein Ausdruck ohne das Fundament der Europäischen Gemeinschaftfür das Selbstverständnis des vereinigten Europas im nicht denkbar gewesen wäre und dass sie freilich auch 21. Jahrhundert. niemals die Einbindung in die Atlantische Allianz ent- behren konnte. Helmut Schmidt, aber auch Helmut Kohl Es ist ein Europa, das sich als Wertegemeinschaft ver- führten das Werk Brandts konsequent fort. Willy Brandt steht und auf den universellen Werten und den unveräu- hat – man vergisst es allzu oft – mit Präsident Pompidou ßerlichen Rechten des Menschen beruht. Es ist ein 1970 in Den Haag die Entwicklung der Europäischen Europa, das Demokratie mit wirtschaftlicher Produktivi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16351

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) tät und sozialer Solidarität zu einem ganz eigenen Ge- Regierungen und aller deutschen Demokraten. Ich kann (C) sellschaftsmodell verknüpft. Es ist ein Europa, das sich Europa unser aller Raison d’Être nennen: die Garantie als soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Ge- eines Lebens in Freiheit und in Würde. Diese Garantie meinschaft begreift, das ganz bewusst mehr sein will als bringt die europäische Verfassung auf vortreffliche eine bloße geographische Einheit, mehr als Binnenmarkt Weise zum Ausdruck. Diese Verfassung ist das vorläufig und Freihandelszone. Es ist ein Europa, das als innere krönende Werk der politischen Arbeit von zwei oder drei Einheit auftreten und handeln will – nach der festenGenerationen. Überzeugung, dass wir Europäer gemeinsam mehr errei- chen können, als jeder für sich je erreichte. Es ist ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Europa, das eine Stimme für Frieden und Multilateralis- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der mus und ein starker Partner für eine gerechte und koope- CDU/CSU und der FDP) rative Weltordnung sein will. Mit der heutigen Abstimmung legen wir auch ein Zeug- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nis darüber ab, dass wir uns ihrem Vermächtnis würdig DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der erweisen. FDP) Ich danke für die Aufmerksamkeit. Dazu gehört ausdrücklich auch eine stabile Partnerschaft (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem mit den Vereinigten Staaten von Amerika. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der Die Verfassung schafft dieses Europa nicht. Aber sie FDP) bietet den Rahmen, die Institutionen und die Verfahren, damit das erweiterte Europa seinen Weg weitergehen Präsident Wolfgang Thierse: kann. Sie wird dem europäischen Integrationsprozess ei- Ich erteile das Wort der Vorsitzenden der Fraktion der nen neuen Schub, eine neue Dynamik verleihen. Mit der CDU/CSU, Angela Merkel. Verfassung geben wir Europäer uns in freier Selbstbe- stimmung ein neues System der Ordnung, das die (Beifall bei der CDU/CSU) Fragmente der bisherigen europäischen Verträge in ver- besserter und harmonisierter Form zusammenfügt. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/ Die europäische Verfassung steht auch einer Vertie- CSU-Bundestagsfraktion wird mit großer Mehrheit der fung der Europäischen Union nicht im Wege. Im Gegen- Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages zustimmen. teil: Gerade im erweiterten Europa stellt sich die Not- Auch wenn sich eine Reihe von Kolleginnen und Kolle- wendigkeit vertiefter Formen der Zusammenarbeit (B) gen meiner Fraktion dieser Mehrheit nicht anschließen(D) besonders dringlich. Dies gilt aus meiner Sicht vor allem wird – ihre Zweifel sind geblieben –, bringen wir als für eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- Fraktion in unserer großen Mehrheit unser Ja zum Ver- und Verteidigungspolitik, aber nicht minder für einetrag über die Verfassung in Europa eindrucksvoll zum europäische Ausländer- und Zuwanderungspolitik. Ausdruck. Die Verfassung verändert auch nicht die Statik oder Wir sagen Ja dazu, mit diesem Vertrag die Einigung gar die Architektur im gemeinsamen Europa. Sie kennt Europas institutionell weiter zu festigen; denn wir ver- keine Dominanz und sie schafft auch kein französisches gessen nicht die Lehren von denen, die vor uns politi- Europa, erst recht kein deutsches Europa, sondern ein sche Verantwortung trugen, von Konrad Adenauer über wahrhaft europäisches Europa. Willy Brandt bis Helmut Kohl, die Lehren aus den Kata- Meine Damen und Herren, die europäische Eini- strophen der beiden Weltkriege auf europäischem Bo- gung ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte, natürlich den. Europa als Friedens- und Wertegemeinschaft mit Zweifeln und Rückschlägen versehen. Aber trotz stärken, dazu gibt es keine Alternative. aller Zweifel, Rückschläge und Krisen, die es seit den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 50er-Jahren immer wieder gegeben hat, sind wir doch bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- weit vorangekommen. Vor allem hat der europäische NISSES 90/DIE GRÜNEN) Einigungsprozess zusammen mit der atlantischen Allianz unseren Völkern seit nunmehr60 Jahren Als ich nach der deutschen Einheit Jugendministerin Frieden beschert. Dieses Glück ist den Völkern unseres wurde, rief mich im Sommer 1991 Bundeskanzler Kontinents niemals zuvor zuteil geworden. Helmut Kohl an und sagte mir: Sie müssen Joseph Rovan kennen lernen, einen der großen Befürworter des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutsch-Französischen Jugendwerkes, 1918 in Mün- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der chen geboren, 1933 nach Frankreich emigriert, Kriegs- CDU/CSU und der FDP) dienst auf französischer Seite, Mitarbeiter der Résis- Aber nicht nur Frieden: auch einen in der Geschichtetance, 1944 verhaftet und nach Dachau deportiert, 1945 einmaligen Wohlstand, wie ihn die Menschen auf diesem politischer Berater des Ministers Edmond Michelet und Kontinent – trotz der akuten ökonomischen Probleme – glühender Befürworter des Jugendaustauschs zwischen so nie zuvor gekannt haben. Deutschland und Frankreich. Meine Damen und Herren, die Kontinuität in der Als ich ihn traf, übergab er mir sein Buch „Geschich- Europapolitik gehört zum Grundkonsens aller deutschen ten aus Dachau“ und drückte in so unbeschreiblicher 16352 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dr. Angela Merkel (A) Weise gleichzeitig die Freude über die deutsche Einheit vents, Roman Herzog und den Mitgliedern des Vorgän- (C) und das Ende des Kalten Krieges aus, dass mir klargerkonvents, die sich mit der Grundrechte-Charta be- wurde, welche Kraft dieVisionäre am Ende desschäftigt haben, und ich möchte danken, dass Wolfgang Zweiten Weltkrieges aufgebracht hatten, dieses ge-Schäuble und bereits Anfang der 90er-Jahre meinsame Europa zu bauen. Das werden und dürfen wir davon gesprochen haben, dass es die Notwendigkeit ei- niemals vergessen. nes solchen Projekts gibt, weil sich Europa vor allen Dingen seiner gemeinsamen geistigen Grundlagen be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wusst werden muss. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der FDP) Winston Churchill sagte schon 1946 in einer Rede an die akademische Jugend an der Universität Zürich: „Da- Ich bin froh – ich sage voraus, dass das weitergehen rum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!“ wird und es intensiver werden wird –, dass sich Europa mit seinen geistigen Grundlagen befasst. Was sind die Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Werte, was ist die Würde des Menschen? Freiheit, Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute Gleichheit, Solidarität als Grundsätze der Demokratie eine Notwendigkeit für alle. und Rechtsstaatlichkeit – das alles ist als Identität der Das sagte Konrad Adenauer. Europa kann und darf kein Europäischen Union jetzt im Verfassungsvertrag festge- wirtschaftliches und technisches Unternehmen bleiben. schrieben. Wir hätten uns gewünscht, dass auch über die Europa braucht eine Seele, das Bewusstsein seiner histo- Wurzeln unseres Erbes, über das jüdisch-christliche rischen Affinitäten, seiner gegenwärtigen und künftigen Erbe, in diesem Verfassungsvertrag eine deutlichere Aufgaben, einen politischen Willen im Dienste eines sel- Auskunft gegeben worden wäre. Ein klarer Gottesbezug ben menschlichen Ideals, so Robert Schuman. hätte uns mit Sicherheit geholfen, unsere Identität klarer zu definieren. Einen politischen Willen im Dienste eines selben menschlichen Ideals – dieser Wille hält heute immer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- noch an. Das ist nach sechs Jahrzehnten, nach dem Zer- neten der FDP) fall alter Ordnungsmuster und alter Gewissheiten, nach Es ist immerhin zum ersten Mal gelungen, in diesem der Vervielfachung der Zahl der Mitgliedstaaten und an- Verfassungsvertrag den Status der Kirchen vertraglich gesichts ganz neuer Herausforderungen nicht selbstver- abzusichern. Das ist ein Erfolg. Wir werden weiter da- ständlich. Europa hat seit 1945 eine wechselvolle Ge- rum streiten, dass wir ohne Bekenntnis zu unseren Wur- schichte erlebt: stürmischer Beginn – darüber ist heute zeln den interkulturellen Dialog nicht werden führen (B) (D) gesprochen worden – mit der Montanunion, den Römi- können. schen Verträgen, die Politik des leeren Stuhls von Frank- reich 1965, Phasen des Leerlaufs und dann auch wieder (Beifall bei der CDU/CSU) eine große Renaissance der Integrationsgeschichte durch Erwin Teufel hat in der ersten Lesung zu der Ratifi- das Binnenmarktprojekt, durch das Schengener Abkom- zierung des Verfassungsvertrages hier von der Bundes- men, neue Perspektiven, neue Herausforderungen nach ratsbank aus sehr deutlich gemacht, dass es all denen, die dem Ende des Kalten Krieges, jetzt der Verfassungsver- politische Verantwortung tragen, bei allem Bekenntnis trag 2005. zu Europa aber auch zu denken geben muss, dass wir in Immer waren Deutschland und Frankreich als Mo- den letzten zehn Jahren in den monatlichen Umfragen tor an dieser europäischen Einigung beteiligt. Es ist inte- zur Akzeptanz Europas, die die Europäische Union in ressant, dass Papst Johannes Paul II. am Anfang dieses allen Mitgliedstaaten durchführt – ich zitiere aus seiner Jahres, am 10. Januar, beim Empfang des Diplomati-Rede –, schen Corps beim Heiligen Stuhl noch einmal darauf im Unterschied zu früheren Zeiten, als wir in hingewiesen hat – ich zitiere –: Und Europa kann sehr Deutschland bei einer Zustimmung von 70 und wohl als ein sicherlich privilegiertes Beispiel für die mehr Prozent lagen, bei den Werten der anderen Möglichkeiten des Friedens angeführt werden. Nationen, Länder, bei 45 bzw. 47 Prozent, angekommen sind. die sich einst als erbitterte Feinde bekämpften, sind heute in der Europäischen Union vereint, die sich imErwin Teufel sagte dann: vergangenen Jahr zum Ziel gesetzt hat, durch den Ver- Ich glaube, es gibt dafür einen einzigen Grund. Der fassungsvertrag von Rom noch enger zusammenzuwach- Bürger in Europa erlebt die Europäische Union als sen. ein fernes, technokratisches Gebilde. Es gibt so gut Die Ratifizierung dieses Verfassungsvertrages am wie keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt ein Anfang des 21. Jahrhunderts heute hier in Deutschland Geflecht von Zuständigkeiten. Der Bürger hat keine – gestern haben Österreich und die Slowakei zuge- Übersicht. Der Bauer, der Handwerksmeister, der stimmt; ich hoffe, dass das französische Referendum er- Kommunalpolitiker erleben aber fast tagtäglich folgreich sein wird – ist ein weiterer historischer Schritt. europäische Gesetzgebung, von der sie der Über- Auch ich möchte allen danken, die daran mitgewirkt ha- zeugung sind, dass sie bürgerfern und problemfern ben, dass dieses Projekt ein Erfolg wurde, allen voran ist, dass sie sehr viel besser auf nationaler Ebene, dem Präsidenten des Verfassungskonvents, Valéry auf Landesebene, ja sogar auf kommunaler Ebene Giscard d’Estaing, und allen Mitgliedern dieses Kon- erfolgen sollte. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16353

Dr. Angela Merkel (A) So weit Erwin Teufel bei der ersten Lesung. Deshalb, so hernd gleichgestellt werden, wenngleich das immer noch (C) glaube ich, ist es wichtig, dass wir uns vergegenwärti- nicht vollkommen geschehen ist. gen, dass sich Europa um die richtigen Aufgaben küm- mern muss. Die richtigen Aufgaben sind die, die über die Die CDU und CSU und auch die Europäische Volks- Kraft des Nationalstaates hinausgehen. partei haben dafür gekämpft, dass sich die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament zum Schluss (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch in der Besetzung der Kommission niederschlagen neten der FDP und des Abg. Dietmar Nietan müssen. Sonst verstehen die Menschen in den National- [SPD]) staaten doch gar nicht, warum sie ein Europäisches Par- lament wählen. Ich halte das für einen großen Fort- Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass in die- schritt. sem Verfassungsvertrag zum ersten Mal ganz eindeutig die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips verankert ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es sind neue Aufgaben definiert. Zu denen muss man neten der FDP) sich und zu denen werden wir uns bekennen: die Außen- und Sicherheitspolitik als gemeinsame Politik der Euro- Wir haben die Demokratie mit diesem Verfassungs- päischen Union. Dass die europäische Außenpolitik Ge- vertrag durch das Prinzip der doppelten Mehrheit ge- sicht und Stimme durch eineneuropäischen Außen- stärkt, was gerade für Deutschland von extrem großer minister bekommt, ist gut. Allerdings wird die Aufgabe Bedeutung ist. Die Tatsache, dass in Zukunft nicht nur dieses Außenministers nicht ganz einfach sein, weil dies die Stimmengewichtung der Länder – Deutschland 29, auch voraussetzt, dass er eine einheitliche Haltung ver- Polen 27 Stimmen – entscheidend ist, sondern bei euro- künden kann. Das heißt, ich hoffe sehr, dass es gelingt, päischen Beschlüssen zusätzlich auch die Mehrheit der in den wichtigen außenpolitischen Fragen auch eine ge- Bevölkerung erreicht werden muss, ist ein notwendiger, meinsame europäische Identität zu finden. Ich halte es richtiger und wichtiger Schritt, von dem insbesondere für außerordentlich wichtig, dass im Verfassungsvertrag Deutschland profitiert. Andere Länder haben sich damit deutlich verankert ist, dass Sicherheitspolitik keine Poli- schwer getan. Trotzdem halte ich ihn für richtig. Er be- tik gegen die NATO, sondern eine Politik in Überein-deutet für uns einen großen Erfolg. stimmung mit der NATO sein sollte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für die Kommission ist es jetzt notwendig und mei- In Fortführung des Vertrages von Amsterdam ist jetzt nes Erachtens auch dringlich, die Kompetenzen zur Er- auch deutlich, dass angesichts der Bedrohungen desarbeitung von Richtlinien, in Zukunft Gesetze genannt, 21. Jahrhunderts die Rechts- und Innenpolitik stärker wirklich zu überprüfen. Sie muss sie begründen vor dem (B) (D) als bisher eine Gemeinschaftsaufgabe sein wird. Auch Hintergrund der Subsidiarität. Nicht mehr allgemeine hier halte ich es für richtig, dass wir diese Politik in Zielbestimmungen in den europäischen Verträgen sind Europa gemeinsam betreiben. Jeder, der einmal Europol Kompetenz begründend, sondern die Kompetenz muss besucht hat, weiß, wie wichtig Verbrechens- und Terror- durch Einzelermächtigungen konkret nachgewiesen wer- bekämpfung auf europäischer Ebene sind. Ich sage aller- den. Es ist gut, dass es die Subsidiaritätskontrolle und dings auch, dass in diesem Zusammenhang die Fragen die Subsidiaritätsklage und damit ein Frühwarnsystem der demokratischen Legitimation weiter diskutiert wer- gibt. Ich sage für unsere Fraktion zu: Wir werden von den müssen. Ich darf wohl für alle hier Anwesenden sa- diesen Instrumenten dann, wenn wir es für notwendig gen, dass die mündliche Verhandlung zum europäischen halten, regen Gebrauch machen, damit gerade dieses Haftbefehl noch kein Ruhmesblatt für das ParlamentSubsidiaritätsprinzip, das ich im Zusammenhang mit war. Bürgernähe in Europa für essentiell halte, in Zukunft besser durchgesetzt werden kann. (Zuruf von der SPD: Oh ja!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Da müssen wir besser werden, meine Damen und Her- neten der FDP) ren. Meine Damen und Herren, nicht jeden, der einmal in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einem Rat in Europa gesessen hat, wird das freuen, aber neten der FDP und des Abg. Rainder in Zukunft müssen die Ratssitzungen, die sich mit Ge- Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) setzgebung befassen, öffentlich sein. Das ist notwendig Weil das notwendig ist, ist es gut, dass in diesem Ver- und wird auch eine Veränderung der Diskussion mit sich fassungsvertrag die Stärkung des Demokratieprinzips bringen. Dadurch wird einmal mehr deutlich gemacht in vielfältiger Weise deutlich wird. werden, dass darüber nachgedacht werden muss, wie oft Gesetzgebung in Europa notwendig ist. Ich verhehle Die Rechte des Europäischen Parlaments werden ge- nicht, dass einem gewisse Zweifel kommen, wenn stärkt. Meine Damen und Herren, die Geschichte Euro- 900 Richtlinien noch schlummern und zur Beratung an- pas ist lang und wir vergessen manchmal, dass das Euro- stehen. Wenn alle diese Sitzungen öffentlich sein wer- päische Parlament erst 1979 zum ersten Mal gewähltden, werden wir sehr viel mehr hinschauen können und wurde. Dieses Parlament ist noch heute auf einem Weg, das ist gut so. den andere nationale Parlamente natürlich längst hinter sich gelassen haben. Es ist gut, dass die Rechte des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Europäischen Parlaments jetzt denen des Rates annä- neten der FDP) 16354 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dr. Angela Merkel (A) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dann im Zu- Wir werden in den nächsten Jahren Diskussionen da- (C) sammenhang mit der Diskussion über den Verfassungs- rüber führen, ob nicht Kompetenzen, die Europa schon vertrag einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich damit einmal hatte und die in dem viel gelobtenAcquis befasst, wie wir seitens des Bundestags eine besserecommunautaire verankert sind, wieder an die National- parlamentarische Kontrolle gewährleisten können. Ich staaten zurückgegeben werden, möchte ganz besonders Peter Hintze danken, der zum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schluss in den Verhandlungen nun doch gute Ergebnisse neten der FDP) erreicht hat. so wie wir es in der Föderalismuskommission zwischen Herr Bundeskanzler, ich spüre die Bereitschaft, dass Bundes- und Länderebene derzeit miteinander diskutie- auch die Bundesregierung mit dem Parlament eine Ver- ren. Das bedeutet keine Schwächung von Europa; es be- einbarung darüber schließt, dass unsere Kontrollrechte deutet vielmehr, dass das Subsidiaritätsprinzip immer gestärkt werden, das heißt, dass europäische Angelegen- wieder der Punkt sein muss, an dem wir überprüfen, wel- heiten, die später in nationales Recht umgesetzt werden che Aufgabe wo am besten geleistet werden kann. Das müssen, frühzeitig diskutiert werden können, dass die bedeutet dann auch, dass wir die Richtlinien, die wir aus Bundesregierung ihre Position in den Verhandlungen Europa bekommen, in Deutschland nicht im Übermaß darlegen muss und dass auch Abweichungen von dieser umsetzen sollten, indem wir immer noch 20 Prozent Position, die die Integrationskraft der Europäischen draufsatteln; vielmehr sollten wir den fairen Wettbewerb Union notwendig macht, schnellstmöglich dem Parla- zwischen Deutschland und anderen ermöglichen. ment mitgeteilt werden, sodass wir nicht von Richtlinien überrascht werden, die sieben Jahre nach Verabschie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dung in Kraft treten. Es geht vielmehr darum, dass wir dann, wenn etwas ansteht, mitdiskutieren können. Das Denn wir sind uns doch alle einig, dass mit Deutschlands ist die Voraussetzung dafür, dass wir Europa auch zu den wirtschaftlicher Prosperität auch Europas wirtschaftliche Menschen in unseren Wahlkreisen tragen können. Prosperität in ganz wesentlichen Bereichen zusammen- hängt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen uns der Frage stellen, welche Balance wir Dabei verhehle ich nicht, dass wir nicht alle Wünsche in dem Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und durchsetzen konnten. Wir hätten es gerne gehabt, dass Erweiterung schaffen. Ich glaube, wir müssen sehr red- bei den Beitrittsverhandlungen auch eine Zweidrittel- lich und zum Teil auch leidenschaftlich darüber diskutie- mehrheit notwendig gewesen wäre. Aber wir haben eini- ren, welche Erweiterungskapazitäten Europa hat. Der ges erreicht. Auf alle Mitglieder dieses Hauses kommt Bundeskanzler hat am 7. Mai gesagt, es gebe Grenzen (B) viel zusätzliche Arbeit zu. Ich hoffe, dass jeder Kollege der Erweiterung Europas, die sich nicht abstrakt festle- (D) gerne von seinen Kontrollrechten Gebrauch macht, gen ließen, sondern sich konkret aus der Aufnahmefä- higkeit der Europäischen Union ergäben. Beitrittsfähig- (Beifall der Abg. [BÜNDNIS 90/ keit und Aufnahmefähigkeit seien die zwei Seiten einer DIE GRÜNEN]) Medaille. Ich kann das hundertprozentig unterschreiben. sodass es nicht nur zu Mehrarbeit für die Regierung,Ich sage allerdings auch: Es wird immer wieder vorkom- sondern auch für die Parlamentarier kommt. men, dass wir, wie zum Beispiel im Fall der Türkei, un- terschiedlicher Meinung darüber sind, ob die Aufnahme- Ich glaube, dass wir an einem solchen historischen fähigkeit – das ist mein Bezugspunkt – zu einem Tag, an dem wir ein solches Projekt verabschieden, auch bestimmten Zeitpunkt wirklich da ist, ohne dass wir das sehen müssen – das hat etwas mit der Zustimmung zu europäische Einigungswerk gefährden. Lassen Sie uns Europa zu tun –, dass wir in zweierlei Hinsicht amdarüber fair, aber auch intensiv und leidenschaftlich Scheideweg stehen: zum einen, was die Integrationstiefe streiten! Es wird Europa gut tun. anbelangt, und zum anderen, was die Ausdehnung der Europäischen Union anbelangt. Es ist – jedenfalls aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) meiner Sicht – für das Funktionieren der Europäischen Ich habe eine letzte Bitte. Wir müssen auch darauf Union von größter Bedeutung, dass es uns gelingt, Euro- achten, dass wir mit einer Sprache sprechen, und zwar pa als Wertegemeinschaft, aber auch als ein Modell für außerhalb unseres Landes bei dem, was wir verhandeln, das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen, nämlich und innerhalb unseres Landes, wenn wir Wahlkämpfe als Sozialstaatsmodell durchzusetzen. Dies werden wir haben. im globalen Wettbewerb nur dann schaffen, wenn wir wirtschaftlich stark sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Deshalb unterstütze ich alles, was mit derLissabon- GRÜNEN) Strategie zusammenhängt. Aber wir werden in Zukunft weiter überlegen müssen, was dem Ziel der wirtschaftli- – Ja, meine Damen und Herren, ich sage das in aller chen Stärke und der Schaffung von Arbeitsplätzen dient Nüchternheit. – Ich glaube, man darf nicht – wie es über und worauf wir vielleichtverzichten müssen. Dabei Monate geschehen ist – über eine Richtlinie wie die könnte es sein, dass die Bestückung von Biergärten mit Dienstleistungsrichtlinie, die von Grund auf richtig ist, Sonnenschirmen ein wenig zurücktreten muss und dass plötzlich in Situationen, in denen es zu bestimmten Ent- dafür Richtlinien, die die wirtschaftliche Kraft in Europa scheidungen kommt, etwas nuanciert und anders spre- wieder anfeuern, in den Vordergrund treten. chen, als man das vorher getan hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16355

Dr. Angela Merkel (A) (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Man wird Herzlichen Dank. (C) jeden Tag schlauer!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- Ich glaube, man muss bei den Beitrittsverhandlungen fall bei der FDP) ganz klar Position beziehen. Die Bundesregierung hat es formal auch getan. – Darüber brauchen Sie sich gar nicht Präsident Wolfgang Thierse: aufzuregen. Der Bundeskanzler hat zum Beispiel in Wei- Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der SPD-Frak- den – in fünf Punkten – gesagt: Wir dürfen nicht nur die tion, Franz Müntefering. Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschränken, sondern wir müssen auch bei der Freizü- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gigkeit im Bereich der Dienstleistungen Einschränkun- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen vornehmen. Er hat damals das Baugewerbe – dort ist es geschehen – und Bereiche des Handwerks – dort ist es Franz Müntefering (SPD): so gut wie nicht geschehen – als Beispiele genannt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Wenn wir uns heute die Statistiken ansehen und uns gibt Wochen, die haben es in sich. Dies ist so eine Wo- über die stark angestiegene Zahl der Neugründungenche. von Handwerksbetrieben freuen, dann dürfen wir nicht (Michael Glos [CDU/CSU]: Sonntag in einer vergessen, dass Realität ist, dass zum Beispiel in Köln Woche wird es noch schlimmer!) 50 Fliesenlegerbetriebe aus den mittel- und osteuropäi- schen Staaten in einer Wohnung ansässig sind, weil die Deshalb will ich ein bisschen dabei verweilen; denn die Fliesenleger – anders als in Österreich – nicht von der Dinge gehören zusammen. Dienstleistungsfreiheit ausgenommen wurden. 8. Mai: Zehntausende demonstrieren am Brandenbur- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist doch ger Tor Demokratie und für Demokratie, darunter Ver- illegal!) treter der Aktion Sühnezeichen, des Anne-Frank- Zentrums, der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, der – Bleiben Sie ganz ruhig! Ich bin gar nicht auf Polemik Arbeiterwohlfahrt, des Türkischen Bunds in Berlin- gestimmt. Brandenburg, von Mehr Demokratie e. V., des DGB, (Lachen bei der SPD) von „Zivilcourage zeigen“ und von „Gesicht zeigen“. Das waren ein sympathisches Gesicht und ein gutes Ge- – Ich bin überhaupt nicht auf Polemik gestimmt. fühl in Deutschland. Ich sage Ihnen nur in aller Ruhe: Wenn Sie in einem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Jahr die Handwerksordnung so ändern, dass der Zugang DIE GRÜNEN) (D) der Fliesenleger zum Arbeitsmarkt vereinfacht wird, und Wenn man auf der Straße, an den Ständen oder in den gleichzeitig die Dienstleistungsfreiheit ermöglichen, Zelten dabei war, dann sah man: Die ist dabei, der ist da- dann dürfen Sie zumindest zum Schluss über den Sach- bei, fröhlich locker, aberauch entschlossen. Die Bot- verhalt nicht Klage führen. Wir hätten das anders ge- schaft war eindeutig: Diese deutsche Demokratie ist macht. selbstbewusst und sie ist sich ihrer Verantwortung be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wusst; Nazis und Extremisten jedweder Art haben in neten der FDP) Deutschland keine Chance – nie wieder! Ich sage dies deshalb, und zwar in tiefem Ernst, weil (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es mir und meiner Fraktion darum geht, dass Europa aus DIE GRÜNEN) den heute genannten historischen Gründen auch in den Ich richte unseren Dank an Klaus Wowereit und alle nächsten Jahrzehnten die notwendige Akzeptanz, die Verantwortlichen in Berlin. Dies gilt ganz besonders für notwendige Bürgernähe aufbringt, damit die Menschen die Polizistinnen und Polizisten, die in diesen Tagen in in diesem Lande Europa als eine Chance begreifen, als vorbildlicher Weise mitgewirkt haben. Wir waren und eine Chance in der globalen wirtschaftlichen Auseinan- sind auf unsere Hauptstadt richtig stolz. dersetzung, als eine Chance in der kulturellen Auseinan- dersetzung, als eine Chance, ein Partner zu sein, der für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Freiheit und Demokratie in der Welt streitet. Um das DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht aufs Spiel zu setzen, müssen wir auch in dem, was FDP) vielleicht wie ein Detail erscheint, was die Menschen aber betrifft, ernsthaft miteinander ringen. 9. Mai: Russland gedenkt desKriegsendes vor 60 Jahren und lädt dazu den Bundeskanzler der Bundes- Ich glaube – damit lassen Sie mich schließen –, der republik Deutschland als Freund ein. Das Land, das vorliegende Verfassungsvertrag hat unsere Möglichkei- mehr als jedes andere unter der Aggression Deutsch- ten erheblich erweitert. Deshalb kann ich aus vollemlands gelitten hat, zeigt Versöhnung. Der Bundeskanzler Herzen Ja sagen, auch wenn mir nicht alles gefällt. Aber hat in seiner Rede heute die gute Geschichte Europas seit der Streit um Europa muss im 21. Jahrhundert unterAdenauer und de Gaulle skizziert. Ich füge hinzu: Dass neuen Bedingungen im Sinne der Bürgerinnen und Bür- Präsident Putin, Bundeskanzler Gerhard Schröder und ger genauso leidenschaftlich geführt werden, wie das die viele Staatsmänner in Moskau gemeinsam Friedfertig- Gründungsväter der Europäischen Union getan haben. keit und Freundschaft demonstriert haben, gehört in die 16356 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Franz Müntefering (A) Kette einer großartigen, hoffnungsvollen Entwicklung EU-Charta der Grundrechte ist integraler Bestandteil (C) Europas und hoffentlich weit darüber hinaus. der europäischen Verfassung. Sie wird rechtsverbindlich. Die Grundrechte werden individuell einklagbar. Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Charta ist Kern einer gemeinsamen europäischen Werte- DIE GRÜNEN) ordnung, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, jeder 10. Mai: Eröffnung des Denkmals für die ermorde- Bürger und jede Bürgerin. Dieses Dokument fortschritt- ten Juden Europas für die Öffentlichkeit. 2711 Stelen licher Menschenrechte und Grundrechte enthält neben und das darunterliegende Informationszentrum machen den politischen und bürgerlichen auch weit gehende so- dieses Mahnmal in der Gegenwart und für die Zukunft ziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte und hat sich zu einer Stätte dauerhafter Erinnerung an eine grausame, bereits heute zu einem Dokument mit weltweiter Strahl- entsetzliche deutsche Vergangenheit. Gedenkstundenkraft entwickelt. gibt es viele. Wer die Zeitzeugin Sabine van der Linden in der Gedenkstunde vorgestern miterlebte, der wird sie Die europäische Geschichte mit all ihren Irrungen nie vergessen. und Tragödien ist auch geprägt von der Nächstenliebe christlicher Gesinnung, von der Mitmenschlichkeit der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Aufklärung und des Humanismus, von der Solidarität GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- sozialdemokratischer und sozialistischer Ideen. Die ten der CDU/CSU) Grundrechte, die sich damit verbinden, garantieren die 12. Mai, heute: Vor 40 Jahren, am 12. Mai 1965, nah- Freiheit des Einzelnen, die Gerechtigkeit im staatlichen men Israel und die Bundesrepublik DeutschlandHandeln und die Solidarität in der Gesellschaft. Für die diplomatische Beziehungen auf. Das waren und dasVerfassung stimmen heißt Zustimmung zu diesen Wer- sind keine einfachen Beziehungen; aber sie haben zur ten. Wiederannäherung zwischen dem deutschen und dem (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- jüdischen Volk geführt. Damals, 1965, wurde ein Ab- Michael Goldmann [FDP]) grund überwunden, wie es ihn tiefer zwischen zwei Völ- kern in der Menschheitsgeschichte wohl nicht gab. Was kann Europa sein? EineRegion der Demokra- Die Überlebenden, die Angehörigen der Ermordeten, tie. 25 souveräne Staaten – bald mehr als 25 – bilden haben nach dem Ende des Schreckens vielfach Zuflucht eine Union. Wir lernen, diese Union demokratisch zu ge- in Israel gefunden. Sie haben den jungen Staat mit auf- stalten. Wie geht und wie lebt Demokratie, wenn es Ge- gebaut, der den Juden aus aller Welt eine sichere Heimat meinden und Länder und einen Bundesstaat und die bieten soll. Vielen von ihnen war der Gedanke, normale Union gibt, und dies in Variationen und 25-mal? Wir alle (B) Beziehungen zu Deutschland und zu Deutschen zu un- müssen wohl üben. Aber Üben ist keine Schande. Eine (D) terhalten, zu Anfang unerträglich. Es bedurfte einer un- Schande wäre es, wenn sich die Demokratie mutlos in geheuren Kraft und eines großen Herzens, sich im Licht nationalstaatliche Selbstvergessenheit und Verzagtheit dieser Vergangenheit trotzdem der Zukunft zuzuwenden. zurückfallen ließe. Diese Kraft hatten die Menschen in Israel. Dafür sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir dankbar. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wir wollen dieses Europa als eine Region der Demo- CDU/CSU und der FDP) kratie. Einfach ist das nicht; das wissen wir alle. Die EU- Verfassung steht allerdings nicht dagegen; sie hilft, mehr Dieser 12. Mai 2005 wird aber auch als derjenige Tag Demokratie zu wagen in Europa. Mehr Teilhabe der in den Geschichtsbüchern stehen, an dem der Deutsche Bürgerinnen und Bürger unmittelbar, das ist ein Anlie- Bundestag den Vertrag über eine Verfassung für Europa gen sozialdemokratischer Politik. In unserem Grundge- beschließt. Eine Verfassung beschließen heißt, Grund- setz steht das noch nicht. Das ist bislang am Widerstand werte zu benennen und sich Regeln zu geben. Eine Ver- von CDU und CSU gescheitert. Bei der EU-Verfassung fassung ist keine Garantie für eine richtige Politik; aber waren wir erfolgreicher. Sie sieht die Möglichkeit eines sie erleichtert richtige Politik. Sie ist ein Kompass, weist europäischen Bürgerbegehrens vor. also den Weg. Sie kann keine Steine aus dem Weg räu- men – Steine wird es wahrlich genug geben und wir sto- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ßen jeden Tag auf welche –; aber sie gibt Orientierung. DIE GRÜNEN) Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist ein gutesEs ist nicht leicht, aber es ist ein Angebot an die Men- Beispiel und eine Erfolgsgeschichte. Theoretisch könnte schen in Europa. in Deutschland heute auch ohne Grundgesetz alles so sein, wie es heute ist; aber eben nur theoretisch. Jean Das geht im Übrigen auf die Initiative des sozialde- Monnet hat sich zu dieser Problematik einmal so geäu- mokratischen Vertreters des Bundestages im Konvent, ßert: „Es kommt nicht darauf an, aufzuschreiben, was Professor Dr. Jürgen Meyer, zurück. Das freut uns. Ich sein soll, sondern es kommt darauf an, aufzuschreiben, begrüße ihn heute hier ganz herzlich. was sein kann.“ Richtig! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was kann Europa sein? Eine Region, in der die Men- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schenrechte und die Grundrechte gesichert sind. Die CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16357

Franz Müntefering (A) Mehr Teilhabe der Parlamente, des Europäischen Par- Soziale Marktwirtschaft heißt auch: gerechte und an- (C) laments und der nationalen Parlamente. Auch der Deut- gemessene Arbeitsbedingungen, Schutz vor ungerecht- sche Bundestag ist direkt in die Rechtsetzung der euro- fertigter Entlassung, Anspruch auf Elternurlaub, das päischen Ebene einbezogen. Das ist prinzipiell nicht neu. Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Diese Rechte des Bundestages werden jedoch bald kon- Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz, das kretisiert. Dazu liegen Gesetzentwürfe vor. Das Früh- Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutre- warnsystem zur Subsidiaritätsrüge und die Möglichkeit ten, das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Klage stärken unsere Mitwirkungsrechte bei europäi- oder ihrer Vertreter auf rechtzeitige Unterrichtung und schen Entscheidungen. Sie sind aber weder ein Ersatz Anhörung, das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und für die parlamentarische Kontrolle und Legitimation des bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Ver- europäischen Handelns der Bundesregierung noch dür- teidigung der Interessen zu ergreifen, einschließlich des fen sie als Instrumente gegen die europäische Integration Rechts auf – hoffentlich selten vorkommende – Streiks. missbraucht werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Bundestag hat bereits heute ein breites Instru- mentarium, um Regierungshandeln demokratisch zuDas sind unveräußerliche Bestandteile sozialer Markt- kontrollieren. Wenn wir jetzt neue Rechte für den Bun- wirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist auch in diesen destag vereinbaren, dann in erster Linie deshalb, um be- Zeiten wettbewerbsfähig gegenüber einer puren Markt- reits bestehende Rechte besser nutzen zu können, um sie wirtschaft, denn sie wird von der Verantwortung aller für für die parlamentarische Arbeit handhabbarer zu ma-das Gelingen getragen und sichert den sozialen Frieden. chen. Was für Deutschland nicht geht, will ich auch an- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sprechen. Das sind Regelungen, die die Europapolitik des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschlands zum Stillstand bringen würden. Eine Kne- belung deutscher Europapolitik durch den Bundestag Unsere Botschaft ist klar: Dass dieEU-Dienstleis- wird es mit uns nicht geben. Wir wollen eine handlungs- tungsrichtlinie nicht nur den Idealen liberaler Wettbe- fähige deutsche Europapolitik im Dienst der Vertretung werbspolitik entsprechen darf, sondern auch sozialen In- der Interessen unseres Landes und seiner Bürgerinnen teressen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in und Bürger auf EU-Ebene. Wir wollen eine jederzeitunserem Lande genügen muss, das ist ein klares Wort handlungsfähige Bundesregierung. Sie muss in Europa und das vertreten wir auch so. jederzeit agieren und mit führen können; auch das gehört (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zur Wahrheit dazu. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) DIE GRÜNEN) Dass europäische Steuerpolitik mindestens im Bereich der Bemessungsgrundlagen kompatibel sein muss und Mir sei der Hinweis erlaubt: Wir müssen in der De- nicht zu Steuerdumping führen darf, auch das ist ein kla- batte um die Föderalismusreform in Deutschland klar- res Wort. Das wollen wir so. stellen, dass wir in Europa nicht mit 17 Wirtschafts- und Finanzministern unterwegs sein wollen, sondern dass es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im Hinblick auf den Einfluss Deutschlands in Europa des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nötig ist, die Interessen unseres Landes zu bündeln und Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist anstren- sie durch die Bundesregierung verantwortlich vertreten gend, aber bietet eine große und zugleich die einzige zu lassen. Deutsche Kleinstaaterei hat in Europa keinen Chance. Wir Europäer müssen es in den nächsten beiden Platz. Peer Steinbrück, der Ministerpräsident von Nord- Jahrzehnten schaffen, aus Europa eine stabile Region rhein-Westfalen, hat dazu Vernünftiges gesagt. des dauerhaften Wohlstandes für alle zu machen, der so- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zialen Gerechtigkeit und des Friedens. Wir können das DIE GRÜNEN) schaffen. Was kann Europa sein? Ein soziales Europa.Soziale Kleinkarierte Populisten und Wortverdreher helfen Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Fort-uns da nicht. schritt, Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Ich will auf den Schlenker, den Sie, Frau Merkel, ge- Schutz, Gleichstellung von Frauen und Männern, Solida- macht haben, eingehen; ich hatte dieses Thema sowieso rität zwischen den Generationen und der Kampf gegen vorgesehen. Wenn Sie Näheres über die 50 Fliesenleger soziale Ausgrenzung und Diskriminierung werden mit in Köln wissen, auf die Sie eingegangen sind, dann bitte dieser Verfassung zu erklärten Zielen europäischer Poli- ich Sie sehr herzlich: Geben Sie mir die genaue Adresse. tik. Wir wollen, dass auch in Zeiten von Globalisierung Ich sorge dafür, dass morgen dort Besuch erscheint, der und Entgrenzung der Märkte und des Geldes Europas klarstellt, dass dieses Verhalten illegal ist. Reden Sie also Politik von dem Anspruch bestimmt wird, sozial zu sein. nicht nur darüber, sondern helfen Sie mit, dass solch ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Verhalten bekämpft wird! Damit kämen wir der Lösung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schon ein Stück näher. Albert Einstein: „Der Staat ist für die Menschen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht die Menschen für den Staat.“ Das gilt auch für die DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Dr. Angela Ökonomie. Merkel [CDU/CSU]) 16358 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Franz Müntefering (A) – Ja, das sind ja Geschichten, von denen wir in den letz- Ich lasse das alles so stehen. Fröhliches Wiedersehen bei (C) ten Tagen und Wochen immer mehr hören. diesen Themen im Wahlkampf, kann ich Ihnen nur sa- gen! Wir haben da gutes Material. Der Kanzler hat vorhin die letztjährige Erweiterung und die geplante Erweiterung zum 1. Januar 2007 ange- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sprochen. Alle wussten, dass Bulgarien und Rumänien DIE GRÜNEN) gemeint sind. Keiner von Ihnen hat die Hand gerührt. Was kann Europa sein? EineRegion des Friedens. ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Der Frieden in Deutschland und in Europa, nach dem GRÜNEN]: Das stimmt!) Niedergang des Kommunismus gefestigt, ist ein Segen. Das wissen wir alle. Viele von uns haben 60 Jahre Frie- Ich lese einmal vor, was Wolfgang Schäuble am 3. Juli den erlebt. Das gab es über Jahrhunderte an dieser Stelle 2003 gesagt hat: in Europa nicht. Aus verfeindeten Völkern sind Freunde geworden. Das soll heute noch einmal betont sein, ganz Europa erweitert sich nicht, sondern Europa über- im Sinne Willy Brandts: „Wir wollen gute Nachbarn windet seine Teilung. Der Prozess ist übrigens noch sein, nach innen und nach außen.“ nicht zu Ende. Auch Sofia, Bukarest, Zagreb oder Belgrad sind schließlich Europa. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Damit ist gesagt: Auch Bulgarien, Rumänien, Kroatien und Serbien gehören zu Europa dazu. Frieden ist ein hohes Gut. Im tagtäglichen Klein- Klein der europäischen Integration gerät das leicht in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vergessenheit. Die europäische Integration dient auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dem Ziel, den Frieden in Europa zu erhalten. Europäi- sche Politik muss auch künftig dem Friedensziel dienen. Ich sage nur: Man muss sich hüten, welche BotschaftDas ist Grundvoraussetzung für eine Teilhabe der Bürge- man an welcher Stelle gibt. rinnen und Bürger an der Einigung Europas. Friedenser- halt im Innern bedeutet auch, dass Europa sein wirt- Im Zehnpunktepapier zur Erweiterung der Europäi- schaftliches und politisches Gewicht nutzt, um für eine schen Union von Anfang 2001 macht die Union deut- aktive Friedenspolitik nach außen einzutreten. Es wer- lich, dass sie die Zuwanderung von Arbeitskräften als den große Erwartungen an die EU gerichtet, beispiels- Gewinn betrachtet. Diese werden „keine großen Verwer- weise von den Vereinten Nationen. Sie fordern mehr fungen verursachen“, so heißt es. europäisches Engagement in den Bereichen humanitäre (Jörg Tauss [SPD]: Aha!) Hilfe sowie Konfliktvorbeugung und -bewältigung welt- (B) weit; denn sie wissen, dass Europas einmalige Erfahrung (D) Deutschland sei bereits jetzt in bestimmten Bereichen in der Schaffung von friedlicher Zusammenarbeit und immer stärker auf eine größere Zahl von ausländischen Wohlstand von unschätzbarem Wert ist. Auch diese Auf- Arbeitskräften angewiesen. Die Erweiterung werde die gabe hat Europa zu erfüllen und wir wollen uns ihr stel- Wirtschaft und den Euro stärken und die Arbeitsplätze in len. Deutschland sichern und stärken. Auch die innere Si- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des cherheit werde zunehmen. – Was man da nicht alles so BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liest! Werden wir heute hier und am 27. Mai im Bundesrat (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die nötige Zweidrittelmehrheit erreichen? Wir dürfen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wohl sicher sein. Ich sage aber auch in alle Richtungen: Über Peter Hintze, Ihren Sprecher für europapoliti- Es wäre gut, wenn alle dabei wären. Die bayerische Spe- sche Fragen, heißt es am 15. Februar 2001 in der „Süd- zialität, damals gegen das Grundgesetz zu stimmen, deutschen Zeitung“: muss hier nicht zur Tradition weiterentwickelt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Er) plädiert in der Frage der Arbeitnehmerfreizü- DIE GRÜNEN) gigkeit im Zuge der EU-Osterweiterung für deut- lich kürzere Übergangsfristen als die Bundesregie- Ich war, wie viele im Hause, in den vergangenen Ta- rung. gen in Frankreich und habe dort die Anstrengungen er- lebt, unter denen viele unterwegs sind und für die EU- (Zurufe von der SPD: Oh!) Verfassung werben. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, sich Diese sieben Jahre seien eindeutig zu lang. in solche Angelegenheiten einzumischen. Aber ich sage trotzdem: Es ist – da bin ich gewiss – der Sache dienlich. Er halte eine Frist von drei Jahren für ausrei-Ich wünsche mir und uns allen in Deutschland und im chend … Deutschen Bundestag von Herzen, dass wir in diesem Mai 2005 in Deutschland und in Frankreich das gute, (Heiterkeit bei der SPD) klare Signal geben: Wir wollen dieses Europa – demo- kratisch, sozial und friedfertig. Die zu erwartende Zahl der Arbeitnehmer aus den Beitrittsstaaten liege unter den Bedürfnissen des Vielen Dank. deutschen Arbeitsmarktes … (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem (Zurufe von der SPD: Oh!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16359

(A) Präsident Wolfgang Thierse: dass er aus guten Gründen gewählt worden ist –, um ein (C) Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der FDP-Frak- Signal an unseren befreundeten europäischen Nachbarn tion, Wolfgang Gerhardt. Frankreich zu senden. In diesem Land findet einRefe- rendum statt. Da spielt all das hinein, was wir auch in Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Deutschland spüren: Unmut. Nur schwer begreifen die Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undMenschen das Tempo der Erweiterung. Sie kommen an Kollegen! Zunächst einmal aus dem Wahlkampf einGrenzen der Nachvollziehbarkeit europäischer Entschei- Stück zurück zum Thema des Tages. dungen. Sie haben von den politischen Führungen in Europa schon lange nicht mehr klar, überzeugend, deut- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lich und mutig die Frage beantwortet bekommen, worauf Es geht um den europäischen Verfassungsvertrag. Erwir denn jetzt in der Tat hinaus wollen. bringt, um es kurz zu sagen, ein Stück Stärkung des Dass wir Deutschen nach den Katastrophen, die wir Europäischen Parlaments. Er bringt Klärungsmechanis- erlebt haben, Europa brauchen, ist gar keine Frage. Aber men für die nationalen Parlamente beim Thema Subsi- wohin wir jetzt mit Europa gehen wollen, das muss neu diarität. Er verankert unter unserer großen Wertschät-grundgelegt werden. Wer das verdrängt – zu einem Teil zung eine Grundrechte-Charta in der europäischender Verdrängung gehörte die Diskussion hier im Haus, Verfassung. Er ermöglicht qualifizierte Mehrheitsent- ob wir zu einem Volksentscheid kommen sollten –, der scheidungen und eröffnet die Chance zur Gemeinsamen muss sich fragen lassen, ob er nur aufgrund von europäi- Außen- und Sicherheitspolitik. schen Gipfeltreffen glaubt, europäische Gesellschaften Er hat aber auch Schwächen. Im Rahmen des Defizit- von dieser Verfassung überzeugen zu können. Wir spü- verfahrens wird die Kommission nicht so gestärkt, wie ren, dass das so nicht funktionieren kann. wir es möchten. Die Konstruktion der Gemeinsamen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Außen- und Sicherheitspolitik ist ein Potenzial für die der CDU/CSU) Zukunft. Es kommt aber auf die Persönlichkeit an, die sie unternimmt. Wenn sie sich zwischen den Institutio- Die europäische Nachkriegsgeschichte hat in allen nen zerreiben lässt, wird diese Politik scheitern. Wenn es beteiligten europäischen Ländern große Namen hervor- ihr gelingt, zwischen den Institutionen zu arbeiten, wird gebracht. Aber Europa kann nicht nur eine Sache der diese Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die politischen Eliten sein. Europa muss auch eine Sache unsere Hoffnung ist, gelingen. seiner eigenen Gesellschaften sein: im Umfang, in den Zielen und im Credo. Der Verfassungsvertrag führt bei dem Institutionen- (B) gefüge noch nicht zu der Klarheit, die wir uns wünschen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) Aber um es ganz deutlich zu sagen: Es gibt keine Alter- Deshalb kommt es mir darauf an, unseren Mitbürge- native zu diesem Vertrag. Er beschreibt das jetzt Erreich- rinnen und Mitbürgern, denen, die hier sind, und denen, bare; er zeigt in die richtige Richtung. Die Bundestags- die an den Fernsehgeräten zusehen, klar zu sagen: Es fraktion der FDP wird heute mit Ja stimmen. gibt kein Land in Europa, das Europa selbst, eine hand- (Beifall bei der FDP) lungsfähige Europäische Union, aber auch ihre Durch- schaubarkeit und ihre Überzeugung so dringend braucht Ich will nicht länger über den Verfassungsvertrag ar- wie die Bundesrepublik Deutschland. gumentieren. Die entscheidende Aufgabe ist nämlich eine andere. Es geht um die Frage, ob es uns gelingt, mit Es gibt im Übrigen auch kein Land in Europa, das wie politischer Überzeugung in den Gesellschaften – auch in die Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig so drin- der deutschen Gesellschaft – zu verankern, dass dieser gend und notwendig dastransatlantische Bündnis Weg alternativlos und richtig ist und aus welchen Grün- braucht. Deshalb sollten wir niemals den Sirenenklängen den er gegangen werden muss. nachgeben und so tun, als ob wir Europa mit einem klei- nen Gegengewicht zu Amerika aufbauen könnten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die eigentliche Aufgabe liegt nicht darin, auf Semina- ren den Verfassungsvertrag – durch wen auch immer – Wir müssen nicht der Auffassung sein, dass die amerika- groß zu beschreiben. Die eigentliche Aufgabe liegt zwi- nische Administration jedes Mal Recht hat. Auch schen dem Pathos der ganzen europäischen Bewegung, Konrad Adenauer und Helmut Schmidt haben sich in das sie mit Recht anführen kann und das sich durchEinzelfragen heftig mit der amerikanischen Führung weite Teile der Aussprache zieht, und demAlltag der auseinander gesetzt. Das ist nicht die Frage. Aber wir Menschen in Europa. Wenn uns das nicht gelingt, nutzt Deutschen müssen genau wissen, wer unsere Sicherheit uns eine geschriebene und verabschiedete Verfassung am Ende garantiert, mit wem wir Wohlstand erreicht ha- nichts. ben und zu wem wir gehören. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Für die Verabschiedung ist der heutige Tag gewählt Deshalb ist das Gerüst Europäische Unionund trans- worden – wir dürfen nicht darüber hinweg diskutieren, atlantische Partnerschaft so wichtig. 16360 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Nun zu den Zielen. Wenn Europa mit seinen Erfolgen, Es gibt dafür keine bessere Ausdrucksform. (C) die es zweifellos hat, Gestaltungsanspruch erheben will, dann darf es nicht in dieser Lethargie verbleiben, in der Wenn wir an den 8. Mai denken, wissen wir, dass wir es sich gegenwärtig trotz Verfassungsvertragsentwurfs Deutsche diesen Satz dreimal unterstreichen können. Es befindet. ist unstreitig, dass Europa nach den Katastrophen eine schlichte Überlebensfrage für seine Bürger war. Europa Wir sind von den Zielen des Lissabon-Unternehmensist für uns nicht nur Wirtschaft. Europa ist mit der Ideen- weit entfernt. Wir wollten in wenigen Jahren der wirt- geschichte der Menschheit, mit Pluralismus, individuel- schafts- und wissenschaftsstärkste Raum der Welt sein. ler Freiheit, der Aufklärung, der Französischen Revolu- Wir hatten den Bürgern vorgegeben, dass wir ihnention und den Bürgerrechten verbunden. mehr Chancen als Risiken anbieten. Aber wir sind noch nicht einmal auf der Hälfte der Strecke. Herr Kollege Ob ein Gottesbezug in der Verfassung steht oder Müntefering, ich bezweifle für meinen Kolleginnen und nicht: Europa hat christlich-jüdische Wurzeln. Sie gehö- Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion, ob wir diesesren zu uns, ob man nun Mitglied der Evangelischen Kir- Ziel mit einem europäischen Modell, wie Sie es zeich- che oder Katholik ist. Wenn der berühmte Satz: „Vor nen, das staatlichen Regelungen einen sehr starken Vor- Gott sind alle Menschen gleich“ stimmt – ich bin über- rang einräumt, erreichen. zeugt, dass er stimmt; dafür muss man nicht jeden Sonntag in die Kirche gehen–, dann gilt dieser Satz Lassen Sie mich einmal vorlesen, was uns Alexis de nicht nur für Katholiken und Protestanten, sondern für Tocqueville, der großartige französische Nachbar, schon alle Menschen. Er gilt auch für die anderen. Wenn wir 1835 ganz erfrischend ins Stammbuch geschrieben hat: nicht in Toleranz gegenüber religiösen Überzeugungen leben, wird Europa nicht gelingen. Der Europäer ist gewohnt, ständig einen Beamten vorzufinden, der sich so ziemlich in alles ein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mischt … der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Bürger in den Vereinigten Staaten lernt von klein auf, dass er sich im Kampf gegen mancherlei Das sind die Wurzeln, die wir ohne Hineinschreiben des Schwierigkeiten des Lebens auf sich selbst verlas- Gottesbezugs in die Verfassung kennen müssen. Sie sind sen muss. Er hat für die Obrigkeit nur einen miss- mehr als katholisch oder evangelisch; sie sind unsere trauischen und unruhigen Blick und ruft die Macht kulturellen europäischen Wurzeln. nur zur Hilfe, wenn er es gar nicht vermeiden kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) Es mag einen Weg zwischen diesen beiden Positionen der SPD und der CDU/CSU) (D) geben; aber eine Prise angloamerikanischen Denkens in Wir brauchen, wenn wir Menschen Ziele geben wol- Wirtschaftsbeziehungen, in eigener Tatkraft und in der len und ihnen sagen wollen: „Die Risiken sind geringer Vitalität der Gesellschaften täte uns ganz gut. als die Chancen“, neue Dynamik, neue Vitalität. Nur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn wir selbst dies ausstrahlen, werden wir am Ende der CDU/CSU) ein Europa aufbauen können, in dem die Menschen gerne leben, das sie nicht ängstlich beschauen und in Ich glaube nicht, dass wir in der Bundesrepublikdem sie keine neuen Wettbewerber fürchten, sondern in Deutschland mit einem durchregulierten europäischen dem sie sich wohl fühlen und ihre Lebenschancen su- Sozialmodell à la Frankreich und Rot-Grün weiterkom- chen. men. Nicht ohne Grund schwächeln diese beiden Länder gegenwärtig am stärksten, obwohl sie als dynamische Wir wollen – damit will ich abschließen –, dass Euro- Tandemfigur Zugpferde sein müssten. Irgendetwaspas Stimme gehört wird. Dann muss man sich aber erst stimmt hier also nicht. bei sich selbst Gewicht verschaffen. Die Stimme eines schwächelnden Kontinents ohne Wachstumsraten, ohne Wir brauchen eine Revitalisierung Europas. Aber das neue wirtschaftliche Dynamik und ohne internationale wird nur gelingen, wenn wir die Kraft der Gesellschaften strategische Vorstellungen wird kaum gehört werden. Sie entfalten und ihnen staatliche Rahmenbedingungen ge- muss noch viel kräftiger entwickelt werden, sei es nur, ben, die sie dazu befähigen. dass wir sagen müssen: Die Nationen, die wie wir und unsere europäischen Nachbarn in Freiheit leben, haben (Beifall bei der FDP) eine besondere Verpflichtung den Menschen in der Welt gegenüber, die weiter in Unfreiheit leben müssen. Wenn wir sie hinwegregulieren, werden wir dazu nicht kommen. Das ist die Aufgabe, die wir wahrnehmen müssen, und das ist die Botschaft an andere. Das setzt aber vo- Meine Damen und Herren, was ist der innere Zusam- raus, dass wir eine eigene Überzeugung von unserem menhalt Europas? Sloterdijk sagt: Kontinent und seinen Aufgaben haben. Wer die Äneis von Vergil liest, weiß, wo Europa Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. liegt. Europa, das ist ein Punkt auf der Karte der Hoffnung. Wo besiegte Menschen eine zweite (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Chance bekommen. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16361

(A) Präsident Wolfgang Thierse: 1991 aus dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu ler- (C) Ich erteile das Wort Bundesaußenminister Josephnen haben. Wenn wir – trotz aller Lösungen bis hin zum Fischer. Kosovo – die Perspektive der europäischen Integration kappen würden, drohten die Probleme, die Konflikte, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- aber auch die Barbarei zurückzukehren. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner Die europäische Verfassung ist daher eine der zentra- letzten Rede vor dem Europaparlament – das war eine len Konsequenzen der erweiterten Europäischen Union. große Rede – hat der bereits vom Tod gezeichnete dama- All die Probleme, mit denen wir zu tun haben, auf dem lige französische Staatspräsident François Mitterrand in Arbeitsmarkt und in vielen anderen Bereichen, und die einem, wie ich finde, bewegenden und zugleich beden- Ängste, die unsere Menschen haben, zum Beispiel, ob kenswerten Satz den eigentlichen Grund für die Grün- sie das größere Europa noch verstehen werden, sind dung der Europäischen Union zusammengefasst.nicht die Konsequenz der Erweiterung der Europäischen François Mitterrand hat damals gesagt: Der Nationalis- Union, sondern die Konsequenz des Falls von Mauer mus, das ist der Krieg. Die Überwindung des Nationalis- und Stacheldraht. Die künstliche Teilung Deutschlands mus durch den Gedanken der europäischen Integration ging am 9. November 1989 zu Ende, auch die künstliche – der Bundeskanzler hat die Geschichte dieses Gedan- Teilung Europas ging am 9. November 1989 zu Ende. kens heute noch einmal sehr beeindruckend vor Augen Wer ein friedliches Europa will, der wird zum erweiter- geführt – bedeutete für Europa die Überwindung desten Europa Ja sagen müssen, und wer zum erweiterten Kriegs. Europa Ja sagt, der muss auch zu dieser Verfassung Ja sagen, weil das erweiterte Europa auf der Grundlage der Ich war gestern im Wahlkampf für das Referendum in alten Verträge schlicht und einfach nicht mehr demokra- Lyon. Dort bin ich auf französische Politiker meiner Ge- tisch genug und nach außen nicht mehr handlungsfähig neration getroffen. Wir sind die erste Generation, dieund effizient genug ist. nicht gegeneinander ins Feld gezogen ist, die nicht ge- geneinander gekämpft hat, die sich nicht gegenseitig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN umgebracht hat. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deswegen, meine Damen und Herren, kommt dieser und bei der SPD) Verfassung eine überragende Bedeutung zu. Ich freue mich, dass Vertreter aller Fraktionen breiteste Zustim- (B) (D) Daran muss sich das europäische Einigungswerk mes- mung signalisiert haben. sen. Nun komme ich zu einem entscheidenden Punkt: Die Es geht nicht nur um die Frage der Vergangenheit, auf Frage der Verstehbarkeit europäischer Politik wird die der Bundeskanzler heute völlig zu Recht hingewie- durch einen Verfassungsvertrag natürlich nicht aus sich sen hat. Erinnern wir uns doch an den Beginn einerheraus gelöst. Die Frage, inwieweit die Bürgerinnen und neuen europäischen Ordnung, an die Rückkehr desBürger in Deutschland und in den anderen Mitgliedstaa- Krieges in Jugoslawien 1990/91! Erinnern wir uns doch ten den europäischen Gesetzgebungsprozess – partei- daran, dass in dem Moment, in dem die europäische In- politisch orientiert, wie das in einer Demokratie sein tegration als Angebot nicht greift, die Gefahr des Rück- muss – als den ihren verstehen, hängt ganz entscheidend falls in einen blutigen, Menschen verachtenden Nationa- davon ab, wie diese Verfassung vom Deutschen Bundes- lismus in Europa nach wie vor eine konkrete war undtag und vom Bundesrat mit Leben erfüllt wird. bleiben wird! Deswegen appelliere ich an alle, noch ein- mal darüber nachzudenken, wenn jetzt versucht wird, im Es gibt drei Elemente, die für mich einen entscheiden- Wahlkampf kurzfristig ne ei populistische Münze zu den Schritt nach vorne bedeuten: Der erste Aspekt ist die schlagen: Die Politik der europäischen Erweiterung war Gemeinsame Außenpolitik. Ich finde, sie ist ein ganz immer Bestandteil europäischer Friedenspolitik. Daszentraler Punkt für die Handlungsfähigkeit und die Rolle heißt, das Angebot, zum Europa der Integration zu gehö- unseres Landes in der Welt des 21. Jahrhunderts. Wer ren, ist ein entscheidender friedenspolitischer Ansatz, meint, Europa würde uns gefährden und nicht schützen, den wir seit der Idee der europäischen Integration und der erzählt den Menschen schlicht und einfach die Un- ihrer Umsetzung verfolgt haben und auch in Zukunftwahrheit; weiter verfolgen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) denn wären wir auf uns allein gestellt, hätten wir in der Welt der Globalisierung keine Chance mehr. Wenn wir ein friedliches Europa wollen, können wir nicht ein Europa wollen, das sich in ein Europa der Inte- Der zweite Punkt sind die europäischen Grund- gration und in ein Zwischeneuropa teilt, in dem sich mit rechte. Ich kann nur sagen: Dabei handelte es sich im Blick auf Brüssel und die Integration die Gefühle zwi- Wesentlichen um eine Initiative Deutschlands, die nicht schen Sehnsucht und Frustration bewegen. Nein, dasnur von Rot-Grün, sondern auch von allen anderen Frak- wird nicht funktionieren; das ist die Botschaft, die wir tionen getragen wurde. Darin, dass wir die Grundrechte 16362 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Bundesminister Joseph Fischer (A) als Teil II verbindlich in die Verfassung aufgenommen möglich gestalten und dass wir in diesem Zusammen-(C) haben – hinzu kommt noch der gesonderte Teil der so- hang durch das Angebot des Bundeskanzlers, einen Ver- zialen Grundrechte, in dem es unter anderem um die Ge- trag mit Bundestag und Bundesrat zu schließen, wirklich schlechtergleichstellung geht –, sehe ich angesichts des zu guten Lösungen kommen. gleichzeitig wachsenden Raums der Freiheit und der Si- cherheit in Europa den zweiten ganz großen Erfolg. Ich Entscheidend ist auch die Gleichstellung von Bundes- sage Ihnen: Als Abgeordneter wäre für mich persönlich tag und Bundesrat bei denInformationsrechten. Ich allein der Grundrechtsteil Grund genug, dieser Verfas- denke, das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt. Auf die- sung zuzustimmen; ser Grundlage können wir wirklich gemeinsam voran- kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- FDP) SES 90/DIE GRÜNEN) denn dafür, dass dies Wirklichkeit wird, haben viele von Nein, meine Damen und Herren, wenn ich hier höre, uns weit über ein Jahrzehnt gekämpft. das Parlament sei nicht beteiligt worden, dann kann ich das nicht nachvollziehen. Ich bitte doch, zu bedenken, Das dritte Element ist die Demokratisierung der dass dieser Verfassungsvertrag nicht das Ergebnis einer Institutionen. Ich wünsche mir – das ist von entschei- Regierungskonferenz war – sie war nachgeschaltet –, dender Bedeutung; denn das hieße, Europa auszufül- sondern dass wir das institutionelle Viereck der Europäi- len –, dass die großen politischen Lager bei der nächsten schen Union versammelt hatten, und zwar die Mitglieder Europawahl mit Spitzenkandidaten antreten und Kandi- der nationalen Parlamente – die im Übrigen die Mehrheit daten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufstel- im Konvent gestellt haben –, die Vertreter des Europa- len. Ebenfalls wünsche ich mir – und zwar nicht nur auf parlaments, die Vertreter der Regierungen und der Kom- nationaler, sondern auch auf gesamteuropäischer mission. Die Tagungen waren voll transparent. Es gibt Ebene –, dass bei der nächsten Europawahl die jeweili- eine Reihe von Initiativen; es gab in den zweieinhalb gen Politikprogramme vorgelegt werden. Es muss gesagt Jahren im Europaausschuss permanent Diskussionen werden, welche Politik man betreiben will: eine eher und Informationen. Die Vertreter des Bundestages wirtschafts- bzw. neoliberale, eine eher soziale, eine eher – Kollege Altmaier und Professor Meyer, der bereits ökologische oder was auch immer. rühmend erwähnt wurde; ich möchte mich dem anschlie- Diese Wahl muss auf der Grundlage von Spitzenkan- ßen – waren initiativ, gemeinsam mit anderen Kollegen didaturen und einer klaren programmatischen Alterna- aus anderen Parlamenten, aus nationalen wie auch aus (B) tive gesamteuropäisch durchgeführt werden, damit auch dem Europaparlament. Nein, verehrte Damen und Her- (D) klar wird, dass das Mehr an Rechten des Europäischen ren, an Transparenz hat es im Verfahren wirklich nicht Parlaments – das muss sich in einer Demokratie auch im gemangelt. Das hat meines Erachtens diese Verfassung Wahlkampf durchsetzen – zu mehr Verantwortung führt, auch geprägt. sodass die Bürgerinnen und Bürger wissen, wen sie an der Nase zu greifen haben, wenn in Europa gerade wie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der einmal etwas nicht sehr Lichtes und Sinnvolles be- und bei der SPD) schlossen wird; denn das kann man dann nicht mehr auf Deswegen bedeutet diese Verfassung aus meiner der nationalen Ebene abladen. Sicht ein Mehr an Demokratie in Europa. Sie bedeutet Meine Damen und Herren, genauso entscheidendnicht, dass wir Kompetenz abgeben, die nicht irgendwo wird es auf die Subsidiaritätskontrolle und die Subsidia- im Europäischen Parlament oder im Europäischen Rat ritätsklage ankommen. – Das sind furchtbare Wörter; ankommen wird. Die Vorstellung, das Initiativrecht dem wer versteht darunter schon etwas? – Das bedeutet, dass Europäischen Parlament zu geben und es dem Europäi- die nationalen Parlamente aufgrund dieser neuen Kon- schen Rat zu nehmen, dazu – gestatten Sie mir diese Be- trollbefugnis jetzt Elemente einer zweiten Kammer auf- merkung – ist es schlicht und einfach zu früh gewesen: weisen und entscheiden können: Muss und darf Europa Ich sehe nicht, dass es dazu Mehrheiten in Europa gege- über diese oder jene Frage entscheiden oder gehört die ben hätte; es hat sie dafür nicht gegeben. Deswegen – bei Kirche in diesem Fall nicht ins Dorf? Diese Entschei- aller grundsätzlichen Sympathie als überzeugter europäi- dung liegt in Zukunft in den Händen des Deutschen Bun- scher Integrationist – stand dieses nun wirklich nicht zur destages und des Bundesrates. Hier müssen wir den Bür- Debatte. gerinnen und Bürgern das Mehr an Transparenz in der Gesetzgebung der nationalen Parlamente sichtbar ma- Diese Verfassung wird Europa ein Mehr an Demokra- chen. tie, ein Mehr an Handlungsfähigkeit bringen. Ich habe schon vorhin darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, Da kann ich Ihnen nur sagen: Man darf sich schon die dass wir einen Kontinent des Friedens haben, dass wir Frage stellen, ob die bereits heute existierenden Rechte den Erweiterungsprozess mit der Vertiefung, die durch immer optimal ausgenutzt wurden oder nicht. Deswegen die Verfassung stattfindet, weiter voranbringen. Wir dür- hat die Bundesregierung wirklich großes Interesse daran, fen nicht darauf verzichten, unseren Menschen zu erklä- dass wir den Teil der europäischen Gesetzgebung, der ren, dass die Probleme, die sich durch den Fall von auf uns – sowohl auf die Regierung als auch auf die na- Mauer und Stacheldraht ergeben haben – Gott sei Dank tionalen Parlamente – zukommt, so transparent wiehaben wir diese Probleme und nicht mehr die Probleme, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16363

Bundesminister Joseph Fischer (A) die es davor gegeben hat; Gott sei Dank müssen wir uns Präsident Wolfgang Thierse: (C) heute diesen Herausforderungen stellen –, Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Edmund Stoiber, das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) nichts mit der Verfassung zu tun haben. Im Gegenteil: Wir müssen das Erbe, das wir von unseren Vorgängern Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern): übernommen haben, wirklich fortentwickeln, wir müs- Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Mit sen uns der historischen Herausforderung, ein Europa dem Verfassungsvertrag – ich spreche nicht von der Ver- des Friedens, das heißt, ein Europa der Integration, der fassung, sondern von einem Verfassungsvertrag – gibt Demokratie und der Solidarität, auf unserem Kontinent sich Europa eine neue Grundordnung. Sie wird für das zu schaffen, stellen. Wir dürfen nicht in kleine populisti- politische, das wirtschaftliche und das gesellschaftliche sche Wahlkämpfe abrutschen. Wir müssen den Men-Zusammenleben der Völker und der Menschen in schen zu erklären versuchen, was der Fall ist und was Europa von weit reichender Bedeutung sein. Sie berührt schlicht und einfach nicht. Es gab ja schon damals Kriti- die Menschen in unserem Land bis weit in den Alltag hi- ker, die bezüglich Maastricht voller Skepsis waren. Wir nein. werden wieder „Die Menschen haben Sorgen“ und Ähn- Dieser Verfassungsvertrag ist natürlich auch ein liches mehr hören; dabei werden diese Sorgen natürlich Baustein im großen europäischen Friedenswerk, das nach oben getrieben. heute oft angesprochen worden ist. Hier gibt es keine (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Meinungsverschiedenheiten; das ist ja auch gut so. Die historische Dimension dieses Verfassungsvertrages ist Was ist denn aus der ganzen Kritik an der Euroeinfüh- unbestritten. Seinen wirklichen Wert für Europa wird rung tatsächlich geworden? Da sollte man sich die Re- dieser Verfassungsvertrag aber nur entfalten, wenn er den von gestern noch einmal anschauen und die Realitä- Europa handlungsfähiger macht und die Menschen hier- ten von heute! zulande spüren, dass er ihren Interessen entspricht. Die Menschen müssen spüren: Ihre Probleme, die Probleme (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ eines Landes in Deutschland und die Probleme Deutsch- DIE GRÜNEN]) lands – ob sie ökonomischer oder anderer Art sind –, können zu einem großen Teil nicht mehr allein in Wir müssen begreifen, welche Bedeutung Maastricht Deutschland und auch nicht mehr allein in Europa gelöst (B) hatte. Ich sage: Seien wir doch froh angesichts der welt- werden. Deswegen ist es natürlich notwendig, dass in(D) wirtschaftlichen Verwerfungen und der Herausforderun- den globalen internationalen Zusammenschlüssen unsere gen der Globalisierung, dass es Maastricht gegeben hat, Stimme über Europa kommt; denn nur dann können wir dass wir hier eine eindeutige Mehrheit – eine Zweidrit- im Konflikt vielleicht mit China oder im Konflikt bzw. telmehrheit – gehabt haben und dass wir damals ebenin der Auseinandersetzung mit Indien oder mit den Ver- nicht auf die Kritiker gehört haben! Dasselbe wird für einigten Staaten von Amerika etwas erreichen. die Verfassung gelten. Das ist den Menschen heute sicherlich noch nicht so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bewusst. Es ist uns insgesamt nicht gelungen, den Men- und bei der SPD) schen klar zu machen, dass unsere Position zum Beispiel bei den WTO-Verhandlungen natürlich nur mit einem Ich möchte Sie alle bitten – auch diejenigen, die sich gewissen Nachdruck über Europa eingebracht werden vielleicht noch nicht dazu entschließen können, heute kann. Es wäre sicherlich schöner, wenn wir sie lupenrei- zuzustimmen –, nochmals nachzudenken: Die Alterna- ner einbringen könnten, aber wir können sie nur über tive zu dieser Verfassung ist derNizzavertrag. Es wird Europa einbringen. Deswegen gibt es zum europäischen nicht irgendeine andere Verfassung geben. Als jemand, Zusammenschluss natürlich keine Alternative. Ich der den Konvent mitbekommen hat – Kollege Altmaier, glaube, darüber gibt es keine Meinungsverschiedenhei- da werden Sie mir sicher zustimmen –, kann man sagen: ten. Das will ich auch von meiner Seite aus sehr deutlich Wenn es ein Nein bei der Ratifikation gäbe, wird man unterstreichen. nicht zu Verhandlungen zurückkehren und eine bessere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verfassung bekommen. Die Alternative ist der Nizzaver- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE trag, ein Vertrag, der, wie ich finde, funktioniert hat, um GRÜNEN) die Erweiterung zu ermöglichen. Aber das erweiterte, das größere Europa, ein Mehr an Demokratie, ein Mehr Europa hat als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft an Solidarität, ein Mehr an Nachhaltigkeit, ein Mehr an begonnen. Wir haben sie zu einer politischen Union in Handlungsfähigkeit wird der Nizzavertrag niemals leis- einem Staatenverbund – zu mehr aber auch nicht – fort- ten, sondern dazu brauchen wir die Verfassung. Ich bitte entwickelt. Mit der Aufnahme der Grundrechte-Charta Sie alle um Ihre Zustimmung. in dieses Vertragswerk verpflichtet sich die Europäische Union im Interesse der Menschen auf das große gemein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN same Wertefundament unserer christlich-abendländi- und bei der SPD) schen Kultur. 16364 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Der Verfassungsvertrag ist das erste europäische Ver- sind natürlich schwer verständlich – erhalten die natio- (C) tragswerk, das von allen 25 Mitgliedstaaten gemeinsam nalen Parlamente erstmals unmittelbare Rechte im euro- gestaltet wurde. Es ist damit ein echtes Bindeglied zwi- päischen Meinungsbildungsprozess. schen den alten und den neuen Mitgliedstaaten der Euro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) päischen Union. Gleichzeitig ist der Verfassungsvertrag – darauf möchte ich abheben, weil sich das Bundesver- Das Recht der Subsidiaritätsrüge bindet die nationalen fassungsgericht demnächst damit befassen wird – nicht Parlamente in den europäischen Gestaltungsprozess ein die Verfassung eines neu entstandenen Staates. Wäre er und mit der Subsidiaritätsklage können nun auch die das, wäre er nicht verfassungsgemäß. Das ist er aberParlamente ihre eigenen Rechte bei unzulässigen Ein- nicht. Einige meinen das; ich bin völlig anderer Mei-griffen der Europäischen Union schützen. nung. Deswegen sage ich das hier deutlich: Die Europäi- sche Union ist kein Staat Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage Ih- nen noch einmal, warum ich dies für so bedeutsam halte (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ – darüber haben wir uns oft auseinander gesetzt –: Die CSU]) Menschen in Deutschland – dies gilt sicherlich auch für die Menschen in anderen Ländern – bekommen viele eu- und soll es nach dem Willen der Bürger in Europa auch ropäische Entscheidungen etwa über Richtlinien, wenn nicht werden. sie im Rat getroffen worden sind, letzten Endes nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit. Oft gibt es über das Pro und Kontra in Bezug auf neten der FDP) diese Richtlinien nicht den notwendigenöffentlichen Meinungsstreit. Das entscheidende Problem ist, dass es Auch künftig bleibt die Europäische Union ein Staaten- eine europäische Öffentlichkeit nicht gibt; das Europäi- verbund. Die Mitgliedstaaten – das ist in diesem Verfas- sche Parlament wird nie ein klassisches Parlament sein. sungsvertrag entscheidend verankert – bleiben die „Her- Die deutsche Öffentlichkeit kann daher nur über Bun- ren der Verträge“. Das heißt, die nationalen Parlamente destag und Bundesrat – im besonderen Maße über den entscheiden auch künftig darüber, auf welchen Feldern Bundestag – erreicht werden. Hier muss gestritten wer- die Europäische Union tätig werden darf. den, bevor die Entscheidung getroffen wird, ob einer eu- Meine Damen, meine Herren, ich sage ein klares Ja ropäischen Richtlinie zugestimmt oder nicht zugestimmt zu diesem Verfassungsvertrag. Auch die überwältigende wird. Dann bekommen wir auch die Verbände, die Me- Mehrheit meiner Partei steht nach einer reiflichen Dis- dien und die Menschen in diesen Entscheidungsprozess kussion und Abwägung zu diesem Verfassungsvertrag. hinein. So, wie es gegenwärtig der Fall ist, gelingt uns Ich sage aber auch: Es genügt auf Dauer nicht, einedies nicht. (B) Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat zu haben. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier stimme ich Ihnen völlig zu. Wir müssen auch die Menschen überzeugen. Dafür reicht es nicht aus, pathe- Der Verfassungsvertrag eröffnet zudem erstmals auch tisch an den Idealismus der Menschen, der Bevölkerung, eine klare Alternative zur Vollmitgliedschaft. Er sieht zu appellieren. Wir müssen die konkreten Auswirkungen ausdrücklich vor, Nachbarstaaten ohne Vollmitglied- dieses Vertrages auf die Menschen benennen. Sie sind schaft an die EuropäischeUnion heranzuführen, bei- manchmal gravierend. Wir müssen sie nennen und dann spielsweise über eine privilegierte Partnerschaft. Er abwägen, ob wir in der Lage sind, das zu akzeptierenschafft damit unseres Erachtens das richtige Instrument oder nicht. für die Beziehungen mit der Türkei. Wer die Bürger gewinnen will, darf Fragen der Bürger Meine Damen, meine Herren, der Verfassungsvertrag nicht mit pathetischer Geste als kleinlich und detailver- weist damit im Vergleich zur geltenden Rechtsgrund- sessen wegwischen oder gar demjenigen, der darauf hin- lage, dem Vertrag von Nizza, erhebliche Fortschritte auf. weist, sagen, das sei billiger Populismus. Nein, meine Die positiven Elemente wurden von vielen entwickelt; sehr verehrten Damen und Herren, damit kommen Sie ich hebe hier Wolfgang Schäuble undErwin Teufel auf die Dauer nicht zu einer größeren Akzeptanz Euro- hervor. Erwin Teufel hat sich von Anfang an ungeheuer pas. in diesen Konvent eingebracht. Er hat es fast zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Fragen der Subsidiarität und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Kompetenzverteilung in die Vertragsdiskussion ein- Inhaltlich wurde mit dem Verfassungsvertrag vieles zubringen. Ich hätte mir gewünscht, dass vieles von erreicht: Die EU wird vor allem durch eine mutige, aber dem, was er eingebracht hat, vom Bundesaußenminister auch notwendige Ausweitung der Mehrheitsentschei-aufgegriffen worden wäre. dungen handlungsfähiger. Die EU wird bürgernäher und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- demokratischer; denn die Abstimmung nach Bevölke- rufe von der SPD: Oh!) rungsgröße wird zum Regelfall. Die Kontrollrechte des Europäischen Parlaments werden gestärkt. Die sehr weit – Ja, das ist gar keine Frage. Der Bundesaußenminister und allgemein gefassten Ziele des Vertrages begründen hat die Debatte im Konvent relativ spät verfolgt. Ein ausdrücklich keine weiteren Handlungskompetenzen der Dreivierteljahr lang war er überhaupt nicht dabei und hat Europäischen Union. die Arbeit anderen überlassen; das will ich an dieser Stelle auch einmal vermerken. Mit dem hier bereits angesprochenen Frühwarnsys- tem und der Subsidiaritätsklage – diese Instrumente (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16365

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Der Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) 25 Staaten. Kompromiss bedeutet Geben und Nehmen. der FDP) Ich bin davon überzeugt, dass beim Verfassungsvertrag Hier in diesem Hause wird oft genug über den richti- das Ergebnis stimmt, auch wenn ich in aller Offenheit gen Weg der deutschen Politik gestritten. Aber noch nie sage, dass er nicht in allen Punkten unseren Vorstellun- ist jemand auf die Idee gekommen, einem Kritiker der gen entspricht. Die Grundrechte-Charta ist ein wichtiges Steuerpolitik der Regierung vorzuwerfen, er sei gegen Bekenntnis zu unseren Werten; aber es muss auch darauf Deutschland. Das ist absoluter Unsinn und deswegen hingewiesen werden, dass sich viele in diesem Haus ei- muss man damit aufhören. Die europäische Politik ist nen klaren Gottesbezug – zumindest in der Fassung der keine Außenpolitik mehr, sondern europäische Politik ist polnischen Verfassung – gewünscht hätten. klassische Innenpolitik geworden. Deswegen muss hier (Erika Lotz [SPD]: Es sind 25!) in diesem Haus und darüber hinaus über europäische Entscheidungen ein intensiverer Streit geführt werden. Es wäre eine weitaus stärkere Konzentration auf die Wenn wir das nicht schaffen, wird Europa bei aller Pa- eigentlichen Kernaufgaben der Europäischen Union not- thetik, die man in diesem Zusammenhang aufbringen wendig gewesen. Die Europäische Union macht immer kann, scheitern. noch zu viel Überflüssiges und zu wenig Notwendiges. Es ist ein Unsinn, sich Gedanken zu machen, wie Kell- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ner in Biergärten vor Sonneneinstrahlung geschützt wer- Ich will auf Folgendes hinweisen: Wenn Deutschland den können. Also arbeitet man an einer Richtlinie, mit bzw. Sie darüber entscheiden würden, ob beispielsweise der dann letzten Endes der Wirt verpflichtet wird, ent- der Bereitschaftsdienst bei Ärzten als Arbeitszeit ange- sprechende Schutzmechanismen in einer bestimmten Art sehen wird, dann würde hier darüber eine lebhafte Dis- und Weise zu installieren. Es ist Unsinn, so etwas über kussion stattfinden. Wenn es aber so kommt, wie es der Europa zu lösen. Europäische Gerichtshof oder das Europäische Parla- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ment haben will, dann bedeutet das für Deutschland die bei Abgeordneten der SPD) Einstellung von etwa 20 000 bis 30 000 Ärzten oder die Versorgung der Kranken muss an den Krankenhäusern Ähnlich verhält es sich mit der Übertragung neuer reduziert werden. Über diese Thematik wird in Deutsch- Kompetenzen auf die Europäische Union, etwa bei der land nicht diskutiert. Wenn es aber eine Entscheidung Daseinsvorsorge. Es ist in der Tat für viele Kommunen der Regierung wäre, würde sie hier diskutiert werden. Es ein entscheidender Punkt, die Daseinsvorsorge, den Ka- müssen künftig Entscheidungen diskutiert werden, damit tastrophenschutz, den Fremdenverkehr oder den Sport die Landräte, die Bürgermeister, die Patienten und die plötzlich im europäischen Kompetenzgeflecht zu sehen. (B) Krankenkassen wissen, was auf sie zukommt, wenn eine (D) Ich halte das für falsch. Immerhin sind die Kompetenzen solche Entscheidung getroffen wird. eng begrenzt. Aber es ist dann immer ein Abwägungs- prozess. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Besonders wir in derCSU haben uns die Entschei- Am Ende kommt es wieder zu einer solchen Diskus- dung nicht leicht gemacht. Vielleicht haben wir mehrsion wie bei der Antidiskriminierungsrichtlinie. Sie darüber diskutiert als in anderen Parteien. Wir haben seit wurde 1996 ähnlich wie die Feinstaub-Richtlinie von Jahren darüber intensiv diskutiert und damit gerungen. 1999 von niemandem zur Kenntnis genommen. Als sie Ich sage ausdrücklich: Ichkomme nach dieser Abwä- dann aber umgesetzt wurde, gab es Riesenärger. Dieses gung zu einem ganz klaren Ja. Ich werbe natürlich auch Parlament muss der Regierung vorher sagen, was seines für ein ganz klares Ja, für die Zustimmung zu diesemErachtens richtig ist. Ich gebe allerdings auch zu – Herr Verfassungsvertrag. Aber ich respektiere auch, wenn ei- Kollege Fischer, Sie haben völlig Recht –: Das bedeutet nige Kollegen aus den genannten Gründen heute nicht natürlich auch eine gewaltige Arbeit, weil von den zustimmen können. Meine Überzeugung ist: Zur Lösung 900 Richtlinien mindestens 600 im Laufe der nächsten der bevorstehenden Herausforderungen ist Europa mit Jahre auf dem Tisch liegen werden. Aber es hilft nichts; diesem Verfassungsvertrag besser gewappnet als mitdenn dazu sind wir und Sie in besonderer Weise da. dem bestehenden Vertrag von Nizza. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie mich den „Spiegel“ zitieren, der letzte Der Verfassungsvertrag stößt die Tür für eine stärkere Woche geschrieben hat: „Das Pathos hat ausgedient.“ Einbindung der nationalen Parlamente auf. Das ist für Ich bin heute ein bisschen daran erinnert worden. Statt mich der entscheidende Punkt. Der Bürger, aber aucheuropapolitischer Sonntagsreden erwartet der Bürger bei viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus fühlen der Ausarbeitung von Gesetzen in Brüssel eine innen- sich von Brüssel bevormundet. Die nationalen Abgeord- politische Diskussion. Darum geht es. Deswegen, so neten wollen zu Recht gefragt werden, wenn Europaglaube ich, ist das Begleitgesetz, das wir vorgelegt ha- Vorgaben für ihre Mitgliedstaaten macht. Es muss end- ben, richtig. Ich halte esfür eine absolute Notwendig- lich aufhören, denjenigen oder diejenigen, die auf be- keit. Ich weiß, dass Sie, Herr Bundeskanzler, anderer stimmte europäische Vorgänge innenpolitischer Art hin- Meinung sind. Wir haben oft darüber geredet. Ich halte weisen und Kritik üben, immer gleich mit es demfür notwendig. Wenn wir die Möglichkeit haben, wird Populismusvorwurf oder als Europagegner zu diffamie- dieser Entwurf Gesetz. Im Moment haben wir nicht die ren. Möglichkeit, dass er Gesetz wird. Ich wundere mich, 16366 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) dass die SPD-Fraktion sich da so einbinden lässt. Ich (Beifall bei der CDU/CSU) (C) halte es für notwendig, dass die Bundesregierung Stel- lungnahmen des Bundestages grundsätzlich für verbind- Die Dienstleistungsfreiheit ist auch ein wesentliches lich erachtet. Gut. Die Dienstleistungsfreiheit hätte genauso für eine Übergangszeit eingeschränkt werden müssen, weil diese (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist Länder einfach andere Strukturen haben. Wenn Polen unser Gesetzentwurf! – Michael Roth [Herin- noch nicht einmal 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gen] [SPD]: Das haben wir verfasst!) der Europäischen Union erwirtschaftet, die Slowakei 50 Prozent und Ungarn beim Beitritt noch nicht einmal Das wäre genau das Recht, das sich der Bundesrat be- 40 Prozent, dann kann man einen bedingungslosen Wett- reits erarbeitet hat. Dortmüssen diese Dinge auch be- bewerb der Arbeitnehmer nicht zulassen. rücksichtigt werden. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie lassen das aber über die Dienstleistungsfreiheit zu. Wir haben uns angenähert. Aber ich sage Ihnen auch,Sie gehört viel mehr eingeschränkt, genauso wie das die dass dieser wichtige Fortschritt, Österreicher vorgemacht haben. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Er hat keine (Beifall bei der CDU/CSU) Ahnung von Parlamentarismus!) Lassen Sie mich ein Letztes zur Frage der Konsolidie- dass die Bundesregierung das Parlament unterrichtenrung sagen. Sie kennen unsere unterschiedlichen Mei- muss, wenn sie von der Stellungnahme des Parlamentes nungen hinsichtlich der Türkei. Ich will das jetzt nicht abweicht, nicht in einer Entschließung abschließend ge- noch einmal aufbereiten. Wir werden, wenn wir eine regelt sein kann. Dazu braucht es eine gesetzlich ver-neue Regierung haben, alles im Rahmen der legalen bindliche Regelung, wie dasauch beim Bundesrat der Möglichkeiten tun, dass der Beitritt zur Vollmitglied- Fall ist. schaft niemals stattfinden wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP) Ich sage das ganz deutlich. Ich bedauere es außerordentlich, dass Sie nicht so weit gehen wollen wie die CDU/CSU-Fraktion mit ihrem Ge- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) setzesvorschlag. Herr Bundeskanzler, Sie hören nicht auf die Opposi- tion und Sie hören nicht auf die überwältigende Mehr- (B) Lassen Sie mich ein Letztes sagen: Herr Müntefering (D) hat Herrn Hintze zitiert, der wiederum andere zitiert hat. heit der Bürgerinnen und Bürger, die einen Beitritt der Ich glaube, Herr Müntefering, wir müssen über die Frage Türkei als Vollmitglied nicht wollen. Sie sollten dann der Integrationsfähigkeit der Europäischen Union,wenigstens auf Ihren Vorvorgänger hören. Ich will wenn wir sie als eine politische Union mit weit reichen- Helmut Schmidt zitieren: den außenpolitischen und innenpolitischen Kompeten- Die EU würde sich mit einer Aufnahme der Türkei zen haben wollen, intensiv nachdenken, insbesondere und weiterer Staaten ökonomisch und finanziell darüber, übernehmen … (Jörg Tauss [SPD]: Aber ehrlich!) Er fährt fort: ob die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union ge- Monnet und Schuman, Adenauer und de Gasperi, genwärtig durch die Aufnahme von acht osteuropäischen Churchill und de Gaulle waren Staatsmänner von Ländern, die ich durchaus begrüße, weil das die Wieder- ungewöhnlichem Weitblick – keiner von ihnen hat vereinigung Europas ist, gewährleistet ist. Es ist eine viel die europäische Integration bis über die kulturellen größere Schwierigkeit, diese Länder zu integrieren als Grenzen Europas ausdehnen wollen. vielleicht Schweden, Finnland oder Österreich. Da be- durfte es keiner Anpassungskriterien. Daran sollten wir uns halten, meine sehr verehrten Da- men und Herren. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich will die heutige Situation in aller Kürze anspre- chen. Es hat lange gedauert, bis man die einheitlicheWir sollten diese großen Europäer nicht nur zitieren, Meinung hatte, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die wenn es uns passt, sondern wir sollten sie auch dann ein Wesensmerkmal der Europäischen Union ist, aus-zitieren, wenn es uns nicht passt. nahmsweise für eine Übergangszeit gegenüber den acht osteuropäischen Ländern eingeschränkt werden muss. Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich: Wir sind da- ran interessiert, dass die Europäische Union bürgernäher (Jörg Tauss [SPD]: Sie wollten noch mehr!) wird, dass sie von den Menschen stärker angenommen wird und der Abwärtstrend bei der Akzeptanz der Euro- – Ja, ich wollte noch mehr. Ich wollte so viel wie diepäischen Union in der deutschen Bevölkerung nachlässt. Österreicher. Die Österreicher haben eine wirklich gute Dazu beizutragen ist mit unsere Aufgabe. Regelung erreicht. Ich muss Sie fragen: Warum haben Sie das nicht erreicht? Ich sage ganz deutlich: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16367

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Erstens. Es gehört zu unserem Beitrag, leidenschaft- Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über(C) liche Debatten in diesem Hohen Hause zu führen, bevor den EU-Haftbefehl geführt hat? auf europäischer Ebene darüber entschieden wird. Damit Herr Stoiber, Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, können wir zu einem Abbau des Demokratiedefizits bei- dass wir die Diskussion in der Bevölkerung aufnehmen tragen und die Situation etwas verbessern. müssen. Wenn es schon keine Volksabstimmung über die Zweitens. Wir brauchen eine Phase der Konsolidie- EU-Verfassung gibt, müssen wir doch zumindest die Ar- rung. gumente, die Bedenken, die Kritik und die Probleme, die in der Bevölkerung geäußert werden, hier im Deutschen (Dietmar Nietan [SPD]: Die brauchen Sie per- Bundestag diskutieren. Das kann sich aber nicht in der sönlich!) Diskussion über die Fragen erschöpfen, die Sie ange- Deswegen meine ich, man sollte hinsichtlich Serbiensprochen haben: wer wie lange in welchen europäischen und Montenegro relativ zurückhaltend sein. Herr Bun- Gremien anwesend war oder wer wie über Regelungen deskanzler, Sie machen den Menschen nur Angst, wenn beim Einfall von Sonnenlicht in bayerische Biergärten gesagt wird, ein Beitritt sei morgen oder übermorgenentschieden hat. Wir müssen die tatsächliche, die funda- möglich. mentale Kritik, die es in Deutschland genauso wie in Frankreich gibt und die außerhalb dieses Parlaments an Drittens. Nicht jedes Problem in Europa muss von uns herangetragen wird, aufnehmen und uns intensiv Europa gelöst werden. Ansonsten führt das zu der Rege- darüber Gedanken machen. lungssucht, die Europa gegenwärtig hat. Wir müssen uns fragen: Was ist an dem Vorwurf dran, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine dass die europäische Verfassung eine Pflicht zur Aufrüs- merkwürdige Haltung!) tung auferlegt? Was ist an dem Vorwurf dran, dass die Ich bin der festen Überzeugung, dass der Regelungs-europäische Verfassung die Möglichkeit schafft, interna- sucht mit diesem Verfassungsvertrag etwas Einhalt ge- tionale Militärinterventionen und -missionen auch ohne boten werden kann. UNO-Mandat durchzuführen? Deswegen glaube ich, dass wir heute eine Riesen- chance haben, Europa ein Stück nach vorne zu bringen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich werbe für die Zustimmung. Herr Kollege Ströbele, denken Sie bitte daran, dass sich eine Kurzintervention von einer Regierungserklä- Danke schön. rung auch durch die deutlich kürzere Redezeit unter- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall scheidet. (B) bei der FDP) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (D) CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält der KollegeHans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. GRÜNEN): Herr Präsident, ein letzter Punkt: Was ist an dem Vor- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEwurf dran, dass die europäische Verfassung eine neolibe- GRÜNEN): rale Verfassung sein soll, Herr Stoiber, ich gebe Ihnen in einigen Punkten (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: „Verfassen“ durchaus Recht. Sie sich kurz!) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die die sozialen Rechte, die soziale Bindung des Eigen- NEN]: So weit ist es schon gekommen!) tums und den Sozialstaat nicht ausreichend berücksich- Aber bei der Diskussion über die Dienstleistungsrichtli- tigt und in den Grundrechten verankert hat? Damit soll- nie haben Sie einfach vergessen zu erwähnen, dass esten wir uns auch hier auseinander setzen, sonst klinken diese Bundesregierung war, die den Prozess in Brüssel wir uns aus der Diskussion in Frankreich und Deutsch- gestoppt hat, die verhindert hat, dass die Dienstleistungs- land aus. Dann hätten wir dieses Thema auch in der heu- richtlinie jetzt in Deutschland so wirksam wird, wie es tigen Debatte nicht ernst genug behandelt. ursprünglich vorgesehen war. Herr Stoiber, ich gebe Ihnen auch Recht, dass das Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: deutsche Parlament intensiv beteiligt werden muss, und Zur Erwiderung Herr Ministerpräsident Stoiber. zwar nicht erst dann, wenn der Europäische Rat bereits Rahmenbeschlüsse oder andere Beschlüsse gefasst hat. Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern): Herr Abgeordneter Ströbele, ich gehe davon aus – um (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Ihre letzte Frage zu beantworten –, dass Sie den Verfas- – Auch wenn Sie jetzt „Hört! Hört!“ rufen, müssen wir sungsvertrag, dem Sie heute hoffentlich zustimmen wer- uns hier allerdings alle, auch ich mich, selbstkritisch fra- den, sehr sorgfältig gelesen haben. Wenn das der Fall ist, gen: Warum haben wir die Möglichkeiten, die es in die- dann beantwortet sich Ihre Frage: Europa wird nicht sem Bereich gibt, bisher nicht ausreichend genutzt?neoliberal; vielmehr wird Europa ein starkes Sozial- Wieso ist es zu Situationen gekommen wie der, die zur modell darstellen. 16368 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Dass die Verfassung eine Pflicht zur Aufrüstung auf- sichtlich noch nicht richtig verstanden. Sie haben natür- (C) erlegt, ist absoluter Unsinn. Dazu werden Sie weder in lich Recht, Herr Ministerpräsident Stoiber: Man muss dem Verfassungsvertrag noch in einer politischen Erklä- der Wirklichkeit ins Auge blicken. Auf der einen Seite rung irgendeiner Regierung etwas finden. Insofern ist, freuen wir uns heute über die europäische Verfassung, glaube ich, die Frage sehr leicht zu beantworten. die uns mit Dankbarkeit erfüllt; auf der anderen Seite müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Ihre erste Frage hinsichtlich der Dienstleistungen Angst in Europa und vor allem in Deutschland umgeht. zeigt – mit Verlaub, nehmen Sie es mir nicht übel –, dass Unsere Antwort kann aber nicht darin bestehen, dass wir das alles sehr kompliziert ist. Sie verwechseln die den Kleinkrämern, den Kleinmütigen und den Ängstli- Dienstleistungsrichtlinie mit der Dienstleistungsfreiheit. chen Europa überlassen; wir müssen uns vielmehr an die Zwischen beidem besteht ein sehr großer Unterschied. Spitze derjenigen stellen, die aufzuklären versuchen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die etwas Positives mit Europa verbinden. Denn gerade für uns in Deutschland ist das vereinigte Europa alterna- Ich habe nicht die Dienstleistungsrichtlinie, sondern die tivlos. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, für Aufklä- Dienstleistungsfreiheit angesprochen. Dazu darf ich aber rung zu sorgen. auch Ihnen gegenüber auf Folgendes hinweisen, Herr Abgeordneter Ströbele: Die Bundesregierung wollte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – anders als bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit – die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dienstleistungsfreiheit in keiner Weise einschränken. Dass die Dienstleistungsfreiheit mit entsprechenden Heute ist – wie ich meine, zu Recht – viel über die Auswirkungen für Deutschland in insgesamt drei Berei- geschichtlichen Wurzeln der wunderbaren Idee Europa chen – darunter das Baugewerbe und der Gartenbau – gesprochen worden. Es sind diejenigen genannt worden, eingeschränkt worden ist, verdanken wir allein der Inter- die der Generation meiner Großeltern oder Eltern ange- vention des österreichischen Bundeskanzlers beim ent- hören. Ich habe in den vergangenen Wochen viele Schu- scheidenden Gipfeltreffen. Ich bin froh, dass wir wenigs- len besucht und kann feststellen, dass dieses Gefühl der tens das erreicht haben. Dankbarkeit auch in meiner Generation und bei den noch Jüngeren vorhanden ist. Sie wissen, dass dieses Ich hätte erwartet, dass die Bundesregierung – wenn Europa auf einem Trümmerberg, einem Berg von Millio- sie schon die Arbeitnehmerfreizügigkeit wegen der be- nen Leichen, errichtet wurde und dass wir in Deutsch- stehenden Anpassungsschwierigkeiten richtigerweiseland dafür dankbar sein können, dass dieser Akt der Ver- einschränkt – dafür eintritt, gleichermaßen die Dienst- söhnung sechs Jahrzehnte lang gelungen ist. Das ist eine leistungsfreiheit einzuschränken. Dann wären manche Erfolgsgeschichte, auf die wir zu Recht stolz sein kön- Probleme mit Scheinselbstständigkeit und anderen For- nen. (D) (B) men von Missbrauch in unserem Lande nicht aufgetre- ten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Altbundespräsident Johannes Rau hat in den vergan- Jürgen Koppelin [FDP]) genen Tagen gefragt: Haben wir in Deutschland verlernt zu staunen? Haben wir verlernt, darüber zu staunen, dass Deswegen meine ich, dass man diesen Vorwurf aufrecht- uns dies gelungen ist, dass Frieden und Freiheit herr- erhalten sollte: In den weiteren Verhandlungen mussschen, wozu die Europäische Union maßgeblich bei- besser verhandelt werden. Gegenüber den Österreichern, getragen hat? Ich glaube nicht, dass die europäische In- die sich sowieso als die besseren Deutschen empfinden, tegration alleine eine Frage der Staatsräson ist. Sie sollten wir ein bisschen Nachsicht üben und vielleicht gehört aus meiner Sicht zu unserer nationalen Identität. auch das übernehmen, was sie besser machen als wir. Deutsche wissen, dass wir gute Europäerinnen und Danke schön. Europäer zu sein haben. Gerade meine Generation weiß das; denn wir haben gelernt, dass Europa grenzenlos ist, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass man in Europa studieren und sich ausbilden lassen neten der FDP) kann und dass man Partnerschaften und Freundschaften über nationale Grenzen hinweg pflegen kann. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Natürlich sind manche Sorgen und Ängste der Bürger Das Wort hat nun der Kollege Michael Roth, SPD- berechtigt. Gelegentlich taucht der Vorwurf auf, die Vor- Fraktion. herrschaft des Neoliberalismus sei auf der Tagesordnung in Europa ganz oben. Aus meiner Sicht brauchen wir in Michael Roth (Heringen) (SPD): Europa ein neues Leitbild; denn alleine die Friedens- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich macht Europa hilft uns nicht dabei, das Vertrauen der bitte um Nachsicht, aber ich möchte schnell wieder von Bürgerinnen und Bürger zu steigern. Deswegen müssen den Sonnenschirmen und bayerischen Biergärten weg- wir den Menschen die Angst nehmen und deutlich ma- kommen und stattdessen das Thema behandeln, das uns chen, dass wir in Europa das Sozialmodell verteidigen heute Morgen vereinigt. und zukunftsfest machen, dass wir soziale und ökologi- sche Standards sichern und dass wir die Menschen (Beifall bei der SPD) schützen. Dieses Europa kann dafür sorgen, dass die Vielleicht sollten wir öfter einmal über die historische Globalisierung sozial, menschlich und fair gelingt. Das Dimension Europas sprechen; einige haben das offen- schaffen wir allein auf nationalstaatlicher Ebene nicht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16369

Michael Roth (Heringen) (A) Deswegen müssen wir für ein starkes und solidarisches mitgestalten zu können. Wo sollen denn da unsere Kolle- (C) Europa streiten. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.ginnen und Kollegen in den Landesparlamenten bleiben? Die europäische Verfassung schafft dafür eine Grund- lage. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Ich will aber auch deutlich sagen: Wir sollten mit die- ser unsäglichen Jammerei endlich aufhören. Man muss Ich bitte ebenso um Fairness bei der Beurteilung der nicht bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um europäischen Verfassung. Das Wesen Europas ist dersich erklären zu lassen, dass es im Bereich „Justiz und Kompromiss. 25 Mitgliedstaaten haben diesen Kom- Inneres“ als dritter Säule der Europäischen Union kein promiss in einem Konvent zustande gebracht. Ich will Vertragsverletzungsverfahren gibt. Das kann man sich nur daran erinnern: Bislang ist es uns in der Bundesrepu- schon von den Europapolitikerinnen und Europapoliti- blik Deutschland nicht gelungen, den Föderalismus, die kern aller Fraktionen hervorragend erklären lassen. bundesstaatliche Ordnung, zu reformieren. Umso dank- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Das stimmt!) barer und respektvoller sollten wir denjenigen gegenüber sein, die das zumindest auf der europäischen Ebene ge- Dass wir hier nicht nur uns selber blamieren, sondern schafft haben. Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch dieses Parlament, ist ein Armutszeugnis. Unser aus 25, 28 Mitgliedstaaten haben sich zusammengesetzt Parlament, der Bundestag, sollte uns so viel wert sein, und ihnen ist ein großer Wurf gelungen, der auf keinem dass wir hier keine Legenden stricken. einzigen Politikfeld einen Rückschritt, sondern aus- schließlich Fortschritte darstellt. Dies sollten wir den (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bürgerinnen und Bürgern verständlich machen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Einige selbst ernannte Europapolitiker haben in den vergangenen Wochen gesagt, hier würden parlamentari- Ich danke deshalb all denjenigen, die dazu beigetra- sche Debatten abgewürgt und der Verfassungsentwurf gen haben. Sie mögen es nachvollziehen können: Fürwerde einfach so durchgewinkt. Hier wird überhaupt uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies nichts durchgewinkt. Über dieses Projekt wird seit drei eine besondere Geschichte, die 1923 mit dem Heidelber- Jahren gestritten und wir haben Übereinstimmung in ho- ger Grundsatzprogramm begonnen hat. Schon damals ist hem Maße erzielt. Wir haben Arbeitsgruppen eingerich- vom Traum der Vereinigten Staaten von Europa ge-tet. Wir haben im Plenum des Bundestags mehrfach pro schrieben und gesprochen worden. Deswegen werden Jahr gestritten, wir haben Meinungen und Erfahrungen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns im- ausgetauscht. Wir haben mit unseren Konventsdelegier- (B) mer als Sachwalter derjenigen verstehen, die Europaten, Jürgen Meyer und Peter Altmaier, und vielen ande- (D) nach vorne bringen wollen. ren zusammengesessen. Das, was unsere Konventsdele- gierten erarbeitet haben, ist auch unser Erfolg. Darauf Ich will auf den wesentlichen Punkt eingehen, der uns können wir stolz sein. Wir sollten das nicht kleinreden. dazu veranlasst hat, auf das Ergebnis stolz zu sein: Die europäische Verfassung orientiert sich nicht allein am (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wünschenswerten, sondern vor allem am Machbaren in DIE GRÜNEN) der Europäischen Union. Die Grundrechte-Charta be- inhaltet mehr soziale Grundrechte als unser deutsches Ich will mich bei allen Fraktionen bedanken, bei Frau Grundgesetz. Das macht deutlich, dassSolidarität in Leutheusser-Schnarrenberger, bei Herrn Hintze, bei Europa keine Selbstverständlichkeit ist, sondern dassHerrn Altmaier, bei Rainder Steenblock, bei Günter alle EU-Institutionen dazu verpflichtet sind, der sozialen Gloser und bei Angelica Schwall-Düren. Wir haben ge- Gerechtigkeit und der Solidarität zu dienen. meinsam dafür gesorgt, dass dieses Parlament stärker wird. Diese neue Härte ist aber kein Blockadeinstru- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ment, sondern verpflichtet uns, die Europagesetzgebung frühzeitiger und umfassender zu begleiten und mit dem Die europäischen Parlamente, nicht allein das Euro- Geschrei nicht erst dann anzufangen, wenn es zu spät ist. päische Parlament, sondern auch unsere nationalen Par- Wir dürfen die Verantwortung nicht nur bei der Bundes- lamente, sind gestärkt worden. Wir haben etwas auf den regierung abladen, sondern wir müssen unserer eigenen Weg gebracht, wozu wir Sie, Herr MinisterpräsidentVerantwortung gerecht werden. Das nimmt uns keiner Stoiber, wahrlich nicht brauchten. Das Begleitgesetz, das ab. die Stärkung des Deutschen Bundestages in Europaange- legenheiten vorsieht, ist in der Mitte des Deutschen Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des destages gestaltet worden, und zwar von Bundestagsab- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geordneten aller Fraktionen. Ich möchte noch etwas zum Bundesverfassungsgericht Wenn Sie schon versuchen, eine Lanze für den Parla- sagen – alle blicken etwas nervös in diese Richtung –: Der mentarismus zu brechen, dann sollten Sie einmal da-anerkannte Staatsrechtler Bogdandy hat einen bemer- rüber nachdenken, ob nicht auch die Landtage gestärkt kenswerten Aufsatz geschrieben, in dem er eine Lanze für werden müssten. Ihnen geht es im Hinblick auf den Fö- die Macht der Parlamente in Europa bricht. Er stellt die deralismus doch nur darum, dass die Ministerpräsiden- Frage, ob der Deutsche Bundestag durch die zu engen ten nicht nur im Bundesrat sitzen, sondern am besten am Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in den vergan- großen europäischen Tisch, um dort mitentscheiden und genen Jahren nicht stärker als durch manche europäische 16370 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Michael Roth (Heringen) (A) Gesetzgebung beschnitten wurde. Wir sollten auch diese einigen, aus meiner Sicht übertriebenen Forderungen(C) Frage in den Mittelpunkt rücken und die Bösen nicht im- dazu beigetragen – das sage ich in Richtung mancher mer nur in Brüssel vermuten. Auch die innerstaatliche Ministerpräsidenten –, dass die Grundlagen des Födera- Perspektive ist wichtig: Wo bleibt der Bundestag undlismus in Deutschland einen dramatischen Vertrauens- welche Vorgaben – zum Teil bis ins Detail – macht uns verlust erlitten haben. Sägen Sie bitte nicht an dem Ast, beispielsweise das Bundesverfassungsgericht? auf dem Sie selber sitzen! Herr Stoiber, Sie haben in den vergangenen Wochen (Beifall bei der SPD) eine Verschnaufpause für Europa gefordert; das sei jetzt alles zu viel; wir hätten in den vergangenen Jahren viel Natürlich bin auch ich darüber enttäuscht, dass in zu viele heiße Eisen angepackt. Ich gebe Ihnen in einem Deutschland eine öffentliche Debatte über dieses große Punkt Recht: Das, was wir seit der Wiedervereinigung Projekt kaum stattgefunden hat. Sind aber wirklich nur Europas und Deutschlands auf den Weg gebracht haben, die vermeintlich unwilligen Politikerinnen und Politiker ist eine ganze Menge. daran schuld? Tragen dafür nicht auch die Medien Ver- antwortung, die in der Regel überhaupt nicht bzw. wenig Aber ist es nicht faszinierend, was sich auf unserem berichtet haben? Meine persönliche Auffassung dazu ist: Kontinent tut? Da wird für Demokratie, für Rechtsstaat- Bei all den Risiken, die damit verbunden sind – ein lichkeit, für mehr Wohlstand und für mehr Sicherheit ge- Referendum hätte uns zumindest dazu gezwungen, eine kämpft. Das erstreiten sich Staaten, die noch vor weni- Debatte zu führen. gen Jahren diktatorisch regiert wurden. Wollen wir denen wirklich sagen: „Wir haben keine Zeit für euch; (Beifall bei Abgeordneten der FDP) wir müssen uns um unsere eigenen Probleme küm- Auch nach diesem Tag sollten wir diese Debatte nicht mern!“ und die Hände in den Schoß legen? Unsereden Nationalisten, den hinlänglich bekannten Europa- Hauptaufgabe muss doch sein, denjenigen in Europa zu gegnern und Globalisierungsgegnern überlassen, die mit helfen, die zu diesem Kontinent der Freiheit, der De- falschen Argumenten die Ängste der Menschen schüren. mokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Sicherheit ge- Ich habe manchmal das Gefühl, dass es auch hier Men- hören wollen. Dabei müssen wir uns anstrengen. Wirschen gibt, die diese Ängste schüren, die den Vorwurf müssen die Ärmel hochkrempeln, anstatt uns mit unsdes Populismus zwar immer sehr weit von sich weisen, selbst zu beschäftigen. Alles andere wäre verantwor-aber die sich doch in Populismus ergehen. Das finde ich tungslos. schade. Da sollte man dann schon ehrlich sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) (B) Wenn diese EU-Verfassung scheitert, sind viele in(D) Ist es nicht wunderbar, dass diese Europäische Union, Frankreich oder auch in Deutschland darüber traurig. über die wir gar nicht mehr mit Freude und Dankbarkeit Die ersten Champagnerflaschen werden, glaube ich, ge- zu reden in der Lage sind, von außen so fasziniert be- öffnet bei Monsieur Le Pen, bei den Rechtsextremisten, trachtet wird? Da sind Menschen, die sich nach dem seh- bei denjenigen in Großbritannien, die von diesem Pro- nen, was wir in Jahrzehnten mühsam haben erstreitenjekt noch nie viel gehalten haben. Vielleicht wird sich müssen. Sie wollen dazugehören. Sie haben auch einen auch der eine oder andere in den Vereinigten Staaten von Anspruch darauf, finde ich, dass wir ihnen dabei helfen Amerika die Hände reiben und sagen: Die kommen mit und dass wir ihnen Perspektiven aufzeigen. ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik doch Herr Stoiber, Sie haben des Weiteren gesagt, die Bun- nicht so weit, wie sie es immer wieder eingefordert ha- desregierung müsse im Hinblick auf ein mögliches,ben. wenn auch hoffentlich nicht eintretendesScheitern der Deswegen: Bescheidenheit ist angesagt. Die europäi- europäischen Verfassung endlich einen Plan B vorlegen. sche Verfassung ist keine Eier legende Wollmilchsau, die Ich erwarte von der Bundesregierung und von allen Bun- auch noch auf alle drängenden Fragen eine ausreichende destagsabgeordneten, dass sie sich überall dort Antwort in hat. Sie gibt uns hier im Deutschen Bundestag Europa, wo ein Referendum zu scheitern droht, an die aber Gelegenheit, diese Antworten zu finden. Wer für Spitze der Bewegung stellen und helfen; denn es geht ein demokratischeres und solidarischeres Europa eintritt, nicht nur darum, ob die Franzosen oder die Deutschen der muss heute für diese Verfassung stimmen und sich in scheitern; es geht um uns Europäerinnen und Europäer. den nächsten Wochen in die Gruppe derjenigen einrei- Angesichts dessen sollten wir uns anstrengen, jetzt nicht hen, die auch in den anderen Mitgliedstaaten dazu bei- fordern, dass ein Plan B oder mehrere solcher Pläne mit tragen, dass dieses großartige Verfassungsprojekt ge- irgendwelchen Krisenszenarien vorgelegt werden, son- lingt. dern helfen, dass diese europäische Verfassung Wirk- lichkeit wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Noch etwas zum Föderalismus, weil der Föderalis- Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen mus nicht nur eine faszinierende Idee für Deutschland, Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. sondern auch für das Europa ist, wie wir es uns wün- schen, wie zumindest ich es mir wünsche. Sie haben mit (Jörg Tauss [SPD]: Ach, der Chefpopulist!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16371

(A) Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Damen und Herren, so feixen, wie es Herr Müntefering (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe in seiner Rede getan hat, dem Kollegen Roth Recht. Ich habe die Rede von Herrn (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nun Bundeskanzler Schröder nachgelesen – ich habe sie mir reicht es!) angehört und konnte es kaum glauben – und muss ange- sichts des Gegenstands der heutigen Debatte – wir debat- dann können Sie doch nichtim Ernst glauben – das ist tieren über die Verabschiedung der europäischen Verfas- sehr bedauerlich für das Projekt Europa –, dass Sie die sung – sagen, dass ich eine solch inhaltslose Bürgerinnen und und Bürger mitnehmen. Ich glaube das perspektivlose Rede vom deutschen Bundeskanzler ei- nicht. Ich bedauere es sehr, dass wir ebenso wie auf ein gentlich nicht erwartet hätte. Referendum auch auf eine breit angelegte Debatte ver- zichtet haben. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Meine Damen und Herren, ich hätte mir wirklich ge- wünscht, dass wir alle diese europapolitische Debatte zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: einer großen Stunde des deutschen Parlamentarismus Herr Kollege Müller, Sie müssen bitte zum Schluss machen. Sie aber, Herr Müntefering, haben eben die kommen. Fliesenleger in die Debatte eingeführt.

(Widerspruch bei der SPD – Wilhelm Schmidt Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): [Salzgitter] [SPD]: Frau Merkel war das!) Ich komme zum Schluss. – Es hätte uns gut getan, Es geht bei der europäischen Verfassung schließlich um wenn wir in den Fraktionen und im Deutschen Bundes- ein Projekt, das in der Perspektive der nächsten zehntag versucht hätten, einen breiten und offenen Dialog mit Jahre das deutsche Grundgesetz ablösen wird. der Bevölkerung aufzunehmen und zu führen. Herzlichen Dank. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da müs- Ich habe in der Kurzintervention die Möglichkeit, auf sen Sie wirklich was verpasst haben! Das ist ein paar Punkte einzugehen. Einer der Hauptpunkte ist Ihre Schuld!) – der Außenminister nimmt an der Debatte überhaupt nicht mehr teil –, dass dieser Verfassungsvertrag aus deutscher Sicht ausgesprochen schlecht verhandelt Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (B) wurde. Wir übertragen substanzielle Rechte in 20 weite- Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser- (D) ren Politikbereichen auf Brüssel und höhlen die Rechte Schnarrenberger für die FDP-Fraktion. des Deutschen Bundestages ein Stück weit aus. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- ben wohl keine Redezeit bekommen, oder gen! Ich bin ja begeistert und überrascht davon, wie sich was?) jetzt, wo es zu spät ist, immer mehr Kolleginnen und Dies kommt deshalb einer EntparlamentarisierungKollegen für ein Referendum über die europäische Ver- gleich, weil nicht das Europäische Parlament diesefassung aussprechen. Rechte erhält, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Dreßen [SPD]) keine Kurzintervention!) Sie hatten hier mehrere Gelegenheiten, über einen Ge- sondern wir die Rechtsetzung auf die Bürokratie und die setzentwurf abzustimmen, mit dem das ermöglicht wor- Exekutive übertragen und den Parlamenten nicht einmal den wäre. ein Gesetzesinitiativrecht geben. Wenn es um europäi- (Zuruf von der SPD: Nein, ihr!) sche Rechtsetzung geht, können in Brüssel Gesetze nicht aus dem Parlament heraus entwickelt werden. Das ist ein Sie haben mit ganz wenigen Ausnahmen – Herr Müller, großes Manko. ich nehme Sie aus – das abgelehnt, und zwar unisono. Wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen, Sie woll- Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag ten ein Volksreferendum, dann ist das einfach unehrlich und die Landtage geben substanzielle Rechte auf. Des- und heuchlerisch. halb haben CDU und CSU das Mitwirkungsgesetz zur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages einge- der SPD und der CDU/CSU und den Abg. bracht. Mit diesem Mitwirkungsgesetz hätten wir euro- Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und Petra päische Rechtsetzung wieder in die Parlamente zurück- Pau [fraktionslos]) geholt und Gesetze hier legitimiert. Durch einen Parlamentsvorbehalt, durch Debatten und Entscheidun- Ich finde es auch bemerkenswert, dass über die feh- gen des Deutschen Bundestages hätten wir dazu beige- lende parlamentarische Beratung geklagt wird. Neunmal tragen, dass mehr Legitimation geschaffen und wieder haben wir hier im Plenum des Bundestages über die eine Brücke zum Bürger gebaut wird. Wenn Sie, meine europäische Verfassung diskutiert. 16372 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben im Europaausschuss zweieinhalb Jahre lang intensiv den gesamten Prozess gestaltend begleitet. Das natürlich immer vor dem Hintergrund der internationa- heißt, es gab viele Möglichkeiten und Gelegenheiten,len Einbettung, des Multilateralismus, den wir wollen, sich einzubringen. Wir haben noch nie bei einem Prozess und auf der Grundlage der Charta der Vereinten Natio- der Beratung und der Weiterentwicklung der europäi- nen. schen Verträge so wie bei diesem die Parlamentarierin- Von daher warne ich davor, hier mit kurzen Schlag- nen und Parlamentarier einbezogen. worten ein falsches Lichtauf die Inhalte der europäi- schen Verfassung zu werfen. Dort ist keine Pflicht zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Aufrüstung und Beteiligung an Kriegen enthalten. Im CDU/CSU) Gegenteil, die Krisenprävention mit eigenen Möglich- Von daher ist es vordergründig und falsch, wenn Sie dem keiten soll endlich gestärkt und verbessert werden. Das entgegenstehende, falsche Botschaften von dieser De- halte ich für überfällig und dringend notwendig. batte des Deutschen Bundestages aussenden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- NEN) SES 90/DIE GRÜNEN) Ein letztes Wort, sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- gen. Ich möchte noch einmal betonen, dass es dank der Es muss auch ehrlicherweise gesagt werden, dass der Nachhaltigkeit der FDP gelungen ist, ein Fraktionskla- Bundestag selbst – das sollten wir sehr selbstkritisch sa- gerecht zur Durchführung derSubsidiaritätskontrolle gen – die bestehenden Rechte, auch die sich aus unserem einzuführen. Viele hier waren zu Beginn der Debatte Grundgesetz ergebenden Rechte nach Art. 23, viel zunicht so sehr davon begeistert. Ich denke, es ist gut, dass wenig genutzt hat wir uns jetzt, am Ende der Beratungen, im Begleitgesetz (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) gemeinsam darauf verständigt haben, dass eine Fraktion als Minderheit geltend machen kann, dass die Subsidia- und viele leider gar nicht wissen, dass es sie gibt. Das rität verletzt worden ist. Denn wie sieht die Realität aus? finde ich erschütternd. Wenn hier beklagt wird, dass man Sie sieht so aus, dass Koalitionsfraktionen im Zweifel sich nicht im Rahmen eines europäischen Gesetzge-doch wohl kaum klagen werden, wenn ihre Regierungs- vertreter im Rat einem Vorhaben zugestimmt haben, das (B) bungsverfahrens einbringen könne, zeigt das, dass noch (D) nicht einmal Kenntnis über das Grundgesetz vorhanden die Subsidiarität nach Auffassung einer Fraktion im ist. Dann kann ich natürlich auch nicht erwarten, dass Bundestag verletzt. Deshalb ist es wichtig, dass es diese Kenntnis über Grundzüge des europäischen Verfas-Möglichkeit gibt, von der natürlich verantwortungsbe- sungsvertrages vorhanden ist, den wir den Bürgerinnen wusst und nicht aus euroskeptischen Gründen, sondern und Bürgern zu erklären haben. Da kann ich nur frohim Sinne einer Stärkung der Rechte des Parlamentes Ge- sein, wenn diejenigen, die sich hier mit solchem Nicht- brauch gemacht werden soll. wissen äußern, nicht die sind, die ihn den Bürgerinnen Recht herzlichen Dank. und Bürgern erklären. Überlassen Sie das uns, die mit Herzblut hinter dieser Verfassung stehen, weil es keine (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Alternative dazu gibt! BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: geordneten der CDU/CSU) Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock, Denn was wäre die Alternative? Die Alternative wäre, Bündnis 90/Die Grünen. dass wir uns wieder auf Binnenmarkt und Wettbewerb reduzieren. Binnenmarkt und Wettbewerb sind wichtig; Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber das ist doch längst nicht alles. Wenn wir die Grund- NEN): rechte-Charta nicht bekommen, nehmen wir den Bürge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! rinnen und Bürgern etwas, was ihre Rechte stärkenDiese Woche ist eine wahrhaft historische Woche, eine würde. Außerdem würde das dazu führen, dass wir im bewegende Woche für Deutschland gewesen und der Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs- heutige Tag ist ein guter Tag für Deutschland; denn die politik kein stärkeres, handlungsfähiges Europa bekom- Verfassung für Europa, die wir heute mit großer Mehr- men, das wir aber dringend brauchen; denn es muss ein heit verabschieden werden, ist ein Meilenstein auch für Gleichgewicht hergestellt werden. Es gibt die Vereinig- unser Land. Ich bin sehr froh darüber, dass wir dem Ver- ten Staaten von Amerika als eine handlungsfähigefassungsvertrag hier im Deutschen Bundestag mit so Macht, als eine Weltmacht. Da muss doch Europa stark überwältigender Mehrheit zustimmen. Es ist auch aus werden – nicht gegen Amerika; aber Europa muss seine unserer historischen Verantwortung ein hervorragendes eigenen Aufgaben bei sich selbst und in seiner Nachbar- Signal, dass keine politische Kraft im Deutschen Bun- schaft wahrnehmen können, destag, wie zum Teil in anderen Ländern, versucht hat, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16373

Rainder Steenblock (A) das Thema des Verfassungsvertrages für innenpolitische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist ein ausgespro- sowie bei Abgeordneten der SPD) chen positiver Vorgang, auf den wir alle stolz sein kön- nen und für den ich mich bei allen Fraktionen bedanken Auch die friedenspolitische Dimension ist in der öf- möchte. fentlichen Debatte häufiger angesprochen worden. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein dazu, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass zivile und militärische Fähigkeiten, die für die sowie bei Abgeordneten der SPD) Konfliktlösung eingesetzt werden können, zum ersten Mal in einer Verfassung nebeneinander gestellt werden. Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass die Wer Nein dazu sagt, der will anscheinend nicht die zivi- Mehrheit, die sich heute im Bundestag darstellen wird, len Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung einsetzen, die keine Eins-zu-eins-Entsprechung in der deutschen Be- uns diese Verfassung an die Hand gibt. Daher ist es völkerung hat. Ich glaube, dass wir alle aufgrund unserer wichtig, dass wir zu dieser Verfassung Ja sagen. Verantwortung für die europäische Zukunft aufgerufen sind, den Menschen in Deutschland sehr genau zu erklä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren, warum diese Verfassung für Europa alternativlos ist. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte dazu gerne ein paar Stichworte nennen. Ich möchte noch ein zentrales Ziel dieser Verfassung Diese Verfassung – das ist für mich einer der zentra- deutlich machen. In der Verfassung wird als Ziel formu- len Kernpunkte – macht Europa demokratischer. Wer zu liert: dieser Verfassung Nein sagt, der sagt auch Nein zu ei- nem demokratischer werdenden Europa, der sagt Nein Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, glo- zu mehr Beteiligungsrechten des Europäischen Parla- baler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität … unter ments und zu mehr Transparenz. Wer zu dieser Verfas- den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur sung Nein sagt, der sagt auch Nein zu einem handlungs- Beseitigung der Armut und zum Schutz der Men- fähigeren Europa. Was wir aber brauchen und wollen, ist schenrechte … ein Europa, das die Entscheidungen schnell und transpa- Ich glaube, eine so progressive nationalstaatliche Verfas- rent treffen kann. Die Abstimmungsmechanismen, die sung muss erst noch geschrieben werden. Deshalb sind wir schaffen, machen dieses Europa handlungsfähiger. wir für diese Verfassung. Auch das muss deutlich werden: Wer Nein zu dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verfassung sagt, der sagt auch Nein zum Beitritt der Eu- sowie bei Abgeordneten der SPD) ropäischen Union zur Europäischen Menschenrechts- konvention. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt Da wir für diese Verfassung sind – das haben heute (B) (D) auch Nein dazu, dass die Europäische Grundrechte-alle Redner deutlich gemacht –, haben wir allerdings Charta für alle Bürgerinnen und Bürger Europas rechts- auch die Verantwortung, das Bild von Europa, das in der verbindlich wird, und der beraubt sich einer gutenÖffentlichkeit gezeichnet wird, mit Leben zu erfüllen. Grundlage für die Wahrung und Durchsetzung der un- Auch das ist etwas, was mir in dieser Debatte gefehlt veräußerlichen Menschenrechte und der individuellen hat – auch in Ihrer Rede, lieber Herr Kollege Stoiber, ob- Bürgerrechte. Ich kann für meine Fraktion feststellen: wohl ich ansonsten vielen Teilen Ihrer Rede zustimme. Wir sagen Ja zu Europa, weil wir, was den Schutz der Ich glaube, wir haben die Verantwortung, die Ängste in Grundrechte und der Menschenrechte angeht, diese Ver- der Bevölkerung aufzunehmen. Aber wir haben auch die fassung für einen großen Fortschritt halten. Verantwortung, nicht zusätzlich Ängste zu schüren, son- dern real und rational über die Herausforderung zu dis- Ich möchte in diesem Zusammenhang dankbar an den kutieren. Kollegen Wolfgang Ullmann erinnern, der als Mitglied des Europäischen Parlaments für die Entwicklung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäischen Grundrechte-Charta Hervorragendes ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) leistet hat. Die Erweiterung der EU, die wir alle hier im letzten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahr gefeiert haben und über die wir uns gefreut haben, sowie bei Abgeordneten der SPD) darf nicht als Instrument genutzt werden, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, sagt auch Nein zu einem sozialeren Europa. Denn in dieser Verfassung Denn wir müssen uns immer klar machen: Was ist wird zum ersten Mal die Wirtschaft Europas alssoziale denn die Alternative dazu? Was wäre denn, wenn Polen Marktwirtschaft und nicht als freie Marktwirtschaft de- heute nicht in der EU wäre, oder was wäre, wenn Bulga- finiert. Auch das ist ein großer Fortschritt. In der Euro- rien und Rumänien keine Beitrittsperspektive hätten? päischen Union werden jetzt sozialere Ziele angestrebt. Was würde das ökonomisch bedeuten, wenn diese Län- Wir sollten nicht dem plumpen Populismus einigerder nicht nach den Spielregeln der Europäischen Union Leute auf den Leim gehen, die uns einreden wollen, dass verfasst wären? Es mag sich jeder, der an Wettbewerbs- mit dieser Verfassung Europa unsozialer und kälter wird. gleichheit interessiert ist, vorstellen, was es bedeuten Diese Verfassung bietet die Grundlage dafür, dass das würde, wenn wir an unseren Ostgrenzen Länder hätten, europäische Gesellschaftsmodell ein soziales Modell ist, die nach völlig anderen ökonomischen, sozialen, ökolo- das sich fortentwickelt, blüht, wächst und gedeiht. Diese gischen und demokratischen Spielregeln funktionieren Chance haben wir. Aber wir müssen sie wahrnehmen. würden. Wir haben sozial, demokratisch, aber auch 16374 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Rainder Steenblock (A) ökonomisch und natürlich ökologisch ein eigenes Inte- Jacques Delors hat einmal gesagt: „Europa ist nur ei- (C) resse daran, dass die Erweiterung der Europäischenner wirklichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr des Still- Union voranschreitet und die Spielregeln, die wir wol- standes.“ Wenn wir das, was heute zur Entscheidung an- len, auch in diesen Ländern greifen. Deshalb sollte man steht, nicht realisieren würden, dann würden wir uns keine Ängste vor der Erweiterung schüren, sondern rea- dieser Gefahr tatsächlich aussetzen. Diese Verfassung listische Mechanismen einbauen. nicht anzunehmen, die Umsetzung in nationales Recht nicht zu realisieren wäre nicht nur ein großer Fehler, Das hat diese Bundesregierung in der Frage dersondern für den Deutschen Bundestag auch historisch Dienstleistungsfreiheit getan. Deshalb ist Ihr Hinweis verantwortungslos. Dazu wird es nicht kommen. auf die Dienstleistungsfreiheit völlig falsch, weil die Bundesregierung hier ihrer Verantwortung nachgekom- Robert Schuman hat in seiner historischen Erklärung men ist und Übergangsregelungen eingeführt hat, dievom 9. Mai 1950 gesagt: sich vernünftig realisieren lassen. Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sung: Es wird durch konkrete Tatsachen entste- sowie bei Abgeordneten der SPD) hen, … Der zweite Teil dieser Diskussion umfasst die Debatte Die Tatsachen, die wir heute schaffen, sind im Sinne von um unsere nationale Verantwortung im Deutschen Bun- Robert Schumans europäischem Traum ein ganz großer destag. Dazu ist von meinen Vorrednerinnen und Vorred- Schritt, konkret nach vorne zu kommen und unserer Ver- nern vieles gesagt worden. Der Hinweis ist richtig, dass antwortung gegenüber den Menschen in Europa gerecht der Deutsche Bundestag durch die europäische Verfas- zu werden, insbesondere unserer Verantwortung gegen- sung und die Subsidiaritätsklage bzw. Subsidiaritäts- über den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland. rüge, wie sie vorgesehen ist, eine deutlich größere Ver- antwortung bekommt. Wir können jetzt – ob zu Recht Vielen Dank. oder nicht – nicht mehr mit dem Finger nach Brüssel zei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen und sagen: Was die da alles für einen Unsinn, für und bei der SPD) komplizierte Regelungen, für überflüssigen Quatsch rea- lisieren! Vielmehr sind wir selber in unserem nationalen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Parlament jetzt ein Stück weit mehr verantwortlich. Das Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. ist ein Riesenfortschritt; aber das ist auch eine riesige Verantwortung, die wir damit tragen. (fraktionslos): (B) Dr. Gesine Lötzsch (D) Ich glaube, dass wir dieser Verantwortung mit den Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Strukturen, so wie wir sie bisher haben, nicht gerechtren! Ich bin Abgeordnete der PDS. werden können. Wir brauchen in diesem Hohen Hause Wenn ich Sie heute fragen würde, wie der erste Satz andere, zusätzliche Arbeitsstrukturen. In dem vorlie- der Verfassung für Europa lautet, könnten – da bin ich genden Entschließungsantrag ist auf eine Fragestunde zu mir sicher – die meisten vonIhnen das nicht sagen. Ei- Themen europäischer Politik hingewiesen worden. Auch gentlich müssen Sie diesen Satz auch nicht kennen; denn die Arbeit in den Fachausschüssen muss sich sehr viel er ist bürokratisch, nichtssagend und falsch. Er lautet: stärker an dem, was in Brüssel tatsächlich zur Entschei- dung ansteht, orientieren. Wir sollten nicht nur europäi- Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bür- sche Beschlüsse der Vergangenheit zur Kenntnis neh- ger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemein- men, sondern selber in einem sehr viel umfangreicheren sam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Maße unsere Initiativrechte nutzen, um uns in die Ent- Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zustän- scheidungsstrukturen auf der Brüsseler Ebene einzuklin- digkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen ken, und nicht mit Debatten nachklappen, wie sie jetzt Ziele übertragen. zum Teil über die Verfassung geführt werden. Ich ver- Dieser Satz ist falsch, weil der Wille der Bürgerinnen stehe überhaupt nicht, dass keiner gewusst haben will, und Bürger in unserem Land überhaupt nicht gefragt ist. worum es eigentlich geht. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nur durch eine Volksabstimmung könnte man diesen Satz und die ganze Verfassung legitimieren. Über diese Verfassung ist so breit wie über kein anderes Meine Damen und Herren, Sie stimmen heute im Projekt diskutiert worden. Bundestag über die Verfassung Europas ab, die Sie teil- weise nicht kennen und die Sie auf keinen Fall in ihrer Lassen Sie uns deshalb die Verantwortung annehmen, Wirkungsmacht einschätzen können. Dazu war die Zeit die wir in unserem Parlament haben! Lassen Sie uns die zu kurz. Viele haben sich auch nicht ausreichend damit Arbeit in den Ausschüssen ernsthaft umstrukturieren! beschäftigt. Lassen Sie uns eine neue Fragestunde beschließen, um hier im Parlament über europäische Themen zu debattie- Ich finde, das ist ein sehr schlechter Start für eine Ver- ren! Dann werden wir mit Sicherheit einen großenfassung, die das Zusammenleben der Europäer auf Jahr- Schritt vorankommen. zehnte bestimmen soll. Sieverweigern sich einem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16375

Dr. Gesine Lötzsch (A) Volksentscheid zur EU-Verfassung und wollten doch darstellen würden. Doch die Ablehnungsgründe wiegen (C) einmal mehr Demokratie wagen. Sie wollen still undum ein Vielfaches schwerer. Einer Verfassung, die in heimlich, an den Bürgern vorbei, die Verfassung durch diesen drei entscheidenden Punkten hinter den Erwar- Bundestag und Bundesrat winken. Heute werden Sie tungen der Bürger zurückbleibt, kann nicht Grundlage eine Mehrheit für die Verfassung bekommen; doch das eines zukunftsgerichteten Europas sein. ist ein Pyrrhussieg. Sie tun damit Europa und den Euro- päern keinen Gefallen. Sie verkennen nämlich, dass (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Identifikation mit Europa nur entstehen kann, wenn sich Ich bin mir sicher, dass die meisten Bürgerinnen und die Menschen mit Europa auseinander setzen, über Euro- Bürger in unserem Land wissen, dass das Grundgesetz pa diskutieren und leidenschaftlich streiten, wie wir es der Bundesrepublik mit dem Satz beginnt: „Die Würde jetzt in Frankreich erleben. des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein kräftiger und (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) wirkungsvoller Satz, tausendmal besser als der erste Satz der europäischen Verfassung. Jeder von Ihnen, meine Doch warum sollen sich die Bürger unseres Landes Damen und Herren, der noch zum Bücherlesen kommt, mit der Verfassung auseinander setzen, wenn ihre Mei- weiß, dass der erste Satz eines Buches sehr viel über das nung gar nicht gefragt ist? Ich frage all diejenigen, die ganze Buch sagen kann. So ist es auch bei dieser Verfas- heute von ihren Reisen nach Frankreich und ihrem Ein- sung. satz dort berichtet haben: Warum haben Sie sich nicht mit gleichem Einsatz für einen Volksentscheid in der Wir als PDS werden heute aus den genannten Grün- Bundesrepublik Deutschland eingesetzt? den gegen diese Verfassung stimmen. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Vielen Dank. Diejenigen Europäer, die sich gegen die europäische (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Verfassung aussprechen, als Europagegner zu disqualifi- zieren ist böswillig und dumm. Laurent Fabius, ehemali- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ger französischer Premier, sagte gegenüber dem franzö- Ich erteile dem Kollegen Martin Hohmann das sischen Fernsehen, dass es Millionen Franzosen gebe, Wort. – Wenn er nicht da ist, kann er nur schwer reden. die wie er überzeugte Europäer seien, aber mit Nein stimmen wollen, einfach deshalb, weil sie ein unabhän- Dann erteile ich dem Kollegen Dietmar Nietan für die giges und soziales Europa wollen. SPD-Fraktion das Wort. Die PDS hat vor allem drei gute Gründe, die Verfas- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) sung abzulehnen: Erstens. Die Verfassung ist nicht durch (D) eine Volksabstimmung legitimiert. Zweitens. Die Verfas- Dietmar Nietan (SPD): sung setzt auf militärische Stärke, auf Aufrüstung und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In weltweite militärische Konfliktlösungen. der Tat muss man über Europa streiten. Es muss auch (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: möglich sein, über die europäische Verfassung sehr hart Quatsch!) miteinander zu ringen und zu streiten; denn sie ist nicht irgendetwas, sondern eine Verfassung, die zum Wohle Drittens. Die Verfassung setzt auf freien Markt – nicht der Menschen Weichen stellen soll. auf soziale Marktwirtschaft –, freien Geldverkehr und freie Konkurrenz. Erlauben Sie mir diese etwas zugespitzte Bemerkung: Ich habe den Eindruck, dass viele – ich sage ausdrück- Wir wissen, dass Wettrüsten und militärische Kon- lich: nicht alle – Kritikerinnen und Kritiker dieser Ver- fliktlösungen in Europa nie funktioniert haben. fassung dem Kleinmut verfallen sind. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unsere Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass Europa Denjenigen, der ernsthaft behauptet, dieser Entwurf ei- unter dieser Logik in den letzten tausend Jahren nur ge- nes Verfassungsvertrags, der eine Grundrechte-Charta litten hat. Wir wollen dieser Logik nicht länger folgen. – die übrigens mit dem Satz anfängt, dass die Würde des Es geht aber nicht nur um den äußeren Frieden, son- Menschen unantastbar ist – und auch einen expliziten dern auch um den inneren. Der Verfassungsentwurf setzt Hinweis auf die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Ar- auf eine, wie es dort heißt, „offene Marktwirtschaft mit beitnehmern enthält, sei das Einfallstor des weltweit freiem Wettbewerb“. Hat die Europäische Union zusam- operierenden Kapitalismus, frage ich: Wo war er, als der men mit der Bundesregierung schon in den letzten Jah- Vertrag von Nizza verabschiedet wurde? Damals hätten ren alles getan, um – ich zitiere Herrn Müntefering –all die Menschen, die das behaupten, durch unser Land „Heuschrecken“ Tür und Tor zu öffnen, so wird mit der und durch ganz Europa Demonstrationszüge organisie- vorliegenden Verfassung diesen „Heuschrecken“ neue ren müssen; denn der Verfassungsentwurf, der uns jetzt Nahrung gegeben. vorliegt, ist zehn- oder 20-mal besser als der Vertrag von Nizza. Wo waren all diese Kritiker damals? Im Entwurf der Verfassung für Europa gibt es selbst- verständlich Aussagen und Passagen, die wir unterstüt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zen, die sinnvoll sind, die eine wirkliche Verbesserung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 16376 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dietmar Nietan (A) Ich erlaube mir – auch wenn er jetzt nicht mehr auf jetzt Mitglied in der Europäischen Union sind, jemals(C) seinem Platz sitzt –, Folgendes zu sagen: Eine besondere wieder Krieg gegeneinander führen werden. Art des Kleinmuts hat der bayerische Ministerpräsident demonstriert. Ich muss sagen, es ist schon eine Kunst, Aber wenn dem so ist, brauchen wir nicht nur Dank- sich mit so viel Wehleidigkeit und Missgunst für diese barkeit, wir müssen uns auch verantwortlich zeigen für Verfassung auszusprechen. Ich habe die ganze Zeit, als das, was in der Welt geschieht. Dann darf man nicht weg- ich gehört habe, wie er genörgelt und gekrittelt hat, ge- sehen, dann brauchen wir zivile und – ich betone das – dacht, dieser Mann sei gegen die Verfassung. auch militärische Fähigkeiten, zur Not denjenigen, die Menschenrechte missachten, die Völkermord begehen, in (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter den Arm zu fallen. Wer davor die Augen verschließt und Ramsauer [CDU/CSU]: Dann haben Sie aber glaubt, alles nur zivil regeln zu können, lässt die Men- nicht aufgepasst!) schen, die von Unrecht und Verfolgung bedroht sind, im Stich. Das wollen wir jedenfalls nicht. Wenn Herr Stoiber seine Sorge um die Fähigkeit der Europäischen Union, neue Mitgliedstaaten aufzuneh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des men, ernst meint – dieses Problem wird zu Recht ange- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sprochen –, dann frage ich mich in der Tat, warum er heute, wenn wir mit der EU-Verfassung einen weiteren Ich möchte an dieser Stelle auch sagen, dass mich die Schritt unternehmen wollen, um die Aufnahmefähigkeit Kritik von ganz links außen an dem so genanntenMili- der EU sicherzustellen, erklärt, dass er mit der Tradition tarismus schon etwas wundert, wenn ich mir einmal vor- von Adenauer bis Kohl bricht, die der Türkei immer eine stelle, dass die gleichen Leute, die davon träumen – das Perspektive geboten haben. Sein Ziel ist wohl, bis anist nicht mein Traum; ich sage das deutlich –, Europa sein Lebensende – koste es, was es wolle – zu verhin- müsse ein Gegengewicht zu den USA sein, dass all die dern, dass die Türkei der EU beitritt. Das war wahrlich Leute, die sagen, die USA agieren nur unilateral und sie nicht europäisch, liebe Kolleginnen und Kollegen. agieren militaristisch, es sich haben gefallen lassen, dass es die Amerikaner waren, die uns Europäern in den 90er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahren geholfen haben, die Konflikte auf dem Balkan zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – lösen, weil wir dazu nicht in der Lage waren. Das muss Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und ent- sich ändern und das müssen wir aus eigener Kraft schaf- larvend!) fen. Das aus eigener Kraft schaffen zu wollen ist kein Ich möchte darauf eingehen, dass gesagt wird, dieMilitarismus, sondern das ist das Ernstnehmen der Ver- EU-Verfassung sei militaristisch; denn ich glaube, sie ist antwortung, die auch wir für den Frieden in der Welt ha- das Gegenteil. Das möchte ich in einigen Punkten erläu- ben. (B) (D) tern. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir mit dieser (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Verfassung die Grundlage für eineGemeinsame Au- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ßen- und Sicherheitspolitik schaffen, die Grundlage, um noch viel mehr zu tun, als wir bereits bisher auf dem Die europäische Verfassung bietet Instrumente für die Weg hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: einen ge- politik erreicht haben. stärkten Außenminister Europas, der gleichzeitig auch Vizepräsident der Kommission und Vorsitzender des Au- Ich will nur darauf hinweisen: In Art. I-41 des Verfas- ßenministerrates ist; eine ständige strukturierte Zusam- sungsentwurfs wird ausdrücklich unterstrichen, dassmenarbeit; die Rüstungsagentur, die es uns erlaubt, die Friedenssicherung, Konfliktverhütung und die Stärkung Rüstungsanstrengungen koordiniert und effizient zu ge- der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit stalten und damit am Ende weniger Geld für Rüstung den Grundsätzen der Charta der VN die Leitlinien für die einsetzen zu müssen. Das ist keine Aufrüstung, das ist europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspoli- Effizienz und angesichts der knappen Budgets ist diese tik sein sollen. Ich finde, das sind deutliche Worte. Wer Art von Rüstungskooperation auch richtig. das als Militarisierung bezeichnet, der scheint diese Ver- fassung nach dem Motto zu lesen: Ich lese nur das, was Wer all dies will, trägt auch zur Festigung der transat- ich lesen will, und nehme nur das zur Kenntnis, was ich lantischen Beziehungen bei. Denn eins habe ich gelernt: hören und sehen will. Wer so verfährt, nimmt allerdings In Amerika ist man es satt, immer wieder von Europäern nicht die Realität zur Kenntnis. zu hören, man wolle endlich mit den Amerikanern auf gleicher Augenhöhe reden usw. Wir sollten nicht darüber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lamentieren, sondern wir sollten zeigen – indem wir die DIE GRÜNEN) Fähigkeiten zu ziviler und militärischer Konfliktpräven- Ich glaube, dass diese Verantwortung für eine Ge-tion, aber auch zur Konfliktlösung haben –, dass wir meinsame Außen- und Sicherheitspolitik auch deshalb nicht nur über die gleiche Augenhöhe reden, sondern sie so wichtig für uns ist, weil die Menschen in der ganzen auch haben. Ich glaube, das ist wichtig für die transatlan- Welt auf das europäische Modell schauen. Ich finde, die tischen Beziehungen. Worte, die der Bundeskanzler gesagt hat, sind richtig: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wir müssen dankbar sein für die europäische Einigung, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die uns so weit gebracht hat, die dafür gesorgt hat, dass es in Europa keine Kriege mehr gegeben hat und dass Natürlich ist es richtig, dass wir das alles den Men- sich niemand mehr vorstellen kann, dass die Staaten, die schen in unserem Land besser erklären müssen; ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16377

Dietmar Nietan (A) schließe mich da ausdrücklich ein. Aber ich glaubedieses Parlaments. Nie hat derDeutsche Bundestag (C) – ohne jetzt dem Unkritischen, Pathetischen das Wort re- mehr Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten bekom- den zu wollen –, entscheidend ist in einem solchen Pro- men, als sie ihm durch diese Verfassung und durch die zess, dass die Menschen merken: Derjenige, der ihnen gemeinsame Vereinbarung der Fraktionen eingeräumt Europa erklären will, ist nicht jemand, der daran herum- werden. mäkelt und -nörgelt, sondern jemand, der von Europa überzeugt ist. Ich finde, da kann der eine oder andere Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kollegen von uns noch etwas lernen. Man braucht auch etwasGloser und Roth von der SPD, beim Kollegen Herzblut und Enthusiasmus, um den Menschen Europa Steenblock von den Grünen und bei der Kollegin nahe zu bringen. Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP bedanken. Ich bedanke mich auch beim Bundeskanzler – das tue (Beifall bei der SPD) ich selten – dafür, dass er heute in seiner Regierungser- klärung zur Ratifizierung zugesagt hat, die Vereinba- Lassen Sie mich mit der Präambel unseres Grundge- rung, die wir zwischen denFraktionen gemeinsam ge- setzes schließen. Dort heißt es: troffen haben, umzusetzen und einzuhalten. Herzlichen Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und Dank dafür! den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleich- berechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem (Beifall im ganzen Hause) Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Nun hatte ich beschlossen, heute nur freundlich zu Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt die- sprechen. ses Grundgesetz gegeben. (Zurufe von der SPD: Oje!) Was könnte eindrucksvoller zu dem heutigen Tag passen als dieser nun wirklich mit viel Weitsicht und Klugheit Der Kollege Müntefering hat aber zwei Fragen gestellt formulierte Satz der Mütter und Väter unseres Grundge- (Jörg Tauss [SPD]: Um Gottes willen, bleib, setzes? Denn er macht eins deutlich: Unsere Verfassung, wie du bist!) unser Grundgesetz können wir nur in einem europäi- schen Zusammenhang sehen. Die Präambel unseresund er hat natürlich auch das Recht, die Antworten zu Grundgesetzes verpflichtet uns, „als gleichberechtigtes hören. Ich hoffe, er sitzt jetzt irgendwo am Bildschirm Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt und bekommt es mit, sonst wird es ihm Herr Benneter zu dienen“. Ich bin der festen Überzeugung: Mit der Ver- im Zweifelsfall mitteilen. fassung für Europa kommen wir auch diesem Auftrag (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Sofort!) (B) unseres Grundgesetzes einen großen Schritt näher. (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Er hat sich hier vorne ans Pult gestellt und unsere des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vorsitzende, Frau Merkel, mit strenger Stimme aufgefor- dert, wenn denn das mit den Mehrfachanmeldungen Ohne die Probleme und Dinge, die im Verfassungs- entwurf hätten besser sein können, wegdiskutieren zu (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Hören Sie wollen, sage ich deshalb für mich und, wie ich glaube, zu, Herr Eichel!) auch für meine Fraktion: Heute ist ein guter Tag für von Firmensitzen an einer Adresse stimme – es stimme Europa. Weil es ein guter Tag für Europa ist, ist es auch wahrscheinlich nicht; es sei eine typische Wahlkampf- ein guter Tag für unser Land. sache –, dann möge sie doch bitte die Adresse nennen. Vielen Dank. (Jörg Tauss [SPD]: Hausnummer!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Auch die Hausnummer. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ich schreibe Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: mit!) Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/ – Herr Benneter schreibt mit. – Frau Merkel hat gesagt, CSU-Fraktion. es hätten sich 50 Firmen an einer Adresse angemeldet. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich muss Ihnen sagen: Das war falsch, es sind nämlich 56 Firmen an einer Adresse. Herr Müntefering bzw. Herr Peter Hintze (CDU/CSU): Benneter, die Adresse zum Mitschreiben: Es ist die Gör- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- litzer Straße 2 in Neuss. ren! Gerne knüpfe ich an die Worte meines Vorredners (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der an und sage: Der heutige Tag ist auch ein guter Tag für SPD) den Deutschen Bundestag. – Ja, passen Sie auf. (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]) (Dietmar Nietan [SPD]: Ich wusste, dass es so etwas in Köln gibt!) Wir sagen Ja zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa und wir sagen Ja zu einer Stärkung der Rechte – Es geht noch weiter, passen Sie mal auf. 16378 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Peter Hintze (A) Die Handwerkskammer Düsseldorf, die dafür zustän- Ich erwarte ja nicht, dass jeder dies weiß; aber ich kann (C) dig ist, teilt uns dazu mit:Im Jahre 2004 hat es im Be- es doch vom Fraktionsvorsitzenden der SPD erwarten. reich der Handwerkskammer 1799 Registrierungen in Er hat damit heute ganz unbeabsichtigt die Regierung in den zulassungsfreien Handwerken gegeben. Das ist die Bredouille gebracht. ein Anstieg gegenüber 2003 um 550 Prozent. Von den (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie wissen doch auch, 1799 Registrierungen entfallen zwei Drittel auf den Flie- dass das Scheinselbstständige sind!) senlegerberuf. – Dass da irgendetwas schief läuft, wird doch jedermann einsehen. Sie haben jetzt die Adresse – Jetzt bekomme ich den freundlichen Zwischenruf und können der Sache nachgehen. Wir erkundigen uns in „Scheinselbstständige“. Wer ist denn nach der bundes- einer Woche, ob Sie es getan haben. staatlichen Ordnung dafür zuständig? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wie bei Abgeordneten der FDP) Wer ist denn für die Missbräuche in den Schlachthöfen Das war aber erst Teil eins. Sie müssen Herrnzuständig? Müntefering noch etwas mitteilen, nämlich den Teil (Widerspruch des Abg. zwei. [SPD]) (Zuruf von der CDU/CSU: Die Telefonnum- Zuständig ist die Bundesfinanzverwaltung. Es wäre also mer!) sehr positiv, wenn Sie auch diesen Fehler noch in Ihrer Es geht um das Thema Rumänien. Es wird noch besser. Regierungszeit ausräumten. Darum bitte ich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Bisher ist doch neten der FDP) alles freundlich!) Herr Ströbele – auch er hat versucht, uns aufzuklären; Ich finde es schon bemerkenswert, dass die Bundesre- der bayerische Ministerpräsident hat darauf bereits prä- gierung ihren Verhandlungsfehler aus dem Jahre 2005 zise geantwortet – hat davon gesprochen, dass die Bun- mit einer Rede von Peter Hintze aus dem Jahre 2001 ent- desregierung die Dienstleistungsrichtlinie gestoppt schuldigt. Herr Müntefering, es ist ein Unterschied, et- habe, womit quasi alles im grünen Bereich sei. Mein was zu zitieren und das Zitat auch richtig zu verstehen. Kollege Arnold Vaatz nennt so etwas, wenn die Dinge Herr Müntefering hat mich richtig zitiert, aber er hat es komplett durcheinander geworfen werden, normaler- falsch verstanden. Ich will es ihm gerne erläutern. weise eine kategoriale Verwirrung. Mit der Dienstleis- tungsrichtlinie verhält es sich nämlich vollkommen an- (B) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Alles nur ein Miss- (D) verständnis!) ders. Der Herr Bundeskanzler, der im Moment leider nicht anwesend sein kann, feierte sie noch im Dezember – Sehen Sie, am Schluss der Debatte werden Sie viel- als das wichtigste Instrument für mehr Wachstum und leicht noch einen Erkenntnisgewinn haben. Beschäftigung in Europa. Jetzt hat er sie angeblich aus dem Verkehr gezogen. Das, worüber wir uns unterhalten, 2001 habe ich vor einem Konstruktionsfehler der Ver- geschieht aber gar nicht auf dem Boden dieser Richtli- träge gewarnt, der heute offen zutage tritt. Bei nie, der die ja noch nicht in Kraft getreten ist, sondern auf Osterweiterung der EU hat die Bundesregierung sehr dem Boden der bestehenden Verträge und der Rechtspre- lange Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizü- chung des Europäischen Gerichtshofes. Alle Fehler, die gigkeit und die sofortige Dienstleistungsfreiheit für fast sich dort eingeschlichen haben, sind zum einen Verhand- alle Arbeitsfelder vereinbart. Daraus entsteht ein über- lungsfehler, die Sie bei den Beitrittsverträgen begangen großer Druck, der sich im Dienstleistungssektor entladen haben, und zum anderen Aufsichtsfehler der Verwaltung, hat. Jetzt erkennen Sie diesen Konstruktionsfehler. Was für die Sie Verantwortung tragen. tun Sie? Sie reparieren, wie so oft, an der falschen Stelle. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie haben es in den Verhandlungen mit Rumänien und neten der FDP) Bulgarien schlicht vergessen, diese Erkenntnisse aufzu- nehmen und die Übergangsfristen im Dienstleistungsbe- Die Verfassung, die wir heute verabschieden, ist ein reich entsprechend zu ändern. Heute reden Sie stattdes- Schlüssel für ein starkes Europa im 21. Jahrhundert. In sen von Sozialdumping und betreiben die Ausweitung den letzten Tagen bin ich oft gefragt worden, ob ich ver- des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen. stehen könnte, dass man gegen diese Verfassung sei. Damit greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber Auch wenn es vielleicht den einen oder anderen Kolle- wieder voll ins Leere; denn die Dienstleister, die hier an- gen schmerzt, sage ich: Ich kann es nicht verstehen, weil treten – ich habe Ihnen eben die Zahlen der Handwerks- ich diese Verfassung wirklich als einen Fortschritt emp- kammer Düsseldorf genannt – sind keine Arbeitnehmer, finde. Gerade das, was uns an Europa zu schaffen macht die unter die Allgemeinverbindlichkeit fallen würden, – dass es nämlich neben den vielen guten und erfolgrei- sondern Selbstständige, für die es keine Arbeitslöhne mit chen Dingen immer wieder auch unsinnige Rechtsetzun- Tarifbindung gibt. Sie präsentieren uns also wieder eine gen gibt, gegen die wir hinterher mit Mühe ankämpfen Scheinlösung. müssen und die durch unsere Bundesregierung manch- mal noch unsinniger gemacht werden –, überwinden wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dadurch, dass wir, die Parlamentarier, nach In-Kraft-Tre- neten der FDP) ten dieser Verfassung früher eingeschaltet werden. Diese Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16379

Peter Hintze (A) Parlamentarisierung Europas stellt den großen Fort- Was unterscheidet sie noch von den bisherigen Ver-(C) schritt in dieser Verfassung dar. tragswerken? Wir haben in Deutschland und in Europa gute und fähige Diplomaten. Sie haben das Geschäft in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Vergangenheit gemacht. Aber diese Verfassung – das neten der FDP) kann man ihr ansehen – ist zum ersten Mal das Werk der In mancher Zeitung ist jetzt zu lesen, dass zu wenig Parlamentarier in Europa. Deswegen hat die Verfassung über die Verfassung gesprochen worden sei. Ich unter- ein ganz deutliches parlamentarisches Plus. Das macht richte die Journalisten hiermit davon, dass wir in diesem sie demokratischer. Eben hat hier eine Kollegin den Saal sehr oft darüber gesprochen haben, wenn auch zu- Art. I zitiert; es lohnt sich immer wieder, ihn zu hören gegebenermaßen in einem sehr überschaubaren Kreisund auch zu lesen. Dieser Art. I leitet nach der Präambel von Kolleginnen und Kollegen. Manche, die sich heute eine Verfassung ein, die mehr Transparenz, mehr Effizi- erregen – nicht alle; ich nehme einen Kollegen, der eine enz, mehr Demokratie und mehr Beteiligung des Eu- Kurzintervention gemacht hat, ausdrücklich aus, er war ropaparlaments und auch des Deutschen Bundestages si- immer dabei –, haben die Möglichkeiten zur Erörterung chert als jede Verfassung zuvor. DiesesPlus an des Verfassungsvertrags überhaupt nicht wahrgenom- Demokratie und parlamentarischer Beteiligung ver- men. Dies bedauere ich sehr. danken wir denen, die diese Verfassung vorbereitet ha- ben. Dass wir heute zu ihr Ja sagen können, ist eine gute (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ Sache. DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich spreche jetzt hoffentlich für alle Fraktionen dieses der FDP) Hauses: Die beiden Vertreter des Bundestages im Kon- vent, Jürgen Meyer von der SPD und Peter Altmaier von Ich freue mich, dass es uns in intensiven Gesprächen der CDU/CSU, haben uns über zweieinhalb Jahre ingelungen ist – diese haben die Beteiligten in vielen Stun- Ausschüssen und anderen Gremien, aber auch hier im den genervt und haben vielleicht auch die eine oder an- Plenum so unterrichtet, dass jeder, der guten Willens ist, dere Diskussion zu Hause mit sich gebracht, sodass man wirklich voll in der Materie sein und sich auch einbrin- Tag und Nacht nichts anderes machen konnte –, diesem gen konnte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Anspruch der neuen Verfassung gerecht zu werden und unsere Mitwirkung als Bundestag im Rahmen dieser (Beifall im ganzen Hause) neuen Verfassung gut vorzubereiten. Es gibt eine Idee in der europäischen Verfassung, die den europäischen Ver- Lassen Sie mich noch etwas zu dem Wertebezug sa- trägen bisher fremd war, nämlich die Idee, dass die Kon- gen, der den allermeisten in diesem Hause sehr am Her- trolle über das Subsidiaritätsprinzip nicht bei denen (B) zen liegt. Diese Verfassung ist von einem klaren Werte- verbleibt, die für die Rechtsetzungsakte selbst verant-(D) bezug geprägt. Was anderes ist es denn, wenn wortlich die sind, sondern bei denen liegt, die als Parlamen- unverletzliche Würde des Menschen, so wie wir sie im tarier in den Nationalstaaten die Verantwortung für die Grundgesetz beschreiben, auch hier in dieser neuen Ver- Auswirkungen europäischer Rechtsetzungsakte zu tra- fassung beschrieben ist? Was ist denn ein besserer Aus- gen haben. Das ist ein ganz großes Plus. druck des christlichen Verständnisses vom Menschen als die unverletzliche Würde des einzelnen Menschen? Wir haben die Chance, am Beginn eines europäischen Rechtsetzungsaktes seine Sinnhaftigkeit und Notwen- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Völlig rich- digkeit zu unterstreichen oder entsprechende Änderun- tig!) gen zu verlangen. Dieses Instrument wollen wir wahr- Was ist denn anderes Ausdruck unserer Werte als dienehmen. Dazu sind wir gut gerüstet. rechtsstaatliche Ordnung, die wir uns auch für dieses (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann Europa wünschen? Diese Verfassung hat mehr Wertebe- [CDU/CSU]) zug als jede europäische Vertragsgebung zuvor. Ich freue mich, dass der Vorsitzende des Europaaus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der schusses, , bei uns ist. Wir haben uns SPD und der FDP) im Europaausschuss – damit meine ich auch die vielen anderen Kollegen aus allen Parteien – darauf verstän- Dem ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, ei- digt, dass wir alsEuropaausschuss die Last auf uns nem großen Liberalen, verdanken wir den wunderschö- nehmen, auch in den sitzungsfreien Zeiten dafür zu sor- nen Gedanken, dass Europa auf drei Hügeln errichtet ist. gen, dass im Rahmen der Fristen, die die europäische Er nannte die Akropolis inAthen, das Kapitol in Rom Verfassung setzt, zu jeder Zeit und zu jeder Stunde das und Golgatha bei Jerusalem. Dasgeistige Fundament volle Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestages Europas ist die griechische Philosophie, das römische gewährleistet ist. Das haben wir Kollegen uns im Euro- Recht und das jüdisch-christliche Erbe. Von diesem paausschuss auferlegt. Das werden wir auch tun. Wir Geist – ich nehme alle Mütter und Väter dieser Verfas- werden das Plenum auch rechtzeitig unterrichten. sung in Schutz, die sie vorbereitet haben – ist die Ver- fassung für Europa geprägt. Wir können stolz sein, als (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Abgeordnete heute darüber entscheiden und diese Ver- der FDP) fassung auf den Weg bringen zu können. Wir brauchen ein Weiteres. Wir brauchen das Thema (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der der europäischen Rechtsetzungsakte, der europäischen SPD und der FDP) Gesetzgebung auch hier in der Mitte unseres Plenums. 16380 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Peter Hintze (A) Wir wünschen uns regelmäßige Fragestunden mit dem empfinden sich als Spielmaterial für weit entfernte, ano- (C) Schwerpunkt Europa. Wir wünschen uns, dass in all den nyme Bürokraten. Gegen das Gefühl des Ausgeliefert- Fachausschüssen dieses Deutschen Bundestages die gro- seins hätte eine glasklareKompetenzverteilung gehol- ßen Europathemen nicht an den Schluss der Tagesord- fen. Diese Chance wurde weitgehend ausgeschlagen. nung geschoben werden, wo die Erschöpfung eintrittDie EU weitet stattdessen ihre Kompetenzen aus. Keiner und wo man dann unter „ferner liefen“ eine Sammelliste beschreibt die Methode besser als Jean-Claude Juncker. abhakt, sondern wir wünschen uns, dass sich jeder Kol- Er sagt: lege und jede Kollegin bei der Arbeit über die europäi- Wir beschließen etwas, stellen das dann in den sche Dimension des eigenen Handelns klar ist und sie Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. auch mit einbringt. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, [CDU/CSU]) was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr Wir treffen diese Entscheidung heute unter zwei Flag- gibt. gen, unter der Flagge der Bundesrepublik Deutschland und unter der Flagge Europas, die zwölf Sterne trägt, um Wenn zukünftig 80 Prozent der Entscheidungen in Brüs- die Verschiedenheit der europäischen Völker und diesel und Straßburg fallen, dann sollte der Bundestag da- wachsende Zahl der Mitgliedstaaten auszudrücken. Wir raus Konsequenzen ziehen. Er könnte sich entsprechend tun das als nationales Parlament in einer europäischen verkleinern, er könnte 80 Prozent seiner Kosten einspa- Verantwortung. Wir tun das für uns, wir tun das für un- ren. Vielleicht könnte man sere Kinder und für zukünftige Generationen. (Jörg Tauss [SPD]: Bei Ihnen anfangen!) Danke schön. ihn in eine Beschäftigungsgesellschaft für entmachtete (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Abgeordnete umwandeln. Mit drastisch reduzierten Be- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE fugnissen bei gleichem Aufwand weiterzuarbeiten, das GRÜNEN und der FDP) ist politische Hochstapelei. Zum Dritten: Es fehlt ein klarer Gottesbezug. Europa Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist ohne seine christlichen Wurzeln nicht denkbar. Das Wort erhält nun der Kollege Martin Hohmann. Europa braucht mehr denn je ein Wertegefüge. Dieses kann aufgrund der zweitausendjährigen europäischen Geschichte und Kultur nur die Botschaft von Jesus Martin Hohmann (fraktionslos): Christus sein. (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen (D) und Kollegen! Gegen den Verfassungsvertrag sprechen Aus dieser Botschaft erwuchsen die Aufklärung und die drei große Bedenken. Zum Ersten: Es entscheidet nicht Tugend der Toleranz. Zur Stärkung und Rückbindung der Souverän, das deutsche Volk. Bei ihm aber muss die der Toleranz sind christliche Werte unabdingbar, für die unmittelbare Letztentscheidung liegen. Gewiss kannder Gottesbezug symbolisch steht. Ohne Gott geht man einwenden, das sehe unser Grundgesetz nicht vor. Europa zum Teufel. Die riesige Aufgabe, rund 30 euro- Andererseits schließt Art. 20 Abs. 2 diese Entscheidung päische Völker zu einem harmonischen und friedlichen gerade nicht aus. Der Respekt vor dem Willen des deut- Zusammenleben zu einen, übersteigt menschliches Ver- schen Volkes hätte es verlangt, eine Entscheidung von mögen. Dazu braucht es Gottes Segen. solch eminenter Wichtigkeit für die Zukunft des gesam- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten politischen Lebens unmittelbar in die Hände der Wahlbürgerschaft zu legen. Außerdem zeigt die Termi- nierung dieser Sitzung, mit welchem relativen Unernst Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: das Verfahren betrieben wird. Die heutige vorgezogene Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Axel Bundestagsentscheidung muss nach dem Willen desSchäfer für die SPD-Fraktion. Bundeskanzlers als Lockmittel für die als widerspenstig eingeschätzten Franzosen herhalten. Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Zum Zweiten: Es wurde versprochen, die Zuständig- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keiten innerhalb der Gemeinschaft klar, durchsichtigNach dem Beitrag zum Thema „Fundamentalismus“ und insbesondere nach demSubsidiaritätsprinzip zu jetzt ein Beitrag zum Thema „Europa – in Vielfalt ge- regeln. Gehalten wurde das nicht. Zur Frustbekämpfung eint“. der EU-Bürger wäre es aber sehr wichtig gewesen; denn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten viele Bürger fühlen sich von anonymen Mächten und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht greifbaren Verantwortlichkeiten geradezu bedroht. Wenn wir heute die Verfassung ratifizieren, dann haben (Zuruf von der SPD) wir in der EU die Demokratisierung durch Parlamen- tarisierung im hohen Maße erreicht. Ich erinnere an das, Europa wirkt für sie nicht mehr wie eine politische Ver- worum es geht: heißung, wie das in der Nachkriegszeit und lange danach war, sondern wie ein undurchschaubarer Moloch, gera- „Als wir vor sieben Jahren hier die Römischen Ver- dezu wie eine Bedrohung. Viele Menschen haben nicht träge ratifizierten, wussten wir, dass die parlamentari- mehr den Eindruck, dass Europa ihnen dient, sondern sche Institution der zu schaffenden Gemeinschaften un- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16381

Axel Schäfer (Bochum) (A) terentwickelt sein würde und dass auf dem Weg von den auf EU-Ebene, das auf nationaler Ebene fehlt. Den(C) nationalen Parlamenten zu den europäischen Institutio- Ombudsmann gibt es in der Europäischen Union und in nen parlamentarische Rechte verloren gehen würden.“ zahlreichen Mitgliedstaaten; bei uns ist er hingegen So Karl Mommer, Vizepräsident des Bundestages, bei weitgehend unbekannt. Öffentliche Ausschusssitzun- der Einbringung eines Gesetzentwurfes der SPD für die gen, wie sie im Europäischen Parlament selbstverständ- Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1964. lich sind, gehören im Bundestag leider und unverständli- cherweise heute noch zur Ausnahme. Die Direktwahlakte wurde schließlich 1976 in der EG beschlossen. Bundeskanzler damals: Helmut Schmidt, Es gibt also noch viel zu tun. Aber – das merke ich SPD. Die Forderung nach „einer europäischen Födera- nur deshalb kritisch an, weil ich selber früher Mitglied tion mit demokratischer Verfassung“ steht im Wahlpro- des Europäischen Parlaments war – unsere Kolleginnen gramm von 1978. Spitzenkandidat: Willy Brandt. Der und Kollegen in Brüssel und Straßburg müssen sich fra- europäische Konvent, der erst zur Grundrechte-Charta gen, ob es auf Dauer zu verantworten ist, 40 Sitzungswo- und dann zum „Vertrag über eine Verfassung für Eu-chen im Jahr durchzuführen. Das entspricht nicht mehr ropa“ führte, wurde von Gerhard Schröder als EU-Rats- den heutigen Notwendigkeiten. Europaabgeordnete präsident auf den Weg gebracht. So viel zum besonderen müssen stärker hier vor Ort präsent sein. Beitrag der deutschen Sozialdemokratie zum Gelin- gen des heutigen Tages. (Beifall bei der SPD und der FDP) (Beifall bei der SPD) Als Bundestagsfraktion betonen wir heute unsere eu- ropäische Identität, als Angehörige voneuropäischen Was heißt „Demokratisierung durch Parlamentaris- Parteifamilien können wir in EU-Angelegenheiten des- mus in Europa“ konkret? DasEuropäische Parlament halb nicht mehr nationalstaatlich argumentieren. Lassen entscheidet bei circa 95 Prozent aller Gesetze gleichbe- Sie mich ein Beispiel anführen – an dieser Stelle ist die rechtigt mit dem Rat. Nur zur Erinnerung: Bis 1999 hatte CDU/CSU gefordert –: Der tschechische Präsident bei allen strittigen Gesetzen der Ministerrat immer das Václav Klaus, Mitglied der christdemokratisch-konser- letzte Wort, heute haben wir gleiche Augenhöhe erreicht. vativen Parteifamilie Europas und der ODS, beurteilt die EU-Verfassung – ich zitiere wörtlich – als „leer und Das Europäische Parlament hat, entgegen vielen Äu- schlecht“ und preist zugleich „die größtmögliche Erwei- ßerungen von Europaskeptikern und -gegnern, natürlich terung: Türkei, Marokko, Ukraine, Kasachstan – je auch das Initiativrecht. Lieber Kollege Müller, lesen Sie mehr, desto besser“. in den Art. 330 und 332 nach. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich erwarte jetzt von der CDU/CSU, dass sie mit die- ser Position in der Öffentlichkeit kritisch umgeht und (D) (B) Das Europäische Parlament wählt die Kommission und ihre heute von der Kollegin Dr. Merkel und von Minis- hat schon vor der Investitur 2004 gezeigt, was das be- terpräsident Stoiber dargelegte Position nicht nur in die- deutet. Die Mitgliedstaaten werden niemals mehr Kandi- sem Hause, sondern auch in ihrer eigenen Parteifamilie datinnen oder Kandidaten vorschlagen, bei denen diedeutlich macht. Abgeordneten in Straßburg nur aufstehen und klatschen. Alle künftigen Kommissare werden vor der Wahl einer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anhörung unterzogen und dann beurteilt – eine Mög- Nehmen Sie sich doch ein Beispiel an der Geschichte, lichkeit der Volksvertretung, von der wir in Deutschland und zwar an Helmut Schmidt, dem früheren sozialdemo- allerdings nur träumen können. kratischen Bundeskanzler. Er hat auf dem Parteitag der Die Parlamentarisierung Europas geht einher mit der Labour Party 1977, als es in Großbritannien um die Europäisierung des Bundestages. Sie bedeutet andere Frage „Europa – ja oder nein?“ ging, eine begeisternde Verfahren und erfordert von uns allen eine andere Men- und fulminante Rede gegen die Europaskeptiker und Eu- talität. Europa ist nicht mehr nur ein großes Haus mitropakritiker in der Labour Party gehalten. Das war mutig Büro und Telekommunikation. Europa, das sind wir,und es war keine Einmischung in innere Angelegenhei- Idee und Realität einer Gemeinschaft, die in unserenten; es war vielmehr eine praktizierte – wenn auch Köpfen denkt und in unseren Herzen lebt. Deshalb müs- schwierige – sozialdemokratische „Familienpolitik“. sen wir schneller und besser werden, wenn es um die Be- Diese Form von öffentlicher Rede und Gegenrede ist teiligung an der europäischen Rechtsetzung geht, und wichtig, weil über die EU-Verfassung in Tschechien be- gründlicher, was die Umsetzung auf nationaler Ebene kanntlich vom Volk abgestimmt wird. Bei uns ist das lei- anbelangt. Deshalb müssen wir dieSubsidiaritätskon- der nicht der Fall. Viele in der SPD-Fraktion betrachten trolle verantwortungsbewusst handhaben. Das bedeutet dies als schwerwiegenden Fehler. Ich sage noch einmal, eben nicht, dass wir künftig möglichst viele EU-Initiati- an die Kollegin Dr. Merkel und Herrn Ministerpräsident ven strikt anhalten und konsequent einwenden, sondern Stoiber gewandt: Es lag im vergangenen Oktober in Ih- wir wollen europäisches Gemeinschaftsrecht strikt ein- ren Händen, die Initiative von SPD und Rot-Grün aufzu- halten und konsequent anwenden. Wir müssen auch als greifen, Bundestag in Brüssel stärker präsent sein. (Widerspruch bei der FDP – Dr. Werner Hoyer Als Abgeordneter weise ich in diesem Zusammen- [FDP]: Ihr habt mit Nein gestimmt!) hang selbstkritisch darauf hin, dass wir in Deutschland noch von Elementen europäischer Demokratie lernenum gemeinsam mit der FDP und uns zu einer Lösung zu können. Das Bürgerbegehren ist ein neues Instrument kommen, auch hier plebiszitäre Elemente in die Verfas- 16382 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Axel Schäfer (Bochum) (A) sung aufzunehmen. Sie haben das nicht gewollt, weil Sie Gerichtshofs, der die Bundesrepublik Deutschland bis(C) intern zerstritten waren. zum heutigen Tage immer widersprochen hat – mit Zu- stimmung des Deutschen Bundestages kraft Zustim- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mungsgesetzes nicht nur der Vorrang des neuen Verfas- DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt sungsvertrags als solcher, sondern ausdrücklich und [FDP]: Sie wollten die Abstimmung nicht! Das trifft nicht zu!) uneingeschränkt auch der Vorrang des von den EU-Orga- nen erlassenen Sekundär- und Tertiärrechts vor allem Den meisten – selbst den Gegnern von Referenden in deutschen Recht einschließlich des Grundgesetzes mit- Deutschland – ist heute klar, wie wichtig es gewesensamt den Grundrechten postuliert. Es bestehen erhebliche wäre, eine breite Debatte zu führen. Wir hätten die deut- Zweifel, ob die Mitglieder des Deutschen Bundestags be- sche Gretchenfrage beantworten müssen: Wie hältst du rechtigt sind, das Grundgesetz wie die Landesverfas- es mit der Integration? Spanien war ein gutes Beispiel sungen zur Disposition der EU-Organe zu stellen. für eine freiwillige, nicht bindende Abstimmung. Gerhard Schröder hat sich dort erfolgreich für ein Ja ein- Namhafte Verfassungsrechtler haben in den letzten gesetzt, wie er es auch zurzeit in Frankreich tut. Dieser Wochen eingehend darauf hingewiesen, dass die mit der deutsche Bundeskanzler agiert als Europäer. Dafür sollte Verabschiedung des Gesetzes vom Bundestag ausgespro- ihm der gesamte Bundestag ausdrücklich danken. chene Zustimmung zur europäischen Verfassung nicht mehr als normale Grundgesetzänderung bewertet werden (Beifall bei der SPD) darf, sondern als Ersetzung und Verdrängung des Grund- Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen gesetzes durch ein anders strukturiertes und verfasstes Mauern und die anderen Windräder. Wir wollen hierSystem angesehen werden muss. Dafür gibt das Grund- Windräder bauen. Wir bauen an einem offenen, demo- gesetz den Bundestagsabgeordneten keine Handreiche. kratischen, freien und solidarischen Europa. Nur Natio- Vielmehr bestimmt das Grundgesetz, dass Änderungen nalisten bauen noch Mauern, und zwar in den Köpfen. des Grundgesetzes, die seine Basis auch nur „berühren“, Die reale Mauer in Europa ist am 9. November 1989 ge- unzulässig sind. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gibt fallen. Wir wollen heute dazu beitragen, dass Europadem Bundestag nicht das Recht, sich im Namen der und auch durch unsere Entscheidung in Deutschland in Viel- unter Berufung auf die grundgesetzliche Legitimation falt geeint wird. über das Grundgesetz hinwegzusetzen. Das Grundgesetz hat die Verfahrensweise für den Fall, dass eine neue, dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Grundgesetz übergeordnete Verfassung in Kraft treten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) soll, in Art. 146 ausdrücklich und klar geregelt. Dort heißt es: (B) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Ein- Schluss der Debatte. heit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, teile ich Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von mit, dass zwei Kollegen nach § 31 unserer Geschäftsord- nung um das Wort zu einer mündlichen Erklärung zu ih- dem deutschen Volke in freier Entscheidung be- rem Abstimmungsverhalten gebeten haben. Das sind die schlossen worden ist. Kollegen Dr. Peter Gauweiler und Manfred Carstens, de- Damit besteht heute die begründete Gefahr, dass nen ich anschließend das Wort erteile. Darüber hinaus durch das soeben zur Abstimmung vorgelegte Gesetz liegen etwa 80 persönliche Erklärungen zur Abstim-das demokratische Fundamentalprinzip verletzt wird, 1) mung vor, die zu Protokoll genommen werden. dass alle Staatsgewalt vomVolk ausgeht. Ein derartig Ich gebe nun das Wort dem Kollegen Dr. Peterweit reichendes Verfassungsgesetz kann nur auf einem Gauweiler. Referendum des deutschen Volkes über ein neues Ver- fassungsgesetz beruhen. Dass der Bundestag, der unserer Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): Bevölkerung eine Volksabstimmung über den Verfas- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undsungsvertrag ausdrücklich verweigert, mit seiner heuti- Herren Kollegen! Ich gebe gemäß § 31 der Geschäfts- gen Abstimmung auch noch auf unser Nachbarland ordnung des Bundestags folgende Erklärung zu meinem Frankreich Einfluss nehmen will, wo in wenigen Tagen Abstimmungsverhalten ab. Mit dem Gesetzentwurf soll eine Volksabstimmung stattfindet, wirkt vor diesem Hin- ein Verfassungsvertrag in Kraft gesetzt werden, der in tergrund besonders unangebracht. Art. I-6 folgende Regelung enthält: Es gibt eine Reihe vielfältiger inhaltlicher Einwen- Die Verfassung und das von den Organen der Union dungen gegen den Verfassungsvertrag, die mich an der in Ausübung der der Union übertragenen Zustän- Zustimmung hindern und die ich im Einzelnen schrift- digkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem lich zu Protokoll gebe. Diese Einwände gegen das Zu- Recht der Mitgliedstaaten. stimmungsgesetz machen eine Verfassungsbeschwerde und eine Organklage unumgänglich, um dem Bundes- Damit wird erstmalig – und erstmalig zu einer entspre- verfassungsgericht die Gelegenheit zu geben, nach Maß- chenden 40-jährigen Rechtsprechung des Europäischen gabe seines Beschlusses vom 28. April 2005 die Verfas- sungsmäßigkeit dieses Zustimmungsgesetzes und der 1) Anlagen 2 bis 5 mit der Verabschiedung verbundenen Vorgänge in einem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16383

Dr. Peter Gauweiler (A) Hauptsacheverfahren zu überprüfen. Dies wird gesche- Ich wünsche diesem Europa, zu dem wir alle gehören, (C) hen. eine gute Zukunft, obwohl ich hier jetzt Nein sagen muss. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Danke schön. Ich erteile dem Kollegen Manfred Carstens das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Manfred Carstens (Emstek) (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun Kollegen! Meiner Fraktion gegenüber habe ich bereits zur Abstimmung über den von der Bundesregierung dargelegt, was ich jetzt noch vor dem Deutschen Bun- eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom destag sagen möchte: 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa. Hierbei handelt es sich um die Drucksachen 15/4900 (Zuruf von der SPD: Wir verzichten!) und 15/4939. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschluss- weswegen ich mich nicht imstande sehe, dem Vertrag empfehlung auf Drucksache 15/5491, den Gesetzent- über eine Verfassung für Europa zuzustimmen. Ichwurf anzunehmen. möchte zum Ausdruck bringen, dass dieses Vertrags- Ich weise darauf hin, dass nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 werk nach meiner Einschätzung eine Verbesserung des in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Vertrages von Nizza, also n ei Fortschritt, ist. Daher Annahme dieses Gesetzentwurfs bei der zweiten Bera- möchte ich mich bei denen bedanken, die über diesen tung und der Schlussabstimmung die Zustimmung von Vertrag verhandelt haben. zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt Dass ich gegen diesen Verfassungsvertrag stimme,mindestens 401 Stimmen, erforderlich ist. liegt nicht daran, dass ich irgendetwas gegen Europa Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Haben die habe. Mir liegt sehr an einer gedeihlichen Weiterent-Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen wicklung Europas. Es gibt aber einen Aspekt, der fürPlätze eingenommen? – Das scheint der Fall zu sein. mich so bedeutsam ist, dass ich nicht zustimmen kann. Dann eröffne ich die Abstimmung. Obwohl man sich sehr bemüht hat, hat man nach all den Beratungen in dem Verfassungsvertrag keinen Platz für Ich darf während dieser namentlichen Abstimmung Gott und die Verantwortung vor ihm gefunden. Damit darauf hinweisen, dass unmittelbar im Anschluss daran meine ich Gott den Dreifaltigen, den Vater, den Sohnweitere, mit diesem Verfassungsvertrag verbundene Ent- (B) und den Heiligen Geist. scheidungen zu Begleitgesetzen und zu einem Entschlie- (D) ßungsantrag anstehen. Ich bitte um entsprechende Prä- Man könnte sagen: Auch in vorherigen europäischen senz. Verträgen war die Bezeichnung „Gott“ nicht enthalten, Gibt es noch einen Kollegen oder eine Kollegin, der also ist es nicht schlimm, wenn sie auch in diesen Ver- oder die die Stimme nicht abgeben konnte? – Das trag nicht aufgenommen ist. Wer das sagt, der hat nicht scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Ab- die Bedeutung dieses Verfassungsvertrages vor Augen: stimmung. Es ist das erste Mal in der Geschichte der EU, dass man sich durch einen Vertrag eine Verfassung gibt. Diese Ich unterbreche die Sitzung bis zum Vorliegen des Er- Verfassung ist von besonderer Bedeutung. gebnisses der namentlichen Abstimmung. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses führen wir die weite- Hinzu kommt, dass der Begriff „Gott“ nicht verse-ren Abstimmungen zu diesem Tagesordnungspunkt hentlich nicht aufgenommen wurde; man hat IHN also durch. nicht vergessen. Vielmehr hat es erhebliche Anstrengun- gen gegeben, nicht zuletzt seitens der CDU/CSU-Frak- Die Sitzung ist unterbrochen. tion, hier im Deutschen Bundestag und auf europäischer (Unterbrechung von 12.44 bis 12.50 Uhr) Ebene, das nachträglich zu heilen. Diejenigen aber, die sich dagegengestellt haben, Gott in das Verfassungsge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: setz aufzunehmen, haben sich durchgesetzt, sodass Gott Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. – aus welchen Gründen auch immer – wissentlich und gewollt nicht in die Verfassung gekommen ist. Aufgrund Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen dieses Tatbestandes kann ich diesem Verfassungsgesetz das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit- nicht zustimmen. telte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Das hat vor allen Dingen damit zu tun, dass ich zuin- Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für nerst davon überzeugt bin, dass das große Werk, Europa Europa bekannt. Abgegebene Stimmen 594. Mit Ja ha- in den nächsten Jahrzehnten – und hoffentlich länger – ben gestimmt 569, in Frieden und Freiheit, in gegenseitiger Rücksicht- (Anhaltender Beifall im ganzen Hause) nahme und partnerschaftlich zusammenzuführen, ohne Gottes Hilfe nicht zu vollbringen ist. Da das, was in die- mit Nein haben gestimmt 23; es gibt zwei Enthaltungen. sem Vertrag fehlt, derartig nachhaltig ist, kann ich meine Damit ist der Gesetzentwurf mit der erforderlichen Zustimmung einfach nicht geben. Mehrheit angenommen. 16384 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Endgültiges Ergebnis Uwe Göllner Christine Lehder Ottmar Schreiner (C) Abgegebene Stimmen: 594; Renate Gradistanac Waltraud Lehn Gerhard Schröder davon Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Elke Leonhard Brigitte Schulte (Hameln) Dieter Grasedieck Eckhart Lewering Reinhard Schultz ja: 569 Götz-Peter Lohmann (Everswinkel) nein: 23 Gabriele Lösekrug-Möller (Spandau) enthalten: 2 Gabriele Groneberg Erika Lotz Dr. Angelica Schwall-Düren Achim Großmann Dr. Dr. Martin Schwanholz Ja Wolfgang Grotthaus Dirk Manzewski Karl-Hermann Haack Tobias Marhold Erika Simm SPD (Extertal) Lothar Mark Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Hans-Joachim Hacker Dr. Cornelie Sonntag- Dr. Lale Akgün Wolgast Klaus Hagemann Wolfgang Spanier Ingrid Arndt-Brauer Alfred Hartenbach Ulrike Mehl Dr. Margrit Spielmann Michael Hartmann Petra-Evelyne Merkel Jörg-Otto Spiller Hermann Bachmaier (Wackernheim) Ulrike Merten Dr. Ditmar Staffelt (Neuruppin) Nina Hauer Doris Barnett Ursula Mogg Rolf Stöckel Dr. Hans-Peter Bartels Reinhold Hemker Michael Müller (Düsseldorf) Christoph Strässer Eckhardt Barthel (Berlin) Rolf Hempelmann Christian Müller (Zittau) Rita Streb- Klaus Barthel (Starnberg) Dr. Barbara Hendricks Franz Müntefering Dr. Peter Struck Sören Bartol Gustav Herzog Dr. Rolf Mützenich Joachim Stünker Sabine Bätzing Petra Heß Volker Neumann (Bramsche) Jörg Tauss Uwe Beckmeyer Monika Heubaum Dietmar Nietan Jella Teuchner Klaus Uwe Benneter Gisela Hilbrecht Dr. Erika Ober Dr. Gerald Thalheim Dr. Gabriele Hiller-Ohm Holger Ortel Wolfgang Thierse Ute Berg Stephan Hilsberg Franz Thönnes Hans-Werner Bertl Heinz Paula Gerd Höfer Hans-Jürgen Uhl Petra Bierwirth Johannes Pflug Jelena Hoffmann (Chemnitz) Rüdiger Veit Joachim Poß Walter Hoffmann Dr. Wilhelm Priesmeier Simone Violka (Heidelberg) Jörg Vogelsänger (Darmstadt) (Wismar) Dr. (Pforzheim) Gerd Friedrich Bollmann Dr. Marlies Volkmer Klaus Brandner Frank Hofmann (Volkach) Karin Rehbock-Zureich Eike Hovermann Gerold Reichenbach Hans Georg Wagner (B) Hedi Wegener (D) Klaas Hübner Dr. Carola Reimann Christel Humme Christel Riemann- Andreas Weigel (Hildesheim) Petra Weis Hans-Günter Bruckmann Lothar Ibrügger Hanewinckel Brunhilde Irber Walter Riester Reinhard Weis (Stendal) Gunter Weißgerber Marco Bülow Renate Jäger Rene Röspel Klaus-Werner Jonas Dr. Ernst Dieter Rossmann Gert Weisskirchen (Wiesloch) Dr. Michael Bürsch Johannes Kahrs Karin Roth (Esslingen) Ulrich Kasparick Michael Roth (Heringen) Dr. Rainer Wend Hans Martin Bury Hildegard Wester Marion Caspers-Merk Dr. h. c. Susanne Kastner Gerhard Rübenkönig Ulrich Kelber Lydia Westrich Dr. Inge Wettig-Danielmeier Hans-Peter Kemper Marlene Rupprecht Klaus Kirschner (Tuchenbach) Dr. Martin Dörmann Andrea Wicklein Peter Dreßen Thomas Sauer Hans-Ulrich Klose Anton Schaaf Jürgen Wieczorek (Böhlen) Elvira Drobinski-Weiss Heidemarie Wieczorek-Zeul Detlef Dzembritzki Astrid Klug Axel Schäfer (Bochum) Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Bärbel Kofler Gudrun Schaich-Walch Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Siegmund Ehrmann Dr. Heinz Köhler (Coburg) Engelbert Wistuba Bernd Scheelen Barbara Wittig Martina Eickhoff Fritz Rudolf Körper Siegfried Scheffler Dr. Marga Elser Karin Kortmann Horst Schild Verena Wohlleben Rolf Kramer Horst Schmidbauer Waltraud Wolff Petra Ernstberger (Nürnberg) (Wolmirstedt) Karin Evers-Meyer Ernst Kranz (Aachen) Heidi Wright Annette Faße Nicolette Kressl Silvia Schmidt (Eisleben) Elke Ferner Volker Kröning Dagmar Schmidt (Meschede) Manfred Helmut Zöllmer Gabriele Fograscher Dr. Hans-Ulrich Krüger Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Dr. Christoph Zöpel Rainer Fornahl Angelika Krüger-Leißner Heinz Schmitt (Landau) Hans Forster Horst Kubatschka CDU/CSU Gabriele Frechen Helga Kühn-Mengel Walter Schöler Ute Kumpf Lilo Friedrich (Mettmann) Dr. Uwe Küster Karsten Schönfeld Ilse Aigner Iris Gleicke Fritz Schösser Peter Altmaier Günter Gloser Christian Lange (Backnang) Wilfried Schreck Artur Auernhammer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16385

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Norbert Barthle Hans Michelbach Matthäus Strebl (C) Dr. Karl-Theodor Freiherr von Klaus Minkel Thomas Strobl (Heilbronn) Günter Baumann und zu Guttenberg Marlene Mortler Lena Strothmann Ernst-Reinhard Beck Hildegard Müller Michael Stübgen (Reutlingen) Holger-Heinrich Haibach Stefan Müller (Erlangen) Dr. Gerda Hasselfeldt Bernward Müller (Gera) Edeltraut Töpfer Otto Bernhardt Helmut Heiderich (Bremen) Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Ursula Heinen Arnold Vaatz Siegfried Helias Volkmar Uwe Vogel Carl-Eduard von Bismarck Uda Carmen Freia Heller Günter Nooke Andrea Astrid Voßhoff Renate Blank Dr. Georg Nüßlein Gerhard Wächter Jürgen Herrmann Melanie Oßwald Marko Wanderwitz Antje Blumenthal Eduard Oswald Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Maria Böhmer Peter Hintze Rita Pawelski Gerald Weiß (Groß-Gerau) Jochen Borchert Klaus Hofbauer Dr. Peter Paziorek Wolfgang Börnsen Joachim Hörster Ulrich Petzold Annette Widmann-Mauz (Bönstrup) Hubert Hüppe Dr. Klaus-Peter Willsch Susanne Jaffke Sibylle Pfeiffer Willy Wimmer (Neuss) Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Peter Jahr Dr. Friedbert Pflüger Matthias Wissmann Klaus Brähmig Dr. Egon Jüttner Werner Wittlich Dr. Bartholomäus Kalb Dagmar Wöhrl Helge Braun Steffen Kampeter Elke Wülfing Monika Brüning Irmgard Karwatzki Daniela Raab Wolfgang Zeitlmann Bernhard Kaster Thomas Rachel Wolfgang Zöller Verena Butalikakis Hans Raidel Willi Zylajew Hartmut Büttner Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Peter Ramsauer (Schönebeck) Schwenningen) Helmut Rauber BÜNDNIS 90/ Cajus Julius Caesar Gerlinde Kaupa Peter Rauen DIE GRÜNEN Gitta Connemann Christa Reichard (Dresden) Jürgen Klimke Katherina Reiche (Bremen) Julia Klöckner Hans-Peter Repnik Volker Beck (Köln) Roland Dieckmann Kristina Köhler (Wiesbaden) Klaus Riegert Cornelia Behm Vera Dominke Norbert Königshofen Dr. Birgitt Bender Marie-Luise Dött Thomas Kossendey (B) Franz-Xaver Romer Grietje Bettin (D) Anke Eymer (Lübeck) Günther Krichbaum Dr. Klaus Rose Georg Fahrenschon Günter Krings Kurt J. Rossmanith Ekin Deligöz Dr. Martina Krogmann Dr. Norbert Röttgen Dr. Thea Dückert Dr. Hans Georg Faust Dr. Hermann Kues Dr. Christian Ruck Jutta Dümpe-Krüger (Zingst) Volker Rühe Franziska Eichstädt-Bohlig Ingrid Fischbach Dr. Karl A. Lamers Albert Rupprecht (Weiden) Dr. Uschi Eid Hartwig Fischer (Göttingen) (Heidelberg) Peter Rzepka Hans-Josef Fell Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Norbert Lammert Anita Schäfer (Saalstadt) Joseph Fischer (Frankfurt) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Wolfgang Schäuble Katrin Göring-Eckardt Land) Karl-Josef Laumann Hartmut Schauerte Dr. Maria Flachsbarth Dr. Winfried Hermann Klaus-Peter Flosbach Werner Lensing Norbert Schindler Peter Hettlich Erich G. Fritz Peter Letzgus Georg Schirmbeck Ulrike Höfken Jochen-Konrad Fromme Ursula Lietz Angela Schmid Thilo Hoppe Dr. Michael Fuchs Walter Link (Diepholz) Michaele Hustedt Hans-Joachim Fuchtel Eduard Lintner Christian Schmidt (Fürth) Jutta Krüger-Jacob Dr. Jürgen Gehb Dr. Klaus W. Lippold Andreas Schmidt (Mülheim) Fritz Kuhn Norbert Geis (Offenbach) Dr. Renate Künast Dr. Ole Schröder Markus Kurth Dr. Michael Luther Bernhard Schulte-Drüggelte Undine Kurth (Quedlinburg) Georg Girisch Dorothee Mantel Monika Lazar Michael Glos Wilhelm Josef Sebastian Dr. Reinhard Loske Ralf Göbel () Horst Seehofer Anna Lührmann Dr. Reinhard Göhner Stephan Mayer (Altötting) Kurt Segner Jerzy Montag Josef Göppel Dr. Conny Mayer (Freiburg) Matthias Sehling Kerstin Müller (Köln) Peter Götz Dr. Martin Mayer Heinz Seiffert Dr. Wolfgang Götzer (Siegertsbrunn) Bernd Siebert Christa Nickels Ute Granold Wolfgang Meckelburg Thomas Silberhorn Friedrich Ostendorff Kurt-Dieter Grill Dr. Michael Meister Erika Steinbach Simone Probst Dr. Angela Merkel Claudia Roth (Augsburg) Hermann Gröhe Gero Storjohann Krista Sager Michael Grosse-Brömer (Hamm) Andreas Storm Christine Scheel Markus Grübel Maria Michalk Max Straubinger Irmingard Schewe-Gerigk 16386 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Rezzo Schlauch Horst Friedrich (Bayreuth) Eberhard Otto (Godern) Klaus-Jürgen Hedrich (C) Albert Schmidt (Ingolstadt) Rainer Funke Detlef Parr Ernst Hinsken (Berlin) Dr. Wolfgang Gerhardt Cornelia Pieper Robert Hochbaum Petra Selg Hans-Michael Goldmann Gisela Piltz Manfred Kolbe Ursula Sowa Joachim Günther (Plauen) Dr. Hartmut Koschyk Rainder Steenblock Dr. Dr. Rudolf Kraus Silke Stokar von Neuforn Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Barbara Lanzinger Hans-Christian Ströbele Klaus Haupt Dr. Rainer Stinner Doris Meyer (Tapfheim) Jürgen Trittin Ulrich Heinrich Carl-Ludwig Thiele Dr. Gerd Müller Marianne Tritz Birgit Homburger Dr. Dieter Thomae Franz Obermeier Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Werner Hoyer Jürgen Türk Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Michael Kauch Dr. Guido Westerwelle Marion Seib Dr. Claudia Winterstein Dr. Ludger Volmer Dr. Heinrich L. Kolb Johannes Singhammer Dr. Josef Philip Winkler Hellmut Königshaus Margareta Wolf (Frankfurt) Gudrun Kopp Fraktionslose Abgeordnete Jürgen Koppelin Nein FDP Martin Hohmann Sibylle Laurischk Dr. Gesine Lötzsch CDU/CSU Dr. Karl Addicks Harald Leibrecht Petra Pau Daniel Bahr (Münster) Ina Lenke Manfred Carstens (Emstek) Rainer Brüderle Sabine Leutheusser- Alexander Dobrindt Schnarrenberger Thomas Dörflinger Enthalten Markus Löning Albrecht Feibel SPD Helga Daub Dirk Niebel Herbert Frankenhauser Jörg van Essen Günther Friedrich Nolting Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Hermann Scheer Ulrike Flach Hans-Joachim Otto (Hof) Dr. Ernst Ulrich von Otto Fricke (Frankfurt) Dr. Peter Gauweiler Weizsäcker

Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns allen ist be-die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das wusst, dass dies keine Routineentscheidung gewesen ist. Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schäftsordnung die weitere Beratung. (B) FDP) (D) Nun kommen wir zur Abstimmung über den von den Mit dieser überwältigenden Zustimmung zum europäi- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen schen Verfassungsvertrag setzt der Deutsche Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf über die Ausweitung und die Serie seiner eindrucksvollen Voten zum europäi-Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesra- schen Integrationsprozess und zur Rolle Deutschlands in tes in Angelegenheiten der Europäischen Union auf Europa fort. Drucksache 15/4925. Der Ausschuss für die Angelegen- (Beifall im ganzen Hause) heiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 1 sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5492, den Ich will für die Besucher dieser Plenarsitzung, aber auch Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. für die Fernsehzuschauer und Rundfunkzuhörer darauf Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser hinweisen, dass mit dieser Entscheidung ein monatelan- Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei- ger Beratungs- und Abwägungsprozess zum Abschluss chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der gebracht worden ist, dem Dutzende von Sitzungen inStimme? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- Ausschüssen des Deutschen Bundestages, in Arbeits-tung einstimmig angenommen. gruppen, in den Fraktionen und in Fachkonferenzen und eben nicht nur im Plenum des Deutschen Bundestages (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vorausgegangen sind. Dritte Beratung (Beifall im ganzen Hause) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Wir kommen nun zu den weiteren Abstimmungen in Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Verbindung mit Tagesordnungspunkt 4 b. Abweichend Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – von der in der Tagesordnung vorgesehenen Reihen-Der Gesetzentwurf ist einstimmig vom Deutschen Bun- folge kommen wir zunächst zur Abstimmung über den destag angenommen. Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- (Beifall im ganzen Hause) sache 15/4716 zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Eu- Wir stimmen nun über den interfraktionellen Ent- ropäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegen- schließungsantrag auf Drucksache 15/5493 ab. Wer heiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 2stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5492, dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Auch dies ist diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, einstimmig so beschlossen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16387

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp- len. Mit Rücksicht auf die bereits abgelaufene Umset-(C) fehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten derzungsfrist und im Hinblick auf die Zusicherung der Bun- Europäischen Union auf Drucksache 15/5492 fort. Unter desregierung, unseren Antrag ergebnisoffen zu beraten, Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- waren wir einverstanden, unseren Antrag abzukoppeln. schuss, den Antrag der Fraktionen der SPD und desHeute ist unser Gesetzentwurf, der noch um die Überwa- Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4936 zur chung der Telekommunikation erweitert wurde – hier se- Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages bei der hen wir weiteren Handlungsbedarf –, in der Beratung. Begleitung, Mitgestaltung und Kontrolle europäischer Gesetzgebung durch die getroffenen Entscheidungen für Die jüngst durchgeführte Sachverständigenanhörung erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-zu den Menschenhandelsdelikten hat ergeben, dass der empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich Menschenhandel typischerweise konspirativ verübt der Stimme? – Diese Empfehlung ist einstimmig so an- wird. Deshalb kommt der Telefonüberwachung nicht nur genommen. bei den schwersten Fällen des Menschenhandels höchs- ter Stellenwert zu. Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4937 mit dem Titel Menschenhandel – das heißt im Kern: Frauen- und „Für mehr Mitsprache des Deutschen Bundestages bei Mädchenhandel – war und ist für die Union ein Thema, der Rechtsetzung der Europäischen Union nach In-das ständig auf der Agenda ist. Ich kann beim besten Kraft-Treten des Verfassungsvertrags“ ebenfalls für erle- Willen die Aufgeregtheit von Bündnis 90/Die Grünen digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- nicht verstehen. lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Stimme? – Auch diese Beschlussempfehlung ist einstim- DIE GRÜNEN]: Ich habe mich doch gar nicht mig angenommen. aufgeregt! Ich bin ganz ruhig!) Damit sind wir am Schluss dieses Tagesordnungs-Offenbar geht es Ihnen mehr um die Bekämpfung der punktes. Ich bedanke mich bei allen für die disziplinierte Union als um die Rechte der geschändeten Frauen. Mitwirkung. Dank des Visa-Untersuchungsausschusses steht der Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: Menschenhandel im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Da Erste Beratung des von den Abgeordneten Ute besteht Betroffenheit. Es geht um die Verletzung der Granold, Siegfried Kauder (Villingen-Menschenrechte und um die Verletzung der Menschen- Schwenningen), Dr. Jürgen Gehb, weiterenwürde in übelster Form. Die Union fordert die Bekämp- fung des Menschenhandels – konsequent mit allen Mit- (B) Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU (D) eingebrachten Entwurfs eines… Strafrechts- teln und in allen Bereichen. Dazu gehören nicht nur die änderungsgesetzes – §§ 232 a, 233 c StGBjüngst beschlossene Verschärfung der Gesetze gegen (… StrÄndG) Menschenhändler und die notwendige Verbesserung des Opferschutzes, sondern auch die Bestrafung der Freier – Drucksache 15/5326 – von Zwangsprostituierten. Sie sind die wahren Ausbeu- Überweisungsvorschlag: ter. Erst die Kunden schaffen den Markt. Ohne Nach- Rechtsausschuss (f) frage kein Angebot und damit auch kein Leid der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Frauen! Die Frauen-Union hat bereits auf ihrem Bundes- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung delegiertentag 2003 ein Maßnahmenpaket zur Bekämp- fung des Menschenhandels beschlossen und dabei eben- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die falls gefordert, dass die Freier von Zwangsprostituierten Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ichbestraft werden. keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- neten der FDP) nächst der Kollegin Ute Granold für die CDU/CSU- Fraktion. Ich war im Mai letzten Jahres mit meinem Kollegen Siegfried Kauder – er wird unseren Gesetzentwurf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gleich im Detail erläutern – in Tschechien im Grenzge- biet zu Bayern. Wir haben die Situation inDomazlice, Ute Granold (CDU/CSU): einem kleinen Landkreis mit dem größten Bordell Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undEuropas – 40 Bordelle mit 800 Prostituierten –, angese- Herren! Wir haben bereits im letzten Jahr das Themahen und Gespräche mit der dortigen Polizei und auch mit Menschenhandelsdelikte im Deutschen Bundestag bera- Hilfsorganisationen geführt. Frauen und Mädchen vor- ten und darüber abgestimmt. Dabei haben wir im We- nehmlich aus Tschechien, der Ukraine, Rumänien, der sentlichen den Rahmenbeschluss der EU vom Juli 2002 Slowakei und Moldawien werden hier gesammelt, ein- zur Bekämpfung des Menschenhandels umgesetzt. Ingearbeitet und dann quer durch Europa verkauft. den Beratungen konnte die Union wesentliche Verbesse- Deutschland ist dabei sowohl Transit- als auch Zielland. rungen gegenüber dem Entwurf der Koalition erreichen. Das ist Sklavenhandel im 21. Jahrhundert – mitten in Europa, mitten unter uns. Wir hatten schon damals einen Antrag eingebracht, die Freier von Zwangsprostituierten unter Strafe zu stel- (Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU]) 16388 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Ute Granold (A) Nach Schätzungen der UN werden allein in Europa (Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard(C) Jahr für Jahr 500 000 Frauen und Mädchen verschleppt Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und zur Prostitution gezwungen. Damit werden etwa NEN]: Dann müssen Sie in den Ländern dafür 10 Milliarden Euro umgesetzt. Weltweit sind es 60 Mil- sorgen, dass die Polizei besser ausgestattet liarden Euro und etwa 4 Millionen Frauen, die als Ware ist!) gehandelt werden. Frauenhandel ist heute das lukra- tivste, das expansivste und das risikoärmste Geschäft der Mit dem Prostitutionsgesetz wurde die Prostitution, organisierten Kriminalität und hat längst den Waffen-für die in den Medien stark geworben wird, hoffähig ge- und Drogenhandel abgelöst. macht. Sie ist eine legale Dienstleistung wie jede andere geworden und führt bei konsequenter Anwendung von Wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Berlin istHartz IV sogar so weit, dass Leistungskürzungen bei längst – so der Bundesaußenminister im Oktober 2001 Verweigerung der Arbeitsaufnahme entstehen können. auf der OSZE-Konferenz „Europa gegen den Menschen- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ handel“ – zur Drehscheibe des internationalen Men- DIE GRÜNEN]: Oh, jetzt erzählen Sie schon schenhandels geworden. Es gibt unterschiedliche Zah- wieder so einen Blödsinn! Das gibt es doch gar len. Als gesichert gilt, dass in Deutschland etwa nicht!) 250 000 Prostituierte leben und arbeiten. 80 Prozent da- von sind Migrantinnen. Jede zweite davon ist in der Den Frauen wurde damit nicht geholfen, ganz im Gegen- Zwangsprostitution. Das heißt, bei uns sind etwateil: Kaum eine hat sich zwischenzeitlich sozialversi- 100 000 Frauen in der Zwangsprostitution und dabei ist chern lassen. Die Förderung der Prostitution ist nicht jede Frau eine Frau zu viel. Es wird weiter davon ausge- mehr strafbar. Die Polizei spricht hier sogar von einem gangen, dass von etwa 34 Millionen männlichen Volljäh- Zuhälterschutzgesetz. rigen in Deutschland täglich bis zu 1,2 Millionen die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das ist die Realität!) Ich habe dieser Tage die Diplomarbeit einer Studentin der Sozialwissenschaften der FH Potsdam erhalten. Sie Sie wissen, dass sich der Bundesrat derzeit auf Initia- ist vom März 2005 und befasst sich mit der Prostitution, tive Bayerns ebenfalls mit der Bestrafung der Freier bei einer Bestandsaufnahme und einer Handlungsaufforde- Zwangsprostitution befasst und darüber hinaus das Pros- rung – auch an die Politik. Ich habe die Arbeit sehr inte- titutionsgesetz auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wir ressiert, aber auch erschüttert gelesen. Sie endet mit den werden über dieses unsägliche Gesetz noch zu reden ha- Worten: ben. (B) (D) Es ist, wenn wir Glück haben, fünf vor zwölf. (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Das sind klare Worte. Ich empfehle im Übrigen die Lektüre der eingangs er- Wir alle sind aufgefordert, den Opfern von Men-wähnten Diplomarbeit. Prostitution ist ein Verstoß gegen schenhandel, den Zwangsprostituierten mit allen zurdie Menschenwürde. Sie ist keine Dienstleistung wie Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Dies betrifft im jede andere. Das zu meinen oder zu verbreiten ist meines Übrigen Frauen aus allen Bevölkerungsschichten mitErachtens zynisch. Die Diplomandin war – ich zitiere – den unterschiedlichsten beruflichen Hintergründen. „über die Abgründe des Themas fassungslos“. In ihrem Anschreiben an mich heißt es unter anderem: Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt. Das heißt, nur durch polizeiliche Razzien können Zwangsprostitu- Die Recherche hat mich in meinen politischen ierte überhaupt gefunden und befreit werden. Ich erin- Grundfesten erschüttert – denn bis dato war ich nere an die jüngste Großrazzia im Raum Hannover mit treue Grünen- und PDS-Wählerin. 230 Einsatzkräften und 31 Festnahmen. Dabei konnten Ich erwähne an dieser Stelle auch Alice Schwarzer, si- 15 Zwangsprostituierte aufgegriffen werden. cherlich keine Sympathisantin der Union. Sie äußerte Frau Schewe-Gerigk, auch wenn Sie es immer wieder sich gleich lautend. Ich könnte die Reihe beliebig fort- heftigst bestreiten: DasProstitutionsgesetz aus dem setzen. Jahre 2002 hat dazu geführt, dass kaum noch erfolgrei- Viele Zwangsprostituierte – zu 80 Prozent Migrantin- che Razzien nen, wie eingangs erwähnt – sind in den vergangenen Jahren nicht mehr über die grüne Grenze, sondern mit- (Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch nicht! – tels Visa vermeintlich legal nach Deutschland gekom- Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE men. GRÜNEN]: Sie wiederholen es immer wieder, auch wenn es falsch ist!) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist das in der EU!) durchgeführt werden können. Ihr Verweis auf die poli- zeiliche Generalklausel in den Ländern hilft da wenig. Die „Lageberichte Menschenhandel“ des BKA von 1999 Geldnot und mancherorts auch der fehlende politische bis 2003 bestätigen dies. Für die Schlepper bestand Wille spielen sicherlich eine Rolle, aber Hauptgrund ist keine Gefahr mehr, aufzufliegen; der Preis für die das Prostitutionsgesetz. Schleusung konnte erhöht werden und die Gewinne wur- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16389

Ute Granold (A) den noch satter. Der Handel blühte und blüht, solange um die Verhinderung von Zwangsprostitution und die(C) ihm nicht Einhalt geboten wird. Freierbestrafung auf den Weg zu bringen. Der EU-Justizkommissar Frattini ist bekanntlich mit (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto der Überprüfung der Visapraxis befasst; denn davon ist Solms) der gesamte Schengen-Raum betroffen. Nach einer ers- Meine Damen und Herren Kollegen der Koalitionsfrak- ten Bewertung liegt ein Verstoß Deutschlands gegen EU- tionen, Ihre Kollegin Helmhold hat im November 2004 im Recht vor. Niedersächsischen Landtag gesagt: Auch für die Freier- bestrafung wird in Kürze eine Regelung gefunden. Sie (Joachim Stünker [SPD]: Reden Sie doch mal selbst haben in den vergangenen Wochen in verschiede- über Ihren Gesetzentwurf!) nen Presseerklärungen geäußert: Über die Strafwürdig- Da Menschenhandel ein Delikt ist, das keine Grenzen keit eines solchen Verhaltens besteht für uns kein Zwei- kennt, und die mafiosen Verbrecher weltweit agieren,fel. Geben Sie sich einen Ruck! Zwar steht auf dem muss nicht nur auf europäischer, sondern auch auf inter- Antrag „CDU/CSU“, aber dennoch ist er richtig und nationaler Ebene eng zusammengearbeitet werden. Dazu wichtig. Die geschändeten Frauen warten auf ein Zei- gehört auch, dass die entsprechenden Rechtsvorschriften chen. zeitnah umgesetzt werden. Hier bestehen in Deutschland Dr. Lea Ackermann hat in ihrer 20-jährigen Tätigkeit erhebliche Defizite: Der EU-Rahmenbeschluss zur Be- bei Solwodi mit vielen Zwangsprostituierten gespro- kämpfung des Menschenhandels wurde erst nach Ablauf chen, sie betreut und bei Prozessen begleitet. Sie hat sie der Umsetzungsfrist verabschiedet. Die Richtlinie zur nach einer möglichen Bestrafung ihrer Freier befragt. Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Be- Die Frauen haben ausnahmslos gesagt, dass sie sich eine kämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durch- Bestrafung dieser Freier wünschen. Recht haben sie. reise ist trotz Fristablaufs bis heute nicht umgesetzt. Die UN-Konvention gegen die grenzüberschreitende organi- (Beifall bei der CDU/CSU) sierte Kriminalität sowie die Zusatzprotokolle gegen Natürlich muss mehr getan werden, als die Freier zu Menschenhandel und Schleusungen von Migranten aus bestrafen; das allein reicht nicht. DerOpferschutz muss dem Jahr 2000 sind ebenfalls noch nicht umgesetzt. ausgebaut werden. Beim Bundesfrauenministerium wurde 1997 die Arbeitsgruppe „Frauenhandel“ eingerichtet, die (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ gute Arbeit geleistet hat und weiter leisten wird. Mit DIE GRÜNEN]: Weil die Gesetze schon so dem Zuwanderungsgesetz wurden Möglichkeiten ge- sind, dass da nichts mehr umgesetzt werden schaffen, den Aufenthaltsstatus der leidgeprüften Frauen muss!) (B) zu verbessern. Es gibt eine EU-Richtlinie über die Ertei- (D) Wenn die Bekämpfung des Menschenhandels und der lung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatenangehörige, Zwangsprostitution ganz oben auf der Agenda steht,die nur umgesetzt werden muss. Die Opfer und auch die dann ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass dieOpferhilfsorganisationen brauchen dringend finanzielle Rechtsetzung zeitnah erfolgt. Unterstützung. Die Profite aus den Straftaten müssen ab- geschöpft, die Telefonüberwachung muss ausgeweitet Das gilt auch in diesem Fall. Die strafrechtliche Be- und die internationale Zusammenarbeit muss intensiviert kämpfung der Zwangsprostitution kann erst dann ihre werden. volle Wirkung entfalten, wenn sie nicht länger allein auf Ich appelliere abschließend an alle Fraktionen in die- Zuhälter und Menschenhändler ausgerichtet ist. Diese sem Hause, an die Opfer von Zwangsprostitution zu den- Drahtzieher haben erst durch dieFreier die Basis für ken und die anstehenden Diskussionen nicht mit ideolo- ihre Verbrechen, die die Notlage der Frauen schamlos gischen Scheuklappen zu führen. Dieses Thema ist zu ausnutzen. Das sieht nicht nur die Union so. Auch die wichtig und das Leid der vielen Frauen ist zu groß. Es Kirchen und die Opferschutzorganisationen sehen das gibt in Deutschland über 100 000 Frauen, die wie Tiere Erfordernis, die Freier von Zwangsprostituierten unter gehalten werden, die keine Freiheit und keine Men- Strafe zu stellen. Die Union hat erst vor einigen Tagen schenwürde mehr haben. Wir würden uns freuen, wenn ein Symposium zur Situation der Zwangsprostituierten den Frauen, die schon hier sind, geholfen wird und wenn durchgeführt, auf dem insbesondere die Freierbestrafung durch die Gesetzgebung erreicht wird, dass keine Frauen diskutiert wurde. hinzukommen, sodass ihnen dieses Schicksal erspart Der von uns eingeschlagene Weg hat sich als der rich- bleibt. tige erwiesen. Es besteht eine Gesetzeslücke. Dies wird Vielen Dank. im Übrigen von namhaften Professoren bestätigt; Profes- sor Renzikowski war Sachverständiger bei der Anhö- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rung zur Verschärfung der Vorschriften zur Bekämpfung neten der FDP — Irmingard Schewe-Gerigk des Menschenhandels. Die Versuche gerade vom Bünd- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Frauen nis 90/Die Grünen, die Unionsinitiative mit dem Hin- lassen Sie doch immer abschieben!) weis auf bestehende Gesetze zu Fall zu bringen, sind un- tauglich. Ich erwähne hier die unterlassene Hilfeleistung, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Vergewaltigung oder die Nichtanzeige einer geplan- Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Simm von der ten Straftat; all diese Vorschriften sind nicht einschlägig, SPD-Fraktion. 16390 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Erika Simm (SPD): Nun sind Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorgeprescht. (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Er ist so gestrickt, dass ich nicht das ernsthafte Bemühen Frau Granold, wenn man Ihnen zuhört, hat man das Ge- erkennen kann, zu einer Lösung dieses Problems zu fühl, dass Sie hier zwar über vieles, nicht aber über den kommen. Anlass der heutigen Aussprache, den von Ihnen vorge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ legten Gesetzentwurf, geredet haben. DIE GRÜNEN) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Ich kann das nicht in allen Details begründen. Wir wer- DIE GRÜNEN]: Wie im Untersuchungsaus- den darüber im Ausschuss beraten und sicherlich auch schuss! – Zuruf von der CDU/CSU: Von uns Anhörungen dazu durchführen. Aber sehen Sie sich al- kommen ja zwei Redner!) lein die Konstruktion des Grundtatbestandes in § 232 a Ich allerdings werde mich bemühen, das, soweit es in Abs. 1 des Strafgesetzbuches an: Die Vorsatztat setzt der mir zur Verfügung stehenden Zeit möglich ist, zueine Vortat nach § 232 des Strafgesetzbuches voraus. tun. Allerdings kann ich mich nicht des Eindrucks er- Die Frau muss also Opfer eines Menschenhandels ge- wehren – vielmehr wird er durch einiges von dem, was worden sein. Das Gericht muss das als erwiesene Vortat Sie gesagt haben, noch bestätigt –, dass es der Union bei feststellen. Inwieweit muss das Gericht dann eigentlich diesem Thema eher darum geht, den unbewiesenen Vor- die Vortat erforschen? Die Vortat muss vom Vorsatz des wurf zu untermauern, dass durch die so genannte Visaaf- Täters umfasst werden. Aufgrund meiner Strafrechtspra- färe massenhaft Frauen in die Zwangsprostitution getrie- xis beurteile ich diese Regelung als in der Praxis nicht ben worden seien, statt darum, eine angemessenehandhabbar. Sie wird zu keinen Verurteilungen führen. gesetzliche Regelung zu finden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben das Problem auch erkannt – wir hatten ja DIE GRÜNEN – Irmingard Schewe-Gerigk im Vorfeld darüber geredet – und haben in einemFahr- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was sie lässigkeitstatbestand Ausflucht gesucht, wonach ein im Visa-Ausschuss machen, wird hier im Bun- Täter auch strafbar ist, wenn er sexuelle Beziehungen zu destag wiederholt! – Zuruf von der CDU/CSU: einem solchen Opfer eines Menschenhandels aufnimmt Woher kommt denn dieser Vorwurf?) und leichtfertig die Lage des Opfers nicht erkennt. Ich – Ich habe mir die Mühe gemacht, im Protokoll des Bun- sage Ihnen aus meiner Erfahrung heraus: Leichtfertigkeit desrates die Rede von Frau Merk nachzulesen, die auch ist im Strafrecht mitnichten einfacher nachzuweisen als in diese Richtung ging. einen Vorsatz oder gar einen bedingten Vorsatz. Leicht- (B) fertigkeit ist ein gesteigertes Maß an Sorgfaltspflichtver- (D) Ich selbst komme aus Ostbayern und kenne die Pro- letzung, das Außer-Acht-Lassen all dessen, was man je- bleme mit dem Sextourismus, die es dort seit der Grenz- mandem im Auge zu haben und bei einem bestimmten öffnung gibt. Unsere Polizei schätzt, dass täglich etwa Vorgang zu beachten zumuten kann. Sie werden – das 2 000 Freier die Grenze überqueren, um in Tschechien sage ich Ihnen voraus – auch damit zu keinen Verurtei- die Dienste von Prostituierten zu nutzen. Ständig gibt es lungen kommen, machen aber gerade für die Freier ein auch entsprechende Veröffentlichungen in regionalenbreites Feld von Ausflüchten auf. Möglicherweise wer- Zeitungen. Man kann davon ausgehen, dass die Freier den geschickte Verteidiger Gutachten beantragen, um aufgrund dieser Veröffentlichungen wissen, dass unter den Beweis zu führen, dass der Angeklagte aufgrund sei- diesen Prostituierten auch eine ganze Reihe von Frauen ner Vorbildung nicht intelligent genug war zu erkennen, sind, die Opfer eines Menschenhandels geworden sind in welcher Situation er sich befindet. In meinen Augen und Prostitution nur unter Zwang ausüben. ist das völlig untauglich. Auch können wir davon ausgehen – hier gebe ich Ih- Der Bundesrat hat diesen Teil Ihrer Strafvorschrift, nen Recht –, dass es das Angebot der Prostitution – je- die insoweit identisch ist mit dem Gesetzentwurf von denfalls das der Zwangsprostitution – ohne die Nachfrage Bayern im Bundesrat, in seinen Beratungen zu Recht ge- der Freier nicht in dem Ausmaß gäbe, wie es gegenwärtig strichen. Aber Sie sind unbeeindruckt; es geht Ihnen in der Fall ist. Ich persönlich unterstütze – auch aufgrund Wahrheit wohl nicht um eine sachgerechte Lösung. meiner Antipathie gegen diese zum Teil biederen Bür- Denn unverdrossen haben Sie das hier trotzdem so ein- ger, die dort regelmäßig hinfahren – Bestrebungen, nach gebracht und halten es erkennbar aufrecht. einem Weg zu suchen, wie wir Freier – zumindest dieje- nigen, die erkennbar nach Zwangsprostituierten su- Mir ist noch einiges aufgefallen, auf das Sie hinzu- chen – strafrechtlich belangen können. weisen ich der Boshaftigkeit halber nicht unterdrücken kann, weil es für mich ein Hinweis darauf ist, dass Sie Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie Ih- Ihren Gesetzentwurf nicht mit letzter Konsequenz zu ren Antrag im Rahmen der Beratungen über die neuen Ende gedacht haben, dass Sie insbesondere die Konse- Menschenhandelstatbestände erst sehr spät einge-quenzen aus diesem Fahrlässigkeitstatbestand nicht be- bracht haben. Dabei waren wir übereingekommen, dass dacht haben. Das hat nun zur Folge, dass plötzlich in § 5, es doch nicht ganz so einfach ist, diesen Straftatbestand in dem die Auslandstaten aufgelistet sind – Taten, die praktikabel auszugestalten, dass wir dieses Vorhaben da- nach unserem Recht bestraft werden können, auch wenn her zurückstellen und uns um gemeinsame Lösungen be- sie im Ausland begangen worden sind –, ein Fahrlässig- mühen werden. keitstatbestand auftaucht, nämlich mit § 232 a Abs. 2. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16391

Erika Simm (A) Ferner ist nach Ihrer Konstruktion künftig eine Fahrläs- wieder auf dem Bildschirm begegnet, dass es keinen(C) sigkeitstat mit einer Kronzeugenregelung bedacht und Protest dagegen gibt auch eine Telekommunikationsüberwachung kann we- gen einer Fahrlässigkeitstat anordnet werden. Ich bitte, (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ noch einmal zu überlegen, ob Sie da nicht ein Stück weit CSU) über das hinausgeschossen sind, was – unter Juristen je- und dass es ganz offensichtlich als selbstverständlich denfalls – diskutabel ist. Denn alle diese Dinge – Aus- hingenommen wird, dass jemand, der sich so verhalten landsstrafbarkeit, Kronzeugenregelung, Telekommuni- hat, wieder durch Fernsehsendungen führen kann. Ich kationsüberwachung – sehen wir in unserem Strafgesetz halte das für nicht erträglich. bisher nur bei schweren Taten, bei Vorsatztaten und auch dabei nur bei solchen mit einigem Gewicht vor. Sie se- (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ hen das alles jetzt für eine Fahrlässigkeitstat vor, die Sie CSU) im Höchstmaß mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bedrohen Die zweite Bemerkung. Zu den Dingen, die wir in der – das heißt im Regelfall: Geldstrafe – und die Sie damit letzten Zeit feststellen mussten und durch die die Situa- selber am untersten Rand der Strafbarkeit überhaupt an- tion von Zwangsprostituierten nach meiner Meinung zy- gesiedelt haben. Die Sinnhaftigkeit dieses Vorhabensnisch aufgegriffen wurde, gehörten auch die Bemerkun- bitte ich noch einmal zu bedenken. gen der nordrhein-westfälischen Ministerin Bärbel (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Höhn, die aus ihrer Sicht deutlich gemacht hat, dass DIE GRÜNEN]: Scheinheilig!) Zwangsprostituierte mit Visum besser dastehen als ohne. Auch das bagatellisiert das Unrecht, das es in diesem Wir haben uns dem Thema seriös genähert: Wir haben Bereich gibt. Auch das halte ich für nicht hinnehmbar. eine Expertenanhörung durchgeführt. Wir sind durch die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Expertenanhörung noch nicht so ganz schlau geworden; bei Abgeordneten der SPD) da gibt es noch eine ganze Reihe Fragen zu beantworten. Wir werden aber weiter an dem Thema bleiben und uns Wir haben uns verabredet, dass wir die Probleme um eine angemessene Lösung bemühen. sorgfältig prüfen werden. Dass wir sie sorgfältig prüfen müssen, haben insbesondere die Staatsanwälte bei den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bisherigen Beratungen deutlich gemacht. Die Staatsan- DIE GRÜNEN) wälte kennen die Situation, die Frau Kollegin Granold geschildert hat und die auch Frau Simm in ihrem Beitrag Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: aufgezeigt hat. Sie haben uns deutlich gemacht, wie (B) Das Wort hat jetzt Herr Kollege Jörg van Essen von schwierig es ist, in diesem Bereich zu ermitteln. Ich(D) der FDP-Fraktion. denke, dass wir dies berücksichtigen müssen. Es hilft nicht, dass wir hier im Bundestag eine Bestimmung ver- abschieden, die hinterher in der Praxis nicht wirklich Jörg van Essen (FDP): tauglich ist. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon mehrfach daran erinnert worden: Wir hatten bei (Beifall bei der FDP, der SPD und dem der gemeinsamen Verabschiedung der verschärften Be- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stimmungen zum Menschenhandel verabredet, dasEine praxistaugliche Bestimmung ist für mich ein ganz Thema der Bestrafung von Freiern anzugehen. Wir ha- wichtiges Ziel, das wir erreichen müssen. ben heute die erste Lesung. Erste Lesung bedeutet, dass man einen Vorschlag vorläufig bewertet und dass man Auch bezogen auf einen zweiten Punkt möchte ich deutlich macht, wo man Fragezeichen sieht und wie die die Position der Freien Demokraten deutlich machen. eigene Position am Beginn der Beratungen im Plenum Frau Granold, Sie haben sich sehr kritisch zum Prostitu- ist. tionsgesetz geäußert. Wir halten es für richtig, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben. Bevor ich zu Einzelheiten komme, möchte ich auf zwei Gesichtspunkte hinweisen, die mir außerordentlich (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei wichtig sind: Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die erste Bemerkung. Viel bedeutender noch als mög- liche strafrechtliche Änderungen ist für mich, dass wir Wir bleiben dabei. Es wird für uns kein Zurück geben. ein allgemeines gesellschaftliches Klima schaffen, Auch das ist in diesem Zusammenhang eine wichtige durch das wir deutlich machen, dass wir Zwangsprosti- Markierung. tution nicht akzeptieren. Bei Ihrem Gesetzentwurf, den Sie heute vorstellen, (Beifall im ganzen Hause) gibt es sehr viele rechtliche Fragezeichen. Frau Simm hat ein Thema angesprochen, das mir persönlich sehr Ich will in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, wichtig ist. Sie wissen, dass ich mich den Telefonüber- dass es mich ganz außerordentlich ärgert, dass uns eine wachungen, deren Zahl immer mehr zunimmt, widme. prominente Person, die dadurch aufgefallen ist, dass sie Wir müssen dort zu einer Neuordnung kommen. Ich for- auf entsprechende Anzeigen sexuelle Dienstleistungen dere die Bundesregierung nachdrücklich auf, ihre Vor- in Anspruch genommen hat, nach kürzester Zeit schon stellungen in diesem Bereich endlich vorzulegen. 16392 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Jörg van Essen (A) Es kann aber nicht sein, dass wir dann, wenn wir alle nicht gewähren und damit eine Aufklärung der Verbre- (C) wissen, dass wir in diesem Zusammenhang nachsteuern chen verhindern. Ich nenne dies Täterschutz. müssen, auf einmal den Bereich der Fahrlässigkeitstaten mit aufnehmen. Das kann nicht sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Götzer [CDU/CSU]: Das von den Grünen!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch heute habe ich das Gefühl, dass es Ihnen, ver- Insgesamt bin ich im Übrigen sehr skeptisch. Wir haben ehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, im Bereich der Sexualdelikte bisher zu Recht keinenicht wirklich um die Opfer geht, sondern um ein Fahrlässigkeitstaten. Wenn Ihr Vorschlag Gesetz werden Thema, das sich wunderbar zu einer höchst emotionali- würde, wäre das der Einstieg dafür, dass es auch hiersierenden und polemischen Hetze gegen die Regierungs- Fahrlässigkeitstaten gäbe. Ich bin dort sehr zurückhal- parteien missbrauchen lässt. Frau Granold, ich wollte es tend. nicht ansprechen. Aber heute sind die Zeitungen voll da- Insgesamt werden wir eine Lösung finden müssen. von, dass die ILO gestern in ihrem Jahresbericht mitge- Das ist auch der Wille der Freien Demokraten. Ich er- teilt hat, dass es keinen Zusammenhang zwischen der kläre ausdrücklich die Bereitschaft, dass wir uns an den Visapraxis und einem erhöhten Anteil von Opfern des Gesprächen beteiligen. Ich habe aber das Gefühl, dass Frauenhandels gebe. Sie aber wollen dieses Problem in- das, was Sie bisher vorgelegt haben, eher mehr Fragezei- strumentalisieren. Ihnen ist dies im Ausschuss nicht ge- chen aufwirft als Antworten gibt. Damit möchte ich mei- lungen; jetzt tragen Sie es hier in den Bundestag hinein. nen Beitrag heute hier schließen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. und bei der SPD – Zuruf des Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/ (Beifall bei der FDP, der SPD und dem CSU]) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zu dieser Annahme führen mich vor allem die Unsach- lichkeit und Undifferenziertheit, mit der einige – ich be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tone: einige – an dieses Thema herangehen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe- Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen. Das beste Beispiel dafür – wir haben es vorhin schon wieder gehört – ist die anhaltende Vermischung des Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Frauenhandels mit demProstitutionsgesetz. Dieses GRÜNEN): Gesetz verbessert die Situation der Prostituierten, die (B) (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!freiwillig und legal in Deutschland tätig sind. An den Über eines sind wir uns hier im Hause einig: Menschen- polizeilichen Ermittlungsmöglichkeiten hat es überhaupt handel ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverlet- nichts geändert. Noch gestern habe ich vom LKA Berlin zung, ein Verbrechen an der Würde und der Freiheit der gehört, dass die Razzien in gleicher Intensität weiterge- Opfer, das mit allen Mitteln und auf allen Ebenen be-führt werden, wie es vor dem In-Kraft-Treten des Prosti- kämpft werden muss. tutionsgesetzes der Fall war. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP]) Bei den Opfern handelt es sich größtenteils um Frauen, die meist mit falschen Jobversprechen als Au- Wie häufig Razzien durchgeführt werden, liegt also al- pairmädchen oder Bardame nach Deutschland geholtlein in der Länderzuständigkeit. Daher bitte ich Sie, und zur Prostitution gezwungen werden. Hier werden ih- diese bewusste Täuschung zu unterlassen und keine Ver- nen die Pässe abgenommen, sie werden verkauft undbindung zwischen Prostitutionsgesetz und Ermittlungs- physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Diesem tätigkeit mehr herzustellen. Menschen verachtenden Geschäft, das für die Men- Aber nun zu Ihrem Antrag: Schon im Vermittlungs- schenhändler nicht nur lukrativ, sondern auch risikoarm ausschuss hatten wir Ihnen zugesagt, einen Straftatbe- ist, müssen wir den Boden entziehen. stand für jene Freier zu prüfen, die die Zwangssituation Darum hat Rot-Grün eine Vielzahl von Gesetzen zum von Menschenhandelsopfern vorsätzlich ausnutzen. Für Schutz der Opfer, aber auch zur besseren Verfolgung der mich ist das ein strafwürdiges Verhalten; ich stehe daher Täter beschlossen. Die Situation, die wir 1998 vorgefun- einer solchen Strafbarkeit offen gegenüber. Aber, liebe den haben, war für die Frauen katastrophal: Wurden sie Kolleginnen und Kollegen, gut gemeint ist ja oft nicht bei Razzien ohne Papiere angetroffen, behandelte man gut. sie nicht etwa als Opfer von Menschenhandel, sondern (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] als Täterinnen, die gegen das Ausländerrecht verstoßen [CDU/CSU]: Nichts gemacht ist noch schlech- hatten. Abschiebehaft oder sofortiger Rückflug war die ter!) Folge. Die Täter blieben unerkannt, weil die Opfer nicht mehr aussagen konnten, und konnten ihr schmutziges Selbst unter den Opferverbänden, der Polizei und der Geschäft weiterführen. Sogar jetzt noch gibt es CDU-re- Rechtswissenschaft gibt es keine einheitliche Bewer- gierte Länder, die den vierwöchigen Abschiebeschutz tung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16393

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Nach einer intensiven Anhörung, die wir gemeinsam durch geeignete Ermittlungsmethoden aufzubrechen.(C) mit der SPD durchgeführt haben, habe ich viel mehr Fra- Dies werden wir im Rahmen der Reform der Telefon- gen als vorher: Führte ein Straftatbestand dazu, dass die überwachung, an der die Koalition derzeit arbeitet, be- Schleuser die Mauern um die Opfer erhöhen und diese rücksichtigen. dadurch für die Außenwelt noch weniger sichtbar wer- den? Könnte auch weiterhin jede fünfte Frau durch Hin- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: weise eines Freiers als Opfer von Frauenhandel identifi- Bei all Ihren Vorschlägen zum Frauenhandel fällt mir ziert werden – so ist es jetzt; 20 Prozent der Freier geben immer wieder auf, dass strafrechtliche und polizeiliche den Behörden eine Nachricht – oder würden die Männer Instrumente in einem absolut unausgeglichenen Verhält- schweigen, weil sie sich strafbar machen? Käme es mög- nis zu Opferschutz und Opferrechten stehen. licherweise wie im Jahre 2003 in Schweden, wo ja alle (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist Freier bestraft werden, zu keiner Verurteilung? Quatsch!) Für mich steht nur eines fest: Eine gesetzliche Rege- Den Frauenhandel werden wir nur wirksam bekämpfen lung könnte durch ein klares Verbot die wichtige Signal- können, wenn wir aufPrävention, Opferschutz und wirkung entfalten, dass dieses menschenverachtendeStrafverfolgung setzen. Verhalten vom Staat nichttoleriert wird. Wir müssen also darüber nachdenken, wie wir zu einer solchen (Ute Granold [CDU/CSU]: Genau das haben Generalprävention gelangen können. Ihr Antrag ist für wir gesagt!) uns aber in der hier vorliegenden Form nicht zustim- Ich habe die große Sorge, dass die Maßnahmen, die mungsfähig. Wir sehen auch, dass es schwer ist, einem den Frauen wirklich helfen, wie sichere Unterkünfte, ein Freier nachzuweisen, dass er um die Zwangssituation ei- besserer Aufenthaltsstatus, qualifizierte Betreuung in nes Menschenhandelsopfers wusste. Es ist allerdings spezialisierten Beratungsstellen, die Sie in Ihren Län- kein gangbarer Weg, dies dadurch aufzufangen, dass dern mit Ihrer Mehrheit beschließen können, nicht auch fahrlässiges Nichterkennen bestraft werden soll. durchgeführt werden, auch weil sie Geld kosten, und Viel zu umstritten ist unter Fachleuten die Frage, ob dass man sein Gewissen dadurch entlasten will, dass die Zwangssituation der Opfer für die Freier erkennbar man lediglich im Strafrecht etwas ändert. Das finde ich ist. Wenn Sie dann auch noch als einen der Umstände, scheinheilig. die auf Opfer von Menschenhandel hindeuten, die feh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lende Arbeitserlaubnis oder Drogenabhängigkeit nen- und bei der SPD) nen, dann macht das wirklich deutlich, dass Sie diese (B) Problematik nicht verstanden haben. Auch wenn es nicht Einen kleinen Vorgeschmack hat uns die bayerische(D) in Ihr Bild passt: Außer der Zwangssituation des Men- Justizministerin gegeben, die sagt, sie wisse gar nicht, schenhandels kann es noch ein paar andere Umstände woher sie das Geld für die Beratungsstellen nehmen geben, die Migrantinnen dazu bringen, ihren Lebensun- solle. Ich frage Sie: Wie wäre es mit einemOpferfonds terhalt und vielleicht auch den ihrer Familie mit Prostitu- – Herr Kauder, wir haben gestern Abend darüber disku- tion zu verdienen. tiert – à la Rheinland-Pfalz? Sie fordern weiterhin eine Kronzeugenregelung für Herr Kauder, ich möchte Ihnen einen Vorschlag ma- Menschenhandelsdelikte. Das lehnen wir auch in die- chen. Sie wissen, Rot-Grün hat im Bundesrat keine sem speziellen Deliktbereich ab. Eine solche Regelung Mehrheit, kann also keine aufenthaltsrechtlichen Ände- würde doch geradezu dazu einladen, die Zwangslage ei- rungen durchsetzen, die als Opferschutz dringend not- nes Opfers von Menschenhandel zunächst auszunutzen, wendig sind. Die CDU/CSU hat im Bundestag keine die Tat erst danach zur Anzeige zu bringen und dafürMehrheit und kann keine Strafrechtsänderung durchset- auch noch straffrei zu bleiben. zen. Wir sollten uns zu einem Berichterstatter- und Be- richterstatterinnengespräch zusammensetzen und beides (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] machen, nämlich in einem Paket einen gemeinsamen [CDU/CSU]: Das ist eine Ermessensvor- Antrag sowohl zum Aufenthaltsrecht als auch zum Straf- schrift! Das ist doch kein Muss! Das entschei- recht. Dann könnten wir den Menschenhandel wirkungs- det das Gericht!) voll bekämpfen. Selbst auf Ihrem eigenen Symposium hat die Staatsan- Ich freue mich schon auf die Debatte. wältin Leister die Frage gestellt, warum die CDU/CSU die Freier besser stellen möchte als die Opfer. Darüber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können Sie ja einmal nachdenken. Im Übrigen ist eine und bei der SPD – Siegfried Kauder [Villin- solche Regelung auch nicht nötig, da die Gerichte bereits gen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Wenn Sie nach dem geltenden Recht die Bereitschaft zur Aufklä- Ihre Arbeit auch machen, geht es weiter! – rung bei der Strafzumessung der Tat berücksichtigen Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE können. GRÜNEN]: Ich mache meine!) Handlungsbedarf sehen wir wie Sie bei der Telekom- munikationsüberwachung, wenn es sich um Verbre- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen handelt. Auch wir halten es bei der Strafverfolgung Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär für wichtig, die Strukturen organisierter KriminalitätAlfred Hartenbach. 16394 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (Beifall bei der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ (C) desministerin der Justiz: CSU]: Das geht wie mit Graffiti, DNA-Ana- Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kollegin- lyse und den ganzen anderen Sachen! – Wei- nen und Kollegen! Der Bundesrat hat in der letzten Wo- tere Zurufe von der CDU/CSU) che beschlossen, einenGesetzesantrag des Landes Bayern unter der Überschrift „Bekämpfung des Men- – Bevor Sie jetzt HB-Männchen spielen, beruhigen Sie schenhandels“ mit einigen Änderungen einzubringen. sich etwas. Diesen Entwurf wird der Bundestag in Kürze beraten. Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat mit Die Union legt nun heute einen Gesetzentwurf vor, der dem Bündnis 90/Die Grünen auch in Erfüllung einer mit dem bayerischen Entwurf weitgehend identisch ist. Prüfzusage aus dem Vermittlungsverfahren zum Ich verstehe nicht ganz, was das soll. Ich kann es mir 37. Strafrechtsänderungsgesetz vor kurzem eine Exper- eigentlich nur so erklären, dass Sie meinen, ausgerechnet tenanhörung durchgeführt. Über das Ergebnis haben mit diesem Thema Wahlkampf machen zu müssen. Frau Schewe-Gerigk und Frau Simm bereits berichtet. Es ist nicht richtig, wenn Sie, Frau Granold, sagen, Sie (Widerspruch bei der CDU/CSU) hätten das zurückgezogen, weil wir über die Frist hinaus Wenn das so ist, wofür viel spricht, dann instrumentali- gewesen seien. sieren Sie die Not und das Elend der Opfer von Men- schenhändlern für Ihre Kampagnen gegen uns, die Re- (Ute Granold [CDU/CSU]: Sie war im August gierung und die Koalition. abgelaufen! Natürlich!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hast du heute Wir haben die Frist auch deshalb überschritten, weil Ihre die falsche Rede rausgeholt?) konservativ geführten Regierungen den Vermittlungs- ausschuss angerufen haben und dadurch eine weitere Es wird Ihnen aber nichts nützen. Ihre AufgeregtheitVerzögerung eingetreten ist. zeigt mir, dass ich Recht habe. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN – Ute Granold [CDU/CSU]: In einem Punkt geht Ihr Entwurf sogar über die Vorla- Weil das Gesetz erheblich nachgebessert wer- gen des Freistaates Bayern und des Bundesrates hinaus, den musste! – Siegfried Kauder [Villingen- nämlich bei der Freierstrafbarkeit auch bei Fahrlässig- Schwenningen] [CDU/CSU]: Das stimmt doch keit. Diesen Vorschlag hat schon der Bundesrat gestoppt. gar nicht!) Wie gestern der Presse zu entnehmen war, wird er auch (B) von Opferverbänden und der Gewerkschaft der Polizei Wenn Sie ein bisschen Vernunft hätten, dann wüssten(D) kritisch gesehen. Zu Recht. Ich gehe davon aus, dass die- Sie, dass wir vereinbart haben, dass wir die Praxis befra- ser Vorschlag auch im Bundestag abgelehnt wird. Das, gen wollen. Wir haben die Praxis noch nicht befragt, Sie was Sie da machen, ist nichts anderes als vordergründi- schon ganz und gar nicht. ger gesetzgeberischer Aktionismus. (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Das gilt letztlich auch für den Vorsatztatbestand, wie [CDU/CSU]: Wann wollen Sie die denn befra- Sie ihn vorschlagen. Der Vorschlag ist vielleicht gut ge- gen?) meint, den Kern des Unrechts trifft er aber nicht. Eine – Das überlassen Sie einmal mir, Herr Kauder, jedenfalls Strafe ist doch nur dann berechtigt, wenn ein Freier eine nicht bei Nacht und Nebel und nicht im Schlafanzug, gegenwärtige, also eine noch wirksame Zwangslage aus- wie Sie das machen. nutzt. Ihr Entwurf stellt ebenso wie der Gesetzentwurf des Bundesrates nicht auf die gegenwärtige Situation des (Lachen des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ Opfers ab, sondern knüpft an ein vorgelagertes Gesche- CSU]) hen an, also an eine Zwangslage, die möglicherweise zum Tatzeitpunkt gar nicht mehr besteht. Wenn man nicht nur symbolische Gesetzgebung be- treiben möchte, dann muss man sich auch mit den mögli- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was?) chen Folgen eines solchen Straftatbestandes auseinander Damit Sie sich aber jetztnicht aufregen müssen, lasse setzen. Es kommt gar nicht so selten vor – auch das ist ich keinen Zweifel an folgender Feststellung: Wenn ein schon erwähnt worden –, dass Freier Anzeige erstatten Freier bewusst die Zwangslage einer Frau ausnutzt, ist und damit den Frauen aus der Zwangslage heraushelfen. das nicht hinnehmbar. Das sollten wir nicht dulden. Das (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] werden wir nicht dulden und da werden wir gemeinsam [CDU/CSU]: Das ist doch gut!) mit der Koalition ein deutliches Zeichen setzen. Diese Anzeigebereitschaft hätte sicher ein Ende, wenn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Freier selbst eine Bestrafung befürchten müssten. DIE GRÜNEN – Siegfried Kauder [Villingen- Daran wird auch keine Kronzeugenregelung etwas än- Schwenningen] [CDU/CSU]: Wann?) dern. Die Freierstrafbarkeit – vor allem, wenn sie, wie – Dann, wenn wir es vernünftig beraten haben, aberSie das wollen, schon bei Fahrlässigkeit eintreten soll – nicht mit Schnellschüssen, wie Sie das zu machen pfle- könnte dazu führen, dass sich die Szene in der Illegalität gen. abschottet. Gerade das würde den Opfern nicht helfen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16395

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Erstaunlich und erfreulich finde ich, dass Sie das ur- – Nein, das war nicht persönlich. Sie alle haben mich mit (C) bayerische Anliegen, das Prostitutionsgesetz wieder ab- treuem Augenaufschlag angeguckt. – Kommen wir da- zuschaffen, wenigstens heute nicht auf die Tagesordnung rauf zurück: Im Kern lautet Ihr Anliegen, dem auch wir gebracht haben. uns nicht verschließen werden, sondern das wir genauso aktiv verfolgen werden und zu dem wir vernünftige Re- (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das gelungen vorlegen werden: Schutz der Frauen, die ge- kommt noch!) gen ihren Willen zur Prostitution gezwungen werden. Es – Ich wollte Sie gerade loben und sagen, dass das zeigt, kann nicht lauten, so wie es Frau Granold gesagt hat, die dass Sie doch nicht die kleine Filiale des bayerischenmeint, man würde damit einen Sumpf austrocknen: Justizministeriums sind. Strafbarkeit der Freier um jeden Preis. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, hat schon der biblische Kö- (Ute Granold [CDU/CSU]: Armselig!) nig David nicht gewollt. Aber die Rede von Frau Granold lässt mich da schwei- Danke schön. gen. Sie sind die Filiale des bayerischen Justizministeri- ums. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist nicht schön, was Sie sagen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Ich freue mich, dass Sie sich aufregen. Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Kauder von Ich muss jetzt noch auf die Kronzeugenregelung ein- der CDU/CSU-Fraktion. gehen. Sie schlagen eine bereichsspezifische Kronzeu- (Beifall bei der CDU/CSU) genregelung für Menschenhandelsdelikte vor, nachdem Sie in den vergangenen Jahren gebetsmühlenartig frü- here Vorschläge des Bundesrates mit weiteren Kronzeu- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ genregelungen als eigene Ideen verkauft haben. Wenn CSU): ich richtig gezählt habe, wären wir jetzt bei Herr der Präsident! Meine Damen und Herren! Die Emo- 24. Kronzeugenregelung angelangt: tionalität, mit der diese Debatte teilweise geführt wurde, hat mich erschüttert. „Ich werde dir Europa zeigen. Du (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE wirst in Deutschland für mich arbeiten. Du wirst eine GRÜNEN]: Im Innenausschuss haben wir wundervolle Zukunft haben.“ So wurde eine ukrainische noch eine!) Frau vom Schleuser Boris B. mit einem gefälschten Rei- (B) (D) drei bereits bestehende, 20 weitere aus der konservativen sepass und einem erschlichenen Visum nach Berlin ver- Ecke in den Vorjahren und nunmehr dieser Vorschlag ei- bracht. nes § 233 c StGB. Über die Schwächen dieser Unmenge (Joachim Stünker [SPD]: Zum Thema bitte, von bereichsspezifischen Regelungen sind wir uns ei- Herr Kollege!) gentlich einig. Diese Schwächen bestehen nach wie vor. Sie sollten langsam einmal erkennen, dass Sie hier nicht Dort wandelte sich das Gesicht von Boris B. sehr auf dem richtigen Weg, sondern vielmehr auf dem Holz- schnell. „Ab jetzt bin ich dein Direktor, dein Vater und weg sind, und auf einem morschen noch dazu. Ich ver- dein Gott“ – und auf dem Schreibtisch lag eine Sexpos- pflichte mich hier: Wenn im nächsten Jahr tille Ihre als Anweisung für die zukünftige Berufstätigkeit. 25. Kronzeugenregelung kommt, werde ich hier Wein- (Erika Simm [SPD]: Das ist doch strafbar!) essig und Zitronen spendieren. Irina C. wurde mit drei weiteren Damen in einem Ein- (Erika Simm [SPD]: Für uns Wein!) Zimmer-Appartement untergebracht; zwei schliefen in – Nein, nur für die. Stockbetten, eine auf dem Sofa, eine auf dem Boden. Sie waren kaserniert. Auch bei derTelekommunikationsüberwachung setzen Sie auf den alten Hut konservativer Denkweise. (Erika Simm [SPD]: Alles strafbar!) Wir haben für die Fälle, in denen es richtig ist, bereits In einschlägigen Postillen wurde angeboten: „Naturgeile eine Telefonüberwachung und wir werden – das ist ange- ukrainische junge Frau, zu allem bereit.“ Bei Boris B. sprochen worden – die Probleme der Telekommunika- fand man 3 500 Adressen, an die diese Mädchen ver- tionsüberwachung anders regeln müssen als durch eine schachert worden sind. Meine Damen und Herren, einen ständige Erweiterung des Straftatenkatalogs. solchen Zustand kann man nicht anstehen lassen. (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) (Joachim Stünker [SPD]: Wollen wir auch Kommen wir also auf den Kern des Anliegens, das nicht! – Silke Stokar von Neuforn [BÜND- Sie hier mit treuem Augenaufschlag vorgetragen haben NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer will das denn? und welches Herr Kauder jetzt noch in allen Einzelheiten Das ist doch eine Unterstellung!) erläutern wird, zurück. Irina C. wurde auf der Straße angetroffen, sie wurde (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das war bei der Polizei vernommen. Sie wurde angeklagt und jetzt persönlich!) wegen Urkundenfälschung und eines Verstoßes gegen 16396 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) das Ausländergesetz zu einer Bewährungsstrafe verur- Wir haben uns sehr wohl auch Gedanken darüber ge- (C) teilt. macht, wie eine Tataufklärung möglich sein soll. Das ist zweifellos ein Problem. Wir haben uns entschlossen, (Joachim Stünker [SPD]: Der einzige Polemi- eine Kronzeugenregelung einzuführen, deren Sinnhaf- ker hier ist Herr Kauder!) tigkeit von der Regierungskoalition offensichtlich nicht erkannt worden ist. Der Freier, der eine Frau in ihrer Si- Boris B. wurde ebenfalls – und er zu Recht – zu einer tuation missbraucht, wird in aller Regel diese Kronzeu- Haftstrafe verurteilt. Der Freier läuft frei herum, auch genregelung nicht in Anspruch nehmen müssen. Ihm wenn er die Situation des Mädchens erkannt hat. kann man schon nach derzeitigem Recht mit den §§ 153 oder 153 a der Strafprozessordnung helfen. Das hat dieses Hohe Haus im Jahr 1993 besser ge- macht. Damals ging es um eine Änderung Vor- der Wir wollen aber auch, dass der Menschenhändler die schriften zur Kinderpornographie. Fraktionsübergrei- Chance hat, sich zu offenbaren und eine Strafmilderung fend war man zu Recht der Meinung, auch der Besitzzu bekommen; denn nur so bekommt man Zugang zu ei- von kinderpornographischen Schriften solle unter Strafe nem mafiosen System. BeimBetäubungsmittelrecht ist gestellt werden, es auch nicht anders. Dort können wir entsprechende Er- folge zeitigen. (Erika Simm [SPD]: Das war damals sehr schwer durchzusetzen, Herr Kauder!) (Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie weil nämlich der Besitz von Kinderpornographie mittel- wollen, dass Menschenhändler straffrei sind! bar den sexuellen Missbrauch von Kindern begünstigt. Das ist unglaublich! Sollen wir die auch noch Nicht anders ist es beim Freier. laufen lassen?)

Nun kann man sich natürlich fragen: Hat es einenWie Sie sehen, haben wir zu unserem Gesetzentwurf Sinn, ein Gesetz zu beschließen, das den Besitz von Kin- durchaus sinnvolle Überlegungen angestellt. derpornographie bestraft? Wie will ich denn den Besitz, der zu Hause stattfindet, nachweisen? Es gelingt der Nun darf ich Sie persönlich ansprechen, Frau Polizei immer wieder, denn der Besitz von Kinderporno- Schewe-Gerigk. Wir haben gestern gemeinsam eine Ver- graphie ist ein Kontrolldelikt. Nicht anders ist es beim anstaltung des Deutschen Instituts für Menschenrechte Menschenhandel und beim Missbrauch von Frauen. besucht. Sie wissen sehr wohl, dass es derzeit auf euro- Auch dort handelt es sich um Kontrolldelikte. päischer Ebene schon Überlegungen gibt, ob nicht genau (B) das, was wir in unserem Gesetzentwurf vorsehen, auf(D) (Erika Simm [SPD]: Das macht die Sache ja so europäischer Ebene festgelegt werden sollte, nämlich schwierig!) dass der Missbrauch von Menschenhandelsopfern durch den Freier unter Strafe gestellt wird. Meine Damen und Herren, entsprechend haben wir den Straftatbestand der Freierstrafbarkeit ausgebaut. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Der Freier, der die durch Menschenhandel geschaffene DIE GRÜNEN]: Aber nur, wenn es Vorsatz Situation entweder erkennt oder sie leichtfertig – das ist ist! Das haben Sie hier unterschlagen!) die höchste Stufe der Fahrlässigkeit – nicht erkennt und der diese Situation ausnützt, macht sich strafbar. – Also darf ich festhalten: Bei derBestrafung vorsätz- lichen Handelns machen Sie mit. Es geht Ihnen um die Nun wird der Einwand erhoben: Wo gibt es denn so Leichtfertigkeit. Darüber können wir im Ausschuss dis- etwas wie die Bestrafung von Fahrlässigkeit bei Sexual- kutieren. Damit kommen wir zu unserem Thema. Wenn delikten? Das ist im System nicht bekannt. Dieses Argu- Sie die Regelungen zu vorsätzlich begangenen Taten ment hat ein Professor aufgebracht; es ist aber falsch. Ich mittragen, dann müssen Sie das hier auch gegenüber der empfehle, in § 178 des Strafgesetzbuches nachzulesen: Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen. Darüber können wir reden. Verursacht der Täter durch … Vergewaltigung … wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers, so ist Nun lässt sich einwenden, wie man dem Freier nach- die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Frei-weisen soll, dass er die Situation des Menschenhandels- heitsstrafe nicht unter zehn Jahren. opfers erkannt oder leichtfertig verkannt hat. Diese Frage höre ich allerdings überwiegend von Männern; das (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hört! Hört! – könne man doch gar nicht belegen. „Frauenrecht ist Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Menschenrecht e.V.“ hat einen Zwölfpunktekatalog ent- GRÜNEN]: Es geht um Vorsatz!) wickelt, nach dem man indiziell die Zwangssituation ei- nes Menschenhandelsopfers feststellen kann: Sie kann Wir haben es also mit einer Kombination aus Vorsatzzum Beispiel kein Deutsch; sie kann die sexuelle Dienst- und Fahrlässigkeit zu tun. Das macht deutlich, dass der leistung und deren Dauer nicht selbst aushandeln; sie formale Einwand nicht richtig ist. nimmt das Geld nicht in Empfang; sie hat möglicher- weise Verletzungsspuren. Die Indizieninsgesamt er- (Widerspruch bei der SPD) möglichen sehr wohl einen Tatnachweis. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16397

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Auch Ihre Kritik an derKronzeugenregelung ist bracht, der sich mit der Situation von Frauen beschäftigt, (C) nicht berechtigt. Lesen Sie nach, was der Vorsitzende der die als Opfer von Menschenhandel vorwiegend aus den Gewerkschaft der Polizei dazu sagt. Er ist ebenso wie Ländern des ehemaligen Ostblocks hierher verschleppt wir der Meinung, dass dies eine sehr gute Möglichkeit werden. Der Titel dieses Antrags lautet„Prävention ist, Zugang zu der Struktur des meist mafios durchge- und Bekämpfung von Frauenhandel“. Wir haben ihn führten Menschenhandels zu bekommen. hier im Dezember 2001 einstimmig verabschiedet. In diesem Antrag wird sehr genau die Tatsache beschrieben (Erika Simm [SPD]: Wir reden nicht über – das hat Frau Granold schon wiedergegeben –, dass Menschenhandel, sondern über Freierbestra- etwa 120 000 Frauen zum Zweck der sexuellen Ausbeu- fung!) tung nach Westeuropa verbracht werden und dass der Sie sehen also, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ei- Jahresgewinn aus diesem „Geschäft“ höher ist als aus nes fällt bezeichnenderweise auf. Sie bringen außer der dem Drogenhandel. Kritik hinsichtlich der Leichtfertigkeit keine sachliche Kritik an unserem Gesetzentwurf vor, weil Ihnen offen- In diesem Antrag werden aber auch die Ziele unserer kundig nichts einfällt. gemeinsamen Politik in diesem Bereich beschrieben. Wir beschritten damit – ich spreche für diejenigen, die (Widerspruch bei der SPD) diesen Antrag damals erarbeitet haben – keineswegs Neuland. Es gab bereits damals aus der Ära Kohl den Sie sind aber auch nicht bereit – obwohl Sie das Problem runden Tisch „Frauenhandel“ und den Bundesweiten erkannt haben –, aktiv und zum Schutz dieser Opfer da- Koordinierungskreis. Ich kann mich gut erinnern, dass ran mitzuarbeiten. die Recherchen zu diesem Antrag trotzdem mühsam wa- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ ren. Ich hätte mir gewünscht, dass nicht so viel von den DIE GRÜNEN]: Haben Sie meine Rede vor- Bundesländern geregelt werden muss. Das betrifft insbe- hin eigentlich gehört?) sondere den Opferschutz. Ich habe damals oft mit gerin- gem oder sogar fehlendem Problembewusstsein meiner Ich hätte mir vorgestellt, dass Sie in die heutige Diskus- Gesprächspartner aus den Bundesländern zu kämpfen sion Vorschläge zum Bleiberecht dieser Opfer einbrin- gehabt. gen. Wir müssen uns dieses Themas zweifellos anneh- men. Es geht aber nicht an, dass Sie sagen: Wir machen Ich rate Ihnen allen sehr zur Lektüre des Antrags; schon beim ersten Schritt nicht mit; dann müssen wirdenn er hat in den letzten vier Jahren an Aktualität, was uns den zweiten nicht überlegen. Das Bleiberecht ist ein die Situation der Opfer betrifft, nichts verloren. Noch Thema, das wir sehr wohl gemeinsam diskutieren kön- heute gibt es zu wenige Beratungsstellen für Opfer von (B) nen. Wir müssen uns aber erst darüber einig werden, ob Menschenhandel in den Bundesländern. Infolge der Mit- (D) die Freierstrafbarkeit eingeführt werden soll oder nicht. telkürzungen in den Bundesländern – auch das ist schon Dieses Thema, das Frauen, die nach Deutschland ein- angesprochen worden – werden existierende Beratungs- geschleust werden, auf der Seele liegt und auf das Frau- stellen nicht mehr bezuschusst und müssen oft geschlos- enverbände zu Recht beharrlich und beständig hinwei- sen werden. Noch heute fehlen dort oft die Mittel für die sen, haben Sie gar nicht im Blickfeld. Wir haben gestern Betreuung der Opfer von Menschenhandel. Einzig bei der Veranstaltung des Deutschen Instituts für Men- Rheinland-Pfalz hat – auch das ist schon angesprochen schenrechte auch gehört, dass wir nicht länger warten worden – einen Opferfonds eingerichtet. dürfen. Wir sehen einen Sachverhalt, der kriminogen ist, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den wir aber schleifen lassen, weil Sie nichts tun und noch nicht einmal bereit sind, den ersten Schritt mitzu- Noch heute wird jungen Frauen, die als illegale Pros- machen. Das ist – ich sage bewusst nicht: eine Schande – tituierte bei einer Razzia oder einer Kontrolle aufgegrif- schade. Ich hoffe, dass wir in der sachlichen Zusammen- fen werden, trotz der Aufklärungsarbeit des BKA und arbeit im Ausschuss doch noch einiges bewegen. der Beratungsstellen oft nicht die Vierwochenfrist einge- räumt, die ihnen bis zu einer freiwilligen Ausreise ei- Vielen Dank. gentlich zusteht. Das fördert bedauerlicherweise nun (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb wieder den Drehtüreffekt und verhindert oft Ermittlun- [CDU/CSU]: Wohltuende Sachlichkeit! Hohe gen gegen die Schlepper. Noch heute erhalten sehr we- Kompetenz!) nige Frauen, die großen Mut bewiesen haben und durch ihre Aussage zur Aufdeckung und Zerschlagung der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Netze der Schlepperbanden beigetragen haben, Abschie- Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt beschutz oder sogar ein Bleiberecht oder eine neue Iden- hat nun das Wort die Kollegin Angelika Graf von dertität. SPD-Fraktion. Wie grau der Themenbereich noch immer ist, zeigt die Tatsache, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf die Vor- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): schläge nicht mit den entsprechenden Zahlen unterlegen Sehr geehrte Damen und Herren! konnten, In der mit Zahlen, die für den Beweis zum Beispiel 14. Legislaturperiode, also vor knapp vier Jahren, haben der Nützlichkeit des Unterfangens der Freierbestrafung wir von den Regierungsfraktionen einen Antrag einge- wichtig wären. 16398 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Seit der Verabschiedung unseres Antrags im Jahrßen: Ich will keine mit heißer Nadel gestrickte Änderung (C) 2001 haben wir vonseiten des Bundes eine Reihe der da- des StGB, die sich populistisch gut vermarkten lässt, rin enthaltenen Forderungen erfüllt. Ich denke dabei zum sondern eine Regelung, die insbesondere die Situation Beispiel an die jüngste, schon öfter angesprochene Än- der Opfer im Blick hat. derung des Strafrechts in §§ 232 und 233. Dies wird das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorgehen gegen die Täter, die Schlepper, erleichtern. DIE GRÜNEN) Aber auch die Opferrechtsreform möchte ich in Erin- nerung rufen. Sie hat die Situation der Opfer von Men- Dabei sollte man bedenken, dass inItalien – Frau schenhandel deutlich verbessert. Ich erwähne außerdem Schewe-Gerigk, dort sind die aufenthaltsrechtlichen Re- noch einmal den runden Tisch und möchte bitten, die Ar- gelungen für die Opfer von Frauenhandel nämlich we- beit des BMZ bei der Bekämpfung der Armut in densentlich besser als bei uns und dort ist das Netz der Herkunftsländern nicht zu vergessen. Beratungsstellen dichter – 20 Prozent aller registrierten Fälle von illegaler Prostitution von den Freiern aufge- Wurde damit das Problem an sich bekämpft? Es ist deckt werden, die sich an die Beratungsstellen wenden. richtig: Ohne die Kunden, die Männer, die Sex mög- lichst billig kaufen wollen, gäbe es das Phänomen der Zur Polizei gehen in Italien wie hier in Deutschland Ausbeutung der illegalen Prostituierten bei uns nicht.die wenigsten der Freier. Eine Ermittlung der Polizei Man muss natürlich nicht erst seit dem Fall Friedmanwürde nämlich aufdecken, dass der Mann eine Prosti- fragen, welche Mittel wir haben, um denen, die als Kun- tuierte aufgesucht hat – ein Umstand, der bei Frau oder den diese Frauen wissentlich ausbeuten, das Handwerk Freundin sicherlich nicht unbedingt auf Gegenliebe oder zu legen. Verständnis stößt. Ich denke, da ist der logische Fehler in Ihrem Ansatz. Eine Kronzeugenregelung würde nicht Wie groß der „Bedarf“ an derart billigem Sex ist, be- helfen. schreibt die Aussage einer bayerischen Polizistin aus dem Gebiet der Grenze zu Tschechien – auch Frau Simm Herr Kauder, zu der von Ihnen ins Spiel gebrachten hat das zitiert –, die von täglich 2 000 Freiern Kronzeugenregelung aus für Schlepper möchte ich sagen: Darüber müssen wir noch intensiv reden. Ich persönlich Deutschland berichtet, die auf der anderen Seite der bin im Augenblick eher dagegen. Grenze billige Sexdienstleistungen einkaufen. Da geht es wohl noch billiger und noch einfacher als bei uns. (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Frauenhandel ist also ein transnationales Problem. Eine Freierstrafbarkeit, die sich auch auf die Fahrlässig- Ich rate jedem, sich die armen jungen Frauen auf dem keit erstreckt, würde zudem nach Ansicht der Beratungs- (B) tschechischen Straßenstrich hinter dem Grenzübergang stellen jede präventive Arbeit im Freiermilieu zunichte (D) Philippsreut anzusehen, die dort ihre Dienste freiwillig machen. oder nicht freiwillig anbieten, um zu überleben. Man be- (Jörg van Essen [FDP]: Richtig!) greift, dass Frauenhandel mit der Armut in den Her- kunftsländern direkt zu tun hat. Man erkennt aber auch, Das Ziel sollte meines Erachtens nicht sein, die Freier wie schwach entwickelt das Mitleid und das Schuldbe- generell zu kriminalisieren – sie würden generell krimi- wusstsein vieler Kunden offensichtlich ist. Ich denke, da nalisiert, wenn dieser Vorschlag umgesetzt wird –, son- packt einen zu Recht die Wut. Ich verstehe deswegen, dern ihnen zu helfen, zu erkennen, wann eine Frau in die dass man sich über die Bestrafung von Freiern Gedanken Prostitution gezwungen wurde, und dann richtig zu han- macht. deln. Wir haben uns bei dem fraktionsübergreifenden Be- (Jörg van Essen [FDP]: Genau das muss das richterstattergespräch damals im Zusammenhang mit der Ziel sein!) Änderung des StGB bezüglich Menschenhandels darauf Wir weisen Ihre Angriffe auf das Prostitutionsgesetz geeinigt, den Punkt Freierstrafbarkeit mit der nötigen deutlich zurück. Dazu ist schon im Vorfeld vieles gesagt Sorgfalt zu prüfen. Fest steht für mich: Nichts wäreworden. – auch im Hinblick auf die Situation und die Gefühlslage Ich möchte auf den eingangs erwähnten Antrag der der Opfer, die wir bei aller Diskussion über die Täter Regierungsfraktionen aus dem Jahre 2001 zurückkom- nicht aus dem Auge verlieren dürfen – fataler als Rege- men. In ihm wird dieses Thema unter dem Aspekt der lungen, die in Wahrheit nichtgreifen, die Situation der Menschenrechte der Opfer behandelt. Eines der großen Opfer eher verschlechtern Ziele, die mit der Verabschiedung des Antrages verbun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den waren, war dieVerbesserung des Opferschutzes. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei aller Diskussion über die Freier wäre es gut, wenn wir dieses Ziel nicht aus dem Auge verlören. oder die illegale Prostitution noch mehr in den Unter- grund verdrängen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wirken Sie doch bitte auf die von Ihnen regierten Länder ein, das Ihre in diesem Bereich zu tun und zum Beispiel und damit die Lage der betroffenen Frauen noch uner- die Beratungsstellen weiterhin entsprechend zu finanzie- träglicher und noch auswegloser machen. Das soll hei- ren! Wenn das geschieht, wäre schon viel gewonnen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16399

Angelika Graf (Rosenheim) (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ZP 2 a) Erste Beratung des von den Fraktionen (C) der DIE GRÜNEN) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigs- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteu- Ich schließe die Aussprache. ergesetzes Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- – Drucksache 15/5444 – wurfs auf Drucksache 15/5326 an die in der Tagesord- Überweisungsvorschlag: nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Dann ist die Überweisung so beschlossen. Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 c sowie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf: Christa Reichard (Dresden), Dr. Christian Ruck, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter 30 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung und der Fraktion der CDU/CSU Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Trinkwassermanagement in Entwicklungs- internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo und Schwellenländern durch die verstärkte zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes Einbeziehung der Privatwirtschaft verbes- für die Flüchtlingsrückkehr und zur militäri- sern schen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution – Drucksache 15/5451 – 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Überweisungsvorschlag: Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militä- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und risch-Technischen Abkommens zwischen der Entwicklung (f) internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) Auswärtiger Ausschuss und den Regierungen der Bundesrepublik Ju- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit goslawien und der Republik Serbien (jetzt: c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Serbien und Montenegro) vom 9. Juni 1999 und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 15/5428 – Gemeinsame Position der Europäischen Überweisungsvorschlag: Union zum Waffenembargo gegenüber der (B) Auswärtiger Ausschuss (f) Volksrepublik China (D) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss – Drucksache 15/5467 – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Entwicklung Auswärtiger Ausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus ten Verfahren ohne Debatte. W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Bürgernähe durch Vereinfachung des Kfz-Zu- überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der lassungsverfahrens Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. – Drucksache 15/4505 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 m so- Überweisungsvorschlag: wie Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denenkeine Aus- sprache vorgesehen ist. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus Tagesordnungspunkt 31 a: W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- und der Fraktion der CDU/CSU gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes Bereitstellung von Informationen über Allge- zur Novellierung des Verwaltungszustellungs- meine Betriebserlaubnisse (ABE) und EG- rechts Typgenehmigungen auch für nationale und in- – Drucksache 15/5216 – ternationale Behörden (Erste Beratung 169. Sitzung) – Drucksache 15/4930 – Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) schusses (4. Ausschuss) Innenausschuss Rechtsausschuss – Drucksache 15/5475 – 16400 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Berichterstattung: Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährli- (C) Abgeordnete Siegmund Ehrmann chen Stoffen Stephan Mayer (Altötting) – Drucksache 15/5220 – Silke Stokar von Neuforn Gisela Piltz (Erste Beratung 169. Sitzung) Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- empfehlung auf Drucksache 15/5475, den Gesetzent- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte heit (15. Ausschuss) diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- – Drucksache 15/5443 – sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- Berichterstattung: mit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Abgeordnete Heinz Schmitt (Landau) Marie-Luise Dött Dritte Beratung Dr. Antje Vogel-Sperl und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Birgit Homburger Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf ist einstimmig angenommen. Drucksache 15/5443, den Gesetzentwurf in der Aus- Tagesordnungspunkt 31 b: schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung zur Durchführung der Verordnung (EG)einstimmig angenommen. Nr. 805/2004 über einen Europäischen Vollstre- Dritte Beratung ckungstitel für unbestrittene Forderungen (EG- Vollstreckungstitel-Durchführungsgesetz) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – – Drucksache 15/5222 – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- (Erste Beratung 169. Sitzung) nommen. Tagesordnungspunkt 31 d: (B) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (D) schusses (6. Ausschuss) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat – Drucksache 15/5482 – eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Hochbaustatistikgesetzes Berichterstattung: – Drucksache 15/4738 – Abgeordnete Dirk Manzewski Thomas Silberhorn (Erste Beratung 160. Sitzung) Jerzy Montag Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Sibylle Laurischk ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (14. Ausschuss) empfehlung auf Drucksache 15/5482, den Gesetzent- – Drucksache 15/5241 – wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Berichterstattung: sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- Abgeordneter Ernst Kranz stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- zweiter Beratung einstimmig angenommen. sen empfiehlt auf Drucksache 15/5241, den Gesetzent- Dritte Beratung wurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU- und ist einstimmig angenommen. FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Tagesordnungspunkt 31 c: Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 31 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des zur Umsetzung der Richtlinie 2003/105/EG des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Europäischen Parlaments und des Rates vom eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August 16. Dezember 2003 zur Änderung der Richtli- 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- nie 96/82/EG des Rates zur Beherrschung der land und der Kirgisischen Republik über die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16401

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Förderung und den gegenseitigen Schutz von Berichterstattung: (C) Kapitalanlagen Abgeordneter Christian Müller (Zittau) – Drucksache 15/4978 – Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nrn. 1 bis 6 seiner Beschlussempfehlung auf (Erste Beratung 166. Sitzung) Drucksache 15/5362, die Gesetzentwürfe anzunehmen. – Zweite Beratung und Schlussabstimmung desWenn Sie damit einverstandensind, lasse ich über die von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs sechs Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. – Dazu eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. März erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so ver- 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- fahren. land und der Bundesrepublik Nigeria über die Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Gesetzent- Förderung und den gegenseitigen Schutz von würfen zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen- Kapitalanlagen stimmen? – Enthaltungen? – Die Gesetzentwürfe sind – Drucksache 15/4980 – einstimmig angenommen. (Erste Beratung 166. Sitzung) Tagesordnungspunkt 31 f: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Okto- Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag ber 2003 zwischen der Bundesrepublik der Abgeordneten Renate Blank, Dirk Fischer Deutschland und der Republik Guatemala (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- über die Förderung und den gegenseitigen ter und der Fraktion der CDU/CSU Schutz von Kapitalanlagen LKW-Sonntagsfahrverbot in Deutschland bei- – Drucksache 15/4981 – behalten (Erste Beratung 166. Sitzung) – Drucksachen 15/1876, 15/2374 – – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Berichterstattung: von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Abgeordneter Uwe Beckmeyer eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Okto- Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- ber 2003 zwischen der Bundesrepubliksache 15/1876 in der Ausschussfassung anzunehmen. Deutschland und der Republik Angola über (B) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-(D) die Förderung und den gegenseitigen Schutz probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist von Kapitalanlagen einstimmig angenommen. – Drucksache 15/4982 – Tagesordnungspunkt 31 g: (Erste Beratung 166. Sitzung) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. De- der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), zember 2003 zwischen der Bundesrepublik Sibylle Laurischk, Joachim Günther (Plauen), Deutschland und der Volksrepublik China weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP über die Förderung und den gegenseitigen Gesamtverkehrskonzept Südbaden – Bünde- Schutz von Kapitalanlagen lung von Schiene und Straße im Rheingraben – Drucksache 15/4983 – – Drucksachen 15/2470, 15/4015 – (Erste Beratung 166. Sitzung) Berichterstattung: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Januar sache 15/2470 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- land und der Demokratischen Bundesrepublik gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Äthiopien über die Förderung und den gegen- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP- seitigen Schutz von Kapitalanlagen Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ange- – Drucksache 15/4984 – nommen. (Erste Beratung 166. Sitzung) Tagesordnungspunkt 31 h: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag – Drucksache 15/5362 – der Abgeordneten Gero Storjohann, Dirk Fischer 16402 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- Tagesordnungspunkt 31 m: (C) ter und der Fraktion der CDU/CSU Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Führerscheinbürokratie verhindern – Führer- ausschusses (2. Ausschuss) scheintourismus beenden Sammelübersicht 205 zu Petitionen – Drucksachen 15/3716, 15/4484 – – Drucksache 15/5353 – Berichterstattung: Abgeordnete Heidi Wright Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen sache 15/3716 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Zusatzpunkt 3 a: der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion ange- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs nommen. eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Straf- titionsausschusses, Tagesordnungspunkte 31 i bis 31 m. sachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Tagesordnungspunkt 31 i: – Drucksache 15/4233 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) (Zweite und dritte Beratung 154. Sitzung) Sammelübersicht 201 zu Petitionen – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes – Drucksache 15/5349 – zur Umsetzung des Übereinkommens vom Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Straf- hält sich? – Sammelübersicht 201 ist einstimmig ange- sachen zwischen den Mitgliedstaaten der nommen. Europäischen Union Tagesordnungspunkt 31 j: – Drucksache 15/4232 – (B) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (Erste Beratung 154. Sitzung) (D) ausschusses (2. Ausschuss) – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Sammelübersicht 202 zu Petitionen von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom – Drucksache 15/5350 – 16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen hält sich? – Sammelübersicht 202 ist ebenfalls einstim- den Mitgliedstaaten der Europäischen Union mig angenommen. – Drucksache 15/4230 – Tagesordnungspunkt 31 k: (Erste Beratung 154. Sitzung) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Sammelübersicht 203 zu Petitionen – Drucksache 15/5487 – – Drucksache 15/5351 – Berichterstattung: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Abgeordnete Erika Simm hält sich? – Sammelübersicht 203 ist einstimmig ange- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) nommen. Jerzy Montag Tagesordnungspunkt 31 l: Sibylle Laurischk Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- ausschusses (2. Ausschuss) gebrachten Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwi- Sammelübersicht 204 zu Petitionen schen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, – Drucksache 15/5352 – Drucksache 15/4233. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 auf Drucksache 15/5487, den Gesetzentwurf Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- hält sich? – Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstim- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktio- men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstim- nen von CDU/CSU und FDP angenommen. mig angenommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16403

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- Zusatzpunkt 14 a: (C) gebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung des Überein- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- kommens vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Einfüh- schen Union, Drucksache 15/4232. Der Rechtsausschuss rung einer Strategischen Umweltprüfung und empfiehlt unter Nr. 2 auf Drucksache 15/5487, den Ge- zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich (SUPG) bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- – Drucksachen 15/3441, 15/4119, 15/4236, chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- 15/4501, 15/4540, 15/4922, 15/5479 – entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenom- Berichterstatter im Bundestag: men. Abgeordneter Michael Müller (Düsseldorf) Dritte Beratung Berichterstatter im Bundesrat: Senator Dr. Roger Kusch und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ge- erstattung und zur Erklärung nicht gewünscht wird. Ist genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist das richtig? – Wir kommen dann zur Abstimmung. Der einstimmig angenommen. Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei- ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim- gebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll vommen ist. Dies gilt auch für die noch folgende Beschluss- 16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen über dieempfehlung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/5479? – der Europäischen Union, Drucksache 15/4230. DerWer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 3 auf Drucksache schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. 15/5487, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich Zusatzpunkt 14 b: zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Umset- Zusatzpunkt 3 b: zung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau (B) und Deregulierung aus den Regionen (D) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz – Drucksachen 15/4231, 15/4673, 15/4938, und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der 15/5178, 15/5480 – Verordnung der Bundesregierung Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Ludwig Stiegler Verordnung zur Änderung der Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen und Berichterstatter im Bundesrat: zur Änderung der Anlage 1 des Gesetzes über Staatsminister Geert Mackenroth die Umweltverträglichkeitsprüfung Wir kommen wiederum gleich zur Abstimmung. Wer – Drucksachen 15/5218, 15/5288 Nr. 2.1, 15/5483 – stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs- ausschusses auf Drucksache 15/5480? – Wer stimmt da- Berichterstattung: gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung Abgeordnete Petra Bierwirth ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Marie-Luise Dött CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion Winfried Hermann angenommen. Birgit Homburger Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksa- Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck- che 15/4533 zur Umsetzung des Urteils des Bundesver- sache 15/5218 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be- fassungsgerichts vom 3. März 2004 zur akustischen schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wohnraumüberwachung. gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- nommen. (Joachim Stünker [SPD]: Was?) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die fehlung auf Drucksache 15/5486, den Gesetzentwurf in heutige Tagesordnung um die Beratung von zwei Be- der Ausschussfassung anzunehmen. schlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses er- weitert werden. Diese Punkte sollen jetzt gleich als Zu- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Der liegt nicht satzpunkte 14 a und 14 b aufgerufen werden. Sind Sie vor! – Abg. Joachim Stünker [SPD] meldet sich zu Wort) damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so be- schlossen. – Bitte. 16404 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Joachim Stünker (SPD): Auch ich weiß, dass die Vertreter von Verbänden nicht(C) Das muss ein Irrtum sein. Die Debatte soll heuteimmer die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Abend gegen 17 Uhr noch geführt werden. (Beifall bei der FDP – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das gilt für alle Verbände!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich bestätige, dass das ein Irrtum ist, und stelle das Ich denke dabei an die plumpen Attacken des Herrn zurück. Hundt. Auch über manche Äußerungen von Interessen- verbänden der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber ärgere (Joachim Stünker [SPD]: Gut, dass ich hier ich mich gelegentlich. war!) Die Art und Weise, wie Sie Ihre grundsätzliche Kritik Dann kommen wir jetzt gleich zum Zusatzpunkt 4: an demokratisch gewählten Repräsentanten formulie- Aktuelle Stunde ren, ist ganz schön nahe an einem wirklich antidemokra- auf Verlangen der Fraktion der SPD tischen Populismus. Kritik des FDP-Vorsitzenden an Gewerk- (Beifall des Abg. Dr. Rainer Wend [SPD] – schaftsfunktionären in Deutschland Zurufe von der FDP: Oh!) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Dazu gehört auch die Behauptung, die demokratischen Kollege Klaus Uwe Benneter von der SPD-Fraktion das Parlamentarier würden nicht die Interessen des Volkes Wort. repräsentieren. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das glaubt ihr Klaus Uwe Benneter (SPD): doch wohl selber nicht!) Ich sehe, es sind alle vollständig. Walter Scheel, ein großer Liberaler und ehemaliger (Dirk Niebel [FDP]: Wir sind sogar vollzäh- Vorsitzende der FDP, hat als Bundespräsident auf dem lig!) DGB-Bundeskongress 1975 noch formuliert, freie Ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns istwerkschaften, freie Wirtschaft und freier Staat würden mit Interesse aufgefallen, dass die FDP nach vielen Jah- einander bedingen. Ginge die Freiheit in einem dieser ren das Thema Bürgerrechte, das sie lange Jahre offen- Bereiche verloren, bräche das sorgsam Ausgewogene in- sichtlich vernachlässigt hatte, wieder entdeckt hat. Dies einander und miteinander zusammen. ist gut so; denn die Wahrung der demokratischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger ist ein ganz wichtiges (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt heute noch!) (B) Thema. (D) (Dirk Niebel [FDP]: Das sollten Sie einmal Von diesem freiheitlichen Gesellschaftsverständnis ist Herrn Schily sagen!) die FDP heute weit entfernt. Sie wissen am besten, dass dies für die FDP früher ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sehr wichtiges Thema war, zu dem sie damals mehr zu DIE GRÜNEN – Doris Barnett [SPD]: Mei- sagen hatte als heute. lenweit!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sie witzeln, Diese Agitation gegen die demokratischen Interessen- Herr Benneter!) vertretungen der Arbeitnehmer ist Ausdruck einer neuen Geisteshaltung der FDP, die letztlich auf die Verachtung Der Haken ist nur: Ihr Bekenntnis zu den Bürgerrech- des gesamten Sozialstaates hinausläuft. ten ist dann unglaubwürdig, wenn Sie im gleichen Atem- zug einen ganz wichtigen Bereich dieser Bürgerrechte, (Widerspruch bei der FDP) nämlich die demokratische Selbstorganisation der Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den deutschenSie, Herr Westerwelle, sind noch bemüht, diese Geistes- Gewerkschaften, als – Herr Westerwelle, ich darf Sie zi- haltung mit faulen Bekenntnissen zum Gemeinwohl ein tieren – „Plage“ bezeichnen. Das ist unglaubwürdig. Da- wenig zu kaschieren. Die wahre Geisteshaltung der FDP mit werden Sie dem Anspruch nicht gerecht, den Siekommt aber bei Ihrer Parteijugend zum Ausdruck. Die hinsichtlich der Wahrung der Bürgerrechte an sich selber Überschrift „Alte, gebt den Löffel ab!“ einer entspre- stellen. chenden Veröffentlichung zeigt dies deutlich. Ihre Haltung ist auch deshalb unglaubwürdig, weil (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Sie, wie Herr Niebel sagte, die Gewerkschaften, in de- Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammen- NEN]) geschlossen sind, entmachten wollen. Das ist Ihr neues Diese Geisteshaltung spiegelt sich in all Ihren Pro- Konzept. grammschriften, Diskussionsbeiträgen und Parteitagsbe- (Dirk Niebel [FDP]: Das habe ich so nicht gesagt!) schlüssen wider. Ich will nur einige Punkte nennen: Sie fordern die Abschaffung der Bundesagentur für Arbeit. – Gut, Sie machen da einen feinen Unterschied zwischen Sie fordern die Privatisierung der gesetzlichen Kranken- den Gewerkschaften einerseits und den Gewerkschafts- versicherung. Sie fordern außerdem die Einführung ei- funktionären andererseits. nes einheitlichen Einkommensteuersatzes für Normal- (Beifall bei der FDP) verdiener und für Spitzenverdiener. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16405

Klaus Uwe Benneter (A) Was Sie so flott als „Flat Tax“ in Ihrem Wahlpro- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) gramm in Nordrhein-Westfalen fordern, hat – das müss- Herr Kollege Benneter, Sie sind fast zwei Minuten ten Sie eigentlich wissen – ganz üble Konsequenzen. Sie über Ihrer Redezeit. sagen aber noch nicht einmal, wie hoch dieser einheitli- che Steuersatz sein soll. Weil Sie behaupten, er müsse in Klaus Uwe Benneter (SPD): der Größenordnung des Körperschaftsteuersatzes liegen, – gehe ich davon aus, dass Sie in Nordrhein-Westfa- gehen wir einmal von 25 Prozent aus. Die Konsequenz len die Quittung dafür bekommen werden. daraus wäre, dass die Normalverdiener diese Entlastung der Spitzenverdiener bezahlen müssten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bei- (Dirk Niebel [FDP]: Er hat es einfach nicht ka- fall bei Abgeordneten der FDP – Dirk Niebel piert!) [FDP]: Was macht eigentlich Ihr Bauherren- Ganz konkret: Für Verheiratete mit einem Jahreseinkom- modell?) men von 50 000 Euro würde das eine zusätzliche Steuer- belastung von 4 000 Euro bedeuten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann von (Dirk Niebel [FDP]: Sie können noch nicht der CDU/CSU-Fraktion. einmal rechnen!) Ein Ehepaar mit einem Einkommen von 1 Million Euro Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): würde mit 150 000 Euro entlastet werden. Das sind die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Berechnungen der Länderfinanzminister zu diesemKollegen! Ich persönlich finde es, um es ganz klar zu sa- Punkt. Die massiven Steuerausfälle, die hierdurch zwei- gen, schon ein bisschen beschämend, tens zu verzeichnen wären, würden sich auf (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja! – Dirk 42 Milliarden Euro summieren. Auch das sind, wie ge- Niebel [FDP]: Peinlich!) sagt, Zahlen und Berechnungen der Länderfinanzminis- ter dazu. Das sind die Konsequenzen Ihrer – frei über- dass wir heute eine Aktuelle Stunde zum Thema Klas- setzt – „Flach-Steuer“, ein Name, der passt, soweit dies senkampf haben, Ihren ökonomischen Sachverstand betrifft. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist Mit politischem Liberalismus hat diese Verachtung Müntefering?) des Sozialstaates jedenfalls nichts mehr zu tun. (B) von dem ich eigentlich geglaubt hätte, dass wir ihn nach (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fast 60 Jahren sozialer Marktwirtschaft überwunden hät- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk ten. Niebel [FDP]: So ein Quatsch!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das wäre Da sind Sie in guter Gesellschaft mit der Union. Die for- schön! – Dagmar Freitag [SPD]: Was für eine dert im Gesundheitswesen eine Kopfpauschale und Sie Einleitung!) fordern eine Kopfsteuer auf Einkommen. Schauen Sie, da gibt es einen Herrn Müntefering, der von Heuschreckenschwärmen redet. Da kontert die FDP, (Dirk Niebel [FDP]: Kopfpauschale hat Gewerkschaftsfunktionäre seien die wahre Plage, und Westerwelle nicht eingefordert! Das müssen sagt dann sofort: Wir haben natürlich nichts gegen Ge- Sie eingestehen!) werkschaften. Sie wollen alles durchökonomisieren. Das ist Ihr Pro- (Dirk Niebel [FDP]: Stimmt! – Dr. Wolfgang gramm. Gerhardt [FDP]: Sie haben uns verstanden!) Die Menschen müssen wissen: Die FDP schickt sich Wir müssen zugeben: Verbände sind natürlich ohne an, mit ihrem Spitzenkandidaten Florida-Wolf in Nord- Funktionäre nicht denkbar. Selbst die FDP wäre ohne rhein-Westfalen die Regierung übernehmen zu wollen – Funktionäre nicht denkbar. und das mit einem Programm, das den sozialen Zusam- menhalt in unserer Gesellschaft bekämpft und nur noch (Dagmar Freitag [SPD]: Oh doch! Das können den Reichen dienen soll. wir uns gut vorstellen! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wird bei uns bestrit- ten!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden sagen: Die FDP ist eigentlich ganz nett, aber ihre Funktionäre!

Klaus Uwe Benneter (SPD): (Dagmar Freitag [SPD]: Sie hat nichts ande- res!) Der Kampf gegen die Gewerkschaften, gegen die de- mokratisch gewählten Repräsentanten der Arbeitnehme- Was ich damit sagen will: Ich glaube, dass uns eine rinnen und Arbeitnehmer richtet sich gegen die Grund- solche Debattenlage überhaupt nicht weiterbringt. Wenn festen unserer sozialen Ordnung. Weil das so ist, – es in Deutschland eine Plage gibt, dann ist es die 16406 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Karl-Josef Laumann (A) Heimsuchung in unserem Land, dass über 5 Millionen che“ so geschrieben –, dass die Gewerkschaften erheb- (C) Menschen arbeitslos sind. lich an Glaubwürdigkeit gewännen, wenn es zwischen den Reden der Funktionäre und dem Handeln vor Ort (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht einen so großen Unterschied gäbe. Das ist die wahre Plage, die wir in diesem Land haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen kann ich nur an alle Seiten appellieren, Ich gehöre seit 30 Jahren der IG Metall an. Ich sage keine Nebelkerzen zu werfen und sich nicht im nord- Ihnen eines: Für das Titelblatt der IG-Metall-Mitglieder- rhein-westfälischen Landtagswahlkampf auf Neben- zeitschrift in dieser Woche schäme ich mich. kriegsschauplätzen auszutoben, sondern sich damit aus- einander zu setzen, wie wir in unserem Land zu mehr (Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber Beschäftigung und zu einer Politik kommen können, die [CDU/CSU] sowie bei der FDP) sich schlicht und ergreifend an dem Grundsatz orientiert: Ein solches Titelblatt ist nicht Stil einer normalen politi- Vorfahrt für Arbeitsplätze! schen Artikulation. Solche Titelblätter hat es zu ganz an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – deren Zeiten gegeben, die der Grund waren, warum wir Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Eine großartige vor einigen Tagen den 60. Jahrestag des Endes einer Idee!) Diktatur gefeiert haben. Das ist das Wichtigste, das wir tun müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie bei der FDP – Zuruf von der SPD: Un- Wir alle wissen doch – ich weiß, dass dies auch in der sinn!) FDP nicht anders gesehen wird –, dass zu dieser Gesell- schaft natürlich auch Gewerkschaften gehören, und zwar – Das ist schon wahr und damit muss man auch umge- starke. hen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dirk Ich sage Ihnen: Ich schäme mich dafür, dass ein sol- Niebel [FDP]: Unstreitig!) ches Titelblatt entworfen, vervielfältigt und unter die Leute gebracht worden ist, und das finanziert durch Ge- Die Gewerkschaften haben sehr viel mit dem Grün- werkschaftsgelder. Das ist nicht in Ordnung. dungskonsens der Bundesrepublik Deutschland zu tun. (Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Als ob es [CDU/CSU] sowie bei der FDP) darum geht!) Ich glaube – damit will ich dann auch schließen –, Das wird in unserer Verfassung durch die grundgesetzli- (B) dass es mehr Glaubwürdigkeit gäbe, wenn das Handeln (D) che Absicherung der Koalitionsfreiheit und der Tarifau- und die Reden der Gewerkschaftsfunktionäre mehr zu- tonomie festgeschrieben und von niemandem in diesem sammenpassen würden und wenn die Funktionäre zu Hause infrage gestellt. dem stünden, was vor Ort vereinbart worden ist. Dann (Beifall bei der FDP) würden sie an Attraktivität gewinnen An die Adresse der SPD gerichtet – denn in Nord- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) rhein-Westfalen wird viel erzählt –: Dies wird auch nicht und so manche Debatte über die Tarifautonomie würde von einer CDU/FDP-Regierung – weder in Nordrhein- in diesem Hause anders geführt, als sie zurzeit geführt Westfalen noch auf Bundesebene – infrage gestellt; das wird. ist doch völlig klar. Schönen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Auch eine CDU/FDP-Regierung weiß, dass die soziale Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Gut, dass das Partnerschaft in unserem Land ihren Ausdruck in der Ta- mal gesagt worden ist!) rifautonomie, der Mitbestimmung und im Betriebsver- fassungsgesetz findet. Dies steht im Grundsatz für nie- manden infrage. Deswegen sollten Sie mit dieserVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Debatte aufhören. Das Wort hat der Kollege Markus Kurth vom Bünd- nis 90/Die Grünen. Wir haben schon das Problem, dass sich Gewerk- schaftsfunktionäre, wenn sie auf großen Gewerkschafts- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): veranstaltungen mit Massenmedien kommunizieren, an- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß ders artikulieren, als es vor Ort gehandhabt wird. nicht, wer oder was in Deutschland die wahre Plage ist. (Zuruf von der FDP: Richtig!) Ich weiß nur, was hier eine Plage ist: die permanente Ab- senkung des Niveaus der politischen Debatte durch Sie, In Nordrhein-Westfalen gibt es doch ganze Gebiete, in Herr Westerwelle, denen die 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie in der Realität nicht mehr vorhanden ist und wir uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufgrund des Konkurrenzdrucks mächtig in Richtung und bei der SPD – Widerspruch bei der FDP – 40-Stunden-Woche bewegen. Die Wahrheit ist – das Zuruf von der FDP: Er hat doch gar nicht gere- habe ich auch in einem Artikel für die „Wirtschaftswo- det!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16407

Markus Kurth (A) dies weniger wegen Ihrer aggressiv-vulgären Rhetorik, die ökonomische Friedenssicherung besonders(C) sondern wegen des ideologischen Zerrbilds, das hinter wertvoll. Ein Mehrfaches an Kapitalbindung und dieser Wortwahl steckt. Sie vermitteln das Zerrbild: Es Zinskosten wäre nämlich fällig, wenn beispiels- gibt die treue Belegschaft und den braven Betriebsrat, weise die Automobilhersteller zu einer Lager- die sich nach nichts anderem sehnen als nach Lohn- und haltung gezwungen würden, die das Risiko eines Urlaubsverzicht. Auf der anderen Seite steht der finstere zweiwöchigen Arbeitskampfes ihrer Zulieferer aus- Funktionär der Gewerkschaft, der auf die Einhaltung der schalten sollte. Flächentarifverträge pocht und die Unternehmen zu Ent- lassungen zwingt. (Dirk Niebel [FDP]: Die haben doch gar keine Lager mehr! Das ist doch alles auf der Auto- (Dirk Niebel [FDP]: Haben Sie das lange aus- bahn!) wendig gelernt?) – Genau, das ist jetzt auf der Autobahn. Diese ideologische Konstruktion entspricht erstens nicht der Realität und ist zweitens ökonomischer Unfug. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist doch altes Lagerdenken, was Sie da machen! – Hei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terkeit bei der CDU/CSU) und bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/ Würden die Zulieferer allerdings unkontrolliert streiken CSU]: Was hat die grüne Partei eigentlich mit – gäbe es also keine Friedenspflicht –, müsste wiederum produktiven Arbeitsplätzen zu tun?) von der Autobahn in die Betriebe verlagert werden. Erstens. Innerhalb des Systems der Flächentarif-Dann müssten Lager geschaffen werden und dann wäre verträge – das haben Sie gerade auch gesagt, Herreine zweiwöchige Lagerhaltung notwendig. Laumann – existiert eine Vielfalt von abweichenden Lö- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ sungen. Sie wissen, dass es Sanierungstarifverträge, Be- DIE GRÜNEN und der SPD) schäftigungssicherungsverträge, Öffnungsklauseln, Re- visionsklauseln und die Pforzheimer Lösung vomSie haben keine Ahnung von der betriebswirtschaftli- Februar 2004 gibt. All dies wirkt wie ein Ventil, über das chen Realität und den Abläufen. der Druck von Tarifnormen entweichen kann, wenn die Tarifverträge nicht der wirtschaftlichen Lage der Be- Ein letztes ökonomisches Argument: triebe entsprechen. Ich weiß nicht, wie oft wir von die- (Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) sem Pult aus in letzter Zeit Karstadt und Opel als Bei- spiele angeführt haben, um darzustellen, – wozuHören Sie lieber zu, statt so zu brüllen, Herr Niebel. (B) Gewerkschaften bereit und willens sind, wenn es dieDas können Sie. – (D) Lage der Unternehmen erfordert. Man fragt sich schon, woran es liegt, dass Sie diese Realität nicht zur Kenntnis (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ nehmen. Vielleicht nehmen Sie ein geheimes Medika- DIE GRÜNEN und der SPD) ment zu sich, das zu selektivem Gedächtnisschwund Die Eingrenzung des Lohnwettbewerbs und die Verrin- oder dergleichen führt. gerung der Transaktionskosten durch Verträge schätzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unternehmen sehr. Wenn man sich das einmal ansieht, und bei der SPD) stellt man fest: Selbst Firmen, die nicht tarifgebunden sind, sondern Haus- und Firmentarifverträge abschlie- Zweitens: zur ökonomischen Wirklichkeit. Geradeßen, orientieren sich an den Flächentarifverträgen. Diese aus Unternehmersicht bietet ein Flächentarifvertrag mit Unternehmer haben nämlich gar keine Lust, in jedem in- flexiblen Lösungen unschätzbare Vorteile. In Zeiten, in dividuellen Fall eine Auseinandersetzung im Betrieb zu denen die Zahl der Risikoquellen ständig wächst – Roh- führen und den Betriebsfrieden zu riskieren, sondern sie stoffpreise, Kapitalbeschaffung unter Basel II, Innova- nehmen den Tarifvertrag als Mustertarifvertrag und wei- tionswettbewerb –, wollen die Unternehmen zumindest chen lediglich in dem einen oder anderen Punkt davon auf der Seite der Lohnkosten Sicherheit und Verlässlich- ab. keit, Sicherheit und Planbarkeit haben. Das betrifft auch die Mittelständler. Das wird von diesen Unternehmern Je differenzierter die tarifliche Wirklichkeit wird – je – fragen Sie sie einmal – nicht bestritten. Planbarkeit ist mehr Alterssicherungsmodelle und Langzeitkonten ein- für Unternehmen nicht nur auf der betrieblichen Ebene gebaut werden und je mehr Qualifizierung Bestandteil von Bedeutung. In diesem Falle könnte man ja sagen, von Tarifverträgen ist, wie es in der Chemieindustrie der dass das unter Umständen auch ein Firmentarifvertrag Fall ist –, desto wichtiger sind kompetente Verhand- erfüllen könnte. Aber für e di Branchenstabilität einer lungspartner, die das vernünftig abwickeln können; das vernetzten Wirtschaft sind der Flächentarifvertrag und sind die Gewerkschaften. Vor diesem Hintergrund sollte funktionierende Gewerkschaften enorm wichtig. es uns eher Sorgen machen, dass der Organisationsgrad sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite Jetzt zitiere ich Hans Werner Busch, den Hauptge-sinkt. schäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall: Kurzum, Herr Westerwelle, kann das Fazit dieser In einem weit verzweigten Netz von Lieferbezie- kleinen Reise in die Wirklichkeit nur lauten: Wer be- hungen, wie es die deutsche Industrie darstellt, ist hauptet, dass Gewerkschaften in Deutschland die wahre 16408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Markus Kurth (A) Plage sind, kennt weder die betriebliche Realität noch Allein in den letzten Jahren sind über 800 000 Mitglie- (C) die Erfolgsfaktoren des Standorts Deutschland. der aus den Gewerkschaften ausgetreten. Vielen Dank. (Detlef Dzembritzki [SPD]: Wie viele Mitglie- der hat denn die FDP?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Genau darum geht es. Wir als Freidemokraten wollen starke Gewerkschaften. Aber wir sagen: Gewerkschaften sind dann stark, wenn siedie Interessen der Arbeitneh- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mer, nicht aber dann, wenn sie die Interessen ihrer Funk- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle tionäre vertreten. von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Ich nenne Ihnen zwei aktuelle Beispiele. Vor einiger Dr. Guido Westerwelle (FDP): Zeit haben wir hier im Deutschen Bundestag eine De- batte darüber geführt, dass der Streik für die 35-Stunden- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Woche in Ostdeutschland, in Sachsen und Brandenburg, ren! Erstens bedanken wir Freien Demokraten uns bei von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären vom Ihnen, der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Zaun gebrochen wurde. Dieser Streik für die 35-Stun- dass Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben; den-Woche – von westdeutschen Gewerkschaftsfunktio- (Beifall bei der FDP – Dr. Rainer Wend [SPD]: nären ersonnen; mit westdeutschen Bussen wurden die Das war die Revanche für letzte Woche!) Streikposten herüber nach Sachsen gefahren – ist nicht an Arbeitgebern zusammengebrochen. Er ist zusammen- das war eine kluge Entscheidung. Und: Herr Kollegegebrochen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Benneter, in Ihrer Einführung in diese Debatte haben Sie die es sich nicht länger bieten lassen wollten, so bevor- uns in weiten Teilen aus dem Herzen gesprochen. mundet zu werden – zulasten ihrer eigenen Arbeits- (Beifall bei der FDP) plätze. Zweitens. Herr Kollege Kurth, wir bedanken uns (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten außerordentlich bei Ihnen, dass Sie uns aus der betriebli- der CDU/CSU) chen Praxis des wahren Arbeitslebens berichtet haben. Dasselbe haben wir derzeit wieder: Im sicheren öf- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Markus fentlichen Dienst – wo kein Arbeitsplatzrisiko besteht wie für Millionen andere – holt Verdis grüner Chef (B) Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gern (D) geschehen! – Zuruf von der SPD: Das war Bsirske jetzt wegen 18 Minuten längerer Arbeitszeit die auch notwendig!) Streikkeule heraus. Das ist eine Politik, die die Arbeits- losigkeit in Deutschland vergrößert und die wir Freien Daraufhin habe ich gemeinsam mit dem KollegenDemokraten immer und immer wieder kritisieren wer- Laumann in Ihrem im Amtlichen Handbuch des Deut- den, weil wir Arbeitnehmerinteressen wahrnehmen und schen Bundestages veröffentlichten Lebenslauf nachge- es für falsch halten, wenn das nur noch funktionärisch schaut und festgestellt: Das Einzige, was Sie bisher mit gesehen wird. dem normalen Arbeitsleben zu tun hatten, war Ihre Zi- vildiensttätigkeit beim Caritasverband. (Beifall bei der FDP) (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, kom- CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ men wir zu den konkreten Dingen: Wir wollen nicht an- DIE GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämt- stelle von Gewerkschaften mehr entscheiden, sondern heit! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU], zu wir wollen, dass die Arbeitnehmer selbst mehr entschei- Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den können. Das ist unsere Politik: Wenn 75 Prozent NEN] gewandt: Ist das etwa wirklich wahr? – einer Belegschaft sich in einer geheimen Abstimmung Gegenruf des Abg. Markus Kurth [BÜND- darauf verständigen, vom Flächentarifvertrag abzuwei- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Das ist chen, dann soll das auch gelten, ohne dass ein Funktio- doch ein frecher Kerl!) när – sei es auf der Gewerkschaftsseite, sei es auf der Ar- beitgeberseite – dagegen ein Veto einlegen kann. Nicht Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir an die- mehr wollen wir, aber auch nicht weniger. ser Stelle zur Sache. Wir halten es für einen unmögli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen Vorgang, dass die Gewerkschaften in ihrer Politik der CDU/CSU) zunehmend eine funktionärische Sicht einnehmen. Da- mit stehen wir gar nicht allein. Vielmehr ist das auch die Wir halten es für eine Groteske unserer Zeit, dass ausge- Meinung der Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Ar- rechnet der stellvertretende Aufsichtsratschef der Luft- beitnehmer in Deutschland. Nur noch 23 Prozent der ar- hansa, Herr Bsirske, den Streik gegen das Unternehmen beitenden Bevölkerung sind überhaupt in Gewerkschaf- organisiert, für dessen Wohl er in dieser Funktion eigent- ten organisiert. lich arbeiten sollte. (Doris Barnett [SPD]: Das sind aber mehr als (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in der FDP!) der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16409

Dr. Guido Westerwelle (A) Das akzeptieren wir nicht länger und das wird von uns, Berufsleben getan hat, als Sie ihm hier mit seinem Zivil- (C) wenn wir Regierungsverantwortung bekommen, in die dienst beim Caritasverband zugebilligt haben. Verhandlungen eingebracht werden, weil es notwendig ist, die Arbeitnehmerinteressen und die Interessen von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Betriebsräten und von betrieblichen Bündnissen zu stär- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ken. Wissen Sie, wenn wir auf dieser Ebene miteinander dis- kutieren, dann machen wir das, was das Parlament aus- Das ist die Realität heute: Diese IG-Metall-Zeit-macht, gemeinsam kaputt. Das sollten wir wirklich ver- schrift, die ich Ihnen hier zeige, wird von Herrn Peters meiden. offiziell herausgegeben – Herr Müntefering ist Mitglied der IG Metall –; die Ausgabe ist von diesem Monat, vom (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mai. Investoren werden als Aussauger und Blutsauger, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – mit Goldzahn und mit einem Hut in den Farben der ame- Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wie man in den rikanischen Flagge dargestellt. Wald ruft, so schallt es heraus!) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist Punkt zwei. Herr Westerwelle, Sie haben mit der Zu- eine Sauerei!) spitzung Ihrer hier ausgebreiteten Position sicherlich dazu beigetragen – das war ja wohl auch beabsichtigt –, Wir Liberale sind gegen jede Form von Ausländerfeind- eine Diskussion über Sinn und Unsinn von Gewerk- lichkeit, auch wenn sie von links kommt, meine sehr ge- schaften in unserem Lande loszutreten. ehrten Damen und Herren! (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Überhaupt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht!) Das schadet unseren wirtschaftlichen Interessen massiv; – Oh ja, so ist es von den Medien übrigens auch allent- auch darauf muss hingewiesen werden. Das ist keine Pe- halben verstanden worden. – Ich finde, dass wir auch titesse, das ist ein kapitaler Vorgang, der Arbeitsplätze in hier nur mit differenzierten Bildern weiterkommen. Deutschland kostet, weil Investoren wegbleiben. Denn dieses Bild ist nicht nur in Deutschland erschienen, son- Ihr Fraktionsvorsitzender in Schleswig-Holstein hat dern es ist millionenfach in der Weltpresse verbreitetin der Chemnitzer „Freien Presse“ Ihre Äußerungen ja worden. nicht umsonst als „postpubertäre Äußerungen“ bezeich- net. Das, was ich Ihnen nun zeige, ist die neue Ausgabe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von „BusinessWeek“, einer der wichtigsten international des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) erscheinenden Wirtschaftszeitungen, allgemein in die- (D) sem Hause bekannt. Allein über 1 Million Mal wirdIm Übrigen ist in „Spiegel Online“ nachzulesen, er habe diese Zeitschrift in den Vereinigten Staaten von Amerika gesagt, Westerwelle habe der FDP keinen Gefallen ge- verkauft. Darin finden Sie das Titelblatt mit der Heu-tan. Die Debatte um den Arbeitsmarkt und die Zukunft schrecke abgedruckt. Wir werden „Bloodsuckers“ ge- der sozialen Sicherungssysteme müsse mit dem Kopf nannt; das ist es, worum es geht. Dazu sage ich: Es ist und nicht mit dem Kehlkopf gewonnen werden. – Auch ein Fehler, wenn man die Investoren beschimpft, die hier da hat der Mann in Schleswig-Holstein absolut Recht. Arbeitsplätze durch ihre Investitionen schaffen sollen. Wir wollen eine Politik zugunsten von Arbeitnehmern, (Beifall bei der SPD – Dr. Rainer Wend [SPD]: zugunsten von betrieblichen Bündnissen. Deswegen sind Das finde ich aber ein bisschen hart!) wir für weniger funktionärische Fremdbestimmung Weil ich Ihre Parteitagsrede verfolgt habe, durch die Gewerkschaftsfunktionäre und für mehr Selbstbestimmung in den Betrieben; und das werden wir (Beifall bei der FDP – Dr. Guido Westerwelle auch durchsetzen. [FDP]: Wenigstens einer! – Dirk Niebel [FDP]: Sehr gute Rede!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) erinnere ich mich darüber hinaus daran, dass der von uns allen sehr geschätzte Freidemokrat auf Ihre Intervention, die er eben auch so versteht wie viele Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: im Land, klar gesagt hat: Wir brauchen, um den sozialen Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Frieden in diesem Lande aufrechtzuerhalten und die so- Dr. Ditmar Staffelt. ziale Marktwirtschaft auszubauen, starke Gewerkschaf- ten. – Ich höre mit Befriedigung, dass sich viele in die- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- sem Hause wieder auf diese Basis zurückbegeben haben. desminister für Wirtschaft und Arbeit: Insofern sind wir durch diese Debatte beim Selbstver- ständnis vielleicht schon ein Stückchen vorangekom- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undmen. Herren! Zunächst einige kurze Vorbemerkungen. Herr Kollege Westerwelle, ich finde, es ist kein guter Stil, Ich sage darüber hinaus, dass der Vorsitzende der wenn man einen Kollegen hier auf diese Weise diffa-IG Bergbau, Chemie, Energie, Herr Schmoldt, ja nicht miert, der im Übrigen – auch ich habe jetzt einmal im umsonst gesagt hat: Mit solchen diffamierenden Äuße- Volkshandbuch nachgeschaut – sehr viel mehr in seinem rungen schaden Sie der demokratischen Kultur in 16410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) unserem Lande. Wir müssen einfach aufpassen, dass wir An dieser Stelle weise ich auf die Vereinbarungen(C) mit derartig platten Argumentationen und Zuspitzungen ganz moderner Art hin, die letztendlich schwere Ein- am Ende nicht tatsächlich etwas heraufbeschwören, was schnitte in den Besitzstand der Arbeitnehmerinnen und wir nicht gebrauchen können, nämlich die Verhärtung Arbeitnehmer gebracht haben. Dies gilt etwa für Sie- der Fronten gerade im Bereich von Wirtschaft und Ar- mens, Daimler-Chrysler, Karstadt-Quelle, Opel und beitsmarkt, obwohl wir eigentlich das Aufeinanderzuge- Volkswagen. hen als das Konzept verstehen, das wir brauchen, um diesen Standort Deutschland zu modernisieren. Meine Damen und Herren, niemand wird sagen, die Gewerkschaften hätten einen Heiligenschein. Auch dort (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden mit dem einen und anderen in manchen Fällen DIE GRÜNEN) wichtige Diskussionen zu führen sein; das ist gar keine Frage. Aber viele in den Gewerkschaften haben verstan- Es gibt viele Beispiele – ich denke, wenn Sie ehrlich den, dass die Zeiten hart und Bewegung und Flexibilität sind, dann müssen Sie dem auch Ihre Zustimmunggefordert sind. Dies zeigen übrigens auch die Arbeits- geben –, die wir hier anführen könnten, bei denen Ge- zeitmodelle: 50 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und werkschaften wesentlich dazu beigetragen haben, dieArbeitnehmer in unserem Lande sind in einem System Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbessern zu hel- flexibler Arbeitszeiten beschäftigt, 40 Prozent arbeiten fen. Im Bereich der Luft- und Raumfahrt hatten wirauf der Basis von Arbeitszeitkonten. kürzlich N3 Engine Overhaul Services, eine Investition von Rolls-Royce Deutschland und Lufthansa Technik. Auch diese Schritte in die richtige Richtung zeigen, Wettbewerber war ein Standort in Tschechien. Es istdass das System in Ordnung ist. Wir müssen es weiter- ganz ausdrücklich den Gewerkschaften zu danken, die entwickeln, weiter modernisieren und weiter an die He- sich auf langfristige Vereinbarungen mit den Investoren rausforderungen anpassen. Dann werden wir unsere verständigt haben, dass die Entscheidung zur Investition volkswirtschaftlichen Daten verbessern können. Dies nicht zugunsten von Tschechien, sondern eben von Ost- wird sich dann auch an der Front auswirken, die Sie, deutschland getroffen wurde. Dies muss man bei solchen Herr Laumann, zu Recht benannt haben: beim Abbau Debatten doch auch einmal sagen. Das waren Entschei- von Arbeitslosigkeit und der Schaffung neuer Arbeits- dungen von so genannten Gewerkschaftsfunktionären, in plätze. Hier sitzen wir am Ende alle wieder in einem diesem Falle der IG Metall. Boot. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich persönlich – dies darf man als frei gewählter Ab- DIE GRÜNEN) geordneter einmal sagen – empfinde als IG-Metall-Mit- glied die vorhin gezeigte Karikatur auf der ersten Seite (B) Nichts anderes hat sich zum Beispiel auch bei Opel (D) der Zeitung als – ich drücke es mit aller Vorsicht aus – ereignet. Der gesamte Zukunftsvertrag ist am Ende ne- nicht gelungen. ben den Betriebsräten auch von den hauptamtlichen Mit- streitern der IG Metall gestaltet worden. Ich denke, es (Beifall im ganzen Hause) hat eine tragfähige Lösung gegeben, die gezeigt hat, dass die Gewerkschaften sehr wohl verstanden haben, dass Auch die Gewerkschaft sollte einmal darüber nachden- wir unsere Tarifpolitik in diesem Lande nicht mehr sozu- ken, ob uns solche Kampfpositionen wirklich weiter- sagen in einem abgeschotteten Raum miteinander gestal- bringen. Mich mobilisieren sie jedenfalls nicht; eher ist ten können, sondern dass wir heute in globalen Zusam- das Gegenteil der Fall. Vor diesem Hintergrund müssen menhängen denken und unsere Unternehmen auch durch wir solche Diskussionen führen, allerdings innerhalb ei- eine sinnvolle Politik der Gewerkschaften selbst wettbe- nes Rahmens, der uns in die Lage versetzt, miteinander werbsfähig im globalen Sinne halten müssen. Das muss zu reden, und nicht dazu führt, dass wir sprachlos wer- doch unser gemeinsames Bestreben sein. So verstehe ich den. Wir dürfen nicht dazu beitragen, dass eine gute Ba- jedenfalls viele in den Gewerkschaften. sis gemeinschaftlichen Handelns, die sich 50 Jahre lang bewährt hat, aufgekündigt wird. Dies kann und darf Meine Damen und Herren, im Übrigen zeigen doch nicht Sinn einer solchen Diskussion sein. gerade auch die Entwicklungen in der Tarif- und Lohn- politik, wo wir stehen. Es gibt doch nicht einen aus ir- Die Damen und Herren der FDP sollten mit ihrem gendeinem wirtschaftswissenschaftlichen Institut, der Vorsitzenden noch einmal hart ins Gericht gehen. Jeden- etwa den Gewerkschaften vorwerfen würde, sie hätten falls sollte er seinen sehr zugespitzten Vorwurf relativie- an der Tariffront und an der Lohnpolitikfront Fehler ge- ren und ihn auf die Sachkritik zurückführen, die ihm am macht. Nein, wir sind hier auf einem außerordentlich Herzen liegt. niedrigen Niveau. Als Folge dessen sind wir bei den Lohnstückkosten hoch wettbewerbsfähig. Auch hier ist Danke. ein Stück Verantwortung von den Gewerkschaften und den Arbeitgebern gemeinsam getragen worden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das ist der Weg, der in unserem Lande in die richtige Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von Richtung führt. der CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16411

(A) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Auch der Wahlkampf rechtfertigt das nicht. Sie stehen (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- in Nordrhein-Westfalen mit dem Rücken an der Wand. ren! Welch eine gespenstische Debatte führen wir hier Das, was Müntefering losgetreten hat, ist erkennbar ein eigentlich? Der Vorsitzende der größten Partei wirklicher in Rohrkrepierer und hat ihn selber beschmutzt. Deutschland, Müntefering, spricht von Heuschrecken- (Rolf Stöckel [SPD]: Das sehen die Leute aber plage und meint damit amerikanische und andere auslän- anders, Herr Schauerte!) dische Investoren. – Nein, Ihre Umfragewerte für die Wahl in Nordrhein- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dabei ist Westfalen sind gerade gestern noch einmal um das gar nicht die größte!) 1 Prozentpunkt gesunken. Sie sind weder stabil geblie- – Nein, die SPD ist in Nordrhein-Westfalen lange nicht ben noch haben sie sich erhöht. Das ist ein Rohrkrepie- mehr die größte, rer. Schade um der Sache willen! (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das wollte Wissen Sie, wo die Probleme wirklich liegen? ich gehört haben!) (Zuruf von der SPD) aber auf Bundesebene ist sie es noch. – Ich kann es auch noch vertiefen. – Ich kann Ihnen vor- lesen, was Ihre Ministerien in Ihrer Regierungszeit an so Die IG Metall, eine der größten Gewerkschaften in genannte Aussaugerunternehmen verkauft haben. Europa und in der Welt, stellt die Amerikaner in dem Ti- telbild ihrer Zeitschrift als einen hässlichen Blutsauger (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Machen Sie mit amerikanischem Hut dar. mal!) (Dagmar Freitag [SPD]: Das hatten wir schon! Auf diesem Gebiet sind Sie Weltklasse, Spitze. Den ers- Sie sind spät dran!) ten großen Geschäftsabschluss, der mit Apax gemacht worden ist, hat Herr Müntefering persönlich unterschrie- Die FDP nennt die Gewerkschaften, die wir in unserer ben. sozialen Marktwirtschaft brauchen, eine Plage. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) (Dirk Niebel [FDP]: Nein, die Funktionäre! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das habe ich Es geht um Milliardenunternehmen. Sie haben sogar nicht gesagt!) Pensionsansprüche der Post an diese angeblich so unso- zialen und unvernünftigen internationalen Finanzie- Diese Kombination ist in der Tat eine große Plage. All rungsgruppen verkauft. Machen Sie damit Schluss! Das (B) das können wir nämlich nicht gebrauchen. Das ist sohilft nicht weiter. Das Problem ist ein anderes. Wir brau- (D) überflüssig wie ein Kropf. Wir sind keine Bananenrepu- chen Antworten auf die Frage nach der Bekämpfung der blik und hier muss auch nicht die Revolution ausgerufen Arbeitslosigkeit. Sie machen mit dieser Art von verbaler werden. Wir müssen keine alten Lagerkämpfe auffri-Aufrüstung Folgendes: Die Investoren, die wir nach schen, sondern wir müssen Lösungen für seit langem be- Deutschland holen wollen, schrecken Sie ab. Die Inves- kannte Probleme anbieten. Genau das passiert aber nicht. toren, die wir in Deutschland haben, vertreiben Sie zu- sätzlich. Es geht schief, wenn Sie so weitermachen. Zur FDP kann ich nur eines zur Entschuldigung sa- gen: Sie hat als Echo auf das reagiert, was Müntefering Was ist nötig? Wir brauchen Politik, die zum Beispiel erklärt hat. Aber wer auf ein falsches Signal Echo spielt, den Verkaufsdruck vermindert. Häufig wird ja aus der vergrößert das Problem, Herr Westerwelle. Besser ist, Not heraus verkauft. Was machen Sie diese Woche, Herr man lässt es sein und kehrt zur Sacharbeit zurück. Die Wend? Wir wollten morgen über Steuersenkungen im Union ist bei dieser künstlichen Art, die Dinge so hoch- Unternehmensbereich diskutieren. zutreiben, dass sich die Menschen verwundert die Augen (Rolf Stöckel [SPD]: Kommen Sie mal zum reiben und sich fragen, in welchem Land sie eigentlich Thema!) leben, nicht dabei und lässt sich dafür in keiner Weise in die Pflicht nehmen. Wir lehnen diese Art von Diskussion – Wir sind gerade beim Jobgipfel; das ist nämlich die als Ersatz zur Lösung schwerwiegender volkswirtschaft- Antwort. Wir wollten die Körperschaftsteuer senken. licher und sozialpolitischer Probleme entschieden ab. Das können wir morgen nicht diskutieren. Ich befürchte Schlimmes nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dagmar Freitag [SPD]: Da haben Sie auch al- Ich empfehle allen Dreien: Entschuldigen Sie sich für len Grund zu!) diese Art der Diskussion, sodass wir wieder zur sachli- chen Arbeit zurückkommen können. Das wäre in Ord- Sie haben heute nicht umsonst gewarnt. Ich vermute, nung und ein tolles Zeichen. 5 Millionen Menschen su- dass Sie selber vermuten, dass in Ihren eigenen Reihen chen eine Arbeit und wir führen solche Debatten! Diese versucht wird, diese Sache gänzlich zu stoppen. Menschen müssen sich doch wirklich auf den Arm ge- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Vermuten Sie nicht nommen fühlen. Überlegen Sie einmal, ob Sie sich nicht zuviel, Herr Schauerte!) in einem Spitzentreffen einigen können, diese Debatte zurückzuziehen, um zur Sachlichkeit zurückzukehren, Ich will ein weiteres Beispiel nennen, die Erbschaft- die dringend nötig ist. steuerreform. Wenn wir bei der Erbschaftsteuerreform 16412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Hartmut Schauerte (A) nicht die Probleme lösen, die wir uns vorgenommen ha- Dienst Arbeitsplatzsicherheit gibt. Dazu möchte ich Ih- (C) ben und die verabredet waren, bleibt die Frage: Was pas- nen meine Erfahrungen nennen. Ich habe vor über drei siert dann? Bevor die Erbschaftsteuer gezahlt wird, wird Jahren ein Krankenhaus schließen und einen Sozialplan das Unternehmen an solche Institutionen verkauft, die erstellen müssen. Das war die bitterste Erfahrung in mei- Sie in Deutschland nicht haben wollen. nem beruflichen Leben. 120 Menschen waren von Ar- beitslosigkeit bedroht und ohne Verdi hätten wir keinen (Dr. Rainer Wend [SPD]: Kann ich daraus vernünftigen Sozialplan zustande gebracht. schließen, dass Sie der Erbschaftsteuerreform zustimmen werden?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Natürlich, wir haben den Vorschlag doch eingebracht. und bei der SPD) Sie haben doch den bayerischen Gesetzentwurf abge- Sie betonen, wo Sie gehen und stehen, die Bürger- schrieben. Wir sind mit Edmund Stoiber völlig einerrechte. Sie prügeln auf uns, auf Rot-Grün, ein und be- Meinung. haupten, dass wir diese einschränken wollten. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Dann wird es doch (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das kein Problem sein, dass Sie zustimmen!) ist wahr!) – Sie haben das gleiche Problem wie ich an dieser Stelle. Das Ganze muss solide finanziert sein. Deswegen haben Wie verträgt sich denn das mit Ihrer Forderung, die Pari- Sie wohl die Diskussion über diese Reform zum zweiten tät in der betrieblichen Mitbestimmung abzuschaffen Mal verschoben. und zu einer Drittelparität zu kommen? (Dr. Rainer Wend [SPD]: War das von Stoiber (Dirk Niebel [FDP]: Hat keiner gefordert!) nicht solide finanziert?) Wie verträgt sich das mit Ihrer Forderung nach betriebli- Machen wir eine konkrete Politik zur Verhinderung chen Bündnissen, von denen Sie eigentlich wissen müss- eines Verkaufs von Unternehmen in Deutschland. Am ten, dass es sie längst gibt? Ich frage Sie auch: Enden besten ist es, die Unternehmen bleiben im Familienbe- denn die Bürgerrechte für Sie an den Betriebstoren? Die sitz. Am besten ist, die Arbeitsplätze bleiben hier. Ma- Gewerkschaften, sehr geehrter Herr Westerwelle, sind chen wir eine Modernisierung unseres Landes und rüsten mit der verfassungsrechtlich verankerten Tarifautonomie wir verbal ab! Alles andere ist nur schädlich und vergif- zutiefst Ausdruck der Wahrnehmung dieser Bürger- tet das Klima. Unsere Probleme in Deutschland sindrechte. Ihre Vorschläge aber sprechen eben diesen Bür- wahrlich zu groß, als dass wir auf solche Nebenkriegs- gerrechten Hohn. Seien Sie lieber so ehrlich und sagen schauplätze, die peinlich sind, ausweichen dürfen. Sie, dass Sie nur auf sozialen Kahlschlag aus sind. Be- (B) kennen Sie sich dazu, dass Arbeitnehmerinnen und Ar- (D) Herzlichen Dank. beitnehmer und somit auch ihre Interessenvertreterinnen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend und Interessenvertreter für Sie keine vollwertigen Bür- [SPD]: Ist der Vorschlag von Stoiber solide fi- gerinnen und Bürger sind. nanziert oder nicht?) (Erika Lotz [SPD]: So ist es!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ein anderes Thema, nämlich dass sich auch die Ge- Das Wort hat die Kollegin Petra Selg von Bündnis 90/ werkschaften wandeln müssen, hat Herr Laumann vor- Die Grünen. hin angesprochen. Ich bestreite das gar nicht. Kein Ge- werkschafter wird das heute mehr bestreiten. Viele Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haben es bereits getan. Deshalb, sehr geehrter Herr Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Westerwelle, sollten Sie sehr vorsichtig sein, was Ihre Kollegen! Herr Westerwelle, Ausführungen über IhreIgnoranz und Arroganz gegenüber den Leistungen der beruflichen oder auch gewerkschaftlichen Berührungs- Gewerkschaften betrifft. punkte oder Ihr Engagement möchte ich mir ersparen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber die Art und Weise, wie Sie die Debatte hier geführt und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU haben, nämlich polemisch, persönlich verletzend und und der FDP: Oh!) ohne ein Wort zur Sache, spricht für sich. Wir haben und wir brauchen weiterhin starke Gewerk- (Zurufe von der FDP: Oh!) schaften in Deutschland. Sie sollten nicht vergessen, Herr Westerwelle, Sie bezeichnen die Gewerkschaf- welch ungeheuren Beitrag die Gewerkschaften beim ten und damit auch Menschen wie mich – ich bin seit 25 Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute ge- Jahren bei Verdi – als wahre Plage, als Totengräber des leistet haben: die geordnete friedliche Organisation der deutschen Wohlstands und als Verräter der Arbeiter-Arbeiterschaft, gerade eben die Vermeidung einer zer- klasse. splitterten Gewerkschaftsstruktur, wie wir sie vor der fa- schistischen Diktatur in Deutschland hatten, die Modera- (Rolf Stöckel [SPD]: Reine Ideologie!) tion des industriellen Wandels zum Beispiel im Das ist ein abenteuerliches Kraftsprüchesammelsurium, Ruhrgebiet oder die Vermeidung von Streiks und mögli- das Sie uns hier anbieten, das mich zutiefst erschreckt. chen Unruhen. Der Abschluss in der Stahlindustrie zeigt Sie haben vorhin auch gesagt, dass es im öffentlichendies. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16413

Petra Selg (A) Ihr eigener Parteifreund Burkhard Hirsch hat Sie auf Die Frage nach Ursache und Wirkung hat etwas damit zu (C) dem FDP-Parteitag vor einem allzu scharfen Ton gegen- tun, wer zuerst biblische Vergleiche gezogen hat. Es war über den Gewerkschaften gewarnt und deren unverzicht- Ihr Vorsitzender, der Investoren in diesem Land mit Tie- bares Verdienst für den sozialen Frieden Deutschlands ren verglichen hat. ausdrücklich gewürdigt. All das ignorieren Sie nun und (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sind die tun so, als wäre in Deutschland alles ohne diese „lästi- Heuschrecken rot?) gen“ Gewerkschaften besser. Das zeigt einmal mehr, dass Sie nicht wissen, wovon Sie reden. – Die Heuschrecken sind hier aus künstlerischen Grün- den rot. Eigentlich wissen wir: Heuschrecken sind grün. (Dirk Niebel [FDP]: Das hat er nie gemacht!) Das ist keine Frage. – Lieber Herr Niebel, was heißt es denn dann, wenn Sie (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Es gibt nur sagen: Das hat er nie gesagt, dass die Gewerkschaften rote und grüne Heuschrecken! – Karl-Josef eine wahre Plage, Totengräber des deutschen Wohl- Laumann [CDU/CSU]: Und schwarz sind stands und Verräter der Arbeiterklasse sind? Hören Sie Ameisen; die sind fleißig!) bitte einmal zu, was Ihr Vorsitzender sagt, und sagen Sie nicht: Das hat er nicht gesagt. Es war Ihr Vorsitzender, der Vorsitzende der SPD-Frak- tion, der eine Debatte vom Zaun gebrochen, in der man (Dirk Niebel [FDP]: Sie sollten vernünftig zu- auf den groben Klotz auch mit einem groben Keil reagie- hören und richtig zitieren!) ren muss, weil dieses Land sonst das Problem von fast Was glauben Sie eigentlich, wie Deutschland heute 5 Millionen registrierten Arbeitslosen niemals überwin- ohne die Leistungen der Gewerkschaften aussähe? Ihre det. Antworten kann ich mir denken. Das wäre ein Deutsch- (Beifall bei der FDP) land nach Ihrem Geschmack. Sie haben es vorhin gesagt. Aber ich möchte es mir nicht vorstellen. Ich muss es mir Ihre Parteizeitung „Vorwärts“, Herr Benneter – ich auch nicht vorstellen; denn unter Rot-Grün – da können glaube, Sie sind der Herausgeber –, titelt: „Nackte Pro- Sie sicher sein – wird es das nicht geben. fit-Maximierung gefährdet die Demokratie.“ Danke schön. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Was ist daran falsch?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das Bild aus der Zeitschrift der IG Metall ist hinrei- chend bekannt und ausreichend verwendet worden. Sie müssen sich vorwerfen lassen, dass Sie unhistorisch und (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D) Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDP- geschichtslos sind. Was wäre aus der Bundesrepublik Fraktion. Deutschland geworden, wenn vor 60 Jahren nicht ameri- kanisches Investitionskapital in dieses Land gekommen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wäre? NEN]: Jetzt kommt der Nebelwerfer!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dirk Niebel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Heute werden noch gerade einmal knapp 20 Prozent Herren! Ich muss schon zugeben: Ich habe lange mit mir der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Gewerk- gerungen, ob ich meine Redezeit vielleicht dem Kolle- schaften vertreten. Die Gewerkschaftsfunktionäre tun al- gen Benneter zur Verfügung stellen sollte. lerdings so, als seien sie in der Lage und legitimiert, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Wir wissen: Das (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hät- müsste eigentlich der Herr Bundeskanzler tun; aber of- ten Sie es getan, wäre es besser gewesen!) fenkundig regiert der ja schon gar nicht mehr. Das war ein bemerkenswerter Vortrag, den wir hier ge- Gewerkschaftsfunktionäre drangsalieren den deut- hört haben. Vielleicht kann ich meinen Vorsitzenden da- schen Mittelstand mit immer neuen Ideen. Ich möchte von überzeugen, dass wir diese Rede als Wahlwerbespot hier als Beispiel das Gesetz zur Ausbildungsplatzumlage für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen bringen. nennen, das immer noch in der Schublade liegt und in (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das Geld dem eine Ausbildungsquote von 6 Prozent festgeschrie- lohnt nicht; glaub’ mir das!) ben ist. Nur unterscheidet die Aktuelle Stunde, die Sie hier bean- (Doris Barnett [SPD]: So ist es!) tragt haben, natürlich leider nicht zwischen Ursache und Beim DGB betrug die Ausbildungsquote im letzten Jahr Wirkung. 0,3 Prozent, bei Verdi 0,4 Prozent, bei der IG Metall (Der Redner hält ein Bild hoch) 0,9 Prozent. So viel zu Anspruch und Wirklichkeit. – Das hier ist aus dem Inhaltsverzeichnis des „Focus“ (Beifall bei der FDP – Doris Barnett [SPD]: dieser Woche. Und bei der FDP?) (Ute Kumpf [SPD]: Sind Sie unter die Zei- Nun wollen wir alle nicht, dass unsere jungen Men- tungsverkäufer gegangen?) schen nur bei Gewerkschaften ausgebildet werden. Aber 16414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dirk Niebel (A) wenn Funktionäre eine gewisse Messlatte vorgeben,Wenn in 29 von 30 DAX-Unternehmen Gewerkschafts- (C) dann müssen sie sich auch selbst danach richten. Wir alle funktionäre im Aufsichtsrat sitzen, haben die etwas mit wissen, dass gerade die Gewerkschaftsfunktionäre nicht der wirtschaftlichen Situation in Deutschland zu tun. die besten Arbeitgeber sind. Was bei Verdi im Zuge des Personalabbaus passiert, wird von den Mitgliedern der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gewerkschaft, die keinen eigenen Betriebsrat haben dür- der CDU/CSU) fen, weil sie sich ja quasi selbst vertreten, zu Recht mas- Spätestens dann, wenn sich der grüne Vorsitzende von siv kritisiert. Verdi, Herr Bsirske, als stellvertretender Aufsichtsrats- Es kann nicht sein, dass Sie so tun, als würden be- vorsitzender der Lufthansa selbst bestreikt, müssen Sie triebliche Bündnisse für Arbeit längst bestehen. doch zur Kenntnis nehmen, dass hier etwas falsch läuft. (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Natürlich tun sie das, Herr Niebel!) der CDU/CSU) Es gibt Öffnungsklauseln in Tarifverträgen. Ich kann Ih- Herr Benneter hat vorhin bestimmte Formulierungen nen auch erklären, weshalb die Funktionäre der Arbeit- kritisiert. Herr Benneter ist für andere Formulierungen geberverbände und die der Gewerkschaften so sehr ge- einmal aus der SPD ausgeschlossen worden. gen eine gesetzliche Regelung sind: weil dadurch die (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Verbändemacht eingeschränkt werden würde zugunsten der Möglichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Herr Benneter, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass nehmer im Betrieb. Ihr Parteivorsitzender Tank & Rast an Apax verkauft hat. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass Ihr Finanzmi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nister die Bundesdruckerei an Apax verkauft hat, an eine der CDU/CSU – Petra Selg [BÜNDNIS 90/ Firma, die auf Ihrer „Heuschrecken-Liste“ steht. Und Sie DIE GRÜNEN]: In welcher Realität leben sollten zur Kenntnis nehmen, dass Frau Schmidt die Sie? Sie haben keine Ahnung!) Wohnungen der BfA ebenfalls an eine Fondsgesellschaft verkauft hat. Seien Sie doch nicht so scheinheilig und Die Öffnungsklauseln in Tarifverträgen greifen nämlich streuen Sie den Menschen keinen Sand in die Augen! immer nur dann, wenn dieFunktionäre der einen oder der anderen Seite zustimmen. Überall dort, wo Betriebs- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) rätinnen und Betriebsräte auf der einen Seite und Unter- nehmerinnen und Unternehmer oder die Geschäftslei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tung auf der anderen Seite in freier Selbstbestimmung, in Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit ist leider abgelau- (B) freier und geheimer Wahl mit 75 Prozent der Belegschaft (D) fen. etwas anderes entscheiden, als im Flächentarifvertrag steht, kommt die Keule des Verbändestaates dazwischen, um die Verbändemacht zu sichern. Dirk Niebel (FDP): Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Wenn (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Multifunktionäre so tun, als seien sie in der Lage und be- keiner Weise! Wissen Sie, dass Sie Unsinn re- fugt, dieses Land an sich zu reißen, dann muss es einen den?) geben, der sich dagegen erhebt. Das werden die Freien Wir haben das mehrfach gesehen, zum Beispiel beiDemokraten sein. Viessmann und bei Burda. Mit der Fahne der Tarifauto- (Beifall bei der FDP – Klaus Uwe Benneter nomie in der Hand sind die Beschäftigten in die Arbeits- [SPD]: Ich dachte schon, es käme was Schlim- losigkeit gegangen, weil einige Gewerkschaftsfunktio- meres!) näre verhindert haben, die Betriebe zukunftssicher zu gestalten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Riester. der CDU/CSU) Wir müssen in diesem Land dafür sorgen, dass es Walter Riester (SPD): gute, funktionsfähige Gewerkschaften gibt. KeinFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mensch, ganz besonders nicht in der FDP, möchte, dass Ich war nicht überrascht über das Anpöbeln des Herrn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebeutet wer- Westerwelle gegenüber gewählten Vorsitzenden einzel- den. Wir müssen aber verhindern, dass Funktionäre ihre ner Gewerkschaften. Das stand in einer Kontinuität zu eigenen Funktionärsinteressen vertreten auf Kosten der seinen sonstigen Äußerungen. Ich glaube auch nicht, Menschen, deren Interessen sie eigentlich vertreten soll- dass sie bei den Gewerkschaften große Überraschung ten. ausgelöst haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass seine Äuße- der CDU/CSU – Petra Selg [BÜNDNIS 90/ rung große Ängste auslöst, wenn er von der Opposition DIE GRÜNEN]: Das sind doch Sonntagsre- befreit sei, dann wolle er Gewerkschaftsfunktionäre ent- den, die Sie hier von sich geben! Völlig unqua- machten. Denn die Gewerkschaftsvorsitzenden werden lifizierte Sonntagsreden!) in demokratischen Prozessen gewählt; sie werden nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16415

Walter Riester (A) vom Vorsitzenden der FDP eingesetzt. Darin sehe ich– Da spricht jemand von einem „Klassenkämpfer“, der (C) nicht das Problem. keine Ahnung hat, dass inzwischen Menschen bereit sind, sich für 3 bis 4 Euro zu verdingen, weil ihnen Das Problem liegt vielmehr in den Inhalten, die er nichts anderes übrig bleibt. vertreten hat. Er hat gesagt: Wenn wir an die Macht kommen, dann werden wir das Tarifrecht aufbrechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dirk Niebel [FDP]: Nein! Das Tarifkartell!) Ich komme zu einem weiteren Punkt. Er erklärt, dass – Im „Focus“ sagt er: das Tarifrecht aufbrechen. die Mitbestimmung abgeschafft werden soll. (Dirk Niebel [FDP]: Das Tarifkartell! – Ge- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: genruf des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wer sagt das?) Beantragen Sie doch eine Gegendarstellung beim „Focus“!) – Herr Westerwelle. Das ist im „Focus“ nachzulesen. Er möchte, dass die Mitbestimmung abgeschafft wird. Was er unter „Aufbrechen“ versteht, hat er hier erläu- tert. Er möchte nicht, dass die letzte Entscheidung bei (Dirk Niebel [FDP]: Was hat er gesagt?) den Gewerkschaften liegt, sondern dass die Vorgabe der – Das können Sie ja nachlesen. Sie müssen das nicht mit Geschäftsleitung in geheimer Abstimmung von den Be- mir diskutieren; das sind die Fakten. Ich habe in der Pra- schäftigten akzeptiert werden muss. xis erlebt – von dieser haben Sie wahrscheinlich keine Als Jurist müsste er eigentlich wissen, dass das Tarif- Ahnung –, vertragsgesetz noch vor der deutschen Verfassung ge- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: schaffen worden ist. In Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz wurde Aber jede Menge!) die Koalitionsfreiheit bewusst so stark verankert, wie es in deutschen Aufsichtsräten zugeht, und kenne (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Lieber Kol- die Kompetenz beider Seiten. Ich kann Ihnen deshalb sa- lege, bauen Sie bitte keinen Popanz auf!) gen: Die dort vertretenen Gewerkschafter und Betriebs- weil man wusste, wie erpressbar Menschen in bestimm- räte stehen den Vertretern, die für eine Bank oder eine ten Situationen sind. Versicherung in drei oder vier Aufsichtsräten miteinan- der konkurrierender Unternehmen sitzen, in der sachli- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: chen Kompetenz in nichts nach. Sie sind insbesondere Wissen Sie es nicht besser oder warum reden näher an der Praxis dran. Sie so?) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Es kann durchaus sein, dass Ihnen in diesem Zusam- DIE GRÜNEN) menhang der allgemeine Hintergrund fehlt. Ich will Ih- nen deshalb die aktuelle Situation eines großen, renom- Nun tut es mir Leid, dass Herr Westerwelle aus Zeit- mierten Unternehmens, nämlich Siemens, schildern. gründen, wie er mir gesagt hat, nicht weiter an der De- batte teilnehmen kann. (Dirk Niebel [FDP]: Reden Sie doch mal über den Mittelstand!) (Dirk Niebel [FDP]: Er hat sich bei Ihnen da- für entschuldigt!) – Ich rede nicht mit Ihnen, sondern ich schildere jetzt die Situation von Siemens, einem Unternehmen, das auch Aber ich finde, dass er sehr viel Chuzpe bewiesen hat; Handys fertigt. Der Anteil der Lohnkosten bei der Ferti- denn das, was er Ihnen gesagt hat, entspricht genau dem, gung eines Handys schwankt inzwischen zwischenwas er sonst offen erklärt. Er erklärt: Wir leben im So- 2 Prozent und 6 Prozent der Fertigungskosten. Trotzdem zialismus, über 50 Prozent Staatsquote! Vergisst er, dass ist die Belegschaft hier erpresst worden: Bei Zugeständ- seine Partei diejenige ist, die die längste Zeit in dieser nissen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie bei der Republik an der Regierung war, und dass die Staatsquote Anhebung der Arbeitszeit könne die Fertigung dort wei- 1998, als die FDP aus der Regierung ausgeschieden ist, tere zwei Jahre gehalten werden. Der Belegschaft blieb bei 52 Prozent lag? Das sagt uns jemand, der die meiste nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Zeit seines Lebens in staatlichen, mit Steuermitteln fi- nanzierten Schulen und Hochschulen gelernt hat Das ist die Erpressungssituation. Wissen Sie, warum das zurzeit geradezu tödlich ist? Wir werden morgen (Dirk Niebel [FDP]: Sind Sie demnach auch über das Entsenderecht diskutieren. Dabei geht es um für Studiengebühren?) die Frage, wie sich Menschen verhalten müssen, für die und nun seit drei Legislaturperioden – finanziert mit es keine Tarifverträge gibt, und welche Konkurrenz- Steuergeld – Politikfunktionär ist. situation in unserem Land auftritt. Es geht nicht darum, ob weitere Zuwanderung gewollt ist; wenn Ihr Vorhaben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verwirklicht wird, dann wird dies zur Basis in Deutsch- DIE GRÜNEN) land. Da verstehe ich die Menschen, die sagen: Mit vollen Ho- Werfen Sie einen Blick in die Bereiche in Ostdeutsch- sen ist gut stinken! land, in denen es schwache Strukturen gibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dirk Niebel [FDP]: Klassenkämpfer!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk 16416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Walter Riester (A) Niebel [FDP]: Was sind Sie denn hier: Politik- SPD habe „viele Positionen geräumt und wir sind heute (C) funktionär oder Abgeordneter? Eine Unver- schlauer als 1998 und 2002“. schämtheit! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Uns ist an einer guten, konstruktiven Zusammenarbeit Wenn ich als Minister so gescheitert wäre, gelegen. Es gibt eine Reihe von Meinungsverschieden- hätte ich den Mund nicht so voll genommen!) heiten. Eine davon nenne ich: Anders als Sie fordern wir betriebliche Bündnisse für Arbeit. Diese Bündnisse sind Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: umstritten. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir hier Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannesvorankommen und dass wir mehr Rechte auf die betrieb- Singhammer. liche Ebene verlagern. Sie selbst haben davon gespro- chen, dass dies teilweise mit großem Erfolg geschieht. Wir sollten übereinkommen, dass dieser Weg fortgesetzt Johannes Singhammer (CDU/CSU): wird. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Welches ist die wahre Plage in Deutschland? (Beifall bei der CDU/CSU) Die wahre Plage ist, dass – offiziell gemeldet – 5 Millio- In den Zusammenhang mit den sieben Plagen bibli- nen Arbeitsplätze in diesem Land fehlen und dass tat- schen Ausmaßes gehört die Geschichte von den sieben sächlich 8 Millionen Arbeitsplätze benötigt werden. Die fetten und den sieben mageren Jahren. wahre Plage ist, dass wir jeden Tag 1 000 sozialversiche- rungspflichtige Arbeitsplätze in Deutschland verlieren, (Dirk Niebel [FDP]: Die sieben mageren sind und zwar auch heute, am 12. Mai 2005. Die wahre Plage bald um!) in unserem Land ist, dass die rot-grüne Bundesregierung Angesichts der letzten fast sieben Jahre unter dieser rot- kein Rezept findet, um diesen Untergang von Arbeits- grünen Bundesregierung kann niemand in diesem Hohen plätzen nachhaltig zu stoppen. Hause behaupten, es seien sieben fette Jahre gewesen. Es waren für die Arbeitnehmer sieben magere Jahre; sie ha- Diese Aktuelle Stunde ist sicherlich überflüssig. Aber ben Einkommens- und Wohlstandsverluste hinnehmen auch in einer überflüssigen Aktuellen Stunde dürfen müssen. Selbstverständlichkeiten gesagt werden. Selbstverständ- lich haben die Gewerkschaften ihren Anteil am Wohl- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und stand in der Bundesrepublik Deutschland und ihrer der FDP) Geschichte. Selbstverständlich brauchen wir auch Funktionäre, genauso wie bei jedem anderen Verband. Wir wollen, dass für die Arbeitnehmer und für die Wirt- schaft sieben fette Jahre folgen. (B) Selbstverständlich wollen wir ernsthaft, gut und eng zu- (D) sammenarbeiten. Selbstverständlich gibt es auch Mei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nungsunterschiede.

Welches ist der Sinn dieser Aktuellen Stunde? Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wollen eigentlich das enge Verhältnis zwischen den Re- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Doris Barnett. gierungsfraktionen und dem DGB sowie ein eher distan- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Rüsten Sie ziertes Verhältnis zu den anderen Fraktionen im Deut- ab, gnädige Frau!) schen Bundestag demonstrieren. Nun wäre ich mir darin nicht so ganz sicher. Ich habe den Eindruck gewonnen, Doris Barnett (SPD): dass sich gerade die Regierungsfraktionen sehr plagen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – zumal in ihrem Verhältnis zum DGB –, als ich vor kur- Wir sind in der Tat an einer Art Scheideweg. Herr zem gelesen habe: DGB-Chef Sommer attackiert den Westerwelle hat zum letzten Gefecht aufgerufen: Er will Bundeskanzler. Schröder versuche, mit einer Mischung die Arbeitnehmerschaft in Deutschland endlich so kurz „aus Zuckerbrot und Peitsche Gunst und Ehre zu vertei- und klein schlagen, dass sie in sein Weltbild der Markt- len, Menschen unter Druckzu setzen“. So „Stern.de“ wirtschaft passt. Das ist bei ihm – nebenbei gesagt, auch vom 24. August 2004. Oder der Chef des DGB in seiner bei der CDU – die Ordnung der Freiheit. Rede zum 1. Mai 2005 in Mannheim: Es ist (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wer hat Ih- ein Unding, dass der Vorsitzende der größten Re- nen das aufgeschrieben?) gierungspartei … die inhumanen Auswüchse des Ellenbogenkapitalismus beim Namen nennt und der Deshalb steht für ihn und seine Partei die Freiheit über stellvertretende Parteivorsitzende und Wirtschafts- der Gleichheit. Die Gleichheit ist zwar im Grundgesetz minister dazu lapidar erklärt, die Kritik seines Vor- festgeschrieben; aber sie gilt für ihn eben nur vor dem sitzenden habe keinerlei Auswirkungen auf dasGesetz. Nach ihm herrscht in der Wirtschaft aber die konkrete Regierungshandeln. Freiheit und wer das nicht versteht, den muss man mit Gewalt zu seinem Glück zwingen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Diese Beglückung soll dann – wenn die FDP je wie- der in Regierungsverantwortung kommt – Schließlich – wieder „Stern.de“ vom 24. August 2004 – werde es mit ihm „keine Wahlauftritte, keine Wahlauf- (Dirk Niebel [FDP]: Das geht schneller, als Sie rufe und keine Wahlempfehlungen geben“. Denn die sich vorstellen können!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16417

Doris Barnett (A) durch die Zerschlagung der Gewerkschaften erfolgen. Für die FDP geht das wohl in Ordnung; denn schließ- (C) Die CDU/CSU soll da mitmachen und sie wird es wohl lich haben wir Marktwirtschaft und leben in der Ord- auch; denn außer einem Bekenntnis zur Gewerkschaft nung der Freiheit. Wer wagt, das als unsozial anzupran- als solcher haben wir keine wirkliche Distanzierung zu gern, wird als Plage in der Wertewelt der FDP Westerwelles Ausfällen gehört. abgestempelt. Ich sage: Wer so wie Herr Westerwelle ar- gumentiert, hat nicht nur eine verquere Wertewelt, der (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die Erde hat sich selbst als regierungsunfähig und -unwürdig dis- ist eine Scheibe!) qualifiziert. Die zerschlagenen Gewerkschaften müssen nach (Beifall bei der SPD) Westerwelles Lesart von ihren Hauptamtlichen befreit werden, weil sie die Arbeitnehmerschaft angeblich ver- Seine – angebliche – Neutralität stellt Herr raten mit ihren Tarifabschlüssen, die in der Fläche gelten Westerwelle und mit ihm die FDP her, indem sie nicht und somit auch den anständigen Mittelständler vor Dum- nur die hauptamtlichen Gewerkschafter, sondern auch pingkonkurrenz schützen. Offensichtlich ist es der FDP die Funktionäre der Unternehmensverbände abschaffen und den Arbeitgeberfunktionären lieber, die Tarifkon- wollen. Nun frage ich mich, wie zukünftig – das wurde flikte zukünftig in die Betriebe hineinzutragen; schließ- schon gesagt – Tarifvertragsverhandlungen zwischen lich können die Arbeitnehmer vor Ort und allein doch zwei Organisationen, die nur noch als leere Hüllen be- viel freier entscheiden. stehen würden, funktionieren sollen. Gar nicht! Das ist ja auch das Ziel. Dass das den Unternehmen wirklich nutzt, Die FDP ist bestimmt überzeugt, dass der einzelne bleibt die Behauptung von Herrn Westerwelle. Lassen freie Betriebsrat bzw. der einzelnefreie Arbeitnehmer wir es dabei. stark genug ist, seine berechtigten Forderungen auf den Tisch des Arbeitgebers zu legen und sie auch durchzu- Allerdings mache ich mir schon Gedanken darüber, setzen. Herr Westerwelle zweifelt sicherlich keine Se- welches Menschenbild und welche Menschenwürde in kunde daran, dass der Betriebsrat ebenso wie der ein-die Vorstellung von Freiheit von Herrn Westerwelle ge- zelne Mitarbeiter „im global agierenden Multi“ aufhören. Da prangert er an, dass die Gewerkschaften in den gleicher Augenhöhe mit seinem Chef verhandelt. unteren Lohngruppen prozentual bessere Lohnzuwächse erzielt haben. Nebenbei gesagt: Den gleichen Vorwurf Nun, von ausgeprägtem Realitätssinn bleibt die FDP gibt es in einer nicht unbedeutenden Rede vom 15. März in letzter Zeit sowieso verschont. Dafür hat sie das Zer- dieses Jahres. schlagungssyndrom befallen. Ich erinnere nur an die Zerschlagungsgelüste von Ihnen, Herr Niebel, bezüglich (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Frau Kol- der Bundesagentur für Arbeit. legin, merken Sie eigentlich, dass nicht mal (B) (D) Ihre eigenen Leute klatschen? – Gegenruf des (Dirk Niebel [FDP]: Auflösen!) Abg. Dirk Niebel [FDP]: Das ist das Benneter- Durch Regierungsabstinenz offensichtlich blackout- Niveau! Das gehört dazu!) geschädigt hat die FDP vergessen, welche Kraftanstren- In der Ordnung der Freiheit scheint der Mensch nur gungen die Gewerkschaften und ihre Repräsentanten in als Kostenfaktor betrachtet zu werden, weil Vertragsfrei- den Jahren seit Kriegsende geschultert haben, um dieses heit, Wettbewerb, offene Märkte, freie Preisbildung Land nach vorne und zu Wohlstand zu bringen: vom wichtiger zu sein scheinen als Menschenwürde. Deshalb Strukturwandel über Mehrarbeit, betriebliche Bündnisse, passen auch die Gewerkschaften und ihre Vertreter, die Vorruhestand mit und ohne Wiederbesetzungsgarantie nicht nur Löhne und andere Arbeitsbedingungen bundes- bis hin zu Lohnzurückhaltung, Verzicht auf Urlaubsgeld, weit vereinbaren, nicht in dieses Bild. Weihnachtsgeld usw., und das alles, um Arbeitsplätze zu sichern, um Unternehmen vor der Insolvenz dank unfä- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja, Abschied higer Manager zu retten, nehmen ist schwer!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist unerträg- Kündigungsschutz, Tarifvertragsrecht, Mitbestimmung, lich!) Betriebsverfassung, Jugendschutz – das alles sind Stör- faktoren in dieser Ordnung der Freiheit. Spätestens da um den sozialen Frieden zu wahren, um als Investitions- bekommt die FDP auch kräftigen Beifall von der CDU/ standort attraktiv zu bleiben und um Ausbildungs- und CSU, Arbeitsplätze schaffen zu können. (Dirk Niebel [FDP]: Da haben Sie sich mal (Dirk Niebel [FDP]: Wer rettet das Land vor richtig Gedanken gemacht!) unfähigen rot-grünen Regierungen?) die das alles schon selbst aufgeschrieben hat. Leider ist es aber auch wahr, dass die ganzen Anstren- gungen von der anderen Tarifvertragsseite so gut wie Zu Recht haben unsere Altvorderen begriffen, welch nicht honoriert wurden: Arbeitsplätze wurden abgebaut; wichtige Rolle Gewerkschaften in einer Demokratie mit Ausbildungsplätze fallen weg bzw. werden nicht in aus- sozialer Marktwirtschaft spielen. Sie wären auch nie auf reichender Anzahl angeboten; Unternehmen verlagern die Idee gekommen, Gewerkschaften oder ihre Vertreter den Standort wegen kurzfristig höherer Gewinne. als Verräter der Arbeitnehmerschaft zu bezeichnen; im Gegenteil. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wer regiert denn hier, gnädige Frau?) Lassen Sie mich zum Schluss ein Zitat bringen: 16418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Doris Barnett (A) Ich halte es für sehr gefährlich, die großen Zusam- testamentarische Plage nun leider auch über den Deut-(C) menschlüsse der gesellschaftlichen Elemente alsschen Bundestag gebracht hat, hatte nur einen einzigen Vermassung, als anonyme Mächte, die den einzel- politischen Zweck, nämlich den, von der Arbeitsmarkt- nen manipulieren, zu bezeichnen. Es ist das grund- misere abzulenken, wie sie im Jahr sieben der Schröder- gesetzlich verbriefte Recht jedes Bürgers, die Ver- Regierung, der rot-grünen Regierung, besteht. tretung seiner Interessen einer Vereinigung seiner Wahl zu übertragen. Und das Urteil darüber, ob die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beauftragten Führer dieser Vereinigung mit ihren Es war ein Ablenkungsmanöver und ein kläglich ge- Aktionen die Interessen der Mitglieder vertreten, scheitertes dazu. kann man getrost den Vertretenen überlassen. Das ändert allerdings nichts daran – das sage ich bei So Bundespräsident Walter Scheel 1975. viel Übereinstimmung ansonsten, Herr Niebel –, dass die (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: „Hoch auf Art und Weise, in der Herr Westerwelle über die Ge- dem gelben Wagen“ sage ich nur!) werkschaften gesprochen hat, nach Form, Stil und Inhalt nicht akzeptabel war. Dem ist nichts hinzuzufügen, selbst 30 Jahre danach nicht. Ich sage noch einmal: Wir brauchen die Gewerk- schaften. hat einmal gesagt: Wenn wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sie nicht hätten, müssten wir sie erfinden. Recht hat er. DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben den Geschwindigkeitspreis gewon- Wir brauchen starke Gewerkschaften. Ich glaube, wir nen! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Es brauchen diese starken Gewerkschaften in einer europäi- stellt sich schon die Frage, wer hier regiert!) sierten und globalisierten Welt mehr denn je. Wir brau- chen sie in der offenen Gesellschaft so notwendig, wie wir die Verbände der Wirtschaft, die Arbeitgeberver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bände, brauchen. Die Gewerkschaften sollen und müssen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerald Weiß. – das ist wohl wichtiger als jemals zuvor – die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten – die Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nicht parteipolitische Interessen; das muss man aller- Herren! Ich bin eigentlich an dieses Rednerpult getreten, dings manchen Gewerkschaftlern auch ins Stammbuch um den Kollegen Westerwelle in dem konkreten Punkt schreiben. der Gewerkschaftsschelte – bei ansonsten viel Überein- (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) stimmung – maßvoll zu kritisieren. Frau Barnett, ange- neten der FDP) sichts dessen, wie Sie hier als Münteferings Maschinen- gewehr aufgetreten sind, Schauen wir uns einmal an, wie viele Streiktage wir in Deutschland hatten: im Zeitraum von 1993 bis 2002 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- im Durchschnitt pro 1 000 Beschäftigte fünf Arbeits- wie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] – tage. Im Vergleich dazu waren es in Großbritannien Unruhe bei der SPD) 25 Arbeitstage, in den Vereinigten Staaten 45 Tage, in die Intentionen der FDP und des Vorsitzenden der FDP Frankreich 92 Tage. Da muss man doch sagen, das Mo- dargestellt haben und gesagt haben: „Man will die Zer- dell der entwickelten Sozialpartnerschaft in der Bundes- schlagung der Gewerkschaften; man will die Tarifauto- republik Deutschland ist gelungen. Das zeigt sich gerade nomie zerstören“, muss ich aber zunächst feststellen:an diesen Benchmarkwerten, dass wir uns hier sehen las- Das war so starker Tobak, dass es ans Verleumderische sen können. grenzt. Was Sie ausgeführt haben, muss man wirklich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zurückweisen. Herr Staffelt hat vorhin auf Opel in meiner Heimat- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stadt Rüsselsheim hingewiesen. Da ist es doch nicht nur Wenn man im Interesse größerer Dezentralisierung zusammen mit den Betriebsräten – das war ein wahres und Flexibilisierung, die diese Volkswirtschaft, dieseCo-Management, ein modernes Management –, sondern Wirtschaftsgesellschaft brauchen, betriebliche Bünd-auch im engstem Schulterschluss mit den Gewerkschaf- nisse für Arbeit will, wenn man dafür bei Aufrechterhal- ten gelungen, Erhebliches zur Sicherung und Schaffung tung der Schutzrechte für die Arbeitnehmerinnen und die von Arbeitsplätzen beizutragen. Arbeitnehmer und der Tarifautonomie, die wir brauchen, (Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) gewisse Regeln will, dann legt man doch nicht die Axt an die Grundlagen dieses Sozialstaats. Was Sie darge- Das war nicht nur das Werk der Betriebsräte, sondern stellt haben, war wirklich sehr überzogen, Frau Kollegin. auch das Werk der Gewerkschaften. Das diente nicht der Klarstellung politischer Positionen. Das war, glaube ich, auch nicht die Absicht und nicht die Man muss noch eines zu Herrn Westerwelle sagen: Funktion dieser Debatte. Die Leute an der Spitze der Gewerkschaften wie Frank Bsirske und Ursula Engelen-Kefer haben sich nicht an Diese Debatte, die den Wettbewerb in der polemi-die Spitze geputscht, sondern sind in ihr Amt gewählt schen Überbietung in Sachen Heuschrecken wie eine alt- worden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16419

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) (Beifall des Abg. Dr. Rainer Wend [SPD] – in einer schwierigen Situation befand, übernommen,(C) Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sind die nach fünf bis acht Jahren, als es am Markt wieder besser wirklich gewählt worden?) positioniert war, wieder veräußert, damit Arbeitsplätze gerettet bzw. sogar noch geschaffen. Eine solche Vorge- Auch wenn man manche Aussagen und gewisse politi- hensweise kann – das will ich mit aller Deutlichkeit sa- sche Inhalte in den Programmen der Gewerkschaftengen – durchaus vernünftig sein. kritisieren muss, darf es nicht dazu kommen, dass diese Kritik in persönliche Hetze ausartet. Das gilt aber natür- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei lich wechselseitig: im Verhältnis der Politik zu den Ge- der CDU/CSU und der FDP) werkschaften wie auch der Gewerkschaften zur Politik. Es gibt aber auch eine andere Seite: Dieser Frage wei- Die Art und Weise, Frau Barnett, wie Sie eben heuschre- chen Sie aus. Ich werde sehr konkret und nenne die ckenartig über Herrn Westerwelle hergezogen sind, Firma Grohe. Die Firma Grohe, Hersteller von Sanitär- (Doris Barnett [SPD]: Na, na!) installationen – Sie kennen sie alle –, wurde im letzten Herbst zum zweiten Mal von Finanzinvestoren über- ist nicht anders als persönliche Hetze zu bezeichnen. Das nommen. Sie haben als Erstes McKinsey eingesetzt ist nicht zu akzeptieren und nicht zu vertreten. Das muss – das ist modern und üblich – und Folgendes festgestellt: man wirklich sagen. Grohe hat eine Gewinnmarge von 20,8 Prozent. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reichte den neuen Eigentümern nicht; sie hätten gerne 28 Prozent Gewinnmarge gehabt. Um diese zu erreichen, Wir sollten die persönliche Integrität und die Lauterkeit um kurzfristig statt 20,8 Prozent Rendite 28 Prozent zu der Motive – haben, müssen Tausende von Arbeitsplätzen in Deutsch- land abgebaut und verlagert werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: An der Stelle sage ich: Diese Auswüchse des Kapita- Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit! lismus, die ausschließlicheFixierung auf kurzfristige Gewinne, sind wir nicht bereit zu akzeptieren. Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – wechselseitig nicht infrage stellen. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Karl-Josef Insbesondere sollten wir uns wieder um die Haupt- Laumann [CDU/CSU]) frage kümmern. Hauptproblem sind nicht die Heuschre- Das ist die Debatte, die wir führen; da werden Sie nicht cken auf dieser oder jener Seite des Arbeitsmarktes, son- ausweichen können. Das ist keine pauschale Kritik, son- dern die Hauptsache ist die Bekämpfung der elendendern eine sehr konkrete Kritik bezüglich der Auswüchse. (B) (D) Arbeitslosigkeit in Deutschland. In diesem Bereich wa- Alles andere ist hochwillkommen. ren Sie extrem erfolglos. Diesen Misserfolg versuchen Sie deshalb durch solche Debatten wie heute zu bemän- Die Gewerkschaften: Meine Damen und Herren, ich teln. bin ganz sicher, dass sich die, die auf der linken Seite in diesem Raum sitzen, über die Gewerkschaften teilweise Herzlichen Dank. mehr geärgert haben als Sie; denn wenn die eigenen Freunde einen hart und, wie ich finde, oft auch ungerecht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – kritisieren und Dinge tun, die nicht akzeptabel sind Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ablenkung – darüber ist hier schon gesprochen worden –, dann trifft und Nebelkerzen bei der SPD!) einen das am meisten. Darüber muss man kritisch disku- tieren. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Wend. Aber wir diskutieren heute über etwas viel Grundsätz- licheres, Herr Niebel, und das werfe ich Ihnen vor. Sie waren so freundlich, eben an diesem Pult zu sagen, es Dr. Rainer Wend (SPD): gehe nicht nur um bestimmte Funktionäre; auch dazu ist Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser schon etwas gesagt worden. Sie haben gesagt – ich habe Partei- und Fraktionsvorsitzender, Franz Müntefering, es mir extra aufgeschrieben –: Wir wollen die Verbän- wurde mehrfach angesprochen. demacht, wenn wir an die Regierung kommen, beschrän- ken. Es geht also doch um die Verbände, die Gewerk- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist er schaften, die Arbeitgeberverbände. Damit diskutieren eigentlich?) wir über etwas Konstitutives, was unsere Nachkriegs- Ich möchte zu dieser Thematik zwei Sätze vorab sagen, ordnung und unsere Verfassung betrifft. weil ich davon ausgehe, dass Sie inzwischen ein gewis- Ich möchte aus dem Grundgesetzkommentar von ses Differenzierungsvermögen besitzen. Es geht um Fol- Maunz-Dürig-Herzog-Scholz – alle bekanntlich keine gendes: Mit ihm stimme ich völlig in der Auffassungder Sozialdemokratie nahe stehenden Verfassungsrecht- überein, dass wir privates Beteiligungskapital, übrigens ler und Politiker – zitieren. Dort heißt es: auch von Kapitalbeteiligungsgesellschaften – die Frage, ob aus dem Inland oder dem Ausland, ist dabei völlig Denn das Grundgesetz betraut Gewerkschaften und gleichgültig –, in Deutschland nicht nur gut gebrauchen Arbeitgeberverbände … mit zentralen Zuständig- können, sondern sogar froh sein können, wenn sie hier keiten innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsord- investieren. Sie haben manches Unternehmen, das sich nung sowie der rechtlichen Arbeitsverfassung. 16420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dr. Rainer Wend (A) Weiter: gesichertheit und Sicherheit stellt sich neu. Unser(C) Problem scheint mir mit zu sein, dass die Gewerk- Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit dient … der schaften und ihre prägenden Meinungsträger eher Aufgabe, im Verein mit dem sozialen Gegenspieler aus Normalarbeitsverhältnissen kommen und sich das Arbeitsleben zu ordnen und zu befrieden. mit der Gestaltung dieser neuen Arbeitsverhältnisse Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben durch schwer tun. Die existieren aber. Deswegen hat es die Verfassung den Auftrag erhalten, unser Arbeitsleben keinen Zweck, sentimental an dem Vertrauten fest- zu ordnen und zu befrieden. zuhalten. Man muss den Blick auf die Zukunft der Arbeitswelt richten. Sie gilt es im Interesse der Be- (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schäftigten zu gestalten und zu zivilisieren. ... Wir Genau!) müssen bereit sein, auf die vielfältige Arbeitswelt Deswegen kann es vernünftigerweise nicht Ziel sein, den zu reagieren und differenzierte Antworten zu ge- Einfluss dieser Verbände zu beschränken, sondern wir ben. müssen das Ziel haben, diese Verbände stark zu halten, damit sie unser Arbeitsleben auch in Zukunft ordnen und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: befrieden. Eine verfassungsrechtliche Aufgabe, zu der Herr Kollege! wir stehen, meine Damen und Herren! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Rainer Wend (SPD): DIE GRÜNEN) „Differenzierte Antworten“ ist richtig. Wenn Sie bei Mein Vorwurf an Sie ist, dass Sie diese Dimension den differenzierten Antworten auf schwierige Fragen so der Rolle der Verbände, der Gewerkschaften und der Ar- weit wären wie die IG Metall und ihr stellvertretender beitgeberverbände, bei der Befriedung unserer Gesell- Vorsitzender, wären wir alle ein Stück weiter. schaft nicht verstehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber es ist noch mehr. Ich darf noch ein Zitat bringen, DIE GRÜNEN) Herr Niebel: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die aus der Kritik des kapitalistischen Systems ent- Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. sprungene Arbeiterbewegung und die zunächst von liberaldemokratischer wie später von sozialdemo- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c sowie kratischer Seite initiierte Gewerkschaftsbewegung Zusatzpunkte 5 und 6 auf: hat das … Verdienst, die Perversion des kapitalisti- 6 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (B) schen Systems nicht nur aufgehalten, sondern in (D) einen evolutionären Prozess der ständigen Steige- gierung rung … umgekehrt zu haben. Arbeitsschutzgesetz- Bericht der Bundesregierung über die Lage gebung, Arbeitslosenversicherung, Lohnvereinba- behinderter Menschen und die Entwicklung rung der Sozialpartner und … Mitbestimmung des ihrer Teilhabe Arbeitnehmers sind die Stadien dieser stetigen Sys- temreform. – Drucksache 15/4575 – Überweisungsvorschlag: Freiburger Thesen der FDP von 1971, Herr Niebel. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Innenausschuss (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Sportausschuss BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Rechtsausschuss Niebel [FDP]: Völlig richtig!) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Deswegen behaupte ich: Sie sind nicht nur dabei, so- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zusagen Säulen unserer Verfassung infrage zu stellen, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sondern Sie entkleiden sich an der Stelle auch Ihrer eige- Ausschuss für Bildung, Forschung und nen Geschichte, Herr Niebel. Das ist etwas, worüber Sie Technikfolgenabschätzung noch einmal ganz in Ruhe nachdenken sollten. Ausschuss für Tourismus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje DIE GRÜNEN) Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Die Gewerkschaften – ich sage es noch einmal – ma- CSU chen es einem nicht immer ganz leicht. Gleichwohl ist, wie ich finde, eine Menge Bewegung eingetreten. Des- Teilhabe von Menschen mit Behinderungen wegen zum Abschluss noch ein Zitat, diesmal von am öffentlichen Leben konsequent sichern Berthold Huber, dem stellvertretenden Vorsitzenden der – Drucksache 15/4927 – IG Metall. Ich zitiere: Überweisungsvorschlag: Die IG Metall hat sich Mitte der 80er Jahre gegen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Leiharbeit und Befristungen gewandt, weil sie der Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Erosion der so genannten Normalarbeitsverhält- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nisse entgegentreten wollte. … Jetzt sind wir 15, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 20 Jahre weiter und die Frage von Flexibilität, Un- Ausschuss für Tourismus Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16421

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje an Aktualität verloren. Er beschreibt die Politik für Men- (C) Blumenthal, Hubert Hüppe, Andreas Storm, wei- schen mit Behinderung in den letzten Jahren und zeigt terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ deutlich, dass es seit 1998 in einem erheblichen Umfang CSU neue Grundlagen für die Politik für Menschen mit Be- hinderung gegeben hat. Sexuelle Übergriffe gegen Menschen mit Be- hinderung wirksam unterbinden und Hilfsan- Gemeinsam mit Organisationen und Verbänden der gebote für Betroffene verbessern Behinderten sowie mit Selbsthilfegruppen hat der – Drucksache 15/4928 – Gesetzgeber – in vielen Bereichen mit breiter Zustim- mung dieses Hauses – einen Paradigmenwechsel vollzo- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) gen: weg von der allumfassenden Fürsorge und hin zu Rechtsausschuss einer Politik, die mehr Selbstbestimmung und Eigenver- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend antwortung fördert und die die Möglichkeiten schafft, Ausschuss für Bildung, Forschung und dass Behinderte besser in die Gesellschaft integriert wer- Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus den. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn wir die behinderten Menschen dabei unterstützen, Barrieren ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPDaus dem Weg zu räumen, und wenn wir ihnen helfen, ihr und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu ge- Die Erfolge in der Politik für behinderte Men- stalten. Dies waren im Kern gute Reformentscheidun- schen nutzen – Teilhabe und Selbstbestim-gen. Der Paradigmenwechsel war richtig und wichtig. mung weiter stärken Aber es bleibt eine ständige Aufgabe von uns allen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Ziele er- – Drucksache 15/5463 – reicht werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Innenausschuss DIE GRÜNEN sowie des Abg. Daniel Bahr Sportausschuss [Münster] [FDP]) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Grundstein war und ist dasSGB IX mit einem bür- Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gernahen Rehabilitations- und Teilhaberecht, mit der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Einführung gemeinsamer Servicestellen, mit kürzeren Ausschuss für Bildung, Forschung und Bearbeitungsfristen, mit der Verhinderung von Mehr- Technikfolgenabschätzung (B) fachbegutachtungen, mit dem Auftrag an die Rehabilita- (D) Ausschuss für Tourismus tionsträger, gemeinsame Empfehlungen zu verabschie- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel den, und mit der Einführung des persönlichen Budgets. Bahr (Münster), Dr. Karl Addicks, RainerLetzten Endes geht es um die Zusammenarbeit aller Be- Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion teiligten. Denn die gesetzlichen Regelungen sind das der FDP eine. Sie aber im täglichen Leben umzusetzen und dafür zu sorgen, dass entsprechend dem Willen des Gesetzge- Diskriminierung von Menschen mit Behinde- bers vor Ort gehandelt wird, ist die Aufgabe von uns al- rung beim Fahrkarten- und Ticketkauf ver- len. hindern – Teilhabe ermöglichen – Drucksache 15/5460 – Natürlich gibt es Probleme bei der Umsetzung. Natür- lich gibt es ein Beharrungsvermögen – auch im Behör- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) denbereich –, weil der eine oder andere die Umstellung Rechtsausschuss nicht will. Wir müssen den Verantwortlichen klar Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit machen, dass es darum geht, eigenständigen Persönlich- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend keiten zu helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen finden und ein selbstständiges Leben zu führen. Wir Ausschuss für Tourismus müssen auch mithelfen, vorhandene Barrieren Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die einzureißen – nicht nur Barrieren im Alltag, sondern Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen manchmal auch Barrieren in den Köpfen. Widerspruch. Dann ist so beschlossen. An dieser Stelle ist es notwendig, darauf hinzuweisen, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dass der Gesetzgeber und die Bundesregierung eine der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes. Vielzahl von Brücken geschaffen haben, die es den Men- schen ermöglichen, den Weg in Richtung eines selbstbe- Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- stimmten Lebens zu gehen. Neben dem SGB IX gibt es ministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undSchwerbehinderter, das Gesetz zur Förderung der Aus- Herren! Wir beraten heute den Bericht der Bundesregie- bildung und Beschäftigung schwerbehinderter Men- rung über die Lage behinderter Menschen und die Ent- schen und das Behindertengleichstellungsgesetz, das wir wicklung ihrer Teilhabe. Der Bericht ist im Dezember gemeinsam geschaffen haben und das die Barrierefrei- des letzten Jahres vorgelegt worden. Aber er hat nichts heit gewährleisten soll. 16422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) Mit diesen Gesetzen und Regelungen wurden die Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) bände und Organisationen der Behinderten – ich will in DIE GRÜNEN) diesem Zusammenhang auf drei Punkte hinweisen – viel stärker in den Gesetzgebungsprozess und in die Umset- Wir haben dazu beigetragen, dass die Pflichtleistungen zung einbezogen. Ich erinnere an die Vorbereitung ge- zur beruflichen Rehabilitation von 1999 bis 2004 um meinsamer Empfehlungen, an die Arbeit der gemeinsa- 40 Prozent gestiegen sind. Dieser Kurs wird heute mit men Servicestellen, an verbesserte Anhörungsrechte und einem Volumen von 2,7 Milliarden Euro fortgesetzt, an die zusätzliche Beteiligung im Gemeinsamen Bun- wenn es darum geht, Maßnahmen zur beruflichen Reha- desausschuss, als es um die Modernisierung des Gesund- bilitation zu finanzieren. heitswesens ging, sowie die Stärkung der Schwerbehin- Die Initiative „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ dertenvertretung in den Betrieben. Ferner sind in diesem war nicht ohne Erfolg. Sie war von der Gemeinsamkeit Zusammenhang der Beirat für Teilhabe von behinderten der Wirtschaft, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften Menschen und der Behindertenbeauftragte der Bundes- geprägt, zu handeln. Genau diesen Kurs setzen wir jetzt regierung zu nennen. fort, wenn es darum geht, jungen Menschen und Schwer- Das SGB IX hat mit dazu beigetragen, dass die Mög- behinderten eine Möglichkeit zur Integration in das Ar- lichkeiten, die die Leistungen zur Teilhabe bieten, mit- beitsleben zu verschaffen. hilfe des persönlichen Budgets erheblich verbessert wor- Wir haben vor einiger Zeit im Rahmen unserer Job- den sind. Das gibt den Menschen die Chance, initiative die „Jobs ohne Barrieren“, die wir gemeinsam Leistungen, die sie bislang sehr kompakt bekommen ha- mit den Behindertenverbänden, den Gewerkschaften, der ben – ich nenne beispielsweise eine ambulante, teilsta- Wirtschaft und den Unternehmen ergriffen haben – orga- tionäre oder stationäre Unterbringung in einer Einrich- nisiert vom Unternehmensforum, also einem Zusam- tung –, nun eigenverantwortlich in Anspruch zu nehmen. menschluss von Unternehmen in Frankfurt –, eine Ver- Damit erhalten sie mehr Autonomie und können dieanstaltung durchgeführt. Dabei hat es mich sehr Hilfe nach ihren persönlichen Wünschen gestalten. Auch beeindruckt, wie uns ein Besitzer eines kleinen Unter- das ist Teilhabe, auch das ist Eigenverantwortung, auch nehmens im EDV-Bereich erklärt hat, wie ein blinder das ist mehr Integration. junger Mensch in diesem Unternehmen zum EDV-Kauf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mann bzw. Programmierer ausgebildet wird. Es war fas- DIE GRÜNEN) zinierend, zu erleben, wie jemand, der blind ist, einen Laptop bedient. Das, was wir mit den Augen sehen, sieht Wir haben für diesen Fall 16 Modellregionen vorge- er mithilfe technischer Unterstützung. Bei ihm sind be- sehen. Modelle brauchen wir aber nicht mehr, wenn es stimmte Kompetenzen durch andere Sinneswahrneh- (B) darum geht, mehr Arbeit für Menschen mit Behinde- mungen stärker ausgebildet. Da beweist sich: Er ist für (D) rungen zu schaffen. Denn dabei geht es im Kern um die diesen Beruf, für diese Ausbildung geeignet. Einstellung, und zwar nicht nur um die Einstellung an sich, sondern auch um die Einstellung in den Köpfen. Diese Beispiele weiterzuführen und deutlich zu ma- chen, dass das geht, ist ein wesentliches Ziel dieser Ini- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tiative. Es geht darum, mit daran zu arbeiten, dass Unter- DIE GRÜNEN) nehmen und Personalverantwortliche dies wahrnehmen und den Menschen eine Chance geben, sich entspre- Wenn es darum geht, jemanden zu beschäftigen, darf die chend ihren Fähigkeiten in die Arbeitswelt einzubringen Frage nicht lauten: Behindert oder nicht behindert? Die und die Brücken, die wir gebaut haben, zu nutzen, um in Frage muss vielmehr lauten: Geeignet oder nicht geeig- Arbeit und Beschäftigung zu kommen. net? Wir haben mit der Initiative „Jobs ohne Barrieren“ An dieser Stelle will ich an die guten Ergebnisse erin- mit dazu beigetragen, dass sich nun eine Vielzahl von nern, die wir gemeinsam errungen haben: Die Arbeitslo- Unternehmen an Projekten und Initiativen beteiligt, mit sigkeit konnte im Zeitraum von 1998 bis 2003 um gut denen vor Ort Beispiele praktischer Beschäftigung und 13 Prozent gesenkt werden. Ausbildung geschaffen werden. Die 90 000 Broschüren, (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Und heute? – Daniel die wir hergestellt haben, sind mittlerweile abgerufen Bahr [Münster] [FDP]: Und danach?) worden. Diese gezielte Information, dieser Abbau von Vorurteilen und teilweise von Berührungsängsten tragen – Danach ist sie wie in anderen Bereichen auch gestie- dazu bei, die Beschäftigungsmöglichkeiten für Men- gen. schen, die Behinderungen haben, erheblich zu verbes- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Deutlich!) sern. Das stellt uns überhaupt nicht zufrieden. Aber es geht nicht allein darum, Gesetze zu verab- schieden, sondern auch darum, dass die Gesetze vor Ort Deswegen haben wir bei den Mitteln zur Integration mit Leben erfüllt werden müssen. Deswegen ist es wich- in Beschäftigung auch nicht nachgelassen. Wir habentig, dass wir alle gemeinsam mit denjenigen, die vor Ort, von 1998 bis 2004 dazu beigetragen, dass die besonde- bei den Sozialhilfeträgern, in den Kommunen, in Verei- ren Leistungen und die allgemeinen Leistungen zur För- nen und Verbänden, im Familienbetrieb, im weltweit derung der Teilhabe an Arbeit bei der Bundesagentur für agierenden Konzern oder im Bürgeramt, Verantwortung Arbeit um 68 Prozent erhöht worden sind. tragen, daran arbeiten, dass auf die Pfeiler, die wir hier Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16423

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) setzen, Brücken kommen, die den Menschen den Über- desgleichstellungsgesetz haben wir gemeinsam im Bun- (C) gang zur Teilhabe an Arbeit und zur Teilhabe am Leben destag beschlossen. in der Gesellschaft ermöglichen. (Erika Lotz [SPD]: Jawohl!) Ich bin fest davon überzeugt, dass der vorliegende Bericht und unsere Arbeit mit dazu beitragen können, Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich es gut dass dann, wenn wir dies vor Ort kooperativ umsetzen, finde, dass wir bei diesen Themen über die Fraktions- grenzen hinweg zusammenarbeiten. Es ist richtig, dass Chancengleichheit und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen nicht nur als Gesetzesziel formuliertwir diese Menschen vor Augen haben und ihnen in allen werden, sondern auch schrittweise in der Alltagspraxis Bereichen Chancengleichheit eröffnen wollen. Realität werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das größte Hindernis bei der Umsetzung dieses Ziels DIE GRÜNEN) – das müssen Sie nun einmal zugeben – ist allerdings die katastrophale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bundesregierung; denn sie trifft gerade die Benachteilig- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hubert Hüppe. ten am härtesten. Das zeigt wieder einmal, dass Wirt- schafts- und Sozialpolitik keine Gegensätze sind, son- dern einander bedingen. Ohne wirtschaftlichen Hubert Hüppe (CDU/CSU): Aufschwung, ohne mehr Beschäftigung wird es immer Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer ge- schwieriger, unser vergleichsweise immer noch gutes rade die Rede von Herrn Thönnes gehört und wer den Sozialsystem zu sichern und Menschen mit Behinderun- Bericht ausführlich gelesen hat, der müsste eigentlich gen in das Arbeitsleben zu integrieren. Deswegen müs- den Eindruck gewonnen haben: Alles ist gut; es gibtsen wir jedes, aber auch wirklich jedes Gesetz – das gilt noch ein paar Umsetzungsprobleme, ansonsten aber ist auch für das Antidiskriminierungsgesetz – daraufhin die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Le- prüfen, ob es zu mehr oder weniger Arbeitsplätzen führt. ben in der Gesellschaft gesichert. Das ist die entscheidende, auch soziale Frage. (Erika Lotz [SPD]: Nicht richtig zugehört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das hat der – Es gibt, wie gesagt, vielleicht noch ein paar Umset- Bundespräsident auch gesagt!) zungsprobleme. Der Bericht der Bundesregierung vermittelt die Wei- (B) Wer aber die Realität sieht, der weiß, dass sich die Si- gerung, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Na-(D) tuation für Menschen mit Behinderungen vor allem in türlich finden sich im SGB IX gute Ansätze. Deswegen der Arbeitswelt verschlechtert hat. Die Bundesregierung haben wir ihm im Jahr 2001 zugestimmt. Heute aber, spricht in ihrem Bericht von einem modernen und leis- vier Jahre später, muss festgestellt werden, dass die Um- tungsfähigen System der Teilhabe, von Chancengleich- setzung in vielen Bereichen nicht gelungen ist. So heit und sozialer Integration, von der Eröffnung berufli- spricht die Bundesregierung – Herr Thönnes hat dies cher Perspektiven für behinderte Menschen und vonauch getan – gleich auf der ersten Seite ihres Berichts freier Selbstbestimmung. Rot-Grün beschwört immervon den eingerichteten so genannten gemeinsamen Ser- wieder – Herr Thönnes hat das gerade wieder getan –vicestellen, die zwischen den verschiedenen Reha-Trä- den so genannten Paradigmenwechsel. Abgesehen da- gern vermitteln und so den behinderten Antragstellern zu von, dass wir uns vielleicht einmal die Einfachsprache einem schnelleren Verfahren verhelfen sollen. Wer aber angewöhnen sollten, können angesichts der realen Situa- in der Anlage des Berichts die Zusammenfassung über tion viele Menschen dieses Wort nicht mehr hören und die wissenschaftliche Begleitforschung zur Einrichtung empfinden es eher als Hohn. dieser Stellen liest, muss eine ernüchternde Bilanz zie- Wenn ich mit den Betroffenen spreche, stellt sich mir hen. Die Studie beweist, dass diese Stellen kaum be- ein dramatisches Bild dar: Immer mehr Menschen mit kannt sind und deswegen auch kaum genutzt werden. Behinderungen haben keinen Arbeitsplatz. SelbstMehr als die Hälfte der Servicestellen, die geantwortet Rechtsansprüche werden vor Ort nicht eingelöst, weil haben, hatte im Jahr 2003 – im ganzen Jahr 2003! – we- kein Geld vorhanden ist. niger als 13 Beratungsfälle. Da 30 Prozent der Service- stellen gar nicht geantwortet haben, muss laut der Studie (Zuruf von der SPD: Stimmt nicht!) im schlimmsten Fall davon ausgegangen werden, dass fast ein Drittel gar keinen Fall hatte. Was nutzt es, wenn Eltern mit behinderten Kindern haben Angst vor der Zu- im Bericht stolz darauf verwiesen wird, dass fast in allen kunft. Die medizinische und pflegerische Versorgung be- Kreisen Deutschlands Servicestellen eingerichtet wur- kommt immer mehr Risse, die nur notdürftig gekittetden, aber keiner weiß, dass es diese überhaupt gibt? werden. Einrichtungen der Behindertenhilfe kämpfen um ihre Standards und um ihre Existenz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir heute über die gesellschaftliche Teilnahme Ein weiteres Beispiel für die mangelhafte Umsetzung von Menschen mit Behinderungen sprechen, dann unter- der Regelungen des SGB IX ist die Frühförderung von scheiden wir uns in diesemHause nicht im Ziel. Viele Kindern. Der Frühförderung im Kindesalter muss aus gesetzliche Grundlagen wie das SGB IX und das Bun- meiner Sicht – ich glaube, da stimmen wir überein – die 16424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Hubert Hüppe (A) größte Bedeutung zukommen; denn je früher die Förde- denn, liebe Kollegin, inzwischen sind bereits fast zwei (C) rung von Kindern mit Beeinträchtigungen erfolgt, desto Jahre vergangen. Das bedeutet, dass viele Kinder, die ei- größer ist der Erfolg. gentlich einer Frühförderung bedurft hätten, heute schon in der Schule sind und deswegen leider Gottes vielleicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sogar auf eine Sonderschule gehen müssen. der SPD) Meine Damen und Herren, der größte Teil des Be- Deswegen wurde die Frühförderung als Komplexleis- richts der Bundesregierung beschäftigt sich – ich sage: tung in das SGB IX aufgenommen. Es ist aus meiner zu Recht – mit der Teilhabe behinderter Menschen am Sicht eine Katastrophe, wenn die Hilfe für Kinder zu Arbeitsleben. Dort heißt es – ich zitiere –: „Teilhabe am spät oder gar nicht einsetzt, weil sich die Kostenträger Arbeitsleben ist … von elementarer Bedeutung“ und ist nicht einigen können. „Grundlage für eine selbstbestimmte und gleichberech- (Zuruf von der SPD: Nordrhein-Westfalen hat tigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“. Dieser die erste Rahmenvereinbarung!) Aussage wird wohl jeder hier im Hause zustimmen; denn wer im Arbeitsbereich ausgesondert ist, wird – Ja, gleichzeitig müssen Sieaber auch sagen, dass in zwangsläufig auch in allen gesellschaftlichen Bereichen Nordrhein-Westfalen alle Mittel für die Frühförderung in wie Wohnen, Bildung, Kultur und Freizeit ausgesondert. den gegenwärtigen Haushalt eingestellt worden sind. (Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: „Ausgeson- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Hört! dert“? Na, na!) Hört!) Was dann in Ihrem Bericht erfolgt, ist allerdings eher Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. peinlich. Anstatt sich den aktuellen Problemen der (Erika Lotz [SPD]: Stellen Sie doch hier keine Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu stel- falschen Behauptungen auf!) len – das ist auch heute leider nicht erfolgt –, wird haupt- sächlich Selbstbeweihräucherung betrieben. Wer die Das ergibt sich aus der Antwort auf die Anfrage derWirklichkeit zur Kenntnis nehmen will, sollte nicht den CDU-Landtagsfraktion. Auf dieses Thema war ich vor- Bericht der Bundesregierung, sondern den Mikro- bereitet und bin dankbar, dass Sie es angesprochen ha- zensus 2003 des Statistischen Bundesamtes lesen. Ihm ben. kann man entnehmen, dass die Erwerbsquote erwerbsfä- higer Menschen mit Behinderungen wesentlich niedriger Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ist als die des Bevölkerungsdurchschnitts. Nur etwas Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des mehr als die Hälfte der behinderten Menschen zwischen (B) Kollegen Schmidbauer? 25 und 45 Jahren können ihren Lebensunterhalt durch(D) Erwerbstätigkeit finanzieren. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Anstatt diese Situation, die sich in den letzten zwei Gern. Jahren noch dramatisch zugespitzt hat, selbstkritisch zu hinterfragen, stellen Sie in Ihrem Bericht fest, dass die Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Bundesregierung sehr erfolgreich gewesen sei. Sie Herr Kollege Hüppe, ist Ihnen entgangen, dass dierühmt sich, den Trend der steigenden Arbeitslosigkeit Bundesregierung bei der Umsetzung hilfreich war, in- schwerbehinderter Menschen nicht nur gestoppt, son- dem sie in diesem Fall eine Rechtsverordnung auf den dern sogar umgekehrt zu haben. Sie schwärmt uns jetzt Weg gebracht hat, und ist Ihnen entgangen, dass es aus- seit Jahren – wie auch Herr Thönnes das gerade wieder gerechnet das Land Bayern war, das diese Rechtsverord- getan hat – von der Kampagne „50 000 Jobs für nung entkernt hat, damit sich ihre Wirkung ja nicht ent- Schwerbehinderte“ vor, durch die die Zahl arbeitsloser falten kann? Schwerbehinderter in der Zeit von Oktober 1999 bis Oktober 2002 um 24 Prozent gesenkt worden sei. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Ich muss die Bundesregierung wirklich einmal fra- Herr Schmidbauer, ich bin dankbar, dass Sie diesegen: Wie lange wollen Sie uns das eigentlich noch erzäh- Frage stellen. Tatsächlich ist die Frühförderungsverord- len? Sie mussten diese 24 Prozent erreichen – eigentlich nung seit dem 1. Juli 2003 in Kraft. Seitdem sind fast hätten Sie sogar 25 Prozent erreichen müssen –, weil Sie zwei Jahre vergangen. Wenn wir diesen Bereich gesetz- die Beschäftigungspflichtquote für Betriebe sonst nicht lich hätten regeln können, dann hätten die Kinder einen von 6 Prozent auf 5 Prozent hätten senken können. Anspruch auf Förderung und dann wüssten auch die Längst ist bewiesen, dass Sie in diesem gesamten Zeit- Kostenträger, was sie zu zahlen haben. raum keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen haben, sondern dass diese Zahlen einzig und allein durch Berei- (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Sagen Sie nigungen der Statistik entstanden sind. jetzt einmal etwas zu Ihrer Mehrheit im Bun- desrat!) (Erika Lotz [SPD]: Wo war denn Ihr Antrag?) Wir dürfen nicht noch länger warten; Das wird in Ihrem eigenen Bericht bewiesen. (Ute Kumpf [SPD]: Das ist eine Wischi- Warum diese statistische Zahl gesunken ist, steht dort waschi-Antwort!) nämlich: Die Abgänge aus der Statistik waren Abgänge Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16425

Hubert Hüppe (A) in die Nichterwerbstätigkeit. Das heißt, dass die Men- obwohl der Bedarf eher höher als niedriger ist. Die be-(C) schen in die Frührente gingen oder als Hausmann bzw. rufliche Reha im Rahmen von Hartz IV wird erst gar Hausfrau aus der Statistik herausfielen. Dieser Trendnicht betrieben. Bei den optierenden Gemeinden ist die stieg konsequent bis auf 62 Prozent der Abgänge. Von Lage noch völlig ungeklärt. 1998 bis 2003 – nur so weit reicht Ihr Bericht – stieg die (Erika Lotz [SPD]: Wer wollte denn die Op- Zahl der Abgänge in die Nichterwerbstätigkeit damit um tion?) 37 Prozent. Das, meine Damen und Herren, ist der „Er- folg“ der Bundesregierung. Werkstätten für behinderte Menschen schlagen Alarm, da zwar der Rechtsanspruch auf einen Werkstattplatz Interessanterweise gab es ausgerechnet im Stich-von der BA anerkannt wird, aber keine Kostenzusage für jahr 2002 einen sprunghaften Anstieg der Zahl der Be- dieses Jahr mehr erteilt wird. Es ist klar – und da stim- schäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen. Der men wir mit den Regierungsparteien überein –, dass be- Zuwachs an Werkstattmitarbeitern – hören Sie genau zu – rufliche Reha wirtschaftlich und effizient sein muss. ist 2002 mit über 25 000 Personen mehr als dreimal so Aber die BA hat nach eigenen Angaben ja nicht einmal hoch gewesen wie in den Vorjahren. Nach 2002 wurde – das steht auch in ihrem Bericht – gesicherte Erkennt- dieser Zuwachs nie wieder erreicht; Gleiches gilt übri- nisse über die Wirkung von Teilhabemaßnahmen. gens auch für die Berufsförderungsmaßnahmen. Ich halte es, nicht für richtig – weder volkswirtschaftlich Wir als CDU/CSU-Fraktion haben durch verschie- noch menschlich –, nur um diese Zahlen zur erreichen dene Initiativen versucht, hier zur Aufklärung beizutra- Menschen in Einrichtungen zu stecken, die eigentlich gen. Wir haben vor drei Wochen eine Kleine Anfrage ge- nicht dahin gehören. stellt, in der es um berufliche Teilhabe geht. Man hat für die Antwort um Fristverlängerung gebeten und diese ha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben wir auch erteilt: um eine Woche. Die Antwort sollte neten der FDP – Brunhilde Irber [SPD]: Woher gestern kommen. Noch gestern wurde mir mitgeteilt, sie wissen Sie denn das?) komme spät abends. Sie war auch spät abends nicht da. – Das sind die Zahlen von der Bundesarbeitsgemein-Ich habe heute Morgen noch einmal anrufen lassen: Sie schaft Werkstätten für behinderte Menschen; Sie können ist immer noch nicht da. sie gern von mir bekommen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nach der De- Die Kampagne war ein Strohfeuer, bei dem viel Geld batte erst! – Zuruf von der CDU/CSU: Un- verbrannt wurde, das wir heute dringend bräuchten. Ich möglich!) hoffe, dass die neue Aktion „Jobs ohne Barrieren“ nicht Man hat mir aber zugesichert: Zwei Stunden nach der (B) ebenso ein Strohfeuer wird. Heute steht die Bundesre- Debatte werden wir die Zahlen bekommen. Meine Da-(D) gierung im Bereich beruflicher Teilhabe für Menschen men und Herren, wer so lange Zeit braucht, nur damit mit Behinderung vor einem Scherbenhaufen: Mit über die Zahlen nicht mehr rechtzeitig zu dieser Debatte vor- 194 000 arbeitslosen Schwerbehinderten im April halten liegen, der hat etwas zu verschweigen. wir uns auf Rekordhöhe. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Was die berufliche Reha und die Vermittlung behin- derter Menschen angeht, ergibt sich ein katastrophales Unsere Kleine Anfrage zur Zukunft der beruflichen Bild: Zahlreiche Betroffene und Träger der beruflichen Ersteingliederung und Wiedereingliederung gesundheit- Reha haben sich an mich gewandt – ich weiß: an andere lich beeinträchtigter und behinderter Menschen hat ans Kollegen auch – und über Missstände informiert. DieLicht gebracht, dass die Bundesagentur für Arbeit die Kassen der Bundesagentur für Arbeit sind im Rehabe- Stellenzahl für Mitarbeiter im Rehabereich von 2003 auf reich leer, und das, obwohl noch nicht einmal ein halbes 2004 halbiert hat, und zwar nicht nur auf Bundesebene, Jahr vergangen ist. Der Vater eines behinderten Sohnes sondern auch auf Landesebene. Trotzdem geht die Bun- hat mir noch vor zwei Wochen gesagt, dass ihm die örtli- desregierung in ihrer Antwort davon aus, dass schon al- che Bewilligungsbehörde gesagt hat: Ja, sein Sohn habe les in Ordnung sei – ich zitiere –: zwar einen Rechtsanspruch auf einen Platz, aber im Ge- Die Bundesregierung geht davon aus, dass eine Er- setz stehe nicht, wann dieser erfüllt werden müsse. füllung der gesetzlichen Aufgaben auch im Bereich Meine Damen und Herren, das ist das zynische Ergebnis der Förderung der beruflichen Teilhabe behinderter der Politik der Bundesregierung. Menschen personell sichergestellt ist. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren, ich habe in verschiedenen NEN]: Ach! – Erika Lotz [SPD]: Ungeheuer- Podiumsdiskussionen erlebt, wie Kolleginnen und Kol- lich!) legen der SPD und der Bündnisgrünen so taten, als hät- – Das ist so. ten sie damit nichts zu tun (Erika Lotz [SPD]: Einfach nicht wahr!) Die Wirklichkeit ist: Eingliederungszuschüsse an Ar- beitgeber, die behinderte Menschen beschäftigen wollen, und als würden sie ja auch bedauern, dass das bei der BA werden kaum noch bewilligt. Integrationsprojekte und alles so falsch laufe. Aber so kommen Sie nicht davon. Firmen bangen um ihre Existenz. Träger von Berufsbil- Sowohl das Gesundheitsministerium als auch das Bun- dungs- und Berufsförderungswerken melden, dass im- deswirtschaftsministerium haben gemeinsam die Fach- mer weniger Anmeldungen von der BA getätigt werden, aufsicht über die BA. Wenn sogar Rechtsansprüche nicht 16426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Hubert Hüppe (A) erfüllt werden, dann reicht kein Lamentieren, dann reicht Vielen Dank. (C) auch kein Entschließungsantrag, sondern dann muss (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. endlich durchgegriffen werden, damit den Menschen ge- Daniel Bahr [Münster] [FDP]) holfen werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich möchte nun noch auf dasSchul- und Bildungs- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth. system eingehen. Auch ich bin der Meinung, dass wir hier mehr tun müssen, und zwar nicht erst in der Schule, Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sondern, wenn möglich, schon in den Tageseinrichtun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen für Kinder. Ich glaube, darin sind wir uns auch einig. Lieber Herr Hüppe, eigentlich wollte ich meine Rede ja Viel zu selten gibt es heute noch einen gemeinsamen Un- mit einem Loblieb auf das Sozialgesetzbuch IX begin- terricht und eine gemeinsame Erziehung von behinder- nen. Das, was Sie jetzt hier abgeliefert haben, und die ten und nicht behinderten Kindern. Ich glaube – das zei- Art, mit der Sie sämtliche Mängel, die ja unstreitig auch gen übrigens auch alle Studien –, dass viele Vorurteile in der Gesetzesumsetzung bestehen, abgebaut werden könnten, wenn behinderte Menschen (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Dann sprechen schon von klein auf mit nicht behinderten Menschen zu- Sie sie mal an!) sammenleben könnten. der Regierungskoalition und der Bundesregierung anlas- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gudrun ten wollen, bringt mich aber schon dazu, bereits zu Be- Schaich-Walch [SPD]: Sagen Sie das mal Ih- ginn der Rede mal zu schauen, wer von denjenigen, die ren Ländern, besonders Hessen!) das Gesetz umsetzen müssen, das überhaupt tut und wie – Ja, gut, wir können darüber reden. Sehen Sie sich die er es tut. Statistik an. Ihr Land ist da auch nicht viel besser. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Erika Lotz [SPD]: Wer regiert denn da?) und bei der SPD) – Ich meine, Nordrhein-Westfalen ist auch nicht viel bes- Schichten wir das mal Stück für Stück ab. ser. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Fangen wir mit (Lachen bei Abgeordneten der SPD) der BA an!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es nutzt doch– Nein, wir fangen mit dem Bundesland Bayern und der (B) nichts, dass wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen. Frühförderung, über die Sie geredet haben, an. – Wer hat (D) denn die Rechtsverordnung, die schließlich kommen (Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ musste, abgelehnt? Das war das Land Bayern, das von DIE GRÜNEN – Gudrun Schaich-Walch der CSU regiert wird. [SPD]: Unglaublich! – Erika Lotz [SPD]: Sie haben zehn Minuten nichts anderes gemacht! – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD) NEN]: Sie machen doch die Vorwürfe!) Schauen wir mal, wer noch in der Verantwortung – In dieser Frage, meine ich. – Wichtig ist doch, dass wir steht. Die überörtlichen Sozialhilfeträger stehen in der in Zukunft das verhindern, was in der Vergangenheit ge- Verantwortung, das mit umzusetzen. Darauf haben wir schehen ist, dass nämlich, so Ihr Bericht, die Zahl der nicht ohne weiteres einen direkten Zugriff. Wir haben Sonderschüler von 1994 bis 2002 um 12 Prozent gestie- mit dem Sozialgesetzbuch IX den gesetzlichen Rahmen gen ist. In meinem Wahlkreis Unna ist die Zahl umgeschaffen. Was macht jetzt etwa der Bezirk Schwaben 8 Prozent in einem Jahr gestiegen. Das dürfen wir ein- im Zuge der Änderung desBundessozialhilfegesetzes? fach nicht akzeptieren. Wir müssen zusehen, dass wir es Er streicht den Werkstattbeschäftigten das Mittagessen. gemeinsam schaffen, dass diese Kinder gemeinsam mit Das wäre auch ein Punkt. nicht behinderten Kindern leben und lernen können. (Erika Lotz [SPD]: Wo liegt Schwaben? – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das hat aber nichts mit Frühförderung zu tun!) Es gibt noch viele Punkte, die man erläutern könnte. Wir werden weiter mit Ihnen zusammenarbeiten. Zum Schauen wir uns mal Hessen an, das von der CDU re- Schluss bitte ich Sie aber einfach: Seien Sie wenigstens giert wird. Die Sozialministerin Lautenschläger stellt etwas selbstkritischer und kommen Sie nicht mit irgend- sich hin und sagt, die Optionskommunen hätten über- welchen Dingen, die Jahre zurückliegen; denn nicht das haupt nichts mit Reha zu tun. Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt. (Erika Lotz [SPD]: Ja! Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dabei muss man doch nur einmal im Gesetz nachlesen, Daniel Bahr [Münster] [FDP]) was da steht. Hessen ist eine rehafreie Zone. Wenn wir wieder dazu kommen, dann werden wir die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dinge gemeinsam anpacken, wie wir es in der Vergan- und bei der SPD – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: genheit auch getan haben. Reden Sie doch mal darüber, was die Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16427

Markus Kurth (A) regierung gemacht hat! Wir sprechen über den Bundesregierung offensichtlich auch nicht bereit ist, hier (C) Bericht der Bundesregierung!) nachzusteuern und die den Jugendlichen gesetzlich zu- stehenden Leistungen zu erbringen. Auch hier: Sie reden von Optionskommunen und versu- chen, uns als Regierungskoalition das aufs Butterbrot zu schmieren. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Rolf Stöckel [SPD]: Niedersachsen!) Mir ist natürlich bekannt, dass wir im Bereich der be- rufsvorbereitenden Maßnahmen sowie der Zuweisungen – Der Kollege Stöckel gibt das Stichwort Nieder-an Berufsbildungswerke und Berufsförderungswerke im sachsen. – Ich nenne als ein weiteres Beispiel das Blin- Moment Mängel auch bei derBundesagentur für dengeld in Niedersachsen und Thüringen. Auch das Arbeit zu verzeichnen haben. Dies streite ich überhaupt sind CDU-geführte Landesregierungen. nicht ab. Ich habe hier aber gerade von denOptions- kommunen geredet. Die Probleme speziell im Bereich Als ob das Ganze nicht genug wäre: Schauen wir uns der Berufsförderungswerke rühren daher, dass die Op- mal etwas an, was über denBundesrat, und zwar indi- tionskommunen keine Zuweisungen in diese Richtung rekt wiederum über die Bundesländer Bayern und Ba- mehr vornehmen. den-Württemberg kommt, nämlich das so genannte Kommunale Entlastungsgesetz. (Zuruf von der SPD: So ist es! – Widerspruch (Erika Lotz [SPD]: Hört! Hört!) bei der CDU/CSU) Was finden wir darin? Dort finden wir eine Finanzkraft- – Natürlich. Ich war erst in der letzten Woche beim Be- klausel, durch die die Leistungen für Menschen mit Be- rufsförderungswerk Dortmund, zu dessen Einzugsbe- hinderungen von der aktuellen Kassenlage abhängig ge- reich allein drei Kreise gehören, die optiert haben. Von macht werden sollen. ihnen kommen überhaupt keine Zuweisungen mehr. (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Die Bundesagentur für Arbeit steht, wie Sie wissen, Sauerei!) aufgrund der Arbeitsmarktreformen derzeit in einem schwierigen Umbauprozess. Auch wir kritisieren es Das sind der Hintergrund, vor dem das Ganze stattfindet, natürlich, wenn dort die Mittel, die für Eingliederung und die Orchestrierung. einzusetzen sind und die zum Teil aus der Ausgleichsab- gabe stammen, nicht zweckentsprechend verwandt wer- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den. Selbstverständlich kritisiere auch ich, wenn dort so getan wird, als reiche statt einer berufsvorbereitenden (B) Herr Kollege – – (D) Maßnahme eine Trainingsmaßnahme. Im Hinblick auf diese Kritik gehen wir doch Hand in Hand. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einen Moment. – Das müssten Sie auch mit erwäh- Aber die Bundesagentur für Arbeit ist schließlich ein nen, bevor es hier losgeht und Sie anfangen, alles zusam- Organ der Selbstverwaltung, wo je zu einem Drittel Ar- men, einschließlich der Schulpolitik, die Sie in der Föde- beitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesregierung, auch ralismuskommission doch so krampfhaft in den Händen das Bundeswirtschaftsministerium, sitzen. der Länder halten wollten, in den großen Sündensack der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen zu schip- (Erika Lotz [SPD]: Und Länder und pen. So läuft es nicht. Kommunen!) (Beifall bei der SPD) – Hier greife ich den Appell von Herrn Hüppe gern auf, dass wir auf diesem Gebiet möglichst gemeinsam poli- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tisch handeln müssen, damit die gesetzlichen Leistungen Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegenauch erbracht werden. Das ist ganz klar. Heiderich? Was das Land Hessen angeht, so agiert es nicht in der Weise, dass dort die Optionskommunen mit gutem Bei- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): spiel vorangingen. Wir haben ihnen ja noch gesondert Ja, gerne. Steuergelder zur Verfügung gestellt, damit in Hessen die Aufgabe der beruflichen Rehabilitation bewältigt wer- den kann. Jetzt behaupten Optionskommunen, dass sie Helmut Heiderich (CDU/CSU): dafür einfach kein Geld hätten. Herr Kollege Kurth, da Sie eben auf die Bundesländer Bezug genommen und das Land Hessen genannt haben, frage ich zurück, ob Ihnen bekannt ist, dass in Hessen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Bundesagentur für Arbeit und damit letztlich auch Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kolle- die verantwortliche Bundesregierung zurzeit nicht mehr gen Hüppe? in der Lage sind, für behinderte und benachteiligte Ju- gendliche die berufliche Ausbildung und Qualifizie- rung zu gewährleisten, und dass ausweislich der Ant- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): worten auf meine gestrigen Fragen hier im Plenum die Ja. 16428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ber verbessert. Weiterhin besteht die Möglichkeit, Ein- (C) Mit Blick auf unsere irrsinnig lange Tagesordnunggliederungszuschüsse bis zu 70 Prozent in Anspruch zu bitte ich die Kollegen, dann aber etwas zurückhaltend zu nehmen. Wenn das die BA nicht macht und diese Mög- sein. lichkeit nicht nutzt, dann ist das zu kritisieren. Aber wir als Gesetzgeber haben einen hervorragenden Rahmen Hubert Hüppe (CDU/CSU): geschaffen. Dann gibt es noch die Arbeitsassistenz, die Die Frage kann man auch mit Ja oder Nein beantwor- es vielen Menschen mit Behinderung überhaupt erst er- ten. möglicht, eine Arbeit aufzunehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und bei der SPD) Das geht meistens schief. An dieser Stelle darf auch das ganze Engagement der (Heiterkeit) Arbeitgeber gerade in Großbetrieben nicht verschwiegen werden. Das setzt sich mit der Kampagne „job – Jobs Hubert Hüppe (CDU/CSU): ohne Barrieren“ auch in den Betrieben des Mittelstandes Das glaube ich. – Ich will den Kollegen Kurth auch fort. Bemerkenswert ist auch der Boom derIntegra- gar nicht in seinem Bericht über die Länder unterbre-tionsbetriebe. Nach nur wenigen Jahren sind es jetzt chen, sondern ihn nur fragen, ob er zur Kenntnis nimmt, 500 Integrationsbetriebe mit 15 000 Beschäftigten, die dass die Finanzkraftklausel keine Idee der Länder ist, am ersten Arbeitsmarkt tätig sind. Das Instrument des gezielten finanziellen Nachteilsausgleichs für die Arbeit- (Erika Lotz [SPD]: Doch!) geber in solchen Integrationsprojekten hat sich derart be- sondern dass die Bundesregierung bereits im SGB XII währt, dass ich der Ansicht bin, man müsste einmal da- diese Finanzkraftklausel selbst eingeführt hat und dass rüber nachdenken, dies auch auf dem allgemeinen diese Klausel erst nach vielen Verhandlungen im Ver- Arbeitsmarkt anzuwenden. mittlungsausschuss herausgenommen worden ist. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Das ist über- All diese Anstrengungen, die auf diesen verschiede- haupt nicht wahr! – Zuruf von der CDU/CSU: nen Feldern gebündelt sind, verfolgen ein Ziel: Schluss Sagen Sie einfach Ja!) mit den Sonderwegen! So weit wie möglich soll mit dem Verstecken in Heimen, dem Verfrachten in Werkstätten Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): oder Sonderschulen Schluss sein, quasi mit der Existenz (B) Ich verstehe diese Darstellung nicht. Im SGB XII gibt einer Parallelgesellschaft, die sich de facto teilweise im- (D) es keine Finanzkraftklausel. Können wir uns darauf ver- mer noch behauptet. Das immer noch verkrampfte Ver- ständigen? Sie steht aber sehr wohl im Kommunalenhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und denjenigen, Entlastungsgesetz, das jetzt von den Ländern Baden-die die Mehrheitsgesellschaft als Behinderte bezeichnet, Württemberg und Bayern eingebracht worden ist. Das wird sich nicht ändern, wenn wir nicht auf dem Weg, den sind die Fakten, auf die wir uns doch wohl verständigen wir eingeschlagen haben, voranschreiten und Menschen können. mit psychischen, körperlichen und geistigen Beeinträch- (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Das sind alles tigungen oder Sinneseinschränkungen die Teilhabe am CDU- oder CSU-geführte Länder!) gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Nun möchte ich die mir verbleibende Redezeit dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nutzen, die Leuchttürme darzustellen, die im Gefolge sowie bei Abgeordneten der SPD) des SGB IX aufgewachsen sind. Man muss auch erwäh- Davon profitiert auch die Mehrheitsgesellschaft. nen, dass, obgleich noch viel zu tun ist, eine Menge erreicht worden ist: Wir haben eine Stärkung der ambu- Wir haben bereits weiter gehende Schritte eingeleitet, lanten Versorgungsstrukturen zu verzeichnen, die bei- etwa mit dem persönlichen Budget. Damit haben wir spielsweise vom Landschaftsverband Rheinland eine in entscheidende sozialpolitische Neuerung auf den vorbildlicher Weise umgesetzt werden. Dort gibt es mitt- Weg gebracht, die noch in der Modellphase steckt, aber lerweile fast flächendeckend Kontakt-, Koordinierungs- ab 2008 dann endlich einen Anspruch darauf darstellen und Beratungsstellen für Menschen mit geistiger Behin- wird, dass Menschen die verschiedenen Einzelleistungen derung, die diese gezielt auf das Leben in der eigenen als ein Budget erhalten d un sich als Arbeitgeber die Wohnung statt im Heim vorbereiten und ihnen bei der Dienstleistungen einkaufen können, die sie brauchen, Wohnungssuche, aber auch bei Verrichtungen des tägli- und zwar in der Zusammensetzung, die sie für sinnvoll chen Lebens helfen. Wir haben die Möglichkeit der per- halten. Dieses persönliche Budget wird auch einen ganz sönlichen Assistenz geschaffen. neuen Markt an ambulanten Dienstleistungen hervor- bringen und dazu führen, dass der Kostenanstieg bei der Trotz der Defizite, die Sie angesprochen haben, gehö- Eingliederungshilfe gedämpft wird. ren zu den Leuchttürmen zweifellos auch die Instru- mente zur Verbesserung der Integration in den Arbeits- Im Zusammenhang mit dem persönlichen Budget markt. Wir haben die Informationsfachdienste mit dem muss ich am Schluss noch einen Kritikpunkt ansprechen. Beratungsangebot für Arbeitnehmer und ArbeitgeberWir wissen, dass sich dieses Budget aus vielen verschie- aufgebaut und das Förderinstrumentarium für Arbeitge- denen Einzelleistungen zusammensetzt: hier etwas von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16429

Markus Kurth (A) der Krankenkasse und dort etwas von der Kommune.möchte deshalb ganz konkret anregen, dass man diese(C) Dabei hat sich gezeigt, dass die einzelnen Leistungsträ- Frist verlängert und sich denSachverstand der Ver- ger, also diejenigen, die die Leistungen zur Verfügung bände für diesen Bericht holt. stellen, besser zusammenarbeiten müssen. Im Moment besteht das Problem, dass die einzelnen Reha-Träger im- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mer noch versuchen, nur ihr Feld zu bestellen, und nicht der CDU/CSU) bereit sind, übergreifend zusammenzuarbeiten und sich Eines, lieber Kollege Kurth, fand ich toll, nämlich miteinander zu verzahnen. dass Sie sagten, uns allen seien die Probleme von Men- Das beste Beispiel sind in der Tat dieServicestellen, schen mit Behinderungen bekannt. Wenn ich mir aber die nicht so funktionieren, wie sie sollen. Das liegt aber den Bericht von 220 Seiten anschaue, dann habe ich den nicht daran, dass etwa die Regierung oder der Gesetzge- Eindruck, dass das eine reine Lobhudelei und Selbstbe- ber versagt hätte. Wir als Gesetzgeber haben vielmehr weihräucherung ist, ausdrücklich die Selbstverwaltung respektiert und die (Widerspruch bei der SPD) Träger gebeten, sich untereinander zu einigen. Wir ha- ben das gesetzliche Instrumentarium geschaffen. Wirweil die Probleme, die Sie zu Recht ansprechen und die wollten aber nicht jedes Detail regeln und jede Einzel- wir hier diskutieren, in dem Bericht gar nicht enthalten heit vorschreiben, sondern die Servicestelle sollte zu ei- sind. ner Anlaufstelle für alle Leistungen werden, die auch die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Reha-Leistungen bündelt. Der Betroffene sollte auf diese Weise die Leistungen aus einer Hand erhalten und nicht Eines der Fehlkonstrukte in diesem Bericht ist doch im von Pontius zu Pilatus laufen müssen. Gegensatz zum Altenbericht der Bundesregierung, der von einer unabhängigen Kommission erstellt wird, dass Man muss jedoch sagen: Die Selbstverwaltung hat an die wirklichen Probleme, die hier bestehen, in dem Be- dieser Stelle zwar nicht überall, aber weitgehend ver-richt gar nicht auftauchen, sondern dass häufig im Jahr sagt; vieles lässt noch zu wünschen übrig. Aber das spre- 2003, wie auch in der Rede des Staatssekretärs, geendet chen wir ganz offen an. Sie hätten doch die Zahlen über wird, obwohl ab dem Jahr 2003 zum Beispiel auf dem die Servicestellen gar nicht nennen können, wenn es die Arbeitsmarkt die wirklichen Probleme erst entstanden. wissenschaftliche Begleitforschung des Bundes nicht ge- geben hätte, wenn kein offener Bericht vorläge, wenn Deswegen möchte ich mich zu Anfang auf die Pro- wir als Koalitionsfraktionen und Regierung das Ganze bleme auf dem Arbeitsmarkt konzentrieren. Es fehlt nicht von vornherein als Prozess der lernenden Gesetz- eine kritische Betrachtung und ein Anprangern von gebung angelegt hätten. Das haben wir extra gemacht, Missständen in diesem Bericht. So ist im Abschnitt „Ar- (D) (B) um eventuelle Mängel aufzudecken und Verbesserungen beitsmarktpolitik und Bundesagentur für Arbeit“ zu le- möglich zu machen. Diese sind in dem Antrag, den die sen, dass sich die Bundesagentur nochmals nachdrück- Koalitionsfraktionen begleitend eingebracht haben, dar- lich zur Förderung der Teilhabe behinderter und gelegt. Das zeigt, dass auf diesem Wege noch eineschwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben bekannt Menge zu tun ist, aber dass wir in den letzten vier Jahren habe. Natürlich ist dies sehr erfreulich. Allerdings sieht einen richtigen Quantensprung bei der Beteiligung von die Realität anders aus. Ich denke, keine Fraktion würde Menschen mit Behinderung getan haben. es Ihnen verübeln, wenn nicht nur Erfolge, sondern auch Schwierigkeiten klar benannt würden. So fehlt mir eine Vielen Dank. kritische Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die es bei derberuflichen Rehabilitation von Men- und bei der SPD) schen mit Behinderungen im Jahr 2003 gab. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Daniel Bahr. Zwar habe ich keinerlei Zweifel daran – wir kennen die Äußerungen der Ministerin, des Staatssekretärs und vie- ler anderer –, dass die Bundesregierung diese Schwierig- Daniel Bahr (Münster) (FDP): keiten genauso gesehen und sie auch kritisiert hat, aber Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- das Verhalten der Bundesagentur ist weiterhin kritikwür- legen! Ich möchte zu Anfang eine Anregung geben: Ein dig und gehört in diesen Bericht hinein. solcher Bericht wie der, der hier vorliegt, lebt von dem großen Detailwissen der Verbände. Das ist unverzicht- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bar, um ein aussagekräftiges Bild der Situation von Men- der CDU/CSU) schen mit Behinderungen zu zeichnen. Wir bedauern da- Dieser Tage erreichen mich nämlich wieder Zuschrif- her, dass den Verbänden nur eine zweiwöchige Fristten, die befürchten lassen, dass Schülerinnen und Schü- eingeräumt wurde, um den Arbeitsentwurf zum vorlie- ler aufgrund fehlender Mittel in diesem Jahr nicht mehr genden Bericht der Bundesregierung zu kommentieren in das Eingangsverfahren für den Berufsbildungsbereich und eine Stellungnahme abzugeben. So stellt der Deut- bzw. berufsvorbereitende Maßnahmen übernommen sche Schwerhörigenbund zu Recht fest, dass es ange-werden. sichts des Umfangs von immerhin 220 Seiten ein zu gro- ßes und schweres Unterfangen sei, eine fundierte (Ina Lenke [FDP]: Das ist ganz schlimm! Da- Stellungnahme binnen zwei Wochen zu erstellen. Ich rum sollten die sich mal kümmern!) 16430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Daniel Bahr (Münster) (A) Auch gibt es Berichte, dass die Bundesagentur teilweise die im Zusammenhang mit der Umsetzung des SGB IX (C) versucht, sehr schwer vermittelbare Arbeitsuchende mit stehen, wenn dies erforderlich ist. Handicaps, die nichts mit Behinderung im eigentlichen Sinne zu tun haben, in e di Werkstätten für Behinderte Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit schwerbe- abzuschieben. Vielen Werkstätten sind solche Fälle be- hinderter Menschen müssen wir über zu treffende Maß- kannt und damit werden vermeintliche Einzelfälle zu ei- nahmen und nicht nur über eine Feststellung in diesem nem echten Problem, vor allem aus Sicht der Werkstät- Bericht diskutieren. Mir fehlen in dem Bericht vollkom- ten. Ich erwarte, dass die Bundesregierung ein solches men die Maßnahmen, die die Bundesregierung ergreifen Verhalten nicht duldet. Allerdings frage ich mich, warum will, um die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter wieder ein solcher Bericht nicht als Plattform genutzt wird, das zu senken. Verhalten der Bundesagentur kritisch zu beleuchten und (Beifall bei der FDP) die interessierte Öffentlichkeit darauf hinzuweisen. Ich weiß – es war ja auch der Presse zu entnehmen –, (Beifall bei der FDP) dass im Ministerium über Maßnahmen diskutiert wurde, Es steht auch in Ihrer Verantwortung, der Verantwortung um Einstellungshemmnisse für Schwerbehinderte zu der Bundesregierung, die Einfluss auf das Handeln der beseitigen. Dazu zählte das Ministerium den besonderen Bundesagentur nehmen kann, dazu etwas in diesen Be- Kündigungsschutz für Schwerbehinderte sowie den Zu- richt aufzunehmen. satzurlaub für diesen Personenkreis. Das Ministerium scheint nach sehr negativen Rückmeldungen von Ge- Auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Ar- werkschaften und Verbänden von der Diskussion über beitslosigkeit Schwerbehinderter sucht man im Bericht diese Vorstellungen vollkommen abgerückt zu sein. Ich vergebens. Alle hier im Hause vertretenen Parteien wa- habe mir ebenso wie die FDP-Fraktion keine abschlie- ren sich Anfang 2003 darüber einig, Beschäfti- die ßende Meinung hierzu gebildet, bin aber der Meinung, gungspflichtquote schwerbehinderter Menschen beidass wir hier im Deutschen Bundestag eine Diskussion 5 Prozent zu belassen und nicht auf 6 Prozent zu erhö- über Maßnahmen zur Verminderung von Einstellungs- hen, weil der Abbau der Arbeitslosigkeit Schwerbehin- hemmnissen brauchen, um die Arbeitslosigkeit Schwer- derter fast punktgenau die politische Zielvorgabe vonbehinderter senken zu können. Nur so können wir 25 Prozent erreicht hatte. Nur, die Meldungen, die uns Schwerbehinderten wieder einen Zugang zum geregelten ab Mitte 2003 erreichten, hörten sich doch ganz anders Arbeitsmarkt bieten. Aussagen dazu fehlen im Bericht an. Plötzlich war von einem erschreckenden Anstieg der vollkommen. Ich habe den Eindruck, die Bundesregie- Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter die Rede und seitens rung will sich dieser Diskussion angesichts der nahenden des Ministeriums wurden hierfür die Arbeitgeber verant- Bundestagswahl nicht mehr stellen. Ich finde das bedau- (B) wortlich gemacht. Die Ministerin ist lautstark an die Öf- erlich, denn immerhin bleibt noch ein Jahr Zeit, hier et- (D) fentlichkeit getreten. Dem vorliegenden Bericht wie-was zu tun. derum können Sie nur entnehmen, dass dieser Anstieg „im Zuge des Anstieges der allgemeinen Arbeitslosig- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten keit“ erfolgte, was die Frage aufwirft, warum die Arbeit- der CDU/CSU) geber derart heftig attackiert wurden. Gleiches gilt für die Eingliederungshilfe. Zu Beginn (Zuruf von der SPD) der Legislaturperiode habe ich das Thema hier im Bun- destag angesprochen und die Bundesministerin hat er- Der Anteil Schwerbehinderter an der Gesamtar- klärt, sie wolle die steigenden Fallzahlen bei der Einglie- beitslosigkeit betrug im Oktober 2004 4,1 Prozent. Das derungshilfe in diesem Jahr thematisieren und über ist im Bericht enthalten. Die eigentlich interessante Ver- Lösungswege diskutieren. Mittlerweile sind drei Jahre gleichszahl nennt der Bericht aber nicht. Diese können dieser Legislaturperiode vergangen und wir haben von- Sie allerdings in einem älteren Bericht der Bundesregie- seiten der Bundesregierung bis heute noch nicht gehört, rung gemäß § 160 SGB IX finden. Im Januar 2003 be- wie sie den steigenden Fallzahlen bei der Eingliede- trug diese Zahl 3,6 Prozent, was belegt, dass die spezifi- rungshilfe begegnen will. Ich kann kein Konzept erken- sche Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in diesemnen, wie sie die finanziell klammen Kommunen und Zeitraum weit überproportional gestiegen ist. Es sollte Bundesländer bei diesem Problem unterstützen will. Wir uns doch bedenklich stimmen, dass die Arbeitslosigkeit werden weiterhin warten müssen. von Schwerbehinderten weit über der normalen Arbeits- losigkeit liegt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Statt nur Erklärungsversuche oder Entschuldigungs- gründe für diese bedauerliche Entwicklung zu suchen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: hätte ich mir klare Aussagen zu Handlungsoptionen ge- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silvia Schmidt. wünscht. Die Lage ist erkannt, aber wie soll sie behoben werden? Interessant ist, dass die Erstellung des Berichts Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): auf der Grundlage des § 66 SGB IX basiert. Der Para- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Bahr, ich hoffe graph sieht unter anderem vor, dass die Bundesregierung nicht, dass wir hier im Deutschen Bundestag über die in ihrem Bericht „zu treffende Maßnahmen“ vorschlägt, Aufhebung des Kündigungsschutzes und des Zusatz- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16431

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) urlaubs für behinderte oder schwerbehinderte Menschen durchgeführt und zur Barrierefreiheit ist von den so- (C) diskutieren müssen. Mit mir wird es eine Diskussionzialdemokratisch geführten Ländern auch einiges getan darüber jedenfalls nicht geben. worden. In Brandenburg gibt es trotz knapper Kassen – das möchte ich besonders betonen – bis zu maximal Zwei weitere Bemerkungen zu Ihren Ausführungen: 10 000 Euro für die behindertengerechte Anpassung von Sie sagten unter anderem, wir hätten mit diesem Bericht Wohnraum. Ebenfalls in Brandenburg ist die Barriere- Schönfärberei betrieben. freiheit auch für Behördenneubauten der Kommunen (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das habe ich Pflicht. auch gedacht!) (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Vergleichen wir Bei den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs hatte mal die Arbeitslosenzahlen zwischen den Län- ich nicht das Gefühl. Sie haben auch gesagt, der Bericht dern!) würde einiges verschleiern. Im Gegensatz zu Ihnen hat Anders in Hessen: Hier zeichnet sich die Barrierefrei- Herr Hüppe hier versucht – wie er es getan hat, kannheit dadurch aus, dass sie für die Kommunen nicht ver- man infrage stellen –, die Aussagen des Berichts sehr le- pflichtend ist. Behindertengerechte Schwimmbäder in bendig darzustellen. Das sollte man nicht vergessen und Hessen sind also nicht verpflichtend. deshalb sind Ihre Aussagen für mich sehr schwer nach- zuvollziehen. Bei der Frühförderung gab es – das wurde auch schon mehrmals erwähnt – immer wieder Abstimmungs- Der zweite Bereich: Sie sprachen über den Einsatzprobleme. Hier hat Nordrhein-Westfalen – auch dank von Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen wie Regina Schmidt-Zadel, die dabei Vorreiter war – vor- beispielsweise Werkstätten. Wenn Sie die Statistikenbildlich reagiert. Dort wurde die bundesweit erste Lan- verfolgt haben, wissen Sie wahrscheinlich, dass jetztdesrahmenempfehlung zur Umsetzung der Frühförde- verstärkt auch ältere behinderte Menschen in diesen Ein- rungsverordnung geschaffen. Dabei ist es zu keinerlei richtungen aufgenommen werden. Auch über diese Aus- finanziellen Einbußen gekommen. Das war eine Falsch- sage sollte man einmal nachdenken. aussage, Herr Hüppe, die man nicht so stehen lassen Herr Kurth hat die Schwierigkeiten mit der Bundes- kann. agentur angesprochen. In Teilen stimme ich den Ausfüh- Das SGB IX hat zu vielen spürbaren Verbesserungen rungen zu, aber so gravierende Probleme, wie Sie siefür Menschen mit Behinderungen geführt. Ich möchte darstellen, sehe ich nicht. Ich hatte vorgestern ein Ge- Ihnen hier nur einige positive Beispiele nennen. Wir spräch mit dem Regionaldirektor von Sachsen-Anhalt/ können zwar alles schlechtreden, aber das bringt uns Thüringen, Herrn Dähne, in dem er mir ausdrücklich ge- nicht weiter. Wir müssen auch aufzeigen, was das (B) (D) sagt hat, man komme dieser Pflichtaufgabe sehr gewis- SGB IX bewirkt hat. senhaft nach. Frauen sind doppelt belastet und behinderte Frauen (Ina Lenke [FDP]: In meinem Wahlkreis hat es dreifach. Das wissen wir und das will sicherlich niemand aber andere Bescheide gegeben!) bestreiten. Aber § 9 im SGB IX fordert, die Bedürfnisse Wenn es in dem einen oder anderen Bereich Schwierig- der Mütter und Väter zu berücksichtigen. So hat eine keiten geben sollte – ich weiß, dass es sie gibt –, werden beinamputierte Mutter gegen ihre Krankenkasse geklagt, wir den Problemen nachgehen. die sich geweigert hatte, bessere, gangsichere Prothesen zu finanzieren. Schließlich bekam die Mutter zweier (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Aber schnell!) Kinder vor dem Bundessozialgericht Recht. Das Gericht Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben bezog sich ausdrücklich auf die „Bedürfnisse behinder- verschiedene Bereiche aufgezählt und gesagt: Hier wer- ter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungs- den Leistungen gekürzt. Ich mache es heute einmal et- auftrages“ im Sinne des SGB IX. DasWunsch- und was anders, als Sie es gewohnt sind, und sage einfach: Wahlrecht des § 9 SGB IX beinhaltet auch das Recht Da haben Sie Recht. auf Pflegekräfte des eigenen Geschlechts, das gerade von Frauen immer wieder gefordert wird. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wunsch- und Wahlrecht wirkt sich auch bei der Kinderbetreuung aus. Dadurch bekam eine behinderte Allerdings muss ich hier auch die Länder ansprechen, Mutter vom Sozialamt Jena ein höhenverstellbares Kin- die teilweise ihren Aufgaben beim Paradigmenwechsel derbett mit Schiebetüren finanziert, das sie mit dem bzw. beim Umkehrgedanken in der Behindertenpolitik Rollstuhl unterfahren kann. Das von Bayern in den Bun- nicht nachkommen. Auch sie haben eine Pflicht und eine desrat eingebrachte Kommunale Entlastungsgesetz Verantwortung. Zwischen den einzelnen Ländern gibt es – KEG – würde dazu führen, dass dieses Wunsch- und deutliche Unterschiede. Wir müssen feststellen, dass der Wahlrecht unter einem Finanzierungsvorbehalt steht. politische Wille des Bundesgesetzgebers von den CDU/ Wer will der Mutter die Erfüllung dieses Wunsches ver- CSU-geführten Landesregierungen einfach gebrochen wehren? wird. Dafür gibt es hervorragende Beispiele. Auch über § 54 SGB IX, der vorsieht, dass Kinderbe- Ich möchte aber positiveBeispiele nennen: Das so- treuungskosten berücksichtigt werden, ist vom Bundes- zialdemokratisch geführte Rheinland-Pfalz hat als erstes verband behinderter und chronisch kranker Eltern posi- Bundesland Modellprojekte zum persönlichen Budget tiv berichtet worden. Der Verband hat aber auch die 16432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) Erfahrung gemacht, dass die Behörden SGB IX entwe- der Beitrag zu ihren Mehraufwendungen vollständig ge- (C) der nicht kennen oder nicht kennen wollen. Die Förde- strichen worden ist. rung von Frauen und Familien ist aber wichtig. Ich kann Sie nur auffordern, sehr geehrte Kolleginnen Wir haben einiges gewollt und auch sehr gut gemacht und Kollegen von der CDU/CSU: Bleiben Sie bei der und wir haben alles gemeinsam beschlossen. Sie von der Wahrheit und fordern Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen CDU/CSU weisen stets auf Ihr behindertenpolitisches vor Ort auf, Behindertenpolitik tatsächlich zu betreiben Engagement hin. Das ist auch richtig. Aber dann sorgen und für eine entsprechende Umsetzung zu sorgen! Ich Sie bitte dafür, dass dieser Paradigmenwechsel auch in glaube, nur so kommen wir ein Stück weiter. den CDU/CSU-regierten Ländern umgesetzt wird! Vielen Dank. Damit möchte ich noch einmal auf das KEG zurück- kommen, das in Bayern ganz großgeschrieben wird. Mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Einführung der so genannten generellenFinanz- DIE GRÜNEN) kraftklausel findet aber praktisch keine Sozial- und Be- hindertenpolitik mehr statt. Denn wie Sie zu Recht er- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wähnt haben, gibt es in den Kommunen und auch in den Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Antje Ländern große Haushaltslöcher. Blumenthal. Obwohl selbst die Fachausschüsse des Bundesrates gegen den Gesetzentwurf waren, haben ihre Länder zu- (Beifall bei der CDU/CSU) gestimmt. Das ist ein Rückschlag für die gesellschaftli- che Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Er be- Antje Blumenthal (CDU/CSU): deutet – das ist sogar noch schlimmer – einenFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rückschritt auf den Stand vor dem In-Kraft-Treten des Wir beraten heute nicht nur über den Bericht der Bun- Bundessozialhilfegesetzes 1962. desregierung über die Lage behinderter Menschen und Die Rückverlagerung des § 35 a vom KJHG in das die Entwicklung ihrer Teilhabe, sondern auch über zwei Sozialhilferecht wollen Sie ebenfalls. Das würde bedeu- Anträge meiner Fraktion, deren Ziel es ist, genau diese ten, dass seelisch behinderte Kinder und Jugendliche er- Lage zu verbessern. neut zwischen die Leistungsträger geraten. Sie wissen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch, was das bedeutet: Keiner übernimmt die Kosten und das geht zulasten der Kinder. Als wichtigste Aufgabe der Behindertenpolitik werden im Bericht die Teilhabe, die Eigenverantwortlichkeit und (B) (D) Nun komme ich zu meinem eigenen Bundeslanddie Selbstbestimmung genannt. Bei der Selbstbestim- Sachsen-Anhalt, dessen Sozialminister sein Amt mit Si- mung denken wir – hier schließe ich mich nicht aus – cherheit verfehlt hat. Sozusagen über Nacht wurden die noch immer zuerst an Bereiche wie Arbeit, gesundheitli- Eltern behinderter Kinder darüber in Kenntnis gesetzt, che Versorgung und Bildung. Erst ganz allmählich wer- dass der Umfang der vom Arzt festgesetzten ambulanten den auch Themenbereiche angesprochen, die in Verbin- Fördereinheiten gekürzt wird. Damit dürfen die Einrich- dung mit Menschen mit Behinderung lange Zeit tabu tungen nur noch 90 Minuten statt bisher 150 Minuten für waren: Partnerschaft und Sexualität. Gerade hier handelt Vorbereitung, Anfahrt, Therapie und Elternberatung ab- es sich um Erfahrungen, die ganz wesentlich zur Persön- rechnen. Die Kosten sollten von circa 85 Euro auflichkeitsentwicklung, zur Identitätsfindung und auch zur 50 Euro reduziert werden. Abgesehen davon, dass die Selbstbestimmtheit beitragen können. Aber gerade im ambulante Frühförderung geschwächt wird, handelt das Bereich der sexuellen Selbstbestimmung klaffen Lü- Land gegen die Frühförderungsverordnung. cken, die von der Bundesregierung offenbar noch nicht Dass der Sozialminister, Herr Kley, das Kürzen der einmal erkannt, geschweige denn auch nur in Ansätzen Vorbereitungszeit mit dem Vergleich abtat, dass mangeschlossen worden sind. Das wird an der Antwort der auch bei einer Autoreparatur nur die ReparaturkostenBundesregierung auf die Kleine Anfrage meiner Frak- und nicht die Vorbereitungszeit zahlen müsse, ist er- tion zum Thema „sexuelle Gewalt gegen Menschen mit schreckend. Herr Kley hat sich mit diesem Vergleich für Behinderung“ deutlich. das Amt des Sozialministers disqualifiziert. Ich kann Menschen mit Behinderung werden deutlich häufiger deshalb nur seinen Rücktritt fordern. Opfer sexueller Gewalt als nicht behinderte Menschen. In Sachsen-Anhalt wurde aber auch der Tagessatz für Besonders betroffen davon sind geistig behinderte Men- ambulant betreute Wohnformen auf 10,96 Euro redu-schen. Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu ziert. In der Lutherstadt Eisleben bekam ein freier Träger 50 Prozent der behinderten Frauen einmal oder mehr- vorher 15 Euro, nun nur noch knapp 11 Euro. Damit ist mals Opfer sexueller Gewalt wurden. Erst seit wenigen die Existenz des Trägers bedroht, ebenfalls der Grund- Jahren wird dieses Thema überhaupt im Zusammenhang satz: ambulant vor stationär. Diesen Grundsatz wollen mit sexueller Selbstbestimmung erwähnt. Weitgehend wir aber alle hier im Deutschen Bundestag. Die einsei- jedoch wird es nach wie vor tabuisiert, und zwar sowohl tige, ohne Verhandlungen mit den Trägern vorgenom- in der Forschung als auch in der öffentlichen Diskussion. mene Sparpolitik zeigt, was CDU/CSU-Behinderten-Dementsprechend existieren zu diesem Problem kaum politik heißt. Es wurde bereits erwähnt, aussagefähige dass Studien, erst recht nicht in Bezug auf die Weihnachten 2004 in Niedersachsen blinden Menschen Situation in Deutschland. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16433

Antje Blumenthal (A) Die rot-grüne Bundesregierung selbst hat überhaupt sind – Fehlanzeige. Kenntnisse der rot-grünen Regie-(C) keine Ahnung, weder von den Ausmaßen und den Fol- rung über Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote gen noch von den Ursachen und den Präventionsmög- für Mitarbeiter von Beratungs- und Betreuungseinrich- lichkeiten bei sexueller Gewalt gegen Menschen mit Be- tungen, um den Umgang mit den Opfern zu verbessern – hinderung. Kein Wort hierzu von Ihnen, meine Damen Fehlanzeige. Diese Liste ließe sich beliebig fortführen. und Herren von Rot-Grün, jedenfalls nicht in Ihren bis- herigen Reden, und kein Wort hierzu von Staatssekretär Man könnte natürlich denken, dass die Bundesregie- Thönnes! rung zumindest beabsichtigt, in Zukunft geeignete Maß- nahmen zu fördern. Aber auch diesbezüglich gilt ganz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- offensichtlich: Fehlanzeige. Es ist wirklich bedauerlich, neten der FDP) dass im Bereich der sexuellen Gewalt gegen Menschen Das eine möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: mit Behinderung ein solch eklatanter Mangel an Infor- Wenn Sie sich die Antworten auf unsere Kleine Anfrage mationen und Konzepten vorzufinden ist. durchlesen, die Sie aus gutem Grund sogar in Ihrem Be- Skandalös ist allerdings, dass Rot-Grün offenbar kein richt zitieren, werden Sie buchstäblich bei jeder zweiten Interesse zeigt, hier Abhilfe zu schaffen. Aus diesem Antwort sinngemäß den Satz finden: Der Bundesregie- Grund haben wir unseren Antrag eingebracht. Wir wol- rung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. Angesichts len die Situation von behinderten Menschen, die Opfer dieser massiven Unkenntnis trauen Sie sich heute mit ei- eines sexuellen Übergriffs geworden sind, verbessern. nem hastig zusammengeschusterten Antrag ins Plenum, Wir fordern, dass wissenschaftliche Studien in Auftrag in dem zwar großspurig von Erfolgen geredet wird, in gegeben werden, die den Umfang, die Besonderheiten dem dieses Thema aber nicht mit einem Wort erwähnt und die Folgen sexueller Übergriffe repräsentativ analy- wird. Ich frage Sie: Wie gehen Sie mit unseren Anträgen sieren und aus den Erkenntnissen Ansatzpunkte für Prä- bzw. mit den Problemen der betroffenen Menschen um? vention und Therapie entwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die Betreuer und in der Behindertenhilfe tätige Per- sonen müssen endlich besser über den Umfang, die Be- Dieser Schande können Sie eigentlich nur dadurch ent- sonderheiten und die Erkennungs-, Präventions- und gehen, dass Sie unseren Anträgen zustimmen. Therapiemöglichkeiten in Bezug auf sexuelle Gewalt, insbesondere in familiären Strukturen, informiert wer- (Erika Lotz [SPD]: Frau Kollegin, wir beraten den, sei es durch Seminare und Schulungen oder zu- das doch noch!) nächst durch Informationsmaterialien und Veranstaltun- In der Tat ist es so, dass die Antwort der Bundesregie- gen. Das Bewusstsein dafür muss geschärft werden, wo (B) (D) rung auf unsere Kleine Anfrage ganz erhebliche Defizite sexuelle Übergriffe gegenüber behinderten Menschen in den Bereichen „Erkennung“, „Therapie“ und „Präven- beginnen, welche Folgen sie haben und welche straf- tion von sexueller Gewalt gegen Menschen mit Behinde- rechtlichen Konsequenzen den Tätern drohen. Aber Sie rung“ offenbart hat. Das, was über die Situation bekannt von der Koalition haben schon im Rechtsausschuss ver- ist, wissen wir entweder durch ausländische Studien, die sagt, als Sie sich weigerten, den sexuellen Missbrauch in Bezug auf die hiesigen Verhältnisse natürlich nur sehr widerstandsunfähiger Menschen als Verbrechen einzu- begrenzt aussagefähig sind, oder aus Kontakten zu Inte- stufen. ressenvertretungen und Institutionen. Wissenschaftlich fundierte Studien existieren schlicht und ergreifend (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: So ist es! Das nicht. Offenbar hat Rot-Grün dieses Informationsdefizit war unser Antrag!) zumindest erkannt, aber, wie so oft, nicht angemessen Sie haben das dringend notwendige Signal an die Täter reagiert. Das einzige Modellprojekt zum Umgang mit nicht gesetzt. Sie haben damit nicht nur die behinderten sexueller Gewalt in Wohneinrichtungen hatte eine Lauf- Menschen enttäuscht. zeit von 1999 bis 2003. Aufden Abschlussbericht war- ten wir allerdings noch heute. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, wenn Ihnen Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zu weite- dieses Thema so am Herzen liegt, dann hätten Sie Druck ren Aspekten der Selbstbestimmung sagen, mit denen machen müssen, damit uns dieser Bericht endlich vor- wir uns in unserem zweiten Antrag befassen. liegt. Wir haben das Jahr 2005! Zum einen: dieMobilität im öffentlichen Nah- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verkehr. Die Schwerbehindertenausweisverordnung Es sind aber nicht nur die fehlenden wissenschaftli- sieht zurzeit noch vor, dass Menschen, die das Recht auf chen Daten und Untersuchungen, die dieses erschre-unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr ckende Bild kennzeichnen, sondern es ist auch die offen- haben, über einen Ausweis verfügen, auf dem ein Merk- sichtliche Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung im zeichen „B“ und der Satz „Die Notwendigkeit ständiger Hinblick auf die Bereiche „Therapie“ und „Prävention“, Begleitung ist nachgewiesen“ aufgedruckt sind. Der Satz in denen es wirklich katastrophal aussieht. Kenntnisse deutet damit die Notwendigkeit im Gegensatz zum der Bundesregierung über die Verfügbarkeit und Qualität Recht an, Begleitpersonen mitzuführen. Worauf es hier- niedrigschwelliger Betreuungsangebote für Menschen bei aber ankommt, ist das Recht und nicht die Notwen- mit Behinderung, die Opfer sexueller Gewalt geworden digkeit. 16434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Antje Blumenthal (A) Wir sind keineswegs kleinkariert, wenn wir feststel- destagsverwaltung aufgefordert und aus unterschiedli-(C) len: Diese Formulierung führt zu solchen Missverständ- chen Fraktionen wurden ebenfalls Anträge gestellt, dies nissen, dass den Betroffenen ohne Begleitperson die Be- in der Kernzeit zu gewährleisten. Dem ist bis heute nicht förderung in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Teilentsprochen worden. verwehrt wird. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das kann wohl (Widerspruch bei der SPD) nicht sein! – Gegenruf des Abg. Daniel Bahr – Sie sollten darüber nicht hämisch lachen, sondern Sie [Münster] [FDP]: Doch, das ist so!) sollten sich mit den behinderten Menschen unterhalten, Daraufhin sagte er zu mir: Warum machen Sie eigentlich die zurückgewiesen werden, zum Beispiel weil sie keine Gesetze, die für Sie nicht gelten? Begleitperson bei sich haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des (Beifall bei der CDU/CSU) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ Der zweite Aspekt der selbstbestimmten Lebensfüh- CSU und der FDP) rung, den wir in unserem Antrag aufgreifen, ist die Ich habe noch eine schöne Botschaft bekommen. Er Gewährung von Parkerleichterungen unter bestimm- sagte: Ich sehe fern. Inzwischen gucke ich mir Cowboy- ten festgelegten Kriterien auch für schwerbehindertefilme an. Die werden durch einen Gebärdendolmetscher Menschen, die nicht als außergewöhnlich gehbehindert begleitet. Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie doch einmal gelten, die aber aufgrund der Schwere ihrer Behinderung auf das Niveau von Cowboyfilmen! solchen Personen hinsichtlich der Notwendigkeit von Parkerleichterungen gleichgesetzt werden sollten. Dazu (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist zählen zum Beispiel contergangeschädigte Ohnarmer manchmal ähnlich!) und Morbus-Crohn-Kranke. Eine bundeseinheitliche Re- Da fiel mir die Kinnlade herunter. gelung für alle Schwerbehinderten, die wir in unserem Antrag fordern, ist im Sinne dieser Menschen daher Egal wie diese Debatte heute ausgeht, sollten wir uns dringend angezeigt. auf einen gemeinsamen Antrag an die Bundestagsver- Meine Damen und Herren, Sie haben einen eigenen waltung verständigen mit dem Ziel, den Bundestag bar- Antrag vorgelegt, der sehr viel Lob für die von Ihnen ge- rierefrei zu machen. tragene Bundesregierung enthält, der aber ansonsten (Beifall im ganzen Hause) sehr schwammig ist und keine konkreten Forderungen enthält. Wir haben Ihnen konkrete und praktikable Vor- Das war der gemeinsame Teil. (B) schläge für die Verbesserung der Situation behinderter (Heiterkeit) (D) Menschen vorgelegt. Jetzt kommt das Trennende. Frau Blumenthal, da (Erika Lotz [SPD]: Wir beraten das doch!) möchte ich mit Ihnen anfangen. Deshalb bitten wir Sie herzlich um Ihre Zustimmung bzw. darum, dass das in Ihre Beratungen Eingang findet. (Zuruf von der CDU/CSU: Highnoon!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie haben einen Bereich sehr deutlich dargestellt, der zu den erschütterndsten zählt und sehr respektvoll zu be- handeln ist. Darum sage ich sehr respektvoll: Wir haben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gemeinsam mit dem Weibernetz, der Interessenvertre- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete und Beauftragte tung behinderter Frauen, einiges in das SGB IX hinein- der Bundesregierung für die Belange behinderter Men- geschrieben. Als Ergebnis ist am 1. Januar 2004 das Se- schen, Karl Hermann Haack. xualstrafrecht in dem Sinne, wie Sie es hier beklagt haben, geändert worden. Das Weibernetz war mit der Karl Hermann Haack,Beauftragter der Bundes- Formulierung einverstanden gewesen. regierung für die Belange behinderter Menschen: Guten Tag! Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Des Weiteren gibt es Kurse für behinderte Frauen und Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin derMädchen zur Selbstverteidigung und zur Stärkung des Letzte in dieser Runde. Ich habe mir einiges aufgeschrie- Selbstvertrauens auch in dieser Richtung. ben, will meine Rede aber zunächst zur Seite legen. (Antje Blumenthal [CDU/CSU]: „Wider- Als Erstes möchte ich etwas sagen, was uns gemein- standsunfähig“ habe ich gemeint!) sam betrifft. Ursprünglich war die Debatte angesetzt auf Diese Kurse werden nach dem SGB IX finanziert und Donnerstag, Kernzeit, 14 Uhr. Wir haben uns gedacht: entsprechend gut angenommen. Wir wollen einmal richtig über dieses Thema reden und die Menschen in der Republik sollen die Möglichkeit ha- Ebenso gilt das für die Selbsthilfegruppenförderung. ben zuzusehen. – Das wurde sehr ernst genommen. Das Weibernetz e.V. erhält ebenfalls entsprechende För- dermittel. Ich denke, dass wir uns in dieser Hinsicht Mich rief dann jemand an, der nicht hören kann, und nichts vorwerfen lassen müssen. fragte: Wird diese Debatte durch einen Gebärdendolmet- scher begleitet? Darauf habe ich geantwortet: Nein. – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mehrfach habe ich als Behindertenbeauftragter die Bun- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16435

Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (A) Kollege Hüppe, wenn es 2006 für die rot-grüne Koali- an! Die Kommunen, die optiert haben, erzählen Ihnen,(C) tion schief geht, werden Sie eventuell mein Nachfolger. dass sie für die Eingliederung von Menschen mit Behin- Da würde ich an Ihrer Stelle ein bisschen vorsichtiger derungen nicht zuständig seien. Auch die Arbeitsge- sein. Ich sage Ihnen auch, warum. Es war Ihre Fraktion meinschaften sagen, dass sie dafür nicht zuständig seien. auf Bundesebene, die in der gemeinsamen Beratung zu- Wenn man sie aber dann darauf hinweist, dass ihnen da- nächst die Positivliste abgelehnt und dann in das Ge-für das entsprechende Budget zugewiesen wurde und sie sundheitsmodernisierungsgesetz hineingeschrieben hat: dieses Geld erhalten haben, streiten sie das ab. Ich Alle OTC-Mittel, also alle nicht verschreibungspflichti- denke, dass wir an diesemPunkt noch einmal ganz ge- gen Mittel, müssen zu 100 Prozent vom Betreffendenwaltig nachzuarbeiten haben. selber bezahlt werden. Es gibt keine Ausnahmeregelung für Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke Herr Hüppe, ich mache Ihnen ein Angebot: Wenn Sie usw. das verstanden haben, was ich Ihnen hier erzählt habe, und sich daher in Zukunft vorsichtiger ausdrücken, er- (Andreas Storm [CDU/CSU]: Das ist schlicht kläre ich mich bereit, Ihre Rede, die Sie hier gehalten ha- die Unwahrheit! – Annette Widmann-Mauz ben, zehnmal in Schönschrift abzuschreiben. [CDU/CSU]: Der Vorschlag kam von einer an- deren Fraktion!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie müssen ja viel Zeit haben! – Zurufe von der CDU/CSU) Wenn wir das nicht mitgemacht hätten, wäre das Ganze geplatzt. Ich sage das, weil ich denke, dass wir Abstand von Schuldzuweisungen nehmen sollten, die ja nur deswegen Der Herr Stoiber und der Herr Teufel, jetzt Oettinger vorgenommen werden, weil, wie jetzt in Nordrhein- genannt, haben uns ein Kommunales Entlastungsgesetz Westfalen, eine Wahl ansteht. Das im SGB IX enthaltene vorgelegt. Zur Eingliederungshilfe heißt es dort: je nach Bundesgleichstellungsgesetz haben wir gemeinsam mit Kassenlage. den Betroffenen, insbesondere mit den Behindertenver- In Baden-Württemberg hat eine Kommunalreformbänden, erarbeitet und im Bundestag und im Bundesrat stattgefunden. einstimmig verabschiedet. Wir haben somit auch ge- meinsam dafür zu sorgen, dass es in unserem Land um- (Markus Grübel [CDU/CSU]: Da ist die Kas- gesetzt wird. In diesem Zusammenhang komme ich zu senlage aber besser!) den drei wichtigsten Problemen: Die Regierungspräsidien wurden abgeschafft. Zuständig (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Aber die Regie- sind die Landratsämter. Ich war kürzlich in verschiede- rung muss die Verordnungen machen! Die Re- nen Kommunen und Einrichtungen in Baden-Württem- (B) gierung hat die Fachaufsicht!) (D) berg. Dort wurde mir geschildert, dass behinderte Men- schen je nach dem Verständnis, das der Landrat für sie Es gibt das operative Geschäft. Bezüglich der Bun- aufbringt, ihre Eingliederungshilfe und andere Leistun- desagentur haben wir das schon beredet. gen erhalten. Das haben wir nicht gewollt. In der Frühförderung wird das Hilfsangebot derzeit Wir haben doch gemeinsam auch mit Ihnen gegen den von 15 der 16 Bundesländer nicht realisiert, weil es Irrsinn gekämpft, den Herr Stoiber vorhatte, sowohl die keine Rahmenvereinbarungen gibt. 40 000 junge Men- Kinder- und Jugendhilfe als auch die Eingliederungs-schen sind betroffen. Nur weil sich örtliche und überört- hilfe zu 100 Prozent auf die Landesebene zu verlagern, liche Sozialhilfeträger und Krankenversicherungen nicht verständigen können und die Länder nicht entsprechend (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ handeln und sie zwingen, etwas zu tun, bekommen DIE GRÜNEN) 40 000 junge Menschen die ihnen zustehenden Leistun- weil wir nicht wollten, ss da die Lebenssituation von gen nicht. Menschen mit Behinderungen je nach Kassenlage der Ähnliches gilt für die Servicestellen. In der Anhörung Länder bis zu 16-mal unterschiedlich gestaltet wird.saßen doch die Vertreter der Reha-Träger und sangen das Stellen Sie sich einmal vor, im Saarland, in Branden-Hohelied der Selbstverwaltung und haben davon gere- burg, in Thüringen, in Nordrhein-Westfalen oder auch in det, dass sie innovativ seien und in diesem Bereich mit- Bayern würde jeder nach seinem Gusto darüber ent-helfen würden. Was haben sie denn gemacht? Mit den scheiden. Das haben wir verhindert. Servicestellen geschah das Gleiche wie damals im Zuge (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das haben Sie im des Reha-Angleichungsgesetzes. Man lässt sie austrock- SGB XII drin!) nen, stellt sich aber gleichzeitig hin und sagt, sie funktio- nierten nicht. Das ist die Strategie. In diesem Bereich Wenn wir jetzt beklagen, was Menschen mit Behinde- werden wir also nachzuarbeiten haben. rungen auf dem Arbeitsmarkt erleben, dann ist doch zu fragen, wer den Irrsinn mit den Optionsmöglichkeiten Es gibt auch ein positives Beispiel; das habe ich mit- für die Kommunen und der Gründung von Arbeitsge- gebracht: das „Programm der Deutschen Bahn AG“. Die meinschaften angefangen hat, was dazu führte, dass dort, Deutsche Bahn AG legt in Kürze ein Programm vor, in wo Kommunen optiert haben oder Arbeitsgemeinschaf- dem sie beschreibt, wie das Behindertengleichstellungs- ten gegründet wurden, die Bundesagentur für Arbeit sich gesetz in den nächsten zehn Jahren in ihrem Bereich eins quasi nur noch um den Restbestand kümmern darf. Das zu eins umgesetzt werden soll. Wenn das die Deutsche war doch Herr Koch. Schauen Sie sich das doch einmal Bahn kann, die einen Strukturwandel durchmacht und 16436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (A) finanzielle Schwierigkeiten hat, frage ich mich, warum wurden. Aber ich widerspreche Ihrer Generaleinschät-(C) das die Bundesagentur für Arbeit, die Rentenversiche- zung. rungsträger und die Träger der örtlichen und überörtli- chen Sozialhilfe usw. nicht umsetzen können. Fördern und Fordern, so nennen Sie ein zentrales Ele- ment Ihrer Politik, auch in diesem Bericht. Nur mal ganz nebenbei: „Fördern und Fordern“ ist eine literarische Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Anleihe bei Makarenko, einem sowjetischen Pädagogen. Herr Kollege Haack, denken Sie ein bisschen an die Zeit. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] – Ute Kumpf [SPD]: Wir haben Ma- karenko schon diskutiert, da waren Sie noch Beauftragter der Bundes- Karl Hermann Haack, gar nicht auf der Welt, Frau Pau!) regierung für die Belange behinderter Menschen: Sofort. – Wenn die „Interessenvertretung Selbstbe- Machen wir den Praxistest: Bundesweit sind stimmt Leben“ ein Netzwerk von Nutzern des persönli- 17 Prozent aller Menschen mit Behinderungen arbeits- chen Budgets gründet, warum können dann nicht auch los. Das sind überdurchschnittlich viele. Sie spüren also die Reha-Träger etwas Ähnliches machen? noch stärker: Das rot-grüne Fordern greift, aber das rot- grüne Fördern nicht. Mein Ziel ist: Wir müssten – da ist Zivilcourage ge- fordert – eine Enquete-Kommission „Institutionelle Re- Dieselben Defizite zeigen sich bei der so genannten formen sozialer Sicherungssysteme“ einsetzen, die die Gesundheitsreform. Diese trifft vor allem Menschen, Aufgabe haben sollte, das operative Geschäft von Bund, die ganz besonders auf medizinische Leistungen ange- Ländern und Gemeinden sowie der sozialen Sicherungs- wiesen sind. Menschen mit Behinderungen gehören systeme zu durchleuchten. dazu. Deshalb ein Wort an den Kollegen Haack: Da kön- nen Sie sich nicht allein mit der Union und ihren Vor- Danke. schlägen herausreden; Sie von der Koalition hätten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – nach einem Jahr so genannter Gesundheitsreform – DIE GRÜNEN) alle Möglichkeiten gehabt, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tionslos]) Wir sind ja alle Zeuge einer interessanten Wette ge- worden. Aber, Herr Kollege Haack, Sie waren nicht der Novellierungen vorzuschlagen, die beispielsweise bein- Letzte in der Reihe der Rednerinnen und Redner, son- halten, Kinder von 13 bis 17 Jahren oder eben auch (B) dern das ist die Kollegin Petra Pau. Menschen mit Behinderungen von der Medikamenten- (D) bezahlung zu befreien. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Wir sind immer noch beim Praxistest. Sie kennen die Kritik der PDS an der Steuerpolitik. Diese geht unter an- derem zulasten der Kommunen. Vieles, was Menschen (fraktionslos): Petra Pau mit Behinderungen vor Ort helfen könnte, scheitert auch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! daran. Wir diskutieren heute über zweierlei: über den Bericht der Bundesregierung zur Lage behinderter Menschen, Zum Schluss ein Erlebnis aus der vergangenen Wo- also über Politik, und über den Alltag von Menschen mit che. Ich war im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und Behinderungen, also über das richtige Leben. Dass bei- lernte dort eine engagierte Frau kennen. Sie war vor Jah- des nicht dasselbe ist, belegt auch der vorliegende Be- resfrist von Bundespräsident Horst Köhler zur „Tafel der richt: Er ist lang, anspruchsvoll und zielt auf Verbesse- Demokratie“ eingeladen worden und fand bei ihrem ers- rungen, aber er trifft nicht die reale Lebenssituation. ten Berlin-Besuch, dass Rollstuhlbewegte es hier viel leichter als bei ihr zu Hause in Herne hätten. Ich weiß, Das beginnt schon mit der Einleitung. Die Bundesre- dass Menschen mit Behinderungen ausBerlin, von de- gierung schreibt, sie habe einen politischen Paradigmen- nen einige auch heute hier der Debatte folgen, das sehr wechsel eingeleitet, und lobt, dass ihreAgenda 2010 viel kritischer sehen. Aber sie berichtete mir, dass sie zu neue Chancen für Menschen mit Behinderungen eröff- Hause an keinen Geldautomaten herankomme, dass das ne. – Eines stimmt: Die Agenda 2010 ist ein Paradig- neu errichtete Gerichtsgebäude für Menschen wie sie menwechsel; denn sie ist der Gegenentwurf zu einem kaum erreichbar sei, dass der Nahverkehr neue Hürden modernen, bürgerrechtlichen Sozialstaat. aufbaue und die viel gelobten Servicestellen überlastet (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- seien. tionslos]) Kurzum: Die PDS im Bundestag erwartet von der Gerade Menschen mit Behinderungen aber brauchen den Bundesregierung einen realistischen Bericht und keine Sozialstaat besonders. Sie haben ein Recht auf demokra- Schönfärberei. Vor allem aber fordern wir einen Politik- tische Teilhabe und auf aktive Solidarität. wechsel – auch im Sinne der Menschen mit Behinderun- gen. Damit spreche ich überhaupt nicht gegen Einzeler- folge, die im Bericht ebenfalls aufgeführt sind. Ich spre- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- che auch nicht gegen einzelne Vorhaben, die aufgelistet tionslos]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16437

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie verdienen diese Ehre, lieber Joschka Fischer,(C) Ich schließe damit die Aussprache. für Ihre Integrität und Ihre Vision, für Ihre Phanta- sie und für Ihren Mut, fürIhre tiefe Empathie mit Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf allen Opfern von Ungerechtigkeit und, nicht zu- den Drucksachen 15/4575, 15/4927, 15/4928, 15/5463 letzt, für Ihre warme, unbeirrbare Empathie für das und 15/5460 an die in der Tagesordnung aufgeführten jüdische Volk und für Israel. Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den Druck- sachen 15/4927 und 15/4928sollen zusätzlich an den Wir schließen uns dieser Gratulation an, lieber Joschka Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie Fischer. damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Überweisungen so beschlossen. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Angela Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Merkel [CDU/CSU] und des Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU]) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIENoch einmal Amos Oz in der gleichen Rede: GRÜNEN und der FDP Das jüdische Volk hat … ein langes und schmerz- 40 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen volles historisches Gedächtnis. der Bundesrepublik Deutschland und Israel – Das Gedenken an den Holocaust, die Eröffnung des Im Wissen um die Vergangenheit die Zukunft Mahnmals wenige Schritte von hier – das haben wir alle gestalten miterlebt – und die Debatte darüber, wie der, der es be- – Drucksache 15/5464 – geht, beim Gehen in ihm seinen Sinn aufschließt, ma- chen deutlich – jeder wird es in seinem Gedächtnis be- Da ich den Herrn BotschafterStein auf der Tribüne wahren –: Vom Holocaust geht eine ungeheure Macht gesehen habe, möchte ich ihn im Namen von uns allen aus. Sein Schrecken schwindet nicht. Diese Wunde wird zu dieser Debatte begrüßen. die Zeit nicht heilen. (Beifall) Schimon Perez hat heute in der „Welt“ geschrieben: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Je mehr wir über den Mord an den Juden erfahren, Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich desto weniger wissen wir über ihn. höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Er fordert heraus, auf die Frage „Warum?“ eine Antwort zu finden: Warum konnten Deutsche das banal Böse ver- (B) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst (D) der Abgeordnete Gert Weisskirchen. körpern? Warum haben sie den Nachbarn verraten? Wa- rum haben sie sich zu wenig aufgebäumt? Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Diese Fragen werden nie ein Ende nehmen und sie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dürfen kein Ende nehmen. Denn sie zwingen uns immer Nach der „dunkelsten aller dunklen Nächte“ dämmerte wieder neu, genau das zu tun, worauf es ankommt, näm- der Morgen. Mit diesem Bild hat Zalman Shazar, damals lich Tugenden zu festigen, die jeder Einzelne braucht Staatspräsident Israels, die Aufnahme der diplomati-und die wir alle in jenem Moment brauchen, in dem sich schen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern das Böse zeigt. In diesem Augenblick müssen wir als gekennzeichnet. Einzelne und als Kollektiv, als Deutsche und als Euro- päer den Mut und die Kraft haben, uns gegen das neu David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, beide hat- entstehende Böse, in welcher Gestalt auch immer es er- ten mit eigenen Augen gesehen, wie Deutsche die dünne scheint – ob in altem oder in neuem Antisemitismus –, Haut der Zivilisation aufbrachen und dem Willen Hitlers zu wehren. Das ist dashistorische Vermächtnis. Ge- folgten. Die Schoah ist präsent in Israel und auch in rade der Bundestag muss darüber wachen. Dies darf nie Deutschland. Der Holocaust war der monströse Riss, den vergessen werden. die Nationalsozialisten in die Zivilisation und zugleich in die Zeit mit ungeheuerlichem Einsatz von Terror ge- (Beifall im ganzen Hause) schlagen haben. Hitler – das muss immer wieder verge- Es werden neue Fragen hinzukommen: Wird die Erin- genwärtigt werden – wollte die Juden dazu verdammen, nerung ausreichen, um die Beziehungen neu zu festigen? in diesem Riss zu verschwinden. Für immer sollte es für Wie verändert sich das Geschichtsverständnis, wenn es die Juden keine Zukunft geben, keinen Ort – nirgends. dereinst einmal keine Zeitzeugen mehr geben wird? Was Diese Vergangenheit und die Erinnerung daran werden müssen wir, Israelis und Deutsche, gemeinsam tun, da- nicht vergehen. Die Nazidiktatur und mit ihr alle, die sie mit die Zeugenschaft weitergegeben wird? gestützt haben, haben in den Namen Deutschland ein Mal eingebrannt und dieses Mal heißt Holocaust. Es (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne wird bleiben bis an das Ende aller Zeiten. Kastner) Amos Oz hat es vor zwei Tagen gesagt, als er Ihnen, Manche von uns waren dabei, als in der letzten Wo- sehr geehrter Herr Außenminister, zur Verleihung des che March of the Living daran erinnerte, wie die Überle- Leo-Baeck-Preises gratulierte. Seinen Worten schließe benden von Auschwitz damals ihren Weg in die Freiheit ich mich ausdrücklich an. Er sagte: angetreten haben. Zum ersten Mal durften Deutsche 16438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) Juden auf diesem Weg begleiten. Das war, liebe Kollegin Ende letzten Jahres vom Jugendministerium, jetzt durch (C) Müller und alle anderen, die dabei waren, ein wunderba- die Mittel für das Civitas-Programm gefördert. Das sind res Zeichen der Zuneigung und des Vertrauens in unswunderbare Beispiele. Diese müssen wir mehren, erwei- Deutsche. Dieses Vertrauen müssen wir bei uns und in tern und verstärken, damit junge Menschen einander uns bewahren. kennen lernen und Missverständnisse, die es bei man- chen Selbstverständnissen zwischen Israel und Deutsch- (Beifall im ganzen Hause) land gibt, abgebaut werden können. Was wir beide, Aber was wird eigentlich – das ist eine wichtigeDeutschland und Israel, brauchen, ist genau das, was Frage – in 20, 30 Jahren geschehen? Was werden dann Schimon Stein von uns erwartet, fordert und wünscht: die Inhalte des historischen Bewusstseins sein? Driften Lassen wir uns das Trennende überwinden und wir wer- dann die Verständnisse auseinander, beispielsweise in Is- den feststellen, dass uns viel mehr vereint als trennt. rael das fast partikulare Wissen darum, dass die Schoah Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war ein mit der Judenheit zu tun hat, und in Deutschland der im- gutes, ein ermutigendes Ereignis. Wir sind als Deutscher mer wieder stattfindende Versuch, dieses Gedenken zu Bundestag aufgerufen, diese Kontinuität fortzusetzen universalisieren? Besteht dann nicht die große Gefahr, und zu verstärken. Das wünsche ich mir. Ich bin auch si- dass etwas auseinander driftet, was doch zusammenge- cher, dass der Bundestag das tun wird. hört? Ich würde herzlich darum bitten, dass in dasKultur- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ abkommen, das hoffentlich bald unterzeichnet wird, der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Gedanke aufgenommen wird, die Historiker darum zu CDU/CSU) bitten, genau diesen Punkt gemeinsam zu erörtern, um uns Hinweise zu geben, wie ein gemeinsames Gedenken, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das Wissen und das Bewahren des Wissens um den Ho- Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe, CDU/ locaust und die Schoah uns Deutsche auch künftig in ei- CSU-Fraktion. nem kulturellen Gedächtnis verbinden könnten. Ich finde, das wäre eine gute Aufgabe für Historiker. Es gibt Hermann Gröhe (CDU/CSU): viele Historiker, die an diesem Thema arbeiten. Es wäre Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und klug, wenn beide Regierungen die Historiker bitten wür- Herren! Vor vier Tagen haben wir des Endes des Zweiten den, gemeinsam an diesem großen Projekt zu arbeiten. Weltkrieges und der Befreiung Deutschlands und Euro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ pas von der Nazibarbarei vor 60 Jahren gedacht. Vor DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zwei Tagen wurde in eindrucksvoller Weise das Denk- (B) (D) FDP) mal für die ermordeten Juden Europas eröffnet. Heute erinnern wir an die Aufnahme der diplomatischen Bezie- Wenn Normalität hieße, das einzigartig Herausra-hungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und gende unserer Beziehungen werde eingeebnet, danndem Staat Israel, die am 12. Mai 1965 bekannt gegeben muss dem Einhalt geboten werden. Wenn Normalität al- wurde. lerdings heißen soll – das hoffe ich –, Israelis und Deut- sche sollten einander besser verstehen lernen und häufi- Wer durch das von Peter Eisenman gestaltete Stelen- ger das jeweils andere Land besuchen, dann sollten wir feld geht und wer am „Ort der Information“ die Namen dazu aufrufen. Die praktische Zusammenarbeit in wis- und Schicksale der von Deutschen ermordeten jüdischen senschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer undKinder, Frauen und Männer hört, der kann etwas erah- übrigens auch in sicherheitspolitischer Hinsicht hat sich nen von der Größe jener Staatsmänner – ich nenne die erstaunlich rasant und positiv entwickelt. Deutschland Namen Nahum Goldmann und David Ben Gurion –, die ist für Israel der wichtigste Partner in der Europäischen trotz allen Schmerzes, tiefer Zweifel, ja verständlicher Union und der zweitwichtigste Partner nach den USA. Empörung im eigenen Land Schritte auf die junge west- Auch das ist ein wunderbares Zeichen für das Vertrauen, deutsche Demokratie zugingen. das Israel in uns setzt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die kulturellen Verbindungen sind außerordentlich neten der SPD und der FDP) fest. Der Wunsch, die deutsche Sprache zu lernen, wird In der Bundesrepublik Deutschland hatte sich Bun- immer stärker, besonders bei jungen Menschen. Viele deskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklä- Projekte stiften Freundschaft und helfen, dass Vertrauen rung vom 27. September 1951 unmissverständlich und gefestigt wird. Ich will ein solches Projekt nennen und es mit einhelliger Zustimmung des gesamten Deutschen herausheben: Aktion Sühnezeichen. Diese Aktion arbei- Bundestages zur Verantwortlichkeit Deutschlands für die tet an den Werken, die uns versöhnen helfen. Sie lindern nationalsozialistischen Verbrechen sowie zur Pflicht mo- Schmerzen. Sie bauen an einer gemeinsamen Zukunft. ralischer und materieller Wiedergutmachung gegenüber Ich möchte darüber hinaus eine Initiative nennen, die den Vertretern des Judentums und dem Staat Israel be- fast im Verborgenen arbeitet. Sie ist wunderbar. Rudikannt. Nach derUnterzeichnung des Luxemburger Pahnke – der eine oder andere wird ihn kennenWiedergutmachungsabkommens – von 1952 markiert kämpfte schon in der DDR als evangelischer Pfarrer für die Begegnung von Ben Gurion und Adenauer 1960 in die Freiheit. Seit einigen Jahren widmet er sich demNew York einen weiteren tscheidenden en Schritt auf Austausch deutscher und israelischer Jugendlicher, bis dem Weg zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16439

Hermann Gröhe (A) Die Bereitschaft israelischer Staatsmänner, über den verankert sind. Der eindrucksvoll entwickelte For-(C) Abgrund der Schoah, jenes in der Menschheitsge-schungsstandort Israel ist für uns ein wichtiger Partner schichte einzigartigen Verbrechens, Brücken zu bauen, bei der gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Wir wol- war, wie Schimon Peres einmal formulierte, „kein Sieg len einen Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts leis- des Vergessens über die Erinnerung, sondern ein Sieg ten. Israels Bevölkerung muss endlich ohne Angst vor der Hoffnung über die Verzweiflung, ein Sieg des Ver- Terror leben können. trauens“. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zugleich bekennen wir uns zum Recht des palästinensi- So wie uns der kalt und perfektionistisch ins Werk ge- schen Volkes auf einen demokratischen und lebensfähi- setzte Mord an 6 Millionen Juden sowie der Massen-gen Staat. Aufgrund des historischen Erbes haben die mord an Hunderttausenden anderer Opfer des NS-Re- deutsch-israelischen Beziehungen bleibend einen beson- gimes die niedrigste Gesinnung vor Augen führt, zu der deren Charakter. Menschen fähig sind, Angehörige unseres Volkes fähig Dankbar denken wir an das in den letzten vier Jahr- waren, so führt uns diese Haltung der Hoffnung und des zehnten Erreichte. Zur Selbstzufriedenheit besteht indes Vertrauens die höchste Gesinnung vor Augen, zu der kein Anlass. Denn wenn bei einer Allensbach-Umfrage, Menschen fähig sind. Beides dürfen wir nicht vergessen. die im März 2005 durchgeführt wurde, 25 Prozent der in (Beifall im ganzen Hause) Deutschland Befragten Israel als größte Bedrohung für den Frieden in der Welt nannten und wenn Deutschland Ich denke, in den Worten von Sabine van der Linden, je- bei jugendlichen Israelis in der Beliebtheitsskala der ner Holocaust-Überlebenden, die heute in AustralienStaaten auf den hinteren Rängen – in der Nachbarschaft lebt und die vorgestern bei der Denkmaleröffnungvon Russland, Iran und Syrien – rangiert, dann zeigt sprach, war etwas von dieser Größe, von dieser höchsten dies: Die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten Gesinnung zu spüren. zu vertiefen und in den Herzen und Köpfen der Men- schen, gerade der jüngeren Menschen, zu verankern ist Wahr ist aber auch, dass die Transparente, auf denen eine bleibende Aufgabe. am 8. Mai auf dem Alexanderplatz gegen eine angebli- che Befreiungslüge und einen vermeintlichen Schuldkult Auch dazu verpflichten wir uns mit unserer heutigen gewettert wurden, zeigen: Der Ungeist, der so unermess- Beschlussfassung, die erneut eindrucksvoll belegt, welch liches Leid über ganz Europa und in besonderer Weise hohen Stellenwert alle Fraktionen dieses Hauses den Be- über die Juden Europas brachte, ist nicht verschwunden. ziehungen zwischen Deutschland und Israel einräumen Er muss täglich aufs Neue und mit ganzer Entschieden- und auch in Zukunft beimessen werden. (B) heit bekämpft werden. Vielen Dank. (D) (Beifall im ganzen Hause) (Beifall im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, in unserem gemeinsamen Antrag ist beschrieben, in welcher Weise die Beziehun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen zwischen Deutschland und Israel in den letzten vier Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Jahrzehnten gewachsen sind, sodass Deutschland heute Bündnis 90/Die Grünen. engere Beziehungen zu Israel unterhält als zu jedem an- deren Land außerhalb Europas und Nordamerikas. Kein Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verantwortlicher Mensch in Deutschland will einen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schlussstrich unter die Erinnerung an die NS-Vergan- Deutsche haben 6 Millionen europäische Juden mit der genheit ziehen. Zu Recht hat Bundespräsident Horstkalten, industriellen Logik der Konzentrationslager er- Köhler am 2. Februar dieses Jahres vor der Knesset er- mordet. Der Tod war für diese Menschen „ein Meister klärt, dass die – ich zitiere ihn – „Verantwortung für die aus Deutschland“, wie es in dem berühmten Gedicht Schoah Teil der deutschen Identität“ ist. „Todesfuge“ von Paul Celan heißt. Aus diesem Grund ist heute, 40 Jahre, nachdem Israel und Deutschland bzw. Gerade deshalb konnten den Beziehungen zum Ju- Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen zu- dentum und damit auch den Beziehungen zum Staat Is- einander aufgenommen haben, nichts normal und selbst- rael neue Kapitel hinzugefügt werden. Viele Menschen verständlich. Ich sage klar: Wir hatten auf das, was wir in Deutschland wie in Israel haben inzahllosen Part- in diesen 40 Jahren erleben und aufbauen konnten, kei- nerschaften in allen Bereichen des gesellschaftlichen nen wirklichen Anspruch. Lebens tatkräftig an diesen Kapiteln mitgeschrieben. In diesem dichten Netz, das unter anderem über 100 Städte- Wenn es stimmt – wir teilen diese Auffassung –, dass partnerschaften, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Bil- die Verantwortung für die Schoah, wie es Bundesprä- dungseinrichtungen, Sportvereine, die Freiwilligen von sident Köhler sagte, „Teil der deutschen Identität“ ist, „Aktion Sühnezeichen“ und „Pax Christi“ sowie zahl- dann möchte ich klar sagen: Verantwortung ist für mich lose Künstler und Wissenschaftler miteinander geknüpft ein Begriff, der nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit haben, entstanden zahllose Freundschaften. Wirkungskraft hat. Wenn Verantwortung nicht auch auf Gegenwart und Zukunft wirkt, bleibt sie eine leere Mit Israel verbinden uns gemeinsame demokratische Phrase. Überzeugungen sowie Werte, die im Judentum und im Christentum, im Humanismus und in der Aufklärung (Beifall im ganzen Hause) 16440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Fritz Kuhn (A) Deswegen möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, An die CDU und die FDP eine Bemerkung zum(C) was diese Verantwortung in Bezug auf unsere heutige Nachdenken: Ich fand es nicht so gut, dass am Montag politische Gegenwart eigentlich ausmachen kann. bei der Veranstaltung des Zentralrates der Juden zur Übergabe des Leo-Baeck-Preises an Joschka Fischer Der erste Punkt ist: Wir haben eine Mitverantwortung von der Unionsfraktion und von der FDP-Fraktion – so- dafür, dass der Staat Israel in international anerkannten weit das sichtbar war – niemand da war. Sie müssen sich Grenzen existiert und dass seine Menschen ohne Angst, überlegen: Sie haben da nicht nur Joschka Fischer boy- Sorge und Terror leben können. kottiert – was Ihr politisches Recht ist –, sondern Sie ha- ben eine Veranstaltung des Zentralrates der Juden nicht Der zweite Punkt, den ich nennen möchte, ist, dass besucht. Frau Merkel, vielleicht war es nur eine Panne, wir eine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der aber ich finde, Sie sollten noch einmal darüber nachden- Erinnerungskultur haben. Das schreckliche Morden an ken, ob es klug ist, in Deutschland bei solchen Preisver- den europäischen Juden muss auch weiterhin erinnertleihungen als Fraktion nicht vertreten zu sein. werden, und zwar umso mehr, je weniger Zeitzeugen – Menschen, die uns etwas erzählen können – noch le- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- ben. Es geht um die Frage, wie wir die Erinnerung tat- loch] [SPD]) sächlich praktizieren und wie wir an die heute 40- oder 50-Jährigen weitergeben, wie sie diese Erinnerung für Es war jemand von der Konrad-Adenauer-Stiftung da, ihre Kinder oder Enkel tradieren können. Geschichteaber niemand von Ihren Fraktionen; darüber sollten Sie und gerade so grausame Geschichte besteht übrigensnachdenken. nicht nur aus Episoden und den Erzählungen von Einzel- schicksalen, sondern wir müssen uns auch immer wieder (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- – auch in 20, 30 Jahren – analytisch die Frage stellen, SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) was die Ursachen für diese Entwicklung waren. Ich sage Ich möchte noch einen weiteren Punkt nennen, der dies ganz bewusst, weil ich gegenwärtig sehen kann,mit Verantwortung zu tun hat. Vielleicht haben wir auch dass manche in Deutschland doch eine Neigung haben, eine politische Mitverantwortung – ich bin sicher, dass die Geschichte in Einzelschicksale und Einzelgeschich- wir sie haben – dafür, den heutigen Konflikt zwischen ten aufzulösen. Diese gehören dazu – ich will es nicht den Israelis bzw. dem Staat Israel und den Palästinen- negieren –; oft wird Geschichte plastischer und transpa- sern, die noch keinen eigenständigen Staat haben, mit zu renter, wenn man dies tut. Aber wir müssen auch dieentschärfen. Ich finde, es gehört zu unserer Verantwor- Frage nach den Ursachen, die weiter zurückreichen kön- tung, dabei zu helfen – mit den Mitteln der Politik, mit nen als bis 1933, weiter stellen; auch das ist für mich ein den Mitteln der wirtschaftlichen Unterstützung und mit (B) Aspekt einer aktiven und vernünftigen Erinnerungskul- den Mitteln der Diplomatie –, diesen Konflikt zu ent- (D) tur. schärfen. Der Weg ist mit der Roadmap, mit der Vorstel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lung der Völkergemeinschaft, dass wir zwei Staaten und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der brauchen, die auch lebensfähig sind, vorgezeichnet. Ich CDU/CSU und der FDP) finde, dass vieles, was von dieser Regierung in der Ver- gangenheit getan wurde, aber auch, was in den nächsten Der dritte Punkt – was Verantwortung heute heißen Monaten und im nächsten Jahr zu tun ist, in diese Rich- kann –: Sinnvollerweise heißt Verantwortung für mich, tung weisen muss. dass wir in der Gegenwart Antisemitismus und Rassis- mus in unserem Land und überall auf der Welt, wo wir Da sind wir bei der spannenden Frage, ob Deutsche es können, aktiv bekämpfen müssen. heute eigentlich – Johannes Rau hat gestern etwas dazu gesagt – israelische Politik kritisieren dürfen. Ich will (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- meine klare Antwort geben, von der ich weiß, dass viele SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ in meiner Fraktion sie teilen: Aus der Perspektive von CSU und der FDP) Freundschaft und aus der Perspektive der genannten Ver- antwortung kann man dies tun – aber als Deutscher nicht Ich glaube, dass dies eine Selbstverständlichkeit ist; nie- mit dem Gestus der Anklage, sondern als jemand, der mand wird sagen: Nein, das ist nicht so. Aber wir müs- Fragen stellt, der Besorgnisse artikuliert, der eben genau sen uns schon fragen, ob wir dies politisch auch wirklich hinschauen will und am Existenzrecht Israels und der Si- ausreichend tun, ob – ich will ein willkürliches Beispiel cherheit seiner Menschen orientiert Vorschläge macht. nehmen – die von den Ländern finanzierten Programme Wenn ich zur aktuellen Situation in Israel und in Paläs- für Aussteiger aus der rechtsradikalen Szene gekürzttina etwas sagen sollte, würde ich sagen: Es gibt eine werden sollen oder nicht. Das sind Fragen, an denenneue Chance für Frieden dort. Das ist eine ganz zarte deutlich wird, wie ernst wir es mit der Bekämpfung von Pflanze und wir müssen einen Beitrag leisten, dass sie Rassismus und Antisemitismus meinen. Damit will ich wachsen und gedeihen kann. Es gibt so etwas wie einen sagen: Das kann nicht nur am Sonntag stattfinden oder in Waffenstillstand. Es gibt den Gaza-Rückzug, den man Parlamentsdebatten dieser Art, sondern es entscheidet als positives Zeichen sehen kann. Ich habe die Hoffnung, sich überall – kommunal, auf der Ebene der Länder und dass weitere Zeichen auf beiden Seiten folgen werden, natürlich auch des Bundes –, ob wir wirklich bereit sind, auf der israelischen wie auch auf der palästinensischen diesen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus auf- Seite, die uns endlich konsequent auf den in der zunehmen. Roadmap vorgezeichneten Weg bringen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16441

Fritz Kuhn (A) Ich habe Verständnis dafür, dass Zäune – ich denke an keit des Staates Israels: Ich gratuliere Ihnen ganz herz-(C) die Zäune, die jetzt in der Westbank errichtet werden – lich dazu. wirklich vor Terror schützen können. Deshalb verstehe (Beifall im ganzen Hause) ich, dass solche Zäune aufgebaut werden. Ich möchte aber doch die Warnung bzw. Besorgnis zum Ausdruck Das bedeutet aber auch 57 Jahre, in denen man immer bringen, dass die Zäune soliegen müssen, dass sie die wieder um das Existenzrecht des Staates Israels kämpfen Entfaltungsmöglichkeiten der Palästinenser nicht so ein- musste: in fünf Nahostkriegen, in einer Situation, in der schränken, dass ein möglicher künftiger palästinensi- noch lange nicht alle islamischen Staaten das Existenz- scher Staat insgesamt nicht lebensfähig ist. recht Israels anerkennen, in einer Situation, in der wir auf einem guten Weg sind, die aber noch lange nicht ge- Ich finde, in dieser Spannung kann die deutsche Poli- sichert ist, in einer Situation, in der durchaus auch mili- tik mit aller Vorsicht, also nicht mit dem Gestus der An- tärische Stärke vonnöten ist, um das uneingeschränkte klage, auch dazu beitragen, dass der Weg zum Frieden Existenzrecht des Staates Israel als jüdischer Staat in si- dort wirklich gegangen wird. Das ist jedenfalls die Hoff- cheren Grenzen ohne Angst und ohne Terror für die Zu- nung, die meine Fraktion hat. Ich glaube, das ganze kunft zu gewährleisten. Haus teilt diese Hoffnung, dass wir jetzt am Neuanfang eines friedlichen Weges stehen. Er wird schwierig sein Den Zusatz „als jüdischer Staat“ hätte ich mir auch in und viele Rückschläge bringen, aber 40 Jahre deutsch- dem gemeinsamen Antrag gewünscht; denn die Feier- israelische diplomatische Beziehungen sollten natürlich lichkeiten der vergangenen Tage zeigen, dass es notwen- auch von der Hoffnung der Menschen in Israel und Pa- dig ist, dass Israel als discher jü Staat in den nächsten lästina auf Stabilität, Frieden und Sicherheit in der gan- 40 Jahren und darüber hinaus Existenzmöglichkeiten in zen Region für die Zukunft getragen sein. Sicherheit hat. Wir müssen die Beziehungen zu Israel vertiefen. Sie (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ sollen sich nicht automatisieren, routinisieren oder nor- CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- malisieren. Die Besonderheit muss bestehen bleiben. Ich SES 90/DIE GRÜNEN) hoffe, dass ein solches Gedenken bzw. eine solch erin- nernde Debatte, wie wir sie heute führen, ein BeitragDeswegen hätten wir auch hier darauf eingehen sollen. dazu ist, dass dies bestätigt wird und dass wir die Bezie- Nichtsdestotrotz ist vieles genannt worden, was rich- hungen in den nächsten Jahren vertiefen können, sodass tig ist, zum Beispiel gute wirtschaftliche Beziehungen wir in zehn Jahren mit einem noch positiveren Bild als zwischen Deutschland und Israel – der zweitwichtigste heute dastehen können. Handelspartner für Israel ist die Bundesrepublik Deutschland – und hervorragende wissenschaftliche Be- (B) Ich danke Ihnen. (D) ziehungen. Ich hatte das Glück, im Februar mit dem (Beifall im ganzen Hause) Bundespräsidenten in Israel sein zu dürfen. Wir haben eine zukunftsgerichtete Reise gemacht. Der Bundesprä- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sident hat insbesondere die Themen Forschung, Zu- Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion. kunftsentwicklung und Jugendaustausch angesprochen und sich entsprechende Projekte angeschaut. Wir haben hier ein ungeahnt großes Gebiet von Möglichkeiten, auf Dirk Niebel (FDP): dem wir uns gegenseitig befruchten und voneinander ler- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nen können. Herren! Die Beziehungen zwischen Deutschland und Is- rael sind einzigartig und sie werden es auch immer blei- Ich glaube, wir sollten überlegen, wie wir unsere ge- ben. Es war in den letzten 40 Jahren nicht vorbestimmt, meinsamen Interessen in den nächsten 40 Jahren neu de- dass sie sich so entwickeln würden, wie sie es taten. finieren. 20 Jahre nach Ende der Schoah hatten wir das große Unser gemeinsames Interesse liegt darin, Forschung Glück, zwei Staatsmänner zu haben, Konrad Adenauer voranzutreiben, weil beide Länder in der globalen Welt und David Ben Gurion, die die mutige Entscheidung ge- niemals über Niedriglöhne, sondern nur über die besse- troffen haben, dass unsere Länder aufeinander zugehen. ren Ideen, Produkte und Dienstleistungen konkurrieren Von daher glaube ich gar nicht mal, dass es heute ein Tag können. Da gibt es Bereiche, in denen wir Deutsche des Erinnerns sein sollte, sondern ein Tag, um in die Zu- schon die Lernenden geworden sind. Dies haben wir in kunft zu schauen. Israel auf den Feldern Nanotechnologie, Hirnforschung, Stammzellenforschung und Gentechnik erlebt. Es gibt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber auch Bereiche, in denen Israel sehr gut von uns ler- der CDU/CSU) nen kann. Beides zusammen führt zu zukunftssicheren Ich war damals zwei Jahre alt und mich interessieren ei- Arbeitsplätzen in beiden Ländern. gentlich mehr die nächsten 40 Jahre der deutsch-israeli- Auch können wir von Israel lernen, wieIntegration schen Beziehungen, die auf uns zukommen. gelingt. Integration wird eines der Zukunftsthemen der Man muss hier auch sagen, dass heute nicht nur über deutschen Innenpolitik werden. Es täte uns gut, wenn 40 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehun- wir uns vergegenwärtigten, wie es dieses kleine, mutige gen debattiert wird, sondern heute ist auch Land Yom geschafft hat, so viele unterschiedliche Kulturen Ha’atzma’ut. Herr Botschafter, 57 Jahre Unabhängig- und so viele unterschiedliche Menschen aus vielen 16442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dirk Niebel (A) Ländern zu integrieren und dazu zu bringen, für den Dirk Niebel hat Recht: Wir müssen so, wie es auch in (C) Fortschritt und den Wohlstand aller in diesem Lande zu unserem Antrag steht, im Wissen um die Vergangenheit arbeiten. eine Brücke schlagen, um gemeinsam mit Israel die Zukunft zu gestalten. Dies ist mir auch als ein Vertreter Des Weiteren haben beide Länder ein gemeinsames der jüngeren Generation in diesem Hause ein großes An- Interesse daran, zu diskutieren, wie wir den Terrorismus liegen. Es ist wichtig, dass jede Generation ihren Weg in der Welt und die Verbreitung von Massenvernich- findet, die Vergangenheit zu verinnerlichen und Verant- tungswaffen bekämpfen können und wie wir es schaffen, in einer friedlicheren Zukunft zu leben. Über diese The- wortung für sie zu übernehmen. Ich werde es nie verges- men sollten wir uns in den nächsten 40 Jahren sen, der wie ich mit einer Gruppe von jungen Kolleginnen deutsch-israelischen Beziehungen unterhalten. und Kollegen des Bundestages im Mai 1999 in Yad Vashem ein Gespräch mit dem großen Yehuda Bauer Ich freue mich, dass die Bundesrepublik Deutschland hatte, der uns immer wieder Mut zusprach und uns sagte, und Israel nach der schwierigen Geschichte einen Weg wir sollten uns nicht schuldig fühlen, aber auch nie ver- gefunden haben, in Kenntnis dessen, was passiert ist,gessen, dass wir Verantwortung trügen. Dies gilt es zu nach vorn zu schauen. Ich freue mich, dass der Bundes- verinnerlichen und in die Tat umzusetzen. präsident deutlich gemacht hat, dass wir dies für die kommenden Jahre vorhaben. Deswegen bin ich Ihnen, (Beifall im ganzen Hause) Herr Botschafter, sehr dankbar, dass Sie uns immer als kritischer Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Ges- Hier ist viel zum weiteren Ausbau der bilateralen Be- tern hat Professor Lahnstein bei der Verleihung des Frie- ziehungen gesagt worden. Ich erinnere an den deutsch- denspreises der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ge- israelischen Jugendaustausch, der eine hervorragende sagt, Sie machten es sich und auch uns nicht immerArbeit leistet. Es ist auch schon viel zu unserer Verant- leicht. Dies ist wohl wahr. Aber nur so kommt man zu wortung bei der Bekämpfung des Antisemitismus gesagt einem guten Dialog. Freunde müssen miteinander imworden. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, zu sagen, dass Wettstreit der Meinungen über das Beste für die Zukunft unser Haus stolz darauf sein kann, dass wir mit Gert gemeinsam entscheiden können. Hier sind wir für dieWeisskirchen einen Kollegen haben, der zusammen mit nächsten 40 Jahre deutsch-israelischer Beziehungen auf dem Congressman Chris Smith in der OSZE dafür ge- einem guten Wege. sorgt hat, dass Antisemitismus ganz oben auf die Agenda gesetzt worden ist. Herzlichen Dank dafür. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie DIE GRÜNEN) (B) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- (D) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Förderung jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in unserem Land muss uns am Herzen liegen; Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: denn der Vernichtungsfeldzug der Nazis, der Holocaust, Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Frak- hat mit der jüdischen Kultur einen Teil unserer eigenen tion. europäischen Kultur auszuradieren versucht. Was gibt es Schöneres zu sehen, als dass jetzt in Deutschland wieder jüdisches Leben blüht? Das sollten wir mit allen Mitteln Dietmar Nietan (SPD): unterstützen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein bedeutender Tag. Ich bin der festen Über- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zeugung, dass wir in der Art und Weise, in der wir hier DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der auf der Grundlage eines gemeinsamen Antrags debattie- CDU/CSU) ren, zeigen, dass allen Fraktionen in diesem Hause und allen demokratischen Parteien Israel im wahrsten Sinne Wenn wir in die Zukunft schauen, heißt das auch, des Wortes am Herzen liegt. heute, an dem Tag, an dem wir mit großer Mehrheit die EU-Verfassung ratifiziert haben, konkret zu überlegen: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was kann Deutschland in der Europäischen Union tun, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der um Israel und Europa stärker zusammen zu bringen? CDU/CSU und der FDP) Israel gehört für mich zur euro-atlantischen Gemein- Willy Brandt, der 1973 alserster Bundeskanzler Is- schaft! Deshalb sind die Vorschläge im Rahmen der rael besuchte, sagte damals: neuen Nachbarschaftspolitik, die wir auf dem Tisch lie- gen haben, gute Vorschläge. Ich finde es bemerkenswert, Was insbesondere diese deutsch-israelischen Bezie- dass der israelische Botschafter bei der EU, Oded Eran, hungen angeht, so wird jedermann verstehen, wenn diese Vorschläge nicht nur sehr positiv aufgenommen, ich auch hier sage, dass sie einen besonderen Cha- sondern auch deutlich gemacht hat, dass Israel bereit ist, rakter haben. Diese Charakteristik bleibt unangetas- darüber hinaus mit der Europäischen Union zu kooperie- tet. Für uns kann es zumal keine Neutralität des ren. Da sollten wir den israelischen Botschafter in Brüs- Herzens und des Gewissens geben. sel beim Wort nehmen und ihn gerade als Deutschland in Besser kann man, wie ichglaube, diese Beziehungen der EU auf diesem Weg zu einer engeren Kooperation nicht beschreiben. mit Europa unterstützen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16443

Dietmar Nietan (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) CDU/CSU und der FDP) Aber auch die Unterstützung und Ausweitung der Ich stelle fest – ich hoffe, die Kollegin Hildegard Kooperation zwischen Israel und der NATO über das Müller verzeiht mir das, weil Hildegard Müller, Dirk Mittelmeerdialogprogramm und über die Istanbul-Initia- Niebel, ich und auch andere jüngere Kolleginnen und tive hinaus sind wichtig. Dirk Niebel hat es gesagt: Zu- Kollegen mit dieser Formulierung keine Probleme sammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung, der Be- haben –, dass dies vielleicht eine Frage von politischen kämpfung von Massenvernichtungswaffen, maritimeGenerationen ist. Vielleicht steht diese Formulierung Kooperation oder auch Kooperation in Bereichen wie zum 45. Jahrestag unserer Beziehungen im Antrag, weil Search and Rescue bieten sich hier einfach aufgrund ge- dann eine andere Generation politische Verantwortung meinsamer Interessen und großer Fähigkeiten Israels auf trägt. diesen Gebieten an. Zum Schluss möchte ich unseren ehemaligen Bundes- präsidenten Johannes Rau zitieren. Er hat, so glaube ich, Deshalb begrüße ich in diesem Zusammenhang die das gezeigt, worauf es ankommt, wenn wir an die nächs- vielen Initiativen, die es in Israel gibt. Ich nenne die Ini- ten Generationen denken. Er hat zum Abschluss seiner tiative von Uzi Arad, der Berater des Auswärtigen Aus- Rede vor der Knesset im Februar 2000 gesagt: schusses der Knesset ist und langjähriger Sicherheitsbe- rater von Herrn Netanjahu war, der deutlich gemacht hat, Ich bin überzeugt davon: Wenn wir der Jugend die dass auch in diesem Teil des politischen Spektrums in Is- Erinnerung weitergeben und sie zu Begegnungen rael das Interesse an einer Zusammenarbeit mit Europa ermutigen, dann brauchen wir uns um die Zukunft und auch mit der NATO wächst. Ich finde, wir sollten der Beziehungen zwischen Israel und Deutschland das unterstützen und zeigen, dass wir als Deutsche nicht nicht zu sorgen. nur in der EU, sondern auch in der NATO ein Motor für Ich wünsche Ihnen und uns diese Zuversicht. Das diese stärkere Zusammenarbeit sind. beginnende Jahrhundert soll ein Jahrhundert des (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Friedens werden: für die Söhne und Töchter GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- Abrahams und für unsere Welt. ten der CDU/CSU) Ich finde, wir sollten uns diese Worte von Johannes Rau zu Herzen nehmen. Ich sage das auch deshalb, weil wir mit Blick auf den Nahost-Friedensprozess – wir lassen uns den Optimis- Vielen Dank. (B) mus nicht nehmen – für die Zeit, wenn es dort Frieden (D) (Beifall im ganzen Hause) gibt, ein Angebot haben müssen, und zwar nicht nur für Israel und die Palästinenser in Bezug auf die konkrete Arbeit in diesem Friedensprozess und die Zeit danach, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sondern auch für Israel, damit es weiß, dass es sich wei- Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller, CDU/ terhin in unserer Gemeinschaft aufgehoben fühlen kann. CSU-Fraktion. Auch aus diesem Grund sind solche Initiativen der ver- stärkten Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Hildegard Müller (CDU/CSU): Union, der NATO und Israel eine Chance, die Kräfte in Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Israel zu stärken, die den Mut finden, für Israel schmerz- Herren! Wer hätte es angesichts der Verbrechen, die von hafte Konzessionen auf dem Weg zum Frieden zu ma- Deutschen und im deutschen Namen millionenfach an chen. Da sollten wir sie nicht alleine lassen. Juden begangen worden sind, für möglich gehalten, dass Deutschland und Israel heute als Partner und Freunde Wir müssen unsere Rolle bei der Gestaltung desmiteinander verbunden sind? Nach der Gründung des Nahost-Friedensprozesses ernst nehmen. Wir müssen Staates Israel und der Bundesrepublik Deutschland gab die Chance, die sich jetzt durch den Abzugsplan imes anfangs nur wenige Kontakte zwischen beiden Staa- Gazastreifen ergibt, nutzen. Auch hier müssen wir als ten. Die Initiativen in den 50er-Jahren scheiterten noch Europäer dafür sorgen, dass der Abzug aus dem Gaza- und es war sehr schwierig in den Anfangsjahren. Doch streifen nicht in eine Sackgasse führt, sondern ein Er- Konrad Adenauer und David Ben Gurion setzten den folgsmodell ist: über die Roadmap hin zu einem lebens- Weg einer offiziellen Wiederannäherung zwischen fähigen Zweistaatenmodell für Israel in Sicherheit, aber Deutschland und Israel gegen Widerstände in beiden auch für Palästina mit gesicherten Perspektiven. Ländern durch. Unser Botschafter Rudolf Dreßler hat gesagt: Die ge- Betrachtet man die Beziehungen heute, kann man zu sicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse un- der Auffassung gelangen, die Beziehungen seien normal. seres Landes. Sie ist somit ein Teil unserer Staatsräson. Junge Israelis besuchen in großer Zahl das Goethe-Insti- Ich möchte das ergänzen und ausdrücklich unterstrei-tut. Sie lernen Deutsch, weil sie in Deutschland studieren chen, was Dirk Niebel gesagt hat: Ich hätte mir ge-wollen, sich beruflich etwas davon versprechen oder ge- wünscht, dass in diesem gemeinsamen Antrag auch ste- schäftliche Kontakte pflegen, die vertieft werden sollen. hen würde, dass sich die Sicherheitsgarantie für Israel Die Zahl der israelischen Aussteller auf Messen wächst, auf Israel als einen Staat mit jüdischem Charakter be- die Zahl der Kooperationen und Joint Ventures auch. Glei- zieht. ches gilt für das Engagement von Deutschen in Israel. 16444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Hildegard Müller (A) Doch trotz dieser erfreulichen Entwicklung gilt es, westliche Zivilgesellschaft, die unsere Werte teilt.(C) vor der Begrifflichkeit „normal“ zu warnen, auch wenn Deutschland und Israel sind Partner, die wesentliche ge- wir uns noch so sehr danach sehnen. Normal im Sinne meinsame Interessen teilen. Das ist eine gute und belast- von „der Norm entsprechend“ oder – anders ausge- bare Grundlage für eine gemeinsame Zukunft. drückt – „üblich“ oder „durchschnittlich“ können die deutsch-israelischen Beziehungen niemals sein. Die Für diese Zukunft denke ich neben dem Ausbau der Beziehungen werden stets durch die Singularität derpolitischen Beziehungen – dazu ist heute schon vieles Schoah gekennzeichnet sein. Es ist zugleich wichtig,gesagt worden – an einen Ausbau der Partnerschaften dass nachwachsende Generationen das Bewusstsein und zwischen Städten, Vereinen und Schulen, an eine Vertie- den Wunsch nach besonderen Beziehungen zu Israel ent- fung des Jugendaustauschs und der Jugendbegegnung wickeln. Dies erscheint umso dringlicher, wenn die Op- sowie an eine Intensivierung der Zusammenarbeit im fer und Zeitzeugen des Holocausts, der Aussöhnung und Bereich Wissenschaft und Forschung. des Neubeginns die besondere Qualität der Beziehungen Im Februar durfte auch ich den Bundespräsidenten zwischen Deutschland und Israel zukünftig nicht mehr auf seiner Israelreise begleiten. Durch die Besuche im mit Leben erfüllen und gestalten können. Weizmann-Institut, im Technion in Haifa oder in dem Ein besonderes Augenmerk müssen wir stets demEntwicklungslabor eines deutschen Softwareherstellers Kampf gegen jegliche Form des Antisemitismus wid- habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir von Israel, men, ob er aus rechtsextremen, islamistischen, anti- das in der europäischenForschung und im Hightech- amerikanischen oder antizionistischen Motiven heraus Bereich eine wichtige Rolle spielt, sehr viel lernen kön- entsteht. Antisemitismus ist ein Verbrechen gegen die nen. Als rohstoffarme Länder sollten wir daher verstärkt Menschenwürde und hat keinen Platz in Deutschland. gemeinsame Forschungsvorhaben in der Bio- und Nano- technologie und zwischen Unternehmen aus der Infor- (Beifall im ganzen Hause) mations- und Kommunikationstechnik sowie der Phar- Es ist und bleibt unsere Verpflichtung, ihn in allen Aus- mazeutik und Medizintechnik anstoßen. prägungen gesellschaftlich zu ächten und mit der ganzen Härte des Gesetzes zu verfolgen. Deutschland muss in (Beifall bei der FDP) diesem Sinne auch eine starke Stimme in die Europäi- Über die Jahre sind in Wissenschaft und Forschung sche Union einbringen. sowie in Wirtschaft und Kultur auf gemeinsamen Inte- Vielen Menschen in Deutschland, aber auch in ande- ressen beruhende nachhaltige, enge, ja, ich darf sagen, ren europäischen Ländern fällt es schwer, zu begreifen, freundschaftliche Beziehungen entstanden. Sie sind le- in welcher Gefahr die Menschen in Israel seit Jahrzehn- bendig, belastbar und zukunftsorientiert. (B) ten leben. Wir kennen nicht diese Erfahrung, jederzeit (D) auf dem Weg zur Arbeit, im Café oder Restaurant Opfer Meine Damen und Herren, es mag unter diesen Part- eines Terroranschlags werden zu können. So trauern wir nern auch tagespolitische Meinungsverschiedenheiten mit unseren israelischen Freunden um dieOpfer des geben, jedoch lassen beide Partner keinen Zweifel an der Terrors. Auch ist uns fremd, dass die Existenz unseres Integrität und Verlässlichkeit des anderen aufkommen. Staates ernsthaft infrage gestellt wird. Israel hat seit sei- Beide Seiten stellen den anderen nicht infrage und die ner Gründung 1948 immer wieder seine Existenz vertei- Beziehungen müssen sich auch in Krisenzeiten weiter digen müssen. Bis zum heutigen Tage haben etwaverlässlich zeigen. 21 000 Soldaten ihr Leben gelassen. Ihrer hat Israel ges- Ich würde mich freuen, wenn mehr Deutsche Israel tern am Gefallenengedenktag Yom Hazikaron gedacht. besuchen würden. Es ist ein wunderbares Land. Stellt Bis zum heutigen Tag wirdIsraels Existenz von den doch ein persönlicher Kontakt die unvoreingenom- meisten seiner Nachbarländer nicht akzeptiert. Deshalb menste Möglichkeit einer engeren Beziehung zwischen ist für Israel die militärische Stärke zur Sicherung seiner Deutschen und Israelis dar. Existenz unverzichtbar. Für die Zukunft sollten wir die besondere Beziehung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie zu Israel neu beleben. Wir sollten es als unsere gemein- bei Abgeordneten der SPD) same Aufgabe betrachten und Bereiche und Projekte Deutschlands Beziehungen zum jüdischen Staat grün- identifizieren; denn unseren Beziehungen nützen weder den auf unserer Verantwortung für die Schoah und des- Sonntagsreden noch Lippenbekenntnisse an solchen Ta- halb sind unsere Beziehungen durch unser unerschütter- gen, meine Damen und Herren. Oder, um es mit dem liches Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel französischen Sprichwort auszudrücken: Rien n’est ja- und die Sicherheit seiner Bürger bestimmt. Israel wird mais acquis – nichts ist jemals endgültig erreicht und ge- sich in dieser Hinsicht stets auf Deutschland als Freund sichert. und Partner verlassen können. Die besondere Verantwor- tung, die wir für die Sicherheit Israels haben, werden wir Vielen Dank. auch in der internationalen Staatengemeinschaft immer (Beifall im ganzen Hause) einsetzen.

(Beifall im ganzen Hause) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Israel ist die einzige Demokratie im NahenDas Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch, Osten – ein Rechtsstaat, eine starke Wirtschaft und eine CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16445

(A) Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU): die – trotz anfangs größter Vorbehalte – Wegbereiter der (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Beziehungen wurde. Sie wussten, wie sehr sich Deutsch- Herren Kollegen! Das Ereignis, das wir heute würdigen land gewandelt hat. Bei allen guten Kontakten ist die wollen, ist nicht dem politischen Alltagsgeschäft ent-Einstellung jüngerer Israelis gegenüber Deutschland fast sprungen. Es lag nicht in der Logik der Dinge. Diploma- skeptischer als die der älteren. tische Beziehungen mit Deutschland schienen für viele Mit Sorge werden in Israel zu Recht antisemitische Israelis in den Jahren nach Kriegsende undenkbar zuTendenzen jeglicher Art und ein sich verschlechterndes sein. 1949 rief der Herausgeber der israelischen Zeitung Bild Israels in der deutschen Öffentlichkeit registriert. „Ha’aretz“, Gershon Schocken, dazu auf, alle gesell-Forderungen nach der Existenz eines Palästinenserstaa- schaftlichen Kontakte zu Deutschland abzubrechen. tes müssen genau abgewogen werden, damit nicht über- Hier wiederum gab es jahrelang keine intensive Aus- sehen wird, dass radikale Palästinensergruppen nicht für einandersetzung mit der Schoah. Ewig und endgültigeinen Staat neben Israel, sondern für einen eigenen Staat schien der Graben zwischen Israel und dem Land desanstelle Israels kämpfen. Aus diesem Grund kommt es Holocaust zu sein. Ihn zu überwinden, dazu bedurfte es auch zu Terrormaßnahmen. Viele Israelis fühlen sich so des Mutes, der Führungsstärke und nicht zuletzt des his- als Bürger eines demokratischen Staates im Kampf ge- torischen Verantwortungsbewusstseins zweier herausra- gen undemokratische Systeme um sich herum manchmal gender Staatsmänner: Konrad Adenauer und David Ben auch von uns im Stich gelassen. Gurion; sie wurden schon erwähnt. Bei ihrem legendä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ren Treffen im New Yorker Hotel „Waldorf Astoria“ im bei Abgeordneten der SPD) Jahre 1960 gelang es ihnen, gegen große Widerstände in ihren Heimatländern Diesen Anzeichen einer Entfremdung gilt es entschie- den zu begegnen. Wer die deutsch-israelischen Bezie- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: hungen bereits für selbstverständlich hält, sollte beden- Besonders in der CDU!) ken: Die besonderen Bedingungen, unter denen sie – ja, Sie haben Recht – einen Weg fortzusetzen, der 1952 bestehen, verbieten es, aus Nachlässigkeit Stereotypen mit dem Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen Vorschub zu leisten. Dass die NPD ihren Aufmarsch in begonnen hatte und bis zur Aufnahme voller diplomati- Berlin am vergangenen Sonntag absagen musste, weil die Bürger ihn durch Zivilcourage verhinderten, sollte scher Beziehungen 1965 führen sollte. Ben Gurion war dabei genauso bedacht werden wie der Mut, den die überzeugt davon, dass zwar die Schuldigen zu bestrafen israelische Regierung in letzter Zeit bei ihren friedens- seien, aber nicht deren Kinder. stiftenden Maßnahmen nach innen aufbringt. Es war allerdings ein Weg – auch daran muss erinnert (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (D) werden –, den der sozialistische Teil Deutschlands nicht bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- mitging. Die DDR Ulbrichts und Honeckers folgte viel- NISSES 90/DIE GRÜNEN) mehr einem demonstrativantiisraelischen Kurs und wurde dafür mit der offiziellen diplomatischen Anerken- Am 27. September 1951 sagte Konrad Adenauer im nung durch Ägypten 1967 belohnt. Deutschen Bundestag: (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Leider Es ist die vornehmste Pflicht des deutschen Volkes, wahr!) im Verhältnis zum StaatIsrael und zum jüdischen Volk den Geist wahrer Menschlichkeit wieder le- Die einzige Auslandsreise Walter Ulbrichts außerhalb bendig und fruchtbar werden zu lassen. des Ostblocks führte ihn nach Kairo. Dieser Satz verpflichtet niemanden, Fehler der israeli- Im Westen jedoch begann eine zaghafte Annäherung schen Politik zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Ich zwischen der Bundesrepublik und dem jüdischen Staat, möchte mich ausdrücklich dem anschließen, was Sie, die bald alle Ebenen umfasste. Selbst Adenauer und Ben Herr Kollege Kuhn, ausgeführt haben: Es kommt dabei Gurion hätten sich nicht träumen lassen, dass Deutsch- vor allen Dingen auf die Form an. Es kann durchaus land heute mit kaum einem Land so viele Kontakte un- auch Mahnung sein, sich zuverlässig den aus der eigenen terhält wie mit Israel. Davon zeugt die außerordentliche Geschichte erwachsenden Verantwortlichkeiten zu stel- Dichte politischer Besuche – beispielhaft seien nur die len. Die CDU/CSU wird sich diesen Verantwortlichkei- hervorragenden Beziehungen zwischen Franz Joseften auch in heutiger Zeit und in Zukunft stellen. Strauß und Schimon Peres genannt. Davon zeugen auch mehr als hundert Städtepartnerschaften, zahlreiche Ju- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. gendaustauschprogramme sowie ein enger wirtschaftli- (Beifall im ganzen Hause) cher und wissenschaftlicher Austausch. Wir wollen aber nicht vergessen, dass die gegensei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tige Wahrnehmung von Deutschen und Israelis auch Ich schließe die Aussprache. weiterhin sehr komplex ist und bleibt und – das wurde schon festgestellt – vielleicht nie ganz normal werden Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der wird. Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/5464 mit Paradoxerweise ist es gerade die Erlebnisgeneration dem neu gefassten Titel „40 Jahre diplomatische Bezie- der aus Deutschland nach Israel eingewanderten Juden, hungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und 16446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Israel – Im Wissen um die Vergangenheit die Zukunft zuzurechnen sind. Das erhellt sich vielmehr auch auf-(C) gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim- grund der Tatsache, dass sich Kriminelle nicht in der Ge- men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen wissheit wiegen dürfen, dass sie nur eine Wohnung auf- des ganzen Hauses angenommen. suchen müssen und ihnen dann in diesem Staate nichts Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: mehr geschehen kann. Ich glaube nicht, dass das ein Si- gnal ist, das wir senden sollten. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Beifall bei der SPD) zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfas- Die zweite Prämisse ist, dass die Wohnraumüberwa- sungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische chung selbstverständlich die Gefahr schwererGrund- Wohnraumüberwachung) rechtseingriffe birgt. Deshalb sind wir als Gesetzgeber – Drucksache 15/4533 – verpflichtet, die Maßnahmen in dem Maße zu be- grenzen, wie es die Wahrung der Grundrechte erfordert. (Erste Beratung 152. Sitzung) Die Einsicht in diese beiden Voraussetzungen scheint Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- nicht von allen in diesem Hohen Hause geteilt zu wer- schusses (6. Ausschuss) den. Ich habe den Eindruck, dass sich die FDP nicht – Drucksache 15/5486 – ganz schlüssig ist, welche Position sie eigentlich bezie- hen soll. Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD] – Hermann Bachmaier Rainer Funke [FDP]: Doch!) Olaf Scholz Ich habe nicht verstanden, warum Sie, meine Damen und Daniela Raab Herren von der FDP, nach Ihrer Entscheidung auf dem Hans-Christian Ströbele Bundesparteitag, auf dem Sie erklärt haben, wir bräuch- Rainer Funke ten das alles gar nicht mehr und die Wohraumüberwa- Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ chung sei ganz abzuschaffen, gestern im Rechtsaus- CSU vor. schuss einen Änderungsantrag gestellt haben, der im Vergleich zu unserem Gesetzentwurf sogar Erweiterun- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gen vorsieht. Aber das können Sie nachher noch aufklä- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen ren. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (B) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich wohne in (D) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- Kassel, da heißt es: Da geht’s emme so wie ministerin der Justiz, Brigitte Zypries. emme!)

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Vielleicht ist das auch nur ein Missverständnis. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit der schon Herren Abgeordnete! Es gibt im Moment wohl kein an- erwähnten Entscheidung wertvolle Orientierungshilfen deres Gesetzgebungsverfahren – zumindest nicht imgegeben, an denen wir uns bei der Erarbeitung des Ge- Bereich des Strafprozessrechts –, das auf so unterschied- setzentwurfes ausgerichtet haben. Wir haben intensiv liche Beurteilungen stößt. Auf der einen Seite wird ge- über die Frage diskutiert, wie man es richtig macht, wie fordert, dass man die Wohnraumüberwachung nunmehr man den Ansprüchen sowohl der Strafverfolgungsbehör- ganz sein lassen solle. Auf der anderen Seite wird gefor- den als auch der Grundrechtsträger Rechnung tragen dert, dass man die Vorgaben, die das Bundesverfas-kann. Ich meine jedenfalls, dass wir einen Gesetzentwurf sungsgericht in seinem Urteil vom 3. März 2004 ge-vorgelegt haben, der über alle unterschiedlichen Mei- macht hat, nun doch nicht allzu wörtlich nehmen solle nungen hinweg einen Kompromiss darstellen kann. und ruhig einmal ein bisschen darüber hinausgehen könne. Lassen Sie mich deshalb vorweg auf zwei Vo- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE raussetzungen hinweisen, von denen ich meine, dass sie GRÜNEN]: Das stimmt!) der Beratung des Gesetzentwurfes zugrunde liegen soll- Das hat die Sachverständigenanhörung meiner Meinung ten. nach ergeben. Erstens. Die akustische Wohnraumüberwachung ist Im Zentrum des Gesetzentwurfes stehen zwei Rege- ein Instrument zur Bekämpfung schwerer Formen von lungen, die für das Spannungsfeld, in dem wir uns bewe- Kriminalität, auf das wir nicht verzichten können. gen, sinnfällig sind. Das ist zum einen negative die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kernbereichsprognose als Anordnungsvoraussetzung und das ist zum anderen die Unterbrechungsregelung, Das belegt nicht nur das von der Bundesregierung inzu der, wie ich gerade erfahren habe, die CDU/CSU- Auftrag gegebene Gutachten des Max-Planck-Instituts, Fraktion einen Änderungsantrag eingebracht hat. mit dem nachgewiesen wurde, dass zum Beispiel 87 Prozent der Fälle aus dem Bereich der Betäubungs- Die negative Kernbereichsprognose ist Anordnungs- mittelkriminalität, in denen bisher eine Wohnraumüber- voraussetzung jeder Überwachungsmaßnahme. Mit ihr wachung angeordnet war, der organisierten Kriminalität muss nämlich erst einmal prognostiziert werden, dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16447

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) nicht die Gefahr eines Eingriffs in die unantastbare Pri- Aber es gibt natürlich Anhaltspunkte: Die Freundin(C) vatsphäre besteht. Diese Kernbereichsprognose gewähr- hat die Wohnung verlassen; es sind neue Personen in die leistet damit, dass die Strafverfolgungsbehörden jeden Wohnung gekommen; vielleicht veranlasst einen auch Einzelfall sehr sorgfältig prüfen. Auch Sie wissen, dass nur der Zeitablauf, anzunehmen, dass ein Gespräch be- das Gericht darüber entscheiden muss. endet sein könnte, um dann die Entscheidung zu treffen, die Aufzeichnung wieder fortzusetzen. Ich gestehe Ihnen Diese Prüfung muss im Anordnungsbeschluss doku- zu: Diese Entscheidung zu treffen ist nicht einfach. Aber mentiert werden, damit bei einer späteren Überprüfung aus dieser Tatsache kann man nicht die Schlussfolgerung im Wege des Rechtsschutzes durch das erkennende Ge- ziehen, es generell anders zu machen richt die gemachten Erwägungen nachvollziehbar sind. Wir haben damit sichergestellt, dass der Rechtsschutz, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des den auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ge- Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ fordert hat, nicht im Einzelfall durch den Hinweis auf DIE GRÜNEN]) praktische Bedürfnisse ausgehebelt werden kann. und auf eine vollständige Aufzeichnung zurückzugrei- Die mit dieser Kernbereichsprognose verbundenen fen, die in einer großen Anzahl von Fällen von mindes- Anforderungen an die Praxis sind hoch. Ich glaube aber tens zwei Personen abgehört werden muss. nicht, dass sie deshalb dazu führen, dass man die Wohn- raumüberwachung künftig als unpraktikabel verwerfen Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen und nicht mehr anwenden wird. Eine automatische Auf- können deshalb Ihrem Änderungsantrag – Sie haben ihn zeichnung bleibt weiterhin möglich, beispielsweise von den Ländern inhaltlich übernommen –, nicht zustim- – diese Fälle sind zahlreich – beim Abhören von Ge-men. Was da geplant ist, kann nicht funktionieren. schäfts- und Betriebsräumen. Gerade in Bezug auf diese beiden Punkte möchte ich Ein weiterer Punkt betrifft die Unterbrechungsrege- deutlich machen, dass unser Gesetzentwurf ein ausge- lung. Wir meinen, dass wir dem Urteil des Bundesver- wogenes, ein in sich geschlossenes und auch ein insge- fassungsgerichts lediglich mit der von uns vorgeschlage- samt vernünftiges Regelungskonzept enthält. Das gilt nen Regelung wirklich Folge leisten können; denn nur so nicht nur für die angesprochenen Fragen, sondern – si- stellen wir sicher, dass der Kernbereich nicht angetastet cherlich zur Freude des ganzen Hauses – auch für die wird. Es wurde eindeutig festgestellt, dass eine Auf-Regelung zum Schutz der Berufsgeheimnisträger. Das zeichnung nicht stattfinden darf, sobald der Kernbereich gilt für die Verwendung der erlangten Daten zur Gefah- berührt wird. renabwehr – wir haben festgestellt, dass man solche Er- kenntnisse zur Gefahrenabwehr nutzen darf – und auch Das heißt konkret: Wenn man künftig mithört und (B) für die datenschutzrechtlichen Vorschriften. Schließlich (D) feststellt, dass ein Gespräch die Privatsphäre berührt,gilt es für die Pflicht, dem Parlament Bericht zu erstat- dann muss man die Aufzeichnung beenden. Man darften. Mit der Tatsache, dass dieseBerichtspflicht kon- dann also nicht sagen – ich beziehe mich auf den Ände- kretisiert und verstärkt wird, geht die Möglichkeit des rungsantrag der CDU/CSU-Fraktion –: Das nehmen wir Parlaments einher, rechtzeitig zu kontrollieren, ob die jetzt einmal auf ein Tonband auf; später dürfen das der Strafverfolgungsbehörden keinen unbotmäßigen Ge- Richter und im Zweifel auch der Dolmetscher, der das brauch machen. Ganze übersetzen muss, abhören; über die Rechtmäßig- keit der Aufzeichnung wird hinterher entschieden. Vor allem im Hinblick auf den Zeitablauf und darauf, dass das Gesetz außer Kraft tritt und wir bis zum Juni Der Kern der Karlsruher Entscheidung – wenigstens eine Regelung haben müssen, würde ich mich freuen, ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Entscheidung wenn die Tonbandalternative verworfen werden könnte nur so verstanden werden kann, auch im Hinblick auf die und wenn auch die Oppositionsfraktionen bei den Län- abweichenden Meinungen – besteht darin, dass in diedern für die Auffassung werben könnten, dass das Rich- Privat- und Intimsphäre nicht eingegriffen werden darf, terband nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen auch nicht durch den Richter. entspricht und dass es deshalb keinen Sinn macht, in die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sem Punkt den Vermittlungsausschuss anzurufen, um zu DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ versuchen, da noch etwas zu erreichen; es käme nur zu CSU]: Wann darf man denn dann wieder ein- einer Zeitverzögerung, die uns allen nichts nützt. schalten?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Herr Abgeordneter, wieder einschalten darf man dann, DIE GRÜNEN) wenn man Anhaltspunkte dafür hat, dass sich die Situa- tion geändert hat. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Joachim Stünker [SPD]: Das versteht der Herr Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU- Gehb nicht! – Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Fraktion. Gehb [CDU/CSU]: Das ist auch schwer zu (Beifall bei der CDU/CSU) verstehen!) – Das ist natürlich nicht ganz einfach; deswegen habe Daniela Raab (CDU/CSU): ich eingangs festgestellt, dass die Frage der Unantastbar- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keit des Kernbereichs ein echtes Problem ist. Frau Ministerin, erneut und sicherlich auch abschließend 16448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Daniela Raab (A) debattieren wir heute die Umsetzung des Bundesverfas- Nach Ihrem Entwurf ist das Abhörenund Aufzeich- (C) sungsgerichtsurteils vom 3. März 2004 zur akustischen nen unverzüglich abzubrechen, soweit sich Anhalts- Wohnraumüberwachung. In diesem Urteil wurde zwar punkte dafür ergeben, dass Äußerungen aus dem der Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes als Grundlage für Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst wer- die akustische Wohnraumüberwachung für verfassungs- den. Natürlich mag es Situationen geben, in denen der gemäß erklärt, jedoch hielt das Gericht die dazugehöri- lauschende Beamte auf eine Verletzung dieses Kernbe- gen Ausführungsbestimmungen in der Strafprozessord- reichs schließen kann, so zum Beispiel, wenn der Ver- nung für zum Teil grundgesetzwidrig. Es normiert einen dächtige mit engen Vertrauten oder Familienangehörigen absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensge- über eigene Erkrankungen, über seine Gesundheit oder staltung. Ein Abhören des gesprochenen Wortes soll dort gar über sein Liebesleben spricht. In diesen Fällen kann zukünftig nur noch unter äußerst engen Voraussetzungen der Beamte natürlich sofort abschalten und muss es auch möglich sein. nach unserer Meinung tun. Was wäre aber, wenn der Verdächtige – das wurde uns in der Sachverständigenan- Wie ich schon in der ersten Lesung betont habe, kann hörung mehrfach vorgetragen – in Kenntnis der neuen ich nicht nachvollziehen, weshalb das Gericht derartige Rechtslage unter Anwendung seiner sämtlichen krimi- Einschränkungen bei der akustischen Wohnraumüber- nellen Energie jedes Gespräch zunächst mit einem priva- wachung überhaupt für notwendig gehalten hat. ten Inhalt beginnt, um das Abschalten sozusagen zu pro- vozieren und um dann zum wirklich Wichtigen zu (Joachim Stünker [SPD]: Das sagt die kommen, was die Polizei dann leider nicht mehr mithö- Verfassung!) ren kann? Wir alle wissen – das kam bereits in der ersten Lesung (Beifall bei der CDU/CSU) sowie in der Sachverständigenanhörung danach zum Ausdruck –, dass Abhörmaßnahmen in PrivaträumenDie Erfahrungen im Bereich der Telefonüberwachung schon bisher immer nur als allerletztes Mittel eingesetzt haben gezeigt, dass Straftäter mit Überwachungsmaß- wurden, um Ermittlungen zum Abschluss zu bringennahmen rechnen und sichGegenstrategien überlegen. oder anderweitig nicht zu erlangende Erkenntnisse zu er- Also ist das nicht von allzu weit hergeholt. Gerade Ver- halten. Dies geschieht stets – die Frau Ministerin hat es dächtigen aus der organisierten Kriminalität sind die Er- in ihrem heutigen Interview in der „taz“ ausgeführt – im mittlungsmethoden und deren rechtliche Grenzen durch- Bewusstsein dessen, dass mit dem Abhören in Privaträu- aus bekannt. men natürlich auch immer in das Persönlichkeitsrecht Stellen Sie sich weiter bitte Folgendes vor: Häufig eingegriffen wird und eine umso sensiblere Handhabung werden in einer Wohnung mehrere Räume überwacht. (B) des Instruments notwendig ist. Wir alle wissen auch,Natürlich werden dort mehrere Gespräche geführt; es(D) dass genau daraus die seltene Anwendung in der Praxis sind auch mehrere Gesprächsteilnehmer anwesend. Die resultiert. Tonqualität der Aufnahmen ist oftmals mäßig oder gar ganz schlecht. Dadurch ist es schwierig, die Gesprächs- Das Horrorszenario, das damals bei der Einführung teilnehmer eindeutig zu identifizieren und die Redebei- des so genannten großen Lauschangriffs an die Wand ge- träge überhaupt zuzuordnen. malt wurde, dass nun ständig irgendwelche privaten Räume von angeblich unbescholtenen Bürgern verwanzt Gänzlich unpraktikabel wird es dann, wenn die abge- würden, hörte Unterhaltung in einer oder mehreren fremden Sprachen geführt wird. Es kann im Einzelfall dann näm- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE lich sehr schwierig oder unmöglich sein, über Tage hin- GRÜNEN]: So ist es aber! Nicht „angeb- weg einen Dolmetscher an der Hand zu haben, der abge- lich“! – Gegenruf des Abg. Dr. Günter Krings hörte Gespräche simultan übersetzt. [CDU/CSU]: 30 Fälle im Jahr, Herr Ströbele!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE ist ganz offensichtlich und Gott sei Dank nicht eingetre- GRÜNEN]: Das zeigt, wie unsinnig die Maß- ten; etwas anderes, Herr Ströbele, ist mir nicht bekannt. nahme ist!) Vor diesem Hintergrund fällt es mir nach wie vor schwer – das muss man in diesem Rahmen auch sagen dürfen –, Die Wertung, ob der Kernbereich betroffen ist, würde das Urteil des Verfassungsgerichts zu verstehen und um- dann entscheidend von der Qualität der Übersetzung ab- zusetzen. hängen. All das erschwert zusätzlich die Entscheidung der Be- Es liegt aber nun in unserer Verantwortung als Ge- amten vor Ort, eine Aktion sofort abzubrechen oder viel- setzgeber, das Beste aus diesen engen Voraussetzungen leicht unter Kenntnis der schwierigen Rechtslage den- zu machen. Zunächst zu § 100 c Abs. 5 der Strafprozess- noch weiterzuführen, weil sie wissen, dass ordnung in der Fassung Ihres Gesetzentwurfs; darumbeweiserhebliches Material nach dem Abbruch verloren geht es in unserem Änderungsantrag. Wir sind der Mei- gehen kann. nung, dass Sie insoweit nicht das Beste daraus machen. Hier gelangen wir, Frau Ministerin, leider zu unter- All das hat uns bewogen, unseren Änderungsantrag schiedlichen Interpretationen des Verfassungsgerichtsur- einzubringen. Wir sind der Meinung, dass er die verfas- teils, obwohl wir uns in der Beurteilung der einzelnen sungsrechtlichen Grenzen noch nicht überschreitet und Vorschriften sonst relativ nahe sind. das Beste aus der Sache herausholt. Ich teile leider nicht, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16449

Daniela Raab (A) Frau Ministerin, Ihren Optimismus, dass es vielleicht Auch die FDP schleicht sich nun, flankiert von einem(C) trotzdem in der Praxis halbwegs vernünftig weitergehen entsprechenden Parteitagsbeschluss, rückwärts wieder würde, wenn wir Ihrem Entwurf folgten. Auch wir for- aus der Geschichte heraus. Die akustische Wohnraum- dern natürlich, das Abhören unverzüglich zu unterbre- überwachung sollte nach ihrem Willen wieder komplett chen, sobald Äußerungen aus dem höchstpersönlichen abgeschafft werden. Lebensbereich erfasst werden. Wir sagen jedoch, dass Wohltuend hebt sich hier die Meinung der Frau die Aufzeichnungsgeräte weiterlaufen dürfen und nur Ministerin ab, die heute ausdrücklich in dem von mir die Ermittlungsbeamten nicht mehr zuhören sollen. schon zitierten Interview gesagt hat, dass sie die akusti- (Lachen des Abg. Josef Philip Winkler sche Wohnraumüberwachung nicht abschaffen würde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und sich auch dagegen wehrt, die Erfolge dieses Mittels kleinzureden. In diesem Punkt stehen wir voll auf ihrer Diese technische Aufzeichnung wird dann dem zuständi- Seite. gen Gericht vorgelegt, dieses prüft die Aufzeichnung auf ihre Zulässigkeit hin und entscheidet über den Fortgang (Beifall bei der CDU/CSU) der Überwachungsmaßnahme. So stellen wir uns das Wir sind der Meinung – die Statistiken, die die Frau vor. Damit wird unserer Ansicht nach sichergestellt, dass Ministerin bereits angeführt hat, belegen das zuverläs- der Schutz des Kernbereichs weiterhin erhalten bleibt. sig –, dass sich die akustische Wohnraumüberwachung Sollte der Richter nämlich entscheiden, dass kernbe-bewährt hat, dass sie in den Fällen, in denen sie ange- reichsrelevante Äußerungen enthalten sind, sind diese wandt wurde, zu guten Erfolgen geführt hat und oftmals unverzüglich zu löschen. den entscheidenden Hinweis geben konnte und dass sie auch wirklich nur da eingesetzt wurde, wo es kein ande- (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip res Mittel gab. Im Sinne einer effizienten Verbrechens- Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der bekämpfung und Verbrechensvorbeugung wollen wir, im Richter soll das auch nicht hören!) Gegensatz zu Ihnen, die akustische Wohnraumüberwa- Wir nehmen so – das wissen wir aus der Sachverstän- chung praktikabel halten. Dem soll unser Änderungsan- digenanhörung – den Druck von den Ermittlungsbeam- trag dienen. ten vor Ort. Auch das ist für uns ein entscheidender Herzlichen Dank. Punkt. Ihr Entwurf, meine Damen und Herren, fordert diesen nämlich wirklich schier hellseherische Fähigkei- (Beifall bei der CDU/CSU) ten bezüglich der Frage ab, wann die Fortsetzung der Überwachung wieder zulässig ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele,(D) Unsere Lösung steht auch nicht – das habe ich soeben Bündnis 90/Die Grünen. schon gesagt – im Widerspruch zum Urteil des Bundes- verfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ist das Fahrrad nämlich ausdrücklich das Abhören des Gesprächs zum wieder da?) Zweck der Überprüfung zugelassen, ob eventuell eine Verletzung der Menschenwürde nach Art. 1 des Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Grundgesetzes zu befürchten ist. Das Gericht sagt zwar, NEN): bereits die Ermittlungspersonen vor Ort sollen diese Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hoch qualifizierte Entscheidung treffen, wir aber sagen, Dass wir uns hier erneut wie schon vor Jahren mit dem das ist nicht der einzig mögliche Weg, das könnte auch großen Lauschangriff und der akustischen Wohnraum- ein Richter tun. Ich denke, eine Entscheidung dieses überwachung beschäftigen, verdanken wir unter ande- Ausmaßes gehört nun einmal auch in richterliche Hände. rem der Freien Demokratischen Partei. Sie hat nämlich seinerzeit dieses Gesetz in ihrer großen Mehrheit mit (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE verabschiedet, auch unter Mitwirkung des Kollegen GRÜNEN]: Es spielt keine Rolle, welcher Funke. Das soll man nicht vergessen, wenn er sich gleich Staatsdiener zuhört!) mannhaft dafür einsetzen wird – so vermute ich –, den So ist zumindest sichergestellt, dass keine beweisrele- Beschluss des Parteitages der FDP umzusetzen, der ja vanten Daten verloren gehen. diesen großen Lauschangriff insgesamt ablehnt. Uns als Unionsfraktion ist durchaus bewusst, dass den (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE übrigen Fraktionen in diesem Hohen Haus das Verfas- GRÜNEN]: Das ist eine Rolle rückwärts! – sungsgerichtsurteil gerade recht kommt. Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]: Aber eure Rolle rückwärts ist bestimmt (Zuruf von der SPD: Richtig!) akrobatischer!) Die akustische Wohnraumüberwachung war noch nie die Ebenso verdanken wir aber – auch das wollen wir Sache von Rot-Grün. nicht vergessen; das meine ich durchaus lobend – einzel- nen Abgeordneten der FDP, dass sie nach dem damals (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE beschlossenen großen Lauschangriff vor das Bundesver- GRÜNEN]: Wir sind eben verfassungskon- fassungsgericht gezogen sind – da hatten Sie Recht, Frau form!) Leutheusser-Schnarrenberger – und die Änderungen des 16450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Hans-Christian Ströbele (A) Grundgesetzes und der Strafprozessordnung angegriffen Aus diesem Grunde steht in Art. 13 unseres Grundge- (C) haben. Das Bundesverfassungsgericht hat ihnen zu ei- setzes der Schutz der Wohnung, übrigens auch ein be- nem erheblichen Teil Recht gegeben. sonderer Schutz vor Durchsuchungen und Eindringen staatlicher Gewalt. Jetzt können wir – das ist das Positive – aus diesem Gesetz, das damals verabschiedet und lange Jahre ange- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Und wie ist es wandt worden ist, einverfassungskonformes Gesetz bei Gefahr im Verzug?) machen. Wir dürfen dabei natürlich nicht vergessen, dass Das ist der Hintergrund. Wissen Sie, Herr Kollege schon all die Jahre abgehört worden ist und Wohnraum- Gehb, ich habe hin und wieder, wenn ich mit Betroffe- überwachung stattgefunden hat und dass davon sehrnen zu der Behörde gegangen bin oder im Rahmen von viele – der ganz überwiegende Teil offensichtlich – be- Strafprozessen, die nicht immer angenehme Beschäfti- troffen waren, die nichts ausgefressen hatten. Es heißt ja gung gehabt, alte Stasiakten zu lesen. Mit das Unange- immer, wer nichts gemacht habe, brauche das auch nicht nehmste und Abscheulichste darunter waren Berichte zu fürchten. Es waren aber offenbar viele Menschen sol- und Protokolle über staatliche Eingriffe in den Kernbe- chen Angriffen des Staates ausgesetzt, die entweder nie reich der Familien, des Privaten, sei es, dass das Berichte Beschuldigte oder Verdächtige waren – sie haben sich le- von Verwandten, Verlobten oder Ehepartnern waren, sei diglich in einer solchen Wohnung aufgehalten oder die es, dass es Berichte über Eingriffe waren, die mit techni- Wohnraumüberwachung wurde auch auf sie angewen- schen Mitteln erfolgten. Weil das nicht sein darf und det – oder bei denen sich später herausstellte, dass sie weil möglichst viele Menschen in Deutschland sicher nicht die Täter waren und zu Unrecht verdächtigt wor- sein sollen, dass sie sich in ihrer Wohnung ungestört den sind. So etwas gibt es ja auch. über persönliche Probleme und über ihre intimsten Be- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das gibt es auch reiche austauschen können, ist der Schutz der Wohnung beim normalen Ermittlungsverfahren!) so wichtig. Das Bundesverfassungsgericht hat ein neues Grundrecht hinzugefügt, indem es gesagt hat: Auch die Das heißt, sehr viele waren betroffen, wahrscheinlichWürde des Menschen ist zusätzlich erheblich beeinträch- auch in der Form, Herr Gehb, dass sich einenormale tigt, wenn der Staat in den Kernbereich der privaten Unterhaltung aus ihrem ganz persönlichen Kernbereich Lebensgestaltung eingreift. – Dies ist ein Fortschritt. auf Tonbändern wiedergefunden hat. Diesen wichtigen Satz sollten wir uns für andere Gesetz- gebungsvorhaben merken. Wenn ich mir diese Eingriffe in den Intimbereich von sehr vielen Menschen über Jahre hinweg vor Augen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führe, dann kann ich nur sagen: Das Gesetz, wie Sie es sowie bei Abgeordneten der SPD und der (B) (D) damals gemacht haben, war falsch. Die Grünen hatten FDP) damals, sowohl in ihrer Fraktion als auch in ihrer Partei, Wir haben nach einigen Diskussionen ein Gesetz vor- zu Recht gefordert, diesen großen Lauschangriff nicht gelegt, das deutliche Einschränkungen des bisherigen ins Gesetz zu schreiben. großen Lauschangriffs darstellt. Viele beklagen – darun- Die Wohnung ist etwas Besonderes. In England sagt ter auch die Union –, dass damit die Arbeit der Polizei in man: My home is my castle. Das soll zum Ausdruckeinzelnen Fällen schwieriger wird. Es wird eine ganze bringen: Da hat kein anderer etwas zu suchen, da will ich Reihe von Fällen geben, in denen ein Richter in der Ver- ungestört sein. – Ich kann Ihnen ein anderes Beispielgangenheit eine Wohnraumüberwachung anordnen nennen. Als ich einmal, unmittelbar nachdem dort die konnte, in denen das in Zukunft aber nicht der Fall sein Militärdiktatur zu Ende gegangen war, in Griechenland wird. Der Richter darf in Zukunft eine Anordnung zur war, habe ich eine große Demonstration erlebt, bei der es Wohnraumüberwachung nicht treffen, wenn es keine auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. An- Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Kernbereich privater schließend hat die Polizei einige Demonstranten ver-Lebensgestaltung nicht betroffen ist. folgt, mehrere Straßen entlang, wie man sehen konnte, Es wird natürlich auch die Fälle geben, in denen der bis sie plötzlich vor einem Haus stand. Aber sie gingRichter eine Wohnraumüberwachung anordnet, weil er nicht durch die Tür. Ich habe mich gewundert und ge- der irrigen Meinung ist, dass es Anhaltspunkte dafür dacht: Wenn die verdächtigt sind, strafbare Handlungen gibt, dass es sich nur um geschäftliche Gespräche oder begangen zu haben, warum verfolgt die Polizei sie dann möglicherweise um Gespräche, die kriminelle Handlun- nicht weiter? Mir wurde gesagt: Wir haben gerade eine gen betreffen, handelt. Die Gespräche werden dann auf- Diktatur überwunden und für uns ist die Wohnung ein genommen; die Aufnahme muss anschließend aber ver- heiliger Raum. Wenn die Polizei jetzt, nach den Erfah- nichtet werden. rungen, die wir mit der Verletzung des Rechts auf den Schutz der eigenen Wohnung gemacht haben, hier hi- Wir haben in diesem Gesetzentwurf – das finde ich neingehen würde, dann gäbe das einen Riesenskandal in richtig – über das hinaus, was das Bundesverfassungsge- der Gesellschaft und die Polizeibeamten, die das tunricht gesagt hat, eine Festlegung getroffen – sie war auch würden, würden entlassen. in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes enthalten; wir haben sie sozusagen gerettet –, dass dieBerufsge- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schlagen Sie heimnisträger, also die Rechtsanwälte, die Ärzte, die die Regelung jetzt auch für Deutschland vor? Geistlichen, aber auch die Journalisten, besonders ge- Auf den Gesetzentwurf sind wir gespannt!) schützt werden und dass in ihren Berufsausübungsbe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16451

Hans-Christian Ströbele (A) reich der Staat nicht eingreifen darf, sodass sie ihren Be- Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen(C) ruf wirksam ausüben können. Jahr in einem Aufsehen erregenden Urteil die Änderun- gen des Grundgesetzes zur Einführung der akustischen Wir haben eine weitere wichtige Marke, die das Bun- Wohnraumüberwachung für grundsätzlich verfassungs- desverfassungsgericht gesetzt hat, gerettet. Wir wollen gemäß anerkannt. Eine andere Bewertung hat das Ge- nämlich auch nicht, dass dieStrafzumessung erhöht richt bezüglich der Ausführungsbestimmungen in der wird, nur damit ein Straftatbestand weiterhin im Katalog Strafprozessordnung vorgenommen. Diese wurden vom dieses Gesetzes enthalten ist. Ich nenne beispielsweise Gericht überwiegend als verfassungswidrig angesehen. § 129 Abs. 4 des Strafgesetzbuches. Man kann also eine Das Gericht hat daraufhin dem Gesetzgeber aufgegeben, Höchststrafe von fünf Jahren nicht auf zehn Jahre he-eine Novellierung der Ausführungsbestimmungen bis raufsetzen, um Lauschangriffe anordnen zu können. Wir zum 30. Juni 2005 herzustellen. haben verhindert, dass es eine entsprechende Regelung gibt. Frau Ministerin, es ist zunächst anzuerkennen, dass man sich grundsätzlich bemüht, die Grundsätze des Bun- Jetzt liegt ein Gesetz vor, das verfassungskonformdesverfassungsgerichts in die neue Gesetzesfassung auf- und rechtlich in Ordnung ist. Dieses Gesetz garantiert zunehmen. weitgehend den Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Die Bereiche, in denen das Gesetz noch angewendet werden (Joachim Stünker [SPD]: Nicht nur grund- kann, sind einigermaßen vertretbar, auch wenn ich mich sätzlich!) persönlich weiterhin dafür einsetzen werde – ich denke, Aus Sicht der FDP gehen die Bemühungen der Bundes- diese Position ist bei den Grünen nach wie vor zu regierung jedoch nicht weit genug. Hause –, (Beifall bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dass wir irgendwann aufgrund weiterer Fakten und Eva- sehr genau angesehen und den Gesetzentwurf anschlie- luierungen zu dem Ergebnis kommen, dass wir eine sol- ßend daraufhin überprüft, ob die klaren und eindeutigen che Strafvorschrift überhaupt nicht brauchen, und dass Aussagen des Bundesverfassungsgerichts Eingang in wir sie deshalb aus dem Gesetz und dem Grundgesetz den Gesetzentwurf gefunden haben. Dabei sind wir zu streichen. der Überzeugung gekommen, dass dies in zentralen Fra- gen nicht der Fall ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP) (B) Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. (D) Eine ganz zentrale Forderung an den Gesetzgeber ist, dass die akustische Wohnraumüberwachung von vorn- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- herein dort unterbleiben muss, wo das Abhören des nicht NEN): öffentlich gesprochenen Wortes mit Wahrscheinlichkeit Dazu brauchen wir aber eine Zweidrittelmehrheit, die zur Verletzung des Kernbereichs privater Lebensge- wir erst noch erkämpfen müssen. staltung führen wird. Dieses absolute Erhebungs- und Überwachungsverbot findet sich in dem Gesetzentwurf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser Klarheit leider nicht. und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Wie ist das mit Fahrraddiebstahl?) (Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch gar nicht!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nach dem Willen der Bundesregierung kann die Über- Nächster Redner ist der Kollege Rainer Funke, FDP- wachungsmaßnahme grundsätzlich in jedem Fall ange- Fraktion. ordnet werden, soweit undsolange sie vermutlich den Kernbereich privater Lebensführung nicht erfasst. Ein- Rainer Funke (FDP): deutig ist dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch zu entnehmen, dass regelmäßig eine Vermutung da- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der für besteht, dass Gespräche in Privatwohnungen grund- 13. Legislaturperiode haben wir heftig um geeignete Maß- sätzlich dem Kernbereich privater Lebensgestaltung nahmen zur Bekämpfung derorganisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Auch diese Aussage lässt der Gesetz- und anderer besonders schwerer Formen von Kriminalität entwurf offen. gerungen. Mit großer Mehrheit hat der Deutsche Bundes- tag dabei die akustische Wohnraumüberwachung be- Des Weiteren benennt das Urteil konkret die Art der schlossen und das Grundgesetz entsprechend geändert. Verhältnisse der Personen, die eine kernbereichsrele- vante Kommunikation indizieren können. Dazu führt das Aufgrund der grundrechtssensiblen AuswirkungenUrteil aus: dieser Maßnahmen hat sich keine Fraktion des Bundes- tages die Entscheidung leicht gemacht. Insbesondere Eine solche Wahrscheinlichkeit ist typischerweise meine Partei hat sich sehr intensiv mit den Argumenten, beim Abhören von Gesprächen mit engsten Fami- die für und gegen die Einführung der akustischen Wohn- lienangehörigen, sonstigen engsten Vertrauten und raumüberwachung sprechen, auseinander gesetzt. einzelnen Berufsgeheimnisträgern gegeben. 16452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Rainer Funke (A) Diese ausdrückliche Vermutung einer Kernbereichsrele- Rainer Funke (FDP): (C) vanz bei Gesprächen unter Familienangehörigen kommt Ja, sofort. Zwei Sätze, bitte. – Wir werden rechtzeitig in dem Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck. eine Evaluierung des Gesetzes verlangen, um feststellen zu können, ob und inwieweit die neuen Eingriffsbefug- (Beifall bei der FDP) nisse sich in der Praxis bewährt haben. Besonders wichtig sind aus Sicht der FDP die Aus- Die gesetzlichen Hürden für die Anordnung einer führungen des Gerichts zurZuständigkeit der Ge- Überwachungsmaßnahme sind künftig sehr hoch. In der richte. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass es Vergangenheit ist mit der akustischen Wohnraumüber- zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes ei- wachung sehr verantwortungsvoll umgegangen worden, ner Regelung bedarf, nach der eine Verwertung von In- wie die geringe Zahl der Maßnahmen deutlich zeigt. formationen, die durch eine akustische Wohnraumüber- wachung erlangt worden sind, nur dann zulässig ist, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wenn die Verwertbarkeit der Informationen zuvor von Herr Kollege Funke, es tut mir Leid. Sie müssen jetzt einem Gericht überprüft worden ist. Das Bundesverfas- wirklich zum Ende kommen. sungsgericht verlangt damit die Überprüfung jeder Ver- wertung einer Aufnahme. Rainer Funke (FDP): (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist das!) Ja, komme ich auch. – Dennoch ist es rechtspolitisch berechtigt, die Frage nach der Zukunft der akustischen Diese Vorgabe wird in dem Gesetzentwurf schlicht über- Wohnraumüberwachung zu stellen. gangen. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Unsere Änderungsanträge haben wir den Berichter- stattern bereits am 19. April zur Verfügung gestellt. Die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: aktuelle Beschlusslage des vergangenen FDP-Bundes- Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem parteitages, die angesprochen worden ist, hat nicht zu ei- Kollegen Ströbele. ner Umkehr unserer bisherigen Meinung geführt. Dies ist auch nicht notwendig. (Joachim Stünker [SPD]: Der hat schon geredet!) In den letzten Tagen ist von rot-grüner Seite Kritik an unseren Vorschlägen geübt worden: Einmal seien sie zu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) weitgehend; einmal seien sie zu restriktiv. Hans-Christian Ströbele (D) NEN): (Joachim Stünker [SPD]: Inkonsequent! – Herr Kollege Stünker, ich möchte doch nur etwas Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE klarstellen. Ich habe nicht gesagt: Der Vorschlag der GRÜNEN]: Zu weitgehend!) FDP ist der richtige. Vielmehr habe ich gesagt, das höre sich schlüssig an, nachdem Sie, Herr Kollege Funke, zu Um es klar zu sagen: Uns geht es bei diesen Änderungs- der Auffassung des Bundesjustizministeriums, die dahin anträgen einzig und allein darum, den Gesetzestext zu ging, dass Ihr Vorschlag den großen Lauschangriff wei- präzisieren und ihn so eng wie möglich an den Wortlaut ter öffne als der Regierungsentwurf, gesagt hatten, sie des Urteils des Bundesverfassungsgerichts anzulehnen. scheine Ihnen schlüssig zu sein. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Rainer Funke [FDP]: „Nicht unschlüssig“ GRÜNEN]: Das hat Ihnen aber auf dem Par- habe ich gesagt!) teitag keiner geglaubt!) Daraufhin habe ich gesagt, dass Ihr Vorschlag schlüssig Mehr ist damit nicht gewollt – ich komme gleich dazu –, gewesen ist. Sie müssen das vollständig berichten, damit ich hier nicht in ein falsches Licht komme. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sollen wir es Ihnen glau- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das wäre ja ben?) furchtbar!) aber auch nicht weniger. Wenn Sie das Urteil sorgfältig Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gelesen hätten, würde Ihre Kritik an unseren Vorschlä- Herr Kollege Funke, Sie können antworten. gen schnell verstummen. Herr Kollege Ströbele, Sie ha- ben zu Recht gesagt: Die Vorschläge der FDP gefallen mir sehr gut. Rainer Funke (FDP): Herr Kollege Ströbele, Sie haben, glaube ich, doch et- Für die FDP darf es mit der heutigen Entscheidung was unvollständig berichtet. des Bundestages keinen Schlussstrich unter die Debatte um die akustische Wohnraumüberwachung geben. (Heiterkeit) Es kommt im Ergebnis auch nicht darauf an. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir haben uns in der Tat die Auffassung des Bundes- Herr Kollege Funke, Ihre Redezeit ist zu Ende. justizministeriums angehört. Da habe ich gesagt, wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16453

Rainer Funke (A) würden sie gerne schriftlich haben. Das haben wir be- tung und unsere persönliche Entfaltung vom Staat unbe- (C) kommen. Dann haben wir festgestellt, dass dieser Vor- dingt und uneingeschränkt beachtet werden. schlag des Bundesjustizministeriums sich eben nicht an (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ori- FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ entiert und sich insbesondere nicht restriktiv an dem DIE GRÜNEN]: Die CDU will da aber dran!) Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts ori- entiert. Dann sind wir auch bei unserer Meinung verblie- Dazu hätte ich auch von der CDU/CSU gerne einen Satz ben. gehört; aber dazu hört man von Ihnen gar nichts. Man muss bei diesen schwierigen Rechtsfragen die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Möglichkeit haben, sich den Text anzusehen und dann BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – seine Meinung zu bilden. Das haben wir getan. Wir ar- Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was soll ich Ih- beiten in dieser Fraktion eben so gründlich. nen denn sagen?) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Marie- Viele von Ihnen wissen, dass ich nie ein Freund der Luise Dött [CDU/CSU]) akustischen Wohnraumüberwachung, also des so ge- nannten großen Lauschangriffs, war. Als Bundestag und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bundesrat im Jahr 1998 nach langjährigen Auseinander- Das Wort hat der Kollege Hermann Bachmaier, SPD- setzungen das Grundgesetz geändert haben, um die Fraktion. akustische Wohnraumüberwachung zur Verfolgung be- sonders schlimmer Straftaten und zur Abwehr besonders (Beifall bei der SPD) großer Gefahren zu ermöglichen, gehörte ich zu den Mitgliedern der SPD-Fraktion, die dieser Verfassungsän- Hermann Bachmaier (SPD): derung nicht zugestimmt haben. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Funke, die Versuchung wäre groß, den Disput, den wir BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schon im Rechtsausschuss hatten, fortzusetzen. Ich dachte, Sie hätten einmal darüber nachgedacht, ob das Ich habe nicht daran geglaubt, dass wir dieses Instru- alles seine Richtigkeit und auch seine juristische Stim- mentarium zur effektiven Bekämpfung der organisierten migkeit hat, was Sie uns da vorgelegt haben. Kriminalität wirklich benötigen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich daran nach wie vor meine Zweifel. Eines ist auf jeden Fall klar: Mit Ihrem jüngsten Par- teitagsbeschluss hat das, was Sie uns im Rechtsaus- , der 1998 Bundesminister des In- (B) schuss vorgelegt haben, herzlich wenig zu tun. nern war – man mag es heute fast nicht glauben –, hat(D) seinerzeit wahre Schreckensszenarien vor uns ausgebrei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tet: Nur mithilfe des großen Lauschangriffs könne das DIE GRÜNEN) organisierte Verbrechen wirksam bekämpft werden. Aber die Anträge waren ja auch schon vor dem Sonntag Manfred Kanther glaubte offensichtlich zu wissen, wo- geschrieben. Sie wurden da halt überrascht. von er sprach. Heute verstehen wir das. (Zuruf von der FDP: Waren Sie da?) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rainer Funke Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde … gehört [FDP]: Was macht denn Herr Schily?) die Anerkennung eines absolut geschützten Kern- bereichs privater Lebensgestaltung. – Herr Funke, ich verbitte mir, dass Sie unseren ge- schätzten Innenminister mit Herrn Kanther vergleichen. Mit diesem Leitsatz in seinem Urteil vom März vergan- Das verbitte ich mir wirklich. – Aufgrund der mittler- genen Jahres hat uns das Bundesverfassungsgericht ei- weile vorliegenden Erfahrungen und der begrenzten nen Kerngedanken des Grundgesetzes wieder nachhaltig Zahl der erfolgreichen Lauschangriffe wird dieses Er- ins Gedächtnis gerufen. Die Entscheidung ist auch für mittlungsinstrument inzwischen etwas nüchterner be- uns eine deutliche Mahnung. Deshalb ist es richtig und wertet. notwendig, dass wir uns immer wieder der Grenzen staatlicher Eingriffsmöglichkeiten vergewissern. Nun komme ich zu unserer heutigen Aufgabe. Die Verfassungsänderung vom März 1998 wurde im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Mai 1998 durch die Strafprozessordnung umgesetzt. Da- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bei ging es vor allem um den damals neuen § 100 c der Strafprozessordnung. Die entsprechenden Regelungen Wir sind auch in gefährlichen Situationen und bei der wurden später mehrfach geändert. Bekämpfung schwerer und schwerster Kriminalität nicht frei in der Wahl unserer Mittel, sondern begrenzt durch Heute haben wir ein Urteil desBundesverfassungs- unsere Verfassung und durch das unantastbare und un- gerichts aus dem vergangenen Jahr umzusetzen, das veräußerliche Gebot, dieMenschenwürde zu achten dankenswerterweise unter anderem von Frau und zu schützen. Wir alle brauchen Räume, in denen wir Leutheusser-Schnarrenberger und unserem ehemaligen unbehelligt sind. Wir brauchen Orte, an denen wir un- Kollegen Burkhard Hirsch als Einzelkämpfern erstritten sere Ruhe haben können, jedenfalls unsere Ruhe vorworden ist. Dabei habe ich keine große Unterstützung dem Staat, und an denen unsere private Lebensgestal- durch die FDP-Fraktion festgestellt. 16454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Hermann Bachmaier (A) Wir müssen die Regelungen der Strafprozessordnung das Abhören und Aufzeichnen von Gesprächen in Woh- (C) diesem Urteil zufolge nachbessern und sie verfassungs- nungen grundsätzlich nicht zulässig ist, wenn es um fest machen. Das Bundesverfassungsgericht hat unsdiese Berufsgeheimnisträgerinnen und Berufsgeheimnis- hierzu folgende Vorgaben gemacht: Der große Lausch- träger geht, weil sie den absoluten Vertrauensschutz be- angriff ist nur dann verfassungsrechtlich möglich, wenn nötigen wie die Luft zum Atmen – sonst können sie es um die Aufklärung besonders schwerer Straftatendiese Berufe nicht ausüben und ihren jeweiligen Ge- geht, wobei sich die besondere Schwere aus dem ange- sprächspartnern nicht die Sicherheit gewähren, die not- drohten Strafmaß ergeben muss. Deshalb haben wir den wendig ist. Straftatenkatalog des § 100 c Abs. 2 der Strafprozess- ordnung überarbeitet. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das hatte doch Ihre Ministerin anders vor!) Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht ver- langt, dass diese Maßnahme nur dann angeordnet wer- Deshalb haben wir diese Regelung so getroffen. Auch den darf, wenn dadurch Äußerungen aus dem so genann- wenn sich ein Zeugnisverweigerungsrecht von Berufsge- ten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung nichtheimnisträgern in Bezug auf ein Gespräch erst während erfasst werden, wie es jetzt in § 100 c der Strafprozess- des Gesprächs ergibt, muss abgeschaltet werden. ordnung wörtlich heißt, einem Paragraphen, den Sie, Schließlich ist mit § 100 d Abs. 4 Strafprozessord- Herr Funke, noch immer nicht verstanden haben odernung eine laufende Unterrichtung des anordnenden Ge- nicht verstehen wollen. richts über den Verlauf und die Ergebnisse der Wohn- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des raumüberwachung vorgeschrieben, sodass ständig BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) korrigierend eingegriffen werden kann. Meine Damen und Herren, wenn sich während der Zusammenfassend darf ich festhalten: Der Rechtszu- Überwachung entsprechende Anhaltspunkte dafür erge- stand, den wir heute schaffen, ist eine eindeutige Verbes- ben, dass Äußerungen aus dem Kernbereich der privaten serung gegenüber der Rechtslage, die wir vor dem Urteil Lebensgestaltung erfasst werden, dann ist das Mithören des Bundesverfassungsgerichts hatten. und Aufzeichnen sofort zu unterbrechen. Wenn Anhalts- (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das glau- punkte dafür vorliegen, dass eine nicht abhörfähige Si- ben Sie doch selber nicht! – Dr. Günter Krings tuation eintreten könnte, dann darf kein Mitschnitt des [CDU/CSU]: Für Täter: Ja!) Gesprächs erfolgen. Dann muss live, in so genannter Echtzeit – erforderlichenfalls unter Herbeiziehung eines Dabei möchte ich es aber heute nicht belassen. Lassen Dolmetschers –, mitgehört werden, damit die Aufzeich- Sie mich deshalb abschließend noch auf die in § 100 e (B) nung jederzeit abgebrochen werden kann. Frau Raab,Strafprozessordnung verankerten Berichtspflichten der (D) das ist der Inhalt des Urteils, nicht aber das, was Sie ver- Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag suchen, in Ihrem Interesse in das Urteil hineinzulesen. eingehen. Alle Verfahren, in denen es zu einer akusti- schen Wohnraumüberwachung gekommen ist, sind nach (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dieser neuen Regelung detailliert auszuwerten. Anzuge- DIE GRÜNEN) ben ist zum Beispiel jeweils, ob ein Bezug zur organi- Aufzeichnungen über solche Äußerungen, die dennoch sierten Kriminalität besteht, anzugeben sind die Anzahl erfolgen, müssen gelöscht werden; Erkenntnisse daraus der überwachten Personen und die Anzahl von betroffe- dürfen nicht verwertet werden – nen nicht beschuldigten Personen, angegeben werden muss, wie häufig eine Maßnahme unterbrochen werden (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das steht musste, weil der Kernbereich privater Lebensgestaltung drin, aber nicht „Aufzeichnungen abbre- berührt wurde usw. Es ist eine Fülle von Daten auszu- chen“! – Daniela Raab [CDU/CSU]: Schier werten, denen wir uns danach zu widmen haben, um unglaublich!) dann zu evaluieren, welche Abhilfemaßnahmen getrof- fen werden müssen. Ich meine, wir können uns von die- ein sicherlich in der Praxis schwieriges Verfahren; das sen Kriterien aussagefähige Berichte erhoffen, mit denen will ich nicht leugnen. Schließlich bewegen wir uns ja wir uns auseinander zu setzen haben. im sensiblen Grenzbereich des verfassungsrechtlichen Schutzes der Privatsphäre und der Bekämpfung schwe- Akustische Wohnraumüberwachung, das klingt rela- rer Kriminalität, was zum Beispiel die Amerikaner in ih- tiv abstrakt und technisch. Wenn man aber näher hin- rer Regelung schon lange verstanden haben. Sie aberschaut, muss man feststellen, dass sich hinter diesem Be- weigern sich hartnäckig, dies zur Kenntnis zu nehmen. griff ein Staat verbirgt, der sich – bisweilen fast wie ein Einbrecher – heimlich Zutritt zu fremden Wohnungen Sehr wichtig war uns, dass der Schutz derverschafft in und dort Wanzen installiert, um abzuhören § 53 Strafprozessordnung – die Frau Ministerin und Herr – Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss –, ein Ströbele haben es erwähnt – aufgezähltenBerufsge- nicht gerade schöner Vorgang, auf den wir uns nur in äu- heimnisträger – also Ärzte, Rechtsanwältinnen undßerster Not einlassen sollten. Rechtsanwälte, Verteidiger, Journalistinnen und Journa- listen, Geistliche – unangetastet bleibt. Darauf haben wir Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass die großen Wert gelegt; das war uns ein großes Anliegen. Erkenntnisse, die wir in Zukunft gewinnen, uns auch ir- Deshalb ist mit § 100 c Abs. 6 Strafprozessordnung ge- gendwann einmal die Kraft geben – wenn die Verhält- regelt, dass in den Fällen des § 53 Strafprozessordnung nisse so sind –, dass wir auf dieses schwierige Instru- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16455

Hermann Bachmaier (A) ment, das wir unseren Bürgerinnen und Bürgern und Rot-Grün liest das Urteil offenbar so, dass schon das (C) auch vielen Unbeteiligten zumuten, auch wieder ver-bloße Laufenlassen eines Tonbandes – das ist ja wohl zichten können. Ihre Aussage – eine Verletzung der Menschenwürde dar- stellen kann. Meines Erachtens muss man das keines- Herzlichen Dank. wegs so lesen. Ich finde, das ist eine viel zu weitgehende (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Interpretation dieses Urteils. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Rainer Funke [FDP]: Da haben Sie doch einen GRÜNEN]: Aber wenn der Richter das anord- Bundesparteitagsbeschluss!) net?) Wenn Sie diesen Ansatz konsequent zu Ende denken, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dann erkennen Sie, dass deutsche Behörden zumindest Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/ im Bereich der Überwachung ausländischer Straftäter CSU-Fraktion. überhaupt nicht mehr tätig werden können. Der Dolmet- scher muss ständig mit in der Abhörkabine sitzen. Fehlt er oder wird auf einmal eine Sprache gesprochen, für die (CDU/CSU): Dr. Günter Krings er nicht ausgebildet worden ist, muss schon vorsorglich Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und abgeschaltet werden, weil ja irgendetwas Privates in ei- Herren Kollegen! Wir debattieren heute in der Tat über ner fremden Sprache gesprochen werden könnte. ein verfassungsrechtlich hoch brisantes Thema. Wir be- finden uns mitten in einer Verfassungskontroverse zwi- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ja, richtig!) schen dem Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht.Man kann das keinesfalls nachvollziehen. Nur weil et- Aber als gewählte Volksvertreter müssen wir zu allererst was Privates gesprochen werden könnte, ohne dass man bei einer solchen Diskussion auch einmal festhalten, wo- Anhaltspunkte dafür hat, muss nach Ihrer Lösung abge- rum es dem Bundestag 1998 gegangen ist und worum es schaltet werden. hoffentlich auch heute der Mehrheit dieses Hauses noch geht: nämlich um eine effektive Bekämpfung schwerster (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Im Zweifel ab- Kriminalität. Die wirklich überschaubare Zahl der Fälle, schalten!) in denen die Wohnraumüberwachung stattgefunden hat, Das ist, wenn man so will, eine Fremdsprachenprivile- belegt ja auch: Es waren Fälle schwerer organisiertergierung. Ich finde, das ist ein fatales Signal bei der Be- Kriminalität, Mord, Totschlag und Völkermorddelikte, kämpfung des internationalen Terrorismus und der Taten, die in ganz besonderem Maße den Rechtstaat und grenzüberschreitenden Kriminalität. (B) seine Strafverfolgungsbehörden auf den Plan rufen müs- (Beifall bei der CDU/CSU – Hermann(D) sen. Bachmaier [SPD]: Ausgerechnet die Amerika- Wenn wir das effektiv tun wollen, haben wir zur ner sehen das ganz anders!) Kenntnis zu nehmen, dass organisierte Gewaltkriminali- Der linken Seite dieses Hauses kann ich die mitunter tät und terroristische Verbrechen eben nicht nur in Büro- herauskommenden Krokodilstränen für diese angeblich räumen, sondern auch schon mal im Wohnzimmer ver- unumgängliche Gängelung der Strafverfolger nicht so abredet werden. Wer die Opfer solcher Verbrechen nicht ganz abnehmen. Das wurde auch in den Debattenbeiträ- nur beklagen will, sondern diese Verbrechen möglichst gen gerade deutlich. Die Wahrheit ist eben, dass die Grü- verhindern und die Täter ausfindig machen will, dernen 1998 gegen die Wohnraumüberwachung waren, muss auch bereit sein, im mutmaßlich privaten Bereich abzuhören. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind immer noch dagegen!) (Beifall bei der CDU/CSU) dass weite Teile der SPD dagegen waren und dass der Schauen wir uns denGesetzentwurf der Koalition Rest der SPD zähneknirschend zugestimmt hat, weil der an, so müssen wir leider feststellen, dass dieser Gesetz- Druck durch die Bevölkerung gewachsen war. Die Men- entwurf den Strafverfolgungsbehörden, den Staatsanwäl- schen in diesem Land wünschen und wollen eben eine ten, den Polizisten, Steine statt Brot gibt. effektive und wirksame Bekämpfung von Straftaten. Die Menschen in diesem Lande haben es eben nicht verstan- (Joachim Stünker [SPD]: Das müssen Sie dem den, dass die Verabredung zu schwersten Verbrechen im Verfassungsgericht sagen!) Ergebnis durch ein Grundrecht geschützt werden soll. Nach der vorgeschlagenen Regelung des § 100 c Abs. 5 Nachdem man vor sieben Jahren unter diesem Druck Strafprozessordnung muss das Tonband praktisch schon eingebrochen ist – im positiven Sinn; das befürworte ich beim ersten intimen Wort während einer Unterhaltung im Nachhinein natürlich sehr –, versuchen Sie jetzt, die abgeschaltet werden. Mit dieser Vorschrift ist die akusti- Wohnraumüberwachung auf kaltem Wege wieder auszu- sche Wohnraumüberwachung faktisch erledigt und tot. hebeln. (Beifall des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ (Joachim Stünker [SPD]: Er ist gegen das Ver- CSU] – Joachim Stünker [SPD]: Das hat das fassungsgericht! Dabei ist er Anwalt! – Josef Gericht entschieden, Herr Kollege!) Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das Verfassungsgericht ist kein kalter – Zum Urteil komme ich gleich noch. Weg!) 16456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dr. Günter Krings (A) Sie wollen das wieder rückgängig machen, wozu Siement im Grundgesetz belassen wollte, das gar nicht(C) sich damals unter dem öffentlichen Druck bereit erklärt mehr handhabbar ist. Die Entscheidung des Verfassungs- haben. gebers und ihre prinzipielle Bestätigung durch das Ver- fassungsgericht sollten wir als Abgeordnete des Deut- Herr Bachmaier, es gab gestern noch ganz erfreulich schen Bundestages selbst ernst nehmen. offene Worte von Ihnen. Sie haben gesagt, Sie seien nicht enttäuscht über das Urteil. Auch die Strafprozessordnungsregelungen, die auf- (Hermann Bachmaier [SPD]: Nein!) grund des Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes – – Herr Stünker hat gesagt, man hätte das Urteil besonders Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eng – wörtlich haben Sie „sehr eng“ gesagt – umgesetzt. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Wenn das so ist, dann muss man sich die Frage stellen, Kollegen Stünker? ob es nicht auch eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Wenn man es sehr eng umgesetzt hat – so haben Sie es gestern gesagt –, dann frage ich mich, warum man es Dr. Günter Krings (CDU/CSU): denn so eng umsetzen muss. Das sind in der Tat keine Ja, gerne. beruhigenden Töne für die Menschen, die zu Recht Sorge haben, dass die Kriminalität in dieser Form in Joachim Stünker (SPD): Deutschland weiter um sich greift. Herr Kollege Krings, vor drei, vier Wochen bin ich in Das genau ist der Punkt, an dem sich die CDU/CSU- Washington gewesen und habe einem amerikanischen Bundestagsfraktion bei der akustischen Wohnraumüber- Obersten Richter, der sich täglich mit diesen Problemen wachung von den übrigen Fraktionen dieses Hauses un- beschäftigt, die Frage gestellt, ob es nach der amerikani- terscheidet. Wir sind enttäuscht über dasKarlsruher schen Verfassung erlaubt wäre, ein Band mitlaufen zu Urteil, lassen, damit hinterher ein Richter die Aufzeichnung ab- hören könnte. Diese Lösung wollen Sie hier ja ins Ge- (Joachim Stünker [SPD]: Das merkt man!) setz hineinschreiben. Er hat kurz nachgedacht und ge- wir halten es in seiner Tendenz für höchst problematisch sagt, er hielte dies nach der amerikanischen Verfassung und wir wollen seine Vorgaben eben nicht eng umsetzen, für undenkbar. Wie beurteilen Sie dies? (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Bei uns gilt GRÜNEN]: Sie missachten es!) doch das Grundgesetz, oder nicht?) sondern im Interesse der Sicherheit aller Bürger wollen (B) (D) wir alle Handlungsspielräume, die hier verbleiben – ich Dr. Günter Krings (CDU/CSU): gebe gern zu, dass das nicht viele sind –, konsequent und Lieber Herr Kollege Stünker, ich empfinde es immer intensiv ausnutzen, um möglichst im Zweifelsfalle für als sehr erfrischend, wennsich auch die SPD-Fraktion die Sicherheit einzustehen und den Handlungsspielraum gelegentlich einmal auf amerikanisches Recht und im für die Sicherheit im Interesse der Menschen in diesem weitesten Sinne auch auf amerikanische Politik beruft. Lande auszunutzen. Das ist ein guter Beitrag. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian (Joachim Stünker [SPD]: Das ist aber keine Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Antwort!) Zweifelsfall gegen die Menschenwürde!) – Dann lassen Sie mich jetzt in der Sache antworten. Ich glaube, dass es sich alle übrigen Fraktionen dieses Hauses zu leicht machen, wenn sie sich diesen Hand- Wir haben ein Gesetz im Lichte unseres Grundgeset- lungsspielraum als Gesetzgeber selbst absprechen. zes zu beschließen. Die amerikanische Verfassung ist hier nicht maßgeblich. In unserem Land hat der Verfas- Bundestag und Bundesrat haben 1998 den Art. 13 un- sungsgeber die akustische Wohnraumüberwachung aus- seres Grundgesetzes um den Abs. 3, über den wir hier drücklich in Art. 13 Abs. 3 des Grundgesetzes hineinge- sprechen, ergänzt, durch den die akustische Wohnraum- schrieben. überwachung dezidiert zugelassen wird. Das Bundesver- fassungsgericht hat in seinem Urteil selbst klargestellt, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dass dieser Art. 18 Abs. 3 Grundgesetz nicht der Ewig- GRÜNEN]: Es geht um die Würde des Men- keitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes wi- schen, Art. 1! Das haben Sie nicht verstan- derspricht bzw. zuwiderläuft. den!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE In der letzten Entscheidung des Verfassungsgerichts GRÜNEN]: Art. 13! Sie haben Art. 18 ge- finden Sie keine Aussage, dass Art. 13 Abs. 3 GG gegen sagt!) Art. 1 oder Art. 79 GG verstieße. Das Gegenteil ist der Fall; es wurde in diesem Urteil ausdrücklich festgehal- – Genau, Art. 13 Abs. 3 Grundgesetz. Danke schön für ten, dass Art. 79 GG nicht betroffen sei. Dies sollten Sie diesen Hinweis! – Er widerspricht eben nicht der Ewig- bitte zur Kenntnis nehmen, anstatt hier nur amerikani- keitsgarantie von Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz. Es wäre sches Verfassungsrecht heranzuziehen. geradezu grotesk, anzunehmen, dass das Verfassungsge- richt nur eine leere Hülle übrig lassen, also ein Instru- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16457

Dr. Günter Krings (A) Ich komme zu einem letzten Aspekt. Auch die Straf- In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass die (C) prozessregelungen, die aufgrund des Art. 13 Abs. 3 GG Antiterrorgesetze aus dem Jahre 2001, die so genannten ergehen konnten und die wir heute diskutieren, sindOtto-Pakete, nach zwei, spätestens drei Jahren über- nicht aus einer politischen Laune heraus entstanden. Sie prüft werden sollten. Darauf warten wir im Bundestag sind Ausfluss und Ausfüllung der grundrechtlichenund die interessierte Öffentlichkeit noch immer. Schutzpflicht unseres Parlaments, des Gesetzgebers. Wir haben auch gegenüber den Opfern eine Schutz- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- pflicht. In der Debatte wird oft vergessen, dass Grund- tionslos]) rechte nicht nur Täter, sondern auch Opfer schützen sol- len. Auch dies sollten wir beachten. Stattdessen durften wir stern ge hören, dass Bundes- innenminister Schily ihre Entfristung, also unbefristete Gültigkeit, anstrebt. Bündnis 90/Die Grünen signalisier- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten schon einmal Kompromissbereitschaft. Auch dafür Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen. hat die PDS im Bundestag kein Verständnis.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Dies war bereits mein Schlusssatz. Ich muss zum tionslos] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie Ende kommen, aber leider ist nach dem heutigen Tag ist doch gar nicht im Bundestag!) auch die akustische Wohnraumüberwachung am Ende. Nun hat die FDP-Fraktion einige Änderungen bean- Danke. tragt. Sie zielen darauf, mit dem Gesetz zur Wohnraum- überwachung wenigstens den Vorgaben des Bundesver- (Beifall bei der CDU/CSU) fassungsgerichts zu genügen. Das ist uns als PDS zu wenig; denn wir sind weder für den großen noch für den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kleinen Lauschangriff. Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie haben ja (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- genug gelauscht!) tionslos]) Nun noch eine Schlussbemerkung. Die FDP hat auf ihrem jüngsten Parteitag einen Beschluss zuBürger- (fraktionslos): Petra Pau rechten gefasst. Die Vorsitzende der Grünen, Claudia Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Roth, hat danach gefrotzelt, die FDP wolle sich plötzlich (B) (D) Bürgerrechtsorganisationen, Rechtsanwälte und Initiati- ein bürgerrechtliches Image zulegen. Sie wissen: Ich bin ven registrieren seit langem, dass die Überwachungspra- in vielen Fragen mit der FDP über Kreuz. Aber eine Er- xis in Deutschland rasant zunimmt. Dies ist kein Zufall, fahrung habe ich in den letzten zweieinhalb Jahren sam- es war gewollt: von der CDU/CSU ohnehin, aber auch meln müssen: Immer wenn es hier um den Schutz der von SPD und Grünen. Die PDS hat vor einer solchen Bürgerrechte und auch die Abwehr in ihre Eingriffe Entwicklung gewarnt und sie abgelehnt. ging, standen FDP und PDS allein gegen eine Allianz (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- von CDU/CSU bis hin zu den Grünen. tionslos] – Josef Philip Winkler [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann doch nicht (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- wahr sein!) tionslos] und der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josef Inzwischen hat sogar dasBundesverfassungs- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gericht die Überwachungspraxis gerügt und rechtliche NEN]: Herzlichen Glückwunsch!) Änderungen angemahnt. Es hat unmissverständlich klar- gestellt, dass es einen Kernbereich privater Lebensfüh- Das ist nicht gut für die Bürgerinnen und Bürger, nicht rung gibt, in dem weder der Staat noch seine Dienste et- gut für die Demokratie und, wie ich finde, auch nicht gut was zu suchen haben: die Wohnung. Ausnahmen müssen für die Zukunft Deutschlands. wohl begründet und genehmigt sein. Darum geht es in der laufenden Debatte. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos] und der FDP – Josef Philip Winkler Nun hat Rot-Grün ein geändertes Gesetz vorgelegt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie Heute stellt sich daher die Frage, ob es den Auflagen des mal Herrn Modrow, was er vom Lauschangriff Bundesverfassungsgerichts entspricht. Für die PDS hält! Herr Krings sagt, es würde gar nicht mehr muss ich diese Frage leider mit Nein beantworten. gelauscht, Frau Pau sagt, es würde zuviel ge- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- lauscht! Was stimmt denn nun? Ich bin ver- tionslos]) wirrt!) Rot-Grün versucht, sich am Urteil des Gerichts vorbei- zumogeln. Aus dem Bayerischen Wald hallt sogar der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ruf nach noch mehr Überwachung. Genau dies wollen Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann, SPD-Frak- wir aber nicht. tion. 16458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Frank Hofmann (Volkach) (SPD): – Das habe ich gelesen. – Oder wie sieht es mit (C) der Liebe Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LKW-Kabine aus, die teilweise zum Privatraum werden Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Krings hat mich kann? Ihr Änderungsantrag ist zwar plakativ, aber nicht durch seinen Beitrag daran erinnert, wie das 1997/98handhabbar. war. Auch damals gab es Leute, die eine Situation aufge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zeigt haben, um dann zu sagen: Wir brauchen zum BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schutze der Bevölkerung und zur Bekämpfung der orga- nisierten Kriminalität unbedingt den großen Lausch-Er ist auch nicht notwendig. Gerade unter sicherheitspo- angriff. litischen Aspekten darf der Gesetzgeber aus meiner Sicht dieses Feld nicht völlig räumen. Ich bin dankbar, dass wir heute in einer anderen Si- tuation sind. Diese Bundesregierung und die Koalition Mit dem Antrag der Regierungskoalition erfüllen wir aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben als verant- die Ansprüche, die die Mehrheit des Bundesverfassungs- wortliche Politiker auf einer sachlichen Grundlage und gerichts für notwendig erachtet. Die akustische Wohn- in einer sachlichen Atmosphäre das Urteil desBundes- raumüberwachung ist im Einzelfall weiterhin möglich. verfassungsgerichtes umgesetzt. Ich glaube, wir haben Sie ist aus meiner Sicht auch notwendig und sie ist prak- eine gute Grundlage für eine sachgerechte Beurteilung. tikabel. Diese war 1997/98, als Sie Verantwortung trugen, nicht gegeben. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich bin guter Hoffnung!) (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Trotz hoher Anforderungen wird sie in den wirklich he- Man fragt sich wirklich, wie Herr Krings damit um- rausragenden Fällen erfolgreich eingesetzt werden kön- geht. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden,nen. dass es einen Bereich der privaten Intimsphäre gibt, der Die Exekutive hat die akustische Wohnraumüberwa- sich jedem staatlichen Eingriff entzieht. Er aber stelltchung angewandt und muss jetzt vom Bundesverfas- sich hier hin und erklärt: Eigentlich gilt für mich diese sungsgericht hören, dass es so nicht weitergeht. Dass Entscheidung nicht, ich würde sie völlig anders umset- dann Kritik aus der Exekutive kommt, ist etwas völlig zen. Normales. Ich hätte mich gewundert, wenn keine Kritik (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist eine gekommen wäre. Nur, wir sollten uns vielleicht auch ungeheuerliche Unterstellung! Das habe ich einmal vergegenwärtigen, dass wir seit 1998 die Instru- nicht gesagt!) mente für die Strafverfolgung erweitert und modernisiert (B) haben. Es gibt ein Arsenal, gerade zur Bekämpfung der (D) Ich erinnere an den Beitrag von Herrn Norbert Geis im Schwerstkriminalität, das wir seit 1998 neu geschaffen Ausschuss. Dazu kann ich nur sagen: Norbert Geis ist im haben. Dieses Arsenal wird von der Polizei verantwor- Vergleich zu dem, was Sie gesagt haben, eine „lametungsvoll, nicht ausufernd, sondern zurückhaltend und duck“. effizient eingesetzt. (Widerspruch bei der CDU/CSU – Norbert In der Gesamtschau der rechtsstaatlichen Möglichkei- Geis [CDU/CSU]: Das muss ich ändern!) ten hat sich die Situationder Strafverfolgungsorgane verbessert und sie wird sich weiter verbessern, wie diese Der Änderungsantrag der CDU/CSU nimmt aus mei- Koalition mit dem Gesetzentwurf zum vereinfachten ner Sicht wesentliche Teile des Bundesverfassungsge- DNA-Test unter Beweis stellen wird. richtsurteils nicht zur Kenntnis. Ihr Änderungsantrag ist verfassungsrechtlich mehr als bedenklich. Ihm kann man (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sicherlich nicht zustimmen. Ich muss Sie fragen: Wollen Sie, dass der Gesetzgeber ein verfassungswidriges Ge- Wenn ich mir vorstelle, dass nach Ihrer Aussage auf setz verabschiedet? Haben Sie aus der Entscheidung des dem FDP-Parteitag, Herr Funke, eine gemeinsame Bundesverfassungsgerichts nichts gelernt? Koalition mit der CDU/CSU gebildet werden soll, dann kann ich nur sagen: Für den Bereich der Innen- und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Rechtspolitik wird das niemals zu schaffen sein. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Joachim Stünker [SPD]: Das schaffen sie im- Die FDP hingegen verfällt in das genau andere Ex- mer! Das vergessen sie alles wieder!) trem. Ihr geht die Entscheidung des Bundesverfassungs- Oder Sie müssen im Prinzip alles über den Haufen wer- gerichts nicht weit genug. Herr Funke, ich möchte Sie fen. bitten: Schauen Sie sich § 100 c Abs. 4 StPO an. Dort wird nicht der Begriff „Privatwohnung“ verwendet. Ich (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das werden halte diesen Begriff auch für falsch. Wie soll im Einzel- wir euch überlassen! – Rainer Funke [FDP]: fall beurteilt werden, was eine Privatwohnung ist? Wird Was der sich für Sorgen macht! Der scheint ein Arbeitszimmer in einer Privatwohnung auch zur Pri- sich aufgegeben zu haben!) vatwohnung? Ich sage Ihnen: Dieser Gesetzentwurf ist in einer guten (Rainer Funke [FDP]: Lesen Sie einmal das und sachlichen Atmosphäre entwickelt worden. Er ver- Urteil des Bundesverfassungsgerichts!) meidet die Extrempositionen der CDU/CSU und der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16459

Frank Hofmann (Volkach) (A) FDP. Er ist gut für die Bürgerrechte und gut für die Si- es keine Schranken. Insofern ist dieses Recht auf Unver- (C) cherheit. letzlichkeit der Wohnung sehr aufgedröselt, wenn man das von dieser Seite sieht. Das gibt es heute schon und Herzlichen Dank. das Verfassungsgericht hat mitnichten daran gerüttelt. Es (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef wäre auch schlimm, denn es geht darum, durch akusti- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche oder visuelle Wohnraumüberwachung rechtzeitig NEN]) eingreifen zu können und einen Verbrecher zum Beispiel davon abzuhalten, ein entführtes Kind zu Tode zu brin- gen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU- Auch im Rahmen der Strafverfolgung besteht die Fraktion. Möglichkeit, jetzt auch vom Verfassungsgericht bestä- tigt, akustische Mittel zur Überwachung des Wohn- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Von wegen raumes einzusetzen. Das bestreitet niemand. Das Ver- „lame duck“!) fassungsgericht hat Art. 13 Abs. 3 noch einmal ausdrücklich als verfassungskonform gekennzeichnet. (CDU/CSU): Norbert Geis (Daniela Raab [CDU/CSU]: Genau! – Josef Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herren! Der Arbeitsgruppe, die den Gesetzentwurf 1998 NEN]: Aber nicht die Umsetzung!) vorbereitet hat, gehörten der damalige und der heutige Innenminister an, der damalige Justizminister und seine Als wir 1998 darangegangen sind, die Wohnraum- Nachfolgerin. Es gehörten ihr auch Herr Körper, ich und überwachung im Falle der Strafverfolgung durch eine einige andere an. Es war damals eine gemeinschaftliche Verfassungsänderung zu ermöglichen, ging es uns da- Anstrengung und diese gemeinschaftliche Anstrengung rum, in den innersten Bereich der organisierten Krimina- ist von der ganz großen Mehrheit dieses Hauses getragen lität vorzudringen. Wir wollten endlich die Drahtzieher, worden. Davon wollen wir nicht abgehen; das wollenwir wollten die Finanziers, wir wollten an die Verbrecher wir heute einmal festhalten. im feinen Anzug und im teuren Auto herankommen, die sich selber die Hände nicht schmutzig machen, aber an- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist die dere beauftragen, zu morden und zu töten. Das war unser Wahrheit!) Anliegen. Zweite Vorbemerkung: Ich wende mich gegen den (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Begriff „Lauschangriff“. Der Verbrecher greift an und Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist (B) der, der versucht, die Tat zu ermitteln und den Verbre- das denn gelungen?) (D) cher bloßzustellen, der verteidigt die Rechtsordnung. Natürlich wollten wir den Wohnraum selbst nicht ver- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Von wegen letzten. Lauschangriff!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Deshalb ist „Lauschangriff“ ein falscher Begriff und wir GRÜNEN]: Haben Sie aber!) sollten ihn nicht verwenden. – Das war nicht unsere Absicht. – Uns ging es damals (Beifall bei der CDU/CSU) nicht um reine Strafverfolgung, uns ging es nicht um die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches, sondern Die Unverletzlichkeit der Wohnung hat in unserer uns ging es darum, durch eine konsequente Strafverfol- Kultur eine lange Tradition. Sie steht in engem Zusam- gung künftig Verbrechen zu vermeiden. Der Verbrecher menhang mit der Gestaltung der privaten Lebenssphäre richtet sich nicht nach dem geschriebenen Gesetz; er und der Wahrung der menschlichen Würde. Darauf hat kümmert sich nicht um das, was im Strafgesetzbuch auch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Ent-steht. scheidungen hingewiesen. Es hat dies in seiner Entschei- dung vom 3. März 2004 noch einmal klargestellt und ge- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE sagt, dass die Wohnung als Kernbereich der privaten GRÜNEN]: Das kann aber auch für den Staat Lebensgestaltung den absoluten Schutz genießt. gelten!) Aber wie jedes Grundrecht wird auch das Grundrecht Für ihn ist allein die Frage entscheidend: Wird meine Tat des Art. 13 des Grundgesetzes nicht schrankenlos ge-entdeckt oder nicht? Deswegen haben wir versucht, auch währt. Die Wohnung ist kein exterritorialer Raum. Die mithilfe der Wohnraumüberwachung eine bessere Auf- Hausdurchsuchung ist möglich, wenn der Richter sie an- klärung von Schwerstverbrechen zu ermöglichen. Das ordnet und wenn sie auf gesetzlicher Grundlage ge-gilt für alle Länder um uns herum – für Frankreich, für schieht. Sie trifft sehr oft den engsten, den intimsten Be- England – und das gilt auch für die USA. reich des jeweils Betroffenen, des Wohnungsinhabers. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn es darum geht, Gefahren für das Leben abzu- Es war richtig, dass wir damals die Wohnraumüberwa- wenden, haben wir überhaupt keine Hemmung und dür- chung eingeführt haben. fen auch gar keine Hemmung haben, den privatesten Be- reich mit technischen Mitteln zu überwachen und dazu (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto akustische und sogar visuelle Mittel einzusetzen. Da gibt Solms) 16460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Norbert Geis (A) Weil meines Erachtens Strafverfolgung und Gefah- steht, dass die Abzuhörenden über ein Verbrechen re-(C) renabwehr nicht scharf voneinander zu trennen sind,den? Das ist nicht vorstellbar. Er müsste schon hellsehe- sondern in engem Zusammenhang stehen, halte ich die rische Fähigkeiten haben. scharfe Unterscheidung des Verfassungsgerichts, wel- ches bei der Abwehr von Strafen alles ermöglicht, aber Deswegen meine ich, dass der Vorschlag der CDU/ die Strafverfolgung eng begrenzt, für sehr bedenklich. CSU-Fraktion, zwei Bänder zu ermöglichen – nämlich Das muss hier einmal in Ruhe gesagt werden dürfen,ein Richterband und eines, das der ermittelnde Beamte denn hier ist nichts sakrosankt. Wir dürfen auch demabhört –, durchaus einer genauen Prüfung wert wäre. Verfassungsgericht sagen, dass wir bestimmte Entschei- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dungen nicht voll akzeptieren. GRÜNEN]: Aber der Richter ist auch ein (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jawohl! – staatliches Organ!) Daniela Raab [CDU/CSU]: Genau!) Der Beamte schaltet aus, sobald ein Gespräch den priva- Ich akzeptiere diese Entscheidung insoweit nicht. Ob- testen Kernbereich berührt. Das Richterband wird dem wohl das Verfassungsgericht in seinem Urteil deutlich Richter vorgelegt und ein unabhängiger Richter ent- sagt, die Wohnraumüberwachung solle auch im Bereich scheidet darüber, ob der Inhalt verbrecherischen Gehalt der Strafverfolgung möglich sein, schafft es gleichzeitig hat und in die Ermittlungen einbezogen wird oder ob das Begrenzungen, die der Bundesregierung praktikable und abgehörte Band vernichtet werden muss. handhabbare gesetzliche Regelungen dieses Instruments Ich bin der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf ein schier unmöglich machen. Vermittlungsverfahren durchlaufen muss. Ich hoffe sehr, Dennoch meine ich, Frau Ministerin, dass eine Rege- dass wir im Vermittlungsausschuss eine vernünftige Lö- lung in unserem Sinne möglich gewesen wäre. Vielleicht sung finden. Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorge- hätten Sie die Vorschläge, die aus dem Bundesrat ge-sehenen Regelungen sind nicht praktikabel. Dann kön- kommen sind, mehr beachten sollen, vielleicht hätten Sie nen wir das Vorhaben auch gleich lassen. auch die Vorschläge der Sachverständigen in der Anhö- (Beifall bei der CDU/CSU) rung des Bundestages aufnehmen sollen, zum Beispiel den Vorschlag, in den Katalog der Anlasstaten die schwere Form der kriminellen Vereinigung nach § 129 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Abs. 4 mit aufzunehmen. Man hätte den Strafrahmen für Ich schließe die Aussprache. diese schwere Form auf zehn Jahre erhöhen können, wie es ein Sachverständiger ausdrücklich vorgeschlagen hat. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (B) Es wäre möglich gewesen, diese klassische OK-Tat mit desregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Druck-(D) in den Katalog der Anlasstaten aufzunehmen. sache 15/4533 zur Umsetzung des Urteils des Bundesver- fassungsgerichts vom 3. März 2004 zur akustischen Auch die schweren Bestechungsdelikte hätte man mit Wohnraumüberwachung. Der Rechtsausschuss empfiehlt aufnehmen müssen, in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5486, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Haben wir Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ doch drin!) CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für denn alle Praktiker sagen uns: Gerade in Fällen von Be- den Änderungsantrag auf Drucksache 15/5489? – Wer stechung ist die akustische Wohnraumüberwachung ein stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungs- wichtiges Mittel, weil die Täter sich so abschotten, dass antrag ist damit abgelehnt mit den Stimmen der Koali- eine Aufklärung anders nicht möglich ist. Ich bedaure tionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung sehr, dass diese schweren Bestechungsdelikte nicht darin der CDU/CSU-Fraktion. enthalten sind. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Die Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei- schwere Bestechung haben wir drin, Herr chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Geis!) entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ – Nein, sie sind nicht darin enthalten. Der Sachverstän- CSU-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Kollegin Pau dige schlägt das ja ausdrücklich vor. angenommen. Lassen Sie mich abschließend etwas zu der im Ge- Dritte Beratung setzentwurf vorgesehenen Unterbrechung der Abhör- maßnahmen anmerken. Es ist richtig, was Herr Krings und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und Frau Raab ausgeführt haben: Die Unterbrechung ist Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – jetzt in einer Weise geregelt, dass die akustische Wohn- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf raumüberwachung praktisch ad nullum geführt wird. Sie ist damit mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. wird nicht mehr möglich sein. Denn wie soll der abhö- Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: rende Beamte, wenn die Überwachung abgestellt wor- den ist, wissen, wann die private Unterhaltung wieder Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut beendet ist und wann unter Umständen die Chance be- Koschyk, Thomas Strobl (Heilbronn), Bernhard Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16461

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Kaster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion rot-grüner Bundespolitik haben dazu geführt, dass sich (C) der CDU/CSU gerade in den letzten Jahren die Rahmenbedingungen für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der in Deutschland zunehmend verschlechtert haben. Großstädte in Deutschland sichern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksache 15/5332 – Überweisungsvorschlag: Augenblicklich kumuliert sich in unseren Städten eine Innenausschuss (f) Vielzahl unserer wirtschaftspolitischen, haushaltspoliti- Auswärtiger Ausschuss schen und gesellschaftspolitischen Probleme. Die kom- Sportausschuss munalfeindliche Politik der letzten Jahre hat viele Städte Rechtsausschuss an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Dringend Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit notwendige, das Stadtbild prägende und infrastrukturelle Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Investitionen bleiben auf der Strecke. Landauf, landab Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung entsteht ein Investitionsstau ohnegleichen. In ganz Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nordrhein-Westfalen etwa kommen in diesem Jahr von Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 23 Großstädten ganze drei ohne ein Haushaltssiche- Ausschuss für Tourismus rungskonzept aus. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Von den übrigen 20 müssen mindestens 14 sogar mit ei- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage- ner vorläufigen Haushaltsführung vorlieb nehmen, weil gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so ihr Sicherungskonzept erst gar nicht genehmigt wurde. beschlossen. Hier bleiben nicht nur Investitionen auf der Strecke. Nein, hier steht viel mehr auf der Kippe, und zwar auch Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- das, was großstädtische Lebensattraktivität erst aus- ner dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/CSU- macht, wie Bibliotheken, Theater oder Kulturzentren, Fraktion das Wort. also das, was für die Menschen vor Ort wichtig ist. Soziale Brennpunkte hat es schon immer in unseren Bernhard Kaster (CDU/CSU): Städten gegeben. Heute sprechen wir aber nicht nur von Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen sozialen Brennpunkten. Nein, wir müssen vielmehr und Kollegen! Heute existieren weltweit 40 so genannte vom „Kippen“ ganzer Stadtteile sprechen. Wir erleben (B) Megastädte. Dabei handelt es sich um Städte mit jeweils regelrechte Wanderungsbewegungen, beispielsweise in (D) über 10 Millionen Einwohnern. In den nächsten zehnBerlin oder in Köln – viele Städte wären hier zu nen- Jahren wird erwartet, dass die Zahl dieser Städte auf ins- nen –, von einem zum anderen Stadtviertel: Flucht vor gesamt 60 steigen wird. drastisch sinkenden Eigentumswerten, Flucht vor Krimi- In Deutschland haben wir – das ist historisch undnalität, Flucht auch vor den Folgen einer fehlgeschlage- strukturell begründet – keine Megacitys und wir werden nen Integrationspolitik und mangelnder Integrations- sie auch nicht bekommen. Das bedeutet: Wir haben zwar bereitschaft. Das muss als Wahrheit ausgesprochen nicht die riesigen Probleme der Megastädte, wir haben werden. allerdings auch nicht die sich aus diesen Metropolen er- Jeder spricht gerne vonEntbürokratisierung. Aber gebenden Chancen. Gleichwohl muss sich der Standort gleichzeitig beraten wir über ein Antidiskriminierungs- Deutschland in einer globalisierten Welt mit seinen Be- gesetz oder wir reagieren auf die Feinstaubdebatte mit dingungen in den großen Städten dem harten Wettbe-Vorschlägen wie der Citymaut. Politisches Handeln ist werb mit den Weltmetropolen stellen. Aktuell findet in vielmehr dort angesagt, wo die Städte keine oder nur ge- Berlin eine Tagung des Städtenetzwerkes „Metropolis“ ringe Handlungsmöglichkeiten haben, etwa bei der Be- mit 500 Teilnehmern aus aller Welt statt. Hier geht es ge- kämpfung des Graffitiunwesens – was tut man sich hier nau um die angesprochenen Fragen. Dies ist ein Wettbe- schwer! – oder in einer dieIntegration und die Integra- werb um Wirtschaftsinvestitionen, Konzernzentralentionsbereitschaft fördernden Ausländerpolitik. und damit auch um Arbeitsplätze und attraktive Lebens- bedingungen. Wir konkurrieren mit europäischen und Unsere Großstädte stellen sich dennoch kreativ und weltweiten Metropolen und Metropolregionen. dynamisch der Situation, umImpulsgeber von Wirt- schaft und Gesellschaft zu bleiben, seien es die alternati- Kern der heutigen Krise unserer Großstädte ist das im ven Finanzierungswege für Großprojekte wie den Jung- europäischen wie im weltweiten Vergleich viel zu nied- fernstieg in Hamburg, sei es eine vorbildliche rige Wirtschaftswachstum. Finanzpolitik wie in Düsseldorf, sei es die beispielge- (Beifall bei der CDU/CSU) bende Kooperation einer Großstadtregion wie der Re- gion Stuttgart oder sei es die Vorreiterrolle vieler Städte Was für die Volkswirtschaft insgesamt gilt, trifft erstim Hinblick auf E-Government, betriebswirtschaftliche recht auf die Großstädte zu: Geht es ihnen schlecht, lei- Haushaltsführung oder innovative Kooperationsmodelle. det das ganze Land. Und umgekehrt: Was unseren Groß- Unsere großen Städte versuchen trotz großer Probleme, städten gut tut, das hilft auch unserem Land. Fehlent-aus eigener Initiative und Kraftanstrengung noch vieles wicklungen, Fehlentscheidungen und Fehlsteuerungen zu realisieren. Hier gilt: Not macht eben erfinderisch. 16462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Bernhard Kaster (A) Im Mittelalter hieß es „Stadtluft macht frei“. JederDie Bundesregierung hat die Probleme, die Sie schil-(C) kennt diesen Ausspruch. Seit 1998 müssen wir ihn er- dern, bereits vor Jahren erkannt und sie arbeitet sehr gänzen: Rot-Grün drückt diese Luft ab. konsequent an ihrer Lösung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Einige Maßnahmen waren bereits erfolgreich. der FDP – Franziska Eichstädt-Bohlig (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Zum Beispiel?) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unter Niveau!) Es ist mir unverständlich, warum sich Ihr Antrag nur auf Großstädte konzentriert. Wir haben mehr als Frei atmen in unseren Städten, das heißt, endlich wieder 13 000 Kommunen. Es ist absolut unseriös, große gegen die Finanzspielräume zu geben, damit die Städte die not- kleine Städte auszuspielen. wendigen Investitionen nach eigener Prioritätensetzung in Angriff nehmen können. Bitte nicht schon wieder die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des alte Leier von zinsverbilligten KfW-Krediten anstim- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg men! Schirmbeck [CDU/CSU]: Wer tut das denn? – Peter Götz [CDU/CSU]: Lesen!) Frei atmen in unseren Städten, das heißt auch, keine einseitigen Vorgaben für die bessere Vereinbarkeit von Sie fordern, Großstädte finanziell zu entlasten. Familie und Beruf zu machen. Haben wir hier doch den Nur mit einer umfassenden und durchgreifenden Mut, örtliche, das heißt auch ganz unterschiedliche Vari- Gemeindefinanzreform kann die kommunale Fi- anten – ob Kinderbetreuung im Quartier oder ob Tages- nanzkrise bewältigt werden. müttermodelle – sich frei entwickeln zu lassen! (Peter Götz [CDU/CSU]: Seit wann sind Sie Frei atmen, das heißt auch, dass die europäische denn an der Regierung? – Gisela Piltz [FDP]: Ebene nicht immer neue Überregulierungen schafft. Un- Warum machen Sie sie nicht?) sere Städte müssen im Einklang mit dem Wettbewerbs- So der Wortlaut in Ihrem Antrag. Ich frage Sie: Wer hat prinzip und im Sinne echter Verantwortung weiterhin denn verhindert, dass die Gemeindefinanzreform 2003 selbst entscheiden können, wie sie ihre Aufgaben erfül- umfassend verabschiedet wird, so wie wir es wollten? len. Die rot-grüne Bundesregierung hatte eine Kommis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sion zur Reform der Gemeindefinanzen eingesetzt. der FDP) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wenn ich Unsere Städte müssen deshalb im Vorfeld europapoliti- nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Ar- (B) (D) scher Entscheidungen an der nationalen Willensbildung beitskreis!) auch institutionell beteiligt werden. Das ist ganz wichtig. Diese hat im Wesentlichen zwei Maßnahmen in den Vor- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist fünf vor dergrund gestellt: die Reform der Gewerbesteuer und die zwölf. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, die Chancen Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Der und Entwicklungsmöglichkeiten, das heißt die Zukunfts- Bundesrat hat dieses Vorhaben blockiert. Im Vermitt- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Großstädte viel stär- lungsausschuss war es dann möglich, wenigstens einen ker als bisher auch in den bundespolitischen Blick zuTeil dieser Maßnahmen auf den Weg zu bringen. nehmen. Unser heutiger Antrag weist dazu den Weg. Stimmen Sie ihm daher zu! Geben Sie den Großstädten (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der Patient die notwendige Luft zum Atmen zurück! sollte gesund gemacht und nicht getötet wer- den!) Vielen Dank. Den Anstieg der kommunalen Schulden haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) damit insgesamt stark abgebremst. Dazu beigetragen ha- ben im Wesentlichen die Gewerbesteuerumlage und die Änderung der Bemessungsgrundlage für die Gewerbe- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: steuer, zum Beispiel durch die Mindestgewinnbesteue- Das Wort hat jetzt die Kollegin Marga Elser von der rung. Die Steuereinnahmen der Gemeinden und der Ge- SPD-Fraktion. meindeverbände erhöhten sich im Jahr 2004 um 9,4 Prozent auf 51 Milliarden Euro. Marga Elser (SPD): Hier wird auch klar, dass Ihr Antrag alles andere als Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der aktuell ist. Sie hantieren mit veralteten Zahlen: Sie bezif- Zeitpunkt Ihres Antrages, liebe Kolleginnen und Kolle- fern das Defizit der Kommunen 2003 auf fast gen von der Union, verwundert mich sehr. Wenn ich mir 9 Milliarden Euro. Diese Zahl ist nur fast richtig. Es wa- Ihre Forderungen so anschaue, dann habe ich schon den ren 8,5 Milliarden Euro. Im Übrigen liegen auch schon Eindruck, dass Sie so manches, was bereits in den letzten die Zahlen für 2004 vor. Diese müssten Sie eigentlich Jahren auf den Weg gebracht wurde, überhaupt nichtkennen. Die waren bei der Abfassung Ihres Antrags be- mitbekommen haben. reits bekannt. Offensichtlich kennen Sie sie aber nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Deshalb freut es mich umso mehr, dass ich Ihnen hier BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine gute Nachricht überbringen kann. Der Schuldenberg Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16463

Marga Elser (A) der Kommunen hat sich innerhalb eines Jahres halbiert, In diesem Jahr werden die Kommunen durch die Zu- (C) und zwar von 8,5 auf 3,8 Milliarden Euro. sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe entlas- tet. (Peter Götz [CDU/CSU]: Und darauf sind Sie stolz? – Gisela Piltz [FDP]: Das ist doch nicht (Gisela Piltz [FDP]: Was noch zu beweisen der Schuldenberg!) wäre! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das behauptet nicht mal mehr Ihre Regierung!) Sicherlich sähe die Finanzlage noch besser aus, wenn auch die freien Berufe im Rahmen einer Gemeindewirt- Ich möchte das nicht weiter ausführen; schaftsteuer ihren Anteil leisten würden. Eine umfas- sende Reform, so wie wir sie gefordert haben, wurde von (Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist auch besser Ihnen damals leider blockiert. so!) das wissen wir alle. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ihre Vorschläge zur Lösung der kommunalen Finanz- Frau Kollegin Elser, erlauben Sie eine Zwischenfrage krise sind also offensichtlich bereits umgesetzt. des Kollegen Götz? Sie fordern weiter, dass die Städte darin unterstützt Marga Elser (SPD): werden sollen, sich an die Veränderungen durch den demographischen Wandel anzupassen. Auch hierzu hat Bitte. die rot-grüne Bundesregierung bereits viele Maßnahmen ergriffen. Sie haben das offensichtlich übersehen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Nennen Sie Bitte schön, Herr Götz. doch mal ein paar!)

Peter Götz (CDU/CSU): Wir kennen die Daten. Immer mehr älteren Menschen Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass die kommuna- stehen immer weniger junge Menschen gegenüber. Die len Kassenkredite in Ihrer Regierungszeit Potenziale von der älteren Menschen müssen in Zukunft bes- 5,8 Milliarden auf den Höchststand von 20 Milliarden ser genützt werden. Euro im vergangenen Jahr gestiegen sind? Wenn Sie das (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Nennen Sie als Erfolg betrachten, dann muss ich Sie wirklich fragen, mal ein paar Fakten!) ob Sie auf dem richtigen Weg sind. (B) Das ist in der Wirtschaft so – dazu vermisse ich Anträge (D) (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ von Ihnen allerdings –; das ist aber auch beim bürger- DIE GRÜNEN]: Weder der Anstieg noch das schaftlichen Engagement so. Absinken ist ein Erfolg der Bundespolitik!) Ich darf daran erinnern, dass wir in unserer Regie- rungszeit schon einiges getan haben. Ich nenne nur das Marga Elser (SPD): Programm „Soziale Stadt“. Wir haben in der Gemeindefinanzreform getan, was wir tun konnten, (Peter Götz [CDU/CSU]: Ja, ja! Uralt ist das!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das haben Städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnah- wir gemerkt, was Sie tun können! Unfähig men, städtebaulicher Denkmalschutz, Stadtumbau Ost, sind Sie! Hochgradig unfähig!) Stadtumbau West – alles das haben wir in Gang gesetzt. was Sie uns haben machen lassen. Weder der Anstieg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ noch das Absinken dieser Schulden sind, denke ich, al- DIE GRÜNEN) lein vom Bund zu verantworten. Daran sind noch viele andere Bereiche beteiligt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Die Kommunen sind voll gerüstet. Sie können die Herausforderungen an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nehmen. DIE GRÜNEN) Sie fordern kinder- und familienfreundliche Struk- Dazu kann ich Ihnen auch einiges vorrechnen. So kom- turen. Sie fordern, die Familien einzubeziehen und ei- men wir nicht weiter, denke ich. nen kommunalen Familientisch zu gründen. Dieser Vor- schlag freut mich natürlich außerordentlich; denn damit (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wann treten greifen Sie nichts anderes auf als die Initiative unserer Sie eigentlich freiwillig ab, bei 40 Milliar- Familienministerin zu lokalen Bündnissen für Familie. den?) (Beifall der Abg. Dr. Cornelie Sonntag- Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung. Nach der Fi- Wolgast [SPD]) nanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland sind die Länder für die finanzielle Ausstattung der Kommu- Seit Januar 2004 sind 145 solcher Bündnisse geschlos- nen zuständig. Die Adressierung Ihres Antrags verwun- sen worden, vor Ort angepasst usw. Es ist also alles be- dert mich deshalb. reits gemacht. 16464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Marga Elser (A) (Beifall bei der SPD – Georg Schirmbeck (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wer so eine (C) [CDU/CSU]: Wenn alles gemacht ist, dann tre- Politik macht, muss eingesperrt werden!) ten Sie ab! Abtreten!) Sie fordern eine bessere Integration. Meine sehr ge- Wir haben zum 1. Januar 2005 das Tagesbetreuungs- ehrten Damen und Herren, ist Ihnen wirklich entgangen, ausbaugesetz auf den Weg gebracht. Auch das wollte der dass wir gerade mit dem Zuwanderungsgesetz eine bes- Bundesrat nicht haben. sere Integration von Auswanderern und Zuwanderern er- reicht haben? (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie haben sich bemüht und alles gemacht! Dann sollten (Beifall bei der SPD) Sie abtreten!) Wir haben die Grundlagen dafür geschaffen, dass Aus- Mit diesem Gesetz haben wir nicht nur guten Willen be- länder und Zuwanderer sprachlich, beruflich und auch kundet, sondern auch Geld für die Kommunen gegeben. sozial integriert werden. Der Grundstein ist gelegt. Die Wenn die Länder die Gelder nicht an die KommunenIntegration selbst kann letztendlich jedoch nur dadurch weitergeben, erreicht werden, dass dieZuwanderer selbst und die deutsche Bevölkerung aufeinander zugehen. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Gegenruf der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜND- Zum Schluss möchte ich noch einen Satz dazu sagen, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein zentrales dass Sie von der Bundesregierung einen jährlichen Be- Problem!) richt zur Lage und zur Entwicklung der Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte fordern. Auf der dann ist das nicht unsere Sache. Ich weiß, dass das Land einen Seite schimpfen Sie immer über die Bürokratie. Baden-Württemberg nur einen Bruchteil des Geldes an Hier fordern Sie nun ein Mehr an Bürokratie. Da frage die Kommunen weitergegeben hat. ich Sie schon: Wie passt dies zusammen? Für den Ausbau von Ganztagsschulen haben wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Georg 4 Milliarden Euro an die Kommunen weitergegeben. Ich Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist Ihnen pein- bin nicht wie die Frau Kultusministerin Schavan der lich, wenn Sie so etwas vorlegen müssen!) Meinung, dass dieses Geld nur für Schulen an sozialen Brennpunkten ausgegeben werden soll. Ich finde, jede Insgesamt bleibt mir nur eines übrig, nämlich Ihnen Schule müsste profitieren. von der CDU/CSU zu danken. Mit Ihrem Antrag haben Sie wunderbar, wenn auchetwas unstrukturiert, darge- (Peter Götz [CDU/CSU]: Das reicht ja gerade stellt, was die rot-grüne Bundesregierung in den letzten für die Suppenküche!) (B) Jahren für die kommunalen Haushalte getan hat. (D) Damit entspräche man auch dem Wunsch der Väter und (Peter Götz [CDU/CSU]: Das glauben Sie sel- Mütter nach intensiver Betreuung ihrer Kinder. Wir hel- ber! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das er- fen den Kommunen, kinder- und familienfreundliche zählen Sie zu Hause einmal im Kreistag oder Strukturen zu schaffen. Dieses Ganztagsschulprogramm im Stadtrat!) (Peter Götz [CDU/CSU]: Reicht für die Sup- Noch viel mehr machen Sie mit Ihrem Antrag deutlich, penküche!) dass Sie selbst keine besseren Ideen haben. ist aber noch aus einem anderen Grund sehr wichtig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dort, wo Familien gerne leben, steigen nicht nur die DIE GRÜNEN) kommunalen Steuereinnahmen. Nein, sie sind auch des- halb ein wichtiger Faktor, weil durch sie die Investitions- dynamik und die Wettbewerbsfähigkeit der Städte stei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-Fraktion. Deutschland spielt mit seinem Halbtagsschulsystem international eine Sonderrolle. Wenn wir im Wettbewerb Gisela Piltz (FDP): standhalten wollen, müssen wir diese Sonderrolle able- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir gen. Die Initiative „Zukunft Bildung und Betreuung“ ist von der FDP-Bundestagsfraktion freuen uns außeror- für uns deshalb der beste Weg. dentlich, dass auch die Kollegen von der Union jetzt die Sie fordern, dass die bundespolitischen Rahmenbe- Kommunalpolitik entdeckt haben. Man freut sich immer dingungen für Sicherheit und Ordnung geschaffen wer- über Mitstreiter auf diesem Gebiet. den. Sie fordern, dass soziale Spannungsfelder gelöst (Peter Götz [CDU/CSU]: Danke schön!) werden. Dazu gehört natürlich auch – das ist schon von Ihnen gesagt worden – die Bekämpfung des Graffiti-Wir haben immer darauf hingewiesen, dass es wichtig unwesens. Wir wissen doch – wir diskutieren darüber ja ist, die Kommunen hier im Haus wichtiger zu nehmen schon viele Jahre –, dass dieses Problem nicht mit einer und auch besser zu behandeln, wenn entsprechende Änderung im Strafgesetzbuch erledigt werden kann. Die Dinge beraten werden. Aus unserer Sicht sollte sich der Schwierigkeit besteht doch darin, dass die Sprayer auf Antrag aber nicht nur mit Großstädten beschäftigen, frischer Tat ertappt werden müssen. Das ist doch dasauch wenn das ein wichtiges Thema für uns alle ist, son- Problem. dern mit den Kommunen insgesamt. Das Problem trifft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16465

Gisela Piltz (A) nämlich Großstädte und dienormalen Städte gleicher- was die Gemeinden auszubaden haben. Deshalb würde (C) maßen. ich mich freuen, wenn Sie das noch aufnehmen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Georg Schirmbeck [CDU/ Ich freue mich auch darüber, dass Sie in Ihrem Antrag CSU]: In Niedersachsen ist das gerade be- einen Bericht zur Lage der Großstädte fordern; denn die schlossen worden!) FDP hat schon vor längerer Zeit hier einen Antrag einge- bracht, in dem ein Bericht über die Lage der Kommu- – Das ist in fast allen Ländern beschlossen worden; aber nen eingefordert wurde. Nach der Diskussion im Innen- ich rede vom Bundestag. Wir sind hier im Bundestag ausschuss habe ich eine dunkle Ahnung davon – das hat und Sie haben sich dieser Abstimmung verweigert. Frau Elser hier jetzt auch bestätigt –, dass sich die Koali- Ich hoffe, dass wir einen Weg finden, den Kommunen tionsfraktionen diesem Antrag verweigern werden. zu helfen. In diesem Sinne würden wir Sie gerne unter- Wenn Sie einmal die Berichtsliste 2004 zur Hand neh- stützen, wenn Sie uns da ein Stück entgegenkommen. men, dann sehen Sie, dass es 158 Berichte gibt, darunter Vielen Dank. – ich möchte jetzt keinem Kollegen zu nahe treten – so spannende wie den Bericht über die Möglichkeit des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten weiteren Ausbaus der Nord-Süd-Schienenverbindung der CDU/CSU) unter Wahrung der Verkehrsbedürfnisse des Freistaates Thüringen und auf möglichst kostengünstige Weise – ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: will das Deutsch gar nicht kommentieren – oder auch Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt- den Bericht über das gesamte Saatgutrecht. Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün, mal ganz im Ernst: Wir diskutieren hier über die dritte Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Säule unseres Staates, über das, was Bürgerinnen und GRÜNEN): Bürger jeden Tag erfahren, und Sie sagen angesichts von Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als 158 Berichten, das bedeute zusätzliche Bürokratie und Erstes, lieber Kollege Kaster und Frau Kollegin Piltz: Sie wollten sich nicht darum kümmern. Das finde ich ei- Anfang Juni führt unsere Fraktion eine große Konferenz nen Skandal, ehrlich gesagt. zum Thema „Stadt Aktiv“ durch. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Es ist ja nie der CDU/CSU) zu spät, auf den Weg der Besserung zu kom- (B) men!) (D) Wenn man davon absieht, dass der Antrag der CDU/ CSU vom Antidiskriminierungsgesetz über Graffiti bis Sie sind herzlich eingeladen. Kommen Sie; ich glaube, hin zum Zebrastreifen alles an Politikfeldern abräumt, da können Sie einiges lernen. dann unterstützen wir Sie in der Zielsetzung Ihres Antra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ges. Ohne eineGemeindefinanzreform wird es den Städten und Gemeinden – das ist ja der Kern Ihres An- Ich muss sagen: An sich finde ich es toll, dass die trages – langfristig niemals besser gehen können. CDU/CSU das Thema aufgegriffen hat, egal ob mit dem Schwerpunkt Großstädte oder Städte generell; denn ich (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ glaube schon, dass es wichtig ist, dass wir hier intensiver DIE GRÜNEN]: Wer verhindert sie denn bis- und öfter über Kommunalpolitik generell und durchaus her? Das muss man doch einmal ganz klar se- auch über die stadtspezifischen Probleme reden. So weit hen!) bin ich absolut d’accord. Die finanzielle Ausstattung funktioniert nicht, wenn wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht endlich eine ordentliche Gemeindefinanzreform und bei der CDU/CSU) auf den Weg bringen. Auch daran ändern die heute vor- gelegten Zahlen des Arbeitskreises SteuerschätzungIch fand es aber schon eine Enttäuschung, dass wir diese nichts. Denn selbst wenn es den Gemeinden besser ge- knappe halbe Stunde hen sollte: Der Patient ist krank und nur weil es ihm ein (Peter Götz [CDU/CSU]: Frau Kollegin, sagen wenig besser geht, ist er noch nicht geheilt. Sie das mal Ihrem Koalitionspartner!) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter – nein, da muss ich schon in Ihre Richtung zeigen –, die Götz [CDU/CSU]) hier zur Diskussion zur Verfügung steht und eigentlich Deshalb mein Appell: Bringen Sie endlich eine Ge- zu wenig ist, für Polemik nutzen; denn das ist dem meindefinanzreform auf den Weg! 20 Milliarden Euro Thema überhaupt nicht angemessen. Die Städte haben Kassenkredite sind ein Unding; davon können die Städte tatsächlich eine Reihe von Problemen, die nicht mit ei- und Gemeinden nicht leben. ner Verschärfung von Graffitigesetzen, Strafgesetzen ge- nerell oder dem Thema Antidiskriminierung zu lösen Eines allerdings fehlt uns – das vielleicht noch als sind. Hinweis –: das Konnexitätsprinzip. Wenn Sie es mit den Kommunen ernst meinen, dann müssen Sie auch da- (Peter Götz [CDU/CSU]: Auch das gehört für sorgen, dass wir hier nicht länger etwas beschließen, dazu!) 16466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) Insofern wünsche ich mir, dass das Thema intensiverdie Stichworte Eigenheimzulage und Entfernungspau-(C) aufgegriffen wird. schale. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr wichtiges Stichwort! – Peter Ich möchte ein paar Punkte ansprechen. Einige sind Götz [CDU/CSU]: Das musste jetzt kommen! von Ihnen aufgegriffen worden, aber leider sehr unsyste- Das ist klar!) matisch. – Ja, auch das gehört dazu. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das können wir ja ändern!) Ich erwähne weiterhin die Herausforderungen in Be- zug auf den Klima- und Umweltschutz und auf die Ge- Der Antrag ist leider sehr inkonsistent, obwohl er auch sundheit. Damit sind die Stichworte Feinstaub, Lärm, Richtiges enthält. Ich glaube schon, dass das Thema De- Motorisierung und Belastung der Städte verbunden. Ich industriealisierung und Globalisierung – enorme wirt- sage ganz klar: Wer eine kinderfreundliche Stadt will schaftliche Umbrüche, mit denen die Städte zu tun – dafür engagieren wir uns im hohen Maße; die Kollegin haben – ein ganz wichtiger Punkt ist, bei dem wir alle Elser hat eben ein Beispiel aus unserem Kinderbetreu- keine Lösung haben, dem wir uns aber in der Auseinan- ungs- und Ganztagsschulenkonzept vorgestellt –, dersetzung stellen müssen. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das habe ich (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sehen Sie! – gar nicht gehört!) Peter Götz [CDU/CSU]: Steht im Antrag!) der muss auch dafür eintreten, dass die Mobilität stadt- – Deswegen sage ich ja, dass einiges Richtige drinsteht. verträglich wird. Sie haben ja auch einiges von unserer Fachkommission bei der Böll-Stiftung abgeschrieben. (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Siehe Berlin!) (Lachen bei der CDU/CSU) Dieser großen Herausforderung muss sich Ihre Fraktion genauso stellen wie wir. Insofern kenne ich einige Sätze sogar im O-Ton. Aber egal. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wichtige Themen sind: demographischer Wandel, Al- terung, Kinderlosigkeit, Singularisierung, das zuneh- Weil meine Redezeit begrenzt ist, möchte ich nur mende soziale Auseinanderdriften unserer Gesellschaft, ganz kurz über das sprechen, was getan werden muss. Migration und Integration. Über die Herausforderungen, Die Städte selbst müssen mehr Mut zur Innovation ha- (B) vor denen die Städte angesichts des multikulturellen und ben (D) multiethnischen Zusammenlebens stehen, ist schon im (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Rahmen des Zuwanderungsgesetzes intensiv diskutiert Und mehr Geld!) worden. und die Fähigkeit zur Kommunikation mit der ansässi- (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Zum Beispiel gen Wirtschaft und den Hausbesitzern entwickeln. Ohne Berlin!) die Mithilfe der Hausbesitzer werden wir keine kinder- Wir haben schon erste Schritte zur Unterstützung einge- freundlichen Wohnungen und kein kinderfreundliches leitet. Wir wissen alle, dass die Städte in diesem Bereich Wohnumfeld schaffen können. mehr Hilfe brauchen. Aber auch die Länder – ich nenne nur die Stichworte Was Sie überhaupt nicht gerne diskutieren, ist dasRaumordnung und Regionalplanung – müssen sich an- Thema Suburbanisierung. Die Städte werden dadurch gesichts des demographischen Wandels und der wirt- geschwächt, dass der Einzelhandel in die Außenbereiche schaftlichen Umbrüche um dieses Thema intensiv küm- abwandert. In diesem Zusammenhang muss man erwäh- mern. Die Wirtschaftsförderung darf nicht immer nur die nen, dass Sie mit großer Lust für das Wohnen an der Pe- Regionen an der Peripherie stärken und die Städte außen ripherie eintreten. vor lassen. Auch auf der Länderebene ist also viel zu tun. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Von wem Als letzten Punkt will ich die Finanzfrage erwähnen. sprechen Sie eigentlich, wenn Sie „Sie“ sa- Wir unterstützen nach wie vor eine Gemeindefinanzre- gen?) form, Die Städte können nicht gestärkt werden, wenn bei sta- (Peter Götz [CDU/CSU]: Sehr gut!) gnierenden Bevölkerungszahlen nur die Umlandgemein- aber in der Form, wie sie von den Kommunen gefordert den profitieren. Sie wissen auch, welche großen finan- wurde, und nicht in der Form, wie Sie das wollen. Sie ziellen Probleme für die Städte damit verbunden sind. bewirken eine Schwächung der Städte, indem Sie die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gewerbesteuer abschaffen wollen. und bei der SPD) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das will Auch mit Blick auf die Ökologie und auf den Flä- doch keiner! – Peter Götz [CDU/CSU]: Des- chenverbrauch ist es nichtsinnvoll, diese Entwicklung halb wolltet ihr die Gewerbesteuerumlage um weiter zu fördern. Ich nenne in diesem Zusammenhang 1 Milliarde Euro erhöhen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16467

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) Das kann nicht die richtige Form einer Gemeindefinanz- novative Technologiefirmen konzentrieren sich deutlich (C) reform sein. Im Gegenteil: Was an Vorschlägen vorliegt stärker auf einzelne Standorte als Unternehmen aus tra- und von uns unterstützt wird, muss vom Bundesrat mit- ditionellen Branchen. Rund die Hälfte der betrachteten getragen werden. Das hilft den Kommunen weiter. Dann Unternehmen hat ihren Sitz in München, Berlin, Ham- können wir die Finanzfragen anders angehen, als Sie das burg oder im Rhein-Main-Gebiet. bisher wollen. Der mit Abstand wichtigste Standort ist dabei Mün- Danke schön. chen. Dort sind fast so viele junge börsennotierte Tech- nologiefirmen zu Hause wie in den drei anderen Metro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN polregionen zusammen. Das bedeutet: Hightechfirmen und bei der SPD) sind räumlich stark konzentriert. Hauptgrund dafür ist: Je mehr Unternehmen aus dem Bereich der modernen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Informationstechnologie in einer Stadt angesiedelt sind, Das Wort hat jetzt die Kollegin Marie-Luise Dött von desto attraktiver wird diese für andere Firmen aus dieser der CDU/CSU-Fraktion. Branche. Denn die Unternehmen sind auf einen infor- mellen Know-how-Transfer angewiesen. Zudem benöti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen gerade Technologiefirmen einen großen und gut funktionierenden Arbeitsmarkt ebenso wie eine breite Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Infrastruktur an unternehmensnahen Dienstleistern. Au- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zu- ßerdem spiele die Nähe zu Kunden und Kapitalgebern kunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte inbei Firmen aus dem Bereich der modernen Informa- Deutschland sichern: Warum sollte uns das überhaupt in- tionstechnologie eine wichtige Rolle. teressieren, wo doch nur die wenigsten Menschen in Die Internetrevolution bzw. der Wandel zur Informa- Deutschland in großen Städten leben? Es geht dabei tionsgesellschaft ist folglich nicht spurlos an den Städten nicht nur um die Zukunft großer Städte, sondern im vorbeigegangen – auch nicht am Immobilienmarkt. Grunde um Ballungsräume, Regionen oder Metropolen, Denn wissensintensive Tätigkeiten drängen stärker ins in deren Zentren sich große Städte befinden. In Deutsch- Zentrum, während die einfache Arbeit an die Peripherie land sind das zum Beispiel die Metropolregion Berlin/ verlagert wird. Hieraus resultiert zum Beispiel eine Zu- Brandenburg, Frankfurt/Rhein-Main oder die Metropol- nahme der Nachfrage nach qualitativ hochwertigem region Rhein-Ruhr mit dem Ruhrgebiet. Hier konzen- Wohnraum in den Großstädten. Allein dieses Beispiel trieren sich Wirtschaft, Verwaltung und Kultur. zeigt bereits, wie wichtig ein gut funktionierendes Ma- (B) In diesen Metropolen wird unter Mithilfe der Infor- nagement für eine Metropolenregion ist und in Zukunft (D) mations- und Kommunikationstechnologie die Weltwirt- sein wird. schaft gemacht. Mit anderen Worten: Die Metropolre- gionen konkurrieren weltweit miteinander um die besten Meine Damen und Herren, um die Zukunfts- und sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Standortbedin- Wettbewerbsfähigkeit von Großstädten und Metropolen gungen. Aufgrund dieser Entwicklung gilt es, die Metro- im globalen Wettbewerb zu erhalten, ist es daher uner- polen in Deutschland zu unterstützen. Genau dazu for- lässlich, erstens zu entbürokratisieren, um Genehmi- dern wir die Bundesregierung in unserem Antrag „Die gungsverfahren zu beschleunigen, Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Großstädte in (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Deutschland sichern“ auf. zweitens für familiengerechte Wohn- und Arbeitsplätze (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sowie kinder- und familienfreundliche Strukturen zu sor- neten der FDP) gen Die Herausforderungen, vor die wir in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU) und Europa im Zeitalter der Wissens- und Informations- gesellschaft gestellt sind, lauten daher: Wie schaffen wir und drittens die Kommunen finanziell und organisato- gute Rahmenbedingungen? Welches Management-risch – Stichwort Gemeindefinanzreform – in die Lage Know-how brauchen wir, das es einer Metropolenregion zu versetzen, über ihre eigene Grundversorgung selbst ermöglicht, weltweit gut aufgestellt zu sein, um damit zu entscheiden. Das heißt, selbst zu entscheiden, ob sie seinen Bürgern und den ansässigen Unternehmen dieLeistungen in kommunaler Eigenverantwortung anbie- besten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedin- ten möchten oder ob sie zusammen mit privaten Anbie- gungen bieten zu können? tern eine öffentlich-private Partnerschaft eingehen wol- len. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Am Beispiel der modernen Informationstechnologie neten der FDP) wird deutlich, wie wichtig die Metropolen für die An- siedlung von Unternehmen geworden sind. Dazu hat Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung eine Ökonomengruppe des Kieler Instituts für Weltwirt- unter anderem auf, erstens entsprechende Management- schaft analysiert, wo in Deutschland junge börsenno- konzepte zu unterstützen, zweitens Investitionsentschei- tierte Technologieunternehmen ihren Sitz haben bzw. dungen im weltweiten Wettbewerb der Metropolen um ihren Sitz nehmen. Das Ergebnis ist eindeutig: Junge, in- Arbeitsplätze zu fördern, 16468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Marie-Luise Dött (A) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Investment in Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) Deutschland ist Ihnen wohl völlig unbekannt! Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Sie müssen sich informieren, bevor Sie so ei- keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. nen Quatsch reden!) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- drittens die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Kommunen nerin der Kollegin Annette Faße von der SPD-Fraktion zu ermöglichen und viertens den Bundestag jährlich über das Wort. die Entwicklung der Zukunfts- und Wettbewerbsfähig- keit der Großstädte zu informieren. Annette Faße (SPD): Unterstützen Sie daher diesen Antrag, um die Zu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kunftsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der Groß- Seeschifffahrt und Globalisierung, das sind zwei Be- städte in Deutschland zu sichern! griffe, die unzertrennlich zusammengehören. Denn spre- chen wir über Seeschifffahrt, dann sprechen wir immer Vielen Dank. auch über Globalisierung. Global denken ist nicht neu für die Seeschifffahrt. Globaler Wettbewerb, globales (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Denken, das sind Themen, an die sich so mancher Wirt- neten der FDP) schaftszweig in Deutschland erst gewöhnen muss. Die Seeschifffahrt dagegen kennt die Herausforderungen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und den harten Wettbewerb. Ich schließe die Aussprache. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass dieser Wettbewerb gerecht geführt wird. Wir müssen dafür sor- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gen, dass internationale Wettbewerbsverzerrungen, aber Drucksache 15/5332 an die in der Tagesordnung aufge- auch Harmonierungsdefizite auf europäischer Ebene ab- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- gebaut werden. Das gilt für die Seeschifffahrt ebenso verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung wie für die deutsche Werftindustrie, für die Meerestech- so beschlossen. nik und für die Seehafenwirtschaft. Deshalb setzen wir Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: uns mit allen Mitteln dafür ein, den maritimen Standort Deutschland zu sichern und zu stärken, um für die kom- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- menden Herausforderungen gut gewappnet zu sein. richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) (Beifall bei der SPD) 272 Millionen Tonnen haben die deutschen Seehäfen (B) – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe (D) 2004 umgeschlagen – eine Rekordzahl. Das ist ein Um- Beckmeyer, Reinhold Robbe, Gerd Andres, schlagsplus von 8 Prozent. Rund 300 000 Arbeitsplätze weiterer Abgeordneter und der Fraktion der hängen direkt oder indirekt an der deutschen Seeschiff- SPD sowie der Abgeordneten Rainder fahrt. Damit sind die deutschen Häfen Verkehrsdreh- Steenblock, Michaele Hustedt, Albert Schmidt scheibe und Jobmaschine zugleich. (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Auf der 4. Nationalen Maritimen Konferenz in Bre- men Ende Januar haben die Teilnehmer eine umfassende Maritimen Standort Deutschland stärken – Bestandsaufnahme in vier Workshops vorgenommen. Innovationskraft nutzen Sie haben konkrete Handlungsempfehlungen für alle Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgangteiligten des maritimen Bündnisses erarbeitet. Das Ziel Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), ist klar benannt worden: Es geht um die weitere Stär- Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der kung des maritimen Standortes Deutschland; es geht Fraktion der CDU/CSU darum, einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer gesamten Wirtschaft zu „Meer für morgen“ – Impulse für die mari- leisten. time Verbundwirtschaft Hafenpolitik und die maritime Wirtschaft sind keine – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-regionalen, norddeutschen Themen. Die Häfen sind im Michael Goldmann, Horst Friedrich (Bay-interkontinentalen Warenaustausch die Schnittstellen reuth), Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter zwischen Land- und Seeverkehr. 90 Prozent der Waren, und der Fraktion der FDP die wir exportieren, gehen über unsere Häfen. Viele Un- ternehmen in Bayern und Baden-Württemberg profitie- Seeschifffahrt und Küstenschutz in Deutsch- ren davon. Das sollten alle Mitglieder dieses Hauses land stärken nicht vergessen. – Drucksachen 15/4862, 15/5099, 15/4847, (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das 15/5417 – sollte man immer wieder sagen!) Berichterstattung: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Wasserweg Abgeordnete Uwe Beckmeyer wird in Zukunft eine wichtigere Rolle einzunehmen ha- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) ben. Den maritimen Standort zu stärken bedeutet Siche- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16469

Annette Faße (A) rung von Wertschöpfung, Beschäftigung und Ausbil- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) dung. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion. In diesem Zusammenhang müssen wir allerdings fest- stellen, dass die gestiegenen Ausbildungszahlen immer (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE noch nicht ausreichen. In der aktuellen Ausgabe der GRÜNEN]: Jetzt aber! Seit 14 Tagen geht es „DVZ“ war zu lesen, dass die deutschen Reeder wieder den Werften gut!) mehr Ausbildungsplätze anbieten. Sie werben auch pressewirksam für die Berufssparte. Jahrelang hatten wir Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Defizite in der Ausbildung zu verzeichnen. Das hat ein- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! deutig zu einem Mangel an Leitungskräften, aber auch Zwar stimmen wir in vielen Punkten, die Annette Faße an Schiffsmechanikern geführt. Auch der Anstieg von vorgetragen hat, überein, aber als Opposition sehen wir über 41 Prozent im Vergleich zu 2003 reicht noch nicht das ein wenig anders und setzen andere Schwerpunkte; aus, um den künftigen Bedarf der Seeschifffahrt, aber (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auch der Landbetriebe decken zu können. ordneten der SPD) Um Anreize zur Steigerung der Ausbildungsbereit- dafür müssen Sie Verständnis haben. schaft in den Reedereien zu schaffen, fördert der Bund seit Jahren jeden Ausbildungsplatz. Auch die Reeder ha- Mit unserem Antrag „Meer für morgen“ – Impulse für ben Geld in die Hand genommen, weil sie erkannt ha- die maritime Verbundwirtschaft“ wollen wir das Augen- ben, dass wir die Ausbildung unbedingt verstärken müs- merk aller politisch Verantwortlichen – aller Handeln- sen. Verdi stimmte einer so genannten konditionierten den, aber auch der Bundesregierung – auf das Können, Öffnungsklausel zur Schiffsbesetzung mit ausländischen die Kraft und die Kompetenz dieses bedeutenden Wirt- Seeleuten als Übergangsregelung zu. Es ist ganz klarschaftsbereichs lenken. Ob in den Häfen, dem Schiffbau, mehr Einsatz gefragt. Es muss mehr ausgebildet werden, der Schifffahrt oder der Aquakultur, überall stecken damit der Nachwuchs gesichert wird. Auch die Schulen hoffnungsvolle Perspektiven für die Zukunft. sind hier gefordert. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder Das setzt jedoch voraus, dass die maritime Verbund- Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wirtschaft konzeptionell, umfassend und nachhaltig be- trieben wird. Sie muss aus ihrer sektoralen Betrachtung Im Bereich Schifffahrt haben die Tonnagesteuer, der und Bedeutung herausgeführt werden und darf nicht auf (B) Lohnsteuereinbehalt, die Ausbildungsplatzförderung, die drei Ministerien verteilt sein. Sie muss langfristig, ver- (D) neue Schiffsbesetzungsverordnung und die Schiffsicher- netzt, europäisch und noch internationaler angelegt wer- heitsanpassung für den Schifffahrtsstandort Deutsch-den, als es bisher geschehen ist. Maritime Konferenzen land positive Wirkungen gezeigt. Bei Rückflaggung von allein bringen noch keinen Frühling in der Meerespoli- netto mindestens 100 Schiffen bis Ende 2005 müssen die tik. Aber sie schaffen dem Kanzler – ganz in Wallen- Finanzhilfen des Bundes fortgeschrieben werden. Das stein-Manier – eine passende Plattform. So heißt es bei fordern wir in unserem Antrag. Auch erwarten wir, dass Friedrich Schiller: „Ich hab hier bloß ein Amt und keine die Reeder bis Jahresende ihr Versprechen einlösen, so- Meinung.“ dass dann insgesamt 400 Handelsschiffe unter deutscher Flagge sein werden. Zum jetzigen Zeitpunkt beläuft sich (Uwe Beckmeyer [SPD]: Was? Hast du das der Bestand auf rund 380 Schiffe. nicht falsch nachgeschlagen?) Konferenzen sind Schlaglichter einer durchaus be- Bei den Seehäfen konnten insbesondere im Contai- mühten Branchenpolitik. Fast 5 Millionen Menschen in nerbereich deutliche Marktanteile hinzugewonnen wer- Deutschland sind ohne Arbeit. Pro Jahr kommt es zu fast den. Wichtig ist für uns der gezielte und koordinierte40 000 Betriebsinsolvenzen. Die Staatsverschuldung hat Ausbau der land- und seeseitigen Zufahrt zu unsereneinen Umfang von über 1,4 Billionen Euro. Seit Anfang Seehäfen. dieses Jahrhunderts haben wir eine Wirtschaftskrise, wie Ich appelliere noch einmal an Sie alle, Fragen derwir sie in dieser Form in den letzten 60 Jahren nicht Deichsicherheit und des Schutzes der Küste nicht hintan- mehr hatten. Das sind klare Versäumnisse der amtieren- zustellen. Wir wissen, dass von der Planungsvereinfa- den Regierung. Zugleich ergibt sich daraus für alle poli- chung insbesondere die Hinterlandanbindungen und da- tisch Verantwortlichen aber auch die Herausforderung, diesen Abwärtstrend zu stoppen und für einen Auf- mit die deutschen Seehäfen profitieren werden. Auch schwung zu sorgen. Arbeit zu schaffen muss unsere zen- wissen wir, dass von den für dieses Jahr zusätzlich be- trale Aufgabe sein. reitgestellten Mitteln in Höhe von 2 Milliarden Euro be- reits 500 Millionen Euro auf dem Konto der VIFG sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auch davon werden unsere Seehäfen profitieren. neten der FDP – Zuruf von der SPD: Sag auch einmal etwas zu eurem Antrag!) Danke schön. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt dafür ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 20-Punkte-Konzept vor. Darin beschreiben wir nicht nur DIE GRÜNEN) die Chancen, die in der maritimen Verbundwirtschaft 16470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) stecken. Vielmehr schaffen wir die Voraussetzungen für Für Herrn Stolpe besteht Handlungsbedarf: Dieser Stol- (C) konkretes Handeln. perstein muss weg. Unser Antrag unterscheidet sich von dem der Regie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rungskoalition, obwohl beide Anträge in manchen Sach- gebieten durchaus deckungsgleich sind, darin: Während Die Zögerlichkeit des Bundesverkehrsministers zeigt SPD und Grüne von Wünschen und Erwartungen an die sich auch beim Ausbau des Hinterlandverkehrs. 15 not- maritime Politik ausgehen, sagen wir, was erforderlich, wendige Ausbaumaßnahmen warten auf ihre Finanzie- notwendig und entscheidungsreif ist. rung. Die Seehafenwirtschaft geht von 900 Millionen Euro Kosten aus. (Lachen bei der SPD – Uwe Beckmeyer [SPD]: He lücht!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Mein lieber Börnsen, dir ist der Leuchtturm auch schon ausgegan- Allein das Wort „prüfen“ kommt im Antrag von Rot- gen!) Grün fünfmal vor; denn Handeln funktioniert bei Ihnen nicht. Wir gehen davon aus, dass alle Häfen-, Hinterland- und Ausbaggerungsprojekte in das angekündigte 2-Milliar- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Da biegen sich ja die den-Sonderprogramm übernommen werden. Doch dafür Balken und das Haus wird zum Klapphaus!) muss die Bundesregierung ihre Pläne auf den Tisch le- Zugegeben, als Opposition haben wir es auch leichter, gen. Klartext zu sprechen. Doch wir entziehen uns mit unse- Untiefe Nummer zwei: die Selbstblockade. Noch im- ren 20 Festlegungen nicht der gemeinsamen Verantwor- mer uneinig ist die Bundesregierung über denAusbau tung. Wir wollen, dass die maritime Verbundwirtschaft der deutschen Nordseehäfen, um der neuen Container- einen Schub für die Zukunft erhält. Wir wollen, dass die generation gerecht zu werden. Während der Verkehrs- gesamte Palette der maritimen Verbundwirtschaft inminister für Hamburg plädiert, setzt der Umweltminister Meeren, Ozeanen und Küsten entwickelt wird, das heißt auf Wilhelmshaven, den Jade-Weser-Port. Während der Seeverkehr, die Fischerei, Aquakulturen, die Öl- und Stolpe den notwendigen Ausbau von Außenelbe und Au- Gasförderung, Wind- und Gezeitenkraftwerke, derßenweser erwartet, verlangt Trittin ein Gutachten über Schiffbau, der Tourismus und die Meeresforschung. Wir die Naturverträglichkeit, will mehr FFH und ein nationa- wollen, dass Küstenschutz, Gefahrenabwehr auf See,les Hafenkonzept. Er bremst, er blockiert, er spielt auf aber auch der Schutz des maritimen Ökosystems und die Zeit und die Zeit läuft uns davon. Andere europäische Fischereiressourcen eine europäische Dimension erhal- Großhäfen laufen Hamburg, Bremen und Wilhelmsha- ten. Wir wollen eine abgestimmte, langfristige Steuer- ven den Rang ab. Absichtserklärungen des Kabinetts (B) politik für die Kernbereiche der maritimen Verbundwirt- helfen nicht weiter, sondern klare Entscheidungen; auch (D) schaft und eine Entrümpelung der vielen Vorschriften, dieser Stolperstein muss weg. Richtlinien und Auflagen. Lassen Sie uns mit einer mari- timen Taskforce beginnen, die die Kräfte bündelt, Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) netzung schafft und Reglementierung abbaut! Auch die Untiefe Nummer drei ist die Lange-Bank-Politik. EU plant eine solche Eingreiftruppe. Hier komme ich zunächst zum Teil eins: Von nationaler, Doch neben den Strukturfragen sind auch Untiefen zu aber auch von weltweiter Bedeutung ist der notwendige umschiffen. Untiefe Nummer eins:Wettbewerbsnach- Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals, mit über teile. Einen Leuchtturm in der maritimen Wirtschaft stel- 54 000 Schiffen pro Jahr die meistbefahrene Wasser- len – noch – unsere Häfen, die Beschäftigungszentren straße der Welt. Aber auch die Schiffsgrößen nehmen zu, von über 300 000 Menschen,dar: steigende Zahlen im Teile des Kielkanals werden zum Nadelöhr. Für die neue Güterumschlag seit über zehn Jahren, das Resultat zu- Generation der Post-Panamax-Containerschiffe wird es verlässiger und kompetenter Mitarbeiter und eines quali- eng. Der zuständige Staatssekretär aus dem Bundesver- fizierten Managements. Das Wasser aber, auf dem die kehrsministerium, der leider jetzt nicht mehr dabei ist, Seehafenpolitik treibt, hat sich im Januar dazu vor Ort geäußert. Der „shz“-Ver- lag zitierte den von mir geschätzten Ralf Nagel wörtlich: (Uwe Beckmeyer [SPD]: „Treibt“?) Diese Bundesregierung sitzt mit dem Gesicht zur ist flach und voller Untiefen. Von den Ostseehäfen be- Küste, nicht zuletzt deshalb, weil der Bundeskanz- richten nur Lübeck, Sassnitz und Rostock von Wachs- ler aus Niedersachsen kommt. tum. Die Krise unserer Wirtschaft hat die anderen Häfen voll erfasst. Nur der Nordseehafen Hamburg befindetEinen konkreteren Zeitplan für den Ausbau dieser Was- sich unter den sechs größten Häfen Europas. Allein Rot- serstraße könne er nicht nennen, weil es für diese kom- terdam schlägt jährlich 70 Millionen Tonnen mehr um plizierte Sache keine gesetzliche Grundlage gebe. als alle deutschen Häfen zusammen. Mögliche Maßnahmen müssten zuvor sehr genau ausge- arbeitet werden. Der Kostendruck wächst, weil der faire Wettbewerb innerhalb Europas fehlt. Das gilt für die Trassenentgelte, Abgesehen davon, dass die Bayern, Anhaltiner und für die Auswirkungen der Maut und für die Mineralöl- Baden-Württemberger nur mit der Rückseite des Kanz- steuer. Die Bundesregierung – das ist unsere Auffas-lers vorlieb nehmen müssen, da er ja ständig die Küste sung – nutzt nicht die vorhandenen Harmonisierungs- im Auge behält, ist die Feststellung des Staatssekretärs pläne, sie nutzt nicht die Möglichkeit, hier einzugreifen. zugespitzt eine Bankrotterklärung an eine zukunftsge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16471

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) wandte maritime Politik: kein Gesetz, kein Ausbau,Das ist eine europäische Lösung bei all den Auflagen, (C) keine Finanzierungsvorschläge. Die Folge: Die Schiffe die wir inzwischen für die Schiffbaufinanzierung haben, werden die Route über den Skagerrak nehmen, weil der und ein vertretbarer Teil. Wir sehen nur Probleme darin, NO-Kanal im Wettbewerb der Wasserstraßen ins Hinter- treffen gerät. Dazu darf es nicht kommen. Der Kiel-Ka- (Zuruf von der SPD: Ihr habt nal braucht eine Perspektive. immer Probleme!) (Beifall bei der CDU/CSU) dass man 6 Millionen Euro ausgewiesen hat, einschließ- lich der IG Metall aber der Auffassung ist, dass man Untiefe Nummer vier: die Lange-Bank-Politik Teil 2. 60 Millionen Euro für die Innovationsförderung benö- Offen, ungeklärt und doch seit Jahren mit Absichtsbe- tigt. kundungen garniert, dümpelt ein weiteres maritimes Projekt der Bundesregierung im Brackwasser: die feste Bei uns in Schleswig-Holstein, Fehmarnbeltquerung. Sie wurde 1991 in einem Ver- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Oh, Herr Börnsen! trag zwischen Dänemark und Schweden angestoßen und Der Märchenerzähler! – Weitere Zurufe von Ende der 90er-Jahre durch eine Machbarkeitsstudie prä- der SPD: Oi! – Franziska Eichstädt-Bohlig sentiert. Doch erst im Frühjahr 2000 begann das Interes- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Ochsen- senbekundungsverfahren. Kopenhagen drängt, Berlin zungen!) schiebt auf die lange Bank. Obwohl die Beltquerung seit Jahren Bestandteil des transeuropäischen Verkehrsnetzes auf der schönen Halbinsel Eiderstedt, steht eine alte Ta- ist und Brüssel dem Projekt strategische Bedeutung bei- fel mit der Aufschrift: Gott schuf das Meer, der Friese misst, tritt das Vorhaben weiter auf der Stelle; denn es die Küste. Welch ein Gottvertrauen, aber auch welch ein hat nicht den Segen der Bündnisgrünen; die mauern wie- Glaube an die Gestaltungsfähigkeit, den Mut, die Tat- der mal. Die Bundesregierung ist auch hier zerstritten. kraft und die Tüchtigkeit von uns Menschen stecken da- Seit Jahren kommt man nicht zu Potte, verärgert unsere hinter! dänischen Nachbarn und schadet dem Wirtschaftsstand- An die hier beschriebene Zuversicht sollte die mari- ort Deutschland, der auf gute Verkehrswege angewiesen time Politik anknüpfen. Sie sollte das Meer noch mehr ist. für die Menschen nutzen, ohne es zu missbrauchen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Noch mehr Meer!) Untiefe Nummer fünf: die Lange-Bank-Politik Teil 3. und sie muss richtige Rahmenbedingungen dafür setzen. Mehr Courage wünschen wir uns auch vonseiten desUnser Antrag geht dafür in die richtige Richtung. (B) Wirtschaftsministers in Sachen Erdöl- und Erdgasför- (D) derung im deutschen Teil der Nordsee. Die größte Ener- Herzlichen Dank. giequelle unseres Landes ist in Gefahr, trockengelegt zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden, weil Umweltminister Trittin gerade hier Natur- neten der FDP) schutzbelangen eine Zukunft geben will. England, Däne- mark und die Niederlande fördern im gleichen Territo- rium, doch die Bundesregierung hat Teile ihres Gebietes Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: als Schutzfläche nach Brüssel gemeldet. Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock vom Bündnis 90/Die Grünen. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Um Gottes Willen!) Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dort schmort die Sache. 5 Millionen Arbeitslose und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hohe Energiekosten scheinen noch nicht Mahnung ge- Lieber Wolfgang Börnsen, wer versucht hat, durch die nug für wirtschaftliches Handeln oder, um mit Schiller Irrungen und Wirrungen dieser Rede hindurch zu finden, zu sprechen: Ein Augenblick gelebt im Paradiese wird nicht zu teuer mit dem Tod gesühnt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Was hat das damit zu tun? – der muss doch feststellen: Der Küste, dem maritimen Annette Faße [SPD]: Es wird langweilig!) Standort Deutschland, geht es ausgezeichnet. Die mari- time Wirtschaft in Deutschland ist ein erfolgreicher, Die deutschen Werften sind Flaggschiffe der mariti- hightechorientierter Wirtschaftszweig, ein Wirtschafts- men Wirtschaft. Bedingt durch Tüchtigkeit, Technik und zweig mit hoher Innovationskraft, ein Wirtschaftszweig, Tatkraft aller Beteiligten stehen deren Schiffe trotz hoher der die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Volks- Kosten hoch im Kurs. Deutsche Reeder haben vonwirtschaft insgesamt stärkt und ein wesentlicher Faktor 500 Aufträgen, die sie in diesem Jahr weltweit geordert für Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen ist. haben, 80 in Deutschland geordert. Trotz aller Versuche, etwas Negatives herauszufin- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ den, muss man, lieber Wolfgang Börnsen, doch sagen: DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie daran jetzt An der Küste – sei es im Bereich Windenergie, sei es in kritisieren?) den Häfen, sei es in den Werften – brummt es, Die Umstellung von Wettbewerbshilfe auf Innova- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: tionsmittel halten wir für richtig. Dabei machen wir mit. 20 Prozent Arbeitslosigkeit, Rainder!) 16472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Rainder Steenblock (A) im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen unserer Wirt- Windenergie. Die Bundesregierung hat mit ihrer Strate- (C) schaft. Es ist doch absurd, zu sagen, diese Bundesregie- gie zur Förderung der Windenergienutzung neue Maß- rung habe gerade im maritimen Bereich versagt. Ganz stäbe in Sachen umweltfreundlicher Stromerzeugung ge- im Gegenteil: Hier haben wir einen Wirtschaftsbereich, setzt. auf den wir stolz sein können, über den wir alle positiv (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – reden könnten. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das kostet den Steuerzahler 3 Milliarden und bei der SPD) Euro!) Ein unverzichtbarer Bestandteil der maritimen Wirt- Wir werden diese Strategie weiter fortführen. Offshore- schaft – das ist überhaupt keine Frage – sind diedeut- energie hat ein enormes Potenzial. schen Seehäfen. Sie dienen als Drehscheibe des natio- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: nalen, insbesondere des internationalen Güterverkehrs. Die anderen sind schon viel weiter!) Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und weiter auszubauen, haben wir den gezielten und koordinierten Das, was wir auf der See an Megawatt installieren kön- Ausbau der land- und seeseitigen Zufahrten zu diesen nen, hat ein Investitionsvolumen von 45 Milliarden Seehäfen durchzuführen. Das haben wir zu einem zen- Euro. tralen Bestandteil des Bundesverkehrswegeplans ge- macht. Nicht Ihre Regierung, unsere Vorgängerregie- (Birgit Homburger [FDP]: Und wer zahlt?) rung, sondern diese rot-grüne Regierung hat dies zum – Das rechnet sich mittlerweile von selbst. Die Investi- zentralen Bestandteil ihrer Politik gemacht. tionen, die Sie in die Atomkraft gesteckt haben und noch (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- stecken können, sind ein Klacks gegen das, was hier an SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Anschubfinanzierung geleistet wurde. Sie wissen doch Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: ganz genau, wie die Finanzierung von Windenergie ge- Das haben wir vorher schon gemacht!) regelt ist. Die Windenergie ist im Gegensatz zu anderen Energien, die Sie massiv unterstützt haben, volkswirt- Die Seehäfen – darin sind wir uns alle einig – mit ih- schaftlich ausgesprochen sinnvoll. ren unterschiedlichen Profilen müssen kooperieren; das ist überhaupt keine Frage. Dies ist auch im Rahmen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – „Gemeinsamen Plattform des Bundes und der Küsten- Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: länder zur deutschen Seehafenpolitik“ festgehalten wor- Zukunftsträume! – Klaus Minkel [CDU/CSU]: den. Wir setzen uns dafür ein, dass dies umgesetzt wird. Das ist blühender Unsinn!) (B) (D) Ein anderer wichtiger Bereich sind die Werften. Der – Aufgrund von Zwischenrufen werden wir unsere Poli- Welthandel boomt und die Globalisierung im Bereich tik mit Sicherheit nicht ändern. Mit den Rahmenbedin- des Warenaustausches findet im Wesentlichen auf den gungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wurde der Meeren statt. Die Nachfrage nach Schiffen ist exorbitant Einstieg in diese innovative Technologie geschaffen. hoch. Lieber Wolfgang Börnsen, als Schleswig-Holstei- Alle Länder Europas sind dabei, ihren Anteil an regene- ner müsstest du wissen, dass die deutschen Werftenrativen Energien auszubauen. Der Bau von Windkraftan- – Lindenau in Kiel oder HDW mit dem Marineschiff- lagen auf hoher See ist die konsequente Fortsetzung ei- bau – durch die hohe Kompetenz, die in ihnen steckt, in ner nachhaltigen Energiepolitik, die an der deutschen Europa führend sind. Im Spezialschiffbau sind wir sogar Küste sehr viele Arbeitsplätze schaffen wird. weltweit führend. Das ist keine Branche, die niedrig ge- Wenn Sie die vorliegenden Anträge vergleichen, dann hängt werden müsste. werden Sie feststellen, dass der Antrag von SPD und (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Bündnis 90/Die Grünen die richtigen Fragestellungen Bei 3,4 Prozent!) aufgreift und Lösungsvorschläge anbietet, um die Wett- bewerbsfähigkeit unserer Küste zu erhalten bzw. auszu- – Ja. Im Spezialschiffbau haben wir aber viele Arbeits- bauen. Gleiches gilt für die Zahl der Arbeitsplätze. Das plätze, die sicher, zukunftsorientiert und hightech sind. ist in unserem Antrag beispielhaft dargestellt. Ich bitte Auf diese Arbeitsplätze sind wir durchaus stolz. WirSie alle, diesem Antrag zustimmen. zu Damit hat die wollen sie erhalten und ausbauen. Küste eine Zukunft. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vielen Dank. 35 000 verloren in den letzten zehn Jahren!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein weiterer Bereich, der von uns massiv unterstützt und bei der SPD – Wolfgang Börnsen worden ist, in dem auch und gerade an der Küste sehr [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das glaubst du doch viele Arbeitsplätze geschaffen worden sind, ist die nur im Traum!) Windenergie. Deutschland ist dank der Politik dieser rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Koalition in diesem Bereich weltweit führend. „Erneuer- Das Wort hat jetzt der Kollege Eberhard Otto von der bare Energien – made in “ ist ein weltweit aner- FDP-Fraktion. kanntes Siegel. Deutschland ist nicht umsonst der mit Abstand größte Markt und Anbieter für die Nutzung der (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16473

(A) Eberhard Otto (Godern) (FDP): Rückflaggung von 100 Schiffen. Ich hoffe und gehe da- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als von aus, dass weitere noch in diesem Jahr hinzukommen Mensch von der Küste aus Mecklenburg-Vorpommern werden. und ehemaliger Seemann – ich bin mehrere Jahre als (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang Boots- und Steuermann zur See gefahren – Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU] – Uwe (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Oh, Beckmeyer [SPD]: Sie werden unserem An- das wussten wir noch gar nicht!) trag zustimmen, oder?) ist mir dieses Thema natürlich besonders wichtig. Ich möchte noch zur Problematik derNotfallschlep- perausschreibung kommen. Es muss kritisch hinter- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Er fragt werden, warum der Steuerzahler für den Schutz weiß, wovon er redet!) von Havaristen in Nord- und Ostsee in Zukunft mehr als Die Schifffahrt und die Häfen sind für uns Nordländer das Doppelte bezahlen soll. Dies ist nur zu rechtfertigen, wenn mit den neuen Schleppern auch ein deutliches Plus von elementarer Bedeutung. Sie sind die Lebensader und an Sicherheit verbunden ist. Aber genau das ist nicht der die wirtschaftliche Zukunft unserer Region. Beispiels- Fall. Die Leistungsfähigkeit der neuen Schlepper würde weise wäre ein Mecklenburg-Vorpommern ohne mari- kaum über der der alten liegen. Das rechtfertigt nicht time Entwicklung und ohne die Entwicklung der Werf- eine Ausgabensteigerung von mehr als 120 Prozent. ten unvorstellbar; das würde eine große wirtschaftliche Schwächung bedeuten. Ohne einen leistungsfähigen und kostengünstigen Seeverkehr gibt es keine wirtschaftliche Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Entwicklung und keine Sicherheit der Handelsverbin- Herr Kollege Otto, kommen Sie bitte zum Schluss. dungen. 95 Prozent des interkontinentalen Handels und 62 Prozent des innereuropäischen Handels werden über Eberhard Otto (Godern) (FDP): die See abgewickelt. Ein freier und ungestörter See- Letzter Satz: In diesem Zusammenhang möchte ich verkehr ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich abschließend noch werten, dass durch eine erhöhte Prä- die deutsche Wirtschaft weiterentwickeln kann. senz von Einsatzkräften im Bereich der so genannten Kadetrinne in der Ostsee die Häufigkeit von Unfällen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch von Beinaheunfällen, bis zum heutigen Tage deut- der CDU/CSU) lich zurückgegangen ist. Jeder, der schon einmal im Norden war, weiß, wie Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. schön unsere Region ist. Städte wie Rostock, Wismar (B) und Lübeck sowie endlose Strände sind einzigartig. Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) Küstenländer haben ein besonderes Flair. Sie haben der CDU/CSU) große Chancen, aber sie sind auch besonders bedroht. Schutz tut Not. Ohne Not wurde dasöffentliche See- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: amtsverfahren abgeschafft, und zwar gegen alle Wider- Das Wort hat der Kollege Uwe Beckmeyer von der stände von unseren Küsten. Noch heute leiden wir unter SPD-Fraktion. dieser falschen Entscheidung. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang Uwe Beckmeyer (SPD): Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! So haben wir bei der Bekämpfung des Alkoholmiss- brauchs auf See ein echtes Problem, da der Sofortvoll- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Noch zug des Patententzuges abgeschafft wurde. Wir fordern einer von der Waterkant!) die Bundesregierung deshalb auf, die Verhandlungen mit Ich wollte den beiden Kollegen von der Opposition ein der Russischen Föderation über mehr Seeverkehrssicher- Werk zeigen, von dem ich meine, dass sie es vorher hät- heit in der Ostsee zu intensivieren. ten lesen sollen, und zwar die Dokumentation der Vier- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: ten Maritimen Nationalen Konferenz aus Bremen. Man Sehr gut!) hat aber an ihren Reden gemerkt, dass sie nicht ein einzi- ges Mal hineingeschaut haben, Die deutschen Reeder gehören zu den weltweit er- folgreichsten. Sie besitzen circa ein Drittel der weltwei- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: ten Containerkapazität. Die 1998 von der FDP durchge- Nichts über Diskriminierung, gar nichts!) setzte Tonnagesteuer um nachzulesen, was dort von der gesamten Küste inklu- sive aller Länder und der dort ansässigen Wirtschaft ge- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ihr seid fordert worden ist. dabei gewesen!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Abschaffung der wurde von der Bundesregierung weitergeführt. Auch be- Opposition ist dort gefordert worden!) züglich der Lohnnebenkosten und der Ausbildungsför- derung hat es gute Regelungen gegeben. Durch dieseInsofern darf ich einfach einmal ein Zitat aus dem Ver- Maßnahmen wird die deutsche Flagge gestärkt. Es er- kehrsausschuss, dem Fachausschuss, dem werten Publi- folgte bereits – das wurde vorhin schon gesagt – einekum vorlesen. Da heißt es, man lehne die Anträge der 16474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Uwe Beckmeyer (A) Fraktionen der CDU/CSU und der FDP aufgrund von deutschen Seehäfen umgeschlagen worden. Das ist ein(C) Qualitätsmängeln ab. Rekordergebnis. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Annette Faße [SPD]: Jawohl!) DIE GRÜNEN) Das haben wir in der Geschichte Deutschlands nie ge- In diesen Anträgen würden Vorschläge unterbreitet, die habt. bereits in Angriff genommen oder bereits abgearbeitet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ worden seien bzw. es seien Vorschläge, die in die falsche DIE GRÜNEN) Richtung gingen. Ich denke, dieser fachlichen Wertung ist nichts entgegenzusetzen. Deutsche Reeder disponieren von deutschen Standorten 2 580 Handelsschiffe mit rund 41 Millionen Bruttoregis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem tertonnen modernster Tonnage. Das hat es niemals in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland gegeben. Das ist ein Erfolg von Rot-Grün, Sie schildert genau das, was wir hier eben gehört haben. der in der maritimen Konferenz erarbeitet wurde. Die Werften, also die deutschen Schiffbauer, haben 2004 Ich möchte etwas in Erinnerung rufen – eigentlich ist zum ersten Mal ein geschätztes Auftragsvolumen von es nicht meine Art zurückzublicken, Herr Börnsen, aber 3,4 Milliarden Euro gehabt. Sie sind schon etwas länger in diesem Parlament als ich –: 1996 haben Sie Ihre Regierung in einerGroßen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anfrage gefragt, wie sie es mit der maritimen Wirtschaft DIE GRÜNEN) hält. Was hat diese Regierung damals geantwortet? Ein Das ist ein Erfolg, der für die Branche Gold wert ist, umfassendes maritimes Konzept, so lautete seinerzeitweil er Stabilität in die Aufträge bringt. Herr Börnsen, die Devise der Kohl-Regierung, sei wegen der Heteroge- Herr Otto, das sind Trümpfe, an denen Sie nicht vorbei- nität der maritimen Wirtschaft nicht möglich. reden können. (Zurufe von der SPD: Oh! – Wolfgang Ihr Antrag mit dem Titel „Meer für morgen“ ist ein Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Lies mal ein Meer von Tränen, weil Sie im Grunde nichts anderes bisschen weiter!) kennen als Schlechtreden, Schlechtreden, Schlechtreden. Das Argument: Wesentliche Bestimmungsfaktoren der Das lassen wir hier nicht durchgehen. internationalen Wettbewerbsfähigkeit entzögen sich dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ staatlichen Einfluss. Stattdessen verfolgte die damalige DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Bundesregierung nach eigener Aussage im Wesentlichen können nichts anderes!) (B) eine sektorübergreifende Strukturpolitik, die die Wettbe- (D) werbsfähigkeit der Gesamtwirtschaft stärkt. Die Beispiele in der zusammen mit der deutschen mariti- men Wirtschaft erarbeiteten Dokumentation zeigen, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sie hatte ein Programm!) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Reine Propaganda!) Was war die Folge? Den Werften ging es schlecht, der Schifffahrt ging es schlecht und bei den Häfen hatten wir dass Sie mit allem, was Sie hier aufführen, völlig hinter Mühe, dagegenzuhalten. dem Mond sind. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Tonnagesteuer ist unser Werk!) DIE GRÜNEN) Was ist seitdem passiert? Ich möchte noch etwas zu drei aktuellen Punkten sa- gen, die neben den bereits angesprochenen Bereichen (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: wichtig sind: Infrastrukturpolitik, Ordnungspolitik sowie Seitdem geht es aufwärts!) Förderung innovativer technischer Entwicklung. Seitdem Rot-Grün regiert, haben wir jetzt zum vierten In der Infrastrukturpolitik haben wir es geschafft, Mal eine nationale Konferenz, initiiert durch den Bun- die Weichen neu zu stellen. deskanzler. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD) Wo?) Wir haben einen maritimen Koordinator des Bundes- Ich nenne als Beispiele die Maßnahmen Rostock–Berlin ministers für Wirtschaft und Arbeit. Wir haben 15 priori- und Hamburg–Lübeck täre Projekte bei den Hafenzufahrten im neuen Bundes- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: verkehrswegeplan verankert und wir haben ein Wo denn genau?) Maßnahmenpaket zur Stärkung der maritimen Standorte vorgelegt. Ich denke, mehr als das, was hier sowie die Hinterlandanbindungen und die seewärtigen jetzt auch mit der Wirtschaft verabredet worden ist, kann Zufahrten. man gar nicht für die maritime Wirtschaft tun. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Die Erfolge liegen auf der Hand. Die Kollegin Faße Alle sind nicht finanziert! Bisher ist gar nichts hat gesagt, 272 Millionen Tonnen seien 2004 in den passiert!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16475

Uwe Beckmeyer (A) Wir sind in diesen Bereichen im Konsens mit der mariti- Herzlichen Dank. (C) men Wirtschaft einen Riesenschritt vorangekommen. Das lasse ich mir auch von Ihnen nicht klein reden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: [Bönstrup] [CDU/CSU]: Kein konkreter Punkt Ich schließe die Aussprache. liegt vor!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- In der Ordnungspolitik haben wir bei der Schifffahrt schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf mit der Tonnagesteuer – Frau Faße hat es erwähnt –, Drucksache 14/5417. DerAusschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: trags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü- Das sind alles Absichtserklärungen!) nen auf Drucksache 14/4862 mit dem Titel „Maritimen mit dem Lohnsteuereinbehalt, mit der Ausbildungsplatz- Standort Deutschland stärken – Innovationskraft nut- förderung, mit der Schiffsbesetzungsverordnung und mit zen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- der Schiffssicherheitsanpassung eine komplett neuegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Struktur erarbeitet. Die Kohl-Regierung hat während ih- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen rer 16-jährigen Amtszeit nicht einmal daran gedacht,die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. dass so etwas zustande kommen könnte. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen14/5099 mit dem Titel „Meer für morgen – Impulse für [Bönstrup] [CDU/CSU]: Alles europäische die maritime Verbundwirtschaft“. Wer stimmt für diese Auflagen!) Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit Ich komme zum Bereich Häfen, zu dem schon einiges den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- gesagt wurde. men der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- Was die Bundesregierung in Brüssel zum ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags Thema Häfen getan hat!) der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4847 mit dem Hier wollen wir vor allen Dingen die Konkurrenzfähig- Titel „Seeschifffahrt und Küstenschutz in Deutschland (B) keit unserer deutschen Seehäfen erreichen, indem wir stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (D) Wettbewerbsverzerrungen im europäischen Markt besei- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- tigen. Wir haben dazu passende Vorschläge gemacht. schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/ (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: CSU- und der FDP-Fraktion. Das sag’ mal in Brüssel! Das musst du in Brüssel vorstellen!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Wir haben im Bereich Werften die Exzellenzstrategie Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer mit der entsprechenden Branche erarbeitet. Wir werden Funke, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Daniel uns auf die Fortsetzung der strategischen Allianz für die Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Meerestechnik und auf die weitere Unterstützung des Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Short Sea Promotion Centers konzentrieren. Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes Der Kollege Steenblock hat bereits auf unser Engage- – Drucksache 15/3097 – ment im Bereich der Windenergie hingewiesen. Ich will Überweisungsvorschlag: dazu nichts weiter ausführen, weil er es ausreichend er- Innenausschuss (f) klärt hat. Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausschuss für Kultur und Medien Herr Kollege Beckmeyer, kommen Sie bitte zum Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Schluss. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- Uwe Beckmeyer (SPD): derspruch. Dann ist so beschlossen. Ich glaube, am Ende des Tages kann man sagen, dass wir einige Zeit gebraucht haben, um die Fehler der Kohl- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Regierung zu korrigieren und den Standortinteressen ge- ner dem Kollegen Hans-Joachim Otto von der FDP- rade der maritimen Wirtschaft im Norden unserer Repu- Fraktion das Wort. blik, die keine Regionalfrage darstellen, sondern für die gesamte Ökonomie unseres Staates von höchster Wich- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): tigkeit sind, wieder die Bedeutung beizumessen, die sie Herr Präsident! Liebe nicht maritime Kolleginnen verdienen. und Kollegen! Die Freiheit und die Unabhängigkeit der 16476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Medien sind Grundvoraussetzungen einer funktionieren- sie jeden Tag lesen, oder an dem Radiosender, den sie je- (C) den Demokratie. Ohne Pressefreiheit ist eine freiheitli- den Tag hören, in einem erheblichen Maße beteiligt ist. che Demokratie nicht vorstellbar. Es ist eine der zentra- Die von der SPD mit herausgegebenen Zeitungen errei- len Aufgaben der Presse, die Politik und die Parteien zu chen eine tägliche Auflage von rund 2 Millionen. kontrollieren. Jeder von uns weiß, wie zentral wichtig diese Kontrollfunktion ist. Nicht umsonst gibt es den Be- (Jörg Tauss [SPD]: Und Springer?) griff der vierten Gewalt. Diese wichtige Kontrollfunk- Das Problem ist, dass eine ganze Reihe von Zeitungen in tion schließt aus, dass diejenigen, die kontrolliert werden Gebietsmonopolen dazugehört. sollen – nämlich die politischen Parteien –, wirtschaftli- che Macht auf die Kontrolleure – nämlich die Presse – Es geht meiner Ansicht nach auch nicht darum, ob in ausüben können. der täglichen Redaktionsarbeit Einfluss ausgeübt wird. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dorothee (Jörg Tauss [SPD]: Na, na!) Mantel [CDU/CSU]) Aber ich erinnere an ein altdeutsches Sprichwort, lieber Geschieht dies dennoch, liegt eine strukturelle Störung Herr Tauss, das sogar bei Ihnen in Karlsruhe bekannt ist: der demokratiestaatlichen Funktion der Presse vor. Man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Insofern ist die Befürchtung schon sehr groß. Wir sind der Überzeugung, dass sich die Parteien zur Sicherung der Unabhängigkeit der Medien einewirt- (Zurufe von der SPD) schaftliche Selbstbeschränkung auferlegen müssen. – Liebe Freunde von der SPD, die lauten Zwischenrufe Daher sieht unser Entwurf eines Gesetzes zur Änderung beweisen, dass hier ein getroffener Hund bellt. des Parteiengesetzes vor, dass Parteien zukünftig nicht mehr an Rundfunk- und Presseunternehmen beteiligt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sein dürfen. Bis zum Jahr 2009 sind Übergangsregelun- Sie sollten sich in dieser Debatte ein bisschen zurückhal- gen für den Abbau bestehender Beteiligungen – diese ten. Mir fällt auf, dass sich die Grünen in dieser Sache gibt es nur bei einer Partei – vorgesehen. sehr klug zurückhalten. Das ist offenbar ein Spezifikum Neben diesen grundsätzlichen demokratietheoreti-der SPD. schen Erwägungen sehen wir eine spezifische Problema- Es ist unbestreitbar, dass die Gefahr besteht, dass auf tik, über die wir heute sprechen müssen. Die Über-Personalentscheidungen Einfluss genommen wird. Die nahme der „Frankfurter Rundschau“ durch die SPD- SPD hat nämlich direkten Einfluss nicht nur auf den Ge- eigene Beteiligungsgesellschaft DDVG, die vor fast ge- schäftsführer der jeweiligen Organe, sondern sie besetzt (B) nau einem Jahr erfolgte, ist dabei nur der bekanntesteauch den Chefredakteursposten. Es ist ja bekannt, wel- (D) Fall. chen starken Einfluss man auf dieser Position auf die (Jörg Tauss [SPD]: Sichere Arbeitsplätze!) tägliche Arbeit hat. Wir Liberale haben zwar generell nichts gegen eine wirtschaftliche Betätigung von Par- Die SPD ist zurzeit an immerhin 14 Zeitungs- und Zeit- teien. schriftenverlagen und 27 Hörfunksendern beteiligt. (Jörg Tauss [SPD]: Heuchler! Das ist ja (Ulrich Heinrich [FDP]: Hört! Hört! – Jörg unglaublich!) Tauss [SPD]: Springer, SAT.1?) Wenn sie dabei erfolgreich sind, dann sei es ihnen ge- Hinsichtlich der „Frankfurter Rundschau“ mögen viel- gönnt. Aber es ist nicht einzusehen, warum sich Parteien leicht noch manche Leser wissen, dass zwar das Wort ausgerechnet in der Branche betätigen müssen, die eine „unabhängig“ vorne draufsteht, dass die „FR“ aber tat- überaus wichtige Kontrollfunktion hat. Die historische sächlich zu 90 Prozent von der 100-prozentigen SPD- Begründung, die Sie nachher wahrscheinlich anführen Tochter DDVG abhängig ist. werden, ist jedenfalls inzwischen obsolet geworden. (Jörg Tauss [SPD]: Na und?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Lieber Herr Tauss, Sie sollten Ihre Zwischenrufe ein Wir verkennen nicht – auch das wird wahrscheinlich bisschen besser dosieren. Ich will Sie an Ihren Partei- gleich von Ihnen angeführt werden –, dass es hier verfas- freund Michael Naumann erinnern, der Ihnen noch gut sungsrechtlich schwierige Fragen gibt. Ich schlage Ihnen bekannt ist. Er hat nämlich kürzlich in seiner Wochen- deshalb vor: Lassen Sie uns im federführenden Aus- zeitung „Die Zeit“ geschrieben: „Eine Partei kauft sich schuss und in den mitberatenden Ausschüssen eine An- ihre Leser.“ Ich meine, die eine Partei kauft sich auch hörung zu den verfassungsrechtlich relevanten Fragen ihre Wähler, und das halte ich für eine sehr problemati- durchführen! Ich will Ihnen aber eines sagen: Es gibt ein sche Entwicklung. Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in welchem das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Verbot von Rundfunkbeteiligungen der Parteien in Nie- Lachen bei der SPD) dersachsen für verfassungsgemäß erklärt wird. Das Bun- desverfassungsgericht hat das interessanterweise wie Bei vielen anderen Zeitungen, Zeitschriften und auch folgt begründet: Die Notwendigkeit dieser Beschrän- Radiostationen sind die Eigentumsverhältnisse nicht so kung liegt darin, dass die Staatsferne und die Überpartei- bekannt und ich bin davon überzeugt, dass viele Leser lichkeit des Rundfunks gesichert werden müssen. Es ist und Hörer nicht wissen, dass die SPD an der Zeitung, die überhaupt nicht einzusehen, dass diese Entscheidung des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16477

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Bundesverfassungsgerichts betreffend den Rundfunkgen die Eigentumsverhältnisse und somit die Beteiligun- (C) nicht in gleicher Weise für die Presse gelten soll. gen offen zu legen. (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: In welchem Abschließendes Wort. Ich appelliere an Sie, die So- Land weigern wir uns?) zialdemokraten: Wenn Sie Ihre Beteiligungen an den Presseunternehmen freiwillig veräußerten, dann könnten Sie haben außerdem wenig Vertrauen in die Urteilsfähig- wir uns den ganzen Spaß hier sparen. Sie sind diejeni- keit der Bürgerinnen und Bürger. Sie suggerieren, dass gen, die einer problematischen Entwicklung weiterhin die SPD über ihre Beteiligungen Einfluss auf die Me- Vorschub leisten. Ich fordere Sie auf, selbst zu erkennen, dienberichterstattung nimmt. Dafür können Sie aber welches Problem in der Beteiligung der SPD an Zeitun- keine Beweise oder Belege vorlegen. gen besteht. (Jörg Tauss [SPD]: Im Gegenteil! – Lachen Danke schön. der Abg. Dorothee Mantel [CDU/CSU] und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]) Tauss [SPD]: Unverschämtheit!) Da Sie wissen, dass Sie für Ihren Gesetzentwurf keine Mehrheit im Bundestag finden, versuchen Sie über die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bundesländer und eine Änderung der Landesmedienge- Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von setze – darauf bezieht sich das angesprochene Urteil des der SPD-Fraktion. Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Beteiligung an Rundfunkanstalten –, die SPD erneut zu schädigen. Dagegen läuft ein Normenkontrollverfahren vor dem (SPD): Gabriele Fograscher Bundesverfassungsgericht, das bislang nicht entschieden Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ist. Die FDP unternimmt mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf zum wiederholten Mal den Versuch, In der 14. Wahlperiode wurde eine Kommission zur Reform der Parteienfinanzierung vom Bundespräsi- (Jörg Tauss (SPD): Den durchsichtigen Ver- denten einberufen. Diese überparteiliche Kommission such! – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: und ihr Beirat waren mit Personen besetzt, die sich mit Der ist ganz neu!) diesem Thema auskannten, praktisch und rechtlich. In (B) die SPD und ihre erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit den abschließenden Empfehlungen dieser Kommission (D) zu diffamieren, zu den Beteiligungen von Parteien im Medienbereich heißt es – ich zitiere –: (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt kommt es!) Die Kommission empfiehlt keine gesetzlichen Re- gelungen zur Begrenzung der unternehmerischen die Chancengleichheit der Parteien mit ihren historisch Tätigkeit von Parteien, auch nicht im Medienbe- gewachsenen Strukturen der Finanzierung abzuschaffen reich. Ein etwaiger beherrschender Einfluss von (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ich Parteien auf die Presse aufgrund von Beteiligungen habe es gewusst!) im Bereich der Printmedien wäre im Übrigen vor- rangig mit den Mitteln und nach den allgemeinen und die SPD erneut zu enteignen. Maßstäben des Kartellrechts und des Presserechts einzudämmen. Dass ein solcher Zustand derzeit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des von irgendeiner Partei in Deutschland erreicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wäre, ist nicht ersichtlich. Die Möglichkeit der Par- Die Novellierung des Parteiengesetzes infolge des CDU- teien, an der Entwicklung der neuen Medien teilzu- Schwarzgeldskandals wurde mithilfe von Sachverständi- nehmen, insbesondere des Internets, sollte nicht be- gen vorgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat schnitten werden. – auch hier stimmt Ihre Aussage nicht – keine Einwände gegen die Unternehmensbeteiligungen der Parteien Daran hat sich auch in der 15. Legislaturperiode nichts und damit auch nicht gegendie der SPD erhoben. Die geändert. Falls Sie an diesem Thema ernsthaft und ob- SPD befolgt die Vorgaben des Parteiengesetzes. Sie hat jektiv interessiert sind, können und sollten Sie die Er- in ihren Finanzen die größtmögliche Transparenz. Die gebnisse der Kommissionsarbeit nachlesen. Rechenschaftsberichte, die Finanzberichte und die Ge- (Inge Wettig-Danielmeier [SPD]: Richtig!) schäftsberichte der Deutschen Druck- und Verlagsgesell- schaft, also jenes Unternehmensbereichs der SPD, legen Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die das alle Einnahmen und Ausgaben sowie die Beteiligungen Grundrecht auf Meinungs-, Presse- und Rundfunkfrei- uneingeschränkt offen. heit ebenso ausüben wie ihr Grundrecht auf Eigentum. Mit Ihrem Gesetzentwurf schaffen Sie nicht mehr Die FDP scheint hingegen kein Verfechter der Trans- Presse- und Meinungsfreiheit; parenz zu sein; denn vor Ort in den Bundesländern sind Sie es, die sich weigern, im Impressum von Tageszeitun- (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Natürlich!) 16478 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Gabriele Fograscher (A) vielmehr wollen Sie damit gezielt eine Partei schädigen, – Herr Tauss, schauen Sie es sich nur genau an, damit(C) die in ihrer 140-jährigen Geschichte gerade für Mei-Sie wissen, woran die SPD überall beteiligt ist. nungsfreiheit, für die Vielfalt und für die Unabhängig- keit der Presse gekämpft hat. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich darf Sie einen Moment unterbrechen. DIE GRÜNEN) Herr Tauss, setzen Sie sich bitte hin und legen Sie das Ihr Gesetzentwurf ist n ei untauglicher Vorschlag, weg! mehr Transparenz, Meinungsvielfalt und Unabhängig- (Jörg Tauss [SPD]: Es war so schlecht lesbar!) keit in den Medien zu schaffen. Er richtet sich einseitig gegen die SPD und ist ein durchsichtiger Versuch, die Bitte schön, Frau Mantel. Chancen der SPD im Parteienwettbewerb massiv zu schädigen. Wir lehnen diesen verfassungswidrigen Ge- Dorothee Mantel (CDU/CSU): setzentwurf ab. Aber Sie wissen es ja eigentlich, Herr Tauss, weil bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen alles angeblich so wahnsinnig transparent ist. Ich DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frank- muss ganz ehrlich sagen: Jetzt haben Sie es gesehen und furt] [FDP]: Fantastisch!) jetzt kann die SPD ihre Medienbeteiligungen aufgeben. (Jörg Tauss [SPD]: Warum das denn? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Springer, Sat.1!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Mantel von So witzig das Ganze von Ihnen gerade gemeint war: Die- der CDU/CSU-Fraktion. ses Thema ist leider viel zu ernst. (Jörg Tauss [SPD]: Noch so eine Presse- (Jörg Tauss [SPD]: Kohl hat jede Pförtnerstelle spezialistin!) beim ZDF besetzt! So war das! – Gegenruf des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Dorothee Mantel (CDU/CSU): Taussiboy, jetzt halt dich doch mal zurück Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und hier!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD hält Wie aktuell die Debatte ist, die wir heute führen, Anteile an 14 Verlagen, an 30 Tageszeitungen, an 40 An- konnte man am Montag im „Focus“ lesen. Demnach zeigenblättern und an knapp 30 Hörfunkstationen. Damit musste der Chefredakteur der „Hannoverschen Allge- erreicht sie mit einer Gesamtauflage von über 6 Millio- (B) meinen Zeitung“ nach 16 Jahren vorzeitig seinen Platz (D) nen Exemplaren 12 Millionen Leser. Um Ihnen dieses räumen, da er mit der Berufung seines Nachfolgers nicht Schreckensszenario zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen einverstanden war. Das ist auf den ersten Blick vielleicht eine Übersicht zeigen: keine ungewöhnliche Nachricht. Das kann vorkommen. (Die Abgeordnete hält ein großes Schriftstück Spannend wird diese Tatsache erst dann, wenn man hoch – Zurufe) weiß, dass die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ zu einem Fünftel der SPD-eigenen Deutschen Druck- und Die pink markierten Felder zeigen die Beteiligungen der Verlagsgesellschaft gehört, der so genannten DDVG. SPD. (Jörg Tauss [SPD]: Ja, richtig!) (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Die DDVG griff massiv in die Entscheidung über einen – Statt hier herumzuschreien, könnte Herr Tauss diese neuen Chefredakteur ein. Sie besetzte den Posten mit ei- Übersicht halten. Das wäre eine gute Idee. nem SPD-nahen Redakteur. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das wäre end- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Hört! lich einmal eine tragende Rolle für Herrn Hört! Jetzt kaufe ich die nicht mehr!) Tauss!) Der Mitbewerber galt als zu CDU-nah und hatte deshalb – Ja, das wäre einmal eine tragende Rolle für Herrnkeine Chance. Tauss. Das ist ein völlig inakzeptabler Eingriff in die Ent- Um dieser Manipulation ein Ende zu setzen, hat die scheidungshoheit einer Redaktion und zeigt, dass die FDP einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die CDU/CSU-SPD bei Personalentscheidungen gezielt manipuliert. Fraktion unterstützt diesen FDP-Gesetzentwurf einstim- Die Redaktionen werden systematisch so besetzt, dass mig. da nur Genossen sitzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jörg Tauss [SPD]: Eine Unverschämtheit!) Ein Verbot von Medienbeteiligungen von Parteien ist nur Wie direkt die SPD über die DDVG in die Redaktio- zu befürworten. nen der Zeitungen hineinregiert, zeigt sich auch darin, dass Redakteure in ihren Arbeitsverträgen dazu ver- (Abg. Jörg Tauss [SPD] nimmt das Schrift- pflichtet werden, stück der Abg. Dorothee Mantel [CDU/CSU] an sich und hält es hoch) (Jörg Tauss [SPD]: Mitglied zu werden?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16479

Dorothee Mantel (A) SPD-freundlich zu berichten. ist etwas, was wir in Deutschland Gott sei Dank wieder (C) haben. Die Freiheit von Rundfunk und Presse bedeutet (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) auch Kontrolle staatlichen Handelns. Kontrollieren Die sozial-liberale politische Einstellung, die explizit in kann aber nur, wer unabhängig ist. jedem Redakteursvertrag der „Frankfurter Rundschau“ (Erika Lotz [SPD]: Wer hat Ihnen das denn steht, ist so ein Beispiel. aufgeschrieben?) (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Finanzielle Abhängigkeit von einer Partei zerstört die Unsere Demokratie lebt von Meinungsvielfalt undKontrollfunktion. Übernimmt eine Partei eine Zeitung Pressefreiheit. Die SPD zerstört diese durch ihre unsägli- auch noch in einer finanziell angeschlagenen Situation, chen Unterwanderungen. wie das beispielsweise bei der „Frankfurter Rundschau“ (Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP] – war, ist die Abhängigkeit natürlich unermesslich. Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Ich erinnere mich noch gut an den 3. August im letz- Berühmtestes Beispiel ist die„Frankfurter Rund- ten Jahr. Da hat die „Frankfurter Rundschau“ an einem schau“, an der die DDVG im vergangenen Jahr eineeinzigen Tag einmal ihre Maske fallen lassen. Da stand Mehrheitsbeteiligung von 90Prozent übernommen hat; nämlich statt „Unabhängige Tageszeitung“ „Abhängige der Kollege Otto hat es bereits angesprochen. Tageszeitung“ als Unterüberschrift. Ich möchte mich heute bei dem bedanken, der das veranlasst hat. (Jörg Tauss [SPD]: Kommt die aus Bayern?) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Der so mutig So ist die „Frankfurter Rundschau“ zu einem Kampfblatt war!) der SPD geworden. Er hat die Wahrheit in Druck gegeben und hat den Mut (Lachen bei der SPD) bewiesen, die SPD-Repressalien nicht länger still- Kann es richtig sein, dass in einem demokratischen schweigend zu erdulden. Rechtsstaat eine Partei umherzieht und Zeitungen auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg kauft, gerade wie es ihr gefällt? Tauss [SPD]: Wer so was aufschreibt, der zer- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein! Nein! trampelt auch Gentechnikfelder!) Nein! Gebt die Presse frei!) Da wir schon beim Thema Wahrheit sind: Es mutet, Ich meine: Nein. gelinde gesagt, schon etwas merkwürdig an, wenn sich ausgerechnet die rot-grüne Regierung, die die Kenn- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zeichnungspflicht bis zum Exzess betreibt, weigert, ihre (D) Eine weitere Strategie der SPD zielt darauf ab, regio- roten Produkte zu kennzeichnen. nale Meinungsführerschaften zu gewinnen. Anfang (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 2003 kaufte die DDVG beispielsweise dem Süddeut- schen Verlag seinen Anteil von 70 Prozent an der „Fran- Angeblich ist Ihrer Regierung der Verbraucherschutz so kenpost“ in Hof ab und besaß somit 100 Prozent. Wer wichtig. Alle Lebensmittelprodukte müssen über Gebühr wie ich aus Franken kommt, der weiß, dass die „Fran- gekennzeichnet sein. Verträge müssen bis ins Letzte so kenpost“ in der Stadt und im Landkreis Hof die einzige gekennzeichnet sein, dass sie nicht diskriminieren. Sie lokale Tageszeitung ist. haben also eine wahre Kennzeichnungswut. Nur rot ge- färbte Informationen müssen nicht gekennzeichnet sein. (Jörg Tauss [SPD]: Die haben alle SPD ge- wählt! So richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wenn schwarze Blätter schwarz Gemeinsam mit der „Neuen Presse“, Coburg, kommt die werden, dann könnte man nichts mehr lesen!) SPD bei den Lokalzeitungen in Oberfranken auf einen Marktanteil von über 70 Prozent. Dadurch werden ge- Hier möchte ich dringend an den von Ihnen so viel be- zielt Monopolregionen gebildet. schworenen Verbraucherschutz appellieren. Auch hier zeigt sich mal wieder: Sonntagsreden der rot-grünen Re- Die Realität ist doch bereits heute so, dass es in vielen gierung in jedem Politikbereich. unserer Landkreise nur noch eine einzige lokale Tages- zeitung gibt. Wenn diese einzige lokale Tageszeitung der (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ SPD gehört, dann besitzt diese nicht nur das Zeitungs-, DIE GRÜNEN]: Oh Gott, das war eine Don- sondern auch – das finde ich viel schlimmer – das Mei- nerstagsrede!) nungsmonopol in dieser Region. Woher beziehen die Bürger in unserem Land ihre In- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg formationen? Natürlich aus den Medien und besonders Tauss [SPD]: Das ist ja Kabarett! Der Gründer aus den Printmedien. Unsere Bürger verlassen sich auf der CDU Nordbaden hat meine Zeitung ge- die Informationen. Das müssen sie auch. Wenn man früh gründet! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund die Zeitung liest, hat man nicht die Möglichkeit, jeden [CDU/CSU]: Die SPD hat das Zentralorgan!) Artikel noch einmal gegenzuprüfen. Die Freiheit von Rundfunk und Presse ist ein Wert, (Gabriele Fograscher [SPD]: Siehe „Bild“- der nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist. Das Zeitung!) 16480 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dorothee Mantel (A) Nicht umsonst sagt man: Das habe ich schwarz auf weiß Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) gelesen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen. Wenn die Bürger aber nur auf Medien zurückgreifen können oder zurückgreifen müssen, Silke Stokar von Neuforn(BÜNDNIS 90/DIE (Jörg Tauss [SPD]: Von Springer! – Gegenruf GRÜNEN): des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich [FDP]: Das ist kein CDU-Blatt! – Manfred aufgewachsen bin, bin ich, als ich einmal in Berlin war, Grund [CDU/CSU]: Das Hausblatt von Doris auf die Straße gegangen mit dem Slogan: Enteignet Schröder-Köpf ist das!) Springer! Es gab einen guten inhaltlichen Grund dafür. die von Parteien über verwobene Beteiligungen gehalten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden, dann kann man doch nicht allen Ernstes davon sowie bei Abgeordneten der SPD – Manfred sprechen, dass hier noch freie Meinungsbildung gewähr- Grund [CDU/CSU]: Enteignet die SPD!) leistet wird. Denn das ist doch der springende Punkt in dieser Debatte: Darf jemand eine Zeitung besitzen, der Angesichts der Medienlandschaft, die Sie in Ihrem eigentlich der Kontrolle durch die Presse ausgesetzt sein Antrag beschreiben, habe ich mich gefragt, welche Zei- müsste? tung ich jeden Tag lese und wo ich überhaupt lebe. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein! – Hans- (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Bleiben Sie Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So ist es!) doch einmal beim Thema, Frau Stokar!) Die SPD missbraucht so das Vertrauen der Leser, die Die Frau Kollegin Mantel aus Bayern, CSU-Mitglied sich in einer Zeitung informieren wollen und darauf ver- und auch irgendwie Journalistin, trauen, dass die Informationen in ihrer Zeitung stimmen. (Jörg Tauss [SPD]: Journalistin? Partei- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist Chuzpe, was Sie schreiberin!) hier vortragen!) möchte mir hier offensichtlich erläutern, dass die Me- Ein besonderes Vertrauen haben die Menschen in ihre dienvielfalt in Bayern sichergestellt sei. Ich könnte hier Lokalzeitung. Die Lokalzeitungen sind die meistgelese- genauso wie Sie eine Liste aufstellen und Ihnen darle- nen Presseprodukte. Deshalb finde ich es besonders per- gen, in wie vielen Bereichen das nicht stimmt. fide, dass sich die SPD hauptsächlich in Lokalzeitungen (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Wir haben einkauft. keine eigene Medienbeteiligung!) (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass hier der „Bayernkurier“ als Organ der Pressefrei- Sie geben ja auch offen zu, dass Sie mit Ihren Beteili- heit dargestellt wurde, gungen den Inhalt bestimmen. Ihre Schatzmeisterin – sie (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Das ist eine werden wir ja nachher noch hören –, Frau Wettig- Parteizeitung!) Danielmeier, zeigt doch, wie absurd diese Debatte ist. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wir freuen uns schon!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dorothee Mantel [CDU/ sagt – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: CSU]: Schämen Sie sich nicht für diese Aus- (Jörg Tauss [SPD]: Die brauchen Sie gar sage?) nicht!) Herrn Kollegen Otto möchte ich sagen: Wir haben Auch dort, wo wir nur 30 oder 40 Prozent haben, hier in diesem Hause einmal eine seriöse Debatte über kann in der Regel nichts ohne uns passieren. das Problem der Medienbeteiligungen von Parteien ge- führt. An dieser Debatte war unter anderem Herr Hans- Ich glaube, diese Aussage spricht für sich, Frau Wettig- Dietrich Genscher beteiligt. Vielleicht sollten Sie einmal Danielmeier. nachlesen, welch kluge Dinge Herr Genscher damals zu Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einen Tipp ge- dieser Problematik gesagt hat ben, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie auch ohne (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg finanziellen Einsatz die Titel aller Tageszeitungen be- Tauss [SPD]: Lange vorbei!) herrschen können. Geben Sie einfach eine Pressemittei- lung heraus, in der steht: SPD trennt sich von all ihren und zu welcher Empfehlung er damals gekommen ist. Medienbeteiligungen. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN]: Das Niveau der FDP sinkt von Jahr zu Jahr!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Das würde Ihnen gefallen! – Wir setzen uns – darin sind wir uns einig – für eine viel- Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ fältige Presselandschaft und für Vielfalt in den Medien DIE GRÜNEN]: Das ist unter „Bild“-Zei- ein. Herr Genscher hat damals zu Recht angeregt, im tungs-Niveau!) Kartellrecht etwas zu ändern. Es ist damals zu Recht an- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16481

Silke Stokar von Neuforn (A) geregt worden, dass im Impressum der Zeitung alle Be- Das sind die historischen Gründe für die besondere Ver- (C) teiligungen, also nicht nur Beteiligungen von Parteien, flechtung zwischen der Sozialdemokratie und den sondern auch wirtschaftliche Verflechtungen, öffentlich Medien, und transparent gemacht werden. Aber diese Form von (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Und Transparenz, die wir damals gefordert haben, ist hier un- was sind die aktuellen Gründe?) ter anderem auch von der FDP-Fraktion abgelehnt wor- den. Gründe, die damals, als seriös in einer Kommission über das Thema geredet wurde, gewürdigt worden sind. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wo haben wir was abgelehnt? Jetzt einmal ganz Ich nehme die SPD in Schutz, weil die Sozialdemo- konkret! Das ist das zweite Mal, dass hier so kratie einen Beitrag dazu geleistet hat, gegen die rechte was behauptet wird! Das stimmt überhaupt Pressekonzentration ein inhaltliches Gegengewicht zu nicht!) setzen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie ihr vorzuwerfen versuchen. Die SPD hat einen großen Bei- Ich will hier auch gar nicht darüber reden – obwohl trag in Deutschland dazu geleistet, dass wir in der Pres- ich mich sehr gut daran erinnere –, dass es eine Freund- selandschaft eine demokratische Vielfalt haben. schaft zwischen einem Herrn Bundeskanzler Kohl und einem Leo Kirch gegeben hat. In diesem Fall konnte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN man doch von Medienkonzentration sprechen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Und die FDP stellt sich hier hin und fordert ein Total- sowie bei Abgeordneten der SPD) verbot der Beteiligung von Parteien an Medien. Sie wis- sen doch, dass es entsprechende Verfassungsgutachten Lassen Sie mich hier auch etwas zur historischen Ent- gibt, dass damals in der Kommission – unter Ihrer Betei- wicklung der Sozialdemokratie – ligung – Gutachten erstellt worden sind. Wenn Sie hier heute einen Antrag auf Totalverbot stellen, dann ist das (Manfred Grund [CDU/CSU]: Aber bei der purer Populismus. Wahrheit bleiben!) (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Das ist not- ich denke, das ist ein sehr ernstes Thema – und der Me- wendig!) dienlandschaft in Deutschland sagen. Ihnen geht es darum, die SPD anzugreifen; Ihnen geht es nicht um Pressefreiheit. Sie wissen sehr wohl, dass Ihr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Antrag verfassungswidrig ist. (B) Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des (D) Kollegen Otto? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Joachim Otto [Frank- furt] [FDP]: Dann lassen Sie uns eine Anhö- Silke Stokar von Neuforn(BÜNDNIS 90/DIE rung machen!) GRÜNEN): Nein. Wir sind bereit – ich muss zum Schluss kommen –, eine Anhörung dazu zu machen, wie wir Medienvielfalt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Medienfreiheit und Pressefreiheit in Deutschland weiter sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans- stärken können. Dazu gehört auch, dass die Journalisten, Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr souve- die zum Beispiel für große Zeitungen als freie Journalis- rän!) ten arbeiten, offen legen, von wem aus der Wirtschaft sie sonst noch bezahlt werden. Wir haben zum Beispiel eine Meine Damen und Herren, es gab Zeiten in diesemRußfilterdebatte in den Medien gehabt, die gezielt zur Deutschland, da hatten Abgeordnete aus der Sozialde- Verhinderung einer wichtigen Innovation geführt hat. mokratie nicht den Hauch einer Chance, ihren Lebens- unterhalt durch Arbeit in einem bürgerlichen Beruf oder (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist in der Wirtschaft zu verdienen. aber nicht das Thema heute!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber Die Journalisten, die sich an der Diffamierung von Ruß- das ist doch vorbei!) filtern wesentlich beteiligt haben, hatten auch Verbin- dungen zu Autokonzernen. Mit diesen Journalisten undSchriftstellern begann die Verflechtung von Sozialdemokratie und Medien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich möchte Sie auch daran erinnern, dass nach dem Ende des Faschismus – wir haben hier viele Reden dazu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gehalten – die Alliierten sehr bewusst Widerstandsleute Kommen Sie bitte zum Schluss. aus der SPD geholt haben, dass sie diesen Leuten zuge- traut haben, in Deutschland eine demokratische Presse aufzubauen. Silke Stokar von Neuforn(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Thema haben Sie verfehlt. Pressefreiheit und und bei der SPD) Pressevielfalt sind mit unszu machen, aber nicht auf 16482 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Silke Stokar von Neuforn (A) diese populistische Art und Weise, wie Sie das hier heute (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) versuchen. DIE GRÜNEN – Dorothee Mantel [CDU/ CSU]: Das gilt für jede Partei!) Danke schön. – Das gilt für jede Partei. Aber wir wollen Sie ja auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht enteignen. und bei der SPD – Dorothee Mantel [CDU/ CSU]: Themaverfehlung, Frau Stokar!) Wir sind dreimal enteignet worden. Die deutschen Sozialdemokraten sollten mit dem Sozialistengesetz we- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen ihres Kampfes für politische und soziale Grund- Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Wettig-rechte im Kaiserreich vernichtet werden. Die Partei ist Danielmeier von der SPD-Fraktion. damals nicht untergegangen. Aber sie verlor ihr Eigen- tum – entschädigungslos. Inge Wettig-Danielmeier (SPD): Noch härter trafen sie die Verfolgung und das Verbot Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie ernst durch das nationalsozialistische Deutschland. sind politische Initiativen einer Partei und einer Parla- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach mentsfraktion zu nehmen, die wenige Tage nach einem du meine Güte! Das ist jetzt eine Linie! Mir Parteitag offen gegen Erklärungen dieses Parteitags ver- kommen die Tränen! – Gegenruf des Abg. stoßen? Jörg Tauss [SPD]: In dieser unsäglichen Tradi- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) tion seid ihr!) Die FDP hat sich auf ihrem Parteitag zur Rechtsstaats- Es ist richtig: Es hat dafür nach 1945 Wiedergutmachung partei ernannt. gegeben. Aber diese Entschädigung hat bei weitem nicht die verloren gegangenen Werte ersetzt. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Rechts“ hätte gereicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Parteiengeset- zes verstößt sie ohne jedes Bedenken gegen eine wich- Durch die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD tige Bestimmung des Grundgesetzes. zur SED wurde uns die Nutzung unseres Eigentums in der SBZ bzw. in der DDR für 50 Jahre entzogen. Es gab (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber also eine dritte Enteignung in einem Teil Deutschlands. die SPD ist die Verkörperung des Rechtsstaats, Der finanzielle Ausgleich, der geflossen ist, konnte die oder?) (B) tatsächlichen Verluste bei weitem nicht ersetzen. (D) – Nein, wir haben Grundrechte, wie Sie auch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rachel [CDU/CSU]: Wer hat denn das SPD/ DIE GRÜNEN) SED-Papier gemacht?) Sie verletzen das Grundrecht, dass keinEigentum auf Es mag sein, dass für eine Partei, die erst knapp der Grundlage eines Einzelfallgesetzes entzogen werden 60 Jahre besteht, diese Argumente unbeachtliche histori- kann. sche Reminiszenzen sind. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wer redet hier von Einzelfallgesetzen? Das ist doch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kein Einzelfallgesetz!) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss? – Dies ist ein Einzelfallgesetz. Es gehört viel verfas- sungsrechtliche Blindheit dazu, ausschließlich unsere (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Unbe- Grundrechte im Feld wirtschaftlicher Tätigkeit beseiti- dingt! – Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Darauf gen zu wollen hat die Welt gewartet! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Redet doch in der Fraktion mit- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einander!) DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frank- furt] [FDP]: Das gilt für alle Parteien!) Inge Wettig-Danielmeier (SPD): und dabei völlig zu übersehen, dass das nur mit einem Ja, bitte. Einzelfallgesetz möglich ist. Ich möchte es nicht bei diesem prinzipiellen, verfas- Jörg Tauss (SPD): sungsrechtlichen Einwand belassen. Ich möchte eben- Frau Kollegin Wettig-Danielmeier, würden Sie mir falls den politischen Hintergrund ausleuchten, auchbestätigen, dass ein Großteil der Beteiligungen, die uns wenn Sie sich darüber mokieren. Ich bitte die Kollegin- vorhin durch unsere Kollegin Mantel auf dem Transpa- nen und Kollegen der anderen Fraktionen des Hauses zu rent vorgestellt worden sind, genau die Beteiligungen verstehen, dass wir Sozialdemokraten auf jeden offenen umfassen, die nach der Zeit des nationalsozialistischen und versteckten Enteignungsversuch empfindlich reagie- Unrechts und nach dem Ende der SED-Diktatur zurück- ren. gegeben wurden? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16483

Jörg Tauss (A) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach legt hat, eine unabhängige linksliberale Zeitung zu ga-(C) du meine Güte! Die „Rundschau“ gehört nicht rantieren. dazu! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Die (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist „Sächsische Volkszeitung“ auch nicht! – doch nicht die Landesregierung! Das steht in Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Die „Franken- der Satzung drin!) post“ auch nicht!) Das tun wir sonst nirgends. Inge Wettig-Danielmeier (SPD): (Beifall bei der SPD) Ich konnte diese Übersicht leider nicht genau studie- ren. Sie enthält eine Reihe von Fehlern. Ich kann Ihre Wir haben, wie Sie sehr wohl wissen, eindeutig ge- Aussage im Moment weder bestätigen noch dementie- sagt, dass wir nach der Sanierung die Minderheitsbeteili- ren. gung an der „Frankfurter Rundschau“ anstreben und nicht bei der 90-prozentigen Beteiligung bleiben wollen. (Jörg Tauss [SPD]: Aber es ist so!) Sie haben sich auch in Bezug auf Hof nicht sorgfältig – Wenn Sie das so genau gelesen haben, dann wird es genug erkundigt. Wir haben für die Zeitung in Hof – da schon stimmen. haben Sie Recht – für zwei Jahre eine Beteiligung von 100 Prozent übernommen, weil die „Süddeutsche Zei- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sie tung“ in Schwierigkeiten gekommen war und kartell- können doch ganz einfach verkaufen! Da muss rechtliche Probleme sie daran gehindert haben, einen niemand enteignet werden! – Gegenruf des zusätzlichen Gesellschafter aufzunehmen, der die Sanie- Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist doch eine rung hätte garantieren können. Zwangsveräußerung! Die hatten wir in Deutschland schon einmal! Mit dem Rechts- (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Ein Samariter- staat haben Sie nichts am Hut!) akt sozusagen!) Wir hatten in unserer 142-jährigen Geschichte immer Wir haben die Beteiligung in Hof inzwischen wieder zu- Medien. Wir haben unser Medieneigentum über die Ka- rückgegeben. Das ist kartellrechtlich ein Problem; das tastrophen der deutschen Geschichte hinaus bewahrt.wissen Sie genauso gut wie ich. Wir waren in der Lage, uns unternehmerisch dem wirt- Sie werden natürlich lebhaft bestreiten, dass Sie den schaftlichen und technologischen Wandel im Medien- Entwurf eines Enteignungsgesetzes vorgelegt haben. sektor anzupassen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist (B) (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Unser Antrag richtig! Da haben Sie jetzt wirklich mal(D) scheint Sie nicht zu bewegen! – Gegenruf des Recht!) Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Vergessen Sie nicht, was in den Zeiten 33 bis 45 passiert ist! Wer die in diesem Gesetzentwurf genannten Fristen be- Auf so dünnem Eis bewegen Sie sich!) trachtet – sie sind zum Teil schon abgelaufen –, wird mir zustimmen: In diesen Zeiträumen können Unterneh- Wir haben – das müssen Sie sich auch einmal sagen mensbeteiligungen nur unter hohen Verlusten verkauft lassen – durchweg Minderheitsbeteiligungen. werden. (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: 100 Prozent! (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Über diese 90 Prozent!) Fristen könnten wir uns unterhalten!) – Lassen Sie mich darauf antworten. Wir haben keine Ich nehme an, dass einige Freie Demokraten dies auch Beteiligungen in Höhe von 100 Prozent. Die haben wir so wollen. nur beim „Vorwärts“ und nirgendwo anders. Sie sollten sich genauer informieren, ehe Sie Ihre Reden halten. (Erika Lotz [SPD]: So ist es!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die deutliche finanzielle Schwächung der SPD ist ein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans- beabsichtigter Kollateralschaden. Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was ist mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der „Rundschau“?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf Wir haben die journalistische Freiheit immer gewahrt des Abg. Jörg Tauss [SPD]) und ihre Chancen gefördert. Ich kann auch nicht ausschließen, dass Sie verdeckt Inte- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ressen von Medienkonzernen verfolgen, Das tun wir auch in Frankfurt, und zwar kontrolliert (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Das glauben durch die hessische Landesregierung, Sie doch nicht ernsthaft!) (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Kontrolliert die unser Medieneigentum seit langem interessiert um- durch die SPD!) kreisen. Müssten wir verkaufen, könnten diese Interes- senten zugreifen; sie müssten es sogar. Ihren Gesetzent- die uns durch die Stiftungsaufsicht des Landes Hessen wurf könnten wir deshalb durchaus wie ein verdecktes – das ist einmalig unter unseren Beteiligungen – aufer- Pressekonzentrationsfördergesetz wirken lassen. 16484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Inge Wettig-Danielmeier (A) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag: (C) GRÜNEN]: Feindliche Übernahme nennt man Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) so etwas!) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Den i-Punkt auf Ihre verdeckten Absichten setzt Ihre Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Behauptung in der Gesetzesbegründung, dass durch die Annahme Ihrer Vorschläge keine Mehrkosten entstehen. ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Selbstverständlich müssten die Enteignungen entschä- Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer digt werden; Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist Reibungslose Umsetzung der Ziele des Bolo- doch keine Enteignung!) gna-Prozesses in Deutschland gewährleisten – Länderkompetenzen beachten denn nach wie vor, geschätzte Fraktion einer Rechts- staatspartei, gilt Art. 14 des Grundgesetzes. – Drucksache 15/5449 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- spruch höre ich keinen. Dann ist so beschlossen. Wir werden also die Ausschussberatungen zu einem – ich weiß nicht, wievielten – historischen und verfas- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst sungsrechtlichen Repetitorium benutzen. der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- GRÜNEN]: Genau!) desministerin für Bildung und Forschung: Vielleicht hilft Ihnen dies, von der selbst ernannten zur Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute realen Rechtsstaatspartei zu werden. Diese Mühen wür- Vormittag hatten wir eine wichtige Stunde für Europa. den wir nicht scheuen, um Ihnen dabei zu helfen, sich Die europäische Verfassung ist eindrücklich durch den von der Spaßpartei endlich zu einer Nachdenkpartei zu Deutschen Bundestag bestätigt worden. entwickeln. Heute Abend beschäftigen wir uns wieder mit einem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ europäischen Thema. Allerdings ist meine Sorge, dass DIE GRÜNEN) wir an die Qualität des Vormittags nicht heranreichen werden, weil der Antrag, der uns von der Union vorliegt, nur in einem Satz zu unterstützen ist. Diesen darf ich zi- (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (D) tieren. In dem Antrag der Union zum Bologna-Prozess Ich schließe die Aussprache. wird formuliert: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses und fes auf Drucksache 15/3097 an die in der Tagesordnung der enge Zeitrahmen zur Umsetzung erfordern … aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu auch in Zukunft eine vertiefte Zusammenarbeit anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann zwischen Bund und Ländern. Diese Zusammenar- ist die Überweisung auch so beschlossen. beit kann nur auf der Basis gegenseitigen Vertrau- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so- ens geschehen. wie Zusatzpunkt 7 auf: Ich will an dieser Stelle sagen: Diese Position unter- 12 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Utestützen wir ausdrücklich. Allerdings macht der dann fol- Berg, Jörg Tauss, Klaus Barthel (Starnberg), wei- gende Text des Antrages nicht so recht deutlich, ob der terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- eben zitierte Satz auch wirklich ernst gemeint ist, weil wie der Abgeordneten Monika Lazar, Volkerdieser Text in eine andere Richtung geht. Beck (Köln), Grietje Bettin, weiterer Abgeordne- Der Bologna-Prozess ist eines der wichtigsten The- ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE men für unsere Hochschulen. 1999 haben die Minister in GRÜNEN Bologna diesen Prozess in Gang gesetzt. Die Universitä- Kooperation von Bund und Ländern in derten in Europa befinden sich seitdem in dem wahrschein- Hochschulpolitik verstärken – Umsetzung des lich größten Veränderungsprozess ihrer Geschichte. Bologna-Prozesses in Deutschland beschleuni- Wichtig ist: Deutschland begreift zunehmend, wie ich gen hoffe, dass die Umstellungen unserer Universitäten und Hochschulen im Rahmen des Bologna-Prozesses eine – Drucksache 15/5465 – wirklich nationale Aufgabe sind und von kleinstaatli- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- chem Denken nicht wirklich befördert werden. Es ist gierung eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern notwendig. Bericht zur Realisierung der Ziele des Bolo- gna-Prozesses Wir stehen unmittelbar vor derBergen-Konferenz, einer Folgekonferenz, die eine Zwischenbilanz ziehen – Drucksache 15/5286 – wird. Über diese Zwischenbilanz gibt ein Bericht Aus- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16485

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick (A) kunft, der interessanterweise und, wie ich finde, erfreuli- Wir kommen glücklicherweise in Deutschland voran. (C) cherweise gemeinsam von Bund und Ländern formuliert Ich will Ihnen kurz ein aar p Reformen nennen, die im worden ist. Zusammenhang mit der Internationalisierung wichtig sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir haben mit der BAföG-Reform sichergestellt, dass Studierende den Schritt ins Ausland leichter gehen kön- Es ist gelungen, diesen Zwischenbericht gemeinsam zu nen. Im Jahr 2003 haben 16 000 BAföG-Empfänger ein erstellen. Ich habe selber Gelegenheit gehabt, bei derAuslandssemester eingelegt. Bildungsministerkonferenz in Brüssel, bei der ich Deutschland zu vertreten hatte, diese Position zu über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des reichen. Das war eine schöne Situation, weil die anderen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) europäischen Staaten wahrgenommen haben, dass Bund Das ist ein Anstieg von 70 Prozent innerhalb von drei und Länder in dieser wichtigen Frage auch einmal ge- Jahren. Das ist der richtige Weg. Wir wollen, dass junge meinsam agieren können. Leute sich selbstverständlich in Europa ausbilden lassen. Wichtig ist, dass wir an dieser Zusammenarbeit fest- Die OECD-Studie „Education at a glance“ zeigt, dass halten. Wir machen uns allerdings große Sorgen, ob Deutschland in Europa mittlerweile den zweiten Platz diese große Gemeinsamkeit, die wir im Bologna-Prozess als Zielland für Studierende belegt. Eine viertel Million bisher hatten, auch künftig gehalten werden kann. Sie Studierende aus dem Ausland waren im Wintersemester wissen, dass der Bund die Universitäten bei der Umset- 2003/2004 an deutschen Hochschulen eingeschrieben. zung des Bologna-Prozesses unterstützen wollte. Es gibt Deutschland wird international attraktiver. Dem soll leider zurzeit Klagen aus Hessen. Die Eilklage ist abge- auch die Exzellenzinitiative dienen. Wir wollen unsere wiesen. Die Begründung der neuen Klage haben wir Hochschulen noch attraktiver machen. Wir wollen die noch nicht gelesen. Das Ziel dieser Veranstaltung besteht Spitzenleistungen, die wir haben, in Europa noch sicht- offensichtlich darin, den Bologna-Prozess zu verlangsa- barer machen. Deswegen appelliere ich an dieser Stelle men. noch einmal ausdrücklich an die Länder, endlich ihre un- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das glauben sägliche Blockadehaltung bei diesem Projekt aufzuge- Sie doch selber nicht!) ben. Das kann nicht im Interesse Deutschlands sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Im Übrigen wundert mich, Herr Rachel, wie sich in Tauss [SPD]: Herr Koch!) (B) diesem Antrag Bundespolitiker als Landespolitiker ge- (D) rieren. Bei Studienleistungen und -abschlüssen sind wir gut vorangekommen. Die Akkreditierungssysteme funktio- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nieren. Wir sind darauf angewiesen, dass wir noch an BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tempo zulegen. Dazu ist – Herr Rachel, da appelliere ich Tauss [SPD]: Mutieren!) einfach an Ihre Vernunft als Forschungspolitiker; Bundespolitiker stellen hier einen Antrag im Interesse (Jörg Tauss [SPD]: Schwierig!) der Länder. Ich weiß nicht recht, wo Sie sich selber politisch einordnen. Wenn Sie Landespolitik machenich weiß, dass das zu später Stunde bei diesem Thema wollen, dann sollten Sie das im Landtag tun, aber nicht ein schwieriges Unterfangen ist – eine gemeinsame An- im Deutschen Bundestag. strengung von Bund und Ländern erforderlich, um den hohen Standard, den wir in Europa haben, halten und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ausbauen zu können. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist aller- Wenn wir über ein so wichtiges Thema wie den Bolo- dings richtig!) gna-Prozess reden, wünschte ich mir – ich bin da mit den Mitarbeitern im Hause und mit der Fraktion sehr einig –, Verlassen Sie den Weg der Kleinstaaterei! Ziehen Sie Ih- dass wir an dem guten Stand, den wir in den gemeinsa- ren Antrag zurück! men Bemühungen von Bund und Ländern im Bologna- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Prozess bisher hatten, im Interesse unserer Hochschulen DIE GRÜNEN) festhalten.

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Den habt ihr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: doch gerade gefährdet!) Der Kollege Rachel erhält jetzt das Wort. Ich kann überhaupt nicht verstehen, weshalb Sie neuer- dings diese Rolle rückwärts versuchen, indem Sie sagen, Thomas Rachel (CDU/CSU): möglicherweise sollen sogar die Länder in Europa ver- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! handeln. Ich kenne diese Verhandlungen. Ich wünsche Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Woche vor der in da viel Glück. Sie haben zwei Minuten Redezeit fürBergen stattfindenden Bologna-Nachfolgekonferenz 16 Länder. Da werden Sie ausführlich argumentierenstellen wir fest: Insgesamt ist der Bologna-Prozess eine können. Erfolgsgeschichte. Insbesondere die unter der christlich- 16486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Thomas Rachel (A) liberalen Regierung begonnene Einführung derBache- Anzahl hat sich in Hessen von 1999 bis 2003 versechs- (C) lor- und Masterstudiengänge ist auf gutem Wege.facht. Da werden Sie blass. Mittlerweile machen diese Studiengänge über ein Viertel des gesamten Studienangebots aus. Ich denke, über die Aber wie sieht die Realität im rot-grün regierten Land Ziele der Schaffung eines einheitlichen europäischenNordrhein-Westfalen aus? Die dortige Wissenschafts- Wissenschaftsraums und einer größeren Mobilität der ministerin Kraft hat im Februar 2002 einen Erlass he- Studierenden in Europa besteht zwischen allen Fraktio- rausgegeben, in dem sie eindeutig festlegt, dass künftig nen Einigkeit. nur noch ein Anteil von 20 Prozent des Lehrangebots an Universitäten und ein Anteil von 10 Prozent an den Verantwortlich für die Umsetzung der Bologna-Ziele Fachhochschulen für das konsekutive Masterstudium zu- sind die Bundesländer. Die meisten von ihnen haben die gelassen werden sollen. Bachelor- und Masterstudiengänge bereits in ihren Lan- deshochschulgesetzen verankert. Förderprogramme und (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn das bloß Modellversuche wurden bislang einvernehmlich zwi- funktioniert!) schen Bund und Ländern in der BLK begleitet. Folge dessen ist: Nur etwa 50 Prozent der Bachelorstu- Nun jedoch hält Bundesbildungsministerin Bulmahn denten werden zum Masterstudium zugelassen, an den den Ländern einen vergifteten Apfel hin: Fachhochschulen sogar nur ein Drittel. Das verstehen Sie unter Durchlässigkeit. Meine Damen und Herren, (Jörg Tauss [SPD]: 4 Millionen Euro sind ver- das ist – gelinde gesagt – eine Frechheit. Anders kann giftet?) man das nicht bezeichnen. Mit Bundesmitteln in Höhe von 4 Millionen Euro will (Beifall bei der CDU/CSU) sie über die Hochschulrektorenkonferenz einKonfe- renzzentrum für die Bologna-Reformeinrichten. Die von Frau Kraft in diesem Erlass der nordrhein- Auch wenn dieser Vorschlag auf den ersten Blick ver- westfälischen Landesregierung vorgesehene Quotierung, führerisch erscheint, ist er ein klarer Verstoß gegen die ja Kontingentierung der Masterstudiengänge war und Aufgabenverteilung des Grundgesetzes. ist im Bologna-Prozess nicht vorgesehen und schon gar nicht gefordert. (Jörg Tauss [SPD]: Ach!) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine Rücksprache mit den Bundesländern ist nicht er- folgt. Dabei sind gerade die Einrichtung und Ausgestal- Dieser Erlass, in dem die rot-grüne Landesregierung in tung von Studiengängen und Studienabschlüssen sowie Düsseldorf derartige Kontingente festlegt, widerspricht (B) die Finanzierung dieser Vorhaben eine Kernaufgabe der eindeutig der Hochschulautonomie. (D) Bundesländer. Diese Einschränkung der Wahlfreiheit erfolgt ohne (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: erkennbare Rechtsgrundlage. In § 19 des Hochschulrah- Das ist für Sie also die Freiheit der Hochschu- mengesetzes sind die neuen Studiengänge keinen Ein- len! Diese Bevormundung!) schränkungen unterworfen. Die Möglichkeit der Weiter- qualifizierung darf dem Bachelor nicht entzogen Wieder plant Bildungsministerin Bulmahn, die Länder- werden. Das müssen wir ernst nehmen. Durch Ihr Vorge- zuständigkeit im Hochschulbereich auf kaltem Wegehen sinkt die Attraktivität der neuen Bachelor- und Mas- auszuhebeln. terstudiengänge. Das verträgt sich überhaupt nicht mit den Leitlinien des Bologna-Prozesses, nach denen bis (Jörg Tauss [SPD]: Meine Herren!) zum Jahre 2010 alle Studiengänge in Bachelor- und Dabei sind Sie gerade erst mit dem Verbot von Studien- Masterstudiengänge überführt werden sollen. gebühren und bei der Einführung der Juniorprofessur vor Wer den Masterstudiengang kontingentiert, der zer- dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. schlägt den Aufbau der neuen, modularisierten Stu- (Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär: Alle dienstruktur. Das wollen wir nicht. Länder haben sie eingeführt!) (Zurufe von der CDU/CSU: Das ist wahr! – Nun droht Ihnen die nächste Niederlage. Das Land Das ist die Wahrheit! – Genauso ist es!) Hessen hat gegen Ihr Bundesprogramm Klage einge- reicht. Aber so sieht die Realitätaus. Das ist die Konsequenz der rot-grünen Hochschulpolitik, sowohl in Nordrhein- (Jörg Tauss [SPD]: Prozesshansel!) Westfalen als auch in anderen rot-grün regierten Bundes- ländern. Ich will klarstellen: Die Landesregierung von Hessen hat sich damit nicht gegen die Einführung von Bachelor- (Marion Seib [CDU/CSU]: Das sind die ei- und Masterabschlüssen gewandt. gentlichen Störer des Prozesses!) (Jörg Tauss [SPD]: Oh nein! – Marion Seib Meine Damen und Herren, wir müssen für die Bache- [CDU/CSU]: Richtig!) lor- und Masterstudiengänge gemeinsam noch einiges tun. Im Gegenteil: Das Bundesland Hessen hat die meisten akkreditierten Bachelor- und Masterstudiengänge. Ihre (Jörg Tauss [SPD]: Ja, klagen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16487

Thomas Rachel (A) Es gibt noch Probleme im Bereich der Studienangebote (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) – hier sind die Unternehmen gefordert – und hinsichtlich der Akzeptanz der Studierenden. Immerhin haben sich Qualität kann nur gesichert und gesteigert werden, wenn 83 Prozent der Unternehmen, der Konzerne in Deutsch- das Akkreditierungssystem für die Studiengänge noch land bei einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirt- verbessert wird. Ohne verbindliche qualitative Stan- schaft dafür ausgesprochen, Bachelorabsolventen einzu- dards können Studienleistungen nicht verglichen wer- stellen. Die Stimmungslage bei den kleinen den. und Die verbesserte Vergleichbarkeit von Studienleis- mittelständischen Unternehmen ist allerdings noch dif- tungen sollte zu erhöhter Durchlässigkeit führen, nicht fus. Dies kann uns nicht zufrieden stellen. Auch war bei nur im Hochschulbereich allein, sondern im gesamten einem Viertel der Studienanfänger im Jahre 2004 derBildungssystem. Wer von uns würde schon für einen Studienwunsch in Richtung Bachelor noch nicht vorhan- Bildungsabschnitt ins Ausland gehen, wenn er keine Zu- den. Dies zeigt: Wir brauchen eine strategische Allianz sage hätte, dass diese Phase auch in Deutschland aner- zwischen Hochschulen, Berufs- und Arbeitgeberverbän- kannt wird? Würde Herr Koch das tun? Wahrscheinlich den sowie öffentlichen und privaten Arbeitgebern, um nicht. Dennoch machen Sie sich, liebe Kolleginnen und ein gemeinsames Bündnis für Bachelor und Master zu Kollegen von der Union, mit Ihrem Antrag zum Erfül- schmieden. lungsgehilfen von Roland Koch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lassen Sie mich abschließend sagen: Die CDU/CSU- sowie bei Abgeordneten der SPD – Silke Bundestagsfraktion begrüßt den Bologna-Prozess. Wir Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fordern, dass er weiter vorangetrieben wird, dass aber NEN]: Der hat studiert, aber keine Bildung!) auch die Qualität der neuen Studienfächer und Studien- gänge abgesichert wird. Deshalb fordern wir von derIch sage Ihnen, wohin das führt: zu Kleinstaaterei statt Bundesregierung eine vertrauensvolle Zusammenarbeit Europa. Der Föderalismusstreit ist ein großes Hinder- und eine Abstimmung mit den Bundesländern. Hier kön- nis auf dem Weg zu einer attraktiven europäischen Wis- nen Bundesländer und Bundesregierung nur gemeinsam senschaftslandschaft. arbeiten. Was wir nicht brauchen, ist ein Dirigismus und eine Profilierungssucht der Bundesregierung auf Kosten Dass dadurch auch moderne Arbeitsplätze entstehen der Länder. Wir brauchen Gemeinsamkeit und dazu for- würden, interessiert Sie bei Ihren machttaktischen Spiel- dern wir Sie hiermit auf. chen wohl weniger. Bei Arbeitgebern und Studienabgän- gern führt diese Haltung zu Verunsicherung. Für Bache- (Beifall bei der CDU/CSU) lor- und Masterstudiengänge beispielsweise fehlen verbindliche Qualitätsrichtlinien. Die gegenseitige Aner- (B) kennung dieser Studiengänge wollen wir sicherstellen.(D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Außerdem zeigt ein Blick auf die Qualifikationsstufen, Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Lazar. dass die Zahl der Frauen auf dem Weg nach oben immer geringer wird. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Was? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haben die Höhenangst?) Wissen macht nicht an Landesgrenzen Halt. Interna- tional, flexibel, mobil, so soll unsere Studienlandschaft Deshalb müssen wir unbedingt dafür sorgen, dass die aussehen. Qualität, Modernisierung, Transparenz, das Stufe zwischen Bachelor und Master nicht zu einer wei- macht unsere Hochschulen wettbewerbsfähig in derteren Hürde wird. Das Gleiche gilt für finanziell schwä- Welt. Zusammen mit unseren europäischen Nachbarn chere Studierende. Das bringt mich zur sozialen Dimen- wollen wir mit dem Bologna-Prozess bis 2010 einen ge- sion des Bologna-Prozesses: Weshalb nehmen viele meinsamen europäischen Hochschulraum schaffen. Studierende heute kein Auslandsstudium auf? Weil ih- nen die finanzielle und soziale Absicherung fehlt. Im Wettbewerb um die besten Köpfe bedeutet nicht,Bologna-Prozess sollen solche Barrieren verschwinden. Marktinteressen über alles andere zu stellen. Wir wollen die Mobilität von der europäischen Ebene aus für alle Studierenden sichern, ganz egal, aus wel- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wer tut denn chem Land sie kommen. das?) Die Bundesregierung hat mit der BAföG-Reform in Bildung ist ein öffentliches Gut. Vorbei sind glücklicher- der letzten Legislaturperiode die Weichen bereits richtig weise die Zeiten der Klassentrennung, als sich arme Fa- gestellt. Deutsche Studierende können ihr BAföG viel milien für ambitionierte Kinder die Bildung vom Mund leichter als früher mit ins Ausland nehmen. absparen mussten. Wissen darf nicht wieder zur Ware werden, die keinen anderen Wert als den Geldwert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kennt. Nicht dass Sie mich missverstehen: Wir begrüßen und bei der SPD) neue, internationale Angebote und Ansätze im deutschen Jede Form von sozialerAuslese im Bildungssystem Bildungssystem. Wir treten grundsätzlich für die Öff- muss endlich beseitigt werden. Alle Menschen, nicht nur nung des Bildungssektors für private Anbieter ein: So die Besserverdienenden, sollen die Chance haben, ihre kann viel Innovatives ins Rollen gebracht werden. Dabei Talente zu verwirklichen. steht aber für Bündnis 90/Die Grünen Qualitätssiche- rung im Vordergrund. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 16488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Monika Lazar (A) Wir müssen so viele Akademikerinnen und Akademiker (Erika Lotz [SPD]: FDP ist mit Frau Pieper (C) in Deutschland ausbilden, wie unser Land braucht. Das und Frau Homburger vertreten!) wird aber erst möglich, wenn die Hürden für den Hoch- – An Ihrem lauten Schreien höre ich schon, dass es Ih- schulzugang geringer werden. nen gar nicht mehr um die Sache geht. Mit unserem Koalitionsantrag werden die notwendi- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die da drüben gen Schritte klar benannt. Wir wollen Vergleichbarkeit sind doch alle besoffen!) und Transparenz im europäischen Hochschulraum schaffen, ohne die Vielfalt an akademischen Bildungs- Meine Damen und Herren, der Bologna-Prozess ist möglichkeiten einzuschränken. Dazu gehört auch diewichtig. Ziel war dieSchaffung eines europäischen fachkundige Beratung, die das Bologna-Kompetenzzen- Hochschulraums – den wir natürlich unterstützen –, in trum anbieten soll. Mit großem Interesse und regerdem die verbindliche Einführung der gestuften Bache- Nachfrage haben Hochschulen und Universitäten bei der lor- und Masterstudiengänge und ein europaweit gültiges Umstellung auf die gestufte Studienstruktur auf diesePunktesystem für erbrachte Leistungen, für die freie Hilfe reagiert. Wir bekräftigen unser Interesse an bun- Wahl des Studienortes und die Anerkennung der Ab- desweiter Koordination auch mit finanzieller Unterstüt- schlüsse für alle europäischen Studierenden gewährleis- zung aus dem Bundeshaushalt. tet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bologna-Pro- Deutschland hat aufgeholt. zess ist eine riesige Chance für alle deutschen Hochschu- (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) len und Studierenden. Wenn wir uns den globalen He- rausforderungen der Wissensgesellschaft stellen, können Fast 3 000 Bachelor- und Masterstudiengänge werden wir im europäischen Verbund wieder Weltspitze werden. nun angeboten. Dies entspricht gegenüber dem Vorjahr einer Steigerung von circa 60 Prozent. Das ist eine posi- (Beifall bei der SPD) tive Entwicklung. Das darf man an dieser Stelle doch Das Modell der Kleinstaaterei hat ausgedient. Die Zu- auch mal deutlich machen. kunft der Bildung liegt in Europa. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der SPD und der CDU/CSU) und bei der SPD – Werner Kuhn [Zingst] Trotzdem habe ich heute bei dieser Debatte große [CDU/CSU]: „Die Zukunft der Bildung liegt Bauchschmerzen. Ich finde es nämlich beschämend, in Europa“ – da gebe ich Ihnen völlig Recht!) dass wir angesichts der Herausforderung, vor der wir stehen, einen europäischen Bildungsraum zu schaffen, (B) (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: immer noch die alten ideologischen Grabenkämpfe des Danke schön. – Das Wort hat jetzt die Abgeordnete vergangenen Jahrhunderts führen. Cornelia Pieper. Was meine ich damit? Cornelia Pieper (FDP): (Jörg Tauss [SPD]: Der Koch! Sagen Sie was Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dazu!) Im Hinblick auf diedritte Bologna-Nachfolgekonfe- – Herr Tauss, bitte schreien Sie nicht so laut. renz am 19. und 20. Mai 2005 in Bergen ist es sinnvoll, dass sich der Bundestag mit dem Stand und dem weite- (Beifall bei der FDP – Thomas Rachel [CDU/ ren Fortgang des Bologna-Prozesses beschäftigt. CSU]: Am besten gar nicht!) Ich will hier einmal festhalten: Ich finde, die Tatsa- Ich denke, dass auch Sie einen ideologischen Graben- chen, dass dies heute der letzte Tagesordnungspunkt ist kampf führen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Mein Gott, Frau (Jörg Tauss [SPD]: Ich? Nichts liegt mir fer- Pieper!) ner!) und dass ich, Herr Küster, für meine Fraktion nur drei In dem Antrag der Regierungskoalition führen Sie unnö- Minuten zu diesem Thema reden darf, sind keine guten tigerweise wieder die Diskussion um Studiengebüh- Zeichen für Europa und für das Thema Bildung und For- ren, sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge. Mit schung. der für uns an sich völlig selbstverständlichen Forde- rung, dass auch im Hochschulbereich die emanzipative (Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Funktion von Bildung gewahrt sein muss, wird unter- Darf ich das noch einmal hören? – Jörg Tauss stellt, dass dies bei sozialverträglichen Studiengebühren- [SPD]: Wo ist denn die FDP? – Birgit modellen nicht gegeben sei. Wir sind dafür, dass es so- Homburger [FDP], zu Abg. Jörg Tauss [SPD] zialverträgliche Studiengebührenmodelle gibt. Wir gewandt: Hier!) werden dafür sorgen, dass Studierende aus allen sozialen Ich denke, wir sollten unseinig darin sein, dass das Schichten ein Studium antreten können. Thema Bildung und Forschung die Zukunftsfähigkeit (Beifall bei der FDP) unseres Landes unter Beweis stellen wird. Deswegen müssten wir das eigentlich zum Kernthema dieser Bun- Meine Damen und Herren von der SPD und den Grü- destagssitzung machen. nen, ich finde es falsch – das will ich betonen –, dass in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16489

Cornelia Pieper (A) Nordrhein-Westfalen bezüglich der Quotierungsversu- send ist, uns aber vorwirft, dass wir mit zu wenig Abge- (C) che beim Übergang vom Bachelor zum Master unseren ordneten vertreten seien – die CDU sagt im Übrigen, sie Vorstellungen von der Autonomie der Hochschule zuwi- will es konstruktiv begleiten –, Vorschläge gehört hätten: der gehandelt worden ist. Da gebe ich dem KollegenWas will man in Bezug auf Bergen erstens, zweitens, Rachel durchaus Recht. drittens, viertens, fünftens? Was erwartet dieses Parla- ment von der Bundesregierung, von der Bundesministe- Gerichtet zur Union muss ich sagen: Ich finde, dass rin als einer der Beteiligten? Was soll dort im Sinne des wir die ideologischen Grabenkämpfe, das ständige Ge- Parlaments vertreten werden und was nicht? rangel um Bund- und Länderkompetenzen, beenden soll- ten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [FDP]: Das (Beifall bei der SPD) war ein Appell an das ganze Haus!) Darüber lachen sich die anderen Mitgliedstaaten der Deshalb machen wir es diesmal besser. Wir sagen vor Europäischen Union doch wirklich kaputt. So kommen der Konferenz in Bergen, was dieses Parlament will. Das wir auch nicht voran. Herr Gaehtgens, der Präsident der ist übrigens schon die Umsetzung dessen, was wir heute Hochschulrektorenkonferenz, hat zu Herrn Koch ganz mit großem Getöse im Rahmen der Debatte über die EU- klar gesagt: Verfassung beschlossen haben: Wenn man Subsidiarität Der Föderalismuskonflikt wird hier an der absolut und demokratische Beteiligung will, dann müssen wir falschen Stelle ausgetragen. Koch torpediert einuns die Sache auch zu Eigen machen, müssen wir unse- sinnvolles Programm aus Gründen, die mit denrer Regierung etwas mitgeben. Ansonsten nehmen wir Hochschulen nichts zu tun haben. uns als Parlament nicht ernst. (Beifall bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: (Beifall bei der SPD) Jetzt haben Sie etwas Falsches gesagt! Wenn Nun drei Feststellungen zur Sache. Der erste Punkt: Sie von den Sozialdemokraten Beifall bekom- Es ist gut, wenn wir zusammenErfolge verzeichnen men, müssen Sie etwas falsch gemacht haben!) können. Wir stehen gar nicht an zu sagen, dass das im- Ich gebe Herrn Dr. Gaehtgens durchaus Recht. mer gemeinsame Erfolge sind. An erster Stelle sind es die Erfolge der Hochschulen – Meine Forderung an die SPD, die Grünen, aber auch an die Union lautet: Lassen wir endlich die ideologi- (Marion Seib [CDU/CSU]: Richtig!) schen Grabenkämpfe die setzen das nämlich um –; an zweiter Stelle sind es die (Jörg Tauss [SPD]: Nur dort hin!) Erfolge der Länder; an dritter Stelle Erfolge des Bundes. (B) (D) Lassen Sie uns das in dieser Gemeinsamkeit festhalten, bei der Bildung, bei der Forschung beiseite. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wir wollen den Wettbewerb gewinnen. Wir wollen als denn dadurch gewinnt man mehr Studiengänge, mehr deutsche Nation in den Bereichen Bildung und For-Studenten in diesen Studiengängen, mehr ausländische schung wieder an die Spitze. Nur so kommt EuropaStudierende bei uns und mehr deutsche im Ausland. voran. Auch die Akkreditierungsagentur, die jetzt auf eine Vielen Dank. Stiftungsbasis umgestellt worden ist, ist ein großer Er- folg. Das Bündnis für Akkreditierung bedeutet die (Beifall bei der FDP) Fortführung des Bologna-Prozesses. Es gibt eine Reihe von Erfolgen, die wir fantastisch finden. Man muss aber Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: immer die Reihenfolge beachten: Hochschulen, Länder, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst DieterBund. Sie setzen sich gemeinsam ein. Rossmann. Die zweite Bemerkung: Wir setzen klare Ziele. Ich (Beifall bei der SPD) nenne für unsere Seite – SPD und Grüne – fünf Punkte. Zum Ersten: In Bergen muss darauf gedrungen werden, dass es Anstrengungen für noch mehr wechselseitige (SPD): Dr. Ernst Dieter Rossmann Anerkennungen von Studienleistungen gibt. In Deutsch- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und land muss die Lissabon-Konvention endlich – nachdem Kollegen! Die letzte Bologna-Nachfolgekonferenz fand die Justizminister grünes Licht gegeben haben – verab- am 18. und 19. September 2003 in Berlin statt. Dieses schiedet werden. Wir machen den Vorschlag, dass man, Parlament hat es damals fertig gebracht, ein paar Tage wenn man schon Akkreditierungssysteme hat, vor allem nach der Konferenz eine Debatte zum Thema zu führen. einen Austausch der daran Beteiligten braucht. Sie müs- Das war keine Sternstunde des Parlamentarismus. Wir sen sich zusammenfinden können, damit sie ein Hand- haben uns damals vorgenommen, dass das Parlament vor lungsniveau, ein Qualitätsniveau verabreden können. der nächsten Bologna-Nachfolgekonferenz, die in Ber- gen stattfinden wird, zusammenkommen soll, um zu sa- Zum Zweiten wünschen wir uns: Die soziale Dimen- gen, was es will. Das istParlamentarismus im besten sion des Bologna-Prozesses wird immer wichtiger, je Sinne. Es wäre gut gewesen, wenn wir auch von dermehr Teilnehmerstaaten es gibt und je mehr Studierende FDP, die bemerkenswerterweise mit einer Person anwe- teilnehmen; deshalb muss die soziale Dimension in 16490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Bergen intensiver behandelt werden, als es in BerlinNiemand der 40 Teilnehmerstaaten würde nachvollzie- (C) noch der Fall war. Wir fordern, erst einmal eine Daten- hen können, was wir uns da parlamentarisch leisten. Der basis zu schaffen, damit auf dieser Grundlage Förderpro- Antrag von SPD und Grünen würde dagegen als ein Do- gramme wie BAföG, ERASMUS, ERASMUS Mundus kument des Parlaments aufgenommen werden, das im und die anderen Förderprogramme der EU endlich an die Vorwege der Regierung klar macht, was auf der Konfe- Menschen herangeführt werden können. Das wird imrenz in Bergen vertreten werden soll. Das ist guter Parla- Übrigen auch mehr Mittel erfordern. mentarismus. Je breiter die Zustimmung zu diesem An- trag ist, desto mehr Nachdruck gibt es für das, was auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Konferenz in Bergen für die Studierenden in Drittens. Wenn es in diesem gestuften System zu ver- Deutschland und in 40 anderen Ländern erreicht werden stärkter Mobilität von Studierenden kommt, was wirmuss. wollen, müssen auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Peinlich, pein- mithalten können. Wir wünschen uns für die Konferenz lich! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: in Bergen eine Initiative, bei der auch für daswissen- Peinlich sind Sie!) schaftliche Personal im europäischen Hochschul- und Forschungsraum ein erkennbarer klarer Handlungsrah- In diesem Sinne hoffen wir auf Sachlichkeit, Konstrukti- men für mehr Mobilität und Austausch gefunden wird. vität und ein gutes Arbeiten für die Konferenz von Ber- Viertens. Die duale Struktur setzt sich bisher aus Ba- gen. chelor- und Masterstudiengang zusammen. Aber sie er- Danke schön. streckt sich auch auf Promotionen; das haben wir schon in der damaligen Debatte im September 2003 gesagt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch für den Promotionsraum muss es eine Strukturie- DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/ rung geben, die in Deutschland mit rund 400 Einrichtun- CSU]: Zu Nordrhein-Westfalen haben Sie gar gen dieser Art in Form von Graduiertenkollegs bis hin zu nichts gesagt!) Research Schools gefunden ist. Aber das muss sich auch im Bologna-Raum abspielen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marion Seib. Fünftens. Wir sehen einen neuen Gedanken darin, dass auch die Anerkennung von beruflicher Qualifi- kation, von Vorleistungen, Zertifikaten und Diplomen, Marion Seib (CDU/CSU): die erreicht worden sind, im Hochschulsystem stärker Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten berücksichtigt werden muss. Damen und Herren! An deutschen Hochschulen vergeht (B) kaum eine Woche, in der nicht eine Tagung zum Thema (D) Hierzu eine kleine Anmerkung: Der KollegeBologna-Prozess stattfindet. Das macht deutlich, welche Schummer und ich waren neulich beim Technikertag in Stellung der Bologna-Prozess in Deutschland mittler- Deutschland. Die Techniker haben Sorge, wo in der ge- weile einnimmt. stuften Bachelor- und Masterstruktur ihre Qualifikation bleibt. Das ist eine hohe Qualifikation. Wenn wir das Wie kaum ein anderes Schlagwort hat der Bologna- nicht national thematisieren und international möglich Prozess die Debatte um die Reform der deutschen Hoch- machen, versündigen wir uns an einem ganz wichtigen schulen mitbestimmt. Die Nachfolgekonferenz in Ber- Qualifikationsweg. gen in gut einer Woche bietet nun die Gelegenheit, ein Resümee zu ziehen und die Aufgaben für die nächsten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zwei Jahre bis zur Nachfolgekonferenz in London abzu- DIE GRÜNEN) stecken. Geplant ist, dass weitere fünf Länder am Bolo- Damit komme ich zum dritten und letzten Teil. Dies gna-Prozess teilnehmen sollen. Mit der Ukraine, Arme- können und sollten wir hoffentlich gemeinsam konstruk- nien, Aserbaidschan, Georgien und Moldawien werden tiv weiterdiskutieren. Alles, was man zu Herrn Koch sa- sich dann 45 Staaten am Bologna-Prozess beteiligen. gen kann, ist schon gesagt worden. Ich bitte um eines: Hier kann ich nur meine Skepsis wiederholen, die ich Wenn sich dieses Parlament ernst nimmt, dann kann es bereits vor zwei Jahren vorgebracht habe. Die Heteroge- mit dem Antrag der CDU/CSU in fairer Abstimmung so nität der Bologna-Staatennimmt erheblich zu, ver- umgehen, dass wir ihn wegstimmen. Dann findet er Platz stärkt damit die Anpassungsschwierigkeiten und stellt in der Chronik polemisch-parlamentarischer Anträge. den langfristigen Erfolg infrage. Wir müssen auch in Zu- Wir bitten umgekehrt darum: Stimmen Sie dem Antrag kunft aufpassen, dass der Bologna-Prozess und damit die von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu, in dem Idee eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes wirklich konkrete Forderungen für die Konferenz von nicht durch ungeeignete Teilnehmerstaaten verwässert Bergen genannt sind. werden. Denn der Unterschied zwischen unseren Anträgen ist: Wenn wir heute über die Umsetzung des Bologna- Ihren Antrag könnte man auf der Konferenz in Bergen Prozesses in Deutschland debattieren, dann geht es vor nicht auf den Tisch legen, weil ihn niemand verstehen allem um zwei Dinge: die erfolgreiche Einführung des und sich jeder fragen würde: Was spielen sich in gestuften Systems und den Aufbau der Qualitätssiche- Deutschland für Krähwinkeleien, für Rangeleien ab? rung in Form desAkkreditierungswesens. Über (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2 900 Studiengänge werden im Sommersemester 2005 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16491

Marion Seib (A) an den deutschen Hochschulen angeboten. Dies ent-Ich kann die Bundesministerin nur auffordern: Kehren(C) spricht einem Viertel des gesamten Studienangebotes. Sie wieder auf den Weg einer geordneten Kooperation Allerdings gibt es noch ein ganz erhebliches Akzeptanz- zurück. problem – auch Sie haben davon gesprochen – bei der gestuften Studienstruktur. Die Achillesferse für eine reibungslose Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses ist und bleibt Die letzten verfügbaren Zahlen aus dem Winterse- mester 2003/2004 weisen nur 5,3 Prozent der Studieren- (Jörg Tauss [SPD]: Herr Koch!) den in den neuen Studiengängen aus. Dies hängt sicher- die Qualitätssicherung der neuen Studienabschlüsse. lich auch damit zusammen, dass die Diskussion über den Erst dann, wenn Bachelor und Master mindestens den Bologna-Prozess lange Zeit nur ein Erfahrungsaustausch gleichen, wenn nicht sogareinen höheren Standard als unter Experten war, der am Parlament vorbeilief und von die bisherigen Abschlüsse aufweisen, verschwindet die der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde. Skepsis. Dieses Versäumnis ist nur schwer wieder aufzuholen. Die Unsicherheit ist an vielen Stellen groß, sowohl bei (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) den Studierenden und Professoren als auch bei den Ar- Diesem Anliegen muss die Akkreditierung in vollem beitgebern. Umfang Rechnung tragen. Wenn wir heute über die Be- Mit der Bundestagsanhörung zum Bologna-Prozess schleunigung des Bologna-Prozesses debattieren, dann im vergangenen Jahr haben wir einen wichtigen Beitrag müssen wir auch ganz klar herausstreichen: Das bishe- geleistet, auf diese Unsicherheit einzugehen und die Öf- rige Akkreditierungsverfahren erwies sich in den letzten fentlichkeit auf die anstehenden Umwälzungen hinzu- Jahren als Flaschenhals. Sechs Agenturen stehen weisen. Der Aufklärungsbedarf bleibt allerdings groß. 12 000 Studiengängen gegenüber. In den vergangenen Jahren gab es daher zahlreiche ein- vernehmliche Modellversuche von Bund und Län- (Jörg Tauss [SPD]: Deswegen fördern wir!) dern, die sich mit der Umsetzung des Bologna-Prozes- Momentan sind erst 800 Studiengänge akkreditiert. ses beschäftigten. Darüber hinaus unterstützen1 300 befinden sich im laufenden Verfahren. In wenigen zahlreiche Bundesländer die Umsetzung der Bologna- Jahren steht die Reakkreditierung der Studiengänge an. Ziele durch eigene Programme und Fördermaßnahmen. Selbst mit der verstärkten Clusterakkreditierung von Bayern beispielsweise hat im vergangenen Jahr eineStudiengängen kann dieser Andrang nicht dauerhaft be- breit angelegte Informationsoffensive zu Bachelor und wältigt werden. Ebenso stellt sich die Frage, woher ei- Master gestartet. gentlich die vielen Sachverständigen kommen sollen, die (B) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr die Begutachtung vor Ort durchführen können und müs- (D) vorbildlich!) sen. Angesichts des bisherigen Modus Vivendi ist das Einen richtigen Lösungsansatz bietet hier die institu- Handeln des BMBF mehr als befremdend. Ohne Ab- tionelle Akkreditierung ganzer Hochschulen. Der sprache und Einverständnis der Länder unterstützt das Wissenschaftsrat praktiziert dieses Verfahren bereits seit Ministerium mit Bundesmitteln die Bologna-Service-einigen Jahren bei privaten Fachhochschulen mit Erfolg. stelle bei der Hochschulrektorenkonferenz. Die in dieser Woche gelaufene Anhörung zu den Geis- tes-, Sozial- und Kulturwissenschaften hat ganz ein- (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) drucksvoll bestätigt, dass die institutionelle Akkreditie- Bei aller Begeisterung für den Bologna-Prozess müssen rung in diesen Fächern von erheblichem Vorteil wäre. wir die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes be- Ich appelliere deshalb an alle Verantwortlichen, diesen achten. Weg zu forcieren und damit den Geisteswissenschaften Bürokratieabbau und damit Zeit zu gewähren. Das sind (Jörg Tauss [SPD]: Kompetenzen vor Inhalte! Dinge, die dort vorrangig benötigt werden. Das könnt ihr! Nicht zu fassen!) Mit der Überführung des Akkreditierungsrates in Eine Neuordnung der Kompetenzen durch die Hintertür eine Stiftung des öffentlichen Rechtszum 1. Januar ist mit uns nicht zu machen. 2005 haben die Länder einen wichtigen Eckstein zur (Beifall bei der CDU/CSU) Etablierung eines anerkannten Akkreditierungssystems gesetzt. Zusammen mit den Akkreditierungsagenturen Deswegen auch die Klage der Länder Hessen und Bay- kann der umstrukturierte Akkreditierungsrat dazu beitra- ern vor dem Bundesverfassungsgericht. Wir sind nicht gen, die neue Studienstruktur in Deutschland zu veran- bereit, nach dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Rich- kern, die Akkreditierungsverfahren effizienter zu gestal- ter“ stillzuhalten und den Geldfluss contra legem an die ten und in der Öffentlichkeit die Akzeptanz der neuen HRK zu dulden. Denn die Methode der rot-grünen Bun- Abschlüsse zu verstärken. Die ehrgeizigen Ziele des Bo- desregierung hat System. Seit 1998 versuchen Sie unent- logna-Prozesses und der enge Zeitrahmen zur Umset- wegt, mit einer Politik des goldenen Zügels Abhängig- zung erfordern auch in Zukunft eine vertiefte Zusam- keiten zu schaffen und die Länder zu hintergehen. Somenarbeit zwischen Bund und Ländern. erreichen Sie keine beschleunigte Umsetzung des Bolo- gna-Prozesses in Deutschland. Besten Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) 16492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: (C) Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Wir kommen jetzt zu einer ganzen Reihe von Abstim- gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes mungen. Zunächst kommen wir zur Abstimmung über zur Änderung des Absatzfondsgesetzes und den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis- des Holzabsatzfondsgesetzes ses 90/Die Grünen, Drucksache 15/5465, mit dem Titel – Drucksache 15/4641 – „Kooperation von Bund und Ländern in der Hochschul- politik verstärken – Umsetzung des Bologna-Prozesses (Erste Beratung 151. Sitzung) in Deutschland beschleunigen“. Wer stimmt für diesen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der An- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- trag ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnis- wirtschaft (10. Ausschuss) ses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. – Drucksache 15/5468 – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Berichterstattung: Drucksache 15/5286 an die in der Tagesordnung aufge- Abgeordnete Gustav Herzog führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Bernhard Schulte-Drüggelte verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Cornelia Behm so beschlossen. Dr. Christel Happach-Kasan Zusatzpunkt 7: Abstimmung über den Antrag der Hier haben die Abgeordneten Hiller-Ohm, Herzog, Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5449 mitCaesar, Schulte-Drüggelte, Behm und Happach-Kasan dem Titel „Reibungslose Umsetzung der Ziele des Bolo- gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.2) – Sie gna-Prozesses in Deutschland gewährleisten – Länder- sind einverstanden. kompetenzen beachten“. Wer stimmt für diesen An- Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än- Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- derung des Absatzfondsgesetzes und des Holzabsatz- gen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt. Die FDP hat fondsgesetzes, Drucksache 15/4641. Der Ausschuss für sich enthalten. Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft emp- fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: (B) Drucksache 15/5468, den Gesetzentwurf in der Aus-(D) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Hasselfeldt, Peter H. Carstensen (Nordstrand), dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustim- Marlene Mortler, weiterer Abgeordneter und der men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Fraktion der CDU/CSU Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/ Ländliche Räume durch eine moderne und in- Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP novative Landwirtschaft stärken und damit angenommen. Arbeitsplätze sichern Dritte Beratung – Drucksache 15/5249 – und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Überweisungsvorschlag: Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer stimmt Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Landwirtschaft (f) Fall. Der Gesetzentwurf ist damit mit dem eben festge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit stellten Stimmenverhältnis angenommen: SPD und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Bündnis 90/Die Grünen dafür, CDU/CSU und FDP da- gegen. Die Abgeordneten Drobinski-Weiß, Wolff, Mortler, Schulte-Drüggelte, Ostendorff und Happach-Kasan ha- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- ben gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) – sache 15/5468 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie- ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir so und kön- fehlung? – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – nen gleich zur Überweisung kommen. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gan- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufzen Hauses einstimmig angenommen worden. Drucksache 15/5249 an die in der Tagesordnung aufge- Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter so beschlossen. Paziorek, Dr. Maria Flachsbarth, Dr. Klaus W.

1) Anlage 8 2) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16493

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter und Hier haben die Abgeordneten Weis, Blank, Sowa,(C) der Fraktion der CDU/CSU Otto und der Staatssekretär Großmann gebeten, die Re- den zu Protokoll zu nehmen.2) – Mit Ihrer Zustimmung Langfristiges Gesamtkonzept zur Reduzie- verfahren wir so. rung der Schadstoffbelastung in der Luft not- wendig Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der – Drucksache 15/5330 – Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Er- richtung einer „Bundesstiftung Baukultur“. Der Aus- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) schuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt Finanzausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5485, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Landwirtschaft Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen chen. – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltun- Ausschuss für Bildung, Forschung und gen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist da- Technikfolgenabschätzung mit in zweiter Beratung einstimmig mit den Stimmen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des gesamten Hauses angenommen worden. Haushaltsausschuss Hier bitten die Abgeordneten Klug, Flachsbarth, Dritte Beratung Hermann, Homburger und der Staatsminister Dr. Werner und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Schnappauf aus Bayern, die Reden zu Protokoll geben Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. 1) zu dürfen. – Auch das scheint das ganze Haus zu sein. – Gibt es (Zurufe: Oh!) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig in der dritten Wir verfahren so. Trotz geäußerten Bedauerns erkenne Beratung angenommen worden. ich Zustimmung. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5495. Wer Drucksache 15/5330 an die in der Tagesordnung aufge- stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein- dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Entschließungs- verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- antrag ist abgelehnt mit den Stimmen von SPD, vom sungen so beschlossen. Bündnis 90/Die Grünen und von der CDU/CSU gegen (B) Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: eine Stimme aus der FDP und bei Enthaltung der beiden (D) Abgeordneten Pau und Lötzsch. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: zur Errichtung einer „Bundesstiftung Baukul- tur“ Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Stefan – Drucksache 15/4998 (neu) – Müller (Erlangen), weiterer Abgeordneter und (Erste Beratung 163. Sitzung) der Fraktion der CDU/CSU a)Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Einführung von Real Estate Investment Trusts schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- in Deutschland sen (14. Ausschuss) – Drucksache 15/4929 – – Drucksache 15/5485 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Berichterstattung: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Abgeordnete Renate Blank Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss b)Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Es ist keine Aussprache vorgesehen. Die Abgeord- neten Hauer, Müller (Erlangen), Krüger-Jacob und – Drucksache 15/5490 – Fricke bitten, ihre Reden zu Protokoll3) zu nehmen. – Sie Berichterstattung: sind einverstanden. Dann verfahren wir so. Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin) Walter Schöler Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Franziska Eichstädt-Bohlig Drucksache 15/4929 an die in der Tagesordnung aufge- Otto Fricke führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derso beschlossen. FDP vor. 2) Anlage 11 1) Anlage 10 3) Anlage 12 16494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: rungsgesetz steht die Rente aus staatsnahen Versor- (C) gungssystemen der DDR und für damalige Abteilungs- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- leiter im Staatsapparat zur Diskussion. Das muss nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEgeändert werden. Aber das verfügte Unrecht geht viel GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesErsten weiter. So haben zum Beispiel Ingenieure und weitere Gesetzes zur Änderung des Anspruchs- und Beschäftigte der Interflug – der DDR-Luftfahrtgesell- Anwartschaftsüberführungsgesetzes schaft – Beiträge für eine Zusatzrente gezahlt, die ihnen – Drucksache 15/5314 – nach der Vereinigung schlicht aberkannt wurden. (Erste Beratung 172. Sitzung) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wo sind denn die Beiträge hin?) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Gesundheit und Soziale SicherungIch könnte weitere Beispiele zum Rentenunrecht nen- (13. Ausschuss) nen. Sie erinnern sich vielleicht, dass sich Balletttänze- rinnen und -tänzer in der DDR versichern konnten, weil – Drucksache 15/5488 – ihre Berufsperspektive überschaubar und altersbegrenzt Berichterstattung: war. Es ging dabei nie um unangemessene Reichtümer. Abgeordnete Maria Michalk Es ging vielmehr um bezahlte soziale Sicherheiten im Alter. Die Abgeordneten Lotz, Michalk und Bender haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll1) zu nehmen. Wir ver- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch fahren auch so. [fraktionslos]) Die Abgeordnete Pau wird aber sprechen und erhält Auch diese wurden nach der Wiedervereinigung getilgt. damit jetzt das Wort. Alle, die das Rentenunrecht nicht hinnehmen wollten, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch mussten sich durch die Instanzen klagen. Die PDS hat [fraktionslos]) sie dazu ständig ermutigt. Zumeist haben sie vor dem Bundesverfassungsgericht Recht bekommen. Das Petra Pau (fraktionslos): spricht gegen die Politik der Bundestagsmehrheit; denn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! fast alle Fraktionen in diesem Haus haben das Renten- Am 23. Juli 2004 hat dasBundesverfassungsgericht strafrecht befürwortet. Die PDS war und ist dagegen, geurteilt: Das geltende Recht für zahlreiche Bürgerinnen weil wir es ablehnen, dass ein Versicherungssystem poli- und Bürger der DDR in der Bundesrepublik ist verfas- tisch missbraucht wird. (B) sungswidrig. Das Ganze hat eine Vorgeschichte, an der (Ulrich Kelber [SPD]: Sie verdrehen die Tatsa- (D) alle bisherigen Bundesregierungen beteiligt waren. Der chen!) gewollte Kardinalfehler war: Das Rentensystemsollte als Strafsystem missbraucht werden. Die PDS hat immer Ich bin ebenfalls dagegen, dass DDR-Bürger länger dis- gemahnt, dass das sachfremd und politisch falsch ist. kriminiert werden, nur weil sie Bürger der DDR waren. So wird zum Beispiel in Bayern auf Fragebögen noch (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch immer als verfassungsfeindlich verdächtigt, wer zu [fraktionslos]) DDR-Zeiten Bienen gezüchtet hat oder mit Mitmen- Es ist auch rechtlich falsch, wie das Verfassungsgericht schen solidarisch war. festgestellt hat. Deshalb abschließend: Ich verteidige hier heute Nun soll es erneut geändert werden. Aber auch mit Abend nicht die DDR, sondern ich rede gegen den Blöd- der heute zur Abstimmung stehenden Vorlage bleibt der sinn, der nun in der Bundesrepublik verzapft wird. Kardinalfehler erhalten. Auch das neue Gesetz bricht (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch nicht mit dem eingeführtenRentenstrafrecht. Es ver- [fraktionslos]) schärft es sogar. Mit dem von Ihnen eingefügten Stichtag sollen auch Mitglieder der so genannten Regierung der Das Rentenstrafrecht gehört dazu; es ist Unrecht. Des- nationalen Verantwortung, der Modrow-Regierung, wie halb bin ich dagegen. auch die DDR-Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil oder (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- posthum der unbequeme bündnisgrüne Demokrat tionslos] – Zurufe von der SPD) Wolfgang Ullmann und übrigens auch der Kollege Eppelmann mit Rentenentzug bestraft werden. Wer so – Noch so viel zu Ihren Zurufen: Reden Sie einmal mit etwas vorlegt, braucht sichnicht zu wundern, wenn er den Opferverbänden! Sie werden sich vielleicht erin- als inkompetent und unsozial kritisiert wird. nern, dass wir den Anträgen der konservativen Oppo- sition auf eine angemessene und erleichterte Entschädi- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch gung von Opfern der SEDstets zugestimmt und hier [fraktionslos]) selber entsprechende Anträge eingebracht haben. Aber Aber es geht heute nicht nur um Inkompetenz. Es geht man kann nicht eines gegen das andere aufrechnen. Das auch um Vorsatz und um Unrecht. Im aktuellen Ände- sind zwei unterschiedliche Dinge. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch 1) Anlage 13 [fraktionslos]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16495

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele(C) Ich schließe damit die Aussprache. Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler- Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Frak- Die Abgeordneten Hacker und Lohmann haben nach tion der SPD sowie der Abgeordneten § 31 unserer Geschäftsordnung eine Erklärung zur Ab- Cornelia Behm, Volker Beck (Köln), Ulrike stimmung zu Protokoll gegeben1). Höfken, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Wälder naturnah bewirtschaften – Wald- eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Ände- schäden vermindern – Gemeinwohlfunk- rung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsge- tionen sichern und Holzabsatz steigern setzes. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Siche- rung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf –zudem Entschließungsantrag der Abgeord- Drucksache 15/5488, den Gesetzentwurf in der Aus- neten Cajus Julius Caesar, Peter H. schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Carstensen (Nordstrand), Gerda Hasselfeldt, dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- Bundesregierung ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Waldzustandsbericht 2004 Stimmen der Abgeordneten Lötzsch und Pau angenom- – Ergebnisse des forstlichen Umweltmoni- men. torings – Dritte Beratung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordne- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ter und der Fraktion der FDP Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmen- Bessere Rahmenbedingungen für die verhältnis wie zuvor angenommen. Charta für Holz Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Conny Mayer (Freiburg), Dr. Christian Ruck, Waldzustandsbericht 2004 (B) (D) Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter – Ergebnisse des forstlichen Umweltmoni- und der Fraktion der CDU/CSU torings – Frauen in den Krisenregionen Subsahara- – Drucksachen 15/4516, 15/4502, 15/4431, Afrikas stärken 15/4500, 15/5356 – – Drucksache 15/4390 – Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Cajus Julius Caesar Entwicklung (f) Cornelia Behm Auswärtiger Ausschuss Dr. Christel Happach-Kasan Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Hier haben die Abgeordneten Hiller-Ohm, Auernhammer, Caesar, Behm und Happach-Kasan ge- Die Abgeordneten Schmidt (Meschede), Groneberg, beten, ihre Reden zu Protokoll zu nehmen3). Wir verfah- Eymer, Mayer (Freiburg) und Heinrich sowie die Par- ren mit Ihrer Zustimmung so. lamentarische Staatssekretärin Uschi Eid haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll zu nehmen2). Wir verfahren so. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird nährung und Landwirtschaft, Drucksache 15/5356. Unter Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4390 an Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schuss in Kenntnis des Waldzustandsberichts 2004 der schlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall.Bundesregierung auf Drucksache 15/4500 die Annahme Dann ist die Überweisung so beschlossen. des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnis- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: ses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4516 mit dem Titel „Wälder naturnah bewirtschaften – Waldschäden Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- vermindern – Gemeinwohlfunktionen sichern und Holz- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,absatz steigern“. Wer stimmt für diese Beschluss- Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und 1) Anlage 7 2) Anlage 14 3) Anlage 15 16496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/ Überweisungsvorschlag: (C) CSU und FDP angenommen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des Waldzustandsberichts 2004 die Ablehnung des Ent- Hier nehmen wir mit Ihrer Zustimmung die Reden der schließungsantrags der Fraktion der CDU/CSU aufAbgeordneten Rehbock-Zureich, Lintner, Schmidt (Ingolstadt), Friedrich (Bayreuth) und des Parlamenta- Drucksache 15/4502 zum genannten Waldzustandsbe- 1) richt. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- rischen Staatssekretärs Großmann zu Protokoll . genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen wurfs auf Drucksache 15/5408 an die in der Tagesord- die Stimmen der Opposition angenommen. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ner Beschlussempfehlung in Kenntnis ist die Überweisung des so beschlossen. Waldzustandsberichtes 2004 die Ablehnung des Antrags Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: der Fraktion der FDP, Drucksache 15/4431, mit dem Ti- tel „Bessere Rahmenbedingungen für die Charta für Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta Holz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Connemann, Marlene Mortler, Ursula Heinen, Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der fehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ CDU/CSU Die Grünen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Mehr Verbraucherschutz durch eindeutigere Kennzeichnung und sendungsbezogene Rück- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: standsuntersuchungen von Geflügelfleischim- Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- porten in die EU aus Drittländern gierung – Drucksache 15/5247 – Bericht der Bundesregierung über die For- Überweisungsvorschlag: schungsergebnisse in Bezug auf Emissionsmin- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und derungsmöglichkeiten der gesamten Mobil- Landwirtschaft (f) funktechnologie und in Bezug aufAusschuss für Wirtschaft und Arbeit gesundheitliche Auswirkungen Die Abgeordneten Zöllmer, Connemann, Höfken und – Drucksache 15/4604 – Goldmann haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll ge- (B) 2) (D) Überweisungsvorschlag: ben zu dürfen. – Mit Ihrer Zustimmung verfahren wir Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) so. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Landwirtschaft Drucksache 15/5247 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Technikfolgenabschätzung so beschlossen. Die Abgeordneten Jäger, Braun, Wittlich, Kauch und Wenn wir eine Aussprache zu sämtlichen Tagesord- die Parlamentarische Staatssekretärin Probst haben da- nungspunkten durchgeführt hätten, wären wir ungefähr rum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen. um 3.30 Uhr fertig gewesen. So sind wir nun am Schluss Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann unserer heutigen Tagesordnung. ist so beschlossen. (Beifall bei der SPD) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4604 an die in der Tagesordnung aufge- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- destages auf morgen, Freitag, den 13. Mai – nicht ver- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung gessen! –, 9 Uhr, ein. Ich wünsche den Kollegen einen so beschlossen. schönen Abend. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Die Sitzung ist geschlossen. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Schluss: 21.58 Uhr) gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes 1) Anlage 17 – Drucksache 15/5408 – 2) Anlage 18 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16497

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Ungeachtet dieser Verbesserungen weist der von der Bundesregierung ausgehandelte und unterzeichnete eu- Liste der entschuldigten Abgeordneten ropäische Verfassungsvertrag gravierende Mängel auf. Ebenso zeichnen sich erhebliche Defizite bei den bislang gefundenen Regelungen zu einer Handhabung des Ver- entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich tragswerks durch die gesetzgebenden Körperschaften auf. Wichtigen europapolitischen Anliegen aus deut- scher Sicht wird der Vertrag nicht gerecht: In der Präam- Bellmann, Veronika CDU/CSU 12.05.2005 bel fehlen der Hinweis auf das christliche Erbe Europas und der Bezug auf die Verantwortung vor Gott. Dies wi- Dr. Däubler-Gmelin, SPD 12.05.2005 derspricht wohlbegründeten Forderungen aus dem politi- Herta schen, gesellschaftlichen und kirchlichen Raum. Die Koordinierungskompetenzen im Bereich der Wirt- Eichhorn, Maria CDU/CSU 12.05.2005 schaftspolitik weisen den Charakter von Generalklauseln auf. Dies widerspricht den ursprünglichen Forderungen Hilsberg, Stephan SPD 12.05.2005 im Verfassungsvertrag, eine klare Abgrenzung der Kom- petenzen zwischen den Ebenen der EU, der Mitglieds- Multhaupt, Gesine SPD 12.05.2005 länder und ihrer Regionen vorzunehmen. In den Berei- Nitzsche, Henry CDU/CSU 12.05.2005 chen Sozialpolitik, Arbeitsrecht, Gesundheitspolitik, Industrie und Forschung sowie Energiepolitik sollen die Dr. Pinkwart, Andreas FDP 12.05.2005 Kompetenzen der EU ausgeweitet und im Bereich der Daseinsvorsorge neue Kompetenzen geschaffen werden. Vogel, Volkmar Uwe CDU/CSU 12.05.2005 Dies widerspricht den jahrelangen Bemühungen, den Tendenzen zu immer mehr Zentralisierung auf EU- Ebene Einhalt zu gebieten und in der EU mehr Bürger- nähe sicherzustellen. Anlage 2 Offensichtlich war die Bundesregierung weder ge- Erklärung nach § 31 GO willt noch bereit, entsprechende Forderungen in die Ver- (B) tragsverhandlungen einzubeziehen, um so ein befriedi- (D) der Abgeordneten Michael Glos, Dr. Petergendes Verhandlungsergebnis herbeizuführen. Ramsauer, Marlene Mortler, Eduard Oswald, Dr. Klaus Rose, Wolfgang Zeitlmann, Eduard Der europäische Verfassungsvertrag schwächt die Po- Lintner, Artur Auernhammer, Dr. Hans-Peter sition des Deutschen Bundestages in EU-Angelegenhei- Uhl, Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn),ten. Um weitere Souveränitätsverluste zu verhindern, ist Dr. Wolfgang Bötsch, Georg Fahrenschon, Da- eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen niela Raab, Dagmar Wöhrl, Kurt J. Rossma- Bundestages erforderlich. Die CDU/CSU-Bundestags- nith, Georg Girisch, Matthäus Strebl, Thomas fraktion hat entsprechende Gesetzesvorschläge – Druck- Silberhorn, Dr. Egon Jüttner, Dorothee Mantel, sache 15/4716 – eingebracht.Es ist jedoch absehbar, Hans Michelbach, Bartholomäus Kalb, Karl- dass diesen Forderungen nur teilweise Rechnung getra- Theodor Freiherr von und zu Guttenberg,gen wird. Die Unterzeichner werden deshalb auch nach Horst Seehofer, Dr. Peter Paziorek, Hans Rai- der Ratifizierung des Vertrags auf eine vollständige Um- del, Max Straubinger, Norbert Geis, Stephan setzung der Forderungen im Sinne des Gesetzentwurfes Mayer (Altötting) und Dr. Wolfgang Götzer von CDU und CSU hinwirken. Nach Abwägung aller (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung Vor- und Nachteile werden die Unterzeichner trotz der über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Ver- schwerwiegenden Bedenken dem Vertragswerk zustim- trag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfas- men. Die Unterzeichner fordern die Bundesregierung sung für Europa (Tagesordnungspunkt 4 b) jedoch ausdrücklich auf, nach In-Kraft-Treten des Ver- tragswerks unverzüglich und nachdrücklich auf Verbes- Der dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vor- serungen in den genannten Bereichen hinzuwirken. liegende europäische Verfassungsvertrag ist ein wichti- ger Schritt zur Weiterentwicklung der europäischen Inte- gration. Mit dem Vertragswerk wird die Europäische Anlage 3 Union handlungsfähiger, transparenter und demokrati- Erklärung nach § 31 GO scher gestaltet. Die Zusammenfassung der europäischen Verträge in einem einheitlichen Gesetzeswerk, die Ver- der Abgeordneten Thomas Rachel, Marie-Luise ankerung der europäischen Grundrechte-Charta, die in- Dött, Werner Lensing, Hermann Gröhe, Kathe- stitutionellen Reformen und nicht zuletzt die Regelun- rina Reiche, Jochen Borchert, Helge Braun, Leo gen zur Subsidiaritätskontrolle sind ein erkennbarer Dautzenberg, Vera Dominke, Ingrid Fischbach, Fortschritt gegenüber dem jetzigen Rechtszustand. Klaus-Peter Flosbach, Jürgen Klimke, Julia 16498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Klöckner, Dr. Hermann Kues, Dr. GünterVerträge in einen wesentlich klarer strukturierten Ver- (C) Krings, Bernward Müller (Gera), Hildegard trag unter Berücksichtigung der Charta der Grund- Müller, Werner Wirtlich und Cajus Julius Ca- rechte; die Berufung in der Präambel auf das kulturelle, esar (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstim- religiöse und humanistische Erbe Europas, aus dem sich mung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfas- Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und sung für Europa (Tagesordnungspunkt 4 b) Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt ha- ben; die verbesserte Definition des Subsidiaritätsprin- Wir stimmen für den Verfassungsvertrag der EU. Der zips; die Einbeziehung der nationalen Parlamente in den Verfassungsvertrag markiert einen erheblichen Fort-Gesetzgebungsprozess durch das so genannte Frühwarn- schritt gegenüber dem derzeit gültigen Nizza-Vertrag. system; die Möglichkeit einer Klage durch die nationa- Mit der Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und einerlen Parlamente bei der Verletzung des Subsidiaritätsprin- klareren Kompetenzabgrenzung wurde eine wichtigezips; die Einführung der so genannten Doppelten Weichenstellung vorgenommen. Außerdem wurden dem Mehrheit, durch die eine stärkere Gewichtung der Be- Bundestag neue Rechte gegeben und das Demokratie- völkerungsgröße der Länder gewährleistet wird; das Ver- prinzip auf europäischer Ebene gestärkt, in dem die Bun- bot, aus Zielbestimmungen Handlungsermächtigungen desrepublik Deutschland mit seiner großen Bevölkerung abzuleiten; eine verbesserte Abgrenzung der Kompeten- ein höheres Gewicht bei den Abstimmungen erhält. zen; die Anerkennung der Zuständigkeit der Mitglied- Wir kritisieren allerdings mit Nachdruck, dass in der staaten im Bereich der Daseinsvorsorge; das Gebot der Präambel der künftigen EU-Verfassung kein ausdrückli- Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahlen bei cher Bezug auf das christliche Erbe und kein Gottesbe- der Bestimmung des Kommissionspräsidenten durch das zug aufgenommen worden sind. Dies ist gerade auch die Europäische Parlament. Schuld der rot-grünen Bundesregierung, die sich weder Wir bedauern, dass die verhandlungsführende Bun- für die Verankerung des christlichen Erbes noch des Got- desregierung nicht erreicht hat: den Gottesbezug in der tesbezuges in den Verhandlungen zwischen den EU-Re- Präambel zu verankern; eine stärkere Begrenzung der gierungen eingesetzt hat. Kompetenzen der EU durchzusetzen, insbesondere im Der ausdrückliche Bezug auf die Verantwortung der Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik; die Daseins- Menschen vor Gott schützt vor Absolutheitsansprüchen vorsorge aus der Gesetzgebungskompetenz der EU he- und sichert eine klare Wertebindung. Gleichzeitig wird rauszunehmen; den Ausschluss der Veränderung der Ei- daran erinnert, dass auch die politische Gestaltung des genmittel aus dem vereinfachten Änderungsverfahren vereinten Europas der unverzichtbaren religiösen Werte- analog der Beschlüsse mit militärischen oder verteidi- (B) bindung bedarf, ohne die sein gesamtes kulturelles, hu- gungspolitischen Bezügen; zu verhindern, dass der Eu- (D) manistisches und geistiges Erbe weder denkbar wäreropäische Rat beim mehrjährigen Finanzplan einstim- noch lebendig bliebe. mig – ohne Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten – den Übergang zur Mehrheitsentscheidung beschließen kann. Es ist ein Erfolg, dass die Rechte der Kirchen von der EU-Verfassung ausdrücklich geschützt werden. Wir hät- Nach reiflichen Überlegungen sind wir zu dem Ent- ten uns darüber hinaus ein explizites Bekenntnis zu den schluss gekommen, dass trotz der erheblichen Bedenken christlichen Wurzeln Europas gewünscht. die Vorteile des Gesetzentwurfs die Nachteile aufwiegen und stimmen deshalb für den Gesetzentwurf. Nachdem die Mehrheit des Bundestages nicht dazu Anlage 4 bereit war, auf wesentliche Forderungen der Union im Erklärung nach § 31 GO Bereich der Beteiligung des Deutschen Bundestages ein- zugehen, begrüßen wir eine Überprüfung durch das Bun- der Abgeordneten Klaus-Peter Willsch und desverfassungsgericht, ob der Vertrag unter diesen Be- Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (beide CDU/ dingungen allein vom Parlament beschlossen werden CSU) zur namentlichen Abstimmung über den kann. Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa (Tagesordnungspunkt 4 b) Anlage 5 Trotz erheblicher Mängel werden wir dem Gesetzent- Erklärung nach § 31 GO wurf zustimmen, da er in vielen Bereichen eine Verbes- serung gegenüber dem Vertrag von Nizza bedeutet. Die der Abgeordneten Dr. Gerd Müller, Doris Verhandlung über den Vertrag oblag der Bundesregie- Meyer (Tapfheim) und Rudolf Kraus (alle rung, das Parlament kann dem Verfassungsvertrag nur in CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung seiner vorliegenden Form im Ganzen zustimmen oder über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Ver- ihn ablehnen. Änderungsvorschläge können hingegen trag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfas- nicht eingebracht werden. Deshalb war hier die Abwä- sung für Europa (Tagesordnungspunkt 4 b) gung zu treffen, ob die Vorteile oder die Nachteile ge- Die Europäische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. genüber dem bisherigen Zustand überwiegen. Die Europäische Union steht für Frieden, Freiheit und Aus unserer Sicht ergeben sich unter anderem Verbes- Wohlstand. Nach der Verwirklichung des europäischen serungen durch: Die Zusammenführung der bisherigen Binnenmarktes und der Einführung des Euros wurde mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16499

(A) der Osterweiterung ein weiterer dynamischer Schritt in Europapolitik ist nicht mehr Außenpolitik. Ohne eine (C) der Entwicklung der Europäischen Union vollzogen. Die Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundes- Europäische Union ist kein Staat und wird auch in Zu- tages in EU-Angelegenheiten ist der Verfassungsvertrag kunft auf Nationalstaaten aufbauen. Umgekehrt braucht hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem deutschen Grund- der Nationalstaat Europa, weil jeder Nationalstaat in Eu- gesetz äußerst bedenklich. Der Legitimationsstrang ropa wichtige Aufgaben heute nicht mehr auf sich allein europäischer Rechtsetzung über die nationalen Parla- gestellt erfüllen kann. Nationen und Europa bedingen mente und das Volk wird in Frage gestellt. Die CDU/ sich gegenseitig. Die Bindung der Menschen an ihre Na- CSU-Bundestagsfraktion hat daher eine Gesetzesinitia- tionalstaaten und Parlamente, die Rückbindung der Ge- tive eingebracht, die die Rechte des Bundestages in EU- setzgebung an das Volk, ist ein wesentliches Ergebnis Angelegenheiten stärkt. Kernziele dieses Gesetzes sind: europäischer Geschichte und bleibt unverzichtbar. Des- grundsätzliche Bindung der Bundesregierung an Stel- halb steht die Europäische Union mit dem EU-Verfas- lungnahmen des Bundestages in EU-Angelegenheiten, was insbesondere vor der Aufnahme neuer EU-Beitritts- sungsvertrag an einem Wendepunkt. verhandlungen und bei Vertragsänderungen gelten muss; Der Europäische Konvent und die Regierungskonfe- für den Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehr- renz hatten den Auftrag zur Schaffung einer klaren und heitsentscheidung im Rat muss die Bundesregierung zu- durchschaubaren Kompetenzordnung sowie einer Kom- nächst das Einvernehmen mit dem Bundestag mit Zwei- petenzabgrenzung der Zuständigkeitsbereiche zwischen drittelmehrheit herstellen. der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Da- Die Bundesregierung, SPD und Grüne lehnen diese rüber hinaus sollte das europäische Vertragswerk trans- Kernforderungen ab. Die zugestandene Erweiterung der parent werden, das demokratische Defizit reduziert und Mitwirkungsrechte für den Bundesrat, die Stärkung der die nationalen Parlamente in ihren Mitwirkungsmöglich- Informationsrechte des Bundestages und ein Minderhei- keiten gestärkt werden. Diese Vorgaben wurden nichttenrecht zur Einreichung einer Subsidiaritätsklage sind umgesetzt. nicht ausreichend. Der Verfassungsvertrag schafft keine klare Kompe- Der Verfassungsvertrag definiert die Grundwerte Eu- tenzabgrenzung innerhalb der EU. Er beschränkt dasropas und verzichtet dabei bewusst auf einen ausdrück- Handeln der EU nicht auf die Kernaufgaben, sondernlichen Gottesbezug und die Herausstellung der Bedeutung kommt vielmehr zu einer weiteren erheblichen Kompe- der christlichen Werte und Traditionen, die für Vergan- tenzausweitung auch in Bereichen, die bisher genheit auf und Zukunft des Kontinents von großer Bedeu- Ebenen der Mitgliedstaaten angesiedelt waren. Dietung sind. Nur eine wertegebundene Verfassung, die das geschichtliche Erbe nicht leugnet, gibt der EU eine in- Kompetenzausweitung betrifft so zum Beispiel die Wirt- (B) haltliche und kulturelle Identität. (D) schafts- und Währungspolitik, Energiepolitik, Gesund- heit, Raumfahrt, Zivilschutz, Sport, Daseinsvorsorge, In- In der Würdigung der Vor- und Nachteile des jetzigen nen- und Justizpolitik. Mit der Flexibilitätsklausel kann Verfassungsvertrages und der sich für den Deutschen die EU darüber hinaus in fast alle mitgliedstaatliche Zu- Bundestag und die Rechtsetzung ergebenden Konse- ständigkeiten eingreifen. Durch das Initiativmonopolquenzen, kommen wir in der Abwägung zu einem macht der Verfassungsentwurf die EU-Kommission zu „Nein“ für dieses Verfassungswerk. Das Europa des EU- einer europäischen Superbehörde ohne ausreichendeVerfassungsvertrages ist nicht mehr das Europa, das die parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Par- Gründungsväter der Gemeinschaft vor Augen hatten. lament und die nationalen Parlamente. Europa braucht klare Werte, föderale Strukturen, ein Be- kenntnis zur christlich-abendländischen Geschichte, zur Durch die wesentliche Kompetenzausweitung auf na- Verantwortung vor Gott. Wir benötigen ein Europa, das hezu alle Politikbereiche, die Ausweitung der Mehr-sich auf Kernaufgaben begrenzt, aber nicht in nahezu al- heitsentscheidung, die Festschreibung des Vorrangs eu- len nationalen Politikfeldern mitregiert und reguliert; ein ropäischen Rechts vor nationalem Recht und Europa, die das seine Gesetzgebung über die Rückbindung Abschwächung der Rechte des Bundestages beim Ver- zum Volk und über die Parlamente legitimiert und trans- tragsänderungsverfahren verlieren der Deutsche Bundes- parent macht. Ohne eine stärkere Einbindung der Men- tag und die Landtage substanzielle Gestaltungs- undschen und ihrer nationalen Parlamente sowie des Euro- Mitwirkungsrechte. Das Europäische Parlament wird in päischen Parlaments kann das europäische Projekt nicht seiner parlamentarischen Rolle nicht entsprechend ge- gelingen. stärkt, es verfügt über kein Initiativrecht, die Zusammen- Die EU muss sich von unten nach oben über das Volk setzung leitet sich nicht auf der Basis eines gleichenund die Parlamente stärker als bisher legitimieren. Auch Wahlrechtes ab. Die Legitimation der europäischenbei einem Nein zum Verfassungsvertrag fällt die EU Rechtsetzung über die Kontrolle durch die Parlamente nicht in einen rechtsfreien Raum, sondern ist handlungs- und die Rückbindung an dasVolk, wie es das Bundes- fähig auf der Basis des Nizza-Vertrages. Neue Impulse verfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil fordert, einer vertieften Integration in Kernbereichen der EU und ist damit nicht mehr ausreichend gegeben. Die demeine verstärkte Zusammenarbeit insbesondere in der Au- Deutschen Bundestag eingeräumten Möglichkeiten eines ßen- und Sicherheitspolitik sind zu entwickeln. Eine Subsidiaritätseinspruches und einer Subsidiaritätsklage Überprüfung der Erweiterungsstrategie und die Erarbei- können dies nicht ausgleichen. Sie sind weder wirkungs- tung eines Partnerschaftskonzeptes der EU sind notwen- voll noch effektiv administrierbar. dig. 16500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Anlage 6 Nachdem die Mehrheit des Bundestages nicht dazu(C) bereit war, auf wesentliche Forderungen der Union im Erklärung nach § 31 GO Bereich der Beteiligung des Deutschen Bundestages ein- zur namentlichen Abstimmung über den Ent- zugehen, begrüße ich eine Überprüfung durch das Bun- wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vomdesverfassungsgericht, ob der Vertrag unter diesen Be- 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Eu- dingungen allein vom Parlament beschlossen werden ropa (Tagesordnungspunkt 4 b) kann.

Ilse Aigner (CDU/CSU): Trotz erheblicher Mängel werde ich dem Gesetzentwurf zustimmen, da er in vielen Norbert Barthle (CDU/CSU): Trotz erheblicher Bereichen eine Verbesserung gegenüber dem VertragMängel werde ich dem Gesetzentwurf zustimmen, da er von Nizza bedeutet. Die Verhandlung über den Vertrag in vielen Bereichen eine Verbesserung gegenüber dem oblag der Bundesregierung; das Parlament kann demVertrag von Nizza und damit dem Status quo bedeutet. Verfassungsvertrag nur in seiner vorliegenden Form im Die Verhandlung über den Vertrag oblag der Bundesre- Ganzen zustimmen oder ihn ablehnen. Änderungsvor- gierung; das Parlament kann dem Verfassungsvertrag schläge können hingegen nicht eingebracht werden.nur in seiner vorliegenden Form im Ganzen zustimmen Deshalb war hier die Abwägung zu treffen, ob die Vor- oder ihn ablehnen. Änderungsvorschläge können hinge- teile oder die Nachteile gegenüber dem bisherigen Zu- gen nicht eingebracht werden. Deshalb hatte ich die Ab- stand überwiegen. wägung zu treffen, ob die Vorteile oder die Nachteile ge- genüber dem bisherigen Zustand überwiegen. Aus meiner Sicht ergeben sich unter anderem Verbes- serungen durch: die Zusammenführung der bisherigen Aus meiner Sicht ergeben sich unter anderem durch: Verträge in einen wesentlich klarer strukturierten Vertrag die Zusammenführung der bisherigen Verträge in einen unter Berücksichtigung der Charta der Grundrechte; die wesentlich klarer strukturierten Vertrag unter Berück- Berufung in der Präambel auf das kulturelle, religiöse sichtigung der Charta der Grundrechte; die Berufung in und humanistische Erbe Europas, aus dem sich die un- der Präambel auf das kulturelle, religiöse und humanisti- verletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Men-sche Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und schen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Recht- unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, staatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben; die Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als uni- verbesserte Definition des Subsidiaritätsprinzips; dieverselle Werte entwickelt haben; die verbesserte Defini- Einbeziehung der nationalen Parlamente in den Gesetz- tion des Subsidiaritätsprinzips; die Einbeziehung der na- tionalen Parlamente in den Gesetzgebungsprozess durch (B) gebungsprozess durch das so genannte Frühwarnsystem; (D) die Möglichkeit einer Klage durch die nationalen Parla- das so genannte Frühwarnsystem; die Möglichkeit eine mente bei der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips; die Klage durch die nationalen Parlamente bei der Verlet- Einführung der so genannten doppelten Mehrheit, durch zung des Subsidiaritätsprinzips; die Einführung der so die eine stärkere Gewichtung der Bevölkerungsgröße der genannten doppelten Mehrheit, durch die eine stärkere Länder gewährleistet wird; das Verbot, aus Zielbestim- Gewichtung der Bevölkerungsgröße der Länder gewähr- mungen Handlungsermächtigungen abzuleiten; eine ver- leistet wird; das Verbot, aus Zielbestimmungen Hand- besserte Abgrenzung der Kompetenzen; die Anerken- lungsermächtigungen abzuleiten; eine verbesserte Ab- nung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich grenzung der Kompetenzen; der Stärkung der föderalen der Daseinsvorsorge; das Gebot der Berücksichtigung Strukturen in Deutschland durch die ausdrückliche Ver- des Ergebnisses der Europawahlen bei der Bestimmung ankerung des Leitbildes der Subsidiarität; der Schaffung des Kommissionspräsidenten durch das Europäischeeines eigenen Klagerechts des Ausschusses der Regionen Parlament. vor dem Europäischen Gerichtshof im Falle der Verlet- zung kommunaler und regionaler Rechte; die Anerken- Ich bedauere, dass die verhandlungsführende Bundes- nung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich regierung nicht erreicht hat, den Gottesbezug in der Prä- der Daseinsvorsorge; das Gebot der Berücksichtigung ambel zu verankern; eine stärkere Begrenzung der Kom- des Ergebnisses der Europawahlen bei der Bestimmung petenzen der EU durchzusetzen, insbesondere des im Kommissionspräsidenten durch das Europäische Bereich der Wirtschaft- und Sozialpolitik; die Daseins- Parlament. vorsorge aus der Gesetzgebungskompetenz der EU her- auszunehmen; den Ausschluss der Veränderung der Ei- Ich bedauere ausdrücklich, dass die Bundesregierung genmittel aus dem vereinfachten Änderungsverfahren in den Verhandlungen nicht erreicht hat bzw. nicht errei- analog der Beschlüsse mit militärischen oder verteidi- chen wollte, den Gottesbezug in der Präambel zu veran- gungspolitischen Bezügen; zu verhindern, dass der Eu- kern; eine stärkere Begrenzung der Kompetenzen der ropäische Rat beim mehrjährigen Finanzplan einstimmig EU durchzusetzen, insbesondere im Bereich der Wirt- – ohne Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten – denschaft- und Sozialpolitik; den Bereich Daseinsvorsorge Übergang zur Mehrheitsentscheidung beschließen kann. aus der Gesetzgebungskompetenz der EU komplett he- rauszunehmen; den Ausschluss der Veränderung der Ei- Nach reiflichen Überlegungen bin ich zu dem Ent-genmittel aus dem vereinfachten Änderungsverfahren, schluss gekommen, dass trotz der erheblichen Bedenken analog der Beschlüsse mit militärischen oder verteidi- die Vorteile des Gesetzentwurfs die Nachteile aufwie- gungspolitischen Bezügen; zu verhindern, dass der Eu- gen, und stimme deshalb für den Gesetzentwurf. ropäische Rat beim mehrjährigen Finanzplan einstimmig Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16501

(A) – ohne Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten – denzess sowie deren Klagemöglichkeit vor dem EU-Ge-(C) Übergang zur Mehrheitsentscheidung beschließen kann. richtshof eingeführt. Die gestärkte Rolle des Ausschus- ses der Regionen ist ein wichtiger Schritt und muss Nach reiflichen Überlegungen bin ich zu dem Ent-ausgebaut werden: Die Regionen haben eine Scharnier- schluss gekommen, dass trotz der erheblichen Bedenken funktion und erbringen Leistungen, die sich unmittelbar die Vorteile des Gesetzentwurfs die Nachteile aufwie- auf den Alltag der Menschen auswirken. gen, und stimme deshalb für den Gesetzentwurf. Ungeachtet dieser erkennbaren Fortschritte weist der Im Hinblick auf den fehlenden Gottesbezug in der von der Bundesregierung ausgehandelte und unterzeich- Präambel des Vertrages folge ich dem Rat von Papst nete EU-Verfassungsvertrag Mängel auf; wichtigen eu- Benedikt XVI., der uns empfohlen hat, dem Verfas- ropapolitischen Anliegen aus deutscher Sicht wird der sungsvertrag dennoch zuzustimmen. Vertrag nicht gerecht: In der Präambel fehlt trotz wohl begründeter Forde- Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): rungen aus dem politischen, gesellschaftlichen und Der Verfassungsvertrag ist ein epochaler Einschnitt im kirchlichen Raum der Bezug auf die Verantwortung vor europäischen Einigungsprozess. Obwohl ich ein über- Gott. Ein Gottesbezug wäre Ausdruck der geistigen zeugter Anhänger der repräsentativen Demokratie bin, Grundlagen Europas gewesen und hätte die EU im Sinne hätte ich mir gewünscht, dass der Vertrag in einer Volks- einer Wertegemeinschaft geprägt. abstimmung eine breite Mehrheit erzielt hätte. Deutsch- land ist in Sachen Demokratie nicht weniger mündig als In den Bereichen Sozialpolitik, Arbeitsrecht, Gesund- die anderen großen Staaten in Europa, in denen Referen- heitspolitik, Industrie und Forschung sowie Energiepoli- den stattfinden. tik sollen die EU-Kompetenzen ausgeweitet und im Be- reich der Daseinsvorsorge neue Zuständigkeiten Nach unserem ersten Bundespräsidenten Theodorgeschaffen werden. Das widerspricht den Bemühungen, Heuss, ist Europa auf drei Hügeln errichtet: der Akropo- der Zentralisierung Einhalt zu gebieten und in der EU lis in Athen, dem Capitol in Rom und Golgatha in Jeru- mehr Bürgernähe sicherzustellen. salem. Dieser für die Identität Europas und seine ge- schichtlichen Wurzeln entscheidende Zusammenhang Mit dem Vertrag wird die Abwanderung der Kompe- findet in der Präambel des Verfassungsvertrages keinen tenzen nach Brüssel – 70 Prozent der Gesetzgebung er- Niederschlag. Dieser mangelnde Bezug auf das abend- folgen auf EU-Ebene – verstärkt. Die EU weitet den ländisch-christliche Erbe ist ein gravierender Mangel der Rechtsetzungsrahmen auf fast alle nationalen Bereiche (B) Präambel ebenso wie der fehlende Gottesbezug. Für die aus. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest: Dem(D) politische Gestaltung des vereinten Europas ist eine reli- Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von sub- giöse Wertebindung unverzichtbar. Eine ausdrückliche stanziellem Gewicht verbleiben. Es bleibt offen, ob diese Berufung auf die Verantwortung des Menschen vor Gott, Vorgaben erfüllt werden. wie es das Grundgesetz enthält, hätte diese Wertebin- dung gesichert und den Menschen vor Absolutheitsan- Offenbar war die Bundesregierung weder bereit noch sprüchen des Staates geschützt. in der Lage, entsprechende Forderungen in die Vertrags- verhandlungen einzubeziehen, um so zu einem befriedi- Trotz dieser Mängel ist der Verfassungsvertrag eingenden Verhandlungsergebnis zu kommen. Ein wichti- großer Fortschritt gegenüber dem Vertrag von Nizza. So ges Anliegen der CDU/CSU-Fraktion war und ist es werden das Subsidiaritätsprinzip verankert, die Kompe- daher, die Rechte des Bundestages im Zusammenhang tenzabgrenzung klarer gezogen und die Rechte des Bun- mit der Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung destages gestärkt. für Europa zu stärken. Ich stimme deshalb dem Verfassungsvertrag der Eu- Leider verweigert sich die Regierungskoalition in der ropäischen Union zu. Frage der rechtlichen Bindewirkung von Bundestagsbe- schlüssen in Europaangelegenheiten. Das Gleiche gilt für unsere Forderung, die Zustimmung der Regierung zur Renate Blank (CDU/CSU): Trotz schwerwiegender Aufnahme von Beitrittsverhandlungen oder zur Auf- Bedenken stimme ich nach Abwägung aller Vor- undnahme von Vertragsänderungsverhandlungen an ein Vo- Nachteile dem Ratifikationsgesetz zum Vertrag über eine tum des Parlaments zu binden. Beide Anliegen sind in ei- EU-Verfassung zu. Ich hoffe sehr, dass der Verfassungs- nem Gesetzentwurf – Bundestagsdrucksache 15/4716 – vertrag die in ihn gesetzten Hoffnungen nach mehr Bür- der CDU/CSU enthalten. gernähe, Demokratie, Transparenz und Effizienz erfüllen kann. Trotz vieler Zweifel hoffe ich im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger, dass in Europa mit einer Ver- Demokratie und Grundrechtsschutz werden durch die fassung ein wichtiger Meilenstein für eine gute Zukunfts- Verfassung gegenüber dem jetzigen Rechtszustand ge- entwicklung für Bund, Länder und Gemeinden gesetzt stärkt: eine europäische Grundrechte-Charta wird veran- wird. Ich fordere die Bundesregierung aber mit allem kert, die Befugnisse des Europäischen Parlaments wer- Nachdruck auf, nach In-Kraft-Treten des Vertragswerks den erweitert sowie die erstmalige direkte Beteiligung unverzüglich auf Verbesserungen in den oben genannten der nationalen Parlamente am EU-Gesetzgebungspro- drängenden Problembereichen hinzuwirken. 16502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Klaus Brähmig (CDU/CSU): Der dem Deutschen hindern, ist eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des(C) Bundestag zur Ratifizierung vorliegende europäischeDeutschen Bundestages erforderlich. Die CDU/CSU- Verfassungsvertrag ist ein wichtiger Schritt zur Weiter- Bundestagsfraktion hat entsprechende Gesetzesvor- entwicklung der europäischen Integration. Mit dem Ver- schläge – Bundestagsdrucksache 15/4716 – eingebracht. tragswerk wird die Europäische Union handlungsfähi- Es ist jedoch absehbar, dass diesen Forderungen nur teil- ger, transparenter und demokratischer gestaltet. Dieweise Rechnung getragen wird. Aus diesem Grund Zusammenfassung der europäischen Verträge in einem werde ich auch nach der Ratifizierung des Vertrags auf einheitlichen Gesetzeswerk, die Verankerung der euro- eine vollständige Umsetzung der Forderungen im Sinne päischen Grundrechte-Charta, die institutionellen Refor- des Gesetzentwurfes von CDU und CSU hinwirken. men und die Regelungen zur Subsidiaritätskontrolle sind ein erkennbarer Fortschritt gegenüber dem jetzigen Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile werde ich Rechtszustand. trotz der schwerwiegenden Bedenken dem Vertragswerk zustimmen. Ungeachtet dieser Verbesserungen weist der von der Ich fordere die Bundesregierung jedoch ausdrücklich Bundesregierung ausgehandelte und unterzeichnete eu- auf, nach In-Kraft-Treten des Vertragswerks unverzüg- ropäische Verfassungsvertrag gravierende Mängel auf. lich und nachdrücklich auf Verbesserungen in den ge- Ebenso zeichnen sich erhebliche Defizite bei den bislang nannten Bereichen hinzuwirken. gefundenen Regelungen zu einer Handhabung des Ver- tragswerks durch die gesetzgebenden Körperschaften auf. Wichtigen europapolitischen Anliegen aus deut- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ich bin der festen scher Sicht wird der Vertrag nicht gerecht: Überzeugung, dass es aufgrund der besonderen histori- schen Erfahrungen und der enormen zukünftigen He- In der Präambel fehlen der Hinweis auf das christli- rausforderungen zu einer möglichst engen Zusammenar- che Erbe Europas und der Bezug auf die Verantwortung beit von Staaten innerhalb Europas keine Alternative vor Gott. Dies widerspricht wohlbegründeten Forderun- gibt. Eine Europäische Union, aufgebaut auf den christli- gen aus dem politischen, gesellschaftlichen und kirchli- chen Werten, den Grundsätzen der sozialen Markwirt- chen Raum. schaft, dem Prinzip des Föderalismus und der kommuna- Die Koordinierungskompetenzen im Bereich der len Selbstverwaltung, wird in einem hohen Maße zum Wirtschaftspolitik weisen den Charakter von General- Wohle aller Bürgerinnen und Bürger beitragen und klauseln auf. Dies widerspricht den ursprünglichen For- könnte ein tragfähiges Konzept für eine gemeinsame Zu- derungen im Verfassungsvertrag, eine klare Abgrenzung kunft Europas darstellen. der Kompetenzen zwischenden Ebenen der EU, der Diese gemeinsame Zukunft muss getragen sein von (B) Mitgliedsländer und ihrer Regionen vorzunehmen. einer hohen Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ge- (D) In den Bereichen Sozialpolitik, Arbeitsrecht, Gesund- genüber den europäischen Institutionen und ihrer Hand- heitspolitik, Industrie und Forschung sowie Energiepoli- lungen und Werte. Fehlende Akzeptanz führt zu einem tik sollen die Kompetenzen der EU ausgeweitet und im Größerwerden von Distanz zwischen Bürgern und denje- Bereich der Daseinsvorsorge neue Kompetenzen ge-nigen, die in deren Namen Macht ausüben. Die zur Ab- schaffen werden. Dies widerspricht den jahrelangen Be- stimmung stehende Europäische Verfassung weist leider mühungen, den Tendenzen zu immer mehr Zentralisie- erhebliche Mängel auf und wird deswegen bei den Bür- rung auf EU-Ebene Einhalt zu gebieten und in der EU gern zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen. mehr Bürgernähe sicherzustellen. In der Präambel des Vertrags fehlen ein eindeutiger Hinweis auf das christliche Erbe Europas und ein Bezug Offensichtlich war die Bundesregierung weder ge- auf die Verantwortung vor Gott. willt noch bereit, entsprechende Forderungen in die Ver- tragsverhandlungen einzubeziehen, um so ein befriedi- Die Kompetenzausweitung auf zahlreiche Politikfel- gendes Verhandlungsergebnis herbeizuführen. Auchder wie Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Gesundheits- halte ich die zeitlich vorgezogene Ratifizierung des eu- politik, Arbeitsrecht, Zugang von Staatsangehörigen aus ropäischen Verfassungsvertrages für völlig unangemes- Drittstaaten zum Arbeitsmarkt, Industrie, Forschung, sen. Allein die außenpolitische Rücksichtnahme auf die Energie, Daseinsvorsorge, Raumordnung, Zivilschutz, Volksabstimmung in Frankreich hat zu dieser frühzeiti- Sport, Verwaltungsförderung, Tourismus und vieles gen Abstimmung ohne ausreichende Kommunikationmehr ohne klare Kompetenzabgrenzung ist äußerst kri- mit unserer eigenen Bevölkerung geführt. Während die tisch zu sehen. Obwohl ein Großteil dieser Aufgaben Bundesregierung allein in den Jahren 2002 bis 2004 die ausreichend von den Mitgliedstaaten erledigt wird und Mittel für Öffentlichkeitsarbeit um knapp 11 Prozent er- auch weiterhin erledigt werden könnte, wird eine Kom- höht hat, wurde unsere Bevölkerung nicht durch einepetenzverlagerung auf die europäische Ebene festge- umfassende Informationskampagne über das Pro undschrieben. Die fehlende Kompetenzabgrenzung wird zu Contra des europäischen Verfassungsvertrages aufge-einer weiteren Zentralisierungsdynamik der EU führen. klärt, obwohl diese Entscheidung eine Schicksalsfrage für die weitere europäische Integrationspolitik ist. Verstärkt wird diese Zentralisierungsdynamik da- durch, dass erstmals in der Geschichte der europäischen Weiterhin schwächt der europäische Verfassungsver- Integration kraft Vertragsrecht nicht nur ein Vorrang der trag die Position des Deutschen Bundestages in EU-An- europäischen Verfassung als solcher, sondern auch des gelegenheiten. Um weitere Souveränitätsverluste zu ver- von den europäischen Organen erlassenen Sekundär- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16503

(A) und Tertiärrechts vor allem nationalen Recht, einschließ- strukturieren, daß mittelfristig ein Europa entsteht, das(C) lich der nationalen Verfassungen und der in ihnen zum sich auf nachhaltiger Kontrolle der Exekutive durch die Ausdruck kommenden demokratisch-rechtsstaatlichen Legislative gründet. Ordnungssysteme, postuliert wird. Das Grundgesetz Ich teile ausdrücklich nicht die Auffassung, dass es steht damit zur Disposition der europäischen Organe. im Ratifizierungsverfahren über den Europäischen Ver- Zum Ausdruck kommt dies in Teil I Art. 1-6 der Verfas- fassungsvertrag einem Referendum auch in der Bundes- sung: republik Deutschland bedurft hätte. Der Deutsche Bun- Die Verfassung und das von den Organen der Union destag ist nach meiner Auffassung gemäß den in Ausübung der der Union übertragenen Zustän- Bestimmungen des Grundgesetzes für die Bundesrepu- digkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem blik Deutschland legitimiert, den Beschluss über die Ra- Recht der Mitgliedstaaten. tifizierung herbeizuführen. Das in der Verfassung festgeschriebene Prinzip der Wenn der Deutsche Bundestag heute in einem Ent- gleichberechtigten Rotation der Mitgliedstaaten bei der schließungsantrag verbesserte Mitwirkungsmöglichkei- Besetzung der Kommission führt dazu, dass Deutsch- ten, eine institutionalisierte Vertretung eigener Interes- land als größter Mitgliedstaat periodisch nicht mehr in sen auf der europäischen Ebene und einen verbesserten der Kommission vertreten sein wird. Dies ist umso be- Informationsfluss einfordert und zudem die im Europäi- dauerlicher, da der Gesetzgeber, also das Europäische schen Verfassungsvertrag aufgenommene Subsidiaritäts- Parlament und der Rat, weiterhin keine Befugnis zuklage und Subsidiaritätsrüge würdigt, stellt dies zwar Rechtsvorschlägen hat. Damit sind die Gesetzgebungs- eine Verbesserung gegenüber dem Status quo dar. organe weiterhin von der Kommission abhängig. Gleichwohl geht dies am Kern der Sache vorbei. An der durch vage Zielbestimmungen, Prozesse wie der der Me- Die Tatsache, dass mittels eines Frühwarnsystems die thode der offenen Koordinierung festgeschriebenen Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips gewährleistet wer- schleichenden Kompetenzverlagerung von den nationa- den soll, ist ausdrücklich zu begrüßen. Dass dies in der len Parlamenten in europäische Institutionen ändert sich praktischen Ausübung aufgrund der knappen Fristen und nichts. Wir versuchen, Wirkungen abzumildern; an den der Höhe des Quorums – sechs Wochen; ein Drittel der Ursachen ändern wir nichts. Dabei ist zu bedenken, dass nationalen Parlamente – kaum praktische Bedeutung ha- es sich hier nicht um einen banalen Gesetzentwurf han- ben wird, ist bedauerlich. delt, dem trotz erheblicher Mängel die Zustimmung er- In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass die Europäi- teilt werden kann, weil die begründete Aussicht besteht, sche Verfassung in der vorliegenden Form durch die Ver- ihn in naher Zukunft mit anderen Mehrheitsverhältnissen lagerung von Zuständigkeiten an die EU und durch die wieder korrigieren und verbessern zu können. (B) (D) erweiterte Flexibilitätsklausel zu einer Schwächung der Es ist klar und wird auch von mir nicht infrage ge- nationalen Parlamente führt. Unbestritten ist allerdings, stellt, dass eine zukunftsfähige Außen-, Sicherheits- und dass der Vertrag gegenüber den bestehenden Verträgen Verteidigungspolitik nur auf europäischer Ebene gestal- auch Vorteile bietet. Die Europäische Union sollte sich tet werden kann. In einem Binnenmarkt mit gemeinsa- allerdings in ihrem politischen Handeln auf diejenigen mer Währung muss auch die Zuständigkeit für die Wäh- Aufgaben konzentrieren, die nur auf der europäischen rung bei der EU, respektive einer völlig unabhängigen Ebene gelöst werden können. Die Verfassung stellt dies EZB liegen. Der globale Klimaschutz ist eine Aufgabe nicht sicher. der VN, der Globus ist bekanntlich größer als Europa. In Abwägung aller Argumente komme ich zu derAber alle anderen Politikbereiche gehören in die klare Überzeugung, dass der vorliegende Verfassungsvertrag Zuständigkeit nationaler Parlamente oder – wo vorhan- gravierende Mängel aufweist. Deswegen kann ich die- den – von Länderparlamenten. Ein Europäischer Verfas- sem Vertrag nicht zustimmen! sungsvertrag, der sich diesen Zielen verpflichtet fühlt, hätte klar und unmissverständlich regeln müssen, dass europäischen Institutionen auf diesen Gebieten keine Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Charles de Zuständigkeit und auch keine Koordinierungsfunktion Montesquieu wird das berühmte Zitat zugeschrieben:oder Zielbestimmung zukommt und dass diese Felder „Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu ausschließlich in die Zuständigkeit der Nationalstaaten erlassen, ist es unbedingt notwendig, kein Gesetz zu er- fallen. Das Prinzip der Subsidiarität sieht nicht vor, dass lassen.“ Übertragen auf den heute im Deutschen Bun- die kleinere Einheit für den Fall, dass sie sich gegenüber destag zu ratifizierenden Europäischen Verfassungsver- der größeren benachteiligt oder in ihren Rechten be- trag möchte man also formulieren: „Wenn es nichtschnitten fühlt, ein Klagerecht gegenüber der größeren unbedingt notwendig ist, eine Zuständigkeit zu formulie- Institution erhält, sondern dass die kleinere Einheit aus ren, ist es unbedingt notwendig, keine Zuständigkeit zu klaren ordnungspolitischen Grundsätzen in aller Regel formulieren.“ Es ist nach meiner Überzeugung trotz der den Vorrang vor der größeren Einheit hat. großen Verdienste, die sich insbesondere der frühere ba- den-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel Das Vorhaben, nationale Politiken etwa in der Be- bei der Verbesserung des Vertragstextes erworben hat, schäftigungs- oder Wirtschaftspolitik in einer suprana- nicht gelungen, den Europäischen Verfassungsvertrag tionalen Institution ohne genügende parlamentarische hinsichtlich der Kompetenzabgrenzung zwischen Euro- Kontrolle nach Benchmarking-Gesichtspunkten zu koor- päischen Institutionen auf der einen und nationalen bzw. dinieren, kommt über den theoretischen Ansatz nicht hi- regionalen Parlamenten auf der anderen Seite so zunaus, sondern provoziert Bürokratie, deren Ziel letztlich 16504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) im fortdauernden Nachweis der eigenen Existenzberech- Albrecht Feibel (CDU/CSU): Vor allem ist es der im (C) tigung liegt. Fortschritt entsteht aber nicht durch Beur- Verfassungsvertrag fehlende Gottesbezug, der mich zu teilung von Politikansätzen seitens weitgehend anony- einem „Nein“ bewogen hat. Aus der katholischen Ju- mer Institutionen, sondern durch den Wettbewerb von gendbewegung kommend, habe ich, insbesondere zwi- Ideen, die auf dem Markt miteinander konkurrieren und schen 1955 und 1975, mit zahlreichen Aktionen für ein sich so als mehr oder weniger praktikabel erweisen. Europa gearbeitet, das sichan den christlichen Grund- werten orientiert. Es waren nicht nur die vielen Jugend- Das Bemühen, die Mitwirkungsrechte des Deutschen begegnungen mit jungen Franzosen, sondern auch der Bundestages zu stärken, ist zwar ehrenwert. An dervon mir ganz wesentlich initiierte valutafreie Jugendaus- Sechs-Wochen-Frist zur Subsidiaritätsprüfung etwa än- tausch mit Russland – damals Sowjetunion – und osteu- dert sich jedoch nichts. Schon heute aber sind die Mit- ropäischen Staaten wie Polen, CSSR, Ungarn sowie mit glieder des Deutschen Bundestages kaum in der Lage, der damaligen DDR, die dem Ziel eines freien, vereinig- die von europäischen Institutionen herausgegebene Do- ten Europas auf der Grundlage christlicher Werte dienen kumentenflut zu sichten; an ein Studium bzw. eine Be- sollten. wertung dieser Dokumente ist kaum zu denken. Wenn Schon damals war ich zutiefst überzeugt, dass Europa aber der Deutsche Bundestag zukünftig zum Beispielnur dann eine gute Zukunft haben würde, wenn es nicht mittels Subsidiaritätsklage und Subsidiaritätsrüge einen nur eine Wirtschafts- und Währungsunion bleiben Teil der parlamentarischen Kontrollfunktion wahrzuneh- würde. Ich trete deshalb dafür ein, dass ähnlich wie im men hat, die nach dem Prinzip der Gewaltenteilung ei- Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Ver- gentlich dem Europäischen Parlament zusteht, dannantwortung des Menschen vor Gott im Vertrag über eine schwächt dies die parlamentarische Kontrollfunktion des Verfassung für Europa Erwähnung findet. Nur so kann nationalen Parlaments gegenüber der nationalen Regie- sich Europa zu einer wirklichen Wertegemeinschaft ent- rung genauso, wie es gleichzeitig die unzureichend aus- wickeln, die ihre Herkunft nicht leugnet und zugleich ein gebildete Kontrollfunktion des Europäischen Parlaments Bekenntnis zur christlich abendländischen Geschichte gegenüber europäischen Institutionen darstellt. Beides ablegt. ist für mich politikwissenschaftlich und demokratietheo- Europa wächst in seiner Fläche, nicht aber in der Be- retisch in hohem Maße fragwürdig. sinnung auf gemeinsame Werte. Die umfassende Erwei- Das Fehlen eines klaren Gottesbezuges stellt für mich terung nach Osten und die zusätzliche Aufnahme von zudem einen schwer wiegenden Mangel des Europäi-Rumänien und Bulgarien innerhalb eines Zeitraums, der schen Verfassungsvertrages dar. Wenn Bundeskanzler kaum eine Konsolidierung zulässt, überfordert die EU nicht nur finanziell. Begriffe wie „Entsenderichtlinie“ (B) Gerhard Schröder in der Debatte vom 10. September (D) und „Dienstleistungsrichtlinie“ unterstreichen bereits 2003 vor dem Deutschen Bundestag erklärt: „Nach mei- heute in der politischen Diskussion die aufkommenden ner Auffassung ist ein Gottesbezug nicht erforderlich“ Probleme im freien Dienstleistungsverkehr der nach Os- und fünf Sätze später hinzufügt: „Sowohl der Außenmi- ten erweiterten EU. Beispielhaft hierfür ist Art. III-144 nister als auch ich sind für den Gottesbezug eingetreten“, des noch nicht in Kraft gesetzten Verfassungsvertrages, dann bekommt man eine Vorstellung von der Ernsthaf- der wie folgt lautet: tigkeit, mit der die Bundesregierung bei diesem Thema zu Werke gegangen ist. Dabei geht es nicht nur darum, „Die Beschränkungen des freien Dienstleistungs- der christlich-jüdischen Tradition Europas vor allem aus verkehrs innerhalb der Union für Angehörige der historischen Gründen zu einer Erwähnung in einer Ver- Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat fassung zu verhelfen, sondern es geht um eine „Politik als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig des leeren Stuhls“, die deutlich macht, dass sich Regie- sind, sind nach Maßgabe dieses Unterabschnitts rungen, Parlamente und Verwaltungen nicht als letzte In- verboten.“ stanz verstehen, sondern sich der transzendentalen Di- Die Bundesregierung möchte durch eine entspre- mension menschlichen Daseins und Tuns bewusst sind chend abgeschwächte Dienstleistungsrichtlinie diese und dies auch durch eine entsprechende Formulierung in Vertragsbestimmung modifizieren. Angesichts des Vor- der Verfassung deutlich machen. Zwar ist mir klar, dass ranges des Verfassungsvertrages muss dieses Ansinnen aufgrund der unterschiedlichen Verfassungsgeschichten scheitern. Dies bedeutet, dass die für den deutschen Mit- der europäischen Nationalstaaten eine Formulierungtelstand außerordentlich schädliche Bestimmung in analog der im deutschen Grundgesetz verwendeten „in- Kraft gesetzt wird. vocatio dei“ nur schwer durchzusetzen gewesen wäre; Eine kritische Bewertung verdient zudem die zuneh- das ernsthafte gemeinsame Bemühen mit Staaten, diemende Kompetenzverlagerung von den nationalen Parla- ähnliche Zielsetzungen verfolgten, hätte mit Sicherheit menten zur Brüsseler Mammutbürokratie. Kommission jedoch substanziell mehr erbracht – etwa in der Form der und Ministerrat ersetzen parlamentarisches Handeln und polnischen Verfassung –, als heute im Entwurf des Euro- – was noch wichtiger ist – die parlamentarische Kon- päischen Verfassungsvertrages zu finden ist. trolle. Aus den vorgenannten Gründen vermag ich dem Eu- Die hier dargelegten Gründe haben mich daher bewo- ropäischen Verfassungsvertrag meine Zustimmung nicht gen, den Verfassungsvertrag in seiner jetzigen Form ab- zu geben. zulehnen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16505

(A) Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Die europäi- mehr ausreichend gegeben. Die dem Deutschen Bundes- (C) sche Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Die Europäi- tag eingeräumten Möglichkeiten eines Subsidiaritätsein- sche Union steht für Frieden, Freiheit und Wohlstand. spruches und einer Subsidiaritätsklage können dies nicht Nach der Verwirklichung des europäischen Binnenmark- ausgleichen. Sie sind weder wirkungsvoll noch effektiv tes und der Einführung des Euros wurde mit der Ost-administrierbar. erweiterung ein weiterer dynamischer Schritt in der Ent- wicklung der Europäischen Union vollzogen. DieDa Europapolitik nicht mehr Außenpolitik ist, ist Europäische Union ist kein Staat und wird auch in Zu- ohne eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deut- kunft auf Nationalstaaten aufbauen. Umgekehrt braucht schen Bundestages in EU-Angelegenheiten der Verfas- der Nationalstaat Europa, weil jeder Nationalstaat in Eu- sungsvertrag hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem ropa wichtige Aufgaben heute nicht mehr auf sich allein deutschen Grundgesetz äußerst bedenklich. Der Legiti- gestellt erfüllen kann. Nationen und Europa bedingen mationsstrang europäischer Rechtsetzung über die natio- sich gegenseitig. Die Bindung der Menschen an ihre Na- nalen Parlamente und das Volk wird infrage gestellt. Die tionalstaaten und Parlamente, die Rückbindung der Ge- CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat daher eine Gesetzes- setzgebung an das Volk sind ein wesentliches Ergebnis initiative eingebracht, die die Rechte des Bundestages in europäischer Geschichte und bleiben unverzichtbar.EU-Angelegenheiten stärkt. Kernziele dieses Gesetzes Deshalb steht die Europäische Union mit dem EU-Ver- sind grundsätzliche Bindung der Bundesregierung an fassungsvertrag an einem Wendepunkt. Stellungnahmen des Bundestages in EU-Angelegenhei- ten, was insbesondere vor der Aufnahme neuer EU-Bei- Der Europäische Konvent und die Regierungskonfe- trittsverhandlungen und bei Vertragsänderungen gelten renz hatten den Auftrag zur Schaffung einer klaren und muss, und dass die Bundesregierung für den Übergang durchschaubaren Kompetenzordnung sowie einer Kom- von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung im petenzabgrenzung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Rat zunächst das Einvernehmen mit dem Bundestag mit der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Da- Zweidrittelmehrheit herstellen muss. Die Bundesregie- rüber hinaus sollte das europäische Vertragswerk trans- rung, SPD und Grüne lehnen diese Kernforderungen ab. parent werden, das demokratische Defizit reduziert und Die zugestandene Erweiterung der Mitwirkungsrechte die nationalen Parlamente ihren Mitwirkungsmöglich- für den Bundesrat, die Stärkung der Informationsrechte keiten gestärkt werden. Diese Vorgaben wurden nichtdes Bundestages und ein Minderheitenrecht zur Einrei- umgesetzt. chung einer Subsidiaritätsklage sind nicht ausreichend. Der Verfassungsvertrag schafft keine klare Kompe- In der Würdigung der Vor- und Nachteile des jetzigen tenzabgrenzung innerhalb der EU. Er beschränkt dasVerfassungsvertrages und der sich für den Deutschen Handeln der EU nicht auf die Kernaufgaben, sondernBundestag und die Rechtsetzung ergebenden Konse- (B) (D) kommt vielmehr zu einer weiteren erheblichen Kompe- quenzen komme ich in der Abwägung zu einem Nein für tenzausweitung auch in Bereichen, die bisher auf Ebe- dieses Verfassungswerk. Das Europa des EU-Verfas- nen der Mitgliedstaaten angesiedelt waren. Die Kompe- sungsvertrages ist nicht mehr das Europa, das die Grün- tenzausweitung betrifft so zum Beispiel die Wirtschafts- dungsväter der Gemeinschaft vor Augen hatten. Europa und Währungspolitik, die Energiepolitik, die Gesund- braucht klare Werte, föderale Strukturen, ein Bekenntnis heit, die Raumfahrt, den Zivilschutz, den Sport, die Da- zur christlich-abendländischen Geschichte, zur Verant- seinsvorsorge, die Innen- und Justizpolitik. Das verstärkt wortung vor Gott. Wir benötigen ein Europa, das sich die Zentralisierungsdynamik in Richtung Brüssel über auf Kernaufgaben begrenzt, aber nicht in nahezu allen Kernaufgaben hinaus. Mit der Flexibilitätsklausel kann nationalen Politikfeldern mitregiert und reguliert; ein die EU darüber hinaus in fast alle mitgliedstaatliche Zu- Europa, das seine Gesetzgebung über die Rückbindung ständigkeiten eingreifen. Durch das Initiativmonopolzum Volk und über die Parlamente legitimiert und trans- macht der Verfassungsentwurf die EU-Kommission zu parent macht. Ohne eine stärkere Einbindung der Men- einer europäischen Superbehörde ohne ausreichendeschen und ihrer nationalen Parlamente sowie des Euro- parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Par- päischen Parlaments kann das europäische Projekt nicht lament und die nationalen Parlamente. gelingen. Die EU muss sich von unten nach oben über das Volk und die Parlamente stärker als bisher legitimie- Durch die wesentliche Kompetenzausweitung auf na- ren. Auch bei einem Neinzum Verfassungsvertrag fällt hezu alle Politikbereiche, die Ausweitung der Mehr-die EU nicht in einen rechtsfreien Raum, sondern ist heitsentscheidung, die Festschreibung des Vorrangshandlungsfähig auf der Basis des Nizza-Vertrages. Neue europäischen Rechts vor nationalem Recht und die Ab- Impulse einer vertieften Integration in Kernbereichen schwächung der Rechte des Bundestages beim Vertrags- der EU und eine verstärkte Zusammenarbeit insbeson- änderungsverfahren verlieren der Deutsche Bundestag dere in der Außen- und Sicherheitspolitik sind zu entwi- und die Landtage substanzielle Gestaltung- und Mitwir- ckeln. Eine Überprüfung der Erweiterungsstrategie und kungsrechte. Das Europäische Parlament wird in seiner die Erarbeitung eines Partnerschaftskonzeptes der EU parlamentarischen Rolle nicht entsprechend gestärkt, es sind notwendig. verfügt über kein Initiativrecht, die Zusammensetzung leitet sich nicht auf der Basis eines gleichen Wahlrechtes Anders als die meisten europäischen Staaten hat die ab. Die Legitimation der europäischen Rechtsetzungrot-grüne Bundesregierung keinen einzigen Änderungs- über die Kontrolle durch die Parlamente und die Rück- antrag in die Abschlussverhandlungen eingebracht. Kei- bindung an das Volk, wie es das Bundesverfassungsge- ner der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion formu- richt in seinem Maastricht-Urteil fordert, ist damit nicht lierten begründeten Änderungsanträge wurde von der 16506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Bundesregierung aufgegriffen und einzubringen ver-rung statt. Lediglich gut funktionierende Büros der mul- (C) sucht. tinationalen Konzerne und potente Verbände können auf die Bürokratie in Brüssel noch Einfluss nehmen. Nach dem Willen der rot-grünen Bundesregierung soll die eilige Verabschiedung des Verfassungsvertrages Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen war es er- das Verhalten der französischen Wählerinnen und Wäh- klärtes Ziel eines Verfassungsvertrages, die Kompetenz ler beim Referendum am 29. Mai beeinflussen. Die Ent- der Europäischen Union zu begrenzen und, so weit mög- scheidung des Deutschen Bundestages als Vehikel zur lich, auf Kernbereiche zurückzuführen. Diesem Auftrag Beeinflussung französischer Wähler zu nutzen, ist unan- wird der vorliegende Verfassungsvertrag nicht gerecht, gemessen und falsch. Richtig wäre es gewesen, die Ent- in Gegenteil: Der Vertrag schreibt die Kompetenzen, die scheidung des Bundestages nach dem französischenEuropa an sich gerissen hat, fest und vergrößert sie Referendum anzusetzen oder zumindest zeitgleich am durch neue bzw. erweiterte Kompetenzen, obwohl die Tag des französischen Referendums, um europäischeAufgaben, die übertragen werden, ebensogut von den Gemeinsamkeit zumindest im Abstimmungszeitpunkt zu Mitgliedstaaten erledigt werden könnten. Koordinie- demonstrieren. Der Deutsche Bundestag hätte dann in rungskompetenzen im Bereich der Wirtschaftspolitik einer Sondersitzung abgestimmt, das französische Volk etwa eröffnen der EU-Bürokratie neue Möglichkeiten, im Rahmen eines Referendums. ihr vielfach planwirtschaftliches, zentralistisches und uniformes Denken umzusetzen, statt nationaler Vielfalt Das Ausmaß per Kompetenzübertragung und die Ein- und Gestaltungsfreiheit Raum zu lassen. Dem Subsidia- wirkungsmöglichkeiten der Europäischen Union sind so ritätsprinzip wird in dem Verfassungsvertrag nicht der weitgehend, die Überlagerung nationalen Rechts selbst gebotene Raum gegeben. des Grundgesetzes durch Europäischer Rechtsetzungs- akte so einschneidend, dass die Fundamente nationaler Der Verfassungsvertrag macht vielmehr deutlich: Die Staatlichkeit berührt werden. In diesem besonderen und Zentralisierungsdynamik der europäischen Bürokratie ist einzigartigen Fall reicht die Legitimation der frei ge-ungebrochen und wird – verbunden mit der fehlenden wählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht demokratischen Legitimation – dem Ziel des gemeinsa- aus, darüber zu beschließen. Vielmehr kann nur dasmen Europas schweren Schaden zufügen. Der Vertrag deutsche Volk selbst über eine so weit gehende Verände- legalisiert, verfestigt und erweitert eine europäische Po- rung der Staatlichkeit gemäß Art. 146 des Grundgesetzes litik, die unterschiedliche nationale Strukturen und Be- beschließen. Die CSU hat deshalb zu Recht eine europa- dürfnisse und den Grundsatz der Subsidiarität missach- weite, an einem Tag stattfindende Abstimmung für jedes tet, und er trägt dazu bei, die Bürger noch stärker als Land gesondert vorgeschlagen. Diesen Vorschlag hat die bisher von der Politik zu entfremden. Europa muss zur (B) Bundesregierung abgelehnt. Besinnung kommen. Ich kann deshalb dem Verfassungs- (D) vertrag nicht zustimmen.

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Das gemeinsame Europa ist unsere Zukunft! Auf der Grund- Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Ich stimme lage ihres kulturellen Erbes und christlicher Wertvorstel- der EU-Verfassung und den Begleitgesetzen zu, weil sie lungen müssen die Nationen Europas ihre Zukunft ge- eine Verbesserung gegenüber dem jetzigen Vertragszu- stalten. Auf der Basis einer freien und sozialenstand bedeuten. Dies bezieht sich insbesondere auf die marktwirtschaftlichen Ordnung wird die wirtschaftliche Parlamentsbeteiligung und auf die Erwähnung des Integration Europas Wohlstand für alle ermöglichen und christlichen Erbes. Gleichwohl bedauere ich, dass der die Formulierung und Umsetzung einer gemeinsamen dann erreichte Zustand nicht die Kriterien erfüllt, die ich Außen- und Sicherheitspolitik wird die große europäi- mir von dem Europäischen Verfassungsprozess erhofft sche Aufgabe in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts habe. sein. Der Weg der Integration über demokratische Ab- Insbesondere wird keine Vorkehrung dagegen getrof- stimmungs- und Annäherungsprozesse ist mühsam, weil fen, dass der von Europa ausgehende Bürokratisierungs- jede europäische Nation ihre eigenen Erfahrungen und prozess sich weiter fortsetzt und sich als Hemmnis für politischen Traditionen hat. Aber das Zusammenwach- eine positive Fortentwicklung unserer Volkswirtschaft sen der europäischen Gesellschaften in einem Europaerweist. Nationale Bestrebungen zum Bürokratieabbau ohne Grenzen und die Erkenntnis, dass das Miteinander als grundlegende Voraussetzung für ein erneutes Wirt- allen zum Vorteil gereicht, wird diesen mühsamen und schaftswachstum werden nicht nur durch den von Euro- langwierigen Prozess zum Erfolg führen. pa ausgehenden Prozess zunichte gemacht, sondern wir werden weit zurückgeworfen. Daran ändern auch die Doch das gemeinsame Europa ist in Gefahr. Die Eu- nunmehr im dritten Teil der Europäischen Verfassung ropäische Kommission hat über Jahrzehnte, flankiert aufgelisteten Zuständigkeitskataloge nichts, weil sie vom Europäischen Gerichtshof und geduldet von den na- durch die Wettbewerbsklausel unterlaufen werden. Das tionalen Exekutiven, Kompetenzen an sich gerissen und hat die Praxis der letzten Jahrzehnte gezeigt. Dadurch übt diese unter faktischer Ausschaltung der nationalen wird auch die an sich richtige und wichtige Subsidiari- Parlamente aus. An die Stelle der dem Volk verantwortli- tätsklausel unterlaufen werden. Statt Abbau der unglei- chen Vertreter der nationalen Parlamente ist bei der Ge- chen Ausgangsbedingungen wird der Abstand größer. setzgebung der europäische Beamtenapparat getreten. Politische Meinungsbildungs- und Entscheidungspro- Ich hätte mir gewünscht, dass die abendländische zesse finden somit ohne Rückkopplung mit der Bevölke- christlich jüdische Ausprägung unserer Kultur, zum Bei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16507

(A) spiel in Form des Gottesbezuges, Eingang in den Text des Deutschen Bundestages tatsächlich stärkt und die ei- (C) gefunden hätte, um zum Ausdruck zu bringen, dass die nen Gottesbezug hat. EU eine Wertegemeinschaft ist und welche Grundwerte ihren Rahmen bestimmen. Der vorliegende Verfassungsvertrag setzt diese Vor- gaben unzureichend um. Er verstärkt stattdessen die Ich hätte zugleich auch deutlich gemacht, dass eine Zentralisierung weit über die Kernaufgaben der EU hi- Erweiterung über den entsprechenden Kulturkreis hinaus naus in Bereiche, die bisher in die Zuständigkeit der Mit- nicht möglich ist, weil eine so tiefe Wertegemeinschaft gliedstaaten fielen. Dadurch verliert insbesondere der eine innere Homogenität voraussetzt, die nur innerhalb Deutsche Bundestag wichtige Rechte bei der Gestaltung eines einheitlichen Kulturkreises gewährleistet ist. und Mitwirkung der europäischen Politik. Wenn diese nicht gestärkt werden, ist eine Vereinbarkeit des Verfas- Ich bin Realist genug um zu wissen, dass im jetzigen sungsvertrages mit unserem Grundgesetz äußerst be- Verhandlungsstadium eine Gegenstimme von mir nicht denklich. dazu führt, dass die europäische Verfassung diesen von mir als wünschenswert aufgezeigten Zielen näher kom- Der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion einge- men würde. Bei einem Scheitern der europäischen Ver- brachte Gesetzentwurf, der die Rechte des Deutschen fassung verblieben wir nur in dem jetzt geltenden Ver- Bundestages in EU-Angelegenheiten stärken würde, ist tragszustand, der noch schlechter ist. Dies ist wohl auch der richtige Ansatz. Zentrale Forderungen dieser Initia- der Grund dafür, dass beide großen Kirchen deutlich ge- tive wurden aber von der Bundesregierung, der SPD und macht haben, dass die Verabschiedung der Verfassung den Grünen abgelehnt. Die gemachten Zugeständnisse wichtiger ist als unrealistischen Zielen nachzulaufen.bei den Mitwirkungsrechten für den Deutschen Bundes- Deshalb stimme ich trotz Bedenken zu. tag sind bei weitem nicht ausreichend. Die Europäische Verfassung muss wertgebunden sein Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Der EU-Ver- und sich klar zum historischen und christlichen Erbe un- trag ist ein positiver Meilenstein für die künftige Ent-seres Kontinents bekennen. Die Grundwerte Europas wicklung Europas. sind ohne einen ausdrücklichen Gottesbezug unvollstän- dig. Ohne diesen Gottesbezug kann die Zukunft Europas Er überwindet den unbefriedigenden Zustand nachnicht gestaltet werden. den Verhandlungsergebnissen von Nizza durch Stärkung der parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten und Unter eingehender Berücksichtigung der Vor- und dem ausdrücklichen Bekenntnis zum Prinzip der Subsi- Nachteile komme ich zu der Schlussfolgerung, dem vor- diarität. Europa wird nach innen demokratischer undliegenden Verfassungsvertrag nicht zustimmen zu kön- (B) nach außen stabiler. Für uns Deutsche in der Mitte Euro- nen, weil grundsätzliche Mitwirkungsrechte des Deut-(D) pas ergeben sich die gleichen Solidaritätsproblematiken schen Bundestages, wie zum Beispiel Bindungswirkung wie für andere in der Gemeinschaft der Staaten. Es erge- seiner Stellungnahmen für die Bundesregierung in EU- ben sich aber genauso enorme Chancen, die künftigen Angelegenheiten, fehlen, zudem weil die Bundesregie- Generationen von Nutzen sein werden. rung für den Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung im Rat keine Zustimmung des Vor diesem Hintergrund stimme ich dem vorgelegten Deutschen Bundestages mit Zweidrittelmehrheit herbei- Vertragswerk zu, obwohl mir bewusst ist, dass eine aus- führen muss, des Weiteren weil die Bundesregierung drückliche Aussage zu den gewachsenen geistigen und kein Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bei kulturellen Grundwerten Europas in Form einer Präam- neuen Beitrittsverhandlungen oder Vertragsänderungen bel ähnlich der unseres deutschen Grundgesetzes mit Be- herstellen muss, und weil der Gottesbezug, wie ich ihn zug auf das Bewusstsein der Verantwortung vor Gottverstehe, fehlt. nicht niedergeschrieben wurde. Meine Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages ver- Es gilt daher umso mehr mit diesem Bewusstsein die binde ich mit einem klaren Bekenntnis zu einem födera- handelnde Politik auszufüllen und dazu hin dafür zu sor- len, wertgebundenen und bürgernahen Europa. Gerade gen, dass Europa den einzelnen und den regionalen Ebe- die stärkere Einbeziehung der Bürger und der nationalen nen so viel eigene Gestaltungsfreiheit wie im Interesse Parlamente in die Gestaltung der Politik der Europäi- des Ganzen vertretbar ist, lässt und dem Wettbewerb von schen Union ist eine wichtige Grundlage für den weite- alternativen Lösungen genügend Raum gibt. ren Erfolg des europäischen Einigungsprozesses. Die parlamentarischen Spielräume müssen genutzt werden. Um Bürokratie und Regelwut Einhalt zu bieten Robert Hochbaum (CDU/CSU): Dem Gesetzent- und so deutlich werden zulassen: Europa ist für die wurf der Bundesregierung zu dem Vertrag vom 29. Ok- Menschen da und bietet Voraussetzungen bei sozialertober 2004 über eine Verfassung für Europa, Druck- Gerechtigkeit und hohem Umweltstandard in Friede,sache 15/4900, kann ich nach Abwägung der Vor-und Freiheit und Wohlstand zu leben. Nachteile aus folgenden Gründen nicht zustimmen. Erstens. Die Kompetenzausweitung der EU führt zu Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich begrüße den euro- einer erheblichen Schwächung der nationalen Parla- päischen Einigungsprozess und bin auch für eine ge-mente. Im Gegensatz zum ursprünglichen Anliegen ers- meinsame Verfassung – allerdings für eine Verfassung, tens eine klare und transparente Kompetenzordnung zu die klar und transparent ist, die die Mitwirkungsrechte schaffen, zweitens eine Kompetenzabgrenzung der 16508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und Volksentscheide geben. In den restlichen Staaten ist die (C) den Mitgliedstaaten festzulegen sowie drittens denFrage bisher ungeklärt. Handlungsspielraum der Europäischen Union auf deren Kernaufgaben zu konzentrieren, beinhaltet der vorlie- Neben den beiden kardinalen Hauptproblemen be- gende Verfassungsvertrag ne ei Ausweitung des Ent- gründet des Weiteren der Verzicht auf einen ausdrückli- scheidungsspielraumes der Europäischen Union aufchen Gottesbezug mein Abstimmungsverhalten. Der Aufgabenbereiche, die bisher bei den MitgliedstaatenVerfassungsvertrag definiert zwar die Grundwerte Euro- angesiedelt sind. Als Beispiel ist hier die neue Gesetzge- pas, stellt aber die Bedeutung der christlichen Werte und bungskompetenz im Bereich der kommunalen Daseins- Traditionen für die Zukunft Europas in keinster Weise vorsorge zu nennen. Die Verfassung ermöglicht es der Eu- hervor. Ein Europa abendländischer Tradition benötigt ropäischen Union künftig, den Mitgliedstaatenjedoch eine christlich fundamentierte Verfassung. vorzuschreiben, welche Leistungen der Daseinsvorsorge wie zu erbringen sind. Ergo: Die EU kann zukünftig Ge- Abschließend weise ich ausdrücklich darauf hin, dass setze verabschieden, die den innerstaatlichen Stellen nicht mein „Nein“ zum EU-Verfassungsvertrag nicht meine einmal mehr die Wahl der Form und Mittel zu deren Um- generelle Auffassung zu Europa widerspiegelt. Mein setzung überlassen. Das im Deutschen Grundgesetz fest- Verständnis von Europa definiert sich über klare, christ- geschriebene und geschützte kommunale Selbstverwal- liche Werte, förderale Strukturen und ein bürgernahes tungsrecht droht hierdurch zu verkümmern. Auch das Verständnis mit konsequenter Rückbindung zum Volk. verankerte Frühwarnsystem bietet meiner Meinung nach Dies wird mit der vorliegenden Verfassung nicht reali- keine ausreichende Sicherheit. Das festgeschriebenesiert werden können. Rügerecht von einem Drittel der Parlamente ist zwar grundlegend zu begrüßen, führt aber in der Konsequenz Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Europa braucht einen nur zu einer Überprüfung der Richtlinie und nicht zwin- Verfassungsvertrag. Dem vorgelegten Entwurf stimme gend zu einer Überarbeitung bzw. zur Aufnahme derich zu, obwohl er nach meiner Auffassung erhebliche Vorschläge der rügenden Parlamente. Im Schluss heißt Defizite aufweist. Es ist zu befürchten, dass mit diesem dies, die Mitgliedstaaten werden in ihrer Stellung als ei- Vertrag die Ideale der Gründerjahre der Europäischen genständig gewachsene und legitimierte Staaten nach- Union und die damit verbundenen Visionen nicht er- haltig geschwächt. Diese Aussage erfährt besondere Bri- reicht werden. Der Vertrag erfüllt bei weitem nicht sanz vor dem Hintergrunddes im Verfassungsentwurf meine Erwartungen. In den Vertrag wurde die Verant- festgeschriebenen Art. I-6. In ihm ist der Vorrang derwortung vor Gott und den Menschen nicht aufgenom- Europäischen Verfassung vor allem nationalen Rechtmen. Damit ist die Gestaltung eines geeinten Europas verankert. Nationale Verfassungen sind dabei mit einge- (B) nach christlichen Grundsätzen aufgegeben worden. (D) schlossen. Im Ergebnis führt dies dazu, dass künftig auch das Grundgesetz in der Entscheidungshoheit der Weiter stelle ich fest: dass es mit dem Vertrag nicht Europäischen Union liegen kann. gelingt, die Kompetenzen klar festzuschreiben – es sind zu viele Bereiche mit geteilter Zuständigkeit enthalten –; Zweitens. Fehlende Volksabstimmung führt zu unzu- dass es nicht gelungen ist, Aufgaben wieder auf die unte- reichender Legitimation der Verfassung. Die Entschei- ren Ebenen zu verlagern; dass der in Art. I-6 festgelegte dung über eine Europäische Verfassung ist die grundle- Vorrang der Union vor dem Recht der Mitgliedstaaten gendste aller politischen Entscheidungen. In einerunverantwortlich ist; dass es im Vertrag keine klare Fest- Verfassung verständigen sich die Bürgerinnen und Bür- legung gibt, Europa auf die Kernaufgaben zu konzentrie- ger über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausgestaltung ren; dass nationale Spielräume zum Beispiel im Bereich und Verteilung politischer Macht. Deshalb ist eine Ver- der Strukturpolitik nicht festgeschrieben sind; dass es fassung ohne die ausdrückliche Zustimmung des Volkes versäumt wurde, im Zusammenhang mit der Ratifizie- grundsätzlich nicht ausreichend legitimiert. Zwar istrung die Rechte der nationalen Parlamente zu stärken; nach überwiegender Meinung der „Vertrag über einedass der Vertrag vor allem durch viele Zusatzerklärun- Verfassung für Europa“ keine echte Verfassung im Sinne gen unübersichtlich und für den Bürger nicht verständ- des Art. 146 GG, die eine Volksabstimmung zwingend lich ist; dass im Vertrag keine räumliche Begrenzung Eu- erforderlich machen würde, aber dennoch ist es hierropas erfolgt. politisch klug, einen Volksentscheid herbeizuführen. Nur wenn den Bürgerinnen und Bürgern ein echtes Mitwir- Mit der fehlenden breiten Diskussion des Verfas- kungsrecht zur Verfügung gestellt wird, wird es gelin- sungsvertrages wurde die Chance vertan, mit den Men- gen, sie auf den weiteren Integrationsprozess mitzuneh- schen über die Notwendigkeiten, Ziele und die Identität men und sie von der europäischen Idee zu überzeugen. von Europa zu diskutieren. Es ist nicht gelungen, Euro- pas Seele zu vermitteln und Europa zu einer Herzensan- Die Abhaltung eines Volksentscheides zur Einführung gelegenheit zu machen. Europa braucht mehr als nur einer Europäischen Verfassung auch in Deutschland wirtschaftliches Denken und Handeln. Es ist auch nicht würde den Gleichklang mit den anderen europäischen gelungen, auf kritische Fragen zum Erscheinungsbild Staaten herbeiführen. Denn nach derzeitigem Stand sol- und zur Zukunft der Europäischen Union Antworten zu len in Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, geben. Irland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal und Spanien Volksentscheide durchgeführt werden. Ledig- Es bleibt noch viel zu tun, um Europa richtig zu ge- lich in Deutschland, Maltaund Zypern wird es keine stalten. Deshalb muss dieser Vertrag in einem über- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16509

(A) schaubaren Zeitraum nachgebessert werden. Diese Hoff- soziale Standards zu einigen und sie europaweit durch- (C) nung gebe ich nicht auf. zusetzen. Ich erkenne aber an, dass der vorgelegte Verfassungs- Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): Die Europäi- entwurf einen Fortschritt gegenüber dem Status quo dar- sche Union ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellt und die Entwicklung und Durchführung einer euro- weltweit das erfolgreichste Projekt regionaler Integra- päischen Friedens- und Abrüstungspolitik sowie einer tion überhaupt, welches unter großen Anstrengungen der ambitionierten europäischen Sozial- und Umweltpolitik EU-Mitgliedstaaten zustande gebracht worden ist. nicht behindert. Nun kommt es auf uns Politiker an, dazu beizutragen, dass die Europäische Union zu einer Frie- Nichtsdestotrotz verfolge ich mit Besorgnis die starke densmacht wird und in ihrem gesamten Geltungsbereich Tendenz der Entwicklung der EU in eine neoliberale eine betont soziale und ökologische Marktwirtschaft ent- Richtung und eine Entdemokratisierung nationaler Ent- wickelt. scheidungsstrukturen.

Ich habe diese Vorbehalte auch aufgrund dessen, dass Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Nach wie vor existieren ich in der ersten Lebenshälfte in der Sowjetunion und im vorliegenden Verfassungsvertrag erhebliche Mängel, der DDR gelebt und die Auswirkungen eines extremdie den europäischen Integrationsprozess wesentlich be- ausgeprägten Zentralismus ohne parlamentarische Kon- hindern. Ich bedauere, dass die verhandlungsführende trolle erfahren habe. Mit dieser Erfahrung fällt es mirBundesregierung nicht erreicht hat, den Gottesbezug in schwer, jeder Stärkung einer zentralen Machtstruktur in der Präambel zu verankern, eine stärkere Begrenzung der Europäischen Union zuzustimmen. der Kompetenzen der EU durchzusetzen, insbesondere im Bereich der Wirtschaft- und Sozialpolitik, die Da- Ich stimme dem vorliegenden Ratifikationsgesetz für seinsvorsorge aus der Gesetzgebungskompetenz der EU den EU-Verfassungsvertrag dennoch zu, weil ich die herauszunehmen, den Ausschluss der Veränderung der Hoffnung hege, dass die demokratischen Ansätze des Eigenmittel aus dem vereinfachten Änderungsverfahren Verfassungsvertrages nicht auf dem Papier stehen blei- durchzusetzen analog der Beschlüsse mit militärischen ben und dass sie weiterentwickelt werden. Der Verfas- oder verteidigungspolitischen Bezügen, und zu verhin- sungsvertrag ist letztlich ein Kompromiss des Verfas- dern, dass der Europäische Rat beim mehrjährigen sungskonventes, der meines Erachtens immer noch Finanzplan einstimmig – ohne Ratifizierung durch die einige Demokratiedefizite enthält. Gegenüber dem be- Mitgliedstaaten – den Übergang zur Mehrheitsentschei- stehenden Vertrag von Nizza stellt er aber doch einen dung beschließen kann. Fortschritt dar. (B) Andererseits dürfen auch die Verbesserungen nicht(D) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich übersehen werden, die im Vertragstext enthalten sind. stimme dem Gesetzentwurf zu dem Vertrag Aus vom meiner Sicht ergeben sich unter anderem Verbesse- 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa zu, da rungen durch die Zusammenführung der bisherigen Ver- der vom Europäischen Konvent vorgelegte Verfassungs- träge in einen wesentlich klarer strukturierten Vertrag un- entwurf einen Fortschritt gegenüber dem Vertrag vonter Berücksichtigung der Charta der Grundrechte, die Nizza darstellt und kaum einerealistische Aussicht be- Berufung in der Präambel auf das kulturelle, religiöse steht, dass sich die Mitgliedstaaten der EU in absehbarer und humanistische Erbe Europas, aus dem sich die unver- Zeit auf einen besseren Verfassungsentwurf einigenletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen könnten. sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaat- lichkeit als universelle Werte entwickelt haben, die Ich halte es jedoch für bedenklich, dass sich in Art. 40 verbesserte Definition des Subsidiaritätsprinzips, die Ein- Abs. 3 die Mitgliedstaaten der EU dazu verpflichten, beziehung der nationalen Parlamente in den Gesetzge- „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbes- bungsprozess durch das so genannte Frühwarnsystem, sern“. Dies ist zumindest missverständlich, weil es als die Möglichkeit einer Klage durch die nationalen Parla- Aufrüstungsforderung interpretiert werden könnte. Zwar mente bei der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, die werden an anderer Stelle auch die zivilen Mittel derEinführung der so genannten doppelten Mehrheit, durch Konfliktvermeidung und Krisenbewältigung angespro- die eine stärkere Gewichtung der Bevölkerungsgröße der chen. Insgesamt wäre jedoch eine noch deutlichereLänder gewährleistet wird, das Verbot, aus Zielbestim- Orientierung der gemeinsamen Sicherheits- und Vertei- mungen Handlungsermächtigungen abzuleiten, eine ver- digungspolitik an dem Ziel, den Frieden mit einem mög- besserte Abgrenzung der Kompetenzen, die Anerken- lichst geringen militärischen Aufwand zu sichern, wün- nung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich schenswert gewesen. der Daseinsvorsorge sowie durch das Gebot der Berück- sichtigung des Ergebnisses der Europawahlen bei der In den Passagen, die die gemeinsame Wirtschaftspoli- Bestimmung des Kommissionspräsidenten durch das Eu- tik betreffen, werden meines Erachtens zu einseitig die ropäische Parlament. Eine Ablehnung des Vertrages be- freie Marktwirtschaft, der Wettbewerb sowie der freie deutet, dass auch die vorgesehenen Verbesserungen nicht Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr wirksam werden können. betont und die sozialen Aspekte nur am Rande erwähnt. Hier fehlt meines Erachtens der Hinweis auf die Not- Nach reiflichen Überlegungen bin ich zu dem Ent- wendigkeit, sich auf gemeinsame hohe ökologische und schluss gekommen, dass trotz der erheblichen Bedenken 16510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) die Vorteile des Gesetzentwurfs die Nachteile aufwie- Jürgen Koppelin (FDP): Nach meiner Überzeu- (C) gen, und stimme deshalb für den Gesetzentwurf. gung muss die Europäische Verfassung vor allem eine Verfassung der Bürger sein. Nun jedoch bleiben die Bür- ger in Deutschland außen vor. So wird eine große (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf Manfred Kolbe Chance verspielt. Aufgrund des fehlenden Referendums, der Bundesregierung zu dem Vertrag vom 29. Oktober wie es in Frankreich stattfinden wird, werden in 2004 über eine Verfassung für Europa, Drucksache Deutschland die Bürger nur unzureichend über die In- 15/4900, kann ich nach Abwägung der Vor- und Nach- halte der EU-Verfassung informiert. Die Fragen und Sor- teile aus folgenden Gründen nicht zustimmen: gen der Menschen werden nicht ausreichend berücksich- Die Entscheidung über eine Verfassung für Europa ist tigt. Dieser wichtige Schritt auf dem Weg zu einem die grundlegendste aller politischen Entscheidungen. In vereinten Europa wird nicht gegangen. einer Verfassung verständigen sich die Bürgerinnen und Im Zusammenhang mit der Verfassung ist in Deutsch- Bürger über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausgestal- land eine breite gesellschaftliche Diskussion überfällig. tung und Verteilung politischer Macht. Deshalb ist eine Dabei sollten Fragen über die Zukunft der EU, ihrer Ver- Verfassung ohne die ausdrückliche Zustimmung des Vol- fassung und der zukünftigen Erweiterung umfassend kes grundsätzlich nicht ausreichend legitimiert. Zwar ist zwischen allen gesellschaftlichen Ebenen diskutiert wer- nach überwiegender Meinung der „Vertrag über eineden. Ängste und Bedenken der Bürger können nicht Verfassung für Europa“ keine echte Verfassung im Sinne ernst genug genommen werden. Ihnen muss begegnet des Art. 146 GG, die eine Volksabstimmung zwingend werden, um diese abzubauen und die EU für die Zukunft erforderlich machen würde. Der Verfassungsvertrag ent- stark zu machen. hält aber einen grundsätzlichen Vorrang vor nationalem Recht – Art I-6: „Die Verfassung und das von den Orga- Trotz Bedenken gegen Teilbereiche werde ich dem nen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Gesetz zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Zuständigkeiten gesetzte Rechte haben Vorrang vor dem Verfassung für Europa zustimmen. Recht der Mitgliedstaaten.“ – und greift in die kommu- nale Daseinsvorsorge ein. Deshalb wäre es zumindest (CDU/CSU): Ich trete leiden- politisch klug gewesen, einen Volksentscheid über den Hartmut Koschyk schaftlich für das europäische Einigungswerk ein und Verfassungsvertrag herbeizuführen. habe seit meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundes- Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger ein echtes Mit- tag im Jahr 1990 allen europarechtlichen Regelungen im wirkungsrecht haben, wird es gelingen, sie auf dem wei- Deutschen Bundestag zugestimmt. Dem Gesetz zu dem (B) teren Integrationsprozess mitzunehmen und sie von der Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für (D) europäischen Idee zu überzeugen. Augenblicklich findet Europa kann ich jedoch aus nachfolgenden Gründen in Deutschland aus vielerlei Gründen ein bedauerlicher nicht zustimmen. Entfremdungsprozess gegenüber Europa statt, den wir Erstens. Im Europäischen Verfassungsvertrag fehlt mit solchen Abstimmungen „quasi unter Ausschluss der nicht nur der Gottesbezug, sondern auch die Benennung Öffentlichkeit“ noch befördern. Europa darf nicht nur des christlichen Erbes. Ich zitiere den Schriftsteller Mar- auf Regierungskonferenzen stattfinden, sondern die Po- tin Mosebach: litik muss die Menschen vor Ort von Europa überzeu- gen. In diesem Sinn ist der fehlende Volksentscheid lei- Anrufung Gottes in der Verfassung bedeutet das der eine verpasste Chance. Bekenntnis, dass der Staat das Recht nicht erschaf- fen kann, sondern nur zu seinem Schutz berufen ist, Die Abhaltung eines Volksentscheides zur Einführung ja, seine Legitimität nur so lange besitzt, wie er das einer Europäischen Verfassung auch in Deutschland von ihm nicht selbst geschaffene Recht schätzt! würde den Gleichklang mit den anderen europäischen Staaten herbeiführen. Denn nach derzeitigem Stand sol- Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, len in Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Karl Kardinal Lehmann, und der Ratsvorsitzende der Irland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal undEvangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolf- Spanien Volksentscheide durchgeführt werden. Ledig- gang Huber, haben eindringlich an die Staatsmänner Eu- lich in Deutschland, Maltaund Zypern wird es keine ropas und damit auch an die Bundesregierung appelliert, Volksentscheide geben. In den restlichen Staaten ist die in den Europäischen Verfassungsvertrag einen Gottesbe- Frage bisher ungeklärt. Warum gehen wir in Deutsch- zug aufzunehmen: land einen anderen Weg als alle anderen großen europäi- schen Staaten, warum gehen wir diesen deutschen Son- Ein solcher Gottesbezug macht deutlich, dass nicht derweg? der Mensch der letzte Maßstab für den Menschen ist. Er erinnert daran, dass menschliches Handeln Keinesfalls befürworte ich generell Volksentscheide immer begrenzt und vorläufig ist; deshalb darf sich auf Bundesebene, wohl aber hier in dem Sonderfall der kein Mensch eine absolute Macht anmaßen. Der Einführung einer Europäischen Verfassung. Die wesent- Gottesbezug hält das Bewusstsein für die Endlich- lichen Argumente, die allgemein gegen eine Volksab- keit und Unvollkommenheit alles menschlichen stimmung auf Bundesebene sprechen, treffen hier gerade Handelns wach und bewahrt davor, menschliche nicht zu. Ordnung absolut zu setzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16511

(A) Auch der verstorbene Papst Johannes Paul II. hat in als auch von seiner Ausrichtung auf die Bürgerinnen und (C) dem Text „Ecclesia in Europa“ an die Staats- und Regie- Bürger nicht mit den bisherigen Verträgen der EU/EG rungschefs appelliert, im Europäischen Verfassungsver- gleichzusetzen. Ich teile die Auffassung namhafter deut- trag einen Bezug auf das jüdisch-christliche Erbe deut- scher Verfassungsrechtslehrer, dass es daher der Legiti- lich werden zu lassen. Papst Benedikt XVI. hat denmation des Verfassungstextes durch die Bürgerinnen und Verzicht auf den Gottesbezug in der Präambel der Euro- Bürger bedarf. Wörtlich heißt es in dem Aufruf vom päischen Verfassung als bedenkliches Signal gewertet. 26. April 2004: Eine Gesellschaft, deren politische Repräsentanten sich Es entspricht der europäischen Rechtstradition und weigern, eine transzendente Instanz über sich anzuer- dem Prinzip der Volkssouveränität, dass im Verfas- kennen, drohe ihre eigene Fehlbarkeit aus dem Blick zu sungsgebungsprozess das Volk als Pouvoir Consti- verlieren und werde anfällig für ideologische Surrogate. tuant auftritt. In der Praxis wird deshalb entweder In ihrem Antrag vom 14. Oktober 2003, Bundestags- die verfassungsgebende Versammlung direkt vom drucksache 15/1695, hat sich die CDU/CSU-Bundes- Volk gewählt oder die Verfassung in einem Volks- tagsfraktion für die Aufnahme eines Gottesbezuges in entscheid direkt vom Volk beschlossen. Diese Vor- den Europäischen Verfassungsvertrag ausgesprochen stellung liegt auch dem Grundgesetz zugrunde (Prä- und folgende Formulierung vorgeschlagenen: ambel sowie Artikel 20 Absatz 2 und Artikel 146). In dem Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, Viertens. Professor Dr. Peter M. Huber von der Lud- den Menschen und dem, was Europa seinem geis- wig-Maximilians-Universität München hat in seiner tig-religiösen Erbe schuldet, gründet sich die Union Stellungnahme für die 66. Sitzung des Ausschusses für auf die unteilbaren universellen Werte der Würde die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deut- des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der schen Bundestages am 16. März 2005 Folgendes ausge- Solidarität. führt: Zweitens. In einer Entscheidung zum Maastrichter Da die Europäische Verfassung zu einer weiteren Vertrag aus dem Jahre 1993 hat das Bundesverfassungs- Entmachtung der Mitgliedstaaten und damit auch gericht festgestellt: zu einer weiteren Stärkung der im Rat vertretenen Regierungen führen wird, ist es auch aus dem Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheit- Blickwinkel des deutschen Verfassungsrechts drin- liche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Be- gend geboten, den Einfluss des Deutschen Bundes- fugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der tags auf die Rechtsetzung in der Europäischen Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parla- Union durch innerstaatliche Vorkehrungen auszu- mente demokratisch zu legitimieren haben. Mithin (B) bauen und spürbar zu erweitern. Das bisher (D) in erfolgt demokratische Legitimation durch die Art. 23 Abs. 2 und 3 Grundgesetz geregelte Verfah- Rückkopplung des Handelns europäischer Organe ren hat nicht ausgereicht, um die kontinuierliche an die Parlamente der Mitgliedstaaten. Entmachtung des Parlaments zu verhindern oder Ich sehe durch den Europäischen Verfassungsvertrag auch nur zu verlangsamen. Das ist ein verfassungs- die demokratische Legitimation durch die Rückkopp- rechtliches Problem ersten Ranges. Es rührt an die lung des Handelns der europäischen Organe an die Par- Grundfesten unserer staatlichen Ordnung. lamente der Mitgliedstaaten kaum mehr gegeben. Ich Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat diesem ver- teile die Einschätzung von über 100 Universitätslehrern fassungsrechtlichen Problem durch den Gesetzentwurf und Wissenschaftlern, die in ihrem Aufruf zur Ableh- zur Ausweitung des Mitwirkungsrechts des Deutschen nung des Europäischen Verfassungsvertrages vom März Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen 2005 Folgendes festgestellt haben: Union, Bundestagsdrucksache 15/4716 vom 25. Januar Die vorgeschlagene Verfassung hätte zur Folge,2005, zu begegnen versucht, der jedoch in der Abstim- dass die politischen Entscheidungen immer häufi- mung des Deutschen Bundestages am 12. Mai 2005 ger fernab von den Bürgern getroffen würden. An- keine Mehrheit findet. statt die Tätigkeit der Europäischen Union auf die- Fünftens. Die Abkehr vom Einstimmigkeitserforder- jenigen Ziele zu konzentrieren, die sie besser als nis in den Bereichen der Asyl-, Flüchtlings- und Ein- andere erreichen kann, würde diese Verfassung die wanderungspolitik ist wegen der gravierenden Auswir- europäischen Institutionen in die Lage versetzen, kungen, die derartige Entscheidungen gerade auch auf die Mitgliedstaaten und – in den Bundesstaaten – die Bundesrepublik Deutschland haben können, nicht ihre Länder auf immer mehr Feldern zu verdrängen. sachgerecht. Insbesondere der Arbeitsmarktzugang von … Die Verfassung würde es den europäischen Insti- Drittstaatsangehörigen betrifft eine grundsätzliche inte- tutionen ermöglichen, das dichte Netz der staatli- grationspolitische Entscheidung des jeweils betroffenen chen Regulierung noch enger zu knüpfen. Die Wett- Mitgliedstaates. Dass der Verfassungsvertrag die Ent- bewerbsfähigkeit Europas in der Weltwirtschaft scheidung über die Anzahl zuzulassender wirtschaftli- würde da-runter leiden. Die europäische Wirtschaft cher Zuwanderer zum Zwecke der Arbeitsuche als An- braucht Deregulierung, nicht noch mehr staatliche gelegenheit des Mitgliedstaates ansieht, wird nicht Vorschriften. verhindern, dass es bereits jetzt, also vor In-Kraft-Treten Drittens. Der Europäische Verfassungsvertrag ist so- des Vertrages, massive Aktivitäten zur Entwicklung von wohl von seiner rechtlichen und politischen Bedeutung Strategien gibt, Wirtschaftsmigration in die nationalen 16512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Märkte zu fördern und zuzulassen, siehe Grünbuch über ten Mehrheit erhöht das Gewicht Deutschlands im euro- (C) ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigra- päischen Abstimmungsprozess. tion vom 11. Januar 2005. Trotz aller Vorzüge des EU-Verfassungsvertrages ge- Sechstens. Der langjährige Verfassungsrichter und genüber dem Vertrag von Nizza weist der EU-Verfas- Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Hans Hugo Klein hat sungsvertrag einige erhebliche Defizite auf und wird empfohlen, dem Vertragswerk eine Entschließung beizu- wichtigen europäischen Anliegen aus deutscher Sicht fügen, mit der der Deutsche Bundestag grundgesetzkon- nicht gerecht. So fehlt in der Präambel der wichtige Hin- forme Interpretationshilfen für den Verfassungsvertrag weis auf das christlich-jüdische Erbe Europas und der vorgibt und hat sich dabei auf das Beispiel des Deutsch- Bezug auf die Verantwortung vor Gott. Dies wider- Französischen Freundschaftsvertrages von 1963 bezo- spricht wohl begründeten Forderungen aus dem politi- gen, als der Deutsche Bundestag den Vertrag zwar ratifi- schen, gesellschaftlichen und kirchlichen Raum. Insbe- zierte, Bedenken aber in einer Präambel zum Ratifika- sondere vor dem Hintergrund, dass es zukünftig im tionsgesetz Ausdruck verlieh. Eine solche Entschließung Hinblick auf etwaige Erweiterungsbestrebungen der EU fehlt dem Ratifizierungsgesetz für den Europäischendarum gehen muss, die Grenzen Europas zu definieren, Verfassungsvertrag. Ich begrüße daher ausdrücklich die wäre es eminent wichtig gewesen, in der Präambel klar Verfassungsbeschwerde des Bundestagsabgeordnetenzu stellen, woraus die EU ihre Wurzeln bezieht, nämlich Dr. Peter Gauweiler, die dieser nach der Entscheidung aus dem abendländisch-christlich-jüdischen Kulturgut. des Deutschen Bundestages und des deutschen Bundes- Der EU-Verfassungsvertrag schafft keine klare Kom- rates zum Europäischen Verfassungsvertrag einlegenpetenzabgrenzung innerhalb der EU. Er beschränkt das wird und erwarte mir davon die notwendige verfassungs- Handeln der EU nicht auf die erforderlichen Kernauf- rechtliche Klarstellung zum Europäischen Verfassungs- gaben, sondern kommt vielmehr zu einer weiteren er- vertrag. heblichen Kompetenzausweitung auch in Bereichen, die bisher auf Ebenen der Mitgliedstaaten angesiedelt wa- Die größte Gefahr für das europäische Einigungswerk ren. Die Kompetenzausweitung betrifft zum Beispiel die sehe ich in einer Selbstüberforderung Europas und der Wirtschafts- und Währungspolitik, Sozial- und Gesund- Überforderung der Bürger Europas durch falsche euro- heitspolitik, Energiepolitik, Raumfahrt, Zivilschutz, parechtliche und -politische Weichenstellungen, wie sie Sport, Daseinsvorsorge und nicht zuletzt die Innen- und zum Beispiel durch die vorschnelle Aufnahme von Ru- Justizpolitik. mänien und Bulgarien, aber auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gegeben sind. Der Nicht zufriedenstellend ist es, dass die Bundesregie- Vertrag über eine Verfassung für Europa stellt für mich rung nur teilweise der von der CDU/CSU-Bundestags- (B) keinen wirksamen Beitrag gegen die Gefahr der Selbst- fraktion geforderten Mitwirkung des Deutschen Bundes- (D) überforderung Europas und die Überforderung seinertages bei der Rechtssetzung der Europäischen Union Bürger dar. Rechnung getragen hat. Daher sollte grundsätzlich die Bundesregierung an Stellungnahmen des Bundestages in EU-Angelegenheiten gebunden werden, was insbeson- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Die Euro- dere vor der Aufnahme neuer EU-Beitrittsverhandlun- päische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Die Euro- gen und bei Vertragsänderungen gelten muss. Ferner päische Union steht seit knapp 50 Jahren für Frieden,muss die Bundesregierung für den Fall eines Übergangs Freiheit und Wohlstand. Nach der Verwirklichung des von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung im Europäischen Binnenmarktes und der Einführung des Rat zunächst das Einvernehmen im Bundestag mit Zwei- Euro wurde mit der Osterweiterung ein weiterer dynami- drittelmehrheit herstellen. scher Schritt in der Entwicklung der Europäischen Union vollzogen. Entscheidend ist, insbesondere auch Kritisch zu sehen ist ebenfalls die erhebliche Auswei- im Verständnis der Bürger, dass die Europäische Union tung der Mehrheitsentscheidung und die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip in zahlreichen Politikbereichen. kein Staat ist und sich auch in Zukunft auf Nationalstaa- ten aufbauen wird. Der Verfassungsvertrag stellt trotz al- Nach reiflicher und intensiver Abwägung aller Vor- ler Defizite einen erheblichen Fortschritt gegenüber dem und Nachteile werde ich trotz der schwerwiegenden Be- derzeitigen Nizza-Vertrag dar. Der Verfassungsvertrag denken dem Vertragswerk zustimmen, fordere allerdings vereinigt den EG-Vertrag und den EU-Vertrag, integriert die Bundesregierung ausdrücklich auf, nach In-Kraft- die Grundrechte-Charta, überwindet die alte 3-Säulen- Treten des Vertragswerks unverzüglich und nachdrück- Struktur und schafft eine einheitliche vertraglichelich auf Verbesserungen in den genannten Bereichen hin- Grundlage für die Europäische Union. zuwirken. Als positiv ist herauszustellen, dass es im EU-Verfas- (CDU/CSU): Ich habe heute dem Ra- sungsvertrag gelungen ist, die Handlungsfähigkeit der Maria Michalk tifizierungsgesetz zur europäischen Verfassung nach EU zu stärken, indem weit reichende Reformen im insti- gründlicher Abwägung zugestimmt. tutionellen Bereich – Einführung der doppelten Mehr- heit, Schaffung eines Präsidenten, eines europäischen Alle Abgeordneten sollten sich bei Abstimmungen so Rates und eines europäischen Außenministers sowieverhalten, als ob von ihnen allein die Entscheidung ab- deutliche Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit – vor- hinge. Deutschland darf auch im 60. Jahr des Endes des genommen werden. Gerade die Einführung der doppel- Zweiten Weltkrieges im Hinblick auf seine besondere Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16513

(A) historische Verantwortung für den europäischen Frieden den Übergang zur Mehrheitsentscheidung beschließen(C) nicht den Eindruck erwecken, als stünde es nicht hinter kann. der Einigung Europas, dieuns Frieden und Sicherheit gebracht hat. Auch aus außenpolitischen Gründen soll Aus meiner Sicht ergeben sich unter anderem Verbes- nicht von Deutschland ein Nein zu dem Verfassungsver- serungen durch: die Zusammenführung der bisherigen trag ausgehen. Deutschland soll das Signal geben: Wir Verträge in einen wesentlich klarer strukturierten Vertrag sagen Ja zu einem vereinten Europa, in dem die Völker unter Berücksichtigung der Charta der Grundrechte; die und Volksgruppen ohne Furcht und Zwang leben kön- Berufung in der Präambel auf das kulturelle, religiöse nen. Auch die Sorben, deren Interessenvertretung ich als und humanistische Erbe Europas, aus dem sich die un- eine besondere Aufgabe ansehe, haben diese Haltung zu verletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Men- Europa schon immer zum Ausdruck gebracht. Deutsche schen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und und Sorben leben seit mehr als 1 000 Jahren in der Lau- Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt ha- sitz zusammen und nutzen ihre Beziehungen vor allem ben; die verbesserte Definition des Subsidiaritätsprin- zu den slawischen Nachbarn zur friedlichen Völkerver- zips; die Einbeziehung der nationalen Parlamente in den ständigung. Gesetzgebungsprozess durch das so genannte Frühwarn- system; die Möglichkeit einer Klage durch die nationa- Gegenüber der jetzigen Europarechtslage nach Nizza len Parlamente bei der Verletzung des Subsidiaritätsprin- führt der Verfassungsvertrag zu organisatorischen Ver- zips; die Einführung der so genannten doppelten besserungen mit der künftigen Verkleinerung der Kom- Mehrheit, durch die eine stärkere Gewichtung der Be- mission nach dem Beitritt zusätzlicher EU-Mitgliedstaa- völkerungsgröße der Länder gewährleistet wird; das Ver- ten und schafft rechtliche Verbindlichkeit für bot, die aus Zielbestimmungen Handlungsermächtigungen Grundrechte-Charta. Ich begrüße insbesondere die Ver- abzuleiten; eine verbesserte Abgrenzung der Kompeten- bindlichkeit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, zen; die Anerkennung der Zuständigkeit der Mitglied- Art. II-61, das Verbot der Zwangsarbeit, Art. II-65, das staaten im Bereich der Daseinsvorsorge; das Gebot der Verbot von Vertreibungen, Art. II-79, und das Verbot der Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahlen bei Diskriminierung wegen Zugehörigkeit zu einer nationa- der Bestimmung des Kommissionspräsidenten durch das len Minderheit, Art. II-81. Europäische Parlament. Ich bedauere, dass es in Deutschland im Vorfeld der Deshalb stimme ich dem Gesetz zu. heutigen Abstimmung eine unzureichende öffentliche Diskussion gab. Daraus ergeben sich rechtliche Beden- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Der dem ken. Art. 146 Grundgesetz könnte verletzt sein. Mit dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorgelegte Euro- Zustimmungsgesetz wird faktisch eine neue Verfassung (B) päische Verfassungsvertrag ist ein wichtiger Schritt zur (D) für Europa und in wesentlichen Teilen anstelle desWeiterentwicklung der Europäischen Integration. Die Grundgesetzes geschaffen. Dass es sich nicht nur um ei- Zusammenfassung der Europäischen Verträge in einem nen Verfassungsvertrag handelt, geht sowohl aus dem einheitlichen Gesetzeswerk, die Verankerung der euro- Wortlaut des Verfassungstextes – vergleiche Überschrift A. päischen Grundrechte-Charta, die institutionellen Refor- Erklärungen zu Bestimmungen der Verfassung, Bundes- men und nicht zuletzt die Regelungen zur Subsidiaritäts- tagsdrucksache 15/4900, Seite 189 – als auch aus derkontrolle sind ein Fortschritt gegenüber dem jetzigen dem deutschem Zustimmungsgesetz beigegebenenRechtszustand. Denkschrift der Bundesregierung – vergleiche C. Syste- matik des Vertragswerks: „Die Verfassung gliedert sich Ungeachtet dessen weist der Verfassungsentwurf er- in vier Teile“ – hervor. Auch die Entstehungsgeschichte hebliche Defizite auf. Wichtigen europapolitischen An- zeigt, dass eine Verfassung gewollt ist – so spricht der liegen aus deutscher Sicht wird der Vertrag nicht ge- Auftrag des Rats von Laeken an den Konvent von „Ver- recht. In der Präambel fehlen der Hinweis auf das fassung für die europäischen Bürger“ – und dass auschristliche Erbe Europas und der Bezug auf die Verant- Kompromissgründen am 28. Oktober 2002 vom Kon- wortung vor Gott. Dies widerspricht wohlbegründeten ventspräsidium der Name „Entwurf eines Vertrages über Forderungen aus dem politischen, gesellschaftlichen und eine Verfassung für Europa“ gewählt wurde – vergleiche kirchlichen Raum. Die Koordinierungskompetenzen im Deutscher Bundestag, eine Verfassung für Europa, Reihe Bereich der Wirtschaftspolitik weisen den Charakter von „Zur Sache“ l/2003, Einleitung S. 33. Eine andere Ver- Generalklauseln auf. Dies widerspricht den ursprüngli- fassung müsste im Übrigen von dem deutschen Volke in chen Forderungen im Verfassungsvertrag, eine klare Ab- freier Entscheidung beschlossen werden. grenzung der Kompetenzen zwischen den Ebenen der EU, der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen vorzuneh- Ich bedauere dass die verhandlungsführende Bundes- men. In den Bereichen Sozialpolitik, Arbeitsrecht, Ge- regierung nicht erreicht hat, den Gottesbezug in der Prä- sundheitspolitik, Industrie und Forschung sowie Ener- ambel zu verankern, eine stärkere Begrenzung der Kom- giepolitik sollen die Kompetenzen der EU ausgeweitet petenzen der EU durchzusetzen, insbesondere und im im Bereich der Daseinsvorsorge neue Kompetenzen Bereich der Wirtschaft- und Sozialpolitik, die Daseins- geschaffen werden. vorsorge aus der Gesetzgebungskompetenz der EU he- rauszunehmen, einen eigenständigen Minderheiten- Dies widerspricht den jahrelangen Bemühungen, den schutzartikel zu verankern und zu verhindern, dass der Tendenzen zu immer mehr Zentralisierung auf EU-Ebene Europäische Rat beim mehrjährigen Finanzplan einstim- Einhalt zu gebieten und in der EU mehr Bürgernähe si- mig – ohne Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten –cherzustellen. Offensichtlich war die Bundesregierung 16514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. 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(A) weder gewillt noch bereit, entsprechende Forderungen in nenmarktes dienen und die Flexibilitätsklausel zwar in(C) die Vertragsverhandlungen einzubeziehen, um so ein be- der Einstimmigkeit verbleibt, aber in ihrem Anwen- friedigendes Verhandlungsergebnis herbeizuführen. dungsbereich erheblich über den Binnenmarkt hinaus ausgeweitet wird. Die zusätzliche Kompetenzauswei- Der Europäische Verfassungsvertrag schwächt die Po- tung wird in Verbindung mit der unüberlegten und über- sition des Deutschen Bundestages in EU-Angelegenhei- hasteten Erweiterungspolitik in Zukunft zu erheblichen ten. Um weitere Souveränitätsverluste zu verhindern, ist Schwierigkeiten und einer weiter abnehmenden Akzep- eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschentanz europäischer Politik führen. Es gelingt nicht, diese Bundestages erforderlich. Die CDU/CSU-Bundestags- Fehlentwicklungen zu korrigieren. fraktion hat entsprechende Gesetzesvorschläge auf Druck- sache 15/4716 eingebracht. Unter anderem werden mit der Flexibilitätsklausel Der Verfassungsentwurf, so wie er jetzt vorliegt, stellt alte Fehler fortgeschrieben und trotz umfassender Kom- allerdings im Vergleich zu den Verträgen von Nizza eine petenzübertragungen weitere Einfallstore für eine Verbesserung dar. Eine Ablehnung des EU-Verfassungs- europäische Zentralisierung offengehalten, wobei nicht vertrages würde eine Schwächung der gesamten Euro- verkannt wird, daß andere, wie zum Beispiel. die „allge- päischen Union darstellen und den Erfordernissen von meinen Zielformulierungen“, beseitigt werden. Stabilität und Zuverlässigkeit widersprechen. Aus die- Die Aufnahme eines expliziten Gottesbezuges schei- sem Grund werde ich trotz der vorhandenen Mängel dem terte an der laizistischen Position anderer Staaten und ei- Vertragswerk zustimmen. ner nicht verstandenen Bedeutung der ausdrücklichen Bezugnahme. Der bewusste Verzicht hierauf entwertet Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Der dem Deut- die Grundrechte-Charta in entscheidendem Maße. Es schen Bundestag zur Ratifizierung vorliegende Verfas- steht zu befürchten, dass dies Auswirkungen auf die eu- sungsvertrag bleibt erheblich hinter meiner persönlichen ropäische Rechtsetzung vom Abtreibungsrecht bis zur politischen Erwartung an eine Europäische Verfassung aktiven Sterbehilfe haben kann. Wäre das Christentum zurück. Dies liegt in erster Linie an der Verhandlungs- als wesentliche geistige Grundlage der europäischen führung der Bundesregierung, in zweiter Linie aber auch Wertegemeinschaft genannt worden, hätte sich die am mangelnden Gestaltungswillen eines Teiles derChance ergeben, hieraus Grenzen der EU-Erweiterung CDU/CSU-Fraktion, Die Enttäuschung über vergebene abzuleiten. Chancen rechtfertigt allerdings in summa nur bedingt eine Ablehnung des zu ratifizierenden Vertrages. Fraglich bleibt aus meiner Sicht die Vereinbarkeit der Europäischen Verfassung und ihrer Ratifizierung mit Der Europäische Konvent und die Regierungskonfe- (B) dem Deutschen Grundgesetz. In diesen Kontext gehört (D) renz hatten entsprechend des Gipfels von Laecken insbe- die wohl erst anhand der Verfassungswirklichkeit zu sondere den Auftrag, eine klare und an den Zielen der beantwortende Frage, ob dem Deutschen Bundestag sub- EU orientierte Kompetenzordnung zu schaffen, diestantielle Rechte verbleiben, wie vom Bundesverfas- Kompetenzen der EU zu begrenzen und auf Kernberei- sungsgericht im Maastricht-Urteil gefordert. Dies zu klä- che zurückzuführen. Dies ist nicht gelungen. Damit wird ren, obliegt dem Bundesverfassungsgericht. nach meiner Überzeugung eine historische Chance ver- tan. Im Bereich der geteilten Zuständigkeiten und ergän- Im institutioneilen Bereich werden Defizite aus deut- zenden Maßnahmen sind die Kompetenzen nach wie vor scher Sicht teilweise fortgeschrieben, teilweise vergrö- nicht abgegrenzt. Die Zentralisierungsdynamik der EU ßert. Zu nennen sind zum Beispiel die Ungleichheit bei bleibt ungebrochen. den Wahlen zum Europäischen Parlament durch eine de- gressiv proportionale parlamentarische Vertretung, die Explizit ist zu bedauern, dass entgegen dieser drin- von der Bundesregierung akzeptierte Reduzierung der gend gebotenen Absicht neben den Koordinierungskom- Sitzzahl für Deutschland im Europäischen Parlament petenzen in der Wirtschaftspolitik die offene Methode von 99 auf 96 und damit die weitere Verschlechterung der Koordinierung in den Bereichen Sozialpolitik/Ar- des Stimmwertes für Deutschland bei den Europawah- beitsrecht, Gesundheitspolitik, Industrie und Forschung len, der im Rahmen der gleichberechtigten Rotation pe- verankert wurde, der Zugang von Staatsangehörigen aus riodenweise erfolgende Ausschluss Deutschlands aus Drittstaaten zum Arbeitsmarkt nur eingeschränkt in der der Kommission und eine Überdimensionierung der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten verbleibt, für dieKommission, die erst in neun Jahren geringfügig ange- Daseinsvorsorge eine neue Gesetzgebungskompetenzpasst wird. geschaffen werden soll, weitere neue bzw. erweiterte Kompetenzen in den Bereichen Energie, Raumordnung, Mir liegt daran, zu betonen, dass ich kein Europageg- Zivilschutz, Sport, Verwaltungsförderung, Tourismusner bin. Im Gegenteil: Es geht darum, politisch alles zu und Gesundheit auf die EU übertragen werden sollen, tun, um die Idee Europas zu befördern. Wichtig ist dabei, obwohl die Aufgaben ausreichend von den Mitglieds- die Bürgerinnen und Bürger wieder demokratisch „mit- staaten erledigt werden könnten, die Kompetenzen von zunehmen“. Dass das derzeit nicht gelingt, wurde an vie- Europol, Eurojust, der Europäischen Staatsanwaltschaft len Beispielen der letzten Wochen – von der Antidiskri- sowie die Harmonisierung strafrechtlicher Normen wei- minierungs- über die Feinstaubdiskussion bis zur ter gehen als erforderlich, die Anwendung der Binnen- Dienstleistungsrichtlinie – nachdrücklich deutlich. Diese marktklausel nicht auf die Maßnahmen beschränkt wird, Themen wurden erst zu einem Zeitpunkt parlamenta- die primär und unmittelbar dem Funktionieren des Bin- risch aufgearbeitet und öffentlich debattiert, als eine Ein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. 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(A) flussnahme nicht mehr oder nur noch bedingt möglich diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen (C) war. Werte aus anderen Quellen ableiten. Entsprechend sind die Anstrengungen derjenigen aus- Des Weiteren gilt dies insbesondere für das Subsidia- drücklich zu würdigen, die eine geeignete Parlamentsbe- ritätsprinzip. Die im Verfassungsvertrag vorgesehene teiligung mindestens einfachgesetzlich festzuschreiben Übertragung weiterer Zuständigkeiten von den Mitglied- suchen. Hier wurden in letzter Minute Fortschritte er- staaten auf die Europäische Ebene dürfen nicht dazu füh- reicht, die tatsächlich den Status quo verbessern, wenn- ren, grundgesetzlich garantierte Befugnisse des Bundes, gleich sie hinter den Forderungen der CDU/CSU aufder Bundesländer und der Gemeinden auszuhebeln. Die Drucksache 15/4716 zurückbleiben. Auch dass derMitwirkung des Bundestages in Europaangelegenheiten Ministerrat künftig öffentlich tagt, lässt eine transparen- ist sicherzustellen. tere, öffentlich kontrollierte Entscheidungsfindung er- Das Bundesverfassungsgericht ist in Deutschland der warten. Hüter der Verfassung und damit Hüter des Rechts. Das Bundesverfassungsgericht hat in Urteilen die Struktur- Im Vertrauen auf die ausdrückliche Zusicherung der prinzipien des Grundgesetzes, das demokratische Prin- Parteivorsitzenden Dr. Angela Merkel und Dr. Edmund zip, das Rechtsstaatsprinzip, das Sozialprinzip sowie das Stoiber, dass die Bedeutung des Deutschen Bundestages föderalistische Prinzip als Grenze der Europäischen Ge- nach einem Regierungswechsel gesetzlich wie auch in meinschaftsgewalt herausgestellt. der praktischen Arbeit gestärkt wird, im Vertrauen da- rauf, dass der Deutsche Bundestag seine Kontrollrechte Im Maastricht-Urteil hat es gemäß Art. 23 Abs. l Satz l wahrnimmt, stimme ich trotz oben dargelegter KritikGG das Subsidiaritätsprinzip und insbesondere den dem Verfassungsvertrag aus folgenden Gründen zu: Grundrechtsstandard hinzugefügt, aber auch das Prinzip der begrenzten Ermächtigung hervorgehoben, die die Die Bundesregierung ist den Unionsforderungen zur Rechtsakte der Gemeinschaft respektieren müssten, künftigen Beteiligung des Deutschen Bundestages inwenn sie in Deutschland angewandt werden können sol- Teilen entgegenkommen, was kurz vor Ratifizierung ei- len. nen entscheidenden Kritikpunkt zwar nicht vollständig Das höchste deutsche Gericht verantwortet die prakti- beseitigt, aber zumindest abschwächt. Der Verfassungs- sche Vernunft in Deutschland, die Sittlichkeit der deut- vertrag ist kein entscheidender Fortschritt, aber auch kein schen Politik und damit die Republikanität Deutsch- Rückschritt gegenüber dem Vertragswerk von Nizza. Die lands. Diese Verantwortung hat ihm das Grundgesetz bloße Enttäuschung über mangelnde Veränderungenübertragen. Sie besteht auch gegenüber der Europäi- reicht als Ablehnungsgrund nicht aus. Gleichzeitig ist zu schen Union und deren Gemeinschaften. (B) akzeptieren, dass es sich bei der Ratifizierungsentschei- (D) dung nicht um eine Gewissensentscheidung handelt. Die mit einer Ablehnung des Europäischen Verfassungsver- Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Ich trages verbundene ungerechtfertigte Diffamierung als stimme dem Verfassungsvertrag zu, obwohl ich einzel- Europagegner erschwert ein künftiges Mitwirken an der nen Grundsätzen und Detailregelungen des Vertrags- dringenden Verbesserung und Änderung europäischer werks schwere Bedenken entgegenbringe. In der Ge- samtbetrachtung bringt das Vertragswerk jedoch mehr Politik. Vor- als Nachteile gegenüber der bestehenden europäi- Alles in allem gilt es künftig daran zu arbeiten, dass schen Rechtsordnung mit sich. europäische Rechtssetzung unter demokratisch-parla- In den Grundsätzen des Verfassungsvertrags ist zu be- mentarischer Kontrolle erfolgt und ein Europa der Bür- mängeln, dass die Europäische Union auch weiterhin ger statt der Bürokraten entsteht. Dass der Verfassungs- keine vernünftige und klare Kompetenzordnung vorwei- vertrag keine Aussagen zur Finalität der Europäischen sen kann. Der schleichenden Kompetenzübertragung Union trifft und deren Grenzen nicht absteckt, belegt,und Zentralisierung konnte insofern kein eindeutiger dass noch weitere gravierende europapolitische Ent-Riegel vorgeschoben werden. In ihren jeweiligen Le- scheidungen zu treffen sind. Die Entwicklung Europas bensbereichen erfahren viele Bürger und politische Ent- und dieses Verfassungsvertrages, den man maximal als scheidungsträger auf lokaler, regionaler und nationaler Zusammenfassung bestehender Verträge verstehen kann, Ebene eine Teilentmachtung durch den „Moloch Brüs- ist noch nicht abgeschlossen. sel“, der in dramatischer Art und Weise immer mehr Aufgaben an sich zieht. Eine solche Beschränkung der Handlungsfähigkeit auf unteren politischen Ebenen ist (CDU/CSU): Meine Zustimmung zu Klaus Riegert weder effizient noch gerechtfertigt. Diese Feststellung dem Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom trifft auch auf einzelne Detailregelungen des Verfas- 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa ver- sungsvertrags zu. In den Bereichen Sozialpolitik, Ar- binde ich mit der Forderung nach einer grundgesetzkon- beitsrecht, Gesundheitspolitik, Industrie und Forschung formen Auslegung der EU-Verfassung. Dies gilt insbe- sowie Energiepolitik sollen die Kompetenzen der EU sondere für den Gottesbezug in der Präambel ausgeweitet des und im Bereich der Daseinsvorsorge neue Grundgesetzes, der die besondere Verantwortung aller Kompetenzen geschaffen werden. Staatsgewalt anspricht. Die Werte der Europäischen Union umfassen die Wertvorstellungen derjenigen, die Vor allem das Fehlen eines Hinweises auf das christli- an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des che Erbe Europas und eines Bezuges auf die Verantwor- Guten und des Schönen glauben, als auch derjenigen, die tung vor Gott zeigen mir, dass die Europäische Union 16516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) kein einheitliches Staatswesen im Sinne eines Bundes- Der Philosoph Otfried Höffe hat in seinem Werk „De- (C) staates sein kann. Es wurde deutlich, dass die verschie- mokratie im Zeitalter der Globalisierung“ ein denkwür- denen Staatstraditionen der EU-Mitgliedstaaten zum Teil diges Leitmotiv zum Prozess der Herausbildung transna- in fundamentalen Grundsätzen divergieren. Insofern ist tionaler politischer Institutionen formuliert, das ich als es in meinen Augen von großer Bedeutung, dass der Ver- elementar betrachte und vollinhaltlich teile: fassungsvertrag keine neue eigenstaatliche Ordnung be- gründet. Es ist ein Vertrag und keine Verfassung! Die Weder darf die einzelstaatliche Demokratie bei der Mitgliedstaaten bleiben Herren der Verträge. Dieser Bildung einer großregionalen Union, noch darf de- Grundsatz ist im vorliegenden Vertragswerk explizit ver- ren demokratisches Niveau bei der Bildung der ankert. Weltrepublik gefährdet werden! Der Verfassungsvertrag stellt eine Verbesserung ge- Der demokratische, gewaltengeteilte Verfassungsstaat genüber dem Vertrag von Nizza dar, der von der rot-grü- ist der bedeutendste und erhaltensbedürftigste zivilisato- nen Bundesregierung unter der Führung von Bundes-rische Fortschritt der Geschichte. Dafür sprechen sowohl kanzler Schröder und Bundesaußenminister Fischerethische Gründe wie auch solche der Zukunftssicherung äußerst schlecht verhandelt worden ist. Zum ersten Mal jedweden Gemeinwesens. Die ethischen Gründe sind in der Geschichte der europäischen Integration ist das die, dass allein ein gewaltengeteilter demokratischer Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung explizit im Verfassungsstaat gewährleistet, Freiheitsrechte und Ge- Vertragsrecht verankert. Auch das Prinzip der Subsidia- meinwohlorientierung immer wieder erneut in Einklang rität wird zum ersten Mal durch ein Verfahren konkreti- bringen zu können. Die Zukunftssicherung eines Ge- siert, dessen Tauglichkeit sich allerdings noch erweisen meinwesens hängt entscheidend davon ab, dass dieses muss. Die Demokratisierung der Europäischen Union dauerhaft lernfähig bleibt und zu laufenden Selbstkor- konnte vorangetrieben werden, indem die Mitwirkungs- rekturen in der Lage ist. Dies kann allein eine gewalten- rechte des Europäischen Parlaments und des Deutschen geteilte Demokratie gewährleisten. Nur diese ermöglicht Bundestages im Verfassungsvertrag und im Begleitge- eine dauerhafte Funktionsfähigkeit und damit Legitimi- setz eine entscheidende Ausweitung erfahren. Vor allem tät politischer Institutionen sowie die Aufrechterhaltung dieser Punkt musste der Bundesregierung von der CDU/ eines gesellschaftlichen Grundkonsenses. CSU in langen Verhandlungen abgetrotzt werden und Erstens. Vor diesem Hintergrund betrachte ich es als stellt insofern einen wesentlichen Beitrag der Unionspar- einen gravierenden Mangel des „Vertrags über eine Ver- teien zum Vertragswerk dar. fassung für Europa“, dass nach wie vor das alleinige Ini- tiativrecht für Richtlinien – künftig: Gesetze – der Euro- Obwohl es eigentlich an der Zeit wäre, den Zentrali- päischen Union bei der EU-Kommission verbleibt und (B) sierungstendenzen in der Europäischen Union einen Rie- dem Europaparlament vorenthalten bleibt. Damit erhält (D) gel vorzuschieben, stimme ich dem Europäischen Ver- das Europaparlament nicht den konstitutionellen Rang fassungsvertrag zu. Es gibt derzeit kein erkennbareseiner Legislative. Es bleibt vor allem dadurch bei dem realistisches Szenario, im Falle eines Scheiterns des Ver- schwerwiegenden Mangel an demokratischer Legitimität fassungsvertrags ein besseres Ergebnis auszuhandeln. der EU-Organe, der bereits die Verträge von Maastricht, Ein Scheitern des Verfassungsvertrags hätte nach aller Amsterdam und Nizza charakterisiert. Wahrscheinlichkeit zur Folge, dass eine auf nunmehr 25 und bald mehr Mitgliedstaaten erweiterte Union noch Ich erkenne zwar an, dass der Verfassungsvertrag ge- schwieriger einen Reformkompromiss finden kann. Es genüber den bisherigen Verträgen eine Reihe von Ver- war grob fahrlässig von Seiten der rot-grünen Bundesre- besserungen der Entscheidungsverfahren enthält. Aber gierung, den Prozess der Erweiterung voranzutreibender Verfassungsvertrag ist ein qualitativ neuer Schritt. Er und abzuschließen, ohne zuvor für die institutionelle Re- beansprucht explizit eine höhere Legitimationskraft als form der Union gesorgt zu haben. Für die nächsten Jahre die bisherigen Verträge. Er wird schwerer zu ändern sein stehen große Aufgaben vor uns: Zum einen muss eine als diese. Umso schwerwiegender ist deshalb, dass den- saubere Klärung der Kompetenzen erfolgen, um einnoch das Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung handlungsfähiges Europa aufrechtzuerhalten, wobeinicht unumstößlich verankert, sondern de facto sogar auch eine Rückführung von Kompetenzen vonnöten ist. ausgehöhlt wird. Die Bedingung für den Beitritt zur Eu- Zum anderen bedarf endlich die Finalität Europas einer ropäischen Union ist, dass beitretende Länder eine de- Klärung. mokratische Verfassungsordnung haben. Wenn sich dies aber in dem Verfassungsvertrag nicht wieder findet, ob- wohl es mit diesem zu einer Ausweitung der ausschließ- Dr. Hermann Scheer (SPD): Als überzeugter Ver- lichen Zuständigkeiten der EU-Organe – und damit vor fechter der politischen Integration Europas hin zu einem allem der Kommission – sowie des Katalogs der geteil- europäischen Verfassungsstaat auf föderativer Grund- ten Zuständigkeiten – und damit potenziell einer konti- lage enthalte ich mich bei der Abstimmung zu dem „Ver- nuierlichen Zentralisierung der Gesetzgebung – kommt, trag über eine Verfassung für Europa“ der Stimme. Da- gibt es kein adäquates demokratisches Substitut für den mit will ich zum Ausdruck bringen, dass ich für einedamit einhergehenden Kompetenzentzug der demokrati- Verfassung der Europäischen Union bin, aber mit dem schen Verfassungsorgane der Mitgliedsländer. vorliegenden Vertragstext aus zwei prinzipiellen Punk- ten nicht einverstanden sein kann, weil ich darin mehr Es geht nicht um die Frage Nationalstaat versus Euro- eine Beeinträchtigung als eine Förderung des demokrati- pa, sondern um die Frage der Aufrechterhaltung eines schen Integrationsprozesses sehe. größtmöglichen Maßes an demokratischer Selbstverwal- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16517

(A) tung überall in Europa versus unverhältnismäßiger poli- lungszuständigkeit beanspruchen kann – so wie es be-(C) tischer Zentralisierung. Die wichtigste Aufgabe des Ver- reits in der jüngeren Vergangenheit zunehmend der Fall fassungskonvents wäre es gewesen, den europäischen gewesen ist, wie die Auseinandersetzungen über die Integrationsprozess zu vertiefen bei gleichzeitiger Über- Dienstleistungsrichtlinie zeigen. windung der Demokratielücke. Dies ist erneut nicht ge- lungen. Wie schwer wiegend das ist, zeigt sich daran, Ich respektiere alle Voten für den Verfassungsvertrag, dass seit den 90er-Jahren die Europaskepsis in der euro- die gleiche Bedenken haben, aber ihr dennoch aus einer päischen Bevölkerung parallel zu dem Kompetenzzu- Gesamtabwägung zu stimmen, weil sie glauben, dass wachs der europäischen Institutionen gewachsen ist, wie diese beschriebenen Mängel auch mit diesem Vertrag unter anderem die zurückgehenden Wahlbeteiligungen aufhebbar sind. Ich habe Zweifel, dass das auf dieser an den Europawahlen zeigen. Die Gründe sehe ich in der Grundlage gelingen kann. Demokratielücke. Es ist zu einfach, alle Kritiker des Ver- tragsentwurfes „anti-europäisch“ und „pro-nationalis- Mit meiner Enthaltung will ich verdeutlichen, dass tisch“ zu bewerten. Die Europäische Union braucht Ge- diese beiden elementaren Mängel des Verfassungsver- meinschaftskompetenzen, die sie noch nicht trags hat, unverzüglich geheilt werden müssen, damit die gleichzeitig gibt es bereits Gemeinschaftskompetenzen, Verfassung für Europa Bestand hat, in der europäischen die auf die Ebene der Mitgliedstaaten zurückverlagert Bevölkerung verankert werden und Europa demokra- gehören. Der Vertrag für eine Verfassung behandelt nur tisch funktionsfähig werden kann. Mein Kriterium der Ersteres und nicht Letzteres. In ihm liegt die überall in Bewertung dieses Vertragsentwurfs ist kein nationales, der EU offenkundige Gefahr institutioneller Integration sondern eines, das sich aus einem Grundverständnis ei- bei gleichzeitiger zivilgesellschaftlicher Desintegration ner demokratischen Verfassungsordnung ergibt, deren in Bezug auf die europäische Gemeinschaftsidee. Essenzen allgemeine Gültigkeit haben sollten. Zweitens. Der Verfassungsvertrag besagt in Art. I-3: Norbert Schindler (CDU/CSU): Wenn ich heute Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern ei- dem Gesetzentwurf zum Vertrag über eine Verfassung nen Raum der Freiheit, der Sicherheit und desfür Europa zustimme, geschieht das absolut ohne jede Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnen-Euphorie. markt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb. Im vorliegenden Verfassungsvertrag stört mich nicht In Art. 1-4 („Grundfreiheiten und Nichtdiskriminie- nur der fehlende Gottesbezug, den ich über alles bemän- rung“) heißt es an erster Stelle: geln möchte, da damit das christliche Erbe unserer Ge- sellschaften in Europa unter den Tisch gekehrt, wenn (B) Der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und (D) Kapitalverkehr sowie der Niederlassungsfreiheitnicht gar negiert wird. Dabei räume ich ein, dass die EU- der Union werden innerhalb der Union und von der Verfassung nicht an diesem Punkt scheitern sollte, be- Union gemäß der Verfassung gewährleistet. mängle jedoch den Einsatz der Protagonisten für die Er- wähnung Gottes in der Präambel. Daraus ergibt sich für mich aus einer teleologischen Auslegung, dass der „unverfälschte Wettbewerb“, defi- Auch bleibt zu kritisieren, dass diese Bundesregie- niert als freier Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalver- rung sowohl beim Vertrag von Nizza als auch beim Ver- kehr, auf eine Ebene mit menschlichen Freiheitsrechten fassungsvertrag die Interessen unseres Landes nicht sehr bzw. menschlichen Grundrechten gestellt wird. Damit gut vertreten hat. Dies wissen alle, die sich mit diesem verpflichtet die Verfassung indirekt auf ein wirtschaftli- Thema intensiv auseinander gesetzt haben; für uns bleibt ches Ordnungsprinzip, das selbst für eine marktwirt-nur als Trost, dass ein sehr schlechter Vertrag von Nizza schaftliche Ordnung zu einseitig ist. mit dem vorliegenden besser gemacht werden soll. Die Festlegung auf ein wirtschaftliches Ordnungs- Wir sehen auch beinahe tagtäglich, wie schnell und prinzip – gleich, um welches es sich handelt – gehört in schlampig der Beitritt der zehn neuen EU-Staaten ver- keine Verfassung. Sie legt allen politischen Institutionen handelt wurde. Hier ist vor allem Herrn Verheugen über- Handlungsfesseln gegenüber einer flexiblen und prag- haupt kein Lob auszusprechen, trotz aller Feierlichkei- matischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik an. Das ten, die am 1. Mai 2004 inszeniert wurden. Als Beispiel Binnenmarktprinzip wird damit dogmatisiert und über- für negative Auswirkungen der legislativen Ad-hoc-Um- strapaziert. Zwar gibt es keinen diesbezüglichen Auto- setzung dient die Dienstleistungsrichtlinie und die der- matismus, weil jedes einzelne europäische Gesetz fürzeitige Unterwanderung der Verträge, die eigentlich den sich verabschiedet wird. Aber die genannten Verfas-heimischen Arbeitsmarkt vor zu viel Zuwanderung ost- sungsgrundsätze geben dem europäischen Gesetzge-europäischer Arbeitskräfte schützen sollten. bungsprozess schon deshalb eine dogmatische Schlag- seite, weil sich der Europäische Gerichtshof Ich in bin auch ganz entschieden dagegen, dass sich die Streitfragen daran orientieren muss. Die Gefahr der Ver- EU um jede Kleinigkeit der Mitgliedsländer kümmert absolutierung dieses Binnenmarktprinzips ergibt sichund durch diese Zentralisierung, die ständig voranschrei- schon deshalb, weil mit diesen Grundsätzen nicht nurtet, die Molochbehörde in Brüssel mit immer mehr eine sektorale Zuständigkeit der EU-Organe gegeben ist, Macht, die nicht parlamentarisch kontrolliert wird, aus- sondern eine funktionale, das heißt eine, mit der diese gestattet wird. Vielfach wird auch das Subsidiaritätsprin- potenziell in allen wirtschaftlichen Fragen eine Rege- zip von der Kommission einfach ausgehebelt. 16518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) So sind zum Beispiel die Vorschriften für die EU-Weichenstellungen zur Sicherung des Standortes(C) weite Ausschreibung für Leistungen des regionalenDeutschlands vorgenommen werden. Wir hoffen, in der ÖPNV oder EU-Richtlinien für die Schutzbekleidung Europäischen Union wieder den Einfluss zu erlangen, von Feuerwehrleuten nicht akzeptabel; hier sollte Subsi- der dem stärksten Nettozahler und dem bevölkerungs- diarität vor Ort ohne Einmischung der EU gelebt wer- reichsten Mitgliedstaat geziemt. den! Ich sehe hier die potenzielle Gefahr, dass sich die Kompetenzen der EU auf lle a gesellschaftlichen und Ich stimme dem Verfassungsvertrag trotz all dieser politischen Bereiche – und auch auf kleine, liebenswür- Bedenken zu, weil ich die Verpflichtung sehe, die dige nationale Eigenheiten und Besonderheiten – unnö- Deutschland als Mitbegründer dieser großartigen Euro- tig ausdehnen und wir in nationaler Gesetzgebung die päischen Gemeinschaft hat. Ich hoffe, dass mit diesem Richtlinien auch gegen den Willen der Bevölkerung in Vertrag die gemeinsamen Grundlagen letztlich auf einen nationales Recht umsetzen müssen. ebenso festen Boden gestellt werden, wie wir dies mit unserem bewährten Grundgesetz in Deutschland ge- Bei derartigen Einwirkungen und Eingriffen in dieschafft haben. einfachsten Dinge des Lebens durch EU-Verordnungen stellt sich die Frage: Wo bleibt das Subsidiaritätsprinzip? Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Die Euro- Wir haben gerade in Problembereichen, zum Beispiel päische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Die Euro- in der Chemie oder in der Landwirtschaft, heftigste Dis- päische Union steht für Frieden, Freiheit und Wohlstand. kussionen. Nicht nur das Weißbuch der Chemie oder die Nach der Verwirklichung des europäischen Binnenmark- EU-Richtlinien in der Landwirtschaft haben dem Stand- tes und der Einführung des Euros wurde mit der Ost- ort Bundesrepublik Deutschland Negatives angetan.erweiterung ein weiterer dynamischer Schritt in der Ent- Meine Befürchtung ist: Es geht so weiter und wird nicht wicklung der Europäischen Union vollzogen. Die Euro- besser! päische Union ist kein Staat und wird auch in Zukunft auf Nationalstaaten aufbauen. Umgekehrt braucht der Dass der Deutsche Bundestag auch keine Gesetzesini- Nationalstaat Europa, weil jeder Nationalstaat in Europa tiative starten kann und er keinen gestalterischen Spiel- wichtige Aufgaben heute nicht mehr auf sich allein ge- raum hat, zeigt zusätzlich, dass hier große grundsätzliche stellt erfüllen kann. Nationen und Europa bedingen sich Fehler gemacht wurden. Deswegen ist der Vorwurf be- gegenseitig. Die Bindung der Menschen an ihre Natio- rechtigt, dass die eigentliche demokratische Mitgestal- nalstaaten und Parlamente, die Rückbindung der Gesetz- tung dieses zukünftigen Europas bisher unterblieben ist. gebung an das Volk, ist ein wesentliches Ergebnis euro- Da muss deutlich nachgebessert werden! päischer Geschichte und bleibt unverzichtbar. Deshalb Ich betone weiterhin ausdrücklich, dass ich eine He- steht die Europäische Union mit dem EU-Verfassungs- (B) (D) ranführung neuer Staaten zum Beitritt, weniger die er- vertrag an einem Wendepunkt. folgte von Bulgarien oder Rumänien, aber insbesondere Der Europäische Konvent und die Regierungskonfe- die der Türkei und der Ukraine, absolut ablehne. Wenn renz hatten den Auftrag zur Schaffung einer klaren und die mögliche Aufnahme von dieser Bundesregierungdurchschaubaren Kompetenzordnung sowie einer Kom- leichtfertig versprochen wird und bei deren Einwohnern petenzabgrenzung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Hoffnungen auf Wohlstand geweckt werden, so ist dies der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Da- ein falsches Signal – vor allem dann, wenn die Bundes- rüber hinaus sollte das europäische Vertragswerk trans- regierung dies alles nur tut, um von den eigenen außen- parent werden, das demokratische Defizit reduziert und und innenpolitischen Debakeln abzulenken. die nationalen Parlamente in ihren Mitwirkungsmöglich- Ich kritisiere ausdrücklich, dass wir, die klassischen keiten gestärkt werden. Diese Vorgaben wurden nicht Europaparteien CDU und CSU, in den letzten Jahrenumgesetzt. eine Verbreiterung der EU ohne Tiefgang zugelassen ha- Der Verfassungsvertrag schafft keine klare Kompe- ben. Wir müssen aufpassen – und dies ist eine Verpflich- tenzabgrenzung innerhalb der EU. Er beschränkt das tung –, dass das Wertesystem, das dieser Union zu- Handeln der EU nicht auf die Kernaufgaben, sondern grunde liegt, nicht aus den Augen verloren wird. kommt vielmehr zu einer weiteren erheblichen Kompe- Der Versuch, mit einem Entschließungsantrag dertenzausweitung auch in Bereichen, die bisher auf Ebe- CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Rechte des Deut-nen der Mitgliedstaaten angesiedelt waren. Die Kompe- schen Bundestages in Bezug auf die Mitwirkung in der tenzausweitung betrifft zum Beispiel Wirtschafts- und europäischen Gesetzgebung zu stärken, ist von dieserWährungspolitik, Energiepolitik, Gesundheit, Raum- Bundesregierung nur als Erklärung, nicht aber als mögli- fahrt, Zivilschutz, Sport, Daseinsvorsorge, Innen- und che Diskussionsgrundlage wahrgenommen worden. Die Justizpolitik. Mit der Flexibilitätsklausel kann die EU Mitgestaltung des Bundestages scheint der Regierung darüber hinaus in fast alle mitgliedstaatliche Zuständig- hier nicht so wichtig zu sein! keiten eingreifen. Durch das Initiativmonopol macht der Verfassungsentwurf die EU-Kommission zu einer euro- Deswegen habe ich nicht nur die große Hoffnung,päischen Superbehörde ohne ausreichende parlamentari- sondern auch die starke Zuversicht, dass wir die von mir sche Kontrolle durch das Europäische Parlament und die angeführten kritischen Sachverhalte nach einem mögli- nationalen Parlamente. chen Regierungswechsel 2006 wieder ändern können. Nicht nur die Fragen nach möglichen EU-Beitrittskandi- Durch die wesentliche Kompetenzausweitung auf na- daten müssen dann gelöst, sondern auch wichtigehezu alle Politikbereiche, die Ausweitung der Mehr- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16519

(A) heitsentscheidung, die Festschreibung des Vorrangs eu- hezu allen nationalen Politikfeldern mitregiert und regu- (C) ropäischen Rechts vor nationalem Recht und liert; die ein Europa, das seine Gesetzgebung über die Rück- Abschwächung der Rechte des Bundestages beim Ver- bindung zum Volk und über die Parlamente legitimiert tragsänderungsverfahren verlieren der Deutsche Bundes- und transparent macht. Ohne eine stärkere Einbindung tag und die Landtage substanzielle Gestaltungs- undder Menschen und ihrer nationalen Parlamente sowie des Mitwirkungsrechte. Das Europäische Parlament wird in Europäischen Parlaments kann das europäische Projekt seiner parlamentarischen Rolle nicht entsprechend ge- nicht gelingen. stärkt, es verfügt über kein Initiativrecht, die Zusammen- setzung leitet sich nicht auf der Basis eines gleichen Die EU muss sich von unten nach oben über das Volk Wahlrechtes ab. Die Legitimation der europäischenund die Parlamente stärker als bisher legitimieren. Auch Rechtsetzung über die Kontrolle durch die Parlamente bei einem „Nein“ zum Verfassungsvertrag fällt die EU und die Rückbindung an dasVolk, wie es das Bundes- nicht in einen rechtsfreien Raum, sondern ist handlungs- verfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil fordert, fähig auf der Basis des Nizza-Vertrages. ist damit nicht mehr ausreichend gegeben. Die dem Neue Impulse einer vertieften Integration in Kernbe- Deutschen Bundestag eingeräumten Möglichkeiten eines reichen der EU und eine verstärkte Zusammenarbeit ins- Subsidiaritätseinspruches und einer Subsidiaritätsklage besondere in der Außen- und Sicherheitspolitik sind zu können dies nicht ausgleichen. Sie sind weder wirkungs- entwickeln. Eine Überprüfung der Erweiterungsstrategie voll noch effektiv administrierbar. und die Erarbeitung eines Partnerschaftskonzeptes der EU sind notwendig. Europapolitik ist nicht mehr Außenpolitik. Ohne eine Stärkung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundes- tages in EU-Angelegenheiten ist der Verfassungsvertrag Matthias Sehling (CDU/CSU): Ich habe heute dem hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem deutschen Grund- Ratifizierungsgesetz trotz schwerer Bedenken nach gesetz äußerst bedenklich. Der Legitimationsstrang eu- gründlicher Abwägung zugestimmt. ropäischer Rechtsetzung über die nationalen Parlamente Alle Abgeordneten sollten sich bei Abstimmungen so und das Volk wird in Frage gestellt. Die CDU/CSU-Bun- verhalten, als ob von Ihnen allein die Entscheidung ab- destagsfraktion hat daher eine Gesetzesinitiative einge- hinge. Deutschland darf auch im 60. Jahr des Endes des bracht, die die Rechte des Bundestages in EU-Angele- Zweiten Weltkrieges im Hinblick auf seine besondere genheiten stärkt. Kernziele dieses Gesetzes sind:historische Verantwortung für den europäischen Frieden grundsätzliche Bindung derBundesregierung an Stel- nicht den Eindruck erwecken, als stünde es nicht hinter lungnahmen des Bundestages in EU-Angelegenheiten, der Einigung Europas, die uns Frieden und Sicherheit was insbesondere vor der Aufnahme neuer EU-Beitritts- gebracht hat. Aus außenpolitischen Gründen soll nicht (B) verhandlungen und bei Vertragsänderungen gelten muss; von Deutschland ein Nein zu dem Verfassungsvertrag(D) für den Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehr-ausgehen. Deutschland soll das Signal geben: Wir sagen heitsentscheidung im Rat muss die Bundesregierung zu- Ja zu einem vereinten Europa, in dem die Völker und nächst das Einvernehmen mit dem Bundestag mit Zwei- Volksgruppen ohne Furcht und Zwang leben können. drittelmehrheit herstellen. Die Bundesregierung, SPD Auch die deutschen Heimatvertriebenen, deren Interes- und Grüne lehnen diese Kernforderungen ab. Die zuge- senvertretung ich als meine besondere Aufgabe sehe, ha- standene Erweiterung der Mitwirkungsrechte für denben diese Haltung zu Europa schon sehr früh, nämlich Bundesrat, die Stärkung der Informationsrechte des Bun- am 5. August 1950 in der Stuttgarter Charta der deut- destages und ein Minderheitenrecht zur Einreichung ei- schen Heimatvertriebenen, zum Ausdruck gebracht. ner Subsidiaritätsklage sind nicht ausreichend. Gegenüber der jetzigen Europarechtslage nach Nizza Der Verfassungsvertrag definiert die Grundwerte Eu- führt der Verfassungsvertrag auch zu organisatorischen ropas und verzichtet dabei bewusst auf einen ausdrückli- Verbesserungen mit der künftigen Verkleinerung der chen Gottesbezug und die Herausstellung der Bedeutung Kommission nach dem Beitritt zusätzlicher EU-Mitglied- der christlichen Werte und Traditionen, die für Vergan- staaten und er schafft rechtliche Verbindlichkeit für die genheit und Zukunft des Kontinents von großer Bedeu- Grundrechte-Charta. Ich begrüße insbesondere die Ver- tung sind. Nur eine wertegebundene Verfassung, die das bindlichkeit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, geschichtliche Erbe nicht leugnet, gibt der EU eine in- Art. II-61, das Verbot der Zwangsarbeit, Art. II-65 das haltliche und kulturelle Identität. Verbot von Vertreibungen, Art. II-79, und das Verbot der In der Würdigung der Vor- und Nachteile des jetzigen Diskriminierung wegen Zugehörigkeit zu einer nationa- Verfassungsvertrages und der sich für den Deutschenlen Minderheit, Art. II-81. Bundestag und die Rechtsetzung ergebenden Konse- Der Verfassungsvertrag und das zugehörige Zustim- quenzen komme ich in der Abwägung zu einem „Nein“ mungsgesetz haben eine lange Reihe schwerer politi- für dieses Verfassungswerk. Das Europa des EU-Verfas- scher Defizite, Mängel und Rechtsprobleme, die aus sungsvertrages ist nicht mehr das Europa, das die Grün- fachlicher Sicht eine glatte Ablehnung vertretbar er- dungsväter der Gemeinschaft vor Augen hatten. scheinen ließen. Europa braucht klare Werte, föderale Strukturen, ein Erstens: keine klare Kompetenzverteilung. Der Europäi- Bekenntnis zur christlich-abendländischen Geschichte, sche Verfassungsvertrag hat keine Klärung der Gesetzge- zur Verantwortung vor Gott. Wir benötigen ein Europa, bungszuständigkeiten zwischen den Ebenen Europa, das sich auf Kernaufgaben begrenzt, aber nicht in na-Mitgliedstaaten und Regionen bzw. deutschen Bundes- 16520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) ländern erbracht. Stattdessen werden neue Mischzustän- pa“ gewählt wurde – vergleiche Deutscher Bundestag,(C) digkeiten begründet und die Methode der so genannten eine Verfassung für Europa, Reihe „Zur Sache“ 1/2003, offenen Koordinierung trotz der schlechten Erfahrungen Einleitung Seite 33. Ich sehe darin eine mögliche Über- der Vergangenheit als offizielles Instrument verankert. schreitung der Kompetenz des Deutschen Bundestages. Das Zustimmungsgesetz lässt ungeklärt, inwieweit das Zweitens: zusätzliche Kompetenzübertragungen nach Grundgesetz durch die Europäische Verfassung ersetzt Europa. In 20 Politikbereichen erhält die EU mehr Kom- wird. Eine andere Verfassung müsste im Übrigen von petenzen. Für unvertretbar halte ich die neuen Zustän- dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen digkeiten der EU in der Sozial- und Gesundheitspolitik, werden. weil quer durch alle politischen Lager und Fachkreise in Deutschland Einigkeit darüber besteht, dass die beson- Die von der Bundesregierung in Anspruch genom- dere historische Entwicklung unserer Sozialsysteme in mene Rechtsgrundlage Art. 23 Abs. 2 Satz l GG in Ver- Selbstverwaltung, also in mittelbarer Staatsverwaltung, bindung mit Art. 79 Abs. 2 GG könnte nicht ausreichend wie die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung sein, weil das Zustimmungsgesetz schwerpunktmäßig nicht der europäischen Disposition unterstehen soll. Von nicht nur Änderungen einzelner vertraglicher Grundla- Rückübertragung einzelner Kompetenzen auf die Mit- gen der Europäischen Union oder ähnliche Verträge zum gliedstaaten oder gar Regionen kann überhaupt keineZiele hat, sondern die Schaffung von neuem Verfas- Rede sein. sungsrecht. Drittens: Vergrößerung des Demokratiedefizits in Eu- Der in jetzt absoluter Form formulierte Vorrang des ropa. Der Deutsche Bundestag verliert – wie alle natio- Europarechts vor nationalem Recht – Art. I-6 –, also nalen Parlamente – Zuständigkeiten an die europäische auch jeder EU-Richtlinie und EU-Verwaltungsvorschrift Ebene, ohne dass diese Kontrollmöglichkeiten beim Eu- vor deutschen Gesetzen oder Entscheidungen des Bun- ropäischen Parlament „ankommen“. Zu Recht wird von desverfassungsgerichts, ist Hinweis auf die Bundes- einer Entparlamentarisierung der Rechtsetzung gespro- staatsqualität des neuen Europa und könnte mit dem chen. Einmal mehr wird Bürgernähe zugunsten einesGrundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfas- vom Bürger weit entfernten Beamtengremiums, der Eu- sungsgerichts in offenem Widerspruch stehen. Dass die ropäischen Kommission, geopfert. Denkschrift der Bundesregierung die bloße Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung betont – Bundestagsdrucksa- Viertens: mangelhafte Interessenvertretung Deutsch- che 15/490, Seite 256 –, ändert an der neuen Rechtsqua- lands durch die Bundesregierung. Für das wie dargestellt lität nichts. mäßige Ergebnis der Beratungen des Verfassungsver- tragsentwurfs trägt die deutsche Bundesregierung die (B) Entscheidend für eine verfassungsrechtliche Beurtei- (D) Verantwortung. Im Konvent und in der Phase der Regie- lung dürfte die mögliche Verletzung des Rechts auf de- rungskonferenz haben es weder Außenminister Fischer mokratische Teilhabe des Staatsbürgers nach Art. 38 GG noch sein ihm weisungsabhängiger Staatssekretärsein. Die GG-Vorschrift erstreckt sich auf das Recht des Pleuger für erforderlich gehalten, für mehr Subsidiarität, Wählers, auf den grundlegenden demokratischen Gehalt weniger EU-Kompetenzen, mehr Bürgernähe oder die des Wahlrechts, an der Legitimation der Staatsgewalt Einfügung des Gottesbezugs in der Europäischen Verfas- durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf sung auch nur einzutreten. Stattdessen haben sie nur die die Ausübung dieser Staatsgewalt Einfluss zu nehmen – veränderte doppelte Mehrheit und den auf die PersonBVerfGE 89, Seite 171 f. Diese Vorschrift schließt es Fischer zugeschnittenen Europäischen Diplomatischen deshalb aus, mittels des Europäischen Verfassungsver- Dienst ernsthaft thematisiert und durchgesetzt. trags durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestags die durch dessen Wahl bewirkte Legiti- Fünftens: Das Zustimmungsgesetz und der Verfas- mation der Staatsgewalt und die Einflussnahme der Bür- sungsvertrag lösen verfassungsrechtliche Bedenken aus. ger auf deren Ausübung so zu entwerten, dass der im Art. 146 Grundgesetz könnte verletzt sein. Mit dem Zu- „Ewigkeits-Paragraph“ Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung stimmungsgesetz wird jedenfalls faktisch eine neue Ver- mit Art. 20 Abs. l und 2 GG für unantastbar erklärte Ge- fassung für Europa und in wesentlichen Teilen anstelle halt des demokratischen Prinzips verletzt wird – des Grundgesetzes geschaffen. Dass es sich nicht nur um BVerfGE 89, Seiten 172, 182. Dieses Demokratieprinzip einen Verfassungsvertrag handelt – falsa demonstratio ist verletzt, weil dem Bundestag nicht Aufgaben und Be- non nocet –, geht sowohl aus dem Wortlaut des Verfas- fugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben und sungstextes – vergleiche Überschrift A. Erklärungen zu auch dem Europäischen Parlament nicht ersatzweise die Bestimmungen der Verfassung, Bundestagsdrucksache dem Bundestag entzogenen Zuständigkeiten in Gesetz- 15/4900, Seite 189 – als auch aus der dem deutschen Zu- gebung und Verwaltungskontrolle übertragen werden. In stimmungsgesetz beigegebenen Denkschrift der Bundes- bestimmten Politikbereichen soll zum Beispiel das Recht regierung – vergleiche C. Systematik des Vertragswerks: der Gesetzesinitiative keinerlei Parlamentsebene – we- „Die Verfassung gliedert sich in vier Teile“ hervor. – der Bundestag noch Europäischem Parlament –, sondern Auch die Entstehungsgeschichte zeigt, dass eine Verfas- nur noch der Europäischen Kommission zustehen. Dies sung gewollt ist – so spricht der Auftrag des Rats von ist mit dem Demokratieprinzip nicht zu vereinbaren. Laeken an den Konvent von „Verfassung für die europä- ischen Bürger“ – und dass aus Kompromissgründen am 28. Oktober 2002 vom Konventspräsidium der Name Marion Seib (CDU/CSU): In dem von der Bundesre- „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Euro- gierung ausgehandelten nd u unterzeichneten Europäi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16521

(A) schen Verfassungsvertrag fehlen der Hinweis auf das Erstens. Die EU wird nicht bürgernäher. Im europäi- (C) christliche Erbe Europas und der Bezug auf die Verant- schen Einigungsprozess werden folgerichtig die Kompe- wortung vor Gott. Dieses Fehlen ist einer Unterordnung tenzen und Zuständigkeiten der nationalen Parlamente unter die in Europa teilweise vertretene Idee des Laizis- geringer. Der erhebliche Kompetenzverlust des Deut- mus geschuldet. Der Laizismus wirkt nicht sinnstiftend schen Bundestages wie auch anderer nationaler Parla- und wird Europas christliche Werte aushöhlen. Für die mente – manche Experten sprechen von über 60 Prozent Zukunft unseres Kontinents stellt diese Entwicklungder Kompetenzen – wird aber nicht ersetzt durch mehr eine große Gefahr dar. Der ausdrückliche Bezug auf die Verantwortung des Europäischen Parlaments. Nur ein Verantwortung der Menschen vor Gott bewahrt die Ge- geringer Teil der abgegebenen Kompetenzen kommt im sellschaft vor Absolutheitsansprüchen und bietet einen Europäischen Parlament an, so wie er vom Bundestag klaren Wertekanon. Gleichzeitig wird die Erinnerungabgegeben wird. Der größte Teil wächst der Kommis- wach gehalten, dass die erfolgreiche politische Gestal- sion und dem Europäischen Rat zu. Die Bürgerinnen und tung eines vereinten Europas nach der Katastrophe des Bürger in Deutschland wie auch in anderen europäischen Zweiten Weltkrieges ohne die religiöse Wertebindung Staaten können diese Institutionen aber nicht persönlich ihrer Gründergeneration nicht möglich gewesen wäre. durch Wahl oder Abwahl zur Verantwortung ziehen. Diese religiöse Wertebindung ist auch in Zukunft zum Verständnis des gesamten kulturellen, humanistischen Zweitens. Der Europäische Verfassungsvertrag ver- und geistigen Erbes in Europa unverzichtbar. schafft den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr Klarheit und Transparenz. Der Auftrag zur Schaffung einer klaren Der von der Bundesregierung ausgehandelte und un- und durchschaubaren Kompetenzordnung und einer terzeichnete Europäische Verfassungsvertrag schafftKompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union keine klare Kompetenzabgrenzung. Der Verfassungsver- und den Mitgliedstaaten wurden verfehlt. Anstatt einer trag bringt eine Kompetenzausweitung in der Wirt-klaren, durchschaubaren Verfassung wie dem Deutschen schafts-, Währungs- und Energiepolitik, in den Berei- Grundgesetz wurde ein kompliziertes Vertragswerk von chen Gesundheit, Raumfahrt, Zivilschutz, Sport und der über 420 Seiten, 23 Titeln, 40 Zusatzprotokollen mit An- Daseinsvorsorge sowie in der Innen- und Justizpolitik. hängen und Weisungen geschaffen, die eine aufgefä- Durch das Initiativmonopol für die EU-Kommission ist cherte Rechtsordnung von ausschließlichen, geteilten ein ausreichendes parlamentarisches Initiativ- und Kon- und koordinierten Kompetenzfeldern der Europäischen trollrecht nicht gegeben. Union zur Folge hat. Der von der Bundesregierung ausgehandelte und un- Drittens. Statt mehr Europäische Gemeinsamkeit in terzeichnete Europäische Verfassungsvertrag räumt aus- der Außen- und Verteidigungspolitik werden Wirtschaft, (B) drücklich und uneingeschränkt „Vorrang vor dem Recht Energiepolitik, Gesundheit, Raumfahrt, Zivilschutz und (D) der Mitgliedstaaten“ ein. Ohne eine starke Einbindung Sport, Verwaltungszusammenarbeit sowie Daseins-Vor- der Menschen über ihre nationalen und entscheidungsfä- sorge, was für die Kommunen und Kreise von besonderer higen Parlamente wird Europa keine Akzeptanz finden. Bedeutung ist, einer neuen Kompetenz der EU unterstellt. Die EU muss sich von unten nach oben über das Volk Damit wächst die Gefahr zentraler Entscheidungen. Statt und seine Parlamente stärker legitimieren. Europa muss der Europäischen Union mehr Einfluss in der Verteidi- ein Europa der Bürger und nicht der Kommissionen und gungs- und Außenpolitik zuzuweisen, wächst das Risiko Organisationen sein. einer Einflussnahme der EU-Zentrale auf kommunale Versorgungsbetriebe. Nach Abwägung aller vorgetragenen Argumente werde ich dem EU-Verfassungsvertrag nicht zustimmen. Viertens. Nach den Zeiten tiefster menschlicher Er- niedrigung durch den Nationalsozialismus beschlossen die Väter des Grundgesetzes in der Präambel feierlich ei- Johannes Singhammer (CDU/CSU): Mit einer nen Gottesbezug im Grundgesetz zu verankern. Der Ver- großen Mehrheit im Deutschen Bundestag bin ich mir ei- fassungsrichter Böckenförde hat dazu später eine ein- nig, dass ein gemeinsames Europa für unsere Zukunft drucksvolle Begründung geliefert: Die Demokratie lebt ohne Alternative ist, der Europäische Verfassungsvertrag von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. eine wegweisende Entscheidung und die folgenreichste Mit ihrer Präambel im Grundgesetz ist die Bundesrepu- Beschlußfassung des Deutschen Bundestags in derblik Deutschland gut gefahren. Ein wichtiges Erbe aus 15. Legislaturperiode ist und dass der Verfassungsver- über 50 Jahren Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- trag das Fundament eines künftigen Europas sein wird. land, das wir für eine Europäische Verfassung einbrin- Ein Fundament muss tragfähig, belastbar und eben sein, gen können, ist der Gottesbezug. Leider finden auch die sonst läuft ein Bauwerk Gefahr, Belastungen nicht stand- unzweifelhaft christlichen Traditionen Europas keine an- zuhalten oder gar einzustürzen. Ähnlich verhält es sich gemessene Erwähnung als Auftrag für die Zukunft. mit dem Europäischen Verfassungsvertrag als dem Fun- dament eines künftigen Europäischen Hauses. Fünftens. Während der Bundesrat eine Reihe von maßgeblichen Mitwirkungsrechten bei Entscheidungen Nach reiflicher Überlegung und Abwägung, wie ein der Bundsregierung rechtlich abgesichert erhält, werden zukunftssicheres Europa gebaut werden kann, komme diese Rechte dem Bundestag nicht in einem Gesetz ein- ich zu dem Ergebnis, dass der vorliegende Verfassungs- geräumt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat zu Recht vertrag die Voraussetzung für ein belastbares Fundament ein entsprechendes Begleitgesetz eingebracht. Alle be- nicht wird erfüllen können. rechtigten Forderungen nach einem zeitgleichen Gesetz 16522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) sind durch die rot-grüne Bundesregierung allerdings zu- schen Anliegen aus deutscher Sicht wird der Vertrag(C) rückgewiesen worden. Damit entsteht eine erhebliche nicht gerecht. In der Präambel fehlen der Hinweis auf Ungleichbehandlung zwischen Bundestag und Bundesrat das christliche Erbe Europas und der Bezug auf die Ver- mit Folgen für die Zukunft. Der Deutsche Bundestagantwortung vor Gott. Dieswiderspricht wohlbegründe- kann künftig anders als der Bundesrat keinen Parla-ten Forderungen aus dem politischen, gesellschaftlichen mentsvorbehalt bei zentralen Rechtssetzungsakten der und kirchlichen Raum. Die Koordinierungskompetenzen EU geltend machen. im Bereich der Wirtschaftspolitik weisen den Charakter von Generalklauseln auf. Dies widerspricht den ur- Sechstens. Das Ausmaß der Kompetenzübertragung sprünglichen Forderungen, im Verfassungsvertrag eine und die Einwirkungsmöglichkeiten der Europäischenklare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Ebe- Union sind so weitgehend, die Überlagerung nationalen nen der EU, der Mitgliedsländer und ihrer Regionen vor- Rechts selbst des Grundgesetzes durch Europäischezunehmen. In den Bereichen Sozialpolitik, Arbeitsrecht, Rechtsetzungsakte so einschneidend, dass die Funda-Gesundheitspolitik, Industrie und Forschung sowie mente nationaler Staatlichkeit berührt werden. In diesem Energiepolitik sollen die Kompetenzen der EU ausge- besonderen und einzigartigen Fall reicht die Legitima- weitet und im Bereich der Daseinsvorsorge neue Kom- tion der frei gewählten Abgeordneten des Deutschenpetenzen geschaffen werden. Dies widerspricht den jah- Bundestages nicht aus, darüber zu beschließen. Vielmehr relangen Bemühungen, den Tendenzen zu immer mehr kann dies nur das Volk selbst. Die CSU hat deshalb zu Zentralisierung auf EU-Ebene Einhalt zu gebieten und in Recht eine europaweite, an einem Tag stattfindende Ab- der EU mehr Bürgernähe sicherzustellen. Offensichtlich stimmung für jedes Land gesondert vorgeschlagen. Die- war die Bundesregierung weder gewillt noch bereit, ent- sen Vorschlag hat die Bundesregierung abgelehnt. sprechende Forderungen in die Vertragsverhandlungen Siebtens. Anders als die meisten europäischen Staaten einzubeziehen, um so ein befriedigendes Verhandlungs- hat die rot-grüne Bundesregierung keinen einzigen Än- ergebnis herbeizuführen. derungsantrag in die Abschlussverhandlungen einge- Zweitens. Nach meiner festen Überzeugung bedarf bracht. Keiner der von der CDU/CSU-Bundestagsfrak- die Geburt einer solchen europäischen Verfassung der tion formulierten begründeten Änderungsanträge wurde Zustimmung des ganzen deutschen Volkes und nicht nur von der Bundesregierung aufgegriffen und versucht, ein- seiner Repräsentanten. In zahlreichen Mitgliedstaaten zubringen. der EU gibt es dazu eine Volksabstimmung. Das stärkt Achtens. Nach dem Willen der rot-grünen Bundesre- die Bindung an die EU und baut Vorbehalte ab, die sich gierung soll die eilige Verabschiedung des Verfassungs- aus dem Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefert- vertrages das Verhalten der französischen Wählerinnen seins an Europa speisen. (B) und Wähler beim Referendum am 29. Mai beeinflussen. (D) Nach reiflicher Abwägung werde ich dennoch trotz Die Entscheidung des Deutschen Bundestags als Vehikel gravierender Bedenken dem Vertragswerk zustimmen, zur Beeinflussung französischer Wähler zu nutzen ist da die Vorteile letztlich überwiegen. unangemessen und falsch. Richtig wäre es gewesen, die Entscheidung des Bundestages nach dem französischen Referendum anzusetzen oder zumindest zeitgleich am Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Tag des französischen Referendums, um europäischeGRÜNEN): Ich will keinen Zweifel aufkommen lassen Gemeinsamkeit zumindest im Abstimmungszeitpunkt zu und betone deshalb: Auch ich halte die Europäische demonstrieren. Der Deutsche Bundestag hätte dann in Union für unverzichtbar. Auch ich befürworte den Euro- einer Sondersitzung abgestimmt, das französische Volk päischen Zusammenschluss und die Einführung einer im Rahmen eines Referendums. EU-Verfassung. Aber die Kritik, wie sie aus der Frie- densbewegung in Deutschland und der französischen Ich hoffe und wünsche, dass Europa auf einem ande- Linken an Teilen der EU-Verfassung geäußert wird, ist ren, besseren Fundament sicher wachsen und gedeihen schwerwiegend und berechtigt. Zu den Kritikpunkten kann. gehört, dass die EU-Verfassung die Staaten Europas zur militärischen Aufrüstung verpflichte, militärische Mis- Erika Steinbach (CDU/CSU): Mit dem Europäi- sionen ohne UN-Mandat zulasse und eine neoliberale schen Verfassungsvertrag soll die Europäische UnionWirtschafts- und Gesellschaftsordnung für Europa fest- handlungsfähiger, transparenter und demokratischer ge- schreibe. staltet werden. Die Zusammenfassung der Europäischen Verträge in einem einheitlichen Gesetzeswerk, die Ver- Ich meine, eine EU-Verfassung sollte nicht verab- ankerung der europäischen Grundrechte-Charta, die in- schiedet werden, ohne dass die Mitwirkung des Bundes- stitutionellen Reformen und nicht zuletzt die Regelun- tages bei der zukünftigen Rechtsetzung in Europa um- gen zur Subsidiaritätskontrolle sind ein erkennbarerfassend und vollständig durch ein Gesetz geregelt wird. Fortschritt gegenüber dem jetzigen Rechtszustand. So war es ursprünglich vorgesehen. Gesetzentwürfe von Opposition und Regierung lagen vor, wenn sie auch Erstens. Ungeachtet dieser Verbesserungen weist der noch unzulänglich waren. Jetzt gibt es nur noch eine Be- von der Bundesregierung ausgehandelte und unterzeich- schlussempfehlung zu einem Teil eines solchen Begleit- nete Europäische Verfassungsvertrag gravierende Män- gesetz, das der Bundestag bis Ende des Jahres verab- gel auf. Es sind erhebliche Defizite bei dem formulierten schieden soll. Ich fürchte, nach der Verabschiedung der Regelungen bereits jetzt erkennbar. Wichtigen politi-EU-Verfassung wird der Druck nachlassen, ein ausrei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16523

(A) chendes Gesetz zu machen. Die demokratische Legiti- EU-Verträge von Maastricht bis Nizza fort. Sie sind(C) mation der zukünftigen EU-Rechtsetzung, die nur die nicht besser, sondern dramatisch schlechter als der EU- Parlamente der Mitgliedstaaten schaffen können, so-Verfassungsvertrag. Sie enthalten keine Grundrechte- lange und soweit die Befugnisse des Europäischen Parla- Charta und weit geringere Rechte für das Europäische ments noch nicht ausreichend sind, droht auf der Strecke Parlament. Militärische Aufrüstung und gemeinsame zu bleiben. Militäreinsätze der EU-Staaten wären möglich, wie sie ja auch jetzt schon stattfinden, und darüber hinaus sogar Ich bedauere, dass in Deutschland keine Volksabstim- die Beteiligung einzelner EU-Staaten an Angriffskriegen mung über die Verfassung und keine ausführliche De- ohne UN-Mandat. – Dann ist das nicht das Ende der EU batte in der Bevölkerung wie in Frankreich stattfinden. oder der Verfassungsgebung, aber die Chancen zur Ver- Die EU-Verfassung hat es nicht verdient und ist mir einbarung einer besseren Verfassung sind nicht besser, zu wichtig, als dass ich akzeptieren kann, dass über die sondern schlechter. Den Verbesserungen müssten jetzt Kritikpunkte nicht ausführlich auch im Bundestag – im nicht 15, sondern 25 Regierungen der EU zustimmen, Plenum – geredet wird. und zwar einstimmig – auch der Streichung der „unter- nehmerischen Freiheit“. Verschlechterungen etwa in den Erstens. Ich halte es nicht für richtig, dass unter den umstrittenen Bereichen des Datenschutzes oder der Zielen der Verfassung eine Verpflichtung der Staaten ge- Nichtdiskriminierung wären nicht unwahrscheinlich. – nannt ist, „ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern“, Dann gilt das Grundgesetz. Auch dieses garantiert mit Art. I-41 Abs. 3. Der Satz kann als Pflicht zur Aufrüs- der Berufsfreiheit die unternehmerische Freiheit. Das tung verstanden werden, insbesondere auch deshalb,Grundgesetz erklärt die allgemeinen Regeln des Völker- weil in der Verfassung gleich danach die Einrichtung ei- rechts zum Bestandteil des Bundesrechts, aber benennt ner „Europäischen Verteidigungsagentur“ folgt, deren auch nicht das UN-Mandat als Voraussetzung eines Bun- Aufgabe es auch sein soll, „zur Ermittlung von Maßnah- deswehrkampfeinsatzes. men zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors beizutragen und diese Für meine Entscheidung ist ausschlaggebend: Ich Maßnahmen durchzuführen“. Einen ebenso ausführli- habe eine Stellungnahme des wissenschaftlichen Diens- chen Abrüstungstext für Europa sucht man vergeblich in tes des Deutschen Bundestages eingeholt. Danach bedarf der EU-Verfassung. ein EU-Beschluss über den Einsatz von Streitkräften nicht nur der Zustimmung aller nationalen Regierungen Zweitens. Außerdem kann die EU militärische Mis- im Rat, sondern für dessen Umsetzung gilt in Deutsch- sionen einschließlich Kampfeinsätze in Drittländern „in land auch der Parlamentsvorbehalt. Eine Regierung kann Übereinstimmung mit Grundsätzen der Charta der Ver- also einen solchen Beschluss verhindern – und der Deut- einten Nationen“ durchführen. Es gibt aber in der Ver- (B) sche Bundestag nach wie vor den Einsatz der Bundes-(D) fassung keine ausdrückliche Festlegung, dass solche wehr in einer Mission mit Kampfeinsatz. Missionen nur mit einem Mandat der UN zulässig sind. Ich lehne also den EU-Verfassungsvertrag nicht ab. Drittens. In die EU-Verfassung wurde eine „Charta der Grundrechte“ aufgenommen. Diese enthält als Grundrecht die „unternehmerische Freiheit“ und das Ei- Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): Ich habe gentumsrecht, aber ohne soziale Verpflichtung, und es mich bei der Abstimmung der Stimme enthalten, weil fehlt auch die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes.ich den Vertrag über eine Verfassung für Europa als pro- Der Eindruck der einseitigen Ausrichtung auf die Be- blematisch ansehe und im Fall eines In-Kraft-Tretens dürfnisse der kapitalistischen Wirtschaft wird verstärkt eine baldige Verbesserung des Vertrags für nötig halte. durch die Festschreibung des „Grundsatzes einer offenen Zugleich betone ich, dass ich eine Verfassung für Europa Markwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ und des „Vor- dringend wünsche. ranges der Preisstabilität“. So weit, so schlecht. Ich empfinde Teil III des Vertragsentwurfs in weiten Aber ich übersehe auch nicht: Die EU-VerfassungTeilen als Fremdkörper für eine Verfassung. Er ist zu enthält keine Sozialstaatsklausel, fordert aber die Einhal- großen Teilen von seinem Charakter her politischer Na- tung sozialer Grundrechte weit mehr und konkreter als tur und nicht etwa grundsätzlich. Für die Politik gibt es das Grundgesetz. Sie benennt als Ziel „soziale Markt- den demokratischen Mechanismus der Mehrheitsent- wirtschaft“, die Förderung von „sozialer Gerechtigkeit“ scheidungen, und diese sind auch revidierbar. Von einer und „sozialem Schutz“ und die Verbesserung der „Le- Verfassung darf man erwarten, dass sie Grundsätze fest- bens- und Arbeitsbedingungen“. Sie lässt die Einschrän- legt, die nur sehr selten ergänzt oder revidiert werden. kung und den Entzug des Eigentums im öffentlichen In- Zu den zahlreichen Punkten, die in einer Verfassung teresse und die gesetzliche Regelung zu dessen Nutzung eigentlich nichts zu suchen haben, gehören Regelungen „für das Wohl der Allgemeinheit“ zu. Sie zählt zu den über Ausfuhrrückvergütungen und Einfuhrausgleichsab- Aufgaben der Gemeinsamen Sicherheitspolitik mit zivi- gaben – Art. III-170 g – eine produktivistische Zielbe- len und militärischen Mitteln gleichwertig nebeneinan- stimmung der Agrarpolitik – Art. III-227 (1) a – Aussa- der auch „Abrüstungsmaßnahmen“, „humanitäre“ und gen über Beförderungsentgelte und die wirtschaftliche „Rettungseinsätze“, die „Konfliktverhütung und Erhal- Lage der Verkehrsunternehmer – Art. III-239 – und über tung des Friedens“. die grenzüberschreitende Zustellung von Schriftstücken Was wäre die Folge, wenn die EU-Verfassung nicht in zivilrechtlichen Fragen – Art. III-269 (2) b –; oder der die notwendige Zustimmung fände? – Dann gelten die Wettbewerbsfähigkeit der Tourismus-Unternehmen – 16524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Art. III-281 (1). Mir ist natürlich bekannt, dass das alles Auch mit der Neuregelung wird von der Vermutung(C) Elemente aus dem bisherigen gültigen europäischen Ver- eines überhöhten Einkommens ausgegangen, die aus ei- tragswerk sind. Es wäre aber richtiger gewesen, diese nem tatsächlichen hohen Einkommen abgeleitet wird. auf den Rang politischer EU-Entscheidungen zurückzu- stufen. Mit der Neuregelung werden Wertungswidersprüche in der Rentengewährung aufrechterhalten, die darin zu Ich habe weiterhin zwei Besorgnisse im Kontext des sehen sind, dass die erfassten Personengruppen zum ei- Verfassungsvertrags. nen gegenüber Versicherten mit Anspruch auf eine Zu- Erstens. Die Aussage „Die Mitgliedstaaten verpflich- satzversorgung, deren Versorgungssystem von den Ent- ten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu geltbegrenzungsvorschriften nicht erfasst wird, zum verbessern“ – Art. I-41, Abs. 3 – kann theoretisch alsanderen gegenüber Versicherten, deren Versorgungssys- Verfassungsverpflichtung zu kontinuierlicher Aufrüs- tem zwar erfasst wird, deren Entgelte jedoch die E-3- tung interpretiert werden. Das im Juni 2004 beschlos- Grenze nicht erreichen, benachteiligt werden. sene „Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusam- Der Kürzungsmechanismus widerspricht dem Gleich- menarbeit (SSZ)“ bestärkt diese Besorgnis. heitsprinzip, weil er alle von ihm erfassten Arbeitsent- Zweitens. Der „Grundsatz einer offenen Marktwirt- gelte zwangsläufig auf s da Durchschnittseinkommen schaft mit freiem Wettbewerb“ wird in Art. III-177 kodi- kürzt und den Betroffenen in der Regel weit hinter den fiziert und wird kaum durch Sozialpflichtigkeitsgrund- Rentenbetrag zurückfallen lässt, der ihm für eine vorhe- sätze relativiert. Analog steht die Eigentumsgarantierige Tätigkeit gewährt wird. – Art. II-77 – absolut und isoliert da, ohne die Grundge- Es muss bezweifelt werden, ob die Behauptung, dass setzbindung – Art. 14, 15 GG – an das Gemeinwohl.die Betreffenden versorgungsseitig als Mitglieder eines Diese Absolutsetzung sehe ich als ungerechtfertigt an. Gesamtkonzeptes der Selbstprivilegierung anzusehen Die auch von mir als Positivpunkte des Verfassungs- sind, von den Feststellungen im Beschluss des Bundes- vertrags gewerteten Grundrechte – Art. II-61 bis II-110 verfassungsgerichtes vom 23. Juni 2004 (1 BvL 3/98) haben auch ohne den Vertrag bereits Rechtsgültigkeit in getragen wird. Europa. Sie scheinen mir im Entwurf eher relativiert zu Wegen der vorstehenden Kritikpunkte muss davon werden: Ihre Ausübung erfolgt „im Rahmen“ der in an- ausgegangen werden, dass das zur Verabschiedung vor- deren Teilen der Verfassung festgelegten Bedingungen gelegte Gesetz erhebliche verfassungsrechtliche Risiken und Grenzen – Art. II-112. beinhaltet.

(B) (D) Anlage 7 Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO Zu Protokoll gegebene Reden der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker und Götz-Peter Lohmann (beide SPD) zur Abstim- zur Beratung des Antrags: Ländliche Räume mung über den Entwurf eines Ersten Gesetzes durch eine moderne und innovative Landwirt- zur Änderung des Anspruchs- und Anwart- schaft stärken und damit Arbeitsplätze sichern schaftsüberführungsgesetzes (Tagesordnungs- (Tagesordnungspunkt 13) punkt 18) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Wir wollen eine Mit dem heute zur Verabschiedung stehenden Gesetz nachhaltige und zukunftsfähige Landwirtschaft in werden Forderungen aus dem Beschluss des Bundesver- Deutschland. Wir sorgen dafür, dass die Landwirtschaft fassungsgerichtes vom 23. Juni 2004 (1 BvL 3/98) um- als moderner Wirtschaftsbereich dafür die notwendigen gesetzt. Soweit die bisherigen Entgeltbegrenzungen da- Rahmenbedingungen hat. Wir wollen leistungs- und mit aufgehoben werden, ist dem zuzustimmen. wettbewerbsfähige Betriebe, die eine hohe Prozess- und Das zur Abstimmung stehende Gesetz ist jedoch in- Produktqualität als Standortvorteil nutzen und im euro- konsequent, da nach diesem weiterhin für bestimmte päischen und internationalen Wettbewerb bestehen kön- Personengruppen Entgeltbegrenzungen fortbestehen sol- nen. Dazu gehören nun mal hohe Standards in den Berei- len. Diese Fortgeltung wird nach unserer Auffassung chen des Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutzes. vom Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes im oben Sie aber, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von genannten Verfahren nicht getragen. Diese Feststellung der CDU, fordern zwar eine „leistungsfähige, moderne bezieht sich insbesondere auf folgende Aussagen des und tierschutzgerechte Landwirtschaft“, aber was bedeu- Bundesverfassungsgerichtes: tet denn das für Sie? Ich sehe bei Ihnen kein Konzept, Die Unzulässigkeit der im Gesetz enthaltenen Typi- ich sehe nur Widersprüchlichkeiten: Sie fordern in ihrem sierung ergibt sich aus der Wahl der in die Rentenkür- Antrag schnelles Handeln der Politik und wecken mal zung einbezogenen Berufsgruppen. Es gibt keine hinrei- wieder Illusionen hinsichtlich der Steuerpolitik. Wie dies chenden tatsächlichen Erkenntnisse dafür, dass für die ohne zusätzlichen Einsatz finanzieller Mittel geschehen von der Neuregelung betroffenen Personengruppensoll, lassen Sie offen. Obwohl Sie doch zu genau wissen, überhöhte Arbeitsentgelte gezahlt wurden, die eine Be- dass finanzielle Spielräume überhaupt nicht vorhanden grenzung in der vorgesehenen Weise rechtfertigen. sind! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16525

(A) Auch wir treten für eine EU-weite Angleichung der hier geltende Arbeits- und tarifliche Bestimmungen an- (C) Energiebesteuerung ein. Im Gegensatz zu Ihnen ver-wendbar. Das ist wichtig, denn Wettbewerb muss fair schweigen wir aber nicht, dass eine Umsetzung kaum sein: Das Unterlaufen der tariflichen und sozialen Stan- schnell erfolgen kann. dards mag manchen Unternehmen einen kurzfristigen Vorteil erschaffen; aber dieser Wettbewerb nach unten ist Sie stellen in Ihrem Antrag auf Seite 2 fest, dass die gegen die Interessen der Menschen und gegen die Inte- hohen Agrarexporte ein Beweis für die hohen Standards ressen der Gesellschaft und wird sich auf die Dauer nicht unserer Produkte sind, die sich über die deutschen Gren- auszahlen. zen hinaus großer Beliebtheit erfreuen. Ja, das stimmt, da pflichten wir Ihnen gern bei und diese hohen Stan- Agrarpolitik und Verbraucherpolitik gehören zusam- dards sind Rot-Grün zu verdanken! Im gleichen Antrag men. Kaum ein anderer Wirtschaftsbereich ist so abhän- haben Sie auf Seite 3 geschrieben: „In der Umsetzung gig von gesellschaftlicher Akzeptanz wie die Landwirt- von EU-Recht werden in Deutschland schärfere Bestim- schaft: zum einen wegen der durchaus beträchtlichen mungen durchgesetzt, wie zum Beispiel in der Tierhal- Beihilfen für die Landwirtschaft, zum anderen, weil alle tung, beim Pflanzenschutz oder im Düngerecht“. Gerade Menschen jeden Tag landwirtschaftliche Produkte, Le- solche Bestimmungen aber sind es doch, die für hoch- bensmittel brauchen. Mit ihrer Kaufentscheidung kön- wertige Produktion und hochwertige Produkte sorgen! nen sie darüber bestimmen, unter welchen Bedingungen Unsere Standards stehen für Qualität und sie sorgen ihre Lebensmittel erzeugt werden sollen. Verbraucher dafür, dass sich unsere Landwirte rechtzeitig auf neue haben die Macht, Produktionsweisen zu boykottieren Anforderungen einstellen können. Das erweist sich zu- oder zu unterstützen. Auf Verunsicherungen reagieren nehmend als Standortvorteil! sie mit Kaufenthaltungen, der Verdacht auf einen Le- bensmittelskandal kann zu enormen Absatzeinbrüchen Die Rahmenbedingungen haben sich in den letzten führen und die Existenz von Landwirten gefährden. Jahren nicht nur für die Land- und Ernährungswirtschaft Denken wir an BSE. HoheQualitätsstandards und gute deutlich verändert. Mit zunehmender LiberalisierungÜberwachung dieser Standards sind der einzige Schutz und Globalisierung der Märkte erhöht sich der Wettbe- gegen Lebensmittelskandale. Und hohe Standards in Sa- werbsdruck auf unsere Unternehmen und beschleunigt chen gesunder, umweltverträglicher und tiergerechter den Strukturwandel. Ziel unserer Politik ist es, denErzeugung werden von den Verbrauchern gefordert und Strukturwandel in der Landwirtschaft so zu begleiten, auch zu etwas höheren Preisen angenommen. Das zeigt dass sie in die Lage versetzt wird, ihre vielfältigen Auf- das Beispiel Ökolandbau. Nicht umsonst haben sogar gaben wie Nahrungsmittelproduktion, Rohstofferzeu- Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, jetzt gung und Landschaftspflege und ihre Aufgaben für die plötzlich den Ökolandbau für sich entdeckt und fordern (B) Entwicklung des ländlichen Raumes wahrzunehmen und in Ihrem Antrag eine Stärkung des Ökolandbaus! Der(D) dabei gleichzeitig als wettbewerbsfähige Unternehmen Ökolandbau hat für 2004 ein Umsatzwachstum von selbst bestehen zu können. 10 Prozent zu verzeichnen. In den letzten zehn Jahren Die Entwicklung unserer Dörfer ist heute nicht mehr in sind dort 75 000 Arbeitsplätze geschaffen worden! Es dem Maße durch die Landwirtschaft bestimmt wie noch handelt sich hier also um eine echte Wachstumsbranche! Vorjahren. In keinem Landkreis in Deutschland über-Der Ökolandbau ist damit ein gutes Beispiel dafür, dass steigt der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten es einen Markt für Produkte mit hohen Standards gibt heute noch 10 Prozent. Eine Verminderung der Zahl land- und dass dieser Markt beste Chancen im Wettbewerb wirtschaftlicher Betriebe muss aber nicht unbedingt ne- bietet. gativ sein, sondern sie ist auch Ausdruck für die durch Wer wie Sie, meine Damen und Herren von der CDU/ technischen Fortschritt erzielte Produktivitätssteigerung. CSU, nicht müde wird, über zu scharfe Bestimmungen Das darf aber nicht dazu führen, dass Landschaften mit zu lamentieren, und an diesen Standards schrauben will, verlassenen Dörfern entstehen. Über die so genannte der verspielt das Vertrauen der Verbraucher, der gefähr- zweite Säule der Agrarpolitik finanzieren wir Maßnah- det Marktpositionen für unsere heimische Landwirt- men zur Erschließung von Beschäftigungs- und Einkom- schaft, unsere ländlichen Räume und: der gefährdet Ar- mensalternativen sowie zum Ausbau der Infrastruktur beitsplätze! und zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab! Dem Wettbewerb dürfen weder Qualitätsstandards noch Sozialstandards geopfert werden. Durch die Erwei- terung der Europäischen Union von 15 auf 25 Mitglied- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):Wir disku- staaten hat sich nicht nur das Angebot an landwirtschaft- tieren hier den Antrag der CDU/CSU „Ländliche Räume lichen Produkten insgesamt erhöht, sondern auch derdurch eine moderne und innovative Landwirtschaft stär- Druck auf den Arbeitsmarkt und die Unternehmen. Um ken und damit Arbeitsplätze sichern“. Ich muss sagen, sowohl für nach Deutschland entsandte Arbeitnehmer dass mich die Forderungen in Ihrem Antrag sehr stark an als auch für die durch Sozial- und Lohndumping bedroh- unsere Haushaltsdebatte im Februar erinnern. Sie for- ten inländischen Arbeitnehmer faire Arbeitsbedingungen dern immer wieder eine erhebliche Erhöhung der staatli- zu schaffen, wollen wir das bereits 1996 verabschiedete chen Zuwendungen. Wie diese Gelder erbracht werden Arbeitnehmer-Entsendegesetz vom Baubereich auf alle sollen, das schreiben Sie nicht. Sie wissen genau, dass anderen Branchen ausdehnen. Auch für ArbeitskräfteSie Hoffnungen wecken, die Sie selber niemals erfüllen von im Ausland ansässigen Arbeitgebern wären damit könnten. 16526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Was bezweckt die CDU/CSU beispielsweise mit der zurückhält. Die Realität zeigt aber auch, dass wir von(C) kurzen trivialen Forderung: „ … eine verlässliche staatli- staatlicher Seite aus klarstellen müssen, dass Arbeitneh- che Förderung der Landwirtschaft stärker als bisher in merrechte nicht komplett unterwandert werden dürfen. den Vordergrund zu stellen“? Sagen Sie, haben Sie ei- Der Bund steht in der Pflicht, den Sozialstaat zu erhalten. gentlich die Reformen, die wir – auch mit Ihrer Zustim- Ich begrüße es sehr, dass die Tarifvertragsparteien früh- mung – durchgeführt haben, nicht verstanden? Erstens zeitig aktiv geworden sind, damit kein staatlicher Min- ist doch klargestellt, dass die Landwirte auch in Zukunft destlohn greifen muss. mit der Reform der EU-Agrarpolitik nicht ohne Zuwen- dungen wirtschaften müssen. Anders als in der Vergan- Sehr geehrte Damen und Herren der Opposition, ich genheit werden wir aber nicht mehr Produkte, sondern finde es schon erstaunlich, dass Sie sich immer wieder gesellschaftlich gewollte Leistungen fördern. Zweitens am Thema „nachwachsende Rohstoffe“ verbeißen. Sie war es das Ziel der Agrarreform, dass wir die unterneh- haben in puncto nachwachsende Rohstoffe in Ihrer Re- merische Selbstbestimmung der Landwirte stärken. Die gierungszeit jegliche Reformen verschlafen. Rot-Grün Bauern werden sich von daher zukünftig von ihrem un- hat gewaltig modernisiert. Es tut mir auch Leid, dass ternehmerischen Können leiten lassen – wie übrigensDeutschland hier nicht schon früher Chancen genutzt alle anderen Unternehmer auch. Prämien für Produkte hat; Sie müssen sich da aber schon Ihre eigenen Ver- wird es so nicht mehr geben. säumnisse vorhalten. Heutzutage sind nachwachsende Rohstoffe Grundlage eines ernst zu nehmenden Wirt- Was Ihren Vorwurf angeht, die Bundesregierung solle schaftszweiges. Ich bin Abgeordnete aus Sachsen-An- die Interessen der Landwirte bei den internationalen Ver- halt und den Vorwurf, die SPD als Regierungspartei handlungen – wie WTO oder der Reform der Zucker- stehe für eine „Klein ist gut“-Strategie, finde ich schon marktordnung – besser wahren, so ist er doch wiederrecht vermessen. nichts weiter als Effekthascherei. Denn die WTO-Ver- handlungen dürfen nicht an der Landwirtschaft scheitern. Nochmals: Die GAP-Reform, gegen die sich die Und auch für die kommende WTO-Verhandlung gilt: Nur CDU/CSU-Fraktion lange Zeit so gestemmt hatte, stärkt durch die zügige und konsequente Verabschiedung und das unternehmerische Engagement der Bauern. Ich per- Umsetzung der Agrarreform haben wir eine gute Ebene sönlich sehe dadurch gute Chancen auch für große Be- geschaffen, um dieses Scheitern zu verhindern. triebe. Was den Anbau nachwachsender Rohstoffe an- geht, so sehe ich gerade im Osten gute Möglichkeiten. Und zum Zucker: Aufgrund des gegen die EU ergan- genen WTO-Urteils und der zu erwartenden Auswirkun- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU- gen der EBA-lnitiative der EU verschärft sich CSU-Fraktion, der ich kann nur sagen: Ihr Antrag ist wieder Reformdruck auf die EU. Das weiß auch die Opposition. bestens dafür geeignet, zu zündeln. Sie stellen Forderun- (B) (D) Trotz dieser großen Anforderungen werden wir dafürgen auf, die nicht erfüllbar sind; das wissen Sie ganz ge- sorgen, dass auch in Zukunft der heimische Zucker-nau. Und das finde ich nicht ehrlich! Von daher kann die rübenanbau möglich ist! SPD-Fraktion Ihren Antrag nur ablehnen. Betrachten wir die technischen Entwicklungen in der Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Die Landwirtschaft und auch die unternehmerischen Anfor- CDU Nordrhein-Westfalen hat als einzige Partei ein aus- derungen, die der Strukturwandel mit sich bringt, soführliches Programm zur Agrarpolitik vorgestellt, aber wird schnell deutlich: Wer auch künftig Landwirt blei- es sind nur diese gerade zitierten drei Zeilen, drei tech- ben möchte, der muss Know-how mitbringen. Ohne fun- nokratische Zeilen, die man im Wahlprogramm der SPD dierten Sachverstand ist in der Landwirtschaft nichts zu zur Landtagswahl in zwei Wochen zum Thema Land- erreichen. Hierfür sind aber auch hinlängliche Löhne er- wirtschaft findet. forderlich. Die Realität der Billiglohnkräfte in Schlacht- höfen zeigt: Genau hier muss angesetzt werden. Wer zu Dabei ist NRW neben Bayern und Niedersachsen Dumpingpreisen arbeiten lässt, der läuft Gefahr, fähige agrarisches Kernland. Die Agrar- und Ernährungswirt- Arbeitnehmer vom Arbeitsprozess abzukoppeln. schaft ist mit über 500 000 Arbeitsplätzen eine der wich- tigsten Wirtschaftsbranchen in Nordrhein-Westfalen. Um diese Entwicklung künftig zu zu unterbinden, Diese stiefmütterliche Behandlung der Landwirte in werden wir das Entsendegesetz ändern und damit über NRW ist aber repräsentativ für die gesamte rot-grüne das Baugewerbe hinaus auch alle anderen Bereiche mit Agrarpolitik. einbeziehen. Ich begrüße es sehr, dass sich mittlerweile schon der Gesamtverband der Land- und Forstwirt- Insgesamt zählt Deutschland zu den größten Erzeu- schaftlichen Arbeitgeberverbände und die IG Bauen-gern von landwirtschaftlichen Produkten in Europa und Agrar-Umwelt verständigt haben, um für die Landwirt- verfügt über eine leistungsstarke und innovative Ernäh- schaft eine gute Lösung zu finden. rungswirtschaft mit einem Spitzenplatz im internationa- len Vergleich. Land- und Forstwirte sind zudem nicht Tritt das Entsendegesetz in Kraft, dann werden dienur mittelständische Erzeuger von Lebensmitteln und Verbände unverzüglich die Verhandlungen aufnehmen, Rohstoffen, sondern sie sind auch die Gestalter und Er- um bundesweite Lohntarifverträge für Facharbeiter, an- halter unserer mitteleuropäischen Kulturlandschaft. gelernte Arbeitnehmer und Saisonarbeitnehmer in der Landwirtschaft zu erarbeiten. Es ist sehr richtig, dass 4,3 Millionen Menschen finden in diesem Bereich der Lohnverhandlungen bei den Arbeitgeber- und Arbeitneh- deutschen Wirtschaft einen Arbeitsplatz. Wir haben eine merverbänden bleiben und sich der Staat weitestgehend Arbeitslosigkeit von über 5 Millionen Menschen. Ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16527

(A) dient ein Sektor mit solcher erheblicher volkwirtschaftli- tung entsprechend die bestmöglichen Rahmenbedingun- (C) cher Relevanz nicht ein bisschen mehr als drei Zeilen? gen zu bieten. Unser Aktionsprogramm für die Landwirtschaft setzt auf Wettbewerbsfähigkeit, Innova- Die rot-grüne Bundesregierung achtet aber weder auf tion und Wachstum. ökonomische noch auf wissenschaftliche Warnsignale. Sie lässt nicht davon ab, mit ihrer sachfremden, von grü- Was wir brauchen, sind: die Eins-zu-eins-Umsetzung ner Ideologie angetriebenen Politik unseren Bauern Son- von EU-Vorschriften in nationales Recht, eine sinnvolle derlasten aufzubürden mit der Folge, dass seit demAgrarsteuergesetzgebung, Vereinfachung im komplizier- Amtsantritt von Rot-Grün die Zahl der Beschäftigten um ten Förderrecht sowie den Abbau der überdimensionalen 165 000 Personen abgenommen hat. Agrarbürokratie. Unsere Landwirtschaft braucht zudem verlässliche Rahmenbedingungen für die Anwendung Rot-Grün plündert den Landwirtschaftshaushalt. Rot- neuer Technologien, wie zum Beispiel bei nachwachsen- Grün höhlt die Sozial- und Strukturpolitik immer weiter den Rohstoffen oder bei der Grünen Gentechnik. Der aus. Rot-Grün sattelt bei Natur- und Umweltauflagen, moderne Landwirt braucht heute Innovation und techni- bei Tier- und Pflanzenschutz auf die EU-Vorgaben im- schen Fortschritt, um nachhaltig und umweltbewusst mer noch kräftig auf. Auf Rot-Grün ist kein Verlass. qualitativ hochwertige und sichere Lebensmittel zu er- Ein Beispiel aus NRW macht dies deutlich: Herrzeugen. Steinbrück formulierte im Oktober: „Eines steht fest. Ich Nur wenn die Landwirte die Zukunft als Chance und werde dafür sorgen, dass EU-Recht eins zu eins in Nord- nicht als Bedrohung empfinden, werden sie sie auch ak- rhein-Westfalen umgesetzt wird. Es wird kein Draufsat- tiv mitgestalten. teln und damit Wettbewerbsnachteile für die heimische Landwirtschaft gegenüber der Konkurrenz geben.“ Fakt ist: Mit der Novellierung des Landeswassergesetzes und Marlene Mortler (CDU/CSU): Der Antrag der CDU/ des Landesplanungsgesetzes und des Landschaftsgeset- CSU-Fraktion „Ländliche Räume durch eine moderne zes verstößt Steinbrück gegen seine eigene Zusage zur und innovative Landwirtschaft stärken und damit Ar- Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Recht und beschädigt beitsplätze sichern“ gibt Gelegenheit, die Bedeutung der erneut die Wettbewerbsfähigkeit der nordrhein-westfäli- Landwirtschaft und der vor- und nachgelagerten Berei- schen Landwirtschaft. che erneut in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rü- cken. Gleichzeitig bietet sich aber die Möglichkeit, auf Die deutsche und die nordrhein-westfälische Land- die fatalen Folgen der rot-grünen Agrarpolitik hinzuwei- wirtschaft sind zu den Verlierern in Europa geworden – sen und Alternativen aufzuzeigen. trotz unserer hervorragend ausgebildeten, hoch motivier- (B) ten Bäuerinnen und Bauern. Die Bedeutung der Landwirtschaft ist im Zusammen- (D) hang mit dem Agribusiness (vor- und nachgelagerte Die Investitionszurückhaltung bei den Landwirten ist Bereiche) zu sehen. Dieser Gesamtsektor stellt 4,3 Mil- besorgniserregend, Kapital fließt aus den Betrieben ab. lionen Arbeitsplätze, erbringt 7 Prozent des Brutto- Die wirtschaftlichen Aktivitäten verkümmern, eine ein- inlandsprodukts. Die Landwirtschaft ist bei einem seitige Überreglementierung und Bürokratiedichte sind Produktionswert von 47 Milliarden Euro in ihrer volks- das traurige Aushängeschild rot-grüner Agrarpolitik. Der wirtschaftlichen Bedeutung größer als andere wichtige wirtschaftliche Motor in den ländlichen Gebieten kommt gewerbliche Wirtschaftszweige (zum Beispiel Textilin- zum Stillstand. Ständig hängt das Damoklesschwert von dustrie 24 Milliarden Euro). Die Landwirtschaft hat also Steuer- und Abgabenerhöhungen über den Landwirten, große Bedeutung für die Sicherung der Nahrungsmittel- wie zum Beispiel die Agrardieselsteuererhöhung und die versorgung, als Rohstofflieferant für die Industrie, für Änderungen der Landwirtschaftlichen Unfallversiche- die Sicherung von Arbeitsplätzen, für die Pflege der rung. Eine Erhöhung der Steuer auf Agrardiesel würde Kulturlandschaft, für die Stabilisierung des ländlichen beispielsweise für die Landwirte einen Wettbewerbs-Siedlungs- und Wirtschaftsraums. nachteil gegenüber Frankreich, das die Steuer auf Agrar- diesel drastisch senkt, von 30 bis 50 Euro je Hektar be- In den nun fast sieben Jahren rot-grüner Bundesregie- deuten. Bei einem 100-Hektar-Betrieb liegt der Nachteil rung hat sich die Einkommenssituation in der Landwirt- dann zwischen 3 000 bis 5 000 Euro je Betrieb. Welcher schaft jährlich stetig verschlechtert oder sie stagniert auf Landwirt kann einen solchen Wettbewerbsnachteil auf niedrigem Niveau. Die deutsche Landwirtschaft ist da- Dauer verkraften? mit Opfer der miserablen Wirtschaftspolitik von Rot- Grün mit den fatalen Folgen: geringes Wirtschafts- Besonders die Landwirte müssen sich doch fragen, wachstum, weiter steigende Arbeitslosigkeit, wiederum woher die Impulse für einen wirtschaftlichen Auf- als Folge daraus: allgemeine Kaufzurückhaltung der schwung in Deutschland unter diesen Umständen kom- Verbraucher und Rückgang der Investitionstätigkeit in men sollen. Während die EU-Nachbarn angesichts der der Landwirtschaft (2003: minus 63 Prozent). gestiegenen Ölpreise die Steuern senken, um die Kon- junktur nicht abzuwürgen, passiert in Deutschland das Zu diesen allgemeinen negativen Auswirkungen rot- genaue Gegenteil. grüner Politik kommen die einseitigen Belastungen der So darf es nicht weitergehen: Rot-Grün muss weg! Landwirtschaft durch die Agrarpolitik dieser Bundesre- gierung. Seit 1998 betreibt Rot-Grün eine ständige Kür- Es ist unsere Aufgabe, mit einer verantwortungsvol- zung der Finanzhilfen und eine Erhöhung der steuerli- len Politik den Landwirten ihrer wirtschaftlichen Bedeu- chen Belastungen (zum Beispiel durch die Ökosteuer 16528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) 2003: rund 562 Millionen zulasten von Landwirtschaft zur Absicherung der Risiken aus dem Anbau gentech-(C) und Gartenbau). 2005: Massive Kürzungen bei der LKV: nisch veränderter Pflanzen gefördert werden. minus 82 Millionen Euro, LUV: minus 100 Millionen Euro. Folge davon sind höhere Beiträge für die aktiven Eine sachbezogene nationale Agrarpolitik erfordert Landwirte. Massive Kürzung bei Agrardiesel: minusauch, dass das BMVEL von der ideologiegeleiteten Or- 287 Millionen Euro, das heißt Erhöhung der Agrardie- ganisations- und Personalpolitik befreit wird, die Minis- selsteuer von jetzt 26 Cent/Liter auf 40 Cent/Liter. (Ver- terin Künast insbesondere mit ihren Entscheidungen der gleiche demgegenüber die niedrigeren Steuersätze in an- letzten Wochen praktiziert hat. Nur dann können die deren EU-Ländern, zum Beispiel Frankreich 1,7 Cent/ hoch qualifizierten Bediensteten des Ministeriums ihren Liter, Dänemark 3,3 Cent/Liter, Österreich 9,8 Cent/Sachverstand und ihr Engagement für die Politikbera- Liter usw.) Agrardiesel ist nur ein Beispiel für die von tung motiviert und ungehindert einbringen. Rot-Grün hausgemachten Wettbewerbsverzerrungen zu- lasten der deutschen Landwirtschaft. In der europäischen und internationalen Agrarpolitik stehen in den nächsten Monaten wichtige Entscheidun- Es ist schon ein negatives Markenzeichen rot-grüner gen an, bei denen es um dieExistenz vieler landwirt- Agrarpolitik geworden, EU-Vorgaben durch nationale schaftlicher Betriebe und Arbeitsplätze im vor- und Alleingänge zu verschärfen, um aus ideologischen Grün- nachgelagerten Bereich geht. Die Reform der EU-Zu- den eine „Agrarwende“ durchzusetzen oder den deut- ckermarktordnung muss auf den unumgänglichen Um- schen Verbrauchern einen „besseren“ Verbraucher-, Um- fang beschränkt werden, der sich aus künftigen interna- welt- und Tierschutz vorzugaukeln. Die Liste diesertionalen Verpflichtungen (WTO) ergibt. Bei der Alleingänge ist lang und liest sich wie ein agrarpoliti- Änderung der EU-Förderung der ländlichen Entwicklung sches „Sündenregister“. Mit einer solchen Politik des(ELER) ist auf die Fortführung der bisherigen Förder- „Draufsattelns“ wird rücksichtslos in Kauf genommen, maßnahmen (insbesondere Ausgleichszulage, KULAP) dass für die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft und auf eine ausreichende finanzielle Ausstattung zu dadurch große Wettbewerbsnachteile gegenüber Kon- achten. In den laufenden WTO-Verhandlungen dürfen kurrenten in anderen EU-Ländern entstehen. Zugeständnisse (Verringerung der internen Stützung, Re- duzierung des Außenschutzes, Abbau von Exportbeihil- Deswegen muss die deutsche Agrarpolitik möglichst fen) nur in dem Umfang gemacht werden, der für einen bald geändert werden, und zwar zum Besseren. Auf eine erfolgreichen Abschluss der WTO-Runde aus gesamt- solche Agrarwende warten unsere Bauern wie ein ver- wirtschaftlicher Sicht notwendig ist. In den WTO-Ver- trocknetes Feld auf Regen. handlungen muss auch die Anerkennung von Standards des Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutzes durchge- (B) Mittelpunkt und Maßstab der Agrarpolitik muss wie- (D) setzt werden. der die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft mit den vor- und nachgelagerten Bereichen (Agribusi- Nur durch eine konsistente, sachbezogene Agrarpoli- ness) werden. Als mittelständisch strukturierter Wirt-tik auf nationaler und europäischer Ebene kann es gelin- schaftszweig sichern die Landwirtschaft und das übrige gen, die ländlichen Räume zu stärken und damit Arbeits- Agribusiness rund 4 Millionen Arbeitsplätze und erbrin- plätze zu sichern. gen rund 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deswe- gen dürfen der Landwirtschaft keine weiteren einseitigen Belastungen auferlegt werden. In der nationalen Agrar- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- politik muss endlich Schluss sein mit weiteren einseiti- NEN): Man muss sich wirklich fragen, an welcher gen Kürzungen bei den Finanzhilfen und Steuervergüns- Wurstbude die Damen und Herren Agrarpolitiker der tigungen für die Landwirtschaft, wie dies ab 2005 bei CDU/CSU die letzten Jahre verbracht haben müssen, Agrardiesel und den Bundeszuschüssen in der landwirt- dass sie derart all das verschlafen konnten, was heute ak- schaftlichen Sozialversicherung geschehen ist. Es muss tuelle Debatte in der Agrarpolitik, der Verbraucherpoli- auch endlich Schluss sein mit weiteren nationalen Al- tik, der Politik für die ländlichen Räume ist. Die CDU/ leingängen, die nur zu Wettbewerbsnachteilen unserer CSU ist personell, institutionell und ideologisch bis Landwirte gegenüber anderen EU-Ländern führen. heute in den Zeiten der verfehlten Agrarpolitik des letz- ten Jahrhunderts hängen geblieben. Sie begeht politisch Die agrarsozialen Sicherungssysteme (landwirtschaft- weiterhin die gleichen Fehler wie in den Jahrzehnten zu- liche Krankenversicherung, landwirtschaftliche Unfall- vor: eine von kurzfristigen Partialinteressen geleitete versicherung, Alterskasse für Landwirte) müssen so re- Politik, die die heutigen gesellschaftlichen und internati- formiert werden, dass der Strukturwandel („Alte Last“) onalen Rahmenbedingungen ignoriert und sich aus berücksichtigt wird und es nicht zu ständigen Beitrags- Sorge um die Zustimmung der Stammtische notwendi- erhöhungen für die aktiven Landwirte kommt. Die Ge- gen Reformen verweigert. meinschaftsaufgabe muss stärker auf die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe Wenn ich mir den Koalitionsvertrag von Schleswig- ausgerichtet werden. Die nachwachsenden RohstoffeHolstein ansehe, so kann ich das nur als dringende Auf- müssen weiter gefördert werden, zum Beispiel durchforderung verstehen, in Nordrhein-Westfalen Grün zu Marketingmaßnahmen nach dem Absatzfonds-Gesetz. wählen. Rückwärts, rückwärts, rückwärts, das ist der Die Pflanzengentechnik darf nicht weiter behindert wer- klare Kurs der Agrarpolitik unter Ministerpräsident den, sondern muss durch Unterstützung der Fondslösung Carstensen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16529

(A) Die CDU/CSU redet zwar inzwischen von Verbrau- kämpft hat und bei der EU-Agrarreform alles daran ge- (C) cherschutz, Umwelt, Lebensmittelsicherheit, Regionali- setzt hat, eine Stärkung der zweiten Säule zu verhindern. tät, Qualität – alles Begriffe der Agrarwende –, aber sie handelt nicht danach. Der Antrag der CDU/CSU ist eine Wo wir vollkommen auseinander liegen ist auch Ihr Ansammlung von Widersprüchen und hohlen Phrasen: Verständnis davon, was „modern“ und „innovativ“ ist. Gestern hat der CDU-Agrarsprecher Peter Bleser beim Er fordert die Erhaltung der mitteleuropäischen Kul- Agrarindustrieverband erklärt: Sie wollten keine ökolo- turlandschaft – richtig. Deren Zerstörung geschah aber gische, sondern eine moderne Landwirtschaft. Quatsch, unter jahrzehntelanger CDU-Agrarpolitik und soll jetzt in diesen Gegensatz gibt es überhaupt nicht! Schleswig-Holstein unter Ministerpräsident Carstensen erneut forciert in Angriff genommen werden. Sie leben in ideologischen Klischees der 80er-Jahre! Sie träumen von technischen Wunderwaffen, die alle Die CDU redet vom berechtigten Interesse der Ver- Probleme zugleich lösen. Das haben Sie schon immer braucher an sicheren Produkten – richtig. Gleichzeitig ist getan und es hat noch nie funktioniert. es jedoch die CDU/CSU, die strenge Regeln zur Lebens- mittelsicherheit immer wieder bekämpft, die sich für un- Nein, moderne ländliche Entwicklung, Schaffung von kontrolliertes Inverkehrbringen von gentechnisch mani- Arbeitsplätzen im ländlichen Raum, nachhaltige Erzeu- pulierten Produkten einsetzt, wie sie in der aktuellen gung hochwertiger Produkte: Das sind sehr komplexe Bt10-Debatte erneut nachdrücklich zum Ausdruck ge- Aufgaben, die ein sehr differenziertes Vorgehen erfor- bracht hat, die eine Heraufsetzung des BSE-Testalters dern. fordert, und deren Vertreter im Bundestag mitunter be- Es geht nicht um einseitige Spezialisierung, sondern haupten, Pestizide seien keine Gifte, folglich gingen von um Diversifizierung, Qualität, Vorreiterschaft. Nicht ihnen auch keine Gefahren aus. eine Risikotechnologie wie die Agrogentechnik schafft, wie immer wieder behauptet wird, Arbeitsplätze und Der Unionsantrag betont die Notwendigkeit hoher Wertschöpfung im ländlichen Raum, sondern nachhal- Umwelt- und Tierschutzstandards, unter anderem als tige Wirtschaftsbereiche wie der boomende Biosektor. Grundlage für hohe Anerkennung deutscher Produkte im Während die Agrogentechnik bisher mehr Arbeitsplätze Ausland und damit hoher Exportanteile – richtig. Aber vernichtet als geschaffen hat, hat der Biobereich in den auch hier sieht die CDU-Politik ganz anders aus: Blo- letzten zehn Jahren die Zahl der Beschäftigten auf ckade der Legehennen- und Schweinehaltungsverord- 150 000 verdoppelt. nung im Bundesrat und permanente Forderung nach möglichst niedrigen Standards. Dabei ist bekannt, dass Wir Grünen wollen keine Einengung auf Schmalspur- (B) während der Amtszeit von Renate Künast die Wertschät- produktion, sondern wir wollen den Menschen im ländli- (D) zung deutscher Agrarprodukte im Ausland deutlich zu- chen Raum neue Spielräume eröffnen, um ihre Existenz genommen hat, eben weil die Ministerin als Garant für auf eine breitere Basis stellen zu können. Der ländliche hohe Sicherheitsstandards steht. Raum wird nur gestärkt, wenn wir die regionale Wirt- schaftsentwicklung stärken und die Wirtschaftskraft im Der Unionsantrag fordert die Schaffung verlässlicher ländlichen Raum halten! Rahmenbedingungen für die Anwendung der Agrogen- technik – richtig. Leider steht auch diese Forderung im Das verlangt Offenheit für individuelle regionale An- krassen Gegensatz zur tatsächlichen Politik der CDU/ sätze, die Landwirtschaft und ländlichen Raum zusam- CSU. Wir haben mit dem Gentechnikgesetz verlässliche men denken, statt in sektoralen Schablonen zu verharren. Rahmenbedingungen geschaffen. Der Skandal um die il- Renate Künast im Bund hat mit dem Wettbewerb „Re- legale Verbreitung von Bt10-Genmais hat die Notwen- gion Aktiv“ einen Ansatz gewählt, der äußerst erfolg- digkeit solcher klaren Regeln nachdrücklich bestätigt. reich regionale Eigeninitiative fördert und eine Vielzahl neuer Ideen und Einkommensquellen erzeugt hat. Nach jetzt bekannt gewordenen Plänen für die Ver- handlungen zum Gentechnikgesetz im Bundesrat will Wir in Nordrhein-Westfalen waren schon Vorreiter ei- die Union hingegen ungenehmigte gentechnisch verän- ner neuen Agrarpolitik, als in Bonn noch die alte Agrar- derte Organismen und daraus entstehende Produkte für lobby das Sagen hatte. Bärbel Höhn hat schon frühzeitig den Lebensmittel- und Futtermittelmarkt freigeben. Au- eine Vielzahl von Möglichkeiten geschaffen, um Be- ßerdem will die CDU/CSU im Bundesrat den Anbautriebe unter den unterschiedlichsten Standortbedingun- gentechnisch veränderter Pflanzen selbst dann noch er- gen fördern zu können: Das „Programm zur markt- und lauben, wenn Verunreinigungen von konventionellem standortangepassten Landwirtschaft“ fördert die regio- oder biologischem Anbau auf Nachbarfeldern auch bei nale Vermarktung und hilft, dass mehr Wertschöpfung Aufwendung von Vorsichtsmaßnahmen nicht verhindert beim Bauern und in den ländlichen Räumen bleibt. werden können. Das hat nichts mit Schaffung verlässli- cher Rahmenbedingungen zu tun. Bärbel Höhn hat als jüngstes Projekt gerade eine Kä- sestraße eröffnet, um handwerkliche Käsereien noch be- Der Unionsantrag fordert eine Sicherstellung ausrei- kannter zu machen und damit Landwirtschaft, Handwerk chender Mittel für die zweite Säule der EU-Agrarpolitik, und Tourismus miteinander zu verbinden. Dabei ist im- das heißt für die ländliche Entwicklung – richtig. Leider mer auch Ziel, die Landwirtschaft dabei zu unterstützen, war es jedoch die CDU/CSU, die eine Stärkung dereinen besseren Stellenwert innerhalb der übrigen Gesell- zweiten Säule im Rahmen der Modulation immer be-schaft zu erreichen. 16530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Unser Plus ist, dass wir 18 Millionen Verbraucher di- beitsplätze aufs Spiel, ohne die vorgegebenen Ziele tat- (C) rekt vor der Tür haben. Das ist unsere Chance! sächlich zu verwirklichen, Vertragsnaturschutz: Wir haben in NRW mittlerweile Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Das Fütterungs- über 300 000 Hektar in den verschiedenen Agrarum-verbot für tierische Fette, ist absurd. Tierische Fette, wie welt- und Vertragsnaturschutzprogrammen. Das sind fast zum Beispiel Schweineschmalz, sind in der menschli- 20 Prozent der Fläche! 13 000 landwirtschaftliche Be- chen Ernährung zugelassen, in der tierischen jedoch triebe in NRW machen da mit, das sind 25 Prozent der nicht. Rot-Grün scheut sich davor, ihrer Klientel zu ver- Betriebe. Wir bringen damit 54 Millionen Euro in den mitteln, dass zahlreiche im Zuge der BSE-Krise getrof- ländlichen Raum Nordrhein-Westfalens. Vor zehn Jah- fene Regelungen überflüssig und sogar schädlich sind. ren, als Rot-Grün in NRW anfing, waren es 7 Millionen, also ein Siebtel! Die verschärfte Umsetzung von EU-Regelungen im Bereich der Tierhaltung dient angeblich dem Tierschutz. Dieses Programm, mit dem wir auch mehr EU-Mittel Tatsächlich wird der Tierschutz durch die Förderung von nach NRW holen, wollen wir weiter ausbauen, denn es Haltungsformen, die hohe Mortalitätsraten aufweisen, stärkt den kooperativen Ansatz zwischen Landwirtschaft von Ministerin Künast mit den Füßen getreten. und Naturschutz. Die Haltung von landwirtschaftlichen Nutztieren Nachwachsenden Rohstoffe und Energie: Die Chan- muss artgemäße Haltungsbedingungen und eine artge- cen für die nachwachsenden Rohstoffe und Energie aus mäße Ernährung gewährleisten. Das heißt, Allesfresser Biomasse hat Rot-Grün erst geöffnet. Strom aus regene- dürfen nicht vegetarisch ernährt werden. Es muss auf ge- rativen Energien hatte 2004 einen Anteil von 10 Prozent ringe Mortalitätsraten geachtet werden. Haltungsformen, am Strom. Damals hieß es, bei 5 Prozent ist Schluss.die wegen besonderer Diätvorschriften für Tiere – keine Nein! Es geht weiter und es muss weitergehen. Die dro- Zusätze lebenswichtiger Aminosäuren – hohe Mortali- hende Klimakatastophe lässt uns gar keine andere Wahl. tätsraten verursachen, müssen verboten werden. Dies ge- Unser Ziel ist: 10 Prozent auch bei Wärme undbietet die Achtung vor dem Mitgeschöpf Tier. 10 Prozent bei Kraftstoffen bis zum Jahr 2010 und ins- gesamt 25 Prozent Anteil bei allem bis zum Jahr 2020! Der Kampf der Koalition gegen die Grüne Gentech- nik ist ein weiteres Beispiel einer ideologisch geprägten Hier bieten sich enorme Chancen für uns Bauern,Politik, die gegen die Interessen der Landwirtschaft ge- nicht nur für das Einkommen, sondern auch was die richtet ist. Die Landwirtschaft braucht Sorten mit züch- Stellung in der Gesellschaft betrifft. Hier kann die Land- terischem Fortschritt, wie ihn die in der Pharmazie so er- (B) wirtschaft Vorreiter einer sinnvollen neuen Entwicklung folgreiche Anwendung der Methode der Gentechnik(D) sein. bringt. Ein gutes Beispiel ist der Bt-Mais, der resistent ist gegen ein Schadinsekt,das bis zu 30 Prozent einer Es ist ökologisch, ökonomisch und sozial richtig. Bei Ernte vernichten kann. Gleichzeitig schützt die Resis- dem Ziel 25 Prozent in 2010 sagt uns die Wissenschaft, tenz die Pflanzen vor Pilzbefall, die Verunreinigung mit das bringe 175 000 neue Arbeitplätze, also auch sozial Pilzgiften ist deutlich geringer als bei anderen Sorten. einen Gewinn. Das ist ein Vorteil für den Verbraucherschutz. Wir haben in NRW gerade ein neues Förderprogramm Mit staatlichem Dirigismus und Steuergeldern oder für Kommunen aufgelegt, mit dem wir die Kommunen genauer durch eine Verschuldungspolitik will Rot-Grün unterstützen, die ihre Fahrzeuge auf Basis von Bioetha- sein Ziel, 20 Prozent Ökolandwirtschaft durchboxen. nol oder Pflanzenöl fahren lassen. Und: 2004 hatten wir Das ist unrealistisch. Zurzeit beträgt der Anteil an Öko- eine Verdopplung der Holzpellet-Anlagen auf jetztprodukten 2,6 Prozent. Ökolandwirtschaft findet mehr 2400. als vier Jahre nach der so genannten Agrarwende nur auf Sie sehen, es geht richtig ab im Energiesektor. Alle 4,1 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche statt. überall auf den Höfen entstehen Photovoltaik-, Biogas-, Holzverbrennungs- und viele andere Energieanlagen. In einem Land mit mehr als 5 Millionen Arbeitslosen Der Bauer als Energiewirt ist längst Realität und Sie von ist diese rot-grüne Politik, die das Problem der Arbeits- der Opposition diskutieren immer noch über unseren an- losigkeit verschärft, unsozial. Sie ist verantwortungslos. geblichen Realitätsverlust. Nicht wir, Sie haben ihn! Sie trägt zur Perspektivlosigkeit junger Menschen bei. Die FDP stellt dem ideologischen Irrweg von Rot- Christel Happach-Kasan (FDP): Deutschland ist Grün das Modell einer marktwirtschaftlichen und unter- beides: Industriestaat und gleichzeitig land- und forst- nehmerischen Landwirtschaft entgegen. Konventionell wirtschaftlich geprägtes Flächenland. Die rot-grüneund ökologisch wirtschaftende Betriebe müssen sich am Koalition hat in ihrer weitgehend auf die Befindlichkei- Markt behaupten. Alles andere ist vor dem Hintergrund ten einer städtisch geprägten Bevölkerung abgestellten der Globalisierung und der WTO-Verhandlungen ohne Politik, die existenziellen Interessen der Menschen inErfolgsaussicht. Innovative Technologien müssen ge- den ländlichen Räumen vernachlässigt. Die ideologische nutzt werden, die landwirtschaftliche Veredelung darf Agrarwende von Ministerin Künast ist ein ideologischer nicht durch Regelungswut und Wettbewerbsverzerrun- Irrweg. Dieser Irrweg setzt mit vorgeschobenen Begrün- gen außer Landes vertrieben werden, nachwachsende dungen des Verbraucher-, Tier- und Umweltschutzes Ar- Rohstoffe sind eine neue Chance für unsere Betriebe. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16531

(A) Anlage 9 sektor, ausgelöst durch die Liberalisierung der Holz-(C) märkte, zwingt die deutschen Unternehmen zu mehr Zu Protokoll gegebene Reden Wirtschaftlichkeit. Deshalb müssen die kleinteiligen und zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur oft ineffizienten Strukturen der Forstbetriebe den neuen Änderung des Absatzfondsgesetzes und des Herausforderungen angepasst werden. Das erreichen wir Holzabsatzfondsgesetz (Tagesordnungspunkt 14) mit der Novellierung des Bundeswaldgesetzes. Sie macht den Weg frei für wettbewerbsfähige forstwirt- schaftliche Zusammenschlüsse. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ich spreche zum Holz- absatzfondsgesetz. Warum müssen wir das Gesetz än- Wer meint, Deutschland sei ein rohstoffarmes Land, dern? Im Moment ist es so, dass die Holz produzieren- der befindet sich auf dem Holzweg. Wir verfügen mit den und verarbeitenden Unternehmen unseren eine Wäldern über eine ökologisch überaus wertvolle Sonderabgabe in den Fonds einzahlen. Diese Beiträge grüne nachwachsende Rohstoffquelle, deren Potenziale werden zum Beispiel für gemeinsame Werbestrategien zurzeit überhaupt nicht ausreichend genutzt werden. Mit genutzt. Die Mitgliedsbeiträge werden von der Bundes- Forstbetrieben, die diesen Rohstoff wirtschaftlich produ- anstalt für Landwirtschaft und Ernährung für den Holz- zieren, nutzen wir diese Potenziale und verbinden Öko- absatzfonds kostenlos eingezogen, obwohl für Beitrags- logie und Ökonomie. einzug und Verwaltung Personal- und Sachkosten anfallen, 700 000 Euro im letzten Jahr. Der Bundesrech- Aber was nützt es, wenn man den Markt vor lauter nungshof hat dieses Verfahren mehrfach moniert: FürBäumen nicht sieht. Mehr Holz zu produzieren und ein- eine Leistung, die aus Steuermitteln erbracht wird, muss zuschlagen, welches dann auf dem Holzstapel liegen- gezahlt werden. Das gelte auch für den Absatz- und für bleibt, bringt der Forstwirtschaft wenig. Wenn wir mehr den Holzabsatzfonds. Holz erwirtschaften, brauchen wir natürlich auch neue Holzabsatzmärkte! Wie schaffen wir die? Deshalb ändern wir das Gesetz. Wir machen das nicht im Hauruckverfahren, sondern schauen, was geht und Das machen wir mit der Charta für Holz. Klares Ziel: was geht nicht. Den Holzabsatzfonds trifft die Gesetzes- Den Absatz von deutschem Holz in den nächsten zehn änderung deutlich härter als den finanziell sehr viel bes- Jahren um 20 Prozent zu steigern. Mit der Charta haben ser ausgestatteten Absatzfonds. Deshalb haben wir uns wir ein schlagkräftiges Instrument zur Stärkung des mit dem Holzabsatzfonds zusammengesetzt und nach ei- Holzsektors. ner Lösung gesucht. Vor wenigen Monaten fiel der Startschuss für die Diese sieht folgendermaßen aus: Charta und schon zeichnet sich eine Erfolgsstory ab. (B) (D) Erstens. Die Gebühren an die Bundesanstalt für Land- Zwei Beispiele: wirtschaft und Ernährung für die Beitragserhebung müs- Erstens. Mehr Holz am Bau: Der Bund nimmt seine sen erst ab 2007 vom Holzabsatzfonds erstattet werden. Verantwortung als Bauherr wahr und prüft bei allen Neu- Mit dieser Übergangsregelung geben wir dem Holzab- bauten und Sanierungen älterer Gebäude, ob diese auch satzfonds Zeit, sich auf die bevorstehende Mehrbelas- mit Holz ausgeführt werden können. So zum Beispiel tung einzustellen. aktuell in Bremen beim Bundesinstitut für Fischökolo- Zweitens. Kleinstbeiträge, deren Erhebung mehr Kos- gie, in Kleinmachnow bei der Biologischen Bundesan- ten verursachen als sie einbringen, müssen künftig nicht stalt und auf der Insel Riems bei der Bundesforschungs- mehr eingezogen werden. anstalt für Viruskrankheiten der Tiere. Drittens. In regelmäßigen Abständen wird von unab- Zweitens. Im Rahmen der Charta hat der Gesamtver- hängiger Stelle evaluiert, ob die Dienstleistung der Bun- band Holzhandel eine freiwillige Selbstverpflichtung desanstalt noch effizienter erbracht werden kann. zum Ausschluss illegaler Holzimporte erarbeitet, die am 10. Juni auf dem Holzhandelstag in Rostock vorgestellt Viertens. Es wird geprüft, ob eine Meldepflicht der werden soll. beitragspflichtigen Unternehmen eingeführt werden kann, um das Beitragseinzugsverfahren zu vereinfachen. Bravo, denn illegale Holzimporte drücken die Preise und schwächen unsere Betriebe. All diese Schritte entlasten den Holzabsatzfonds. Ich bin sehr froh, dass wir diesen Lösungsweg gefunden ha- Was wäre die Charta ohne den Holzabsatzfonds? ben. So setzen wir den Holzabsatzfonds in die Lage,Auch er hat im Rahmen der Charta wichtige Aufgaben seine wichtige Arbeit mit ganzer Kraft fortzusetzen, und übernommen, zum Beispiel wenn es um die Imagever- das wird er auch ab 2007. Denn wir verbessern die Rah- besserung des Rohstoffes Holz und um Aus- und Fortbil- menbedingungen für die Forst- und Holzwirtschaft indungsmaßnahmen für Architekten geht. Damit ist und Deutschland insgesamt, stärken so die Betriebe und tun bleibt der Holzabsatzfonds ein wichtiges Instrument un- was für die Arbeitsplätze. Davon profitiert natürlichserer Strategie zur Stärkung der deutschen Forst- und auch der Holzabsatzfonds, weil ihm höhere Mitglieds- Holzwirtschaft. beiträge zufließen werden. Sie sehen bei uns gibt es nicht nur Wachstum in den Im Moment sieht es nicht so positiv bei den Forstbe- Wäldern, sondern auch die Holz und Forstwirtschaft trieben aus. Der internationale Preisdruck auf dem Holz- blüht auf. 16532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Gustav Herzog (SPD): Die letzte Änderung des Ab- rungsmittelindustrie braucht im internationalen Wettbe- (C) satzfondsgesetzes haben wir im Frühjahr 2002 vorge- werb ein zentrales Agrarmarketing und eine umfassende nommen. Damals ging es um eine inhaltliche Erweite- Marktbeobachtung. rung des gesetzlichen Auftrages aufgrund geänderter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Bei seiner Ar- Leider ist im Blickfeld der öffentlichen Diskussion beit hat der Absatzfonds künftig die Belange des Ver- nur die Imagekampagne der CMA, wie zum Beispiel braucherschutzes, Tierschutzes und Umweltschutzes zu „Bestes vom Bauern“. Über diese Kampagne kann man beachten. Diese Erweiterung der Aufgabenstellung war sicher unterschiedlicher Meinung sein. Ein realistisches verbunden mit einer personellen Verstärkung des Ver- Bild der deutschen Landwirtschaft und Ernährungswirt- waltungsrates. Wir haben diese Reform gegen die Oppo- schaft wird damit nicht vermittelt. Aber die Milchwer- sition durchgesetzt und ohne Probleme durch den Bun- bung im Rahmen des Fußballs halte ich für gelungen. desrat gebracht. Etwas schwieriger war die Notifizierung Sie ist im Hinblick auf dieWM 2006 steigerungsfähig. in Brüssel. Die Arbeit des Absatzfonds und seinerAber vielleicht sollten wir Politiker uns bei der Beurtei- Durchführungsgesellschaften wurde genau durchleuch- lung von Werbung zurückhalten. tet und es waren nicht unsere Gesetzesänderungen, die Ich schätze die Arbeit der CMA, zum Beispiel durch diese Arbeit verursachten. Schulungen des Verkaufspersonals und mit Material für Multiplikatoren sowie beiMesseauftritten. Ohne die Am 20. Januar diesen Jahres konnten wir dann lesen, Hilfe der CMA wäre es vielen mittelständischen Betrie- dass auch die CDU/CSU im Nachhinein unsere Be- ben der Ernährungswirtschaft kaum möglich, im Aus- schlüsse für richtig hält: Die Pressemitteilung der Kolle- land neue Absatzmärkte zu erschließen. Richtig und gen Caesar, Klöckner und Mortler war überschrieben wichtig ist die starke Unterstützung von Wachstumsbe- mit: „Bisherige Regelungen des Absatzfonds- und Holz- reichen wie den Öko-Produkten. absatzsfondsgesetzes haben sich bewährt“. Recht haben sie! Aber mit den Worten von Willy Brandt: Wer bewah- Deshalb zum Schluss: Deutschlands Landwirtschaft ren will, muss verändern. braucht nicht weniger Abgaben für den Absatzfonds, sondern mehr und professionelles Marketing. Heute beraten und beschließen wir über eine Vorlage der Regierung, geändert durch einen Koalitonsantrag im Ihre Produkte brauchen sich in Deutschland und in Ausschuss, sowie einen Entschließungsantrag der Koali- der Welt nicht zu verstecken; sie haben es verdient, wenn tion, den wir gemeinsam tragen. Die Regierungsvorlage dies durch ein gelungenes Marketing noch deutlicher dient der Umsetzung von Anregungen des Bundesrech- wird, als dies schon geschieht. nungshofes, darunter der Übertragung der Kosten für die (B) Abgabenerhebung auf die Fonds, sowie die Entflechtung Cajus Julius Caesar (CDU/CSU): Absatzfonds und (D) von Verwaltungsrat des Absatzfonds und des Aufsichts- Holzabsatzfonds erhalten von der Wortwahl etwas Posi- rats der Durchführungsgesellschaft CMA. tives. Doch weit gefehlt, in diesem für die Zukunft zen- Wir haben als Koalition, gestützt durch die Ergeb-tralen und wichtigen Bereich der Rohstoffpolitik, der nisse der Anhörung, einer Anregung des Absatzfonds Energie und der gesamten Umweltpolitik geht die SPD/ und zweier Besuche von mir persönlich bei der BLE in grün-geführte Bundesregierung den Weg zurück. Frankfurt Änderungen am Gesetzentwurf vorgenommen. Charta für Holz. Begann doch alles verheißungsvoll, Meine Kollegin Hiller-Ohm wird zum Holzabsatzfonds unserer Intention, der Intention der Union, die Beteilig- sprechen und die Verbesserungen bei der Bagatellgrenze ten mit einzubeziehen, folgte die amtierende Bundesre- durch eine Verordnungsermächtigung und den Zahlungs- gierung bei der Erarbeitung der Charta für Holz. Lange aufschub bis 2007 erläutern. Beim Absatzfonds wird die dauerte es, aber letztendlich war man sich mit den Betei- Fristverlängerung der Vorlage der Jahresabschlüsse für ligten der Forstwirtschaft und auch der Holzindustrie ei- mehr Klarheit sorgen. nig. Holz ist ein vielseitig verwendbarer Rohstoff als In unserem Entschließungsantrag –, ich bedanke mich Baustoff für die Holzindustrie und für die energetische dabei für die Unterstützung der Opposition –, fordernNutzung. Formuliert wurde: mehr Holzverwendung. Die wir von der Bundesregierung, verstärkt auf die Kosten Bundesregierung versprach unter dem Motto „Holznut- der Abgabenerhebung zu achten und Vereinfachungen, zung schafft und sichert Arbeitsplätze“, mehr für die zum Beispiel durch eine Meldepflicht, zu realisieren. Nutzung und Verwendung von Holz zu tun. Wir haben intensiv über die Einbeziehung von nach- Bundesregierung bestätigt ihren Zickzack-Kurs mit wachsenden Rohstoffen, konkret von Rapsöl, diskutiert. dem Schritt zurück. So wird schon 14 Tage später mit Leider konnten nicht alle Bedenken ausgeräumt werden der Vorlage des Gesetzentwurfes zur Änderung des Ab- und ein gemeinsam getragener Beschluss kam wegen der satzfonds und Holzabsatzfondsgesetzes der Salto rück- unterschiedlichen Auffassung über die Besetzung deswärts vollzogen, allerdings bei dieser Bundesregierung Verwaltungsrates nicht zustande. Dies bedauere ich.nichts Neues, Brechen von Versprechen, die noch kurz Gerne hätte ich für das Agrarmarketing und die Markt- vorher den Betroffenen gegeben wurden, auch dies berichterstattung dieses Neuland betreten. nichts Neues, Mittelkürzungen und Rücknahme des Marketings, dass das Bundesministerium für Verbrau- Erlauben Sie mir, noch etwas Grundsätzliches zum cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft in einer Thema Agrarmarketing zu sagen. Deutschland als wich- Hochglanzbroschüre unter dem Titel „Verstärkte Holz- tiges Agrarland und erfolgreicher Exporteur der Nah-nutzung“ zugunsten von Klima Lebensqualität Innova- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16533

(A) tion und Arbeitsplätzen noch kurz vorher voranbringen Für die Union, für uns von CDU und CSU hat Holz(C) wollte. Ausdrücklich ist der Holzabsatzfonds als eine aus unseren deutschen Wäldern eine besondere ökologi- wichtige Komponente für die Förderung des Einsatzes sche, ökonomische und soziale Bedeutung. Für uns wer- von Holz aufgeführt. den durch Holznutzung Arbeitsplätze geschaffen und ge- sichert. Für uns ist Holz ein nachhaltiger Rohstoff für die Bundesregierung gefährdet ZukunftstechnologieZukunft. Mehr Holzverwendung bedeutet für uns einen durch die Vorlage dieses Gesetzentwurfes. Die Unionaktiven Beitrag zum Klima- und Umweltschutz. Wir leh- verurteilt dieses überfallartige, gegen vorherige Verspre- nen den Gesetzentwurf der Bundesregierung ab, weil wir chen vorgenommene Vorgehen. Maßnahmen für die nachhaltige Erzeugung von Holz- CDU/CSU im Deutschen Bundestag setzen sich inprodukten wollen und uns für deren verstärkte Verwen- besonderer Weise für die Förderung des natürlich wach- dung einsetzen wollen. Dies ist die Politik der Union, senden, nachhaltig produzierten Rohstoffes Holz ein.dies ist eine auf Zukunft ausgerichtete Politik. Wir würden uns wünschen, dass die Bundesregierung Die Union hat mit ihrem Änderungsantrag zum Ge- die große wirtschaftliche Bedeutung der Forst- undsetzentwurf der Bundesregierung versucht, Korrekturen Holzwirtschaft erkannt hätte. Holznutzung schafft und zu erreichen. Nennen darf ich unsere Intention, die zur sichert Arbeitsplätze. Die Forst-, Holz- und Papierwirt- Erhebung zu erstattenden Personal- und Sachkosten erst schaft macht jährlich einen Umsatz in der Bundesrepu- ab 2007 zu vollziehen. Dies ist insbesondere deshalb blik Deutschland von immerhin 100 Milliarden Euro.wichtig, um eingegangenen Verpflichtungen, die über Nimmt man nur die Betriebe mit mehr als 20 Beschäftig- das laufende Jahr hinausgehen, gerecht zu werden. Dies ten, ergibt sich schon dann eine Beschäftigtenzahl von ist gerade für Forschung und Innovation von Bedeutung. über 1 Million. Allein in Nordrhein-Westfalen sind es 280 000. Aber in Nordrhein-Westfalen ist Ihnen ja mit Die Union setzt sich zudem für Waldvermehrung ein. über 1 Million Arbeitslosen ohnehin der Arbeitsmarkt Wir wollen durch den standortgerechten Anbau von völlig aus der Hand geglitten. Können wir nur alle mit- Baumarten in unterdurchschnittlich bewaldeten Gebie- einander hoffen, dass ab dem 22. Mai wieder eine solide ten Akzente setzen. Dies dient der Forstwirtschaft, aber Politik für Bürger, Arbeitsplätze und wirtschaftliche Ent- auch dem Umweltschutz. Waldvermehrung trägt zudem wicklung auf den Weg gebracht wird. Dies ist jedenfalls erheblich zum Klimaschutz durch CO2-Bindung durch das Ziel der Union. Senken bei. Sie verkennen ganz offensichtlich: Mehr Holzver- Der Holzabsatzfonds muss auch wesentlich dazu bei- wendung bedeutet einen aktiven Beitrag zum Klima-tragen, dass die zusammen mit Wirtschaft, Naturschutz und Umweltschutz. Wald und Holz, ein Speicher von und Gewerkschaften vereinbarte Charta für Holz endlich (B) (D) 1,2 Milliarden Tonnen CO2, ist ein wesentliches Element umgesetzt wird. Den Verbrauch des heimischen Holzes für den Klimaschutz. Sich beim Marketing des nachhal- um 20 Prozent zu steigern, ist richtig. Der Pro-Kopf-Ver- tig erzeugten heimischen Holzes zurückzunehmen und brauch von Holz und Holzprodukten aus nachhaltiger gleichzeitig den Import von illegal eingeschlagenemProduktion von 1,1 m3 ist dringend steigerungsbedürftig. Tropenholz zuzulassen, das ist nicht die Politik derEine ganze Reihe unserer Nachbarländer hat hier die Union. Wir, die Union, wollen nachhaltig bewirtschaf- Nase weit vor uns. Der Worte sind viele gemacht. Papier tete Wälder, wir, die Union, wollen aber auch, dass Holz ist reichlich beschrieben. Taten sind gefragt, handeln Sie vermehrt als Baustoff eingesetzt wird. Wir, die Union, endlich! Die nachwachsenden Rohstoffe, insbesondere sehen große Zukunftschancen auch im Energiesektor für das Holz, haben eine Chance verdient. Die Regierung die nachwachsenden Rohstoffe. Dieser auf Zukunft aus- sollte sie ergreifen. gerichteten Politik der Union sollten Sie seitens der Re- gierung mehr Aufmerksamkeit schenken, dann wären Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Gestern Sie auf dem richtigen Weg. konnten wir erneut die Hiobsbotschaften in der Presse Dass SPD und Grüne sich jetzt für die Abgabenerhe- lesen: Deutschland steht vor dem tiefsten Haushaltsloch bung für die Beiträge, die von Land-/Forstwirten aufge- seiner Geschichte. 53 Milliarden Euro fehlen allein in bracht werden, auch noch ab sofort Personal- und Sach- den nächsten vier Jahren. Kein Geld aufgrund der kata- kosten erstatten lassen wollen, gefährdet wichtigestrophalen Haushaltslage. Klare Konzepte fehlen. – Dies Vorhaben. Gefährdet werden insbesondere Forschungs- sind Ergebnisse rot-grüner Politik, und das nun schon und Entwicklungsvorhaben. Dies bedeutet Innovations- über Jahre. feindlichkeit bei den nachwachsenden Rohstoffen. Bei ihrer Ziellosigkeit zeigt sich die Bundesregierung Das Wenigste, was wir von dieser Regierung erwartet allerdings sehr kreativ. Ihr neuester Streich sind die ein- hätten, ist, dass Sie im Gesetzentwurf eine Öffnungs-gebrachten Änderungen zum Absatzfonds- und Holzab- klausel vorgesehen hätten. Diejenigen, die Abgaben zah- satzfondsgesetz; ein weiterer Streich in der langen Kette len, sollen selbst darüber entscheiden können, wen sie der land- und forstwirtschaftsfeindlichen Maßnahmen. mit der Erhebung der Abgaben beauftragen sollen. Rot-Grün verkennt mit diesen Änderungen die Bedeu- tung des Absatzfonds: Die deutsche Landwirtschaft und Solange diese Bundesregierung nur an sich selbstder gesamte Agrarbereich besitzen mit der zentralen Ab- glaubt und den wohlgemeinten Beiträgen anderer eine satzförderung ein gutes Absatz- und Informationsinstru- Absage erteilt, wie die Anhörung bewiesen hat, wird sie ment, das die Wettbewerbsfähigkeit landwirtschaftlicher nicht erfolgreich sein. Produkte deutscher Erzeuger in Deutschland selbst, aber 16534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) gerade auch auf den internationalen Märkten nachhaltig der Erschließung von Märkten, gerade auch im Zuge der (C) verbessert. Globalisierung, auch auf Qualitätsverbesserung und auf Steigerung der Marktorientierung von Produkten hinwir- Die Bundesregierung hat nun mit ihren Änderungs- ken. Es wäre ein wichtiger Schritt gewesen, die allseits wünschen ein konzeptloses Kombimodell entwickelt. anerkannten Vorteile von nachwachsenden Rohstoffen Rot-Grün sucht mit dem Gesetzentwurf zur Änderung durch die professionellen Möglichkeiten des Absatz- des Absatzfonds mit der Erstattung der Personal- und fonds im Marketing der Bevölkerung näher zu bringen. Sachkosten einen Weg, Löcher im Haushalt auszubes- Die Aufgabenerweiterung um einen so zukunftsweisen- sern. Sie holt sich das Geld im Absatzfonds nun von den den Bereich wie den der nachwachsenden Rohstoffe er- Landwirten. Zusätzlich will die Bundesregierung die im scheint daher sinnvoll und richtungweisend und eigent- Absatzfonds verankerte gegenseitige personelle Verzah- lich doch auch sehr „grün“. nung des Verwaltungsrates des Absatzfonds mit der CMA entflechten. Der Änderungsantrag der CDU/CSU ist zukunftsori- entiert und ich möchte die verständigen Mitglieder von Einerseits betont die Bundesregierung ausdrücklich, der SPD nochmals ermuntern, unserem Antrag zuzu- dass der Gesetzentwurf nicht auf eine Verschiebung der stimmen. Kräfteverhältnisse im Verwaltungsrat des Absatzfonds abzielt. Andererseits tut sie aber genau das, indem sie beabsichtigt, die Zahl der Mitglieder im Verwaltungsrat Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der des Absatzfonds von 23 auf 20 zu reduzieren. GenauBundesrechnungshof hat die Bundesregierung aufgefor- diese Änderung bedeutet aber, dass sich das Stimmen- dert, sich die Kosten, die der Bundesanstalt für Land- verhältnis zulasten der Beitrag zahlenden Seite ver-wirtschaft und Ernährung für die Erhebung der Beiträge schiebt. Auf diese Weise werden die Landwirte als Bei- zu den Absatzfonds der Agrar- und der Forst- und Holz- tragszahler weiter in den Gremien an Mitspracherecht wirtschaft entstehen, erstatten zu lassen. Dies setzen wir und Einflussmöglichkeiten verlieren. mit diesem Gesetz zur Änderung des Absatzfonds- und des Holzabsatzfondsgesetzes um. Bereits mit der letzten Änderung des Absatzfondsge- setzes wurde der Verwaltungsrat um zwei Mitglieder Im Ergebnis gründlicher Beratungen haben wir ge- aufgestockt, die nicht unmittelbar der Land- und Ernäh- genüber dem Gesetzentwurf der Bundesregierung einige rungswirtschaft zuzurechnen waren. Widerspruch und Änderungen vorgenommen die allgemein auf Zustim- Ideologie statt klarer Konzepte? Man könnte es auch ein- mung stoßen. Beim Holzabsatzfonds sind es die beiden fach das „Künast-Problem“ nennen. Der Bundesrat for- folgenden: muliert eindeutig: Das Mitspracherecht und die Einfluss- Erstens ermächtigen wir die Bundesregierung, per (B) möglichkeiten der Beitragszahler Landwirte dürfenVerordnung einen Mindestumsatz für die Beitragsveran- (D) durch die geplante Entflechtung der Gremien nicht wei- lagung festzulegen. Auf diese Weise kann die bisher gel- ter reduziert werden. tende Bagatellgrenze von 10 Euro angehoben und auf Dabei lag ein Kompromissvorschlag von SPD unddie aufwendige Erhebung von Kleinbeträgen verzichtet CDU auf dem Tisch: die Wahl eines Vertreters aus dem werden. Dies ist ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Bereich der nachwachsenden Rohstoffe. Dieser Vor- Zweitens haben wird den Zeitpunkt, von dem ab die schlag war für die grüne Partei aber offenbar nicht an- Kosten zu erstatten sind, um anderthalb Jahre auf den nehmbar. Diese Blockade ist nicht zu verstehen und die 1. Juli 2007 verschoben. Damit wird der Holzabsatz- Grünen bleiben eine stichhaltige Erklärung schuldig. fonds in die Lage versetzt,seine Haushaltsplanung auf Da spricht die nordrhein-westfälische Landwirt-die neuen finanziellen Rahmenbedingungen einzustel- schaftsministerin, Frau Höhn, letzte Woche vom Jahr- len. Diese Verschiebung ist angebracht, da es sich bei der hundert der erneuerbaren Energien und ihrer enormen Kostenerstattung um Mittel in Höhe von 7 Prozentdes Bedeutung für die Landwirtschaft. Gleichzeitig fordert Haushaltes handelt – also um einen spürbaren Anteil der die Regierungskoalition in Ihrem jüngsten Antrag mit verfügbaren Mittel. Wir wollen damit vermeiden, dass dem Titel „Rahmenbedingungen für die industriellebereits geplante Vorhaben gefährdet werden. stoffliche Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen in Beim Absatzfonds der Agrar- und Ernährungswirt- Deutschland schaffen“ unter anderem, Strategien zur schaft haben wir ebenfalls eine Änderung vorgenom- Schaffung nachhaltiger Produkte aus nachwachsenden men. Wir haben die Frist für die Einreichung des Jahres- Rohstoffen und die Markteinführungsprogramme für die abschlusses und für die Entlastung des Vorstandes stoffliche Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen verlängert. Damit tragen wir einer weiteren Empfehlung fortzuführen. des Bundesrechnungshofes Rechnung. Der Absatzfonds Das ist doch eine rückwärtsgewandte Politik, wenn muss somit zukünftig seinen Jahresabschluss nicht mehr sich die Grünen beim Absatzfonds gegen die Aufgaben- vor seinen Durchführungseinrichtungen vorlegen. Dies erweiterung um nachwachsende Rohstoffe und einenist ohne Frage sinnvoll. Vertreter aus dem Bereich nachwachsende Rohstoffe Außerdem fordern wird die Bundesregierung in einer sperren. Entschließung auf, die Beitragserhebung für die Fonds Aufgabe des Absatzfonds ist es doch, den Absatz und durch die BLE von unabhängiger Stelle evaluieren zu die Verwertung von Erzeugnissen der deutschen Land- lassen. Hiervon versprechen wir uns, etwaige Rationali- und Ernährungswirtschaft zentral zu fördern. Er kann bei sierungspotenziale bei der Beitragserhebung im Inte- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16535

(A) resse der Holzabsatzförderung ausschöpfen zu können. portiert. Verschärfte Wettbewerbsbedingungen für un-(C) Außerdem soll geprüft werden, ob und wie mit einersere heimischen Betriebe durch unsinnige nationale Al- Meldepflicht für die beitragspflichtigen Unternehmen leingänge der rot-grünen Bundesregierung führen dazu, die Arbeit der BLE derart vereinfacht werden kann, dass dass Marktanteile verloren gehen. Deshalb sind interna- Kosten gesenkt bzw. die Einnahmen der Fonds gestei- tionale und nationale Werbemaßnahmen für heimische gert werden könnten. land- und forstwirtschaftliche Produkte notwendiger denn je. Darüber besteht Einigkeit. Wir haben noch eine weitere Änderung des Gesetzes erwogen, und zwar die Ausweitung der Marketingaktivi- Sowohl der Absatzfonds wie auch der Holzabsatz- täten auf die nicht der Ernährung dienenden Ölsaaten. fonds wird von den Betrieben der Land-, Ernährungs- Diese Ausweitung firmiert oft unter dem irreführenden und Forstwirtschaft durch Zwangsbeiträge finanziert. Arbeitstitel „Ausweitung auf nachwachsende Roh-Wer das Geld gibt, bestimmt die Musik. Deshalb ist für stoffe“. Wie Sie wissen, gibt es gegenüber der Auswei- die FDP unverzichtbar, dass die Beitragszahler die tung auf nachwachsende Rohstoffe erhebliche verfas- Mehrheit im Verwaltungsrat haben; denn dieser be- sungsrechtliche und beihilfsrechtliche Bedenken. Esschließt die Werbemaßnahmen, die durchgeführt wer- wäre sehr fraglich gewesen, ob die EU-Kommissionden. Dies ist von Rot-Grün abgelehnt worden. Das von diese Änderung notifiziert hätte. Sie machen es sich et- Rot-Grün vorgelegte Gesetz sieht dagegen eine Mehrheit was einfach, wenn Sie dies mit Verweis auf einen einzel- der Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen nen Experten in der Anhörung wegwischen. Nichtsdes- Gruppen vor. Eine solche Bevormundung von denen, die totrotz wären wir bereit gewesen, es auf diesen Versuch die Mittel aufbringen, durch die, die nichts als ihre Mei- ankommen zu lassen. Allerdings haben Sie dies mit ei- nung zur Verfügung stellen, lehnt die FDP ab. ner für uns unannehmbaren Bedingung verknüpft: der Wiederaufstockung der Zahl der Verwaltungsratssitze. Es besteht Einigkeit, dass der Absatzfonds auch Wer- Unser Angebot, die Ausweitung auf Ölsaaten ohne die bemaßnahmen für die Verwendung von Öl als nach- Erhöhung der Sitzzahl in das Gesetz aufzunehmen, ha- wachsendem Rohstoff und nicht nur als Lebensmittel be- ben Sie ausdrücklich abgelehnt. Dies zeigt, dass Siereitstellen sollte. Dies wäre konsequent; denn die nicht wirklich an der Sache, nämlich der Förderung der Ölmühlen zahlen schon heute Beiträge zum Absatz- nachwachsenden Rohstoffe interessiert sind. fonds. Es ist leider nicht gelungen, dies zu ändern, da die Grünen die personelle Berücksichtigung dieser Aufga- Ich möchte aber alle Beteiligten dazu auffordern, die benerweiterung aus ideologischen Gründen verweigert Angelegenheit nicht zu hoch zu hängen: Die Auswirkun- haben. Wir erkennen an, dass der Kollege Gustav gen dieser Änderung wären sehr begrenzt gewesen. Der Herzog, SPD, sich sehr für eine gemeinsame Lösung (B) Absatz des Biodiesels, für den ohnehin nicht hätte ge- eingesetzt hat. Für die FDPwäre es sinnvoll gewesen, (D) worben werden dürfen, entwickelt sich angesichts der wenn die UFOP einen Vertreter in den Verwaltungsrat von Rot-Grün eingeführten Mineralölsteuerbefreiungentsenden würde. und des Ölpreisanstiegs derzeit zum Selbstläufer. Beson- dere Aktivitäten der CMA bedarf es hier dank unserer Die Novellierung des Holzabsatzfondsgesetzes muss Politik nicht mehr. ihren Beitrag zum Erfolg der Charta für Holz leisten. Die Bundeswaldinventur hat ergeben, dass in Deutschland Die verstärkte Nutzung nachwachsender Rohstoffe sehr viel mehr Holz pro Jahr nachwächst, als Holz ge- werden wir mit anderen Mitteln weiter voranbringen. Da schlagen wird. Das ist ein ungenutztes Potenzial, das im haben wir schon eine Menge Arbeit geschafft, aber ohne Interesse der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Stär- Frage noch erhebliche Anstrengungen vor uns. Ich bin kung der Nachhaltigkeit unserer Wirtschaft wie auch der sehr optimistisch, dass wir hier Stück für Stück weiter- Vitalität unserer Wälder genutzt werden sollte. Der kommen. Holzabsatzfonds kann dazu einen Beitrag leisten. Der Umstellung der Finanzierung der Beitragserhebung aus Im Ausschuss haben Sie für unseren Entschließungs- dem Fonds hat auch die Arbeitsgemeinschaft der Wald- antrag gestimmt. Sie konnten sich jedoch nicht dazu ent- besitzerverbände zugestimmt Das ist anerkennenswert. schließen, auch für den von den Koalitionsfraktionen, Deshalb ist es gut, dass nun eine schrittweise Umstel- vorgelegten Änderungsantrag zu stimmen. Haben Sie lung der Finanzierung der Beitragserhebung erfolgen dabei überlegt, welches Signal Sie damit an die Branche soll. Gleichzeitig setzt die FDP sich dafür ein, dass die der Forst- und der Holzwirtschaft geben? Die Regie- Bagatellgrenze von gegenwärtig 10 Euro auf beispiels- rungskoalitionen entschließen sich, trotz angespannter weise 50 Euro angehoben wird. So würde unproduktive Haushaltslage im Interesse jeder Branche auf Einnah- Bürokratie gespart und es stünde mehr Geld für Werbe- men zu verzichten, und Sie lehnen das ab. Ist das Ihr viel maßnahmen zur Verfügung. beschworener Beitrag zur Charta für Holz? Wir jedenfalls nehmen die Verpflichtung, die Charta für Holz mit Leben zu erfüllen, ernst. Das zeigt die von Anlage 10 uns vorgenommene Änderung am Gesetzentwurf. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Deutschland zur Beratung des Antrags: Langfristiges Ge- importiert deutlich mehr agrarische Produkte, als es ex- samtkonzept zur Reduzierung der Schadstoff- 16536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) belastung in der Luft notwendig (Tagesord- und 2004 mussten die Länder bereits messen und bei zu (C) nungspunkt 15) hoher Belastung Luftreinhaltepläne erstellen. Die Richt- linie und ihre Grenzwerte sind also nicht vom Himmel Astrid Klug (SPD): Seit dem 1. Januar 2005 gelten gefallen; alle wussten seit langem, was auf sie zurollt. europaweit die Grenzwerte der so genannten Feinstaub- Städte, die seit dem 1. Januar 2005 die Grenzwerte Richtlinie, der 1. Tochterrichtlinie der Luftqualitätsrah- nicht einhalten können, müssen Aktionspläne erstellen – menrichtlinie der EU. mit ganz konkreten Maßnahmen bis hin zu Fahrverbo- Die Grenzwerte dienen dem Schutz der Gesundheit. ten, um die Anwohner von stark belasteten Straßen zu Denn Feinstaub macht krank. Rußpartikel sind Ursache schützen. Städte und Länder müssen diese Herausforde- für Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Störungen rung annehmen und ihren Handlungsspielraum aus- und Asthma. Außerdem gelten sie als krebserregend. Be- schöpfen. Wir im Bundestag und die europäische Politik troffen sind vor allem ältere und empfindliche Menschen müssen sie dabei unterstützen. sowie Kinder. Besonders gefährlich sind dabei nicht die Was müssen, was können wir tun? Das von der CDU/ großen Partikel, die unsere Nase noch abfangen kann. CSU in ihrem Antrag geforderte Gesamtkonzept ist Weitaus gefährlicher sind die ultrafeinen Partikel, diedurch die Luftreinhaltepolitik bereits angelegt. Mit den man weder sehen noch riechen noch schmecken kann. Tochterrichtlinien der EU-Luftqualitätsrahmenrichtlinie Sie sind so klein, dass das menschliche Immunsystem sind die Vorgaben und Instrumente vorhanden, um überfordert ist und sie über die Lunge und die Blutbahn Schadstoffe, auch die Feinstaubbelastung zurückzufüh- in den Organismus eindringen und dort Schaden anrich- ren. Mit ihrer Umsetzung in nationales Recht hat der ten. Bund den Rahmen vorgegeben, den die Länder im Inte- Die Weltgesundheitsorganisation WHO, die EU-resse des Gesundheitsschutzes nutzen und mit Maßnah- Kommission und die Umweltbehörde EPA der USA sind men füllen müssen. sich einig, dass Feinstaub weltweit zu den Gesundheits- In Industrieanlagen sind Filter bereits Standard. Aku- problemen mit dem größten Handlungsbedarf zählt. ten Handlungsbedarf gibt es beim Verkehr. Der Anteil Die WHO schätzt, dass in Europa jährlich 725 000 der Dieselfahrzeuge am Gesamtfahrzeugmarkt steigt seit Lebensjahre durch Rußpartikel verloren gehen. Die Le- Jahren und damit auch die Feinstaubbelastung aus Kraft- benserwartung sinkt durch Rußpartikel in Deutschland fahrzeugen. Mittlerweile ist jedes zweite neu zugelas- um 10,2 Monate, mehr als im europäischen Schnitt. Laut sene Fahrzeug ein Dieselfahrzeug, was gewollt ist, denn einer aktuellen Studie der EU-Kommission sterben in Dieselautos sind sparsam und ressourcenschonend und Deutschland 65 000 Menschen vorzeitig an den Folgen damit gut für den Klimaschutz. Aber sie haben mit dem (B) der Feinstaubbelastung. Feinstaub eine Schattenseite. (D) Die Technik, um Feinstaub aus Fahrzeugen fast kom- Die EU-Kommission hat mit ihrer Luftreinhaltepoli- plett zu eliminieren, gibt es mit dem Partikelfilter. Mit tik schon in den 90er-Jahren auf die zu hohe Schadstoff- 5 mg/km hat die EU-Kommission für 2010 neue strenge belastung reagiert. Die Luftqualitätsrahmenrichtlinie mit Grenzwerte für Diesel-PKW angekündigt. Nach heuti- ihren vier Tochterrichtlinien und die EU-Abgasnormen gem Stand der Technik ist dieser Grenzwert nur mit dem für Kraftfahrzeuge sorgen seit Jahren für eine bessere Einbau eines Partikelfilters zu erreichen. Eine Fort- Luft. Auch die Staubbelastung ist zurückgegangen. Al- schreibung der Grenzwerte mit einer klaren Orientierung lerdings waren die Maßnahmen bisher in erster Linie auf am Stand der Technik brauchen wir auch für leichte und die Grobpartikel fokussiert und die Grenzwerte entspre- schwere Nutzfahrzeuge. chend nach Gewicht bemessen. Inzwischen weiß man, dass die Feinstpartikel die Gesundheit viel massiver an- Das Bundeskabinett hat gestern ein Förderprogramm greifen. Das haben Toxikologen und Epidemiologen in beschlossen, mit dem Fahrzeuge, die den neuen PKW- einem Expertengespräch des Umweltausschusses diese Grenzwert vorzeitig erfüllen, über die Kfz-Steuer entlas- Woche nochmals sehr deutlich zum Ausdruck gebracht tet werden sollen. und dabei auch die Hauptquellen benannt: Neben Indus- trieanlagen und Hausbrand sehen sie den Verkehr als Wir unterstützen ausdrücklich den Ansatz, sowohl wichtigsten Verursacher. Es sind insbesondere die Ab- Neu- wie Altfahrzeuge zu fördern. Um den finanziellen gase aus Dieselfahrzeugen, die verantwortlich für die ul- Aufwand und den Effekt für saubere Luft in die best- trafeinen Partikel sind. mögliche Relation zu bringen, wünsche ich mir eine be- sonders ambitionierte Förderung für die Altfahrzeuge, Es ist genau dieser Feinstaub, dessen Immissions-die noch heute als Dreckschleudern unterwegs sind und grenzwert in unseren Innenstädten, vor allem an stark nachgerüstet den strengsten Grenzwert von 5 mg/km er- befahrenen Straßen, massenhaft überschritten wird. Ma- reichen. ximal an 35 Tagen dürfen Städte seit dem 1. Januar 2005 den Tagesmittelwert von 50 Mikrogramm pro Kubikme- Wir fordern die Länder auf, sich mit dem Bund ter überschreiten. Städte wie München, Stuttgart undschnell auf ein Förderkonzept zu einigen und sowohl für Düsseldorf lagen aber bereits im März über der Belas- Autokäufer als auch für Automobilunternehmen und de- tung, die für das gesamte Jahr zulässig ist. ren Zulieferer Planungssicherheit und klare Rahmenbe- dingungen zu schaffen. Die Länder profitieren von dem Die EU-Feinstaub-Richtlinie wurde bereits 1999 be- höheren Kfz-Steueraufkommen, das sich aus dem wach- schlossen und 2002 in nationales Recht umgesetzt. 2003 senden Dieselanteil ergibt. Die Erwartung an die Länder, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16537

(A) mit einem kleinen Teil davon den gesundheitsschädli- 1. Januar 2005 geltenden Grenzwerte für Feinstaubpar- (C) chen Feinstaub zu bekämpfen, ist legitim. tikel von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, die ma- ximal an 35 Tagen pro Jahr überschritten werden dürfen, Es ist allemal intelligenter, mit innovativen Techniken alle Beteiligten total überrascht zu haben und eine akute Fahrzeuge sauber zu machen, statt Fahrverbote zu erlas- Gefahr für die öffentliche Gesundheit zu sein – jeden- sen oder mit Verkehrslenkungsmaßnahmen Problemefalls wenn man der aufgeregten öffentlichen Diskussion nur zu verlagern. über die Ostertage dieses Jahres Glauben schenken darf. Es war kontraproduktiv und schädlich, dass sich viele deutsche Automobilunternehmen der Filterdiskussion Dabei darf man nicht außer Acht lassen: Die Luftver- lange Zeit verweigert haben. Umso erfreulicher ist es, schmutzung in Deutschland hat seit 1990 um mehr als dass es in Deutschland engagierte Mittelständler gibt, 90 Prozent abgenommen. Dennoch: Die Anhörung von die die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt und inves- renommierten Gesundheitsexperten im Umweltaus- tiert haben. Die wachsende Liste von deutschen Fahr- schuss des Bundestages am 11. Mai hat gezeigt: Ultra- zeugmodellen mit Partikelfiltern zeigt, dass hier eine feinstaub, das heißt insbesondere Stäube mit einer Größe Entwicklung an Fahrt gewonnen hat, die unumkehrbar unter 2,5 Mikrometer, haben eine große gesundheitsge- ist und erheblich zum Gesundheitsschutz beitragen wird. fährdende Wirkung. Damit machen wir einen wichtigen Schritt in Rich- Fast unglaublich ist daher, dass alle drei Wissen- tung saubere und gesunde Luft, dem aber noch weitere schaftler eine desolate, also nicht existente öffentliche Schritte folgen müssen. Denn – auch das betonen die Ex- Forschungsförderung beklagen. Seit Jahren liegen drin- perten – es gibt keine Grenzwerte, unter deren Schwelle gend erforderliche Untersuchungen zu Wechselwirkun- die Feinstaubbelastung nicht gesundheitsschädlich wäre. gen von Stäuben mit anderen krank machenden Stoffen Deshalb müssen wir – wie in der Vergangenheit – alle ef- in der Luft sowie ihre Auswirkungen auf besonders ge- fektiven Möglichkeiten nutzen, um die Schadstoffbelas- fährdete Menschen, wie Senioren, Kinder und Kranke, tung zurückzuführen. Natürlich sind dabei alle Quellen auf Eis. Hier hat die Bundesregierung im Rahmen des zu berücksichtigen und Innovationen zu nutzen. Dazu vorsorgenden Gesundheitsschutzes auf nationaler wie gehört zum Beispiel auch eine Kraftstoffstrategie, dieauf EU-Ebene dringenden Handlungsbedarf. auf emissionsarme Kraftstoffe setzt, wie in der nationa- len Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ange- Ebenso fehlt ein abgestimmtes und langfristiges Ge- legt. samtkonzept zur Reduzierung von Feinstaub, gemein- sam mit – und nicht lediglich auf Kosten von – Ländern, Von einem fehlenden Gesamtkonzept kann man also Kommunen und Automobilwirtschaft. Denn wir wissen: (B) nicht ernsthaft sprechen. Wichtig ist stattdessen, dassMaximal knapp die Hälfte der Feinstaubbelastung ent-(D) alle Akteure – von der EU über den Bund und die Län- steht lokal und der überwiegende Anteil stammt von der bis zu den Kommunen,von der Industrie bis zum weit entfernten Entstehungsorten. Hier ist viel kostbare Verbraucher – ihrer Zuständigkeit und Verantwortung Zeit verschenkt worden. Viele der nunmehr hastig erwo- gerecht werden und zur Lösung beitragen. genen Maßnahmen helfen zwar kurzfristig die Fein- In Zukunft wird es darauf ankommen, aus der Er-staubbelastung in den betroffenen Gebieten zu senken. kenntnis, dass Feinststäube besonders gefährlich sind, Sie verlagern das Problem zumeist aber nur und stellen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wir brauchen deshalb damit keine nachhaltige Lösung dar. So verdrängen Stra- eine Weiterentwicklung der Grenzwerte und der Mess- ßensperrungen lediglich den Verkehr in die nähere Um- methoden – weg von Partikeln, die nach Gewicht gemes- gebung. Citymaut und Fahrverbote für Dieselfahrzeuge sen werden, hin zu Partikeln, die differenziert nach ihrer schaden hingegen nur der innerstädtischen Wirtschaft Gefährlichkeit gezählt werden. und verlagern das Problem in die Peripherie der Städte. Wenn wir wissen, dass für den heutigen Grenzwert Dass die Bundesregierung gestern ein Konzept für die ein Partikel mit 8 Mikrometer Durchmesser genauso viel Förderung von Dieselfiltern vorgelegt hat, ist überfällig. zählt wie 512 Millionen ultrafeine Partikel mit 0,01 Mi- Nunmehr muss sie auch den notwendigen zweiten krometer, jeder einzelne der 512 Millionen Feinstparti- Schritt tun und sich gemeinsam mit den Ländern auf eine kel aber gesundheitsschädlicher ist als der eine großevernünftige und finanzierbare Umsetzung einigen. Partikel, dann weiß man, dass hier noch viel Handlungs- Zu dem nach unserer Überzeugung notwendigen Ge- bedarf ist. Das ist tatsächlich eine Frage, die politisch auf samtkonzept gehören aber auch der vermehrte Einsatz europäischer und bundespolitischer Ebene gelöst werden muss. alternativer Kraftstoffe, wie zum Beispiel von Biodiesel, durch den in modernen Motoren die Partikelemission um bis zu 40 Prozent gesenkt werden kann. Besonders dem Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Bundestag und höchstwertigen Dieselkraftstoff BTL, auch Sundiesel ge- Bundesrat haben bereits im September 2002 die so ge- nannt, sowie dem Einsatz von gasbetriebenen Bussen im nannte EU-Feinstaubrichtlinie aus dem Jahr 1999 inÖPNV sollte daher die Zukunft gehören. deutsches Recht umgesetzt. Die CDU/CSU-Fraktion hat allerdings gegen die Änderung des BImschG gestimmt, Neben der Feinstaubbelastung durch Autoabgase gibt da es sich aus unserer Sicht einseitig auf den Verkehrs- es aber noch beachtliche weitere Emissionsquellen, die sektor konzentriert und ein Gesamtkonzept zur Luftrein- nachhaltig reduziert werden müssen: den Abrieb von haltung vermissen lässt. Dennoch scheinen die ab dem Bremsen, Reifen und Straßenbelag, die Aufwirbelungen 16538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) von Staub sowie Partikel aus Katalysatoren in Form von staubbelastung. Deutlich wurde auch: Wir können beim (C) Edelmetallen und Keramikfasern. Kampf gegen Feinstaub nicht bei den größeren Parti- keln, PM 10, stehen bleiben; denn Partikel kleiner als Daher müssen intelligente Verkehrskonzepte entwi- PM 2,5 können über die Lungenbläschen in den Orga- ckelt werden. Da die Fahrbedingungen großen Einfluss nismus gelangen und viel gefährlichere Wirkungen ent- auf den Kraftstoffverbrauch haben, ist der Ausbau von falten als die größeren. Trotz wissenschaftlicher Klarheit computergestützter Ortslenkung, wie zum Beispielim Grundsatz bleiben noch zahlreiche Fragen offen. Wir Wechselwegweiser und grüne Wellen, voranzutreiben. müssen die Forschung zu Feinstäuben ausweiten, um Auch der gezielte Ausbau von hoch belasteten Straßen, mehr über die Größe, Oberfläche, Zusammensetzung die Schließung von Lücken im Fernstraßennetz und der und Wirkung der Stäube im gesunden menschlichen Or- Ausbau von Ortsumgehungen bei übermäßig belasteten ganismus und bei gefährdeten Personengruppen – wie Ortsdurchfahrten spielen hierbei eine wichtige Rolle. Kranken, Alten und Kindern – zu erfahren. Daher wird Der Verkehrssektor ist jedoch mit einem Anteil von uns das Problem Feinstaub noch lange beschäftigen und etwa 25 Prozent längst nicht der einzige Feinstaubemit- wir stehen erst am Anfang. tent in Deutschland. Vielmehr haben auch Hausbrand, Jedoch, um auf den hier zu behandelnden Antrag der Heiz- und Kraftwerke sowie die Industrie beträchtliche CDU/CSU zu kommen, ist es ja nicht so, dass wir noch Anteile. Die Bundesregierung ist daher auch hier drin- nichts unternommen haben gegen die Belastung mit gend zum Handeln aufgefordert. Zum Beispiel ist dieFeinstäuben. Wir waren nicht untätig, sondern arbeiten Modernisierung von Heizungsanlagen in öffentlichenschon seit mehren Jahren daran, die Belastung mit Fein- und privaten Gebäuden und Häusern voranzubringen. staub einzudämmen. Dies ist beispielsweise über eine Verbesserung der Rah- menbedingungen der Kreditprogramme der KfW oder Die Feinstaubquellen sind vielfältig. Feinstäube oder durch Investitionszuschüsse möglich. Ein von CDU/deren Vorläufer entstehen vor allem durch Verbren- CSU schon lange gefordertes Anreizprogramm zur Wär- nungsprozesse in Feuerungsanlagen in Industrie, Ge- mesanierung würde zudem den Heizbedarf signifikant werbe, Haushalten, Kraft- und Fernheizwerken. Sogar senken. die Landwirtschaft trägt mit der Intensivtierhaltung, Ammoniak, zur Bildung von Vorläufersubstanzen für Gemeinsames Handeln ist also gefordert. Der Schutz Feinstäube bei. Wenn der Straßenverkehr auch lediglich der Gesundheit und die Vorgaben des EU-Rechts, die ab eine der Quellen ist, so ist er doch eindeutig jene Quelle, 2010 noch strengere Grenzwerte für Feinstaub- und die für die Spitzenbelastungen und damit die aktuellen Stickstoffdioxid vorsehen, verbieten eigentlich ein Grenzwertüberschreitungen in den Innenstädten verant- Schwarzes-Peter-Spiel, wie die Bundesregierung es mit wortlich ist. (B) dem Kabinettsentwurf und damit dem Griff in die Kas- (D) sen der Länder weiterspielt. Herr Trittin, legen Sie end- Während die Union in einem Antrag, der neben der lich ein mit allen Beteiligten abgestimmtes Gesamtkon- bekannten Prosa zur Luftreinhalterahmenrichtlinie we- zept vor. nig Substanz, viele Allgemeinplätze und lediglich For- derungen enthält, die zumGutteil schon erfüllt sind, Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): während in den Kommunen und Ländern immer noch Der Umweltausschuss des deutschen Bundestages hat diskutiert wird, wann man Luftreinhalte- und Aktions- gestern in seiner Sitzung in Dessau führende Mediziner pläne erstellt, während die Automobilwirtschaft, vor al- der Toxikologie, Pneumologie und Epidemiologie zum lem VW, jahrelang wichtige Neuerungen blockiert hat, Thema Gesundheitsgefährdung durch Feinstäube gehört. hat die rot-grüne Bundesregierung schon lange die rich- In den überaus instruktiven Beiträgen formulierten die tigen Instrumente gegen den gesundheitsschädlichen Experten unisono drei Kernaussagen: Feinstaub in unseren Städten auf den Weg gebracht und die Voraussetzungen dafür geschaffen, innerhalb der Erstens. Feinstäube in der Luft bergen eine Reihe von nächsten Dekade die Feinstaubbelastung deutlich zu sen- Gesundheitsgefährdungen und sind derzeit die größteken. Herausforderung in der Luftreinhaltung. Die Bundesregierung hat bereits 2002 die Rechts- Zweitens. Die Ergebnisse weltweiter wissenschaftli- grundlagen der Luftreinhaltung den europäischen Vorga- cher Studien belegen die Gesundheitsbeeinträchtigungen ben angepasst: Die Umsetzung in nationales Recht er- durch Feinstäube zweifelsfrei. folgte 2002 mit dem 7. Gesetz zur Änderung des Drittens. Die schnellste und effizienteste Reduktion Bundes-Immissionsschutzgesetzes, BImSchG, und der der Feinstäube im Verkehr ist durch die verfügbare Fil- Änderung der 22. Verordnung zur Durchführung des tertechnik zu erreichen und weitere Maßnahmen müssen Bundes-Immissionsschutzgesetzes, 22. BImSchV. Die dem folgen. Regelungen verpflichten die zuständigen Behörden der Länder, die Luftschadstoffbelastung zu messen und bei Feinstäube verursachen und verschärfen Atemwegser- Überschreitung der Grenzwerte inklusive gewisser Tole- krankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Asthma so- ranzen Luftreinhaltepläne zu erstellen, die langfristige wie andere Allergien und können Krebs verursachen.und übergreifende Maßnahmen aufzeigen, um die Laut einer aktuellen Studie der EU-Kommission sterben Grenzwerte dauerhaft einhalten zu können. Festgelegt in Europa mehr als 288 000 Menschen – davon allein in wurde hier, dass dem Luftreinhalteplan dann ein Akti- Deutschland 65 000 – vorzeitig an den Folgen der Fein- onsplan mit kurzfristig wirksamen Maßnahmen zur Seite Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16539

(A) gestellt werden muss, wenn die ab 1. Januar 2005 gelten- recht zähem Ringen sind wir hier zu einer Einigung ge- (C) den Grenzwerte der 22. Bundes-Immissionsschutzver- kommen. ordnung, BImSchV, überschritten werden. Ebenso wurde Wir haben jenseits von Fahrverboten Maßnahmen im das Gebot verankert, Maßnahmen in den Luftreinhalte- Verkehr ergriffen; auch das sollten Sie zur Kenntnis neh- plänen und Aktionsplänen gegen alle Emittenten zu rich- men. Das Bundesumweltministerium fördert in mehreren ten, die zur Überschreitung der Grenzwerte beitragen. Modellprojekten höhere Umweltstandards bei Linienbus- Dies kann ebenso die vorübergehende Stilllegung von sen und bei Lieferfahrzeugen. Durch Erdgasantriebe und Industrieanlagen oder Kleinfeuerungsanlagen bedeuten besonders schadstoffarme Dieselmotoren wurde die vor- wie Fahrbeschränkungen im Verkehr. Im Bundes-Immis- gezogene Markteinführung dieser Umweltstandards er- sionsschutzgesetz, § 40, wurden neue Ermächtigungs- reicht. Mit der Einführung der LKW-Maut ab dem 1. Ja- grundlagen für Kommunen und Länder geschaffen, um nuar 2005 werden zudem „Stinker“ 40 Prozent mehr entsprechende Verbote oder Beschränkungen anzuord- Maut zahlen müssen als moderne LKW. Zudem wird ein nen. Die bundesstaatliche Ordnung regelt in Deutsch- Teil des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene land die Zuständigkeiten in der Luftreinhaltung: Der verlagert werden. Bund gibt dabei den Rahmen vor und die Länder setzen die Maßnahmen um. Die Handlungsgrundlagen für die Mit der ökologischen Steuerreform wurde ein günsti- Länder und Kommunen sind geschaffen; jetzt liegt es an ger Mineralölsteuersatz für Erdgas als Kraftstoff bis den Ländern, diese für die Verbesserung der Luftqualität 2020 festgeschrieben, um die Markteinführung von Erd- zu nutzen. Die anstehenden Aufgaben sind den zuständi- gasautos zu ermöglichen. Erdgasautos haben kein Parti- gen Behörden der Länder spätestens seit 2002 bekannt. kelproblem. Sie sind die wirtschaftliche Alternative zum Dieselauto. 500 Tankstellen gibt es in Deutschland Auf europäischer und internationaler Ebene wurden schon. Bis 2007 sollen es 1 000 werden. Auch die For- die Anstrengungen zur Reduktion der Partikel und ihrer schung wird ausgeweitet, wie die Einrichtung eines För- Vorläufer darüber hinaus verschärft. In der so genannten derschwerpunktes für partikel- und stickoxidarme Nutz- NEC-Richtlinie, 2001/81/EG, werden – vergleichbarfahrzeuge im EPR-Umwelt- und Energiesparprogramm dem Emissionshandel – Vorgaben für nationale Höchst- der KfW Ende 2004 zeigt. mengen, Emissionshöchstfrachten, für Luftschadstoffe wie SO2, NOx, VOC und NH3 festgelegt. Das nicht nur Es ist maßgeblich der Initiative der Bundesregierung für Europa, sondern auch für Nordamerika und Kanada zu verdanken, dass die PKW-Abgasgrenzwerte mit der verbindliche UN-ECE-Protokoll zielt auf die Reduzie- Euro 5 und für LKW EURO IV verschärft werden und rung großräumiger europäischer Schadstofftransporte, EU-weit eine hochwirksame Abgasnachbehandlung oder Ferntransporte, durch Vereinbarung nationaler Emissi- vergleichbare technische Lösungen für Diesel auf den (B) onshöchstmengen. Rot-Grün hat sowohl die NEC-Richt- Weg gebracht werden. (D) linie als auch Teile der Ozon-Richtlinie, 33. BImSchV, Das zentrale, weil schnell wirksame Instrument zur und das Multikomponentenprotokoll der UN-ECE um- Reduktion der Spitzenbelastungen aus dem Verkehr ist gesetzt. Weiter hat die Bundesregierung mit einer Reihe das gestern ins Kabinett eingebrachte Fördergesetz, Kfz- von Neuregelungen strengere Vorgaben für den Betrieb Novelle, zur Förderung von Dieselfahrzeugen mit Parti- von Industrieanlagen und Feuerungsanlagen festgelegt. kelfilter über einen Bonus bei der Kfz-Steuer. Die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, 13. BImSchV, und die Technische Anleitung, TA, Luft formulieren an- Das veränderte Kfz-Steuergesetz bedarf der Zustim- spruchsvolle immissionsschutzrechtliche Standards zur mung des Bundesrates. Mit einem Gesamtvolumen von Luftreinhaltung. 1,5 Milliarden Euro für das Förderprogramm ist den Ländern ein faires, bezahlbares Angebot unterbreitet Daran kann man ablesen, dass wir uns nach vier Jah- worden. Schließlich verfügen die Länder aufgrund des ren aktiven Handelns in der Luftreinhaltepolitik nichtzunehmenden Dieselaufkommens bis 2015 über Mehr- den Vorwurf machen lassen müssen, wir hätten kein Ge- einnahmen aus der Mineralölsteuer von circa 11 Milliar- samtkonzept, auch wenn noch vieles zu tun bleibt. den Euro. Überdies haben die Länder im Zeichen der Sie waren bei allen wichtigen Schritten dabei, schließ- Luftreinhaltung in den vergangenen Jahrzehnten bereits lich sitzen Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU in der Vergangenheit stets Förderprogramme für das im Umweltausschuss. Ich erinnere mich gut an einzelne frühzeitige Erfüllen neuer Abgasnormen aufgelegt. Abstimmungen. So haben wir die 22. BImSchV einstim- Angesichts beginnender Klageverfahren zur Einhal- mig verabschiedet, aber beim 7. Gesetz zur Änderung tung der Grenzwerte sind die Länder und Kommunen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes haben die Damen nun angehalten, mit raschen und wirksamen Maßnahmen und Herren von der Union unter anderem mit dem Argu- nicht nur Schadenersatzklagen betroffener Bürger, son- ment dagegen gestimmt, wir würden über die EU-Vorga- dern auch Bußgelder aus einem EU-Vertragsverletzungs- ben hinausgehen. verfahren abzuwenden. Eine Reduktion der Rußpartikel aus Dieselfahrzeugen ist fürviele Ballungszentren ein Sie raten uns in Ihrem Antrag dringend zur besseren entscheidender Beitrag zur Einhaltung der geltenden Kooperation mit den Ländern und der Industrie. Doch strengeren Grenzwerte nach der Luftqualitätsrahmen- etwa bei der Großfeuerungsanlagen-Verordnung hatten richtlinie. Sie zunächst große Probleme, vor allem aber einzelne Bundesländer mit großen Raffineriestandorten und die Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU- betreibende Industrie mit dem Staubgrenzwert. Erst nach Fraktion, Sie können Ihren Beitrag im Kampf gegen den 16540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Feinstaub und zur Stärkung des rot-grünen Gesamtkon- ten ist. Der eigentliche Staub entsteht häufig anderswo, (C) zepts für die Reduktion von Feinstaub leisten, indem Sie in benachbarten Regionen und Ländern. Dort verursach- die unionsgeführte Mehrheit im Bundesrat für das För- ter Staub wird – in Abhängigkeit vor allem von der dergesetz zum Partikelfilter gewinnen. Windrichtung, vom Wetter und von der jeweiligen örtli- chen Bebauungssituation – schlicht herangeweht, sodass das Problem mit eindimensionalen pauschalen Vorschlä- Birgit Homburger (FDP): Gestern hat das Bundes- kabinett ein Gesetz zur Förderung von besonders parti- gen nicht in den Griff zu bekommen ist. kelreduzierten PKWs auf den Weg gebracht. Über die Hier liegt das wesentliche Versäumnis der rot-grünen Kfz-Steuer sollen damit Anreize für solche Diesel-Bundesregierung. Denn es wäre ihre Aufgabe gewesen, PKWs geschaffen werden, die weniger Rußpartikel aus- sich national mit Ländern und kommunalen Spitzenver- stoßen und so zur Verminderung der Feinstaubbelastung bänden an einen Tisch zu setzen und die Entwicklung ei- insbesondere in Ballungsgebieten beitragen. Vorgesehen nes solchen Konzepts voranzutreiben und die Arbeit zu ist eine befristete Kfz-Steuer-Befreiung, die die Länder koordinieren. Parallel hätte die Bundesregierung mit der – wenn die Regelungen Gesetzeskraft erlangen – mitgleichen Zielsetzung auf andere europäische Mitglied- Einnahmeausfällen von voraussichtlich insgesamt 1,2 Mil- staaten zugehen müssen. Erforderlich ist ein integriertes liarden Euro konfrontieren wird. Zu hoffen ist, dass die Gesamtkonzept, in das alle maßgeblichen Verursacher, in den vergangenen Wochen mehr als hitzig geführte De- das heißt Industrie, Gewerbe, Verkehr, Landwirtschaft batte über die Feinstaubbelastung in deutschen Innen- und private Haushalte, überregional und international städten sich ein wenig beruhigt und die hysterischen eingebunden werden. Die FDP fordert in diesem Sinne Züge verliert, die sie zwischenzeitlich angenommen hatte. Dies und ein Ende der unsäglichen Verunsiche- Lösungen statt Aktionismus. Der Antrag der Union ist rung der Fahrer und Käufer von Diesel-PKWs könnten von diesen Vorstellungen inspiriert und verdient deshalb ein Ergebnis des Vorschlags der Bundesregierung sein. Unterstützung. Wir dürfen uns aber nichts vormachen. Es wäre ein Irr- tum zu glauben, dass das Feinstaubproblem bereits mit Dr. Werner Schnappauf, Staatsminister (Bayern): der steuerlichen Förderung abgasarmer PKWs gelöstDie Feinstaubpolitik der Bundesregierung ist geprägt wäre. von Widersprüchlichkeit und alten Feindbildern. Die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln zeigt sich zum Keine Frage ist, dass eine zu hohe Feinstaubbelastung Beispiel am Thema Steueranreize für die Aus- und ein ernst zu nehmendes Gesundheitsrisiko darstellen Nachrüstung mit Partikelfiltern. Beim Autogipfel mit kann. Selbstverständlich ist auch, dass der Staat handeln der Automobilindustrie am 7. Juni 2004 lehnte Bundes- muss, wenn ein solches Risiko und sinnvolle Möglich- (B) kanzler Schröder einen deutschen Alleingang zur Förde- (D) keiten zu dessen Beseitigung erkannt wurden. rung von schadstoffarmen Fahrzeugen ab und besänf- Ein Blick auf die Tatsachen ist hilfreich, wenn man tigte damit die Spitzenmanager der Automobilindustrie. allzu leichtfertige Verharmlosungen ebenso vermeiden Am 30. März 2005 teilte Regierungssprecher Hans will wie die Übertreibungen der vergangenen Tage und Langguth dagegen mit, „im Kampf gegen die gefährli- Wochen. Die Gefährlichkeit von Staub hängt im Wesent- che Luftverschmutzung in den Städten setzt die Bundes- lichen von drei Eigenschaften ab: Größe, Beschaffenheit regierung … auf Steueranreize für Rußfilter“. bzw. Zusammensetzung der Partikel und schließlich ihre Herkunft. Insbesondere für gesundheitlich weniger wi- Bundesfinanzminister Eichel verspricht hierzu groß- derstandsfähige Menschen ist Staub umso gefährlicher, zügig Steuergeschenke – bezahlen sollen dieses Ge- je kleiner die Partikel sind, weil insbesondere ultrafeiner schenk nach seiner Vorstellung aber zu 100 Prozent die Staub eine hohe Durchgängigkeit bei den Atmungsorga- Länder. Das ist keine seriöse Politik, das ist vordergrün- nen hat. Die Beschaffenheit der Partikel ist, beispiels- diges Agieren. Anstatt die Lösung der bundesweiten weise mit Blick auf die Metallhaltigkeit der Stäube, bei Fragen und zum Beispiel die Reform der Kleinfeue- Kleinstpartikeln besonders wichtig, weil deren Oberflä- rungsanlagen-Verordnung zügig zu Ende zu bringen, be- che, auf der schädliche Komponenten transportiert wer- treibt das Bundesumweltministerium Symbolpolitik mit den, relativ groß ist. Hinsichtlich ihrer Herkunft sind of- den altbekannten Feindbildern Auto und Individualver- fenbar solche Staubpartikel besonders gefährlich, die aus kehr. Entsprechend sehen einige Lösungsansätze aus. So Verbrennungsprozessen hervorgehen. Damit ist der Stra- plädiert das Umweltbundesamt (laut „Welt am Sonntag“ ßenverkehr und der damit verbundene Dieselruß – neben vom 3. April 2005) zum Beispiel dafür, Ampelrotphasen Anlagen der Industriefeuerung und für den Hausbrand – zu verlängern – als ob wir in unseren Städten nicht be- eine qualitativ ernst zu nehmende Gefährdungsquelle. reits genug Stau hätten. Ein anderer Vorschlag des Um- weltbundesamts geht dahin, den Parkraum in den Städ- Wenn man Feinstaub tatsächlich wirksam bekämpfen ten zu verknappen – mit der Folge, dass der will, muss man jedoch ein bundesweites, besser sogar Parkplatzsuchverkehr weiter steigt. europaweites Gesamtkonzept erarbeiten. Die FDP-Bun- destagsfraktion hat deshalb für ein integriertes Gesamt- Diese verkehrsfeindlichen Lösungsansätze lassen au- konzept plädiert, in das örtliche, regionale, nationale und ßer Acht, dass Mobilität ein legitimes und wichtiges Be- europaweite Maßnahmen eingebettet werden können. dürfnis der Bevölkerung in einer modernen Gesellschaft Dies ist erforderlich, weil Feinstaub oft die Folge be-ist. Statt Feindbildern brauchen wir fortschrittliche, in- stimmter Wetterlagen und geographischer Besonderhei- novative Lösungen – sei es in der Fahrzeug- und Filter- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16541

(A) technik, sei es in modernen Verkehrsleitsystemen für ei- wirklich sinnvoll sein, wenn Kunden die so genannten(C) nen flüssigen Verkehrsfluss in unseren Städten. Staubzonen in den Städten meiden und künftig noch stärker auf der grünen Wiese einkaufen, während unsere Der Bund muss zügiger handeln. Seit Jahren drängen Innenstädte veröden? die Länderumweltminister den Bund zum Handeln: Be- reits 2001 und 2003 haben sie den Bund aufgefordert, Was wir brauchen, ist ein konsequentes ganzheitli- ein Konzept für steuerliche Anreize vorzulegen. 2004 ches Reduktionsprogramm, das alle wichtigen Quellen hat der Bundesrat ebenfalls klare entsprechende Forde- erfasst. Beispiel Hausfeuerungsanlagen – Emissionsan- rungen an den Bund gerichtet. Jetzt endlich erfolgen die teil in Bayern 27 Prozent –: Hier muss in der 1. BlmSchV ersten Schritte des Bundes – doch auch jetzt geht derder Staubgrenzwert bei Feststofffeuerungen abgesenkt Bund zu zögerlich vor, zu halbherzig und vor allem im- werden. Diese Novelle steht aus – der Bund hat hier mer noch ohne schlüssiges Gesamtkonzept. seine Aufgaben nicht erfüllt. Bayern ist darum bemüht, mit den Kaminkehrern durch zusätzliche Beratung eine Bundesminister Stolpe will nun endlich, wie von Bay- Optimierung der Heizungsanlagen in den privaten Haus- ern längst gefordert, über eine stärkere Spreizung der halten zu erreichen. Maut schadstoffarme LKWs begünstigen und die Maut wegen der Mautflüchtlinge auf Bundesstraßen ausdeh- Beispiel Industrieanlagen – Emissionsanteil in Bay- nen. Das Europäische Parlament wird im Juni beraten, ern 19 Prozent –: Umsetzungstermin nach TA Luft für die Mautspreizung kurzfristig auf 100 Prozent auszudeh- Altanlagen ist Oktober 2007. Wo ist zum Beispiel eine nen. freiwillige Vereinbarung der Bundesregierung mit den Bundesverbänden der Wirtschaft für eine freiwillige vor- Bundesminister Eichel brachte am 25. April 2005 ei- gezogene Erfüllung der TA Luft? Bayern wird mit die- nen Gesetzentwurf zur Förderung besonders partikelre- sem Ziel einen Dialog auf Landesebene mit Betreibern duzierter PKWs ein. Bekanntlich fordern dies die Länder und Verbänden führen. seit November 2001. Wir brauchen einen Fördervor- schlag, der konsensfähig ist und nicht alle Kosten den Hinzu füge ich nochmals den Appell, überall ehrlich Ländern aufbürdet. Ich verweise auf die Vorschläge von zu messen und die Messergebnisse zeitnah offen zu le- Hessen, Baden-Württemberg und Bayern. Dabei sollten gen: Die „Hitliste“ der Grenzwertüberschreitungen beim wir uns auf die Förderung der Altfahrzeuge konzentrie- Umweltbundesamt ist noch immer nicht auf einem aktu- ren, denn bei Neufahrzeugen regelt dies mittlerweile der ellen Stand. Dort stehen seit langem Falsche am Pranger. Markt. Wenn die Bundesregierung endlich ihre Aufträge ab- Bundesminister Trittin hat am 23. April 2005 die Eck- arbeitet, dann könnten wir vielleicht doch zusammenfin- punkte einer Kfz-Kennzeichnungsverordnung vorgelegt den. Denn letztlich brauchen wir eine konzertierte Ak- (B) mit dem Ziel einer Bevorzugung schadstoffarmer Fahr- tion von EU, Bund, Ländern und Kommunen, um die(D) zeuge. Bekanntlich war dazu die Forderung von „min- Feinstaubbelastung im Interesse von Umwelt und Ge- destens drei Ländern“ erforderlich. Wir müssen weiter sundheit unserer Bevölkerung zu reduzieren. gehen: Wir brauchen eine vollständige Rechtsverord- nung zur Kennzeichnung schadstoffarmer Kfz, in der auch die erforderlichen Anpassungen der Straßenver-Anlage 11 kehrsordnung enthalten sind. Zu Protokoll gegebene Reden Selbst Bundeskanzler Schröder spricht sich nicht mehr – wie noch 2004 – gegen Partikelfilter aus. Auch zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur hier gehen die süddeutschen PKW-Hersteller mittler- Errichtung einer „Bundesstiftung Baukultur“ weile voran. Die Bayerische Staatsregierung hat Anfang (Tagesordnungspunkt 16) April mit Audi und BMW eine gemeinsame Initiative zur schnelleren Einführung von Partikelfiltern gestartet. Petra Weis (SPD): Auch wenn die Tageszeit unserer Wir brauchen eine rechtsverbindliche Euro-5-Abgas-Debatte über das Thema Baukultur zum wiederholten norm der EU für PKWs und leichte Nutzfahrzeuge ein- Male nicht geeignet ist, ein herausragendes öffentliches schließlich der technischen Prüf- und Fördernormen. Interesse an dem behandelten Gegenstand hervorzuru- fen: Der Umstand, dass wir hier und heute ein Projekt zu Kurz gesagt: Die zuständigen Bundesminister Trittin, einem vorläufigen Ende bringen, das im Erfolgsfall das Stolpe und Eichel handeln zu spät, zu wenig koordiniert Leben und mehr noch das Erleben unserer eigenen und und zu halbherzig. der nachfolgenden Generationen nachhaltig beeinflussen Gefordert ist eine nationale, ganzheitliche Strategie. wird, ist auch ab morgen früh noch aller Aufmerksam- Die Bundesregierung fokussiert das Feinstaubproblem keit wert. zu einseitig auf den Verkehrsbereich und ignoriert die Im Gegensatz zur ersten Lesung des Gesetzentwurfes vielfältigen anderen Ursachen. im März, bei der man befürchten musste, dass die jahre- Der Partikelfilter allein kann das Feinstaubproblem lange grundsätzliche Übereinstimmung der vier Fraktio- nicht lösen. Eine Abschätzung für hoch belastete Straßen nen zur Gründung einer Bundesstiftung Baukultur so zeigt, dass Grenzwertüberschreitungen auch dann noch kurz vor dem Ziel aufgekündigt werden würde, können eintreten werden, wenn alle Diesel-Kfz mit Filter ausge- wir heute bei der zweiten und dritten Lesung eine einmü- rüstet sein werden. Auch Fahrverbote in den Innenstäd- tige Zustimmung erwarten. Das ist dem Thema angemes- ten halte ich für zweischneidig. Kann es umweltpolitisch sen und gibt denjenigen, die der Baukultur in unserem 16542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Land die notwendigen Impulse geben können und wol- pekte der Stadtentwicklung, des Städtebaus, des Woh-(C) len, die Gewissheit, dass das Engagement der letztennens, der Stadtpolitik in Zeiten des ökonomischen und Jahre nicht umsonst war und die Stiftung in absehbarer demographischen Wandels berührt und zugleich die er- Zeit ihre Arbeit aufnehmen kann. Alles andere wäre auch folgreichen Ansätze unserer Politik auf diesen Feldern ein herber Rückschlag gewesen. nachhaltig unterstützt. Dieser Prozess ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer Zivilgesellschaft, die es Unser Augenmerk liegt in den kommenden Wochen sich zum Ziel setzt, die Lebensqualität in unseren Städ- nun auf den weiteren Beratungen im Bundesrat, unser ten zu verbessern, die Identifikation der Bürgerinnen Anliegen liegt auf der Hand: Die Mehrheit in der Län- und Bürger mit ihrem Wohnort zu verstärken und ihre derkammer möge die Stiftungsgründung nicht länger hi- Bereitschaft zur Mitgestaltung zu erhöhen. nauszögern, schon gar nicht mit Argumenten, die nicht in der Sache begründet sind, wie wir alle wissen. Wenn ich zu Beginn davon gesprochen habe, dass wir heute einen Prozess zu seinem vorläufigen Ende brin- Wie heißt es so schön: Der Weg ist das Ziel! Wir sind gen, dann bedeutet das zugleich, dass er doch wieder an mit der Stiftung Baukultur einen ungewöhnlichen Weg seinem Anfang steht. Das ist nicht paradox, sondern liegt gegangen, der an sich schon die Wiege des Erfolgs war: in der Natur der Sache. Baukultur ist auf den ständigen einen Weg des Dialogs mit allen am Thema beteiligten Dialog zwischen Expertinnen und Experten, Bürgerin- Expertinnen und Experten, ihren Verbänden und Organi- nen und Bürgern, Wirtschaft und Politik angewiesen. sationen, begleitet von einer konstruktiven Berichterstat- Die Stiftung wird nur dauerhaft erfolgreich sein können, tung in den Medien und der Fachöffentlichkeit. Und wir wenn sie diese Dialogbereitschaft ständig fördert und er- waren uns in diesem Hause von Beginn an einig, dass weitern hilft. Sie sollte sich unserer aufrichtigen und sich das Thema Baukultur nicht für klassisch parteipoli- nachhaltigen Unterstützung über den Tag hinaus sicher tische Kontroversen eignet, sondern der parlamentari- sein können. schen Unterstützung aller politischen Kräfte bedarf. Dass es uns trotz der Störmanöver aus den Reihen des Bundesrates gelungen ist, die kurzfristig verloren ge- Renate Blank (CDU/CSU): Im Frühjahr 1999 brach- glaubte Einigkeit wiederherzustellen, stimmt mich auch ten die Bundesarchitektenkammer und der Bund Deut- für die kommenden Jahre optimistisch. scher Architekten die Initiative „Architektur und Baukultur“ ins Gespräch. Eine Lenkungsgruppe aus Ver- Denn Baukultur ist und bleibt eine gesellschaftliche tretern der Kammern und Verbände, Kommunen und und politische Daueraufgabe, die auf die Kompetenz und Ländern begleitete die Initiative und traf sich regelmäßig den guten Willen aller Beteiligten angewiesen ist, diezum Erfahrungsaustausch. Unter dem Label „Initiative sich – allen legitimen Eigeninteressen zum Trotz – auch (B) Baukultur“ wurden zahlreiche Veranstaltungen, wie das (D) und vor allem ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwor- Architekturquartett in Berlin, diverse Ausstellungen, tung bewusst sein müssen. Symposien und Kongresse, veranstaltet. Zugleich wurde Das gilt auch für die Fragen, die mit der Finanzierung im Rahmen der Initiative ein öffentlicher Dialog über der Stiftung verbunden sind. Baukultur ist zwar kein Lu- das Baugeschehen und den Stand von Architektur und xusgut für Schönwetterperioden, aber die finanzielle Baukultur in unserer Gesellschaft geführt. Die ersten Er- Verantwortung des Bundes hat bekanntlich Grenzen. Wir gebnisse der Initiative sind in einem Bericht der Bundes- müssen alles daransetzen, dass der Finanzbedarf derregierung zusammengefasst. Zur Fortführung der Initia- Stiftung in den kommenden Jahren in hohem Maße auch tive hat der Deutsche Bundestag im Bundeshaushalt durch private Dritte gedeckt werden kann. Der Anfang 2002 einen eigenen Haushaltstitel bereitgestellt. ist bekanntlich gemacht und die Stiftungsgründung Zur Förderung der Baukultur soll das Bewusstsein für selbst wird sicher einen weiteren Schub auslösen. Baukultur bei Bauschaffenden und Bürgern gestärkt und Baukultur prägt die be- und gebaute Umwelt und die die Qualität, Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Leis- Bundesstiftung Baukultur prägt entscheidend das öffent- tungsfähigkeit des Architektur- und Ingenieurwesens in liche Bewusstsein für eben diese Umwelt. Ein ausge- Deutschland national wie international herausgestellt prägtes Bewusstsein für Baukultur sensibilisiert für gute werden. Baukultur meint in diesem Zusammenhang Planungs- und Bauleistungen und würdigt dieselben. Die nicht allein den ästhetischen Aspekt von Architektur, Stiftung Baukultur bildet eine nationale Plattform für gu- sondern die Qualität der gebauten Umwelt insgesamt: tes Planen und Bauen, und sie lenkt das Augenmerk des Gebäude und Anlagen der Infrastruktur, ihre Einordnung Auslands auf die Qualität von Planungs- und Bauleistun- in das Landschafts- und Siedlungsbild sowie den öffent- gen in Deutschland. Sie ermutigt zu Engagement über lichen Raum. Baukultur umfasst damit Architektur und die nationalen Grenzen hinaus und stärkt damit die Rolle Ingenieurbaukunst, Stadt- und Regionalplanung, Denk- der Beteiligten im internationalen Wettbewerb. malschutz und Landschaftsarchitektur. Sie schließt Pla- nen und Planungsverfahren, Bauen wie Instandhalten Mit der Initiative Architektur und Baukultur, mit dem ein. Statusbericht der Bundesregierung, mit dem 1. Konvent der Baukultur, mit unserem gemeinsamen Antrag zur Durch Bundesgesetz soll eine Stiftung des öffentli- Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen undchen Rechts errichtet werden, die als eine bundesweit schließlich mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung beachtete, unabhängige und mit hoher Fachautorität aus- zur Errichtung einer Bundesstiftung Baukultur ist ein gestattete Institution für die Anliegen der Baukultur in nachhaltiger Prozess in Gang gesetzt worden, der As- Deutschland eintritt, also eine bundesweite Plattform für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16543

(A) gutes Planen und Bauen. Sie ist keine Förderstiftung,geschätzt – von privaten Dritten aufgebracht werden(C) sondern soll übergreifend den öffentlichen Dialog über würde. Dies ist leider fehlgeschlagen, obwohl man da- die Kriterien für Baukultur organisieren und bei Akteu- von ausging, dass sich jedes Planungs- und Architektur- ren und in der Bevölkerung Interesse und Aufmerksam- büro in Deutschland mit rund 100 Euro beteiligen keit wecken. Sie soll helfen, ein aktives Netzwerk pla- würde; das hätte dann eine Summe von circa 12,5 Mil- nender und bauender Institutionen und Akteure lionen in Euro ergeben und fünf Jahre wären ohne Bundes- Deutschland aufzubauen, private Qualitätsinitiativen an- beteiligung gesichert gewesen. Ich möchte deshalb auf stoßen und so die Rahmenbedingungen für Baukultur in die ursprünglich geplante Finanzierung hinweisen, weil Deutschland verbessern. ich die Hoffnung habe, dass sich, wenn das Stiftungsge- setz auf den Weg gebracht ist, privates finanzielles En- Ich bedauere sehr, dass unsere Änderungsvorschläge gagement in der ursprünglich geplanten Höhe einbringen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung leider auf Un- wird. verständnis der Koalition gestoßen sind. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 18. Februar zum Aus- Um auch die Qualität im Vorstand zu unterstreichen, druck gebracht, dass „der Bund für die Errichtung einer wurde im Ausschuss eine Protokollnotiz folgenden In- ‚Bundesstiftung Baukultur‘ keine verfassungsrechtliche halts beschlossen: „Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Kompetenz habe. Da der Gesetzentwurf vor allem in sei- Wohnungswesen hat für wichtig erachtet, dass der Vor- nen Bestimmungen über den ‚Konvent der Baukultur‘ stand der Stiftung über ausreichende, zur Erfüllung der davon ausgehe, dass Baukultur ein Teilbereich der Kul- Stiftungsaufgaben erforderliche Qualifikationen ver- tur ist. Die Kulturhoheit liegt aber grundsätzlich bei den fügt. Daher sollte mindestens ein Vertreter des vom Stif- Ländern. Sie ist ihr verfassungsrechtlicher Auftrag und tungsrat zu berufenden Vorstands ein abgeschlossenes Kernstück ihrer Eigenstaatlichkeit. UngeschriebeneHochschulstudium oder eine gleichwertige Ausbildung Kompetenzen des Bundes bedürfen mit Blick auf die nachweisen können. Neben Führungskompetenz, Ko- grundsätzliche Zuständigkeit der Länder als Ausnahme operations- und Organisationsfähigkeit sind vor allem daher einer besonderen Rechtfertigung. Die Gesetzesbe- konzeptionelle Leistungen auf Gebieten, die den Ziel- gründung enthält jedoch keinerlei Hinweis darauf, wel- stellungen der Stiftung entsprechen, wünschenswert.“ che Kompetenzgrundlage die Bundesregierung für die Im Interesse des gemeinsamen Anliegens, unter ande- Errichtung dieser neuen rechtsfähigen Stiftung des öf- rem auch die Wahrnehmung unserer qualitätsvollen fentlichen Rechts heranzieht. Nach Auffassung des Bun- deutschen Architektur- und Ingenieurleistungen im In- desrates ist die Förderung der Baukultur als staatliche und Ausland zu verbessern, stellen wir unsere Bedenken Aufgabe der Bundesgesetzgebung entzogen.“ zurück und stimmen dem Gesetzentwurf in der Fassung (B) Die Bundesregierung hat die ganzen Kompetenzpro- des Änderungsantrages der Koalitionsfraktionen zu. Nun (D) bleme in ihrer Gegenäußerung leider unzureichend be- liegt die Entscheidung beim Bundesrat. Den Entschlie- antwortet. Deshalb sind die Sensibilität und die daraus ßungsantrag der FDP-Fraktion zur Errichtung einer Stif- resultierende Haltung des Bundesrates aus unserer Sicht tung bürgerlichen Rechts lehnen wir ab. durchaus verständlich. Der Bundesrat hat sich mit sei- nem sehr kurzfristig eingebrachten Antrag nicht gerade Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr kooperationsfreudig gezeigt. Aus meiner Sicht ist auch zu meiner Freude habe ich festgestellt, dass sich nun sehr schwer nachzuvollziehen, warum jahrelange Bera- auch die FDP für die Gründung einer Stiftung zur Beför- tungen nicht genutzt wurden, um schwerwiegende Be- derung der Baukultur einsetzt. Nur leider fehlt die Be- denken auszuräumen. gründung zum vorliegenden Entschließungsantrag, der doch in einem entscheidenden Punkt von unserer Vor- Um die Bedenken des Bundesrates auszuräumen, lage abweicht. Ich bin mir sicher, dass die Koalitions- wurden der Koalition Vorschläge unterbreitet, um zu ei- fraktionen die Konsequenzen aus dem FDP-Antrag strikt nem Konsens zu kommen; leider wurden diese Ände- ablehnen, denn seine Umsetzung würde bedeuten: weiter rungsvorschläge abgelehnt. Wir wollten analog der Kul- Schulden machen! Was Sie wollen, liebe Kolleginnen turstiftung des Bundes den Namen in „Baustiftung des von der FDP, ist – ich zitiere – „eine Stiftung mit einem Bundes“ umändern, um die Bedeutung der Qualität des angemessenen Kapitalvermögen“. Bauens, und alles was damit zusammenhängt, hervorzu- heben. Der Name „Stiftung Baukultur“ ist leider vom Damit schwebt Ihnen doch vor, dass die Ausgaben Land Thüringen schon besetzt worden, weshalb nun die der Baukulturstiftung aus Kapitalzinserträgen finanziert Bezeichnung „Bundesstiftung Baukultur“ gewähltwerden könnten. Dann würden wir aber nicht 6,5 Millio- wurde. Des Weiteren findet im Stiftungsrat aus unserer nen Euro über mehrere Jahre brauchen, sondern sofort Sicht die Beteiligung der Kommunen, die sich letzten mehrere Hundert Millionen aus dem Bundeshaushalt. Endes am meisten mit dem Begriff Baukultur und Quali- Nein, für diesen Vorschlag werden Sie keine Mehrheit tät beschäftigen müssen, zu wenig Berücksichtigung.finden. Wir können den FDP-Antrag nur ablehnen. Wir hätten uns eine Festschreibung gewünscht. Nun muss der Konvent die nötigen Voraussetzungen schaf- Gestatten Sie mir noch ein Wort zum Bundesratsein- fen, dass die kommunale Beteiligung ausreichend ge- spruch: Mit dem vom Ministerpräsidenten Koch initiier- währleistet ist. ten Vorgang ist er endgültig in der ersten Reihe der op- positionellen Possenreißer angekommen. Der Bund sei Ursprünglich war der Gedanke, dass der jährliche Fi- nicht zuständig, da im Begriff Baukultur ja das Wort nanzbedarf der Stiftung – auf bis zu 2,5 Millionen Euro „Kultur“ vorkommt und die Kulturhoheit doch bei den 16544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Bundesländern liege. Die logische Schlussfolgerung aus Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Es war ein (C) diesem Gedankenkonstrukt verweigert er uns leider, des- langer Weg, bis wir heute gemeinsam das Gesetz zu Er- halb werde ich sie hier vorbringen: Die Bundesländer richtung einer Bundesstiftung Baukultur verabschieden beteiligen sich an der Baukulturstiftung und nehmen da- können. Das Anliegen, welches die Stiftung verfolgt, rin ihre kulturelle Kompetenz wahr. Damit würden die stellt eine große Herausforderung dar und ich hoffe sehr, Länder ihrer Verantwortung für die bauliche Entwick- dass die Stiftung die hohen in sie gesetzten Erwartungen lung in Deutschland nachkommen, anstatt einer von al- erfüllen wird. len Seiten als sinnvoll erachteten Stiftungsgründung Ich freue mich, dass die Koalition im Berichterstatter- Steine in den Weg zu rollen. gespräch zwei Anregungen der FDP-Fraktion aufgenom- men hat, die ich für sehr wichtig halte: Aus meiner Sicht spricht nichts dagegen und deshalb fordere ich die Bundesländer auf: Schließen Sie sich un- Die eine Änderung betrifft den Zweck der Stiftung. serer Initiative an und ebnen damit den Weg für eineIch bin froh, dass wir im Berichterstattergespräch den Bund/Länder-Stiftung für Baukultur. Stiftungszweck dahingehend präzisiert haben, die „Qua- lität, Nachhaltigkeit und Leistungsfähigkeit des Pla- Nun aber zu den Zielen, die die Baukulturstiftung ver- nungs- und Bauwesens“ herauszustellen. Eine Beschrän- folgen soll. Wie unser Gesetzentwurf angibt, geht es im kung auf die „wirtschaftliche“ Leistungsfähigkeit des Wesentlichen um die Beförderung von guter Architektur Planungs- und Bauwesens wäre dem Grundgedanken der und darum, das Verständnis in der Bevölkerung dafür zu Bundesstiftung Baukultur nicht gerecht geworden. Zu- verstärken, was gute Architektur ausmacht. Da sehe ich dem hätte es zu recht alle möglichen Branchen an den durchaus Handlungsbedarf auch bis in die Entschei-Plan gerufen, ebenfalls eine Stiftung einzufordern, die dungsebenen hinein. Ich bin der festen Überzeugung,die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der jeweiligen Be- dass sich die Verantwortlichen in den Städten und Ge- rufszweige herausstellt. meinden viel stärker als bisher mit Fragen nach der Wir- Die zweite Anregung der FDP die die Koalitionsfrak- kung der bebauten Umwelt auf die Bewohnerinnen und tionen dankenswerterweise übernommen haben, ist min- Bewohner beschäftigen müssen. Wir brauchen Städtedestens ebenso wichtig: Die Aufgaben der geplanten und Gemeinden, in denen die Menschen leben, mit de- „Bundesstiftung Baukultur“ liegen nicht nur im öffentli- nen sie sich identifizieren und in stabilisierenden Nach- chen Interesse des Bundes, sondern vor allem auch im barschaften geborgen fühlen können. Ich denke dabeiInteresse der Allgemeinheit. Daher sollte der Finanzbe- auch an Strukturen, die Modernität und kulturelles Erbe darf der Stiftung Baukultur von den Kammern und Ver- verbinden und gleichzeitig wohlgestaltete Lebensraum bänden des Planungs- und Bauwesens, von den Bau- (B) für alle Bürgerinnen und Bürger schafft, für Erwachsene schaffenden und der Zivilgesellschaft wesentlich(D) ebenso wie für Kinder, für den Arbeiter wie für die Pro- mitgetragen werden. Daher war es unerläßlich, § 4 fessorin. Kontraproduktiv ist jedoch, wenn sich eineAbs. 2 des Gesetzesentwurfs dahingehend zu ändern, Fachjury auf international ausgewiesene exzellente Ar- dass die Stiftung nicht nur berechtigt ist, Zuwendungen chitektur verständigt die baugenehmigenden Behörden und Spenden Dritter anzunehmen, sondern dass sie dazu sich mit dem Architekten jedoch nicht auf gangbareaufgefordert ist, das zur Erfüllung ihrer Aufgaben erfor- Wege einigen und schließlich die Exekutive dem Archi- derliche Kapital aktiv einzuwerben. tekten das Bauprojekt entzieht, wie beim Zumthor-Bau Dieses finanzielle Engagement Dritter wäre aller- für ein Museum zur Topographie des Terrors in Berlin dings einfacher zu realisieren gewesen, wenn die Stif- kürzlich geschehen. tung Baukultur als Stiftung bürgerlichen Rechts errichtet Lieber nenne ich an dieser Stelle positive Beispiele,worden wäre. Ein finanzielles Engagement privater Drit- Beispiele für gute Architektur in einem gestalterisch ge- ter in einer Stiftung öffentlichen Rechts ist erfahrungsge- lungenen Umfeld. Das sind für mich beispielsweise das mäß sehr viel schwerer zu vermitteln und zu realisieren, DG-Gebäude von Architekt Frank O. Gehry und der Pari- da die Anbindung der jeweiligen Institution an den öf- ser Platz oder der Anbau derSchweizer Botschaft neben fentlichen Haushalt zu eng ist. dem Kanzleramt vom Architektenbüro Diener & Diener Daher fordern wir in unserem Entschließungsantrag, hier in Berlin oder die Gestaltung des neuen Münchner die Stiftung Baukultur als Stiftung bürgerlichen Rechts Stadions durch die Architekten Herzog und de Meuron. zu gründen. Dies würde nebenbei auch die – meines Er- Die Bundesstiftung wird maßgeblich dazu beitragen,achtens unberechtigten – Einwände des Bundesrates er- dass solche Beispiele hervorragender Baukultur weiter übrigen, da dann ein Gesetz entbehrlich wäre. Schule machen und der Bevölkerung bekannt werden. Wir hoffen, dass die Errichtung der Bundesstiftung Bei Bau- und Gestaltungsmaßnahmen sollten baukultu- Baukultur die notwendige Bereitschaft der Bauschaffen- relle Kriterien in Zukunft noch stärker angewendet und den, sich an der Initiative finanziell und ideell zu beteili- weiterentwickelt werden – auch auf diesem Feld wird gen, an der es im Vorfeld manchmal mangelte, beflügelt die Stiftung wirken. und stimmen – ungeachtet der geäußerten Bedenken – Der Gesetzentwurf zur Gründung einer Bundesstif- für den Gesetzentwurf und unterstützen diese wichtige Initiative. tung Baukultur hat meine volle Unterstützung und ich fordere alle Fraktionen auf, sich unserer Gesetzesinitia- Ich verbinde mit dem Gesetzgebungsverfahren auch tive anzuschließen. die Hoffnung, dass die Besetzung des Stiftungsrates der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16545

(A) Bundesstiftung Baukultur eine Vorbildfunktion für an- Deutschland, die Qualitätsnachfrage beim Planen und(C) dere vom Bund finanzierte Einrichtungen haben wird, in Bauen und die Wertschätzung unserer gebauten Umwelt. denen die kleinen Fraktionen oftmals vom Informations- Für die Bundesregierung steht außer Frage, dass sie fluss abgeschnitten sind. Dass im Stiftungsrat der Bun- eine Verantwortung dafür hat, ihre eigene Baupolitik mit desstiftung Baukultur zukünftig alle vier im Bundestag Qualitätsanspruch und mit Rücksicht auf die kulturelle vertretenen Fraktionen beteiligt sein werden, unter- Bedeutung des Bauens zu gestalten und zu kommunizie- streicht zudem das gemeinsame Anliegen und die ge- ren. Diese Verantwortung nimmt sie in vielerlei Hinsicht samtgesellschaftliche Aufgabe, die sich mit der Bundes- wahr: als Bauherr, als Gesetzgeber im Bauplanungs- stiftung Baukultur verbindet. recht, als Förderer des Städtebaus und auch im Hinblick auf das Wirtschaftswachstum und die Baunachfrage. Zu Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- diesen Aufgaben gehört es natürlich auch, den öffentli- desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Wir chen Dialog um die Maßstäbe der Baukultur zu führen beraten heute das Gesetz zur Errichtung einer „Bundes- und zu organisieren. stiftung Baukultur“ in zweiter und dritter Lesung und ich Der Dialog über die Qualitätsmaßstäbe des Planens freue mich ganz besonders darüber, dass der Regierungs- und Bauens kann nicht auf technische Fragen reduziert entwurf gestern in allen beratenden Ausschüssen einhel- werden. Die qualitätsvolle Gestaltung von Bauwerken lige Zustimmung gefunden hat. Dieses Ergebnis war oder von öffentlichen Räumen ist hiermit untrennbar nach der Entscheidung des Bundesrates vom 18. Februar verbunden und lässt sich nicht als vermeintlich eigen- 2005 und auch nach der ersten Lesung des Gesetzent- ständiger Teil der Kunst isolieren. Gute Architektur ist wurfs am 10. März 2005 nicht unbedingt zu erwarten. ganzheitliche Qualität: funktional, ökologisch, sozial, Um so mehr möchte ich allen Beteiligten, insbeson- wirtschaftlich und formgebend. dere den Berichterstattern aller Fraktionen, für diesen Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, dass die Bundes- Konsens danken. Das Interesse an der Sache hat die Ein- ratsmehrheit eine Mitverantwortung des Bundes für sicht befördert, dass Baukultur kein Thema für parteipo- Baukultur in Frage stellt. Wer die Begründung des Ge- litische Streitigkeiten ist. Denn über die Notwendigkeit, setzentwurfs aufmerksam liest, wird erkennen, dass es die Baukultur in Deutschland zu fördern und das Be-hier um Fragen des Planens und Bauens geht, nicht um wusstsein für ihre Bedeutung bei Bauherren und in der Kulturpolitik. Öffentlichkeit zu stärken, sind wir uns alle einig. Ich möchte deshalb auch an dieser Stelle noch einmal Ich denke, wir stimmen auch in der baupolitischenan die Länder appellieren, das Anliegen der Stiftung, das (B) Ausrichtung des Begriffs Baukultur überein: Es geht hier ja auch der Bundesrat als wichtig anerkannt hat, nicht(D) um Architektur und um Ingenieurbauleistungen, umzum „Spielball“ für politische Streitigkeiten ganz ande- Städtebau und Landschaftsplanung, um Bauherren- und rer Art zu machen. Andernfalls hätte die Baukultur, die Unternehmerleistungen und es geht um Qualitätsmaß- wir doch alle stärken wollen, das Nachsehen. stäbe und die dafür notwendigen Planungs- und Bauver- Die Bundesstiftung Baukultur kann – in enger Koope- fahren. ration mit den bereits vorhandenen Institutionen und Ak- Mit der breiten Unterstützung, die der Gesetzentwurf teuren auf Länder- und Gemeindeebene – zu einem posi- gestern in allen Ausschüssen erfahren hat, knüpfen wir tiven baukulturellen Klima beitragen und die an die im Jahr 2003 fraktionsübergreifend beschlossene Wahrnehmung für die baukulturellen Qualitäten in unse- „Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen“ an. Der rem Land deutlich verbessern. Dialog über Baukultur in Deutschland, den wir mit der Ich hoffe, dass die Stiftung durch ihre Arbeit auch ein Initiative Architektur und Baukultur im Jahr 2000 ange- breites ideelles und finanzielles Engagement bei privaten stoßen haben, findet in der Bundesstiftung eine ange-Dritten, etwa bei den Architekten und Ingenieuren oder messene Form und kann unter ihrem Dach nun dauerhaft in der Bau-, Wohnungs- und Kreditwirtschaft auslösen und wirksam fortgeführt werden. wird. Denn Baukultur geht uns alle an. Mit der Errichtung der Stiftung erhält die Baukultur in Deutschland endlich die Präsenz und Aufmerksam- Anlage 12 keit, die ihr zukommt. Damit verschaffen wir der Bau- kultur eine Plattform, die es in anderen Bereichen – Um- Zu Protokoll gegebene Reden weltschutz, Denkmalschutz, Kultur – bereits seit vielen zur Beratung des Antrags: Einführung von Jahren gibt. Wir schließen zugleich im europäischen und Real Estate Investment Trusts in Deutschland internationalen Vergleich an Institutionen und Projekte (Tagesordnungspunkt 17) an, die Architektur und Baukultur als nationales Mar- kenzeichen und als Exportartikel erfolgreich „vermark- ten“. Nina Hauer (SPD): Verehrte Damen und Herren von der Unionsfraktion, dieser Antrag ist leider typisch für Das in diesem Bereich in Deutschland vorhandeneSie und Ihr politisches Verhalten. Zuerst einmal fordern Potenzial ist beachtlich und es gilt, diese Leistungen na- Sie von der Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur tional und international besser herauszustellen. Hiervon Einführung von Real Estate Investment Trusts und dann verspreche ich mir wichtige Impulse für den Standorterst wollen Sie geprüft haben, ob dies überhaupt sinnvoll 16546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) ist. Nein, das können wir nicht mitmachen. Wir halten hat in zahlreichen Doppelbesteuerungsabkommen ein so (C) die richtige Reihenfolge ein: zuerst prüfen und danngenanntes Schachtelprivileg vereinbart. Dieses besagt, kommt gegebenenfalls ein Gesetz. dass ausländische Kapitalgesellschaften, die Dividen- den von deutschen Kapitalgesellschaften beziehen, dann, Was sind Real Estate Investment Trusts, REITs, ei- wenn sie eine wesentliche Beteiligung hieran halten – je gentlich? Worum geht es dabei? REITs sind vom Grund- nach Doppelbesteuerungsabkommen zwischen 10 und satz her normale, unternehmerisch tätige Immobilienge- 25 Prozent der Anteile –, diese in Deutschland begüns- sellschaften, regelmäßig in der Rechtsform einertigt versteuern können. Der normale Dividendensteuer- Kapitalgesellschaft. Anders als andere Kapitalgesell-satz beträgt nach den Doppelbesteuerungsabkommen schaften werden REITs jedoch nicht zugleich auf Gesell- 15 Prozent, während der begünstigte Satz vielfach 5 oder schafts- und auf Anlegerebene besteuert. REITs sind10 Prozent beträgt. vielmehr von der Körperschaft- und der Gewerbesteuer befreit. Als Ausgleich für diese Befreiung sind sie zu ei- Dies sind nur einige wenige Beispiele für ungeklärte ner hohen Ausschüttung ihrer Erträge an die Anlegersteuerliche Fragen. Die Einführung von REITs in verpflichtet. Die ausgeschütteten Erträge werden beim Deutschland birgt objektiv betrachtet die große Gefahr Anleger versteuert. von Steuerausfällen. Mögliche drohende Steuerschlupf- Natürlich gibt es gute Gründe zur Einführung derlöcher müssen im Vorfeld einer möglichen Einführung REITs in Deutschland: Weltweit sind REITs derzeit in verhindert werden, ohne dass dies einen zu großen orga- 20 Staaten verankert. In Europa gibt es REITs bereits in nisatorischen bzw. regulatorischen Aufwand erfordern Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden und Bel- würde. Eine Lösung der steuerrechtlichen Probleme gien. Großbritannien plant, im Sommer nächsten Jahres muss sich auch in unsere steuerpolitische Leitlinie ein REITs-Gesetz zu verabschieden. Deutschland hätte – Steuersätze senken, die Bemessungsgrundlage verbrei- die Chance, die europäische Entwicklung entscheidend tern und vor allem Steuerschlupflöcher schließen und mitzugestalten und sich zum führenden Immobilien-Sonderregelungen abbauen – einfügen. markt in Europa zu entwickeln. Darüber hinaus könnten Es bestehen also eine Reihe offener Fragen, die es ge- REITs einen wichtigen Beitrag zur Belebung des ange- nau zu prüfen gilt. Wir müssen vor einer Entscheidung schlagenen deutschen Immobilienmarktes leisten. Es be- überzeugende und wirklich tragfähige Lösungen finden. steht sehr wohl auch eine Erwartungshaltung des Mark- tes: Sowohl bei in- und ausländischen institutionellen Lassen Sie mich noch zwei Beispiele nennen: Zuwei- Investoren als auch in der Immobilienbranche besteht len ist die Befürchtung zu hören, dass eine REITs-Ein- eine große Erwartung, dass in Deutschland in absehbarer führung zu unerwünschten Erhöhungen von Wohnraum- Zeit REITs eingeführt werden. mieten führen könnte und dass Mietwohnungen in (B) großem Umfang zum Nachteil der Mieter verkauft wer- (D) Die Einführung deutscher REITs wäre sowohl aus ka- den könnten. Dies müssen wir ernsthaft vor einer Ent- pitalmarktrechtlichen als auch aus immobilienwirt-scheidung über die Einführung deutscher REITs prüfen. schaftlichen Gründen zu begrüßen und würde die Attrak- Besteht außerdem die Gefahr, dass bei einer privilegier- tivität des Finanzstandorts Deutschland stärken.ten Besteuerung stiller Reserven im Rahmen der Ein- Allerdings hätte die Einführung deutscher REITs wohl bringung von Immobilien in REITs Standortverlagerun- auch einige Nachteile im Vergleich zu den bestehenden gen deutscher Unternehmen unterstützt werden? Das deutschen Immobilienanlageprodukten: Bei REITs han- kann doch wohl niemand wollen. delt es sich um ein Kapitalmarktprodukt. Wie andere Aktiengesellschaften unterliegen REITs regelmäßig ei- Eine politische Entscheidung kann getroffen werden, ner stärkeren Kursschwankung als offene und geschlos- sobald Klarheit darüber herrscht, ob und wie sich vor al- sene Immobilienfonds, weil ihr Kurswert an der Börse lem die offenen steuerlichen Fragen lösen lassen. Dann ermittelt wird und es daher zu Übertreibungen nach oben erst sollte der Deutsche Bundestag gegebenenfalls von oder unten kommen kann. Dies ist für die Anleger mit der Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Einfüh- einem höheren Risiko verbunden. rung von deutschen REITs einfordern. Bei der Einführung deutscher REITs soll die Grund- erwerbsteuer nicht angetastet werden. Im Gegenzug sol- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Seit dem len sie von der Körperschaft- und Gewerbesteuer freige- Sommer des vergangenen Jahres befinden wir uns in ei- stellt werden. Eine Besteuerung findet nur ner Diskussion auf über die Einführung von Real Investment Anlegerebene statt. Da der REIT jedoch verpflichtet ist, Trusts in Deutschland. Mehrere europäische Staaten, 90 Prozent seiner zu versteuernden Einkünfte auszu-darunter die Benelux-Länder, Frankreich und Großbri- schütten, wird die Steuerbefreiung des REIT dadurch an- tannien, haben die Bedeutung von REITs erkannt und geblich kompensiert. Eine transparente Ausgestaltung bereiten die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen der Besteuerung erscheint aufwendig und schwer prakti- vor bzw. haben sie schon geschaffen. Ziel der Einfüh- kabel, zumindest in der Form, dass auf der Ebene desrung von REITs-Modellen ist es, Anlegern die Möglich- Anteilseigners eine Besteuerung entsprechend der Vor- keit zu geben, sich an Immobilien zu beteiligen, die belastung der vom REIT selbst bezogenen Erträge statt- diese in Anbetracht hoher Investitionssummen nicht di- findet. rekt selber erwerben können. Probleme ergeben sich darüber hinaus insbesondere Die Immobilienwirtschaft in Deutschland spielt eine bei der Besteuerung ausländischer Anleger. Deutschland Schlüsselrolle in unserer Volkswirtschaft. Das Statisti- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16547

(A) sche Bundesamt veranschlagt für 2004 den Wert deut- könnte ein neu einzuführendes REIT-Modell aufgrund(C) scher Immobilien auf rund 9 000 Milliarden Euro. Das seiner anzustrebenden Börsennotierung auch als mögli- entspricht mehr als dem vierfachen Wert aller Aktiva der che EXIT-Lösung für geschlossene Immobilienfonds deutschen Unternehmen oder aber dem Vierfachen des und Immobilienspezialfonds dienen. deutschen Bruttoinlandsprodukts. Darüber hinaus könnte die Einführung von REITs Die Immobilienwirtschaft ist also ein wichtiger Fak- dazu beitragen, dass die Diskrepanz zwischen dem Fi- tor für einen erfolgreichen Finanzplatz Deutschland.nanzplatz London und dem Finanzplatz Deutschland Und genau hier liegt eine große Chance der Immobilien- nicht noch größer wird. Auch wird es dadurch eher zu märkte. Deutschland hat das Potenzial, größter Immobi- mehr als zu weniger Steuereinnahmen kommen. Das lienanlagemarkt Europas zu sein, auch mit Blick auf die liegt zum einen an der hohen Mindestausschüttung und hohe Nachfrage nach Anlagen in deutsche Immobilien- auch daran, dass sehr viele Immobilientransaktionen in produkte. den kommenden Jahren ausgelöst werden. Wir hinken aber auch auf diesem Gebiet – wie auf Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Auffas- vielen anderen derzeit auch – den anderen Industriena- sung, das wir mit der Einführung des REIT-Modells eine tionen hinterher, zum Beispiel im Vergleich mit densinnvolle und für den deutschen Immobilienmarkt not- USA: Dort sind rund 30 Prozent der investmentfähigen wendige Maßnahme umsetzen. Gewerbeimmobilien im Besitz von Eigennutzern, rund 70 Prozent im Besitz von Dritten. Bei uns ist dieses Ver- hältnis genau umgekehrt. Der deutsche Immobilien- Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): markt ist hinsichtlich betrieblicher Immobilien durchEin Antrag, der die umgehende Vorlage eines Gesetzent- eine sehr hohe Eigennutzungsquote gekennzeichnet. Wir wurfs zur Einführung von REITs fordert, überrascht, benötigen für eine leichtere Mobilisierung der betriebli- denn wie der Union bestens bekannt ist, befasst sich die chen Immobilienbestände ein neues Anlageprodukt, das Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern von nationalen wie internationalen Anlegern genutztbereits seit einiger Zeit mit genau diesem Thema. Ein werden kann. Gesetzentwurf liegt lediglich deshalb noch nicht vor, weil – was insbesondere die eingesetzte Bund-Länder- Was wir brauchen, ist eine Flexibilisierung in der Im- Arbeitsgruppe mit Unionsbeteiligung festgestellt hat – mobilienfinanzierung mit dem Ziel, mehr Kapital in den die Einführung mit komplexen steuerrechtlichen Proble- für den Finanzstandort äußerst wichtigen Sektor zu len- men verbunden wäre, für die noch keine Lösung gefun- ken. den werden konnte. Vor diesem Hintergrund lässt die REITs sind besonders für institutionelle Investoren at- Forderung der Union nur den Rückschluss zu, dass die (B) (D) traktiv. Die Besteuerung findet ausschließlich auf derumfangreiche Prüfung der Implikationen und konkreten Ebene des Investors statt, die Anlagestrategie ist wenig Auswirkungen einer solchen Norm zugunsten einer reguliert und erlaubt die flexible Nutzung von Marktge- raschen Einführung eines Gesetzes aufgegeben werden legenheiten. Darüber hinaus sind die zumeist börsenno- soll. tierten REITs hochliquide, fungibel, transparent und un- Für uns Grüne kann bei der Einführung von REITs terliegen einer strengen Corporate Governance. eben wegen der schwierigen Einbettung in unser Kapi- Die US-amerikanischen REITs haben in den zurück- talmarkt- und Steuersystem die Devise nur lauten: liegenden 30 Jahren für ihre Aktionäre enorme Werte ge- Gründlichkeit vor Schnelligkeit! Es ist eben nicht mög- schaffen. Die Investment Trusts, die produktive Immobi- lich, REITs-Modelle einfach nachzubilden. Die gesetzli- lien besitzen und betreiben, erwirtschafteten für ihreche Ausgestaltung der ausländischen REITs-Modelle Anteilseigner eine durchschnittliche jährliche Verzin- differiert sehr und muss jeweils im Zusammenhang mit sung von fast 13 Prozent bei einer Gesamtmarktkapitali- dem spezifischen Recht des einzelnen Landes gesehen sierung von über 250 Milliarden US-Dollar. werden. Nicht umsonst sind die Bemühungen, REITs in Großbritannien zu regeln, auch dort aufgrund diverser Deutschland besitzt im internationalen Vergleich kein steuerrechtlicher Probleme ins Stocken geraten. bekanntes und akzeptiertes Immobilienkapitalanlagepro- dukt. Die vorhandenen Immobilienanlageformen sind im Doch lassen Sie uns die Gelegenheit nutzen und uns Ausland wegen ihrer fehlenden internationalen Ver-die Vor- und Nachteile von REITs einmal genauer be- gleichbarkeit so gut wie nicht bekannt. Der deutsche Fi- trachten. Für eine Einführung spricht die Steigerung der nanzplatz braucht ein Instrument, das geeignet ist, die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplat- Liquidität des Immobilienmarktes in Deutschland zu un- zes Deutschland. Ein nicht unwesentlicher Aspekt ist, terstützen, Unternehmen von der Verwaltung nicht zu ih- nachdem sich die hiesigen Immobilienanlageprodukte rem Kerngeschäft gehörende Immobilien zu entlasten im Ausland nicht durchsetzen können, dass dadurch re- und damit insgesamt den Finanzplatz Deutschland zulativ wenig auswärtiges Kapital in deutsche Immobilien stärken. investiert wird. Die geschlossenen Immobilienfonds, die wir derzeit Durch den beabsichtigten Handel der REITs an der in Deutschland haben, sind nicht vertretbar und der of- Börse kann eine marktnähere Bildung der Immobilien- fene Immobilienfonds unterliegt nicht unerheblichenpreise erwartet werden. Statt wie bei den offenen Immo- Anlagebeschränkungen. Eine attraktive Anlageform im bilienfonds die Immobilien durch Sachverständige be- Immobiliensektor fehlt in Deutschland bis heute. Dabei werten zu lassen, würde eine Bewertung der REITs- 16548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Anteile durch Angebot und Nachfrage an der Börse er- Auch werden wir darauf achten, dass in einem REITs- (C) folgen. Gesetz der Anlegerschutz groß geschrieben wird. Beste- hende aufsichtsrechtliche Standards müssen unbedingt REITs könnten zudem eine attraktive und transpa-eingehalten werden, risikoreiche Projekte dürfen nur in rente Anlagemöglichkeit für jedermann darstellen. Der begrenztem Umfang in REITs eingestellt werden. Wir Handel an der Börse würde zur Transparenz beitragen können es uns nicht leisten, eine neue Kapitalanlageform und das Risiko begrenzen, die geplante hohe Ausschüt- zu schaffen, die das Vertrauen der Anleger in irgendeiner tungsquote diese Anlageform für Kleinanleger interes- Weise beschädigen könnte. sant machen. Weil es derzeit keine tragfähige Lösung für einen Die Einführung von REITs hätte zweifellos auchrechtlichen Rahmen gibt, der unseren Forderungen positive Auswirkungen auf den deutschen Immobilien- Rechnung trägt, werden wir den Antrag der Union ab- markt und dessen Liquidität. Parallel könnten viele Un- lehnen. ternehmen zusätzliche Finanzierungseffekte erzielen, was zu einer erhöhten Investitionsbereitschaft beitragen Otto Fricke (FDP): Die heutige Debatte ist eine De- würde. batte, die man im aktuellen Zusammenhang mit der so genannten Heuschrecken- und Kapitalismusdebatte ei- Allerdings hat sich bei den Beratungen gezeigt, dass gentlich ideologisch führen müsste. Ich bin jedoch der diesen positiven Effekten zumindest derzeit erhebliche CDU/CDU-Fraktion dankbar dafür, dass sie mit diesem Bedenken gegenüberstehen. Dazu zählen in erster Linie Antrag zur Einführung von Real Estate Investment die immer noch offenen Fragen bezüglich der Gestal-Trusts in Deutschland eine Anregung gegeben hat. Mehr tungsanfälligkeit, die mit der steuerlichen Behandlung ist dieser Antrag sicherlich noch nicht, dieses Thema der REITs einhergehen. Unser besonderes Augenmerk stärker zu forcieren. muss darauf liegen, kein Gesetz zu schaffen, das den öf- fentlichen Haushalten mehr Schaden als Nutzen bringt. Wenn es in Europa – sagen wir ruhig im alten Europa – ein Land gibt, in dem der Immobilienmarkt in Eine weitere Sorge, die sich mit der Investition von keiner Weise die aktivierende Rolle spielt, wie er sie ei- ausländischem Kapital in deutsche Immobilien verbin- gentlich spielen müsste, dann ist dieses der deutsche det, ist im Mieterschutz begründet. Wir dürfen nicht zu- Markt. Natürlich hängt das damit zusammen, dass der lassen, dass der „kleine Bürger“ die Verbesserung der Deutsche im Umgang mit Immobilien ein hohes Maß an Standortbedingungen für den Finanzplatz Deutschland konservativem Gedankengut pflegt. Dieses mag per se mit dem Verlust oder der drastischen Verteuerung seines nicht schlecht sein, bei der Frage jedoch, wie ich Kapital Wohnraumes bezahlen wird. Auch muss sorgfältig ge- und damit letztlich auch Investitionen in den Immobi- (B) prüft werden, ob mit der gesetzlichen Regelung vonlienbereich hineinbringe, ist es von erheblichen Risiken (D) REITs nicht die Bildung einer Immobilienblase anregt getragen, wenn ein Staat derartig wenig zur Aktivierung wird. tut. Des Weiteren darf ein REITs-Gesetz nicht dazu füh- Wenn wir uns als verantwortungsvolle Politiker – für ren, dass Immobilen durch ihre Umwandlung in REITs mich als Haushaltspolitiker steht dabei immer der Saldo von Unternehmen steuerbegünstigt verkauft werdenim Vordergrund und nicht der Einzelaspekt – überlegen, können und hinterher die Unternehmen das damit frei wie wir Finanzmittel nach Deutschland bekommen, gewordene Kapital zu Standortverlagerungen und zum ohne den Standort sozusagen zu verkaufen, so ist das Abbau von Arbeitsplätzen in Deutschland einsetzen.Mittel der Real Estate Investment Trust, (REITs) eines Vielmehr müssen wir die Rahmenbedingungen so modi- der am besten geeigneten. Die vielen Diskussionen, die fizieren, dass die Unternehmen einen Anreiz bekommen, wir über offene und geschlossene Immobilienfonds im- das frei gewordene Kapital zu Investitionen am Standort mer wieder haben, insbesondere natürlich über die ge- Deutschland einzusetzen und damit zusätzliche Wert-schlossenen, zeigen, dass wir neue Mittel finden müssen. schöpfung und Arbeitsplätze im Inland zu schaffen. Wir Dabei geht es aber im weltweiten Wettbewerb auch da- kritisieren in diesem Zusammenhang schon lange die ge- rum, wann man diese Mittel einführt. setzlich implementierte Möglichkeit zur steuerlichen Es geht auch nicht, dass wir – wozu wir Deutschen Absetzbarkeit von Unternehmensverlagerungen ins Aus- leider immer noch neigen –, sagen, wir nehmen unseren land. Ein Gesetz zur Einführung von REITs macht die eigenen Weg nach dem Motto: Auch am deutschen Im- Lösung dieser Problematik nur noch dringlicher. mobilienwesen sollen Europa und die Welt genesen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Grünen Aus diesem Grunde halte ich die REITs für einen der Einführung von REITs grundsätzlich offen gegen- Wettbewerbsfaktor von erheblichem Ausmaß. Wir müs- überstehen. Auch wir erwarten, dass damit eine deutli- sen allerdings auch sehen, dass wir dieses Thema mög- che Belebung des Immobilienmarktes und des Finanz- lichst schnell behandeln. Hier ist die Regierung aufge- platzes Deutschland erreicht wird. Dennoch werden wir fordert, auch etwas Mut zu zeigen. Sicherlich, ich würde kein Gesetz unterstützen, welches neue Steuerschlupflö- jetzt wahrscheinlich die Einwände hören, dass man ja cher schafft. So muss gewährleistet sein, dass nicht im mit den Ländern nicht klarkomme und dass die Kommu- Rahmen von Sale-and-Lease-back-Modellen Gewinne nen Angst haben. Jedes Mal natürlich – auch das wissen zwar steuerbegünstigt behandelt werden, die Aufwen- wir – Ängste um Steuereinnahmen und Ähnliches, die dungen aber voll abzugsfähig sind. Dies ist nicht unsere jedoch immer nur von kurzfristiger Perspektive statt von Vorstellung von Steuergerechtigkeit. langfristiger Überlegung geprägt sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16549

(A) Vielleicht ist die Regierung und auch die sie noch tra- wartschaftsüberführungsgesetzes muss sich der Gesetz- (C) genden Koalitionsparteien hier in der Lage, den Mut zu- geber zum wiederholten Male mit den gesetzlichen Re- sammenzufassen und einen Gesetzentwurf vorzulegen. gelungen zur Begrenzung rentenrelevanter Entgelte Mag er doch mal wieder an der Kleinstaaterei im Bundes- befassen. Kaum ein Thema war in den letzten eineinhalb rat scheitern, zumindest hätte man gezeigt, was man will. Jahrzehnten im Rentenrecht juristisch und politisch so Leider jedoch gilt – gerade wenn der eigene Fraktions- umstritten wie die Überleitung der Rentenansprüche und und Parteivorsitzende den Kapitalismus selbst in seiner Rentenanwartschaften derjenigen Personen, die im wei- Ausbringung als soziale Marktwirtschaft kritisiert –, dass testen Sinne dem politischen System der DDR nahe stan- man an diese Themen nicht mehr herangehen will. Be- den. Wer die im vorliegenden Gesetzentwurf geregelte sonders betrüblich ist dies, wenn wir sehen, dass die not- Neuregelung der Begrenzungsregelung des § 6 Abs. 2 wendigen steuerlichen Angleichungen kaum stattfinden. des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und An- Ich will die Thematik Steuer nicht zu sehr vertiefen, wartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssyste- weise aber darauf hin, dass wir bei der Frage Steuerexit men des Beitrittsgebiets, AAÜG, ausreichend würdigen und bei der Frage der sich daraus ergebenden möglichen will, kommt nicht um einen Blick in die Geschichte die- Doppelbesteuerungsfragen noch einiges an Weg zu be- ser Norm umhin. Es ist ein lehrreiches Beispiel dafür, schreiten haben. Insbesondere hinsichtlich der Problema- wie politisch Gewolltes durch die Mühlen der Gerichte tik der Doppelbesteuerung muss es sehr schnell zu einer immer weiter verunstaltet wird, um letztlich auf ein Mi- eindeutigen Regelung kommen, da Deutschland sonst ein nimum reduziert zu werden, aber auch dafür, dass die nicht wieder einzuholender Standortnachteil droht. Gewaltenteilung in unserem Rechtsstaat einwandfrei funktioniert. Lassen Sie mich aus Sicht der FDP eines verdeutli- chen: Die Forderungen, die die CDU/CSU in ihrem An- Bereits im Jahre 1990 diskutierte die erste frei ge- trag aufstellt, sind grundsätzlich zu unterstützen. Insbe- wählte der DDR darüber, wie die unge- sondere die Frage Fungibilität über die Börse, aber auch rechtfertigten Privilegien der staats- und systemnahen Fragen der Dividendenreinvestitionsmodelle sind sicher- Personen abgebaut werden könnten. Das von ihr verab- lich von erheblicher Bedeutung, wenn man Erfolg haben schiedete Rentenangleichungsgesetz wurde aber nicht will. Man muss aber auch – das zeigen die Fragen insbe- mehr umgesetzt. Der Einigungsvertrag vom 31. August sondere der geschlossenen Immobilienfonds – für eine 1990 legte jedoch fest, dass ungerechtfertigte Leistungen Nachvollziehbarkeit und Transparenz sorgen, die es dem abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen sind. Anleger, selbst wenn er nur über geringe Vorbildung ver- fügt, erleichtert, in diesem Bereich zu investieren. Es oblag dem gesamtdeutschen Gesetzgeber, mit dem Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzli- (B) Schließlich soll mir als Haushälter noch eine kleine chen Renten- und Unfallversicherung vom 25. Januar(D) Kritik an dem Antrag erlaubt sein. Ganz am Schluss1991 einen ersten Versuch der Bewältigung dieses Pro- wird darauf hingewiesen, dass die Regierung doch prü- blems zu unternehmen. Neben der grundsätzlichen Ent- fen sollte, ob die steuerlichen Rahmenbedingungen nach scheidung, dass auch zu überführende Entgelte nur bis den Vorbildern anderer REITs-Modelle im Ausland mit zur Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversiche- der finanziellen Situation von Bund, Ländern und Ge- rung zu berücksichtigen sind, sollten weiter gehende meinden zu vereinbaren sind. Diese Prüfung könnten wir Kürzungen diejenigen Personen treffen, die dem Staat alle schnell vornehmen, weil wir doch genau wissen,besonders nahe standen. Bei diesen lag die Vermutung dass alle Haushalte verschuldet sind. Eine solche Über- nahe, dass die von ihnen erzielten Verdienste nicht nur prüfung, bei der kurzfristig nur gefragt wird, ob sie mit aufgrund ihrer Arbeit und Leistung erreicht wurden. den Haushalten vereinbar ist, wird nichts nutzen. Wir als FDP sind der Ansicht, dass in der langfristigen Planung Wer aber stand dem Staat besonders nahe? Der Ge- nur eine Übersicht über zehn Jahre sinnvoll ist; denn an- setzgeber wählte eine typisierte Betrachtungsweise. So sonsten würden wir niemals bei neuen Finanzierungs- wurden manche Zusatzversorgungssysteme – wie das für und Investitionsmodellen Erfolg haben. Dies ist auch lo- die hauptamtlichen Mitarbeiter des Staatsapparates – als gisch, denn welches Modell soll Erfolg haben, bei dem besonders systemnah angesehen. Überschritt das jewei- als Erstes vom Investor verlangt wird, dass er sein Geld lige Einkommen das 1,4-Fache des Durchschnittsentgel- direkt versteuert? tes, wurde eine Begrenzung auf das Durchschnittsentgelt vorgenommen. Das zwei Jahre später folgende Renten- überleitungs-Ergänzungsgesetz verfeinerte aufgrund Anlage 13 zwischenzeitlich vom Bundessozialgericht geäußerter Bedenken den Kürzungsmechanismus. Zu Protokoll gegebene Reden Vor dem Hintergrund eines Vorlagebeschlusses des zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- Bundessozialgerichts an das Bundesverfassungsgericht zes zur Änderung des Anspruchs- und Anwart- erließ der Gesetzgeber 1996 das Gesetz zur Änderung schaftsüberführungsgesetzes (Tagesordnungs- und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüber- punkt 18) führungsgesetzes, AAÜG-ÄndG. Es trat am 1. Januar 1997 in Kraft und verringerte den von einer Kürzung be- Erika Lotz (SPD): Mit der am heutigen Tage anste- troffenen Personenkreis auf rund 12 000 Personen. Be- henden zweiten und dritten Lesung des Entwurfes eines troffen waren nur noch diejenigen Angehörigen von Ersten Gesetzes zur Änderung des Anspruchs- und An- staats- oder systemnahen Zusatz- und Sonderversor- 16550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) gungssystemen, die weit überdurchschnittlich verdien- Der vorliegende Gesetzesentwurf sieht vor, die Ent-(C) ten. Der Grenzwert, von dem an die zu berücksichtigen- geltbegrenzung auf diejenigen Zeiten zu beschränken, in den Entgelte begrenzt wurden, wurde vom 1,4-Fachen denen solche Funktionen im Parteiapparat der SED, in des Durchschnittseinkommens auf das Entgelt der Ge- der Regierung oder im Staatsapparat ausgeübt wurden, haltsgruppe E3 angehoben. Dieses entsprach dem Ein- die auch eine faktische oder rechtliche Weisungsbefug- kommen eines Hauptabteilungsleiters in einem Ministe- nis gegenüber dem MfS bzw. dem AfNS umfassten. rium. Begrenzt wurden die Entgelte aber dann wieder Ebenso werden aber auch Zeiten in Funktionen auf den auf maximal das Durchschnittsentgelt aller Versicherten. höchsten Ebenen des so genannten Kadernomenklatur- Mit Entscheidung vom 23. ni Ju 2004 erklärte das systems der DDR einbezogen. Bundesverfassungsgericht diese Regelung jedoch für mit Über die im ursprünglichen Gesetzentwurf genannten dem Grundgesetz unvereinbar. Der Gesetzgeber wurde Personenkreise sind nunmehr weitere hinzugekommen. verpflichtet, bis zum 30. Juni 2005 eine verfassungsge- Diese Erweiterung war notwendig, weil sich erst im mäße Neuregelung zu schaffen, andernfalls würden die Rahmen der Beratungen herausgestellt hat, dass es wei- Vorschriften nichtig werden. Diesem Auftrag kommen tere Funktionsträger im Partei- und Staatsapparat gab, wir mit dem vorliegenden Gesetz nach. die auf Entscheidungen des MfS bzw. AfNS Einfluss Welche Vorgaben hat das Bundesverfassungsgericht nehmen konnten. Hierzu gehören insbesondere: weitere aber gesetzt, an die wir uns halten müssen? Nachleitende Funktionäre der SED-Bezirks- oder Kreisleitun- Ansicht des Gerichts hat der Gesetzgeber auch mit der gen, Mitglieder von Staats- und Ministerrat, einschließ- Neuregelung durch das AAÜG-ÄndG eine unzulässige lich der jeweiligen Stellvertreter, Staatsanwälte und Typisierung vorgenommen. Zwar sei die Gruppe der Be- Richter der so genannten I-A-Senate, leitende Mitarbei- troffenen kleiner geworden, weil die Entgeltgrenze, von ter der Abteilung „Sicherheit“ des Zentralkomitees der der an eine Kürzung greife, deutlich heraufgesetztSED sowie Mitglieder der Bezirks- oder Kreis-Einsatz- wurde. Das bereits mit Entscheidung des Bundesverfas- leitungen. sungsgerichts vom 28. April 1999 kritisierte gesetzliche Grundkonzept, hohe Entgelte mit überhöhten Entgelten Ich möchte noch einmal betonen, dass der jetzt vorlie- gleichzusetzen, sei aber beibehalten worden. Anders als gende Gesetzentwurf das Äußerste ist, was uns rechtlich bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts noch zulässig erscheint. Es ist für mich durchaus nach- zur Entgeltbegrenzung für Angehörige des MfS/AfNS vollziehbar, dass sich gerade die Opfer des SED-Re- könne bei diesem Personenkreis nicht per se davon aus- gimes eine größere Lösung wünschen. Aber die Ge- gegangen werden, dass die Entgelte strukturell überhöht schichte der Regelung des § 6 Abs. 2 AAÜG hat waren. eindrucksvoll gezeigt, dass auch dem Gesetzgeber in un- (B) (D) serem Staate durch das Grundgesetz Grenzen gesetzt Mit dieser Entscheidung standen wir vor einem gro- sind. Man kann die von der Rechtsprechung konkreti- ßen Problem. Eine individuelle Prüfung, welche Ein- sierten Grenzen bedauern und beklagen. Aber sie sind kommensbestandteile politisch motiviert waren, ist aus tatsächlichen und praktischen Gründen leider nicht mög- nun einmal vorhanden und einzuhalten. Allen Fraktio- lich. Eine völlige Aufgabe der Entgeltbegrenzung des nen dieses Hauses ist daran gelegen, dass die neue Be- § 6 Abs. 2 AAÜG würde aber einen nicht zu ertragenden grenzungsregelung einen Abschluss darstellt. Ich denke, Wertungswiderspruch auslösen. Das Bundesverfas-wir haben zusammen eine auch rechtlich überzeugende sungsgericht hatte ja die Entgeltbegrenzung bei MfS/Regelung geschaffen. Für die äußerst konstruktive und AfNS bestätigt. Ohne eine Neuregelung würden diejeni- sachliche Zusammenarbeit dabei möchte ich allen Betei- gen, die in herausgehobenen Funktionen im Partei- und ligten noch einmal ausdrücklich danken. Staatsapparat dem MfS/AfNS gegenüber weisungsbe- fugt waren, erheblich höhere Renten erhalten als diejeni- Maria Michalk (CDU/CSU): Von mündigen Bürgern gen, deren für die Rentenberechnung zu berücksichti- erwarten wir den ständigen Einsatz für Demokratie und genden Entgelte wegen der Tätigkeit im MfS/AfNS in Menschenrechte. , der sich von Anfang zulässiger Weise auf das Durchschnittsentgelt begrenzt an mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur befasst, hat wurden. dies wie folgt zusammengefasst: Es ist außerordentlich begrüßenswert, das sich vor diesem Hintergrund alle Fraktionen des Deutschen Bun- „Fortwährend bleiben Demokraten der Aufgabe ver- destages darüber einig sind, diesen Wertungswider-pflichtet, Diktatoren zu bekämpfen und sie nachträglich spruch zu beseitigen. Eine andere Entscheidung wäreauch noch zu delegitimieren. Sie sind gefährlich.“ auch – insbesondere bei den Opfern des SED-Regimes – Warum dieses Zitat? Die SED sprach in der DDR auf völliges Unverständnis getroffen. selbst von der Diktatur des Proletariats. Als wir in dieser Leider ist der Gestaltungsspielraum, den uns dieWoche am 8. Mai dem Ende des Krieges und des Natio- Rechtsprechung nunmehr lässt, äußerst bescheiden.nalsozialismus vor 60 Jahren gedachten, ist erneut deut- Nach intensiver rechtlicher Prüfung und Einschaltung lich geworden, dass es sich für die Menschen in den der Stasiunterlagenbehörde haben wir aber eine – den neuen Ländern um einen kurzen Zeitraum zwischen rechtlichen Spielraum vollständig ausreizende – Mög- zwei Diktaturen handelte. Wir sind als Parlamentarier lichkeit gefunden, den Wertungswiderspruch zu beseiti- gefordert, nicht im Kampf gegen die Diktatur und deren gen. Aufarbeitung nachzulassen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16551

(A) Ganz konkret geht es darum, nicht nachträglich die Dass es sich bei der Rentenüberleitung Ost um eine(C) SED-Machthaber in ihren Entscheidungsstrukturen zu sehr komplizierte Rechtsproblematik handelt, belegt der legitimieren. Alle Verantwortungsträger auf allen Ent- Fakt, dass es kaum ein Gesetz gibt, das so oft und inten- scheidungsebenen der DDR haben ein Regime erdacht, siv unsere Gerichte beschäftigt. Insgesamt haben die gestaltet und durchgesetzt, das nicht auf Freiheit und De- vereinigungsbedingten Verfahren beim Bundesverfas- mokratie basierte, sondern auf Bevormundung und Ge- sungsgericht zu sieben Senatsentscheidungen und zu ei- horsam. Wir dürfen nicht vergessen, dass die SED von ner dreistelligen Zahl von Kammerentscheidungen ge- Anfang an und seit 1968 gemäß der DDR-Verfassung als führt. Besonders das Bundesverfassungsgericht wurde in führende Kraft sich die Entscheidung in allen wichtigen den letzten 15 Jahren in einem Maße in Anspruch ge- Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und damit in nommen, wie es für Rechtsfragen aus einem grundsätz- vielen persönlichen Lebensläufen vorbehalten hat. Diese lich gleichen Anlass bisher noch nie der Fall war. Ehe- Verantwortung können wir an staatsnahen Sonder- und malige SED-Machthaber nutzen alle Möglichkeiten Zusatzversorgungssystemen festmachen. De facto istunseres freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates, um dies heute neben der persönlichen Erinnerung die ein- ihre vermeintlichen Rechte durchzusetzen. Dabei kom- zige messbare Möglichkeit, politische Verantwortung zu men allzu oft die moralischen Aspekte zu kurz. Wir müs- reflektieren. sen immer wieder erkennen, dass die Aufarbeitung unse- rer Geschichte ein komplexer Prozess ist. Der Gedanke Ich erinnere daran, dass die erste und die letzte frei der friedlichen Revolution muss uns dabei wie ein Leit- gewählte Volkskammer dies in ihrer politischen Willens- faden begleiten. Dass beim Prozess, Rechtsfrieden zu bildung 1990 als Vermächtnis für den später folgenden schaffen, auch ein zusätzlicher und immenser finanziel- Gesetzgeber festgeschrieben hat. Nach Vorgaben des Ei- ler Aspekt zum Tragen kommt, zeigt die Entwicklung nigungsvertrages sollten Leistungen aufgrund von Son- der Ausgaben der neuen Bundesländer an die Rentenver- derregelungen überprüft und ungerechtfertigte politisch sicherung für die Zusatz- und Sonderversorgungssys- überhöhte Leistungen abgeschafft werden. teme. Sie sind seit 1998 von insgesamt 1 475,7 Millio- nen Euro auf 2 290,8 Millionen Euro im Jahr 2004 Die Einzelregelungen wurden dem bundesdeutschen gestiegen. Diese Mittel gehen in den konsumtiven Be- Gesetzgeber überlassen. Für Zeiten der Zugehörigkeit zu reich und stehen für Investitionen nicht zur Verfügung. den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen werden nach dem AAÜG grundsätzlich die tatsächlich erzielten Ich stelle noch einmal fest: Nach Prüfung des Bun- Arbeitsverdienste bis zur Beitragsbemessungsgrenze an- desverfassungsgerichtes verbleibt es für Stasi-Mitarbei- erkannt. Ihre Grenze fanden diese bis zum 31. Dezember ter bei der Begrenzung des tatsächlich erzielten Arbeits- verdienstes durch das Durchschnittsentgelt aller (B) 1996 dort, wo unter anderem Mitarbeiter des Staatsappa- (D) rates, von gesellschaftlichen Organisationen, von Par- Versicherten, 1,0. Dies wurde ausdrücklich als verfas- teien bzw. Angehörige der bewaffneten Organe ein Ein- sungsgemäß bestätigt. Dies befürworten wir auch heute kommen von mehr als dem 1,4-Fachenerneut. des Durchschnittsentgeltes erzielt haben. In solchen Fällen Der Entwurf zur Umsetzung des Urteils vom letzten wurden die Arbeitsverdienste auf das 1,4-Fache bzw.Jahr wollte die Regelung zur Begrenzung des bei der 1,0-Fache des Durchschnittsentgeltes gekürzt. DamitRentenberechnung berücksichtigungsfähigen Arbeits- sollten die Vorgaben des Einigungsvertrages, überhöhte entgeltes neu fassen. Die Entgeltbegrenzung sollte auf Entgelte abzubauen, umgesetzt werden. Diese Regelung Zeiten beschränkt werden, in denen insbesondere solche ist durch das Bundesverfassungsgericht am 28. AprilFunktionen im Staatsapparat ausgeübt wurden, die auch 1999 für verfassungswidrig erklärt worden. Nach dereine Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS und AfNS neuerlichen Regelung erfolgt eine Begrenzung des tat- umfassten. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sah in sächlich erzielten Einkommens nur noch dann, wenndieser Vorgehensweise eine unzureichende Regelung vor Personen besondere Mitverantwortung in der DDR hat- allem gegenüber den Opfern des SED-Regimes. Deshalb ten. Als Maßstab für ein politisch überhöhtes Einkom- wollten wir die tatsächliche Weisungsbefugnis auf allen men wurde ein von einem Hauptabteilungsleiter imEbenen stärker herangezogen wissen. Auf dieser Überle- Staatsapparat erzieltes Einkommen der Stufe E3 oder ein gung fußte unser ursprünglicher Änderungsantrag. Ein- in der Höhe vergleichbares Einkommen angesetzt. vernehmlich waren die vorgeschlagenen gesetzlichen Regelungen zum Bestandsschutz und Übergangsrege- Aber auch diese Begrenzung wurde mit Beschluss des lungen der bereits bestandskräftigen Bescheide. Bundesverfassungsgerichtes vom 23. Juni 2004 aufge- hoben. Der Gesetzgeber hat den Auftrag erhalten, bis Wir haben bei unserer Bewertung auch den Status der zum 30. Juni 2005 eine verfassungskonforme Regelung Opfer des SED-Regimes zu beachten. In enger Abstim- zu treffen. Wenn keine neue Regelung erfolgt, ist diemung mit den Landesbeauftragten für die Unterlagen des Entgeltbegrenzung nichtig und bei allen Personen das Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und der Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze zu be- Birthler-Behörde wurde ein weit reichender Änderungs- rücksichtigen. Das bedeutet eine Nachzahlung für rund antrag in die kurze Beratungszeit eingebracht. Nunmehr 12 000 Betroffene von etwa 100 Millionen Euro undgilt für folgende Beschäftigungen bzw. Tätigkeiten eine eine jährliche Mehrbelastung von 30 Millionen Euro. Entgeltbegrenzung: Erstens. Mitglied, Kandidat oder Von diesen Summen entfallen auf die Länder zwei Drit- Staatssekretär im Politbüro der Sozialistischen Einheits- tel auf den Bund ein Drittel. partei Deutschlands; 16552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Zweitens. Generalsekretär, Sekretär oder Abteilungs- lich gebilligt. Das Bundesverfassungsgericht hält die(C) leiter des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheits- Annahme für begründet, dass die Entgelte beim MfS partei Deutschlands, SED, sowie als Mitarbeiter der Ab- strukturell überhöht gewesen seien. Diese Unterstellung teilung „Sicherheit“ bis zur Ebene der Sektorenleiterlässt sich jedoch laut Bundesverfassungsgericht nicht auf oder als die jeweiligen Stellvertreter; alle Empfänger von Sonder- oder Zusatzversorgung übertragen. Nicht für alle Versicherten, deren Entgelt Drittens. Erster oder Zweiter Sekretär der SED-Be- hoch gewesen sei, gelte, dass ihr Entgelt überhöht gewe- zirks- oder Kreisleitung sowie Abteilungs- oder Refe- sen sei. Eine pauschale Begrenzung der Entgelte, auf de- ratsleiter für Sicherheit oder Abteilungsleiter für Staat ren Grundlage die Rente berechnet werde, sei aus die- und Recht; sem Grund nicht zulässig. Viertens. Minister, stellvertretender Minister, oder stimmberechtigtes Mitglied von Staats- oder Ministerrat Wir machen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf oder als ihre jeweiligen Stellvertreter; von der Möglichkeit Gebrauch, eine neue Regelung zu treffen. Wir haben entschieden: Für diejenigen, die ge- Fünftens. Vorsitzender des Nationalen Verteidigungs- genüber Mitarbeitern des MfS faktisch oder rechtlich rates, Vorsitzender des Staatsrates oder Vorsitzender des weisungsberechtigt waren, sollen die Entgelte weiter be- Ministerrates sowie als in diesen Ämtern ernannter Stell- grenzt werden. Das gilt etwa für Parteisekretäre oder Mi- vertreter; nister. Sechstens. Staatsanwalt in den für vom Ministerium Wir alle wissen, dass dieser Gesetzentwurf von jenen, für Staatssicherheit sowie dem Amt für Nationale Si-deren Entgelte begrenzt bleiben sollen, kritisiert werden cherheit durchzuführenden Ermittlungsverfahren zustän- wird. Die Betroffenen und ihre Verbände meinen, dass digen Abteilung I der Bezirksstaatsanwaltschaften; auch die im Entwurf genannten Begrenzungen nicht be- Siebtens. Staatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft gründet und gerechtfertigt seien. Was wäre, wenn wir der DDR; diesem Anliegen Rechnung tragen würden? Dann wür- den die Renten für Mitarbeiter des Ministeriums für Achtens. Mitglied der Bezirks- oder Kreis-Einsatzlei- Staatssicherheit gekürzt. Die Renten für jene, die in der tung; DDR in leitender Funktion gearbeitet haben und in die- Neuntens. Staatsanwalt oder Richter der I-A-Senate. ser Funktion gegenüber dem Ministerium für Staatssi- cherheit Weisungen erteilen konnten, müssten dagegen Dieser erweiterte Weisungsbefugnisbegriff wurdedeutlich angehoben werden. Das kann man wohl dankenswerterweise von der rot-grünen Koalition mitge- schwerlich begründen. (B) tragen. Ich bin froh, dass es zu dem überfraktionellen (D) Antrag gekommen ist. Wir haben mit dieser fraktions- Wir alle wissen, dass dieser Gesetzentwurf von den übergreifenden Beschlussempfehlung gezeigt, dass wir Opfern des SED-Regimes als Zumutung empfunden erstens in der Bewertung des Unrechtsstaates DDR frak- wird. Wir haben nicht das Anliegen jene zu privilegie- tionsübergreifend konsequent sind, zweitens fraktions- ren, welche bereits in der DDR privilegiert waren. Wir übergreifend die Gerechtigkeitslücke zwischen Sys-nehmen Verbesserungen vor, die verfassungsrechtlich temprivilegierten und Systemopfern Schritt für Schritt zwingend sind. Wir halten uns streng an die Vorgaben schließen wollen, drittens eine dauerhaft tragende Lö- des Bundesverfassungsgerichtes. Diese Koalition grenzt sung für die Bewertung der Sonder- und Zusatzversor- nicht jene aus, die bereits in der DDR ausgegrenzt wa- gungssysteme brauchen. ren. Wir haben viele Debatten darüber geführt, wie den Opfern des SED-Regimes geholfen werden kann. Wir Ich bedanke mich bei allen, die geholfen haben, diese werden weiterhin dafür sorgen, dass Menschen, die für Willensbildung in ein Gesetz zu fassen, das systemnahen Demokratie gekämpft haben, nicht vergessen werden. Entscheidungsträgern keinen nachträglichen Triumph Wir sollten aber nicht vergessen, dass diese Koalition ermöglicht. Das Bemühen um Gerechtigkeit ist ein stän- bereits eine Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht diger und herausfordernder Prozess. Wir haben an die- hat. sem komplizierten Sachverhalt der Sonder- und Zusatz- versorgungssysteme unter Beweis gestellt, dass wir das So wurde von uns das Strafrechtliche Rehabilitie- mit großem Ernst immer wieder tun. rungsgesetz für politisch Verfolgte der DDR geändert; die Haftentschädigung wurde angehoben. Auch für die von Kohl vergessenen verfolgten Schüler haben wir Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das 2001 die Regelungen für die Anrechnung von Verfol- Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber zu einer gung bei der Rentenversicherung verbessert. 2001 wurde Neuordnung der Ansprüche aus Zusatz- und Sonderver- ebenso festgelegt, dass Unterstützungsleistungen nach sorgungen der DDR verpflichtet. Die gesetzte Frist läuft dem Häftlingshilfegesetz nicht als Einkommen gewertet im Sommer 2005 aus. Mit dem vorliegenden Gesetzent- werden, wenn Sozialleistungen bezogen werden, die wurf setzen wir das Urteil des Bundesverfassungsge- vom Einkommen abhängig sind. Wir haben dafür ge- richts um, nicht mehr und nicht weniger. sorgt, dass die Zivildeportierten jenseits von Oder und Wie stellt sich die Lage aus Sicht des Bundesverfas- Neiße eine jährliche Unterstützungsleistung bekommen. sungsgerichtes dar? Das Bundesverfassungsgericht hat Dafür haben wir 1999 die Mittel für die Häftlingshilfe- die Kürzung der Zusatz- und Sonderversorgung für Mit- Stiftung von jährlich 300 000 DM auf jährlich 1 500 000 arbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit ausdrück- DM erhöht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16553

(A) Die Antragsfristen im Strafrechtlichen, Verwaltungs- selbstverständlich. Im Rahmen der UN-Resolution 1325 (C) rechtlichen und Beruflichen Rehabilitierungsgesetz wur- rücken wir die Interessen von Frauen und Mädchen in den bis zum 31. Dezember 2007 verlängert. Das geht auf den Vordergrund. Das gilt für die Krisenprävention. Das eine Initiative der Regierungsfraktionen zurück. Diegilt für den Wiederaufbau. Ausgleichsleistungen für die beruflich Verfolgten, die in ihrer wirtschaftlichen Lage beeinträchtigt sind, wurden Wir unterstützen eine Vielzahl von Projekten, Pro- im Zuge dessen angehoben. Auch Betroffene, die eine jekte zum Beispiel, die den gleichberechtigten Zugang Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezie- von Mädchen und Frauen zu Reintegrationsleistungen hen, erhalten seitdem höhere Ausgleichsleistungen. anstreben. Soldatinnen werden als besondere Zielgruppe angesprochen. Wir sollten diese Debatte sehr nüchtern und sehr sachlich führen. Zum Antrag der Union: Während ich die Analyse des Antrags in vielen Punkten teilen kann, muss ich hier doch sagen: Dieser Antrag hat ein gravierendes Defizit. Anlage 14 Er verschweigt unser Engagement, mit dem wir die Frauen und Mädchen in Subsahara-Afrika stärken. Zu Protokoll gegebene Reden Auch dass die Bundesregierung die Resolution 1325 zur Beratung des Antrags: Frauen in den Kri- des UN-Sicherheitsrates nicht ausreichend umsetzt, senregionen Subsahara-Afrika stärken (Tages- diese Behauptung im Antrag ist schlichtweg falsch. ordnungspunkt 19) Die Gleichberechtigung der Geschlechter haben wir in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zum Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Frauen zählen Querschnittsthema gemacht. Wir machen uns stark für zu den Hauptleidtragenden in Kriegen. Das wird uns ge- Frauenrechte. Wir machen uns stark dafür, dass die Re- rade in diesen Tagen anlässlich des 60. Jahrestages der gierungen der afrikanischen Staaten die UN-Konvention Befreiung vom Nationalsozialismus wieder in Erinne- zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der rung gerufen. Frauen tragen in Kriegen die Hauptlast für Frau, CEDAW, unterzeichnen und ratifizieren. das Überleben ihrer Familien. Sie werden zu Opfern von Vergewaltigungen. Sie tragen die Hauptlast, wenn es um Wir schauen genau hin. Denn Gewalt gegen Frauen den Wiederaufbau geht. Unsere Mütter und Großmütter und Mädchen, Diskriminierung und Benachteiligung haben uns davon erzählt. Mit ihren Erlebnissen undgibt es in Subsahara-Afrika auch in Friedenszeiten. Da- Traumatisierungen sind viele von uns aufgewachsen.her unterstützen wir Projekte und Organisationen, die (B) Gerade in diesen Tagen werden wir wieder daran erin- die Geschlechtergerechtigkeit in Gesellschaft und Politik (D) nert. verankern. Wer kann da nicht nachvollziehen, wie sich Frauen Schauen Sie nach Mosambik. Dort fördern wir heute in Kriegsgebieten auf dem afrikanischen Konti- schwerpunktmäßig Projekte und Organisationen, die die nent fühlen müssen? So ist es in der Region Darfur, im Bildung von Frauen und Mädchen vorantreiben. Westen des Sudan. Eine ganz besondere Kriegswaffe, Schauen Sie nach Äthiopien. Genitalverstümmelung und eine ganz besonders zu ächtende Kriegswaffe war die Zwangsverheiratung sind in vielen Gemeinden als un- Vergewaltigung. Mit Vergewaltigungen hat man ganze rechtmäßig erklärt worden. Wir unterstützen Organisa- Bevölkerungsgruppen demoralisiert, gedemütigt undtionen, die in den ländlichen Gemeinden vor allen Din- entmutigt. Mordende und brandschatzende Milizen ha- gen aufklären und informieren. Schauen Sie nach Benin. ben systematisch und gezielt Frauen vergewaltigt, um Wir haben die deutsche NGO Intact unterstützt, die dort die schwarzafrikanische Bevölkerung zu vertreiben. Die seit Jahren gegen die weibliche Genitalverstümmelung Regierung hat das Morden gebilligt. In den Flüchtlings- kämpft, und zwar mit Erfolg. lagern lastet die Sorge für Kinder und Alte auf den Unsere Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Schultern der Frauen. Sie sind diejenigen, die das Über- Wieczorek-Zeul traf vor wenigen Wochen die mutigen leben organisieren. Frauen von Benin, die in freiwilligen Dorfkomitees da- Das ist nur ein Beispiel. rüber wachen, dass dieser blutige Brauch in ihren Dör- fern nicht mehr praktiziert wird. In anderen Kriegs- und Krisenregionen südlich der Sahara werden Mädchen und Frauen verschleppt. Sie Wir unterstützen Frauen und Frauenorganisationen. werden ihren Familien entrissen. Sie werden zur Prosti- Dazu zählt auch das überregionale Projekt „Förderung tution gezwungen. Zwölf-, 14-, 16-jährige Mädchenvon Initiativen zur Überwindung der weiblichen Genital- werden dazu missbraucht, mit der Waffe in der Hand ge- verstümmelung“. Dieses Projekt wird in Burkina Faso, gen die eigenen Leute zu kämpfen. Wenn wieder Frieden Benin, Guinea, Mali, Äthiopien, Kenia, Senegal und einkehrt, sind sie deshalb ausgegrenzt und ausgestoßen. dem Tschad durchgeführt. Sie müssen mit ihren traumatischen Erlebnissen allein fertig werden. Das Afrika der Subsahara ist nicht nur ein Kontinent der Kriege und Gewalt. Es gibt auch positive Entwick- Wir setzen uns für Frauen in Kriegs- und Krisenge- lungen. Demokratisierungsprozesse wie in Südafrika bieten Subsahara-Afrikas ein. Die Geschlechterperspek- und Namibia erleichtern Reformen zugunsten der tive in die Friedenspolitik zu integrieren, das ist für uns Gleichberechtigung und Gleichstellung von Frauen und 16554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Mädchen. Solche Entwicklungen gilt es mit aller Kraft richtig: Dieser Antrag dient dazu, ein weiteres Mal den (C) zu unterstützen. Blick auf diese Geschehnisse zu lenken. Wir arbeiten an der Umsetzung der Millenniumsent- Es wäre gut gewesen, wenn Sie sich bei den Forde- wicklungsziele, die wir im September 2000 unterschrie- rungen, die Sie an die Bundesregierung richten, einmal ben haben. Frieden, Abrüstung, Armutsbekämpfung,angeschaut hätten, was alles zur Umsetzung der UN-Re- Gesundheitsversorgung und Menschenrechte sollen auch solution 1325 gemacht worden ist. Ich habe den Ein- in den Ländern Subsahara-Afrikas erreicht werden. Die druck, dass es Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit ent- Stärkung von Frauen und Mädchen ist der Schlüssel zur gangen ist, dass die Schritte zur Umsetzung der Entwicklung. Frauen stärken heißt Entwicklung stärken. Sicherheitsratsresolution 1325 (2000) in einem Bericht Ihr Zugang zu Bildung, zuEigentum, zu Land und zu der Bundesregierung vom Juni 2004 festgehalten wor- wichtigen Funktionen in Politik und Gesellschaft, das den sind. Der Bericht bezieht sich auf den Zeitraum der sind die entscheidenden Meilensteine, um die Millenni- Jahre 2002 und 2003. Erwähnenswert ist, dass sich die- umsentwicklungsziele zu erreichen. ser Bericht auf die Umsetzung im nationalen, regionalen und internationalen Bereich bezieht; er ist also wesent- Mutige und engagierte Frauen gibt es immer mehr. lich umfassender als der wichtige Bereich, der hier heute Ich nenne die Kenianerin Wangari Maathai, die im ver- angesprochen wird. gangenen Jahr den Friedensnobelpreis erhielt. Ich nenne Waris Dirie aus Somalia, die sich gegen die Genitalver- Frau Schmidt hat einige Beispiele von Tätigkeitsfel- stümmelung stark macht. Diese beiden Frauen kenntdern genannt, auf denen die Bundesregierung aktiv ist. man mittlerweile auch hier. Das ist ein gutes Zeichen. Es Ich will diese nur um einige wenige ergänzen: reicht noch nicht. Noch viel mehr müssen die afrikani- schen Frauen gehört werden. Noch viel mehr müssen sie Es werden der zivile Friedensdienst, ZFD, Friedens- unterstützt werden, damit sie ihre Rechte durchsetzen pädagogik und zivile Konfliktbearbeitung bei Viehhal- können. terethnien und Ackerbauern in der Region Soroti/ Uganda unterstützt. An dieser Stelle möchte ich auch das Engagement der vielen unbekannten Frauen hervorheben, die sich in Sub- 40 ugandische Polizeibeamte und -beamtinnen sind in sahara-Afrika für Frieden einsetzen. Ihre Arbeit findet der Bearbeitung von Fällen häuslicher Gewalt fortgebil- im Alltag statt. Ihre Namen gehen selten um die Welt. det und sensibilisiert worden. Die Zusammenarbeit zwi- Dabei sind Sie die mutigen Vorbilder. schen der ugandischen Polizei und lokalen Frauenrechts- organisationen ist gestärkt worden. „1 000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005“, so Wiedereingliederungs- und Demobilisierungspro- (B) heißt eine Kampagne, die Friedensaktivistinnen in der (D) Schweiz initiiert haben. Sie haben Frauen aus aller Welt gramme beispielsweise in Ruanda und Sierra Leone wer- – auch aus Ländern der Subsahara – für den Nobelpreis den unterstützt. nominiert. Wir unterstützen diese Kampagne. Stellver- Wenn Ihnen das nicht reicht, möchte ich noch zitieren tretend für die 1 000 Frauen liegen die Namen von drei aus dem Schattenbericht des Frauensicherheitsrats zum Frauen dem Komitee in Oslo vor. Sie wurden per Los- oben genannten Bericht der Bundesregierung. Der Frau- verfahren ausgewählt. Ihnen wünschen wir, dass Sie den ensicherheitsrat ist im März 2003 gegründet worden und Preis erhalten. ihm gehören rund 50 Frauen aus friedens- und entwick- Als Europäer tragen wir insgesamt eine besonderelungspolitischen Organisationen, aus politischen Stif- Verantwortung. Als ehemalige Kolonialmächte haben tungen und Friedensforschungsinstituten an. Der Frau- Generationen vor uns viel Unheil über den afrikanischen ensicherheitsrat ist von der Bundesregierung also Kontinent gebracht. Ich erinnere nur an die Unterdrü- vollkommen unabhängig. Er hat als seine Hauptaufgabe ckung und Vernichtung der Hereros im heutigen Nami- definiert, die Arbeit der Bundesregierung während ihrer bia durch deutsche Truppen. Auch damals wurdenzweijährigen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat kri- Frauen vergewaltigt. Auch damals waren Frauen dietisch zu begleiten und dabei insbesondere die Umset- Hauptleidtragenden. zung der Resolution 1325 zu beobachten. 60 Jahre Frieden in Europa sind für uns Frauen ein Ich zitiere aus den Vorbemerkungen zu diesem Be- nicht zu unterschätzender Wert, noch mehr als für die richt: männliche Bevölkerung. Ich stehe hier zu dem Antrag Vorab ist positiv zu erwähnen, dass die Bundesre- der CDU/CSU mit folgender Einstellung: Es ist gut, dass gierung ihre Berichtspflicht im Gegensatz zu den wir immer wieder den Fokus auf das noch immer exis- meisten anderen Staaten ernst genommen hat. Die tierende Unrecht in der Welt lenken – aber bitte in Aner- Mehrheit der Regierungen der UN-Mitgliedsländer kennung dessen, was unsere Regierung bereits leistet. hat keinen Report abgeliefert. Selbst Länder, die sich als Förderer von Resolution 1325 darstellen Gabriele Groneberg (SPD): Als ich den Antrag und sich im informellen Club der „Friends of the vorgelegt bekam und mir durchlas, war meine erste Re- Resolution 1325“ zusammengeschlossen haben, ha- aktion: Es ist richtig, dass hier wieder einmal darauf auf- ben nur wenige Seiten geliefert. Zusammen mit merksam gemacht wird, auf welche Weise Mädchen und Kanada gehört die Bundesrepublik zu denjenigen Frauen Tag für Tag Unrecht geschieht, immer und immer Staaten, die dem UN-Generalsekretär am ausführ- wieder, teilweise auf grauenvolle Art und Weise. Es ist lichsten geantwortet haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16555

(A) Auch möchten wir deutlich machen, dass wir mit vor, der die Situation der Frauen in Afrika zur Sprache(C) unserer Kritik an Passagen des Berichtes nicht die- bringt. jenigen treffen wollen, die sich innerhalb der Minis- Unter jedem politisch und gesellschaftlich wichtigen terien nach Kräften um die Förderung von Ge- Gesichtspunkt, unter dem wir die Entwicklung in den schlechterbewusstsein und um die Umsetzung der afrikanischen Subsahara-Ländern betrachten wollen, ist Resolution bemühen. die Situation der Frauenund Mädchen in besonderer Wir wissen um die schwierige und undankbare Si- Weise besorgniserregender als die vergleichbare Situa- tuation von engagierten Frauen und Männern in den tion der Männer. Ministerien, die den demokratischen Auftrag, Ge- Die Notwendigkeit, die spezifischen Menschenrechts- rechtigkeit zwischen den Geschlechtern herzustel- verletzungen gegen Frauen zu unterbinden und effektiv len, ernst nehmen und zu Genderfragen arbeiten. für eine Befähigung der Frauen zu sorgen, zu einer gesi- Einerseits sind sie angesichts ihrer Unterrepräsen- cherten und gleichberechtigten Position in Politik, Ge- tanz überlastet, andererseits wird ihre Arbeit von sellschaft und Wirtschaft zu gelangen, ist daher eine traditionell denkenden KollegInnen abgewertet, die Querschnittsaufgabe von hoher Priorität. Dabei stellt das „Gendering“ für ideologischen Ballast oder bü- sich gleich zu Beginn eine doppelte Schwierigkeit. Was rokratische Zeitverschwendung halten. Indem wir überall mit zur Sprache kommt, wird nicht selten als ei- auf die Defizite und Erfordernisse in Bezug auf die gener wesentlicher Punkt übersehen. Daher begrüße ich Umsetzung der Resolution 1325 im politischen Be- den uns heute vorliegenden Antrag, der diese besondere reich hinweisen, hoffen wir, diese Frauen und Män- Problemstellung, die Frauen in Afrika betreffend, her- ner in ihrer Position und ihrem Engagement stärken vorhebt. zu können, damit auch der Bedarf an mehr Gender- Expertise in den Ministerien deutlich wird. Bei dieser Querschnittsaufgabe, die so zahlreiche Themenfelder immer mit betrifft, ist es notwendig, so- Ich habe diese Vorbemerkungen aus folgenden Grün- wohl die Weite des Problemfeldes zu sehen als auch die den so ausführlich zitiert: notwendige Differenzierung in den Einzelschritten zu unternehmen. Wir reden über vier Fünftel eines Konti- Erstens. Seit dem In-Kraft-Treten der Resolution ist nentes, der eine Fläche hat, die zum Beispiel diejenige gerade von dieser Bundesregierung und im speziellen der EU um das Fünffache übersteigt. Wir reden über eine von Frau Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul so viel Gesamtbevölkerungszahl von fast einer viertel Milliarde getan worden wie nie zuvorin Deutschland, um Mäd- Einwohner, von einem Kontinent, in dem mehr als 1 500 chen und Frauen gerade auch in Krisenregionen zu hel- Sprachen gesprochen werden und mehr als 3 000 ethni- fen. (B) sche Gruppen klassifiziert werden. (D) Zweitens. Die in Ihrem Antrag enthaltenen Forderun- Innerhalb dieser gewaltigen, unvorstellbaren Dimen- gen stehen schon längst auf der Agenda dieser Bundesre- sion sind die Lebensbedingungen der Frauen unter- gierung und werden in vielfältige Unterstützung für kon- schiedlicher als zum Beispiel die einer sizilianischen Fa- krete Projekte umgesetzt. milienmutter und die einer Industriearbeiterin in Schweden. Dabei existieren diese großen Unterschiede Drittens. Nichts ist so gut, als dass man es nicht noch teilweise innerhalb eines Landes oder eines begrenzten verbessern könnte. Einigkeit werden wir sicherlich er- Gebietes. zielen in der Feststellung, dass es immer noch mehr sein Nicht selten treffen in benachbarten Regionen unter- kann, was zu tun ist, um die Freiheit und die Würde der schiedliche Religionen, die das zivile und politische Le- Mädchen und Frauen in den Krisenregionen nicht nur in ben bestimmen, unvereinbar aufeinander, spalten Bür- Afrika, sondern in allen Krisenregionen auf der Welt zu gerkriege Nationen, jagen Armut, Naturkatastrophen schützen. Aber gerade darum wäre es schön gewesen, Tausende in die Migration. Auf der anderen Seite stehen Sie forderten nicht einfach nur das, was bereits in Arbeit aufblühende afrikanische Staaten wie Nigeria oder Süd- ist, sondern Sie könnten durch konkrete und auch lo-afrika mit Wachstumsraten des BIP in 2004 von bende Unterstützung diesen Prozess besser befördern. 4,4 Prozent beziehungsweise von 3,5 Prozent, von über Ich habe diese Vorbemerkungen des Schattenberich- 28 Prozent, die uns nur mit Anerkennung und Neid er- tes auch deshalb so ausführlich zitiert, weil wir – damit füllen können. komme ich zum Schluss – uns alle an die eigene Nase Auch wenn die Vereinten Nationen für 2004 feststel- fassen sollten, wenn es auch bei uns im tagtäglichen Ge- len, dass es unter den benannten Milleniumszielen, die schäft um die konkrete Verbesserung der Situation von auch die Bekämpfung aller Formen der Gewalt gegen Mädchen und Frauen geht. Wirklich glaubwürdig istFrauen und die Beseitigung der Diskriminierung der man vor allem dann, wenn man ein leuchtendes positives Frauen und Mädchen beinhalten, verglichen mit den an- Beispiel abgibt. Ich gebe zu, daran haben auch wir in un- deren Zielen bis 2004 immer noch am besten aussah, serem Land noch eine Menge zu arbeiten. darf das kein Grund zum Ausruhen sein. Der vorliegende Antrag zeigt in seiner Vielzahl der Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): In den vergan- angesprochen Punkte deutlich, wie gefährdet in großen genen Jahren hat sich die politische Diskussion interna- Bereichen die Situation der Frauen und Mädchen ist. Für tional und auch hier in Deutschland vermehrt den Pro- eine sachgerechte und menschenzugewandte Afrikapoli- blemen in Afrika zugewandt. Heute liegt uns ein Antrag tik möchte ich daher an alle appellieren, bei jeder 16556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Problemstellung und bei jeder Maßnahme verstärkt die Frauen aus diesen drei westafrikanischen Ländern ha- (C) Situation der Frauen als eigenen Punkt mit zu bedenken. ben sich im Mai 2000 zum „Mano River Women’s Peace Network“ zusammengeschlossen. Es ist eine NGO, die Zudem zeigt der Antrag auch zahlreiche Felder auf, in sich für Frieden und Entwicklung in dieser krisenge- denen Hilfe gezielt und ganz spezifisch für Frauen un- schwächten Region einsetzt. Diese Frauen haben sich bedingt nötig ist: religiöse und traditionelle Formen der zusammengetan, weil sie es satt hatten, mit ihren Kin- Verstümmelung von Frauen, Zwangsheiraten, die be-dern zusammen die Hauptlast von Konflikten zu tragen – sondere Notwendigkeit einer Sorge um die durchohne ein Mitspracherecht bei der Wahrung und Schaf- Kriegstraumata gefährdeten Frauen und die teilweisefung von Frieden zu haben. mittelalterlich anmutenden Rechtsordnungen, die Frau- enabhängigkeit fördern und Menschenrechte verletzen. Mit viel Energie und Dynamik klären sie die Bevöl- kerung über Mechanismen von Frieden, Sicherheit und Bei diesem oft erschreckenden Bild der Gefährdung wirtschaftlicher Entwicklung auf. Sie fordern gleichbe- und Unterdrückung von Frauen in Teilen Afrikas und in rechtigte Beteiligung von Frauen auf allen Entschei- dem Wunsch, hier schnell und nachhaltig Abhilfe zudungsebenen ein. Sie engagieren sich für friedliche schaffen, möchte ich aber auch darauf hinweisen, dass es Konfliktlösungen. Ziel sind Geschlechtergerechtigkeit, ebenso viele gute Aufbrüche in Afrika gibt, dass es Er- die Respektierung von Menschenrechten, Demokratie folge in der Gleichberechtigung der Frauen gibt, die teil- und nachhaltigem Frieden. weise für uns in Deutschland und Europa vorbildlich sein können. Zahlreiche Frauen in hohen Ministerämtern Diese Frauen brauchen unsere Unterstützung. Wer in verschiedenen Staaten, die hohe Zahl von Frauen als afrikanische Frauen kennt, wer um die Energie, die Kraft AU-Kommissare, das und vieles mehr sollte ein wesent- und den Mut dieser Frauen weiß, dem ist klar: Vieles licher Ansatzpunkt unserer Arbeit sein. Zu nennen istschaffen diese Frauen allein. In manchem brauchen sie auch der Erfolg in Benin, wo durch eine große zivile An- aber unsere Solidarität und unsere Unterstützung. strengung die Verstümmelung junger Mädchen geächtet und abgeschafft wurde. Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Bundestags- fraktion zeigt auf, wo wir helfen sollten und wo uns Un- Es gilt, im Gespräch um eine Verbesserung an dem in terstützung möglich ist. Warum geht es in diesem Antrag Afrika schon Geleisteten anzuknüpfen, die wachsende gerade um Frauen in Krisengebieten, warum gerade um Eigenverantwortung der afrikanischen Länder nicht zu die Situation in Subsahara-Afrika? In Subsahara-Afrika mindern, sondern zu unterstützen in einem konstruktiv- gibt es derzeit 14 Krisengebiete, mehr als irgendwo kritischen, aber partnerschaftlichem Miteinander. Wie sonst auf der Welt. Denken Sie an den Sudan, an die DR (B) wir alle hier wissen, betreten wir mit unserer heutigen Kongo, denken Sie an Simbabwe oder eben an das Drei- (D) Debatte nicht Neuland. Ich möchte es aber als eine Zäsur ländereck Liberia, Sierra Leone und Guinea! verstehen, sich gemeinsam explizit und verstärkt dem genannten Thema „Frauen in den Krisenregionen Afri- Die Frauen, um die es in diesem Antrag geht, also kas“ zu widmen. Daher möchte ich die Schlussfolgerung Frauen in Krisenregionen, sind durch gewaltsame Kon- ziehen, dass der Antrag jene grundlegenden Aussagen flikte gleich mehrfach betroffen: als Flüchtlinge und macht, die wir als Wiederbeginn und Ansatzpunkt einer Binnenvertriebene, als Opfer von Gewalt, vielfach auch vor allem sehr differenzierten Entwicklung und gemein- sexueller Gewalt, als „Kämpferinnen“ und Beteiligte an samen Anstrengung nehmen sollen. kriegerischen Auseinandersetzungen, als diejenigen, die auch unter schwersten Lebensbedingungen die Familie Es ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam wahrnehmen zusammenhalten und Kinder und Ältere versorgen. und im Gespräch mit den afrikanischen Partnern voran- Gründe genug, die Situation von Frauen in den Krisen- bringen müssen. Dann wird die heutige Debatte nichtgebieten Subsahara-Afrikas in einer Debatte des Deut- nur in die lange Reihe jener Feigenblätter gehören, dass schen Bundestages zu thematisieren! man darüber gesprochen hat, ohne zu wirklichen Verbes- serungen für die betroffenen Frauen zu kommen. Daher Mehrere Staaten Subsahara-Afrikas gehören zu den würde ich mir wünschen, dass der Deutsche Bundesstag so genannten Failing oder sogar Failed States, also Staa- zu einem gemeinsamen Antrag kommt, als Grundlage ten, in denen staatliche Strukturen nur unzureichend einer auf die Bedürfnisse der Frauen ausgerichteten Poli- funktionieren oder gar nicht mehr vorhanden sind. Ins- besondere in diesen zerfallenden Staaten ist die Situation tik in den Ländern Subsahara-Afrikas. von Frauen außerordentlich schwierig, weil überwunden geglaubte Traditionen und Gewohnheitsrechte, die die Dr. Conny Mayer (Freiburg) (CDU/CSU): Lassen Rechte von Frauen verletzen, häufig wieder aufleben Sie mich mit einem Zitat beginnen. Das Zitat beschreibt – denken Sie zum Beispiel an die Benachteiligungen von die Vision, die Frauen in Guinea, in Sierra Leone und in Frauen bei dem Erwerb von Grund oder Eigentum oder Liberia gemeinsam haben: Sie wünschen sich „a sub-re- an die Frage der sexuellen Selbstbestimmung –, weil gion that is peaceful and prosperous inhabited by citi- Frauen und Mädchen dort keinen Zugang zu angemesse- zens who are healthy, educated, live in unity and enjoy- ner Gesundheitsversorgung oder zu Familienplanung so- ing all their human rights including equity and equality wie Prävention und Therapie von HIV/Aids haben und with women playing an effective role in peace and sus- weil die Chancen von Frauen und Mädchen auf Zugang tainable develop ment processes. zu Bildung in solchen Ländern sinken. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16557

(A) Da schließt sich auch der Kreis zu den Millennium- Frauen sind ebenso ein wichtiger wirtschaftlicher(C) Entwicklungszielen. Denn alle drei Bereiche, die ichFaktor. Von der Vergabe von Mikrokrediten wissen wir, jetzt genannt habe, sind Teil der weltweiten Entwick-dass Frauen auch zuverlässiger als Männer sind, über lungsziele. Das heißt für uns: Zur Erreichung dieser90 Prozent zahlen ihre Raten pünktlich und tragen so Ziele müssen wir auch und gerade die besondere Situa- zum wirtschaftlichen Aufbau ihres Landes bei. Diese tion von Frauen in Krisengebieten beachten. Tatsache müssen wir stärker berücksichtigen und Mikro- finanzierungsprogramme wo irgendmöglich anbieten. Damit komme ich zur Bundesregierung. Sie hat bis- her weder ein schlüssiges und resortübergreifendes Afri- Ein weiterer Aspekt, Frauen stärker in unserer Ent- kakonzept vorgelegt, noch hat sie den Frauen in Krisen- wicklungszusammenarbeit zu beachten, ist die Gesund- gebieten bisher ausreichend Beachtung geschenkt,heitsvorsorge. Meist obliegt es den Frauen sich um die übrigens auch nicht der Frage, wie wir mit zerfallenden Gesundheit der gesamten Familie zu kümmern. Sie sind Staaten Afrikas umgehen sollen. Auch hier fehlt eines, die Ärzte und Gesundheitszentren aufsuchen, ihre Konzept. Kinder behandeln lassen und gegenüber Beratungen auf- geschlossen sind. Dies müssen wir ausnutzen und so- Wichtiger Bestandteil des Antrages der CDU/CSU- wohl die Aufklärung über Familienplanung und HIV/ Bundestagsfraktion ist die Resolution 1325. Die Staaten- Aids als auch über gesundheitliche Vorsorge und Hy- gemeinschaft hat sich darin verpflichtet, Frauen stärker giene im Allgemeinen zusammen verfolgen. zu beteiligen: bei Friedenserhalt, bei Friedensbewah- rung, bei Konfliktlösung und beim Wiederaufbau. Lei- Frauen dürfen bei der Neuordnung und beim demo- der ist dieses Ziel noch lange nicht erreicht. kratischen Aufbau von Gesellschaften nicht ins Abseits gestellt werden. Deswegen ist die Umsetzung des inter- Auch die Bundesregierung hat sich zur Umsetzung nationalen völkerrechtlich verbindlichen Genfer Ab- der Resolution 1325 verpflichtet – auf dem Papier. Rea- kommen, des Aktionsplanes der Pekinger Weltfrauen- lität ist leider, dass trotz zweijähriger Mitgliedschaftkonferenz 1995 und die Resolution 1325 des UN- Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Sicherheitsrates, die alle die Beteiligung von Frauen bei noch immer kein nationaler Umsetzungsplan vorliegt. friedenschaffenden Maßnahmen beinhalten, so bedeu- tend. Aus diesem Grund hat sich auch die Welthunger- Ich fordere die Bundesregierung auf, sich für einehilfe unter dem Motto „Überleben Frauensache“ dieser stärkere Beteiligung von Frauen bei Aktivitäten zumProblematik intensiv gewidmet. Sie haben sicher, ebenso Friedenserhalt, zur Friedensbewahrung, zur Konfliktlö- wie ich, das sehr ausführliche und anschauliche Material sung und beim Wiederaufbau einzusetzen, um damit die erhalten, mit welchem uns die Welthungerhilfe über ihre (B) Resolution 1325 des Sicherheitsrates umzusetzen und Projekte informiert hat. Mich haben die Geschichten der (D) um damit Frauennetzwerke wie dem vom Mano-Fluss einzelnen Frauen sehr beeindruckt und darin bestärkt, in politisch zu würdigen und in ihrer Arbeit zu unterstüt- unserer Entwicklungszusammenarbeit die Belange von zen. Frauen und Mädchen noch stärker einzubinden. Der Antrag der Union hat hierzu umfassende Forde- Ulrich Heinrich (FDP): Frauen und Mädchen sind nicht nur diejenigen, die besonders unter gewaltsamen rungen aufgestellt, die die FDP-Fraktion ausnahmslos Konflikten und Kriegen zu leiden haben, oft tragen sie unterstützt. Herausgreifen möchte ich die Forderung 12, die die Umsetzung der Resolution 1325 des UN-Sicher- auch die Hauptlast für das Überleben und den Wieder- heitsrates beinhaltet. Die UN-Resolution sieht vor, mehr aufbau eines Landes. In welcher Art und Weise Frauen Frauen zu UN-Sonderbotschafterinnen zu ernennen und und Mädchen in besonderem Maße die Leidtragenden den Anteil von Frauen beim militärischen und zivilen von Gewalt sind, wird in dem vorliegenden Antrag aus- Personal von Friedensmissionen zu erhöhen. führlich beschrieben und braucht nicht wiederholt zu werden. Ich möchte aber betonen, dass dies natürlich Ich halte diese Forderungen für essenziell, wenn Frie- nicht nur Frauen und Mädchen südlich der Sahara be- densmissionen einen dauerhaften und nachhaltigen Er- trifft, sondern überall auf der Welt, wo kriegerische Aus- folg haben sollen. Denn nur so ist gesichert, dass die von einandersetzungen stattfinden. Diese dürfen wir nichtMännern oft vernachlässigten Themen, wie zum Bei- vergessen, auch wenn es richtig ist, den Fokus auf den spiel Vergewaltigungen als Kriegsstrategie, die Situation afrikanischen Kontinent mit seiner Vielzahl von Kon- der Kinder und alter Familienangehöriger sowie die Be- flikten und Krisen zu richten. teiligung von Frauen in der Politik, behandelt werden. Ich denke hier haben gerade wir noch großen Nachhol- Das besondere Augenmerk, welches wir auf Frauen bedarf. und Mädchen in Krisenregionen legen müssen, liegt vor allem auch an der Tatsache, dass die Frauen oft die ers- ten sind, die sich für friedliche Lösungen einsetzen und Dr. Uschi Eid, Staatssekretärin bei der Bundesminis- die Gewaltspirale durchbrechen wollen. Hierin müssen terin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- wir sie bestärken und massiv unterstützen. Doch vor al- lung: Was bedeutet es, wenn man liest, zwei Drittel der lem nach der Beilegung von Konflikten benötigenAnalphabeten in Afrika sind Frauen? Dahinter stecken Frauen und Mädchen unsere Aufmerksamkeit undunzählige Schicksale von Frauen, denen die Möglichkeit spezielle Programme, um ihre Rechte gegenüber denverwehrt blieb, zu lernen, Wissen zu erwerben. Dabei ist heimkehrenden Männern wahrnehmen zu können. dies doch der erste Schritt überhaupt, damit sich 16558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Perspektiven eröffnen und die Menschen zu Wohlstand Parlamenten vertreten. Das ist eine deutliche Steigerung (C) gelangen können. gegenüber den Jahrzehnten zuvor. Gerade beim Zugang zu Bildung werden Frauen noch All diese Fragen erwähne ich deshalb, weil solche immer benachteiligt. In der Primarschulbildung ist die präventiv wirkende Politik verhindern hilft, dass Krisen Einschulungsrate für beide Geschlechter in elf afrikani- überhaupt ausbrechen und Frauen zu Opfern von Gewalt schen Staaten gleich, in der Sekundarschule jedoch nur werden. noch in drei Ländern Afrikas. Eine fatale Entwicklung, Zum anderen führt kein Weg vorbei an gezielten Vor- sind Frauen doch ein Motor für die wirtschaftliche Ent- haben, mit denen wir auf die spezifischen Situationen wicklung. Nehmen wir die landwirtschaftliche Produk- der Frauen, gerade in Krisenregionen, reagieren. Ich tion in Afrika – sie wird weitgehend von Frauen getra- denke dabei an die Reintegration von ehemaligen Kämp- gen, weil sie über 90 Prozent der Grundnahrungsmittel fern – beiderlei Geschlechts – im Osten des Kongo. Wir produzieren. Schätzungen von UNIFEM zufolge erledi- unterstützen dort – auch zusammen mit NROs – eine in- gen sie in den meisten Ländern 70 bis 80 Prozent der Ar- ternational getragene Initiative zur Friedenssicherung, beit, die getan werden muss – und das ohne Bezahlung. indem wir – neben verschiedenen Maßnahmen – uns be- Im Aktionsprogramm 2015 hat die Bundesregierung sonders um traumatisierte Kindersoldatinnen und ehe- bekräftigt, dass die Ursachen der Armut nicht zuletzt in maligen Soldatinnen kümmern. Wir lassen ihnen profes- der mangelnden Gleichberechtigung der Geschlechter sionelle Hilfe zukommen, bieten Ausbildungs- und liegen. Besonderes Augenmerk gilt daher dem gezielten Beschäftigungsmöglichkeiten und integrieren sie so peu „empowerment“ von Frauen: Es geht um einen gleichbe- à peu wieder in die Dorfstrukturen. rechtigten Zugang von Frauen und Mädchen zu Grund- Ein anderes Beispiel aus Ruanda. Dort gehören viele bildung, um den Kampf gegen Frauen- und Kinderhan- Frauen zu den Leidtragenden von Bürgerkrieg und Geno- del, darum, dass Frauen ihre Stimme in politischezid, indem sie Opfer physischer und sexueller Gewalt Prozesse einbringen können. wurden. Deshalb finanzieren wir eine Fachkraft des Deutschen Entwicklungsdienstes, die zusammen mit ei- Wenn wir Frauen in Afrika stärken wollen, zumal in ner ruandischen Menschenrechtsorganisation den Opfern Krisenregionen, sehe ich zwei Ansatzpunkte: zum einen des Genozids psychische und medizinische Hilfe leistet. alle Maßnahmen, die generell zur Entwicklung beitra- gen, aber von denen bisher benachteiligte Frauen beson- Schließlich der Kampf gegen die weibliche Genital- ders profitieren. Ich denke beispielsweise an die Wasser- verstümmlung. Noch immer werden etwa zwei Millio- versorgung, traditionellerweise eine Aufgabe vonnen Mädchen Jahr für Jahr Opfer dieser menschenver- (B) Frauen. Aber: Solange Frauen zu viel Zeit damit zubrin- achtenden Praxis. Das Beispiel Benin, das vor wenigen (D) gen müssen, Trinkwasser von weither zu holen, bleibt Wochen das Ende der Genitalverstümmlung feierte, ist das wirtschaftliche Potenzial von Frauen ungenutzt. daher eine sehr erfreuliche Bestätigung unserer Arbeit in Afrika. Seit vielen Jahren und über viele Länder hinweg Die Frage, die sich zudem in Afrika oftmals stellt, ist: unterstützen wir lokale Initiativen, die wichtige Sensibi- Wie erreichen wir mit unseren Vorhaben Menschen,lisierungs- und Aufklärungsarbeit leisten. gleich welchen Geschlechts, in Regionen, die von Ge- walt und Krieg geprägt sind? Die nüchternen Fakten be- Diese Beispiele zeigen, auch wenn sie nur ein kleiner sagen, dass es in über 20 Ländern Afrikas im vergange- Ausschnitt aus der vielfältigen EZ-Welt Afrikas sind, nen Jahrzehnt Kriege und gewaltsame Konfliktedass wir die Schicksale der Frauen in Afrika nicht aus gegeben hat – Kriege, die mit menschlichen Katastro- dem Blick verlieren. Starke Frauen sind der Schlüssel zu phen verbunden sind: Flucht und Verlust von Hab und Afrikas Zukunft. Gut, Vergewaltigungen, Verletzungen und Tod.

Daher sind Fragen von Frieden und Sicherheit, von Anlage 15 Konfliktbewältigung und Versöhnung integraler Be- standteil unserer Afrika-Politik. Wichtig ist für uns daher Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: die Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 1 325 zu – Antrag: Wälder naturnah bewirtschaften – Frauen in und nach bewaffneten Konflikten. Frauen und Waldschäden vermindern – Gemeinwohl- Mädchen bedürfen nicht nur eines besonderen Schutzes funktionen sichern und Holzabsatz steigern in Konfliktregionen. Frauen müssen auch in ihrer Rolle als Friedensakteurinnen gestärkt werden. – Entschließungsantrag: Waldzustandsbe- richt 2004 – Ergebnisse des forstlichen Um- Ebenso ist die Stärkung von Good Governance und weltmonitorings – Demokratie unerlässlich. Gerade was die Durchsetzung von Rechten, die Artikulation von Interessen anging, be- – Antrag: Bessere Rahmenbedingungen für stand und besteht Nachholbedarf. Daher ist es in meinen die Charta für Holz Augen ein großer Erfolg, wenn die politische Partizipa- – Unterrichtung durch die Bundesregierung: tion von Frauen in Parlamenten und Regierungen erheb- Waldzustandsbericht 2004 – Ergebnisse des lich verbessert wurde – nicht zuletzt dank der Einfüh- forstlichen Umweltmonitorings – rung von Frauenquoten. Ende der 90er-Jahren waren im afrikanischen Durchschnitt 11,5 Prozent Frauen in den (Tagesordnungspunkt 20) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16559

(A) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Dem Wald geht esBetrachtet man den Gesamtkomplex, das so genannte(C) schlecht, das wird in den vorliegenden Anträgen allerHolz-Cluster, so wird hier ein Jahresumsatz von circa Fraktionen zutreffend beschrieben. Das ist dann aber100 Milliarden Euro erwirtschaftet. Insgesamt sind rund auch schon das Ende der Übereinstimmung. eine Million Menschen in diesem Bereich beschäftigt. Die Ertragslage vor allem kleinerer Forstbetriebe ist al- Wir verfolgen mit unserem Antrag einen ganzheitli- lerdings noch nicht zufriedenstellend. Deshalb wollen chen Ansatz: Windschutz- und Luftreinhaltepolitik so- wir die Einnahmesituation weiter verbessern. wie die Förderung des Aufbaus naturnaher Mischwälder und die Stärkung der heimischen Forst- und Holzwirt- Dazu ist es nötig, den Absatz heimischen Holzes zu schaft werden miteinander verbunden. Wichtige wald- steigern, ohne das Gebot der Nachhaltigkeit zu verlet- politische Maßnahmen sind dabei die Umsetzung derzen. Der Holzzuwachs in Deutschland lässt dies zu: In Charta für Holz, die Fortschreibung und Verbesserung unseren Wäldern wächst deutlich mehr Holz nach, als der Förderpolitik sowie die Novellierung des Bundes- eingeschlagen wird. Eine Erhöhung der Holznutzung ist waldgesetzes. auch ökologisch sinnvoll: Sie leistet einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz; denn sie ersetzt Energieträger In den Anträgen der Union und der FDP sucht man aus fossilen Quellen. diese ganzheitliche Herangehensweise vergeblich. Die Opposition verbeißt sich in die Bekämpfung der Symp- Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung die tome. So wird gegen den schlechten Zustand des Waldes Forst- und Holzwirtschaft im Rahmen der Gemein- einseitig auf die Ausweitung der Waldkalkung gesetzt. schaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz, GAK, Ein schwerer politischer Fehler. Das wurde auch von den fördert und mit dem Aktionsprogramm „Charta für Sachverständigen in der jüngsten Anhörung des Aus-Holz“ eine weitere Stärkung dieses wichtigen Wirt- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- schaftszweiges vorantreibt. Zentrales Anliegen der wirtschaft bestätigt. Charta für Holz ist es, die Vorzüge von Holz als Roh- und Werkstoff stärker in das Bewusstsein der Verbrau- Ich hebe zwei zentrale Ergebnisse der Anhörung he- cher zu bringen und durch vermehrte Holzverwendung raus: die wirtschaftliche Situation für die forst- und holzwirt- Erstens. Die Experten waren sich darin einig, dass un- schaftlichen Betriebe zu verbessern. Ziel der Charta ist, sere Wälder in mehrschichtige Bestände umgebaut wer- den Verbrauch von Holz in den nächsten zehn Jahren um den müssen. Das Konzept der Koalitionsfraktionen, eine 20 Prozent zu steigern. nachhaltige und naturnahe Waldwirtschaft zu fördern Heute Morgen haben wir in diesem Haus der Euro- und dies auch in einer Novelle des Bundeswaldgesetzes päischen Verfassung zugestimmt und damit den Weg frei zu verankern, wurde dabeivoll bestätigt. Auch die (B) gemacht für eine bessere politische Zusammenarbeit un- (D) Charta für Holz zur Stärkung des Absatzes von deut- ter den EU-Mitgliedstaaten. Ich hoffe, dass auch die schem Holz fand bei allen Sachverständigen Zustim- Forstpolitik von der verstärkten Kooperation profitieren mung. wird. Forstpolitik ist Sache der Mitgliedstaaten. Die Zweitens. Kompensationskalkungen bei sauren Wald- Luftverschmutzung, die unsere Wälder schädigt, hält böden sind notwendig. Die Frage ist allerdings, in wel- sich aber nicht an Staatsgrenzen. Deshalb haben wir eine chem Umfang. europäische Forststrategie. Wenn man sich den Zwi- schenbericht der EU-Kommission zur gemeinsamen Zum Standardrepertoire der Opposition gehört es ja, Forststrategie anschaut, fühlen wir uns in unserer Politik unreflektiert mehr Geld für die Kalkung der Wälder zu bestätigt. Denn auch die EU plädiert für einen ganzheit- fordern. Folgerichtig hat sie dann auch einen Vertreter lichen Ansatz in der Forstpolitik. Das bedeutet Stärkung der Düngekalkindustrie als „Experten“ zur Anhörungder ökonomischen Lage der Betriebe und Erhaltung der eingeladen. Da ist mir beinahe die Spucke weggeblie- Arbeitsplätze unter gleichzeitiger Berücksichtigung der ben. Wir stecken immense Energien in die Erarbeitung ökologischen Herausforderungen. wirkungsvoller politischer Strategien für die nachhaltige Verbesserung des Waldzustandes und der Opposition Wichtig ist, in Zukunft die europäische Zusammen- fällt nichts Besseres ein,als den Kalkindustrievertreter arbeit bei der gemeinsamen Forstpolitik zu intensivieren. zu fragen, ob man nicht mehr Kalk in den Wald schütten Wir dürfen es uns nicht länger erlauben, die Wälder in Eu- sollte. Ich frage mich: Was sollte der Vertreter der Kalk- ropa mit nationalen Flickenteppichlösungen kurieren zu industrie denn anderes sagen, als: „Natürlich müssen wir wollen. Grenzübergreifende Probleme brauchen grenz- mehr Kalk in den Wald streuen“? Er lebt davon; seine übergreifende Lösungen. Ich begrüße das Engagement Unternehmen wollen weitere Aufträge. Mit seiner For- der rot-grünen Bundesregierung an dieser Stelle sehr und derung, dass 60 Prozent der Waldböden eine Kompensa- lade die Opposition ein: Machen Sie mit! tionskalkung benötigen, stand er alleine da. Damit keine Die EU-Kommission weist in ihrem Zwischenbericht Missverständnisse entstehen: Auch wir wollen Kompen- zur EU-Forststrategie darauf hin, dass bereits viele Mit- sationskalkungen, aber nur auf Standorten, wo sie tat- gliedstaaten Leitlinien füreine nachhaltige Waldwirt- sächlich benötigt werden. schaft erlassen haben. In Deutschland wollen wir dies Die Forst- und Holzwirtschaft ist ein ganz wichtiger auch tun und legen dazu in Kürze den Entwurf eines Ge- Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Um ihn voranzubrin- setzes zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes vor. gen, brauchen wir mehr als die von der Opposition vor- Ziel der Novelle ist es, den nachhaltigen und naturnahen geschlagenen kurzsichtigen Waldkalkungsstrategien.Umbau des deutschen Waldes voranzubringen und das 16560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) deutsche Recht an diese Entwicklung anzupassen. Das hinaus werden wir bestehende bürokratische Hemmnisse (C) jetzige Waldgesetz stammt noch aus den 1970er-Jahren für Zusammenschlüsse von Forstbetriebsgemeinschaften und geht deshalb von völlig anderen Voraussetzungen beseitigen. Dadurch erreichen wir eine größere Flexibili- aus, als wir sie heute haben. tät bei gleichzeitigem Regelungsabbau. Für andere – be- reits existierende – forstwirtschaftliche Zusammen- Seit In-Kraft-Treten des Bundeswaldgesetzes haben schlüsse wird mithilfe von Übergangsvorschriften sich die Rahmenbedingungen erheblich geändert; dieRechtssicherheit geschaffen. wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation hat sich weiterentwickelt. Zwar stellt das geltende Bundeswald- Ich fasse zusammen: Mit unserem Antrag legen wir gesetz die Nachhaltigkeit schon in den Mittelpunkt sei- ein in sich stimmiges, ganzheitlich orientiertes Aktions- ner Maßgaben; mit der Nachhaltigkeitsdebatte, die wir programm für eine Verbesserung des Waldzustandes und seit der Konferenz von Rio 1992 führen, hat diese aber zur Stärkung der heimischen Forst- und Holzwirtschaft eine neue, umfassendere Dimension erhalten. Dem müs- vor. Mit den vorgesehenen Maßnahmen wie zum Bei- sen wir Rechnung tragen. Das tun wir mit der Novellie- spiel der Umsetzung der Charta für Holz und der No- rung des Bundeswaldgesetzes. velle des Bundeswaldgesetzes, schaffen wir eine gute Grundlage für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung, Ich greife zwei zentrale Punkte heraus: die Veranke- stärken die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und si- rung von Grundsätzen der nachhaltigen Waldwirtschaft chern wertvolle Arbeitsplätze in Deutschland. im Gesetzestext und die Stärkung der Forstbetriebsge- meinschaften. Kernstück des künftigen Bundeswaldge- setzes wird das Postulat einer ordnungsgemäßen, nach- Artur Auernhammer (CDU/CSU): Der Waldzu- haltigen und naturnahen Waldbewirtschaftung sein.standsbericht 2004 zeigt wieder einmal mehr auf, in wel- Zielvereinbarungen für die Waldwirtschaft sollen unter cher Verfassung sich unser Wald befindet. Besonders zu anderem der grundsätzliche Verzicht auf Kahlschläge, Denken gibt uns die Situation bei den Laubbäumen. So die Bevorzugung natürlicher Verjüngung und der Ver- sind bei der Buche über die Hälfte der Bäume krank. Ein zicht auf Düngung zur Ertragssteigerung sein. Dazu ge- Grund dafür ist die Versauerung durch Luftschadstoffe. hört auch die Orientierung der Bejagung des Schalenwil- Es ist für mich bemerkenswert, dass sich gerade Rot- des an dem Ziel, den Wildbestand besser an Grün die bei diesem Thema sehr zurückhaltend verhält. Der Anforderungen einer naturnahen Waldbewirtschaftung Wald wird bei Rot-Grün ausschließlich unter dem Öko- anzupassen. aspekt begriffen. Aber die Umweltfunktion des Waldes ist nur die eine Seite. Genauso wichtig ist die wirtschaft- Über die Novelle des Bundeswaldgesetzes gab es in liche Bedeutung des Waldes und seine Nutzung. den letzten Monaten kontroverse Diskussionen. Häu- Die Nutzung und die Bedeutung des Waldes in (B) figste Gegenargumente: Die Freiheit der Waldbesitzer (D) Deutschland haben sich in den letzten 100 Jahren massiv würde durch bundeseinheitliche Mindeststandards zu gewandelt. Wurde er früher ausgebeutet und zurückge- sehr eingeschränkt und Förderungsmöglichkeiten könn- drängt, so kennt man heute seine Bedeutung für den ten wegfallen. Drei Anmerkungen zu diesen Befürchtun- Schutz von Boden, Wasser, Luft, ja das Klima insge- gen: Eine erfreulich große Zahl der Betriebe arbeitet be- samt. Der Aufwuchs von einem Festmeter Holz entzieht reits heute auf einem hohen ökologischen Standard. Für der Atmosphäre eine Tonne Kohlendioxid. Wird Holz diese Betriebe wird sich auch nach der Novellierung des nach seinem Aufwuchs zum Beispiel beim Bau verwen- Bundeswaldgesetzes nichts ändern. Für die anderen Be- det, bleibt dieses CO für lange Zeit gebunden. Der ver- triebe gilt dann allerdings: Gewisse Mindeststandards 2 mehrte Einsatz von Holz in den verschiedensten Berei- müssen eingehalten werden. Das Bundeswaldgesetz ist chen, verbunden mit einer sinnvollen Waldwirtschaft, und bleibt ein Rahmengesetz. Auch in Zukunft können gibt uns die Möglichkeit, eine noch bessere CO-Bilanz die Länder die Bestimmungen auf ihre regionalen Bedin- 2 zu erreichen. Nur wenn wir das Ökosystem des Waldes gungen zuschneiden. Die Mindeststandards werden so bewahren und stärken, können wir seine für uns ebenso formuliert, dass Förderungen, etwa im Rahmen der Ge- wichtigen Funktionen als Erholungsgebiet und Erwerbs- meinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz, grundlage dauerhaft nutzen: Der Wald bietet vielfältige GAK, weiterhin möglich sind. Möglichkeiten zur Entspannung und schafft Einkommen Zu den Forstbetriebsgemeinschaften: Die Forstbe-und Arbeitsplätze in der Forst- und Holzwirtschaft. triebsgemeinschaften sind ein wichtiges forstpolitisches Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern und den Element zur Sicherung der Waldfunktionen. Wir brau- Forstbesitzern, den echten Grünen, die durch unermüdli- chen effizientere Zusammenschlüsse, um die Kleinteilig- che Arbeit unseren Wald und unsere Umwelt erhalten keit des deutschen Waldbesitzes und die sich daraus er- und somit in unsere Zukunft investiert haben. Es sind die gebenden Wettbewerbsnachteile zu überwinden. Mit der Waldbauern, Waldarbeiter und Förster, die die schwere Novelle des Bundeswaldgesetzes werden wir deshalbWaldarbeit ausführen und unseren Wald hegen und pfle- das Aufgabenspektrum der Forstbetriebsgemeinschaften gen. erweitern, und zwar um die Aufgabe der Nutzung des Waldes zur Stärkung und Weiterentwicklung des ländli- Wissenschaftliche Untersuchungen belegen eindeutig, chen Raumes: Die Forstbetriebsgemeinschaften verfü- dass die ökologische Qualität und biologische Vielfalt gen über die notwendigen materiellen und personellen von naturnahen Wirtschaftswäldern gleichwertig, in vie- Ressourcen, um diese gesellschaftliche Aufgabe zu voll- len Fällen sogar höherwertig zu bewerten ist als in Na- bringen und Dienstleistungen zu vermarkten. Darüber turwäldern. Genauso überflüssig ist auch die besonders Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16561

(A) von den Grünen geforderte Novellierung des Jagdrechts. Unser deutscher Wald hat eine hohe ökologische Be- (C) Hier wollen sich die grünen Ideologen eine neue Spiel- deutung. Ich nenne die Filterwirkung zur Säuberung der wiese schaffen, auf der sie ihrer Vorurteile gegen dieLuft, die wir täglich zum Atmen brauchen, verbunden Jagd und die Jäger freien Lauf lassen können. Das Jagd- mit der für uns notwendigen Sauerstoffproduktion. Ich recht ist untrennbar mit dem Eigentum an Grund undnenne die Speicherfähigkeit und die Filterung, sodass Boden verbunden und darf nicht angetastet werden. wir gesundes Trinkwasser zur Verfügung haben. Und ich nenne die besondere Bedeutung für unseren Klima- Diese Beispiele zeigen, dass die rot-grüne Bundesre- schutz, insbesondere durch seine Kohlenstoffspeicherfä- gierung auch in ihrer Forstpolitik drauf und dran ist, „vor higkeit. Wir fordern die Bundesregierung auf, im Zuge lauter ideologischen Bäumen den Wald nicht mehr zu se- der CO2-Reduzierung durch Waldvermehrung Senken hen“. Dadurch werden die Rahmenbedingungen füranzuerkennen und dies rechtlich voranzubringen. Waldbesitzer und die mittelständische Holzwirtschaft verschlechtert und die Eigentumsrechte geschwächt. Der deutsche Wald weist so viele Schäden auf, wie Wichtigstes Ziel muss es sein, die wirtschaftliche Leis- noch nie, und das unter einer rot-grün geführten Bundes- tungsfähigkeit der Waldwirtschaft zu steigern. Nur wenn regierung. Auch hier erkennen Sie den Handlungsbedarf mit der Waldbewirtschaffung Geld verdient werdenoffensichtlich nicht. Schäden an Bäumen, Böden und kann, wird der Wald auch gepflegt. Ich halte es für einen Wurzelwerk sind so groß wie nie zuvor. Unser Wald ist absoluten ideologischen Unsinn, wenn Rot-Grün durch etwas Lebendes. Stets neue Verbote, Gebote, Festsetzun- das Erneuerbare-Energien-Gesetz bei Windenergie und gen. Steuern und Abgaben helfen da wenig. Solarenergie durch eine überhöhte Einspeisevergütung die Verbraucher und Stromkunden zur Dauersubvention Wir fordern die Bundesregierung auf: Handeln Sie verdonnert. Dabei schaffen Solarzellen Arbeitsplätze nur endlich im Sinne der betroffenen Waldbesitzer der be- in Asien. Heimisches Holz als Heizstoff wird dagegen troffenen Forst- und Holzwirtschaft, aber auch im Sinne von Rot-Grün sehr stiefmütterlich behandelt. des Umweltschutzes, damit wir unseren Kindern eine gesunde Umwelt und damit auch einen gesunden Wald So gibt es für die Investition in eine Hackschnitzel- übergeben können. heizung lediglich eine geringe Förderung. Hinzu kommt, dass mit der Kürzung beim Agrardiesel die Holzernte SPD und Grüne wollen durch die Novellierung des und Aufbereitung verteuert wurden. Die Stärkung der re- Bundeswaldgesetzes ein Mehr an Staat und ein Weniger gionalen Wirtschaftskreisläufe, insbesondere in deran Eigenverantwortung. Sie verkennen dabei völlig die Wald- und Forstwirtschaft, sollte deshalb unser Ziel sein. Vielfalt unseres Ökosystems sowie auch, was die Viel- Ein wirtschaftlich gesunder Wald ist auch ein biologisch falt von Entscheidungsprozessen für Waldbesitzer und Forstleute bedeutet. Durch die Formulierung einer so ge- (B) gesunder Wald! Als Waldbauer weiß ich, wovon ich (D) rede! So bringt zum Beispiel die Borkenkäferbekämp- nannten guten fachlichen Praxis mit wahllos herausge- fung nur Kosten mit sich; doch wird das Holz nicht auf- griffenen Formulierungen in einem Bundesrahmenge- gearbeitet, ist die Gefahr des Borkenkäferbefalles we- setz führt dies zu Doppelzuständigkeiten, zu mehr sentlich größer. Bürokratie und gefährdet sogar die Förderung durch die EU. Ich persönlich bin stolz darauf, dass in unserem 1888 erbauten Bauernhaus bis heute kein Tropfen Heizöl zur Die Anhebung der Minderstandards nimmt den Wald- Beheizung verbrannt wurde. Erst kürzlich haben wirbesitzern und damit auch dem Wald die Luft zum At- eine neue Hackschnitzelheizungsanlage installiert. Ich men. Der jetzigen Bundesregierung kann man nicht ver- gehe davon aus, dass jeder, der hier flammende Reden trauen. Zuerst wird für die Zertifizierung der Wälder für den deutschen Wald hält auch sein eigenes Verhalten geworben. Dann wird einseitig das FSC-Zertifizierungs- im Privatleben als Freund des Waldes vorlebt. Heizen system bevorzugt, obwohl es gerade kleine Einheiten be- und Bauen mit Holz ist ein Beitrag zum Umweltschutz nachteiligt. Jetzt kassieren Sie die Freiwilligkeit durch und stärkt unseren deutschen Wald. gesetzliche Regelungen ein und gehen mit Ihren Min- deststandards noch darüber hinaus. So kann man die Menschen in unserem Land nicht gewinnen, und so ist Cajus Julius Caesar (CDU/CSU): Unser deutscher schon gar keine erfolgreiche Politik auf Dauer zu gestal- Wald ist ein wertvolles Gut. Er hat eine hohe ökonomi- ten. sche Bedeutung; denn Holznutzung schafft und sichert Arbeitsplätze. Derzeit sind es über eine Million Beschäf- Wir von der Union wollen den Entscheidungsspiel- tigte mit einem Umsatz von rund 100 Milliarden Euro raum für den Praktiker vor Ort. Wir von der Union wol- pro Jahr. Dies entspricht einem Anteil von len rund natürliche Verjüngung, wo eben möglich, wie die 3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. 1,3 Millionen Privatwaldbesitzer es auch wollen. Wir von der Union wollen mehrschichtige, ökologisch wert- Sie, meine Damen und Herren der Regierung, sollten volle Waldbestände mit einem ökonomischen Hinter- alles tun, um die Rahmenbedingungen für die Forst- und grund. Deshalb ist es beispielsweise völlig fehl am Platz, Holzwirtschaft zu verbessern und ihr nicht durch stets etwa die Bodenbearbeitung infrage zu stellen oder, wie verschlechterte Rahmenbedingungen und Schikanen auf beim FSC-System, zu verbieten. diesem Wirtschaftszweig das Leben schwer machen. Statt immer neuer Gesetze und Verordnungen fordern In vielen Fällen ist eine Naturverjüngung, insbeson- wir Sie auf: weniger Staat, weniger Reglementierung, dere mit Laubholz, nur dann möglich, wenn man auf weniger Bürokratie! Standorten mit hoher Humusauflage oder Vergrasung 16562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) den Mineralboden durch Bodenbearbeitung freilegt.dass zukünftig für das Holzmarketing pro (C) Jahr Nicht mehr Reglementierung durch die Novellierung des 700 000 Euro weniger zur Verfügung stehen. Bundeswaldgesetzes, sondern Entscheidungen im Sinne von Ökonomie und Ökologie, abgestimmt auf die Viel- Kennzeichnend für die Politik dieser rot-grün geführ- fältigkeit der Standorte in unserer Natur. ten Bundesregierung ist auch, dass das neu aufgelegte „Faltblatt Dämmstoffe zum Marktanreizprogramm“ Wir von der Union wollen statt neuer Gesetze durch nicht ein einziges Mal das Wort Holz enthält. Sie han- Rot-Grün Vertrauen in die Entscheidungen, im Wald, für deln nach dem Grundsatz: Keine Zukunft vermag gut zu den Wald, durch Forstleute und Waldbesitzer. Es darfmachen, was man in der Gegenwart versäumt. nicht sein, dass hier dem einzelnen Waldbesitzer vorge- Eine Vorbildfunktion durch die vermehrte Verwen- schrieben wird, welche Pflanze er an welcher Stelle in dung des umweltfreundlich erzeugten rohen Baustoffes welcher Größe pflanzen muss und welchen einzelnenHolz bei Bauten des Bundes ist dringend erforderlich. Baum er entnehmen darf, gleichzeitig aber tausende von Mehr Holzabsatz bedeutet nicht nur mehr Arbeitsplätze Hektar täglich verschwinden und die Bundesregierung und mehr Umweltschutz, sondern auch einen gepflegten hier ihren Mitteleinsatz zurückfährt und bei den Verein- Wald und damit auch einen gesunden Wald. Diese Re- barungen internationaler Art wenig erfolgreich ist. gierung hätte damit einen wesentlichen Beitrag zur Ge- Unser Land ist vielfältig, und was für den einensundung des Waldes leisten können. Leider haben Sie Standort richtig ist, muss für den anderen noch langeauch an dieser Stelle wieder einmal versagt. nicht richtig sein. Diese Vielfalt macht unser Land so Wir fordern Sie auf, den Absatz von Holz aus einhei- faszinierend und unsere Wälder so einzigartig. Dahermischen Wäldern zu fördern. Die Bundesregierung kann darf nicht jedes Detail im Gesetz bis ins Kleinste gere- Zeichen dadurch setzen, dass sie auch bei den eigenen gelt werden! Baumaßnahmen vermehrt heimisches Holz verwendet. „Jeder Wald ist ein Individuum, das individuell be- Gleichfalls fordern wir Sie auf, den Import von Holz aus handelt werden muss. Das ist auch für geistig rege Forst- illegalem Holzeinschlag und damit Waldvernichtung zu leute ein Glück, sonst wäre Waldbau langweilig.“ Prof. unterbinden. Die Union hat dazu eine Initiative ergriffen. August Bierl 1933. Wir wollen als Union, dass mehr gegen die Waldzerstö- rung im Ausland getan wird. Zu beklagen ist auch eine gravierende Übersäuerung der Böden. Dies bedeutet Abnahme der Bodenfruchtbar- Wir fordern Sie auf, endlich den Gesetzesdschungel keit, Schwermetallanreicherung bis hin zu negativenzu entflechten sowie Steuern und Abgaben auf ein er- Auswirkungen auf unser Grundwasser. 7 Millionen Hek- trägliches Maß zurückzuführen. Stampfen Sie die vorge- (B) tar sind laut Expertenmeinung kalkungsnotwendig, das sehene Novellierung des Bundeswaldgesetzes und des(D) heißt pro Jahr rund 700 000 Hektar. Tatsächlich werden Bundesjagdgesetzes ein und leisten Sie damit einen we- derzeit aber nur jährlich 100 000 Hektar auf gefährdeten sentlichen Beitrag für unseren deutschen Wald. Wir wol- Standorten gekalkt. len als Union, dass mehr gegen die Waldzerstörung im Ausland getan wird. Immerhin verschwinden jährlich Fachgerecht durchgeführte Bodenschutzkalkungen netto 12 Millionen Hektar Wald. Dies ist auch im Sinne sind ein wichtiges Instrument zur Gesundung unsererdes Klimaschutzes nicht zu verantworten. Waldböden und damit zur nachhaltigen Sicherung der Die Union hat zum Urwaldschutz eine Initiative Trinkwasserversorgung. Auf mehr als 80 Prozent derdurch einen entsprechend formulierten Antrag einge- Flächen ist bereits eine erhebliche Versauerung eingetre- bracht. Dieser unterscheidet sich jedoch fundamental ten mit pH-Werten von unter fünf. Dabei ist zu beachten: von dem Entwurf, den das Bundesumweltministerium ein Punkt pH-Wert weniger bedeutet eine zehnfache Ver- durch Minister Trittin eingebracht hat. Es ist geradezu sauerung, zwei Punkte weniger eine hundertfache Ver- abenteuerlich, alle Waldflächen in Deutschland, die grö- sauerung. ßer als 10 Hektar sind, darauf untersuchen zu wollen, ob Dies ist auf einer ganzen Reihe von Standorten der sie Urwälder sind, zudem noch kleinkariert viele tausend Fall und hat damit erhebliche Auswirkungen auf die dor- Nachweise zu verlangen, ist völlig an der Praxis vorbei. tige Vegetation, auf die Kleinlebewesen und damit auch Entweder wollen Sie einen Urwald ausweisen, wo auf die Artenvielfalt. Dies bedeutet, eine Auswaschung keiner ist, oder wieder ein paar Verwaltungsleute mit un- von Nährstoffen und es ist eine kritische Konzentration sinnigen Bürokratieaufgaben zulasten der Bürger be- von Schwermetallen zu beklagen. Was fällt Ihnen dazu schäftigen. Der entsprechende Nachweis ist zu verlan- ein? Sie kürzen im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe gen. Dies zeigt, wie fern Minister und Regierung von 45 Millionen Euro. Sie lassen den Wald im wahrstenden Realitäten sind. Ein gesunder Wald ist auch der Sau- Sinne des Wortes im sauren Regen stehen. erstoff für unser Leben. Wir, die Union, wollen eine Ein Bekenntnis zu den nachwachsenden Rohstoffen praktisch ausgerichtete Politik, die die vor Ort Handeln- und damit auch zum Holz würde dem Wald helfen. Was den einbezieht und dem Wald dient. tun Sie? Sie verkünden die Charta für Holz mit riesigem Medienaufwand und unterschreiben damit eine ver- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stärkte Förderung der Holznutzung und Holzverwen-Zum Wald gibt es aktuell gute und schlechte Nachrich- dung in Deutschland. Nur 14 Tage später legen Sie den ten. Die gute wird mit der Waldinventur, die schlechte Entwurf des Holzabsatzfondgesetzes vor mit dem Fazit, mit dem Waldzustandsbericht verkündet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16563

(A) Lassen Sie mich mit der schlechten beginnen. Diestärker auf den Waldumbau ausgerichtet werden. Auch (C) Fakten sind mittlerweile wiederholt dargelegt worden: mit der Novelle des Bundeswaldgesetzes können wir Nachdem sich der Waldzustand in den 90er-Jahren deut- durch Festlegung ökologischer Mindeststandards an die lich verbessert hatte und seit der Jahrtausendwendeordnungsgemäße Forstwirtschaft den Umbau der Wälder stagnierte, war im Jahr 2004 wieder eine Besorgnis er- befördern. Die Bundesjagdgesetznovelle wird auch Re- regende, deutliche Zunahme der Waldschäden zu ver- geln enthalten, die uns dem Ziel waldverträglicher Wild- zeichnen. Diese Zustandsverschlechterung kann vor al- dichten näher bringen. Dies wird die flächenhafte Natur- lem mit der Dürre im Jahr 2003, aber auch mit anderen verjüngung wieder ermöglichen. Dies wird dem Wald periodisch auftretenden Faktoren – wie einer starkensehr zugute kommen. Daher appelliere ich an alle Frak- Fruktifizierung der Buche – erklärt werden. Die Wälder tionen in diesem Haus, die ideologischen Scheuklappen werden sich von diesem Tiefpunkt also voraussichtlich abzulegen und eine Jagdgesetznovelle unserem Wald zu- wieder erholen. Aber die Entwicklung im Jahr 2004liebe konstruktiv mitzugestalten. zeigt unmissverständlich: Unser Wald leidet massiv un- ter dem Klimawandel. Und er zeigt: Klimawandelbe- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum CDU-Antrag dingt müssen wir auch in Zukunft wiederholt mit massi- möchte ich Folgendes anmerken: Das darin dokumen- ven Verschlechterungsschüben rechnen. Es kann alsotierte Weltbild der CDU ist so schlicht wie falsch: Der alles andere als Entwarnung beim Waldzustand gegeben Wald hat sich unter Kohl 16 Jahre lang erholt. Unter werden. Genauso klar ist, dass unsere Wälder und unsere Rot-Grün hingegen verschlechtert sich der Waldzustand Waldböden noch Jahrzehnte brauchen werden, um sich wieder. Der Grund: Nur die CDU/FDP-Regierung habe vollständig von der Übernutzung in früheren Jahrhun- in Sachen Luftreinhaltung etwas erreicht. Dieses derten und vor allem von den Umweltsünden der fossi- schlichte Welt- und Geschichtsbild ist von einer Platt- len Industriegesellschaft zu erholen. heit, dass man etwas fassungslos davor steht. Zugege- ben: Es ist bequem, sich die Emissionsminderungen in- Nun die gute Nachricht. Die Ergebnisse der Bundes- folge des Zusammenbruchs der DDR-Industrie und der waldinventur II, die im September vorgestellt wurden, DDR-Braunkohlewirtschat zugute zu halten. Schwerer lauten verkürzt: Die Waldfläche hat weiter zugenom-ist es schon, die Leistungen der rot-grünen Bundesregie- men. Die Holzvorräte sind auf ein Rekordniveau gestie- rung in Sachen Luftreinhaltung und Klimaschutz totzu- gen. Sie liegen europaweit an der Spitze, und dies nicht schweigen. Ich nenne nur die Einführung des schwefel- nur absolut, sondern auch pro Hektar. Die Wälder sind freien Benzins, die Förderung der erneuerbaren Energien naturnäher geworden. Die Nutzung des umweltfreundli- durch das EEG, den Emissionshandel, die Verschärfung chen, nachwachsenden Rohstoffes Holz kann unter Ach- der 17., der 13., und der 4. Bundesimmissionsschutzver- tung der Prinzipien der Nachhaltigkeit noch erheblich ordnung und der TA Luft. Weiterhin behaupten CDU (B) gesteigert werden. Deshalb können wir uns im Rahmen und FDP regelmäßig, die Bundesregierung lasse eine(D) der Charta für Holz guten Gewissens für eine stärkere nachlassende Bereitschaft erkennen, gegen die fort- Holznutzung aussprechen. Mit unserem Antrag bringen schreitende Versauerung der Waldböden mit Kalkung wir weitere Maßnahmen auf den Weg, um dieses Ziel zu vorzugehen. Dies ist falsch. Die Waldkalkung ist unver- erreichen. Außerdem formulieren wir eine Strategie, um ändert mit Mitteln der GAK förderfähig. Wenn es hier gesündere Wälder zu erreichen. Sie lautet: Erstens Luft- Defizite gibt, dann sind sie den Bundesländern anzulas- reinhaltepolitik fortsetzen, zweitens Klimapolitik ver- ten, die letztlich über den Einsatz der GAK-Fördermittel stärken und drittens Waldumbau zielgerichtet weiterfüh- entscheiden. Ansonsten macht die CDU keine Vor- ren. Ich möchte hier besonders auf das schläge, Thema mit welchen Instrumenten denn nun der Wald- Waldumbau eingehen. Die Bedeutung des Waldumbaus zustand verbessert werden soll – abgesehen von solchen, für den Waldzustand liegt darin, dass naturnahe, arten- die Rot-Grün sowieso schon umsetzt. reichere Wälder mit standortheimischen Baumarten öko- logisch stabiler sind als Monokulturen mit standortfrem- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der FDP ist zuzu- den Baumarten. Dies gilt auch für den zu erwartenden stimmen, wenn sie in ihrem Antrag feststellt, dass der Klimawandel. Bäume, die heute wachsen, müssen auch Kronenzustand ein sehr unspezifisches Merkmal ist, das mit dem Klima von morgen klar kommen. Das können vielfältige Umwelteinflüsse abbildet. Allerdings zieht sie besser, wenn sich die Bäume in natürlicher Konkur- die FDP daraus einen vorschnellen Schluss. Sie fordert, renz gegenüber anderen Sämlingen durchgesetzt haben. die Waldschadensberichte aufgrund des Kronenzustan- Das macht die Bedeutung der natürlichen Verjüngung des nur noch alle fünf Jahre zu erheben. Das würde je- aus. Mittelgebirgsfichten im Tiefland zu pflanzen pro- doch bedeuten, das Monitoring noch unsicherer zu ma- grammiert hingegen die Waldschäden von morgen vor. chen. Momentan gibt es keine sinnvolle Alternative zu Dies muss dementsprechend der Vergangenheit angehö- dieser Methode und zum jährlichen Waldzustandsbe- ren. Leider aber ist es keinesfalls so, dass die Sünde der richt. Die Alternative, die die FDP vorschlägt, taugt hin- Altersklassen-Nadelwälder im Tiefland sämtlich bereits gegen nicht: Eine jährliche Berichterstattung über den vor Jahren begangen worden. Sie wird heute noch oft ge- Zustand der Waldböden macht nach Aussagen der Fach- nug begangen. Auch dies belegt die Bundeswaldinven- leute keinen Sinn. Die Veränderungen der Böden sind tur II. Die Bedeutung des Waldumbaus muss also noch mittel- bis langfristiger Natur. Deshalb steht bei einer stärker in das Bewusstsein dringen. Und unsere Aufgabe jährlichen Bodenzustandserhebung ein zu großer Auf- ist es, die Rahmenbedingungen dafür zu verbessern. Aus wand einem sehr geringen Nutzen gegenüber. Sie kann diesem Grund muss die Förderpolitik der Gemein-die Erhebung des Kronenzustands nicht ersetzen. Vor schaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz, GAK, diesem Hintergrund bleibt nur eine Diskussion darüber, 16564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) wie die Methodik der Waldschadenserhebung verbessert tet dass in Deutschland beim Holztransport die erlaubten (C) werden kann. Das Erschreckende an dem FDP-Antrag Nutzlasten um fast 50 Prozent unter denen in anderen ist aber etwas anderes: Zur Verbesserung des Waldzu- europäischen Mitgliedsländern liegen. Da die Transport- standes hat die FDP außer nachsorgenden Waldkalkun- kosten etwa ein Drittel der Gesamtkosten der Bereitstel- gen nichts, aber auch rein gar nichts zu bieten. Dass sich lung von Holz verursachen, bedeutet dies für heimische die FDP einen Kehricht um die Umwelt schert, das wis- Betriebe eine erhebliche Wettbewerbsverzerrung. sen wir längst. Aber dass sie sich nicht einmal mehr die Mühe macht, ernsthafte Vorschläge zur Verbesserung Es gilt, diese Barrieren abzubauen, Erst dann wird des Waldzustandes zu machen, war dann doch nicht zu auch die Bewertung der Investitionsbedingungen in der erwarten. Nutzholzwirtschaft nicht mehr mit „mangelhaft“ ausge- wiesen, wie ein Schweizer Institut im Jahr 2003 in einer Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammenfassend europäischen Vergleichsstudie ermittelte. lässt sich sagen: Damit deutschlandweit naturnahe, ge- sunde und stabile Wälder wachsen, ist auch seitens der Seit 1985 werden in Deutschland in jedem Jahr Wald- Politik noch einiges zu tun. Die rot-grüne Koalition hat zustandsberichte erstellt. „Wo Wald lebt, kränkelt er.“ – bereits entscheidende Schritte in die richtige Richtung so Forstschutz-Professor Michael Müller aus Tharandt in eingeschlagen. Für gute Vorschläge seitens der Opposi- der Wochenzeitung „Die Zeit“. Das ist trotz der im tion sind wir offen. Die heute hier vorgetragenen sind je- Waldzustandsbericht 2004 festgestellten Waldschäden doch untauglich. Deshalb lehnen wir Ihre beiden An-eine beruhigende Nachricht. träge ab. Der Waldzustandsbericht selbst stellt fest, dass der Kronenzustand der Bäume ein sehr unspezifisches Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Deutschland Merkmal ist, das vielfältige Umwelteinflüsse abbildet. gehört zu den waldreichsten Ländern in der Europäi-Insbesondere die Schadstoffeinträge über die Luft und schen Union. Wir sind uns einig in der multifunktionalen die Versauerung der Böden verursachen eine erhebliche Nutzung unserer Wälder, Waldspaziergänge gehören zu Waldschädigung, wie sie im Jahr 2004 festgestellt den beliebtesten Freizeitaktivitäten in Deutschland. Die wurde. Die Betrachtung der Baumkronen ist eine unspe- Erholungsnutzung unserer Wälder ist ganz wichtig. Eine zifische Methode, da es nach Meinung der Experten mit genauso große Bedeutung hat der Natur- und Arten-dieser Methode nicht möglich ist, die jeweilige Ursache schutz. In unseren Waldbiotopen leben viele heimische für Kronenschäden zu ermitteln. Tier- und Pflanzenarten, Wälder speichern Kohlenstoff, sie sind daher wichtige Kohlenstoffsenken für den Kli- Da unzweifelhaft die Versauerung der Böden eine we- (B) maschutz. Trotz dieser vielfältigen Funktionen ist dersentliche Ursache für Baumschäden ist, ist es sinnvoller, (D) Verkauf von Holz die nahezu einzige Möglichkeit fürden Bodenzustand zu untersuchen. Darin wird die FDP Waldbesitzer, ihren Besitz finanziell zu nutzen. von vielen Experten unterstützt. Holzstapel am Waldeingang für die Papierherstellung, Höhere Kosten widersprechen dem nicht, denn die mächtige Eichenstämme, aus denen das Furnier für Mö- jetzigen unspezifischen Berichte sind in keiner Weise bel hergestellt wird, Fichtenstämme für den Bau vonausreichend, um daraus die Notwendigkeit von Maßnah- Dachstühlen erinnern daran, dass Holz ein sehr vielseitig men abzuleiten. Daher könnten sie entfallen und sollten verwendbarer Rohstoff ist. Es ist der wichtigste nach- durch die sinnvollere Untersuchung der Böden ersetzt wachsende Rohstoff in Deutschland. werden. Die noch von der schwarz-gelben Bundesregierung in Der Versauerung der Böden kann durch Bodenschutz- Auftrag gegebene Bundeswaldinventur hat gezeigt, dass kalkung entgegengewirkt werden. Das paneuropäische Deutschland über enorme Holzvorräte im Wald verfügt. Forstzertifizierungssystem, nach dem circa 60 Prozent Gerade im Privatwald wird nur ein Teil des jährlichdeutscher Wälder zertifiziert sind, erlaubt eine Boden- nachwachsenden Holzes genutzt. Vom jährlichen Zu-schutzkalkung. Das Forest Stewardship Council hinge- wachs werden nur etwa 60 Prozent geschlagen. gen, ein von der Bundesregierung unterstütztes Zertifi- zierungsunternehmen, sieht eine Bodenschutzkalkung In der Charta für Holz ist die Steigerung der Verwen- erst ab einem pH-Wert von 4,2 vor. Für die Wissenschaft dung des Rohstoffes Holz aus heimischer, nachhaltiger bleibt die Bodenschutzkalkung allerdings die wichtigste Waldwirtschaft vereinbart worden. Die FDP unterstützt Maßnahme, um eine weitere Versauerung der Böden zu die Charta für Holz. Glaubwürdig ist die Charta für Holz verhindern. jedoch nur dann, wenn die Regierung ihre Möglichkei- ten nutzt, durch Abbau von Regulierungen die Ein- Die Waldzustandsberichte sind eine sinnvolle Me- schlagkosten für Holz zu senken und dadurch thode, die das öffentliche Interesse auf unsere Wälder zu Nutzung von Holz wettbewerbsfähig und attraktiver zu richten. Allerdings sollten in Zukunft verstärkt die viel- machen. fältigen Nutzungsmöglichkeiten im Vordergrund stehen, das positive Image unseres wichtigsten nachwachsenden Besondere Probleme bereiten zum Beispiel die Regle- Rohstoffes Holz gestärkt werden und weitere Vorschläge mentierungen im Transportbereich. Das in Deutschland gemacht werden, überflüssige Reglementierungen abzu- zulässige Gesamtgewicht beträgt 40 Tonnen. Das bedeu- bauen, damit die Charta für Holz wirklich vorankommt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16565

(A) Anlage 16 Handys, allerdings wurde bei Langzeitnutzern ein höhe- (C) res Risiko festgestellt. Keinerlei belastbare Untersu- Zu Protokoll gegebene Reden chungen liegen zu Immissionen, ausgehend von UMTS- zur Beratung: Unterrichtung durch die Bundes- Basisstationen, vor. Auch das ist Gegenstand des For- regierung: Bericht der Bundesregierung über schungsprogramms. die Forschungsergebnisse in Bezug auf Emis- Lassen Sie mich noch ein Wort zur Grenzwertproble- sionsminderungsmöglichkeiten der gesamten matik im Zusammenhang mit der Vorsorgeverantwor- Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesund- tung sagen. Eine zu große Rolle spielt meines Erachtens heitliche Auswirkungen (Tagesordnungs-der festgelegte Teilkörper-Basisgrenzwert von 2 W/kg punkt 21) der 26. Verordnung zur Durchführung des Bundes-lm- missionsschutzgesetzes. Es ist erfreulich zu wissen, dass Renate Jäger (SPD): Im Dezember 2001 beschloss dieser Wert bei unterschiedlichen Messungen nicht über- die Bundesregierung Vorsorgemaßnahmen im Bereich schritten wird. Doch aus Vorsorgegründen sollte eine Mobilfunk. Der Schwerpunkt lag dabei auf Forschungs- Absenkung immer im Blickfeld bleiben. In diesem Sinne aktivitäten in den drei Ressorts für Umwelt, Wirtschaft hat das Umweltministerium das Umweltzeichen „Blauer sowie Forschung. Im Bundesministerium für Wirtschaft Engel“ für strahlungsarme Handys mit einem maximalen und Arbeit stehen dafür 5 Millionen Euro zur Verfügung, Wert von 0,6 W/kg empfohlen. Bedauerlicherweise leh- insbesondere für Forschungen zu technischen Regulie- nen die Handyhersteller das Umweltzeichen geschlossen rungsfragen beim Aufbau des UMTS-Netzes. ab, Im also auch die Empfehlung, sich kontinuierlich aktiv Bundesministerium für Bildung und Forschung sollen an der Entwicklung von strahlungsärmeren Handys zu 7 Millionen Euro eingesetzt werden zur Förderung im- beteiligen, obwohl einige bereits die Kriterien erfüllen. missionsmindernder Technologien. Die umfassendsten Das Bundesministerium für Bildung und Forschung Forschungsprojekte liegen beim Umweltministerium für bearbeitet mehrere Vorhaben im Rahmen seiner Leitin- das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm (DMFP). novation „Mobiles Internet“. Nach den dort vorliegen- Die für den Zeitraum 2002 bis 2005 zur Verfügung ste- den Prognosen geht man davon aus, dass trotz eines kon- henden 8,5 Millionen Euro werden um die gleiche stanten Wachstums der drahtlosen Kommunikation die Summe aus der Selbstverpflichtung der Netzbetreiber Emissionen bis 2015 konstant bleiben, wenn die Effizi- aufgestockt. Bedauerlich ist, dass durch den verspäteten enz verbessert und emissionsmindernde Technologien Geldfluss der Netzbetreiber Vorhaben erst verspätet, angewendet werden. Natürlich müssen nebenher auch nämlich 2003, begonnen werden konnten. die Empfehlungen der internationalen Fachgremien wie Erstmalig wurden die Projektvorschläge in einem In- der Weltgesundheitsorganisation und der Internationalen (B) (D) ternetportal auch der Öffentlichkeit vorgestellt und im Kommission zum Schutz vor nicht ionisierenden Strah- September 2003 in einem Fachgremium diskutiert. Un- len sowie die Erkenntnisse der deutschen Strahlen- ter Mitwirkung von Fachleuten und der Öffentlichkeit schutzkommission ausgewertet und einbezogen werden. entstand dann das Gesamtprogramm. Ziel des Pro-Leider liegen derzeit kaum Ergebnisse vor. Aus dem gramms ist es, bestehende Unsicherheiten bei der Be- Mobilfunk-Forschungsprogramm existieren bisher nur wertung der Risiken elektromagnetischer Felder zu ver- zwei abgeschlossene Projekte: ringern und die biologischen Wirkungen von schwachen Zum einen ist das die Untersuchung der SAR-Vertei- hochfrequenten elektromagnetischen Feldern wissen- lung – das ist die spezifische Absorptionsrate, gemessen schaftlich zu erforschen. Dabei geht es um die Suche in Watt pro Kilogramm – in elektromagnetisch exponier- nach Auswirkungen auf die intellektuelle Informations- ten Versuchstieren. Es gelang hier, ein verbessertes verarbeitung, auf den Blutfluss im Gehirn, auf das Verfahren zur Erstellung von Voxelmodellen – Volumen- Wach- und Schlafelektroenzephalogramm sowie auf die element; das kleinste Element eines gerasterten Raums – Blut-Hirn-Schranke. Des Weiteren sind langfristige Stu- zu entwickeln mit einer sehr hohen Auflösung von bei- dien vorgesehen, die die Wirkungen elektromagnetischer spielsweise 8 Kubikmillimeter für den Menschen, Felder auf die Entstehung bzw. den Verlauf von Krebs- 0,06 Kubikmillimeter bei Mäusen, 0,2 Kubikmillimeter erkrankungen untersuchen, ebenso Wirkungen auf Ge- bei Ratten. Somit konnten lokale organspezifische SAR- dächtnis, Konzentrations- und Lernfähigkeit. In einem Werte ermittelt und tabellarisch dargestellt werden. weiteren Projekt werden altersabhängige Wirkungen un- tersucht. Da Kinder und Jugendliche derzeit die inten- Zum anderen wurde eine Machbarkeitsstudie für eine sivsten Nutzer der Mobilfunktechnik sind, besteht hier Kohortenstudie durchgeführt. Die Kohortenstudie sollte besonderer Klärungsbedarf. Um die Wirkungen der elek- anhand hoch exponierter (Berufs-)Gruppen zur Erfas- tromagnetischen Felder auf den Menschen beurteilen zu sung eines möglicherweise erhöhten Krankheitsrisikos können, ist eine exakte Messung notwendig. Daher ist durch die Exposition mit Hochfrequenzfeldern durchge- die Forschung für den Bereich Dosimetrie ein wesentli- führt werden. Das Ergebnis ist, dass eine solche Kohor- cher Schwerpunkt. tenstudie keinen Sinn machen würde, weil eine „verzer- rungsfreie Abschätzung des Erkrankungsrisikos durch Viel verspricht man sich von einer großen internatio- hochfrequente elektromagnetische Felder“ – Seite 10 nalen epidemiologischen Querschnittsstudie zum Zu-des Berichts – nicht möglich sein könnte. sammenhang zwischen Mobilfunk und Hirntumoren. Die abgeschlossenen Studien aus Dänemark und Schwe- Eigentlich sollten die Projekte des Mobilfunk-For- den zeigen kein erhöhtes Risiko bei Kurzzeitnutzern von schungsprogramms im Jahr 2006 abgeschlossen sein. 16566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Ich bin etwas unzufrieden darüber, dass nach dem vorlie- zwei Jahre einen Bericht der aktuellen Forschungsergeb- (C) genden Bericht für einige Projekte die Ausschreibungs- nisse vorzulegen. Den ersten Bericht der Bundesregie- phase noch nicht abgeschlossen war, sodass ich dierung dieser Art nehmen wir heute hier zur Kenntnis. Sorge habe, dass der Abschlusstermin nicht gehaltenDrei Bundesministerien – BMU, BMWA und BMBF – werden kann. Aus Vorsorgegründen darf es keinen Zeit- sind in die Mobilfunkforschung eingebunden. Das ist verzug geben. Ich hoffe, dass wir, wenn die vorliegenden vor allem deshalb richtig, weil es in mehreren Bereichen Ergebnisse international präsentiert werden und die Er- der Mobilfunktechnologie noch Unsicherheiten und gebnisse der Forschungsprogramme anderer Länder zu- keine langfristig erworbenen Kenntnisse gibt. Im Ver- fließen, dass wir zu einer neuen Bewertung der Auswir- antwortungsbereich des Bundesumweltministeriums kungen elektromagnetischer Felder auf die Gesundheit liegt deshalb auch das wichtigste Programm zur Risiko- des Menschen kommen. Eine verantwortungsvolle Poli- forschung bei Mobilfunk, das Deutsche Mobilfunk-For- tik muss dem Grundsatz folgen, dass die Gesundheitschungsprogramm. vorbeugend zu schützen ist. Das hilft auch, Kosten zu sparen. Dieses leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der Bevölkerung, der über die bloße Vermittlung wissen- schaftlicher Fakten hinausgeht. Methodisch soll vor al- Helge Braun (CDU/CSU): Der Mobilfunk ist aus lem der breiten Öffentlichkeit die Mobilfunktechnologie dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Der mo- so einfach wie möglich vermittelt werden, um Transpa- bile Austausch von Informationen prägt das menschliche renz zu schaffen und Ängste abzubauen. Die zahlreichen Miteinander im privaten, beruflichen und gesellschaftli- eingerichteten Internetadressen sind nur ein Beispiel da- chen Leben. Mittlerweile nutzen über 70 Millionen Bun- für. Es ist richtig und beispielhaft, dass von den Gesamt- desbürger ein Handy. Die Zahl der Mobilfunktelefonie- kosten des Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramms rer ist damit mittlerweile sogar höher als die von der 17 Millionen Euro die Hälfte von den Mobilfunkbe- Festnetzanschlüsse in Deutschland. treibern selbst übernommen wird. Die fachliche Steue- Die Mobilfunktechnologie schafft Werte in Deutsch- rung liegt aber allein in den Händen der Bundesregie- land, sie setzt wirtschaftliche Impulse frei. Die Mobil- rung, hier hat die Strahlenschutzkommission, SSK, eine funkbrache ist eine der wichtigsten Wachstumsmärkte tragende Rolle. Die Mobilfunkbetreiber liefern Daten Deutschlands. Die Telekommunikationskonzerne befin- und arbeiten mit. den sich trotz allgemeiner wirtschaftlicher Stagnation Es besteht weiterhin ein erheblicher Forschungsbe- auf der Erfolgsspur. Insbesondere die jüngsten Zahlen darf: Insbesondere der Ausbau des UMTS-Netzes macht der Deutschen Telekom zeigen das deutlich: Mobilfunk neue Studien erforderlich, da das UMTS-Netz technisch und Breitbandgeschäft laufen hervorragend. Das schafft (B) sehr viel engmaschiger aufgebaut werden muss, denn(D) Werte auch für die, die in diese Branche investiert haben. UMTS-Antennen haben eine geringere Sendeleistung als Mehr als 100 000 Arbeitsplätze sind bisher im Be-der GSM-Standard. Es können zwar circa 50 Prozent der reich der mobilen Kommunikation und der mobilenbereits bestehenden Sendeanlagen für den GSM-Stan- Dienstleistungen in Deutschland geschaffen worden.dard umgerüstet werden, aber eben nicht alle. Hier müs- Und bei der Weiterentwicklung des mobilen Internets sen wir die Mobilfunkbetreiber auffordern, alle mögli- werden weitere Arbeitsplätze entstehen. Das sind gute chen Anstrengungen zu unternehmen, um die Zahl der Zukunftsperspektiven für unsere junge Generation von Sendeanlagen so gering wie möglich zu halten. Dazu ge- Schul- und Studienabgängern. hört auch, dass sie gemeinsam mit Kommunen und den privaten Eigentümern die Plätze für die Mobilfunksen- Und doch ist die öffentliche Debatte über Mobilfunk deanlagen so verantwortungsbewusst festlegen, dass bei auch von Sorgen der Bevölkerung vor möglichen Ge- einer guten Netzabdeckung keine neuen Risiken für sundheitsgefahren durch den Betrieb von Mobilfunk-Wohngebiete entstehen. sendeanlagen und die davon ausgehende Strahlung, ver- einfacht oftmals als Elektrosmog bezeichnet, geprägt. Und sie müssen die Wirkung und die Risiken der Allein die neue Mobilfunkgeneration „UMTS“ macht es neuen UMTS-Technik genau erforschen. Der Bericht der erforderlich, dass mindestens 40 000 neue Sendenanla- Bundesregierung zeigt uns, dass dazu eine Vielzahl von gen auf privaten und öffentlichen Gebäuden aufgestellt Projekten gestartet wurde. Die wenigsten Studien sind werden mussten und zum Teil noch müssen. Für dasbereits abgeschlossen, weil sie langfristig angelegt sind. UMTS-Netz werden technisch erheblich mehr Mobil- Erste Zwischenergebnisse sind ermutigend. funksendeanlagen als für den bisherigen GSM-Standard Im Rahmen des Deutschen Mobilfunk-For- notwendig sein. schungsprogramms hat Professor Lerchl von der Interna- Die Aufgabe der Politik ist es, die Sorgen und Ängste tionalen Universität Bremen den Einfluss von UMTS- der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen, das heißt, Feldern auf die Leukämie- oder Krebsrate bei Mäusen sie bestmöglich über die möglichen Risiken und Gefah- untersucht. 160 AKR-Mäuse, die durch den Einbau eines ren des Mobilfunks aufzuklären und alle Anstrengungen Virus in die Erbsubstanz sehr leicht an Leukämie erkran- zu unternehmen, um durch Forschung diese junge Tech- ken wurden, für circa 9 Monate 24 Stunden täglich nologie besser und sicherer zu machen. UMTS-Feldern mit 0,4 W/kg ausgesetzt. Das entspricht dem Fünffachen des Ganzkörpergrenzwertes. Ergebnis: Der deutsche Bundestag hat deshalb Ende der 14. Le- Es wurden keine Unterschiede in der Überlebensrate gislaturperiode die Bundesregierung aufgefordert, alle zwischen den dem Feld ausgesetzen und den dem Feld Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16567

(A) nicht ausgesetzten Tieren beobachtet. Der Versuch istbranche entwickelt. Handys sind deshalb zu einem be-(C) noch nicht vollständig abgeschlossen, da Gewebe- und achtlichen Wirtschaftsfaktor geworden. Inzwischen Blutproben der Tiere noch weiter untersucht werden.übertreffen die Mobilfunkanschlüsse mit über 55 Millio- Aber er lässt eine beruhigende Tendenz erkennen. nen die Zahl der Festnetzanschlüsse in Deutschland bei weitem. Aus unserem Alltag ist die Mobilfunktechnolo- Unsere Aufgabe ist es, die weitere Forschung anzu- gie damit gar nicht mehr wegzudenken. stoßen, neue Ergebnisse genau zu prüfen und den Mobil- funkbetreibern dabei verlässliche Rahmenbedingungen Dennoch ist der Fortschritt in dieser Technologie aber zu setzen. Wo dort durch freiwillige Vereinbarungen ge- keineswegs unumstritten. Elektromagnetische Felder, setzliche Regelungen ersetzt werden können, begrüßen die als Übertragungsmedium gebraucht werden, sind der wir das ausdrücklich. Preis für diesen Fortschritt. Vor allem der begonnene Ausbau der UMTS-Technologie braucht ein dichtes Netz Eine Initiative fehlt aber bisher im Mobilfunkbereich: von Sendeanlagen. Künftig wird es nur noch wenige Die Mobilfunkbrache engagiert sich zwar in der Opti- Räume geben, die nicht mit elektromagnetischen Fel- mierung der Mobilfunksendeanlagen – das ist Teil des dern konfrontiert sind. Mobilfunkgeräte brauchen Sen- Forschungsvorhabens des Bundesministeriums für Bil- deanlagen, die so genannten Basisstationen. Diese neh- dung und Forschung: Das gesamte Netz soll zukünftig men die Funksignale der Mobiltelefone auf, verarbeiten leistungsfähiger sein und weniger Emissionen verursa- sie und leiten sie weiter in die verschiedenen Netze. chen –, aber das Umweltzeichen „Blauer Engel“ für be- Nach Auskunft der Regulierungsbehörde für Telekom- sonders strahlungsarme Handys wird von den Herstel- munikation und Post gibt es derzeit über 70 884 Mobil- lern abgelehnt. Das dokumentiert der Bericht funkbasisstationen der an 50 480 Standorten. Bundesregierung deutlich. Angesichts der Tatsache, dass bereits ein Viertel der auf dem Markt befindlichen Han- In dem Maße, wie neue Sendeanlagen aufgestellt wer- dys die Kriterien des „Blauen Engels“ erfüllen, ist das den, wuchs die Verunsicherung in der Bevölkerung, ob verwunderlich. Hier muss die Bundesregierung darauf und in welcher Form die elektromagnetische Strahlung drängen, dass das seit über 25 Jahren erfolgreichste Um- zu Gesundheitsschäden führen kann. Auf der einen Seite weltzeichen in Europa zugunsten der Verbraucher auch will jeder heutzutage mobil telefonieren, aber anderer- von der Mobilfunkbranche als Beitrag zur Aufklärung seits darf kein Sendemast in seiner unmittelbaren Umge- und Information der Kunden genutzt wird. Die Industrie bung aufgestellt werden. Da die ganz überwiegende muss außerdem die Entwicklung strahlungsärmerer Han- Mehrheit die Mobilfunktechnologie befürwortet, steht dys weiter engagiert vorantreiben. Hier werden wir wei- die Politik in der Verantwortung, mögliche Gefahren für ter wachsam bleiben und aktiven Verbraucherschutz ein- die Gesundheit auf ein Minimum zu beschränken. Die fordern. zahlreichen Anfragen von allen im Deutschen Bundestag (B) (D) vertretenen Fraktionen belegen, dass die Politik das Lassen Sie mich zum Schluss einen Ausblick wagen: Thema sehr ernst nimmt. Wenn wir die Risken der Mobilfunktechnologie weiter engagiert erforschen und alle Anstrengungen unterneh- Die Verunsicherung in der Bevölkerung beruht haupt- men, um die Bürgerinnen und Bürger besser zu infor- sächlich auf mangelnden Kenntnissen über die Funk- mieren und umfassend aufzuklären, kann diese Technik tionsweise der Mobilfunktechnologie. Es ist unerläss- in Zukunft nicht nur die Kommunikation weiter revolu- lich, beim Bau von Sendeanlagen mit Verbrauchern und tionieren. Kommunen zusammenzuarbeiten, um geeignete Stand- orte zu finden. In diese Diskussion vor Ort muss der Auch andere Bereiche des gesellschaftlichen und so- Bürger mit einbezogen werden; er darf nicht außen vor zialen Lebens können positiv von der Mobilfunktechno- bleiben. Hinwegtäuschen soll dies aber keinesfalls da- logie profitieren. Ich denke da insbesondere an die Me- rüber, dass es in der Bevölkerung durchaus ein subjekti- dizin, Logistik, Wissenschaft und Forschungstechniken. ves Bedrohungsgefühl gibt. Die Mobilfunktechnologie kann unser Leben positiv Durch wissenschaftliche Untersuchungen zu den beeinflussen. Sie ist eine Zukunftsbranche in Deutsch- Auswirkungen des Mobilfunks auf Menschen, Tiere und land und Europa, deren Chancen wir nutzen müssen, Umwelt konnten bislang keine wie auch immer gearteten ohne die möglichen Risiken zu übersehen. Schädigungen zweifelsfrei nachgewiesen werden. Die Bundesregierung führt in ihrer Antwort auf die Kleine Werner Wittlich (CDU/CSU): Ein Leben ohne Mo- Anfrage der CDU/CSU-Fraktion aus, dass es bei Einhal- bilfunktelefon können sich viele von uns heute gar nicht tung der geltenden Grenzwerte nach dem derzeitigen in- mehr vorstellen. Handys machen das Leben einfach und ternational anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnis- bequem. Mit dem Handy ist jeder heutzutage jederzeit stand keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit an fast jedem Ort erreichbar. Kaum ein anderes Kommu- gibt. Vielfach sind die Ängste in Teilen der Bevölkerung nikationsmittel hat unser tägliches Leben so nachhaltig einfach auf Unwissenheit und mangelnde Aufklärung geprägt wie das Handy. Es steht aber nicht nur für Er- zurückzuführen. Hier muss die Politik ansetzen: Auf- reichbarkeit und Mobilität, sondern ermöglicht Informa- gabe von Politik muss es sein, die Debatte über mögliche tionsaustausch per SMS, das Surfen im Internet und die Gefahren von Mobilfunkanlagen zu versachlichen. Übermittlung von Fotos und Faxen. Für die CDU/CSU-Fraktion ist es ein wichtiges An- Der Mobilfunk hat sich in den vergangenen Jahren in liegen, ohne ideologische Vorbehalte an das Thema Mo- Deutschland zu einer außergewöhnlichen Wachstums- bilfunktechnologie heranzugehen. Für mich sind im 16568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Zusammenhang mit Mobilfunk Vorsorge und Aufklä- der Handys ist derzeit ungenügend. Erst kürzlich hat das (C) rung die zwei wesentlichsten Kriterien. Gute For-Jahresgutachten 2004 zur Umsetzung der Selbstver- schungsarbeit ist im Bereich Gesundheitsschutz diepflichtung der Mobilfunkanbieter auf diesen Umstand halbe Vorsorge. Die Bereitschaft der Mobilfunkbetrei- hingewiesen. Die Praxis bestätigt dies. Der Verbraucher ber, die Strahlungsintensität der Handys zu kennzeich- findet den so genannten SAR-Wert meist nur versteckt in nen, ist zu begrüßen. der Gebrauchsanleitung oder auf den Internetseiten von Mobilfunkbetreibern und Herstellern. Tatsächlich bleibt Das bisherige Engagement der Bundesregierung in dem Verbraucher aber dadurch beim Kauf im Geschäft der Forschung wird den Anforderungen aber in keiner der Strahlungswert seines Handys verborgen. Eine in der Weise gerecht. Und – vor dem Hintergrund der Vergabe Öffentlichkeit anerkannte und bekannte Kennzeichnung der UMTS-Lizenzen – warum wurde die Forschung nicht vorher schon intensiviert? Aber offensichtlich hat der Produkte gibt es nicht. Der „Blaue Engel“ des Bun- die Bundesregierung – wenn auch spät – das Problem desumweltministeriums wird von den Herstellern nicht zur Kenntnis genommen; denn für die Jahre 2002 bisverwendet. 2005 werden immerhin 8,5Millionen Euro zur Verfü- Herr Trittin, ich habe Sie bereits letztes Jahr im Bun- gung gestellt. Die von derBundesregierung zur Verfü- destag dazu aufgefordert, endlich die Voraussetzungen gung gestellten Mittel reichen aber für umfangreiche und für ein Label zu schaffen, das von allen akzeptiert wird. langfristige Forschungsprojekte bei weitem nicht aus. Der „Blaue Engel“ ist für diese Aufgabe ungeeignet. Die CDU/CSU-Fraktion fordert die BundesregierungDoch geschehen ist bislang nichts. Es ist daher auch auf, Mittel für ein Programm zur Verfügung zu stellen, nicht richtig, wenn im vorliegenden Bericht die Verant- das den Anforderungen der Weltgesundheitsorganisation wortung allein auf die Hersteller abgewälzt wird. Herr genügt und auch internationale Forschungsergebnisse Trittin, Sie sind dran, handeln Sie! aufgrund von Langzeitstudien berücksichtigt. Entschei- dend ist, mögliche negative Folgen ernst zu nehmen und Die Industrie wird sich bei der Vorgabe eines geeigne- zugleich in Forschung und Aufklärung zu investieren. ten Labels der Einführung auf dem Markt nicht weiter Hier wären die Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Li- verschließen können. Dann ist der mündige Verbraucher zenzen zur Erforschung eventueller gesundheitlichergefragt. Er wird entscheiden, ob die Strahlungsintensität Auswirkungen besser investiert gewesen als zum Stop- beim Kauf eine Rolle spielen soll oder nicht. Forschung fen von Haushaltslöchern. ist richtig und wichtig, aber die Aufklärung der Verbrau- cherinnen und Verbraucher eben auch. Michael Kauch (FDP): Der Mobilfunk gehört längst zu unserem Alltag. Trotzdem oder vor allem deshalb (B) Parl. Staatssekretärin beim Bundes- (D) geht die Debatte darüber weiter, wie diese Technologie Simone Probst, mit möglichst geringen Gefahren für Gesundheit undminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Umwelt eingesetzt werden kann. heit: Mit Datum vom 27.Dezember 2004 hat die Bun- desregierung dem Deutschen Bundestag den Bericht Jüngste Veröffentlichungen der Forschung haben die- über die Forschungsergebnisse in Bezug auf Emissions- ser Diskussion weiter Nahrung gegeben. Sie dienen aber minderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktech- allenfalls der Verwirrung der Bürgerinnen und Bürger nologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen und nicht ihrer Aufklärung. Dabei brauchen wir in erster – Drucksache 15/4604 – vorgelegt Sie kommt damit der Linie Klarheit, die wir aber nur durch weitere, unermüd- Bitte des Deutschen Bundestags nach, über den aktuel- liche Forschung erhalten werden. Das muss für allelen Forschungsstand zum Thema Mobilfunk in regelmä- Aspekte der Mobilfunktechnologie gelten. ßigen Abständen informiert zu werden. Die Öffentlichkeit diskutiert vor allem über die Risi- In dem Bericht wird dargelegt, dass die Bundesregie- ken der Sendeanlagen. Stärker als bislang sollten aber rung vor drei Jahren ihre Forschungsaktivitäten zum die Handys Gegenstand der Forschungsuntersuchungen Thema Mobilfunk ressortübergreifend erheblich intensi- sein. Die Strahlenschutzkommission hat darauf hinge- viert hat: Das BMWA fördert Projekte zum Thema Ge- wiesen, dass es hier am ehesten zu einer Belastung des nehmigungsverfahren und Risikokommunikation, das Nutzers kommen kann. Das heißt, wir müssen die For- BMBF fördert Forschungsarbeiten zum Thema Emis- schung nicht nur für die Sendeanlagen, sondern gerade sionsmindernde Technologien, das BMU hat das Deut- auch für die Handys verstärken. sche Mobilfunk Forschungsprogramm – DMFP – ini- Das Deutsche Mobilfunk Forschungsprogramm mit tiiert. seinem breit angelegten Forschungsrahmen ist daher ein Ziel des Deutschen Mobilfunk Forschungsprogramms Schritt in die richtige Richtung. Insbesondere begrüße ist es, offene Fragen über mögliche biologische Wirkun- ich die Erforschung der Wirkungen von elektromagneti- gen und Mechanismen von elektromagnetischen Feldern schen Feldern auf Kinder und Jugendliche. Bei dieser sich noch in der körperlichen Entwicklung befindlichen des Mobilfunks wissenschaftlich belastbar zu klären und Gruppe besteht erhöhter Forschungsbedarf. unter Einbeziehung internationaler Forschungsergeb- nisse deren gesundheitliche Relevanz abzuschätzen. Ziel Doch Forschung allein reicht nicht aus. Danebendieses Programms ist es aber auch, die verbliebenen Un- muss die Verbraucherinformation verbessert werden.sicherheiten auf diesem Gebiet zu verringern und gege- Die Information insbesondere über den Strahlungswert benenfalls zu klären. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16569

(A) Das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm wird Abschluss des Programms – voraussichtlich 2007 – wer- (C) vom Bundesamt für Strahlenschutz koordiniert; dieden wir weiterhin besonderen Wert auf Transparenz bei Strahlenschutzkommission begleitet das Programmder Projektvergabe und der Ergebnisdarstellung legen. fachlich: 2002 waren 52 Forschungsvorhaben in Bezug Der nächste Bericht über den Fortschritt des Programms auf Auswirkungen auf Mensch und Tier, dosimetrische wird dem Deutschen Bundestag im Frühjahr 2006 zuge- Verfahren zur exakten Bestimmung der Exposition der leitet werden. Bevölkerung durch hochfrequente elektromagnetische Felder des Mobilfunks, epidemiologische Untersuchun- gen zu möglichen Zusammenhängen zwischen elektro- Anlage 17 magnetischen Feldern und gesundheitlichen Auswirkun- gen sowie zur Verbesserung der Risikokommunikation Zu Protokoll gegebene Reden ausgewählt worden. Davon haben 45 Projekte nach Plan begonnen. Bei den anderen Projekten konnten leider zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- keine kompetenten Forschungsnehmer gewonnen wer- zes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahn- den oder vorgeschaltete Pilotstudien zeigten, dass sich gesetzes (Tagesordnungspunkt 22) die gewünschte Fragestellung nicht im jeweiligen Pro- jekt beantworten ließ. Karin Rehbock-Zureich (SPD): Wir reden am heu- An die Durchführung der Projekte werden höchstetigen Tag über einen weiteren wichtigen Schritt für den Qualitätsanforderungen gestellt. Daher werden zurzeit Schienenverkehr in Europa. Mit dem vorliegenden Ge- zwei Projekte auf ihre Machbarkeit geprüft: Zum einen setz setzen wir die Richtlinie 2004/51/EG um und stellen soll in einer Kohortenstudie der Einfluss der Handynut- die Weichen für einen europaweiten offenen Wettbewerb zung auf den Gesundheitsstatus von circa 250 000 Stu- im Schienengüterverkehr. Deutschland liegt mitten im dienteilnehmern aus Dänemark, Schweden, England und erweiterten Europa, ist das Transitland Nummer eins und Deutschland dokumentiert werden. Zum anderen wurde die Verkehrsdrehscheibe Europas. Das ist bereits in den vergangenen Jahren mehrfach nach einer Fortset- heute die Realität. Bis zum Jahr 2015 sind Zuwächse zung der Flachsmeer-Studie gefragt. Demnach soll die von 64 Prozent im Güterverkehr prognostiziert. Solch von einigen Anwohnern beobachtete Verschlechterung eine Steigerung kann nicht allein auf der Straße abgewi- ihrer Schlafqualität in der Nähe von Mobilfunk-Basis- ckelt werden. stationen untersucht werden. Unter Berücksichtigung Die Schiene wird einen wichtigen Teil des Zuwachses von Empfehlungen der Strahlenschutz-Kommissionaufnehmen müssen und so Mobilität für uns alle sicher- wird dieses Projekt derzeit vergeben. In einer dreimona- stellen müssen. Die deutschen Unternehmen im Schie- (B) tigen Pilotphase haben die Forschungsnehmer die Gele- nengüterverkehr, allen voran die Konzerntöchter der DB (D) genheit, die Rahmenbedingungen, wie zum BeispielAG, sind gut positioniert. Schon heute werden über 30 geeignete Standorte und definierte Expositionsbedingun- Prozent der Verkehrsleistung im europäischen Schienen- gen, mit den Netzbetreibern festzulegen. In den Mach- güterverkehr von deutschen Unternehmen geleistet. barkeitsstudien soll unter anderem auch die konstruktive Heute geschieht dies hauptsächlich auf dem deutschen Zusammenarbeit mit den Netzbetreibern fortgesetzt wer- Schienennetz, das mit seiner Länge von 36 000 Kilome- den. tern das größte der EU ist. Damit die Unternehmen euro- Die Bundesregierung möchte noch offene Fragen zur paweit operieren können, werden jetzt die gesetzlichen gesundheitlichen Bewertung des Mobilfunks durch wis- Regelungen zur schrittweisen Öffnung umgesetzt. So senschaftliche Studien klären. Dabei ist ein Studiende- können die Gütertransporte auf der Schiene ihre wirt- sign unverzichtbar, das eindeutige und aussagekräftige schaftlichen Stärken mit lang laufenden, grenzüber- Ergebnisse liefert. Erfüllt ein Studiendesign diese Vo- schreitenden Transporten voll ausspielen. Ab dem 1. Ja- raussetzung jedoch nicht, wie dies bei anderen Studien nuar 2006 besteht ein vollständiger Zugang zu allen zum Teil vorkommt – ich denke hier zum Beispiel an die Strecken öffentlicher Eisenbahnen für den grenzüber- so genannte Naila-Studie –, führen kleinräumig beo-schreitenden Güterverkehr. Ab dem 1. Januar 2007 ist bachtete Assoziationen möglicherweise zu schwer-der Eisenbahngüterverkehr dann vollständig liberalisiert. wiegenden Fehlinterpretationen. Das BMU und das BfS fordern für die Projekte des Deutschen Mobilfunk-For- Ich bin überzeugt davon, dass die Richtlinie 2004/51/ schungsprogramms einen hohen wissenschaftlichenEG, die wir mit dem vorliegenden Gesetz umsetzen wer- Standard – und haben daher dem Wunsch einer Naila- den, eine sehr positive Auswirkung auf den europäischen Wiederholungsstudie nicht entsprochen. Im dritten Fach- Schienengüterverkehr haben wird. Für die Eisenbahnun- gespräch zum DMFP am 28. April diesen Jahres wurde ternehmen erhöhen sich die Chancen am Markt deutlich, mit breiter wissenschaftlicher Beteiligung eine ersteda sich auch die Schienennetze der Nachbarländer in den Zwischenbilanz gezogen. Es scheint, dass der einge-nächsten Jahren für den Güterverkehr öffnen müssen. Im schlagene Weg auf große Zustimmung trifft. Übrigen gilt für das deutsche Netz bereits heute ein hoher Liberalisierungsgrad. Der europaweite Vergleich zeigt: Ein Ausblick zum Schluss: Eine große Zahl an Ein- Deutschland muss sich beim diskriminierungsfreien zelergebnissen kommt auf uns zu. Wenn alle Ergebnisse Netzzugang überhaupt nicht verstecken. Die zentrale vorliegen, sind sie jeweils einzeln, aber auch in einer Ge- Studie für den Bereich Liberalisierung im Schienenbe- samtschau zu bewerten. Anschließend ist zu prüfen, wel- reich stammt von IBM und der Humboldt-Universität. che politischen Konsequenzen daraus folgen. Bis zum Sie hebt Deutschland eindeutig hervor: Die deutsche und 16570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) englische Netzregulierung gilt als Benchmark für diesen durch um – sage und schreibe – 20 Prozent verteuert.(C) Bereich. Danach müssten nämlich Lokführer nach einer „auswär- tigen Ruhezeit“, das heißt zum Beispiel Übernachtung Wir alle wollen ein flächendeckendes Schienennetz, im Ausland, die nächste „Ruhezeit“ am heimischen das alle Wettbewerber auf der Schiene hinsichtlich Tras- Wohnort verbringen. Für die nationalen Staatsbahnen senvergabe und Trassenpreise gleich behandelt. Diskri- kein Problem, denn sie wechseln das Personal nach dem minierung von Wettbewerbern darf es nicht geben. Dafür Grenzübertritt. Die privaten aber, die in Transportzyklen haben wir vor einigen Wochen die europäischen Richtli- planen, müssten ihr Personal nach Hause transportieren nien 2001/12, 13 und 2001/14/EG umgesetzt bzw. das und neues Personal aus der Heimat herbeikarren, um Vermittlungsverfahren dazu erfolgreich beendet. Dieweiterfahren zu dürfen. So will man sich offenbar un- Wettbewerbsaufsicht wurde neu aufgestellt, die Kon-liebsame Konkurrenten auch nach der offiziellen Libera- troll- und Eingriffsmöglichkeiten wurden verstärkt. Um lisierung vom Halse schaffen. Warten wir es also ab, ob in dieser Richtung weiterzugehen, dafür dient jetzt die, wir unser Ziel tatsächlich in den im Gesetz enthaltenen wie ich denke, unstrittige Gesetzesregelung, über die wir Fristen erreichen werden. heute debattieren. Diese Erfahrungen lehren auch: Die Bundesregierung Die Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedin- darf sich mit dem auf dem Papier Erzielten nicht zufrie- gungen für die Schiene ist ein fortdauernder Prozess.den geben, sondern sie muss ständig darüber wachen, Und es gilt nach wie vor, dass seitens dieses Parlaments dass trotz des jetzt erreichten Stadiums nicht neue Hin- und auch seitens der Europäischen Union weiteredernisse ersonnen werden, die das erstrebte Ziel wieder Schritte folgen, um den Schienenverkehr in Deutschland infrage stellen bzw. wieder hinausschieben sollen. In und in Europa voranzubringen. Gerade angesichts der diesem Zusammenhang dürfen wir nicht übersehen, was europäischen Erweiterung und der prognostizierten Zu- sich bisher trotz prinzipieller Öffnung des Zugangs in nahme des weltweiten Güterumschlags können wir auf bestimmten Schienenverkehrsbereichen, tut. Da nutzen einen wettbewerblich organisierten, gut aufgestelltenausländische Eisenbahnunternehmen oft über Tochterfir- und leistungsfähigen Schienengüterverkehr nicht ver- men durchaus die Möglichkeit, auf dem deutschen zichten. Die Kapazitäten der Straße allein reichen jeden- Schienennetz der Deutschen Bahn AG wirkungsvoll falls nicht. Dieses Gesetz wird zusammen mit der Richt- Konkurrenz zu machen. Dagegen ist gar nichts einzu- linienumsetzung bei unseren europäischen Partnern dazu wenden, wenn das Prinzip der Gegenseitigkeit gewahrt beitragen, europaweit die Rahmenbedingungen für den ist. Wenn aber – wie eben beim französischen Nach- Schienengüterverkehr zu befördern. barn – das eigene, nationale Netz praktisch abgeschottet bleibt, müssen wir uns alle, vor allem aber die Bundesre- gierung mit allen ihr gebotenen Mitteln, dagegen zur(D) (B) Eduard Lintner (CDU/CSU): „Was lange währt, wird endlich gut!“, könnte man meinen, wenn wir jetzt Wehr setzen. Das hat sie in der Vergangenheit leider zur parlamentarischen Beratung des so genannten Ersten – wir haben es hier schon oft beklagt – nicht mit der nö- Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahnge- tigen Verve getan, sondern sie war auf mancherlei Kuh- setzes kommen. Lange haben wir die Bundesregierung handel bedacht und hat nur halbherzig beim EU-Partner und die Europäische Union, vor allem Frankreich, drän- und bei der Kommission protestiert. gen müssen, um bei der Liberalisierung des Zugangs zu Ich bin der Überzeugung: Wir hätten das jetzt in sicht- den nationalen Schienenwegenetzen vorwärts zu kom- bare Nähe gerückte Teilziel schon viel früher erreichen men. Jetzt soll das Schienennetz öffentlicher Eisenbah- können, wenn das Anliegen von der Bundesregierung nen in der EU ab 1. Januar 2007 für den Güterverkehr stets mit dem nötigen Nachdruck verfolgt worden wäre. geöffnet werden, und zwar für den nationalen und inter- Ich hoffe nur, dass die Bundesregierung dieses Mal die nationalen Güterverkehr und für die Kabotage! Aber we- nationalen Interessen in dieser Sache, ohne Abstriche zu gen der über die Jahre hin mit der EU und einzelnen Mit- machen, zu verfolgen bereit ist. In diesem Zusammen- gliedstaaten gemachten Erfahrungen glaube ich an den hang sei auch erwähnt, dass sich der politische Wille zur Erfolg erst, wenn er am 1. Januar 2007 auch tatsächlich Öffnung der Netze für alle Betreiber von Schienenver- eingetreten ist. Immer wieder haben wichtige Länder in kehr auch darauf richten muss, die noch vorhandenen der EU – hier ist in erster Linie Frankreich zu nennen – technischen, administrativen und faktischen Hinder- Wege und Mittel gefunden, die verbal bejahte Liberali- nisse zügig zu beseitigen. Dazu gehört zum Beispiel die sierung durch diverse Tricks und kleinlich errichteteAngleichung der verwendeten Technik, mindestens aber, Hürden in der Praxis zu behindern oder gar zu unterbin- sie untereinander kompatibel zu machen. Dazu gehört den. die gegenseitige Anerkennung von Ausbildungen beim Personal, das Akzeptieren von Zulassungen beim rollen- Das jüngste Beispiel für ein solches Manöver ist, ge- den Material, die Standardisierung von Hard- und Soft- gen die Absicht der EU-Kommission, die von denware im Bereich Leit- und Versorgungssysteme sowie europäischen Bahnen, CER, mit den europäischenbei der Signal- und Sicherheitstechnik. Dazu gehört vor Transportarbeitergewerkschaften ausgehandelte Verein- allem auch die mentale Schulung des nationalen Perso- barung über die Einsatzbedingungen des fahrenden Per- nals, nicht durch vorurteilsbehaftete Verhaltensweisen, sonals im grenzüberschreitenden Schienenverkehr als Sand ins Getriebe der Liberalisierung zu streuen. Richtlinie der EU für alle Betreiber von Schienenverkehr verbindlich zu machen. Die Personalkosten der privaten Man darf die praktische Bedeutung des für den Konkurrenten der nationalen Staatsbahnen würden da- 1. Januar 2007 angekündigten Liberalisierungsschrittes Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16571

(A) wahrlich nicht unterschätzen. Der Systemvorteil des Gü- verkehrs und erwarten und fordern von den anderen(C) terverkehrs auf der Schiene liegt in der langen Trans-europäischen Mitgliedstaaten eine ebenso pünktliche portstrecke, möglichst über 300 Kilometer. OptimaleUmsetzung der EU-Richtlinie. Beförderungsweiten sind im kleinräumigen Mittel- und Westeuropa meist nur, beim grenzüberschreitenden Gü- Die darüber hinausgehenden vom Bundesrat einge- terverkehr zu erreichen. Die Grenzen der EU-Staatenbrachten Änderungsvorschläge zum Eisenbahnrecht müssen – wie beim LKW-Verkehr – ohne Halt oder nur werden wir in der zweiten Lesung intensiv prüfen und mit kurzem, technisch bedingtem Aufenthalt passiertbewerten. werden können. Noch heute sind leider Klagen über un- nötig lange Wartezeiten oder gar das tagelange Ver- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wir beraten heute schwinden von Güterzügen auf dem Netz europäischer zu zugegebenermaßen nachtschlafender Zeit – wahr- Staaten keineswegs selten. Die häufig abgegebenen küh- scheinlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit – eine für nen Prognosen über einen deutlich wachsenden Anteil den europäischen Eisenbahngüterverkehr entscheidende der Schiene am gesamten Güterverkehr haben sich alle- Weichenstellung, nämlich die Öffnung aller Güterver- samt bislang nicht bewahrheitet. Sie können wohl erst kehrsnetze ab dem 1. Januar 2006 für grenzüberschrei- erreicht werden, wenn die Liberalisierung der Schienen- tende Verkehre und ab dem 1. Januar 2007 für alle Güter- netze innerhalb der EU tatsächlich Platz gegriffen hat. verkehre. Das würde dann zum Beispiel auch im Bereich der Um- welt eine wirksame Entlastung von den Auswirkungen So weit, so schlecht! Wie in allen Fällen ist Richtli- eines immer dichter werdenden Straßenverkehrs bedeu- nienentwürfen der Europäischen Union erst dann tat- ten, um nur ein damit verbundenes Sekundärziel zu er- sächliche Geltung verschafft, wenn sich auch alle Länder wähnen. der Europäischen Union in der praktischen Umsetzung dieses Gesetz zu Eigen machen. Es hat hohe Bedeutung, Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wünschen dem Libera- weil Zuwachsraten des Güterverkehrs auf der Schiene lisierungsprozess auf Europas Schienennetzen daher ein mehr und mehr – völlig zu Recht – im grenzüberschrei- durchschlagendes, künftig unbehindertes Fortkommen. tenden langläufigen Schienengüterverkehr stattfinden Darauf wird sich unsere ständige Aufmerksamkeit rich- werden. Es ist höchst ärgerlich, dass nach wie vor das ten. Denken der alten Staatsbahnen gilt, die an der jeweiligen Grenze sowohl das Personal als auch die Lokomotive Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE auswechseln und damit einen im Verhältnis zu anderen GRÜNEN): Ziel der erneuten Änderung des Eisenbahn- Verkehrsträgern nicht hinzunehmenden Wettbewerbs- gesetzes ist die Umsetzung der EU-Richtlinie 2004/51 in nachteil erleiden. (B) (D) nationales Recht. Zum 1. Januar 2007 soll der gesamte Güterverkehr auf der Schiene in Europa liberalisiert wer- Erst durch den Einsatz innovativer neuer Unterneh- den. Ein notwendiger Schritt um die ehrgeizigen Ziele men, die mit Mehrsystemlokomotiven und hoch ausge- der Europäischen Union und der Bundesrepublikbildetem Personal grenzüberschreitend Güterverkehr be- Deutschland bezüglich der Verlagerung von Gütern von treiben, und durch eine von der EU vorangetriebene der Straße auf die Schiene zu erreichen. Die Gesetzesän- schrittweise Öffnung bestimmter Netze ist es gelungen, derung erlaubt es sowohl staatlichen als auch privaten auch denn Verkehrsträger Schiene wieder Potenzial und Güterverkehrsbahnen aus den Mitgliedstaaten, innerhalb Zuwächse zu verschaffen. Die politische Aufgabe wird Deutschlands und im Verkehr nach und von Deutschland deshalb sein, dafür einzutreten, dass insbesondere Län- Güter auf der Schiene zu transportieren. Mit der zu er- der wie Frankreich und Spanien ebenfalls in der Praxis wartenden zeitgleichen Umsetzung in den anderen Mit- die jetzt vorgegebenen Normen umsetzen, und der gliedstaaten wird im Gegenzug auch deutschen Güterver- Schiene zum Durchbruch zu verhelfen. kehrsbahnen der lückenlose und diskriminierungsfreie Zugang zu den Netzen der europäischen Nachbarn ermög- Es mutet etwas seltsam an, dass im Gesetzentwurf der licht. Bundesregierung lediglich auf die finanziellen Auswir- kungen der öffentlichen Haushalte insbesondere des Ei- Durch die bereits relativ weit fortgeschrittene Öff-senbahnbundesamtes als Kontrollbehörde eingegangen nung des nationalen Schienengüterverkehrsmarktes in wird. Von einer Bundesregierung, die sich unter rot-grü- Deutschland können wir sehr gut beobachten, dass Wett- ner Mehrheit auf die Fahne geschrieben hat, bis zum bewerb auf der Schiene zu wachsenden Marktanteilen Jahre 2015 100 Prozent Zuwachs auf der Schiene im Be- der Schiene führt: Im Vergleich der Jahre 2003 und 2004 reich des Güterverkehrs zu erzielen, hätte man erwarten stieg der Anteil von DB-Wettbewerbern gefahrenenkönnen, im Vorblatt eines solchen Gesetzentwurfes auch Schienengüterverkehre von circa 5 Prozent auf circaauf die tatsächlichen Möglichkeiten im Wettbewerb der 10 Prozent, gleichzeitig stieg die Gesamtmenge der auf Verkehrsträger untereinander einzugehen. Wenn dies die der Schiene beförderten Güter um rund 8,2 Prozent auf derzeitige Opposition macht, zeigt das überdeutlich, dass 86 Milliarden Tonnenkilometer. Die Schiene konnte so- wir mehr als die reinen Verwaltungskosten bei diesem mit im Jahr 2004 ihren Marktanteil im Gesamtgüterver- Gesetzentwurf sehen und hoffen, dass die durch Europa kehrsmarkt um circa 2,7 Prozent steigern. Wettbewerb geschaffenen Möglichkeiten nun auch zügig ausgenutzt im Güterverkehr wirkt und bringt die Schiene nachwerden. Das gilt sowohl als Aufforderung an die bisheri- vorne. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich den vor-gen Staatsbahnen als auch als Bekräftigung an neue in- liegenden Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Güter- novative Unternehmen. 16572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Überhaupt nicht in dieses Bild passt deshalb der auf das wir heute beraten, ist Teil der Umsetzung des „Zwei- (C) der europäischen Ebene ebenfalls beschlossene Gesetzent- ten Eisenbahnpaketes" der EU und bringt uns die voll- wurf. Zwischen den europäischen ehemaligen Staatsbah- ständige Öffnung der Eisenbahnnetze für den Güterver- nen und der Europäischen Transportgewerkschaft wurde kehr zum l. Januar 2007. Das Ihnen jetzt vorliegende vereinbart, dass Lokomotivführer, die grenzüberschrei- Gesetz legt die dafür notwendigen weiteren Schritte fest: tend fahren, am zweiten Tag nach Grenzübertritt wieder erstens vollständiger Zugang zu allen Strecken öffentli- in ihrem Heimatland zurück sein müssen. Hier wird aus cher Eisenbahnen im grenzüberschreitenden Verkehr ab fadenscheinigen und durchsichtigen Gründen offensicht- 1. Januar 2006 und zweitens vollständige Liberalisie- lich ein Wettbewerbsvorteil innovativer Privatunterneh- rung des Eisenbahngüterverkehrs ab 1. Januar 2007. Und mer beschränkt. Wenn auch alle Staatsunternehmen end- wenn ich vollständig sage, dann meine ich den nationa- lich dann nach dem neuen Gesetz der allgemeinenlen Güterverkehr, den internationalen Güterverkehr und Eisenbahngesetzgebung ebenfalls grenzüberschreitend die Kabotage. tätig werden, besteht Hoffnung, dass auch dieses unsin- nige Gesetzeswerk wieder aufgehoben wird. Die Libera- Dies ist die einzige Chance, dem Eisenbahngüterver- len unterstützen den Sinn dieser Gesetzesänderung,kehr die Bedeutung zu verschaffen, die ihm in einem in- freuen sich auf die entsprechende sachliche Debatte in tegrierten Verkehrssystem zukommen sollte. den Ausschüssen und kündigen bereits jetzt ihre Zustim- Und noch etwas: Wir sollten dieses Gesetzgebungs- mung an. verfahren nicht dazu benutzen, Diskussionen wieder auf- leben zu lassen, die wir bereits im Zusammenhang mit Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- dem Dritten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher desminister für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen: Der Vorschriften geführt und im Vermittlungsverfahren zu internationale Eisenbahnverkehr ist eine der großeneinem guten Ende gebracht hatten. Konzentrieren wir Wachstumschancen der Eisenbahnen. Er führt bisher im uns jetzt auf die Umsetzung der Richtlinie zur Liberali- Verhältnis zu seinen Möglichkeiten ein Schattendasein. sierung des Schienengüterverkehres. Er kann es brau- Die Konkurrenten, allen voran LKW und Flugzeug, sind chen. der Eisenbahn auf dem Weg zu einem liberalisierten eu- ropäischenVerkehr weiterhin voraus. Anlage 18 Im zurückliegenden Jahrzehnt sind daher große An- strengungen unternommen worden, um der Eisenbahn Zu Protokoll gegebene Reden einen wesentlichen Platz im Rahmen einer integrierten europäischen Verkehrspolitik einzuräumen. Die bürokra- zur Beratung des Antrags: Mehr Verbraucher- (B) tischen und technischen Schranken im europäischen schutz durch eindeutigere Kennzeichnung und (D) Bahnnetz müssen daher so bald wie möglich fallen. Er- sendungsbezogene Rückstandsuntersuchungen klärtes Ziel der Bundesregierung ist die zügige Verwirk- von Geflügelfleischimporten in die EU aus lichung eines einheitlichen europäischen Eisenbahn- Drittländern (Tagesordnungspunkt 23) marktes. Hierfür haben wir auch immer in der Europäischen Union geworben und das Entstehen der Manfred Zöllmer (SPD): Mit ihrem Antrag will die zwei bislang verabschiedeten Eisenbahnpakete tatkräftig CDU/CSU den Verbraucherschutz durch die Kennzeich- unterstützt. nung und sendungsbezogene Rückstandsuntersuchungen von Geflügelfleischimporten aus Drittländern in die EU Ein erster Schritt nach der Bahnreform war die Um- verbessern. Dabei suggeriert sie, dass es sich um eine setzung der Richtlinien des l. Eisenbahnpaketes, mit der neue Problematik handelt, derer sie sich im Sinne der der diskriminierungsfreie Zugang aller nationalen Eisen- Verbraucherinnen und Verbraucher annehmen muss. bahnen zur Eisenbahninfrastruktur festgeschrieben wurde. Die Zugangsrechte im grenzüberschreitenden Offenbar wird der Verbraucherschutz von der CDU/ Verkehr wurden ebenfalls erweitert, allerdings zunächst CSU immer mehr als wichtiges Politikfeld entdeckt – so beschränkt auf das transeuropäische Schienengüternetz. neu, wie dies jedoch für sie ist, ist das für uns nicht. Ein vollständiger Zugang zu allen Strecken öffentlicher Eisenbahnen war erst für das Jahr 2008 vorgesehen. Auch die Problematik von Importen speziell von ge- salzenem Geflügelfleisch aus Drittländern und deren Dies reicht jedoch nicht aus, um der Bahn in Europa Auswirkungen auf den europäischen und deutschen Ge- die Bedeutung zu verschaffen, die ihr in einem integrier- flügelmarkt sind der Bundesregierung seit Jahren be- ten Verkehrssystem zukommen sollte. Dabei ist gerade kannt. Es handelt sich im Übrigen um ein europäisches auch der internationale Verkehr mit seinen langen Beför- und nicht nur um ein nationales Problem. Doch wenn derungswegen und seinem Wachstum die Chance für die man den Antrag genau liest, wird man den Eindruck Zukunft der Schiene. Erst wenn es gelingt, die Bahnen nicht los, dass sie nicht den Verbraucherschutz im Auge vollständig von ihrer Bindung an die nationalen Schie- hat, sondern ihn lediglich als Mäntelchen benutzen, um nennetze zu lösen, kann man von einem echten interna- hier Schutz- und Lobbyarbeit für die deutsche Geflügel- tionalen Verkehrsmittel sprechen. wirtschaft zu betreiben, die vor ausländischen Importen geschützt werden soll. Vor Ihnen liegt ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Marktöffnung im Eisenbahnbereich: Das Erste Än- Es gibt niemanden hier im Saal, der nicht will, dass es derungsgesetz zum Allgemeinen Eisenbahngesetz, über der deutschen Wirtschaft und auch der deutschen Geflü- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16573

(A) gelwirtschaft gut geht. Was aber eindeutig missfällt, ist oder thermisch behandeltes Fleisch vorzunehmen, ferner (C) die Tatsache, dass die CDU/CSU die wichtigen Interes- bei Verarbeitungserzeugnissen aus Geflügelfleisch. Der sen der Verbraucherinnen und Verbraucher als Ausweg Vorschlag klingt nur auf den ersten Blick griffig, pro- benutzt, um andere Ziele zu verfolgen. Damit bringt sie blemlösend und verbraucherfreundlich, entpuppt sich einmal mehr zum Ausdruck, wie wenig ernst es ihr mit aber bei genauerem Hinsehen als unpraktikabel, als eine dem Verbraucherschutz wirklich ist. Sie nutzt ihn nur als Scheinlösung, die zudem handelsrechtlich bedenklich Spielball zur Durchsetzung ganz anderer Interessen. ist. Worum geht es hier eigentlich? Wir reden hier sowohl Wie soll beispielsweise Hühnerfleisch, das gerade in über Handelsfragen als auch über gesundheitlichen Ver- Convenience-Produkten verschwindet, gesondert ge- braucherschutz. Bereits vor Jahren war festzustellen,kennzeichnet werden? Die Verarbeitungsketten für Ge- dass die Importe von gesalzenem Geflügelfleisch in die flügelfleisch werden immer länger, wie soll da was wo EU deutlich zugenommen hatten. Dabei handelte es sich gekennzeichnet werden? Der Antrag gibt an dieser Stelle in erster Linie um leicht gesalzenes Geflügelfleisch. Im keinerlei konkrete Antworten. Jahr 2001 waren dies über 226 000 Tonnen, wovon zwei Drittel aus Brasilien und ein Drittel aus Thailand stamm- Wenn wir über Kennzeichnung reden, dann ist sie aus ten. Der größte Anteil der importierten Menge ging mit Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher nur dann gut 117 000 Tonnen nach Deutschland. Fünf Jahre zu- sinnvoll, wenn sie auf ein konkretes Produkt bezogen ist. vor, 1996, waren dies im Vergleich lediglich 3 600 Ton- nen. Dies belegt eine immense Steigerung. Aber die CDU/CSU suggeriert nicht nur, dass die Kennzeichnung das Allheilmittel zum Schutz der Geflü- Diese zunehmenden Importe und auch die Zunahme gelwirtschaft sei, sondern vermengt auch in unzulässiger der eigenen Geflügelproduktion als Folge der BSE-Krise Weise die Handelsproblematik mit der Lebensmittelhy- führten in der Tat zu einem deutlichen Preisdruck aufgiene. den europäischen Märkten für Geflügelfleisch. Als Hauptursache für die dramatische Entwicklung der Ein- Sie tut in ihrem Antrag gerade so, als wenn die Bun- fuhren von gesalzenem Geflügelfleisch in die EU – und desregierung die in der Vergangenheit bekannt geworde- mithin nach Deutschland – wurde auf EU-Ebene die er- nen teilweisen hygienischen Probleme mit Geflügel- heblich geringere Zollbelastung von gesalzenem Geflü- fleischimporten – etwa die Nitrofuran-Kontaminatio- gelfleisch gegenüber frischem und gefrorenem Geflügel- nen – nicht ernst nehme und die Lebensmittelsicherheit fleisch ausgemacht. für die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht gewähr- leistet sei. Und sie tut so, als ob dieser gesamte Bereich Im Juli 2002 hat die EU-Kommission eine Einrei- ungeregelt sei. Dies ist falsch und diese Bundesregie- (B) hungsverordnung in Kraft gesetzt, wonach entbeinte, (D) rung braucht keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Le- tiefgefrorene und gesalzene Teile von Hühnern mit ei- bensmittelsicherheit. Diese Bundesregierung hat das nem Kochsalzgehalt von 1,2 bis 1,9 GHT – Gewichts- Prinzip des vorsorgenden Verbraucherschutzes immer hundertanteile – als „gefrorenes Fleisch“ eingereiht wur- ernst genommen. Insoweit ist es wichtig, sachlich auf den. Damit verbunden war dieses Fleisch nunmehr auch Folgendes hinzuweisen: Bereits jetzt müssen nach dem mit höheren Importzöllen belegt als lediglich gesalzenes geltenden allgemeinen Lebensmittelrecht der Gemein- Fleisch. In der Folge sanken die Importe dramatisch. schaft – nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EG) Gegen diese Regelung beantragten die größten Im- Nr. 178/2002 – die Lebensmittelunternehmer auf allen portländer Brasilien und Thailand jedoch die Einsetzung Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen in den eines WTO-Panels. Dieses endete erwartungsgemäß zu- ihrer Kontrolle unterstehenden Unternehmen dafür sor- gunsten der Antragsteller mit dem Ergebnis, dass die EU gen, dass die Lebensmittel die Anforderungen des Le- die Einreihung des gesalzenen Geflügelfleischs als „tief- bensmittelrechts erfüllen. gefroren“ nicht mehr vornehmen darf. Die Einreihungs- verordnung wurde als unzulässige Beschränkung des Ferner enthält Art. 11 dieser Verordnung die allge- Marktzuganges und Verletzung von WTO-rechtlichen meine Verpflichtung für den Lebensmittelhandel, dafür Verpflichtungen der EU gewertet. zu sorgen, dass in die Gemeinschaft eingeführte Lebens- mittel, also auch das Geflügelfleisch, die entsprechenden In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Deutsch- Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen. Zudem land bereits frühzeitig zoll- und WTO-rechtliche Beden- dürfen nach Art. 14 Abs. 1 Lebensmittel, die nicht sicher ken gegen die Einreihungsverordnung angemeldet hatte, sind, nicht in Verkehr gebracht werden. aber keine Unterstützung durch andere Mitgliedstaaten fand. Ob die EU-Kommission die genannte Entschei- Im Hinblick auf Lebensmittel aus tierischer Herkunft dung vor dem Appellate-Body anfechten wird, ist derzeit schreibt die Verordnung (EG) Nr. 853/2004 zudem vor, noch unklar. dass Lebensmittelunternehmer, die Erzeugnisse tieri- schen Ursprungs aus Drittländern einführen, sicherzu- Insoweit stellt sich die Problematik neu und muss stellen haben, dass die Einfuhr nur unter den in dieser nunmehr auch neu diskutiert werden. Es muss sicher Verordnung hierfür festgelegten Bedingungen erfolgt auch damit gerechnet werden, dass die Geflügelfleisch- – Art. 6 –. Eine dieser Bedingungen ist, dass das Erzeug- importe wieder deutlich ansteigen werden. nis den Anforderungen der Rückstandskontrollrichtlinie Die CDU/CSU schlägt nun vor, die Kennzeichnung 96/23/EG entspricht. Diese Verordnung muss ab dem der Drittlandimporte auch für gesalzenes, gewürztes1. Januar 2006 angewandt werden. 16574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) Daher sind auf EG-Ebene ausreichende rechtliche In- fleisch kaufen. Denn die Herkunft dieses Fleisches muss (C) strumentarien vorhanden, um einen angemessenen Ver- nicht angegeben werden. Ein zu vernachlässigendes Ein- braucherschutz in Bezug auf Rückstände in importiertem zelproblem? Keineswegs. Viele ernährungsbewusste Geflügelfleisch zu gewährleisten. Es liegt in der Verant- Verbraucher entscheiden sich hierzulande bewusst für wortung jedes Beteiligten im Lebensmittelhandel, seiner den Verzehr von Geflügelfleisch, insbesondere Eltern. Verpflichtung zur Sicherheit von Lebensmitteln nachzu- Sie können es täglich in Supermärkten sehen: Mütter kommen. und Väter mit ihren Kindern gehen zielstrebig auf die Kühltheke zu, in der Hähnchenschenkel, Entenkeulen, Ich will betonen, dass natürlich auch in der Vergan- Putenbrüste küchenfertig und abgepackt liegen. Sie kau- genheit Geflügelfleisch und Geflügelfleischerzeugnisse fen dieses Weißfleisch insbesondere aus zwei Gründen: stichprobenweise auf Rückstände untersucht wurden.Erstens: Geflügelfleisch ist gesund. Schließlich weiß Das In-Verkehr-Bringen von Geflügelfleisch und Geflü- nicht nur die Bundesministerin um die Bedeutung einer gelfleischerzeugnissen etwa mit antibiotischen Stoffen ausgewogenen, proteinreichen und fettarmen Ernährung ist nach geltendem Recht verboten. Bei entsprechenden für unsere Kinder. Zweitens: Das Fleisch kommt aus Einstufungen kann bereits jetzt jede Partie, die geliefert Deutschland. Dafür scheint jedenfalls das Veterinärkon- wird, untersucht werden. trollkürzel „DE“ auf der Verpackung zu stehen. Werden der Europäischen Kommission konkrete Die Verbraucher, insbesondere Eltern, sind nämlich Sachverhalte bekannt, zum Beispiel durch Inspektionen vorsichtig geworden. Die Probleme der jüngeren Ver- des Lebensmittel- und Veterinäramtes der Europäischen gangenheit wie BSE oder Geflügelpest haben sie verun- Kommission in einem Drittland, die die Einhaltung die- sichert. Nach dem BSE-Skandal verwenden sie vor al- ser Vorschriften fraglich erscheinen lässt, so kann sie ge- lem Geflügelfleisch. Und angesichts der immer noch in genüber diesem betroffenen Drittland eine Schutzklau- selentscheidung erlassen. Solche EntscheidungenAsien grassierenden Geflügelpest achten sie darauf, dass beinhalteten in der Vergangenheit zum Beispiel Einfuhr- das Fleisch aus Europa, am besten aus Deutschland beschränkungen in der Form, dass die Sendungen aus kommt. Sicher ist sicher. Drittländern systematisch auf das Vorhandensein von Geflügelfleisch insbesondere aus Deutschland gibt Rückständen untersucht werden mussten. den Verbrauchern dieses sichere Gefühl – zu Recht. Wir Dies zeigt: Es gibt vielfältige Möglichkeiten, den mit kaufen bewusst hiesige Produkte. Denn wir wissen um der gegenwärtigen Rechtslage die Lebensmittelsicher- ihre ausgezeichnete Qualität. In Deutschland bestehen heit zu gewährleisten. Mit den Vorschlägen der CDU/ die weltweit schärfsten Anforderungen an die Nahrungs- CSU wird die Lebensmittelsicherheit jedoch nicht er-mittelsicherheit. Es werden höchste Ansprüche an Tier- und Umweltschutz gestellt. Und dies wird auch regelmä- (B) höht. Ihre Forderungen sind nicht praktikabel und WTO- (D) konform. ßig kontrolliert. Diese Sicherheit hiesiger Produkte trägt entscheidend zu der gesunden und ausgewogenen Ernäh- Sie missbraucht den Verbraucherschutz. Das Problem rung bei, die wir ja alle wollen. Nicht zuletzt wegen des des zunehmenden Wettbewerbs auf dem Geflügel-Plus an Frische, da die Transportwege bis zur Vermark- fleischmarkt kann nicht durch die Hintertür gelöst wer- tung bei uns kurz sind. Diese Qualität, Sicherheit und den. Frische unserer Nahrungsmittel ist nicht nur Eltern wich- Mit einer Vielzahl von Anträgen und Wortbeiträgen tig, sondern der Mehrzahl der deutschen Verbraucher. im Deutschen Bundestag hat die CDU/CSU-Fraktion das Und was müsste die zuständige Ministerin Frau Hohe Lied des Freihandels und des Abbaus von Han-Künast, nun all diesen Verbrauchern sagen, wenn sie delsschranken gesungen. Die Bundesregierung wurde diese ausreichend informieren wollte? Dass diese sich kritisiert, dies nicht entschieden genug in den internatio- fälschlicherweise in Sicherheit wiegen! Dass allein im nalen Verhandlungen vertreten zu haben. Wer wie die vergangenen Jahr annähernd 100 000 Tonnen Geflügel- CDU/CSU so engagiert Handelserleichterungen fordert, fleisch allein aus Brasilien nach Deutschland importiert ist dann auch für die Konsequenzen mit verantwortlich. worden sind – von Ländern wie Thailand etc. pp. ganz zu schweigen! Gitta Connemann (CDU/CSU): Schon Wilhelm Busch wusste um den Wert guten heimischen Geflügel- Dass dieses Fleisch hier allerdings im Falle einer Ver- fleisches. So lässt er Max und Moritz mehr als einenarbeitung als deutsches Produkt gekennzeichnet verkauft Streich spielen, um in den Genuss eines Hühnerschmau- werden darf! Dass eine Lücke im deutschen Verbrau- ses auf Kosten der Witwe Bolte zu kommen. Ich zitiere: cherschutz klafft! „Durch den Schornstein mit Vergnügen sehen sie die Dies alles müsste die zuständige Frau Ministerin un- Hühner liegen, die schon ohne Kopf und Gurgeln lieb- seren Verbrauchern sagen, wenn ihr an einer vollständi- lich in der Pfanne schmurgeln.“ gen Information gelegen wäre. Allein, die Ministerin Wir wissen nicht, ob Max und Moritz, wenn sie heute schweigt. Sie weist nicht darauf hin, dass nach der der- leben würden, dicke Kinder wären. Aber eines wissen zeitigen Rechtslage die Herkunft von Geflügelfleisch wir: Wenn Max und Moritz heute in eine Pfanne greifen aus Drittländern wie Brasilien, Thailand, Vietnam, Indo- würden, könnten sie nicht sicher sein, woher das Geflü- nesien, China, Chile usw. nur anzugeben ist, wenn es un- gel stammt. Dieses Problemstellt sich nämlich allen behandelt ist. So sagt es die einschlägige EWG-Verord- Verbrauchern in Deutschland, die gebratenes, gesalze- nung Nr. 1906/90 des Rates. Sie weist nicht darauf hin, nes, gewürztes oder anderweitig behandeltes Geflügel- dass als unbehandeltes Fleisch nur solches gilt, das nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16575

(A) haltbar gemacht worden ist. Sie weist nicht darauf hin, standskontrollgarantien eingehalten werden. Insbeson-(C) dass nur bei frischem oder kältebehandeltem Geflügel- dere müssen unsere Verbraucher, müssen wir uns darauf fleisch das Herkunftsland anzugeben ist. Das heißt: eine verlassen können, dass alle für den Kauf eines Produktes Prise Salz – Simsalabim – schon spielt die Herkunftnötigen Informationen ausgewiesen sind und dann auch keine Rolle mehr. Denn sobald ein leichtes Salzen oder stimmen. Denn unsere Kaufentscheidung findet auf der Würzen erfolgt, ist das Fleisch behandelt und fällt damit Grundlage dieser Informationen statt. Deshalb muss ge- unter die Kategorie „Geflügelfleischzubereitung“. sichert sein, dass die Angaben auf einer Packung Geflü- gelfleisch wahr und vollständig sind. Folge: Es muss keine Auskunft über die ursprüngli- che Herkunft des Produktes gegeben werden. Dasselbe Die Verbraucher, die Kunden im Supermarkt müssen geht im Fall der thermischen Behandlung: einmal in die sich bei ihrem Geflügelkauf darauf verlassen können, Pfanne und kurz gebraten – Simsalabim –, eine Kenn- dass die stimmt, was auf der Verpackung steht. Die ge- zeichnung ist nicht mehr erforderlich. genwärtige Kennzeichnungspflicht wird diesen Verbrau- cheranforderungen aber nicht gerecht. Der Verbraucher, die Mutter oder der Vater, können also nicht mehr erkennen, woher das Fleisch stammt. Dies ist umso erstaunlicher, als die Bundesregierung Schlimmer noch: In den meisten Fällen müssen sie sogar sonst an jeder Stelle auf die Bedeutung der Verbraucher- den Eindruck gewinnen, dass das Fleisch aus Europa, information und Lebensmittelkennzeichnung hinweist. aus Deutschland kommt. Denn Geflügelfleisch aus Dritt- So heißt es im Agrarbericht 2003 – ich zitiere –: Bei Le- ländern wie Brasilien wird in aller Regel in Großpackun- bensmitteln sind die Kennzeichnungsverpflichtungen ein gen in die EU und nach Deutschland importiert. Einewichtiges Instrument der Verbraucherinformation und Portionierung und Verpackung erfolgt erst in Betrieben eine unverzichtbare Voraussetzung für Transparenz und in der EU und in Deutschland. Nach der einschlägigen Vertrauen“. Richtig. Aber es bleiben leere Worte, wenn EU-Hygienevorschrift muss dieser Betrieb die Packung es um die Kennzeichnung von Geflügelfleisch geht. mit seiner Veterinärkontrollnummer kennzeichnen. Er- Die Bundesregierung stellt weiter fest, dass die Ver- folgt die Portionierung in Deutschland, erhält das Pro- braucherinnen und Verbraucher – ich zitiere – „daher ein dukt das Kürzel DE. Das heißt: einmal verpackt – Sim- weit reichendes Informationsbedürfnis“ haben. Richtig. salabim –, das Herkunftsland scheint in Europa Allein, zu diese Feststellungen reichen nicht. Es bedarf der liegen. Handlung. Die Verbraucher, die sich über Kürzel, Siegel, Kenn- Den Verbraucherinnen und Verbrauchern reicht es zeichnungen informiert haben, werden nämlich davon nicht, dass ihr Bedürfnis bemerkt wird. Sie verlangen, ausgehen, dass es sich um ein europäisches, gegebenen- völlig zu Recht, eine gründliche, wahrheitsgetreue Infor- (B) (D) falls auch deutsches Produkt handelt. Sie verbinden mit mation. Und ein in Brasilien gezüchtetes und verarbeite- dem Kürzel „DE“ gerade kein brasilianisches Geflügel, tes Huhn ist noch lange kein deutsches, weil es hierzu- das nur behandelt und portioniert worden ist. Unserelande gewürzt wurde! Verbraucher halten es für ein deutsches Huhn. Hier wird mit der Gutgläubigkeit unserer Verbraucher und dem Im Agrarbericht wird auch die Wichtigkeit der Wahl- Vertrauen in deutsche Qualitätsstandards gespielt. Und freiheit angesprochen. So heißt es – ich zitiere –: „Um dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache ihnen“ den Verbraucherinnen und Verbrauchern „Wahl- verwerflich, dass die immer größeren Geflügelfleisch- freiheit zu ermöglichen, müssen geeignete Informatio- importe aus Drittländern im Hinblick auf die Nahrungs- nen bereitgestellt und für Transparenz der Produktions- mittelsicherheit durchaus problematisch sind. verfahren gesorgt werden.“ Ich kann diesen schönen Worten erneut nur zustimmen. Allein, wo bleibt die Tat? Dies hat der Bundesrat bereits im Jahr 2002 festge- Nicht reden, sondern handeln, ist das Gebot der Stunde. stellt. In seiner Entschließung 250/02 weist er darauf hin, Und daran fehlt es. Wenn die zuständige Ministerin diese dass im Rahmen der Einfuhruntersuchungen in Sendun- hehren Ansprüche bereits im Agrarbericht des Jahres gen aus Drittländern wie China, Indonesien und Vietnam 2003 formuliert, warum hat sich dann bis heute nichts verbotene Stoffe wie Nitrofurane, Chloramphenicol und getan? Hat die Ministerin ihre Feststellungen vielleicht andere pharmakologische Zusätze entdeckt wurden. vergessen? Oder erschienen sie ihr nicht mehr so wich- Daraus folgert der Bundesrat – ich zitiere –: „Die Ge- tig? Welche Antworten gibt die Ministerin denn nun den samtheit dieser Feststellungen legt den Verdacht nahe, Verbraucherinnen und Verbrauchern, die ein weit rei- dass in einer Vielzahl von Drittländern die rechtlichen chendes Informationsbedürfnis haben und denen sie ei- und administrativen Maßnahmen hinsichtlich der Ver- gentlich Wahlfreiheit ermöglichen will? wendung pharmakologisch wirksamer Stoffe und der Ich kann die Bundesregierung, die zuständige Minis- Durchführung von Rückstandskontrollen nicht oderterin nur auffordern, ihren Worten nun endlich auch Ta- nicht hinreichend implementiert sind und die gegebenen ten folgen zu lassen. Dies setzt voraus, dass die Ministe- Garantien nicht eingehalten werden.“ rin sich endlich auf europäischer Ebene dafür einsetzt, die Kennzeichnungspflicht auf behandeltes Geflügel- Wenn in unserem Land Geflügel aus Drittländern zum fleisch und auf Verarbeitungserzeugnisse auszudehnen. Kauf angeboten wird, muss aber doch gewährleistet sein, dass auch dieses importierte Fleisch den europäischen Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen und deutschen Standards entspricht. Es muss doch gesi- der CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordere ich eine ein- chert sein, dass die von Drittländern gegebenen Rück- deutige Kennzeichnung von Geflügelfleisch. Es geht 16576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005

(A) dabei keineswegs darum, Produkte aus Drittländern zu Vielmehr legen deutsche Konsumenten großen Wert auf (C) verunglimpfen. Erst recht geht es nicht darum, unsere Qualität und Sicherheit. Ich gebe der CDU-Fraktion Produkte vor denen anderer Erzeugerländer abzuschot- Recht, dass die hohen deutschen Produktionsstandards, ten. Es muss unseren Verbrauchern allerdings möglich zu denen vor allem beim Tier- und Verbraucherschutz sein, die Herkunft der Produkte zweifelsfrei nachvollzie- die grüne Fraktion einen erheblichen Beitrag geleistet hen zu können. Dazu müssen sendungsbezogene Rück- hat, vom Kunden sehr geschätzt werden. Besonders standsuntersuchungen generell vorgeschrieben werden. deutlich zeigt sich das an den Absatzzahlen in einigen Wachstumsbereichen des Einzelhandels. Ökologisch er- Wir fordern deshalb, dass diese Untersuchungen ent- zeugte Lebensmittel, Eier aus Freilandhaltung und fair weder vor Abgang aus den Drittländern bzw. seitens und gehandelte Produkte verzeichnen Zuwachs in einer an- auf Kosten des Importeurs in Verbindung mit der Ein- sonsten durch Umsatzrückgang gezeichneten Wirt- fuhr aus den Drittländern erfolgen sollen. Denn es muss schaftsbranche. Eine umfassende Kennzeichnung hilft, verhindert werden, dass sich in Deutschland nicht er-diese Kriterien zu erkennen. Auch wir sind dafür, dass laubte Rückstände in Geflügelfleisch befinden und hier- durch anerkannte und transparente Kennzeichnung deut- zulande verkauft werden – ohne dass der Verbraucher lich wird, welche Qualität jeder Konsument für sein über die Herkunft des Fleisches und die verminderte Le- Geld erhält und welchen Preis die Ware wert ist. Hier bensmittelsicherheit informiert ist. gibt es auch noch Potenziale, die auszuschöpfen sind. Schon Johann Wolfgang von Goethe wusste – ich zi- Eine Antwort auf Probleme bei der Kennzeichnung tiere –: „Denn, was man schwarz auf weiß besitzt, kann hat uns der Bericht des TABs zum Projekt „Entwick- man getrost nach Hause tragen.“ Meine Damen und Her- lungstendenzen bei Nahrungsmittelangebot und -nach- ren von der Koalition, sorgen Sie dafür, dass dieser Aus- frage und ihre Folgen“ gegeben. Er empfiehlt Gütezei- spruch endlich wieder stimmt. Sorgen Sie dafür, dass un- chen, zum Beispiel Biosiegel und QS-Zeichen, die eine sere Verbraucher ihre Produkte wohl informiert undVielzahl von Informationen zur Qualität von Nahrungs- bedenkenlos nach Hause tragen können. Stimmen Sie mitteln zusammenfassen und deren Kriterien und Hinter- unserem Antrag zu! gründe transparent gemacht werden müssen. Die Mög- lichkeiten von Gütesiegeln, die bestimmte Qualitäten Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor- von Nahrungsmitteln deutlich machen, sind bei weitem sorgender und risikoorientierter Verbraucherschutz ge- noch nicht ausgeschöpft. Dies gilt unter anderem auch hört zu den Grundpfeilern bündnisgrüner Politik und der für die Kennzeichnung regionaler Lebensmittel, wo bei- rot-grünen Regierungspolitik. Dabei legen wir einenspielsweise geschützte Ursprungsbezeichnungen und ge- besonderen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Rechts- schützte geographische Herkunftsangaben nach der EU- (B) position des Verbrauchers und eine angemessene Berück- Verordnung 92/2081/EWG in Deutschland bisher kaum (D) sichtigung von Verbraucherinteressen. Die Marktchancen genutzt werden. sollen fair verteilt werden und ein funktionierender Noch eines gilt es bei neuen Kennzeichnungsinitiati- Wettbewerb mit sozialverträglichen, ökologischen, ge- ven zu bedenken: In den letzten Jahren ist eine Vielzahl sunden und wirtschaftlichen Angeboten schafft die größ- von Kennzeichen für regionale und ökologische Nah- ten Wahlmöglichkeiten und die besten Angebote für rungsmittel sowohl von staatlicher als auch von privater Konsumenten. Gleichzeitig sind das Vorsorgeprinzip Seite entwickelt worden. Die Vielzahl von Kennzeich- und der Schutz vor Irreführung und Täuschung wichtige nungen, der teilweise geringe Informationswert von Leitlinien unserer Verbraucherpolitik. Kennzeichnungen und insgesamt die Vielfältigkeit der Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion setzt angebotenen Informationen über die Qualität von Nah- sich mit einem wichtigen Thema auseinander. Geflügel, rungsmitteln fuhren tendenziell zum „Information-Over- das unter unzureichenden Haltungsbestimmungen und load“ und zu zusätzlicher Verunsicherung der Verbrau- mit verbotenen Stoffen produziert wurde, darf den Weg cher. Auch deshalb gilt: Nicht jede Kennzeichnung ist in die Lebensmittelgeschäfte nicht finden. Allerdingseine gute Orientierung. – das ist schon auffällig – schimmert im vorliegenden Ein weiterer Punkt muss zum Antrag der Union kri- Antrag doch eher die Perspektive der durch Importe aus tisch angemerkt werden: Der Antrag erweckt implizit Drittländern stark unter Druck stehenden einheimischen den Eindruck, das BMVEL und Renate Künast wären in Geflügelwirtschaft durch die Zeilen. Das ist partiell dieser Angelegenheit untätig, wenn sich darin die Auf- nachvollziehbar, zumal sich mit der Entscheidung des forderung an die Bundesregierung findet, sich in der EU entsprechenden WTO-Panels vom 24. März gegen eine bezüglich der Herkunftsbezeichnung bei Geflügelfleisch höhere Verzollung von gesalzenem und gefrorenem Ge- „initiativ“ einzusetzen. Als wüsste die Union nicht, dass flügelfleisch die entsprechenden Importe vermutlich er- solches längst geschehen ist! Ich zitiere – mit Erlaubnis höhen werden. Obendrein kann auch ein solcher höherer des Präsidenten – aus dem Bericht des BMVEL über die Zoll durch die Umstellung auf den Import von gegartem Tagung des Rates für Landwirtschaft und Fischerei am oder gewürztem Fleisch wieder umgangen werden. 28. Februar 2005 in Brüssel Punkt V, „Herkunftskenn- Die Verbände der Geflügelwirtschaft erarbeiten der- zeichnung von Lebensmitteln“: zeit einen auf europäischer Ebene abgestimmten Vor- Unterstützt von mehreren Mitgliedstaaten bekräf- schlag zur Herkunftsbezeichnung. Für die Kaufentschei- tigte dung vieler Verbraucher ist dies jedoch nicht so ausschlaggebend, wie es im Unionsantrag erscheint.– also nicht zum ersten Mal und nicht ohne Verbündete – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Mai 2005 16577

(A) Bundesministerin Künast im Rat ihre Forderungmen bei der Einfuhr und Verarbeitung solcher Produkte (C) nach umfassenderen Herkunftsangaben bei Lebens- sind. mitteln. Immer mehr Verbraucherinnen und Ver- Die Agrarwirtschaft muss sich – ebenso wie alle an- braucher wollten die Auswahl ihrer Lebensmittel deren Branchen – dem globalen Wettbewerb stellen. Ich auch nach der Herkunft der Lebensmittel treffen komme bekanntlich aus dem Emsland, wo die Geflügel- können. wirtschaft ein sehr wichtiger Zweig der Agrarwirtschaft Und weiter: ist. Ich kann Ihnen versichern, dass die Geflügelzüchter schon längst im globalen Wettbewerb stehen. Sie stellen Die Angabe des Herkunftslandes ermögliche insbe- sich dieser Herausforderung – und bestehen mit ihrer gu- sondere, bei der Kaufentscheidung Umwelt- oder ten Qualität am Markt. Entwicklungsaspekte zu berücksichtigen. So könn- ten die Konsumenten zum Beispiel auf Produkte Die Geflügelwirtschaft leidet dabei vor allem an ei- zurückgreifen, die nur kurze Wege bis zur Vermark- nem: an nationalen Alleingängen, die ihre Wettbewerbs- tung zurückgelegt hätten oder aus Entwicklungslän- fähigkeit im europäischen und weltweiten Vergleich be- dern stammten. hindern. Durch eine ideologische Blockadehaltung verhindert Ministerin Künast einen Kompromiss bei der Das alles ist zum Beispiel auf der Website des Ministeri- Legehennenhaltung mit dem Ergebnis, dass die Produk- ums nachzulesen. tion ins Ausland abwandert. Für den Tierschutz bringt das nichts – für den Verbraucherschutz ebensowenig. Das BMVEL und Renate Künast sind hier also – und zwar schon seit längerem – am Ball und wir alle wissen Es ist richtig, dass viele Verbraucher es schätzen, um ihre Durchsetzungsfähigkeit auf EU-Ebene. deutsches Geflügelfleisch zu kaufen. Es ist bestimmt ein ganz wichtiges Vermarktungsinstrument, hervorzuhe- Ein ehrlicher Antrag ohne parteipolitische Hinterge- ben, dass das Fleisch aus Deutschland stammt und dass danken ist der Antrag der Union deshalb nicht. Ein sol- die Produktionsstandards sozusagen vom Ei an bestimm- cher Antrag müsste nämlich den bisherigen Einsatz von ten Kriterien genügen, beispielsweise bei der artgerech- Renate Künast würdigen und ihr Unterstützung zusagen, ten Haltung oder bei der Fütterung. anstatt wie hier den völligunzutreffenden Eindruck zu erwecken, die Regierung müsse quasi erst zum Jagen ge- Verbraucherinformation ist ein sehr wichtiges tragen werden. Thema – auch bezüglich der Herkunft der Lebensmittel. Aufgeklärte Verbraucher müssen eine mündige Ent- scheidung treffen können in Kenntnis der Faktenlage. Hans-Michael Goldmann (FDP): Was ist wichtig (B) für die Verbraucher? Das ist doch die eigentliche Frage, Aber wir dürfen nicht unter dem Deckmantel des Ver-(D) die hier im Raum steht. Die Verbraucher wollen sicher braucherschutzes eine Abschottung der Märkte in sein, dass die Lebensmittel, die sie erwerben, unseren Deutschland und Europa vorantreiben. Mehr Bürokratie, hohen Qualitätsstandards entsprechen. Sie wollen sicher die den globalen Handel hemmt, bringt den Verbraucher- sein, dass in den Lebensmitteln keine Rückstände von schutz nicht voran. Die Verbraucher verlangen nach gesundheitsschädigenden Substanzen enthalten sind. Information, um eine Abwägung zu treffen, um ihre Kaufentscheidung anhand bestimmter Kriterien zu über- Eine Geflügelwurst – zum Beispiel Geflügel-Morta- prüfen. Ich habe großes Zutrauen zu unserer Lebensmit- della –, die in deutschen Geschäften verkauft wird, muss telindustrie, die den Verbraucher durch entsprechende bestimmte Qualitätsstandards erfüllen. Die Wurst darf Angaben ausreichend informieren kann und dies auch die Grenzwerte für pharmakologisch wirksame Stoffe will. nicht überschreiten; gesundheitsschädigende Substanzen Wir müssen auch aufpassen, dass wir nicht bei jeder dürfen nicht enthalten sein. Dies gilt für Produkte, die Entscheidung der WTO – der wir uns im Übrigen ver- Ausgangsmaterial aus deutscher Produktion wie auch traglich verpflichtet haben und die auch uns und nicht aus ausländischer Produktion enthalten, gleichermaßen. nur die Entwicklungs- und Schwellenländer einmal zu Umfassende Kontrollen der hier verarbeiteten Lebens- mehr Marktoffenheit zwingt – gleich aufschreien und die mittel stellen dies sicher. Der Verbraucher kann also si- Regeln verschärfen. cher sein, dass er hier nur solche Wurst und andere ver- arbeitete Produkte erwerben kann, die entsprechend Die FDP-Bundestagsfraktion steht zu mehr Verbrau- kontrolliert wurden. Die Funde von Nitrofuranen in Im- cherinformation. Die Verbraucher müssen alle Informa- portgeflügelfleisch zeigen, dass der zentrale Punkt des tionen erhalten, um eine mündige und aufgeklärte Ent- Verbraucherschutzes funktionierende Kontrollmechanis- scheidung treffen zu können.

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