SWR2 Musikstunde Meeresrauschen Und Vogelgezwitscher (4) Naturlaute in Der Musik – Naturgewalten
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Meeresrauschen und Vogelgezwitscher (4) Naturlaute in der Musik – Naturgewalten Von Silke Leopold Sendung: Donnerstag, 20. August 2015 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 Meeresrauschen und Vogelgezwitscher: Naturlaute in der Musik Donnerstag: Naturgewalten Signet 0'05 Meeresrauschen und Vogelgezwitscher: In unserer Musikstunde über Naturlaute wird es heute stürmisch. Im Studio begrüßt Sie Silke Leopold. Indikativ Heute, das sei jetzt schon einmal gesagt, wird es laut, denn heute soll es um Naturgewalten gehen, von denen es in der Musikgeschichte besonders seit dem 18. Jahrhundert viele gibt. Und weil es gestern um das Wasser ging, wollen wir heute mit einem Seesturm beginnen: Mit Antonio Vivaldis Concerto mit dem Titel La tempesta di Mare in F-Dur – da geht es ziemlich zur Sache, es braust und pfeift – nicht nur in den schnellen Ecksätzen. Auch im Mittelsatz rollen die Wellen immer wieder bedrohlich heran. Warner Classics 2564 64662-0 1 track 1-3 5:57 Antonio Vivaldi Concerti op. 10, Nr. 1 La tempesta di Mare F-Dur: Allegro, Largo, Presto Giovanni Antonini, Blockflöte Il Giardino Armonico 2 Giovanni Antonini und das Ensemble Il Giardino Armonico spielten Vivaldis Concerto La tempesta di mare. Naturgewalten haben in der französischen Oper seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt. Sie waren Teil des „merveilleux“, des Wunderbaren, das die Oper gegenüber dem Sprechtheater auszeichnen sollte. In Jean-Philippe Rameaus letzter Oper Les Boréades sind die Stürme sogar integraler Bestandteil der Handlung, denn die Freier, die um die Hand der Königin Alphise streiten, sind Abkömmlinge von Boreas, dem Gott des Nordwinds, der Alphise am Ende des 3. Aktes in einem furchtbaren Sturm entführen lässt, und dieser Sturm legt sich erst zu Beginn des 4. Aktes ganz allmählich wieder. ERATO 2292 45572-2 CD 2 track 19+20 6’42 Jean-Philippe Rameau Les Boréades: Entr’act Suite des Vents und Beginn IV. Akt „Nuit redoutable“ Gilles Cachemaille, Bass Philippe Langridge, Tenor Monteverdi Choir The English Baroque Soloists John Eliot Gardiner Das war das Ende des 3. und der Beginn des 4. Aktes aus Rameaus Les Boréades mit Gilles Cachemaille als Borilée und Philippe Langridge als Abaris, außerdem hörten Sie den Monteverdi Choir 3 und The English Baroque Soloists unter Leitung von John Eliot Gardiner. Die Tradition der Sturmszene hielt sich in der französischen Oper bis in das 19. Jahrhundert hinein. In seiner letzten, für Paris geschriebenen Oper Guillaume Tell komponierte Gioacchino Rossini eine beeindruckende Sturmszene. Natürlich sorgt diese Instrumentalmusik nicht nur für das nötige Zeitfenster für die Geschehnisse auf der Bühne; der Sturm bildet auch den Hintergrund für die turbulenten Ereignisse um die Befreiung von dem verhassten Landvogt Gessler, den Wilhelm Tell mit einem Pfeil erledigt. Die Natur ist ein Abbild der dramatischen Handlung. EMI Classics 7 69951 2 CD 4 track 10-12 (evtl. 13) 4’52 Gioacchino Rossini Guillaume Tell: 4. Alt, Sturmszene Mathilde: Montserrat Caballé Hedwige: Jocelyne Taillon Jemmy: Mady Mesplé Tell: Gabriel Bacquier Gessler: Louis Henrikx Leuthold: Nicolas Christou Ambrosian Opera Chorus Royal Philharmonic Orchestra Lamberto Gardelli In unserer Aufnahme der Sturmszene aus Rossinis Guillaume Tell hörten Sie Nicolas Christou als Leuthold, Montserrat Caballé als Mathilde, Jocelyne Taillon als Hedwige, Mady Mesplé als Jemmy, 4 Gabriel Bacquier als Tell sowie Louis Henrikx als Gessler, außerdem den Ambrosian Opera Chorus und das Royal Philharmonic Orchestra; es dirigierte Lamberto Gardelli. Wie alle Naturphänomene standen auch die Seestürme traditionell als Metapher für das aufgewühlte Innere eines Helden. In der italienischen Oper des 18. Jahrhundert, in der Opera seria, gab es unter den sognannten Gleichnisarien eine typische Seesturm- Metapher, nach dem Motto: Ich fühle mich wie ein steuerloses Schifflein auf dem Meer, d.h. dem wilden Meer meiner Leidenschaften. So ein Arientext kam in jeder zweiten Oper vor. Auch Wolfgang Amadeus Mozart komponierte ebenfalls eine derartige Arie, und er hat diese Aufgabe gelöst, indem er seinem Sänger derart halsbrecherische Koloraturen für die aufgewühlte Seele des Protagonisten hinschrieb, dass er die Arie später entschärfen musste, weil der Sänger, den er von früher kannte, inzwischen gealtert und nicht mehr in der Lage war, seine ursprüngliche Form zu halten. Die Rede ist von dem Tenor Anton Raaff und der Arie des Idomeneo „Fuor del mar ho un mar in seno“. Idomeneo, König von Kreta, ist einem Seesturm entkommen, indem er Neptun das erste Lebewesen versprochen hat, das ihm auf dem Festland entgegenkommen würde. Unglücklicherweise ist das sein Sohn, und Idomeneo ist verzweifelt. In dieser Situation weiß er nicht mehr aus noch ein: Dem Meer entkommen habe ich nun ein Meer in meiner Brust, singt Idomeneo. Anthony Rolfe-Johnson singt die ursprüngliche, mit Koloraturen gepfefferte Version, begleitet von The English Baroque Soloists unter Leitung von John Eliot Gardiner. 5 Archiv 431674-2 CD 1 track 15 6‘09 Wolfgang Amadeus Mozart, Idomeneo: Arie Fuor del mar ho un mar nel seno Anthony Rolfe-Johnson Tenor The English Baroque Soloists John Eliot Gardiner Das Interesse an Seestürmen in der Musik speiste sich auch aus einem allgemeinen Interesse an dem Erhabenen und an dem Verhältnis zwischen dem Erhabenen und dem Schönen. Diese Diskussion kam in der Mitte des 18. Jahrhunderts in der englischen Philosophie auf und wurde bald auch von deutschen Philosophen aufgegriffen. Immanuel Kant äußerte sich ausführlich über das Verhältnis von Schönem und Erhabenem und betonte, dass das Erhabene nicht von sich aus erhaben sei, sondern sich nur im betrachtenden Subjekt manifestieren könne. Er schrieb: „So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist grässlich; und man muss das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist." In der Musik galt der Seesturm weiterhin vor allem als pittoresk: Ignaz Holzbauer hat um 1769 eine Symphonie veröffentlicht deren letzter Satz La tempesta del mare heißt, aber viel zahmer daherkommt als Vivaldis gleichnamiges Concerto. Aber Holzbauer war ja auch Hofkomponist des pfälzischen Kurfürsten, musste das Decorum wahren und durfte die Hofdamen nicht erschrecken. 6 Archiv 435 738-2 CD 2 track 13 3:34 Ignaz Holzbauer Sinfonia Es-Dur: 4. Satz: La tempesta del Mare Camerata Bern Thomas Füri Sie hörten die Camerata Bern unter Leitung von Thomas Füri mit dem 4. Satz aus Ignaz Holzbauers Sinfonia Es-Dur. Das musikalische Interesse an den Naturgewalten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts speiste sich allerdings auch aus einem sehr konkreten Ereignis. Am 1. November 1755 zerstörte ein furchtbares Erdbeben zusammen mit einem Tsunami und einem Großbrand Lissabon und die gesamte Region des Atlantik bis hin nach Marokko. Zehntausende Menschen fanden den Tod, Lissabon wurde dem Erdboden gleichgemacht. Dieses Erdbeben zerstörte aber auch die herrschende Meinung, in der besten aller möglichen Welten zu leben und in gut aufklärerischer Manier das irdische Dasein erklären und beherrschen zu können. Und es stellte sich die alte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Überall in Europa war die Aufregung groß. Hamburg entsandte zwei große Schiffe mit Hilfsgütern nach Portugal, und im März 1756 fanden in allen Hauptkirchen der Hansestadt Gedenkgottesdienste statt. Georg Philipp Telemann, Musikdirektor der Stadt und schon fast 75 Jahre alt, komponierte dafür seine Donnerode und nahm dabei musikalisch direkt auf den Anlass Bezug. Das Bassduett „Er donnert, dass er verherrlichet werde“ malt mit den höchst ungewöhnlichen, das Rumoren der Erdplatten symbolisierenden Paukenwirbeln und 7 den peitschenden Violinmotiven ein Bild der außer Kontrolle geratenen Natur. Capriccio 10556 CD track 16 2’12 Georg Philipp Telemann, Telemann Donnerode: Duett „Er donnert,dass er verherrlich werde“ Hans Georg Wimmer Stefan Schreckenberger, Bass Das Kleine Konzert Hermann Max Hans Georg Wimmer und Stefan Schreckenberger sangen das Duett „Er donnert, dass er verherrlichet werde“ aus Telemanns Donnerode, begleitet vom Kleinen Konzert unter Leitung von Hermann Max. Auch wenn die Katastrophe von Lissabon eine andere Qualität der Erfahrung in die Musik hineintrug, hatte das Erdbeben doch auch in der Musikgeschichte schon eine Tradition herausgebildet, und zwar in Zusammenhang mit dem Text der Passionsgeschichte nach dem Evangelisten Matthäus. Nach Jesu Tod heißt es da: „Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, die Gräber taten sich auf, und standen auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen.“ Diesen