Zug um Zug durchs Urner Reusstal.

Neben seiner zentralen Bedeutung für den nationalen und internationalen Nord-Süd-Verkehr ranken sich jahrhundertealte Sagen ums mystische Gotthardmassiv. Darüber hinaus ist die Region aber auch ein faszinierendes Natur- und Ausflugsparadies. Unterwegs auf der Gottardo-Wanderweg Nordroute.

Text: Anita Brechbühl | Fotos: Anita Brechbühl

Ab Erstfeld blicken wir ungeduldig aus dem Zugfenster. Draussen rauscht die Berglandschaft vorbei, die wir in weniger als einer Stunde für einmal aus einer anderen Perspektive erleben werden. Talwärts geht’s nämlich zu Fuss der Gotthardbahn entlang durchs Urner Reusstal. Doch zuerst einmal muss unser Zug die Höhenmeter bis hinauf nach Göschenen bewältigen. «Da, die Kirche von », rufe ich aufgeregt und schon sind wir wieder in einem Kehrtunnel verschwunden. Zugegeben, die zahlreichen Richtungswechsel zwischen Erstfeld und Göschenen sind verwirrend und ich bin gespannt, wie wir die Bahninfrastruktur aus der Fussgängerperspektive erleben werden.

Weitere Artikel: www.news.sbb.ch 1/6 24 Minuten und etwas über 20 Kilometer später erreichen wir den Bahnhof Göschenen. Hier steigen wir aus, schnüren die Wanderschuhe und suchen zur Orientierung zuerst einmal den Wegweiser. Exakt 23.4 Kilometer Wanderweg liegen vor uns. Tönt nach viel. Und deshalb lassen wir es vorerst offen, ob wir die gesamte Strecke zu Fuss bewältigen, oder uns mit dem Bus zurück nach Erstfeld chauffieren lassen. Wir nehmen es, wie’s kommt und legen unser Augenmerk aufs erste Etappenziel Wassen.

Weitere Artikel: www.news.sbb.ch 2/6 Der Weg führt uns über die Göschenerreuss und wir erhaschen einen kurzen Blick auf den Dorfkern von Göschenen. Danach folgen wir dem ausgeschilderten Weg, der die ersten 1.5 Kilometer parallel zum Eisenbahntrassee geführt wird. Dass die Wanderung ein Eldorado für Eisenbahnbegeisterte ist, zeigt sich bereits nach wenigen Minuten. Da wandern wir nur einen hauchbreit vom Trassee entfernt talwärts und in regelmässigen Abständen erläutern Informationstafeln detailreich historische Ereignisse und herausragende Ingenieurleistungen im Rahmen des Baus der Gotthardbergstrecke.

Jedes Mal wenn sich ein Zug nähert, halten wir inne, rätseln, ob Güter- oder Personenzug und warten, bis er vorbeigerattert ist. Kurz vor Schöni biegt der Wanderweg in einer scharfen Linkskurve ab. Die Bahnstrecke taucht hier in einen Tunnel ein und wir marschieren zwischen Autobahn und eingeklemmt über grüne Matten Richtung Wassen. Aus dieser Perspektive wird mir zum ersten Mal bewusst, was für ein Nadelöhr das Urner Reusstal für den Transitverkehr darstellt. Am engen Talboden schlängelt sich die Reuss in Richtung Vierwaldstättersee und an den steilen Bergflanken werden die Transport- und Versorgungsinfrastrukturen über Brücken und durch Tunnels akrobatisch aneinander vorbei geführt.

Mal breiter Kiesweg, mal schmaler Naturpfad, für Abwechslung ist gesorgt und nach knapp einer Stunde taucht die Kirche von Wassen vor uns auf. Die markierte Abzweigung zum Fotospot lassen wir links liegen und legen dafür beim Freilichtmuseum Steinbruch Antonini direkt beim Bahnhof Wassen einen Zwischenstopp ein. Ein Fixpunkt am Gottardo-Wanderweg. Hier werden spannende Geschichten über die Blütezeit der Urner Steinbrüche während des Baus der Gotthardbahn porträtiert.

Der Weg führt uns weiter quer durch den Dorfkern von Wassen, an der Kirche vorbei auf die andere Talseite. Nicht nur als Zugpassagier, sondern auch als Wanderer erlebt man die Kirche aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.

Weitere Artikel: www.news.sbb.ch 3/6 Kurz nach Wiler erreichen wir eine schöne Feuerstelle, wo wir uns eine Pause gönnen. Langweilig wird es einem auf dem Gottardo-Wanderweg nicht. Der Blickwinkel auf das Urner Reusstal wechselt mit jedem Schritt und es gäbe so viele Informationen am Wegrand, dass wir gar nicht nachkommen mit lesen. Über Stock und Stein geht’s der Reuss entlang weiter talwärts. Nach dem Überqueren der Hängebrücke bei Felliboden ist plötzlich Schnauf gefordert. Der Wanderweg schlängelt sich steil den Wald hinauf bergwärts. Oben angekommen geniessen wir wie im ersten Abschnitt zwischen Göschenen und Wassen einen schönen Überblick über das Tal.

Weitere Artikel: www.news.sbb.ch 4/6 Wir kommen zügig vorwärts und erreichen schneller als gedacht die Anhöhe vor Amsteg. Weiter wandern oder auf den Bus umsteigen? Der Entscheid ist schnell gefällt. Wir wollen uns die zweite Weghälfte nicht entgehen lassen. Die Spannung treibt uns voran. Doch meine Motivation erlebt schnell den ersten Dämpfer. Kaum haben wir Amsteg hinter uns gelassen, steigt der Wanderweg erneut steil an. Doch das Weiterwandern und auf die Zähne beissen lohnt sich. Auf Amsteg folgt , dessen imposanter Turm der edlen Ritter bereits von weitem ins Auge sticht. Der Wanderweg führt auf der gepflasterten Gasse direkt durch den malerischen Kern von Silenen. Das Dorf ist mein persönliches Highlight der Wanderung. Vom Zug aus hätte ich dieses Bijou nie entdeckt. Der Turm ist vom 1. Mai bis 31. Oktober täglich geöffnet und öffentlich zugänglich. Wer genügend Energie für die Treppenstufen übrig hat, geniesst von oben den gleichen Blick wie die «edlen Freiherren von Silenen» im 12. Jahrhundert.

Im Gegensatz zur ersten Etappe von Göschenen nach Amsteg, wo die schroffen Berghänge und die Bahninfrastruktur das Landschaftsbild prägen, rücken zwischen Amsteg und Erstfeld die Weiler und Bauernhöfe in den Vordergrund. Der Wanderweg führt in einem stetigen Auf und Ab von den Weilern rauf in die Felder und erneut runter in die Weiler. Da ist Durchhaltewille gefragt und ich kann mir beim x-ten Aufstieg ein genervtes Stöhnen nicht verkneifen. «Muss das sein?»

Dafür gibt es auf dieser Etappe viel Kulturelles zu entdecken. Nebst dem Turm in Silenen passieren wir die Burgruine Zwing Uri, die gleichzeitig direkt über dem ehemaligen Bundesratsbunker steht, und kommen am ältesten noch bewohnten Steinhaus im Kanton Uri vorbei. Nachdem wir die letzten Höhenmeter bewältig haben und uns der Weg auf den letzten Metern geradeaus an den Bahnhof Erstfeld führt, bin ich froh, dass wir uns in Amsteg fürs Weiterwandern entschieden haben. Wäre ja jammerschade gewesen, wenn wir diese hübschen Ortschaften verpasst hätten.

Weitere Artikel: www.news.sbb.ch 5/6 23.4 kurzweilige Kilometer später melden sich meine müden Beine zu Wort und mein Kopf brummt ab all den Informationen, die ich mir unterwegs zu Gemüte geführt habe. Was der Zug in weniger als einer halben Stunde schafft, hat auf Schusters Rappen knapp sieben Stunden gedauert. Dafür weiss ich jetzt, was eine Kabelbude ist und habe mit Silenen einen neuen Lieblingsplatz im Urner Reusstal entdeckt.

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