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Magischer Winkel TRAUMTOUREN IM TESSIN: DURCHS VALLE DI

Das Tessin hat viele bekannte Ecken. Das Valle di Blenio gehört nicht dazu. Ein längst verloren geglaubter Charme liegt über dem Tal, und wer sich auf Wanderschaft macht, entdeckt, dass Genuss dort eine Frage der Tradition ist.

Der Abstieg von der Capanna Quarnei führt durch die alten Steinhäuser von Dandrio.

70 outdoor-magazin outdoor-magazin 71 TEXT: UTA LEIDENBERGER FOTOS: SISSI RICHTER

o der frisch aufge- brühte Espresso das späte Abendessen Wabrundet. Wo die Hütte »Capanna« und der Berggipfel »Cima« heißt. Wo der Alltag per- fekt organisiert und der Nahverkehr minu- tiös durchdacht ist und die Leute immer noch Deutsch verstehen – dort trifft die Schweiz auf das »Dolce Vita« Italiens. Das Tessin ist der italienischsprachige Kanton des Alpenlandes. Spitz zulaufend reicht er gen Süden, auf beiden Seiten von Italien umge- ben. Kein Wunder also, wenn man morgens Beim Abstieg vom Pizzo Rossetto kommt Die quirlige Wirtin Edvige verwöhnt Gäste mit einem lässigen »ciao« begrüßt wird und die Bovarino-Hütte genau richtig. mit frischen, hausgemachten Speisen. bis tief in die Nacht bei einer Karaffe Rotwein im Gartenrestaurant prächtiger Landvillen speisen kann. Wie der Tag dazwischen ge- staltet ist, entspricht dann eher schweize- rischer Natur: beeindruckende Berggipfel, ausgedehnte Alpinbesteigungen und vielsei- Auf der Sonnenseite tige Wanderwege. Sie prägen vor allem den nördlichen Teil des Tessins und wollen er- Wettersorgen brauchen Wanderer sich nicht zu forscht und entdeckt werden. machen. Die Einheimischen haben dem Valle di Blenio den Kosenamen »Sonnental« gegeben. Wie ein alpines Amphitheater bietet das lang gestreckte Valle di Blenio (Bleniotal), das sich von Biasca bis zum Lukmanierpass schlängelt, Wanderszenarien für jeden Ge- Das Schöne: Die Almanlagen und Senne- Am Vortag ist Edvige dafür eigens über den schmack. Dabei macht es seinem Kosenamen reien liegen meist einsam auf Hochebenen Waldboden des ganzen Hanges gekrochen, »Sonnental«, den ihm die Einheimischen ge- direkt an den Wegen, so dass Wanderer hier um einen großen Korb frischer Beeren für ih- geben haben, fast ganzjährig alle Ehre. Saf- und da ihre Brotzeit mit frischem Käse, haus- re Gäste zu sammeln. tige Bergkräuter wachsen hier heran, die von gemachtem Joghurt oder sogar einem feinen »Ihr seid auf dem Abstieg? Dann bleibt den Bewohnern zu Tee verarbeitet werden, Speiseeis bereichern können. doch noch eine Weile!« Mit ausgestreckten Weinreben nehmen an den Hängen dicht an Armen empfängt die 53-Jährige jeden einzel- dicht ihr Sonnenbad, mollige Murmeltiere Die Hüttenwirtin Edvige auf der Bovarina- nen Wanderer als Gast des Hauses – der sich trillern Pfeif-Konzerte, und die Bergziegen Hütte hat noch ganz andere Leckereien im auf ihrer Sonnenterrasse dann auch ohne Wi- sorgen fleißig für Nachschub in der Formag- Angebot. Wer von der Rundwanderung via derrede niederlässt und ganz schnell wohl- gella-Produktion. Formaggella, einer der ty- den Aussichtspunkt Pizzo Rossetto und die fühlt. Gerade trifft ein nepalesischer Wande- pischen Tessiner Alpkäse, steht bei Genießern Hochebene der Alpe di Bovarina (2008 m) rer ein. Edvige ist begeistert, wie international hoch in der Gunst. Er zeichnet sich durch den über Kuhweiden hinab auf ihre Hütte zuwan- ihr modern renoviertes Berghäuschen wie- besonders weichen und zarten Geschmack dert, fühlt sich sofort willkommen: Er wird der einmal ist, und verfällt heiter plaudernd aus; dabei ist er oft so cremig, dass eine leich- nicht nur von bunten Tibet-Fahnen, sondern in fließendes Nepali. Sie hat im Himalaja te Baumwollbinde den Laib umfassen muss, auch von hausgemachter Eiscreme und dem schon so viel Zeit verbracht, dass sie das Tes- Gebirgsbäche begleiten die Rund- damit er nicht einfach zerläuft. Duft warmer Blaubeer-Muffins empfangen. sin für kurze Zeit vergisst. Doch dann kehrt ❯ tour über den Pizzo Rossetto.

72 outdoor-magazin outdoor-magazin 73 sie mit den Gedanken von Sherpas und Glet- schlag noch den Duft der Vergangenheit ver- scherexpeditionen zurück auf die Holzbank strömt. Kleine Sennereien verkaufen rassigen auf knapp 1900 Meter Höhe: »Es gibt doch Bergkäse, der auf Holzbrettern in einer küh- nichts Schöneres, als den Sommer hier in den len, dunklen Hütte im Wald reift und lagert. Bergen zu verbringen!« sagt sie lachend und Lärchen- und Fichtenwälder spenden im un- dreht sich mit funkelnden Augen zu der teren Teil der Wanderung Schatten und ma- hohen Bergwand des Cristallina-Gletschers chen die Wege weich. Weiter oben ziehen sich mit den glitzernden Wasserfällen um. Von die Almwiesen frei und offen über den Berg, Mai ab, wenn der letzte Schnee verschwin- von ausgetretenen Pfaden durchquert. det, bis zum Beginn der Winterkälte im Ok- Die Quarnei-Hütte liegt etwas oberhalb tober lebt die Tessinerin in einem kleinen der Alpe di Quarnei, zwischen Talblick und Steinhäuschen neben der Hütte und umsorgt Berghängen. Sie wurde vor zehn Jahren in ihre Gäste mit inniger Herzlichkeit. Die Hüt- Betrieb genommen und gilt seither als idea- te ist wie ein erster Zieleinlauf, bevor die Ta- Kühe weiden auf den Tessiner Almwie- ler Ausgangspunkt für Alpintouren. Insge- gestour zügig zurück zum Ausgangspunkt sen. Die Bergkräuter verleihen den ... samt liegen vier 3000er-Berge rund um die in geht. Täglich wird sie mit Hütte, von denen das 3402 Meter hohe Rhein- der frischen Milch benachbarter Almen be- waldhorn wohl der bekannteste ist, weil es liefert, aus der Edvige Joghurt, Butter und von verschiedenen Aussichtspunkten im herrliche Sahnetorten zaubert. ganzen Bleniotal immer wieder als alles über- ragender Gletschergipfel imponiert. Bewirtschaftete Hütten mit Übernach- tungsmöglichkeit sind im Bleniotal gut ab- Lange Zeit war das Bleniotal mit dem Luk- gezählt und liegen meist genau eine gemüt- manierpass zentrale Verkehrsader über die liche Tageswanderung voneinander entfernt. Alpen. Mittlerweile bevorzugen viele Urlau- Mehrtagestrekking erfordert also eine genaue ber auf dem Weg ins Tessin die schnellere Va- Planung und rechtzeitige Reservierung. Doch riante durch den Gotthard-Tunnel und ver- vor allem das abwechslungsreiche Angebot zichten dabei auf die abwechslungsreiche an Tagestouren macht den Aufenthalt in der Alpenkulisse. Was sie verpassen, sehen Wan- Der Lago de Campanitt erfrischt Tessiner Bergregion spannend: Ein Netz von ... heimischen Käsesorten wie dem derer auf einer weiteren Tagestour kurz vor nach dem Passo delle Colombo. rund 500 Kilometern Wanderwegen erschließt zarten Formaggella zusätzliche Würze. dem Lukmanierpass. Sie führt über die bei- das Bleniotal, aus dem sich beliebig viele Tou- den Pässe Passo delle Colombe (2381 m) und ren in verschiedene Höhenlagen, durch ab- Passo del Sole (2376 m). Und lohnt sich vor Traditionelle Dörfer liegen im Val wechslungsreiche Landschaften und über un- allem deshalb, weil man bei relativ wenig An- Malvaglia immer wieder am Weg. terschiedliche Vegetationszonen hinweg strengung und in leichtem Gelände schon be- zusammenstellen lassen. achtliche Höhen erreicht. Vielseitig und in- Beispielsweise eine Tagestour weiter süd- teressant ist außerdem der Einblick in die lich im Tal, auf schmalen Wegen vom Ufer alpine Welt: Während über den hohen Spit- des Stausees Bacino di Val Malvaglia etwa zen des Colombe-Massivs die Adler kreisen, tausend Höhenmeter hinauf zur Quarnei- pfeifen unten an den Berghängen die Mur- Hütte (2004 m). Sie führt als einer der ausge- meltiere vor sich hin. schilderten »Sentieri dei Monti« (Bergwege) Schlüsselblumen, Leimkraut, Steinbrech- mit Schautafeln und Informationen sehr gewächse und Nelken verwandeln die Hoch- schön in die Tier- und Pflanzenwelt der Ber- ebene in einen bunt getupften Teppich, und ge ein. Am Weg liegen mehrere traditionelle buschige kleine Arven-Wälder umfangen den Bergdörfer mit kleinen Tessiner Steinhäusern Viele Almen verkaufen direkt am Weges- Wanderer mit angenehmer Kühle. Ein Bäch- und Holzhütten, deren dunkler Fichtenbe- rand ihre Produkte. Unbedingt kosten! lein plätschert genüsslich über die Hoch- ❯

Gemütlich von Hütte zu Hütte Rund 500 Kilometer Wanderwege erschließen das Tal. Bewirtschaftete Hütten zum Übernachten liegen meist nur eine gemäßigte Tageswanderung auseinander.

74 outdoor-magazin outdoor-magazin 75 Beim Abstieg von der Bovarina-Hütte streift man die Almen von Orsaira.

Zürich ebene, es nährt mehrere kleine Tümpel und FRANK- Feuchtbiotope. Nicht nur der Wind sorgt auf Dolce Vita im Tessiner Bleniotal SCHWEIZ der Tour immer wieder für Erfrischung, son- WANDERN, WO ITALIENISCHES FLAIR AUF SCHWEIZER BERGWELT TRIFFT: dern auch der kleine Gletschersee am Colom- Genf ALLE TIPPS FÜR EINEN GELUNGENEN AUFENTHALT IM VALLE DI BLENIO. REICH be-Pass, der zum kurzen Bad verführt. Eine ITALIEN eingefasste Feuerstelle und ein massiver Steintisch laden zum längeren Verweilen hier ANFAHRT: Mit der Bahn (SBB) magno.ch; auf dem Berg: Ca- Käse und Ricotta aus Eigenpro- oben ein, ebenso wie die beeindruckende bis Biasca, von dort über das gut panna Bovarina (1879 m), Tel. duktion. Einmal jährlich findet Aussicht: gen Westen auf das gesamte Gott- organisierte Buswegenetz durch 00 41/79/6 86 37 50, e-Mail: hier ein Markt mit Kulinarischem das Valle di Blenio. Die meisten [email protected] oder Capanna und Handwerksprodukten statt hard-Massiv und in Richtung Osten über das Start- und Endpunkte der Touren Quarnei (2107 m), Tel. 00 41/ (Infos im Tourismusbüro). lang gestreckte Bleniotal hinaus auf die liegen nahe einer Busstation, 91/8 70 25 05, e-Mail: sabb. schneebedeckte italienische Alpenkette. Nur und die Fahrplan-Taktung der [email protected]. Beide Hüt- KARTEN: Swisstopo, 266 T Valle mit einiger Willensanstrengung reißt man »Autolinee Bleniese« ist gut auf ten ganzjährig geöffnet, jedoch Leventina, 1 : 50 000, 17,90 Eu- den Wandertourismus abge- nur von Mai bis Oktober bewirt- ro; Trekkingkarte Valle di Blenio, sich von der Magie der Aussicht los. stimmt. Handliche Fahrpläne schaftet. Info: www.capanetti.ch 1 : 25 000 (erhältlich in Touris- sind vor Ort überall erhältlich. tenbüros und vielen Hotels) Wie die Bergbäche und kleinen Wasserfäl- Mit dem Auto vom Bodensee EINKAUFEN: Viele Alpen an den le, die von jedem Hang hinunterrieseln, zu kommend über Chur und Disen- Wegen verkaufen ihre Produkte BUCHTIPP: Tessin, Heinrich Baur- tis auf den Lucmanier-Pass ins direkt. Die Alpe Croce Locomag- egger, Rother, 11,90 Euro. dem einen großen Talfluss Brenno zusam- Valle di Blenio. Oder aus der no (Tel. 00 41/91/8 72 20 30) menfließen, so scheint man von hier oben Richtung Zürich/Luzern/Bern beispielsweise verkauft tagsüber INFO: Tourismus, Bellin- auch zu sehen, dass Schweizer Berge und ita- durch den Gotthard-Tunnel auf auch an einem Stand auf dem zona, Tel. 00 41/91/8 25 70 56, lienisches Dolce Vita im Tessin zu einem Le- der E 35 bis Biasca, talaufwärts Parkplatz am Pass Kuhmilch- www.ticino.ch über Aquarossa bis Olivone. bensraum verschmolzen sind. Er bietet allem Piz Blas einen Platz: dem bäuerlichen Charme der BESTE ZEIT: Mai bis Oktober. Scopi 0 5 10 km 3019m Passo del 3190m TTourour 3 Plattenberg Lucomagno Campo 1915m 3041m Vergangenheit, dem traditionsbewussten Nufenen TTourour 1 V TTourour 4 ÜBERNACHTUNG: Im Tal: Hotel a Chilchalphorn l d Pizzo del Sole ll Olivone Rhein w a Kulturleben der Gegenwart und der großen e 3040m i n Olivone & Posta, Fam. Giorgio V 2773m San e Quinto a l ta Maria R h Vielfalt der Natur. Nirgendwo spürt man das l inwaldh Genucchi-D´Andrea, CH-6718 e Rhe orn Passo del Mo Dangio S. Bernardino L Pizzo lare Cima d. 3402m

TorreV 2065m so sehr wie im Valle di Blenio. In Gedanken Olivone, Tel. 00 41/91/ e 2585m na Bian a c Ga o v l 3402m TTourour 2 S. Bernardino 8 72 13 66, www.hotel-olivone.ch l

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sieht man, wie Edviges Augen strahlen und Chiggliona a a Ros V Ticino i Cim sa a n Comprovasco TTourour 5 l ll oder Casa Locomagno, Via Chie- d Blenio g 3161m e ❮ a weiß: Nepal kann noch warten. t i v M Campo T B l zo enc a an G e sa, CH-6718 Olivone, Tel. 00 41/ iz ia i l M Pi ran s P Chironico e l Piz d 3072m a o n n V 2689m l

c 91/8 72 16 03, www.casaloco i

a i TOURENKARTEN VALLE DI BLENIO o Malvaglia

Giornico n Detaillierte Routenbeschreibungen Piz d. Strega a S.112 2912m in den Tourenkarten ab S. 112.

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