Materialdienst 12/1982
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zeltgeschehen ISSN 0721-2402 E 20362 E Luther als kalkulierbares Risiko? im Blickpunkt Anthroposophie und ihre Praxis heute Der Primat des Geistes Die Gralshüter der „Geisteswissenschaft" Waldorfschulen, Heilpädagogik, Sozial- therapie Anthroposophische Medizin und Natur- heilmittel Die „Dreigliederung des sozialen Material Organismus" Aktuelle Fragen und Diskussionen dienst Dokumentation Aus der i. i . J Anthroposophie und Atomenergie Evangelischen Zentralstelle I2-/Z. für Weltanschauungsfragen rp^vTl derEKD L±i±J Berichte Buchmesse - parareligiös Informationen FREIGEISTIGE BEWEGUNG IHEU-Kongreß in Hannover und Bundes- versammlung des BFGD in Ludwigshafen YOGA TM eröffnet „Maharishi-Kollegs für Natur- gesetz" BEOBACHTUNGEN 45. Jahrgang »The Wall« (Die Mauer) 1. Dezember 1982 Zunächst einmal sollen zum kom- Zeitgeschehen menden Jahr alle Luther-Gedenk- stätten der DDR restauriert werden. Geburts- und Sterbehaus in Eis- leben, das Lutherzimmer auf der Wartburg, das Augustinerkloster in Erfurt, Lutherhaus und Stadtkirche in Wittenberg - zur Zeit alle eingerü- stet- sollen sich den zu erwartenden Luther als kalkulierbares Besuchern in würdiger Weise prä- O Risiko? Am 10. November sentieren. Offensichtlich aber traut des kommenden Jahres wird der sich die marxistische Regierung der 500. Geburtstag von Martin Luther DDR noch mehr zu. Mit der glei- zu begehen sein. In allen Stellen, die chen Sorgfalt, mit der-vorwiegend zu diesem Anlaß Luther-Feiern aus- polnische Restaurateure - sich alter zurichten haben, blättert man in den Stadtbilder und Baudenkmäler an- Berichten früherer Jubiläen, um zu nehmen, erstrebt man seit Jahren ermitteln, wie der große Reformator eine Aneignung des humanistischen heute nicht mehr dargestellt werden Erbes deutscher Geschichte. Nach sollte und worauf in unserer gegen- Goethe, dem Bauernkrieg, nach wärtigen Lage die Akzente zu legen Preußen (Gneisenau und Scharn- wären. Was die allenthalben in horst) soll nun auch ein neuer Zu- Gang gekommenen Vorbereitungen gang zu Luther gefunden werden. nicht unwesentlich beeinflußt, ist Belehrt durch die Schwierigkeiten, der Umstand, daß die Regierung der die sich ergaben, als eines Tages DDR mit der Gründung eines eige- sogar der alte Fritz wieder hoch zu nen staatlichen Luther-Komitees Roß „Unter den Linden" erschien, (unter Vorsitz von Erich Honecker) soll die neue Luther-Rezeption be- kundgetan hat, daß sie auf diese sonders sorgfältig vorbereitet wer- Weise kräftig mitzufeiern gedenke. den. Immerhin galt der Reformator Fast wird dabei übersehen, daß der vor noch nicht allzu langer Zeit als gleiche Staat auch den Kirchen der ein Fürstenknecht und Bauernverrä- DDR das Recht einräumt, den festli- ter, gegen den Thomas Müntzer als chen Termin auf eigenständige Wei- eigentlicher revolutionärer Theolo- se - vor allem mit der Abhaltung ge des Bauernkriegs ausgespielt wur- regionaler Kirchentage - wahrzu- de. Luther habe zwar im Bauern- nehmen. In der letzten Oktoberwo- krieg versagt, daran hält man fest, che erlaubte der Staat sogar dem aber man will ihn nicht mehr auf kirchlichen Luther-Komitee, rund dieses Versagen reduzieren. Man zwanzig deutschsprachige Kirchen- will auch die Anregungen Luthers für journalisten aus der Bundesrepu- deutsche Sprache, Schulwesen und blik, Österreich und der Schweiz zu Sozialethik gelten lassen. Und hier einer Rundreise einzuladen mit viel- und da wird sogar marxistischen Lu- fältigen Gelegenheiten, sich zu in- ther-Forschern deutlich, daß der Re- formieren, wie es zur Zeit mit dem formator nicht ohne seinen Glauben „doppelten Luther" steht. zu verstehen ist. 330 Luther soll gewissermaßen als eine Staatsmacht übernommen haben, der großen Gestalten der „frühbür- scheint ihr Interesse an unruhigen, gerlichen Revolution" aufgewertet revolutionären Christen merklich werden, ohne damit die Rechte zurückzugehen. Möglicherweise ist Müntzers zu mindern. In der Tat auch in der DDR die Zeit gekom- könnte man aus geschichtlichem men, wo ein domestizierter Luther Abstand einmal fragen, ob Luther in und Christen, die im Alltag und in der dramatischen Auseinanderset- der Diakonie ruhig ihrer Arbeit zung seiner Zeit wirklich in allem nachgehen, den Regierenden ge- recht hatte, Müntzer in allem un- nehmer sind, als es ein Thomas recht gehabt haben muß. Müntzer wäre, wenn er heute um die Trotzdem, das Mißtrauen, mit dem Ecke käme. die Vorbereitungen des staatlichen Ein Besuch in der unmittelbaren Hei- Luther-Komitees zur Kenntnis ge- mat Luthers mit ihren Erinnerungen nommen werden, ist sicher nicht an den Bauernkrieg kann das Be- unverständlich. Schon bei der Re- wußtsein dafür schärfen, in welcher staurierung der Lutherstätten kann gewittrigen Zeit der Reformator ein- man fragen, ob dabei nicht auch an mal seinen Weg ging. Die Erinne- die Devisen gedacht wird, die die rung an sein „Versagen" im Bauern- Besucher- unter anderem aus Skan- krieg wird in dem Land mit den dinavien und den USA - ins Land Bergarbeiterkaten und Halden, das bringen sollen. Aber schon hier in der Weimarer Republik das „rote" mischt sich den Erwartungen die mansfeldische Land hieß, überlagert Sorge bei, ob der Ansturm der Besu- von der Frage, ob seine Kirche nicht cher unter Umständen nicht auch zu auch auf die Arbeiterfrage der indu- viel werden könnte. Erst recht fragt striellen Revolution nur unzuläng- es sich, ob die neue Offenheit, die lich reagiert habe. Nicht von unge- man Luther gegenüber einnehmen fähr stand in der Geburts- und Ster- will, nicht auch ihre Risiken hat - bestadt Eisleben schon vor 1933 nicht zuletzt im eigenen Parteivolk, auch ein Lenin-Denkmal. Nur daß unter marxistischen Pädagogen, ob man von den Funktionären, die es das Risiko Luther ohne weiteres kal- nach 1945 wieder aufstellten, inzwi- kulierbar bleiben kann. schen weiß, daß sie - mit einem Auf einen Nenner gebracht ließe Ausdruck von Wolf Biermann - den sich die Wende, die sich hier ab- Stein der Weisen eben auch nicht zeichnet, etwa folgendermaßen gefunden haben. charakterisieren: Christen seien staatsfromm, obrigkeitshörig, immer Niemand kann genau voraussagen, mit den Mächtigen und Reichen im ob sich Luther nicht doch als sperri- Bunde, sie vertrösteten die Armen ger erweisen wird und wie sich das auf ein besseres Jenseits, um sie da- Lutherjahr im einzelnen auswirken von abzuhalten, am Jammertal der wird. Es wird begangen in einem Gegenwart etwas zu ändern: So lau- Klima schwerer Sorgen, überschattet teten einmal die Vorwürfe, die Alt- von der Angst vor der neuen Instabi- marxisten den Christen gerne mach- lität in den Entspannungsbemühun- ten. Wo Marxisten aber einmal die gen zwischen Ost und West. qu 331 im Blickpunkt Anthroposophie und ihre Praxis heute Eine umfassende Übersicht über die Weltanschauungsfragen der Ev. Kir- Anthroposophie und ihre Praxis in che in Hessen und Nassau« im Kon- den Bereichen der Pädagogik, der fessionskundlichen Institut des Ev. Medizin und des biologisch-dynami- Bundes in Bensheim gehalten hat, schen Landbaus zu geben ist nahezu soll daher nur versucht werden, die unmöglich angesichts der Vielzahl ih- Grundlinien vor dem Hintergrund rer Institutionen und der Initiativen ihrer Verwurzelung in der anthro- und Impulse, die heute von Anthropo- posophischen Geisteswissenschaft sophen ausgehen. In dem folgenden R. Steiners nachzuzeichnen und auf Beitrag, der erweiterten Fassung ei- ihre Bedeutung für ein künftiges Ge- nes Vortrags, den der Autor am spräch zwischen Kirche und Anthro- 23. April 1982 vor dem »Arbeitskreis posophie hinzuweisen. für religiöse Gemeinschaften und Anthroposophie steht mit ihren Einrichtungen heute in der Öffentlichkeit in einem guten Ruf. Auch bei Nichtanthroposophen begegnet man weithin wohlwollender Anerken- nung für das soziale Engagement von Anthroposophen, für ihre Leistungen vor allem in den Bereichen der Pädagogik, der Medizin und des biologisch-dynamischen Landbaus, sowie auch in der religiösen Erneuerungsbewegung der »Christengemeinschaft«. Früher verbreitete Beurteilungen der Anthroposophie: als „Gnosis für Mittelstand mit einem Stich" (E. Bloch), oder heutige Versuche, ihr „ein gestörtes Verhältnis zu Wahrheit und Realität" (V. Pierott) zu unterstellen, werden deshalb nicht mehr ohne weiteres akzep- tiert, nicht nur weil ihre sachliche Grundlage fragwürdig geworden ist, sondern auch, weil sie den auch von Nichtanthroposophen, z. B. in anthroposophischen Krankenhäu- sern oder in heilpädagogischen Einrichtungen, in vielfältiger Weise erfahrenen persönli- chen Einsatz von Anthroposophen verunglimpfen. Anthroposophie findet Beachtung und Zustimmung in allen Schichten der Bevölkerung, weil sie in einer als neu und unkonventionell empfundenen Weise die Fragen, diea//e Menschen angehen, aufgreift -vom Umweltschutz über Naturheilmittel und „alternative" Ernährungsweise bis hin zur Erziehung der Kinder. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die drei Bereiche: Pädagogik, Medizin und Gesellschaft. Ausgehend von einigen prinzipiellen Fragen, die zur Praxis hinführen, soll zunächst das Hauptanliegen der Anthroposophie Charakteri- siertwerden, wie es sich aus den Schriften Rudolf Steiners und heutiger Anthroposophen erheben läßt. Der Primat des Geistes Seit einigen Jahren finden in der Evangelischen Akademie Bad Boll Gespräche zwischen Vertretern der evangelischen Kirche und der Anthroposophie über theologische Fragen 332 statt, die für das gegenseitige Verständnis, vor allem aber auch für das Verstehen des anthroposophischen Denkens durch evangelische Christen, sehr wichtig sind. Im vergangenen Jahr ging es um eine für die anthroposophische