Görls Spezial:

Wir sind das Volk.

Wer oder was Friedliche Revolution Wiedervereinigtes war die DDR? und Mauerfall Deutschland

Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 1 Vorwort Inhalt

Liebe Leserinnen und Leser, Wir stellen vor: Luise *1939 4 Tagebuch Luise, 1949 4

vor fünf Jahren startete das Jugendbildungsprojekt „Begeg- Wir danken unseren Kooperationspartnern – der Sparkasse I. Wer oder was war die DDR? nung fördern – Geschichte verstehen“. Ziel dieses Medien- Darmstadt, der Sparkasse Dieburg, der Sozialstiftung des • Geschichte der Gründung 5 projektes war es, jungen Menschen aus dem Landkreis Darm- Landkreises Darmstadt-Dieburg und dem Europäischen Part- • Politische Systeme im Vergleich 7 stadt-Dieburg die Auseinandersetzung mit unserer jüngsten nerschaftsverein e.V. des Landkreises Darmstadt-Dieburg für Tagebuch Luise, 1959 8 deutschen Geschichte zu ermöglichen: Zwei deutsche Länder ihre Unterstützung. Ohne sie wären all diese Projekte nicht • Kinderkrippe + Kindergarten 9 auf dem Weg in ein gemeinsames Miteinander. möglich gewesen. • Schulsystem 13 Mit Ausstellungen und Themenabenden haben sich Schü- Ganz besonders danken wir Nadja Springer (Texte) und • Pionierorganisation 20 lerinnen und Schüler, Redakteure der Görls-Redaktion, Inte- Brigitte Illetschko (Fotos), die für diese Broschüre eine Lebens- • Jugend 22 ressierte sowie die Kinder- und Jugendförderung informiert, geschichte geschrieben und bebildert haben, wie sie hätte • Wehrerziehung 27 Weiterbildungen besucht, Erkundungsfahrten und Bildungs- sein können. `Luises Tagebuch´ wird Euch und Sie durch diese • Ausbildung + Studium 29 urlaube mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch- Zeitschrift begleiten. • Berufs- + Arbeitswelt 32 geführt, außerdem noch einen Themenkalender und eine Übrigens: Die Medienkiste steht zur Ausleihe bei der Kinder- Tagebuch Luise, 1961 36 Medienkiste erstellt. Auf den Spuren der Friedlichen Revo- und Jugendförderung bereit. Wer mehr dazu wissen möchte, • Geschichte des Mauerbaus 36 lution haben die Teilnehmenden neue Eindrücke gesammelt schaut auf der Rückseite dieser Zeitschrift nach. • Musik + Mode 38 und Erfahrung und Wissen erweitert.Etliche der am Projekt • Wirtschaftssysteme, Geld + Devisen 46 beteiligten jungen Menschen haben sich erstmals eine Mei- • Shopping 50 nung über die Verhältnisse in der DDR und die Beziehung Wir wünschen allen eine spannende Lektüre. • Gastarbeiter 53 zur BRD bilden können. Tagebuch Luise, 1969 55 Dies ist den Autorinnen und der GÖRLS-Redaktionsgruppe • Medien + Journalismus 56 in hervorragender Weise gelungen und hierfür gebührt • Todesopfer + Fluchtversuche 60 ihnen Dank, Lob und Anerkennung. Den über 400 Mitwir- • Kalter Krieg + Friedensbewegung 63 kenden – Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden sowie Tagebuch Luise, 1979 65 Experten des Alltags aus Ost und West ist es zu verdanken, • Religion 66 dass in der aktuellen Ausgabe von GÖRLS diese spannende Sammlung an Texten zu finden ist. Sie erheben nicht den Klaus Peter Schellhaas Rosemarie Lück Impressum II. Friedliche Revolution und Mauerfall Anspruch auf Vollständigkeit und wissenschaftliche Fundiert- Landrat Erste Kreisbeigeordnete Herausgeber: • Zeitgeschehen 1970-1988 68 heit, sondern geben teilweise subjektive Wahrnehmungen Landkreis Darmstadt-Dieburg, Jägertorstr. 207, • Geheimdienste + Gefangenschaft 69 junger Menschen wieder, die so auch übernommen wurden. 64289 Darmstadt, www.ladadi.de. • Reisen 74 Ziel ist es, nicht nur jungen Menschen, sondern auch Erwach- Diese Broschüre wurde erstellt von: • Die Friedliche Revolution 1989 76 senen mit dem Blick von heute dabei zu helfen, das damalige Görls-Team c/o Jugendbildungswerk Darmstadt-Dieburg unter Tagebuch Luise, 1989 79 Geschehen besser zu verstehen. der Leitung von Gerda Weiser und Oriella Bazzica, www.goerls.de, • Helden der Friedlichen Revolution 80 Die mehr als 50 Artikel im Heft wurden von Jugendlichen [email protected]; Telefon 06151 / 881-1464; • Erinnerungen an den 9. November 1989 81 und jungen Erwachsenen für Jugendliche und junge Erwach- Daniela Hirsch-Bluhm und Simone Weiser von der Kinder- sene geschrieben. Alle Leserinnen und Leser der GÖRLS sind und Jugendförderung des Landkreises Darmstadt-Dieburg, III. Wiedervereinigtes Deutschland herzlich eingeladen sich mit ihnen gemeinsam auf den Weg Telefon 06151 / 881-1465; • Vom Mauerfall zur Deutschen Einheit 84 zu machen, Leben und Alltag sowie die Zeit des Umbruchs Felicia Ax, Büro Landrat, Landkreis Darmstadt-Dieburg, • Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Stasi 86 und des Übergangs besser zu erfassen und zu verstehen. Telefon 06151 / 881-1007 • Gedenkstätten + Museen 87 Unter Mitwirkung: Tagebuch Luise, 1990 88 von 400 Schülern und Lehrern, Auszubildenden sowie Experten • Deutschland – eine Einheit? 89 aus den Landkreisen Darmstadt-Dieburg und Zwickau sowie der • Fragen an: Klaus Peter Schellhaas, Jörg Lippmann Stadt Darmstadt Dr. Christoph Scheurer 93 Schlussredaktion und Bearbeitung: Tagebuch Luise, 2014 95 Felicia Ax, Büro Landrat, Telefon 06151 / 881-1007 • Nachwort 95 Gestaltung: RE.FORM Kommunikationsdesign, Mühltal, www.re-form-design.de Medienkiste 96 Druck: Frotscher Druck, Darmstadt, Auflage: 4.000 Doswidanja Luise 96

2 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 3 Hallo! Wie schön, dass du das hier liest. Bitte blättere mich nicht Wir stellen vor: weg – mein Name ist Luise. Das bedeutet laut, berühmt und leider auch Krieg … aber keine Sorge: Ich bin ganz harmlos. Ich Luise, geb. 1939 strecke einfach nur meine Hand aus und lade dich ein, mit mir durch dieses Heft zu reisen. Schwer zu glauben, dass hier zwischen diesen Seiten mein Leben steckt, zumindest ein kleiner Teil davon. I. Wer oder was Seit ich schreiben konnte, habe ich immer Tagebuch geführt, und jedes einzelne Schreibheft habe ich sorgfältig aufbewahrt. Und war die DDR? jetzt – tja, jetzt hast du Auszüge daraus zwischen deinen Fingern! Mein Tagebuch erzählt Geschichten von mir und einem Land, das geteilt und wieder zusammen geführt wurde. Und weil ich nur ein Geschichte der Gründung einzelner Mensch bin und noch dazu kein lauter, berühmter und kriegerischer, findest du hier noch viel mehr: Hintergrundinfos, historische Fakten, Zeitzeugenberichte und, und, und … such dir aus, was du spannend findest – und du wirst merken, wie leben- Entstehung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) dig die Geschichte der deutschen Teilung und Wiedervereinigung und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ist. Wie sieht’s aus? Kommst du mit? Wahlplakate in West-Deutschland die für die Bundestagswahl 1949 werben. Foto: dpa Schon während des Zweiten Weltkrieges planen die Alliier- Foto: privat »Und was ist dann die Bundesrepublik Deutschland?« Da schaute ten, die „Großen drei“ – die USA, Groß-Britannien und die Mama ganz komisch drein und der Peter hörte sogar mit Weinen Sowjetunion – die Zukunft Deutschlands nach dem Krieg. auf. »Naja, das ist…das andere Deutschland. Es gibt jetzt zweimal So einigen sich auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 Deutschland, wir wohnen in dem einen, und deine Tante Traudel der amerikanische Präsident Roosevelt, der britische Premier- Alliierte: Bündnis von USA, Groß-Britannien, und die Cousine Heike zum Beispiel, die wohnen jetzt im anderen minister Churchill und der sowjetische Machthaber Stalin: Frankreich und Sowjetunion zwecks Zerschla- Deutschland.« Deutschland muss bedingungslos kapitulieren, entnazifiziert gung der nationalsozialistischen Herrschaft in Es ist mir ein Rätsel, warum es ein zweites Deutschland geben und entmilitarisiert werden. Wie genau sie aber nach Kriegs- Deutschland. muss. Und wer hat denn entschieden, dass -Friedrichshain ende mit Deutschland umgehen wollen, legen sie nicht fest. Kalter Krieg: Konflikt zwischen den West- Tagebuch Luise, zum einen und Mainz zum anderen Deutschland gehört? Schon Am 5. Juni 1945 bilden die Besatzungsmächte den Alliier- mächten unter Führung der Vereinigten Staaten vor vier Jahren, nach dem Krieg, fand ich es komisch mit den ten Kontrollrat. US-Amerikaner, Sowjets, Franzosen und Bri- von Amerika und dem Ostblock unter Führung 1949, 10 Jahre alt fremden Soldaten. Ich weiß noch wie es war, als sie kamen. Wir ten übernehmen die Verwaltung des Deutschen Reichs. Erst der Sowjetunion, den diese von 1947 bis in die mussten uns zuerst verstecken, als die Soldaten mit den Haken- etwa eineinhalb Monate später regeln Stalin und die neuen 1980er Jahre mit nahezu allen Mitteln austru- Seit heute wohne ich in einem neuen Land. Das ist komisch, denn kreuzen gegen die fremden Männer kämpften. Dann, als die Staatsoberhäupter, US-Präsident Truman und Groß-Britan- gen. Der Kalte Krieg trat als Systemkonfronta- wir sind nicht einmal umgezogen. Wir wohnen nach wie vor in Hakenkreuz-Männer weg waren, hatten wir immer noch Angst niens Premier Attlee auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli tion zwischen Kapitalismus und Kommunismus dem Haus in Berlin-Friedrichshain, wo wir schon immer gewohnt vor den anderen Soldaten. bis 2. August 1945) die wichtigsten Details für die Besatzungs- in Erscheinung. Zu einer direkten militärischen haben, selbst dann, als der Krieg ein großes Loch in die Außen- Ich weiß noch, wie Mama und ich mit den anderen Friedrichs- politik. Sie erstellen eine Nachkriegsordnung: Deutschland Auseinandersetzung zwischen den Supermäch- wand gemacht hatte. Berlin, das ist doch Deutschland, oder? hainer Frauen und ein paar alten Schubkarren die Trümmer der soll demokratisiert, demilitarisiert, denazifiziert, dezentra- ten USA und Sowjetunion und ihren jeweiligen Und irgendwie klingt das neue Land, in dem wir jetzt wohnen, zerbombten Häuser wegschafften, als plötzlich einige von diesen lisiert und demontiert werden. Das ehemalige Deutsche Militärblöcken kam es jedoch nie. weiterhin nach Deutschland…es hängen bloß noch andere Wörter Unbekannten vorbeikamen. Einer sah mich und kam auf uns zu, Reich teilen die Sieger in vier Besatzungszonen. Vorbehaltlich Potsdamer Konferenz: 17-tägige Konferenz hintendran, einmal ein Demokratisch und dann noch eine Repu- und ich weiß noch wie die Mama meine Schulter hielt. Es war ein einer endgültigen Friedensregelung übernehmen Polen und im Potsdamer Schloss, bei der die drei Hauptalli- blik. Ich weiß nicht, warum man für ein einzelnes Land so viele großer Soldat mit Händen wie Waschbretter, aber ganz blauen die Sowjetunion die Verwaltung von Pommern, Schlesien ierten 1945 auf höchster Ebene am Ende des 2. Wörter braucht. Augen und einem Bonbon in der Brusttasche. Er schenkte mir das und Ostpreußen. Polen bekommt außerdem die Verwaltungs- Weltkrieges über das weitere Vorgehen berieten, Mama hat mich beiseite genommen, um es mir zu erklären. Bonbon und ich sagte ganz artig »Dankeschön«, aber der Soldat hoheit über deutsche Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie. die Ergebnisse sind das Potsdamer Abkommen. Seit dem Frühling geht es rund, die Eltern waren wählen und es zeigte auf seinen Mund und machte »Spasiba«. Und statt »Auf Zu diesem Zeitpunkt sollen in Polen, in der Tschechoslowakei Stalin-Noten: Vorschlag von Stalin an die West- ist stets ein großes Getöse da draußen. »Luise, weißt du noch von Wiedersehen« sagte er »Doswidanja«, und ich merkte mir die und in Ungarn lebende Deutsche „geordnet“ und „human“ alliierten für einen Friedensvertrag für ein wie- früher, wie da immer die vielen Männer draußen marschiert sind?«, Worte und sagte sie nun immer, wenn ich einen fremden Solda- nach Deutschland umgesiedelt werden. dervereinigtes neutrales Deutschland, 1952. fragte sie mich. »Die mit den roten Fahnen mit dem Hakenkreuz ten sah. Die freuten sich jedes Mal und winkten! Diese Punkte sind das Minimum, auf das sich die Alliierten SMAD: Abkürzung für Sowjetische Militäradmi- drauf?« »Genau die. Du weißt doch noch, wie sie sich immer mit Viele Monate später bekamen wir eine Postkarte von meiner einigen können. Kämpften sie während des Krieges als Anti- nistration in Deutschland – die SMAD übernahm den Leuten aus unserer Straße gestritten haben, nicht wahr?« Ich Cousine Heike aus Mainz – unsere erste richtige Postkarte nach Hitler-Koalition noch gemeinsam gegen Deutschland, sind sie die Verwaltung der sowjetischen Zone (SBZ) nickte. Daran erinnerte ich mich gut. Die jüdische Familie hatte dem Krieg! Heike ist 12, nur zwei Jahre älter als ich, und sie hat zum Zeitpunkt der Potsdamer Konferenz schon gespalten. SBZ: Abkürzung für sowjetisch besetzte Zone, wegziehen müssen, aber auch viele Friedrichshainer, die keine Juden von einer ganz ähnlichen Begegnung mit einem fremden Soldaten Den US-Amerikanern und Briten, aber auch den Sowjets ist anstatt DDR, weil die BRD die Existenz der DDR waren, hatten Ärger mit den Hakenkreuz-Männern gehabt, weil erzählt. Auch sie hatte fremde Wörter gelernt, doch es war nicht bewusst, dass sie nach der Konferenz für spätere friedens- als Staat nicht anerkennen wollte, das änderte sie so genannte Kommunisten gewesen sind. »Siehst du, so etwas Spasiba und auch nicht Doswidanja. Sie hatte Merci gelernt und vertragliche Regelungen keinen Spielraum mehr haben. Die sich erst mit dem Grundlagenvertrag. wird jetzt nicht mehr passieren«, sagte Mama, »Wir sind jetzt in Au revoir, und ich weiß noch, dass ich es seltsam fand, dass ihre Tatsachen haben sie schon vor der Konferenz geschaffen – Reparationen: Wiedergutmachungen für einem neuen Land, wo es keine Hakenkreuze mehr gibt und auch fremden Soldaten ganz anders sprachen als meine. Ich fand das jetzt geht es nur noch darum, sie dem anderen zu präsentie- Kriegsschäden. keinen Krieg.« Ich legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Merci ein bisschen hübscher als das Spasiba, aber die Soldaten in ren. Wenn auch kein Friedensvertrag im völkerrechtlichen Weltwirtschaftskrise: Rückgang der wirtschaft- »Und das Land, in dem wir jetzt wohnen, ist das Deutschland?« Friedrichshain reagierten gar nicht darauf, wenn ich es sagte, also Sinne, so ist das Potsdamer Abkommen faktisch eine Frie- lichen Leistungen der Länder, in Folge massive Mama musste ein bisschen lachen wegen meiner Frage, überlegte ließ ich es wieder bleiben. densregelung. Deutschland ist von Siegermächten besetzt, Arbeitslosigkeit, soziales Elend – beendete die kurz und meinte dann: »Aber ja, wir sind jetzt die Deutsche De- So ähnlich muss es jetzt mit dem einen und dem anderen die nicht nur unterschiedliche Auffassungen von der „richti- „Goldenen 20iger Jahre“. mokratische Republik.« Sie strich mir lächelnd über die Haare und Deutschland sein. Es ist wie mit Spasiba und mit Merci, beides be- gen“ Besatzungspolitik haben, sondern auch konkurrierende Zwei-Plus-Vier-Vertrag: Staatsvertrag zwischen wollte schon zu meinem kleinen Bruder huschen, der gerade zu deutet Dankeschön, aber sie klingen nicht gleich. Deutsche Demo- politische und wirtschaftliche Systeme repräsentieren. Auf DDR, BRD, Frankreich, USA, Groß-Britannien und Weinen begonnen hatte. Da fiel mir ein, was ich gestern auf der kratische Republik und Bundesrepublik Deutschland, das bedeutet der einen Seite Kapitalismus / Liberalismus und Marktwirt- Sowjetunion, am 12. September 1990 in Moskau Straße für ein Wort gehört hatte – ein ganz anderes Wort. vielleicht beides Deutschland, und es hört sich nur verschieden an? schaft, auf der anderen Seite Kommunismus / Sozialismus mit unterzeichnet. In Kraft seit 15. März 1991.

4 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 5 Politische Systeme Am 20. Juni 1948 ersetzt in den drei westlichen Besatzungs- BRD / DDR Die Regierung zonen, auch Trizone genannt, die D-Mark die Reichsmark. BRD: Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler / Drei Tage später führt die SMAD (sowjetische Militär- im Vergleich der Bundeskanzlerin, der / die vom Bundestag gewählt wird, administration in Deutschland) in der sowjetischen Besat- und den von ihr ausgewählten Ministerinnen und Ministern. zungszone ebenfalls eine eigene Währung ein. Wirtschaft- Sie leiten die Ministerien, in denen Gesetzentwürfe vorbe- lich koppelt das die drei westlichen Besatzungszonen von Die DDR – Deutsche Demokratische Republik – und die BRD – reitet werden und die Gesetze nach der Verabschiedung der sowjetischen Besatzungszone ab. Nur Berlin hat in allen Bundesrepublik Deutschland – unterschieden sich in politi- ausführen. Besatzungszonen – wegen seines Sonderstatus – noch eine scher Sicht zuerst in ihrem Verständnis für Demokratie. DDR: Der Ministerrat bestand aus allen Ministern, Staats- Zeit lang beide Währungen nebeneinander. Im ersten Artikel der DDR-Verfassung bezeichnete sich die sekretären und anderen Verwaltungschefs. Er führte alle poli- Massenkundgebung anlässlich der Gründung Der Wiederaufbau dauert in der sowjetischen Besatzungs- DDR als ‚sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern’, als tischen und wirtschaftlichen Grundsatzentscheidungen aus. der DDR und der Wahl des Staatspräsidenten zone länger als in den westlichen Zonen. Die Sowjetunion ‚politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land Wilhelm Pieck am 11.10.1949. FDJ im Demon- strationszug vor der Humboldtuniversität. unterstützt Ostdeutschland, die DDR, nicht beim Aufbau, unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch- Das Staatsoberhaupt Foto: akg-images sondern besteht auf der sofortigen Leistung der Reparatio- leninistischen Partei’. Schon hier wird klar, dass dieser Staat BRD: In der BRD ist der Bundespräsident / die Bundespräsi- nen in Form von Maschinen der industriellen Produktion und keine pluralistische Demokratie im westdeutschen Sinne dentin das oberste Staatsoberhaupt. Er / Sie muss alle Gesetze anderen für die Infrastruktur wichtigen Dingen wie Lokomo- sein konnte: Was ist das für eine Demokratie, wenn schon in prüfen und unterschreiben, bevor sie in Kraft treten. Hinter tiven oder Bahngleisen. Unter diesen Bedingungen ist kein Artikel 1 der Verfassung steht, dass der Staat von einer Partei ihm / ihr folgt der / die Bundeskanzler / in, der / die die Geschäfte Wiederaufbau möglich. Auch die Währungsreform ändert (der ‚Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands’, kurz SED) der Regierung leitet. daran nur wenig. Schwarzmarkt und Tauschhandel blühen in geführt wird? DDR: Der Staatsrat war eine Art ‚kollektives Staatsoberhaupt’ Info Ostdeutschland länger als in Westdeutschland. Viele Men- Die BRD ist ein föderal organisierter Staat – viele Entschei- der DDR. Ihm gehörten verschiedene Parteivertreter der SED Erst am 9. November 1989 fällt die Mauer wieder. schen entscheiden sich wegen der schlechten wirtschaftli- dungen werden in den Bundesländern oder auch in den und die Vorsitzenden der Blockparteien an. Er wurde von der Und am 3. Oktober 1990 wird mit dem Anschluss chen Situation (neben politischen Gründen) in die Westzonen Kreisen und Städten getroffen. In der DDR wurden alle Ent- Volkskammer gewählt und traf judikative, legislative und der DDR an die BRD mit dem Grundgesetz die auszuwandern. Erst 1961 setzt der Wirtschaftsaufschwung in scheidungen zentral getroffen und die Behörden in Städten exekutive Entscheidungen. gemeinsame Verfassung des geeinten Deutsch- der BRD ein. In diesem Jahr wird die innerdeutsche Grenze und Regionen mussten sich genauestens an diese zentralen Das ‚Zentralkomitee’ der SED war informell das höchste lands unterzeichnet. Erst im Jahr 1990 unter- geschlossen, Ostbürger können nicht mehr in den Westen Anweisungen halten. Amt im Staate, und der Generalsekretär hatte informell das zeichnen die BRD, die DDR und die ehemaligen umziehen. höchste Amt inne. Die Sekretäre und Abteilungsleiter des ZK Alliierten den Zwei-plus-Vier-Vertrag, in dem die Am 23. Mai 1949 wird das Grundgesetz für die Bundes- Das Parlament konnten den Ministerien Anweisungen geben, auch diese Bundesrepublik ihre volle Souveränität wieder- republik Deutschland (BRD) verkündet. Es ist nur als Über- BRD: Der Bundestag wird alle vier Jahre vom Volk gewählt. standen also über den staatlichen Organen. Die SED gab bekommt und in dem alle bestehenden Grenzen gangslösung (aus der britischen, französischen und amerika- Jeder Bürger ab 18 hat 2 Stimmen: Mit der ersten kann er auch die führenden Zeitungen des Staates heraus. völkerrechtlich angenommen werden. nischen Besatzungszone) gedacht. Eine richtige Verfassung zwischen verschiedenen Kandidaten in seinem Wahlkreis soll bei der Vereinigung Deutschlands zu einem Staat verab- wählen, mit der zweiten zwischen Listen der Parteien in Die Parteien schiedet werden. seinem Bundesland. BRD: In der BRD gibt es ein Mehrparteiensystem. Im Bundes- Zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik Der Bundestag ist gemeinsam mit dem Bundesrat, in dem tag gibt es mehrere Parteien. Wenn keine Partei bei Wahlen (DDR) am 7. Oktober 1949 wird auch deren Verfassung Vertreter der Regierungen der Bundesländer sitzen, das allein die absolute Mehrheit im Bundestag erzielt, muss sie ausgerufen. Aus der sowjetischen Besatzungszone wird die gesetzgebende Organ in der BRD. Der Bundestag stimmt deshalb mit einer oder mehreren Parteien zusammenarbei- einer Zentralverwaltungswirtschaft. Die Potsdamer Konfe- DDR: Ein sozialistischer Staat mit dem Ziel, unter Führung über alle Gesetze ab und bereitet diese in Ausschüssen und ten, um bei Abstimmungen Mehrheiten zu erhalten. Das renz markiert nicht nur das Ende des Zweiten Weltkrieges in der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei Arbeitsgruppen vor. nennt man Koalition. Europa, sondern auch den Anfang des Kalten Krieges. Von – der SED – den Sozialismus zu verwirklichen. Mit der Partei- DDR: Die Volkskammer wurde alle vier, ab 1971 alle fünf DDR: In der DDR war die SED immer die führende Partei. nun an bestimmt der Konkurrenzkampf der Systeme die konferenz im Juli 1952 verkündet die SED den „planmäßigen Jahre vom Volk gewählt. Jeder Bürger ab 18 konnte sein Kreuz Jeder fünfte Bürger war Mitglied. Es gab auch weitere Weltpolitik. Die Streitigkeiten zwischen Sowjets einerseits Aufbau des Sozialismus“. Dessen Umsetzung führt zu einer bei einer Liste machen. Es gab keine Auswahl zwischen ver- Parteien neben der SED, die so genannten ‚Blockparteien’, und Briten, Amerikanern sowie Franzosen andererseits über schweren Ernährungskrise, zum Absinken des Lebensstan- schiedenen Listen oder einzelnen Kandidaten. Die Volkskam- sowie die Massenorganisationen. Als Massenorganisationen eine gemeinsame Besatzungspolitik und unterschiedliche dards und zum Rückgang der industriellen Produktion. Viele mer war formal das höchste Organ, tagte allerdings nur 4 bis galten beispielsweise die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Vorstellungen, wie das Land politisch und wirtschaftlich Menschen flüchten in den Westen. Die tief greifende wirt- 6-mal im Jahr und fasste – bis auf einen – alle Beschlüsse Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) oder die Gesell- regiert wird, führen zu der über 40 Jahre währenden Teilung schaftliche, politische und gesellschaftliche Krise der DDR ist einstimmig. schaft für Sport und Technik (GST). Ihre Kandidaten standen Deutschlands. unübersehbar. Am 17. Juni 1953 protestieren rund eine Mil- auf einer Einheitsliste gemeinsam mit den SED-Kandidaten – 1946 stimmt die BRD-Bevölkerung zum ersten Mal seit lion Menschen in Ost-Berlin und in der DDR weitgehend fried- einzelne Wahlmöglichkeiten gab es nicht. 1932 wieder in freien Wahlen über die Zusammensetzung lich gegen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Mit den Blockparteien waren die Parteien des Demokra- der Kommunalparlamente und der Landtage ab. In Bayern, Sie äußern ihre Unzufriedenheit über wachsende soziale tischen Blocks gemeint, die unter der Führung der SED in Baden-Württemberg und Hessen gibt es außerdem Volksab- Probleme, Bevormundung und Repression. Die SED-Führung der `Nationale Front der DDR´ eingebunden waren und stimmungen über neue Landesverfassungen. ist überfordert von den Demonstrationen, die Sowjetunion damit nur ein bestimmtes Kontingent von Mandaten in den Wichtige politische Weichen werden auch in der sowjeti- greift ein und reagiert mit Härte: Mit massivem Einsatz von Volksvertretungen inne hatten. Dazu zählten unter anderem schen Besatzungszone (SBZ) gestellt. Im April 1946 vereini- Militär, Volkspolizei und Staatssicherheit wird der Aufstand die CDU und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands gen sich die Sozialdemokratische Partei und die Kommunis- des 17. Juni niedergeschlagen. Ohne das Eingreifen der (DPD). Neben den Blockparteien sollten die Massenorgani- tische Partei zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Sowjetunion wäre das SED-Regime zusammengebrochen. sationen in der DDR möglichst große Teile der Bevölkerung (SED), die Berliner Sozialdemokraten bleiben selbstständig. Stattdessen bleibt Walter Ulbricht an der Spitze der DDR- beeinflussen und kontrollieren und sie damit in das gesell- CDU und die liberal demokratische Partei (LDPD) integrieren Führung und beschließt 1961 den Bau der Mauer. Im August schaftliche System der DDR integrieren. Ihre Mitgliedschaft sich als sogenannte Blockparteien in das neue System unter 1961 werden die rechtlich getrennten Staaten somit auch war grundsätzlich freiwillig, bildete jedoch eine wichtige Deutsche Bundesländer 1957 sowjetischer Besatzung. physisch getrennt. Abbildung: Uni Gießen, Voraussetzung für sozialen und beruflichen Aufstieg. Von Christian Proff und Julia Kern CC BY-SA 3.0 Christine Sudbrock

6 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 7 Tagebuch Luise, 1959, 20 Jahre alt Kinderkrippe / Kindergarten Wenn Deichselmanns zu Gast sind, darf kein Westfernsehen laufen. schaft würde mal für hübschere Klamotten sorgen. Richtig schöne Sie wollen wissen, was Mittwochabends immer bei uns los ist, Mode, wie sie in der Zeitschrift Sybille fotografiert wird. Aber so in der DDR / BRD wenn die drei anderen Familien aus dem Haus mit einem Kasten wie Linda aussieht, wird sie sich dieses Thema nicht auf die Fahne Bier und einem Kasten Limo bei uns vorbeikommen. Natürlich, wir schreiben. Da bleibt wohl nichts anderes übrig, als wie bisher gehören zu den ersten in unserer Straße, die einen eigenen Fernse- weiterzumachen: Heike schickt hochwertige Stoffe aus Mainz, ich her besitzen. Dank meines Vaters, der einen kennt, der jemanden schaue mir an, was die Sybille so abdruckt und nähe mit meiner kennt, dessen Vetter dritten Grades jemanden kennt, der uns Mutter das zusammen, was die Bekleidungsindustrie nicht auf die Eine Kinderkrippe in Ingersleben,1958 unkompliziert ein Fernsehgerät besorgen konnte. Reihe kriegt. Ich wünschte, der Sozialismus sähe nicht nur arbei- Foto: Bundesarchiv, 183-53169-0011, Doch Deichselmanns sehen natürlich nur die Antenne auf dem tende, sondern auch schöne Frauen vor! Wittig, CC BY-SA 3.0 Dach. Die Antenne, die den Deutschen Fernsehfunk, den Fernseh- Leider hat Linda gegen Ende des Abends die Jeanshose in mei- sender der DDR, empfängt. Was Deichselmanns von Gegenüber nem Zimmer entdeckt. Auch ein Geschenk von Heike. Linda ist nicht sehen können, ist die zweite Antenne unter unserem Dach, schon ein bisschen erschrocken, als hätte sie nicht nur eine Hose, die gen Westen gerichtet ist und die ARD empfangen kann. Wenn sondern den amerikanischen Präsidenten persönlich in meinem alle Bewohner des Hauses also mittwochs in unserem Wohnzim- Schrank sitzen gesehen. Ich habe noch versucht ihr zu erklären, mer zusammengepfercht sitzen, dann, weil wir gemeinsam West- wie unglaublich bequem so eine Jeans ist, egal ob sie nun ein Pro- Nachrichten schauen oder auch Was bin ich?. dukt des Kapitalismus ist oder nicht, aber Linda hat nur an ihrem Aber Deichselmanns gehören nicht zu denen, denen man davon schmucklosen Planwirtschafts-Kragen genestelt und mein Zimmer erzählen kann. Sie sind erst vor kurzem im Haus auf der anderen unter einem Vorwand verlassen. Vielleicht hat es wenigstens den Straßenseite eingezogen, und Vater – der nicht mehr viel sagt, Nebeneffekt, dass die Deichselmanns jetzt nicht mehr so oft zu seitdem er im Krieg ein Bein verloren hat – nannte sie nach dem Besuch kommen. ersten Kennenlernen gleich »die Purpurroten«. Womit er nichts Ich glaube, die Deichselmanns wissen auch gar nicht, in welche weiter sagen will, als dass sie die Einstellung zum Sozialismus ha- Fußstapfen sie zu treten versuchen. Noch vor ein paar Monaten ben, die sich die DDR-Regierung eigentlich wünscht, die aber nur haben die Krämers im Haus gegenüber gewohnt, und das schon die Deichselmanns und ein paar andere wirklich besitzen. seit meiner Geburt. Damals im Krieg, als uns eine Außenwand Der DDR-Staat stellte ausreichend Krippen und Foto: pädal – pädagogik aktuell e.V., Lernwerkstatt Kita-Museum, Mein Bruder Peter geht jetzt in die dritte Klasse, er hätte eigent- zerbombt worden war, konnten wir in der Zeit, die wir nicht im Kindergartenplätze für die Kinder zur Verfügung, Mainstraße 11, 14612 Falkensee, www.paedal.de lich schon im Bett sein sollen, aber als die Deichselmanns kamen, Luftschutzbunker verbrachten, immer zu den Krämers rein sehen. vor allem in den Städten. ist er wieder aufgestanden und hat das blaue Halstuch der Jung- Die hatten zwar noch ihre Wand, aber keine Fenster mehr. Wir pioniere aus seinem Schrank gefischt. Den ganzen Abend saß er hatten eine lange Schnur zwischen unseren Häusern gespannt, neben Mutter Deichselmann, zeigte ihr, wie er sich das Halstuch an der wir uns alles Mögliche hin- und herschoben: Lebensmittel, Die Kinder wurden in der Kinderkrippe im Alter von weni- mit einem perfekten Pionierknoten über den Schlafanzugkragen Zeitungen, kleine Zettel mit guten Wünschen. Die Krämers hatten gen Wochen bis zum 3. Lebensjahr aufgenommen, um es bindet und erzählte von den letzten Ferien im Pionierlager. uns geholfen, den Krieg zu überstehen. Frauen zu ermöglichen, erwerbstätig zu sein.Schon in der Vater Deichselmann hingegen belagerte meinen armen Papa, Und Anfang dieses Jahres waren sie einfach verschwunden. Hat- Krippe wurden die Kinder an einen festen, regelmäßigen Gemeinsamkeiten und Differenzen: der sich trotz purpurroten Gästen die Mühe gemacht hatte, seine ten aus ihrer Wohnung nur das Wichtigste mitgenommen, keine Tagesablauf gewöhnt: an systematische geistige Beschäf- Das Vorschulsystem der DDR war so, wie Beinprothese anzulegen. Er saß in seinem Sessel und versuchte Möbel, wenig Kleidung, alles schön unauffällig, denn eigentlich tigung beginnend mit der Vollendung des 1. Lebensjahres, es sich heute viele berufstätige Eltern sich für Herrn Deichselmanns Ausführungen über den neuen ist Republikflucht ja verboten, sie haben Grenzkontrollen und was an viel Sport und Bewegung an der frischen Luft, das wünschen. Beide Eltern – nicht nur Väter, Produktionsplan für Schreibtischlampen zu interessieren. Die weiß ich nicht alles. Schwer zu sagen, ob sie jemals in Westberlin Trockensein vor dem Ende des 2. Lebensjahres und intelli- auch die Mütter – übten ihren Beruf aus, Staatliche Plankommission hat nach genauer Untersuchung der angekommen sind. Ich kann nicht behaupten, dass ich wirklich genzprägendes Spielen. Der Kindergarten betreute Kinder für Kleinkinder gab es Krippenplätze und Bedürfnisse der DDR-Bürger offenbar beschlossen, dass 5 Prozent überrascht war. Die Krämers waren nie sehr glücklich in unserem vom 3. Lebensjahr an und hatte die Aufgabe, die Kinder bis Kindergartenplätze. Früh war das Lernen mehr Schreibtischlampen hergestellt werden müssen. Herr Deich- neuen Land, sie sprachen nicht darüber, aber mein Vater hat es zur Schulreife zu fördern. Die Betreuung im Kindergarten, in mit Gleichaltrigen in der Gruppe möglich. selmann, der Abteilungsleiter in einer Berliner Schreibtischlampen- ihnen immer angesehen, dass sie im Sozialismus nicht leben woll- dem die gezielte sozialistische Erziehung begann, war sogar Es sei ein langer Tag für die Kleinen, war fabrik ist, konnte seine Euphorie kaum bremsen. Am Ende seines ten. Es war eine ganz leise Sache … und die Krämers hatten sich kostenfrei für die Eltern. Die Eltern hatten dafür lediglich manchmal die Kritik. In Gesamtdeutsch- Vortrags hatte man das Gefühl, der Sozialismus würde allein durch auch nur ganz leise von uns verabschiedet. einen Essensgeldzuschuss (monatlich 27,50 Mark) zu zahlen, land gibt es seit langem einen chronischen Schreibtischlampen den kapitalistischen Westen besiegen können. Sie ist schon ein komisches Ding, die Zeit. Während des Natio- Die Situation in der BRD war komplett anders, es war fast Mangel an Kindergarten- und Krippen- Vater versuchte sich an einem begeisterten Hm-hm und machte nalsozialismus hatten diejenigen Friedrichshain verlassen müssen, „normal“ bzw. eine Selbstverständlichkeit, dass die Mütter plätzen. Die Bundesregierung reagierte sich dann daran, das Thema zu wechseln. die kommunistisch gesinnt waren, und nun taten es diejenigen, die ersten Lebensjahre zu Hause blieben und nicht erwerbs- auf die steigende Nachfrage inzwischen Und ich hatte das Fräulein Tochter Deichselmann am Hals. Sie die es nicht waren. Man hört es an allen Ecken und Enden, dass tätig waren. Kinder wurden erst mit drei Jahren in den Kin- mit der Festlegung eines Rechtsanspruches ist 20 Jahre alt, wie ich, und natürlich sind wir beide Mitglieder in die Menschen fortgehen aus der DDR. Ist das Land vielleicht bald dergarten geschickt. Kinderkrippen waren Errungenschaften auf einen Betreuungsplatz. Außerdem der SED. Mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Ich bin der Partei menschenleer, abgesehen von Leuten wie den Deichselmanns? der Frauenbewegung der 70er Jahre, nur auf privater Initia- gibt es das Betreuungsgeld für Eltern, die beigetreten, weil ich nicht benachteiligt werden wollte, weil ich in Absurd, sich Friedrichshain mit leergefegten Straßen vorzustellen! tive organisiert und finanziert. Der Kindergarten ist immer ihr Kind nicht in eine Krippe oder Kinder- Ruhe meine Schulen besuchen und meiner Arbeit in den Lager- Am Ende müssen sie doch einsehen, dass zweimal Deutschland kostenpflichtig gewesen. Bis heute hat sich für die Eltern garten schicken möchten.

hallen am Osthafen der Spree nachgehen möchte. Du kannst nicht völliger Unfug ist. nichts wesentlich verändert. Noch immer gibt es für junge Quelle: www.brigitte.de/gesellschaft/politik-gesellschaft/contra- so nahe an der Grenze zu Westberlin arbeiten, ohne zur Partei zu Eltern, vor allem für allein erziehende Frauen die Problematik, betreuungsgeld gehören. dass sie ihre Erwerbstätigkeit nicht wieder aufnehmen kön- Linda Deichselmann hingegen ist in der Partei, weil sie es wirk- nen, weil sie keinen Betreuungsplatz für ihr Kind bekommen. recherchiert und zusammengefasst lich ernst meint. Was willst du auch anderes machen, wenn dein Nicht alle bekommen in der BRD einen Kindergartenplatz. von Veronika Hilmer Vater den Sozialismus mit Schreibtischlampen voranbringen will? Gemeinsamkeit: in der BRD und der DDR gab es immer von Ich weiß, dass es Linda zu etwas bringen wird in der SED, und Kirchen geführte Kindergarteneinrichtungen. vielleicht – so hoffe ich – bringt sie es weit genug, um mal etwas Richtiges verändern zu können…und ich meine damit nicht die recherchiert von Elin Wagner blöden Schreibtischlampen. Viel besser wäre es, unsere Planwirt-

8 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Foto: privat Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 9 Kindergarten 1976 in Leipzig mit Schwimmbecken im Keller. Foto: Bundesarchiv 183-1989-0407-015, Waltraud Grubitzsch, CC BY-SA 3.0

gemeinsam. Die gute Mischung zu finden zwischen Indivi- dualität und Gruppe ist immer eine Gratwanderung. In der DDR wurden Rituale spielerisch gestaltet. Es wurde viel gesungen: ob wir zum Essen gingen oder zum Hände- waschen, nie haben wir das einfach so gemacht, es gab immer ein Lied zum jeweiligen Thema, wie z.B. „wir ge- hen jetzt Hände waschen und alle machen mit!“ Oder sie haben gesungen, dann auf dem Töpfchen gesessen und Kinderkrippe Zwickau. Foto: privat

situativ gemacht, ohne wirklich einen roten Faden zu haben und nach dem zu schauen, was die Kinder bewegt. Ja, vor allem an Struktur mangelte es. Görls: Du sagst, dass Kinder auch Vorgaben brauchen? Anja: Wenn wir alles offen lassen und die Kinder nach ihren Wünschen fragen, dann kommen nur Wünsche aus Interview mit dem Erfahrungsschatz, den sie bis dahin haben. Wir müssen ihnen aber auch etwas Neues anbieten, damit sie auswählen Anja Kerwel – Erzieherin können. Ich finde es ganz wichtig, dass Kinder eine Wahl haben, aber sie müssen auch eine Auswahl haben. Görls: Einerseits wollen Eltern berufstätig sein und Karriere machen, andererseits wird das fehlende Familienleben be- Anja Kerwel, aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, absolvierte ihr klagt. Eine Frauenbeauftragte meinte dazu, es hänge nicht von der Quantität der Zeit, sondern von der Qualität der Studium zur Erzieherin in Schwerin. 1990 verlegte sie ihren Wohnort nach Hessen Zeit ab, die man mit den Kindern verbringt, wenn eine gute und leitete mehrere Jahre eine Kindertagesstätte in Messel im Landkreis Eltern-Kind-Beziehung besteht. Was wäre denn pädagogisch wichtig und optimal? Darmstadt-Dieburg. Anja schildert hier ihre beruflichen Erfahrungen im Umgang Während ihre Mütter und Väter arbeiteten, wurden die Kinder in Kindergär- Anja: Ich finde es gesellschaftlich wichtig, dass Mütter oder mit den Kindern und im Kita-Arbeitsteam im Vergleich DDR / BRD. ten-, und -krippen betreut. Foto: Bundesarchiv 183-1989-0407-015, Heinz Väter keinen Ganztagsjob machen, denn Kinder gehören Hirndorf, CC BY-SA 3.0 zum Leben, zur Familie. Ich halte es für sinnvoll, wenn Kin- der bis halb drei nachmittags im Kindergarten sind und Görls: Anja, wie hast du deine Ausbildung in der DDR nur eine Schleife am Schuh binden, sondern auch an einer sich unterhalten. Es war sehr spielerisch und ich glaube, den Nachmittag mit ihren Eltern und Freunden verbringen in Erinnerung? Gardine, an einem Holzschuh oder in einem Spiel oder an deswegen haben die Kinder auch nie Druck empfunden. können. Firmen sollten auf die Bedürfnisse von Familien Anja: Für jedes Ausbildungsfach gab es einen theoretischen einem Geschenk. Es gab übrigens die Scheu vor dem Nacktsein nicht. Der Nach- eingehen. Wir haben Kinder, die mehr als 9 Stunden in und einen praktischen Teil. Die Theorie wurde auch in die Görls: Wenn ein Kind Schwierigkeiten hatte, seinem Alter teil dieser Gemeinschafts-Töpfchen-Session ist allerdings der, unserer Einrichtung sind. So lange ist nicht einmal die täg- Praxis umgesetzt. Die Strukturen waren klar vorgegeben: entsprechend „trocken“ zu werden, welche Methoden dass die Kinder nicht mehr spüren, wann sie eigentlich auf liche Arbeitszeit der Erzieherinnen. Ich finde, es ist zu an- Das Ziel setzen, die Inhalte herausarbeiten, die Methoden wurden dabei angewandt? Das Töpfchensitzen wurde ja Toilette gehen müssen. Das eigene Körpergefühl wurde nicht strengend für Kinder, sich den ganzen Tag in eine Gruppe überlegen war Teil unserer Ausbildung. Es gab einen Erzieh- sehr kritisiert und teilweise ins Lächerliche gezogen. gefördert. einfügen zu müssen. Beispielsweise nicht sagen zu können, ungs- und Bildungsplan, der auf jedes Alter ausgelegt war, Anja: Die Kinder wurden wirklich auf den Topf gesetzt. Ich Görls: Als du dann in Hessen gearbeitet hast, wie kamst du ich will jetzt einfach draußen sein, oder alleine sein, oder mir von 3 bis 4, von 4 bis 5 und von 5 bis 6 Jahren. Gelehrt wurde kann mir nicht vorstellen, dass es ganz ohne nachdrückliche mit Kolleginnen und Kollegen und den anderen Konzepten den Baum anschauen. Aber auch zu Hause gibt es oft keinen in der Ausbildung in den Bereichen Musik, Mathematik, Hilfe gegangen wäre, wenn ein 2-jähriges Kind das nicht zur Erziehung klar und wie konntest du dich mit deinem richtigen Alltag mehr, wo Kinder einfach spielen können. Sie Deutsch, Lesen von Geschichten, Umgang in der Gesellschaft, gewollt hätte. Das ist normal, man kann es ja einem 2-jähri- Wissen und deinen Erfahrungen einbringen? werden leicht überfordert durch Musikschule, Englisch-Kurs, Umgang mit der Natur. Heute gibt es auch Lernziele in der gen Kind alleine mit Erklärungen nicht klarmachen. Beim Anja: Als erstes würde ich sagen, dass es für mich sehr usw. Möglicherweise werden sie auch noch verwöhnt durch Erziehung, aber sie sind nicht an das Alter gebunden. Schlafen war es nicht viel anders: Alle Kinder bis 6 Jahre hilfreich war, – als ich nach der Wende und nach dem das schlechte Gewissen der Eltern, die ihnen zu wenig Zeit Görls: Mit welchen Methoden ging man an die Aufgabe mussten im Gruppenraum schlafen, es ging nicht, dass sie Erziehungsurlaub für meine Tochter wieder berufstätig widmen. heran? Wurden die Ziele erreicht? nur ruhten. Da wurden die Decken über den Kopf gezogen war – dass wir im Team die Konzeption gemeinsam er- Görls: War das in der DDR anders? Hatten Eltern mehr Anja: Die Erzieher/innen mussten einen Wochen- und und gesagt, „dreh dich um auf die andere Seite“, damit sie arbeitet haben. Das war für mich noch mal wie eine kleine Zeit für die Familie? Monatsplan aufstellen und festlegen, was sie wann erreichen nicht miteinander redeten. Schullaufbahn. Ich habe theoretisch noch mal alles neu Anja: Ich denke, dass das in der Regel ähnlich war. Bei mir wollten. Diese Pläne wurden regelmäßig von der Leitung Görls: Wie bewertest Du die beiden Erziehungsstile und kennengelernt. Vor allem, dass ich als Erzieherin Begleiterin war es allerdings anders. Ich war nie im Hort, denn meine der Kindertagesstätte und von der Kreis-Fachberatung Konzepte heute rückblickend? bin, nicht alles steuere und die Inhalte vorgebe. Natürlich Mutter war Grundschullehrerin, daher war ich nach der kontrolliert. War ein Ziel noch nicht erreicht, d.h. konnte ein Anja: Als ich in die BRD kam, fand ich, dass die Kinder hier hat auch geholfen, dass ich meine Tochter hatte. Da habe Schule immer zu Hause. 3-jähriges Kind z.B. noch keine Schleife binden, dann wurde zu sehr individuell handeln konnten, so dass sich die Gruppe ich vom Herzen her nicht mehr nur die Gruppe gesehen, Görls: Hast du dann mit anderen Kindern spielen können mit der ganzen Gruppe noch weiter geübt. Es gab sicher verlor. Die Kinder mussten keine Regeln einhalten, sie durf- sondern auch das Individuum Kind. oder waren die anderen noch in der Betreuungseinrichtung? Kinder, die nicht „das Ziel erreichten“, aber 80 % der Kinder ten zu jeder Zeit alles machen und wir haben gemerkt, dass Weiterhin habe ich in meiner damaligen Einrichtung in Anja: An die Kindergartenzeit kann ich mich nicht so gut gelang es in der Regel. das den Kindern nicht gut tat. Kinder brauchen Strukturen, Hessen mehr Struktur eingebracht, sie war nur vormittags erinnern, aber an den Wochenenden haben wir alle gemein- Görls: Wurde weniger oder mehr autoritär gearbeitet? Rituale, an denen sie sich festhalten können, und genauso geöffnet. Wir haben sie in eine Kindertagesstätte umgebaut. sam gespielt. Später in der Schule haben wir unsere Nach- Anja: Es wurden im Alltag so viele Methoden eingebaut, brauchen sie ihre eigene Zeit, in der sie entscheiden können, Ich hatte das Gefühl, dass die Erzieher Angst hatten, den mittage eher in den AGs, den Arbeitsgruppen, verbracht. damit möglichst viele Übungsmöglichkeiten für die Kinder mit was sie sich beschäftigen möchten. Bei uns in der Gruppe Kindern etwas vorzugeben. Immer wieder sagten sie, „nein, Jeder musste sich als „Pionier“ in irgendeiner AG beteiligen. da waren, damit das Ziel erreicht wurde. Zum Beispiel nicht können sie z.B. nicht essen wann sie wollen, alle essen die Kinder wollen selbst entscheiden“. Alles wurde nur Ich habe 8 Jahre lang Puppenspiel gemacht und war im Chor.

10 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 11 Das Schulsystem in der DDR POS und EOS – wie gestaltete sich das Schulsystem in der DDR?

Allgemeine Schulpflicht waren zehn Jahre auf der Polytech- Die Aufnahmeordnung des Ministeriums für Volksbildung Das gesamte nischen Oberschule, abgekürzt POS, das war die allgemein- besagte: „In die Erweiterte Oberschule werden Schüler auf- Bildungssystem bildende Regelschule, bei der die Schüler ab der Einschulung genommen, die sich durch Leistungsfähigkeit und Bereit- – von der Krippe bis zum Abschluss im gleichen Klassenverband blieben. Es schaft sowie politisch-moralische und charakterliche Reife gab eine Unterteilung in Unter-, Mittel- u. Oberstufe, die auszeichnen, ihre Verbundenheit mit der DDR durch ihre bis zur Uni – 1.- 4. Klasse nannte sich Unterstufe, es folgte die Mittelstufe Haltung und gesellschaftliche Aktivität bewiesen haben.“ war kostenfrei. ab der 5. Klasse, mit der weitere Fächer eingeführt wurden, (Quelle: Mitteldeutscher Rundfunk) Die Idee war, z.B. Russisch als erste Fremdsprache, die manchmal schon dass alle Bürger ab der 3. Klasse unterrichtet wurde. Ab der 7. Klasse konnte Berufsausbildung. POS-Abgänger begannen in der Regel Ein Kindergarten-Gruppenfoto von Nicole Langer: Da ist die Clique zu sehen: Thomas, Simone und Nicole. – je nach Begabung wahlweise Englisch oder Französisch gewählt werden. mit einer Facharbeiterausbildung. Berufsberatungszentren Mit Thomas ist der Kontakt leider eingeschlafen. Fotos: privat unterstützten die Schüler bei der Berufsentscheidung und – einen Beitrag Besonders in der DDR: Die polytechnische Bildung an ab Klasse 8 hatten sie in der Regel ihre berufliche Wahl zum Aufbau des der POS. Das Gesetz zur Einrichtung der polytechnischen getroffen. Der Staat garantierte die Zuteilung eines Aus- proletarischen Oberschule wurde 1959 verabschiedet. Dieser Schultyp war bildungsplatzes für jeden Schulabgänger. Wer schulische Staates, der ein absolutes Novum, denn es war die Verbindung von Lernziele nicht erreichte oder frühzeitig in das Berufsleben Nach vielen Jahren Arbeiter und Erziehung mit produktivem Arbeiten und eine Einführung einsteigen wollte, konnte in den 70er Jahren bereits mit dem in viele Zweige der Technik umfassenden Bildung – also Abschluss der 8. Klasse die POS verlassen, was allerdings die besuchte Nicole Bauern leisten ihren christlichen polytechnisch. Zuvor gab es in der DDR Volksschulen, ähnlich Lehrzeit um ein Jahr verlängerte. sollten. wie in der BRD. Kindergarten und Die POS war naturwissenschaftlich und technisch ausge- Beruf mit Abitur (BmA). Zur Erlangung der Hochschul- erinnert sich gerne richtet und stellte früh eine enge Verbindung zur Arbeitswelt reife gab es alternativ zur EOS die Möglichkeit einer drei- an diese Zeit. Anders her. Die volkseigenen Betriebe sowie die landwirtschaftlichen jährigen Berufsausbildung, die mit einem Abiturabschluss als in den staatlichen Produktionsgenossenschaft wurden in die Verantwortung gekoppelt war (BmA). Absolventen dieser Richtung konnten Kindergärten, für die Entwicklung und Durchführung des polytechnischen – sofern sie erforderlichen Eignungsprüfungen bestanden – Unterrichts genommen. Die polytechnische Bildung blieb bis ein beliebiges Studium aufnehmen. Meistens entschieden die kostenfrei zum Ende der DDR ein zentrales Element des Schulwesens sie sich anschließend für ein Studium, das in Beziehung waren, lagen die und war anerkannt und wertgeschätzt. zu ihrem erlernten Fachberuf stand, an einer technischen Betreuungskosten Das Niveau der Schulbildung an der POS – vor allem im Hochschule oder Ingenieurhochschule. in den christlichen mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen Kindergärten bei ca. Bereich – war höher als vergleichsweise das an einer Real- Spezialschulen. Anfang der 60er Jahre wurden in der DDR schule in der BRD. Spezialschulen und -klassen gegründet, und zwar als eine 40 Mark im Monat. Form der Differenzierung des Schulsystems. Diese Schulen Diese waren auch Die EOS, Erweiterten Oberschule. An der EOS, der verfolgten das Ziel, ausgeprägte Begabungen und Talente sozial gestaffelt Erweiterten Oberschule, legten Schüler mit 12 Schuljahren von Schülern auf den verschiedensten Gebieten zu berück- und von Gemeinde das Abitur ab, bis 1981 war der Zugang nach der 8. Klasse, sichtigen und diese zu fördern. Es gab Spezialschulen für zu Gemeinde ab 1981 mit der Klasse 10. Die Aufnahme in die weiter- Musik, Sport, Mathematik, Naturwissenschaften, Chemie und führende EOS war von verschiedenen Faktoren abhängig. Artistik oder Sprachen. Viele Schüler der Spezialklassen er- unterschiedlich. An erster Stelle standen die Leistungen, bei gleichem reichten bei nationalen und internationalen Wettbewerben, Notendurchschnitt wurden Kinder von Arbeiterfamilien wie Mathematik- oder Chemieolympiade, herausragende bevorzugt und an dritter Stelle stand die politische Orien- Platzierungen. Die Schüler waren in der Regel in Internaten Von Nicole Langer, tierung der Familie. Schüler von Arbeiter-Eltern hatten untergebracht, die nicht immer am Wohnort der Familie vor- eine von den Görls der ersten Stunde gegenüber Mitschülern, deren Eltern studiert hatten, bei zufinden waren. Besser hatten es die Sprachbegabten, denn gleicher Leistung höhere Chancen zur Erlangung der Hoch- in vielen größeren Städten existierten „Schulen mit erweiter- schulreife, weil sich die DDR als Arbeiter- und Bauernstaat tem Fremdsprachenunterricht“, kurz „Russischschulen“ verstand. genannt.

12 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Alle Abbildungen und Fotos: privat Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 13 Beispiel für Leistungssport an den Kinder- und Jugend- Schul- und Unterrichtsfächer, sportschulen: Bei den Spezialschulen zur Förderung sport- die es in der DDR gab und in der BRD nicht: licher Höchstleistungen war der Stundenplan auf den Sport • Wehrerziehung, Astronomie optimiert, d.h. es erlaubte zweimal täglich Training vor und • Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion UTP nach dem Unterricht. Die Klassenstärken waren geringer als • Einführung in die sozialistische Produktion ESP im DDR-Durchschnitt und oft nur auf ein oder zwei Sport- • Technisches Zeichnen = TZ arten spezialisiert. Beim Versäumen des Unterrichts aus • produktive Arbeit = PA sportbedingten Gründen gab es automatisch Nachhilfe. Das • Nadelarbeit Abitur an Sportschulen wurde erst nach 13 Jahren abgelegt, sonst waren in der DDR 12 Jahre die Regel. Die Sportschule UTP bedeutet Unterrichtstag in der sozialistischen Produk- konnte aber auch mit einem POS-Abschluss verlassen tion, später nannte sich das Fach PA, produktive Arbeit, d.h. werden. Der hohe Stellenwert des Sports lag daran, dass die Arbeiten in Abteilungen eines Betriebes. Ab der Klasse 7 gab Sportler von Seiten des Staates als „Botschafter im Sport- es neben 5 Tagen Schulunterricht einen Tag pro Woche in anzug der DDR“ angesehen wurden, die für das Ansehen einem Industrie- oder Landwirtschaftsbetrieb und so wurden der DDR wettkämpfen sollten. die Schüler mit der sozialistischen Produktion vertraut gemacht. PA wurde ergänzt durch die Schulfächer ESP – Einführung in die sozialistische Produktion – die Theorie WAS NOCH BESONDERS WAR IM DDR-SCHULSYSTEM zu ökonomischen und technischen Fragen mit praktischen Anteilen – und TZ – Technisches Zeichnen. Politikunterricht gab es ab der 7. Klasse, es nannte sich Patenschaft für eine Schulklasse – wie funktionierte in der DDR „Staatsbürgerkunde“. Dort sollte die Idee des das? Eine Gruppe von Mitarbeitern eines volkseigenen Schulgeld Ebenso wie der Besuch der POS war auch der Sozialismus vermittelt werden als die Grundlage, auf der Betriebes (VEB) oder einer landwirtschaftlichen Produktions- EOS-Besuch kostenfrei, seit 1981 erhielten die Schüler sogar die DDR-Gesellschaft aufgebaut war und politisch funktio- genossenschaft (LPG) übernahm für eine Schulkasse eine eine Ausbildungsbeihilfe von monatlich 110 Mark in der 11., nierte. Die Schüler sollten gute Bürger der DDR werden. Patenschaft, manchmal dauerte diese Patenschaft über und 150 Mark in der 12. Klasse. Dies erfolgte, um die EOS- Zum Unterrichtsstoff zählten auch die Beschlüsse der Partei- die ganze Schulzeit. Die Klasse besuchte die Brigaden in Schüler den Lehrlingen anzugleichen. tage der SED. Die Lehrkräfte waren ausgebildete Diplom- ihrem Arbeitsumfeld, dafür kamen die Brigadevertreter bei lehrer mit einem 2. Unterrichtsfach – sie waren in der Regel wichtigen schulischen Ereignissen in die Schule und waren recherchiert von Elin Wagner, Quellen: http://www.planet-wissen.de SED Mitglieder und in den Leitungsgremien der FDJ, der z.B. bei der Zeugnisvergabe anwesend. unterstützt durch Elke Löffler und Marko Exner www.jungewelt.de, Ausgabe junge Welt (5./6.12.2009 Nr. 282) Freien Deutschen Jugend. Schulnoten Im Bildungswesen der DDR gab es fünf Noten: Astronomie Mit der Einführung der POS wurde 1959 1 (sehr gut), 2 (gut), 3 (befriedigend), 4 (genügend) und 5 Astronomie als eigenes Schulfach in der Klasse 10 eingeführt. (ungenügend). Astronomie – vom Kalender bis zur Raumfahrt – sollte die Schüler anregen, sich aus globaler und kosmischer Sicht mit Schulferien In allen 15 Bezirken der DDR waren die Ferien- Problemen der Menschheit zu befassen. zeiten gleich. Die Sommerferien – auch „große Ferien“ genannt – waren typischerweise während der Monate Juli und August, insgesamt 8 Wochen lang, die Herbstferien dauerten 1 Woche, und 2 Wochen gab es Winterferien im Februar. Die Frühjahrsferien, jeweils im Mai, waren 1 Woche lang.

Die SED schätzte ein: Sitzenbleiben Es gab Schüler, die die Klasse wiederholen „Es gehört zu den Werten des Sozialismus, mussten. Es war in der DDR so, dass die zuständigen Lehr- dass mit dieser umfassenden Bildung reale kräfte eine Stellungnahme abgeben mussten und sich zu Voraussetzungen der Chancengleichheit rechtfertigen hatten, denn das Verständnis war, dass die für alle Kinder des Volkes geschaffen Lehrer ihr Planziel erreichen sollten, d.h. der Unterrichtsstoff sind. In einer Zeit, da in vielen Ländern von den Schülern in der geplanten Zeit verstanden werden der Welt den Werktätigen das Recht auf sollte, um in die nächste Klasse versetzt zu werden. Bildung immer noch vorenthalten wird und in den Staaten der Monopole das Bildungsprivileg weiter besteht, ist das ein anschaulicher Beweis für den tiefen humanistischen Charakter des Sozialismus und seine Überlegenheit über den Kapitalismus.“

Quelle: Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den X. Parteitag der SED. A.a.O. aus Staatsbürger- kunde 8, 4. Auflage, Verlag Volk und Wissen, VEB, Berlin, 1984, S. 66

Polytechnische Oberschule in Berlin, Marzahn, 1984. Foto: Bundesarchiv 183-1984-0227-026, CC BY-SA 3.0

14 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 15 Erinnerungen Görls: Du hast mal eine Anekdote über Deine Lehrerin aus der Schulzeit erzählt. Wie war das noch mal? Nicole: Wir sind mit der Klasse wie jeden Tag in Zweierreihen von Nicole durch den Ort zur Schulkantine gelaufen (die war nicht in der Schule mit drin) und ich habe mich dabei mit meinen Mitschülern darüber unterhalten, was ich gestern im ZDF gesehen hatte. Wir haben alle Westfernsehen empfangen und es hat auch jeder geguckt. Lieber als das Ostfernsehen, da gab es nur ein paar Kindersendungen, die wirklich toll Nicole verlebte ihre Schulzeit in Mecklenburg-Vorpommern. waren (z.B. das Sandmännchen, das es heute immer noch Für gute Leistungen und Lernerfolge erhielten Schüler Belobigungen, im Kika gibt oder in den Ferien gab es immer die Märchen- stunde). Ich habe dabei ausdrücklich betont, dass das ZDF Auszeichnungen und Urkunden. sowieso mein Lieblingssender sei. Das hat meine Lehrerin mitbekommen und nur zu mir gesagt: „Du bist ja doof“ (lach). Görls: Was aus dem Bildungssystem hätte man Deiner Görls: Hier an den Schulen gibt es ja die Schülervertretung erklärt. Wie man Gerste, Roggen und Weizen voneinander Meinung nach übernehmen können? (SV). Gab es so was auch in der DDR? unterscheidet und wie Hafer aussieht. Frag mal einen Schüler Nicole: Das Abitur in 12 Jahren hat es in der DDR auch Nicole: Es gab auch bei uns Klassensprecher, aber ob wir hier im Westen nach den heimischen Getreidesorten und wie gegeben und es hat wunderbar funktioniert. Hier regen damit eine Art Schülervertretung hatten, weiß ich nicht sie aussehen, bisher konnte mir keiner diese Frage beantwor- sich die Leute darüber auf. Der Unterschied liegt aber mehr. Ich weiß nur, dass es eine Gruppe von Schülern gab, ten. Das ist z.B. wieder so ein Unterschied zwischen West und vielleicht darin, dass die Schüler in der DDR disziplinierter die innerhalb der Klasse eine besondere Aufgabe hatte. Ich Ost. Bei der Gelegenheit hat sie uns auch erklärt, welcher waren, der Lehrer war immer noch eine Respektsperson. war Schriftführerin, d.h. wenn sich der Gruppenrat traf oder Vogel über uns geflogen ist usw. Ich glaube, das war auch in Da wurde weder mit dem Lehrer diskutiert noch mitten in wenn wir Pioniernachmittage hatten oder Ausflüge gemacht der DDR eine Ausnahme. Wir hatten einfach das Glück, eine der Stunde aufgestanden, um sich den Bleistift zu spitzen. haben usw., habe ich das Ganze schriftlich festgehalten. super Lehrerin zu haben. Das Material hatte vor Beginn einsatzbereit zu sein und es Görls: Ist es wahr, dass Ihr schon in der Grundschule mit dem Ansonsten hatten wir neben den üblichen Fächern wie hatte Ersatz da zu sein. Wenn also ein Stift während des Füller schreiben durftet? Mathematik, Musik, Zeichnen und Sport auch noch Werk- Unterrichts abgenutzt wurde, nahm man den zweiten, den Nicole: Wir durften in der Schule nur mit dem Füller schrei- unterricht (an dem haben Mädels und Jungs teilgenommen, man dabei hatte. Solche Dinge haben meiner Meinung ben. Man hat uns immer gesagt, ein Kugelschreiber versaue es gab keine Geschlechtertrennung) und Schulgarten. Wir nach dazu beigetragen, dass die Schüler sich mehr auf den die Handschrift. Da ist auch was dran. hatten wirklich einen eigenen Garten, den wir bewirtschaftet Unterricht konzentriert haben. Wir haben im Osten schneller Görls: …und kontrolliert wurde, ob das Schreibmaterial haben. So richtig mit Beeten anlegen, Samen setzen, gießen und effektiver gelernt, würde ich sagen. Das hat man daran bereit war? usw. gemerkt, wie ich von der 5. Klasse Ost in die 6. Klasse West Nicole: Stichprobenweise ja. Ab und zu hat sich der Lehrer Görls: Nach Deinen Noten im Zeugnis warst Du eine kam. Den meisten Lernstoff kannte ich schon, weil wir die oder die Lehrerin jemanden rausgepickt und den Schulranzen richtige Musterschülerin. Dinge bereits im Osten durchgenommen hatten. Ich hatte in kontrolliert. Ob man alle Hefte und Bücher dabei hatte, ob Nicole: Kann man so sagen. Ich wurde allerdings erst im West-Berlin mit den für mich schlechtesten Noten das beste in der Federtasche (westdeutsch „Mäppchen“) alle benötig- Westen als Streberin angesehen, das war neu für mich. Im Zeugnis der Klasse. ten Stifte da sind, ob Ersatzpatronen da sind, ob das Lineal Osten empfand ich es als normal, gut sein zu wollen. da ist usw. Görls: Im 1. Schuljahr hast du sogar eine Urkunde des Görls: Um schneller im Unterricht voranzukommen Ministers und ein Buch bekommen, war das was Beson- wahrscheinlich? deres? Nicole: Ja genau. Erst mal hat das den Ordnungssinn Nicole: Ja, diese Auszeichnung gab es für „sehr gute“ geschult – auch wenn das sicherlich auch nicht bei jedem Lernergebnisse. Abbildungen: privat Schüler gefruchtet hat – und man konnte sich besser auf den Unterricht konzentrieren. Görls: Die Lehrer standen auch unter Druck, Erfolg in ihren Klassen zu haben. Stimmt das? Nicole: Ja, es wurde nicht gerne gesehen, wenn ein Schüler sitzen geblieben ist. Das warf ein schlechtes Licht auf den Lehrer. Wie überall in der Planwirtschaft der DDR hatten auch die Lehrer ihre Vorgaben, die sie zu erfüllen hatten. Statt ein Kind die Klasse wiederholen zu lassen – was in vielen Fällen einfach besser gewesen wäre – wurde es oft doch versetzt. Görls: Erzähl noch mal über Eure Schulfächer! Nicole: Unsere Klassenlehrerin ist manchmal mit uns raus- gegangen und hat uns z.B. die Getreidesorten am Feld

16 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 17 Schulsystem BRD / DDR

Bianka hat mit uns über ihre Schulzeit in Thüringen gesprochen. Ihr Elternhaus Struktur des Schulsystems in der DDR war christlich orientiert. Doch sie ist zum Abitur zugelassen worden. (vereinfachte Darstellung) Heute ist Bianka Luther Physiklehrerin an einer Gesamtschule in Hessen.

Görls: Welche Voraussetzungen BRD (Hessen) mussten erfüllt sein, um zum Abitur Besondere Schulfächer: 1. Fremdsprache: meist Englisch, gelegentlich Französisch; Sozialkunde/ zugelassen zu werden? Gemeinschaftskunde (von Lehrern gehalten) Bianka: An erster Stelle standen die Schulferien: 2 Wochen im Winter, 2 Wochen im Frühling, 6 Wochen im Sommer, 2 Wochen im Noten, als zweites wurden Arbeiter- Herbst kinder bevorzugt, an dritter Stelle Schulnoten: Klasse 1+2: keine, ab Klasse 3: 1-6, in der gymnasialen Oberstufe: 0-15 Punkte

war die politische Orientierung der Berufliche Fachoberschulen Berufs- und Berufsbildende Schulen Schüler und des Elternhauses. Es gab Ausbildung Abschluss: Fachgymnasien Beschränkungen aufgrund eines Fachhochschulreife Abschluss: Abitur eventuellen kirchlichen Engagements, Fachhochschule Universität Universitätsstudium was sogar ein Ausschlusskriterium war. Studium Studium oder jede andere berufliche Ausbildung Waren die Eltern dagegen in der Partei, Hauptschule Realschule Gymnasium Gesamtschule so wurde das bei der Zulassung positiv Alter: bis 15/16 Alter: bis 16/17 Alter: bis 18/19 Alter: je nach Abschluss berücksichtigt. Man brauchte einen Klasse: 5-9 Klasse: 5-10 Klasse: 5-12/13 Kooperative GS: alle Notendurchschnitt zwischen 1,5 und 1,2 Abschluss: Abschluss: Ziel: Qualifikation für Schulabschlüsse können in Hauptschul- Mittlere Reife Studium nach Leistung getrennten in der 10. Klasse. Soweit mir bekannt abschluss Abschluss: Abitur Klassen erworben werden; ist, wurden nur ca. 5% der Schüler 5-10: Klassen- Integrative GS: Schüler überhaupt zum Abitur zugelassen. unterricht werden in gemischten 11-13: Kursunterricht Gruppen unterrichtet Görls: Dein Elternhaus war christlich orientiert, trotzdem bist Du für die Grundschule (Primarstufe) Alter: bis 10/11 Jahre EOS zugelassen worden, wie kam das? Klasse: 1-4 (in einigen Bundesländern 1-6) Bianka: Ich war aber wie alle Mitschüler Kindergarten bei den Pionieren und in der FDJ. Und Alter: bis 6/7 Jahre – Freiwillig ich hatte das Glück, dass meine Schul- Kinderkrippe (erst ab den 80ern durch die Kinderladenbewegung) leiterin von mir überzeugt war. Sie Alter: bis 3 Jahre – Freiwillig schrieb eine Empfehlung, dass es gut wäre, wenn ich das Abitur machen Tabelle: Sarah Kirschmann Abbildung: Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Mai 1989 könnte. Zum einen aufgrund meines Notenschnitts und zum anderen, weil Geprüft wurden wir alle am gleichen Tag mit den gleichen Fächer liefen übrigens unter der Bezeichnung „Einführung in ich mich trotz meines christlichen Hin- Examensaufgaben. die Sozialistische Produktion (ESP). tergrundes engagierte, mich für den Görls: Wo liegen die Vor- bzw. Nachteile des Zentralabiturs? Görls: War das Schulfach Staatsbürgerkunde so ähnlich Staat einsetzte, mich nicht abgrenzte, Bianka: Durch das Zentralabitur sollen alle das gleiche Bil- wie heute Gemeinschaftslehre oder PoWi? dass ich in der FDJ mitarbeitete; außer- dungsniveau erreichen. In der DDR war das schon immer so, Bianka: Prinzipiell könnte man das vergleichen, aber die Idee dem würde doch die DDR auch für mit dem einen Unterschied zum hessischen Zentralabitur, dass dahinter ist jeweils eine andere. In Gemeinschaftskunde lernt Meinungsfreiheit stehen; man müsste dort auch zentral korrigiert wurde. Nach der Wende wurden man System und Wesen der Demokratie kennen, während es ja auch die Minderheit der Christen ja viele Systeme der DDR umgeformt oder abgeschafft, wobei bei der Staatsbürgerkunde der DDR darum ging, die Schüler fördern und dafür wäre ich doch ein doch vieles vernünftig war. Mit dem Zentralabitur kommt man „auf Linie“ zu bringen, d.h. auszurichten auf die Ideologie gutes Beispiel. Auf diese Weise bekam ja nun wieder zum DDR-System zurück. des Sozialismus. Wir haben die Theorien von Marx und Engels ich dann die Zulassung zum Abitur. Görls: Worin bestand der polytechnische Unterricht? gelesen, über 5-Jahres-Pläne, die Partei und darüber, was so Görls: Wie groß waren die Klassen Bianka: In der polytechnischen Ausbildung hatten wir einmal toll und besonders an „unserer Staatsform“ sei. in der Regel? in der Woche praktischen Unterricht und wurden auf tech- Görls: Hattest du das Fach Astronomie? Ich habe gelesen, Bianka: In der Regel hatten sie zwischen nische Berufe vorbereitet, wie Technisches Zeichnen oder den dass sich die Schüler aus globaler und kosmischer Sicht mit 24 und 28 Schüler und es gab mehrere Umgang mit Maschinen. Wir haben wirklich in einer Maschi- den Problemen der Menschheit beschäftigten. Wie ist das zu Parallelklassen. In unserem Ort gab es nenhalle gestanden und gearbeitet und auch Dinge in verstehen? auf der einen Straßenseite eine Schule größeren Mengen produziert, die hinterher benutzt wurden. Bianka: Das war wahrscheinlich Auslegungssache des Lehrers. Abbildung: privat mit 4 Klassen und auf der anderen Es war dort relativ entspannt, wie hier vielleicht beim Werk- Wir hatten einen Lehrer, der auch Physiklehrer war, durch nochmals eine mit 6 Klassen. Der Unter- unterricht. Uns wurde zwar gesagt, wie viel wir erreichen den wir ganz einfach über Himmel und Sterne lernten. Wir richt war vollkommen einheitlich, der sollten, aber das war machbar. In den polytechnischen nannten das Sternenkunde. Wir gingen auch nachts los und Stoff war zentral vorgegeben. Fächern wurden Theorie und Praxis zu je 50% bewertet. Die untersuchten mit unseren Sternenkarten den Himmel.

18 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 19 Erinnerungen Pioniersein in der DDR an ihre Pionierzeit von Nicole Langer Mit der Einschulung nach den Sommerferien jeweils zum 1. September warb die Pionierorganisation um die Abc-Schützen. Für die jungen Schüler war Görls: Wie sind Deine Erinnerung an Deine Pionierzeit? es in der Regel ein großer Moment, wenn das Pionierversprechen abgelegt Nicole: An Pioniernachmittagen hat sich die Klasse getrof- wurde. Ein Leben als Pionier war für die Schüler und Schülerinnen in der DDR fen wir haben zusammen was gebastelt oder z.B. die Paten- der Beginn der sozialistischen Erziehung – die Pionier-Aktivitäten nach dem brigade besucht. Jede Klasse hatte eine Arbeitergruppe: eine „Patenbrigade“ z.B. in einer Fabrik, die wir besucht haben Unterricht waren Freizeitgestaltung im Klassenverband. oder die uns besucht hat. Da konnten wir uns über deren Ein Pionier mit zwei Streifen am Ärmel des Pionierhemdes war Gruppen- Arbeit informieren. Diese Brigade hat bei uns von Jahr zu ratsvorsitzender oder Freundschaftsratsmitglied. Foto: Deutsche Fotothek, Jahr gewechselt. Roger Rössing, df roe-neg 0006394 017, CC BY-SA 3.0 Bei den Pioniernachmittagen war mindestens ein Lehrer Thälmann Pionierorganisation Aktivitäten – die Pioniernachmittage anwesend, der das Ganze koordiniert hat. Außerdem haben Görls: Wie war das mit dem Morgenappell in der Schule? Sie war eine Unterorganisation der FDJ, der Freien deutschen Pioniere hatten viele Aufgaben und Ämter. Sie aktualisierten wir viel Gemeinnütziges gemacht wie Altpapier und Altglas Nicole: Beim Fahnenapell haben sich alle Klassen auf dem Jugend. Die Ernst-Thälmann-Pionierorganisation für 6- bis die Wandzeitung oder übernahmen soziale Aufgaben in und bei den Bewohnern im Dorf gesammelt. Die Sammlungen Schulhof aufgestellt und einen Gruß gesprochen. Die Schul- 14-jährige Schüler wurde 1948 gegründet und 1952 benannt außerhalb der Schule. Sie begleiteten Hilfsbedürftige zur haben wir in Eigeninitiative gemacht. Meistens sind 2-3 Leute leitung hat meistens ein paar Worte verloren und dann nach Ernst Thälmann. Er war der Vorsitzende der KPD und Straßenbahn, holten für ältere Personen Kohlen aus dem aus der Klasse zusammen losgezogen mit dem Bollerwagen wurde sozialistisch gegrüßt: Bei den Pionieren bis Klasse 7 wurde 1933 mit 47 Jahren von den Nazis verhaftet und nach Keller, halfen bei schweren Tätigkeiten. Im Rahmen der Poli- und haben an jeder Tür im Dorf geklingelt und dann eben sprach jemand von der Schulleitung: „Für Frieden und 11 Jahren Haft von SS-Männern vermutlich ermordet. tik der Völkerverständigung mit den sozialistischen Bruder- nach Altpapier / Altglas gefragt. Das wurde dann an einer Sozialismus seid bereit!“ Und wir Schüler haben daraufhin staaten sammelten sie für die Kinder in Vietnam. Aber das Sammelstelle abgegeben und das gab dann ein paar Mark die rechte Hand auf den Kopf aufgestellt mit dem Daumen Jungpionier für Kinder ab 6 Jahren Leben bei den Pionieren bestand nicht nur aus Pflichten. An für die Klassenkasse. nach unten und der Handkante nach oben und geantwortet: Jungpioniere wurden Kinder mit der Einschulung im Alter Pioniernachmittagen wurde gebastelt, gespielt und Sport Wir haben auch jedes Jahr Eicheln und Kastanien gesam- „Immer bereit!“. von 6 Jahren. Es gab eine feierliche Zeremonie in der Schule, getrieben – eben alles, was Kindern Spaß macht. melt, die beim Förster abgegeben wurden, und die er dann Bei den älteren Klassen, so ab der 8. Klasse, hieß es beim die Kinder bekamen das blaue Halstuch umgelegt und das im Winter an die Tiere im Wald verfüttert hat. Da wurde ein Appell von der Schulleitung nur: „Freundschaft!“ und die Pionierkäppi. Sie legten ein Versprechen ab: „Ich verspreche Gruppenrat richtiger Wettbewerb draus gemacht, der auch in der Klasse Schüler haben auch mit „Freundschaft“ geantwortet. Der ein guter Jungpionier zu sein. Ich will nach den Geboten…“ Die Mitglieder der Pionierorganisation einer Klasse wählten offiziell dokumentiert wurde. Man kannte schon die beson- „Kleine Appell“ war in jeder Klasse abzuhalten. In dem Alter einen Gruppenrat, der aus Gruppenratsvorsitzendem, Stell- ders „ergiebigen“ Bäume in der Umgebung und hat eimer- war man dann nicht mehr Pionier, sondern Mitglied der FDJ Thälmann Pionier für Kinder ab 9 Jahren vertreter, Schriftführer, Kassierer bestand. Der Gruppenrat weise Eicheln und Kastanien in die Schule geschleppt. („Freie Deutsche Jugend“). Die Mitgliedschaft war zwar Ab der 4. Klasse wurde aus dem blauen ein rotes Tuch und hielt Kontakt mit dem Klassenlehrer und übernahm eine Das ist wohlgemerkt NACH der Schule gemacht worden auch freiwillig, aber sie wurde ebenso erwartet wie bei den aus dem Jungpionier ein Thälmann-Pionier. ähnliche Funktion wie in der BRD ein Klassensprecher und und nicht während des Unterrichts. Das könnte man sich hier Pionieren. sein Stellvertreter/in. gar nicht vorstellen. Ich habe das als Kind nicht mal als störend Görls: Musstet Ihr diese Pionieruniform jeden Tag tragen? empfunden, kann mir aber vorstellen, dass sich die Interessen Nicole: Nein, nur zu bestimmten Anlässen. Sonst sind wir mit Recyclen im Klassenverband dahingehend als Teenie sicherlich auch geändert hätten. ganz normalen Klamotten zur Schule gegangen. Eine verbreitete Aktivität für die Schüler am wöchentlichen Pioniernachmittag war Altstoffsammlung. Sie zogen mit einem Handwagen von Tür zu Tür und klingelten bei den Haushalten, die ihre noch verwertbaren Rohstoffe meist nicht wegwarfen, sondern den sammelnden Kindern über- ließen, die sich damit ein Taschengeld verdienten. SERO- Annahmestellen des VEB Kombinats waren Recyclingstellen für Flaschen, Gläser, Altpapier und gebrauchte Kleider. SERO heißt Sekundärrohstoff-Sammlung. Die Pionierorganisation Ernst Thälmann organisierte große Altstoffsammlungen, auch um Geld für Hilfsaktionen zu sammeln.

Elin Wagner

Abbildungen: privat

20 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 21 erstellte und verteilte, bekam die Härte des Gesetzes zu spüren. Das Motto des Staates war: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“ Alle Schüler von der 1. bis zur 10. Klasse besuchten die so genannte Polytechnische Oberschule (POS). Welchen weiteren Lebensweg Schüler nach der 10. Klasse einschlugen, entschieden in erster Linie nicht alleine ihre Leistungen. Wer zum Abitur und zum Studium zugelassen werden wollte, musste strenge Kriterien erfüllen. Neben den Noten, wurde vor allem nach gesellschaftlich-politischen Aktivitäten in der FDJ sowie nach Klassenzugehörigkeit der Eltern bestimmt. Besonders interessant finde ich das Kriterium der Zuge- hörigkeit der Eltern zur Arbeiterklasse. Demnach existierten für Kinder der sogenannten Werktätigen bei gleichem Leistungsstand – zum Beispiel gleichem Notenschnitt – bessere Chancen, für die EOS zugelassen zu werden, als für Kinder von Akademikern. Der Staat wollte somit eine ‚Kastenbildung’ vermeiden (Anm. der Red.: d.h., dass Kinder von Ärzten selbst Ärzte werden und Kinder von Abbildungen: privat Rechtsanwälten wieder Rechtsanwälte werden.). Kinder von studierten Eltern hatten daher einen schwierigeren Bildungsweg vor sich. Die Mehrzahl entschied sich für Beruf mit Abitur, absolvierte zuerst eine Facharbeiterausbildung und integrierte parallel das Abitur. Dies dauerte 3 Jahre. Gemeinsamkeiten und Differenzen: Das Instrument Die Maßnahmen der Jugendpolitik sorgten für die Ent- Was heute denunziatorisch klingt, stehung einer qualifizierten Facharbeiterschaft und für eine war damals in der DDR Programm. Es Jugend Verbesserung des Bildungsniveaus. Vor allem hatten nun auch gab keinen Geheimplan, die Jugend Frauen gute Chancen, berufliche Erfolge zu erzielen und für den Sozialismus zu begeistern, konnten endlich in Männerberufen arbeiten. Jedoch waren damit sie später die Gestaltung und die zu wählenden Berufe am Bedarf orientiert und nicht alle Fortentwicklung des sozialistischen erhielten die Chance, ihren Beruf ganz frei zu wählen. Staats übernehmen würden. Das Die Berufsvorbereitungen in den Schulen orientierten war in der Gesellschaftsordnung der Die Jugendpolitik der SED hatte als Leitbild hohe Werte und Anforderungen. sich bewusst am lokalen Stellenbedarf, hauptsächlich in DDR genau so selbstverständlich Industrie, Landwirtschaft und Bauwirtschaft. Für den Teil der wie in der Gesellschaft der BRD der Jugendlichen, der die Schule ohne regulären Abschluss der Individualismus gefördert wird. Ohne Jugendgesetz der DDR Durch diesen Paragraphen des Jugendgesetzes der DDR wird zehnjährigen Pflichtschule verließ, was ca. 15 % ausmachte, ideologische Richtlinien, wonach die Gesetz über die Teilnahme der Jugend der Deutschen deutlich, welches Bild eines Heranwachsenden die damalige waren Berufe vorgesehen, für die keine speziellen schulischen Jugend sich verhalten sollte. Von der Demokratischen Republik an der Gestaltung der ent- Regierung als wünschenswert empfand und charakterisiert oder beruflichen Leistungen erforderlich waren. So wollte Jugend wird lediglich erwartet, dass sie wickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre das Musterbeispiel, welchem die Jugend im DDR-Staat nach die Regierung sichern, dass alle Menschen Arbeit erlangten sich als gute Konsumenten verhalten allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen den Vorstellungen der SED entsprechen sollte. Der Jugend und eine ihrer Qualifikation entsprechende Chance erhielten. und die Leistung aufbringen, damit Republik vom 28.1.1974, §1, Abs. 2, aufgehoben durch wurde in politischer Hinsicht die besondere Rolle zugeord- In der Erziehung verfolgte man eine zielgerichtete, kriti- sie sich in den Kampf um die immer Einigungsvertrag vom 31.8.1990 (BGBl II S. 889): net: Als Garant des Sozialismus für die Zukunft. So ergab sich sche Auseinandersetzung mit dem „Klassengegner“, dem knapper werdenden Arbeitsplätze die Aufgabe, möglichst früh die jungen Menschen in das Westen. So sollte ein mögliches Sympathisieren mit dem durchsetzen können. Das ist system- „Alle jungen Menschen sollen sich durch sozialistische bestehende politische und gesellschaftliche System des Sozia- Westen verhindert werden, da viele Jugendliche begonnen konform, genauso wie es in der DDR Arbeitseinstellung und solides Wissen und Können aus- lismus einzugliedern und eine bestmögliche Identifikation hatten, die politischen Zielsetzungen der DDR mit denen des systemkonform war. zeichnen, hohe moralische und kulturelle Werte ihr eigen der Jugendlichen mit ihrem Staat zu schaffen. Hauptsächlich Westens zu vergleichen. Dazu diente die FDJ als einzige von nennen und aktiv am gesellschaftlichen und politischen sollte die Jugendpolitik eine erzieherische Rolle für junge der SED anerkannte Jugendorganisation. Die FDJ hatte ein von Veronika Hilmer Leben, an der Leitung von Staat und Gesellschaft teilneh- Menschen haben und orientierte sich am Leitbild der „sozia- hohes Maß an Einfluss. Sie sollte die Erziehung zu „klassen- men. Ihr Streben, sich den Marxismus-Leninismus, die listischen Persönlichkeit“. Deutlich formuliert: Der individu- bewussten Sozialisten“ vornehmen und die Jugend für den wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse, ellen Entwicklung jugendlicher Menschen wurde in der DDR Ausbau des Sozialismus begeistern. Durch die Zielsetzung anzueignen und sich offensiv mit der imperialistischen ein Platz eingeräumt, jedoch nur innerhalb der Zielsetzung der Jugendpolitik war der politische Druck auf die Jugend Ideologie auseinanderzusetzen, wird allseitig gefördert. des sozialistischen Staates. Wenn sie den Anforderungen und besonders hoch, da Leistungsnachweise, Berufsausbildung Literatur: - Der Neue Brockhaus, Lexikon und Wörterbuch, Erster Band, F.A. Brockhaus Wiesbaden Die jungen Menschen sollen sich durch Eigenschaften wie Normen der sozialistischen Arbeitsmoral nicht entsprachen, und Studium an das politische Engagement gekoppelt - Prof. Dr. Alexander Fischer, Die Deutsche Demokratische Republik Daten Fakten Analysen, Verantwortungsgefühl für sich und andere, Kollektiv- dann versuchte man verschiedene Maßnahmen anzuwenden, waren. Zusätzlich plante die FDJ attraktive Freizeitangebote Ploetz - Hans-Hermann Hertle, Stefan Wolle, Damals in der DDR, der Alltag im Arbeiter- und bewusstsein und Hilfsbereitschaft, Beharrlichkeit und die sie zur „sozialen Einbindung“ führen sollten. für ihre Mitglieder, beispielsweise Ausflüge in das „sozia- Bauernstaat, Goldmann Verlag, erste Auflage 2006 - Helga Schultz, Hans-J. Wagener (Hg.), Die DDR im Rückblick, Politik, Wirtschaft, Zielstrebigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, Mut und Kritische Äußerungen gegenüber der Verfassung der DDR listische Ausland“. Obwohl die DDR durch Kontrolle und Gesellschaft und Kultur, Ch. Links Standhaftigkeit, Ausdauer und Disziplin, Achtung vor konnten als kriminell eingestuft werden, beispielsweise war Überwachung einen enormen Machtapparat aufbaute, - Dietrich Staritz, Geschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985 den Älteren, ihren Leistungen und Verdiensten sowie es ein Straftatbestand, nicht arbeiten zu gehen. Wer nicht gelang es nicht, ihre Bürger und vor allem die Jugendlichen Quellen: verantwortungsbewusstes Verhalten zum anderen systemgetreu war, wurde unter Beobachtung gestellt und langfristig für den Sozialismus zu begeistern. Gerald Syring in www.planet-schule.de/wissenspool/alltag-in-der-ddr/inhalt/hintergrund/jugend.html Geschlecht auszeichnen. Sie sollen sich gesund und der berufliche Werdegang wurde erschwert. Wer öffentliche www.planet-wissen.de/politik_geschichte/ddr/jugend_in_der_ddr/index.jsp, 26.04.10 Peter Borowsky in www.bpb.de/publikationen/08848277605002510500926090697269,5,0,Die_ leistungsfähig halten.“ Meinungsbekundungen oder beispielsweise ein Flugblatt von Sarah Hain DDR_in_den_sechziger_Jahren.html, 26.04.10

22 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 23 Jugendweihe

„Jugendweihe ist so was wie Konfir- mation! Das gab es in der DDR“, sagen die meisten Leute aus den westlichen Bundesländern. Die wenigsten wissen, dass der Brauch der „Jugendweihe“ mehr als 150 Jahre alt ist.

Der Begriff „Jugendweihe“ tauchte erstmals 1852 auf und geht auf einen Vorschlag von Eduard Baltzer zurück. Baltzer war Demokrat, evangelischer Theologe sowie erster Präsident des Bundes freireligiöser Gemeinden Deutschlands. Die freigeistigen Bewegungen hatten Jugend- weihen als Gegenmodell zu katholischen und evangelischen Festakt einer Jugendweihe im März 1989 in Berlin-Lichtenberg. Zeremonien eingeführt. Seiner Meinung nach sollte sich Foto: Bundesarchiv 183-1989-0325-009, Robert Roeske, CC BY-SA 3.0 die Abkehr von den Amtskirchen auch in der Bezeichnung verdeutlichen. Vorher hießen auch die außerkirchlichen Feiern Konfirmation. Abbildungen: privat Die Jugendweihe ist eine festliche Initiation, die den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter kennzeichnen soll. Im 19. Jahrhundert als Ersatz für kirchliche Rituale eingeführt, war die Jugendweihe bei vielen Arbeiterbewegungen üblich. In der DDR wurde die Jugendweihe im März 1954 vom Politbüro der SED beschlossen. Ab 1955 fanden die ersten Jugendweihen statt. Jeder Jugendliche konnte am Ende des 8. Schuljahres mit Zustimmung seiner Eltern an der Jugendweihe teilnehmen. Mit 14 Jahren feierten somit die meisten DDR-Teenies die Jugendweihe. Zitat aus „Meine Jugendweihe“, In der Regel ging ihr ein politisch-ethischer Unterricht Teilnehmerheft 1989/1990 voraus: Es gab speziellen Unterricht, in dem die Geschichte „Was will die Jugendweihe? der Arbeiterbewegung und die Entwicklung des sozialisti- Die Jugendweihe will an der Seite der schen Gesellschaftssystems erläutert wurde. Die Zeremonie Schule und im engen Zusammenwirken baute auf dem feierlichen Gelöbnis auf, sich für die Sache mit der FDJ für euch ein zuverlässiger des Sozialismus einzusetzen, den Bruderbund mit der Sowjet- und wertvoller Gefährte auf dem Weg union zu vertiefen, im Geiste des proletarischen Internatio- zum aktiven Staatsbürger sein. Am nalismus zu kämpfen, den Frieden zu schützen sowie den Ende der Kindheit und am Beginn Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu ver- eures Jugendalters hilft euch die teidigen. Jugendweihe viele Fragen nach dem Zur Feier selbst gehörte ein Festprogramm mit Musik, einer Sinn des Lebens in der heutigen Zeit zu Ansprache, der Überreichung einer Urkunde sowie dem Ge- beantworten. Durch die Jugendweihe löbnis. Ähnlich wie bei der Kommunion oder Konfirmation lernt ihr auch besser verstehen, dass in der BRD erwarteten die Jugendlichen auch Geschenke von dem Sozialismus auf der ganzen Welt ihrer Verwandtschaft. gesetzmäßig die Zukunft gehört.“ Nach der Wiedervereinigung konnte und kann weiterhin die Jugendweihe empfangen werden, jedoch ohne Gelöbnis.

recherchiert und zusammengefasst von Veronika Hilmer Abbildung: privat

24 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 25 Wehrerziehung und Wehrkunde- unterricht in der Schule

Wehrkunde war ab 1978 ein Die Freie Unterrichtsfach – die Teilnahme Deutsche Jugend war verpflichtend, aber unbenotet. Auf die Wehrerziehung wurde Foto: Oriella Bazzica besonderen Wert gelegt, denn jeder sollte wissen, wie wichtig Gesellschaftliche Arbeit in der die Armee zur Verteidigung der FDJ, Arbeitseinsätze, vielfältige Der Begriff FDJ wird in der Regel direkt mit der DDR in Verbin- Die FDJ war Herausgeber der auflagenstärksten Tages- Heimat war. Jeder musste selbst kulturelle Angebote, Zeltlager, dung gebracht, obwohl sie im westlichen Teil von Deutschland‚ zeitung der DDR, die „Junge Welt“, 1947 gegründet, erschien direkt nach dem 2. Weltkrieg, geboren wurde. Das Thema wöchentlich, später 6 x die Woche und führte den Untertitel einen Beitrag zum Schutz vor den Weltfestspiele, das prägte die „Frieden“ hatte sie sich auf die Fahnen geschrieben. Die FDJ „das Zentralorgan der FDJ“. Nach 1990 wurde die „Junge Imperialisten leisten. Jugendzeit in der DDR. ist ein sozialistischer Jugendverband. Welt“ privatisiert und ist heute eine überregionale links- In Ostdeutschland wurde am 7. März 1946 mit Erlaubnis gerichtete deutsche Tageszeitung. der Sowjetischen Militäradministration SMAD in Berlin die Aktuell hat die FDJ über rund 200 Mitglieder, mit Gruppen Nachdem bis Anfang der 70er Jahre in den anderen „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) als „überparteiliche, demo- in einigen Großstädten. Die FDJ kritisiert die Wiedervereini- Staaten des Warschauer Pakts ein reguläres wehr- kratische und einheitliche“ Jugendorganisation gegründet. gung als „Annexion der DDR“ und fordert die Gründung politisches Unterrichtsfach an den allgemeinbilden- Ihre wichtigsten Ziele beschrieb die FDJ in Ost und West eines sozialistischen Staates nach dem Vorbild der DDR. Die den Schulen eingeführt worden war, forderte 1973 so: Ein neues demokratisches Deutschland aufbauen, ohne FDJ kooperiert mit der 1990 neu gegründeten KPD. eine Studie der Akademie der Pädagogischen Wis- Faschismus, ohne Militarismus und ohne Monopole, mit senschaften der DDR erstmals die Einrichtung eines garantierten sozialen Rechten für Kinder und Jugendliche. recherchiert von Veronika Hilmer entsprechenden Faches auch in der DDR. 1978 Ziele und Aufgaben 1950 gab es in der BRD 30.000 Mitglieder, vor allem in der begann dann das reguläre, jedoch unbenotete der Freien Deutschen Jugend Gewerkschaftsjugend. Die FDJ kämpfte in der BRD gegen die Unterrichtsfach zunächst für die 9. Klassen, ein Jahr „Die Freie Deutsche Jugend ist die ein- Wiederbewaffnung und Einführung der Bundeswehr. Im Juni später für die 10. Klassen heitliche sozialistische Massenorgani- 1951 wurde die FDJ von der Adenauer-Regierung verboten Quelle: Wikipedia Die Teilnahme am Wehrunterricht war im Rahmen bio.bwbs.de/bwbs_biografie/Gruendung_der_Freien_Deutsche_Jugend_B1274.html sation der Deutschen Demokratischen und viele Jugendliche mussten wegen ihres Friedenskampfes www.ddr-geschichte.de/Bildung/Schule/FDJ/fdj.php / www.fdj.de / www.jungewelt.de der allgemeinen Schulpflicht für alle Schülerinnen Republik. Sie vereint auf freiwilliger ins Gefängnis. Das Verbot ist bis heute nicht aufgehoben. www.chronikderwende.de/lexikon/glossar / Statut der Freien Deutschen Jugend und Schüler verbindlich. Nachdem die Einführung des Abbildungen: privat Grundlage in ihren Reihen junge Bei einer Friedensdemonstration in Essen wurde 1952 der Faches im Frühjahr 1978 bekannt geworden war, Menschen, die gemeinsam mit allen 21-jährige FDJler Philipp Müller von der Polizei erschossen. protestierten bereits vor dem Beginn des Unterrichts Werktätigen die entwickelte sozia- In der DDR war die FDJ die einzige staatlich anerkannte und im Juni 1978 die Evangelische und auch die Katholi- listische Gesellschaft weiter gestalten geförderte Jugendorganisation. Sie übernahm die politi- sche Kirche dagegen. und so grundlegende Voraussetzungen schen Ziele wie im SED Parteiprogramm festgeschrieben für den allmählichen Übergang zum und war Teil eines parallelen Erziehungssystems zur Schule. Inhalte des Wehrkundeunterrichts Kommunismus schaffen. Sie verkörpert Die FDJ hatte die Leitung der Pionierorganisation Ernst Es wurde militärisches und politisches Grundlagen- die politische Einheit der jungen Genera- Thälmann. Nach der Jugendweihe, in der Regel mit 14 Jah- wissen über die Nationale Volksarmee (NVA) tion der DDR. Die in ihr organisierte ren, traten Jugendliche in die Jugendorganisation ein. Die vermittelt. Vier Doppelstunden im Blockunterricht Arbeiterjugend bildet den Kern der Schüler bekamen einen Ausweis und zahlten einen Mit- pro Schuljahr wurden von NVA-Offizieren der Freien Deutschen Jugend. gliedsbeitrag von 10 Pfennig monatlich. Das Kleidungsstück Reserve in Uniform abgehalten. Bestandteil des Die Freie Deutsche Jugend arbeitet des FDJlers war das blaue Hemd (“Blauhemd”) mit dem Em- Wehrunterrichts war am Ende der 9. Klasse ein unter Führung der Sozialistischen Ein- blem auf dem rechten Oberarm. Zu besonderen Anlässen zweiwöchiges Wehrlager. Die Mädchen und die heitspartei Deutschlands und betrachtet wurde die blaue Fahne mit dem FDJ-Emblem gehisst. Der Jungen, die nicht in das Wehrlager fuhren, nahmen sich als deren aktiver Helfer und Kampf- FDJ-Gruß lautete “Freundschaft!”. Der erste Vorsitzende der an einem Lehrgang für Zivilverteidigung teil. Den reserve. Grundlage für die gesamte FDJ war von 1946 bis 1955 Erich Honecker. Abschluss des Wehrunterrichts bildeten in den Tätigkeit sind das Programm und die Die FDJ unterhielt Klub- und Kulturhäuser, ein Reisebüro Winterferien der 10. Klasse drei so genannte „Tage Beschlüsse der SED.“ namens „Jugendtourist“ und auch einen Verlag, in dem der Wehrbereitschaft“.

Auszugsweise aus: Statut der Freien Deutschen Jugend, alle Kinder und Jugendzeitschriften der DDR erschienen. herausgegeben vom Zentralrat der FDJ, über Verlag Junge Welt. Außerdem veranstaltete die FDJ die meisten Discos und Wehrlager Freizeitveranstaltungen und hatte Einfluss auf das Jugend- Die Ausbildung und Betreuung übernahmen auch Fernsehen der DDR. hier Offiziersschüler und NVA-Offiziere der Reserve. Sie fand meist in Kinderferienlagern statt, es wurden

26 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 27 Anlagen und Ausrüstungsgegen- Erinnerungen stände der Gesellschaft für Sport Eine freie Berufswahl gab es in der DDR und Technik (GST) und der NVA nur bedingt – aber jeder Schulabgänger genutzt, die Schüler trugen dabei an ihre Wehrerziehung Uniformen der GST. bekam eine Lehrstelle in einem der 318 Bestandteil der Ausbildung war von Bianka festgeschriebenen Ausbildungsberufe. an insgesamt zwölf Ausbildungs- tagen je acht Stunden: Bewegen und Orientieren im Gelände, Übun- Berufsausbildung gen mit Gasmasken, Ausdauerläufe, Görls: Was sind deine Erinnerungen an die „Lager“? Wie war die berufliche Ausbildung in der DDR organisiert? teils auch Überwinden der Sturm- Bianka: Die „Lager“ gehörten zum Wehrkunde-Unterricht. Die volkseigenen Betriebe nannten die „Planzahlen“, d.h. in der DDR bahn sowie Schießübungen und Der ganze Jahrgang richtete in der Schule ein Lager ein, um welche Berufsausbildung in welchen Betrieben angeboten das Training im Handgranatenwurf Zivilverteidigung zu üben. Wir wurden zu verschiedenen werden sollte. Daraus wurden die Lehrstellenverzeichnisse („F1“-Handgranatenattrappe). Aufgaben eingeteilt, zum Sanitätsdienst oder zum Organisa- erstellt, praktisch der Bedarf ermittelt. Diese waren Grund- Dazu kamen Ordnungsübungen tionsstab, der im Kriegsfall ein solches Lager aufbauen sollte. lage für die Vermittlungsarbeit der Berufsberater. Die Berufs- Foto: Einführung in die sozialistische Produktion, Lehrbuch Klasse 9, Volk und Wissen, („Exerzieren“) sowie militärtheo- Dieses Bewusstsein über einen eventuellen Kriegsfall berater arbeiteten mit Schulen zusammen, sie erfassten die Volkseigener Verlag Berlin, 1986, (Cornelsen) retischer und politischer Unterricht, ist mir im Nachhinein noch sehr gegenwärtig. Durch die Berufswünsche der Schüler und organisierten Elternabende der von Armeeangehörigen durch- Übungen im Unterricht wurde mir die Gefahr eines Krieges ab Klasse 7. BERUFSBEZEICHNUNG OST-WEST geführt wurde. Zwischen den Klas- nur noch viel bewusster – nicht nur das, es hat mir noch Die Mehrzahl aller Jugendlichen, ca. 75 % absolvierte Facharbeiter für Warenbewegung, Agronom, Ökonom, sen wurden Wettbewerbe um die mehr Angst bereitet, als ich sowieso schon hatte. nach der Polytechnischen Oberschule (POS) eine Fach- waren Bezeichnungen von Berufsausbildungen in der DDR. „besten“ Ausbildungsresultate ver- Ich war in der Schule für die Gestaltung einer Wandzei- arbeiterausbildung. Ungefähr 10 % besuchten die Erweitere Diese wurden durch die gängige BRD Bezeichnung: Lagerist, anstaltet. tung und ähnliches zuständig. Ich machte viel zum Thema Oberschule (EOS), die mit dem Abitur endete und auf die ein Diplom-Agraringenieur oder Betriebswirtschaftler abgelöst. Krieg und Atombomben, da dies für mich Kirche und Schule Studium folgte. Weitere ca. 12 % besuchten medizinische Manche Berufsbezeichnungen der DDR waren in der BRD Lehrgang für Zivilverteidigung verbinden konnte. Es gab bei uns in der Kirche eine Friedens- oder pädagogische Fachschulen und ca. 5 % machten eine nicht bekannt und umgekehrt. Der Beruf Maurer nannte Der Lehrgang umfasste eine Aus- organisation „Weiße Taube“, in der es auch um das Thema Berufsausbildung mit anschließendem Abitur, genannt BmA. sich in der DDR Betonbauer, Kaderleiter beispielsweise bildung in Erster Hilfe und Evaku- Abrüstung ging. Wir waren ja mitten im Kalten Krieg zu In der DDR war die Berufsorientierung schon in die war die Bezeichnung für einen Personalchef. Es gab Aus- ierungsmaßnahmen, die meistens dieser Zeit und ich hatte immer das Gefühl, wir seien kurz Schulzeit integriert durch wöchentliche Arbeitstage ab der bildungsberufe in der BRD, die in der DDR anders hießen in der Schule stattfand. Sie dauerte vor dem richtigen Krieg, wir müssten jetzt etwas tun, damit Klasse 7 und dem späteren Unterrichtstag in der sozialis- und umgekehrt. Manchmal waren die Ausbildungsinhalte ebenfalls zwölf Tage, zu jeweils sechs nichts passiert. tischen Produktion, genannt UTP. Schulklassen pflegten ähnlich, aber die Berufsbezeichnung anders. Allein für den Stunden. Dies betraf in den ersten Görls: Wurde bei den Übungen zwischen Jungen Kontakte zu Brigaden in volkseigenen Betrieben. Eine Bri- Beruf Dreher gab es in DDR 12 unterschiedliche Fachrich- Jahren nach Einführung des Wehr- und Mädchen unterschieden? gade war ein Arbeitskollektiv, das auch die Klasse besuchte tungen. Plaste- und Elastefacharbeiter nannte sich in der unterrichts einen Großteil der Jun- Bianka: Die Jungen waren natürlich oft interessierter, aber und Gemeinschaftsaktivitäten unternahm. BRD Kunststoff-Formgeber, in der DDR gab es den Signal- gen, da es noch nicht genügend die Mädchen waren genauso dabei. Es gab nur keine Wehr- Die Berufsausbildung in der DDR fand in staatlichen mechaniker, in der BRD war es der Nachrichtengeräteme- Plätze für alle Jungen gab, später pflicht für Frauen. Wir Mädchen mussten auch eine Uniform Betriebsberufsschulen statt, BBS genannt, diese waren den chaniker. Weitere Beispiele sind: Rinderzüchter, Landschafts- waren dies nur noch sehr wenige. tragen und kilometerlang marschieren, eine Gasmaske tra- sog. volkseigenen Betrieben (VEB) und den Kombinaten bauer oder Traktorist. Diese Berufe wurden in den Land- Mit der Wende 1989 gab es keine gen und schießen lernen. Wir haben auch gelernt, Funk- angeschlossen. Ein Kombinat war ein Verbund mehrerer wirtschaftlichen Betriebsgenossenschaften, genannt LPGs, Wehrlager mehr, die frei gewählte strecken aufzubauen, Verbände anzulegen und Verletzte zu volkseigener Betriebe des gleichen Produktionszweiges. ausgebildet. Dieser Sektor war vielfältig ausdifferenziert, Volkskammer schaffte den Wehr- bergen. Allerdings haben das auch die Jungen gelernt. Jeweils in den Herbstferien bekamen alle Schüler eine denn in der DDR gab es aufgrund der Agrarreform keine unterricht und das Schulfach Staats- Im Sportunterricht wurde Handgranatenweitwurf geübt. sog. „Bewerberkarte“, mit der sie sich bei einem Betrieb private Landwirtschaft. Es gab nicht den „Bauer für alles“, bürgerkunde im Mai 1990 offiziell Das war eine normale Disziplin. Es gab Eierhandgranaten bewerben konnten. Je nach Zensuren und Verlauf des sondern Spezialisierungen in den genossenschaftlichen ab. und Stabhandgranaten, das wurde geübt wie heute Weit- Vorstellungsgesprächs entschied sich eine Kommission Betrieben. sprung. dann, wen sie nahmen. Wer eine Absage erhielt, bekam seine Unterlagen zurück und bewarb sich in einem anderen Anerkennung der DDR-Berufe in der BRD volkseigenen Betrieb. Für Bürger der DDR, die vor der Wende aussiedelten oder solche, die nach 1989 aus den neuen Bundesländern über- DDR – Kein Mangel an Ausbildungsplätzen siedelten, war die Industrie- und Handelskammer die erste In der DDR gab es keinen Mangel an Ausbildungsplätzen. Anlaufstelle für die Anerkennung des Berufsbildes. Es gab Berufe, die wegen ihrer besonderen Bedingungen Aufgrund des Einigungsvertrages wurden Zeugnisse und begehrt und überlaufen waren, teilweise wurden sie „Trink- Ausbildungsgänge überprüft und es bestand ein Rechts- geldberufe“ genannt, z.B. das Friseurhandwerk oder das anspruch auf Anerkennung. Beispielsweise konnte ein Gaststättengewerbe, wo neben dem Lohn ein Trinkgeld „Traktorist“ als „Landmaschinenmechaniker“ anerkannt durch die Kunden erwartet werden konnte. Kellner oder werden. Das war für Mitarbeiter der Industrie- und Han- Ober in einem Lokal verdienten mitunter ähnlich gut wie delskammer (IHK) häufig keine einfache Aufgabe. Beispiels- In Schulbüchern für Geschichte und Staats- ein leitender Ingenieur. Auch Fachverkäufer für Gemüse weise gab es den Beruf Ökonom in der DDR sowohl als bürgerkunde wurde der Friedensdienst der und Obst waren sehr beliebt und auch hoch angesehen. Ausbildungsberuf, heute Bürokaufmann/-frau als auch als Nationalen Volksarmee thematisiert. Wegen der möglichen Tauschgeschäfte konnten sie nämlich Studiengang, Sollte der Studiengang in der BRD anerkannt Menschen versorgen und dafür eine Gegenleistung für sich werden, dann war nicht die IHK, sondern das Kultusminis- erwarten; manche sagten: „Alles Schöne war unter dem terium zuständig. Parade mit Minipanzer. Foto: Bundesarchiv 183-U0602-047, Rainer Mittelstädt Ladentisch!“

28 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 29 Was willst du einmal von Beruf werden?

Conny: Die Frage: „Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?“ hat wohl schon jeder in seinem Leben gestellt bekommen. Als Kind antwortete man auf diese Frage meistens mit Berufen, die Abenteuer und Abwechslung versprechen, wie Polizist oder Astronaut. Fragte man Jugendliche in der DDR, was sie werden wollten, so hatten diese zwar ihre eigenen individuellen Berufswünsche, Studieren nach Plan doch konnten sie diese in den wenigsten Fällen auch verwirklichen. Thomas Titze: Dies ist eine weit verbreitete und falsche Meinung. Die meisten Jugendlichen konnten sich ihren Berufswunsch erfüllen. Allein aus meinem Jahrgang – das war in den 70er Jahren – haben ca. ¾ aller Schulfreunde den Gespräch mit Bianka Luther Beruf, den diese auch wollten. Angefangen vom Tischler, über Studium und Berufsfindung Bauarbeiter, Lehrer bis zum Kinderarzt. Und ¾ sind die meisten und nicht die wenigsten! Conny: Jugendliche, die in der DDR lebten, unterlagen dem Staat und somit der Politik. Thomas Titze: Selbiges gilt auch für Jugendliche in der Görls: Konntet Ihr Studienfächer und den Beruf selbst wählen? damaligen und heutigen BRD. Bianka: Durch ein Berufsberatungszentrum erfuhren wir Conny: Dabei wurden vom Staat die handwerklichen Berufs- Schüler, wie viele Stellen es in einem Berufszweig gab. Dann wünsche der Jugendlichen unterstützt, die künstlerischen, mussten wir uns rechtzeitig entscheiden, sonst hatten wir schon im Elternhaus, versucht auszureden. das Nachsehen. Eine freie Berufswahl wie in der BRD gab es Thomas Titze: Diese Aussage kann ich nicht bestätigen, nicht. Man musste wissen, was man in etwa studieren wollte zumal es Förderunterricht für den Bereich Kunst gab. Wer und ob es die entsprechende Stelle dafür gab. Möglicherweise Fotos: Einführung in die sozialistische Produktion, wollte, konnte an diesem teilnehmen. Alle Schulen haben Lehrbuch Klasse 9, Volk und Wissen, hätte sonst ein bestimmtes Studium keinen Sinn gemacht. Volkseigener Verlag Berlin, 1986 (Cornelsen) das nicht angeboten, aber das ist heute auch noch so, je Görls: Und wenn jemand direkt in einen Beruf gehen und nach dem wie der Schwerpunkt der Schule ausgerichtet ist. nicht studieren wollte? Conny: In der Schule wurde dazu beigetragen, dass das Bianka: Das war genauso geregelt. Entweder man bewarb handwerkliche Geschick der Schüler gefördert und trainiert sich rechtzeitig oder es wurde eine offene Stelle zugewiesen. wird. Der Staat bot jedem Schüler eine polytechnische Bildung, Görls: Wie wäre es gewesen, wenn du z.B. Medizin hättest Görls: Wieso hatte man in der DDR Nachteile, wenn die bei der Theorie und Praxis über einen Produktionsvorgang studieren wollen? Eltern Akademiker waren? vermittelt wurden. Außerdem wollte der Staat mit diesem Bianka: Durch meine christliche Erziehung und dadurch, dass Bianka: Es war nicht gewollt, dass Leute aus Akademiker- polytechnischen Unterricht erreichen, dass die Schüler meine Eltern nicht in der Partei waren, mein Vater studiert familien bei Zulassung zum Studium bevorzugt behandelt selbst zum Fortschritt des Landes in der Produktion etwas hatte und meine Mutter Diakonin war, wusste ich, dass mir werden, denn man wollte den sog. „Bildungsadel“ unter- beitragen können und fähig werden, damit sie später die nicht alle Studienfächer zur Wahl standen, zumal ich auch binden. Gemeinsamkeiten und Differenzen: bereits vorhandenen und bekannten technischen Maschinen selbst nicht in die Partei wollte. Jetzt bin ich Lehrerin, aber Wenn in einer Arbeiterfamilie ein Kind intelligent und Conny aus der Görls-Redaktion und Produktionsabläufe weiter entwickeln können. Dieses das wäre damals ausgeschlossen gewesen. förderungswürdig war, sollte es protegiert und zum Studium Konzept basiert auf Forderungen der marxistischen Theorie. Ich war aber wie alle Mitschüler bei den Pionieren und geführt werden, um später an der „richtigen Stelle“ als hat sich mit Thomas über die In Fächern wie Werk- und Schulgartenunterricht wurde zwar in der FDJ. Und ich hatte das Glück, dass meine Schulleiterin „Führungskader“ eingesetzt zu werden. Man nahm an, so Berufswahl in der DDR ausgetauscht. Wert darauf gelegt, produktives Arbeiten zu erlernen, aber von mir überzeugt war. Sie schrieb eine Empfehlung, dass es ein Kind wüsste angeblich besser, wie mit den Menschen aus den Schülern wurden keine Grundkenntnisse vermittelt gut wäre, wenn ich das Abitur machen könnte. Zum einen der Arbeiterklasse umzugehen sei und würde sich angeblich und es fehlte ebenso an Möglichkeiten der praktischen aufgrund meines Notenschnitts und zum anderen, weil ich gegenüber dem Arbeiterstaat loyal verhalten. Förderung. mich trotz meines christlichen Hintergrundes engagierte, Es wurde kein besonderer Wert darauf gelegt, dass mög- Thomas Titze: Das war auch nicht Sinn und Zweck des Werk- mich für den Staat einsetzte, mich nicht abgrenzte, dass lichst viele einen Universitätsabschluss anstrebten, denn die und Schulgartenunterrichtes. Dieser wurde von der Klasse 2 ich in der FDJ mitarbeitete; außerdem würde doch die DDR DDR nannte sich ja „Arbeiter- und Bauernstaat“, in dem oder 3 bis zur Klasse 6 unterrichtet. Der polytechnische Unter- auch für Meinungsfreiheit stehen; man müsste ja auch die angeblich nicht viele Akademiker gebraucht wurden. Man richt erfolgte ab Klasse 7 bis 10 und dort gab es die Fächer ESP Minderheit der Christen fördern und dafür wäre ich doch brauchte ein paar Ärzte, ein paar Lehrer, Führungskräfte und – Einführung in die sozialistische Produktion (Theorie) sowie ein gutes Beispiel. Auf diese Weise bekam ich dann die vor allem Techniker. UTP – Unterricht in Technik und Produktion (Praxis). So etwas Zulassung zum Abitur. gibt es heute überhaupt nicht mehr, abgesehen von den selbst gewählten Praktika. Und da ist der Lernerfolg oftmals fraglich. So meine eigene Erfahrung mit meinen Kindern.

30 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 31 Conny: Viele Berufe, die es im Westen gab, wurden im Osten gar nicht gelehrt, oder unter anderen Begrifflichkeiten aufgeführt. Beispiels- weise war die Bezeichnung Tierpfleger in der DDR unter dem Begriff Zootechniker bekannt. Die Ausbildung zum Eisenbahner war die zum eingetragen werden, wer den entsprechenden Zugführer. Der für unsere Ohren fremd kling- Arbeitsgang ausgeführt hat. Man musste selbst ende Begriff Kaderleiter war gleichzusetzen aufschreiben, wie viel Stück man geschafft hat. mit dem Beruf des Personalchefs. Beide Angaben waren wichtig für die Benotung. Thomas Titze: Personalchef ist kein Beruf, son- Wurde in der Kontrolle festgestellt, dass ich einen dern eine Tätigkeit. Es gibt keine Berufsausbil- Berufs- und Arbeitswelt Fehler gemacht habe bzw. schlecht genäht habe, dung „Personalchef“. bekam ich das Teil zurück und musste es aus- Conny: Der Fremdenführer war unter dem Aus- in der DDR bessern. druck Städtebilderklärer bekannt und ein Dol- Görls: Warst Du im erlernten Beruf später tätig? metscher wurde als Sprachmittler bezeichnet. Wir interviewten Dagmar Mitsching Wenn nein, in welche Branche hast Du gewechselt? Thomas Titze: Sicherlich gab es in Lexika oder Dagmar: Nach der Ausbildung haben wir zirka 2 Nachschlagewerken diese Bezeichnungen, aber aus Görlitz Monate als Näher gearbeitet. Anschließend ging meine Generation ist mit Fremdenführer und es zum Studium. Ich hatte mich für das Studium Dolmetscher „groß“ geworden. Foto: Einführung in die sozialistische Produktion, an der Technischen Hochschule in Chemnitz ent- Lehrbuch Klasse 9, Volk und Wissen, Conny: Wenn man die Frage: „Was willst du Volkseigener Verlag Berlin, 1986 (Cornelsen) schieden, der Studiengang nannte sich ‚Verarbei- einmal werden, wenn du groß bist?“, als im tungstechnik Textil-Bekleidung-Leder’. Westen Lebender, an einen Jugendlichen aus Das Bekleidungswerk hat mich zum Studium der DDR stellte, musste man demnach zwei delegiert. Damit war garantiert, dass man nach Dinge berücksichtigen: 1. Man musste sich erfolgreichem Abschluss des Studiums einen ent- erkundigen, ob der Jugendliche aus eigenem sprechenden Arbeitsplatz erhält. Ich habe 1973 in Willen diesen Beruf gewählt hat und 2. musste der Erzeugnisgruppe des Betriebes als Ingenieur für man sich zum Beispiel erklären lassen, dass Rationalisierung begonnen. Zusätzlich habe ich in mit stomatologischer Assistentin eine Zahn- der Erwachsenenbildung als Lehrkraft gearbeitet. arzthelferin gemeint war. Der Betrieb führte Facharbeiterlehrgänge für Un- Thomas Titze: Auch hier noch ein erläuternder gelernte durch. Gute Facharbeiter konnten sich so Satz. Ob ein Jugendlicher einen Beruf „aus bei Eignung zum Meister qualifizieren. eigenem Willen“ erlernt hat oder nicht, ist Ich selbst habe ein Zusatzstudium Pädagogik in nicht nur auf Jugendliche der ehemaligen DDR Dresden im Fernstudium belegt. Die Lehrtätigkeit zu beziehen. Das war damals für die BRD, ist machte mir Freude und bei einer günstigen Gele- auch heute und gerade in der jetzigen Zeit, ein genheit – die Kollegin ging in Rente – wurde ich Thema. Allein unter der Betrachtung der “PISA Leiterin der Betriebsakademie. Hier musste ich die Studie“ oder einem Migrationshintergrund Görls: Was wurde bei Deinem polytechnischen Unterricht in der Görls: Hattest Du in der damaligen DDR-Zeit die Möglichkeit, Deinen Lehrgänge organisieren und durchführen. Die sowie der damit verbundenen zwangsläufigen Schule gemacht / gelernt bzw. gelehrt, und hatte es eine Bedeutung Berufswunsch zu erlernen? Görlitzer Fachschule für Binnenhandel holte mich Entwicklung vieler Jugendlicher, sind länder- für Deine Berufswahl? Dagmar: Berufswunsch zu erlernen ja, sofern die Lehrstelle vorhanden auch vertretungsweise an die Schule, um im Fach übergreifende systemunabhängige Parallelen Dagmar: Der Polytechnische Unterricht war gegliedert in ESP und UTP. war, die Noten und die Beurteilung stimmten. Mir fiel es schwer, mich Warenkunde auszuhelfen. Ich führte auch die zu sehen. Mit der Bezeichnung von Berufen ist Bei ESP – Einführung in die sozialistische Produktion – lernten wir die für einen Beruf nach der 10. Klasse zu entscheiden. Aus diesem Grund Studentengruppen durch das Bekleidungswerk. das auch so eine Sache. Der Maurer wurde zum Theorie: Wirtschaftsaufbau, Strukturen der Wirtschaft, Kombinate bis habe ich mich im Bekleidungswerk Görlitz für die Ausbildung zum Ich wechselte schließlich an die Fachschule und Baufacharbeiter und dann zum Bauwerker. Der zum kleinen Betrieb, Wirtschaftsformen staatlicher Betriebe, halbstaat- Kleidungsfacharbeiter mit Abitur beworben. Die berufliche Ausbildung habe zuerst in der Studienorganisation und später Arbeitsvorbereiter wurde zum Vorarbeiter und liche Betriebe bzw. Betriebe mit staatlicher Beteiligung, Privatbetriebe fand in der Lehrwerkstatt des Betriebes statt. Turnusmäßig hatten als Dozentin gearbeitet. dann zum Technologen. Der Schlosser wurde meist Handwerksbetriebe. Es gab praktische Unterweisungen in Metall- wir Praxis bzw. Schule für das Abitur. Meine Ausbildung nach der 10. Görls: Welche Erinnerungen hast Du an Deine dama- zum Metallbearbeiter oder der Elektriker wurde und Holzverarbeitung, von der technischen Zeichnung bis zum fertigen Klasse dauerte 3 Jahre. lige Erwerbstätigkeit? Wie würdest Du die Bedeu- zur Elektrofachkraft. Die Auflistung lässt sich Werkstück wurde alles selbst gearbeitet – unter Aufsicht eines Werklehrers. Görls: Wie verlief Deine Lehrlingszeit damals? tung dieser Zeit einschätzen aus heutiger Sicht? fortsetzen, aber im Großen und Ganzen haben UTP – Unterricht in der Produktion, das gab es ab Klasse 7. Ich war Dagmar: Da ich keine Ahnung vom Nähen hatte, war die Ausbildung Dagmar: An das Berufsleben in der DDR habe ich sich nur die Begrifflichkeiten geändert. Beruf- zuerst in der ‚Kiwa’ – Kinderstrickwaren Görlitz und habe in der Spinnerei hart für mich. In der Lehrlingsgruppe waren ungefähr 10 Lehrlinge, gute Erinnerungen. Ich war ein Teil des Betriebes liche Inhalte sind gleich geblieben. gearbeitet. Ich musste bei Fadenbrüchen, die den Stillstand der Maschine die ein Lehrmeister beaufsichtigte. Wir saßen am Schnellnäher hinter- oder der Schule und habe mich für beides eingesetzt, zur Folge hatten, die Fäden wieder miteinander verbinden und so die einander, und der Lehrmeister konnte alle übersehen. Bei Fragen als ob es der eigene Betrieb oder die eigene Schule Corinna Bischof Spinnmaschine wieder zum Laufen bringen. Es war stehende Arbeit oder Problemen kam er an die Maschine und gab Hilfestellung. Wir wäre. Es gab ein besseres Miteinander, denn keiner Thomas Titze mit starker Lärmbelästigung, man lernte die Arbeit der Spinnerinnen mussten in Einzelanfertigung im ersten Jahr Kinderschürzen, Hosen musste um seinen Arbeitsplatz bangen. schätzen und konnte selbst erkennen, dass es eine monotone Arbeit und Sakkos nähen lernen und auch nach Zeit arbeiten. Es war also Görls: Was fehlt Dir heute oder findest Du besser ist, die Geschicklichkeit, Handfertigkeit und Schnelligkeit bedurfte. Es nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität wichtig. Auch in an dem jetzigen Ausbildungssystem? wurde nach Leistung bezahlt. der Lehrwerkstatt gab es theoretischen Unterricht, z.B. über den Bau Dagmar: Ich meine, dass die Ausbildung in der Dann war ich auch im Waggonbau Görlitz. In unterschiedlichen Abtei- und die Wirkungsweise der Nähmaschine, Nahtarten, Taschenarten, DDR gut war. Jeder konnte bei entsprechender lungen haben wir unter Aufsicht der speziellen Arbeiter unkomplizierte Verschlüsse, alle Details usw. Ab dem 2. Lehrjahr ging es in die unter- Leistung seine Wünsche verwirklichen. Die Lehrer Arbeiten verrichtet, z.B. Materialien abgezählt, sortiert, gebohrt usw. schiedlichsten Meisterbereiche des Betriebes, wo Bandarbeit durch- oder Ausbilder waren im Kontakt mit dem Eltern- Und später, bei der Luft- und Wärmetechnik Görlitz, dort habe ich Blech- geführt wurde. Dort musste man einen Arbeitsplatz ausfüllen, je nach haus und hatten ein gemeinsames Ziel. Bei schwa- verarbeitung erlernt. Ausschneiden, anreißen, körnern, bohren, falzen Bedarf. Entweder 8 Std. Seitennähte schließen, Schlitze einarbeiten, chen Leistungen gab es Lernkollektive oder un- usw. Bedeutung für die Berufswahl – ja, jedoch indirekt. Taschen nähen usw. In eine Karte, die an dem Posten blieb, musste entgeltliche Nachhilfe.

32 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 33 gesetzbuch verankert. Unstimmigkeiten oder Streitigkeiten wurden jedoch in betrieblichen Konfliktkommissionen ausgetragen und geklärt. Sogenannte „Drückeberger“ wur- den mit durchgeschleift und damit sozial integriert, aber das gibt es heute doch auch. Görls: Wie gestaltete sich die Arbeit im Betrieb? Jenny: Das Arbeitskollektiv hatte schon eine soziale Kompo- nente und war für viele bedeutsam. Das Kollektiv sorgte für soziale Kontakte, der Betrieb für das Zusammenleben. Die Kinder der Beschäftigten gingen häufig zusammen in den Arbeitsplatz- Betriebskindergarten. Viele Beschäftigte fuhren gemeinsam in den FDGB-Urlaub, häufig an die Ostsee. Viele waren froh, garantie versus wenn sie eine Zusage für einen Ferienplatz bekamen. Das Leben des „DDR-Normalbürgers“ spielte sich teilweise stark Abbildungen: Staatsbürgerkunde, Lehrbuch Klasse 10, Volk und Wissen, Volkseigener Verlag Berlin, 1986 (Cornelsen) / Urkunde: privat Sozialhilfesicherheit im Betrieb ab, abends hat der Betrieb ab und an Kultur- abende organisiert. Görls: Wie war es mit der Sozialversicherung? Arbeitslosen- versicherung hattet Ihr sowieso nicht – oder? Hattet Ihr eine Berufs- und Arbeitswelt in der DDR Ein Gespräch mit Jenny, Eisenberg Kranken- und Rentenversicherung? Jenny: Bei Krankheit gab es die Betriebspoliklinik als Anlauf- stelle, aber auch ein anderer Arzt konnte gewählt werden. Ein Gespräch mit Arite Zander, Ost-Berlin Die Sozialversicherung betrug ungefähr 60 Mark im Monat und war inklusive der Rentenversicherung. Es gab keine Zuzahlung für Medikamente, für Zahnersatz oder Kranken- hausaufenthalt, alles war damit versichert, sogar ein Kur- Görls: Hattest Du in der damaligen DDR-Zeit die Möglichkeit Etwa in die Zeitmitte meines Studiums fiel die politische Görls: Ist es richtig, dass es in der DDR Arbeitsplatz- aufenthalt. In der Schule gab es regelmäßig zahnärztliche Deinen Berufswunsch zu erlernen? Veränderung, die Maueröffnung. Mein Studium bekam sicherheit gab? Kontrolle für die Kinder. Es war für uns nach 1989 eine rie- Arite: Da ich selbst im Alter zwischen 14 bis 17 auch nicht ein westliches Profil und hieß dann „Staatlich geprüfte Jenny: Ja, denn wir in der DDR hatten mit Arbeitskräfteknapp- sige Umstellung, überhaupt das ganze System zu verstehen. recht wusste, was und wie, musste ich mal in mich gehen und Betriebswirtin“ im Abschluss. Da ich noch studierend war, heit zu kämpfen. Überall wurden Arbeitskräfte gebraucht, Görls: Gab es Unterstützung bei Arbeitslosigkeit? überlegen, was gut umsetzbar ist. Ich hatte schon ‘ne Idee wurde ich auch als eine der ersten aus dem Baukombinat obwohl in den Betrieben teilweise ein Überangebot an Jenny: Das gab es so eigentlich nicht. Die Möglichkeit für mit Holz, auch durch meinen Vater mit seinen Bastel- und „abgewickelt“ und stand auf der Straße. Arbeitskräften war. Das wird heute oft verdeckte Arbeits- Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und Sozialfür- Reparaturarbeiten. Ich dachte an Theaterwerkstätten. Aber Durch die Entstehung von vielen neuen Berufsbildungs- losigkeit *) genannt. Es wurde die Arbeit simuliert, genauso sorge zu beziehen, wurden eben erschwert und damit die da gab es dann nichts, für das weibliche Geschlecht schon gar zentren (Geldabschöpfung) ergab sich für mich die Möglich- wie heute mit manchen Beschäftigungsmaßnahmen für Erwerbsfähigen in die Arbeitswelt gedrängt. nicht. Hier waren mit Sicherheit alle „mit Beziehungen“, also keit, eine Umschulung zur Tischlerin zu machen. Das war Erwerbslose. Pünktliches Erscheinen war erwünscht, obwohl Görls: Also nur wenige ‚Werktätige’ benötigten Sozialhilfe, Söhne der Väter, „die schon dabei waren“, untergekommen. bei mir immer noch im Hinterkopf. Es folgte eine 2-jährige nichts zu tun war. Manche Beschäftigte vertrieben sich die was heute Arbeitslosengeld II bzw. umgangssprachlich Hartz Dann gab es „wie Sand am Meer“ einen Lehrberuf: Fachar- Umschulung zur Tischlerin. In diesem Beruf war und bin ich Zeit bzw. nutzten sie für „Einkaufen gehen“ oder „Kaffee- IV genannt wird – stimmt das? beiter / in für Schreibtechnik oder bekannt als Sekretärin. Da bis heute noch tätig. klatsch“. Das führte natürlich dazu, dass viele in ihrer Arbeit Jenny: Ja, es gab schon die staatliche Stütze für Kranke und mir Deutsch gut liegt und auch gewisses Organisieren, dachte Görls: Welche Erinnerungen hast Du an Deine damalige unterfordert waren. Es waren ja meistens volkseigene Betriebe, auch für kinderreiche Familien. Der Staat hat eine Art Sozial- ich: „machste halt das“. Das war auch okay. Erwerbstätigkeit? Wie würdest Du die Bedeutung dieser Zeit da hat der „Anreiz“ gefehlt, andere Branchen jedoch, z.B. hilfe geleistet, indem auch nicht oder wenig produktive Görls: Wie verlief Deine Lehrlingszeit damals? einschätzen aus heutiger Sicht? in Bekleidungswerken, da wurde nach Stückzahl gearbeitet volkseigene Betriebe am Leben erhalten wurden. Etwas ähn- Arite: Lehrlingszeit, das waren 2 Jahre Lehre mit Betriebs- Arite: Schwer zu sagen, auf jeden Fall waren meine beruf- und entlohnt, d.h. Fleißige haben dann auch besser verdient. lich wie es heute im marktwirtschaftlichen System auch praktikum. Meine Berufsschule war nicht weit von zu Hause. lichen Erfahrungen für einen jungen Menschen sehr lehrreich Görls: Gab es Kündigungen? praktiziert wird, indem in der BRD mit staatlichen Subven- Viele nette Mädels, gute, nicht stressige Zeit. Das Betriebs- und für meine persönliche Entwicklung gut und wichtig. Sich Jenny: Nein, durch den Kündigungsschutz konnten die tionen versucht wird, Unternehmen vor der Schließung zu praktikum war dann interessant. Einsatz in einem großen dem Takt des Gesellschaftssystems – welches auch immer – Betriebe nur mit Zustimmung einer Behörde, das war in der retten. Aber auch gut gehende Unternehmen werden mit Baukombinat. Zuerst in der Personalabteilung, später in anzupassen, ist nicht immer leicht und einzusehen. Regel eine Abteilung „Inneres“ in jeder Stadt und nach verschiedenen Begünstigungen gefördert, also indirekt einer Abteilung für Technologische Vorplanung. Hier war Görls: Was fehlt Dir heute oder findest Du besser an dem Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes eine Kündigung staatlich subventioniert. dann auch bald klar: Sekretärin ist interessant, aber nicht jetzigen Ausbildungssystem? aussprechen. Es gab ja kein Arbeitsamt. Die Beschäftigten fürs ganze Leben. Arite: Zum Ausbildungssystem kann ich nur sagen, dass mir waren also unkündbar, es waren ja überwiegend staatliche Görls: Warst Du im erlernten Beruf später tätig? Wenn nein, das System der 10-Klassen-Schule gut gefallen hat. Es gab Betriebe. Auch Betriebsschließungen und Arbeitsentlassungen *) Verdeckte Arbeitslosigkeit: Ist die Bezeichnung der Quote an in welche Branche hast Du gewechselt? keine Trennung nach Grund- und Realschule bzw. Gymnasium. waren in der DDR nicht vorgesehen. Die Lohnentwicklung Arbeitslosen, die nicht in der Statistik erfasst sind. Es gibt zwei Arite: Ich wurde weiterhin als Sekretärin in der Firma beschäf- Die prägt mehr Teamgeist und hat ein anderes Gemein- wurde staatlich gesteuert. Varianten, entweder meldet sich der „Erwerbslose“ nicht und tigt. Über meinen damaligen Chef bin ich zum Studieren schaftsgefühl, als vielleicht die heutigen Bildungssysteme. Görls: Wie war es, wenn jemand nicht arbeiten wollte? wird daher nicht erfasst oder aber die verdeckte Arbeitslosigkeit animiert worden. Ingenieurökonomie des Bauwesens im Hier und heute wird die Ellenbogengesellschaft immer Jenny: Durch das Arbeitsrecht bekam jeder eine Arbeitsplatz- wird vom Arbeitsamt selbst gesteuert. Arbeitssuchende, die eine Fernstudium, das dauerte 5 Jahre und lief neben meinem weiter forciert, anstatt die anderen Werte zu entwickeln. garantie. DDR-Bürger, die nicht arbeiten wollten, wurden Fortbildung besuchen oder eine Maßnahme oder einen 1-Euro-Job Job als Sekretärin. Im Verlauf des Studiums wurde ich dann Da ich nichts anderes kennen gelernt habe, kann ich auch meistens als „arbeitsscheu“ bezeichnet und konnten krimi- annehmen, werden nicht in die Statistik aufgenommen. als Mitarbeiterin der Abteilung Technologische Vorplanung – keine weiteren Vergleiche anstellen. nalisiert werden. In der Praxis konnten unqualifizierte Quelle: Spiegel Nr. 24 (1990) Einsatzplanung von Kränen, Baumaschinen usw. – eingesetzt Arbeitsplätze zugewiesen werden, z.B. als Hofarbeiter in und entsprechend bezahlt. einem Betrieb. Die Arbeitserzwingung war sogar im Straf-

34 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 35 Zur Geschichte Tagebuch Luise, des Mauerbaus 1961, 22 Jahre alt Die „Berliner Mauer“

Sie haben die Oberbaumbrücke dicht gemacht. Es sieht schlimm ‚Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten’, ließ Wie war die Berliner Mauer genau aufgebaut? aus, wenn ich das so geschrieben sehe, aber das macht es irgend- Walter Ulbricht, damaliger DDR-Staatsratsvorsitzender, am Auf ostdeutscher Seite fand sich zunächst eine dünne Beton- wie fassbarer. Die wunderbare alte Bogenbrücke, die schon seit 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz verlauten. Und mauer vor der ein Patrouillenweg verlief, auf dem neben 1945 schwer mitgenommen aussah, ist ein Wahrzeichen. Sie ver- trotzdem: Keine zwei Monate später, in der Nacht zum Soldaten auch Mitarbeiter der Volkspolizei patrouillierten. bindet Friedrichshain mit Kreuzberg – verband, muss ich nun 13.8.1961, beginnt die gewaltsame Abriegelung Ost- Direkt hinter der dünnen Betonmauer begann der ‚Todes- eigentlich sagen. Autos durften da schon ein paar Jahre lang nicht von West-Berlin. Ulbricht erteilt den Befehl zur Abriegelung streifen’. Hier war unter anderem ein Signalzaun installiert, mehr fahren, aber zumindest die Fußgänger hatten noch drüber der Sektorengrenze. Die DDR baut eine Barriere, die unter der bei Berührung einen stillen Alarm an einen der 320 Ber- gehen können, pendeln dürfen und Geld tauschen. anderem den Massenausreisen (bisher 2.686.942 Menschen) liner Wachtürme weiterleitete. Weiterhin gab es Fahrzeug- »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!« Nein? Und in den wirtschaftlich florierenden Westen entgegenwirken sperren und mit Dornen besetzte Stahlteppiche, im Westen was sind das dann für graue Betonblöcke, die sich in immer mehr sollte. ‚Stalinrasen’ genannt. Die Erde im Todesstreifen wurde regel- Berliner Boden stemmen? Achja, richtig: ein antifaschistischer mäßig glattgerecht, um die Fußspuren Flüchtender erkennen Schutzwall. Das ist ja was ganz anderes. Doch wie kam es dazu? Was waren die Ursachen? zu können. Erst dann folgt die eigentliche ‚Mauer’. Ehrlich, mich persönlich stört das nicht weiter. Friedrichshain Die Gründe für den Bau einer Mauer zwischen der Bundes- Doch nicht nur die Berliner Grenze galt es abzusichern, ist meine Heimat und soll es auch bleiben, der Westen reizt mich republik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokrati- auch die 1378 km lange innerdeutsche Grenze zwischen DDR nicht besonders, außer vielleicht mal ein Ausflug ins Kaufhaus schen Republik (DDR) waren vielschichtig. Eine davon war und BRD verfügte (ebenfalls je nach Lage) über ein ähnlich des Westens oder aber Heike wiedersehen. Aber die Mauer ist die Berlin-Krise, denn das mitten in der DDR gelegene West- ausgeklügeltes Überwachungssystem wie die Berliner Mauer. einfach keine schöne Sache – das Brandenburger Tor verschandelt, Berlin war der Sowjetunion ein Dorn im Auge, weshalb der Allerdings war die ‚Mauer’ dort meist ein Metallgitterzaun. U-Bahn-Linien abgebrochen, ganze Straßenzüge unzugänglich sowjetische Partei- und Staatsführer Nikita Chruschtschow Dennoch existierten Signalzäune, Wachtürme, Hundelauf- gemacht. So etwas macht man einfach nicht. am 27. November 1958 das sogenannte Chruschtschow-Ulti- anlagen sowie das Postensignalgerät, das – je nachdem an Ulrich, mein Freund, amüsiert sich über meine Ansichten. »Ein matum verlauten ließ. Würde West-Berlin nicht in eine von welcher Stelle des Grenzstreifens es sich befand – bei Be- bisschen angemalt, mit ein paar Kübelpflanzen dekoriert – und den Westmächten unabhängige ‚freie Stadt’ umgewandelt rührung eine gelbe oder rote Leuchtkugel abgab, sodass schon hast du dich dran gewöhnt«, neckt er mich ständig. Er und würden die Westmächte nicht innerhalb von sechs Mo- Grenzsoldaten direkt erkennen konnten, an welcher Stelle meint, dass das irgendwie voraussehbar gewesen sei, schließlich naten in Verhandlungen über einen Friedensvertrag treten, sich ein Flüchtling befand. Bis 1983 existierten sogar Minen- haben sie nach und nach schon alles durch das Militär abgeriegelt. so wollte die Sowjetunion einen einseitigen Friedensvertrag felder und etwa 60.000 Selbstschussanlagen, die scharfkan- Doch ich finde, dass kalter Beton und Stacheldraht etwas ganz mit der DDR abschließen. Außerdem würde die Sowjetunion tige Metallsplitter abfeuerten. anderes sind! Ein Mensch kann zurückweichen…Mauern und dann ihre Rechte (vor allem Kontrolle der Verbindungswege Zäune können, einmal aufgestellt, nur noch mit Gewalt eingeris- zur BRD) gegenüber Berlin an die DDR abtreten. Doch die Der Preis der Mauer – sen werden. Bei dem Gedanken kaut sogar Linda Deichselmann Westmächte geben diesen Forderungen nicht statt, sie wol- was ließ sich die DDR die Mauer „kosten“? unruhig auf ihrem Mundwinkel herum…! len weder den Viermächte-Status Berlins aufkündigen, noch Der Aufwand, den die DDR betrieb, um eine Grenze auf gan- ihre Truppen aus Westberlin abziehen. zer Länge zu überwachen und die Bürger eines Staates an Während sich ab dem Frühjahr 1961 die wirtschaftliche einer Massenabwanderung zu hindern, ist in der Geschichte Lage der DDR weiterhin verschlechtert und immer mehr nahezu einzigartig. Nicht nur Aufbaukosten von insgesamt Menschen Berlin und die DDR verlassen, findet im Juni 1961 über 1,8 Milliarden (DDR-) Mark nahm das Regime auf sich, ein sowjetisch-amerikanisches Gipfeltreffen in Wien statt. auch mussten jedes Jahr aufs Neue die laufenden Kosten von Auf diesem wiederholt Chruschtschow erneut sein Ultima- geschätzten 500 Millionen Mark gedeckt werden. Zu diesen tum, setzt es bis Ende 1961 aus, doch der amerikanische zählten unter anderem die Löhne der etwa 40.000 Mann Präsident John F. Kennedy weist dieses zurück, kündigt sogar starken Grenztruppen. weitere Erhöhungen der Rüstungsausgaben an. Die nun prekäre Lage der wirtschaftlich gefährdeten DDR war Chruschtschow bewusst, sodass er beschloss, nur einen Literatur / Internet: 1 http://www.goethe.de/lhr/prj/kal/bem/a06/deindex.htm, 28.11.11 11:55 Teil der Drohungen, die er in seinem Ultimatum aufstellte, 2 Hans-Hermann Hertle, Die Berliner Mauer // The Berlin Wall, Monument des Kalten Krieges // Monument of the Cold War, 3. korr. Auflage, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn umzusetzen. So wurde beispielsweise die Kontrolle der 2009, S. 18. Verbindungswege zur BRD an die DDR abgetreten und der 3 http://de.wikipedia.org/wiki/Innerdeutsche_Grenze Opferbilanztabelle der Zentralen Erfassungs- stelle Salzgitter, alle Opfer bis 1989 außer Opfer an der Berliner Mauer, 28.11.11 11:57 Abriegelung Berlins stattgegeben. 4 http://www.tagesspiegel.de/berlin/Mauertote-DDR-Mauermuseum;art270,2869614, 28.11.11 11:58 Auf 43 km Grenzlänge zwischen West- und Ostberlin und 5 Hans-Hermann Hertle, Die Berliner Mauer // The Berlin Wall, Monument des Kalten Krieges 112 km Grenzlänge zwischen Westberlin und dem ostdeut- // Monument of the Cold War, 3. korr. Auflage, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2009, S. 57. schen Umland montierte man von nun an 106 km Betonplat- 6 http://www.rbb-online.de/themen/dossiers/mauer_46/rueckkehr_der_mauer/die_mauer_in_fak- ten.html, 19.05.10 tenwand und 66,5 km Metallgitterzaun. Doch die ‚Mauer’ bzw. http://www.come-on.de/nachrichten/maerkischer-kreis/meinerzhagen/feierstunde-anlaesslich- war keineswegs immer nur ein Stück Betonwand, je nach tages-deutschen-einheit-1432272.html, 28.11.11 12:01 7 http://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4ftlingsfreikauf Lage fand sich neben dieser eine zwischen 30 und 500 m Quellen: breite ausgeklügelte Überwachungszone, der sogenannte Hans-Hermann Hertle, Die Berliner Mauer // The Berlin Wall, Monument des Kalten Krieges // Foto: privat ‚Todesstreifen’, der bis in die 80er Jahre ständig ausgebaut Monument of the Cold War, 3. korr. Auflage, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2009 Mauerpark, Prenzlauer Berg, Berlin-Pankow. // DVD ‚Eingemauert!’, Deutsche Welle Susanne Fritsche, Die Mauer ist gefallen, Eine kleine wurde und auch bei Nacht durch Flutlicht hell beleuchtet war. Geschichte der DDR, aktualisierte Neuauflage, Deutscher Taschenbuchverlag, 2009 Foto: Burkhard Hagen Fischer

36 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 37 Musikgeschichte in 40 Jahren DDR Liedermacher

Jazzmusik und Rock ´n Roll gehörten in den Nachkriegszeiten und Chansonniers zu den Hauptmusikrichtungen in Deutschland. Anfang der 1960er Jahre verbreitete sich in der DDR Twist- und Beat- musik auf größtenteils instrumentaler Basis, die sich an der Beat- und Rock ´n Roll Musik des Westens orientierte (damit ist US-amerikanische und englische Musik gemeint). Um den Sänger, die ihre Lieder selbst schrieben und sangen, gab es Siegeszug des Rock´n´Roll aufzuhalten, wurde 1959 der Mo- in West und Ost vor allem seit Mitte der 60er Jahre. Manche detanz „Lipsi“ – in Leipzig – erfunden, der im Vergleich zum dieser Liedermacher schrieben lustige Texte, andere erzähl- Rock´n´Roll ein gesitteter Paartanz und lang nicht so rasant ten Geschichten, wieder andere drückten in ihren Texten war. Die Jugend ignorierte ihn weitgehend. „Wir brauchen Gesellschaftskritik aus. Diese Vielfalt spiegelte sich auch in keinen Lipsi und keinen Ado Koll. Wir brauchen Elvis Presley der DDR wieder. Einige Sänger bogen auf den Kurs der SED mit seinem Rock and Roll.“ (Ado Koll war Leiter des staatli- ein, andere eckten schnell an, weil sie sich nicht beugen chen Unterhaltungsorchesters). lassen wollten. Die Radiosender jener Zeit waren verpflichtet, zu 60 % Hartmut König etwa war führendes Mitglied des Okto- DDR-Musik oder Musik anderer sozialistischer Länder zu berklubs, der die Singebewegung anführte, war SED- und spielen. Dies führte zur Gründung vieler Jugend-Bands (im FDJ-Funktionär und wurde 1989 stellvertretender Kulturmi- offiziellen DDR-Sprachgebrauch: Gitarrengruppen). Zu den nister der DDR, während der Liedermacher Wolf Biermann bekanntesten Gruppen gehörten die Sputniks aus Berlin und von 1965 bis zu seiner Ausbürgerung 1976 gar nicht auftre- die Butlers aus Leipzig. ten durfte. Zu den bekanntesten Liedermachern der DDR Anfang der 60er Jahre förderten und unterstützten FDJ- Gerhard Schöne 1988 auf dem Festival des politischen Liedes. gehören Kurt Demmler, der zugleich für viele Rocktexte Funktionäre und örtliche Kulturfunktionäre die jungen Foto: Bundesarchiv 183-1988-0216-033, Gabriele Senft verantwortlich war, und Gerhard Schöne, der eher dem Bands. Als Höhepunkt der neuen Offenheit wurde das an alternativen, kirchennahen Milieu angehörte und auch mit Pfingsten 1964 durchgeführte Deutschlandtreffen der FDJ Kinderliedern bekannt wurde. Gerulf Pannach und Chris- genannt, aus dem der Rundfunksender DT 64 hervorging. tian Kunert mussten im Zuge der Biermann-Ausbürgerung Der damalige Jugendfunktionär Hans Modrow sagte später: ebenfalls die DDR verlassen. Stephan Krawczyk hatte ab „Man begriff natürlich, dass, wenn man die Jugend gewin- abgrenzen, sich nicht allem anpassen, man wollte anders 1985 Auftrittsverbot und musste die DDR 1988 verlassen. nen will, auch das annehmen muss, was die Jugend bewegt sein, weil man mit den vorhandenen Gesellschaftsformen Von 1970 bis 1990 wurde alljährlich das Festival des politi- und begeistert“. nicht einverstanden war. Die Texte waren systemkritisch, schen Liedes in Ost-Berlin durchgeführt. Veranstalter war die Nachdem es im September 1965 auf der West-Berliner bedurften häufig einer Interpretation und wurden teilweise FDJ. Politische Texte waren auch in der DDR willkommen – so Waldbühne nach einem Konzert der „Rolling Stones“ zu bei Live-Auftritten abgewandelt aufgeführt. lange sie auf der Linie der SED lagen. Kampf- und Arbeiter- Ausschreitungen kam, sah sich die SED-Parteiführung zum Ab 1983 wurde die Staatssicherheit aktiv und ging gegen lieder gehörten zum bekannten Liedgut und wurden an die Umdenken gegenüber der Beatmusik gezwungen, um den Punk vor. So wurden viele jugendliche Anhänger bedroht, junge Generation vermittelt. Neben bekannten, der Parteili- ähnlichen Vorfällen auf Beatkonzerten in der DDR vorzu- festgenommen und teilweise als inoffizielle Mitarbeiter der nie genehmen DDR-Liedermachern traten viele ausländische beugen. Es wurden daraufhin alle Beatkonzerte abgesagt Staatssicherheit rekrutiert. Der Einfluss und die Kontrolle des Interpreten auf. und vierundfünfzig Bands verboten, unter anderem die DDR-Staats auf die Musiklandschaft nahm jedoch ab Mitte Von 1973 bis 1992 fanden meist im Zwei-Jahres-Abstand beliebte Band „The Butlers“ am 21. Oktober 1965. Diese der achtziger Jahre immer mehr ab. Die FDJ veranstaltete da- die Chansontage der DDR in Frankfurt (Oder) statt, die auch Entscheidung führte zur Planung der Leipziger Beatdemo. raufhin auch internationale Großveranstaltungen, zu denen Liedermachern offenstanden. Anders als zum Festival des Am 31.10.1965 lehnten sich etwa 2.000 Beatszene-Anhänger ausländische Musik-Stars und sehr gute DDR-Musikbands als politischen Liedes waren die Chancontage ein Wettbewerb. gegen das Verbot auf. Vorgruppen engagiert wurden. Eine Jury wählte den besten Musiker aus. 1987 wurde die Die siebziger Jahre waren geprägt von Liedersängern und Oftmals imitierten die DDR-Bands westliche Songs und ver- Juryentscheidung aufgrund von politischen Gründen gekippt gemäßigtem Rock. In den achtziger Jahren äußerte sich der liehen ihnen des Öfteren eine besondere Note. Zumeist und einem anderen Musiker wurde der Hauptpreis verliehen. Protest am Gesellschaftssystem der DDR in der Gründung erfreuen sich auch heute noch einige, liebevoll Ostnostalgiker Zu den bekannten weiblichen Chansonsängern der DDR zäh- verschiedener Punkbands, die dies in ihren Texten zum genannt, an ostdeutschen Liedern. Es bleibt der Eindruck zu- len Barbara Kellerbauer, Barbara Thalheim, Gisela May Ausdruck brachten. Man wollte sich – wie 10 Jahre zuvor in rück, dass Musik vielen Zwecken dienen kann, so neben dem und Eva-Maria Hagen. Sie sangen ihre Lieder gewöhnlich den USA und später auch in England – von der Gesellschaft Vergnügen, dem politischen Protest. auf Deutsch.

Quelle: http://www.zeitklicks.de/ddr/zeitklicks/zeit/125/die-novemberrevolution/liedermacher/ Christopher Höhmann http://www.mdr.de/damals/archiv/biermann100.html http://de.wikipedia.org/wiki/Musik_der_DDR Quellen: http://www.ddr-suche.de/pages/Musik/ (17.4.2010 18:10) www.old-gdr.de/ (17.4.2010 18:32) / http://de.wikipedia.org/wiki/DDR

38 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 39 Musikszene der DDR – Ein Gespräch mit ‘Wolle‘, Ost-Berlin Eine Musikgeschichte

Görls: War die junge Musikszene der DDR eher von sowjeti- eingebaut, damit die Genossen was zum Zensieren hatten 1978 wurde an einem Biertisch im Prenzlauer Berg die Fami- scher oder – wie in der BRD – amerikanischer Musik, geprägt? und dadurch von der eigentlichen Botschaft des Textes ab- lie Silly gegründet. Die Kapelle spielte Cover-Versionen und Wolle: Wir wurden von denselben Einflüssen wie im Wes- gelenkt wurden. Es wurde auch immer wieder vom Westen tingelte durch Bars und Vergnügungslokale. Familie Silly ten geprägt. Durch die Medien, Fernsehen und Rundfunk, anerkannt, dass man die deutsche Sprache pflegt. Das Pfle- sorgte überall für gute Laune, die Band unterhielt bis zur hatten wir denselben Stand wie im Westen: RIAS, SFB, gen der deutschen Sprache war aber nicht das Interesse der Schwarzmeerküste das Publikum mit nachgespielten Hits. AFN, Deutsche Welle, Radio Luxemburg, Deutschlandfunk, Genossen, sie wollten nur die Texte verstehen, was sie aber Bald entstanden auch erste eigene Songs. ARD und ZDF. Es gab keine sowjetischen Einflüsse. Kaum auch nicht wirklich geschafft haben. Inzwischen gehörte ein Westberliner Plattenproduzent ein Jugendlicher hatte Ostmusik auf seinen Bändern. Ver- Görls: Welche Band hast Du favorisiert? zum Familie-Silly-Kreis, der ganz dringend etwas machen einzelt gab es auch mal eine gute Band aus Ungarn oder Wolle: Eine wichtige Band in meinem Leben war „Klaus Renft wollte, was die einzige Plattenfirma der DDR bis dahin so Polen (OMEGA und BUDGARSOFLÄRA). RIAS und SFB hat- Combo“, die Texte haben mir sehr viel Mut gemacht, die standhaft verweigerte: eine LP. So brachte Familie Silly 1981 ten besondere Musikwunsch-Sendungen für Ossis. Da wur- triste Zeit in der DDR zu ertragen. Leider wurde sie 1976 ihre erste Platte zunächst in der Bundesrepublik heraus. den alle Songs in voller Länge und mit Ansage des Band- verboten. Nachdem “Tanzt keiner Boogie?” bei der Westberliner Hansa- namens und des Songs zum Aufnehmen gesendet. Auch Görls: In der BRD ist Volksmusik beliebt. War es auch in der Musik veröffentlicht wurde, kam der DDR-Plattenmonopolist im DDR Rundfunk gab es eine Sendung zum Mitschneiden: DDR so? AMIGA in Zugzwang. Wenig später erschien die LP auch auf DT64 „vom Band fürs Band“. Da wurden komplette West- Wolle: Volksmusik gab es auch in der DDR. Der bekannteste dem DDR-Label. alben zum Kopieren gespielt. Es gab auch alle Informati- Interpret war Herbert Roth. Die Jugendlichen hatten aber 1985 erschien “Liebeswalzer” (wieder “Platte des Jahres”) onen zu den Musikgruppen und den Alben. Bei Live-Kon- kein Interesse an dieser Art von Musik. und 1986 wurde “Bataillon d´amour” als erfolgreichstes zerten von lokalen Bands wurden ausschließlich englische Görls: Wie war die Jugendszene in den 70ern? Album in den Medien gekürt. “Februar” war 1989 das letzte Songs gespielt. Höchstens ein oder zwei eigene Songs, aber Wolle: In den siebziger Jahren gab es nur eine Jugend-Kul- Album der Band (ebenfalls LP des Jahres), das in der DDR dann war die Tanzfläche auch immer leer und man ist erst tur-Szene, die Hippies, auch „Kunden“ genannt. 90% aller erschien. Dann kam die Wende und mit ihr eine wesentliche mal aufs Klo gegangen oder hat sich ein neues Bier geholt. Jugendlichen hatten lange Haare, Jeans und eine US-Armee Erfahrung: Die Zensur der Kulturpolitik wurde nun durch die Görls: Also es gab keine eigene Musikrichtung? Jacke. Man traf sich täglich in der Kneipe, trank viel Bier und Zensur der Marktwirtschaft ersetzt. Wolle: Einen eigenen Musikstil in der DDR-Rockmusik gab Schnaps und plante das Wochenende. Telefon und Handys SILLY 1993 bewies das Album “Hurensöhne” dann auch, wie es nur bei den Texten. Wenn eine Band das Glück hatte gab es nicht. Was in der Woche fürs Wochenende geplant authentisch Silly geblieben war. Die Band kam sich nicht und eine eigene Schallplatte im Rundfunk oder bei AMIGA wurde, war auch verbindlich. Wir sind in die umliegenden abhanden – allen voran Tamara Danz, die nicht nur das produzieren durfte, mussten aber alle Texte auf Deutsch Kulturhäuser zum Tanz und Konzert gegangen oder aufs Gesicht, sondern auch der Geist von Silly war. Während es bei sein. Der Star-Texter der DDR war Kurt Demmler. Ich denke, Dorf zum Dorftanz gefahren. Im Sommer sind wir viel an „Februar“ noch eine Gemeinschaftsarbeit mit Gundermann er hat 60-80% aller Texte für sehr, sehr viele Bands geschrie- Seen zum Zelten oder in eine Jugendherberge mit dem Zug war, schrieb sie seit “Hurensöhne” die Texte selbst. Mit der Foto: anke1168, ben. Ich mag seine Texte sehr. Er hat es verstanden die Texte gefahren. Einmal im Jahr sind wir auch nach Budapest oder SILLY - Asyl im Para- letzten Neuveröffentlichung 1996, “Paradies”, fand sich dies, youtube.com, so zu schreiben, dass sie durch die Zensur gekommen sind, Prag gereist, um Klamotten und Schallplatten zu kaufen. Konzert 2013, Rügen Silly in den höheren Regionen der deutschen Charts wieder. aber nicht an Inhalt verloren haben. Man konnte gut zwi- Nach Prag nur, um zu Saufen und nach Budapest für West- Cover: Silly Diese verstärkte Aufmerksamkeit war allerdings auch einem schen den Zeilen lesen. Er hat immer ‚Elefanten’ in die Texte schallplatten (eine Schallplatte 100-120 Mark). Rückblickend tragischen Umstand geschuldet. Tamara starb am 22. Juli hatte ich eine sehr schöne Jugend. 1996. “Hängt nicht rum, geht auf die Bühne”, das war ein Görls: Habt Ihr ‚Rockpalast’ gekannt? Schlachtruf der Frontfrau. Deshalb gibt es Silly heute noch. Wolle: Einmal im halben Jahr gab es eine große Rockpalast- Im Sommer 2005 gingen nach fast 10 Jahren Pause Ritchie Party. Da haben wir uns alle, meistens 20-30 Leute in einer Barton, Uwe Hassbecker und Jäcki Reznicek mit dem Projekt Wohnung getroffen und Rockpalast geguckt. Wir waren “Silly & Gäste” wieder live auf Tour. Verstärkt wurde die immer besoffen und es ist viel zu Bruch gegangen. Aber am Band durch die Söhne Basti Reznicek (Drums) und Daniel Info nächsten Tag haben wir alle zusammen die Wohnung wie- Hassbecker (Keyboards / Cello) sowie den Rockhaus-Gitarris- DT64 nach dem Deutschland-Treffen der Jugend der in Ordnung gebracht. Die Rockpalast-Sendung war für Bänken und hat Rotwein getrunken. Ich glaube die Sama- ten Reinhard Petereit. Einer der Höhepunkte dieses Neu- 1964 in Ost-Berlin genannt. Beliebtes Jugendpro- alle ostdeutschen Jugendlichen der Höhepunkt im Jahr. riter-Kirche war da der Vorreiter. beginns war das Konzert im Berliner Tempodrom mit Toni gramm des DDR-Rundfunks, 1986 ein eigenstän- Görls: Wurden bei Euch in der Musikszene auch Drogen Görls: Waren Punk-Konzerte erlaubt? Krahl, Stefanie und Thomas von Silbermond, Kati Karren- diger Sender, bestand bis Mai 1993. Der Nachfol- genommen? Wolle: Mitte der Achtziger wurde die Szene vielseitiger. bauer, IC Falkenberg und Anja Krabbe als Gästen. Der Live- gesender ist MDR Sputnik, das Jugendradio des Wolle: Eine Drogenszene wie im Westen gab es hier nicht. Popper, Punks, Gruftis und Skins tauchten überall auf und Mitschnitt auf Doppel-CD und DVD belegt dies in eindrucks- Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) Die Kontrollen an den Grenzen zum Osten waren zu scharf. belebten die untergehende DDR. Der Kulturpark Berlin voller Weise. Rockpalast-Nächte – von 1974 bis 1986, 6-stün- Die Volksdroge in der DDR war Alkohol und Bier. Ganz krasse und PW, das war eine Gaststätte vor der „Insel der Jugend“, Im Dezember 2005 wurden die Sillys auf die Schauspielerin dige Live-Sendung des WDR Köln mit international Leute haben das auch noch mit Tabletten gemixt, aber waren auch immer beliebte Szenetreffs. Mitte der Achtziger und Sängerin Anna Loos aufmerksam und luden sie zu Pro- bekannten Bands und Musikern. eigentlich nicht die Masse. Die Schnaps- Regale in den Kauf- hat auch dieser Jugendklub Punk-Konzerte veranstaltet. ben in ihr Studio ein. Seitens Anna war es nicht nur Liebe RIAS – Rundfunk im amerikanischen Sektor 1946 hallen waren immer gut bestückt. Da gab es nie Engpässe. Görls: Hast Du ein Abschluss-Statement für uns? auf den ersten Blick, sondern die unvergessliche Jugenderin- nach dem Zweiten Weltkrieg von der US-amerika- Das war als Ventil so gewollt von den Genossen. Wolle: Ein Punkt, der mir in der heutigen Berichterstat- nerung einer Dreizehnjährigen, die Tamara Danz und Silly nischen Militärverwaltung gegründet; bis 1993 Görls: Was war bei Euch anders als im Westen? tung überhaupt nicht gefällt, ist, dass alle ostdeutschen zum ersten Mal in ihrer damaligen Heimatstadt Brandenburg mit zwei Hörfunkprogrammen, von 1988-1992 ein Wolle: Ein wichtiger Bestandteil der Jugendkultur und Musik- Jugendlichen eine sch… Jugend hatten, und wir nur mit live erlebte. Nun stehen sie gemeinsam auf der Bühne. Eine Fernsehprogramm, Rundfunkanstalt mit Sitz in szene der Siebziger waren die „BLUES MESSEN“ in den evan- Blauhemd und Parteibuch gelebt haben. Wir hatten auch Geschichte, die fast nach Schicksal klingt. West-Berlin, Stadtteil Schöneberg. gelischen Kirchen. Da konnte man so wie man war und mit Drugs (Schnaps), Sex and Rock & Roll. Wir haben NICHT einer Rotweinflasche in die Kirche gehen und Blues hören. in der Ecke gesessen und geweint. Unser Leben war sehr Quelle: http://silly.de Die Kirchen waren immer überfüllt und man stand auf den authentisch.

40 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 41 Mode und Textilindustrie in der DDR

Mode war in der ehemaligen DDR ein „Produkt“, das viele, vor allem Frauen, haben wollten, aber die wenigsten bekamen. Welches waren die Gründe, dass DDR-Bürger nicht dieselben Möglichkeiten hatten, sich modisch zu kleiden?

Textilindustrie: Ein kleiner historischer Spaziergang Produktion in den RGW-Staaten aus. Gemeinsam hatten die Kunstfaserstoffe für den Alltag ten waren nicht angenäht; teilweise wurden sie aber zu den Die Textilindustrie auf dem Gebiet der DDR hatte eine lange staatlichen und die privaten, eigentlich halbstaatlichen Der Rohstoffmangel in der DDR in allen Industriezweigen Hosen mitgeliefert. Tradition. Führende Städte wie Cottbus, Zwickau und Görlitz Betriebe, mit den Schwierigkeiten, die Sozialismus und Plan- schlug sich auch in der Mode nieder. Baumwolle, Wolle und Gleichzeitig organisierte die Regierung den Aufbau einer waren seit dem Mittelalter als Tuchmacher-Zentren bekannt wirtschaft ausmachten, zu kämpfen: Fehlende Arbeitskräfte Leder mussten auf dem internationalen Markt eingekauft eigenen Jeansproduktion, im Jahre 1978 kamen die Jeans und geschätzt, Zwicksches Tuch ein Begriff für beste Ware. und hoher Krankenstand sowie Produktionsausfälle wegen werden und das war für die DDR unverhältnismäßig teuer, der DDR in den Handel, sie hießen „Boxer“, „Goldfuchs“, 1798 machte Chemnitz mit der Errichtung der Spinnmühle Material- und Rohstoffknappheit. da mit Devisen bezahlt werden musste. „Shanty“ und „Wisent“. Der Stoff war dunkelblau und die den Anfang der industriellen Revolution in Sachsen, so dass Der Wunsch nach schöner und bezahlbarer Kleidung wuchs Um der Bevölkerung eine Alternative zu den teuren Natur- Nähte orangefarben. Die Leute stürmten die Läden, obwohl man es als „Sächsisches Manchester“ bezeichnete. Mit dem mit dem Wohlstand in der DDR, zum Teil auch gelenkt durch fasern zu bieten, entwickelte die Textilindustrie kostengüns- die Jeans sehr teuer waren. Die später aktuellen „stone- Begründer des Werkzeugmaschinenbaus, Johann Zimmer- die Programme aus den westlichen TV-Sendern. Erst als sich tigere Stoffe, die mehr Farbe und Eleganz in den eintönigen washed“-Jeans taufte man im Osten Marmor-Jeans. Glücklich mann, entstand hier die erste Fabrik Deutschlands, die Chem- in den Betrieben das Problem mit den „Überplanbeständen“ Modealltag der Bevölkerung bringen sollten. „Dederon“ ist konnte sich schätzen, wer eine hatte. nitzer Werkzeugmaschinenfabrik. Nicht genug, der Erfin- stellte, d.h. Bekleidungsstücke, die keinen Abnehmer fanden, eine in der DDR entwickelte Kunstfaser, aus der Schürzen, Naomi Ba dungsgeist der ‚Chemnitzer’ gab 1877 ihrem Bürgermeister suchten die Planstellen nach einer Lösung. Anfang der 60er Taschen, Herrenhemden und auch Damenkleider hergestellt Wilhelm André Anlass, das deutsche Patentrecht zu entwer- Jahre wurden Spezialverkaufsstellen für modische Beklei- wurden. Sie waren ein großer Schlager in der DDR-Mode. fen und am Ende des 19. Jahrhundert war Chemnitz die dung eingerichtet, die Vorläufer der Exquisitläden. Dederon war das Pendant des in den USA patentierten „Per- reichste Stadt Deutschlands. Und blieb auch zu DDR-Zeiten lons“. Ein anderes Material war „Lederol“, eine Art Kunstle- Hochburg des Textilmaschinenbaus. Modemagazine, Trends der, dessen Produktion in der DDR verfeinert wurde. Daraus In Chemnitz – zu DDR Zeit Karl-Marx-Stadt – begann 1957 Wenn die Rede von der Mode in der DDR ist, herrscht ein wurden Mäntel und Jacken gefertigt, denn das Gewebe aus die Serienfertigung der „Malimo-Nähmaschinen“, sie konn- Pauschalurteil, wonach es nur modisch unschicke, farblose Baumwoll- oder Viskosefasergarnen war wasserdicht und ten mit mehreren Nadeln gleichzeitig und dadurch erheblich und qualitativ minderwertige Kleidung gab. Es stimmt nicht, luftundurchlässig. Auch der Polyesterstoff „Trevira“ und das schneller nähen. Dies ist ihrem genialen Erfinder Heinrich es gab gut und phantasievoll angezogene Frauen, qualitäts- Gewebe „Präsent 20“ waren Stoffe, die in der DDR herge- Mauersberger zu verdanken, der damit schon 1949 die Tex- volle Stoffe, dauerhaft haltbare Kleidung, aber immer von stellt wurden. Sie basierten auf bereits in westlichen Ländern tilindustrie revolutionierte. (Die „Webtechnik Malimo“ war allem zu wenig. bekannten Stoffen, die es in der DDR trotz der wenig zur die erste Lizenz der DDR, die als Patent in die USA verkauft Es hat pfiffige Modedesigner, Moderedakteure und Mode- Verfügung stehenden Mittel zu produzieren gelang. wurde. Bis heute wird seine Nähwirktechnik in der Industrie fotografen gegeben. Der „Verlag für die Frau“ in Leipzig sowie in der Raumfahrt genutzt.) Den Beschäftigten war hatte 400 Mitarbeiter, eine Druckerei, eine Schneiderei, Jugendmode (Jumo) es möglich, hochwertige Stoffe zu modernen Kollektionen Schnitt-Werkstätten, Foto-Studio, Fotolabor, angestellte Jumo – war eine HO–Ladenkette, die 1970 mit einem spezi- umzuwandeln, allerdings wurden bis zu 80 % dieser Textil- Fotografen und eine Experimentier-Küche für die Autorin- ellen Bekleidungssortiment für Jugendliche eröffnet wurde. erzeugnisse vor allem nach Westdeutschland und in die Ost- nen der Kochbücher. Hier wurden außer der „Saison“ die Die Jumo-Kleidung war modisch und qualitativ gut, manche blockstaaten exportiert. Der größte Produzent von Textil- Modezeitschriften „Praktische Mode“, „Sibylle“ und die Artikel waren so begehrt, dass Eltern schon morgens vor den maschinen war VEB Kombinat Textima in Karl-Marx-Stadt. Handarbeitszeitung „Modische Maschen“ herausgegeben. Geschäften anstanden. Begehrt waren Importe, häufig aus Nach der Staatsgründung blieben zunächst viele Unterneh- Die Modezeitschriften der DDR konnten durchaus mit den Jugoslawien, die nur in begrenzten Mengen kamen. Viele men in privater Hand und waren sehr gefragt und erfolg- Frauenzeitschriften des Westens konkurrieren, sowohl in der Kunden wussten, an welchem Tag Waren geliefert wurden reich. „Die privaten Konfektionäre erbrachten 1951 knapp Aufmachung, als auch in der Aktualität der gezeigten Mode. und standen Schlange. Manche Bekleidungsstücke kamen die Hälfte der einschlägigen Bruttoproduktion“. Wie wichtig Die beliebte Modezeitschrift „Sibylle“ war auch als „Ost- nicht mal bis ins Regal. Ergänzt wurde das Angebot durch sie im Staatsgefüge waren, erläutert U. Koepp: „Während Vogue“ bekannt und immer schnell vergriffen. Die Einflüsse Kosmetik für Mädchen und jungen Frauen, z.B. die Marke immer mehr lohnabhängige DDR-Bürger das Land in Rich- aus dem Osten waren in der Modeindustrie der DDR stark „Sküs“. tung Westen verließen, weil sie sich dort bessere Lebensbe- verankert. In der Modezeitschrift „Saison“ gab es z.B. eine dingungen versprachen, stellte die Staatssicherheit fest, dass feste Rubrik mit dem Titel „Mode aus Moskau“, die die aktu- Jeans die Zahl der flüchtenden Privatunternehmer rückläufig war.“ ellste Mode aus der Sowjetunion präsentierte. nehmen ein besonderes Kapitel in der Modegeschichte der Quellen: www.dederon-design.de www.mdr.de/damals/archiv/artikel87470.html Nur allmählich wurden viele Privatunternehmen in der Be- Eine „Haute Couture“ in der DDR hat es nie gegeben, dafür DDR ein. Lange Zeit galten sie – in DDR-Jargon „Niethosen“ www.aus-der-ddr.de/katalog/genex_zusatz_1988.html kleidungsindustrie enteignet und in staatliche volkseigene aber Mode „Prêt-à-porter“, Mode zum Tragen also. Passend oder „Nahthosen“ – für die Führung der DDR als Symbol der www.mdr.de/damals/lexikon/1593310.htmlLexikon www.sz-online.de/nachrichten/ddr-mode-als-wunschbild-und-spiegel-der-gesellschaft-1916310.html Betriebe, abgekürzt VEB, umgewandelt. (Die Heinz Bormann zu dem idealen Frauenbild in der DDR: berufstätig, unabhän- kapitalistischen Gesellschaften, also des Klassenfeindes und Fotos: privat und Oriella Bazzica KG und ihre Firmen-Geschichte ist ein spezielles Beispiel gig und selbstbewusst. es gab sie nicht in den Läden zu kaufen. dafür, siehe „Der rote Dior“, S. 44). Ende der 70er reagierte die DDR Führung auf den Jeans- Begünstigt durch den Trend westlicher Unternehmer, ihre hype und erlaubte kurzzeitig vor Weihnachten den Import Fertigung in Billiglohnländer zu verlagern, weitete sich die von Levis Jeans in größere Städte der DDR. Die Lederetiket-

42 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 43 Görls: Frau Hapke, stimmt es, dass viele Frauen in den 60er Görls: Wo gab es modische Artikel zu kaufen? Interview mit und 70er Jahren selbst Kleidung nähten?*) Christina Hapke: In den Intershops, diese gab es nur in Groß- Christina Hapke: Genäht wurde viel, meist nach BURDA- städten. Die Bekleidung, die dort angeboten wurde, war Christina Hapke Schnitten oder Schnitten aus dem „Verlag für die Frau“, ein relativ teuer und nur ein kleiner Bevölkerungsteil hatte die Frauenverlag in der DDR, ähnlich wie der Burda-Verlag. Die Möglichkeit, Forumschecks zu bekommen. Die anderen ha- Shopping-Mode Moderedakteurin Stoffe besorgte man sich über Verwandtschaft im Westen ben sich die Nase an der Schaufensterscheibe platt gedrückt. oder andere Beziehungen, z.B. von den Stoffherstellungs- Es gab auch die weniger bekannte Möglichkeit, beim GENEX betrieben in der DDR. Die Textilindustrie der DDR war weit Versandhandel zu bestellen. Diese Möglichkeit sogenannte Der »rote Dior« verbreitet. Da man in diesen Betrieben vor allem für den Engpasswaren einzukaufen wurde z.B. gern von Botschafts- Der Name Heinz Bormann stand damals in der DDR „Pramo“, „Saison“ und „Sibylle“, Export produzierte, hatte man auch die Chance, modisch ak- angehörigen, Auslandsmonteuren oder Künstlern genutzt. für individuelle und exklusive Mode. Ein Kleid des tuelle Stoffe zu bekommen. Nähzutaten waren preisgünstig, Ansonsten konnte man modische Bekleidung recht gut in Magdeburger Modehauses zu tragen, war etwas waren beliebte Frauenzeitschriften und so dass es für einen Großteil erschwinglich war, sich modisch Polen oder auch Ungarn kaufen. Polnische Zloty und ungari- Besonderes und versprach Schönheit und Prestige. Frauen-Modemagazine in der DDR. zu kleiden. sche Forint konnten aber nur begrenzt getauscht werden. So Allein schon die Aura des privaten Unternehmers hob Alle wurden im „Verlag für die Frau“ Die Menschen der DDR haben improvisiert, bevor etwas musste man sich sehr genau überlegen, wofür man das Geld ihn heraus aus dem Heer der volkseigenen Kleider- weggeworfen wurde, verwendete man dies und das weiter: ausgab. produzenten. Aber nicht nur Künstlerinnen ließen herausgegeben, ebenso die Knöpfe, Reißverschlüsse, Spitzenborten, Stoffreste usw. Aus Görls: Wie war es, wenn jemand keine Westkontakte und sich gern von Bormann kleiden, auch Lotte Ulbricht, monatliche Zeitschrift „Sowjetfrau“ heutiger Sicht war das sehr ökologisch. Bei Schuhen und kein Westgeld hatte? die Frau des Staatsratsvorsitzenden, bestellte ihre Taschen musste man wieder Glück haben, das Angebot war Christina Hapke: Natürlich gab es Leute, die keine Gelegen- Garderobe bei ihm. mit der neuesten Mode aus der UdSSR. eher mager. Wenn doch mal modisch, dann sehr teuer. heit hatten im Intershop einzukaufen, aber es gab auch Auf die Heinz Bormann KG bauten die DDR-Öko- Eine weitere auflagenstarke DDR- Görls: War es sonst schwer sich modisch zu kleiden? genügend Leute, die es auch aus politischer Überzeugung nomen nicht nur beim Export in die Sowjetunion, in Frauenzeitschrift war ab 1963 die sehr Christina Hapke: Trendige Sachen gab es in der damaligen nie getan hätten!!!!! die Niederlande, nach Belgien, Österreich und andere DDR u.a. in Exquisit-Geschäften, Läden mit hochpreisigen Kinder speziell konnten natürlich nicht begreifen, dass westliche Länder – wobei die bundesdeutschen beliebte Wochenillustrierte „Für Dich“ Produkten, auch aus dem Ausland, für viele nicht erschwing- Mama und Papa hier nicht einkaufen können, während- Importeure übrigens die Bedingung stellten, dass der vom Berliner Verlag. Und Mode war lich. Man musste entweder überdurchschnittlich gut ver- dessen andere selbstverständlich in diese Geschäfte gingen, Firmenname Bormann nicht auf dem Etikett stand. dienen oder Beziehungen zum Verkaufspersonal haben. die man immer schon von weitem an dem Duftgemisch von So beschreibt Ulrike Kopp in ihrem Aufsatz „Heinz auch für die sozialistische Frau ein Westpakete von Verwandten beinhalteten eher Lebensmittel Waschpulver, Kaffee und Parfüm erkannte. Bormann – der Dior der DDR“ den wichtigsten und Thema, oder? So haben wir Kontakt als Bekleidung und wenn, dann waren es meist getragene Görls: Vielen Dank für das informative Gespräch! bekannten Modemacher der DDR. Im ‚Westen’ wäre mit Christina Hapke aufgenommen. Sachen, über die die Freude dennoch sehr groß war. Christina Hapke: Ich finde es toll, dass es von jungen Leuten er einer von diesen tüchtigen, hoch gelobten Unter- Dann gab es noch die sogenannten Jugendmodegeschäfte, Bestrebungen gibt, das Leben in der ehemaligen DDR zu hin- nehmern gewesen, die mit Initiativgeist und Kreati- Sie war Moderedakteurin bei dem hier versuchte man annähernd Modisches zu verkaufen, aber terfragen, es kann nur zum besseren Verständnis zwischen vität dem Wirtschaftswunder beisteuerten. Der aber „Verlag für die Frau“ und zuständig es gelang nicht wirklich. Es fehlten die modischen Stoffe. Ost und West beitragen und hilft sicher, so manches besser im Osten wegen des politischen und wirtschaftlichen Jeans konnten einfach nicht kopiert werden. Die modischen zu verstehen. Bleiben Sie neugierig! Systems der DDR die Flügel gestutzt bekam und in für die „Pramo“, das heißt ’praktische Accessoires fehlten, das Drumherum stimmte nicht. Und Vergessenheit geriet. Anhand seiner Geschichte wird Mode’. Die Zeitschrift war besonders trotzdem kauften viele junge Leute, die keine Beziehungen *) Uschi aus Halle: „Nähmaschinen waren in den Haushalten, in die Entwicklung der Textilindustrie nachgezeichnet beliebt wegen ihrer Schnittmuster- zu Westverwandten hatten, dort ein. denen jemand nähen konnte. Eine Nähmaschine kostete 600 und Einblick gewährt in die Struktur der bürokratisch Görls: Wie erfuhren die Menschen von Trends? Mark, also kaufte nur jemand mit Kenntnissen so ein Gerät. Meine geführten Wirtschaft. bögen, ähnlich wie die vom Burda Christina Hapke: Zeitschriften und Kataloge wurden über die Mama hatte keine, meine Schwester hatte keine, ich hatte keine Verlag herausgegebene Zeitschrift Grenze von Omas und Opas geschmuggelt, die damals ohne und viele, die ich kannte auch nicht. Aber jeder wusste in seinem Einschränkung reisen durften, und gingen dann von Hand Freundes- oder Bekanntenkreis jemanden, der nähen konnte und BURDA in der BRD. zu Hand. Selbstverständlich, wenn der Zoll der DDR diese ließ dann dort für sich gegen Bezahlung nähen.“ http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/koepp123.pdf an der Grenze nicht konfiszierte...! Ansonsten waren Trends Fotos: PRAMO – Praktische Mode, Modezeitschrift DDR, Verlag für die Frau, Berlin / Leipzig im Westfernsehen zu sehen: Musiksendungen oder Jugend- sendungen lieferten jede Menge Anregungen. Da die BRD Programme fast überall in der DDR zu empfangen waren, sahen viele Leute, was ‚IN’ war. Info Görls: Wie informierten Sie sich als Moderedakteurin? Verlag für die Frau – Dieser wurde 1946 Christina Hapke: Ich gehörte, dank meines Berufes, zu den gegründet. Nach 1989 kaufte der Gong Ver- wenigen, die internationale Trends über das Modeinstitut lag in München den Verlag auf. Die Frauen- der DDR in Berlin erhielten. Das waren hochprofessionelle zeitschriften konnten sich nicht durchsetzen. Veranstaltungen, die uns auf dem aktuellsten, internatio- Lediglich die Zeitschrift „Guter Rat“ – in der nalen Stand hielten. Zweimal im Jahr wurden diese Infor- DDR eine 4 x jährlich erscheinende sozialis- mationsveranstaltungen speziell für die Fachpresse und die tische Verbraucherzeitschrift – überlebte. Bekleidungsindustrie der DDR als Anregung konzipiert. “Sibylle“-Redakteurinnen versuchten nach Außerdem hatte ich im „Verlag für die Frau“ auch die der Wiedervereinigung die Zeitschrift durch Gelegenheit über die Abteilung Dokumentation Modezeit- einen eigenen Verlag zu retten, was leider schriften aller Art zu lesen. Jedoch nur in der Redaktion. nicht gelang. Wir durften die Zeitschriften nicht mit nach Hause nehmen.

44 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 45 Die Wirtschaftssysteme in DDR und BRD Planwirtschaft / Soziale Marktwirtschaft

Während in der Bundesrepublik Deutschland die soziale Marktwirtschaft eingeführt wurde, beschäftigte man sich in der DDR durch den Einfluss der Sowjetunion mit der Planwirtschaft. Aber was sind denn Planwirtschaft und soziale Marktwirtschaft?

Foto: Planwirtschaft Umsetzung der Wirtschaftssysteme in DDR und BRD Oriella Bazzica Die Planwirtschaft, auch Zentralverwaltungswirtschaft ge- Ein Ziel des DDR- Staates war die Preisstabilität der Grund- nannt, beschreibt eine Wirtschaftsordnung, die sehr kom- nahrungsmittel. Der Staat übernahm viele Subventionen, munistisch orientiert ist. Der Staat versucht alle gleich zu damit der Bürger nicht so viel selber zahlen muss, z.B. waren behandeln und eine Klassengesellschaft zu vermeiden. die Mietpreise niedrig und auch lebensnotwendige Dinge Die Wirtschaftsvorgänge werden vom ihm geplant und wie Brot waren im Gegensatz zum Westen recht billig. geleitet. Das heißt, der Staat bestimmt was, wann, wo, von Nicht lebensnotwendige Dinge hingegen waren sehr teuer, der industriellen Maschinen blieb erst recht nichts übrig. Aus der DDR-Mark wurde die D-Mark und somit wurde wem, für wie lang produziert bzw. verarbeitet wird und wel- z.B. Autos. In jedem Ort gab es einen Einkaufsladen (Konsum, Anders in der BRD: Hier wuchs aufgrund des Wettbewerbs für die Ost-Deutschen alles teurer, denn 1,- DM entsprach ches Produkt wie viel kostet. Dem Staat gehörten Kapital, HO), also brauchte man zum Einkaufen kein Auto. Zur Arbeit der wirtschaftliche Wohlstand. Bei Geldmangel konnte die 4,40 DDR-Mark. Nun wird auch deutlich, warum die West- Arbeitkraft und Maschinen. musste man entweder mit Bus und Bahn fahren, oder die Regierung finanzielle Zuschüsse aus dem Westblock (haupt- konzerne vor dem Mauerfall ihre Ware im Osten produ- Durch das staatliche Zentralverwaltungssystem wurden Arbeitsstelle war zu Fuß zu erreichen. Deswegen gehörten sächlich Amerika) erhalten. Dafür sorgte der Marshallplan. zieren ließen: Weil es dort billiger war. Und anschließend privatwirtschaftliche Betriebe nur selten und wenn, dann auch Autos (nicht notwendig) zu den Luxusartikeln und Nach dem Krieg war es auch für Westdeutschland ein lan- wurden diese teuer weiterverkauft. So ähnlich ist es heute nur in geringem Umfang geduldet. Denn auch wenn man waren somit recht teuer. Zusätzlich musste man noch ca. ger Weg – die Wirtschaft war vollkommen zerstört. In immer noch! Durch die Globalisierung ist es leichter für selbstständig ist, muss man dem Staat das Kapital, die 10 Jahre warten, bis man überhaupt sein gekauftes Auto allen Besatzungszonen wurden Industrieanlagen zerlegt Unternehmen, im Ausland billig produzieren zu lassen, um Arbeitskräfte und Maschinen und alles was dazu gehört bekommen hat. Also, stellt euch mal vor, ihr seit 18 Jahre alt, und abtransportiert. Diese Demontagen waren als Ersatz die Waren ebenfalls günstiger weiter verkaufen zu können. auflisten und vorzeigen, damit dieser dann einen individu- habt gerade euren Führerschein, wollt euch etwas schönes für erlittene Kriegsschäden gedacht. Außerdem sollte Da wir uns jedoch in einem Wettbewerb befinden (soziale ellen Plan für jede Firma erstellen und festlegen kann. Der gönnen und „bestellt“ deswegen ein tolles zweisitziges somit sicher gestellt werden, dass Deutschland nie wieder Marktwirtschaft), muss man für den Kunden attraktiv blei- Staat bestimmte wie viel die Firma produzieren darf, wie Cabriolet. Zehn Jahre später: Ihr seid mittlerweile 28, habt Krieg führen konnte. Weil jedoch die Russen die westliche ben und das funktioniert nur, wenn man billig ist. Oder viel die Ware kosten soll und wie viel der Stundenlohn der schon geheiratet, habt zwei gesunde Kinder und bekommt Zonengrenze schlossen, um die Auswanderung in den würdest du etwa ein Handy für 500,- Euro kaufen, wenn du Arbeiter betragen muss. Das heißt, auch in der Selbstän- nun euer zweisitziges Auto. Wie praktisch! Im Westen war Westen zu verhindern, beschlossen die Briten und die dasselbe woanders für nur 100,- Euro bekommen könntest? digkeit, lässt sich der Staat nicht die Möglichkeiten nehmen, das anders: Die Preise stiegen und sanken in Abhängigkeit Amerikaner, ihre Besatzungszonen zu vereinen und die alles zu bestimmen. Zusätzlich kontrolliert er, ob man die von Angebot und Nachfrage, aber auf ein neues Auto westdeutsche Wirtschaft finanziell und mit Rohstoffen Suzan Sevili vorgegebenen Pläne auch pflichtgemäß erfüllt. wartest du maximal 3 Monate oder überhaupt nicht. zu versorgen. Die ebenfalls zu diesem sogenannten Mar- Ein weiteres Merkmal der Planwirtschaft war der Fünf- shallplan eingeladenen osteuropäischen Länder mussten Soziale Marktwirtschaft jahresplan, nachdem sich alle Produzenten richten mussten. ihre Teilnahme jedoch unter dem Druck der UdSSR ab- Die soziale Marktwirtschaft beschreibt ein Wirtschaftssystem, Das hatte zur Folge, dass der Osten nie auf dem technisch sagen. In der BRD wiederum kam es zum sogenannten bei dem das individuelle Eigeninteresse im Vordergrund neusten Stand war. Du musst es dir wie folgt vorstellen: Ich „Wirtschaftswunder“ und später auch zur Integration in steht. Bei der sozialen Marktwirtschaft bestimmen Angebot schreibe dir vor, dass du fünf Jahre lang den neuesten MP3- die Weltwirtschaft. und Nachfrage den Preis der Ware, d.h. je größer die Nach- Player produzieren sollst. Du beginnst zu produzieren. Ein frage der Konsumenten (Käufer / Verbraucher), desto höher Jahr später: Aus dem MP3-Player ist der iPod geworden. Nach der Wiedervereinigung ist dementsprechend der Preis. Aber wenn das Angebot der Jedoch produzierst du jetzt nicht den gefragten iPod, son- Mit der Wiedervereinigung wurde die Planwirtschaft abge- Quellen: Ulrich Winkler (Hrsg.): Abitur-Wissen Geschichte – Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart Verkäufer hoch und die Nachfrage gering ist, dann ist der dern produzierst, dem Plan entsprechend, die alten MP3- schafft und statt dessen galt jetzt im gesamten Bundes- Verlag: STARK Preis sehr niedrig. Ein Beispiel: Wenn ich Massen an Schoko- Player weiter. Fünf Jahre später: Du hast MP3-Player produ- gebiet die soziale Marktwirtschaft. Die Firmen in der ehe- Dr. Christian Zentner (Hrsg.): Allgemeinwissen aktuell – Geschichte & Kultur – Von der Steinzeit zum Atomzeitalter – Geschichte, Religion, Philosophie und Kunst, Verlag: MOEWIG Riegeln habe, die keiner kaufen möchte, halte ich den Preis ziert, die schon längst nicht mehr aktuell sind, denn mittler- maligen DDR waren vollkommen marode, weil durch die Sammler-Editionen: Alltag in der DDR: Aushängeschilder „Made in GDR“ – „Ham´wa nicht!“ – „Wissenschaft und Technik- Schlüssel zum Erfolg“ – Die Verschuldung- die 70er ganz klein, um verlockend zu sein, damit ich meine Ware weile ist schon das iPhone auf dem Markt. Wer will denn da hohen Subventionen des Staates bzw. aufgrund des Geld- „Honecker beginnt das Konto zu überziehen“ – Verlag: WELTBILD überhaupt „los werden“ kann. Umgekehrt, wenn meine noch die veralteten MP3-Player kaufen? Nicht sehr viele! Das mangels, keine modernen Maschinen zur Verfügung stan- Das Große Illustrierte Lexikon – Verlag: orbis, Band 2/ 3, S. 547/ 705 http://www.abendblatt.de/multimedia/archive/00000/206064v1_jpg_419c.jpg (26.2.2009) Schoko-Riegel sehr gefragt sind, setzte ich den Preis höher, Ergebnis des Fünfjahresplans war eine Überproduktion, d.h. den. Eine Restauration wäre nötig gewesen. Da die BRD nicht http://www.bpb.de/files/VHLG5L.pdf (Erscheinungsdatum: März 2009) http://www.bpb.de/themen/L20BKO,0,0,Der_Marshallplan_Selling_Democracy.html damit ich mehr Profit mache. So entsteht letztlich ein Wett- das Angebot war sehr hoch, jedoch gab es keine Nachfrage. für die gesamten Kosten aufkommen wollte und konnte, http://www.ddr-history.info/ (2009) bewerb, bei dem jeder besser, günstiger, erfolgreicher sein Der Staat hatte somit keine Einnahmen und blieb auf den wurden die Unternehmen privatisiert. Manche Firmen wur- http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?DDR-Lexikon http://www.fos-coburg.de/aktuelles/sj08-09/ddr_projekt_2009/wirtschaftssystem_ddr.htm möchte, um somit sein persönliches Interesse, mehr Profit Kosten sitzen. Das Problem des Fünfjahresplans war es, dass den sogar abgewickelt: Nützliches verkauft, der Betrieb ge- (18. November 2009) http://www.hdg.de/lemo/html/Nachkriegsjahre/WiederaufbauUndWirtschaft/marshallPlan.html zu machen, zu steigern. Durch besser Sein wird der wirtschaft- dieser sich nicht nach der aktuellen Nachfrage orientiert, schlossen. Vieles wurde unter Wert für einen „Appel und ‘n http://www.hdg.de/lemo/html/Nachkriegsjahre/WiederaufbauUndWirtschaft/demontage.html liche Fortschritt angekurbelt. Damit dies jedoch nicht zu Pro- sondern mit Hilfe von Hochrechnungen erstellt wurde. Ei“ verkauft, damit sie nicht mehr Staatslast waren. Die Pro- http://de.wikipedia.org/wiki/SED (21. April 2010) http://de.wikipedia.org/wiki/Planwirtschaft (19. April 2010) blemen führt, wie z.B Ausbeutung der Arbeiter bzw. Entwür- Um die Staatausgaben zu decken, verkaufte der Staat duktion wurde mitunter nach Westdeutschland verlagert. http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Marktwirtschaft (22. Februar 2010) http://www.schlaubi.de/geschichte/ddr/ddr.html digung der Menschenrechte oder Bildung von Monopolen, begehrenswerte Waren an den Westen, um wenigstens Manche Betriebe wurden mit Hilfe von Staatsgeldern fort- http://www.wirtschaftslexikon24.net/d/wirtschaftssystem/wirtschaftssystem.htm wacht der Staat über diesen Wettkampf und legt durch Geld zu haben, um im Ausland fehlende Waren, Produkte geführt, um sie später dennoch zu schließen. Durch die Um- Gesetze einen Rahmen fest, in dem sich die Privatinvestoren oder Materialien einkaufen zu können. Doch leider war strukturierungen verloren viele Menschen ihren Job und bewegen müssen. So leben wir heute noch in Deutschland ihm das nicht immer möglich, sodass es Tage gab, in denen waren somit arbeitslos. Und auch heute noch weisen die mit der sozialen Marktwirtschaft. Ladenregale einfach leer blieben. Für die Modernisierung östlichen Bundesländer eine höhere Arbeitslosenquote auf.

46 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 47 Geld und Devisen

Was genau bedeuteten Devisen in der DDR – Und warum waren sie für den DDR-Staat überlebensnotwendig?

Foto: Oriella Bazzica

Als Devisen oder Valuta wurden in der DDR alle Währungen 2. Forum-Schecks für Einkauf in Intershops 4. Genex – bezeichnet, die unbegrenzt in andere Währungen umge- Während bis 1979 mit DM-Bargeld im Intershop eingekauft Staatsunternehmen in der Schweiz und Dänemark tauscht werden konnten. Diese Währungen wurden „kon- werden konnte, gab es im April 1979 eine Änderung, nach Genex wurde 1956 von der DDR-Regierung in Ostberlin vertible Währungen“ genannt, es waren: Deutsche Mark, der man nur noch mit Forumschecks im Intershop einkaufen gegründet und entwickelte sich zu einer der wichtigsten Info US-Dollar, Schweizer Franken, Britisches Pfund Sterling, konnte. Die Schecks wurden von der Forum Handelsgesell- Devisenquellen der DDR. Es war ein DDR-Staatsunternehmen, Über Koko und die Devisenbeschaffung französischer Franc und österreichischer Schilling. Um auf schaft in Ost-Berlin herausgegeben, sie war die wichtigste über das westdeutsche Bürger Waren an Verwandte in der Eine Schlüsselrolle im Devisengeschäft nahm internationaler Ebene Handelsbeziehungen führen zu Firma im Bereich der sog. „kommerziellen Koordinierung“ DDR verschicken konnten. Zweck war die Versorgung der der zuständige Staatssekretär im Ministerium können, benötigt jede Volkswirtschaft Devisen. Nun war (KoKo), unter der Leitung des Offiziers Alexander Schalck- DDR Bürger mit westlichen Produkten, und auch mit Produk- für Außenhandel, Alexander Schalk-Golodkowski, die Mark der DDR nicht umtauschbar, wie konnten inter- Golodkowski (siehe Infokasten). Durch Einzahlung von DM ten aus der DDR Produktion, welche schwer oder nur zu ein. Er galt als „der Devisenbeschaffer“ der nationale Geschäfte abgewickelt werden? erwarben DDR-Bürger die Schecks für den Einkauf in den hohen DDR-Mark Preisen in der DDR beziehbar waren. Da DDR. Seine Ideen und Geschäfte waren Dreh- Im Zahlungsverkehr mit der BRD wurde mit der „D-Mark“ Intershops. Damit flossen DM direkt an die Forum Handels- die Waren der Firma mit westdeutscher Währung bezahlt und Angelpunkt der DDR-Devisenerwirtschaf- gerechnet, offiziell bezeichnet als „Valutamark“ und bei gesellschaft. Der Intershop-Handel war ihre Hauptaktivität. werden mussten, war dies eine Möglichkeit für die DDR- tung. Außenhandelsgeschäften mit nichtsozialistischen Wirt- Regierung an Devisen zu kommen. In seiner Doktorarbeit (1970) zeigte er schaftsstaaten (NSW-Staaten) die frei konvertiblen Währun- 3. „Gestattungsproduktion“ – vielfältige Möglichkeiten der Devisenerwirt- gen. Beide mussten zuerst beschafft werden. Bei Außen- Westfirmen produzieren in der DDR 5. „Inoffizielle Geschäfte“: Freikäufe von DDR-Bürgern schaftung auf, insbesondere im innerdeutschen handelsgeschäften innerhalb des RGW wurde Valuta auf Die DDR hatte rege wirtschaftliche Beziehungen mit vielen „Freikauf“ war die Bezeichnung für Geschäfte zwischen den Handel, auch unter Ausnutzung von Gesetzes- Rubel-Basis (russische Währung) benutzt. Staaten des westlichen Auslands. Sie lieferte an die BRD zwei deutschen Staaten, die jedoch inoffiziell liefen. Men- lücken und rechtswidriger Methoden. Sein Auf- und weltweit Agrarerzeugnisse, Textilien und andere Kon- schen – in der Regel so genannte politische Gefangene der gabenbereich war die Kommerzielle Koordi- Die DDR benötigte Devisen sumartikel. „Made in GDR“ fand sich in allen Industrie- DDR – wurden gegen Geld oder Waren in die BRD „freige- nierung (1964) genannt KoKo, er gründete • um Rohstoffe für ihre Produktionen, Erzeugnisse des zweigen. kauft“. Meistens wurden diese Bürger in die BRD ausgebürgert. Betriebe zwecks Gewinnabschöpfung in der Maschinenbaus und der Metallverarbeitung sowie Auch die Organisation dieser Produktionsform lag bei der Der Häftlingsfreikauf begann 1962 und endete 1989. In die- DDR und in nichtsozialistischen Ländern, er chemische Erzeugnisse oder ganze Maschinen zu kaufen Forum HgmbH. West-Firmen wurde gestattet, ihre Erzeug- sem Zeitraum sollen 33.755 Häftlinge der DDR durch die nutzte Bankkonten, Stiftungen und Holding- • für Lebensmittel, Importe von exotischen Früchte wie nisse in Betrieben der DDR zu fertigen und das niedrige BRD für mehr als 3,5 Milliarden Deutsche Mark freigekauft Gesellschaft in der Schweiz, Liechtenstein Bananen und Genussgüter, wie Kaffee, Kakao und Lohnniveau der DDR zu nutzen. Bekannte Produkte wie worden sein. Die Anzahl der Häftlinge wird auf 150.000 bis und den Benelux-Staaten. KoKo unterlag der Schokolade. Schuhe der Marke Salamander, Pralinen und Kakaopulver 250.000 Personen geschätzt. Anfangs wurden 40.000 DM, Geheimhaltung und war in der DDR bis 1989 • um Reisekader mit finanziellen Mitteln auszustatten der Marke Trumpf, Batterien der Marke Varta, Miederwaren später bis zu 100.000 DM für einen Freikauf gezahlt. öffentlich nicht bekannt. (Reisekader waren Werktätige mit einer befristeten oder der Firma Triumph, Unterwäsche der Firma Schiesser sind Mit dem Aufmacher „Fanatiker der Ver- dauerhaften Reiseerlaubnis, z.B. nach Westberlin, BRD Beispiele solcher Produktions-Handels-Geschäfte. Die Waren 6. Transitpauschale für Fahrten von der BRD nach schwiegenheit“ behandelte das Magazin „Der oder in andere nichtsozialistische Wirtschaftsgebiete. wurden in der DDR entweder komplett hergestellt oder West-Berlin – Die Straßenbenutzungsgebühr in der DDR Spiegel“ in seiner Ausgabe vom 20.11.1989 die Sie reisten im Auftrag eines Betriebes oder für einen weiter- bzw. endbearbeitet. Der wirtschaftliche Vorteil für Transitstrecken bezeichnete man die Verkehrsstraßen zwischen einträglichen Geschäfte des DDR-Staatssekretärs wissenschaftlichen Auftrag). die BRD war die Nutzung des Lohngefälles für arbeitsinten- der BRD und Westberlin. Die Nutzung dieser Transit-Auto- Schalck-Golodkowski über Tarnunternehmen sive Verarbeitungsprozesse, was heute kritisch als „Fertig- bahn innerhalb der DDR war kostenpflichtig für die BRD. und Briefkastenfirmen, die dubiose Beschaffung Wie kam die DDR zu Devisen-Einnahmen? stellung im Billiglohnland DDR“ bezeichnet wird. Die DDR verlangte eine Transitpauschale jährlich vom west- von Devisen in Milliardenhöhe. 1. Festlegung eines Mindestumtauschs bei Einreise Die DDR und westliche Konzerne haben also Geschäfts- deutschen Staat, es war also eine Straßenbenutzungsgebühr. in die DDR / nach Ost-Berlin beziehungen gepflegt, die für beide Seiten gewinnbringend Die Höhe der Pauschale wurde auf höchster Ebene zwischen Mindestumtausch, inoffiziell „Zwangsumtausch“ genannt, waren. In der Fachsprache spricht man von ‚Gestattungs- den beiden deutschen Staaten ausgehandelt. In den 80er war ein Pflichtumtausch, der 1964 für jede Einreise in die produktion’ oder auch ‚Lohnveredelung’. Bis zum Mauerfall Jahren belief sie sich auf jährlich zwischen 850 und 950 Mil- DDR oder nach Ost-Berlin eingeführt wurde. Pro Tag / Be- 1989 nutzen viele Westfirmen diese Produktionswege und lionen D-Mark. Die Transitpauschale war größter Einzelpos- sucher musste Westgeld gegen Ostgeld – also DM gegen die erzielten dadurch große Gewinne. Nur ein kleiner Teil der ten der Devisen-Einnahmen der DDR. Das Geld wurde zum Mark der DDR – im Verhältnis 1:1 getauscht werden. Anfangs fertig gestellten Erzeugnisse verblieben in der DDR und Teil zur Instandhaltung der Strecken verwandt. Dadurch waren es 3 DM pro Tag / Person. Die Höhe der Beträge und diente der Verbesserung der Versorgungslage der Bürger. waren einige Autobahnabschnitte in besserem Zustand als Bedingungen änderten sich im Laufe der Jahre mehrmals, das restliche Straßenverkehrs- bzw. Autobahnnetz. 1989 – vor dem Mauerfall – belief sich der Mindestumtausch auf 25 DM pro Tag / Besucher. Die Einnahmen durch den 7. Weitere Einnahmequellen waren Regierungsabkommen Mindestumtausch sollen sich, nach unseren Recherchen, auf und Geschäfte mit Westdeutschland. Abbildung: insgesamt 4,5 Milliarden DM belaufen haben. Anm.d.Red.: SPIEGEL 19/1991 Einen Mindestumtausch und diese Deviseneinnahmequelle forderten annähernd alle Länder des RGW.

48 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 49 EINHEITLICHE VERKAUFSPREISE (EVP genannt) gab es 3. Folgen: für alle Waren und Güter. Demzufolge gab es keine Preis- Wie gingen DDR-Bürger mit Mängel in der Versorgungslage konkurrenz, lediglich das Sortiment eines Ladens konnte um? Welche Konsequenzen hatte dies im Alltag? unterschiedlich sein. Im Vergleich der UVP (Unverbindlicher Verkaufspreis) in der BRD: Der Preis, der dem Handel vom WARTESCHLANGEN waren nicht ungewöhnlich, bereits um Hersteller / Großhändler im Verkauf als Weiterverkaufspreis 6.30 Uhr oder 7 Uhr morgens bildeten sich manchmal schon Obst- und Gemüsestand auf dem Wochen- an den Kunden empfohlen wird. Warteschlangen. „Schlangestehen“ bedeutete nicht selten markt in Pankow. Foto: Bundesarchiv SUBVENTIONIERUNG – Die hohen staatlichen Subventionen Hektik und schlechte Stimmung unter den Kunden. 183-R0705-0017, Bernd Settnik hielten die Lebensmittelpreise in der DDR künstlich niedrig. TAUSCHGESCHÄFTE waren an der Tagesordnung („Haste Auch in Gaststätten klafften Aufwand und Kundenpreis Schinkenspeck, ich denk’ dran, wenn Du mal einen schicken auseinander. Die technische Ausstattungen vieler Gaststät- Kinderanorak brauchst…!“) Nicht selten hat das Verkaufs- ten waren nicht auf dem neuesten Stand, für Küchen- und personal Waren für sich zurückgehalten / zurückgestellt und Shopping à la DDR Bedienungspersonal häufig eine schwere Arbeit. Der Staat unter sich aufgeteilt. jedoch subventionierte die Gaststättenpreise: eine Limonade BÜCKWARE bürgerte sich ein für Waren, welche das Ver- recherchiert von Gabi und Peggy 21 Pfennig, ein Glas Bier 40 Pfennig, eine Suppe mit Brot 80 kaufspersonal unter dem Ladentisch für Kunden „reservierte“. Pfennig, für ca. 20 Mark konnte eine vierköpfige Familie im Bevorzugte sowie unregelmäßig erhältliche Lebensmittel, Gasthaus essen gehen. Lebensmittel, Gaststätten, Kinderbe- z.B. Konservenobst wie Ananas oder Pfirsiche, kamen manch- kleidung, soziale Einrichtungen und Wohnungsmieten – alles mal nicht bis zum Kunden, weil diese bereits für Bekannte wurde in der DDR durch den Staat finanziell gefördert – also und Verwandte reserviert wurden, ähnlich war es bei Beklei- 1. Wo haben die Leute eingekauft? EXQUISIT-LÄDEN – waren Bekleidungsgeschäfte der DDR. subventioniert. dungsstücken. Es gab staatliche und genossenschaftliche Betriebe in der Verglichen mit den normalen HO- und Konsum-Läden mit ei- ENGPÄSSE / VERSORGUNGSPROBLEME – Bei Lebensmit- EINGABEN, LESERBRIEFE – Wenn Kunden Klagen vorbrin- DDR. Die staatlichen Einzelhandelsbetriebe hießen HO, die nem hochpreisigen Angebot von Bekleidung und Kosmetika. teln wie Südfrüchten, Bananen, Apfelsinen oder Ananas gab gen wollten, formulierten sie Mängel und Reklamationen Abkürzung für HANDESLORGANISATION. Sie bestand aus INTERSHOPS – boten die Möglichkeit, sowohl westliche Ar- es häufig Engpässe oder waren überhaupt nicht erhältlich. gegenüber der Staatsführung. Es nannte sich „eine Eingabe den Bereichen Industriewaren, Lebensmittel, Warenhäuser, tikel als auch in der DDR produzierte Westwaren zu kaufen, Die knappen Lieferungen führten dazu, dass Kunden Süd- machen“. Viele nutzten auch die Möglichkeit durch Leser- Gaststätten und Hotels. allerdings nur mit Deutscher Mark. Wer beispielsweise durch früchte „zugeteilt“ wurden (1kg pro Familie), kinderreiche briefe an Zeitungen in der Rubrik „Sektor Handel“, alle eine westliche Dienstreise oder Trinkgeld in der Hotelbranche Familien erhielten mehr. Briefe wurden beantwortet. Im Laden verlangte man einfach KONSUM – waren die Lebensmittelgeschäfte in der DDR, es an D-Mark gelangte oder wer durch Westverwandtschaft WARUM? Für den Import, beispielsweise der Südfrüchte, das „Kundenbuch“ und schrieb dort direkt hinein. war „die Marke“ der Konsumgenossenschaften. Sie betrie- D-Mark erhielt, hatte durch Einkäufe in den Intershops Vor- musste die DDR Devisen aufbringen. So wie jeder Staat war BROT BILLIGER ALS GETREIDE – Die staatliche Subventio- ben auch Gaststätten. „Konsum“ ist eine spezielle Form des teile. Dazu musste jedoch die D-Mark in sogenannte Forum- auch die DDR abhängig von Export und Import. Wegen des nierung von Brot und der niedrige Endverkaufspreis führten Einzelhandels, bei dem den Mitgliedern der Genossenschaft Schecks umgetauscht werden. Das Angebot war westlich Bedarfs an Devisen wurde in der DDR für das westliche Aus- häufig dazu, dass in der Stadt Brot im Mülleimer landete und der Konsum gehörte. Es waren bereits in der DDR private orientiert und breit gefächert: Besonders Strumpfhosen, land produziert. Dies führte auf dem Binnenmarkt – also für auf dem Land, dass Bauern Brot an Schweine verfütterten, Unternehmen, die ausschließlich ihren 4,5 Mio Mitgliedern Seife und Kaffee waren sehr beliebt. die eigene Bevölkerung – zu Lieferdefiziten, was als „Man- denn Brot war leichter und billiger für Bauern zu beziehen gehörten und sie waren auch keine DDR-Besonderheit. Kon- WARENHÄUSER – Die Centrum-Versandhäuser waren große gelwirtschaft“ bezeichnet wurde. Die Nachfrage war höher als unveredeltes Getreide. sum gab es übrigens auch in Westdeutschland, diese gingen Warenhäuser der staatlichen Kette HO. Die Kaufhäuser „Kon- als das Angebot. Es fehlte daher an nachgefragten Waren LEIPZIGER MESSE – Der Ausstellerausweis für Werktätige in den 70er Jahren in der COOP AG auf. sument“ waren Warenhäuser von der Konsum-Genossenschaft. und Gütern, obgleich genug Geld zum Kauf der Waren vor- ermöglichte den Zugang zu allen Einrichtungen und Ver- Die Idee der Genossenschaft entstand schon vor dem 2. Welt- VERSANDHANDEL GENEX – Geschenkedienst GmbH – Ver- handen war. Der hohen Kaufkraft stand kein Warenangebot kaufsstellen in den zahlreichen Leipziger Messehallen, und krieg überall in Europa als Folge der Industrialisierung. Die sandhandel über den Katalog „Geschenke in die DDR“. Die gegenüber. zwar mit der Mark der DDR. Intensive Einkäufe für die Fami- Mitgliedschaft erfolgte durch eine Geldeinlage, und über die in der DDR erzeugten Waren konnten nur in der Bundesre- STADT vs. LAND – Die Menschen auf dem Land waren vom lie, die Hausgemeinschaft konnten getätigt werden. Rabattmarken gab es Rückvergütungen für die Käufer. publik bzw. im Ausland für Devisen als Geschenke für DDR- Mangel an Waren / Gütern stärker betroffen. Allen größeren SCHWARZ-TAUSCH von DDR-MARK – Geld schwarz zu KAUFHALLEN – waren eingeschossige Selbstbedienungs- Bürger bestellt werden. Die Lieferzeiten waren relativ kurz. Städten, vor allem Berlin – wurde mehr zugeteilt / zugeleitet, tauschen war eine Möglichkeit leichter an Güter zu gelan- läden, dort wurden neben Lebensmitteln Waren des Alltags- Ein Auto wurde innerhalb von 6 Wochen an den DDR-Bürger größere Auswahl und größere Mengen an Lebensmitteln gen. Im Verhältnis von vier bis zehn Ostmark gab es eine bedarfs, Drogerieartikel und Reinigungsmittel anboten – ausgeliefert, während er bei Eigenbestellung meist 10 Jahre und auch an Alltagsprodukten, wie z.B. auch Kühlschränke Westmark. identisch mit dem heutigen Begriff „Supermarkt“. Kaufhal- warten musste. oder Waschmaschinen, die in ländlichen Gebieten nicht len gab es vorwiegend in Städten, sie wurden sowohl von immer angeboten wurden. LESETIPP: www.unileipzig.de/~hagen/Zeitzeugen/zz165.htm der HO, der staatlichen Handelsorganisation als Volkseigen- 2. Handel & Versorgungslage LANGE WARTEZEITEN – Für Industrierzeugnisse musste Eine Geschichte über zarte Salzheringe und fehlendes Speise- tum betrieben und auch von der Konsumgenossenschaft, als Es finden sich unterschiedliche bis widersprüchliche Berichte der Kunde sehr lange warten. Auf ein Auto wartete man salz in Greifswald, mit dem Titel „Über Raritäten in der genossenschaftliches Eigentum. „Kaufhalle“ hat aber nichts über die Versorgungslage in der DDR, über Menge und beispielsweise 10 Jahre. Versorgung der DDR“. mit dem früheren Niedrigpreiswarenhauskonzern der Han- Qualität von Lebensmitteln und Konsumgütern. Konsum- delskette Kaufhof aus der BRD zu tun, den es nicht mehr gibt. güter wurden übrigens in der DDR – „Waren des täglichen DORFKONSUM – sie boten ein ähnliches Warenangebot Bedarfs“ (Abkürzung: WtB) genannt. Fotos: Privatarchiv Siegfried Wittenburg, Fotograf, aus: Schaufensterbummel in der DDR, April 1989. wie in einer Kaufhalle, lediglich ein kleineres Sortiment an Durch seine Fotografien gelangte er auch ins Visier der DDR-Staatssicherheit. Produkten. Die GRUNDVERSORGUNG der DDR-Bevölkerung war ge- DELIKATLÄDEN – waren Lebensmittelgeschäfte für den „ge- währleistet. Die Preise für Lebensmittel waren stabil und hobenen Bedarf“ mit höheren Preisen. Im „Deli“ angebotene wurden als Errungenschaft des Staates erachtet, vor allem Spezialitäten, waren im allgemeinen Handel nicht oder sel- für die Grundnahrungsmittel, denn die SED-Führung hatte ten zu finden. Im Sortiment gab es Nahrungs- und Genuss- diese Preise „eingefroren“. Ein Mischbrot kostete ca. 78 bis mittel, überwiegend aus DDR-Produktion, auch Exportartikel 93 Pfennige, 100 gr. Wurst 68 Pfennige, 250 gr. Marmelade und selten zu erhaltene Lebensmittel, teilweise in Westauf- 54 Pfennige. Lebensmittel gab es also äußerst kostengünstig machung und auch West-Marken. Eine Dose Pfirsiche oder und vorwiegend gab es lokale Produkte sowie aus den sozi- Ananas konnte beispielsweise 7,50 Mark kosten, eine Tafel alistischen Nachbarländern, z.B. Krakauer Wurst aus Polen Westschokolade sieben Mark, ein Pfund Kaffee 40 Mark. oder Salami aus Ungarn. Französische Salami, italienischer Die ersten Deli-Läden wurden 1966 eröffnet, 1978 folgte Parmaschinken oder Camembert aus der Normandie waren eine Erweiterung von 109 auf 250 Geschäfte. eher nicht erhältlich.

50 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 51 4. Von Club-Cola bis Waschhalbautomat – gab es meistens nur einen Konsum. Obst und Gemüse musste frische Eier und eingewecktes Gemüse von uns mitgenom- was kostete wie viel? man nicht zwangsläufig anbauen, um welches zu haben. Wir men, obwohl sie in West-Berlin ja in den Supermärkten mehr Gastarbeiter haben immer alles frisch zu kaufen bekommen. Du musstest als genug Auswahl hatten. Aber Gemüse aus dem Garten • 5 Pfennige ein einfaches Brötchen eben nur bis zu einer gewissen Zeit einkaufen gewesen sein, bzw. Fleisch aus eigener Haltung schmeckt einfach anders als in der DDR • 66 Pfennige ein Beutel Vollmilch (1,0 l) sonst bekam man nichts mehr ab. gekaufte Ware. Die Grenzer haben bei der Rückkehr meiner • 3,75 Mark eine Flasche Schlagsahne (0,25 l) Klamotten bekam man das Übliche auch immer. Nur das Großeltern nach Berlin nicht schlecht geguckt, als sie bei der Bericht über die Vertrags- / Gast- • 42 Pfennige eine Flasche Club-/Quick-Cola (0,33 l) war eben nicht immer angesagt oder schick. Meine Ma hat Kontrolle auch mal so einen Vogel im Glas entdeckt hatten. • 70 Mark ein Kilo Kaffee (acht Packungen sich sehr oft anstellen müssen, um mal eine rosa Jacke für Punkt eins war es unüblich, dass ein „Wessi“ Sachen aus dem arbeiter in der damaligen DDR gemahlener Filterkaffee „Mocca Fix“ à 125 g) mich zu bekommen. Das war meistens reine Glücksache. Osten mit in den Westen nahm, weil man ja im Westen viel Ihre Lebenssituation vor und nach 1989 • 2,50 Mark eine Schachtel (20 Stück) Filter- Manchmal hat sie einfach irgendeine Größe genommen, die mehr hatte als im Osten. Und Punkt zwei hatten die noch nie zigaretten der Marke (Juwel bzw. Juwel72) noch da war und hat dann mit jemandem getauscht. Meine eingeweckte Hühner oder Enten gesehen. Auf die Frage, wie • 123 Mark ein Schultaschenrechner SR1 (1984, Ma hat meine ganze Babyausstattung an ihre Geschwister der Vogel ins Glas gekommen sei, antwortete mein Opa nur: „Sie wurden gesandt, um der sozialistischen DDR wirt- subventionierter Preis für Schüler, regulär 800 weiter gegeben. In meinem Babykörbchen haben zig meiner „reingeflogen“ (lach). schaftlich zu helfen, sie kamen mit der Hoffnung auf Mark) Cousinen und Cousins gelegen und so war das mit fast allem. ein besseres Leben und um ihre Familien in der Heimat • 400 Mark eine digitale Armbanduhr Anfang der Fahrräder, Möbel, Puppenwagen – so was konnte man nicht Kathrin aus Thüringen berichtet: finanziell zu unterstützen…“ Die Rede ist von sogenannten 1980er spontan kaufen. Mein Opa hatte mal Glück und zufällig viel „… die Allergien haben mit der Wende zugenommen! „Vertragsarbeitern“, den ausländischen Arbeitskräften, • über 1.000 Mark ein Sony-Walkman (um 1985) Geld dabei, als er ein Doppelstockbett für uns bekam. Meine Manche Konsumgüter waren knapp, da hat man schon die die DDR ab 1960 zeitlich befristet (2-5 Jahre) und ohne • 1.900 Mark ein Moped Simson S51 Elektronik Eltern haben beide nicht viel Geld verdient damals. Manch- manchmal drunter gelitten. Wir haben nicht gehungert, wir Integrationsabsicht als Arbeitskräfte angeworben hatte. • 2.700 Mark ein Motorrad MZ TS 150 deluxe mal waren sie sehr knapp bei Kasse und da half dann meine haben alles gehabt, es gab Wurst und Käse. Für günstiges Der Bedarf der Anwerbung entstand in der DDR um • 2.990 Mark ein Waschvollautomat (1988 von Oma aus. Zum Beispiel als wir nach gezogen sind, Geld konntest du alles kaufen. Wenn es Bananen gab, das 1949, weil es zu der Abwanderung von Arbeitskräften kam. Monsator) und die Möbel bezahlt werden mussten. Man bekam zu war schon was Besonderes. Bis zum Mauerbau 1961 entwickelte sich deswegen ein • 4.500 bis 6.000 Mark ein Farbfernseher (Chro- DDR-Zeiten meistens nur eine Wohnung, wenn man verhei- Du hattest nicht jeden Tag in Deinem Obstkörbchen Bana- Arbeitskräftemangel. Die DDR schloss daher Abkommen mat, 1982 bzw. Colortron, 1987) ratet war. Und viele haben geheiratet, weil man dann auch nen und wenn, dann hat Dir jemand was zur Seite gelegt. mit anderen sozialistischen Staaten des „Rates für gegen- • über 8.900 Mark ein Trabant 601 (Standardaus- einen Kredit bekam. Gemüsesorten, Rosenkohl, Blumenkohl – das gab es alles, seitige Wirtschaftshilfe“, genannt RGW. Die ersten Vertrags- führung), Nachfolger Trabant 1.1 mehr als nur nicht so ein Riesenangebot. Es gab auch hier und da arbeitnehmer kamen aus den sogenannten sozialistischen 20.000 M Nicole erzählt vom Leben auf dem Land Rinder oder Schweinefilets. Bruderstaaten, nämlich aus Polen (1965), Ungarn (1967), • ca. 23.000 Mark ein Wartburg 353, Nachfolger in Mecklenburg-Vorpommern: Es war bei uns alles nicht in der breiten Auswahl und in Mosambik (1979), Sozialistische Republik Vietnam (SRV) Wartburg 1.3 mehr als 30.000 M Görls: Wie waren die Angebote an Lebensmitteln? Auf dem diesen bunten Farben wie bei Euch in Westdeutschland. (1980), später auch aus Angola und Kuba. 1981 waren ca. • 10 - 15 Pfennige eine Tageszeitung Land gab es weniger Läden, hast Du etwas vermisst? Die Produkte waren relativ gesund, die Allergien haben 24.000 Vertragsarbeiter in der DDR tätig, 1989 circa 94.000, • 25 Mark die Monatsmiete für 40m²-Altbauwoh- Nicole: Wir waren größtenteils Selbstversorger und hatten mit der Wende zugenommen. wovon 60.000 Vietnamesen, 15.000 Mosambikaner und 8.300 nung mit Ofenheizung einen Garten, in dem wir Kartoffeln, Bohnen, Johannisbee- Wir essen jetzt viel mehr Chemie, ich würde noch mal so Kubaner waren. • 70 Mark die Monatsmiete für eine 60m²-Neu- ren, Erdbeeren, Möhren und vieles andere angebaut haben, einen Joghurt von damals essen wollen. Wir haben ein Brot Die Vertragsarbeiter der DDR erhielten in verschiedenen bauwohnung inkl. aller Nebenkosten wir haben nichts vermisst. in die Schule mitbekommen, dazu gab es Kakao in kleinen Fabriken eine Facharbeiterausbildung, um mit dem angelern- • 66 Mark ein Hin- und Rückflug Berlin-Prag mit Und wir hatten Viehzeug: Hühner, Enten, Kaninchen und Trinkflaschen, in kleinen Glasflaschen gab es Joghurt mit ten Wissen die deutsche Wirtschaft sowie später ihre Heimat- Interflug Schweine, wobei wir die Schweine nicht selbst geschlachtet, Erdbeeren oder Kakao, das wurde mit verschiedenen Ge- länder wirtschaftlich zu stärken. Häufig wurden die Vertrags- • ein Farbfernsehgerät mit einer 56er Bildröhre sondern nur aufgezogen und gemästet haben. Sie kamen schmacksrichtungen in der Schule angeboten. Viele Familien arbeiter jedoch für unbeliebte, schlecht bezahlte, teilweise kostete ca. 5.600 Mark, ein Waschhalbautomat dann in den Schlachthof und wir haben Geld dafür bekom- hatten eigenen Anbau, es gab viele Schrebergärten. Mein gefährliche und gesundheitsgefährdende Arbeiten eingesetzt, rund 1.600 und ein Kühlschrank ca. 1.200 Mark men. Außerdem waren wir in der glücklichen Lage, dass Vater war ja in einer Landwirtschaftlichen Produktions- die die Einheimischen nicht ausführen wollten. Damit wurde meine Großeltern aus West-Berlin regelmäßig zu Besuch genossenschaft (LPG) tätig. Wir mussten als Kinder immer auch der Mangel an Billigarbeitern in der DDR überdeckt. kamen, und die brachten natürlich auch Lebensmittel mit. Kartoffeln verkosten. Es wurde damals nicht gespritzt und So kannten mein Bruder und ich – was die absolute Ausnah- die Kartoffeln sahen daher nicht so schön perfekt aus, mein me war – Kellog’s Smacks, Nutella, richtige Orangen, Bana- Vater hat immer gesagt, die Kartoffeln würden heute nicht nen und Kiwis – nicht nur das ungenießbare Zeug aus Kuba, dem Idealbild entsprechen. Produkte für den Alltagsbedarf das wir von Zeit zu Zeit auf Zuteilung bekamen. Ich erinnere Born-Senf oder Bautzener Senf, Bambina Schokolade, Ra- Info 1989 betrug das durchschnittliche Bruttoeinkommen eines mich genau an meine erste Kiwi. Das Ding war grün und deberger Bier, Rotkäppchen Sekt und Weine, Halloren-Süß- In der BRD gab es eine ähnliche Entwicklung. Die ange- Arbeiters oder Angestellten 1300 Mark. Gemessen an den hatte Haare und ich wäre nie im Leben auf die Idee gekom- waren, Mühlhäuser Pflaumenmus – die Sachen gibt’s heute worbenen Arbeitskräfte, vorwiegend aus dem Mittel- 60er Jahren hatte sich jedoch vieles gewandelt. Für einen men, es zu essen. Als meine Mutter oder meine Oma die Kiwi alle noch oder inzwischen wieder. Und sie sind lecker, auf meerraum, wurden „Gastarbeiter“ genannt, weil ihr Schwarzweiß-Fernseher musste damals noch eine Wartezeit aufgeschnitten haben und die Frucht innen auch grün war jeden Fall besser als Löwen-Senf oder Zentis-Pflaumenmus. Aufenthalt nur vorübergehend sein sollte. Die ersten in Kauf genommen werden. Kühlschränke oder Waschma- und auch noch schwarze Punkte hatte, war es ganz aus. Es Anwerbeabkommen wurden mit Italien (1955), Spanien schinen galten in diesen Jahren für die meisten Haushalte heißt nicht umsonst: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er und Griechenland (1960) und der Türkei (1961), Marokko noch als unerschwinglicher Luxus. nicht“. Es hat meine Oma viel Überredungskunst gekostet, (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) sowie Jugoslawien mich davon zu überzeugen, dass man so was essen kann – (1968) geschlossen. Die Gastarbeiter sollten den Arbeits- 5. Meinungen und Berichte und siehe da, es schmeckte auch noch! kräftemangel bestimmter Industriezweige der bundes- Peggy aus Magdeburg erzählt: Görls: Du sagtest, dass Deine Mutter oder Oma auch Fleisch deutschen Nachkriegsökonomie ausgleichen. Die meist Görls: Wie waren die Angebote bei Euch in der Stadt im eingeweckt hat – wie war das? männlichen, jungen Angeworbenen lebten ohne Familien- Vergleich zu Dörflern? Nicole: Wir hatten ja keine Gefriertruhe, also mussten wir die angehörige in Sammelunterkünften. Obwohl schon 1960 Peggy: Tja, wer nun mehr hatte – Dörfler oder Städter – kann Lebensmittel anders haltbar machen. Das hat meine Mutter die zeitliche Befristung wegfiel, hielt sich und hält sich man gar nicht genau sagen. Jeder sah es aus seiner Situation gemacht. Gemüse hat man schon immer eingeweckt, aber teilweise bis heute der Begriff „Gastarbeiter“, statt Arbeits- heraus anders. Meine Ma sagte, dass man in der Stadt mehr das mit dem Fleisch war schon was Besonderes. Meine Mut- migranten. Basis waren die römischen Verträge, die am Anlaufpunkte hatte, wo man hingehen konnte. Wir hatten ter hat die Enten oder Hühner geschlachtet, ausgenommen, 1.1.1958 in Kraft traten und damit die Gründung der hier in unmittelbarer Nähe drei „Kaufhallen“ und wenn es gerupft und teilweise sogar schon gekocht oder gebraten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) besiegelten. irgendwas Besonderes gab, z.B. Südfrüchte, dann ist jeder in und dann in Weckgläser gesteckt. Durch das Vakuum war eine andere gegangen und hat sich angestellt. Auf dem Dorf das Fleisch dann haltbar. Meine Großeltern haben sich gern Foto: Siegfried Wittenburg

52 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 53 -

Ihr Höchstalter war auf 35 Jahre begrenzt, der Familiennach- dard zu ermöglichen, was in ihrem Herkunftsland nicht reali- September 1991, Sachsen Tagebuch Luise, zug war nicht vorgesehen, jedoch unterstützten sie ihre sierbar war. Um dauerhaft bleiben zu dürfen, mussten sie Es begann mit einer Auseinandersetzung Familien in der Heimat finanziell. sich um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühen. Nur wenige durch acht jugendliche Neonazis (Skinheads) Vietnam war 1977 nach dem 30 Jahre andauernden Viet- bekamen diese, wenn sie bestimmte Auflagen erfüllten, z.B. gegenüber vietnamesischen Händlern auf 1969, 30 Jahre alt namkrieg völlig zerstört. Darauf richtete die DDR zu Vietnam sich selbst finanzieren können und nicht vom Staat abhängig dem Marktplatz in Hoyerswerda, Sachsen. Es Foto: privat besondere zeitlich begrenzte Austauschprogramme für junge zu sein. folgten 2 Wochen Ausnahmezustand in der Vietnamesen ein, die in der DDR eine Arbeit annehmen Für die Bleibenden, war es nicht einfach, sich in der neuen Stadt Hoyerswerda. Hoyerswerda steht für Auf meiner täglichen Route zwischen der Arbeit, Jans Kinder- durften, eine kostenlose Ausbildung oder sogar Studium BRD zu integrieren, zusätzlich erlebten sie Ausländerfeind- rassistisch motivierte Übergriffe. Die Polizei garten, Konsum und unserem Zuhause komme ich immer an der absolvieren konnten. Es begann mit 6-monatigem Deutsch- lichkeiten. Eine unsichere Rechtslage in der Übergangszeit war den Ausschreitungen nicht gewachsen. Oberbaumbrücke vorbei. Eine Zeitlang hat man dort wenigs- unterricht. Nur wer gute Leistungen erbracht hatte, durfte entstand für die Vertragsarbeiter. Von Akzeptanz und Inte- Die Welle rechtsextremer Gewalttaten er- tens noch drüber gehen können, zumindest als Pendler zwischen in die DDR. Es gab eine begrenzte Auswahl, an vorwiegend gration keine Spur. Ihnen wurden Parolen und Schimpfwörter fasste auch andere Städte in den neuen und Ost und West, eine Bekannte von mir hatte drüben in Kreuzberg technischen Berufen. Für die Bewerber war es häufig die wie „Ausländer raus!“, „Du Fidschi!“ an den Kopf geworfen. alten Bundesländern. immer Westgeld geholt. Jetzt ging das natürlich nicht mehr, die einzige Chance für eine Berufsausbildung. Vietnam profitierte Viele der ehemaligen Vertragsarbeiter waren darüber er- Auch meine Eltern waren als Vertrags- Oberbaumbrücke ist dicht. als Entsendeland auch an den gesandten Arbeitern. Die staunt, wie extrem sich das Blatt von sozialistischer Solidari- arbeiter aus der damaligen sozialistischen Ich weiß noch gut, wie mich Jan nach der Mauer fragte. Er ist sozialistische Republik Vietnam musste ihre Schulden an die tät zu ausländerfeindlichen Übergriffen wenden konnte. Republik Vietnam angereist und lebten in jetzt 6 Jahre alt und kommt nächstes Jahr in die Schule, er ist ein DDR zurückzahlen, da Nordvietnam während des Krieges Überfälle auf vietnamesische Straßenhändler und Beschä- einer kleinen Stadt namens Arnstadt in kluges Kind, nachdenklich, alles in Frage stellend. Ich habe mir gegen die USA durch die DDR finanziell unterstützt wurde. digungen kleiner Textilläden wurden immer häufiger. Am der Nähe vom Industriestandort , wo Mühe gegeben, es ihm so zu erklären, dass er nicht durch den Bis zu 12 % des Bruttolohnes der Arbeitnehmer erhielt die Anfang war es die Ausgrenzung aus der Gesellschaft, dann sehr viele vietnamesische Arbeitnehmende Kindergarten rennt und rumschreit „Die Mutti hat gesagt, wir DDR als Tilgung der Schulden des vietnamesischen Staates. waren es Beleidigungen, die zu handgreiflichen Taten ge- untergebracht und stationiert waren. sind alle eingesperrt!“ Aber am Ende meiner Erklärung schien er Auszubildende wohnten kostenfrei in Wohnheimen mit genüber Ausländern übergingen. Die Ausschreitungen in Sie konnten zu der Gesellschaft Kontakt trotzdem zu dem Schluss gekommen zu sein, dass eine Mauer kostenfreier Versorgung. Während ihrer Ausbildungszeit Hoyerswerda im September 1991 stellten erstmals in ganz knüpfen und pflegten Freundschaften. Meine mitten durch Stadt und Land eine ungewöhnliche Sache ist. durften sie sogar für 4 Wochen in ihre Heimat reisen, um die Deutschland und sogar weltweit öffentlich dar, wie stark die Eltern meinen sogar, dass das Leben früher Abends hole ich Jan zuerst aus dem Kindergarten ab, dann Familie zu besuchen, die DDR kam dafür auf. Vertragsarbeit- rechtsradikale Szene war und wie brutal ihre Übergriffe auf in der DDR einfacher und auch schöner war gehen wir am Konsum vorbei und schauen, ob drinnen viel los ist. nehmer wohnten in Wohnheimen. Die Mehrzahl dieser Ausländer. als heute. Man kannte und hatte aber im Wenn sich eine lange Schlange bildet, stellen wir uns dann einfach waren Männer (70 %). Die Arbeits- und Lebensbedingungen Wohnheime und Asylbewerberheime wurden überfallen, Vergleich zum Westen nicht alles, aber was mit an, anfangs meist nicht wissend, um welche begehrte Ware waren gut, allerdings waren intensive Kontakte zur Bevöl- mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen. Einzelne ju- man kannte, konnte man haben und sich es überhaupt geht, aber meistens ist es richtig. Früher oder später kerung und die Integration in die DDR-Gesellschaft staatlich belten den Tätern zu und ermutigten sie für das, was sie auch leisten. Sie hatten ein sicheres Einkom- gibt es alles irgendwo zu kaufen – die Frage ist nur: Wie viel ist da wenig erwünscht. Die größte Gruppe der Vertragsarbeiter taten. Sie begründeten ihr Verhalten mit Argumenten wie men und Freunde, deutsche sowie nicht- und wie lange musst du dafür anstehen? bildeten die Vietnamesen, die vorwiegend in der Textilindus- „Sie nehmen uns Arbeit und Wohnungen weg!“ oder „Eigent- deutsche, um die man sich gekümmert hat. Unsere Wohnung ist nur ein paar Straßen von meinem Eltern- trie eingesetzt waren. Einige erkannten die Nachfrage der lich müssten sie schon längst abgehauen sein!“. Auch ich Es gibt immer zwei Seiten einer Geschichte, haus entfernt; es ist ein großes Mietshaus mit mehreren Familien. Bevölkerung an den begehrten Jeans und nähten diese nach selbst wurde früher im Osten mit Ausländerfeindlichkeiten meine Eltern hatten die positive Seite ken- Ich bin kaum angekommen, da klingelt auch schon irgendwer Feierabend zuhause, so entstand häufig der einzige Kontakt konfrontiert, zwar nie in dem Ausmaß. Ich, eine in Deutsch- nengelernt, aber die negative Seite nach bei uns, die junge Mutter von gegenüber oder das ältere Ehepaar zwischen den Vertragsarbeitern und den DDR-Bürgern, die land Geborene und hier Lebende, wurde mit „Fidschi“ be- der Wiedervereinigung war dafür umso aus dem Erdgeschoss. „Guten Abend, ich wollte dir nur den hier diese Dienstleistung gerne in Anspruch nahmen. schimpft. Es war nicht immer so – es gab auch Freundschaf- grausamer und gravierender. vorbeibringen“, hieß es gestern erst wieder und ich hielt plötzlich Ein Verstoß gegen die sog. „sozialistischen Gesetze“ oder ten zwischen Deutschen und Vietnamesen / Mosambikanern, einen wunderschönen handgestrickten Pulli in der Hand. „Danke eine unerwartete Schwangerschaft führten zur frühzeitigen etc., sogar Ehen wurden geschlossen. Trang Nguyen Thi Minh nochmal für die Erdbeeren.“ Abreise in das Entsendeland. Um dies zu verhindern, gebaren Mein Mann kommt ursprünglich vom Land, und wenn wir viele Frauen in der damaligen Zeit ihre Kinder illegal oder Trang Nguyen Thi Minh seine Eltern besuchen und Körbeweise Erdbeeren und Gemüse sahen sich gezwungen abzutreiben, um weiterhin in der mitnehmen, dann bringen wir unseren Nachbarn selbstverständlich DDR bleiben zu können. etwas davon vorbei. „Gerne. Danke. Willst du Samstagabend Es gab auch Ausländerfeindlichkeit, was jedoch dem pro- vielleicht bei uns vorbeikommen? Ulrich hat Geburtstag, ich habe pagierten Menschenbild im Arbeiter- und Bauernstaat wider- die Bowle schon angesetzt.“„Na bei dem Versprechen kann ich sprach. Dennoch waren freundschaftliche Beziehungen von ja schlecht nein sagen!“ Wir helfen uns im Haus, so gut wir können. staatlicher Seite nicht erwünscht. Isolation statt Integration Eine kleine Gemeinschaft, die sich gegen die großen und kleinen waren Gründe, weshalb es zu rechtsradikalen Angriffen auf Engpässe da draußen zu helfen weiß. Wenn wir uns nicht um- die Vertragsarbeiter kam, was nach der Wende, in den neuen Vietnamesische Gastarbeiter auf dem Flugplatz einander kümmern, wer sonst? Das Zentralkomitee jedenfalls Bundesländern zunahm. Schönefeld. Foto: Bundesarchiv 183-1990-0531-022, nicht, auch wenn es im Allgemeinen so tut als ob. Mit der Wiedervereinigung 1990 wurden die Arbeitsver- Ralph Hirschberger Ulrich kam mal wieder später nach Hause. Die Planerfüllung träge nicht mehr verlängert, wodurch die Vertragsarbeiter fordert ihre Opfer – unrealistische Zahlen können auch nur durch ihren Arbeitsplatz verloren. Nach und nach wurden viele unrealistische Arbeitszeiten erreicht werden. Dabei hat mein Betriebe geschlossen und die „solidarischen Helfer“, wie die Mann noch Glück; weil alle wissen, dass er Familie hat, muss er DDR-Regierung die Gastarbeiter verschönt nannte, wurden wenigstens nicht am Samstag arbeiten. vorerst entlassen und mussten aus den zu den Betrieben ge- Literatur: Fabian Dietrich: Magazin Fluter „ Fidschi ist ein schönes Land“ Im Briefkasten war wieder Post von Heike. Wir schreiben uns

hörenden Wohnheimen ausziehen. Die Regierung bemühte Quellen: nach wie vor regelmäßig, sie ist ja die einzige Verwandtschaft im sich, die Vertragsarbeiter in ihre Entsendeländer zurück zu http://www.wallstreet-online.de/diskussion/1079932-1-10/gastarbeiter-wie- Westen, und manchmal schickt sie noch Dinge mit, die es hier die-ddr-das-problem-loeste schicken, ihnen wurde ein Rückflug angeboten. http://www.nzz.ch/nachrichten/international/articlea25cd_1.351246.html nicht so gibt. Das ist ja auch alles sehr lieb von ihr, aber mich ärgert http://www.tagesspiegel.de/berlin/hoyerswerda-erinnert-sich/753338.html Viele nahmen das Angebot an, andere wiederum nicht. http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump. immer öfter der mitleidige Ton, in dem ihre Briefe gehalten sind. Wenn sie dazu bereit waren, erhielten sie vom Staat neben fcgi/2008/1122/feuilleton/0009/index.html Alles tut ihr leid, die Mauer tut ihr leid; dass ich arbeiten gehen http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/projektfoerderung/gefoerderte- dem Freiflug 3.000 Mark. Ungefähr 45.000 bis 50.000 Viet- projekte/arbeit-mit-betroffenen-rechter-gewalt/neues-leben-in-der-ddr/ muss, tut ihr leid; dass mein Junge nicht jeden Tag Bananen essen http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2009-10/vietnamese- namesen nutzen diese Möglichkeit. Viele Vertragsarbeiter vertragsarbeiter-dd kann, tut ihr leid. Ich warte noch darauf, dass sie in irgendeinem blieben dennoch weiterhin in Deutschland, wegen der vor- http://www.politische-bildung-brandenburg.de/programm/ausstellungen/ Brief eine waghalsige Flucht in die BRD vorschlägt, so wie man es vietnamesen/index1.html handenen Chancen, sich ein Leben mit höherem Lebensstan- http://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_von_Hoyerswerda immer in den Nachrichten hört (meist nur in denen der ARD), mit

54 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 55 einem Flugzeug, durch Tunnel, über andere sozialistische Staaten. lution, nach der im letzten Jahr so laut gebrüllt worden war? Im Ganz abgesehen davon, dass ich das gar nicht will – die Gefahr Alltag der BRD war sie offensichtlich nicht angekommen. wäre viel zu groß. Heike hat nie begriffen, dass Arbeit keine Pflicht ist, sondern Heike ist schon seit 1960 verheiratet. Statt ihre Ausbildung ein Bedürfnis. Ich arbeite, also bin ich ein Mitglied dieser Gesell- zur Krankenschwester zu nutzen und etwas Gutes zu tun, besteht schaft, ich trage zu ihrem Bestehen bei. Ich hätte keinesfalls ihre größte Leistung darin, den Chefarzt auf sich aufmerksam heiraten müssen, und ich habe es nur getan, weil ich Ulrich gemacht und ihn geheiratet zu haben. Das war ein Jubel in Mainz, wirklich liebe. Auch Jan hat mich nicht daran gehindert, weiter so ein guter Fang, ein echter Arzt, so wohlhabend, so gebildet, zu arbeiten, denn dank Kinderkrippe und Kindergarten weiß ich, er fährt ein Cabrio… Ich habe mich zurückgehalten mit meiner dass er gut betreut ist. Ja, ich weiß, Heike tut auch das „kollektive Kritik, habe mich für sie gefreut, habe ihren Lebensentwurf zu Topfsitzen“ meines Sohnes leid. Aber was ist falsch daran, wenn bejahen versucht. Aber es war und ist mir unverständlich, wie er den Tag mit anderen Kindern verbringt, anstatt seiner Mutter sie ihren Beruf einfach so an den Nagel hängen konnte, nur weil beim Putzen zuzusehen? sie jemanden gefunden hatte, der nun für sie sorgte. Ich meine: Es wäre eine Lüge, zu behaupten, hier in unserem schönen Haben wir Frauen denn im Krieg nicht gezeigt, dass wir mehr neuen Land sei alles perfekt. Aber wenn es eines gibt, von dem Aufgaben übernehmen können als Kinderkriegen und Abwaschen? ich überzeugt bin, dann davon, dass ich hier als Frau mehr Gleich- Während die Männer sich sinnlos die Köpfe einschlugen und berechtigung erfahre als im Westen. Das ist natürlich keine Deutschland in zwei Teile zerrissen, hatten Frauen wie meine Sache, die sich in zwei Generationen durchsetzen lässt, natürlich Mutter und ihre Schwester Traudel nun die Möglichkeit zu zeigen, nicht; nur, weil etwas im Gesetzbuch steht, steht’s noch lange dass sie vollwertige Mitglieder der Gesellschaft sind und nicht das nicht in den Köpfen. Aber es ist der richtige Weg raus aus einer Heimchen am Herd. steinzeitlichen Gesinnung. Ich mache mir nicht die Mühe, so et- Aber in der BRD wollte man das schnell wieder vergessen und was Heike zu schreiben. Es wäre eine sinnlose Diskussion. Wie Zeitungen und Zeitschriften der DDR, DDR-Museum Zeitreise, Radebeul Frauen wie Heike an Vorkriegstugenden erinnern. Jetzt ist es ihr willst du denn anfangen, anders zu denken, wenn du den ganzen Foto: Stefan Kühn, fotografiert mit Genehmigung der Museumsleitung, CC BY-SA 3.0 einziger Lebenssinn, Wäsche weiß zu zaubern und ihrem Herrn Tag nur Waschmaschinenwerbung hörst? Und wie sollte ich Gemahl ein Abendessen zu kredenzen. Die paar Träume, die sie anfangen, mich besser in Heike hineinversetzen zu können, noch hat, werden mit Musikfilmen mit Peter Alexander abgespeist. wenn Waschmaschinen hier teurer Luxus sind, den sich nur das Zu den wichtigsten Wochenzeitungen gehörten der „Sonn- Wo war sie denn, die Frauenbewegung und die Sexuelle Revo- Zentralkomitee leisten kann? tag“ und die „Wochenpost“. Letztere mit 2,2 Mio. Exem- plaren größtes Blatt, ein Mix aus Unterhaltung, Information und Genres, die in anderen Medien vernachlässigt wurden, Info „Neues Deutschland“ z.B. Gerichtsberichtserstattung. Im Dezember 1989 wurde ND zur »Sozialisti- Das Satiremagazin „Eulenspiegel“ erschien einmal monat- schen Tageszeitung«, sie blieb über eine GmbH lich und war immer in Gefahr, von der Medienaufsicht des zunächst im Eigentum der Linkspartei, wurde Staates aus dem Verkehr gezogen zu werden, weil Probleme aber Anfang 2007 aus dem parteilichen Besitz der Politik aufgegriffen und kritisch hinterfragt wurden. Mehr- entlassen. Mit ca. 45.000 verkauften Exemplaren mals wurden Ausgaben eingestampft. Seinen humoristisch- und rund 150.000 Leserinnen und Lesern ist ND Die Medien in der DDR satirischen Stil prägte den „Eulenspiegel“ über Jahrzehnte, in den östlichen Bundesländern die am meisten mitunter wurde er auch der „Woody Allen des DDR-Humors“ verbreitete und gelesene überregionale Tages- genannt und galt als Ventil für Unmut. zeitung. Medien wie Fernsehen, Radio, Zeitungen und Magazine Die große Frauenzeitschrift „Für Dich“ unterstützte die spielten in der DDR eine entscheidende Rolle, denn durch Emanzipation der Frau – in der DDR großgeschrieben. Das sie wurden die Ansichten der regierenden Partei SED dar- Magazin gab Frauen Ratschläge bei verschiedensten Proble- Info Medienfreiheit gestellt. „Unsere Presse – Die schärfste Waffe der Partei“, men, z.B. wie die Berufstätigkeit mit der wichtigen Aufgabe Nach § 27 der DDR-Verfassung von 1974 so lautete 1950 das Motto der ersten Konferenz des SED- der Kindererziehung verbunden werden konnte. Liebe, Sexualität, Verhütung usw. – Themen, die für Heran- herrschte Medienfreiheit. Allerdings konnten Parteivorstandes. Rechtlich gesehen herrschte in der DDR „Bummi“, „Frösi“, „Trommel“ und „Atze“ waren beliebte wachsende von Bedeutung sind. Die Zeitschrift ist mit der nach der Verfassung, Zuwiderhandlungen als zwar Pressefreiheit, allerdings war diese durch die Verfas- Kinder- und Jugendzeitschriften. „Bummi“ richtete sich an „BRAVO“ in manchem vergleichbar, die allerdings erst 3 Jahre sogenannte staatsfeindliche Hetze geahndet sung stark eingegrenzt, denn es durfte nichts veröffentlicht Vorschulkinder, „Frösi“ war das Pioniermagazin mit Beilagen später, 1956 in Westdeutschland gegründet wurde. Themen werden und auch Freiheitsstrafen nach sich werden, was sich gegen den Staat richtete. zum Basteln und Experimentieren. „Trommel“ für Thälmann- der „NL“ waren also neben Mode, Musik – regelmäßig gab ziehen (§ 106 Strafgesetzbuch). Sämtliche Aus diesem Grund existierten kaum Werke (Schriften), die pioniere. „Atze“ war ein beliebtes monatliches Comic-Magazin es Umfragen nach den beliebtesten Filmen oder Musikinter- Verlage mussten sich dafür in der Hand des sich kritisch mit der Politik des Staates auseinandersetzten. für Jugendliche. preten – auch Berufswahl, Familie und Sexualität. Gemein- Staates befinden. Andere Publikationen Die Medien wurden im Sinne der DDR-Staatslehre genutzt, Die wohl populärste Jugendzeitschrift war „Neues Leben“ samkeiten: Bekannt war bei „Neues Leben“ die Kolumne mussten faktisch ihr Erscheinen einstellen. somit als beeinflussendes Element der Massen durch die SED. (NL) aus dem Verlag Junge Welt, Herausgeber war der Zen- „Professor Borrmann antwortet“ zu Fragen der Sexualität. Sie waren politisch geleitet und unterstanden der Anweisung tralrat der FDJ, ursprünglich 1945 von FDJ-Mitgliedern als Sicher kommt euch das irgendwie bekannt vor, denn auch und Kontrolle durch Staats- und Parteiapparat. Schulungsblatt gegründet, aber nach einigen Jahren eingestellt, hier gibt es Parallelen zur BRAVO, die ebenfalls die bekannte In der DDR wurden, trotz der strengen Gesetze, eine Viel- 1953 wurde „Neues Leben“ neu aufgemacht und erschien Rubrik „Fragen an Dr. Sommer“ beinhaltet. zahl von verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften heraus- monatlich. Nach der Wende 1990 übernahm der Verlag Pabel- „Neues Leben“ verfolgte gleichzeitig die politische Bildung gegeben. Es gab mehr als 30 Illustrierte, Wochen- und Monats- Moewig den Verlag Junge Welt und auch die Rechte an der der Jugend im Sinne des DDR-Systems. Trotz hoher Auflage zeitungen, die verschiedenste Interessenfelder abdeckten. Zeitschrift. Anfang 1992 wurde die beliebte Zeitschrift ganz von 540.000 Exemplaren war „Neues Leben“ an den Kiosken Eine der bekanntesten Zeitungen war die zentrale Tageszei- eingestellt. schnell vergriffen, Abonnements waren sehr schwer zu erhalten tung „Neues Deutschland“, das Organ des Zentralkomitees, Auch wenn Jugendliche in der DDR stark sozialistisch und wurden sogar ’vererbt’. Diese Zeitschrift und auch alle in der die offiziellen Ansichten der SED veröffentlicht wurden. erzogen wurden und meist schon zwischen 20 und 21 Jahren andere DDR-Presseerzeugnisse waren in der BRD nicht zu Die SED besaß das größte Verlagshaus der DDR, den „Dietz heirateten, beschäftigten sie sich dennoch mit den gleichen beziehen, umgekehrt blieb der Zugang zu westdeutschen Verlag Berlin“. Themen wie westdeutsche Jugendliche. Dazu zählten erste Zeitschriften der DDR offiziell verwehrt.

56 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 57 Journalisten-

Info Grundlagenvertrag austausch – Das Sandmännchen wurde am 22. Novem- 1972 wurde der Grundlagenvertrag zwischen der ber 1959 zum ersten Mal zum Müde- BRD und der DDR vereinbart. Darin wurden die Anregungen zur machen auf die Reise geschickt. Schöpfer deutsch-deutschen Beziehungen geregelt. Unter der beliebten Fernsehfigur ist der Regisseur anderem wurden die „Ständigen Vertretungen“ weiteren Recherche des damaligen DDR-Fernsehens Gerhard (ähnlich einer Botschaft) gegründet, der Grenzverkehr Behrendt. Foto: Bundesarchiv 83-1984- erleichtert und wesentliche Punkte der Zusammen- 1126-312, CC BY-SA 3.0 arbeit zum Vorteil beider Seiten erfasst. Westdeutsche Korrespondenten in der DDR? –

Mehr dazu: http://www.bstu.bund.de/DE/Presse/Themen/ Da stellt sich die Frage: Gab es das auch umgekehrt? Hintergrund/20121219_grundlagenvertrag.html Ja, es gab Korrespondenten westdeutscher Medien, die aus der DDR berichteten, und auch Korrespondenten von DDR- Medien, die aus Bonn berichteten. Dies ermöglichte der„Grundlagenvertrag“. Die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin hatten diesen Vertrag 1972 geschlos- sen, der 1973 in Kraft trat (siehe Infokasten). Es ist ein deutsch- deutscher Vertrag über die Beziehungen zwischen der BRD und DDR, in dem unter anderem auch der Journalistenaus- Abgesehen von der „NL“ hatten Zeitschriften für jüngere Sendung war das Sandmann-Lied. Das Sandmännchen kam filme wurden hier produziert – vom Kassenschlager und tausch vereinbart wurde. Leser eine gewisse erzieherische Aufgabe. Da Bücher und im Hubschrauber, in der Kutsche, in einer Lokomotive oder Straßenfeger bis zum politisch instrumentalisierten Propa- Diese bedeutsame Entwicklung für die deutsch-deutsche Zeitungen sehr billig zu kaufen waren, war Lesen eine weit in einer Rakete. Wie beliebt die Sendung war, zeigte sich, als gandastreifen. 1992 wurde die DEFA von der Treuhand Geschichte war allgemein kaum bekannt und nicht öffentlich verbreitete Freizeitbeschäftigung. Gerne wird die DDR als aufgebrachte Eltern sich nach der Wende für die Übernahme verkauft, existierte aber bis zur Wende, genau bis 1994. geworden. Ungefähr 20 BRD-Journalisten von Presse, Rund- „Lese-Land“ bezeichnet. des Sandmännchens in die ARD einsetzten Ihr wohl größter Erfolg wird der Film `DIE LEGENDE VON funk und Fernsehen berichteten aus der DDR für die Bundes- Neben der großen Auswahl an Literatur stand den DDR- Allseits bekannt war die Sendung „Der schwarze Kanal“, PAUL UND PAULA´ (1973), einer der erfolgreichsten DEFA- republik: Ihre Reportagen und Analysen flossen per Radio Bürgern auch das Fernsehen zur Verfügung. Als zu Beginn in der West-Nachrichten negativ dargestellt und kommentiert Filme überhaupt. `Solo Sunny’ (1980) und der Indianerfilm und Fernsehen auch in die DDR zurück. der 60er Jahre erst wenige Familien einen Fernsehapparat wurden. Montagabends wurden Ausschnitte gezeigt und „Die Söhne der großen Bärin“, aber auch viele propagandis- Diese Korrespondenten aus der DDR und aus der BRD hatten, diente das Fernsehen schnell als Treffpunkt in den interpretiert, damit Lehrer, Offiziere und andere Personen, tische Streifen waren Kassenschlager, denn Schulklassen waren nicht nur Beobachter, sondern durch ihre Arbeit auch öffentlichen Räumen und zuhause für die ganze Familie und die kein Westfernsehen sahen, Westnachrichten mit propa- und Arbeitnehmer füllten, gewissermaßen während der Akteure deutsch-deutscher Politik. Sie hatten schwierige die Nachbarschaft. Das war nicht viel anders in der BRD. gandistischen Inhalten vermittelt wurden. Arbeitszeit, die Kinosäle. Neben den DEFA Filmen wurden Arbeitsbedingungen – vom Gastland beschattet und von den 1952 war der Start für die Ausstrahlung von Fernsehprogram- Die DDR-Nachrichten der „Aktuellen Kamera“ – die Haupt- auch sowjetische Produktionen vorgeführt. Auch einzelne eigenen Leuten beobachtet. Die DDR-Journalisten hatten men, sowohl für die DDR als auch die BRD. In der DDR nachrichten von DDR 1, täglich um 19.30 Uhr – waren bei Filme aus den USA, Europa und Westdeutschland standen ihre Büros im Pressehaus II im Tulpenfeld, dem Bonner startete 1956 DDR 1, das 1. Fernseh-Programm, 1969 kam den Zuschauern eher unbeliebt, da meistens nur über die auf dem Spielplan: z.B. der Liebes- und Tanzfilm „Dirty Regierungsviertel, wie auch alle anderen Parlamentskorres- das 2. Programm hinzu (DDR 2). Radio DDR I und Radio Parteitage der SED und Ähnliches berichtet wurde. Daher Dancing“ war 1989 ein voller Erfolg in der DDR. pondenten aus dem In- und Ausland. Sie standen in Bonn DDR II sowie weitere Stationen boten Nachrichten- und wurde immer öfter das West-Fernsehen eingeschaltet, was Westdeutsche Filme kamen aber erst Jahre später und unter doppelter Kontrolle der Geheimdienste. Es gab Fälle Unterhaltungsprogramme, Jugendradio DT 64 war ein aber offiziell verboten war. Es gab sogar Aktionen der FDJ, stark gekürzt in die ostdeutschen Kinos, was für schlechte von versuchter Anwerbung von DDR-Korrespondenten beliebter Hörfunksender. bei denen die Antennen und damit deren Besitzer wieder Stimmung bei Kinogängern und Kinobetreibern sorgte. durch den bundesdeutschen Verfassungsschutz. Ein DDR- Es gab viele beliebte Fernseh-Sendungen wie die Unter- auf das Ostfernsehen ausgerichtet wurden. Es kam auch Korrespondent lehnte trotz des guten Honorars das Angebot haltungsshow „Ein Kessel Buntes“. Eine Samstagabend- vor, dass Lehrer in Grundschulen Kinder aushorchten, ob sie Alexander Merz ab, weil er sein Land nicht verraten wollte. Von den meisten Fernsehsendung, bei der internationale Stars verpflichtet West- oder Ostfernsehen schauten. Wenn sie erfuhren, dass der westlichen Kollegen in Bonn wurden die DDR-Kollegen wurden. Die Sendung wurde 6 x jährlich in großen Hallen, die Familien der Kinder Westfernsehen empfingen, wurden anfangs mit Skepsis und Misstrauen beäugt. Erst langsam wie dem Palast der Republik in Berlin oder dem Kulturpalast die Eltern zu einem klärenden Gespräch in die Schule bestellt. und zögernd entwickelten sich sogar einige kollegiale in Dresden, produziert. Kultcharakter hatte die TV-Sendung Eine ebenfalls beliebte Aktivität war, ins Kino zu gehen. Freundschaften. DDR Korrespondenten hatten Zugang zu „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“, die jedes Jahr am 1. Dies lag nicht zuletzt auch an den günstigen Eintrittspreisen den Regierungspressekonferenzen in der Bundespresse- Weihnachtsfeiertag von Margot Ebert und Heinz Quermann von meist unter einer Mark. Aber die billigen Eintrittspreise konferenz. Auch am Bundespresseball, dem wichtigsten Literatur: moderiert wurde. 1985 sendete „Klik“ einmal im Monat für hatten nicht nur Vorteile, denn die Kinos mussten davon ihre Die DDR Realitäten – Argumente | Politik und Sprechentwicklung in der DDR gesellschaftlichen Ereignis des Jahres mit enger Nähe zur Herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn / Bad Godesberg, 1990 45 Minuten direkt aus einem Jugendklub, 1989 ging das kompletten Ausgaben decken, was zu einigen Problemen Die DDR Realitäten – Argumente | Zur Kulturpolitik in der DDR geballten politischen Prominenz, nahmen sie teil. Jugend-Magazin „Elf 99“ im DDR-Fernsehen auf Sendung. führte: Veraltete Technik, zu wenige Sitzplätze und eine zu Herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn / Bad Godesberg, 1990 Irgendwie kann ich mir das fast nicht vorstellen, wie das ALLTAG IN DER DDR „Endlich Feierabend!“ Heft 2 ( Material der „Görls- Redaktion“) Die wohl bekannteste Figur des Ost- Fernsehens ist das „Sand- geringe Anzahl an Filmrollen. funktioniert haben soll. Gerade, weil doch von der DDR Quellen: männchen“. Es eroberte schnell die Herzen der kleinen und Die meisten Filme in der DDR wurden von der DEFA (Deut- http://brd-ddr.suite101.de/article.cfm/die_rolle_der_medien_in_der_ddr niemand bzw. nur in bestimmten Ausnahmefällen in die großen Zuschauer und wurde zum Ritual vor dem Zubett- sche Film Aktiengesellschaft) produziert. Die DEFA wurde http://www.mdr.de/damals/archiv/6130116.html BRD reisen durfte. (mehr dazu ab Seite 76). Und jetzt gab es http://www.bpb.de/publikationen/7DYU9R,0,Spur_der_Filme.html (DEFA) Bundeszentr.buch gehen, als Gute-Nacht-Gruß für Kinder. Am 22.11.1959 zum 1946 in Potsdam-Babelsberg auf Initiative der sowjetischen http://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Kessel_Buntes sogar Pressevertreter auf beiden Seiten??? Peter Pragal hat http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Presse ersten Mal ausgestrahlt ist es eine der wenigen Sendungen Besatzungsmacht gegründet und 1952 aufgelöst in mehrere http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Fernsehen dazu ein Buch geschrieben. Lest weiter ... >> des Deutschen Fernsehfunks der DDR, die auch nach der Volkseigene Betriebe (VEB), Name und Logo blieben als Mar- http://www.mdr.de/damals/artikel75294.html A Julia Kern http://www.defa.de/defa-stiftung-home Wiedervereinigung fortgesetzt wurde. Fester Bestandteil der kenzeichen erhalten. Über 700 Kino- und rund 540 Fernseh- http://www.mdr.de/damals/artikel75422.html http://www.euractiv.de/wahlen-und-macht/artikel/korrespondenten-der-ddr-in-bonn-002214

58 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 59 Todesopfer an der ++++++++++++ ++++ Innerdeutschen Grenze Berlin, Brandenburger Tor, 1961. Foto: Bundesarchiv 145-P061246 Foto: Polizeihistorische Sammlung / Der Polizeipräsident in Berlin

Buchtipp: Als am 13.8.1961 damit begonnen wurde um den Westteil Durch diese Gesetze gab es insgesamt 943 Tote an der inner- K. weiter rennt. Kurz darauf geben die Grenzposten weitere Peter Pragal „Der geduldete Klassenfeind. Berlins eine Mauer zu bauen, begann ein neuer Zeitabschnitt deutschen Grenze. Unter den 943 Opfern befanden sich mehr Schüsse ab, und feuern insgesamt 35 Schusse in Richtung Als West-Korrespondent in der DDR“ der deutschen Geschichte. Die Berliner Mauer und die als 40 Kinder. Die meisten Todesopfer gab es an der Land- Peter Fechter. Er weicht getroffen zurück. Doch anstatt den Osburg Verlag, 2008. gesamte innerdeutsche Grenze zwischen DDR und BRD grenze zwischen DDR und BRD sowie an der Berliner Mauer. Jugendlichen, der schon verwundet war, festzunehmen, feu- und die daraus resultierenden Staaten bestimmten für fast Die unmenschlichen Handlungsbestimmungen für Grenz- ern sie weiter, bis er schwer verletzt zusammenbricht. Ohne In seinem Buch „Der geduldete Klassen- 30 Jahre das gesamte Geschehen in Deutschland und der soldaten führten unter anderem zu dem Tod Peter Fechters, Hilfe liegt er 50 Minuten lang verblutend am Boden, während feind. Als West-Korrespondent in der DDR“ ganzen Welt. der weltweit für Aufsehen sorgte. Peter Fechter, geboren am Westberliner Polizisten und Anwohner das Geschehen mitver- beschreibt Peter Pragal sein Leben und Um Fluchtversuche in den Westen zu stoppen, wurde die 14.1.1944, starb am 17.8.1962 in der Zimmerstraße nahe dem folgen. Jedoch traut sich niemand über die Mauer, da die seine Arbeit in der ehemaligen DDR. Dazu Grenze von Grenzsoldaten bewacht. Grenzsoldaten waren Grenzübergang „Checkpoint Charlie“ in Berlin. Er war ein Lage zu angespannt war. Auch das Verbandspäckchen, das gehört auch die ständige Überwachung vor allem die Wehrpflichtigen der DDR, aber nur die Wehr- eher stiller, unauffälliger Jugendlicher, der als drittes von vier sie ihm zuwarfen, half ihm nicht mehr. Er wurde schließlich durch den Staatssicherheitsdienst. Zu pflichtigen, die keine Beziehungen in den Westen hatten, Kindern in bescheidenen Verhältnissen der Nachkriegszeit sterbend fortgetragen. dieser Zeit wurde er der Spionage für die wurden für den Grenzdienst eingeteilt. Hinzu kam eine ge- aufwuchs. Sein Vater arbeitete als Maschinenbauer, seine Durch den Tod ihres Sohnes schwer getroffen, musste die Bundesrepublik verdächtigt. heime, schriftliche Beurteilung, ob der Soldat vertrauens- Mutter war Verkäuferin. Nach dem Abschluss der Schule be- restliche Familie auch noch unter den Folgen des Fluchtver- Als Peter Pragal den Auftrag vom würdig erschien, an der Grenze seinen Dienst zu tun. Die ginnt Peter Fechter eine Maurerausbildung und arbeitet beim suchs und den daraus resultierenden Repressalien der Behör- Magazin ‚stern’ und der Süddeutschen Aufgabe der Grenzsoldaten war es, die Grenzübergänge zu Wiederaufbau Berlins mit. Während der Lehre lernt er Helmut den leiden. Nach der Wiedervereinigung erstatteten die bei- Zeitung bekommt, als Korrespondent über sichern, sowie die Aus- und Einreisenden zu kontrollieren. K. kennen, mit dem er sich Gedanken über eine Flucht in den Schwestern Peter Fechters Strafanzeige. Zwei Schützen Leben und Politik in der DDR zu berichten, Außerdem sollten sie die Flucht nach Westdeutschland den Westteil der Stadt macht. Während der Arbeit erkunden werden schuldig gesprochen und zu 20 bzw. 21 Monaten zögert er nicht lange. Gemeinsam mit verhindern. beide die Maueranlage, um einen günstigen Fluchtpunkt Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Der Mord an Peter seiner Frau Karin Pragal und den Kindern Der Gebrauch von Schusswaffen im Zusammenhang mit zu entdecken. Nachforschungen ergaben, dass die Beweg- Fechter ist stellvertretend zu nennen für viele Opfer der DDR zieht er nach Berlin-Ost. Anders als andere dem Dienst der Grenzsoldaten wurde zum ersten Mal von gründe zur Flucht bei beiden Jugendlichen wohl die gleichen Grenzpolitik. Korrespondenten will er nicht nur in der Marschall Sokolowski erwähnt. In seinen 1946 erlassenen waren: Fehlende Identifikation mit den herrschenden poli- Nadja Springer DDR arbeiten, sondern wird – als erster Richtlinien für die DDR war aufgeführt, wann Gebrauch tischen Verhältnissen, sowie der Traum von einem besseren westdeutscher Korrespondent – DDR-Bürger von der Schusswaffe gemacht werden durfte. 1952 ver- Leben im Westen. Auf einem ihrer Streifzüge entdeckten auf Zeit. Er will lernen, was es heißt, im schärfte das MfS (Ministerium für Staatssicherheit) diese sie ein zerstörtes Gebäude dessen rückwärtige Fenster bis

Sozialismus zu leben. „Was immer künftig Gesetzgebungen. In den neu erlassenen Gesetzen hieß es: fast an die Mauer reichten. Einige Tage später gingen sie Literatur: passiert“, sagt Karin Pragal, „denk dran, „Das Überschreiten des 10 m Kontrollstreifens ist für alle während der Mittagspause wieder in das Gebäude und ent- (1) Hildebrandt, Dr. Rainer (Verlag Haus am Checkpoint Charlie Berlin): „Es geschah an der Mauer“ (2) Hornberger, Susanne (Weltbild Verlag): „Tage, die die Welt veränderten: 13.8.1961, Der Bau der die `Firma Horch und Guck´ (wie umgangs- Personen verboten. Personen, die versuchen, die Grenze in deckten ein Fenster, das noch nicht zugemauert war. Als Berliner Mauer“ (3) Schultke, Dietmar (Aufbau Verlag): „ Keiner kommt durch – Die Geschichte der Innerdeutschen sprachlich das Ministerium für Staatssicher- Richtung der Deutschen Demokratischen Republik oder sie Stimmen hören, springen sie vor Angst aus dem Fenster Grenze und der Berliner Mauer“ (2008) heit (MfS) genannt wurde) wird uns über- Westdeutschland zu überschreiten, werden von den Grenz- und beginnen auf die Mauer zuzurennen. Nachdem erste Quelle: wachen.“ kontrollstreifen festgenommen. Bei Nichtbefolgung der Schüsse fallen, bleibt Peter Fechter stehen, während Helmut http://www.chronik-der-mauer.de/index.php/de/Start/Detail/id/593928/page/5 Anfangs ist der Alltag ungewohnt. Anordnungen der Grenzstreifen wird von der Waffe Anders als in Westdeutschland beginnt der Gebrauch gemacht.“ Arbeitstag wesentlich früher. Auch dass in In einer Schusswaffengebrauchsvorschrift von 1953 Todesopfer an der Berliner Mauer +++++++++ der DDR nicht immer alle Lebensmittel ver- wurde festgelegt, dass von der Waffe dann Gebrauch zu fügbar sind, merken die Pragals bald. DDR- machen ist, „wenn der Schutz der demokratischen Ordnung Eine nüchterne Bilanz Bürger leben näher am Rhythmus der oder die öffentliche Sicherheit mit anderen Mitteln nicht Jahreszeiten, stellen sie fest. Erdbeeren gewährleistet werden kann“. Eine weitere Verschärfung Das Stichwort „Mauertote“ löst bestimmte Bilder aus: Wir als die Hälfte der Todesopfer kam in den ersten fünf Jahren gibt es im Frühsommer, Kirschen im Som- der Gesetze wurde von Heinz Hoffmann, dem Minister denken an dramatische Szenen mit verzweifelten Menschen, nach dem Mauerbau ums Leben. Schockierend ist ebenfalls, mer, Pflaumen, Birnen und Äpfel im Herbst für Nationale Verteidigung, erlassen. Die neuen Gesetze auf die geschossen wird, während sie des nachts der flutlicht- dass 30 Menschen an der Mauer starben, obwohl sie gar und Kohl im Winter. beinhalteten neue Bestimmung speziell für Wachenposten beleuchteten Grenze entgegen rennen. Vielleicht denken nicht zu flüchten versuchten. Darunterbefand sich sowohl Gewöhnen muss sich das Ehepaar an und Wachstreifen der NVA (Nationale Volksarmee). Diese wir auch an einen der unzähligen Filme, die spektakuläre ein 31-Jähriger, der erschossen wurde, weil er sich mit dem die Praxis, dass Freunde oft unangemeldet wurden nun „verpflichtet“ die Schusswaffe zur „Festnahme, Fluchten durch Tunnel oder mit Heißluftballons zeigen. Neben Auto verfahren hatte und in die Nähe der Grenze geriet, als vor der Tür stehen. Die meisten haben kein Gefangennahme oder Vernichtung bewaffneter Personen“ diesen populären Fällen jedoch hat die Berliner Mauer noch auch ein 13-Jähriger, der beim Spielen in der Laubenkolonie Telefon. Außerdem soll die Stasi nicht anzuwenden. In einem weiteren Abschnitt der Verordnung ganz andere Tote gefordert. In dem Handbuch „Die Todes- ‚Sorgenfrei’ sich von einem Grenzsoldaten dessen Gewehr schon vorher Bescheid wissen. Zwar stehen wurde aufgeführt, dass Personen, die sich der Anordnung, opfer an der Berliner Mauer 1961-1989“ (2009 herausgege- zeigen lassen wollte, aus dem sich dann versehentlich ein viele ihrer Freunde ihrem Staat kritisch „Halt-Stehenbleiben-Grenzposten“ widersetzten und ver- ben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Schuss löste. Ebenso tragisch ist der Tod von 5 Kindern, die gegenüber, jedoch nicht uneingeschränkt. suchten, „die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen der Stiftung Berliner Mauer) zeigt sich eine erschreckende beim Spielen in Berliner Grenzgewässer fielen und nicht Als Westdeutscher in ihre Kritik mit einzu- Republik zu verletzen“, mit der Waffe zu stoppen sind. Im Bandbreite. Unter den 136 Todesopfern an der Berliner Mauer gerettet wurden. Keiner der Grenzsoldaten im Westen wagte fallen, kann dazu führen, dass die Kritiker Mai 1982 wurden die Gesetze etwas entschärft. Im §27 des ist der größte Teil bei Fluchtversuchen erschossen worden; es die ‚verbotene Grenze’ zu überwinden. Daneben gehören zu plötzlich verteidigen, was sie zuvor noch Grenzgesetzes wurde der Gebrauch der Schusswaffe als kam aber häufiger vor, dass die Flüchtlinge auf ihrem Weg den Opfern auch 8 Grenzsoldaten der DDR, die von Flücht- beschimpft haben. äußerstes Mittel eingeschränkt. „Die Anwendung der Schuss- verunglückten. Einige wenige begingen – als sie feststellten, lingen, Fluchthelfern oder West-Berliner Polizisten angegrif- waffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung dass ihnen ihre Flucht nicht gelingen würde – Selbstmord. fen oder erschossen wurden: Ein Grenzsoldat starb, weil ihn gegenüber Personen“. Die Mehrzahl der Opfer waren junge Männer (78%). Mehr ein Kamerad für einen Flüchtling hielt. Opfer waren sie alle.

60 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 61 Kalter Krieg und Fluchtversuche Eiserner Vorhang an der Berliner Mauer Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verhandelten die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen über eine Neu- ordnung Europas. Es wurde festgelegt, wer in welchen Ländern Einfluss haben sollte, es kam zu einer Zweiteilung Europas. Auf der einen Seite entstanden die westlich liberalen Demo- Sein Foto ging um die Welt. Am 15.8.61 kratien (z.B. die Bundesrepublik Deutschland, Italien, Frank- sprang der damals 19-jährige DDR-Grenzer reich oder Großbritannien), das nannte man Westeuropa. Hans Conrad Schumann in Berlin über den Auf der anderen Seite wurden kommunistische Regierungen Stacheldraht in den Westen. Das Bild wurde gebildet (z.B. in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei oder in zum Symbol für den Friedenswillen der Rumänien), bekannt als Osteuropa. Jede der beiden Gruppen Deutschen. Foto: picture-alliance / dpa / UPI glaubte, selbst die beste Politik zu machen und versuchte, die andere zu übertreffen. Es entstanden zwei Blöcke: Politisch die Europäische Ge- meinschaft (die Vorläuferin der EU) und der sogenannte Ost- block, die Länder unter Einfluss der Sowjetunion (UdSSR). Militärisch entstand in Westeuropa die NATO (North Atlantic Treaty Organization), der viele westeuropäische Länder und die USA angehörten, und in Osteuropa der Warschauer Pakt. Europa zur Zeit des Wirtschaftlich gab es in Westeuropa die Europäische Gemein- Eisernen Vorhangs schaft und die EFTA (European Free Trade Association), in NATO Osteuropa den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW Trotz der unglaublich aufwändigen und nahezu unüberwind- Warschauer Pakt bzw. COMECON). bar erscheinenden Sicherheitsmaßnahmen, setzten tausende Eiserner Vorhang Beide, die westeuropäischen und die osteuropäischen DDR-Bürger alles auf eine Karte und wagten einen Flucht- Neutrale Staaten Staaten, rüsteten stark auf, um die gegnerische Seite zu be- versuch. Neben rund 40.000 gelungenen Fluchten (davon Blockfreie Staaten eindrucken und um im Ernstfall für Angriffe gerüstet zu sein. etwa 5000 in Berlin), wurden hierbei 75.000 DDR-Bürger Das nannte man Kalter Krieg (oder Ost-West-Konflikt). Kalter lebend gefasst und wegen Republikflucht angeklagt. Krieg deshalb, weil kein richtiger Krieg geführt wurde, aber Angesichts der ausgeklügelten Fluchtverhinderungsmaß- Grafik: Europe countries.svg auch von Zusammenarbeit keine Rede sein konnte. nahmen des DDR-Regimes, schmiedete so mancher Flüchtling by Júlio Reis alias Tintazul Man spricht auch vom Eisernen Vorhang. Gemeint ist spektakuläre Fluchtpläne: 16 Tage grub eine Gruppe, die über- damit eine sowohl ideologisch wie tatsächlich unüberwindbare wiegend aus Senioren bestand, an einem Tunnel, der von Grenze nach ihrem Vorbild aus dem Theaterbau. Winston einem Hühnerstall in Ostberlin nach Westberlin führte und Churchill verwendete den Ausdruck dann als Bezeichnung gelangte so erfolgreich in die BRD. Neben resoluten Flucht- für die Abschottung des Ostblocks. versuchen mit einer Planierraupe oder durch Sprengstoff- Mit dem Eisernen Vorhang werden nicht nur die realen anschläge, entstanden auch subtilere Ideen, wie die Flucht Grenzbefestigungen, sondern im übertragenen Sinn auch die mit der ‚trojanischen Kuh’. Zweimal ging dieser Plan auf, Politik der Abgrenzung beschrieben. Diese Politik wurde – beim dritten Versuch wurde die Gruppe um zwei Fluchthelfer, im Gegensatz zu den Befestigungsanlagen, die nur von den die in einem Kleinlastwagen einen ausgestopften Bullen entsprechenden Ostblockstaaten errichtet wurden – auch transportierten, in dessen Bauch sich eine Frau versteckte, vom Westen in den Nachkriegsjahren auf den unterschied- erwischt. Die beiden Fluchthelfer wurden wegen ‚staatsfeind- lichsten Feldern betrieben. Der Eiserne Vorhang hinterließ in lichen Menschenhandels’ zu über drei Jahren Haft verurteilt. allen angrenzenden Ländern seine Spuren. Viele nachbar- Die Frau wurde zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und schaftliche Beziehungen zwischen Staaten diesseits und jen- zehn Monaten verurteilt, wurde jedoch zu ihrem Glück nach seits des Vorhangs verschwanden im Laufe der Jahrzehnte. vier Monaten von der BRD freigekauft. Besonders im wirtschaftlichen Bereich war diese Grenze eine tote Grenze, sodass dort bestehende Betriebe und auch die Freikauf – was ist das? >> Dazu mehr auf S. 49 Bewohner abwanderten. Auch die Sprachbarrieren wurden größer, da kaum jemand in den westlichen Ländern die Spra- che des unmittelbaren, aber nicht erreichbaren Nachbarlan- des lernte. Auf östlicher Seite wurden oft kilometerbreite Sperrzonen errichtet und vom Militär in Beschlag genommen. Lena

62 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 63 Tagebuch Luise, 1979, 40 Jahre alt

Foto: privat

Manchmal schwitze ich Blut und Wasser um meinen Jungen. Ich heute…“, entgegnete Jan mit diesem sarkastischen Grinsen, das er weiß nicht, wo er das her hat, das ständige Kritisieren, er legt den von seinem Vater hat. „Was wir sagen wollen ist, dass niemandem Finger immer auf die offene Wunde, ist ein unzufriedener, ein dadurch geholfen wird, wenn du eine dicke Akte bei der Stasi streitbarer Junge. Kunst will er mal studieren – ein Bildungsbürger bekommst.“ Das sagte ich ganz leise, natürlich. Ich lasse den Gedan- Symbole der Friedensbewegungen mitten im Arbeiter- und Bauernstaat! Weiß Gott, ob sie ihn jemals ken, irgendjemand in meinem Umfeld könnte ein IM sein – ein an die Uni lassen, er tut ja auch alles, um aufzufallen. Wollte par- interner Mitarbeiter bei der Staatssicherheit – eigentlich nie zu; tout nicht der FDJ beitreten und genauso wird er sich auch gegen doch seit Jan in dieser konterrevolutionären Phase ist, komme ich Friedensbewegungen sind soziale Bewegungen, die Kriege In der BRD: In den ersten Nachkriegsjahren war die Haltung die Partei wehren. Er liest viel, doch leider nichts von Brecht und immer seltener darum herum. „Ich verstehe einfach nicht, wie und Kriegsrüstung aktiv und organisatorisch verhindern möch- der Bevölkerung in der BRD und der meisten Parteien von auch nicht „Nackt unter Wölfen“, sondern viel lieber Kafka. Er hier alle fröhlich mitmachen können, wo doch alle sehen, was hier ten und den Krieg als Mittel der Politik langfristig ablehnen. der Parole ‚Nie wieder Krieg’ bestimmt. Die westdeutsche fängt an, sich am Prenzlauer Berg herumzutreiben, wo irgendwel- falsch läuft“, klagt er immer, „Der Sozialismus hat doch gute Grund- „Ohne mich-Bewegung“ folgte in den 60er Jahren und ab che zensurunwilligen Künstler herumhängen und illegale Zeitun- gedanken, aber so, wie es jetzt ist, so kann es doch nicht weiter- In der DDR: 1959 schenkte die Sowjetunion der UNO eine 1981 entwickelte sich eine neue Friedensbewegung. Die erste gen verteilen. Kurzum: Wenn er die Pubertät übersteht, ohne fest- gehen.“ Ich hoffe immer, dass es nur eine Phase ist. Wir alle sind Bronzeskulptur, die das biblische Zitat „Schwerter zu Pflug- große Friedensdemonstration fand in anlässlich des genommen zu werden, kann ich wieder aufatmen. Im Moment in der Jugend mal verzweifelt und rebellisch. Erwachsenwerden scharen“ mit einem Mann darstellt, der mit einem Hammer Deutschen Evangelischen Kirchentages 1981 statt. An den aber möchte ich ihn am liebsten gar nicht mehr aus dem Haus bedeutet, das zu überwinden und sich in der Gesellschaft einzu- ein Schwert zu einem Pflug umarbeitet. Sie steht im Garten eher säkular motivierten Ostermärschen in den folgenden lassen. bringen. Jan könnte eine Aufgabe übernehmen, die die DDR des UNO-Hauptgebäudes in New York. Das Geschenk sollte Jahren nahmen hunderttausende Menschen in vielen Städten Ich glaube, es ist vor allen Dingen die Mauer, die ihn so gegen sinnvoll voranbringt, anstatt nur negativ alles anzuprangern, was von sowjetischer Seite aus den Willen zum Frieden mit den und Regionen teil. die DDR aufgebracht hat. Letztens fragte er mich: „Mutti, merkst nicht optimal funktioniert. Das hätte auch den positiven Neben- Westmächten symbolisieren. Das Symbol geht auf ein Gemälde von Pablo Picasso zurück. du denn nicht, dass wir hier eingesperrt sind?“„Eingesperrt? Nicht effekt, dass ich wieder ruhig schlafen könnte. Herkunft Propheten Bücher (Neviim) im jüdischen Tanach: Sein Werk „Friedenstaube“ wurde als Plakat zum Weltfrie- doch, Jan. Du hast frische Luft zum Atmen, du gehst in eine öffent- „Weißt du, Jan“, habe ich ihm in einer ruhigen Minute gesagt, Micha 4.3 „Und er wird Schiedsrichter sein zwischen großen denskongress 1949 in Paris gewählt. Viele Friedensbewegun- liche Schule. Eingesperrt ist, wenn man in einem dunklen Loch „Es gibt Menschen, die sind froh, ihre Großeltern zu kennen. Die Völkern und zurechtweisen starke Nationen, die weit weg gen übernahmen dieses Zeichen als Symbol. Die Taube spielt hockt und von Wasser und Brot lebt.“ „Ich nenne es Einsperren, Eltern meiner Mutter sind seit 1942 verschollen, und die Eltern wohnen, also dass sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und in der biblischen Sintflut-Erzählung die Rolle des frohen wenn man die Einwohner seines Landes kaum verreisen lässt. Ich meines Vaters habe ich nie kennen gelernt. Wir bekamen Lebens- ihre Spieße zu Rebmessern (= Sicheln, Anm. v. Nadja) ver- Botschafters: Eine von Noah aufgelassene Taube kehrt mit möchte mal Ägypten sehen, die Wiege der Menschheit, und Rom, mittelmarken und nannten uns glücklich, wenn das Brot nicht schmieden; kein Volk wird wider das andere ein Schwert er- einem frischen Olivenzweig im Schnabel zur Arche zurück. Australien, das Amazonasbecken…“ schimmelig war.“ Vermutlich ist es ebenfalls ein Zeichen des Älter- heben, und sie werden nicht mehr den Krieg erlernen (…)“ Er hat immer dieses furchtbare Fernweh in den Augen. Es wird werdens, dass man immer mehr von früher erzählt, von damals, Das Abbild dieser Statue zusammen mit dem Schriftzug Nadja Springer ein bisschen besser, wenn wir an die Ostsee fahren oder mal in die wo alles entweder besser oder schlechter war. Jan nimmt das hin, „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde ab 1980 zum Symbol Tschechoslowakei, aber im Großen und Ganzen können diese Ziele und wenn ich ihm von meinen spärlichen Erinnerungen an den der Friedensbewegung in der DDR. Diese Bewegung nahm sein Fernweh nicht löschen. Wenn er sich mehr für die FDJ interes- Krieg erzähle, dann seufzt er immer und ist für einen Augenblick zwar in kirchlichen Protesten gegen die Einführung des siert hätte, hätte er mit einer Gruppe vielleicht sogar in westliche wieder mein kleiner Junge, der mich fragt, was das für eine große Schulfaches „Wehrerziehung“ ihren Anfang, ging jedoch Länder reisen können, so etwas organisiert die FDJ oft. Aber dafür Mauer mitten durch Berlin ist. Aber nur für einen Augenblick. schon bald über die Grenzen der Kirche hinaus. Viele Regime- ist es nun natürlich schon zu spät. Dann holt er wieder aus: „Der Krieg ist seit 35 Jahren vorbei, kritiker der DDR und Gegner aus verschiedensten Richtungen Fernweh ist etwas, das ich selbst nie gekannt habe. Ich bin froh, und solange der Kalte Krieg nur ein kalter ist, sollten wir darüber schlossen sich der Friedensbewegung an. ein Zuhause zu haben, keinen Hunger leiden zu müssen, mich auf nachdenken, wieder mehr Ansprüche an ein Land zu stellen als meine Familie verlassen zu können und auf ein starkes Umfeld, das nur das nackte Überleben. Ja, wir haben genug Brot, so billig, mich hält. Aber ich habe das Gefühl, dass all das der neuen Genera- dass Papas Eltern es an die Schweine verfüttern. Aber billiges tion nicht mehr ausreicht. Vielleicht ist das das sicherste Anzeichen Brot ist auf Dauer nicht alles, nicht mal für einen Arbeiter- und dafür, dass man älter wird? Bauernstaat. Wenn Großcousine Heike mal 10 D-Mark schickt, Beinahe wöchentlich halten Ulrich und ich dem Jungen Vorträge, rennst du auch gleich in den Intershop, um besondere Produkte zu mit welchen Benachteiligungen er durch sein Verhalten zu rechnen kaufen. Wir müssen wieder Ansprüche stellen dürfen, Mutti!“ hat und dass das schlimmstenfalls Gefängnis bedeuten könnte. Aber Was soll man dagegen noch sagen? Das ist mein Junge, ich unser Junge wäre nicht unser Junge, wenn er nicht antworten glaube, er würde einen guten Redner abgeben – wenn er sich würde: „Was heißt das denn für ein Land, wenn Meinungsfreiheit nur gut genug benehmen würde, um irgendwo auf ein Podium Bronze: Jewgeni Wutschetitsch. bestraft wird?“„Du kannst schon deine freie Meinung sagen…“, gelassen zu werden. Geschenk der Sowjetunion an meinte mein Mann. „Ja, zum Wetter vielleicht… ach, sonnig die UNO,1959.

64 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? | 65 Die Kirche von Unten 1987 auf dem Kirchentag in Berlin. Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft, Religion in der DDR Siegbert Schefke

1950 waren etwa 80,4 Prozent der Bevölkerung evangelisch, Abbildungen: privat ihre Veranstaltungen wurden verboten, tausende junger oder Umweltzerstörung, über die – außerhalb der Familie – nur etwa 11 Prozent katholisch. 1989 war der Anteil der Pro- Mitglieder von den Oberschulen verwiesen oder nicht zum nicht offen diskutiert werden konnte. testanten in der Bevölkerung auf etwa 30 Prozent zurückge- Studium zugelassen. 1953 machte die Regierung in Moskau Doch trotz aller Hindernisse, trotz des Druckes durch den gangen. Der Anteil der Katholiken war etwa 5 Prozent. Poli- Atheismus als ideologische Grundhaltung gefordert. dem Spuk ein Ende. Am 10. Juni 1953 erklärte Grotewohl die Staat, fanden die Kirchen ernormen Zulauf. Wieso? Was tisch spielte hauptsächlich die evangelische Kirche eine Rolle. Den Kirchen in der DDR wurden im Gegensatz zu den von der Regierung getroffenen Maßnahmen für weitgehend bewegte die Menschen dazu, all diese Risiken auf sich zu Einige erinnern sich heute daran, wie der Staat Christen Kirchen der anderen Ostblockländer eine Reihe Privilegien nichtig und versprach, nicht mehr gegen die Kirche vorzugehen. nehmen? Was war der besondere Reiz der Religion? Die damals gesellschaftlich benachteiligte und ausschloss. Andere eingeräumt. Es gab zwei evangelische Verlage, Buchhandlun- Die SED entwickelte eine eigene Kirchenpolitik. Sie wollte Kirche konnte den DDR Bürgern etwas bieten, das nirgends behaupten, Christsein habe keine Rolle gespielt. Beide An- gen, eine Nachrichtenagentur, Wochenblätter, Schulen und „Aufklärungsarbeit“ bei der christlichen Bevölkerung leisten. sonst zu finden war: Bilder und Schriften, die in der Schule sichten widersprechen sich nicht. Das Verhalten der DDR gegen- Krankenhäuser. Die evangelische Kirche wurde auch nicht Differenziert wurde zwischen staatstreuen christlichen Partei- nicht mehr gelehrt wurden und Neugier erweckten. Und über Kirchenmitgliedern war sehr zwiespältig. In der Verfas- daran gehindert, Verbindung mit Kirchen in der BRD zu halten. mitgliedern, die über Überzeugungsarbeit gewonnen werden vor allem ein Stück Freiheit, wie klein es auch sein mochte. sung der DDR stand, genauso wie in der der BRD, der Grund- Bis 1969 war die evangelische Kirche in der DDR Teil des sollten, und Kirchenmitarbeitern, die bekämpft werden soll- Betrat man eine Kirche in der DDR, so konnte man für satz der Religionsfreiheit. Sowohl in der ersten Verfassung Verbandes der evangelischen Kirchen in Deutschland. ten. Der offene Kirchenkampf wurde nun ersetzt gegen einen Augenblick lang dem scheinbar allwissenden und all- aus dem Jahr 1949 als auch in der Fassung aus dem Jahr 1969 gründete sie aber aus mehreren Gründen den Bund einen verdeckten, der im Inneren der Kirche selbst ausgetra- mächtigen SED-Regime entkommen. 1968 bzw. 1974 ist das Recht auf einen religiösen Glauben der evangelischen Kirchen in der DDR: Es gab zu große gen werden sollte. Statt des Angriffes staatlicher Stellen gegen Es gab Pläne, die Kirche von innen her zu unterwandern. und die Ausübung religiöser Handlungen verankert. Kirchen Unterschiede zwischen Ost und West in der alltäglichen die Kirche, sollten nun innerhalb der Kirchen „politisch- Unter anderem sollten `Offiziere in besonderem Einsatz´ (Oibe) und Religionsgemeinschaften waren erlaubt und durften Kirchenarbeit, es gab Organisationsprobleme. Außerdem sah fortschrittliche“ Kräfte gegen „reaktionäre“ ausgespielt an wichtigen Stellen, zum Beispiel auch in der Kirchenleitung, unterrichten und praktizieren. Religiöser Glaube war aber die DDR-Regierung den Westkontakt nicht gerne und übte werden. Um dies umzusetzen, wurde innerhalb des MfS eine platziert werden. Einige Fälle davon sind bekannt geworden. Privatsache der Bürger. deswegen politisch Druck auf die Kirche aus. eigene Abteilung gegründet. Mit massivstem Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) Die DDR sah sich selbst als säkularisierter Staat. Staat und Anfangs, in den ersten Jahren nach der Gründung der 1955 führte die SED die Jugendweihe als Alternative zur der Staatssicherheit machte man selbst vor den Kirchen- Kirche waren strikt getrennt. „Es gibt keine ideologische Ko- DDR gab es an den Schulen noch Religionsunterricht. Den Konfirmation ein. Jugendliche standen nun vor der Wahl: türen nicht halt. existenz“, erklärte die sozialistische Propaganda immer wieder. Status eines ordentlichen Lehrfaches hatte er aber von Anfang Jugendweihe oder Konfirmation. Weil die Jugendweihetradi- In den Kirchen bildeten sich verschiedene Gruppen zu Von Karl Marx stammt der Ausdruck „Die Religion ist Opium an nicht. In der Verfassung von 1949 ist festgehalten, dass tion im krassen Gegensatz zur kirchlichen stand, verweigerte den unterschiedlichsten Themen wie Frieden, Umwelt oder des Volkes“. Er sieht Religion als Ausdruck bestimmter Herr- Kirchen in Schulräumen Religionsunterricht organisieren die Kirche Jugendlichen mit Jugendweihe die Konfirmation Gerechtigkeit. Die Menschen dort fanden in der evange- schafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, die sich im Laufe der dürfen, der aber als außerschulische Aktivität freiwillig besucht und grub sich dadurch selbst ihre Mitglieder ab. Diese Aus- lischen Kirche Gelegenheit, anders zu denken, zu reden und Entwicklung erübrigt und damit abstirbt. Lenin baute Marx werden kann. In den 50er Jahren begann die Regierung gegen schlusspraxis der Kirche war jedoch von Gemeinde zu Gemein- zu handeln, als es der Staat ihnen vorschrieb. Doch plötzlich theoretische Überlegungen weiter aus. Er postulierte die den kirchlich organisierten, freiwilligen Unterricht vorzuge- de unterschiedlich. Jugendweihe wiederum war keine Pflicht, war die Kirche in etwas hinein geraten, das sie nicht beab- strikte Trennung von Kirche und Staat, war aber für Glaubens- hen. 1958 verfügte der Minister für Volksbildung, Fritz Lange, trotzdem verringerte die Nichtteilnahme Chancen auf eine sichtigt hatte. Nun hieß es zu entscheiden, ob sie diese Rolle und Gewissensfreiheit. Später war es Stalin, der einen harten, dass zwischen ordentlichem Unterricht und außerschulischen gute Ausbildung oder einen guten Job. Da die Jugendweihe der Opposition, in die sie unweigerlich gepresst wurde, über- administrativen Kurs gegen die Kirchen einschlug. Nach der Aktivitäten eine Pause von zwei Stunden liegen müsse – zum stark „einschlug“, ging der Anteil der konfirmierten Jugend- haupt wollte. Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion (SU), Schutz der Schüler vor Überanstrengung. Ausnahmerege- lichen zurück. kam es dort zu Hungersnöten, für die Stalin auch die Kirchen lungen gab es für Thälmann-Pioniere und schulische Arbeits- In den folgenden Jahren waren staatliche Repressionen Sunita und Lisa mitverantwortlich machte. Daraufhin kam es zu Enteignungen gruppen. Dieser Erlass erschwerte besonders an Schulen auf gegen Kirchenmitglieder mal mehr, mal weniger stark aus- und Repressalien. dem Land die Organisation des Unterrichts so sehr, dass die geprägt. Das hing von der jeweiligen Beziehung zwischen Die SED folgte in ihrer marxistisch-leninistischen Kirchen- Kirche ihn einstellen musste. Außerdem durften nur noch den beiden Kontrahenten ab, die sich durch wechselseitige politik zwei Grundannahmen: Religion stirbt während des Grundschulen Räume für den Religionsunterricht stellen. Provokation veränderte. In den 60ern entspannte sich das Wandels von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Werbung dafür wurde verboten. An vielen Schulen gab es Verhältnis etwas. Der stark westorientierte Otto Dibelius, Gesellschaft ab. Religion muss mit Propaganda bekämpft deswegen keinen Unterricht mehr. Wenn es die Kirche trotz nach Kriegsende einer der wichtigsten Kirchenvertreter, wurde werden. Religion galt in den Augen der SED als die ideologi- dieser Erschwerungen aber schaffte, Unterricht zu organisieren, durch die Ernennung von Günter Jacob zum „Verwalter des sche Waffe der Kapitalisten zum Machterhalt und zur Unter- konnte sie ihn nach wie vor anbieten. Bischofsamtes im Bereich der Regionalsynode Ost“ quasi ent- drückung der Werktätigen. Da sie in der DDR einen Sozialis- In den ersten Jahren nach Staatsgründung war das Ver- machtet. Jacob erkannte den sozialistischen Staat an, wes- mus nach sowjetischem Vorbild etablieren wollten, wollte sie hältnis zwischen Staat und Kirche entspannt. Im Juli 1952 wegen ihn auch die SED akzeptierte. den Einfluss der Kirche in Gesellschaft und Erziehung zurück- aber beschloss die SED auf ihrer II. Parteikonferenz den Auf- In den 70ern prägte der Bischof Albrecht Schönherr auf drängen. bau des Sozialismus zu forcieren. SED-Generalsekretär Walter der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR Die Sowjets räumten ihr in der Sowjetischen Besatzungs- Ulbricht proklamierte die Verschärfung des Klassenkampfes. 1971 den Ausdruck „Kirche im Sozialismus“. Er formulierte: zone Rechte und Privilegien ein. Sie wollten die Kirche – wie Klassenfeind und somit Gegner war auch die Kirche. Die „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern im dann auch die SED – als Bündnispartner für die antifaschistisch- Regierung kürzte die staatlichen Zuschüsse um 25 Prozent, Sozialismus sein.“ Das war kein Bekenntnis zum Sozialismus, demokratische Umgestaltung. Nach Staatsgründung behielt trieb Kirchensteuern nicht mehr ein. Sie verhaftete Pfarrer sondern eine Art Anerkennung. In den 50er und 60ern war die Kirche im Rückgriff auf die Weimarsche Verfassung ihren und kirchliche Amtsträger und ging gegen die Jugendarbeit man in der Kirche noch auf „Überwintern in Erwartung des Status als öffentlich-rechtliche Körperschaft und erhielt der Jungen Gemeinde vor. Diese war unter Jugendlichen we- baldigen Endes der DDR“ eingestellt. staatliche Finanzleistungen als Ausgleich für die enteigneten gen ihrer Freizeitaktivitäten sehr beliebt und hatte großen Die Kirche war in der DDR der einzige nicht durch den Kirchenlehen. Auch durften sie ihren Landbesitz behalten. Zulauf. Außerdem hatte sie Kontakte in den Westen, was sie Staat direkt beeinflussbare Raum. Vor allem die Jungen Kirchenmitgliedschaft von SED-Mitgliedern war bis in die per se zur Feindin machte. Die Jungen Gemeinden wurden Gemeinden organisierten Lesungen von staatlich kritisch 50er nicht selten. Schon früh aber wurde in der SED der als Spionagestützpunkte und CIA-gesteuert verunglimpft, beäugten Schriftstellern und diskutierten Themen wie Frieden Abbildung: BrThomas Privatarchiv

66 | Wir sind das Volk | Wer oder was war die DDR? Am 28. Juni 1979 verschärft sich das politische Strafrecht in der DDR. Teilweise sind die Straftatbestände so allgemein gefasst, dass sie dem SED-Regime erlauben, jederzeit gegen kritische Bürger vorzugehen. Dies gilt vor allem für die Para- graphen 106 „Staatsfeindliche Hetze“ und 220 „Öffentliche Interview mit Herabwürdigung“. Mit wachsendem Mut riskieren Bürger- rechtler trotzdem die Konfrontation mit der Staatssicherheit. (Anmerkung der Redaktion: Pfarrer Rolf-Michael Turek, Leipzig Die Antworten wurden gekürzt.) Misstrauisch beobachtet das SED-Regime auch die inoffizielle Friedens- und Umweltbewegung, die sich zu Beginn der 80er STASI Jahre mit Unterstützung der Kirche entwickelt. Erkennungs- Görls: Herr Turek, wie und warum wurden Sie Pfarrer in der DDR? Ämtern und Leitungsfunktionen. Christliche Überzeugungen zeichen der Friedensbewegung ist eine Darstellung des Turek: Mein Interesse galt den philosophischen, theologischen wurden als rückständig diffamiert. Bibelspruchs „Schwerter zu Pflugscharen“. Der Bund der Geheimdienste und spirituellen Fragestellungen. Als Christ, ohne Mitglied- Görls: Warum konnten sich oppositionelle Gruppen „unge- Evangelischen Kirchen in der DDR veranstaltet unter diesem schaft in Pioniere, FDJ, GST (Gesellschaft für Sport und Tech- stört“ in der Kirche treffen? Mit anderen Worten, warum hat Symbol seit November 1980 jährlich Friedensdekaden. nik), DSF (Deutsch-Sowjetische Freundschaft) gab es wenige sich die Kirche überhaupt getraut, den im Zusammenhang Von Ost-Berliner Friedensgruppen wird 1986 die Bürger- zu Zeiten der DDR Alternativen für ein Studium. Ich habe zunächst eine Ausbil- mit der friedlichen Revolution so oft zitierten Schutzraum rechtsgruppe „Initiative Frieden und Menschenrechte“ gegrün- dung als Elektro-Mechaniker gemacht und an der Abend- zur Verfügung zu stellen? det. Die ebenfalls 1986 in Ost-Berlin eröffnete Umweltbiblio- und heute schule mein Abitur abgelegt. Turek: Ungestört trifft nicht zu: Die Gruppen wurden von der thek entwickelt sich zum wichtigen Informationszentrum für Görls: Warum gab es überhaupt eine Kirche in der DDR? Die Staatsicherheit beobachtet, unterwandert, verunsichert und oppositionelle Gruppen. Von Mitgliedern der Umweltbibliothek zudem staatlich auch noch weitgehend unbeeinflusst und zum Teil dadurch auch zersetzt. Doch Kirche ist immer nur geht 1988 auch die Initiative zum Zusammenschluss der ver- autonom war? Warum wurde Kirche nicht einfach verboten? Kirche, wenn sie für andere da ist. Die Frage war und ist: Wer schiedenen Umweltgruppen der DDR zur Arche – grünöko- Sowohl die Staatssicherheit „Stasi“ als auch der Bundesnach- Turek: Zunächst rechnete man mit dem „Absterben“ der Kirche. braucht dich am nötigsten? logisches Netzwerk in der Evangelischen Kirche aus. richtendienst „BND“ sind Geheimdienste, die im Auftrag der Im Widerstand gegen Hitler gab es Allianzen zwischen Chris- Görls: Welche Rolle spielte die evangelische Kirche bei der Auch in der kommunistischen Welt gärt es. Ob Polen, die Regierung eines Landes arbeiten – solche staatlich geführten ten, Kommunisten und Sozialdemokraten. Statt Verbote gab friedlichen Revolution? CSSR oder Ungarn – die Ursachen gleichen sich: fehlende Organisationen gibt es in fast jedem Land der Welt. Die Ab- es Reduzierung auf sogenannte kirchliche Kernbereiche, wie Turek: Dass es ein friedlicher Verlauf war, das ist der Verdienst Demokratie, Wirtschaftskrisen, Menschenrechtsverletzungen, kürzung „Stasi“ steht für „Ministerium für Staatssicherheit“ Gottesdienst und Seelsorge. Aber auch die Seelsorge an Kran- der Kirche. Dies ist übrigens einzigartig im ganzen Umbruch Reisebeschränkungen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung für den Geheimdienst der DDR und wurde am 8. Februar kenhäusern war sehr eingeschränkt und eher „geduldet“. der Ostblockländer. Aus den Kirchen heraus entwickelten mit diesen Zuständen ist spürbar. Unvergessen sind die Auf- 1950 ins Leben gerufen. Der BND heißt eigentlich „Bundes- Ausgeschlossen werden sollte, was Frieden, Umwelt und Ge- sich Gruppen, die Frieden, Umwelt und Gerechtigkeit zu ihrem stände und Reformbewegungen – 1953 in der DDR, 1956 in nachrichtendienst“, er wurde 1949 gegründet und war der rechtigkeit betraf. Möglichst kein Auftreten in der Öffentlich- Thema machten. Diesen Gruppen schlossen sich zunehmend Ungarn, 1968 in Prag, 1970 in Polen, 1971 in Litauen – sowie westdeutsche Geheimdienst. keit, Kirche wurde ignoriert. auch Nicht-Christen an. ihre gewaltsame Niederschlagung. In der UdSSR wird nun Der auf den ersten Blick auffälligste Unterschied zwischen Görls: Wie finanzierte die Kirche ihre Arbeit? Bekam sie Görls: Was hatte es mit den Friedensgebeten auf sich, von der politischen Führung nach neuen Wegen gesucht: Ab dem Geheimdienst der DDR und dem der BRD ist die Bezeich- staatliche Gelder? die die Montagsdemonstrationen zur Folge hatten? 1985 wirkt Michail Gorbatschow entscheidend als Wegbereiter nung: „Nachrichtendienst“ fördert eher eine Assoziation mit Turek: Freiwilliger Beitrag der Mitglieder plus Unterstützung Turek: Die Friedensgebete wurden zunehmend von kirchlichen für Reformen im Ostblock. Mit seinen Forderungen nach den täglichen Nachrichten, als mit einer streng geheim aus den westlichen Partnerkirchen plus staatliche Ersatz- Einflussträgern (auf staatliche Anweisungen hin) reglemen- Glasnost und Perestroika, Transparenz und Umgestaltung, operierenden Organisation. Die Bezeichnung „Staatssicher- leistungen für die Enteignungen. tiert. Das, was in der Kirche nicht mehr gesagt und getan leitet er eine neue Ära in der Sowjetunion ein. Angesichts heit“ verdeutlicht hingegen schon mit seinem Namen von Görls: Wie war tatsächlich das Verhältnis von Kirche und werden durfte, wurde nach außen – vor die Nikolaikirche ver- der schwierigen Situation der Wirtschaft in der UdSSR kün- Anfang an klar, wo die Aufgaben der Organisation liegen. Staat? These: Gläubige Christen wurden als unterdrückte lagert. Es bildeten sich Gruppen, die dann losliefen. Anfangs digt Generalsekretär Gorbatschow grundlegende Reformen Ein „Ministerium für Staatssicherheit“ klingt wichtig und Gruppe politisiert und waren daher kritischer als andere auch und gerade, wenn westliche Journalisten da waren (zum in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an. Im Januar 1987 mächtig und einflussreich. Bürger. Wurde Kirchenarbeit vom Staat aktiv behindert? Beispiel zur Messe). kritisiert er in einer programmatischen Rede die Fehler der Turek: Alles das, was Öffentlichkeitscharakter hatte, wurde Görls: Welchen Einfluss hatte die westliche Friedens- KPdSU und fordert eine demokratische Umgestaltung von Warum schuf die DDR einen Geheimdienst? beschnitten. Kinder- und Jugendarbeit wurde sabotiert. bewegung auf den Umsturz? Partei und Gesellschaft. Entscheidend ist die Aufhebung der Nach dem Ende des 2. Weltkrieges 1945 wurde Ostdeutsch- Görls: Wurden Christen aktiv diskriminiert? Wenn ja: Turek: Es gab gute (heimliche) Kontakte zur Friedensbewegung „Breschnew-Doktrin“: Gorbatschow sichert den Ostblock- land zur Sowjetischen Besatzungszone. Das bedeutete, dass Welchen Diskriminierungen waren Christen ausgesetzt? im Westen und im Ostblock. Wir konnten uns austauschen Staaten außerhalb der UdSSR zu, deren Eigenständigkeit zu sowjetische Soldaten dort immer präsent waren. Auf den Turek: Es bestand ein eingeschränkter Zugang zu öffentlichen mit Petra Kelly und Klaus Bastian (Grüne). Das hat uns bestärkt. achten sowie in keinem Fall militärisch einzugreifen und sogenannten „heißen Krieg“ folgte der „Kalte Krieg“, der öffnet damit faktisch den Weg zur Demokratisierung dieser zwischen den USA und ihren Verbündeten einerseits und der Staaten. Als erste führen Polen und Ungarn politische Sowjetunion andererseits geführt wurde. Die sowjetische Reformen durch. Besatzungszone (spätere DDR) wurde ebenso, wie der rest- In der DDR hält die SED-Regierung an ihrem starren Kurs liche Einflussbereich der UdSSR, die sogenannten Ostblock- II. Friedliche Revolution und Mauerfall fest. Jeder Fortschritt in den „Bruderstaaten“ wird jedoch Staaten, somit unweigerlich mit in diesen Konflikt hinein- von den DDR-Bürgern registriert. Ferienreisen in die Reform- gezogen. Dadurch geriet die DDR gleichfalls ins Visier der Zeitgeschehen Nach Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte (Konferenz über länder verstärken den Trend. Da die SED sie nicht verbieten USA und es erwuchs das Bedürfnis, den Staat und die Bürger die Sicherheit und Zusammenarbeit Europas) entstehen in kann, werden sie zum heiklen Problem für das DDR-Regime. vor möglichen Gefahren zu schützen. Das Ministerium für den 70er Jahren in vielen osteuropäischen Ländern Bürger- Die Regierenden der DDR lehnen Reformen wie in der Staatssicherheit war das Ergebnis. 1970-1988 rechtsgruppen. Sie fordern die Einhaltung der Menschenrechte Sowjetunion ab und kämpfen um den Erhalt ihrer Macht. und politische Freiheiten. Die Kritik am „real existierenden Mangelwirtschaft, Reisebeschränkungen, Wahlbetrug und Sozialismus“ und an der schlechten Wirtschaftslage wird immer politische Bevormundung fördern Ausreisewillen und Oppo- lauter. Auch in der DDR nimmt die Unzufriedenheit zu. Das sition in der DDR. Die Kirche unterstützt die oppositionellen Fehlen demokratischer Strukturen zwingt die Bürger der DDR, Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen, deren Selbst- sich zwischen Anpassung oder Ablehnung zu entscheiden. bewusstsein wächst. Verschärfte Unterdrückung, Bespitzelung Abweichung vom vorgeschriebenen Weg wertet die Sozialis- und Zensur sind die Antwort der SED-Führung. Die Abgrenzung tische Einheitspartei Deutschlands (SED) jedoch als Angriff zur Sowjetunion – bis dahin unbedingtes Vorbild für die DDR auf das System. Aufgrund der starren Haltung der SED und – beschleunigt ihren Zusammenbruch. der Zunahme der staatlichen Repressionen wächst die Zahl der DDR-Bürger, die einen Ausreiseantrag stellen. Quelle: Stiftung Haus der Geschichte, Bundeszentrale für politische Bildung

68 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 69 Streitkräftebasis (SKB) der Bundeswehr. Es untersteht dem liches Handeln aufwenden kann. Selbstverständlich sollte so jeweiligen Inspekteur der SKB. vorgegangen werden, dass das Ministerium für Staatssicher- Doch nur durch die Feststellung, welche Behörden welche heit als Auslöser nicht erkennbar war. Zuständigkeiten und Befehlshoheiten inne hatten bzw. Die Führung der DDR hatte eine so große Angst davor, haben, ist noch lange nicht gesichert, dass die Handlungen den Feind quasi in den eigenen Reihen sitzen zu haben, dass der Geheimdienste immer denselben Regeln und Gesetzen sie ihren Geheimdienst unglaublich rücksichtslos gegen die unterliegen. Deshalb muss die Frage eigentlich genauer eigene Bevölkerung einsetzte. lauten: STASIIFoto: Oriella Bazzica Warum wirkt die Stasi sogar rückwirkend Auf welchen Gesetzesgrundlagen agiert der deutsche Angst einflößend? Was machen Geheimdienste? Was ist ihre Aufgabe? worfenen Vergehen bereits Bescheid. In den Untersuchungs- Geheimdienst heute und wie war das in der DDR? Auf den ersten Blick scheint es, als ob diese Frage eben schon Sinn eines Geheimdienstes war und ist es bis heute, einen gefängnissen des MfS – wie zum Beispiel in Hohenschönhausen – Es liegt zwar in der Natur der Sache, dass die Aktivitäten beantwortet wurde, aber so einfach ist es meiner Meinung Staat und seine Bürger vor inneren und äußeren Bedrohun- ging es dann lediglich darum, die bereits vorher zumeist eines Geheimdienstes nicht öffentlich gemacht werden, nach nicht und es bedarf weiterer Erklärungen, um diese gen zu schützen. illegal ermittelten „Beweise“, gerichtsverwertbar zu machen, trotzdem ist es für die Rechtsordnung eines Staates absolut Ängste zu begründen. Es hatte sich in der DDR-Führung die den Verhafteten durch wochen- und monatelange Verhöre unerlässlich, dass es gesetzliche Rahmen gibt und die ge- Überzeugung festgesetzt, dass westliche Mächte alles nur Beispiele aus anderen Ländern sind: zu einen Schuldeingeständnis zu bewegen. heimdienstlichen Handlungen keiner „Ein-Mann-Willkür“ irgend Mögliche versuchen würden, um das sozialistische USA – das Federal Bureau of Investigation (FBI), die Criminal Die Aufgaben der geheimdienstlichen Aufklärung be- unterliegen. System zu Fall zu bringen und um sich das verlorene Land Intelligence Agency (CIA) und die Homeland Security schränkten sich aber nicht nur auf die innenpolitische Kon- In der deutschen Gesetzgebung gab es zu Anfang Unter- mitsamt den Bürgern wieder einzuverleiben. Es war aus Sicht GB – der britische Secret Intellingence Service (SIS), auch MI6 trolle der DDR. Spionage-Abwehr und „Aufklärungsarbeit“ schiede zwischen den verschiedenen Geheimdiensten. Das der DDR-Führung nur logisch, dass zum Schutz der eigenen genannt in Westdeutschland und Westberlin gehörte ebenso zu den „Gesetz über den Bundesnachrichtendienst“ (BNDG), das Bevölkerung und des eigenen Landes verhindert werden Israel – das „Institut für Aufklärung und besondere Auf- Aufgaben des MfS. So wurden MfS-Spione in wichtige Bereiche die rechtliche Grundlage für den Bundesnachrichtendienst musste, dass sich diese feindlich gesinnten West-Mächte gaben“, besser bekannt als Mossad eingeschleust, um zum Beispiel falsche Informationen zu bildet, wurde erst 1990 verabschiedet. Ganze 40 Jahre nach unter das sozialistische Volk mischten, um sie quasi von innen Weißrussland – das Komitee für Staatssicherheit (KGB); bis verbreiteten (Desinformationskampagnen) und Auskünfte der Gründung des BND. Das bedeutet, dass die Tätigkeiten heraus zu Fall zu bringen. 1991 gab es den sowjetischen KGB in allen Teilen Russlands, über die Bonner Regierung, Forschung und Industrie zu er- des westdeutschen Geheimdienstes zur Zeit der deutsch- Der ‚Kalte Krieg’ hatte auch zur Folge, dass technische heute heißt nur noch der weißrussische Geheimdienst so. halten. Außerdem unterstützte die Stasi in der BRD politische deutschen Teilung nicht gesetzlich geregelt waren. Neuerungen nicht den Weg in die Ostländer fanden und Kräfte, die ihr nützlich erschienen: RAF-Mitglieder wurden Als 1950 das Ministerium für Staatssicherheit ins Leben somit den westlichen Staaten vorbehalten blieben. Der Staat Sehr vereinfacht kann in einem Satz zusammengefasst werden: im Umgang mit Waffen und Sprengstoff geschult; acht RAF- gerufen wurde, geschah das auf Grundlage der DDR-Ver- griff also auf die älteste Methode zurück, um unbemerkt an Eine der wichtigsten Aufgaben der Geheimdienste ist die Be- Aussteiger erhielten in der DDR später neue Identitäten, die fassung. Das heißt, es gab von Anfang an gesetzlich fest Geheimnisse zu gelangen: Belauschen. Was heute, durch den schaffung von Informationen. sie vor westlicher Strafverfolgung schützten. verankerte Rahmen und Grenzen, in denen das Ministerium Einsatz modernster Technik, auch über hunderte und sogar handeln konnte. tausende Kilometer vollkommen unbemerkt möglich ist, war Welche Aufgabe hatte die Stasi? Wer kontrollierte, was die Stasi tat und wer kontrolliert Die Gesetze beider Länder untersagen z.B. ausdrücklich für die Mitarbeiter der Staatssicherheit nur umsetzbar, wenn Auch die Staatssicherheit hatte die Aufgabe, Informationen heute, was unsere Geheimdienste machen? Vorgehensweisen mit Mitteln der Sabotage, verdeckter und sie sprichwörtlich ihre Augen und Ohren überall hatten. über mögliche Bedrohungen gegen die DDR zu beschaffen. Die Stasi war, unterstützt durch die Nationale Volksarmee psychologischer Kriegsführung oder gar „Tötungskommandos“. Das Mithören, Belauschen und Nachspionieren war Umgesetzt haben das die Stasi-Mitarbeiter durch sogenannte (NVA), ein Instrument der Landesverteidigung. Die Leitung Somit ist klar, dass die (körperliche) Unversehrtheit der DDR- natürlich nicht die einzige Aufgabe der Stasi-Mitarbeiter, Bespitzelungen. Sie haben DDR-treue Bürger angeworben, der Landesverteidigung unterstand dem Vorsitzenden des Bürger zumindest in der Verfassung niedergeschrieben war. aber eine Hauptaufgabe. Die Regierung war bereit, zum um potentiell staatsfeindliche Nachbarn oder Bekannte aus- Nationalen Verteidigungsrates. An seiner Spitze stand als Sie gab den Stasi-Mitarbeitern in keiner Weise die recht- Schutze ihres Systems, die Rechte ihrer Bürger zu übergehen. zuhorchen. Der Nachbar, die Kassiererin im Konsum (so hieß Vorsitzender der Generalsekretär des Zentralkomitees der lichen Mittel mit unmenschlichen Methoden zu arbeiten. So waren in der DDR-Verfassung z.B. das Recht auf freie der Supermarkt in der DDR) oder sogar der eigene Ehemann SED. Das war von 1971 bis zwei Monate vor dem Fall der (Was sie dennoch nicht davon abhielt.) Meinungsäußerung oder die Reisefreiheit verankert. Und hätten potentielle Stasi-Informanten sein können. Sie wurden Mauer 1989, Erich Honecker. Geleitet wurde das Ministerium trotzdem war es den DDR Bürgern nur in besonderen Aus- als inoffiziellen Mitarbeiter (IM) bezeichnet. für Staatssicherheit von 1957 bis 1989 durchgehend von Erich Was unterscheidet denn die Stasi vom BND Bundes- nahmefällen möglich, in ein westliches Land ihrer Wahl zu Die Stasi sollte als „Schild und Schwert der Partei“ die Mielke, ebenfalls ein Mitglied des Politbüros der SED. nachrichtendienst, wenn dessen Aufgaben so ähnlich reisen. Die freie Meinungsäußerung galt nur dort, wo man Macht der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) Die heutigen deutschen Geheimdienste dagegen unterstehen sind? sich für die Deutsche Demokratische Republik und ihr System sichern. Die Stasi kontrollierte neben sämtlichen bewaffneten unterschiedlichen Behörden, deren Leiter ständig wechseln Eine geheime Richtlinie von 1971 zeigt, wie weit die Stasi aussprach. Kritik am System musste kontrolliert, unterdrückt Organen der DDR – wie der Volkspolizei und den Grenztrup- und die vor allen Dingen nicht so eindeutig von Mitgliedern handeln konnte. Diese sog. „Zersetzungsrichtlinie“ war und am besten im Keim erstickt werden. pen – auch andere Ministerien, Kombinate und Betriebe, das einer Partei dominiert sind. darauf ausgelegt, potentiellen Staatsfeinden das Leben Verkehrswesen und die Touristik sowie Massenorganisationen. So ist der BND direkt dem Chef des Bundeskanzleramtes sprichwörtlich zur Hölle zu machen. “Zersetzung“ war ein Katharina Krause Sie versuchte gezielt, oppositionelle Kreise zu spalten, unter- als Beauftragter der Bundesregierung für die Nachrichten- psychologisches Unterdrückungsinstrument, mit dem das drückte die Meinungsfreiheit, zensierte Presse und Filme, dienste unterstellt. Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl eines Menschen unter- *) Ministerium für prüfte Post und überwachte Telefone. Das MfS*) hatte alle Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählt dagegen graben werden sollte. Es sollten private oder berufliche Miss- Staatssicherheit Befugnisse einer polizeilichen Ermittlungsbehörde und zum Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums und erfolge verursacht werden, um so zum Beispiel bei politischen schreckte bei seiner Kontrolle auch nicht vor der Einschüch- ist dem Bundesinnenminister unterstellt. Der militärische Gegnern Lebenskrisen hervorzurufen. Der Gedanke dahinter terung der Bürger und ihrer Verfolgung zurück. Wenn ein Abschirmdienst (MAD), als drittes Beispiel, ist eine Dienst- war, dass diese enorme psychische Belastung dazu führt, dass Betroffener verhaftet wurde, wusste die Stasi über die vorge- stelle des Bundesverteidigungsministeriums und gehört zur der potentielle „Feind“ keine Energie mehr auf staatsfeind-

Schild beim Sturm von Bürgern auf die Stasi-Zentrale Sicherung von Stasi-Akten. Foto: Oriella Bazzica in Berlin am 15. Januar 1990: Stasi stehe für Schlagen, Foto: Bundesarchiv Treten, Abhören, Spionieren und Inhaftieren. 183-1990-0531-022, Foto: bstu.bund.de / RBB-Kontraste Jan-Peter Kasper

70 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 71 Görls: Herr Fritzsch, Sie haben als Christ in der DDR gelebt. Fritzsch: Meine Inhaftierung hatte hauptsächlich damit zu turen. Wir wussten nur, dass es bestimmte Leute gab, auch gen, dass es nicht demokratisch sei, sondern unfreiheitlich, Sind Sie in die Kirche gegangen? Wurden Sie dadurch in tun, dass sie mich als Mitarbeiter wollten. Im Vordergrund unter den Studienkollegen, bei denen man damit rechnen nicht menschlich, hätte sofort Verhaftung nach sich gezogen, Ihrer Karriere oder in der Studienauswahl benachteiligt? stand also die Anwerbung des Dr. Fritzsch zur inoffiziellen musste, dass sie an die Stasi berichteten. man wäre ein Staatsfeind gewesen. Durften Sie die EOS (Erweiterte Oberschule) besuchen? Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit. Sie sagten: Wenn Görls: Sie sind Wissenschaftler, Sie haben promoviert, Sie Görls: Wie lange sind Sie dann im Gefängnis gewesen? Fritzsch: Ich durfte auf die EOS gehen, es waren im Wesent- Sie machen, was wir vorschlagen, sind Sie heute Abend waren in einem Studienkreis und von einem Moment auf Fritzsch: Nach meiner Zeit in der U-Haft (14 Monate) waren lichen die Zensuren, die mir dazu verholfen hatten. Ich kannte wieder draußen; arbeiten Sie mit uns, dann sind Sie heute den anderen waren Sie für die Kollegen nicht mehr erreichbar. es noch 4 Monate, die ich inhaftiert war. 1972 gab es eine aber viele, die nicht auf diese Schule gehen durften, weil sie Abend wieder draußen. Natürlich hatte ich damals keine Konnten Sie später irgendwie Kontakt aufnehmen? Haben Generalamnestie, und ich konnte nach Hause. stark kirchlich engagiert waren. Ein Freund von mir z.B. Ahnung, was ein IM (Inoffizieller Mitarbeiter) war, das weiß Sie erfahren, wie die Menschen im Studienkreis darauf rea- Görls: Unter die Generalamnestie fielen aber nicht nur poli- musste Maurer lernen, obwohl er Theologie studieren wollte, man heute. Ich wusste nur, ich sollte jetzt mit ihnen zusammen- gierten? tische Gefangene? aber wegen seines kirchlichen Engagements hatte er keine arbeiten. Aber auch am Abend war ich nicht bereit mitzu- Fritzsch: Sie waren alle ziemlich erschrocken, als sie hörten, Fritzsch: Ja, politische Häftlinge und auch Kriminelle, sogar Zulassung bekommen. machen, trotz aller Drohungen und Erpressungen. Ich sagte: dass ich verhaftet worden war, aber sie wussten keine Einzel- Kinderschänder. Leute, die in der Partei waren, hatten allerdings Vorteile. Nein, ich mache nicht mit, ich kann das nicht. Obwohl ich heiten, wussten nicht was los war. Man hörte immer wieder >> bitte umblättern Ich war dabei, als Studenten, die sich für ein Medizinstudium wusste, dass ich ins Gefängnis gehen würde. Das war klar. davon, dass Leute inhaftiert wurden, aber man wusste nicht beworben hatten, ausgewählt wurden. Alle Parteigenossen Abends steckten sie mich dann auch ins Gefängnis; ich war warum. Durch meine Frau erfuhren es dann viele meiner erhielten einen Bonus von 0,5 Punkten auf ihre Zensuren. inhaftiert, aber ich hatte nicht unterschrieben. Nein, ich Freunde und Verwandten. Aber keiner wusste, was der Grund Das heißt, eine Note von 2,3 wurde zu 1,8. Die anderen Stu- konnte das nicht. Ich brachte es meinen Verwandten und war. Man hütete sich auch, viel darüber zu reden. denten waren dadurch natürlich benachteiligt und fielen aus Bekannten gegenüber nicht fertig, als IM rauszugehen und Görls: Das heißt, weder Eltern noch Freunde oder Kollegen, Info der Auswahl heraus. Das war völlig illegal, aber es wurde so Leute zu bespitzeln. nur Ihre Frau konnte etwas Kontakt halten in dieser Zeit? Der Prager Frühling Am 5. Januar 1968 wird gehandhabt. Görls: Nachdem Sie Akteneinsicht hatten, erfuhren Sie nun Fritzsch: Am Ende durfte ich Besuch haben, ich glaube im der Reformkommunist Alexander Dubcek in der Görls: Wie könnte man das begründen? Mediziner haben genau, wie Ihr Auftrag lautete und in welche Stadt Sie hätten Monat einmal, aber ich durfte nicht über die Haftangelegen- CSSR zum Parteichef gewählt. Der Wechsel an nichts mit Politik, Recht oder Journalismus zu tun. Es sollten gehen sollen? heit sprechen, nur über Gesundheit, Wetter, unser Kind, das der Parteispitze markierte den Beginn des „Pra- doch ausschließlich Fachkenntnisse der Medizin vermittelt Fritzsch: Ich hätte nach Starnberg gehen sollen in das Institut damals gerade geboren war, sonst nichts. Auch der Anwalt ger Frühlings“. Sogleich werden politische und werden. Ist das nicht kontraproduktiv? des Professors Carl Friedrich von Weizsäcker. Ich sollte dort, hatte mir gleich gesagt, wir könnten hier nur über persön- wirtschaftliche Reformen eingeleitet. Gewerk- Fritzsch: Es gab vieles, was durch die Politik kontraproduktiv wie sie sich ausdrückten, die „imperialistischen Umtriebe“ liche Dinge sprechen, nicht über die Anklagepunkte und die schaften und Kulturorganisationen erhalten mehr war. Wenn man jemanden fragte, warum das so war, dann studieren und darüber an die DDR berichten. Das für den Haft. Er hatte auch so viel Angst gehabt und nur einmal kurz Autonomie, die Zensur wird aufgehoben. Der wurde gesagt: Ja, bei dem wissen wir, dass er dem Staat posi- Professor gegründete Max-Planck-Institut erforschte die „Lebens- vor dem Prozess ein paar Fragen gestellt. Er wusste von mir Führungsanspruch der kommunistischen Partei tiv gegenüber steht. Das war die Begründung. Es war eine bedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“, das fast gar nichts. bleibt jedoch unangetastet. Der tschechoslowa- Anordnung von oben. In der Universität hatte es keiner ver- hatte meiner Meinung nach nichts mit der DDR zu tun, da Die Gespräche mit dem Anwalt fanden in einem gesonderten kische Versuch, einen „Sozialismus mit mensch- standen, alle schimpften darüber. Aber diese Ungerechtig- gab es keine „imperialistischen Umtriebe“. Raum statt und gleich beim ersten Gespräch bedeutete er lichem Antlitz“ zu schaffen, wurde von weiten keit wurde vom System so gewollt. mir, dass hier abgehört würde. Dies fand ich bestätigt, als Teilen der Bevölkerung mit großer Anteilnahme Görls: Warum wurde das gewollt? Um die Leute an das ich einmal unvorhergesehener Weise einen Blick durch eine und Hoffnung aufgenommen. Die Darstellung System zu binden und zu sagen, wer nicht für uns ist, ist halboffene Tür in das Nebenzimmer werfen konnte, worin der Reformen als Konterrevolution lösten Ent- gegen uns? ich das laufende Tonbandgerät einer Abhöranlage sah. setzen und Wut aus. Dass die Ideen des „Prager Fritzsch: Es sprach sich herum, dass man bessere Zensuren Görls: Die Funktion des Anwalts war ja dann eine Farce, Frühlings“ in der DDR für große Besorgnis in der bekam, wenn man in der Partei war, und viele wurden noch Gefangenschaft nicht wahr? politischen Führung sorgten, lässt sich auch an den vor dem Abitur Mitglied. Das war eine der Methoden der Fritzsch: Ja, die Anwälte hatten alle Angst vor solchen Pro- Stasi-Unterlagen ablesen. Der mögliche „Riss“ im SED, Menschen an die Partei zu binden. in der DDR zessen, das waren ja Drahtseilakte. Sie waren selbst mit einem sozialistischen Lager, in den das Ausscheren der Görls: Damit war der Eintritt sozusagen ein formeller Akt. Bein schon im Gefängnis, sie durften nichts hören und nicht Prager Kommunisten durch den Versuch eines Das heißt, die Partei nahm Mitglieder auf, von denen sie viel reden. demokratischeren Sozialismus umgewidmet wurde, nicht wusste, ob diese parteikonform dachten? Görls: Sie nannten den „Prager Frühling“ von 1968. Gab es wurde mit großer Sorge, fast Panik betrachtet. Für Fritzsch: Ja, aber sie wurden streng kontrolliert. In den Partei- etwas Vergleichbares in der DDR, wie auch die Protestbewe- kein anderes Ostblockland war der Zusammenhalt versammlungen musste man Rechenschaft über seine Tätig- gung in der BRD zu dieser Zeit? des sozialistischen Staatenbündnisses von so keit ablegen, und wenn man der Partei zuwider handelte, Görls: Während der Vernehmungen in der U-Haft und nach Fritzsch: Es gab punktuell Proteste, in Jena und Leipzig, kleine existentieller Bedeutung wie für die DDR. wurde man hart bestraft. Es war also nicht leicht, eine uner- dem Urteil von 6 Jahren Haft, gab es da manchmal Momente, Aktionen, aber die Stasi griff gleich zu und verhaftete die Leute. wünschte Meinung zu verbergen. Außerdem, wenn man in denen Sie sich sagten: Ach, vielleicht hätte ich mich anders Görls: Wie viel Kritik hat die DDR eigentlich vertragen? Und Mehr dazu unter: www.bstu.bund.de/DE/Presse/Themen/ einmal in der Partei war, dann war man an sie gebunden. Die entscheiden sollen? Denn Sie mussten doch große Qualen wenn, wo und wie hat man Kritik geäußert? Hintergrund/20130819_prager_fruehling.html www.hdg.de/lemo/html/DasGeteilteDeutschland/KontinuitaetUndWandel/ meisten Parteimitglieder waren stramme Soldaten. Ich habe erleiden. Fritzsch: Die Partei hatte selbst gesagt, Kritik sei der Motor EntwicklungenImOsten/pragerFruehling.html · www.bpb.de/geschichte/ zwar viele kennengelernt, die ganz anders dachten, aber Fritzsch: Das Zuchthaus war quasi selbstgewählt, aber gleich- des Fortschritts, sie würden Kritik brauchen, aber man hat deutsche-geschichte/68er-bewegung/52007/prager-fruehling?p=all doch alles durchführten, was die Partei von ihnen verlangte, zeitig bedeutete es innere Freiheit. Es ist schwer zu erklären. sie nicht vertragen. Es gab die Blockparteien, keine SED, aus Angst. Ich bin damit dem schlimmeren Übel, der Zusammenarbeit die sich vorsichtig kritisch äußerten, es gab Vereinigungen, Sie haben auf ihre Mitglieder gut aufgepasst. Da gab es mit der Stasi, entgangen. Und ich habe es nie bereut, fand Jugendvereine, die aber von Stasi-Spitzeln durchsetzt waren. Parteiaufträge: Parteiauftrag hieß, dass Genossen die Mit- auch das Zuchthaus nicht so schlimm, denn es war meine Die Angst war dort zu groß, man hat nichts gesagt. Im Rah- genossen beobachten und über deren gesellschaftliche Ein- eigene Entscheidung zur Gewissensfreiheit. Viele hätten ja men der evangelischen Kirche gab es noch Freiräume, dort stellung und Arbeit Berichte schreiben mussten. Das war Albträume in dieser Situation gehabt, die ich nie hatte. Im wurde offener gesprochen. Aber durch Spitzel kontrolliert eine ganz gemeine Sache. Wer viele Pluspunkte haben wollte, Zuchthaus habe ich viele politische Schicksale mitbekommen, wurde man dort auch. Man kannte sich ja untereinander musste auch viele Leute möglichst schlecht beurteilen. Dieses da war ich dann erst recht froh, nicht auf der anderen Seite und wenn ein Fremder hinzukam, wurde das Gespräch sofort System trug sich damit von selbst: Je mehr man von anderen gestanden zu haben. Dennoch wurde die Zeit in dem Zucht- abgebrochen. Genossen berichtete, desto eher bekam man auch einen haus Brandenburg hart. Eingesperrt mit zu lebenslanger Kritik an Dingen des täglichen Lebens konnte man üben, besseren Job. Jeder beobachtete und schrieb Berichte über Freiheitsstrafe verurteilten Schwerverbrechern, musste ich als wie z.B. dass ein Brot zu hart sei, dass man gerade gekauft den anderen, freute sich, wenn andere Fehler machten, man politischer Gefangener körperliche Zwangsarbeit verrichten. hatte, dass ein Zug zu viel Verspätung hatte, dass es nicht selbst bekam viele Pluspunkte und der jeweilig andere hatte Görls: War den Menschen in der DDR bekannt, dass es genug Wohnungen gebe, zu wenig Bananen, zu wenig Kar- darunter zu leiden. „Informelle Mitarbeiter“ gab? toffeln oder schlechte, usw. Das heißt, man konnte diese Görls: Sie selbst wurden ja dann auch inhaftiert. Wie kam es Fritzsch: Nein, das wussten wir nicht. Wir wussten, dass die Dinge z.B. auf der Straße äußern, aber natürlich nicht etwa dazu? Stasi überall war, aber niemand von uns kannte ihre Struk- in einer Zeitung veröffentlichen. Eine Kritik am System dage-

72 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 73 >> Fortsetzung von S. 73:

Görls: Sie haben die DDR 1976 verlassen. Hatten Sie einen Ausreiseantrag gestellt? Fritzsch: Nach der Haft 1972 wollten sie mich in den Westen entlassen, aber ich hatte keine Garantie dafür, dass meine Frau mitkommen konnte. Denn ohne meine Frau wäre ich Flugzeug der DDR-Fluglinie Interflug: nicht gegangen. Sie sagten, ich müsse dann jahrelang in Tupolev TU-134 DM-SCZ, 1977. einer Fabrik arbeiten. So kam es denn auch. Ich durfte nicht Foto: RuthAS, CC BY-SA 3.0 mehr an die Universität zurück, obwohl meine Chefin meine Stelle freigehalten hatte. In dieser Zeit stellte ich Ausreise- anträge für die Familie, die erst nach 4 Jahren, 1976, geneh- migt wurden. Dabei gab es noch allerhand Schikanen, bis Auslandsreisen – wir die Ausreisevisa hatten. Aber wir durften sogar alles mit- nehmen, was schon eine sehr seltene Sache war. Wir haben aber wohin? Wie und für wen war Reisen erlaubt und möglich? dann alles gepackt, uns in den Zug gesetzt und sind in den Westen gefahren. Das war ein ganz merkwürdiges Gefühl. Plötzlich waren wir im Westen, das erste Mal aus dem dop- Private Reisen in die sozialistischen Staaten: Polen, der Staatsbank der DDR vorgelegt werden. Bei Reisen nach den Rentnern der DDR möglich, Frauen mit 60, Männern pelten Knast heraus, das Gefängnis in der DDR und dann ČSSR, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Sowjetunion, Kuba Polen und in die Sowjetunion war die Mark frei eintauschbar. mit 65 Jahren, die eine Einladung von Verwandten vor- noch eingemauert. Da war ich richtig lebensfroh. Für Reisen in die sozialistischen Länder waren ein Antrag Für die anderen Länder war ein Umtauschsatz festgelegt: in legen konnten, ein Antrag musste immer gestellt und Wir sind zu Verwandten nach Dillenburg in Hessen gegan- und eine Genehmigung erforderlich. Etwa 2 Wochen vor der Regel auf 30 Mark / Tag; für Ungarn auf zwölf Tagessätze genehmigt werden. Bei besonderen privaten Anlässen, gen, offiziell war das eine Familienzusammenführung. Reisebeginn war bei der zuständigen Meldestelle der Volks- begrenzt. Bei der ČSSR für mehrtägige Reisen 40 Mark / Tag. wie z.B. familiären Gold- oder Silberhochzeiten, hohen Görls: Haben Sie, wenn Sie zurückdenken, Gefühle wie polizei ein formeller Antrag zu stellen, mit Angabe von Die Aufenthaltstage der Länder, die durchreist wurden, waren runden Geburtstagen oder auch Todesfällen konnten Ärger, Wut oder Hass den Menschen gegenüber, die Ihnen Reiseziel und -dauer, Hotel- oder Privatadresse, auch die nicht angegeben. Reiseerlaubnisse altersunabhängig und für jeden Bürger Unrecht getan hatten? Angabe „Zeltplatz“ konnte genügen. Dieser Antrag nannte Allgemeiner Grundsatz für westliche Auslandreisen war beantragt werden. In der Regel erhielt nicht die ganze Fritzsch: Nein, das war alles furchtbar, aber Hass, nein. Ärger sich „Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr“ und war die Zuverlässigkeit und die Einschätzung, dass die Rückkehr Familie, sondern nur einzelne Familienmitglieder die Be- natürlich. Stärkste Abneigung gegen die Diktatur, die habe ein halbes Jahr gültig. Ein Reiseantrag gen Osten konnte des Reisenden in die DDR zu erwarten ist. suchsreise genehmigt. Der Staat wollte damit vermeiden. ich natürlich. Und eine ganz starke Abneigung gegen diese genehmigt, aber auch abgelehnt werden. Umgangssprachlich dass eine komplette Familie die Gelegenheit nutzt, sich in Art, mit Menschen umzugehen. wurde die Reiseanlage oft als „Visum“ bezeichnet, was es Wer durfte ins westliche Ausland reisen? den Westen abzusetzen. Eine private Reisegenehmigung Görls: Was würden Sie jungen Menschen aus Ihren Erfahrun- jedoch nicht war, denn es wurde von der DDR selbst ausge- In erster Linie „Reisekader“, das waren Führungskräfte sowohl konnte nach Überprüfung verweigert werden, ohne gen mitgeben? Worüber sollten junge Menschen nachdenken stellt. Ein Visum jedoch wird von einem Einreisestaat erstellt. in der Politik und Industrie als auch im Sport, in der Kultur, Nennung der Gründe. oder diskutieren? Spontane private Reisen, bei denen der Personalausweis Kunst und Wissenschaft und einzelne Personen im Auftrag Fritzsch: Sie sollten sich mit diesem Teil der deutschen Ge- ausreichte, waren nur in die Tschechoslowakei (heute Tsche- des Staates, für die Partei oder für ein Kombinat, z.B. ausge- Gruppenreisen für junge Erwachsene schichte beschäftigen, das ist eine wichtige Sache. Durch chien und Slowakei) und nach Polen möglich. Aufgrund der wählte Facharbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler zu inter- bis zum 25. Lebensjahr Studium, durch Lesen, durch Surfen im Internet und vor allem Solidarnos´ c´ -Bewegung in Polen im Oktober 1980 allerdings nationalen Fachkongressen, Sportler zu internationalen Wett- Das Reisebüro FDJ Jugendtourist unterstand dem Amt für auch einfach einmal in die neuen Bundesländer fahren, mit wieder aufgehoben. In Prag trafen sich DDR-ler mit West- kämpfen oder Seeleute, Fernfahrer, Flugzeugbesatzungen. Jugendfragen beim Ministerrat. Es förderte den internatio- den Leuten dort sprechen. Ich glaube, das Wichtigste ist, mit verwandten, Prag hatte eine weltstädtische Atmosphäre, Alle Reisen dieser Art hatten einen geschäftlichen Anlass. nalen Jugendtourismus und bot jungen Erwachsenen Reisen Menschen zu sprechen, die das System DDR erlebt haben, auch Budapest war beliebtes Reiseziel. (Anmerkung: solidar- in die sozialistischen und auch nichtssozialistischen Länder also mit älteren Menschen. Heute können alle offen reden, nos´ c´ = Domino-Effekt) Voraussetzungen für Kaderreise an. z.B. nach Vietnam, Ägypten, Algerien, Indien, Mexiko. was vor der Wende nicht möglich war. Nur durch das Wissen Es gab strenge Voraussetzungen. Der Bedarf für eine Westreise- Jährlich fanden ca. 9.000 Reisen in die Sowjetunion statt. Die um Unterdrückung kann man ermessen, wie wertvoll die Reisen in die UdSSR (Sowjetunion) Tätigkeit musste erforderlich sein. Die Person sollte vor allem Mehrzahl der Westreisen führte in die BRD und hatte einen Meinungsfreiheit ist, die wir jetzt erleben. Und vor allem durch Reisen in die Sowjetunion wurden DDR-Bürgern nur durch politisch-ideologisch zuverlässig sein. Wenn anzunehmen politischen oder sportlichen Anlass. Sie wurden in der Regel Information und Kommunikation kann man antidemokrati- eine organisierte Pauschalgruppenreise über ein DDR-Reise- war, dass der Kandidat wieder in die DDR zurückkehren in Zusammenarbeit mit dem deutschen Jugendherbergs- sche Strömungen erkennen und ihnen entgegenwirken. büro ermöglicht. Die südrussische Region Krasnodar war wird, wurden sogar Fachleute mit besonderem Wissen aus werk organisiert und hatten ein festgelegtes Programm. wegen ihrer Kurorte bei DDR-Bürgern beliebt. Die Hafenstadt sensiblen Bereichen, z.B. der Mikroelektronikindustrie, West- Bevorzugt wurden Jugendliche, die in der FDJ aktiv und Sotschi wurde gern für Badeurlaube gebucht, sie wurde die reisen gestattet. Es war also ein großer Vertrauensbeweis. in den Großbetrieben tätig waren. Auch hier wurden die „Riviera des Ostens“ genannt und hat ein besonderes Klima politische Zuverlässigkeit und weitere Kriterien geprüft. Ein auf dem gleichen Breitengrad wie Nizza in Frankreich. Indi- Wohin gingen die Dienstreisen? junges Ehepaar hätte beispielsweise nicht gemeinsam an viduelle Reiseanträge wurden grundsätzlich abgelehnt, denn Entweder nach West-Berlin, in die BRD oder Staaten, die einer Westreise teilnehmen können. Alle Reisen hatten ein Wir sprachen mit Günter Fritsch, Individualreisen in die UdSSR waren nicht erwünscht. unter dem Sammelbegriff NSW oder KA zugeordnet wurden. festgelegtes Programm. ehemaliger politischer Häftling in der DDR. (NSW – Kurzform für nichtsozialistische Wirtschaftsgebiete Ausnahmen: Jugoslawien und Mongolei und KA für kapitalistisches Ausland). Einschränkung der Reisefreiheit Lesetipp: Jugoslawien war zwar ein sozialistischer Staat, aber kein Mit- Als Reisekader wurde man vorgeschlagen. Eine Reise- Obwohl die DDR 1974 den Internationalen Pakt über bürger- Günter Fritzsch, „Gesicht zur Wand. glied des RGW und auch nicht im Warschauer Pakt, es galten erlaubnis galt für eine bestimmte Zeit, konnte aber auch liche und politische Rechte unterzeichnete und damit grund- Willkür und Erpressung hinter Mielkes Mauern“ Reisebeschränkungen wie für das westliche Ausland. Zur Mon- dauerhaft erteilt werden, für ein Jahr oder länger, auch legende Menschenrechte rechtsverbindlich garantierte, setzte St. Benno Verlag golei unterhielt die DDR diplomatische und wirtschaftliche nach USA oder Kanada. Der Reisepass wurde nicht dauer- sie diesen nicht in nationales Recht um. Deshalb gab es 1977 Beziehungen, tausende junge Mongolen erhielten in der haft ausgehändigt, dieser musste am Ende der Reise zurück- und 1984 eine Anhörung vom Menschenrechtsausschuss der DDR eine Hochschul- oder Facharbeiterausbildung es galten gegeben werden, die Pässe wurden in einem Tresor der Vereinten Nationen (UN). (Anmerkung der Redaktion: Das ebenfalls Reisebeschränkungen. Kaderleitung aufbewahrt Ergebnis der Anhörung haben wir nicht herausfinden können!) Die DDR blieb jedoch dabei, die Reisefreiheit ihrer Bürger Geldumtausch Private Besuchsreisen in die BRD gen Westen einzuschränken. Um die Mark der DDR in eine der ausländischen Währungen Reisen zu Verwandten waren – ab dem Bau der Berliner umzutauschen musste die „Reiseanlage“ vor Reiseantritt bei Mauer und der innerdeutschen Grenze 1961 – nur noch Renate St. und Görls-Redaktion

74 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 75 legales Vorhaben, denn im Wahlgesetz der DDR heißt es: „Die tages der DDR. Trotzdem soll mit Hilfe der Feierlichkeiten O-Ton zum Thema Die Friedliche Stimmauszählung ist öffentlich.“ Als die Wahllokale am 7. Mai der Schein gewahrt bleiben. Die SED weiß, dass Unruhen zu 1989 um 18 Uhr schließen, finden sich dort hunderte Frei- erwarten sind. Sie beschließt, einen Aufstand notfalls mit „Reisen“ Revolution 1989 willige ein, um die Auszählung der Stimmen zu kontrollieren. Gewalt niederzuschlagen und inszeniert die gewohnten Die Ergebnisse der Stimmenauszählung werden über Mittels- Jubelfeiern und Volksfeste in Berlin: Der Fackelzug der FDJ Nicht frei reisen zu können, ist schwer vorstellbar männer an geheim gehaltene Orte gebracht, an denen die am 6. Oktober und die Militärparade am 7. Oktober. Die heute. Mein Vater reiste viel wegen seiner Arbeit. Unzufriedenheit Auswertung vorgenommen werden soll. Die Ergebnisse der Aufmärsche sind nur noch Fassade, denn FDJ, die Pionier- Und wenn die Westverwandtschaft schöne Karten „Schwerter zu Pflugscharen“ heißt die Losung der breiten einzelnen Stützpunkte werden an einen zentralen Ort weiter- organisation „Ernst Thälmann“, SED und FDGB haben keinen schickte … das weckte schon Sehnsucht! Mein kirchlichen Friedensbewegung in der DDR, die wie alle oppo- geleitet. Dort laufen auch die Ergebnisse der kontrollierten Zulauf mehr. Die „Stützen der sozialistischen Gesellschaft“ Freund und ich waren damals 19 Jahre alt, als wir sitionellen Gruppen nach Einleitung der Politik von Glasnost Stimmauszählung aus allen Bezirken der DDR ein. Drei Stun- geben keinen Halt. Auf den Straßen protestieren die Men- eine Hotel-Pauschalreise machten. Der Vater von und Perestroika ihre Aktivitäten verstärkt. 1989 nimmt die den später liegt das von den Bürgerrechtlern ermittelte Wahl- schen offen gegen das SED-Regime. Es wächst der Mut zum meinem Freund hatte kurzzeitig in Russland an einer Unzufriedenheit der Bürger zu. Mit dem Ruf „Freiheit ist im- ergebnis vor. Danach haben etwa sieben Prozent der DDR- Aufbegehren. Die DDR- Führung verkennt die Situation, be- Pipeline gearbeitet, dort hat er Vergütungsschecks mer die Freiheit des Andersdenkenden“ zitieren Demonstranten Bürger gegen die SED gestimmt. Für die Staatspartei ein ver- tont die „Verbundenheit von Volk und Partei“ und täuscht bekommen, damit sind wir nach Ungarn gefahren. in Leipzig am 15. Januar 1989 die Sozialistin Rosa Luxemburg. heerendes Ergebnis. Die Frage ist jetzt nur: Wird sie das auch wirtschaftliche Fortschritte vor. Die Bevölkerung kehrt ihrem Ungarn war sehr beliebt – es war „der Mercedes“ Anlässlich des 70. Jahrestags ihrer und Karl Liebknechts Er- zugeben? Die Überraschung bleibt jedoch aus. „Knapp 98 Staat den Rücken. unter den sozialistischen Ländern. Für uns war der mordung findet eine „Gegendemonstration“ für Meinungs-, Prozent Ja-Stimmen“ wird in den Abendnachrichten mit- Wechselkurs in Ungarn relativ hoch, auch, weil dort Versammlungs- und Pressefreiheit sowie für das Recht auf geteilt. Die Bürgerrechtler haben nun den Beweis. All die Ausreisewelle viele BRD-ler Urlaub machten, man sah viele Autos Ausreise statt. Mühe hat sich gelohnt. Erstmals ist an Hand von Zahlen nach- Als Ungarn ab Mai 1989 die Grenzanlagen zu Österreich ab- mit Westkennzeichen, für sie war es ein billiger Urlaub, Für die SED sind Andersdenkende Staatsfeinde, die bespit- weisbar, dass die SED die Wahlen gefälscht hat. baut, setzt eine Fluchtbewegung ein. Die Massenflucht von günstig Essen gehen, einkaufen, etc. Für uns aus zelt und verhaftet werden. Diese Aufgabe übernehmen die „Wir haben es geschafft, indem wir uns alle eingebracht DDR-Bürgern ist einer der Auslöser für die weiteren politi- der DDR war dagegen alles teuer, jeden Tag ein Eis (1988) rund 89.000 hauptamtlichen und 109.000 inoffiziellen haben“, resümiert der Pfarrer Rolf-Michael Turek. „Und das schen Entwicklungen des Herbstes 1989. Insgesamt nehmen oder einen kleinen alkoholfreien Softdrink, das war Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Ob- hat dann den Mut gegeben, zu sagen: Leute, lasst uns auch die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest, Prag und nicht drin, das konnten wir uns nicht leisten. Ganz wohl die SED-Regierung für den Beginn des Jahres 1989 noch andere Dinge angehen. Denn wenn wir das mit der Warschau von August bis Oktober Tausende von Flüchtlingen besonders für uns in dem Alter war, dass man dort mehr Freizügigkeit im innerdeutschen Reiseverkehr zusagt, Wahl geschafft haben, dann kriegen wir auch noch andere auf. Wie vor dem Mauerbau fliehen meist junge Leute. Als nachgemachte Jeans aus dem Westen bekommen behandelt sie weiterhin die Ausreisewünsche der Bürger Dinge gebacken!“. Am 7. Mai 1989 demonstrieren 1000 Men- Ungarn am 11. September seine Grenze zu Österreich öffnet, konnte. restriktiv. Im März kommt es in Leipzig zu Demonstrationen schen auf dem Markt in Leipzig gegen den Wahlbetrug der fliehen innerhalb von drei Tagen etwa 15.000 Menschen. Nach Polen zu reisen, war für uns günstig, aber dort von Ausreisewilligen, auf die das MfS mit Gewalt und Ver- SED. Nach Verhandlungen mit der UdSSR und der DDR verkündet gab es nicht wirklich was Besonderes zu kaufen. In haftungen antwortet. der damalige Außenminister der BRD, Hans-Dietrich Genscher, der Tschechoslowakei gab es in den größeren Städten 40. Jahrestag der DDR am 30. September in Prag die Ausreiseerlaubnis für etwa schon Geschäfte mit tollen Sachen, diese waren aber Wahlbetrug Die DDR-Führung verkennt die Wirklichkeit. Während Flucht- 6.000 Flüchtlinge, die sich in der bundesdeutschen Botschaft relativ teuer; meine Eltern haben mir einmal ein paar Dass Wahlergebnisse in der DDR stets gefälscht waren, ver- welle und Demonstrationen die Grundfesten des Staates er- in Prag aufhalten. Die von der DDR „Ausgewiesenen“ reisen Skischuhe aus Prag mitgebracht, das war was ganz muteten viele. Im Frühjahr 1989 nehmen Hunderte junger schüttern, feiert sie in altgewohnter Weise am 7. Oktober mit Sonderzügen über DDR-Territorium in die Bundesrepublik. besonderes! Nach Rumänien oder Bulgarien fuhren wir Leute, die sich überwiegend in kirchlichen Basisgruppen orga- 1989 den 40. Gründungstag der DDR. In mehreren größeren Später werden wir wissen, dass am 9. November bereits mehr nicht, sie waren doch auch arm, und deren Lebensstan- nisiert haben, in allen Städten der Republik ein Ritual ernst, Städten kommt es zu Protesten und Demonstrationen. Die als 200.000 Übersiedler aus der DDR in der Bundesrepublik dard war sogar niedriger als unserer in der DDR. das ansonsten kaum noch einen DDR-Bürger interessiert: die Sicherheitsorgane gehen mit massiver Gewalt gegen die Demon- angekommen sind. Katrin Schöneich Wahlen. Sie haben sich kein geringeres Ziel gesetzt, als die stranten vor. Mehr als 1.000 Menschen werden verhaftet. Die SED des Wahlbetrugs zu überführen und der Lächerlichkeit staatlichen Feierlichkeiten enden in einem Fiasko, die Unruhen Friedensgebete Im Alltag war die DDR – wie wir es erlebt haben – preiszugeben. Um dieses endlich beweisen zu können rufen treffen das Regime empfindlich. Die Fiktion einer Einheit von In Leipzig gestalten oppositionelle Gruppen die seit 1981 nichts Negatives, aber ein Erlebnis hatte meine Frau: die Bürgerrechtler auf Flugblättern zum Boykott der Kommu- Volk und Partei ist sichtbar zerbrochen. Aufgrund der sich bestehenden und 1985 wiederbelebten Friedensgebete, Als 19-Jährige stellte sie einen Reiseantrag wegen nalwahlen 1989 auf und kündigen an, die Auszählung der zuspitzenden Krisensituation entscheidet sich Erich Honecker an denen auch Nichtchristen teilnehmen. Im September einer Einladung zu einem runden Geburtstag einer Stimmen flächendeckend zu kontrollieren. Es ist ein ganz zunächst gegen die geplante Großinszenierung des 40. Jahres- und Oktober 1989 entwickelt sich aus diesen traditionellen Tante in der BRD. Der Antrag wurde abgelehnt. Friedensgebeten ein Aufstand in Leipzig, der zur Initialzün- Meine Frau war darüber sehr traurig und enttäuscht. dung für die sogenannte Herbstrevolution wird. Die Gewalt- Dies hat sie sehr nachdenklich gestimmt. losigkeit als Mittel politischer Auseinandersetzung verbindet Thomas Titze alle Beteiligten der Friedensgebete. Die Friedensgebete gehören zur christlichen Kultur des Widerstandes in der DDR und führen Formen der Friedens- bewegung fort. Bereits im Laufe des Frühjahrs 1988 finden sich mehr und mehr Ausreiseantragsteller zu diesen Gebeten ein, und im März kommt es im Anschluss an die Friedensgebete zu ersten Demonstrationen von Ausreisewilligen. In der Folge fordert der SED-Staat die Kirche immer wieder dazu auf, die Gebete zu unterlassen oder sie zu entpolitisieren. Am 8. Mai wird während des Friedensgebets, nun auch „Montagsgebet“ genannt, erstmals ein Polizeikessel um die Nikolaikirche gebildet. Am 4. September findet schließlich

Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7.10.89. Die landes- weiten Proteste wurden von der Parteiführung ignoriert. Nur einen Monat später fiel die Berliner Mauer. Foto: Bundesarchiv 183-1989-1007-402, Klaus Franke, CC BY-SA 3.0 Ganz links: Demonstration in Plauen, 28.10.1989. Foto: Bundesarchiv 183-1989-1106-405, Wolfgang Thieme, CC BY-SA 3.0

76 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 77 die erste der Montagsdemonstrationen nach dem Friedens- bleiben hier!“. Mit Parolen wie „Wir sind das Volk“, „Keine gebet in der Nikolaikirche statt, die bald nicht mehr alle Gewalt“, „Neues Forum zulassen“, „Freiheit, freie Wahlen“ Besucher fassen kann. Deshalb werden die Friedensgebete in oder „Lasst die Gefangenen frei“ fordern die Demonstran- den folgenden Wochen auf andere Leipziger Kirchen ausge- ten Meinungsfreiheit und politische Reformen. Das massive dehnt. Die traditionell kirchlichen Friedensgebete werden Aufgebot an Sicherheitskräften greift angesichts der Men- Tagebuch Luise, durch den Protest gegen die vom Staat ausgeübte Gewalt schenmassen nicht ein. Eine Woche später nehmen bereits zusätzlich politisiert. Die Gebete für Gewaltfreiheit übertra- 120.000 Menschen aus der ganzen DDR an der Montags- 1989, 50 Jahre alt gen sich auf die Parolen der Straße: „Keine Gewalt!“ rufen demonstration teil. Erneut halten sich die Sicherheitskräfte im Herbst 1989 Demonstranten in der ganzen DDR. zurück, obgleich Vorbereitungen für ihren massiven Einsatz getroffen sind. Zwei Tage später, am 18. Oktober, tritt Montagsdemonstrationen Honecker nach 18-jähriger Regierungszeit, offiziell aus „ge- Als Beginn der sogenannten Montagsdemonstrationen gilt sundheitlichen Gründen“, von seinen Posten zurück. Meine Erinnerungen an den Krieg wirbeln immer um den einen der 4. September 1989, als es im Anschluss an eines der tradi- Begriff – Chaos. Pures, unüberschaubares, vollständiges Chaos. tionellen Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche zu Fall der Mauer Menschen, die gleichzeitig lachten und weinten, weil die Welt all einer großen Menschenansammlung auf dem Kirchenvorplatz Die Ausreisewellen führen im Herbst 1989 zu Produktions- ihre Logik verloren hatte. kommt. Etwa 1.000 Menschen fordern „Stasi raus“ und „Reise- ausfällen in der Wirtschaft. Die Regierung der CSSR droht, Und heute breitet sich wieder das Chaos vor uns aus, bloß dass freiheit statt Massenflucht“. Seitdem versammeln sich jeden ihre Grenze zur DDR zu schließen. Gleichzeitig gerät die es ohne Bomben kam. Linda Deichselmann – oh nein, ich bin sie Montag mehr und mehr Menschen zu Demonstrationen, die DDR-Regierung durch die Proteste und Demonstrationen der nicht losgeworden in all den Jahren – behauptete neulich, sie hätte von den Sicherheitskräften beobachtet, behindert und gewalt- „Hierbleiber“ weiter unter Druck. Um einen Zusammenbruch die Spannung gespürt, die schon das ganze Jahr in der Luft liegen sam aufgelöst werden. In den Montagsdemonstrationen der DDR zu vermeiden, entschließt sich die Regierung zur Re- würde. Im Nachhinein ist das immer leicht zu sagen! Ich glaube offenbart sich der SED ein bisher unterschätztes Protestpoten- formierung des Reisegesetzes, die den Fall der Mauer ein- kaum, dass irgendjemand ahnen konnte, wo wir jetzt stehen. tial in der Bevölkerung. leitet. Noch im Januar verkündete Erich Honecker, die Mauer würde Am 11. und 18. September versuchen die Sicherheitskräfte, 9. November 1989. Um 18.57 Uhr stellt sich Günter Scha- in 50 oder 100 Jahren noch existieren, solange die Gründe für mit brutaler Gewalt und Verhaftungen weitere Montags- bowski, Mitglied des SED-Politbüros, auf einer internationalen ihren Bau noch bestehen (Jan senkte die Augen und verschob demonstrationen zu verhindern. Dennoch beteiligen sich am Pressekonferenz den Journalisten und verliest vor laufenden seine Ägyptenreise auf 50 bis 100 Jahre in die Zukunft). 25. September etwa 8.000 Menschen an der Demonstration Kameras stockend „von einem Zettel, den mir jemand zuge- Im Oktober gab es dann die beeindruckenden Demonstratio- nach dem Friedensgebet. Als am 2. Oktober etwa 20.000 Men- steckt hat“, wie er später bekennt, einen Beschluss des Minis- nen in verschiedenen Städten der DDR. Sie forderten Reformen schen demonstrieren, kommt es erneut zu brutalen Aus- terrats, den dieser wenige Minuten zuvor gefasst habe: „Pri- und durch die Massen der Demonstranten ging die Parole „Wir schreitungen seitens der Machthaber, die allerdings die vatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Vor- sind das Volk!“ (Jans Augen leuchteten auf, ich sah praktisch, Demonstranten nicht aufhalten können. Am selben Tag wird aussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) wie sich die Pyramiden von Gizeh darin spiegelten). Natürlich war eine Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche für die beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig unser Sohn beim Protest in Berlin dabei; frage mich niemand, politischen Gefangenen in der DDR eingerichtet. erteilt. Ständige Ausreisen können über alle Grenzüber- wie er es geschafft hat, einer Festnahme zu entgehen. Keinen Foto: privat Am 7. Oktober werden die Gegendemonstrationen zum gangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin Monat später, bei der großen Demo am Alexanderplatz, wurde 40. Jahrestag der DDR in Leipzig ebenso wie in Plauen, Magde- (West) erfolgen.“ Auf eine Nachfrage erklärt Schabowski, schon niemand mehr festgenommen (Jans Augen beruhigten burg, Karl-Marx-Stadt und Potsdam von den Sicherheitskräften dies trete nach seiner Kenntnis „sofort, unverzüglich“ in sich seitdem nicht mehr). Offiziell sprach man immer noch von mit massiver Gewalt beendet. Auf dem Ost-Berliner Alexander- Kraft. einer reformierten DDR, aber mit dem 9. November wurden diese Begründung ausreisen könnten. Die Nachrichten überschlugen platz entwickelt sich eine große Demonstration. Vor dem Noch in der Nacht eilen Tausende an die Grenze nach Stimmen immer leiser. sich nun. Hieß das, dass die Mauer nun überflüssig wurde? Hieß Palast der Republik, wo die offiziellen Feierlichkeiten statt- West-Berlin. Am 9. November gegen 23:30 Uhr befiehlt der Ich weiß noch, wie ich mit Ulrich im Wohnzimmer saß. Wir das, dass wir nun einfach so über die Oberbaumbrücke spazieren finden, rufen Demonstranten: „Gorbi, Gorbi, hilf uns!“. Michail diensthabende Kommandant des Grenzüberganges Born- hatten eine alte Schallplatte laufen, mit Liedern aus der Zeit, als konnten? Gorbatschow, Ehrengast der „Jubelfeier“, warnt die SED- holmer Straße, Oberstleutnant Harald Jäger: „Den Schlag- wir uns kennen gelernt hatten. Ich las Kassandra von Christa Wolf Meyer verteilte Schnaps an alle Volljährigen, wir tranken schwei- Führung: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“. baum hoch!“ Er handelt auf eigene Faust. Von seinen hoch- – eine Empfehlung von Jan. Die Nachrichten hatten wir schon vor gend. Sein Hund, angesteckt von der allgemeinen Aufregung, Am 9. Oktober wird vor der Montagsdemonstration in rangigen Vorgesetzten fehlen Anweisungen und die Straße einer Weile aufgegeben, denn wir brauchten ja nur auf die Straße scharwenzelte nervös um uns herum. In unseren Wohnungen den Kirchen und im Leipziger Stadtfunk zu Gewaltlosigkeit ist voll von Menschen, die „Macht das Tor auf!“ rufen. In zu gehen oder auf unseren Sohn und seine Freundin zu warten, begann das Sturmklingeln, Leute aus der Straße riefen uns zu, aufgerufen. Über 70.000 Menschen ziehen nach Friedens- einem Freudentaumel ohnegleichen fallen sich fremde Men- um zu erfahren was es Neues gab. dass sich alle auf den Weg zu den Grenzübergängen machten, zur gebeten in vier Leipziger Kirchen über den gesamten Innen- schen in die Arme und feiern gemeinsam spontan die Öff- Gegen 7 Uhr abends wurde es irgendwie unruhig im Haus, Bornholmer Straße, sofortige Ausreise hieße schließlich sofortige stadtring. Statt „Wir wollen raus!“ skandieren sie „Wir nung der Mauer. über uns ging etwas zu Bruch, nebenan knallte eine Tür, der Hund Ausreise. Einige aus dem Haus gingen mit, Ulrich und ich blieben der Meyers begann zu bellen. Dann klingelte es bei uns, unsere aber beim alten Meyer sitzen. Würden die tatsächlich all diese Nachbarin von Gegenüber stand mit ihrer jüngeren Tochter vor der Leute durchlassen? Würde man wirklich nicht schießen? Quelle: Tür, beide hatten Lockenwickler in den Haaren. »Entschuldigt bitte, Keine Frage, wo unser Sohn war – mitten in der Menschenmenge LeMO – Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wir haben gerade diese Pressekonferenz im Radio gehört…ähm, am Brandenburger Tor, Parolen rufend, auf die Mauer steigend, die habt ihr das verstanden am Ende, was der Schabowski meinte mit Pyramiden von Gizeh immer vor Augen. Wir sind das Volk. Und wo den neuen Reisebestimmungen?« »Tut mir leid, wir haben Musik das Volk ist, herrscht heute der Ausnahmezustand. Während ich gehört«, antwortete ihr Ulrich, aber da ging ein Stockwerk weiter hier sitze und schreibe, kann ich mich nicht mehr erinnern, dass es unten schon die Tür auf und der alte Meyer lunzte zu uns hoch. in den Straßen jemals leise gewesen war. Die Westberliner haben 16.10.1989, Karl-Marx-Platz: Geschätzte »Ah, Luise, Ulrich, Hanna! Habt ihr das auch grad gesehen? Häuser in Friedrichshain besetzt. Gerade heißt es, dass Honecker 70.000 Menschen gingen in Leipzig nach Können wir jetzt ausreisen oder was?!« aus der SED ausgeschlossen wird. Ich habe Kopfschmerzen vom den montäglichen Friedensgebeten in der Keine fünf Minuten später saßen alle aus dem Haus in Meyers vielen Lärm und den verwirrenden Meldungen in allen Medien. Nikolaikirche auf die Straße. Wohnzimmer und verfolgten die Meldungen im Fernsehen. Viele kommen nicht mehr zur Arbeit, ob nun nur für ein paar Tage Foto: Bundesarchiv 183-1990-0922-002, Offenbar hatte Günther Schabowski, Mitglied des Politbüros, oder für immer kann niemand sagen. Was morgen ist? Keiner Friedrich Gahlbeck, CC BY-SA 3.0 verkündigt, dass alle DDR-Bürger ab sofort und ohne jegliche kann es mir sagen.

78 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 79 Erinnerungen Buchtipp: an den 9. November 1989, HELDEN den Tag der Grenzöffnung der friedlichen Mauer nahe Reichstag, Revolution Ende 1989. Foto: Superikonoskop

Peggy aus Magdeburg zwei Deutschlands gibt. Die Leute in dem anderen Deutsch- Ich war dreizehn Jahre jung. Meine Ma war auf einer Betriebs- land durften nicht reisen, wohin sie wollten. Auch kannten feier und mein Dad hütete uns derweil zu Hause. Wir spielten sie nicht alle Obstsorten, die für uns längst selbstverständlich zu dritt und mein Dad verfolgte teilweise die Nachrichten. waren. Offensichtlich war sie übermannt von den neuen un- Als meine Ma dann nach Hause kam, fuhr mein Dad zur Nacht- geahnten Möglichkeiten, die sich mit dem Mauerfall ergaben schicht. Als er davon wieder kam, sagte er zu meiner Ma, für all diese Leute im anderen Deutschland. Ich hab es damals dass irgendwas los sei. Die Leute stünden bei der Polizei so hingenommen – richtig begriffen habe ich alles erst viel Schlange. Aber wie! später. Ich wurde zum Brötchen holen zum Bäcker geschickt. Muss irgendwie ein freier Schultag gewesen sein. Ich kam an der Kathrin Schöneich, Bad Heiligenstadt, Thüringen Polizei vorbei und dachte noch, dort gibt es etwas zu kaufen. Den Tag der Grenzöffnung haben wir im Fernsehen verfolgt. War ja nicht ungewöhnlich, das Schlange stehen. Ich sah Ich hab mich dann mit meinen Eltern in den Wartburg gesetzt, einen Mann, der seiner Frau Stiefel anzog und dachte, dass und wir haben uns in die lange Schlange an der Grenze in es dort Schuhe zu kaufen gab. Oh man war ich blöd :-) Duderstadt angestellt. Es waren nur 10 km bis nach Göttingen. Später erklärte mir mein Dad, dass es ein großes Ereignis Dort war Himmel und Volk unterwegs, wir haben in einer gegeben hätte in der Nacht und man nun in den westlichen der vollen Kneipen gesessen und mit Göttingern die ganze Teil (nach drüben) fahren kann. Es berührte mich nicht beson- Nacht gequatscht. Am Ende haben wir bei einem Studenten ders, denn ich kannte nichts anderes. Und ich wusste ja nicht, übernachtet. Es war absolut einmalig. Ich bereue es heute was es für die Erwachsenen bedeutete. Um auf die Leute noch, dass ich damals keine Fotos gemacht habe – unvorstellbar. Thomas Mayer zurück zu kommen, die bei der Polizei Schlange standen: Die standen dort, weil sie alle ein Reiseerlaubnis brauchten, um Olivia Barton, Thüringen, heute Hessen nach drüben zu fahren. Also ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich schon am In den darauf folgenden Wochen fehlten oft Schüler im 9.11. was mitbekommen habe, denn bei uns wurde der Unterricht. Die Eltern nahmen ihre Kinder für einen oder Grenzübergang selbst erst am 11. November geöffnet. An zwei Tage aus der Schule, da sie nach drüben fuhren. Wir diesen Tag kann ich mich erinnern. Ich war damals 8 Jahre alt fuhren an einem Freitag auch endlich nach Braunschweig. und als ich aufgewacht bin, haben mir meine Eltern erzählt, Der Zug war mehr als voll. Die Kinderwagen wurden durch dass etwas ganz Tolles passiert ist. Wir haben uns angezogen die Fenster gehoben und man konnte sich nicht wirklich und sind zur Hauptstraße gegangen. Da war ich total über- bewegen und das einige Stunden lang. Auf der Rückfahrt rascht, denn ich habe in meinem Leben bis dahin noch nie war es zum Glück anders und wir begegneten mehreren so eine lange Schlange an Trabis und Wartburgs gesehen. älteren Menschen (Wessis) die sich mit uns unterhielten und Das ist für ein 500-600 Seelendorf ja sonst auch nicht so ge- kleine Geschenke dabei hatten. Das fanden wir natürlich toll. wöhnlich. Meine Eltern haben mir erzählt, dass diese Auto- schlange bis in die Stadt geht, wo meine Oma wohnt (ca. Lena Hach, Groß-Bieberau, heute Berlin 15 km) und vielleicht sogar noch viel weiter. Das konnte ich An den Tag habe ich keine greifbare Erinnerung. Ich glaube gar nicht glauben. Dann sind wir zu Fuß über die Grenzen aber, dass ich durch die Gespräche der Erwachsenen, durch gegangen und auf der anderen Seite standen überall fremde die allgemeine Aufregung und das, was im Fernsehen ge- Menschen, die uns zugejubelt haben und sich tierisch gefreut zeigt wurde, gemerkt habe, dass irgendetwas von großer haben. Uns Kindern hat jeder Süßigkeiten zugesteckt. Und Bedeutung geschehen ist. Wenn ich mich richtig erinnere, dann stand da unsere Westverwandtschaft, die ich bis dahin habe ich dann meine Mutter darauf angesprochen und sie noch nie gesehen habe, obwohl sie eigentlich nur in so kurzer hat mir von der Grenze und der Grenzöffnung erzählt. Entfernung von uns wohnten. Die haben sich natürlich auch tierisch gefreut. Anja Gerstenberg, Ober-Ramstadt, heute Hamburg Ich weiß nicht mehr genau, ob es an diesem Tag war, aber Also... am 10.11.1989 hat unsere Geschichtslehrerin ganz wir sind dann noch mit ihnen nach Göttingen gefahren. Wir aufgeregt die frohe Kunde überbracht, dass „die Mauer“ waren dort essen und haben sogar von fremden Leuten Spiel- offen sei. Ich wusste damals – 14-jährig – nicht so genau zeug bekommen. Übrigens: Meine Schwester und ich besitzen was das bedeutet. Nur so viel: Es war gut! Als ich später dieses sogar noch heute. nach Hause kam, fand ich meine Mutter vor dem Fernseher Für mich war das alles total aufregend und neu. Aber ich wieder, die Nachrichten schauend und Tränen der Rührung denke, so richtig verstanden, was da passiert ist, habe ich erst vergießend. Sie hatte uns irgendwann mal erklärt, dass es ein, zwei Jahre später.

80 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 81 Antje aus Reichenbach (Vogtland), heute Hessen 09.11.1989 – es war ein Donnerstag und ich musste früh ins Bett, weil ich in die Schule musste. Es hatte tief im Süden der DDR eh keiner was von der Grenzöffnung mitbekommen. Der erste Trabi rollte morgens mal an die Grenze ran – Jugend- liche, die aus der Disco kamen und dachten, die Meldung im Radio wäre ein Scherz. Ich habe es Freitagmorgen vor der Schule von einem Schul- kamerad erfahren. Er meinte: „Die Grenzen sind auf“. Meine Freundin und ich meinten nur: „jaja“ und haben es am Anfang auch nicht geglaubt. Aber als es mehrere erzählt haben, war es schon ein emotionales Gefühl. Es war an diesem Tag Thema Nr. 1 in der Schule (und nicht nur an diesem Tag). Als ich nach Hause kam, hat mein Vater gleich gemeint, wir beide fahren Und nachgefragt bei Michael: und sich viele Jahre nicht sehen können, nicht sehen dürfen. am Samstag nach Berlin, wir müssen dabei sein, das wird ein Görls: Michael, wie alt warst du beim Mauerfall? Familien wurden getrennt und Ortschaften wurden zerschnit- einmaliges Erlebnis. Leider erst Samstag, da wir samstags Michael: 18 Jahre. Ich bin jetzt 43 Jahre alt. ten. Also das gehört schon so zusammen wie es heute ist. noch Schule hatten. Meine Mutter hat die ganze Zeit gemeckert Görls: War der 9.11.1989 für dich ein besonderer Tag, Und deswegen ist es auch gut, dass es wieder so ist. und konnte es gar nicht verstehen. Berlin war ja nicht ein- wie hast du es erfahren? Am Anfang gab es viele Schwierigkeiten zu überwinden, fach um die Ecke und was wir da wollten. Es wären so viele Michael: Ich habe es hauptsächlich über die Medien erfah- vor allem infrastrukturell. Die Menschen im Osten wussten Menschenmassen unterwegs, da würden wir doch gar nichts ren. Bei uns im Freundeskreis war das Thema nicht so hoch nicht, wie Behörden und soziale Einrichtungen in West- sehen. Wir sollten warten, bis der Run vorbei ist. Aber mein gehängt, also es hat uns nicht so wahnsinnig beschäftigt. Wir deutschland organisiert waren und auch wegen der Art und Vater blieb dabei und wir sind gefahren. sind nicht nach Berlin gefahren, wir waren auch nicht super Weise, wie sie es vielleicht im Osten gewohnt waren. Bis das Meine Schulfreundin hatte an dem Samstag zum Geburts- euphorisch, wir hatten andere Themen damals. Wenn wir alles so zusammenfand, wie es heute ist, war ein langer Weg. tag eingeladen, also bin ich erst nach der Schule zu ihr hin vielleicht an Berlin räumlich näher dran gewesen wären oder Mittlerweile ist es so angeglichen, dass wir alle ganz gut damit und abends gegen 19 Uhr sind mein Vater und ich von Rei- näher zum Grenzgebiet, wäre es eher ein Thema gewesen. leben können. Trotzdem haben wir die Unterschiede noch chenbach (Vogtland) gestartet und in Leipzig in einen total Görls: Hattest du Verwandte im Osten? nicht alle überwunden. Für mich gehört Thüringen genauso überfüllten Zug nach Berlin umgestiegen. Die Menschen Michael: Nein, hatte ich nicht. Auch ein Grund, warum ich dazu wie Schleswig-Holstein, also ich mache da keine Unter- wurden teilweise durch die Fenster in den Zug rein gehoben. mich mit der DDR nicht wirklich beschäftigt habe. Im Nach- scheidung mehr zwischen neuen und alten Bundesländern. Mein Vater und ich hatten noch ein Stehplätzchen an der Tür hinein finde ich das sehr bedauerlich. Bei uns Jugendlichen Görls: Und dass die Gehälter für die gleiche Arbeit unter- ergattert. In Berlin sind wir dann einfach nur den Massen Foto: privat hat es nicht so die große Rolle gespielt. Es war zwar bekannt, schiedlich sind? hinterher und sind kurz nach Mitternacht über den Check- man war ein bisschen skeptisch, was da läuft…. da haben Michael: Das muss natürlich peau á peau angeglichen werden. Point-Charlie nach Westberlin. Ganz viele Leute mit Sekt- Nicole aus Berlin andere Menschen zusammen gefeiert, die sich vorher nicht Es wird noch ein bisschen Zeit brauchen, bis es so weit ist. flaschen standen am Straßenrand und haben uns begrüßt, Meine Eltern haben sich 1988 scheiden lassen und meine kannten, und wir waren nicht dabei. Ich denke, man sollte da hinkommen, dass Löhne auf einen trotz der Kälte. Es war eine große Party. Mutter hat sich danach entschlossen, mit uns Kindern nach Görls: Man war nicht vorbereitet, denk ich? Stand gebracht werden. Trotzdem wird es Unterschiede Wir sind dann erstmal ins „Joe am Kudamm“, da waren West-Berlin auszureisen. Einmal, um meinem Vater und dem Michael: Nein, wir waren auch nicht durch die Schule vorbe- geben, die Mieten im Osten sind einfach günstiger als im noch mehr Ossis. Mein Vater hat ein Bier und eine Schachtel ständigen Streit zu entfliehen (wir haben auch nach der reitet. Zu dem Zeitpunkt, in der Ausbildung und in der Berufs- Westen. Ich hab neulich auch gehört, dass Hochschulen damit Marlboro, ich eine Cola spendiert bekommen. Wir hatten ja Scheidung zusammen gewohnt, Wohnraum war rar). Meine schule war es kein Thema. Inzwischen weiß ich, dass es im werben, ein Willkommensgeld zu zahlen, wenn Studenten noch kein Westgeld. Gegen 4 Uhr kam dann jemand rein und Großeltern wohnten in West-Berlin und mein Opa konnte Lehrplan für Geschichte und Gemeinschaftskunde steht. Wir in den „neuen“ Bundesländern studieren. Also es gibt noch rief, die Dresdner Bank zahlt Geld aus. Plötzlich sind alle auf- Hilfe in seiner Kneipe gebrauchen. Familienzusammenführung sollten uns der neuzeitlichen deutschen Geschichte immer strukturelle Unterschiede, aber trotzdem denke ich, man soll gesprungen und sind zur Dresdner Bank gelaufen. Wir sind war somit der offizielle Grund für unseren Ausreiseantrag. bewusst sein und bleiben. versuchen diese anzugleichen und auf ein Level zu bringen. einfach immer den Massen nach. Nach längerem Anstehen Wir haben dann in den Monaten vor der Ausreise in Ost- Görls: Deutschland ist seit fast 25 Jahren wieder eine Das wurde mit dem Straßenbau und mit den Gebäuden ja haben wir dann auch das Begrüßungsgeld bekommen. Von Berlin über irgendwelche Verwandtschaft eine Wohnung zur Einheit, was hältst du davon? Ist Deutschland für dich auch gemacht, der Solidaritätszuschlag ist ein Beitrag dafür. da aus sind wir an die Mauer – wo ich dann auch als Erin- Verfügung gestellt bekommen, in die wir an den Wochen- zusammengewachsen oder noch nicht? Jetzt sollen die kulturellen und sozialen Veränderungen in nerung Mauerspecht gespielt habe ;-) enden gefahren sind. Wir Kinder sollten uns auf dem Weg Michael: Ich denke, grundsätzlich ist es eine prima Sache den Köpfen der Menschen passieren. Dann ging die Meldung herum, um 13 Uhr wird der Pots- an die Stadt gewöhnen. Man konnte Ost- und West-Berlin gewesen. Es findet zusammen, was zusammengehört und damer Platz aufgemacht. Also wir nichts wie hin, um auch allerdings nicht vergleichen, wie ich später festgestellt habe. irgendwann mal getrennt wurde, ohne dass das demokra- hier dabei zu sein. Ein Mauerstück wurde mit Kran rausge- Und diese Wohnung war eine Nebenstraße der Bornholmer tisch abgestimmt war. Die Menschen haben Leid erfahren hoben. Berlins Regierender Bürgermeister Momper (mit dem Straße. Wir konnten vom Fenster aus auf den Grenzüber- roten Schal) und ein Berliner Bär (das Wappentier von Berlin gang schauen, der am 9. November 1989 als erster geöffnet als Walking Act) sind als erstes durch das Loch in der Mauer werden sollte. Das ist schon verblüffend, wenn man darüber gelaufen. Auf den anderen Mauerteilen saßen junge Leute nachdenkt. und haben gejubelt. Ich saß die ganze Zeit auf den Schultern Wir sind am 5. Juli 1989 ausgereist und im November von meinem Vater und hab Fotos gemacht. Immer wieder ging die Grenze auf. Da saß ich dann auf der anderen Seite gaben mir Leute ihre Kamera in die Hand und ich hab für sie der Mauer vorm Fernseher und habe die Bilder von der Born- Fotos „von oben“ geschossen. Mein armer Vater, ich war ja holmer Straße gesehen. Ich war erst 11, aber das war selbst damals fast 18 und auch schon etwas schwerer ;-) für mich heftig. Abbildungen: privat Also, wenn ihr Fotos braucht, ich hab sie schön im Album aufgehoben. Aber es war echt ein bewegendes Erlebnis und noch heute werden meine Augen feucht, wenn ich mich an das Wochenende erinnere. Ich bin meinem Vater sehr dank- bar für diese Reise.

82 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall | 83 Gründung 90 0 der neuen Bundesländer 2.8 i Wirtschafts-, 9 Die 1945 von der sowjetischen Besat- III. Wiedervereinigung – .1 9 l Währungs- und Sozialunion 2 -u i zungsmacht eingerichteten Länder (1952 auf- Öffnung des J Die aus der DDR übernommenen Wirtschaftsprobleme, l gelöst und in 14 Bezirke eingeteilt) sind weitgehend 2 Brandenburger ökologische Altlasten, infrastrukturelle und bauliche vom Mauerfall zur Deutschen Einheit - u Vorbild für die Bildung der neuen Bundesländer, die mit Tores Substanzschäden sowie ökonomisch-soziale Strukturbrüche machen z J dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober

Nach 28 Jahren im die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet r

.89 1990 eingerichtet werden. Am 22. Juli 1990 beschließt

1 Sperrgebiet wurde das – nach Artikel 72 Absatz 3 Grundgesetz Aufgabe der staatlichen Politik – zu

1 ä die Volkskammer ein Ländereinführungsgesetz, das die

. Bundeskanzler Brandenburger Tor in einer einem vordringlichen Entwicklungsziel, um auch die innere Einheit Deutschlands zu

Neugründung der fünf Bundesländer auf dem Gebiet der DDR

8

Helmut feierlichen Zeremonie gewährleisten. Zwischen Bonn und Ost-Berlin laufen im Frühjahr 1990 die Vorbereitungen

als Gliedstaaten des Bundes vorbereitet: Die neuen Länder

2 M

wieder geöffnet. für eine Wirtschaftsunion der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Kohl skizziert die Einheit

sind Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, der Freistaat

89

9

Deutschland auf Hochtouren. Die Verfechter einer schnellen Währungsunion wollen die Ohne Absprachen mit dem Koalitions- .1 Sachsen, Sachsen-Anhalt und der Freistaat Thüringen. Nach dem 1 partner und den westlichen Bündnispartnern günstige außenpolitische Konstellation nutzen. Auch angesichts der anhaltenden Ströme von 1 Ländereinführungsgesetz erarbeiten die im Oktober 1990 neu . Mauerfall legte Helmut Kohl im Deutschen Bundestag .89 Übersiedlern sehen sie sich zu raschem Handeln gezwungen. Die Botschaft auf den Spruchbändern gewählten Landtage Verfassungsentwürfe für ihre Länder, 9 Am Abend des 9. Novembers wird ein „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung 2 der Demonstranten in der DDR ist eindeutig: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, die zwischen Mai 1992 (Sachsen) und Oktober 1993 das Ende der Berliner Mauer verkündet der Teilung Deutschlands und Europas“ vor. Darin 1 Besetzung der geh‘n wir zu ihr!“. Am 18. Mai unterzeichnen die Finanzminister der beiden deutschen Staaten . (Thüringen) von den Landtagen verabschiedet werden. – und zwar eher beiläufig. Am Ende einer heißt es in Punkt 10: „Mit dieser Politik wird 4 Stasi-Niederlassungen den Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, den sogenannten In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern

Pressekonferenz informiert Politbüromitglied Günter auf einen Zustand des europäischen Friedens Im Dezember hatten DDR-Bürger Staatsvertrag. Unter Hinweis auf den maroden Zustand der DDR-Wirtschaft plädieren jedoch viele und Thüringen werden sie zudem durch

Schabowski über die neue Reiseregelung. Auf die hingewirkt, in dem das deutsche Volk in freier in Städten wie Erfurt und Leipzig Stasi- Wirtschaftsexperten – vom Sachverständigenrat bis zum Bundesbankpräsidenten – dafür, die DDR

Volksabstimmungen legitimiert. Nachfrage eines Journalisten, ab wann die Regelung gelten Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen nicht gleichsam über Nacht dem Wettbewerb mit der westdeutschen und internationalen Konkurrenz

Niederlassungen besetzt. Sie wollten damit die

soll, stammelt Schabowski die Weltsensation in die Kameras: kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Aktenvernichtung stoppen, die die Stasi nach auszusetzen. Eine schnelle Währungsunion sei eine „Rosskur“, der die DDR-Betriebe wegen ihrer

„Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort...unverzüglich.“ Wiedergewinnung der staatlichen Einheit dem Mauerfall am 9. November 1989 begonnen weit geringeren Produktivität nicht gewachsen seien. Eines der umstrittensten Themen ist der

Verblüfft zerbrechen sich die Journalisten die Köpfe, was mit Deutschlands, bleibt das politische Umtauschkurs von DDR-Mark in D-Mark. Die Wirtschaftsverbände halten eine Währungsumstellung

hatte, um ihre Taten zu verschleiern und Inoffizielle

dem Gesagten konkret gemeint sei. Um 19.05 Uhr laufen die Ziel der Bundesregierung.“ Mitarbeiter (IM) vor der Enttarnung zu schützen. im Verhältnis 1:1 für untragbar. Mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion übernimmt

Eilmeldungen über die Ticker der Nachrichtenagenturen: „DDR Ungeachtet dieser Protestaktionen setzte die die DDR zum Stichtag 1. Juli 1990 große Teile der Wirtschafts- und Rechtsordnung der

öffnet die Grenze“. Am 9. November gegen 23:30 Uhr befiehlt Bundesrepublik. Auch in der DDR gilt nur noch die D-Mark als Zahlungsmittel. Löhne, Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg ihre Arbeit

der diensthabende Kommandant des Grenzüberganges unvermindert fort. Das stieß auf großen Unmut Gehälter, Renten, Mieten und andere „wiederkehrende Zahlungen“ werden 1:1

Bornholmer Straße, Oberstleutnant Harald Jäger: „Den umgestellt. Bei Bargeld und Bankguthaben sind die Regelungen komplizierter. Kinder bei der Opposition – ebenso die Pläne der noch

Schlagbaum hoch!“. Er handelt auf eigene Faust. amtierenden Regierung, die Stasi durch eine unter 14 Jahren können bis zu 2.000 DDR-Mark im Verhältnis 1:1 umtauschen,

Von seinen hochrangigen Vorgesetzten fehlen Umwandlung in einen Verfassungsschutz 15- bis 59-Jährige bis zu 4.000 DDR-Mark, wer älter ist, 6.000 DDR-Mark.

Anweisungen und die Straße ist voll von und einen Nachrichtendienst in die Darüber hinausgehende Beträge werden im Verhältnis 2:1 umgestellt. Mit

Menschen, die „Macht das Tor auf!“ neue Zeit zu retten. der Übernahme des wirtschafts- und sozialpolitischen Systems der

rufen. Bundesrepublik und der Einführung der D-Mark als alleinigem

Zahlungsmittel ist die wirtschaftliche Eingliederung

der DDR in die Bundesrepublik praktisch vollzogen. Zwei-plus-vier- Vertrag Ohne die Zustimmung der Siegermächte des Zweiten 18. Weltkriegs ist die Deutsche Einheit nicht möglich. Die 3.9 0 Bundesrepublik ist seit vier Jahrzehnten ein demokratischer Rechtsstaat Freie Wahlen und verlässlicher Bündnispartner. Aber ihre Nachbarstaaten fragen M Angesichts der wachsenden Unruhe in der sich, ob nicht ein vereinigtes Deutschland – schon auf Grund seiner Größe Bevölkerung beschließt der Zentrale Runde Tisch, den und Wirtschaftskraft und vor allem aufgrund seiner Geschichte – ein Risiko für a Termin für die ersten freien Volkskammerwahlen auf den Sicherheit und Stabilität in Europa darstellen würde. Eine rasche Folge diplomatischer 18. März 1990 vorzuziehen. Um die Gunst der 12,2 Millionen Verhandlungen zieht sich durch das Jahr 1990: In den sogenannten „Zwei-plus-Vier- i

stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger werben 24 Parteien, Gesprächen“ beraten seit dem 5. Mai die Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten - politische Vereinigungen und Bündnisse. Die Auseinandersetzungen im Weltkriegs mit ihren Kollegen aus den beiden deutschen Staaten über die außenpolitischen Wahlkampf kreisen vor allem um die Frage nach dem Modus und Tempo der Konsequenzen einer Wiedervereinigung. Bei den Verhandlungen geht es um die Ablösung der S angestrebten Einheit. Wahlsieger ist die Allianz für Deutschland, ein Bündnis Rechte der Alliierten, wie sie im Potsdamer Abkommen von 1945 für „Deutschland als Ganzes“ e aus CDU, Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU). festgeschrieben wurden, und die Bündniszugehörigkeit Gesamtdeutschlands. Die Westmächte

Das Grundgesetz erlaubt zwei Möglichkeiten der Vereinigung: Artikel 23 sieht fordern, das vereinigte Deutschland müsse Mitglied der NATO bleiben, was die Ausweitung p einen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vor, während Artikel 146 eine dieses Bündnisses bis an die deutsch-polnische Grenze bedeutet – für die Sowjetunion ein

neue Verfassung und die Zustimmung durch das deutsche Volk zur Voraussetzung neuralgischer Punkt. Am 14. Juli 1990 reist Helmut Kohl zu vertraulichen Gesprächen mit t

macht. Der Beitritt nach Artikel 23 ist also schneller zu vollziehen. Hierfür plädiert Michail Gorbatschow nach Schelesnowodsk im Kaukasus. Am nächsten Tag gibt der Kanzler e die konservative Allianz für Deutschland, die SPD tritt für eine Vereinigung nach auf einer Pressekonferenz das sensationelle Ergebnis zu Protokoll: Der sowjetische Präsident m Artikel 146 Grundgesetz ein, die PDS fordert einen Staatenbund. Die im Bündnis 90 erklärt sein Einverständnis zur freien Bündniswahl eines vereinten Deutschlands. Die

vereinten Bürgerbewegungen erstreben eine stufenweise staatliche Vereinigung. Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich gewähren er 9 b

0 Erstürmung Das Wahlergebnis ist ein klares Votum für die möglichst rasche Vereinigung mit der b 0 dem vereinigten Deutschland die volle staatliche Souveränität. Die Bundesrepublik

.9 der Stasi-Zentrale Bundesrepublik und die zügige Einführung der sozialen Marktwirtschaft. Die m Deutschland garantiert die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, stimmt e e r 1 Keine staatliche Organisation war in der Allianz für Deutschland erhält etwa 48 Prozent der Stimmen, die SPD 21,9 t Einigungsvertrag einer Reduzierung ihrer Streitkräfte zu und verzichtet auf ABC-Waffen. . DDR so verhasst wie die Staatssicherheit. Je Prozent, die PDS 16,3 Prozent, und die Liberalen (Bund Freier Demokraten) p Am 6. Juli beginnen in Ost-Berlin die Volkskammer und Bundestag legen am 21. Juni 1990 die Endgültigkeit 5 stärker sich das Ende der DDR abzeichnet, umso kommen auf 5,3 Prozent. Das Bündnis 90 erreicht – auch aufgrund der Verhandlungen über den Einigungsvertrag der deutsch-polnischen Grenze in ihrem bestehenden Verlauf an der Dominanz der westdeutschen Parteistrukturen im Wahlkampf – e Oder-Neiße-Linie fest. Am 12. September 1990 unterzeichnen 1 dringlicher wird die Frage, was aus der Stasi und ihren (2. Staatsvertrag) zum Beitritt der DDR nach Millionen von Akten wird. An diesem Tag besetzten DDR- lediglich 2,9 Prozent der Stimmen. Mit der Auflösung der SED S Artikel 23 Grundgesetz. Nach langen Diskussionen die sechs Außenminister in Moskau den Zwei-plus-Vier- Bürger die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin. Sie wollten haben die Bürgerbewegungen keinen gemeinsamen 12.4 über den Beitrittstermin beschließt die Volkskammer Vertrag, der die äußeren Aspekte der deutschen 3.1 . - 0 damit die Vernichtung der Geheimdienstakten stoppen, die Gegner mehr, viele ihrer Ziele, wie freie Wahlen 9 Einigung verbindlich regelt. Neue 0 in einer Sondersitzung in der Nacht vom 22. auf den 23. . bald nach dem Mauerfall begonnen hatte. „Mit Fantasie und und politische Reformen, sind erreicht. August 1990 mit 294 von 400 Stimmen den Beitritt der DDR Geltung des 9 DDR-Regierung i 0 ohne Gewalt.“ – so lautete der Aufruf der Bürgerbewegung Am 12. April 1990 wählt die l zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zum 3. Oktober 1990. Grundgesetzes „Neues Forum“ zur Kundgebung vor den Toren der Stasi- Volkskammer in Ost-Berlin den CDU- Der Vorsitzende der PDS, Gregor Gysi, tritt ans Rednerpult: „Das Mit dem Beitritt der DDR zum Gel-

u Zentrale am 15. Januar 1990. Tausende Demonstranten waren Politiker Lothar de Maizière (geb.1940) Parlament hat nicht weniger als den Untergang der Deutschen Quellen: Stiftung tungsbereich des Grundgesetzes am 3.

dem Aufruf gefolgt und verlangten die Abschaffung des zum Ministerpräsidenten. Er bildet eine große J Demokratischen Republik zum 3. Oktober beschlossen. „Ein Oktober wird dieser Tag anstelle des 17. Juni

Haus der Geschichte der Bundesrepublik DDR-Geheimdienstes. Sie wollten die Tore des Gebäudes in Koalition aus CDU, DSU, DA, SPD und den einzigartiger Vorgang: Ein Staat löst sich friedlich und demo- als Tag der Deutschen Einheit zum gesetzlichen

Deutschland · LeMO - Lebendiges Museum Online

der Normannenstraße symbolisch vermauern und damit Liberalen. Seine Regierung verfolgt das Ziel, kratisch selbst auf. Am 20. September stimmen beide Par- Feiertag erklärt. Das Grundgesetz tritt mit diesem

die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit lamente dem rund 900 Seiten starken Einigungsvertrag Bundeszentrale für politische Bildung, Tagesschau.de in Verhandlungen mit der Bundesrepublik Datum in den fünf neuen Ländern Brandenburg,

besiegeln. Sie stürmen die Zentrale, bald fliegen den Beitritt der DDR gemäß Artikel 23 zu: die Abgeordneten der Volkskammer mit 299 von Fotos: Bundesarchiv 183-1989-1109-030,T. Lehmann; Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-

Akten aus den oberen Stockwerken. Viele 380 Stimmen, die des Bundestags mit 442 von 492

Grundgesetz vorzubereiten und hierbei Bundesregierung Bild-00017806, Engelbert Reineke; Anhalt und Thüringen sowie in Ost-Berlin in Unterlagen werden gerettet, etliche die Rechte und Ansprüche der Stimmen. Der Bundesrat verabschiedet den Kraft. In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober Bundesarchiv 183-1990-0115-034, Zimmermann; Akten aber verschwinden. DDR-Bürger durch verbindliche Vereinigungsvertrag einstimmig. feiern die Deutschen mit Glockengeläut Festschreibungen zu Brandenburger Tor - SSGT F. Lee Corkran - DoD photo, USA; und Feuerwerk die Vereinigung sichern. Abbildungen: Telex - dpa; Sektorenschild - Elkawe; CC BY-SA 3.0 ihres Landes.

84 | Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland | 85 Der Bundesbeauftragte Gedenkstätten und Museen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zur kommunistischen Diktatur in der SBZ / DDR der ehemaligen DDR

Die Behörde des Bundesbeauftragten (BStU) bewahrt in ihren lösung dieser Geheimpolizei erzwungen. Zeitweise wurden Die Bundesstiftung Aufarbeitung hat eine Übersicht über Archiven die 1990 sichergestellten Unterlagen des Ministeri- Dienststellen der ehemaligen DDR-Geheimpolizei besetzt, Gedenkstätten und Museen zur kommunistischen Diktatur ums für Staatssicherheit der DDR auf. Dabei handelt es sich um die Vernichtung von Akten zu stoppen. Jeder Betroffene in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR erarbeitet. um mehr als 111 Kilometer Aktenmaterial und mehr als solle das gesetzliche Recht auf Einsicht in seine Akten erhalten, Diese Publikation liegt unter dem Titel „Orte des Erinnerns“ 1,4 Millionen Fotos. Der BStU stellt sie nach den gesetzlichen war das Ziel. Bürgerwille und das frei gewählte Parlament mittlerweile in der 2. Auflage vor und ist im Ch. Links Verlag Vorschriften des Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) Privatperso- der DDR ebneten den Weg für die Sicherung und kontrol- erschienen. nen, Institutionen und der Öffentlichkeit zur Verfügung. lierte Öffnung der weitgehend illegal angelegten Stasi-Akten. In einem weltweit wohl einmaligen Vorgang wurden Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, In der nachfolgenden Sammlung der Bundesstiftung Aufarbeitung Grafik: ahtos2626, 1989 / 90 im Zuge der Friedlichen Revolution in der DDR die wurde der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck zum Sonder- sind Gedenkstätten und Museen zur Geschichte der DDR aufgeführt: stepmap.de Dienststellen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicher- beauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen heit der DDR (MfS) von Demonstranten besetzt und die Auf- ernannt. Seine Behörde nahm mit anfänglich 52 Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern in der Zentralstelle Berlin und damals GEDENKSTÄTTEN ZUR ERINNERUNG AN OPPOSITION, 14 Außenstellen die Arbeit auf, heute sind es zwölf. WIDERSTAND UND VERFOLGUNG IN DER SBZ / DDR Unterstützt wurde die Arbeit von einem Aufbaustab und abgeordneten Mitarbeitern aus dem Geschäftsbereich des BERLIN SACHSEN-ANHALT Info Die Bundesstiftung zur Bundesministeriums des Innern. Mittlerweile sind mehr als • Dokumentationszentrum Berliner Mauer • Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn Aufarbeitung – Erinnerung als Auftrag 1.600 Beschäftigte in der Stasi-Unterlagen-Behörde tätig. • Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde • Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg für die Opfer Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED- Auf der Grundlage einer vorläufigen Benutzerordnung • Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße politischer Gewaltherrschaft Diktatur wurde 1998 vom Deutschen Bundestag werden erste Auskünfte zur Wiedergutmachung und Rehabi- • Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen • Gedenkstätte Roter Ochse Halle/Saale mit dem Ziel gegründet, die Auseinandersetzung litierung, für die Überprüfung von Abgeordneten und Be- • Informations- und Dokumentationszentrum des Bundes- mit der zweiten Diktatur in Deutschland zu för- schäftigten der öffentlichen Verwaltung und zur Verfolgung beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Grenzmuseen dern. Die Stiftung begleitet den Prozess der von Straftaten erteilt. • Museum Haus am Checkpoint Charlie • Grenzlandmuseum Bad Sachsa e.V. Deutschen Einheit und wirkt an der Aufarbeitung Ende Dezember 1991 trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz in • Grenzlandmuseum Eichsfeld von Diktaturen im internationalen Maßstab mit. Kraft, das seitdem sieben Mal novelliert wurde. Aus dem BRANDENBURG • Zonengrenz-Museum Helmstedt Anstoßen und fördern, informieren und vernet- „Sonderbeauftragten“ wurde 1991 der erste „Bundesbeauf- • Mahn- und Gedenkstätte „Lindenstraße 54“, Potsdam • Grenzdenkmal Hötensleben zen sind dabei die Leitmotive der Stiftung, die tragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der • Gedenk- und Dokumentationsstätte „Opfer politischer • Grenzmuseum „Schifflersgrund“ ihren Sitz in Berlin hat. ehemaligen DDR“. Am 2. Januar 1992 nehmen die ersten Gewaltherrschaft“ • Grenzhaus Schlagsdorf Jedes Jahr unterstützt die Bundesstiftung Bürgerinnen und Bürger Einsicht in ihre Akte. Nachfolgerin • Gedenkstätte Internierungslager Ketschendorf • Grenzlandmuseum Schnackenburg Aufarbeitung eine Vielzahl von Projekten, die Joachim Gaucks wurde im Oktober 2000 Marianne Birthler, • Gedenkstätte Speziallager Nr. 1 des NKWD / MWD, • Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn sich bundesweit und international mit Ursachen, ihr folgte am 15. März 2011 der Journalist und ehemalige Mühlberg / Elbe • Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth Geschichte oder Folgen der Diktatur in der SBZ/ Jenaer Bürgerrechtler Roland Jahn. • Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen • Thüringisch-Fränkische Begegnungsstätte mit der Informations- DDR auseinandersetzen. Bis heute konnten rund Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat den Auftrag, die Öffent- • Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus stelle über die Teilung Deutschlands, Neustadt bei Coburg 2.500 Vorhaben gefördert werden. Die Projekt- lichkeit über Struktur, Methoden und Wirkungsweise des • Internierungslager Jamlitz • Wanfrieder Dokumentationszentrum zur deutschen partner sind Gedenkstätten, Museen, Geschichts- MfS zu unterrichten. Sie trägt damit zur historischen, politi- • Zentralwaldfriedhof Halbe Nachkriegsgeschichte vereine, unabhängige Archive, Opferverbände, schen, juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung der • Zuchthaus Brandenburg-Görden • Gedenkstätte Point Alpha wissenschaftliche Einrichtungen und Institutio- SED-Diktatur bei. Sie fördert die öffentliche Auseinanderset- nen der politischen Bildung sowie der schulischen zung mit totalitären Ideen und Strukturen, indem sie öffent- MECKLENBURG-VORPOMMERN Grenzgedächtnis-Museen, Gedenkstätten, Mahnmale und und außerschulischen Bildungsarbeit. Die Stiftung lich zu aufarbeitungspolitischen Fragen Stellung bezieht. • Dokumentationszentrum für die Opfer deutscher Spuren der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer trägt zudem zur internationalen Vernetzung Herzstück der Behörde sind die Archive mit der Hinterlassen- Diktaturen, Schwerin Demmlerplatz Museen zur oder mit einem Schwerpunkt DDR-Geschichte bei der Aufarbeitung von Diktaturen bei. schaft des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie dokumen- • Dokumentations- und Gedenkstätte des BStU in der Darüber hinaus realisiert die Stiftung zahl- tieren die Herrschaftsmethoden und das Herrschaftswissen ehemaligen U-Haft der Stasi in Rostock • Bundesarchiv – Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewe- reiche eigene Veranstaltungen, Publikationen, der ehemaligen SED als kommunistischer Staatspartei der gungen in der deutschen Geschichte Ausstellungen und Wettbewerbe. In besonderem DDR und ihrer Geheimpolizei: Akten, Karteikarten, Filme, NIEDERSACHSEN • DDR-Museum, Berlin Maß tritt die Bundesstiftung für die Interessen Tondokumente, Mikrofiches. Mit insgesamt 111 km Akten, • Grenzdurchgangslager Friedland • Deutsches Historisches Museum, Berlin der Opfer politischer Verfolgung ein und trägt mehr als 1,7 Mio. Fotos, zahlreichen Videos sowie Tonbän- • Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst mit ihren vielfältigen öffentlichen Angeboten dern aus den Abhörzentralen des MfS handelt es sich um SACHSEN • Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR e.V., dazu bei, die Erinnerung an das geschehene einen der größten Archivbestände in Deutschland. Dazu • Stiftung Sächsische Gedenkstätten Eisenhüttenstadt Unrecht und die Betroffenen wachzuhalten. kommen weitere Unterlagen auf Sicherungs- und Arbeitsfil- • Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Torgau • Filmmuseum Potsdam men, die als Schriftgut ca. 47 km entsprächen. Zum Archiv- • Gedenkstätte Bautzen • „Gegen das Vergessen“ – Sammlung zur DDR-Geschichte, bestand kommen mehr als 15.000 Säcke mit teilzerstörten • Gedenkstätte Münchner Platz, Dresden Pforzheim Unterlagen, die zur Vernichtung vorgesehen waren. Sie • Erinnerungs- und Begegnungsstätte im ehemaligen • Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn www.bundesstiftung-aufarbeitung.de werden nun nach und nach gesichtet, sortiert und rekon- Jugendwerkhof Torgau • Museum für Junge Kunst, Frankfurt / Oder www.facebook.com/BundesstiftungAufarbeitung struiert. • Museum im Stasi-Bunker, Machern • Wittenberger Haus der Geschichte www.bstu.de • Museum in der „Runden Ecke“ • Zeitgeschichtliches Forum Leipzig www.demokratie-statt-diktatur.de

86 | Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland | 87 Deutschland – eine Einheit? Gibt es einen Ossi- oder Wessi-Typ? Tagebuch Luise, Wie sind deine Erfahrungen? 1990, 51 Jahre alt Wieso wird nach 25 Jahren immer noch ein Unterschied gemacht?

Ich kann nicht von einem Ossi- / Wessi-Typ sprechen unterschiedliche Erziehungen genossen und sind deshalb Seit sieben Jahren wohne ich in Berlin und die einzigen, anders sozialisiert. die ich mit Sicherheit erkenne und auch unterscheiden Wenn ich z.B. in einer Gruppe neuer Leute bin, ziehen kann, sind Hessen und Schwaben – und das auch nur, wenn sich die „Ossis“ irgendwie an. Man merkt das irgendwie an sie Dialekt sprechen. (Ob man es glaubt oder nicht: Diese der Art. Ich habe häufig das Gefühl, dass die Ossis offener Unterscheidung fällt nicht jedem leicht). Ich habe auch noch sind. So habe ich z.B. schon oft Mitfahrgelegenheit genutzt nie gemerkt, ob ich gerade im Ost- oder Westteil der Stadt und immer, wenn ich bei einem „Ossi“ mitgefahren bin, bin, es sei denn ich laufe an verräterischen Straßenbahn- haben wir uns auf Anhieb verstanden und die ganze Fahrt schienen entlang. Vielleicht bin ich auch einfach nur unemp- (4h) miteinander geredet. Wenn ich dagegen bei Wessis fänglich für diese Unterscheidung zwischen Ost und West. mit gefahren bin, haben wir die ersten 10 min geredet und Ich weiß es nicht. In meinem Alltag und Erleben wird dieser dann war Ruhe. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, Unterschied kaum gemacht – und ich bin sowohl mit Men- dass ich im Osten schneller Kontakt zu Leuten aufbauen Foto: privat schen befreundet, die ihre Kindheit in der DDR verbracht kann und als ich z.B. im Saarland gewohnt habe, habe ich haben als auch solchen, die irgendwo im Westen Deutsch- in einem Jahr kaum Leute kennen gelernt, bzw. habe ich da lands aufgewachsen sind. Manchmal, selten, wird irgendeine keine Freunde gefunden. Ich denke das liegt daran, dass wir spezifische Erinnerung erzählt oder über eine bestimmte bereits alle mit einem Jahr in der Kinderkrippe waren und Gerade eben habe ich Heike wiedergesehen. Zum ersten Mal nach sich zieht. Jan und seine Freunde bekommen wenig davon Süßigkeit geschwärmt, die es nur hier oder dort gab. Ich dort immer Kontakt zu Gleichaltrigen hatten. seit 47 Jahren! Mir ist noch ganz komisch in den Knien…sie hat mit, aber Ulrich und ich, wir versuchen zu verstehen, wie aus kann mir jedoch vorstellen, dass es im Hinblick auf manche Ein anderes Beispiel finde ich, dass Ossis viel selbststän- mir ein Plüschtier gegeben, das ich damals, 1943, bei ihr liegen zwei Ländern eins werden soll. Recht, Verwaltung, Wirtschaft, Themen wichtig ist, diesen Unterschied immer noch zu diger sind. So habe ich es schon oft erlebt, dass z.B. an der gelassen hatte. Es sieht nicht halb so mitgenommen aus wie Währung – das ganze System, das zu unserem Leben gehört hat machen, sei es Arbeitslosigkeit oder Fremdenfeindlichkeit. Arbeit viel besser meine Arbeit plane, ohne dass ich lange Heike und ich – das letzte Jahr hat uns ältere Herrschaften doch wie Sauerstoff, wird wie eine Pusteblume zerlegt. Komisch. Aber um hier mit Sicherheit etwas sagen zu können, weiß Wartezeiten habe, so also schneller fertig bin wie die ande- ganz schön gefordert. Wie ich es auch drehe und wende – komisch bringt es auf den ich leider zu wenig. Mit den Themen komme ich in meinem ren, aber trotzdem mehr geschafft habe. Ich denke auch Während im Fernsehen ständig Bilder von jubelnd emp- Punkt. Berliner Alltag wenig in Kontakt. Ich wohne im tiefen das liegt daran, dass wir früher schon eher auf uns alleine fangenen Trabbis und heulend vereinten Familien flimmerten, Und heute habe ich den einen Besuch getan, der mir so am Westberlin, viele Freunde im Osten, aber so genau merkt gestellt waren, da die Eltern beide gearbeitet haben. brauchte ich sehr lange, bis ich mich dem allgemeinen Aufbruch Herzen lag. Jan hat seinen Vater, mich und seine Freundin in sein man nicht, wo man sich gerade befindet, würde ich mal Ossis sind Menschen der Tat stellen konnte. Erst Ende November 89 ging ich über die Ober- Auto verfrachtet und ist losgefahren, 7 Stunden durch verstopfte sagen. Ich glaube, die ganzen hinzugezogenen (wie ich eine Und noch eine Sache fällt mir ein. Viele meiner Freunde baumbrücke. Straßen nach Mainz. Es war wirklich schade, dass meine Mutter bin) sind da einfach nicht so sensibilisiert oder bewusst. Die und ich sind Menschen der Tat. Die Wessis in meinem Alter Jan ließ seine neuen westdeutschen Freunde, die er im das nicht mehr erleben konnte: Tante Traudel, Cousine Heike und „echten Berliner“ thematisieren das öfter, ob sie sich gerade reden immer und immer wieder über das, was sie machen Freudentaumel an der Mauer kennengelernt hatte, für diesen ich zusammen auf einem Sofa. Neben Heike ein kleiner Plüsch- im Westen oder Osten befinden, aber das ist nur ein vager wollen und wie sie es machen könnten. Fragen da 10 ver- einen Moment links liegen und begleitete mich. Es war ein hund, der den zweiten Weltkrieg überlebt hat. Wir haben wieder Eindruck. Lena, früher Groß-Bieberau schiedene Leute, was sie denken – da gehen schon mal sehr komisches Gefühl, mein erster Schritt nach Kreuzberg seit mal Schnaps getrunken; ich befürchte, das wird eine schlimme Telefongespräche über 1 h ins Land, obwohl es nur um eine über 40 Jahren. Jan nennt es historisch, ich bleibe doch lieber Angewohnheit in dieser Zeit. Die Unterschiede werden irgendwann verschwunden sein kleine Sache geht. Wir Ossis reden da nicht lange, da wird bei komisch. Ich bin dann gleich durch gelaufen zum Kauf- Jan hat sich heute Reiseprospekte für Ägypten besorgt, außer- Aus meiner Sicht gibt es nicht mehr DEN gemeinen Ossi oder gesagt, ich würde das machen und dann sagt der andere Ja haus des Westens, wo ich den alten Meyer und viele andere dem Anmeldeunterlagen für verschiedene Unis, in der Hoffnung, Wessi – zumindest für mich nicht. Aber es gibt natürlich noch und schon wird angefangen. Friedrichshainer getroffen habe. Einmal einkaufen im KaDeWe! dass er nun endlich sein Kunststudium machen kann. Seine Unterschiede, an denen man auf eine Herkunft schließen Ich denke, solange noch Menschen leben, die in DDR und Das bisschen Westgeld, das ich noch aus Heikes letztem Brief Freundin kann schon ein paar Worte Arabisch, und in der Selig- kann. Das sind neben sprachlichen Aspekten oft Unterschiede BRD aufgewachsen sind, wird es noch die Unterscheidung hatte, reichte nur für eine Postkarte; auf das Begrüßungsgeld, keit der ersten Tage an der gestürmten Mauer hat ihr eine West- im Sozialverhalten. Ich finde oft, dass Menschen, die sich geben, da die Erziehung, das Leben einfach zu unterschied- das man den DDR-Besuchern an bestimmten Stellen auszahlte, berlinerin auch ein bisschen Englisch beigebracht. »Thank you! im System der DDR sozialisieren mussten, hilfsbereiter und lich war und einen geprägt hat. Ich denke, in der Generation, wollte ich aufgrund des hohen Andrangs und Schlange stehen Goodbye!«, flötet sie seitdem vor sich hin. solidarischer auftreten, als wir „goldenen Westärsche“. Aber die aufgewachsen ist, als die Grenze schon offen war, gibt es lieber verzichten. Denn Jan versprach: »Ab jetzt musst du keine »Ohje. Dann muss ich wohl auch anfangen, Englisch zu das stützt sich auf meine persönlichen Erfahrungen aus diese Unterscheidung nicht mehr. Schlange mehr stehen!« lernen«, habe ich in der Runde laut überlegt. Heike knuffte den einem sozialen Berufsfeld, in dem viel Team-Arbeit gefordert Olivia, in Thüringen groß geworden, Ich weiß nicht, ob das wirklich ein Trost ist. Denn so bewe- Plüschhund in sein abgeknicktes Lederohr und lachte: ist. Die Unterschiede werden irgendwann verschwunden studierte Bio in Darmstadt gend es ist, Zeuge dieser friedlichen Revolution zu sein, so zäh »Yes, Ma’am!« sein, wenn die Generationen, die in getrennten Systemen ist der bürokratische Rattenschwanz, den die Wiedervereinigung groß geworden sind, nach und nach nicht mehr da sind. Definitiv gibt es Unterschiede Anja Gerstenberg, Ost-West-Unterschiede gibt es definitiv noch: Das Auftreten, früher Ober-Ramstadt, jetzt Chirurgin in Hamburg das Selbstbewusstsein, die Offenheit, Bescheidenheit, .... gilt nicht immer für alle!!! Aber ist doch immer wieder auffallend. Ossis sind offener und kontaktfreudiger Ich behaupte mal, dass ich Ossis und Wessis unterscheiden Ich denke, so die Generation, die noch ein paar Jahre in kann! Zum Beispiel liest sich eine Bewerbung vom Wessi der DDR aufgewachsen ist, da kann man noch zwischen anders als vom Ossi. Ossi- und Wessityp unterscheiden. Wir haben einfach Kathrin aus Thüringen, zur Zeit der Wende 19 Jahre alt

88 | Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland | 89 Nach 25 Jahren noch keine Einheit?! ander eingehen ist mehr ausgeprägt. Ein ganz banales, dert auch die negativen Stammtischgespräche in den Dörfern. DDR – was ist das? Der Unterschied nach 25 Jahren ist meines Erachtens auch aktuelles Beispiel: Meine Kollegin sammelt für ihre Tochter In den Großstädten werden selten Unterschiede zwischen Die DDR wurde 2 Jahre vor meiner Geburt mit der Bundes- „hausgemacht“. Das fängt mit dem Solibeitrag an. Der im die Rewe-Bildchen. Na klar lasse ich mir beim Einkaufen auch Ost und West gemacht, ich erlebe es aber sehr oft in den republik Deutschland wieder vereinigt. Ich kann es kaum Osten übrigens viel Gutes gebracht hat. Straßen sind schön, die Bildchen, für sie, mitgeben und freue mich, dass ich den Dörfern bzw. in Gesprächen mit Menschen, die noch nie oder noch glauben, dass Menschen jahrelang sich über den Kon- neue Schulen usw. Aber die ehemaligen Grenzregionen im beiden eine Freude machen kann. Jörg kann das wiederum sehr selten aus ihrer Umgebung raus kommen. Antje flikt den Kopf zerbrechen mussten, jahrelang durch die Westen z.B., die vor der Grenzöffnung Zuschüsse erhalten gar nicht verstehen und meint, ich solle aufpassen, dass ich Teilung in ihren Rechten und ihrer Freiheit eingeschränkt haben, bekommen jetzt nichts mehr. Dann die Stammtisch- das nicht noch für weitere Kollegen anfange. Mauer im Kopf waren, dass sich Menschen eines Volkes angefeindet haben. Parolen – ein Beispiel: Einem Ossi steht keine Rente zu, er Und das ist auch das Problem, was ich habe (laut Jörg Die Leute im Westen waren viel selbstbewusster, aber auch Die Wiedervereinigung findet man in den Geschichtsbüchern hat ja auch nicht eingezahlt ins Rentensystem. Bzw. wegen oder meinem Chef) – ich wäre viel zu gutmütig. Aber ich viel egoistischer. Das mussten sie ja auch in gewisser Weise und in dem Geschichtsunterricht, aber nicht mehr in der den Ossis bekommen die Wessis weniger Rente. Blödsinn. habe gelernt: „Eine Hand wäscht die andere“. Und auch sein, sie mussten für sich selbst sorgen. In der DDR hat der aktuellen Debatte – höchstens unliebsame Nachwirkungen. Auch die Ossis haben Abgaben ins Rentensystem gezahlt. Sie wenn ich jemandem zehn Mal helfe und ich selbst nichts Staat gerade was Behördengänge und so was anging, dem Was ist meiner Generation, oder mir noch von diesem bekommen auch pro Jahr nur einen halben Rentenpunkt für brauche, aber ich weiß, sollte ich was brauchen, bekomme Bürger vieles abgenommen. Man musste sich um viele Dinge Konflikt geblieben? Ein paar schlechte Ossi-Witze, sonst 1 Jahr Arbeit vor der Vereinigung. Also bekommen sie schon ich es zurück. So denken viele Ossis (meine „alte“ Freundin nicht kümmern. Mit dem Zusammenbruch der Mauer fiel – nichts. Das heißt, das stimmt nicht so richtig. Steigt man weniger. Nur die Leute beschäftigen sich nicht damit und auch) und werden deshalb gern ausgenutzt(!). Mein Chef zumindest bei uns – auch der Familienzusammenhalt ein heute in den Zug nach Berlin, so kann man im ehemaligen tragen diesen Blödsinn weiter. hat mich übrigens zu einigen Seminaren geschickt, damit ich Stück weit auseinander. Jeder war auf einmal mit sich be- Osten auch heute noch erkennen, dass nicht alles so heraus- Arbeit – Also ich bin im Büro weiterhin die Ossifrau bzw. lerne „NEIN“ zu sagen (er ist Wessi und ist mit einer Ossifrau schäftigt. Die Familie trifft sich lang nicht mehr so oft und so geputzt ist wie in unserer Region. Auch heute, 25 Jahre Bürger mit Migrationshintergrund :) – alles spaßig gemeint. seit vielen Jahren zusammen und kennt das „Problem“). zahlreich wie früher. nach der Wiedervereinigung, verdienen Menschen in den Ich verberge nicht, wie viele andere „Weggezogene“, dass Bücher behalten – Bücher werfe ich prinzipiell nicht weg, Kurz nach der Wende gab es auch optische Unterschiede so genannten neuen Bundesländern in denselben Berufen ich aus dem Osten bin. Wir sind übrigens einige Ossis bei deswegen habe ich noch Bücher von früher – Schulbücher, zwischen Ossis und Wessis. Da hättest du mir 100 Leute auf- weniger und die Arbeitslosigkeit ist höher. Die starken uns in der Abteilung – alle verstehen sich mit den Wessis politische Bücher, Satire, Kochbücher, Aufklärung usw. Also stellen können und ich hätte dir gesagt, wer aus dem Osten Industriezentren liegen ebenfalls im Süden Deutschlands. gut. Wenn es Bananen in der Kantine gibt, werde ich nach wenn ihr was braucht bzw. Interesse habt, kann ich euch mal und wer aus dem Westen kommt. Das konnte man anhand Aber trotzdem, Deutschland ist für mich Eins. Das Gefühl wie vor von meinen Westkollegen immer schön drauf ne Liste senden bzw. könnt ihr sie gern mal lesen :-) der Kleidung und der Frisuren z.B. erkennen. Heute ist das der Teilung kann ich nicht mehr nachvollziehen, gleichwohl hingewiesen ;-) Beschäftigungspolitik – Ein weiterer Punkt ist, dass die natürlich nicht mehr so. ich die Fakten und Daten gelesen und gelernt habe. Schokolade und Sparsamkeit – Es gibt Unterschiede, die meisten Chefs im Osten aus dem Westen sind. Ein Ossi hat Die Mauer im Kopf gibt es bei vielen Leuten noch. Ein Ist zusammengewachsen was zusammen gehört, um mit merken Jörg und ich schon im Zusammenleben. Ich teile es schwieriger in höhere Positionen zu kommen. Als ich Stück weit sicherlich auch bei mir, obwohl ich jetzt schon den Worten Willy Brandts zu fragen, die er 1989 voll Freude meine Schokolade ein – das war von kleinan so, immer nur damals in Magdeburg zu arbeiten begann, kam es auch auf 20 Jahre im Westen lebe. Ich glaube das ist oftmals nicht mal der Menge zu rief? Das Bewusstsein, die aktive Erinnerung ein Stück als Belohnung. Die Westpakete kamen nicht so die Geburtsurkunde an. Wessis und Ossis haben mit einem böse gemeint, das hängt – jedenfalls bei mir – einfach damit an die Teilung wird sich mit jeder weiteren Generation, mit oft, und die gute DDR-Schokolade gab es auch nicht so häu- befristeten Jahresvertrag angefangen. Die Wessis haben zusammen, wo ich herkomme und wie ich aufgewachsen bin. uns jungen Menschen verlieren. Deutschland wird in seiner fig. Also musste ich mir von klein auf die leckeren Sachen nach ca. einem Jahr einen festen Arbeitsvertrag bekommen. Ich habe die DDR erlebt mit ihren Unterschieden zum heuti- jetzigen Form vielleicht noch europäischer, jedenfalls wäre einteilen. Jörg macht eine Schokolade auf und isst sie in Den Ossis wurde angeboten, nach dem Ablauf von 2 Jahren gen System. Für mich ist die Mecklenburgische Seenplatte das wünschenswert. Somit wird die Wunde der Teilung einem Rutsch. Es gibt ja wieder Neue, wenn man will. 4 Monate daheim zu bleiben und dann wieder mit einem genau wie die Mark Brandenburg meine Heimat und das immer weiter verschwinden, bis nichts mehr bleibt als eine Schnäppchen – ganz schlimm. Ich kaufe viele Dinge auf befristeten Jahresvertrag anzufangen. Da ich nicht ortsge- wird sie immer bleiben. Natürlich gibt es Meckerer auf beiden kleine Narbe in der deutschen Geschichte. Jede Nachwirkung Vorrat ein, insbesondere wenn sie im Angebot sind. Sparen bunden war, war es mir egal, wo ich arbeite. Das habe ich Seiten, die sich die Mauer zurück wünschen. Das finde ich muss angegangen und beseitigt werden bis der Standard stand ganz oben in meiner Kindheit – egal ob Geld oder auch laut kundgetan, deshalb habe ich nach 2 Jahren einen schade. Die im Westen meckern über den Solidaritätszuschlag angeglichen ist. andere Dinge. Also sollten wir mal richtig eingeschneit festen Arbeitsvertrag bei XXXX bekommen – im Gegensatz und die im Osten über die hohe Arbeitslosigkeit. Unterm Wichtig ist, dass wir die Lehre aus der Geschichte ziehen werden und können nicht vor die Tür: wir können ein paar zu meinen Ossi-Kollegen. Aber von da an war mir klar, bei Strich sollte man doch die positiven Seiten sehen, die die und ihr gedenken, um Unheil in der Zukunft von unserem Monate überleben – mit Lebensmitteln, Toilettenartikel o.ä. der Firma bleib ich nicht. Die Chefs waren übrigens alle Wiedervereinigung mit sich gebracht hat. Diese „Mauer im Land und der Menschheit als Ganzes abwenden zu können. Und wir haben immer Kerzen im Haus – könnte ja der Strom Wessis. Und das hält bis heute an. Kopf“ wird erst mit den kommenden Generationen ver- Der Satz ist sehr optimistisch, jedoch beginnen alle großen ausfallen. Jörg lächelt nur darüber, obwohl, er hat sich schon Folgender Punkt könnte auch ein Punkt sein, warum Un- schwinden. Nicole Langer Schritte mit einem Gedanken, vielleicht auch nur mit einem daran gewöhnt, wenn z.B. sein Duschgel alle ist, einfach terschiede gemacht werden: Der Standort Ost ist billiger. Wort. Lange Zeit, ja bis kurz vor der Wiedervereinigung, den Schrank aufzumachen und nicht nur von einer Sorte zu Mehrere Firmen haben ihren Standort im Westen geschlossen hatten es viele Menschen für unmöglich gehalten, vielleicht wählen. und im Osten wieder aufgemacht Textilunternehmen sind noch nicht einmal als erstrebenswert angesehen, dass beide Dinge aufheben – Dinge nicht wegwerfen – man könnte zum Beispiel nach Greis bzw. Elsterberg gezogen. Quelle Länder zur Einheit zurückfinden, aber dennoch den Glauben sie ja noch gebrauchen. Egal ob leere Schachteln, Kartons, ging von Nürnberg nach Leipzig. Die Menschen im Westen daran nicht verloren. Die Geschichte hat ihnen Recht gege- Klamotten usw. Ich kann nichts wegwerfen. Wir haben wurden arbeitslos, das führte zu Hass und negativen Stamm- ben. ja früher aus „Nichts“ noch etwas gemacht. Bei meinem tischgesprächen, die noch heute anhalten. Hass bleibt leider Der dritte Oktober ist für mich ein wahrer Feiertag. Ein Auszug hat Jörg fast die Krise bekommen und fing an, bei länger in einem Menschen als das Positive :-( Tag für Friede, Einigkeit, Recht und Freiheit ganz nach dem mir auszusortieren. Auch jetzt gibt es wegen Wegwerfen Viele Ossis sind als Fachkräfte für viel weniger Lohn aber Wortlaut unserer Nationalhymne. Der Friede, den ich vorweg und Aussortieren manchmal einen kleinen „Kampf“. Das auch in den Westen gegangen – haben gemäß Stammtisch- gestellt habe, ist mir besonders wichtig hierbei. Ich bin froh Gleiche ist bei meinen Eltern. Jörg „freut“ sich jetzt schon, gebabbel den Wessis die Arbeitsplätze weggenommen. Aber im vereinigten Deutschland geboren zu sein und in einem wenn meine Eltern mal ausziehen, die Wohnung und auch die Unterschiede in der Bezahlung hat es gegeben – friedlichen Europa. Garagen auszuräumen. nach der Vereinigung war die Staffelung der Bezahlung wie Johannes Meyer, ehemaliger Vorsitzender des Füreinander da sein – Der Zusammenhalt – noch heute folgt: Wessi war am besten bezahlt, Italiener, Türke, Ossi am Kreisschülerrates Darmstadt-Dieburg habe ich engen Kontakt zu meiner ältesten Freundin (seit geringsten – für die gleichen Tätigkeiten. Die An-gleichung der 6. Schulklasse sind wir befreundet). Wir können uns der Löhne ist halt etwas langwierig, insbesondere in kleinen absolut aufeinander verlassen. Das Gleiche ist mit meinen Unternehmen, trotz vermeintlicher Tarifverträge. Studienkolleginnen. Wir treffen uns mind. 1 mal im Jahr – Ostdeutsche Baufirmen sind anscheinend günstiger. fahren zusammen ein verlängertes Wochenende nach Wenn man mal so freitags auf die A5 schaut, wie viele Bau- Warnemünde, oder wir besuchen uns gegenseitig. firmen wieder gen Osten pendeln, ist das schon enorm. Dieses für einander da Sein, außerhalb der Familie, ist Auch die Bauschilder, insbesondere im Straßen- und Bahn- unter Ossis enger. Auch das gegenseitige Helfen, aufein- streckenbau, sind oft aus Sachsen und Thüringen. Dies för- Foto: diemauer.wikispaces.com, Ines Bayer & Raik Honemann, CC BY-SA 3.0

90 | Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland | 91

Klaus Peter Dr. Christoph Schellhaas Scheurer Landrat Landkreis Darmstadt-Dieburg Landrat Landkreis Zwickau

Wo waren Sie, als Sie die Nachricht vom Fall der Mauer Wo waren Sie, als Sie die Nachricht vom Fall der Mauer erhielten? Was haben Sie als Erstes getan? erhielten? Was haben Sie als Erstes getan? Ich war an diesem Abend zu Hause mit meiner Familie. Erfahren habe ich von der Öffnung der Kontrollstellen in Als allererstes habe ich mich sehr, sehr darüber gefreut, der Berliner Mauer am späten Abend des 9. November 1989. vor allem für die Menschen der DDR. Nachdem meine beiden kleinen Töchter im Bett waren, Haben Sie damit gerechnet? Jörg Lippmann habe ich den Fernseher eingeschaltet und bin die nächsten Soweit ich zurückdenken kann, erschien mir ein Fall der Stunden davon erst einmal nicht wieder weggekommen. Abbildung: Bundesamt für Haben Sie damit gerechnet? Kartographie und Geodäsie Mauer unter den damaligen politischen Gegebenheiten in Geschichtslehrer der DDR nicht möglich. Auch als die Friedliche Revolution am Gymnasium Michelstadt Mit Veränderungen in der DDR war zu rechnen. Dafür hatten offen auf der Straße stattfand, war es mir noch nicht so klar. wir gekämpft. Dass die Mauer durchlässig wird, damit war War Ihnen sofort klar, dass dies auf auch zu rechnen. Dass es so abrupt und so schnell geht, habe eine Wiedervereinigung des deutschen Volkes hinführt? zumindest ich nicht für möglich gehalten. Mir kam zumindest der Gedanke, dass dies nun möglich sein Was verbinden Sie persönlich mit dem 3.10.1990? War Ihnen sofort klar, dass dies auf wird und habe es gehofft! Für mich ist das Datum durchaus wichtig, denn es besiegelte eine Wiedervereinigung des deutschen Volkes hinführt? Was verbinden Sie persönlich einen positiven Prozess des äußeren Zusammenwachsens Ich glaube, dass das deutsche Volk eine Spaltung als „Volk“ mit der Friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer? Deutschlands. Dabei ist besonders die aktive und gewaltlose(!) emotional nie ganz akzeptiert hat. Die Spaltung der staat- So simpel es auch klingt, ich verbinde Frieden damit. Der Rolle des Volkes hervorzuheben, die u.U. einzigartig in der lichen Konstrukte war aber politische wie Lebensrealität. Kalte Krieg war ja weniger als ein Waffenstillstand, einen Welt war. Aufgrund dieser Betonung hätte ich nichts gegen Dass es weniger als ein Jahr später wieder einen deutschen Nicht-Frieden würde ich es nennen. Mir ist aber erst in den einen Feiertag am 9.11., allerdings steht dieser Tag ja auch Staat geben wird, war an vielen Zeitpunkten dieses Jahres letzten Jahren nochmal bewusst geworden, dass es sich für dunkle Kapitel in der Geschichte Deutschlands. nicht selbstverständlich und musste mit sehr viel Elan und nicht nur auf den Fall der Mauer beschränkt, sondern der Ich persönlich feierte in Darmstadt – beim Glockengeläut Detailverhandlungen erkämpft werden. Dies mag im Novem- bedeutende Teil die Friedliche Revolution ausmacht. um 12 Uhr umarmten wir uns. Danach gab es Feuerwerk und ber 1989 eine Hoffnung gewesen sein, eine Klarheit war es Rückblickend betrachtet: Wurde alles richtig gemacht ein riesiges Volksfest. Noch beeindruckender war allerdings auf keinen Fall. mit der Abwicklung der DDR? für mich die Fahrt nach Berlin vier Wochen nach dem Mauer- Was verbinden Sie persönlich Hinterher ist man schlauer. Ich denke, es war richtig, dass die fall, als ich mich als Mauerspecht am Potsdamer Platz betä- mit der Friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer? DDR abgewickelt wurde und dies auch zeitnah. Menschen tigte… Wer in der DDR Repressionen erlebt hat, und sei es die machen Fehler und davon gibt es auch einige in dieser Zeit Welche Rolle spielte die DDR im Schulunterricht vor 1989? Beschränkung der Bildungs- und Berufsmöglichkeit, für den nach 1989. In meiner Schulzeit beschäftigten wir uns SEHR aktiv mit dem hat die Friedliche Revolution eine neue, wesentlich weitere : Gab es etwas, das aus Ihrer Sicht in der DDR Thema, hatten sogar ein unvergessenes politisches Seminar und größere Welt geschaffen. Für mich ist nicht die Reisefrei- besser war als in der Bundesrepublik? an der Zonengrenze in Altenburschla mit Tagesfahrt in die heit der entscheidende Gewinn – ich habe immer gern und Ganz klar: Die Gleichstellung von Frau und Mann sowie die DDR. Dies alles geschah allerdings im PoWi-Unterricht und viel gearbeitet und komme auch heute nur selten zum Reisen. Kinderbetreuung. nicht in Geschichte. Aber die Möglichkeit, ungehindert an Informationen zu Sind wir heute ein vereinigtes Deutschland? Seit wann ist die Friedliche Revolution kommen, die Möglichkeit, ungehindert Meinung zu bilden, Es hapert noch hier und da, aber ich denke, wir sind auf und die Wiedervereinigung Thema im Lehrplan? zu äußern und dafür zu streiten, das möchte ich nicht mehr einem guten Weg. Als ich mein Referendariat 1998 begann war das Thema missen. Der Landkreis Darmstadt-Dieburg ist seit 1989 verschwistert schon selbstverständlich Bestandteil des Geschichtsunterrichtes. Rückblickend betrachtet: Wurde alles richtig gemacht mit dem Landkreis Zwickau. Was macht diese Beziehung aus? Welche Bedeutung messen Sie dem Thema bei? mit der Abwicklung der DDR? Wir haben damals angefangen, in dem wir voneinander Das Thema DDR ist für mich persönlich ein äußerst wichtiger Die Erwartung und die Einschätzung der beiden Seiten zum gelernt haben. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft. Teil meines Unterrichtes in den Klassen 9 und Q3, den ich sehr Zustand, zur Wettbewerbsfähigkeit und Werthaltigkeit der Inzwischen sind wir wieder beim Lernen angekommen. Es gerne unterrichte. Die Schüler interessieren sich sehr dafür! Betriebe in der DDR war zu unterschiedlich, als dass man die

n ist eine befruchtende Beziehung. Wir unterstützen einander Was denken Sie über das Zusammenwachsen von Ost und Erwartungen über „richtig“ oder „gerecht“ hätte erfüllen und tauschen uns auf fachlicher Ebene aus. West – wie vereinigt sind wir? können. Für mich ist auch nicht die Frage, ob alles richtig Seit 2009 hat der Landkreis nahezu jährlich verschiedene Ich bin kein Politiker, die wirtschaftliche Lage müssen andere gemacht worden ist, sondern ob es hätte wirklich anders Ausstellungen und Themenabende zum Thema DDR initiiert beurteilen. Ich sehe aber, dass Schüler überhaupt nicht mehr gemacht werden können. Dies glaube ich eher nicht. und veranstaltet. Warum ist Ihnen das so wichtig? realisieren bzw. differieren, ob ein Lehrer oder Mitschüler Gab es etwas, das aus Ihrer Sicht in der DDR Die DDR und damit die Teilung Deutschlands ist ein bedeuten- aus Leipzig oder aus Darmstadt kommt. In den Köpfen der besser war als in der Bundesrepublik? der Teil unserer jüngsten Geschichte aus der wir viel lernen jungen Menschen existiert im Westen zumindest schon lange Es gab einiges, was in der DDR gut war, sich unter den geän- können und müssen. Die Menschen sollen sich mit dem Blick nur noch ein Deutschland. Mir selbst geht es im Großen und derten Verhältnissen der Bundesrepublik aber nicht umsetzen auf die Vergangenheit bewusst machen, was sie bzw. wir Ganzen auch so. Verbesserungen sind sicher noch zu tätigen. ließ. Es gibt auch einiges, was gut war und – teilweise mit erreicht haben. Und bewusst machen, wie wir nicht mitein- Der Vereinigungsprozess ist unumkehrbar und das ist wun- Umwegen – jetzt Allgemeingut geworden ist. Einzelne, er- ander umgehen sollen. derbar. weiterungsfähige Stichworte: Fragen a

92 | Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland | 93 Nachwort Liebe Leserinnen und Leser,

>> Fortsetzung von S. 93, Dr. Scheurer: die abschließende Arbeit und Zusammenstellung der Texte für diese Broschüre war für mich nochmals • Der grüne Pfeil für Rechtsabbieger Tagebuch Luise, ein emotionaler Ritt durch die Vergangenheit. Bei • gesundheitliche Betreuung von jungen Familien durch einigen Artikeln habe ich mich selbst hinterfragt, Fürsorgerinnen (jetzt Aufsuchende Familienhilfe) 2014, 75 Jahre alt in meinem Gehirn geforscht, wie es denn in meiner • ein zahlenmäßig ausreichendes Angebot an Kindergarten- Erinnerung gewesen ist. Fakt ist: Alle haben es aus plätzen (damit ist ausdrücklich nicht jede Form der früh- ihrer persönlichen Sicht erlebt, jeder kann anders kindlichen Erziehung in der DDR gut geheißen) über die Zeit in der DDR und des Umbruchs berich- • wer in der DDR Christ war, war es, weil er an Jesus Christus Dass ich meinen 75. Geburtstag einmal in einem Weinlokal in ten. Besonders spannend finde ich es, wenn wir „was glaubte, nicht weil es sich so gehörte der Provence verbringen würde, hätte ich mir nie träumen lassen. wäre, wenn…“ spielen. Dann hätte ich als Pfarrers- Sind wir heute ein vereinigtes Deutschland? Ulrich hat sich nach seiner Pensionierung mit dem Merci und dem kind kein Abitur machen können, würde nicht hier Ein vereinigtes Deutschland ja, aber mit Unterschieden, die Au revoir angefreundet – so gut, dass wir nun mindestens einmal beim Landkreis arbeiten, hätte meinen Mann nicht innerhalb dieses Landes schon erheblich sind. Und da gibt es im Jahr dieses entzückende Städtchen im Südosten Frankreichs kennen gelernt, hätte nicht so viel von der Welt nicht nur die Unterschiede zwischen Ost und West, sondern besuchen. gesehen, würde kein Sushi essen … usw. Es gibt un- auch zwischen multikultureller Großstadt und ländlicher Um eine große Familienfeier werde ich natürlich nicht herum zählige tolle Erlebnisse, aber auch neue Erfahrungen, Idylle, zwischen mondänem Kurort und Bergarbeiter gepräg- kommen. Jan und seine Frau, die beide als Reiseleiter arbeiten, die ich machen konnte und musste. Inzwischen bin tem Ruhrpott, zwischen Zahlern und Empfängern im Länder- haben extra Urlaub genommen, und Heike hat schon einen Mini- ich länger Bundes- als DDR-Bürgerin. Aber etwas finanzausgleich. bus gemietet, um sich und alle ihre Enkel nach Berlin zu schaffen. Ostalgie schlummert trotzdem noch in mir. Denn Der Landkreis Zwickau unterhält seit 1989 eine Partnerschaft Auch wenn mein Mann oft versucht hat, mir andere Berliner nicht alles war schlecht. Insbesondere nicht aus Sicht mit dem Landkreis Darmstadt-Dieburg. Worin bestand und Viertel schmackhaft zu machen, kann ich mein geliebtes Friedrichs- eines Kindes in der DDR. besteht diese? hain nicht verlassen. Alles, was wir seit der Wende getan hatten, Alles in allem hat die Friedliche Revolution und Eine solche Partnerschaft kann sich nur halten, wenn Men- war, in eine seniorengerechte Wohnung umzuziehen. Dass das die deutsche Wiedervereinigung den Menschen aus schen miteinander in Kontakt und in Partnerschaft kommen. Viertel immer lauter und jünger wird, stört mich nicht; ich unter- mir gemacht, der ich heute bin: Eine Gesamtdeutsche, Da gibt es naturgemäß ein Auf und Ab. Es gab immer wieder halte mich gerne mit den ansässigen Studenten, die über Kunst mit ein klein wenig sozialistischem Migrationshinter- Kontakte und Besuche zwischen den Verwaltungen der beiden und Liebe philosophieren und besonders gerne über linke Politik. grund. Landkreise, zwischen den politischen Vertretern aus den Viele von ihnen sind zu jung, um sich noch an ein geteiltes Wir hoffen, unsere Lektüre hat euch gefallen Kreistagen und die dazu gehörigen gegenseitigen Besuche Deutschland zu erinnern. Das ist so ein wunderbarer Gedanke: und euer Interesse an weiteren Details geweckt. Die und Erfahrungsaustausche. Es ist aber auch gelungen, Vereine eine Generation ganz ohne Weltkrieg oder Kalten Krieg! Ich frage Kinder- und Jugendförderung und ich helfen gern und Gemeinden miteinander in Kontakt zu bringen und Aus- mich manchmal, ob sie überhaupt etwas davon ahnten, wenn dabei weiter. tausche anzuregen. sie es nicht in Geschichtsbüchern lesen würden. Gibt es sie, die Und hier noch ein Tipp: Wer lieber online surft, Zu dieser Partnerschaft gehört es auch, die Möglichkeit berühmt-berüchtigte Mauer in den Köpfen? Ein Stacheldrahtzaun statt durchs Museum zu gehen, dem empfehle ich einzuräumen, über den Partner, seine Sorgen, Nöte und Er- von Vorurteilen, der bewusst oder unbewusst an jede neue das Lebendige Museum Online (LeMO). Es bildet folge zu berichten und touristische Angebote zu befördern. Generation weitergegeben wird? Heike und ich jedenfalls hatten den Gang durch die deutsche Geschichte von der Nach meiner Überzeugung wird ein Verständnis zwischen kräftig gemauert. Kein Vorurteil, dass wir beide uns während Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ab. verschiedenen, räumlich doch weit getrennten Teilen unseres unserer langen Brieffreundschaft nicht an den Kopf geworfen Das Angebot verknüpft museale Objekte sowie Film- Vaterlandes nur gelingen, wenn Menschen in Kontakt kommen hätten. und Tondokumente mit informativen Texten und und sich austauschen können. An dieser Aufgabe sind wir Für den Kellner im Weinlokal waren wir heute Abend „les Alle- vermittelt so ein umfassendes Bild von Geschichte. gerade einmal wieder dran, um den 25. Jahrestag der Wieder- mands“, für die Familie im Ferienhaus nebenan sind wir „die Ossis“. Es macht Spaß, darin zu lesen, sich zu erinnern und vereinigung Deutschlands vorzubereiten. Beide Begriffe stecken uns in Schubladen; eine Angewohnheit, die neues Wissen aufzunehmen. Schaut doch dort mal man den Menschen wohl schlecht abgewöhnen kann. Am Ende vorbei: www.hdg.de/lemo kann ich bloß hoffen, dass die Schubladen ab und zu mal weit aufgezogen werden, damit frische Luft reinkommt. »Au revoir!«, hat uns der Kellner vorhin überschwänglich verab- Foto: privat schiedet. Und als Antwort ist mir doch tatsächlich »Spasiba« von Herzliche Grüße den Lippen gerutscht…!

Felicia Ax Persönliche Referentin des Landrats

94 | Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland Wir sind das Volk | Wiedervereinigtes Deutschland | 95 Medienkiste

Trotz der Wiedervereinigung besteht der Alltag vieler Menschen hin und wieder noch aus zwei Gesellschaften: den Ost- und Westdeutschen. Weshalb das so ist und wie es früher in der kleinen Welt östlich der Mauer war, veranschaulicht eine Medienkiste, die bei der Kinder- und Jugend- förderung des Landkreises ausgeliehen werden kann.

Die Bücher- und Medienkiste „Begegnung fördern – Geschichte verstehen“ informiert über das Deutschland nach dem Bau der Mauer von 1961 bis 1989 sowie über die Zeit der Wieder- vereinigung. In der Medienkiste gibt es eine große Auswahl an Filmen, CDs, Büchern und Alltagsmaterialien, wie zum Beispiel die Stofftiere „PittiPlatsch“ oder „Moppi“ aus „Das Sandmännchen“, das Buch „Das DDR-Sammelsurium“ und der Film „Die Chroniken der Wende“. Einen musikalischen Einblick liefern „Die Hits der DDR“. Die Materialien zeigen wie der Alltag der Menschen damals war, wie die Politik den Staat und das Leben der Menschen geprägt hat und informiert über die unterschied- lichen Wirtschaftssysteme von BRD und DDR. Unterschiede zu Schulsystemen, Freizeit und Sport, soziales Leben, Kultur, Mode und Musik werden durch die verschiedenen Medien sichtbar. Vergleiche, lebhafte und aussagekräftige Bilder und Filme helfen, ein Bild von der Zeit während der Teilung Deutschlands zu bekommen. Die Medienkiste regt Jugendliche zu Diskussionen über die neuzeitliche Geschichte an.

Kontakt für die Medienkiste: Daniela Wasgien | 06151 / 881-1464 | www.ladadi.de

Doswidanja Luise

Puh…was für eine Tour! Ich hoffe, das Lesen hat dir nicht so viel Mühe gemacht wie mir das Schreiben. Kein Wunder, dass meine Haare in den letzten Jahren so grau geworden sind. Wie viel hier in diesem Heft hier steckt! Ich könnte fast sagen: Zweimal Deutsch- land hat zweimal so viel Geschichte geschrieben. Und davon hat es nur ein Bruchteil auf diese Seiten geschafft. Es kommt nicht darauf an, was und wie viel du gelesen hast – die Vergangenheit rennt ja nicht weg. Das ist ihre besondere Eigenschaft, die uns sowohl erschrecken als auch ermutigen kann. Jetzt ist es an dir zu entscheiden, was die Geschichte der deutschen Teilung für dich bedeutet. Welches Bild kommt dir als Erstes in den Sinn? Der Grenz- verlauf auf einer Landkarte? Ein Stück der Berliner Mauer, mit Graffiti besprüht? Ich verrate dir, wie mein Bild von der deutsch- deutschen Vergangenheit aussieht: Es ist ein kleiner, abgewetzter Plüschhund, der 47 Jahre brauchte, um zu mir zurückzukehren. Damit verabschiede ich mich und sage ein letztes Mal Doswidanja & Au revoir!

Redaktions-TeamGörls www.goerls.de

96 | Wir sind das Volk | Friedliche Revolution und Mauerfall