KINDLER KOMPAKT MÄRCHEN

Ausgewählt von Stefan Neuhaus

J. B. Metzler Verlag Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbei- teten Auflage vonKindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert.

Stefan Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau. Inhalt

STEFAN NEUHAUS Das Märchen als Poesie der Poesie 9

DIE GESCHICHTE VOM BAMBUSSAMMLER Taketori monogatari 33 TAUSENDUNDEINE NACHT Alf laila wa-laila 35 GIOVANNI BOCCACCIO Das Dekameron / Decameron. Prencipe Galeotto 44 GIOVANNI FRANCESCO STRAPARÒLA Die ergötzlichen Nächte / Le piacevoli notti 51 HEMAVIJAYA Das Märchenmeer / Kathāratnākara 54 GIAMBATTISTA BASILE Der Pentamerone / Lo cunto de li cunti o vero lo trattenimiento de peccerille 55 CHARLES PERRAULT Märchen aus alter Zeit / Histoires ou contes du temps passé, avec des moralitez 58 SULCHAN-SABA ORBELIANI Die Weisheit der Lüge / Sibrjne sic’ruisa 60 CHRISTOPH MARTIN WIELAND Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva 62 CARLO GRAF GOZZI Turandot / Turandot 65 JOHANN KARL AUGUST MUSÄUS Volksmährchen der Deutschen 68 Heinrich von Oft erdingen 70 ADAM OEHLENSCHLÄGER Aladdin oder Die Wunderlampe / Aladdin eller den forunderlige Lampe. Dramatisk Eventyr 75 E. T. A. HOFFMANN Fantasiestücke in Callot’s Manier 77 Klein Zaches genannt Zinnober 81 Die Serapions-Brüder 83 Prinzessin Brambilla 88 Meister Floh 90 FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUÉ Undine 92 JACOB UND WILHELM GRIMM Kinder- und Hausmärchen 95 PHILIPP OTTO RUNGE Vom Fischer und seiner Frau / Von dem Fischer un syner Fru 100 Phantasus 102 ADELBERT VON CHAMISSO Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte 113 Die Märchen 116 Gockel Hinkel Gackeleia 120 THEODOR STORM Die Märchen 122 PETER CHRISTEN ASBJØRNSEN / JØRGEN ENGEBRETSEN MOE Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus Norwegen / Norske Folkeeventyr 125 PETER CHRISTEN ASBJØRNSEN Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus Norwegen / Norske Huldreeventyr og Folkesagn 127 CHARLES DICKENS Der Weihnachtsabend / A Christmas Carol 128 ALEKSANDR NIKOLAEVIČ AFANAS’EV Russische Volksmärchen / Narodnye russkie skazki 131 Alice im Wunderland / Alice’s Adventures in Wonderland 134 Alice hinter den Spiegeln / Through the Looking-Glass and What Alice Found There 136 Sämtliche Märchen / Eventyr og Historier 139 PAVOL DOBŠINSKÝ Volkstümliche slowakische Märchen / Prostonárodné slovenské povesti 143 CARLO COLLODI Die Abenteuer des Pinocchio / Le avventure di Pinocchio 146 OSCAR WILDE Der glückliche Prinz und andere Märchen / The Happy Prince and Other Tales 148 Ein Granatapfelhaus / A House of Pomegranates 150 HUGO VON HOFMANNSTHAL Das Märchen der 672. Nacht 153 L. FRANK BAUM Der Zauberer von Oz / The Wonderful Wizard of Oz 156 JAMES MATTHEW BARRIE Peter Pan oder der Junge, der nicht groß werden wollte / Peter Pan. Or The Boy Who Would Not Grow Up 162 MICHA JOSEF BERDYCZEWSKI Der Born Judas 165 ANNI SWAN Kranich und Hirtenmädchen / Anni Swanin sadut 167 PAMELA L. TRAVERS Mary Poppins / Mary Poppins 170 ABUBAKAR IMAM Worte sind ein Schatz / Magana Jari Ce 172 ANTOINE-MARIE-ROGER DE SAINT-EXUPÉRY Der kleine Prinz / Le petit prince 174 Die Muminbücher 176 Die Pippi-Langstrumpf-Bücher 179 Die Brüder Löwenherz / Bröderna Lejonhjärta 181 KIRSI KUNNAS Tiitiäinens Geschichten / Tiitiäisen tarinoita 184 OTFRIED PREUßLER Der Räuber Hotzenplotz 186 MICHAEL ENDE Die Unendliche Geschichte 188 RAFIK SCHAMI Erzähler der Nacht 191 YŌKO TAWADA Der Hundebräutigam / Inu muko iri 194 JOANNE K. ROWLING Die Harry-Potter-Romane 196 WALTER MOERS Die Zamonien-Reihe 199 JOHANNA SINISALO Troll / Ennen päivänlaskua ei voi 204 Das Märchen als Poesie der Poesie

Stefan Neuhaus

Märchengeschichte(n)

Wenn jemand etwas erzählt, dessen Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist, kann man erwidern: Erzähl mir keine Märchen! Dabei nehmen wir nur allzu leicht an, dass wir wissen, was der Begriff Märchen meint. Die heute weit verbreitete Bedeutung des Begriffs ist selbst ein Mär- chen oder ein Mythos. Oder, vielleicht besser: eine Erzählung. Um ver- stehen zu können, wie es dazu kommen konnte, dass wir bei Märchen gleich an Hänsel und Gretel, Aschenputtel oder Dornröschen denken, müssen wir in der Literatur- und Kulturgeschichte rund 200 Jahre 9 zurückgehen. An der Entstehung dieser Erzählung vom Märchen waren die Brüder Grimm alles andere als unschuldig (nicht: Gebrüder Grimm, auch diese Schreibung ist ein populärer Irrtum). Als die Brüder Grimm 1812 den ersten und 1815 den zweiten Band ihrer Kinder- und Hausmärchen veröff entlichten, konnte niemand ahnen, am wenigsten sie selbst, welchen Erfolg sie damit haben würden. Die EINLEITUNG beiden Kasseler Studenten und späteren Bibliothekare waren 1806 von Clemens Brentano zum Sammeln von Märchen angeregt worden. Brentano, einer der wichtigsten Vertreter der Heidelberger Roman- tik, hatte 1805 bis 1808 mit die für die sogenannte ›Volkspoesie‹ nicht weniger einfl ussreiche Sammlung Des Knaben Wunderhorn veröff entlicht, eine Sammlung von Liedtexten, die für alle populären Anthologien von sogenannten Volksliedern grundlegend geworden ist. Doch verlor Brentano bald das Interesse an der Heraus- geberschaft solcher Märchenüberlieferungen und die Grimms waren klug genug, eine Abschrift anzufertigen, bevor sie dem unzuverläs- sigen Bekannten das dann für lange Zeit verschollene Ergebnis ihrer Sammeltätigkeit zuschickten. Beide Sammlungen, die Lieder und die Märchen, waren eigentlich Editionsprojekte. Dem Programm der Romantik gemäß gaben sie vor, grundlegende Texte der deutschsprachigen Kultur und insbesondere des Mittelalters, die vor allem mündlich überliefert worden waren, durch schrift liche Tradierung vor dem Vergessen zu bewahren und einer interessierten Öff entlichkeit zur Verfügung zu stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt war »Märchen« noch ein off ener Gattungsbegriff im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung ›kleine Erzählung‹, wie beispielsweise die Sammlung von Johann Karl August Musäus zeigt (Volksmährchen der Deutschen; 1782 –1786), in die auch ganz selbstver- ständlich Sagen aufgenommen sind, etwa um die populäre Gestalt des Rübezahl; bei Musäus sind diese Texte sogar als »Legenden« bezeich- net. Dazu kommen Schauergeschichten, eine Tradition, die bei- spielsweise Wilhelm Hauff später mit seinen Märchensammlungen fortsetzen wird (man denke an Die Geschichte von dem Gespensterschiff aus seinem Märchen-Almanach Die Karawane). In der zweiten Hälft e der 1820er Jahre, also um die Zeit, in der Hauff seine bekannten Mär- 10 chen veröff entlichte (etwa Der kleine Muck und Das kalte Herz), konnten die Kinder- und Hausmärchen, die zunächst ein verlegerischer Flop waren, überhaupt erst ein größeres Publikum für sich gewinnen. 1825 erschien die »Kleine Ausgabe«, eine von Bruder Ludwig Emil Grimm illustrierte Auswahl von 50 Texten. Sie formte die ›Gattung Grimm‹ und prägte die heutige Auff assung von dem, was in unserem Kultur- kreis allgemein unter Märchen verstanden wird. Dabei handelt es sich keineswegs, wie die Grimms im Geist der Zeit behaupteten, um volkstümliche Erzählungen, die sie älteren Frauen in ihren bäuerlichen Spinnstuben abgelauscht hatten und die vorher mündlich tradiert worden waren. Die meisten Märchen gehen auf bekannte frühere Sammlungen zurück, etwa auf Giambattista Basiles Pentamerone oder auf Charles Perraults Die ergötzlichen Nächte. Es handelte sich oft um Erzählungen, die von den gebildeten Frauen, mit denen die Grimms Kontakt hatten, nacherzählt oder die von den bibliothekserfahrenen Brüdern selbst zu Rate gezogen wurden. Die Überlieferungsgeschichte hat vor allem Heinz Rölleke erforscht, dem wir auch die Historisch-kritische Ausgabe der Märchen verdanken. Und Lothar Bluhm hat, angesichts der Quellenlage, den Terminus ›Buchmärchen‹ vorgeschlagen. ›Volksmärchen‹ ist der missverständ- liche, aber (etwa durch Max Lüthi) populär gewordene Begriff , wenn man Märchen als Gattungsbegriff weiter unterteilt. Ihm zur Seite lässt sich das ›Kunstmärchen‹ stellen, das sich in einigen wichtigen Punk- ten vom Volksmärchen unterscheidet. Auch das Kunstmärchen wird in der Zeit der Romantik so geprägt, wie wir den Begriff heute verwenden. Entscheidend hierfür ist wieder eine Sammlung von Texten, deren Erfolg nicht vorherzusehen war. Der sich im oberfränkischen Bamberg mit Arbeiten am Theater und als Musiklehrer nur mühsam über Wasser haltende, eigentlich als Jurist ausgebildete (als solcher wird er später noch Karriere machen) Ernst Theodor Wilhelm Hoff mann, der aus Liebe zu Mozart seinen dritten Vornamen in Amadeus ändert, schließt mit einem Bamberger Weinhändler und Kleinverleger einen Vertrag über die schließlich 1814/15 in zwei Bänden erschienenen Fantasiestücke in Callot’s Manier. Der Titel spielt auf Jacques Callot an, einen lothringischen Zeichner und Kupferstecher. Einer der Texte der Sammlung, Der goldne Topf, trägt den Untertitel »Ein Märchen aus der neuen Zeit« und erzählt 11 die Geschichte des Studenten Anselmus, der sich im der damaligen Gegenwart (das teilweise auch Bamberg nachgebildet ist) in Serpentina verliebt. Serpentina ist allerdings eine Schlange und die Tochter des Archivarius Lindhorst, der wiederum, aus der Familie der Salamander stammend, aus Atlantis verbannt wurde und nun auf der Erde nach geeigneten Brautwerbern für seine drei Töchter sucht. Die EINLEITUNG Bewohner Dresdens sind (mit einem Begriff der Zeit) Philister, also engstirnige Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, das Wunder- bare wahrzunehmen, und stattdessen alltägliche Erklärungen dafür suchen. Erst als Anselmus bereit ist, die Realität der Wunderwelt anzuerkennen, kann er Serpentina auch ganz lieben, heiraten und mit ihr nach Atlantis ziehen. Der letzte Satz des nicht nur im romanti- schen Sinne ironischen Märchens verweist auf seine philosophisch- allegorische Deutungsebene: »Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas Anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimniß der Natur off enbaret?« Das »Leben in der Poesie« als Bereicherung des wirklichen Lebens auf- zufassen, wird Folgen haben, wie wir beispielsweise an Michael Endes Die unendliche Geschichte aus dem Jahr 1979 sehen können. Dort ist es der junge Bastian, der nach Phantásien reist, in ein Buch im Buch, um die Welt der Fantasie zu retten und damit auch sich selbst. Seine Reise, die nicht nur deutliche Anklänge an Hoff manns Märchen, sondern auch an Novalis’ Märchenroman Heinrich von Oft erdingen (1802) aufweist, ist eine Bildungsreise im besten Sinn, denn sie befähigt den Jungen, sich seinem alleinerziehenden Vater zuzuwenden, der über den Tod von Bastians Mutter noch nicht hinweggekommen ist. Hoff mann wird noch eine Reihe anderer berühmt gewordener Märchen schreiben, etwa Nußknacker und Mausekönig (1816), das von Pjotr Iljitsch Tschaikowski für seinen weltberühmtes Ballett Der Nuß- knacker (1892) adaptiert wurde. Auch wenn es bedeutende Vorläufer für Hoff manns Märchenkonzept gibt, etwa Christoph Martin Wielands Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht von 1764, und auch wenn sich Hoff mann an den Märchen-Erzählungen Ludwig Tiecks orientiert, kann man ihm eine vergleichbare Bedeu- 12 tung für die Entwicklung der Gattung zuschreiben wie den Brüdern Grimm. Der goldne Topf ist das erste moderne Kunstmärchen und zugleich das erste Wirklichkeitsmärchen, denn die Handlung spielt auf zwei voneinander getrennten, durch Figuren und Übergänge miteinander in Beziehung gesetzten Ebenen, von denen die eine der zeitgenössischen Realität nachgebildet ist. Die andere nutzt Vorstel- lungen von Mythologie und Aberglauben. In dieser zweiten Welt sind die Naturgesetze außer Kraft , Menschen verwandeln sich in Tiere, Tiere können sprechen und die Welt ist voller Magie, keineswegs nur von der ungefährlichen Sorte. Der Dualismus der zwei Welten wird gattungsbildend, wie man an so berühmten neueren Beispielen wie den Chronicles of Narnia von Clive Staples Lewis (1950–1956; noch ohne Artikel im Kindler) oder den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Row- ling (1997–2005) sehen kann. Dass Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, gilt auch für andere Gattungen, die sich erst noch entwickeln, etwa für die literari- sche Fantastik, an deren Beginn wieder Hoff mann steht. Es war eine falsche Übersetzung des Titels der Fantasiestücke, durch die der Begriff der Fantastik oder Fantasy geboren wurde und so seinen Siegeszug antreten konnte. Zweifellos war Hoff mann ein außergewöhnlich talentierter Mensch. Er dichtete, komponierte (am bekanntesten ist noch seine romantische Oper Undine nach dem Märchen von Friedrich de la Motte Fouqué), zeichnete und wurde zu einem der führenden Juristen seiner Zeit, dem sein Scharfsinn aber beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Sein romanlanges Märchen Meister Floh von 1822 karikiert, in Gestalt eines hohen Regierungsvertreters, die politische Verfolgung Andersdenkender in Preußen. Hoff manns Begabungen erklären einen Teil seines Erfolgs, aber nicht den ganzen, denn Hoff mann war auch ein Vielschreiber, der Verlegern vor allem des Geldes wegen das Blaue vom Himmel versprach, diese Verspre- chen oft genug nicht hielt und manchmal die Übersicht verlor, weil er einzelne Kapitel bereits ohne Abschrift abgeschickt hatte und nicht mehr so genau wusste, was seine Figuren bereits alles erlebt hatten. Aus heutiger Sicht könnte man sagen: Hoff mann und die Brüder Grimm waren die richtigen Autoren zur richtigen Zeit, damit das Märchen so, wie wir es heute kennen, entstehen und solchen Erfolg haben konnte. 13 Denn um zu erkennen, ob Naturgesetze gelten oder nicht, muss es erst welche geben – oder vielmehr ein Bewusstsein dafür. Beides hat sich mit der Abkehr vom christlichen zum naturwissenschaft - lichen Weltbild seit dem 18. Jahrhundert entwickelt. Noch im 18. Jahr- hundert wurden Frauen als Hexen verbrannt, weil man glaubte, dass sie übernatürliche Fähigkeiten besitzen und zum Schaden ihrer EINLEITUNG Mitbürger gebrauchen. Solche Vorstellungen werden im Zeitalter der Aufk lärung unzeitgemäß, zugleich werden sie aber auch produktiv für die Fantasie, um die es Autoren wie Hoff mann ganz besonders geht. Am Beginn von Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen (1819) wird, weil der Fürst eines kleinen deutschen Landes die Aufk lärung einführt, alles wunderbare Personal des Landes verwiesen, auch die gute Fee Rosabelverde, die allerdings, wie der für die Handlung nicht weniger wichtige Zauberer Prosper Alpanus, eine bürgerliche Existenz annimmt, um sich weiterhin im Land aufh alten zu können. Der Rationalismus der Aufk lärung führt, wie Hoff mann auf ebenso ironische wie humorvolle Weise zeigt, zu Verwerfungen und Einsei- tigkeiten. Das Pendel schlägt zur anderen Seite aus und dem Licht der Aufk lärung, das zu Bevölkerungswachstum, Bildung und Wohlstand führt, entspringt ein oft mals in seiner Bedeutung nicht gesehener Schatten. Ein Schatten, den Adelbert von Chamisso in Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte (1814) seinem Protagonisten von einer Teufels- fi gur abhandeln lässt. E. T. A. Hoff mann wird das Motiv in Die Abenteuer der Sylvester-Nacht (1815) variieren, hier ist es ein Spiegelbild, das abhan- denkommt. Die Tradition eines solchen Handels mit dem Teufel, der als Allegorie auf die Verdrängung des Anderen im Eigenen gelesen werden kann, lässt sich bekanntlich in vielen weiteren Texten und Variationen fi nden. Selbst die Kinder- und Hausmärchen enthalten zunächst noch Texte, die wir heute eher als Sagen oder Legenden klassifi zieren würden. Es ist der fortdauernden Bearbeitung, Auswahl und Gestaltung durch Wilhelm Grimm zu verdanken, dass die Märchen die für uns heute so natürlich scheinenden Merkmale erhalten, die formelhaft en Wen- dungen wie »Es war einmal« oder »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, die eindimensionalen, moralisch 14 eindeutig positionierten Figuren (gut oder böse), die typischen Hel- ferfi guren und magischen Requisiten. Doch auch wenn die Brüder Grimm und E. T. A. Hoff mann den Gattungsbegriff des Märchens und die gängigen Unterbegriff e Volks-, Kunst- und Wirklichkeitsmärchen durch ihre Texte prägen, so ist ihre Arbeit weder voraussetzungslos noch ist das, was man im Diskurs über die deutschsprachige Literatur als grundlegend ansieht, bindend für andere Literaturen, auch wenn sich, wie die vorliegende Sammlung zeigt, viele Tradierungen und Adaptionen dieser Märchenkonzepte in anderen Ländern (etwa in den beiden Sammlungen Norske Folkeeventyr / Norske Huldreeventyr og Folkesagn, dtsch. Sämtliche Volksmärchen und Erzählungen aus Norwegen, von 1843–1848) und Kulturkreisen (etwa in Narodnye russkie skazki, den Russischen Volksmärchen von 1855–1863, oder in Abubakar Imams Magana Jari Ce, dtsch. Worte sind ein Schatz, von 1937–1939) fi nden lassen. Wie alles, was Menschen gemacht oder erdacht haben, ist auch das Märchen Ergebnis eines von zahlreichen Faktoren beeinfl ussten, Sprach- und Ländergrenzen überschreitenden, kulturellen Entwick- lungsprozesses. Die neuhochdeutschen Wörter ›Märchen‹ und ›Mär- lein‹ oder das mittelhochdeutsche ›maerlîn‹ sind Verkleinerungsfor- men zu ›Mär‹, mittelhochdeutsch ›maere‹, althochdeutsch ›mârî‹. Die ursprüngliche Bedeutung entspricht den Begriff en ›Kunde‹, ›kurzer Bericht‹ oder ›kurze Erzählung‹. Im französischen ›contes de fées‹ oder englischen ›‹ ist auch Kunde und Erzählung enthalten, es wird zusammengebracht und zusammengedacht mit dem Figurentypus der Fee, der freilich nicht in allen Märchen vorkommt. Die Populari- sierung der Gattung im 18. Jahrhundert ging vor allem von Frankreich aus, so dass im Deutschen auch der Begriff der ›Feenmärchen‹ üblich wurde, bevor die Suche nach der für eine deutsche Kulturnation als notwendig erachteten, ursprünglichen ›Volkspoesie‹ begann, eine Suche, die ebenso ein Rekonstruktions- (man denke an Editionen mittelalterlicher Dichtungen, etwa des Nibelungenliedes) wie Kon- struktionsprozess war. Und hierfür sind die Kinder- und Hausmärchen ein gutes Beispiel, weil sie, wie Beat Mazenauer und Severin Perrig an Beispielen gezeigt haben, Stofft raditionen aufnahmen und einer für die damalige Zeit typischen Auff assung von tugendhaft er Bürgerlich- keit anpassten. Die Veränderungen sind gravierend, ein Beispiel ist die Figur des 15 Dornröschen. In dem altfranzösischen Le Roman de Perceforest (um 1330) sticht sich Prinzessin Zellandine beim Spinnen mit einer Flachs- faser, fällt in einen totenähnlichen Schlaf und wird in einem Turm- zimmer aufgebahrt. Dort fi ndet sie Prinz Troylus mit Hilfe des Gottes Amor und der Göttin Venus, die ihn dazu verführen, die Prinzessin zu küssen und mit ihr zu schlafen. Zellandine wird schwanger und EINLEITUNG bekommt einen Sohn, der ihr die Flachsfaser aus dem Finger lutscht und sie so von dem im Mittelalter gefürchteten Zustand des Schein- todes befreit. In Sonne, Mond und Talia, einem Text aus Giambattista Basiles Lo cunto de li cunti o vero lo trattenimiento de peccerille, in Anspie- lung auf Boccaccios Dekameron auch Pentameron genannt (1634), ist der ritterliche Regelkodex durch einen höfi schen ersetzt worden. Talia wird durch eine Hanff aser in einen totenähnlichen Schlaf versetzt. Ein König fi ndet sie und zeugt mit ihr Zwillinge. Die eifersüchtige Gemahlin, eine Menschenfresserin, befi ehlt, die Kinder zu kochen und ihrem Vater als Speise vorzusetzen, die Nebenbuhlerin Talia soll verbrannt werden. Der Koch führt den Befehl nicht aus, der König rettet Talia vor dem Feuer und lässt stattdessen seine hinterhältige erste Frau verbrennen. In Charles Perraults Die schlafende Schöne im Walde (La Belle au bois dormant) aus seinen Histoires ou contes du temps passé, avec des moralitez von 1697 fi nden sich sieben Feen, die als Patin- nen geladen werden und der Prinzessin Gaben verleihen sollen. Dabei ist vergessen worden, eine alte Fee einzuladen, die einen Spindelstich mit tödlicher Wirkung vorhersagt, der von einer jungen Fee in einen hundertjährigen Schlaf umgewandelt wird. Das ganze Schloss fällt in tiefen Schlaf. Nach der Erlösung durch den Prinzen wird geheiratet und die Ehe vollzogen. Jacob Grimm wurde die Geschichte von Marie Hassenpfl ug erzählt, die mit der französischen Märchentradition vertraut war, also mit Perrault und mit Mme d’Aulnoy, die Motive des Stoff es in ihrem MärchenDie Hirschkuh im Walde (1698) verarbeitete. Bei den Grimms sind es nun zwölf bzw. 13 Feen, die Tugendhaft igkeit der guten Figuren wird betont, die Sprache wird einfach und formel- haft , die Figurenzeichnung wird eindimensional, Erotik und Sexuali- tät werden ausgespart. Die Gattung des Märchens ist, wie wir sehen, wenn wir auf die 16 Anfänge der Entwicklung ihrer Stoff e und Merkmale schauen, ein Hybrid aus verschiedenen Gattungstraditionen und kulturellen Ein- fl üssen. Man könnte, um nur zwei besonders bekannte Beispiele zu nennen, bis zu Homer und seiner Odyssee oder bis zu Ovid und seinen Metamorphosen zurückgehen, um zu zeigen, dass die Verwandlung von menschenähnlichen Figuren in Tiere, die Ausstattung solcher Figuren mit magischen Fähigkeiten, das Nichtbeachten von (damals weitge- hend unbekannten) Naturgesetzen tiefe Wurzeln in der Geschichte der Weltliteratur hat. Diese hier vorliegende Auswahl beginnt mit der Geschichte vom Bambussammler (entstanden um 900), um das Aufk om- men solcher Motivtraditionen in verschiedenen Kulturkreisen zu zeigen. Wenn es nicht anachronistisch wäre, weil es Nationen im heu- tigen Sinn nicht gab oder mit den antiken griechischen und römischen Staaten höchstens Vorläufer davon, dann könnte man sagen, dass Lite- ratur bis ins zweite Jahrtausend auf ganz selbstverständliche Weise international war. Das gebildete Publikum war klein und informierte sich länder- und kulturkreisübergreifend, es bediente sich bei dem, was es für geeignet für die eigene Arbeit und Vorstellungswelt hielt und integrierte es, so wie bereits die Römer die griechische Mytholo- gie übernommen und verändert haben. Von Vorstellungen des geis- tigen Eigentums oder Copyrights, wie sie sich in westlichen Gesell- schaft en des 19. Jahrhunderts entwickeln, ist dies so weit entfernt wie nur möglich. Das zeigt sich prägnant in Tausendundeine Nacht (Alf laila wa-laila), hier sind die Herkünft e der Erzählungen und ihre Verfasser weitgehend unbekannt. Das Muster einer Rahmenerzählung mit Bin- nengeschichten fi ndet sich ebenso in Giovanni BoccacciosDe cameron. Prencipe Galeotto (gedruckt 1470). Diese beiden Sammlungen werden prägend für die späteren Novellen- und Märchenzyklen, auf Basiles Pentameron wurde bereits hingewiesen. Im 18. und 19. Jahrhundert beeinfl ussen sie dann die deutschsprachige Literatur, von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) als erstem, berühmt gewordenem deutschsprachigen Novellenzyklus, der mit Das Mär- chen schließt, über Tiecks Phantasus (1812–1816) und Hoff manns Die Serapions-Brüder (1819–1821) bis zu den Märchenalmanachen Hauff s (1826–1828) und über sie hinaus.

17 Einflüsse von Glauben und Aberglauben

Das Magische ist Bestandteil der Vorstellungs- und Erlebenswelt der Menschen, ob es nun religiös bestimmt wird oder im Sinne dessen, was wir als Aberglauben bezeichnen, tradiert wird. Menschen suchen nach Sinn und nach Erklärungen, für ihr Leben und für die (Um-) Welt, in der sie leben. Das, was uns ausmacht, uns umgibt und uns EINLEITUNG geschieht, als Produkt einer mehr oder weniger zufälligen Kette von Entwicklungen zu betrachten, ist erst seit Charles Darwins Lehre von der Entwicklung der Arten im 19. Jahrhundert ein breiter diskutiertes Erklärungsmodell geworden, allerdings werden in den Naturwissen- schaften kausale Zusammenhänge favorisiert. In der Wissenschaft gibt es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seit diszipli- nübergreifend diskutierte Theoriemodelle wie Konstruktivismus, Diskursanalyse oder Dekonstruktion Konjunktur haben, eine breitere Basis für die Auffassung, dass – mit Michel Foucault gesprochen – alles auch ganz anders sein könnte und dass sich das, was ist, aus heteroge- nen, komplexen Gründen so entwickelt hat. Diese »gesteigerte Kon- tingenzerfahrung« (Hans Joas) prägt unsere (post-)moderne Zeit, aber nicht die vorhergehenden Zeitalter. Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto mehr ist das, was wir als Merkmale von Märchen ansehen, Bestandteil allgemeiner religiö- ser Vorstellungen oder ihrer allegorischen Gestaltung. Auch die Bibel ist eine Textsammlung, die mit Motiven arbeitet, die wir als Merkmale des Märchens wiederfi nden. Dazu gehören Eingriff e anderer, höhe- rer Ordnungen in das Handeln der menschlichen Figuren, magische Eigenschaft en und Requisiten. Wenn wir noch weiter zurückgehen, stoßen wir auf die antike Götterwelt, auch sie ist zum Stoff - und Ideenlieferanten des Märchens geworden. Erst im 18. Jahrhundert, in dem das christliche Weltbild durch ein naturwissenschaft liches abge- löst wird, wird es möglich, jene fundamentale Unterscheidung von Religiösem oder Übernatürlichem einerseits und einer durch Natur- gesetze bestimmten Alltagswelt andererseits zu treff en. Allerdings ist ein Defi zit an Transzendenz entstanden, das auf unterschiedliche Weise kompensiert wird. Michel Foucault hat in diesem Zusammen- hang festgestellt (in seiner Studie Folie et déraison, dtsch. Wahnsinn und 18 Gesellschaft : Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft , von 1961): »Was die [französische Epoche der] Klassik eingeschlossen hatte, war nicht nur eine abstrakte Unvernunft , in der sich Irre und Freigeister, Kranke und Verbrecher vermischten, sondern auch eine gewaltige Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren [...].« Die Monster bevölkern nun die Literatur, die ihnen ein Gesicht gibt, man denke an die im 19. Jahrhundert von und Bram Stoker erschaff enen Figuren Frankenstein und Dracula. Monster bevölkern auch das Märchen, einerseits domestiziert durch die und in der Literatur, andererseits als Allgegenwart des Verdrängten. Kein Wunder, dass die heutige Zeit von Monstern einerseits (Vampire, Zombies …) und ganz unterschiedlichen religiösen Vorstellungen andererseits nur so wimmelt, wobei dadurch neue Unsicherheiten erzeugt werden, aus denen sich Fanatismus speist. Wer es schwierig fi ndet, mit Komplexität umzugehen, der ist für einfache ›Wahrheiten‹ anfällig. Vielleicht kann aber gerade das Mär- chen mit seiner Vielfalt an Figuren und Traditionen für Toleranz wer- ben. Was Kinder betrifft , war bereits der Psychologe Bruno Bettelheim davon überzeugt, dass sie Märchen brauchen (The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales, dtsch. Kinder brauchen Märchen, von 1976), um sich im Medium der – vergleichsweise ungefährlichen – Literatur ihren Ängsten stellen und so der Realität gestärkt begegnen zu können. Von religiösen Vorstellungen ist die Frage nach Leben und Tod kaum zu trennen. Im Medium der Literatur werden mögliche Erklä- rungsmodelle für das durchgespielt, was die Menschen unmittelbar betrifft und ängstigt. Ein frühes, bereits erwähntes Beispiel ist das Problem des Scheintods im Mittelalter. Menschen wurden, wenn sie für tot galten, schnell begraben, um Seuchen zu verhüten, doch gab es nicht die diagnostischen Möglichkeiten, den Tod auch zweifels- frei festzustellen. Die Grenzen zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits erscheinen fl ießend und es ist faszinierend, damals wie heute, über die möglichen Übergänge nachzudenken. Der Tod spielt im Märchen stets eine große Rolle, von Andersens Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern (1945) über Barries Peter Pan (1904), Antoine- Marie-Roger de Saint-Exupérys Der kleine Prinz (1943) und C. S. Lewis’ Chronicles of Narnia (1950–1956), um einige berühmte Beispiele zu 19 nennen. Die kleine Streichholzverkäuferin bei Andersen erfriert, sie wird allerdings ihren Platz »bei Gott« fi nden. In Barries Wun- derwelt Neverland kämpfen die Lost Boys gegen den Piraten Hook und gegeneinander, dabei gibt es auch Tote. In deutschsprachigen Übersetzungen wurden solche Passagen lange Zeit ausgespart, weil man glaubte, sie Kindern nicht zumuten zu können. Im letzten Band EINLEITUNG von Lewis’ Chroniken sterben die kindlichen Protagonisten bei einem Zugunglück, aber sie leben in der Wunderwelt Narnia weiter – und natürlich in der Literatur. Schon E. T. A. Hoff mann hat mit Anselmus in Der goldne Topf gezeigt, dass das Märchen prädestiniert ist für eine metafi ktionale Lesart: Im Medium der Fiktion wird gezeigt, wie Fiktionen entstehen. Walter Moers hat dieses Konzept in seinen Zamonien-Romanen (seit 1999) mit der Figur des schreibenden Lindwurms Hildegunst von Mythenmetz und seines ›Übersetzers‹ Walter Moers noch ein- mal radikalisiert, insbesondere in der Trilogie von den »träumenden Büchern«, in denen die Buchlinge vorkommen, die anagrammatische Namen großer Dichter tragen und sich lediglich von der Lektüre ›ihres‹ Autors ernähren. Ob diese Selbstbezüglichkeit auch, wie in der Romantik, die Idee von einem früheren, wiederzuerlangenden Golde- nen Zeitalter speist, ob sie pantheistische oder religiöse Vorstellungen auf spezifi sch märchenhaft e Weise mit einschließt, ob sie das Spiel der Fantasie zelebriert, ohne eine Ebene der Transzendenz zu evozieren oder zu benötigen, ist von Text zu Text verschieden.

Entwicklungslinien der Gattung

Die märchentypischen Merkmale können sich, wie beispielhaft gezeigt, erst im Laufe der Jahrhunderte, in unserem Kulturkreis insbe- sondere in der Moderne seit dem 18. Jahrhundert, zu dem entwickeln, was wir heute unter Märchen verstehen. Es handelt sich zunächst um lange Erzählungen, oft in Versform, die von Königen und Prinzen, Königinnen und Prinzessinnen, Figuren mit magischen Fähigkeiten, sprechenden Tieren, Drachen und magischen Gegenständen handeln. Das Feld solcher Texte ist viel zu groß, um hier mehr als beispielhaft 20 vermessen zu werden, man denke an die Erzählungen von den Nibe- lungen mit dem Drachentöter Siegfried oder von Artus, Merlin und dem Heiligen Gral. Wie die Gesellschaft hat sich auch die Literatur immer weiter ausdifferenziert. Seit dem 19. Jahrhundert werden, in der dichterischen Praxis wie in der Literaturkritik und in der Literatur- wissenschaft, Merkmalszuschreibungen erprobt und vorgenommen, mit denen sich Gattungsbegriffe wie Sage, Legende, Märchen, Erzäh- lung, Novelle voneinander unterscheiden lassen. Allerdings bleibt das Märchen keineswegs exklusiv auf Prosa beschränkt, wie beispiels- weise die einflussreichen Märchendramen zeigen, man denke an Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater, erstmals 1797 erschienen und in den Märchen- und Novellenzyklus Phantasus (1812–1816) aufgenommen. Tiecks Märchenspiel um die kluge, sprechende Katze ist hochmodern: Zuletzt erscheint sogar der Dichter auf der Bühne und wird, Gipfel der ironischen Konzeption, nachdem er die Zuschauer beschimpft hat, von diesen verjagt. (Peter Handkes Publikumsbeschimpfung wird 1966 dieses Konzept radikalisieren.) Die lange und ungebrochene Tradi- tion des Märchens im Drama zeigen beispielsweise auch die vielen Märchenbearbeitungen der englischen Tradition der ›Pantomime‹, das sind in der Vorweihnachtszeit aufgeführte, vor allem durch Slapstick und Wortwitz wirkende Lustspiele. Allerdings ist die Hoch-Zeit des Märchens, in seiner engen Be- griff sbedeutung, in den westlichen Gesellschaft en wie der unseren vor allem auf das späte 18. und das 19. Jahrhundert beschränkt. In rund einem Jahrhundert entwickeln sich das Volks- oder Buchmärchen und das Kunstmärchen vor allem in Frankreich, Deutschland und Großbritannien, um ihren Siegeszug in andere Länder und Kulturen anzutreten und anschließend wieder Tendenzen der Aufl ösung ausge- setzt zu werden. Wichtigster Grund für die erneuten Veränderungen in der Gattung ist ein Paradigmenwechsel um die Jahrhundertwende. Unter den führenden Intellektuellen setzt sich die Auff assung durch, dass es nicht mehr möglich ist, von einer teleologischen Entwicklung und einem einheitlichen Weltbild auszugehen. Grund sind die neue- ren Erkenntnisse aus Wissenschaft , Politik und Geschichte. Sigmund Freud hat 1917, in seiner Abhandlung Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, die Veränderung prägnant auf drei ›Kränkungen der Menschheit‹ zurückgeführt und von der »Zerstörung dieser narzißtischen Illusion« 21 des Menschen gesprochen. Mit der ›Kopernikanischen Wende‹ (der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt des Universums), Darwins An- thropologie (der Mensch »ist selbst aus der Tierreihe hervorgegan- gen«) sowie der Psychoanalyse sei das vormals so mächtige Subjekt dezentriert worden. Die Psychoanalyse selbst habe gezeigt, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«. Nicht nur für Freud und seine EINLEITUNG Psychoanalyse, auch für Autoren stehen schon längst Versuche, All- macht auszuleben, unter Hybrisverdacht. In einer hierarchisch struk- turierten und autoritären, immer noch dem Feudalismus verpfl ich- teten Gesellschaft , unter dem Eindruck von Kriegen, Genoziden und sozialen Verwerfungen, muss progressive Literatur Vorstellungen einer durch den Fortschritt immer besser werdenden Welt, in der alles seinen richtigen Platz hat oder fi ndet, eine Absage erteilen. Die Reali- tät sieht bereits ganz anders aus, selbst wenn es viele nicht wahrhaben wollen. Gerade deshalb wird antimoderne oder ›völkische‹ Literatur und auch die Trivialliteratur an dem Konzept festhalten, dass es ledig- lich eine Frage der Zeit ist, die beste aller möglichen Welten zu schaf- fen, und den Wunschtraum mit klischeehaft en Figuren und Happy- Endings rosarot ausmalen. In diesem Sinne sind triviale Romane wie Twilight (2005) von Stephenie Meyer und Shades of Grey (2011) von E. L. James sowie ihre Fortsetzungen (post-)moderne triviale Mär- chen. Mit der beobachtbaren Realität haben sie nichts zu tun, dafür bedienen sie die Sehnsucht nach Nähe und dauerhaft en menschlichen Beziehungen. Anders als die in diesem Buch vorgestellten, originellen Texte dienen solche klischeehaft en, leicht austauschbaren Erzählun- gen lediglich als Placebo. Auch nach der Lektüre, die nicht zu Einsich- ten in die Probleme der eigenen Welt führt und daher auch nicht für mögliche Veränderungen aktiviert, bleibt alles so frei von Wundern, wie es das vorher schon war. Die Konsequenzen der um 1900 – sich aus der menschlichen Selbstüberschätzung ergebenden – Desillusionierung sind auch für die Entwicklung des Märchens gravierend. Allerdings lassen sich vier Typen unterscheiden, von denen sich zwei bereits im 19. Jahrhundert so weit entwickeln, dass sie die Veränderungen aufnehmen und inte- grieren können. 22 Eine Tradition wird sich fortsetzen und schließlich dominieren: Bereits im 19. Jahrhundert wird das Märchen zunehmend zu einer Gattung für Kinder. Kindheit, so verstanden, wie wir sie heute kennen, entsteht als geschützter Raum, der mit Freizeit und auch mit freieren Formen des (Selber-)Lernens verbunden ist, erst seit der zweiten Hälft e des 18. Jahrhunderts, so dass beides koinzidiert, die Entwick- lung des Märchens als Gattung und die Abkehr von der Auff assung, dass Kinder nur kleine, defi zitäre Erwachsene sind. Im 20. Jahrhundert wird Kindern eine immer größere Autonomie zugesprochen, man denke an J. M. Barries Peter Pan (1904). Neben Erich Kästners und Astrid Lindgrens märchenhaft en Kinderbüchern (etwa KästnersDer 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee von 1931 oder Lindgrens Mio, mein Mio von 1954, die beide noch keinen Platz im Kindler gefunden haben) werten etwa Tove Janssons Die Muminbücher (1945–1970), Otfried Preußlers Der Räuber Hotzenplotz (1962) oder Roald Dahls Kinderbücher (1961–1990) die kindliche Perspektive weiter auf. Die zweite Tradition bilden Märchen, die sich, wenn sie sich auch an Erwachsene richten, immer stärker von einem Editions- zu einem Interventionsprojekt wandeln, das gesellschaft liche Verhältnisse kri- tisch spiegelt. Bereits E. T. A. Hoff mann nutzte, wie wir gesehen haben, die Gattung des Märchens für Kritik an Verhaltensweisen seiner Zeit und Gesellschaft . Auch Wilhelm Hauff , Lewis Carroll oder Oscar Wilde entwickelten ihre jeweils eigenen Konzepte, im Medium des Märchens auf Defi zite der zeitgenössischen gesellschaft lichen Ord- nungen an- und diese durchzuspielen. Das Ende von Oscar Wildes The Star-Child, dtsch. Das Sternenkind, aus A House of Pomegranates, dtsch. Ein Granatapfelhaus, von 1891 hat nur ein scheinbares Happy-End. Nach erfolgreichem Bestehen aller Prüfungen heißt es über den jungen König: »Doch er regierte nicht lange, zu groß war sein Leid gewesen und zu verzehrend das Feuer seiner Prüfung, und nach drei Jahren starb er. Und der nach ihm kam, herrschte böse.« Damit wird das Hoff - nung spendende Ende in sein Gegenteil verkehrt – auch im Märchen geht nicht mehr notwendigerweise alles gut aus, sogar das Gegenteil kann der Fall sein. Tragisch und bezeichnend ist, dass Wilde diese Erfahrung am eigenen Leib machen musste. Wegen seiner Homose- xualität gerichtlich verurteilt, wurde er von der britischen Gesellschaft geächtet und starb einen frühen Tod als gebrochener Mann. Dass 23 er heute als einer der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur gilt, gehört zur Ironie der (Literatur-)Geschichte. Der dritte Typus ist radikal im Sinne der literarischen Avantgarde um 1900. In Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht (1895) ist so gut war gar nichts Märchenhaft es mehr zu entdecken. Die Frage ist, ob man solche Texte noch, wie es beispielsweise Volker Klotz (Das EINLEITUNG europäische Kunstmärchen; 1985) auch bei Franz Kafk a gesehen hat, als Fortsetzung der Gattung einstufen sollte. In Kafk as Die Verwandlung (1915) erwacht Gregor Samsa als Ungeziefer, die Naturgesetze der beobachtbaren Wirklichkeit der Leser greifen nicht mehr. Ob dies genügt, um in dem Text ein Märchen zu sehen? Einen wieder anderen Weg geht der vierte Typus. Ebenso humor- voll wie ironisch adaptieren beispielsweise Hans Traxler mit Die Wahr- heit über Hänsel und Gretel (1963) oder Walter Moers mit Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz (2000) eines der bekanntesten der Kinder- und Hausmärchen, parodieren die Gattung und kritisieren dabei die Wissenschaft sgläubigkeit des Lesepubli- kums (Traxler) oder den Literaturbetrieb (Moers) mit den Mitteln der Satire. Märchen und Fantasy

Das Märchen ist in der Wahrnehmung einer breiten Leserschaft abgelöst worden durch Fantasy-Literatur. So wird, auch wenn sich die grundlegenden Motive des Wirklichkeitsmärchens finden, die Harry-Potter-Serie wohl eher als Fantasy denn als Märchen einge- stuft. Fantasy hat vor allem in der Gegenwart Konjunktur, während dem Märchen etwas Traditionelles, um nicht zu sagen: Altbackenes anhaftet. Wie bereits erwähnt, geht der Begriff Fantasy ursprünglich auf E. T. A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callot’s Manier zurück, man könnte also argumentieren, dass sich die Gattung aus dem Märchen entwickelt hat und vielleicht sogar eine – in dieser Zählung wäre es die fünfte – Sonderform des Märchens ist. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet und Fantasy als eigene Gattung etabliert haben. J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings 24 (1954/55 in drei Bänden erschienen) gilt als der paradigmatische Fantasy-Roman (oder als paradigmatische Romantrilogie, die Einzel- bände sind bekanntlich nicht in sich abgeschlossen). Tolkien bedient sich beim Figurenpersonal und den Requisiten der mittelalterlichen Mythen- und Sagenwelt. Zugleich schafft er mit Mittelerde eine archa- ische Welt, die in ihrer Struktur Ähnlichkeiten mit dem Mittelalter aufweist: Es regieren Könige oder absolute Herrscher, es gibt Kämp- fer, die Rittern gleichen, der gesellschaftliche Entwicklungsstand entspricht der Zeit der großen Epen. Auch bei Tolkien finden sich mit magischen Fähigkeiten begabte Figuren wie Zauberer oder Elfen sowie magische Requisiten, allen voran der titelgebende Ring. Die vor allem seit der Aufklärung bekannten Naturgesetze können in dieser Welt außer Kraft gesetzt sein oder werden. Andererseits setzt Fantasy eher auf das, was Tzvetan Todorov in seiner Einführung in die fantastische Literatur (1972) als das »Unheimliche« bezeichnet und vom »Wun- derbaren« abgrenzt. Nach Todorov ist Fantastik eigentlich dadurch charakterisiert, dass sie auf dem schmalen Grat der Unschlüssigkeit zwischen dem Unheimlichen und dem Wunderbaren wandelt. Sobald der Leser meint, die Naturgesetze sind im Text modifiziert worden und es gibt eine Welt, die nach eigenen Regeln funktioniert, ist er im Bereich des Wunderbaren. Wenn aber etwas in die erzählte Welt ein- bricht, das sich auch innerhalb dieser Welt nicht erklären lässt und die geltenden Naturgesetze übersteigt, gehört der Text zum Bereich des Unheimlichen. Todorovs Definition ist viel zitiert und oft angezwei- felt worden, doch gibt es kaum schlüssige Erklärungsmodelle und die Definition von Fantasy soll hier auch nur in Abgrenzung zur Gattung des Märchens interessieren. Todorovs Unterscheidung kann, wenn man sie etwas verändert, immer noch nützlich sein. E. T. A. Hoff mann traf eine Unterscheidung zwischen Märchen und Nachtstücken, zu denen die berühmte Erzählung Der Sandmann (1816) gehört. Nach der Lektüre des Sandmann ist es tatsächlich nicht möglich zu entscheiden, ob innerhalb des Texts die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden (zentral hierfür ist die Magier-Doppel- gänger-Figur Coppelius/Coppola) oder ob Protagonist Nathanael aufgrund eines kindlichen Traumas dem Wahnsinn verfällt. Daher ist der Sandmann ein Paradebeispiel für Todorovs Defi nition des Fantasti- schen, und das, obwohl Sigmund Freuds Abhandlung Das Unheimliche 25 (1919) vor allem auf den Sandmann Bezug nimmt. Bei Tolkien ist es aber anders, nach Todorovs Defi nition würde gerade der berühmteHerr der Ringe nicht zur Fantasy gehören, weil hier innerhalb der erzählten Welt die Naturgesetze aufgehoben oder modifi ziert worden sind – es würde sich demnach um ein Märchen handeln. Ein Weg aus dem defi nitorischen Dilemma könnte sein, sich vielleicht nicht nur, aber EINLEITUNG verstärkt an der Praxis zu orientieren. Die meisten Fantasy-Texte handeln von einer archaischen, mit mittelalterlichen Zügen ausgestat- teten, eher an Gattungen wie Epos, Sage und Legende anschließenden Welt, die immer auch grausam und deshalb unheimlich ist, während das Märchen konsequent auf das Wunderbare setzt. Im Märchen geht es nicht primär um den Nervenkitzel durch tödliche Gefahren, die es durchaus auch gibt, sondern um eine Bewältigung von Mangelsitu- ationen und Lösung von Aufgaben, für die ein Figurenpersonal und Requisiten zur Verfügung stehen, die märchentypisch geworden sind. Literatur ist kein Baukastensystem und kann es auch nicht sein, weil gute Literatur immer innovativ ist, also Regeln nicht bestätigt, sondern durchbricht und neue etabliert. Deshalb wird es immer eine Einzelfallentscheidung sein und unterschiedliche Auff assungen darüber geben, wo die Grenze zwischen Fantasy und Märchen ver- läuft . Nehmen wir beispielsweise die Zamonien-Romane von Walter Moers. Nach der hier vorgeschlagenen ›weichen‹ Defi nition würde die Grenze mitten durch die Romane verlaufen. Der sprechende Bär in Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär (1999), die Lösung von Aufgaben und anderes mehr sprechen für die Einordnung dieses Romans als Mär- chen. Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythen- metz (2000) und Der Schrecksenmeister (2007) schließen direkt an die Gattung Märchen an, im Schrecksenmeister adaptiert Moers Gottfried Kellers Märchen Spiegel, das Kätzchen (1856). Hingegen variiert Rumo & Die Wunder im Dunkeln (2003) eher Motive der Fantasy. Der Held geht auf eine Queste, so wie Ritter der mittelalterlichen Epik auf eine große Suche gingen, man denke an die Artusritter und den Heiligen Gral. Hinter jeder Ecke lauern Gefahr und Grausamkeit, Erlösung ist nur in der – nach vielen, beinahe tödlichen Abenteuern zu erlangen- den – Liebe zu fi nden. Rowlings Heptalogie um den Zauberlehrling 26 Harry Potter (1997–2005) mit ihrem Dualismus der zwei Welten, mit den märchentypischen Figuren und Requisiten, wäre hingegen eher ein Wirklichkeitsmärchen in der Nachfolge von E. T. A. Hoff manns Der goldne Topf (1814), auch wenn sich bei Rowling viele Bezugnahmen auf die mittelalterliche Epen- und Sagenwelt fi nden lassen. Wo immer nun die Grenze zwischen Märchen und Fantasy ver- läuft – Märchen ist der ältere, traditionsreichere, eingeführte Begriff und Fantasy eine interessante neuere, sich weiter entwickelnde Gat- tung, die weniger an typische Merkmale gebunden ist und sich frei bei der mittelalterlichen »Welt von Monstren« (Foucault) bedienen kann. Vielleicht ist Fantasy deshalb so populär und zeitgemäß – die Gattung bietet eine off ene Form für die Begegnung mit Ängsten, die in einer durchrationalisierten Welt oft keinen Platz haben, und für große, unauslebbare Gefühle; auch wenn es sich oft um triviale Texte handelt, die wohl eher zur Ablenkung und Beruhigung dienen als dazu, aus der Modellierung von Problemen der defi zitären Wirklichkeit mögliche Verbesserungs- oder gar Lösungsansätze zu gewinnen. Geschlechterrollen

An den Märchen lässt sich auch die Entwicklung der Geschlechter- rollen nachvollziehen. Die Frauenfiguren werden traditionell den Männerfiguren untergeordnet, doch gibt es bereits erste Heldinnen, die zumindest durch ihr Verhalten zeigen, dass sie den männlichen Figuren klar überlegen sind – man denke an den aus Enttäuschung über einen Ehebruch seiner Frau zum Mörder gewordenen König Šahriyār, der durch die Erzählungen von Šahrazād (Scheherazade) auf den Weg des richtigen Verhaltens zurückgeführt wird. Allerdings darf man auch hier nicht übersehen, dass der Aufwertung der einen, klugen Frauenfigur die Geringschätzung des Lebens vieler anderer Frau- enfiguren gegenübersteht. Der von den Brüdern Grimm durch die Figurengestaltung der Kinder- und Hausmärchen tradierte bürgerliche Wertekanon setzt eine klare Hierarchie von (passiven) Frauen und (aktiven) Männern voraus. 27 Erst in der jüngsten Literatur werden Frauenfi guren deutlich aufgewertet. Die Bedeutung von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (1945–1948) dürft e, nicht nur für die Kinder- und Jugendliteratur, hierbei kaum zu überschätzen sein. Noch heute, so ist anzunehmen, übertrumpfen die männlichen Märchenfi guren die weiblichen nicht nur zahlenmäßig. Selbst Joanne K. Rowling macht einen Jungen EINLEITUNG zum Helden ihrer Romanserie und stilisiert ihn zu einer Erlöserfi gur. Wie Jesus kehrt er von den Toten zu den Lebenden zurück und darf, anders als Jesus, auf Erden bleiben, heiraten und Kinder zeugen. Doch es gibt auch Texte, die solche antiquierten Konzepte durchkreuzen. In Johanna Sinisalos Ennen päivänlaskua ei voi, dtsch. Troll. Eine Liebesge- schichte (2000), werden queere, homesexuelle Figuren dargestellt und bereits durch ihre neu errungene Literaturfähigkeit aufgewertet.

Fremdheitserfahrungen

In Zeiten, in denen (wieder einmal oder immer noch) Menschen, nur weil sie aus anderen Ländern oder Kulturkreisen kommen, als ›Fremde‹ angesehen werden und in denen ›fremd sein‹ zugleich unhin- terfragt auch ›minderwertig sein‹ bedeutet, kann das Märchen zeigen, dass Fremdheit immer das Ergebnis einer durch Menschen geworde- nen, von Menschen gemachten Praxis kultureller Zuschreibungen ist. Bereits der Blick auf die Geschichte des Märchens relativiert jede Grenze zwischen Ländern und Kulturen. Tausendundeine Nacht (Alf laila wa-laila), eine der wichtigsten Textsammlungen für die Literatur der Neuzeit, hat Wurzeln in Indien und den arabischen Ländern. Oidheadh Chloinne Tuireann, dtsch. Der Tod der Kinder Tuireanns (1375), bezieht, wie viele andere Texte und Sammlungen auch, Ideen unter anderem aus der antiken Literatur. Es fi nden sich etwa die für das Märchen typi- schen drei Brüder oder die mit Hilfe von magischen Gegenständen zu lösenden Aufgaben. Doch auch im 19. Jahrhundert, in der das Märchen als eigenständige Gattung, darunter – bereits die Gattungsgrenzen durch seine kluge Nonsens-Nichtordnung sprengend – Lewis Carroll, seine vielleicht größte Wirkung zu entfalten beginnt, lässt sich die Wirkung nicht auf einzelne Sprachen und Literaturen begrenzen. 28 Freilich hat das Märchen, gerade in der jüngeren Geschichte, auch eine zwiespältige Rolle, soll es doch der jeweils eigenen Kultur und Literatur eine Grundlage geben und abgrenzend zu anderen Kultu- ren und Literaturen wirken. Dabei können sogar ›fremde‹ Kolonial- mächte ihre Hände im Spiel haben, wie das Beispiel Abubakar Imam mit Magana Jari Ce (1937–1939) zeigt: »In der Kolonie Nigeria forderte Rupert East, britischer Educational Offi cer, Imam zum Schreiben auf und gab ihm als Anregung arabische, indische, persische und europä- ische Literatur. Imams Talent war East 1933 bei einem Schreibwett- bewerb aufgefallen. Das über 600 Seiten starke Buch wurde wunsch- gemäß in lateinischer Schrift verfasst; Ziel war die Ablösung der arabischen Schrift « (Hannelore Vögele). Das ebenso Produktive wie Paradoxe dieser Entwicklung gilt es in den Blick zu nehmen, will man das Bedürfnis nach Identitätsbildung einer Gesellschaft oder Sprach- gemeinschaft ebenso beachten wie das Hybride, aus vielen ›fremden‹ Einfl üssen Gespeiste dieser weniger rekonstruierten als konstruier- ten ›eigenen‹ Kultur und Literatur. Medienwechsel

Die Popularität der Gattung Märchen ist ungebrochen, dabei hat sie auch mehrere Medienwechsel vollzogen. Saint-Exupérys Le petit prince, dtsch. Der kleine Prinz (1943), wäre ohne die wunderschönen Bilder gar nicht zu denken. Tove Janssons Muminbücher (1945–1970) verbinden Text und Bild auf kongeniale Weise, so dass die Zeichnun- gen noch heute, insbesondere im skandinavischen Raum, ikonischen Charakter haben. Der Schriftsteller, Zeichner und Karikaturist Walter Moers spielt in den Zamonien-Romanen (seit 1999) mit allen nur denkbaren Möglichkeiten der Illustration und grafischen Gestaltung. Zahlreiche Märchenstoff e sind für Lieder, Ballett und Oper adap- tiert worden und zu Klassikern avanciert, man denke an Les contes d’Hoff mann, dtsch. Hoff manns Erzählungen, von Jacques Off enbach (1851), das Libretto schrieben Jules Barbier und Michel Carré, oder an Turan- dot von Giacomo Puccini (1924), das Libretto verfassten Giuseppe 29 Adami und Renato Simoni nach dem gleichnamigen Märchendrama von Carlo Gozzi (1772). Walt Disneys Märchenfi lm Cinderella (1950) geht auf Perrault zurück, doch auch die Fassungen der Brüder Grimm sind weiterhin im internationalen Film-Gedächtnis präsent und die Stoff e entwickeln ein Eigenleben, wie beispielsweise die im New York der Gegenwart angesiedelte Disney-Komödie Enchanted, dtsch. Ver- EINLEITUNG wünscht (2007), zeigt, die von animierten Figuren zu realen Schauspie- lern wechselt, so wie sich dies etwa auch in der zauberhaft en Disney- Verfi lmung von Pamela L. Travers’ RomanMary Poppins zeigt (Roman 1934, Film 1964). Es gibt viele berühmte Beispiele des Märchenfi lms, etwa die von Schwarzweiß in Farbe – in der ganz frühen Zeit des Farb- fi lms eine Sensation – wechselnde Verfi lmung von L. Frank BaumsThe Wizard of Oz, dtsch. Der Zauberer von Oz, von 1939; ein Musical, dessen Titelmelodie wohl jeder aus dem Gedächtnis heraus summen kann, der überhaupt einmal Filme geschaut hat. Der Animationsfi lm pfl egt eine besondere Beziehung zum Märchen, wie die Serie der Verfi lmun- gen um den Oger Shrek aus dem Hause DreamWorks zeigt (2001 ff .). Viele populäre Märchenfi guren kommen in diesem parodistischen Meta-Märchen vor, das sich frei bei der Gattungsgeschichte bedient und selbst den eigenen Umgang damit humorvoll refl ektiert. Origi- nell, weil die stereotyp gewordene Märchenmotivik durchkreuzend, ist der unübliche Schluss des ersten Films – nicht der Oger wird zum Prinzen, sondern die Prinzessin entscheidet sich, ein Oger zu werden.

Das Märchen als Poesie der Poesie

Zahlreiche andere Metamorphosen der Gattung wären zu nennen und jede Beschäftigung mit ihr kann immer nur eine Expedition in ein Land sein, das so wandlungsfähig und unerschöpflich ist wie seine Namen, ob es nun Dschinnistan heißt (C. M. Wieland, E. T. A. Hoffmann), Atlantis (E. T. A. Hoffmann, Walter Moers), Narnia (C. S. Lewis), Phantásien (Michael Ende) oder Zamonien (Walter Moers). Wie Michael Endes Bastian kann jede Leserin und jeder Leser selbst die wunderbare Welt in ihrer oder seiner Fantasie weiter ausgestalten und dafür sorgen, dass Phantásien nicht untergeht. Mit dem vorliegenden Band lässt sich vielleicht nicht auf eine märchenhaft e Reise, aber auf eine Reise durch das Märchen gehen, an verschiedenste Orte zu verschiedensten Zeiten, mit Hinweisen auf Textsammlungen und Texte, die aus Platzgründen stellvertretend für viele andere stehen müssen. Alle diese Orte und Zeiten repräsentieren dabei auch die Vielfalt und Innovationskraft kultureller Hervorbrin- gungen der Menschheit. Eine Menschheit, die sich, trotz aller Abhän- gigkeiten und allen Scheiterns von guten Absichten, durch eine Fähig- keit auszeichnet, die nicht genug zu schätzen ist – die wunderbare Gabe zum Wunderbaren, zum freien Spiel der Fantasie, zum Schaff en von anderen, fremden Welten, die eigenen Gesetzen gehorchen. Wenn sich auch fi ktionale Literatur allgemein durch ein solches freies Spiel der Fantasie auszeichnet, so ist doch das Märchen ihre Potenzie- rung, weil es sich an keine naturgesetzlichen Wahrscheinlichkeiten halten muss und so zu dem wird, was die Dichter der Romantik immer schon in ihm gesehen haben – zur Poesie der Poesie. Literatur in Auswahl

Bluhm, Lothar: Grimm-Philologie. Beiträge zur Märchenforschung und Wissen- schaftsgeschichte. Hildesheim u. a. 1995. Bottigheimer, Ruth B.: Fairy Tales. A New History. Albany, New York 2009. Karlinger, Felix: Geschichte des Märchens im deutschen Sprachraum. Grund- züge. 2., erw. Aufl. Darmstadt 1988. Karlinger, Felix (Hg.): Wege der Märchenforschung. Darmstadt 1973. Klotz, Volker: Das europäische Kunstmärchen. 25 Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. München 1987. Lange, Günter (Hg.): Märchen – Märchenforschung – Märchendidaktik. 3. Aufl. 2004. Mayer, Mathias/Jens Tismar: Kunstmärchen. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/ Weimar 1997. Mazenauer, Beat/Severin Perrig: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Archäologie der Märchen. Mit einem Essay von Peter Bichsel. München 31 1998. Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen/Basel 2005. Pöge-Alter, Kathrin: Märchenforschung. Theorien, Methoden, Interpretationen. 3. Aufl. Tübingen/Basel 2016. Ranke, Kurt/Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Hand-

wörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Unter EINLEITUNG Mitarb. zahlr. Fachwiss. Berlin u. a. 1977 ff. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004. Roth, Dieter/Walter Kahn (Hg.): Märchen und Märchenforschung in Europa. Ein Handbuch. Frankfurt/Main 1993. Scherf, Walter: Das Märchenlexikon. 2 Bde. München 1995. Zipes, Jack (Hg.): The Oxford Companion to Fairy Tales. 2. Aufl. Oxford 2015.