Auftrag Auslandseinsatz: Neueste Militärgeschichte an Der Schnittstelle Von Geschichtswissenschaft, Politik, Öfentlichkeit Und Streitkräften
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Auftrag Auslandseinsatz: Neueste Militärgeschichte an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Streitkräften. Potsdam: Bernhard Chiari, Militärgeschichtliches Forschungamt, 26.09.2011-28.09.2011. Reviewed by Anna Kappler Published on H-Soz-u-Kult (January, 2012) Mit modernen Streitkräften sowie den Aus‐ dem Zweck der Militärgeschichte insbesondere landseinsätzen seit 1990 widmete sich die 52. In‐ innerhalb der Bundeswehr selbst zu stellen. Dort ternationale Tagung für Militärgeschichte einem müsse die Militärgeschichte zukünftig verstärkt für die Geschichtswissenschaften neuen Thema. Orientierungswissen für Soldaten bereitstellen In Deutschland galt die neueste Geschichte der und so Grundlagen für deren Selbstverständnis Bundeswehr bislang als zu gegenwartsnah und im Sinne militärischer Identität schaffen. Eine sol‐ angesichts unzugänglicher Akten als quellenmä‐ che Aufgabenzuweisung birgt freilich erheblichen ßig zu ungesichert, um Untersuchungsgegenstand Zündstoff, wie im Tagungsverlauf immer wieder der neuesten Zeitgeschichte zu sein. Auch mentale deutlich wurde: Kritiker befürchten insgesamt Hindernisse standen dem im Weg. Der Topos eine zunehmende Anwendungsorientierung der „Krieg und Militär“ wurde über Jahrzehnte mit Wissenschaftsdisziplin. Diese laufe angesichts ei‐ dem Zeitalter der Weltkriege gleichgesetzt, aber ner neuen Ausrichtung der Bundeswehr Gefahr, selbst innerhalb der boomenden Disziplin Militär‐ auf den Stand eines Informations- und Recherche‐ geschichte paradoxerweise kaum mit der Berliner instruments zurückzufallen, und verliere so Un‐ Republik oder gar der Bundeswehr in Zusammen‐ abhängigkeit und Qualität. hang gebracht. Die Vielfalt der neuen Aufgabe und der sich In seinem einleitenden Vortrag näherte sich daraus ergebende Anspruch der Interdisziplinari‐ BERNHARD CHIARI (Potsdam) dem Gegenstand tät spiegelten sich im Tagungsprogramm wider. auf mehreren Ebenen an. Chiari umriss die histo‐ Der inhaltliche Bogen spannte sich von der histo‐ rischen, gesellschaftlichen und politischen Rah‐ rischen bzw. gegenwärtigen Rolle des Militärs in menbedingungen, unter denen sich Auslandsein‐ der Gesellschaft über den strukturell-organisato‐ sätze und ihre Erforschung in Deutschland voll‐ rischen Wandel und die Anforderungen an Ein‐ ziehen. Zweitens lotete er Gegenstand und Aufga‐ satzarmeen bis hin zur Auseinandersetzung mit ben der Disziplin aus und widmete sich drittens konkreten Einsätzen und ihren Rahmenbedingun‐ der individuellen Wahrnehmung und damit den gen. Das Spektrum umfasste makro- und mikro‐ persönlichen Motiven insbesondere der eingesetz‐ perspektivische Betrachtungen, die Analyse su‐ ten Soldaten, welche die Auslandseinsätze und die pranationaler Akteure und Strukturen bis hin zur Entwicklung der Bundeswehr insgesamt voran‐ Erfahrungswelt des einzelnen Soldaten im Ein‐ bringen. Viertens thematisierte er die Quellenpro‐ satz. Neben Einblicken in den Wissenschafts- und blematik, um schließlich fünftens die Frage nach Ausbildungsbetrieb an Institutionen der Bundes‐ H-Net Reviews wehr wie dem MGFA, dem Zentrum für Innere tung einheitlicher Überlieferungsverfahren und Führung oder auch dem Zentrum Operative Infor‐ Bestandsbildungen innerhalb der Bundeswehr. mation bestach die Tagung durch ein breites, auf Josts Forderung greift der neue Forschungsbe‐ Vergleich angelegtes Angebot europäischer und reich des MGFA auf, der seit 2010 individuelle nordamerikanischer Beiträge, das hier nur in Aufzeichnungen aus den Einsätzen sichert. Ausschnitten wiedergegeben werden kann. RICHARD VAN GILS (Den Haag) veranschau‐ Sektion 1 widmete sich den juristischen und lichte das niederländische System der „War Dia‐ zivilgesellschaftlichen Rahmenbedingungen deut‐ rists“. Das Massaker von Srebrenica 1995 und die scher Einsätze nach 1945 und verdeutlichte die tragische Rolle niederländischer Blauhelmsolda‐ Zäsur, welche die Einsätze der Bundeswehr in So‐ ten leiteten eine Trendwende zur systematischen, malia, auf dem Balkan oder in Afghanistan so‐ lückenlosen und transparenten Einsatzdokumen‐ wohl für die Streitkräfte als auch für die zeitge‐ tation ein. Srebrenica bildete den Ausgangspunkt nössische Militärgeschichte bedeuteten. Der Ein‐ für die Ausgestaltung eines Systems speziell aus‐ stieg durch THOMAS BREITWIESER (Leipzig) und gebildeter Einsatztagebuchführer, die unter Ein‐ MICHAEL EPKENHANS (Potsdam), welche die ver‐ sicht in alle Bereiche der Operationsführung Da‐ fassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Rah‐ ten sammeln, um später Entscheidungsprozesse menbedingungen der Auslandseinsätze charakte‐ darstellen und auswerten zu können. Die NATO- risierten, wurde durch den Vortrag JUSTYNA GOT‐ Archivare INEKE DESERNO (Brüssel) und GREGO‐ KOWSKAs (Warschau) ergänzt. Sie charakterisier‐ RY PEDLOW (Mons) umschrieben das Spannungs‐ te die deutschen sicherheitspolitischen Entschei‐ feld, das sich aus den Schutzfristen eingestufter dungen seit 1990 – gefasst teils ohne Abstimmung Verschlusssachen einerseits und dem zeithistori‐ mit den Bündnispartnern in NATO und EU – als schen Anspruch auf Auswertung durch zivile Wis‐ Normalisierungsprozess einer wieder erstarkten senschaftler andererseits ergibt. Die Diskussion Mittelmacht. Die „Normalisierung“ wurde in der war bestimmt durch Nachfragen zu unterschiedli‐ Diskussion auf die Pole einer Militarisierung der chen nationalen Konzepten und zur notwendigen Außen- und Sicherheitspolitik oder Politisierung militärischen Ausbildung der War Diarists. Ange‐ der Streitkräfte seit 1990 zugespitzt. sichts des erschwerten Quellenzugangs kommt Sektion 2 war den methodischen Herausfor‐ für die militärische Zeitgeschichte alternativem derungen des Zeithistorikers und insbesondere Quellenmaterial wie individuellen Einsatzerinne‐ der Entstehung von Quellen sowie Zugang und rungen, Facebook-Profilen und diskursiven Blog‐ Archivierung gewidmet. BIANKA ADAMS (Fort beiträgen erhebliche Bedeutung zu. Belvoir, Virginia) veranschaulichte aus Sicht eines Klar strukturiert zeigte sich die dritte Sektion „Field Historian“ der US-Streikräfte die dortige „Strukturen, Aufgaben und Fähigkeiten moderner Entwicklung systematischer Verfahren der Quel‐ Streitkräfte“. Die multiperspektivische Betrach‐ lensicherung am Beispiel des Irak-Einsatzes und tung der Heeresorganisation aus militärischer, umriss Potenzial und technische Herausforderun‐ wirtschaftlicher und soziologischer Sicht durch gen durch den massenhaften Anfall digitaler Da‐ MARTIN RINK (Potsdam) erlaubte einen Einblick ten. DANIEL JOST (Freiburg im Breisgau) betrach‐ in die Dimensionen der seit 1990 zunehmend auf tete die Erfassung und Bestandsbildung aus Sicht dem Bottom-up-Prinzp basierten Streitkräfteent‐ des Archivars. Während sich Web 2.0, Facebook wicklung. Drei Vorträge zur Entwicklung der Luft‐ oder E-Mail-Korrespondenzen von Einsatzsolda‐ waffe sowie der deutschen und französischen Ma‐ ten dem archivischen Zugriff weitgehend entzö‐ rine lieferten analoge Erkenntnisse zu Anpas‐ gen, bestehe Nachholbedarf auch für die Einhal‐ sungsprozessen in zwei weiteren Teilstreitkräften. 2 H-Net Reviews RALF VOLLMUTH (Hammelburg) widmete sich Symbiose sicherheitstechnischer Aspekte und psy‐ detailliert der Geschichte des Sanitätsdienstes und chologisch notwendigen „Wohnkomforts“ in Feld‐ ihrer historischen Aufarbeitung. Die Geschichte lagern ein. Fragen nach den Kanälen und Formen der Wehrmedizin als multiperspektivisches For‐ des Technologietransfers in die afghanische Ge‐ schungsfeld zeigte er als wissenschaftliches Desi‐ sellschaft und dem ökonomischen Nutzen der derat im Rahmen der allgemeinen Militärge‐ westlichen Interventionsarmeen ließen die Ver‐ schichte auf. schränkung der Einsatzgeschichte mit den jeweili‐ Die vierte Sektion widmete sich Afghanistan gen Interventionsgesellschaften zumindest erah‐ als Fallbeispiel einsatzbezogener Zeitgeschichte nen. aus historiographischer, politischer und prakti‐ Die Betrachtung des Afghanistaneinsatzes scher Perspektive vor Ort. ARTHUR TEN CATE schloss CONRAD SCHETTER (Bonn) mit seinem öf‐ (Den Haag) skizzierte die Entwicklung der nieder‐ fentlichen Abendvortrag „Wer sind die Taliban?“ ländischen Militärgeschichtsschreibung, begin‐ ab. Ausgehend von den Dimensionen tribalisti‐ nend bei der deutschen Okkupation Belgiens und scher Kultur, der Rolle des Islam und dem Ein‐ den Kolonialkriegen über die Beteiligung am Ko‐ fluss der Globalisierung zeichnete Schetter die reakrieg bis hin zum Irak- und Afghanistanein‐ Entstehung einer Kultur der Taliban nach. Die satz. Historiker/innen wirkten in den Niederlan‐ mögliche Entwicklung Afghanistans nach dem für den dabei immer wieder als „Mythbuster“. Die 2014 geplanten Truppenabzug aus der Fläche dis‐ Praxis von Dokumentation und Aufarbeitung il‐ kutierten die Teilnehmer anhand möglicher Sze‐ lustrierten die kritische Auseinandersetzung mit narien zwischen gradueller Stabilisierung und dem Konzept der Provincal Reconstructions Ausgleich der afghanischen Zentralregierung bis Teams (PRT) insgesamt sowie ein Beitrag zum Ein‐ hin zur Remilitarisierung der Stammesgesell‐ zelbeispiel des norwegischen PRT in Faryab, schaft und neuerlichem Bürgerkrieg. Nordwestafghanistan. TORUNN LAUGEN HAA‐ Die fünfte Sektion „Einsatzerfahrung und LAND (Oslo) und PETER DREIST (Bonn) gingen Kriegserlebnis“ wurde dominiert von den Phäno‐ der Diskrepanz zwischen lokalen Anforderungen menen Tod und Gewalt. MARC HANSEN (Flens‐ und westlich geprägtem Einsatzverständnis nach. burg) fokussierte aus kulturhistorischer Perspek‐ Die ausdifferenzierten, an die Gegebenheiten der