ISSN 0948–2407 | 67485

DISPUT Einwandern MITGLIEDERZEITSCHRIFT DER PARTEI DIE LINKE DEZEMBER 2017 2 EURO Wollen wir Migration regeln und wenn ja, wie? DIE LINKE diskutiert über ein Einwanderungsgesetz. Bisherige Beschlüsse und Debattenbeiträge. 6

Zeit gewinnen

Arbeitszeiten müssen zum Leben passen. DIE LINKE startet eine Initiative für ein neues Normalarbeitsverhält- nis von etwa 30 Stunden in der Woche. 16

In Vielfalt geeint

Gregor Gysi hat beim Europäischen Forum der progressiven Kräfte in Marseille dazu aufgerufen, Gemeinsamkeiten statt Trennendes zu suchen. 20

Foto: shutterstock.com INHALT

DISPUT bittet zu jeder Ausgabe eine Leserin oder einen Leser um eine kurze Vor-Lesung des aktuellen Heftes.

sem Jahr sind mehr als 7.000 neue Januar wird der geschäftsführen- Genossinnen und Genossen zu uns de Parteivorstand einen Vorschlag gekommen. Woche für Woche tre- über das weitere Verfahren der ten viele weitere ein. Herzlich will- Debatte vorlegen. DISPUT wird kommen! selbstverständlich darüber berich- Mit diesem Heft verändern wir die ten – online und offl ine. Zählweise, deshalb ist dieser DISPUT PS: Noch auf der Suche nach ei- gleichzeitig Nummer 12/2017 und nem klugen Weihnachtsgeschenk? 1/2018. Die nächste Ausgabe er- Im Heft fi ndet ihr eine Geschen- scheint am 18. Januar, den Abonnen- karte für ein DISPUT-Jahresabo tinnen und Abonnenten geht also kein Heft verloren. Mit dieser Ausga- Thomas Lohmeier ist Leiter des Be- uch wenn die SPD be- be wollen wir auch verstärkt Debat- reichs Medien, Öffentlichkeitsar- schlossen hat, mit ten in der Zeitschrift anschieben, die beit, Bürgerdialog in der Bundesge- Angela Merkel erneut wir online fortführen möchten. Un- schäftsstelle der LINKEN in eine Große Koalition ter www.die-linke.de/disput hat der zu sondieren, wissen DISPUT einen eigenen Bereich, in Awir doch nicht, ob es wieder da- dem wir ein Forum für Debattenbei- zu kommt. Neuwahlen sind noch träge eingerichtet haben. DISPUT 12/2017 nicht vom Tisch. Aber wenn das Den Anfang machen wir mit dem 01/2018 der Fall sein sollte, sind wir gut Thema Einwanderungsgesetz, über aufgestellt – nicht zuletzt, weil das auch der Parteivorstand auf sei- wir immer mehr werden. In die- ner letzten Sitzung diskutiert hat. Im VOR-GELESENVOR-GELESEN VON THOMAS LOHMEIERVON ???

VORMERKEN! KAHLSCHLAG Der LINKE Terminkalender für das Solidarität mit den Siemens- kommende Jahr 4 Beschäftigten 19

DEBATTE EUROPÄISCHE LINKE EINWANDERUNGSGESETZ Gregor Gysi über Vielfalt in der Die Beschlusslage 6 Einheit 20 Der Entwurf der ostdeutschen Linksfraktionen 8 KAMERUN Debattenbeiträge von Ulla Jelpke, Imer mehr Konfl ikte Tobias Schulze, Cornelia Möhring, brechen auf 22 Janine Wissler, Sevim Dagdelen und Jörg Schindler 10 GESCHICHTE Vor 75 Jahren ließ das Hitler-Regime in PARTEI Berlin-Plötzensee die ersten elf Katja Kipping: Für eine LINKE, JEDEN MONAT Mitglieder der »roten Kapelle« 26 die über sich hinauswächst 14 PRESSEDIENST 24 DAS KLEINE BLABLA 25 LEIDENSCHAFT ARBEITSZEITEN FEUILLETON 27 Tobias Bank organisiert Ausstellungen Bernd Riexinger: 30 Stunden sind NEU IM KINO 29 mit Dingen aus der DDR 28 genug 16 KULTUR 30 DEZEMBERKOLUMNE 31 BUNDESTAG Schleppende Arbeitsaufnahme 18 Foto: DIE LINKE. Leipzig

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14–16, 10178 Berlin REDAKTION Anja Krüger, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: 030 24009510, [email protected] GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK EVERSFRANK BERLIN GmbH | Ballinstraße 15 | Postfach 470355 | 12359 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS HEFT 12/01: 12. Dezember 2017. DISPUT 2/2018 erscheint am 18. Januar.

2 DISPUT Dezember 2017 FRAGEZEICHEN

Furat, was ist für dich links?

Foto: privat

Der Kampf gegen Marginalisierung und für soziale Gerechtigkeit und die Be- fähigung der Menschen zur Selbstwirksamkeit. Was ist für dich internatio- nalistisch? Grenzüberschreitende Solidarität mit allen Menschen, eine rassis- muskritische Migrationspolitik und nicht nur die westlichen Werte zu sehen, sondern verschiedene Wertesysteme gelten zu lassen. Was hat dich in letzter Zeit am meisten überrascht? Mich hat nicht überrascht, dass die AfD in den Bundestag eingezogen ist, aber dass das viele Leute überrascht hat. Was war dein erster Berufswunsch? Astrophysikerin. Wenn du Parteivorsitzen- de wärst ... würde ich Intersektionalität zum Pfl ichtprogramm machen. Was regt dich auf? Weiße Vorherrschaft, die Vorherrschaft westlicher Werte und des westlichen Fortschritts- und Leistungsgedankens. Mich regt die Legitimie- rung des strukturellen Ausschlusses auf, dass so getan wird, als gäbe es die- sen Ausschluss nicht. Und mich regt der Eurozentrismus an der Uni auf. Wo- von träumst du? Ich träume nicht, ich handele. Wofür gibst du gerne Geld aus? Für meine Existenz. Wann fühlst du dich gut? Wenn ich mit Freunden oder der Familie zusammen bin. Wen oder was würdest du mit auf eine In- sel nehmen? Die Idee der einsamen Insel ist eine Imperialismusphantasie, der ich nicht nachgehe. Wovor hast du Angst? Die Hoffnung zu verlieren, die ungerechten Machtstrukturen verändern zu können. Welche Eigenschaften schätzt du an Menschen besonders? Ehrlichkeit, Kritikfähigkeit, Empathie und Humor. Wie lautet dein Lebensmotto? Ich werde nicht länger akzeptie- ren, dass ich etwas nicht verändern kann. Ich ändere die Dinge, die ich nicht akzeptiere. (Angela Davis)

Furat Abdulle studiert Englisch und Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie ist in der Muslimischen Hochschulgruppe. 2017 hat sie die »FormiertEuch« Hochschul- konferenz organisiert, bei der Antidiskriminierungsarbeit und Dekoloniale Wissenschaften im Zentrum standen.

DISPUT fragt jeden Monat ein Mitglied unserer Partei nach dem vollen Ernst im richtigen Leben.

DISPUT Dezember 2017 3 VORMERKEN! LINKER Terminkalender Eine Auswahl aus dem Fahrplan 2018, den der Parteivorstand im Dezember verabschiedet hat

Jahresauftakt in der Kulturbrauerei (am 12.1. abends) und 12./13.1.18 Gremiensitzung am Franz-Mehring-Platz 1 (am 13.1., 10–15 Uhr) Epochenbruch 14.1. Luxemburg-Liebknecht-Ehrung 1914–1923 Der Parteivorstand und 18.1. LandesgeschäftsführerInnenberatung die Historische Kommis- 20.1. Demonstration »Wir haben es satt« sion der LINKEN laden ein zu einer Konferenz 26.–28.1. Bundesweiter Workshop zur Kampagnenplanung in Elgersburg über Krieg, Frieden und soziale Revolutionen Februar Regionalforen zu Lage und Orientierung der LINKEN 22.2. LandesgeschäftsführerInnenberatung Der Erste Weltkrieg, die russischen Revolutio- 2.–4.3. Beratung / Seminar junge Gewerkschafter U40 nen des Jahres1917, die deutsche Novemberre- Gesprächsrunden und Abstimmungen zur Vorbereitung des volution 1918, ihre Aus- März–Juli Europawahl-Programms / Regionalforen zu Lage und Orientierung läufer in der revolutionä- der LINKEN ren Nachkriegskrise bis 2. März Clara-Zetkin-Preisverleihung zum Herbst 1923, die revolutionären Eruptio- 3./4.3. Bundesausschuss nen in Ost- und Mittel- europa, in Asien, Afri- 8.3. Aktionen zum Internationalen Frauentag ka und Lateinamerika 29.3.–2.4. Ostermärsche – welche Erkenntnisse und Lehren können uns April/Mai/Juni MultiplikatorInnen-Schulung Organisierende Arbeit diese historischen Er- eignisse heute noch ver- 14./15.4. Kreisvorsitzenden- und Aktionskonferenz mitteln? Dieser Frage wollen der 18.–22.4. Frühjahrsakademie (Bildung) Parteivorstand und die 27./28.4. Fachkonferenz Neues Normalarbeitsverhältnis Historische Kommission der LINKEN nachgehen 1.5. Tag der Arbeit und laden deshalb zu der wissenschaftlichen Kon- 6.5. Kommunalwahl Schleswig-Holstein ferenz »Epochenbruch 8.–10.6. Bundesparteitag 1914–1923« nach Berlin ein. Namhafte Historike- Fest der Linken mit Neumitglieder-Treffen (Berlin) / rinnen und Historiker – 23.6. Bundesausschuss nicht nur aus dem Kreis der LINKEN – haben ihr 1.9. Antikriegstag Kommen zugesagt, un- 13.–16.9. Linke Woche der Zukunft (Berlin) ter ihnen Bernhard Bay- erlein, Peter Brandt und 22.9. Proteste gegen Abtreibungsgegner Michael Buckmiller. 24. Feb. 2018, 9 bis 19 Uhr, Herbst Landtagswahlen in Hessen und Bayern Franz-Mehring-Platz 1, Herbst Tag der Mitgliederverantwortlichen 10243 Berlin, Münzenbergsaal, Okt/Nov Regionalkonferenzen Europawahl-Programm ab 19.30 Uhr Konzert der Bolschewistischen Okt./Nov Treffen »DIE LINKE hilft« Kurkapelle Schwarz-Rot 9.11. Gedenken an die Pogrom-Nacht

4 DISPUT Dezember 2017 AUS DEM HAUS

o geht politische Tragödie: und Organisierens weiterführen und Man bekommt qua Wahlen die Menschen vor Ort genau da abho- einen Auftrag von Bürgerin- len, wo ihnen der Schuh drückt. Die nen und Bürgern zur Regie- Arbeit »gegen rechts« muss intensi- rungsbildung und vergeigt viert werden durch die Unterstützung S ihn dann. Und zwar gründlich. Die Grü- von Kampagnen vor Ort und parla- nen konnten es sich zwar gerade noch mentarischer Intervention. verkneifen, gänzlich mit den Neolibe- DIE LINKE wird ihre Bildungsangebo- ralen ins Boot zu steigen, dafür ver- te für Neumitglieder erweitern, und es bogen sie sich aber so weit, dass sie wird weiterhin die bereits erfolgreiche zur Koalitions-Wunschpartnerin für Zukunftswerkstatt U35 (Unter 35) ge- die Kanzlerin wurden. Der Abgang von HARALD WOLF ben. Hier diskutieren wir, wie sich die Christian Lindner »im Interesse des Jüngeren DIE LINKE der Zukunft vor- Landes« wird unvergessen bleiben. stellen, und wie sie diese Neuausrich- Die SPD marschiert erst lautstark in tung mitgestalten können. die Opposition, um dann, genauso Wir sind Auch mit der Zukunft Europas befas- lautstark, den altbekannten Schlinger- sen wir uns intensiv: Wir beginnen im kurs wieder aufzunehmen. Sollte es gut Frühjahr 2018 mit Gesprächen und eine »Große Koalition« geben, wird sie vorbereitet Selbstverständigungsprozessen zur nichts Großartiges vollbringen. Das LINKEN Aufstellung der Europawahl. hat sie bereits in den letzten vier Jah- Dazu schaffen wir einen Debatten- ren unter Beweis gestellt. raum um linke Europapolitik, der DIE Es boomen: Niedriglöhne und prekä- LINKE, die Europäische Linke und die re Beschäftigung. Laut Statistischem nen und Wähler, die beim letzten Mal gesellschaftlichen Linken, also Akteu- Bundesamt ist ein Fünftel der Bevöl- ihre Stimme der SPD gegeben haben, re aus sozialen Bewegungen, Sozial- kerung von Armut oder sozialer Aus- mittlerweile realisieren, dass es die verbänden und Gewerkschaften an- grenzung bedroht. Das kann sich ein soziale Wende in diesem Land nur mit gehören. reiches Land wie Deutschland nicht der LINKEN geben kann. Denn, wie Zu guter Letzt zu meiner Person: Seit leisten. Altersarmut oder Kinderarmut die Kanzlerin, steht auch die SPD für November bin ich in der Nachfolge sollten angesichts der Höhe an Privat- das »Weiterso« der sozialen Ungleich- von Matthias Höhn kommissarischer vermögen und Summen, die künftig heit, der immerwährenden Begünsti- Bundesgeschäftsführer der LINKEN. vererbt werden, niemanden treffen. gung der Begünstigten. Ich weiß um die Verantwortung der Wichtige, zukunftsweisende Entwick- Während sich die Anderen also in ei- Position. Ich freue mich, sie ausüben lungen hat die Kanzlerin ausgesessen. nem schier ewigen Akt der Selbstfi n- zu dürfen, möchte stets zur konstruk- Wo bleibt das visionäre Konzept der dung irgendwann vielleicht zu einer tiven, innerparteilichen Debatte bei- Bundesregierung zur Digitalisierung? Regierungskonstellation durchringen tragen und DIE LINKE für immer mehr Und zwar eines, in dem nicht nur werden, oder aber wir doch Neuwah- Menschen zur ersten Wahl machen. zur Kenntnis genommen wird, dass len angehen dürfen, macht DIE LIN- das Glasfasernetz ausgebaut werden KE Politik. Harald Wolf ist kommissarischer muss und das Internet auch in struk- Und so sieht sie aus: Wir haben Bundesgeschäftsführer der LINKEN. turschwachen Gebieten funktionie- uns überlegt, wie wir am besten die ren sollte, sondern in dem auch der nächste Generation der Parteimitglie- Arbeitsalltag der Menschen eine Rol- der einbinden wollen, da seit den Bun- Fotos: Erich Wehnert, DIE LINKE le spielt. Was passiert mit der realen destagswahlen verstärkt Menschen Lebenszeit der Bürgerinnen und Bür- im Alter zwischen 20 und 35 Jahren ger? Mit der Erreichbarkeit rund um zu uns kommen. Sie kommen, weil sie die Uhr, die fast schon Normalität ge- in vielen Fällen die soziale Frage be- worden ist? trifft, sie kommen aber auch, weil sie, Auf eventuelle Neuwahlen ist DIE LIN- aus guten Gründen, den spürbaren KE vorbereitet. Inhaltlich, mit einem Rechtsruck im Land nicht einfach so »LINKEN Fahrplan« für die nächste Le- hinnehmen wollen. Diesem Rechts- gislaturperiode – und viel Tatendrang. ruck wollen wir entgegentreten. In- Mit der Gewissheit, dass die Wählerin- dem wir die Offensive des Zuhörens

DISPUT Dezember 2017 5 DEBATTE

Beschluss des Parteivorstands vom 2. Juli 2016 »Sechs Punkte für den Exit aus der Krise«: Grundsatzprogramm der LINKEN, beschlossen am »Bei der Flüchtlingspolitik versagt die Europäische Union und versa- 23.Oktober 2011 in Erfurt: gen ihre Mitglieder. Die EU besteht (noch) aus 28 Staaten, mit insge- samt 510 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von »DIE LINKE lehnt eine Migra- rund 15 Billionen Euro. Es waren nicht die rund eine Million Schutzsu- tions- und Integrationspolitik ab, chenden, die im Zuge ihrer Flucht nach Europa im Jahr 2015 eine soge- die soziale und politische Rech- nannte „Flüchtlingskrise“ auslösten, sondern wir wurden vielmehr Zeu- te danach vergibt, ob Menschen gen, wie ein nationalistischer Furor in Kombination mit einer kaltherzi- für das Kapital als ›nützlich‹ gen Grenzschließung die Europäische Union in die tiefste Menschen- oder ›unnütz‹ gelten. Wir wollen rechtskrise ihrer Geschichte stürzten. Denn dass täglich Menschen im die soziale und politische Teilha- Mittelmeer ertrinken, dass Grenzen geschlossen, neue Mauern um die be für alle in Deutschland leben- Festung Europas gebaut werden und sich Europa einem Despoten wie den Menschen erreichen. DIE Erdogan unterwirft, oder mit autoritären Regimen in Afrika zur Flücht- LINKE setzt sich für das aktive lingsabwehr paktiert, liegt in der Verantwortung all jener nationaler Re- und passive Wahlrecht für jene gierungen, die unter Missachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und ein, die ihren Lebensmittelpunkt der europäischen Menschenrechtscharta zu keiner gemeinsamen solida- in Deutschland haben, sowie rischen Flüchtlingspolitik bereit sind. (…) Europa muss all jenen, die vor für gleiche Rechte beim Zugang Gewalt und Krieg fl iehen ein Aufenthaltsrecht gewähren, das automa- zum Arbeitsmarkt. (…) Schutz- tisch für die Zeit der Kriegshandlungen gelten sollte. Europa ist längst suchende dürfen nicht abgewie- ein Kontinent der Einwanderung und braucht einen europaweiten Las- sen werden. Wir fordern offene tenausgleich zur Versorgung und sozialen Integration der Neuangekom- Grenzen für alle Menschen. (…) menen. Das Dublin-III-Abkommen ist auszusetzen, Frontex muss auf- Wir fordern die Wiederherstel- gelöst werden. Das Asyl- und Aufenthaltsrechts kann nicht an die eu- lung des Grundrechts auf Asyl ropäische Außengrenze abgeschoben werden, sondern gilt europaweit. und kämpfen gegen die Illegali- Das unveräußerliche Recht auf Asyl muss europaweit in allen Mitglied- sierung von Flüchtlingen, gegen staaten wiederhergestellt und garantiert werden. Es braucht eine neue Abschiebungen, jede Form von menschenrechtsbasierte europäische Migrations- und Einwanderungs- Sondergesetzen.« politik, die das Sterben an den Außengrenzen sofort beendet und lega- le Fluchtwege und Aufenthaltsrechte ermöglicht.«

Antrag der Fraktion Gefl üchteten nutzen für ei- hat zu fortdauernden und ten in der Gesellschaft Die LINKE im Bundes- ne grundlegende sozialpo- kumulierenden Benach- deutlich gemindert. (…) tag vom 15.07.2016 litische Offensive und für teiligungen auch von jun- Wer suggeriert, Gefl üchte- »Eine erfolgreiche mehr soziale Gerechtigkeit gen Menschen mit Migra- te würden sich der Integ- Integrations-politik und Sicherheit für alle. (…) tionshintergrund geführt, ration verweigern, vertieft erfordert eine soziale Die Politik der vergangenen die überproportional häufi g diese Tendenz und spaltet Offensive für alle«: Jahre hat bei der Beseiti- aus Haushalten mit gerin- die Gesellschaft. Migrantin- gung des Investitionsstaus gem oder keinem Erwerbs- nen und Migranten können »Die Herausforderungen ebenso versagt wie bei der einkommen kommen. (…) nicht verweigern, was nicht im Zusammenhang mit der Bekämpfung der zunehmen- Zur Wiederherstellung des im Angebot ist. Bereits seit Aufnahme und Integration den Ungleichheit bei Ein- Sozialstaates wirkt eine so- Jahren mangelt es an fl ä- Hunderttausender Gefl üch- kommen, Vermögen und ziale Investitionsoffensive chendeckenden und ausrei- teter haben noch einmal Bildungschancen. Überpro- als ein wichtiger Bestand- chenden Integrations- und deutlich vor Augen geführt, portional betroffen sind da- teil. Sie trägt entschei- Sprachkursen. Die Rech- wie groß die Kluft zwischen bei Migrantinnen und Mig- dend zu einer Umvertei- te der Eingewanderten zu mangelhaftem sozialpoli- ranten. Die jahrzehntelange lung von oben nach unten stärken, statt sie zu be- tischem Angebot und dem Verweigerung einer Einwan- bei und wird im Ergebnis zu schneiden – das wäre ein gesellschaftlichen Bedarf derungs- und Integrations- einer gerechteren Vertei- echtes Willkommenssignal. tatsächlich ist. Die Bun- politik gegenüber der soge- lung des Wohlstands füh- Deutschland braucht keine desregierung muss die not- nannten ersten und zwei- ren. So wird die Gefahr des Stimmungsmache, sondern wendige Aufgabe einer er- ten Generation der Einwan- Ausspielens der Schwa- eine soziale Integrationspo- folgreichen Integration der derinnen und Einwanderer chen gegen die Schwächs- litik.«

6 DISPUT Dezember 2017 So Bundestagswahlprogramm, sieht's beschlossen am 11. Juni 2017 in Hannover: »Ein gutes Zusammenleben ist nicht voraussetzungslos. Eine auf Partizipation und Anerkennung basierende Gesell-schaft braucht eine soziale Infrastruktur, die nicht privaten Pro- aus fi tinteressen, sondern dem öffentlichen Bedarf verpfl ichtet ist. Und sie braucht gleiche Rechte für alle Menschen, einen In der LINKEN hat die wirksamen Schutz vor Diskriminierung und die Möglichkeit, Diskussion über das sich sozial, kulturell und politisch einzubringen. Wir sehen In- Für und Wider eines tegration als Aufgabe der gesamten Gesellschaft. (…) Gegen Einwanderungsgesetzes die Krise auf dem Wohnungsmarkt und den Verfall der sozia- begonnen, die auf den len Infrastruktur bleibt die Regierung untätig. In der Parallel- gesellschaft der Reichen und Steuerfl üchtlinge ist das egal: folgenden Seiten fort- Auf eine öffentliche Infrastruktur und soziale Rechte ist man gesetzt wird. hier nicht angewiesen. Wir hingegen kämpfen für gleiche Wir dokumentieren Rechte und eine soziale Offensive für alle. Das ist das beste wichtige Positionen der Mittel gegen die Brutalisierung der Gesellschaft und reakti- Partei zu diesem Thema onäre Antworten auf die Krisen. DIE LINKE steht an der Sei- te aller, die für Bewegungsfreiheit, Grundrechte und sozia- le Gerechtigkeit für alle einstehen. Deutschland ist längst ein Einwanderungsland. Wir wollen die solidarische Einwande- rungsgesellschaft gestalten. (…) DIE LINKE fordert umfassen- de Visaliberalisierungen bzw. eine Aufhebung der Visums- pfl icht. Wir wollen Kriege und Armut überwinden, gerech- te Lebensverhältnisse schaffen und offene Grenzen für alle Menschen.«

Diskussion im Parteivorstand Asylrecht in Deutschland wiederhergestellt und ausgebaut werden muss. Der Parteivorstand hat in seiner Sitzung am 3. Über die Frage, ob und wenn ja, wie Zuwande- Dezember über den Vorschlag für ein Einwan- rung geregelt werden sollte, zeichneten sich derungskonzept diskutiert, den eine von den drei Argumentationslinien ab. Die erste: Ein- ostdeutschen Landtagsfraktionen der LINKEN wanderung soll über das Asylrecht hinaus mög- eingesetzte Arbeitsgruppe vorgelegt hat. lich sein und gesetzlich mit einem Rechtsan- Das Konzept habe nicht das Ziel, Einwanderung spruch geregelt werden. Die zweite: Die gelten- zu begrenzen, erklärte Udo Wolf, Fraktionsvor- de Programmlage soll nicht verändert werden, sitzender der Linksfraktion im Berliner Abge- denn ein Einwanderungsgesetz die Forderung ordnetenhaus. Jeder solle ein Recht auf Ein- nach offenen Grenzen und das Nein zu Ab- wanderung erhalten, so dass nicht nur Reiche schiebung in Frage stellen. Die dritte: Weite- nach Deutschland kommen können. Die Bun- re Zuwanderung außerhalb des Asylsrechts ist destagsabgeordnete Sevim Dagdelen wandte angesichts des gesellschaftlichen Klimas nicht sich gegen das Konzept. Sie schlägt vor, dass vermittelbar. Eine Abstimmung zu diesem The- DIE LINKE kein Einwanderungsgesetz erarbei- ma gab es nicht. tet, sondern sich auf drei Kernpunkte konzent- Der geschäftsführende Parteivorstand wird bei riert: soziale Integrationspolitik, die Wiederher- der Vorstandssitzung im Januar Vorschläge für stellung des Asylrechts und die Bekämpfung das weitere Prozedere der Diskussion vorlegen. von Fluchtursachen. Beiträge zur Debatte können Interessierte nach- Viele Parteivorstandsmitglieder begrüßten, lesen unter www.die-linke.de/disput. Dort wird dass die Debatte über Einwanderung begonnen die Diskussion in den kommenden Monaten hat. Einigkeit bestand in der Frage, dass das fortgeführt.

DISPUT Dezember 2017 7 DEBATTE Herrschende Logik brechen Warum die ostdeutschen Linksfraktionen ein Konzept für ein Einwanderungsgesetz in Auftrag gegeben haben und welche Kernpunkte es enthält VON LENA KRECK

er Münchner Hauptbahnhof je kürzer sie bleiben, desto mehr aber, diese Sphären voneinander zu ist zum Symbolbild der postu- bleibt für diejenigen, die hier leben. trennen. Gemeinhin erfolgt die Tren- D lierten Willkommenskultur ge- Konträr dazu wird die Position »Of- nung gerne über freiwillig (Migrati- worden, als im Sommer 2015 tausen- fene Grenzen« formuliert. Hier geht on) und unfreiwillig (Flucht). Das ist de Gefl üchtete ankamen und freund- es vor allem darum, dass es als nicht nicht zu empfehlen. Denn: Was ist im lich in Empfang genommen wurden. förderlich eingeschätzt wird, Migrati- Kapitalismus schon freiwillig? Wich- Nunmehr sind mehr als zwei Jahre on zu normieren. Jeder Einschluss be- tiger erscheint es mir, zu verstehen, vergangen und DIE LINKE befi ndet deutet gleichzeitig einen Ausschluss. welche Rechtstexte einschlägig sind, sich mitten in einer Debatte, wie sie Wer sagt, wer kommen darf, sagt um zu verstehen, an welchen Schrau- sich fl ucht- und migrationspolitisch auch, wer draußen bleiben muss. Ich ben zu drehen ist. Für MigrantInnen aufstellen soll. Bisher hat sie es ver- selbst rechne mich der dritten Grup- ist das deutsche Aufenthaltsgesetz säumt, ein umfassendes fl ucht- und pe zu. Es handelt sich um jene, die maßgeblich, wenn sie keine EU-Bür- migrationspolitisches Konzept zu ent- ein linkes Einwanderungsgesetz be- gerInnen sind. Für EU-BürgerInnen wickeln – obwohl Flucht und Migrati- fürwortet. ist das aus dem EU-Recht abgelei- on für manche Teile der gesellschaft- SPD, Grüne und FDP haben ihre tete Freizügigkeitsgesetz maßgeb- lichen wie parteipolitischen Linken Vorstellungen von einem Einwande- lich. Die Rechte der Geflüchteten zentrale Handlungsfelder sind, die rungsgesetz bereits in der Vergan- sind im Grundgesetz (allerdings nur migrantischen Kämpfe stärker wer- genheit formuliert. Ohne ins Detail noch als Schatten eines Asylrechts), den und stärker wahrgenommen wer- zu gehen, kann man zusammenfas- in der Genfer Flüchtlingskonvention den und obwohl DIE LINKE in ihren send sagen, dass diese Konzepte ge- und in einigen EU-Rechtstexten wie Fraktionen, in den Zusammenschlüs- mein haben, dass sie stark auf Ar- der Qualifi kationsrichtlinie und der sen und an der Basis fähige Flucht- beitsmigration und auf Nützlichkeit Dublin-Verordnung festgehalten. Das und MigrationspolitkerInnen hat. orientieren. Wenn DIE LINKE sich deutsche Asylgesetz überträgt diese Das Parteiprogramm widmet zu einem Einwanderungskonzept be- Deutschland bindenden internationa- sich in einem Abschnitt der Fra- kennt, dann darf es meines Erach- len Rechtstexte in nationales Recht. ge von Flucht und Migration. Hier tens nur eines sein, dass radikal mit Die Aufenthaltstitel für Gefl üchte- wird Deutschland als ein Einwande- den derzeitigen Logiken kontrollier- te werden schlussendlich auch nach rungsland beschrieben, es werden ter und begrenzter Migration bricht. dem Aufenthaltsgesetz verliehen. »offene Grenzen« und der diskrimi- Ich möchte im Folgenden zentrale Was bedeutet das für unsere Dis- nierungsfreie Zugang zum Gesund- Punkte vorstellen, die ich mit ande- kussion? Dem Grunde nach hat sich heits- und Sozialsystem gefordert. Es ren PolitikerInnen, PraktikerInnen Deutschland über internationale ist in einer demokratischen Partei ei- und WissenschaftlerInnen in einer Verträge verpfl ichtet, Gefl üchteten ne Selbstverständlichkeit, dass nicht Projektgruppe, beauftragt durch die Schutz zu gewähren. Ein Flüchtling jedes Mitglied jede Position teilt. Je ostdeutschen Landtagsfraktionen der nach der Genfer Flüchtlingskonven- weniger das Thema virulent ist und LINKEN, erarbeitet habe. tion darf nicht in den Herkunfts- je weniger man sich inhaltlich in die- staat abgeschoben werden. Aus lin- sem Feld zu Hause fühlt, umso leich- ker Sicht muss aber massiv kriti- ter fällt es, auch mal eine unliebsame Flucht und siert werden, dass die Betroffenen Position mitzutragen. So war es ver- Migration ihre Rechte im Asylverfahren nur mutlich auch damals, als das Partei- unzureichend geltend machen kön- programm verabschiedet worden ist. Das Konzept haben wir bereits An- nen und dass Verletzungen von wirt- Heute ist mein Eindruck, dass dieser fang des Jahres 2017 vorgestellt. Wir schaftlichen, sozialen und kulturel- Text so nicht mehr beschlossen wer- sind immer mal wieder, in der Ten- len Menschenrechten nicht gewür- den würde. Und das ist bedauerlich. denz bis zur Bundestagswahl deutlich digt werden. Innerhalb der LINKEN Wo stehen wir heute? Ich sehe die verhaltend, von Zusammenschlüssen sind sich diesbezüglich mindestens Partei in der Frage von Flucht und der LINKEN eingeladen worden, um die Gruppe »Offene Grenzen« und Migration in drei Lager geteilt. Zum das Konzept vorzustellen. Dabei ist die Gruppe »Einwanderungsgesetz« einen gibt es jene mitunter sehr pro- uns aufgefallen, dass es in der LIN- einig. Sicherlich ist es auch rich- minente PolitikerInnen, die einen re- KEN recht wenig Wissen über das tig, sich politisch dafür einzusetzen, pressiven Kurs zugunsten der deut- derzeitige Flüchtlings- und Migrati- dass Menschen in ihren Herkunfts- schen ArbeitnehmerInnen fahren onsrecht gibt. So werden Flucht und staaten nicht mehr verfolgt werden. wollen. Die Idee ist: Je weniger Per- Migration immer wieder vermengt. Auch hier dürften die Dissense ge- sonen nach Deutschland kommen, In der Diskussion empfi ehlt es sich ring ausgeprägt sein.

8 DISPUT Dezember 2017 Haarig wird es, wenn es um die Gesicht: »Das Gesetz dient der Steue- dauerhaft unter Zuerkennung aller Frage geht, ob und wie wir die legale rung und Begrenzung des Zuzugs von sozialen (und auch politischen) Rech- Einreise ermöglichen wollen. Ich bin Ausländern in die Bundesrepublik te tun. Wir haben diesen Gedanken der Auffassung, dass wir aus zwei Deutschland.« Wir als »Projektgrup- zum Dreh- und Angelpunkt für un- Gründen ein Einwanderungsgesetz pe Einwanderungsgesetz« haben uns sere Konzeption für ein Einwande- fordern sollten. Erstens möchte ich gefragt: Kann man ein solches Gesetz rungsgesetz gemacht. Herausgekom- MigrantInnen Rechte verleihen. Ich als Ausgangspunkt für progressive men ist ein komplexes Papier, das möchte, dass Menschen das Recht Überlegungen machen? Wir meinen in drei Kapitel Vorschläge unterbrei- zur legalen Einreise haben. Sie sollen nein, denn uns schwebt ein Paradig- tet, wie Migrationsrecht, Flüchtlings- das Recht haben, Sozialleistungen zu menwechsel in der Migrationspolitik recht und Staatsangehörigkeitsrecht beziehen. Sie sollen das Recht haben, vor. Migration werten wir nicht als neu zu stricken wären, will man sich die deutsche Sprache zu erlernen. Ich Gefahr. Wir wollen Migration legali- progressiv in die gesellschaftliche möchte, dass sie das Recht haben, ei- sieren und MigrantInnen Rechte zu- Auseinandersetzung begeben. Es ist ner Erwerbsarbeit nachzugehen. In gestehen. Jede Person, die einen »sozi- zum Beispiel unter www.zeitschrift- der Projektgruppe haben wir mit un- alen Anknüpfungspunkt« vorweisen luxemburg.de abrufbar. serer Beschreibung des Volks, näm- kann, soll einen Aufenthaltstitel be- lich eines »inklusiven Wir, die wir kommen. Dabei fassen wir den »sozia- Lena Kreck berät Gefl üchtete und hier leben«, verdeutlicht, dass wir len Anknüpfungspunkt« so weit, dass MigrantInnen im Aufenthalts- und nicht aufgrund von Staatsangehörig- man ihn auch so beschreiben kann: Flüchtlingsrecht und war Teil der keiten hinsichtlich der Rechte diffe- JedeR, die oder der hier als Teil unse- Projektgruppe für ein linkes renzieren wollen. Diese Rechte für rer Gesellschaft leben will, soll dies Einwanderungsgesetz. MigrantInnen sind durch Gesetz zu verleihen. Zweitens halte ich es in der derzeitigen gesellschaftlichen Stimmung für zwingend erforderlich, ein seriöses Konzept vorzulegen, wel- ches einen alternativen Kurs fährt. Ein Konzept, das sagt »Ja, wir erken- nen an, dass wir in einer Einwande- rungsgesellschaft leben und fi nden es gut. Deshalb stellen wir uns auf die Seite der Migrantinnen, um mit ihnen die Ausweitung ihrer Rechte zu erkämpfen.« Wie oben erwähnt, ist der zentra- le Rechtstext, wenn es um Migration geht, das Aufenthaltsgesetz. Bereits in Paragraf 1 reißt es die Maske vom

Nach einer Studie des arbeitgeber- nahen Instituts der deutschen Wirt- schaft Köln (IW) steigt das Bruttoin- landsprodukt bis 2020 aufgrund zu- gezogener Gefl ohener um insgesamt rund 90 Milliarden Euro. Das entsprä- che etwa einem Prozent des Bruttoin- landsprodukts.

DISPUT Dezember 2017 9 DEBATTE Positionen Die Diskussion über ein Konzept für ein Einwanderungsgesetz der LINKEN hat viele Facetten. Einige davon beleuchten wir auf den nächsten Seiten

Ulla Jelpke: Gibt es das was den aufwändigen und gefährli- chen Weg über die bekannten Flucht- Richtige im Falschen? In der LINKEN besteht Einigkeit routen erzwingt. Selbst wenn man es darüber, dass das Asylrecht wie- bis hierher geschafft hat, erreichen Ein Einwanderungsgesetz regelt, wer derhergestellt werden muss, wir viel zu wenige einen angemessenen kommen und bleiben darf – aber auch solidarisch mit Gefl ohenen sind Schutzstatus. Die zweite Möglichkeit wer eben nicht. Vermehrt sehen sich und Fluchtursachen bekämpft ist, eine Aufenthaltserlaubnis nach Linke unter Zugzwang gesetzt, diesen werden müssen. Uneinigkeit gibt dem Aufenthaltsgesetz zu bekommen. selektiven Charakter eines Einwan- es über die Frage, ob es sinnvoll Eine solche kann man zum Beispiel derungsgesetzes mit emanzipatori- ist, einen Vorschlag für ein Ein- temporär als StudentIn, dauerhaft als schen Zielen vereinen zu wollen. Auch wanderungsgesetz vorzulegen. EhepartnerIn oder als BeschäftigteR wenn sich DIE LINKE in ihrem Partei- Im Folgenden begründen sechs in einem so genannten Mangelberuf programm explizit gegen eine Migra- Genossinnen und Genossen, wa- beantragen. Ganz grundsätzlich setzt tions- und Integrationspolitik gestellt rum sie für oder gegen ein Ein- jeder Aufenthaltstitel die eigenstän- hat, die »soziale Rechte danach ver- wanderungsgesetz sind. Das ist dige Sicherung des Lebensunterhalts gibt, ob Menschen für das Kapital als erst der Anfang der Debatte, die voraus. Deshalb ist dieser Weg für je- ›nützlich‹ oder ›unnütz‹ gelten«, betei- wir auf den Internetseiten von ne nicht zu begehen, die nicht über ligte sich die linke Thüringer Landes- DISPUT fortsetzen. Wir laden al- diese persönlichen oder fi nanziellen regierung im Bundesrat an einem Ent- le Interessierten ein, sich an der Ressourcen verfügen. Doch auch die- schließungsantrag für ein Einwande- Diskussion zu beteiligen. Beiträ- se Menschen wünschen mitunter, in rungsgesetz. Darin heißt es: »Für die ge bitte an [email protected]. Deutschland leben zu können. Sicherung des Wohlstands unseres Wir als LINKE reagierten bislang Landes ist es unerlässlich, dass der auf Migrationsbewegungen mit der Wirtschaft auch zukünftig die benö- Forderung nach der Wiederherstel- tigten Arbeitskräfte zur Verfügung lung des Asylrechts sowie nach der stehen.« Deutlicher lassen sich die In- ges unnötige Angriffsfl äche bieten, oh- Bekämpfung von Fluchtursachen in teressen des Kapitals an billigen, gut- ne politischen Nutzen für die Linke zu den betreffenden Ländern. Beides ist ausgebildeten Facharbeitern aus dem versprechen. richtig, aber nicht ausreichend. Die Ausland kaum formulieren. Statt dazu beizutragen, in der Kon- Frage, ob wir eine legale Einwande- Doch auch der Anfang des Jahres sequenz restriktive Regelungen in Ge- rung nach Deutschland jenseits des auf Initiative der ostdeutschen Links- setzesform zu gießen, sollte DIE LINKE Asyl- und Flüchtlingsrechts wollen, fraktionen von einer Projektgruppe sich darauf konzentrieren, die Rechte ließen wir unbeantwortet. Wer die erarbeitete Vorschlag für ein explizit von Einwanderern und Flüchtlingen Grenzen für alle Menschen in Not öff- »linkes Einwanderungsrecht« birgt ein auf sicheren Aufenthalt und Familien- nen will, muss auch sagen, über wel- grundsätzliches Dilemma: Um dem nachzug sowie ihre sozialen und de- chen politischen Weg er dieses Ziel er- Ziel »offene Grenzen für Alle« nahe zu mokratischen Rechte zu verteidigen reichen will. Wir haben mit dem Ein- kommen, wurden einerseits extrem und auszubauen. wanderungskonzept der ostdeutschen weite Kriterien für Bleiberecht ange- Ulla Jelpke ist Bundestagsabgeordnete Landtagsfraktionen unter Mitarbeit setzt – schon die Mitgliedschaft in ei- und innenpolitische Sprecherin der von ExpertInnen einen Vorschlag zur nem Verein soll als »sozialer Anknüp- Fraktion DIE LINKE Debatte gemacht. fungspunkt« ausreichen. Andererseits Man kann auch der Meinung sein, bleibt immer ein »Rest«, der dem nicht dass die Grenzen nur für politisch Ver- entspricht und in der Konsequenz ab- Tobias Schulze: folgte und Kriegsfl üchtlinge offen ste- geschoben werden müsste. hen sollen. Und dass eine weitere Öff- Das »linke Einwanderungsrecht« Welche Antwort nung erst in einer zukünftigen Welt wäre außerhalb der kapitalistischen geben wir? der globalen Gerechtigkeit sinnvoll Realität ein diskutabler Vorschlag, ist. aber im Moment ist es nicht durch- Bisher gibt es für Menschen, die nicht Wir hingegen meinen: Es ist genau setzbar. Von daher stellt sich die Fra- EU-BürgerInnen sind, kaum eine Mög- umgekehrt. Weil die Bekämpfung glo- ge, ob es taktisch sinnvoll ist – denn lichkeit, legal dauerhaft nach Deutsch- baler Ungerechtigkeit eben nicht von ein solcher Gesetzentwurf würde land einzuwandern. Entweder muss heute auf morgen gelingen kann, soll- rechten Einwanderungsgegnern in- ein Status im Rahmen des Asyl- und ten wir als LINKE über eine soziale nerhalb und außerhalb des Bundesta- Flüchtlingsrechts angestrebt werden, Einwanderungsgesellschaft und ihre

10 DISPUT Dezember 2017 rechtliche Untersetzung diskutieren. Kinder sexualisierter Gewalt und sen durch spezifi sche Angebote im Menschen klopfen an unsere Tür. Wel- Nötigung ausgesetzt. Über niedrig- Rahmen einer sozialen Offensive für che Antwort geben wir? schwellige, unbürokratische Verfah- alle aufgehoben werden. Tobias Schulze schrieb am Konzept für ren muss die Möglichkeit geschaffen Cornelia Möhring ist Bundestagsabge- eine linke Einwanderungspolitik mit und werden, legal einzureisen, um hier ordnete und als frauenpolitische Spre- ist stellvertretender Landesvorsitzender vor Ort den Antrag auf Asyl oder Ein- cherin Mitglied im Fraktionsvorstand der LINKEN in Berlin. bürgerung zu stellen. Dabei dürfen DIE LINKE solche Verfahren nicht an materielle Bedingungen geknüpft werden, denn Cornelia Möhring: das hieße, einen Ausschluss von Ar- Janine Wissler: Wie kann ein men, die es gerade am nötigsten ha- Abschiebungen ben zu migrieren, um sich an einem haben in einem linken Verständnis von anderen Ort eine Zukunftsperspekti- solidarischer Gesell- ve aufbauen zu können. Konzept nichts Darüber hinaus genügt es nicht, zu suchen schaft entwickelt und Menschen einreisen zu lassen und umgesetzt werden? dann ihrem Schicksal zu überlassen. Die Forderung nach einem Einwan- Frauen haben geschlechtsspezifi sche derungsgesetz hat Hochkonjunktur. Bei einem linken Verständnis von Bedarfe an Versorgung, Gesundheit, So erstaunlich weit gestreut wie das Einwanderung, von Migration und Beratung, berufl icher Qualifi kation, Spektrum der Parteien, die sich ein von Integration geht es um nicht we- Wohnraum. Sie sind doppelt diskri- solches Gesetzeswerk auf die Fah- niger, als um die Frage: wie kann ein miniert durch Rassismus und Sexis- nen geschrieben haben, sind auch Verständnis von einer solidarischen mus. Diese Benachteiligungen müs- die Hoffnungen, die damit verknüpft Gesellschaft jenseits von Nation und Staat entwickelt werden und vor al- lem – wie kann es umgesetzt wer- den? Damit solche Sätze nicht in blu- miger Beliebigkeit verbleiben, sind wir gezwungen, über Schritte und Etappen nachzudenken, die vom hier und jetzt zu dieser Zukunft führen. Logisch, dass damit auch manche al- te Gewissheiten herausgefordert wer- den. Solange es Grenzen gibt, grenzen diese aus. Wie schaffen wir also un- Laut Statistischem Bundesamt wer- ter den Bedingungen von real existie- den selbst bei einer Zuwanderung renden Grenzen eine möglichst gro- von jährlich 200.000 Menschen ße Durchlässigkeit? Legale Wege der im Jahr 2060 über sieben Millionen Einreise, damit Menschen, die aus EinwohnerInnen weniger in Deutsch- welchen Gründen auch immer mig- land leben als heute. Die Zahl der rieren, einen sicheren Weg in dieses Erwerbstätigen schrumpft um fast Land nehmen können? Niemand ver- ein Viertel. lässt seine soziale Heimat ohne guten Grund! Insbesondere für Frauen und Kin- der stellt sich die Frage nach siche- ren, weil legalen Einreisemöglich- keiten noch einmal dringender: Zu all den Gründen, warum Menschen ihre Heimat verlassen, kommen bei Frauen geschlechtsspezifi sche Dis- kriminierungen hinzu. Auf dem Weg in ein anderes Land sind Frauen und

DISPUT Dezember 2017 11 DEBATTE

werden: Während es seitens der Wirt- Dazu sollten wir konkrete Vor- vorliegende Konzept vor -, dass auch schaft und der anderen Parteien ge- schläge machen: Eine aktive Famili- wir uns festlegen, wer einreisen darf, fordert wird, um Zuwanderung zu be- enzusammenführung beispielsweise wer »legal« ist und auch, wer letztlich grenzen und sie nach Nützlichkeitser- könnte durch einfache Änderungen abgeschoben werden darf. Natürlich wägungen zu steuern, gibt es inner- des bestehenden Rechts erleichtert wäre das vorliegende Konzept für halb der LINKEN den Ansatz, dass werden. Die Vorrangprüfung durch ein Einwanderungsgesetz eine enor- man über ein Einwanderungsgesetz die Bundesagentur für Arbeit zuguns- me Verbesserung im Vergleich zum Möglichkeiten zur sicheren und lega- ten von Deutschen könnte dauerhaft Status quo. Aber auch darin wird be- len Einreise schaffen und die Situati- abgeschafft, Aufenthaltsverfestigung schrieben, unter welchen, in der Tat on von Migranten substanziell verbes- und Einbürgerung durch geringfügige sehr begrenzten, Bedingungen eine sern könnte. Ich sehe dieses Vorhaben Änderungen des Aufenthalts- und Ein- »zwangsweise Durchsetzung der Aus- skeptisch, weil ich nicht glaube, dass bürgerungsgesetz erleichtert werden. reisepfl icht« zulässig ist. uns die Entwicklung eines linken Ein- Für diese Maßnahmen, die drin- Ich fi nde: Abschiebungen haben wanderungsgesetzes diesen Zielen nä- gend notwendig sind, ist kein großer in einem linken Konzept nichts zu su- herbringen wird. gesetzgeberischer Wurf erforderlich. chen. Im Erfurter Programm ist klar An vielen Punkten besteht Einig- Notwendig ist – und daran mangelt es formuliert, dass DIE LINKE Abschie- keit: Wir wollen sichere Fluchtwege aktuell – der politische Wille, Einwan- bungen ablehnt und davon sollten schaffen, damit das Mittelmeer nicht derung zu erleichtern und mehr legale wir nicht abrücken. zum Massengrab wird, das Asylrecht Einwanderungswege zuzulassen. Viel wichtiger und zielführender als Grundrecht wiederherstellen, Ein- Wenn DIE LINKE ein Einwande- als ein umfassendes Einwanderungs- bürgerungen erleichtern und Men- rungsgesetz vorlegt, würde das be- gesetz, das ja ohnehin nicht in Kraft schen Perspektiven bieten. deuten – so sieht es zumindest das treten wird, ist es, dass wir darum kämpfen, die gesellschaftliche Stim- mung zu verändern, praktische So- lidarität mit Flüchtlingen zu organi- sieren und dort, wo DIE LINKE mit- regiert, für einen Abschiebestopp zu kämpfen. Dafür sollten wir uns einsetzen, statt uns über das Für und Wider ei- Früher fl ohen Millionen Menschen nes Einwanderungsgesetzes zu strei- wegen Armut oder politischer Verfol- ten, das letztlich kaum mehr als ei- gung aus Deutschland. Heute verlas- ne symbolische Bedeutung haben sen rund 140.000 Staatsangehörige kann. pro Jahr die Bundesrepublik. Die drei Janine Wissler ist Fraktionsvorsitzende häufi gsten Gründe sind der Wunsch der Linksfraktion im Hessischen Land- nach neuen Erfahrungen, der Beruf tag und stellvertretende Vorsitzende der und die Familie. Partei DIE LINKE

Sevim Dagdelen: Konzentration auf linke Kernpunkte

Immer wieder gibt es Anläufe, der Partei DIE LINKE ein Einwande- rungsgesetz unterzujubeln. Ob da am Ende ein »Punktesystem«, »Talentkar- ten« oder »soziale Ankerpunkte« als Kriterium für die Selektion derjeni- gen genannt werden, die kommen oder nicht kommen dürfen, und der-

12 DISPUT Dezember 2017 jenigen, die bleiben dürfen oder ab- hört ein Festhalten am Nein zu Mili- Aber die gesellschaftliche Auseinan- geschoben werden sollen, ist dabei täreinsätzen. Die Interventionen im dersetzung muss durch uns trotzdem reine Wortakrobatik. Im Kern dreht Irak, in Syrien, Libyen und Afgha- geführt werden: Dafür, dass Men- sich die öffentliche Debatte um die nistan haben Millionen Menschen schen zu uns kommen können, weil verschiedenen Vorlagen zu einem zu Flüchtlingen gemacht. Es sind die sie Schutz vor Verfolgung suchen, Einwanderungsgesetz immer und zerstörerischen EU-Wirtschaftsdeals aber auch dann, wenn sie hier mit ausschließlich darum, Anwerberege- mit Ländern Afrikas, die Kleinbau- uns leben wollen, Freunde oder Fa- lungen für jene zu formulieren, die ern dort in den Ruin und ihre Fami- milie hier haben, hier arbeiten oder für die deutsche Wirtschaft von Nut- lien in die Armut treiben. Vorrangi- studieren. zen sein sollen. Systematisch ausge- ges Ziel linker Politik muss sein, mit Deshalb brauchen wir als LINKE blendet wird dabei, was die geziel- dafür zu sorgen, dass weniger Men- Antworten auf die Frage der Migra- te Abwerbung gut Ausgebildeter ei- schen zu Flüchtlingen werden und tion. Und zwar solche, die weltoffen gentlich für die Herkunftsländer be- deren Lebensbedingungen vor Ort und zugleich realistisch ist. Als Mit- deutet. Der derart forcierte »Brain zu verbessern. glied der Projektgruppe »Einwande- Drain« verbessert die Lage vor Ort Sevim Dagdelen ist stellvertretende rung« trete ich dafür ein, sozialisti- nicht, er verschlechtert sie vielmehr. Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im sche Migrationspolitik konkret zu Ein Einwanderungsgesetz meint Bundestag und Beauftragte für entwerfen. Wir orientieren darauf, immer Steuerung und Begrenzung. Migration und Integration Einwanderung zu ordnen, aber auch Da macht auch die »Konzeption für zu ermöglichen. Denn es kann keine eine linke Flüchtlings- und Einwan- Option sein, Grenzen zu schließen. Es derungsgesetzgebung«, ausgearbei- Jörg Schindler: Wir kann aber auch keine Option sein, tet von der Projektgruppe Einwan- Menschen einwandern und ihrem derung im Auftrag der Linksfrakti- brauchen Regeln zur Schicksal zu überlassen. Wir brau- onen der Landtage Berlin, Branden- Teilhabe chen Regeln zur Teilhabe. Deshalb burg, Mecklenburg-Vorpommern, haben wir einen Vorschlag entwor- Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thü- Die Welt ist aus den Fugen. Und es fen, der dem Leitbild eines »Wir, die ringen keine Ausnahme. Das Papier ist so zynisch wie zutreffend, wenn wir hier leben (wollen)« folgt. Kern- kommt im Duktus eines realpoliti- Wolfgang Schäuble dazu sagt: »Die punkt ist, dass Menschen, die soziale schen Vorschlags daher. Tatsächlich Flüchtlinge sind unser Rendezvous Beziehungen in der Bundesrepublik ist es absolut weltfremd und lässt mit der Globalisierung«. Das zu kri- entwickeln wollen, ob aus Arbeit, Fa- sich auf den Wünsch-Dir-was-Nen- tisieren ist das eine. Wichtiger ist milie oder gemeinnütziger Tätigkeit, ner bringen: Alle können kommen unsere Antwort hierauf. Diese kann eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und dürfen bleiben. Ob das 20.000, sich nicht darauf beschränken, dass und von einer Einwanderungsbehör- 200.000 oder zwei Millionen Men- wir »uns darauf konzentrieren, das de im ersten Jahr betreut werden. schen im Jahr sind, bleibt unbenannt Asylrecht gegen eine immer weiter- Haben sich diese sozialen Anknüp- – und wird von der Kostenseite auch gehende Aushöhlung zu verteidigen fungspunkte verfestigt, sollen sie dau- nicht durchgerechnet. Gleichzeitig und uns der integrationsfeindlichen erhaft hier leben können und auch zü- wird die Einbindung der LINKEN in Blockade des Familiennachzugs ent- gig die deutsche Staatsangehörigkeit das Abschieberegime festgeschrie- gegenstellen«, wie es im Thesenpa- als beste Form demokratischer Teil- ben. Damit macht sich DIE LINKE un- pier der Vorsitzenden der Bundes- habe erhalten. Das hört sich radikal glaubwürdig und lächerlich. tagsfraktion vom 18.10.2017 heißt. an - ist es auch. Es benötigt auch eine Statt sich weiter über ein über- Das ist viel zu wenig für eine linke gesellschaftliche Kraftanstrengung, flüssiges Einwanderungsgesetz zu Politik. Denn die Bundesrepublik nicht zuletzt fi nanziell. Es ist aber die streiten, muss DIE LINKE auf die en- ist seit langem schon ein Einwande- einzig realistische und humane Al- gagierte Verteidigung des Asylrechts rungsland. Die Vorstellung der Kon- ternative, wenn man vermeiden will, fokussieren und sich um die Integ- servativen, dass die Bevölkerung dass Menschen in Lagern vor den To- ration derjenigen, die hier leben, be- nur aus jenen bestehen soll, die hier ren Europas vegetieren müssen, im mühen. Mit aller Kraft gilt es für die geboren sind, ist hanebüchen. Mittelmeer ertrinken oder in eisigen tatsächliche Bekämpfung von Fluch- Zugleich ist es für uns als LIN- Fluchtrouten erfrieren. tursachen einzutreten. Dazu gehört KE keine Option, an den deutschen Jörg Schindler schrieb mit am Konzept der Stopp der Rüstungsexporte an Grenzen Menschen nach der wirt- für eine linke Einwanderungspolitik und Kriegsbrandstifter wie Saudi-Ara- schaftlichen »Nützlichkeit« zu sor- ist stellvertretender Landesvorsitzender bien und die Türkei. Und dazu ge- tieren, die zu uns kommen wollen. der LINKEN in Sachsen-Anhalt.

DISPUT Dezember 2017 13 PARTEI Wagen wir es Für eine LINKE, die über sich hinaus wächst. Ein Plädoyer dafür, Kontroversen in der Sache zu bearbeiten VON KATJA KIPPING

it dem Scheitern der Schwar- die Erzählung vom Machtkampf zu unten. Zum gesellschaftlichen Kräf- zen Ampel ist offensichtlich bedienen. teverhältnis: DIE LINKE ist im Par- M geworden, dass keine der Die aktuellen Kontroversen unter teienspektrum die letzte verbliebe- zwei alten Volksparteien ohne die uns sind schließlich auch Ausdruck ne Bastion der Flüchtlingssolidarität. andere eine Mehrheitskoalition bil- eines Ringens. Wir zerren aneinan- Wenn wir hier unsere Position korri- den kann. Wir erleben also eine offe- der, weil wir uns gegenseitig von der gieren, wird dies nachhaltig die ge- ne Situation, der wir uns voll Zuver- richtigen Richtung überzeugen wol- sellschaftlichen Kräfteverhältnisse sicht stellen können. Voll Zuversicht len. Ich meine, dass wir es nur zusam- zu Ungunsten der Flüchtlingssolida- auch deshalb, weil unsere Partei das men können. Im Wesentlichen geht rität verschieben. Potential hat, viel größer zu werden es um folgende vier Fragen in der Sa- Zum Wahltaktischen: Sobald als und über sich hinauszuwachsen – zu che: 1. Wie umgehen mit den Rech- zentrale Konfl iktdimension Deutsche ten? 2. die Flüchtlingsfrage, 3. die versus Nicht-Deutsche aufgerufen ist, Frage nach dem Charakter der Partei verlieren wir bei den Unentschiede- und 4. die Milieufrage. nen. Fürs Gewinnen der Unentschie- Wenn wir das Verbindende mehr denen gilt es vielmehr die sozialen in den Mittelpunkt stellen als das Konfl iktdimensionen zu stärken: Als Trennende, dann kann uns die Bear- Mieter gegen Miet-Haie, als Beschäf- beitung dieser Fragen in der Sache tigte gegen Befristungen oder als Er- voran bringen. In diesem Sinne stel- werbslose gemeinsam gegen Hartz- le ich im Folgenden meine Position zu IV-Sanktionen. Eine Korrektur un- diesen Fragen dar. serer Flüchtlingspolitik würde nur weiter die Konfl iktlinie Deutsche ver- 1. Zur AFD-Frage: Klare Kante sus Nicht-Deutsche stärken und uns gegen rechts, ohne dem liberalen wahltaktisch nicht helfen. Fahnenappell zu folgen Sicherlich, im Einzelnen, zum Bei- spiel bei der Frage, wie wir die Visi- Unter keinen Umständen dürfen wir on Bewegungsfreiheit für alle ange- die Gefährlichkeit der rechten Hetzer sichts des globalen kapitalistischen bagatellisieren. Hier gilt es klare Kan- Ausbeutungsgefälle umsetzen kön- Parteichefi n Katja Kipping: Wir müssen te zu zeigen. Zugleich sollten wir je- nen, können wir in demokratischen den Zeitgeist nach links verschieben dem wohlfeilen Appell widerstehen, Prozessen Positionen konkretisieren. Foto: Mark Mühlhaus – attenzione photo- wonach wir alle uns im Namen des Wir müssen uns auch deshalb graphers Liberalismus gegen die Rechte zu ver- nicht korrigieren, weil wir als einzige einen haben. Nein, so einfach darf von Anfang an die Flüchtlingssolida- sich die LINKE nicht in die liberale rität eng verbunden haben mit dem einer linken Friedens- und Gerechtig- Konsensdemokratie eingliedern las- Bekämpfen von Fluchtursachen und keitspartei für alle. Zur ersten Adres- sen. Vielmehr sollten wir jene stel- dem Einsatz für eine soziale Offensi- se für Abgehängte, Beschäftigte, Ka- len, die die grenzenlose Freiheit der ve für alle. Wir haben als einzige von pitalismuskritikerInnen, Weltoffene, Ausbeutung und ungezügelten Reich- Anfang an deutlich gemacht, dass die linke SozialdemokratInnen wie linke tumsvermehrung befördern. Herausforderungen der Flüchtlings- Grüne. Dazu müssen wir jedoch un- solidarität von den Superreichen zu sere Art, Konfl ikte zu bearbeiten, ver- 2. Zur Flüchtlingsfrage: fi nanzieren und nicht von den Armen ändern. Konkretisieren ja, korrigieren nein wegzutragen sind. In Zeiten von marktförmig ver- Ja, in der Flüchtlingsfrage gilt es, schlankten Redaktionen verkauft Diese Frage möchte ich sowohl nor- sich dem aktuellen, rechten Zeitgeist sich jeder Konfl ikt leichter als Macht- mativ als auch wahltaktisch bear- entgegenzustemmen. Zu Hochzeiten kampf denn als inhaltliche Kontro- beiten. Normativ gilt, alle Menschen des Neoliberalismus taten wir das verse. Insofern halten Medien nach haben Rechte unabhängig von ihrer auch. Das war nicht immer einfach. solchen Erzählungen Ausschau. Wir Herkunft. Schon deshalb sollte eine Letztlich hat unsere Standhaftigkeit aber sollten diesen medialen Theater- LINKE immer deutlich machen, die dazu beigetragen, dass der Neolibe- donner nicht bedienen. Ich plädiere Grenze verläuft nicht zwischen Nati- ralismus in die Krise kam. Damals vielmehr dafür, dass wir die Kontro- onen sondern zwischen Klassen be- waren fast alle für Privatisierungen, versen in der Sache aufmachen, statt ziehungsweise zwischen oben und heute hat es diese Position deutlich

14 DISPUT Dezember 2017 Karikatur: Klaus Stuttmann GEDANKENSTRICH schwerer. Also lassen wir uns vom Widerspruch oder dafür, eine andere oder in die Wohnviertel, wo ich bei heutigen Zeitgeist nicht einschüch- Meinung mehrheitsfähig zu machen. Haustürbesuchen auch in Hausfl ure tern. Zudem droht der politische Ansatz kam, in denen einen die Perspektiv- von Mélenchon, die Menschen nicht losigkeit anspringt. Nun wird der Par- 3. Zum Charakter der Partei: zu ermächtigen, sondern er spricht tei vorgeworfen, sie habe allein die Für eine demokratische LINKE lediglich in ihrem Namen. Hipster angesprochen. Unsere Strate- Gerade linke, emanzipatorische gie wie Praxis widerlegen dies. Oskar Lafontaine hat nun die Idee Parteien sollten als aktive Mitglieder- Es wäre kurzsichtig, Milieus ge- einer neuen »Sammlungsbewegung« parteien organisiert sein, in denen in geneinander zu rechnen. Wir haben nach dem französischen Vorbild von demokratischen Verfahren um ge- als einzige Partei die Chance, das zu- Jean-Luc Mélenchon in die Debatte meinsame Positionen gerungen wird. sammenzubringen, was diese Gesell- gebracht. Ich meine, dass eine lin- schaft spaltet. Den weltoffenen Mi- ke Sammlungsbewegung in Deutsch- 4. Zur Milieufrage: Gemeinsame lieus müssen wir sagen: Eure Welt- land bereits besteht: DIE LINKE. Interessen betonen offenheit ist nur dann eine Freiheit, Nicht zuletzt bei der Zukunftswoche wenn sie sozial gerecht für alle ist. ging es vor zwei Jahren und wird es Die Politik der Herrschenden basiert All jenen, die sich von der Politik nur im September 2018 auch darum ge- darauf, verschiedene Gruppen gegen- noch betrogen fühlen, müssen wir sa- hen, was wir von Podemos und der einander auszuspielen: Prekäre ge- gen: Wir werden eure Lage nur ver- Momentums-Bewegung um Corbyn gen Kernbelegschaft, Erwerbslose ge- bessern, wenn wir uns mit den Su- lernen können. gen illegalisierte MigrantInnen und perreichen anlegen. Das Treten nach Doch sprechen wir darüber, was so weiter. Aufgabe einer linken Kraft unten, gegen Flüchtlinge lenkt davon das Modell Mélenchon bedeutet. Es ist es, diesem Mechanismus entgegen ab. Es wird keine soziale Gerechtig- ist eine auf eine Person zugeschnit- zu wirken und vielmehr die gemein- keit ohne das Recht auf Verschieden- tene Wahlformation. Solche Formati- samen ökonomischen Interessen zu heit geben. onen haben gerade Konjunktur: Den- betonen. Wenn wir das zusammenbringen, ken wir nur an Macron in Frankreich Unsere Wahlstrategie sah vor, was diese Gesellschaft auseinander- oder an die LISTE Kurz in Österreich. dass wir die verschiedenen Milieus treibt, haben wir das Potential, über Die Kehrseite von Mélenchons Er- ansprechen. Dementsprechend war uns hinaus zu wachsen. Wagen wir folg ist, dass diese Bewegung von sei- auch unsere Praxis im Wahlkampf. es. Für eine LINKE auf der Höhe der ner Positionsfi ndung abhängig ist. Für mich hieß das zum Beispiel früh Zeit, die sich nicht vom Zeitgeist trei- Wer eine andere Meinung hat, für vors JobCenter, abends vors Kino und ben lässt, sondern vielmehr diesen den gibt es kaum Möglichkeiten für tagsüber zu Gewerkschaftsaktionen nach links verschiebt.

DISPUT Dezember 2017 15 GUTE ARBEIT 30 Stunden sind genug Arbeitszeit, die zum Leben passt. 2018 starten wir eine Initiative für ein Neues Normalarbeitsverhältnis VON BERND RIEXINGER

ir produzieren so viel zeit wieder auf die Tagesordnung zu hen gut, dass darüber im nächsten Reichtum wie nie. Trotz- bringen und gemeinsam mit den Ge- Jahr wieder mehr diskutiert wird. W dem arbeiten Beschäftigte werkschaften dafür zu kämpfen. Die IG Metall fordert zum Beispiel in zu niedrigen Löhnen, mit langen Ar- Von einer verkürzten Arbeitszeit der laufenden Tarifrunde der Metall- beitszeiten und unter Stress. Höchs- und mehr Flexibilität, die den Be- und Elektroindustrie nicht nur sechs te Zeit für ein neues Normalarbeits- schäftigten nutzt und nicht den Un- Prozent mehr Lohn, sondern auch verhältnis. ternehmen, würden viele profi tie- mehr Selbstbestimmung über die Ar- 43 Milliarden Menschen sind in ren – die Erzieherin genauso wie der beitszeit. Beschäftigte sollen die Mög- Deutschland in Lohnarbeit beschäf- Bandarbeiter, die Ingenieurin ebenso lichkeit haben, für bis zu zwei Jahre tigt, so viele wie noch nie. Das heißt wie der Busfahrer. Die Chancen ste- auf bis zu 28 Stunden pro Woche zu aber nicht, dass alle gut über die Run- den kommen. 40 Prozent der Beschäf- tigten haben heute weniger Einkom- men als vor 15 Jahren. Die Profi te der Unternehmen sind währenddessen gewachsen, genauso wie die Vermö- gen der Super-Reichen. Dieser Reich- tum ist das Ergebnis einer verstärk- Arbeiten fast bis zum Umfallen: ten Ausbeutung der Arbeitskraft der So geht es nicht nur, Menschen. Viele Beschäftigte bekom- aber besonders Pfl egekräften men das direkt zu spüren: Der Lohn Foto: Michael Breyer reicht oft nicht für ein gutes Leben, Druck und Stress auf der Arbeit neh- men zu, es muss immer mehr in we- niger Zeit erledigt werden. Für viele wird es immer schwerer, Arbeit und Leben unter einen Hut zu bekommen. Sie wünschen sich mehr Zeit für Fa- milie, Freunde, Erholung und gesell- schaftliches Engagement. Das wäre möglich. Allerdings braucht es da- zu einen grundlegenden Richtungs- wechsel. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu guter Arbeit für alle: mehr Mitbe- stimmung über die Arbeitszeit. Wie lange wir pro Tag und pro Woche ar- beiten, hängt nicht nur mit den ein- zelnen Unternehmen, sondern auch mit den politischen Kräfteverhältnis- sen zusammen. Nach der Bundestags- wahl waren etwa die sogenannten Wirtschaftsweisen schnell mit der Forderung zur Stelle, dass Arbeitszei- ten noch fl exibler werden müssen. Schon jetzt gehören mehr als zehn Stunden Arbeit pro Tag für viele zum Alltag. Allein in den Jahren 2015 und 2016 haben Beschäftigte über 2 Mil- liarden Überstunden geleistet, die meisten davon unbezahlt. Dem müs- sen wir etwas entgegen setzen. Das bedeutet, die Verkürzung der Arbeits-

16 DISPUT Dezember 2017 Die Broschüre zum Neuen Normalarbeitsverhältnis kann beim VSA-Verlag bestellt werden: http://www.sozialismus.de

reduzieren. »Arbeitszeiten müssen und die eigenen Interessen durch zum Leben passen – und nicht im- einen Betriebsrat oder die Gewerk- mer nur umgekehrt«, fordert die Ge- schaft vertreten zu können. Abgesi- werkschaft. Das ist ein richtiger An- cherte Arbeitsverhältnisse gibt es satz, den wir als LINKE unterstützen. aber immer seltener. Stattdessen Arbeit und Arbeitszeit müssen so or- wurde in 25 Jahren neoliberaler Poli- ganisiert werden, dass Arbeit und Le- tik eine neue Normalität geschaffen. ben, Verantwortung für Kinder und Viele Menschen arbeiten im Niedrig- Zeit für Freunde, gesellschaftliches lohnbereich, den die rot-grüne Koali- Engagement und Muße in Einklang tion unter Schröder durch die Agen- gebracht werden können. da 2010 massiv ausgebaut hat. 23 Pro- sche Unterschiede hinweg. Dass das Mit dem Neuen Normalarbeitsver- zent der Erwerbstätigen arbeiten in möglich ist, zeigt das Beispiel Min- hältnis machen wir einen Vorschlag Minijobs, viele von ihnen und beson- destlohn. für selbstbestimmtere, kürzere Ar- ders häufi g Frauen tun das unfreiwil- Die gewerkschaftlichen Auseinan- beitszeiten und für eine gerechte Ver- lig. Nur noch 51 Prozent der Beschäf- dersetzungen zum Beispiel bei Ama- teilung der Arbeit. Im Moment leis- tigten im Westen und 37 Prozent im zon, über die Organisierung von Leih- ten die einen Überstunden und sind Osten fallen unter Tarifverträge. Nur arbeitern bis hin zu den Kämpfen für permanent erreichbar, während die wenn wir prekäre Arbeit und Nied- mehr Personal auf Flughäfen und in anderen keine oder nicht genug Ar- riglöhne abschaffen und soziale Absi- Krankenhäusern sind die Grundlage. beit fi nden. Wir schlagen daher eine cherung für alle erkämpfen, werden Die Erfahrung der vergangenen Jahre kurze Vollzeit vor, die um die 30-Stun- der ständigen Erpressung der Kern- ist aber: wichtige betriebliche und ta- den-Woche kreist – mit selbst be- belegschaften, dem Druck auf Löhne, rifl iche Auseinandersetzungen führ- stimmbaren Arbeitszeiten zwischen Tarifverträge und die Rente wirklich ten durchaus zu Erfolgen, konnten 28 und 35 Stunden. dauerhaft Grenzen gesetzt. den Prozess der Prekarisierung ins- Die Verkürzung der Arbeitszeit Die Art und Weise, wie wir arbei- gesamt jedoch nicht aufhalten. Die- ermöglicht auch eine gerechtere ten, muss sich grundsätzlich ändern. se Kämpfe werden kaum oder gar Verteilung von Erwerbsarbeit, Sor- Statt Niedriglöhnen und Dauerstress nicht gebündelt und es gibt derzeit ge- und Hausarbeit zwischen den brauchen wir ein neues Normalar- zu wenig Bemühungen der Gewerk- Geschlechtern. Teilzeitbeschäftigte beitsverhältnis. Unser Konzept für schaften, diese Kämpfe auf einer po- müssen das Recht auf Arbeitsver- ein Neues Normalarbeitsverhältnis litischen Ebene zu führen. Deshalb träge mit mindestens 22 Wochen- gilt für alle: Also Männer wie Frau- braucht es dringend eine politische stunden haben. Wir wollen Arbeitge- en, MigrantInnen und Einheimische Kampagne der Gewerkschaften und ber verpfl ichten, Überstunden und – ohne Ausnahmen. Es geht um So- ihrer gesellschaftlichen Bündnispart- Schichtarbeit mit zusätzlichem Frei- lidarität in einer sich immer weiter ner, die von aktiven Beschäftigten ge- zeitausgleich auszugleichen. Unser spaltenden Arbeitswelt. Unser Kon- tragen und unterstützt wird. Prinzip lautet: Mehr Personal statt zept ist geeignet, die Arbeitsbedin- Unsere Initiative für ein Neues Überstunden! Dazu brauchen auch gungen aller Beschäftigten zu verbes- Normalarbeitsverhältnis soll dazu Betriebs- und Personalräte umfas- sern; von den prekär Beschäftigten beitragen. 2018 wollen wir als ersten sende Mitbestimmungsrechte bei über Solo-Selbständige bis zu den Mil- Schritt Gewerkschaften und Bewe- Personaleinsatz, Zielvorgaben und lionen Beschäftigten, die noch unbe- gungsinitiativen zu einer Konferenz Arbeitsplanung. fristet arbeiten und unter den Schutz einladen mit den Schwerpunkten Das alte Normalarbeitsverhältnis eines Tarifvertrags fallen. Stärkung der Tarifbindung, Kampf ge- wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gen prekäre Arbeit und Dauerstress von Beschäftigten und Gewerkschaf- sowie neue Arbeitszeitinitiative. Die ten erkämpft. Es bedeutete Sicherheit Offensive Diskussion über die Arbeitszeitver- gegen das Risiko von sozialem Ab- kürzung kann eine Gelegenheit sein, stieg. Es erlaubte, die Zukunft zu pla- Natürlich kann unser anspruchsvol- in die Offensive zu kommen. nen und die Grundlagen dafür zu le- les Programm für ein Neues Normal- Als LINKE können wir mit Veran- gen, dass es den Kindern einmal bes- arbeitsverhältnis nicht von heute auf staltungen, Verteilaktionen und Dis- ser geht. Dazu gehörte, eine unbefris- morgen durchgesetzt werden. Verän- kussionen viel dazu beitragen, die In- tete und gut entlohnte Vollzeitstelle derungen sind möglich, wenn es uns itiative bekannt zu machen. Für Ver- zu haben, im Fall von Krankheit oder gelingt, die Mehrheit der Beschäftig- anstaltungen in Kreisverbänden ste- Arbeitslosigkeit abgesichert zu sein ten davon zu überzeugen, über politi- he ich euch gerne zur Verfügung.

DISPUT Dezember 2017 17 ARBEITSKAMPF Gegen das Kürzungsdiktat Die Thüringer Politik hat sofort auf die Pläne von Siemens reagiert, massiv Stellen abzubauen. Ministerpräsident Ramelow steht an der Seite der Beschäftigten VON PAUL WELLSOW

er den Konzerngewinn um Die Neuausrich- 600 Millionen Euro steigert tung von Sie- W und gleichzeitig droht, die mens darf nicht Interessen der Belegschaft zu igno- auf dem Rücken rieren, zeigt deutlich, dass kein Ver- Ostdeutschlands ständnis davon existiert, dass Eigen- ausgetragen wer- tum nicht nur Renditen für Aktionä- den: Ministerprä- re, sondern auch Verpfl ichtung für sident Ramelow Beschäftigte bedeutet«, kritisierte der und die Thüringer wirtschaftspolitische Sprecher der LINKEN solida- Linksfraktion im Thüringer Landtag, risieren sich mit Dieter Hausold, die Ankündigung von den Beschäftig- Siemens, weltweit rund 7.000 Arbeits- ten Foto: DIE LIN- plätze abzubauen, Standorte zu schlie- KE Thüringen ßen und profi table Werke zu verkau- fen. Die Entscheidung sei ein »Kür- zungsdiktat«. Ende Oktober 2017 hat In Erfurt soll das hochprodukti- sammelten. Der Landtagsabgeordne- der Konzern Einschnitte in der Kraft- ve Generatorenwerk mit etwa 700 te Rainer Kräuter schenkte neben ei- werkssparte angekündigt – darunter Beschäftigten verkauft werden. Da- nem wärmenden Feuerkorb Kräuter- in Görlitz, Leipzig, Offenbach, Mül- gegen protestieren seit Wochen die Tee aus, bei der Thüringer Bundestags- heim, Berlin und Erfurt. Belegschaft und die IG Metall und abgeordneten Martina Renner gab es Die Thüringer Politik holte das erhalten breite Unterstützung. Mi- frischen Kaffee und die Landes- und Thema sofort in den Landtag. In einer nisterpräsident Bodo Ramelow (DIE Fraktionsvorsitzende verteilte Solida- »Aktuellen Stunde« von Rot-Rot-Grün LINKE) wandte sich schriftlich an die ritäts-Flyer. Kritische Debatten gab es, und der CDU wurde der Erhalt von Konzernführung und stellte öffentlich als sich am 21. November AfD-Abge- Jobs und Standorten gefordert. DIE klar, dass die Regierung solidarisch ordnete in die Demonstration einreih- LINKE, SPD und Grüne stellten ge- an der Seite der Beschäftigten steht. ten. Im Landtag hatte die Rechtspartei meinsam klar: »Wir erwarten von der Auf der Abschlusskundgebung eines die Entlassungen und Schließungen Konzernleitung Verantwortung für Schweigemarsches am 21. November noch als rein unternehmerische Ent- die Beschäftigten und das nötige Be- 2017 mit etwa 1.200 Menschen sagte scheidung bezeichnet und eine Ein- wusstsein für die gesellschaftlichen er: »Es kann nicht sein, dass die Neu- mischung der Politik abgelehnt. Ge- Aufgaben großer Unternehmen. Wir ausrichtung des Konzerns vor allem werkschafterInnen, Sozialdemokra- werden auf allen Ebenen entschiede- auf dem Rücken Ostdeutschlands tInnen und LINKE drängten die AfD- nen Widerstand gegen die Ausgliede- ausgetragen wird.« Ramelow machte Abgeordneten schließlich ab, doch da rung oder Schließung einzelner Wer- klar: »Es gibt nur eine Maxime: Milli- hatten die bereits ihre Fotos im Kas- ke leisten!« onen sind stärker als Millionäre! Wer ten. Betriebsrat und Gewerkschaften nicht kämpft, hat schon verloren!« distanzierten sich später deutlich von Die Thüringer LINKE war seit der der Teilnahme der AfD. In Berlin protestierten Bernd Riexinger, ersten öffentlichen Betriebsversamm- DIE LINKE fordert anlässlich der Caren Lay und weitere LINKE Abgeord- lung am 25. Oktober 2017 zur Unter- angekündigten Entlassungen bei Sie- nete mit Beschäftigten gegen die Abbau- stützung dabei. Die Vorsitzende von mens erneut ein gesetzliches Verbot pläne von Siemens Foto: DIE lINKE Landtagsfraktion und Landespartei von Massenentlassungen bei profi - Susanne Hennig-Wellsow erklärte in tablen Unternehmen. Die Thüringer ihrer Rede vor der Belegschaft: »Wir Linksfraktion hat diese Initiative nun lassen Sie hier nicht alleine stehen! aufgegriffen und den Koalitionspart- Unsere Solidarität gilt Ihnen!« Auch nern den Vorschlag gemacht, eine bei den folgenden Betriebsversamm- Bundesratsinitiative gegen »Massen- lungen, die von der Belegschaft öffent- entlassungen trotz Gewinnsteigerun- lichkeitswirksam vor dem Betriebstor gen« zu starten. Neben unserer Soli- veranstaltet wurden, war DIE LINKE darität muss DIE LINKE auch ihre po- immer mit dabei – auch als sich am litischen Möglichkeiten ausschöpfen, 17. November 2017 die Beschäftigten um Entlassungen und Kürzungen ei- um 5.30 Uhr morgens vor dem Tor ver- nen Riegel vorzuschieben.

18 DISPUT Dezember 2017 LINKSFRAKTION Mehrheiten nutzen Der Bundestag muss nicht bis zu einer Regierungsbildung warten, um wichtige Entscheidungen zu treffen, sagt Linksfraktionschef Dietmar Bartsch

er Vorsitzende der Linksfrak- tion im Bundestag Dietmar D Bartsch wirbt dafür, die Mehr- heiten im Bundestag unabhängig von einer Koalitionsbildung zu nutzen. Beispiel Aufhebung des Kooperati- onsverbots zwischen Bund und Län- dern in der Bildungspolitik: Dafür sind neben der LINKEN auch Grüne, FDP und SPD. »Warum entscheiden wir das jetzt nicht?«, fragt Bartsch. Wegen der schleppenden Regie- rungsbildung ist bislang im Bundes- tag nicht viel geschehen. Der Bun- destag hat im November mit brei- ter Mehrheit gegen die Stimmen der LINKEN einen Hauptausschuss, ei- Links – wo das Herz schlägt: Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht nen Petitionsausschuss sowie einen Foto: DIE LINKE im Bundestag Ausschuss für Wahlprüfung, Immuni- tät und Geschäftsordnung eingesetzt. Die Linksfraktion forderte stattdes- Dem Hauptausschuss s gehören nur eine große Koalition geht. »Statt dem sen, die im üblichen Parlamentsbe- 47 Abgeordnete an. DIE LINKE stellt Beispiel der britischen Labour Party trieb arbeitenden Fachausschüsse zu im Hauptausschuss fünf Mitglieder. unter Corbyns zu folgen und wieder bilden. Doch deren Aufgaben hat der Sahra Wagenknecht, die gemein- Politik für die Mehrheit zu machen, Hauptausschuss übernommen, der sam mit Dietmar Bartsch die Links- hält die SPD an ihrer Agenda-Poli- Vorlagen berät und Beschlussemp- fraktion führt, übt massive Kritik an tik fest und bereitet so ihre nächste fehlungen für das Plenum formuliert. der SPD, die möglicherweise doch in Wahlniederlage vor«, sagt sie.

Anzeige

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.«

WIRTSCHAFT Immanuel Kant, 1784 ANDERS DENKEN OXIBLOG.DE Dafür beziehen wir Tag für Tag mit faktenbasiertem Journalismus Stellung gegen »alternative Fakten« und Weichspülernachrichten.

Ein Abonnement lohnt sich. Egal ob digital oder gedruckt. Ihr habt doch alle Mit dem »nd« jeden Tag hintergründig und kompetent informiert! keinen Plan!

- der Markt allein »ge deradatsch nicht ge h kein Dann kam ein S Nicht den Markt und seine Weisheit stören, warnen die Kritiker vonauf öffentliche Bofinger, der hier und da Erinnerung an den Begriffigen Stamo hatten- büchern zitiert wi kap aufkommen ließen, ist sicher auc fig die Liebe von Ö Doch die Zukunft will gestaltet sein. Wir brauchener Sachverständ mehren und demokratische schon da Planw Zufall. ner Liebe zu einz Die anderen vi Profi sollte das - TOM STROHSCHNEIDER Bofinger in einer gemeinsam - als ein Tritt ge Exklusiv für AbonnentInnen: eter Bofinger, soviel stehtkfurter fest, dings einer, be durch außergewöhnlichen, weil tribunalhaft - ist ein Ausbund an höflicher Zu erscheinenden Entgegnung inhaltlich nicht ins Straucheln rückhaltung. In der Fran viel entgegenzusetzen als das, was schon in gemerkt. - Nachhilfe Allgemeinen Sonntagszeitung - einem älteren Jahresgutachten stand:«. Überschrift: Inno - daran erinn hat der Würzburger Ökonom - vationspolitik müsse vor allem darauf set jetzt auf den seit einigenr gesamt Wo zen, »die kreativen Kräfte desseiner Wettbewerbs »marktwirt ständigen i P schaftliche so gut wie möglich zu entfesseln - chen tobenden Streit um Positionen im Sach »Vertraut dem Markt!« Von Rahmen ih seltsam klingende schaftlichen Wirtschaftsordnung«,sich die soBundesre Lars P. folgerun verständigenrat zur Begutachtung de - «. Was Bofinger Jeden Monat die Wirtschaftszeitung wirklich einmal: Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel mittelba wirtschaftlichen Entwicklung geantwortet.e Kritik sei und Volker Wieland, sollte tte. den kön Und da passt der sonst so icht vorderhandb Ausdruck »Weise« dann auchurz zu streifen und publik »daher nicht abwenden kann ab chen Bofinger ist weise genug, die fkescharf zu antworten – auch gar nicht gefordert ha können Es geht aber in dem Streit n das Ma ner RatskollegInnen nur k finger ins Feld- vor allem auf Niklas Potra um ökonomische Glaubensfragen darüber, o - men« en Fra- Vier gegen Bo gleic mit einer Kritik an dessen »wissenschaftli - und was »der Markt« allesnicht richten nach China könne ver – lich Amoklauf«. in ökonomisch - auch wenn die Worum es geht?ndersetzung Nun, vor allem um die Kultur führen, der könne doch die machteten Kon ngen OXI. WIRTSCHAFT ANDERS DENKEN der Auseina Stellenwert von Minderheitenpo weisen, weil das unter anderem »die negati che verständigenrates B gen, um den ven Auswüchse des rtschaftlichechinesischen OrdnuSystems« - ftlichen Plura- do sitionen in einer politisch ver etwa bei den Menschenrechten ausblende,m - d stellation wie der des Sach - während »marktwi und um wirtschaftswissenscha … wie kein anderes System in der Lage« seien, - d lismus. Es geht nicht zuletzt um die Fragentzündet, mehr »die Kreativität, Neugier und Leistungsbe - - h wer Staat und/oder Markt. s- und In reitschaft der Menschen in Innovationen u Der Streit hattetralismus sich an wagen!« Bofingers e Forde zusetzen«. iel eher die persönlic »aktiven Innovation s schaffe Auf Empörung stieß neben solcherleiurchaus Be rung »Mehr Zen ell- als Beilage im »nd«. in dem der einer - kenntnisrhetorik v lle einräumt« – da ner dustriepolitik« das Wort redet, »die dem Staat dende Kritik der Vier an Bofinger,fundamentierte: die dann Die lungsspielraum bei ges eine Schlüsselro auch noch auf volkswirtschaftlich Bofingers dBeispielen llen Argument be politischen Hand umstrittenen Positionen tschaft de schaftlich wichtige Weichenstellungen (E empirische Evidenzmit dem von origine - essive Risikoberei giewende) und ohnehin seien technologischer wurde etwa Fortschritt und öffentliche Förderung schon stritten, »die exz ellte, vor allem ei - Schutzes vor d immer eng miteinander verquickt. Indirekt Banken, die eine der zentralen Ursachen In ande de wirft letzteres die Frage auf, wie demokra jüngsten Finanzkrise darst grund illegaler Machen inschätzungen«.er Schirme in A tisch darüber mitbestimmt wird. Dass der Konsequenz des staatlichen Streit vor dem Hinter Folgen von Fehle r Finanzkrise – h schaften der Autokonzerne entbrannte, die Worten: Der Staat hat, weil Jetzt Abo sichern: sicht stellte, Schuld an de www.neues-deutschland.de/abo Tel.: (030) 29 78 18 00

SOZIALISTISCHE TAGESZEITUNG

DISPUT Dezember 2017 19 EUROPÄISCHES FORUM MARSEILLE In Vielfalt geeint Die EU und viele Nationalstaaten sind in der Krise. Progressive Kräfte in Europa müssen sich auf ihre Gemeinsamkeiten konzentrieren und nicht auf das Trennende VON GREGOR GYSI

ehr als 400 Teilnehmerin- nen und Teilnehmer aus M über 30 Ländern haben sich am 10. und 11. November in Marseille beim European Forum of Progressive Forces (Europäisches Forum der pro- gressiven Kräfte) getroffen und über Wege zu einem demokratischen, so- zialen, friedlichen und ökologisch nachhaltigen Europa diskutiert. Da- bei lag der Schwerpunkt auf der Be- tonung der Gemeinsamkeiten und der dringend nötigen Vernetzung der europäischen Linken (EL). Inhaltlich ging es vor allem um Friedenspolitik, Arbeits- und soziale Rechte, Demo- kratie und Nachhaltigkeit. Das Forum ist als ein Prozess an- gelegt und wird im kommenden Jahr mit einer zweiten Tagung fortgeführt werden, wie in der gemeinsam verab- Gemeinsam für eine Politik der öffentlichen Investitionen und des sozial- schiedeten Deklaration beschlossen ökologischen Umbaus streiten: Gregor Gysi bei seiner Rede in Marseille Foto: EL wurde. Dort müssen wir versuchen, noch mehr Parteien und Organisati- onen anzusprechen, um eine Breite ziale Ungleichheit der Menschen und versuchen sollten, die jetzige EU zu zu erreichen, die deutlicher über das ihre Ängste werden politisch ausge- reformieren oder einen »Plan B« ent- Spektrum der EL hinausgeht. Teil- nutzt – europaweit. Dies hat zum Auf- wickeln müssten, falls das erste nicht weise ist dies schon gelungen, so wa- stieg der Rechtspopulisten beigetra- klappte. Mir ging es darum, dass die- ren Vertreterinnen und Vertreter des gen. se zwar wichtigen, aber wenn die »Progressive Caucus« (u.a. Sozialisten Es könnte sein, dass wir auf die- Existenz eines sozialen und demokra- aus Frankreich), von Labour und Left se Epoche zurückschauen, und uns tischen Europas auf dem Spiel steht, Unity aus Großbritannien und der fragen, warum wir uns nicht zum doch zweitrangigen Fragen uns nicht SP aus den Niederlanden sowie von gemeinsamen Kampf durchringen spalten. Ich rief dazu auf, uns auf die Grünen Parteien (u.a. aus Katalonien konnten in einer Zeit, in der offen fa- Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, und Frankreich) anwesend. Ein erster schistische und rechtsextreme Par- nicht auf das Trennende! Schritt zur Vernetzung einer breiten teien in weiten Teilen der EU drama- Bezüglich der Situation in Grie- europäischen Linken wurde also ge- tisch zulegten und sich existenziel- chenland gibt es jedoch manche, die macht, und die Presseresonanz war le Fragen der Demokratie in Europa sagen, die Regierung dort mache ei- positiv, ist aber noch ausbaufähig. stellten, zum Beispiel bezüglich der ne falsche, unsoziale Politik und ha- Bezogen auf die Situation in Eu- Einschränkung von Pressefreiheit be sich dem Austeritätsdiktat der ropa habe ich in meiner Rede beim und Gewaltenteilung. Troika angepasst. Es gibt da aber ei- Forum in Marseille hervorgehoben, nen Riesen-Unterschied zum Beispiel dass die Einheit der Linken zwar zu den sich sozialdemokratisch nen- schon oft beschworen und gefordert Gegen Troika-Politik nenden Regierungen von Schröder in wurde, aber dass es diesmal wirklich Deutschland und Blair in Großbritan- darauf ankommt: Die EU und viele Mein Appell war, dass wir uns darauf nien: Dort wurde der neoliberale Um- Nationalstaaten sind in einer exis- konzentrieren, gemeinsam für eine bau des Sozialstaates zum Programm tentiellen Krise, und die Demokra- Politik der öffentlichen Investitionen gemacht, und offensiv vertreten als tie, wie wir sie kennen, und das Zi- und des sozial-ökologischen Umbaus »Politik der Mitte“, während Syriza vilisationsprojekt Europa stehen auf zu streiten, was im radikalen Gegen- die Austeritätspolitik klar ablehnt, dem Spiel. Die soziale Krise in der EU satz zur Austeritätspolitik der Troika dies auch öffentlich immer wieder führte auch zur zunehmenden Spal- steht. Ich wollte mich dort nicht da- betont, und trotzdem versucht, die tung der Bevölkerungen, und die so- zu äußern, ob wir mit einem »Plan A« dramatischen Folgen für die grie-

20 DISPUT Dezember 2017 »Wir müssen uns leidenschaftlich streiten in kulturvollen politischen Debatten, aber am Ende des Tages zusammenstehen und nicht vergessen, wer die waren Gegner sind.«

chische Bevölkerung abzumildern, Nationalökonomien auf dem Rücken chen, gemeinsam zu kämpfen. Wir was sehr schwierig ist. Dabei stellte der Schwächsten ausgetragen. Es ist müssen es schaffen, uns hinter einem sich die folgende Frage grundlegend: die gemeinsame Aufgabe aller Lin- »Minimalkonsens für ein soziales und Kann man bei einem gemeinsamen ken, dies unbedingt zu verhindern. solidarisches Europa« zu versammeln Markt den einzelnen Staat zur Ab- Ich wies darauf hin, dass die Eu- und dann, in Vielfalt geeint, in den schottung gegen neoliberale Zumu- ropäische Linke für ein soziales und Dialog mit der Gesellschaft zu treten. tungen nutzen? Das kann vielleicht ökologisches Europa kämpft – wir Dafür brauchen wir vor allem den in einem gewissen Maß gelingen, die wollen auch glaubhaft ein Politikan- Mut zum Kompromiss – wir müssen Spielräume sind jedoch begrenzt. gebot machen, welches den Klima- uns leidenschaftlich streiten in kul- Gerade abgehängte junge Men- schutz mit einer erheblichen Besser- turvollen politischen Debatten, aber schen, die beispielsweise in südeu- stellung ärmerer Bevölkerungsgrup- am Ende des Tages zusammenstehen ropäischen Ländern arbeitslos sind, pen verbindet. Dann werden auch und nicht vergessen, wer die waren brauchen den sozialen Schutzschirm Mehrheiten für ein ökologisches Um- Gegner sind: die Neoliberalen und eines solidarischen Europas. Die Na- steuern möglich, und dies ist ange- die Rechtspopulisten, zunehmend tionalstaaten können dies nur sehr sichts der Herausforderung des Kli- auch offen Rechtsextreme, die wir begrenzt leisten, gerade in schwä- mawandels dringend erforderlich, entschieden bekämpfen müssen. Der cheren Volkswirtschaften und klei- denn dieser gefährdet die Lebens- Geist des Faschismus ist längst wie- nen Ländern: Wie sollen Griechen- grundlagen von Milliarden Men- der auferstanden und er wird nicht land oder Luxemburg ernsthaft mit schen. von alleine verschwinden – ihn zu den USA oder Kanada über ein fai- Das Forum von Marseille hatte bekämpfen muss unsere gemeinsa- res Handelsabkommen verhandeln, zum Ziel, einen Prozess zu initiieren, me Aufgabe werden. was soziale Standards berücksich- bei dem wir als Linke gemeinsam mit tigt? Es ist also gerade auch im Inter- progressiven Sozialdemokraten und Gregor Gysi ist Präsident der esse des unteren Drittels der Gesell- Grünen, Gewerkschaften und sozia- Europäischen Linken schaft, dass es auf europäischer Ebe- len Bewegungen daran arbeiten, ein ne soziale Garantien und Mindest- breites Bündnis für ein anderes Eu- standards gibt, denn sonst wird der ropa aufzubauen. Es ist unsere Auf- brutale Wettbewerb kapitalistischer gabe, bei allen internen Widersprü-

Europäisch-lateinamerikanischer Dialog

Die Europäische Linke (EL) pfl egt nen des FSP und der EL zum bereits gute Kontakte mit dem lateiname- zweiten Seminar, um über gemeinsame rikanischen Foro Sao Paulo (FSP). politische Ansätze, die Krise des Kapi- Austauschen, verstehen, linke Ideen talismus und Handlungsstrategien für und Strategien entwickeln, Solidari- die Linke in schwierigen Zeiten zu disku- tät und Dialog, der auch gern kritisch tieren. In Lateinamerika sind vielerorts sein darf, stehen im Vordergrund. Das Konservative und Rechte zurück an die FSP wurde 1990 von linken und pro- Macht gekommen. Konkrete Unterstüt- gressiven Kräften gegründet, um dem zung, wie für den Frieden in Kolumbien, allgegenwärtigen Neoliberalismus et- war Ergebnis des Seminars. Der Frieden was entgegen zu setzen. Ihm gehören dort ist fragil. Eindrucksvoll schilderte Li- Deutlich wurden bei dem Seminar mehr als 100 Parteien und Bewegun- liana Gaitán von der kürzlich gegründe- die unterschiedlichen Ausgangslagen gen aus 26 Ländern an: Es handelt ten politischen Partei FARC, die aus der in Lateinamerika, der Karibik und Eu- sich um Regierungs- und Oppositi- Guerillaorganisation hervorgegangen ist, ropa, aber auch gemeinsame Prob- onsparteien, die sich in ihrem politi- die Schwierigkeiten des Friedensprozes- lemlagen. Hier soll 2018 bei einem schen Ansatz sehr unterscheiden. Sie ses. Die Regierung kommt den im Frie- dritten Seminar angeknüpft werden vereinigen sich deshalb unter dem densvertrag vereinbarten Verpfl ichtun- – dann auf Kuba, wo das nächste Motto »Einheit in der Vielfalt«. gen nicht nach. Vor allem geht das Mor- Treffen des Forum Sao Paul stattfi n- In Marseille trafen sich VertreterIn- den weiter, fi ndet aber kaum Beachtung. den wird. Katharina Tetzlaff

DISPUT Dezember 2017 21 AFRIKA Aufbrechende Konfl ikte Kamerun ist tief gespalten. Die Forderung nach einer unabhängigen Republik Ambazonien im Nordosten wird laut VON KATRIN VOSS

ie Situation in Kamerun spitzt britische und eine französische Ver- sich dramatisch zu. Dennoch waltung wirkt bis heute. Sie ist die D wird dem Land kaum Auf- Grundlage für die Konfl ikte. merksamkeit in Deutschland ge- In Kamerun leben rund 24 Millio- schenkt. Das verwundert, war doch nen Menschen. Die frankophone Be- Kamerun Teil des deutschen Koloni- völkerungsmehrheit dominiert die alreiches. anglophonen Bevölkerungsteile, und Durch die 1884 geschlossenen die Spaltung zwischen beiden Teilen Grenzverträge zwischen den Briten vergrößert sich ständig. So ringt die und Franzosen mit dem deutschen Bevölkerung aus dem englischen Teil Kaiserreich wurde Kamerun zur seit Jahren um gleichberechtigte Aner- deutschen Handelskolonie. Bereits kennung. Immer wieder wird der Zen- lange vorher sicherten sich deutsche tralregierung vorgeworfen, die eng- Handelsvertretungen mit großange- lischsprachigen Landesteile schlech- legten Kakao-, Zuckerrohr- und vor ter zu behandeln. Dahinter verbirgt allem Kautschukplantagen begehrte sich ein tiefer Konfl ikt, der sich in ge- Güter für den deutschen und euro- waltsamen Aktionen entlädt und in päischen Markt. Dazu vertrieben die der jüngsten Forderung nach einer Kolonisatoren die einheimische Be- unabhängigen anglophonen Republik völkerung, mit Zwangsarbeit ließen den des heutigen Kameruns bei einer Ambazonien mündet. Ökonomischer sie die Infrastruktur für den Han- Volksabstimmung gegen die Zugehö- Hintergrund ist, dass der anglophone del schaffen. Aufstände schlugen sie rigkeit zur ehemaligen britischen Teil reich an Bodenschätzen ist. blutig nieder und an Kamerunern, Kolonie, dem heutigen Nigeria. Der die den deutschen Interessen zuwi- Landstrich schloss sich der ehemali- derlaufende Ziele verfolgten, ließen gen französischen Kolonie, dem heu- Diktatur sie blutige Exempel statuieren. Nach tigen Kamerun an. Das Land ist seit dem ersten Weltkrieg wurde Kame- dieser Zeit gespalten: in einen größe- Der 84-jährige Präsident Paul Biya, run im Zuge des Versailler Vertrags ren französischsprachigen Teil mit et- der aus dem frankophonen Landes- und im Namen des Völkerbunds un- wa 80 Prozent der Bevölkerung und teil stammt, führt Kamerun seit 35 ter britische und französische Ver- in einem kleineren englischsprachi- Jahren mit fester Hand. Er ist erst der waltung gestellt. gen Teil mit circa 20 Prozent der Bür- zweite Präsident Kameruns seit der Mit der Unabhängigkeit 1960 ent- ger. Beide Sprachen sind offi zielle Unabhängigkeit und ein Diktator mit schied sich ein kleiner Teil im Nor- Amtssprachen. Die Teilung in eine demokratischem Schein. Durch Ver- fassungszusätze wurden Amtszeitbe- grenzungen in Kamerun aufgehoben, Ein Bild aus besseren Tagen: Marsch zum Tag der Jugend im britischen Teil Kameruns – so dass Biya 2011 seine sechste Amts- bevor das Schulsystem durch den Streik der Lehrer zusammenbrach Fotos: privat periode antrat. Immer wieder wur- den gegen ihn Vorwürfe wegen Wahl- betrugs erhoben. Während seiner Amtszeit schuf Biya ein juristisches und politisches System, das dem eigenen Machter- halt dient. Bestechung, Repression und Manipulation der öffentlichen Meinung sind an der Tagesordnung. Oppositionelle Gruppen werden systematisch diffamiert und unter- drückt. Deshalb kann keine bedeu- tende organisierte Linke entstehen, und DIE LINKE hat dort keine offi zi- elle Partnerpartei. Kritisieren Kunstschaffende, Intel- lektuelle oder Journalisten den Prä-

22 DISPUT Dezember 2017 NIGERIA TSCHAD

ZENTRAL KAMERUN AFRIKANISCHE REPUBLIK

ATLANTIK Yaoundé sidenten, müssen sie mit Repressa- bieten gewaltsam. Beobachter spre- lien oder Verurteilungen rechnen. ÄQUATORIAL KONGO chen von einer zunehmenden Radi- Vor kurzem hatte eine Moderatorin GUINEA kalisierung. Immer mehr Menschen des Fernsehsenders Canal 2 einen GABUN sterben oder werden verletzt durch Vertreter der Unabhängigkeitsbe- Explosionen kleiner selbstgebastel- wegung der englischsprachigen Pro- ter Sprengsätze. Gleichzeitig nimmt vinzen Kameruns eingeladen. Der die polizeiliche Gewalt zu. In den Minister für Kommunikation mach- betroffenen Provinzen werden Aus- te der Moderatorin danach folgen- gangssperren verhängt. Augenzeu- des klar: »Wenn Sie die Sezessionis- KAMERUN gInnen berichten, dass Geisterstäd- ten hier zu Wort kommen lassen, wer- te entstehen. Die Ausgangssperren den Sie bald nicht mehr da sein!« Auf werden wöchentlich an zwei bis drei die Frage der Moderatorin, ob das ei- Tagen verhängt, an denen Geschäfte ne Drohung sei, antwortete er: »Nein, Kamerun ist ein an Erdöl und Bo- und Behörden geschlossen bleiben ich sage Ihnen nur, was Sie zu tun ha- denschätzen reiches Land. Als und der Nahverkehr lahm liegt. Das ben. Wenn die Sezessionisten in Ih- Folge der globalen Wirtschafts- soziale und wirtschaftliche Leben des rem Sender reden dürften, dann wer- und Finanzkrise litt es an enor- ganzen Landes ist beeinträchtigt. Mi- de ich ihn schließen.« men wirtschaftlichen Einbußen, litär und Polizei sind sehr präsent, Wie problematisch die Lage ist, vor allem durch den Einbruch des was nicht zu einer Deeskalation der zeigt auch das Justizwesen. In den Ölpreises. Durch den anhaltenden Situation beiträgt. Verhandlungen englischsprachigen Regionen wird Export von Holz, Kakao und Baum- werden von staatlicher Seite abge- das britisch geprägte Gewohnheits- wolle blieb Kamerun jedoch wirt- lehnt. Ebenso ist internationale Hilfe recht »Common Law« angewandt, im schaftlich relativ stabil. Deutlich nicht erwünscht. frankophonen Teil der französische hemmender für die wirtschaftli- »Code Civil«. In den vergangenen che Entwicklung ist die hohe Kor- Jahren drängten zunehmend franzö- ruptionsrate. Kamerun belegte ei- Boko Haram sischsprachige Anwälte in die anglo- nen der letzten Plätze im interna- phonen Gebiete. Verhöre und Prozes- tionalen Vergleich des Corruption Zu diesen Konfl ikten kommen Bedro- se wurden, trotz nicht vorhandener Perceptions Index, der für Korrup- hungen durch sunnitische Extremis- Sprachkenntnisse der Angeklagten tion im öffentlichen Sektor steht. ten der Boko Haram im Norden des und ohne Übersetzung, in franzö- Landes. Sie sind im nördlichen Nach- sisch abgehalten. Es liegen bis heu- barland Nigeria aktiv und agieren te keine Übersetzungen des französi- zunehmend auch in Kamerun. Die schen Rechts ins Englische vor. Da- Destabilisierung der nördlichen Regi- mit hat die anglophone Bevölkerung Nach mehrtägigen, zum Teil har- on spielt den Extremisten in die Hän- keinen gesicherten Zugang zu ihren ten Gewaltzusammenstößen im De- de. Hinzu kommen viele Flüchtlinge Rechten. Dies führte in der Vergan- zember 2016, kam es zu einer Beru- aus Nigeria nach Kamerun, um sich genheit zu vielen falschen Rechtspre- higung mit der Hoffnung auf einen vor Boko Haram zu schützen. chungen und entsprechendem Un- Dialog zwischen den Streikführern Kamerun muss dringend zu demo- mut. Anglophone Anwälte traten be- und der Regierung. Anfang Januar kratischen Strukturen zurückfi nden. reits im Oktober 2016 in den Streik, 2017 nahm die Regierung die Streik- Ein alleiniger Austausch von Präsi- um auf die bestehende Situation auf- führer aber fest und lehnte ein Ge- dent Biya durch andere Vertreter der merksam zu machen. Diesem Streik spräch über eine politische födera- bisherigen politischen Elite – ähnlich schlossen sich die anglophonen Leh- le Alternative grundsätzlich ab, was wie in Zimbabwe beobachtbar – wird rer im November an – seitdem sind mit großem Unverständnis aufge- nicht ausreichend sein. Die derzeiti- die Schulen dort geschlossen. In den nommen wurde und eine Weiterfüh- ge Dynamik der Konfl ikte in Kame- Schulen spitzte sich die Situation zu. rung der friedlichen Streiks zur Fol- run ist enorm. Jedoch zeigt sich die Der Staat entsandte frankophone ge hatte. politische Elite wenig verhandlungs- Lehrer, die ausschließlich in franzö- Bis Mitte 2017 waren die Proteste bereit und reagiert mit Repressalien, sisch unterrichten. Die betroffenen gegen die Dominanz der frankopho- was zu einer Verschärfung des Kon- Schülerinnen und Schüler konnten nen Bevölkerung überwiegend fried- fl iktes führt. Die internationale Ge- dem Unterricht nicht mehr folgen lich. In jüngster Zeit entlädt sich die meinschaft ist gefragt, vermittelnd und Prüfungen nicht ablegen. Frustration in den anglophonen Ge- einzugreifen.

DISPUT Dezember 2017 23 PRESSEDIENST

erarbeiten. Neue Lan- StellvertreterInnen für die desvorsitzende der Bre- neue Doppelspitze wur- mer LINKEN ist Cornelia den Susanne Krone, Björn Barth. Sie folgt auf Doris Griese und Dirk Bruhn be- Achelwilm, die nach ihrem stimmt. Gabi Göwe wurde Frigga Haug Foto: Argument-Verlag Wechsel in den Bundes- als Landesschatzmeisterin tag nicht erneut kandidiert im Amt bestätigt. Weitere hat. Als Landessprecher Landesvorstandsmitglie- ▀ ▀ Zum 80. Geburtstag: attraktiver gemacht wer- wurde Felix Pithan im Amt der sind Waltraud Bauer, Frigga Haug, eine der be- den, etwa indem bei Ver- bestätigt, ebenso Birgit Jacqueline Bernhardt, Ni- deutendsten marxistisch- anstaltungen auf familien- Menz als Schatzmeisterin co Burmeister , Marcel Eg- feministischen DenkerIn- freundliche Zeiten geach- und Tim Ruland als stell- gert, Margit Glasow, Eva- nen der Gegenwart, ist tet wird. Außerdem wur- vertretender Landesspre- Maria Kröger, Armin Laten- am 28. November 80 Jah- den auf dem Parteitag cher. Außerdem wurden dorf , Thomas Möller, Gud- re alt geworden. Katja Kip- Saskia Jürgens, Emre Ece- Katrin Malek, Maja Tege- run Pach, Daniel Seiffert, ping würdigt die Clara-Zet- vit und Lukas Bimmerle in ler, Heidemarie Schröder, Daniel Trepsdorf und Car- kin-Preisträgerin des Jah- den Landesvorstand nach- Medine Yildiz, Ingo Teb- men Ziegler. res 2013 in einem Beitrag gewählt. je, Christoph Spehr, Maz- der Tageszeitung »neues lum Koc und Michael Horn ▀ ▀ Saarland: Neuer Vor- deutschland«: »Von Frig- ▀ ▀ Bremen: DIE LINKE in den Landesvorstand ge- sitzender der saarländi- ga habe ich auch gelernt, in Bremen hat bei ihrem wählt. schen LINKEN ist Jochen dass schon bei der Frage- Landesparteitag im No- Flackus, der auch Ge- stellung die Weichen in die vember die Streichung der ▀ ▀ Mecklenburg-Vor- schäftsführer der Links- falsche Richtung gestellt Schuldenbremse aus der pommern: Wenke Brüd- fraktion im Saarbrücker werden können. Es reicht Bremischen Landesverfas- gam und Torsten Koplin Landtag ist. Die bisherige nicht allein zu fragen ›Was sung und zusätzliche In- wurden auf dem Landes- Landesvorsitzende Astrid ist? Sind die Menschen da- vestitionen ins Bildungs- parteitag in Neubranden- Schramm hatte beim Lan- für oder dagegen?‹. Ein- system gefordert. Zur in- burg zu neuen Landes- desparteitag im November greifendes Denken und haltlichen Vorbereitung vorsitzenden der LINKEN in Völklingen nicht erneut Handeln beginnt mit den der Bürgerschaftswahlen in Mecklenburg-Vorpom- kandidiert, der bisherige Fragen: Was soll sein und 2019 will DIE LINKE eine mern gewählt. Die bisheri- Landesschatzmeister Tho- was können wir tun, damit Reihe von Foren fortset- ge Landesvorsitzende, die mas Lutze ebenfalls nicht. es so wird?« Den vollstän- zen, in denen Mitglieder Bundestagsabgeordnete Zu seinem Nachfolger digen Text fi nden Interes- mit ExpertInnen Grundla- Heidrun Bluhm, hatte nicht wählten die Delegierten sierte unter www.neues- gen für ein Wahlprogramm wieder kandidiert. Als Manfred Schmidt. Stellver- deutschland.de.

▀ ▀ Baden-Württem- berg: Der Landespartei- tag der baden-württem- bergischen LINKEN hat mit Blick auf die Kommu- nalwahlen 2019 ein Auf- gabenpapier für 2018 be- schlossen, in dem unter anderem Maßnahmen zum Parteiaufbau vor allem im ländlichen Raum vorgese- hen sind. Um den Anteil der Genossinnen in Ba- den-Württemberg von jetzt 26 Prozent zu erhöhen, soll die Partei für Frauen

24 DISPUT Dezember 2017 DAS KLEINE BLABLA

tretende Vorsitzende sind Doreen Amberg , Patrick Barbara Spaniol, Patricia Beier, Lissy Bott, Georg Schumann und Andreas Kuh Buder, Cordula Eger, Do- Neumann. Zum Landesge- vom Eis ris Feuerbach, Katja Klei- schäftsführer wurde Leo menhagen, Daniel Starost Stefan Schmitt gewählt, und Michaele Sojka. In Landesschriftführerin ist den Landesvorstand wie- Michaela Both. Weitere ie Winterzeit beschwört immer wieder dergewählt wurden Sabi- Mitglieder des Landesvor- heimelige Bilder aus Kindertagen herauf: ne Berninger, Sascha Bilay standes sind Andrea Neu- Vierschanzentournee mit Jens Weißfl og Markus Gleichmann, Mario mann, Conny Kreuter, Vio- (der Name war Programm) und Eiskunst- Hesselbarth, Angela Hum- la Dörr, Vera Geisinger, Evi- lauf mit dem »schönsten Gesicht des So- mitzsch und Arif Rüzgar. ta Klaas, Gabriele Ungers, Dzialismus« Katarina Witt. Draußen schneit es und Karin Kiefer, Peter Kessler, dank moderner Technik läuft Katis Kür über den Be- ▀ ▀ Bayern: Die Lan- Heinz Bierbaum und Elmar amer wohnzimmerwandgroß – zum Frühstück gibt desgeschäftsstelle der Seiwert. es Kakao und Plätzchen, im Radio die Nachrichten LINKEN in Bayern ist mit und ich höre: »…nachts um 2 Uhr hatten wir dann dem Preis »Barrierefrei- ▀ ▀ Schleswig-Hol- die Kuh vom Eis!« Unsicher schaue ich zur Wohnzim- heit – das muss drin sein« stein: Beim Landespar- merwand … der Bundespartei ausge- teitag in Itzehoe hat DIE »Die Kuh vom Eis haben« ist eine Redewendung von zeichnet worden. Landes- LINKE Schleswig-Holstein weit vor Erfi ndung der Rinderoffenställe und meint, geschäftsführer Max Stei- die Landesvorsitzenden dass man eine schwierige Lage entschärft, einen ninger: »Unser Eingangs- Marianne Kolter und Lo- Kompromiss gefunden hat, der – im Gegensatz zum bereich hat zwei Stufen. renz Gösta Beutin sowie Eis – tragfähig ist. In der Politik gern genutzt, wenn Damit auch mobilitätsein- Landesschatzmeister Rai- sich nach stundenlangen Verhandlungen ein Weg geschränkte Menschen zu ner Konrad Bachmann im offenbart, der für alle gangbar ist. uns kommen können, ha- Amt bestätigt. Neue im Darüber hinaus impliziert die Formulierung die ben wir uns eine mobile Landesvorstand sind der Schwere der Verhandlung, den harten Weg zur Lö- Teleskoprampe zugelegt. jugendpolitische Spre- sung. Denn eine Kuh ist schwer – es wird behaup- Außerdem konnten wir mit cher Sebastian Todt sowie tet, man könne Kühe nicht mal umschubsen – und dem Vermieter vereinba- Claudia Hoffmann, Kers- wenn eine Kuh steht, dann steht sie. Und steht. Und ren, dass eine der beiden tin Schöneich und Thomas steht. Wenn eine Kuh bei Massentierhaltung (eine Toiletten barrierefrei um- Möhring. Bestätigt wurden Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe) auf den und breitere Türen einge- Gabriele Ritter, Sebastian zugefrorenen Weiher läuft, kann man sagen, man baut wurden. Borkowski, bislang jugend- wartet auf den Frühling – dann löst sich das schon. politischer Sprecher, und War aber in früh-bäuerlicher Zeit die Kuh gleich DIE ▀ ▀ Nordrhein-West- Stefan Karstens EINE Kuh, dann hatte man ein ernstes Problem, weil falen: Das Landesverfas- vielleicht das Überleben davon abhing. sungsgericht NRW hat im ▀ ▀ Thüringen: Die De- Ich mag dieses Bild, auch weil es so simpel und ir- November nach der Kla- legierten des Landespar- gendwie friedlich daher kommt. Klar kann man Situ- ge der LINKEN und ande- teitags der LINKEN Thü- ationen auch »entschärfen« – aber da schwingt po- rer die Sperrklausel von ringen in Ilmenau im No- tentiell Gewalt mit. Da ist die Dorfgemeinschaft, die 2,5 Prozent bei Kommu- vember haben die Lan- kollektiv versucht, mit einem dicken Strick die Ge- nalwahlen gekippt. »Das desvorsitzende Susanne scheckte vom Eis zu bekommen, sehr viel stimmiger Urteil ist eine Klatsche für Hennig-Wellsow, ihre Stell- – und stimmungsvoller. Und damit: Eine besinnliche SPD, CDU und Grüne im vertreter Steffen Dittes Zeit »zwischen den Jahren«. Landtag, die nicht belegen und Bernd Fundheller so- konnten, wieso eine Ein- wie Landesgeschäftsführe- Daniel Bartsch schränkung der politischen rin Anke Hofmann-Domke Rechte der Bürgerinnen und Landesschatzmeister und Bürger in den Kom- Holger Hänsgen im Amt munen gerechtfertigt ist«, bestätigt. Neue Mitglieder DISPUT stellt sich allmonatlich den Sprechblasenfragen sagte der Landessprecher im Landesvorstands sind unserer Zeit. Dafür die kleine Sprachglosse. der LINKEN Christian Leye.

DISPUT Dezember 2017 25 GESCHICHTE Die »Rote Kapelle« Am 22. Dezember 1942 ließ das Hitler-Regime in Berlin-Plötzensee die ersten elf Mitglieder einer breiten antifaschistischen Widerstandsorganisation ermorden VON RONALD FRIEDMANN

ie Hinrichtungen an diesem kämpfer zu verraten, und mindes- lichkeit. So wurde im Februar 1942 22. Dezember 1942 waren ex- tens vier weitere Widerstandskämp- eine Flugschrift mit dem Titel »Die D akt geplant: Zwischen 19.00 fer wurden ohne Prozess ermordet. Sorge um Deutschlands Zukunft geht und 19.20 Uhr wurden Rudolf von Die Mitglieder dieser informellen durch das Volk« in mehreren hundert Scheliha, Harro Schulze-Boysen, Ar- antifaschistischen Organisation ge- Exemplaren per Post an zufällig aus- vid Harnack, Kurt Schumacher und hörten verschiedenen, ja gegensätzli- gewählte Empfänger innerhalb Ber- John Graudenz im Vierminutentakt chen sozialen Schichten an und ver- lins versandt. In der sechsseitigen erhängt. Bereits am 15. Dezember traten sehr unterschiedliche weltan- Schrift, die von Harro Schulze-Boy- 1942, dem Tag des Prozessauftaktes, schauliche Positionen. Unter ihnen sen, einem Offi zier im sogenannten war auf persönliche Anweisung Hit- gab es Intellektuelle, Ministerialbe- Luftwaffenführungsstab, und John lers im Hinrichtungsraum des Ge- amte, Künstler und einfache Arbei- Sieg, einem Kommunisten, gemein- fängnisses in Berlin-Plötzensee ein ter. Sie alle einte die grundsätzli- sam verfasst worden war, hieß es un- Stahlträger mit Fleischerhaken ange- che Ablehnung von Faschismus und ter anderem: »Ein Endsieg des nati- bracht worden, um entgegen den bis Krieg. onalsozialistischen Deutschland ist dahin geltenden gesetzlichen Bestim- nicht mehr möglich. Jeder kriegsver- mungen Todesurteile durch Erhän- längernde Tag bringt nur neue unsag- gen als besonders »entehrende« Stra- Flugschrift bare Leiden und Opfer. Jeder weite- fe vollstrecken zu können. Zwischen verschickt re Kriegstag vergrößert nur die Ze- 20.18 und 20.33 Uhr starben Horst che, die am Ende von allen bezahlt Heilmann, , Kurt Schulze, Zunächst beschränkte sich ihr Wir- werden muss.« Und: »Das deutsche Ilse Stöbe, Libertas Schulze-Boysen ken auf offene Diskussionen im klei- Volk braucht eine sozialistische Re- und im Drei- nen Kreis über künstlerische und gierung der Arbeiter, der Soldaten minutentakt unter dem Fallbeil. weltanschauliche Fragen, über die und der werktätigen Intelligenz. Nur Die elf an diesem Tag Ermordeten politische Lage und die Entwicklung durch das entschlossene Zusammen- hatten zu einem losen Zusammen- in Deutschland sowie die Perspekti- gehen der volksverbundenen Kräfte schluss von mehreren antifaschisti- ven für die Zeit nach dem Ende der in der Wehrmacht mit den besten Tei- schen Gruppen gehört, die – unab- Hitlerdiktatur. Sehr bald nahm der len der Arbeiterklasse und der Intel- hängig voneinander – bereits seit Widerstand konkretere Formen an. ligenz kann der herrschenden Partei 1933 auf unterschiedliche Weise Wi- Es entstanden Dokumentationen, in das Heft aus der Hand gerissen wer- derstand gegen das Naziregime ge- denen akribisch Informationen über den.« leistet hatten. Unter dem Eindruck die Verbrechen des Naziregimes ge- Die Geheime Staatspolizei, die des begonnenen Zwei- Gestapo, bezeichnete dieses ten Weltkriegs und der Netzwerk als »Rote Kapelle«. akut drohenden Gefahr Man ging in der Prinz-Alb- eines Krieges gegen die recht-Straße fälschlicherwei- Sowjetunion fanden se davon aus, dass das Berli- diese Gruppen in den ner Netzwerk Teil einer um- Jahren 1940 und 1941 fassenden sowjetischen Spi- auf der Grundlage per- onageorganisation war, die sönlicher, von großem sich bis weit nach Westeuro- gegenseitigem Vertrau- pa erstreckte. Tatsächlich hat- en getragener Kontakte ten und Harro schrittweise zusammen Schulze-Boysen wichtige mili- und bildeten schließ- tärische Informationen an lich ein antifaschisti- den sowjetischen Nachrich- sches Netzwerk, das et- tendienst weitergegeben, so wa 150 Personen um- den bevorstehenden Termin fasste, unter ihnen sehr viele Frau- sammelt wurden, und es wurde Hil- des deutschen Überfalls auf die Sow- en. Mehr als 70 von ihnen bezahlten fe für politisch und rassisch Verfolgte jetunion. Doch sie taten das nicht als ihren Mut mit dem Leben: Bis zum organisiert. Vor allem jedoch wand- »gedungene Vaterlandsverräter«, son- Herbst 1943 wurden 65 Todesurteile ten sich die Mitglieder des Netzwer- dern als Patrioten, die ihr Land vor vollstreckt, vier Männer begingen in kes nun auch mit Flugblättern, Kle- dem drohenden Untergang bewahren der Haft Selbstmord, um keine Mit- bezetteln und Briefen an die Öffent- wollten.

26 DISPUT Dezember 2017 FEUILLETON

ie Mannschaft, die mit schwarz-gelb-grünen Wimpeln zur Suche ei- nes Seeweges nach Ja- maika aufbrach, wurde Dkurz vor dem Ziel gestoppt. Nicht, weil ein Felsenriff im Weg stand. Nein, weil der Leiter der gelben bekam ich deren Warnung in meine Haftung für die Kredite lahmer EU- Reisegruppe plötzlich auf die Kom- Kabine.« Staaten! Keinen Tempo-Ausstieg mandobrücke sprang, eine Admi- Nun fragte eine grüne Lady entsetzt: aus Atom- und Kohlestrom. Keinen ralsmütze aufsetzte und rief: »Mal »Steht der Kerl unter Drogen?« Wor- übereilten Klimaschutz mit Prä- herhören, Leute! Die Fahrt ist be- auf der selbsternannte Admiral seinen mien für Elektro-Karren. Ich sage: endet. Wir kehren um!« Ego-Trip wie folgt begründete: »Wie Besser nicht als falsch regieren!« Das löste unter den schwarzen wir alle spüren, sind wir von Herbst- Zwischenruf: »Haben Sie das im und grünen Mannschaftsteilen zu- stürmen umzingelt: Bankenkrisen, Weißen Haus bei Herrn Trump ab- nächst einen Schock und dann lau- Handelsschlachten, schlimme Ener- geschrieben oder beim Siemens- te Empörung aus: »Wie kommt der gie- und Klimaprognosen, Terrorak- Vorstand und der Auto-Mafi a, die gelbe Wackel-Dackel dazu, unser te, Kriege und 60 Millionen Menschen uns Knüppel zwischen die Beine Schiff zu stoppen? Wer gab dem auf der Flucht. Dazu immer mehr werfen?« Worauf der Admiral sei- die Admiralsmütze?« Großfrachter aus China, soziale Re- ne Mütze gerade rückte und rief: Worauf der Mann rief: »Diese Müt- volten an allen Ufern und falsche Zu- »Ich sage ihnen, was ich im Wei- ze haben mir unsere Wähler ver- geständnisse in allen Zeitungen. Aber ßen Haus gehört habe: ›Wir brau- liehen. Wir sind doch die Einzigen, hier an Bord spielen wir mit Windrä- chen keine linken Utopien aus Eu- die hier mit einem Wahlsieg an dern, versenken wir Dieselautos, hö- ropa, sondern eigene Garantien, Bord kamen!« ren wir Märchen aus vergangenen dass die Globalisierung unsere na- »Na schön«, rief man ihm zu, »dann Zeiten, und unsere Steuerfrau singt tionalen Interessen bedient. Dafür hätten sie den Kahn ja auch gera- uns ihr Schlafl ied vom ›Weiterso‹! die klügsten Köpfe, schnellsten IT- deaus weitersteuern können. Oder Das geht nicht! Davon profi tiert doch Netze und stärksten Waffen. Sonst waren ihnen die Grünen zu grün?« das Linksbündnis, das uns im Nacken müssen wir alle eines Tages chi- »Unsinn!«, sagte der Bremsklotz. sitzt! Der Kurs muss geändert werden, nesisch lernen!‹ So hört sich das »Die schwarzen Brüder steuerten sonst siegen die Braunen als Retter in Washington an. Drum sage ich: doch genauso blind in die falsche der Nation!« Ohne mich! Gute Heimfahrt. Mein Richtung.« Da fragten die anderen ratlos: »Kurs- Hubschrauber bringt mich gleich »Soso! Und wer sagt, dass wir alle wechsel – wohin denn und mit wem?« nach Florida!« den falschen Kurs steuern?« »Na nach rechts, wo unsere Freun- Nun mussten sich einige Passagie- »Ich sage das – in Übereinstim- de stehen! Aber erst mal Ballast ab- re an der Reling übergeben. Aber mung mit unseren amerikanischen werfen: das kam wohl aus dem Vorgefühl Freunden, deren U-Boote uns üb- Die Reichensteuer muss von Bord! künftiger Debatten zur Großen Ko- rigens seit Guantanamo in Tauch- Der ›Soli‹ gleich hinterher. Keine alition, die ja doch immer wie eine fahrt begleiten! Vor einer Stunde Schulden für Sozialausgaben! Keine Beisetzung der Demokratie wirkt.

JENS JANSEN

Illustration: Ale Sund Abenteuer auf hoher See

DISPUT Dezember 2017 27 LEIDENSCHAFT Der Sammler Tobias Bank hat eine ungewöhnliche Passion: Er organisiert Ausstellungen mit Dingen aus der DDR und macht so neugierig auf ein untergegangenes Land VON ANJA KRÜGER

ls er seine erste Ausstellung 2006 organisierte er eine erste der Ausstellungen kommen aus Neu- organisiert hat, hatte er ge- öffentliche Ausstellung. Sie fand im gier auf ein untergegangenes Land, A rade die Grundschule hinter Museum in Ketzin im Havelland statt. das ständig Gegenstand von Diskus- sich. Seit 20 Jahren trägt Tobias Bank 1999 war er von Berlin nach Branden- sion ist.« Ihm geht es darum, die Aus- Gebrauchsgegenstände, Plakate, Or- burg gezogen, wo er noch immer lebt. einandersetzung mit Themen anzu- den und Abzeichen zusammen, die er Weitere Ausstellungen folgten, ein regen. Themenausstellungen hat er regelmäßig der Öffentlichkeit präsen- bis zwei im Jahr organisiert er mitt- unter anderem zu politischen Plaka- tiert: Der 32-Jährige sammelt mit gro- lerweile. Sie drehen sich stets um ein ten (»Landwirtschaft – 20 Jahre Bo- ßer Leidenschaft Dinge aus der DDR. Thema oder einen Werkstoff wie Por- denreform«), Spielzeug, Orden, Me- Geweckt wurde diese Passion, als zellan, das für Medaillen oder Vasen daillen und zum Arbeitsschutz in der in seiner Ost-Berliner Grundschule verwendet wurden, die etwa für Jubi- DDR zusammengestellt. Die TU Dres- große Lineale, Malfarben und etliche läen wie »Fünf Jahre deutsch-sowjeti- den hat sich die Schau zum Arbeits- andere Lehrmaterialien auf die Flu- sche Freundschaft« an Betriebe oder schutz ausgeliehen und in eine große re gestellt wurden. »Die Lehrer ha- Arbeitskollektive vergeben wurden. Ausstellung über die ostdeutsche Ar- ben alles aussortiert, was nach DDR Heute sucht er auch im Internet. Mit- beitsgesellschaft integriert. Sehr er- aussah«, erinnert er sich. Die Sachen unter bekommt er auch Spenden von folgreich, gemessen an der Zahl der sollten weggeworfen werden, obwohl Genossinnen und Genossen, die ihre BesucherInnen, war auch sein Pro- sie noch brauchbar waren. Tobias liebgewonnenen DDR- jekt zu Plastik-Tüten aus der DDR. Bank entdeckte in den Bergen Produkte nicht weg- Um eine Ausstellung auf die Bei- eine große Rolle mit dem Text ne zu stellen, braucht er etwa neun des »Pioniermarschs«, einem Monate. Plakate müssen gerahmt, Ge- Kinderlied mit der Anfangszei- genstände angeordnet und beschrif- le »Wir tragen die blaue Fah- tet werden. Er bereitet auch Führun- ne«. Er fragte den Hausmeis- gen und Vorträge vor. Tobias Bank ter, ob er die Rolle mitnehmen hat in Potsdam Geschichte sowie Po- durfte. Der verwies ihn an litik- und Verwaltungswissenschaf- den Schuldirektor. »Ich durf- ten studiert. Schon während des Stu- te die Rolle mitnehmen, aber diums hat er angefangen, in der Bun- es niemandem sagen«, berich- destagsfraktion der LINKEN zu ar- tet Tobias Bank. Versteckt un- beiten. Heute ist er dort Referent für ter seiner Jacke brachte er Kommunalpolitik. Er ist auch selbst die Rolle nach Hause. kommunalpolitisch aktiv. Seit fast In den frühen 90-er Jah- zehn Jahren ist er in der Wustermar- ren stand viel Inventar aus ker Gemeindevertretung aktiv, mitt- Wohnungen, Einrichtun- lerweile ist er dort Vorsitzender der gen und Betrieben der Deut- Linksfraktion. Außerdem ist er ein schen Demokratischen Re- sehr aktiver Vertreter der LINKEN im publik auf den Straßen Ost-, werfen möchten. Kreistag Havelland. Zu seinen kom- das niemand mehr haben wollte. To- »Oft wissen sie nicht, munalpolitischen Forderungen gehö- bias Bank fand dort etliches, was er wohin mit ihren al- ren die nach Aufforstung, mehr Grün viel zu schade zum Wegwerfen fand. ten Schätzen«, sagt und sozialem Wohnungsbau im Ge- Dann begann er, auf Trödelmärkte er. Sie freuen sich, meindegebiet. Das passt gut zu dem zu gehen. Auch dort fand er Orden, jemanden gefunden Ausstellungsprojekt, an dem er zur- Gebrauchsgegenstände, Fahnen, Me- zu haben, der die zeit arbeitet: Landwirtschaft und Na- daillen, Vasen oder Wimpel. Seine Dinge zu würdigen turschutz in der DDR. erste Ausstellung, die in einem pri- weiß. Ein Objekt hat es Tobias Bank be- vaten Raum bei seiner Großmutter »Es geht nicht um sonders angetan. Gregor Gysi hat ihm in Storkow stattfand, kreiste um das Nostalgie«, betont zu einer Ausstellungseröffnung eine Thema deutsch-sowjetische Freund- er. »Die Besucherin- 30 Zentimeter Marx-Engels-Figur aus schaft und zeigte vor allem Auszeich- nen und Besucher Porzellan mitgebracht. nungen. »Das ist gut angekommen, und das hat mich ermuntert, weiter Kontakt zu Tobias Bank: zu sammeln«, sagt er. Foto: Anja Krüger [email protected]

28 DISPUT Dezember 2017 NEU IM KINO

Antikapi- talismus plus Laut- stärke: Die Geburt erschaffen die Welt, in der wir leben des Queer- wollen«, wie es dort heißt. punk in Ein Ansatz, der sich auch in viel den 1980- bekannteren Genres wie der Riot- er Jahren Grrrl-Bewegung und dem Grunge Foto: wiederfand, wie ihn zum Beispiel Desire Pro- Kurt Cobain und Nirwana in Sze- ductions ne setzten. Ideen aus den frühe- ren neunziger Jahren, die heu- te noch radikal wirken, vor allem, wenn man die Dominanz glattge- bügelter Balladen in der Pop-Musik betrachtet. »Es geht nicht darum, gesellschaftlich akzeptiert zu wer- den oder politisch korrekt zu sein«, sagt Regisseur Leyser. Queercore ▀ Queercore – How to Punk a »Queercore« nennt er das neue Gen- sei nicht trotz der Abseitigkeit, Revolution re. Es besteht aus Gitarre, Bass, sondern wegen ihr noch heute vol- Die Grenze verläuft nicht zwischen Schlagzeug, Gebrüll – und Sex und ler Kraft und Relevanz. den Völkern, sondern zwischen Crossdressing. Erste Fingerübungen Wie alles bekam auch diese Kultur oben und unten. Genauer: mitten zusammengewürfelter Musiker fi nden irgendwann ihre Probleme: Der ei- durch den Körper. So jedenfalls in einem Treff für Taubstumme statt. ne Flügel kommerzialisierte sich fühlt sich der junge Aktivist und Antikapitalismus plus Lautstärke – so in Werbekampagnen, der andere Filmemacher Bruce LaBruce im könnte der Stil von »Queercore – How grenzte sich hermetisch ab, lande- heimeligen Toronto. Der Künstler to Punk a Revolution«, dem hoche- te womöglich bei Selbstzensurdis- träumt von seinem Publikum – das motionalen Dokumentarfi lm des jun- kursen. es noch nicht gibt: Schwul und les- gen Regisseurs Yony Leyser lauten. Und es gibt die, die Kurs hielten: bisch und Transgender und Punk. Der Berliner Underground-Chronist er- Bruce LaBruce dreht nach wie vor Es ist 1980, und er liebt diese Mu- weist sich mit seinem neuen Film als Filme, die kaum ein Massenpubli- sik. Doch Punk ist auch nur Rock- akribischer Dokumentarist des Queer- kum fi nden, wenn ihm auch mitt- musik, schnell wird aus dem lauten punk. Leyser präsentiert seltene und lerweile ganze Ausstellungen ge- Ausbruch eine Machogeschichte. mitreißende Konzertmitschnitte, hat widmet werden. Punkrock mag die Homosexuellen Stars wie Beth Ditto und die Mitglie- »Nur wenige wissen von der fan- nicht, fi ndet LaBruce. Er beginnt, der der Bands Team Dresch, Bikini Kill tastischen post-modernen und queere Fanzines zu verlegen, ent- und Pansy Division interviewt. Sie alle revolutionä ren Bewegung, die vor wirft mit der Musikerin G.B. Jones eint das kreative Außenseitertum, dass 25 Jahre ihren Anfang nahm«, sagt eine Szene, in der es Widersprüche sie sich nicht mal ausgesucht haben. Leyser. Mit seinem Film mö chte er nicht gibt, die aggressive Energie Der Film ist ein Plädoyer für einen kre- diese Lü cke schließen. der Musik aber bleibt. ativen Umgang mit Widerständen: »Wir > Kinostart: 7. Dezember 2017

JÜRGEN KIONTKE

Außenseitertum

DISPUT Dezember 2017 29 KULTUR

ALS DICHTER VON DER REVOLUTION TRÄUMTEN

GELESEN VON CAROLA NEHER GEEHRT INGRID FEIX den Grundkompetenzen ge- hören, mit denen Kinder die Welt begreifen und erfassen In Berlin erinnert seit De- können. Umso wichtiger sei zember eine Gedenktafel es, dass diese Fähigkeiten an die Schauspielerin Ca- s ist der Traum von einer besseren Welt – »per- bei allen Kindern entspre- rola Neher (1900-1942), manente Mitbestimmung aller an allem« und chend gefördert werden. die seit 1926 mit Bertolt E Frieden für immer –, der in jenen November- Dazu brauche es mehr Per- Brecht zusammengear- tagen 1918 in Bayern Wirklichkeit werden sollte. sonal in Kitas und Schulen, beitet hatte und 1929 als Nach dem desillusionierenden Krieg, in einem kur- aber auch fl ächendeckend »Polly« in dessen »Dreigro- zen politischen Vakuum, wird ein Journalist und The- wohnortnahe Bibliotheken. schenoper« berühmt wur- aterkritiker zum Ministerpräsidenten einer »friedli- Das Bibliothekssterben dür- de. Carola Neher, die der chen Revolution«. Der glühende Redner und Träumer fe nicht weitergehen, das Kommunistischen Partei Kurt Eisner, ein »sozialistischer Märchenkönig«, ern- sei nicht nur eine Frage der nahestand, ohne ihr an- tet Beifallsstürme als er die bayerische Räterepub- Kultur, sondern auch der zugehören, mit anderen lik ausruft, auch bei Dichterkollegen wie Oskar Maria Demokratie. Künstlerinnen und Künst- Graf und Rainer Maria Rilke, Erich Mühsam, Ernst Tol- lern einen Aufruf gegen ler, Gustav Landauer und Gustav Regler. Jede Men- Hitler. Im darauffolgen- ge Ideen für eine neue menschliche Gesellschaft LOKALE TV-ANBIETER den Jahr ist sie in die So- tauchen auf. Das Eingeständnis deutscher Kriegs- wjetunion emigriert. Dort schuld soll der Beginn eines weltumspannenden Völ- wurde sie 1937 in einem kerfriedens werden, Geld, das nach einer bestimm- Die demokratischen Frak- Schauprozess als angebli- ten Frist »verfault«, soll das Finanzkapital abschaffen tionen des Brandenburger che Trotzkistin angeklagt und die Wirtschaft befl ügeln, Bildung und Erziehung Landtags haben einen ge- und zu zehn Jahren Arbeits- sollen von Anfang an den werdenden Menschen for- meinsamen Antrag einge- lager verurteilt. Ihr Mann men. Endlich soll das, was auch mit der Begeiste- bracht, mit dem lokale TV- wurde zum Tode verurteilt rung für die russische Revolution an Visionen von ei- Anbieter gestärkt werden und hingerichtet. Carola ner besseren Welt in Büchern, Schriften, Theaterstü- sollen. Lokale Fernsehsta- Neher starb nach fünf Jah- cken entworfen wurde, Realität werden. Aber nicht tionen würden einen wich- ren Lagerhaft an Typhus. alle teilen die Euphorie. Thomas Mann zum Beispiel tigen Beitrag zur Medien- Die Gedenktafel befi ndet betrachtet als »Unpolitischer« den »angeblichen Sieg und damit Meinungsvielfalt sich am Fürstenplatz 2. der Demokratie« als Witz und bangt zunächst um Le- leisten und zur Ausprägung ben und Besitz. Der Traum der Dichter, die die Macht von lokaler und regionaler übernahmen, dauert jedoch nur wenige Tage. Poli- Identität beitragen, heißt LESEFÄHIGKEIT SINKT tische Flügelkämpfe, antisemitische Vorurteile neh- es in einer Presseerklä- men überhand, Eisner fällt einem Attentat zum Opfer rung der medienpolitischen – die Räterepublik endet in einem Blutbad. Sprecherinnen und Spre- Die Internationale Grund- Der Politikwissenschaftler und Germanist Volker Wei- cher der LINKEN, der SPD schul-Lese-Untersuchung dermann hat aus zahlreichen Schriften, Erinnerun- und der Grünen. Ein vielsei- (IGLU) hat gezeigt, dass die gen und Tagebuchnotizen eine sehr lesenwerte atmo- tiger und qualitativ hoch- Lesefähigkeit von Grund- sphärische Fiktion jener Tage mit Sympathie für die wertiger Lokaljournalismus schulkindern in Deutsch- Träumer entworfen. benötige jedoch auch eine land sinkt. Waren es 2001 solide fi nanzielle Grundla- noch 16,9 Prozent der Kin- ge und Perspektive. Loka- der, die nicht richtig lesen le TV-Stationen arbeiteten konnten, waren es 2016 be- engagiert und mit Herzblut. reits 18,9 Prozent. Ganz Volker Weidermann Viele hätten jedoch fi nanzi- egal welche technologi- Träumer elle Probleme. »Dem muss schen Innovationen die Zu- Als die Dichter die Macht übernahmen gegengesteuert werden«, kunft auch bringen wird, Kiepenheuer & Witsch so Volkmar Schöneburg so Katja Kipping in einer 288 Seiten, 22 Euro (DIE LINKE). »Denn guter Stellungnahme, Lesen und Lokaljournalismus stärkt Schreiben werden immer zu die Demokratie vor Ort.«

30 DISPUT Dezember 2017 DEZEMBERKOLUMNE

ie WählerInnenschaft der hältern und befristeten Verträgen ein- LINKEN hat sich verändert. hergehen. LehrerInnen werden für die Sie wurde jünger, urbaner Schulferien entlassen, Wissenschaft- und akademischer – oder lerInnen an Hochschulen hangeln sich wie es die »taz« ausdrück- von einem Jahresvertrag zum nächsten D te: Sie wurde »hip«. Unter Erwerbslo- und gehen viele Jahre lang mit 1.400 sen hingegen stagnieren die Zahlen: Euro netto nach Hause. Weite Teile der Seit 2009 verlieren wir in dieser Grup- »lohnabhängigen Intelligenz« (Frank pe an Zustimmung. Die folgenden Zei- Deppe) sind mittlerweile proletarisiert. len sollen kein Beitrag zur Migrations- Obwohl es eine Angleichung der Le- politik sein, die manch eine und einer benslagen an jene der »klassischen« als Ursache ausgemacht hat. ArbeiterInnenklasse gibt, bleiben kultu- Kommentieren möchte ich aber die relle Abgrenzungen bestehen und neh- These, dass die neuen WählerInnenmi- men mitunter sogar zu. Denn der Neo- lieus jener klassischen Arbeiterklasse liberalismus hat die gesellschaftliche fern stünden, um deren Selbstemanzi- Konkurrenz ausgeweitet und den Druck pation DIE LINKE kämpft. Meine These zur beständigen Investition in die eige- dagegen lautet: Der Großteil jener »Lat- ne »Ich AG« für alle erhöht. Und natür- te Macchiato-Linken«, wie sie mitunter lich klammern sich daher einige aka- verächtlich genannt wird, ist genauso demisch Gebildete an ihr »kulturelles betroffen von Prekarität, Ängsten und Kapital« (Pierre Bourdieu) und grenzen Unsicherheit, kurz: von der »Abstiegs- sich nur allzu gerne von jenen »Prolls« gesellschaft« (Nachtwey), wie die »alte« ab, die eben keinen Gefallen an schi- Arbeiterklasse. cken Retro-Bars fi nden. So wird der ei- Die Zahl der Studierenden ist in den gene Selbstwert aufpoliert. Didier Eri- vergangenen 40 Jahren von 400 Tau- bon legt in seinen Schriften diesen Me- send auf 2,8 Millionen gestiegen: Be- chanismus offen. suchten 1970 nur 11 Prozent eines Doch zeigt nicht gerade der Zustrom Jahrgangs die Hochschule, sind es heu- zur LINKEN das wachsende Bedürfnis te 56 Prozent, Tendenz steigend. Rich- in diesem Milieu, eben jene Spaltungen tig ist zwar: Noch immer wird erheb- zu überwinden? Jene, oft gut gebilde- lichen Teilen der Arbeiterklasse der te, junge Menschen, die heute unsere NICOLE GOHLKE Zugang zur Hochschule verbaut oder Partei bereichern, wollen mit uns ge- massiv erschwert. Aber eine Öffnung meinsam die soziale Frage stellen – oh- der Hochschulen hat es in der BRD im ne aber dabei Diskurse zu bedienen, in Nachgang der 68er-Revolte und dank denen einheimische und zuwandernde »Latte sozialer Reformen gegeben. Teile der Klasse gegeneinander ausge- Macchiato-Linke« Diese Ausweitung des Zugangs zur spielt werden. Hochschule hat allerdings mitnichten Die ArbeiterInnenklasse hat viele Ge- und die dazu geführt, dass mehr Menschen hö- sichter: der migrantische Jugendliche Arbeiterklasse here Löhne bekämen. Vielmehr fand ohne Ausbildung, der in Gelegenheits- gerade im Zuge der Öffnung der Hoch- jobs Familie und Nachbarn hilft; die schulen eine Entwertung der akade- zwischen Praktika-Verträgen und Kurz- mischen Abschlüsse und Titel statt. zeit-Projekten hechelnde Akademike- Die Öffnung der Hochschulen erfolgte rin; der alleinerziehende Vater in Teil- eben auch unter der Regie des moder- zeitarbeit, der keine bezahlbare Woh- nen Kapitalismus, der einen steigenden nung fi ndet; die Erwerbslose in der Bedarf an akademisch ausgebildeten sächsischen Kleinstadt, die nur noch Fachkräften hat. zur »industriellen Reservearmee« gehö- Und so wartet auf die künftigen Er- ren darf – sie alle gehören dazu. Ihre werbstätigen in geisteswissenschaftli- gemeinsamen Erfahrungen und Forde- chen und Medien-Berufen, in Gesund- rungen sollten wir als LINKE artikulie- heits- und Sozialberufen oder auf die ren – als kämpferische und verbinden- künftigen LehrerInnen in der Regel de Partei. kein Leben in der gutbetuchten Mittel- schicht oder der Aufstieg in Chefeta- Nicole Gohlke ist hochschul- und wissen- gen. Stattdessen erwarten sie oft ho- schaftspolitische Sprecherin der Bundes- he Belastungen, die mit niedrigen Ge- tagsfraktion. Foto: Katja-Julia Fischer

DISPUT Dezember 2017 31 SEITE ZWEIUNDDREISSIG

Frigga Haug (Hg.)

Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus

Band I. Abtreibung bis Hexe

Um zwei Stichwörter erweiterte Aufl age von November 2011 384 Seiten, 23 Euro ISBN 978-3-88619-295-3