change Das Magazin der Bertelsmann Stiftung > 2/2009

NEUE STIMMEN Freude und Lampen- fieber beim Vorsingen in New York schwerpunkt: reformen Alle Kids sind Vips Siegerehrung mit großen und kleinen Stars Reformen geben Hoffnung Stiftung Task Force entwickelt Wie Veränderungen Menschen bewegen Szenarien für die Zeit nach der Krise xxxxxxxxxxxxxx › change › 3/2008 Seite 1

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Unsere Newsletter zu den folgenden Themen:

Neues von der Bertelsmann Stiftung Kinder früher fördern: Wirksame Bildungsinvestitionen Unternehmenskultur Religionsmonitor Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen Kommunale Aktivitäten – „KomMaileon“ Zukunft der Beschäftigung Neuerscheinungen des Verlages Projekt „jungbewegt“

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2_09_changeAnz_ NewsletterRZ_2_6_09.indd 1 4.6.2009 16:04:15 Uhr change › 2/2009 › editorial Seite 03

Karin Schlautmann Leiterin Kommunikation

Editorial Von Reformen anderer Länder lernen und eigene Stärken entdecken

Wir haben nicht nur auf die Reformvorhaben in den USA geschaut. Wir haben auch direkt vor unserer Haustür spannende Projekte entdeckt, die beispielhaft sind für Veränderungen auch in unserem Land

in wichtiges Prinzip der Arbeit der Bertelsmann Stiftung ist der flexiblerer Politik die Nase vorn haben. – Wir wollen das an dieser EBlick über den Zaun. In anderen Ländern gibt es zum Teil bereits Stelle nicht beklagen sondern haben uns auf die Spurensuche be- Antworten auf Fragen, die wir uns in Deutschland erst stellen. In die- geben. Gefunden haben wir viele Beispiele, die das Gegenteil von ser Ausgabe von change greifen wir deshalb auf Erfahrungen aus vie- Mittelmaß zeigen: Große Firmen in Hamburg fangen Hauptschul- len Ländern zurück. Den Anfang macht das momentane Reformland absolventen ohne Ausbildungsplatz auf und bewahren sie vor der Nr. 1 – die USA mit ihrem Präsidenten Barak Obama. Wir haben aber Jugendarbeitslosigkeit. Landesväter wie Ole von Beust und Peter auch direkt vor unserer Haustür spannende Projekte entdeckt, die Harry Carstensen haben durch viele kleine Reformschritte fast beispielhaft sind für Veränderungen in unserem Land. schon eine heimliche Föderalismusreform auf die Beine gestellt. Als unser Autor Steffan Heuer in San Francisco vor kurzem Vater Deutschland hat eine Menge Potenziale, die auch uns zu einem er- wurde, bekam er für sein Baby einen Strampelanzug geschenkt – folgreichen Reformland machen können. „change“ stand hinten drauf. Ein Hinweis nicht nur zum Windeln- Außerdem finden Sie in diesem Heft zwei große Wettbewerbe: Bei wechseln. Und auch nicht als dezente Werbung für unser Magazin unserem Schulwettbewerb „Alle Kids sind VIPs“ ehrten unsere VIP- gedacht. „change“ steht für eine neue Politik – und auf dem Stram- Botschafter in Berlin jetzt die Preisträger. Und: Unser traditioneller pelanzug auch für ein neues Lebensgefühl: die Generation Obama! Gesangswettbewerb „Neue Stimmen“ geht langsam auf die Zielgera- So stark hat die Wahl des neuen Präsidenten das Land schon ge- de. Über 1.000 junge Opern-Talente haben sich weltweit beworben. prägt. Die Aufbruchstimmung, die Lust auf Veränderung geht wie Wir haben einige von ihnen bei einer der Vorauswahlen begleitet – eine Welle durch die ganzen USA. Viele Menschen haben die Zuver- an der Metropolitan Opera in New York. Außerdem starten wir pas- sicht für ihr Land wiederentdeckt: Hoffnung auf Veränderungen send zum Wettbewerb unsere neue Serie „Junge Opern-Talente“. Hier durch Reformen! stellen wir Ihnen in jedem Heft eines der Talente vor, die inzwischen Reformen sind für Gesellschaften notwendig und prägend. In viele spannende Geschichten von den großen Bühnen dieser Welt

f wollenberg/upi/lai c. roger oto: allen 30 OECD-Ländern hat die Bertelsmann Stiftung deshalb den erzählen können! Reformbedarf in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft untersucht. Dabei sind die „Sustainable Governance Indicators“ (SGI) entstan- den, die die Fähigkeiten dieser Länder bewerten, Probleme anzu- Herzlichst, Ihre packen und Lösungsstrategien umzusetzen. Das Ergebnis sieht für Deutschland leider nicht ganz so gut aus: Fast überall bewegen wir

Foto: veit mette. titel f mette. veit Foto: uns im Mittelfeld, während andere Länder mit neuen Ideen und inhalt › change › 2/2009 Seite 04

Hamburger Hauptschulmodell › So bewahren Hamburger Firmen junge USA – Land der Reformen › Mit der Wahl Barack Obamas zum neuen Hauptschüler vor der drohenden Arbeitslosigkeit › Seite 26 US-Präsidenten haben die Veränderungen bereits begonnen. › Seite 16

Business at School › Coole Ohrringe und eine dufte aktuell › Geschäftsidee – damit la- gen Berliner Schüler beim News aus der Stiftung Wettbewerb der Boston Seite 06 Tabuthema Psyche Consulting Group weit vorne › Seite 40 Begegnungen mit Liz Mohn Seite 10 Prominenter Besuch bei der „Business Women School“

schwerpunkt: reformen › Spurensuche Seite 14 Von der Welt lernen – Veränderungen, die unser Land braucht

USA – Land im Aufbruch Seite 16 Barack Obamas Sieg und seine Reformvorhaben lassen Amerika wieder hoffen

rank nürnberger, dirk eusterbrock dirk nürnberger, f rank Hamburger Hauptschulmodell , Seite 26 Die größten Firmen der Hansestadt setzen auf junge Hauptschul-Absolventen – Jobchance inklusive

Neue Werte Seite 32 Der Generalsekretär des CVJM zum sozialen Zusammenhalt

Abgeordnete Seite 34 Power, trotz 14-Stunden Tag: Wir begleiteten Christian

Carstensen (SPD) und Michaela Noll (CDU) in Berlin lai f (2), weychardt arne Fotos: change › 2/2009 › inhalt Seite 05

Begegnungen› Liz Mohn und Dunja Haylali gaben jungen Managerinnen Neue Stimmen › Wir begleiteten die Teilnehmer bei der Vorauswahl des wertvolle Karriere-Tipps. › Seite 10 Gesangswettbewerbes an der Metropolitan Opera in New York. › Seite 68

Business at School Bericht aus Berlin Seite 38 Ein Projekt der Boston Consulting Group zeigt Seite 58 Abschluss-Bilanz des Forums Demographischer Wandel Oberstufenschülern, wie man unternehmerisch denkt und sich als Selbstständiger auf dem Markt durchsetzt Task Force Seite 60 Die Bertelsmann Stiftung und ihr Projekt zur Krise Föderalismus

Seite 44 Durch eine Politik der kleinen Schritte ist Hamburg und Schleswig-Holstein ein Föderalismus-Spagat gelungen stiftung international › Emanzipation Bericht aus Washington Seite 46 Eine Reform, die niemals endet: Drei eigenwillige Seite 64 Die „100-Tage-Konferenz“ entwickelt Ideen gegen Frauen aus drei Generationen sprechen über ein Thema, die Wirtschaftskrise das sie alle verbindet

Berichte aus Barcelona und Brüssel Die Stiftung und ihre Projekte Seite 66 Neues aus den Büros der Bertelsmann Stiftung Seite 50 Viele Projekte der Bertelsmann Stiftung befassen sich mit Reformideen und -strategien Wettbewerb „Neue Stimmen“

Seite 68 Die Vorauswahl in New Yorks Metropolitan Opera Zum Thema: Dr. Wolfgang Schüssel Seite 52 Was man aus der Krise lernen kann Serie: Junge Opern-Talente Seite 72 Teil 1: Krenare Gashi: Karriereträume trotz Heimweh stiftung › rubriken › Alle Kids sind VIPs Seite 03 Editorial Seite 54 Die große Preisverleihung des Schulwettbewerbes mit den Seite 62 Service: Neuerscheinungen prominenten Botschaftern in Berlin Seite 74 Kolumne: John Wray aktuell › change › 2/2009 Seite 06

integration An Demokratie teilhaben Bessere Bildung, Kommunal- Dr. Brigitte Mohn ist als Mitglied des Vorstandes wahlrecht und doppelte Staats- für die Gesundheitspro- bürgerschaft bieten Zugewan- gramme der Bertels- mann Stiftung verant- derten gleiche Chancen und wortlich demokratische Beteiligung gesundheit Tabuthema Psyche Psychische Erkrankungen bleiben oft unentdeckt, weil Ärzte Warnzeichen übersehen – und die Betroffenen sie verschweigen

Wegen psychischer Probleme suchten über change: Wo suchen Sie nach Antworten 20 Prozent der Deutschen in den ver- auf das Problem unentdeckter psychischer gangenen zwölf Monaten einen Arzt oder Erkrankungen? Psychotherapeuten auf. Zu diesem Ergebnis Dr. Brigitte Mohn: Soll die Allgemeinpraxis kommt der aktuelle Gesundheitsmonitor in ihrer Lotsenfunktion auch für Patienten der Bertelsmann Stiftung. Erster Ansprech- mit psychischen Beschwerden gestärkt partner ist in einer solchen Situation meist werden, muss in Deutschland noch viel der Hausarzt (87 Prozent). Wie der Gesund- passieren. Für Hausärzte ist es oft schwierig heitsmonitor festgestellt hat, liegt die zu erkennen, welche vorgebrachten körper- Diagnoserate der Hausärzte (8,4 Prozent) lichen Beschwerden möglicherweise einen Integration durch Chancengleichheit weit unter der der Spezialisten (52,6 Pro- psychischen Hintergrund haben. Sie müssen zent). Dies ist ein möglicher Hinweis darauf, ermutigt werden, ihren Verdacht gegen- dass in der hausärztlichen Praxis psychi- über dem Patienten auszusprechen. Und Die Menschen in Deutschland halten die sche Erkrankungen oft unentdeckt bleiben. schließlich müssen sie über die bestehenden Demokratie für die beste aller Staats- formen. Das gilt für Einheimische, Men- schen mit Migrationshintergrund und in Deutschland lebende Ausländer glei- chermaßen. Unzufrieden darüber, wie bildung bei uns die Demokratie funktioniert, sind allerdings besonders Menschen mit Migrationshintergrund und Jugendliche Der Leser mit niedrigem Bildungsabschluss. Das ergab eine repräsentative Umfrage der im Zentrum „Forschungsgruppe Wahlen“ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Das Modell Stadtbibliothek „Teilhabe und Bildung sind offenkun- Gütersloh feiert sein dig der Schlüssel für die Akzeptanz der 25-jähriges Bestehen Demokratie“, analysiert Dr. Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Konzept und Architektur zeigen es deutlich: Stiftung. „Es ist Aufgabe der Politik, Im Zentrum der Stadtbibliothek Gütersloh allen hier lebenden Menschen gleiche stehen die Leser. In dem am 4. Mai 1984 Chancen und demokratische Beteiligung eröffneten Neubau mitten in der Gütersloher zu ermöglichen.“ Um in Deutschland City erschließt sich die Welt der Medien lebende Ausländer stärker am demokra- rund um einen „Marktplatz“ mit einem Lese- tischen Geschehen zu beteiligen, wären Café. Egal, ob Kinder, Eltern, Jugendliche, die ein kommunales Ausländerwahlrecht „Generation Plus“ oder Nutzer mit Spezial- für Nicht-EU-Bürger und die Duldung gebieten – die Stadtbibliothek kümmert sich von Doppel-Staatsbürgerschaften wich- Die helle, offene Architektur der Stadtbibliothek um alle Zielgruppen. In diesem Jahr feiert Gütersloh begeistert Bücherfans seit 25 Jahren tige Schritte. die mit der Unterstützung der Bertelsmann Stiftung gebaute Bibliothek ihr 25-jähriges weblinks: Jubiläum. Ein Vierteljahrhundert, in dem weblinks: www.bertelsmann-stiftung.de/integration dieses Konzept zum Vorbild für zahlreiche www.stadtbibliothek-guetersloh.de. Kontakt: Anke Knopp weitere Neubauten in Deutschland und im Kontakt: Bettina Windau [email protected] Ausland wurde. [email protected] change › 2/2009 › aktuell Seite 07

Angebote der Versorgung informiert sein, DEMOGRAPHIE um ihre Patienten richtig zu lotsen. Wie könnte das aussehen? Will man eine klare Identifikation psychi- Lebensräume zum scher Erkrankungen sowie eine bessere Behandlung erreichen, sind aktive Nachfra- Älterwerden gen nach psychischen Beschwerden durch den Arzt und die systematische Diagnostik Der demographische Wandel erfordert gezielte psychischer Störungen in der Untersuchung Investitionen in die soziale Infrastruktur wichtige Ansatzpunkte. Die Einführung von Jan Böcken, Bernard Leitlinien zur Diagnostik und Therapie psy- Braun, Juliane Land- Was notwendig ist, damit chischer Störungen in der hausärztlichen mann (Hrsg.) das Wohnumfeld auch im Versorgung, insbesondere bei Depression Gesundheitsmonitor Alter lebenswert ist, hat und Angststörungen sind ein erster Schritt. 2009 das Netzwerk „Soziales neu Sie müssen verbunden werden mit spezifi- Gesundheitsversor- gestalten“ (SONG) aufge- schen Fortbildungskonzepten und geeig- gung und Gestal- neten Qualitätsmanagementinstrumenten. tungsoptionen aus zeichnet. Die Ergebnisse Erfahrungen aus dem angloamerikanischen der Perspektive der und das Memorandum sind Raum weisen darauf hin, dass sich eine Bevölkerung nun anlässlich des Sym- Verbesserung der Identifikation psychischer Oktober 2009, ca. 300 posions „Mittendrin statt Störungen in der hausärztlichen Betreuung Seiten, Broschur, außen vor – Lebensräume nur dann wirksam auf die Versorgungsqua- ISBN 978-3-86793- zum Älterwerden“ in Berlin lität auswirkt, wenn die entsprechenden 052-9, ca. 37 Euro an die Bundesregierung Maßnahmen integriert und vernetzt sind. und Fachleute übergeben Projektpartner Franz Stoffer, Psychische Erkrankungen resultieren oft worden. Programmleiter Rüdiger Bockhorst aus der Schwierigkeit, Berufs- und Privatle- „Wir müssen Strukturen und Dieter Hackler vom BMFSFJ bei weblinks: der Übergabe des Memorandums ben in Einklang zu bringen. Sind hier nicht schaffen, die das selbst- www.bertelsmann- auch die Arbeitgeber gefragt? bestimmte Wohnen und stiftung.de/gesundheits- Leben älterer und hilfebedürftiger Menschen in ihrem Ja. Gerade durch ein betriebliches Ge- monitor sundheitsmanagement, das sich nicht auf vertrauten Wohnumfeld und in stabilen sozialen Netzen gesundes Essen und Bewegung beschränkt, Kontakt: dauerhaft gewährleisten“, so Rüdiger Bockhorst, Pro- Dr. Jan Böcken, sondern auch die Organisation der Arbeit grammleiter der Bertelsmann Stiftung. Dem Netzwerk Dr. Juliane Landmann „Soziales neu gestalten“ (SONG), gehören die Bremer und die Rolle der Führungskräfte in einen jan.boecken@ Heimstiftung, die CBT-Caritas-Betriebsführungs- und Trä- ganzheitlichen Prozess einbezieht, können bertelsmann-stiftung.de, gergesellschaft Köln mbH, das Evangelische Johanneswerk Ursachen für psychische Belastungen im juliane.landmann@ betrieblichen Umfeld reduziert werden. bertelsmann-stiftung.de e.V. (Bielefeld), die Stiftung Liebenau sowie die Bank für Sozialwirtschaft AG und die Bertelsmann Stiftung an.

weblinks: wirtschaft www.zukunft-quartier.de Kontakt: Rüdiger Bockhorst Einfach und deshalb wirksam [email protected] Beste Idee zum Bürokratieabbau von

EU-Kommission ausgezeichnet verlag stiftung

Handwerksbetriebe sind zukünftig bei Kurzfahrten von der Benut- zung eines Fahrtenschreibers befreit. Dieser einfache Vorschlag des Aktuelle Themen – Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) erhielt jetzt als beste Idee zum Bürokratieabbau den „Red-Tape-Reduction-Award“. neue Bücher bertelsmann Dieser Preis ist eine gemeinsame Initiative der Arbeitsgruppe zum , , Abbau von Bürokratielasten, der Europäischen Kommission, des Neuerscheinungen im Verlag Standartkostenmodell-Netzwerkes und der Bertelsmann Stiftung. Die Bertelsmann Stiftung schrewe britische Zeitung „Sun“, das polnische Blatt „Fakt“ und die „Bild-Zei- ina

, , tung“ hatten die Aktion mit Aufrufen an ihre Leser unterstützt. Über 40 Neuerscheinungen im Gerade kleine Handwerksbetriebe werden von diesem Vorschlag Jahr geben der interessierten profitieren. Der ZDH rechnet mit Entlastungen von rund 4.000 Euro Öffentlichkeit einen direkten kunsch pro Jahr und Betrieb. Zur Jury Einblick in die Ergebnisse der gehörten neben dem Vizeprä- Stiftungsarbeit. Infos über alle thomas

, , sidenten der EU-Kommission, Neuerscheinungen gibt es nun Günter Verheugen, der ehemalige auch im Internet. Der aktuelle mette Bayerische Ministerpräsident Ed- weblinks: Online-Newsletter „Neues aus weblinks: www.best-idea-award.eu www.bertelsmann-stiftung.de/newsletter veit mund Stoiber sowie Frank Frick, dem Verlag“ kann unter www. : : Programmleiter der Bertelsmann Kontakt: Frank Frick bertelsmann-stiftung.de/news- Kontakt: Sabine Reimann otos

F Stiftung. [email protected] letter abonniert werden. [email protected] aktuell › change › 2/2009 Seite 08

bertelsmann stiftung gesellschaft In Bildung investieren Neues Noch stärker als bisher wird sich die Bertelsmann Stiftung mit ihrer gemeinnützigen Unterhaltsrecht Arbeit auf das Thema Bildung konzentrieren noch unbekannt Die „Expertenkommission Familie“ befürchtet zusätzliche Belastungen für Mütter

Das neue Unterhaltsrecht ist in der Bevölkerung noch weitge- hend unbekannt. Nur 17 Prozent der befragten Mütter und Vä- ter kennen die Details der neuen Gesetzgebung. Das zeigt eine aktuelle Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Bei der Befragung befürworteten 77 Prozent, dass das neue Unterhaltsrecht Kindern Vorrang vor den Unterhalts- ansprüchen des Expartners einräumt. Während fast die Hälfte der Väter die neuen Regelungen gut findet, sagt dieses aber nur jede dritte Mutter. Die von Liz Mohn gegründete „Expertenkommission Familie“ Dr. Jörg Dräger befürchtet, dass das jetzige Gesetz die aktuelle Situation vieler verantwortet die Frauen nicht ausreichend berücksichtigt, und dass diese mittel- Bildungsprojekte und langfristig zu den Verlierern zählen werden. Geschiedene der Bertelsmann Mütter müssen sich auf einen früheren Einstieg in den Beruf Stiftung einstellen. Für denkbar hält die Kommission auch, dass getrenn- te oder geschiedene Partner aufgrund des veränderten Rechts den Wunsch nach Familie und Kindern aufgeben könnten. Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertels- mann Stiftung, fordert: „Staat, Gesellschaft und Wirtschaft müs- sen ausreichende Möglichkeiten zur Entlastung bereitstellen, beispielsweise durch Betreuungseinrichtungen, Teilarbeitszeit- Rund 12,5 Millionen Euro sollen so von der gesellschaftlichen modelle, bezahlbare haus- im Jahr 2009 in Bildungs- Entwicklung abgekoppelt. haltsnahe Dienstleistungen projekte fließen. Dies gab der Hier wollen wir mit unseren oder individuelle Lösun- weblinks: Vorstandsvorsitzende Dr. Gun- Programmen ansetzen“, sagte gen in den Betrieben.“ www.bertelsmann-stiftung.de/familie ter Thielen bei der Vorstellung Dräger. So hat die Bertelsmann des aktuellen Jahresberichtes Stiftung die hohen Folgekosten Kontakt: Anna Renkamp bekannt. unzureichender Bildung berech- [email protected] Für die Bildungsprojekte net und fordert deshalb eine der Stiftung ist Dr. Jörg Dräger bedarfsorientierte Finanzierung verantwortlich. Er sieht die insbesondere in die frühkindli- größten Herausforderungen für che Bildung. In einem weiteren das Bildungssystem der Zukunft Schwerpunkt werden Konzepte in der wachsenden Hetero- für den Unterricht in heteroge- genität der Bevölkerung und nen Gruppen entwickelt. Drä- den Veränderungen durch den ger: „Schule soll zum sozialen

demographischen Wandel. „Im- Lernort werden. Wir wollen die A lhaj mer mehr Kinder und Jugend- Weichen für die Umsetzung urans

liche haben keinen adäquaten dieser Ideen in ganz Deutsch- L , Zugang zu Bildung und werden land stellen.“ kunsch

Rückblick und Vorschau, Angebote und Austausch, thomas

Zahlen und Fakten: Der , Jahresbericht 2008 legt

Rechenschaft über die mette

Arbeit der Bertelsmann veit

Stiftung ab : otos F weblinks: Landrat Sven-Georg Adenauer, Dr. Gunter Thielen, Bürgermeisterin www.bertelsmann-stiftung.de Maria Unger, Dr. Martin Rieger, Liz Mohn, Rolf Hunck, Deutsche Bank, Kontakt: Dr. Jörg Dräger und Michael Lübbers, Deutsche Bank Bielefeld (von links) bei [email protected] der Vergabe der Urkunde in Gütersloh change › 2/2009 › aktuell Seite 09

Das neue Unterhaltsrecht...

...wird positiv bewertet

weil Kinder Vorrang haben vor 74 politik den Ansprüchen der Expartner 80 weil es die Verantwortung des Daskinderbetreuenden neue Unterhaltsrecht... Elternteils 59 Verständigung stärkt, für den eigenen Unter- 70 ...wird positiv bewertethalt zu sorgen im Wüstensand weil der Unterhalt zahlende 39 weil Kinder Vorrang haben vor 74 Elternteil profitiert und weniger 53 Auf Einladung von Prinz den Ansprüchen der Expartner 80 an die Expartner zahlen muss Turki Al-Faisal, fanden die weil es die Verantwortung des kinderbetreuenden Elternteils 59Männer 12. „Kronberger Gespräche“ stärkt, für den eigenen Unter- Frauen70 der Bertelsmann Stiftung im halt zu sorgen Quelle: tms emnid, März 2009 Angaben in Prozent der Befragten; Mehrfachnennungen möglich saudi-arabischen Riad statt weil der Unterhalt zahlende 39 Elternteil profitiert und weniger 53 an die Expartner zahlen muss

Männer Frauen

Quelle: tms emnid, März 2009 Angaben in Prozent der Befragten; Mehrfachnennungen möglich

...wird negativ bewertet

weil Mütter aus langjährigen Ehen, 50 die jahrelang nicht berufstätig waren, 29 weniger gut finanziell abgesichert sind weil die Gefahr besteht, dass die Kinder vernachlässigt werden 35 durch Erwerbstätigkeit beider Eltern 25 ...wird negativ bewertet weil es nicht zumutbar ist, gleichzeitig weil Mütter aus langjährigen Ehen, 30 Kinder zu betreuen und 50 die jahrelang nicht berufstätig waren, 21 erwerbstätig zu sein 29 Bei den „Kronberger Gesprächen“ in Riad:

weniger gut finanziell abgesichert sind duneka Dr. Gunter Thielen und Liz Mohn vom weil die Gefahr besteht, 35 Männer Vorstand der Bertelsmann Stiftung, Prinz

dass die Kinder vernachlässigt werden Frauen dieter : : Turki Al-Faisal sowie Wirtschaftsminister durch Erwerbstätigkeit beider Eltern 25 Karl-Theodor zu Guttenberg Quelle: tms emnid, März 2009 Angaben in Prozent der Befragten; Mehrfachnennungen möglich weil es nicht zumutbar ist, gleichzeitig 30 grafik Kinder zu betreuen und 21 erwerbstätig zu sein Statt wie sonst in Kronberg im Taunus trafen Männer sich die fünfzig Teilnehmer aus Deutschland Frauen und Europa, darunter Politiker, Diplomaten, Unternehmer, Manager und Experten, dies- Quelle: tms emnid, März 2009 Angaben in Prozent der Befragten; Mehrfachnennungen möglich mal am Golf. Die Region, die ihre Krisen mit Hilfe von Partnern lösen will, setzte mit die- ser Einladung ein Signal. Auch Bundeswirt- religion von Bundespräsident Prof. Horst Köhler durchgeführt. schaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg Der „Religionsmonitor“ ist ein neuartiges maß dieser Tagung hohe Bedeutung bei und Land der Ideen Erhebungsinstrument zur Erforschung von hielt in Riad die Auftaktrede. Glaube und Religionen. Dazu wurden in Themen waren der bewaffnete Konflikt Bundespräsident Prof. Horst den vergangenen Jahren weltweit mehr als zwischen Israelis und Palästinensern, das Köhler ehrt den „Religions­ 21.000 Menschen auf allen Kontinenten ausstehende Freihandelsabkommen zwi- schen den Golfstaaten und der Europäischen monitor“ der Bertelsmann Stif- und in allen Hochreligionen anhand von rund 100 Parametern zu ihrem persönli- Union, die alles beherrschende Weltfinanz- tung als beispielhaftes Projekt chen Glauben befragt. Rolf Hunck von der und Wirtschaftskrise, sowie die Sicherheit in Geschäftsleitung der Deutschen Bank aus der Golfregion. In diesem Punkt gingen die Einschätzungen der Teilnehmer durchaus Der Religionsmonitor der Bertelsmann Hamburg überreichte den Pokal und die auseinander. Die hohen Erwartungen an den Stiftung darf sich nun als Botschafter von Bundespräsident Prof. Horst Köhler neuen US-Präsidenten Obama wurden aller- für das „Land der Ideen“ (www.land-der- unterzeichnete Urkunde. dings von allen deutlich formuliert. ideen.de) bezeichnen. Aus mehr als 2.000 eingereichten Bewerbungen wählte eine unabhängige Jury das Stiftungsprojekt aus. Der Wettbewerb wird bereits im vierten weblinks: weblinks: Jahr gemeinsam von der Deutschen Bank www.religionsmonitor.com www.bertelsmann-stiftung.de/naherosten und der Standortinitiative „Deutschland – Kontakt: Dr. Martin Rieger Kontakt: Christian Hanelt Land der Ideen“ unter der Schirmherrschaft [email protected] [email protected] aktuell › change › 2/2009 Seite 10

Unter den prominenten Gastrednern auf Schloss Ziethen (rechts) war neben Liz Mohn auch die Journalistin und TV- Moderatorin Dunja Hayali (oben)

ielleicht nehmen Sie am Ende des Begegnungen mit Liz Mohn Kurses einen Gedanken aus den ge- V meinsamen Tagen mit: Man trägt nicht nur Verantwortung für andere – man muss auch Verantwortung für sich selbst Frauen-Power im übernehmen“, betonte Liz Mohn, stellver- tretende Vorsitzende der Bertelsmann Stif- tung, in ihrem Referat vor den 24 Teilneh- Sommerschloss merinnen der „Business Women School“. Zum ersten Mal lud die Bertelsmann Stif- tung speziell Frauen in Führungspositio- Ende Mai trafen sich 24 erfolgreiche Frauen aus verschiedenen nen ein. Ihre Arbeitgeber, darunter Unter- Unternehmen zur „Business Women School“ im idyllischen nehmen wie Siemens, BMW, IBM, Allianz Schloss Ziethen bei Berlin. Ihre Themen: Karriere, Führungskompetenz, und BASF, hatten die Teilnehmerinnen für Talente und Fähigkeiten, die so manch eine Frau ihrem Mann das Seminar ausgewählt. Eine Woche lang voraus hat – emotionale Intelligenz, Belastbarkeit, Multi-Tasking… hatten sie nun die Möglichkeit, ihre Erfah- rungen auszutauschen, wichtige Kompe- fotos: frank nürnberger ][ tenzen für die Karriereentwicklung und Menschenführung zu erlernen und ›› Auf Einladung der Bertelsmann Stiftung trafen sich 24 Frauen aus Führungspositionen auf Schloss Ziethen und tauschten Erfah- rungen aus

Plauder-Pause im idyllischen Schlossgarten – zusammen mit Aufstellung zum Gruppenfoto: die Teilnehmerinnen zusammen mit der TV-Köchin und Gastrednerin Sarah Wiener (oben, ganz rechts) stellvertretenden Vorsitzenden der Bertelsmann Stiftung, Liz Mohn aktuell › change › 2/2009 Seite 12

Auch die Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann (rechts) traf sich mit Liz Mohn und den Teilnehmerinnen der „Business Women School“

„Es gibt noch mit prominenten Unter- zu wenige die so typisch für Frauen in auf den Weg, „was es bedeutet, Freiraum nehmerinnen und Politi- weibliche Führungspositionen sei. und Gestaltungsmöglichkeiten zu haben kerinnen zu diskutieren. Vorbilder in Gerade, um diesem Trend und zu nutzen! Nämlich: Sinnerfüllung zu Darunter unter anderem entgegen zu wirken, setzt erleben und interessante Menschen ken- die TV-Moderatorin und Führungs- Liz Mohn auf die „Business nenzulernen.“ ][ Journalistin Dunja Haya- positionen“ Women School“, denn: „Für li, die Landesbischöfin der mich ist diese Veranstaltung Liz Mohn, stellvertretende info Evangelisch-lutherischen Vorsitzende der so wichtig, um miteinander > Landeskirche Hannover, Dr. Bertelsmann Stiftung und voneinander zu lernen! business summer school Margot Käßmann, die Star- Weil die Teilnehmerinnen Köchin und Unternehmerin Sarah Wiener gemeinsam ihr eigenes Führungsverständ- Seit Sommer 2006 hat die von Liz Mohn – und natürlich mit Liz Mohn. nis vor dem Hintergrund der jeweiligen initiierte „Business Summer School“ Ihr lag die „Business Women School“ Unternehmenskultur reflektieren. Weil sie eine hervorragende Resonanz bei den von Anfang an besonders am Herzen. Sie aktiv an ihrer Persönlichkeit arbeiten. Die Teilnehmern gefunden. Dort wurde wünscht sich, dass viel mehr Frauen in ‚Business Summer School‘ möchte deshalb immer wieder diskutiert, wie das Thema Führungspositionen gelangen. Denn da- die Möglichkeit bieten, über den Teller- „Unternehmenskultur als Führungs- von sind zur Zeit nur elf Prozent von Frau- rand zu schauen, im Dialog neue Ansätze instrument der Zukunft“ umgesetzt werden kann – und das sehr praxisori- en besetzt, in Spitzenpositionen sind es kennenzulernen – und Freundschaften zu entiert anhand der von den Teilnehmern sogar nur vier Prozent – „Es gibt noch zu schließen.“ eingebrachten Erfahrungen. Nicht nur wenige weibliche Vorbilder in Führungspo- Im anglo-amerikanischen Ausbildungs- der demographische Wandel in den sitionen. Sicher ist jedenfalls, dass Frauen markt sind derartige frauenspezifische kommenden Jahrzehnten verlangt, dass mindestens gleich gut ausgebildet sind wie Führungstrainings längst fest etabliert. immer mehr qualifizierte Frauen in lei- Männer. Und die Vereinbarkeit von Familie Deshalb setzt die Bertelsmann Stiftung mit tende Positionen gelangen. Unternehmen und Beruf zeigt doch, wie stark Frauen be- ihrer Initiative in Deutschland neue Maß- sollten bei der Auswahl und Förderung ihrer Führungskräfte gerade auch die lastbar sind.“ stäbe. Die Teilnehmerinnen lernen in Se- Talente und Kompetenzen von Frauen als Mit den Teilnehmerinnen sprach sie minaren und Workshops, wie sie einfluss- wichtigen Erfolgsfaktor für Kreativität über Probleme und Chancen als Frau im reicher werden, und an der Veränderung und Zukunftsfähigkeit begreifen. Business, als Frau auf der Karriereleiter. der jeweiligen Unternehmenskultur mit- Deshalb fand im Mai im „Hotel Schloss „Unser Land kann nicht auf das hohe Leis- wirken können. Das Angebot stieß bei den Ziethen“ bei Berlin erstmalig eine „Busi- tungs- und Kreativpotenzial von Frauen Managerinnen auf große Begeisterung und ness Women School“ statt. verzichten“, erklärte Liz Mohn. „Die gute ausgesprochen gute Resonanz. Gelernt ha- Ausbildung der Frauen ist zu wertvoll, um ben sie viel, über sich und andere – egal, ob sie anschließend nicht zu nutzen. Dabei bei einem Vortrag, einem Gespräch beim haben vor allem Frauen führungsrelevante Abendessen oder während einer Pause im weblinks: Kompetenzen wie gutes Zeitmanagement riesigen Schlossgarten. Und natürlich aus Informationen finden Sie unter: und Kompromissbereitschaft.“ Doch noch den Erfahrungen von Initiatorin Liz Mohn: www.bertelsmann-stiftung.de/bss immer verzichte die Gesellschaft viel zu „Aus meiner 35-jährigen Berufserfahrung Kontakt: Martina Schwenk

häufig auf die Kreativität und Motivation, habe ich eines gelernt“, gab sie ihnen mit [email protected] (re.) weychardt arne Foto: changechange ›› 2/20092/2009 ›› xxxxxxxxxxxschwerpunkt Seite 13 Schwerpunkt: reformen › schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 14

Spurensuche Reformbausteine. Erfolgs-Storys für gesell- schaftliche Veränderungen und Innovationen gibt es nicht nur im Ausland, manche liegen auch direkt vor unserer Haustür. Wir haben sie entdeckt. Im Februar 2009 wurde von der Bertelsmann Stiftung zum ersten Mal der Reformbedarf in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in allen 30 OECD-Staaten untersucht. Die „Sustainable Governance Indicators“ (SGI) zeigen auch die Fähigkeit aller 30 Regierungen, drängende Probleme anzupacken und Lösungsstrategien erfolgreich umzusetzen. Wie hat Deutschland dabei abgeschnitten? Unser Land lag beim ersten Mal nur im Mittelfeld. Dabei gibt es auch bei uns zündende Ideen, spannende Projekte und motivierte Menschen. Wir haben uns auf die Spurensuche begeben und in vielen Bereichen echte Erfolgsgeschichten entdeckt. Innovative Geschichten und ehrliche Meinungen, von denen man überall in Deutschland lernen kann. Beginnen möchten wir aber mit einem Bericht über das aktuelle Reformland: die USA Fotos: corbis, arne weychardt (3), jutta knabe/cvjm, vario, djv, caro djv, vario, knabe/cvjm, jutta (3), weychardt arne corbis, Fotos: change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 15

USA: Obama Bildung Zusammenhalt Parlament

Weltwirtschaftskrise, Arbeitsmarkt, Finnland hat bei der Bildung die Nase Das niederländische Wohlfahrtsmo- In den USA haben Abgeordnete einen Gesundheitssystem, das Ansehen vorn, denn dort haben alle Menschen dell basiert trotz sozialer Kürzungen großen Mitarbeiterstab. Ein Faktor, der der USA in der Welt... Schon vor den gleichen Zugang zur Bildung. In noch immer ganz auf dem Konzept die Arbeit des Parlaments stärkt. In dem Amtsantritt Barack Obamas war Deutschland hingegen ist die soziale der gegenseitigen Solidarität. Wie Deutschland trafen wir zwei Bun- die Liste der Probleme lang. Und Schere noch extrem weit. Doch Pro- wichtig diese auch für Deutschland destagsabgeordnete, die ihre Aufga- auch wenn noch längst nicht alles jekte wie das „Hamburger Haupt- ist und welche Rolle dabei Werte ben unter schwierigen Bedingungen umgesetzt ist – die Stimmung in der schulmodell“ zeigen, wie es auch spielen, erklärt CVJM-Generalsekre- bewältigen und uns verrieten, wie sie Bevölkerung steht endlich wieder anders gehen kann. Ein Trend, dem tär Dr. Wolfgang Neuser. dennoch ihre Ziele erreichen. auf Mut und Hoffnung! inzwischen immer mehr Städte folgen.

sgi> sustainable governance indicators

Um den Reformbedarf in den 30 OECD-Mitgliedsstaaten zu bestimmen, werden deren Leistungsbilanzen in 13 Politikfeldern miteinander verglichen. Der Ansatz der Bertelsmann Stiftung basiert dabei auf der Hypothese: Je ausgeprägter die Reformfä- higkeit einer Regierung, desto Unternehmer Flexibilität Emanzipation wahrscheinlicher ist eine Verringerung des Reformbe- Die Rahmenbedingungen für Die skandinavischen Länder, allen Emanzipation ist eine Reform, die darfs. Es ist davon auszuge- erfolgreiche Unternehmensgrün- voran Norwegen, sind politisch am eine Jahrhunderte lange Geschichte hen, dass aktives Handeln dungen sind in den USA am besten. flexibelsten. In Deutschland sieht das hat. Egal in welchem Land, wandelt die politische, ökonomische In Deutschland hingegen liegen die etwas anders aus, wenn es um die sie sich mit den Jahren und Genera- und soziale Lage mittel- bis bürokratischen Hürden noch immer großen Entscheidungen geht. Kleine tionen. Deswegen haben wir Frauen langfristig verbessert. zu hoch. Wie man trotzdem jungen Schritte jedoch, wie die zwischen aus drei Generationen zusammen Menschen unternehmerisches Den- Hamburg und Schleswig-Holstein, befragt. Herausgekommen ist dabei ken näher bringt und Ängste abbaut, zeigen, dass sich etwas bewegt. die Erkenntnis: Es gibt Reformen, zeigt das Projekt „business@school“ die ewig jung bleiben. der Boston Consulting Group. sie stehen für den wandel Barack Obama mit Ehefrau Michelle und den beiden gemeinsamen Töchtern nach dem Sieg bei der US-Wahl

USA – Land der Reformen

„Yes, we can!“ Präsident Barack Obama hat die USA wachgerüttelt. Die Hoffnungen beruhen nicht nur auf den milliardenschweren Konjunkturprogrammen, sondern vor allem auf dem Willen zu Veränderung

von steffan heuer ][ change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 17

reudige Erregung hilft dabei, Politik in unerwartete Winkel des Alltags zu F treiben. So schickten mir langjährige Bekannte, mit denen ich so gut wie nie über Politik diskutiert hatte, zur Geburt meiner Tochter einen Strampelanzug mit der Auf- schrift „Generation O“ wie Obama. Auf der Rückseite, auf Höhe des Hinterns, prangt das inzwischen in die Lexika eingegan- gene Schlagwort des 44. US-Präsidenten: „Change“ – Zeit für einen Wandel – oder eine humorvolle Erinnerung ans Windel- wechseln. In den acht Jahren der Regierung Bush ist mir solche Babykleidung nicht nur nie begegnet, sondern sie wäre schlicht un- denkbar gewesen. Aufkleber für die Stoß- stange und T-Shirts, solche Bekenntnisse zu Männern und Marken gehören sicher- lich zum „American Way of Life“. Aber Obama ist es gelungen, weite Teile Ameri- kas in einem bislang unbekannten Maße zu motivieren und zu einen. Millionen Men- schen aller Altersgruppen, sozialer und wirtschaftlicher Schichten und ethnischer Herkunft fühlen sich als Teil eines gemein- samen Vorhabens: den ebenso vagen wie erschreckend umfangreichen „Wandel“ der USA an vielen Fronten zu formulieren und zu verwirklichen. Der Handlungsbedarf erstreckt sich von der Außenpolitik über die anhaltende Konjunkturkrise bis zu grundsätzlichen Reformen im Gesundheitswesen und dem sozialen Gefüge. Deswegen verkaufen sich auf Hemdchen gedruckte Appelle an die sgi> Hoffnungen und Träume frisch gebackener ein schweres Erbe Eltern und ihrer Säuglinge so gut. Sie sind Teil des frischen Windes, der durch die Ver- einigten Staaten weht. Seine ersten Erfolge USA geben selbst politisch abstinenten Bürgern Schaut man auf die Ergebnisse der zumindest neues Interesse an ihrer Regie- „Sustainable Governance Indicators“ rung, bestenfalls sogar konkrete Hoffnun- (SGI) der Bertelsmann Stiftung, steht gen auf Reformen. Barack Obama vor einem schwe- Auch wenn grundlegender Wandel dau- ren Erbe, aber vor noch größeren ert und viele Versprechungen nur Worte Chancen. Denn die SGI-Ergebnisse (noch in der Regierungszeit George bleiben – der psychologische Effekt von W. Bushs erhoben) bescheinigen Obamas Appell an Gemeinsinn und Er- den USA zwar auf den ersten Blick neuerung ist landauf, landab spürbar. So eine stabile Demokratie, auf den besuchte der Präsident Anfang Februar die zweiten Blick decken sie aber auch Kleinstadt Elkhart in Indiana als erstes Rei- große Probleme auf: darunter unter seziel nach seinem Amtsantritt und warb anderem Menschenrechtsverletzun- für sein Förderprogramm, um die Wirt- gen, Ungerechtigkeiten im Sozial- und Gesundheitssystem und Rückständig- schaft mit öffentlichen Investitionen anzu-

keit in der Bildungs- und Umweltpoli- otoarchiv kurbeln. Elkhart ist nicht nur eine traditio- f tik. Die Zeit zwischen 2005 und 2007 nelle Hochburg der Republikaner, die auch war nicht sonderlich erfolgreich, was 2008 konservativ wählte. Der Ort steht Reformpolitik betrifft – eine Phase, außerdem wie so viele Städte im Mittleren die mit der Wahl Obamas beendet Westen für das Sterben alter Indus-trien. inder/das f inder/das oto

sein dürfte. f Größter Arbeitgeber in der Gegend ist der

Foto: Foto: Wohnwagen-Hersteller Jayco, der vor ›› gesichter und keine nummern! Am 14. Mai wurde auf dem Capitol Hill in Washington dieses Transpa- rent ausgerollt. Es zeigt mehr als 4.000 Fotos von Amerikanern, die von der Krise in der Autoindustrie betroffen sind. Das Banner ist Teil der Kampagne „Faces Not Numbers“ einer Radiostation aus Detroit change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 19

Andrew McClary stammt aus Indiana, hat sich aber wegen besserer Jobs vor lan- gen Jahren nach Florida abgesetzt. Der Gra- fikdesigner hat seine Garage in Boca Raton in eine Werkstatt verwandelt, um einen 40 Jahre alten Ford GT40-Rennwagen in ein Elektroauto umzubauen. „Obama hat nicht nur bei mir jede Menge positive Emotionen und Erwartungen geweckt“, erzählt er mir in einer Bastelpause, während im Hinter- grund die Frösche laut quaken. „Wir haben endlich wieder einen Präsidenten, der sich intelligent ausdrücken kann, und es gibt handfeste Anzeichen, dass er es mit Indus- trie und Lobbyisten aufnehmen will, um Reformen beim Verkehrswesen und in der Energiepolitik durchzusetzen.“ Dieser Weg ist schwierig, räumt McCla- ry ein, weil das Tauziehen zwischen Wei- ßem Haus, dem Kongress, den Energie- konzernen, den schwer angeschlagenen Autofirmen und den engagierten Bürgern viel Reformeifer kosten wird. „Was Bush vorher über Brennstoffzellen und Was- serstoff erzählte, waren Märchen, um den Status Quo zu bewahren. Jetzt haben wir wirklich die Chance, Amerikas Transport- wesen zu revolutionieren. Schließlich hat jeder eine Steckdose in der Garage und Sonne auf dem Dach“, sagt der 41-jährige Vater zweier Söhne. „Ich erwarte in den nächsten vier Jahren keine Wunder, aber Autoindustrie es geht auf jeden Fall in die richtige Rich- tung.“ Allerdings, schiebt er nach, hätte Washington ruhig die maroden Autokon- Umdenken in der Wirtschaft! Amerikas Autoindustrie in der Krise – und zerne in Detroit bankrott gehen lassen sol- voller Hoffnung auf die große Reform. Wäh- len, um Platz für innovative neue Firmen rend auf der „New York International Auto zu machen. „Vom Druck der etablierten Show“ futuristische Elektroautos präsentiert werden (oben), stehen auf einem Parkplatz der Interessen konnte sich auch Obama nicht Ford Motor Company fabrikneue Trucks und freimachen.“ Pick-ups zum Verkauf bereit (unten) den nüchternen Pragmatismus des neuen Der Präsident und insbesondere sein Präsidenten zu eigen gemacht. Anlässlich Energieminister, der Physiker und Nobel- des hohen Besuches, bei dem Obama zum preisträger Steven Chu, haben eine umfas- rund 40 Jahren vom Ehepaar Bontrager ge- ersten Mal sein 787 Milliarden Dollar schwe- sende Kurskorrektur in der Energiepolitik gründet wurde und jetzt von dessen zwei res Förderpaket vorstellte, war das Blatt eingeleitet, die nicht nur Arbeitsplätze Söhnen geleitet wird. auf Obamas Seite: „Er muss dem Kongress schaffen, sondern für mehr Nachhaltigkeit Steigende Benzinpreise und Rezession klar machen, dass es beim Konjunkturpro- sorgen soll. Eine der großen Leitlinien ist haben Jayco mehr als die Hälfte seiner einst gramm nicht um Politik geht. Es geht ums die Entscheidung, die Kilometerleistung s 2.000 Mann starken Belegschaft gekostet. Überleben.“ Den Karren aus dem Dreck zu von Neuwagen bis 2016 um rund ein Drit- Die letzten Entlassungen wurden kurz vor ziehen, überwindet parteipolitische Loya- tel anzuheben. Zudem stehen Auflagen für u riti m a Obamas Besuch bekanntgegeben. Ebenso lität und eint die konservative Provinz mit den CO2-Ausstoß bevor, sowie die Einfüh- schwer angeschlagen ist die Wohnwagen- dem neuen Mann in Washington. Deswegen rung eines Emissionshandels, wie es ihn firma Monaco Coach, die im Kreis Elkhart kamen auch 1.700 Zuhörer in die Turnhalle bereits in Europa gibt. Detroits Autokonzer- inder, f inder, oto f drei Werke mit 1.400 Arbeitern schließen der örtlichen High School, um Details über ne kämpften und klagten jahrelang gegen musste. Kein Wunder, dass die Kleinstadt Finanzspritzen für Hauseigentümer, Trans- mehr Effizienz, jetzt akzeptieren sie den seit dem Winter den unrühmlichen Rekord portwesen, Bildung und Energieversorgung Innovationszwang. vermeldet, mit rund 15 Prozent die höchste zu hören. Ähnlich engagierte und neugieri- Das Konjunkturprogramm untermauert Arbeitslosenquote der USA zu haben. ge Massen begleiten jeden seiner Auftritte diese Agenda. So fließen allein 27 Milliar- Die Lokalzeitung „The Elkhart Truth“, die fernab der Hauptstadt, wenn er Probleme den Dollar in den Straßenbau, weitere acht sich noch im November für John McCain bei Immobilien, Kreditkarten oder die Sor- Milliarden in den Bau eines Hochgeschwin-

is, b is, cor p ics, to inter Fotos: ausgesprochen hatte, hat sich inzwischen gen von Arbeitslosen anspricht. digkeits-Bahnnetzes. Dazu kommen ›› schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 20

Foltercamps Zwischenbilanz nach 100 Tagen Amtszeit: Barack Obama und Vizepräsident Joe Biden im Oval Office SchlieSSt Guantanamo! Mit Transparenten erinnern Demonstranten (oben) an das Versprechen ihres neuen Präsi- denten: die Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo. Obama kämpft um dieses Ziel – als Immigration Zeichen für Menschenrechte, die in „seinem“ Amerika endlich wieder einen Wert haben sollen Keine illegalen Einwanderer Der Wunsch der Menschen, die am 1. Mai 2006 auf den Straßen von Los Angeles de- monstrierten (oben) soll bald erfüllt werden: Barack Obama plant eine Reform des Ein- wanderungsrechts und würde damit den rund zwölf Millionen illegalen Einwanderern im Land endlich einen rechtmäßigen Status geben

weitere 8,4 Milliarden für den öffentlichen für Windanlagen und für erneuerbare Ener- Anteil bis 2025 von gegenwärtig drei auf 25 Nahverkehr – ein wunder Punkt in den gieträger zu werben. Prozent zu steigern. Die Anzeichen mehren meisten amerikanischen Städten. Mindes- Wo früher Waschmaschinen der Mar- sich bereits, dass ein Sinneswandel einge- tens ebenso wichtig sind 6,2 Milliarden ke Maytag hergestellt wurden, fertigen setzt hat. Vergangenes Jahr verdoppelte sich an Bundesmitteln zur besseren Isolierung Arbeiter jetzt Türme und Rotorblätter für der Markt für Windenergie in den USA, und von Eigenheimen, nach Expertenmeinung Turbinen. Noch ist der grüne Wandel kein die Branche beschäftigt heute rund 85.000 eine der einfachsten Maßnahmen, um den Arbeitsplatzmotor für die Gemeinde mit Menschen. Der Wandel gewinnt langsam an Energieverbrauch der USA zu bremsen. gerade einmal 16.000 Einwohnern, denn Fahrt, da viele der Fördermittel an einzelne Für diese Visionen einer Volkswirt- von einst 1.800 Arbeitsplätzen sind knapp Bundesstaaten vergeben werden, die Bag- schaft, die auf ihre grüne Innovationskraft 400 geblieben. Aller Anfang ist schwer, ver- ger und Arbeiter jetzt in Bewegung setzen setzt, wirbt Obama immer wieder auf dem sichert Obama seinen Zuhörern in solchen müssen. Drei Monate nach dem Start des flachen Land. Als Meilenstein seiner Ener- Momenten: „Wir haben nicht die Wahl, ob Konjunkturprogramms waren 45,6 der ins- giekampagne flog er am Earth Day Ende wir unsere Wirtschaft oder die Umwelt ret- gesamt 787 Milliarden ausgezahlt, bis Ende April in das Städtchen Newton in Iowa. Der ten wollen, sondern zwischen Wohlstand des Haushaltsjahres im September müssen

Staat ist eine Hochburg der Mais- und So- und Niedergang. Wir können entweder der weitere 91 Milliarden verteilt werden. a p ,

jafarmer und war deswegen frühzeitig auf weltweit größte Erdöl-Importeur bleiben, „Es dauert Jahre, bis man handfeste Er- l ai f

den Ethanol-Zug gesprungen – eine einhei- oder wir können der weltweit größte Expor- gebnisse sehen wird, aber ich bin bereits g es,

mische, aber keineswegs nachhaltige Ener- teur von sauberer Energie werden.“ mit der Tatsache zufrieden, dass ein Um- i m a giequelle, die die Regierung Bush und der Rund 60 Milliarden Dollar will er in die denken eingesetzt hat“, sagt Jeanne Meade. g ett y Kongress massiv förderten. Obama kam Erforschung und Entwicklung von saube- „Die Wirtschaft erholt sich langsam. Unter-

nach Newton, um in der örtlichen Fabrik ren Energieträgern investieren, um ihren nehmer, die innovativ denken, haben mehr Fotos: Viele Familien sind direkt von der Krise betroffen und fürchten den Verlust ihrer Lebensgrundlage. Deshalb sind Obama die Begegnungen mit den Menschen so wichtig, Privatkredite wie hier zusammen mit Ehefrau Michelle und den Töchtern Sasha und Malia beim traditionellen „Easter Egg Roll“ in Washington Stopp der Verschuldung Im Gegensatz zu Deutschland, wo Kreditkar- ten vor allem Zahlungsmittel sind, bilden sie in den USA auch ein Mittel der Verschul- dung. Doch dass immer mehr Amerikaner wegen hoher Kreditkartenschulden in Bedrängnis geraten, will Präsident Obama Tausende von Amerikanern verloren wegen nicht länger dulden Kreditproblemen ihre Eigenheime

Raum, um ihre Ideen auszuprobieren.“ Die dent gerade einmal 14 von ihnen, aber es nennen, für sieben Milliarden Dollar das 43-Jährige arbeitet für einen Luftfahrtkon- war eine deutliche Abkehr vom üblichen Breitband-Internet aufs flache Land zu zern in Florida und reist regelmäßig nach Format, in dem akkreditierte Reporter die bringen, sowie das Mandat, öffentliche Washington. „In meiner Industrie wimmelt üblichen Fragen stellen. Daten unter www.data.gov offen zu legen. es von konservativen Männern der älteren Für Historiker ist der Einsatz von You- „Es ist wirklich revolutionär, alles online Generation. Sie waren über Obamas Wahl- Tube, Facebook und Twitter die zeitgemäße zu stellen und die Arbeit der Regierung so sieg nicht gerade euphorisch, aber sie se- Variante der so genannten „Fireside Chats“, transparenter zu machen“, so Migyanka. „Je hen, was er in kurzer Zeit in Bewegung ge- mit denen Präsident Roosevelt in den mehr man weiß, um so besser.“ setzt hat und respektieren das. So macht Dreissigerjahren Bürgern die Reformen des Die Transparenz ist nicht triviales Lip- sich vorsichtiger Optimismus breit.“ New Deal nahezubringen versuchte. „Was penbekenntnis. Sie reicht von der Ent- Diese neue Hoffnung speist sich aus Öffentlichkeitsarbeit angeht, leisten sie scheidung, Folter-Memoranden der Bush- der Art und Weise, wie Obama mit dem Außergewöhnliches“, sagt der Ökonom An- Regierung zu veröffentlichen, bis zum Land kommuniziert. Als erster Präsident- thony Migyanka aus Dallas über Obamas ausdrücklichen Wunsch, die Vorschläge und schaftskandidat setzte er das Internet und Team. Auch wenn er mit der Wirtschaftspo- Meinungen der Bevölkerung zu Reformthe-

g es soziale Netze ein, um Anhänger zu in- litik des Präsidenten nicht einverstanden men einzuholen. Obamas neuer Führungs-

i m a formieren und zu motivieren, und diese ist, gibt er ihm „eine Eins plus, wenn es dar- stil betont die Orientierung an Fakten und Web-Gewandtheit setzt sich in seiner Ad- um geht, die Ängste und Sorgen der Bevöl- die Bereitschaft zu Diskussionen auch mit g ett y ministration fort. So veranstaltete Obama kerung zu beruhigen.“ politischen Gegnern. „Einfühlungsvermö- o, g o, Ende März die erste Web-Pressekonferenz, Obama wird als Technologie-Präsident gen“ nennt der Präsident seinen Willen bei der 93.000 Bürger Fragen im Internet in die Geschichtsbücher eingehen, glaubt zuzuhören, was schon in den ersten 100

Fotos: i m a Fotos: einreichten. Zwar beantwortete der Präsi- Migyanka. Da ist einmal die Initiative zu Tagen im Amt einen deutlichen ›› schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 22

Liebender Vater: Barack Obama mit seiner Familie. Er weiß, Gesundheitswesen wie wichtig soziale Absicherung ist Mehr Geld für Kranke Rund 46 Millionen Menschen sind in den USA ohne Krankenversicherung. Weil sie es sich nicht leisten können. Das Gesundheitssystem gilt näm- lich als teuerstes der Welt

In Knoxville, Tennessee, bieten Zahnärzte eine kostenlose Behandlung für einkommens- schwache Patienten an

Schlussstrich unter die Geheimniskräme- gen wird, damit wir die Leidenschaft und Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, rei der Regierung Bush gezogen hat. das Herz der Protagonisten sehen können“, dass sich die Zahl der Schwarzen, die die- „Meine Widersacher mögen am Ende erzählte mir Sandy Traub aus Savannah se Frage bejahten, seit dem Sommer 2008 nicht mir übereinstimmen“, erklärt Oba- im Bundesstaat Georgia, die zum ersten verdoppelt hat. Knapp drei Viertel aller US- ma, „aber sie bekommen ein Gefühl dafür, Mal seit langer Zeit für einen Demokraten Bürger sind für die kommenden vier Jahre wie ich denke und meine Entscheidungen stimmte. „Wenn Obama weiterhin so mutig optimistisch gestimmt. treffe. Sie finden Gehör.“ Kolumnisten fällt Reformen anpackt, passieren Wunder. Bei „Die Unterhaltung hat sich von: ‚Ame- bei so viel kühler Analyse und Willen zur alledem ist er immer noch einer von uns“, rikas erster schwarzer Präsident‘ gewan- Synthese sofort ein Doppelgänger ein: Mis- ergänzt die vierfache Mutter: „Er steht an, delt zu: ‚Amerikas Präsident, der uns allen ter Spock, der Vulkanier auf dem „Raum- um einen Hamburger zu kaufen, geht mit neue Zuversicht gibt‘. Der gegenseitige schiff Enterprise“ schaffte ebenfalls den seiner Frau essen und nimmt sich Zeit für Respekt erstreckt sich vom neuen Ton in Brückenschlag zwischen den Welten, ohne seine Kinder.“ Eine schwarze Familie mit der Außenpolitik bis zur Innenpolitik“, sagt sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Kein kleinen Kindern im Weißen Haus zu erle- Sandy Traub. Damit spielt sie auf Obamas Wunder, dass sich Obama den neuen „Star ben, stellt nicht nur für Traub eine moder- diplomatische Handlungen an, die eben- Trek“-Film ansah, nachdem er den Spock- ne Version der Kennedy-Saga dar. so einen radikalen Bruch mit der jüngsten Vergleich immer wieder hörte. Umfragen belegen, dass Obamas Umgang Vergangenheit darstellen: vom Dialog mit Offenheit als Leitprinzip bei der Ent- mit seit langem schwelenden Rassenfragen dem Iran und Kuba bis zum Vorhaben, die f

scheidungsfindung beeindruckt selbst in den USA einen Stimmungsumschwung Geheimkerker der CIA und das Gefängnis ai a, l a,

Kritiker, wie ich bei Gesprächen im Alltag herbeigeführt hat. In einer Erhebung Ende in Guantánamo zu schließen. p immer wieder feststelle. „Ich hoffe, dass in April gaben zwei Drittel aller Befragten an, Gleichwohl hegen auch Obamas Anhän-

Washington endlich der Vorhang aufgezo- das Verhältnis der Rassen im Lande sei gut. ger Bedenken, was die Realisierung einzel- d Fotos: change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 23

Obama beim Besuch einer Photovoltaik-Anlage auf dem Gelände der Air Force Basis in Las Vegas, Nevada vita> barack obama

Barack Obama wurde 1961 auf Hawaii geboren. Nachdem sein Vater, ein Keni- aner, die Familie verließ, wuchs Obama bei seiner Mutter und seinem Stiefvater und später bei seinen Großeltern auf Hawaii auf. 1983 schloss er in New York sein Politikstudium ab, graduierte 1991 in Harvard zum Master of Law und hei- ratete seine Lebensgefährtin Michelle, mit der er heute zwei Töchter hat. Seit 1993 arbeitete er als Anwalt, bis er 1996 auf Anhieb für die Demokratische Partei als erster Schwarzer in den Senat von Illinois gewählt wurde. 2007 erklär- te er seine Kandidatur für das Präsiden- ten-Amt, setzte sich im Vorwahlkampf gegen Hillary Clinton durch und gewann am 4. November 2008 die Wahl.

Alternative Energien

Kampf der Klimakatastrophe

Die USA hat weltweit die höchsten CO2-Emissionen. Jetzt setzt Barack Obama auf Energie- und Umwelt- schutz. Tanken mit Bio-Gas (ganz rechts) ist dabei nur ein Teil der Reformen. Aktivisten gehen in zahlreichen Städten der USA auf die Straße (rechts), um für mehr Umweltschutz zu demonstrieren

ner Elemente seines Programms betrifft. ter behandelt, erwartet relativ raschen Fort- einmal reichlich Erholungs- und Renovie- Das gilt insbesondere für die Reform des schritt: „Das System ist so kaputt, dass es nur rungsbedarf. Das sehe ich, wenn in meiner Gesundheitswesens, an der bereits die Clin- besser werden kann. Versicherungen haben Wahlheimat San Francisco Obdachlose an tons gescheitert waren. Kein anderes Land zu lange ihre Monopolstellung missbraucht. der Ampel betteln; wenn veraltete Busse gibt pro Kopf mehr für sein Gesundheits- Ich glaube, dass Obama in den nächsten vier ständig ausfallen und ganze Linien wegen wesen aus – insgesamt rund zwei Billionen Jahren eine erste Reform in die Wege leitet. Geldmangels gestrichen werden. Dollar im Jahr – aber zugleich besitzen Bis wir zu einer allgemeinen Krankenversi- Aber überall, selbst an der zerschlissenen rund 46 Millionen Menschen keine Kran- cherung kommen, reichen wohl auch acht Jacke des obdachlosen Veteranen, der zur Rush kenversicherung. Die Rezession hat die Si- Jahre Amtszeit nicht.“ Hour an der Market Street auf einen Dollar tuation noch weiter verschlimmert – ohne Was hat der 44. Präsident der USA in hofft, prangt immer noch das zur Ikone ge- Aussicht, die aus dem Ruder gelaufenen seinen ersten 100 Tagen im Amt geleistet, wordene rotblaue Obama-Porträt des Künst- Gesundheitsausgaben zu bremsen. das über symbolische Wegmarken hinaus lers Shepard Fairey mit dem Wort „Hope“. Obamas Plan, mit einer landesweiten Bestand haben wird? Obama selber spricht Das ist für die Wählerin Jeanne Meade öffentlichen Kasse die privaten Versicherun- davon, ein „neues Fundament“ für das Land schon Erfolg genug: „Es ist völlig falsch, alle

is b is cor a, gen zu mehr Wettbewerb zu zwingen, ent- gelegt zu haben. Der Begriff ist seine Antwort Erwartungen auf einen einzigen Menschen spricht noch lange nicht einer allgemeinen auf Franklin D. Roosevelts „New Deal“ und zu setzen. Ein neuer Chef kann eine ange- es, d p g es, Krankenversicherung nach europäischem Lyndon B. Johnsons „Great Society“– zwei schlagene Firma auch nicht allein retten,

i m a Vorbild. Aber es erscheint vielen Gesund- große Würfe, die zu bis heute wirksamen Re- dazu braucht er Unterstützung. Dass wir heitsexperten wie Politikern als Schritt in formen führten. Die Supermacht hat in der alle millionenfach bereit sind, Obama bei g ett y die richtige Richtung. Die Kinderärztin Julia Sinn- und Finanzkrise, nach Terrorangst und dieser Aufgabe zu helfen, das stimmt mich

Fotos: Fotos: Getzelman in San Francisco, die meine Toch- zwei teuren Kriegen im Nahen Osten, wieder euphorisch.“ ][ Land der Reformen

Verzicht auf Atomwaffen Prag, Versprechen für den Frieden Wege des Wandels Während seines Besuchs im April in Prag kündigte Obama an, sich für eine Welt ohne Im Wahlkampf und auch nach seiner Wahl zum Atomwaffen einzusetzen. Bis Ende des Jah- res wollen die USA sich mit Russland über Präsidenten zog Barack Obama durch die USA und kündigte ein Nachfolgeabkommen für den Vertrag zur Reformen an, auf die die Menschen schon lange gewartet Reduzierung strategischer Waffen von 1991 einigen. Auch die Herstellung kernwaffen- hatten. Dadurch veränderte sich die Stimmung im Land – aus fähigen Materials müsse untersagt werden. verhaltener Hoffnung wurden Mut und Euphorie Außerdem kündigte Obama die Ratifizierung des Uno-Vertrages zum Verbot von Atom- grafik: dieter duneka ][ waffentests in den USA an. Detroit Michigan

Newton Elkhart Iowa Indiana

Philadelphia USA Pennsylvania

St. Louis Missouri Washington D.C.

Hilfsprogramm für Hausbesitzer Phoenix, Vorstellung seiner Pläne

Im Februar dieses Jahres stellte der Präsi- dent dort sein Hilfsprogramm vor, mit dem er rund neun Millionen Eigenheimbesitzern unter die Arme greifen und so die Zwangs- Camp Lejeune North Carolina Steht für Reformen in seinem Land: US-Präsident Barack Obama als Gastgeber eines versteigerungen ihrer Immobilien verhin- virtuellen „Townhall-Meeting“ – ein erster Schritt zur Internet-Demokratie dern will. Ziel ist es, mit einer staatlichen Finanzspritze in Höhe von 75 Milliarden Dollar (rund 60 Milliarden Euro) die Immobi- Phoenix lienkrise in den Griff zu bekommen. Allein Arizona 2008 mussten in den USA mehr als drei Millionen Häuser zwangsversteigert werden.

Versprechen an muslimische Welt Kairo, Werbung für eine neue Sichtweise MEXIKO Im Juni richtete Barack Obama in Kairo sei- ne Worte an die gesamte muslimische Welt. Er sprach über Themen wie die Einsätze in Afghanistan und Irak und betonte, dass der Neuanfang in Lateinamerika Frieden im Nahen Osten nur in einer Zwei- Mexiko und Trinidad, Gipfeltreffen Staaten-Lösung für Israel und die Palästi- Bei seinem Besuch in Mexico-City versprach nenser liegen könne. Dabei kritisierte er die Barack Obama, das Nachbarland in Zukunft israelische Siedlungspolitik und wiederholte beim Kampf gegen Drogenkartelle zu unter- seine Feststellung, dass sich Amerika nicht stützen. Auf dem Lateinamerika-Gipfel im im Krieg mit dem Islam befindet. April kündigte der neue Präsident außerdem an, dass er eine partnerschaftliche Bezie- hung zu den Staaten Lateinamerikas und der Karibik aufbauen wollen. Am Rande des Treffens kam es zum Händedruck mit dem venezolanischen Staatschef und Kritiker der US-Politik, Hugo Chávez.

corbis Guantanamo : : oto F KUBA

Mexiko City change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 25

Wende in der Energiepolitik Hilfe für die Automobilindustrie Iowa, Rede am „Earth Day“ Detroit – das Wahlversprechen

Am „Tag der Erde“ nannte Obama in Iowa Heiß diskutiert und noch ohne absehbares seine Ziele, um die Umwelt zu retten. Er will Ende: Die Höhe der von Obama angekün- die Abhängigkeit vom Öl verringern und die digten und zum Teil bereits bewilligten Treibhausgasemissionen senken. Er will den staatlichen Hilfe für die Automobilindustrie Wechsel zu einer kohlenstoffarmen Volks- hat Auswirkungen auf die ganze Welt. Ende der „Rassen“-Trennung wirtschaft auf der Grundlage erneuerbarer Hintergrund: Die US-Autoindustrie steckt Philadelphia, Rede am Ort der amerika- Energien zum grundlegenden Teil seiner in- tief in den roten Zahlen, vor allem die nischen Unabhängigkeitserklärung nenpolitischen Agenda machen. Dieser Weg Situation von General Motors und Chrysler Vor seiner Wahl hielt Obama seine wohl sei nicht ohne erhebliche Kosten möglich, hatte sich schon vor Obamas Wahl zum persönlichste Rede: Darin stellte er sich da Innovationen umfassende Investitionen Präsidenten dramatisch verschärft. gegen die rassistischen Hasstiraden, die sein des öffentlichen und des privaten Sektors Vertrauter und Prediger Jeremiah Wright erfordern. gegen die „Herrschaft der Weißen“ geäußert hatte, zeigte aber dennoch für den alten Detroit Mann Verständnis. Mit dieser Rede zum Ver- Michigan hältnis zwischen „Schwarzen“ und „Weißen“ ermahnte er die Amerikaner, dieses Thema Newton Elkhart nicht länger zu ignorieren. Iowa Indiana

Philadelphia USA Pennsylvania Konjunkturprogramm Elkhart, Indiana, das Hilfspaket St. Louis Missouri Am 2. Februar legte Barack Obama das Programm bei einem Town-Hall-Meeting in Washington D.C. Elkhart in groben Zügen dar; bald darauf Gesundheitsreform unterzeichnete er es: das größte Hilfspaket Washington D.C., Unterzeichnung der Geschichte! Ein 787 Milliarden Dollar schweres Konjunkturprogramm, das rund Im Februar löste Obama sein Wahlverspre- 3,5 Millionen neue Jobs schaffen soll. Viele chen ein und unterzeichnete in Washington Menschen hoffen nun, dass durch die sozia- ein Gesetz für eine bessere Krankenversi- len Hilfen und Staatsaufträge bald ein Ende cherung für Kinder aus sozial schwachen der Rezession in Sichtweite kommt. Familien. Damit sollen vier Millionen Kinder, Camp Lejeune die nicht versichert waren, in den Genuss einer staatlichen Krankenversicherung North Carolina kommen. 100-Tage-Bilanz St. Louis, symbolischer Meilenstein

Phoenix Im April zog Obama in der Townhall von St. Internet-Demokratie Louis seine 100-Tage-Bilanz und bekräf- Arizona Washington D.C., Web-Konferenz tigte seine Ziele. Kaum zuvor wusste ein Truppenabzug US-Präsident die Bevölkerung so hinter sich Camp Lejeune, Ankündigung Ebenfalls in Washington hielt Obama im wie er – und das trotz der Krise. Laut einer Am 27. Februar dieses Jahres kündigte US- März seine erste Web-Pressekonferenz Umfrage von „Washington Post“ und „ABC Präsident Barack Obama auf dem Marine- ab, zu der mehrere tausend Fragen online News“ stehen 69 Prozent der Befragten stützpunkt Camp Lejeune den schrittweisen eingereicht wurden. hinter Obama. Erstmals seit 2004 glaubt Abzug aller Truppen aus dem Irak an – knapp eine Mehrheit der Bürger, dass sich das sechs Jahre nach Beginn des Irak-Krieges. Land trotz der enormen Probleme auf dem Der von ihm vorgestellte Plan sieht vor, dass richtigen Weg befinde. die US-Kampftruppen das Land bis August 2010 verlassen, bis Ende 2011 sollen auch MEXIKO die übrigen Soldaten abgezogen werden.

Schließung Guantanamos Guantanamo/Kuba, Januar 2009

Auch wenn der Senat die Finanzmittel zur Auflösung des Gefangenenlagers Guantanamo noch verweigert – Obamas Ziele sind eindeu- tig: Häftlinge, denen Straftaten vorgeworfen werden, sollen an den Bundesgerichten angeklagt und in Hochsicherheitsgefäng- nisse verlegt werden. Als Kriegsverbrecher verdächtigte Gefangene sollen vor Militär- gerichte gestellt werden. Gefangene ohne Sicherheitsrisiko – immerhin rund 50 Prozent – sollen an Drittländer überstellt werden. Guantanamo

KUBA

Mexiko City schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 26

hamburger hauptschulmodell Faire Chance auf den Traum-Job Deutschland steht laut der SGI-Ergebnisse beim Thema Bildung nur im Mittelfeld. Ein Modellprojekt in Hamburg ist ein gutes Beispiel dafür, wie man es besser macht: Dort unterstützen 75 große Unternehmen ein Projekt, das Hauptschüler in den Arbeitsmarkt integriert und gezielt für Ausbildungsplätze sorgt

text: tanja breukelchen ][ fotos: arne weychardt

romm… Draußen startet eine Boeing 747, hebt ab, schwebt, W verschwindet in den Wolken. Friedemann Buschs (17) Blick geht in Rich- tung Rollbahn. Ein Lächeln zuckt um sei- nen Mund. So, als könnte er es noch nicht so richtig glauben, dass er wirklich da ist. In einer dieser riesigen Hallen der Lufthansa Technik in Hamburg. 750.000 Quadrat- meter Gelände, 7.000 Menschen, die hier sgi> arbeiten. Und er mittendrin – „irre“, fin- Bildungsgerechtigkeit det Friedemann. Und dann erzählt er. Von der Zeit im letzten Sommer, kurz vor den großen Ferien. „Ich wusste, dass ich mei- Finnland nen Hauptschulabschluss bekomme und nicht weiter zur Schule gehen will. Zuerst Bildungspolitik ist eine Erfolgsge- hatte ich noch Berufswünsche, wollte Kfz- schichte in Finnland. Im SGI-Vergleich Mechatroniker werden. Doch auf eine Stelle erreicht Finnland Platz eins, gefolgt von Kanada und Neuseeland. Diese kamen über 50 Bewerber. Bei den meisten Spitzenposition zeigt sich auch an Betrieben bekam ich sofort eine Absage.“ den sehr guten PISA-Ergebnissen Warum? – „Ich denke, es lag daran, dass ich finnischer Schüler. Durch sinnvolle von der Hauptschule kam. Am Ende war es Bildungsinvestitionen ist es gelun- mir egal, und ich habe mich einfach quer- gen, dass Bildung für alle Bevölke- beet beworben. Für mich ging es nur noch rungsschichten zugänglich ist. Der soziale Hintergrund spielt kaum eine darum, irgendeinen Job zu bekommen.“ Rolle für das Erreichen eines hohen Eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur Bildungsniveaus oder das Erlernen wies ihn damals auf das Hamburger Haupt- eines bestimmten Berufes. Die Regie- schulmodell hin, das im Jahr 2000 von rung hat es verstanden, das Konzept Michael Otto, dem Vorsitzenden der Otto des lebenslangen Lernens erfolgreich Group, und Hapag-Lloyd-Vorstand Bernd im gesellschaftlichen Bewusstsein Wrede initiiert wurde. Die Wirtschaftsini- zu verankern. Dies gilt auch für die Wirtschaft. Knapp 40 Prozent tiative hat es bis heute geschafft, 75 große der Finnen nehmen fortlaufend an Unternehmen als Partner zu gewinnen und jobbezogenen Weiterbildungsmaß- alle Hamburger Schulen mit Hauptschul- nahmen teil. Das Erfolgsbeispiel zeigt absolventen mit ins Boot zu holen. Unter- deutlich, welch zentralen Stellenwert stützt wird in einem Drei-Pfeiler-Modell, gute Bildungspolitik sowohl für erklärt Michael Goedeke von der Arbeits- wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit stiftung Hamburg, der die Koordinierungs- als auch für sozialen Zusammenhalt besitzt. stelle des Modells leitet: „Wir beginnen an den Schulen, gehen in die neunten Klassen und sprechen mit den Schülern über ›› change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 27

Friedemann Busch (17, vorn) Praktikant bei der Lufthansa Technik in Hamburg mit seinen vier Kollegen Fatih (17), Jonas (16), Jannis (18) und Julian (16, von links) Durch das Hamburger Hauptschulmodell haben die fünf ehemaligen Hauptschüler eine so ge- nannte „Betriebsorientierte Ausbildungsvorbereitung“ bekommen: ein zehnmona- tiges Praktikum mit besten Chancen, danach in ein fes- tes Ausbildungsverhältnis als Werkzeugmechaniker übernommen zu werden schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 28

ihre Stärken und Interessen. Der zweite Schritt ist dann der Besuch der Arbeits- agentur, unsere Beratung und die Hilfe in der Bewerbungs-Phase. Und zum Schluss erfolgt ein Gespräch mit dem Personalre- ferenten des Partnerunternehmens der je- weiligen Schule.“ Genau so eine Vermittlung hat Friede- mann gerade hinter sich. Das heißt aber Tammy (18) und Schoheib noch nicht, dass er damit auch einen Aus- (18, Foto unten) sind stolz bildungsplatz hat. So wie seine Mitbewer- auf ihren Ausbildungsplatz ber Jannis (18), Fatih (17), Julian (16) und bei der Lufthansa. Jonas (16) muss Friedemann ein zehnmo- Sie fanden nach dem natiges Betriebspraktikum machen. Erst Hauptschulabschluss keine Lehrstelle. Auch sie wurden danach entscheidet der Betrieb, ob er eine über das „Hamburger Haupt- Lehrstelle bekommt. Keine Garantie, aber schulmodell“ in den Betrieb eine faire Chance – und die fühlt sich ver- vermittelt. Ein Glücksgriff für beide Seiten. Denn den dammt gut an. „Man ist verzweifelt, wenn beiden jungen Leuten macht immer wieder Absagen kommen, trotzdem die Arbeit nicht nur Spaß. Sie wurde es schon fast zur Routine.“ Das Prak- sind auch bereit, Verant- tikum jetzt, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu wortung zu übernehmen – schließlich arbeiten sie an lernen und kurz vor dem Ziel zu sein, gebe Flugzeugteilen! ihm endlich wieder einen Kick: „Die Chan- ce auf einen gesicherten Ausbildungsplatz als Werkzeugmechaniker bringt mich dazu, mein Bestes zu geben. Meine Eltern freuen sich, meine Freunde zeigen wieder Interes- se an mir – wow, Lufthansa Technik, da ist nicht jeder!“ Die Arbeit macht Spaß, auch wenn er um 6.30 Uhr im Betrieb antritt, den Meis- ter begrüßt und die Stempelkarte abholt. „Am Anfang mussten wir U-Stahl feilen. Das dauerte lange und man bekam Blasen an den Fingern.“ Sein Ausbildungsleiter Detlef Schulz lacht: „Aber noch davor ha- ben wir kleine Modell-Flieger gebaut und sie draußen zusammen ausprobiert.“ Der 58-Jährige begleitet seit 1986 junge Men- schen durch die Ausbildung, bis heute fast 800 Azubis. Er wirkt ruhig, besonnen, aber bestimmt. „Die Arbeit im Betrieb ist für vie- le Jugendliche völlig ungewohnt. Deshalb muss auch das Elternhaus mit umschal- ten.“ Und genau da, findet Ausbildungslei- ter Hans-Peter Meinhold, liegen die meis- ten Probleme: „Es liegt am Elternhaus, wie viel an Bildungs- und Erziehungsarbeit an die Schulen abgegeben wird. Die Lehrer haben immer mehr soziale Aufgaben und sind oft restlos überfordert.“ Viele der Jugendlichen kämen aus zer- rütteten Familien. Ein Beispiel fällt Mein- hold ein, von einem Jungen, der am Ende des zweiten Ausbildungsjahres plötzlich immer mehr Fehler machte. „Dann erfuhr Detlef Schulz (58) weist Schoheib in eine neue Maschine ein. Seit den Achtzigerjahren arbeitet der Ausbildungs- leiter mit jungen Menschen zusammen und begeistert sie für ihren Job, zeigt aber auch Grenzen auf und vermittelt, wie wichtig im Arbeitsleben Kritikfähigkeit und Disziplin sind. Dazu zählt für ihn selbstver- ständlich, dass am Morgen alle den Meister begrüßen, die Stempelkarte abholen und das Weckerklingeln für den frühen Dienstantritt um 6.30 Uhr nicht überhören

„Die Chance, gendlichen mit dem plötzlichen Druck im und höchstens 20 Prozent Hauptschüler.“ mit Hauptschul- Beruf nicht klar. „Bei uns gibt es kein Rund- Woran das liegt, erklärt Gerd Knop, Per- um-Sorglos-Paket. Die Koordinierungsstel- sonalmanager der Otto Group und Projekt- Abschluss eine le trifft eine Vorauswahl. Dann machen leiter des „Hamburger Hauptschulmodells“: die Schüler bei uns einen abgespeckten „In den letzten 20 Jahren haben die gestie- Lehrstelle Eignungstest und wenn sie den bestehen, genen Anforderungen in Ausbildungsbe- kommen sie in die so genannte betriebs- rufen und die schleichende Verdrängung zu bekommen, orientierte Ausbildungsvorbereitung.“ Vie- durch Abiturienten und Realschüler die war gering“ le der jungen Leute würden in diesen zehn Hauptschüler vom Arbeitsmarkt verdrängt. Monaten selbstbewusster und reifer, lern- Und das, obwohl in einer Stadt wie Ham- Schoheib (18), Auszubildender ten, sich zu organisieren, sich zu artikulie- burg rund 35 Prozent der Schulabgänger ren und besser mit Kritik umzugehen. Hauptschüler sind.“ Der Versuch, mit den Eines sei den Jugendlichen bewusst: Jugendlichen im richtigen Augenblick über ich, dass seine Mutter alleinerziehend ist, Ziel der Firma ist es, sie zu übernehmen. ihre Stärken und Interessen zu reden und er noch drei Geschwister hat, und sich zu Damit will die Lufthansa Technik genau am Ende – auch als Service für die Betriebe Hause um alles kümmern muss. Die Arbeit wie die anderen Hamburger Unternehmen – eine Vorauswahl zu treffen, sei ein wichti- bei uns war seine Chance, aus dieser trauri- Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen und die ger Schritt, diese Abwärtsspirale zu durch- gen Welt herauszukommen.“ Lobby der Hauptschüler stärken. „Wo wir brechen. „Tests, bei denen die Hauptschüler Ein Freund von Kuschelpädagogik sei früher ein Gemisch hatten, ist die Vertei- mit Oberstufenschülern verglichen wer- er bei allem Verständnis aber nicht, sagt lung jetzt ganz klar gelagert: zehn Prozent den, sind nicht gerecht. Nicht Noten, son- Meinhold. Denn durch sie kämen die Ju- Gymnasiasten, über 70 Prozent Realschüler dern Talente müssen entscheidend ›› schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 30

sein“, sagt Knop. Neben großen Firmen seien inzwischen Kontakte zu rund 1.000 kleineren Betrieben geknüpft worden – „wir arbeiten dabei nur mit Firmen zusammen, Gerd Knop vom „Hamburger von denen wir überzeugt sind.“ Faire Chan- Hauptschulmodell“ trifft den cen und Vertrauen in Fähigkeiten, das müs- 19-jährigen Isa in seinem se ein Ziel unserer Gesellschaft sein – und Büro zum Abschluss-Gespräch. zwar für alle jungen Leute, die in Deutsch- Der junge Klarinettist wurde land die Schule verlassen. Das Modell setzte über das Projekt erfolgreich vermittelt – allerdings nicht Maßstäbe, wurde bundesweit mehrfach ko- als Lehrling in einen Betrieb, piert. „Über die Ausbildungseignung sollten sondern wegen seines außer- nicht Institutionen entscheiden, sondern gewöhnlichen musikalischen der Markt“, sagt Knop. „Und generell sollte Talents gleich ans Hamburger Konservatorium. Dort bestand man nicht auf offene Plätze gucken, son- er auf Anhieb die Aufnahmeprü- dern auf Qualifikation, ansonsten sind die fung und studiert als einer der Abbrecherquoten enorm. Auch die inzwi- ganz wenigen Nicht-Abiturien- schen 380 verschiedenen Ausbildungsbe- ten. Hauptfach: Klarinette! Jetzt will ihm Knop erneut helfen rufe sind nicht sinnvoll. Das ist zu verwir- und Kontakte knüpfen. Ziel: eine rend. Die Spezialisierung muss der zweite große Musiker-Karriere Schritt sein, davor ist vor allem eine gute Grundausbildung wichtig.“ Für die Schulen gilt: „Es sollte Zielvereinbarungen für Schul- leiter geben. Denn sie sollen sich nicht nur für den Abschluss ihrer Schüler interessie- ren, sondern vor allem für den Anschluss der Jugendlichen an den Arbeitsmarkt. Uns fällt auf, dass nicht in erster Linie das sozi- ale Umfeld einer Schule entscheidend ist, sondern das Engagement der Lehrer.“ Dass die Freude am Job einen weit brin- gen kann, erleben Schoheib (18), Mario (17) und Tammy (18). Sie sind einen Schritt weiter als Friedemann und machen bereits eine Ausbildung bei der Lufthansa Technik. „Mein Traum war es, Stuckateurin zu wer- den – aber mir haben alle abgesagt“, erin- nert sich Tammy. Ihre Arbeit als Werkzeug- mechanikerin mache fast so viel Spaß wie der ursprüngliche Traumjob. Vor allem mit den netten Kollegen, dem witzigen Mario und dem ruhigen Schoheib. Gute Schulno- ten hatten sie alle drei. „Aber die Chancen, mit Hauptschulabschluss eine Lehrstelle zu finden, sind nicht gut“, findet Schoheib. Mario betont, dass er trotzdem nicht weiter zur Schule gegangen wäre: „Ich hab sofort gesagt, ich will kein Abi machen. Mein Papa fand das in Ordnung und hat immer daran geglaubt, dass ich auch mit einem Haupt- schulabschluss meinen Weg mache.“ So ein Selbstbewusstsein hat nicht jeder. Und genau das fördert Michael Goedeke in der Koordinierungsstelle: Bewerbungs- trainings mit Videoaufzeichnung seien da nicht so wichtig wie der persönliche Zu- spruch. „Wir haben Arbeitsplätze für die Schüler. Listen mit Firmen, die sie anrufen können. Und wir erstellen mit ihnen To-Do- Listen und beraten sie zusammen mit ihren Eltern.“ Das Bild, das es in der Öffentlichkeit über Hauptschüler gebe, sei nur zum Teil change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 31

info> hamburger hauptschulmodell

Das „Hamburger Hauptschulmodell“ ist ein von Hamburger Unternehmern initiiertes Netzwerk. Jugendliche, die die Schule nach der neunten Klasse mit dem Hauptschulab- schluss verlassen, sollen wieder verstärkt in eine betriebliche Ausbildung gebracht werden. Zielsetzung ist es, sie in einen Ausbildungsberuf zu vermitteln, der ihren Stärken und Interessen entspricht. Beteiligt sind 75 Firmen und fast hundert Haupt- und Gesamtschulen. Das Drei-Pfeiler-Konzept: 1. Schule: Einschätzung der Stärken und Interessen 2. Arbeitsagentur: Berufsberatung, Hilfe bei der Vermittlung vor Ort 3. Betriebe: Empfehlung und Hilfe bei Bewerbung und Vermittlung Das Ergebnis: Die Übergangsquote von Hauptschülern in die ungeförderte betriebli- che Ausbildung stieg von 6,7 Prozent (2000) auf aktuell 18,8 Prozent. Das Modell wird von der Stadt Hamburg und der Agentur für Arbeit finanziert. Es wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, unter ande- rem mit dem Carl Bertelsmann-Preis 2005. Informationen: www.arbeitsstiftung.de

„Nicht das soziale Umfeld wahr. Die Wirklichkeit sei vielschichtiger. bekommt – die er dann natürlich locker be- einer Schule ist Wichtig sei doch, dass die Schüler besser stand. „Weil der Musikunterricht oft nicht auf den Beruf vorbereitet werden. Nicht stattfand, habe ich gar nicht erst eine Note entscheidend, nur Noten und Abschlüsse dürften ent- bekommen“, erinnert sich Isa. „Irgendwie ha- scheidend sein, sondern vor allem: Talent! ben die mich gar nicht wahrgenommen.“ sondern das Weil man das um ein Haar übersehen Da ist es fast schon ein Wunder, wie Engagement hätte, wäre Isa Pini (19) fast im falschen Be- selbstbewusst Isa heute ist. Wie er einem ruf gelandet. Durch das Engagement des bei der Begrüßung mit festem Blick in die der Lehrer“ „Hamburger Hauptschulmodells“ ist er Augen schaut, wie er voller Stolz seine Klari- jetzt Absolvent des Hamburger Konserva- nette vor sich auf den Tisch legt – jederzeit Gerd Knop, „Hamburger Hauptschulmodell“ toriums. Er und seine Klarinette. Fatal: Weil bereit zu spielen. „Beim Schulprogramm seine Musiknote „Nicht bewertbar“ lautete, mit der Arbeitsagentur lautete die Empfeh- hätte er den Hauptschulabschluss fast nicht lung, ich solle eine Ausbildung im Einzel- geschafft. Wir treffen ihn im Gebäude der handel machen“, sagt er und grinst. „Aber Otto Group, wo er ein Abschlussgespräch das wollte ich nicht und hätte es auch nie mit Gerd Knop hat. „Wenn eine Mitarbeite- getan. Schon mit elf Jahren bin ich zusam- rin in der Koordinierungsstelle nicht zufäl- men mit meinem Vater aufgetreten und lig früher mal ein kleines Restaurant mit habe bis zu sechs Stunden am Tag gelernt. angrenzendem Theater gehabt hätte und Das war mein Traum, ich wollte immer da auf sein Spiel aufmerksam geworden wäre, hin. Ich hätte alles getan, um mit meinem hätten wir Isa wohl nie entdeckt“, lacht Knop Instrument Geld zu verdienen, egal ob in über den Zufall. Gemeinsam sprachen sie einer Kneipe oder in der Konzerthalle!“ dann mit dem Direktor der Hauptschule. Dann greift er seine Klarinette und Danach setzte sich Pinis privater Musikleh- spielt. Und spielt. Und es klingt alles andere rer mit dafür ein, dass Isa die Chance auf als nach Kneipe – das klingt ganz deutlich die Aufnahmeprüfung am Konservatorium nach Konzerthalle! ][ schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 32

Sozialer Zusammenhalt „Wir werden Halt suchen und Werte neu entdecken“

CVJM-Generalsekretär Dr. Wolfgang Neuser vermisst in Deutschland Werte, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Die Wirtschaftskrise könnte vor diesem Hintergrund eine große Chance für uns alle sein interview: Tanja Breukelchen ][

Dr. Wolfgang Neuser ist seit 2005 Generalsekretär des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM)

enn die Schere zwischen Arm und nehmung der gegenseitigen Bedürfnisse. Es sgi> W Reich immer weiter auseinander- geht darum, auch Menschen am Rande der Sozialer Zusammenhalt klafft, wenn Bildung nur noch ein Privileg Gesellschaft zu berücksichtigen und nicht nur für wenige wird, entsteht ein Teufelskreis. Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Wenn nur noch „oben“ und „unten“ das Bild Gelingt das in Deutschland? Niederlande einer Gesellschaft beherrschen – dann kann Nur teilweise. Einerseits: Der Individualis- Starke und umfassende sozialstaat- von sozialem Zusammenhalt keine Rede mus klingt nicht ab. Die Kluft zwischen Arm liche Strukturen führen gerade in mehr sein. Laut „Sustainable Governance und Reich wird größer, das Bildungsbürger- den Niederlanden und den skandi- Indicators“ (SGI) der Bertelsmann Stiftung tum pflegt eine Sprache, die von anderen navischen Staaten dazu, dass Armut nicht mehr verstanden wird. Und auch die steht Deutschland bei der Frage nach dem j m.de vermieden und sozioökonomische sozialen Zusammenhalt im OECD-weiten digitale Kluft wächst, denn noch immer ha- Gegensätze deutlich abgemildert ben nicht alle Internetzugang oder verfügen werden. Die Niederlande, Schweden Vergleich nur auf Platz 15. Was läuft in un- und Norwegen sind damit in der serer Gesellschaft also falsch? Und wie wird über die nötigen Werkzeuge, um überhaupt Kategorie „Sozialer Zusammenhalt“ ein Einschnitt wie die Weltwirtschaftskrise an dieser Art von Kommunikation teilhaben in den „Sustainable Governance diese Situation beeinflussen? Wir fragten zu können, während das für andere längst Indicators“ (SGI) die Spitzenreiter im den Generalsekretär des Christlichen Ver- eine Selbstverständlichkeit ist. OECD-weiten Vergleich. eins Junger Menschen (CVJM), Dr. Wolfgang Und andererseits? Trotz finanzieller Kürzungen in den Neuser, nach neuen Chancen und alten Andererseits meine ich zu beobachten, dass letzten Jahren basiert das nieder- ländische Wohlfahrtsstaatsmodell Werten. wir zum Beispiel Ausländerfeindlichkeit ein- noch immer ganz auf dem Konzept gedämmt haben. Sie ist nicht weg, aber wir

der gegenseitigen Solidarität. Soziale - change: Warum ist sozialer Zusammenhalt wissen, dass wir auf einander angewiesen Risiken werden so wirksam abge- für jede Gesellschaft so wichtig? sind. Auch Globalisierung wird positiver ge- tta Knabe/www.cv J u tta u nication.de, airway-comm federt – ähnlich wie in den umfas- Dr. Wolfgang Neuser: Die Gesellschaft ist sehen, denn wir haben erkannt, dass wir alle f senden Wohlfahrtsstaatsmodellen auf sozialen Zusammenhalt angewiesen. Je in einer Welt leben und die Probleme dieser Skandinaviens. Durch das progressive mehr auf einander geachtet wird, desto eher Welt gemeinsam meistern müssen und uns Besteuerungsmodell klafft in den Niederlanden zudem die Schere zwi- lassen sich die Herausforderungen bewälti- nicht isolieren dürfen. Nationalismus wird es schen Arm und Reich lange nicht so gen, die einzelne an die Gesellschaft stellen. immer geben, aber er ist nicht in dem Maße weit auseinander, wie in den anderen Wie würden Sie dann „sozialen Zusammen- da, wie man das einmal befürchtet hat. OECD-Staaten. halt“ definieren? Braucht eine Gesellschaft Werte, um sozialen Als das Anpacken von Herausforderungen Zusammenhalt entwickeln zu können?

und Problemen in der Achtung und Wahr- Ja, die braucht sie. Es ist wichtig, dass eine Ulmer/www. Hans-Günter Fotos: Der CVJM verbindet die Jugend der Welt

info> cvjm

Der CVJM ist mit 2.200 örtli- chen Vereinen, 150 Jugendwer- ken und 150 Jugenddörfern der größte christlich-ökumenische Jugendverband in Deutschland. Er hat 330.000 Mitglieder, 61.000 ehrenamtliche und 8.000 pädagogisch-theologische Mitarbeiter. Der CVJM-Weltbund wurde 1855 in Paris gegründet und hat 124 Nationalverbände mit insgesamt 45 Millionen Mitgliedern. www.cvjm.de

Identifikation mit dem, was eine Gesellschaft Herausforderung auf allen Ebenen – von den zurückstellen. Ich denke, das ist ein Fehler, kennzeichnet, möglich ist. Und dazu gehören örtlichen Gruppen bis hin zur Gründung un- denn dann wird alles ‚gleich gültig‘ und ein die Werte. serer Hochschule in Kassel. Immer mehr ört- richtiger Dialog ist nicht mehr möglich. Der Welche Werte müssten das sein? liche CVJM, die ja unabhängig sind und selb- interreligiöse Austausch gelingt meiner An- Substantielle gehaltvolle Werte, die etwas ständig arbeiten, befassen sich mit der Frage, sicht nach nur dann, wenn man eine eigene aussagen. Es genügt nicht, nur von Freiheit ob sie zum Beispiel einen Kindergarten über- Position gefunden hat, die man ins Gespräch und von Solidarität zu sprechen. Menschen nehmen, oder ob sie in die Nachmittagsge- einbringt, und gleichzeitig bereit ist, den wollen auch ihre Herkunft besser verstehen, staltung an den Ganztagsschulen einsteigen. Standpunkt des anderen zu hören. den Sinn ihres Lebens erkennen und für die Dabei lehren wir nicht einfach nur, sondern Könnte die Wirtschaftskrise für uns also Zukunft eine Hoffnung haben. Wir brauchen leben mit jungen Menschen zusammen, um auch einen Wertewandel bedeuten? also Werte, die da noch ein bisschen tiefer sie in ein sinnvolles und werteorientiertes Ja. Die Menschen suchen den Halt und ent- gehen: Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit – kann Leben hineinzuführen. decken ihn neu. Not macht den Menschen ich mich auf den anderen verlassen? Natür- Fällt Ihnen dazu ein konkretes Beispiel aus bewusst, dass sie auf einander angewiesen lich auch Ehrlichkeit – man denke an die Po- der Arbeit des CVJM ein? sind und Gemeinschaft und Zusammenhalt litiker, an die Wirtschaft. Und auch so etwas Der CVJM Leipzig, der eine Kindertagesstätte brauchen. Es wird einen Wandel von den in- wie Treue sollte ein Wert sein – nehme ich hat, Schulsozialarbeit in einem sozialen Brenn- dividuellen zurück zu den gesellschaftlichen den anderen nur ernst, so lange er mir nützt, punkt betreibt und einen offenen Jugendtreff Werten geben. oder stehe ich ihm auch zur Seite, wenn ich unterhält, wo die Leute ohne Vorbedingungen Welche Werte werden das sein? nichts davon habe? hinkommen können. Es müssen also keine Partizipation, soziale Kompetenz und Tole- Wie kann man diese Werte vermitteln? Christen sein. Genau das sollte unser Ziel sein: ranz werden wieder wichtiger. Je schlimmer Durch Bildung und gemeinsames Leben. Wir die Leute nicht nur zu uns einladen, sondern sich die Krise auswirkt, desto mehr wird man können Werte nicht nur in Form der Wissens- auch in die Brennpunkte gehen. sich wieder auf die gemeinsamen Werte und vermittlung lehren, sondern wir müssen sie Das bedeutet dann auch Integration und sozi- Problemlösungskompetenzen besinnen. So leben. Vorbilder sind wichtig, denn Jugendli- alen Zusammenhalt über kulturelle Grenzen wollen wir dazu ermutigen, die Krise als eine che brauchen Menschen jeden Alters, die mit hinweg. Ist das in Deutschland gelungen? Art Pioniersituation zu sehen und die Proble- ihnen ein Stück Leben teilen und sie auf die- Teilweise ja. Aber ich habe den Eindruck, me gemeinsam anzupacken. In Deutschland se Weise an dem teilhaben lassen, was ihnen dass man Toleranz oft missversteht – sowohl haben das 23 Millionen Menschen begriffen: wertvoll ist, zum Beispiel den christlichen in der Gesellschaft als auch in der Kirche. An- Sie engagieren sich ehrenamtlich. Dadurch Glauben. gesichts der unterschiedlichen Kulturen und wird im CVJM und in der Gesellschaft Großes Wie wird das im CVJM umgesetzt? Religionen in unserem Land meinen viele bewegt. Sie wissen: Das eigene Engagement Für uns ist die Bildungsaufgabe eine große Menschen, sie müssten ihre eigene Position ist das beste Mittel gegen Resignation. ][ schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 34

Abgeordnete im Geduld, Ausdauer und dicke Bretter Demokratie funktioniert anders als viele denken: bodenständig und ziemlich bürokratisch. Trotzdem macht es immer wieder Sinn, sagen Michaela Noll (CDU) und (SPD)

text: tanja breukelchen ][ fotos: arne weychardt Im Zentrum der Macht: die Bundestags- Abgeordneten Christian Carstensen (SPD) und Michaela Noll (CDU) Ein anderes Wahlrecht, eine Verlängerung der Legisla- turperiode, weniger Politik- verdrossenheit der Bürger oder einfach ein positiveres Bild der Politiker in der Öffentlichkeit – die beiden Abgeordneten könnten sich viele Verbesserungsmög- lichkeiten vorstellen. Und dennoch: Auch wenn eine Gesetzesänderung manch- mal Jahre dauert – am Ende machen viele Ent- scheidungen Sinn

sgi> Parlament und Demokratie

USA

Wenn Parlamente über substanzielle Informations- und Mitwirkungs- möglichkeiten verfügen, können sie ihre Kontrollfunktion der Regierung wirksam wahrnehmen. Eine hohe parlamentarische Kompetenz trägt maßgeblich zu einer hohen Reform- fähigkeit bei, wie die SGI-Ergebnisse zeigen. Die parlamentarische Kompe- tenz ist in den USA, Schweden, Nor- wegen, Finnland sowie in Neuseeland ines werden Sie im Parlament: Sie ein Gesetz durchgesetzt ist. Auf manch eine am höchsten. werden grauhaarig! Sie kriegen nicht Reform wartet sie bis heute: „Die verhun- Am Beispiel USA lassen sich einige E nur ein graues Haar, Sie kriegen vie- gerte Lea Sophie, der kleine Kevin – nach Erfolgsrezepte ausmachen: Abgeord- le graue Haare. Sie müssen Sitzfleisch ha- ihren tragischen Todesfällen suchten die nete und einzelne Fraktionen können ben, Sie müssen Ausdauer besitzen und Sie Menschen nach Antworten. Es gab den gro- in ihrer täglichen Arbeit auf eine große Zahl hochqualifizierter Mit- müssen einstecken können“, sagt Michaela ßen Kinderschutzgipfel, und wir haben uns arbeiter zurückgreifen. Sie bringen Noll (49). Das mit den vielen grauen Haaren gefragt, wie wir es schaffen, dieses Netz zu ein hohes Maß an wissenschaftlicher nehmen wir ihr nicht ab. Und überhaupt schließen, damit kein Kind durchfällt. Dar- Expertise in die Politik ein. Gleich- scheint Politik jung zu halten. Die Abgeord- aufhin ist nach langen Rücksprachen eine zeitig verfügen die beiden Kammern nete für den Kreis Mettmann ist seit sieben Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht des Kongresses über weitreichende Jahren im Bundestag. Volljuristin, Expertin worden…“ Und da ist sie heute noch. Informationsrechte. Der Kongress für Familienpolitik. Es sind oft lange Wege Ärgerlich sei so etwas. Aber noch lange und seine Ausschüsse haben so die Möglichkeit, Regierungsdokumente – und damit meint sie nicht nur die vielen kein Grund, nicht weiter zu kämpfen. „So für Beratungen zügig anzufordern. Treppen und Gänge von ihrem Büro im etwas dauert. Und ich denke auch, dass Jakob-Kaiser-Haus bis zum Plenarsaal im manche Bürger ein falsches Verständnis Reichstagsgebäude, sondern den Weg bis davon haben, was für einen Bürostab ›› schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 36

wir haben. Ich glaube, die gehen davon aus, Michaela Noll (49) dass wir alle einen Fahrer, ein riesiges Büro Nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin mit Sekretärin und Mitarbeiterstab haben. studierte die CDU-Politikerin Rechtswissen- schaften und legte 1987 ihr erstes und 1991 Das alles ist nicht der Fall.“ Als sie einmal ihr zweites juristisches Staatsexamen ab. 1994 bei einer Wahlkreis-Veranstaltung in ihrem bis 2002 war sie Referentin der Frauen-Union, Mini-Cooper vorfuhr, waren die bereits seit 2002 ist sie Bundestagsabgeordnete Anwesenden etwas erstaunt, dass sie ohne Fahrer und in diesem kleinen Auto ankam. Über so etwas kann Michaela Noll herz- lich lachen. Manchmal aber ärgert sie sich. „Es ist für uns Über das schlechte Image der Politiker zum Beispiel: „Das ist schade. Und auch ein eine Mammut- Grund dafür, warum viele Menschen poli- Aufgabe, das tikverdrossen sind. Es ist für uns eine Mam- mutaufgabe, Vertrauen zu gewinnen.“ Vertrauen der Deshalb fängt sie schon bei den Kleins- ten an. „Als Mitglied der Kinderkommission Menschen habe ich Kindersprechstunden eingeführt. zu gewinnen“ Ich gehe in Schulen und Kindergärten. Die Kinder erzählen dann. Von Armut, von al- Michaela Noll über Politikverdrossenheit leinerziehenden Eltern, die keinen Job be- kommen. Es sind keine Wählerstimmen, aber nur so kann man Politikverdrossen- heit abbauen.“ Außerdem versucht sie, parlamentarische Abende… Der Weg vom er am Wochenende auf Feuerwehr- und mit Offenheit Vertrauen zu schaffen. Auf Plenarsaal in Carstensens Büro ist nicht Schützenfesten vorbeischaut und mit den ihrer Homepage legt sie zum Beispiel ihre kürzer als der von Michaela Noll. Er führt Bürgern an der Basis plaudert. Einkünfte offen und präsentiert ihren Ter- unterirdisch vom Reichstagsgebäude zum Deutschland ist eben nicht Amerika, wo minkalender. Paul-Löbe-Haus, dann im gläsernen Aufzug der Mitarbeiterstab eines Abgeordneten Und der ist voll. Nicht nur bei ihr, auch in den vierten Stock. Sein Büro ist hell, hat einem Hofstaat gleicht. „Man hat seinen bei Christian Carstensen (36, SPD). Er steht ein Vorzimmer, einen Raum für seine Bü- Bereich. Da kann man schon viel bewe- vor dem Plenarsaal, kommt gerade aus ei- roleiterin. Zwei Mitarbeiter in Berlin, einen gen.“ Nur manchmal dauert das eben. So ner namentlichen Abstimmung. Eine von Büroleiter und einen Auszubildenden im wie mit seinem Steckenpferd – dem Gesetz 24 an diesem Tag. Seit vier Jahren ist der Wahlkreis. „Klar, das stellt man sich immer zur Flugsicherung. „Ein Gesetz, das zwei- zweifache Familienvater Bundestags-Ab- anders vor“, nickt Carstensen. „Wenn ich Be- mal schon vom Bundespräsidenten ge- geordneter. Sein Wahlkreis: Hamburg-Nord suchergruppen aus meinem Wahlkreis hier stoppt wurde. Jetzt wollen wir es endgültig und Alstertal. Sein Thema: Luftverkehrs- habe, gibt es immer wieder Fragen. Warum beschließen. Das ist ein hartes Stück Arbeit politik. Sein Arbeitspensum – da lacht er: ist der Plenarsaal so leer – das ist doch der gewesen.“ Ist das nicht frustrierend? „Nicht, „Heute locker an die 14 Stunden.“ Gegen Klassiker. Jeder, der sich hier vor Ort da- wenn man gleichzeitig Wahlkreisabgeord- 8.30 Uhr im Büro, Besprechung, Ausschuss, mit beschäftigt, weiß, dass wir eben diesen neter ist und für die Menschen vor Ort Plenum oder Arbeitsgruppen, danach Rhythmus haben, mal in Berlin im Büro etwas tun kann.“ Kleine Entscheidungen schnelle Mittagstermine, am Nachmittag und mal im eigenen Wahlkreis.“ Da, wo ihn mit großer Wirkung. „Es gibt zum Beispiel wieder Fraktion und Plenum, zum Schluss jeder kennt. Wo er in der Zeitung steht. Wo eine EU-Regelung, wonach ein Rollstuhl- Christian Carstensen (36) Der Bundestagsabgeordnete der SPD machte eine Aus- bildung zum Bankkaufmann, studierte von 1994 bis 1998 Volkswirtschaftslehre und info> wurde nach dem Diplom wissenschaftlicher Angestellter wie entsteht ein gesetz? in der Hamburger Baubehör- de. Von 2001 bis 2004 war Eingereicht und auf der Tagesordnung des er Bezirksabgeordneter für Bundestags durchlaufen Gesetzentwürfe drei Hamburg-Nord, seit 2005 ist er Beratungen: die Lesungen. Ziel der ersten Bundestagsabgeordneter Lesung ist es, einen oder mehrere Ausschüs- se zu bestimmen, die sich mit dem Entwurf fachlich auseinandersetzen und ihn für die zweite Lesung vorbereiten. Danach legt der federführende Ausschuss dem Plenum einen Bericht über die Ergebnisse der Beratun- gen vor. Seine Beschlussempfehlungen sind Grundlage für die zweite Lesung, vor der die Fraktionen ihre Position abgestimmt haben. Jedes Mitglied des Parlaments kann dort Än- derungsanträge stellen, die direkt behandelt werden. In der dritten Lesung findet erneut eine Aussprache statt. Am Ende erfolgt die Schlussabstimmung. Hat der Entwurf die notwendige Mehrheit im Bundestag, geht platz in einem Bus definiert ist. Das führte schen haben mich in meinem Wahlkreis er als Gesetz zum Bundesrat. Dieser kann in Hamburg dazu, das immer nur ein Roll- direkt gewählt. Und ich werde auch wieder keine Änderungen vornehmen, aber den stuhlfahrer mitgenommen wurde. Man nur direkt in den Bundestag kommen oder Vermittlungsausschuss anrufen. Ausnahme: kann sich vorstellen, was das für Pärchen gar nicht. Deshalb bin ich jetzt schon viel Bei Zustimmungsgesetzen ist die Zustimmung im Rollstuhl bedeutet. Wenn der eine von stärker mit Wahlkampf beschäftigt als ei- des Bundesrates zwingend erforderlich. Das sind zum Beispiel Gesetze, die die Finanzen beiden auf den nächsten freien Bus warten ner, der auf einer Landesliste abgesichert und Verwaltungszuständigkeit der Länder musste, war jeder Theaterbesuch erledigt. ist und viel langfristiger arbeitet.“ betreffen. Darauf bin ich angesprochen worden und Außerdem: „Die Verlängerung der Legis- Wenn der Entwurf Bundestag und Bundes- hab mit anderen eine Regelung gefunden. laturperiode auf fünf Jahre wäre eine gute rat passiert hat, muss er weitere Stationen Die Straßenverkehrsordnung wurde geän- Idee. Bei jeder Wahl gehen bis vierzig Pro- durchlaufen, um als Gesetz in Kraft zu treten: dert – jetzt dürfen auch mehrere Rollstuhl- zent der Abgeordneten neu in den Bundes- zuerst zeichnen die Bundeskanzlerin und der zuständige Fachminister das Gesetz fahrer mit.“ tag, müssen sich erst einmal zurechtfinden. gegen. Dann prüft der Bundespräsident, ob So etwas mache ihn stolz. „Man kann Wenn man noch Wahlkampfzeiten abzieht, es verfassungsgemäß zu Stande gekommen schon etwas bewegen, aber man braucht schrumpft die Zeit zusammen.“ Mehr Zeit ist und nicht inhaltlich offenkundig gegen das Mitstreiter und die muss man erst ein- wünscht er sich manchmal. Aber eher für Grundgesetz verstößt. Danach unterschreibt mal überzeugen. Das kann Jahre dauern.“ die Menschen, nicht für Entscheidungen. er es und lässt es im Bundesgesetzblatt Manchmal wünscht er sich, dass einiges an- „Wenn ich mir die letzten 60 Jahre so an- veröffentlichen. ders läuft. „Ich bin zum Beispiel ein Freund schaue, ist unsere typisch deutsche Gründ- vom Mehrheitswahlrecht. 72.000 Men- lichkeit eigentlich doch ganz gut.“ ][ schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 38

Der finanzchef Die marketing-frau Damian, 19, Geschäftsführer Luisa, 19, Businesswoman Der Mann hat Führungsqualitäten Plakat-Kampagne, Anzeigen in und kennt die Bilanzen. Mit klarem Magazinen und am Anfang erst Blick manövrierte er seine Firma einmal Mundpropaganda. Für bis vor die Jury. Ohrringe trägt er Luisa Hannemann war der Job nicht, aber ein BWL-Studium peilt der Marketingfrau ideal. Nach er schon zielstrebig an ihrem Auslandsaufenthalt plant sie jetzt sogar, etwas in diesem Bereich zu studieren.

Die verkäuferin Theresa, 19, Ideengeberin Der einkäufer Egal ob Bauchladen oder Gerson, 19, Querdenker Großabnehmer: Die „Odorrings“ Die günstigsten Materialien, Men- machen ihr einfach Spaß. Zwar genrabatte… Gerson kennt sich aus möchte sie im echten Leben lie- und überrascht mit kritischen Fra- ber Schauspielerin werden, aber gen. Ohrringe schaut er sich lieber ein Ohringfan wird sie bleiben bei seinen Kolleginnen an change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 39

Business at School Wirtschaft im Schnupperkurs Die Kreative Viktoryia, 20, Bastlerin Dass Ohrringe mehr sein können als Schmuck, haben sechs Sie heizt den Brennofen, Berliner Schüler längst erkannt. Für ihre „Odorrings“ wurden sie nun bastelt, formt – und liebt die Ohrringe, die dabei heraus- ausgezeichnet und lernten nebenbei viel über Wirtschaft kommen. Die „dufte Idee“ text: tanja breukelchen ][ fotos: arne weychardt entstand unter anderem in ihrem Bastelladen

n Luisas Ohr baumelt ein lilafar- bener Ohrring. Er ist rund, etwas A größer als die Murmeln, mit denen Kinder im Sand spielen. Und: Er duftet! sgi> Bei Luisa mädchenhaft frisch, ein bisschen Unternehmertum nach Zitrone. Bei Viktoryia etwas herber, nach teurem Parfum. Was die Mädchen tra- gen, sind so genannte „Odorrings“ – Ohr- USA ringe, die man individuell mit seinem Lieb- lingsparfum befüllen kann, und die dann Eine erfolgreiche Unternehmens- den ganzen Tag über ihren Duft abgeben. politik fördert Innovationen, Unter- Perfekt übrigens ist die Idee für Allergiker: nehmertum, Wettbewerbsfähigkeit und private Investitionen. Überregu- „Da das Parfum nur in den Ohrringen ist, lation und Bürokratie sind dagegen entsteht kein Hautkontakt“, erklärt Theresa. die größten Hemmnisse für unterneh- Auch an ihren Ohren baumeln „Odorrings“. merisches Handeln und die Umset- Eine dufte Idee? Ein Trend auf dem Kos- zung neuer Geschäftsideen. metikmarkt? Ein Verkaufsschlager? – Nein, Die produkt- Nach den SGI-Ergebnissen sind die das alles sind „Odorrings“ nicht. Schade entwicklerin Rahmenbedingungen für erfolgrei- Johanna, 19, Chefin ches Unternehmertum in den USA, eigentlich. Es gibt sie nämlich gar nicht. Sie gehört in die Chefetage Dänemark, Australien oder auch Viktoryia (20), Theresa (19), Damian (19), und hat große Pläne. Und auch, Neuseeland besonders gut ausge- Johanna (19) und Gerson (19) haben sie er- wenn die in Sachen „Odorrings“ prägt. Die bürokratischen Hürden und funden, um einen Wirtschafts-Wettbewerb nur Träume bleiben, hat Johanna Kosten für Unternehmensgründungen schon viel über sich, andere und zu gewinnen. Die sechs Abiturienten am sind dort vergleichsweise niedrig – das Leben als Jung-Unternehmerin Andreas-Gymnasium in Berlin-Fried- so dauert es in der Regel nur wenige gelernt. Und nach dem Abi geht es richshain hatten im vergangenen Jahr bei für ein halbes Jahr nach England Tage, um die notwendigen Genehmi- gungen für die Gründung eines Unter- „business@school“ teilgenommen, einem nehmens einzuholen. Auch Dänemark Schul-Projekt der „Boston Consultung und Kanada zeichnen sich durch sehr Group“, einer der weltweit führenden Un- geringe Bürokratie aus, während ternehmensberatungen. Deutschland unter den 30 OECD- Ziel ist es dabei, den Oberstufenschülern Staaten in dieser Frage lediglich im ein Jahr lang das Thema Wirtschaft nahezu- Mittelfeld rangiert und erheblichen bringen. Den Abschluss des Seminars bil- Nachholbedarf hat. det ein bundesweiter Ideen-Wettbewerb al- ler teilnehmenden Schulen, bei dem Teams eine fiktive Firma gründen und diese ›› schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 40

„Wir wollten zwei Dinge praktisch verbinden – da fielen uns die Ohrringe ein“

Theresa Selent, Ideengeberin

Die Zukunft im Visier: Produkt- entwicklerin Johanna Berthold probiert einen Ohrring an

Kritischer Blick: Einkäufer Gerson Huhmann (links). Oben: Ein echter „Odorring“ baumelt an Luisas Ohr. Innen Filz, außen Fimo und überall ein toller Duft

von der Geschäftsidee über den Business- Parfum reagiert, fiel mir plötzlich ein, dass ten wir Fimo und lassen eine Öffnung fürs plan bis hin zum Unternehmensalltag ein- man das ja genauso gut in Ohrringe füllen Parfum. Das Ganze wird zum Schluss im mal komplett simulieren müssen. kann, die ja auch fast auf Höhe des Halses Ofen gebrannt.“ Inzwischen ist sie schon so Ganz am Anfang steht die Idee. Und die sind.“ Also auf Dufthöhe. geübt im „Odorring“-Basteln, dass sie nicht kommt von Theresa, die im richtigen Leben Als es darum ging, das Ganze auch um- nur große, sondern auch ganz kleine Ku- davon träumt, Schauspielerin zu werden zusetzen, kam Viktoryias große Stunde. Ihr geln herstellen kann. Eine knifflige Arbeit – und schon als Kind im Kinder-Ensemble Job: die Produktion! Schon als Kind hatte sie „aber Übung macht den Meister“, sagt sie. des Friedrichstadt-Palastes auf der Bühne gerne gebastelt. Nun stand sie etwas ratlos Doch die Idee und das Produkt allein stand. „Ich trage selbst gerne Schmuck“, er- im Bastelladen. „Ich hatte verzweifelt nach machen noch keine Geschäftsidee. Deshalb zählt sie. Ihre Augen sind passend zu ihren Materialien gesucht. Dass Filz das Parfum kam Gerson auf den Plan. Sein Job: Ein- „Odorrings“ geschminkt. „Als wir uns am einsaugt und abgibt, war mir klar. Aber ir- käufer. „Eigentlich bin ich ja auch der kriti- Anfang zusammengesetzt haben, suchten gendetwas musste als Hülle dienen.“ Beim sche Geist der ganzen Gruppe“, sagt er und wir nach zwei Dingen, die man praktisch Stöbern in den Bastelutensilien fiel es ihr schaut herausfordernd seine Mitschüler verbinden kann. Und da ich eine Freundin dann auf: Fimo! „Das ist zwar eher Kinder- – oder besser Kollegen – an. „Wenn die an- habe, deren Haut im Sommer allergisch auf knete, aber für uns ideal. Um den Filz kne- deren zu euphorisch wurden, habe ich sie Die Idee im Kopf: Produktions-Ass Viktoryia Shchokina

Dafür hatte Theresa schon gesorgt. Ihr Job: Verkauf und Positionierung. „Wir haben uns gefragt, an welchen Orten man die Duftohrringe verkaufen kann und uns ein Drei-Phasen-Modell ausgedacht.“ Phase eins baumelt dekorativ um ihre Taille: ein hölzerner Bauchladen. „Wenn wir gemerkt hätten, dass das Produkt gut ankommt, hät- ten wir die Ohrringe an kleine Boutiquen gegeben und in einer dritten Phase große Ketten wie ‚Douglas‘ angesprochen.“ Ein Anruf beim Kosmetik-Riesen hat die sechs übrigens überrascht. „Dort sagte man uns, dass die Idee richtig gut sei und man es sich – natürlich nur theoretisch – sogar vorstel- len könnte, Duftohrringe zu verkaufen.“

Ein wichtiger Job für jeden

Damit es nicht langweilig wird und alle „Odorrings“ nur rund und lila und am Ohr baumelnd auf den Markt kommen, hat Jo- hanna den kreativen Part der Firma über- nommen. Ihr Job: Produktentwicklung. Gleichzeitig ist sie neben Damian Teil zwei der Chefetage. „Man muss neue Materiali- Die Zahlen im Blick: Finanzchef Damian en und Formen erfinden. Später hätte man Martinez Drayer auch Ketten und Armbänder produzieren können. Oder etwas für ältere Frauen. Un- sere Ohrringe waren ja eher für Mädchen und ganz junge Frauen.“ Erster Schritt war erst einmal wieder auf den Boden geholt.“ ist er für die verantwortungsvolle Aufgabe es dann, aus den Kugeln kleine Herzen zu Kühl kalkulierend suchte Gerson dann die des Zahlenjongleurs prädestiniert. „Wir formen. günstigsten Materialien. hatten ein fiktives Startkapital von 25.000 Damit das überhaupt jemandem auffiel, Wie viel Knetmasse muss man denn ei- Euro“, erklärt er. „Damit hätte man theore- musste wiederum Luisa ihre Aufgabe erfül- gentlich einkaufen, damit der Preis gerin- tisch auch zu einer Bank gehen und dem len. Ihr Job: Marketing und PR. „Wir haben ger wird? Wie teuer darf das Material sein, Berater erklären können, dass man bei uns überlegt, zuerst Flyer zu drucken und damit sich so ein Duftohrring am Ende einem Planspiel zur Unternehmensgrün- später, wenn wir erfolgreich sind, eine Pla- überhaupt als Geschäftsidee lohnt? Zusam- dung mitmacht und einen fiktiven Kredit kat-Kampagne zu machen und Anzeigen men mit Damian ging er die Zahlen durch. braucht. Vielleicht hätte das letztes Jahr, in jungen Frauenmagazinen zu schalten“, Damians Job: Buchführung und nebenbei als wir bei „business@school“ mitgemacht zählt sie die Ideen auf. Im Vorfeld aber woll- Teil der Chefetage zu sein. „Ich bin bei uns haben, auch noch geklappt. Aber heute, bei te man wissen, ob „Odorrings“ überhaupt der Finanzchef“, sagt er und lacht. Die Rolle der Finanzkrise…“ Damian schüttelt leicht ankommen. „Wir haben eine Straßenum- steht ihm. Mit einer Eins im Informatik- den Kopf. Nein, das wäre zu bedenklich. frage gemacht und in Berlin fast 200 junge Leistungskurs und einer rühmlichen Ver- Doch mehr als das Startkapital brauch- Frauen gefragt, ob sie die Idee gut finden gangenheit als langjähriger Schulsprecher ten die sechs Jungunternehmer eh nicht. – und die konnten sich alle vorstel- ›› schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 42

Auf Erfolgskurs: Verkäuferin Theresa Selent

„In der Realität wäre das alles viel zu kompli- ziert geworden“

Damian Martinez Dreyer, Finanzchef

len, Duftohrringe zu tragen.“ – Markttest sie vermutlich alle eine Eins. Ihre Projektidee rungen – ein Wahnsinn für jemanden, der gelungen. gehörte am Ende zu den besten. Ihre Pläne doch bislang nur die Schulbank gedrückt Ein „Odorring“ hätte auf dem Markt hätten durchaus aufgehen und zum großen hat. Also verabschieden sich die sechs Ab- 9,90 Euro gekostet und wäre damit güns- unternehmerischen Erfolg führen können. iturienten von ihrem Traum und starten tiger als manch anderer Modeschmuck ge- Kurz: Die „Odorrings“ hätten schon bald an nach der Schulzeit anders ins Leben: Vik- wesen. Die Produktionskosten wären mit Millionen von Ohren baumeln, blitzen und toryia nimmt demnächst ein Studium an 1,80 Euro überschaubar geblieben. Und ihren Duft verbreiten können. der Technischen Universität auf, möchte ihre Rechnung, sich als Schüler mit Ne- Wirtschaftsingenieurin werden. Luisa und benjob am Anfang 400 Euro auszuzahlen, Ein anderer Start ins Leben Johanna gehen erst einmal ein halbes Jahr später 800 Euro plus Gewinnbeteiligung, nach England, Theresa nach Südamerika. wäre aufgegangen. Eine kleine Produkti- Und die sechs Schüler? Wäre in der Reali- Gerson will Anglistik studieren. Und Dami- onsstätte, ein paar Mitarbeiter, Brennöfen tät alles so glatt gelaufen wie im Planspiel, an plant ein BWL-Studium. für Knetmasse… dann würden sie vielleicht in den nächs- Das Ziel von „business@school“ haben Dann der große Tag, die Präsentation ten Wochen noch schnell in der Aula ihr sie aber trotzdem erreicht. Sie gehören nicht vor einem Publikum, in dem auch große Abiturzeugnis abholen, dem Direktor die nur zu den Preisträgern des vergangenen Namen aus der Wirtschaft sitzen. Die kri- Hand schütteln und ab in die Karibik dü- Jahres, sondern können inzwischen auch tischen Blicke der Jury. „Wir hatten vorher sen. Alles ganz easy – oder eigentlich doch denken, wie junge Unternehmer es eigent- geübt, alles total genau vorbereitet, sogar nicht. „Es wäre sehr kompliziert geworden“, lich können müssten. Wohlgemerkt: müss- unsere Ferien dafür geopfert“, erzählen die sagt Damian. „Mal abgesehen davon, dass ten! In der Realität sieht das anders aus. sechs Jungunternehmer. Das Ergebnis war wir die 25.000 Euro Startkapital in der Re- Rund die Hälfte aller Existenzgründer gibt perfekt: Die Präsentation war professionell, alität gar nicht gehabt hätten, wäre der Ver- nach den ersten sechs Jahren auf. Einer der die Zahlen, die sie auf etlichen Excel-Tabel- waltungsaufwand viel zu hoch gewesen.“ Gründe ist, dass sie den Markt nicht rich- len, Schaubildern und Szenarien der Jury Die Ohrringe zum Patent anmelden, eine tig überschauen. „Ein Schulfach Wirtschaft präsentiert haben, waren schlüssig. Und passende Rechtsform finden, der Gang zu wäre toll“, findet Damian. „So richtig lernt würde es das Fach Teamarbeit geben, hätten Behörden, Steuern, Finanzamt, Versiche- man das nämlich in der Schule nicht.“ ][ Luisa Hannemann Zielt aufgute V www.business-at-school.de ausgezeichnet. hochrangig besetzten Wirtschaftsjury onal- sowie Europa-Ebene von einer bei Veranstaltungen aufSchul-, Regi- vor. Diebesten Businesspläne werden Form einerPräsentation vor Publikum stellen dieSchülerihre Ergebnisse in merisches Denken zufördern. AmEnde zuweckenfür Wirtschaft undunterneh- zu beschäftigen. Zielist es, V Region undeinereigenen Geschäftsidee mittelständischen Unternehmen ihrer Jahr langmitKonzernen, kleinenund nasialer Oberstufe dieChance, sichein - Klassen 10bis13anSchulenmitgym business@school gibt Schülern der und Norwegen beteiligt. Das Projekt terreich, derSchweiz, Singapur, Italien fast 80SchulenausDeutschland, Ös an zwei Pilotschulen, inzwischensind Group startete imSchuljahr1998/99 Die Initiative von TheBoston C info b usiness > ermarktung: PR @ school -F erständnis rau onsulting -

Foto: boston consulting group (re.) Verantwortung, diemotiviert von Unternehmen, wenn es darumgeht, Schülernund wichtige Voraussetzungen für später. überzeugend zupräsentieren. Alles chieren und ihr Konzept zum Schluss zu strukturieren, eigenständig zu recher kreative Ideen zu entwickeln, ein Projekt zusammenarbeiten müssen. Sielernen, sie sichaktiveinbringen undalsTeam Schüler eineUmgebung kennen, inder richt. Bei „business@school“ lernen die Schulen leideroft nochderFrontalunter Rolle. Außerdem dominiertanden spielen in den Lehrplänen kaum eine Gerade betriebswirtschaftliche Inhalte Schulunterricht lernen? Und dieSieauchnicht imnormalen Schülern amAnfang völlig fremd sind. Alles Dinge,die Finanzierung. dieden Vertrieb,ting, aberauchzumBeispiel steckt vielmehr:Innovationen, Marke - Unternehmer anbietet. Aberdahinter Produkte oderDienstleistungen, die ein Zusammenhänge: Vielesehennurdie Das Verständnis fürdieAbläufe und Z wie Wirtschaft funktioniert. Dann sollten sienatürlich auchwissen, Wirtschaftskreislauf eingebunden sein. studieren –siewerden immerineinen die Jugendlichen einmallernen,was sie bei ist dasdochwichtig: Dennegal, was über Unternehmen erfahren haben.Da - sehr wenig überWirtschaft undspeziell le waren, stellte ichfest, dass siedort Als meineeigenen KinderninderSchu- Wie ist dieIdeeentstanden? praktisch nicht vorkommt. nahebringen,schaft daes alsSchulfach Wir wollen SchülerndasThemaWirt Mit welchem Ziel? der Wirtschaft kennen. lichen dasganze Spektrum Umfeld. SolernendieJugend- Betrieb aus ihrem direkten anschließend einen kleinen börsennotiertes Unternehmen, analysieren dieSchülerein school“. In der ersten Phase dritte Phasevon „business@ einer Geschäftsidee ist nur die Bereich. DieEntwicklung Ja, abernicht nurindiesem werden? Selbstständigkeit gefördert Müssen junge Leute inSachen Lehrern mehrWissen überWirtschaft zuvermitteln Dr. Dieter Heuskel, setzt aufmehrEngagement Der Geschäftsführer derBoston Consulting Group, um Beispiel? land Group inDeutsch- Boston C Geschäftsführer der Dr. Dieter Heuskel, - - - onsulting W vermitteln, wieWirtschaft funktioniert. rer –aberauchhiergeht es darumzu bieten. DerFokus ist natürlich einande- ren unddamiteineneuePerspektive oder Arbeitgefunden haben,qualifizie- bislang keinen Anschluss anAusbildung „Joblinge“, indemwirJugendliche, die im Bildungsbereich; etwa das Programm business@school auchandere Projekte Boston Consulting Group hatneben und einEinblickfürjedenhilfreich. ie sind eingrundlegendes Verständnis findetschaft öffentlich statt, unddarum eine privilegierte Perspektive. Wirt würde manjawiedertrennen undhätte beiden Seiten. tiven eröffnet. DieBegeisterung ist auf tag, die Spaßmacht und neuePerspek spannende Abwechslung zumBerufsall- ehrenamtliches Engagement –und eine nahezubringen. Esist einfreiwilliges, jungen MenschendasThemaWirtschaft bedeutet es einenMotivationsschub, teams coachen. Für unsere Mitarbeiter deren Mitarbeiter ebenfalls Schüler 20 weitere Partnerunternehmen, in Deutschland und habenmehrals machen. Wirbetreuen rund70Schulen So wiewirdasbei„business@school“ nützigen Projekten zuermöglichen. ehrenamtliches Engagement ingemein - Idee ist, deneigenen Mitarbeitern ein verbreiteter alsinDeutschland. Die allen voran denUSA, wesentlich Programme sindinanderen Ländern, So genannte Corporate Volunteering- nehmen? der F elche R örderung derJugendlichen über olle kann bei dieWirtschaft Nein, natürlich nicht. Dann Oberstufe bezogen? Nur aufdiegymnasiale gewisse Zeit unabdingbar. höheren Klassen füreine nes Erachtens gerade inden unterzubringen, ist es mei- wie Sozialkunde oderPolitik müsste. Statt es inFächern systematisch vertreten sein Wirtschaft andenSchulen Ich glaube, dass dasThema was wäre das? system reformieren könnten, W enn Sieetwas imBildungs

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Föderalismus Kleine Schritte mit großer Wirkung

Dass Regierungen auch in Deutschland flexibler sind als oft gedacht, zeigen die Länder im Norden. Statt Konkurrenz gibt es dort ein Miteinander – und dadurch viel Zukunfts-Power für die Region

lexibilität ist in den Augen der Bevölke- Trotz des wirtschaftlichen Drucks und F rung nicht unbedingt ein Kennzeichen der veränderungsbereiten Bürger scheint deutscher Politik. Ein Vorurteil, das an vielen sich aber nichts zu tun. Eine Ausnahme Stellen sicherlich zu kurz greift, wenn man bildet der Norden der Republik. Schon seit sich die Beweglichkeit der Großen Koalition 30 Jahren treffen sich die Landesregierun- in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise an- gen von Hamburg und Schleswig-Holstein sieht. Abwrackprämien für alte Autos, Ver- regelmäßig zu gemeinsamen Kabinetts- sgi> staatlichung von Banken, Konjunkturpakete sitzungen. Die Zusammenarbeit der bei- Flexibilität der Regierung – ein Mangel an Handlungsbereitschaft und den Länder hat sich über die Jahre immer Experimentierfreude lässt sich nicht attes- stärker entwickelt. Standen am Anfang In- tieren. Verlässt man das Berliner Parkett und formations- und Meinungsaustausch im Norwegen begibt sich in die Hauptstädte der Bundes- Mittelpunkt, so wird nun schon seit Jahren länder, findet man auch dort zahlreiche rüh- auf zahlreichen Feldern kooperiert. So agie- Nach den SGI-Ergebnissen zeichnen rige Akteure in Politik und Verwaltung. Sie ren die beiden Länder im Ostseeraum mit sich gerade die skandinavischen kümmern sich engagiert um die Interessen einer Stimme und vertreten ihre Interessen Staaten durch eine hohe Reform- fähigkeit ihrer Regierungen aus. In und die Weiterentwicklung ihres eigenen in der Region gemeinsam. Norwegen, Dänemark, Finnland und Bundeslandes. Häufig mit vorzeigbaren Er- Ein weiteres Großprojekt ist die Metro- Schweden sind die Regierungsappa- gebnissen, die den Menschen nützen. polregion Hamburg. Seit Anfang der Neun- rate so strukturiert, dass politische Flexibilität, Handlungsbereitschaft und zigerjahre bemühen sich Hamburg, Schles- Probleme früh erkannt, Lösungs- Experimentierfreude sucht man allerdings wig-Holstein und Niedersachsen um eine modelle strategisch entwickelt und vergebens, wenn es um die Zusammenar- gemeinsame Entwicklung und Planung in konkrete Reformvorhaben effektiv umgesetzt werden können. Dabei ist beit von Bundesländern geht. Der deutsche der Metropolregion. Sie umfasst neben der von Bedeutung, dass die Koordina- Föderalismus scheint gegen alle Verände- Stadt Hamburg auch 14 Landkreise und soll tion zwischen einzelnen Ministerien rungen und Reformversuche weitgehend sich zu einer der innovativsten und leis- gut funktioniert und eine reibungs- immun zu sein. Die Länder verharren in tungsfähigsten Wirtschaftsregionen Euro- lose Delegation von der Regierungs- ihren eigenen Strukturen und achten pein- pas entwickeln. ebene zu den Verwaltungsebenen lich genau darauf, dass sich daran nichts Beim Umweltschutz, in der Technolo- gewährleistet ist. Wesentliches ändert. Als abschreckendes Beispiel ver- giepolitik, bei der Weiterentwicklung der Erfolgsmerkmal ist die Einbeziehung gesellschaftlicher und politischer weist man im Zweifel auf die gescheiterte Hochschulstandorte und im Gesundheits- Gruppen. Außerdem zeichnen sich Volksabstimmung zum Zusammenschluss wesen gibt es zahlreiche Beispiele für eine die skandinavischen Staaten durch von Berlin und Brandenburg. Dabei gehen konkrete Zusammenarbeit. Zwischen den ein hohes Maß an institutioneller die Bürger bundesweit inzwischen nach ei- beiden Ländern scheint es keine Bereiche Reformfähigkeit aus, indem sie ihre ner Umfrage der Bertelsmann Stiftung viel mehr zu geben, bei denen nicht über ge- Regierungsstrukturen und -abläufe entspannter mit den föderalen Strukturen meinsame Strategien und Umsetzungs- selbst überwachen und an neue Rah- um – 40 Prozent der Befragten können sich schritte diskutiert wird. Denkverbote oder menbedingungen anpassen. Zusammenschlüsse von Ländern gut vor- Blockaden sucht man vergebens. stellen, für 25 Prozent wäre sogar die Auflö- Bei so viel Austausch und Kooperati- sung der Bundsländer vorstellbar. on wundert es nicht, dass Hamburg und Ole von Beust und Der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Ham- burg und der Ministerpräsi- dent von Schleswig-Holstein gehen seit Jahren viele kleine Schritte gemeinsam. Auf lange Sicht ergibt sich daraus eine Föderalis- musreform im Kleinen. Nicht das große politische Feuerwerk, das irgendwann still verpufft, sondern ein offenes Miteinander auf allen Ebenen soll Tourismus, Wirtschaft und Verwaltung auf Dauer stärken

Schleswig-Holstein auch noch einen Schritt on, an der sich Mecklenburg-Vorpommern weiter gegangen sind. So gibt es inzwischen beteiligt. Ein Arbeitspaket ist inzwischen info> mehrere Einrichtungen, die zusammenge- geschnürt und umfasst Bereiche wie Tou- Zwei Länder, eine Region legt worden sind und nun gemeinsam be- rismus, Umweltschutz, Wirtschaftsentwick- trieben werden. In Auslandsvertretungen, lung und die weitere Vereinheitlichung von Hamburg den „Hanse-Offices“ in Brüssel, St. Peters- Verwaltungsstrukturen. hat rund 1.78 Millionen Einwohner und burg und Danzig, nehmen beide Länder Für den schleswig-holsteinischen Mi- ist als Stadtstaat sowohl Bundesland als ihre Interessen zusammen wahr. Im Jahr nisterpräsidenten Peter Harry Carstensen auch zweitgrößte Stadt Deutschlands. 2007 fusionierten die beiden Landesme- ist die Dreiländer-Kooperation noch sehr Hamburg hat den zweitgrößten Hafen dienanstalten ebenso wie die Filmförde- stark nach außen gerichtet: „Wir müssen Europas, ist einer der wichtigsten Me- rungseinrichtungen. Entstanden ist eine den Norden ganzheitlich betrachten. Wenn dienstandorte und mit jährlich über drei gemeinsame Medienstiftung. wir norddeutschen Länder uns gemeinsam Millionen Besuchern Tourismusmagnet. Der „Dataport“ versorgt die Verwaltun- stärker positionieren wollen, dann müs- Schleswig-Holstein gen von Hamburg und Schleswig-Holstein sen wir über bestehende Grenzen hinweg hat rund 2,8 Millionen Einwohner und liegt mit einer Bevölkerungsdichte von mit Informations- und Kommunikations- kooperieren.“ Was heute noch die Konkur- 179 Einwohnern pro Quadratkilometer dienstleistungen. Die früher getrennten renzfähigkeit gegenüber anderen erhöht, unter dem Bundesdurchschnitt. Die Lan- Einrichtungen für Daten- und Informati- bildet vielleicht in einigen Jahren eine deshauptstadt Kiel ist mit rund 237.000 onstechnik gehören der Vergangenheit an. tragfähige Grundlage für einen gemein- Einwohnern auch die größte Stadt. Die Gezählt wird inzwischen für beide Länder samen Nordstaat. Statt lange über den Zu- vier kreisfreien Städte und elf Kreise nur noch in einem Amt, die beiden statisti- sammenschluss zu reden, finden hier viele beheimaten 1.122 Gemeinden. schen Landesämter wurden zusammenge- kleine und alltägliche Schritte zu einer ge- führt. Und schließlich gibt es auch nur noch meinsamen Verwaltung und einheitlichen DÄNEMARK Ostsee eine einheitliche Eichverwaltung Nord. politischen Vertretung statt. Übrigens in Flensburg Schon diese Liste gemeinsamer Einrich- den letzten Jahren völlig unbeschadet von tung und Ämter sorgt für Nachdenklich- unterschiedlichen politischen Mehrheiten keit: Da geht doch vielleicht noch mehr? oder Regierungswechseln in den einzelnen Schleswig Kiel Und warum machen das eigentlich nur Ländern. Neumünster Hamburg und Schleswig-Holstein so? Fra- Die Blockade des Föderalismus in Politik Nordsee Lübeck d u neka gen, die man sich augenscheinlich auch im und Öffentlichkeit hat dazu geführt, dass SCHLESWIG- Elbe HOLSTEIN hohen Norden stellt. Hamburg und Schles- erst zwei und nun drei Länder im Norden dieter : : wig-Holstein haben einen gemeinsamen Deutschlands einen ganz eigenen Weg be- Rahmenstaatsvertrag geschlossen, der die schritten haben. Auf den ersten Blick noch NIEDERSACHSEN HAMBURG grafik o. o. weitere Kooperation regeln und forcieren unspektakulär, aber mit langem Atem und ar

, c , soll. hoher Flexibilität. Vielleicht erledigt sich Die intensive Zusammenarbeit der bei- die Frage nach ein oder drei Bundeslän- den Bundesländer ist in ihrer Nachbarschaft dern für Hamburg, Schleswig-Holstein und : u llstein : s

o nicht unbeachtet geblieben. Seit zwei Jahren Mecklenburg-Vorpommern auf diesem t

Fo gibt es nun auch eine Dreiländer-Kooperati- Weg irgendwann von selbst. ][ sgi> FAMILIENPOLITIK

Island

Rund 80 Prozent der isländischen Frauen stehen im Job - und dennoch bekommen sie durch- schnittlich zwei Kinder. Ähnlich gute Werte verzeichnen die SGI-Ergebnisse auch für Schwe- den, Norwegen und Dänemark. Anders als in Deutschland sinkt die Erwerbstätigkeit praktisch überhaupt nicht, wenn das erste Kind geboren ist; erwerbstätige Mütter gelten als Normalfall. Die isländische Familienpolitik unterstützt Eltern darin, sich die Kinderbetreuung zu teilen. Rund 90 Prozent der Väter nutzen die dreimonatige Elternzeit, in der ihnen der Staat 80 Prozent ihres bisherigen Einkommens zahlt. Flächendeckende ganztätige Kinderbetreuung ist für Kinder ab dem Alter von sechs Monaten eingerichtet und ermöglicht so die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

rei Generationen Feminismus auf Emanzipation einem Sofa: Bei so einem Treffen ist D der Jugendstilbrunnen in der Lob- by des Berliner „Adlon“-Hotels das Einzige, was bedächtig dahinplätschert. Anwältin Auf dem Drei- Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit (76), Schrift- stellerin Alexa Hennig von Lange (36) und Schauspielerin Alice Grinda (25) verstehen Generationen-Sofa sich auf Anhieb so gut, dass sie gleich zum „Du“ überwechseln. Was dann bei Frucht- Welche Rolle spielte die Frauenbewegung damals und heute? Wie spießen, Tee und konspirativem Gelächter wichtig ist Emanzipation? Und wie kann man sie lernen? Drei folgt, ist eine Revue durch 50 Jahre Frauen- bewegung in Deutschland – und eine freche Frauen reden über ein Reform-Thema, das seit Generationen bewegt Gebrauchsanweisung zur „Emancipation in interview: anna butterbrod ][ fotos: sebastian pfütze the City“. change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 47

Wie sah es denn in Ihrer Jugend aus? Peschel-Gutzeit: Als 1945 der Krieg zu Ende ging, hatten wir noch immer dasselbe Familien- und Eherecht wie um 1900. Wenn der Mann nicht einverstanden war, durfte die Frau nicht arbeiten. Er bestimmte über das Familieneinkommen. Die Frau konnte noch nicht mal ein eigenes Konto eröffnen! Ich erinnere mich noch genau daran, als vor 60 Jahren das Grundgesetz mit der Klausel der Gleichberechtigung ins Leben gerufen wurde. Ich war auf einer Mädchenschule und wir be- griffen alle, dass das nur deswegen passiert war, weil sich vier Frauen dafür eingesetzt hatten. Mehr gab es nämlich nicht im Parla- mentarischen Rat.

Aber das war erst der Anfang. Frauen ha- ben daraufhin die Gesellschaft ziemlich ein- schneidend verändert. Peschel-Gutzeit: Wirklich los ging es mit der Aktion „Mein Bauch gehört mir“ in den 70ern. Das war eine wichtige soziale Weiter- entwicklung. Frauen sind ja nur dann freier, wenn sie selbst darüber entscheiden können, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Hinzu kam natürlich die dringende Notwendigkeit, Frauen wirtschaftlich unabhängig zu ma- chen. Denn was nutzt es, wenn sie über ihren Bauch entscheiden dürfen, aber ansonsten kein Bein auf den Boden kriegen?

Drei Frauen, drei Generationen und ein großes Thema: Emanzipation. Davon kann ja heute nicht mehr die Rede Autorin Alexa Hennig von Lange, Schauspielerin Alice Grinda und die Anwältin sein. und Politikerin Lore Maria Peschel-Gutzeit (von links) im Gespräch Peschel-Gutzeit: Wir Frauen können al- les – sogar Bundeskanzlerin werden. Aber es gibt noch viele Hemmnisse. Insbesondere in change: Frau Dr. Peschel-Gutzeit, Sie sind danach, was genau Feminismus für mich be- der Wirtschaft, wo Frauen im Vorstand eine eine der großen Feministinnen Deutsch- deutet. Gegen Männer bin ich auf jeden Fall Seltenheit sind. Trotzdem kann ich es verste- lands... nicht. Im Gegenteil: Ich steh’ auf sie. Ich wün- hen, wenn junge Frauen ein „normales“ Le- Lore Maria Peschel-Gutzeit: Stimmt. sche mir, irgendwann einen zu finden, mit ben führen und nicht länger auf die Barrika- Aber ich war ja auch mal eine junge Frau. Da- dem ich Kinder haben will. den gehen wollen. mals habe ich mir alles mögliche gewünscht. Peschel-Gutzeit: Moment Mal! Ein Feind- Hennig von Lange: Das sage ich ja gar Nur nicht, eine Emanze zu werden. Für uns bild Mann, das will ich auch nicht. Ich war nicht. Ich bin von einer extrem feministi- war das ein richtiges Schreckgespenst. Viele zweimal verheiratet und habe drei Kinder. schen Mutter erzogen worden. Mit Leitsätzen empfinden das auch heute noch so. Aber man muss einfach wissen, dass wir wie: „Mach dich nicht abhängig“ und „Heira- Alexa Hennig von Lange: Mit Emanzipa- Frauen uns die Gleichberechtigung hart er- te nicht“. Aber ich habe auch gesehen, wie tion assoziiere ich Grabenkämpfe zwischen kämpft haben und zwar immer gegen den schwierig es für meine Mutter war, ein selbst- Mann und Frau. Ich hoffe aber, dass die ir- erbitterten Widerstand der Männer. Natür- bestimmtes Leben zu führen. Ich selbst habe gendwann aufhören. Das Feindbild Mann ist lich denken die jungen Frauen da nicht mehr zwei Kinder von zwei Männern. Und von bei- doch total überholt. Feminismus sollte ei- dran. Das geht meinen Töchtern genauso. Sie den lebe ich getrennt, da das Verständnis von gentlich eine Bewegung aufeinander zu sein. sind in eine Zeit hinein geboren, in der schon Partnerschaft recht unterschiedlich war. Alice Grinda: Ich bin noch auf der Suche alles möglich war. Peschel-Gutzeit: Ich weiß, was du ›› schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 48

meinst. Das Bemühen, eine Partnerschaft auf die Frau ja nun nicht auch noch für ihn tun! machst du eine Ausbildung und wirst Haus- Augenhöhe zu führen, kenne ich aus meinem Hennig von Lange: Neben dieser Selbstper- frau.“ Beruf von vielen jüngeren Frauen. Bei den fektionierung sehe ich allerdings eine weitere Männern, die ich kenne, ist es allerdings nicht Schwierigkeit. Den meisten Frauen wird doch Wie haben Sie Ihre Töchter erzogen, Frau annähernd so ausgeprägt. beigebracht: Sei perfekt, aber dränge dich Peschel-Gutzeit? Hennig von Lange: Nein, natürlich nicht. nicht in den Vordergrund. Sei nicht anstren- Peschel-Gutzeit: Mädchen haben es in Peschel-Gutzeit: Aber warum? Warum na- gend, sei nicht hysterisch, sei nicht dies, sei der Gesellschaft schwerer als Jungs. Für sie türlich? nicht das. Und stelle bitte keine Ansprüche. macht keiner wie selbstverständlich Platz. Hennig von Lange: Das versuche ich seit Ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren, fällt Sie müssen besonders selbstbewusst sein – Jahren herauszufinden... (alle lachen) Frauen schwer. Denn durch die Müttergene- und das habe ich Ihnen zum Beispiel auf dem Peschel-Gutzeit: Eigentlich ist das über- ration herrscht die schräge Annahme: Wenn Hamburger Jungfernstieg beigebracht. haupt nicht natürlich. Die Männer müssten ich das tue, verschwindet der Mann. doch auch verstehen, dass Emanzipation nur Peschel-Gutzeit: Du hast das Schlüssel- Wie denn das? klappen kann, wenn sie mitmachen. wort genannt. Die Frauen werden immer Peschel-Gutzeit: Ist Ihnen schon mal auf- Hennig von Lange: Ich glaube, ein Problem noch so erzogen. Und wer erzieht denn wohl gefallen, dass Männer nie ausweichen, wenn ist, dass viele Frauen zu perfekt sein wollen. die Kinder? Es sind die Frauen selbst! Da ihnen eine Frau entgegen kommt? Mit meinen Sie möchten ihr Geld selbst verdienen, eine führt kein Weg dran vorbei. Eigentlich müss- Mädchen bin ich gezielt auf Männer zugegan- Mutter und Ehefrau sein, gut kochen können. te man Mütter in pädagogische Crash-Kurse gen, ohne auszuweichen. Die Männer sind Diese Frauen beherrschen alles, wodurch schicken, damit sie verlernen, ihre Töchter so erst in allerletzter Sekunde, und vollkommen sich der Mann die Frage stellt: „Welche Funk- zu erziehen, dass sie sich nichts zutrauen. verwirrt, zur Seite gesprungen. Die Männer tion habe ich eigentlich noch in dieser Part- Grinda: Ich kenne das von meiner Mom. tun das, weil es alle Männer um sie herum nerschaft?“ Als ich nach der Grundschule eine Gymna- tun. Das ist reine Erziehungssache. Peschel-Gutzeit: Aber diese Frage muss er sialempfehlung bekam, war ihre erste Idee: Grinda: Das war auch einer der Gründe, doch erst einmal selbst beantworten. Das kann „Wir schicken dich auf eine Realschule, dann warum ich mich gerade von meinem Freund

Lore Maria Peschel-Gutzeit Alexa Hennig von Lange Alice Grinda 76, Anwältin, geschieden, 3 Kinder 36, Schriftstellerin, geschieden, 2 Kinder 25, Schauspielerin, Single

Sie ist der Prototyp der deutschen Karriere- Den ersten Preis fürs Schreiben bekam sie im „Ich konzentriere mich auf das, was ich will. frau: Die Hamburgerin studierte Jura und Alter von 13 für eine Kurzgeschichte, später Ohne mich von außen fremdbestimmen zu las- erhielt 1984 als erste Frau den Vorsitz eines folgte dann der „Deutsche Jugendliteratur- sen“, sagt die Berlinerin. Was genau sie will? Senats am Oberlandesgericht Hamburg. Wäh- preis“. Vor kurzem hat die Berlinerin ihren 13. Viel: Breakdancen, Spanisch lernen, E-Gitarre rend ihrer Zeit als Justizsenatorin in Hamburg Roman veröffentlicht: „Peace“. Darin geht es spielen und lustige Clips für ihre Homepage und Berlin kämpfte sie außerdem mit Alice um Feminismus – ein Thema, das die alleiner- drehen (www.alicegrinda.de). Jede Woche Schwarzer (66) für die Rechte der Frauen. ziehende Mutter eines Sohnes (6) und einer macht die Nachwuchsschauspielerin („Soko „Die ,Emma‘ lese ich seit der ersten Ausgabe“, Tochter (10) schon seit der Kindheit fesselt. Wismar“, „Aktenzeichen XY“) Fotos von sich sagt die Mutter von zwei Töchtern (38, 41) Die gebürtige Hannoveranerin meint: „Eine und stellt sie ins Netz – als optisches Tagebuch und einem Sohn (46), die sich inzwischen als neue Frauenbewegung muss auch die Zukunft ihrer Kreativ-Karriere. Anwältin auf Familienrecht spezialisiert hat. des Mannes bedenken.“ change › 2/2009 › schwerpunkt: reformen Seite 49

getrennt habe. Seine Einstellung zu Kindern rend meines Jura-Studiums keine weiblichen sein, dass es auch eine Bundespräsidentin war: Wenn du Kinder haben willst, dann ak- Vorbilder gab, habe ich mir eben männliche gibt. Gesellschaftlich ändert sich nur etwas, zeptiere ich das. Das heißt so viel wie... gesucht. Und gedacht: Dieser Staatsanwalt wenn Frauen Einfluss haben. Aber die Frau- Peschel-Gutzeit: ...sieh’ man zu, wie du da- kann mich ja jetzt mal fördern und in die Ge- enbewegung ist ja gerade mal 50 Jahre alt. mit klar kommst. Männer reagieren so, weil heimnisse der Justiz einweihen. Wunderte er Das ist nicht viel in der Menschheitsgeschich- sie so erzogen sind. Mami hat zu Hause alles sich „Warum ich?“, habe ich ihn gefragt, ob er te. Schließlich haben wir ein jahrtausende- gemacht, und so möchte er es auch weiter Töchter hat. Wenn er mit Ja antwortete, sagte altes Patriarchat hinter uns. haben. ich: „Sehen Sie! Sie wollen doch, dass für die Grinda: Mir fiel außerdem auf, dass er im- auch was getan wird.“ Da machte es bei den Was macht eine Feministin von heute aus? mer viel mehr redet als ich und sich trotzdem Männern sofort klick. Hennig von Lange: Eine Feministin ist eine darüber beschwerte, dass er nicht oft genug Grinda: Ich habe erst kürzlich ein weibliches Frau, die ihren Teil zur Gesellschaft beiträgt, zu Wort kam. Als ich seine Eltern kennenlern- Vorbild für mich entdeckt: Beate Uhse. Frü- indem sie sich äußert. Egal, ob sie Künstle- te, war mir alles klar: Sein Vater lässt seine her kannte ich nur die Läden, in denen Dildos rin ist, in der Bank arbeitet oder im Super- Mutter nämlich auch nicht ausreden. (zieht stehen. Dann habe ich ihre Biografie gele- markt. Sie fühlt sich als vollwertiges Mitglied vielsagend die Augenbrauen hoch) sen und war total überrascht, dass sie sich der Gesellschaft und steht für sich selbst ein. so stark für die sexuelle Aufklärung und das Das kann überall sein, in der Politik oder in Wie kann die Kommunikation zwischen Män- Thema Verhütung einsetzte. Eine richtig coo- der Partnerschaft. Das ist dann die Reform nern und Frauen verbessert werden? le Frau, die ganz schön viel geschafft hat. zu Hause. Peschel-Gutzeit: Die meisten Männer den- Peschel-Gutzeit: So wie es meine Groß- ken sehr gerecht. Logischen Argumenten sind Welche Hürden muss der Feminismus in mutter schon gemacht hat. Ihr Mann Julius sie also sehr zugänglich. Deutschland noch nehmen? leitete eine Peddigrohr-Fabrik. Und während Peschel-Gutzeit: Vieles muss selbstver- er die Hälfte des Jahres in den Tropen war, Bei Ihnen hat das schon mal funktioniert? ständlicher werden. Eine Bundespräsidentin leitete sie die Firma. Als Dame der Gesell- Peschel-Gutzeit: Natürlich. Weil es wäh- darf kein bunter Hund sein, es muss normal schaft! Doch ihr war das völlig schnuppe. Ich will damit sagen: Starke Frauen hat es immer schon gegeben. Aber als erstes muss man ler- nen, den Mund aufzumachen und zu sagen: „Julius, ich hätte gern Prokura.“ Hennig von Lange: (lacht) Super! Das brin- ge ich gleich meiner Tochter bei... ][

info> Wussten Sie, dass…

… bei der Wahl zur Deutschen National- versammlung am 19. Januar 1919 Frau- en zum ersten Mal in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht hatten? … es im Parlamentarischen Rat „vier Mütter des Grundgesetzes“ gab? Friede- rike Nadig, Helene Weber, Helene Wes- sel und Elisabeth Selbert. Ihnen ist zu verdanken, dass der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ als Artikel 3, Absatz 2 im Grundgesetz steht. … Frauen erst seit 1977 keine Zustim- mung ihrer Ehemänner mehr brauchen, um einem Beruf nachzugehen? … Bücher wie Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ (1949) und Betty Friedans „Der Weiblichkeitswahn“ (1963) die Frauenbewegung prägten? „Ist Ihnen schon einmal … Frauen seit Anfang der Siebzigerjah- aufgefallen, dass Männer nie re gegen Paragraf 218 kämpften, das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. ausweichen, wenn ihnen 1974 trat eine Neuregelung in Kraft, seit 1995 ist die Fristenlösung gültig, eine Frau entgegenkommt?“ die einen Abbruch in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten nach einer Lore Maria Peschel-Gutzeit Beratung zulässt. schwerpunkt: reformen › change › 2/2009 Seite 52

zum thema Gegen die Zentrifugalkräfte

Der ehemalige österreichische Bundeskanzler, Mitglied des Kuratoriums der Bertelsmann Stiftung, über die Auswirkungen der aktuellen Finanzkrise. Er fordert gemeinsame Visionen, um die Probleme der Welt auch für die nachfolgenden Generationen zu lösen von dr. wolfgang schüssel ][

in amerikanisches Sprichwort lautet: Wenn Spannungsverhältnis zwischen den Generati- Eman alle Hände voll zu tun hat, mit den Kro- onen. Es gilt, eine Balance zu finden zwischen kodilen fertig zu werden, vergisst man leicht, den verdienten Rechten der älteren Genera- dass es das ursprüngliche Ziel war, den Sumpf tion und den Bedürfnissen und veränderten trockenzulegen. In einer Zeit der Rettungsmaß- Lebensumständen der jungen Menschen. Die nahmen für gefährdete Unternehmen und kommenden Generationen sind es wiederum, Arbeitsplätze, der Konjunkturspritzen und Sa- die den Preis dafür zahlen werden, ob es gelingt, nierungspakete laufen wir alle Gefahr, nur die wirtschaftliches Wachstum und Umweltschutz akuten Probleme der weltweiten Wirtschafts- miteinander zu versöhnen und globale Ge- und Finanzkrise zu behandeln, aber die länger- rechtigkeit zu schaffen. Dazu müssen wir auch fristige Perspektive außer Acht zu lassen. die nicht-staatlichen Organisationen – NGOs, Das chinesische Schriftzeichen für „Krise“ Thinktanks, Bürgerinitiativen etc. – viel stärker bedeutet gleichzeitig auch „entscheidender Au- in den politischen Prozess einbinden und deren genblick“. Diese Doppel-Sinnigkeit impliziert Problemlösungskapazitäten durch eine kohä- die Chance, die in jeder Krise steckt, derartige rente Ausrichtung positiv nutzen. Umbruchphasen für positive Veränderungen Das einzige Forum, das eine globale Platt- dr. wolfgang schüssel zu nutzen. Dazu bedarf es allerdings zuerst ist Mitglied des Kuratoriums der form zur Diskussion und Entscheidung bietet, einer nüchternen und ehrlichen Analyse der Bertelsmann Stiftung sind die Vereinten Nationen. Die UNO ist so Ursachen. Wenn man die aktuellen weltweiten effizient und effektiv wie ihre Mitglieder zu- Krisensituationen betrachtet, lassen sich viele Probleme auf zwei sammen – und das „zusammen“ ist in diesem Satz entscheidend. große Fehlentwicklungen der letzten Jahre zurückführen: Die Ge- Denn auch in der UNO wirken die Zentrifugalkräfte massiv, schei- sellschaften sind global aus der Balance geraten und haben eine tern Reformbemühungen oft an der Angst vor Machtverlust. Die zunehmende Ent-Solidarisierung nach sich gezogen. Welt braucht aber keinen „globalen Führer“, sondern Gremien, die Obwohl einer großen Mehrheit der Menschen völlig klar ist, dass funktionieren und Mitsprache ermöglichen. Es ist nicht weiter die heutigen sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausfor- verwunderlich, dass in weiten Teilen der Welt ein Unbehagen da- derungen nicht von einem Staat allein gelöst werden können, wir- rüber besteht, dass einige wenige Länder, die zusammen gerade ken die Zentrifugalkräfte der nationalen Interessen, der Egoismen, etwas mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung stellen, quasi als der wechselseitigen Feindbilder noch immer zu stark, als dass ein „Weltregierung“ agieren. Dass die Regeln des UN-Sicherheitsrates, gemeinsames Handeln möglich wäre. Die Europäische Union in also die „Geschäftsordnung“, seit der ersten Sitzung 1946 nach wie ihrer derzeitigen Befindlichkeit ist leider ein gutes Beispiel dafür. vor als Provisorium existieren, ist paradox und mag das Vertrauen Trotz der geballten wirtschaftlichen und politischen Kraft, die un- derjenigen, die nicht ständig diesem Gremium angehören, nicht ser Kontinent repräsentiert, gelingt es nur unzureichend, glaubhaft unbedingt stärken. mit einer Stimme zu sprechen und als Gemeinschaft zu agieren. Politik wird üblicherweise nicht von großen Visionen getrie- Dazu wäre es beispielsweise nötig, nicht nur im Rahmen der Welt- ben, sondern reagiert meist pragmatisch auf bestehende Her- handelsorganisation WTO als Union aufzutreten, sondern in sämt- ausforderungen. Angesichts der komplexen Herausforderungen, lichen internationalen Foren. Der Vertrag von Lissabon würde die denen wir uns gegenüber sehen, brauchen wir deshalb um so

Voraussetzungen dafür verbessern, und es ist dringend zu hoffen, dringender gemeinsame Visionen für die Entwicklung der Welt, (re.) tung dass er im Laufe des Jahres endlich in Kraft treten kann. um eine bessere internationale Politik zu machen. Im Lichte sol- Zusätzlich zu den jeweiligen nationalen Interessen entwickeln cher Visionen können die strukturellen Veränderungen und Re- aber auch die massiven Ungleichgewichte ihre Fliehkräfte. Wenn formen, vor allem in den multilateralen Organisationen wie der ein Prozent der Weltbevölkerung über 40 Prozent der (Finanz-)Mit- UNO, der Weltbank oder dem Währungsfonds gelingen, die so tel herrscht, aber 50 Prozent der Weltbevölkerung de facto weniger dringend nötig sind. Wir brauchen Weltorganisationen, die eine als ein Prozent des Weltvermögens besitzen, dann ist dies nicht nur breite Akzeptanz genießen. Wichtige Schritte auf dem Weg einer inakzeptabel, sondern eine ernstzunehmende Gefahr für die glo- koordinierteren globalen Ausrichtung sind Dialog, (Selbst-)Ver- bale Stabilität. Gleichzeitig wachsen die Nuklear-Arsenale weltweit trauen und Solidarität. Ohne die Bereitschaft dazu wird es nicht und erhöhen die Gefahr der gewaltsamen Eskalationen. Demogra- gelingen, die derzeitigen Ungleichgewichte zu entspannen und

phische Entwicklungen in vielen Teilen der Welt verschärfen das langfristige Lösungen zu erarbeiten. ][ f sti bertelsmann kunsch, thomas Foto:

change › 2/2009 › stiftung Seite 53

Stiftung › stiftung › change › 2/2009 Seite 54

alle kids sind vips Weg frei für mehr Integration 150 Jugendliche kamen zur Preisverleihung der Aktion „Alle Kids sind VIPs“ der Bertelsmann Stiftung und feierten mit ihren prominenten Botschaftern ihre erfolgreichen Ideen für mehr Integration

text: Tanja Breukelchen ][ fotos: sebastian pfütze

ie könnte ein typischer Lebens- lauf von jemandem aussehen, W der aus einem fremden Land nach Deutschland kommt und von Anfang an nicht richtig integriert wurde? Welche Sorgen hat er? Welche Probleme? Und: Was müsste passieren, um diesem Menschen doch noch zu helfen? – Diese Fragen hat- ten sich Susy (17, aus Kenia), Meriem und Jasmin (beide 18, aus Marokko) und Julia (18, aus Spanien) von der Wilhelm-Merton- Schule in gestellt. Ihre Schule ist eine Berufsschule, auf der unter anderem in einem speziellen Ausbildungszweig jun- ge Menschen mit Migrationshintergrund in die Berufswelt integriert werden. Aus ihren zahlreichen eigenen Erleb- nissen mit den Themen Fremdsein, Aus- grenzung und Integration machten sie eine Foto-Story, die sie sogar als Buch drucken ließen. – Ihr Beitrag beim großen Schul-Wettbewerb „Alle Kids sind VIPs“ der Bertelsmann Stiftung! Und das Beste: Glückliche Gewinner: Schüler der neun Siegerprojekte wurden in Berlin von Dr. Gunter Thielen Die vier Mädchen und ihr Team hatten Er- und Liz Mohn empfangen und für ihre Leistungen ausgezeichnet folg und gehören zu den neun Gewinner- Gruppen, die am 8. Mai zur Siegerehrung nach Berlin reisen durften. Auf der Bühne Club“) kennen. Genau wie zahlreiche an- habe eine deutsche Mutter und einen tür- der Bertelsmann Repräsentanz „Unter den dere Promi-Botschafter der Aktion, die alle kischen Vater. Als ich gefragt wurde, ob ich Linden 1“ erhielten sie von der stellvertre- ebenfalls einen Migrationshintergrund ha- mich beim Thema Integration engagiere, tenden Vorsitzenden, Liz Mohn, die Gewin- ben – darunter die Sängerin Jenniffer Kae, habe ich sofort zugesagt“, erklärt er. ner-Urkunde überreicht. die Breakdance-Weltmeister Flying Steps Früher, in der Schule, sei er oft der Au- Dort lernten die vier jungen Frauen auch und Shary Reeves, die die Preisverleihung ßenseiter gewesen, erzählt Bülent Ceylan. „ihren“ prominenten Botschafter Bülent moderierte – war er in die Hauptstadt ge- „Das lag aber eher an meiner Kleidung – ich Ceylan (unter anderem: „Quatsch Comedy fahren, um „seine“ Kids zu treffen. „Ich mochte einfach keine Jeans und Turnschu- change › 2/2009 › stiftung Seite 55

info> alle kids sind vips

Die Gewinner Bei der Preisverleihung von „Alle Kids sind VIPs“ am 8. Mai in Berlin stellten die rund 150 Schülerinnen und Schüler aus neun Schulen ihre Siegerprojekte vor und lernten „ihre“ prominenten Paten kennen

chulen aus ganz Deutschland nahmen Sam großen Integrations-Wettbewerb der Bertelsmann Stiftung teil – mit Musicalprojekten, Sportfesten, Videos, Sprach- und Tanzprojekten. Neun von ihnen haben gewonnen. Sie dürfen dem- nächst Projekttage mit einem prominen- ten Botschafter verbringen:

Rea Garvey, Sänger der Band Raemon („Supergirl“) besucht das Projekt des Vitzthum Gymnasiums in Dresden: „Integration beginnt im Kopf“.

Fußball-Nationalspieler Mario Gomez besucht die Hohenbergschule in Alb- stadt mit ihrem Projekt: Interkulturelles Lernen „Kick it like Beckham“.

Shary Reeves, Moderatorin der Sendung „Wissen macht Ah!“ kommt in die Kuhlo- Realschule nach Bielefeld zum Projekt „Alles Kartoffel, oder was?“

Ina Menzer, Boxweltmeisterin, besucht die Bonifatiusschule in Menden, mit dem Projekt „Hauptschüler gestalten ein Sportfest“.

Die Breakdance Weltmeister „Flying Steps“ fahren nach Werdohl in NRW zum Projekt „Dostca – Freundschaft, ein Weg voller Hoffnung“ der Erich-Kästner- Schule.

TV-Moderator Daniel Aminati besucht das Projekt „Offenes Haus – Integration nicht nur in der Theorie“ des Franz- Marc-Gymnasiums in Markt Schwaben.

Jenniffer Kae fährt zum Musikprojekt „HSI“ der Hauptschule Innenstadt in Tübingen. Jasmina, Meriem und Susy (Foto oben, von links) freuen sich auf ihren prominenten Paten, den Commedian Bülent Ceylan Comedian Bülent Ceylan besucht das Projekt „Deine zweite Chance“ der Wilhelm-Merton-Schule in Frankfurt. he. Dass mein Vater kein Deutscher war, wenn die nicht immer etwas mit dem The- Susan Sideropoulos, GZSZ-Star, kommt fiel kaum auf, da er sich in Deutschland ma Integration zu tun hatten, sondern für einen Projekttag nach Kiel zum sehr angepasst hatte und schon immer ein eher mit seiner langen Haarmähne: „Ein Projekt „Integration – Let’s cook“ der weltoffener Mensch war.“ Dass er jetzt als paar Mädchen haben mich gefragt, welches Freiherr-von-Stein-Schule. „Hauptgewinn“ die Schüler an ihrer Schule Shampoo ich benutze“, sagt Bülent Ceylan besuchen wird, macht Ceylan stolz. grinsend , der sich schon vor seiner Paten- Schon auf der Preisverleihung hatten schaft bei „Alle Kids sind VIPs“ oft für Inte- die Kids eine Menge Fragen an ihn – auch grations-Projekte engagierte. „Wenn ›› stiftung › change › 2/2009 Seite 56

die Jugendlichen spüren, dass da einer ist, Die Moderatorin der sich für sie interessiert, gibt ihnen das Shary Reeves (links) führte Motivation.“ – Und genau die, findet Me- durch die Ver- riem, fehlt einem manchmal, wenn man anstaltung und neu in einem fremden Land ist. Die Spra- kündigte Stars che ist einem fremd und am Anfang hat wie Jenniffer Kae (unten) an, die mit man noch gar keine Freunde, denen man ihren gefühlvollen von seinen Problemen erzählen kann: „Vor Pop-Songs für vier Jahren hat mein Vater den Rest unserer Gänsehautstim- mung sorgte Familie nach Deutschland geholt. Er sprach schon sehr gut deutsch, aber für mich war hier alles fremd“, sagt sie. Vor allem die Sprache und der Übergang in den Beruf sei- en ein Problem gewesen. Im „Alle Kids sind VIPs“-Projekt ihrer Schule konnte sie diese Erfahrung jetzt verarbeiten – und sogar da- mit gewinnen. „Eure Projekte sind tolle Beispiele für uns in Deutschland – dass wir junge Leute haben, auf die wir stolz sein können“, be- tonte Dr. Gunter Thielen, Vorstandsvorsit- zender der Bertelsmann Stiftung, in seiner Rede an die Projekt-Gewinner. „Wenn ihr selbst für euch sorgen und aus eurem Le- ben etwas machen wollt, ist Bildung dafür unheimlich wichtig.“ Doch das, so Dr. Gun- ter Thielen, liege nicht alleine am Willen der Jugendlichen, sondern an der ganzen Gesellschaft: „Ihr müsst eine Chance be- kommen zu zeigen, welche Talente ihr habt – denn man kann mehr als man weiß!“ Die stellvertretende Vorsitzende der Stiftung, Liz Mohn, überreichte den Ju- gendlichen auf der Bühne ihre Urkunden und ließ sich von den Projekten erzählen – von Kochbüchern mit internationalen Gerichten, multikulturellen Theaterstü- cken, Projektwochen zum gegenseitigen Kennenlernen oder sogar einem eigenen Unterrichtsfach zum Thema Freundschaft. Sie ist voller Hoffnung, dass Schülerinnen „Ihr seid ein wie Susy, Meriem, Jasmin und Julia den Mut fassen, an sich zu glauben – und allen Beispiel dafür, zu zeigen, was in ihnen steckt. dass man mit In ihrer Ansprache an die Jugendlichen Mut vieles be- betonte Liz Mohn, dass „es uns gelingen wegen kann!“ kann, eine Brücke zwischen den Völkern, Kulturen und Religionen zu schlagen.“ Und: Liz Mohn, „Dass man mit Mut vieles bewegen kann, stellvertretende Vorsitzende der Bertelsmann Stiftung dafür sind die Gewinner und alle beteilig- ten Projekte ein großes Vorbild. Das macht mich stolz!“ ][

weblinks: Weiterführende Informationen gibt es unter www.allekidssindvips.de Kontakt: Zum Schluss wirbelten Johanna Braun die „Flying Steps“ [email protected] mit ihrer Breakdance- Matthias Ritter Performance über [email protected] die Bühne change › 2/2009 › stiftung Seite 57

Welche Sprache wird bei Ihnen zu Hause gesprochen? Bei uns wurden beide Sprachen gespro- chen, wegen meiner Großeltern, die am Anfang noch in Deutschland lebten, als ich geboren wurde. Meine Eltern haben nur deutsch mit mir gesprochen. Ein halber Spanier zu sein, hat mich immer sehr stolz gemacht. Alle fanden Spanien ja auch toll, und alle machen dort gerne Urlaub. Haben Sie einen Tipp für Kinder mit Migrationshintergrund, wie sie es schaffen können, ihre Ziele zu erreichen? Unabhängig von der Nationalität – die Schule ist wichtig, Ihr solltet Euch darauf konzentrieren, dann fällt Euch eine Menge im Leben leichter. Vieles ist dann möglich, und mit einer guten Ausbildung könnt Ihr im Leben was erreichen. In Ihrem bisherigen Verein, dem VfB Stutt- Setzt beim Thema Integration vor allem auf Bildung: Star-Kicker Mario Gomez gart, standen Sie mit Spielern aus bis zu 13 Nationen auf dem Platz. Wie tragen Sie dazu bei, dass Integration funktioniert? Wir sind multikulti, und es funktioniert „Mit einer guten Ausbildung könnt wunderbar. Weil wir alle das gleiche Ziel haben. Wir sprechen deutsch beim Training, Ihr im Leben etwas erreichen“ aber jeder Spieler weiß eigentlich auch, was er auf dem Platz zu tun hat. Der Nationalspieler Mario Gomez ist einer von neun Botschaftern Was waren die entscheidenden Regeln in der Kampagne „Alle Kids sind VIPs“. Wir wollten Ihrem Team? Respekt, Teamgeist – und Fairness. wissen, warum er diese Patenschaft übernommen hat und welche Sie sind ehrenamtlicher Botschafter der eigenen Erfahrungen er mit dem Thema Integration gemacht hat Integrations-Kampagne „Alle Kids sind VIPs“. Was hat Sie bewegt, sich hier zu interview: Britta-Alexandra Friedrichs ][ engagieren? Die Aktion hat mir gefallen, weil sie die change: Der Bildungserfolg bei Kindern In welchem Fach waren Sie besonders gut, Jugendlichen direkt anspricht. Die Projekte hängt in Deutschland häufig von der in welchem besonders schlecht? der Teilnehmer gehen mit guten Beispielen Herkunft ab. Kinder aus Zuwandererfami- Ich war sehr gut in Mathematik, weniger voran und zeigen: Alle Kinder und Jugendli- lien erzielen bei gleicher Intelligenz und gut in Geschichte und Gemeinschaftskunde. chen sind für die Gesellschaft gleich wichtig Kompetenz niedrigere Schulabschlüsse. Ihr Meine Fachhochschulreife habe ich mit und haben eine faire Chance verdient. Vater stammt aus Spanien. Welche Erfah- einem Durchschnitt von 2,7 gemacht. Klingt rungen haben Sie als Kind eines Zuwande- nicht ganz so gut, aber wegen des Fußballs rers gemacht? hatte ich in meinem letzten Schuljahr 250 Gómez: Ich hatte das Glück, von vornher- Fehlstunden. Ich hatte dann fast nur noch ein der deutschen Sprache mächtig zu sein. Einzelunterricht mit meinem Lehrer, war vita> Bei Kindern, die das nicht haben, ist es ge- fast nie mehr mit der Klasse zusammen, mario gomez wiss schwieriger. Ich hatte auch das Glück, weil ich morgens trainieren war. Das hat gute Mitschüler und gute Lehrer zu haben. mir wenig Spaß gemacht, und ich war froh, Wie hat Ihr Vater Sie geprägt? den Abschluss halbwegs gut hinbekommen Mario Gomez wurde am 10. Juli 1985 Er hat mir schon früh mit auf den Weg zu haben. im schwäbischen Riedlingen als Sohn gegeben, dass ich arbeiten muss, um etwas Wie wichtig ist Ihnen die Bindung zu Ihrer einer Deutschen und eines Spaniers zu erreichen. Diszipliniert zu sein und zu Familie, welchen Einfluss hatte sie auf Ihre geboren. Schon früh entdeckte er seine wissen, was ich will – das habe ich ganz Karriere? Begeisterung für den Fußball und star- bestimmt von meinem Vater. Er war nicht Ich hatte das Glück, dass meine Eltern tete im Mai 2004 mit dem VfB Stuttgart streng, aber er hat mir immer klar gemacht, meine Karriere immer voll unterstützt seine Bundesliga-Karriere und schoss im dass die Schule wichtig ist. Als Kind habe haben. Sie haben die Leidenschaft gesehen, September 2005 sein erstes Bundesliga- ich das natürlich weniger verstanden, heute mit der ich beim Fußball dabei war, und sie Tor. Im gleichen Jahr wurde Mario bin ich ihm sehr dankbar dafür. haben mich kreativ sein lassen. Mein Vater Gomez in die U 21-Nationalmannschaft Was ist das Entscheidende, was er Ihnen hatte einen Malerbetrieb, und es war nie berufen, seit 2007 kickt er in der Natio- mit auf den Weg gegeben hat? die Frage, ob ich seine Nachfolge antrete nalelf. Mario Gomez wechselt zur nächs- Ich war immer voll auf Fußball fokussiert. und den Laden übernehme. Ich musste nie ten Bundesliga-Saison vom VfB Stuttgart

ä nicke zum FC Bayern München – mit einer j

Wenn ich von der Schule nach Hause kam, mit auf den Bau oder eine Wand streichen. hab ich den Ranzen in die Ecke geschmis- Er hat mich beim Fußball unterstützt, war Ablösesumme von 30 Millionen Euro ist sen und bin kicken gegangen. Mein Vater am Wochenende immer mit mir unterwegs. dies der bislang teuerste Transfer in der florian : : hat mir immer vermittelt, dass eine gute Und hat trotzdem darauf geschaut, dass ich Geschichte der Bundesliga. oto

F Bildung genauso wichtig ist. die Schule nicht vernachlässige. stiftung › change › 2/2009 Seite 58

forum demographischer wandel Abschluss-Bilanz mit Blick nach vorn

In den letzten vier Jahren haben Experten Konzepte erarbeitet, wie man am besten mit der veränderten Altersstruktur der Bundespräsident Prof. Horst Köhler wies Gesellschaft umgeht. Eine gute Basis, findet Bundespräsident in seiner Rede auf die Herausforderun- gen des demographischen Wandels hin Prof. Horst Köhler, der das Forum gemeinsam mit der Bertelsmann und forderte ein Umdenken Stiftung ins Leben gerufen hatte

ligten zur Abschlusskonferenz im Schloss sehen, um zuvorzukommen – diese Devise bericht aus> Bellevue, um von der Theorie in die Praxis von Auguste Comte, dem Gründervater der Berlin überzugehen. Soziologie, müssen wir heutzutage mehr Neben der Studie „Der demographische denn je zur Richtschnur unseres Handelns Wandel als gesellschaftliche Herausforde- machen.“ ie Alterspyramide in Deutschland rung“ wurden auch die Ergebnisse einer Denn ganz egal, ob es um Bildungsge- hat sich verschoben. Es gibt immer Bürgerwerkstatt präsentiert. Deren Mitglie- rechtigkeit, Familienpolitik oder die Frage D weniger junge Menschen und im- der hatten mit Prof. Horst Köhler darüber nach der kulturellen Vielfalt unseres Lan- mer mehr alte. Auch die Struktur der Ge- diskutiert, wo Hindernisse für die Umset- des geht: „Es kommen neue Herausforde- sellschaft verändert sich. Deutschland wird zung guter Ideen liegen, welche Vorausset- rungen auf uns zu“, erklärte auch Dr. Gun- zum Einwanderungsland, Menschen unter- zungen geschaffen werden müssen, damit ter Thielen, Vorsitzender des Vorstands der schiedlicher Kulturen treffen aufeinander. gute Projekte wirken können, und welche Bertelsmann Stiftung. Eine Vielzahl von Herausforderungen, auf Anreize dazu beitragen, dass unsere Gesell- Unter den Gästen war neben Bischof die wir reagieren müssen. Deshalb riefen schaft den Wandel als Chance begreift und Dr. Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Bundespräsident Prof. Horst Köhler und gemeinsam gestaltet. Evangelischen Kirche in Deutschland, auch die Bertelsmann Stiftung schon vor vier der ehemalige Bremer Bürgermeister Hen- Jahren das „Forum Demographischer Wan- Mit Prognosen planen ning Scherf, der sich seit Jahren mit dem del“ ins Leben. Ziel: das Bewusstsein für die Thema Älterwerden beschäftigt, darüber Herausforderungen des demographischen Der demographische Wandel betrifft uns unter anderem das Buch „Grau ist bunt – Wandels stärken – bei Entscheidungsträ- alle, erklärte Bundespräsident Prof. Horst Was im Alter möglich ist“ geschrieben hat gern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft Köhler in seiner Rede: „Er betrifft alle Länder, und heute sein Leben als Privatier in einer und Gesellschaft ebenso wie bei den Medi- alle Nationen. Und es gibt einen gemeinsa- generationenübergreifenden Wohngemein- en und in der Öffentlichkeit. men Nenner, der lautet: Ohne Berücksich- schaft genießt. Die Experten hatten sich zur Aufgabe tigung der demographischen Entwicklung Solche Konzepte wie neue Wohnformen gemacht, darauf mit Handlungsempfeh- ist heute kein Staat mehr zu machen.“ Wer und neue Wege der Offenheit seien es, die lungen und hilfreichen Praxis-Beispielen heutzutage noch plane, ohne entsprechen- unsere Gesellschaft in der Zukunft brauche, aus den Bereichen „Familie“, „Bildung“ und de Prognosen heranzuziehen, handele erklärte Bundespräsident Prof. Horst Köh- „gesellschaftliche Vielfalt“ zu reagieren. unverantwortlich, betonte der Bundesprä- ler. „Ich bin überzeugt: Wer einmal die ‚de-

Jetzt begrüßte Prof. Horst Köhler alle Betei- sident: „Sehen, um vorauszusehen; voraus- mographische Brille‘ auf hatte, der erkennt, darchinger marc Fotos: change › 2/2009 › stiftung Seite 59

vita> Prof. horst köhler

Prof. Horst Köhler, 1943 in Heidenstein, heute Skierbieszów (Polen) geboren, wuchs bei Leipzig und ab 1953 in Baden-Württemberg auf. Er studierte in Tübingen Wirtschaftswissenschaften, ar- beitete ab 1976 im Bundeswirtschafts- ministerium. 1981 trat er in die CDU ein und gehörte der Staatskanzlei der Landesregierung in Kiel an. Er wechselte ins Bundesfinanzministerium und wurde 1990 Staatssekretär. 1992 ging Köhler als Präsident zum Deutschen Sparkas- sen- und Giroverband und übernahm 1998 das Amt des Präsidenten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Im Jahr 2000 wurde er Geschäftsführender Direktor des In- ternationalen Währungsfonds (IWF). Seit 2004 ist Köhler Bundespräsident und wurde gerade für fünf weitere Jahre wiedergewählt.

Gäste aus Politik und Wirtschaft trafen sich beim Forum „Demographischer Wandel“ mit dem Vorstand der Bertelsmann Stiftung (Foto rechts). Zu den Rednern zählte auch der ehemalige Bremer Bürgermeister Dr. Henning Scherf (Foto links)

Bertelsmann Stiftung, Bundesprä- wie sehr alles mit allem zusammenhängt: selbst, für die Gesellschaft und für ein neues Familie.Bildung.Vielfalt. Den demographischen Wandel gestalten sidialamt (Hrsg.), Familie. Bildung. Sozialpolitik und Bildungswesen, Stadtent- Miteinander der Generationen.“ Familie.Vielfalt. Den demographischen wicklung und Familienpolitik, Engagement- Mit dem Ende des vier Jahre andauern- Bildung.Wandel gestalten. 2009, förderung und Integration. Und der begreift, den Projektes beginne jetzt die praktische Vielfalt. 268 Seiten, gebunden, 35 Euro. wie wichtig es ist, vernetzt zu denken und Phase der Umsetzung. Köhler: „Denn das ISBN 978-3-86793-043-7 zu handeln.“ Und: „Die gewonnenen Jahre Forum Demographischer Wandel mag zwar weblinks: Lebenszeit sind überwiegend gute und ge- heute seine Arbeit beenden. Sein Thema www.forum-demographie.de sunde Jahre. Und diese gewonnenen Jahre aber wird uns noch lange begleiten – und Kontakt: Andreas Esche bergen unglaubliches Potenzial: für uns sein Ertrag noch lange fortwirken.“ ][ [email protected] stiftung › change › 2/2009 Seite 60

task force „Wir denken schon an die Zeit nach der Krise“

Die Bertelsmann Stiftung arbeitet an einem Modell, wie Deutschland nach der Krise aussehen wird

interview: Karin Schlautmann ][ foto: veit mette

change: Herr Dr. Thielen, die Wirtschaftskri- petenz und Handlungsfähigkeit der Akteure speisen. Unser Blick richtet sich eher auf die se hält die Welt seit Monaten in Atem. Auch in Wirtschaft und Politik wachsen. Am Ende Phase nach der Krise. in Deutschland erreichen die Folgen immer kann dadurch auch unser wirtschaftliches mehr Menschen. Wie geht es weiter? und politisches System in Frage gestellt wer- Haben Sie schon eine Vorstellung davon, wie Dr. Gunter Thielen: Diese Frage kann ih- den. Das sind Auswirkungen, die noch lange sich die Krise langfristig auf Deutschland nen momentan niemand seriös beantworten. über die Krise hinaus nachwirken. auswirken wird? Was wir zur Zeit beobachten, ist, dass weder Derzeit kommt es zu einem tiefgreifenden Wissenschaftler noch Finanzexperten belast- Wie wirkt sich die Krise eigentlich auf die Vertrauensverlust in unserer Gesellschaft. bare Aussagen treffen können. Gleichzeitig inhaltliche Arbeit der Bertelsmann Stiftung Manager haben in den letzten Monaten er- lesen wir jeden Tag, dass auch in Deutschland aus? heblich an Reputation verloren. Der gesamte immer mehr Unternehmen gravierende Pro- In unseren Programmen geht es weiter wie Bankenbereich hat ein absolutes Glaubwür- bleme haben. Berichte über Auftragsmangel, geplant. Wir legen alle unsere Vorhaben digkeitsproblem. Aber auch die politischen Kurzarbeit, Entlassungen und Insolvenzen sehr langfristig und sehr grundsätzlich an. Entscheidungsträger stehen unter kritischer bestimmen die Wirtschaftspresse. Ich fürch- Wir wollen zum Beispiel unser Gesund- Beobachtung. te, dass wir uns in Deutschland, aber auch heitssystem transparenter machen, damit Die Ordnungssysteme auf der ganzen weltweit noch eine Zeit lang auf schlechte die Patienten bewusste Entscheidungen bei Welt haben offensichtlich versagt. Ein einfa- Nachrichten einstellen müssen. der Behandlung oder bei ihrer Arzt- und ches „Weiter so“ darf es deshalb nach dieser Krankenhauswahl treffen können. Eine sol- Krise nicht geben. Wir müssen aus ihr lernen. Können Sie diese „schlechten Nachrichten“ che Zielsetzung braucht man auch bei einer Dazu brauchen wir Strukturen, die eine kon- für Deutschland konkretisieren? Was erwar- Krise nicht zu verändern. Das gilt auch für tinuierliche und nachhaltige wirtschaftliche ten Sie für eine weitere Entwicklung? unseren Ansatz im Bildungsbereich, wo wir Entwicklung ermöglichen. Die Weltwirtschaft Die deutsche Wirtschaft ist sehr stark ex- einen besonderen Schwerpunkt auf die früh- darf nicht noch einmal durch eine Speku- portorientiert – da trifft uns eine weltweite kindliche Förderung legen. Auch diese Aus- lationsblase so verletzt werden. Das wird Rezession besonders stark. Die Bundesregie- richtung hat weiter Bestand. Wir haben noch sicherlich auch Konsequenzen für Deutsch- rung geht sehr offensiv mit dem Instrument nie „Schön-Wetter-Programme“ gemacht und land haben. Diese Krise zwingt uns alle zum der Kurzarbeit um, damit die Zahl der Ar- brauchen deshalb jetzt auch nicht hektisch Nachdenken darüber, wie sich zukünftig ein beitslosen nicht schlagartig steigt. Das ist ein umzusteuern. verantwortungsvolles Wachstum der gesam- wichtiger und richtiger Schritt. Trotzdem wollen wir uns mit der Krise ten Weltwirtschaft organisieren und besser Am gravierendsten ist aber, dass mit der und ihren Auswirkungen auch direkt ausein- kontrollieren lässt. Krise und jeder neuen schlechten Nachricht andersetzen. Wir sehen unsere Aufgabe hier Und schließlich müssen wir Konzepte noch mehr an Vertrauen verloren geht. Die allerdings nicht darin, noch mehr kurzfristige entwickeln, wie man zukünftig Verände- Gefahr ist groß, dass die Zweifel an der Kom- Lösungsvorschläge in die Diskussion einzu- rungs- und Anpassungsprozesse in Deutsch- change › 2/2009 › stiftung Seite 61

Diskussion wollen wir Eckpunkte für eine „Nachhaltige Weltmarktwirtschaft“ beisteu- ern. Und schließlich arbeiten wir an einem Modell, wie man die Wandlungsfähigkeit un- serer Gesellschaft und die Steuerungsfähig- keit unserer Politik in Deutschland bis zum Jahr 2020 optimieren kann.

Dr. Gunter Thielen, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, will Konzepte entwickeln, Wann wird man von Ihren Konzepten und die Deutschland nach der Krise prägen Ideen mehr erfahren können? Wir setzen bei der Entwicklung unserer lang- fristigen Krisenkonzepte auf einen sehr offe- nen Kommunikationsprozess. In den nächs- ten Wochen und Monaten werden wir immer land frühzeitig angehen und steuern kann. Unsere Task Force wird das inhaltliche Know- wieder Ideen und Thesen veröffentlichen Besonders in einer solchen Krise werden wir how bei uns im Hause bündeln und mit exter- und zur Diskussion stellen. Dazu werden wir von den Rahmenbedingungen nur getrieben. nem Wissen verbinden, um Lösungsvorschlä- an vielen Stellen insbesondere das Internet Wir reagieren auf Probleme und gestalten ge für die langfristigen Auswirkungen der nutzen, um hier eine schnelle Reaktion und Veränderungen nicht vorausschauend. Das Krise zu erarbeiten. Zusätzlich greifen wir einen direkten Austausch zu erreichen. müssen wir nach meiner Überzeugung drin- auch zu Szenario-Techniken, um unterschied- Wir sind davon überzeugt, dass man für gend ändern. liche Krisen- und Entwicklungsvarianten für eine solche Herausforderung nicht einfach Deutschland durchzuspielen. nur Lösungen von oben verordnen kann. Die Welche Aufgabe soll die Task Force der Ber- Wir wollen zu drei Aspekten konkre- notwendigen Veränderungsschritte werden telsmann Stiftung in diesem Zusammenhang te Vorschläge entwickeln, um Probleme zu nur Erfolg haben, wenn viele Menschen in übernehmen? überwinden und um Deutschland zukünf- die Entwicklung und Umsetzung einbezogen Wir sind auf der Suche nach Wegen, wie man tig krisenfester zu machen. Dazu gehört die sind. Das wollen wir versuchen. mit den mittel- und langfristigen Folgen der Erarbeitung einer „Vertrauensstrategie“, die Ich glaube, das wird für alle Beteiligten Krise umgehen kann. Und wir suchen Antwor- mithelfen soll, die Glaubwürdigkeit von Ak- ein sehr spannender Prozess! ][ ten, die unterschiedliche Bereiche mit einbe- teuren, Abläufen und Institutionen wieder ziehen sollten – Bildung, Werte-Entwicklung herzustellen. Die Marktwirtschaft braucht weblinks: oder zum Beispiel Kultur – und sich nicht nur darüber hinaus einen definierten Rahmen Weiterführende Informationen gibt es unter auf die ökonomischen Aspekte beschränken. und neue Entwicklungsimpulse. Zu dieser www.bertelsmann-stiftung.de/taskforce service › change › 2/2009 Seite 62

publikationen Weitere neuerscheinungen Wege zum Zusammenleben Der demographische Wandel wird unseren Alltag radikal verändern. Gesellschaft Aktuelle Bücher der Bertelsmann Stiftung beschreiben, wie wir auf die Herausforderung reagieren können Die neue Vaterrolle Das traditionelle Famili- enleben ist im Umbruch. Für junge Männer bedeutet das eine Neu- orientierung zwischen Beruf, Beziehung und Vaterrolle. Das Buch zeigt Wege und Chancen auf und liefert diffe- renzierte Ansichten und Analysen rund um den neuen „Väter-Hype“, die Famili- enpolitik, die eigenen Ansprüche und die Realität im Alltag. Karin Jurczyk, Andreas Lange (Hrsg.), Vaterwerden und Vatersein heute. Neue Wege – neue Chancen! 2009, 374 Seiten, Broschur, 38 Euro. ISBN 978-3-86793-035-2

wirtschaft Glück über Generationen hinaus: Wenn Jung und Alt zusammenleben, profitieren beide davon Innovativ werden chon im Jahr 2025 wird die Hälfte Seniorenwirtschaft, dem sozialen Dienst Was sind eigentlich die Sder Menschen in Deutschland älter als und in der Kommunalpolitik. Bedingungen für erfolg- 47 Jahre alt sein. Vom demographischen Das Handbuch „Initiieren – Planen – reiche Innovationen in Wandel ist die Rede. Ein Wandel, der unser Umsetzen“ zeigt ausgesuchte Beispiele den Bereichen Bildung, Leben radikal verändern und das Zusam- aus sechs Kommunen, die belegen, wie Forschung, Entwicklung menleben von Alt und Jung vor völlig neue kommunale Seniorenpolitik in der Praxis und Unternehmertum? Herausforderungen stellen wird. Doch was umgesetzt werden kann. Das Buch stellt die Ak- bedeutet das jetzt für uns? – Zum Beispiel, Ein wichtiger Faktor ist dabei das tivitäten der einzelnen dass Kommunen und Gemeinden auf die Zusammenleben von Jung und Alt. Schon Bundesländer vor, do- Veränderungen reagieren und mit den seit Jahren wird das Konzept von gemein- kumentiert deren Gemeinsamkeiten und Prognosen für die Zukunft planen müssen. schaftlichen Wohnprojekten diskutiert. Die deckt auch die Unterschiede zwischen Damit das funktioniert, beschreibt das Analyse „Soziales neu gestalten: Zukunft den Innovationssystemen auf. Buch „Wer, wo, wie viele? – Bevölkerung Quartier – Lebensräume zum Älterwerden“ Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), in Deutschland 2025“ der Bertelsmann untersucht erstmals, in welchem Umfang Die Bundesländer im Innovationswettbe- Stiftung, wie die Bevölkerungsentwicklung Aktivitäten der Bewohner professionelle werb 2009. Bundesländer im Fokus. genau aussehen wird, und wie schnell sie Unterstützungen ersetzen können. Eine 2009, ca. 220 Seiten, Broschur, vorangeht. Art gelebter Generationenvertrag, bei dem ca. 28 Euro. Schon heute können wir gemeinsame zum Beispiel die alte Dame die Oma-Rolle ISBN 978-3-89204-994-4 generationenübergreifende Konzepte ent- übernimmt, der ältere Herr den Babysitter

wickeln und in der Praxis anwenden – bei- ersetzt, die Jungen für die Alten einkaufen (1) w spielsweise in der Gesundheitsförderung, und einen Teil der Pflege übernehmen – so, o

beim bürgerschaftlichen Engagement, der dass jeder vom anderen profitiert. wal s c hap o /

Bertelsmann Stiftung Bertelsmann Stiftung Netzwerk: Soziales neu

(Hrsg.), (Hrsg.), gestalten (Hrsg.), f in der oto f Wer, wo, wie viele? – Initiieren – Planen – Zukunft Quartier – (6), (6), Bevölkerung in Deutsch- Umsetzen. Lebensräume zum

land 2025 Handbuch kommunale Älterwerden. tun g

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) ti f Netzwerk: Soziales neu gestalten (Hrsg.) Praxiswissen für Seniorenpolitik. Band 3: Eine sozioöko- s Wer, wo, wie viele? – Zukunft Quartier – Lebensräume zum Älterwerden Bevölkerung in Deutschland 2025 Kommunen. 2009, 362 Seiten, nomische Mehrwertana- Band 3: Soziale Wirkung und »Social Return« Praxiswissen für Kommunen 2009, ca. 170 Seiten, Broschur, 38 Euro. lyse gemeinschaftlicher

Broschur, ca. 20 Euro. ISBN 978-3-86793-024-6 Wohnprojekte. t elsma nn ISBN 978-3-86793-042-0 2009, 302 Seiten, : B er : Broschur, 34 Euro. s

ISBN 978-3-86793-047-5 Foto change › 2/2009 › stiftung international Seite 63 stiftung international › stiftung international › change › 2/2009 Seite 64

100-tage-konferenz Wirtschaftskrise prägt internationale Politik

Fachleute aus Politik und Wirtschaft diskutierten in Washington über die globale Wirtschaftskrise und entwickelten Vorschläge für die Zeit danach

Hochrangige Gäste auch auf dem Podium anlässlich der „100-Tage-Konferenz“ in Washington, darunter auch Lionel Barber, Chefredakteur der „Financial Times“ (rechts)

te die Antworten in den Mittelpunkt. Denn bericht aus> ihr Ziel war es nicht nur, die Wirtschaftskri- Washington se und ihre Auswirkungen zu diskutieren, sondern zugleich auch Wege und Chancen aufzuzeigen, wie die Gesellschaft die Krise gen österreichischen Bundeskanzler Dr. Wolf- enau hundert Tage war US-Präsident meistern und für Veränderungen nutzen gang Schüssel, Weltbank-Präsident Robert Zo- Barack Obama im Amt, als sich im kann. ellick und dem ehemaligen Vorsitzenden der G April mehr als 150 Gäste aus Politik, Dafür müssten alle Bereiche der Gesell- Demokratischen Partei Howard Dean, auch Wirtschaft, Gesellschaft und Medien zur schaft ihren Beitrag zur Überwindung der die UNICEF-Präsidentin und ehemalige US- „100-Tage-Konferenz“ von Bertelsmann Wirtschaftskrise leisten, erklärte der Vor- Landwirtschaftsministerin Ann Veneman. Foundation North America und ihrem Me- standsvorsitzender der Bertelsmann Stif- Sie erinnerte die Teilnehmer daran, welche dienpartner „Financial Times“ in der „Na- tung, Dr. Gunter Thielen, in seiner Eröff- Auswirkungen die globale Wirtschaftskrise tional Portrait Gallery“ in Washington D.C. nungsrede und forderte die Vertreter von auf die Bevölkerung von Entwicklungslän- trafen. Politik, Wirtschaft, Medien und Think Tanks dern hat, vor allem auf die Kinder, die am Was hatte Obama bis dahin bewegt? Vor auf, sich für pragmatische und innovative stärksten davon betroffen sind. Die meisten welchen Problemen stand nicht nur sein Lösungen zu engagieren. Nicht nur die ge- Menschen in Entwicklungsländern würden Land – sondern die ganze Welt? Und wie genwärtige Krise müsse überwunden, son- von weniger als zwei Dollar pro Tag leben kann die Welt auf all diese Herausforde- dern auch die Grundlagen für eine sichere müssen. Die globale Wirtschafts- und Fi- rungen reagieren? Der Titel der Konferenz: und nachhaltige Zukunft gelegt werden. nanzkrise habe die Situation dieser Men- „Die ersten 100 Tage. Chancen der Krise: Unter den Gästen war neben Politikern schen weiter verschlechtert. Ann Veneman: Eine entscheidungsfähige Gesellschaft in und Wirtschaftsgrößen wie dem Investor und „Diese Krise ist multidimensional und hat

Zeiten des ökonomischen Umbruchs“ stell- Philanthropen George Soros, dem ehemali- eine sehr menschliche Komponente.“ sardari kaveh Fotos: change › 2/2009 › stiftung international Seite 65

Die französische Finanz- ministerin Christine Lagarde diskutierte mit Robert Hormats, Vize Chairman von Goldman Sachs International (links). Rechts: Weltbank- Präsident Robert Zoellick

Liz Mohn, stellvertretende Vorsitzende der Bertelsmann Stiftung begrüßt George Soros (links). Auf dem Podium: Lescek Balcerowicz, Professor an der Warschauer School of Economics und ehemaliger polnischer Finanzminister, mit dem ukrainischen VizepremierministerHryhoriy Nemyria (oben)

Diesen Gesichtspunkt nicht zu verges- Selbstreinigungskräfte der Märkte sei irrig. Er sen, dazu rief auch Weltbank-Präsident forderte den Staat auf, Vorsorge gegen eine info> Robert Zoellick auf. Gerade die Entwick- neuerliche Krise dieses Ausmaßes zu treffen. Bertelsmann Foundation lungsländer benötigten Investitionen in Die Koexistenz von globalen Finanzmärkten verschiedenen Bereichen, insbesondere in und nationaler Regulierung stellten weiter- Die Bertelsmann Foundation North Infrastruktur und Landwirtschaft. In diesem hin ein systemisches Risiko dar. America ist eine eigenständige Toch- Zusammenhang erinnerte er daran, dass Chi- Dafür sei ein anderes großes Problem der terstiftung in den USA, die von Annette na von solchen Investitionen profitiert habe USA, das marode Gesundheitssystem, be- Heuser geleitet wird. Präsident ist Dr. Gunter Thielen, dem Vorstand gehören und dadurch die Grundlage für sein heuti- reits kurz vor der entscheidenden Reform. Liz Mohn und Craig Kennedy, Präsi- ges Wirtschaftswachstum schaffen konnte: Howard Dean, von Hause aus übrigens Arzt, dent des „German Marshall Fund of the „Investitionen in die Landwirtschaft sind betonte mit Blick auf die Vorhaben des neuen United States“ (GMFUS), an. wahrscheinlich das beste Programm zur Ar- Präsidenten: „Obamas Pläne sind die besten, Kontakt: mutsbekämpfung.“ Beim Blick auf die USA die ich bis jetzt gesehen habe. Sie geben den Bertelsmann Foundation North America, und deren aktuelle Probleme, betonte der Amerikanern eine Wahl zwischen einer pri- 1101 New York Avenue, N.W., Suite 901, Philantrop George Soros, dass man die Aus- vaten oder einer Einheitsversicherung.“ Eine Washington, D.C. 20005 wirkungen der aktuellen Finanzkrise nicht vollständige Privatisierung wäre wohl nicht Telefon: 001-202-384-1980 unterschätzen darf: „Diese Krise ist keine Bla- der effektivste Weg, um ein bezahlbares Ge- se; sie ist eine Super-Blase.“ Der Glaube an die sundheitssystem zu organisieren. ][ stiftung international › change › 2/2009 Seite 66

Francesc Colomés, Direktor von RavalText, ist ein Urgestein der spanischen Textilindustrie, der sich seit vielen Jahren sozial engagiert

integration in den arbeitsmarkt Nahtstelle zum Leben

RavalText ist ein Unternehmen mit sozialen Zielen. In einem der schwierigsten Viertel Barcelonas bildet es arbeitslose Frauen zu Näherinnen aus und bringt sie so zurück in den Arbeits- markt. Die Fundación Bertelsmann unterstützt das Projekt text: José Ángel Martos ][ fotos: berta hausmann

Ganz oben: Die Einwanderin Roxana Mamani Cataña lebte am Rande der Gesellschaft. Nach ihrer Ausbildung blieb sie im Unternehmen einen wichtigen Wirtschaftszweig der Stadt und arbeitet nun in der Qualitätskontrolle. bericht aus> bilden. „Für mich war dies eine große Bestä- Oben: Die Arbeitstherapeutin Pilar Homs Barcelona tigung“, erzählt Roxana, die aber am Ende hilft den Frauen, sich auszudrücken und sogar von RavalText selbst übernommen teamfähig zu werden wurde. Heute arbeitet sie in der Qualitäts- ie Bolivianerin Roxana Mamani Cata- kontrolle und richtet ihr Auge auf die Ar- D ña kam vor sechs Jahren nach Spanien beit der Anfängerinnen. und hat schwierige Zeiten durchgemacht, Francesc Colomés, Direktor von Raval- info> die das Leben einer Einwanderin mit sich Text: „Von den 15 Frauen, die wir in jedem Fundación Bertelsmann bringt. Sie lebte in Barcelona am Rande der Kurs ausbilden, stellen wir zwei oder drei Gesellschaft, bevor sie sich eines Tages für ein.“ Dabei lernen die Frauen nicht nur, Die Fundación Bertelsmann hat das erste die Kurse von RavalText anmeldete. Das professionelle Schneiderinnen zu werden, Netz von Bürger-Stiftungen in Spanien Unternehmen mit sozialen Zielen bildet sondern entwickeln auch persönliche Fä- aufgebaut. Es besteht aus vier über das ganze Land verteilten Stiftungen, zu Frauen in einem Viertel aus, das den höchs- higkeiten, die sie auf dem Arbeitsmarkt denen auch die Fundació Tot Raval in ten Ausländeranteil der katalanischen Met- brauchen. Dieser Aspekt ist ganz wesent- Barcelona gehört. Die Mitglieder des ropole und ein hohes Maß an sozialer Aus- lich für das soziale Ziel der Firma. Verant- Netzes arbeiten zusammen und tauschen grenzung aufweist. wortlich für diesen Bereich ist Pilar Homs, Erfahrungen aus. Direktorin der Funda- Roxana hatte bereits früher in der Nä- Arbeitstherapeutin und spezialisiert auf ción Bertelsmann ist Michaela Hertel. herei ihrer Eltern gearbeitet. Nachdem sie Eingliederung in den Arbeitsmarkt. „Ich Kontakt: die Kurse von RavalText mit Erfolg abge- habe wöchentliche Schulungen mit jeder Fundación Bertelsmann schlossen hatte, bot ihr eine Firma einen der Frauen. Es ist wichtig, dass sie lernen, Pg. de Picasso, 16, baixos 08003 Barcelona Dreijahresvertrag an. Dort sollte Roxana sich auszudrücken, im Team zu arbeiten Telefon: +34 93 2687444 anschließend den Sprung zu einem der und, natürlich, dass sie Techniken erwer- großen Modeunternehmen schaffen, die ben, eine Stelle zu finden.“ ][ change › 2/2009 › stiftung international Seite 67

europa-wahl info> Das büro in Brüssel

Wahl im Zeichen der Krise Europa ist für die Bertelsmann Stiftung ein zentrales Thema und Brüssel, als Sitz Große Ernüchterung: Nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten der EU-Institutionen, damit ein idealer Ort, um sich von dort aus verstärkt in gab ihre Stimme ab Europa-Projekten zu engagieren. In ei- von thomas fischer ][ grafik: dieter duneka nem Büro befasst sich unter der Leitung von Thomas Fischer ein kleines Team mit Themen rund um europäische Fragen. Ziel ist es, eine Art „Europa-Antenne“ für ralen überraschend gut ab und bleiben die die Projektarbeit in Gütersloh zu sein. bericht aus> drittstärkste Fraktion vor den Grünen. Kontakt: Brüssel Das neue Parlament zeigt in seiner Zu- Bertelsmann Stiftung – Büro Brüssel sammensetzung eine deutliche Verschie- Rue de la Loi 155 bung hin zur rechten Mitte. In Zeiten, in Résidence Palace Block C, 3rd floor n der Nacht zum 7. Juni wurden die denen sich die Antworten der großen bür- B-1040 Brussels I Wahllokale in Europa geschlossen. Die gerlichen Parteien auf die Krise kaum mehr Telefon +32 2 280-2830 Wahlbeteiligung ist ernüchternd: Euro- unterscheiden, trauen die europäischen paweit haben nur rund 43 Prozent der 375 Wähler mehrheitlich dem christdemokra- Millionen Wahlberechtigten in den 27 EU- tisch-konservativen Lager mehr Wirtschafts- der British National Party geben Anlass zur Mitgliedstaaten ihre Stimme abgegeben. kompetenz zu. Zugleich fühlen sich Teile der Sorge. Mit über vierzig Sitzen im Europäi- Besonders sticht dabei die Wahlabstinenz klassischen sozialdemokratischen Wähler- schen Paralament kann die äußerste Rechte in vielen mittel- und südosteuropäischen klientel, wie Rentner und Geringqualifizier- nun eine eigene Fraktion bilden. Mitgliedstaaten ins Auge. Eine traurige te, als eigentliche Krisenopfer und stärken Gleichwohl gibt es Lichtblicke: So ist die Spitzenposition nimmt die Slowakei ein, das Lager der Protestwähler. Profitiert haben europaweite Libertas-Partei des irischen Eu- in der noch nicht einmal 20 Prozent der davon primär die Rechtspopulisten und ropakritikers Declan Ganley gescheitert. Der Stimmberechtigten zur Wahl gingen. Rechtsradikalen. Sie haben in zehn EU-Staa- Zwang, sich künftig im Parlament intensiv Obwohl der EU bei der Bewältigung der ten zugelegt. Vor allem die Erfolge der FPÖ mit EU-Skeptikern auseinanderzusetzen, globalen Wirtschaftskrise eine Schlüsselrol- in Österreich, der Jobbik-Partei in Ungarn, dürfte zur weiteren Politisierung der öffent- le zukommt, bewegt sich das neue Europa- der niederländischen Freiheitspartei sowie lichen Europadebatte beitragen. ][ Wahlergebnis in Prozent, vorläufiges Ergebnis parlamentSitzverteilung nur auf demokratischvorläufiges Ergebnis dünnem Eis. Besonders schwach zeigten sich die Eu- Wahlergebnis in Prozent, vorläufiges Ergebnis Sitzverteilung vorläufiges Ergebnis Wahl 2009 Wahl 2004 ropäischenEPP-ED SozialdemokratenPES (SPE) ALDE darin, Greens/EFA ihre WählerschaftUEN zuGUE/NGL mobilisieren. SieIND/DEM sind Sonstige Wahl 2009 Wahl 2004 EPP-ED PES ALDE Greens/EFA 35,9 die Hauptverlierer der EP-Wahlen 2009. EPP-ED UEN GUE/NGL IND/DEM Sonstige (Christdemokraten) 36,7 Im direkten Vergleich zu ihnen bauten die EPP-ED 35,9 Konservativen und Christdemokraten un- 161 200 (Christdemokraten) 36,7 21,9 ter dem Dach der Europäischen80 Volkspartei PES 52 83 161 200 (Sozialdemokraten) 27,6 (EVP) ihren Vorsprung aus und stellen die 42 21,9 80 35 PES 52 83 mit263 Abstand736 größte Fraktion. Neben der EVP266 732 27 (Sozialdemokraten) 33 27,6 35 42 ALDE 10,9 sind die GrünenSitze die Hauptgewinner. Ange- Sitze 41 19 263 736 266 732 27 (Liberale) 20 33 12,7 sichts der heftigen Kritik an einem neolibe- 10,9 Sitze Sitze 41 93 53 ALDE 19 ralen Marktmodell schneiden auch die Libe- (Liberale) 12,7 20 Greens/EFA 7,2 93 53 (Grüne) 5,5 2009 2004 Greens/EFA 7,2 (Grüne) 5,5 2009 2004 Wahlbeteiligung in Prozent aller Wahlberechtigten UEN 4,8 (Nationalisten) 5,6 70 Wahlbeteiligung in Prozent aller Wahlberechtigten UEN 4,8 63,0 (Nationalisten) 5,6 4,3 70 GUE/NGL 60 63,0 (Linke) 5,2 4,3 GUE/NGL 60 (Linke) 5,2 2,4 IND/DEM 50 (Europakritiker) 2,8 2,4 IND/DEM 50 (Europakritiker) 2,8 12,6 40 43,1

Sonstige ar l a men t p 3,8 12,6 40 43,1 e u-

: : Sonstige 30 3,8

Quelle: EU-Parlament qu elle 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 30

Quelle: EU-Parlament 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 stiftung international › change › 2/2009 Seite 68

Maya Lahyani und Maria Kate Fleming (kleines Foto) nahmen in der Metropolitan Opera an der Vorauswahl der „Neuen Stimmen“ in New York teil

neue stimmen in New York Sprungbrett zur Opernkarriere Beim 13. Internationalen Gesangswettbewerb „Neue Stimmen“ der Bertelsmann Stiftung hatten mehr als 1.000 junge Talente in 23 Städten weltweit die Chance, sich für die Endrunde zu qualifizieren. Wir waren bei der Vorrunde in New York und schauten hinter die Kulissen

text: Katja Guttmann ][ fotos: dirk eusterbrock change › 2/2009 › stiftung international Seite 69

info> der wettbewerb

Mit dem Internationalen Gesangs- wettbewerb „Neue Stimmen“ will die Bertelsmann Stiftung junge, talentierte Sängerinnen und Sänger aufspüren und ihnen zum Durchbruch zu einer nati- onalen oder internationalen Karriere verhelfen. Dabei werden die Kontakte zwi- schen den einzelnen Teilnehmern, aber auch zu den Verantwortlichen von Opernhäusern und dem Bühnenmana- gement gefördert. Im Mittelpunkt steht der Austausch zwischen Menschen unterschiedlicher Kultur, Nationalität und Religion. Die Endrunde findet vom 25. bis 31. Oktober dieses Jahres in Gütersloh statt.

Armstrong ist einer von rund 50 jun- gen Nachwuchssängern, die an diesem Dienstag in New York zu der Vorrunde für „Neue Stimmen“ geladen sind. Die Tenöre und Bässe, Sopranistinnen und Mezzoso- pranistinnen, die da im abgedunkelten Warteraum vor der Halle konzentriert auf ihren Auftritt warten, gehören zu weltweit 1.000 neuen Talenten, die sich alle für den begehrten Preis, der alle zwei Jahre verge- ben wird, beworben hatten. Die hohe Zahl an Anmeldungen ist kein Wunder: „Neue Stimmen“ gehört neben dem „Hans Gabor Belvedere-Wettbewerb“ in Wien und der „Singer of the World Competition“ im wa- lisischen Cardiff zu den drei hochkarätigs- ten Auswahlverfahren der internationalen Opernwelt. Wer es im Oktober in die End- Dominic Armstrong beim Vorsingen auf der Bühne – er hat es in die Endrunde geschafft auswahl nach Gütersloh schafft, dem ste- hen die Türen offen. Eine der Siegerinnen vom vergangenen Mal, die Sopranistin Ma- ie Stimme von Dominic Armstrong ein. Nein, nervös ist er nicht. Sagt er. Seine rina Rebeka aus dem lettischen Riga, singt macht keinen Umweg. Sie kommt krampfhaft geballte rechte Faust auf der derzeit an der Mailänder Scala und gibt in D mit voller Wucht angebraust und äußersten Kante des schwarzen Yamaha- dieser Saison ihr Debüt bei den Salzburger landet direkt im Magen. Wenn der hoch- Flügels verrät ihn dennoch. „Nein, länger Festspielen. Zu weiteren früheren Preis- gewachsene Tenor in dem engen fenster- trag ich nicht die Qualen“ aus Webers Frei- trägern zählen René Pape, Hanno Müller- losen Probenraum der New Yorker Met- schütz steht als nächstes auf seiner Liste. Brachmann und Franco Fagioli. ropolitan Opera zu der Händel-Arie „Ciel Mittendrin winkt der Met-Pianist Jona- Bevor es Rosen regnet, müssen die Kan- e terra armi di sdegno“ ansetzt, beben die than Kelly ab. „Klare Sache, das läuft“, sagt didaten allerdings Brian Dickie überzeu- Wände. Als ob sie Platz machen wollten vor er und blättert die Partitur um. Armstrong gen. Der liebenswürdige Generaldirektor so viel raumgreifendem Volumen. Dabei entspannt seine Rechte und greift nach der Oper in Chicago mit den vielen Lachfal- singt sich der 29-jährige Amerikaner kurz der Wasserflasche. Wie ein Starboxer vor ten und dem energischen Kinn ist seit zehn vor seinem Auftritt beim internationalen der nächsten Runde – allerdings wie ein Jahren Jury-Mitglied. In New York sitzt er Gesangswettbewerb „Neue Stimmen“ der Starboxer im dunklen Anzug und mit ge- als einziger in der Halle, vergibt Noten für Bertelsmann Stiftung nur eben mal locker streifter Krawatte. Technik, musikalische Präsentation, ›› stiftung international › change › 2/2009 Seite 70

stimmliche Qualitäten und Persönlichkeit. dratmeter mit der abblätternden Farbe an „Was möchten Sie für mich singen?“, fragt er, den gelben Wänden klaustrophobisch. Der während Maria Kate Fleming vorsichtig die einzige Schmuck ist ein Werbeposter für lange Treppe bis zur Bühne herunter geht. den „Ring“ von vor zehn Jahren. Der Tep- Die 25-jährige Koloratursopranistin hat pichboden hat Flecken sich „Mein Herr Marquis“ aus der Strauß- Maya Lahyani ist das egal. Die 27-jährige Operette „Die Fledermaus“ ausgesucht. Mezzosopranistin aus Israel mit den langen Passend dazu trägt sie ein knielanges Kleid dunklen Haaren und der Olivenhaut stu- mit Flatterärmeln. Der deutsche Akzent der dierte sechs Jahre lang am Mannes College Amerikanerin klingt bei Zeilen wie „ja, sehr in Manhattan. Jetzt ist sie begierig darauf, komisch, hahaha“ nahezu perfekt. Dann ist sich auszuprobieren, am liebsten in Euro- sie fertig. Die letzten Takte verklingen und pa. Um Brian Dickie zu beeindrucken, hat wischen ihr dabei den Adele-Charme aus sie sich ihr Lieblingslied ausgesucht, „Va! dem Gesicht. Applaus bekommt sie nicht. Laisse couler mes Larmes“ aus Massenets Irgendwie fehlt was. Aber in dem holzgetä- Oper „Werther“. Neben viel Wasser zu trin- felten Saal sitzt kein Publikum. Nur Brian ken und früh schlafen zu gehen, versucht Dickie. sie auch gute Laune zum Vorsingen mitzu- Was der von ihrer Vorstellung hält, gibt bringen. „Auch wenn es ein Wettbewerb ist, sein sonst so mimikreiches Gesicht nicht versuche ich ihn wie eine Vorstellung zu preis: „Vielen Dank“, sagt er. Sonst nichts. behandeln. Ich möchte die Musik, die ich Dann vertieft er sich in seinen Aktenordner. mag, auch genießen können. Das vergisst Maria Kate steht einen Augenblick nur da, man manchmal, man ist so angespannt dann holt sie sich ihre Noten von dem Pianis- Mit Anfang 20 diente Maya Lahyani noch in beim Vorsingen.“ Sie liebe es, auf der Bühne ten und steigt die Stufen aus dem Saal her- der israelischen Armee, heute träumt sie von zu stehen und zu singen, sagt sie und ihre einer Karriere auf einer internationalen Bühne aus. Draußen ist sie ein bisschen deprimiert. leuchtenden Augen bestätigen das. Wie alle „Ich denke, ich habe mich gut präsentiert. jungen Israelis hat sie mit Anfang Zwanzig Aber vielleicht wollte er lieber einen höheren für zwei Jahre in der Armee gedient, auch Schwierigkeitsgrad haben“, sagt sie und ihre „Als ich in der Armee dort hat sie schon gesungen – vor den Sol- großen Augen schauen unsicher auf das ge- daten. Und es habe sie abgehärtet, sagt sie rahmte Maria-Callas-Bild im Gang. war, habe ich vor den später bei einem entspannenden Eiskaffee. Viel Zeit, darüber nachzudenken, hat sie Soldaten gesungen“ Sie hat unter allen möglichen Umständen nicht. Sie fährt mit dem Taxi nach Hause, auf der Bühne gestanden, als sie krank war, hängt ihr Kleid auf den Bügel, schlüpft in Maya Lahyani, irgendwo mitten in der Wüste, als draußen Bewerberin „Neue Stimmen“ eine Jeans und geht zum Babysitten. Damit ein Alarm losging und sie plötzlich vor ei- hält sie sich über Wasser, solange die Karrie- nem leeren Saal stand. Ein Vorsingen für re noch anläuft. Die Mieten in New York sind die „Neuen Stimmen“ scheint im Vergleich hoch, das Leben ist teuer, gut bezahlte Jobs dazu gar nicht mehr so Respekt einflößend. für junge Koloratursopranistinnen sind rar. Miete machen. Ein Engagement in Chicago Brian Dickie sieht das genauso: „Eine gute Und nicht nur für sie. Deshalb arbeiten ei- ist ihm bereits sicher, die renommierte „New Entscheidung“, sagt er nach ihrer Arie in der nige nebenher als Kellner, nehmen diverse York Times“ nannte ihn „einen echten Verdi- Halle. Für den sonst so zurückhaltenden Nebenjobs an. So wie John Rodger, der in Tenor in der Mache“, und die American Ber- Briten sehr ungewöhnlich. einer Anwaltskanzlei jobbt. Im Warteraum lin Opera Foundation schickt ihn im Herbst Wie versteinert wirkt allerdings sein Ge- macht er gerade Dreh- und Dehnübungen, für vier Monate an die Deutsche Oper nach sicht nach Dominic Armstrongs Freischütz- als ob er sich auf einen Tausendmeterlauf Berlin. „Der nächste Schritt in meiner Karri- Arie. „Ich kenne ihn. Er hat gestern nicht so vorbereitet. „Ich hatte heute keine Zeit, ins ere ist ganz sicher Deutschland. Erstens gibt gut gesungen. Aber er ist sehr interessant“, Fitnessstudio zu gehen“, sagt der 30-Jährige es dort mehr Möglichkeiten, und außerdem sagt er am nächsten Tag bei einem Früh- wie zur Entschuldigung. Dann bindet er sagt man mir, dass meine Stimme musika- stück mit frisch gebackenen Waffeln, bevor seine glänzenden italienischen Designer- lisch gut dahin passt“, so Armstrong selbst- er weiterreist. Bis Ende Juni muss er noch Schuhe zu. bewusst. Hunderte von weiteren Arien hören – von Dominic Armstrong sitzt daneben, schaut Es ist nicht sehr glamourös, sich in der Toronto bis Riga. Armstrong wird einer von von seinem Blackberry auf, begutachtet die renommierten Metropolitan Opera auf ein rund 45 Kandidaten sein, die zur Endaus- Schuhe. „Die sind wohl neu“, sagt er anerken- Vorsingen vorzubereiten, das Einfluss auf wahl nach Gütersloh geladen werden. Arm- nend. Man kennt sich. Bei den zahlreichen die eigene Zukunft nehmen wird. Der Weg strong erfährt es drei Tage später. Er wirkt Vorsingen laufen sich die Sänger immer mal dahin führt durch lange Gänge hinter den am Telefon erleichtert und sehr zufrieden. wieder über den Weg. „Wir Tenöre mögen Kulissen, vorbei an Kostümen, Stangen mit So wie ein Starboxer nach einer erfolgrei- uns – die Sopranistinnen sind eher Konkur- Tutus aus weißem Tüll, grauen Schränken chen Runde. ][ rentinnen“, sagt John grinsend. Auch privat mit Perücken, darüber Plastikbehälter mit lacht Dominic tief aus dem Bauch heraus. handgeschriebenen Zetteln, auf denen weblinks: Nach seinem Einsingen und vor seinem „Schals, gemischt“ oder „Epauletten“ steht. www.neue-stimmen.de Auftritt wirkt er nun wirklich entspannt. Er Wenn das graue Probezimmer Nummer Kontakt: Ines Koring muss sich keine Sorgen um seine nächste 214 geschlossen ist, wirken die zehn Qua- [email protected] Humorvoll, lächelnd, aber beim Vorsingen schweigsam und ernst: Brian Dickie, Generaldirektor des „Chicago Opera Theaters“ und Vorsitzender der „Neue Stimmen“-Jury

„Gut reicht mir nicht“ vita> brian dickie Als Mitglied der Jury beobachtet Brian Dickie die jungen Talente sehr genau und hat ein klares Ziel vor Augen: Brian Dickie wurde 1941 in England schon heute die Opern-Stars von morgen zu entdecken geboren. Von 1967 bis 1973 war er interview: katja guttmann ][ künstlerischer Leiter des Wexford-Festi- vals, von 1973 bis 1984 künstlerischer Berater der Theater in Angers, Nancy und des „Théâtre du Chalet“ in Paris. change: Was fasziniert Sie daran, Kassettenrekorder aufgenommen. 1981 wurde er Hauptgeschäftsführer seit zehn Jahren in der Jury der „Neuen Ja, aber Sie werden es nicht weitersagen der „Glyndebourne Festival Opera“. Stimmen“ zu sitzen? (lacht). Für mich ist es wirklich wichtig, die 1989 ging Brian Dickie als Generaldirek- DICKIE: Ich mag das Ganze, weil ich ehrlich Oper zu einem glaubwürdigen Theater zu tor der „Canadian Opera Company“ nach daran interessiert bin, neue Talente zu machen. Damit wir ein junges, neues Pub- Toronto und wurde 1994 künstlerischer entdecken. Ich weiß, welche Eigenschaften likum heranziehen können, das sich sonst Berater der „Opéra de Nice“. 1997-98 für eine erfolgreiche Karriere gefragt sind. über die alten Traditionen von Opernsän- war er Generaldirektor an der Oper Außerdem bin ich sehr geduldig. Es ist ein gern lustig machen würde, die überhaupt der Europäischen Union. Seit 1999 ist Fehler, sich zu schnell zu entscheiden. „Gut nicht spielen, sondern nur herumstehen er Generaldirektor des „Chicago Opera genug“ reicht mir nicht. Mein erster Chef und singen. In meinem Haus legen wir sehr Theater“. Brian Dickie war seit 1999 in sagte immer: Schwieriges macht man ein- viel Wert darauf, dass es Chicago Opera der Jury bei den Vorauswahlen und der mal, Unmögliches dauert etwas länger. Das „Theater“ heißt. Endrunde der „Neuen Stimmen“. 2009 ist auch mein Motto. Gibt es eigentlich große Unterschiede zwi- übernimmt er diese Funktion erneut. Worauf achten Sie bei den Nachwuchssän- schen den europäischen, amerikanischen gerinnen und -sängern? und asiatischen Sängern? www.neue-stimmen.briandickie/weblog Sie müssen im Grunde das ganze Paket Es gibt bestimmte Charakteristiken bei den www.chicagooperatheater.org bieten. Für das Opernfach sollten Sänger verschiedenen Nationalitäten, zum Beispiel auch als gute Schauspieler überzeugen. Sie höhere Standards. In Chile, in Santiago, wa- müssen beides spüren – im Körper, im Kopf ren sie einfach nicht so gut wie in Buenos und im Magen. Das Publikum ist heute sehr Aires. 99 Prozent aller Kandidaten sind anspruchsvoll. Ich selbst finde es auch nicht übrigens vollkommen hoffnungslos. Es ist ihnen ihr Gesangslehrer oder ihr Manager reizvoll, einen Tristan und eine Isolde zu ein bisschen deprimierend, weil es überall sagen. Sie werden selbst darauf kommen, haben, die eher Babar und Celeste spielen so viele eher mittelmäßige Talente gibt, die dass irgendwas nicht stimmt, wenn sie nach können, zwei schwer verliebte Elefanten. eine Gesangskarriere anstreben. 25 Mal Vorsingen noch immer keinen Job Jetzt werden Sie sich beschweren: „Ach, Sie Sie sind am Schluss des Vorsingens recht haben. Natürlich weisen die Körpersprache c k eusterbro haben Vorurteile gegenüber Menschen, die kurz angebunden. Geben Sie den Kandida- und die Wärme meiner Reaktion eventuell

dirk Übergewicht haben.“ Ja, das ist so. Aber ich

: : ten nie ein Feedback? darauf hin, was ich so denke. Trotzdem gebe es nicht zu. Nein. Das würde nur zu Komplikationen sagte ich nur „Vielen Dank“ und versuche, otos F Aber das habe ich jetzt gerade auf meinem führen. Das ist nicht meine Sache, das sollte möglichst unparteiisch zu erscheinen. ][ kolumne › change › 2/2009 Seite 74

Gerechte Globalisierung Gerechtigkeit – ein abstrakter Gedanke

Dass ein Virus wie die Schweinegrippe jeden von uns treffen kann, steht außer Frage. Krankheiten können Grenzen überwinden. Doch wie ist es mit den Grenzen, die man Krankheiten setzen kann? – Prominente Autoren machen sich in dieser „change“-Kolumne ihre eigenen Gedanken zum Thema „Gerechte Globalisierung“

von john wray ][

er Gedanke der Gerechtigkeit heitssystem aus – deutlich weniger als D ist dem modernen Menschen „entwickelte“ Länder – und hat nur halb manchmal ein bisschen zu abstrakt so viele Krankenhausbetten im Verhält- und entsprechend verschwommen. Die nis zur Bevölkerung wie die USA. Die Ungerechtigkeit dagegen – zumal die hohe Zahl der Todesopfer in Mexiko ist zeitgemäß globale – ist sehr viel leich- zum großen Teil auf die unzureichende ter zu fassen. Da Schriftsteller mit dem medizinische Versorgung dort zurück- spezifischen Detail stehen und fallen, zuführen, die durch Sofortkredite der will ich versuchen, ein schärferes Bild Weltbank nur wenig gebessert wurde. von „Gerechtigkeit“ zu gewinnen, in- Man könnte annehmen, die Durchläs- dem ich ein sehr konkretes Beispiel ih- sigkeit der nationalen Grenzen würde res Gegenteils beleuchte. bewirken, dass der unmittelbare Nach- Ende März dieses Jahres wurde in bar eines der reichsten Länder der Welt vier Fällen (je zwei in Mexiko und in in einer solchen Situation prompt Zu- Südkalifornien) eine Krankheit, verur- gang zu Medikamenten und effizienten sacht von einem neuen Virus, diagnos- Behandlungsmöglichkeiten erhält, aber tiziert, die weltweit unter dem Namen dies war nicht der Fall. „Schweinegrippe“ Schlagzeilen machen Offenbar sind unsere Grenzen für sollte. Es dauerte nur wenige Wochen, finanzielle und medizinische Hilfe we- bis das Virus auch in weit entfernten niger durchlässig als für die Grippe. Der Ländern auftauchte. Knapp einen Mo- Tod macht immer noch alle Menschen nat, nachdem man den Erreger identi- gleich, doch genießt der durchschnitt- fiziert hatte, waren in Mexiko bereits 59 liche US-Bürger – ungeachtet der be- Menschen an der Krankheit gestorben. kannten Mängel des amerikanischen In den USA gab es nur zwei Todesfälle. Gesundheitssystems – ein Privileg, das Aufgrund der unterschiedlichen den allermeisten Mexikanern verwehrt Sterberaten und der allgemeinen Ein- bleibt: die Chance, das Unvermeidliche schätzung der hygienischen Verhält- John wray wurde 1971 in Washington als Sohn hinauszuzögern. nisse in Zentralamerika nahm man eines Amerikaners und einer Österreicherin geboren. Vielleicht bedeutet globale Gerech- Studium am Oberlin College, der Columbia University an, das Virus habe seinen Ursprung in und der Universität Wien. Er lebt als freier Autor in tigkeit, dass die Segnungen des Wohl- Mexiko. Wie sonst wäre es zu erklären, New York und Friesach (Kärnten). Gerade erschien sein stands der reichen Nationen ebenso un- dass südlich der US-amerikanisch-me- Roman „Retter der Welt“ im Rowohlt Verlag gehindert über Grenzen hinweg in alle xikanischen Grenze so viele Menschen Winkel der Welt dringen können, wie es starben und nördlich davon so wenige? jetzt bereits Waren und Viren und Rei- Diese Frage führt uns direkt auf das „Segnung des Wohlstandes segruppen tun. Vielleicht werden die zunehmend abstrakte Wesen der Ge- über Grenzen hinweg“ USA – deren Einwohner mehr Drogen rechtigkeit. Die blitzschnelle Ausbrei- und Genussmittel konsumieren als die tung der Schweinegrippe macht uns jedes anderen Landes und deren groß- das Maß unserer globalen Vernetztheit zügige Waffenexportbestimmungen bewusst, daneben aber auch die krasse Ungleichheit der Standards die militärische Aufrüstung der mexikanischen Drogenkartelle der Gesundheitsfürsorge in der sogenannten Dritten Welt einer- ermöglicht haben – sich eines Tages dazu herablassen, die Bürger seits und der „ersten“ Welt andererseits. Mexiko gibt etwa drei fremder Nationen als vollgültige Mitmenschen anzuerkennen. Bis

Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das öffentliche Gesund- dahin bleibt uns nur der abstrakte Gedanke. ][ matthews/ap bebeto Foto: menschen bewegen – zukunft gestalten

Nächste Ausgabe – change 3/2009: Familie

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Warum Lernen glücklich macht Spannende Interviews und Texte, die Lust aufs Lernen machen – ganz egal in welchem Alter

Lernen macht von Natur aus Spaß. Dabei ist Lernen weit mehr als Schule und Uni und hört nie auf, solange wir leben. Wer sich weiterentwickelt, ist zufriedener – ein Leben lang. Die Autoren werfen einen Blick auf die positiven Effekte des Lernens und geben Anregungen, Dinge einmal anders zu betrachten. Ein fertiges Rezept zum Glück- lichsein liefert das Buch nicht, aber einen Überblick über die richtigen Zutaten. Dazu gehören auch das Lernen in sozialen Beziehungen und schließlich das Lernen über sich selbst. Werner Tiki Küstenmacher, Autor und Zeichner

der Buchreihe „Simplify your life“ hat das Buch durchgängig illustriert.

Mit Beiträgen von Holm Friebe, Johannes Wiek und In- terviews mit Tita von Hardenberg, Henning Scherf und Theodor W. Hänsch.

Bertelsmann Stiftung(Hrsg.) Warum Lernen glücklich macht

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Verlag Bertelsmann Stiftung l Postfach 103 l 33311 Gütersloh Bei Interesse an weiteren Publikationen aus dem Verlag: www.bertelsmann-stiftung.de/verlag l [email protected]

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