Bürger, die Geschichte schreiben

DAS PROJEKT „STADTTEIL-HISTORIKER“ 2014 BIS 2018

Bürger, die Geschichte schreiben

DAS PROJEKT „STADTTEIL-HISTORIKER“ 2014 BIS 2018 4 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018

Inhalt

7 Geschichtsbewusstsein von und für jedermann Prof. Dr. Roland Kaehlbrandt 8 Geschichten aufspüren Matthias Thieme 9 Zur Einführung in das Projekt „Stadtteil-Historiker“ Dr. Oliver Ramonat, Dr. Katharina Uhsadel

01 STRAßEN UND STADTTEILE

14 Stephan Becsei, stadtteilübergreifend Die Eschersheimer Landstraße im Wandel 16 Dr. Susanne Czuba-Konrad, Dornbusch Stadtteilidentität am Dornbusch 18 Dr. Friedrich Krüger, Dornbusch Wiederentdeckungen im Dornbusch 20 Petra Pfeuffer, Innenstadt Das Allerheiligenquartier 22 Helmut Steinacker (†), Seckbach Das Seckbacher Museumsbuch 24 Bernt Weber, Westend / Nordend Die Wolfsgangstraße in am Main: Menschen – Leben – Häuser 26 Hans Zimmermann, Innenstadt Das kleine Häuschen in der Fressgass: die Geschichte einer Straße, ihrer Häuser und ihrer Bewohner in Kürze

02 INFRASTRUKTUR, INDUSTRIE UND GEWERBE

30 Ulf Ludßuweit, Das ehemalige Landmaschinenunternehmen Philipp Mayfarth & Co. Frankfurt mit seinen jüdischen Direktoren Samuel und Leo Moser 32 Jürgen Rothländer, Höchst Wirtshäuser, Herbergen und Kneipen der Stadt Höchst am Main 34 Gregor Georg Schubert, Bockenheim Historische Gewerbebauten auf der Leipziger Straße in Frankfurt-Bockenheim 36 Stefan Ziegler, Niederursel Niederurseler Mühlen – Geschichtsprojekt im Frankfurter Stadtteil Niederursel

03 STADTENTWICKLUNG

40 Michael Bloeck, Rödelheim Rödelheim – vom Arbeiterviertel und Industriestandort zum Quartier für Künstler, Kreativwirtschaft und Dienstleistungen 42 Wolfgang Lampe, Von der Industriebrache zum Wohngebiet 1968 – 2018: ein langer Weg 44 Dr. Rainer Linnemann, Sachsenhausen Das Deutschherrnviertel – Geschichte eines jungen Wohnviertels 46 Inga Segebrecht, Westend Die Aktionsgemeinschaft Westend – eine Bürgerinitiative 48 Dr. Andreas J. Werner, Bornheim Vom Kasernen-Areal zur Reihenhaussiedlung: Rund um die Friedberger Warte vom Mittelalter bis heute STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 5

04 NATIONALSOZIALISMUS UND ZWEITER WELTKRIEG

52 Stephan Döring, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in Frankfurt-Preungesheim 54 Andrea Janssen, Westend / Holzhausenviertel Das große amerikanische Sperrgebiet in Frankfurt April 1945 bis Juni 1948 56 Peter Metz, stadtteilübergreifend Metallspenden im Zweiten Weltkrieg und die verlorenen Denkmäler Frankfurts

05 JÜDISCHE GESCHICHTE

60 Christa Fischer, Von der einst größten jüdischen Gemeinde Hessen-Nassaus blieben keine Spuren … 62 Ralf Keine, stadtteilübergreifend Die Feuerwehr Frankfurt am Main und die jüdische Bevölkerung der Stadt 1933 bis 1945 64 Dieter Mönch, Innenstadt Die Unternehmerfamilie Wronker und ihr großes Warenhaus an der Zeil 66 Michael Steigerwald, Bergen-Enkheim Die Geschichte des Alten Jüdischen Friedhofs in Bergen-Enkheim 68 Ralf Thee, Ostend Die Familie Pfungst und die Naxos-Union: eine Geschichte aus dem Frankfurter Ostend 70 Dieter Wesp, Sachsenhausen Villa Beit von Speyer: Ein Beispiel der „Arisierung“ von Immobilien jüdischer Eigentümer durch die Stadt Frankfurt am Main

06 KULTURGESCHICHTE, MEDIEN, RELIGION, NATURRAUM

74 Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn, Innenstadt Die wilden Jahre 1967 – 70: Die Frankfurter Rundschau von den Anfängen bis heute 76 Martin Feldmann, Innenstadt Wo sich Jazz- und Blues-Größen die Klinke in die Hand gaben 78 Karoline Franke, Nordend Was einst die Gräber zierte – Grabbepflanzung auf dem Frankfurter Hauptfriedhof 80 Peter Erwin Fritz, Nieder-Eschbach Die Geschichte und Anekdoten des Nieder-Eschbacher Waldes im Taunus 82 Joachim Hoßbach, Die Regina Lichtspiele in Eckenheim 84 Ruth Krämer-Klink, Bockenheim Verschwundene Kunst – eine Spurensuche: übermalt, verdeckt, verschwunden 86 Sabrina Langmann, Rödelheim John Elsas in Rödelheim 88 Marina Medina, stadtteilübergreifend Das Haus der Stille: Gotteshäuser im 21. Jahrhundert? 6 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018

07 MEDIZIN, RECHT UND WISSENSCHAFT

92 Rudolf Dederer, Westend Vom Scherbenfund auf dem Affenstein zum Denk- und Erinnerungsmal für die erste Alzheimer-Patientin Auguste D. 94 Julia Lantelme, Westend Das Institut für Klassische Philologie an der Goethe-Universität 96 Ulrich Weiß, Bockenheim Hugo Sinzheimer – Vater des modernen Arbeitsrechts

08 SPORTSTADT FRANKFURT

100 Peter Schermer, stadtteilübergreifend Zur Geschichte der Frankfurter Stadtstaffeln 102 Richard Sturm, / Sachsenhausen Der Renn-Klub Frankfurt am Main unter der Präsidentschaft von Dr. Arthur von Weinberg zwischen den beiden Weltkriegen (1918 – 1938)

09 GESELLSCHAFTLICHE BEWEGUNGEN UND IHRE TRÄGER

106 Agnes Rummeleit, Schwanheim Schwanheimer WeibsBilder: Lebensbilder – Lebenswege 108 Norbert Saßmannshausen, stadtteilübergreifend Orte der Revolte: Frankfurt am Main 1965 – 1980 110 Dr. Wolfgang Storm, Innenstadt Jakob Latscha, Kaufmann und Sozialreformer

10 KINDHEIT IN FRANKFURT

114 Karlheinz Gutberlet, Eckenheim Nachkriegskinder und die Feldscheidenstraße 116 Asal Khosravi, Goldstein Kindheit in Goldstein im Wandel der Zeit 118 Angelika Schreiber, Die Geschichte der Kindertagesstätte 82 – vom Kindergarten Sommerhoffpark über die Kindererholungsstätte zum heutigen Kinderzentrum Gutleutstraße

11 MIGRATION UND NEUANFÄNGE

122 Lea Lustyková, Innenstadt Die Dialogbuchhandlung – ein Stück Heimat in der Fremde 124 Dr. Peter Oehler, stadtteilübergreifend Griechen in Frankfurt 126 Deike Wichmann, stadtteilübergreifend Fräulein Lee und Schwester Charlotte

128 Stadtteil-Historiker – die Projektpartner 129 Impressum STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 7

Geschichtsbewusstsein von und für jedermann

Die Aufklärung hat uns Grundpfeiler der freiheitlichen Gesell- Die Stadtteil-Historiker sind sich dessen bewusst: sie, die Ver- schaft überliefert: Es sind die Ideale der Vernunftbezogenheit, gessenes und Übersehenes ans Tageslicht bringen, sie, die wissenschaftliche Denkmethoden, Sprachbeherrschung, Ver- nach dem scheinbar Verschwundenen so lange suchen, bis sie antwortung für das Gemeinwesen. Mindestens so wichtig wie es gefunden haben und ihm wieder eine Gegenwart geben, und die genannten vier ist ein weiterer Grundpfeiler aufgeklärten zwar nicht abstrakt, theoretisch, sondern konkret, anschaulich, Denkens: das Geschichtsbewusstsein. Es ist das Bewusst- fassbar – sie machen uns auf verständliche Weise bewusst, sein, dass die Dinge nicht einfach sind, wie sie sind, dass sie dass vor uns etwas war, dass vor uns Menschen gerungen, ge- nicht von selbst kommen und sich nicht von selbst verstehen; kämpft, sich bemüht haben, dass jeder Quadratmeter unserer sondern dass sie gemacht wurden, dass sie gestaltet wurden. Stadt Geschichtliches birgt. Und nicht nur dann, wenn sich die Sich der Geschichtlichkeit bewusst zu werden war eine große große Weltgeschichte in lokaler Geschichte bricht, sondern geistige Errungenschaft. Denn sie bedeutete zugleich, dass auch dann, wenn es um Lebensgeschichten und um Lebens- die Dinge veränderbar sind, dass der Gang der Geschichte zu werke geht, Lebenswerke, die in den Projekten der Stadtteil- beeinflussen ist. Und dies wiederum hieß, dass Zustände nicht Historiker gewürdigt werden, und „Würde“ ist hier wörtlich zu einfach als unveränderlich hingenommen werden müssen; nehmen. dass aber zum Verständnis der Veränderbarkeit der Zustände auch die Kenntnis der Geschichte von Nutzen, ja unentbehrlich Gewiss, Frankfurt ist eine pulsierende, der Zukunft zugewandte ist. Diese Erkenntnis muss immer wieder neu formuliert und Stadt – aber es ist auch eine Stadt mit langer Geschichte und weitergegeben werden. mit vielen Geschichten. „Zukunft braucht Herkunft“, hat der Philos­oph Odo Marquard einmal gesagt. Die Stadtteil-Historiker führen uns vor Augen, dass dies unser aller Angelegenheit ist.

Prof. Dr. Roland Kaehlbrandt Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft 8 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018

Geschichten aufspüren

Nur wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, kann auch die Viel Überraschendes konnten die Leser schon in den bisherigen Gegenwart verstehen. Insofern sind die Stadtteil-Historiker Sammelbänden der Stadtteil-Historiker erfahren. Wo brannten wichtige Forscher. Sie schürfen nach Geschichten auf lokaler die ersten Straßenlaternen in Frankfurt, warum gibt es bis heu- und sublokaler Ebene. Sie fördern die kleinen und großen Be- te so viele verschiedene und was machte das „Lampen­amt“ gebenheiten wieder zutage, die direkt vor Ort das Leben der der Stadt Frankfurt? Wer solche Geschichten gelesen hat, geht Menschen bestimmt haben. Wer den Recherchen der Stadtteil- anders durch die Stadt. Sieht im jetzigen Stadtbild auch das Historiker folgt, kann immer tiefer eintauchen in die Geschich- Vergangene, versteht die Zusammen­hänge. Auch Gebäude te seines direkten Umfelds. Aus den einzelnen Puzzlestücken haben Lebensläufe. Wer sich einmal mit der Geschichte der ergeben sich historische Zusammenhänge. Und auch ein Kleinmarkthalle beschäftigt hat, wird dort mit anderen Augen klarerer Blick auf die Gegenwart. einkaufen gehen.

Leser des neuen Bandes finden zum Beispiel Kurioses zur Die Frankfurter Neue Presse hat das Stadtteil-Historiker- Geschichte des Frankfurter Jazz- und Bluesclubs Sinkkasten. Projekt der Stiftung Polytechnische Gesellschaft seit vielen Die Recherche in Archiven brachte zutage, dass der weithin Jahren sehr gerne unterstützt. Denn das Aufspüren von Ge- bekannte Name des Clubs von der Firma Passavant stammt, schichten über die aktuellen und früheren Bewohner in den die damals führend bei Produkten der Entwässerungstechnik Stadtteilen ist ein Kernanliegen unseres Journalismus, der war und schon in den 1960er-Jahren unter dem Motto „Sink- nahe bei den Menschen sein möchte. kasten“ Feste mit traditionellem Jazz in Bockenheim feierte. Zu den Produkten der Firma zählten auch Sinkkästen, besser Die Kenntnis der Geschichte von Stadtteilen, Gebäuden und bekannt als Gullys. Daher der Name des Clubs. Die internatio- Menschen kann eine Bereicherung sein für denjenigen, der nalen Musikstars, die in den 70ern dort reihenweise auftraten, heute dort lebt. Hinter der Oberfläche der Jetztzeit öffnet sich haben das wahrscheinlich nicht gewusst. der Raum für vielfältige Verbindungslinien. Man fühlt sich an- ders in einer Stadt, wenn man um ihre Geschichte weiß. Die Und wer weiß schon, dass es in Frankfurt ein kulturelles Zen- Stadtteil-Historiker können uns mit ihren beeindruckenden trum der Exil-Tschechoslowaken mit eigener Druckerei gab? Arbeiten helfen, uns in der Stadt heimisch und verankert zu Im jetzt vorliegenden neuen Sammelband erfahren Leser fühlen. Als Teil einer Geschichte, die immer weiter fortge- Spannendes über die Dialogbuchhandlung, welche im März schrieben wird. 1977 unweit des damaligen Theaterplatzes vom tschechischen Emigranten Václav Hora gegründet wurde. Die Buchhandlung war auf tschechische und slowakische Literatur spezialisiert, Matthias Thieme vertrieb aber auch Exilliteratur aus Polen, der UdSSR und Chefredakteur der Frankfurter Neuen Presse Ungarn sowie verbotene Magazine und Bücher, die in einer kleinen Druckerei im Hinterhaus der Buchhandlung gedruckt wurden, inklusive eines Autoaufklebers, „FREE CS“, der im Straßenverkehr als Erkennungszeichen unter den tschecho­ slowakischen Emigranten diente. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 9

Zur Einführung in das Projekt „Stadtteil-Historiker“

Seit 2007 sucht die Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frank- Auswahl der Projekte furt in Kooperation mit der Frankfurter Neuen Presse engagier- te Menschen, die einen Aspekt der Frankfurter Stadtgeschichte Eine Jury wählt aus den Bewerbungen die besten aus. Sie ach- ihrer Wahl erarbeiten und aufzeichnen möchten. Die Geschich- tet auf die Originalität des Themas, die Aussagekraft der zu te einer Straße, die Entwicklung eines Stadtteils, der Struktur- untersuchenden Quellen und die Angemessenheit des metho- wandel im Gewerbe, die Vita einer besonders interessanten dischen Zugangs. Zugleich prüft sie, ob sich die Bewerber ein Persönlichkeit oder Themen aus Kunst und Kultur, verknüpft realistisches, in der gegebenen Zeit erreichbares Ziel gesteckt mit einer historischen Frage, können zum Gegenstand der haben. Recherche werden. In den ersten sechs Staffeln sind 145 Bür- ger auf Spurensuche gegangen. So leisten sie, oft von einem Die Auswahl trifft eine ehrenamtlich tätige Experten-Jury, persönlichen Bezugspunkt ausgehend und immer mit einem die über hervorragende Kenntnisse der Frankfurter Stadtge- ganz individuellen Zugang, einen eigenen Beitrag zur Erkun- schichte verfügt und zugleich unterschiedliche Sichtweisen dung der Frankfurter Stadtgeschichte. einbringt. Der Jury gehören an: Dr. Christoph Andreas (Kunst- händler und Kunsthistoriker), Dr. Evelyn Brockhoff (Leiten- Projekte und Bewerber de Direktorin des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt am Main), Dr. Jan Gerchow (Direktor des Historischen Museums Die meisten Stadtteil-Historiker befassen sich schon längere Frankfurt), Dr. Henriette Kramer (Verlegerin) und Prof. Dr. Zeit mit ihren Themen. Oft ist die Ausschreibung des Projekts Roland Kaehlbrandt (Vorstandsvorsitzender der Stiftung Poly- für sie der entscheidende Anstoß, sich konkret an die Arbeit technische Gesellschaft). zu machen. Die fachliche und praktische Begleitung durch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft sowie die finanzielle In einer intensiven Sitzung werden nach einer eingehenden Förderung ermöglichen und erleichtern die Bearbeitung der einzelnen Würdigung aller Projekte die neuen Stipendiaten Pro­jekte. Gerne nutzen die Teilnehmer die fachliche Unter­ ausgewählt. In der Diskussion ergeben sich oft auch wertvolle stützung zur Systematisierung ihrer Vorarbeiten. Sie profitie- Tipps und Hinweise zu Themenstellung und Quellenlage, die ren von der größeren öffentlichen Aufmerksamkeit durch die an die Kandidaten weitervermittelt werden. Berichterstattung in der Frankfurter Neuen Presse. In vielen Projekten wurden durch diese Medienpartnerschaft neue Werkstatt-Treffen und Monatstreffen Quellen erschlossen oder Zeitzeugen gefunden. Die Stadtteil-Historiker starten als historische Laien, die den Schon die Wahl des Themas verrät meist eine genaue Kenntnis Projektrahmen nutzen, ein Thema ihrer Wahl intensiv zu erar- des eigenen Stadtteils und eigene Interessen. Hier zeigt sich beiten und ihre Ergebnisse in die Stadtgesellschaft hinein wir- die Besonderheit dieses Projekts, das an das allgemeine Ge- ken zu lassen. Da die Stadtteil-Historiker ganz unterschiedliche schichtsbewusstsein – nicht im streng akademischen Sinne – berufliche Werdegänge mitbringen und verschiedenen Gene- appelliert und das bei vielen engagierten und interessierten rationen angehören, kommt den Werkstatt-Treffen eine Schlüs- Bürgern das vorhandene ortsbezogene Wissen aufgreift. Hier selrolle im Projekt zu. Ziel der Werkstatt-Treffen ist es nicht, die verbinden sich bürgerschaftliches Engagement und spezifische Stipendiaten zu Fachhistorikern auszubilden; wohl aber sollen Kenntnisse, die oft den Wissensstand der Fachwissenschaft er- sie sich fachliche Kenntnisse methodisch gestützter Recherche gänzen und auf ein breites öffentliches Interesse stoßen. und Kompetenz in der Abfassung und Veröffentlichung von

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Texten aneignen und lernen, ihre eigene Arbeit in einen über- auf Gleichgesinnte, die sich mit teils sehr fundiertem Hinter- geordneten Kontext zu stellen. grundwissen einbringen und auch voneinander lernen können.

Jeder Jahrgang wird zwei Mal für je einen Samstag zu einem Wirkung und Übertragbarkeit Werkstatt-Treffen eingeladen. Beim ersten Treffen geht es je- weils um eine elementare Verständigung über die historische Die Stadtteil-Historiker stehen im Portfolio der Stiftung Poly­ Erkenntnis und die Stadtgeschichte im Allgemeinen. Die zwei- technische Gesellschaft in einer Kette von Projekten, die ehren- ten Treffen stehen im Zeichen der zunehmenden Konkretisie- amtliches Engagement in ganz unterschiedlicher Ausprägung rung der Projekte und sind stärker auf die Stadt Frankfurt aus- fördern. Die Stiftung hat eine wissenschaftliche Begleitung des gerichtet. Projekts in Auftrag gegeben. Prof. Dr. Wolfgang Meseth und Karola Cafantaris (Institut für Schulpädagogik der Philipps- In den hier dokumentierten Staffeln V und VI übernahmen PD Universität Marburg) haben im Sommer 2015 ihre Ergebnisse Dr. Torsten Riotte und Prof. Dr. Christoph Cornelißen (beide vorgelegt und kommen zu dem Fazit: „Hinsichtlich seiner Idee Goethe-Universität Frankfurt) sowie Dr. Frank Berger (Histo­ri­ und seiner Umsetzung zählt das Projekt „Stadtteil-Historiker“ sches Museum Frankfurt) die Gestaltung der Werkstatt-Treffen zweifelsfrei zur Avantgarde auf dem Feld der geschichtsbezo- zu den Themen „Einführung ins historische Arbeiten“, „Von genen Erwachsenenbildung. Es verbindet Ideen der Kulturel­ der Reichsstadt zur Finanzmetropole – Facetten der Stadtge- len Bildung mit denen der citizen­science und ermöglicht schichte“ und „Das Einzelobjekt in der Gesamtkonzeption der Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Frankfurt bildungsbezo- neuen Dauerausstellung des Historischen Museums / Geldstadt gene Entfaltungsspielräume, die nachhaltig in die Geschichts- Frankfurt“. kultur der Stadt zurückwirken“ (Meseth/Cafantaris, Abstract des Abschlussberichtes der wissenschaftlichen Begleitung des An den Nachmittagen der Werkstatt-Treffen beraten mit PD Projekts „Stadtteil-Historiker“ 2012 bis 2014). Dr. Michael Maaser, Leiter des Frankfurter Universitätsarchivs, und dem Historiker Robert Brandt erfahrene Praktiker die Und das Projekt macht Schule: Inzwischen sind an zwei wei- Stipendiaten in der konkreten Umsetzung ihrer Projekte und teren Standorten Bürger aktiv, die die Geschichte ihrer Stadt unterstützen sie beispielsweise in Fragen der Textgestaltung schreiben. In der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden und der Darstellung ihrer Ergebnisse. Die Begegnung zwi- ging im April 2018 bereits die zweite Staffel an den Start. schen Laienhistorikern und Fachwissenschaftlern leistet nicht Dort wird das Projekt von der Wiesbaden Stiftung mit Unter­ nur eine weitere methodische und fachliche Qualifizierung – stützung durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain durch- sie führt durchaus auch zu einem für beide Seiten anregenden geführt. In -Eberstadt wurden im Frühjahr 2018 die Austausch. ersten Stadtteil-Historiker ausgewählt. Dort wird das Projekt von der Hans Erich und Marie Elfriede Dotter-Stiftung getra- Über die Werkstatt-Treffen hinaus treffen sich die Stadtteil- gen. Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft hat einen kleinen Historiker einmal im Monat zu einem durch den Projektkoor- Transfer-Leitfaden entwickelt und steht interessierten weiteren dinator moderierten Gespräch, bei dem in geselliger Runde Standorten gerne beratend beim Aufbau des Projekts zur Seite. anstehende praktische und fachliche Fragen geklärt werden. Hier spielt auch die wechselseitige Unterstützung untereinan- Wir danken allen Stadtteil-Historikern für ihr großes Engage- der eine wichtige Rolle. In der Gruppe treffen die Stipendiaten ment, ihre Ausdauer und Leidenschaft, mit der sie sich auf die STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 11

Suche nach neuen Mosaiksteinen der Frankfurter Stadtge- schichte aus ihrem je ganz eigenen Blickwinkel machen. Bei der Lektüre dieses Bandes, in dem die Stadtteil-Historiker der Staffeln V und VI (2014 bis 2018) die wesentlichen Ergebnisse und Erfahrungen ihrer Recherchen in ihren eigenen Worten schildern, wünschen wir Ihnen viel Freude und viele interes- sante Einblicke. Unser Dank für die langjährige gute Zusam- menarbeit und vielfältige Unterstützung gilt auch den Juroren, den Referenten, der Frankfurter Neuen Presse und unseren Kooperationspartnern an den anderen Projektstandorten.

Dr. Oliver Ramonat Projektkoordination „Stadtteil-Historiker“

Dr. Katharina Uhsadel Projektleitung „Stadtteil-Historiker“ 01

STADTTEILE UND STRAßEN 01

STADTTEILE UND STRAßEN 14 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | STEPHAN BECSEI, STADTTEILÜBERGREIFEND

STEPHAN BECSEI, STADTTEILÜBERGREIFEND

Die Eschersheimer Landstraße im Wandel

Das Ziel meiner Auseinandersetzung mit der Eschersheimer Eine Sonderstellung nehmen hier die Stadtteile Dornbusch und Landstraße ist es, Missstände aufzuzeigen und Denkanstöße ein, welche von der Eschersheimer Land­straße zu geben. Denn diese lange Straße weist eine Reihe von noto- durchquert werden. Denn hier wurde die 1967 installierte rischen Mängeln und Problemen auf – aus Sicht der Anwohner, U-Bahn-Linie (U1, U2, U3 und seit wenigen Jahren auch die U8) aus Sicht der Nutzer, seien es Radfahrer oder Autofahrer und aus Geldmangel nur als oberirdisches Provisorium hergestellt. Fußgänger, aber eben auch aus Sicht eines Stadtplaners. Und wie so oft ist dieses Provisorium noch immer in Funk­tion. So passen die oberirdische Trassenführung und die weitere Recherchiert habe ich vor Ort und durch Besuch von Archiven, Gestaltung der Wege auf und an dieser Straße eigentlich nicht außerdem habe ich persönliche Erfahrungen einfließen lassen. zusammen. Denn schon lange kümmere ich mich um die Eschersheimer Landstraße oder versuche das zumindest. Das kann man, sieht man nur genauer hin, auf Schritt und Tritt bemerken. Am deutlichsten vielleicht an den Übergängen über Die Eschersheimer Landstraße verläuft durch verschiedene Frank- die Straße, die trotz aller Verbesserungen in manchen Details furter Stadtteile. Die Infrastruktur der Frankfurter Stadtteile – von immer noch unbefriedigend sind. An einer stark frequentierten der Innenstadt nördlich des Eschenheimer Turms über die Neu- Stelle wie dem „Weißen Stein“, an dem neben dem Schulweg baugebiete des letzten Jahrhunderts, bis die Straße schließlich im zur Ziehenschule zudem noch der Umsteigeverkehr von der alten Ortskern Eschersheims endet – ist jedoch unterschiedlich ge- S-Bahn-Station Eschersheim bewältigt werden muss, stehen lagert, so dass sich für eine solche Verkehrsachse ganz verschie- sich die vielen Fußgänger auf den engen Verkehrsflächen in dene Funktionen ergeben. Aber insbesondere die nördlich vom ei- der Straßenmitte an der U-Bahn gegenseitig im Weg. Das ober­ gentlichen Stadtkern gelegenen Stadtteile weisen infrastrukturelle irdische Provisorium des U-Bahn-Stranges ist hier täglich an und stadträumliche Mängel auf. seiner Belastungsgrenze.

Der Bau der U-Bahn in Eschersheim, Bau der Rampen und der Tunnel Fotos: Oscar Zindel STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | STEPHAN BECSEI, STADTTEILÜBERGREIFEND 15

STEPHAN BECSEI

Stephan Becsei ist Dipl. Landschaftsar- chitekt, urbaner Planer, Landschaftsde- Eschersheim im Jahr 1938, noch ohne Autoverkehr signer, Nachhaltigkeitsberater beispiels- Foto: privat weise für Regenwasser-Management. In seinen Fachgebieten hat er sich durch wissenschaftliche Vorträge, Workshops, Viele Unfälle entlang der Strecke sprechen eine deutliche, erschüt- Publikationen und Ausstellungen ternde Sprache. Auch wenn in den letzten Jahren viel gebaut wurde: weltweit einen Namen gemacht. Seit Über 70 Tote sind genug. Frankfurt hat schon 1965 eine Verlängerung den 1980er-Jahren lehrt er europaweit der U-Bahn gebaut, jedoch nie genutzt. Einige U-Bahn-Tunnel sind in an diversen Hochschulen und Aka- Teilen schon seit 1964 gebaut und könnten verbunden und ergänzt wer- demien. Im Rahmen städtebaulicher den (siehe das Bild). Dieses Wissen ist aus den Köpfen der Menschen Wettbewerbe und außergewöhnlicher aber verschwunden. Umwelt- und Klimaschutzprojekte kann Becsei eine beachtliche Anzahl Preise vorweisen. »ÜBER 70 TOTE SIND GENUG. FRANKFURT HAT 1965 EINE VERLÄNGERUNG DER U-BAHN GE- BAUT, DOCH NIE GENUTZT. EINIGE U-BAHN- TUNNEL SIND IN TEILEN SCHON SEIT 1964 GEBAUT UND KÖNNTEN VERBUNDEN UND ERGÄNZT WERDEN.«

1984 wurde durch das Büro Becsei eine erste Bestandsaufnahme durchgeführt, um die Missstände deutlich aufzuzeigen. Es gab darauf- hin viel positive Resonanz, und erste neue Teilplanungen wurden in der Stadtverordneten-Versammlung zur Realisierung beschlossen. Das war für mein Projekt ein wichtiger Ausgangspunkt. Ich werde in der Öffent- lichkeit weiter für eine sinnvolle Umgestaltung der Eschersheimer Landstraße eintreten und werben. Im Rahmen des Projekts habe ich hier erste wichtige Anstrengungen unternommen. Aber hierfür bedarf es eines langen Atems.

Die damaligen Planungen wurden zunächst gestoppt. Nach der Kom- munalwahl im Jahr 1989 änderten sich die politischen Mehrheiten, und die Projekte des Sonderprogramms „Neues Grün“ wurden verworfen, ebenso wie das Förderprogramm „Grün in die Höfe“. Aber aufgescho- ben ist vielleicht ja nicht aufgehoben. 16 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. SUSANNE CZUBA-KONRAD, DORNBUSCH

DR. SUSANNE CZUBA-KONRAD, DORNBUSCH

Stadtteilidentität am Dornbusch

Ausgangspunkt für meine Nachforschungen über den Dorn- Ich mag diesen Stadtteil, nicht nur wegen persönlicher Bezie- busch war ein Gedicht, das ich im März 2014 für einen Wett- hungen und Erinnerungen, nein, es hat auch etwas mit dem bewerb des Geschäftsrings Dornbusch schrieb. Es war eine Ort selbst zu tun: Mit der Schönheit des Dichterviertels mit gereimte Liebeserklärung an meinen Stadtteil. Ich gewann den verschiedenartigen Villen, den großen Gärten und üppigen den ersten Preis. Dadurch motiviert, kam ich zur Redaktion Bäumen, mit dem Hessischen Rundfunk (HR), der viele Kultur- der Stadtteilzeitschrift „Wir am Dornbusch“, herausgegeben schaffende an den Dornbusch bringt, mit der Schwellenlage von der Evangelischen Dornbuschgemeinde, in der ich seither zwischen Großstadt und Vorstadt, dem bezaubernden Anblick ehren­amtlich mitwirke. Hier hörte ich zum ersten Mal von den der Seitenstraßen mit den Gaslaternen. Auch mit den Geschäf- Stadtteil-Historikern. Man empfahl mir, mich zu bewerben. Im ten und Cafés und dem weitläufigen Park – und das alles in zen- Vorfeld meiner Bewerbung konnte ich ein Gespräch mit dem traler, verkehrsgünstiger Lage. Projektkoordinator Dr. Oliver Ramonat führen, der mir das Thema „Stadtteilidentität“ nahelegte. Wenn so etwas Atmosphärisches in einem Stadtteil schwingt, ist dies nicht nur für mich, sondern auch für andere spürbar. Diese Frage interessierte mich sofort: Gibt es eine emotio- Welche Merkmale aber fördern die Stadtteilidentität? Durch nale Verbundenheit der Bewohner zu diesem Gebiet, das sich Recherchen im Institut für Stadtgeschichte, in Bibliotheken und „Dornbusch“ nennt? Und: Besitzt der Stadtteil Eigenschaften, durch Zeitzeugengespräche fand ich unter anderem heraus, die eine solche Verbundenheit begünstigen? dass die evangelische Gemeinde schon Mitte der 1920er-Jahre

»ICH MAG DIESEN STADTTEIL, NICHT NUR WEGEN PERSÖNLICHER BEZIEHUNGEN UND ERINNERUNGEN.«

Haus Dornbusch Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. SUSANNE CZUBA-KONRAD, DORNBUSCH 17

DR. SUSANNE CZUBA-KONRAD

Dr. Susanne Czuba-Konrad, geboren 1965 in Bonn, studierte Deutsch und Geschichte und promovierte 1995 im Fach Neuere deutsche Literaturwissen- schaft. Seit 1987 lebt sie in Frankfurt Dornbusch, die Grillparzerstraße im Jahr 2016 am Main. Sie ist Autorin zahlreicher Foto: privat Bücher, darunter Romane, Erzählungen, Fachbücher und ein Schreibratgeber. Sie arbeitet in der Erwachsenenbildung, als Schreibcoach und als freie Schrift- gegründet worden war – weit vor der offi ziellen Stadtteilgründung nach stellerin. dem Zweiten Weltkrieg. Die Straße Am Dornbusch trägt ihren Namen sogar seit 1895. Die Bewohner des Stadtteils berufen sich gern darauf, Unter ihrem Namen Susanne Konrad dass in dieser Gegend „einst die Dornenbüsche wuchsen“, und identifi - veröffentlichte sie 2015 den Roman zieren das Gebiet also schon lange mit diesem Namen. „Die Akademikerin“ und 2016 die literarische Stadtteile-Anthologie Beschäftigt hat mich auch die Zelle 08 Dornbusch während des Drit- „Frankfurter Einladung“, die durch ten Reiches, über die Karl Wilhelm Reibel 1995 geforscht hatte: Auch ihre Arbeit als Stadtteil-Historikerin die Nationalsozialisten pfl egten die Identifi kation mit dem Quartier, das inspiriert wurde und Erzählungen über sich über das Dichterviertel erstreckte. Über die angebliche offi zielle alle Frankfurter Stadtteile von verschie- Stadtteilgründung 1946 habe ich gar keine Originalbelege gefunden, denen Autorinnen und Autoren enthält. sondern nur spätere Zeitungsberichte. Im Herbst 2017 veröffentlichte Susanne Konrad die Novelle „Die Liebenden von Heute nennen viele Geschäftsinhaber ihre Läden „… am Dornbusch“. Wiesbaden“. In dieser Zeit wurde das Zahlreiche Lieferwagen sind mit diesen Worten beschriftet. Auch durch literarische Engagement der Autorin solche Indizien kann man die Frage nach einer Stadtteilidentität grund- durch ein Arbeitsstipendium des Hes- sätzlich bejahen. sischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst gefördert. Genauso aber stellte ich fest, dass diese Identität brüchig war. Für die Bewohner westlich und östlich der Eschersheimer Landstraße mussten Informationen unter: einst beziehungsstiftende Maßnahmen ergriffen werden. Wichtigstes www.susanne-konrad.de Beispiel ist der Bau des Hauses Dornbusch Ende der 1950er-Jahre. Die Durchschneidung des Stadtteils durch den U-Bahn-Strang längs der Eschersheimer Landstraße seit 1968 betonte die Spaltung zwischen „Dornbusch-Ost“ und „Dornbusch-West“.

Heute setzen sich die Geschäftsinhaber, auch die evangelische und katholische Gemeinde, natürlich der HR, auch soziale und kulturelle Träger wie die Bildungsstätte Anne Frank und der Frankfurter Verband für die Bewahrung der Identität ein. Vor allem sind es aber die Bewoh- ner selbst, die die vorhandene Infrastruktur gern nutzen und die Bezie- hung zu ihrem Stadtteil pfl egen. 18 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. FRIEDRICH KRÜGER, DORNBUSCH

DR. FRIEDRICH KRÜGER, DORNBUSCH

Wiederentdeckungen im Dornbusch

Die kurzgefasste „Baugeschichte des Dichterviertels“ von K.-H. Bertramshofes. Erst 1903 erkennen wir den vollständigen Verlauf Drescher in der Zeitschrift der Evangelischen Dornbusch Ge­ des Marbachs vom Kühhornshof nach Westen bis zur Nordseite mein­de (WAD, 92, 2015/16, S. 6) hat mich veranlasst, historisch des Bockenheimer Friedhofs. Nach 1903 „versiegte“ er von der Interes­santes vornehmlich östlich der heutigen Eschersheimer Quelle, östlich des Wehrturms unter dem Parkhaus des HR gele- Land­straße zu erkunden. gen, fortschreitend bis 1954.

Die Bezeichnungen der Stadtbahnhaltestelle Dornbusch im gleich- Aus Magistratsakten geht hervor, dass in den Jahren 1828 bis 1834 namigen Stadtteil und die Straßenbenennung Am Dornbusch für speziell im Knoblauchs Feld südlich des Kühhornshofes bis zum einen Teil des Marbachweges fordern förmlich, vertiefende Infor- Holzhausenpark vier Brunnen gebohrt und mit Wassergalerien mationen zu suchen. Im Institut für Stadtgeschichte konnte ich verbunden wurden; das Wasser wurde zum Eschenheimer Tor beispielsweise Stadtpläne rückschreitend betrachten und Auffällig­ geleitet. Dies wird das allmähliche Versiegen der Quelle des Mar- keiten dokumentieren. Es kristallisierten sich folgende Fragestel- bachs verursacht haben. Eine Bronzetafel im Böhlepark dokumen- lungen heraus: Der Verbleib des namensgebenden Marbach in tiert die Bauleistung und die Verantwortlichen der Stadt. Verbindung mit der Landwehr, die Entwicklung von Wegen und Straßen, die Geschichte herausragender Anwesen und Gebäude. In den Plänen vor 1910 führte der Marbachweg noch den Na- men Diebs(grund)weg. 1911 wurde die Umbenennung durch den Im aktuellen Frankfurter Stadtplan sucht man den Marbach erfolg- Magis­trat beschlossen. Der Diebsgrundweg ist heute auf eine los. Man muss bis in das Jahr 1954 zurückblättern, um auf dem kleine Nebenstraße östlich der Frauenlobstraße in Bockenheim Gelände des Hessischen Rundfunks, südlich der Bertramswie- reduziert. Die Deutsche Bundesbank und die A 66 standen seiner se, ein rechteckiges Grabensystem, den Kühhornshof, zu erken- Fortführung im Wege. Der Diebsweg als offizielle Adresse der nen. Die Anlage erreichte ursprünglich mit ihren Hofgebäuden Deutschen Bundesbank? und dem Wassergraben nahezu die Größe des nebenstehenden

Der Eiserne Schlag an der Eschersheimer Landstraße mit Marbach Foto: privat Der Marbach in seinem gesamten Verlauf 1903 Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. FRIEDRICH KRÜGER, DORNBUSCH 19

DR. FRIEDRICH KRÜGER Wassergalerie im Garten Die Kirschwaldstraße in ihrem ursprüng- der Hynspergstraße 7/9 lichen Verlauf Foto: privat Foto: privat 1941 in geboren. Sein Vater wird 1954 nach Frankfurt, 1957 nach Rem- Die Landwehr um die Eschersheimer Straße erschließt uns ebenfalls die scheid versetzt. Nach einem Gastspiel Vergangenheit. Vom Kühhornshof folgen wir der Landwehr mit dem Mar- auf einem Gymnasium schließt er die bach nach Westen und erreichen in der Eberhard-Beckmann-Anlage die Bornheimer Mittelschule 1958 ab und Eschersheimer Landstraße. Ihr folgen wir ca. 20 Meter nach Norden, um legt 1961 in Wuppertal das Abitur ab. sodann mit der Landwehr und dem Marbach nach Westen südlich des 1961 Studienbeginn in Marburg: Sport, Pfadfi nderwegs abzubiegen. Auf seiner südwestlichen Ecke war der Bau Geographie, Evangelische Theologie. einer Warte geplant, deren Ersatz man im heute noch stehenden Wehr- 1962 zum Sportreferenten der Univer- turm des Kühhornshofes fand. Im Mittelalter sicherte hier der Eiserne sität ernannt. 1963 Wechsel an die Uni- Schlag, eine Drehschranke an einer Brücke über den Marbach, den Weg versität nach Frankfurt in den Fächern nach und von Norden in das Frankfurter Vorland. Er wurde bereits 1478 Sportwissenschaft und Geographie. nach dem Bau der Friedberger Warte verschlossen. Der Eiserne Schlag 1968 Staatsexamen und Übernahme belegte überdauernd die Grenze und Einfl usssphäre der Stadt Frankfurt. als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Warum tauchen die U-Bahnen auf der Eschersheimer Landstraße gerade Sportwissenschaft. Die Folgen eines un- hier aus dem Untergrund auf? verschuldeten Unfalls verlängerten den befristeten Arbeitsvertrag bis 1979. Mit der Promotion über Biomechanik des »WARUM TAUCHEN DIE U-BAHNEN AUF DER Kraulschwimmens erfolgte der Wechsel ESCHERSHEIMER LANDSTRAßE GERADE HIER zum Deutschen Sportbund – Bereich (AM EISERNEN SCHLAG) AUS DEM UNTER- Leistungssport. GRUND AUF, OBWOHL DIE STADTGRENZE Zuvorderst wurde Wissenschaftsma- HEUTE NOCH LANGE NICHT ERREICHT IST?« nagement aufgebaut, um Leistungssport gezielt zu erforschen beziehungsweise Trainern und Athleten aktuelle wissen- schaftliche Erkenntnisse zur Verfü- Als die Dornbuschsiedlung ab 1954 zwischen Marbachweg und der gung zu stellen, 2005 als Referatsleiter Gärtnerei Sinai erbaut wurde, konnte auf vorwiegend landwirtschaftlich ausgeschieden. Mit der Bewerbung als genutzte Flächen zurückgegriffen werden. Auch konnte man auf der Stadtteil-Historiker möchte er speziell Kirschwaldstraße von der Eschersheimer Landstraße/Ecke Marbachweg geographisches Arbeiten unter Beweis noch bis nach Eckenheim gelangen. Die entstehende Dornbuschsiedlung stellen. erzwang den Rückbau der Straße. Sein Dank gilt zuvorderst der Stiftung Den 1888 erbauten Bertramshof bewirtschaftete vor der Übernahme Polytechnische Gesellschaft für die Ge- durch den Hessischen Rundfunk in den 1980er-Jahren die Gärtnerei währung des Stipendiums als Stadtteil- Sinai, die den Stallmist bis zu den Niddawiesen verbringen ließ. Heute hat Historiker sowie dem Institut für er durch Umgestaltung und Nutzung des HR eine deutliche Aufwertung Stadtgeschichte, den Ämtern der Stadt erfahren. Frankfurt und der Familie.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass den „Dornbusch“ der Diebsweg querte, im Süden ihn die Landwehr begrenzte. Der erhaltene Wehrturm des Kühhornshofes überzeugt noch heute eindrucksvoll als Warte. 20 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETRA PFEUFFER, INNENSTADT

PETRA PFEUFFER, INNENSTADT

Das Allerheiligenquartier

„Die Allerheiligenstraße in der Innenstadt von Frankfurt? Ja sicher ist die mir bekannt, nur weiß ich auf die Schnelle nicht, wo ganz genau …?“

Die so oder ähnlich lautenden Reaktio nen, auch von alteinge- sessenen Frankfurtern, auf eine Standortfrage zeigen, dass sich diese vielbefahrene Verkehrsachse zwischen der Battonn- straße und der um 1881 nach Osten hin erweiterten Zeil mit ihren heute zahlreichen Lokalitäten, Billigartikelmärkten und dem Sitz des 1. Polizeireviers nicht mehr unbedingt tief ins Ge- dächtnis gräbt. Man rufe dem Befragten dann jenes imposante Die Linde am Allerheiligentor, gemalt von Johann Christian Morgenstern Geschäfts- und Wohngebäude vor Augen, das mit seiner auf- Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S13/229

fallenden Fassadenornamentik, den neobarocken Steinreliefs und seinen Kuppelerkern an den Giebeln trapezförmig die Spit ze von Allerheiligen- und Battonnstraße bildet.

Errichtet 1907 nach den Plänen der Architekten Franz Josef Vietze und Wilhelm Helfrich, sollte das schmucke Haus vielleicht die rege Bautätigkeit im Viertel krönen. Neben dringend benöti- gten Wohngebäuden entstanden in dieser Zeit auch Frankfurts erstes kommunales Hallenbad, eröffnet 1896 auf dem Gelände der heutigen AOK, das erste Gewerkschaftshaus an der Ecke Allerheiligen- und Stoltzestraße von 1901 oder das ein Jahr später neu bezogene Eichamt in der Battonnstraße. Es hat sich einiges von dieser Pracht trotz heftiger Zerstörungen im Zwei- ten Weltkrieg noch erhalten, doch mussten in den Wieder- aufbaujahren zahlreiche Notbauten hochgezogen werden, die nach wie vor teilweise das Erscheinungsbild der Straße prä- gen. Einzig die auffällig schmale klassizistische Silhouette des ältesten erhaltenen Mietshauses von 1861 tritt stumm, gleich einem Sarkophag, mit einer wie in Gips gegossenen Fassade hervor aus der bescheidenen Häuserzeile – sie ist seit Jahren zuge mauert.

Das 1907 errichtete, auffällige Gebäude im Allerheiligenviertel Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETRA PFEUFFER, INNENSTADT 21

»VON JEHER SCHON EIN KLEINE-LEUTE-VIERTEL MIT HANDWERKERN, BEDIENSTETEN, KÜNSTLERN, TAGELÖHNERN UND ALL DEM ZUGETAN, WAS SICH DER MENSCH AN UNTERSCHIEDLICHEN VERGNÜGUNGEN VERSPRACH, ZÄHLTEN FÜR DIE BEWOHNER WELTOFFENHEIT UND TOLERANZ ZUM SELBSTVERSTÄNDNIS.«

PETRA PFEUFFER Ende des 14. Jahrhunderts erbaut als erste luxuriös mit Pfl asterstein versehene Gasse, die bis zum Durchbruch der Kurt-Schumacher-Straße 1955 bis an die Konstablerwache reichte, ist der verbliebene Teil der Petra Pfeuffer, am Rande des Nord- Allerheiligenstraße bis heute Lebensader dieses bunten, doch wenig schwarzwaldes in auf- gut gelittenen Viertels mit Stoltzestraße, Breite Gasse, Albusstraße und gewachsen, machte auch hier die der nach Süden hin verlängerten Klingerstraße. Von jeher schon ein ersten berufl ichen Erfahrungen als Kleine-Leute-Viertel mit Handwerkern, Bediensteten, Künstlern, Tage- Dramaturgie- und Regieassistentin löhnern und all dem zugetan, was sich der Mensch an unterschiedlichen am heimatlichen Stadttheater. Zu- Vergnügungen versprach, zählten für die Bewohner Weltoffenheit und nächst den Wohnsitz quer durch die Toleranz zum Selbstverständnis. Über Jahrhunderte unmittelbar an die Republik dahin verlegend, wo sie ihren ehemalige Judengasse grenzend, pfl egte man hier die Nachbarschaft Verpfl ichtungen als Dramaturgin und zu Frankfurts jüdischen Mitbürgern, die sich nach Aufhebung des als Kommunikatorin für Schauspiel, Ghettozwangs im ihnen gut vertrauten Viertel bevorzugt niederließen. Tanz, Musiktheater und internationale Der Nationalsozialismus bescherte dieser Blütezeit ein Ende. Showformate nachging, fasste sie in den 1990er-Jahren dann den Entschluss, Die ‚Allerheiligen Gaß‘, benannt nach der Kapelle von 1366 nahe dem sich in der quirligen Kulturmetropole Rieder Tor (zeitweise Hanauer- und schließlich Allerheiligentor), war Frankfurt am Main ihren Lebensmittel- mehr als nur ein Handels- und Transportweg für Güter aller Art vor- punkt zu schaffen. wiegend aus den Städten, Ländereien und Agrargebieten, die östlich der bis 1809 bestehenden Stadtbefestigung vor Frankfurt lagen. Viel an Die Wahl der jeweiligen Wohnumfelder – Geschichtsträchtigem, das sich in diesem Viertel abspielte, muss noch vom ursprünglichen Teil des Gutleut- erzählt werden und erfordert noch mehr an intensiver Detailarbeit, die viertels via Innenstadt bis aktuell ins zu gegebener Zeit in einer Ausstellung gebündelt werden soll. zentrumsnahe Ostend – war nicht nur der Option geschuldet, berufsbedingt „Die Allerheiligenstraße? Ja sicher, da ist doch dieses seltsame Haus höchstmögliche Flexibilität gewähr- mit diesen Türmchen und den aufgemalten goldenen Bögen – das kennt leisten zu können, sondern in einem doch wirklich jeder!“ ebensolchen Maß davon bestimmt, den unverwechselbar urbanen und multiethnisch ausgeprägten Pulsschlag dieser Stadt zu spiegeln. Seit 2014 freischaffend als Lektorin sowie Autorin und Übersetzerin im Kontext Bühne tätig, zeichnet Petra Pfeuffer zudem verantwortlich für Kreativ-Konzept und Management von Veranstaltungen verschiedenen Formats.

Am Allerheiligentor in den 1960er-Jahren Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7C2004/00130 22 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | HELMUT STEINACKER (†), SECKBACH

HELMUT STEINACKER (†), SECKBACH

Das Seckbacher Museumsbuch

Es war eine wahre Herkulesaufgabe, die sich der Seckbacher geht verloren, wenn es jetzt nicht aufgeschrieben wird“. Stein- Helmut Steinacker zusammen mit einer Arbeitsgruppe des Kul- acker sah zudem die Gefahr, dass der Verein aufgelöst werden tur- und Geschichtsvereins 1954 Frankfurt-Seckbach e. V. im könnte, da ihm der Nachwuchs fehlt. Vor dieser Herausforde- Jahr 2014 vorgenommen hatte. Seit 2004 präsentiert der Verein rung stehen viele Vereine, und keineswegs nur die Geschichts- einen großen Teil seiner Materialien in einem kleinen Heimat- vereine. Jedenfalls sah Steinacker in dem geplanten Museums- museum im ehemaligen Pedellhaus der Zentgrafenschule. Es buch die Chance, auch nach einer möglichen Auflösung des sollte nun ein Museumsbuch entstehen, das die im Archiv des Heimatmuseums die Geschichte Seckbachs der Öffentlichkeit Kultur- und Geschichtsvereins Seckbach aufbewahrten Bilder zugänglich zu halten. und Dokumente der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich macht. Aber nicht nur das, es sollten auch die mit den Materialien ver- Das umfangreiche Projekt gelang, das Seckbacher Museums- bundenen Geschichten und Erinnerungen dokumentiert und buch liegt vor. Und es steht, ganz gemäß der Hoffnung des aufbewahrt werden. Denn, wie Steinacker in seiner Projektskiz- Stadtteil-Historikers, in „möglichst vielen Seckbacher Haushal- ze an die Stiftung Polytechnische Gesellschaft schrieb, „Wissen tungen“.

»EIN MUSEUM WIRD ZUM BUCH, ZUM ,SECKBACHER MUSEUMSBUCH‘ «

XXXXXXXXXXXX Foto: xxxxxx STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | HELMUT STEINACKER (†), SECKBACH 23

HELMUT STEINACKER (†)

Der Seckbacher Bürger Helmut Stein- acker hatte seit 1947 die Günthers- Historische Postkarte von Seckbach burgschule und dann ab 1950 die Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7C1998/50.454 Lersnerschule besucht. Von 1956 bis 1959 absolvierte er bei der Frankfurter Kurbelwellen- und Zylinderschleiferei »WISSEN GEHT VERLOREN, WENN ES JETZT eine Lehre als Dreher und war dort auch NICHT AUFGESCHRIEBEN WIRD.« weiterhin beschäftigt.

Weitere Berufsjahre führten ihn an die Vickers Zimmer AG, dann trat er seinen Das Buch eröffnet ein Panorama des Dorfes und des Frankfurter Stadt- Grundwehrdienst an. In weiteren Lehr- teils Seckbach. Von der Gründung und den ersten Nachrichten über den gängen und Ausbildungen bildete er sich Weinbau als einen der wichtigsten Erwerbszweige des landwirtschaft- fort, wurde Baumaschinen-Schlosser lich geprägten Dorfes bis hin zur Feier des 1100-jährigen Bestehens im und Lichtbogenschweißer, schließlich Jahr 1980. Dazu passt das Thema des Lohrbergs, der heute von vielen Baumaschinen-Fachmeister. Gleichzei- als Frankfurter Hausberg bezeichnet wird, im Grunde aber zu Seckbach tig kümmerte Steinacker sich intensiv gehört. Im Museumsbuch wird er in seiner wirtschaftlichen Bedeutung um das Thema Arbeitssicherheit, für das erfasst; denn die Freie Reichsstadt Frankfurt benötigte Wein. Ein sehr er ebenfalls mehrere berufsgenossen- verdienstvolles Kapitel widmet sich ausgestorbenen Berufen. Viele der schaftliche Lehrgänge durchlief. Tätigkeiten, die über Jahrhunderte die Menschen ernährten und ihnen ein Auskommen und einen gewissen Lebensstandard sicherten, sind 1999 ging er krankheitsbedingt in im Zuge der Industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert aus- Rente und trat 2002 dem Kultur- und gestorben. Die Industrialisierung betraf schließlich auch die Landwirt- Geschichtsverein Seckbach bei, dem er schaft, die zuvor das Leben der allermeisten Menschen geprägt hat- auch als Mitglied im Vorstand diente te. Das ausgedehnte Industrie- und Gewerbegebiet in Seckbach weist und bis zu seinem Tod im Jahre 2017 eng freilich darauf hin, dass der Strukturwandel in Richtung Manufaktur-, verbunden blieb. Fabrik- und Erwerbsarbeit gelang. Einen gewissen Abschluss fi ndet die Ortsgeschichte mit der Eingemeindung nach Frankfurt im Jahr 1900. Aber Steinackers ehrenamtliches Enga- gement ging noch weiter: Im Jahr 2003 Am Ende stellt das Museumsbuch bekannte Seckbacher vor, darunter übernahm er den Vorsitz im Ortsverein den ehemaligen hessischen Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry Seckbach der Arbeiterwohlfahrt. 2013 (1920 – 1981), der in Seckbach geboren und dort auch ermordet wurde. erhielt er für sein vielfältiges Engage- Der Band ist klug und lesefreundlich nach Sachthemen gegliedert und ment den Ehrenbrief des Landes Hessen. reich und farbig illustriert. Er ist ein echtes „Hausbuch“ der Seckbacher Geschichte und kann ein Vorbild sein, die Orts- und Stadtteilgeschich- Helmut Steinacker verstarb am te umfassend, fundiert und doch sehr anschaulich einem allgemeinen 23. September 2017. Publikum zur Verfügung zu stellen. Dem Anspruch, den sich Helmut Steinacker also zu Beginn seines Projektes gestellt hatte, konnte er ge- recht werden. links: Seckbach, Blick vom Lohrberg Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7C1998/50.472, Georg Schmidter 24 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | BERNT WEBER, WESTEND / NORDEND

BERNT WEBER, WESTEND / NORDEND

Die Wolfsgangstraße in Frankfurt am Main: Menschen – Leben – Häuser

Die Idee zu dem Buch entstand durch die vielen Missverständ- nisse von Freunden, Bekannten und vor allem Handwerkern, die der Autor mit der Renovierung einer Eigentumswohnung in der Wolfsgangstraße 96 beauftragt hatte. Sie alle verstanden meist „Wolfgangstraße“, also ohne „s“. War es nun eine Straße, die nach den Wölfen benannt worden war oder nach einer Kapelle „Zum heiligen Wolfgang“? Intensive Recherchen, ins- besondere im Institut für Stadtgeschichte (ISG), aber auch in vielen Publikationen führten schließlich zum Ergebnis einer ge- sicherten Namensherkunft.

Darüber hinaus interessierte den Autor aber auch die Geschich- te der Menschen, die in dieser Straße gewohnt hatten oder auch noch wohnen. Anhand der Adressbücher, die ebenfalls im ISG zur Verfügung stehen, gelang es, die lückenlose Chronologie jedes Hauses seit der Erbauung darzustellen und diese in die jeweils aktuelle Zeitgeschichte einzubetten.

Besonders interessant waren die Gespräche mit Zeitzeugen, die manches zu berichten wussten, was nicht in den Archiven zu finden ist. Fotos und Zeichnungen wurden dem Autor zur Ver- fügung gestellt, die einen interessanten Blick auf die damalige zeitgeschichtliche Situation werfen. Leider gab es auch aktuelle Eigentümer, die jedes Gespräch verweigerten.

Das erste Haus in der Wolfsgangstraße, damals Nr. 27, heute Nr. 91 Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, SG S7C 1998/22423, Julia Hoffmann STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | BERNT WEBER, WESTEND / NORDEND 25

BERNT WEBER

Bernt Weber wurde 1941 in Köln geboren. 1953 zog die Familie seiner Eltern nach Hofheim am Taunus, weil der Vater, Prof. Dr. Gottfried Weber, eine Professur für deutsche Sprachwis- senschaften an der Goethe-Universität XXXXXXXXXXXX erhielt. Foto: xxxxxx Nach dem Abitur am neu installierten Hofheimer Main-Taunus-Gymnasium Die alte Mauer im Hinterhof absolvierte Bernt Weber eine Banklehre Foto: privat bei der Deutsche Bank AG in Frankfurt, um danach an der Goethe-Universität Betriebswirtschaft zu studieren. »DAS HAUS NR. 53 IST BESONDERS Es folgten ein Trainee bei der Deut- ERWÄHNENSWERT, WEIL SICH DORT IM sche Bank AG und eine anschließende HINTERHOF NICHT NUR EIN ZWEITES HAUS siebenjährige Tätigkeit bei verschie- BEFINDET, SONDERN AUCH EINE ALTE MAUER, denen deutschen und internationalen DIE IM 19. JAHRHUNDERT DIE GRENZE ZUM Werbeagenturen. 1976 holte ihn die Commerzbank AG als Marketingleiter HOLZHAUSEN-PARK BILDETE; NUR WENIGE für den Konzern, wo er das Direkt- und MENSCHEN WISSEN VON DIESER MAUER, Telefonmarketing einführte und 1994 UND NOCH WENIGER WISSEN UM IHRE die comdirekt bank AG aufbaute und BEDEUTUNG.« sieben Jahre als Vorstandschef zum führenden deutschen Direktbroker und zur zweitgrößten deutschen Direktbank entwickelte. In dieser Zeit lebte Bernt Weber in Hamburg. Besonders erschütternd waren und sind die Berichte von in der Straße wohnenden Juden, die während der Nazizeit verfolgt und in Konzentra- 2011 zog es den hanseatisch geprägten tionslagern hingerichtet wurden oder starben. Autoren wieder nach Frankfurt, wo er 2012 eine Eigentumswohnung in der In einem Vorspann des Buches wird auf die Geschichte des Westends Wolfsgangstraße 96 erwarb, die den und des Nordends eingegangen, beides Stadtteile, durch die die Wolfs- Ausgangspunkt für das Buch bildete. gangstraße verläuft. Inzwischen ist er nach Oberursel umge- zogen, wo er an einer Chronik für eine Das im A4-Druck erschienene Buch ist in allen Frankfurter Bibliotheken Familie arbeitet, die auch in der Wolfs- und Archiven vorhanden und in ausgewählten Frankfurter Buchhand- gangstraße wohnte und die er durch die lungen erhältlich. Arbeiten an dem Buch kennengelernt hatte. 26 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | HANS ZIMMERMANN, INNENSTADT

HANS ZIMMERMANN, INNENSTADT

Das kleine Häuschen in der Fressgass: die Geschichte einer Straße, ihrer Häuser und ihrer Bewohner in Kürze

Die Geschichte meiner engsten Heimat habe ich als Stadtteil- Historiker der Stiftung Polytechnische Gesellschaft erforscht. Dabei stöberte ich im Archiv des Instituts für Stadtgeschichte, vor allem in den Adressbüchern seit 1832, in den reichhaltigen Fotobeständen und vielen anderen gesammelten Schätzen mit Signatur. Außerdem befragte ich Zeitzeugen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und steuerte meine eigene Erfahrung aus 60 Jahren Leben in der Fressgass bei. 2016 präsentierte ich meine Ergebnisse in dem Buch „Das kleine Häuschen in der Fressgass – Die Entwicklung einer Straße, ihrer Geschäfte und ihrer Bewohner in Kürze“.

Vieles in diesem Buch ist wenig oder gar nicht bekannt. Die Das kleine Haus auf der Fressgass damals (unten links) und heute meisten Passanten, die heute über die Fressgass laufen, den- (oben) ken, diese sei schon seit Ewigkeiten eine breite Fußgängerzone. Fotos: privat Dabei ist es gerade einmal vierzig Jahre her, dass die Autos aus

ihr verbannt wurden. Bei einer Geschichte, die im Mittelalter beginnt, ist das kein langer Zeitraum. Die erste Erwähnung der Bockenheimer Gass, wie die Fressgass damals hieß, findet man in der Liste des Baldemar von Petterweil aus dem Jahr 1350. Da- mals lag hier vor den Toren der alten Staufenmauer der Schwei- nemarkt. Mit der großen Stadterweiterung, die mit dem kaiser- lichen Privileg aus 1333 begann, lag die Bockenheimer Gass dann in der sogenannten Neustadt zwischen der alten und der neuen Stadtmauer. Sie führte zum Bockenheimer Tor und war eine belebte Ausfallstraße in Richtung Westen, sie war schmal und wurde mit gotischen Häusern immer dichter bebaut. Mit der Schleifung der Wallanlagen anfangs des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Bild der Straße wesentlich. Die gotischen und barocken Häuser wichen vielfach klassizistischen Bauten und diese anschließend den Gründerzeithäusern der wilhelmi- nischen Zeit. Mit der rasanten Entwicklung Frankfurts in der Gründerzeit nahm der Anteil der Lebensmittelgeschäfte in der STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | HANS ZIMMERMANN, INNENSTADT 27

»KEIN WIRTSCHAFTLICHES INTERESSE UND KEINE NEUERUNG DER ARCHITEKTUR HABEN DAS HÄUSCHEN SEIT 1750 STARK VERÄNDERT, KEINE BOMBE UND KEINE ABRISSBIRNE HABEN ES ZERSTÖRT. VIELLEICHT WAR ES FÜR ALLE DIESE AUSLÖSER DES WANDELS EINFACH ZU KLEIN.«

HANS ZIMMERMANN

Hans Zimmermann, Jahrgang 1949, lebt seit 1958 in der Fressgass im kleinen Häuschen mit der Hausnummer 31. Da- mals zog er mit seiner Familie dort ein. Die Zimmermanns hatten die Metzgerei im Haus übernommen, und auch die berühmte Zeppelinwurst wurde nun von ihnen hergestellt und angeboten. Das Geschäft lief gut im Wirtschafts- wunderland. Das kleine Haus und die Fressgass vor der Einrichtung der Fußgängerzone im Jahr 1977 Hans Zimmermann erlernte von klein Fotos: privat auf das Metzgerhandwerk und legte 1972 die Meisterprüfung ab. Seit 1973 Straße auf rund zwei Drittel aller Geschäfte stark zu. Vorher und auch führte er nun selbst die Zeppelin-Metz- heute wieder machten diese nur ein Drittel aus. So gab es beispiels weise gerei. um die Jahrhundertwende zwölf Metzgereien in dieser Straße. Die Bockenheimer Gass wurde zum Bauch des neu entstandenen vorneh- 1984 verpachtete er das Geschäft und men Westends. Aus dieser Zeit stammt der Name Fressgass, der nicht begann nach einigen Weltreisen das die offi zielle Adresse und schon gar nicht althergebracht, sondern erst Studium der Ethnologie an der Uni seit ungefähr einhundert Jahren im Gebrauch ist – anfangs selten, heute Frankfurt. Nach dem Magisterabschluss fast ausschließlich. Über Hunderte von Jahren wurde sie Bockenheimer 1992 unternahm er viele Reisen nach Gass genannt, und auch heute steht sie als Große Bockenheimer Straße Westafrika, um dort Feldforschung zu und Kalbächer Gasse im offi ziellen Stadtplan. betreiben und ethnographische Filme zu produzieren. Um die Fressgass über die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg hinaus noch wesentlich breiter zu machen und eine vierspurige Verkehrsachse Seit 1992 arbeitete er als Kameramann zu schaffen, wurden vor 65 Jahren viele Häuser, die die Bombardierung für Nachrichten und Dokumentation überstanden hatten, enteignet und abgerissen. Dieses Konzept der da- auch im Ausland für verschiedene mals angestrebten autogerechten Stadt ging nicht auf und wurde vom Fernsehsender und bildete Videojourna- Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs abgelöst. Seit 1973 buddelten listen aus. Trotz seiner offensichtlichen die Baumaschinen in der Fressgass, um die U-Bahn zu schaffen. 1977 Leidenschaft für das Ferne und Fremde konnte dann die heutige Fußgängerzone eingeweiht werden. ist er seiner Fressgass treu geblieben und lebt gerne hier. Das kleine Häuschen hat die Geschichte der Fressgass, ihrer Häuser und ihrer Bewohner seit 1750 miterlebt und als einziges Haus der Straße aus dieser Zeit wundersam überlebt. Kein wirtschaftliches Interesse und keine Neuerung der Architektur haben es stark verändert, keine Bombe und keine Abrissbirne haben es zerstört. Vielleicht war es für alle diese Auslöser des Wandels einfach zu klein. 02

INFRASTRUKTUR, INDUSTRIE UND GEWERBE 02

INFRASTRUKTUR, INDUSTRIE UND GEWERBE 30 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ULF LUDßUWEIT, FECHENHEIM

ULF LUDßUWEIT, FECHENHEIM

Das ehemalige Landmaschinenunternehmen Philipp Mayfarth & Co. Frankfurt mit seinen jüdischen Direktoren Samuel und Leo Moser

Ph. Mayfarth & Co., einst ein Inbegriff für qualitativ hochwertige Landmaschinen aus Frankfurt, ist heute fast in Vergessenheit geraten. Unter Leitung des visionären Mitbegründers Samuel Moser erlangte das Unternehmen seinen guten Ruf über die Grenzen des damaligen Deutschen Kaiserreiches hinaus. Neben Zweigstellen im Inland war Mayfarth auch mit Niederlassungen in London, Paris, Wien, Mailand und Moskau vertreten. 1912 feierten die jüdische Inhaberfamilie Moser und 1407 Arbeiter und Angestellte in den Werken Frankfurt und Wien das 40-jäh- rige Jubiläum.

Gegründet wurde Ph. Mayfarth & Co. am 4. April 1872 durch den Frankfurter Kaufmann Philipp Mayfarth und den jüdischen Unternehmer Samuel Moser. Zunächst wurde das Unterneh- men als Handelsgesellschaft für importierte Landmaschinen im Baumweg 7 in Bornheim (damals „bei“ Frankfurt) geführt. Zur Reparatur der Sä-, Ernte- und Dreschmaschinen wurde bald eine Werkstatt auf dem Gelände errichtet. Zum 1. Februar 1875 verließ der Namensgeber Philipp Mayfarth das Unternehmen, Ehemaliges Montagegebäude Orber Straße 4 und Samuel Moser wurde alleiniger Inhaber. Mit seinem außer­ Foto: Ulf Ludßuweit, 2008 ordentlichen Verkaufsgeschick erschloss er neue Absatzge- biete in der ostpreußischen Landwirtschaft und gründete 1877 1906 wurde das Frankfurter Handelskontor in die Hanauer in Insterburg die erste Zweigstelle. Der Weg zum Frankfurter Landstraße 8 verlegt und die Liegenschaft Baumweg 7 zur Industrieunternehmen wurde 1881 mit dem Kauf eines circa Einrichtung eines jüdischen Kindergartens gestiftet. Auch die 3.000 Quadratmeter großen Werksgeländes an der Hanauer wachsende Produktion verlangte nach mehr Raum, und so Landstraße eingeschlagen. In dieser ersten Fabrik begann die wurde 1910 ein ganz neues und großzügig angelegtes Werk im eigene Produktion von Häcksel- und kleinen Dreschmaschinen. Gewerbegebiet Mainkur bei Fechenheim eingeweiht. Um auch die Gussteile zur Montage der Maschinen selber her- stellen zu können, wurde Anfang 1887 nahe der Galluswarte die Der Erste Weltkrieg und der Ausschluss von den Weltmärkten erste eigene Eisengießerei angefeuert. Für den Vertrieb und brachten schwere Einbußen. 1915 spalteten sich die österrei- Reparaturen entstanden weitere Zweigstellen in Posen, Osna- chische Niederlassung und das Wiener Werk vom Stammhaus brück, Berlin, Breslau, und Köln. ab. Durch den plötzlichen Tod Samuel Mosers am 4. Mai 1917 wurde sein Sohn Leo Moser zum alleinigen Inhaber von Ph. Die erste Auslandsniederlassung wurde Ende 1881 in Wien er- Mayfarth & Co. Frankfurt. Mit Ende des Ersten Weltkrieges gin- öffnet. Zur Deckung der Nachfrage nach Mayfarth Landmaschi- gen viele Zweigstellen im Inland und die restlichen Auslands- nen in Österreich wurde dort 1896 ein zweites Werk errichtet. niederlassungen verloren. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ULF LUDßUWEIT, FECHENHEIM 31

»PH. MAYFARTH & CO., EINST EIN INBEGRIFF FÜR QUALITATIV HOCHWERTIGE LAND- MASCHINEN AUS FRANKFURT, IST HEUTE FAST IN VERGESSENHEIT GERATEN.«

ULF LUDßUWEIT

Ulf Ludßuweit wurde 1973 geboren und ist aufgewachsen im niedersäch- sischen Wolfsburg. Der durch VW geprägten „Monotonie“ hat er versucht zu entfl iehen und trat seine Ausbildung zum Büroinformationselektroniker in Braunschweig an. Dem Abschluss mit Auszeichnung folgte noch die Quali- fi zierung zum staatlich geprüften Elektrotechniker in der Fachrichtung Datenverarbeitung.

Nach dem erfolgreichen Abschluss der Technikerschule führte ihn sein berufl icher Werdegang nach Frank- furt am Main. Als EDV-Techniker im Außendienst in Banken und Verwal- tungen wurde ihm seine Wahlheimat als Die Dreschmaschine HEROLD von 1935, Broschüre moderne Finanzmetropole ein Begriff. In Stadtführungen lernte er von den Rö- mern bis zur mittelalterlichen Handels- und Messe stadt interessante Plätze und Leo Moser konnte zwar den Fortbestand von Mayfarth mit neuen Ab- deren Geschichte(n) kennen. satzmärkten in Südamerika sichern, aber mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam der jüdische Unternehmer in Bedrängnis. Mit Aber ein richtiges Interesse an der dem Verweis auf Verluste folgte im Januar 1936 auf Betreiben der Gläu- Frankfurter Historie wurde erst durch bigerbanken die Arisierung, und Leo Moser wurde aus seiner Firma Zufall über ein sehr schönes, in Back- ausgesperrt. Das Landmaschinenunternehmen fi rmierte fortan un- steingotik errichtetes Fabrikgebäude ter dem neuen Namen Maschinenfabrik vormals Ph. Mayfarth & Co. in Fechenheim geweckt. Er war auf das GmbH. Zum 1. August 1938 wurde diese GmbH von der Frankfurter Montagegebäude des ehemaligen Land- Maschinenbau AG vormals Pokorny & Wittekind übernommen und die maschinenunternehmens Ph. Mayfarth Landmaschinenproduktion an andere Unternehmen verkauft. & Co. gestoßen. Zur Verfeinerung seiner ersten Forschungsergebnisse über die In der Reichskristallnacht im November 1938 wurde Leo Moser ver- wechselvolle Geschichte der Firma May- haftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Aufgrund farth und ihrer jüdischen Direktoren seines schlechten Gesundheitszustandes und wegen seiner Zustim- Moser wurde er glücklicherweise in die mung zum Verkauf aller Liegenschaften konnte er nach Frankfurt zu- sechste Staffel der Stadtteil-Historiker rückkehren. Unter schweren Aufl agen gelang es ihm, Deutschland im aufgenommen. In deren Treffen und Ge- September 1941 ab Berlin zu verlassen. Leo Moser verstarb am 24. sprächen, aus den Schreiben der vorhe- Oktober 1960 in New York und hinterließ als Alleinerbin seine Frau rigen Generationen und den Veranstal- Emmi Moser. Das Werk Mayfarth in der Mainkur bei Frankfurt-Fechen- tungen der Stiftung hat er viele weitere heim wurde Ende 1968 geschlossen. interessanten Facetten von Frankfurt und seinen Stadtteilen kennengelernt. 32 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | JÜRGEN ROTHLÄNDER, HÖCHST

JÜRGEN ROTHLÄNDER, HÖCHST

Wirtshäuser, Herbergen und Kneipen der Stadt Höchst am Main

Auf der Grundlage jahrelanger Forschung erstellte ich ein Buch, Höchster Brauhaus, das ein umfassendes Bild der Gastronomie innerhalb der alten Postkarte (Detail) Höchster Stadtmauern abgibt. Es beschreibt circa 500 Jahre Gaststätten-Geschichte an der belebten Mainzer Landstraße. Das Buch erklärt die Entstehung und Entwicklung der Höchster Gastronomie, die Gründe für den erhöhten Gaststätten bedarf, die Höchster Gaststätten und es überliefert Genehmigungen und Verordnungen zu Kon- beitragen. Weiterhin fi el zessionen. Bräuche, Geschehnisse, Anekdoten sowie Wissens- mir auf, dass in den Me- wertes rund um die Lokale sind verständlich, aber in wissen- dien immer nur einzelne schaftlicher Form dargestellt. Mit reichen Quellenbelegen Ereignisse aus der Ge- schildert es die Wirtshäuser der Stadt Höchst am Main. schichte der alten Wirts- häuser erwähnt waren. Dazu habe ich in diversen Büchern, Zeitungsartikeln, Kirchen- Kein Autor unserer Ge- büchern und im Internet recherchiert. Diverse Erkenntnisse schichtsbücher hatte ein verdanke ich der Einsicht in Dokumente im Institut für Stadtge- Augenmerk auf die umfassende schichte Frankfurt und im Staatsarchiv Wiesbaden. Persönliche Darstellung der Wirte aus vergangenen Zeiten und deren Erfahrungen rundeten das Gesamtbild ab. Bei der Lektüre von Metier gelegt. Zusammenhänge wurden angedeutet, blieben Publikationen fi el mir auf, dass es in Höchst im Verhältnis zu den aber stets nur Fragmente in alten Publikationen. Einwohnern viele Gasthäuser gab. Als hier geborener und sich der Heimat verpfl ichtet fühlender „Heechster Bub“ erkannte Ich interessierte mich doch etwas mehr für die hiesige Vergan- ich, dass den Mitbürgern wenig über das frühere Kneipenleben genheit. Intensiv stöberte ich in der Historie. Stetig fand ich bekannt ist. Niemand konnte etwas an Überlieferungen über Hinweise auf ein Lokal oder auf Menschen, die darin lebten und wirkten. Mir kam der Gedanke, dass meine Recherche ein Stein im Mosaik der regionalen Geschichte werden könnte. Durch das Zusammentragen stets neuer Fakten offenbarten sich zahlreiche Verbindungen. Nachdem ich die vielen Episoden und Ereignisse aneinandergereiht sah, war mir klar, dass die- ses Wissen nicht nur für mich wichtig war, sondern sicher auch zukünftig interessant sein könnte. Es reifte der Plan, mein Wis- sen in einem Buch darzustellen. Der letzte Funken sprang über, als ich von den Stadtteil-Historikern hörte. Die Stiftung Poly- technische Gesellschaft suchte geschichtsinteressierte Bürger, die etwas über ihre Heimat publizieren wollten. Mit meinem ureigenen Interesse und einer Bewerbung bei den Stadtteil-

Die Binding Stube in der Zum Bären, Schlossplatz 8 Historikern nahm ich endgültig den Kampf mit Büchern, Archi- Bolongarostraße Foto: Erwin Scharf ven und Dokumenten auf. Meine Kenntnisse rundete ich durch Foto: privat weitere Bücher und einige Besuche im Stadtarchiv ab. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | JÜRGEN ROTHLÄNDER, HÖCHST 33

»MIT MEINEM UREIGENEN INTERESSE UND EINER BEWERBUNG BEI DEN STADTTEIL- HISTORIKERN NAHM ICH ENDGÜLTIG DEN KAMPF MIT BÜCHERN, ARCHIVEN UND DOKUMENTEN AUF.«

Während der Recherche wurde mir klar, dass ein Buch einen Teil der JÜRGEN ROTHLÄNDER Historie zukünftig sichern wird. Aus diesem Gedanken festigte sich der Wille, optimale Forschung zu betreiben. Letztlich trug dies den Lohn, dass ich zwei bisher nie erwähnte Gasthäuser fi nden konnte. Zur Be- Jürgen Rothländer wurde 1951 in stätigung zeigte sich, dass man mit einem an sich selbst gestellten An- Frankfurt-Höchst in dem ehemaligen spruch vieles erreichen kann. Ich halte nun ein Buch in Händen, das Adelshof „Dalberger Haus“ geboren. neben seinen historischen Neuentdeckungen einen übersichtlichen Später lebte er in der „Alten Mainmühle“. Einblick in das regionale Kneipenleben zulässt. Es ist, ohne einen An- Nach der Hauptschule absolvierte er spruch auf Vollständigkeit zu erheben, eine leicht zu lesende Dokumen- eine Lehre zum Chemie-Facharbeiter in tation, die in ihrer quellenbelegten Ausführung auch als bleibender der Hoechst AG. Aus gesundheitlichen Leitfaden für spätere Historiker gesehen werden kann. Gründen musste er seine Tätigkeit als Schichtführer in einem anorganischen Produktionsbetrieb aufgeben und den Beruf wechseln. Nach verschiedenen berufl ichen Zwischenstationen betrieb er bis 2015 ein eigenständiges Limousi- nen-Service-Unternehmen. Seit 2017 befi ndet sich der Vater von drei Kindern im Ruhestand.

Leidenschaftlich widmet er sich seinem Stadtteil: „Höchst als Heimat – Höchst als Berufung!“ Jürgen Rothländer hat viele Jahrzehnte in Höchst gelebt. Über die Facebook-Gruppe „Höchst-Histo- risch“ begann er im Herbst 2014, seine Höchst-Kenntnisse öffentlich nieder- zuschreiben. In dieser Gruppe bildete sich schon bald ein Kreis geschichts- interessierter Bürger. Gemeinsam mit dieser Interessengemeinschaft betrieb er die Aktivierung des 1894 gegründeten Vereins für Geschichte und Altertums- kunde e. V. Seit Januar 2018 ist er als zweiter Vorsitzender des Vereins be- strebt, die Höchster Geschichte und die eingelagerten Exponate und Dokumente des Vereins wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Schlossklause Zeichnung: Jan Jestak 34 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | GREGOR GEORG SCHUBERT, BOCKENHEIM

GREGOR GEORG SCHUBERT, BOCKENHEIM

Historische Gewerbebauten auf der Leipziger Straße in Frankfurt-Bockenheim

Die Leipziger Straße in Frankfurt-Bockenheim hat sich durch Bock-Apotheke die vielen historischen Gebäude und deren Kleinteiligkeit eini- Das Gebäude der heutigen Bock-Apotheke ist eines der ältesten ges von ihrem historischen Charme bewahren können. Eine Gebäude auf der Leipziger Straße. Die Grundmauern sind in Vielzahl exquisiter Geschäfte, wie Spezialhandlungen für Käse, das Jahr 1680 zurückzudatieren, und die klassizistische Er- Fisch, Fleisch, Gebäck, Kaffee, und eine wunderbare Auswahl scheinung geht auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Die- an Essensmöglichkeiten von Sushi bis zum tibetischen Restau- se einzige unter Denkmalschutz stehende Apotheke Frankfurts rant – hier fi ndet sich fast alles. wurde 1822 als Kurfürstlich hessische Löwen-Apotheke eröff- net. Später lief sie unter der Bezeichnung Hofapotheke, und seit Welche Geschäfte waren es, die der Leipziger Straße – die bis 1907 ist sie, wie noch heute, als Bock-Apotheke bekannt. 1910 noch Frankfurter Straße hieß – in der Vergangenheit ihr Flair gaben? Schon lange vor der Eingemeindung dieses Stadt- Kaufhaus Wronker teils im Jahr 1895 waren Bockenheim und dessen Hauptstra- Das Großkaufhaus Wronker auf der Zeil hat 1904 eine Filiale in ße ein beliebtes Ausfl ugsziel. Die damalige Frankfurter Straße Bockenheim eingerichtet. Dort, wo heute in einem Allzweck- bot ebenso Restaurants, Einkaufsmöglichkeiten und Vergnü- shop allerlei Nützliches für den Haushalt zu fi nden ist, hat auch gungen. Forell’s Garten begeisterte mit Tanzkursen, Handwer- S. Wronker einst im Erdgeschoss ein Geschäft betrieben. Abge- ker konnten mit Elfenbeinschnitzereien, Schuhen, Perücken löst wurde es durch das Kaufhaus Rosenberg, und Wronker zog und Schneiderwaren ihre Kundschaft gewinnen. Sogenannte einige Hausnummern höher in das Haus Nr. 51. Mittlerweile be- Colonial waren- sowie Specereihandlungen (Gewürzhandlun- fi ndet sich dort die Sprachschule Kern. Ende der 1930er-Jahre gen) waren auch zahlreich vorhanden. Einige Geschäfte werden fand auch hier jüdischer Besitz ein jähes Ende, mit der Enteig- im Folgenden herausgegriffen: nung und Umbenennung in Hansa AG ab 1940.

Die Apotheke in der oberen Leipziger Straße Das Kaufhaus Wronker Foto: privat Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | GREGOR GEORG SCHUBERT, BOCKENHEIM 35

GREGOR GEORG SCHUBERT

Der Stadtteil-Historiker Gregor Georg Schubert wurde 1985 in Offenbach am Main geboren. Seine Eltern sind beide in Frankfurt aufgewachsen, und somit war der Kontakt zu Frankfurt auch aufgrund seiner Großeltern immer sehr intensiv. Durch die Zeit an der Goethe-Universi- Porträt-Postkarten aus den Ateliers in der Leipziger Straße Fotos: privat tät wurde seine individuelle Beziehung zu Frankfurt immer ausgeprägter. Während seines kulturwissenschaft- lichen Studiums der Romanistik und Fotografen Skandinavistik beschäftigte er sich Abel, Schwab, Trapp, Walter und Co. – um nur einige Fotografen zu schon früh mit historischen Themen. nennen, die Ende des 19. Jahrhunderts mit dem damals gerade in der So kam er über private Ahnenforschung Gesellschaft angekommenen neuen Medium Fotografi e ihr Glück ver- in Schlesien, der ehemaligen K.-u.-k.- suchten. Der schon seit den 1870er-Jahren auf der damaligen Frank- Monarchie und Sachsen schließlich auch furter Straße ansässige Carl Abel wirbt stolz am Haus Nr. 22 für sein darauf, sich näher mit der Geschichte Artistisch-Photographisches Atelier (siehe Foto). Auch das Fotostudio seiner eigenen Heimat auseinanderzu- von R. Schwab war über 50 Jahre eine Institution in Bockenheim. setzen. Das Interesse für die Jahrhun- dertwende führte dazu, sich mit Frank- Auf der beigefügten Abbildung sind einige Beispiele von Menschen furts Historie, Architektur, mit früher zu sehen, die diese Fotografen für die Ewigkeit festhielten: Aufwendig Fotografi e und der Sozialgeschichte im auf Cartes de Visite und Cartes de Cabinet mit silbernen und goldenen Allgemeinen näher zu befassen. Atelier beschriftungen unterhalb der Fotografi en auf harter Pappe. In Frankfurt ist ihm durch das Studen- tenwohnheim und die dort entstan- denen Freundschaften Bockenheim »DIE LEIPZIGER STRAßE IN FRANKFURT- besonders ans Herz gewachsen. Sein BOCKENHEIM HAT SICH DURCH DIE VIELEN Anliegen ist es, den Charme der alten HISTORISCHEN GEBÄUDE UND DEREN Stadt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und auch weitere Generationen KLEINTEILIGKEIT EINIGES VON IHREM zur intensiven Forschung anzuregen. HISTORISCHEN CHARME BEWAHREN Geplant ist eine Broschüre über sein KÖNNEN.« Thema „Historische Gewerbebauten auf der Leipziger Straße“.

Falls Sie Anregungen oder Wünsche haben, können Sie ihm diese gerne je- derzeit unter folgender E-Mail-Adresse zukommen lassen: projekt.leipziger@ gmx.de 36 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | STEFAN ZIEGLER, NIEDERURSEL

STEFAN ZIEGLER, NIEDERURSEL

Niederurseler Mühlen – Geschichtsprojekt im Frankfurter Stadtteil Niederursel

Mein Projekt als Stadtteil-Historiker ist die Erstellung einer Bro- Dokumentation über die einzelnen Mühlen. Meine Dokumentation setzt schüre über die Geschichte der Niederurseler Mühlen. Nieder- hier thematisch an, für die Mühlen auf Frankfurter Gemarkung. Wel- ursel liegt am Urselbach, der von der Hohen Mark bis zur Ein- che Mühlen gab es? Wo waren die Standorte? Wie war die technische mündung in die Nidda im Frankfurter Stadtteil Heddernheim Entwicklung? Wer waren die Betreiber? Welche Personengeschichten reicht. Die Ufer des Urselbaches waren sozusagen eine Wiege und welche Mühlengeschichten ergeben sich? Durch die Präsentation der Industrialisierung. Insgesamt waren am Urselbach 42 Müh- von alten Dokumenten und Fotos wird die Geschichte der Mühlen an- len in Betrieb. Für den Oberlauf des Urselbaches gibt es eine schaulich.

XXXXXXXXXXXX Foto: xxxxxx STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | STEFAN ZIEGLER, NIEDERURSEL 37

STEFAN ZIEGLER

Stefan Ziegler, geboren 1966 in Frank- furt am Main, aufgewachsen im Stadtteil Rödelheim. Geschieden, zwei Töchter, drei Enkel.

Gelernter Elektroinstallateur, Weiter- bildung zum staatlich geprüften Elektro techniker, Technischer Leiter der Titus-Thermen, Mitarbeiter für Arbeits- sicherheit im Palmengarten.

Bisherige ehrenamtliche Tätigkeiten: Aktives Mitglied der Freiwilligen Feuer- wehr Frankfurt/Main-Rödelheim, dortiger Jugendwart, Öffentlichkeitsar- Die Obermühle in Niederursel beiter der Stadtjugendfeuerwehr Frank- Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7A1998/23985 furt, stellvertretender Stadtjugendwart und Stadtjugendwart, Fachbereichsleiter Jugendpolitik der Hessischen Jugend- feuerwehr. Jugendschöffe des Land- »DIE UFER DES URSELBACHES WAREN gerichtes Frankfurt, Delegierter des EINE WIEGE DER INDUSTRIALISIERUNG.« Frankfurt Jugendringes, Beisitzer des Hessischen Jugendringes, stellvertre- tender Vorsitzender der SPD Ortsgruppe Niederursel. Dazu pfl egt er die Hobbys Da sich im Stadtteil auch noch ein weiteres Projekt mit der Mühlen-The- Imkern und Jagen. matik beschäftigt, ist diese Dokumentation eine sinnvolle Ergänzung zur Wiederinstallation eines Mühlrades am Urselbach. Auch könnte die Dokumentation später für eine Ausstellung zur Mühlengeschichte nutzen, welche dann am Mühlenwanderweg gezeigt werden könnte. Führungen für Interessierte und auch für Schulen und Kindergärten sind eine logische Weiterentwicklung eines solchen Projektes.

Unterstützung für das Geschichtsprojekt kommt vom Bürgerverein Niederursel, der im Stadtteil auch als Vereinsring tätig ist. Die Wieder- installation des Mühlrades wurde über den Ortsbeirat interfraktionell angeregt und stößt bei vielen Bürgern auf große Zustimmung.

links: Grafi k aus dem Flyer Mühlenwanderweg © Institut für Stadtgeschichte Frankfurt 03

STADTENTWICKLUNG Von der Industriebrache zum Wohngebiet Ein langer Weg von 1968 bis 2018 03

STADTENTWICKLUNG 40 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MICHAEL BLOECK, RÖDELHEIM

MICHAEL BLOECK, RÖDELHEIM

Rödelheim – vom Arbeiterviertel und Industriestandort zum Quartier für Künstler, Kreativwirtschaft und Dienstleistungen

Viele kennen Rödelheim nur vom Rödelheim Hartreim Projekt, „Ich bin dann zum Pfarrer, hab’ gefragt, und der hat es mir mit dem Moses Pelham in den 1980er-Jahren dem deutschen vermietet.“ So kam in den 1980er-Jahren der Künstler Theo Hip-Hop zum Durchbruch verhalf. Andere kennen das Petri- Gehrig zu seinem Atelier im Wartburghaus, einem alten Pfad- haus im Brentanopark, die Dichterin Bettina von Arnim oder finderhaus. Künstlerinnen und Künstler arbeiteten zu Hause Clemens Brentano. Einigen sagen die Namen der Firmen Teves, oder in kleinen, privat angemieteten Gewerberäumen. Ende der heute Continental, Bosch, Poly-clip oder Possmann etwas. 1980er-Jahre änderte sich die Situation. Viele Industriestand- orte mussten schließen. Fabriken, wie beispielsweise die Adler- All diese scheinbaren Widersprüche und der Kontakt zu vielen werke im Gallus, wurden umgebaut in Büroräume und Lofts. Rödelheimer Künstlern, Künstlerinnen und Kreativen waren der Ähnliches geschah auch in Rödelheim. Die ehemalige Torpedo- Anlass für mich, den Wandel der letzten Jahrzehnte zu erfor- Fahrradfabrik in der Alexanderstraße wurde (bis 2011) Sitz der schen. Werbeagentur Leo Burnett. Radio FFH, Filmschaffende und Studios folgten, Leo Pinkertons KunstKabinett öffnete.

Nach der Schließung und dem Verkauf der Schuhmaschinen- fabrik in der Westerbachstraße 47 entstanden dort Loft-Büros für Werbeagenturen. Dort waren auch das legendäre Hazel- wood Studio, ein Independent-Label, und die Ateliers 3. Etage. Vera Bourgeois gründete die Ateliers w 47. Später wurde sie Kunstprofessorin in Braunschweig. Auch die Malerin Kerstin Lichtblau hatte dort ihr erstes Atelier.

Besonders erforscht wurde die Werkdesign- und Künstler- gemeinschaft Fritz deutschlanD, die auf dem Gelände das ca. 1.000 Quadratmeter große Kesselhaus anmietete. Die Idee der Mitglieder war, Kunst, Kultur, Design und Handwerk gemein- sam außerhalb von Institutionen zu etablieren – und auch davon zu leben. 1988 gegründet, kamen sie 1995 nach Rödelheim und wandelten ihre Organisationsform von der GbR und GmbH hin zu ihrem jetzigen Status als Verein. Die Künstler statteten bei- spielsweise die Agentur Bildwerk mit Schneideräumen, Büros, Toiletten etc. komplett mit ihren Designideen aus. Aufträge in ganz Deutschland folgten. Partnerschaftlich erledigten Küns tler,

Seitentrakt der Schuhmaschinenfabrik Westerbachstraße Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MICHAEL BLOECK, RÖDELHEIM 41

MICHAEL BLOECK

Der bildende Künstler und Dichter ist 1961 in Frankfurt geboren und lebt seit über 30 Jahren in Rödelheim. Lange Jah- re konnte er sich der Kunst und Literatur nur nebenberufl ich widmen und war als Modellschlosser, Krankenpfl eger, Pfl egedienstleiter, Sozial- und Gesund- Kesselhaus der Schuhmaschinenfabrik (Detail) heitswirt tätig. Foto: privat

2006 erhielt er das Moldau-Stipendium Designer und Handwerker diese Aufträge. In den Räumen gibt es Holz- des Landes Hessen in Český Krumlov, werkstätten, eine Schlosserei, eine Steinbildhauerwerkstatt, weitere Tschechien. Ateliers, Büros und eine Bar. Nebenher wurden unzählige Veranstal- tungen durchgeführt, unter anderem auch 18 Jahre lang an Heiligabend Er hatte vielfältige Ausstellungen und gefeiert. Bekannte DJs, Bands und Künstler wie Jim Avignon waren zu Lesungen im Rhein-Main-Gebiet und Gast. Ausstellungen, Modeschauen, Wandern mit Fritz: die Aktivitäten ist Vorstandsmitglied des Verbandes der lassen sich kaum aufzählen. Nach Auftragsrückgängen fungiert der Schriftstellerinnen und Schriftsteller Verein als Förderer von Kunst, Kultur und Design. Hessen.

Seit 2014 betreibt er sein Atelier und das Be Poet Offspace in der Langenhainer »DIE GESCHICHTE ÜBERHOLT MICH.« Straße/Hellerhofsiedlung im Gallus und lebt von seiner Kunst.

Seine interdisziplinäre Herangehens- weise und sein Interesse an Geschichte und Philosophie veranlassten ihn zu der Im Laufe meiner Recherchen erhielt Fritz deutschlanD die Kündigung. Bewerbung als Stadtteil-Historiker. Ganze Teile der Fabrik sollen abgerissen und durch Eigentumswoh- nungen ersetzt werden. Es war erschreckend festzustellen, dass dieses Gebäude offenbar nicht unter Denkmalschutz stand. Doch wo sollen Handwerker und Künstler bezahlbare Werkstätten in der Stadt fi nden? Wer ersetzt die kulturelle Arbeit in Rödelheim, und wie sieht die Zukunft von Handwerk und Kultur aus?

Ich komme zu dem Schluss, dass bürgerliches Engagement und Betei- ligung für den Denkmalschutz und die Stadtentwicklung unerlässlich sind, damit uns die Gegenwart nicht überrollt. 42 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | WOLFGANG LAMPE, NIED

WOLFGANG LAMPE, NIED

Von der Industriebrache zum Wohngebiet 1968 – 2018: ein langer Weg

Als das Dampflokausbesserungswerk (AW) der Deutschen plant und umgesetzt war. Für den größeren Teil dauerte es Bundesbahn zum 31.12.1968 geschlossen wurde, waren nicht sogar noch erheblich länger, bis der erste Spatenstich erfolgte nur rund 400 Nieder ohne wohnortnahen Arbeitsplatz, sondern und in Nied ein neuer Wohnbezirk entstand. weitere knapp 1000 Personen aus der näheren und weiteren Umgebung. Besonders schlimm war, dass den Mitarbeitern die Es gibt unterschiedliche Ansichten, warum es so lange dauerte, vertraute Grundlage in ihrem Arbeitsleben genommen wurde. bis eine Entscheidung über die Nutzung des Geländes gefallen Was zuvor noch wichtig und wertvoll war und als Arbeit mit ho- war. Die Deutsche Bahn hatte das Gelände kurz nach der Schlie- her Verantwortung galt, war auf einmal nicht mehr nötig. ßung des Werks für etwa acht Millionen DM an einen Interes- senten verkauft. Die weitere Nutzung, ob in industrieller Form Für den Frankfurter Stadtteil Nied bedeutete die Schließung oder zu Wohnzwecken, war unklar. Es kam immer wieder zum zwar den schmerzlichen Wegfall von Arbeitsplätzen und sin- kende Umsätze im Einzelhandel. Andererseits gab es jetzt ein rund 15 Hektar großes Areal, das förmlich einlud zur städtebau- »WAS WIR HEUTE ERLEBEN, IST GE- lichen Weiterentwicklung des Ortes. SCHICHTE VON MORGEN. HALTEN WIR ES ALSO FEST, FÜR UNS UND UNSERE Doch niemand ahnte, dass es fast zwei Jahrzehnte dauern sollte, bis die erste als nachhaltig und längerfristig anzusehende KINDER!« Nutzung im Westen des ehemaligen Werkgeländes fertig ge­

Besitzerwechsel, und die Vermarktungsvorstellungen waren teils aus wirtschaftlichen Gründen, teils wegen städtebaulicher Vorgaben nicht unter einen Hut zu bringen.

Wir beschreiben in unserer Ausstellung im Heimatmuseum in Nied die Ausgangslage von 1968 und präsentieren die Zwischen­nutzer auf dem Gelände des geschlossenen Werks: Flohmarkt, Feldbahner, Feuerwehr oder Hausbesetzer. Wir be- schreiben den mühsamen Weg zur Neugestaltung eines rund 15 Hektar großen Geländes am Rande des Stadtteils Nied.

Erst Mitte der 1980er-Jahre wurden die ersten neuen Gebäude errichtet, zunächst eine Auslandsvermittlung der Deutschen Post mitsamt Postwohnungen. Nach erheblichen Querelen und zähen Verhandlungen zwischen der Stadt und einem Projekt- entwickler, besonders wegen der Altlastenentsorgung, wurde STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | WOLFGANG LAMPE, NIED 43

Von der Industriebrache zum Wohngebiet Ein langer Weg von 1968 bis 2018

50 Jahre im Spannungsfeld zwischen Brachland WOLFGANG LAMPE Ruinenlandschaft Häuserbesetzung Als Achtjähriger kam Wolfgang Lampe einst Spekulationsobjekt 1957 aus Berlin nach Frankfurt und ist heute noch froh, dass sich sein Vater für den Wohnort Nied entschieden hatte. Nach dem Abitur am Leibniz-Gym- nasium und Wehrersatzdienst beim jetzt Wohngebiet Bundesgrenzschutz machte er ab 1970 eine Ausbildung bei der Bundesbahn. Ausstellungsplakat Obwohl Eisenbahner in dritter Gene- Foto: privat ration, hatte er keine Ahnung, was ihn wirklich erwartete. In der Rückschau war diese Berufswahl ein Glücksfall. Ob am Frankfurter Hauptbahnhof auf dem die weitere Bebauung erst 1988/89 in Angriff genommen. Bauträger Stellwerk, am Bahnsteig oder im Be- war eine Firma aus Idstein, die auf schlüsselfertiges Bauen von Woh- triebsbüro, er fühlte sich wohl in diesem nungen in Reihen- und Mehrfamilienhäusern spezialisiert ist. Aus den turbulenten Gewühl. anvisierten zwei bis drei Jahren Bauzeit wurden fast dreißig. Diese Neugestaltung des Geländes bedeutete aber rund 1200 Wohneinheiten 1982 wurde er Chef des Fahrplanbüros mehr und eine gänzlich andere Bewertung der bis dato vorhandenen am Frankfurter Hauptbahnhof. Dort er- Infrastruktur mit Verkehrsanbindungen, Kinder betreuungsplätzen und lebte er die arbeitsreichste Zeit in seinem Schulen. Berufsleben, aber auch die anspruchs- vollste, kreativste und die mit dem wohl Die Bebauung des Geländes ist gänzlich anders als die der alten, unter größten Nutzen für die Kunden und Denkmalschutz stehenden Eisenbahnersiedlung auf der anderen Seite Verwaltung. Bis zu seiner Pensionierung der Oeserstraße. Trotzdem gibt es immer mehr zustimmende Meinun- 2000 hat er unter anderem den inte- gen. Denn auch bei den vielen direkten Nachbarn ist die Suche nach gralen Taktverkehr in Hessen mitgestal- bezahlbarem Wohnraum noch heute in schmerzlicher Erinnerung. tet. Auch danach ließ ihn die Eisenbahn nicht los: Er betreute beispielsweise in Bei der Projektarbeit war ich erschrocken, wie wenig ich als direkter einer Gruppe den historischen Zug ET Nachbar der Geschehnisse in den vielen unterschiedlichen Phasen mit- 65 für und bei Sonderfahrten. bekommen hatte. Als Zeitzeuge war ich in keiner Weise brauchbar. Des- halb fi nde ich die Ausstellung über die Entwicklung auf dem Gelände Der Nieder Geschichtsverein interes- des vor 50 Jahren stillgelegten Ausbesserungswerks besonders wich- sierte ihn verstärkt ab 2005 als Mitglied tig. Bei der Befragung von Nachbarn begegneten mir nämlich viele, die im Vorstand, dessen Vorsitzender er auch nur wenige oder gar keine Erinnerungen hatten. Die Ausstellung 2008 wurde. Und Nied hat mit der soll die Leute mitnehmen in die Zukunft und ihnen zeigen, dass das ersten Eisenbahnlinie im Rhein-Main- Ende einer gelebten Situation durchaus einen Neubeginn mit positiven Gebiet, der zweitältesten Steinbogen- Veränderungen bringen kann. eisenbahnbrücke der Republik und dem ehemaligen Dampfl okausbesserungs- werk Bahninteressierten einiges zu bieten. links: Luftaufnahme von Nordwesten des Reichsbahnausbesserungswerkes Nied Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7A2002/515 44 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. RAINER LINNEMANN, SACHSENHAUSEN

DR. RAINER LINNEMANN, SACHSENHAUSEN

Das Deutschherrnviertel – Geschichte eines jungen Wohnviertels

Erst 2016 wurde mit einem Lückenschluss an der Gerbermühl- Der Schlachthof wurde im 20. Jahrhundert mehrfach saniert. straße das Deutschherrnviertel komplett. Damit ist eines der Schließlich wurde er zur Hälfte abgerissen und als „Kompakt- jüngsten Wohnviertel Frankfurts fertig. Es konnte entstehen, schlachthof“ 1988 wiedereröffnet. Es sollte ihn nur noch knapp nachdem der Schlachthof abgerissen worden war. Vor dessen fünf Jahre geben. Bau gab es hier vor allem Wiesen, die zum Bleichen von Wäsche genutzt wurden. Bis zu dem endgültigen Aus für den Schlachthof (Ende 1993) gab es viele Diskussionen, eine Unterschriftensammlung sowie Das Deutschherrnviertel liegt in Sachsenhausen zwischen dem ein Bürgerbegehren, das vor dem Hessischen Verwaltungsge- Main, der Gerbermühlstraße, einer Eisenbahnlinie und dem richt scheiterte. Das Einzige, was vom Schlachthof überblieb, Wasserweg. Insgesamt ist das Gebiet über 12 Hektar groß. Hier ist ein Gedenkstein der Fleischerinnung für die Opfer der Welt- wurde 1885 ein Schlacht- und Viehhof gebaut. Er hatte einen kriege, der heute auf dem Südfriedhof steht. Sonst wurde alles guten Bahnanschluss, heißes Wasser direkt aus der Leitung und abgerissen, und der Hof wurde komplett nach Tatarstan (süd- Kühlräume. Für das 19. Jahrhundert war das sehr modern und westlich des Urals) verkauft. So bekam man 2,3 Mio. DM für rationell. einen Schlachthof, in den man noch kurz vorher fast 50 Mio. DM gesteckt hatte.

Namensgeber des jetzigen Wohnviertels ist der Deutsche Orden. Schon zu Schlachthof- zeiten hieß die Straße, die heute die längste des Viertels ist, nach den Deutschherrn. Der Platz des Viertels ist mit Walther von Cron- berg nach einem Hochmeister des Deut- schen Ordens benannt. Diese Namensge- bung überrascht. Denn auch wenn sich der Deutsche Orden heute vor allem karitativen Aufgaben widmet, hat er eine blutige und militaristische Geschichte. Am bekanntesten sind sein Einsatz in einem Kreuzzug sowie die Durchsetzung eines eigenen Staats in Ostpreußen (1230 – 1561, wesentliche Teile

Ansichten vom Alten Schlachthof Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7A1998/16007 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. RAINER LINNEMANN, SACHSENHAUSEN 45

DR. RAINER LINNEMANN

Dr. Rainer Linnemann wurde 1967 in Dortmund geboren. Er studierte Politikwissenschaften, Publizistik und Soziologie an den Universitäten von Münster und München. Nach dem Ansichten vom Alten Schlachthof Studium arbeitete er zunächst in Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7A1998/16007 Düsseldorf bei einer Unternehmens- beratung im Public Sector. Als er nach des heutigen Estland und Lettland bildeten den Deutschordensstaat). gut vier Jahren „Seniorberater“ werden Vieles, was „Missionierung“ genannt wurde, war in Wirklichkeit ein sollte, schmiss er seinen Job hin und blutiger Eroberungsfeldzug. machte ein Volontariat. Schließlich arbeitete Linnemann 15 Jahre lang als Für die Kreuzzüge gab es eine Begeisterungswelle, die viele Kreuzritter Lektor bei einem Verlag in Frankfurt. hervorbrachte: Freiwillige, die in den Krieg zogen, um die heiligen Stät- ten für die Christenheit militärisch zu erobern. Die Freiwilligen wurden Seit gut zehn Jahren wohnt er im mit der Aufnahme in den Adelsstand durch den Schlag zum Ritter ge- Deutschherrnviertel. Hier sind sein lockt. An die Ritter erinnern noch heute zahlreiche Straßennamen in Fitness-Center, seine Hausärztin, seine Sachsenhausen. Reinigung, sein Supermarkt und sein Friseur. Wie stark das Mainufer durch die Verlagerung des Autoverkehrs an Attraktivität gewann, kann er an jedem »ERST BLEICHWIESE, DANN SCHLACHTHOF, Wochenende beobachten, wenn viele HEUTE PLATZ ZUM WOHNEN FÜR 1.500 SOWIE Menschen Uferweg und Rasenfl ächen ZUM ARBEITEN FÜR 1.200 MENSCHEN« bevölkern. Sein Hobby „Wahlsozio- logie“ nutzte er für Beiträge auf Inter- netseiten über das Wahlverhalten der Einwohnerinnen und Einwohner des Erst Bleichwiese, dann Schlachthof, heute Platz zum Wohnen für 1.500 Viertels. sowie zum Arbeiten für 1.200 Menschen – über die Geschichte des Viertels, seine wichtigsten Bauten und die Namensgebung der Straßen und des Platzes informiert die Website www.Deutschherrnviertel.org. Sie wurde im Rahmen dieses Projektes erstellt. Im ersten Monat wur- den 350 Aufrufe gezählt.

Für die Erstellung der Seite recherchierte Rainer Linnemann nicht nur in der Literatur. Er sprach auch mit vielen Zeitzeugen. So etwa mit dem 97-jährigen Fritz Dinkel, der 1936 als Auszubildender in den Schlacht- hof eintrat und 1984 als dessen Leiter in den Ruhestand ging. Nebenbei erzählte Dinkel die Geschichte von Zoodirektor Bernhard Grzimek, der im Schlachthof einen Bären sezierte, weil es im Zoo dafür nicht die not- wendigen Tische gab. 46 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | INGA SEGEBRECHT, WESTEND

INGA SEGEBRECHT, WESTEND

Die Aktionsgemeinschaft Westend – eine Bürgerinitiative

Übersicht über die Ergebnisse eine Reaktion auf den Mangel an Bürgerbeteiligung an städti­ Bürgerinitiativen als Ausdruck von Bürgerwillen haben in schen Planungsprozessen war, in ihrer Funktion als Korrektiv diesen Tagen wieder eine vermehrt wichtige gesellschafts- für Bauvorhaben im Westend nach wie vor unverzichtbar. Die politische Rolle. Die Initiativen kämpfen in ihren Stadtteilen Forderung der AGW nach bezahlbarem Wohnraum statt hoch- für bezahlbaren Wohnraum und gegen eine Gentrifizierung. preisiger Eigentumswohnungen und Luxushotels ist heute so Die zunehmende Wohnraumverknappung durch versäumte aktuell wie vor 50 Jahren. Bautätigkeit und der Verkauf städtischen und kommunalen Eigentums haben zu einer Unterversorgung mit bezahlbarem Wie wurden die Ergebnisse ermittelt? Wohnraum geführt. In dieser Situation ist die Bürgerinitiative Die Lektüre und Auswertung von Dokumenten des Instituts Aktionsgemeinschaft Westend (AGW), deren Gründung 1969 für Stadtgeschichte und die Sichtung von alten, im Privatbesitz

Teil einer Bilddemonstration aus dem Westend aus den 1980er-Jahren Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | INGA SEGEBRECHT, WESTEND 47

INGA SEGEBRECHT

Inga Segebrecht zog 1968 mit ihrer Familie ins Frankfurter Westend. Seit 2014 ist sie Mitglied der Aktionsgemein- schaft Westend. Als geborene Lübeckerin, in deren Heimatstadt Denkmalschutz Palais Livingston, der Treffpunkt der AGW Priorität hat, fand sie keine Erklärung für Foto: privat die allerorten stattfi ndende Zerstörung von intakten Gebäuden und Wohnraum. Die Frankfurter Zeitungen lieferten zwar Informationen, aber das Ausmaß der Spekulation mit seinen politischen Impli- »WENN SIE IN ORDNUNG IST, WIRD DIE STADT kationen wurde erst durch einen späteren ZUM LIEBESOBJEKT IHRER BÜRGER.« Eintritt in die SPD klarer.

Alexander Mitscherlich, aus: Die Vorbereitungen auf ein externes »Die Unwirtlichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden« Abitur am Seminar für Politik mit dem Schwerpunkt auf Familiensoziologie sensibilisierten sie für die Themen, die das Westend erschütterten: Entmietung, an- befi ndlichen Stadtteilzeitungen sowie die Lektüre sachbezogener Lite- schließende Belegung mit Gastarbeitern, ratur und Gespräche mit Zeitzeugen fl ossen in den vorliegenden Text das Unbewohnbarmachen der Gebäude über die AGW ein. und der folgende Abriss mit oft jahrelan- gem Brachliegen der Baufl ächen. Persönliche Erfahrungen Beim Verfassen meines Textes und bei der Lektüre der Archivalien be- Inga Segebrecht nahm, wann immer es wegten mich handschriftliche Notizen und Namen von Menschen, die Familie, Studium oder Teilzeitarbeits- ich noch kennenlernen durfte und die sich mit leidenschaftlichem Ein- plätze erlaubten, teil an Aktionen für den satz in der Aktionsgemeinschaft Westend um den Erhalt des Stadtteils strukturellen Erhalt des Westends und verdient gemacht haben. Vergangenheit entstand neu. gegen Wohnraumzerstörung im Quartier.

In der Tradition der vor 50 Jahren gegründeten Aktionsgemeinschaft Nach Jahren relativer Ruhe ist heute Westend ist die AGW im kritischen Dialog und Kontakt mit den Bau- wieder verstärktes Engagement für den und Planungsbehörden der Stadt. Um den Bürgern und Neubürgern Erhalt der einstmals durch Proteste der Stadt eine Bindung an ihre Stadt zu ermöglichen, bleibt nach wie erwirkten Bebauungspläne und Schutzsat- vor viel zu tun. zungen erforderlich, denn das Frankfurter Westend ist mit seiner Citynähe und den knappen Grundstücksressourcen erneut in den Fokus von Investoren geraten. Diesen ehemals heiß umkämpften und versehr- ten Stadtteil in seiner Einzigartigkeit zu erhalten ist und bleibt Aufgabe der seit 50 Jahren bestehenden Aktionsgemeinschaft Westend. 48 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. ANDREAS J. WERNER, BORNHEIM

DR. ANDREAS J. WERNER, BORNHEIM

Vom Kasernen-Areal zur Reihenhaussiedlung: Rund um die Friedberger Warte vom Mittelalter bis heute

2006 erwarb ich in New Atterberry, dem gerade entstehenden »DAS GESAMTE AREAL IST EIN SEHR neuen Viertel an der Friedberger Warte, ein kleines Reihen- SCHÖNES BEISPIEL DAFÜR, WIE SICH EIN haus. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich über die Friedberger STADTTEIL IMMER NEU ERFINDET. DIE Warte nur sehr geringe Kenntnisse. Da dies vermutlich für die meisten Bewohner des neuen Viertels rund um die Warte zu- FRIEDBERGER WARTE SELBST STEHT treffen wird, wollte ich mehr über die Geschichte der Warte DAGEGEN SEIT DEM MITTELALTER FÜR und die Entstehung der neuen Wohnsiedlungen in Erfahrung DIE KONTINUITÄT INMITTEN ALLER bringen. Im Laufe der Recherchen hat sich das Thema erheb- UMWÄLZUNGEN.« lich ausgeweitet. Es stellte sich heraus, dass nicht nur die Fried- berger Warte für die Geschichte Frankfurts hochbedeutsam ist, sondern ihre ganze Umgebung durch die Jahrhunderte eine sehr große Rolle gespielt hat. Zudem ist für viele Frankfurter aus dem Blickfeld geraten, dass die Kasernen um die Friedber- ger Warte jahrzehntelang das Ortsbild bestimmten. Aus der steht dagegen seit dem Mittelalter für die Kontinuität inmitten zunächst geplanten Broschüre ist daher ein Buch von ca. 150 aller Umwälzungen. Um ihre Bedeutung zu würdigen, beginnt Seiten Umfang geworden, das zahlreiche Abbildungen enthält. die Untersuchung mit der historischen Entwicklung der Warte, ihrer Umgebung und ihrem Zusammenhang mit der Geschichte Das gesamte Areal ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie sich Frankfurts seit dem 14. Jahrhundert. In den drei folgenden Ka- ein Stadtteil immer neu erfindet. Die Friedberger Warte selbst piteln wird die Historie des Gebiets vom Dritten Reich bis zum

Die Friedberger Warte 1775 Die Friedberger Warte 1940 mit der Kurhessenkaserne des 2. Bataillons Foto: Hammeran/ Zehender, „Ansichten von Frankfurt am Main im achtzehnten des 81. Infanterie-Regiments der Deutschen Wehrmacht; im Hintergrund Jahrhundert“, Frankfurt am Main 1903/04 die Pferdeställe Foto: John Provan STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. ANDREAS J. WERNER, BORNHEIM 49

DR. ANDREAS J. WERNER

Andreas Werner wurde am 27. Juni 1936 in Kosma (heute Altenburg) in Thüringen geboren.

Seit dem Jahr 1942 ist er aufgewachsen und zur Schule gegangen in - Zuffenhausen, in Korntal und in Stuttgart. Dort legte er im Jahr 1957 das Abitur am Luftaufnahme der Viertel New Betts, New Atterberry und Wasserpark, ca. 2015 Eberhard-Ludwig-Gymnasium ab. 1957 Foto: Sahle GmbH nahm er das Studium der Wirtschafts- wissenschaften und Politischen Wissen- schaften in Stuttgart, Tübingen, München Abzug der US Army 1990 behandelt. Abschließend wird die aktuelle und in Berlin auf, das er 1964 mit einer architektonische Gestaltung der Viertel New Atterberry, New Betts, Promotion an der Universität Erlangen- Wasserpark und Vivente beschrieben, und einige Einrichtungen und Nürnberg abschloss. Bewohner kommen zu Wort. Sein Referendariat machte er an der Für die Recherchen wurden die Bibliotheken des Historischen Muse- Universitätsbibliothek (im Aufbau) ums und des Deutschen Architekturmuseums, das Institut für Stadtge- Bremen, dann auch die Prüfung zum schichte, das Stadtplanungsamt und das Bundesarchiv herangezogen wissenschaftlichen Bibliothekar an der sowie private Zeitzeugen. Erschwerend war, dass die Dokumentenlage Bibliotheksschule Hamburg. Er war über die Zeit der Wehrmacht und die amerikanische Besatzungszeit wissenschaftlicher Bibliothekar an der sehr lückenhaft ist. Sehr zeitaufwendig in der Vor- und Nachbereitung Universitätsbibliothek Bremen und wurde und Durchführung waren Gesprächstermine mit Firmen, Einrichtungen dort auch Abteilungsleiter für Wirtschaft und Privatpersonen. und Politik.

1970 wechselte Dr. Werner an die Univer- sitätsbibliothek Frankfurt am Main und war ebenda Direktor der Betriebsabtei- lung (bis 2001). Ab 1975 sind zahlreiche Publikationen aus seiner Feder erschienen. Er war als Mitarbeiter bei der Frankfurter Buchmesse, u. a. als Kurator des Latein- amerika-Schwerpunkts 1976, tätig, und bis 2006 hatte er die Leitung des Interna- tionalen Zentrums für Bibliothekare inne.

Ansicht der Friedberger Warte von Norden im Winter 2018 Foto: Margot Wiesner 04

NATIONALSOZIALISMUS UND ZWEITER WELTKRIEG 04

NATIONALSOZIALISMUS UND ZWEITER WELTKRIEG 52 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | STEPHAN DÖRING, PREUNGESHEIM

STEPHAN DÖRING, PREUNGESHEIM

Die Zeit des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg in Frankfurt-Preungesheim

Preungesheim war in den 1930er-Jahren sehr stark von dörf- Die Ablösung des eigentlich sehr beliebten Bezirksvorstehers lichen Strukturen geprägt. Ein großer Bevölkerungsanteil war Heinrich Steuernagels 1933 durch den NSDAP-Ortsgruppenlei- noch in der Landwirtschaft oder im Kleinhandwerk beschäf- ter Wilhelm Reitner stieß dann auch auf keine größeren Pro- tigt. Kirche und Vereinsleben bestimmten das gesellschaftliche teste. Leben. In dieses weitgehend intakte Dorfleben brachen die Nationalsozialisten 1933 keineswegs plötzlich ein. Um zu ver- Unmut lösten die bald eintretenden Verbote der traditionellen stehen, warum deren Ideologie eine breite Anhängerschaft in Vereine als Träger und Organisatoren des Freizeitlebens und Preungesheim fand, muss man bis ins 19. Jahrhundert zurück- Einschränkungen im kirchlichen Leben aus. NSDAP-Organisa- blicken und die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg betrachten. Po- tionen richteten nun die traditionellen Feste aus. litisch war die Bevölkerung eng auf das deutsche Kaiserhaus bezogen, der Preungesheimer Pfarrer Fritsch propagierte nach Schließlich folgte der Zweite Weltkrieg nicht nur als überregio­ dem verlorenen Ersten Weltkrieg die „Dolchstoßlegende“, nach nale Katastrophe, sondern auch mit einschneidenden Folgen der die deutschen Soldaten im Feld unbesiegt waren, aber von für das Leben in Preungesheim. der Heimat verraten wurden. Sein Nachfolger, Pfarrer Schäfer (Pfarrer von 1924 bis 1936), meinte, dass „die nationalsozialis- Tod und Zerstörung erlebten die Preungesheimer sehr direkt tische Bewegung als Morgenröte nach langer Nacht mit vielen durch den Tod von 242 Angehörigen und Freunden, die als erlittenen nationalen Demütigungen empfunden“ wurde. Soldaten getötet wurden. 31 Preungesheimer kamen zu Hause durch Bombenangriffe ums Leben. 1407-mal mussten die Dorf­ bewohner wegen eines Fliegeralarms versuchen, Schutz zu finden. Angriffe und Zerstörungen hat ein Preungesheimer

Erntedankfest in Preungesheim, 1934 Die SA-Sturmgruppe Preungesheim im Jahr 1934 Foto: Pfarrarchiv Preungesheim, unbekannter Fotograf Foto: Pfarrarchiv Preungesheim, unbekannter Fotograf STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | STEPHAN DÖRING, PREUNGESHEIM 53

STEPHAN DÖRING

Stephan Döring beschäftigte sich bereits in Der historische Ortskern von Preungesheim. Blick von der Weinstraße zur seiner Schulzeit mit regionalhistorischen Kirche nach dem alliierten Luftangriff vom 14.3.1944. Die historischen Themen und veröffentlichte Beiträge Gebäude um die Kirche sind weitgehend zerstört. hierzu. Dieses Interesse blieb während des Foto: Pfarrarchiv Preungesheim, unbekannter Fotograf Studiums der Theologie, Kunstgeschich- te, Archäologie und Museumspädagogik Bürger exakt dokumentiert. Dabei beschrieb er akribisch jeden Alarm erhalten. Auch wenn sein ausgeübter Beruf und Angriff, notierte auf die Minute Verlauf und Auswirkungen. Ein an- als Restaurator und Gutachter ihn in eine derer Preungesheimer Einwohner fotografi erte sämtliche Schäden an andere Richtung führte, blieben immer die Gebäuden. Diese Fotosammlung bildet eine eindrucksvolle Dokumen- Beschäftigung mit historischen Themen tation der Zerstörung. und die spannende Arbeit in Archiven. Mit Frankfurt-Preungesheim ist Stephan Eine Überlegung, das Thema Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialis- Döring seit 20 Jahren eng verbunden. mus zu wählen, war die Hoffnung, noch mit Zeitzeugen sprechen zu Zunächst untersuchte und restaurierte können und deren Erfahrungen und Erlebnisse mit auszuwerten. Nach er viele Jahre die historisch bedeutsame mehr als 70 Jahren ist dies zwar noch möglich, man befragt jedoch meist Preungesheimer Kirche. Die Wandge- Personen, die zur damaligen Zeit noch Kinder oder Jugendliche waren. mälde aus dem 13. Jahrhundert haben überregionale Bedeutung und wurden von ihm konserviert. Sozusagen beiläufi g entwickelte sich die Beschäftigung mit der »DIE FOTOSAMMLUNG EINES PREUNGES- Preungesheimer Ortsgeschichte. Heimat- HEIMER BÜRGERS BILDET EINE EINDRUCKS- forscher haben früher kaum historische Quellen für ihre Darstellungen genutzt, VOLLE DOKUMENTATION DER ZERSTÖRUNG.« aber in den staatlichen und kirchlichen Archiven fand sich eine reiche historische Überlieferung, die es nur auszuwerten galt. Eine Aufgabe, die noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird, für das 19. Man erfährt so zwar viele persönliche Gedanken und Erfahrungen Jahrhundert jedoch schon ein klares Bild aus dieser Zeit, jedoch beziehen sich diese fast ausschließlich auf per- über die Lebensverhältnisse der Preunges- sönliche Erlebnisse im Raum der Familie oder der frühen Schuljahre. heimer bietet. Wenig erfährt man über politische Vorgänge, selbst auf der Ebene des Stadtteiles. Für die Forschung und die historische Darstellung dieser Zeit ist daher die schriftliche Überlieferung in verschiedenen Archiven besonders wichtig. Hier hat man meine Arbeit bereitwillig unterstützt. Dabei erlauben die Schriftquellen ein Bild, das bis zur Möglichkeit der Charakterisierung einzelner Persönlichkeiten in Preungesheim reicht. Privatpersonen waren jedoch sehr wichtig bei der Beschaffung von Bildmaterial, zeitgenössische Fotografi en ermöglichen die Illustration der Zeitumstände in Preungesheim, sie stellen aber auch eine wich- tige Quelle dar, die zahlreiche Informationen zum Alltag und politischen Leben in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges bieten. 54 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ANDREA JANSSEN, WESTEND / HOLZHAUSENVIERTEL

ANDREA JANSSEN, WESTEND / HOLZHAUSENVIERTEL

Das große amerikanische Sperrgebiet in Frankfurt April 1945 bis Juni 1948

Frankfurt, Ende April 1945, der Krieg ist zu Ende, und Frank- an die Stadtverwaltung sowie der Schriftwechsel zwischen furt wird zum europäischen Hauptquartier der amerikanischen den amerikanischen Besatzungsbehörden und der Stadt. An- Armee. hand der vorhandenen Stadtpläne konnte ich die Ausdehnung des „großen Sperrgebietes“ erkennen (Bild rechts, Karte). Mit Das Projekt beschäftigte sich mit dem Ende des Zweiten Welt- einem Stacheldrahtzaun eingezäunt war das Gebiet von der kriegs und dem Einzug der Amerikaner in die Stadt, der Er- Straße Am Dornbusch im Norden bis zur Feldberg- und Wolfs- richtung von Sperrgebieten, insbesondere des großen Sperr- gangstraße (Bild unten rechts, Checkpoint; Bild unten links, gebietes, und den Folgen für die Bewohner. Im Fokus standen Stacheldrahtzaun) im Süden. Die östliche Begrenzung war der dabei insbesondere die Menschen, die ihre Wohnungen für Oeder Weg, die westliche Zaungrenze verlief über die Bocken- amerikanische Militärangehörige räumen mussten. Folgende heimer Landstraße und umfasste Teile des Diplomatenviertels. Frage stand am Anfang meiner Nachforschungen: Wo genau Über die Miquelallee verlief der Zaun weiter zur Straße Am war das „große Sperrgebiet“, wie groß war das Areal, und wie Dornbusch. Insgesamt konnte ich mit Hilfe des Stadtvermes- viele Menschen waren von den Räumungen betroffen? sungsamtes eine Größe von 2,4 Quadratkilometern ermitteln.

Im Institut für Stadtgeschichte fanden sich Stadtpläne mit dem Zahlen und Fakten zum Sperrgebiet konnte ich im Institut für „großen Sperrgebiet“ sowie Unterlagen des Wohnungsamtes Stadtgeschichte sammeln; was aber fehlte, waren die Geschich- über die Zahl und Lage der geräumten Wohnungen. Ebenso ten und Erfahrungen von Betroffenen. So habe ich begonnen, fanden sich dort Briefe von betroffenen geräumten Bürgern nach Zeitzeugen zu suchen. Insgesamt habe ich 20 Personen

Das Hauptquartier (I.G.-Farben-Haus) Ein Durchgang Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7Ko/340, Fred Kochmann Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7Ko/311, Fred Kochmann STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ANDREA JANSSEN, WESTEND / HOLZHAUSENVIERTEL 55

ANDREA JANSSEN

Andrea Janssen, von Hause aus Innen- architektin, interessierte sich schon früh

Das Sperrgebiet auf einem historischen Plan für Geschichte, zuerst hauptsächlich Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S8-1/2660 für Burgen und Schlösser. Sie war lange Mitglied in der Burgenvereinigung und beschäftigte sich mit der Architektur mit- befragt, darunter einen Amerikaner, der als kleiner Junge mit seinen telalterlicher Burganlagen. Eltern in einem beschlagnahmten Haus wohnte. Mit allen Zeitzeugen sprach ich über ihre persönlichen Erlebnisse in den ersten Tagen nach Nach dem Ende des Studiums arbeitete sie Kriegsende und den Tagen der Räumung, viele Gesprächspartner einige Jahre als Architektin und plante so- konnten sich, obwohl sie damals noch Kinder oder Jugendliche waren, wohl öffentliche Gebäude als auch private sehr gut an ihre Erlebnisse erinnern. Bauvorhaben.

Es ließen sich folgende Fakten ermitteln: Das sogenannte „große Sperr- Während einer langen Familienphase gebiet“ wurde zum größten Teil am 26. April 1945, einen Monat nach begann sie, sich intensiv mit ihrer Heimat- Einmarsch der Amerikaner in Frankfurt, errichtet. stadt Frankfurt und der Geschichte der Stadt zu beschäftigen. Als Kind eines amerikanischen Vaters, der als Soldat in Deutschland stationiert war, und einer »UND PLÖTZLICH MUSSTEN WIR GANZ deutschen Mutter lag ihr besonderes SCHNELL RAUS.« Interesse auf der Zeit, in der die Amerika- ner eine große Rolle in der Stadt spielten. Schon immer hatte sie von Familienan- gehörigen gehört, dass es in Frankfurt Die Räumung folgte immer dem gleichen Muster: Die Bewohner wur- ein von den Amerikanern eingerichte- den mit einem Anschlag an der Haustür über die kurzfristige Räumung, tes Sperrgebiet gab – nur fand sie keine binnen zwei Stunden, informiert: „Und dann mussten wir ganz schnell Informationen darüber. Die Suche der raus.“ Mitnehmen durften sie nur Kleidung, Bettwaren und Kochge- Stiftung Polytechnische Gesellschaft nach schirr, alles andere musste in der Wohnung bleiben. Eine Rückkehr ins Stadtteil-Historikern gab den Ausschlag, Sperrgebiet am Tag der Räumung oder in den folgenden drei Jahren sich mit diesem Thema tiefer zu beschäfti- war strengstens verboten, auch etwaige Bitten, Dinge aus dem eigenen gen – und die Beschäftigung hält an. Besitz zu erhalten, wurden von der Besatzungsmacht in 99 Prozent aller Fälle abschlägig beschieden.

Das Sperrgebiet bestand bis zum 21. Juni 1948. Die Zäune wurden an diesem Tag abgebaut, und die Menschen konnten sich in diesem Gebiet wieder frei bewegen. Die im „großen Sperrgebiet“ beschlagnahmten Wohnungen wurden zum größten Teil erst zwischen 1952 und 1955 an ihre Besitzer zurückgegeben, nachdem Land und Bund die amerika- nischen Siedlungen, auch „housing areas“ genannt, errichtet hatten. 56 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETER METZ, STADTTEILÜBERGREIFEND

PETER METZ, STADTTEILÜBERGREIFEND

Metallspenden im Zweiten Weltkrieg und die verlorenen Denkmäler Frankfurts

„Frankfurts schlechte Denkmäler verschwinden“: So lautete am 24. April 1940 die Überschrift eines Artikels im „Frankfurter Volksblatt“. Der Artikel bilanzierte eine öffentliche Maßnahme, die auch unter Historikern weitgehend vergessen ist. Die Aktion trug den Titel: „Metallspende des deutschen Volkes“ zur Stär- kung der Rohstoffreserven der kriegswichtigen Industrie. Dies wiederum hatte seine Ursache in der Wirtschaftspolitik des NS-Staates, die seit 1936 auf eine Stärkung der Rüstungsgüter- erzeugung ausgerichtet war. Propagandistisch breit angelegt, wurden nicht nur die Bürger und die gewerbliche Wirtschaft im gesamten Reichsgebiet aufgerufen, Buntmetalle und Metall- legierungen zu spenden, auch die öffentliche Verwaltung war gefordert, Gegenstände aus Kupfer, Zinn, Bronze usw. abzulie- fern. Von Denkmälern, die Persönlichkeiten und historischen Der Schützenbrunnen vor dem Zoo-Gesellschaftshaus Ereignissen gewidmet waren, war zunächst in den offiziellen Postkarte, Privatsammlung Dienstanweisungen keine Rede.

In Frankfurt kamen zunächst drei Denkmäler in den Fokus der Neben dem Reiterstandbild auf hohem Sockel gab es noch zwei städtischen Entscheidungsträger, an deren Spitze der damalige Assistenzfiguren: Am Südende des Sockels eine sitzende Fran- Oberbürgermeister Friedrich Krebs stand. Eine Denkmäler- kofurtia und seitlich stehend ein Genius des Sieges, außerdem kommission konnte entscheiden, welche Monumente auf die zwei bronzene Relieftafeln. Standort war die Taunusanlage ge- „Spendenliste“ gesetzt wurden. In einer internen Notiz vom genüber dem Opernhaus. Den Entwurf des Denkmals lieferte 6. April 1940 wurden erstmals diese Skulpturen erwähnt: der Clemens Buscher aus Düsseldorf. Ursprünglich sollten nur die Schützenbrunnen, das Denkmal für Kaiser Wilhelm I. und das Begleitfiguren an die Metallspende abgegeben werden. Bismarck-Denkmal. In der Gallusanlage, unweit vom Schauspielhaus, befand sich Den Schützenbrunnen, errichtet 1894, krönte eine sechs Me- seit 1908 ein groß dimensioniertes Bismarck-Denkmal. Darge- ter hohe Germania-Figur, die einen Schützenbecher und die stellt war Bismarck, der ein Pferd am Zaumzeug führt, auf dem Sieger­krone in den Händen hielt. Anlass für dieses Denkmal eine Germania mit halb entfalteter Fahne sitzt. Zu Füßen des waren die Schützenfeste von 1862 und 1887 in Frankfurt. Der Pferdes auf dem Sockel lag ein getöteter Drache als Allegorie Schöpfer der Figur war Rudolf Eckhardt. Das Brunnendenk- für die Zwietracht, die durch die Reichsgründung von 1871 er- mal stand auf dem heutigen Alfred-Brehm-Platz vor dem Zoo­ folgreich überwunden wurde. Der Schöpfer des Denkmals war logischen Garten. Rudolf Siemering aus Berlin.

Das Kaiser-Wilhelm I.-Denkmal wurde am 10. Mai 1896 enthüllt. In einer zweiten Phase der Metallspendenaktion standen wei- Anlass war der seit 25 Jahren währende Frankfurter Friede tere Denkmäler zur Disposition. In einem Erlass des Reichsmi- nach der Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges. nisters des Innern vom Mai 1940 verlautete: „Im Rahmen der STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETER METZ, STADTTEILÜBERGREIFEND 57

»IN KEINER VERGLEICHBAREN DEUTSCHEN GROßSTADT WURDEN DENKMÄLER DER GRÜNDERZEIT IN VERGLEICHBARER QUALITÄT UND IN DIESEM UMFANG DER METALLSPENDE GEOPFERT WIE IN FRANKFURT AM MAIN.«

PETER METZ

Metallspende des deutschen Volkes wird geprüft, ob hierzu auch Denk- Peter Metz wurde 1947 geboren und lebt mäler der Gemeinden und Gemeindeverbände, deren Erhaltung durch seitdem in seiner Geburtsstadt Frankfurt künstlerische oder sonstige Kriterien (historisch, heimatkundlich, al- am Main. Nach dem Schulbesuch (Real- tertümlich) nicht gerechtfertigt ist, abgeliefert werden können.“ Die schule) war er zunächst im öffentlichen Melde bögen für circa 30 Frankfurter Denkmäler wurden ab Juli 1940 Dienst in der Kommunal- und hessischen auf den Instanzenweg gebracht, wobei auch der Bezirkskonservator für Landesverwaltung tätig, unter anderem als Nassau in die Entscheidungsfi ndung einbezogen wurde. Die meisten Beamter im gehobenen Dienst (Diplom- Denkmäler erfüllten die oben angeführten Bedingungen und blieben verwaltungswirt). Das Abitur machte bis heute erhalten. Trotzdem waren schon früher und danach Denkmä- er auf dem zweiten Bildungsweg und ler oder Teile davon der Metallspende geopfert worden. absolvierte anschließend ein Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie In keiner vergleichbaren deutschen Großstadt wurden Denkmäler sowie Mittlerer und Neuerer Geschichte der Gründerzeit in vergleichbarer Qualität und in diesem Umfang der an diversen Hochschulen. Zuletzt war er Metallspende geopfert wie in Frankfurt am Main, sodass sie aus dem als Angestellter beim Freien Deutschen kollektiven Gedächtnis fast ganz verschwunden sind. Die Verantwort- Hochstift (Frankfurter Goethe-Haus und lichen in Frankfurt zeichneten sich durch einen besonderen Eifer bei Goethe-Museum) tätig; seit 2013 befi ndet der Demontierung von Denkmälern dieser Epoche aus. Die Quellenlage er sich im Ruhestand. der Metallsammlungen während des Zweiten Weltkrieges ist in ein- schlägigen Nachschlagewerken und in der Fachliteratur ausreichend dokumentiert, während über die Auswirkungen auf lokaler Ebene noch Forschungsbedarf besteht, der im Ergebnis auch einen Vergleich der Maßnahmen, speziell was Denkmäler betrifft, ermöglichen könnte.

Das Bismarck-Denkmal auf einer historischen Postkarte Privatsammlung 05

JÜDISCHE GESCHICHTE 05

JÜDISCHE GESCHICHTE 60 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | CHRISTA FISCHER, HEDDERNHEIM

CHRISTA FISCHER, HEDDERNHEIM

Von der einst größten jüdischen Gemeinde Hessen-Nassaus blieben keine Spuren …

Dass es sich bei meinem Stadtteil um die Heimat der einst größ- Auch über diesen Zeitraum hinaus blieb das Thema „Jüdisches ten jüdischen Gemeinde in Hessen-Nassau handelte, erfuhr ich Leben in Heddernheim“ weiter im Gespräch, sodass ich immer in den Jahren 1989 bis 1991 anlässlich meiner Mitarbeit bei der wieder zu kleineren Vorträgen eingeladen wurde. Ausstellung des Jüdischen Museums in Frankfurt: „Die verges- senen Nachbarn“. »NICHT EIN NAME MEHR ERINNERT In den Jahren davor war ich als Mitglied des Ortsbeirates 8 in meiner Fraktion, der SPD, Mitantragsteller für ein Monument AN DIE SEIT GENERATIONEN HIER zum Gedenken an die Jüdische Gemeinde in Heddernheim so- ANSÄSSIGEN FAMILIEN.« wie eines Gedenkens an das AEL, das Arbeits- und Erziehungs- lager Heddernheim, gewesen.

Dieses Engagement war der Hintergrund, vor dem ich mich So ergab sich dann 2005 durch einen Vortrag bei der Kolping- an der Ausstellung im Jüdischen Museum beteiligte. Die fünf Gruppe Heddernheim die Anfrage nach Stolpersteinen für den eigenständigen Vorortgemeinden Frankfurts fanden sich Stadtteil. Zusammen mit Gabi Kunhenn nahm ich Kontakt zur schließlich in der Ausstellung wieder: Bockenheim, Rödelheim, Initiative Stolpersteine Frankfurt auf – und wir konnten im Früh- Höchst, Bergen-Enkheim und eben Heddernheim. jahr 2006 die ersten Steine in Heddernheim verlegen lassen.

Über Heddernheim fanden sich im Hauptstaatsarchiv in Wies- Bei den ersten verlegten Steinen konnten wir uns auf die Vorar- baden umfangreiche Unterlagen über das Gemeindeleben, den beiten der Museumsausstellung berufen, begannen dann aber Schulunterricht mit einer großen Anzahl an im Stadtteil leh- nochmals, ganz neu zu recherchieren. Diese erneute Recherche renden Religionslehrern und über die in den Jahren bis Mitte führte mich zu der Arbeit, mit der ich mich als Stadtteil-Histori- des 19. Jahrhunderts tätigen Rabbiner. kerin der Stiftung Polytechnische Gesellschaft befasse.

Die Recherche basiert auf den im Stadtteil an der Evangeli­ schen St.-Thomas-Gemeinde geführten Zivilstandsbüchern für die Zeit von 1818 bis 1873. Als ich diese für die Stolper- steine nochmals durcharbeitete, wurde mir bewusst, dass an die seit Generationen hier ansässigen Familien – die nicht nur die Jüdische Gemeinde gebildet hatten, sondern ebenso den Stadtteil bereicherten – nichts mehr erinnert. Kein Name, kei- ne Geschichten, keine genauen Wohnorte gab es, die auf ein generationenlanges Zusammenleben einer jüdischen Gemein- de in Heddernheim hinwiesen.

Alt Heddernheim 37 Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | CHRISTA FISCHER, HEDDERNHEIM 61

CHRISTA FISCHER

Christa Fischer, geboren 1949, lebt seit 1968 im Stadtteil Heddernheim. Politisch aktiv ist sie seit ihrer Jugend, vor allem was die Aufarbeitung des Nationalsozialismus Postkarte Heddernheim, die Synagoge ist auf der Stadtansicht oben links zu sehen. und das Thema der Vernichtung der euro- päischen Juden betrifft. Ausnahme: die Stolpersteine, die aber nur an die Menschen erinnern, die bis in die NS-Zeit hinein im Stadtteil lebten und dann von hier aus Zeitweise war sie Mitglied des Ortsbei- über Frankfurt deportiert und ermordet wurden. An die Familien, die rates 8 und vor allem der Friedensinitia- mindestens seit dem 18. Jahrhundert hier nachweisbar sind, an sie er- tive, seit den 1990er-Jahren ist sie innert nichts mehr. Auch wenn die meisten dieser Familien Ende des Mitglied des Projektes „Jüdisches Leben 19. Jahrhunderts nach Frankfurt verzogen, sind ihre Ursprünge doch in Frankfurt“ und seit 2005 Mitglied der in Heddernheim. Stolperstein-Initiative Frankfurt.

Um diese Familien, die Namen, die Geschichten wieder in den Stadtteil Seit Ende der 1980er-Jahre recherchiert zurückzuholen, sie wieder Teil der Geschichte des Stadtteils werden zu sie zum Thema des Jüdischen Lebens in lassen, recherchiere ich ihre Biografi en. Vieles konnte ich in Erfahrung Heddernheim, was auch zur Mitarbeit im bringen, sodass zum gegenwärtigen Zeitpunkt von etwa 80 Prozent der Projekt „Stadtteil-Historiker“ der Stiftung Familien bereits Biografi en vorliegen. Die Recherchen zur Geschich- Polytechnische Gesellschaft geführt hat. te der großen aus Heddernheim stammenden Familien (wie beispiels- weise die Familien Seckbach, Erlanger und Schnadig), die von hier aus „in die Welt“ gingen, sind noch nicht abgeschlossen.

Luftaufnahme von Heddernheim 1911, die Synagoge ganz vorne links Fotograf unbekannt 62 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RALF KEINE, STADTTEILÜBERGREIFEND

RALF KEINE, STADTTEILÜBERGREIFEND

Die Feuerwehr Frankfurt am Main und die jüdische Bevölkerung der Stadt 1933 bis 1945

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1933 beginnen die neuen Herren im Staat sofort damit, die- sen nach ihren Vorstellungen umzubauen, begleitet von in vorauseilendem Gehorsam durchgeführten Maßnahmen. So auch in Frankfurt am Main. Noch vor Erscheinen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlässt der Frankfurter Oberbürgermeister über achtzig Menschen aus den Diensten der Stadt. In der weiteren Folge werden Juden und sogenannte „Halbjuden“ aus der Berufsfeuerwehr entlas- sen und aus der Freiwilligen Feuerwehr ausgeschlossen. Dies war Grund genug, einmal Nachforschungen anzustellen, wo es denn in Frankfurt am Main überhaupt jüdische Kollegen und Kameraden bei der Feuerwehr gegeben hat.

„Wohin spritzt die Feuerwehr ?“, fragt der Künstler Manuel Tirrano mit seinem Bild vom Brand der Höchster Synagoge Bild: Manuel Tirrano

Die Recherche gestaltete sich schwierig und nur in Teilen er- folgreich. Es zeigte sich aber bald, dass es wesentlich mehr Berührungspunkte zwischen der Feuerwehr und der jüdischen Bevölkerung gegeben hat als zuerst gedacht, teilweise mit bisher selbst bei den Frankfurter Feuerwehrhistorikern unbe- kannten Geschichten.

Da ist an erster Stelle natürlich die Zerstörung der Synagogen während der Reichspogromnacht zu nennen, verbunden mit der Frage, wie sich die Feuerwehr verhielt. Da ist aber auch die Geschichte des Berufsfeuerwehrmannes, der seine Dienstwoh- nung verliert, weil sich seine volljährige Tochter in einen Juden verliebt hat. Da gibt es die Geschichte der jüdischen Leiterin

Titelbild des Projektes Gestaltung: Ralf Keine STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RALF KEINE, STADTTEILÜBERGREIFEND 63

RALF KEINE

»JEDER VERKEHR DES BEAMTEN MIT JUDEN, Ralf Keine wurde am 25. März 1963 im AUCH MIT DEN SOGENANNTEN „ANSTÄN- westfälischen Iserlohn geboren und trat hier 1976 in die Jugendfeuerwehr und DIGEN“, IST SELBSTVERSTÄNDLICH UNZU- 1981 in die Freiwillige Feuerwehr der LÄSSIG, WENN ER NICHT NUR IN GESCHÄFT- Stadt ein. Im Frühjahr 1985 wechselte LICHEN DINGEN ERFOLGT UND SICH DANN er dann zur Berufsfeuerwehr Frankfurt AUF DAS UNUMGÄNGLICH NOTWENDIGE am Main, wo er heute die Funktion eines Dienstgruppenleiters ausfüllt. MAß BESCHRÄNKT.«

Bereits als junger Feuerwehrmann ent- Frankfurter Nachrichten im April 1933 deckte er sein Interesse für die Feuer- wehrgeschichte, die nicht nur Technikge- schichte, sondern immer auch Sozial- und politische Geschichte beinhaltet. Sein eines Schokoladengeschäftes, die zu Unrecht der Beamtenbeleidigung Engagement führte dazu, dass er heute in gegen Feuerwehrleute bezichtigt wird. Oder die des freiwilligen Feuer- verschiedenen nationalen und internatio- wehrmannes, der unter Gefahr für das eigene Leben zwei jüdischen nalen Geschichtsgremien der Feuerwehr- Bekannten zur Flucht nach Amerika verhilft. verbände mitarbeitet. 2009 erhielt er vom Amtsleiter der Frankfurter Feuerwehr den Die bisher zusammengetragene Materialsammlung versteht sich als Auftrag, eine historische Sammlung und erster Versuch einer Dokumentation. Sie ist noch keine abgeschlossene ein Archiv zur Frankfurter Feuerwehr- Arbeit. Sie soll Kristallisationspunkt einer weiterführenden Erforschung und Brandschutzgeschichte aufzubau- des Themas und einer hoffentlich weiter anwachsenden Dokumenta- en. Nach der ebenfalls 2009 erfolgten tion sein. Zeitzeugen und Besitzer von sachdienlichen Dokumenten Gründung des Feuerwehrgeschichts- und bleiben eingeladen, an der Vervollständigung des Bildes mitzuwirken. Museumsvereins Frankfurt am Main e. V. wurde Keine zum Ersten Vorsitzenden des Vereins gewählt und bekleidet dieses Amt bis heute. Er setzt sich dafür ein, die Feuer- wehrgeschichte nicht als bloße Heldenver- ehrung zu begreifen und auf diese Weise eher zu verzerren, sondern sie möglichst wissenschaftlich korrekt mit allen Höhen und allen Tiefen genau darzustellen.

Der Ettinghausen-Platz in Höchst erinnert auch an Berthold Ettinghausen, der aus der Freiwilligen Feuerwehr Höchst ausgeschlossen wurde und Deutschland fl uchtartig verließ. Foto: Ralf Keine 64 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DIETER MÖNCH, INNENSTADT

DIETER MÖNCH, INNENSTADT

Die Unternehmerfamilie Wronker und ihr großes Warenhaus an der Zeil

Wer kennt noch das einst berühmte Kaufhaus Wronker an der Zeil? Und wer weiß um das Schicksal dieser jüdischen Unter- nehmerfamilie? Fragen dieser Ar t trieben mich schon lange um – und so entschloss ich mich, das Thema als Projekt bei den Stadtteil-Historikern anzubieten. Es war eine umfangreiche Arbeit, und ich bin auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen. Aber ich wollte unbedingt mehr erfahren.

Die Ergebnisse meiner Nachforschungen möchte ich Anfang 2019 als Buch vorlegen. Recherchiert habe ich anhand eigener Unterlagen, zum Teil auch im Internet sowie in der Universi- tätsbibliothek Frankfurt, im Stadtarchiv Königstein/Taunus, in der Deutschen Nationalbibliothek und im Institut für Stadtge- Das Warenhaus Wronker AG an der Zeil, erstes Warenhaus in Frank- schichte Frankfurt am Main, im Hessischen Wirtschaftsarchiv, furt am Main im Leo-Baeck-Institut (New York) und dem Hessischen Haupt- Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt staatsarchiv Wiesbaden. Forschungsbesuche führten mich in die Jüdischen Museen in Berlin und Frankfurt am Main. Gründer der HERTIE-Warenhäuser). Danach führte Wronker Außerdem konnte ich auf dem kritischen Rat meiner Dozenten selbständig zwei Tietz-Kaufhäuser in Deutschland, ehe er an der U3L (Universität des Dritten Lebensalters), Robert sein erstes eigenes Kaufhaus in Frankfurt am Main 1891 Brandt und Helmut-Gerhard Müller, aufbauen. Es ist eben ein aufbaute. Nach einem Brand im Jahre 1896 gab er nicht auf, umfassendes Thema, das viel Kreativität in der Suche nach im- sondern baute das Haus neu auf. Im Jahr 1907 schloss er sich mer neuen Quellen erforderte. Denn vieles ist für immer verlo- mit dem Odenwälder Bauunternehmer Winterhelt als Geld- ren. geber und dem Tietz-Architekten Otto Engler zusammen, um seine visionäre Konzeption eines Warenhauses nach ameri- Die wichtigsten Erfahrungen waren, dass die Dokumente der kanischem Vorbild an der Zeil (mit 80 Metern Frontlänge) zu Familie und des Unternehmens über die ganze Welt verstreut verwirklichen. Dieses Warenhaus Hermann Wronker AG war sind. Die Verwalter der Dokumente waren aber außergewöhn- von 1910 bis 1933 sehr erfolgreich. lich hilfsbereit und stellten letztlich alle von mir gewünschten Dokumente zur Verfügung. Auch der regelmäßige Austausch Das Ende des Kaufhauses kam mit dem Beginn der NS- mit Herrn Dr. Ramonat und den Kollegen Stadtteil-Historikern Herrschaft. Aber schon vor 1933 waren erfolgreiche jüdische ergab viele wertvolle Hinweise und besonders erfreulich: in Unternehmer wie Hermann Wronker und sein Sohn Max per- Einzelfällen sogar aktive Hilfestellung. sönlichen Angriffen und Hasstiraden ausgesetzt. Nach der „Machtergreifung“ von 1933 folgten Boykottaufrufe auch Einige wesentliche Erkenntnisse konnte ich über den Gründer gegen ihr Warenhaus, im April 1933 durften Hermann und und Besitzer des Warenhauses ermitteln. Hermann Wronker Max Wronker ihr eigenes Warenhaus auf Anordnung der Be- m a c h t e s e i n e L e h r e b e i d e r Unternehmerfamilie T i e t z ( b e k a n n t a l s hörden nicht mehr betreten. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DIETER MÖNCH, INNENSTADT 65

Ehepaar Ida und Hermann Wronker mit den beiden Enkeln Erich und Gerda auf dem Balkon der groß- elterlichen Villa Romberg in Königstein im Taunus Foto: Jüdisches Museum Berlin

DIETER MÖNCH

Der Stadtteil-Historiker Dieter Mönch, »WER KENNT NOCH DAS EINST BERÜHMTE Jahrgang 1938, war nach seinem Studium der Betriebswirtschaft in Frankfurt am KAUFHAUS WRONKER AN DER ZEIL? Main und Berlin im Bereich Organisation UND WER WEIß UM DAS SCHICKSAL DIESER und Datenverarbeitung bei einer Unter- JÜDISCHEN UNTERNEHMERFAMILIE?« nehmensberatung, als Abteilungsleiter in zwei namhaften Frankfurter Unter- nehmen, als Landesgeschäftsführer eines gemeinnützigen Vereins und zuletzt als Büroleiter und Referent Wirtschaft des Die Kinder Max und Alice Wronker entkamen ins Ausland. Hermann Stadtkämmerers der Stadt Frankfurt am und Ida Wronker, inzwischen fast mittellos, wollten von Frankreich Main tätig. mit einem Visum noch in die USA auswandern, wurden aber von ih- rem Fluchtort in Frankreich verschleppt und – wahrscheinlich 1942 – in Außerdem engagierte er sich, auch Auschwitz ermordet. während seiner Berufstätigkeit, immer ehrenamtlich im kommunalen Bereich, Alice Engel, Hermann Wronkers Tochter, überliefert in einem Brief vom so fast 20 Jahre lang als Stadtverordne- 4. Oktober 1961 eine folgenschwere Entscheidung ihres Vaters: 1925 ter in Frankfurt am Main, außerdem als war Hermann Wronker als Mitglied einer offi ziellen Delegation in den Abgeordneter im Umlandverband und USA und traf dort auch seinen Jugendfreund Carl Laemmle, der ihm im Landeswohlfahrtsverband Hessen. anbot, Mitgesellschafter seiner schon weltberühmten Filmgesellschaft Darüber hinaus war er viele Jahre lang auf Universal Pictures zu werden. Wronker „lehnte dieses ernsthafte An- Bundesebene ehrenamtlich in der Vertre- gebot ab; warum sollte er als angesehener Bürger und erfolgreicher terversammlung der DAK und ist heute Kaufmann, immer ein guter Deutscher, sein Vaterland verlassen.“ noch als Versichertenberater der Deut- schen Rentenversicherung tätig.

Das kriegszerstörte Warenhaus Wronker an der Zeil 1945 Foto: Jüdisches Museum Berlin 66 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MICHAEL STEIGERWALD, BERGEN-ENKHEIM

MICHAEL STEIGERWALD, BERGEN-ENKHEIM

Die Geschichte des Alten Jüdischen Friedhofs in Bergen-Enkheim

Der Alte Jüdische Friedhof in Bergen liegt etwas abseits der Laufrouten der meisten Bürger und auch etwas versteckt in zweiter Reihe der Häuser „Am Weißen Turm“ respektive gegen­über den Nachkriegsbauten im Ludwig-Klemann-Weg 2 – 16, abgetrennt durch einen Parkplatz. Bereits das Hinweis- schild an der Umzäunung ist unzutreffend, ist doch hier vom „Neuen Jüdischen Friedhof“ die Rede, der sich jedoch rund 1,5 Kilometer entfernt an der äußersten Gemarkungsgrenze zu Bad Vilbel befindet und seit 1925 den Toten der Gemeinde eine letzte Ruhestätte bot. Am hier näher untersuchten Fried- hof, ehemals vor der Stadtmauer und in zweiter Reihe hinter der Bebauung „Am Weißen Turm“ angelegt, fanden nachweislich bis 1924 Beisetzungen statt. Bis 1840 waren auch die Ange- hörigen der Gemeinde Bad Vilbel hier beigesetzt worden. Van- dalismus in unmittelbarer Folge der Reichspogromnacht führte dazu, dass sich der Friedhof bis heute und unwiderruflich als anonymisierte Begräbnisstätte präsentiert: Die Gebeine der Alte, verwitterte Grabsteine entlang der Friedhofsmauer Toten ruhen unter regelmäßig gemähtem Rasen, flankiert an Foto: privat der West- und Ostseite sowie entlang der Friedhofsmauer von willkürlich aufgestellten Grabsteinen. Diese Grabsteine hatten die einmarschierenden Amerikaner bei Kriegsende aus Kellern und Scheunen in Bergen und aus einem Schuttberg zerschla- gener Grabsteine an der Hohen Straße (Teil der alten römischen etwa ein Zehntel der etwa 10.000 Personen umfassenden Be- Salzstraße Via Regia, die am Stadtteil vorbei Santiago de Com- völkerung mosaischen Glaubens. Die ehemals reiche Gemeinde postela mit Kiew verband) geborgen. Mit diesen zerschlagenen verfügte bis 1921 über eine eigene Schule sowie bis zu deren Grabsteinen waren zwischenzeitlich Kriegsschäden an den zer- Zerstörung 1938 über eine eigene Synagoge. Mit den Deporta- störten Häusern ausgebessert worden. Für die genealogische tionen der letzten Juden 1944 hörte die jüdische Gemeinde auf Forschung sind die Grabsteine von unschätzbarem Wert, denn zu existieren. Aus den Lagern ist niemand nach Bergen zurück- auf der in Hebräisch beschrifteten Seite des Grabsteins wurde gekehrt. Seit 2005 erinnern durch den Künstler Gunter Demnig nicht nur der Name des Toten genannt, sondern auch der seines gestaltete, in den Boden eingelassene sogenannte Stolpersteine Vaters. an die letzten Wohnorte und Lebensdaten deportierter Juden.

Bereits der 2015 verstorbene Helmut Ulshöfer hat sich in zwei Die Datierung des Friedhofs ist schwierig. Ulshöfer schätz- Büchern (insbesondere: „Die vergessenen Nachbarn“, 1986; te seine Gründung ähnlich wie die bereits erwähnte jüdische „Jüdische Gemeinde Bergen-Enkheim“, 1933 – 1942, 1988) um Schule zwischen 1660 und 1717. Die Forschung wird erschwert die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte Bergens verdient durch den Umstand, dass Bergen-Enkheim bis 1977 zum Kreis gemacht. Um die Jahrhundertwende bis 1907 war nachweislich Hanau gehörte und viele Quellen ans Staatsarchiv in Marburg STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MICHAEL STEIGERWALD, BERGEN-ENKHEIM 67

Neu aufgerichtete Steine auf Sockeln, willkür- liche Verteilung im Gräberfeld Foto: privat

MICHAEL STEIGERWALD

Michael Steigerwald, Jahrgang 1973, ist ausgebildeter Politologe und Verwaltungs- wissenschaftler. Die internationale Friedensforschung, die Beschäftigung mit Theorien der Außenpolitik, die Fragen nach Gerechtigkeit und Ausgleich im Nord-Süd-Konfl ikt haben ihn beschäf- tigt und bewegen ihn bis heute. Er hat in Frankfurt, Lyon und Speyer studiert, sich immer wieder auch mit geschichtlichen Aspekten heutiger Problemlagen beschäf- Grabsteine als „wilde Lagerung“ in Folge der tigt und insbesondere aus Frankreich auf erlittenen Schändung die Historie abhebende Erklärungsansätze Foto: privat für aktuelles Konfl iktpotential mitge- bracht. Erst wenn es darum geht, aus der Vergangenheit heraus die Zukunft bestim- men zu wollen, begegnet Herr Steigerwald »AUCH DIE ZEITLICHE NÄHE ZU DEN dieser Methode mit größter Skepsis. SCHÄNDUNGEN, DIE SCHAM UND DAS KOLLEKTIVE VERGESSEN-WOLLEN In Bergen-Enkheim aufgewachsen und seit frühester Zeit dort mit der Umge- ERKLÄREN, WARUM SICH ERST ÜBER bung bestens vertraut und politisch aktiv 70 JAHRE NACH KRIEGSENDE JEMAND (von 2001 bis 2016 saß er im Ortsbeirat FINDET, DER VERSUCHT, DER VERBORGENEN Bergen-Enkheim, zudem ist er ehren- GESCHICHTE DIESES IMMERHIN RUND 17.000 amtlicher Richter am Verwaltungsgericht Frankfurt), stolperte er auch immer wieder QUADRATMETER UMFASSENDEN STÜCKS über das Friedhofsfragment, das erst seit BERGENS NACHZUGEHEN.« einigen Jahren mit einem Zaun verse- hen ist. Mit der tieferen Befassung mit jüdischen Riten und Traditionen, wie etwa Beerdigungszeremonien und Friedhofs- abgegeben wurden. Eine differenzierte Schlagwortsuche nach „Jüdi- nutzungen, betrat er für sich persönlich scher Friedhof Bergen“ ergab aber weder in Marburg noch im Insti- Neuland. Er hofft, der bereits geleisteten tut für Stadtgeschichte in Frankfurt verwertbare Informationen. Große Aufarbeitung der reichen jüdischen Ge- Hoffnung setzte ich auf einen Eintrag im Bergener Vereinsregister schichte seines Stadtteiles, die im Dritten 1932 zu einer Stiftung zur Unterhaltung des alten jüdischen Friedhofs. Reich jäh endete, ein Mosaiksteinchen Deren Vorsitzender war der Tuchwaren-Kaufmann Julius Strauß (Jahr- hinzufügen zu können. gang 1882), zuletzt wohnhaft Hauptstraße 140 (heute Marktstraße 19) in Bergen. Julius Strauß wurde am 22. Oktober 1940 deportiert und schließlich am 4. März 1943 direkt bei seiner Ankunft aus Drancy in Majdanek ermordet. Die Stiftungsunterlagen, die zur Beleuchtung des Projektes außerordentlich hilfreich gewesen wären, gelten als verschollen. 68 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RALF THEE, OSTEND

RALF THEE, OSTEND

Die Familie Pfungst und die Naxos-Union: eine Geschichte aus dem Frankfurter Ostend

Der Gedanke, sich mit dem Thema Naxos-Union und der Nach ersten Kontakten zur Dr. Arthur Pfungst-Stiftung wurden Gründer­familie Pfungst zu beschäftigen, entstand bei einer persönliche Treffen vereinbart. Die Stiftung war im Jahre 1918 Aufführung des Theaters Willy Praml, in der das Leben der durch Marie und Rosette Pfungst im Namen ihres verstorbenen Familie und die Geschichte der Firma auf die Bühne gebracht Bruders und Sohns Arthur Pfungst (9. März 1864 - 3. Oktober wurden. Zu wenig ist den Frankfurtern über die Mitglieder der 1912) gegründet worden. 2018 wird das 100-jährige Jubiläum Familie Pfungst bekannt, die so viel Gutes bewirkten und da- gefeiert. Zu diesem Anlass werde ich ehrenamtlich eine Jubilä- mit nicht aufhörten, als die Nationalsozialisten dabei waren, ihr umsschrift erstellen. Die Stiftung besitzt nur wenige Aufzeich- Lebenswerk zu zerstören. nungen über die eigene Geschichte, sodass zunächst das Frank- furter Institut für Stadtgeschichte als Anlaufstelle diente. Dort Durch einen Zeitungsartikel zum Stadtteil-Historiker-Pro- finden sich Sammlungen zur Stiftung, zur Naxos-Union und gramm der Stiftung Polytechnische Gesellschaft wurde die Familienmitgliedern sowie Fotos, allgemeine Stadtkarten, die Idee geboren, die Geschichte in diesem Rahmen aufzuarbeiten. das Wachstum der Firma über die Zeit aufzeigen, sowie Adress- Nach ersten allgemeinen Recherchen im Internet entwickelte bücher. Leider sind die Recherchen nur von Montag bis Freitag sich schnell die geplante Struktur der Arbeit. möglich, was den Einsatz von Urlaubstagen erfordert.

Arthur, Marie und Julius Pfungst, historische Aufnahmen Fotos: Jubiläumsschrift der Dr. Arthur Pfungst-Stiftung STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RALF THEE, OSTEND 69

»DRUM WENN DEIN HERZ DEN HASS DER MENSCHEN SPÜRT, BESCHÄME SIE DURCH RALF THEE DEINE GÜTE.«

Als Ralf Thee im Januar 1971 im Frank- Arthur Pfungst furt Osten zur Welt kam, gehörte die Naxos- Union mit Standorten im Frank- furter Ostend und in Fechenheim noch zur Dr. Arthur Pfungst-Stiftung. In der Gegend zwischen diesen beiden Wer- Im Internet fi nden sich weitere Informationen, vor allem über Arthur ken absolvierte er seine Schulzeit, die Pfungst, der nicht nur als Industrieller, sondern auch als Verleger, Autor, mit dem Abitur an der Helmholtzschule Übersetzer und Poet aktiv war und als bekannter Humanist regelmäßig endete. Im anschließenden Studium zum zu Vorträgen eingeladen wurde. Hier erwiesen sich besonders Online- Wirtschaftsingenieur an der TU Darm- Archive amerikanischer Hochschulen als dienliche Quellen. Marie stadt lernte er die technische Bibliothek Pfungst war eine emsige Kämpferin für Frauenrechte und Gründerin der Stiftung schätzen, die sich am Sitz von Frauenvereinen. Ein Besuch des Helene-Lange-Archivs in Berlin der Stiftung befand und mittlerweile war sehr erfolgreich. Schwierigkeiten bereitete das Lesen und Verste- aufgelöst wurde. In dieser Zeit organisierte hen handschriftlicher Aufzeichnungen in Kurrent oder Sütterlin, sodass er Stadtrallyes für Freunde und Bekannte, manche Dokumente nicht ausgewertet werden konnten. um ihnen Geheimnisse der Stadt näherzu- bringen. Diese Leidenschaft führte 2013 Hochschulen, die Forschungen zu bestimmten Themen betreiben, kön- zu einer Buchveröffentlichung über seine nen ebenfalls eine gute Quelle für Information und Austausch sein. Das Lieblingsplätze der Stadt und etwas später Fritz-Bauer-Institut an der Goethe-Universität untersucht die Geschich- zur redaktionellen Mitarbeit an einem te der nationalsozialistischen Verbrechen und konnte mit einer Arbeit grünen Stadtführer über Frankfurt. Ralf von Mile Braach über das Leben von Marie Pfungst weiterhelfen. Thee verbringt gerne Zeit mit der Familie im Seckbacher Garten, beim Longboard- Im Online-Antiquariat konnten Bücher über das Leben von Arthur fahren am Main, bei einem guten Film Pfungst bezogen werden. Dort war auch das Standardwerk von Paul oder Konsolenspiel. Zu seinen Hobbys Arnsberg über das jüdische Leben in Frankfurt erhältlich. Dieses Werk zählen u. a. die Fotografi e, Wellenreiten war sehr lehrreich, aber wenig hilfreich für diese Arbeit, da trotz jü- und Kampfsport, den er seit Jahren ehren- discher Herkunft die Konfession keine Rolle im Leben der Familie amtlich unterrichtet. spielte. Arthur Pfungst legte seinen Glauben sogar ab. Um eine Ver- bindung zur jüngsten Firmengeschichte herstellen zu können, habe ich Heute lebt er mit Frau und drei Kindern im nach einem Zeitzeugen gesucht und den ehemaligen Betriebsrat, Herrn Frankfurter Osten und arbeitet als Refe- Wolf, ausfi ndig machen können. Hieraus ergaben sich nicht nur tolle rent in der Motorenforschung. Gespräche, sondern auch ein wechselseitig reger Austausch von Infor- mationen, Material und Geschichten. 70 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DIETER WESP, SACHSENHAUSEN

DIETER WESP, SACHSENHAUSEN

Villa Beit von Speyer: ein Beispiel der Arisierung von Immobilien jüdischer Eigen- tümer durch die Stadt Frankfurt am Main

Im Jahr 1901 baut der Bankier Eduard Beit mit seiner Ehefrau Der genaue Verlauf dieser Geschichte war bis zum Beginn mei- Lucie, geborene Speyer, eine prächtige Villa im Sachsenhäuser ner Forschungen entweder unbekannt oder falsch dargestellt: Westen. Von 1937 an nutzt das Kaiser-Wilhelm-Institut für Bio- Das Haus war vom Denkmalamt auf 1904/05 datiert, Bauherr physik das Haus mit dem großen Grundstück, das mittlerweile sollte Georg Speyer gewesen sein und das Gebäude durch eine der Stadt Frankfurt gehört. Das Institut ist in die Kriegsfor- Schenkung Franziska Speyers an die Stadt gekommen sein. schung mit Strahlungswaffen eingebunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg geht die wissenschaftliche Arbeit mit altem Direktor Die Auswertung von Adressbüchern und Stadtgrundkarten und neuem Namen als Max-Planck-Institut für Biophysik weiter. klärte die Baugeschichte, die Eigentümer und die zeitliche Da- Nach dem Umzug des Instituts an den Riedberg veräußert die tierung. Die Akten des Bauamts und des Hauptstaatsarchivs Stadt die Immobilie an einen privaten Investor, der unter Einbe- belegten den Ablauf der Arisierung und die spätere Entschä- zug der historischen Villa ein Hotel anbaut. digung.

»DER GENAUE VERLAUF DIESER GESCHICHTE WAR BIS ZUM BEGINN MEINER FORSCHUNGEN ENTWEDER UNBEKANNT ODER FALSCH DARGESTELLT.«

An der Villa Beit von Speyer lässt sich exemplarisch belegen, wie sich die Stadt Frankfurt aktiv in die Arisierung von Immo- bilien jüdischer Eigentümer einschaltete: Andere Käufer außer der Stadt wurden ausgeschlossen, und es wurde nur ein Bruch- teil des tatsächlichen Wertes als Kaufpreis bezahlt. Nach dem

Eduard Beit von Speyer mit Enkelkind Charlotte 1927 Foto: Privatbesitz Burin STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DIETER WESP, SACHSENHAUSEN 71

DIETER WESP

Geboren 1953 in Erzhausen bei Darm- stadt. Lehre als Chemielaborant bei den Farbwerken Hoechst, zweiter Bildungs- weg, Abitur auf dem Hessenkolleg Frank- furt am Main, Zivildienst, Studium der Erziehungswissenschaften an der Goethe- Universität Frankfurt, Abschluss Diplom. Berufl iche Tätigkeiten an der Hessischen Erwachsenenbildungsstätte Falkenstein im Taunus. Von 1991 bis 2012 beim Vor- stand der IG Metall in Frankfurt am Main. Leiter der Onlineredaktion.

Arbeitsschwerpunkte seit 2012: Die Ge- schichte des Frankfurter Kanu-Vereins von Das Buch zum Projekt: Dieter Wesp, „Villa Kennedy: 1913 (Broschüre). Vom Jahrhundertsom- Wohnhaus, Forschungslabor, Luxushotel“, Berlin 2017 mer zum Steckrübenwinter – Frankfurt und der Erste Weltkrieg. Gisèle Freunds Fotografi en zum 1. Mai in Frankfurt am Main. Hans und Grete – Die Geschwister Krieg wurde die Rolle der Stadt bagatellisiert und die Entschädigung Leistikow als Gestalter des Neuen Frank- hatte eher symbolischen Charakter. Durch späteren Verkauf der Immo- furt (mit Rosemarie Wesp: Ausstellung bilien erzielte die Stadt eine hohe Rendite. und Katalog). 125 Jahre IG Metall Bezirk Mitte (mit Lothar Wentzel: Broschüre). Bisher sind diese Vorgänge – die Villa Speyer ist nur eines von circa „Arisierung“ jüdischer Immobilien durch 170 Gebäuden und Grundstücken, die in den Besitz der Stadt kamen – die Stadt Frankfurt (Buch: Villa Kennedy). nicht vollständig wissenschaftlich aufgearbeitet. Im Institut für Stadtge- Netzwerk der Moderne – Der Sommer der schichte Frankfurt befi ndet sich eine 14-seitige Aufstellung von 1945 mit Musik in Frankfurt am Main 1927. allen zwischen 1933 und 1945 in den Besitz der Stadt gelangten Grund- stücken und Immobilien aus jüdischem Besitz. Diese Liste ist in meinem Buch „Villa Kennedy: Wohnhaus, Forschungslabor, Luxushotel“ 2017 erstmals publiziert. Weitere Forschungen müssen folgen, um diese Lücke in der Frankfurter Geschichtsschreibung zu schließen. 06

KULTURGESCHICHTE, MEDIEN, RELIGION, NATURRAUM 06

KULTURGESCHICHTE, MEDIEN, RELIGION, NATURRAUM 74 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | WOLF GUNTER BRÜGMANN-FRIEDEBORN, INNENSTADT

WOLF GUNTER BRÜGMANN-FRIEDEBORN, INNENSTADT

Die wilden Jahre 1967 – 70: Die Frankfurter Rundschau von den Anfängen bis heute

Seit ihrem ersten Erscheinungstag, dem 1. August 1945, gehört schlagen hatte. Darüber hinaus weiß er viel über die Frankfurter die Frankfurter Rundschau (FR) zu Frankfurt wie der „Äppel- Rundschau von den Anfängen im Jahre 1945 bis heute zu be- woi“, die Eintracht und die Messe. In den 1960er-Jahren be- richten. Seine Erzählungen sind ein Potpourri von Anekdoten gann der Aufstieg der FR zu einem Leitmedium des kritischen „aus dem Nähkästchen“ und kritischen Reflexionen sowie Cha- Geistes und des sozialen und kulturellen Aufbegehrens für eine rakterisierungen von Journalisten der ersten beiden FR-Gene- demokratischere Gesellschaft. Mit dem Label „links-liberal“ rationen, die das Profil der Zeitung von den Anfängen bis zum gewann die FR in diesen Jahren Anerkennung weit über Frank- Jahre 2000 und darüber hinaus geprägt haben. furt hinaus. Insbesondere mit der Studentenbewegung fand sie bundesweit Verbreitung. Die Zeitreise beginnt mit der Gründung der Frankfurter Rund- schau und ihrer nicht nur deutschlandweiten, sondern auch Die Erinnerungen an die „wilden“ Frankfurter Jahre 1967 bis internationalen Bedeutung, die sie schon in den ersten Jahren 1970 und seine Anfänge in dieser Zeit bei der Frankfurter hatte. Die Zeitreise führt weiter über interne Debatten zum Rundschau bilden einen Teil des Projekts, in dem Wolf Gunter durchaus spannungsreichen politischen Selbstverständnis in Brügmann-Friedeborn die Geschichte der FR zu Erzählveran- der Redaktion und die ewige spannungsvolle Auseinanderset- staltungen aufgearbeitet hat. Brügmann-Friedeborn hat diese zung über die Ausrichtung der Zeitung zwischen Redaktion drei Jahre als junger Mensch erlebt, den der Zufall vom kleinen und Verlag, besonders der Anzeigenabteilung. Und sie endet Ostseedorf an der Kieler Förde in die große Stadt am Main ver- mit den Ursachen und Folgen der Existenzkrisen bis in unsere Tage.

Brügmann-Friedeborn bietet Erzähl- und Gesprächsabende oder -nachmittage an. Je nach Interesse über die gesamte FR- Zeit oder auch zu Teilepochen. Die ersten Präsentationen waren zwei Abende im Treffpunkt Rothschildpark des Frankfurter Bür- gerinstituts am 9. Oktober und 4. Dezember 2015. Es folgten Auftritte im Presseclub Bremen am 25. November 2015 und am 15. April 2016 in der Hausener Brotfabrik. Am 11. Mai und 22. Juni 2017 gestaltete er im Club Voltaire zwei Abende un- ter diesen Titeln: „Die ersten 25 Jahre – Als Frankfurt in Trüm- mern lag. Wie die FR anfing und was daraus wurde. Spielball im Kalten Krieg. Stachel gegen Reaktionäre“. Und: „Aufstieg, Niedergang, Rettung – Der Aufbruch seit Ende der 60er-Jahre. Streifzüge durch die 70er-, 80er-, 90er-Jahre. Die Krisenepoche seit 2000“.

Schillerstraße 1945: Hier fing die FR an. Foto: Mickey Bohnacker STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | WOLF GUNTER BRÜGMANN-FRIEDEBORN, INNENSTADT 75

Seit 1953 ein Markenzeichen für Frankfurt: Das Rund- schau-Haus Große Eschen- heimer Straße 16-18. Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt

WOLF GUNTER BRÜGMANN-FRIEDEBORN

Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn war 42 Jahre, von März 1968 bis April 2010, »IN DEN 1960ER-JAHREN BEGANN DER AUF- als Redakteur für Politik und Autor für STIEG DER FRANKFURTER RUNDSCHAU ZU die Frankfurter Rundschau tätig. Ge- prägt wurde er noch sehr persönlich von EINEM LEITMEDIUM DES KRITISCHEN GEISTES dem legendären Gründungsverleger und UND DES SOZIALEN UND KULTURELLEN AUF- Chef redakteur Karl Gerold und von dem BEGEHRENS FÜR EINE DEMOKRATISCHERE stellvertretenden Chefredakteur Karl- GESELLSCHAFT.« Hermann Flach, dem Vordenker und Vorbereiter der ersten sozial-liberalen Koalition von SPD und FDP unter Willy Brandt und Walter Scheel.

Grundlage sind persönliche Erinnerungen sowie Gespräche mit Kol- Brügmann-Friedeborn erlebte die „wilden legen und Kolleginnen, die schon in den Anfängen dabei waren, viele Jahre“ 1967 – 1970 zunächst als Student interne Dokumente, die er „gerettet“ hat, schwierige Recherchen über der Soziologie und Politikwissenschaft die Zeitungspolitik der US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg, bei Theodor W. Adorno, Carlo Schmid, die auch bis dato unbekannte Überraschungen zu Tage brachten, sowie Iring Fetscher, Ludwig von Friedeburg und Ansichten von außen über die FR. So überliefert er nicht nur ein Stück Alfred Schmidt. Zugleich war er als Lokal- Geschichte der Frankfurter Rundschau, sondern auch ein Stück Frank- berichterstatter für das Höchster Kreisblatt furter Zeitgeschichte(n). und ab 1. März 1968 für die Frankfurter Rundschau tätig. Für die FR brach er sein Studium ab, als sie ihm zum 1. Januar 1969 ein Volontariat anbot.

Seit 1998 gehört Brügmann-Friedeborn der Leitung der Evangelischen Kirche in Frankfurt an.

Kurz vor dem Abriss aufgenommen: das Rundschau-Haus, von der Hauptwache aus gesehen Foto: Gertraude Friedeborn 76 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MARTIN FELDMANN, INNENSTADT

MARTIN FELDMANN, INNENSTADT

Wo sich Jazz- und Blues-Größen die Klinke in die Hand gaben

Der Sinkkasten – Internationale Jazz- und Blues-Größen ga- »DER KURIOSE NAME ,SINKKASTEN‘ ben sich hier die Klinke in die Hand. Von einer solchen Szene GEHT AUF DIE FIRMA PASSAVANT kann Frankfurt heute nur noch träumen. Die Idee, die Story des ehemaligen Jazz- und Blues-Clubs zu schreiben, stammt ZURÜCK.« von Hans Pehl. Der Stadtteil-Historiker hatte 2008 und 2009 die Studie „Afroamerikanische Unterhaltungskünstler in Frank- furt am Main bis 1945“ verfasst. Als Kenner der Frankfurter Musik geschichte empfahl er mir, mich mit dem Sinkkasten- Feste mit traditionellem Jazz im Bockenheimer Schönhof ge- Thema bei den Stadtteil-Historikern zu bewerben. Nach langen feiert – anlässlich der Internationalen Sanitär- und Heizungs- Recherchen präsentierte ich Anfang Januar 2017 im Eigenverlag messe (ISH). Passavant in Aarbergen (Rheingau-Taunus-Kreis) ein 123-seitiges, reich illustriertes Buch mit dem Titel „Sink- war damals führend bei Produkten der Entwässerungstechnik. kasten – 1971 – 2011 / Home of the Blues & Jazz in Frankfurt“. Dazu zählten auch die Sinkkästen, besser bekannt als Gullys. Die Eine zweite, aktualisierte Aufl age soll folgen. Firma hatte Kontakte zu den Clubgründern in der Mainstraße und griff ihnen beim Aufbau unter die Arme. Als Gegenleistung Meine Zeitreise führt zurück in 1950er-Jahre, als in der Stadt konnte Passavant dort die Messe-Partys steigen lassen – aber Clubs und Lokale wie das domicile de jazz (später Jazzkeller nur bis 1977. Denn das linksalternative Publikum im Sinkkasten in der Kleinen Bockenheimer Straße) und das Storyville (Stift- motzte. straße) eröffneten. Erst viel später, nämlich 1971, gründeten jun- ge Leute in einem Gewölbekeller in der Mainstraße 2 den Sink- Von Anfang an war die Lärmbelästigung durch Konzerte kasten. Der kuriose Name geht auf die Firma Passavant zurück. ein großes Thema in der Mainstraße. Anwohner protes- Sie hatte schon in den 1960ern unter dem Motto „Sink kasten“ tierten. Der Sinkkasten entwickelte sich in den 1970ern

Jugendfreie Show: Buddy Guy auf der Session im Sinkkasten an der Mainstraße: Vorn An der Theke im Keller an der Mainstraße herrscht Bühne im Sinkkasten an der Brönner- rechts: Reimer von Essen von der Barrelhouse großes Gedränge. Rechts: Sinkkasten-Mitgründer straße (1. Mai 1981). Jazzband. Detlef Christoph. Foto: Martin Feldmann Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Foto: Detlef Christoph S7Wei-2488/0025A, Kurt Weiner STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MARTIN FELDMANN, INNENSTADT 77

So kennt man den Sinkkasten von früher: Warteschlangen in der Brönnerstraße Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7FR/01993, Luigi Ungarisch

zur Chefsache im Römer. Pläne, das Musiklokal im Ratskeller oder MARTIN FELDMANN gar in Räumen der Alten Oper unterzubringen, wurden jedoch ver- worfen. Mit Unterstützung des damaligen Kulturdezernenten Hil- mar Hoffmann zog der Sinkkasten 1979 in ein Gebäude zwischen Martin Feldmann (Jahrgang 1956) hockte Brönner- und Stiftstraße um – in die früheren Räume des Storyville und schon als Schüler in Olpe/Westfalen des folgenden Clubs Zoom. nachts vor einem alten Röhrenradio, um Blues- und Jazz-Sendungen zu hören. Der Die ersten zweieinhalb Jahrzehnte waren wohl die erfolgreichste Zeit Sound von Muddy Waters, Howlin’ Wolf, des Sinkkasten als Jazz- und Blues-Club. Außer lokalen Bands traten B.B. King und anderen begeisterte ihn so auch bedeutende Künstler aus Europa und den USA auf: Art Blakey, sehr, dass er begann, seltene Blues-Platten Charles Mingus, Max Roach und Pharoah Sanders im Jazz sowie Otis per Luftpost in den USA zu bestellen. In Rush, Albert King, Albert Collins, Buddy Guy und Junior Wells im Blues. Deutschland waren sie damals nur sehr schwer aufzutreiben. Bei meiner Arbeit entdeckte ich wichtige Briefe, Behördenschreiben, Zeitungsartikel, Broschüren und Fotos. Fündig wurde ich unter ande- Diese Musik ließ ihn nicht mehr los. In rem im Institut für Stadtgeschichte, im Hessischen Wirtschaftsarchiv den 1980er-Jahren durchquerte Feldmann und in privaten Archiven. Im Vereinsregister des Frankfurter Amtsge- mehrmals Nordamerika, um schwarze richts stöberte ich das Gründungsprotokoll des Arts-Clubs von 1970 Blues-Interpreten zu fotografi eren. Das auf. Das war der spätere Sinkkasten-Trägerverein. Außerdem wandte Jazz Podium, das österreichische Magazin ich mich auf der Suche nach Dokumenten ans Jazzinstitut Darmstadt Blues Life und die Frankfurter Rundschau und ans Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach. Sammler liehen mir veröffentlichten seine Reportagen über ihre Memorabilien wie Bilder und Programme. Ebenso stieß ich auf die afroamerikanische Musikszene. Bei interessante Beiträge in der Musikliteratur. Zeitzeugen äußerten sich der FR arbeitete er 27 Jahre als Redakteur. zu möglichen Gründen, warum der Sinkkasten irgendwann nicht mehr Seit 2013 schreibt er als freier Autor unter angesagt war. anderem für Magazine wie Jazzthetik und Bluesnews. Nach einem Insolvenzantrag musste das Lokal Ende 2011 schließen. Zoom ist seit 2012 der Name des dort neu eröffneten Clubs. Schwer- Außerdem zeigt Feldmann in Foto-Aus- punkt: Dancefl oor und Hip-Hop. stellungen Blues-Bilder, die er damals bei seinen Field-Trips durch die USA gemacht hat.

Fünfzehn weitere Reisen führten ihn als Backpacker nach Australien, Neusee- land und in die Inselwelt der Südsee. In FR-Reportagen berichtete er (auch von unterwegs) u. a. über Tasmanien, die Chatham-Inseln, die Cook Islands, Niue, Nauru und Vanuatu. Martin Feldmann lebt in Frankfurt-Sachsenhausen.

Sinkkasten-Programm Plakat von Charles Mingus, September 1976 März 1974 Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Foto: Detlef Christoph S9-1977_0257, Detlef Christoph 78 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | KAROLINE FRANKE, NORDEND

KAROLINE FRANKE, NORDEND

Was einst die Gräber zierte – Grabbepflanzung auf dem Frankfurter Hauptfriedhof

Nachdem ich die Patenschaft für die Grabstätte Manskopf »ICH MUSSTE ERKENNEN, DASS SICH DIE übernommen hatte, wollte ich nicht nur die Grabmale säubern GRABBEPFLANZUNGEN IN DEN LETZTEN und instandhalten; ich wollte die vier Gräber des Ehepaares 100 JAHREN NICHT WESENTLICH VER- Alexander und Helene Manskopf sowie von deren drei (von fünf) Kindern so bepflanzen, wie es vor etwa 100 Jahren üblich war. ÄNDERT HABEN.«

In der Universitätsbibliothek und im Internet waren einige Bü- cher für Friedhofsgärtner aus den Anfängen des 20. Jahrhun- derts zu finden, auch eine Werbebroschüre der Frankfurter So begann ich erst einmal, mich mit den Menschen zu befas- Friedhofsgärtnereien von ca. 1935. Ich musste erkennen, dass sen, die in der Grabstätte ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Die sich die Grabbepflanzungen in den letzten 100 Jahren nicht Beisetzungen fanden in den Jahren 1902, 1928, 1945 und 1957 wesentlich verändert haben, was mir eine Mitarbeiterin der statt – und nachdem ich im Institut für Stadtgeschichte so man- Friedhofsgärtnerei Zwingel, die es auch schon 1935 gab, in che alte Akte über diese Familie lesen durfte, wunderte ich mich einem aufschlussreichen Gespräch bestätigte. schon ein wenig, dass diese Verstorbenen tatsächlich gemein- sam in diesem letzten Gärtlein am Ende wie- der zusammengefunden hatten. Aber das zu erforschen wäre wieder eine ganz eigene Geschichte. Ich fragte mich: Wer hat wohl die Beerdigungen organisiert, wer hat die Bepflanzung ausgewählt, wer hat das Grab gepflegt?

Hilfreich hierbei war für mich der Einblick in die Grabakten, den mir das Grünflächen- amt als Grabpatin gewährte. So erfuhr ich beispielsweise, dass für das Grab von Ma- rie Manskopf von den Hinterbliebenen eine Bepflanzung mit Efeu gewünscht wurde. Ihr Bruder Nikolas Manskopf hatte zu Lebzei- ten ein eigenes Musikhistorisches Museum zusammengesammelt, darin befinden sich Noten, Eintritts- und Autogrammkarten und vieles mehr. Nach seinem Tod vermach- ten seine Erben diese Sammlung der Stadt Frankfurt. Inzwischen wird sie in der Univer- Die Grabstätte bei der Übernahme durch Karoline Franke sitätsbibliothek aufbewahrt. Als Dank wollte Foto: privat die Stadt Frankfurt das Grab des Nikolas STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | KAROLINE FRANKE, NORDEND 79

KAROLINE FRANKE

Karoline Franke wurde 1964 im Frank- furter Marienkrankenhaus geboren und wuchs in der unteren Berger Straße auf. Die Bäckerstochter zog 1973 mit ihrer Familie nach Offenbach, wo sie ihre Schul- Aus einer Broschüre der Friedhofsgärtner zeit beendete und als Buchhändlerin in die Lehre ging.

Manskopf „auf Dauer des Friedhofs“ pfl egen, wobei natürlich eifrig dis- Nach Abschluss der Ausbildung und eini- kutiert wurde, ob und wie viele Blumen zusätzlich zum dauergrünen gen Jahren Berufstätigkeit widmete sich Efeu gepfl anzt – und bezahlt – werden sollten. Solche Arrangements Karoline Franke für die kommenden zwei gibt es heute nicht mehr. Jahrzehnte ihrer Familie, besonders ihren drei Kindern. In dieser Zeit wohnte sie in Als Abschluss meines Projekts habe ich eine Präsentation der neu be- Frankfurt-Bockenheim, aber auch fünf pfl anzten Grabstätten am Tag des Friedhofs im Herbst 2018 geplant. Jahre lang in Weiden in der Oberpfalz. Dann soll auf den beiden oben genannten Gräbern kleinblättriges Efeu Hedera helix wachsen. Auf das Grab von Johanna Heimpel, geborene Inzwischen lebt sie mit ihrem zwei- Manskopf, die im Januar 1945 verstarb, habe ich bereits das wilde Im- ten Ehemann in Oberursel und ist als mergrün Vinca minor aus dem Taunus gepfl anzt (zu dieser Zeit waren Angestellte in der Universitätsbibliothek alle Gärtnereien angehalten, ausschließlich Gemüse zu ziehen), und für auf dem Campus Riedberg beschäftigt. den Patriarchen der Familie, Alexander Manskopf, habe ich die Zwerg- Neben ihrem Hobby „Grabpatenschaf- mispel Cotoneaster dammeri geplant. Ein paar blühende Pfl anzen wird ten“ und dem Interesse an der Regional- es sicher auch geben – alle zu fi nden u. a. in dem Buch „Die Praxis der geschichte ist sie eine leidenschaftliche Friedhofsgärtnerei“ von Josef Hempelmann aus dem Jahr 1927. Schrebergärtnerin und verbringt ihren Urlaub am liebsten auf der Insel Rügen (Mecklenburg-Vorpommern). Dort fi ndet Das Fachbuch, eine Hauptquelle sie dann auch Zeit zum Lesen: spannende des Projekts Frankfurt-Krimis – was sonst? Foto: privat 80 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETER ERWIN FRITZ, NIEDER-ESCHBACH

PETER ERWIN FRITZ, NIEDER-ESCHBACH

Die Geschichte und Anekdoten des Nieder-Eschbacher Waldes im Taunus

Bis 1972 gehörte zu Nieder-Eschbach eine knapp 149 Hektar »MIR WAR ES WICHTIG, DIE EXISTENZ DIESES große Wald-Gemarkung im Hochtaunus. Da in den Gemeinden WALDES DEN BÜRGERN NIEDER-ESCHBACHS die Gemarkung landwirtschaftlich zum Anbau von Getreide, IN ERINNERUNG ZU BRINGEN UND SEINE Feldfrüchten und Obst genutzt werden musste, wurde Wald- nutzung in den Taunus verlegt. Die Dörfer brauchten Bau- und GESCHICHTE WACHZUHALTEN.« Brennholz, auch wurden Waldfrüchte gesammelt und Laub zur Stalleinstreu; sowie Schweine zur Eichelmast in den Wald ge- karrt. Zu große Differenzen, wie Waldfrevel, unkontrolliertes Abhol- zen, Holzdiebstahl, Streitigkeiten usw. führten letztlich zur Auf- Bereits 817 berichtet eine Schenkungsurkunde von Waldbesitz lösung dieser Genossenschaft und der Wald wurde unter den zweier Gemeinden im Taunus. Sicherlich hatte Eschbach auch Gemeinden aufgeteilt. damals schon einen Wald, bzw. Waldrechte. Bis 1813 bestand die Waldgenossenschaft Hohe Mark, in der bis zu 40 Gemein- Die Geschichte dieses Waldes reicht aber bis in die Römerzeit den Waldrechte im Hochtaunus hatten. Der ganze Taunuskamm zurück! Seine nördliche Grenze wird von den noch sichtbaren war in Genossenschaften aufgeteilt. Überresten des Limes-Erdwalles gebildet; auch ist das rekon- struierte Fundament eines Wachturms als Zeitzeuge zu sehen. Von 1192 ist das älteste schriftliche Zeugnis der Hohen Mark, doch ist sie mit Sicherheit älteren Datums! Um den Wald herum stehen 35 alte Grenzsteine, welche die his­ torischen Grenzen markierten und die noch fast alle zu sehen Das absolute Highlight meiner Recherchen war das Aufspüren sind. Darunter auch ein Dreimärker und ein seltener Viermärker des ältesten schriftlichen Dokuments mit Eschbacher Beteili- als Begrenzung eines Vier-Länder-Ecks! gung: eine Schenkungsurkunde von 1334 mit Siegel des Fried- rich von (Nieder-) Eschbach. Hierin schenken 29 Gemeinden Ab 1900 hatte die Frankfurter Unternehmerfamilie Mouson die der Kirche zu Cruzen (Kalbach) ihre Rodungen in der Mark. Jagd im Eschbacher Wald gepachtet, die als bestes Hirschrevier

links: Schenkungs-Urkunde von 1334 Foto: StA-WÜ/Bayern

rechts: Dreimärker am Limes Foto: P. E. Fritz STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETER ERWIN FRITZ, NIEDER-ESCHBACH 81

PETER ERWIN FRITZ

Peter Fritz wuchs in Nieder-Eschbach auf; hier besuchte er die Grund- und Haupt- schule und schloss eine Lehre als Elektro- mechaniker mit Fachrichtung Elektronik ab. Waldkarte der Hohen Mark Genossenschaft von 1813 mit dem Nieder- Eschbacher Anteil (farbig markiert) Foto: KA-HTK Seine eigentliche Berufung, Natur- und Tierschutz, verwirklichte er als Initia- tor zur Gründung einer Ortsgruppe des im ganzen Taunus galt. Sie erbauten ein Jagdhaus, wo einige bekannte NABU; denn eigentlich wollte er Zoologie Persönlichkeiten dieser Zeitepoche zu Gast waren; wie z. B. ihre Ver- studieren und eine berufl iche Laufbahn als wandtschaft „derer von Opel“. So auch der „Raketen-Fritz“, der sich als Tier- und Verhaltensforscher einschlagen. Erster per Raketenantrieb zu Wasser, zu Luft und zu Land fortbewegte. Wernher von Braun sagte über ihn: „Mit ihm (Fritz von Opel) hat das Doch darüber hinaus war er immer ein Raumfahrtzeitalter erst begonnen!“ vielseitig interessierter Mensch, mit dem Schwerpunkt: Philosophie und Psycho- Oder die vier Künstlerfreunde: Der Bildhauer Emil Hub (Mitgestalter logie. des Brunnens am Kurfürstenplatz in Bockenheim); der Glas- und Wand- maler Otto Linnemann (Erlöserkirche in Bad Homburg); der Schriftstel- Aber auch Geschichte ist ein starkes Inte- ler und Maler Fried Stern (Struwwelpeter von heute, Der Robinson in ressensfeld von ihm, und daher interes- Reim und Bild); sowie der Goldschmied und Bildhauer Augusto Varnesi sierte er sich auch für die Historie seiner (Gestalter des Goldenen Buches der Stadt Frankfurt am Main). Diese Gemeinde Nieder-Eschbach. Freunde schenkten Fritz Mouson für sein Jagdhaus ein schön gestal- tetes Gästebuch, in dem sich viele Gäste eintrugen, die auch nur zwecks Als er 2011, nach 23-jähriger Abwesen- Erholung dort waren. Es ist ein schönes Zeitzeugnis! heit, zurück in seinen Stadtteil zog, ent- wickelte sich langsam sein Forscherdrang Alljährlich im September wurden zur Kirmes die Kerbebäume aus dem zu diesem Thema. Und bald, mehr durch Wald geholt und an bis zu fünf örtlichen gastronomischen Betrieben Zufall, kam dann die konkrete Idee, diese aufgestellt. Auch die Freiwillige Feuerwehr war alljährlich zwecks Story professioneller zu hinterleuchten Waldbrandübungen im Wald zugegen. und im Stadtteil-Historiker-Projekt zu Auf Anordnung der Stadt Frankfurt präsentieren. musste jedoch das Jagdhaus wegen Zerfalls abgerissen werden. Im Beisein So ist nun daraus eine umfassende Ge- der Branddirektion wurde es dann lei- schichte mit einigen echten Highlights für der 1977 von der Freiwilligen Feuer- Nieder-Eschbach entstanden. wehr kontrolliert abgebrannt. Peter Fritz lebt seit August 2017 wieder Heute gehört der Wald der Stadt Bad im Vogelsberg und schreibt dort an einem Homburg; wird aber von Frankfurt Buch, welches 2019 im Buchandel erschei- noch fortwirtschaftlich betreut und nen soll; zu einem historischen Thema: genutzt. Zeitgeschichte Jesu Christi. Gästebuch im Waldhaus Foto: P. E. Fritz 82 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | JOACHIM HOßBACH, ECKENHEIM

JOACHIM HOßBACH, ECKENHEIM

Die Regina Lichtspiele in Eckenheim

Ziel meiner Recherche sollte eine umfassende Geschichte der Regina Lichtspiele in Eckenheim in der Zeit von 1939 bis 1971 sein. Mich interessierte insbesondere die Entstehungs- geschichte des Kinos als Unterhaltungs- und Propagandakino während des Zweiten Weltkrieges und dessen Entwicklung nach Ende des Krieges.

Kino Innenansicht Foto: privat

Unser damaliger Nachbar ist der Enkel einer der beiden Kino- betreiber, und von ihm erhoffte ich mir weitreichende Informa- tionen. Leider stellte sich heraus, dass er keinerlei Unterlagen mehr besaß, alle waren im Zuge der Auflösung des Kinos und im Laufe der nachfolgenden Jahre verschwunden oder vernich- tet worden. Der freundlichen Unterstützung des Eckenheimer Heimatvereines verdanke ich einige wertvolle Informationen und die Vermittlung wichtiger Zeitzeugen. Zum Glück konnte der jetzige Besitzer des ehemaligen Kinos zumindest Bilder und Baupläne des Kinos vor der Vernichtung retten. Informationen über die Frankfurter Kinogeschichte konnte ich im Filmmuse- um recherchieren, zum damaligen Zeitpunkt lief gerade eine entsprechende Ausstellung, und es wurde ein umfangreicher Ausstellungskatalog erstellt. Aus der Geschichte von Kinos der benachbarten Stadtteile konnte ich zumindest einige histo- rische Fakten generieren. Etliche Vormittage verbrachte ich im

Plan des Kinos in Eckenheim Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | JOACHIM HOßBACH, ECKENHEIM 83

Der Eingang Foto: privat

JOACHIM HOßBACH

Joachim Hoßbach wurde 1959 in Mainz geboren. Nach dem Abitur studierte er Kunst und Germanistik, wechselte aber in die Versicherungsbranche und arbei- tet seit 27 Jahren bei einer gesetzlichen Krankenkasse. Er ist außerdem Theater- Institut für Stadtgeschichte. In alten Tageszeitungen konnte ich Hinwei- pädagoge, Clown und Heilpraktiker für se über die Spielpläne des Kinos ausfi ndig machen. Eine große Hilfe Psychotherapie. waren die Zeitzeugen, insbesondere Johannes Hess, der sich noch sehr detailliert an seine Arbeit als Vorführgehilfe während des Zweiten Welt- Seine künstlerische Neigung hat er nie krieges erinnern konnte. Auch Heinz Marx, der regelmäßig im gegen- aufgegeben und die Ergebnisse seines überliegenden Vergnügungslokal Hommels Ei aufspielte, konnte sich unterschiedlichen Schaffens in Ausstel- noch sehr gut an das Kino und dessen Umgebung erinnern. lungen, Installationen, Theaterstücken und Performances der Öffentlichkeit So konnte ich ein Stück Eckenheimer Stadtteilgeschichte auf der Basis zugänglich gemacht. Für ihn sind die un- der Erinnerung von Zeitzeugen wieder lebendig machen. Entstanden terschiedlichen Formen künstlerischen ist daraus weniger eine geschichtliche Abhandlung als vielmehr ein Ausdruckes wie Malerei, Musik, Tanz Zeugnis mündlicher Überlieferung eines Unternehmens, welches bis und Theater nie getrennt voneinander zum rasanten Einzug der Farbfernsehtechnologie in die Wohnzimmer zu betrachten. sozialer Treffpunkt, wichtiger Unterhaltungsfaktor und Tor zur Welt war. Gleichzeitig spiegelte die Entwicklung dieses Kinos auch den Auf- Seit 2014 arbeitet er zusammen mit und Niedergang der Geschichte des deutschen Kinos insgesamt wider. seiner Frau mit heranwachsenden bela- russischen Schülerinnen und Schülern an deutschsprachigen Theaterprojekten »GLEICHZEITIG SPIEGELTE DIE ENTWICKLUNG in Belarus und Deutschland, welche in DIESES KINOS AUCH DEN AUF- UND NIEDER - Minsk, beim Bonner Jugendtheaterfe- stival „Spotlights“ und beim deutsch- GANG DER GESCHICHTE DES DEUTSCHEN sprachigen Jugendtheaterfestival im KINOS INSGESAMT WIDER.« Anitschkow Palast in St. Petersburg aufgeführt wurden.

„Vom Hauptbahnhof … hab’ ich die Filme mit dem Geschäftsrad … ge- holt. Das war ein stabiles Fahrrad mit einem normalen Hinterrad und einem kleinen Vorderrad. Und über dem Vorderrad war ein Gepäck- träger. Und da ist dann so ein Stapel Filme reingekommen, die waren schwer. Außerdem habe ich noch die Werbeplakate für die Schaukästen mitnehmen müssen. Vom Hauptbahnhof und dann die Eckenheimer Landstraße hoch. Es ging ja auch steil bergauf, und für so einen Bub und im Winter, das waren strenge Winter, die Kriegswinter, da lag Schnee und der ist nicht weggeräumt worden und am Oeder Weg, I. G.-Farben- Haus vorbei … das hab’ ich geschafft, ich weiß nicht, wie, … mit dem Fahrrad!“ (Zitat Zeitzeuge Johannes Hess). 84 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RUTH KRÄMER-KLINK, BOCKENHEIM

RUTH KRÄMER-KLINK, BOCKENHEIM

Verschwundene Kunst – eine Spurensuche: übermalt, verdeckt, verschwunden

Meine Spurensuche gab mir die Gelegenheit, meine Kenntnisse Aufgeklebte Plakate (Paste Up) über die verschiedenen Arten von Graffitis zu erweitern und zu Sie sind schneller angebracht, aber nicht so beständig und vertiefen – und diese StreetART in Bockenheim vor dem Ver- daher oft nur sehr kurze Zeit zu bewundern. gessen zu bewahren.

So richtete sich dann im Laufe der Zeit mein Augenmerk von den großen und gesprayten Kunstwerken weg auf die kleinen und oft übersehenen am Straßenrand:

Aufkleber (Sticker)

Der Ghost an einem Mast in der Clemensstraße Foto: privat

XXXXXXXXXXXX Aufschlag … an der Mauer am Hülya-Platz Foto: xxxxxx Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RUTH KRÄMER-KLINK, BOCKENHEIM 85

Auch ist es mir gelungen, einige Werke, die mittels Sprühschablonen (Stencils) angebracht wurden, festzuhalten. RUTH KRÄMER-KLINK

Geboren wurde sie 1954 in Darmstadt, aufgewachsen ist sie in Groß-Gerau. Sie lebt seit 1988 in Frankfurt-Bockenheim.

Neben ihrem Beruf als selbstständige Offi zin-Apothekerin interessiert sie sich für Kunst, Kultur und Literatur und enga- giert sich für ihren Stadtteil.

1994 fand die Kunstaktion „by the way“ auf der Leipziger Straße in Bockenheim statt, die sie als Sponsorin unterstützte.

Von 1981 bis 1989 war sie Mitglied in der Künstlergruppe Form und Farbe Nauheim.

Ein Blick in der Unterführung am Westbahnhof Seit 1985 ist sie Mitglied in der Künstler- Foto: privat gruppe IGG (www.igg1973.net). Sie nahm an mehreren Ausstellungen teil, wie in Groß-Gerau, Tielt (Belgien), Ribeauvillé (Frankreich), Lodz (Polen) und Masuren »MIT MEINEM PROJEKT MÖCHTE ICH DIESE (Polen). STREETART BEWAHREN UND ERMÖGLICHEN, DASS MAN SICH AUCH HEUTE UND IMMER 2007 war sie Mitbegründerin des Graffi ti- WIEDER DARÜBER FREUT.« Archivs von Bockenheim-aktiv.de. Im Vorstand des Gewerbevereins Bocken- heim Aktiv e. V. war sie von 2007 bis 2017.

1994 war sie Mitherausgeberin des Buches Auf meiner Spurensuche durch Bockenheim habe ich Kunstwerke ge- „Geschäfte machen in Frankfurt – kon- sucht, gefunden, dokumentiert – und immer wieder festgestellt, dass junkturunabhängig“. uns manche verlassen haben, verschwunden sind, übermalt, über- sprayt, abgewaschen oder abgerissen wurden oder mit der gesamten 2015 beteiligte sie sich als Mitautorin von Wand verschwanden. „Bockenheim schreibt ein Buch“.

Mit meinem Projekt möchte ich diese StreetART bewahren und ermög- lichen, dass man sich auch heute und immer wieder darüber freut, sich inspirieren, zum Nachdenken anregen lässt.

Gehen Sie mit mir auf Spurensuche in meinem Archiv auf der Website: https://tinyurl.com/streetART-RKK

Viel Spaß beim Entdecken der verschwundenen Kunst! 86 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | SABRINA LANGMANN, RÖDELHEIM

SABRINA LANGMANN, RÖDELHEIM

John Elsas in Rödelheim

John Elsas, ein Frankfurter Börsenmakler, widmete sich erst im Produktivität war. Werden die Werke aus der Rödelheimer Zeit fortgeschrittenen Alter von 76 Jahren eigenständig der Kunst. nun genauer betrachtet, sind einige Hinweise auf den Ort zu Seine Werke zeigen meist einfache Figuren und Objekte als entdecken. Diese kleinen Anhaltspunkte können uns viel über Collage in leuchtenden Farben. Er versah sie mit kurzen Texten die Einflüsse erzählen, die der Ort Rödelheim, seine Menschen (Ratschlägen und Weisheiten), zunächst für seine beiden Enkel und seine Natur auf Elsas‘ Kunst hatten. Die Ergebnisse zeigen, in Berlin. Den Großteil seiner Schaffenszeit verbrachte John dass John Elsas möglicherweise seine Eindrücke des Brenta- Elsas in seinem eigenen Haus im Rödelheimer Parkweg. We- noparks und der umliegenden Naturflächen in seinen Bildern gen einer schwereren Krankheit war der Künstler für längere verarbeitete. Besonders Bäume und ein stiller Dialog mit ihnen Zeit an die Wohnung gebunden, was Grund für eine steigende tauchen immer wieder in seinen Werken auf. Es waren unter

John Elsas, um 1929 „Ich lebe in dem / Baum im Feld, es ist der Baum nur / meine Welt“ Dorothee Hoppe: „Der Frankfurter Künstler John Elsas 1851–1935“, Bild 14182, 7.10.1931, Museum im Lagerhaus, Dorothee Hoppe: 2014, S. 183 „Der Frankfurter Künstler John Elsas 1851–1935“, 2014, S. 20 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | SABRINA LANGMANN, RÖDELHEIM 87

SABRINA LANGMANN

Sabrina Langmann, geboren am 6. März 1986, studierte Anglistik/Amerikanistik und Kunstgeschichte in Münster, Nord- rhein-Westfalen. Nach dem Abschluss (Master of Arts) arbeitete sie im Kunstmu- seum Pablo Picasso Münster. Nach ihrem Umzug nach Frankfurt am Main war sie im Deutschen Ledermuseum in Offenbach als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig.

Aktuell arbeitet Frau Langmann als Fachlehrerin für Englisch und Kunst in Friedberg. „Ist John Elsas / an meiner Seite, so ist mein Leben / eine Freude“ Bild 23368, 11.11.1934, Museum im Lagerhaus, Dorothee Hoppe: „Der Frankfurter Künstler John Elsas 1851 –1935“, 2014, S. 23 Im Frankfurter Stadtteil Rödelheim lebt sie seit 2016.

anderem auch Hinweise auf Zirkusbesuche und den nahegelegenen Luftschiffhafen am Rebstock zu fi nden. Es wurde jedoch auch klar, dass John Elsas seinen Blick häufi g in die Ferne richtete und Geschehnisse wie beispielsweise ein Erdbeben in Israel in seinen Werken abbildete.

»JOHN ELSAS SPIEGELT DEN STADTTEIL RÖDELHEIM IN SEINEN WERKEN AUF BESONDERE WEISE WIDER UND LÄSST IHN AUS EINER VERGANGENEN ZEIT WIEDER AUFLEBEN.«

Abschließend kann gesagt werden, dass John Elsas den Stadtteil Rödel- heim leicht verborgen, aber auf besondere Weise in seinen Bildern wi- derspiegelt und ihn aus einer vergangenen Zeit wieder aufl eben lässt. 88 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MARINA MEDINA, STADTTEILÜBERGREIFEND

MARINA MEDINA, STADTTEILÜBERGREIFEND

Das Haus der Stille: Gotteshäuser im 21. Jahrhundert?

Die ersten Erzählungen von einem Gotteshaus in den abrahami- tischen Religionen werden im Buch Exodus überliefert. In die- ser ersten Überlieferung wird das erste Haus Gottes als ein Zelt aus feinen und kostbaren Tüchern und Gegenständen beschrie- ben, das die Hebräer mit sich trugen, solange ihre Wanderung dauerte, um Gott zu preisen und zu ehren. Jahrhundertelang galt der Tempel Salomos als unübertroffen und maßgebend für die Sakralarchitektur.

Das Christentum liefert im Neuen Testament keine Beschrei- bung für den Bau eines Gotteshauses, deshalb entwickelte sich dessen Bautradition nach dem Vorbild des Tempels Salomos. Seit dem Mittelalter gewinnt das Bild des Himmlischen Jerusa- lems (aus der Offenbarung des Johannes) an Bedeutung. Dieses Idealbild wird sich schließlich in den Kathedralen in ganz Euro- pa widerspiegeln.

In der islamischen Tradition gibt es ebenfalls keine Vorschrif- ten, wie eine Gebetsstätte aussehen soll. Die Moscheen waren Eingang des Hauses der Stille ursprünglich ganz einfache, offene Plätze. Der Überlieferung Foto: privat nach soll der Prophet Mohammed in einem eingerahmten offe- nen Platz gebetet haben. Auch soll der Prophet selbst am Bau der ersten Moscheen, wie der Al-Quba-Moschee (außerhalb bauten, was ich am Beispiel von sechs Frankfurter Kirchen aus von Medina) und der Al-Nawabi-Moschee (in der Stadt Medi- verschiedenen Stadtteilen verdeutliche. Wichtig sind die Spal- na), mitgewirkt haben. tung der christlichen Kirche und die Architekturmerkmale nach der Reformation sowie die Bauten der Synagogen und die erste Die Moscheebauten haben sich im Laufe der Zeit weiterentwi- Moschee in Frankfurt am Main. ckelt und an die lokalen Gegebenheiten und Traditionen der je- weiligen Länder angepasst. So sind ganz unterschiedliche Bau- Der Schwerpunkt meines Buches ist das im Jahr 2010 einge- stile entstanden – von einer arabischen oder türkischen bis hin weihte Haus der Stille. Das Gebets- und Begegnungshaus steht zu einer indonesischen Moschee. In Europa jedoch sind kaum auf dem Gelände der Goethe-Universität. Es steht für ein neues solche großartigen Bauten zu sehen, ja, Moscheen sind dort Konzept für das Zusammenkommen von jungen Gläubigen aus von außen oft kaum als solche erkennbar. unterschiedlichen Glaubensrichtungen. Architektonisch be- trachtet, zeigt das Haus der Stille kein Ornament oder religiöses Die lange Tradition der Sakralarchitektur in Europa wird nach Merkmal. Es steht da, schlicht und offen für jeden, der für sich dem Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Es entwickelte sich ein sein möchte oder an einer bestimmten gemeinsamen Gebets- völlig neues Verständnis von Raum und Funktion der Sakral- stunde teilnehmen möchte. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | MARINA MEDINA, STADTTEILÜBERGREIFEND 89

»DAS HAUS DER STILLE STEHT FÜR EIN NEUES KONZEPT FÜR DAS ZUSAMMENKOMMEN VON JUNGEN GLÄUBIGEN AUS UNTERSCHIED- LICHEN GLAUBENSRICHTUNGEN.« MARINA MEDINA

Marina Medina ist 1966 in San Luis del Ohne eine bestimmte Liturgie vorzuschreiben, lädt das Haus der Stille Palmar, Corrientes, Argentinien, geboren. zum gemeinsamen Gebet ein. Das Haus der Stille wird keine Synagoge, Nach dem Abitur entschied sie sich für keine Kirche und keine Moschee ersetzen können, jedoch bietet es ein eine Ausbildung zur Gymnastiklehrerin Programm, das den Dialog und den Austausch der Religionen fördert. am Instituto Privado de Educación Física Es steht für Toleranz, Respekt und Verständnis für den Glauben der in Buenos Aires. Anderen. 1993 kam sie nach Deutschland, um „Ich bin als Christ gegangen, Deutsch zu lernen. Nach einer zehnjähri- ich habe mich als Hindu gefunden gen Tätigkeit beim Argentinischen Gene- und ich kehrte als Buddhist zurück, ralkonsulat in Frankfurt am Main begann ohne doch aufgehört zu haben, sie ein Studium an der Goethe-Universität ein Christ zu sein.“ Frankfurt, welches sie erfolgreich mit dem (Raimon Panikkar: „Der neue religiöse Weg. Im Dialog der Religionen Grad Magistra Artium der Kunstgeschich- leben“, München 1990, S. 51) te und der Vergleichenden Religionswis- senschaft abschloss. Obwohl sich dieses großartige Zitat direkt auf andere Weltreligionen bezieht, möchte ich es generalisieren und dieses Verständnis auf alle Sie absolvierte Praktika in einer Kunstgale- Religionen übertragen. Schön wäre es, wenn die Menschen lernen wür- rie, im Museum Angewandte Kunst sowie den, sich in den anderen Religionen zu fi nden, ohne ihre eigene durch im Ikonen-Museum Frankfurt, wo sie ein Gewalt oder Unterdrückung aufgeben zu müssen – und wenn sie da- Jahr lang als freie Mitarbeiterin tätig war. durch bereit wären, viele bereichernde Begegnungen in Häusern der Seit 2014 betreibt sie selbstständig eine Stille miteinander zu teilen. Kunstberatung und organisiert Ausstel- lungen und Konzerte für Künstler.

Sie ist Teil des Teams des Kulturzentrums PRESENCE Kulturlounge in Frankfurt am Main. Seit 2015 ist sie Kunst- und Kultur- beraterin beim japanischen Verein Shumei Deutschland e. V.

Marina Medina hat mehrere Studienreisen unternommen, u. a. nach Venedig, Florenz, Rom, Paris, Bayeux, Prag und zuletzt nach Nara und Kyoto in Japan.

Neben Spanisch als Muttersprache spricht Marina Medina Deutsch, Englisch, Italienisch und Guaraní (die Sprache der ethnischen Gruppe Guaraní, die in Süd- brasilien, Paraguay und Nordostargenti- Relikt: Bara Lehmann-Schulz, 2010. Haus der Stille nien heute noch gesprochen wird). Foto: privat 07

MEDIZIN, RECHT UND WISSENSCHAFT 07

MEDIZIN, RECHT UND WISSENSCHAFT 92 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RUDOLF DEDERER, WESTEND

RUDOLF DEDERER, WESTEND

Vom Scherbenfund auf dem Affenstein zum Denk- und Erinnerungsmal für die erste Alzheimer-Patientin Auguste D.

Mit Auguste D. beschäftige ich mich seit 2008. Damals wurde 25. November 1901 war die aus Kassel stammende 51-jährige bei Ausschachtungsarbeiten auf dem Campus Westend der Auguste D., geb. H., in die Klinik aufgenommen worden. Der Goethe-Universität der Affenstein-Turm freigelegt. Der Histori- Oberarzt der Klinik, Dr. Alois Alzheimer, diagnostizierte an ihr kerstreit, der um den Turm entbrannte (Warte der alten Stadtbe- die später nach ihm benannte Krankheit. In der 1995 wieder festigung vs. Eiskeller der ehemaligen Frankfurter Psychia­trie), aufgefundenen Krankenakte hatte er seine Beobachtungen an veranlasste mich, mir den Fundort anzusehen. Ich sah nicht nur der Patientin minutiös protokolliert. Von der Alzheimer-Krank- den Turm, sondern unmittelbar daneben einen enormen Scher- heit sind heute in Deutschland schätzungsweise 60 Prozent der benhaufen. Er war aus dem Turm geborgen worden. So viele circa 1,6 Mio. Demenzkranken betroffen. Scherben auf einem Haufen hatte ich noch nicht gesehen. Mit den 2008 zutage geförderten Scherben assoziierte ich so- Das zerschlagene Geschirr stammte aus dem „Irrenschloss wohl „Alzheimer“, die „Krankheit des Vergessens“, als auch die auf dem Affenstein“, der von Heinrich Hoffmann, dem „Vater“ Patientin Auguste D. Für mich war hier nicht nur ein Stück Me- des „Struwwelpeter“, 1859 – 1864 vor den Toren der Stadt auf dizin- und Frankfurt-Geschichte sichtbar geworden, sondern dem Affensteiner Feld errichteten Frankfurter Psychiatrischen auch ein Einzelschicksal. Auguste D. war zwar nicht Subjekt Klinik. Das „Irrenschloss“ wurde 1929 abgebrochen und das der Geschichte gewesen wie Alois Alzheimer, sie hatte nicht Gelände planiert der I. G.-Farben-Industrie übereignet. Am wie dieser aktiv gehandelt, sondern ihr Schicksal bloß erlitten,

Frankfurter Stadtplan von 1904 mit dem „Irrenschloss“ STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RUDOLF DEDERER, WESTEND 93

RUDOLF DEDERER Die Denkmal-Skulptur auf dem Uni-Campus Westend Foto: privat Jahrgang 1938, Jurist. Geboren ist er in Frankfurt am Main, genauer gesagt im aber ohne sie hätte Alzheimer seine medizingeschichtlich bedeutsame Westend. Undeutliche Bilder vom Pal- Entdeckung nicht machen können. Wenn auch die Begegnung des for- mengarten und dem Grüneburgpark, wo schenden Arztes mit seiner Patientin nur zufällig war, so sind doch die er mit seinen Geschwistern spielte, gehö- Biografi en der beiden eng miteinander verknüpft. Auguste D. hat es ren zu seinen frühesten Erinnerungen an deshalb verdient, wie Alzheimer als Person der Geschichte eigenstän- Frankfurt. Kindheit und Jugend verbrachte dig wahrgenommen und in Frankfurt mit einem Denkmal gewürdigt zu er im Wesentlichen in der Praunheimer werden. Ernst-May-Siedlung. 1956 konnte die Familie wieder in das bis dahin von der amerikanischen Militäradministration beschlagnahmte Haus im Westend ein- »AUGUSTE D. HAT ES VERDIENT, WIE ALZHEI- ziehen. MER ALS PERSON DER GESCHICHTE EIGEN- Er war über 30 Jahre in Frankfurt bei STÄNDIG WAHRGENOMMEN UND IN FRANK- einem Bundesverband von Sozialversiche- FURT MIT EINEM DENKMAL GEWÜRDIGT ZU rungsträgern tätig. Seit 2001 genießt er WERDEN.« den Ruhestand.

Nach Jahrzehnten an anderen Frankfurter Adressen – in der Nordweststadt, dem Nordend, dem Ostend – kehrte er schließ- Einen ersten „Anlauf“ dazu habe ich mit meiner Installation „Denk mal lich ins Westend zurück. Er fühlt sich mit an Auguste – Scherben der Erinnerung“ unter Verwendung von Ori- diesem Stadtteil aufs engste verbunden. ginalscherben aus dem Affenstein-Turm unternommen, die seit März Deshalb ist er Mitglied der Aktionsge- 2016 im Frankfurter Gesundheitsamt einen dauerhaften Ausstellungs- meinschaft Westend (AGW), einer der platz gefunden hat. ältesten noch bestehenden Bürgeriniti- ativen, die kritisch die Maßnahmen von Meine Recherchen zur Biografi e von Auguste D. habe ich in einer soge- Stadtplanungsamt und Bauaufsicht im nannten Biografi schen Erzählung zusammengefasst. Sie vollzieht den Stadtteil begleitet. Über mehrere Jahre war Tag nach, an dem Auguste D. in Begleitung ihres Ehemanns von ihrer er ihr stellvertretender Vorsitzender. Im Wohnung in Sachsenhausen aus den Weg zur Klinik auf dem heutigen Bürgerinstitut mit Sitz im Rothschildpark Campus Westend der Goethe-Universität antritt. Die Erzählung hat den beteiligt er sich ehrenamtlich als Vorleser Titel „Frankfurt am Main, 25. November 1901 Vormittags 10 1/2 Uhr“. an einem Literaturprojekt für Senioren.

2017 hat sich die Goethe-Universität dafür gewinnen lassen, auf ihrem Informationen rund um sein Stadtteil- Campus Westend, ziemlich genau dort, wo das „Irrenschloss“ stand, ein Historiker-Projekt hat er auf Erinnerungsmal für Auguste D. zu errichten. In enger Zusammenarbeit www.denkmalanauguste.de zusammen- mit mir hat daraufhin der Künstler Bruno Feger eine moderne Skulp- gestellt. tur aus verzinktem Stahl geschaffen, die den Titel „Haus der Winde“ trägt. Die Skulptur ist am 5. Juli 2018 feierlich an die Universität überge- ben worden. So ist nach gut 10 Jahren der Beschäftigung mein Projekt eines Denkmals für Auguste D. in Frankfurt ans Ziel gekommen. 94 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | JULIA LANTELME, WESTEND

JULIA LANTELME, WESTEND

Das Institut für Klassische Philologie an der Goethe-Universität

Das Institut für Klassische Philologie an der Goethe-Universität hat eine mehr als hundertjährige Geschichte. Die Geschichte der Erforschung der lateinischen und altgriechischen Sprache und Literatur geht natürlich bis in die griechische Antike zurück. Seit der Gründung der Johann Wolfgang Goethe-Universität im Jahr 1914 existiert das Institut für Klassische Philologie, wäh- rend viele andere Institute und Fachbereiche erst im Laufe der Jahre an der Goethe-Universität aufgebaut wurden. Das Institut

»DAS INSTITUT FÜR KLASSISCHE PHILOLOGIE AN DER GOETHE- UNIVERSITÄT HAT EINE MEHR ALS HUNDERTJÄHRIGE GESCHICHTE HINTER SICH.«

für Klassische Philologie ist eines von elf Instituten des Fachbe- reichs der Sprach- und Kulturwissenschaften und umfasst zwei

Fächer: Griechische und Lateinische Philologie. Von 1914 bis Das Institut für Klassische Philologie befindet sich im I.G.-Farben-Haus heute existieren zwei Lehrstühle für Klassische Philologie. Ein auf dem Campus Westend. dritter Lehrstuhl bestand von 1963 bis 1975. Inhaber des drit- Foto: privat ten Lehrstuhls war Wolf Steidle (1910 – 2003). Hans von Arnim (1859 – 1931) und Walter F. Otto (1874 –1958) waren die ersten ordentlichen Professoren bzw. Ordinarii, die den ersten (für Die jetzigen zwei Lehrstuhlinhaber sind Hans Bernsdorff Gräzistik) und den zweiten Lehrstuhl (für Latinistik) innehatten. (*1965), der 2003 an die Goethe-Universität kam, und Thomas Während Hans von Arnim von der Gründung bis 1921 als Ordi­ Paulsen (*1959), der 2004 der Universität beitrat. Die Studie- narius an der Goethe-Universität arbeitete, tat dies Walter F. rendenzahlen dieses Instituts sind konstant geblieben in den Otto bis 1934. Dabei waren einige unter den Ordinarii, die dem letzten Jahren. Im Sommersemester 2011 gab es 358 Studie- Institut für Klassische Philologie und damit auch der generellen rende (von insgesamt 41.341 Studierenden an der Goethe- Wissenschaft dieses Bereichs sehr weiterhalfen, beispielsweise Universität), während im Wintersemester 2017/18 noch 357 Hans von Arnim. Studenten am Institut für Klassische Philologie studierten (von STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | JULIA LANTELME, WESTEND 95

JULIA LANTELME

Julia Lantelme ist am 12.11.1998 in Frank- furt am Main geboren. Sie besuchte eine Grundschule in Frankfurt und daraufhin das Heinrich-von-Gagern-Gymnasium, ein altsprachliches Gymnasium mit neu- sprachlichem Zweig. Ihr Abitur machte sie im Sommer 2018.

Mit 16 Jahren erhielt sie das START- Stipendium der Gemeinnützigen Hertie- Stiftung für sozial engagierte Schüler und Die Bücher der Klassischen Philologie Hier befi nden sich die Büros des Insti- Schülerinnen. Sie schloss zwei Jahre später sind in der Bibliothek für Geisteswis- tuts für Klassische Philologie im I.G.- ein Schülerstudium beziehungsweise senschaften zu fi nden. Farben-Haus. Vorstudium im Fach Lateinische Philolo- Foto: privat Foto: privat gie an der Goethe-Universität ab, wo sie auch später ein zweiwöchiges Praktikum absolvierte (im Institut für Klassische insgesamt rund 48.000 Studierenden). Das Institut für Klassische Philo- Philologie). logie ist auf zwei Standorte der Universität aufgeteilt, und zwar Campus Westend und Campus Bockenheim. In Zukunft soll jedoch der Campus Sie befi ndet sich zurzeit (2018) in ihrem Bockenheim nicht mehr Teil der Universität sein, sodass das gesamte Abschlussjahr. Sie konnte für ihre Institut auf den Campus Westend verlegt werden wird. Recherchen auch auf persönliche Gespräche zurückgreifen, zum Beispiel Zurzeit befi ndet sich das Geschäftsführungsbüro und Sekretariat des mit Prof. Dr. Thomas Paulsen und mit Instituts im I.G.-Farben-Haus auf dem Campus Westend (Norbert- Claudia Philhofer, Sekretärin des Instituts. Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt am Main). Prof. Dr. Hans Bernsdorff ist 2018 der Geschäftsführende Direktor des Instituts. Als eines der kleinsten Institute der Sprach- und Kulturwissenschaften ist es den Professoren und allen Dozenten möglich, die Studenten sehr gut zu be- treuen und ihnen zu helfen. Insgesamt herrscht deshalb auch eine sehr angenehme Stimmung untereinander und im gesamten Institut. 96 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ULRICH WEIß, BOCKENHEIM

ULRICH WEIß, BOCKENHEIM

Hugo Sinzheimer – Vater des modernen Arbeitsrechts

Meine Arbeit widmete sich ganz der Biografie Hugo Daniel Sinz- heimers. Er stammte ursprünglich aus Worms, wurde Rechts- anwalt, und vertrat vor allen Dingen kleine Leute bei Arbeitsge- richtsprozessen. Gleichzeitig arbeitete er als Rechtsanwalt für den Deutschen Metallarbeiterverband und für den Verband der Druckereiarbeiter. Dabei setzte er sich für die Einführung von Tarifverträgen und einheitlichen Arbeitsverträgen sowie für die Schaffung von Betriebsräten ein. 1916 wurde er für die SPD in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt.

Hugo Sinzheimer im holländischen Exil 1939

»HUGO SINZHEIMER HINTERLIEß VIELFÄLTIGE SPUREN. DIE EUROPÄISCHE AKADEMIE DER ARBEIT BESTEHT BIS Bei der ersten Reichstagswahl erhielt Sinzheimer ein Reichs- tagsmandat. Als Abgeordneter brachte er die Tarifvertragsver- HEUTE FORT.« ordnung und weitere Bestimmungen über Arbeitsrecht und Mitbestimmung auf den Weg.

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde Sinzheimer in Schutzhaft genommen. Nachdem Die Novemberrevolution von 1918 änderte vieles. Hugo Sinz- man ihn freigelassen hatte, flüchtete er mit seiner Familie nach heimer wurde kommissarischer Polizeipräsident, bis er in die Holland. In Amsterdam erhielt er einen Lehrstuhl für Rechtsso- Verfassungsgebende Versammlung nach Weimar gerufen wur- ziologie, ein weiterer folgte in Leiden 1936. Nach der Besetzung de. Ab 1919 wurde er Professor für Rechtssoziologie an der Hollands 1940 tauchte Sinzheimer mit seiner Familie unter und Frankfurter Universität. Gemeinsam mit Theodor Thomas vom entging der Deportation bis zum Kriegsende. Zentralverband der Dachdecker ermöglichte er die Einrichtung eines Arbeiterbildungsinstitutes an der Universität Frankfurt Für diese Arbeit waren Recherchen im Institut für Stadtge- am Main – die Europäische Akademie der Arbeit besteht bis schichte und im Universitätsarchiv notwendig, allerdings war heute fort. die Quellenlage sehr dürftig. Es gibt so gut wie keine Biografien STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ULRICH WEIß, BOCKENHEIM 97

ULRICH WEIß

1974 in Nürnberg geboren, Abitur, danach eine Ausbildung zum Eisenbah- ner im Betriebsdienst. Gewerkschaftlich orga nisiert, wird er Seminarleiter in der gewerkschaftlichen Bildung. Von 2000 bis 2001 Studium als Stipendiat der Hans- Böckler-Stiftung an der Akademie der Arbeit in Frankfurt, danach studiert er noch bis 2007 Gesellschaftswissenschaf- ten und Politologie. Nebenher arbeitet er als Pförtner, Dachdecker, Mädchen für alles, Zeitungsträger.

In seiner Freizeit liest er gerne Romane über das soziale Leben, die November- revolution 1918 und das sogenannte Dritte Reich, und er gibt gerne Stadtfüh- Hugo Sinzheimer vor dem Reichstag im November 1918 rungen über diese Themen.

über Hugo Sinzheimer, die ich hätte auswerten können. Es hat sich ins- gesamt wenig Neues ergeben. Dennoch habe ich genügend Material über Sinzheimers Leben zusammentragen können, um einen kurzen Aufsatz zu schreiben und eine Stadtführung zu konzipieren. Insgesamt hat es sehr viel Freude bereitet, an den verschiedenen Orten die Akten einzusehen und sich Details anzulesen. Die Stiftung war sehr hilfsbereit und hat Interviews vermittelt. 08

SPORTSTADT FRANKFURT 08

SPORTSTADT FRANKFURT 100 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETER SCHERMER, STADTTEILÜBERGREIFEND

PETER SCHERMER, STADTTEILÜBERGREIFEND

Zur Geschichte der Frankfurter Stadtstaffeln

Im Jahr 2014 habe ich mich an der vom Historischen Museum Besonders in den 1920er-Jahren und dann wieder in den ersten Frankfurt veranstalteten Ausstellungsreihe „Stadtlabor unter­ Jahren nach 1945 mobilisierten die Staffelläufe große Teile der wegs“ beteiligt, die sich zu dieser Zeit mit den Frankfurter Frankfurter Bevölkerung als Zuschauer und boten spannenden Wallanlagen befasste. Mir ging es darum, an die von 1911 bis Sport in der Stadtmitte. Nach Abschluss der Staffelwettbe- 1980 in Frankfurt ausgetragenen Stadtstaffeln zu erinnern, die werbe zogen Läufer und Läuferinnen häufig in eindrucksvollen häufig – zumindest partiell – „Läufe rund um die Wallanlagen“ Umzügen zum Römer, wo dann die Veranstaltung mit der waren. Sieger­ehrung jeweils ihren krönenden Abschluss fand.

Danach hatte ich dann die Möglichkeit, mich als von der Stif- tung Polytechnische Gesellschaft unterstützter Stadtteil-Histo- riker noch eingehender mit der Stadtstaffel-Geschichte zu be- schäftigen. Das war auch erforderlich, weil es hierzu bis dahin nur ganz wenige zusammenhängende Berichte gab.

Nicht einmal die Termine der Staffelläufe waren in Übersichten festgehalten worden. Deshalb ist es mir erst nach Auswertung zahlreicher Archivalien, Vereinschroniken und Zeitungsbe- richte gelungen, Grundzüge der Stadtstaffel-Historie heraus- zuarbeiten.

Auf dieser Basis lassen sich nach dem jetzigen Stand meiner Erkenntnisse fünf Abschnitte dieser Geschichte unterscheiden: Die Läuferin Emmy Haux (SC 1880 Frankfurt) beim Ziel-Einlauf 1926 a) Anfangsjahre der Stadtstaffel-Läufe: am Opernplatz. Das Bild wurde vom Archivar des SC 1880 zur Verfü- gung gestellt. „Stadtstafetten“ (1911 – 1918) b) Blütezeit der Frankfurter Stadtstaffel-Läufe: „Rund um Frankfurt – Rund um die Anlagen“ (1919 – 1932) Meine Zielsetzung, die Frankfurter Stadtstaffeln in ihrer zeit- c) Stadtstaffeln während der NS-Zeit: lichen Folge zu beschreiben, hat mich aber auch schnell zu der „Gepäckmärsche bis zum Platz der SA“ (1933 – 1942) Frage geführt, welche Motive es für die ab 1911 ausgetragenen d) Wiederbelebung nach 1945: Stadtstafetten überhaupt gab. „Rund um die Anlagen“ (1948 – 1963) e) Auflösungstendenzen der Frankfurter Stadtstaffeln: Immerhin war es zu dieser Zeit noch nicht selbstverständlich, „Rund um den Römer“ (1964/1965) – „Quer durch den Ost- dass sich relativ leicht bekleidete Läufer an einem Sonntag park“ (1966) – „Letzte Versuche“ (1976 und 1980). oder Feiertag auf die Staffelstrecke durch die großstädtischen Straßen begaben. Deshalb mussten die Teilnehmer an den ersten Stafetten – wohl nicht nur aus Sorge um ihre Gesundheit – ja auch bis zu ihrem Start Mäntel tragen. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | PETER SCHERMER, STADTTEILÜBERGREIFEND 101

PETER SCHERMER

Peter Schermer wurde am 26. Juni 1934 in Stettin geboren und besuchte die Grund- schule sowie das Gymnasium zunächst in Darmstadt. 1954 bestand er dann am Lessing-Gymnasium Frankfurt das Abitur. Nach einer Lehre als Industriekauf- Streckenplan 1957 mann studierte er an der Goethe-Univer- sität Wirtschaftswissenschaften. Bei der Suche nach den Hintergründen wurde mir schnell bewusst, dass es ein langwieriger Weg vom Nebeneinander des „volkstümlichen Dieses Studium schloss er 1959 mit dem Turnens“ und der schwerathletischen Übungen bis zur „Leichtathletik“ Examen als Diplom-Handelslehrer ab. als neuer Sportart war. Als Dreh- und Angelpunkt auf diesem Weg kann Schermer unterrichtete an der Kreisbe- der Palmengarten gelten, dessen Bedeutung als wichtigste Frankfurter rufsschule Hofheim (Taunus) und nahm Sportstätte in den Jahren von 1886 bis 1910 heute völlig unterschätzt später Funktionen in der Unterrichtsver- wird. waltung wahr. Nach der Versetzung in den Ruhestand engagierte er sich ehrenamtlich im Vorstand seines Sportvereins sowie »DIE STADTSTAFFEL GEHÖRTE BALD ZUM beim Landessportbund Hessen (lsb h). LEBEN DIESER GROßEN STADT AM MAIN WIE DER WÄLDCHESTAG.« Seit 2009 leitet er dort den Arbeitskreis Sport und Geschichte, zu dessen Aufgaben die Förderung der Archivarbeit in Sport- Dazu kommt, dass auch der maßgebliche Einfl uss des 1887 gegründe- verbänden, Sportvereinen und Sportkrei- ten Frankfurter Turnsportverbands auf die Entwicklung – nicht nur – der sen, der Ausbau des lsb h-Archivs sowie Frankfurter Leichtathletik bisher ebenfalls nicht ausreichend gewürdigt die Unterstützung von sporthistorischen worden ist. Das Engagement der „Funktionäre“ dieses Verbands war Projekten gehören. aber die entscheidende Voraussetzung für ein Jahrzehnt sogenannter „Olympischer Spiele“ im Frankfurter Palmengarten.

Start der Männerstaffeln im Jahr 1925 am Opernplatz. Das Bild ist dem Buch „Frankfurter Sport-Almanach 1925-26“ entnommen. 102 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RICHARD STURM, NIEDERRAD / SACHSENHAUSEN

RICHARD STURM, NIEDERRAD / SACHSENHAUSEN

Der Renn-Klub Frankfurt am Main unter der Präsidentschaft von Dr. Arthur von Weinberg zwischen den beiden Weltkriegen (1918 – 1938)

Der Frankfurter Renn-Klub wurde im Herbst des Jahres 1896 Dr. Arthur von Weinberg muss- gegründet. Der Rheinische Renn-Verein (Gründungsjahr 1863) te aufgrund der Nürnberger und der Verein für Hindernis-Rennen (Gründungsjahr 1893) Gesetze alle seine beruflichen waren bis dahin gemeinsam für die Organisation, den Rennbe- und ehrenamtlichen Funktionen trieb und die baulichen Einrichtungen auf der Pferderennbahn aufgeben. Er zog sich nach der verantwortlich. Beide Vereine schlossen sich 1896 zum Renn- Pogromnacht am 9./10. Novem- Klub Frankfurt am Main zusammen. Stadtrat Albert von Metzler ber 1938 aus der Öffentlichkeit war der erste Präsident des Klubs. zurück. Unter beschämenden Be- dingungen musste er Ende 1938 Just in das Jahr 1896 fiel auch die Gründung des Gestüts Wald- seinen Besitz Haus Buchenrode fried durch die Brüder Dr. Arthur Weinberg und Carl Wein- an die Stadt Frankfurt zwangs- berg. Die Erhebung der beiden Brüder in den Adelsstand er- verkaufen. Im Juni 1942 wurde folgte erst im Jahre 1908. Das Gestüt Waldfried lag in Nähe der Arthur von Weinberg von der Geheimrat Dr. Arthur von Frankfurter Galopprennbahn in Niederrad, das im Jahre 1900 Gestapo verhaftet und in das KZ Weinberg Stadtteil von Frankfurt wurde. Ohne Überstürzung baute sich Theresienstadt gebracht. Dort Foto: Institut für Stadtgeschichte aus Kleinem Großes auf. In diesem Gestüt gelangen großartige starb der 82 Jahre alte Frankfur- Frankfurt Zuchterfolge, die bald schon auf Deutschlands Rennbahnen für ter nach einer Gallenblasenope- aufsehenerregende Erfolge des Waldfrieder Rennstalls sorgten. ration am 20. März 1943. Im Jahre 1918 verstarb der Präsident des Renn-Klubs, Stadtrat Albert von Metzler. Zum neuen Präsidenten des Renn-Klubs wurde Geheimrat Dr. Arthur von Weinberg ernannt. In der Gestüt Waldfried, circa 1925 Zeit nach dem Ersten Weltkrieg veränderten sich die Verhält- Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt nisse des Renn-Klubs stark zu seinem Nachteil. Die allgemeine XXXXXXXXXXXX Wirtschaftslage verschlechterte sich von Jahr zu Jahr. Dessen Foto: xxxxxx ungeachtet gelang es dem Renn-Klub, ohne städtische finan- zielle Unterstützungen zu bestehen, weil ihm von seinen nicht­ arischen Mitgliedern die erforderlichen Zuwendungen gemacht wurden. Das änderte sich mit den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935. Die nichtarischen Mitglieder schieden aus dem Vorstand aus. Infolgedessen, da nun die erforderlichen Mittel nicht mehr aufgebracht werden konnten, beschloss der Renn-Klub in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 14. Dezember 1935 die Liquidation des Vereins. Dem Renn- Klub Frankfurt a. M. e. V. i. L. (in Liquidation) folgte im Jahr 1936 der eiligst von sogenannten Ariern gegründete Frankfur- ter Renn-Verein e. V. nach, der am 26. April 1936 zur Saison­ eröffnung seinen ersten Renntag durchführte. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | RICHARD STURM, NIEDERRAD / SACHSENHAUSEN 103

RICHARD STURM

Der Stadtteil-Historiker Richard Sturm ist Jahrgang 1950 und gelernter Groß- und Rennbahn Niederrad, circa 1935 Außenhandelskaufmann. In den 1970er- Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt Jahren fügte er seiner Ausbildung noch ein sechssemestriges, berufsbegleitendes Studium an der Betriebswirtschaftsaka- »DR. ARTHUR VON WEINBERG: WISSEN- demie in Wiesbaden mit dem Abschluss SCHAFTLER, UNTERNEHMER, MÄZEN, „Geprüfter Betriebswirt“ hinzu.

LEIDENSCHAFT UND GÖNNER FÜR DEN Berufl ich war er ausschließlich mit Ver- PFERDERENNSPORT, NS-OPFER« triebsaufgaben in der Büromöbelbranche beschäftigt. Im Jahre 2015 trat er in den Ruhestand.

Überraschend musste ich bei meinen Nachforschungen erfahren, Schon in jungen Jahren an der Histo- dass die Klub-Bibliothek im Krieg ein Raub der Flammen wurde. Je- rie seiner Geburtsstadt Frankfurt am doch konnte ich in Archiven, Bibliotheken und Museen noch eine ganze Main interessiert, musste er sich bei der Menge Informatives über die Zeit von 1918 bis 1938 zusammentragen. Bewerbung als Stadtteil-Historiker für Besonders die Magistratsakten im Institut für Stadtgeschichte waren ein ganz bestimmtes Thema entscheiden. hier sehr ergiebig. Ich wusste bis dahin noch nicht, wie spannend und Im „Dunstkreis“ der Pferderennbahn im interessant es sein kann, in alten Akten zu lesen. Stadtteil Niederrad aufgewachsen, und angesichts der Tatsache, dass die mitt- Meine ermittelten Ergebnisse werde ich in einer Präsentation einer an lerweile 153 Jahre alte Rennbahn durch dem Thema interessierten Öffentlichkeit vorstellen. einen Beschluss der Stadtverordneten der geplanten DFB-Akademie weichen muss, war es ihm von besonderem Interesse, einen Zeitabschnitt zwischen den beiden Weltkriegen aufzuzeigen, in dem der Pferde rennsport bei dem Frankfurter Bürgertum einen hohen Stellenwert hatte.

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GESELLSCHAFTLICHE BEWEGUNGEN UND IHRE TRÄGER 09

GESELLSCHAFTLICHE BEWEGUNGEN UND IHRE TRÄGER 106 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | AGNES RUMMELEIT, SCHWANHEIM

AGNES RUMMELEIT, SCHWANHEIM

Schwanheimer WeibsBilder: Lebensbilder – Lebenswege

Auf all meinen Reisen sind es immer die Menschen, die mich am meisten faszinieren und zum Fotografieren verleiten. Ähnlich erging es mir, als ich mit meiner Vorstandskollegin die Inven- tarisierung alter Fotografien im Archiv des Heimat- und Ge- schichtsvereins Schwanheim e. V. übernahm.

Die ältesten Bilder sind mehr als 130 Jahre alt, manche Aufnah- men weisen schon etwas bläuliche Schattierungen auf, aber meistens sind sie noch gestochen scharf. Fast ausschließlich entstanden sie in Fotoateliers, denn in den Anfangsjahren der Fotografie konnten Bilder nur von Profis aufgenommen werden. Bis sich Laien eine Fotoausrüstung leisten und sie bedienen konnten, gingen noch viele Jahre ins Land.

Demzufolge entstanden Fotografien vor allem zu besonderen Der Weg führte daher zuerst zu „bekannten“ Männern und de- Anlässen wie Hochzeit, Kommunion oder Konfirmation, aber ren Frauen. Nur über diese Frauen zu berichten war mir aber zu auch Porträts, Familienfotos und Gruppenaufnahmen waren in wenig. Bald wurde mir klar, dass es darüber hinaus zwei Grup- Mode. Auffällig ist, dass viel mehr Fotos von Männern als von pen von Frauen waren, zu denen Bilder und Dokumente erhal- Frauen erhalten geblieben sind. Dennoch waren es gerade diese ten geblieben sind. Schon bei der Museumsneugestaltung im wenigen alten Aufnahmen von Schwanheimer Frauen, die mein Jahr 2003 hatte ich mich mit den Schwanheimer Nähmädchen Interesse weckten und meinen Entschluss stärkten, mehr über beschäftigt. So war es für mich fast selbstverständlich, diesem ihr Leben zu erfahren. Als Problem erwies sich allerdings, dass Berufszweig auch bei der Bildersuche nachzugehen. von „normalen“ Frauen fast keine Unterlagen erhalten sind. Der Weg führte zuerst zu Prof. Dr. Wilhelm Kobelt. Der erste Schwanheimer Arzt, Wissenschaftler und praktische Volkswirt hat eine Fülle an gedruckten Spuren hinterlassen. In seinem Buch „Heimatkunde und Heimarbeit“ beschreibt er sehr an- schaulich den steinigen Weg der Nähmädchen aus der Heim­ arbeit in die Selbstständigkeit und in die Arbeit in den Hemden- fabriken. Durch viele Gespräche, Bilder und Recherchen konnte ich dieses Kapitel bis in die 1960er-Jahre beleuchten.

Alle Fotos aus dem Projekt, Sammlung Heimat- und Geschichts­ verein Schwanheim STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | AGNES RUMMELEIT, SCHWANHEIM 107

Klassenfotos waren die zweite Quelle für einen großen Teil der Personenfotos. Fast in jedem Haushalt gab und gibt es diese – und so gelangen auch viele in das Archiv. Auf ihnen ist sehr gut AGNES RUMMELEIT nachzuvollziehen, ab wann auch Frauen in den Lehrerberuf ein- treten konnten. Sehr hilfreich war Agnes Rummeleit lebt seit ihrer Geburt hier die Chronik der Schwanhei- 1948 im Frankfurter Stadtteil Schwan- mer August-Gräser-Schule. Als heim. Nach einer kaufmännischen Ausbil- erste Lehrerin wird Fräulein Mar- dung arbeitete sie mehrere Jahre als Buch- garethe Jäger 1876 erwähnt. Sie halterin und ab 1971, mit Unter brechung ist auch 1885 gemeinsam mit ih- nach der Geburt ihrer Tochter, bis zur rer Kollegin Katharina Paulus auf Pensionierung bei der Nestlé Deutschland einem Foto des damaligen Lehrer- AG im Marketing und PR-Bereich. Hier kollegiums zu sehen. beschäftigte sie sich unter anderem mit dem Archiv der Sarotti AG.

»ES WAREN GERADE DIE WENIGEN ALTEN 1994 trat sie in den Heimat- und Ge- schichtsverein Schwanheim e. V. ein und AUFNAHMEN VON SCHWANHEIMER FRAUEN, engagiert sich hier seither ehrenamtlich. DIE MEIN INTERESSE WECKTEN UND MEINEN Viele Sonderausstellungen im Heimatmu- ENTSCHLUSS STÄRKTEN, MEHR ÜBER IHR seum entstanden durch ihre Ideen. Seit LEBEN ZU ERFAHREN.« 2004 organisiert sie die Vereinsausfl üge zu historischen Stätten in Deutschland. 1997 wurde sie in den Vorstand gewählt, den sie seit 2013 als Erste Vorsitzende leitet. An Weitere Recherchen ergaben viele Einzelheiten zu der Ehefrau von der Umgestaltung des Heimat museums Prof. Dr. Wilhelm Kobelt, den Frauen der Familie Gastell und zu der zwischen 2003 und 2009 war sie maß- letzten in Schwanheim tätigen Ordensschwester. Aber auch Fotos von geblich beteiligt. Gemeinsam mit ihrer Frauen, über die es nur wenig oder keine Informationen gab, fanden Vorstandskollegin Lilo Günzler schrieb sie wegen ihrer Originalität oder der typischen Art der Fotografi e zu Be- deren Biografi e „Endlich reden“, die 2009 ginn des 20. Jahrhunderts ihren Weg in den Museumsboten „Die Port“, erschienen ist. Für die Schriftenreihe erschienen im März 2016 unter dem Titel „Schwanheimer WeibsBilder: des Vereins, „Die Port“, schrieb sie 2012 Lebensbilder – Lebenswege“. eine Abhandlung über Auswanderer aus Schwanheim. 2014 bis 2016 ergründete sie als Stadtteil-Historikerin die Lebens- wege Schwanheimer Frauen. 108 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | NORBERT SAßMANNSHAUSEN, STADTTEILÜBERGREIFEND

NORBERT SAßMANNSHAUSEN, STADTTEILÜBERGREIFEND

Orte der Revolte: Frankfurt am Main 1965 – 1980

Das Projekt hatte das Ziel, ein „Adressbuch der Revolte“ zu Bislang gab es zwei öffentliche Veranstaltungen zu den Er- erstellen und die vielfältigen Momente der gesellschaftlichen gebnissen des Projekts: Am 12. Mai 2016 fand ein Vortrag mit Debatten und Konflikte der damaligen Zeit in Frankfurt sichtbar dem Titel „Freistaat Bockenheim oder Als Frankfurt einmal die zu machen. In diesem langen „Roten Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) Hauptstadt der Revolte war“ statt. Eine ähnliche Veranstaltung gab es nicht nur Demonstrationen, Straßenkämpfe und Dut- folgte am 7. September 2016 im Club Voltaire. Im Juni 2017 zende linksradikale Organisationen. Entstanden ist auch eine fand eine Veranstaltung gemeinsam mit dem AStA der Goethe- Infrastruktur, die heute vergessen ist, aber auch die Alltagskul- Universität zum 50. Jahrestag des Todes von Benno Ohnesorg tur wie selbstverständlich mitbestimmt. Der Historiker begibt statt, auf der auch über das nahezu unbekannte Projekt eines sich auf die Suche nach dem ersten Bioladen und den besetzten Frankfurter Ohnesorg-Denkmals berichtet wurde. Zu dieser Häusern im Westend, nach Verlagen, Zeitschriften und linken „Entdeckung“ wurde eine kleine Broschüre erstellt. Buchläden. Neben Organisationen der damaligen Zeit sollten Veranstaltungsorte, Zentren und Kneipen sowie Wohngemein- schaften Aufnahme im „Adressbuch der Revolte“ finden – mög- lichst mit zeitgenössischen Dokumenten und Fotos, ergänzt um »ENTSTANDEN IST IN DIESER ZEIT AUCH beschreibende Texte und Aussagen von Zeitgenossen. EINE INFRASTRUKTUR, DIE HEUTE VERGESSEN IST, ABER AUCH DIE ALLTAGS- Das Projekt erscheint als Internetseite unter der Adresse www. KULTUR WIE SELBSTVERSTÄNDLICH orte-der-revolte.de. Das dort aktuell gezeigte Ergebnis versteht sich durchaus als Zwischenergebnis, als work in progress. Ein MITBESTIMMT.« guter Überblick ist aber schon jetzt erreicht. Noch konnten eini- ge der mit Zeitzeugen geführten Gesprächen nicht ausgewertet werden, weitere Gespräche sind geplant. Seit Herbst 2015 wurden die Recherche-Ergebnisse auch bei sieben Stadtführungen vorgestellt. Eine von Norber t Saßmanns­ hausen durchgeführte Tour „Auf den Spuren der Revolte“ wur- de von einem Filmteam des HR begleitet und in einem Beitrag in der Hessenschau dokumentiert.

Zeitzeugen der Revoltejahre wurden als Gäste in der Radio-X- Sendung von Norbert Saßmannshausen (Kulturmagazin Denk­ nomaden, monatlich eine Stunde) vorgestellt (u. a. Rudolf Sie- vers, Albert Sellner).

Norbert Saßmannshausen liest im Club Voltaire Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | NORBERT SAßMANNSHAUSEN, STADTTEILÜBERGREIFEND 109

NORBERT SAßMANNSHAUSEN

Geboren 1949. Seit 1972 in Frankfurt lebend. Studium: Staatlich geprüfter Betriebswirt. Tätigkeiten als Betriebswirt (Hessischer Rundfunk), Geschäftsführer beim Bund Deutscher Pfadfi nder und selbständiger IT-Berater.

Politische Sozialisation: In der Sauerländer Plakate aus dem Projekt Provinz aktiv in der Gewerkschaftsjugend Fotos: privat (Vorsitzender des DGB-Kreisjugendaus- schusses), Mitglied in einer trotzkistischen Gruppe. Ab 1974 in Frankfurt „Übertritt“ zum Sozialistischen Büro, dort in der Eine Buchveröffentlichung ist für das Frühjahr 2018 geplant. Ihr Ar- Frankfurter Gruppe aktiv. beitstitel lautet „Von AZ (Andere Zeitung) bis zum Freistaat Bocken- heim. Orte der Revolte in Frankfurt 1965 – 1980“. Seit 1999 intensivere Anläufe, die Vorge- schichte und die Geschichte des eigenen Für den Stadtteil-Historiker waren die eigenen Erinnerungen (er zog politischen Engagements im Kontext der 1972 nach Frankfurt) eine Ausgangsbasis. Die Durchsicht von Zeit- Zeitgeschichte, der linken Organisati- schriften (beispielsweise die ersten Jahrgänge des Pfl asterstrands, onsversuche und alternativer Projekte der der Anderen Zeitung, der Hauptwache), die Durchsicht von Archiv- 60-er und 70-er-Jahre zu dokumentieren mappen und Dokumentenordnern im Institut für Stadtgeschichte und und zu verstehen. im Universitätsarchiv der Goethe-Universität waren für die Gespräche mit Zeitgenossen von großer Bedeutung – die haptische Präsentation Ausstellung zum 30. Todestag von Hans- von Dokumenten (wie der offi ziellen Bestätigung der Mitgliedschaft im Jürgen Krahl im Jahr 2000 in der Denkbar SDS) half den Zeitzeugen, die Erinnerungen lebhafter zu rekonstruie- in der Frankfurter Schillerstraße und ren. Norbert Saßmannshausen stand aber auch vor nicht erwarteten seitdem Aufbau des Hans-Jürgen Krahl Schwierigkeiten: Über viele der „angedachten“ Orte gibt es bislang Archivs, gemeinsam u. a. mit Udo Riech- keine Literatur, auf die sich ein (Stadtteil-)Historiker stützen könnte: Es mann, und (erfolgreiche) Initiative zum gibt keine Geschichte des Frankfurter SDS (Sozialistischer Deutscher Erhalt der Grabstelle von Hans-Jürgen Studentenbund), keine Geschichte des RK (Revolutionärer Kampf), Krahl in Hannover. keine Geschichte des Pfl asterstrands, keine Geschichte des Club Voltaire, keine Geschichte des Gallus-Zentrums usw. Publikation: „Hans-Jürgen Krahl. Eine biographische Skizze“ in: Hans-Jürgen Auch wenn dieser Mangel manchmal fast schmerzhaft empfunden Krahl, „Konstitution und Klassenkampf“ wurde – die Entdeckerfreude war bei seiner Forschungsarbeit ein steter (Frankfurt, 2008). Begleiter. Aktivitäten zur Geschichte des Stadtteils Bockenheim: Ausstellung zur Sanierung Bockenheims 1979 – 1994. 110 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. WOLFGANG STORM, INNENSTADT

DR. WOLFGANG STORM, INNENSTADT

Jakob Latscha, Kaufmann und Sozialreformer

Im Vordergrund meiner Darstellung steht zunächst Jakob »DU SOLLST DIR HÖHERE ZIELE STECKEN Latschas Rolle als Kaufmann. Aus einfachen ländlichen Verhält- ALS ERWERB UND GENUSS. […] DANN nissen stammend, hatte er nur Volksschulbildung und eröffnete SOLLST DU DARAN DENKEN, DASS DER mit wenig Kapital, aber mit einer klaren Vorstellung, wie man im Lebensmittelhandel erfolgreich sein konnte, seinen ersten MENSCH NICHT DAS RECHT HAT, NUR Laden, aus dem sich noch zu seinen Lebzeiten eine ganze Kette FÜR SICH ZU LEBEN. WEM VIEL GEGEBEN von Ladengeschäften entwickeln sollte. Unternehmergeist, WIRD, VON DEM WIRD VIEL GEFORDERT.« kaufmännische Begabung und Wagemut, gepaart mit Beson-

Jakob Latscha in einem Brief an seinen Sohn Hans

nenheit zeichneten ihn aus. Interessanter fand ich jedoch eine andere Seite seines Wesens. Sein Streben erschöpfte sich nicht im geschäftlichen Erfolg. Noch zu einer Zeit, als die rasche Entwicklung seines Geschäfts fast seine ganze Arbeitskraft er- forderte, kümmerte er sich um diejenigen jungen Menschen, die ihre Familien auf dem Land zurückgelassen hatten, um in der Stadt ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die christliche Einstellung zu dem Nächsten sollte sein Leben zunehmend prä- gen. Persönlich und durch seine Tätigkeit im Christlichen Ver- ein Junger Männer und in der Inneren Mission nahm er sich der jungen Menschen an, die vom Lande kommend ohne Fami- lienanschluss der Unterstützung, Betreuung und Orientierung bedurften. Jakob Latscha erkannte aber auch, welche große Bedeutung eine gerechte Verteilung von Grund und Boden und die menschenwürdige Unterbringung der Bevölkerung für die gesunde Entwicklung der Gesellschaft besitzen. Die Gedanken der Bodenreformbewegung veranlassten ihn zu Überlegungen, wie angesichts eines rasanten Bevölkerungswachstums die an- gemessene Versorgung mit Wohnraum sichergestellt werden könne.

Wohnen im eigenen Haus mit Garten. Ein zufriedener Hausbesitzer mit großer Familie in der Landhaussiedlung Waldheim, Im Klingenrain, im Jahr 1925 Foto: privat STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. WOLFGANG STORM, INNENSTADT 111

DR. WOLFGANG STORM

Dr. Wolfgang Storm, geboren und aufge- wachsen in Frankfurt am Main, studierte Jura in Frankfurt, Washington D.C. und Freiburg und wurde nach Ablegung beider juristischen Staatsexamen und Promotion 1971 Rechtsanwalt in Frankfurt. 1976 zog er von Frankfurt nach Buchschlag. Er war als Partner einer wirtschaftsrechtlich Laden Kleiner Biergrund in Offenbach am Main mit ausschließlich männlichem orientierten Anwaltssozietät und nach Verkaufspersonal, wie im Einzelhandel damals üblich wiederholten Fusionen auch als Partner Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, W 1/70 der Nachfolgersozietäten sowie nach seiner Bestellung auch als Notar tätig. Seit 2002 ist er im Ruhestand.

Nachdem er die Schönheit und sonstigen Vorzüge der vor den Toren der Stadt Frankfurt liegenden Gemarkung Buchschlag kennengelernt hat- te, kam ihm die Idee, dort Häuser mit Gärten für das von der Wohnungs- not besonders betroffene Kleinbürgertum zu schaffen. Als er erkannte, dass sich die kleinen Leute, für die er bauen wollte, diese Häuser nicht leisten konnten, unternahm er einen weiteren Versuch und gründete die Landhauskolonie Waldheim bei Offenbach. Beide Vorhaben nah- men einen großen Teil seiner Arbeitskraft und seiner fi nanziellen Mittel in Anspruch. All dies zu untersuchen schien mir lohnenswert.

Meine Ergebnisse habe ich durch Recherchen in dem sehr umfang- reichen Firmenarchiv der Firma Latscha und den Archiven des Ge- schichtsvereins Buchschlag und des Hauses der Geschichte Offenbach gewonnen. Wichtige Quellen, aus denen sich Hinweise auf Latschas Motivation zu seinem sozialen Engagement ergeben, wurden mir von privater Seite zur Verfügung gestellt. 10

KINDHEIT IN FRANKFURT 10

KINDHEIT IN FRANKFURT 114 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | KARLHEINZ GUTBERLET, ECKENHEIM

KARLHEINZ GUTBERLET, ECKENHEIM

Nachkriegskinder und die Feldscheidenstraße

Die Feldscheidenstraße, eine Straße wie jede andere in Frank- Diese Kinder und auch Jugendlichen hatten die Bombenangriffe furt am Main. Sie gehört zum Stadtteil Eckenheim. der Alliierten miterlebt, in Luftschutzbunkern oder Kellern ge- sessen. Man evakuierte sie in Orte meist ländlicher Regionen, In meinen Geschichten nimmt sie einen besonderen Stellenwert trennte sie von ihren Eltern, ihrer Familie. ein. Das verdankt sie den Nachkriegskindern aus dem Viertel rund um sie herum. Diese Straße war Treffpunkt, Spielplatz, Dann, 1945, war alles vorbei. Nach und nach kamen sie zu- Ort vieler Ereignisse in einer Zeit voller Entbehrungen, aber voll rück. Manche lernten sich erst jetzt kennen. Der Schulunter- glücklicher Momente und lustiger, auch spannender Erlebnisse. richt begann wieder, und es bildeten sich Freundschaften,

Feldscheidenstraße / Eckenheimer Landstraße Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7C2014/1006, Martin Starl STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | KARLHEINZ GUTBERLET, ECKENHEIM 115

KARLHEINZ GUTBERLET »WIR KINDER HATTEN NICHT VERSTANDEN, WAS SICH VOR 1945 IN DER WELT ABSPIELTE. Karlheinz Gutberlet, Jahrgang 1938, ist FÜR UNS GAB ES NUR DAS HIER UND JETZT.« geborener Frankfurter. Er lebte 73 Jahre im Stadtteil Eckenheim, davon 25 Jahre in der Feldscheidenstraße.

Eingeschult wurde er 1944 in einer Dorf- ganze Cliquen in den umliegenden Straßen. Mit der Zeit entstand in der schule in Seulberg, heute ein Ortsteil von Feldscheidenstraße ein Zentrum, ein Treffpunkt für die umgebenden Friedrichsdorf, wohin man ihn evakuiert Straßen. hatte. Neuer Schulanfang 1945 in der Münzenberger-Volksschule Eckenheim. Er Die Erwachsenen hatten mit der Aufarbeitung der vergangenen schlim- erlernte den Beruf des Elektromechanikers men Jahre zu tun. Sie mussten für das Weiterleben sorgen. Über die im Unternehmen Max Braun (heute Braun Vergangenheit wurde oft geschwiegen. AG), wo er bis 1967 als Mechaniker in der Abteilung Sondermaschinenbau arbeitete. Wir waren eben Kinder, die weder verstanden, was sich während der Von 1967 bis zum Ruhestand war er Tech- letzten zwölf Jahre (1933 – 1945) in der Welt abgespielt hatte, noch, nischer Betriebsleiter in einem Betrieb für warum in Frankfurt kaum noch ganze Häuser standen und warum es Papierbearbeitung und Verpackungstech- nicht genug zu essen gab. Für uns gab es nur das Hier und Jetzt. nik.

Ich gehöre auch zu diesen Nachkriegskindern. Heute sind wir die so- Er ist ein sogenannter Spätberufener. Eine genannten analogen Alten, in der neuen digitalen Welt. Nicht jeder der Arbeit als Stadtteil-Historiker hätte er sich Zeitzeugen war von Anfang an bereit mitzuarbeiten, also zu erzählen. vor einigen Jahren noch nicht vorstellen Einige der damaligen Jugendlichen, heute über 90 Jahre alt, konnten können. Sein Fazit nach dem Stipendium dafür aber mehr berichten. lautet: „Heute bin ich froh, diesen Schritt getan zu haben, zumal ich hierbei tolle und Diese Geschichten entstanden nach Aufzeichnungen oder Erzählungen nette Kollegen kennenlernte.“ von Zeitzeugen, eben dieser Kinder und Jugendlichen. Die Form dieser Geschichten habe ich durch fi ktionale Texte vervollständigt.

Ich kam erst spät, also in den letzten Jahren, auf die Idee, Erinnerungen an diese Nachkriegsjahre aufzuschreiben. Durch Zufall erfuhr ich von der Ausschreibung der Stiftung Polytechnische Gesellschaft: „Bürger, die Geschichte schreiben“. Meine Bewerbung hierzu wurde angenom- men, worüber ich sehr überrascht, aber auch glücklich war. Die Arbeit zu diesem Projekt, die Recherche und das Schreiben der Kurzgeschich- ten, hat viel Freude gemacht. 116 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ASAL KHOSRAVI, GOLDSTEIN

ASAL KHOSRAVI, GOLDSTEIN

Kindheit in Goldstein im Wandel der Zeit

Seit 2009 lebe ich mit meiner Familie in Frankfurt-Goldstein. Durch meine Kinder habe ich viele andere Kinder und deren Eltern kennengelernt. Es gibt eine Rutsche, auf der die Kinder seit mehreren Generationen spielen. Das ist in unserer heutigen globalen Welt, in der Menschen aus verschiedenen Gründen ständig ihren Ort wechseln, etwas Besonderes. Goldstein wird immer wieder als kleines Paradies bezeichnet, und einige Be- wohner kommen nach Ausbildung oder Studium gerne wieder zurück an den Ort ihrer Kindheit.

»WÄHREND DES PROJEKTS HABE ICH FESTGESTELLT, DASS MICH ETWAS keit und Großzügigkeit wurden mir die persönlich wertvollen WICHTIGES MIT DEN MENSCHEN HIER und unersetzlichen Fotos ausgeliehen. Begegnungen und Ge- spräche ergänzten meine Eindrücke und vergegenwärtigten mir, VERBINDET, UND ZWAR DIE TATSACHE, wie Kinder in Goldstein aufwuchsen. So wurde der Prozess des DASS AUCH ICH MIR MIT MEINER Sammelns ein erfahrungsreicher Teil meiner Arbeit. FAMILIE HIER EIN NEUES ZUHAUSE SCHAFFEN KONNTE.« Darüber hinaus habe ich mich mit den Fotografien künstlerisch auseinandergesetzt. So sind großformatige Gemälde entstan- den, die in einer Ausstellung im Heimatclub Goldstein neben Fotografien zu folgenden Themen präsentiert wurden: Die Themen Kindheit und Kindheitserinnerungen haben mich immer gereizt, insbesondere die Frage, wie sich die Kindheit Kinder und Natur von Generation zu Generation verändert und wie sie sich in ver- Die Häuser in Goldstein sind Siedlungshäuser aus den 1930er- schiedenen Kulturen unterscheidet. Ich entschied mich, meine Jahren und haben große Grundstücke, die bewirtschaftet wur- Antworten hauptsächlich in Fotos zu suchen: Wie leben die Kin- den und so dem Lebenserhalt dienten. Viele Fotos zeigen Kinder der in Goldstein? Wie gestaltet sich ihr Alltag? Wie haben die in Gärten, auf Bäumen, auf Spielplätzen oder im Wald beim Pick- Eltern und Großeltern dort ihre Kindheit erlebt? Was hat sich im nicken und Spielen mit ihren Familien. Früher konnten sie noch Lauf der Zeit verändert? Welche Spiele und Spielzeuge nutzen gefahrlos auf der Straße spielen. die Kinder? Wo spielen sie? Wie sieht ihre Kleidung aus? Wie ist ihre Körperhaltung vor der Kamera? In welchen Situationen Kinder und Tiere werden die Kinder fotografiert? Viele Goldsteiner hielten früher auf ihrem Grundstück Tiere, mit denen auch die Kinder viel Zeit verbrachten. Die Fotos aus den Ich fing an, bei Nachbarn und Eltern Fotos zu sammeln. Es war 30er-Jahren zeigen Kinder mit Ziegen, Schweinen und Hühnern. mir wichtig, Fotos von Angehörigen zu erhalten, und nicht nur Tiere waren wichtige Spielkameraden, aber sie mussten auch in Büchern und Bildarchiven zu suchen. Mit großer Freundlich- versorgt werden. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ASAL KHOSRAVI, GOLDSTEIN 117

ASAL KHOSR AV I

Asal Khosravi, geboren in Ludwigsburg, aufgewachsen in Teheran/Iran, hat in Gießen und Marburg Kunstpädagogik, Kunstgeschichte und Medienwissenschaft studiert. Nach ihrem Magisterabschluss unterrichtete sie im Jugendzentrum in Musik und Kultur Gießen Kunst und Gestaltung für Kinder Zahlreiche Fotos von früher und heute dokumentieren verschiedene und Jugendliche. Später war sie Lehrerin Feste und Feierlichkeiten, begleitet von Musik und Tanz. Es gab Tanz- an der Berta Jourdan-Schule (Fachschule gruppen, die sowohl in Goldstein als auch überregional präsent waren. für Sozialpädagogik) in Frankfurt und Dozentin für Zeichnen an der Kunst- Baustellen hochschule in Teheran. 2015 hat sie in Der Bau der Siedlung wurde 1932 begonnen. Viel wurde im Krieg zer- Frankfurt-Goldstein das Atelier Libelle stört und danach wieder aufgebaut. Seit den 1960er-Jahren bis heute gegründet. Dort ist sie kunstpädagogisch werden viele Häuser vergrößert oder neu gebaut. tätig und arbeitet als Malerin und Zeich- nerin. Ihre Bilder hat Asal Khosravi in Krieg zahlreichen Einzel- und Gruppenausstel- Der Zweite Weltkrieg hat auch das Leben der Kinder entscheidend ge- lungen in Deutschland, den Niederlanden prägt. Armut und Not haben das Fotografi eren in dieser Zeit weitgehend und in Iran ausgestellt. verhindert. Deshalb habe ich versucht, in meinen Gemälden die Kriegs- zeit anzudeuten, beispielsweise durch die Darstellung von Männern Sie ist Autorin der Bibliothek der Gene- in Uniform, durch die Reste einer Fliegerbombe, die nach dem Krieg rationen im Historischen Museum im Garten eines Hauses in Goldstein gefunden wurde, oder durch die Frankfurt und bietet dort anderen Autoren dunkel gestrichenen Hausfassaden. Coachings und Workshops in Gestaltung. Ihre Ortswechsel zwischen Iran und Sich mit der Geschichte eines Ortes vertraut zu machen, in dem man Deutschland haben bei ihr das Interesse länger lebt und dessen Bewohner man kennenlernt, macht das Leben geweckt, sich mit den Kulturen beider viel angenehmer und bewusster. Während des Projekts habe ich festge- Länder anhand ihrer eigenen Lebenser- stellt, dass mich etwas Wichtiges mit den Menschen hier verbindet, und fahrungen und der anderer Menschen zu zwar die Tatsache, dass auch ich mir mit meiner Familie hier ein neues beschäftigen. Als Teilnehmerin im Projekt Zuhause schaffen konnte. „Wege nach Frankfurt“ unter der Leitung von Behjat Mehdizadeh im Rahmen der Bibliothek der Generationen im Histo- rischen Museum hat sie sich mit ihrer Biografi e künstlerisch auseinandergesetzt. 2014 bis 2016 hat ihr das Stipendium der Stiftung Polytechnische Gesellschaft er- möglicht, sich mit der Geschichte und dem Leben in ihrem Stadtteil zu beschäftigen.

Alle Bilder aus dem Projekt Fotos: Asal Khosravi 118 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ANGELIKA SCHREIBER, GUTLEUTVIERTEL

ANGELIKA SCHREIBER, GUTLEUTVIERTEL

Die Geschichte der Kindertagesstätte 82 – vom Kindergarten Sommerhoffpark über die Kinder­ erholungsstätte zum heutigen Kinderzentrum Gutleutstraße

Von 2000 bis zu meinem Ruhestand Anfang 2011 arbeitete ich als Integrationskraft in der Kindertagesstätte 82 / Grüne Insel. Erst im Sommer des gleichen Jahres wurde die Einrichtung in Kinderzentrum Gutleutstraße umbenannt. Die Geschichte des Kinderzentrums geht bis in die 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück.

»AUS DEN QUELLEN IST ZU ERFAHREN, DASS DIE KINDERERHOLUNGSSTÄTTE FÜR DEN TAGESAUFENTHALT WÄHREND DES SOMMERS GENUTZT WURDE.« Architekt Adolf Meyer, 1929 Foto: aus Buch von Jaeggi, Annemarie: „Adolf Meyer – Der zweite Mann. Ein Architekt im Schatten von Walter Gropius“, Bauhaus-Archiv, Museum für Gestaltung Berlin (DAM)

Der Architekt Adolf Meyer hatte das Haus als Erholungsstätte für Kinder aus Frankfurter Arbeiterfamilien entworfen. Kinder, die tagsüber betreut werden sollten, da sie weder in die Ferien fahren noch längere Zeit in externen Heimen von ihren Familien getrennt werden konnten, weil sie heimwehkrank wurden.

Aus den Quellen ist zu erfahren, dass die Kindererholungsstätte für den Tagesaufenthalt während des Sommers genutzt wurde. Für vier bis fünf Wochen fanden jüngere Kinder und Schulkinder tagsüber Aufnahme zur Stadtranderholung. Zum pädagogischen Konzept gehörte, den Kindern und auch deren Familien ein bes-

Die Kindererholungsstätte Sommerhoffpark, entworfen von Adolf seres Gefühl für Körperpflege zu vermitteln. Auf historischen Meyer als langgestreckter Bau in Eisen-Beton in den Jahren 1927–1928 Fotos ist zu erkennen, dass zum Kindererholungsheim auch ein mit Spielwiese. Im Vordergrund ist das Planschbecken zu erkennen. Planschbecken gehörte, vermutlich dort, wo heute ein kleiner Foto: aus „Eisen + Beton“, 1930 , UBI Frankfurt Garten angelegt ist. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | ANGELIKA SCHREIBER, GUTLEUTVIERTEL 119

ANGELIKA SCHREIBER

Angelika Margarete Schreiber wurde 1948 in Frankfurt am Main geboren und ist dort wohnhaft in dritter Generation. Sie ist gelernte Erzieherin und Heilpädagogin. Bis zu ihrem Renteneintritt arbeitete sie als Integrationskraft von 2000 bis Anfang Sommerhoffpark 1950 2011 in der Kindertagesstätte 82/Grüne Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7A1998/846 Insel, dem späteren Kinderzentrum Gut- leutstraße im Gutleutviertel. Schreiber ist Single, vierfache Tante und sechsfache Großtante. Nach dem Krieg wurde die Erholungsstätte von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) wieder aufgebaut. Sie hieß nun Johanna-Kirchner-Heim. Ein- Sie hörte von Kindheit bis heute gerne undzwanzig Jahre später (1969) ging das Haus an die Stadt Frankfurt Geschichten und liest gerne. Als Stadtteil- über und wurde als Kindergarten neu eröffnet. In der Nachbarschaft Historikerin forschte und schrieb sie über erbaute die AWO 1952 ein Altenheim, das heutige Johanna-Kirchner- das heutige Kinderzentrum Gutleutstra- Altenhilfezentrum. ße, im Zusammenhang zwischen dem sogenannten Gogelschen Anwesen und Die Ergebnisse meiner Recherche stellte ich im April 2018 in einem dem Sommerhoffpark und der Rückschau Vortrag im Johanna-Kirchner-Altenhilfezentrum vor. Weitere Ergeb- in die Entstehungsgeschichte der Kinder- nisse werden in einer kleinen Ausstellung zu sehen sein. tagesstätte.

Gogelsgut 1872 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7A1998/841, C. F. Mylius 11

MIGRATION UND NEUANFÄNGE 11

MIGRATION UND NEUANFÄNGE 122 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | LEA LUSTYKOVÁ, INNENSTADT

LEA LUSTYKOVÁ, INNENSTADT

Die Dialogbuchhandlung – ein Stück Heimat in der Fremde

Im Verlauf eines Biografie-Workshops legte mir dessen Leiterin Behjat Mehdizadeh, auch eine Stadtteil-Historikerin, nahe, mich mit einem autobiografisch geprägten Thema zu bewerben. So war mein Stadtteil-Historiker-Projekt geboren: Die ehemalige Frankfurter Dialogbuchhandlung, die nicht nur mein Leben als junge Emigrantin und Studentin in Frankfurt geprägt hatte.

Hier kam ich mit der aktuellen tschechischen Exilliteratur in Berührung: Kundera, Hrabal, Havel, Škvorecký, Gruša, Tigrid, Seifert, Šimečka, Kohout und andere. Einer Literatur in meiner Muttersprache, die nur in westlichen Exilverlagen erscheinen durfte. Die Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt Foto: privat Meine Recherche führte mich zu Václav Hora, einem Biblio- thekar und Literaturliebhaber, der nach seiner Flucht aus der führt – neben seiner Tätigkeit als Bibliothekar an der Goethe- ČSSR im April 1969 „auf seine Weise etwas gegen das Regime Universität. Vorwiegend auf tschechische und slowakische tun wollte“, und ins Prager Archiv Libri prohibiti, ein Archiv für Exilliteratur in Originalausgaben und Übersetzungen speziali- oppositionelle Literatur. Aus dem Material erarbeitete ich eine siert, vertrieb die Buchhandlung auch Exilliteratur aus Polen, Ausstellung mit dem Ziel, die zeitgeschichtliche Bedeutung der UdSSR und Ungarn, internationale Filmliteratur, Bohemica der Dialogbuchhandlung für die emigrierten Tschechoslowa- ken sichtbar zu machen, die innerhalb der Frankfurter Stadt- gesellschaft eine kleine Ethnie darstellen. Weil die Exilkultur »HIER KAM ICH MIT DER AKTUELLEN eines Landes immer auch einen Bestandteil ihrer Gesamtkultur TSCHECHISCHEN EXILLITERATUR IN darstellt, war es mir ein Anliegen, die Ausstellung ebenfalls in Tschechien zu präsentieren. Im Gegensatz zu Frankfurt gab es BERÜHRUNG – EINER LITERATUR IN dort jedoch nur verhaltenes Interesse. Vermutlich ist auch nach MEINER MUTTERSPRACHE, DIE NUR 27 Jahren die Zeit für eine objektive Auseinandersetzung mit IN WESTLICHEN EXILVERLAGEN den Emigranten und deren Kultur außerhalb der Tschechoslo- ERSCHEINEN DURFTE.« wakei noch nicht reif. Weil aber die Zeit für mich arbeitet, bin ich zuversichtlich und plane im nächsten Schritt, die Dialog- buchhandlung in einem zweisprachigen Ausstellungskatalog zu dokumentieren. und antiquarische Bücher mit osteuropäischem Schwerpunkt Im März 1977 unweit des damaligen Theaterplatzes in der sowie Reprints des Exilmagazins Svědectví und einiger in der Gutleutstraße 15 gegründet, wurde die Dialogbuchhandlung ČSSR indizierter Buchtitel, die in der eigenen kleinen Offsetdru- trotz schwieriger finanzieller Bedingungen vom tschechischen ckerei im Hinterhaus der Buchhandlung gedruckt wurden. Da- Emigranten Václav Hora mit unermüdlichem Engagement ge- rüber hinaus gab es ein breites Angebot an meist verbotenen STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | LEA LUSTYKOVÁ, INNENSTADT 123

Dialog-Buchhandlung, Bestellpostkarte

LEA LUSTYKOVÁ tschechischen und slowakischen Schallplatten, Hör- und Filmkassetten. Großer Beliebtheit erfreute sich auch der Autoaufkleber FREE CS, der im Straßenverkehr als Erkennungszeichen unter den tschechoslowa- Geboren in Brno/CSSR, verbrachte kischen Emigranten diente. sie den bewussten Teil ihrer Kindheit in Prag. Nach der Niederschlagung des Die Dialogbuchhandlung veranstaltete, teils in Kooperation mit dem Prager Frühlings fl ohen ihre Eltern als Club Cesty 68, Lesungen, Podiumsdiskussionen, Filmabende und klei- überzeugte Dubček-Anhänger im Juni ne Konzerte sowie zahlreiche Zusammenkünfte mit Exilautoren und 1969 mit ihren beiden Kindern in die -verlegern während der Buchmesse. Sie organisierte Kulturveranstal- Bundesrepublik Deutschland, wo sie als tungen mit Bücherverkäufen für die tschechoslowakischen Exilgemein- politisch Verfolgte anerkannt wurden den in Nürnberg, München, Köln, Hamburg, Amsterdam, Basel, Zürich und Asyl erhielten. Seit 1973 lebt Lea und anderen europäischen Städten sowie Kulturreisen ins In- und Aus- Lustyková in Frankfurt. Nach dem land. Studium der Germanistik, Slawistik und Amerikanistik an der Goethe- Per Bücherversand, aus dem die Dialogbuchhandlung ursprünglich Universität und der State University of hervorgegangen war, belieferte sie die gesamte tschechoslowakische Georgia in Athens, USA, arbeitete sie Exildiaspora und mehr als 80 slawische Seminare und Forschungsin- zunächst als literarische Übersetzerin stitute in der ganzen westlichen Welt. Die Dialogbuchhandlung war in für die Verlage Neue Kritik und Rowohlt ihrer Konzeption einzigartig und einmalig, sie verhalf mit ihrer Vielfalt Berlin sowie als Dolmetscherin für an Angeboten meinen Landsleuten, ihre Muttersprache zu pfl egen und Palais Jalta, Amnesty International und sich auch außerhalb der Heimat ihre kulturelle Zugehörigkeit zu bewahren. die Friedrich-Ebert-Stiftung, später als Vertretungslehrerin in verschiedenen Schulformen und als Deutsch-als- Zweitsprache-Dozentin unter anderem am Goethe-Institut. Seit 2003 ist sie zudem als Dolmetscherin des Vierer- netzwerks der europäischen Regionen für den rheinland-pfälzischen Landtag tätig.

2014 wurde sie Stadtteil-Historikerin der Staffel V. Von Mai bis Oktober 2016 präsentierte sie als Autorin der Biblio- thek der Generationen im Historischen Museum Frankfurt im Rahmen des Projekts „Wege nach Frankfurt“ ihre Ausstellung „Die Dialogbuchhand- lung – ein Stück Heimat in der Fremde“.

Die Dialogbuchhandlung mit Václav Hora Foto: privat 124 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. PETER OEHLER, STADTTEILÜBERGREIFEND

DR. PETER OEHLER, STADTTEILÜBERGREIFEND

Griechen in Frankfurt

Griechen sind schon immer ins Ausland, also auch nach Deutschland, gegangen. Um hier zu studieren. Oder um als Kürschner im Frankfurter zu arbeiten. Aber in der Hochzeit der griechischen „Gastarbeiter“ kamen beson- ders viele: Die griechische Arbeitsmigration von 1960 bis 1976 umfasst 623.320 Personen, von denen dann später die meisten wieder zurückgegangen sind.

Die Griechen sind in Deutschland mit am besten integriert. Trotzdem gibt es so etwas wie eine griechische Community in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet. Dieses lose Netzwerk wird hauptsächlich über die griechisch-orthodoxen Kirchenge- meinden und die zahlreichen griechischen Vereine gespannt. Griechische Musik bzw. Rembetiko in Frankfurt: Die Griechen fühlen sich in Frankfurt sehr wohl. Dabei hat die Die Gruppe Prosechós, circa 1991/92 Stadt Frankfurt eine herausragende Bedeutung gegenüber an- Foto: Bahman Kormi deren Städten oder gar dem Land. Sie ist die internationalste Stadt in Deutschland, weswegen Menschen mit „Migrations- Dabei ist der Kontakt zu Griechenland, zur alten Heimat, nicht hintergrund“ hier auch am einfachsten zurechtkommen. Wobei abgerissen. Die meisten Griechen fahren mindestens einmal im die meisten Griechen den Ausdruck „Deutscher mit Migrati- Jahr nach Griechenland zu ihren dort lebenden Verwandten. onshintergrund“ nicht mögen. Viele sehen sich als Frankfurter Grieche, kaum einer – so mein Eindruck – als deutscher Grieche. Die Untersuchung hat auch gezeigt, dass die Griechen hier in Frankfurt keine sehr homogene Bevölkerungsgruppe sind. Es gibt schon eine bunte Vielfalt und unterschiedliche Auffas- sungen. Das betrifft insbesondere drei Bereiche.

Neben der Tradition, das „Griechische“ zu bewahren, insbe- sondere in den griechischen Vereinen, gibt es hier Griechen, die sich mehr oder weniger stark von der griechischen Kultur distanzieren.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch über die Schule, die griechische Kinder besuchen sollten. Die traditionelleren Grie- chen wollen lieber, dass ihre Kinder auf eine rein griechische Schule gehen. In Frankfurt-Griesheim gibt es eine Schule, die bis zum Abitur führt. Die progressiveren Griechen meinen, dass Demonstration griechischer Gastarbeiter und des DGB gegen die griechische Militärdiktatur am 1. Mai 1967 die griechischen Kinder in die ganz normalen Schulen gehen Foto: Manfred Tripp sollten, damit sie vor allem gut Deutsch lernen. STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DR. PETER OEHLER, STADTTEILÜBERGREIFEND 125

Griechen zeigen Flagge: ERMIS (Greek gays and lesbians) auf dem Christopher Street Day Frankfurt 2013 Foto: privat/Sewastos Sampsounis

DR. PETER OEHLER

Peter Oehler wurde 1962 in Mülheim an der Ruhr geboren. Er lebt und arbeitet Die Zeit der Militärdiktatur in Griechenland (1967 bis 1974) war auch in Frankfurt am Main. Sein Lebenslauf für die Griechen in Frankfurt bzw. Deutschland eine einschneidende zeigt ihn als einen Menschen mit zwei und spaltende Zeit. Das war auch der entscheidende Grund, warum es Standbeinen: Auf der einen, konventio- (nicht nur) in Frankfurt zwei sogenannte Griechische Gemeinden gibt. nellen, Seite Studium der Elektrotech- Der Riss, der während der Militärdiktatur auch durch die griechische nik, Promotion im Fach Informatik und Bevölkerung hier in Frankfurt ging, ist bis heute nicht vollständig ge- jahrzehntelange Arbeit als Ingenieur im kittet worden. Bereich der Mikroelektronik. Auf der anderen, literarisch/künstlerischen, Seite intensive Beschäftigung mit Literatur, Lesungen und literarischen »DER RISS, DER WÄHREND DER MILITÄR- Veröffentlichungen. Mittlerweile arbei- DIKTATUR AUCH DURCH DIE GRIECHISCHE tet er freiberufl ich als Dozent an einer BEVÖLKERUNG HIER IN FRANKFURT GING, Technischen Hochschule und als Autor IST BIS HEUTE NICHT VOLLSTÄNDIG GEKITTET mit den Schwerpunkten Griechenland und Rezensionen. Er veranstaltet seit WORDEN.« 2007 die „Frankfurter Wohnzimmer- lesungen“. Seit 1994 ist er dreizehnmal nach Griechenland gereist. Anfangs waren das ausgedehnte Radtouren mit Mehrere Interviewpartner freuten sich, dass sich jemand mit den Grie- Freunden, mittlerweile sind die Reisen chen hier in Frankfurt und ihrer Geschichte beschäftigt. Und es sei so- durch sein soziales und politisches gar besser, wenn das ein nicht direkt Betroffener, ein Deutscher, mache. Engagement geprägt. Im März/April Es geht darum, den Griechen, die hier leben beziehungsweise gelebt 2003 war er zu Gast im Autorenhaus in haben, eine Stimme zu geben. Das Wesentliche sind deshalb auch die Rhodos (Writers’ & Translators’ Centre (bisher 25) Interviews, die ich geführt habe. of Rhodes), um mit seinem Griechen- land-Buch zu beginnen. Seine Liebe zu Es ist geplant, aus den vielen und vielfältigen Informationen ein Buch Griechenland hat dazu geführt, dass er zu machen. Mit Porträts ausgewählter griechischer Personen bezie- sich als Stadtteil-Historiker intensiv mit hungsweise Persönlichkeiten soll die Vielfalt griechischen Lebens in den Griechen in Frankfurt beschäftigt Frankfurt dokumentiert werden: Ein Überblick über die verschiedenen hat. griechischen Institutionen in Frankfurt, die Geschichte der Griechen in Frankfurt, insbesondere die griechischen Kürschner und Pelzhändler im Frankfurter Bahnhofsviertel nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1980er-Jahre, die griechischen Gastarbeiter, die Zeit der Studenten- bewegung (1968) und der griechischen Militärdiktatur (1967 – 1974). Dazu die griechische Musik: Ein Überblick über die kleine, aber vielfäl- tige Musikszene in Frankfurt; die Geschichte des Rembetiko in Frank- furt.

Dabei sollen – möglichst in Originalzitaten – die verschiedenen Inter- viewpartner selber zu Wort kommen. 126 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DEIKE WICHMANN, STADTTEILÜBERGREIFEND

DEIKE WICHMANN, STADTTEILÜBERGREIFEND

Fräulein Lee und Schwester Charlotte

„Mija Lee hatte nie vermutet, dass sie Alaska einmal mit eige- nen Augen sehen würde. Doch so war es: Tausend Meter unter ihr breiteten sich endlose Wälder aus – mutmaßlich voller Bären und Trapper, wie in dem Abenteuerbuch, das sie als Kind ver- schlungen hatte. Sie hatte auch nie geglaubt, dass sie einmal einen Fuß in eine Boeing 707 setzen würde. Genau wie Kenne- dy in den alten Illustrierten. Doch hier saß sie: in ihrem neuen Reisekostüm, die Stirn an die dicke Fensterscheibe gepresst, entschlossen, keinen Moment der Reise zu verpassen. Dass sie ihrer Sitznachbarin die Aussicht versperrte, musste sie nicht befürchten. Die Nachbarin hatte – wie fast alle jungen Frauen an Bord – in dem Moment angefangen zu weinen, in dem das Flugzeug abhob. Und dabei ihren Vorrat an Taschentüchern ebenso verbraucht wie Mijas, bevor sie erschöpft eingeschlafen war. Mija hatte als Einzige nicht geweint.“

Das ist der Anfang des Romans „Fräulein Lee und Schwester Junghee Herbert kam 1969 nach Deutschland, um im Diakonissen- Charlotte“, den ich mit der Unterstützung der Stiftung Poly- krankenhaus in Sachsenhausen zu arbeiten. „Wir waren hungrig nach technische Gesellschaft geschrieben habe. Das Buch dreht sich Wissen und Kultur“, sagt sie über sich und ihre Kolleginnen. Ihren um vier südkoreanische Krankenschwestern, die 1966 zum Ar- Urlaub nutzte sie für Reisen nach Paris, London und Wien. beiten nach Frankfurt kommen, und folgt deren Lebensweg bis Fotos: privat 1969, bis zum Auslaufen ihres ersten Arbeitsvertrages. Obwohl die Figuren erfunden sind, habe ich mich stark an die Ergeb- nisse meiner Recherche gehalten. Das Buch ist durchzogen von Auszügen aus Zeitungsartikeln, Akten und Briefen.

Ich habe sechs Krankenschwestern ausführlich zum Thema in- dem Heimweh kämpften, mit der Sprache und dem Essen, wie terviewt, außerdem den knapp 90-jährigen Professor Sukil Lee, sie aber – gerade als Frauen – auch neue Chancen und Freihei- der die Krankenschwestern-Aktion ins Leben gerufen hatte, ten hatten. Sie stehen repräsentativ für die rund 10.000 Südko- und Professor Dr. Yonson Ahn, Professorin für Koreanische Kul- reanerinnen, die von 1966 bis zum Anwerbestopp 1977 in die tur und Gesellschaft an der Frankfurter Universität. Die meisten Bundesrepublik kamen, aus einem der damals ärmsten Länder Primärquellen habe ich in der Deutschen Nationalbibliothek, der Welt. Sie alle unterstützten mit ihrem Gehalt die Familien dem Frankfurter-Allgemeine-Archiv und dem Institut für Stadt- zu Hause. Obwohl die Frauen einen ähnlichen Lebensweg hat- geschichte gefunden. ten, empfanden meine Interviewpartnerinnen ihr Schicksal sehr verschieden: „Heimat ist Heimat“, sagte mir eine von ihnen Thema des Buches ist, wie die jungen Frauen aus Korea in ein nach mehr als 50 Jahren in Deutschland. „Man kann seine Wur- neues Land und in ein neues Leben hineinwuchsen, wie sie mit zeln nicht wegdrücken.“ Eine andere berichtete, sie fühle sich STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018 | DEIKE WICHMANN, STADTTEILÜBERGREIFEND 127

DEIKE WICHMANN

Deike Wichmann, geboren 1979 in Detmold, ist häufi ger umgezogen und lebt mittlerweile in Eppstein im Taunus. Sie hat in Köln Politik, Ge- schichte und Germanistik studiert und Auslandssemester und -praktika in Paris, Schottland und Indien durch- laufen. Im Mainzer Landtag hat sie ein Volontariat absolviert. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie als Presserefe- rentin für den Main-Taunus-Kreis. Bei

Ankunft der Koreanerinnen am Frankfurter einem regionalen Literaturwettbewerb Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, S7Z1966/373, Lutz Kleinhans hat sie mit der Erzählung „Monsieur Dumas auf der Reise nach Eppstein“ den ersten Platz belegt. Das Buch für die Stadtteil-Historiker hat sie im Sommer »HEIMAT IST HEIMAT. MAN KANN SEINE 2017 wenige Tage vor der Geburt ihres WURZELN NICHT WEGDRÜCKEN.« dritten Kindes abgeschlossen und ging danach in Elternzeit. Auf die Kranken- schwestern, die in den 1960er- und 1970er-Jahren Korea verlassen haben, ist sie aufmerksam geworden, weil die nicht mehr als Koreanerin: „Das hier ist mein Zuhause, ich träume und Mutter einer Freundin auf diese Weise denke auf Deutsch.“ Besonders beeindruckt hat mich das Gespräch mit nach Deutschland gekommen ist. Die Bang-Gi Kim, die sich zusammen mit ihrem Mann in Deutschland ge- Beschäftigung mit den koreanischen gen das Regime von Park Chung-Hee engagierte. Aus Furcht vor dem Krankenschwestern ermöglicht ihrer Geheimdienst hatte sie 20 Jahre lang keinen Kontakt zu ihrer Familie; Ansicht nach einen frischen Blick auf die ihr Mann konnte erst im Alter von 65 Jahren wieder nach Südkorea ein- Themen Migration und Integration. reisen. Dennoch sagte Bang-Gi Kim in unserem Interview: „Ich habe das nie bereut und würde es immer wieder tun – gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpfen.“

Die Gespräche mit ihr und mit den anderen Krankenschwestern waren für mich sehr inspirierend; ich hoffe, mein Buch wird ihnen gerecht. 128 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018

Stadtteil-Historiker – die Projektpartner

Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main (Projektleitung; fachliche Begleitung, finanzielle Unterstützung und kontinuierliche Betreuung der Stadtteil-Historiker)

Am Ursprung der Stiftung steht die Polytechnische Gesellschaft von 1816. Diese traditionsreiche Bürger­vereinigung wurde gegründet, um den Fortschritt in Bildung, Wissenschaft, Technik, Kultur und Gewerbe zu fördern. Kurz darauf gründeten die Polytechniker die „Frankfurter Sparkasse von 1822“. Im Jahre 2005 wurde die Sparkasse an die Hessische Landesbank veräußert. Mit einem Kapital von 397 Millionen Euro errichtete die Polytechnische Gesellschaft im November 2005 die Stiftung Poly- technische Gesellschaft. Die Stiftung ist operativ und fördernd in drei Themenfeldern aktiv: 1. Bildung, Wissenschaft und Technik; 2. Kunst, Kultur und Pflege des kulturellen Erbes; 3. Soziales, Humanitäres und Karitatives. Die Stiftung konzentriert ihre Förderung auf Frankfurt am Main. Sie leitet ihre Tätigkeit aus der polytechnischen Tradition ab, die sich aus der deutschen Auf­klärung speist. Deshalb prägen Bildung und Verantwortung im umfassenden Sinne den Inhalt der Stiftungstätigkeit. www.sptg.de

Frankfurter Neue Presse (Medienpartner)

Die Frankfurter Neue Presse wurde am 15. April 1946 als konservatives Gegenstück zur linksliberalen Frankfurter Rundschau gegründet. Gemeinsam mit ihren Lokalausgaben Höchster Kreisblatt, Nassau- ische Neue Presse und Taunus Zeitung steht sie für engagierten Journalismus und lokale Kompetenz. Seit 2007 unterstützt die Frankfurter Neue Presse als Medienpartner das Projekt „Stadtteil-Historiker“ und bietet den Teilnehmern ein Forum für besonders interessante Arbeiten. www.fnp.de

130 STADTTEIL-HISTORIKER 2014 – 2018

Impressum

Herausgeber Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main Untermainanlage 5 60329 Frankfurt am Main Telefon: +49 (69) 789889-0 E-Mail: [email protected] www.sptg.de

Verantwortlich Der Vorstand

Redaktion Dr. Oliver Ramonat, Dr. Katharina Uhsadel, Miriam Mandryk

Korrektorat Ernst Rudiger

Gestaltung Peter Stulz, pure:design

Druck Rhein Main Geschäftsdrucke, Hofheim

1. Auflage Frankfurt am Main, November 2018 ISBN 978-3-00-060253-5

Die Bilder stammen, wo nicht anders vermerkt, aus dem Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (ISG), von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft/Dominik Buschardt oder aus dem Privatbestand der Stadtteil-Historiker. Wir haben uns darüber hinaus bemüht, alle Bildrechte zu klären. Sollte uns etwas entgangen sein, bitten wir, sich mit dem Herausgeber in Verbindung zu setzen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit schließt die männliche Form (Maskulinum) die weibliche Form (Femininum) im vorliegenden Text mit ein.

In den Texten enthaltene Wertungen geben die Meinungen der Stadtteil-Historiker wieder. www.stadtteil-historiker.de

ISBN 978-3-00-060253-5