Schwabenbilder

Zur Konstruktion eines Regionalcharakters Projektgruppe (von links nach rechts): Daniel Weber, Carsten Kohlmann, Ulrike Künstle, Katrin Wilkens, Andreas Vogt, Michael Hermann, Frank Rumpel, Sylvia Hartig, Jörg Schütz, Andrea Keller, Ruth Stützle, Hollister Mathis, Angelika Brieschke, Steffen Rompel, Utz Jeggle, Katrin Weber (es fehlt: Silke Strecker)

Leitung der Ausstellung: Michael Hermann und Utz Jeggle Gestalterische und ausstellungstechnische Beratung: Marina von Jacobs Graphische Beratung: Petra Findeisen Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, Projektgruppe „Schwabenbilder“

Schwabenbilder Zur Konstruktion eines Regionalcharakters

Begleitband zur Ausstellung „Schwabenbilder“ im Haspelturm des Tübinger Schlosses, 18. April bis 1. Juni 1997 ISBN 3-925340-97-1

Redaktion: Angelika Brieschke, Utz Jeggle, Steffen Rompel, Frank Rumpel, Andreas Vogt

Endkorrektur: Andreas Vogt

Satz und Gestaltung: Steffen Rompel

Fotoarbeiten und Umschlagvorlage: Bernd Bauknecht

Druck: Gulde-Druck Tübingen

Tübingen 1997 Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V., Schloß, 72070 Tübingen Inhalt

Utz Jeggle Vorwort 7

Utz Jeggle Ulrike Künstle, Sylvia Hartig und Katrin Weber „Wie echt“ 9 Gibt es ein schwäbisches Gesicht? Zur Rolle der Physiognomik für die Katrin Weber Schwabenbilder 53 Interviews: Methode 13 Andrea Keller, Ruth Stützle Angelika Brieschke Schwabenbilder. Und Schwäbinnenbilder? 61 Macht schwäbisch krank? Über den Schwaben als typus melancholicus 17 Andreas Vogt Der schmale Weg, der zum Leben führt... Utz Jeggle Über die kulturprägende Wirkung des Pietismus Der sparsame Schwabe 25 in Württemberg 71

Frank Rumpel Werner Unseld Kehren und Bekehrtes 31 Schaffensparenputzen Die württembergische Verbesserung der Utz Jeggle Sünder und die schwäbischen Produktivkräfte 79 Der tapfere Schwabe 35 Silke Strecker Arno Ruoff Der „schwäbische Volkscharakter“ Der Schwabe und sein Schwäbisch 39 wird konstruiert Württembergische Oberamts- und Daniel Weber Landesbeschreibungen des 19. Jahrhunderts 89 Sprache als Identifikationsmittel Warum die ehemalige badisch-württem- Utz Jeggle bergische Landesgrenze mehr und mehr zur So isch no au wieder Sprachgrenze wird 43 Zur Phylogenese des Schwaben 95

Steffen Rompel Sylvia Hartig, Ulrike Künstle „Schwobe schaffe, Badener denke!“ Wie Schwaben Schwaben sehen Zur Funktion und Entstehung bestimmter Die Konstruktion von Schwabenbildern in Schwabenbilder in Baden 45 der Genremalerei des 19. Jahrhunderts 103

5 Andreas Vogt Steffen Rompel Zwischen „Schwäbisch Arkadien“ „Em Schwobaland, und „Musterländle“ em Schwobaland so schee!“ Bilder eines Landes in Landschaftsmalerei Alte und neue schwäbische Identitäten und Fotografie 109 in der populären Musik 171

Carsten Kohlmann Frank Rumpel Postkarten und Reiseandenken „Duifer äckra, it so oberflächlich aus dem Schwabenland 119 omanander scherra!“ Betrachtungen zeitgenössischer Michael Hermann Mundartdichtung 183 Die Kunst des Spagats Der Schwäbische Sängerbund zwischen Katrin Wilkens Vaterland und Heimatland im 19. Jahrhundert 125 Schwabentum als Perfomance Dr. Ulrich Keuler – Ein Portrait 193 Andreas Vogt Die anderen Schwaben Ralph Winkle Einblicke in die Geschichte Tatort Württemberg württembergischer Judendörfer 133 Schwabenbilder im zeitgenössischen Kriminalroman 197 Carsten Kohlmann Der Volkskundler August Lämmle Silke Strecker und die Heimatschutzbewegung Wie Schwabenbilder betrachtet in Württemberg 143 werden können Ein Literaturbericht 205 Friedemann Schmoll Iß langsam und kaue tüchtig Hollister Mathis Die Geschichte von Luise Haarers John Cranko und das Stuttgarter schwäbischem Nationalkochbuch, das Ballettwunder 211 eigentlich nie ein solches werden sollte 149 Kaspar Maase Hermann Bausinger „Eines nur“? Oder: Macht schwäbisch Schwabenspiegel 155 gesund? Kollegiale Kritik als Epilog 219 Angelika Brieschke Schwäbischer Minderwert 157

„Ich will mich nicht einrichten mein Leben lang als Schwabe!“ Ein Gespräch mit Bernhard Hurm und Uwe Anhang Zellmer vom Theater Lindenhof, Melchingen 163 Literatur und Nachweise 223

6 Vorwort

Utz Jeggle

Vorwort

Schwabenbilder sind Konstruktionen, das ist evident. der schwäbischen Heimatperformance überlebt; da- Aber das Material und die Baupläne können lehren, für ist die Region und der Regionalismus zu einem wie solche Bilder des „Typischen“ zustandekommen. zentralen Thema in der Europäischen Gemeinschaft Was man über die Schwaben denkt und was die Schwa- geworden. Es geht dabei nicht um stammestümelnde ben über sich denken und was sie denken, was die Mentalität, sondern um räumliche Bezüge, die Orien- Nichtschwaben über sie denken, eine solche mehrfa- tierungshilfe leisten, aber unter Umständen auch zur che Spiegelung ist für eine Ethno-Graphie des regio- Gefahr werden können. Deshalb sind die realitäts- nalen Bewußtseins und Selbstbewußtseins von gro- prägenden Kräfte solcher Bilder nicht zu unterschät- ßem Interesse. „Ethno“ weist jedoch in die falsche zen. Der Schwabe ist nicht nur eine Erfindung des Richtung, das traditionelle Denkmuster vom Ethni- Albvereins, er ist ein Stereotyp, das einschließt und schen geht von einem geschlossenen „Stamm“ aus ausschließt, ordnet und aussondert, entzweit und ver- mit bestimmten fixierten Eigenschaften. Eine solche eint und das deshalb einen Blick aus höchst unter- fest umrissene Gruppe, die sich von anderen absetzt, schiedlichen Perspektiven erfordert. sind die Schwaben nicht und sind sie nie gewesen. Es Es geht in diesem Band nur am Rand um eine Be- gibt noch nicht einmal eine allseits anerkannte Gren- standsaufnahme der Klischees vom tüfteligen Geiz- ze, die Schwaben von Nicht-Schwaben trennt. Im baye- kragen, der Häusle baut und Spätzle ißt; wir versu- rischen Augsburg leben Schwaben, in Straßburg und chen herauszubekommen, wann und mit welchen In- in der Schweiz werden alle Deutschen in Schwaben teressen der Schwabe in heutiger Gestalt montiert verwandelt – nicht aus Zuneigung, wie sich versteht. wurde, wie er sich äußert, in welchen Schutzgebieten Diese Offenheit und Unklarheitheit der Fragestel- er überlebt, welche Metamorphosen er durchmacht lung treibt den Sozialforscher leicht in den Nerven- und wie seine Karten neu gemischt werden – Stich- zusammenbruch, Empirische Kulturwissenschaftler- wort Spätzle-Connection und Kreolisierung. Je näher Innen werden durch solche Vagheiten eher motiviert, wir der Gegenwart rücken, desto brüchiger wird das denn methodisch sind sie nicht gegen, sondern für Eis, auf dem wir uns bewegen. Von daher ist ein ge- Überraschungen gerüstet. Das wird der Leser dieses wisser historischer Überhang einzugestehen, wenn wir Begleitbands zur Ausstellung „Schwabenbilder“ spü- uns auch bemüht haben, beide Beine der Empirischen ren, mancher Text wird ihn ärgern und provozieren, Kulturwissenschaft gleichmäßig zu belasten: das hi- andere werden ihn vielleicht anregen, weiter zu re- storische und das ethnographische. flektieren und zu assoziieren. Das tradierte Schwaben- Der Band sowie die Ausstellung, in die er hinein- bild mit Tracht und täglichen Teigwaren ist ein Aus- führt, ist das Ergebnis einer dreisemestrigen Projekt- laufmodell, das im Museum und auf der Bühne bei arbeit. Die intensive Zusammenarbeit von 15 Studie-

7 Vorwort renden und einem Lehrenden erzeugt kollektive En- chael Schödel aus Betzingen, Heidi Staib vom Lan- ergien, gelegentlich auch Spannungen, jedenfalls ver- desmuseum in Stuttgart, Werner Unseld vom Landes- mittelt sie weit mehr als ein normales Seminar Theo- kirchlichen Museum in Ludwigsburg) liehen großzü- rie, Methode und Praxis der Empirischen Kultur- gig Objekte aus ihren Schatzkammern, Herr Weißen- wissenschaft. Solche Projekte passen schlecht in die bühler aus Neuweiler im Schönbuch hätte uns sein aktuelle hochschulpolitische Diskussion, die von ei- ganzes Haus zur Verfügung gestellt, die Landesstelle ner Studienzeitverkürzung um jeden Preis ausgeht, und für Volkskunde unterstützte Recherchen, als Leihge- die vor allem Lehrformen fordert und fördert, die ber danken wir außerdem der Volksbank Horb sowie quicke Studienabschlüße garantieren. Das kann ein all unseren InterviewpartnerInnen und dem Mann und Projekt nicht; denn da ist die ganze Palette von Er- der Frau auf der Straße, die uns mehr oder minder fahrungen der wissenschaftlichen Arbeit zugelassen bereitwillig über ihr ganz persönliches „Schwabenbild“ und möglich: das Scheitern wie das Meistern, der Irr- Auskunft gaben. tum wie das Glück durch allerhand Gefahren und Die Kollegen im LUI strukturierten durch Diskus- geistige Abenteuer doch noch ans Ziel zu kommen. sionen, eine ganze Reihe schrieben sogar Artikel für Zeit ist ein Faktor, Langsamkeit keine Primärtugend, diesen Band: Hermann Bausinger, Arno Ruoff und aber eine gewisse Bedächtigkeit und eine Bereitschaft Kaspar Maase, der uns so heimleuchtete, daß wir sei- nicht auf dem nächsten Weg zum Ziel zu kommen, nen kritischen Beitrag als Fragezeichen ans Ende die- ist für ein Studium, das mehr sein will, als eine bloße ses Bandes gestellt haben. Berufsausbildung zumindest bedenkenswert. Marina von Jacobs half uns für ‘n Appel und ‘n Ei Ein solches Unternehmen, das Berge nicht versetzt, beim Aufbau der Ausstellung. aber immerhin Höhen und Tiefen durchschreitet, ist Schließlich bleiben die Kosten. Unter dem Druck auf innere Kooperationsbereitschaft angewiesen, aber der Finanzmisere war eine Unterstützung durch das auch auf Hilfe von außen. Dankbarkeit zu erfahren Institut und die Universität nur sehr beschränkt mög- und zu erlernen ist gleichfalls ein Ziel, das nicht mit lich. Umso dankbarer sind wir der Stiftung Kunst und Rasanz zu erreichen ist. Wieviele Anläße hat es gege- Kultur der Landesgirokasse, die mit einem sehr, sehr ben, sich zu wundern, daß uns „einfach so“ Hilfe zuteil großzügigen Betrag den Druck dieses Begleitbands wurde. Um zu beginnen: Frau Lutum-Lenger vom ermöglichte. Die WZG in Möglingen veredelte mit Haus der Geschichte begleitete mit Leihgaben und feinen Weinen die Eröffnung. Ideen unsere Suche, Museumsleute (Ralf Beckmann Allen Spendern von materiellen und ideellen Zu- aus Fellbach, Hermann Berner aus Mössingen, Mi- wendungen ein herzliches Dankeschön!

8 Einleitung

Utz Jeggle

„Wie echt!“

Schwabenbilder gibt es unbestritten – aber gibt es den gefertigt werden. Wie echt oder echter als echt sind Schwaben? Sind wir Schwaben alle geizig, werden wir auch die Postkarten, die von der 3irma Metz angefer- rabiat, wenn der Nachbar die Kehrwoche schlampig tigt wurden, und auf denen des Patrons Handschrift erledigt, kaufen wir bei Breuninger Bleyle-Anzüge, Anweisungen zur Retusche gibt: So wird für eine essen wir Schupfnudeln unter der frivolen Bezeich- Hausfassade „ausbessern“ und für den Schmutz in nung Bubenspitzle, fügen wir an jedes Substantiv die- einer Kandel „wegmachen“ angeordnet – Kehrwoche se nervensägende Diminuitiv-Endung „-le“, die das wenigstens optisch praktiziert, damit der Straßenzug Böse in der Welt miniaturisiert und homöopathisch in Lauffen a.N., von dem diese Geschichte überliefert dosiert, aus einem Schlaganfall ein harmloses Schlägle ist, den Vorstellungen, die Schwaben von den Vor- macht, schaben wir Schwaben die Spätzle von Hand stellungen der Nicht-Schwaben über den Schwa- oder ertüfteln wir wenigstens – wie Manfred Bulling, ben haben, visuell genügt. der ehemalige Stuttgarter Regierungspräsident – Wie echt, das ist die Maxime für die Präsen- eine Spätzlespresse, die das schwäbische Na- tationsform, zugleich auch die angemessene Ant- tionalgericht so vollkommen unregelmä- wort auf eine falsch gestellte 3rage nach der ßig erstehen läßt, daß jedes einzelne Authentizität, die das Wesen der „Volkskultur“ Spätzle wie echt – das heißt hand made in insgesamt mißversteht, speziell aber die Suevia – aussieht und schmeckt. Transformation der Dinge beim Überwech- Wie echt ist ein wichtiges Stichwort für seln ins Museum übersieht. Die Museums- die Präsentation des Schwäbischen, Surro- stücke sind, was ästhetischen Schein angeht, gate gehören zum Repertoire, Ersatzkaffee aus allesamt authentisch, was ihren Gebrauchs- Zichorien, Uhrwerke, ja sogar 3ahrräder (wie wert angeht, allenfalls wie echt. Diese Zwei- das Beispiel Casimir Bumiller aus Jungingen deutigkeit hat die Arbeit unserer Projektgrup- zeigt) aus Holz, Schuhe aus LKW-Reifen, pe insgesamt gesehen erleichtert, indem sie Schneckenfallen aus Joghurtbechern – das Ar- uns lehrte, den Kontext zu verstehen und zu senal der Verwandlungstricks, die in der Welt achten. Gibt es da noch schwäbische Dinge der Armut erfunden und tradiert werden, – oder ist das Schwäbische eine 3rage der ließe sich fortsetzen.1 Wie echt sind aber subjektiven Zuordnung und der gleichfalls auch die schwäbischen Trachten, die schon nicht objektiven Interpretation? Wie um- im 19. Jahrhundert den Malern zuliebe zu- gehen mit einer liebevollen Sammlung wie mindest in Betzingen immer malerischer – die von Herrn Weißenbühler aus Neu- das Wort verrät den Zusammenhang – gestal- weiler i.S., die entzückende Details be- tet wurden und die neuerdings von Trachtenvereinen wahrt, die allesamt das Eigenschaftswort „schwä- nach historischen Quellen ausgeheckt und von der Tü- bisch“ in Anspruch nehmen dürfen, die aber im we- binger Uniformfabrik Negele getreu den Vorgaben sentlichen Zeugnisse einer regionalen Armutskultur

9 Einleitung sind, die sich anderswo Gruppen waren zwar häufig „unterwegs“, Handwer- im zeitlichen Rahmen ker auf der Walz, Adelige auf der Grand Tour, Bett- der Protoindustriali- lerinnen auf Diebes- und Raubzügen2, aber sie waren sierung ebenfalls findet: dies nicht freiwillig, sie gehorchten der Not oder so- Ein extra Unterteller, in zialen Pflichten, „echte“ Schwaben waren das jeden- dem sich das überlau- falls nicht, die waren stets vom Heimweh gezeichnet, fende Bier sammelt, das wie die beliebte Geschichte von Thaddäus Troll dies aber nicht vom Bierfilz meisterhaft behauptet: Der Stuttgarter Geschäftsmann, aufgesogen, sondern der Kunden in Australien besucht hat, klagt in einer vom Trinker selbst als freien Stunde: „Karl, du bisch doch an Allmachts- sorgsam gehüteter Nachtisch genossen wird, oder eine bachel, jetzt hocksch du am Sonntich en Sidnei ond kleine Karaffe aus Porzellan, mit der jeder Öltropfen drhoim sott mer d’ Beem schpritze!“3 aufgefangen und aufbewahrt wird, oder aus Regionale Identität wurde anerzogen, württember- Mössingen ein abschließbarer Mosthahn, der gische und schwäbische.4 Das war die politische nicht nur die Hochschätzung des Haustrunks an- Bildungsarbeit des 19. Jahrhunderts, die viel stär- zeigt, sondern auch ein Indiz des kolossa- ker auf symbolträchtige In- len Mißtrauens ist, das in dieser ar- szenierungen setzte, men und engen Welt herrscht. auf Volksfeste oder auf Denkmale wie Gegenstände sind als Materialisie- das Mausoleum für rungen von Bedürfnissen zu verstehen; sie prä- Königin Katharina auf gen den Menschen, der sie geprägt hat. Sauber- dem Rotenberg, mit dem Wilhelm seine persönliche keit, Sparsamkeit, Abgeschlossenheit, Geiz sind Liebe metaphorisch ummünzte und sie sozialpolitisch vielfach beglaubigte schwäbische Charakterzüge, aber benützte: Die Inschrift „Die Liebe höret nimmer auf“ einmalig an ihnen ist allenfalls der Glaube an die Ein- über dem Hauptportal war Abschiedsgruß und maligkeit dieses „typisch“ Schwäbischen. Die Schwa- Zukunftsversprechen zugleich, nützlich für die Kon- benbilder sind in erster Linie Armutszeugnisse, im solidierung der Monarchie, ein Wallfahrtsort für Kö- schwarz-weiß der Habenichtse gestrichelt, schwäbisch nigstreue und ein Ziel für Konfirmationsausflüge, ein ist daran nicht mehr und nicht weniger als der menta- Initiationsort, der einen zum Schwaben machte. le Reflex auf die relative Verspätung des Landes bei Der Staatsschwabe war ein großzügiges Modell, da der industriellen Ent- stellte sich (zumindest theoretisch) die 3rage nach der wicklung und die Tatsa- Abstammung nicht, der Hofbaumeister, nach dessen che der Realteilung, die Plänen das Katharinen-Mausoleum gebaut wurde, hieß jenes Mißtrauen er- Salucci und war italienischer Abstammung – und im zeugt, auf der anderen übrigen war ja auch die hochgerühmte Zarentochter Seite aber auch Vorstel- Katharina herkunftsmäßig alles andere als eine Schwä- lungen von sozialer bin. Die knapp zehntausend Juden, die man mit den Gerechtigkeit zuläßt neuwürttembergischen Gebieten hinzu gewonnen und egalitäre Züge ent- hatte, wurden zwar als Juden mißachtet, aber aus ih- wickelt. nen sollten ebenfalls Staatsbürger mosaischen Glau- Lokale Identität ge- bens werden. hört zur vorindustriellen Schwabe war nicht der Ausgangspunkt, sondern das Welt, eine Reise in die Ziel, jeder konnte zumindest Württemberger werden. Amtsstadt war nicht nur Im 19. Jahrhundert gingen die Wege auseinander. Eine beschwerlich, sondern mehr staatsbürgerliche Definition, die an Bürgerrechte auch mit Ängsten be- anschloß, führte zur württembergischen Identität. Eine setzt. Einzelne Spezial- stärker mentalitätsorientierte und stammestümelnde

10 Einleitung

schiede wurden verleugnet und durch stammes- tümelnde Surrogate ersetzt. Die schwäbischen Juden wurden wie alle anderen zur 3lucht gezwungen oder deportiert und umgebracht, die schwäbischen Behin- derten wurden wie andere auch, in einem Eil- und Scheinverfahren ausgesondert, mit den grauen Bus- sen nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ver- bracht, und dort mit Gas ermordet. Durch die Nazi-Katastrophe wurden Millionen zu 3lüchtlingen gemacht, sie wurden vertrieben und such- ten Hilfe und Solidarität – auch hier im Schwaben- land. Die Bitterkeit, die viele Lebensgeschichten von 3lüchtlingen prägt, zeigt, daß die Schwaben nur die Das Katharinen-Mausoleum auf dem Rotenberg bei Cannstatt. eigene Not regulieren gelernt hatten, und einen Neu- anfang den heimatsuchenden Neu-Schwaben so revitalisierte alte Schwabenbilder und formulierte sie schwer als möglich machten. Aber auch der fremden- zeitgemäß als kulturelle Ansicht des guten „alten feindliche Schwabe ist eine dieser Stereotypisierungen, Rechts“ – wie das im Beispiel von Wilhelm Hauffs denn erstens gab es auch andere Umgangsweisen Schwabenroman Lichtenstein offenkundig wird. Diese (Neue Heimat), und zum anderen hat dieser Mobilitäts- schwäbische Identität war durch Geschichte, Geogra- schub, diese demographische Revolution, die 3rage, phie und Stammeseigenschaften bestimmt und in ih- die zuvor mit dünkelhafter Enge im Verweis auf ge- rem Rahmen spielte der Begriff Heimat eine wichtige nealogische Herkunft oder sprachliche Kompetenz be- Rolle. Der Schwabe wurde naturalisiert, genau in ei- antwortet wurde, neu gestellt. Wer ist ein Schwabe? ner Zeit, in der die regionale Identität obsolet gewor- Gibt es den Schwaben überhaupt oder ist er nur eine den war und in einer größeren nationalen Identität virtuelle Konstruktion? aufgehen sollte. So ist auch an ein Stäubchen Wider- Am Anfang unserer Arbeit sammelten wir empiri- stand zu denken, Opposition gegen die Verpreussung sches Material und unsere Interviewgruppe, die ver- Mitteleuropas, unzeitgemäßer aber dennoch respek- schiedene Ideen (u.a. narrative Interviews, Straßen- tabler Mut zur Kleinstaaterei und zum Kantönli- interviews, Telefoninterviews, Radioeinsätze und denken. Aber im wesentlichen fügten sich die Internetversuche) entwickelte und ausprobierte, war Schwabenbilder in den Strom der Zeit, indem sie vage zunächst verwundert, wie wenig konturiert das genug waren, um Wahlverwandtschaften zu begrün- Schwabenbild außerhalb Schwabens (beispielsweise in den – z.B. der Schwabe als tapferer Krieger – und dennoch mißliebige Gruppen ausgrenzen zu können. Diese Rechnung ging im Nazismus auf. Nicht nur wurden schon im Vorfeld genealogische Kunststücke vollbracht, indem beispielsweise eine schwäbische „Geistesmutter“ konstruiert wurde, Regina Bardili (1595 – 1669), die genetisch die gesamte schwäbische Denkerelite mit Geisteskraft ausgerüstet hatte. Weit problematischer als diese familienkundliche Spielerei waren schwäbische Verbrüderungsversuche zwischen den „Arbeitern der Stirn und den Arbeitern der 3aust“, wie die Rede zur Volksgemeinschaft, die Theodor Haering 1934 hielt – auf schwäbisch – wie echt! 5 Das war rhetorisches Talmi, passte aber genau in die integrativen Sehnsüchte der Zeit, soziale Unter- 1941: Graue Busse holen Heimbewohner der Anstalt Stetten ab.

11 Einleitung

Hamburg) erscheint. In unserer Projektgruppe, die in kelt. Er realisiert, daß schwäbisch nur marginale großer Mehrzahl sich aus vermeintlichen Schwaben Identitätsstiftung zuläßt. Er kennt neue Konzepte, die rekrutierte, herrschte das schwäbische Vorurteil von Heimat auch außerhalb einer räumlichen Zuordnung der Wertschätzung, zumindest von der affektiven Be- gewähren. Der neue Schwabe stammt nicht notwen- setzung der Schwabenbilder, doch es zeigte sich: Außer dig aus Bietigheim-Bissingen, er kommt ebenso oft in Baden werden die Schwaben noch nicht einmal aus Izmir oder Südafrika, er spricht oft nicht schwä- gehaßt. Ein Schlüsselerlebnis war der Anruf bei einer bisch, trotzdem gewährt ihm die Region mehr als die alten 3rau Müller in Biberach; sie antwortete auf die auf Monopolisierung der Zugehörigkeit bedachte Na- keineswegs raffinierte 3rage: „Was fällt Ihnen bei tion: Heimat und Identität, aber in radikal neuen 3or- Schwäbisch ein und haben Sie Bilder von den Schwa- men, medial vermittelt, als Projektionsangebot. ben?“ auf schwäbisch „I brauch koine Bilder, i leb im Jean Améry fragte in einem verzweifelten Essay Altersheim.“ „Wieviel Heimat braucht der Mensch“6, und seine Antwort war ebenso radikal wie verwirrend. Wir fra- Das Beispiel zeigt deutlich, daß die Dekonstruktion gen, welche Heimat braucht der Mensch, und bekom- des Schwaben gar nicht so wichtig ist, es gibt ihn auch men zur Antwort, daß der Regionalismus kein bloßes in den Köpfen der Schwaben nur sehr schemenhaft. museales Projekt oder ausschließliche „performance“ Diese Blässe schien manchem Gesprächspartner, auch einfordert und gestattet, sondern auch eine neue im Projekt, schützenswert. Die 3urcht, die Bilder durch Kulturbürgerschaft formuliert und formiert, die al- neugierige Nachfragen zu verfestigen war groß. Kei- lerdings in John Crankos Choreographien, in Cem ne Sorge, die tradierten Bilder werden zwar gezeigt, Özdemirs politischen Ideen oder in Giovane Elbers aber sie sind nur Indizien für eine folgenschwere Toren mehr Zugehörigkeit stiftet als im Gaisburger Konstruktion des 19. Jahrhunderts, das die Hohe Zeit Marsch. Der neue Schwabe ist so chaotisch wie Pro- der Verschwabung Schwabens war. Heute können wir fessor Rössler, so geschickt und cleverle wie Gönnen- ohne eifernden Zorn damit umgehen, die Schwaben- wein oder der Musical-Unternehmer Deyhle, so mu- macher haben weitgehend ausgedient. sisch wie Rilling, so volkstümlich wie 3ischer und seine Der alte Schwabe ist ein Auslaufmodell, das sich Chöre, so tüftlerisch wie der andere 3ischer und seine mit Teilzeitbeschäftigung begnügt. Den „Voll- Dübel, so ganz und gar widersprüchlich, daß drin- schwaben“, der nur Schwabe war, gab es nie, er war gend ein Ordnungskonzept herhalten muß, dem wir immer auch noch anderes. Aber jetzt hat er Metamor- die Aufgabe eines Stereotyps zuweisen und das wir in phosen durchgemacht, ist er ein anderer geworden. Ermangelung einer besseren Bezeichnung „Schwä- Am wohlsten fühlt er sich im Museum, wo er noch bisch“ nennen wollen. Tracht tragen und an der 3lachsbreche arbeiten und in der Vitrine behaglich sein Pfeifchen schmauchen darf. Er hat noch einen jüngeren und erfolgreicheren Bruder dazu gewonnen, der sein Schwabentum in Me- Anmerkungen dien und im Show-Geschäft verwertet. Er spielt im Kriminalroman den Komissar Bienzle, im 3rühstücks- 1 Gottfried Korff (Hg.): 3lick-Werk. Reparieren und Umnutzen radio nervt er schlaftrunkene Zuhörer mit der Schwa- in der Alltagskultur. Stuttgart 1983. ben-Saga, er gibt Konzerte mit dem Markenzeichen 2 Vgl. dazu Sabine Kienitz: Unterwegs. 3rauen zwischen Not und Normen. Tübingen (TVV) 1989. Schwabenrock, er schreibt Gedichte, in denen Schwä- 3 Thaddäus Troll: Deutschland, Deine Schwaben. Hamburg bisch als Weltsprache enttarnt wird: When I defend = 1968, S. 35. wenn i de fend! 4 3riedemann Schmoll: Verewigte Nation: Studien zur Erinne- rungskultur in Reich und Einzelstaat im württembergischen Er ist wieder – oder immer noch? – wie echt; er prä- Denkmalkult des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1995. sentiert seine Echtheit auf der Bühne oder er translo- 5 Theodor Haering: Rede auf Alt-Tübingen, gehalten bei dem ziert sie ins Museum. Heimatabend der Professoren und Weingärtner. Tübingen 1935. Unter der Hand hat sich neben diesen Teilzeit- und 6 Jean Améry: Heimat – auf der Suche nach der verlorenen Präsentations-Schwaben ein neuer Schwabe entwik- Identität. Wien 1995.

12 Interviews: Methode

Katrin Weber

Interviews: Methode

1. Ausgangspunkte schen Argumentationskontext eingebunden sind und welche Botschaften damit transportiert werden. Au- ßerdem wurden die möglichen Anknüpfungen von Objekte wie Spätzlespressen und Sackausklopfma- aktuellem Stereotypenwissen an historische Muster schinen können als Schwabenbilder sprechend gemacht untersucht. werden. Desweiteren können Fragen an historische Schriftquellen gestellt werden, um Entstehung und Spielformen schwäbischer Zuschreibungen in der Ge- schichte zurückzuverfolgen. Eine weitere Methode 2. Forschungsdesign kulturwissenschaftlicher Forschung ist die Befragung der Schwabenbilder in den Köpfen der Menschen durch Interviews. Um diesen unterschiedlichen Anforderungen gerecht Der Einsatz mündlicher Erhebungsverfahren be- zu werden, wurde im Lauf des Forschungsprozesses gründet sich aus folgenden Überlegungen: drei Befragungsstufen entwickelt. Mit dem Ziel durch unterschiedliche Befragungssituationen graduell und Interviews und Umfragen ermöglichen es, eine Samm- qualitativ unterschiedliche Ergebnisse zu erhalten. lung aktueller Stereotypen anzulegen. Ein breites em- Gleichzeitig sollte die Vergleichbarkeit durch die Bei- pirisches, wenn auch nicht repräsentatives Daten- behaltung der Eingangsfrage in allen drei Bereichen material liefert die Grundlage für eine Interpretation gewährleistet bleiben. gegenwärtiger Tendenzen. Zudem bietet es sich an, diesen „Stereotypen-Pool“ mit den Erkenntnissen an- derer methodischer Zugänge zu vergleichen. Diese Er- Straßenumfragen gebnisse ermöglichen es, Theorien zu entwickeln und nicht zuletzt, die Stereotypen in den Köpfen der Mit der Frage „Was fällt Ihnen zu Schwaben ein?/Was ForscherInnen zu hinterfragen und zu korrigieren. ist für Sie typisch schwäbisch?“ sahen sich die Men- Viel wichtiger noch als die reine Sammlung von schen in insgesamt 6 Städten im Bundesgebiet kon- Bildern ist die Frage, welche Funktionen und Anwen- frontiert. Die Auswahl wurde vor allem durch die Vor- dungsgebiete Klischees und Stereotypen haben. Der annahme geprägt, daß sich stereotype Vorstellungen Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses lag hier in der mit zunehmender Distanz ihr Gepräge verändern. Frage, wie diese Bilder in einen generellen oder spezifi- Hamburgs Fußgängerzone versprach andere Aussagen

13 Interviews: Methode als die auf der Stuttgarter Königsstraße. Dem nach- Telefonumfrage barschaftlichen, politischen, konfessionellen und histo- rischen Reibungsfeld spürten die Umfragen in Ravens- Ergänzend zur Straßenumfrage lief die Telefonum- burg, Villingen-Schwenningen, Heidelberg und Frei- frage. Es wurden im ganzen Bundesgebiet Menschen burg nach. Insgesamt kamen so 430 Kurzinterviews mit dem Namen „Müller“ aus dem Telefonbuch aus- zustande. gewählt. Das Anliegen der „Müller-Umfrage“ war, den Radius der Sammlung weiter zu vergrößern. Zudem erschien nach den ersten Umfragen die Interview- situation auf der Straße als zu unruhig. Die Hoffnung, die größere Anonymität und die entspanntere Atmo- sphäre mache die Leute redseliger, bestätigte sich al- lerdings nicht.

Leitfaden-Interviews

Kernstück der empirischen Arbeit sind die narrativen Interviews. Anhand von Leitfragen ging es nun um die Suche nach Anwendung und Funktion von Stereo- typen. Es wurden 19 durchschnittlich eine Stunde dau- ernde Interviews geführt. Die InterviewpartnerInnen wurden so ausgewählt, daß in annähernd ausgewogenem Zahlenverhältnis Ge- schlechter, Altersgruppen, soziale Schichtung zu Wort kamen. Wichtig war die Eigendefinition der Personen als schwäbisch oder nichtschwäbisch. Der Fragen- katalog des Leitfadens stellt sich auf diese Unterschei- dung ein. Abgefragt wurden, wie in den Straßen- und Telefon- umfragen auch, die Wissensbestände an stereotypen Bildern. Die weiteren Fragen zielten auf Herkunft, Selbstverständnis, spezifische Erfahrung sowie die Wer- tungen derselben. Die Fragen waren so angelegt, daß sie über das Selbstbild, das Fremdbild, das vermutete Selbstbild und das vermutete Fremdbild der Interview- Sackausklopfmaschine: Aus Mehlsäcken wird auch das letzte ten Auskunft geben sollten. Stäubchen herausgeklopft. Erfindung eines schwäbischen Tüftlers zu Beginn dieses Jahrhunderts.

14 Interviews: Methode

3. Auswertungsmodus migkeiten in der Projektgruppe über die methodische Konzeption ausgewirkt. Auf die direkte Auswertung von Interviewmaterial Die auf die Transkription folgende Auswertung rich- stützen sich nichtsdestotrotz die Artikel „Schwäbischer tete sich nach den beiden oben schon genannten Minderwert“ von Angelika Brieschke, der Artikel Schwerpunkten der Sammlung und des Umgangs mit „Schwobe schaffe, Badener denke“ von Steffen Rompel Stereotypen über Schwäbisches. und Frank Rumpels Bericht „Kehren und Bekehrtes“. Aus Straßenumfragen und Telefonumfragen wur- Interviewauszüge sind diesem Buch zudem als illu- den die diversen Schwabenmotive herausgefiltert und strative Orginaltöne beigefügt. tabellarisch geordnet. Sie wurden folgenden Kategori- en zugewiesen: Charakterzüge, Sprache/Kultur, Kü- che/Trinkkultur, Landschaft/Städte, Wirtschaft, Schwabenköpfe, „nichts/gar nichts“. Eine Zusam- menfassung der Ergebnisse der Umfrageeinheiten der jeweiligen Stufe schloß sich an. Diesem Auswertungsdurchlauf wurden auch die Leit- faden-Interviews, soweit möglich, unterzogen. Es folgte die Zuordnungen von paraphrasiertem Text zu den Leitfragen. Der zweiten Schritt ermittelte das darge- stellte Selbstbild, das Fremdbild, sowie vermutetes Selbst- und Fremdbild. Diesem Analyseteil schloß sich eine eigene Beurteilung des bearbeiteten Interviews mittels eines kurzen Textes an, der die herausgearbei- teten Kernaussagen nochmals zusammenfaßte.

4. Kurzes Fazit

Wie man in diesem Ausstellungsbeiheft beim Durch- blättern bemerkt, finden sich die oben genannten An- sätze nicht in der Form umgesetzt, wie Anspruch, Materialfülle und -qualität, sowie teilweise auch der Ausarbeitungsstand das möglich gemacht hätten. Grün- de hierfür waren einerseits der hohe Arbeitsaufwand. In weit stärkerem Maße haben sich jedoch die Unstim-

15 Interviews: Methode

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„Der Schwabe, der hat eine feste Meinung über seine Werte – so ‘das gegebene Wort’ oder die ‘Sauberkeit’. Da hat er eine feste Meinung drüber und diese feste Meinung, die teilen die Schwaben zwischen sich. Ja, es sind vielweniger Kenntnisse als Überzeugungen. [...] Außerdem, es wäre schade, wenn man den Schwaben nicht am Dialekt er- kennen könnte. Dann würde nicht mehr viel vom Schwa- ben übrigbleiben, ja, wenn er keinen Dialekt mehr hat.“

(Interview mit einem französischen Studenten, 27 J.)

Alles, was die Eheleute Frech aus Fellbach zur Körperpflege brauchten. Wäscheschrank in der Schlafkammer der Fellbacher Pietistin Marie Frech (1996).

16 Macht schwäbisch krank?

Angelika Brieschke

Macht schwäbisch krank?

Über den Schwaben als typus melancholicus

1981 veröffentlichte ein Autorenteam der Tübinger Heilslehren faszinierte Dichter Hermann Hesse (‘Un- Universitäts-Nervenklinik in der Fachzeitschrift Der term Rad’, ‘Siddharta’). Und vom gebürtigen Stuttgar- Nervenarzt einen Artikel mit dem Titel Depressive Er- ter Georg Wilhelm Friedrich Hegel sagt Thaddäus Troll, krankungen bei Schwaben und Heimatvertriebenen.1 Grund- sein dialektisches Denksystem entspreche ‘diesem schizo- lage des Artikels war eine retrospektive Studie an 1153 phrenen Stamm’ der Schwaben ganz besonders. Für die Patienten, die im Zeitraum von 1961 bis 1968 statio- Richtigkeit mancher Mutmaßungen über die teils mitlei- när in der Tübinger Nervenklinik behandelt worden dig verspotteten, teils abschätzig behandelten schwäbischen waren. Anhand dieser über tausend Krankengeschich- Charaktermerkmale ist nun auch noch, kaum zu glau- ten von Schwaben und – als Vergleichsgruppe – nicht- ben, der medizinischen Beweis erbracht worden: Die schwäbischen Heimatvertriebenen sollte die Ausgangs- Schwaben sind wirklich so, wie sie scheinen.“ 5 these „Schwaben neigten stärker zu Melancholie als Angehörige anderer deutscher Volksstämme“ 2 über- Die regional zuständige Presse zuckte zurück: prüft werden. Medizinisches Unterscheidungskriterium: endogene oder reaktive Depression.3 Das Ergebnis „Ein psychiatrischer Lauschangriff auf die Schwaben- bestätigte die These im wesentlichen: Schwaben erkran- seele“ 6 – „Ein subtiler Mensch ist auch melancholisch. ken zu 60% an endogenen und zu 40% an reaktiven Falls nicht, ist er bestenfalls ein Rheinländer. [...] Wären Depressionen. Bei den Heimatvertriebenen war das die Ärzte zu einem anderen Ergebnis gekommen, die Verhältnis genau umgekehrt: 60% litten unter reakti- Schwaben hätten melancholisch gestoßseufzt, daß nun auch ven und 40% unter endogenen Depressionen. die Wissenschaft nichts mehr tauge“ 7. Die Mediziner attestierten dem Schwaben darauf- hin einen „dem Typus melancholicus nahestehenden Zwei Jahre später erlangte einer der Artikelschreiber, Charakter“ 4. Einige Monate später machte sich ein Wolfgang Johannes Weise, den Doktorgrad der Medi- bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin mit viel zin mit der Dissertationsschrift Zur Häufigkeit endogener Freude und noch mehr Häme über diesen klinischen und reaktiver Depressionen bei Schwaben und Heimatvertrie- Befund her: benen.8 Die nämliche Studie mit dem nämlichen Ergeb- nis – und die medizinische Laiin ist geneigt zu wün- „und an Nervenheilanstalten war im Südwesten ja auch schen, der Doktorand hätte die von ihm verwendete nie ein Mangel. Der hellsichtig wirre Genius Friedrich Literatur beherzigt: „Niemals eine retrospektive Erhe- Hölderlin dient den Anhängern der düsteren Schwaben- bung durchführen“9, warnt Herbert Immich unmiß- Theorie dabei ebenso als Beispiel wie der von indischen verständlich in seiner verschriftlichten Einführungs-

17 Macht schwäbisch krank? vorlesung Medizinische Statistik.10 Aber wie auch im- Trotzdem meinte Siemerling nicht, diesen Befund ei- mer: Dies war der vorläufig letzte epidemiologische nem wie auch immer definierten Volkscharakter zu- Höhepunkt zu diesem Thema. ordnen zu müssen. Er kam zu einem ganz anderen Achtzig Jahre vorher sah man die Sache an gleicher Ergebnis: Stelle noch völlig anders. Der erste Rechenschaftsbe- richt der neugegründeten Tübinger Nervenklinik er- „Das starke Ueberwiegen der depressiven Form der Seelen- schien 1901, sieben Jahre nach deren Eröffnung. Der störung in der Form der Melancholie hat wohl in erster Direktor Ernst Siemerling stellte dabei bei den Tübin- Linie darin seinen Grund, dass das Hauptkontingent ger Patienten ein „ungemein starke[s] Überwiegen der der Aufnahmen die ländliche Bevölkerung stellt und dass sog. einfachen Seelenstörung mit 61%“ 11 fest. Die Pa- unter dieser erfahrungsgemäss, wie es auch anderswo be- tienten stammten zu 93% aus Württemberg, und obachtet ist (z.B. in der Provinz Schleswig-Holstein), die Siemerling, der vorher an der Berliner Charité beschäf- depressiven Formen unter dem Bilde der Melancholie tigt war, bemerkte einen beachtenswerten Unterschied: überwiegen. Abgeschlossenheit des Wohnortes, Verbrei- In Tübingen gab es neben den 61% an einfachen tung des Sektenwesens konnten zuweilen als begünstigen- Seelenstörungen Erkrankten nur 4,2% Paralytiker und de Momente für das Zustandekommen der Erkrankung 6,6% „Deliranten und Alkoholisten“. ‘Nur’ deswegen, angesehen werden. Ein Teil dieser Kranken suchte die weil in die Deliranten und Alkoholisten mit 41% Hilfe der Klinik auf, nachdem der Versuch, in einer Ge- überwogen, 15% an einer Paralyse und lediglich 17% betsanstalt Genesung zu finden, fehlgeschlagen war.“ 13 an einer einfachen Seelenstörung erkrankt waren.12

Die Tübinger Nervenklinik

18 Macht schwäbisch krank?

Wie man sich denken kann, ist dieses medizinische Ja- für die leichtsinnigsten unter den Deutschen gegolten hat- Nein-Spiel fortsetzbar. Aber es haben und hatten nicht ten, wich, wenigstens im Altwürttembergischen, mehr und nur Ärzte etwas zu diesem Thema beizutragen: Lange mehr einer ernsten, stillen und in sich gekehrten Grund- bevor das schwäbische Gemüt dissertationsfähig wur- stimmung“ 16. de, gab es in der Literatur Hinweise auf die mutmaß- liche Schwermut der Schwaben – wobei hier natürlich Eine „seltsame Mischung von verschlossener Zurückhal- nicht unbedingt mit eindeutigem, diagnostischem Vo- tung und offenbarer Zutraulichkeit, von rechnerischem kabular gerechnet werden darf. Scharfsinn und träumerischem Spintisieren, von inniger Religiosität und gänzlich mangelndem Autoritätsglauben, „Der Schwabe ist häuslich und fleißig, opfert aber gerne von verschimmelter Nesthockerei und verbissenem der Freude, weil er gemütlich ist; aus seiner Gemütlichkeit Wandertrieb, von unglaublicher Philisterhaftigkeit und folgt wieder Religiosität, die oft in offenem Weltsinn“ 17 Schwärmerei und Melancholie ausartet; noch im achtzehnten konstatierte August Lämmle bei Jahrhundert trieb man Teufel aus, den Schwaben. – Für Thaddäus vorzüglich aus Weibern; es müssen Troll sind sie ein Volk von „Indi- aber doch welche zurückgeblieben vidualisten, Eigenbrödlern, Käu- sein“ 14, zen, Bruttlern, Sinnierern und Sektierern“.18 meinte Karl Julius Weber 1826 nach seiner Reise durch das König- Und – wir haben uns im Kreis reich Württemberg. gedreht – auch die oben erwähn- te Tübinger Studie von Gestrich, „In dem dicht bevölkerten kleinen Schied, Blank, Weise und Hei- Binnenstaat haben die meisten alle mann hat bereits Eingang gefun- Hände voll zu thun, um nur den den in die volkstümliche Schwa- Nahrungsstand zu sichern und der ben-Literatur. In dem neuesten Nothdurft des Lebens zu genügen. Werk von Karl Napf, einem Der Trieb, dem freien Genius zu schwäbischen Ministerialrat, ist folgen, stößt nach allen Seiten auf der Schwabe als Melancholiker eherne Schranken. Dieser Konflikt bereits zum ‘Schwaben als sol- findet nun [...] darin seine Lösung, cher’ mutiert.19 Johannes Gestrich daß der Einzelne [...] gerne im In- hat mit seiner Einschätzung eben nern, in der Welt der Gedanken, in jedem Fall recht: „Es ist auch Träume und Gefühle, einen Ersatz zu bedenken, daß solche Charak- sucht. Es ist daher dem Schwaben auch ein stiller, reflek- terisierungen selbst eine prägende Kraft besitzen kön- tirender Ernst, eine bald nüchterne, bald träumerische, nen.“20 In diesem Sinne stolpert man auch ständig über in sich gekehrte Lebensrichtung eigen.“ 15 die Anekdote von Theodor Haering – bereits bei Thaddäus Troll augenzwinkernd zitiert – von „einem So das Königlich Statistische Landesamt 1884. Und Psychiater, den es immer wieder nach Tübingen zog, 1904: damit er in der Universitäts-Nervenklinik ‘wieder ein- mal die herrlichen schwäbischen Schizophrenien se- „Durch den ausgebreiteten Einfluß, den die religiöse Rich- hen könne.’“21 Haering selbst nahm die Sache sehr ernst: tung des Pietismus im Lande gewonnen, wurde der Zug Jene Geschichte, über die er in seinem SchwabenSpiegel nach Verinnerlichung besonders gemehrt. Die übermüti- unter der Kapitelüberschrift Die Gefahren des schwäbi- ge Lebenslust der Schwaben, die im 16. Jahrhundert noch schen Charakters22 berichtet, gab ihm schwer zu denken:

19 Macht schwäbisch krank?

„‘einmal wieder diese herrlichen schwäbischen Schizophre- „Arbeitstreu, sehr fleißig, tätig, pflichteifrig, peinlich nien zu sehen’ – also jene Art von Geisteskrankheiten, genau, übersparsam, ordentlich, solid, fromm.“ 27 Wel- die, wie ihr Name sagt, eine Art von Spaltung des Gei- che Beschreibung meint den Schwaben und welche den stes und Gemütes eines Menschen darstellt. Offenbar ist Melancholiker? gerade dies ja die Krankheit, die dem Schwaben vor allem „Betriebsamkeit, Sparsamkeit, einen mit Nachden- droht, wenn er die Gegensätze, die in ihm liegen, nicht ken verbundenen Fleiߓ28 bescheinigte nicht nur Gu- mehr in gesunder Weise lebendig zusammenzuhalten und stav Rümelin, der Leiter des Statistisch-Topographi- zu verbinden vermag.“ 23 schen Bureaus in Stuttgart 1863 dem württembergi- schen Volkscharakter. Ohne jetzt wiederum eine fort- Es liegt auf der Hand, daß sich vornehmlich Medizi- setzbare Aufzählung von Belegen folgen lassen zu ner zu diesem Sachverhalt geäußert haben. Es darf wollen: Bei diesen schwäbischen Eigenschaften sind sich eben auch nicht außer acht gelassen werden, daß die die Landesbeschreiber, Volkskundler, Historiker und Pathologisierung des schwäbischen Charakters mit dem sonstigen Dichter und schriftstellernden Schwaben ei- Fortschreiten psychologischer Erkenntnisse und der nig wie selten. Und einige Wissenschaftler haben sich Ausdifferenzierung des ärztlichen Standes einhergeht. auch daran gemacht, die Herkunft dieser Eigenschaf- Und dennoch: Bei allem Mißtrauen gegenüber medi- ten zu klären. Doch dazu später. zinischen Festschreibungen zeigt sich in der Tat Ver- Zunächst – die schwäbische Schwermut einmal als blüffendes, wenn das Thema nur von der einen, der gegeben betrachtend: Welche Erklärungsversuche gibt rein pathologischen Seite her betrachtet wird. es dann? Auch wenn eine mögliche Erklärung wahr- Wie sieht das Krankheitsbild ‘Melancholie’ als sol- scheinlich irgendwo in der Mitte liegt; wie immer, wenn ches aus? Melancholie, so scheint es, liegt in einem es um Verhalten geht, finden sich Vertreter für die bei- bestimmten ‘melancholischen’ Charakter begründet, den Seiten: Das Verhalten ist ererbt – das Verhalten ist und die dazu gehörigen Eigenschaften sind – der erlernt. So auch hier. Schwäbin schwinden die Sinne – wahrhaft außerge- In welcher Zeit vor allem die Vertreter der ersten wöhnlich: Ordentlichkeit, Gewissenhaftigkeit und ho- Seite zur Sprache kamen, liegt auf der Hand. 1938 her Leistungsanspruch (!) wurden von ärztlicher Sei- faßte Hans Jörg Weitbrecht, der im Stuttgarter Bürger- te24 als konstitutive Wesensgrundzüge des Melancho- hospital tätig war, seinen Beitrag zu einer schwäbischen likers ausgemacht. Und die Beschreibung der melan- Stammespsychopathologie folgendermaßen zusammen: cholischen Persönlichkeit kommt uns, nachdem wir uns längere Zeit mit dem Schwaben an sich und als sol- „Wer in Schwaben Psychiatrie treibt, sieht sich vor die chem befaßt haben, merkwürdig vertraut vor: Notwendigkeit gestellt, Religionspsychologie zu studieren. In welch hohem Maße religiös-weltanschauliche Inhalte „Durchweg kennzeichnen Schlichtheit und Sauberkeit den in endogenen Psychosen sowie in pathologischen Reaktio- äußeren Habitus, auch den der Angehörigen, für die sie nen und Entwicklungen eine Rolle spielen, ist auffallend. sorgen. Im Umgang mit den alltäglichen Dingen herrscht Nach unserer Überzeugung sind dafür nicht im letzten vorbedachtes Aufräumen und Aufgeräumthalten. Das Grunde traditionell-umweltgebundene Faktoren – also Arbeitsleben ist durchweg bestimmt von Fleiß und Ge- etwa die überreiche Durchsetzung Schwabens mit religiö- wissenhaftigkeit, Pflichtbewußtsein und Solidität.“ 25 sen Gemeinschaften und Sekten – sondern stammesmäßig- biologische Ursachen maßgebend, die ihrerseits wiederum Auch die darauf folgenden Kurzfassungen einer ‘de- den Untergrund für die grüblerisch-spekulative Eigenart pressiven Wesensart’, die aus Studien zusammenge- des schwäbischen Stammescharakter bilden, aus dem se- stellt wurden, die zusammengenommen ein halbes Jahr- kundär sich das geistig-traditionelle Schwabentum ent- hundert abdecken (1910 – 1961), unterscheiden sich wickelt.“ 29 nicht wesentlich von dem, was wir heute bei unseren Umfragen auf die Frage ‘Was fällt Ihnen zum Schwa- Dabei muß allerdings deutlich gesagt werden, daß Weit- ben ein?’ als Antwort gehört haben: „geizig, sparsam, brecht kein Genetiker, sondern Psychiater war und er fleißig, arbeitsam, schaffig, bodenständig, ernst“ 26 – mit diesem Beitrag keine auch nur irgendwie quantita-

20 Macht schwäbisch krank? tive Studie vorgelegt hat. Aber die Frage nach der Witz oder echtem Humor. Zähigkeit und Gründlichkeit Vererbbarkeit von Geisteskrankheiten war für ihn of- ist dem Schwaben zu eigen, aber auch Schwerfälligkeit, fensichtlich gar keine Frage. Ebensowenig wie für Schüchternheit, Bescheidenheit und Wortkargheit Robert Gaupp, der von 1906 bis 1936 Direktor der bei sehr lebhaftem Rechtsgefühl. Querulantentum ist Tübinger Nervenklinik war. Gaupp, der unstrittig eine recht häufig und man spricht bei uns nicht ohne Grund in Fachkreisen hochgeschätzte Persönlichkeit war 30 und von ‘echt schwäbischem Eigensinn’, vom ‘schwäbischen genauso unstrittig als Rassehygieniker Zwangssterili- Dickkopf ’. [...] Aus der religiös-philosophischen Struktur sation31 Geisteskranker für vertretbar hielt, äußerte sich schwäbischer Eigenart nimmt die Schizophrenie, diese im Südwestdeutschem Ärzteblatt 1949 in seinem Beitrag wichtigste Krankheit endogener Natur, ihre reichhaltigen Schwäbische Psychiatrie – eine historische Betrachtung wie folgt: Symptombilder, [...]. Die Verlaufsform Hölderlin’scher Schi- zophrenie tritt uns bei vieljähriger Erfahrung immer wie- „Zunächst noch einiges über die seelischen Erkrankun- der einmal in ergreifender Deutlichkeit vor Augen. [...] In gen hier im Schwabenland. Ich habe schon erwähnt, daß Württemberg, das ja bis vor wenigen Jahrzehnten eine bei den sogenannten „Gemütskranken“ hier in Württem- ziemlich seßhafte Bevölkerung hatte und altes Kulturland berg die Depressionszustände zahlenmäßig sehr überwie- ist, besteht viel Inzucht und wer, wie ich, vier Jahrzehnte gen. Sie tragen sehr häufig hypochondrische Wesenszü- in diesem Lande ärztlich tätig ist, lernt die Mannigfaltig- ge, manche sind mit zwangsneurotischen Erscheinungen keit erblich bedingter Erkrankungen kennen und erlebt die verbunden. Sehr häufig erleben wir bei den schwäbischen Einflüsse kombinierter Belastungen, also Krankheitsbilder Kranken eine Zunahme depressiv-hypochondrischer Ver- mit schizophrenen, zirkulären, epileptischen, imbezillen stimmungen im absteigenden Teil ihrer Lebenskurve. Der Einschlägen.“ 32 Humor fehlt zwar nicht ganz, ist aber kein starkes Ele- ment im schwäbischen Volkscharakter, verglichen etwa mit Auch wenn einige Passagen dieses Zitates zum Sar- dem Rheinländer oder Bayern. Selbst manische Erregun- kasmus reizen – schließlich entbehrt es nicht einer ge- gen in heiterer Tobsucht sind oft sehr arm an wirklichem wissen Pointe, daß dem Arzt die schwäbischen ‘Erre- gungen in heiterer Tobsucht’ zu wenig witzig sind –, ins- gesamt läßt einem die rohe Entschiedenheit des Medizi- ners eher den Atem stocken. Vor allem, wenn man be- denkt, was solche Fest- schreibungen in manchen Zeiten bedeuten können. Im Nationalsozialismus waren die Folgen für Kranke un- ter Umständen fatal, schließ- lich wurden auch Geistes- kranke als ‘unwertes’ Leben eingestuft. Die Vorstellung eines genetischen – und da- mit irreparablen – ‘Defektes’ begünstigt eine solche Denkweise. Das ist auch der Grund, warum ich diese Graffito am Hölderlinturm in Tübingen: „Der Hölderlin isch et veruckt gwä.“ Aussagen in keinem Fall un- Die Meinungen gehen auseinander. widersprochen stehen lassen

21 Macht schwäbisch krank? möchte33 und kurz darauf eingehe, was Erbgenetiker zu Kartenspielen, nicht genehmigte Tänze und und und. dem Thema ‘Vererbung von Geisteskrankheiten’ zu Daß ein zweihundertjähriges, harsches Eingreifen in sagen haben. Florian Schilcher kommt in seinem Buch das öffentliche und private Verhalten jedes einzelnen Vererbung des Verhaltens im Kapitel Psychopathologie – nach- nicht ohne Auswirkungen bleiben kann, erscheint nach- dem er die bisher durchgeführten Studien zu diesem vollziehbar: Thema vorgestellt und diskutiert hat – zu folgendem lapidaren Ergebnis: „Wo man hinsieht, finden sich „Die Kirchenkonvente bewirkten eine dem Calvinismus Hinweise auf genetische Faktoren, aber überall spielt verwandte, asketisch-arbeitssame Lebensführung. Da- auch die Umwelt eine nicht zu vernachlässigende Rol- durch, daß einzelne konkrete Handlungen immer wieder le.“34 Insgesamt scheinen sich die Fachleute einig zu bestraft wurden, andere nicht, wurden Qualitäten ausge- sein, daß nicht eine Krankheit selbst, sondern nur die lesen, Tugenden gezüchtet, der württembergisch-schwäbi- Möglichkeit für eine Krankheit vererbt wird: sche Volkscharakter modelliert.“ 37

„Ein ‘Gen’ ist keine absolute und unwiderrufliche De- Für Joachim Trautwein ist dagegen eine andere ge- termination; es ist eine Möglichkeit; eine Möglichkeit – schichtliche Entwicklung, eine Entwicklung von un- so wäre fortzufahren – die sich nicht zwangsläufig in ten, ausschlaggebend: der Pietismus.38 Einerseits das phänotypische Wirklichkeit umsetzen muß.“ 35 Recht auf Gewissensfreiheit und eigenständiges Nach- denken einfordernd und andererseits für eine ethische So gesehen scheint die Umwelt eine nicht zu unter- Disziplin eintretend, hat der Pietismus tief auf das schätzende Rolle zu spielen, und die Frage nach dem Selbstverständnis und Selbstbewußtsein jedes einzel- ‘erlernt’ taucht wieder auf. Wie der schwäbische Charak- nen eingewirkt. Die pietistische Ethik verlangt vor al- ter erlernt worden sein könnte, damit haben sich ins- lem zweierlei: Frömmigkeit und Fleiß. Frömmigkeit besondere Volkskundler, Historiker, Theologen und basiert dabei für den Pietisten auf Gotteserkenntnis, Schwaben beschäftigt. Auf zwei – Werner Unseld und und dafür standen ihm drei Wege offen: die Bibel, das Joachim Trautwein – möchte ich näher eingehen, wo- Gewissen und die Natur, aus denen sich – nach Traut- bei die Argumentation der beiden sich in einem we- wein – „Ordnung (Fleiß, Pünktlichkeit), Rationalität sentlichen Punkt unterscheidet: Unseld sieht den schwä- (Planung) und Forscherdrang (Naturwissenschaft, In- bischen Charakter als von einer Obrigkeit den Schwa- dustrie, Konstrukteure)“ 39 entwickelt haben. Trautwein ben aufgezwungenen an; für Trautwein ist er eher aus macht diese Entwicklung an einem eher unorthodo- einer Art Selbstdisziplinierung durch eine Bewegung xen Beispiel klar: von unten entstanden. „Der Zusammenhang zwischen pietistischer Ethik und „Schaffen, putzen, sparen – diese Mentalität ist nicht allgemeinen württembergischen Tugenden läßt sich etwa nur, aber wesentlich doch auch Resultat der mehr als an dem Begriff des ‘Werklers’ und an dem Wertepaar zweihundertjährigen Geschichte der Kirchenkonvente, die ‘faul-fleißig’ zeigen. Ursprünglich war ‘Werkler’ ein zu einem systematischen Alltagshandeln und einer me- Schimpfwort für Pietisten, denen man vorwarf, sie würden thodischen Lebensführung erzog.“ 36 sich die Gnade Gottes durch unermüdliches Nachdenken, Tun und Werken (‘Werkeln’) erwerben wollen. Durch Disziplinierung durch Strafe – für Werner Unseld ist den Bedeutungswandel hat das Wort säkularisiert die Einführung der Kirchenkonvente Mitte des 17. Jahr- einerseits die Betonung ‘immer etwas tun müssen’ (ohne hunderts ein maßgebliches Moment bei der Formung sich Ruhe zu gönnen) und andererseits die Betonung des schwäbischen Charakters. Der Kirchenkonvent, ein ‘Erfinderdrang’ gewonnen. Beides, mit Licht und Schatten, Gremium aus geistlicher und weltlicher Obrigkeit, fun- ist hierzulande wohlbekannt. Und schließlich ist in gierte als Sittengericht. Unterstützt durch Spitzel in der Württemberg nichts so verwerflich wie ‘Faulheit’.“ 40 Bevölkerung, kontrollierte er das Verhalten der Ge- meindemitglieder und verurteilte Delikte wie Saufe- Leider hat dieser schlüssige Erklärungsversuch für uns rei, Völlerei, Üppigkeit, Unzucht, Sonntagsentheiligung, einen schwerwiegenden Schönheitsfehler: Trautwein

22 Macht schwäbisch krank? zeigt ‘nur’ auf, wie Tugenden der pietistische Ethik BAR. Und schließlich wurde ja auch bei der neuesten, und schwäbisch-württembergische Charaktereigen- der 14. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks schaften ineinander aufgingen, wobei dem Pietismus ermittelt, daß „psychische Erkrankungen [bei Studie- eine verstärkende Funktion zukam.41 Der Ursprung die- renden, a.b.] in der Neckarstadt stärker verbreitet sind ser Eigenschaften verliert sich im Dunkel der Geschich- als im Bundesdurchschnitt.“46 te – genauer gesagt im 17. Jahrhundert, denn wie oben bereits erwähnt, galten die Schwaben im 16. Jahrhun- dert noch – wegen ihrer übermütigen Lebenslust (!) – als die „leichtsinnigsten unter den Deutschen.“42

„Wonne und Vogelsang Ist in Schwaben - - - Anmerkungen sagt der Schenk Konrad von Landeck im Sankt Galli- schen um das Jahr 1280.“ 43

Und ein aus dem 15. Jahrhundert stammender Schwei- zer Dominikaner, der lange unter den Schwaben ge- 1 Depressive Erkrankungen bei Schwaben und Heimatver- lebt hat, berichtet folgendes: riebenen; e. epidemiologischer Beitrag zur Frage der höheren Neigung der Schwaben zur Melancholie / J. Gestrich, H.-W. Schied, W. Blank, W. Weise u. H. Heimann. In: Der Nervenarzt. „Das Land ist sehr bevölkert, das Volk das tapferste, Heidelberg: Springer, 1981, 52. Jg. S. 153-162. hochgewachsen, blond, von schöner Gesichtsbildung, sehr 2 Ebd., S. 153. beredt, in seiner Sprache reich an Synonymen, Worten 3 Als ‘endogen’ werden Depressionen bezeichnet, die – ohne somatische oder psychische Ursachen – quasi aus dem ‘Inneren’ und Redensarten mehr als die übrigen Deutschen. Sie einer individuellen seelischen Verfassung heraus auftreten. sprechen mit heller Stimme und singen wie Trompeten, Melancholie ist ein Synonym für endogene Depression. Der sind lebensfroh bei spärlicher Nahrung, kleiden sich Pschyrembel erklärt die Krankheitsbilder folgendermaßen: endogene Depression: affektive oder bipolare affektive 44 reinlich und baden viel.“ Psychose, Affektpsychose, bipolare Depression, manisch- depressive Psychose, Melancholie, monopolare, periodische, – Was ist passiert? Oder vielmehr: Ist was passiert? phasische, primäre, psychotische, vitale, zirkuläre Depression, Schwermut u.a.; klassischer Typ der Depression, familiär gehäuft Vielleicht ist die eigentliche Frage nicht die Frage nach auftretend – Entstehungsursache unbekannt(!). den Zuschreibungen, sondern die Frage nach den Zu- Reaktive Depression: auf äußere Auslöser, Verluste, schreibern.45 Letztendlich läßt sich nämlich problem- Kränkungen oder belastende Lebensumstände beziehbares los – literarisch – nachweisen, daß der Schwabe ein depressives Syndrom. Der äußere Auslöser muß in seiner objektiven Schwere der Intensität und Dauer der reaktiven tapferer Krieger und feiger Angsthase, offen und ‘ver- Depression adäquat sein; sonst endogene Depression, bei der druckt’, herzlich und unfreundlich, einfach strukturiert nicht selten ebenfalls für den akuten Schub äußere und knitz hintergründig ist, die Schwäbin aber von Belastungsfaktoren erhebbar, sind. Die eindeutige Zuordnung gelingt oft nur durch Beobachtung des Verlaufs. In: schönem Antlitz und eher unansehnlich ist, und daß Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 256., neubearb. Aufl. man mit ihnen schnell und nur langsam Kontakt knüp- Berlin u.a.: deGruyter, 1990. fen kann. Ganz abgesehen davon, daß der Schwabe 4 Depressive Erkrankungen ... S. 161. Wie Anm. 1. 5 Der Spiegel, 19.04.1982, „Höhere Neigung“. evangelisch beziehungsweise katholisch ist, womit auch 6 Stuttgarter Nachrichten, 30.04.1982, „Ein psychiatrischer die Herkunft des wirklich typischen Schwaben – Rems- Lauschangriff auf die Schwabenseele“. tal und Oberschwaben – hinreichend erklärt wird. 7 Stuttgarter Zeitung, 20.04.1982, „Schwaben-Schwermut“. Und dennoch, wankenden Schwabenbildern zum 8 Wolfgang Johannes Weise: Zur Häufigkeit endogener und reak- tiver Depressionen bei Schwaben und Heimatvertriebenen. Trotz: Irgendeine Zusammengehörigkeit, eine subtile Univ. Diss. Tübingen, 1984, Titelblatt. Affinität zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem 9 Herbert Immich: Medizinische Statistik; e. Einführungs- muß es geben. Denn – ganz ehrlich ganz unwissen- vorlesung. Stuttgart u.a.: Schattauer, 1974. S. 34. 10 Gequält mit der Frage, ob nicht-schwäbische Heimatvertriebene schaftlich – der Schwabe als rheinische Frohnatur, wirklich die optimale Vergleichsgruppe für nicht-heimat- womöglich mit Berliner Schnauze? UNVORSTELL- vertriebene Schwaben ist, verliert sich die Leserin bei der

23 Macht schwäbisch krank?

Lektüre in diversen Diagnose-Diagrammen, um auf Seite 33 29 Hans Jörg Weitbrecht: Beitrag zu einer schwäbischen das aussagekräftige Ergebnis des schwäbischen Mediziners Stammespsychopathologie. In: Zeitschr. für die gesamte verblüfft zur Kenntnis zu nehmen: „Es zeigt sich eine gewisse Neurologie und Psychiatrie. Berlin: Springer, 1938, Bd. 162, Ähnlichkeit zwischen dem Typus melancholicus und den Heft 3. S. 343-400. S. 399. Eigenschaften, die den schwäbischen Volkscharakter ausmachen 30 Vgl. Schwäbisches Tagblatt, 22.10.1991, Extrablatt. sollen. [Unterstreichung von mir, a.b.].“ Weise: Zur Häufigkeit 31 Gaupp war kein Nationalsozialist. 1936 wurde er, obwohl er ... Wie Anm. 8. um Amtsverlängerung gebeten hatte, zwangsemeritiert und 11 Ernst Siemerling: Bericht über die Wirksamkeit der durch einen erklärten Nazi-Anhänger ersetzt. Aber Gaupp hatte psychiatrischen Universitätsklinik zu Tübingen in der Zeit vom zu dem rassistischen Gedankengebäude dieser Zeit seinen 1. November 1893 bis 1. Januar 1901. Tübingen: Pietzcker, Beitrag geleistet: „Auf der Jahresversammlung des Deutschen 1901. S. 19. Unter die Bezeichnung ‘einfache Seelenstörung’ Vereins für Psychiatrie [...] hält 1925 der Tübinger wurden damals neben „Verrücktheit“ alle Formen der Manie Psychiatrieprofessor Robert Gaupp ein Referat: ‘Die und der Melancholie subsummiert. Unfruchtbarmachung geistig und sittlich Kranker und 12 Vgl. Ebd., S. 20. Minderwertiger’.“ In: Ernst Klee: ‘Euthanasie’ im NS-Staat ; 13 Ebd., S. 22. die ‘Vernichtung lebensunwerten Lebens’. Frankfurt a.M.: S. 14 Karl Julius Weber: Reise durch das Königreich Württemberg. Fischer Verl., 1983. S. 29. Erstausgabe ohne Verfasserangabe 1826. Stuttgart: Steinkopf, 32 Robert Gaupp: Schwäbische Psychiatrie; e. historische 1978. S. 152. Betrachtung. In: Südwestdeutsches Ärzteblatt. Stuttgart: Enke, 15 Das Königreich Württemberg; e. Beschreib. nach Kreisen, 1949, 4. Jg., Heft 7. S. 119-123. S.120f. Fettungen entsprechend Oberämtern und Gemeinden / hrsg. vom k. statistischem Zitat. Landesamt. Stuttgart: Kohlhammer, 1884. S. 240. 33 Selbstverständlich weiß ich um meine medizinische Inkompe- 16 Das Königreich Württemberg; e. Beschreib. nach Kreisen, tenz bei diesem Sachverhalt, und ich bin mir darüber im klaren, Oberämtern und Gemeinden / hrsg. vom k. statistischem daß mit Literaturzitaten der Streit um die Vererbbarkeit von Landesamt. Stuttgart: Kohlhammer, 1904. S. 68. Geisteskrankheiten nicht entschieden werden kann. So er denn 17 In: Thaddäus Troll: Deutschland deine Schwaben. 1.-12. entschieden werden kann. Tausend. Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1967. S. 91. 34 Florian von Schilcher: Vererbung des Verhaltens; e. Einführung 18 Ebd., S. 39. für Biologen, Psychologen u. Mediziner. Stuttgart: Thieme, 19 „Tatsache ist, daß wissenschaftliche Untersuchungen an der 1988. S. 308. Universitätsnervenklinik Tübingen ergaben, daß der geborene 35 Tellenbach: Melancholie, S. 33. Wie Anm. 24. Württemberger eher zur Schwermut, ja sogar zur Depression 36 Werner Unseld: Die schwäbische Verbesserung der Sünder; neigt als all die ‘Reingeschmeckten’. Als ‘schwäbische Krankheit’ vom Kirchenkonvent zur Kehrwoche. In: Zwischen Konzil und könnte daher mit Fug die Melancholie angesehen werden und Kehrwoche. (Ausstellungskatalog) Textband. Ludwigsburg: nicht etwa der Geiz, wie boshafte Norddeutsche manchmal Landeskundliches Museum, 1994. S. 140-149. S. 148. behaupten.“ Karl Napf: Der Schwabe als solcher. Stuttgart: 37 Ebd., S. 147. Theiss, 1994. S. 119. 38 Vgl. Joachim Trautwein: Religiosität und Sozialstruktur. 20 Depressive Erkrankungen ... S. 160. Wie Anm. 1. Stuttgart: Calwer Verlag, 1972. 21 Troll: Deutschland, Deine Schwaben, S. 169. Wie Anm. 17. 39 Ebd., S. 54. 22 Theodor Haering: SchwabenSpiegel. Reutlingen: Oertel & 40 Joachim Trautwein: Pietismus – ein folgenreicher Sonderfall. Spörer, 1949. S. 75. In: Konfession – eine Nebensache? Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 23 Ebd., S. 76. 1984. S. 105-133. S. 129f. 24 Vgl. Hubertus Tellenbach: Melancholie. 4. erw. Aufl. Berlin: 41 „So blieb es nicht aus, daß die Pietisten durch ihren Fleiß und Springer, 1983. S. 64-113. Hubertus Tellenbach war der ihre Sparsamkeit selbst im fleißigen und sparsamen ehemalige Leiter der Abteilung Klinische Pathologie an der Württemberg unerreicht waren.“ Trautwein: Religiosität. S. 49. Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg. Wie Anm. 38. 25 Ebd., S. 66. 42 Das Königreich Württemberg, 1904. S. 68. Wie Anm. 16. 26 Über die im Rahmen unseres Projektes durchgeführten Inter- 43 Julius Hartmann: Schwabenspiegel aus alter und neuer Zeit. views und Umfragen siehe die Beiträge der Interviewgruppe Stuttgart: Gundert, 1901. S. 15. in diesem Buch. 44 Ebd., S. 30. 27 Tellenbach: Melancholie, S. 68. Wie Anm. 24. Referiert wurde 45 So ist uns im Projekt auch allenthalben entgegengehalten dabei eine Studie von J. Lange aus dem Jahre 1926. worden, der Schwabe selbst (re)produziere die meisten 28 Gustav Rümelin: Der Württemberger; d. schwäbische Schwabenbilder. Volkscharakter, 1863.1884. Neuausgabe / Hrsg. Statistisches 46 Schwäbisches Tagblatt, 21.06.1996, S. 21, „Fast siebzig Prozent Landesamt Baden-Württemberg. 2. Aufl. 1989. S. 18. gehen jobben“.

24 Der sparsame Schwabe

Utz Jeggle

Der sparsame Schwabe

Im Selbstbild sieht er sich sparsam, von außen wird er eines Einlagebüchleins aus der Frühzeit des Sparkas- als geizig denunziert – jedenfalls ist die Avaritia keine senwesens heißt: Todsünde in der Schwaben-Moral. Kleinbäuerliches Dasein lehrte den Blick auf Details, die egalitäre „Wer nicht auf den rothen Pfennig achtet Erbform der Realteilung schulte die Wachsamkeit ge- Im Kleinen will nicht sparsam sein gen Übervorteilung und setzte kleinliches Teilen als Vergeblich nach dem Taler trachtet gültiges Prinzip. Das stiftete zwar auch die Grundlage In des Silberglanzes Schein.“ 1 für einen Gerechtigkeitssinn, der aber zugleicht recht- haberisch und engkariert unterfüttert war. Der Heilige Aber das Einlagebüchlein ist das Leitmotiv eines an- Martin, der ohne Pflicht seinen Mantel mit einem da- deren Genres der Sparsamkeit, das nicht mehr im hergelaufenen Armen teilte, war kein schwäbischer Sparstrumpf statt hat, sondern im Sparbüchle und sei- Schutzpatron. nen Artverwandten seinen Container findet. Die „Würt- S’Sach zusammenhalten war eine Überlebens- tembergische Sparcasse“ – das Wort Bank war eigen- strategie, die den Sinn ebenso für „lohnende“ Bezie- händig von der Königin Katharina geändert worden – hungen – speziell bei Ehen – prägte, wie sie ihn für „war eine im Interesse der Armen gegründete wohltä- die subtile Erkenntnis von Vorteilen schärfte. Da aber tige Anstalt“, die 1818 auf Betreiben der Königin jeder in dieser kleinbäuerlichen Welt mit gleichem Miß- Katharina von Württemberg als Einrichtung trauen im sozialen Feld operierte, war kaum Raum für Großzügigkeit, allenfalls für demonstrative und als „der Armenfürsorge und Wohltätigkeit [...] ins Leben werkgerecht ritualisierte Mildtätigkeit. Diese galt auch gerufen [wurde], um der ärmeren Bevölkerung die Mög- nur Rand- und Außenseitern und bewies die Rechen- lichkeit zu geben, ihre Ersparnisse zinsbringend anzule- haftigkeit des kleinbäuerlichen Systems auch in Fra- gen.“ 2 gen der Almosen und des Mitleids. So ging es anders als bei Geschäftsbanken nicht um Die Achtung vor der kleinen Differenz als Grundlage die Balance von „Kapitalsammelstelle“3 und Kredit- der kleinbäuerlichen Existenz führte zur Hochschät- vergabeeinrichtung, sondern die Sparkassen, so wird zung des kleinen Betrags, wer den Pfennig nicht ehrt, dies noch 1928 propagiert, „haben die Aufgabe, klei- ist die Mark nicht wert, oder wie das ins schwäbische ne und kleinste Kapitalien herauszuziehen, um auch Denken übersetzt in einem Reim auf der Rückseite dem kleinen Mann bei der Kapitalbildung behilflich

25 Der sparsame Schwabe zu sein.“ Die ideengeschichtlichen Grundlagen hatte portofrei erledigt5 und in aller Eile wurde ein umfas- in England Daniel Defoe (An essay on projects, 1697) sendes Filial- und Agentennetz aufgebaut: 1889 zähl- gelegt, die „Armen“ sollten von Alkohol, Spiel, Mü- te man 499 Annahmestellen für Erspartes im Land. ßiggang abgehalten und zum Sparen erzogen werden. Die Württembergische Landessparkasse verfügte 1913 Adam Smith hatte in seiner Schrift Der Wohlstand der über 649 Agenturen; weitere 1732 Agenturen wurden Nationen Grundsätzliches formuliert: von 71 Oberamts- und städtischen Sparkassen beauf- sichtigt. Mit 21% aller Sparstellen des Deutschen Reichs „Kapital wird durch Sparsamkeit erhöht und durch Ver- hielt Württemberg eine Spitzenstellung inne. Kein an- schwendung und Mißwirtschaft vermindert. Sparsamkeit derer deutscher Staat hatte ein Netz vergleichbarer und nicht Erwerbsfleiß ist die unmittelbare Ursache für Dichte aufzuweisen. Aber trotz der leichten Zugäng- das Anwachsen des Kapitalstands. Tatsächlich schafft erst lichkeit zu einer Spargelegenheit war das Sparauf- der Erwerbsfleiß, was durch Sparsamkeit angesammelt kommen bei den württembergischen Sparkassen, ver- wird, doch was immer auch mit Fleiß erreicht werden glichen mit den anderer Staaten des Reichs, eher un- mag, ohne Ersparnis kann der Kapitalbestand niemals terdurchschnittlich.6 Rein statistisch ist der Schwabe größer werden.“ 4 also, zumindest was seinen Sparfleiß angeht, gar nicht so ungewöhnlich gewesen.

Zahl der Sparbücher je Einlage je Land Einlage 1913 Einlage Sparbücher Einwohner Einwohner

Württemberg 626 Mio. 841.511 744 RM 2,8 266 RM

Baden 954 Mio. 753.799 1.266 RM 2,8 452 RM

Sachsen 1.954 Mio. 3.437.807 568 RM 1,3 437 RM

Reich 809 RM 2,6 292 RM

Das nicht konsumierte Geld sollte sich in Kapital ver- Es war also weder der Sparwille so elementar und ef- wandeln, dies obwohl in der Protoindustrialisierung fektiv ausgeprägt, wenn man ihn mit der badischen viele Bürger Württembergs am oder unter dem Exi- und vor allem der sächsischen Konkurrenz vergleicht, stenzminimum darbten und vor lauter Not kaum das noch war der Spargedanke eine schwäbische Erfindung, tägliche Brot zusammen kratzen konnten – wie sollte sondern er kam aus England und über Oldenburg nach da noch etwas vom Munde abgespart werden? So ist Württemberg. Königin Katharina, die in erster Ehe mit es jedenfalls nicht die ganze Wahrheit, wenn die Mild- Prinz Georg von Oldenburg verheiratet war, hatte das tätigkeit der ersten Sparkassen gegenüber dem Sparer Sparen als moralische Anstalt von dort mitgebracht. überbetont wird. Hinzu kam eine politische Blockade, wie zumindest in einer Festschrift der Landesgirokasse gemutmaßt wur- Die neue Lehre, daß das Geld arbeite und der Kon- de, daß Sparsamkeit als pietistisch-schwäbische Tugend sumverzicht verzinsungsfähiges Kapital anhäufe, wur- von sozialistischen und kommunistischen Gruppen als de großzügig propagiert und gegen die kleinen popu- Werkzeug des Kapitalismus verteufelt worden sei. Wer lären Lüste gestellt; der abendliche Trunk, das Her- durch Verzicht ein kleines Vermögen angesammelt umsitzen im Wirtshaus sollte als gottlos oder aber ins hatte, war als Revolutionär unglaubwürdig. Deshalb weltliche übersetzt als vertane Zeit gegeißelt werden. die Parole: Wer spart, ist ein Verräter.7 Das gab argu- Dafür gab es öffentliche Unterstützung: Die Bank- mentativ auch umgekehrt einen Schuh: Das Sparbüchle korrespondenz wurde von der württembergischen Post vertreibt den revolutionären Vergesellschaftungselan

26 Der sparsame Schwabe und stärkt den Eigentumsvorbehalt gegen kommuni- stische Utopien – wer spart, hat etwas zu verlieren. So war der sparsame Schwabe eher ein Ziel der Gewerbe- politik als eine Voraussetzung. Dafür wurden verschiedene Medien pädagogisch eingesetzt, wurden auch populäre Erzählstoffe in Stel- lung gebracht, wie in Forchtenberg die „alte Heimats- sage, die der Künzelsauer Oberamtspfleger Hahn so reizvoll versifiziert hat“: Der Teufel auf der Mutstaffel, die das klassische Motiv vom verarmten Bauern auf- greift, der sich beim Teufel Geld leiht, und, wenn er es nicht übers Jahr zurückbringt, seine Seele als Pfand verliert. Der Bauer schafft und spart und spart, so daß er seinen Kredit zurückzahlen kann: „Sauberkeit und Sitz“: „Standard“-Männerunterhosen, gesehen in Stuttgart 1991. „Seit jener Zeit beachten sehr Die Forchtenberger diese Lehr’: Auch da ist zumindest latent ein Mißtrauen gegen Leih- Wer immer redlich schafft und spart, und Zinswesen, das als teuflisch Zeug empfunden wird. Bleibt vor des Teufels List erspart.“ 8 Ähnlich argumentiert auch der „Sparapostel“ Pfarrer Mayer aus Kupferzell: 1776 veröffentlicht er im Hohen- lohischen Kalender eine Sparsamkeitslitanei, wobei er die guten alten, sparsamen Zeiten mit den gegenwärti- gen vergleicht. Basis dieser Denkweise war eine Gleich- setzung zwischen Sparen als risikoarmem, dafür zins- schwachem Kapitalanhäufeln und risikobereitem Ka- pitaleinsatz. Im Gegensatz zum Sparer sind der Schuldenmacher und der Finanzjongleur bis heute in der Stufenleiter der schwäbischen Tugenden unten durch; Witze vom Kleinsparer, der sich ab und zu sein Erspartes zeigen läßt, sind ebenso Indizien, wie die in den 50er Jahren aufkommenden Spott-„Flurnamen“ wie Schuldenbuckel o.ä. Da warf der Pietismus lange Schatten: Der einflußreiche pietistische Prälat Sixt Carl Kapff veröffentlichte 1856 eine Schrift Der glückliche Fabrikarbeiter, seine Würde und Bürde, Rechte und Pflichten, Sonntag und Werktag, Glaube, Hoffnung und Gebet. 9 Und da heißt es nach der Aufzählung der pietistischen Tu- genden:

„Mit freudiger Rührung sah er dieses Bild einer glückli- chen Arbeiterfamilie, die ihr Glück nächst Gott der Spar- kasse zu verdanken hatte.“ 10

Die Sparkasse griff auf pietistische Ideale zurück. Jo- hann Jakob Moser hat in seiner Selbstbiographie das „Betragen gegen mich selbst“ beobachtet und unter Eine Spardose ist eine Spardose ist eine Spardose... dem Stichwort „Genügsamkeit“ folgendes notiert:

27 Der sparsame Schwabe

„Sonst bin ich für meine Person mit wenigem in allen das uns lehrt, daß niemand einem anderem etwas gön- Stücken herzlich vergnügt, wünsche es nicht anderst und nen darf und alles zur Vermehrung des eigenen Besit- nehme es, wann ich es gleich anderst haben könnte, nicht zes nützen muß. Diese Tendenz geht bis zur „Vergol- an: An mir selbsten spare ich am meisten.“ 11 dung“ der eigenen Ausscheidungen. In Stuttgart er- schien 1880 eine Schrift, die zur erklärten Absicht hat- Sparsamkeit war eine Haltung gegen das eigene Ich, te, „die Abfuhr der Fäkalstoffe von einer Last für das deshalb verzinste sie nicht nur das vom Mund abge- städtische Budget zu einer Einnahmsquelle umzufor- sparte, sie entsündigte auch men.“ 13 „Mit diesen Errungenschaften steht Stuttgart den Lebenswandel, statt vul- unerreicht da.“ 14 Der einfache Grund des fäkalen Er- gärer Freuden wurde ein Lob folgs, „dass sie bei gleicher Wirkungsweise billiger sind der Enthaltsamkeit gepre- als andere Dungmittel.“ So rechnet der Aktienverein digt, die Lust am Verzicht, zur Beschaffung von Latrinendünger in der sich ähnlich wie Fröm- Schorndorf: 23 Waggons Latrinen à 200 migkeit später einmal „aus- Ctr. = 4600 Ctr. kommen in ihrer Wir- zahlen“ würde. kung gleich 184 Wagen Stalldünger à 25 Das Sparbuch Ctr. = 4600 Ctr., kosten aber nur halb soviel.15„Die war deshalb Latrine ist fast viermal billiger als Guano.“ Und als nicht nur Kapi- Kronzeuge für die Wundertätigkeit des Men- tal- sondern auch schenmists wird ein elsässischer Bauer aus Charakterbildner, es hielt in der Gegend von Straßburg zitiert, der sagt: Zahlen fest, was an Verzicht ge- leistet worden war. Von daher „Wo das Guanosäcklein läuft über’s Feld ist zu verstehen, daß Sparsam- Da wächst nicht viel und ist kein Geld.“ 16 keit als Zielvorstellung propagiert wur- de, denn sie nützte der staatlichen Fi- Diese Metamorphose ist bemerkenswert, die Sohlenschoner für die nanzpolitik und der privaten Tugend- Verwandlung von Kot in Geld grenzt an Zau- Arbeit mit dem Spaten. lehre gleichermaßen. Wie die Stati- berei und realisiert diverse populäre Wunschvor- stik zeigt war die Sparsamkeit keine spezielle schwäbi- stellungen vom Geld- oder Dukatenscheißer. Es ist sche Wirklichkeit, aber eine politische Absicht, die im ökonomisch interessant, aus Abfall einen „Wertstoff“ Interesse mehrerer gesellschaftlicher Gruppen lag. machen zu können, der mit Gewinn zu verkaufen ist. Das hatte nur sehr indirekt mit Kapialbeschaffung Aber was ist daran schwäbisch? Es steht in einem Kon- zu tun. Der pietistischen Tugend des Rechtschaffenen text der Urbanisierung und ist gerade da eher unspezi- steht modernes Finanzgebaren und riskantes Unter- fisch für die Schwabenart. So sind auch vulgär- nehmertum entgegen. Spekulativ war man nur in gei- psychoanalytische Konstruktionen, die diesen Zusam- stigen Dingen, irdisch hält man ‘sein Sach’ eher zu- menhang zwischen Sparsamkeit und Sauberkeit mit sammen, als daß man es aufs Spiel setzt, das nicht dem analen Charakter erklären, wenig hilfreich. Das immer im Reichtum endet, sondern gelegentlich auch ist vielleicht für individualgeschichtliche Entwicklungs- vor dem Konkursrichter. Eine einschlägige Anekdote prozesse von Belang, aber als schwäbisches Charakte- erzählt Karl Napf. Da sagt der Meister aus der Triko- ristikum ist es reine Fiktion. Kann eine zu lange tagenfabrik von der Alb zum Azubi: Nachttopfsitzung oder zu frühe Reinlichkeitsdressur über Mentalitätsprofile entscheiden? Selbst wenn im „So, jetzt gehen wir aufs Amtsgericht und melden Kon- Einzelfall solche Fixierungsmaßnahmen traumatische kurs an, damit du des au amol g’sehe hasch.“ 12 Folgen zeitigen, so sind sie jedenfalls mit der Kenn- zeichnung „schwäbisch“ oberflächlich, ja falsch etiket- Zu dieser Einübung in Leichtfertigkeit steht der tiert. „Entaklemmer” im Widerspruch, der in Thadäus Trolls Schauspiel ein angemessenes Denkmal bekommen hat,

28 Der sparsame Schwabe

Sozialstruktur17 untersucht zwei Grundthesen, die Traut- wein anfänglich vorstellt:

„1. Der Pietismus in Altwürttemberg wurde bis hin zu seinen theologischen und ethischen Aussagen von dem württembergischen Land, seiner Sozialstruktur und den in Württemberg vorhandenen Formen religiösen Denkens, kirchlicher und außerkirchlicher Art, geprägt. 2. In Altwürttemberg wurden andererseits durch die pie- tistische Bewegung gewisse Werthaltungen und soziale Strukturen entwickelt oder verstärkt.“ 18

Plan zu einer Fäkalstoffverladestelle (um 1880). Ein Netz doppelter Wirkweisen also, das komplexe Faktoren in sich aufnimmt: Die Ausgangsbedingungen sind nach Trautwein, daß es in Württemberg keinen Es gibt Indizien wie die ewig benützten Besen der Marie nennenswerten landsässigen Adel mehr gibt, dafür Frech in Fellbach, die Sparsamkeit und Sauberkeit ver- haben sich eine Reihe von Selbstverwaltungsorganen knüpfen. Aber zugleich lehrt das Beispiel, daß aus dem entwickelt, es exisitiert eine elementare Schulbildung, Kontext gelöste „Schlüsselsymbole“ häufig willkürlich ab 1649 die allgemeine Schulpflicht, außerdem eine zugeordnet werden und ebensoviel verdecken wie sie ständische Verfassung des Landes und vor allem gibt zeigen. Viel wichtiger sind komplexe Eigenschafts- es die gnadenlose Realteilung, die alle gleich engherzig bündel, die Entwicklungen auslösen, die wiederum die behandelt. Die soziale Folge besteht darin, daß es ei- Grundlage für weitere Folgeprozesse bilden und die gentlich nur zwei soziale Schichten gibt: Ehrbarkeit und Ursache und Wirkungsformen ineinander verknoten; Kleinbürger. Diese Struktur, die den Pietismus beför- Geprägtes prägt und Prägendes wird geprägt. Joachim derte, hat auf der anderen Seite die Emanzipation des Trautwein hat das für den Pietismus einleuchtend be- Kleinbürgers im pietistischen Geist vorangetrieben. schrieben und analysiert. Seine Schrift Religiosität und „Der Pietismus hat die Bedeu- tung der Grenze zwischen Ehr- barkeit und Kleinbürgertum in mehrfacher Weise relativiert. Er hat den unteren Schichten ein höheres Selbstwertgefühl vermit- telt, sie mit Bildungsmöglichkei- ten konfrontiert und hierar- chisch-obrigkeitliche Strukturen der institutionalisierten Kirche durch den Hinweis auf die per- sönliche Verbindung des Gläu- bigen mit Gott in Frage ge- stellt.“19

Das ergibt eine egalitäre und respektlose Grundposition, die auch folgende Anekdote zum Ausdruck bringt: Ein Tübingens erste motorisierte Mülldroschke ...

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Stundenmann aus dem Remstal nach einem Gespräch Anmerkungen mit dem Pfarrer: „Ich hätte gar nicht gedacht, daß es Pfarrer gibt, die soviel vom Reich Gottes verstehen.“18 1 Max Rehm: Ursprung und Wandlung. In: Württ. Landes- Noch einmal zurück zur Sparsamkeit und ihrer Be- sparkassen (Hg.): Hundertfünfzig Jahre Württembergische Landesparkasse. Stuttgart 1968, S. 13-22; s. S. 15f. deutung. Exemplarisch werden beide Tendenzen deut- 2 Mathias Bergner: Das württembergische Bankwesen – Entste- lich: Das Sparen ist die Grundlage eines pietistischen hung, Ausbau und struktureller Wandel des regionalen Bank- Weltbilds asketischer Haltung, zugleich wird die Spar- wesens bis 1923. St. Katharinen 1993. S. 42. samkeit durch die pietistische Ideologie intensiviert. 3 Hans-Peter de Longueville: Sparkassenwesen in Württemberg und Baden. In: Erich Maschke/Jürgen Sydow (Hg.): Zur Ge- Der sparsame Schwabe war ein pädagogisches und schichte der Industrialisierung in den südwestdeutschen Städ- politisches Ziel, das nicht zur Gänze erreicht wurde, ten. Sigmaringen 1977, S. 80-161; s. S. 87. aber das als erklärte Absicht den Verzichtgewinn pro- 4 Grundlegend Willi A. Boelcke: Wirtschaftsgeschichte Baden- Württembergs von den Römern bis heute. Stuttgart 1987. pagierte und das Glück der Enthaltsamkeit beförder- 5 Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, zit. bei Hans-Pe- te. So sah der Konstruktionsplan des Schwaben aus, ter de Longueville: Sparkassenwesen in Württemberg und Ba- aber die Schwaben haben sich nicht in allem daran den, S. 82. 6 Max Rehm (wie Anm. 1), S. 43. gehalten. Zum Glück! 7 Dazu Landesgirokasse (Hg.): Ein Bilderbuch zum 100. Ge- burtstag der städtischen Sparkasse Stuttgart, der heutigen Landesgirokasse. Stuttgart 1984. 8 Kreissparkasse Künzelsau (Hg.): Als man das Geld noch beim Teufel lieh. Künzelsau 1960, S. 9. 9 Vgl. Joachim Trautwein: Religiosität und Sozialstruktur. Stutt- gart 1972. 10 Zit. bei Trautwein, S. 57. 11 Aus der Lebensgeschichte Johann Jacob Mosers. In: Marianne Beyer-Fröhlich (Hg.): Pietismus und Rationalismus. Leipzig 1933, S. 213-234; s. S. 229. 12 Karl Napf: Der neue Schwabenspiegel. Stuttgart 1989, S. 120. 13 A. Sautter/E. Dobel: Die Abfuhr und Verwertung der Fäkal- stoffe in Stuttgart. Stuttgart 1880. 14 Ebd., S. 41. 15 Vgl. die Tabelle, ebd. 16 Ebd., S. 51. 17 Joachim Trautwein (wie Anm. 9). 18 Ebd., S. 8. 19 Ebd., S. 23. 20 Ebd.

30 Kehren und Bekehrtes

Frank Rumpel

Kehren und Bekehrtes

Am Samstagnachmittag wird (auf dem Dorf in jedem Kuttereimer und ein Handfeger. Nur ein Befragter Fall) gekehrt. So haben es die, die’s machen von denen benutzte eine manuell betriebene Kehrmaschine, weil gelernt, die es auch schon immer machten, weil es üb- er doch am Eck wohne und deshalb ein großes Stück lich ist. Der Hof am Haus, der Gehweg davor hat sau- zu kehren habe. Die Zeiten variierten von 12 bis 19 ber zu sein – am Sonntag. Dabei ist hier nicht von der Uhr, jedoch legte sich keiner der Befragten auf eine Kehrwoche die Rede. Diese ist eine, vor allem, städti- bestimmte Zeit fest. Eine ältere Frau sagte, sie kehre sche Erscheinung und regelt für die Mieteinheiten ei- jeweils zwischen zwölf und drei Uhr, „weil da it sovill nes Hauses den Turnus und den Umfang, in dem Trep- Audos fahrat.“ penhaus und Gehsteig von den Bewohnern zu reini- „I kehr halt, wenn dia reschtlich Arbat g’schafft isch“, gen sind. Auf dem Dorf handelt es sich aber in erster gab ein älterer Mann an. Linie um Eigenheime in Eigenbenutzung. Uli Keuler Neun von elf Befragten kehren regelmäßig. Eine wies im Interview mit Katrin Wilkens (vgl. Artikel in Frau sagte, sie kehre jeden Samstag, weil „des isch so diesem Band ) auf die Widersprüchlichkeit von Kehr- üblich auf ’m Land, seit i denka ka.“ Es wird gekehrt, woche und Eigenheim hin. Vor dem ei- genen Haus zu kehren, heißt nach einer Regelung zu verfahren, die es so nur für Mietswohnungen gibt. Wir wollten wis- sen, wie es um das samstägliche Kehren auf dem Dorf steht. Gibt es das noch und wenn ja, in welcher Form? Die wichtigste Frage aber war: Warum wird gekehrt? Eine kleine Befragung, in einigen Dör- fern um Gönningen und auf der Schwä- bischen Alb erbrachte vor allem Bestäti- gung dessen, was wir insgeheim erwartet hatten. Alle elf Befragten (sechs Frauen, fünf Männer) kehren samstags. Die dafür be- nutzten Werkzeuge sind nach wie vor ein bis zwei Besen, eine Kutterschaufel, ein

31 Kehren und Bekehrtes wenn die restliche Arbeit g’schafft ist und das Wochen- wenn d’Kehrmaschee noch amal vo Burladenga zo ons ende ansteht. Wobei zwei von elf Befragten nur dann rom kommt, nô am Montigmorga.“ kehren, wenn es nötig erscheint. Zu spät also, weil es ja der Sonntag ist, an dem das Dabei ist es nicht nur das Heim, das nach außen hin Dorf blitzsauber sein soll. Für wen? „Schmutz als et- sauber sein soll, sondern auch die nächst größere Ein- was Absolutes gibt es nicht. Er existiert nur vom Stand- heit, das Dorf, soll einen sauberen Eindruck machen. punkt des Betrachters aus.“1 In erster Linie wird wohl Die oben bereits erwähnte Frau meinte, daß Gönningen für die Bewohner des Dorfes selbst gekehrt, die ihre ein „saubers Ort Reinlichkeits- und gwea isch, ällaweil also auch Prestige- scho.“ Ein junger vorstellung vom Mann, der in privaten auf den Öschingen vor der gemeinsamen, öf- Kirche kehrte, fentlichen Raum meinte, auf die Fra- ausdehnen. ge, ob er dies jede Ginge es aber Woche mache, daß beim Kehren tat- es in der Regel sei- sächlich nur um das ne Frau sei, die die- Entfernen mögli- se Arbeit verrichte, cherweise vorhan- grundsätzlich aber denen Schmutzes, jeden Samstag ge- wie wäre dann der kehrt werde, weil stoisch eingehalte- „sott au a bissle ne Turnus zu erklä- sauber aussea fir dr ren, Arbeit, die von Sonntag.“ einer Frau sogar Alle Befragten sagten aus, daß das Kehren früher ausgeführt wird, wenn es regnet: „Desch gleich. Am weiter verbreitet war. Nur einer führt als mögliche Er- Samstig wird kehrt.“ Die Vermutung, daß vor allem klärung den zahlenmäßigen Rückgang landwirtschaft- das Ritual zählt, liegt nahe. Indem man zur Zeit kehrt, licher Betriebe an. Die anderen diagnostizieren nur. akzeptiert und tradiert man die Reinlichkeits- „Dia Alteigsessane kehrat no. Dia Jonge scho weni- vorstellungen der anderen Dorfbewohner mit. ger.“ Eine Frau meinte dazu: „Wemmas hoißt, na donzes scho.“ Die Zugezogenen kehren in aller Regel „Schmutz verstößt gegen Ordnung. Seine Beseitigung ist nicht, wurde gesagt und bei unseren Fahrten durch keine negative Handlung, sondern eine positive Anstren- einige Neubaugebiete verschiedener Dörfer auch be- gung, die Umwelt zu organisieren.“ 2 obachtet, respektive nicht beobachtet. Gekehrt wird also vor allem im alten Dorfkern, in dem zum einen Fami- Diese kollektive Anstrengung funktioniert noch im lien über Generationen ansässig sind und sich zum Dorf, aber sie bröckelt. Die Zugezogenen, die Jünge- andern viele Häuser, oder zumindest Grundstücke, ren fügen sich nicht unbedingt der samstäglichen Kehr- über längere Zeit in Familienbesitz befinden. doktrin. In größeren Städten haben die Stadtverwal- Auf die Frage, ob das Kehren etwas Schwäbisches tungen die Straßenreinigung übernommen. Gehweg sei, bezogen sich alle Befragten in ihrer Antwort auf kehrende Menschen, letzte Verfechter oder auch Op- das Dorf. Ja in dem Dorf sei es halt so, daß gekehrt fer der Kehrwoche, sieht man dort eher selten.3 werde. Man denke, daß es anderswo schon auch so sei. Dabei wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu- Gewagt wurde höchstens noch der Vergleich mit der mindest in Stuttgart das Kehren sogar behördlich dik- Stadt: „En dr Schdadt denna wird weniger kehrt. Da tiert. Dort wurde 1811 eine Gassenordnung erlassen, kommt ja d’Kehrmaschee.“ Und ein anderer: „Und die das Kehren genauestens regelte.

32 Kehren und Bekehrtes

Form, zumindest im Ansatz, an eine solche Gassen- ordnung an. Wie weit diese Vorstellungen über Stuttgart hinaus prägend wirkten sei dahingestellt. Alles darauf zurück- zuführen, wäre sicherlich verfehlt und würde einige Faktoren unter den Teppich kehren, auf die Werner Unseld in seinem Beitrag Schaffensparenputzen in die- sem Band genauer eingeht. Nichtsdestotrotz: Kehrt wird halt, weil’s so üblich isch. Anscheinend.

„Es muß jeden Tag, den Sonntag ausgenommen, vom ersten April bis letzten September, des Morgens von fünf bis sieben Uhr, in den Monaten Oktober bis März, aber von acht bis neun Uhr morgens gekehrt werden, bei ei- nem Gulden Strafe [...] Sollte die Polizei ein außeror- dentliches Kehren für nötig finden, so hat jeder demselben sich sogleich zu unterziehen.“ 4

Die Einhaltung der Regelung wurde kontrolliert und die Nicht-Einhaltung unter Strafe gestellt. Nun hatte Stuttgart als Residenzstadt andere Interessen zu wah- ren, als ein Dorf auf der Schwäbischen Alb. Dort wurde nach außen in vielerlei Hinsicht präsentiert, unter an- derem eben auch die eigene und damit zeitgenössi- sche Vorstellung von Reinlichkeit. Die strenge Rege- lung und Verwirklichung der Gassenordnung läßt durchaus Schlüsse auf die Wichtigkeit der ‘neuen’ Schmutzwahrnehmung zu. Die strenge Regelung der Kehrwoche, die in vielen Mietshäusern heute noch schriftlich genau fixiert ist und im Treppenhaus aushängt, klingt schon durch ihre

33 Kehren und Bekehrtes

Reinigungstechnologie einst und jetzt: Besen und Dampfstrahlgerät in einem Hinterhof auf den „Härten“ bei Tübingen.

Anmerkungen

1 Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Berlin 1985, S. 12. 2 Ebd., S. 12. 3 Mehr zur Kehrwoche in Werner Unselds Beitrag „Schaffen- sparenputzen“ in diesem Band. 4 Zitiert nach Werner Unseld: Die schwäbische Verbesserung der Sünder. Vom Kirchenkonvent zur Kehrwoche. In: Zwi- schen Kanzel & Kehrwoche. Glauben und Leben im evangeli- schen Württemberg. Ludwigsburg 1994, S. 141-149; hier: S. 148.

34 Der tapfere Schwabe

Utz Jeggle

Der tapfere Schwabe

In den Sammlungen des baden-württembergischen Nun gehört es zur Stammesideologie dazu, daß mili- Hauses der Geschichte findet sich die Pickelhaube ei- tärische Qualität besondere Anerkennung genießt und nes „Portepee-Unteroffiziers“ des württembergischen regionale Heldenhaftigkeit für jeden deutschen Terri- Heeres, die an der Vorderseite ein markantes Einschuß- torialstaat – allen voran für Preußens Gloria – rekla- loch aufweist und in deren Helmbeschlag ein russi- miert wird. Auch bei der württembergischen Infante- sches Infanteriegeschoß verblieben ist. Die augen- rie gilt seit Beginn des 19. Jahrhunderts als Tugend- scheinliche Nähe des Todes, das „Glück“ mit einer katalog: „unerschütterliche Treue, vollkommenster „Weichteilschürfung des Schädels“ (so der Lazarett- Gehorsam und unbezwingliche Tapferkeit“2. Solche zettel) davongekommen zu sein, macht den Helm zum Forderungen haben vielfach Wunsch-Charakter und Zeugnis eines unglaublichen Ereignisses, ja eines Wun- sind nicht immer durch reale Erfahrungen abgesichert. ders. Solche Rettungen durch schützende Dinge, die Aber der tapfere Württemberger findet sogar eine Be- durch das Geschehen fetisch-ähnlichen Charakter be- legstelle bei einem militärisch kompetenten Kronzeu- kommen, sind ein beliebtes Genre, das von der Alli- gen, dem General Ludendorff, der in seinen Kriegser- anz aus Draufgängertum und Schutzengel profitiert. innerungen schrieb alle deutschen Stämme hätten über Es gibt Kriegsberichte von allerhöchsten Eingriffen tapfere Divisionen verfügt, „Württemberg allein, hat- durch ein schützendes Gebetbuch oder in den Samm- te nur gute.“ 3 lungen auf dem Hohenzollern etwas profaner eine ein- gedellte Tabaksdose, die dem Raucher das Leben ret- Auch der militaristische Kommißkopf Ludendorff malt tete. Bilder, egal wieviel Realität darin eingegangen ist, si- cher ist, daß der Schwabe als tapfer gilt – und das war Der Träger des Helms ist bekannt.1 Es ist der 1890 nicht zu allen Zeiten so! geborene und 1974 gestorbene, spätere Oberregie- Man kann in der Bildentwicklungsgeschichte im rungsrat Kurt Adolf Schwarz, der als junger Leutnant wesentlichen vier Phasen unterscheiden: Das erste in Polen 1915 diese Verletzung erlitt, als seine Einheit Kapitel vom tapferen Schwaben ist im Mittelalter zu das Vorwerk der Festung Rozan (nordöstlich von War- suchen. Nach den von Albrecht Keller gesammelten schau) erstürmte. Durch die Stuttgarter Herkunft des Literaturbelegen galt der Schwabe der Stauferzeit – Kopfes, den der Helm beschützte, ist dieser auch ein zumindest in der Meinung des 19. Jahrhunderts – als Symbol der schwäbischen Tapferkeit und Unerschrok- außerordentlich effektiv auf dem Schlachtfeld. Mag kenheit, die generell am liebsten an der Schwelle zum sich dahinter auch moralische Aufrüstung für den Tode operierte. Kampfgeist des 19. Jahrhunderts verbergen – Motto:

35 Der tapfere Schwabe mit Uhland und halbem Türken – „Kaiser Rotbart Oder kürzer und noch bündiger: „Hie stehn wir Hel- lobesam“ – so ist doch nicht zu übersehen, daß sich den, sagt der Frosch zum Schwaben.“ In solchen Sprü- auch in den mittelalterlichen Quellen Hinweise auf ein chen äußerte sich auch der allgemeine Schwabenspott, Schwabenbild von ritterlichem Mut und söldnerischem der bis ins 18. Jahrhundert gängig war. Daneben gibt Können finden lassen. Albrecht Keller zitiert vom es auch schon Anlehnungen an einen privaten Pazifis- „Annolied“ bis zum „Armen Heinrich“ Textstellen, mus, der einen Schwaben nach ganz modernen Kon- die des Schwaben „werdekeit“, speziell aber dessen fliktlösungen suchen läßt: Tapferkeit rühmen.4 „Wozu führen wir Krieg? Gebt mir meinen Mann von Mit dem Ende des Stauferreichs verlor sich auch das den Franzosen heraus, ich will mich mit ihm vertragen.“6 Bild vom tapferen Schwaben. Es wendet sich in sein Gegenteil, in einer Redensart heißt es in Form von Solche Bauernschläue war immer unbeliebt, besonders sich einander ausschließenden Eigenschaften: aber im aufgeklärten Absolutismus, der im stehenden Heer ein Instrument der Politik entdeckte und des- „Man findet eher einen beherzten Schwaben, halb alles daran setzte, die militärischen Tugenden zu einen weissen Raben, stärken und zu stützen. In Württemberg war es der trocknes Wasser, spätere König Friedrich, der das Heereswesen gründ- einen mäßigen Prasser, lich reformierte. Die Verächtlichkeit, mit der die Be- einen schwarzen Schimmel, völkerung dem soldatischen Beruf gegenüber stand, einen viereckigen Himmel, hatte eine seiner Ursachen in der ausschließlichen Re- bei den Schnecken das Blut krutierung in den Unterschichten. Die Werber konn- als einen Geizhals, der Gutes tut.“ 5 ten nur absolut verarmte und verkommene Landsleu-

Das Grenadierregiment „Königin Olga“ bei Coeuilly 1870. Historienbild von Faber du Faur.

36 Der tapfere Schwabe te zum Dienst gewinnen. Das Verfahren der Aushe- bung ermöglichte es jedem wohlhabenderen jungen Mann sich freizukaufen. Die im traditionellen Verfah- ren angeworbenen armen „Einsteher“ reagierten viel häufiger pragmatisch und drückten sich, wo es ging – wenn es ernst wurde, desertierten sie sogar. Dagegen waren die Bürgersöhne zwar skeptisch, aber letztlich dann doch pflichtbewußt; deshalb ging das ganze Be- mühen des Königs darauf, das Rekrutierungsverfahren zu demokratisieren und alle Bürger in den Waffen- dienst einzubeziehen.

1809 erließ König Friedrich eine neue Militärkon- skriptionsordnung, die jeden Württemberger für wehr- pflichtig erklärte und die in ihrer Einleitung ausdrück- lich bedauerte, daß die früheren Freistellungen zu ei- ner „dem Gemeinwohl schädlichen Abneigung gegen den Militärstand als eine nur den geringsten Volks- klassen auferlegte Last“7 geführt habe. Die Gleich- behandlung aller Untertanen war die wichtigste Vor- aussetzung, um dem Odeur des Söldners zu entkom- men und den „Dienst an der Waffe“ zur ehrenvollen Vaterlandspflicht umzudefinieren. Wichtig für die Entwicklung eines soldatischen „Esprit de Corps“ war auch die öffentliche Hochschätzung der Veteranen, die in der Kirche besondere Plätze zugewiesen bekamen und der Invaliden, die in Stuttgart nach Pariser Vor- bild unterstützt wurden und in einem Heim, das 1810 eingeweiht wurde, eine honorige Bleibe fanden. König Wilhelm II. von Württemberg in kriegerischer Pose.

Auch das Ansehen und die gesellschaftliche Integrati- Graf Karl von Normann Ehrenfeld war mit 28 Jahren on der Offiziere wurde gesteigert, sie sollten Landes- Generalmajor. kinder sein und konnten in einer 1805 in Ludwigsburg Das Militär wurde zur Schule der Nation; der eröffneten Kadettenanstalt ausgebildet werden. Außer Kommißkopf ist zwar keine württembergische Spe- in den Militärwissenschaften erhielten die Zöglinge Un- zialität geworden, aber seine Denkungsart war auch terricht in Französisch, Latein, Religion und im Tan- im Staate Württemberg nicht unbekannt. In den Krie- zen. Streng wurde auf Disziplin geachtet, und so rüg- gen des 19. Jahrhunderts hielten die Württemberger te der König persönlich, daß zwei Jagdpagen ohne die tapfer mit, sie brachten es dabei zu hohem Ansehen, vorgeschriebenen Zöpfe bei der Aufwartung erschie- ohne dem Hurra-Patriotismus der Borussen zu verfal- nen waren. Die höheren Offiziere wurden alle mit dem len. Aber auch der Württemberger hatte gedient und persönlichen Adelstitel ausgezeichnet, dafür verlangte war stolz auf seine Tapferkeitsmedaillen. Der durch- der König absolute Treue und Gefolgschaft. Streng schossene Helm war vordergründig das Symbol einer bestraft wurden alle Formen der Insubordination, feh- Kooperation zwischen Kriegskraft und Himmelsmacht, lender Kampfesmut oder ehrenrühriges Verhalten ins- aber insgeheim hatte er auch eine Kehrseite, die uns gesamt. Orden und schnelle, steile Karrieren machten bis heute schaudern läßt. Er war unausgesprochenes den Offiziersdienst zu einem sozialen Sprungbrett: Zeichen für den Eintritt in die Todeszone, die jeden

37 Der tapfere Schwabe

Anmerkungen

1 Frau Lutum-Lenger vom Haus der Geschichte Baden-Würt- temberg, der wir sowieso herzlich für alles danken, gilt an die- ser Stelle ein Extra-Dank für die großzügige Hilfe bei Recher- chen und Materialzusammenstellung. 2 Dienstreglement für die kgl. württembergische Infanterie vom 1. Juli 1810. Zit. nach Paul Sauer: Die Neuorganisation des württembergischen Heerwesens. In: ZWLG 26, 1967, S. 395- 420; s. S. 416. 3 Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen. 1914-1918. Ber- lin 1919, S. 204. 4 Albrecht Keller: Die Schwaben in der Geschichte des Volks- humors. Freiburg 1907, S. 20-35. 5 Ebd., S. 177. 6 Ludwig Aurbach, zit. nach Keller (wie Anm. 4), S. 181. „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt.“ 7 Paul Sauer (wie Anm. 2), S. 403. Reservistenbild (1911) und Reservistenkrug aus Württemberg. 8 Alfred Mechtersheimer/Peter Barth (Hg.): Militarisierungsatlas der Bundesrepublik. Darmstadt 1986.

Krieger in Atem hält. So ist er nicht nur ein Doku- ment für militärisches „Glück“, sondern er warnt auch davor, sich fahrlässig dem Tode auszusetzen – anstatt die Probleme einfach mit dem französischen Gegner persönlich zu besprechen, wie es der alte, vorsichtige, unbeherzte Schwabe aus der Schwankliteratur vorge- schlagen hatte.

Immerhin ist es beruhigend, daß die Schwaben seit der Stauferzeit keine Kriege mehr angezettelt haben. Heutzutage in der zivilen Bürgergesellschaft ist die Tapferkeit ohne Waffen relevanter geworden. Das wird auch deutlich im Militarisierungsatlas der Bundesrepublik von 19868, der auf dem Cover einen Kartenausschnitt der Gegend um Mutlangen zeigt. Der Name dieser Ortschaft bezeugt, daß speziell im württembergischen Landesteil hochgerüstete Waffensysteme beheimatet waren, daß aber die Antwort nicht ausblieb: eine Men- schenkette, streckenweise entlang der schwäbischen Eisenbahn von Stuttgart nach Ulm, gewaltfreie Blok- kaden der Zufahrt zum militärischen Areal. Mutlangen liegt in Schwaben. Die Ereignisse zeigten, daß eine Globalisierung des militärisch-industriellen Komple- xes auch eine Globalisierung der Zivilgesellschaft vor- antreibt.

38 Der Schwabe und sein Schwäbisch

Arno Ruoff

Der Schwabe und sein Schwäbisch

Daß Schwaben schwäbisch sprechen, ist nicht sehr Herzogtums bezeichnen, in dem man für „Schnee“ verwunderlich, aber doch auch nicht selbstverständ- Schnai sagt und für „breit“ broit oder broat, für „groߓ lich. Es liegt daran, daß man die Landssprachen weit- graoß, für „Scheuer“ Schuier, für „gehabt“ g’het, für „Fin- hin nach den germanischen Stämmen der Völker- ger“ Fenger, für „Hunger“ Honger, für „gehen“ gao oder wanderungszeit benannte, weil man annahm, unsere ganga. Die schwäbischen Laute und Formen haben aber Dialekte seien auf deren Unterschiedlichkeit zurück- nicht nur geographische Außen- und Binnengrenzen, zuführen. Die Elbgermanen, die im dritten Jahrhun- sie haben auch Grenzen von unten nach oben, zwi- dert in den deutschen Südwesten vordrangen, hießen schen den „Sprachschichten“, worin sich etwa eine Sueben und wurden auch als Alemannen bezeichnet. dörfliche Mundart von den Fildern von der Stuttgar- („Alle Mannen“ deutet auf die Völkermischung hin, ter Stadtsprache unterscheidet, aber auch jeder einzel- als die sie schließlich hier angekommen sind.) Als po- ne Schwabe von sich selber je nach der Situation, in litische Begriffe wechselten „schwäbisch“ und „aleman- der er sich äußert. nisch“ einander oft ab, und sie bezeichneten immer wieder andere geographische Gebilde, heute allerdings Ein Stuttgarter sagt nicht Schnai, das tut man nicht, nur noch relikthaft: „Schwaben“ heißt der bayerische das ist breit und derb. In der auch sprachlich so selbst- Regierungsbezirk zwischen Iller, Donau und Lech, und bewußten Metropole will man nichts davon wissen, für die Leute in Bayerisch-Schwaben sind die westli- daß unsere Mundarten unsere „Natursprachen“ sind chen Nachbarn „Württemberger“. In Württemberg (so nannte sie Herder schon 1772 in seiner Schrift spricht man nun aber nicht württembergisch, sondern „Über den Ursprung der Sprache“), aus denen sich schwäbisch oder fränkisch oder alemannisch. „Aleman- die Standardsprache als „Kunstsprache“ entwickelt hat. nisch“ gilt heute nur noch den Dialektologen als Ober- Jacob Grimm hatte vollends den Mundarten das Odi- begriff für die ganze Stammessprache; in populärem um genommen, verderbte Hochsprache zu sein, aber Gebrauch bezeichnet man seit Hebels „Alemannischen dieser Gedanke hat sich bis heute noch nicht durchge- Gedichten“ nur deren südliche Variante so, in der sich setzt: Noch jetzt ist es für den Stuttgarter selbstver- die alten langen i- und u-Laute (Ziit und Huus) erhal- ständlich, daß die Leute auf dem Land bloß zu maul- ten haben und nicht wie im Schwäbischen zu ei und au faul seien, um richtig, das heißt wie die Stuttgarter, zu (Zeit und Haus) geworden sind. reden. Denn ein bißele Schwäbisch ist ja schön, aber das „derb Hemmungslose“ in Wortwahl und Intonati- Die Grenzen des Schwäbischen sind fließend, als sein on dieser „zügellos expressiven Sprechweise“, das Fritz Kernland kann man jedenfalls das Zentrum des alten Rahn in seinem rührend Stuttgarterischen Büchlein

39 Der Schwabe und sein Schwäbisch

„Der schwäbische Mensch und seine Mundart“ (Stutt- tümelnde Klagen hört, daß die Dialekte aussterben, gart 1962, S. 24) geißelt, das gehört sich nicht, nicht weil die jungen Leute sie ja nicht mehr sprechen, dann bloß, weil ein Stuttgarter es nicht versteht. heißt das ja nur, daß immer mehr Menschen, die jun- gen voran, zweisprachig werden, und eben in der Stadt Von unseren Mundarten heißt es nun freilich, seit man geläufig sich städtischer Sprache bedienen, ebenso wie sie beobachtet, daß sie allmählich aussterben, daß sich daheim selbstverständlich der örtlichen Mundart. Der zunächst ihre kleinräumigen Unterschiede verwischen, soziale Zwang wirkt in beide Richtungen: Wer vom und daß sie durch den Strudel der Zeitläufte zu einer Land in die Stadt kommt, will sich nicht „bäurisch“ Einheitssprache zusammenfließen. In der Vorrede zu schelten lassen und vermeidet darum seine Mundart, seiner Sammlung von „Germaniens Völkerstimmen“ aber er will auch nicht daheim als Parvenü verspottet schreibt Johannes Matthias Firmenich 1842, es sei für werden („Schtuttgart gewäsen, Trottwa gelaufen – on die „sofortige Sammlung aller deutschen Mundarten“ nadappat!“), und spricht drum, wie man daheim spricht. „die höchste, höchste Zeit“; er hätte auch sagen kön- In der Stadt sieht man nur die eine Seite der Medaille. nen „die höchste Eisenbahn“, denn der „verkehrliche Aufschwung“, dem er die Hauptschuld für das Ab- Wert und Würde der Hochsprache stehen nicht in Fra- sterben der Mundarten zumaß, geschah damals ja eben ge, wenn man Bedeutung und Triftigkeit der Mundart durch die Eisenbahn, die die Menschen durcheinan- betont. Mundart und Standardsprache haben ihre je dermischte und ihrer angestammten Sprache beraub- eigenen Domänen: Für überlandschaftliche Verstän- te, daß man füglich erwarten konnte, die Leichen der digung und für Bereiche höherer Abstraktion taugt die Mundarten säumten die Bahndämme. Später waren es Mundart nicht. Aber die Mundart ist die Sprache der die Flüchtlinge, die unsere Sprache verändern muß- Nähe, der Wärme, der „Herztöne“, sie gibt Sicherheit ten. Und schließlich natürlich Radio und Fernsehen. und Geborgenheit. Und wer sie im Arbeitsalltag nicht Bloß: wenn man Firmenichs Belege oder andere 150 sprechen darf, erholt sich in ihr am Feierabend. Mund- Jahre alte Sprachbeschreibungen betrachtet, sieht man, art ist die Sprache der Heimat. Und das gilt für die daß sich die Mundarten nach Lauten, Formen und Satz- Ortsmundarten ebenso wie für größerräumige Regio- bau kaum verändert haben, nur freilich im Wortschatz, nalsprachen, das gilt sogar für die allgemeinschwäbische der ehedem durch eine bäuerliche Lebenswelt geprägt Umgangssprache: wer keine engere Heimat hat, hat war, die es heute fast nirgends mehr gibt. eine weitere. Ohnehin wächst auch mit der Entfernung der Umfang der Heimaten: In Tübingen ist der Daß alle mundarttötenden Medien die Mundarten letzt- Hirschauer schon ein Auswärtiger; in Sidney ist noch lich doch ungeschoren ließen, liegt daran, daß Sprach- der Allgäuer ein Landsmann. Und das weiterreichen- wandel sich erst dann vollzieht, wenn zwei Vorausset- de Großraum-Schwäbisch, etwa des Stuttgarters, ist ja zungen erfüllt sind: man muß die fremden (geogra- auch noch Schwäbisch, auf anderer (der Stuttgarter phisch oder sozial benachbarten) Sprachformen höher würde sagen: höherer) Ebene. Viele Norddeutsche schätzen als die eigenen, und man muß mit den Leu- meinen, so spreche man überhaupt in Süddeutschland. ten, die sie verwenden, nachhaltigen Kontakt haben. Das schwäbische „-le“ ist ihnen aus der Stuttgarter Dieser wechselseitige Kontakt fehlt vor Radio und Sprache geläufig, denn nur dort hat es so überhand Fernsehen, und das höhere Prestige fehlte z.B. den genommen, daß einem im Ratskellerle fast der Appe- Flüchtlingen der Nachkriegszeit, von denen keine ein- tit vergeht, wenn auf dem Speisekärtle die Süpple, zige Sprachform ins Schwäbische drang. Maultäschle, Roschtbrätle und Viertele angeboten wer- den. Im Land empfindet man das als lächerlich, und es Das bloße Hören der Standardsprache in den Medien gibt viele Landstriche, in denen überhaupt keine konnte keinen Dialekt verändern, aber es bewirkte et- Deminutivformen gebraucht werden. Wenn man als was anderes: daß man nämlich die Standard-Formen Sprachforscher auf sie lauert und fragt: „Wie sagen leichter verwenden konnte und flüssiger „nach der sie zum Häusle?“, kriegt man dort unabänderlich die Schrift“ sprechen, wie man das ja immer versuchte, Auskunft: „a’ klois Haus“. wenn die Situation es gebot. Wenn man heute heimat-

40 Der Schwabe und sein Schwäbisch

Selbst wenn ein Schwabe gehoben spricht, bleiben ihm wir uns nur redlich nebenher um die Standardsprache landschaftliche Merkmale, nicht zuletzt in der Sprach- bemühen; die Ausländer billigen ihn, wenn wir für sie melodie. Auch wenn er die letzten Kennzeichen ab- nur eine andere Variante unserer Sprache bereithalten; legt, wenn er sich überwindet, seine angeborene sprach- und selbst die 68er haben wohl inzwischen gemerkt, liche Sensibilität niederzuringen, um das alte i und das daß wir trotz unserer Mundart noch nicht vertrottelt alte ei und u und ou nicht mehr zu trennen, nicht mehr sind. weit und brait, sondern wie die Preußen wait und brait, nicht mehr Haus und braon, sondern Haos und braon zu Aber doch gibt es eine Methode, die Mundart auszu- sagen, dann kann es ihm in Hamburg immer noch rotten: man pflege sie. Wenn nur überall genügend widerfahren, daß er freudig begrüßt wird: „Wie schön, Pfleger am Werk sind, Mundartgedichte und Mund- wieder einmal einen Schwaben schwäbeln zu hören!“ artschwänke darzubieten in dem Idiom, das sie für („An was haben jetzt Sie des gemerkt?“) Mundart halten, und das dieser manchmal auch schrecklich ähnelt, wenn die Werbung sich anbiedert Oder man merkt es ihm nimmer an – was ist dann durch heimattümelndes Geschwätz, wenn Volkshoch- geschehen? Dann ist dieser Schwabe seinen Landsleu- schulen Schwäbischkurse abhalten und schwäbische ten suspekt, denn so spricht man hierzuland nun doch Pfarrer das Evangelium schwäbeln, dann wird der auch wieder nicht. Vor allem aber: Ist er dann noch Schwabe doch endlich anfangen, sich seiner Sprache Schwabe? zu schämen und sie verleugnen, dann wird er auf die Zähne beißen und Zait sagen und Haos, womöglich Den Schwaben erkannte man an sehr vielen Merkma- wird er noch stimmhaftes s sprechen, wenn ihm einer len: An seinem Hausbau, an seiner Tracht, an seinen sagt, wo es hingehört. Dann ist das Schwäbische, dann Spätzle und an seinem Wein. Und an seiner Knitzheit ist der Schwabe zu Tode gepflegt. und seinem Pietismus, seiner Redseligkeit und Wort- kargheit, seinem Fernweh und seiner Heimattreue und Dann freilich werden des Hanseaten leuchtende Au- was der gängigen Kennzeichen mehr sind. Gleich, ob gen stumpf, wenn dem ICE bloß noch Bayern und sie es zurecht waren oder nicht, jedenfalls waren sie. Hessen entsteigen; die Badener haben niemanden mehr, Die Neubausiedlungen in Havixbeck und Hayingen dem sie sich mental überlegen fühlen; der „Schwäbi- unterscheiden sich heute nicht voneinander, die Klei- sche Gruߓ verkommt zur fäkalischen Floskel; die dung da und dort gleicht sich, und auch woanders gibt Schwabenvereine Nordamerikas entarten zu Leichen- es Mehlspeisen und auch woanders Tüftler. Es gibt bünden – kurzum: stirbt der Schwabe, trauert die Welt. nichts spezifisch Schwäbisches außer dem Schwäbi- schen. Alle anderen Attribute sind sekundär „dem Schwaben“ angehängt. „Der Schwabe“ ist ausschließ- lich durch seine Sprache definiert. Andersrum: der Schwabe spricht schwäbisch bis zum Tod. Gibt es ein Leben nach dem Tode?

Diese Bedeutung des Schwäbischen sichert sein Über- leben, denn die Mundart ist tatsächlich das letzte Zei- chen der Landsmannschaft oder der Dorfzugehörigkeit, die einzige Basis des regionalen oder örtlichen Wir- Gefühls: Bloß noch durch unsere Mundart sind wir andere als die anderen. Darum ist dieser Prüfstein von Eigenart oder Fremdart zur Identifikation wie zur Ab- grenzung immer wertvoller geworden, man mag ihn nicht hergeben. Und es will ihn uns ja auch keiner mehr wegnehmen: Die Schule läßt uns unseren Dialekt, wenn

41 Der Schwabe und sein Schwäbisch

„Was fällt Ihnen zu Schwaben ein?“

Unsere Umfragen brachten es zutage: An der Spitze der Bekanntheitsskala – nicht zu verwechseln mit der Beliebtheitsskala – sind nicht etwa die Maultaschen, die nach der Anzahl der Nennungen fast unbekannt zu sein scheinen, sondern...

„Es muß immer ‘a Sößle’ dabei sein.“ (Straßenumfrage in Stuttgart: amerikanische Studentin, 23 J.)

42 Sprache als Identifikationsmittel

Daniel Weber

Sprache als Identifikationsmittel

Warum die ehemalige badisch-württembergische Landesgrenze mehr und mehr zur Sprachgrenze wird

Es geht in dieser Darstellung um die ehemalige Lan- grenzen, die so nicht schlüssig erklärt werden können, desgrenze zwischen Rhein und Neckar, insbesondere deren Grund also nicht äußerlich bedingt ist und die um die Gegend um Pforzheim. Dieses Gebiet gehört Erich Seidelmann folgendermaßen beschreibt: zur Grenzzone zwischen dem fränkischen Dialekt im Norden und dem alemannischen im Süden, die sich in „Es gibt [...] rezente Sprach- bzw. Dialektgrenzen, die ihrer vollen Länge vom Hesselberg im „Dreistam- von einem Zugehörigkeits- und Abgrenzungsbewußtsein meseck“ (in Bayern nahe der baden-württembergischen getragen werden – ich nenne sie aktive Sprachgrenzen Grenze) bis zum Donon im Elsaß erstreckt. Diese zum Unterschied von passiven, die auf einem Kommuni- Nord-Süd-Ausdehnung zwischen rein fränkischem und kationshindernis beruhen. Solche aktiven Sprachgrenzen rein alemannischem Gebiet ist deshalb so groß, weil sind auch modernen kommunikativen Verhältnissen ge- hier für jeden mittelhochdeutschen Laut, der erfragt genüber völlig resistent und setzen keinerlei natürliche wird, eigene Grenzlinien gezogen werden, die nicht Barrieren voraus.“ 1 deckungsgleich verlaufen. Es ist also nicht möglich, diese Grenze zwischen zwei Orten zu ziehen, sie setzt Daß die badisch-württembergische Landesgrenze auch sich vielmehr aus einem Bündel von verstreuten Einzel- früher schon mit der einen oder anderen Sprachgrenz- linien zusammen. Darüber hinaus bieten die einzel- linie identisch war, steht außer Zweifel; in diesem Zu- nen Orte auch in sich kein geschlossenes Bild, weil sammenhang sind jedoch nur die neueren Grenzlinien Mischformen bzw. mehrere unterschiedliche Formen von Interesse. durchaus üblich sind.

Ein Beispiel Sprachgrenzen

Um eine Veränderung bei Sprachgrenzen nachweisen Nach herkömmlicher dialektologischer Meinung be- zu können, bedarf es eines Vergleichs von historischem ruhen Sprachgrenzen auf Verkehrshemmnissen, seien mit aktuellem Material. Aktuelle Daten habe ich dem es (ehemalige) politische oder kirchliche Grenzen zwi- Buch Die fränkisch-alemannische Sprachgrenze 2, einer Pro- schen Stämmen, Bistümern und Herrschaftsbereichen, jektarbeit des Ludwig-Uhland-Instituts aus dem Jahre oder natürliche Hindernisse wie Flußläufe, Berge und 1992 entnommen; verglichen habe ich diese mit Her- unwegsames Gelände. Es gibt aber auch Mundart- mann Fischers Geographie der schwäbischen Mundart 3 von

43 Sprache als Identifikationsmittel

1895 und Karl Bohnenbergers Die fränkisch-alemanni- Ein zufälliges Zusammenfallen der Sprach- mit der sche Sprachgrenze vom Donon bis zum Lech 4 aus dem Jahre ehemaligen Landesgrenze ist auszuschließen. Auf bei- 1905. Dabei muß beachtet werden, daß die beiden äl- den Seiten läßt sich nämlich über die Frage nach dem teren Arbeiten mit Grenzlinien operiert haben, als im- jeweils gesprochenen Dialekt ein festes Bewußtsein für mer eine eindeutige Zuordnung jedes Ortes vorgenom- die eigene Sprache, sei es Badisch oder Schwäbisch, men wurde und, wenn die Ortsmundart nicht einheit- feststellen. Sprachwandel vollzieht sich dabei immer lich war, die Antworten der Minderheit(en) somit un- zu der Form hin, die das größere Prestige besitzt; ter den Tisch fielen. Diesem Problem hat die Untersu- Walther Mitzka5 hat in diesem Zusammenhang den chung des Ludwig-Uhland-Instituts in der Darstellung Begriff der „Mehrwertgeltung“ eingeführt. Jetzt neu aller aufgetretenen Formen Rechnung getragen. entstehende Sprachgrenzen werden im Hinblick dar- Deutlich läßt sich die Verschiebung von Sprachgren- auf, ob sie aktiver oder passiver Natur sind, genau zen zur ehemaligen Landesgrenze hin am Beispiel des untersucht werden müssen. Zur selben Schlußfolge- mittelhochdeutschen Konsonanten „b“ aufzeigen, wie rung kommt auch die von Arno Ruoff geleitete Un- er in „Zuber“ und „Abend“ enthalten ist. Dabei spie- tersuchung des Ludwig-Uhland-Instituts, die ich ab- len im Sprachbewußtsein der Befragten die großräu- schließend zitieren möchte: migen Gliederungsschemata „fränkisch“ und „aleman- nisch“ allenfalls eine untergeordnete Rolle; sie werden „Noch verstärkt wird die Tendenz zur sprachlichen durch die regional bedeutsamen Begriffe „badisch“ für Aussonderung dadurch, daß die Mundarten im Land die nördliche und „schwäbisch“ für die südliche Mund- die letzten Träger des Bewußtseins von örtlicher oder re- art ersetzt. gionaler Eigenart oder Fremdart darstellen, das einfach- Die alte Sprachgrenze zwischen „Zuwer“/ „ Owad“ ste Mittel zur Identifikation wie zur Abgrenzung, die als nördlicher und „Zuber“/ „Abend“ als südlicher sicherste Basis des Wir-Gefühls: (fast nur noch) durch Form entsprach Bohnenberger und Fischer zufolge der Sprache sind wir andere als die anderen! Das läßt den Grenze zwischen den ehemaligen Bistümern Speyer Schluß zu, daß wir in Zukunft noch viel stärker als und Konstanz, die in dieser Region etwa 15 Kilometer bisher neben den physischen auch psychische Sprachgren- südlich der Landesgrenze lag. Erst in den letzten 30 zen erwarten müssen.“ 6 Jahren hat sich dieser Zustand geändert: Es ist anzu- nehmen, daß die W-Formen in Württemberg als zu Die Zukunft aber, so ist festzustellen, hat an der frän- „badisch“ empfunden wurden und deshalb nahezu kisch-alemannischen Sprachgrenze schon begonnen. vollständig verdrängt wurden, obwohl die fränkisch- alemannische Sprachgrenze über weite Strecken eine binnenwürttembergische ist und W-Formen anderswo in Württemberg weiterbestehen. Anmerkungen

1 Erich Seidelmann: Der Hochrhein als Sprachgrenze. In: Wolf- Interpretation gang Putschke/Werner Veith/Peter Wiesinger (Hg.): Dialekt- geographie und Dialektologie. Günter Bellmann zum 60. Ge- burtstag. Marburg 1989. Obwohl nur an einem Beispiel gezeigt, wird, so denke 2 Arno Ruoff (Hg.): Die fränkisch-alemannische Sprachgrenze ich mein Anliegen deutlich. Eine tote Grenze – sie (=Idiomatica, Band 17/I+II). Tübingen 1992. 3 Hermann Fischer: Die Geographie der schwäbischen Mund- fungiert nicht einmal mehr als Regierungsbezirks- oder art. Mit einem Atlas von 28 Karten. Tübingen 1895. Kreisgrenze – kann einen solchen Sog ausüben, daß 4 Karl Bohnenberger: Die fränkisch-alemannische Sprachgren- sie zur Sprachgrenze wird. Nach Erich Seidelmanns ze vom Donon bis zum Lech. Mit einer Karte. Heidelberg Unterteilung haben wir es hier also eindeutig mit einer 1905. 5 Walther Mitzka: Sprachausgleich in den deutschen Mundarten aktiven Sprachgrenze zu tun, die mit Identifikations- bei Danzig. Königsberg 1928, S. 64f. und Abgrenzungsmechanismen erklärt werden muß. 6 Arno Ruoff (wie Anm. 2), S. 112.

44 „Schwobe schaffe, Badener denke!“

Steffen Rompel

„Schwobe schaffe, Badener denke!“1

Zur Funktion und Entstehung bestimmter Schwabenbilder in Baden

In einer Annonce in der Badischen Zeitung wird ein Son- verschiedenen deutschen Städten Umfragen durch. Per derposten englischer HiFi-Geräte mit dem Slogan „Buy Telefon und vor Ort fragten wir: „Was fällt Ihnen zu british, zahl’ schwäbisch“ angepriesen. Daß bei die- Schwaben ein?“ Die dabei gesammelten Befunde be- sem Wortspiel nicht mit dem sprichwörtlich schotti- stätigen weitgehend unsere These, daß die Assoziatio- schen Geiz operiert wird, verweist nicht nur darauf, nen zu Schwaben (Region und Bevölkerung) mit zu- daß Schwaben geographisch näher an Baden liegt als nehmender geographischer Distanz pauschaler werden, an Großbritannien, sondern auch auf das Komik-Po- während sie in unmittelbarer Nähe durch persönliche tential der württembergischen Nachbarn. Erfahrungen geprägt sind.3 In Hamburg beispielswei- In einem Leserbrief in der Badischen Zeitung, der se blieb es oft bei der Nennung von Begriffen, einer sich mit Querelen innerhalb der Freiburger Grünen Art von ‘rekapituliertem Wissen’, wohingegen in Ba- auseinandersetzt, wehrt sich ein Parteimitglied entschie- den zwar mitunter dieselben Begriffe genannt wurden, den gegen „eine Stuttgarter Einmischung“ in dieser diese dann aber in einen bestimmten Zusammenhang Angelegenheit und findet: gestellt, häufig durch persönliche Erfahrung verifiziert und dabei funktionalisiert wurden. „Unsere Landeshauptstadt sollte erst mal selbst mit sich Die verschiedenen Bedeutungsebenen von Stereo- ins Reine kommen [...] Es wäre dringend notwendig, typen formuliert Hermann Bausinger so: daß ‘badische’ Männer und Frauen insgesamt wieder mehr Rückgrat zeigen und nicht immer mehr den ‘Spätzles- „Die Bilder, die wechselseitig durch die beiden Nachbarn schwaben’ gegenüber Bücklinge vollziehen und sich diesen für ihr Gegenüber entworfen werden, sind nicht unab- unterwerfen.“ 2 hängig von den realen Gegebenheiten; aber sie sind auch Stereotypen, die unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt Beide Beispiele dokumentieren, daß es in Baden noch das Bedürfnis nach Identität und Abgrenzung befriedi- immer vielfältige Bilder vom schwäbischen Volkscha- gen. Als solche aber sind sie ihrerseits eine Realität, die rakter gibt, die je nach Situation entweder humoristisch Beachtung verdient.“ 4 verwendet oder als ernsthafte Unterscheidungs- kategorien zitiert werden. Identitätsstiftung und Abgrenzung sind sicherlich die Ausgehend von der Frage, ob sich die Stereotypen wichtigsten Funktionen von Stereotypen, doch lassen vom Schwäbischen mit zunehmender geographischer sich diese nicht ohne ihre historischen Wurzeln wirk- Distanz verändern, führten wir als Projektgruppe in lich begreifen. Die aktuellen Bilder sind nicht zufällig,

45 „Schwobe schaffe, Badener denke!“ sondern Reproduktionen älterer Stererotypen. Sie ha- selber denkt.“ Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie Ste- ben sich den veränderten sozialen und politischen Be- reotypen auf Nachfrage abgerufen und zur Abgren- dingungen zwar angepaßt, ihre Aussage indes beibe- zung eingesetzt werden können. Es zeigt jedoch auch, halten. daß dieser Prozeß oftmals von den Befragten selbst durchschaut und kritisch hinterfragt wird. Im folgenden möchte ich zuerst Ergebnisse einer Umfrage in Freiburg vorstellen und in einem zweiten Eine wichtige Rolle spielen die ‘Schwabenbilder’ als Teil der Frage nachgehen, inwieweit die vorgefunde- Projektionsfläche für Witze. Von einigen Befragten nen Stereotypen an historische Bilder anknüpfen und wurden mir während des Gesprächs mit einem Au- wie sie diese variieren. genzwinkern Schwabenwitze erzählt, die entweder die Dummheit oder die Raffgier der Schwaben – es sind übrigens immer Männer – zum Thema hatten. Zwei zehnjährige Jungen glaubten, daß die Schwaben mehr Empirische Befunde Spätzle als die Badener essen würden, an sich „witzi- ger“ seien – sie meinten wohl, daß Schwaben gute Ziel- scheiben des Spottes abgeben – und erzählten den Witz Von einer homogen-autochthonen badischen Bevöl- vom Schwaben und dem Handy („Hen die koi Ka- kerung kann spätestens seit Ende des Zweiten Welt- bel?“). Zum Abschied stellten sie mir die Scherzfrage kriegs nicht mehr ausgegangen werden. Dies zeigte sich auch bei der Umfrage in der Freiburger Fußgän- gerzone, in der sich von neunzig Befragten nur etwas mehr als die Hälfte als BadenerInnen bezeichneten: Einige der Befragten kamen aus Württemberg, der überwiegende Teil der Nicht-BadenerInnen aus ande- ren Bundesländern und aus der Schweiz. Zwei Schwei- zer wiesen übrigens darauf hin, daß „Schwabe“ in ih- rem Land als „Schimpfwort für alle Deutschen“ gelte. Mentalitätsunterschiede zwischen BadenerInnen und SchwäbInnen waren ihnen wie auch den meisten an- deren Nicht-BadenerInnen unbekannt. Dagegen nann- ten die meisten BadenerInnen Stereotypen wie Spätz- le, Geiz, Sparsamkeit, Fleiß und „Schaffe, schaffe Häusle baue“. Nicht wenige bezeichneten diese Asso- ziationen als Klischees und fanden, daß ein Unterschied in der Mentalität der beiden Gruppen schlichtweg nicht vorhanden oder höchstens minimal sei. Als real wur- den Abweichungen in Sprache, Eßkultur und „savoir vivre“ eingeschätzt. Einem Befragten fiel zu Schwa- ben „nichts Gutes“ ein; er bezeichnete die badisch- schwäbischen Differenzen als „Animositäten wie zwi- schen Bayern und Preußen“, beschrieb die Schwaben als „sparsam bis zum Geiz, arbeitsam und fleißig“. Interessanterweise fügte er dieser Aufzählung von Kli- schees die selbstkritische Bemerkung hinzu, daß sich viele Badener selbst wahrscheinlich ganz ähnlich cha- rakterisieren würden: „Im allgemeinen sagt man im- mer von den anderen das Schlechte, was man von sich Plakate der „Altbadener“ zur Südweststaatsfrage 1950/51.

46 „Schwobe schaffe, Badener denke!“ nach den unterschiedlichen Schwimmstilen der Badener Württemberg bzw. Stuttgart so gut wie keine Badener- und Schwaben. Dabei charakterisierten sie ersteren witze. Auch werde die Differenz an sich kaum jemals durch die normale Schwimmgestik, letzteren durch die thematisiert. Umkehrung der Bewegung als Symbol für die schwä- Neben den moderaten und humorvollen Tönen gab bische Raffgier. Dieser Witz wurde mir ein zweites Mal es aber auch einige wenige, die sich von ihren schwä- von einer älteren Frau erzählt, was auf einen größeren bischen Landsleuten vehement abzugrenzen suchten. Bekanntheitsgrad schließen läßt. Ein alter stattlicher Mann fand: „Der Schwabe ist der Auch in ironischen Sinnsprüchen wird die vermeint- krasse Gegensatz zum Badener!“ Er charakterisierte liche Unterschiedlichkeit der beiden ‘Volksstämme’ fest- ersteren als „strebsam und arbeitsam“, wobei „das Le- geschrieben: Zwei befragte Badener schlossen ihre ben ein bissel zu kurz kommt.“ Ein anderer Passant Aussagen, in denen sie eine ernsthafte Differenz zwi- antwortete auf meine Frage: „Schwaben sind wir kei- schen Badenern und Schwaben bezweifelten, mit je- ne, wir sind Badener!“ und ging weiter, ohne mich ei- weils einem witzigen Spruch: „Schwaben schaffen, nes weiteren Blickes zu würdigen. „Ich bin kein Schwa- Badener denken“ und „Es gibt badische und unsym- be, i bin a Friburger!“ hatte schon einige Wochen zu- pathische Leut’.“ vor ein Freiburger aufbrausend geantwortet. Im Rah- Von schwäbischen Landsleuten wurde einige Male men der Telefonumfrage hatte ich ihn gefragt, was ihm der Eindruck geäußert, daß Schwabenwitze in Frei- zu Schwaben einfalle. Bei dieser Frage schien für viele burg an der Tagesordnung seien. Dagegen gebe es in Badener – besonders bei Männern – eine Selbstver- ortung unausweichlich. Noch wütender reagierte ein alter Mann, den ich in einer Seitenstraße ansprach. „Die ham mir nicht ins Herz geschlossen“, begann er seine Klage. Er erzählte mir, daß er als Besitzer einer Fotodrogerie außeror- dentliche Umsatzeinbußen habe hinnehmen müssen, nachdem eine Drogeriekette aus dem Schwäbischen gleich um die Ecke eine Filiale eröffnet hatte. Seine Wut konzentrierte sich dabei nicht auf den bundes- weit agierenden Großkonzern, sondern richtete sich generell gegen „die Schwaben“, die ihm seinen Ver- dienst geraubt hätten. Seine Wut und Bitterkeit über den verlorenen Konkurrenzkampf transformierten den realen Gegner zum Stellvertreter eines übermächtigen Volksstamms. Der Konkurrenzgedanke liegt auch der Aussage ei- nes jungdynamischen Mittdreißigers zugrunde, der auf meine Frage mit dem Bekenntnis antwortete:

„Als guter Badener hat man etwas gegen die Schwaben [...] Die Hauptstadt von Baden-Württemberg ist Stutt- gart, und das sind Schwaben. Und die vergessen manch- mal, daß es uns gibt hier unten – auf kommunalpoliti- scher und landespolitischer Ebene mit Sicherheit.“

Außerdem halte er die Schwaben grundsätzlich für spie- ßiger als die Badener. Daß Baden in finanzpolitischen Fragen benachteiligt werde, fand auch seine Begleite- rin.

47 „Schwobe schaffe, Badener denke!“

„Die Badener meinen immer, die Schwaben bracht worden. Als er beispielsweise in der Villinger würden Ihnen die Butter vom Brot holen.“ Kinderklinik arbeitete, sollte er einen kleinen Jungen untersuchen, der sich aber dagegen erbittert zur Wehr setzte. Als er ihn fragte, weshalb er sich nicht untersu- chen lassen wolle, erklärte dieser, sein Vater hätte ihm Diese Einschätzung einer Schwäbin, die mit einem ausdrücklich untersagt, sich von einem schwäbischen Badener verheiratet ist, teilte auch eine schwäbische Arzt untersuchen zu lassen. Studentin. Die Angst, zu kurz zu kommen, zeige sich Wenn dies auch nur einige wenige Einzelfälle sein ihrer Meinung nach in dem immer wieder geäußerten mögen, die uns erzählt wurden, sie zeigen doch, daß Vorwurf der Badener, die Landesschau bringe immer Stereotypen durchaus wirksam sind, auf den unter- nur Nachrichten aus Württemberg oder aus der Lan- schiedlichsten Ängsten der Menschen aufbauen und deshauptstadt. sich in ihnen Gefühle der Macht bzw. Ohnmacht spie- geln. Da wird eine übermächtige Landeshauptstadt Ein Problem bei der Erforschung von Stereotypen ist, skizziert, die den badischen Landesteil bei der Vertei- daß ihre konkreten Auswirkungen auf Handlungen lung der Geldmittel übergeht, sich in regionale badi- eigentlich nicht erfragbar sind. Nur über die Erfah- sche Angelegenheiten einmischt und dabei die rung und durch die Brille derer, die mit diesen Bildern BadenerInnen bevormundet. Diese Bilder, die aktuell und Vorurteilen konfrontiert wurden, läßt sich diese abfragbar sind, sind jedoch nicht vom Himmel gefal- Dimension erschließen. Deshalb gebe ich hier Aussa- len, sondern sind Rekonstruktionen von älteren Bil- gen und Erlebnisse von Schwaben und Schwäbinnen dern, denen im folgenden nachgegangen werden soll. wieder, die die reale Alltagsdimension der Schwaben- bilder dokumentieren.

Nach der Straßenumfrage führte ich abends auf der Historische Stationen der Stereotypengenese Geburtstagsparty eines Freundes ein längeres Gespräch mit einem schwäbischen Ehepaar, das erst seit kurzer Zeit in Freiburg lebte und mir von einem sehr unange- Hier sollen die aktuellen Befunde durch historische nehmen Erlebnis berichtete. Der Ehemann hatte sich Fakten beleuchtet werden, um das Zustandekommen um eine bundesweit ausgeschriebene Führungsstelle der vorgefundenen Stereotypen verständlicher zu ma- beworben und war unter vielen Mitbewerbern ausge- chen. Dabei sollen die historischen Daten keineswegs wählt worden. Kurz nachdem sie nach Freiburg gezo- Anfangspunkte festlegen, sondern vielmehr Durch- gen waren, klingelte nachts das Telefon: Der anonyme gangsstationen bei der Entwicklung von Schwaben- Anrufer mit badischem Akzent beschimpfte sie und bildern schlaglichtartig markieren. empfahl ihnen, schleunigst nach Schwaben zurückzu- gehen. Im Unterschied zum Herzogtum Württemberg, das Bei unserer Straßenumfrage in Ravensburg erzählte sich spätestens seit dem 16. Jahrhundert als ein homo- ein junger schwäbischer Arzt von einem ähnlich vehe- genes Gebilde mit politischer und gesellschaftlicher menten Erlebnis in Freiburg: In einem Supermarkt sei Kontinuität darstellte, war das Großherzogtum Baden er von einem älteren Badener für einen Italiener ge- ein relativ junger Staat – die Markgrafschaften Baden- halten und als ‘Spaghettifresser’ beschimpft worden, Baden und Baden-Durlach wurden erst 1771 vereint. der sicher eine Wohnung suchen würde. Er aber wür- Der Politologe Klaus Koziol beschreibt Baden als de grundsätzlich nie an Ausländer vermieten. Der Arzt „bunt zusammengewürfelten Fleckenteppich“5 aus revanchierte sich mit der Titulierung „Gelbfüßler“, Kleinststaaten mit unterschiedlicher Kultur und Tra- woraufhin der Mann meinte: „Was, a Sauschwob. Also, dition. Die geographische Offenheit der ganzen Regi- lieber vermiet’ ich an Italiener und Türke, aber an en on – Paris lag immer näher als Berlin – begünstigte Sauschwob nia!“ Überhaupt sei ihm von einigen älte- den Import und Einfluß von Waren und Ideen aus ren Badenern viel Mißtrauen und Haß entgegenge- dem Westen. War zuvor der französische Absolutis-

48 „Schwobe schaffe, Badener denke!“ mus Vorbild für die badischen Markgrafen, so über- streich“ wiederholte sich rund 130 Jahre später, als nahm in der postnapoleonischen Ära wiederum der ‘Stuttgart’ württembergische Einheiten der Bereit- moderne französische Staat diese Funktion. Durch die schaftspolizei in Wyhl gegen Demonstranten einsetz- napoleonische Flurbereinigung waren die Markgraf- te. Gerade die Bürgerinitiativen am Kaiserstuhl hatten schaften Baden-Baden und Baden-Durlach auf das ein sehr reges Geschichtsbewußtsein und beriefen sich Vierfache ihrer einstigen Größe angewachsen und auf die aufständischen Traditionen des Bauernkriegs, wurden nun nach französichem Muster in große Bundschuhs und der Revolutionäre von 1848. Der Verwaltungseinheiten eingeteilt und zentralistisch re- damalige Ministerpräsident Filbinger, der die ‘Trup- giert. Koziol bringt Baden auf die kurze Formel: Of- pen’ gegen die Demonstranten aussandte, stammte – fenheit in geographischer wie sozio-ökonomischer Ironie am Rande – aus Baden. Diese Ereignisse sind Hinsicht aber auch Diskontinuität in Territorialität, bei vielen Kaiserstühlern auch heute noch präsent, nicht Politik und Staatsführung. Durch die fehlende Konti- so sehr als Eindruck der Machtverhältnisse zwischen nuität und durch die kaum ausgeprägte Selbstver- Staatsmacht und Bürger, sondern vielmehr als solcher waltungstradition der Gemeinden – erst ab 1831 wur- zwischen Baden und Stuttgart. de ihnen eine gewisse Selbstverwaltung zugestanden – sei eine Identifikation der BürgerInnen mit dem Staat Nach der mißglückten Revolution von 1848/49 errich- kaum vorhanden gewesen und die zentralistische Prä- tete der zurückgekehrte Großherzog Leopold mit Hil- gung sei auch heute noch im badischen Blick auf Stutt- fe der verhaßten preußischen Besatzungstruppen, die gart erkennbar. Für diese These sprechen auch einige bis 1852 in Baden blieben, einen Polizeistaat. Reakti- Aussagen von in Freiburg Befragten. on und wirtschaftliche Not bewirkten, daß in den fol- Baden wird meist als traditionell liberaler Staat be- genden Hungerjahren Tausende BadenerInnen in die schrieben, die Verfassung von 1818 wurde seinerzeit USA auswanderten. Erst in den 60er Jahren wurde das als die fortschrittlichste in den deutschen Landen ge- politische Klima wieder liberaler. Im Zuge der politi- priesen. Auf diese liberale Phase folgte jedoch eine schen, wirtschaftlichen und konfessionellen Reformen restaurative mit Orientierung am Deutschen Bund und wurde 1862 die allgemeine Gewerbefreiheit verkün- dem Ausbau eines Obrigkeitsstaates mit konservier- det, ein Gesetz zur bürgerlichen Gleichstellung der ten Standesrechten aus der Feudalzeit. Der Unmut der Juden verabschiedet und den Kommunen schließlich Bürger entlud sich in der Revolution von 1848/49. 1863 weitergehende Selbstverwaltungrechte zugestan- Für den Historiker Wolfgang Hug war die badische den. Die Reformen dieser „Neuen Ära“ waren die Vor- Revolution eine wirkliche Volkserhebung, da an ihr aussetzung für eine forcierte Industrialisierung. Diese alle Schichten und Klassen beteiligt gewesen seien. Er hatte schon Mitte des 19. Jh. eingesetzt. Schweizer macht das Fehlen einer „Homogenität der Träger- Kapital floß in den südbadischen Raum, französische schichten“ für das Scheitern der Revolution verant- und schweizer Einwanderer begründeten die Edelme- wortlich, denn „weder das Bürgertum, noch die Bau- tallindustrie in Pforzheim. Auch im Verkehrswesen war ern und schon gar nicht die Arbeiter zeigten sich in Baden mustergültig: Ein ausgedehntes Eisenbahnnetz der Revolution als soziale Klasse mit einheitlicher verband bald die badischen Industriezentren nicht nur Interessenstruktur.“6 Real sahen sich die badischen mit der Welt sondern auch mit den Wohnorten der Revolutionstruppen, welche aus 15.000 – 20.000 ba- Fabrikarbeiter, wovon viele auf dem Lande wohnten. dischen Soldaten und Freischärlern bestanden, mit ei- Bis zur Jahrhundertwende erhielt jede zweite badische ner überlegenen gegnerischen Armee konfronitiert. Gemeinde einen Eisenbahnanschluß. Diese positiven Diese rekrutierte sich aus rund 34.000 preußischen Sol- Entwicklungen trugen Baden den Ruf des „Muster- daten und 18.000 Soldaten aus Reichstruppen, wor- ländles“ ein, eines Landes, das nach preußischem Mu- unter auch württembergische Regimenter waren. Auf- ster gestaltet war. grund dieser militärischen Übermacht fand die badi- Gleichzeitig kam es zu einem rapiden Verstäd- sche Revolution unter württembergischer Mithilfe bald terungsprozeß. Bei der Betrachtung der damaligen Sta- ihr blutiges Ende. Dieser ins kollektive Geschichtsbe- tistiken fällt besonders ein konfessionelles Gefälle auf: wußtsein der Badener eingeschriebene „Schwaben- Während der landesweite Anteil der Katholiken in

49 „Schwobe schaffe, Badener denke!“

Baden ungefähr 2/3 der Gesamtbevölkerung betrug, Stereotypenkomplex, der bis dahin für protestantische lebten von diesen jedoch lediglich 7,5% in den Städ- Landsleute reserviert gewesen war. Bezeichneten und ten, von dem einen Drittel Protestanten dagegen 12%. zeichneten die Einzelstereotypen bis zur Jahrhundert- Das heißt, daß der Anteil von Protestanten, die in den wende den protestantischen Aufsteigertyp innerhalb Metropolen lebten, im Vergleich zur katholischen Stadt- Badens, so wurden sie spätestens ab Ende der 20er bevölkerung relativ hoch war. Im Bildungswesen war Jahre auf das aufstrebende protestantische Württem- dieses Gefälle sogar noch ausgeprägter: Zwischen 1885 berg als Kollektiv angewandt und bis heute beibehal- und 1895 war der Anteil der protestantischen Schüler ten. der Mittelschulen auf 48% gestiegen, gegenüber 42% Die „Schwabenbilder“ haben daher in Baden eine katholische und 10% jüdische Schüler. Diese Schulab- andere Funktion als in den übrigen Bundesländern. gänger strebten vor allem in kaufmännisch-technische Im Bild des geizigen, fleißigen und tumben Schwaben Berufe mit Zukunft und Sozialprestige. Auch viele verschafft sich die Frustration über den kollektiven Verwaltungsposten waren mit Protestanten besetzt. Mißerfolg und die ungerechte Verteilung der Kriegs- Daher fühlten sich viele Katho- lasten ihre Genugtuung, indem liken unterrepräsentiert und kul- sie den Erfolg des anderen auf tivierten antiprotestantische wie dessen vermeintlich negativen auch antijüdische Ressentiments, Charaktereigenschaften zurück- die zusätzlich von katholischen führt. Kirchenvertretern geschürt wur- den. Sozialer Aufstieg schien zu- Schon nach der Novemberrevo- gleich eine Frage der konfessio- lution 1919 und auch in den 20er nellen Zugehörigkeit zu sein und Jahren wurde über eine Vereini- prägte so das Bild der katholi- gung beider Staaten nachgedacht, schen BadenerInnen von den doch stießen solche Gedanken protestantischen AufsteigerIn- bei den meisten BadenerInnen nen. Aus dem protestantisch-cal- auf wenig Gegenliebe, da diese vinistischen Arbeitsethos, dessen hinter solchen Ideen Württem- Auswirkungen unmittelbar er- bergs Gier nach den eigenen En- fahrbar waren, entwickelten sich ergie- und Wasservorräten witter- die Stereotypen vom arbeitsamen, ten. Im NS wurden die Länder fleißigen, geizigen und aufstiegs- dann ohnehin gleichgeschaltet, orientierten Schwaben. was einem Zusammenschluß fak- Nach dem ersten Weltkrieg tisch gleichkam und erst nach der traf die Wucht der Reparations- Plakat für den Südweststaat Kapitulation erhielt dieses The- zahlungen und die allgemeine ma neuen Zündstoff: Der Druck Wirtschaftskrise vor allem Baden sehr heftig. Im Spät- auf die territoriale Neugestaltung des Südwestens ging herbst 1923 beispielsweise war die Arbeitslosigkeit hier letztendlich von den Alliierten aus, deren Anti-Hitler- dreimal so hoch wie in Württemberg. Dort hatte die Koalition im Frühjahr 1948 vollends zerbrochen war. Industrialisierung zwar viel später als in Baden begon- Die West-Alliierten wollten nun einen lebensfähigen nen, wurde jedoch umso kontinuierlicher vorangetrie- deutschen Weststaat als Pufferzone schaffen. In Süd- ben. Politische wie ökonomische Kontinuität zahlte sich deutschland sollten die einstigen Besatzungszonen Süd- nun aus, denn in den folgenden Jahren überholte Würt- baden, Südwürttemberg-Hohenzollern und Nord- temberg Baden wirtschaftlich und machte diesem den württemberg-Nordbaden als Bundesländer neu gestal- Titel „Musterländle“ streitig. Dabei kam es zu einem tet werden. Vor allem in Südbaden, aber auch in Nord- kompletten ‘Etikettentausch’. Baden mußte nicht nur baden formierte sich Widerstand gegen die Variante den Ehrentitel „Musterländle“ an Württemberg abtre- eines vereinigten Südweststaats. Die Altbadener um den ten, sondern übertrug dazu freiwillig noch den badische Staatspräsident Leo Wohleb führten insge-

50 „Schwobe schaffe, Badener denke!“ samt eher irrationale Argumente für ein „freies Ba- Nach jahrelangem zähem Kampf gab es 1970 noch den“ ins Feld: Sie warnten vor der Kirchenfeindlichkeit einmal eine Volksabstimmung. Diesmal sprachen sich der liberalen Koalitionspartner, sahen in Baden eine rund 82% der badischen Bevölkerung für den Süd- „gewachsenen Einheit“ mit historischer Aufgabe, ei- weststaat aus und setzten den separatistischen Bestre- nen Kulturraum, den es zu bewahren gelte. Daneben bungen in Baden ein Ende. wurde auch immer wieder die Angst thematisiert, von Daß die Bilder von der schwäbischen Mentalität nach Württemberg übergangen zu werden. In den Plakaten wie vor wirkmächtig sind, wurde schon im Zusam- und Postkarten mit denen die Altbadener vor der Volks- menhang mit persönlichen Erfahrungen von Schwa- abstimmung 1951 für ein eigenständiges Bundesland ben und Schwäbinnen gezeigt. Daß dieses Wirken aber Baden – der Fusion von Nord- und Südbaden – war- nicht nur in den Köpfen einzelner nachweisbar ist, ben, fand diese Angst ihren vielfältigen Ausdruck. Im sondern auch auf kollektiver Ebene zu resistenten Vorfeld gab es einige Querelen über den Abstimmungs- Strukturen führen kann, die eine wirkliche Integration modus und den Abstimmungs- verhindern, zeigt das Beispiel der termin. Per Verfassungsgerichts- badisch-schwäbischen Doppel- beschluß wurde das sogenannte stadt Villingen-Schwenningen. Vierer-Modell als Auszählungs- Differenz bestimmt die gesell- modus festgelegt, wonach in den schaftliche Realität auch noch vier Landesteilen Nord- und Süd- nach 45 Jahren Südweststaat und baden und Nord- und Süd- 25 Jahren Doppelstadt auf bei- württemberg getrennt abge- den Seiten. Bis heute hat die Stadt stimmt wurde. Der Mehrheit von zwei Rathäuser, zwei Telefonnet- drei Ländern sollte sich das vier- ze und zwei Bahnhöfe. Außer- te Land fügen. Am 9. Dezember dem gibt es zwei Fußballverei- 1951 stimmte die Mehrheit von ne, die jedoch in verschiedenen Nord- und Südwürttemberg und Landesligen spielen und somit von Nord-Baden für den Süd- auch nicht Gefahr laufen, gegen- weststaat, in Südbaden jedoch le- einander spielen zu müssen. Der diglich 37,8%. Damit war der Gemeinderat spaltet sich entlang Südweststaat auf den Weg ge- der alten Landesgrenze und so- bracht. Südbaden, welches für das wohl badische wie auch württem- Zweier-Modell – getrennte Ab- bergische VertreterInnen sind stimmungen in Gesamtbaden und Leo Wohleb sehr darauf bedacht, daß die Ge- Gesamtwürttemberg – gekämpft genseite nicht bevorzugt wird. hatte, sah sich um seinen Sieg betrogen, da bei einer 1990 beschäftigte sich eine Projektgruppe des Lud- zusammengefaßten Auszählung in Baden sich die wig-Uhland-Instituts mit der Doppelstadt und kam zu Mehrheit bei 671.000 zu 614.000 für ein eigenständi- dem Ergebnis, daß es den Doppelstädter und die ges Badnerland stimmte. Auch hier traten wieder kon- Doppelstädterin als personifizierte Integration nur fessionelle Unterschiede hervor: Die Altbadener erklär- bedingt gibt. Gebürtige Villinger und Schwenninger ten den hohen Stimmenanteil für den Südweststaat in bleiben demnach auch in den 90er Jahren lieber in ih- Nordbaden mit dem hohen Anteil von Protestanten rem Geburtsort und pflegen nur wenig Kontakte zu und Vertriebenen. Diese politische Auseinandersetzung den Nachbarn. Dagegen bewegen sich AusländerInnen ist auch heute noch im Bewußtsein vieler Befragter eher unbefangen zwischen den Städten. Für diese Be- präsent, und von einigen Älteren wird das Abstim- völkerungsgruppe sind badisch-schwäbische Differen- mungsergebnis als Unrecht erinnert. Von Jüngeren da- zen verständlicherweise belanglos, denn sie haben mit gegen wird dies erwartungsgemäß seltener angespro- ganz anderen Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen, chen, scheint aber dennoch als geschichtliche Erfah- an denen Villinger und Schwenninger wahrscheinlich rung präsent zu sein. in gleicher Weise beteiligt sind.

51 „Schwobe schaffe, Badener denke!“

Es scheint ein offener Widerspruch zu sein, daß in Trotz Globalisierung und Pluralisierung bestimmen einem geeinten Europa solch ein binnenländisches diese nach wie vor unsere Realität und so bleibt der Phänomen existiert. Daß dieses aber nicht einzigartig globale Mensch, dessen physische wie mentale Mobi- ist, sondern zahlreiche Entsprechungen hat, beweist lität vermittels moderster Verkehrs- und Kommunika- unter anderem auch das Verhältnis der alten zu den tionswege eine ortsgebundene Identität obsolet wer- neuen Bundesländern. Der Umgang untereinander den läßt, bis auf weiteres eine Zukunftsvision bzw. verweist sowohl in individueller wie gesellschaftlicher Lebenspraxis einer privilegierten Elite. Hinsicht auf ähnliche Strukturen. Sogar die Metaphern beginnen zu zirkulieren. „Einer von drüben“ heißt un- ter Umständen, daß derjenige aus Baden kommt und nicht aus der ehemaligen DDR und dokumentiert so die wechselseitige Grenze im Kopf. Anmerkungen Man kann dies resignierend zur Kenntnis nehmen, auf die Selbstheilungskräfte der Kontrahenten hoffen, Therapie- und Läuterungsrezepte empfehlenb – wahr- 1 Dieses, wie auch die folgenden Zitate, sofern nicht anders scheinlich aber handelt es sich hierbei um eine kenntlich gemacht, stammen aus einer Umfrage in der Frei- Generationenfrage. Dennoch müssen für ein allmähli- burger Innenstadt Ende Januar 1996. Dabei befragte ich wäh- rend eineinhalb Stunden ungefähr 90 PassantInnen, wovon 75 ches Zusammenwachsen objektive Strukturen auf zu einem Gespräch bereit waren. Es handelte sich um 25 politischem Wege geschaffen werden, die alte Ressen- Badener, 14 Badenerinnen, 2 Schwaben, 5 Schwäbinnen, 22 timents erst gar nicht aufkommen lassen und somit Männer und 7 Frauen von außerhalb (andere Bundesländer eine Rekonstruktion der alten Bilder entbehrlich ma- und Schweiz). 2 Badische Zeitung vom 2.1.1997 chen. 3 Vgl. den Beitrag von Katrin Weber Interviews: Methode in die- sem Band. Abgrenzung ist Teil einer Identitätspolitik. Diese steht 4 Hermann Bausinger: Zur Identität der Baden-Württemberger. bei KulturwissenschaftlerInnen hoch im Kurs. Doch Kulturelle Raumstruktur und Kommunikation in Baden-Würt- temberg. Stuttgart 1996. beschränkt sich die Selbst- und Fremdwahrnehmung 5 Klaus Koziol: Badener und Württemberger. Zwei ungleiche oft nicht auf Dialekt- und Nahrungsdifferenzen, son- Brüder. Stuttgart 1987, S. 11. dern konstruiert kollektive Mentalitätsunterschiede. 6 Wolfgang Hug: Geschichte Badens. Stuttgart 1992, S. 256.

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Sylvia Hartig, Ulrike Künstle, Katrin Weber

Gibt es ein schwäbisches Gesicht?

Zur Rolle der Physiognomik für die Schwabenbilder

Vorstellungen wie und was „Schwäbisch“ ist, gibt es Physiognomik als Wissenschaft im 18. viele. Hier soll gefragt werden, ob Schwabenbilder nicht Jahrhundert nur im Kopf existieren, sondern auch am Kopf selbst erkennbar sind. Gibt es also das „typisch schwäbische Gesicht“? Schriftliche Abhandlungen über Physiognomik sind Redensarten wie „In den ka mr net neigugga“ oder schon aus der Antike bekannt. Im 18. Jahrhundert er- „Dem steht’s auf der Stirn geschrieben“ zeugen vom reichte das Interesse an ihr jedoch einen Höhepunkt Versuch (nicht nur der Schwaben), jemanden zu und schürte die Diskussion um eine „Semiotik“ des „durchschauen“. Zur Alltagspraxis von Men- menschlichen Körpers. Die Theoretiker (unter ih- schen gehört dieses ständige Bemühen, nen Johann Caspar Lavater, Carl Gustav Carus das Gegenüber einzuschätzen und ein- oder Franz Josef Gall) bemühten sich zu- zuordnen. In der direkten Begegnung nehmend um die wissenschaftliche Syste- dient der Körper und vor allem das matisierung der Physiognomik. Dabei be- Gesicht, „die menschlichste Stelle am inhaltete der Versuch, Physiognomik als Menschen“ 1, als Lesefeld, noch be- Wissenschaft zu fassen, schon von An- vor sprachliche Kommunikation die fang an den Wunsch, Menschen zu kate- Positionen der Beteiligten differen- gorisieren und zu selektieren. Denn der ziert. Das Bedürfnis, einen „men- Blick des Physiognomen nahm den schö- schenkundigen Vorsprung“ zu „er- nen, gesunden und (also auch) guten Men- obern“ 2, ist Grundlage jeder Interakti- schen als Standard, wenn dies auch in den on. Hier liegt das Aktionsfeld für ste- Schiller Texten kaum explizit zur Sprache kam. reotype Vorannahmen. Die alltägliche Nut- Die 1778 erschienenen Physiognomischen Frag- zung von Stereotypen bedeutet dabei nicht nur mente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschen- eine Verfestigung derselben. Vorgefaßtes unterliegt liebe des Pfarrers Johann Caspar Lavater (1741-1801) auch dem Druck, sich an veränderte Gegebenheiten trugen den Untertitel: „Gott schuf den Menschen sich anzupassen. zum Bilde“. Lavater sah den Menschen als Ebenbild Neben der Laienpraxis hat sich eine wissenschaftli- Gottes und schloß daraus auf eine gewisse Ähnlich- che Disziplin der Annahme gewidmet, daß vom „Äu- keit aller Menschen untereinander. Andererseits ging ßeren“ des Menschen auf sein „Inneres“ – seine Seele er davon aus, daß jedes Gesicht einen eigenen, natur- – zu schließen sei: die Physiognomik. getreuen Charakter besitze.3 Sein Glaube bestärkte ihn

53 Gibt es ein schwäbisches Gesicht? in der Ansicht, daß moralische und körperliche Schön- werden. In württembergischen pietistischen Kreisen heit einander entsprechen müßten: Das „höchste läßt sich jedoch ein Fortwirken der Lavaterschen Wohlgefallen“4 des Schöpfers äußere sich nicht Lehre erkennen. Das Reglement der pietisti- durch physische Mißgestaltung. Damit war schen Bewegung für die Glaubensbrüder für Lavater körperliche Schönheit ein Zei- und -schwestern war in Glaubenspraktiken chen für höhere moralische Werte, die den wie im Alltag sehr stark. Eine normieren- Menschen vor Gott auszeichneten. Das de, zumindestens erzieherische Wirkung menschliche Gesicht besitze, besonders auf den „Gesichtsstil“ und die Körper- in seinen unbeweglichen Bestandteilen, haltungen der evangelischen Schwaben höchste Aussagekraft. Denn Leiden- sind von daher nicht auszuschließen. So schaften verdeckten Schönheit und See- zeigt Martin Scharfe, daß trotz körper- le – nur die Ruhe erlaube es, die Seele zu feindlicher Tendenzen die pietistische Be- versinnbildlichen. wegung der körperlichen Erscheinung des U. J. Menschen Beachtung zollte. Besonders das Gesicht galt als Spiegel der gläubigen Seele. So meinte man auf der Stirn eines Reforma- Wirkungsgeschichte auf das tors das Wort „Ewigkeit“ lesen zu können, wäh- „schwäbische Gesicht“ rend die „lang und breite Stirn“ eines anderen zur „Apostelstirn“7 erklärt wurde. Die höchste Form der Anerkennung eines vom Glauben beseelten Gesichts Durch Lavaters Schriften wurde die „physiognomische formulierte ein Hahnscher Bruder so: „ein destillier- Raserei“ – die Suche nach den charakteristischen Merk- tes Angesicht“8. Die Ruhe der unbeweglichen Teile des malen des Individuums – in den Salons des 19. Jahr- Gesichts, der Gestalt, nahmen in Lavaters Beurtei- hunderts angeregt und griff auch auf das Kleinbür- lungskanon die oberste Stufe ein. Martin Scharfe skiz- gertum über.5 Nach dem Zerfall der ständischen Ge- ziert „einen durch und durch ernsten Menschen“9 als sellschaft durch die Auswirkungen der französischen pietistisches Idealbild. Diese Gesinnung wurde nach Revolution war dies u.a. ein Versuch, einen neuen außen hin zur Schau getragen, dem Lavaterschen Satz Beurteilungskanon des nun freien, gleichen Bürgers folgend: „Das Äußerliche ist nichts als die Endung, zu schaffen. Allein die neue Freizügigkeit des auch wirt- die Grenzen des Inneren, und das Innere eine unmit- schaftlich erstarkenden Bürgertums erforderte verän- telbare Fortsetzung des Äußeren.“10 derte Verständigungs- und Bewußtseinsmuster. Über die Portraits der Glaubensführer, als Andachts- Das Gefühl der Zugehörigkeit wurde, wie Wolfgang bilder genutzt, konnte die eigene innere wie äußere Kaschuba zeigt, nicht nur auf privater Ebene mit neu- Haltung geprüft werden. Die „Vorbildlichkeit“ der en Inhalten ausgefüllt.6 Die Staatswerdung des König- wahren und echten Ausdruckshaltung der Frömmig- reichs Württemberg beispielsweise beruhte auf viel- keit wurde in Traktaten auch anhand von Negativ- schichtigen Maßnahmen, die allesamt darauf abziel- beispielen abgehandelt. Ein oft zitiertes Beispiel ist das ten, eine gemeinsame mentale und emotionale Ein- als heuchlerisch und übertrieben bewertete Portrait der stimmung zu schaffen und damit die inneren Grund- Beata Sturm (Abb. 1).11 In der Redensart „ein from- lagen für ein Staatsvolk vorzubereiten. Dieses Such- mes Gesicht machen“ schwingt das Mißtrauen vor der muster nach neuen verbindlichen, beweisbaren, äußer- Redlichkeit der zum Ausdruck gebrachten Emotion lichen Ordnungen liegt sowohl der Lavaterschen phy- noch immer mit. siognomischen Lehre zugrunde als auch den Be- Durch Lavaters Physiognomische Fragmente hervorge- mühungen der württembergischen Regierung, eine rufen oder nur unterstützt, wirkte sich die religiöse Hal- staatstragende, gemeinsame Mentalität zu fördern. tung und Wahrnehmung auch auf die körperliche aus. Das Ineinandergreifen von Ordnungs- und Über- Ob diese Idealvorgaben den schwäbischen „Gesichts- sichtlichkeitsangeboten auf so unterschiedlichen ge- stil“ so formen konnte, daß – wie von späteren sellschaftlichen Ebenen soll hier nicht überstrapaziert Physiognomen behauptet – eine spezielle Schwaben-

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Franz Josef Gall (1758-1828) dagegen, der – Lavater vergleichbar – große Popularität erlangte, begrenzte die Physiognomik sehr stark auf den menschlichen Schädel. Er ging davon aus, daß angeborene Neigun- gen und Fähigkeiten des Menschen ihren Sitz im Ge- hirn haben, und zwar jede in einem bestimmten „Gehirnorgan“. Die Eigenschaften sind je nach Grö- ße des Organs mehr oder weniger stark ausgeprägt. Das so ausgestattete Gehirn, so Gall, formt den noch weichen Schädel des Kindes und läßt damit beim Er- wachsenen durch Abtasten und Messungen dessen Charakter erkennen. Galls Phrenologie und dem natur- religiösen Ansatz von Carus war gemeinsam, daß sie wie Lavater die „feste Form“ untersuchten.12 Im Gegensatz zu den Interpretatoren der „festen Bestandteile“ stand eine andere große Strömung des 19. Jahrhunderts, deren Vertreter sich vor allem mit der Mimik des Gesichts beschäftigten. Hier ist nicht nur Guillaume Benjamin Armand Duchenne (1806- 1875) zu nennen, der mit elektrophysiologischen Experimenten versuchte, dem Mechanismus des Aus- drucks des menschlichen Gesichts auf die Spur zu kom- men und dabei als erster die Photographie benutzte, sondern auch sein deutscher Kollege Theodor Piderit, der die Ausdrucksbewegung des menschlichen Gesichts untersuchte und die engen Verbindungen zwischen Abb. 1 Bildnis der frommen Beata Sturm. Augsburger Titelkupfer Ausdruck und seelischen Vorgängen betonte. von I. I. Kleinschmidt nach I. I. Lieffkopp. In: Georg Konrad Rieger: Mit der Einführung des neuen Mediums Photogra- Die württembergische Tabea. Stuttgart 1737. phie wurde eine Verbreitung von scheinbar existieren- stirn, ein Schwabenmund oder eine Schwabennase dia- den Gesichtstypen zunehmend einfacher. gnostizierbar sind, bleibt dabei mehr als fraglich.

Wissenschaftliche Wirkungsgeschichte im 20. Physiognomik im 19. Jahrhundert Jahrhundert

Der Versuch, Physiognomik als Wissenschaft zu fas- Ein Autor, der sich mit der schwäbischen Physiogno- sen, wurde im 19. Jahrhundert stark vorangetrieben. mie intensiv beschäftigt hat, ist der Neurologe, Sozial- Ein wichtiger Vertreter der Epoche der Romantik war psychologe und SPD-Politiker Willy Hellpach (1877- Carl Gustav Carus (1789-1869), der – wie schon im 1955). In seinem 1923 erschienenen Werk Deutsche Ansatz Lavater – eine „kosmische Physiognomik“ ver- Physiognomik sammeln sich die verschiedensten trat. Carus ging davon aus, daß alles, ob organisch oder Ordnungskategorien der Zeit. Ausgehend von der anorganisch, eine „Idee“ enthält, die sich in seinem Stammestheorie wägt Hellpach schwäbische Gesich- Äußeren manifestiert und so auch gedeutet werden ter gegen den fränkischen Gesichtstyp ab. Er betont kann. Diese „Idee“ ist göttlichen Ursprungs und so- die Einflüsse der „Umweltkräfte“13 und distanziert sich mit steht hinter allem eine einschließende Ganzheit. von dem vereinfachenden Rückschluß auf „Rasse-

55 Gibt es ein schwäbisches Gesicht?

den ein kugeliger Kopf, glatte Wangen, ein breites Kinn mit ausladenden Unterkieferwinkeln und ein breiter Mund dem schwäbischen Menschen bescheinigt. Die- ser Mund, der weder von „aufgeworfenen“ noch von „vorgestülpten“ Lippen gekennzeichnet werde, sei viel- mehr „g e p r e ß t, verschlossen“ und habe einen „M u n d w i n k e l s c h a t t e n“. Der Gesamtein- druck erscheine so als eine „Mischung zwischen Weh- mut und Schelmerei“. Das schwäbische Lachen gesche- he mit breit „auswärtsgezogenem Mund“, „freigeleg- tem Gebiߓ und ohne Vorstülpung der Lippen. Das Lachen des Schwaben sei, so Hellpach, ein „In-Sich- Hineinlachen“19. Ergänzt werde dieses von der „häu- fig tiefen Bruststimme“ und der Angewohnheit, den Mund beim Sprechen fast geschlossen zu halten. Der Dialekt ist für Hellpach einer der Gründe für die stammestypische Ausformung von Gesichtern. Mimik und Sprechweise formten die bewegten Muskeln aus Abb. 2 Grundriß-Schema „Schwäbisches Gesicht“ nach Hellpach und damit das Gesicht. Da das Schwäbische eine Mund- (Tafel XI) faktoren“14. Die Aufgabe der Physiognomik definiert sich nach Hellpach als „Erkenntnisquelle für den Vor- gang der Volkwerdung“15, die er als Prozeß beschreibt. Obwohl Hellpach die Unzulänglichkeit der Kategorie „Stamm“ anspricht, sie sogar im Bewußtsein der Be- völkerung als nicht mehr wirksam konstatiert, hält er in seinen Ausführungen an diesem „Ordnungs- schema“16 fest. Hellpach ordnet der Bezeichnung „großschwäbisch“ die württembergische Bevölkerung des Schwarzwaldes, des Donauraumes und „Bayrisch- Schwabens“ zu, sowie die „alemannischen“ Gebiete Badens, des Elsaß, die deutschsprachige Schweiz, Voralberg bis nach Westtirol, wie auch das bayrische Allgäu. Die Differenzierung zwischen schwäbisch und alemannisch nennt er von „geschichtlichen Zufällig- keiten“ geschaffen, die für die Betrachtung des Volks- bildes jedoch irrelevant seien. Dieses „Volksbild“ be- zeichnet Hellpach als „recht bunt“ 17. Obwohl sich die Gesichter schwer als Typen klassifizieren lassen, kommt Hellpach zu Aussagen über „die physiognomische Erschei- nung 18 des schwäbischen Gesamtschlages“. Im Gegensatz zum angeblich dreieckigen Gesicht des Franken erscheine der schwäbische Gesichts- prototyp viereckig (Abb. 2). Ein Gesicht, „das durch Abb. 3 Der „göttlich weise“ Michael Hahn. Stich von Spachholz fleischige oder fettfüllige Weichteile zum Kreis oder nach Johann Michael Holder. 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. zur Ellipse ausgerundet sein kann“ (Abb. 3). Es wer- Württembergische Landesbibliothek.

56 Gibt es ein schwäbisches Gesicht? art mit ausgeprägten Kehllauten sei, wirke das Gesicht Das „schwäbische Gesicht“ im „arm“ an lebhafter Mimik. Einzig den schwäbischen Nationalsozialismus Augen werden die Attribute „sprechend“, „warm“, „groß und seelenvoll“ zugestanden. Diese Beobachtungen sind für Hellpach der Ausgangs- In Friedrich Märkers Abhandlung Charakterbilder der punkt einer Charakterinterpretation des schwäbischen Rassen von 1934 bekommt die Physiognomik äußerst Menschen. In einem nicht nachvollziehbaren Gedan- deutlich eine rassistische Färbung. Die nationalsoziali- kensprung – für die Physiognomik typisch – geht er stische Rassenideologie mißbrauchte dabei unter an- zur Beschreibung der schwäbischen Mentalität über. derem die Theorien Charles Darwins (1809- 1882). Nur die Feststellung, das schwäbische Gesicht sei „ein Nach Darwins Abstammungslehre und Selektionstheo- getreuer Spiegel der schwäbischen Seele“ bringt das rie erfolgte die Entwicklungsgeschichte der Lebewe- Fleisch mit dem Innenleben in Verbindung. Die Auf- sen durch natürliche Auslese. zählung der Eigenschaften bescheinigt der „schwäbi- Anfang der 40er Jahre wurden einige Bände zur schen Seele“ „Schwerblütigkeit“, „Undurchsichtigkeit“, Schwäbischen Rassenkunde 21 veröffentlicht: „Eine Bewe- „verschlungene Phantasie“, „durchdringenden Ver- gung [die nationalsozialistische; Anm. d. Verf.], die die stand“, „Bildseligkeit und Denknüchternheit“, „ein Erhaltung des deutschen Volkes in seinem zahlenmä- rührinniges Gemüt“ sowie „einen zähen, oft sturen ßigen und erbgesunden Bestand und in seiner rassi- Willen“. Diese Eigenschaften stünden oft im Gegen- schen Eigenart zum Mittelpunkt hat, verlangt einen satz zueinander. Die sich daraus ergebende Spannung Ausbau der erb- und rassenkundlichen Erkenntnisse.“22 und die „Gemütinnigkeit“ werden als Grund für die Desweiteren hatte Hans Bohn, der Autor des ersten scheinbar grüblerische Natur des Schwaben genannt. Bandes, den Eindruck, Phantasie und Gefühl seien immer zugegen und lie- ßen das schwäbische Denken oft „unlogisch, wider- „daß über die rassische Struktur Schwabens weit verbrei- sprüchlich und mehrdeutig erscheinen“. Die schwäbi- tete Irrtümer vorlagen: Nach dem ersten Augenschein sche Rede sei oft belehrend und von einem umständli- wirkten die Bewohner Württembergs durchaus nicht so chen Abwägen des Für und Wider geprägt, „hinter der weitgehend „ostisch“, wie es von manchen Gebieten noch sich mühsam die leidenschaftliche Starrheit der einmal oft behauptet wird. Dies gilt besonders für die Schwäbi- gefaßten Überzeugung“20 verberge. Nichtsdestotrotz sche Alb. Hier fiel mir anfangs die gar nicht geringe bescheinigt Hellpach dem Schwaben, einen scharfen Blauäugigkeit und große Jugendblondheit auf, sowie dazu Verstand zu besitzen. Auf den Grund einer schwäbi- eine bestimmte Einkreuzung der als dinarisch bezeichne- schen Seele zu blicken, sei so gut wie unmöglich. ten Kopf- und Gesichtsform.“ 23 Hellpach interpretiert dieses „In-Sich-Verdruckt-Sein“ als „psychologisches Schutzkleid“, das der Schwabe Ergebnis sämtlicher Messungen von Kopflänge, Kopf- anlege, um sich selbst treu bleiben zu können. Als Ab- breite, Jochbogenbreite, Nasenlänge etc. und deren leitung dieses Beharrungswillens postuliert Hellpach, Vergleich mit anderen deutschen Regionen war dann daß es sich bei den Schwaben um den am wenigsten auch, daß den zahlenmäßig größten Anteil am Aufbau „assimilationsfähigen deutschen Stamm“ handle. Die dieser dinarisch-ostischen Rassenmischung die „nor- Schwaben wollten ganz und gar sie selbst bleiben. Im dische Rasse“ stelle. Beharrenden zeige sich letztendlich die Schwabennatur, Auch regionale physiognomische Untersuchungen auch in politischen Dingen anderen Stämmen (wie dem unterlagen dem übergeordneten rassenideologischen lebhaften fränkischen) gegenüber, überlegen. Ziel. Interessanterweise werden bei diesen rassenkund- lichen Erhebungen die Oberamtsbeschreibungen des 19. Jahrhunderts bemüht, um den Grundcharakter der schwäbischen Bevölkerung zu skizzieren, ohne dabei allerdings einen Bezug zu den Messungen der vorge- nommenen Rassenanalyse herzustellen. Der Charak- ter der schwäbischen Bevölkerung wird als zurückhal-

57 Gibt es ein schwäbisches Gesicht? tend und anspruchslos beschrieben. Die Schwaben „der alte Bauer seien Menschen, die harte Arbeit gewohnt und durch von der Alb, des- Sparsamkeit, die an Geiz grenze, geprägt seien. sen Gesicht so ver- Diese Erhebungen konzentrierten sich auf die länd- schlagen wie gütig liche Bevölkerung. 1931 erkennt Hans Friedrich Blunck ist – oder jenes in seinem Vorwort zu einer Sammlung „photographi- vom rattenspitzen sche[r] Bildnisse bodenständiger Menschen“ 24 im Bau- Schwabenkopf ern den „Mehrer und Urgrund des Volkes“ mit einer [...], der scharf- bestimmten Physiognomie und Charakteristik, aus der gezeichnet, ver- sich letztendlich das deutsche Gesicht entwickle, wäh- kniffen und grü- rend in den Städten, „im Kampf um die Erhaltung belnd ausschaut europäischer Zivilisation“, die Gesichter der Menschen wie er sich, und einander zu ähneln begännen. Die Vielfalt der Phy- zwar vor allem siognomie des „deutschen Gesichts“ setze sich dabei sich selbst, durch- aus Schwaben, Hessen, Franken oder auch Sachsen zu- setzen soll.“ 26 sammen. Blunck charakterisiert den Schwaben in er- Abb. 5 „Rattenspitzer Schwabenkopf“ ster Linie als Bauern, während im Gegensatz dazu die nach Blunck (1931) anderen Regionen auch durch Handwerker vertreten seien. Er beschreibt die Schwaben folgendermaßen: Zeigt die Physiognomik bis heute „Welche pracht- Nachwirkungen auf das „schwäbische volle Kraft steckt Gesicht“? im Bild der Frau aus Schwaben, die, obschon er- Charakterisierungen anhand von Gesichtern finden sich grauend, vom Le- auch noch in den 50er Jahren in der Beschreibung von ben noch nichts „Land und Leuten der Alb“ von Angelika Bischoff- aufgegeben hat. Luithlen: Herrschaftswille, Stärke und Müt- „Da stößt man aber zufällig auf die Abbildung einer terlichkeit spre- holzgeschnitzten „trauernden Maria“ aus einer chen aus ihren Kreuzigungsgruppe um 1340 – und weiß: Dies Gesicht Augen [...].“ 25 ist durch und durch älblerisch, so sehen Albmädchen aus [...]. Auf jeden Fall: Dies bleiche, ein wenig starre, strenge und in leidvolle Dämmernis gehüllte Antlitz gehört zur Oder: Alb.“ 27 Abb. 4 Schwäbische Bäuerin nach Blunck (1931) Als besonderes Charakteristikum hebt Bischoff- Luithlen die Herbheit des Älblers hervor und vergleicht diese mit der Landschaft, in der er lebt. Sie zieht den Schluß „je herber die Landschaft, desto herber die Leu- te“. Man erkenne einen Älbler auch in der Stadt als einen solchen, selbst noch in der nächsten Generation.

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Die Physiognomie des Schwaben von der Alb zeichne dem Wunsch nach eindeutigen Gesamturteilen. Ob- sich durch folgende Attribute aus: wohl Hellpach die Fülle von kulturellen, geographi- schen, regionalen und lokalen Einzelphänomenen kon- „blaß und schmal, mit vielleicht dicht zusammengewach- statiert, konstruiert er aus der Vielfältigkeit der Ge- senen Augenbrauen, die Augen aber oft schön, groß und sichter einen allgemeingültigen Gesichtstypus. strahlend blau, die Nase ausgeprägt und hervorstehend. [...] Allerdings nicht in der Stadt, Stadtluft wirkt ver- 2. Der „Idealtyp“ ist die Interpretationsgrundlage für 28 flachend auf die Gesichter.“ die „Physiognomik des Inneren“. Der Sprung von der Anschauung zur Interpretation ist dabei bei keinem Der Verweis auf die Madonna stellt die vermeintliche der Autoren nachvollziehbar. Auch ein direktes Kontinuität des „schwäbischen Gesichts“ heraus. Und Inbeziehungsetzen von Gesichtsausprägungen und ein- mit dem Rekurs auf gleichmachende städtische Ein- zelnen Charaktereigenschaften, wie beispielsweise bei flüsse steht das volkskundliche Motiv des Ursprungs Gall, führt aus diesem Deutungsdilemma nicht her- markanter Reinheit aus ländlicher Umgebung wieder aus. auf. Die über die Gesichtsbeschreibungen übermittel- ten Bilder dienen hier auch weiterhin der Zementie- 3. Das Bild des Schwabencharakters wird mit sich wi- rung von Wertvorstellungen. dersprechenden Zügen ausgeschmückt. Im Gesamt- Die Auswertung unserer Interviews zeigt dagegen, urteil kommt man zum grüblerischen, kauzigen und daß die Befragten sich nur selten ein Bild über das verschlossenen Schwaben, egal ob sich diese Eigen- schwäbische Aussehen machen. „Rote Bäckle“, „das schaften aus einem „rattenspitzen Schwabenkopf“30 Viertelesschlotzer-Maul von Lothar Späth“ und die oder einer „fleischig weichteiligen“31 Kopfform erge- nicht ganz ernstgemeinte Bemerkung über die angeb- ben (Abb. 2 und 5). Wie es scheint, leiten die lich „typisch katholische Nase“ einer zudem „schmal- „Gesichtsauguren“ ihre Theorie nicht unmittelbar aus lippigen“ Schauspielerin29 in einer schwäbischen Serie ihrer Empirie ab. sind Beispiele für ansonsten kaum angesprochene kör- perliche Merkmale der Schwaben. 4. Vergleicht man die Begrifflichkeiten mit den Vor- schriften und Empfehlungen der pietistischen Bewe- gung, so fällt eine erstaunliche Übereinstimmung von Sprache und Inhalt auf. Was die einen noch als Er- Resumée ziehungsmaximen formuliert haben, scheint Anfang des 20. Jahrhunderts Allgemeingültigkeit und Realität geworden zu sein. Angesichts der undurchschaubaren Aussagen über schwäbische Gesichtseigenarten sind Beweisführung einer Kongruenz äußerer und innerer in der Fülle des physiognomischen Schrifttums ver- Physiognomik liegt jedoch der Verdacht nahe, daß be- gleichsweise selten. Die hier vorgestellten Ausführun- reits bestehende Sinnkonstruktionen durch die Beteue- gen zeigen jedoch mehrere für die Wissenschaft der rung auch äußerer Gemeinsamkeiten verabsolutiert Physiognomik wie für die „Schwabenbilder“ sympto- werden sollen. matische Bruchstellen des Denkens auf: Der Physiognomik wäre demnach zu unterstellen, daß 1. Im Lavaterschen Kontext steht noch die Einord- sie nur das sehen will, was sie bereits zu wissen glaubt. nung des Einzelnen vor einem religiösen Hintergrund Als „Bestätigungsdisziplin“ ist sie zur Handlangerin im Blickfeld. Im Lauf ihrer „Verwissenschaftlichung“ der Konstrukteure von Schwaben- und verhängnisvol- sucht die Physiognomik ihr Heil immer mehr in der leren Bildern geworden. Die sich mit Statistik, Mes- Beweisführung der Kategorie „Stamm“. Selbst Gelehr- sungen und naturwissenschaftlichem Anstrich präsen- te wie Willy Hellpach, die dem nationalsozialistischen tierende Physiognomik war nichts anderes als „eine Rassenwahn distanziert gegenüberstanden, erliegen beispielhaft Vorurteil verordnende Disziplin“.32

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Anmerkungen

1 Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung schen herausfinden zu können, findet sich später bei den Na- in die Physiognomik. Berlin 1995, S. 7. tionalsozialisten wieder. 2 Ebd., S. 65. 13 Willy Hellpach: Deutsche Physiognomik. Grundlegung einer 3 Bei der Entwicklung seiner Phyiognomik spielte für Lavater Naturgeschichte der Nationalgesichter. Berlin 1949 (1. Aufla- mit Sicherheit die Kunst eine weitere wichtige Rolle. Eigene ge 1923), S. V. künstlerische Versuche schärften seinen Blick für Gemeinsam- 14 Ebd. keiten und Unterschiede verschiedener menschlicher Gesich- 15 Im Orginal hervorgehoben. ter. Besonders die „Silhouette“, also das Scherenschnitt-Por- 16 Hermann Bausinger: Volkskunde. Von der Altertumsforschung trät, war seiner Ansicht nach für physiognomische Beurteilun- zur Kulturanalyse. Tübingen 1971, S. 121. gen sehr geeignet, da man an ihm in aller Ruhe und Deutlich- 17 Folgende Zitate in: Willy Hellpach (wie Anm. 13), S. 89-102. keit das Profil eines Menschen betrachten könnte. Dement- 18 Im Orginal hervorgehoben. sprechend wurde das „Silhouettieren“ immer beliebter. 19 Martin Scharfe weist auf die negative Einstellung der „Er- Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Geschichte der weckten“ dem Lachen gegenüber hin. Vgl. Martin Scharfe (wie Physiognomik sich in, zum Teil sehr enger, Verbindung zur Anm. 7), S. 201f. Kunstgeschichte befindet. Beide Disziplinen stehen in Wech- 20 Martin Scharfe zitiert die Haltung eines Albbruders: „Bekeh- selbeziehung zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. Die rung heißt, 1. gleich bleiben, 2. gleich bleiben, 3. gleich blei- Ergebnisse einer „wissenschaftlichen“ Physiognomik wurden ben.“ Vgl. Martin Scharfe (wie Anm. 7), S. 201. und werden in den bildenden Künsten verwendet, um Men- 21 Vgl. Hans Bohn: Schwäbische Rassenkunde, Band 1. Schwäbi- schen zu charakterisieren, eventuell sogar zu karikieren. Um- sche Kleinbauern und Arbeiter der Gemeinde Frommern. gekehrt wurden, wie das Beispiel der „Silhouette“ verdeut- Stuttgart 1940; Gerhard Gaßmann: Schwäbische Rassenkun- licht, Kunstwerke als für die Physiognomik analysierbares Ma- de, Band 3. Die Schwarzwälder vom Nagoldursprung. Stutt- terial betrachtet. gart 1941; Wilhelm Gieseler/Walter Necker: Schwäbische Ras- 4 Johann Caspar Lavater zitiert nach: Elisabeth Madlener: Ein senkunde, Band 4. Rassenkundliche Untersuchungen an Wehr- kabbalistischer Schauplatz. Die physiognomische Seelen- pflichtigen aus dem Wehrbereich Tübingen. Stuttgart 1942. erkundung. In: Jean Clair/Cathrin Pichler/Wolfgang Pircher: 22 Hans Bohn: Schwäbische Rassenkunde (wie Anm. 21), S. VI. Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Heraus- 23 „Die ostisch-alpine Rasse“, so Bohn, „tritt dabei besonders in gegeben von den Wiener Festwochen. Wien 1989, S. 159-179, Mittelfrankreich, den Westalpen, im südwestlichen Deutsch- hier S. 166. land und im Osten auf und zeichnet sich durch Kleinwüchsig- 5 Christel Köhle-Hezinger: Der schwäbische Leib. In: Christel keit, dunkle Haare und dunkle Augen aus. Die dinarische Ras- Köhle-Hezinger/Gaby Mentges (Hg.): Der neuen Welt ein se bezeichnet einen Menschentyp, der in den Dinarischen [Bal- neuer Rock. Stuttgart 1993, S. 59-81, hier S. 71. kanhalbinsel] und deutsch-österreichischen Alpen auftritt und 6 Wolfgang Kaschuba: Aufbruch in die Moderne – Bruch der ähnliche Merkmale wie der ostische Typ aufweist.“ Ebd., S. Tradition? Volkskultur und Staatsdisziplin in Württemberg wäh- VII. rend der napoleonischen Ära. In: Baden und Württemberg im 24 Hans Friedrich Blunck/Erich Retzlaff: Die von der Scholle. Zeitalter Napoleons. Ausstellungskatalog, Band 2. Stuttgart Sechsundfünfzig photographische Bildnisse bodenständiger 1987, S. 669-689. Menschen. Göttingen 1931. 7 Martin Scharfe: Evangelische Andachtsbilder. Stuttgart 1968, 25 Ebd., S. VI. S. 199. 26 Ebd. 8 Ebd., S. 200. 27 Angelika Bischoff-Luithlen: Von Land und Leuten der Alb. 9 Ebd. Stuttgart 1958, S. 22. 10 Zitiert nach Norbert Borrmann: Kunst und Physiognomik. 28 Ebd., S. 18 Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland. 29 Interview mit Studentin (27), Februar 1996. Köln 1994, S. 122. 30 Siehe Anm. 21. 11 Martin Scharfe (wie Anm. 7), S. 202. 31 Siehe Anm. 15. 12 Die Vorstellung, aufgrund der Schädelform und der „festen 32 Claudia Schmölders (wie Anm. 1), S. 19. Bestandteile“ des Gesichts etwas über den Charakter eines Men-

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Andrea Keller und Ruth Stützle

Schwabenbilder. Und Schwäbinnenbilder?

„Zur Schwäbin fällt mir nichts ein.“ 1

Wer nach dem Bild der Schwäbin sucht, trifft meist gen scheint kaum der Rede wert zu sein. Das – wohl auf eine Leerstelle. Wenn überhaupt, dann tritt sie als oder übel – normalerweise Frauen zugeschriebene eine Art Sekundärerscheinung auf, indem sie bei Tätigkeitsfeld bleibt also ausgespart (oder wird hier Allgemeinbeschreibungen des ‘Schwaben’ mitgemeint etwa angenommen, daß der kulinarische Nudelsegen ist, aber nicht als eigenständige Persönlichkeit erwähnt von alleine aus dem schwäbischen Teighimmel fällt?). wird. So ist auch der Projekttitel ‘Schwabenbilder’ dop- Hierbei wird deutlich, daß die Leerstelle nicht nur da- pelt treffend – auch wenn hier mit ‘Schwaben’ eigent- durch entsteht, daß Frauen männlichen Bezeichnun- lich das Land gemeint war, gibt er dennoch gleicher- gen untergeordnet werden, sondern auch dadurch, daß maßen Auskunft sowohl über das Geschlecht der be- weibliche Lebenswelten oft ganz unter den Tisch ge- schriebenen Personenbilder als auch über das der bilder- kehrt werden. beschreibenden Personen. Bezeichnenderweise stehen bei Kurzumfragen und Bei einem genaueren Blick auf die im Rahmen des Interviews „Spätzle“ und „Spätzleessen“ ungeschla- Projekts geführten Interviews wird klar, daß das Pro- gen an erster Stelle der ‘(stereo)typisch schwäbischen’ blem unter anderem darin liegt, daß Frauen im regio- Hitliste2; das „Spätzlemachen“ oder „-kochen“ dage- nalen Bilderkatalog „nicht nur faktisch unterrepräsen-

Eingemacht oder aufgeweckt! – Frauen in Württemberg

61 Schwabenbilder. Und Schwäbinnenbilder? tiert sind, sondern auch dessen symbolische Ressour- problemen und Erfahrungen. Sie dienen dem kontinuier- cen nicht diejenigen sind, in denen sie sich angemes- lichen Informationsfluß über Lebensgeschichten, Zusam- sen artikulieren können.“3 In den meisten der Inter- menhänge und Ereignisse im eigenen und im sozialen views (von denen übrigens die Hälfte mit Frauen ge- Umfeld.“ Diese Formen aber „wurden und werden führt wurden) taucht die Schwäbin als Stereotyp gar trivialisiert und lächerlich gemacht – damit ausgegrenzt“. nicht auf; es ist eigentlich schon erfreulich, wenn eine Denn „die Frauenöffentlichkeit ist [zunächst] eine heim- Interviewte überhaupt explizit darauf hinweist, daß sie liche und stille Öffentlichkeit, weil die von Männern ge- von der Schwäbin kein Bild hat.4 Manchmal jedoch las- bildeten Kommunikationsformen als Synonym für die sen sich – sehr versteckt oder vage angedeutet – Bruch- Öffentlichkeit schlechthin gelten und im politischen und stücke von Frauenbildern oder weiblichen Lebenswel- juristischen Bereich sichtbar Einfluß und Macht aus- ten finden in Bemerkungen wie: üben.“ 8

„Wenn sie mal an die alten Küchen denken, da ging es ganz ordentlich zu“ oder „so ‘n Professor sucht ‘ne Haus- angestellte [...] am liebsten ‘ne praktische Schwäbin“ oder „Ihre beste Begabung hat sie je und je im „das hatte ich in meinem Leben noch nicht erlebt, daß intimeren Bereich entfaltet.“ eine Frau und Kinder [den Mann] so bedienen“ 5.

Allerdings tauchen diese ausschließlich in Interviews Die Schwäbin ist der Titel eines im Jahre 1947 erschie- mit Frauen auf. nen Buches, verfaßt in Tübingen von Hermann Wer- Es fällt auf, daß die Frauen in den Interviews ver- ner und Erika Neuhäuser.9 Ein seltener Fund, denn gleichsweise oft Erzählungen persönlicher Erlebnisse unsere Recherchen zeigten bisher ein immer gleiches aneinanderreihen und sich auf Details und auf die Bild: das vom Schwaben – und damit war wörtlich ein private Welt der Familie (manchmal auch auf die Nach- männliches Bild gemeint. barschaft) beziehen; wenn sie an Stereotype anlehnen- Nun gibt es sie also doch, die Schwäbin. Sie ist nicht de Zuschreibungen machen, versuchen sie meist schnell nur, wie es unsere Erfahrungen ansonsten gezeigt hat- diese zu relativieren, indem sie anschließend nach Er- ten, eine Bemerkung am Rande wert oder steht im klärungen suchen oder gegenteilige Erfahrungen schil- Hintergrund. Nein, hier in einem der Schwäbin gewid- dern.6 Die Männer dagegen liefern eher weitgefaßte meten Buch, hofften wir nun endlich etwas über sie Pauschalerklärungen bzw. geben eigenen Erlebnissen als handelnde und aktive Persönlichkeit zu erfahren, – sofern denn welche auftauchen – mittels der Sprach- wie wir es zuhauf über den Schwaben geschrieben sa- form einen objektivierenden Charakter und ziehen auch hen. Allerdings machte uns gleich das Herausgabe- gerne Bücher oder Aussprüche von Politikern als datum 1947 stutzig. Was war der Grund dafür, daß Legitimationsstütze hinzu.7 kurz nach dem Krieg ein Buch mit einer für diese Zeit Die Erlebniswelt der Frauen wird also verpackt in scheinbar nicht eben im Vordergrund stehenden Pro- Erzählformen, die nur verschwommene Bilder und blematik erschien? wenig Platz für allgemeingültige Aussagen haben. Im Vorwort finden wir eine Begründung von Her- Damit sind sie aber nicht konkurrenzfähig genug, um mann Werner: in einem (männlich dominierten) System der Öffent- lichkeit überleben zu können, das nach Charakterköp- „Vielleicht ist es heute höchste Zeit, über die Schwäbin fen und klar umrissenen Bildern verlangt. Damit spie- zu schreiben. Wohl ist eine bodenständige Bevölkerung geln die Interviews genau das wider, was Elisabeth wie ein Schmelztiegel, der fremde Elemente bis zu einem Klaus generell über die Öffentlichkeit der Frauen fest- gewissen Grad dem Urbestand angleicht. Aber bei einem stellt: Umfang der Zuwanderung von Flüchtlingen, wie sie diese letzten Jahre gebracht haben, muß das Ergebnis schließ- „Die weiblichen Kommunikations- und Interaktions- lich doch eine fühlbare Abwandlung des Alten wer- formen beschäftigen sich mit charakteristischen Lebens- den.“ 10

62 Schwabenbilder. Und Schwäbinnenbilder?

Sieht man davon ab, daß der Antrieb zur Erstellung ner zu bringen. Das ihr zugeschriebene Betätigungs- dieses Buches offensichtlich in einem immer noch ideo- feld beschränkt sich auf Ehe, Kinder, Mann und Haus logisch gefärbten Gedankengut liegt, ist diese Begrün- und wird stets zu dem Begriff der Mutter hingeführt. dung keine ausreichende. Läßt man sich überhaupt auf Ihre hervorragenden Eigenschaften sollen Selbstlosig- Werners Argumentationsebene ein, so trifft die „Ab- keit, Bescheidenheit, Anpassungsfähigkeit und fehlen- wandlung des Alten“ durch Neues nicht nur auf die de Selbstreflektion sein. Erfüllt sie dies, kann sie noch Schwäbin zu, sondern natürlich auch auf den Schwaben, Harmonie und Ausgeglichenheit spenden. Zu Ende die Deutschen usw. Was noch nicht die Verwunderung gedacht bedeutet dies, daß es die Schwäbin ohne Mann, darüber mindert, daß hier ausnahmsweise das Weibli- Kinder etc. im Grunde nicht gibt. Sie wird lediglich in che im Mittelpunkt des Interesses stehen soll. Ganz bezug auf jemanden und zu etwas gemessen und ge- im Gegenteil, heben sich doch die der Schwäbin im wei- sehen. teren Verlauf des Textes nachgesagten Eigenschaften oft nicht von denen ab, die dem Schwaben zugeschrie- Hier haben wir endlich eine klare Abgrenzung zum ben werden: „Fleiß, Sparsamkeit und Beständigkeit, Schwaben. Keinesfalls würden dem Schwaben solche Ei- das sind die Grundpfeiler der schwäbischen Frauen- genschaften zugeschrieben werden. Doch haben die- natur.“11 se Zuschreibungen überhaupt etwas mit der Schwäbin Wo also steht die Schwäbin bei Neuhäuser und Wer- zu tun? Auch ohne Werners Hinweis „die meisten ih- ner? Die Kernaussagen der AutorInnen, die sich, wenn rer Wesenszüge [der Schwäbin] finden wir in Deutsch- auch in verschiedene Wortlaute gekleidet, auffallend land überhaupt“15 ist es offensichtlich, daß diese Zu- häufig wiederholen, lassen sich an folgenden Textstel- schreibungen auf alle Frauen zutreffen könnten, egal len exemplarisch darstellen: ob sie nun Schwäbinnen, Badenerinnen oder Deutsche sind. Durch ihre rigide Geschlechtertrennung verweisen „Ihre beste Begabung hat sie je und je im intimeren Be- diese Zuschreibungen ins 18. Jahrhundert. Denn es reich entfaltet, in der Ehe, in der Erziehung der Kinder werden weibliche Eigenschaften angepriesen, wie sie und der Unterstützung des Mannes, im Haus. Mutter durch die bürgerliche Gesellschaft ausgebildet wurden, zu sein, das war die Genialität der Schwäbin, und das die mit verklärenden Worten die Unterdrückung der ist im Sinn des Wortes die erste Genialität.“ 12 Frau mit sich gebracht hatte. Beispiele hierfür wären Jean-Jacques Rousseau, der in seinem grundlegenden „Den richtigen Hintergrund gibt aber dem Bild der typi- pädagogischen Roman Emile oder über die Erziehung im schen Schwäbin erst die Familie [...]. Sie ist im Kreise 18. Jahrhundert geschrieben hatte, die Mädchen soll- ihrer Familie – ihrer Art treubleibend – der selbstlose ten „Gehorsam und Treue gegen den Mann, [...] Zärt- Mittelpunkt, bescheiden zurücktretend hinter den Inter- lichkeit und Sorgfalt für die Kinder, Klugheit und Fleiß essen der anderen und doch das selbstverständliche Zen- im Hauswesen“16 lernen. Immanuel Kant glaubte, Frau- trum ihrer kleinen Welt.“ 13 en seien des selbständigen Denkens nicht fähig. Daß auch das nationalsozialistische Frauenbild sich auf diese „Sie paßt sich nach den Gesetzen des geringsten Wider- bürgerliche Schiene gründete und die Frau auf ein standes den Zeitverhältnissen geschickt an und verlangt Dasein als Mutter und gehorsame Gattin reduzierte, nichts Unmögliches vom Leben. Resultat dieser klugen ist bekannt; von hier aus war der Schritt zum Buch Die Einstellung ist eine wohltuende Harmonie und Ausgegli- Schwäbin nicht mehr weit. chenheit ihres Wesens. [...] Die Schwäbin ist keine pro- blematische Natur, die reflektiert und kritisch über sich Dieses Buch bleibt für den Zusammenhang zwischen selbst und die Welt nachdenkt. Sie zieht es vor, in dem Entstehung und Funktion der Schwäbinnenbilder des- ihr vom Schicksal vorgeschriebenen Kreis zu leben und zu halb von Interesse, weil das Bild der Schwäbin zwar als wirken.“ 14 regionale Eigenart ausgegeben wird, im Grunde aber dem regionenübergreifenden Bild des bürgerlichen Die Schwäbin ist, legen wir diese charakteristischen Text- Modells von Weiblichkeit entspricht. Aufgrund dieses stellen zu Grunde, also auf einen sehr einfachen Nen- Sachverhaltes bleiben zwei weitere Fragen offen: Was

63 Schwabenbilder. Und Schwäbinnenbilder? ist mit den Schwäbinnen, die nicht in diesen vorgegebe- „Mannweib“ aber mußten viele Frauen sein, nicht nen bürgerlichen ‘goldenen Käfig’ paßten und passen? nur Maria von Linden. In der Welt der Männer waren Steht das Herausgabedatum, 1947, in einem Zusam- für eine „Pionierin im Terrain der Männer“ 19männli- menhang mit dem Inhalt dieses Buches? che Verhaltensweisen gefordert, zum eigenen Schutz Zu ersterer äußert sich Erika Neuhäuser in ihrem und Überleben. Ein Teufelskreis also, Mechanismen, Kapitel „Die moderne Schwäbin – von draußen gese- die zum doppelten Identitätsverlust führen können, weil hen“ folgendermaßen: Die Schwäbin „war weder Blau- hierdurch sowohl die regionale Identifizierung Schwä- strumpf noch Mannweib, weder Vamp noch kapriziö- bin als auch die überregionale Frau erschwert wird. se Geliebte“17. Oder: „Die Wissenschaften sind nicht Welche Voraussetzungen Frauen hatten, mit welchen die eigentliche Domäne der Schwäbin.“18 Schwierigkeiten sie kämpfen mußten, wenn sie etwas Eine Schwäbin, so Erika Neuhäuser, sei kein „Mann- anderes sein wollten, als das, was ihnen der gesellschaft- weib“. In Umkehrung gilt dann wohl auch, daß ein liche Rahmen erlaubte, zeigt sich nicht zuletzt daran, „Mannweib“ keine Schwäbin sein kann. Ein „Mann- daß weib“ ist also erstens keine Schwäbin mehr. Zweitens ist sie aber auch, wie die Titulierung ‘Mann-Weib’ schon „Frauen bis zum Jahr 1909 keinen Zugang zu den staat- sagt, keine richtige Frau mehr, allenfalls ein Zwitter- lichen Gymnasien und bis 1904 keine gesetzlich garan- wesen, also etwas Abnormes, Gesetzloses. tierte Möglichkeit hatten, sich an den Universitäten zu Neuhäusers Klassifizie- immatrikulieren.“ 20 rungen treffen zum Bei- spiel auf eine Frau wie Das Fehlen der Frauen in Maria Gräfin von Linden diesem wie in anderen ge- (1869-1936) zu, die 1892 sellschaftlichen Bereichen als erste Studentin Würt- ist also nicht ganz so frei- tembergs an der Universi- willig, wie Werner und tät in Tübingen ihr Studi- Neuhäuser uns glauben um begann. Dort wurde machen wollen, und erst sie als erste Frau in recht nicht in einer ‘natür- Deutschland 1895 zur lichen weiblichen Abnei- Doktorin der Naturwis- gung’ gegenüber Wissen- senschaften promoviert. schaft und Technik be- Photos belegen ihr ein- gründet. drucksvolles Aussehen: Maria von Linden trug Das Buch Die Schwäbin Männerhüte mit breiter trägt durch die Verquik- Krempe und Anzüge. Sie kung der Schwäbin mit dem vereinigte in ihrer Person bürgerlichen Frauenbild Mannweib, Wissenschaftlerin die Botschaft in sich, daß und Frau; drei Positionen Frauen, die sich vom bür- also, die in ihrer Kombi- gerlichen Frauenideal ab- nation aufgrund der poli- grenzen, ihre regionale tisch und sozial festgeleg- Identität verlieren, wenn ten Geschlechtergrenzen nicht gar ihre weibliche.21 in die gesellschaftliche Regionale Identitätsan- Ächtung und die Rolle der gebote sind nach dieser Außenseiterin führten Auffassung in sich ge- (und immer noch führen). schlossen und deshalb Maria von Linden (1847-1909) kaum oder überhaupt

64 Schwabenbilder. Und Schwäbinnenbilder? nicht wandelbar und integrationsfähig. Die regionale Gefangenschaft nach Hause kamen, hatten Frauen Po- Identität wird hier durch Abgrenzung vom und damit sitionen eingenommen, die zuvor den Männern vor- auch durch Ausgrenzung von ‘Anderen’ gebildet und behalten waren; und es war für sie durchaus nicht selbst- gefestigt.22 Verlassen Frauen den ihnen zugeteilten Rah- verständlich, die einmal erlangte und ebensogut aus- men, riskieren sie diese Identität und alles was damit gefüllte Position widerspruchslos an die männliche Welt zusammenhängt, so auch das soziale Netz. Was je nach abzutreten. Auch von Seiten der Regierung wurden An- dem einerseits ihren körperlich und seelischen Nieder- strengungen unternommen, Frauen, die selbständig ge- gang zur Folge haben kann, andererseits aber auch die arbeitet hatten, wieder in untergeordnete Positionen Chance in sich birgt, daß sie Neues, Anderes entwik- zu drängen. keln können. Der Konflikt, der sich auf Grund dessen auf dem Lande ergab, war zwar ein anderer als der Stadt-Kon- Die zweite Frage heißt jetzt nicht mehr: Warum wur- flikt, da Frauen auf dem Land seit jeher sogenannnte de 1947 ein Buch über die Schwäbin herausgegeben? ‘Männerarbeiten’ erledigt hatten, dennoch war auch hier sondern: Warum wurde 1947 das bürgerliche Frau- die Verunsicherung eingetreten, wer letztendlich ‘der enideal unter dem Deckmantel Schwäbin neu aufberei- Herr im Hause’ sei. Noch einmal Erika Neuhäuser: tet? Gehen wir noch einmal zur anfänglichen Begrün- dung von Werner zurück: „Hier leistet sie [die Schwäbin; Anm. d. Verf.] Vor- bildliches als Arbeitskameradin des Bruders oder Man- „Vielleicht ist es heute höchste Zeit über die Schwäbin zu nes in den verschiedensten Zweigen der Landwirtschaft, schreiben. [...] bei einem oder auch in den letzten Umfang der Zuwanderung Kriegsjahren als selbständige von Flüchtlingen, wie sie die- Leiterin ihres Bauernhofes, se letzten Jahre gebracht ha- [...] bis der Besitzer des Ho- ben, muß das Ergebnis fes wieder zurückkehrte und schließlich doch eine fühlbare sie ihm die Männerarbeit Abwandlung des Alten überlassen konnte.“ 24 werden.“ 23 Neuhäuser entwirft hier Aber ist die „Abwandlung ein friedliches, harmoni- des Alten“ denn nur auf sches Bild. Die Frau als die Zuwanderungen zu Kameradin des Mannes, beziehen? War es nicht der wenn es sein muß auch als Krieg, der das von Werner Selbständige, aber nur, so- und Neuhäuser prokla- lange der Mann nicht im mierte bürgerliche Schema Hause ist, sonst gibt sie die von weiblich-männlich aus Leitung gerne wieder ab, den Angeln gehoben und denn dann hat sie es ja zu einer viel tiefgreifen- ‘leichter’. deren „Abwandlung des Ganz anders dagegen Alten“ im Umgang der lesen sich die Erzählungen Geschlechter miteinander eines schwäbischen Land- geführt hatte? Gerade pfarrers auf der Alb, die Frauen mußten die Gren- durch tatsächliche Beob- zen ihrer Rollen im Krieg achtungen und ein erzäh- weit mehr überschreiten lerisches Beschreiben weit als Männer. Denn als die Arbeiterinnen im Nähsaal der Firma differenzierter sind und Männer von Krieg oder Bleyle, Anfang 20. Jahrhundert. deren Autor sich nicht, wie

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Werner und Neuhäuser dies tun, auf eine Aufzählung kannt, d.h. eine Veränderung dieser Gemeinschaft und letztendlich ‘blutleerer’ Schlagworte beschränkt, bei die Integration des ‘Fremden’ wird erschwert. denen der Mensch, speziell die Frau und ihre Tätigkeit nicht ‘vor-stell-bar’ wird und damit auch nicht ‘er-leb- Feststellungen, die wir eingangs gemacht haben, müs- bar’. sen wir revidieren. Nicht die Schwäbin bzw. Frau steht im Mittelpunkt und ist als aktiver, handelnder Mensch „Die Mädchen waren strebsamer, später allerdings durch gemeint. Nein, das Weibliche ist auch hier nur Spiegel Überforderung im Haus als Mütter und Mägde zugleich und Projektionsfläche für die männlichen (Wunsch-) vor der Zeit alternd. Ich habe mit Schrecken im Jahr Vorstellungen einer Gesellschaft. Angesichts dieses 1941 festgestellt: Die Schulmädchen von ehedem waren Sachverhaltes ist es nicht verwunderlich, wenn nicht schon alte Weiber geworden, verlaufen, zahnlos, verhärmt, nur in unserem Projekt, sondern auch in anderen nichts mehr von der Ursprünglichkeit, Munterkeit von Forschungsprojekten der Blick auf die Schwäbin bzw. ehedem. Dies gilt aber nur bei den Verheirateten. Ein die Frau verstellt ist; nur unter erhöhtem Arbeitsauf- Übermaß von Sorgen und Mühen, in Haus, Küche, Stall, wand wäre es möglich, weibliche (schwäbische!) Feld lag auf ihnen; die Männer waren (in der Zeit des Lebenswelten zu finden. Ersten Weltkriegs) eingezogen und auch in Friedenszei- ten weniger eingespannt und belastet. Auf der Alb sind die Frauen Arbeitstiere.“ 25 ‘Berühmte’ Schwäbinnen Der Zeitpunkt der Herausgabe des Buches Die Schwä- bin scheint nun erklärbar zu sein: Die durch den Krieg unter Druck geratenen bürgerlichen Werte sollten den Bisher haben wir also festgestellt, daß Schwäbinnen Frauen durch ein gefälliges und geschöntes Bild der entweder überhaupt nicht erwähnt werden oder Schwäbin wieder schmackhaft gemacht werden. Beschei- Schwäbinnenbilder sich lediglich im Rahmen der gän- denheit, Duldsamkeit, Anpassungsfähigkeit und der gigen Hausfrauenklischees bewegen. Fast wären wir Wunsch, nicht eigenständig zu denken; die von Wer- dem auf den Leim gegangen und hätten uns damit ner und Neuhäuser immer wieder betonten hervorra- abgefunden, daß Geschichte und Gegenwart des genden Eigenschaften der Schwäbin, ergeben in ihrer Schwabenländles keine Frauen zu bieten haben, die Summe Frauen als „Arbeitstiere“, die gerade nach dem aus dem Schatten der stillen, genügsamen ‘Heimchen- Krieg gebraucht werden konnten. am-Herd’-Rolle heraustreten. Bleibt also zum einen festzuhalten, daß am Beispiel Aber schon ein zweiter Blick auf das Buch Die Schwä- dieses Buches sichtbar wird, wie regionale Zu- bin zeigt einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma. schreibungen zur Konstruktion bestimmter Ziele und Wenn wir eine andere als die von den AutorInnen na- Zwecke benutzt werden können. Welche Ziele und hegelegte Lesart anwenden, wird deutlich, daß nicht Zwecke aber über regionale Bilder ausgedrückt wer- unbedingt die Realität ein derartiges Frauenbild zu- den, hängt von der aktuellen Problemstellung der Zeit, stande bringt, sondern ihre Interpretation. Tatsächlich des Landes ab. Andererseits ist Die Schwäbin Teil des hat es schon immer Frauen gegeben, die den (ihnen Versuchs, unter dem Vorwand regionaler Zu- zugewiesenen) privaten Bereich verlassen und sich in schreibungen eine anstehende Diskussion über die aller Öffentlichkeit in gesellschaftliches und politisches Neuformulierung der Geschlechtergrenzen zu blok- Geschehen eingemischt haben. kieren. Unter dem Kapitel „Tapfere Schwäbinnen“ sind z.B. Es wird sichtbar, daß regionale Zuschreibungen eng kurze Geschichten von Frauen zu finden, die sich in verknüpft sind mit Geschlechtszuschreibungen. Wer diversen Kriegsgeschehen Württembergs einen Namen sich außerhalb dieser, in einer Gemeinschaft als mo- gemacht haben. So erfahren wir u.a. von einer „ener- mentaner Konsens geltenden, Zuschreibungen bewegt gischen Henriette“ (Anfang 15. Jahrhundert), die sich (z.B. das ‘Mann-Weib’), wird nicht erkannt und aner- im „Panzer inmitten ihrer Mannen im Kampf“ [sic!] abbilden ließ, oder von der sogenannten „Schwarzen

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Hofmännin“ (um 1524), einer „fanatischen Partei- dy Roosevelt – schenken mußte, weshalb ganz Ameri- gängerin des radikalen Bauernhaufens“. Hermann ka am nächsten Morgen unbedingt einen Teddy-Bären Werner versucht natürlich auch hier wieder, diesen kaufen wollte, während Margarethe Steiff mittlerweile Frauen durch die Hintertür ihren Platz hinter und zu – auf wundersame Weise – schon Besitzerin einer klei- Diensten der Männer zuzuweisen, indem er z.B. der nen Fabrik war, die dem Ansturm kaum mehr gerecht „Schwarzen Hofmännin“ bescheinigt, daß sie sogar werden konnte. „bei den Männern was galt“ und ihrem Bauernführer Daß es zu Zeiten Margarethe Steiffs allerdings nicht brav ergeben war – doch sei dieser (politische) Fana- unbedingt selbstverständlich war, daß Frauen über- tismus sonst gar nicht die Art der Schwäbin.26 Derlei haupt eine solche Fabrik besitzen und leiten durften, Umschreibungen können wir inzwischen getrost bei- verschweigt das schöne Märchen allerdings. Denn zu seite schieben; was dann übrigbleibt, ist immerhin eine Beginn des Industriezeitalters war es nur ledigen Frauen Spur weiblicher (Regional-)Geschichte jenseits von und Witwen überhaupt erlaubt, selbständig Betriebe Kochlöffel und Kinderwiege. zu führen. War es bis ins 15. Jahrhundert hinein noch durchaus üblich, daß Frauen von der Gesellin bis zur Darüber hinaus wollen wir hier nochmal überprüfen, Meisterin sich im Handwerk tummelten, wurden sie wie es mit den ‘schwabentypischen Kategorien’ und mit dem Beginn des Industriezeitalters verstärkt aus den Frauen bestellt ist. Selbstverständlich ist grund- den Zünften und wichtigen Positionen in den Hand- sätzlich fragwürdig, welchen Sinn oder Unsinn solches werkskammern ausgeschlossen. Ihnen fehlte es also Schubladendenken macht. Doch davon wollen wir (vor- zusehends an Kenntnissen, die dem männlichen Nach- erst) mal absehen, uns statt dessen auf das Spiel ein- wuchs in einem sich differenzierenden Ausbildungs- lassen und exemplarisch system vermittelt wur- am Beispiel der ‘schwäbi- den.27 Margarethe Steiff schen TüftlER’ einige verdankte ihren Erfolg Frauen ins Gedächtnis ru- also nicht unbedingt der fen, die eigentlich automa- Genialität des Produktes, tisch hätten genannt wer- sondern dem glücklichen den müssen, sobald diese Umstand, daß sie allein- ‘Schwaben-Schublade’ ge- stehend war und sich ihre öffnet wurde. Erfindungen selbst in ei- Die wohl bekannteste nem Bereich bewegten, Frau, die ein Patent ange- der Frauen gegönnt war. meldet hat, ist Margarete Eine weitere, aber auf Steiff (1847-1909). Erika ganz andere Weise ‘paten- Neuhäuser fällt zu ihr nur te’ Persönlichkeit dieser das schöne Märchen von Zeit war Maria Gräfin von der ‘armen gelähmten Nä- Linden (1869-1936). Als herin’ ein, die aus Stoffre- erste Frau nahm sie 1892 sten Puppen und Tiere für – ausnahmsweise, da die Nachbarskinder mach- Frauen normalerweise te, wobei zufällig ein be- nicht zugelassen wurden – sonders gelungener Bär in das naturwissenschaftliche die Hände eines Amerika- Studium an der Eberhard- ners fiel, der dann wieder- Karls-Universität Tübin- um eben genau diesen Bä- gen auf. Nach sechs Seme- ren ausgerechnet dem da- stern Medizin, Zoologie, maligen Präsidenten der Physik und Botanik, pro- Vereinigten Staaten – Ted- Margarethe Steiff (1847-1909) movierte sie 1895 dann als

67 Schwabenbilder. Und Schwäbinnenbilder? erste Frau Deutschlands zum Doktor der Naturwis- senschaften. Danach studierte sie noch zwei Semester Physiologie und arbeitete als wissenschaftliche Assi- stentin zuerst in Tübingen und Halle, später dann am Hygienischen Institut in Bonn, wo sie 1910 als eine der ersten Frauen Deutschlands mit dem außerordent- lichen Professorentitel beehrt wurde. Auf einem Nebenzweig ihrer Forschungen zur Tuberkulosebekämpfung hat die Wissenschaftlerin die antiseptische Wirkung von Kupfer zur Herstellung von keimtötendem Verbandstoff und sterilem Nahtmaterial genutzt. In Zusammenarbeit mit der Verbandstoff-Fir- ma Paul Hartmann in Heidenheim konnte die Forsche- rin, die immer wieder in Geldnöten war, ihre Erkennt- nisse in ein lukratives pharmazeutisches Produkt um- setzen. Maria von Linden übertrug die Nutzung ihrer Patente der Verbandstoff-Firma, die sie dafür am Ver- kaufserlös beteiligte.28 Maria von Linden bewegte sich mit ihren Studien in einem ausgesprochenen Männerterrain. Deshalb wur- de ihre Laufbahn von der zeitgenössischen Frauenbe- wegung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Doch selbst Frauenrechtlerinnen, die sich ausdrücklich für den Zugang von Frauen zu naturwissenschaftlichen Disziplinen an der Universität einsetzten, hatten den- noch Schwierigkeiten, die Persönlichkeit Maria von Lindens als ganzes anzuerkennen. Von Linden selbst Mathilde Weber (1829-1901) schreibt über ihre Auseinandersetzungen mit der Tü- binger Frauenrechtlerin (Frau Professor) Mathilde In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch zu erklä- Weber, bei der sie wöchentlich zum Essen eingeladen ren, warum eine Frau wie Maria von Linden noch mehr war: in den Strudel der Vergessenheit gerät als zum Bei- spiel Margarethe Steiff. Während letztere immerhin „Die Frau, die in das öffentliche Leben eintrat, sollte noch einer ‘weiblichen Disziplin’ zuzuordnen ist, über- aber um Gotteswillen nichts vom ‘Blütenstaub’ verlieren schreitet von Linden alle Grenzen, die eine rigide Tren- und Urbild der Weiblichkeit bleiben. So sehr Frau We- nung der Geschlechter erst möglich machen. ber nun meine Pionierarbeit anerkannte, so konnte sie sich nicht damit abfinden, daß ich [...] eben doch stark Es gäbe sicherlich noch viele markante, mehr oder zur Verkörperung des ‘dritten Geschlechts’ neigte. Ich weniger ‘berühmte’ Frauen, die es Wert wären, an die- trug Jackenkleider mit steifem Kragen, Männerhüte, Schu- ser Stelle aus der Versenkung geholt zu werden – sei- he, die in ihrer Massivität, Form und Größe ebenfalls an en es weitere ‘Tüftlerinnen’ oder auch ‘Dichterinnen’ das Männliche grenzten, stand in bester Kameradschaft und ‘Denkerinnen’ (wie Ottilie Wildermuth, Emilie mit den Kommilitonen, errötete nicht, wenn in der Vorle- Zumsteeg u.a.). Das können wir hier natürlich nicht sung von Männlein und Weiblein die Rede war, kurz – leisten. Stattdessen wollen wir aber darauf hinweisen, aus meinen Staubbeuteln war der Blütenstaub schon ver- daß beim Thema TüftlerInnen neben den herausra- flogen oder nie in denselben gebildet worden.“ 29 genden Persönlichkeiten eigentlich auch noch die un- zähligen Arbeiterinnen genannt werden müßten, auf deren Arbeitskraft das schwäbische UnternehmERtum

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Anmerkungen

1 Aussage einer Interviewten, die nach ihrem Schwabenbild be- fragt wurde. Das Interview wurde im Rahmen des Projektes „Schwabenbilder“ geführt. Vgl. Interview Nr. 9 2 Diese Umfragen wurden ebenfalls im Rahmen des Projektes „Schwabenbilder“ durchgeführt. Der Genauigkeit zuliebe muß hier erwähnt werden, daß eigentlich „nichts“ die häufigste Antwort auf die Frage „Was fällt ihnen zu Schwaben ein?“ war – „Spätzle“ und „Spätzleessen“ demnach zwar die meistge- nannten Stereotype, aber nicht unbedingt omnipräsent in allen Köpfen der Befragten waren. 3 Susanne Lang: Den Frauen das Heim, den Männern die Welt? In: Susanne Lang/Dagmar Richter (Hg.): Geschlechter- verhältnisse, schlechte Verhältnisse. Marburg 1994, S. 39-51, hier S. 49. Susanne Lang traf diese (allgemeingültige) Aussage innerhalb eines Diskursmodells politischer Öffentlichkeit un- ter feministischen Gesichtspunkten. 4 Vgl. Interview Nr. 9. 5 Interview Nr. 2, S. 4; Interview Nr. 4, S. 2; Interview Nr. 13, S. 2. 6 Vgl. Interview Nr. 13, S. 2: Die Interviewpartnerin erzählt von ihrer Zeit als Austauschschülerin; die Großmutter der schwä- bischen Gastfamilie habe sich darüber entrüstet, daß sie das Ottilie Wildermuth (1817-1877) offensichtlich schon einmal benutzte Spülwasser einfach aus- kippte, obwohl es in den Augen der Großmutter noch zu ge- brauchen gewesen wäre. Die Interviewte betont zwar, daß sie überhaupt erst aufgebaut werden konnte. Denn selbst sich darüber schon sehr wundern mußte, sagt aber anschlie- wenn die Fabrikbesitzer den Frauen eigentlich nicht ßend, daß das daran gelegen habe, daß sie selbst (in Schweden) gegönnt haben, daß sie sich mit ihrer Arbeit in der zwar ganz anders aufgewachsen sei, aber verstehe, daß die Leute Fabrik vom bürgerlichen Hausfrauenideal weg- in Schwaben nach dem Krieg eben nicht so viel hatten und deswegen an allem sparen mußten. bewegten, konnten sie letztendlich doch nicht auf de- 7 Vgl. Interview Nr. 6, S. 1: Um sein Bedürfnis nach „Grenz- ren billige Arbeitskraft verzichten.30 ziehung“ gegenüber den expansiv-aggressiven schwäbischen Aus emanzipatorischer Sicht bringt die schwäbische Wintertouristen im Oberallgäu zu legitimieren, zieht der In- Identität also (und vermutlich ist es mit den meisten terviewte die Aussage eines Grünen-Politikers hinzu, nach der regionalen Identitätsangeboten nicht besser bestellt) angeblich nur jeweils den Leuten aus einer bestimmten Regi- on selbst erlaubt sein sollte, die in dieser Region möglichen den Frauen nur wenig Erfreuliches. Was für Männer Freizeitsportangebote zu nutzen. Vgl. dazu Interview Nr. 11, identitätsstiftend sein mag, hat für Frauen eher aus- S. 2: Der Interviewte bezieht sich auf Thaddäus Trolls Be- schließenden Charakter. Es bleibt die Frage, wie wün- schreibung des „Bruddelns“ als Ausdruck schwäbischer Selbst- schenswert es ist, daß das ‘Schwäbische’ in Zukunft kritik/-unzufriedenheit. 8 Elisabeth Klaus: Von der heimlichen Öffentlichkeit der Frau- mehr Spielraum für ‘moderne’ weibliche Identifi- en. In: Institut für Sozialforschung (Hg.): Geschlechterver- kationsmöglichkeiten gewährt. Oder sollten wir nicht hältnisse und Politik. Frankfurt am Main 1994, S. 72-100, hier besser endgültig feststellen, daß wir ganz auf regiona- S. 81. le (und nationale) Identitäten verzichten können, weil 9 Hermann Werner/Erika Neuhäuser: Die Schwäbin. Stuttgart 1947. Hermann Werner, 1880 in Geislingen geboren, studier- die Abgrenzung immer in Ausgrenzung umschlagen te Theologie im Tübinger Stift. Er schrieb für den Schwäbischen kann und es vermutlich auch wird? Merkur in Stuttgart Literatur- und Theaterkritiken. Ab 1945

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arbeitete er für das Schwäbische Tagblatt in Tübingen und die worden, in dem die Aufgabe der Frau identisch wurde mit Schwäbische Zeitung in Leutkirch. In Tübingen war er Mitarbei- ihrer Selbstaufgabe. Zu ‘sich selbst’ kommen hieß für sie, auf ter der Tübinger Chronik und schrieb gleichzeitig an dem Buch sich selbst verzichten. Mit der scheinbaren Befreiung der Frau Die Schwäbin. Erika Neuhäuser verfasste das letzte Kapitel „Die aus den ‘rohen’ Zuständen der ‘alten Gesellschaft’ wurde die moderne Schwäbin – von draußen gesehen“. Der Titel weist neue Gestalt ihrer Unterdrückung in die Frau selbst hinein- darauf hin, daß sie 1908 in der Pfalz geboren wurde, österrei- gegeben. Dennoch war diese neue Form der Repression nie chische Eltern hatte, die tschechische Staatsbürgerschaft be- vollständig und gewiß nie unwidersprochen: Wer sich aber saß, bis 1938 als Journalistin in der Schweiz arbeitete und dann gegen sie auflehnen wollte, hatte mit der Schwierigkeit zu kämp- Verlagslektorin in Stuttgart war. fen, gegen den ‘eigenen’ weiblichen Kulturcharakter rebellie- 10 Ebd., S .9. ren zu müssen.“ Ebd., S. 139f. 11 Ebd., S. 222. 22 Vgl. Peter Weichhart: „Das Forschungsfeld ‘Raumbezogene’ 12 Ebd., S. 13. Identität – Koexistenz rivalisierender Paradigmen?“. Unver- 13 Ebd., S. 229. öffentliches Vortragsmanuskript. St. Gallen 1995, S. 8f. 14 Ebd., S. 218. 23 Hermann Werner/Erika Neuhäuser (wie Anm. 9), S. 9. 15 Ebd., S. 10. 24 Ebd., S. 231. 16 Jean-Jacques Rousseau, zit. nach Heidi Staib: „Helingen“ klug: 25 Immanuel Fischer zit. nach Christel Köhle-Hezinger: „Der Erfinder-(Ehe-)Frauen. In: Utz Jeggle/Heidi Staib/Friederike schwäbische Leib“. In: Christel Köhle-Hezinger/Gabriele Valet u.a.: Schwäbische Tüftler. Begleitbuch zur Ausstellung Mentges (Hg.): Der neuen Welt ein neuer Rock. Studien zu im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. Stuttgart Kleidung, Körper und Mode an Beispielen Württembergs. 1995, S. 18-21, hier S. 18. Stuttgart 1993, S. 59-80, hier S. 70. 17 Hermann Werner/Erika Neuhäuser (wie Anm. 9), S. 219. 26 Hermann Werner/Erika Neuhäuser (wie Anm. 9), S. 100. 18 Ebd., S. 231. 27 Elke Hlawatschek, zit. nach Heidi Staib (wie Anm. 20), S. 129. 19 Hugo Franz-Karl Maria Freiherr von Linden: „Die Wissen- 28 Zur Biographie Maria Gräfin von Lindens vgl. Hugo Franz- schaftlerin Maria Gräfin von Linden: eine Pionierin im Terrain Karl Maria Freiherr von Linden (wie Anm. 19). Vgl. dazu Maria der Männer“. In: Schwäbische Tüftler (wie Anm. 16), S. 56-59, Gräfin von Linden: Erinnerungen der ersten Tübinger Stu- hier S. 56. dentin. Mit einem Vorwort von Gabriele Junginger. Tübingen 20 Edith Glaser, zit. nach Heidi Staib: „Der Samen zu Kopf ge- 1991. stiegen“ oder: Eine Chance für die Technik der Frauen. In: 29 Maria Gräfin von Linden: Erinnerungen (wie Anm. 28), S. 125. Schwäbische Tüftler (wie Anm. 16), S. 124-133, hier S. 131. 30 Vgl. Monika Bönisch: „sie zögen das eintönige Arbeiten in 21 Vgl. Barbara Duden: Das schöne Eigentum. In: Karl-Markus der Fabrik der Sorge für die Haushaltungsgeschäfte vor“. In: Michel/Harald Wieser (Hg.): Kursbuch. Berlin 1977. „So war Christel Köhle-Hezinger/Walter Ziegler (Hg.): Kuchen – „Der am Ausgang der bürgerlichen Gesellschaft als ‘Bestimmung Glorreiche Lebenslauf unserer Fabrik“. Weißenhorn 1991, S. des Weibes’ ein weiblicher Geschlechtscharakter formuliert 259-272.

70 Der schmale Weg, der zum Leben führt...

Andreas Vogt

Der schmale Weg, der zum Leben führt...

Über die kulturprägende Wirkung des Pietismus in Württemberg

Die ‘Stillen im Lande’ und der schmale Weg evangelischen Bevölkerungsteil des Landes hatte, liegt es nahe, entlang der beiden ungleichen Wege pietis- tisches Denken und Handeln aufzuschlüsseln, um auf „Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist diese Weise die kulturprägende Wirkung pietistischer weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, Weltsicht in Württemberg zu verdeutlichen. und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte Ob in theologischer oder sozialgeschichtlicher Sicht ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, – über kaum einen anderen Aspekt der württembergi- und wenige sind ihrer, die ihn finden.“ 1 schen Kirchengeschichte ist vermutlich soviel geschrie- ben worden wie über den Pietismus.7 Natürlich ist es Das pietistische Programmbild Der breite und der schmale problematisch, in idealtypischer Form von dem Pietis- Weg, dem diese beiden Verse aus dem Matthäus- mus zu sprechen, der übrigens „allen lokalpatriotischen evangelium zugrundeliegen, gehört bis heute zu den Wunschvorstellungen zum Trotz keine württembergi- populärsten evangelischen Andachtsbildern.2 Seine sche Erfindung [ist].“8 Es gab (und gibt noch immer) bekannteste Version wurde 1866 von Charlotte Reihlen3 „eine Vielzahl pietistischer Gruppen und Gruppierun- entworfen und von der Evangelischen Gesellschaft4 gen unterschiedlichster Ausprägungen.“9 Der Einfach- in Stuttgart zunächst als handkolorierte Lithographie, heit halber soll deshalb unter dem Sammelbegriff Pie- später dann als Chromolithographie in hohen Aufla- tismus eine Richtung innerhalb des Protestantismus gen produziert. Rund ein Jahrhundert lang wurden die verstanden werden, Moralvorstellungen nicht nur der ‘frommen’ Württem- berger durch diesen Massenartikel geprägt: „Das Zwei- „die mit dessen organisatorischer Einheit nicht bricht (wie Wege-Bild hing in Altwürttemberg in fast jedem Haus, der Separatimus), wohl aber zusätzliche eigene Organi- es war der Hinweis, daß die Bewohner sich auch zu sationen und Institutionen bildet, die einen deutlich aus- ‘den Rechten’ zählten.“ 5 Der breite und der schmale Weg geprägten subkulturellen Charakter tragen. Dieser Sub- bot also nicht allein pietistischen Kreisen alltägliche kultur ist ein Werte-Kosmos zugeordnet, der eine eigene Orientierung, sondern war als Weltbild pietistischer rigide Moral beinhaltet. Die ist definiert vor allem durch Moral breiten Schichten der protestantischen Bevölke- ihre scharfe Abgrenzung zur ‘Welt’; die Definitionen selbst rung Württembergs von Kindheit an vertraut, auch stammen vielfach von theologischen Laien, wobei die Un- durch die Predigten der Pfarrer und durch Kirchen- mittelbarkeit des Individuums zu Gott besonders betont lieder bekannt gemacht.6 Aufgrund der herausragen- ist, und werden als strenge Auslegung des ‘Worts’ ver- den Bedeutung, die dieses Andachtsbild für den standen. Als Garanten der subkulturellen Werte-Konti-

71 Der schmale Weg, der zum Leben führt...

nuität sind Autoritäten (‘Väter’) wirksam, ein Litera- halten hat seine eigene Dynamik, das Schweigen seine turkanon (Erbauungsliteratur), besondere Zusammen- eigene Sprache.“12 künfte (Erbauungsstunden), die der Tradierung der Werte dienen, und andere mannigfache Eingriffe in Psyche und Verhalten der einzelnen Mitglieder (Sozialisation, ‘Bekeh- rung’, Sanktionierung durch ‘göttliche’ Eingriffe).“ 10 Mitteldinge

Man hat die Pietisten oft ‘die Stillen im Lande’ ge- nannt. Wörtlich genommen erweckt diese Zu- Der „Pietist“ konzentriert sich nie ausschließlich auf schreibung den Eindruck, pietistisches Selbst- und das Evangelium, sondern macht sich immer einen ei- Weltverständnis sei ausschließlich vom Rückzug in die genen Reim auf die Welt. Ein elementares Anliegen Innerlichkeit bestimmt. Die pietistische Konzentration pietistischer Frömmigkeit ist die methodische Lebens- auf die eigene Psyche ist jedoch beileibe nicht ohne führung über die Zehn Gebote hinaus, wobei alle Le- Auswirkungen auf die „Tugenden und Untugenden bensbereiche der Reglementierung unterliegen. Die der Württemberger“11 geblieben, sondern „das Still- Grundzüge dieser pietistischen (Gegen-)Kultur und Le- bensweise werden auf dem Zwei- Wege-Bild deutlich. Dort wird entlang des breiten Weges ein Kanon all des- sen angelegt, was gemeinhin keiner re- ligiösen oder gesellschaftlichen Nor- mierung unterworfen ist, sondern in den Freiheitsspielraum des Einzelnen fällt: Wirtshaus, Theater, Fest, Tanz und Müßiggang. Die pietistische Sicht der Dinge setzt diesen „Adiaphora“ (Mitteldingen) jedoch konkrete Hand- lungsanweisungen und Verbote entge- gen. Ohne die Erklärung des Bildes Der breite und der schmale Weg, mit Anfüh- rung der auf dem Bilde meist nur angedeu- teten Schriftstellen13, die als achtseitige Beilage ebenfalls von der Evangeli- schen Gesellschaft vertrieben wurde, wäre allerdings dieses Weltbild pieti- stischer Moral für Bibelunkundige nur schwer zu verstehen. Der breite Weg wird, so ist dort zu lesen, „wie der Herr Jesus sagt und auch unser Bild es bezeichnet“, durch eine weite Pforte eröffnet. Zu beiden Seiten des Eingangs „prangen die nackten Statuen zweier Hauptreprä- sentanten der ungezügelten Lust“: Bacchus und Venus. Im eleganten Garten des Wirtshauses mit dem be- „Der breite und der schmale Weg.“ Kolorierte Kreidelithographie. Stuttgart, um 1866. zeichnenden Namen Weltsinn erfreut

72 Der schmale Weg, der zum Leben führt... man sich „einer angeblich ungetrübten Fröhlichkeit bei Martin Scharfe hat darauf hingewiesen, daß es zu die- Gesang, Kartenspiel, Zeitungen, Essen und Trinken, ser Ikone des württembergischen Pietismus noch man- auch wohl Schimpfen und Fluchen“. Gegenüber „ge- ches anzumerken gelte, „sowohl was verstohlen An- währt auch die Venus ihre Befriedigung oder vielmehr gedeutetes als auch was beflissen Weggelassenes“14 Nichtbefriedigung“. Ein „Weib im Hurenschmuck“ betreffe. Der Kanon der Handlungsanweisungen aber, steht dort, um den „vorübergehenden Jüngling zu ver- der entlang der beiden ungleichen Wege vermittelt führen mit süßen Worten, welche hernach bitter sind wurde, wurde für weite Teile der württembergischen wie Wermuth und scharf wie ein zweischneidig Gesellschaft zum verbindlichen Regelwerk. Werfen wir Schwert.“ dazu einen Blick auf den schmalen Weg: Über Kirche und Sonntagsschule führt der Weg zu „Leben und Se- „Der breite Weg beginnt nun. An vielen eifrigen Betretern ligkeit“ vorbei an Kinderrettungsanstalt und Diako- desselben fehlt es nicht. Nach außen schön geebnet, finden nissenhaus, also pietistischen Institutionen par sich rechts und links prächtige steinerne Gebäude, excellence. Vereine und Organisationen des öffentli- anmuthige Bäume, Pflanzen und freie Plätze, wie es auch chen Lebens und der Diakonie wie Bibelanstalt und an Anleitung zur Pflege der weltlichen Gesinnung, sowie Evangelische Gesellschaft, Basler Mission und an mancherlei Zerstreuungen und Lustbarkeiten keines- Diakonissenanstalten, Schulen und Lehrerbildungs- wegs mangelt. Denn da ist z.B. ein sehr besuchtes Thea- seminare, Jugend- und Traktatvereine waren wichtige ter, welches als eine Pflanzstätte feiner Bildung betrachtet Vermittlungsagenturen pietistischen Gedankenguts. wird; ebenso ein Conversationshaus mit seinen glänzen- den Festsälen und seiner selbst von anständigen Welt- „Der Einfluß all dieser Aktivitäten auf die Bevölke- leuten getadelten Spielbank oder Spielhölle, als deren rung“, so Joachim Trautwein, „ist gar nicht abschätzbar. unseliges Opfer an einem der Fenster ein Gehenkter zu Man muß dabei bedenken, daß dies alles in einem Land sehen ist (gleich dem Judas, welchen um seiner Gewinn- geschah, in dem [...] die pietistisch-mystische Literatur sucht willen ein ähnliches Schicksal traf [...]).“ fast ein Monopol innehatte, einem Land, in dem es in den Volksschulen fast nur religiöse Texte, d.h. im Regel- „Ungehorsam, Luxus, Unmäßigkeit“, so die Klage der fall die Bibel, als Grundlage für das Leben gab, einem Bilderklärung, würden „durch innerliche und äußerliche Reizmittel befördert“, „eine falsche Aufklärung“ bemächtige sich der Gesellschaft. Auch an „sabbath- schänderischen Instituten“ fehle es nicht: Der „namentlich an Sonntagen von Alt und Jung sehr besuchte Gasthof zum Weltsinn“ trage deshalb auch die Inschrift „Sonntags-Entheiligung“.

„Aber ungeachtet aller erstrebten und auch genossenen Erden-Freuden und Vergnügun- gen wird doch das unersättliche Herz immer öder und unzufriedener, so daß es stets auf neue Ergötzungen und Befriedigungen bedacht ist, mögen sie ihm nun im erweiterten Besitzthum, oder im Berufe und der Handthierung, oder endlich in vermeintlicher Das „Fünf-Brüder-Bild“ vereint Figuren des populären Pietismus, die fünf Hahnschen unmittelbarer Befriedigung der Lust sich als Brüder: Johannes Schnaitmann (1767-1847), Anton Egeler (1770-1850), Johann erreichbar darstellen.“ Martin Schäffer (1763-1851), Immanuel Gottlieb Kolb (1784-1859) und als „primus inter pares“ Johann Michael Hahn (1758-1819).

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Land, in dem es neben Staat und Kirche im wesentlichen schen Gemeinschaften in durch die Industrialisierung nur pietistische ‘Organisationen’ gab, in denen sich eigen- nachhaltig geprägten Regionen besonders rege. Kei- ständige ‘Eliten’ bilden konnten.“ 15 nesfalls läßt sich diese Wechselbeziehung aber auf den Nenner einer kausalen Beziehung bringen, denn der Pietismus war keine unabdingbare Voraussetzung für die Industrialisierung. Sein Erstarken ist vielmehr als Pietismus und Industrialisierung: keine Reaktion auf die rapiden Modernisierungsprozesse zu kausale Beziehung verstehen, denen sich die mehrheitlich bäuerlich-tradi- tionell geprägte Bevölkerung Württembergs ausgesetzt sah. Für sie wurde der Pietismus zur Krisenreligion, Wenn es die Genese des „schwäbischen Tüftlers“ zu zur „kompensativen Ideologie“, die neue Orientierung erklären gilt, dann wird der Beitrag des Pietismus re- bot in einer Welt, die aus den Fugen geraten war: gelmäßig überschätzt. Wer in ihm die treibende Kraft der Industrialisierung Württembergs vermutet, bemüht „Die Prinzipien der Lustfeindlichkeit, der Askese, der gemeinhin Max Webers These, der zufolge das prote- selbstgewollten Passion samt ihren kleinlich wirkenden stantische Ethos den „Geist des Kapitalismus“16 nach- Regieanweisungen für die Handhabung im Alltag“, so haltig gefördert habe, und übersieht dabei, daß Weber Martin Scharfe, „haben gerade im gesellschaftlichen System nicht das lutherische, sondern das calvinistische Ethos und Prozeß des 19. Jahrhunderts ihre Funktion.“ 17 meinte. Natürlich besteht zwischen Pietismus und In- dustrialisierung eine Korrelation, waren die pietisti- Auch wenn der pietistische Pfarrer Philipp Matthäus Hahn (1732-1790), der von 1764 bis 1770 in Onst- mettingen tätig war, durch seine genialen feinmecha- nischen Erfindungen zu einem wichtigen Impulsge- ber der feinmechanischen Industrie der Region Zol- lernalb wurde – ihr ‘Gründervater’ war er gewiß nicht. Hahns feinmechanisches Interesse lag nämlich nicht in frühkapitalistischen Anwandlungen, sondern im Faszinosum göttlichen Waltens in der Welt begründet. „Die Entfaltung des Rationalen“, so Hermann Bausinger, „war für ihn eingebettet und großenteils eingebunden in das Netzwerk des Religiösen.“18 Im Gegensatz zur calvinistischen Prädestinations- lehre zählte für den aus der lutherischen Landeskirche erwachsenden Pietismus die Akkumulation von Kapi- tal zu den ‘weltlichen’ Dingen. Ein Blick auf die Mo- toren der Industrialisierung des Landes macht deut- lich: Vielerorts legt das Kapital von calvinistisch ge- prägten Schweizern den Grundstein, schaffen Maschi- nen aus England die technischen Voraussetzungen für die Industrialisierung. Erst an dritter Stelle leisten ein- heimische Arbeitskräfte ihren Beitrag – auch, weil sie pietistisch sozialisiert und durch die internalisierte methodische Lebensführung für die modernen Zeiten präpariert sind. Pietistische Sozialisation mag also prä- gende Wirkung auf die Arbeitskräfte ausgeübt haben Der pietistische Pfarrer Philipp Matthäus Hahn (1739-1790) war einer der Impulsgeber, jedoch nicht der ‘Gründervater’ der Industria- – in diesem Kontext der Industrialisierung kommt ihr lisierung der Region Zollernalb. ihr Bedeutung zu. Trotzdem: „Die Maschine“, so Mar-

74 Der schmale Weg, der zum Leben führt... tin Scharfe, „erzieht und prägt unerbittlicher als die Die Internalisierung pietistischer Tugenden ‘Stunde’.“19 Nicht allein deshalb ist es wichtig,

„der weitverbreiteten Meinung, das Pietist-Sein habe wirt- Auf den ersten Blick erscheint die Zahl der etwa 50.000 schaftlichen Erfolg bewirkt, einen Falsifizierungsriegel Mitglieder pietistischer Gemeinschaften, von der Joa- vorzuschieben – was ja nicht gleichbedeutend ist mit einer chim Trautwein für das 19. Jahrhundert in Württem- Zurückweisung der Aussage, pietistische Askese etwa oder berg ausgeht22, zu gering, um hinter ihr eine kultur- durch pietistische Sozialisation eingeimpfte Antriebe [...] prägende Kraft vermuten zu können. Allerdings wur- hätten zuweilen individuellen wirtschaftlichen Erfolg be- de die Internalisierung pietistischer Tugenden durch günstigt.“ 20 die WürttembergerInnen durch „ein ganz besonderes kulturelles Klima“23 begünstigt, für das nicht nur die Der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, Graf Niko- von Johann Valentin Andreae (1586-1654) Mitte des laus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760); der Weber 17. Jahrhunderts angeregte Einführung des Kirchen- und Weingärtner Georg Rapp (1757-1847), der 1803 konvents nach dem Vorbild der calvinistischen Gen- zusammen mit etwa 800 WürttembergerInnen nach fer Sittengerichte verantwortlich war (wie Werner Amerika auswanderte und in Pennsylvania und India- Unselds Beitrag Schaffensparenputzen in diesem Band na florierende Kolonien aufbaute; der badische Seiden- zeigt), sondern auch „die Besetzung von Schlüsselpo- fabrikant und gescheiterte Sozialreformer Karl Mez sitionen im Kirchen- und Schulbereich durch (1808-1877); der Gründer des Bruderhauses zu obrigkeitshörige Pietisten seit der Mitte des vorigen Reutlingen, Gustav Werner (1809-1887), der jedoch Jahrhunderts“24. Letzteres führte in den folgenden Jahr- zeitlebens mit der Ablehnung durch die pietistisch do- zehnten zu einer nachhaltigen Prägung des evangeli- minierte Landeskirche zu kämpfen hatte – alle waren schen Württembergs durch den „landeskirchlichen sie wirtschaftlich erfolgreich, alle waren sie Pietisten. Pietismus“. Schon 1743 hatten die pietistischen Ge- Doch nicht das Pietist-Sein beförderte ihren Erfolg, meinschaften durch das sogenannte Pietistenreskript sondern der Einsatz von Maschinen und die Entwick- ein, wenn auch juristisch reglementiertes, Heimatrecht lung rationeller Produktionsweisen. in der Landeskirche erhalten.25 Knapp einhundert Jah- re später war – begünstigt auch durch die Gründun- gen der beiden württembergischen pietistischen Kolo- nien Korntal bei Stuttgart (1819) und Wilhelmsdorf

„Wie viele Pietisten“, so der ergänzende Hin- weis Martin Scharfes, „faßten ihren irdischen Kampf als Gottesdienst auf, leisteten Konsumverzicht, legten sich über jeden Au- genblick ihres Lebens Rechenschaft ab – und brachten es in ökonomischer Hinsicht doch keinen Schritt weiter (und zwar nicht nur, weil sie vielleicht ständig ihr letztes Scherflein für Äußere und Innere Mission, für die Brü- der, für Werke christlicher ‘Liebestätigkeit’ opferten). Wenn das Motiv nicht da war, und wenn – vor allem – die Umstände nicht da- nach waren, hat noch keinem allein sein Pietistentum die Kapitalakkumulation be- schert.“ 21 Ansicht von Korntal, um 1820. Ein Spötter versah die kolorierte Radierung mit handschriftlichen Kommentaren: Der Gemeindesaal wird zum „Schaaf-Stall“, links daneben steht der „Gasthof zum frommen Mann“.

75 Der schmale Weg, der zum Leben führt... bei Ravensburg (1824) – von ihrer einstigen gegen- det. Die kulturprägende Erbsitte der Realteilung steht kulturellen Kraft nicht mehr viel übrig geblieben: Der seiner Ansicht nach in enger Verbindung zum würt- Pietismus war kirchen- und staatstragend geworden. tembergischen Pietismus, die Gleichheit der Erben Was nicht ohne Folgen blieb, denn nun fanden sich suche – salopp formuliert – die Gleichheit vor Gott. „fromme Handlanger an den Schalthebeln der Nicht allein das altwürttembergische Sozialsystem mit Macht“26. Unter einer pietistisch dominierten Kirchen- der im „alten Recht“ angelegten Tendenz zu kommu- leitung um den Prälaten Sixt Carl Kapff (1805-1879) naler Selbstverwaltung und individueller Freiheit, son- wurde über Kanzel und Konfirmandenunterricht sub- dern auch die elementare Schulbildung29, die in Würt- til Einfluß auf die Württemberger genommen. Das temberg seit 1647 durch die Einführung der allgemei- pietistische Verlagswesen tat ein übriges, um die nen Schulpflicht garantiert wurde, sei den pietistischen Internalisierung pietistischer Tugenden zu befördern. Gemeinschaften entgegengekommen. Deshalb sei es Nicht zuletzt auch durch die familiäre Sozialisation wur- verständlich, daß den diese (und werden bis heute) schließlich tradiert. „bei aller Armut die Eigenständigkeit, die Freiheit und „1% oder 2% oder gar 5% Gemeinschaftsleute – das das Selbstbewußtsein der mittleren und unteren ‘Schich- sagt noch wenig. Die Wirkung aber ist sehr, sehr viel ten’ [die in der Tat die Träger des Pietismus württember- breiter. Das liegt nicht nur an einer gewissen Attraktivi- gischer Prägung waren; Anm. d. Verf.] insgesamt und tät der Geschlossenheit des pietistischen Weltdeutungs- im einzelnen stärker entwickelt waren als in anderen musters, die selbst Leute, die sich nicht exakt den Stun- Ländern.“ 30 den-leuten zugetan fühlen, affiziert; das liegt auch an der Langzeitwirkung von familiärer Sozialisation: Pietisti- Die Lebensmaximen der Württemberger fänden sich sche Erziehung wirkt unverkennbar bis ins dritte oder im Pietismus wieder, ihre „Tugenden und Untugen- vierte Glied nach – nicht immer zum persönlichen Glück den“31, so Joachim Trautwein an anderer Stelle, hätten des Erben, dem die säkularisierten, vertrockneten, unfle- durch den Pietismus eine kontinuierliche Weiterent- xiblen Hülsen bleiben.“ 27 wicklung erfahren. Deshalb spüre man

Joachim Trautwein sieht die die weitreichende „in Württemberg, dem Land der Sparkassen, der Bau- Internalisierung pietistischer Tugenden auf „Besonder- sparkassen, der Eigenheime, der Versicherungen und der heiten in der Sozialstruktur Altwürttembergs“28 gegrün- verarbeitenden Industrie einerseits die Folgen der geübten Realteilung, andererseits das Arbeits- und Be- rufsethos, das der Pietismus entscheidend mit- geprägt hat. Pointiert gesagt: Die württem- bergischen Charaktermerkmale ‘Eigenheim und Veredelungsindustrie’ sind direkte Ab- kömmlinge der Verbindung von ‘Realteilung und Pietismus’.“ 32

War der Pietismus also wirklich derart nachhaltig an der Herausbildung einer ‘schwäbischen Mentalität’ beteiligt? Chri- stel Köhle-Hezinger warnt in diesem Zu- sammenhang vor der Reproduktion von Stereotypen und Anekdoten: „Was läßt sich historisch mit Recht“, so ihre Frage, „materialiter, empirisch für den Pietismus [...] verbuchen, belegen, reklamieren?“33 Gottes Wort studieren... „Schtondt“ im alten Schulhaus in Hülben, um 1930.

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gen, die Nach- und Übereifernden. Ich meine die ver- krampft um Vorbilder und Ziele sich mühenden, denen die Anstrengung ablesbar und zum Habitus wird – Spiegel ihrer Spannung zwischen Wollen und Nicht-Ver- mögen.“ 35

Als wir in unseren Interviews nach Konstruktion und Konstrukteuren von Schwabenbildern fragten, fand sich das Stichwort „Pietismus“ nur selten unter den Antworten. Obwohl in einer säkularisierten Gesell- schaft offensichtlich andere Aspekte der ‘Montage- pläne’ des Schwaben in den Vordergrund treten und vom Pietismus durchdrungene Lebenswelten – wie im Haus der Marie Frech in Fellbach im Sommer 1996 so eindrucksvoll nachzufühlen war36 – fast schon exotisch anmuten, ist der Pietismus „keine überholte Angele- genheit“37, hat pietistische Weltsicht zumindest inner- halb der Evangelischen Landeskirche noch nicht an Einfluß verloren. Natürlich artikuliert sie sich nicht immer so medienwirksam wie Ende November 1996, als die Korntaler Brüdergemeinde sich weigerte, das neue Evangelische Gesangbuch einzuführen.

...und ein heiliges Leben führen. Die Schlafkammer der Fellbacher Pietistin Marie Frech: Unter dem Schaffschurz die Werke von Michael Hahn.

Es sei zu unterscheiden zwischen Handlungsmustern Anmerkungen spezifisch pietistischer Prägung und den Eigenheiten der unteren sozialen Schichten der bäuerlich-traditonell bestimmten (alt-)württembergischen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts. Auf den „gelebten, alltägli- 1 Matth. 7, 13f. chen Pietismus gerade dieses Spektrums“34 aber sei 2 Zu Geschichte und Funktion evangelischer Andachtsbilder vgl. der Focus zu richten. Martin Scharfe: Evangelische Andachtsbilder. Stuttgart 1968. Zu Ikonographie und Historizität des Bildes Der breite und der schmale Weg vgl. Martin Scharfe: Zwei-Wege-Bilder. Volkskund- „Am Beispiel – konkreter – hieße das, nicht nur den liche Aspekte evangelischer Bilderfrömmigkeit. In: Blätter für Angesehenen, den Virtuosen und Gewinnern in der württembergische Kirchengeschichte. 90. Jahrgang. Stuttgart männlichen und weiblichen Ausprägung nachzugehen, 1990, S. 123-144. sondern auch die Verlierer und Verliererinnen zu suchen 3 Charlotte Reihlen (1803-1868) war die Gründerin des Stutt- garter Diakonissenmutterhauses und wie ihr Mann, der Kauf- und zu sichten: Die Langsamen, die scheinbar glücklos mann Adolf Reihlen, Mitglied der pietistischen Michael und mühsam Werkelnden, die Seufzenden, Kleingläubi- Hahnschen Gemeinschaft.

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4 Zu Geschichte und Wirkung dieser Vermittlungsagentur pie- 18 Hermann Bausinger: Uhren für die Ewigkeit. Philipp Matthä- tistischen Gedankenguts vgl. Martin Scharfe: Evangelische us Hahn – Theologe und Techniker. In: Ders.: Ein bißchen Andachtsbilder (wie Anm. 2), S. 67-70. unsterblich. Schwäbische Profile. Tübingen 1996, S. 97-112, 5 Joachim Trautwein: Pietismus – ein folgenreicher Sonderfall. hier S. 111. Die pietistische Ethik und die Tugenden und Untugenden der 19 Martin Scharfe (wie Anm. 10), S. 128. Württemberger. In: Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): 20 Ebd., S. 115f. Konfession – eine Nebensache? Stuttgart 1984, S. 105-133, 21 Ebd., S. 115. hier S. 122. 22 Vgl. Joachim Trautwein (wie Anm. 15), S. 51. Im Jahre 1863 6 Martin Scharfe: Zwei-Wege-Bilder (wie Anm. 2), S. 129-131. wären dies bei einer Zahl von rund 840.000 evangelischen Scharfe verweist in diesem Zusammenhang auf das „alt- Württembergern etwa 7-8% der evangelischen Erwachsenen- württembergische Kernlied“ Zum Leben führt ein schmaler Weg. bevölkerung gewesen. Dessen erste Strophe lautet: „Zum Leben führt ein schmaler 23 Martin Scharfe: Die ‘Stillen im Lande’ mit dem lauten Echo. Weg,/ein ranker Pfad und enger Steg./Nur in dem rechten In: Hubert Ch. Ehalt (Hg.): Volksfrömmigkeit. Wien und Köln Schrankenlauf/Gehts himmelauf:/Wovon nichts weiß der große 1989, S. 245-266, hier S. 262. Hauf.“ Ebd., S. 131. 24 Ebd. 7 1993 beschäftigte sich die Jahrestagung des Vereins für würt- 25 Vgl. Eberhard Gutekunst (wie Anm. 8), S. 16-25. Vgl. dazu tembergische Kirchengeschichte mit dem Thema „Pietismus Von Gottes Gnaden. 250 Jahre württembergisches Pietisten- in Württemberg“. Vgl. Blätter für württembergische Kirchen- Reskript 1743-1993. Stuttgart 1993. geschichte. 94. Jahrgang. Stuttgart 1994. 26 Martin Scharfe (wie Anm. 10), S. 157. 8 Eberhard Gutekunst: Das Pietistenreskript von 1743. In: Blät- 27 Martin Scharfe (wie Anm. 23), S. 262. Zur prägenden Kraft ter für württembergische Kirchengeschichte (wie Anm. 7), S. pietistischer Sozialisation vgl. Joachim Trautwein (wie Anm. 9-26, hier S. 10. 5), S. 116-121. Vgl. dazu Eckart Schultz-Berg: Jugendleben 9 Ebd., S. 9. zwischen Gottesfurcht und Wirklichkeit. Erziehung und So- 10 Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und zialisation im pietistischen Dorf des ausgehenden 19. Jahr- Sozialgeschichte des Pietismus. Gütersloh 1980, S. 25f. hunderts. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 11 Vgl. Joachim Trautwein (wie Anm. 5), S. 123-132. (wie Anm. 7), S. 179-194. 12 Martin Scharfe (wie Anm. 10), S. 141. 28 Vgl. Joachim Trautwein (wie Anm. 15), S. 18-22. 13 Die folgenden Passagen aus dieser Schrift zitiere ich nach: 29 Hans Medick hat jüngst am Beispiel Laichingens die überdurch- Martin Scharfe (wie Anm. 10), S. 84-87. schnittlich ausgeprägte Lesekultur pietistischer Milieus aufge- 14 Ebd., S. 87. zeigt. Vgl. das Kapitel „Erbauliche Lektüre und lutherischer 15 Joachim Trautwein: Religiosität und Sozialstruktur. Stuttgart Pietismus. Buchbesitz und Religiosität am Ende der frühen 1972, S. 38f. Neuzeit 1748-1820.“ In: Hans Medick: Weben und Überleben 16 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Ka- in Laichingen 1650-1900. Göttingen 1996, S. 447-560. pitalismus (1904/1905). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur 30 Joachim Trautwein (wie Anm. 15), S. 20. Religionssoziologie. Band 1. Tübingen 1963, S. 17-206. 31 Vgl. Joachim Trautwein (wie Anm. 5). 17 Martin Scharfe (wie Anm. 10), S. 88. 32 Ebd., S. 129.

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Werner Unseld

Schaffensparenputzen

Die württembergische Verbesserung der Sünder und die schwäbischen Produktivkräfte

Neben der Gemeinsamkeit der Sprache und eines in ehrliches Subjekt, ein rechtschaffener Mensch, einer, Krieg und Frieden von allen geteilten politischen der auch recht schafft, an den Tag legen konnte. Das Schicksals waren es vor allem religiöse, für den einzel- Naturell der Schwaben, eine der ersten Natur implan- nen verbindliche Vorstellungen und Einstellungen, die tierte zweite Natur, gewann Profil. „Der Schwabe“ ist den Menschen in Württemberg eine spezifisch-histo- in dieser Sicht also keine Fiktion, sondern ein histori- rische, eine „schwäbische Identität“ gaben. Das würt- sches Produkt, dessen Entstehungsprozeß ebenso re- tembergische Regiment von Landesherrn und evange- konstruiert werden kann wie seine Metamorphosen lischer Landeskirche konnte nach der Reformation unter säkularisierten Bedingungen. unter der Bevölkerung eine bis ins Detail gehende, re- ligiös legitimierte „Gleichartigkeit der rituellen Lebens- reglementierung“1 durchsetzen. Ein gewichtiges Er- ziehungsinstrument dabei waren die Kirchenkonvente, Sündenvermeidung „eine Württemberg eigentümliche Lokalkirchen- behörde zur Ausübung von Kirchenzucht“2. Diese örtlichen Sittengerichte, die auch als „Kirchenzensur“ Die 1534 im Herzogtum Württemberg eingeführte oder „Kirchenpolizey“ firmierten, kontrollierten eng- Reformation hielt, bei allen Neuerungen, die revolu- maschig und flächendeckend von vor 1650 bis nach tionär erscheinen mögen, an der Idee einer christlich 1850 das württembergische Alltagsleben. Sie definier- beherrschten Gesellschaft fest. Luthers Forderung nach ten nach staatskirchlich-kirchenstaatlichen Vorgaben einer Freiheit der Gewissen meinte die Befreiung von über lange Zeiträume hinweg die Rahmen persönli- einer priesterlichen Vermittlerinstanz, nicht eine dem cher Identität. Wer auch immer, was auch immer, wie Mittelalter noch ferne Religionsfreiheit, die auch das auch immer: Jede Person, jede Tat, jedes Tun oder gottlos autonome Gewissen einschließt. Seligkeit zu Unterlassen wurde kritisch beäugt und gegebenenfalls erlangen wurde als ein selbstverständliches Anliegen mit Strafsanktionen korrigiert. Die Kirchenkonvente aller, daher auch als eine gesellschaftlich zu bewälti- nivellierten so landesweit lokal unterschiedliche gende Aufgabe unterstellt. Erste Voraussetzung dafür Verhaltensspielräume und engten individuelle ein. Sie war die Predigt des göttlichen Worts. Seine äußere standardisierten das Verhaltensrepertoire der Leute, Herrschaft ließ sich institutionalisieren, seine innere sorgten allerorts nach und nach für einen gleichförmi- Herrschaft, eine Versöhnung und Gemeinschaft mit gen Habitus, den nur ein fromm-ordentlich-tüchtig- Gott, damit nicht erzwingen. Das religiöse Entschei-

79 Schaffensparenputzen dende blieb für Luther eine subjektiv-innerliche An- deskirche ihrerseits versteht sich als Staatskirche und gelegenheit, die sich auf eine Vergebung der Sünden übernimmt die bestehende gesellschaftliche Ordnung konzentrierte. der Stände und Ämter, der Obrigkeiten und Unterta- Eine andere Heilsmethodik machte sich in Würt- nen als eine gottgewollte in die christliche Program- temberg im 17. Jahrhundert bemerkbar. Sie zielte auf matik. Sie sichert dadurch der weltlichen Obrigkeit die eine Verbesserung der Sünder und sah in einer plan- Legitimität ihrer Herrschaft und den bedingungslosen mäßigen Vermeidung von Sünden, d.h. in einer prakti- Gehorsam der Untertanen. schen Heiligung des Lebens, den rechten Weg zur Se- ligkeit. Dies hatte Konsequenzen über den engeren Be- „Welcher Obrigkeit soll man unterthan sein? Aller Ob- reich von Religion und Kirche hinaus. Diese Art von rigkeit, die Gewalt über uns hat, sie sei recht- oder falsch- Frömmigkeit modelte die überkommenen Regeln des gläubig, fromm oder gottlos, hoch oder nieder. Man soll Alltagslebens und die Einstellungen zu Arbeit und die Obrigkeit lieben, fürchten und ehren“ 3, Besitz systematisch um und bereitete, unabsichtlich, die modernen Zeiten mit vor. Sie beförderte den würt- lernten noch in unserem Jahrhundert Württembergs tembergischen Prozeß der Zivilisierung, sie half mit, evangelische Kinder aus ihrem Katechismus. Die Frei- die schwäbischen Produktivkräfte, die heute zwischen heit eines Christenmenschens, die die Reformatoren Tugend und Syndrom gehandelt werden, zu entwik- Württembergs politisch umgesetzt hatten, keln: Schaffensparenputzen. „vermittelte dem Menschen zwar eine neue geistige Frei- heit und ein neues Amtsverständnis, das auf der christli- chen Gleichheit vor Gott gründet, überantwortete ihn – Obrigkeit da diese Ordnung nicht auf die Welt ausgedehnt werden konnte – damit aber zugleich der Verfügungsgewalt der weltlichen Ordnung und band ihn in einer Ausschließ- Wenn nach protestantischer Sicht Kirche überall da ist, lichkeit an die bestehende Sozialordnung, wie sie das wo das göttliche Wort verkündigt wird, dann kam es Mittelalter nicht gekannt hatte.“ 4 den württembergischen Reformatoren zunächst dar- auf an, die alleinseligmachende Wahrheit in menschli- Aus dem im Bauernkrieg gesteigerten Mißtrauen der che Wirklichkeit umzusetzen und ein Kircheninstitut Theologen gegen den „gemeinen Haufen“ unterblieb zu schaffen, das eine Herrschaft des Worts begründet ein Kirchenaufbau von unten, d.h. nach dem und garantieren kann. Mit geistlichen Mitteln allein war Gemeindeprinzip. Aufrichtung und Erhaltung der ein protestantisches Kirchenregiment nicht aufzurich- christlichen Lehre und Zucht verfielen der landesherr- ten, es mußte ein landesherrliches Interesse hinzukom- lichen Jurisdiktion: „In der Theorie regierte Christus men, das die Herrschaft einer reformatorischen Kir- und die Schrift in der Gemeinde, praktisch regierten che stützte. So erfuhr das Verhältnis von weltlicher und die Landesherrn und die Theologen.“ 5 Bereits die geistlicher Gewalt in der Konstruktion von evangeli- württembergische Große Kirchenordnung von 1559 ent- schen Landeskirchen eine konkrete Neubestimmung. hielt, „für den „Kirchenstaat“ Württemberg bezeich- Darin sind die „zwei Reiche“, das weltliche und das nend“ – wohl aber auch für die Staatskirche – „nicht geistliche, theoretisch zwar voneinander unabhängig, weniges, was man nur in Regierungs- oder Polizei- praktisch aber nur getrennte Kompetenzen im gesetzen suchen würde“6. Daß der Staat nach dem Herrschaftsapparat des neuformierten Territorialstaats. Wegfall der kanonischen Rechtsordnung nun mit sei- Dem Landesherrn als dem gewichtigsten Kirchenglied nen Zwangsmitteln für kirchliche Zucht und Ordnung wird der christliche „Liebesdienst“ übertragen, für die sorgte, „rettet[e] formell die geistliche Liebesnatur der äußere, mit dem „weltlichen Schwert“ durchsetzbare, Kirchenordnung, sichert[e] ihr aber materiell die glei- neue Ordnung der Kirche zu sorgen. Er verhilft, durch che Wirkung, als ob sie das unmittelbar selbst bewirk- Macht und Gesetz, dem geistlichen Wort in Predigt te“7. Andererseits wuchs dem Staat als dem Inhaber und Lehre zu nicht nur geistigen Wirkungen. Die Lan- des Kirchenregiments nun „eine gewisse Halb-

80 Schaffensparenputzen göttlichkeit“8 zu, die über das kirchliche Leben hinaus den Charakter des gesellschaftlichen Lebens in Würt- ... nach empfangener Absolution ist er ins Wirtshaus gegangen, hat sich mächtig überweint, also daß er nimmer gehen und stehen können, temberg auf lange Sicht bestimmten sollte. auch dabei gar übel geflucht bei den Heiligen Sakramenten, Donner und Hagel ... um einen Gulden gestraft (1682)

... hat seine Spielerkonsorten angegeben, daß neben ihm sein Bruder Martin, Hans Nill, jung Hans Lutz, Jakob Fauser, Schäfer und Kirchenkonvente Balthas Nill gespielt, welches zum Öfteren verboten worden ... soll ein jeder 15 Kreuzer Strafe erlegen (1690)

... sind von dem Kirchenkonvent die drei ledigen Weibspersonen, weil Die reformatorische Neuordnung machte Württem- sie mit Hans Haugen Dienstbuben in der Scheuer auf dem Heu berg zum „bestgeordneten lutherischen Kirchentum üppigen Scherz getrieben und demselben ungebührlicher Weise seine in Deutschland“ 9, zu einem protestantischen Spanien. Hosen aufgelöst haben eine jegliche um ein Pfund Heller gestraft wor- den (1705) „Das württembergische Volk war“, bilanziert die Calwer Kirchengeschichte die Zeit von Reformation ... das Kegeln und Spielen an Sonn- und Feiertagen soll forthin nicht und Gegenreformation, „kein unfreies, aber ein we- mehr gleich nach dem Gottesdienst angefangen, sondern bis um drei Uhr verschoben werden, um des Tages des Herrn willen, damit sie sentlich patriarchalisch regiertes, polizeilich überwach- solches auch zu Hause bei den Büchern feiern mögen. Ein jeder Über- tes und bevormundetes Volk“ 10 – dies, obwohl eine treter aber, Kegler und Kegelmeister soll um zehn Schillinge gestraft strenge Sitten- und Kirchenzucht noch ausstand. werden (1713) Während des Dreißigjährigen Krieges, der als Stra- ... wird beklagt, daß er in der Kirche von der Emporkirche kleine fe Gottes für unchristliches Leben gedeutet wurde, und Steinlein auf das Weibervolk herabgeworfen. Wird deswegen ins in der Zeit danach häuften sich die herzoglichen Man- Zuchthäuslein geführt bis zur Abendbetglocke (1702) date für sittliche Zucht und christliche Ordnung. Die ... die Hausväter, so Lichtstuben in den Häusern halten, werden auch Siebente Landesordnung von 1621 enthält u.a. ein solcher Ungebühr halber aufgefordert und zur Abschaffung solchen Verbot der Karten-, Würfel- und Wettspiele, ein Ver- Unwesens mit allem Eifer ermahnt (1700) bot des Zu- und Volltrinkens, d.h. alles, was über eine ... ist angebracht, daß er im Wald, da er mit zwei Mägdlein im Gras „beschaidene Zech“ hinausging, Einschränkungen der gewesen, davon eines zur Erden niedergeworfen und ihr den Rock bis Feierlichkeiten und der Geschenke zu Taufe und Hoch- an den Gürtel aufgehebt. Wird deswegen bis Nacht in das zeit, ein Verbot von Fasnachtskleidern, Verbot von Zuchthäuslein gesprochen (1698) „Gastereyen, Schießwerck, Buppappen, ond Kräme- Auszüge aus Kirchenkonventsprotokollen der Pfarrei Ofterdingen, reyen“ auf Kirchweihen, eine restriktive Kleider- 1682-1723. ordnung, sowie einen „Laster ond Rugzedel“ mit Ver- gehen wie Gotteslästern, Zaubern, Wahrsagen, Teufels- Kirchenstühlen fungierte der Kirchenkonvent vor al- beschwören, Verschwendung, die den Gerichten an- lem als Sittengericht. Ein Spitzelsystem von sogenann- zuzeigen waren.11 Mit der Einführung der Kirchen- ten Deferenten, also von Petzern, von „Simsenläufern“, konvente, 1642 in den Amtsstädten, 1644 landesweit, denen bei Verurteilung der von ihnen angezeigten Ver- d.h. in jedem Pfarrort, erhielten diese und künftige Ge- gehen ein Drittel der Geldstrafen, das „Anbringdrittel“, setzesbestimmungen ein wirksames Durchsetzungs- zustand, sorgte dafür, daß der Konvent „ohnver- instrument. Den Vorsitz in diesem Gremium, das der merkht“ Ohren und Augen immer und überall am Ort „Erhaltung der Menschen, so durch Christi theures Blut des Geschehens hatte. erkauft“, der Verbesserung der Sünder und der christ- Im feinmaschigen Netz der Überwachung blieben lichen Disziplin dienen sollte12, führten Vogt und Pfar- nun auch die kleinen und kleinsten Fische hängen. Sie rer (bzw. Schultheiß und Spezial) gemeinsam. Mehrere wurden vor den unregelmäßig – mindestens einmal Beisitzer wurden von den Vorsitzenden bestimmt. In im Monat, meistens sonntags – tagenden Kirchen- weltlichen Angelegenheiten übernahm der weltliche, konvent zitiert, um ermahnt oder mit Geld- und in geistlichen der geistliche Beamte den Vorsitz. Ne- Arreststrafen (bis zu 48 Stunden) belegt zu werden. ben der Aufsicht über Kirchen-, Schul-, Spital-, Heili- Schwere und wiederholte Vergehen wurden an die welt- gen- und Waisensachen, und neben der Vergabe von liche Gerichtsbarkeit weitergeleitet. Kontrolliert wur-

81 Schaffensparenputzen de die Regelmäßigkeit von Gottesdienst- und Abendmahlbesuchen, gerügt Schul- versäumnisse und schlechte Kindererzie- hung. Verurteilt wurden Delikte von Sau- ferei, Völlerei, Üppigkeit und Unzucht, Sonntagsentheiligungen, Kartenspielen, nicht genehmigte Tänze und Lichtstuben- ausgelassenheiten. Verhandelt wurden Streitigkeiten zwischen Nachbarn und Eheleuten, schließlich wurde auch auf alle „Papisten, Calvinisten und Sektierer“ ein scharfes Auge geworfen. Nichts schien zu gering, um nicht doch erst seine Legitimi- tät vor dem Kirchenkonvent erweisen zu müssen. Die Bevölkerung hat dieses Auf- sichtsorgan erst nach mehr als zweihun- dert Jahren nicht mehr ernst nehmen müs- sen. „S’ Kupferschmids Annele hat’s Hemd verbrennt, jetzt müsset die Bube vor’s Kirchenkonvent“ 13 – noch die Iro- nie bestätigt, was sie verspottet: Die ver- Nachtkärze (Licht-, Spinn- oder Kunkelstuben) gehörten in den Wintermonaten innerlichte Allgegenwart des Kirchen- traditionell zum geselligen Zeitvertreib der Jugendlichen und Ledigen. Man traf sich konvents und seine Kleinlichkeit, zu je- in einer Stube, um Licht und Brennmaterial zu sparen, um Flachs und Wolle zu dem Tatbestand einen Täter, eine indivi- verspinnen und um, mehr oder weniger nebenher, Unterhaltung zu haben. Regelmäßige duell zurechenbare Verantwortlichkeit zu Höhepunkte in den Lichtsuben der Mädchen waren die Besuche der Burschen, bei finden. Mit der Schaffung von Pfarrge- denen Tanz, Musik und begrenzte Annäherungen zwischen den Geschlechtern von meinderäten 1855, endgültig mit dem Um- Haus aus geduldet waren. Die Kirchenkonvente sahen darin, wie auch in anderen bau der Staats- zur Volkskirche, der Bil- Ausgelassenheiten und Lustbarkeiten, eine sündhafte „Schule des Santans“ und dung von Kirchengemeinden und Kir- unterstellten die Nachtkärze mit Strafen und Verboten ihrer Kontrolle. chengemeinderäten 1887, erlosch seine (Lithographie nach Krimel, um 1850) kirchliche Funktion, nachdem das weltli- che Polizeistrafrecht schon zuvor Befug- ten kommt er danach immer wieder auf Modelle einer nisse an sich gezogen hatte. weltverwandelnden „Generalreformation“, auf eine zweite Reformation zu sprechen. Mit der Christianopolis entwirft er 1619 eine protestantische Diesseitsutopie, ein frommes Christiansburg.14 In dieser Idealstadt le- Sozialdisziplinierung ben auserwählte Christen in einer gottgewollten, ratio- nal geregelten Ordnung. 1639 als Konsistorialrat in kirchlicher Führungsposition, schuf Andreä mit der Was sich in den Kirchenkonventen zeigte, war die ab- Cynosura Oeconomiacae Ecclesiasticae Wirtembergicae (einer gewandelte Form eines Sittengerichts, wie es die Sammlung von Gesetzen und Verordnungen über die Calvinisten im Genfer Consistoire entwickelt hatten. Amtspflichten der Pfarrer und zur Kirchenzucht) die Johann Valentin Andreä (1586-1654) hatte für eine Basis für das erste Kirchengesetzbuch in Württemberg. Einführung in Württemberg gekämpft, nachdem er Die Bündelung verstreuter Gesetze und Verordnun- 1611 die Genfer Verhältnisse kennengelernt und ihn gen wollte den Wiederaufbau der im Dreißigjährigen die dortige „Harmonie der Sitten“ nachhaltig beein- Krieg heruntergekommenen religiösen und sozialen druckt hatte. In seinen theologisch-literarischen Schrif- Ordnung anleiten. Die gesammelten Rechtsnormen

82 Schaffensparenputzen ließen sich nun systematisch handhaben, nach Bedarf siert die Alltagspraxis christlich-methodisch. Dagegen ergänzen und als Instrument von Lehre und Disziplin hat gegen die Macht der Gewohnheiten einsetzen. Hatte der rebellische Luther noch das kanonische „das Luthertum, das in allem Elend selig ist, [...] hier Recht verbrannt und allein auf die rechte Theologie keine Systematik und nimmt die Empfindungen wie sie und Wortverkündigung gesetzt, so wurde die kommen, die Weltangst und den Weltüberdruß, aber auch Verchristlichung der Welt nun wieder zu einem den dankbaren Genuß der Gottesgaben; vom einen wie justitiablen Akt und zur Aufgabe der Polizei. vom andern hängt nichts ab, da in der Rechtfertigung die Welt überwunden ist.“ 16 „Die christliche Existenz schien aufzugehen in einem ehr- baren Leben, und dieses Leben war bewirkt nicht durch Die Kirchenkonvente impften den Württembergern die die Predigt, sondern durch die Sitteninspektion.“ 15 Ideale einer heiligen, reinen Gemeinde ein, zugleich wurde die calvinistisch weitreichende Konsequenz ei- Anders als das presbyteriale Sittengericht des Calvi- ner dann auch folgerichtigen Herrschaft dieser Gemein- nismus, das sich aus gewählten Gemeindeältesten und de in sozialen und politischen Dingen jedoch gänzlich Theologen zusammensetzte, ordnete sich der württem- ausgeschlossen. So erfolgte die Besserung der Men- bergische Kirchenkonvent nicht einem konsequenten schen um den Preis ihrer politischen und kulturellen Gemeindeprinzip unter, sondern fügte sich in das Sy- Entmündigung und zugunsten eines allmächtig wer- stem staatskirchlich-kirchenstaatlich verfaßter Struktu- denden Staats. 1554 noch waren in Württemberg cal- ren ein. Das aber machte aus dem calvinistischen In- vinistisch inspirierte Vorstellungen einer dezentralen strument christlicher Selbstbestimmung und -kontrolle Kirchenpolizei mit den Argumenten abgelehnt wor- in der Hand der Gemeinde ein Instrument der Diszi- den, es sei unmöglich, sämtliche Laster zu erfahren plinierung in der Hand der Obrigkeit. oder sie gar zu verhindern, man könne niemandem ins Das System der Kirchenkonvente festigte die Posi- Herz schauen und man wolle kein neues Papsttum. tion der Obrigkeit vor Ort. Kontrolliert wurde nun Hundert Jahre später sind diese Bedenken ausgeräumt. nicht mehr nur punktuell, nicht nur dies und jenes, da Nun wird mit dem Programm der Kirchenkonvente und dort, dann und wann. Überwacht wurden alle „heimbliche Aufmerkh“ verordnet, werden Schulmei- Lebensäußerungen, jederzeit und überall. Herrschaft ster, Mesner, Gerichtsboten, Dorfschmiede, Brot- war nun auch unter den Leuten, unsichtbar, immer mit- beschauer als informelle Mitarbeiter der Kirchenpolizei anwesend, omnipräsent: Der Territorialstaat setzte an, angeworben, da die im Konvent zu Gericht Sitzenden die zuvor bloß formell Beherrschten in reelle Unterta- „nit alles sehen und observiren khönnen“17. Statt auf nen umzuwandeln. Dazu mußten die lokalen, selbst- fides allein, das Vertrauen auf einen gnädigen Gott, wird genügsamen Sitten und Gewohnheiten aufgebrochen, jetzt auf pietas gebaut, auf fromme Tugend und Wohl- der einzelne seines angestammten kulturellen Hinter- verhalten, auf die Furcht vor Gottes Zorn – ein Pietis- grundes verunsichert und sein Verhalten an extern mus avant la lettre, dem noch fehlt, was der bewußte vorgegebene Normen herangeführt werden. Pietismus später „erfindet“ und im 19. Jahrhundert, in Die Maßnahmen der Kirchenkonvente erzeugten mit Württemberg besonders erfolgreich, wie der Beitrag Strafsanktionen den Druck zu einer methodischen „Der schmale Weg, der zum Leben führt“ von Andre- Lebensführung, der dem Calvinismus inhärent, dem as Vogt zeigt, popularisiert: das fromme Subjekt. Protestantismus lutherischer Prägung aber fremd war. Die Prädestinationslehre und der Gedanke der Bewäh- rung sorgten im Calvinismus von vornherein für eine religiöse Motivation, sich systematisch der Welt der Ar- Schaffen beit und der Gemeinschaft zuzuwenden, sich mit „Er- denarbeit dem Himmelslohne“ zuzukehren. Das Glaubensinteresse geht in diesem Konzept über die Der Kirchenkonvent als Instrument der inneren Mis- Aneignung der reinen Lehre weit hinaus, es reorgani- sionierung will „alle der pietaet widerstrebende Laster

83 Schaffensparenputzen und Vntugenden [...] bevorab das darinnen angezoge- ne wilde, barbarische Wesen außgereuttet“18 haben. Das Wilde und Barbarische ist das Wesensmerkmal der Volkskultur wie es in der Wahrnehmungsperspektive der Schriftgelehrten erscheint. Das ungeschriebene, ein- gespielte und von außen schwer durchschaubare Regel- werk, das den Einzelnen in die Gemeinschaft einfügt und das Handeln aller und jedermanns durch Traditi- on anleitet, ist auch ein Bollwerk gegen Einflüsse von außen, herrschaftliche wie fortschrittliche. Durch das Anlegen streng theologischer Maßstäbe entsteht das Bild einer sündigen, Sanktionen herausfordernden Ge- meinde, die selber freilich ein ganz anderes Bild von sich, von Gott und der Welt hat, sich nach altem Her- kommen, durch Recht und Glauben legitimiert sieht. Die Protokolle der Kirchenkonvente zeigen den Kon- flikt zweier Kulturen, spiegeln unterschiedliche Sicht- weisen auf das, was der Fall ist, und was von Fall zu Fall vom Kirchenkonvent neu definiert wird. Da dem Kirchenkonvent kaum etwas verborgen bleibt, werden alle, bisher traditionell oder stillschweigend gelösten Wechselfälle des Lebens zu seinen potentiellen Pro- blemfällen. Normierung, Kontrolle, Strafe befördern so eine Entwicklung, die einerseits als Sozial- disziplinierung beschrieben werden kann, die anderer- seits aber auch als Zivilisierung verstanden werden Zum guten Namen trugen, im Zierrahmen der Urkunde festgehalten, muß, ein komplexer Prozeß, in dem Verhaltens- Treue und Gottesfurcht, Fleiß und Sittlichkeit, Bescheidenheit und zumutungen verinnerlicht und zu einer rationalen Le- Ehrlichkeit, Nüchternheit und Sparsamkeit bei – Tugenden, die der württembergische Protestantismus mitformte und förderte. Diese bensführung systematisiert werden. Qualitäten, die der Dienstmagd Katharina Barbara Rinderknecht Dadurch, daß einzelne konkrete Handlungen im- aus Herrenberg um 1840 Ehre machten, zeichneten später auch die mer wieder bestraft wurden, andere nicht, wurden Qua- Arbeitskräfte im Prozeß der Industrialisierung Württembergs aus. litäten ausgelesen, Tugenden gezüchtet, ein württem- (Urkunde des Landwirtschaftlichen Vereins, Lithographie, bergisch-schwäbischer Volkscharakter modelliert. Dies unvollständig ausgefüllt, um 1840.) betraf vor allem das öffentlich wirksame, das sichtba- re Verhalten. Prämiert wurde ein Sozialcharakter, der cher bot, mußten die Schaff-Qualitäten im Interesse spezifische Qualitäten nicht an den Tag legte: keine Aus- der sozialen Selbstbehauptung konstant und kontinu- schweifungen, keine Exzesse, keine Vergnügen und ierlich an den Tag gelegt werden. Sie mußten zur zwei- Lustbarkeiten, keinen Luxus, keinen festlichen Kon- ten Natur werden. Denn empfindlicher als der materi- sum; ein Sozialcharakter also, der alles vermied, was elle Schaden durch Geld- und Arreststrafen konnte der im Umgang mit Menschen und Dingen über das Not- Schaden auf der symbolischen Ebene von Ehre und wendige und praktisch Nützliche hinausging oder im Ansehen sein. Neben Besitz war Ehre der wichtigste bösen Verdacht der „Kreaturvergötzung“ stand. Was Faktor für das Sozialprestige, unentbehrlich besonders an Lebensäußerungen ungestraft blieb war Arbeit, für besitzarme Hausökonomien. In Verruf zu kom- Werktag, Beruf, ein nun den ganzen Tag, das ganze men konnte den Ruin bedeuten. Umgekehrt war durch Leben ausfüllendes Tätigsein. Zeigte man sich öffent- den Anschein von Fleiß das symbolische Kapital der lich, dann zeigte man sich schaffig. Weil das Überwa- Ehre zu erhöhen und damit auch wirtschaftlich reelles chungssystem feinmaschig war und wenig Schlupflö- Kapital zu gewinnen.

84 Schaffensparenputzen

Das „viele G’schäft“ und das „Schaffen“, das man nun an den Tag legte, beinhaltete eine Arbeitsextensivierung, nicht zwangsläufig auch ein intensiveres Arbeiten und eine dadurch erhöhte Arbeitsproduktivität. Denn als „impression management“ gehorchte das Schaffen ja nicht einer religiösen Logik der Ertragssteigerung, nicht einer Ethik wie der calvinistischen, die am materiellen Reichtum Bewährung und Vorsehung abzulesen erlaub- te. Das schwäbische „Schaffen“ war Resultat der Um- verteilung der notwendigen, zweifellos harten Arbei- ten auf den langen Tag, und erst wo vorzeitig die Ar- beit auszugehen drohte – was nicht sein durfte, also auch nicht konnte – „machte“ man sich neues „G’schäft“. Da die natürlichen Ressourcen aber knapp und in kleiner Portionierung fest verteilt waren, blie- ben die Gegenstände der Bearbeitung auf das schon Bearbeitete beschränkt, das in einem zweiten, dritten, x-ten Durchgang wieder und wieder überholt, geflickt, gerichtet, geordnet, aufs Neue angeeignet, an dem herumgebosselt, -gebästelt und -getüftelt werden konn- te – ein Schaffen, bei dem Schaffig-sein und Sich- schaffig-geben, Arbeit und Zeitvertreib, ökonomischer Notbehelf, findiges Interesse und Selbstbestätigung eng beieinanderliegen.

Kehrwoche Die Kehrwoche verpflichtete, symbolisch und rituell, auch jene auf die schwäbischen Tugenden des Schaffens und Besitzpflegens, die Arbeiter, nicht Schaffer, die Mieter, nicht Hausbesitzer, waren. Hinter dem Die unter dem Regiment der Kirchenkonvente antrai- Regiment der Sauberkeit und Hygiene stand ein öffentliches Interesse, nierten Handlungsmuster und Tugenden kamen der das nicht mehr auf die heilige christliche Gemeinschaft baute, sondern kapitalistischen, der in Württemberg spät einsetzen- auf die bürgerliche Gesellschaft setzte und sein Heil in Diesseitigkeiten den industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert ent- suchte. Die Methodik der Sündenvermeidung konnte sich nun auch profanen Unreinheiten zuwenden und auch hier, um zumindest dem gegen. Sie lieferten zähe, disziplinierte Arbeitskräfte, Schein nach dem Kreis der Auserwählten zuzugehören, neue die durch ihren Lebensstil auf das kontrolliert-konti- Leidenschaften entwickeln. nuierlich-methodische Arbeiten, welches auch der in- (Hängeschild, Holzstich und Letterndruck, auf Pappe aufgezogen, dustriellen Erwerbsarbeit eigen ist, gut eingestellt wa- um 1890.) ren. Dieses Potential an Arbeitskräften war d e r Reich- tum Württembergs an der Schwelle zur Industrialisie- rung. Zu seiner Ausbeutung bedurfte es freilich syste- noch mit systematisiertem Wissen die Industrialisie- matischer, nicht-bodenständiger Impulse: Erst durch rung vorbereitet. staatliche Förderpolitik, erst mit ausländischem Kapi- Die Fabrikordnungen, das System der Löhne und tal und mit importierten Maschinen kam die Industri- polizeiliche Verordnungen ersetzten nach 1850 die Tu- alisierung des Landes in Gang. Die häufig überbeton- gendwächter der Kirchenkonvente und hielten den Ver- te Pionierrolle des württembergischen Pietismus im haltens- und Wertekanon unter bürgerlich-kapitalisti- Prozeß der Industrialisierung wäre hier zu relativie- schen Vorzeichen aktuell. Dort, wo der bürgerliche ren: Pietisten haben weder mit akkumuliertem Kapital Schein sich trübte und das kleinbürgerliche Dasein in

85 Schaffensparenputzen häufig unzulänglichen städtischen Lebensverhältnissen erst recht niemandem Anlaß geben, kompromittieren- und Wohnquartieren ins Proletarische zu kippen drohte, de Beobachtungen „melden zu müssen“. Die Öffent- wurde neben anderen Konzepten zur innerlichen und lichkeit, das war das, was die Leute von einem dachten äußeren Verbürgerlichung auch die Kehrwoche einge- – und das konnte mitunter Haus und Hof kosten. Die setzt. Sie setzt Mietparteien voraus, die das Kehren im Öffentlichkeit, das waren aber auch die Leute, die mit und vor dem Haus der Reihenfolge nach im wöchent- Zeichen von Ordnung-halten und Besitz-pflegen zu lichen Wechsel zu besorgen haben. Die Kehrwoche, beschwichtigen waren. außerhalb Württembergs keine Institution und daher kaum Begriff, setzt aber auch ein tradiertes Verhältnis zum Haus voraus, das den Hausbewohnern, weil Nicht- hausbesitzern, verordnet werden mußte. Identität

„Schaffen“ und „Sparen“ – in diesen Tugenden spie- Sparen gelt sich die schwäbisch-traditionale Daseins- bewältigung. Dabei muß die soziale und die religiöse Funktion dieses sichtbaren so-und-nicht-anders-Ver- Die schwäbisch-bäuerlich-traditionelle Einstellung haltens, die der heutige, meist auf ein verselbständig- „zum Sach“ – zu den materiellen Lebensgrundlagen, tes ökonomisches Subsystem bezogene, meist an Qua- zu den Werkzeugen, Arbeits- und Lebensmitteln, das litäten und Zahlen orientierte Sprachgebrauch von Haus eingeschlossen – ist alles andere als eine nur in- „Schaffen“ und „Sparen“ verdeckt, betont werden. Da- strumentelle. Daß jeder und jede etwas besaß, dafür mals wurden die eingespielten Handlungsmuster un- sorgte die Erbsitte der Realteilung. Sie zersplitterte das ter württembergischen Schwaben, aufgrund gleichar- bäuerliche Gut, ließ Äckerle und Gütle in nicht nur tiger Sozialisation, sinnhaft verstanden. „Schaffen“ und sprachlicher Verkleinerungsform entstehen. Diese un- „Sparen“ fungierten als kommunikative Ausdrucksmit- ter den erbenden Kindern oft allzu gerechte, ökono- tel, mit der sich Schwaben im Alltag als Bewohner ei- misch jedoch fragwürdige Besitzaufteilung, setzte fast nes spezifischen symbolischen Universums wechsel- alle in den Besitz-Stand, d.h. in ein individuelles Ver- seitig als solche zu erkennen gaben – „eine nachdrück- hältnis zu den durch Gottes Gnade gegebenen Gü- liche Form gegenseitiger Ermahnung“20. Diese „Iden- tern. Da der Mensch nur Verwalter, nicht Verschwen- tität“ war eine öffentliche und zugleich gottgefällige der der gottgegebenen Güter zu sein hatte, ging er mit Angelegenheit, also gesellschaftlich und kosmologisch dem Besitz die Verpflichtung ein, das ihm Anvertrau- eingebettet. Sie mußte brüchig werden, sobald die reli- te ungeschmälert zu erhalten und zu pflegen, sich ihm giöse Weltdeutung nicht mehr monopolistisch über so- dienend unterzuordnen. Der Gottgefällige sparte, be- ziale und kulturelle Lernprozesse verfügen und für eine wahrte, schonte sein Hab und Gut. In dieser Konse- Gleichartigkeit der Selbst- und Weltauffassungen un- quenz steht noch das 1781 erlassene Generalrescript ter Schwaben sorgen konnte: Die Säkularisierung schuf gegen die „Übelhäuser“: Jeder, der Haus und Hof „ver- pluralistische Bedingungen, unter denen „Identität“ ludern“ ließ, wurde mit Enteignung und Einzug zum mehr und mehr zu einem privaten Projekt – und Pro- Militär bedroht.19 Auch hier wirkte das Anbringdrittel. blem – werden konnte. Die formelle Zwangsandrohung führte die schweren Folgen fehlender Ordnung – Folgen, die freilich auch über weniger formelle, ehrenrührige Verfahren bewirkt werden konnten – drastisch vor Augen und verstärkte Putzen das Schaffsyndrom. Jetzt ging es nicht nur um Ehre, sondern ums Eingemachte der Rechtschaffenheit, den Besitz. Zu der umtriebigen Sorge ums „Sach“ kam die Daß „Schaffen“ und „Sparen“ um „Putzen“ zur schwä- abgründige der Besitzenden hinzu: Also wollte man bischen Tugendtriade erweitert werden kann, hat hi-

86 Schaffensparenputzen storische Hintergründe, die wesentlich erst nach dem dung der Kehrwoche im Jahre 1492 rühmt und sie 1988 Ende des Ancien Régime und der Kirchenkonvente tatsächlich abgeschafft hat, durch die Jahrhunderte hin- im Gefolge der Industrialisierung Gestalt gewonnen durch. Auch Autoren, die sich um Konstruktion und haben. Inwiefern das Programm der Kirchenkonvente Rekonstruktion eines schwäbischen Volkscharakter be- auch für spezifisch schwäbische Dispositionen zum mühen und denen eigentlich keine „Stammeseigen- „Putzen“ gesorgt hat, bleibt angesichts ästhetischer, schaft“ entgeht, wie Gustav Rümelin (1863) oder Adolf hygienischer und politi- Rapp (1914)21, erwähnen scher Wirklichkeitsdeutun- noch nicht, was Peter gen, die sich im 19. und 20. Härtling erst nach 1945 als Jahrhundert gegen religiöse schwäbische „Leiden- durch- und neben diesen schaft“22 ausgemacht hat: im Alltag festgesetzt ha- Die Kehrwoche und in ih- ben, eine schwierige, hier rem Bannkreis eine Sau- nur abstrakt zu beantwor- berkeit, daß man auch tende Frage. Die Ähnlich- vom Boden essen könnte. keit der Sündenvermei- Der heilige Kosmos pro- dungs- und Heiligungs- testantischer Prägung ab- strategie des schwäbischen strahierte einerseits von Protestantismus mit den materiellen Umständen, Schmutzbeseitigungs- und das „geistliche Reich“ ver- Reinlichkeitsbestrebungen langte lautere und geläu- unter säkularisierten Be- terte, am „Wort Gottes“ dingungen legt die Annah- reflektierte Motive des me einer historischen Be- Handelns, und überließ günstigung nahe. Funktio- die Regulierung der äußer- nale Äquivalenzen lassen lichen Dinge der weltli- sich zwischen dem Regi- chen Obrigkeit, der ande- ment der Kirchen- und rerseits Gehorsam zu lei- dem einer zeitlich späteren sten war. Für „Schmutz als Gesundheitspolizei eben- etwas, das fehl am Platz so ziehen wie auf der Ebe- ist“23 scheint ein Rege- ne der Akteure, die sowohl lungsbedarf erst spät und im Schaffen und Sparen als dann zunächst nur für be- auch im Putzen Verhalten „Wenn i nix schaffe dät – was dätet do bloß d’Leut von mir denka.“ stimmte Plätze, für die Re- habitualisieren, Erfahrun- Wer d’ Gass’ kehrt, erntet nicht nur Kehricht. Auf den zusammen- sidenzstädte Stuttgart und gen systematisieren, für gekehrten Dreck kommt es nicht unbedingt an, er ist in gewisser Ludwigsburg, aufgekom- Weise nur Abfallprodukt einer symbolischen Interaktion, die vor sich und für andere sicht- men zu sein. Dies spricht dem Haus die Rechtschaffenheit von Haus und Person sichtbar hervor- bar eine als heilig erachte- kehren will – eine Zeichensetzung, auf die sich Gleichartige verstän- für außerreligiöse Gründe, te Ordnung reproduzieren. digen und so gegenseitig bestätigen können. für staatliche und städti- Sicher scheint „Putzen“ (Bietigheim-Bissingen, um 1980.) sche, für ästhetische, hy- noch keine hervorstechen- gienische, vaterländische de Eigenheit des unter der Kuratel der Kirchenkonvente Interessen, die den öffentlichen Raum neu definieren geformten schwäbischen Volkscharakters gewesen zu und die Optik für Reinlichkeit schärfen. sein, „Schmutz“ keine sündhafte Untugend, kein An- Vom „Kehren“ ist ausdrücklich erstmals in der Her- bringdelikt. Berichte über Mist, Fäkalien, Unrat, Dreck zoglichen Gassensäuberungsordnung vom 13. April und Kutter auf Gassen und Straßen ziehen sich bei- 1740 die Rede, doch erst die Ordnung vom 6. August spielsweise in Stuttgart, das sich irrtümlich der Erfin- 1811 scheint vom Geist eines rituellen Kehrens, dem

87 Schaffensparenputzen

Anmerkungen

1 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Auflage. Tübin- gen 1925, S. 220. 2 Calwer Kirchenlexikon, Band 1. Calw 1905, S. 937. 3 Auszug der katechistischen Unterweisung zur Seligkeit über den Brenzischen Katechismum, samt eingerückten Fragen und Antworten aus dem kleinen Katechismus des theuren Mannes Lutheri. Für die christliche Schuljugend gestellt und im gan- zen Königreich Württemberg eingeführt. Reutlingen 1876, S. 165. 4 Richard van Dülmen: Reformation als Revolution. Frankfurt 1987, S. 37. Die Tugenden des Schaffensparenputzens bestimmten auf Seite der 5 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Frauen ungleich stärker den Wert einer Person, da sie hier immer Gruppen. 3. Auflage. Tübingen 1923, S. 518. 6 Calwer Verlagsverein (Hg.): Württembergische Kirchenge- auch als Berufsethos kultiviert und bewertet wurden. Zu heiraten schichte. Calw und Stuttgart 1893, S. 388. und als „Gehilfin des Mannes“ den Haushalt führen, galt traditio- 7 Ernst Troeltsch (wie Anm. 5), S. 517. nell als d e r Frauenberuf. Eines seiner Vorzeigestücke war der 8 Ebd., S. 519. Weißzeugkasten. Hier konnte sich das hausfrauliche Vermögen of- 9 Martin Brecht: Kirchenordnung und Kirchenzucht in Würt- fenbaren und symbolisches Kapital verdienen. temberg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Stuttgart 1967, S. (Schrankborten, um 1910) 32. 10 Württembergische Kirchengeschichte (wie Anm. 6), S. 449. 11 August Ludwig Reyscher (Hg.): Sammlung der württembergi- schen Gesetze, Band 12. Tübingen 1841, S. 850-875. Generationen von Schwaben verfallen sollten, beseelt 12 Gen.-Rescript vom 29. Juli 1642. In: August Ludwig Reyscher zu sein: (wie Anm. 11), Band 2, S. 427. Synodal-Schluß, betr. die Ein- richtung der Kirchen-Convente von 1644. In: Reyscher, Kirchengesetze, Band 1, S. 316-323. „Es muß jeden Tag, den Sonntag ausgenommen, vom 13 Hermann Fischer (Hg.): Schwäbisches Wörterbuch, Band 4. ersten April bis letzten September, des Morgens von fünf Tübingen 1914, S. 398. 14 Richard van Dülmen: Reformationsutopie und Sozietäts- bis sieben Uhr, in den Monaten Oktober bis März aber projekte bei Johann Valentin Andreae. In: Ders. (Hg.): Religi- von acht bis neun Uhr morgens gekehrt werden, bei ei- on und Gesellschaft. Beiträge zu einer Religionsgeschichte der nem Gulden Strafe [...] Sollte die Polizei ein außeror- Neuzeit. Frankfurt 1989, S. 70-89. dentliches Kehren für nötig finden, so hat jeder demselben 15 Martin Brecht (wie Anm. 9), S. 78. 24 16 Ernst Troeltsch (wie Anm. 5), S. 648. sich sogleich zu unterziehen.“ 17 August Ludwig Reyscher: Synodal-Schluß (wie Anm. 12), S. 320. Das strenge Regiment zeigte schon 1815 Wirkung: 18 Ebd., S. 323. 19 Angelika Bischoff-Luithlen: Von Amtsstuben, Backhäusern und Jahrmärkten. Stuttgart 1979, S. 258f. „Übrigens werden die Straßen durch fleißiges Kehren und 20 Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Frankfurt 1988, S. Wegführen des Gekehrten sowie im Winter des Eises 14. rein und trockengehalten.“ 25 21 Gustav Rümelin: Der württembergische Volkscharakter. Stutt- gart 1986 (=Reprint aus: Ders.: Reden und Aufsätze, 3. Folge. Freiburg und Leipzig 1894.). Vgl. dazu Adolf Rapp: Die Aus- Das könnte der Beginn einer neu-schwäbischen „Lei- bildung der württembergischen Eigenart. In: Archiv für Kul- denschaft“ gewesen sein, die symbolisch und rituell turgeschichte, Band 11. Berlin 1914, S. 196-240. den Lebtag von Schaffen und Sparen hervorkehren 22 Peter Härtling: Die Kehrwoche. In: Schwäbische Curiosa. Tü- bingen 1974, S. 63-70. muß und so die alten Tugenden ins Licht einer neu 23 Mary Douglas (wie Anm. 20), S. 52. konstruierten Öffentlichkeit setzt. 24 Zit. nach: Hermann Freudenberger: Schwabenreport. Stuttgart 1975, S. 25. 25 Zit. nach: Paul Sauer: Geschichte der Stadt Stuttgart, Band 3. Stuttgart 1995, S. 125.

88 Der schwäbische Volkscharakter wird konstruiert

Silke Strecker

Der „Schwäbische Volkscharakter“ wird konstruiert

Württembergische Oberamts- und Landesbeschreibungen des 19. Jahrhunderts

„Stamm und Eigenschaften der Einwohner“ in setzt, daß weiterhin Rivalität besteht. Allerdings spricht württembergischen Oberamtsbeschreibungen die Angabe beider Sichtweisen für die Detailfreude der Oberamtsbeschreibungen und ihr Streben nach um- fassender Darstellung. „Der Münsinger ist, wie der Alpbewohner überhaupt, Die Kapitel der württembergischen Oberamts- und einfach, arbeitsam und religiös, er verbindet Gewerbe- Landesbeschreibungen, aus denen die folgenden Zita- fleiß mit dem Feldbau und der Viehzucht“, so lesen te stammen, haben eines gemeinsam: Sie versuchen, in wir in der 1825 erschienenen Beschreibung des Ober- der Darstellung der Bevölkerung des Königreichs und amtes Münsingen, bei der es sich übrigens um den den ihr zugeschriebenen Eigenschaften den württem- zweiten Band innerhalb einer insgesamt 64 Bände und bergischen „Volkscharakter“3 zu ermitteln. Den 22.270 Seiten starken Serie von Beschreibungen han- Landesbeschreibungen lag ein interdisziplinärer An- delt.1 Bemerkenswerterweise weist der Autor in einer satz zugrunde, der auf Archäologie, Geographie, Fußnote auf negative Zuschreibungen und deren Zu- (Kunst-)Geschichte, Landeskunde, Vermessung, Volks- sammenhang mit lokalen Rivalitäten hin: kunde, Wirtschaft und Statistik basierte; letztere trat nach 1834 immer mehr in den Vordergrund. Dabei „Anders werden die Münsinger freylich von den Urachern wurde in Oberamtsbeschreibungen durchaus differen- in ihrem Unwillen über Versuche derselben, sich vom ziert; neben der Amtsstadt wurden sämtliche im Ober- Uracher Oberamte zu trennen, geschildert. Mit Lieb, sagen amt befindlichen Städte und Dörfer beschrieben, wo- sie in einer Vorstellung an die Regierung vom J. 1648, bei oft Pfarrer, Lehrer oder Ärzte Auskünfte über ‘ihre’ ist nichts mit ihnen auszurichten, was ihnen gefällt das Gemeinde erteilten.4 Die Methodik der Landes- thun sie, weiter aber nicht, daher neben ihnen am Wa- beschreibungen des 19. Jahrhunderts war wissenschaft- gen der angelegten allgemeinen Contribution und Kriegs- lich anerkannt, weshalb sie heute als „Vorbilder und last so wenig als mit 2 ungleichen Ochsen fortzukommen Vorläufer der modernen baden-württembergischen ist.“ 2 Kreisbeschreibungen“5 gelten. Dennoch sind diese Be- schreibungen vor ihrem wissenschaftstheoretischen Dem Zitat ist zwar zu entnehmen, daß die Quelle dem und politischen Entstehungshintergrund zu betrach- Jahr 1648 entstammt, ob und in welcher Form sich im ten; nicht zuletzt deshalb, weil sich Neuauflagen und Zeitraum von 177 Jahren das Verhältnis zwischen Zitate aus den alten Exemplaren auch im 20. Jahrhun- Münsingern und Urachern eventuell verändert hat, dert großer Beliebtheit erfreuen.6 erfahren wir jedoch nicht; es wird vielmehr vorausge-

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Eine Darstellung, die auf die aufklärerische Absicht tende Urbanisierung stattfindet. Andererseits wird je- ihres Verfassers schließen läßt, findet sich in der Be- doch seine romantisch verklärende und rückwärtsge- schreibung des Oberamtes Cannstatt von 1832: wandte Position deutlich. Ohne den letzten Neben- satz wäre in der Tat auf eine zukunftspessimistische „Die Einwohner, insbesondere die Weingärtner, zeich- Haltung des Verfassers zu schließen. Wenn überhaupt nen sich durch Fleiß, Arbeitsamkeit und Mäßigkeit eine neue Fassung der Oberamtsbeschreibungen vortheilhaft aus. Die Nähe zur Residenz drückt sich erarbeitet und herausgegeben wurde, dann macht dies unverkennbar in einem mehr als gewöhnlichen Grade von deutlich, daß Veränderungen durchaus registriert und Bildung aus.“ 7 für nennenswert befunden wurden. Natürlich erschienen im 19. Jahrhundert auch in an- Am Ende des Absatzes, der das Thema Religion be- deren Staaten vergleichbare Beschreibungen.10 Was handelt, findet sich die Aussage: aber, so ist zu fragen, hat von individuellen wissen- schaftlichen Leistungen abgesehen dazu geführt, daß „Aberglauben und die Neigung zum Mysticismus zeigt gerade Württemberg „gegen Ende des vorigen Jahr- sich noch in den meisten Orten, in vielen gibt es Pieti- hunderts der landeskundlich am besten erforschte Staat sten-Gesellschaften, Fellbach zählte früher viele Separa- des deutschen Kaiserreiches“11 war? tisten.“ 8 Im Zuge der napoleonischen Neuordnung des Landes An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit der Ober- waren zwischen 1806 und 1810 die 64 Oberämter ge- amtsbeschreibung von 1895 an, die zur Serie der zwei- bildet worden. Das fiskalische Interesse seines Finanz- ten Bearbeitung gehört. Unter der Überschrift „Volks- ministers Ferdinand Weckherlin12 war einer der Grün- charakter. Lebensweise und Gebräuche. Volkssage.“ de gewesen, die König Wilhelm I. dazu bewogen hat- findet sich dort folgende Passage: ten, per Dekret vom 28. November 1820 eine Behör- de zum Zwecke der Beschreibung der Oberämter zu „Daß die um den Stammsitz des alten schwäbischen Herr- schaffen. Mit der Leitung dieses Statistisch-Topographi- scherhauses herum Wohnenden, soweit sie nicht neu zuge- schen Bureaus und dem Auftrag, wandert sind, wie die Mundart, so überhaupt das be- kannte, oft geschilderte Stammeswesen der Schwaben ver- „eine genaue und vollständige Landes-Volks- und Orts- treten werden, läßt sich erwarten; daß andererseits die kunde von Württemberg zu liefern, und die in jedem große Veränderung, welche in den letzten Jahrzehnten, Jahr hierunter sich ergebenden Veränderungen sorgfältig fast nirgends mehr als in unserem Bezirk, in der Be- zu sammeln, so daß jede Regierungs-Behörde und jeder schäftigung eines großen Teils der Einwohnerschaft einge- Württemberger fortlaufend eine richtige und umfassende treten ist, auch Aenderungen in Wesen und Leben dersel- Kenntniß von dem Zustande und den Verhältnissen des ben herbeigeführt, die Unterschiede zwischen Stadt und Vaterlandes sich zu schaffen, Gelegenheit habe“ 13 Land und unter den einzelnen Gemeinden mehr und mehr verwischt hat, ist selbstverständlich. Zu den altgerühmten wurden der landeskundliche Forscher und Schriftstel- Eigenschaften: Fleiß, Arbeitsamkeit und Mäßigkeit, ler Johann Daniel Georg Memminger14 und der Regie- Sparsamkeit bis zum Uebermaß, Unterthanentreue, be- rungsrat Christian Kausler15 betraut. Königin Katha- währt von Herzog Ulrichs Tagen an bis weit in unser rina hatte in Kauslers 1819 erschienener Beschreibung Jahrhundert hinein, religiöser, kirchlicher Sinn, milde des Oberamtes Neuenbürg einen geeigneten Leitfa- Wohltätigkeit, [...] sind andere getreten, die dem Freund den gefunden, „nach dem sie ähnliche Beschreibun- des Volkes zu denken geben, aber ihn nicht ohne weiteres gen von allen Oberämtern des Königreiches zu erhal- verzweifeln lassen müssen.“ 9 ten wünschte.“16 Neben dem Statistisch-Topographischen Bureau nahm Hierin kommt einerseits die Erkenntnis des Autors zum sich noch eine zweite Institution der Stiftung einer Ausdruck, daß mit zunehmender Industrialisierung im württembergischen Staatsidentität an. Anläßlich der Zusammenhang mit Migration auch eine fortschrei- Gründung dieses Vereins für Vaterlandskunde, der in

90 Der schwäbische Volkscharakter wird konstruiert enger Verbindung mit dem Statistisch- fer, agrarische und gewerbeintensive Topographischen Bureau stand und 1856 Zonen, freie Magistratsverfassungen und mit diesem verschmolzen wurde, hat- herrschaftliche Gemeindeordnungen, te Karl Bohnenberger im Württem- bäuerliche Realteilungspraxis [...] und bergischen Jahrbuch für 1822 auf die Be- das Anerbenrecht [...], natürlich auch: deutung der Landeskunde für die öf- protestantische und katholische Konfes- fentliche Verwaltung hingewiesen: sion und lokale jüdische Minderheiten.“ 20 „Die Vaterlandsliebe, der Gemeinsinn Von staatlicher Seite wurden also und der Volksgeist 17, die bürgerliche Versuche zur politischen Vereinheit- Tüchtigkeit und das öffentliche Leben, lichung und Modernisierung des das allgemeine und das Privatwohl lei- Landes unternommen. Friedemann den alle gleich sehr, wo es an Kenntniß Schmoll erklärt, auf welche Weise des Vaterlandes fehlt, und die Staats- der bereits erwähnte Verein für verwaltung selbst entbehrt mit ihr die Vaterlandskunde zur Stiftung einer kräftigste Stütze. [...] ‘Um ein Land württembergischen Staatsidentität Johann Daniel Georg Memminger (1773- gut zu regieren’, sagte schon Joseph II., 1840) war der Herausgeber zahlreicher beitragen sollte. ‘muß man es vor allen Dingen kennen’, Oberamtsbeschreibungen. und in der That kann weder Ordnung „Den Initiatoren dieses Vereins für noch Zweckmäßigkeit in der Staatsmaschine herrschen, Vaterlandskunde ging es neben politischer und admini- können die Schritte und Maßregeln der Regierung weder strativer vor allem um die ideologische Integration der sicher noch wohltätig seyn, wenn nicht Kenntniß des Lan- heterogenen Bevölkerungsgruppen. [...] Es waren dies des nach allen seinen Verhältnissen sie leitet. Kein Zweig Integrationsstrategien, die die Bevölkerung nicht mehr nur der Staatsverwaltung kann diese Kenntniß missen, und als regierbare Untertanen konditionieren sollten, sondern wie sie sich selbst in diplomatischen Verhältnissen nicht auf ein aktives, emotional positives Verhältnis der Bür- ungestraft entbehren läßt, davon kann die Geschichte der ger – eben auf die ‘Vaterlandsliebe’ – zu ihrem Staat vergangenen Zeiten Beispiele aufweisen.“ 18 zielten.“ 21

Auch nach der napoleonischen Neugestaltung war die Ein Ort, an dem versucht werden sollte, den neuen Bevölkerung des Königreichs Württemberg tatsächlich Staatsbürger zu entwickeln, war die Schule. Inwieweit nicht so homogen, wie dies von staatlicher und intel- aber die ungleichen WürttembergerInnen sich verein- lektueller Seite gewünscht wurde. heitlichen, disziplinieren, erziehen und dabei insbeson- dere durch landeskundliche Darstellungen beeinflußen „Wir haben“, so stellt Karl Bohnenberger in diesem Zu- ließen, ist eine andere Frage. Man erhoffte sich jeden- sammenhang fest, „Alt- und Neuwürttemberger, falls einige Wirkung durch die neu geschaffenen Be- Hohenloher, Ellwanger, Vorderösterreicher, Reichsstädter, hörden und deren Arbeit, und landeskundlicher Un- und so weiter, aber noch haben wir kein württembergi- terricht war eine der Maßnahmen, die der Formung sches Volk; jeder Theil ist dem andern fremd.“ 19 des „Sozialcharakter[s] durch Normen und Diszipli- nen“22 dienen sollten. Johann Daniel Georg Mem- Wolfgang Kaschuba beschreibt diese dem Königreich mingers Beschreibung oder Geographie und Statistik nebst Württemberg in die Wiege gelegte Heterogenität fol- einer Übersicht der Geschichte von Württemberg sowie seine gendermaßen: Kleine Beschreibung oder Geographie und Geschichte von Würt- temberg nebst einer Einleitung in die allgemeine Erdkunde „Territorien mit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen wurden jedenfalls durch ein Dekret des Königlich Strukturen und vor allem mit unterschiedlichster politi- Evangelischen Consistoriums vom 16. Juni 1820 an scher und kultureller Tradition kommen zusammen: große den württembergischen Schulen eingeführt. Von freie Reichsstädte und kleine reichsritterschaftliche Dör-

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„vermöglicheren“ Eltern wurde erwartet, zumindest ihm ebenso eigen wie „Betriebsamkeit, Sparsamkeit“ letztere für ihre Kinder anzuschaffen.23 und ein „mit Nachdenken verbundene[r] Fleiߓ. Be- fassen sich andere Autoren – schon aufgrund der Er- fassung zu militärischen Zwecken – ausschließlich mit den männlichen Württembergern, nimmt sich Rümelin Der „Volkscharakter“ in den auch der „schwäbischen Hausfrau“ an und stellt ihre Landesbeschreibungen des Königreichs gesellschaftliche Situation kurz dar.26 Natürlich rühmt Württemberg auch er in kurzer historischer Rückschau die „militäri- schen Stammeseigenschaften“ der Schwaben, ehe er den württembergischen Volkscharakter sozusagen in Nicht nur die Oberamts-, sondern auch die Landes- einen gesamtdeutschen Kontext stellt: beschreibungen des Königreichs Württemberg beschäf- tigten sich intensiv mit dem vermeintlichen „Volks- „Der ganze vorstehende Versuch einer Stammes- charakter“ der württembergischen Untertanen. Wesent- charakteristik wird nun freilich den Eindruck machen lichen Anteil an dieser ‘Konstruktion des Württem- müssen, daß die Merkmale, die hier als schwäbische bergers’ hatte der Statistiker und Philosoph Gustav Stammeszüge gelten, große Aehnlichkeit mit denjenigen Rümelin (1815-1889).24 Unter der Überschrift „Der haben, in welchen man häufig das ganze deutsche Volk Volkscharakter“ schreibt Rümelin in der 1863 erstmals gegenüber von andern Nationen zu charakterisiren pflegt. veröffentlichten Landesbeschreibung Das Königreich Die centrifugale Richtung, der reflektirende Ernst, der Württemberg: idealistische und ideologische Zug werden in der That auch in einer allgemeineren Zeichnung des „Wenn wir nun unter Volkscha- Deutschen eine Stelle finden müssen. rakter diejenigen psychologischen Wenn nun das obige Bild gleichwohl Merkmale verstehen, die uns bei kein verfehltes sein sollte, so würde der Vergleichung eines Volks mit daraus folgen, daß man nicht mit andern Völkern als dessen Unrecht den Schwaben schon einen Eigenthümlichkeiten entgegentre- potenzirten Deutschen genannt hat, ten und von denen wir annehmen, sofern einige der nationalen Eigen- daß sie sich durch physische Fort- schaften, gute wie schlimme, beim pflanzung und den gesellschaftli- Schwaben in noch etwas stärkerer chen Kontakt bei der Mehrzahl Markirung hervortreten, als bei den der Individuen konstant erhalten, andern Stämmen.“ 27 so müssen wir zum voraus wahr- scheinlich finden, daß derselbe in Ist der Schwabe also, um mit Ernst einem Zusammenhang mit dem Moritz Arndt zu sprechen, „der geographischen und geschichtlichen deutscheste unter den Deut- Elemente, und zwar zu jenem in schen“? einem Verhältnis der Abhängig- Weitere Auflagen der Landes- keit, zu diesem im Verhältnis beschreibung Das Königreich Würt- der Wechselwirkung steht.“ 25 temberg folgten mit dem Hinweis, daß die Mehrzahl der Artikel der Rümelin attestiert dem Schwa- Gustav Rümelin (1815-1889) leitete von 1861 bis Erstausgabe von 1863 veraltet und ben „Eigenartigkeit und Un- 1873 das „Statistisch-Topographische Bureau“ (das das Buch zudem vergriffen sei. beugsamkeit des Charakters“ heutige „Statistische Landesamt“). 1870 wurde er Daher erscheine nun zum Kanzler der Universität Tübingen ernannt. und den Unwillen, „sein Wesen in zwingende nivellirende Formen einzufügen“. Der „ein neues, den Anforderungen der heutigen Wissenschaft „Trieb der freien individuellen Selbstentfaltung“ sei und Bildung entsprechendes Werk [...], welches daheim

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und draußen, in Schule, Haus und Amt das Bedürfnis amtsbeschreibungen mindestens 100 Jahre zurückliegt, genauerer Kunde von Land, Volk und Staat Württem- tauchen im heutigen Kontext wieder auf.35 berg wieder für einen längeren Zeitraum befriedigen [kön- Es gilt also zu untersuchen, welche Eigenschaften ne].“ 28 sich Menschen heute selbst zuschreiben und inwieweit sie tatsächlich davon beeinflußt werden, inwieweit also Bei aller Konzentration auf Beschreibungen auf kom- die historische Kontinuität dieser Bilder für die Her- munaler Ebene (der Oberämter) und Landesebene (des stellung schwäbischer Identität von Bedeutung ist. Das Königreichs Württemberg) darf der gesamtdeutsche gewachsene Interesse an Archäologie oder das von Aspekt der Landesbeschreibungen nicht übersehen Regina Römhild im Spannungsfeld von Fremdenver- werden. Die Ambivalenz zwischen territorialer und kehr und lokaler Selbstbehauptung konstatierte Phä- nationaler Dimension der gewünschten Identitäts- nomen Histo(u)rismus beweisen jedenfalls die „neue stiftung29 spiegelt sich in den Landesbeschreibungen Sehnsucht nach dem historischen Ambiente“36. Wenn wieder, die sich des „deutschen Volkes“ annahmen und wir uns aber darüber im klaren sind, daß sich nicht nur in denen sich, zum Teil eindeutiger als in den bisher die Voraussetzungen regionaler Identität ständig wan- zitierten Werken, politische Hoffnungen und Forde- deln, sondern auch das Konzept kultureller Homoge- rungen manifestierten.30 Die Verfasser dieser im 19. nität problematisch ist, dürfte es kaum zu Verallge- und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Be- meinerungen kommen, die Individuen auf wenige schreibungen beriefen sich entweder auf Rümelin oder positiv oder negativ bewertete Eigenschaften reduzie- fügten deutlich deutschnational gefärbte Wertungen ren. bei, in denen nicht nur der Mythos des tapferen schwä- bischen Kriegers weitertransportiert wird31, sondern auch die französischen Nachbarn mit stereotypen Negativzuschreibungen belegt werden.32 Anmerkungen

1 Eugen Reinhard: Oberamtsbeschreibungen und Kreis- Kontinuität? beschreibungen. 175 Jahre amtliche Landesforschung im deut- schen Südwesten. In: Ders. (Hg.): Regionalforschung in der Landesverwaltung. Stuttgart 1995, S. 89-111, hier S. 94. Zur „Die Schwaben sind sehr stark durch ihre Landschaft Entwicklungsgeschichte der württembergischen Oberamts- geprägt, also auf der Rauhen Alb droben, da wo das und Landesbeschreibungen siehe auch: Die amtliche Landes- Leben karg, immer karg war, sind die Menschen viel- beschreibung. In: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg leicht anders wie vielleicht in der Ebene. [...] Eine große (Hg.): 150 Jahre amtliche Statistik in Baden-Württemberg. Stutt- gart 1970, S. 255-272. Rolle spielt auch die Stammeszugehörigkeit – es gibt 2 Johann Daniel Georg Memminger (Hg.): Beschreibung des Schwaben, die Alemannen sind und Schwaben, die Fran- Oberamts Münsingen. Stuttgart 1825, S. 107. ken sind.“ 33 3 Ich befasse mich hauptsächlich mit den Abschnitten der Ober- amtsbeschreibungen, die den Titel Der Volkscharakter o.ä. tra- gen. Zum Begriff „Volkscharakter“ erklärt Andreas Hartmann: Diese Aussage findet sich in keiner Landesbeschreibung „Die Kategorie des Volkscharakters erweist sich als ein zen- des 19. Jahrhunderts, wie man auf den ersten Blick trales Forum der kultur- und ethnoanthropologischen Diskus- vermuten könnte, sondern fiel in einem unserer Inter- sion des 18. Jahrhunderts. Sie ist gleichsam ein Treffpunkt in- views aus dem Jahr 1995. Dem Interviewten wäre wohl terdisziplinär geführter wissenschaftlicher Kontroversen und Unrecht getan, wenn man seine Aussagen auf diese ein Ort der Vernetzung heterogenster Fragestellungen.“ An- dreas Hartmann: Die Anfänge der Volkskunde. In: Rolf W. wenigen Sätze reduzierte. Dennoch stehen sie meines Brednich (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Erachtens exemplarisch für ein Phänomen, für das sich Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 1994, nicht nur in vielen unserer Interviews, sondern neuer- S. 9-30, hier S. 20. dings auch im Internet, in einer Newsgroup namens 4 Zur Rolle der Volksschullehrer siehe auch: Arno Ruoff: Blü- ten aus den Konferenzaufsätzen 1899/1900. Volkstümliche 34 s’Äffle ond s’Pferdle Belege finden lassen: Stereotype Überlieferungen in Württemberg. Hermann Bausinger zum und Zuschreibungen, deren Konstruktion in den Ober- 60. Geburtstag. Tübingen 1986, S. 5-8.

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5 Eugen Reinhard (wie Anm. 1), S. 96. Reinhard zählt die Ober- 22 Wolfgang Kaschuba (wie Anm. 20), S. 686. amtsbeschreibungen zu den „überragenden kulturellen Lei- 23 Eugen Reinhard (wie Anm. 1), S. 90. stungen des 19. Jahrhunderts in Württemberg“. Ebd., S. 94. 24 Gustav Rümelin war 1861-1873 Vorstand des „Statistisch-To- 6 Ebd., S. 95. Auch heute noch erscheinen Nachdrucke alter Bän- pographischen Bureaus“, das 1885 in „Statistisches Landes- de in hohen Auflagen. Vgl. dazu Karl Heinz Schröder: Die amt“ umbenannt wurde. Seit 1867 lehrte er Statistik und ver- amtliche Landesbeschreibung als kulturelle Leistung. In: Zeit- gleichende Staatenkunde and der Universität Tübingen, zu schrift für Württembergische Landesgeschichte. 33. Jg. 1974. deren Kanzler er 1870 ernannt wurde. Unter seiner Leitung Stuttgart 1976, S. 5-8, hier S. 8. Schröder weist in diesem Zu- wurde 1863 die Landesbeschreibung „Das Königreich Würt- sammenhang darauf hin, daß Inhalte aus Oberamts- temberg“ verfaßt, die in den Jahren 1882-1884 in einer über- beschreibungen immer wieder ohne Quellenangabe in Orts- arbeiteten vierbändigen Ausgabe erschien. monographien und Heimatbüchern auftauchen. Einerseits habe 25 Das Königreich Württemberg, Band 3. Stuttgart 1884, S. 239. der Geograph Robert Gradmann dagegen bereits 1912 prote- 26 Die „schwäbische Hausfrau“ , so Rümelin, bleibe „[...] mehr stiert, andererseits werde, so Schröder, auf diese Weise hei- auf den häuslichen Kreis und den weiblichen Umgang be- matkundliches Wissen in die Bevölkerung getragen. schränkt. Der norddeutsche Theetisch findet wenig Anklang 7 Johann Daniel Georg Memminger (Hg.): Beschreibung des und erscheint den Männern lästig. Die Unterhaltung der Män- Oberamts Cannstatt. Stuttgart 1832, S. 54. ner wird hiedurch freier, vielseitiger, gehaltvoller, sie verzich- 8 Ebd. tet aber auch mehr auf die gebildeten Formen und die feinere 9 Beschreibung des Oberamts Cannstatt. 2. Ausgabe. Stuttgart Geselligkeit. Beim weiblichen Theile hängen hiemit die viel- 1895, S. 181. gepriesenen Tugenden der schwäbischen Hausfrau zusammen, 10 Vgl. dazu Ingeborg Weber-Kellermann/Andreas C. Bimmer: zugleich aber auch, daß höhere Geistesbildung der Frauen viel- Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie. Eine leicht seltener als in Norddeutschland ist, weil sie von den Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart 1985, S. 8. Weber-Keller- Männern weniger gesucht und gewürdigt wird.“ Ebd., S.245. mann erwähnt die Skizze zur Beschreibung eines Landdistrikts (1802) 27 Ebd., S. 247. des Kieler Professors Christian Heinrich Niemann (1761-1832). 28 Das Königreich Württemberg, Band 1. Stuttgart 1882, S. IIIf. Vgl. dazu Kai Detlev Sievers: Fragestellungen der Volkskunde 29 Vgl. Friedemann Schmoll (wie Anm. 17), S. 35f. Schmoll be- im 19. Jahrhundert. In: Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der zieht sich hier auf die „konkurrierenden Kulte von Gesamt- Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Euro- nation und Einzelstaat“ in Württemberg. In diesem Kontext päischen Ethnologie, S. 31-50, hier S. 31-33. steht auch Wilhelm Heinrich Riehls (1823-1897) Kritik der 11 Eugen Reinhard (wie Anm. 1), S. 95. Schon im 18. Jahrhun- deutschen „Kleinstaaterei“. Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Land dert kannte man in Württemberg sogenannte „Landbücher“. und Leute. Stuttgart 1883. Siehe dazu: Die amtliche Landesbeschreibung. In: 150 Jahre 30 In diesem Zusammenhang sei nochmals an Ernst Moritz amtliche Statistik in Baden-Württemberg (wie Anm. 1), S. 256. Arndts Aussage erinnert, der Schwabe sei „der deutscheste 12 Ferdinand Heinrich August von Weckherlin (1767-1828) war unter den Deutschen“. Vgl. dazu Kurt Hassert: Landeskunde von 1820-1827 württembergischer Finanzminister. des Königreichs Württemberg. Leipzig 1903. 13 Königlich Württembergisches Staats- und Regierungs-Blatt. 31 Ebd. Stuttgart 1821. Zit. nach: Eugen Reinhard (wie Anm. 1), S. 89. 32 Besonders deutlich ist die positive Zuschreibung militärischer 14 Johann Daniel Georg Memminger (Tübingen 1773 – Stutt- Eigenschaften bei Vollrath Hoffmann, der bereits 1836 würt- gart 1840) war seit 1820 Leiter des Statistisch-Topographischen tembergische Tapferkeit und Ausdauer „französischer Rohheit“ Bureaus. In den Jahren 1824-1838 wurden unter seiner Leitung entgegenstellt. Vgl. Vollrath Hoffmann: Deutschland und sei- 14 Oberamtsbeschreibungen herausgegeben. ne Bewohner. Ein Handbuch für alle Stände, Band 2. Stuttgart 15 Christian Kausler (Oberrot 1761 – Stuttgart 1822) war vor 1836, S. 337. seiner Zeit als Regierungsrat in Stuttgart u.a. Oberamtmann in 33 Projektgruppe „Schwabenbilder“ am Ludwig-Uhland-Institut: Neuenbürg gewesen. Interview Nr. 11 (masch.). Tübingen 1996. 16 Eugen Reinhard (wie Anm. 1), S. 90. 34 Zitat aus einer „message“ vom 22. März 1996: „Der Stamm 17 Zum Begriff „Volksgeist“ vgl. Kai D. Sievers (wie Anm. 10), der Sweben, von denen die Schwaben ihren herleiten, galt zur S. 36f. Vgl. dazu Friedemann Schmoll: Verewigte Nation. Stu- Zeit des Tacitus als der maechtigste in Deutschland.“ dien zur Erinnerungskultur von Reich und Einzelstaat im würt- 35 Vgl dazu Michael Jeismann: Was bedeuten Stereotypen für na- tembergischen Denkmalkult des 19. Jahrhunderts. Tübingen tionale Identität und politisches Handeln? In: Jürgen Link/ und Stuttgart 1995. „Was erst gestiftet werden sollte [der ‘Volks- Wulf Wülfing (Hg.): Nationale Mythen und Symbole in der geist’; Anm. d. Verf.], wurde also als bereits existierend, al- zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktio- lenfalls noch nicht bewußt geworden, behauptet.“ Ebd., S. 22. nen von Konzepten nationaler Identität. Stuttgart 1991, S. 84- 18 Württembergisches Jahrbuch für 1822, S. 7f. 93. Jeismann sieht den Typus der gegenseitigen Abgrenzung 19 Ebd., S. 3f. Vgl. dazu F. Schmoll (wie Anm. 17), S. 20-24. durch Stereotype an keine historische Epoche gebunden, er 20 Wolfgang Kaschuba: Aufbruch in die Moderne – Bruch oder tauche im Mittelalter ebenso auf wie im 19. und 20. Jahrhun- Tradition? Volkskuktur und Staatsdisziplin in Württemberg dert. „Die Aussagen sind gleichgeblieben, aber sie bedeuten während der napoleonischen Ära. In: Württemberg im Zeital- zu den verschiedenen Zeiten nicht dasselbe.“ Ebd., S. 86. ter Napoleons, Band 2. Stuttgart 1987, S. 669-689, hier S. 671. 36 Regina Römhild: Histo(u)rismus. Fremdenverkehr und lokale 21 Friedemann Schmoll (wie Anm. 17), S. 23f. Selbstbehauptung. Frankfurt am Main 1990, S. 20.

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Utz Jeggle

So isch no au wieder

Zur Phylogenese des Schwaben

Den Schwaben gibt es nicht – und das sei eine seiner anders. Man liebt auch hier klare Verhältnisse und spricht besten Eigenschaften, so spöttelte einst Hermann Bau- sich gerne offen aus, leicht zu offen. In fremden Diensten singer, und diese Existenzbezweiflung rief noch nicht wird den Schwaben Ordnungsliebe und Zuverlässigkeit einmal einen Galilei auf den Plan, der die Lage mit nachgerühmt. Der Zug zur Einfachheit äußert sich auch einem klaren „Und es gibt ihn doch!“ zumindest prin- darin, daß man auf die abgeschliffenen Formen des ge- zipiell bereinigt hätte. Es stellte sich heraus, daß diese sellschaftlichen Verkehrs weniger Ordnung legt und da- Differenzverleugnung sogar in einer gewissen Tradi- her dort, wo solche Formen üblich sind, leicht schüchtern, tionslinie steht. Theodor Griesingers Diktum wird zi- schwerfällig, unbeholfen, trocken und schweigsam erscheint. tiert: „im übrigen sieht der Schwabe einem anderen Stark ist die Ablehnung gegen alle Aufmachung, alle Menschen so ähnlich wie ein Ei dem anderen.“1 Und Groß- und Feintuerei; man liebt es, mehr zu sein als zu auch Hermann Fischer nivellierte in seiner schwäbi- scheinen. Damit hängt es auch zusammen, daß Hoch wie schen Literaturgeschichte die Stammesmentalität: Die Niedrig die Mundart des Volkes redet. Vor allem ist der Konfession sei Schwabe durch und durch Individualist. Er geht gern seine eigenen Wege, schließt sich schwer an, läßt sich nicht „unendlich wichtiger, als die Zugehörigkeit zu einem schwä- leicht imponieren und auch nicht gerne befehlen. Von dem bischen oder fränkischen oder alemannischen oder irgend- einmal als richtig erkannten Entschluß ist er schwer ab- einem der sogenannten Stämme, über die noch kein Mensch zubringen, am wenigsten durch Drohungen oder durch etwas Gescheites zu sagen gewußt hat. Wie gegenstands- Berufung auf überlegene Autorität oder gar durch die los sind die mit großem Ernst angestellten Betrachtun- Rücksicht auf den eigenen Vorteil; daher der Ruf der gen, ob Schubart ein Franke oder ein Schwabe sei!“ 2 ‘Dickköpfigkeit’. Dazu kommt als Drittes ein oft her- vorgehobener Zug zur Innerlichkeit. Ein stilles, in sich Gegen diese Gleichmacherei wird mit verschiedenen gekehrtes Wesen ist vielen Schwaben eigen. So ist Schwa- Begründungen mehr oder weniger heftig Stellung be- ben auch das Land der schwerblütigen Grübler und zogen. Es gibt mittlerweile einen ganzen Katalog von Spintisierer, der Idealisten und Ideologen, der Pietisten Charakteristika, die den Schwaben nachgesagt werden und Sektierer geworden.“ 3 und die Robert Gradmann so zusammenfaßt: Das ist eine Art Katalog der schwäbischen Eigenschaf- „Sämtliche Beurteiler sprechen sich in weitgehender Über- ten, zugleich eine Rezeptur, die angibt, welche Ingre- einstimmung etwa so aus: Mit dem Bayern teilt der Schwa- dienzien nötig sind, um einen Schwaben anzurühren. be den Zug zur Einfachheit; nur äußert er sich etwas Die wichtigsten Essenzen sind dabei: Naivität, die auch

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Friedrich Theodor Vischer als grundlegend begriff 4, Es riecht schon förmlich nach Hegel und seiner dia- Dickköpfigkeit, Innerlichkeit und mehr sein als schei- lektischen „Aufhebung“ von Widersprüchen – deren nen, eine Art des Understatements, die wie das eine Version des Aufhebens im Sinn von Aufbewah- Grüblertum auf die pietistischen Quellen zurückge- ren ja auch nur im schwäbischen funktioniert. führt wird. Der Tübinger Philosophieprofessor Theodor Haering Intellektuell höher hängt die Schwabenspezifik der hat zu Hegels 100. Todestag „die Lehre von der dia- Germanist Heinz-Otto Burger in einem 1932 erst- lektischen Struktur alles Lebens für die begriffliche Fas- veröffentlichten Werk über Schwabentum in der Geistesge- sung eines Grundzugs“ gekennzeichnet, „der in die- schichte – Versuch über die weltanschauliche Einheit einer sem Ausmaße, in dem er bei Hegel vertreten ist, gewiß Stammesliteratur.5 Die noble Spielart einer Stammes- als der sublimierteste Ausdruck besonderer schwäbi- tümelei de Luxe wird in einem Grußwort Hermann scher Eigenart bezeichnet werden darf.“ 10 Hesses offenbar, der den praktisch unveränderten Nachdruck nach dem Krieg legitimiert: Der Sinn für das „Sowohl-Als-Auch“ sei ein Zeichen, ein zweites die Negation, das „Ein Schwabe, der den Gang durch dieses Buch getan hat, darf wohl stolz sein auf sein Volk und seine Vor- „Weder-Noch! Dann bedeutet für ihn wahrer Wert und fahren und sich mit verantwortlich fühlen für die Erb- eigentliches Ziel der Erkenntnis ein ‘Ganz-Anderes’ jen- schaft und den weiteren Gang des schwäbischen Geistes, seits der Erscheinungsgegensätze: die Indifferenz oder Iden- ohne den Deutschland und die Welt um so viel Edles tität. [...] Diese ‘Einsheit’ stellt ein bestimmendes Ur- ärmer wäre.“ 6 bild im schwäbischen Geiste da. Man mag das seine my- stische Veranlagung nennen.“ 11 Burgers Argumentation beginnt mit einer merkwürdi- gen Zuschreibung. Das „Entweder-Oder“ sei „der Der Hegel ist in diesem Modell nicht nur Schwabe, Wahlspruch nördlichen Menschentums.“7 Dagegen der sondern der Schwabe ist auch Hegel im Sinne dieses Schwabe, auch er empfinde „Sowohl-Als-Auch“! Das hat eine grüblerische und bedächtige Seite: „die Gegensätze des Denkens und Wertens [...], aber, statt nun einen von beiden zu vernichten, sie vielmehr mit „Daß er im tiefsten Grund zu allem ja und zu allem einem ‘Sowohl-Als-Auch’ oder ‘Weder-Noch’ oder gar nein sagen muß, macht den Schwaben schwerfällig in sei- gleichzeitig auf beide Arten zu ‘versöhnen’ sucht.“ 8 nem geistigen Gehaben. Er kann nur mit Mühe zum Ausdruck bringen, was er eigentlich meint, und so wirkt Burger zitiert eine Anekdote über Ludwig Uhland, der er leicht unklar und verbohrt. Ihm selbst dagegen kom- bei Diskussionen um seinen Standpunkt gefragt, häu- men die anderen flach und naiv vor; haben sie äußerlich fig geantwortet habe: „Jede Sache hat halt ihre zwei leichtes Spiel mit ihm, so fühlt er sich doch ihnen innerlich Seiten“, ein abwägender Relativismus, der auch eine überlegen und weiß sich nicht ohne einen gewissen Dünkel vulgäre Wirtshausform kennt, die ebenso bedächtig ‘hehlingen (heimlich) gescheit’.“ 12 wie empathisch in die andere Seite einzufühlen ver- spricht: „So isch no au wieder.“ Dieser alles hinterfra- Im Sinne des Entweder-Oder hat Otto Borst sein gende und selbstzweiflerische Schwabe kann so gese- Rebellenbuch dagegen gesetzt.13 Er entlehnt sein Mot- hen to bei Hermann Kurz: Die Schwaben.

„niemals irgend einen ausschließlichen oder alles beherr- „Es liegt in unserem Charakter, daß wir nicht leicht schenden Primat anerkennen, ihm fehlt jeder Fanatis- Dinge und Personen trennen; daher jene Schroffheit in mus“ 9. politischen Fragen; denn wer das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit daran hängt, für den gibt es keinen Aus- gleich, keine Versöhnung.“ 14

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Also doch Fundamentalismus und Rechthaberei? Zu- dessen Sippenroman spätestens mit der Konfirmation mindest Borsts Einleitungsrhetorik nimmt den Versöh- zum Pflichtrepertoire in jeder Südwestsozialisation nungsschwaben, der „Ganzheit und Einsheit“ fordere gehörte, aber durch seine vorgermanische Verortung und fördere auf ’s Korn15. Er sammelt und beschreibt und seine ungermanische Niederlage nicht nur heroi- Wirklichkeitsfanatiker, die weit abrücken vom sierende Klarheit über die Ahnenschaft lehrte, sondern Mörikeschen „Meint’halb, so ist der Welt ihr Lauf“. auch für chronologische Verwirrung sorgte. Johann Valentin Andreae, Christian Friedrich Daniel Deshalb ist für die Stammbaumgärtner ein anderer Schubart, Johann Jacob Moser, Friedrich Theodor Verweis noch wichtiger geworden: Tacitus Germanen- Vischer, Georg Herwegh und andere sind Borsts Ban- kunde wird in dieser Gründerzeit-Imaginologie gerne nerträger der Unbotmäßigkeit, Zeugen einer ungrüb- als Kronzeuge angerufen: lerischen „vita activa“; ein dialektisch panierter Burger- Schwabe würde nach dem dritten Viertele dagegen „Die wichtigsten öffentlichen Angelegenheiten werden von brummeln: „So isch no au wieder“; und Uhland wür- den Männern im Wirtshaus erörtert; auch hierin ist der de zu dieser Rebellenversion gleichfalls seinen Stan- Schwabe der echte Nachkomme des von Tacitus geschil- dard-Satz beisteuern können: „Jedes Ding hat zwei derten Germanen. [...] Hier wird in kleiner Münze fast Seiten“, also der Schwabe auch, aber auch das unter- mehr Geist verausgabt, als in den meisten Büchern, wel- scheidet ihn nicht von anderen Zwei- oder Mehrseitern. che die Schwaben jedes Jahr in die Welt senden.“ 18 Das „Entweder-Oder“ als Perspektive der Schwa- benexistenz scheint jedenfalls wenig brauchbar zu sein, Bei Schubart heißt es voller Bewunderung: nicht nur weil es norddeutsch ist, sondern weil es auch zu radikalen Antworten führt, siehe Bausinger. Das „daß die Sueven schon seit und vor Cäsars Zeiten die „Sowohl-Als-Auch“ scheint uns für die Fundamen- tapfersten und streitbarsten Männer waren: – Wer wird tierung des Schwäbischen besser geeignet, bietet es das läugnen?“ 19 doch die Möglichkeit nicht nur Widersprüche aufzu- heben, sondern Widersprüchliches als Wesenszug zu Im Roman Siegwart, eine Klostergeschichte 20, einem zeitge- akzeptieren. nössischen Bestseller von Johann Martin Miller wird Soviel jedenfalls ist klar, Adam war kein Schwabe, von der Freude des Titelhelden bei der Cäsar-Lektüre irgendwelche Vermischungen und Filiationen müssen berichtet: Sein Herz schlug höher stattgefunden haben, bevor der Schwabe sich ausmen- delte. In manchem Schwabenlob wird diese Genese „bey der Schilderung der männlichern Deutschen und sehr weit zurück verlegt; der Museologe und Archäo- besonders der nervichten Sueben, ihrer patriarchalischen loge Siegfried Junghans hat eine solche Sammlung mit Lebensart.“ 21 alemannischen Geschichtlein mit Wir Schwaben. Sieben Fabeln zum Beginn schwäbisch-alemannischer Geschichte über- Dieser Rückgriff auf die Vorzeit mischt auch unge- schrieben und den Kriegsruhm dieser Urschwaben niert Epochen: gerühmt: „mit den Sweben könnten sich nicht einmal die unsterblichen Götter messen.“ 16 Auch bei Christi- „Unter allen Nationen auf der Erde ist vielleicht die an Gottlob Barth werden diese Urschwaben als mäch- schwäbische die einzige, die den Sitten der alten Germa- tige und angsteinflößende Riesen beschrieben: nen, in Absicht ihrer Wohnart und Regierungsformen am meisten ähnlich geblieben [...]. Vielleicht, wenn Karl „Es waren kräftige Leute von riesenhaftem Körperbau, der Grosse wiederkäme: so würde er sein Vaterland nir- mit gelblichem Haar, blauen Augen und erschrecklichem gendwo mehr erkennen, als in Schwaben.“ 22 Blick, den selbst ihre wilden Nachbarn fürchteten; ihre Freude war der Krieg, und in Friedenszeiten die Jagd.“ 17 Damit ist vorformuliert, was später in den Mund gelegt wurde, der Schwabe sei der „Deut- Den Rückgriff in die graue Vorzeit lernte jeder schwä- scheste der Deutschen“. Eine interessante Versöhnung bische Jugendliche in der Identifikation mit Rulaman, des Regionalismus mit dem Nationalismus in einem

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Zustand des Auserwählt- seins, ein gelobtes Land ge- wissermaßen. Auch das wird als Denkfigur nicht nur in der Kernerschen Schwa- benhymne „Preisend mit viel schönen Reden“ einge- bracht, dieses rhetorische Muster verwendet auch Barth als Initial in seiner Ge- schichte von Württemberg.23 Das prächtige und von Hans- Martin Decker-Hauff mit einem angemessenen Nach- wort versehene Buch be- ginnt so:

„Der geneigte Leser muß vor allen Dingen wissen, daß es zwei gelobte Länder in der Die Sieben Schwaben Welt gibt, das eine ist das Land Canaan oder Palästina, das andere ist Württem- Riesen, die dem Gespött dienen, Dickköpfe, die die berg. Das glauben wenigstens viele ehrliche Württember- Sprache Canaans lernen – da ist es wieder, das „So- ger, besonders solche, die von andern Ländern außer dem wohl-als-auch“, unser Leitmotiv. Nach einer Hoch- Namen nicht viel mehr wissen als irgendeinen abschrek- schätzung im Mittelalter hatten die Schwaben, zumin- kenden Umstand.“ 24 dest was die Bilder von ihnen anlangt, abgewirtschaf- tet. Albrecht Keller zeigt, wie der „Umschlag“ mit dem Barth legt dieser immerhin ironisch abgefederten Zerfall des Reiches in Beziehung steht: Aus dem hel- Größenfantasie sogar noch argumentativen Brennstoff denhaften Recken, der die Hohenstaufer raushaut, wird nach: „Indessen so weit gefehlt ist’s denn doch nicht, der „thumbe Schwab“.27 Vor allem seine militärische Württemberg mit Canaan zu vergleichen.“ Kompetenz wird fortwährend in Frage gestellt, der Vor- Er verweist auf entsprechende Größe und äußere wurf geht bis zur Feigheit, wie das Debakel der Schlacht Gestalt „namentlich seiner Gebirge“, Milch und Ho- von Lucca am Anfang des 14. Jahrhunderts begründet nig gibt es ebenfalls in Fülle, nur daß man sie bei „uns“ wurde.28 Dazu paßt die Geschichte von den Sieben nicht fließen läßt, „sondern aufhebt“ 25. Er beschwört Schwaben, die ein Hase in die Flucht schlägt und die aber noch eine weitere Ähnlichkeit zwischen den Be- von Ludwig Aurbacher popularisiert wurde. Noch nach wohnern Canaans und Württembergs: der Schlacht bei Roßbach spottete Johann Wilhelm Lud- wig Gleim in seinen Kriegsliedern29: „daß nämlich die Schwaben, wie die Juden einst, ihren Nachbarn zum Gespötte dienen, so ist wenigstens soviel „Willkommen war die dunkle Nacht.. gewiß, daß sie diesen Spott nur dann verdienen würden, dem Schwaben, der mit einem Sprung wenn sie sich desselben schämen wollten; und wenn ihre Mit berganstehendem Haar, belächelte Einfalt mit der Empfänglichkeit zusammen- Von Rosbach bis nach Amelung hängt, sich durch die ewige Weisheit belehren zu lassen In seiner Heimat war.“ 30 und die Sprache Canaans zu lernen, so kann ihnen dieß nur zum Ruhme gereichen.“ 26 Die Negativbilder vom Angsthasen und vom dummen Schwaben31 waren weit verbreitet:

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temberg ging man aber auch aktiv gegen das schlechte Image an.

In einer bemerkenswerten publizistischen Kampagne puschte man den Schwaben hoch. Wie das funktio- nierte, hat Gunter Volz bestens informiert dargestellt.33 Er zeigt, wie in verschiedenen Periodica aus Schwa- ben Product-Management und Imageverbesserung zugunsten eines positiven Schwabenbilds gefördert wurde. Dabei sind verschiedene Strategien zu unter- scheiden. Die einfachste ist gleichfalls die eigene Er- höhung durch Abwertung des Fremden: Der gehässi- ge Pfeil trifft in erster Linie die entwicklungsmäßig überlegenen Sachsen. 1776 erscheint eine Apologie der Schwaben in Schubarts Deutscher Chronik:

„Mein Herr! Sie sind ein Schwabe, und ich auch. Es freut mich herzlich, daß Sie Teutschland als ihr Vater- land lieben, [...] aber ich bitte Sie, zuweilen noch beson- ders auf Ihr eigentliches Vaterland, Schwaben Rücksicht zu nehmen [...] Wir haben uns, ob wir wohl den Franzo- sen näher sind als die Obersachsen, vor dem Leichtsinn der Franzosen und ihre Fratzen bisher ziemlich rein er- halten – Gott bewahr uns ferner davor!“ 34

Schon zwei Jahre davor warnte Schubart: „Freu dich nicht deiner Verfeinerung, Sachse! Du bist fremder, und nicht deutscher Art.“ Der verfeinerten, welschen Der schwäbische Bauer – mutig erschrocken: „S’ söl hani in mir, daß i koin G’schpenstli förcht, aber über da Chilchhof, Art wird das eigene, autochtone, echte und unverfälsch- wans nachtet, gang i do net.“ te entgegengehalten. In einem Gedicht über Schwaben- mädel heißt es dementsprechend:

„Die Schwaben müssen unschuldiger Weise viele „Ich Mädchen bin aus Schwaben, Histörchen von sich ausbreiten lassen; sie sind aber so Und braun ist mein Gesicht; klug, daß sie selbst solche zur Belustigung der Gesell- Der Sachsenmädgen Gaben schaft erzählen, und sich neben anderen Nationen mit Besitz ich freilich nicht. gleichem Rechte oder Unrecht an den Schweizern wieder Die können Bücher lesen, zu erholen pflegen.“ 32 den Wieland, und den Gleim; Und ihr Gezier und Wesen Die Abwehrmechanik wird hier sehr anschaulich ge- Ist süß, wie Honigseim. zeigt: Daß man sich selbst als „Loser“ verspottet, ist [...] ein bewährtes Mittel. Wahrscheinlich noch beliebter Fein bin ich nicht und schlau; ist die projektive Rache, die einen imaginären Tölpel, Doch kriegt ein braver Schwabe der einem zumindest unterlegen ist, der aber besser An mir ‘ne brave Frau.“ 35 noch die ganze Torheit der Welt in sich vereint, er- schafft. Das ist die passive Reaktionsbildung – in Würt-

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Der Mangel an Bildung wird in Natürlichkeit umge- Das unermüdliche Bemühen der schwäbischen Publi- deutet, im Rückgriff auf den (welschen) Rousseau. Der zistik um die kulturelle Rehabilitierung hatte sichtba- Vorwurf der literarischen Einöde kommt nicht von ren Erfolg bei der Wiedergewinnung eines Stamme- irgendwo, ebenso die spürbare kulturelle Rückständig- stolzes. Die Image-Production wirkte langsam aber keit, die einerseits den Vergleich Schwabens mit sicher. Der Berliner Schriftsteller Friedrich Nicolai Boötien36 nahelegte, andererseits das verhaßte Sach- stimmte in seiner Reise durch Deutschland eine wahre sen in die Nähe Athens rückte. Die Boötier verteidig- Lobeshymne auf den schwäbischen Menschen an.41 Er ten ihre Eigenart und lobten ihre Landsleute die al- schätzte dessen „Gemächlichkeit, Zufriedenheit und lenthalben das Nützliche suchen: Ruhe“ und ebenso seine moralischen Werte:

„Ein Schwabe liebt das Schöne, wenn „Dabey ist eine gewisse Treuherzigkeit und ein es zugleich nutzt; er schätzt das Er- unbefangenes Wesen bey ihnen, dasselbst nichts von habene, wenn es Gott und die Re- Arglist hat und sie bey andern auch nicht ligion angeht; tändeln kan er nur, vermuthet.“ 42 so lang er jung ist; [...] scherzen wenn es Zeit ist; lesen aber nur, An weiteren Wesenszügen wird gerühmt: was wahr, oder neu oder nüzlich ist.“ 37 „deutsche Treue und Redlich- keit, eine auffallende Ruhe, wel- Weshalb auch die „Brodwissen- che zum Denken disponirt, und schaften“ die anerkanntesten seien: bey vielen ungewohnter Scharf- sinn und Fleiß.“ 43 „Die Weltweisheit, die Rechtsgelehrsamkeit, die Gottesgelahrtheit, die Arzneykunst, die Der Schwabe löst sich lang- Haushaltungskunst, die Handlung, der sam vom Archetyp des „et- Ackerbau, die Kriegskunst, das sind Din- was rückständigen Candide“, ge vor die Schwaben.“ 38 die schwäbische Publizistik ist das wesentliche Instru- Was man hatte, machte einen stolz und ment eines schwäbischen hieß einen auf alles andere hinabsehen. Jo- Stammesaktivismus, der ei- hann Georg Zimmermann wußte schon nen schweren Minderwer- 1768: tigkeitskomplex niederringt und durch eine neuen „eth- „Jede Nation ist mit sich selbst vorzüglich zufrie- nischen Patriotismus“ er- den, und betrachtet in mehr oder weniger Absich- setzt. Damit entfaltet sich ten jede andere Gesellschaft von Menschen als Geschöpfe ab 1780 ein literarischer Frühling, der mit Schiller sei- einer schlechteren Art.“ 39 ne erste Blüte bekommen sollte. Um die Wegstrecke vom Boötierland zum Hort der Ein anderer – auch häufig begangener Weg – war die Dichter und Denker zurückzulegen, war einige An- Hervorhebung der anderen Seite, die unter oder hinter strengung notwendig. Einige Jahrzehnte später prahl- der gerügten Eigenschaft dem Kritiker verborgen blieb. ten die Schwaben mit dem Geist in ihren Reihen:

„Aber freylich kann man, wenn man chicaniren will, „Der Schelling und der Hegel, auch des Bauren Einfalt der Sitten, sein rohes, unpolirtes, Der Schiller und der Hauff, grobes Wesen, seine Arbeitsamkeit, dumme Pferdegeduld, Das ist bei uns die Regel, seine Gewissenhaftigkeit und Treuherzigkeit Dummheit das fällt uns gar nicht auf!“ nennen, oder wie man will.“ 40

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Peter Bamm erklärte das zum „arrogantesten Vers der 17 Christian Gottlob Barth: Geschichte von Württemberg, neu deutschen Literatur“ – weil er den ersten Vers von erzählt für den Bürger und Landmann. Nachdruck der Erst- ausgabe von 1843. Stuttgart 1986, S. 24. Eduard Paulus nicht kannte: 18 Rudolf Krauss: Schwäbische Literaturgeschichte in 2 Bden. Freiburg 1897, S. 14. „Wir sind das Volk der Dichter, 19 Deutsche Chronik 1774, S. 14. Zit. in Gunter Volz: Schwabens Ein Jeder dichten kann, streitbare Musen. Schwäbische Literatur des 18. Jahrhunderts im Wettstreit der deutschen Stämme. Stuttgart 1986, S. 99. Man seh nur die Gesichter 20 Leipzig 1776. Von unsereinem an!“ 44 21 Miller S. 311, zit. bei Volz (wie Anm. 19). 22 Chronologen 6, S. 86f. Ein periodisches Werk von Wilhelm So isch no au wieder! Ludwig Wekhrlin. zit. bei Volz (wie Anm. 19), S. 227f. 23 Vgl. Anm. 17. 24 Ebd., S. 1. 25 Ebd., S. 2. 26 Ebd., S. 4. Anmerkungen 27 Einzelheiten bei Albrecht Keller: Die Schwaben in der Ge- schichte des Volkshumors. Freiburg 1907. 28 Die Ehre der Schwaben, aus der alten und mittleren Geschichte gerettet. Augsburg 1774. zit. nach Volz (wie Anm. 19), S. 80. 1 Karl Napf: Der neue Schwabenspiegel. Stuttgart 1989, S. 10. 29 Kriegs- und Siegeslieder der Preussen von einem preussischen 2 Schwäbische Literatur im 18. und 19. Jahrhundert. 2 Bde. Tü- Grenadier. Berlin 1758. bingen 1899 und Tübingen 1911. Anmerkungen im Bd. von 30 Ähnlich die Romanze (Junker Hans aus Schwaben) von J. Fr. 1911, S 169. Löwen (1717-1771). Der Schwabe ist ein Hasenfuß, der sich in 3 Robert Gradmann: Süddeutschland 1. Stuttgart 1931, S. 206 einer Schlacht des 7jährigen Kriegs blamiert. „Auch die Schwaben sind von ihrer Eigenart stark überzeugt“. 31 Volz (wie Anm. 19), S. 77. 4 Hermann Bausinger: „Voelklein schwer zu begreifen...“ Fried- 32 Johann Georg Keyssler: Neueste Reisen durch Deutschland ... rich Theodor Vischer und die Schwaben. In: Suevica. Beiträge Hannover 1751. Bd. 1, S. 11. zur schwäbischen Literatur- und Geistesgeschichte, Bd. 5. Stutt- 33 Vgl. Anm. 19. gart 1989, S. 55-63. „Will man den Sinn des Wuerttembergers 34 Ebd., S. 33. in ein kurzes Wort zusammenfassen: es ist, was der unloesbarste 35 Deutsche Chronik 1775, S. 639f. Zit. bei Volz (wie Anm. 19), Widerspruch scheint, das Moment der Reflexion in sich, des S. 35. freien und kritischen Selbstbewusstseins in der Form der 36 Die Boötier galten im Altertum, besonders in Athen, für derb, Naivitaet“, Ebd., S. 56. schwerfällig, geistig stumpf und unempfänglich für das Schö- 5 Heinz-Otto Burger: Die Gedankenwelt der großen Schwaben. ne. Tübingen und Stuttgart 1951. Kaum veränderter Nachdruck 37 Balthasar Haug: Zustand der schönen Wissenschafften in der Erstausgabe, Stuttgart 1932. Schwaben. Ulm und Leipzig 1762, S. 42f. Zit nach Volz (wie 6 Ebd., S. 9. Anm. 19), S. 138. 7 Ebd., S. 11. 38 Ebd., S. 42 8 Ebd., S. 12. 39 Johann Georg Zimmermann: Vom Nationalstolz. Zürich 1768, 9 Ebd., S. 13. S. 47. Zit. nach Volz (wie Anm. 19), S. 91. 10 Ebd. 40 Deutsche Chronik 1776, S. 100. 11 Ebd., S. 15. 41 Christoph Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch 12 Ebd. Deutschland und die Schweiz. Berlin und Stettin 1783-1795, 13 Otto Borst: Die heimlichen Rebellen. Stuttgart 1980. Bd. 9, S. 135. 14 In: Ludwig Bauer (Hg.): Schwaben wie es war und wie es ist. 42 Ebd., S. 136. Karlsruhe 1842, S. 379f. 43 Nicolai (wie Anm. 41), Bd. 10, S. 78. 15 Borst (wie Anm. 13), S. 11. 44 Gustav Roeder: Württemberg. Vom Neckar zur Donau. Nürn- 16 Ulm 1988, S. 12. berg 1972, S. 4.

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„Typisch schwäbisch, ha, do isch vielleicht: Zuerscht amol a bißele denken, und no vielleicht wieder verwerfen und no nomol denken und no saga.“

(Straßenumfrage Stuttgart. Mann, ca. 60 J.)

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Sylvia Hartig, Ulrike Künstle

Wie Schwaben Schwaben sehen

Die Konstruktion von Schwabenbildern in der Genremalerei des 19. Jahrhunderts

Ein Gemälde von Robert Heck aus dem Jahre 1862 bild als soziale Kontrollinstanz eingerichteten Kirchen- (Abb. 1) zeigt uns eine kleine Gruppe schwäbischer konvente die Vermeidung der Sünden und weckten die Landleute in der Reutlinger Stadtkirche – andächtig in Furcht vor Gottes Zorn. sich vertieft. Die drei Frauen und der kleine Junge im Vordergrund tragen bäuerliche Tracht. Dieses Bild zeigt anschaulich damals vorherrschen- de Vorstellungen von schwäbischen Eigenschaften, wie eine bestimmte Art der Frömmigkeit und Sittlichkeit, die verbunden war mit ländlicher Lebensart. Doch diese Vorstellungen blieben nicht auf das 19. Jahrhundert beschränkt. Sie wurden unter anderem durch die schwäbische Genremalerei bis in unsere Zeit transportiert und existieren deshalb teilweise noch heute in unseren Köpfen. Die Gemälde dieser Zeit entsprechen Konstrukten, deren Bedingungen aus der Situation des 19. Jahrhun- derts verstanden werden müssen, die wiederum auf ältere Entwicklungen zurückzuführen sind.

Historische Bedingungen

Eine besondere Rolle spielte dabei in Württemberg der Pietismus.1 Er zeigte hierzulande eine calvinistisch ori- entierte Ausprägung: Während für Luther Religion eine „subjektiv-innerliche Angelegenheit“ war, die sich auf Abb.1 Robert Heck: Schwäbische Landleute in der Reutlinger Vergebung der Sünden durch einen gnädigen Gott Stadtkirche (1862). Öl auf Leinwand, 161 x 123,5 cm. konzentrierte, forderten die nach calvinistischem Vor- Staatsgalerie Stuttgart

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Abb. 2 Caspar Kaltenmoser: Schwäbische Familienszene in Betzinger Tracht (1863). Öl auf Leinwand, 88 x 66,5 cm. Volksbank Horb am Neckar.

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Abb. 3 Robert Heck: Reiseprediger Gustav Werner bei einer Scheunenpredigt in der Albstraße in Reutlingen (1862). Öl auf Leinwand, 155 x 134 cm. Staatsgalerie Stuttgart. Durch ein System von Bestrafungen wurden be- stimmte Qualitäten und Tugenden verinnerlicht – wie Fleiß, Sparsamkeit und Unterordnung, die zum Maß- stab für die Beurteilung des religiös-sittlichen Lebens- wandels wurden. Der „württembergisch-schwäbische Volkscharakter“, der sich durch diese Werte herausbil- dete, bezog sich dabei in seinem Handeln stets auf die Öffentlichkeit.2 Die angesprochenen „schwäbischen“ Eigenschaf- ten wurden im 19. Jahrhundert vor allem durch Bilder mit dem Motiv „ländliche Idylle“ vermittelt. Diese waren beliebte Dekoration für bürgerliche Wohnhäu- ser. Dargestellt war eine heile Welt, die der selektiven Wahrnehmung der Künstler entsprang. Sie präsentier- ten lediglich ausgewählte Ausschnitte des bäuerlichen Alltags, die bestimmten Erwartungshaltungen entspra- chen – denen des im 19. Jahrhundert aufstrebenden Bürgertums. Die Auszüge aus dem „Volksleben“ bo-

Abb. 4 Theodor Schüz: Mittagsgebet bei der Ernte (1861). Öl auf Leinwand, 108, 5 x 172, 5 cm. Staatsgalerie Stuttgart.

105 Wie Schwaben Schwaben sehen ten dem Bürger die Möglichkeit, seine (seinem Wunsch- erliche Bevölkerung diese Kleidung ständig, obwohl denken entsprechende) Wirklichkeit darauf zu proji- dies nur noch zu besonderen Anlässen der Fall war. zieren.3 Folge dieser selektiven, ausschnitthaften Dar- stellung ist die Überbetonung bestimmter postulierter Eigenschaften des Schwaben und somit eine Einschrän- kung der Sichtweise. Die Betzinger Malschule So sind viele der in den Bildern der schwäbischen Maler dargestellten Personen eigentlich Bürger im Bauerngewand (Abb. 2). Die Bilder spiegeln die Sehn- Seit ca. 1850 kamen immer wieder Maler5 in das zwi- sucht nach einer heilen Welt wider, die aufgrund der schen Reutlingen und Tübingen gelegene Betzingen, fortschreitenden Industrialisierung und ihren Folgen das seit 1861 bequem mit der Bahn zu erreichen war; verloren gegangen zu sein schien. Dementsprechend Besucher kamen sogar aus dem Ausland – ein Indiz zeigen die Bilder Arbeit im Einklang mit der Natur, dafür, daß auch eine Verbreitung der Bilder außerhalb sie vermitteln eine als „natürlich“ deklarierte Sittlich- Schwabens stattfand. Die Anziehungskraft des Dor- keit und Frömmigkeit. Die Genrebilder des 19. Jahr- fes machte das unverfälschte Landleben aus, das man hunderts präsentieren eine Bäuerin, die als hingebungs- hier noch vorzufinden glaubte – repräsentiert durch volle Ehefrau und Mutter das bürgerliche Ideal der die Betzinger Einwohner in ihrer malerischen Tracht Frau verkörpert. Sie widmet sich ihrem Kind auf eine (Abb. 1): Weise, die der bürgerlichen Vorstellung von Erziehung entspricht. Beide sind eingebettet in die als harmoni- „Im schönen Schwabenlande, an [...] der Echaz, welche sche Großfamilie empfundene Sozialform des „gan- in kaum dreistündigem Laufe über hundert Fabriken zen Hauses“4, bei der davon ausgegangen wurde, daß und Mühlen treibt, liegt die Perle der Trachtendörfer, ihr Zusammenhalt in emotionalen Bindungen begrün- Betzingen, dessen Bewohnern und Bewohnerinnen weder det liegt. die Nähe der [...] Reichsstadt Reutlingen, noch das viel Dieses Modell wurde jedoch der sozialen Realität weiter entfernte studentenreiche Tübingen das Mindeste der Landbevölkerung nicht gerecht. Weder die ökono- in Tracht und althergebrachter Gewohnheit anhaben mischen Zwänge innerhalb einer Hausgemeinschaft konnte; ja selbst die drei im Dorfe liegenden Fabriken und Ehe, noch die harte Arbeit der Frauen und Kin- und die sonst alles gleichmachende Eisenbahn, welche hier der wurde thematisiert. eine Haltestelle hat, konnten dem Grundwesen dieser ori- Zu erklären ist die Sehnsucht nach einer „heilen ginellen und in ihrer Tracht so eigenthümlich schönen Dorf- Welt“ aus der Flucht vor einer zunehmenden Entfrem- bewohner eine Aenderung nicht abringen, und so lohnt dung des Menschen von der Natur aufgrund gleich- sich heute noch wie vor Jahrzehnten ein Besuch bei diesem zeitiger Technologisierung und Industrialisierung. prächtigen Menschenschlage.“ 6 Dabei nahm auch die Angst vor den sich organisieren- den Arbeitern zu. Klassenunterschiede wurden in den Man sah in den Bildern jedoch nicht das Leben in Bildern jedoch nicht thematisiert. Betzingen, sondern das unbeschwerte Dasein in einem Nicht zuletzt dienten solche Bilder auch dazu, die imaginären schwäbischen Dorf.7 Entsprechend wur- bürgerlichen Vorstellungen und Realitäten als Norm den die Bilder konstruiert. Somit wurde das Bild des festzusetzen und zu verbreiten. Trachtenträgers zum Repräsentanten des schwäbischen Die Bilder des schwäbischen Landlebens dürfen je- Bauerntums. doch nicht als reine Fiktion betrachtet werden. In vie- Die in Betzingen entstandenen Bilder erfreuten sich lerlei Hinsicht geben sie Aufschluß über die Landbe- großer Beliebtheit. Sogar das württembergische Kö- völkerung im 19. Jahrhundert. Dazu gehört auch das nigshaus unter Wilhelm I. erwarb 1861 das Gemälde Tragen von Trachten. Zwar ist zum Beispiel an den „Reiseprediger Gustav Werner bei einer Scheunen- Bildern der Betzinger Malschule zu erkennen, wie die predigt in der Albstraße in Reutlingen“ (Abb. 3) von Betzinger Tracht beschaffen war. Jedoch wird auf den Robert Heck (1831-1889), einem der Begründer der Bildern meist der Eindruck erweckt, als trüge die bäu- Betzinger Malschule.

106 Wie Schwaben Schwaben sehen

Die Betzinger Genrebilder fanden ihre große Ver- „[...] auch er will in seinen sorgfältig gemalten Bäumen breitung in ganz Deutschland ebenfalls als Nachstiche und Äpfeln, in seinen Getreidefeldern und blauen in illustrierten Zeitungen wie zum Beispiel der „Gar- verdämmerten Fernen, in seinem Lichterspiel unter dem tenlaube“, „Daheim“, „Über Land und Meer“ oder Baume uns zeigen, aus welch feinem Stoff unser Herr- der „Illustrirten Zeitung Leipzig“. So wurden die Bil- gott gewoben hat, daß ihrer Farben Schein am der auch einer breiten Bevölkerung bekannt, die sich Sommertag in der Erntegluthitze, am Feierabend um die Gemälde nicht leisten konnte. Abendglocke, am goldenen Herbsttag im weinfrohen Auch die Veräußerung in das Ausland trug zur Ver- Neckarland – mehr ist als farbiger Schein – lebendiges, breitung und Bestätigung bestimmter Aspekte des sinngefülltes Sein.“ 11 Schwabenbildes bei. So wurden zum Beispiel zwei Gemälde von Robert Heck, 1866 „Der Einzug des Dieses Zitat zeigt, daß Theodor Schüz auch zu dieser neuen Pfarrers“ nach Australien, und 1868 „Spinnstu- Zeit noch Verbreitung und Anerkennung erfuhr. In der be in Schwaben“ nach Amerika verkauft. „Sammlung farbiger Volkskunstblätter“12 wird er also Besonders eindringlich reproduziert und tradiert als Maler hervorgehoben, der die Anekdote zum Trä- auch Theodor Schüz (1830-1900), ein wichtiger Ver- ger höherer allgemeiner Lebenswerte umgestaltet: „Was treter der Betzinger Malschule, die vorgestellten Theodor Schüz seinen eigenen Platz in dieser Gruppe Schwabenbilder. Aufgrund seines Wechsels an die sichert, ist der seiner Schwabenart entsprechende reli- Düsseldorfer Akademie wurden diese auch außerhalb giöse Unterton, der seine Hauptbilder alle begleitet.“ der schwäbischen Grenzen verstärkt bekannt. Von ihm Seine Malerei soll ein Gegengewicht zur Moderne bil- bevorzugte Motive haben oft einen religiösen Hinter- den: „Und jenseits des grauen Alltags soll uns und grund, es finden sich zum Beispiel viele Konfirmations- unsre Volkskunstfreunde der Schwabe Theodor Schüz szenen oder Friedhofsbilder. Auch die Erntedarstel- ein wenig entführen. Wenn wir fragen: war das einmal lungen zeigen seine religiöse Motivation und sind Aus- so, wie es der Pfarrersohn dargestellt hat? – so müssen druck einer schwäbisch-pietistischen Haltung, die durch wir sagen: Ja. So war einmal das Landleben in Schwa- seine Kindheit in einem schwäbischen Pfarrhaus ge- ben. Wir sehen durch die Hülle dieser Bauern- prägt wurde. Eines von Schüz’ Hauptwerken, das gewandung hindurch aber die Psyche, die Menschen- „Mittagsgebet bei der Ernte“ (1861) (Abb. 4), demon- seele, die von ihrem Sehnen nach einem von Gottes striert seine religiöse Einstellung auf anschauliche Natur begleiteten einfachen Dasein nicht lassen kann.“ Weise. Besondere Aufmerksamkeit verdient die im Seine Bilder wurden somit auch noch nach seinem Schatten des Apfelbaumes andächtig um das Mittags- Tod als Darstellungen einer ehemals vorhandenen mahl versammelte Personengruppe. Der Vergleich mit Wirklichkeit verstanden. einer Anbetungsszene drängt sich hier auf. Auffallend Noch in den 30er Jahren wurden Schüz und die ist die Madonnenhaftigkeit der Bäuerin, wie auch das Maler der Betzinger Malschule, zum Beispiel in den Lamm im Vordergrund als Verweis auf das „Lamm Reutlinger Geschichtsblättern13, aus der gleichen Gottes“ interpretiert werden kann8. Der Psalmtext (Ps Grundhaltung heraus rezipiert. 104, 27-28) schließlich, mit dem Schüz den Rahmen 1996 gilt Schüz noch immer als Vermittler „des des Gemäldes versah9, macht die religiöse Bedeutung Schwäbischen“. In der Staatsgalerie Stuttgart kann der des Bildes unübersehbar. Daß Schüz durch den schwä- Besucher unter dem „Mittagsgebet bei der Ernte“ bischen Pietismus geprägt wurde, zeigt das Nebenein- (Abb.4) folgenden Text lesen: ander von Arm und Reich – von ärmlich gekleideten Kindern und der Bauernfamilie, deren Wohlstand an „Wie aus dem Bilderbuch ist die Szene auf den ersten Blick ihrer Kleidung abzulesen ist – das als gottgewollte arrangiert. Einträchtig betet die bäuerliche Familie im Ordnung verstanden wird.10 Schatten eines großen Apfelbaums, scheinbar vollkommen Die religiöse Grundhaltung wird durch die im Bild eins in Dank und Gottergebenheit. Neben der Idylle be- vermittelte Stimmung unterstützt. Zu Beginn dieses grüßt eine Gruppe lärmender Feldarbeiter einen verspä- Jahrhunderts wurde dazu festgestellt: teten Schnitter, der sich den Schweiß von der Stirn wischt.

107 Wie Schwaben Schwaben sehen

Harte Arbeit, frohe Rast, stille Einkehr – die malerisch ge- Anmerkungen glückte Verknüpfung dieser Themen traf und trifft die kulturellen und religiösen Wurzeln der Schwaben [Hervorhebung durch die Autorinnen]. Bei genauerem Hin- 1 Vgl. den Beitrag von Andreas Vogt Der schmale Weg, der zum sehen fallen die Widersprüche in dem vom Pietismus ge- Leben führt in diesem Band. prägten Weltbild auf. Die unerschütterliche Religiosität und 2 Vgl. Werner Unseld: Die schwäbische Verbesserung der Sün- der. Vom Kirchenkonvent zur Kehrwoche. In: Landes- die daraus abgeleiteten moralischen Privilegien hängen kirchliches Museum Ludwigsburg (Hg.): Zwischen Kanzel und unauflöslich zusammen mit dem statischen Gegensatz von Kehrwoche. Glauben und Leben im evangelischen Württem- Armut und Reichtum – im Geistigen wie im Materiellen.“ berg. Ludwigsburg 1994, S. 141-149. 3 Dies entspricht zwar einer allgemeinen Tendenz dieser Zeit. Ist die Frage nach „dem Schwäbischen“ also immer Jedoch bietet das schwäbische Landleben hierfür besonders gute Bedingungen. Neben seinen malerischen Trachten könn- noch von Interesse? In Bezug auf die Rezeption der te die Tatsache eine Rolle spielen, daß Württemberg im 19. Genrebilder des 19. Jahrhunderts ist dies wohl eher zu Jahrhundert zu 3/4 Agrarland geblieben war und somit als bejahen. Sie scheinen noch heute entsprechend gedeu- Prototyp einer bäuerlichen Gesellschaft galt. tet zu werden und ihre Spuren in den gegenwärtigen 4 Die Sozialform des „ganzen Hauses“ umfaßte die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten im Haus. Un- Schwabenbildern hinterlassen zu haben. Denn die un- ter seinem Dach lebende Personen – Hausvater/Hausmutter, ter anderem von den Malern produzierten Vorstellun- Kinder, Ausgedinge, Gesinde und Inleute – waren durch rein gen von einem religiösen, sittlichen und vor allem bäu- ökonomische Beziehungen verbunden. Dem „ganzen Haus“ erlichen Schwaben scheinen noch immer in den Köp- stand der Hausvater vor, der die im Haus lebenden Menschen schützte und für sie haftete. Vgl. dazu: Brunner, Otto: Das fen vieler Menschen festzusitzen und festgesetzt zu „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“. In: Ders.: werden. Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen In Bezug auf die aktuelle Kunstszene hat die Frage 1956, S. 33-61. nach „dem Schwäbischen“ allerdings an Bedeutung 5 Ebenso gab es Malerinnen, die in Betzingen an Malkursen teil- nahmen. Über den Blick von diesen Künstlerinnen auf Schwä- verloren. Die Bildtradition des Genrebildes hat sich in bisches, die sich vermutlich wie ihre männlichen Kollegen mit ihrem Charakter und in ihrer Aussage bis heute dahin- dem bäuerlichen Genre beschäftigt haben, ist aber wenig be- gehend verändert, daß sich „das Schwäbische“ nicht kannt. Dies ist vermutlich auf die allgemeine Situation der mehr vor allem an Motiv und Art der Darstellung fest- Frauen im 19. Jahrhundert zurückzuführen. Man(n) ging da- von aus, daß sie nicht in der Lage waren, wirklich künstlerisch machen läßt, sondern sich – wenn überhaupt – über tätig zu sein. Sie galten lediglich als Dilettantinnen und daher Landschaft und Tracht vermittelt. Damit mündete das ist heute über ihre Persönlichkeiten und Werke nichts bekannt. schwäbische Genrebild in eine allgemeine Richtung ein 6 Gartenlaube, 1871; zitiert nach: Museum ‘Im Dorf’ Betzingen, und zeigt nur noch Darstellungen von idealisiertem S. 120. Landleben. 7 Museum ‘Im Dorf ’ Betzingen, S. 133. 8 Malerei und Plastik des 19. Jahrhunderts. Bearbeitet von Chri- Diese, so kann man vermuten, schürt heute, wie vor stian von Holst. Katalog der Staatsgalerie Stuttgart. Stuttgart hundert und mehr Jahren, die Sehnsucht nach einer 1982, S. 138. Welt, in der Mensch und Natur eng verbunden sind, 9 Der Psalmtext auf dem Rahmen des Bildes lautet: „Es wartet die harmonisch und geordnet zu sein scheint. Darstel- alles auf Dich, daß Du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit, wenn Du ihnen gibst, so sammeln sie, wenn Du Deine Hand lungen des schwäbischen Landlebens könnten hierfür aufthust, werden sie mit Gut gesättigt“. als Vorbilder dienen. 10 Vgl. Anm. 8. 11 Koch, David: Theodor Schüz. In: Sammlung farbiger Volkskunstblätter. Stuttgart o. J. [nach 1905]. 12 Vgl. Anm. 8. 13 Reutlinger Geschichtsblätter, Jahrgang 1965, Neue Folge Nr. 2. Reutlingen 1965.

108 Zwischen „Schwäbisch Arkadien“ und „Musterländle“

Andreas Vogt

Zwischen „Schwäbisch Arkadien“ und „Musterländle“

Bilder eines Landes in Landschaftsmalerei und Fotografie

Schwabenbilder in den Köpfen von Schwaben und entstanden, es wurde von den Vermittlungsagenturen Nichtschwaben nehmen mitunter sehr konkrete For- Malerei und Fotografie konstruiert, montiert, repro- men an, wenn abstrakte Stereotypisierungen und Zu- duziert. schreibungen mit realen Bildern unterlegt werden. An Nun sei hier gewiß nicht die pitoreske Schönheit der Festsetzung bestimmter Wertungen und Einschät- des Traumschlosses Lichtenstein geleugnet oder der zungen der ‘schwäbischen’ Landschaft hatten (und vielzitierte Reiz der „blauen Mauer“ der Schwäbischen haben bis heute) die visuellen Medien Malerei und Fo- Alb bestritten, dem schon Eduard Mörike in seinem tografie wesentlichen Anteil. Die Bildbände, die alljähr- Stuttgarter Hutzelmännlein verfiel. Doch mußten der lich in großer Zahl nicht nur zur Weihnachtszeit erschei- Lichtenstein und andere Fixsterne am schwäbischen nen, reproduzieren einen Kanon von ganz bestimm- Bilderhimmel von Malern und Fotografen erst entdeckt, ten Motiven schwäbischer Landschaften und Sehens- mußte die Zauberhafte Schwäbische Alb 1 erst populari- würdigkeiten, der längst bekannt ist und sich kaum siert werden. Wenn also heute Aussichts- und anderen verändert. Diese ‘schwäbischen Ikonen’ ragen aus der Punkten der Schwäbischen Alb noch immer schwäbi- Vielzahl schwäbischer Ansichten heraus, obwohl die sche Identität stiftende Bedeutung zugeschrieben wird, Verlage in der Auswahl der Bildmotive natürlich der so ist dies nicht zuletzt ein deutliches Indiz für den Tatsache Rechnung tragen, daß sich das Bild des Lan- nachhaltigen Erfolg der zahlreichen ‘Schwabenbildner’ des nicht allein aus der Schwäbischen Alb und ihren des 19. und 20. Jahrhunderts. Sehenswürdigkeiten – Schloß Lichtenstein und Burg Gleichwohl ist der Wandel, dem die Bilder schwä- Hohenzollern an erster Stelle – konstituiert. Ohne den bischer Landschaft unterlagen, beträchtlich. Seit dem Beitrag von Landschaftsmalerei und Fotografie hätten 19. Jahrhundert hat jede Maler-, später dann jede aber diese beiden ‘Ikonen’ der Schwäbischen Alb zu Fotografengeneration versucht, die schwäbische Land- ebensolchen wohl schwerlich werden können. Denn schaft ins rechte, dem Zeitgeschmack genehme Licht das Repertoire an Bildern, aus dem sich die gängigen zu rücken. Das Bildrepertoire wird zwar schon im frü- Hochglanzbildbände bedienen, hat eine Vorgeschich- hen 19. Jahrhundert festgelegt, doch oszillieren seine te: Das vom kollektiven schwäbischen Bewußtsein qua- Sichtweisen seither zwischen Klassizismus und Roman- si für naturgegeben gehaltene Bild des Landes – nicht tik, Tradition und Moderne, empfindsamem Naturidyll nur die stereotyp reproduzierten Bilder seiner Bewoh- und Zivilisationslandschaft, eben zwischen „Schwä- ner – ist erst im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte bisch Arkadien“ und „Musterländle“.

109 Zwischen „Schwäbisch Arkadien“ und „Musterländle“

Das Bild eines Landes entsteht – mit ihr die Landschaftsmalerei französisch-italienischen Landschaftsmalerei des schwäbischen Einflüssen unterlag; die klassische Landschaftsmale- Klassizimus rei, die Nicolas Poussin (1594-1665) und Claude Lorrain (1600-1682) in Italien begründet hatten, war auch in Württemberg stil- und geschmacksbildend Der Fundus der Landschaftsmotive, aus dem sich die geworden. Nicht die getreue Wiedergabe einer be- ‘Schwabenbildner’ unserer Tage bedienen, wird in stimmten topographischen Situation, wie sie in An- Württemberg in den Jahrzehnten um 1800 angelegt. sichten und Veduten bis dahin angestrebt worden war, Herzog Carl Eugen (1728-1793) hatte in der zweiten sondern die idealistische Überhöhung der Landschaft Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Militär- und Kunst- stand nun im Mittelpunkt des Interesses der Land- akademie von europäischem Rang aufgebaut, die 1781/ schaftsmaler und ihrer Auftraggeber. In den Portraits 82 als Hohe Carlsschule sogar zur Universität erhoben, schwäbischer Landschaft erblickte man jetzt „arkadi- nach seinem Tod 1794 aber wieder geschlossen wur- sche, heroische, schwäbische Landschaften“3. In der de.2 Bereits 1761 hatte der Herzog eine Académie des „Synthese von Idealität und Realität“4 sollte sich die Arts nach französischem Vorbild gegründet, die unter schwäbische Landschaftsmalerei über die „Nachah- der Leitung seines premier peintre Nicolas Guibal (1725- mung des Wirklichen zum Idealischen erheben“5. 1784) stand. Seit 1770 entstand in mehreren Schritten Von 1761 bis 1794 unterrichtete der aus Berlin stam- eine Militärakademie auf Schloß Solitude, in die die mende Adolf Friedrich Harper (1725-1806) das Fach Kunstakademie eingegliedert wurde. Mit der Rückkehr Landschaftsmalerei an der Académie des Arts bzw. an des Hofs nach Stuttgart wurde die Militär- und der Hohen Carlsschule. Durch den in Frankreich und Rom Kunstkademie in die Kaserne beim Neuen Schloß ver- ausgebildeten Maler und seinen Schüler Joseph Anton legt. Die Bildhauer und Maler, die an der Akademie Koch (1768-1839), der sich 1791 allerdings (wie schon bzw. der Hohen Carlsschule lehrten und arbeiteten, zäh- 1782 der Carlsschüler Friedrich Schiller) dem stren- len zu den bedeutendsten Künstlern des schwäbischen gen Drill der Einrichtung durch Flucht entzogen hat- Klassizismus: Der Bildhau- er Johann Heinrich Dan- necker (1758-1841), die Maler Philipp Friedrich Hetsch (1758-1838), Eber- hard Wächter (1762-1852), Christian Gottlieb Schick (1776-1812) und Johann Baptist Seele (1774-1814). Die unmittelbare Anbin- dung der Carlsschule an den Hof prägte die württember- gischen Künstler und ihre Kunst nachhaltig; der An- spruch, den Herzog Carl Eugen an seine Stipendiaten stellte, gebot Studienaufent- halte in Paris und Rom, den internationalen Kunstzen- tren der Zeit. Kein Wunder also, daß die schwäbische Kunst des späten 18. und Ein stimmungsvoller Hymnus auf die schwäbische Heimat: Gottlob Friedrich Steinkopfs frühen 19. Jahrhunderts und identitätsstiftende Ansicht der Grabkapelle Königin Katharinas auf dem Rotenberg (nach 1825).

110 Zwischen „Schwäbisch Arkadien“ und „Musterländle“ te, wurden in Stuttgart jene Geschmacksnormen ge- „Schwaben, Schwaben allzumal!“ setzt, die auch für die schwäbischen Landschaftsmaler der zweiten und dritten Generation um Johann Jakob Müller von Riga (1765-1832), Gottlob Friedrich Stein- Steinkopf, der die Wertschätzung des Königs genoß kopf (1779-1860) und Louis Mayer (1791-1843) bin- und 1833 eine Professur an der Stuttgarter Kunstschule dend waren. erhielt, komponierte seine Ansichten des Neckartals als heitere Pastoralen: „Eine schöne, friedliche Welt ist Der gebürtige Stuttgarter Steinkopf, der nach erfolg- sein Ideal, das die Zeitgenossen und folgende Gene- reichen Jahren in Wien und Rom seit 1821 wieder in rationen noch lange begeistern sollte.“7 Die Aura, die seiner Heimatstadt tätig war, hat mehrere Hauptwerke nach zeitgenössischer Meinung seine Bilder umgab, der schwäbischen Landschaftsmalerei geschaffen. Im zeigt sich am deutlichsten in der Ansicht der Grab- Auftrag von König Wilhelm I. entstanden für das 1822- kapelle für Königin Katharina (1788-1819) auf dem 29 erbaute Schloß Rosenstein drei großformatige Ge- Rotenberg bei Cannstatt, für deren Bau Wilhelm I. die mälde mit Ansichten des Neckartals, deren Blickfang Stammburg des Hauses Württemberg hatte abtragen jeweils ein von Hofbaumeister Giovanni Salucci (1769- lassen. Obwohl das Gemälde im Zweiten Weltkrieg 1845) errichtetes Gebäude ist: Die Kapelle auf dem Roten- zerstört wurde, gibt eine erhaltene Aquarellzeichnung, berg (1825), Blick auf Schloß Rosenstein und das Neckartal die Steinkopf als Vorlage für die lithographische Re- (1828) und schließlich Blick auf Schlößchen Weil (1830). produktion des Gemäldes angefertigt hatte, Aufschluß Durch druckgraphische Wiedergaben wurde die gro- über die Intention des Künstlers, einen „stimmungs- ße Popularität dieser Bilder noch gesteigert: „Derart volle[n] Hymnus auf die schwäbische Heimat“8 zu waren heimatliche Regionen in der bildenden Kunst entwerfen. Schon beim Blick auf die Figuren im Vor- zuvor nicht gefeiert worden.“6 dergrund ist die Botschaft des Bildes offensichtlich: Ein alter Mann weist seine Enkelin andachtsvoll auf das Mausoleum der frühverstorbenen Königin hin; die Kinder, die mit ihrer Mutter von der Obsternte heimkeh- ren, wenden ihren Blick ebenfalls zur Kapelle.

„Die Sonne steht gerade hin- ter dem kronenartigen Grab- bau, so daß dieser wie von ei- ner Glorie umgeben ist. Mit den Mitteln der Landschafts- malerei gestaltet Steinkopf in- direkt eine Verklärung der allgemein verehrten Toten.“ 9

Auch vor Steinkopfs Blick auf Schloß Rosenstein und das Neckartal wähnt sich der Be- trachter weniger im Herzen Württembergs, denn in der römischen Campagna.

‘Welch ein herrlich Land mein eigen, muss mir’s erst der Maler zeigen?’: 1828 verwandelte Gottlob Friedrich Steinkopf das Neckartal bei Schloß Rosenstein in die römische Campagna.

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„An erhöhtem Ort, dort wo Steinkopf sonst seine grie- flut [...] abgespült. [...] Wie das Nest eines Vogels auf chischen Tempel als krönende Akzente plaziert, liegt hier die höchsten Wipfel einer Eiche oder auf die kühnsten in kristalliner Klarheit der klassizistische Bau, der jenen Zinnen eines Turmes gebaut, hing das Schlößchen auf nachempfunden ist. [...] Geschult in Rom an Beispielen dem Felsen.“ 12 klassischer Landschaftskunst, geübt im Arrangieren ent- sprechender Bildelemente, wie Flußläufe, Küsten, Tempel Auch Louis Mayer war an der visuellen Popularisie- und Bäume, verwandelt Steinkopf das nachbarliche Tal rung des Lichtensteins beteiligt. Der gelernte Kauf- unversehens in ein Stück schwäbisches Arkadien.“ 10 mann kam auf Umwegen zur Landschaftsmalerei und wurde 1824 Steinkopfs Schüler. Obgleich künstlerisch Die identitätsstiftende Aura dieses Bildes inspirierte nicht in gleichem Maße begabt wie sein Lehrer, erlangte auch den Dichter Gustav Schwab, der Steinkopfs Ge- Mayer mit seinen Gouache-Vorzeichnungen zu den mälde 1828 u.a. folgende Zeilen widmete: Stahlstichen in Gustav Schwabs 1838 erschienenen Wanderungen durch Schwaben große Popularität und trug „Zarter Ueberflug von Licht,/Das aus frühem Nebel damit zweifellos seinen Teil zur Bildung eines Kanons bricht!/Welch ein Thal aus fernen Landen/ist vor mei- genuin ‘schwäbischer’ Ansichten bei, an den sich Ma- nem Blick erstanden? [...] Nein, es ist kein fernes Thal,/ ler, Zeichner und Fotografen auch in späterer Zeit ge- Schwaben, Schwaben allzumal!/Welch ein herrlich Land bunden fühlten. mein eigen,/Muss mir’s erst der Maler zeigen?“ 11 Es ist also keine Übertreibung, wenn der Kunsthi- storiker Max Schefold von der „Entdeckung der Schwä- Neben Steinkopf trugen auch die Maler Johann Jakob bischen Landschaft“13 in den ersten Jahrzehnten des Müller von Riga und Louis Mayer zur Popularisierung des schwäbischen Land- schaftsbildes bei. Müller von Riga, der bereits 1811 zum Hofmaler ernannt worden war, ließ sich offensichtlich vom gleichnamigen histori- schen Roman Wilhelm Hauffs inspirieren, als er um 1826 das Gemälde Der Lich- tenstein schuf. Zumindest mutet sein (Ideal-)Bild der mittelalterlichen Burganlage wie eine Illustration der Ein- leitung des populären Ro- mans an:

„Wie ein kolossaler Münster- turm steigt aus einem tiefen Albtal ein schöner Felsen frei und kühn empor. Weitab liegt alles feste Land, als hätte ihn ein Blitz von der Erde weg- Johann Jakob Müller von Riga: Der Lichtenstein (um 1826). gespalten, ein Erdbeben ihn Inspiriert durch Wilhelm Hauffs Roman nimmt der renommierte Landschaftsmaler losgetrennt oder eine Wasser- den erst ein Jahrzehnt später erfolgten Neubau der Burg Lichtenstein bildlich vorweg.

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19. Jahrhunderts spricht. Zeichner wie der überaus pro- Druckgraphische Popularisierung duktive Friedrich August Seyffer (1774-1845), seit 1822 Verwalter des Königlichen Kupferstichkabinetts, be- reisten das Königreich kreuz und quer und hatten so Im Zusammenhang mit Louis Mayers Illustrationen wesentlichen Anteil an seiner visuellen Erschließung. für Gustav Schwabs Wanderungen durch Schwaben sind zugleich jene druckgraphischen Medien genannt, die „Welcher zunehmenden Beliebtheit sich die schwäbische die Popularisierung ‘schwäbischer’ Ansichten beförder- Landschaft bei den Kunstfreunden erfreut, dafür zeugen ten und somit ganz entscheidend zur Zementierung die Ausstellungen des Württembergischen Kunstvereins bestimmter Schwabenbilder beitrugen: Lithographie in den Jahren von 1827 bis nach 1850, auf denen in und Stahlstich. Nach 1820 wurden die druck- rasch zunehmendem Maße gerade Landschaftsbilder graphischen Techniken des Kupferstichs und der Ra- mit heimischen Motiven erscheinen und leicht Käufer fin- dierung nahezu vollständig von der 1798 von Aloys den.“ 14 Senefelder entwickelten Lithographie (Steindruckver- fahren) verdrängt, die eine billige und einfache Mög- lichkeit der Reproduktion auch großformatiger Vorla- gen ermöglichte und neben der sich um 1840 nur der Stahlstich für wenige Jahre halten konnte. Die zahlrei- chen lithographischen Anstalten, die sich seit 1807 in der Residenzstadt Stuttgart etablierten – allen voran der Ebnersche Kunstverlag, mit dem Johann Friedrich Ebner (1748-1825) eine Dynastie von Verlegern und Kunsthändlern begründet hatte – hatten wesentlichen Anteil an diesem Prozeß.15 Der Zeichner und Lithograph Eberhard Emminger (1808-1885)16 aus Biberach, einer der vielen Mitarbei- ter des Ebnerschen Verlages, beschließt die Reihe der bedeutenden schwäbischen Künstler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich auf das Landschaftsfach spezialisiert hatten. Schon als Lehrling in der Ebner- schen Anstalt stellte Emminger sein künstlerisches Talent unter Beweis: 1825 fand seine Serie von An- sichten des Bodensees reißenden Absatz und wurde „bis zur vollständigen Abnutzung der Steine“17 aufge- legt. 1832 gelang ihm – bezeichnenderweise mit der lithographischen Reproduktion der Gemälde Stein- kopfs für Schloß Rosenstein – ein weiterer Publikums- erfolg, der ihm ein königliches Stipendium einbrachte. Im Gegensatz zu dieser Reproduktion einer schwäbi- schen Ideallandschaft präsentiert eine um 1846 nach einer Vorlage von Christian Friedrich Leins entstande- ne und gleichermaßen populäre Lithographie Emmin- gers ein neues Bild der schwäbischen Heimat: Schloß Rosenstein erhebt sich nun majestätisch über dem Der Lichtenstein. Stahlstich (um 1837) nach einer Vorlage von Louis Tunnel der gerade eröffneten Eisenbahnlinie Heil- Mayer. Als Schöpfer der Illustrationen für Gustav Schwabs bronn-Friedrichshafen. Der Eisenbahnbau war eine In- „Wanderungen durch Schwaben“ hatte Louis Mayer - vor allem hinsichtlich der visuellen Popularsierung des Lichtensteins - wesentlichen itialzündung für die Industrialisierung des Landes, Anteil an der Ausbildung genuin ‘schwäbischer’ Ansichten. deren Möglichkeiten nun durch Emminger in das würt-

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In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird durch litho- graphische Reproduktionen - nicht selten „bis zur vollstän- digen Abnutzung der Steine” - der Grundstock des bis heute gültigen ‘Schwabenbilder’-Re- pertoires gesetzt. Eberhard Emmingers Lithographie (1832) popularisierte Gottlob Friedrich Steinkopfs „Blick auf Schloß Rosenstein und das Neckartal“.

Ein frühes Beispiel für die Wandlungsfähigkeit der ‘Schwabenbilder’ im Span- nungsfeld zwischen ‘schwäbisch Arkadien’ und ‘Musterländle’: Eberhard Emmingers kolo- rierte Lithographie nach einer Vorlage von Christian Fried- rich Leins (um 1846) inte- griert die Möglichkeiten der In- dustrialisierung in das schwä- bische Heimatbild. tembergische Heimatbild integriert werden – ein sel- wicklungen auf dem Gebiet der Bildreproduktion zu tenes Indiz also für die schon früh einsetzende reagieren, die der visuellen Popularisierung der schwä- Wandlungsfähigkeit der ‘Schwabenbilder’. bischen Landschaft ungeahnte Möglichkeiten eröffne- Von einer anderen technischen Revolution des 19. ten: Daguerreotypie18 und (wenig später) Fotografie tra- Jahrhunderts war Emminger unmittelbar selbst betrof- ten nun ihren Siegeszug an. fen. Mit einem bestechenden Detailrealismus, der vie- le seiner Panoramen, topographischen Ansichten und Veduten aus Württemberg auszeichnet, versuchte er nach der Jahrhundertmitte auf die revolutionären Ent-

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„Ansichten aus Schwaben“ in der Fotografie nehmlich ‘schwäbische Identität’ stiften zu wollen, wird augenfällig in den Aufnahmen „zweier Burganlagen [...], die für Württemberg, Schwaben und das Deut- In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beförderte sche Reich ihre je spezifische Bedeutung hatten“27: die Fotografie die Herausbildung eines Kanons von Lichtenstein und Hohenzollern. ‘schwäbischen’ Ansichten. In Tübingen z.B. führte der Bei seinen Lichtenstein-Aufnahmen konnte sich Fotograf Paul Sinner (1838-1925) seit 1867 ein über Sinner auf die seit Jahrzehnten gültige Bildtradition die Grenzen der Universitätsstadt hinaus bekanntes berufen; Johann Jakob Müller von Riga, Louis Mayer Atelier, das zu den führenden Adressen in Württem- oder Friedrich August Seyffer hatten das Repertoire berg zählte.19 Sinner betätigte sich nicht nur als der Ansichten (und Sichtweisen) der Burganlage längst Portaitfotograf, sondern vertrieb schon früh Erin- festgelegt: nerungsmotive von Tübingen und seiner Umgebung.20 „Kaum eine Reihe von Lithographien und Stahlstichen „Entsprechend dem aus der gesellig-gesellschaftlichen entsteht, in der nicht der Lichtenstein vertreten ist. Fast Ausflugspraxis entstandenen Kanon darstellungswürdiger noch größer wird das Interesse nach dem Umbau des Orte wie ‘Niedernau, Bebenhausen, Lichtenstein, Was- Schlosses durch Carl Alexander Heideloff 1839.“ 28 serfall bei Urach, Wurmlinger Kapelle, Hohenzollern’ wurden solche Ansichten [...] angeboten und damit vor Graf Wilhelm von Urach, der als Vorstand des Würt- allem dem zeitweilig in der Stadt lebenden akademischen tembergischen Altertumsvereins zugleich auch einer Publikum Rechnung getragen. [...] Die Fotografien hiel- der „Promotoren des Historismus im Königreich“29 ten damit nicht nur Ansichten zur Erinnerung an einen war, hatte nach Plänen dieses renommierten Architek- Besuch der Stadt fest, sondern sie präparierten auch be- ten anstelle der abgegangenen mittelalterlichen Burg- stimmte Perspektiven und luden zur Besichtigung eben anlage eine „Ritterburg im edelsten Style des Mittelal- jener Ausflugs- und Aussichtspunkte ein.“ 21 ters“30 errichten lassen – selbstverständlich inspiriert durch Wilhelm Hauffs populären Roman. Obschon Neben den überaus populären Szenen aus dem schwäbi- der Lichtenstein, dem Willen des Bauherrn entspre- schen Volksleben22, die er in bester folkloristischer Tradi- chend, zu einem dynastischen Denkmal des Hauses tion der Betzinger Malschule23 produzierte, verdankte Württemberg wurde, war der Sinner seinen Erfolg als Fotograf und Verleger vor allem seiner Sammlung schwäbischer Baudenkmale und „Erfolg dieser historistischen Architektur [...] jedoch Kunstbarkeiten.24 Dieses Mappenwerk, das seit 1876 er- weniger ein unmittelbar politischer, als vielmehr die Her- schien, zeigt, daß Sinner ausbildung einer schwäbischen Attraktion: Wegen ihrer – literarischen – Geschichtlichkeit, ihrer Lage, ihrer Form „nicht nur Bildchronist, sondern Gestalter einer und ihrer Ausstattung [...] wurde die Burg [...] zu ei- Kulturregion war: Spätromantische Vorstellungen von nem beliebten Zielpunkt für Touristen.“ 31 Land, Kunst und Leuten in ‘Schwaben’ sind nicht zuletzt sein Werk und fanden in seiner Arbeit lebendigen Durch seine Aufnahmen wurde Sinner gleichermaßen Ausdruck.“ 25 „Wegbereiter und fotografischer Chronist“32 der Ent- wicklung des Lichtensteins zu einer schwäbischen At- Sinner beschränkte sich jedoch nicht auf württember- traktion. Auch in der Zeitschrift des 1887 gegründe- gische Kunstschätze, sondern vertrieb auch Motive aus ten Schwäbischen Albvereins wurden Sinners Lichtenstein- dem seit 1850 preußischen Hohenzollern und aus Ba- Ansichten veröffentlicht, was die Popularität des Bau- den. Damit erweiterte er „den Begriff einer ‘vaterlän- werks durch alle Bevölkerungsschichten hindurch mit dischen’ Kultur des Königreichs Württemberg hin zur Sicherheit gesteigert hat. Darstellung der Kunst- und Kulturgeschichte einer Re- Auch Sinners Aufnahmen der in den 1860er Jahren gion, nämlich: Schwaben.“26 Seine Intention, nicht nur errichteten Burg Hohenzollern waren mit hoher Sym- eine kunsthistorische Dokumentation, sondern vor- bolkraft belegt. Sie beschworen die „Aura der

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Ein Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Durch Paul Sinners populäre Motive wird der Lichtenstein im kollektiven schwäbischen Bildgedächtnis endgültig zur ‘Ikone’. Der Lichtenstein. Fotografie von Paul Sinner, Tübingen (spätes 19. Jht.).

116 Zwischen „Schwäbisch Arkadien“ und „Musterländle“

Anciennität “ und unterstrichen die „dynastisch-histo- ringen und diese von den Grafen von Urach abstammen, rischen Anspielungen“33, die den Stammsitz der preu- haben ihre Ursitze und diese beiden noch jetzt ihre ßischen Könige und Kaiser des Zweiten Deutschen Heimath in Württemberg und dem Schwabenlande.“ 34 Kaiserreiches auszeichneten. Die bildliche Darstellung des Hohenzollern sollte so die Tradition und die Ein- heit des Reichs und „die Bedeutung des Kulturraums Schwaben“ symbolisieren: „Die Traumlandschaft der Schwaben“

„Wir haben also hier schon die Regentenhäuser von Grossbritannien und Irland, von Braunschweig und Die Deutungsmuster, mit denen die Bilder schwäbi- Hannover, sowie das von Preussen und den beiden Ho- scher Landschaft im 19. Jahrhundert noch belegt wur- henzollern mit ihren Ursprüngen in Schwaben. Sodann den, haben sich gewandelt, zu alten sind neue das württembergische Regentenhaus selbst und auch das Bedeutungsebenen hinzugekommen. Beförderten die von Baden, insofern dieses von den Herzögen von Zäh- Ideallandschaften des schwäbischen Klassizismus und die Fotografien Paul Sinners nicht nur die Konstrukti- on einer kulturellen Region, sondern vornehmlich die Stiftung eines (württembergischen) Nationalstaats, so sind die ‘Schwabenbilder’ unserer Tage als Versuch ei- ner visuellen Musealisierung der schwäbischen Land- schaft zu verstehen. Im ‘High-Tech-Musterländle’ scheint jedenfalls ein nicht unerheblicher Bedarf an visueller Selbstvergewisserung zu bestehen: Mit steter Regelmäßigkeit bringen namhafte Verlage neue Bild- bände mit vermeintlich „einzigartigen“ Ansichten auf den Markt, die die „Faszination“ und das „Zauberhaf- te“ der Schwäbischen Alb beschwören. Unter der Viel- zahl der Suevica im Sortiment schwäbischer Buchhand- lungen rangieren Bildbände an erster Stelle der Beliebt- heitsskala35; sie tragen mit Sicherheit zur Kompensati- on von Modernisierungserfahrungen und -ängsten bei. Die schwäbische Alb, vor nicht allzu langer Zeit noch die rauhe geheißen, mutiert zur „Traumlandschaft der Schwaben“36. Die Alb wird zum Mythos: Ihre bildli- che Idealisierung steht in der Tradition der Landschafts- malerei des frühen 19. Jahrhunderts, aus der suggesti- ven Kraft der Hochglanzbilder spricht die bürgerliche Sehnsucht nach dem romantischen Naturidyll. Die Aura von Schloß Rosenstein – von Gottlob Friedrich Steinkopf 1828 ins Idealische erhoben und als ebensolches Idealbild schwäbischer Landschaft in der Stuttgarter Staatsgalerie zu bewundern – wird heute dagegen von B 10 und Stuttgart 21 gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen, Die „Aura der Anciennität“: Burg Hohenzollern. Fotografie von Paul Sinner, Tübingen (spätes 19. Jht.).

117 Zwischen „Schwäbisch Arkadien“ und „Musterländle“

„statt freier Neckarwindungen gibt es einen begradigten 14 Ebd., S. 84. Flußlauf, statt dörflicher Idyllen und lieblicher Talauen 15 Ebd., S. 101-103. Verkehrsschneisen und Industrieanlagen als Kernstücke 16 Vgl. Rudolf Henning/Gerd Maier: Eberhard Emminger. Süd- deutschland nach der Natur gezeichnet und lithographiert. des ‘mittleren Neckarraumes’ – die wirtschaftliche Blüte Stuttgart 1986. hat die landschaftliche weitgehend verdrängt.“ 37 17 Axel Burkarth (wie Anm. 12), S. 51. 18 Jacques Louis Mandé Daguerre hatte die nach ihm benannte Diese Modernisierungserfahrungen sind es wohl, die Vorform der Photographie 1837 in Paris vorgestellt. 19 Wolfgang Hesse: Ansichten aus Schwaben. Kunst, Land und den Bildern schwäbischer Landschaft und insbeson- Leute in Aufnahmen der ersten Lichtbildner und des Fotogra- dere der Schwäbischen Alb eine neue Bedeutungsebene fen Paul Sinner (1838-1925). Tübingen 1989. verleihen – zwischen „Schwäbisch Arkadien“ und 20 Vgl. den Beitrag Reiseandenken und Postkarten aus dem Schwaben- „Musterländle“. land von Carsten Kohlmann in diesem Band. 21 Wolfgang Hesse (wie Anm. 19), S. 44f. 22 Ebd., S. 50-66. 23 Vgl. den Beitrag Wie Schwaben Schwaben sehen von Sylvia Hartig und Ulrike Künstle in diesem Band. Anmerkungen 24 Wolfgang Hesse (wie Anm. 19), S. 80-93. 25 Ebd., S. 5. 26 Ebd., S. 83. 27 Ebd., S. 91. 1 So der Titel eines 1996 im DRW-Verlag erschienenen Bild- 28 Max Schefold (wie Anm. 13), S. 90. bandes von Thomas Pfündel und Eva Walter. 29 Ebd. 2 Vgl. Hans-Martin Maurer: Herzog Carl Eugen und seine Hohe 30 Julius Bernhard: Reisehandbuch durch Württemberg und die Schule. In: Christian von Holst (Hg.): Schwäbischer Klassizis- angrenzenden Länderstriche der Nachbarstaaten. Stuttgart mus zwischen Ideal und Wirklichkeit 1770-1830 (Aufsätze). 1863. Zit. nach: Wolfgang Hesse (wie Anm. 19), S. 91. Stuttgart 1993, S. 13-27; Wolfgang Uhlig: Die künstlerische 31 Ebd., S. 91-93. Ausbildung an der Hohen Carlsschule. Ebd., S. 47-59. 32 Ebd., S. 93. 3 Jörg Becker: Arkadische, heroische, schwäbische Landschaf- 33 Ebd. ten. Spielarten der Landschaftsmalerei zwischen Harper und 34 Julius Bernhard (wie Anm. 30). Zit. nach: Wolfgang Hesse (wie Steinkopf. In: Schwäbischer Klassizismus (wie Anm. 2), S. 245- Anm. 19), S. 93. 254. 35 Allein die Buchhandlung Osiander, Tübingen, ermittelte für 4 Ebd., S. 245. die zurückliegenden Jahre folgende Verkaufszahlen: 5 Ebd. Wolfgang Alber/Eckart Frahm/Otto Stadler: Schwäbische Alb. 6 Christian von Holst (Hg.): Schwäbischer Klassizismus zwischen Hamburg (Ellert & Richter) 1996: 163 Exemplare seit 1996. Ideal und Wirklichkeit 1770-1830 (Katalog). Stuttgart 1993, S. Ernst Waldemar Bauer/Petra Enz: Hinter der Blauen Mauer. Stutt- 421. gart (Theiss) 1993: über 2000 Exemplare seit 1993. 7 Ebd., S. 422. Hermann Baumhauer/Joachim Feist: Schwäbische Alb. Stuttgart 8 Ebd., S. 421. (Theiss) 1996: 120 Exemplare seit 1996. 9 Ebd. Gottlob Eisenhardt: Geliebtes Schwaben – Unterwegs im Ländle. 10 Ebd., S. 422. Leinfelden-Echterdingen (DRW) 1991: 273 Exemplare seit 11 Gustav Schwab: Das Neckarthal bei Cannstatt. Auf eine Land- 1991 (2. Auflage 1996). schaft von Steinkopf. Zit nach: Schwäbischer Klassizismus (wie Thomas Pfündel/Eva Walter: Faszination Schwäbische Alb. Anm. 6), S. 460. Leinfelden-Echterdingen (DRW) 1993: 107 Exemplare seit 12 Wilhelm Hauff: Lichtenstein. Zit. nach: Axel Burkarth: Von 1993. der Hohen Karlsschule bis Bernhard Pankok. In: Claus Zoege Thomas Pfündel/Eva Walter: Zauberhafte Schwäbische Alb. von Manteuffel (Hg.): Kunst und Künstler in Württemberg. Leinfelden-Echterdingen (DRW) 1996: 45 Exemplare seit 1996. Das 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1996, S. 23-104, hier S. Ich danke der Geschäftsleitung der Osianderschen Buchhand- 49. lung für die Informationen. 13 Max Schefold: Alte Ansichten aus Württemberg, Band 1. Stutt- 36 Thomas Pfündel/Eva Walter: Rauhe Alb. Stuttgart 1990, S. 8. gart 1956, S. 80. 37 Schwäbischer Klassizimus (wie Anm. 6), S. 422.

118 Postkarten und Reiseandenken aus dem Schwabenland

Carsten Kohlmann

Postkarten und Reiseandenken aus dem Schwabenland

1912 veranstaltete die Württembergisch-Hohen- Wanderbuch wurde in dieser Zeit auf das dichte Ver- zollerische Vereinigung für Fremdenverkehr in der kehrsnetz in Württemberg hingewiesen: Landeshauptstadt Stuttgart unter der Schirmherrschaft von König Wilhelm II. eine große Schwäbische Landes- „Die Eisenbahn ist für den heutigen Wanderer ein ge- ausstellung für Reise- und Fremdenverkehr.1 Diese Sonder- schicktes und unentbehrliches Hilfsmittel, das ihn mit ausstellung sollte im Interesse der Fremdenverkehrs- Leichtigkeit in die Lage setzt, sogar bei bemessener Zeit werbung auf die „Vorzüge und Sehenswürdigkeiten“ Wanderungen in den entferntesten Landesgegenden aus- aufmerksam machen, „die das Schwabenland [Würt- zuführen.“ 4 temberg und Hohenzollern] dem Erholungsbedürfti- gen, Vergnügungsreisenden und Wanderer zu bieten Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Reisen für vermag.“2 Fast alle Fremdenverkehrsvereine aus Würt- das Bürgertum immer billiger und populärer.5 Bereits temberg und Hohenzollern waren bei dieser Sonder- in der Frühzeit der bürgerlichen Reise entwickelte sich ausstellung vertreten. Gezeigt wurden unter anderem ein starkes Interesse an Reisebildern und Reiseanden- „Landschafts- und Städtebilder“, „Erzeugnisse der ken unterschiedlichster Art wie z.B. Landschafts- und Reise- und Verkehrsliteratur“ sowie „für das Schwaben- Trachtenbildern oder Darstellungen von „landes- land charakteristische Industriezweige, Volkstrachten typischen“ Genreszenen.6 Diese sogenannten „Vedu- usw.“ Eine künstliche Albgrotte „mit Durchblick zum ten“, meistens Kupfer- oder Stahlstiche, wurden be- Diorama Blick auf Schloß Lichtenstein“ und eine „Schwä- reits in den ersten Reiseführern als empfehlenswerte bische Trinkstube“ mit „Ausschank von Kessler-Sekt Reiseandenken erwähnt.7 Auch die Reiserouten wur- und württembergischen Weinen“ waren besonders den durch eine Fülle von Reiseführern und Wander- beliebte Attraktionen dieser Sonderausstellung in Stutt- büchern systematisiert.8 Durch die Zunahme des Frem- gart. denverkehrs entstand auch in Württemberg und Ho- Um die Jahrhundertwende wurden Württemberg henzollern eine starke Nachfrage nach Postkarten und und Hohenzollern durch den Ausbau der Infrastruk- Reiseandenken, auf die die Fremdenverkehrsindustrie tur immer besser für den Fremdenverkehr erschlos- mit einer breiten Produktpalette reagierte. Die Mas- sen. In einem zeitgenössischen Reisehandbuch lobte senproduktion von Postkarten und Reiseandenken mit man besonders die „Einführung der 15 Tage gültigen schwäbischen Motiven beeinflußte auch in Württem- und die Benützung aller Züge gestattenden Landes- berg die Entwicklung regionaler Stereotypen und wirkt fahrkarten in Württemberg.“3 Auch im Schwäbischen in den Produkten der Fremdenverkehrsindustrie fort.

119 Postkarten und Reiseandenken aus dem Schwabenland

Foto-Postkarte aus dem Betzinger Postkartenverlag W. Krieg & Lithographie „Gruss aus dem Schwobeland“ aus dem Verlag der Co. (vor 1900). Buchhandlung Palm in Reutlingen (um 1900). „Die touristische Wahrnehmung eines Landes, seiner Natur, Architektur und seiner Menschen“, so der Volks- kundler Ulrich Nußbeck, „ist geprägt durch feste Bilder vom Land, vorformuliert unter anderem durch Reisebe- richte, Fotographien, Filme, Reiseführer und Ansichts- karten.“ 9

Insbesondere die Postkarte kam dem Bedürfnis des bildungsbürgerlichen Reisepublikums sehr entgegen, mit einigen wenigen Zeilen die Daheimgebliebenen zu grüßen oder eine Erinnerung an die besuchten Land- schaften und Sehenswürdigkeiten mitzunehmen.10 Um 1875 begann die Druckindustrie mit der Produktion von Bildpostkarten, die man als typisches Erzeugnis Ein Tourist bei der Motivsuche im Schwabenland. Lichtdruckpost- karte aus dem Kunstverlag Kocher in Reutlingen (um 1900). der Gründerjahre des wilhelminischen Kaiserreiches bezeichnen kann. Bereits 1879 wurden von der Reichs- post 122.747.000 Postkarten befördert. Ständige Fort- schritte in der Drucktechnik ermöglichten viele ver- schiedene Gestaltungsarten wie z.B. Postkarten mit Prägedruckverfahren, mit Plüsch- oder Metallfolien, Sand, Mineralstaub, mechanischen Elementen oder so- gar mit Blütenduft. 1904 hatten sich bereits 280 Fir- men im Deutschen Reich ausschließlich auf die Bild- postkartenproduktion spezialisiert. Die zunehmende Beliebtheit der Bildpostkarte spiegelte sich auch in ei- ner weit verbreiteten Sammelleidenschaft in Kreisen des Bildungsbürgertums wider. Die Postkarten, die man aus der Ferne erhielt oder die man als Erinnerungs- Lithographie „Schwäbische Volkstrachten“, Gebr. Metz Verlag, stücke von eigenen Reisen wieder mit nach Hause ge- Tübingen (ca. 1890). bracht hatte, wurden in Sammelalben aufbewahrt und gen gedruckt und verschickt wurden, entsprachen sie präsentiert. Um die Jahrhundertwende trat schließlich gesellschaftlichen Wahrnehmungsweisen und reprodu- die Werbefunktion der Bildpostkarte immer stärker in zierten weit verbreitete Stereotype.11 Die Fremden- den Vordergrund. Da die Postkarten in hohen Aufla- verkehrsindustrie standardisierte die Bildikonographie

120 Postkarten und Reiseandenken aus dem Schwabenland der Postkarten in den meisten Fällen. Viele Postkarten ten den Zusammenhalt der unterschiedlichen gesell- zeigen, so der Volkskundler Uli Schwarz, „vor dem schaftlichen Interessen ästhetisch formulieren und be- stets strahlend blauen Himmel die jeweilige Sehens- werkstelligen sollten.“17 „Einigkeit und Stabilität“, die würdigkeit.“12 Diese Form der Bildkomposition ent- in der Industrialisierung verloren zu gehen schienen, spricht auch bei den heu- sollten mit der Wiederbe- tigen Bildpostkarten einer lebung der verschwinden- „Touristenideologie“ von den Volkstrachten in einer Unberührtheit und Ur- historischen Inszenierung sprünglichkeit, die von aufrechterhalten werden.18 diesen Bildern erwartet Diese „Heimatideologie“ werden. Die „Sehenswür- stand für einen „selbst- digkeiten“ sind genau bestimmten Regionalis- festgelegt, „Einheimi- mus, die Überschaubarkeit sche“ tauchen als „deko- kleinräumiger Verhältnisse, rative bunte Folklore- die Beharrung auf den Menschen“ oder als „pit- Grundsätzen des Fördera- toreske Typen“ auf.13 lismus, die stark retrospek- Einer der bedeutend- tiven Charakter hatten.“19 sten Produzenten von Die Volkstrachten sollten Postkarten mit schwäbi- daher vor den zerstöreri- schen Motiven war der schen Veränderungen des Fotograph Paul Sinner Industriezeitalters ge- (1838-1925), der 1865 ei- schützt werden und wan- nen „Kunstgewerbe- und delten sich – nicht zuletzt Fotographieladen“ in Tü- auch durch den 1903 ge- bingen eröffnete.14 Sinn- gründeten Verein zur Erhal- er spezialisierte sich u.a. tung der Volkstrachten in auf die Fotographie Schwaben – zur Vereins- schwäbischer Volkstrach- kleidung von Trachtenver- ten, die „für die Reisen- einen. Außerdem trat ein den gleichsam der Inbe- Bedeutungswandel der griff fremder Kultur“15 Kolorierte Lichtdruckpostkarte „Im Lichtkarz“ aus der Serie Volkstrachten von der orts- waren. Die Fotographien „Schwäbisches Volksleben“ des Fotographen Paul Sinner (um 1900). typischen Kleidung eines Sinners wurden beispiels- Dorfes zum Markenzei- weise 1873 auf der Weltausstellung in Wien gezeigt chen für eine ganze Region wie das Schwabenland ein. und entwickelten sich auch als Postkartenmotive zu Viele Fotomotive für die Postkarten von Paul Sinn- einem besonders beliebten Reiseandenken aus dem er entstanden in dem Dorf Betzingen bei Reutlingen, Schwabenland. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wa- wo aus einigen Genremalern seit Beginn der 1860er ren die Volkstrachten eigentlich fast überall schon ver- Jahre auch die sogenannte „Betzinger Schule“ entstan- schwunden, wurden dann aber als „Symbol ökonomi- den war.20 Wie die Gemälde beeinflußten auch die scher und nationaler Wertvorstellungen“16 im Zeital- Fotographien und Postkarten von Paul Sinner ein Bild ter der Industrialisierung und des Wilhelminismus wie- vom bäuerlichen und bodenständigen Schwaben in derbelebt. Wolfgang Hesse sieht daher in der Begei- ländlicher Volkstracht, das auch von der Fremden- sterung für Sinners Fotographien und Postkarten mit verkehrswerbung verwendet werden konnte. „Der schwäbischen Volkstrachten einen „Grundzug kultu- ‘Trachtenmensch’“, so der Volkskundler Uli Schwarz, reller Orientierung des Bürgertums im 19. Jahrhun- „zeugte für Tradition, Gesittetheit, Religiösität und Na- dert“, da „die überlieferten ländlich-ständischen Trach- turverbundenheit, allerdings nur der von bestimmten

121 Postkarten und Reiseandenken aus dem Schwabenland

sten Motive dieser Szenen aus dem schwäbischen Volks- leben waren hauptsächlich Darstellungen von Gesprä- chen, Liebesszenen, Streitereien und Tölpelhaftigkeiten mit scherzhaftem Charakter. Die Stadtbürger konnten sich auf diese Weise über die Dorfbauern amüsieren. Die Hochkonjunkturphase der Postkarten lag in der Zeit zwischen 1895 und 1918. Mit der Zunahme von Telefonanschlüssen und dem Aufkommen bebilderter Druckerzeugnisse wie der Illustrierten ließ das Inter- esse an den Postkarten deutlich nach. Postkarten mit stereotypen Darstellungen aus dem Schwabenland aber waren auch weiterhin sehr beliebt und finden sich mit dem sogenannten Lied der Schwaben bis heute auf den Produkten der Postkartenindustrie. Reiseandenken in Massenproduktion entstanden wie Weinglas zur Erinnerung an den Besuch auf Schloß Lichtenstein. die Postkarten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Bereits auf der Schwäbischen Landesausstellung für Regionen.“21 Die Fotographien und Postkarten von Reise- und Fremdenverkehr wurden 1912 Reiseanden- Paul Sinner wurden hauptsächlich für den Kunst- und ken wie z.B. „gerahmte Schaustücke mit Sommer- und Andenkenmarkt produziert und in einigen Buch- und Winterlichtbildern“ oder „perspektivische Holzbilder“ Schreibwarenhandlungen in Stuttgart, Reutlingen und vorgestellt. Außerdem wurden den Reisenden „12 Tübingen vertrieben. Die meisten Postkartenmotive schwäbische Landestrachten auf Figuren“ und das entstanden als Studioaufnahmen. Die Volkstrachten „Besticken von Fuhrmannskitteln für Kinder“ ange- verloren auf diese Weise ihren ortstypischen Hinter- boten. Die Fremdenverkehrsindustrie produzierte für grund und konnten ganz beliebig funk- tionalisiert werden. Der Hauptzweck die- ses Bildgenres war eindeutig die „Befrie- digung nostalgischer Sehnsüchte“22 des städtischen Bildungsbürgertums. Die Konstruktionstechnik dieser Studioauf- nahmen von Paul Sinner wird besonders bei den für den Postkartenmarkt aufge- nommenen Szenen aus dem schwäbischen Volksleben deutlich. Sinner fotographierte für diese Postkarten Trachtenträger aus verschiedenen Dörfern, stattete sie mit allerlei bäuerlichen Geräten aus seinem Studiofundus aus und unterlegte die so entstandenen Szenen aus dem schwäbischen Volksleben mit mundartlichen Dialogen oder Kommentaren. Besonders wichtig war für den Fotographen Sinner natürlich die ästhetische Wirkung seiner Bilder, wes- halb er auch immer nur die Festtags- trachten aufnahm und sich für die ge- wöhnliche Alltagskleidung der Dorfbe- wohner nicht interessierte. Die beliebte- Wandkachel mit dem „Lied der Schwaben“ zur Raumdekoration.

122 Postkarten und Reiseandenken aus dem Schwabenland

das Reisepublikum eine ganze Fülle von verschiede- eines Landes oder einer Landschaft werden von der nen Reiseandenken.23 Meistens werden auch heute noch Reiseandenkenindustrie zu charakteristischen Symbo- „typische“ Sehenswürdigkeiten – Landschaften, Bau- len einer Region standardisiert. Massentourismus und werke, Volkskultur – durch moderne Reproduktions- Massenproduktion sind auf diesem Gebiet eng mit- techniken in allen Größen, Materialien und Preislagen einander verbunden, so der Volkskundler Konrad wiedergegeben. Fotos von Landschaften wie der Schwä- Köstlin, „denn immer muß Individualität mit den Mit- bischen Alb oder von Bauwerken wie dem Schloß teln der Massenkultur hergestellt werden.“24 Konrad Lichtenstein werden auf Birkenbrettern, Wandtellern, Köstlin spricht daher auch von einer „durchgängigen Bierkrügen oder Gläsern aufgezogen. Die Formen die- Struktur“ der Reiseandenken, „die sowohl Auskunft ser Reiseandenken sind meistens identisch, oft wech- über das Verhältnis des Reisenden zu dem bereisten seln nur die Bilder und Schriftzüge, die von den Pro- Land wie über seine Rolle zu Hause gibt.“25 Wichtig duzenten einfach ausgetauscht werden. Die meisten sind vor allem die Erkennbarkeit und der Symbolwert Reiseandenken werden aber nicht ihrer Funktion ent- des Reiseandenkens. Eines der häufigsten schwäbischen sprechend verwendet, sondern dienen eigentlich nur Souvenirs ist das sogenannte „Lied der Schwaben“, als Repräsentationsobjekte wie z.B. Schlüsselbretter, das hauptsächlich als Wandteller in vielen Souvenir- Korkenzieher, Aschenbecher, Salz- und Pfefferstreu- geschäften angeboten wird. In diesem Gedicht wer- er, Bierkrüge oder auch Kissen. Kulturelle Merkmale den viele Stereotype über die Schwaben widergespie-

Ein Motiv mit Tradition: „Die sieben Schwaben“. Links eine zeitgenössische Farbpostkarte aus dem Gebr. Metz Verlag, rechts eine Lithographie aus dem Postkartenverlag Junginger in Stuttgart, wie sie vor ca. 90 Jahren vertrieben wurde.

123 Postkarten und Reiseandenken aus dem Schwabenland gelt und mit entsprechenden Bildern vom „Häusle 6 Ulrich Nußbeck: Schottenrock und Lederhose. Europäische bauen“ bis zum „Spätzle essen“ illustriert. Die zahllo- Nachbarn in Symbolen und Klischees. (=Kleine Schriften des Museums für Volkskunde, Heft 14). Berlin 1994, S. 53. sen Wandteller, aber auch Postkarten mit diesem Lied 7 Uli Schwarz: Andenken und Fotographie – Zeichen im Alltag. belegen anschaulich, daß das Reiseandenken und die In: Margit Berwing/Konrad Köstlin (Hg.): Reise-Fieber. Be- Postkarte als Produkte des modernen Massentouris- gleitheft zur Ausstellung des Lehrstuhls für Volkskunde der mus immer das konstruierte Bild einer Region wider- Universität Regensburg. (=Regensburger Schriften zur Volks- spiegeln, da sie stets kommerziell orientiert sind, der kunde, Band 2). Regensburg 1984, S. 78-99, hier S. 78f. 8 Walter (wie Anm. 5), S. 214. Erwartungshaltung des Käufers entsprechen und die 9 Nußbeck (wie Anm. 6), S. 53. vorhandenen Klischees reproduzieren. 10 Gerhard Kaufmann: Die Postkarte im Spiegel der Kultur und Gesellschaft. In: Ders./Robert Lebeck (Hg.): Viele Grüße. Eine Kulturgeschichte der Postkarte. Dortmund 1985, S. 399-457, hier S. 404. 11 Walter (wie Anm. 5), S. 212. 12 Schwarz (wie Anm. 7), S. 84. 13 Ebd. 14 Wolfgang Hesse: Ansichten aus Schwaben. Kunst, Land und Anmerkungen Leute in Aufnahmen der ersten Tübinger Lichtbildner und des Fotographen Paul Sinner (1838-1925). Tübingen 1989, S. 50. 15 Ebd. 1 Württembergisch-Hohenzollerische Vereinigung für Fremden- 16 Ebd., S. 53. verkehr (Hg.): Bunte Blätter aus Württemberg und Hohenzol- 17 Ebd., S. 51. lern. Ausstellungskatalog aus Anlaß der unter dem Protekto- 18 Ebd. rat seiner Majestät des Königs von Württemberg stehenden 19 Ebd., S. 52. Schwäbischen Landesausstellung für Reise- und Fremdenver- 20 Vgl. hierzu den Beitrag Wie Schwaben Schwaben sehen von Sylvia kehr vom 1. April bis 10. Juni 1912. Stuttgart 1912. Hartig und Ulrike Künstle in diesem Band. 2 Ebd., S. 82. 21 Schwarz (wie Anm. 7), S. 83. 3 Redaktion der Union-Führer (Hg.): Württemberg und Hohen- 22 Hesse (wie Anm. 14), S. 61. zollern. Reisehandbuch. Stuttgart/Berlin/Leipzig 1896, S. III. 23 Schwarz (wie Anm. 7), S. 96. 4 Generaldirektion der Kgl. Württemb. Staatseisenbahnen (Hg.): 24 Konrad Köstlin: Souvenirs im Lebensmuseum. In: Hermann Schwäbisches Wanderbuch. Eisenbahn- und Wanderführer Bausinger u.a. (Hg.): Ums Leben sammeln. Ein Projekt. Tü- durch Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart/Berlin/Leip- bingen 1994, S. 186-203, hier S. 201. zig o. J., S. X. 25 Konrad Köstlin: Souvenir. In: Wolfgang Alber u.a. (Hg.): Üb- 5 Karin Walter: Postkarte und Fotographie. Studien zur Massen- riges. Kopflose Beiträge zu einer volkskundlichen Anatomie. bild-Produktion. (=Veröffentlichungen zur Volkskunde, Band Utz Jeggle zum 22. Juni 1941. Tübingen 1991, S. 131-141, hier 56). Würzburg 1995, S. 213 S. 133.

124 Die Kunst des Spagats

Michael Hermann

Die Kunst des Spagats

Der Schwäbische Sängerbund zwischen Vaterland und Heimatland im 19. Jahrhundert

Württemberg ist nicht gerade bekannt für für große im 19. Jahrhundert einen nicht zu unterschätzenden Komponisten oder Musiker. Schon ein kurzer Blick in Teil des öffentlichen Lebens dar. Sie waren – vergleich- die württembergische Musikgeschichte macht klar, daß bar den heutigen Medien – meinungsbildend, natür- sich die musikalische Kultur in der Regel auf Importe lich im Sinne einer bürgerlichen Meinung. Diese bür- für den Bedarf des Stuttgarter Hofs beschränkte. Der gerliche Meinung war in Württemberg überraschend einzige nennenswerte Beitrag Württembergs zur Mu- schnell in staatstragende Strukturen eingebunden. Wäh- sikgeschichte ist demnach die „Erfindung“ des evan- rend nach dem Hambacher Fest 1832 auch in Würt- gelischen Choralsatzes durch den württembergischen temberg Sängerfeste und ähnliche Vereinsaktivitäten Hofprediger Lukas Osiander im Jahr 1586. Um so unterbunden wurden, hatte sich das Verhältnis in den mehr erstaunt es, daß im 19. Jahrhundert eine Ent- folgenden Jahren so deutlich verbessert, daß an den wicklung einsetzt, die gerade in Württemberg ihre nach- Feierlichkeiten zum 25-jährigen Regierungsjubiläum haltigste Resonanz hatte: die Entstehung des Sänger- König Wilhelms 1841 bereits 70 Liederkränze betei- wesens. ligt waren. Diese zunehmende Einbindung der bür- Bereits wenige Jahre nach der Gründung der ersten gerlichen Kreise in den Staat Württemberg erzeugte Gesangsvereine durch den Schweizer Hans Georg neben dem eigentlichen national deutschen Selbstver- Nägeli entstanden ab 1824 in ganz Württemberg eine ständnis zugleich eine Verpflichtung gegenüber Würt- große Zahl von Liederkränzen. Bereits 1827 wurde in temberg. Diese ambivalente Ausrichtung zeigt sich zum Plochingen das erste deutsche Liederfest abgehalten, Beispiel an der differenzierten Bezeichnung „Vater- 1849 entstand der Schwäbische Sängerbund als erste land“ für Deutschland und „Heimatland“ für Würt- und lange Zeit führende Verbandsgründung in temberg, welche in den Festreden des Schwäbischen Deutschland. Allerdings waren diese Männergesangs- Sängerbundes zu dieser Zeit immer wieder auftauchen. vereine nie nur eine Institution künstlerischer Unter- Auffällig an den Aktivitäten der Liederkränze ist die haltung, sie waren immer auch stark politisch ausge- immer wiederkehrende Verbindung zu schwäbischen richtet. Neben der Turnerbewegung und studentischen Dichtern. Bereits in der Gründungssatzung des Stutt- Verbindungen waren die Sänger die zentralen Vertre- garter Liederkranzes von 1824 ist die Abhaltung einer ter des deutschen Nationalismus. jährlichen Schillerfeier zur Finanzierung eines Schiller- denkmals in Stuttgart vermerkt. Unter den Gründungs- Gerade in Süddeutschland wurden die Liederkränze mitgliedern des Stuttgarter Liederkranzes befanden sich von breiten bürgerlichen Kreisen getragen. Diese übrigens Gustav Schwab und Wilhelm Hauff, Ludwig Liederkränze stellen mit ihren Kulturveranstaltungen Uhland wurde Ehrenmitglied. Auch im Schwäbischen

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Sängerbund war Uhland Ehrenmitglied, zudem wur- meier. Wohl nicht ganz ohne Grund leitet sich der Bie- de nach Uhlands Tod die Errichtung des Uhlanddenk- dermeier-Begriff von den 1855 veröffentlichten Ge- mals in Tübingen durch den Schwäbischen Sängerbund dichten des schwäbischen Schulmeisters Gottlieb Bie- initiiert. dermeier2 ab. Es erübrigt sich also zu betonen, wer da- Diese Verbindung der schwäbischen Dichterschule mit gemeint ist. In diesem Begriff vereinigen sich mit dem Sängerwesen findet auch im Repertoire ihren (klein)bürgerliches Selbstverständnis, national deutsche Niederschlag. Es sind keineswegs – im Gegensatz zu Gesinnung und zugleich selbstgenügsame Provin- „klassischen“ Liedvertonungen – die großen Dichter- zialität. Sicherlich wird der durchaus polemisch gemein- klassiker, die das Repertoire prägen. Den größten An- te Begriff dem Gesamtwerk dieser Künstler nur un- teil haben romantische Dich- zureichend gerecht, aber er ter national deutscher Aus- charakterisiert sehr bezeich- richtung. Absoluter Spitzen- nend das Umfeld, in dem die- reiter ist Ludwig Uhland, se Werke rezipiert wurden, ebenso vertreten sind Kerner, und für das vielleicht diese Schwab und Mörike. Die Werke auch zum Teil entstan- schwäbischen Dichter haben den sind. – gemessen am Bevölke- Gleichwohl präsentiert die- rungsanteil in Deutschland – ses biedermeierliche Weltbild in diesem Repertoire einen nur einen Ausschnitt bürger- erstaunlich hohen Anteil. licher Kultur. Gerade das Bür- Es gibt also eine zweifache gertum, Beamte und Honora- Verbindung. Einerseits stehen tionen wurden in der ersten gerade die schwäbischen Ro- Hälfte des 19. Jahrhunderts mantiker dem Sängerwesen auch zunehmend in den Staat personell sehr nahe. Die Württemberg integriert, sei es schwäbischen Romantiker im Rahmen der kommunalen stammten wie die Sänger Verwaltung, in den staats- überwiegend aus bildungs- nahen Vereinen, z.B. den bürgerlichen Kreisen.1 Ande- Wohltätigkeits- und den land- rerseits scheint sich die Form wirtschaftlichen Vereinen, ihrer Poesie besonders für oder auch beim Militär. Hier eine Vertonung in eher popu- Biedermeierliche Selbstgenügsamkeit oder Heroen des entwickelte sich zu dieser Zeit lären Formen zu eignen. Es deutschen Vaterlandes? Göppinger Liederkranz 1843. ein staatsbürgerliches, fort- ist weniger eine zarte, subtile Lyrik, sondern ein kraft- schrittsorientiertes, „modernes“ Selbstverständnis. Die- voller, leicht pathetischer Stil. ses Verständnis setzte deutlich andere Schwerpunkte Es zeigt sich aber gerade in der ersten Hälfte des als das biedermeierliche Programm – doch bedeutet 19. Jahrhunderts, daß es zwar eine reale Verbindung dies keineswegs, daß für das individuelle Weltbild nur zwischen Romantikern und Sängern gibt, beide aber das eine oder das andere Programm in Frage kam, viel- keineswegs gleichgesetzt werden können. Schon die mehr waren in der Regel beide Formen latent aktiv. Benennung der „Schwäbischen Dichterschule“ um Trotzdem handelt es sich aber um zwei verschiedene Uhland als „Schwäbische Romantiker“ ist ja nicht un- Weltbilder; jedes setzte entsprechend eigene Zeichen umstritten. Sie bezieht sich eigentlich nur auf die und Monumente bzw. formte eigene Identifikations- Jugendjahre der Dichter. Für die späteren Werke, vor angebote aus. Während die staatsnahe Idee verstärkt allem aber für die zunehmende Einbindung in bürger- auf „Modernität“, Innovation und Gewerbeent- liche nationale Kreise, aber auch für das von Heinrich wicklung abzielte3, orientierte sich die biedermeierli- Heine kritisierte Erstarren des romantischen Pathos che Idee eher an kontinuierlichen Werten, am „alten drängt sich ein anderer Begriff auf: der des Bieder- Recht“ und an bereits bewährten Größen aus den ei-

126 Die Kunst des Spagats genen bürgerlichen Reihen. Und wer böte sich da eher den Bereich der „Kultur“ ermöglichte es, existente an als die Dichterfürsten um Schiller und Uhland. Differenzen zu überdecken. Während also die Bevöl- Wichtig ist, daß es sich keineswegs um prinzipiell kerung einerseits einer einheitlichen und kontinuierli- gegensätzliche individuelle Weltbilder, auch nicht um chen Konditionierung ausgesetzt war, mit dem Ziel, gesellschaftliche Fraktionen handelt, sondern jeweils sich selbst als Württemberger wahrzunehmen, entstan- um gesellschaftliche Diskurse, die sich sowohl in Be- den andererseits typische Symbole und Bezugspunkte fürwortern als auch in Gegnern des jeweiligen Welt- für diese württembergische Selbstwahrnehmung. Sol- bilds spiegeln, bzw. auch deren Handlungen beeinflus- che Loyalität einfordernden Symbole sind nun an und sen. Obwohl diese beiden diametralen Weltbilder indi- für sich nichts grundsätzlich Neues. Auch im Herzog- viduell durchaus vereinbar waren, bildeten sich doch tum Württemberg hatten z.B. die weithin sichtbaren Institutionen aus, die eine der beiden Optionen gewis- Landesfestungen wie der Hohenasperg oder der sermaßen repräsentierten, und eine der wichtigsten die- Hohenneuffen nicht nur eine fortifikatorische Funkti- ser Institutionen war eben der Schwäbische Sänger- on, sondern auch eine identitätsstiftende Bedeutung. bund. Gleiches gilt z.B. für die in jedem Dorf vorhandenen herrschaftlichen Baulichkeiten, wie Zehntscheuern u.ä. Die Neigung, sich im Glanze großer Dichter zu son- Letztlich funktionierte sogar der örtliche – weil landes- nen, war eigentlich keineswegs nur eine Eigenart des kirchliche – Kirchturm als Symbol einer unausweichli- württembergischen bürgerlichen Selbstverständnisses.4 chen, keineswegs freiwilligen regionalen Zugehörig- Daß sich bürgerliche Kreise an den Leistungen von keit. Geistesgrößen orientieren, findet sich zu der Zeit in Die eigentliche Neuerung sind die zunehmende ganz Deutschland. Und zuerst galt der Stolz natürlich Subtilität sowie die Ambivalenz der Zeichen. Es han- z.B. dem deutschen Dichter Schiller. Seine Herkunft delt sich nun nicht mehr um real vorhandene Zeichen aus Württemberg spielte dagegen noch keine große von Macht, die neuen Symbole setzen das Wissen um Rolle. Im Zuge der nationalen Einigkeitsbestrebungen Macht bereits voraus, sie erinnern eigentlich nur noch galt das Interesse den Heroen einer deutschen Kultur. daran. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die Orts- Erst die gescheiterte Einigung 1848 brachte hier – in schilder des Königreichs Württemberg. Diese gußei- Verbindung mit dem zunehmenden Erfolg der deut- sernen Schilder waren jeweils in der Ortsmitte aufge- schen Mittelstaaten – einen nachhaltige Veränderung. stellt. Sie markierten also nicht – wie heute – die Orts- Die Idee des deutschen Reichs war in weite Ferne ge- grenze. Die Aufstellung von nur einem Schild an ei- rückt. Dafür forderte das zunehmend erfolgreiche Kö- nem zentralen Platz mag natürlich auch aus finanziel- nigreich Württemberg mehr und mehr Loyalität. len Gründen angemessen sein, gerade aber die Tatsa- Württemberg hatte – wie auch Bayern oder Baden che, daß auf den Schildern nicht nur der Name des – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen be- Ortes und das zugehörige Oberamt verzeichnet sind, tont eigenständigen politischen Kurs zwischen sondern auch das Armeeregiment, dem der jeweilige Preussen und Österreich gesteuert. Zugleich wurden Ort zugeteilt war, macht deutlich, daß diese Schilder zum Teil schon unter König Friedrich, unter König keinesfalls vorrangig an durchreisende Fremde gerich- Wilhelm I. dann konsequent und zügig die Grundla- tet waren. Sie waren ebenso an die Ortsbevölkerung gen für ein modernes Staatswesen geschaffen. Diese gerichtet, im Sinne eines ziemlich nachdrücklichen Modernität beruhte nicht nur auf einer einheitlichen Identitätsangebots. Verwaltung und einheitlichen Rechtsgrundsätzen, Vor- Andererseits werden solche Staatssymbole – im aussetzungen waren ebenso ein einheitliches Territori- Grunde genommen könnte man auch von nationalen um sowie eine einheitliche Bevölkerung. Und wo es Symbolen sprechen – zunehmend zu komplexeren diese einheitliche Bevölkerung nicht gab, wurde nach- Systemen, bei denen die eigentliche Loyalitätsforderung haltig daran „gearbeitet“. Das klingt zunächst wider- mit dem Angebot der symbolischen Teilhabe an den sprüchlich, denn gerade in dieser Zeit setzen ja auch Erfolgen des Staates oder auch einfach nur mit positiv die Landesbeschreibungen ein, die vor allem die Viel- bewerteten Eigenschaften oder Bestandteilen dieses fältigkeit beschreiben. Aber gerade die Verlagerung auf Staats verknüpft ist. Gerade diese Ambivalenz verleiht

127 Die Kunst des Spagats aber dem Zwang zur Loyalität den Eindruck von frei- Du sendest aus der Kinder viele, williger Zustimmung. An nahem wie an fernem Ziele Solche Staatssymbole sind im Grunde typisch für Stellt sich der Württemberger ein: Nationalstaaten, und tatsächlich war Württemberg um Er trägt, wo irgend Menschen wohnen, die Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem besten Weg Sein Heimatland nach allen Zonen, zum Nationalstaat. Dadurch kam es zwangsläufig zu Und draußen denkt er liebend sein. Konflikten und Überlagerungen von nationalen würt- tembergischen und nationalen deutschen Interessen. Doch deine holden Töchter leben, In diesem Kontext findet eine Neuinterpretation von Daheim in frommer Zucht und streben, „deutschen Tugenden“ als „württembergische Tugen- Daß Heil und Glück im Hause sei, den“ statt. Erstmals greifbar wird das beim Sängerfest Auch dessen Stütz’ und Schmuck zu werden, 1857 in Tübingen. Hier fand sowohl die Einweihung Und sagt, welch anderes Land auf Erden der neuen Bundesfahne, als auch die Ernennung von Hat eine Burg „die Weibertreu“? Ludwig Uhland und Friedrich Silcher zu Ehrenmit- gliedern des Schwäbischen Sängerbundes statt. Karl Dein Volk liebt Freiheit, Lust und Frieden, Pfaff, der Vorstand des Sängerbundes, hielt die Fest- Doch ist das Kriegslos ihm beschieden, rede und erklärte : So übt es kühn des Krieges Pflicht, Und seine Denker, seine Weisen „Tübingen, [...] aus dessen Bildungsstätten, dem Stifte Hört man von tausend Zungen preisen, zumal, Deutschlands größte Denker hervorgegangen sind; Und wer kennt Schwabens Sänger nicht? Tübingen, die Universitätsstadt, wo in den vollen Män- nerchor des Sängerbundes deutsche Jugend mit einstimmt, Land, das man lieben muß und loben, berufen, die hehren Klänge einst hinauszutragen in alle Gewiß, du bist beschirmt von oben, Gaue des Vaterlandes; Tübingen, eine Wiege deutschen Und dein Gedeih’n ist Gottes Werk! Volksgesangs, wo Ludwig Uhland geboren ist und lebt, So hebe dich, du Wunderblume, wo Meister Silcher wirkt, welche von dem ewig grünen Empor zu immer neuem Ruhme! Baume der deutschen Volkspoesie die herrlichsten Blü- Denn allweg hie gut Württemberg! ten, im Liede und in dessen Weise, gepflückt haben.“ 5 Zu seiner Entstehung spiegelt es wohl noch nicht die Hier wird ein sukzessiver Übergang greifbar. Es sind vorherrschende Meinung in Württemberg. Die Bezeich- einerseits noch die größten Denker Deutschlands – nung „Vaterland“ für Württemberg ist in eben diesen die größten Dichter, in Vertretung durch Uhland sind bürgerlichen Kreisen recht unüblich, sie ist eigentlich hier wohl stillschweigend mitgemeint – die aber be- Deutschland vorbehalten. Interessanter ist dagegen reits in Württemberg verortet werden. Dieses „Dich- Ritters Vereinnahmung der „Denker“ und „Weisen“ ter und Denker“-Stereotyp hat durchaus Vorläufer; ei- für Württemberg, ebenso der „Sänger“ – hier sind 1819 nes der markantesten ist das 1819 entstandene Würt- natürlich nicht die Gesangsvereine gemeint, sondern temberger Lied des Pfarrers Friedrich Ritter, vertont von die Dichter! Das Lied findet sich erst im Band III der Peter Lindpaintner (1791-1856), der seit 1819 Hof- Liedersammlung des Schwäbischen Sängerbundes von komponist in Stuttgart war: 1879, in den Berichten der Sängerfeste vor 1879 ist es dagegen nie erwähnt. Offenbar korrespondierte die Von dir, o Vaterland, zu singen, veränderte Stimmung im Land mit der verstärkten Muß wahrer Liebe wohl gelingen, Rezeption dieses Liedes in der 1870er Jahren. Da dich des Himmels Liebe hält! Bis nach 1848 wurden vor allem an der deutschen Mein Württemberg du, das seit lange Nation ausgerichtete Lieder gesungen, wie An das Gefeiert und mit gutem Klange, Vaterland (Dir möcht ich diese Lieder weihen, gelieb- Genannt bist in der weiten Welt. tes deutsches Vaterland...) von Ludwig Uhland und Conradin Kreutzer, Was ist des Deutschen Vaterland von

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Ernst Moritz Arndt oder Johann Wenzel Kaliwodas Gerade am Beispiel von Kerners Der reichste Fürst Lied der Deutschen. Man hat nahezu den Eindruck, daß wird aber auch die Ambivalenz der Akteure deutlich, eine württembergische „Identität“6 erst nach der ge- die einerseits eine aktive identitätsstiftende Stellung- glückten Reichsgründung zu einer akzeptablen Opti- nahme zugunsten des Königreichs Württemberg ver- on für diese biedermeierlichen Kreise wird – also erst, meiden, andererseits aber in der Ausbreitung eines nachdem diese Option keine politische Brisanz mehr Geschichtsbildes, das sich auf die Linie Staufer – Graf- hatte. schaft/Herzogtum Würrtemberg – Königreich Bezeichnenderweise findet sich auch das 1818 von Würrtemberg konzentriert, indirekt durchaus an einem Justinus Kerner verfasste Lied Der reichste Fürst (Prei- württembergischen Wir-Gefühl mitstricken.9 send mit viel schönen Reden...), das im nachhinein gern Auch Ludwig Uhlands Graf Eberhard der Rausche- als heimliche württembergische Nationalhymne dar- bart weist in dieselbe Richtung. Uhlands Intention liegt gestellt wird, in keiner der vier bis 1912 erschienenen zwar darin, seine politische Forderung nach dem „al- Liedersammlungen des Schwäbischen Sängerbundes. ten Recht“ („In Fährten und in Nöten zeigt erst das Das Kerner-Lied wurde offenbar – im Gegensatz zum Volk sich echt/Drum soll man nie zertreten sein altes, Württemberger Lied – auch nach 1871 von den Sängern gutes Recht“) aus der württembergischen Geschichte überhaupt nicht rezipiert. Das erstaunt um so mehr, zu legitimieren, mit dem Ziel, auf der Grundlage die- als das Lied sofort nach seiner erstmaligen Veröffent- ses „alten Rechts“ die Einigung Deutschlands herbei- lichung 18277 in allen Kommersliederbüchern8 aufge- zuführen. In ihrer Wirkung stützt die Graf-Eberhard- nommen wird und ab 1850 auch in Schulliederbüchern Ballade aber vor allem den Vormachtanspruch Würt- erscheint. Möglicherweise lag dies an der Melodie des tembergs in Schwaben seit der nachstaufischen Zeit, Liedes, die ursprünglich von der Räuberbalade des und damit indirekt die Existenzberechtigung des Kö- Rinaldo Rinaldini In des Waldes tiefsten Gründen stamm- nigreichs Württemberg. te. Ob das Wissen darüber aber tatsächlich allgemein Es sind eben die Gründungsmythen Württembergs, vorhanden war, ist eher zweifelhaft. Denn bereits bei nicht des deutschen Reichs, die besungen werden. der Erstveröffentlichung wird als Weise das Lied Daran ändert auch nichts, daß beide – Uhland und Freudensänge, deutsche Brüder angegeben. Auch dieses Lied Kerner – in diesem historischen Exkurs Württemberg wird – trotz seines deutsch-nationalen Inhalts – vom nicht als eigenstaatliche Kraft sahen, sondern als hi- Schwäbischen Sängerbund nicht rezipiert. Der entschei- storischen Bestandteil des „alten, guten“ Deutschen dende Grund dürfte vielmehr in der Melodie selbst Reichs. Es handelt sich um einen Rückgriff auf die liegen. Denn diese Melodie zitiert nicht nur die Mar- Glanzzeit des deutschen Reichs, mit dem der Anspruch seillaise, sie ist eine Variante der französischen Natio- auf ein neues glanzvolles Deutsches Reich erhoben nalhymne – am Anfang in der Umkehrung, am Schluß wird. Daß dabei die Reduktion der Stauferzeit auf die fast Note für Note. Ob die Ablehnung nun letztlich Burg Hohenstaufen allzusehr den Vergleich mit der darauf beruht, daß die Melodie „welsch“ ist, also nicht benachbarten Burg Hohenzollern nahelegte, entsprach einem „edlen deutschen Sinn“ entspricht, oder ob es allerdings wohl weniger Uhlands Intention. So schrieb sich um ein latentes Unbehagen des biedermeierlichen Gustav Schwab 1815: „Das ist ja Hohenzollern,/Was Bürgertums beim Gedanken an eine Revolution der noch so innig glüht./Der Staufen ist gesunken/In Straße handelt, läßt sich letztlich nur schwer beantwor- abendliche Nacht,/Du aber stehst noch trunken/Von ten. Für die letztere Überlegung dürfte aber die nach- königlicher Pracht!“10 Ähnlich wurde es von Paul haltige Rezeption durch die Burschenschaften sprechen, Achatius Pfizer 1831 ausgedrückt: die eben nicht nur national – wie die Sänger – argu- mentierten, sondern auch liberal, radikal u.s.w. Daß „Hohenstaufens sel’ge Sterne, das loyale Kerner-Lied zudem die Möglichkeit bot, in Beide Friedrich, Konradin, Zeiten der Zensur die Marseillaise ungestraft zu singen, Schaut ihr aus verhüllter Ferne und sei es nur, um die eigene jugendliche Radikalität Jetzt nach eurer Wiege hin? auszuleben, hat der Beliebtheit des Liedes unter den Schweb’ herab aus ihrer Wolke, Studenten sicher nicht geschadet. Liederfrühling, Waffenklang!

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Über dem verwaisten Volke könnte, würde das vielleicht nicht unzweckmäßig sein. Tön’ erweckender Gesang! Auch auf den Berg Hohenstaufen darf aufmerksam [...] gemacht werden.“ 12 Doch die Helden sind geschieden, Die Vergangenheit ist tot! So viel zum Thema Selbstdarstellung. Was die Verein- Seele von des Grabes Frieden, nahmung Uhlands und anderer schwäbischer Dichter Wende dich zum Morgenrot, betrifft, so soll hier zusätzlich nur noch kurz auf die Gleich dem Aar, der einst entflogen seit 1851 bestehende Preismedaille des Schwäbischen Staufens Nachbar, und im Flug Sängerbundes hingewiesen werden, Zollerns Ruhm bis an die Wogen Des entleg’nen Ostmeers trug! „auf dessen Spruchband die Namen der damaligen an- erkanntesten deutschen Dichter und Tonsetzer eingesto- Adler Friederichs des Großen! chen sind: Schiller, Goethe, Körner, Schwab, Uhland, Gleich der Sonne decke du Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Kreutzer.“ 13 Die Verlass’nen, Heimatlosen Mit der gold’nen Schwinge zu!“ 11 Zunächst beeindruckt natürlich der große Anteil der Schwaben an den Dichtern. Gerade aber bei den Kom- Auch im Hinblick auf diese Stauferverklärung zeigt ponisten wird um so mehr die Wilkürlichkeit dieser sich wieder, daß der Schwäbische Sängerbund gerade- Auswahl deutlich. Denn der zuletzt genannte Conradin zu als ‘institutionalisiertes biedermeierliches Weltbild’ Kreutzer war auch in seinen erfolgreichsten Zeiten zwar agierte. So wurde z.B. in der öffentlichen Ausschrei- bekannt, aber nicht eben berühmt. Sein Erfolg bezog bung für die neue Sängerbundfahne 1855 ausdrück- sich auch im 19. Jahrhundert lediglich auf ein einziges lich festgehalten: Werk, die Oper Das Nachtlager von Granada. Zwar stand Kreutzer als Komponist in der Tradition Mozarts und „Als Umschrift auf dem Revers wäre zu setzen: Webers, diese Aufreihung verschleiert aber, daß um Schwäbischer Sängerbund, gegründet 1849. Wenn auf 1850 ganz andere Komponisten in Deutschland den eine ungezwungene Weise durch eine Umschrift an das Ton angeben. Selbst wenn man die mehr in elitären frühere Alter des schwäbischen Sängerwesens erinnert Salons wirkenden romantischen Komponisten wie werden könnte, so wäre es erwünscht. Als Notiz fügen Schumann oder Mendelsohn übergeht, wenn man die wir deshalb hier bei, daß das erste schwäbische, zugleich weitgehende Vorherrschaft italienischer und französi- erste deutsche Liederfest schon 1827 in Plochingen gefeiert scher Komponisten wie Meyerbeer, Auber, Donizetti wurde. Auch eine Erinnerung an unsere schwäbischen oder Bellini im deutschen Musikbetrieb des 19. Jahr- Meister, Uhland voran, oder überhaupt an deutsche Sänger hunderts ignoriert – es bleiben doch neben den Bie- [d.h. Dichter; Anm. d. Verf.] wäre hier möglich, deren dermeier-Komponisten, zu denen Kreutzer zu rech- Namen einen geeigneten Platz fänden. Eine passende nen ist, vor allem die Neuromantiker Liszt, Marschner Umschrift gäbe vielleicht das folgende Verschen: ‘Noch oder der aufstrebende Richard Wagner. Wilhelm Hein- blüht im Schwabenlande heut’/Das Lied wie einst zur rich Riehl spricht in diesem Zusammenhang von Staufenzeit.’ Was den Hauptinhalt der Fahne betrifft [...] der Stoff sollte aus der deutschen Geschichte, womöglich „einer kranken und einer gesunden Romantik. Die ei- der schwäbischen genommen werden. Es dürfte an die nen strebten hohen Zielen nach, aber wie im Fieberrausche Zeiten der Minnesänger, der Hohenstaufen, von denen oder gar wie in jenem Katzenjammer, der sich an das Kaiser Heinrich VI., der große Friedrich II. und der edle Erwachen aus demselben knüpft, und den die kranken Konradin selbst Meister des Gesangs waren, erinnert Leute vor Zeiten Weltschmerz genannt haben. Die ande- werden. Die Zeichnung dieser Fahne mit allem Zubehör ren faßten die Kunst mehr als das sinnige Spiel des wei- muß in echt deutschem Stile gehalten sein. Wenn zur chen Gemüts: sie blieben gesund dabei, wie die meisten Ausschmückung eines oder das andere schwäbische Menschen, welche nicht allzuhohen Dingen nachtrachten. Baudenkmal aus dem Mittelalter angebracht werden Eine gesunde Musik in diesem Sinne hat Kreutzer ge-

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schrieben gegenüber den französisierenden Neuromanti- gebracht, sondern vor allem ein biedermeierliches kern mit der interessanten Blässe des Gesichts. Ähnlich, Selbstverständnis formuliert. Wenn man andererseits nur durchdringender und siegreicher, hat auch die schwä- berücksichtigt, daß Kreutzer auch unter den Bieder- bische Dichterschule dem jungen Deutschland Widerpart meier-Komponisten neben Louis Spohr, Otto Niccolai, gehalten.“ 14 Carl Loewe oder Albert Lortzing keineswegs eine her- ausragende Stellung einnahm, so drängt sich der Ver- Dieses Zitat zeigt, wie mit nicht musikwissenschaftli- dacht auf, daß Kreutzer vor allem als gebürtiger Schwa- chen – in diesem Fall medizinischen – Argumenten be15 und als wichtigster Komponist von Uhland-Lie- eine abweichende Musikauffassung so lange diskredi- dern die Ehre eines der „bedeutendsten Komponisten tiert wird, bis schließlich „bewiesen“ ist, daß allein die seiner Zeit“ zuteil wurde. Musikrichtung, die dem eigenen Weltbild nahesteht, Von welcher Seite aus man den Schwäbischen Sän- „gute“ Musik ist. gerbund und sein biedermeierliches Selbstverständnis Wenn also der Schwäbische Sängerbund bei den betrachtet: Immer wieder stößt man dabei auf Ludwig Komponisten neben den unantastbaren Klassikern Uhland. Er repräsentiert gewissermaßen dieses Selbst- Haydn, Mozart und Beethoven sowie dem Früh- verständnis. So verwundert es auch nicht, daß es gera- romantiker Carl Maria von Weber ausgerechnet de der Sängerbund war, der nach Ludwig Uhlands Tod Conradin Kreutzer abbildet, so wird damit nicht nur 1862 eine Kampagne zur Errichtung eines Uhland- eine Verpflichtung gegenüber einer biedermeierlichen Denkmals in Tübingen ins Leben rief. Dieses Denk- Musik abseits romantischer Ästhetik zum Ausdruck mal wurde am 14. Juli 187316 unter lebhafter Beteili-

Einweihung des Uhland-Denkmals in Tübingen, 1873.

131 Die Kunst des Spagats gung der Gesangsvereine, der Universität und der Bur- ortung in der Gesellschaft. Abgesehen davon gibt es im alt- schenschaften, aber unter deutlicher Zurückhaltung der württembergischen Rechtsverständnis sehr viele Bürger, da das Bürgerrecht hier nicht an Hofbesitz – wie z.B. in Hohenlohe – württembergischen Regierung eingeweiht. Selbst der gebunden war, sondern mit der Geburt hier erworben wurde. Standort dieses Denkmals spiegelt noch einmal das Bürger zu sein bedeutete also in Württemberg keineswegs, biedermeierliche Selbstverständnis des Sängerbundes. vermögend zu sein. Sich selbst als „bürgerlich“ wahrzuneh- Das Uhlanddenkmal befindet sich in einer Achse men stand also im Prinzip noch den kleinsten Bauern und Dorf- vom Bahnhof zur Burse, dem am markantesten gele- handwerkern als Option offen. 5 Zit. nach: Georg Gabler (Bearbeiter): Grundbuch des Schwä- genen Teil der Tübinger Universität. Die markante bischen Sängerbundes. Stuttgart 1925, S. 29. Stadtsilhouette an der Neckarfront steht zudem als 6 Der Identitätsbegriff ist hier bewußt nicht im Sinne des wis- Synonym für die (Alt-)Stadt Tübingen. Andererseits senschaftlichen Diskurses verwendet, sondern lehnt sich mehr ist die Achse kein tatsächlicher Weg vom Bahnhof in am populären Diskurs an, also in etwa als positiv konnotierte Selbstwahrnehmung als Gemeinschaft. die Stadt, sondern nur eine freie Blickachse (die heute 7 Vgl. Ulf Lehner: Der reichste Fürst. Unveröffentlichter Auf- allerdings durch die großen Bäume verstellt ist). Gera- satz im Deutschen Volksliedarchiv Freiburg. de der Bahnhof aber repräsentiert als Symbol für Tech- 8 Vgl. Liederbuch der Tübinger Hochschule, Tübingen 1837. nisierung und Modernität ein völlig andersartiges Welt- 9 Daß „Der reichste Fürst“ tatsächlich als regionalistisches, die Eigenstaatlichkeit Württembergs unterstützendes Lied gewirkt bild als der Sängerbund. hat, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß das Lied nach 1933 - So kommt es, daß das Uhlanddenkmal zwar einer- wie z.B. auch die - aus allen Schulbüchern ent- seits dem Besucher Tübingens durchaus einladend fernt wurde. Vgl. Ulf Lehner: Der reichste Fürst, S. 34; und begrüßt, andererseits aber geradezu „schützend“ vor Johannes Timmermann: „Gott mit dir, du Land der Bayern...“ In: Schönere Heimat. 1996/4, S. 201-208, hier S. 202. der Stadt steht, und dem Symbol eines andersartigen 10 Gustav Schwab: Schwäbische Burgen der Hohenstaufenzeit. beängstigenden Weltbildes gewissermaßen „die Stirn In: Die Schwäbische Alb. 1815. bietet“. 11 Paul Achatius Pfizer: Einst und jetzt. Zit. nach: Tony Kellen: Das Schwabenland. Hohenheim 1921, S. 79. 12 Zit. nach: Georg Gabler (wie Anm. 5), S. 27. Die Ausschrei- bung erschien im Schwäbischen Merkur, in der Allgemeinen Zei- tung, in der Kölner Zeitung, im Frankfurter Journal, in der Neuen Anmerkungen Zürcher Zeitung und im Deutschen Kunstblatt. 13 Ebd., S. 16. 14 Wilhelm Heinrich Riehl: Musikalische Charakterköpfe. 1. Band. Stuttgart 1899, S. 206. 1 Das gilt zumindest für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. 15 Natürlich war Kreutzers Geburtsort Meßkirch seit 1805 ba- 2 Veröffentlicht in: Kladderadatsch VIII, 1855. disch, doch dürfte der 1780 geborene Komponist im Verständ- 3 Vgl. dazu Stephan Gokeler/Michael Hermann/Utz Jeggle: Die nis seiner Zeitgenossen als Schwabe gegolten haben. Erfindung des schwäbischen Erfinders. In: Utz Jeggle/Heidi 16 Es mag ein Zufall sein, daß die Einweihung des Denkmals Staib/Friederike Valet (Hg.): Schwäbische Tüftler. Stuttgart ausgerechnet am Jahrestag des Sturms auf die Bastille erfolg- 1995, S. 80-95. te. Andererseits wäre die Wahl des Datums aber auch durch- 4 Der Begriff „bürgerlich“ meint hier keineswegs nur reale Be- aus bezeichnend für den deutschen Chauvinismus nach dem sitzverhältnisse, sondern Selbstwahrnehmung und Selbstver- Sieg im deutsch-französischen Krieg 1870/71.

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Andreas Vogt

Die anderen Schwaben

Einblicke in die Geschichte württembergischer Judendörfer

Baisingen, Buttenhausen, Jebenhausen, Nordstetten, Die anderen Schwaben – die Überschrift weist darauf hin, Rexingen, Talheim – der Name allein verrät nicht die daß dieser Beitrag nicht allein die soziale, wirtschaftli- Besonderheit dieser schwäbischen Dörfer. Diese Ort- che und kulturelle Diskriminierung dokumentiert, der schaften haben eine Geschichte, die in anderen als den die jüdischen Landgemeinden seit ihrem Enstehen in normalen dörflich-württembergischen Bahnen verlief. der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgesetzt Über 150 Jahre hinweg existierte in diesen Dörfern waren. Im Mittelpunkt meines Interesses steht viel- neben der christlichen auch eine jüdische Gemeinde. mehr die zu Beginn des 19. Jahrhunderts staatlich ver- Seit 1941 gibt es keine schwäbischen Judendörfer mehr, ordnete Integration der Landjuden in das Königreich doch bedeutet das Ende der ehemals rund 80 jüdi- Württemberg und der zweifelhafte Erfolg, letztlich aber schen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern das Scheitern einer staatlich verordneten ‘Emanzipati- bedeutet keinen Schlußstrich: Die Schwierigkeiten des on’, die Juden zu Schwaben ummodellieren wollte. Erinnerns an diese ‘anderen’ Schwaben sind unvermin- dert deutlich.1 Die Geschichte dieser Dörfer und ihrer verlorenen jüdischen Minderheit zwingt uns, die har- monisierten und idyllisierten Schwabenbilder zu über- Schutzjuden und Hoffaktoren denken, die bis heute oft und gerne konstruiert und reproduziert werden. „Wir sind ja mit den Juden im- mer gut ausgekommen“ – noch aus der Distanz von Die Geschichte Württembergs ist auch die Geschichte mehr als 50 Jahren wird vieles ausgeblendet und ver- einer jahrhundertelangen Judenfeindlichkeit. In den sucht, eine Harmonie zu beschreiben, die es in den mittelalterlichen Pogromen, die ihren grausamen Hö- Judendörfern so nie gegeben hat.2 hepunkt in der Verfolgungswelle der Jahre 1348/49 fanden, waren die jüdischen Gemeinden, die sich in „Es gab immer eine Anpassungslücke, ein lange vor dem den südwestdeutschen Städten gebildet hatten, fast Nationalsozialismus bestehender kulturell, ökonomisch gänzlich vernichtet worden. Im 15. und 16. Jahrhun- und durch die verschiedene Religionspraxis bedingter dert verwehrten mit Ausnahme von Wimpfen und Notstand, der dem bis heute viel beschworenen Bild unge- Buchau alle südwestdeutschen Reichsstädte Juden die trübten Zusammenlebens widerspricht.“ 3 Niederlassung. In der Regimentsordnung von 1498 war

133 Die anderen Schwaben auch im Herzogtum Württemberg die „Ausschließung“ der Juden festgelegt worden. Herzog Eber- hard im Bart – durch Justinus Kerners Gedicht „Der reichste Fürst“4 ist der Gründer der Uni- versität Tübingen bis heute popu- lär geblieben – hatte in seinem Te- stament verfügt, „das die nagen- den würm, die Juden, in diesem fürstentumb nit gehalten“5. Die württembergischen Landstände hielten sich über 300 Jahre an die- se Weisung, nicht aber die mit ab- solutistischem Anspruch regieren- den Herzöge Eberhard Ludwig, Carl Alexander und Carl Eugen, in deren Dienst zahlreiche jüdi- sche „Hoffaktoren“ standen. Lion Feuchtwanger hat dem berühm- testen dieser jüdischen Finanziers, Josef Süß Oppenheimer (1692- 1738), mit dem Roman Jud Süß ein literarisches Denkmal gesetzt.6 Neben den Fürstenhäusern Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen, die in Hechingen und Haigerloch be- reits Anfang bzw. Mitte des 16. Jahrhunderts Juden die Niederlas- 7 sung erlaubt hatten , ermöglich- Die ehemaligen jüdischen Gemeinden in Württemberg. ten im 18. Jahrhundert vor allem die zahlreichen reichsunmittelbaren Klein- und Kleinst- „Eine zehenjährige Erfahrung in meinem hiesigen Fleken herrschaften den Fortbestand jüdischer Gemeinden. Jebenhausen 8 hat mich mit Überzeugung belehret, daß Die reichsritterschaftlichen Ortsherren, die oft nur ein das Dasein einiger jüdischen Haushaltungen einem Orth oder zwei Dörfer verfügten, gewährten jüdischen Fa- nicht nur nicht schädlich, sondern vielmehr nuzlich, und milien gegen hohe Schutzgelder und andere Sonder- es eine wahre irrige, Ermahlen von einigen aus Unwis- abgaben zeitlich befristete Aufnahme. Neben aufklä- senheit oder übertribenen Eifer einer Undultsamkeit ge- rerischem Gedankengut, zu dessen zentralen Inhalten gen andern Religions-Verwandte aufgestellte Meinung seye, die Forderung nach religiöser Toleranz zählte, spielten daß, wo Juden wohnen, die Christen verarmen. Viele hie- für sie vor allem wirtschaftliche Überlegungen eine sige Innwohnern werden das Gegenteil bezeugen, alle aber Rolle. Das Decret an die Bürgerschaft zu Buttenhausen, die darinnen übereinkommen, daß der Nahrungs-Stand Annahme derer Juden betreffend, das der Freiherr Philipp hieselbsten und das Gewerb gebessert worden.“ 9 Friedrich von Liebenstein unmittelbar vor Ansiedlung von 25 jüdischen Familien 1787 verfaßte, zeigt dies Es steht außer Frage, daß jüdische Händler und Kauf- deutlich: leute den verkrusteten Wirtschaftsstrukturen dieser Dörfer neue Impulse verliehen. Keinesfalls aber wird

134 Die anderen Schwaben in den offiziellen Quellen die soziale und wirtschaftli- Emanzipation oder: die „bürgerliche che Realität der Landjuden wiedergegeben. Einer zah- Verbesserung“ der Juden lenmäßig kleinen jüdischen Oberschicht standen viele verarmte Familien gegenüber. Auch die späteren Ober- amtsbeschreibungen und populären Reiseberichte des Als Württemberg 1806 Königreich von Napoleons 19. Jahrhunderts begnügen sich mit einer oberflächli- Gnaden geworden war, hatten sich durch die territo- chen Beschreibung der Lebensverhältnisse der jüdi- riale Neuordnung des deutschen Südwestens Fläche schen Landbevölkerung und entwerfen ein harmoni- und Einwohnerzahl des ehemaligen Herzogtums ver- sches und idyllisches Bild, das es so nie gab. Als der doppelt. „Aber noch“, so die Klage im Württembergi- Pfarrer und Schriftsteller Gustav Schwab auf seinen schen Jahrbuch für das Jahr 1822, „haben wir kein Wanderungen durch Schwaben 10 um 1820 das Judendorf württembergisches Volk; jeder Theil ist dem andern Jebenhausen bei Göppingen besucht, faßt er seine Ein- fremd.“15 An der Hypothek eines zwar nicht mehr drücke folgendermaßen zusammen: durch politische, nach wie vor aber durch kulturelle und religiöse Grenzen getrennten Staatsgebietes hatte „Hier schreiten unter den ziemlich gedrückt einhergehen- das junge Königreich schwer zu tragen.16 Durch die den Bauersleuten behaglichere Gestalten umher, franzö- napoleonische Neuordnung hatte das bislang rein pro- sisch gekleidet, wohl genährte Frauen und Mädchen begeg- testantische Württemberg aber nicht nur das katholi- nen uns; in der Mitte des Dorfes steigt nicht gar weit von sche Oberschwaben, sondern mit einem Schlag auch der christlichen Kirche ein elegantes Tempelchen auf, die fast 10.000 „Schutzjuden“ hinzugewonnen. Im tradi- Seitenstraßen sind mit kleinen Wohnungen in modernem tionell judenfeindlich eingestellten Land war man über Geschmack überbaut, und die klaren Tafelfenster lassen deren Existenz wenig erfreut. In den Städten fürchtete im Innern der Haushaltungen städtischen Hausrat er- man die unliebsame Konkurrenz jüdischer Händler und blicken.“ 11 Kaufleute, auf den Dörfern war die Angst vor wirt- schaftlicher Konkurrenz in Zeiten der Agrarkrise noch Schwab verkürzt und beschönigt die Lebenswirklichkeit größer. Nichtsdestotrotz war das noch junge König- der jüdischen Landbevölkerung, deren überwiegende reich bestrebt, die neugewonnenen jüdischen Unterta- Mehrheit bis ins 19. Jahrhundert hinein der ständigen nen in gute württembergische Staatsbürger zu verwan- Drangsalierung und Diskriminierung durch ihre christ- deln und suchte deshalb auf gesetzlichem Wege die liche Umwelt ausgesetzt war – sozial geächtet, wirt- rechtliche, wirtschaftliche und soziale Stellung der jü- schaftlich isoliert, bettelarm im wahrsten Sinne des dischen Landbevölkerung zu bessern. König Friedrich Wortes. Von den „kleinen Wohnungen in modernem I. hob die vielfach unterschiedlichen Bestimmungen Geschmack“ offensichtlich beeindruckt, verschweigt der Schutzbriefe schrittweise auf und ersetzte sie durch Schwab den historischen Hintergrund des vielzitierten Einzelverordnungen.17 Unter Wilhelm I. wurde 1828 „städtischen Charakters“12 der Judendörfer, der frem- das Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israeli- den, weil nicht bäuerlichen Formen jüdischen Woh- tischen Glaubensgenossen erlassen, das die „Schutzjuden“ nens. Weil Juden keine Landwirtschaft betreiben durf- zu württembergischen Untertanen umerziehen sollte. ten13, benötigten sie auch keinen Stall und keine Scheuer Der Staat nahm sich mit diesem Gesetz nicht nur einer in ihren Häusern. Modische Kleidung und feiner Haus- umfassenden Neuordnung des jüdischen Religions- rat, über die auf dem Land lebende jüdische Familien und Bildungswesens an. Auch die rechtliche und so- nur selten verfügten, waren weniger Ausdruck persönli- ziale ‘Emanzipation’ der Juden wurde staatlich verord- chen Reichtums, als vielmehr Folge einer anderen Le- net, und sie zeichnete sich nicht durch fürsorgliche bensweise, eines anderen Wertesystems und besonderer Toleranz, sondern durch rigorose pädagogische Maß- Religionsvorschriften. Mit keinem Wort erwähnt nahmen aus.18 Schwab zudem das offensichtlichste Indiz für die sozia- le Isolation der jüdischen Minderheit, nämlich die Tren- „Das vermeintliche Risiko Judenemanzipation sollte [...] nung des Dorfes in einen jüdischen und einen christli- durch ein Erziehungsmodell entschärft werden, das Rechts- chen Teil, in dem auch 1844 noch kein Jude wohnte.14 verbesserungen von der ‘bürgerlichen Verbesserung’ der

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Juden, von ihrer Bereitschaft zu wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Anpassung abhängig machte. Gefordert waren der Übergang vom Hausier- und Trödelhandel zu ordentlichen Gewerben, bevorzugt zu Landwirtschaft und Handwerk, gefordert waren verbesserte Bildung und reli- giöse Reform. Die zentralen Vorbehalte, die da ‘gemein- schädliche Erwerbsart, religiös-nationale Absonderung und sittlich-moralische Verdorbenheit’ lauteten, bekämpfte das württembergische Judengesetz von 1828 durch Len- kung und strikte Kontrolle der Berufswahl junger Juden, durch Rechtsbeschränkungen für Hausierhändler – etwa ein Übersiedlungsverbot in andere Gemeinden oder ein Heiratsverbot vor dem 35. Lebensjahr – und durch die grundlegende Ordnung des jüdischen Schul- und Religions- wesens unter staatlicher Aufsicht. Erziehungsziel war der assimilierte „Staatsbürger mosaischer Konfession“, ein ‘braver Untertan’, ein nützliches Mitglied der bürgerli- chen Gesellschaft.“ 19

Als 1864 die gesetzliche Gleichstellung der Juden er- reicht war 20 und sie dem Papier nach württembergi- sche Staatsbürger waren, da hatte die erzwungene kul- turelle Anpassung bereits deutliche Spuren in den Land- gemeinden hinterlassen. Denn in den Jahrzehnten zu- vor war das Fremde völlig angeglichen worden. Das Architektonisches Symbol der jüdischen Assimilation: 1837/38 er- jüdische „Kirchenwesen“ – ein dem Judentum völlig baute die jüdische Gemeinde der ehemaligen Reichsstadt Buchau eine fremder Begriff – war nach dem Vorbild der prote- in vornehmen klassizistischen Formen gehaltene Synagoge; als einzi- stantischen Staatskirche neu geordnet, die jüdische ge in Deutschland erhielt sie einen Glockenturm. Ein Gedenkstein Religion war konfessionalisiert. Die bislang selbstän- erinnert an das 1938 zerstörte Gebäude. digen Gemeinden waren nun in Rabbinatsbezirken tion der Juden auf heftigen Widerstand. Die christli- zusammengefaßt, an der Spitze der Verwaltung stand chen Nachbarn wehrten sich, wenn Juden Ackerland die Königliche Israelitische Oberkirchenbehörde nach Muster kauften, Handwerker bildeten kaum jüdische Lehrlin- des evangelischen Oberkirchenrates. Die Rabbiner ge aus, viele Gemeinden lehnten es nach wie vor ab, hatten eine Amtstracht zu tragen, an der das Beffchen Juden aufzunehmen. Die Einseitigkeit dieser gesetz- – die charakteristische weiße Halsbinde an den Tala- lich verordneten ‘Emanzipation’ war verhängnisvoll. ren der evangelischen Pfarrer – nicht fehlen durfte. Sie beschränkte sich auf eine Umerziehung der Min- Die Konfessionalisierung der jüdischen Religion er- derheit nach den Regeln der Mehrheit, ließ die Mehr- fuhr in der ehemaligen oberschwäbischen Reichsstadt heit aber unberührt. Buchau eine seltene, wenn auch bezeichnende Zuspit- zung. Die jüdische Gemeinde hatte 1837/38 für 23.000 „Über den Emanzipationsversuch der Juden hatte man Gulden eine neue Synagoge in vornehmen klassizisti- die Christen vergessen: Sie waren unfähig, Tugenden wie schen Formen erbaut, wozu König Wilhelm I. 800 Gul- Solidarität oder Brüderlichkeit zu entwickeln, sie sahen den beigesteuert hatte. Als einzige deutsche Synagoge nur, daß die neuen Rechte für die Juden eigene Rechte erhielt sie einen Glockenturm, der anfangs ein Glok- bedrohten [...]. Die Folgen dieser württembergischen kenspiel, seit 1854 sogar eine Glocke aufnahm.21 Un- Einheitspolitik, die das Anderssein nicht akzeptierte, geachtet ihrer Bemühungen um kulturelle Assimilati- sondern als Makel darstellte, zeigten sich erst viel später on stieß die rechtliche und wirtschaftliche Emanzipa- – als es eigentlich schon viel zu spät war.“ 22

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Die Erwartungen, die von staatlicher Seite an die Reform des jüdischen Religions- und Bildungswesens geknüpft waren, er- füllten sich innerhalb weniger Jahrzehnte.23 Die jüdischen Volks- schulen entwickelten sich bestens, die jü- dischen Kinder lies- sen die christliche Konkurrenz deutlich hinter sich. Der starke Anpassungsdruck al- lerdings, den die ge- forderte kulturelle Die jüdische Religion wird „konfessionalisiert”: Andachtsbuch für fromme Israelitinnen, mit deutscher Übersetzung. Nebst neuen Gebeten von Dr. W. Schlessinger, Rabbiner. Sulzbach 1846. Angleichung ausübte, führte zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Landgemeinden derter Aggression und Gewalt. Auch in Baisingen bei und der Oberkirchenbehörde. Die orthodoxe Mehr- Rottenburg, wo um 1850 rund 230 Juden lebten, was heit der Landjuden wollte ihre religiöse und kulturelle etwa einem Drittel der Gesamtbevölkerung gleichkam, Eigenständigkeit keinesfalls aufgeben, sie lehnte Gebet- rührte die antijüdische Aggression der christlichen bücher in deutscher Sprache ebenso ab wie die Ein- Handwerker und Bauern aus Gefühlen wirtschaftlicher führung der „Konfirmation“, die der jüdische Kirchen- Konkurrenz und unbestimmten sozialen Ängsten. Der rat Joseph Maier propagierte. Und als dieser 1861 sogenannte „Baisinger Judenkrawall“24 – der Begriff anläßlich der Weihe der neuen Stuttgarter Synagoge verharmlost die Gewaltexzesse, die sich hier am Oster- seine Rede mit dem berühmten Satz „Stuttgart ist unser montag des Jahres 1848 ereigneten – zog zwar harte Jerusalem“ beendete, war die Verstimmung in den obrigkeitliche Sanktionen nach sich, die Juden aber Landgemeinden groß. mußten erkennen, daß ihre Bemühungen um Anglei- chung und Anerkennung nur wenig Aussicht auf Er- folg hatten – das Fremde war fremd geblieben. Nun setzte eine starke Abwanderung in die Städte Das Fremde bleibt fremd ein, viele jüdische Landgemeinden waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu erloschen. Lebten 1832 noch 93% aller württembergischen Juden auf dem Dabei war schon während der Revolution 1848 offen- Land, so waren es 1932 nur noch 22%. In der Synago- sichtlich geworden, daß die staatlich verordnete ‘Eman- ge des Judendorfes Jebenhausen wurde schon 1899 zipation’ der Juden zum Scheitern verurteilt war. In der letzte Gottesdienst gefeiert, der verwaiste Bau wur- Zeiten der Agrarkrise – die Hungerjahre 1846/47 wa- de bald darauf verkauft und 1905 abgerissen. In den ren gerade überstanden – reagierte in vielen Juden- Städten aber etablierte sich ein kulturell assimiliertes, dörfern die christliche Mehrheit auf die rechtliche liberal gesinntes jüdisches Bürgertum, das großen An- Gleichstellung der jüdischen Minderheit und deren teil an der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte sei- deutlichen sozialen Aufstieg in der entstehenden kapi- ner Zeit hatte und in gutem Einvernehmen mit der talistischen Landwirtschaft, der sie über das soziale christlichen Nachbarschaft lebte. In Göppingen und Niveau der Kleinbauern hinausführte, mit unvermin- Hechingen gründeten Juden bedeutende Textilunter-

137 Die anderen Schwaben nehmen, auch andernorts hatten jüdische Unternehmer wesentlichen Anteil an der In- dustrialisierung Württembergs. Bis zum Ersten Weltkrieg schien auch auf den Dörfern doch noch etwas wie ‘Eman- zipation’ stattzufinden. Die Juden begannen, die Kultur ihrer christlichen Umgebung zu übernehmen; die Assimilation umfaßte alle Lebensbereiche.25 Jüdische Gesangvereine sangen preisend mit viel schönen Reden Loblie- der auf die württembergische Heimat. Der in Nordstetten bei Horb geborene jüdische Dichter und Schriftsteller Berthold Auer- bach (1812-1882), der mit seinen Schwarz- wälder Dorfgeschichten ungeheure Popularität erlangte, beantwortete die Frage nach sei- Der 1888 gegründete jüdische Liederkranz Haigerloch. ner kulturellen Identität folgendermaßen: „Ich bin ein Deutscher, und nichts anderes könnte ich ich sein; ich bin ein Jud – und das hat die rechte Mi- sein; ich bin ein Schwabe, und nichts anderes möchte schung gegeben.“26 Der Sieg im Krieg gegen Frankreich 1870/71 för- derte die jüdische Identifikation mit den Begriffen „Heimat“ und „Vaterland“. „Was einst David seinem Volk gewesen, das ist Kaiser Wilhelm den Deutschen geworden“27, formulierte 1897 ein israelitischer Kir- chenrat in einer Festpredigt. In den Dörfern hatte sich das Zusammenleben eingespielt, man glaubte zusam- menzugehören, besuchte die gleichen Vereine, die glei- chen Gasthäuser. In Buttenhausen bei Münsingen stif- tete der aus dem Ort stammende jüdische Kommerzi- enrat Lehmann Bernheimer 1903 eine Realschule, die christlichen wie jüdischen Kindern gleichermaßen eine höhere Schulbildung ermöglichte. Bis 1923, als die In- flation das Stiftungsvermögen aufzehrte, war die Bernheimersche Realschule neben der Münsinger Re- alschule die einzige Lehranstalt der Münsinger Alb, in der nicht nur Französisch, sondern auch Geographie, Geschichte, Geometrie oder Physik unterrichtet wur- den. Bis 1933 waren die alltäglichen Kontakte zwischen Juden und Christen vielfältig. Sie beschränkten sich nicht nur auf Geschäftsbeziehungen, wie sie z.B. zwi- schen jüdischen Viehhändlern und christlichen Bau- ern bestanden. Und doch war in den meisten Juden- dörfern die christliche Mehrheit nur zu einem mehr oder minder gleichgültigen Nebeneinander fähig, das 1870: Jom Kippur (hoher jüdischer Feiertag) vor Metz. Auch württembergische „Staatsbürger mosaischen Glaubens“ halten im tolerante Miteinander war die Ausnahme. Schwäbische deutsch-französischen Krieg die „Wacht am Rhein“. Judendörfer gibt es seit 1941 nicht mehr, und nur we-

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Bernheimer’sche Realschule But- tenhausen: Jüdische und christliche Kinder gleichermaßen (hier der Jahrgang 1915/16) waren die Nutznießer der großherzigen Stif- tung des aus dem Ort stammen- den jüdischen Kommerzienrates Lehmann Bernheimer. nige der Überlebenden kehrten nach 1945 zurück in die Dörfer, die ihnen keine Heimat mehr sein konnten und wollten.

„In diesen Dörfern“, so Utz Jeggle, „war man bestimmt nicht böser, gemeiner als anderswo auch. Aber hier wurde man konkret auf die Probe gestellt – und man versagte. Man mußte versagen, weil nie gelernt worden war, richtig zu reagieren: Man war selbst nicht emanzipiert. Das zeigte sich, als die Nazis kamen; hilflos unmündig stand man der Gewalt gegenüber, die wiederum auch nur ein Ergebnis dieser Unmündigkeit war. Die Geschichte die- ser Dörfer mit ihrer verlorenen jüdischen Minderheit ist kein Anlaß für sentimentale Rückblicke, sie kann nur Anleitung sein zum konsequenten praktischen Handeln: die Mehrheit zu emanzipieren, mündig zu machen, um so Minderheitenprobleme zu lösen.“ 28

Nur dank ihrer Nutzung als Scheune entging die ehemalige Baisinger Synagoge dem Abriß. Das Gebäude wird derzeit behutsam restauriert, doch werden die Spuren der Zerstörung von 1938 nicht getilgt: Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen dieses wichtigsten Zeugnisses jüdischer Geschichte in Baisingen bleiben so erhalten. Ansicht von Osten, Zustand 1990.

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Die ehemalige Baisinger Synago- ge: 1784 erbaut, 1838 erweitert, 1938 zerstört, nach 1945 als Scheune genutzt. Ansicht von Westen, Zustand 1990.

Baisingen, 1936: Die Familien Schweizer, Gideon und Preßburger beim 80. Geburtstag der Großmut- ter Dora Schweizer.

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Stuttgart, November 1941: Badische und württembergische Juden im Sammellager auf dem Killesberg vor der Deportation nach Riga.

Anmerkungen

1 Vgl. Utz Jeggle: Was bleibt? Die Erbschaft der Dorfjuden und 5 Zit. nach: Juden in Buttenhausen. Ständige Ausstellung in der der „Judendörfer“. In: Allmende 36/37. 13. Jahrgang. Eggingen Bernheimer’schen Realschule Buttenhausen (=Schriftenreihe 1993, S. 30-41. „Jede formalisierte Tendenz der Erinnerung“, des Stadtarchivs Münsingen, Band 3). Münsingen 1994, S. 27. so Utz Jeggle, „ist eine Kompromißbildung zwischen unaus- 6 Der 1925 erschienene Roman wurde wie alle Werke Feucht- haltbaren menschlichen Erfahrungen und dem Wunsch, Iden- wangers von den Nationalsozialisten verboten. Dennoch diente tität zu sichern, auch durch eine geschichtliche Dimension. er als Vorlage für den gleichnamigen antisemitischen Propa- Daß dieser Kompromiß noch in vielem sprachlos ist und daß gandafilm Veit Harlans, der das Anliegen des Schriftstellers die Sprache, die er in den Erinnerungen fand, in unserem Fall ins Gegenteil verkehrte. Feuchtwanger schrieb 1941 in einem besonders unzulänglich ist, liegt weniger am Erinnerungsver- offenen Brief an die Hauptdarsteller: „Man wird mit Aug und mögen selbst als an der Zumutung, das Unfaßbare zu bewah- Ohr nachprüfen können, wie Sie alle dazu beigetragen haben, ren.“ Ebd., S. 40. die Geschichte jenes Juden, von dem Sie alle wußten, daß er 2 Die Kulturwissenschaftlerin Franziska Becker hat in Baisingen ein großer Mann war, ins genaue Gegenteil zu verkehren. Und die unterschiedlichen Formen des (Nicht-)Erinnerns an die Sie werden nicht die bescheidenste Ausrede haben; denn Sie ausgelöschte jüdische Gemeinde analysiert. Vgl. Franziska sind sich alle klar darüber gewesen, daß von Anfang an hinter Becker: Gewalt und Gedächtnis. Erinnerungen an die natio- diesem Film nicht die Spur eines künstlerischen Willens stand.“ nalsozialistische Verfolgung einer jüdischen Landgemeinde. Zit. nach: Lion Feuchtwanger: Jud Süß. Frankfurt 1991, S. 474. Göttingen 1994. Siehe auch Franziska Beckers Aufsätze: Das 7 Zur Geschichte der Juden in Hohenzollern im 16. Jahrhun- beschwichtigte Gedächtnis oder: wie man sich in einem schwä- dert vgl. Casimir Bumiller: Judenpolitik in Südwestdeutsch- bischen Dorf an die Verfolgung der Juden im Nationalsozia- land im 16. Jahrhundert: das Spannungsfeld zwischen Hohen- lismus erinnert. In: Landjudentum im Süddeutschen- und Bo- berg, Württemberg und Hohenzollern. In: Der Sülchgau. Band denseeraum. Hg. v. Landesarchiv Vorarlberg. Dornbirn 1992, 32. Rottenburg 1990, S. 131-144. S. 197-207, und: Die nationalsozialistische Judenverfolgung in 8 In Jebenhausen bei Göppingen, das sich ebenfalls im Besitz Baisingen. In: Der Sülchgau. Band 32. Rottenburg 1990, S. der Freiherren von Liebenstein befand, existierte seit 1777 eine 169-192. jüdische Gemeinde. 3 Franziska Becker: Gewalt und Gedächtnis (wie Anm. 2), S. 24. 9 Zit. nach: Juden in Buttenhausen (wie Anm. 5), S. 29. 4 Eine der bekanntesten Zeilen des Gedichtes lautet: „Eberhard, 10 Gustav Schwab (1792-1850) zählt nicht nur dank der Heraus- der mit dem Barte, Württembergs geliebter Herr“. gabe der „Schönsten Sagen des classischen Alterthums“ bis

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heute zu den meistgelesen schwäbischen Schriftstellern, son- sind; sie genießen die gleichen Rechte und haben die gleichen dern auch aufgrund seiner Reisehandbücher: 1823 erscheint Pflichten und Leistungen zu erfüllen.“ Zit. nach Paul Sauer: „Die Neckarseite der schwäbischen Alb“, es folgen 1827 „Der Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohen zol- Bodensee nebst dem Rheinthale“ und1837 schließlich die lern. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Stuttgart 1966, S. 8. „Wanderungen durch Schwaben“. 21 Vgl. Joachim Hahn: Schweigend spricht der Stein. Jüdische Ar- 11 Gustav Schwab: Die Neckarseite der schwäbischen Alb. Zit. chitektur und Baukunst in der Bodensee-Region und in Ober- nach: Jüdisches Museum Göppingen in der Alten Kirche schwaben. In: Abraham P. Kustermann/Dieter R. Bauer (Hg.): Jebenhausen (=Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göp- Jüdisches Leben im Bodenseeraum. Ostfildern 1994, S. 193- pingen, Band 29). Weißenhorn 1992, S. 25. 209, hier S. 203-205. Siehe auch: Gesellschaft für Christlich- 12 In den württembergischen Oberamtsbeschreibungen findet sich Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart e.V. (Hg.): Spuren jüdischen diese stereotype Formulierung immer wieder. Für Jebenhausen Lebens und die nationalsozialistische Verfolgung. Stuttgart lautet die entsprechende Passage: „Der städtische Häuser- 1988, S. 30. Nicht belegt ist die Anekdote, König Wilhelm I. schmuck in der Gemeinde der Juden sticht gar sonderbar ge- persönlich habe die Buchauer Glocke gestiftet. gen die einfachen Wohnungen der Christen ab.“ Beschreibung 22 Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. In: Martin Blümcke des Oberamts Göppingen. Stuttgart 1844, S. 253. Vgl. dazu: (Hg.): Abschied von der Dorfidylle. Stuttgart 1982, S. 86-94, Monika Richarz: Landjuden – ein bürgerliches Element im hier S. 89. Dorf? In: Wolfgang Jacobeit (Hg.): Idylle oder Aufbruch? Das 23 Vgl. Birgit Schneider (wie Anm. 19), S. 183-186. Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Berlin 1990, S. 181- 24 Karlheinz Geppert: Vom Schutzjuden zum Bürger. Aspekte 196. zur Geschichte der Juden in Baisingen bis zum Beginn des 20. 13 Erst 1807 wurde Juden der Grunderwerb, 1809 auch die Aus- Jahrhunderts. In: Der Sülchgau. Band 32. Rottenburg 1990, S. übung eines Handwerks gestattet. Die entsprechenden Ver- 145-168, hier S. 154-162. ordnungen hatte König Friedrich I. erlassen. Vgl. Aron Tän- 25 Beate Bechtold-Comforty hat diesen Prozeß der Angleichung zer: Die Geschichte der Juden in Württemberg. Frankfurt 1937, mit Blick auf die „schwäbisch-jüdische Eßkultur“ nachgezeich- S. 10-20. net. Sie beschreibt den „jüdischen Traditionsverlust“, der durch 14 Beschreibung des Oberamts Göppingen (wie Anm. 12), S. 253. „Geschmacksnivellierung [...] und Anpassung an die formalen 15 Württembergisches Jahrbuch für 1822. Zit. nach Friedemann Normen der bürgerlichen Küche“ ausgelöst wurde, folgen- Schmoll: Verewigte Nation. Studien zur Erinnerungskultur von dermaßen: „Den ‘Kosten des Fortschritts’ stand hier als Ge- Reich und Einzelstaat im württembergischen Denkmalkult des winn eine neue und offensichtlich erwünschte Identität ge- 19. Jahrhunderts. Tübingen und Stuttgart 1995, S. 20. genüber: die schwäbisch-jüdische Identität. Und, das muß be- 16 Ebd., S. 20-24. sonders betont werden, es waren die Frauen, die einen wichti- 17 Vgl. Anm. 13. gen Teil dieses dynamischen kulturellen Prozesses an der (Kü- 18 Vgl. Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. Tübingen 1969, chen-)Basis in die Wege leiteten, die via Kochkunst, via Sozia- S. 98-169. lisation durch den Magen ihre Männer und Kinder zu guten 19 Birgit Schneider: Religion und Bildung der württembergischen Schwaben erzogen. Damit leisteten sie einen entscheidenden Juden im 19. Jahrhundert. In: Otto Borst (Hg.): Minderheiten Beitrag zur Integration der Juden in ihre lokale Umwelt.“ Bea- in der Geschichte Südwestdeutschlands. Tübingen 1996, S. 175f te Bechtold-Comforty: Spätzle und Tscholent. Aspekte schwä- 20 Dies geschah durch das Gesetz betreffend die Unabhängig- bisch-jüdischer Eßkultur. In: Julius H. Schoeps u. a. (Hg.): keitstellung der staatsbürgerlichen Rechte von dem religiösen Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1992. Mün- Bekenntnisse vom 31. Dezember 1861 und das Gesetz betref- chen 1992, S. 121-142, hier S. 139. fend die bürgerlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubens- 26 Berthold Auerbach, zit. nach: Juden in Hechingen. Katalog genossen vom 13. August 1864, dessen erster Artikel wie folgt zur Dokumentation in der Alten Synagoge Hechingen. Hg. v. lautete: „Die im Königreich einheimischen Israeliten sind in Initiative Hechinger Synagoge e.V./Verein Alte Synagoge e. V. allen bürgerlichen Verhältnissen den gleichen Gesetzen unter- Hechingen o. J. (1991), S. 49. worfen, welche für die übrigen Staatsangehörigen maßgebend 27 Zit. nach: Utz Jeggle (wie Anm. 22), S. 92. 28 Ebd., S. 93f.

142 Der Volkskundler August Lämmle...

Carsten Kohlmann

Der Volkskundler August Lämmle und die Heimatschutzbewegung in Württemberg

Am 16. März 1908 wurde in Württemberg ein Aufruf Vom Volksschullehrer zum Heimatpfleger zur Gründung eines Bundes für Heimatschutz veröffent- licht.1 Unter dem Motto „Heimatschutz fordern wir!“ wandten sich die Unterzeichner gegen die „Übergriffe August Lämmle wurde am 3. Dezember 1879 als Sohn des modernen Lebens“ und „mancherlei Verwüstun- einer Bauernfamilie in Oßweil geboren.4 Nach der gen“, um die Heimat „zu schützen und sie in ihrer Volksschule besuchte er von 1885 bis 1890 das Gym- natürlich gewachsenen und historisch gewordenen Ei- nasium Ludwigsburg und wurde von 1891 bis 1896 genart zu erhalten.“2 Der Aufruf stieß in Württem- an den Lehrerseminaren Esslingen und Nürtingen als berg auf eine breite Resonanz. Die Gründung des Volksschullehrer ausgebildet.5 Lämmle unterrichtete Bundes für Heimatschutz in Württemberg fand schließlich auf der Blaubeurer und Neuffener Alb, auf den Tü- am 12. März 1909 in der Landeshauptstadt Stuttgart binger Härdten, im Remstal, im Strohgäu, im Teuringer statt.3 Tal, im Wieslauftal, im Allgäu und in Franken.6 Die Die um die Jahrhundertwende im Deutschen Reich wechselnden Schulorte förderten sein Interesse an Land entstehende Heimatschutzbewegung hatte an der Kon- und Leuten. In Steinenbronn bei Schorndorf, wo er struktion und Reproduktion regionaler Stereotypen seit 1906 unterrichtete, war er außerdem auch als Or- wesentlichen Anteil. Durch Vereine wie den Bund für ganist, Leiter des Männergesangvereins und Vorsitzen- Heimatschutz in Württemberg wurden Heimatpflege und der der Darlehenskasse tätig.7 Volkskunde in der Öffentlichkeit institutionalisiert. Volksschullehrer wie August Lämmle waren die Einer der bekanntesten Vertreter der Heimatschutz- Wegbereiter der Heimatschutzbewegung um die Jahr- bewegung in Württemberg war der Volkskundler Au- hundertwende.8 Seit dem 19. Jahrhundert wurde das gust Lämmle, den man stellvertretend für eine ganze Fach Heimatkunde im Schulunterricht immer wichti- Generation von Brauchtums- und Heimatpflegern ger und bot den Volksschullehrern die Chance zur betrachten kann. Profilierung mit eigenen Veröffentlichungen.9 1909

143 Der Volkskundler August Lämmle... schrieb August Lämmle vor diesem Hintergrund das historisch bewährt zu haben schienen.“16 Nach der Schulbuch Das Amt Schorndorf in alter und neuer Zeit, Gründung des Bundes für Heimatschutz in Württem- das von der Schulbehörde auch veröffentlicht wurde.10 berg, die „unter glänzender Beteiligung einer großen Von 1910 bis 1913 unterrichtete er an verschiedenen Zahl von Männern und Frauen, Gelehrten und Künst- Realschulen des Landes und leitetete während des Er- lern, Fabrikanten, Offizieren, Beamten und Vertretern sten Weltkriegs das Reservelazarett III in Tübingen.11 der Presse“17 stattfand, entfaltete sich bald eine viel- Im Alter von 36 Jahren begann er mit der Veröffentli- seitige Vereinstätigkeit. chung von schwäbischen Gedichten. 1912 und 1914 Bereits 1911 war der Bund für Heimatschutz in Würt- erschienen die Gedichtbände Schwobebluet und Oiges Brot, temberg und Hohenzollern mit 3 500 Mitgliedern der größ- 1916 unter dem Titel Spinnstubengeschichten seine ersten te Landesverband im Deutschen Bund für Heimatschutz.18 schwäbischen Erzählungen.12 Ziele waren laut Satzung der „Schutz der Natur“, der „Schutz und die Pflege der aus früherer Zeit überkom- menen Werke“ wie Baudenkmäler sowie die „Pflege und Fortbildung der überlieferten ländlichen Gegen- Heimatschutzbewegung in Württemberg stände, der Sitten, Gebräuche, Feste und Trachten.“19 Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge sollten das Bewußtsein regionaler Identität Für die um die Jahrhundertwen- in einer schwäbischen Kultur- de entstehende Heimatschutz- landschaft verstärken.20 Seit bewegung war „Heimat“ ein 1913 gab die Heimatschutz- Wert an sich. Die Heimat- bewegung in Württemberg und schutzbewegung sollte, so Wer- Hohenzollern auch ein Schwäbi- ner Hartung, sches Heimatbuch heraus, das die Vereinsmitglieder als Jahresga- „dem Gefühl der Entfremdung be erhielten und eine Vielzahl trotzen, das seelische Gleichgewicht von Beiträgen zu Natur- und des Individuums in Einklang Heimatschutz, Heimatpflege, bringen mit den Veränderungen, Volkskunde, Baufragen, Bau- die der Industrialisierungsprozeß geschichte und Denkmalpflege in den städtischen und ländli- umfasste.21 Außerdem gründete chen Lebenswelten hinterließ.“ 13 man für Vorträge eine Einrich- tung mit dem Namen Schwäbi- Als Gegensatz zum Industrie- sches Lichtbild und nahm Kontakt zeitalter der Gegenwart kon- zu „Schwabenvereinen“ auf der struierte die Heimatschutz- ganzen Welt auf.22 „Heimatliebe bewegung ein idealisiertes „Kli- und Stammesbewußtsein“ wur- schee bäuerlicher Urheimat“ in Holzschnitt zum 50. Geburtstag von August Lämmle den so durch die enge Zusam- der Vergangenheit.14 Vereine aus dem Schwäbischen Heimatbuch von 1927. menarbeit von Volkskunde und wie der Bund für Heimatschutz in Heimatpflege zu „konstitutiven Württemberg, bereits seit 1910 Bund für Heimatschutz in Bausteinen der Vaterlandsliebe“23 erklärt. Württemberg und Hohenzollern, entsprachen einem ins- besondere im städtischen Bürgertum weit verbreiteten Bedürfnis nach Kontinuität und Stabilität in einer als krisenhaft empfundenen Umbruchsituation.15 „Zu- kunftsbewältigung reduzierte sich auf Vergangen- heitsbewältigung“, so Werner Hartung, „auf den Schutz derjenigen Identifikationsmerkmale, die sich

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Volkskundler beim Landesamt für und der Kinos.“31 Die Folgen wären „Auflösung und Denkmalpflege Zerbröselung“ sowie „Unruhe und Unsicherheit“, während die Heimatschutzbewegung im Gegensatz dazu für „Natur, Heimat, Familie und Volkstum“32 In der Weimarer Republik wurde August Lämmle zu stehen würde. Lämmle griff damit wie viele andere einem der wichtigsten Vertreter der Volkskunde in Vertreter von Volkskunde und Heimatpflege in dieser Württemberg. 1920 referierte er erstmals zum Thema Zeit „weit in die Vergangenheit zurück und schuf aus „Schwäbisches Volkstum“ beim „Tag für Denkmal- historisch, wirtschaftlich, sozial und funktional Beding- pflege und Heimatschutz“ in Stuttgart.24 Gleichzeitig tem zeitlos Dauerndes.“33 Unter seiner Leitung ent- wurde er vom Kultusministerium für besondere Auf- wickelten sich in der „Abteilung Volkstum“ beim Lan- gaben freigestellt, um sich vollständig dem „Studium desamt für Denkmalpflege mehrere Schwerpunkte wie volkskundlicher Disziplinen“25 zuwenden zu können. die Sammlung von Volksliedern, die Sammlung von In dieser Zeit übernahm er außerdem die Geschäfts- Heil- und Segenssprüchen, die Sammlung von Flur- führung des Vereins für ländliche namen und die Mitarbeit am At- Wohlfahrtspflege in Württemberg und las der deutschen Volkskunde.34 Sei- die Schriftleitung der Zeitschrift ne Leistungen waren dabei aber Schwäbische Heimat.26 1923 beauf- offenbar vor allem organisatori- tragte man ihn schließlich mit der scher Natur. Ein historisch-kriti- „Errichtung einer besonderen scher Ansatz war ihm in der volkskundlichen Abteilung“27 Volkskunde vollkommen fremd.35 beim Landesamt für Denkmal- In der Weimarer Republik trat pflege. August Lämmle als Herausgeber Nach dem verlorenen Krieg und Verfasser einer ganzen Fülle wurde die Heimat-Ideologie in von Veröffentlichungen hervor. der Weimarer Republik von ei- 1924 begann er mit der Heraus- nem bewußten Rückzug auf re- gabe der Reihe Schwäbische Volks- gionale Identitätsmuster ge- kunde, in der auch 1925 unter dem prägt.28 Heimatpflege und Volks- Titel Unser Volkstum eines seiner kunde förderten eine allgemeine Hauptwerke erschien.36 In dieser „Nationalisierung von Natur, Programmschrift seiner volks- Heimat und Kultur“ und stell- kundlichen Tätigkeit forderte er ten Begriffe wie „Sitte, Stamm die „Verwurzelung des Denkens, und Gemeinschaft“29 in den Mit- Glaubens und Handelns im telpunkt. Diese Entwicklung läßt Menschlichen, im eigenen Wesen, sich auch am Beispiel der Tätig- im deutschen Volkstum.“37 Daher keit von August Lämmle als müsse die Volkskunde zur „Ver- Volkskundler in Württemberg August Lämmle (1879-1962) edelung des Menschen, des Men- nachvollziehen. In einem Vortrag schengeschlechts und des zum Thema „Volkstum und Heimat“ am 7. Oktober menschlichen Lebens beitragen.“38 Die Schwaben wa- 1926 bei einer Tagung des Landesamtes für Denkmal- ren für August Lämmle zwar kein einheitlicher „Men- pflege klagte er über den Verlust von „Sitte und schenschlag“, aber dennoch hatte er in seinen Veröf- Brauch“, „Volkstracht“, „Volksspiel“ und „Gesellig- fentlichungen ganz plastische Vorstellungen von ih- keit der Licht- und Hofstuben.“30 Unter dem Titel „Das rem Aussehen und Charakter. In einem Aufsatz zum neue Gesicht der Heimat“ äußerte er sich 1930 im Thema Schwaben und Franken in Württemberg schrieb er: Schwäbischen Heimatbuch auch zu den Ursachen dieser Entwicklung. Diese lagen für ihn unter anderem im „Der Schwabe ist in allem derber, stämmiger; er hat ei- „Siegeszug der Grammophonplatten, der Bilderbücher nen starken Kopf, breites Gesicht, herbes festes Kinn, gut

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entwickelte Stirn, kräftige Nase, volle Lippen, die leicht als deutlich. 1937 schrieb er in der Monatsschrift Würt- aufblühen, oft blonde Haare, blaue Augen und helle temberg zum Beispiel: Hautfarbe. Der Blick ist offen oder versonnen, der Ge- sichtsausdruck wechselt zwischen ernst und heiter, das „Dienst am Volkstum sind alle die großen Maßnahmen Auftreten ist deutlich hörbar, oft polternd und ungeschickt. der letzten Jahre: Arbeitsbeschaffung und Winterhilfe, Er ist nicht ‘hehligen’ [heimlich; Anm. d.Verf.] auf der Erbhofgesetz, Ehestandsförderung und Kinderfürsorge; Welt.“ 39 Dienst am Volkstum ist der Sinn der Hitlerjugend und der Kameradschaft in der SA, ist in seiner zielbewußten Von diesem Bild der Schwaben war der Weg zur Durchdenkung und Durchführung der Arierparagraph Volkstumsideologie des Dritten Reiches nicht mehr und die Beseitigung der Fremdstämmigen aus der Füh- weit. rung des deutschen Volkes und Staates.“ 48

Brauchtumspfleger unter dem Hakenkreuz Letzte Jahre des Volkskundlers in Leonberg

Durch die ausgeprägte inhaltliche und sprachliche Nähe Der Zusammenbruch des Dritten Reiches beendete ergaben sich keinerlei Probleme bei der Eingliederung 1945 auch die Vorstandschaft von August Lämmle im von Volkskunde und Heimatpflege in den Wissen- Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohen- schaftsbetrieb des Dritten Reiches.40 Ganz im Gegen- zollern.49 Der „lächelnde Weise“ zog sich in ein klei- teil: Die Volkskunde wurde bald zur ideologischen nes Haus bei Leonberg zurück und erfreute sich ins- Hilfswissenschaft, um die „Höherwertigkeit nordisch- besondere an seinen runden Geburtstagen in der Nach- germanischer Kultur“41 mit pseudowissenschaftlichen kriegszeit zahlreicher Ehrungen.50 Unter dem Titel Methoden zu belegen. Für den als immer problemati- Volkstum und Heimat in Baden-Württemberg beteiligte er scher empfundenen „Konflikt zwischen Traditionalis- sich auch an der Diskussion über die Bildung des mus und Modernität“42 bot sich für Volkskundler wie Südweststaates, den er befürwortete.51 Zum 75. Ge- August Lämmle das Dritte Reich als geeignetes ideo- burtstag erhielt er von der Landesregierung den Pro- logisches Ventil zur Lösung aller Probleme an. „Rassen- fessorentitel.52 Bücher wie Das Herz der Heimat. Eine lehre“ und „Volksgemeinschaft“, Begriffe also, die auch Aussteuer aus dem schwäbischen Hausgut für unsere Söhne in Heimatpflege und Volkskunde Tradition hatten, und Töchter daheim und draußen wurden Standardwerke schienen die „Wiederverbäuerlichung“ der Bevölke- der schwäbischen Regionalliteratur.53 Viele seiner Werke rung einleiten zu können.43 wurden mehrfach aufgelegt und erschienen in hohen Bereits 1933 stieg August Lämmle zum Schriftlei- Auflagen.54 Am 10. Februar 1962 starb August Lämmle ter und Herausgeber der Zeitschrift Württemberg – im Alter von 85 Jahren.55 Monatsschrift für Dienst an Heimat und Volk auf.44 Ein Hans-Ulrich Roller, der sich 1964 als erster in einer 1934 unter dem Titel Brauch und Sitte im Bauerntum ver- kritischen Bestandsaufnahme mit Lämmles Veröffent- öffentlichtes Buch durfte angeblich seit 1936 nicht mehr lichungen auseinandersetzte, wies an vielen Belegstel- verbreitet werden, was aber die weitere Karriere von len die idealisierte und ideologisierte Grundstruktur August Lämmle unter dem Hakenkreuz nicht behin- seines Schwabenbildes nach. „Er machte das derte.45 1937 trat er im Alter von 60 Jahren in den Schwabenländle zu einem Paradies“, bilanzierte Rol- Ruhestand, schrieb und veröffentlichte aber weiter.46 ler, „und ließ die Schwaben, bauernstämmig zumeist Auf ausdrücklichen Wunsch der NSDAP-Gauleitung und im Blut verbunden, darin lustwandeln.“56 Und wurde August Lämmle 1939 als „bester Kenner des weiter: schwäbischen Volkes“47 zum Vorsitzenden des Bundes für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern gewählt. „Lämmle saß mittendrin in diesem Garten Eden, erhöht Seine postive Einstellung zum Dritten Reich war mehr über den anderen, so daß er alles überblicken konnte, mit

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Bericht zum 85. Geburts- tag von August Lämmle aus dem Jahr 1964.

seherischen Augen, mit denen er seinen Landsleuten in Anmerkungen den Seelengrund blickte.“ 57

Für Lämmle war das Schwabenland das Paradies auf 1 Wilfried Setzler: ‘Die schwäbische Heimat in ihrer Eigenart Erden. Diese Idylle hat er vor allem in seiner Schwäbi- zu schützen’ – Auftrag seit 75 Jahren. In: Schwäbische Heimat schen Schöpfungsgeschichte oft wiedergegeben. In dieser 2/1984, S. 102-115, hier S. 106. 2 Ebd., S. 107. kleinen Geschichte entwirft der Herrgott vor der Er- 3 Ebd., S. 108. schaffung der Welt zunächst ein kleines Modell, nach 4 Zur Biographie August Lämmles vgl. Helmut Dölker: August dessen Vorbild dann die Erde gestaltet wird: Lämmle und die schwäbische Volkskunde. In: Schwäbische Heimat 6/1951, S. 257-258; Hans-Ulrich Roller: August Lämmle 1876 - 1962. In: Hermann Bausinger (Hg.): Zur Ge- „Und als er nun am ersten und schönsten Sonntagmor- schichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württem- gen das Werk seiner Hände betrachtete und sein Wohlge- berg. Helmut Dölker zum 60. Geburtstag (=Volksleben, Band fallen hatte an der bunten Fülle und an der Lust der 5). Tübingen 1964, S. 277-293; Hans Schwenkel: August Geschöpfe“, so Lämmle, „da sah er nebenbei das kleine Lämmle zum 50. Geburtstag. In: Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern (Hg.): Schwäbisches Heimat- Modell, und es deuchte den Meister schade, das kleine buch 1927. Stuttgart 1927, S. 7-15; Ders.: August Lämmle 80 Kunstwerk, das seinen Dienst getan, nun einfach so bei- Jahre alt. In: Schwäbische Heimat 6/1956, S. 225-228. seite zu schieben. Und er suchte einen freien und heimli- 5 Hans-Ulrich Roller (wie Anm. 4), S. 277. chen Platz auf der Erde heraus und baute es da hinein. 6 August Lämmle: Unterwegs. Erinnerungen und Begegnungen. 58 Reutlingen 1951, S. 26f. Und das ist nun das Schwabenländle geworden.“ 7 Hans-Ulrich Roller (wie Anm. 4), S. 277.

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8 Werner Hartung: Das Vaterland als Hort von Heimat. Grund- 32 Ebd., S. 7. muster konservativer Identitätsstiftung und Kulturpolitik in 33 Stefan Maier (wie Anm. 9), S. 355. Deutschland. In: Edeltraud Klueting (Hg.): Antimodernismus 34 Helmut Dölker (wie Anm. 4), S. 257f. und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. 35 Hans-Ulrich Roller (wie Anm. 4), S. 280. Darmstadt 1991, S. 112-156, hier S. 114. 36 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. 9 Stefan Maier: Volkskunde und Heimatpflege. Geschichte und 226. Problematik eines distanzierten Verhältnisses. In: Edeltraud 37 August Lämmle: Unser Volkstum. Veröffentlichungen des Klueting (Hg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte Württembergischen Landesamtes für Denkmalpflege, Drittes der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991, S. 344-370, Buch. Stuttgart 1925, S. 15. hier S. 351. 38 Ebd., S. 16. 10 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. 39 August Lämmle: Schwaben und Franken in Württemberg. In: 225. Ders.: Unser Volkstum (wie Anm. 37), S. 143-157, hier S. 150. 11 Hans-Ulrich Roller (wie Anm. 4), S. 277. 40 Stefan Maier (wie Anm. 9), S. 359. 12 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. 41 Ebd. 225f. 42 Werner Hartung (wie Anm. 8), S. 132. 13 Werner Hartung (wie Anm. 8), S. 112. 43 Ebd., S. 137. 14 Ebd., S. 113. 44 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. 15 Ebd., S. 115. 226. 16 Ebd. 45 Ebd. 17 Friedrich Freiherr von Gaisberg-Schöckingen: Geschichte der 46 Ebd. Gründung des Bundes für Heimatschutz in Württemberg und 47 Felix Schuster (wie Anm. 21), S. 54. Hohenzollern. In: Bund für Heimatschutz in Württemberg und 48 August Lämmle: ‘Was liegt dem guten Menschen näher als die Hohenzollern (Hg.): Schwäbisches Heimatbuch 1919. Stutt- Seinen?’ Tatsachen zu den Begriffen ‘Volkstum’ und ‘Bolsche- gart 1919, S. 8-19, hier S. 11. wismus’. In: Monatsschrift Württemberg 104 (1937), S. 297- 18 Wilfried Setzler (wie Anm. 1), S. 110. 299, hier S. 299. 19 Ebd., S. 108. 49 Felix Schuster: Geschäftsbericht 1940-1949. In: Ders. (Hg.): 20 von Gaisberg-Schöckingen (wie Anm. 17), S. 13. Schwäbisches Heimatbuch 1949. Stuttgart 1949, S. 174-175, 21 Felix Schuster: 40 Jahre Bund für Heimatschutz in Württem- hier S. 175. berg und Hohenzollern. Ein Rückblick auf Grund eigener Er- 50 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. innerungen. In: Ders. (Hg.): Schwäbisches Heimatbuch 1949. 226. Stuttgart 1949, S. 13-55, hier S. 24 51 August Lämmle: Volkstum und Heimat in Baden-Württem- 22 Ebd., S. 21. berg. Karlsruhe-Durlach 1951. 23 Werner Hartung (wie Anm. 8), S. 119. 52 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. 24 Felix Schuster (wie Anm. 21), S. 33. 228. 25 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. 53 August Lämmle: Das Herz der Heimat. Eine Aussteuer aus 226. dem schwäbischen Hausgut für unsere Söhne und Töchter 26 Ebd. daheim und draußen. Stuttgart 1957. 27 Ebd. 54 Hans Schwenkel: August Lämmle 80 Jahre alt (wie Anm. 4), S. 28 Stefan Maier (wie Anm. 9), S. 356. 226f. 29 Ebd., S. 358. 55 Hans-Ulrich Roller (wie Anm. 4), S. 279. 30 August Lämmle: Volkstum und Heimat. In: Bund für Heimat- 56 Ebd., S. 277-293. schutz in Württemberg und Hohenzollern (Hg.): Schwäbisches 57 Ebd., S. 281. Heimatbuch 1927. Stuttgart 1927, S. 17-26, hier S. 17. 58 August Lämmle: Die Schwaben. In: Martin Wähler (Hg.): Der 31 Ders.: Das neue Gesicht der Heimat. In: Bund für Heimat- deutsche Volkscharakter. Eine Wesenskunde der deutschen schutz in Württemberg und Hohenzollern (Hg.): Schwäbisches Volksstämme und Volksschläge. Jena 1937, S. 274-286, hier S. Heimatbuch 1930. Stuttgart 1930, S. 5-12, hier S. 6. 298.

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Friedemann Schmoll

Iß langsam und kaue tüchtig

Die Geschichte von Luise Haarers schwäbischem Nationalkochbuch, das eigentlich nie ein solches werden sollte

Es muß sich schon ein erstaunliches Erfolgsrezept Als Luise Haarer 1932 mit ihrem Kochbuch auf den dahinter verbergen, wenn ein Kochbuch auf einem von Markt kam, da boomte dieses Genre praktischer Heißhunger nach ständig neuen Appetitanregern dik- Ratgeberliteratur, und dieser Boom signalisierte nichts tierten Markt so lange überdauert. Luise Haarers Ko- anderes als eine tiefgreifende Krise in Deutschlands chen und Backen nach Grundrezepten wurde 1932 erstmals Haushalten. Geschlechterbilder wie das der um- aufgelegt und danach den Erfordernissen der Zeit sorgenden Hausmutter wurden im Zeitalter der Frau- immer mal wieder behutsam angepaßt.1 Inzwischen enarbeit erschüttert, die technische Revolution erober- ist das schwäbische Nationalkochbuch in der 27. Auf- te mit Waschmaschinen (handbetrieben ab 1870), Elek- lage greifbar, über eine Million Exemplare wurden seit- troherden (ab 1891) und Staubsaugern (ab 1906) die her in nobler Leinenausgabe, der illustrierten Variante Hausstände. Alltagswissen war nicht mehr wie selbst- mit abwaschbarem Plastikeinband oder der preiswer- verständlich von Generation zu Generation über- ten Volksausgabe verkauft, und noch immer darf – lieferbar, sondern benötigte auch zur verläßlichen zumindest in Württemberg – die Hohe Schule der süd- Orientierung zwischen Spülstein und Speisekammer westdeutschen Regionalkost in keiner Küche – zumin- das Medium des Ratgebers. Im Falle der permanent dest in keiner ordentlichen – fehlen. neuen Modernisierungsschüben ausgesetzten Haus-

1 Diese einzige hier gefertigte Fußnote will keinesfalls eine Wissenschaftlichkeit des vorgelegten Textes suggerieren, im Gegenteil: Sie übernimmt lediglich die Aufgabe, darauf zu verweisen, daß es sich hierbei um eine reine Hommage an die Autorin von Kochen und Backen nach Grundrezepten handelt und die wissenschaftliche Aufarbeitung des Zusammenhangs von Kochbuchliteratur und regionalen Selbstbildern noch aussteht. Vorausgeschickt werden muß außerdem, daß in diesem Beitrag andere schwäbische Kochbuch- klassiker (die jeweiligen kulturellen Auswirkungen der einzelnen Koch-Schulen zeitigten ähnlich drastische Konsequenzen wie konfessionelle Grenzen) nicht berücksichtigt werden können. Dies darf nicht als ignorante Geste gewertet werden, sondern wurzelt allein in der hauswirtschaftlichen Sozialisation des Autors. Allgemein zur Formierungs- und Normierungsgeschichte der Kochbuch- literatur auf Geschlechterbilder Inga Wiedemann: Herrin im Hause. Durch Koch- und Haushaltsbücher zur bürgerlichen Hausfrau. Pfaffenweiler 1993. Sämtliche Haarer-Zitate sind der 7. Auflage der illustrierten Ausgabe (abwaschbarer Plastikeinband) aus dem Jahre 1982 entnommen.

149 Iß langsam und kaue tüchtig wirtschaft, in der mit erprobtem Alltagswissen kaum menstellung der Zutaten und bei der Zubereitung der mehr zurande zu kommen war, war nicht mehr der Speisen wirksam sind, erkennt und die daraus sich erge- unerschöpfliche Wissensfundus von Müttern und benden Regeln einhält. Auf dem sicheren Fundament Großmüttern gefragt, sondern die wohlgeordnete Sy- von Grundrezepten und Grundregeln sind jeder geschei- stematik des übersichtlichen Kochbuchs. ten Frau die Mittel zur selbständigen Ab- und Um- Nur wenige der damals aufgelegten Kochbücher ha- wandlung der Gerichte in die Hand gegeben.“ ben den Moden chicer Zeitgeistdünsterei und den Wirren hastig wechselnder Ernährungsgewohnheiten Wie könnte es anders sein: Luise Haarer, 1892 auf widerstanden. Daß Luise Haarer noch immer zu den dem Härtsfeld geboren, entstammte einem schwäbi- heimlichen Bestsellern zählt, mag in ihrer Zauberfor- schen Pfarrhaushalt. Nach dem Besuch der Frauen- mel wurzeln. Statt umständlichem arbeitsschule in Urach, wohin die Küchenlatein predigte sie das knap- Familie nach dem frühen Tod des pe Grundrezept als Königsweg zur Vaters von Kirchheim am Ries ver- Kochkunst, auf dem dann Kreativi- zogen war, verdingte sie sich als tät und Einfallsreichtum individuell Haustochter in einem englischen aufbauen konnten. Dieses Prinzip Haushalt. Ihr Verlobter fiel im Er- der Grundrezepte ist eines, das eine sten Weltkrieg. Luise Haarer blieb schmackhafte Balance von Behar- fortan ledig und lebte später mit der rung und Erneuerung, eine ausge- Handarbeitslehrerin Helene Rösch wogene Mixture von Tradition und zusammen. 1917 aus der Fremde Wandel, die Symbiose von bewähr- heimgekehrt, faßte sie 25jährig den tem Bestand und kreativer Neu- Entschluß, im Hauswirtschaftlichen schöpfung garantiert und Eigenin- Seminar des Schwäbischen Frauen- itiative auf der Basis von Erprobtem vereins in Stuttgart die Prüfungen fördert – ein Prinzip, das nicht nach zur Hauswirtschaftslehrerin zu ab- jedem modischen Kochkniff schielt, solvieren. Als Lehrerin in der welcher morgen schon vergessen ist. Luise Haarer verstarb 1976 im Heim Esslinger hauswirtschaftlichen Be- Etwa zur selben Zeit, Anfang der „Abendruhe“ in Herrenberg. rufsschule seit 1923 war sie eine Frau 1930er Jahre, verschaffte sich die Re- der theoriegeleiteten Praxis. Ihr Le- dakteurin Cornelia Kopp mit ihrem bensweg war eng mit der Erfolgs- Buch Grundrezepte als Schlüssel zur Kochkunst beim Leip- geschichte ihres Kochbuchs verwoben. Nach dessen ziger Beyer-Verlag ähnlichen Erfolg. Kopp und Haarer Erscheinen berief man sie 1935 zur hauptamtlichen sollten sich noch Ende der 1930er Jahre vor Gericht Fachberaterin für den hauswirtschaftlichen Unterricht. treffen, um dort ihren Urheber-Streit um das Grund- Später wurde sie Regierungsrätin im württembergi- rezept auszutragen. schen Kultusministerium, entwarf als solche Lehrplä- Das ursprünglich für Haushaltsschulen geschriebe- ne für hauswirtschaftliche Schulen und wirkte in der ne Buch, so schickte Luise Haarer der Auflage von Lehrerbildung und -fortbildung. 1957 wurde sie in den 1958 vorweg, Ruhestand verabschiedet; 1976 verstarb Luise Haarer 84jährig im Heim „Abendruhe“ in Herrenberg. „hat seit Jahren auch freundliche Aufnahme bei den Frau- en gefunden, vor allem jungen und berufstätigen Frauen, Mit ihrem Kochbuch hatte Luise Haarer weit mehr als die keine Gelegenheit hatten, das Kochen vor der Grün- nur eine simple Rezeptesammlung geliefert. Sie verei- dung des eigenen Hausstands systematisch zu erlernen. nigte schmackhafte Rezepturen zu einem Sitten- und Es zeigt sich nämlich, daß man in kurzer Zeit und ohne Anstandsbuch, zu einer Tugend- und Benimmschule, besondere Anleitung zu einer Fertigkeit im Kochen, Bak- in der Nützlichkeit, Sauberkeit, Bescheidenheit, Fleiß, ken und Einmachen kommen kann, wenn man als Sparsamkeit und solider-biederer Wohlgeschmack, von Grundlage die Gesetzmäßigkeiten, die bei der Zusam- dem dann allerdings vor allem das Familienoberhaupt

150 Iß langsam und kaue tüchtig und Kinder profitieren sollten, gelehrt wurden. Sie es auch mit wenig Fett und ohne Ei gut und schmack- formte solchermaßen mit an einem Frauentypus, der haft wird.“ Die kaum mehr wahrnehmbare Unterschei- sich heute nur noch in wenigen evangelischen dung von alltäglichen und besonderen Anlässen, von Frauenbünden Württembergs findet. schlichtem Werktag und erhabenem Sonntag spiegelt Luise Haarer schenkt einem zu Zeiten, da in den sich in den verschiedenen Varianten ein- und dersel- westlichen Industrienationen jedwelche Nahrungsmittel ben Speise. Luise Haarer liefert Rezepte für „einfa- zu jedwelcher Zeit verfügbar scheinen, den verlorenen chen“, „feinen“ und „guten“ Apfelkuchen oder den Rhythmus der Jahreszeiten, der einstens in der Abfol- „einfachen“, „besseren“, „feinen“ und sogar „feinsten“ ge saisonaler Erzeugnisse in Bratpfanne und Dessert- Gugelhopf. Ob Feiertag ist oder nicht, das macht die schüssel genießbar wurde, zurück. Ein Jedes hat bei Küchenmeisterin in Nuancen schmackhaft durch die ihr seine Zeit: „Berücksichtige stets“, so mahnt sie ge- zusätzliche Beigabe von 50 Gramm Butter oder ein Ei streng, „die Marktlage und kaufe Obst und Gemüse mehr als gewöhnlich im Hefeteig. zur richtigen Reifezeit, die verschiedenen Fischarten zur richtigen Fangzeit.“ Hier waltet die Natur im Insbesondere ihre „Praktische Winke zum Sparen“ Küchenkosmos, nicht zeitgeistlerischer Geschmack, erwachsen zu einer Enzyklopädie puritanischer Herd- nicht effekthungriger Stil. und Haushaltslyrik, die nirgendwo anders gedeihen kann als zwischen den brodelnden Kochtöpfen in der Und: Sie ruft inmitten der Überflußgesellschaft den Küche einer schwäbischen Hauswirtschaftsschule; hier Wechsel von guten und von schlechten Zeiten zurück. gerinnt krudes Alltagswissen zu unverwechselbarer „Bevorzuge“, so empfiehlt sie etwa mit Blick aufs Poesie. „Beachte“, so pflegt sie auch im Umgang mit Backwerk, „wenn du mit wenig Wirtschaftsgeld aus- der Haushaltskasse einen immer freundlichen Impe- kommen mußt, die Herstellung von Hefegebäck, weil rativ, „beim Einkauf stets die Preiswürdigkeit der Nahrungsmittel im Vergleich zu ihrem Nährwert.“ Außerdem: „Verwende Butterpapiere zum Einfetten von Backformen.“ Oder: „Reinige dunkel geworde- nes erkaltetes Backfett durch Auskochen mit Wasser und Zwiebeln; dadurch wird es wieder voll gebrauchs- fähig.“ Bemerkenswert auch ihr Spar-Katechismus im Umgang mit Strom und Gas: „Zünde die Gasflamme erst an, wenn alle Zutaten und der Kochtopf bereit- stehen.“ Oder: „Achte darauf, daß die Flamme nicht über den Topfboden herausragt.“ Vor allem aber: „Hal- te Gasherd und Brenner peinlich sauber.“ Luise Haarer selbst allerdings würdigte über der Tugend der Spar- samkeit den Anspruch des Wohlgeschmacks. „Beim Bevorzuge wenn du mit wenig Wirtschaftsgeld auskommen mußt, die Herstellung von Hefegebäck, weil es auch mit wenig Fett und ohne Ei Kaffee muß man vor allem am Wasser sparen“, so lau- gut und schmackhaft wird. tete etwa ihr privater Rat beim schwarzen Ernüch- terungsgetränk, welches sie so sehr schätzte, daß sie sogar in kargen Kriegszeiten mit Sonderrationen an Bohnenkaffee bedacht wurde.

Die Resteverwertung gerät bei ihr zum eigentlichen Prüfstand hausfraulichen Einfallsreichstums. Weder Komposthaufen noch Abfalleimer sind für jene Natur- gaben vorgesehen, die nicht aufs erste mal den Weg in den Verdauungstrakt gefunden haben. Altbackenes Schwarzbrot verwandelt sich mit Suppengemüse an-

151 Iß langsam und kaue tüchtig

gereichert in eine deftige Brotsuppe, harte Wecken wer- den zu Weckknödeln und abgestandenes Bier ist bei- leibe viel zu schade für den Ausguß, sondern verdickt zusammen mit Stärkemehl, ein paar Eigelb und einer Prise Zimt zu jener Biersuppe, die einst als Morgen- getränk im Süddeutschen gang und gäbe war. Auch der „Gaisburger Marsch“, benannt nach dem Stutt- garter Arbeitervorort und der württembergischen Mili- tärküche entstammend, ist solch ein Produkt der krea- tiven Resteverwertung, bei der Altes zu Neuem sich verjüngt. Die Spätzle vom Vortag vereinigen sich in der Fleischbrühe mit den Kartoffelschnitzen von vor- gestern und werden, je nach Stand der Haushaltskas- se, mit Suppenfleisch oder auch nicht versehen. Einst als Armeleutemahlzeit in schwäbische Arbeiter- und Bauernküchen verbannt, stieg dieses Gericht auf den Speisekarten sogenannter Feinschmeckerlokale längst auf zum gehobenen Kulturgut.

So ist Luise Haarers Band das lebendige Gedächtnis Den Saft der weichgekochten Früchte läßt man zum Gelee durch ein regionaler Küche, das vergessen geglaubte Rezeptu- Filtriertuch ablaufen. ren über die Zeiten hinweg aufbewahrte. Ihr Koch- buch ist nicht nur Zeugnis vom Wunschbild schwäbi- schen Sozialcharakters, der ausgestattet mit den Tu- genden Sparsamkeit, Sauberkeit, Fleiß und Beschei- denheit in der Küche waltet; sie arbeitete selbst mit an

Es ist üblich, die Hälfte der Maultaschen mit der Koch- brühe zusammen als Suppe, die übrigen ohne Brühe mit ge- mischtem Salat zu essen.

152 Iß langsam und kaue tüchtig

Zutaten:

250 g Mehl, 1-2 Eier, 1 Kaffelöffel Salz, 1/8-3/16 l Wasser (je nach Eiermenge und Eiergröße).

Zubereitung:

Man macht aus den angegebenen Zutaten einen festen, glatten Teig, den man so lange schlägt, bis er Blasen wirft. Nun gibt man einen Teil des Teiges auf das nasse Spat- zenbrett und legt in kochendes Salz- wasser mit dem Spatzenschafber Spatzen ein.Sobald sie wieder her- aufkommen und kochen, nimmt man sie mit einem Bratlöffel her- aus, schwenkt sie in heißem Salz- wasser und richtet sie auf einer er- wärmten Platte an. Wenn man die Spätzle lange ko- chen läßt, werden sie kleistrig; läßt man sie lange im Schwenkwasser liegen, werden sie blaß. Auf diese Weise wird aller Teig eingelegt, an- gerichtet und zuletzt das Ganze mit in Butter geröstetem Semmel- mehl geschmelzt. der Modellierung dieses weiblichen Sozialcharakters. dabei vielleicht etwas zu leicht. Da erst 1872 die Maße Wie tief ihr Kochbuch im regionalen Horizont ver- und Gewichte in den Staaten des Deutschen Reichs wurzelt war und wie wenig es außerhalb Württembergs vereinheitlicht wurden, bestand erst ab diesem Zeit- verstanden werden konnte, belegen vergebliche Ver- punkt die Möglichkeit zur Uniformierung der suche des Verlags, in nichtwürttembergische Regionen Hausfrauenliteratur. Mathilde Ehrhardt, die Heraus- zu expandieren. Eine sogenannte „südostdeutsche geberin des Großen Illustrierten Kochbuchs für den einfa- Ausgabe“ für Österreich im Jahre 1940 blieb ein La- chen, bürgerlichen und feineren Tisch, benannte im wilhel- denhüter. Die Verlagsbestellungen, die von außerhalb minischen Zeitalter als Zweck ihres Kochbuchs nicht der Landesgrenzen bei der Burgbücherei Wilhelm nur die sozial übergreifende Verbindlichkeit ihres An- Schneider in Esslingen und später Hohengehren ein- leitungswerks, sondern auch die Vereinigung der Re- gingen, stammten zuallermeist von gebürtigen Würt- gionen am Küchenherd: tembergerinnen. Außerhalb Württembergs war Luise Haarers Kochen und Backen nach Grundrezepten so gut „Die empfindlichen Lücken von vielen Kochbüchern auf- wie nicht verkäuflich. zufinden, hat sich die Herausgeberin angelegen sein las- sen. Es kann jede Hausfrau, sie mag im Norden oder im Das komplexe Wirkungsgeflecht von Regionalküche, Süden, im Osten oder im Westen der deutschen Sprach- Nationalstaaterei und Hausfrauenliteratur harrt noch grenze leben, mit Erfolg mühelos zu Rate ziehen. Sie der Entwirrung durch die nahrungsethnologische For- wird auch mit dem Sprachgebrauch anderer Gegenden schung. „Nirgends sind die Volksstämme konservati- völlig vertraut.“ ver als wo es um Mund und Magen geht“, beobachtete bereits Wilhelm Heinrich Riehl, und machte es sich

153 Iß langsam und kaue tüchtig

Dennoch, so scheint es, beginnt just hier ein gegenläu- figer Prozeß, werden erst ab der Reichsgründung ex- pressis verbis Kochbücher mit spezifisch regionalem Zuschnitt geschrieben. Sie scheinen kompensatorische Funktionen im Nationalisierungsprozeß zu überneh- men und, während politische und staatliche Souverä- nität der Einzelstaaten abhanden kommen, eine ge- wisse Autonomie in Küchenreich, Gaumen- und Geschmacksfragen behaupten zu wollen. Erst in der Gefährdung des bislang selbstverständlich regional tra- dierten Küchenwissens jedoch, gelangt dieses aus der Alltagspraxis in die bürgerliche Ratgeberliteratur und erhält erst dort das Signet des Regionalen.

Luise Haarer indes hatte niemals nur für ein spezifi- sches regionales Publikum geschrieben, wurde offen- bar aber nur hier – und dafür umso besser – verstan- Wenn man die Spätzle lange kochen läßt, werden sie kleistrig; läßt den. Ihr Werk, am Ende der Modernisierungsära der man sie lange im Schwenkwasser liegen, werden sie blaß. Weimarer Republik erschienen, hat wenig, ja gar nichts gemein mit den Maultaschen-Fibeln, der Spätzle-Lite- Bei Luise Haarer jedenfalls überlebten Gerichte, die ratur und anderem folklorisierendem Gemütlichkeits- andernorts durch das schnellebige Geschmacksdiktat eintopf auf dem Kochbuchmarkt, welcher derzeit auf längst vom Speiseplan gestrichen wurden oder erst der schwäbischen Nostalgiewelle in die Kochtöpfe wieder mühselig von den Aposteln der Vollwert- gelangt. Ihr Geheimnis beruht wohl eher auf einer ernährung wiederentdeckt werden mußten: Gersten- doppelgesichtigen Modernität, einer zweckrationalen suppe, Brennesselgemüse, Grünkernschleimsuppe und Aufgeschlossenheit gegenüber technischem Wandel Grünkernauflauf, Löwenzahnsalat oder Zichorienkaf- und der verhaltenen Veränderung des Rollenverständ- fee. Ihr auch nach sechs Jahrzenten währender Erfolg nisses in der Ära anbrechender (Erwerbs)Frauenarbeit. steht mittlerweile freilich, da kaum eingeübte Gleichwohl, und erst dies vermag vielleicht ihren Er- Ernährungsgewohnheiten von Tschernobyl, Schlank- folg zu erläutern, kompensierte sie diese Fortschritts- heits- und Diätideologien, Cholesterinängsten und bereitschaft mit einem Beharrungsvermögen, das tra- Rinderwahnsinn ständig aufs neue irritiert werden, für dierte Geschlechterollen nicht veränderte, sondern al- eine Sehnsucht nach einem gestreng-wohlmeinenden lenfalls einer sich durch technische Neuerungen in Per- Imperativ, der auf dem diffusen Terrain des Essens manenz verändernden Küchenwelt anpaßte. Sie pfleg- keinen Widerspruch duldet. Und dabei ist ihr über- te einen Konservativismus, der die Prägung regionaler haupt die Gesundheit das wichtigste Anliegen: „Halte Küche und Wirtschaftsweise respektierte und die Ideo- beim Essen allen unnötigen Lärm, aufregende Unter- logie der fürsorglich waltenden Hausfrau in das Zeit- haltung, sonstige Ablenkung durch Lesen, Radio usw. alter weiblicher Berufstätigkeit transformierte. In ei- fern, all dies beeinträchtigt die Verdauung“, unterwies ner Zeit zunehmender Verwissenschaftlichung von sie menschenfreundlich und empfahl zur Nahrungs- Alltagswissen gelang es ihr, die Grundstrukturen kom- aufnahme vor allem Gelassenheit: „Iß langsam und plexer Vorgänge klar zu vermitteln. kaue tüchtig!“

154 Schwabenspiegel

Hermann Bausinger

Schwabenspiegel

Im September 1827, zwei Monate vor seinem Tod, Der Schiller und der Hegel, schreibt Wilhelm Hauff die Novelle „Das Bild des der Uhland und der Hauff, Kaisers“ nieder. Der Titel bezieht sich auf den das ist bei uns die Regel, Napoleonkult; aber ein wichtiges Motiv der Erzählung das fällt nicht weiter auf. ist auch der Gegensatz von Nord und Süd in Deutsch- land. Gleich zu Beginn treffen in der Eilpost zwischen Aber damals, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, Frankfurt und Stuttgart ein junger norddeutscher Ba- wurde Schiller Weimar zugeschlagen (zumindest von ron und ein schwäbischer Generalssohn zusammen. den Norddeutschen), Hölderlin war so gut wie unbe- Der Norddeutsche vergegenwärtigt sich die Vorurtei- kannt, Hauff noch nicht sehr berühmt. Schwäbische le, mit denen er in den Süden startet; er erwartet ein Dichter – da dachte man an die „schwäbische Dichter- rohes, ungesittetes Volk, das nicht ein- schule“, an den Kreis um Uhland, mal gutes Deutsch sprechen kann; aber Kerner, Gustav Schwab und etli- als er im unteren Neckartal die che Kleinere. Man kann nicht sa- schönen Dörfer und fröhlichen gen, daß sie jenseits der Grenzen Menschen sieht, fällt er beinahe in des Königreichs Württemberg das andere Extrem; er strömte über niemand kannte; aber unumstrit- von Lob und Bewunderung. Im Ge- ten war höchstens Uhland. spräch mit seinem schwäbischen Im Spätherbst 1838 veröffent- Reisebegleiter pocht er freilich licht Heinrich Heine die kleine doch auf die Vorzüge der nörd- Abhandlung „Der Schwabenspie- lichen Provinzen – und der geht gel“. Gestalten wie Schiller, Schel- in die Defensive: In Württemberg ling, Hegel, David Friedrich lernten junge Leute erst sehr spät Die Schwäbische Dichterschule um Ludwig Strauß schiebt er schnell auf die das Benehmen im geselligen Uhland: Mörike, Kerner, Hauff und Schwab Seite: sie sind viel mehr europäisch Kreise, man sei hier heiter, gesellig unter sich, so daß Fremde als schwäbisch. Auch von dem großen Dichter Ludwig Uhland keinen Zugang zur eigentlichen Wesensart der Schwa- will er in so kläglicher Gesellschaft eigentlich nicht spre- ben hätten. Der Norddeutsche läßt sich die Verteidi- chen. Aber die anderen rechnet er zu dieser kläglichen gung gefallen, bleibt aber doch bei seiner Auffassung Gesellschaft: Gustav Schwab, immerhin ein Hering in vom Nord-Süd-Gefälle – so stellt er etwa fest, daß auf Vergleichung mit den Anderen, die nur Sardellen sind, versteht zwanzig Schriftsteller und Dichter seiner Heimat nur sich, Sardellen ohne Salz ; Justinus Kerner, welcher Geister einer im Süden komme. und vergiftete Blutwürste sieht; Karl Mayer, von dem Hei- Im Rückblick erscheint dies als glatte Fehlrechnung. ne sagt: Er ist eine matte Fliege und besingt Maikäfer; Gu- Ende des 19. Jahrhunderts dichtete Eduard Paulus halb stav Pfizer, von dem er eine Abhandlung gelesen hat, ironisch und halb stolz: geistlos und unbeholfen und miserabel stilisiert.

155 Schwabenspiegel

Dies war nun freilich keine beliebige Abhandlung, son- es einem nicht leicht. Gegen die Annahme einer schwä- dern eine herbe Kritik an Heines Poesie, in der Pfizer bischen Dichterschule wehrten sie sich redlich. „Mit nur jähe, oft ziemlich gottlose Stoßseufzer sah, zur nackten, eignem Schnabel jeder singt,/Was halt ihm aus dem gemeinen, mit Vorliebe durchwühlten Wirklichkeit herabgezo- Herzen springt“, schrieb Kerner schon 1835, und spä- gen. Und dies war nicht der einzige Querschläger, der ter publizierte er zwar ein Gedicht unter dem Titel „Die aus dem Schwäbischen kam. Als im Deutschen Musen- schwäbische Dichterschule“, aber nur um darin zu zei- almanach von 1837 ein Portrait Heines veröffentlicht gen, daß es sie nicht gibt: wurde, trat Gustav Schwab demonstrativ von seiner langjährigen Herausgebertätigkeit zurück. Es war also Wo der Winzer, wo der Schnitter nicht verwunderlich, daß Heine schlecht auf die Schwa- singt ein Lied durch Berg und Flur: ben zu sprechen war. Der Spott über die Dichter im da ist schwäb’scher Dichter Schule, deutschen Südwesten floß ihm leicht in die Feder. und ihr Meister heißt – Natur! In poetische Form packte er ihn in seinem „Atta Troll“: In diesem langen Gedicht kommt der Schwaben- Gustav Schwab bezog sich direkter aufdie Attacken dichter zu einer Hexe, deren Freundlichkeit endlich gar in der Norddeutschen: Sinnenbrunst ausartet. Aber er bleibt standhaft: Kommt her, die ihr mit feinen Witzen „Sittlichkeit ist unsere Muse, mit Nagelspitzen euch bewehrt! Und sie trägt vom dicksten Leder Die Schwaben, die im Winkel sitzen, Unterhosen – Ach! vergreifen erwarten euch am frommen Herd. Sie sich nicht an meiner Tugend! Andere Dichter haben Geist, Das klingt, als hätte es Heine in Schwabs Gedicht- Andre Phantasie, und andre sammlung geschmuggelt – so genau werden hier die Leidenschaft, jedoch die Tugend im „Schwabenspiegel“ herausgestellten Linien nach- Haben wir die Schwabendichter.“ gezogen: jedes Wort bezeugt die Enge, die Winkel- seeligkeit, die Verhocktheit, die stolze Biederkeit, den Die Hexe verwandelt den Widerspenstigen in einen biederen Stolz. Mops, und Erlösung ist kaum möglich: Heines Karikatur übertreibt nur, was wirklich vor- gegeben war. Die Schwaben stilisierten sich selbst auf „Ja, nur eine reine Jungfrau, unwitzige Schulmeisterei, auf ängstliche Moral, auf Die noch keinen Mann berührt hat, frömmelnde Selbstgerechtigkeit, auf schwüle Gemüt- Und die folgende Bedingung lichkeit. Es sind die Charakterzüge, die später scho- Treu erfüllt, kann mich erlösen: nungslos auch von anderen kritisiert wurden – von Friedrich Theodor Vischer bis zu Thaddäus Troll. Diese reine Jungfrau muß Einigermaßen beruhigend ist, daß es sich bei diesen In der Nacht von Sankt-Sylvester Kritikern selbst um Schwaben handelte. Und natürlich Die Gedichte Gustav Pfizer’s kann man sich auch zurückziehen auf die Ehrengalerie Lesen, ohne einzuschlafen!“ jener Dichter und Denker, denen schon Heine das Etikett ‘europäisch’ zuerkannte. Auch sie waren, ihrer Mit Pfizer hatte Heine tatsächlich den poetisch Herkunft nach, Schwaben, und sie bilden ein ganz schwächsten ins Visier genommen – aber es ist sicher nützliches Alibi in einer Zeit, die zwar nicht mehr so nicht falsch, wenn man unterstellt, daß er auch die leicht vom Blutserbe spricht, die aber dazu neigt, alle Angriffe Pfizers nicht verschmerzt hatte. Eine Retour- Eigenschaften auf die eingepflanzten Gene zurück- kutsche also, keine sachliche Einschätzung, sondern zuführen. Aber man sollte korrekterweise hinzufügen, ein Zerrspiegel. daß jene Schwaben mit schwäbischer Lebensart oft Als Schwabe würde man sich gern auf diese Positi-nicht zurecht kamen. Mit ihr kamen die zurecht, die on zurückziehen. Aber die ‘Schwabendichter’ machen vor allem brav und bieder waren.

156 Schwäbischer Minderwert

Angelika Brieschke

Schwäbischer Minderwert

Wie sehr sich Schwaben auch um Weltläufigkeit be- Diese Feststellung der – stark sächsisch sprechenden mühen mag – mit Stuttgarter Kulturmeile, internatio- – Architektin aus Gera bringt es auf den Punkt: Der nal berühmtem Ballett, schwäbischem Außenminister schwäbische Dialekt wird nicht als eine bloße regiona- oder mit weltweit operierendem Autokonzern – Schwa- le Besonderheit, als ein nettes Anders angesehen, son- ben ist Provinz, und der Schwabe leidet darunter. dern als ein Nicht-Können, ein Mangel. Und in eben Zu viel Bodenhaftung? Zu viele übersparsame dieser Weise wird auch über den schwäbisch sprechen- Kleinbürger? Fehlende Weltstadt? Die Meinung Wer- den Menschen geurteilt: Das Image von Hochsprache ner Unselds1, am schwäbischen Minderwertigkeitskom- und Dialekt entscheidet über Provinzdepp oder Kos- plex seien die norddeutschen Lehrer schuld, die schwä- mopolit. Das Scheitern am Hochdeutsch ist so zugleich bische Sechsjährige mit der Mahnung ‘Wir wollen doch auch ein Scheitern am Weltmännischen. Der Schwabe in vier Wochen nach der Schrift sprechen’ erschrecken ist und bleibt unüberhörbar provinziell. und damit für immer zum Schweigen verurteilen, muß Und damit nicht genug: Das Schwäbische wird dar- zwar wohl als persönliche, leidvolle Erfahrung betrach- über hinaus von fremden Ohren als eine Art Beleidi- tet werden, aber er hat dennoch recht. Das schwäbi- gung empfunden. Auch unsere InterviewpartnerInnen sche Minderwertigkeitsgefühl kreist um zwei wunde bedachten das Schwäbische mit zum Teil wüsten Be- Punkte: den Dialekt – und die Bayern. schimpfungen: „Gebabbel“ nannte es ein Hamburger bei einer unserer Straßenumfragen, ein anderer beschei- nigte dem Schwaben eine „dümmliche Aussprache“. Die meisten Befragten einigten sich auf „furchtbarer Die können halt kein richtiges Hochdeutsch Dialekt“ und „unverständlich“; ein 26jähriger Hesse ist der festen Überzeugung, daß er sich in keine Frau verlieben könnte, die einen schwäbischen Akzent hat, „Und was war der erste Eindruck, den Sie in Stuttgart und ein Heidelberger meinte: „die treten’s platt [das von den Schwaben hatten?“ Deutsch, a.b.]“. Eine Tatsache, die leider nicht zu ver- „Na, daß sie alle nicht so richtig hochdeutsch konnten, tuschen ist. Haben wir doch alle mit hellem Entsetzen da sprachen sie alle von ‘der Butter’ und ‘vom Radio’ und tiefster Beschämung in der Tagesschau – und mit und und so, das stimmte ja alles so ... mit ... der Ortho- uns ganz, ganz Deutschland – das breite Schwäbisch graphie nicht so ganz ... und die Grammatik, die beherr- der in Costa Rica entführten und wiederbefreiten schen sie doch nun gar nicht, nicht?“ 2 Mössingerin vernehmen müssen. So gesehen ist Ver- rat aus eigenen Reihen verständlich – die Vorstellung

157 Schwäbischer Minderwert vom häßlichen schwäbischen „Ich versuche immer so zu sprechen, Dialekt erhält freundliche Unter- daß man mir den Dialekt nicht an- stützung von schwäbisch-profes- hört.“ soraler Seite: Bernd Jürgen (25jährige Studentin der Biochemie, Warneken sieht die Schwaben als Schwäbin)5 die einzigen Gewinner der deut- schen Wiedervereinigung an, da sie durch die Sachsen auf der 3. In die Offensive gehen. Dialekt-Beliebtheitsskala vom letzten auf den vorletzten Rang „Nö, aber was i ganz sicher net ka, geschoben wurden.3 Die Aussa- isch Schriftdeutsch. Also man wird’s ge einer jungen Nordrhein- immer merka, oder halt eba Süd- Westfälin auf die Frage, was ihr deutschland. Aber i hab koi Pro- zum Schwaben einfalle, erscheint blem damit, weil i denk, eifach durch einzigartig: „Ähm, eigentlich net des, daß i mi hier eigentlich wohl fühl besonders viel, bis auf, daß ich und daß es mir hier g’fällt, wüßt i die gern reden hör.“4 Daß ein au kein Grund, warum i des irgend- Hamburger das Schwäbische als wie verheimlicha soll. [...] i denk, „witzige Sprache“ bezeichnet des isch au a Frag, wie de damit hat, ist dagegen wenig hilfreich: umgasch. Des kannsch ja au offen- Es zeigt nur zu deutlich, daß der Kosmopolit, Nicht-Schwabe siv umwandla. Entweder, du Schwabe nicht ernst genommen gefällsch dir dann in der Rolle und wird in der Welt. treibsch die Satire auf die Spitze, so daß dene dann das So gerät das, was das wahrhaft Identitätsstiftende Lacha vergoht. Oder aber...“ für den Schwaben ist – Schwabe ist, wer schwäbisch „Hasch des mal g’macht?“ spricht – gleichzeitig zum nimmerversiegenden Quell „Nö, hab i no nie probiert, aber des wird mir wahr- seines Minderwertigkeitsgefühls. scheinlich scho gelinga mit a bißle Übung. Und i denk, des gibt sich au relativ schnell. Wenn du dann wirklich Dem Schwaben stehen mehrere Wege offen, mit die- mal nach Berlin ziehsch und da anfängsch zu leba und sem Defizit umzugehen – und er wählt sie alle: du hasch dann irgendan Bekanntenkreis, die findet’s dann nach ‘nem Vierteljahr au nemme so sonderlich witzig, daß du aus Schwaben kommsch, denk i. Es isch eventu- 1. Im nicht-schwäbischen Deutschland selten oder bes- ell für manche Leut a Startproblem, aber für mi war’s ser gar nicht sprechen. nie oins, und deshalb hab i da eigentlich au koine Unter diesem Blickwinkel sollten wohl die dem Bedenka.“ Schwaben zugeschriebenen Charaktereigenschaften (27jähriger Politikstudent, Schwabe)6 eigenbrödlerisch, verdruckt und wortkarg neu überdacht werden. 4. Die anderen mit der eigenen Waffe schlagen. Nicht-schwäbisch-sprechen-Könnende als Mangel- 2. Vertuschen. wesen betrachten, belächeln und ausgrenzen. Und wer Ein Mitglied unserer Interviewgruppe, der in Ham- richtig schwäbisch sprechen kann, entscheiden immer burg eine Straßenbefragung zum Schwaben durchge- noch die Schwaben. führt hat, ist der Meinung, daß ihm das gelungen sei. Uwe Zellmer wurde 1946 als ‘Flüchtlingskind’ in Ich bezweifle das. Heidenheim geboren und wuchs auch dort auf. Seit Allerdings steht er nicht allein in seinem Bemühen: 15 Jahren leitet er zusammen mit Bernhard Hurm das

158 Schwäbischer Minderwert

– schwäbische – Regionaltheater Lindenhof in Melchingen auf der Schwäbischen Alb. 6. Den schwäbischen Dialekt als gefühlvoll und warm, verbindlich und verbindend erkennen – und Heimat „Du fühlsch dich nie ausgegrenzt?“ darin wiederfinden. Denn: „Hoimat ischt gut.“ 9 Zellmer: „Oh, in bestimmter Weise scho, also in ‘nen paar Prozenten schon, ...“ „Was ich denke, was wichtig ist oder was mir dann auch Hurm: „... dein Kollege, des isch koin Schwob, gell? Sag’e erst wieder hier aufgefallen ist, daß das mit der Sprache doch, des isch scho oiner, aber ...“ wahrscheinlich schon wichtig ist für einen. Wenn man Zellmer: „... saget des scho manchmol.“ sich mit manchen Leuten wirklich mit seinem ureigenen Hurm: „... also Uwe kommt immer in Legitimations- Dialekt unterhalten kann und somit überhaupt nichts druck, zu sage, wie kommt mein Schwabensein zustan- dazwischen stellt zwischen Hirn und Mund. Ich glaube, de.“ deshalb fällt es auch vielen Süddeutschen schwer nach „Ja wieso, was habet die denn ... was dein Dialekt ...?“ Norddeutschland für lange Zeit zu gehen.“ Hurm: „... ja, der isch koin wirklicher. Der Dialekt isch (26jähriger Biologie student, Badener)10 nicht geerdet, oder irgendwas spüren die dadra’. Saget, ‘s „Was steht da dahinter, isch irgendwas g’lernt oder was ist dann dieser ‘Reiz ausgestellt ...“ des Dialekts’? Was vermit- „... aber in Heidaheim telt so ein Dialekt?“ schwätzt mer auch andersch „Jaa ... es hat bestimmt so als hier oba ...“ was ... zu so ‘ner kleinen Hurm: „Ja, aber des isch au Volksgruppe zuzugehören, koi Heidaheimer Dialekt. irgendwie. Und vielleicht Uwe spricht scho ...“ auch Identität .... Dieses Zellmer: „Noi, der isch ganz Nichtverstehen, denk ich, anders, der hot a ganz herbs ist der Reiz dran ... Weil L, des han i nia g’schafft, die des teilweise net verste- [...] so a ganz brutales L hen, was man sagt.“ hent dia da uff dr Oscht- alb.“ 7 (27jährige Rechtsanwalts- „Gebabbel“ im Tübinger Lammhof. Die zwei „Gôgen“ von Karl-Henning Seemann. gehilfin, Schwäbin)11 Auch ein Nicht-Schwabe kann scheitern – am Schwäbischen eben. Hurm: „Also, wenn’s von konservativer Seite kommt; des isch aber toll, sie kennat noh so a tolls Schwäbisch...“ Zellmer: „Ja!“ 5. Üben. Hurm: „... des hen mir alles scho vergessa, des hot mi so an mei Kindheit erinnert.“ Keuler: „Ich selber werde nicht versuchen, akzentfrei hoch- (Melchingen, Lindenhöfler)12 deutsch zu reden, weil ich’s selber nicht kann, also meinen Akzent hört man immer, es sei denn, wenn ich einen „[...] weil i fend, daß Mundart a Schtuck Hoimat isch.“ Sketch übe wie ein Dackel, daß ich’s dann einigermaßen (Rösle Reck, schwäbische Mundartdichterin)13 ‘nabügelt’ bring, [...]“ 8 7. Niemals Schwaben verlassen. Ganz so unmöglich erscheint dieses Unterfangen aber dann doch nicht zu sein: Das Beispiel der – ehemals – sächsisch sprechenden Eiskunstläuferin Katharina Witt belehrt uns eines besseren.

159 Schwäbischer Minderwert

Weil die Bayern keinen Minderwertigkeits- gant, haben aber ... aber diese Arroganz kommt nicht komplex haben aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus.“ (26jähriger Buchhändler, Hesse)16

„Also, die Bayern ... auch wieder zum Beispiel von Ber- Arroganz, selbst provinzieller Provenienz, zeigt immer lin gesprochen, wo ja nun wirklich auch eine gewisse Me- Wirkung. Bäuerliche Bodenständigkeit wird verziehen, lange ist, verlieren ihren Akzent dort nicht und bemühen wenn sie nur mit dem entsprechenden Selbstbewußt- sich auch nicht. Sie bleiben und sind doch stolz darauf, sein vertreten wird. Genau hier kommt das schwäbi- das zu sagen. Während die Schwaben – ich immer den sche perpetuum mobile in Schwung: Der Schwabe wird Eindruck hatte – daß sie, wenn sie in ihrem eigenen nicht gemocht, weil er einen Minderwertigkeitskom- Land sind, stolz darauf sind, Schwaben zu sein und ja plex hat – der Schwabe fühlt sich minderwertig, weil auch hier schwäbisch sprechen, untereinander, miteinan- er merkt, daß er nicht gemocht wird. der, aber sobald sie aus dem Land Da hilft nur ein trotzig auf das weggehen, versuchen es zu verdecken, eigene Anders pochen: In der weil sie nicht als dumm angesehen ewig gleichen Zuschreibung für werden wollen. Aber das zeugt doch Schwaben und für Bayern – bäu- eigentlich von einem gewissen Min- erlich-bodenständig – muß der kon- derwertigkeitsgefühl.“ stitutive Unterschied gefunden (26jähriger Buchhändler, Hesse)14 werden.

„Also, das ist mehr so ‘ne Frage vom „Und im Vergleich zu anderen Re- Temperament her. Also, wenn ich gionen, gibt es da zum Beispiel den an irgend ‘ne Gegend in Deutsch- Bayern, der etwas, als Abgrenzung land ..., die vom Temperament raus- zum Schwaben besser kann? Oder sticht ..., das sind die Bayern, wür- schlechter kann?“ de ich sagen.“ Keuler: „Schwäbisch wahrschein- (43jähriger Nicht-Schwabe, arbeitet lich, das kann er schlechter,“ – in der Straßenbahnverwaltung)15 macht aber nichts, denn – „baye- risch kann er besser.“ 17 „Also, von den Bayern ist man’s ein- fach gewohnt und man gesteht es ih- Gemeinerweise schlägt der Bay- nen ja fast zu, diese Extrawurst. er den Schwaben auch noch an Es ist ja fast nicht negativ. Wenn dessen empfindlichster Stelle, da, man dann wieder hört, was grad wo der Schwabe sich wirklich diese CSU machen möchte ... wenn wehrlos zeigen muß: – tatsächlich – dieser relativ unan- genehme Waigel sagt: ‘Ja, also wenn „Der Bayer spricht im Prinzip au Deutschland eine Hauptstadt ha- a schwieriges Deutsch, wenn’ so ben muß, dann soll ..., also, wenn willsch, aber trotzdem angenehm.“18 die Hauptstadt Deutschlands schon nicht München sein kann, dann soll Die „“ in München Und dennoch wird der Schwabe es doch Berlin werden.’ Man lacht unglücklicherweise gerade und darüber, man lacht selbst über diesen Waigel und man nur mit dem Bayern ‘verwechselt’: Süddeutschland ist nimmt es hin. Niemand würde sich darüber aufregen. Sie Bayernland. gehen schon ganz anders damit um; sind grenzenlos arro-

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„Ja, also i glaub, des liegt halt zum einen tatsächlich an Hat sich der Schwabe inzwischen damit abgefunden, dieser bayerischen Urtümlichkeit, und i glaub, daß da nicht geliebt zu werden, so ist das zumindest ertragbar Bada-Württaberg so a bißle dazudichtet wird.“ unter der Prämisse, daß er gekannt wird. Doch genau „Aber dieses deutsche Klischee, wohl au in Japan zum diese Größenvorstellung haben wir mit unseren Um- Beispiel, isch ja dieser Bayer. So Lederhosa, Schuhplattla fragen und Interviews eben nicht bestätigt bekommen. und so weiter. Und i denk, daß halt Süddeutschland Eine der häufigsten Antworten auf die Frage Was fällt allgemein bißle so in diese urtümliche Richtung gedrängt Ihnen zu Schwaben ein? lautete: nichts. Der Schwabe, sei isch, was ja bei de Schwaba nur bedingt greift.“ er nun gemocht oder nicht, ist nur für sich selber ein (27jähriger Politikstudent, Schwabe)19 Thema. Um uns selbst kreisen eben nur wir. Aber Demütigungen können lehren, ein besserer Sogar der von uns interviewte Franzose muß beken- Mensch zu werden. nen, daß er Schwaben als ‘Volksstamm’ nicht gekannt hat, bevor er nach Tübingen kam. Und das, obwohl zumindest im Elsaß ‘souabe’ ein Synonym für Deut- scher ist. Anmerkungen

„Bei uns heißt es ‘souabe’, aber weiß keiner, um was es sich handelt. Man kennt eigentlich nur die Bayern, viel- 1 Während einer Sitzung unseres Projekt im Sommer 1996, zu leicht. Die Bayern, ja.“ der wir den Kulturwissenschaftler Werner Unseld eingeladen hatten. (28jähriger Franzose, Student der Kunstgeschichte in 2 Interview Nummer 4 am 28. Januar 1996. 64jährige Architek- Tübingen)20 tin aus Sachsen, die 1950 als Flüchtling nach Stuttgart kam, um dort Architektur zu studieren. Sie arbeitet heute in Bre- Was für den Badener der württembergische Schwabe, men und in Gera. 3 Anläßlich der Vorstellung unseres Projekt im Instituts- ist für den schwäbischen Württemberger der Bayer. kolloquium am 20. Juni 1996 äußerte sich Bernd Jürgen Mein eigenes Unverständnis gegenüber den Abgren- Warneken sinngemäß in dieser Weise. zungsbemühungen der Badener – Was haben die ge- 4 Straßenumfrage in Heidelberg am 13. Februar 1996. gen die Schwaben? – schlug um in mitfühlende An- 5 Narratives Interview Nummer 10. 6 Narratives Interview Nummer 7. teilnahme bei der Vorstellung, Bayern hätte Württem- 7 Interview mit Uwe Zellmer und Bernhard Hurm am 17. März berg annektiert und München zur gemeinsamen Haupt- 1996 im Theater Lindenhof, Melchingen. stadt erklärt. Eine solche Umarmung kann nur mit ru- 8 Interview mit Uli Keuler am 1.4.1996. dernden Abwehrbewegungen beantwortet werden. 9 Ein Gast während einer Umfrage in einer Gaststätte in Gärt- Vehement und immerwährend sich gegen die Verein- ringen Ende März 1996. 10 Narratives Interview Nummer 5. nahmung durch den bekannteren, größeren Nachbarn 11 Narratives Interview Nummer 2. wehren zu müssen, kann keine Zuneigung entstehen 12 Interview mit Bernhard Hurm und Uwe Zellmer in lassen. Direkte Nachbarschaft erfordert Abgrenzung, Melchingen. Feindschaft. Der Norddeutsche – auch wenn für den 13 Siehe auch den Beitrag von Frank Rumpel „Duifer äckra, it so oberflächlich omanander scherra!“ in diesem Band. Schwaben dessen Hoheitsgebiet bereits direkt ober- 14 Narratives Interview Nummer 8. halb des Mains beginnt – ist einfach zu weit weg, als 15 Narratives Interview Nummer 12. daß er sich ernsthaft an ihm reiben könnte oder 16 Narratives Interview Nummer 8. müßte. 17 Interview mit Uli Keuler am 1.4.1996. 18 Straßenumfrage in Heidelberg am 13. Februar 1996. Leider zeigt sich aber an den nicht-direkten Nach- 19 Narratives Interview Nummer 7. barn das wahre Ausmaß des schwäbischen Problems: 20 Narratives Interview Nummer 1.

161 Schwäbischer Minderwert

Häberle und Pfleiderer in einer anderen Dimension...

162 „Ich will mich nicht einrichten mein Leben lang als Schwabe!“

„Ich will mich nicht einrichten mein Leben lang als Schwabe!“

Ein Gespräch mit Bernhard Hurm und Uwe Zellmer vom Theater Lindenhof, Melchingen

Im März 1996 verbrachte ein Teil der Projektgruppe Uwe Zellmer: einen Abend im Theater Lindenhof in Melchingen auf Mäusle, Häusle. der Schwäbischen Alb, um die sechshundertneunzigste Vorstellung des Lindenhof-Evergreens „Kenner trin- Bernhard Hurm: ken Württemberger“ zu besuchen und anschließend Verharren. mit den beiden Schauspielern und Intendanten Bern- hard Hurm und Uwe Zellmer ein knapp zweistündi- Uwe Zellmer: ges Gespräch zu führen, das wir an dieser Stelle (aller- Bhäb, Entaklemmer, Trollinger. dings nur in Auszügen) wiedergeben wollen. Für ihre Gastfreundschaft gilt Bernhard Hurm und Uwe Bernhard Hurm: Zellmer unser herzlichster Dank. Bescheiden.

LUI: Uwe Zellmer: Wir wollen von Euch hören, ob es Schwabenbilder gibt, Beharrlich. was sie bedeuten und wie sie eingesetzt werden. Wir ha- ben Telefonumfragen gemacht, da haben wir die Leute Bernhard Hurm: gefragt: Was fällt Ihnen bei Schwaben ein? Vielleicht Verkannt. können wir so anfangen: Was fällt Euch bei Schwaben ein? Uwe Zellmer: Kenntnisreich, Tüftler. Bernhard Hurm: Spätzle. Bernhard Hurm: Mehr im Speicher wie in der Auslage. Uwe Zellmer: Schätzle. LUI: Sind das Bilder, die mit der Realität übereinstimmen? Bernhard Hurm: Das ist eigentlich unsere Generalfrage: Wenn mer Spätz- Schatzamockele. le sagt, isch des ja mehr so ‘n Klischee?

163 „Ich will mich nicht einrichten mein Leben lang als Schwabe!“

LUI: Gibt’s au mol Kritik an Eurem Schwabenbild? Daß es zu negativ isch, daß dr Schwabe zu schlecht weg- kommt?

Uwe Zellmer: Ganz wenig. Des war jetzt heut die sechshundertneunzig- ste Vorstellung. Da frogsch de selber: Bisch jetzt gaga? Was macht mer do eigentlich? Es isch aber so – des habt viel- leicht auch heut abend gespürt – es ist einfach richtig schön.

Bernhard Hurm: „Kenner trinken Württemberger“: In fast 700 Vorstellungen seit 1983 machten Uwe Zellmer und Des isch typisch schwäbisch. Bernhard Hurm den Thaddäus Troll-Abend zu einem „Markenartikel“ des Lindenhofs. Des lohnt sich.

Bernhard Hurm: Uwe Zellmer: Aber des isch doch interessant, daß jetzt auch wir, die wir Wir spielen des in der Regel einmal im Monat, und es in Sachen Schwaben und Dialekt viel unterwegs sind, isch immer noch schön – seit 1983 im Herbst. diese Klischees doch irgendwo noch für realistisch halten, oder? Bernhard Hurm und Uwe Zellmer erzählen, wie sie über eine Lesung aus den Werken schwäbischer Dich- Uwe Zellmer: ter in Burladingen („Da haben wir hundertzwanzig Absolut halt ich die für realistisch, das habt ihr auch Mark verdient, die haben wir dann in Ringingen in der heut gemerkt, glaub’ ich. Wir spielen damit, klar. Heut „Sonne“ wieder in den Wirtschaftskreislauf eingeba.“) mittag hab i mit em Bernhard gschwätzt: Wenn jetzt die zu Thaddäus Troll gefunden haben. Intellektuelle kommet von Tübingen, da laߒ mer halt doch des eine oder andere weg. Bernhard Hurm: Da semmer viel literarischer rangegangen. Da haben wir Bernhard Hurm: dann Thaddäus Troll g’lesa und haben gesagt: Da kön- Noh han i aber g’sagt ... nen wir mal einen ganzen Abend machen, des wär doch sicher gut für des Theater. Das hat ja schon einen Grund Uwe Zellmer: von uns her, daß mer wirklich sagt: was Schwäbisches. Noh hot da Bernhard g’sagt: Nix wird wegglassa! Ich Auf der anderen Seite hat das natürlich noch ‘nen tak- denke schon, es ist ein schmaler Grat. Manche Geschich- tischen oder – wie sagt man – ‘nen kulturpolitischen ten, da hen sich scho manche beschwert au und sagen: Grund. Wir sind darauf angewiesen, daß Leute hierher Was isch des eigentlich? Ich denke, wir haben – im Mai kommen, dem haben wir uns zu stellen, denn die kom- sind’s fünfzehn Jahre – schon ein bißchen gelernt, mit men im Prinzip erstmal nicht von allein. Und dann ha- dem Populismus intelligent umzugehen. Des glaub ich ben wir gesagt: Thaddäus Troll, des gefällt uns noch und schon, daß mer des tun. denen auch noch. Von unserer Seite so runterkommen zu Thaddäus Troll – noh au no belächelt: Ja, Thaddäus [...] Troll, wie isch denn des? Also, s’isch wie in unserer

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Entaklemmer-Geschichte, wo mer gsagt hent – eigentlich Bernhard Hurm: am Anfang arrogant – des müssen wir nicht gemacht Zu dem andere Konflikt innerhalb unseres Ensembles, haben. daß jetzt jemand, der von irgendwo anders her zum Schwa- ben kommt, des viel stärker an mir achtet, ond sagt: Ihr [...] seid doch blöd – auch Inge Jens, die bei uns im Beirat isch. Die Sprache, des isch des eigentliche, was ihr habt! Uwe Zellmer: Und Uwe vertritt sowas auch. Oder die Leute, die Schwa- Des ist zum Beispiel im Moment auch die Frage: Was ben sind, mehr und mehr dagegen aufstehen und sagen: soll die nächsten Jahre im Lindenhof passieren? Was Des genügt mir nicht! Ich will mich nicht einrichten mein wollen die Schauspieler erzählen? Was für Geschichten Leben lang als Schwabe! Ich möcht diese Grenzen und sollen hier erzählt werden? Des isch ‘ne ganz brisante diese Kette, die’s auch isch, dieses Einschnüren auch, diese Frage eigentlich, weil des natürlich von allen Seiten kommt, Identität nicht! Die möcht ich irgendwann zumindest auch von Schauspielern: Wia lang solle des noh macha? thematisieren. Ob ich’s schaffe, da rauszukommen, weiß Ich will gar net ewig schwäbisch bleiba! ich gar nicht, aber ich möcht zumindest den Versuch dadrüber rauszukommen thematisieren! Bernhard Hurm: Dia mechtat raus! Uwe Zellmer: Gut, des sind auch Altersunterschiede natürlich. Aber Uwe Zellmer: das ist glaub ich ‘ne Mentalitätsfrage, da bin ich schon – Man will sich befreien davon. Des g’hört ja auch zur ich will nicht sagen ausgegrenzt – aber da bin ich fremd Frage nach dem Schwabenbild. Für mich ist des eigent- gegenüber der schwäbischen Mentalität. Da war ein Kon- lich überhaupt nicht das Thema, ich glaub’ für Dich flikt, den ich dann schon stark in mir trage: Im „Schwä- [B.H.] auch nicht – aber bei andern. bischen Tagblatt“ stand ‘Wunder von der Alb’ – das ist ja nicht so ganz falsch, wenn man sich so alles anguckt, Uwe Zellmer versucht, über die Erzählung seiner wie des hätte schiefgehen können. Diesen Konflikt trag Biografie sein (ambivalentes) Verhältnis zum „Schwä- ich stark in mir, wie knapp des war, welche verschiedenen bischen“, zu „Dialekt“ und „Heimat“ zu bestimmen. glücklichen Umstände, glückliche Figurenkonstellationen, In bestimmten Bereichen fühle er sich nach wie vor ja wunderähnliche Figurenkonstellationen – auch politi- ausgegrenzt. scher Art – nötig waren, um ein solches Ding bis zu einem „Regionaltheater Baden-Württemberg“ zu brin- Uwe Zellmer: gen. Daß mer ganz ordentlich au in ‘ner ökonomisch Du [B.H.] kannsch des glaub besser beantworte mit dem schwierigen Zeit existieren kann. Nicht sehr üppig, aber Ausgrenza. Der dörfliche Groove unseres Ensembles – Löhne zahlen kann und davon leben kann. Da bin i des gibt immer schwierige Reibungen. [...] Oder die Auf- noh scho sauer oifach auf Stimmungen im Ensemble, wo fassung von Arbeit, von Schaffa: Grad dia Leit, dia bei i dann sag: Dieser Mangel an Genußfähigkeit, des goht ons jetzt vom schwäbischen Grund kommen, die mir wirklich am Arsch vorbei, des kann ich nicht glau- Hirrlinger, ond au andere – dia kennet baua. Dia hent ben. alle irgendwo an Bau, des hab ich nie einen g’habt. Des isch scho a schwäbische Mentalität oder a dörfliche Men- Bernhard Hurm: talität. Es gibt da auch Reibungen, inwieweit mer geisti- Ich glaub, Du [U.Z.] bisch dankbarer hier angekommen ge Arbeit akzeptieren kann. Daß mer dia schätzt oder zu sein wie die, die Schwaben sind. daß dia ganz anders isch, als zu mauern oder en Acker zu bebauen. Uwe Zellmer: Ganz genau. [...] Bernhard Hurm: Die sind nicht dankbar.

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Uwe Zellmer: LUI: Sind sie nicht – die sind räß. Nur vom Theater oder auch vom Schauspieler?

Bernhard Hurm: Bernhard Hurm: Daß Du [U.Z.] hier angekommen bisch mit dem, was Auch als Schauspieler! Ich sag ja nicht: Ich will hoch- Du als Theatermann wolltesch, des isch für di ‘ne Riesen- deutsch sprechen! Ich sag ja nur: Wie kunstfertig kann qualität. Und des sind immer unsere Einschätzungs- diese Sprache auf der Bühne sein? Wie reduziert, daß konflikte. mer sie nicht mehr gebraucht als Sprache, die die Schwa- ben in ‘nen großen Mantel nimmt und damit sagt: Wir Uwe Zellmer stellt seine Lebensphilosophie vor, die gehören alle zusammen. Dann vertrag ich auch viel stär- sich in vielem von auf derAlb Üblichem unterschei- ker Kritik. Was passiert, wenn man die Sprache weg- de: „Des ist dieser Spaziergänger, der eher kontempla- nimmt, des Heimelige dadran oder des Identische, was ein tive, auch der Schreibende, was ich sein möchte. Da gleich macht onteranander? Wenn mer des reduziert, wenn hoschs in Tübingen leichter. Die berühmte Zeile von es mal sperriger oder fremder daherkommt? Da sind ja Konstantin Wecker ‘Genuß war noch nie ein leichtes Schwaben ganz arg heikel, wenn mir irgendwie probie- Spiel’, da tun sich die Schwaben ganz besonders ren, die Sprache auszudünnen, Füllwörter rauszunehmen schwer.“ Wir kommen nochmals auf das Thema „Dia- und sie ein bißchen zu gestalten. Dann saget dia glei: I lekt“ zurück. kenn doch so koi Schwäbisch, was schwätzat dia da? Des hot mir et g’falla! Wellat ihr jetzt besser sei? Desch ja LUI: Honoratiora-Schwäbisch! Des isch aber iberhaupt koi Dann wird die Sprache also von ma Teil vom Ensemble Honoratiora-Schwäbisch, wenn da s’ genau untersuchsch. als einengend empfunda, obwohl sie ja eigentlich versucht, Des war a Versuch einer Verdichtung von Dialekt – die Inhalte au zu transportiera? Des Programm vom geht für Schwaben nicht auf. Wenn wir in Bremen spie- Lindahof beschränkt sich ja net auf ‘Kenner trinken len, könnte des glaub ich aufgehen. Württemberger’! Uwe Zellmer: Bernhard Hurm: Diese Sehnsucht, da rebelliere ich eigentlich dagegen. Der Ich glaube, daß Uwe viel stärker, als es Leute, die hierher Lindenhof hat für mich – nicht nur für mich – genau die kommen, die Qualität dieses – was mit „Schwaben“ und umgekehrte Geschichte. Ich seh’ keinen Sinn drin, wie mit „Heimat“ man so meint – verteidigt, weil des An- jemand, der seinen ganzen Humus hier einbringt auf die kommen ischt. Aus der Fremde erstmal des bewältigt zu Bühne, die Sehnsucht hat, vielleicht ein Drittel Zimmer- haben, während die, die jetzt Schwaben im Ensemble theater zu können. Es gibt ja nicht sehr viele Schauspie- sind, ja davon ausgehen und sagen: Wir wollen des über- ler und Schauspielerinnen, die wirklich schwäbische gipfeln! Für uns würde auch dazugehören drüberrauszu- Volksschaupieler sind – bei ons gibt’s a paar. Das ist ein gehen. Des versteht Uwe manchmal nicht. Ich glaube, das ungeheurer, für mich erstaunlicher, rätselhafter Identitäts- hängt ... verlust, der da getrieben wird. Warum begreift ihr nicht, was ihr hier eigentlich habt? Des klingt jetzt sehr väter- Uwe Zellmer: lich, aber gut, ich steh’ dazu. Gerade weil wir eine sehr Net so ambitioniert. erfolgreiche Geschichte sind, isch des für mi rätselhaft, daß Leut sich schwertun damit, des anzunehmen für sich Bernhard Hurm: selbst. ... hat auch damit zu tun: Du sagsch immer glei: Desch ambitioniert! Ihr könnt das, und das könnt ihr gut! Das Bernhard Hurm: ist die Identität, die dieses Theater hat, desch auch der Nomol zurück zu unserm Thema: Was steckt eigentlich Markenartikel. Ich hab ja vorher gesagt – und da bleib dann dahinter für ‘n Schwabenbild von uns? Eigentlich ich dabei – die Frage: Wie weit kann ich raus? Zumin- isch’s des: Dia kennat bloß des ond des sollet se macha! dest des muß thematisiert werden.

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Uwe Zellmer: men und zu sagen: Das genügt mir, ich bin Schwabe! Da Noi, die sollen ihre Stärke akzeptieren! Warum hat uns richt ich mich ein! Ich find’, daß des auch schwäbisch des gereizt, in Dialekt zu schreiben und ihn auf die ischt. Bühne zu bringen? Weil er Töne hat, Zwischentöne, Nebentöne, Untertöne, die die Hochsprache gar nicht Uwe Zellmer spricht sein Unbehagen dieser Einstel- schafft! Wo was aufgehoben ist von ‘ner Kultur, die weit- lung gegenüber an. gehend verloren ist. Des find ich des Reizvolle daran. Des isch natürlich ‘n sehr wertkonservatives Ziel – vielleicht. Uwe Zellmer: Ich glaube, es sich leicht zu machen, des darf es in Schwa- Bernhard Hurm weist darauf hin, daß es nicht darum ben nicht geben. Wobei ich denke, daß dahinter sehr viel geht, mit dem Troll-Abend einen Beitrag zur Arbeit liegt, Klarheit zu haben oder auch leichte Dinge Musealisierung des „Schwäbischen“ zu leisten. Er sich leicht zu machen [B.H. will widersprechen]. Ich will möchte den „Dialekt“ nicht zum Dogma erheben. das gar nicht so ausdrücken, weil das heißt ja wieder, man geht nur spazieren. Ich bin der Meinung, daß man Uwe Zellmer: nicht nur mit schwerem Lehm an den Schuhen zum Er- Wir haben versucht – und des macht vielleicht die Qua- folg kommen kann. Und die meisten meinen das nicht, lität des Hauses aus – Stoffe zu finden, die ganz eigene hier im Haus. Stoffe sind. Wo mer denkt, mer hat a Luscht, mer hat aber au ‘n Grund, des zu erzählen. Und des war ‘n Bernhard Hurm: Grund, „Woyzeck“ zu machen, des ins Schwäbische und Die Privilegien müssen hart erarbeitet werden, Erfolg muß des ins Bierzelt zu bringen. hart erarbeitet sein.

Bernhard Hurm: Uwe Zellmer: Des isch a Glaubensfrage, alles auf Schwäbisch zu macha, Aber Erfolg ist doch kein Privileg! Des ist Arbeit! wo bei mir auch ‘n Problem beginnt. Wie lang kann mer eigentlich alles, was wir uns aneignen, immer runterholen Bernhard Hurm: in den Dialekt? Kann man sagen: Jetzt machen wir die Hinter allem steht: Umwege sind wichtige Wege. Erfolg „Räuber“, so wie Schiller gedacht hat? Oder wie mir muß mit Mühe zu tun haben. Man kann nicht sagen: denken, daß er gedacht hat, so sprechen mer’s jetzt? Den Jetzt haben wir den „Entaklemmer“ g’macht – Leute umgekehrten Weg gehen, den er gegangen ischt, sich über kommt, jetzt macha mer den nächsten, jetzt macha mer die Hochsprache hinauskatapultiert, hinausschreibt aus dr „Hotzablitz“ von Wittlinger. Scho beim „Entaklem- Schwaben? Des wieder reinzuholen, des wär ‘n sehr kon- mer“ hen mer gsagt: Isch denn des gut ond derf mer des? servativer Vorgang. Dät vielleicht ziemlich guat aufganga: Selbst wenn da sagsch, des isch kokett: I glaub, daß diese Älle saget, Ihr müßt eine schwäbische Fassung ... Umwege Schwaben brauchen.

Uwe Zellmer: Bernhard Hurm versucht, den Stellenwert zu bestim- Wird massiv gefordert von den Freunden des Hauses. men, den der Dialekt für ihn im Alltag hat („Theater- diskussionen finden bei uns nie im Dialekt statt.“). Bernhard Hurm: ... von de „Räuber“ macha. Des isch genau grad – des Uwe Zellmer: isch ja richtig beschrieba vom Uwe – unser Konflikt: wie Des isch die Frage nach dem Selbstbewußtsein der Schwa- tief schwäbisch? Und wo soll zumindest des Verlassen- ben. Des war für uns ‘n Impuls. Wir haben da nicht Wollen als Schmerz oder als Überforderung – es kann ja furchtbar analysiert, aber man konnte schon sehen – auch, auch ‘ne Überforderung sein – wo soll die zumindest als wir angefangen haben – des ist woanders ein anderes thematisiert werden? Wo kann zum Beispiel auch Schei- Selbstbewußtsein über Dialekt oder so ‘ne Humussprache. tern an dem thematisiert werden? Aber nicht, des nicht Bayern sind viel selbstbewußter, die strahlen des au aus. probiert zu haben, oder nicht die Mühe auf sich zu neh-

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Und wir haben’s auch sehr klug gestrichen und kompri- miert, oder verdichtet, wie es so schön heißt.

Die Diskussion dreht sich um die Frage, wie sehr man durch den Dialekt jemanden denunzieren oder sich vom Publikum distanzieren kön- ne. Hat das Publikum heu- te abend nun über sich oder über andere gelacht?

Bernhard Hurm: Jeder Schwabe wird solche Dinge kennen, wo er sich ent- larvt, weil er etwas sprachlich nicht wirklich kennt. Den Umgang mit Sprache, die Mühe, die ihm des gemacht hat, diese Fallen zu vermei- den. Des kann man schon verstehen, wie mühevoll des „Der isch krank und hat sich verrannt. Der isch nicht wirklich eine Figur, die abgeschossen wird.“ war, an die höhere Schule zu Bernhard Hurm als Karl Knaup in „Der Entaklemmer“ (1994). komma ond dann mit dieser andern Sprache umzugeha, Uwe Zellmer kritisiert die Art und Weise, wie Dialekt wenn i des für mich thematisieren kann, dieses Leiden heute auf schwäbischen Bühnen gebraucht werde („Es auch. Ich glaub dr „Entaklemmer“ kannsch du ganz gibt eine große Tugend der Selbstdenunziation bei den schlecht machen, du kannsch alle Figuren denunzieren. Schwaben und eben auch auf schwäbischen Bühnen.“). Des liegt nicht an der Fassung, sondern was du dann draus machsch, mit welcher Haltung du des angehsch. Uwe Zellmer: Da komm ich wieder drauf: Ich glaub, wir haben es uns Um des zu ergänzen: Man konnte nachlesen und auch mit dem „Entaklemmer“ nie leicht gemacht. Wir haben nachvollziehen, daß der Schwabe seit der Kriegszeit auf nie gesagt: Des funktioniert – desch luschtig, und wir der Bühne bißle dr Depp war. Diese Art von Volks- hauen auf die Pointen rein wie die Berserker und des stück und von Volkspoesie, wie sie woanders auf die geht schon. Sondern wir haben immer gesagt: Ich glaub Bühne kam – ich will nicht sagen, daß es das nicht gab, des geht, desch nicht luschtig. Des muß erst lustig gemacht das weiß ich gar nicht so genau, aber ganz sicher gab’s des werden – mit der Prämisse: Lustig ist nur, was Katastro- seltener. Des war für ons an Impuls: Da gibt’s was zu phe, was wirklich echt isch. Selbst der Entaklemmer, der tun. Ich glaub auch überhaupt nicht, daß des erschöpft Geizige isch für mich nicht ‘ne Figur, die abgeschossen isch, ond daß mer jetzt sich irgendwie anders ausdrücken wird, sondern viele Leute sagen: Ha, der isch arm! Der müßte und hochdeutsche Themen angreifen – ich will das isch krank und hat sich verrannt. Der isch nicht wirk- jetzt ja nicht so sagen, als ob es gar nicht passieren dürfte. lich eine Figur, die abgeschossen wird. Desch natürlich Wemmer dr „Entaklemmer“ liest, des isch ja plump zum Aufgabe dieser Profession, der Schauspielerei, zu sagen: Teil. Obwohl ich immer heftig dafür war, des zu machen. Ich möcht diese Figur verteidigen! Und die des Regisseurs, daß er des Gebilde hält: Wir machen nicht ‘ne billige

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Komödie. Natürlich, wir haben immer gesagt: Lachen wir erzählen wollen? So haben wir’s eigentlich auch bisher muß man, aber da muß ‘ne Geschichte gespielt werden. betrachtet, daß wir gesagt haben: „Polenweiher“ – wir Der Virus, der von dem ausgeht, wo dromrom alle ange- können das am besten von hier erzählen, weil des kenna steckt sind. Desch ja nicht nur einer, der Böse. Die sind mer. Da kommt noch mal ‘n anderes Element, dieses alle krank, alle angesteckt. [...] Ich glaube, daß ein Er- Autodidaktische des Theaterspielens: Wie kann man folg unseres Schwäbischen schon damit zu tun hat, daß Leute auf die Bühne bringen, ohne sie zu diffamieren? wir sagen: Des uns immer wieder anzueignen, des hat mit Wie kann man sie am besten identisch machen mit dem, Mühe zu tun, des hat mit der Überwindung dieser was sie erzählen? Ich laß die Leute so sprechen, wie se Distanz auch zu tun, die man spürt. können. Da werden se groß, des isch glaubhaft. So haben wir ja letztendlich auch begonnen. Uwe Zellmer fragt sich, ob Schwaben jemals mit sich und der Welt zufrieden sein könnten. Und der Troll-Abend? Ist er überhaupt noch zeitge- mäß? Bernhard Hurm: Desch dann auch nochmal ‘n anderes Thema, daß Uwe Uwe Zellmer: dann sagt: Wir können bloß diese Sprache richtig gut. Wir wollen jetzt schon noch weiterspielen – bis ans Soll mer jetzt mit der arbeiten, mit den Geschichten, die Jahrtausendende vielleicht.

„Wir haben versucht, Stoffe zu finden, die ganz eigene Stoffe sind.“ „Polenweiher“, ein Schauspielprojekt nach einem Volksstück von Thomas Strittmatter (1988).

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Bernhard Hurm: LUI: Solange wir gesund bleiben. Des isch wieder typisch schwäbisch, oder?

Uwe Zellmer: Bernhard Hurm: Da hemmer so en sportlicha Ehrgeiz. Warum funktio- Ich weiß nicht, ob des typisch schwäbisch ist. Des wage ich niert des denn – des wär jetzt mal ‘ne Frage von mir an heute auch nicht so zu sagen. Euch – warum funktioniert das so? Im Moment ist es schwer, Theater zu füllen. Die Leute gucken auf’s Geld Uwe Zellmer: und viele Theater haben große Probleme und wir haben A bißle scho. halt immer ausverkauft – auch sonntags. Das ist gar kein großer Theatertag. Wir legen das immer auf Sonn- Bernhard Hurm: tag. Es muß irgendwie mühevoll sei mit dem „Entaklemmer“ ond em Thaddäus Troll. Im nachhinein haben wir ge- Bernhard Hurm: dacht: Des war wichtig, des war irgendwie gut und ‘ne Sonst dürfa mer nicht. ganze Katharsis für sich auch. Wir machen’s trotzdem, ich glaub, es hat trotzdem positiven Sinn. Uwe Zellmer: Samstags kasch bei ons an Stecka naschtella, da kommt Uwe Zellmer zieht am Ende des Gesprächs folgendes emmer älles. Resumée:

Wir fragen uns, weshalb der Troll-Abend sich über so Uwe Zellmer: lange Zeit hinweg im Lindenhof-Programm halten Ich glaub schon, daß ich in etwa ‘ne Vorstellung hab von konnte. Uwe Zellmer spricht von einem „Markenarti- dem, was „schwäbisch“ isch. Nicht bloß im Dialekt, son- kel“, Bernhard Hurm verweist nochmals darauf, daß dern in der Philosophie oder im Sein. Ich glaub, für mi man sich mit Troll Mühe gegeben habe. isch „schwäbisch“ ziemlich identisch mit „bodenständig“ und au mit ‘ner gewissen Ruhe, ‘n bißchen auch in der Bernhard Hurm: Landschaft aufgehoben. Vielleicht auch deswegen diese So ‘ne Schizophrenie, daß man des doch am besten kann Melchinger Situation, die noch katholisch isch, aber net und es eigentlich doch nicht will. I hab irgendwann des weit zum evangelischen, also auch nicht so weit nach hinschmeißa wella. I han denkt, i kann des nicht mehr Tübingen – katholisch und evangelisch, Pietismus und ond i will des nicht mehr. Nach und nach sind da andere katholischer Humus. Daß zwischa Provinz und Welt Ziele gesteckt worden mit diesem Abend. Nicht, daß mer oifach a Möglichkeit isch, wenn mer Theater macht oder des sechshundertmal einfach so runtermacht, sondern je- wenn mer künstlerisch arbeiten will. Manchmal denk desmal sind andere Leute da, wo mer sich ‘ne Aufgabe ich, wir sind schwäbische Romantiker, eigentlich was sehr stellt. Ich glaub, s’oinzige, was mer jetzt so rausdestilliera rückwärtsgewandtes ins 19. Jahrhundert. Und sehr wert- könntet, des isch die Mühe. Ich glaub, so lang es einem konservativ fast isch mein Bild auch von dem – aber Schwierigkeiten macht, kann mer es geniessen. Es muß desch dann au scho wieder a bißle revolutionär, nach wie einem immer wieder Schwierigkeiten machen, damit zahlt vor, denk ich: Daß wir etwas aufheben, daß wir etwas man des Privileg des Genusses. Man hat sich’s nicht leicht hochheben – des macht des „Schwäbische“ vielleicht aus gemacht. Desch immer des, was es für uns legitimiert, in der Kulturgeschichte oder in der Literaturgeschichte. dann doch noch mit Dialekt zu arbeiten. Des such ich da auch, nicht bloß den Dialekt.

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Steffen Rompel

„Em Schwobaland, em Schwobaland so schee!“1

Alte und neue schwäbische Identitäten in der populären Musik

„Auf de schwäb’sche Eisebahne...“ gilt als eines der in ihr lebenden Menschen in ‘anerkannten’ Volkslie- bekanntesten schwäbischen Volkslieder. Als Vermitt- dern sind, und sein Argumentationsstrom mündet in lungsträger schwäbischer Klischees selbst schon zum die Frage: Klischee geworden, steht es in so manchem Lieder- buch, gehört ins Repertoire vieler Männerchöre hier- „Zu welchen Liedern aber sollen sich nun die heimat- zulande und ziert farbenfroh illustriert allerlei Krims- bewußten Menschen dieses Raumes flüchten, wenn ihnen krams in den hiesigen Souvenirläden. Ob als Wand- die Volksliedforschung nachweist, daß keiner dieser Ge- teller, Kachel oder Postkarte – die Parabel vom geizi- sänge autochthon bodenständig ist?“ 3 gen Bauern und seinem ‘Böckle’ dürfte weit über Schwabens Grenzen hinaus bekannt geworden sein und Im folgenden soll es um eine ‘neue’ Art von Volksmu- so manche Diele zieren. Daher verzichte ich gerne auf sik gehen, die schwäbische Mundart mit populären eine detailliertere Darstellung. Musikstilen verbindet. Manche Liedtexte geben Auf- Lutz Röhrich hat diese „heimliche Regionalhymne“2 schluß über das Verhältnis der Autoren zu ihrer ‘Hei- als prototypisch schwäbisches Volkslied gründlich dekonstruiert. Er stieß bei seinen Nachforschungen auf zahlreiche Variationen dieses Liedes, bei denen die Zugstrecke beispielsweise ins Rheinland oder in die Schweiz („Das Böckli von der Simmentalerbahn“) ver- legt wurde; er verweist sogar auf die Existenz einer jugoslawischen Variante. Verfechter dieser „Schwaben- hymne“ könnten jetzt den schwäbischen Ursprung ins Feld führen. Tatsächlich aber, und dies ist sehr auf- schlußreich, taucht es als Spottlied erstmalig 1888 im „Allgemeinen Liederschatz“ in Basel auf, meint Röhrich. Die Melodie ist noch älter und geht auf ein Baseler Soldatenlied zurück. Anhand dieses Beispiels und anderer zeigt er, wie auswechselbar Ort, Land- schaftsbeschreibung und Charakterzuschreibung der Zeitgenössische Variation einer „heimlichen Regionalhymne“.

171 „Em Schwobaland, em Schwobaland so schee!“ mat’ bzw. über ihre Selbst-Verortung in einer bestimm- ten Zugang zu den einst elitären Bildungseinrichtun- ten Region. Dabei wird Röhrichs Frage nach der „Bo- gen über den zweiten Bildungsweg, und die Tore der denständigkeit“ aufgegriffen werden, allerdings mit Universitäten öffnen sich endlich auch in größerem gewandelter Bedeutung. Geht er davon aus, daß „Volks- Maße für die Kinder von ArbeiterInnen. Unterschiede lied“ primär Tradition impliziert, so denke ich, daß im in Herkunft und Stand scheinen verwischt, gesellschaft- modernen Volkslied der Aspekt des „bodenständigen“ liche Schranken ihrer Funktion beraubt. Viele Jugend- Traditionszusammenhangs hinter den der ‘authenti- liche verlassen daher früher ihr Elternhaus, um an den schen Alltagserfahrung’ tritt, die jedoch durchaus in Ort ihrer Ausbildung zu ziehen, kommen so schneller Verbindung mit traditionellen Werten verhandelt wird. mit kulturellen Neuerungen in Berührung und wer- Als Identifikationsangebote übernehmen sie aber eine den mit neuen städtischen Lebensentwürfen konfron- ähnliche Funktion wie die ‘alten Volkslieder’, wenn auch tiert. Diese stehen oftmals in krassem Widerspruch zu auf einer anderen Ebene. den Perspektiven, die ihnen durch ihre Herkunft ver- mittelt worden sind und führen zu mancherlei Kon- Doch zunächst ein Rückblick in Sachen ‘populäre flikten innerhalb der Familien und Dorfgemeinschaf- Musik’ in der Nachkriegszeit: Unter dem Einfluß US- ten. amerikanischer Kulturprodukte erfährt die populäre Parallel dazu zeichnet sich eine andere Entwicklung Musik in Deutschland in den 50er Jahren eine äußerst ab, die jedoch mit der ersten in Wechselwirkung steht: starke Veränderung: Durch Radio, Schallplatte, Kino- Je mehr sich die gesellschaftlichen wie nationalen Gren- film und später auch Fernsehen kommen die deutschen zen aufzulösen scheinen, desto wichtiger werden Be- Jugendlichen in Kontakt mit dem weißen Rock’n’Roll; griffe wie ‘Heimat’ und Identität6. Gerade weil beide in den 60er Jahren mit der von englischen Bands do- problematisch geworden sind, schlußfolgert Hermann minierten Beat-Musik und in den 70er Jahren mit der Bausinger7, entwickeln sie sich Mitte der 70er Jahre zu auf Rhythm & Blues basierenden amerikanischen Mode- und Reizwörtern. Im Zuge der gesellschaftli- Rockmusik4. Dadurch entstehen in West- wie in Ost- chen Auseinandersetzung mit diesen Begriffen wird deutschland jeweils rege Rockmusikszenen, wobei sich die ‘Region’ zunehmend aufgewertet. Dabei entstehen vor allem die ostdeutschen Bands durch ihre deutschen auch im Süden der Republik aktive Rockmusik- und Texte unterscheiden. Aber auch in Westdeutschland Jugendhaus-Szenen8, die den ländlichen Lebensraum gibt bereits ab Anfang der 70er Jahre erfolgreiche Ver- für Jugendliche wieder attraktiver werden lassen. Eini- suche, durch die Verbindung von deutscher Sprache ge VertreterInnen der neuen Jugendkultur setzen sich und neuem Musikstil ein spezifisches Lebensgefühl von ab Mitte der 70er Jahre auch durch die Verwendung Jugendlichen auszudrücken (Udo Lindenberg5, Marius ihres Dialekts mit ihrer jeweiligen Herkunft auseinan- Müller-Westernhagen, Grobschnitt, Eulenspygel u.v.a). der ( Wolle Kriwanek, Joy Fleming, Schwoißfuaß ). Das Entstehen neuer Jugendkulturen ist eingebun- den in einen allgemeinen Prozeß der fundamentalen Anhand dreier Beispiele soll dargestellt werden, wie Veränderung der Alltagskultur und des Alltagslebens. schwäbische Musikgruppen ihr jeweils unterschiedli- Mit dem Stichwort Globalisierung fasse ich hier die gan- ches ‘schwäbisches Lebensgefühl’ in einem bestimm- zen Neuerungen zusammen, die dem einzelnen Men- ten Musikstil auszudrücken versuchen. Dabei soll ver- schen die Welt ein ganzes Stück näher bringen: Fern- deutlicht werden, welche Art von Identitätspolitik die sehen, Auto-Mobilität, Urlaub in fernen Ländern. „Die Musiker in ihren Gruppenkonzepten und Liedern be- kleine Kneipe in unserer Straße“ (Peter Alexander) hat treiben: Indem sie traditionelle Elemente mit neuen nun neue Pächter und eine exotische Speisekarte be- kombinieren und kontrastieren, auf schwäbische Kli- kommen und auch „Griechischer Wein“ (Udo Jürgens) schees und Stereotypen Bezug nehmen, entstehen je- fließt dort reichlich – als Wehmutstropfen für die ei- weils unterschiedliche schwäbische Identitäten, die als nen, deren Urlaub vorüber ist und als Einstimmung Selbstausdruck der Künstler9 und als Angebote an das für die anderen, die ihn noch vor sich haben. Publikum verstanden werden können. Gleichzeitig nimmt auch die Pluralisierung der Le- bensstile zu. Breitere gesellschaftliche Schichten erhal-

172 „Em Schwobaland, em Schwobaland so schee!“

Subkultureller Kampf im ländlichen Raum Die Brüder Alex und Georg Köberlein und deren Freund Hansi Fink gründeten die Band Grachmusikoff anläß- lich einer Demonstration für ein Jugendhaus in Bad Schussenried im Jahre 1978. 10 Sie spielten von Beginn Zuerst stelle ich ein Identitätskonzept vor, das aus der an Lieder, die stark von volksmusikalischen Traditio- intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Her- nen geprägt waren, wie beispielsweise der russischen kunft und der dörflichen Enge und den kulturellen oder oberschwäbischen, da sie erstere durch die El- Neuerungen sowie aus alternativen Gesellschafts- tern und letztere im örtlichen Musikverein vermittelt konzepten und Lebensentwürfen entstand. bekommen hatten. Sie bedienten sich aber auch aus Mitte der 70er Jahre formierte sich in Oberschwaben den Sparten Blues und Rock. Die Texte waren zumeist eine Jugendhausbewegung, die von einem großen Teil der in schwäbischer Mundart und handelten oft von den Jugendlichen auf dem Lande und in den Kreisstädten pubertären Problemen männlicher Jugendlicher in der getragen wurde. Diese Bewegung kämpfte um selbst- dörflichen Enge Oberschwabens. Sie kreisten meist um verwaltete Jugendhäuser und errang nach jahrelangem die Themen Jugend, Heimat, Provinz, Aufbruch, neue zähem Kampf mit den jeweiligen Stadtverwaltungen Lebensentwürfe, befaßten sich aber auch mit histori- einige Erfolge. Aus diesem Umfeld kamen die beiden schen Themen wie beispielsweise dem Bauernkrieg. Bands Schwoißfuaß und Grachmusikoff, die für eine gan- Die Lieder zeichneten sich durch Ironie und Witz aus, ze Generation junger Heranwachsender in Süddeutsch- waren mitunter kritisch, aber vor allem auch unterhalt- land eine große Bedeutung hatten. sam und zuweilen derb.

Grachmusikoff 1996: Georg Köberlein (Pos., voc.), Alex Köberlein (sax., keyb., voc.), Michael Stoll (b, fl.), Hansi Fink (g.,ccord., a voc.), Rico Stehle (dr.)

173 „Em Schwobaland, em Schwobaland so schee!“

allem in Oberschwaben, aber auch in anderen Teilen Württembergs. Zehn Jahre nach ihrer Auflösung fanden die ehe- maligen Musiker von Schwoißfuaß 1996 wieder zuein- ander, um ihr neues Album „Rattakarma“ einzuspie- len und einen Sommer lang für rund ein Dutzend Auftritte auf die süddeutschen Festivalbühnen zurück- zukehren. Auch die Lieder der neuesten CD bewegen sich zwischen persönlichen Zustandsbeschreibungen, Vergangenheits- bzw. Pubertätsbewältigung und Ge- sellschaftskritik. Ihr Musikstil hat sich ebenfalls kaum verändert, sie spielen nach wie vor kraftvolle Rockmu- sik.

Sowohl Alex wie auch Georg Köberlein 11 empfanden die damalige Entscheidung, im Dialekt zu singen, als Be- freiung, da sie aufgrund ihrer dialektgeprägten Her- kunft in Schule, Studium und danach als Deutschleh- rer große Probleme mit der Hochsprache hatten. Beide glauben, daß ein auf diesen Schwierigkeiten basierendes Minderwertigkeitsgefühl für viele Schwä- bInnen typisch sei. Indem sie die Probleme und Erfahrungswelten der Landjugendlichen themati- sierten, werteten sie den schwäbischen Dialekt und die Region an sich auf. „Des Regionale war nicht mehr Schwoißfuaß 1996. Von links nach rechts: Michael Stoll (b.), Alex länger so etwas Minderwertiges neben dem Städtischen, Köberlein (voc., sax., keyb.), Bodo Schopf (perc.), Riedel Diegel (harm.,neben Berlin“, meint Georg Köberlein und sieht in dieser keyb.), Didi Holzner (g.), Andreas Schmid (dr.), André Schnisa (v., Zeit auch den Anfang einer neuen Art von Heimat- org., g.)

Rund ein Jahr später gründete Alex Köberlein mit Reutlinger und Tübinger Mu- sikern die Rockband Schwoißfuaß, die zwi- schen 1980 und 1986 fünf Alben auf- nahm und sich dann im Sommer 1986 zu einer Zeit auflöste, als sie an Popularität verloren hatte. Der Stil dieser Band war geprägt von einer härteren Rockmusik, und die ebenfalls zumeist schwäbischen Texte kreisten teilweise um dieselben The- men wie die Lieder von Grachmusikoff, doch waren sie meist politischer, ernster und vor allem konsum- und gesellschafts- kritisch. In der Phase der politischen Aus- einandersetzungen zu Beginn der 80er Jahre wurde Schwoißfuaß zum Sprachrohr Alex und Georg Köberlein der links-alternativen Jugendszene vor

174 „Em Schwobaland, em Schwobaland so schee!“ liebe. Sein Bruder Alex beschreibt den Anteil, den sie Der sprachliche Inhalt zerstört jedoch das Klischee des mit ihrer Musik daran hatten, rückblickend so: Heimatliedes:

„Ond des derf mer net unterschätza, daß dr Erfolg von Oh Heimat, was du für mi warsch ‘Grachmusikoff’ sehr stark von solche Sache abhängt, Ich grüße dich das letzte Mal daß mer dem Schwob, grad weil er – i woiß et, ob des a Leck mich am – Abendrot im Schussadal unterschwelliges Minderwertigkeitsgefühl isch – aber du (Refrain „Heimatlied“) gibsch dem Identität, Heimat. Und zwar du gibsch au dem jonga Schwob sei Heimat dadurch, daß du sagsch: Auch in den einzelnen Strophen beider Lieder finden Eigentlich kann doch onsere schöne Landschaft nix drfür, sich Elemente, wie sie Lutz Röhrich als für Heimat- daß do lauter Trottel lebat oder des schwarz isch bis zom lieder typisch definiert: Kraga. Also es war halt en de 60er Johr a reines CDU- Deng ond es isch a sehr konservative Ecke.“ „Heimatlieder lassen sich auf relativ wenige Typen und Klischees reduzieren. Sie wiederholen sich in ihren Sym- Durch ihre ironisch-sarka- bolen, Motiven, Formeln stischen Milieubeschrei- und Metaphern, etwa mit bungen grenzten sie sich den Motiven ‘Sehnsucht in von der Elterngeneration der Fremde’, ‘Erinnerung ab, formulierten Forderun- an Dorf und Elternhaus’, gen an diese und priesen ‘Sehnsucht nach Kindheit daneben die Schönheit der und Jugend’: [...] Hei- oberschwäbischen Land- matlieder enthalten be- schaften. War der Heimat- stimmte Requisiten wie begriff und das Regionale ‘stille Weiler’, ‘kleine Hüt- bis dahin für die Jugendli- te’, ‘Kirchturm’, ‘Glocken- chen problematisch, so ent- geläute’, ‘Dorflinde’ und stand im Zuge der allge- ‘Brunnen’. Diese Symbo- meinen Thematisierung le repräsentieren das Ge- und Aufwertung der Regi- fühl von Zusammengehö- on eine Art neuer kritischer rigkeit. Wenn das Umfeld Heimatbegriff, der aber Ge- stimmt, sind diese Kulis- org Köberlein heute zuweilen sen auswechselbar. Die auch großes Unbehagen Landschaftsbeschreibung bereitet: Georg Köberlein selbst nivelliert sich auf überall verfügbare Land- „Ma muaß halt a bißle aufpasse, i will eigentlich net, schaftsbilder: Wälder, Wiesen, Seen, Flüsse, Berge.“12 daß dr Schwob sowas wie en Patriotismus raushengt.“ Das, was Georg und Alex als ‘Heimat’ thematisieren, Grachmusikoff spielt heute noch meist als erste Zugabe enthält manche der angesprochenen Elemente, doch eine Art heimatliches Potpourri, welches aus dem werden diese sofort gebrochen. In ihren Liedern erin- „Heimatlied“ und dem „Ratzarieder Schenkelbatscher“ nern sie sich und das Publikum an Dinge, die die dörf- besteht, bei denen das Publikum meist begeistert mit- liche Enge symbolisieren. Durch die Art ihrer Schilde- singt. Bei beiden Liedern stehen musikalische Form rung, die distanziert und sentimental zugleich ist, ge- und Inhalt in krassem Gegensatz zueinander. Ersteres raten diese zur Karikatur. Aber gerade darin scheint ist im Stil volkstümlicher Lieder gehalten, mit fröhli- ihre identitätsstiftende Kraft zu liegen: In der Popula- cher Melodie und gefühlvoll langgezogenem Refrain. rität der Lieder, in den begeisterten Reaktionen und

175 „Em Schwobaland, em Schwobaland so schee!“ durch die aktive Teilnahme des Publikums kommt dies Dialekt-Fun-Rock in der schwäbischen meiner Meinung nach deutlich zum Ausdruck. Metropole Der von beiden Brüdern vertretene Heimatbegriff, der unterschiedlichste musikalische Kultureinflüsse mit Tradition, Sprache und Landschaft zu verbinden such- Die Gruppe Gonzo macht seit gut fünfzehn Jahren te und dadurch eine prinzipielle Offenheit suggerier- Rockmusik mit schwäbischen Texten. Ihre ‘schwäbi- te, wurde von großen Teilen der Anhängerschaft of- sche Identität’ entwickelte die Band allerdings nicht in fensichtlich so nicht geteilt. Als Alex Köberlein Anfang einem Prozeß der permanenten oppositionellen der 90er Jahre eine Solokarriere startete und mit hoch- Identitätsarbeit, sondern in einer Art integrativen Aus- deutschen Texten den Sprung über den Main schaffte, einandersetzung mit der eigenen Herkunft, die – wenn holte er sich hierzulande nasse Füße, da seine musika- sie kritische Töne anschlägt – eher zwischenmenschli- lischen Aktivitäten im Süden zumeist ignoriert wur- che als gesellschaftliche Strukturen angeht. den, was auch die Tatsache beweist, daß er, anders als Gonzo – der Name spielt auf eine Figur in der Muppets- im Norden, hier so gut wie nie im Rundfunk gespielt Show an – entstand aus einer Schülerband. Alle sieben wird. Musiker sind in Stuttgart-Botnang aufgewachsen und Manch einer schrie „Verrat!“ ob Köberleins musikali- zusammen zur Schule gegangen. Inzwischen haben sie scher Ausflüge. Da der schwäbische Dialekt, der als zwei CDs aufgenommen, sind schon mehrmals im zentrales Element des Identitätskonzepts fungierte, der Fernsehen und bei zahlreichen Großveranstaltungen Hochsprache weichen mußte, verlor die Identifikations- im Land aufgetreten. Dabei scheuten sie auch nicht figur Alex Köberlein in den Augen der Fans eben da- den zum Teil volksmusikalischen Rahmen, in den sie durch an Glaubwürdigkeit. Ein Dialektsprecher, der wohl wegen ihrer schwäbischen Texte gepackt wurden sich plötzlich des Hochdeutschen befleißigt, muß sich und den sie mit ihrer Musik doch eher sprengten. oft den Vorwurf gefallen lassen, er wolle sich dadurch Weshalb sie nach anfänglichen Versuchen, englisch von seiner Sprachgemeinde abwenden und abgrenzen zu texten, dann zum Schwäbischen zurückfanden, be- – nicht nur in Schwaben. gründet der Sänger und Haupt-Textlieferant Falk Den einstigen konsumkritischen Anspruch, der Teil Scheuber einerseits damit, daß ihm auf der Bühne der des Identitätskonzepts geworden war, sahen viele Fans Zusammenhang zwischen den schwäbischen Titelan- in dem Bestreben Köberleins aufgegeben, mit einem glat- sagen und Witzen und den englischen Texten gefehlt teren Sound, der Verwendung der Hochsprache und habe. Zum anderen hätten sie die verblüffende Erfah- mit Jackett, sozusagen im neuen ‘Anzügle’, auch natio- rung gemacht, daß das Publikum auf die ein, zwei nale Erfolge zu erzielen. Sprache, Haltung, Kleidung schwäbischen Lieder, die sie anfänglich im Programm und Stil als Elemente eines bestimmten Habitus er- hatten, viel eher einging als auf die englischen. Bassist wiesen sich als etwas Hermetisches, und ihre Verände- Ebi meint, daß englische Texte „verdammt gut“ sein rung wurde mit Verachtung sanktioniert. müßten und auch dann doch nur von wenigen ver- Da er inzwischen manche dieser Lieder ins Schwä- standen würden. Da sie sich als Lokalband betrachten bische übersetzt hat und sich von einer Bluesband be- und meist nur im Landkreis spielen, haben sie keine gleiten läßt, haftet den Songs nicht mehr das Etikett nationalen Ambitionen. Außerdem meint er: „In Eng- ‘Schlager’ an – das beweist die positive Resonanz, die lisch kann mer schwer luschtig sei!“13 sie inzwischen erfahren. Und Spaß ist denn auch das eigentliche Botschaft dieser Band. Im Interview versuchen sie sich ständig gegenseitig in Wortspielereien und ironischen Kom- mentaren hochzunehmen. Ihre Texte verfahren nach dem Prinzip, sich selbst und andere nicht ernst neh- men. Dies können sie nach eigener Einschätzung in ihrer Mundart am besten. Der ‘moralische Zeigefin- ger’ sei nicht ihr Ding, womit sie sich von anderen Bands wie Schwoißfuaß abgrenzen. Diese eher unpoliti-

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Dennoch haben sie ihren eigenen Stil gefunden, der sich als eingän- giger Rock mit Jazzeinflüssen be- schreiben läßt. Anders als Alex und Georg Köberlein betrachten sie die Musik nicht als Broterwerb. Im All- tag gehen sie ihren unterschiedli- chen Berufen nach und betrachten die freitagabendlichen Proben und die fünfzehn bis zwanzig Auftritte im Jahr als eine Form der Freizeit- gestaltung, die allen großen Spaß macht. Die Texte von Gonzo handeln oft von Alltagserfahrungen und - irritationen, Beziehungskonflikten, vom Jungsein und vom Älter- werden, und die ‘schwäbische Hei- mat’ wird nur zum geringeren Teil thematisiert. Ähnlich wie in Grach- musikoffs „Heimatlied“ werden in Gonzos „Schwobaland“ Klischees wie die schwäbische Kehrwoche, die schwäbische Bodenständigkeit und ein provinzieller Habitus als Gonzo: Falk Scheuber (voc.), Oliver Petersen (g., voc.), Jörg „Ebi“ Eberhardt (b., voc.), Dieter Kristallisationspunkt schwäbischer Meyle (dr.), Andreas Epple (keyb.), Jörg Häußermann (keyb.), Mark Bachofer (sax.) Heimatliebe bemüht. Diesen wer- den exotische Reiseziele als die ver- meintlich bessere Alternative ge- genübergestellt. Der Refrain hat sche Verortung mag zum einen daran liegen, daß sie den Charakter einer Hymne, wenngleich das Pathos anfingen Rockmusik zu machen, als diese Musikform auch hier durch den Textinhalt gebrochen wird. Auf insgesamt auf breitere gesellschaftliche Akzeptanz stieß Konzerten wird er von der Fangemeinde begeistert mit- bzw. nicht mehr per se politisch war oder so verstan- gesungen: den wurde. Als eine legitime Form jugendlicher Un- terhaltungskultur wurde sie inzwischen auch von der I bleib’, wo i ben, wo me’ jeder Segg’l kennt Elterngeneration toleriert und konsumiert. Da sie in Em Schwobaland, em Schwobaland so schee’ einem städtischen Milieu in unmittelbarer Nähe zur Was soll i en d’r weida Welt, wo’s mir d’rhoim viel bess’r Metropole aufwuchsen, hatten sie außerdem ungleich g’fällt mehr Möglichkeiten, ihre Freizeit mit anderen Jugend- Em Schwobaland, em Schwobaland so schee’ lichen zu verbringen, auf Konzerten und in Diskothe- wo jed’r Fischkopf herzlich lacht, wenn onserois sei’ ken ihre Musik zu hören und sich dabei kulturell an- Kehrwoch macht ders zu orientieren als die Eltern. Sie kennen und schät- Em Schwobaland, em Schwobaland so schee’ zen die Köberleins dennoch und haben schon einmal mit Grachmusikoff zusammen auf einem Festival ge- Durchaus angetan sind die Musiker von der Lesart als spielt. Daß diese sie musikalisch wie lyrisch stark be- Hymne – aber eben als Hymne mit eingebautem Au- einflußt haben, wird bei näherem Zuhören deutlich. genzwinkern. Sie verbinden das Zitieren von Klischees

177 „Em Schwobaland, em Schwobaland so schee!“ mit einem ironischen Blick von außen, bei gleichzeiti- von Fremdem als Agitator für ein ‘neues’ schwäbisches gem Bekenntnis zur Bodenständigkeit. Falk Scheuber Selbstbewußtsein. sieht seine Liedtexte nicht als Auseinandersetzung mit Klischees, sondern als Beschreibung der schwäbischen Die Kunstfigur Hank Häberle jr. alias Bernhard Soppa Mentalität – „Geschichten, die das Leben schrieb“. Alle entwickelte sich mit seiner Begleitband Dagdiab in den Bandmitglieder sind eingefleischte Schwaben und letzten fünf Jahren zum Bierzeltmagneten. Ob er auf würden ihr „Schwobaland“ nur ungern verlassen wol- dem Cannstatter Wasen oder in der Gemeindehalle len, da es ihnen hier, wie sie sagen, wirtschaftlich gut eines Dorfes auf der Schwäbischen Alb spielt - er zieht geht, sie die Landschaft lieben und außerdem ihre gan- die Massen an die Biertische. Er selbst bezeichnet sich zen Freunde hier lebe. Ihre Fangemeinde setzt sich als „Schbätzlescowboy“ und seine Musik als „Schwoba- vor allem aus FreundInnen und BewohnerInnen der Country-Saund“ - als Countrymusik mit schwäbischen näheren Umgebung zusammen. Daß sie als Teil der Texten. Wie bei den vorherigen Beispielen handelt es lokalen Kultur in Botnang akzeptiert und integriert sich auch hier um die Übernahme einer nordamerika- sind, beweist auch die Tatsache, daß sich ihr Probe- nischen Kulturform - der Musik der weißen Landbe- raum seit Jahren im Keller der örtlichen evangelischen völkerung im Süden der U.S.A. Hank Häberle adaptiert Kirche befindet. Dieser lokale Bezug ist sowohl aber nicht nur die Musikform, sondern inszeniert sich Selbstverortung der Band wie auch Identifikationsan- und seine Band in Country-Manier. Ähnlich wie die gebot an die Fans. Dabei stellt die ‘gemeinsame’ Ge- deutsche Gruppe Truck Stop treten sie in Western- schichte in Verbindung mit dem Ort das eigentlich hemden, Jeans, Lederwesten und Cowboystiefeln auf. integrative Moment dar. Heimat ist auch hier, wie bei Die Konzerte haben auch einen volkstümlichen Cha- Grachmusikoff, in erster Linie geprägt durch die Bezie- rakter, da die BesucherInnen an Biertischen sitzen, Bier hungen der Menschen zueinander und in zweiter Li- trinken, Maultaschen oder warmen Leberkäs’ ‘vespern’ nie erst als Idealisierung einer bestimmten geographi- und wenigstens einmal pro Konzert zum Schunkeln schen Region zu betrachten. aufgefordert werden. Bei einem Konzert in der Junginger Sporthalle, einer Gemeinde bei Hechingen, schien das ganze Dorf anwesend zu sein: Eltern mit ihren Kindern, Großeltern mit ihren Enkeln, Jugend- liche, junge Erwachsene und offizielle Persönlichkei- ten. Ausländische KonzertbesucherInnen waren mir jedoch nicht aufgefallen, was wohl unter anderem dar- an liegt, daß sich die Konzertankündigung auf Plaka- „Bleib em Ländle ond nähre dich redlich!“14 ten und in der Lokalpresse vor allem an Dialekt- Der Schwäbische Habitus im Gewand des sprecherInnen richtet. amerikanischen Südstaatlers „Country gfallt mer scho seit i denka ko!“

Das letzte Identitätskonzept, das ich vorstellen möch- Häberle sieht in der Country-Musik eine Art ‘Trans- te, zeichnet sich dadurch aus, daß es sich aus dem reich- portmittel’ für seine Texte und verneint einen direkten haltigen Fundus schwäbischer Charakterzuschrei- Bezug der Musik zum Schwäbischen. Seine Liebe zur bungen bedient und diese, teilweise extrem verzerrt Country-Musik erwachte im Alter von fünf Jahren, an- und überzeichnet, mit solchen Bildern von Männlich- geregt durch die Single „Da sprach der alte Häuptling keit mischt, die durch US-amerikanische Kultur- der Indianer“ des heute fast vergessenen Schlagersän- produkte maßgeblich geprägt worden sind. Dieser gers Ronny. Mit elf Jahren begeisterte er sich für Johnny schwäbischen Identität geht es vor allem um ihren Cash. In der Zeit nach der Konfirmation begann er, Unterhaltungswert beim Publikum. Auf der Suche nach autodidaktisch Gitarre zu lernen. In einer Schülerband, Pointen kennt sie nahezu keine Grenzen. Gleichzeitig die Hardrock und Rock’n’Roll spielte, sammelte er bald betätigt sie sich nicht zuletzt durch die Ausgrenzung seine ersten musikalischen Erfahrungen. Ende der 80er

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von de Amis et viel. Halt ein äußerscht oberflächliches Volk. Die froget zwar emmer ‘How do you do?’, aber interessiere duet ses net.“

Hier sagt Häberle unmißverständlich, was er über die Amerikaner denkt. Dagegen kümmere sich der Schwabe um sich selbst, soll heißen: Der tut nicht erst so, als ob er sich für andere interessiert. Er – der Schwa- be im allgemeinen und Häberle im besonderen – sei außerdem eigenbrödlerisch, neugierig und schadenfroh. Häberles gespaltenes Verhältnis zu Amerika drückt sich vor allem auch in der Weigerung aus, in die U.S.A. zu reisen, um sein Bild zu überprüfen. Amerika ist für ihn gleichbedeutend mit „Müllkippe, Ghetto und Fastfood“, New York ein Paradebeispiel für das Schei- tern einer multikulturellen Gesellschaft. Dennoch wird die Neue Welt in seinen Liedern im- mer wieder thematisiert – vornehmlich die Weite und Schönheit der Landschaft. Der darin ausgedrückten Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer wird konse- quent die schwäbische Heimatliebe und Bodenstän- digkeit entgegengehalten. In der Umdichtung des be- kannten Liedes „Countryroads“ („I will hoim ens Schwobaland“) fährt der Held in seinem amerikani- schen Straßenkreuzer durch die unendlichen Weiten West-Virginias und wünscht sich, von Heimweh zer- Hank Häberle jr. ond seine Dagdiab: Hank Häberle jr. (g., voc.), fressen, Linsen mit Saitenwürstchen. Er fühlt sich al- Ignaz Fischle (g., fiddle, voc.), Schorsch Schwämmle (b., voc.), Edwin lein und verlassen in dem riesigen Land und würde Düsentriebel (dr.), Winnibold Kratzeisen (pedal steelg.) die Rocky Mountains am liebsten mit dem Schwarz- wald tauschen. Hier wird Exotisches mit Bekanntem Jahre fing er an, ins Schwäbische übersetzte Country- kontrastiert, wodurch eine groteske Spannung entsteht Lieder zur Gitarre zu singen. Dabei machte er die glei- – Heimatliebe wird über Abenteuerlust gestellt. che Erfahrung wie die Musiker von Gonzo: Die schwä- bischen Titel kamen beim Publikum besser an als die Die oberflächliche Amerikakulisse ist ein zentrales Ele- englischen. Anfang der 90er Jahre formierte er dann ment seiner Show, der latente Konflikt mit dem deut- nach und nach seine Begleitband Die Dagdiab (Tage- schen Norden ein andere – Häberle kann die diebe = Nichtsnutze, schwäbisches Schimpfwort), mit „Fischköpf“ nicht leiden. Personifiziertes Ziel seines denen er seither an den Wochenenden im ‘Ländle’ auf- Spottes ist sein Gitarrist, der auf der Bühne sinniger- tritt. Konnten sie sich eine Zeitlang vor Auftrittsan- weise auf den Namen Ignaz Fischle hört, aus Ostfries- geboten kaum retten, so haben sie jetzt oft Mühe, Ver- land stammt und seiner Stellvertreterrolle dadurch ge- anstalter zu finden. Häberle macht dafür die wirtschaft- recht wird, daß er still duldet und in einem Lied sogar liche Rezession verantwortlich. Dennoch stehen sie im um die Aufnahme ins Schwabenländle bittet – auch Schnitt fünf bis sechs Mal im Monat auf der Bühne. wenn er nicht richtig schwäbisch könne („... mei Schwä- Veranstalter sind meist örtliche Vereine. bisch kosch verreiba...“) Bei der Frage, wer sich denn als Schwabe bzw. als „Also, i fahr amerikanische Kärre, hann amerikanische Schwäbin bezeichnen dürfe, kommt Häberle in arge Klamotte ond amerikanische Musik, aber sonscht halte Legitimationsnot: Zwar sei er selbst in „Schtuargert“

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weshalb der Schwabe generell bespöttelt werde. Als Trost verspricht er den Schwaben im Refrain Zugang zum Himmel, da nur sie aufgrund ihrer Sparsamkeit den Eintritt entrichten könnten. Die Moral dieses Lie- des läßt indes pietistische Einflüsse ahnen – ob be- wußt zitiert oder unbewußt reproduziert, läßt sich hier nicht eindeutig klären.

Andere Lieder dienen der Ausmalung eines Bildes von Männlichkeit, das sich in der konsequenten Tabu- verletzung gefällt. Durch Derbheit, Machogehabe und Witze auf Kosten von Frauen, Ausländern, Schwulen und Behinderten, inszeniert er sich als Inkarnation der Hank Häberle jr. ‘political incorrectness’. Solches wird vom Publikum (Stuttgart) geboren, doch komme seine Mutter aus Bay- goutiert und mit lebhaftem Beifall quittiert. ern und sein Vater aus Oberschlesien. Als alle Häberle bezeichnet sich als Zyniker. Er liebt den Definitionsversuche nichts helfen, plädiert er für eine schwarzen Humor, sieht sich hier im übrigen von dem Sprachprüfung, die jede BewerberIn um die Stammes- österreichischen Liedermacher Ludwig Hirsch beeinflußt zugehörigkeit ablegen müßte, und in und läßt den Einwand, daß seine Texte oft ‘mißver- der Fragen gestellt würden wie „ [...] ständlich’ seien, nicht gelten. Seine Lie- was isch ein Botschamberle? [eigentl. der müsse man immer zwei-, dreimal pot de chambre = Nachttopf, A.d.V.] anhören und man müsse auch zwi- ond wenn er des älles woiß, no kann schen den Zeilen lesen. Seinen An- er sich Schwob schempfa!“ Kulturpes- spruch an sich und seine Lieder for- simistisch beklagt er in diesem Zusam- muliert er so: menhang den drohenden Niedergang des Schwäbischen, was man schon bei „Frech, frivol, zeitkritisch. Ons soll’s Kindern bemerke („Die hend so a Spaß mache, de Leit soll’s Spaß mache – Kauderwelsch zwischa Hochdeutsch meh well mer gar et. Jeder ko sich ond woiß dr Deifel wa...“) und plädiert rausglauba, was er b’halta will. I hab do für ein Pflichtprogramm von schwä- koi ‘message’ ond sag so ond so isch’s, on bischen Sendungen im Radio von min- des isch die oinzige Meinung, woisch. Soll destens zwei Stunden am Tag. Seiner jeder denka, was er will.“ Meinung nach müßten diese dann auf Schwäbisch moderiert werden, sich Diese Art des Populismus ist sicher schwäbischer Themen annehmen, ein Schlüssel zu seinem Erfolg. Ein schwäbische Veranstaltungen ankündi- anderer ist die Tatsache, daß er die gen und hauptsächlich schwäbische Erwartungshaltung(en) seines Publi- Musik spielen. Er findet, daß es den kums nicht enttäuscht. Die Gestal- Deutschen an sich und den Schwaben im besonderen tungsprinzipien, nach denen das ‘Produkt’ Häberle ver- an Nationalstolz mangle und man den Dialekt hoch- fährt, lassen sich grob so zusammenfassen: halten müsse. 1. Es wird grundsätzlich alles ins Schwäbische über- Im Lied „Em Hemml schwätzt jeder Schwäbisch“ setzt. Wenn es keinen schwäbischen Ausdruck gibt, thematisiert Häberle (s)ein schwäbisches Minderwertig- wird der englische oder hochdeutsche einfach keitsgefühl, welches auf der Unfähigkeit basiere, sich suevisiert, d.h. schwäbisch intoniert. Dies ist Teil der in Norddeutschland verständlich machen zu können, Komik.

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2. Klischees, die von Schwaben als von außen her- Diskographie: angetragene Klischees (vermutete Fremdbilder) und daher als kollektive Schwächen empfunden werden, wie beispielsweise Geiz/Sparsamkeit und dialektbedingte Grachmusikoff: Verständigungsschwierigkeiten, werden zu einem Quell -Grachmusikoff der Stärke und des Selbstbewußtseins umdefiniert und -Langsam fett umfunktioniert. -Dame oder Schwein 3. Witze legitimieren unreflektierte Äußerungen und -Musikantenstadl lebt von der Übertreibung. Es scheint keine Tabus zu -Quasi lebt geben. Die Witze gehen damit vor allem auch auf Ko- -Im Serail der nackten Wilden sten von Minderheiten, die dadurch aus dem Schwaben- -Elegdroschogg stamm ausgegrenzt werden. Schwoißfuaß: Bei aller Unterschiedlichkeit haben die drei Beispiele -Schwoba Rock (Laif) mindestens diese Gemeinsamkeit: Sie vermitteln ih- -Oinr isch emmr dr Arsch rem jeweiligen Publikum ein „‘at-home-feeling’, ein -Mir suachet jetz da Dialog Heimatgefühl, ein Wir-Gefühl, einen wertbesetzten -Du glaubsch des war a Spiel Identifikationsraum“15, wie es Lutz Röhrich als für das -Mach was! Heimatlied typisch formuliert. Damit haben diese Lie- -Sieba Johr! (The Greatest Hits) der meiner Meinung nach eine Funktion der traditio- -Rattakarma nellen Volks- und Heimatlieder übernommen und stel- len mit ihren aktuellen Bezügen eine neue Form des Alexander Köberlein und Band: Volkslieds dar. Wichtiger und interessanter indes er- -Sonnemond scheinen mir die Unterschiede in ihrer jeweiligen Identitätspolitik. Während bei Grachmusikoff die regio- Gonzo: nale Bezogenheit eine große Rolle spielt – die Region -Gonzo rockt auf...! Transpirativ! Oberschwaben als Sozialisationsort – thematisiert die -Gonzo rockt auf...! Schwobaland Gruppe Gonzo lokale Bezüge, die Metropole Stuttgart als gemeinsame Heimat. Dagegen thematisiert Hank Hank Häberle jr.: Häberle jr. einen fiktiven schwäbischen Großraum mit -I schwätz schwäbisch einheitlicher Mentalität. Überwiegen bei den ersteren -Derf ’s a bissle meh sei? eher kritische Töne so zeichnet letzterer vor allem ein -Laif, wiascht & ond gfährlich Vol. 1 idyllisches Bild vom „Musterländle“ und seinen -Dto. Vol. 2 BewohnerInnen, das es gegen negative Einflüsse von -Saudomm gloffa außen zu bewahren gilt. Sind sowohl für Grachmusi- -Irgendwie isch jeder ganz alloi koff als auch für Gonzo progressive Elemente in Hal- -Schbätzlesbrett statt Internet tung und (Musik-) Stil identitätsbildend, so sind dies bei Hank Häberle jr. eher regressiv-konservative.

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Anmerkungen Imperative des individuellen Ich fast wie einen Code zu lesen und zu verstehen: es handelte sich um die großen kollektiven Identitäten der Klasse, der ‘Rasse’, des sozialen Geschlechts und der westlichen Welt.“ (S. 69) 1 Titel eines Liedes der Gruppe Gonzo. 7 Vgl. hierzu: Hermann Bausinger: Zur kulturalen Dimension 2 Röhrich, Lutz: „... und das ist Badens Glück“. Heimatlieder von Identität. In: Zeitschrift für Volkskunde, 73. Jg. 1977, S. und Regionalhymnen im deutschen Südwesten. Auf der Su- 210-215. Er setzt sich darin mit dem „Modebegriff Identität“ che nach Identität. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 1990, auseinander und führt die Popularität des Begriffs darauf zu- S. 13-25; hier S. 16. rück, daß dieser an sich problematisch geworden sei. Im fol- 3 Ebd., S. 18. genden beleuchtet er die verschiedenen Facetten und Mög- 4 Natürlich geht auch der weiße Rock’n’Roll der 50er Jahre in lichkeiten des Begriffs. seiner wesentlichen Struktur auf Blues und Rhythm and Blues 8 Eine umfassende Darstellung mit sehr detaillierten Einblik- zurück, wie sie von schwarzen MusikerInnen im Süden der ken in die oberschwäbischen Musikszenen lieferte Mitte der USA gespielt wurden. Jedoch kamen diese erst in den 60er 80er Jahre Julian Aicher mit seinem 672 Seiten umfassenden und 70er Jahren zu Ruhm und Ehre, als weiße Bands wie die Werk „Da läuft was. Einblicke in Rockszenen der ober- Rolling Stones den Einfluß dieser Musikstile auf den ihren schwäbischen Provinz. “ In der Einleitung zu diesem einzigar- betonten und dadurch zu einer weltweiten Popularisierung die- tigen Werk stellt Aicher klar, daß es ihm nicht darum ging, ser Musikstile beitrugen. eine Art homogene Musikszene zu beschreiben, sondern viel- 5 Vgl. Rainer Schobess: Plattdeutsch und Popmusik. Ein Abge- mehr darum, die Unterschiedlichkeit und Buntheit der ver- sang. Bremen 1987. Hier S. 8. Darin beschreibt er Linden- schiedenen lokalen bzw. regionalen Musikszenen darzustellen. bergs Einfluß auf die bundesdeutsche Musikszene im allgemei- Vgl. außerdem das Adressbuch von Julian Aicher und Ulrich nen und die norddeutsche Folkszene im besonderen: „Und in Eder „Rock in Oberschwaben.“ in dem rund 900 kommen- der Tat gibt sich Lindenberg auf seinen ersten Platten recht tierte Adressen von Bands und Veranstaltungsorte aufgelistet norddeutsch. Mit coolem Hamburger Tonfall besingt er zum sind. Beispiel zu Akkordeonklängen das Schicksal eines alten Kapi- 9 Bei meiner Suche nach Musikgruppen und SängerInnen, die täns. Das waren für viele neue Klänge, und es gab all denen Rockmusik mit Mundart kombinieren, begegneten mir nur Selbstbewußtsein, die nicht mehr in englischer Sprache singen Männer, keine Frauen. Dies erklärt sich ein Stück weit aus der wollten. Natürlich hat Lindenberg nicht die deutsche Lieder- statistischen Tatsache, daß es in Deutschland lediglich 7 Pro- macherszene ins Leben gerufen [...] Sein Erfolg aber bereitete zent Pop- und Rockmusikerinnen (Niketta 1993). den Boden dafür, daß die Lieder – etwa eines Hannes Wader – 10 Vgl. Maria Anna Hofelich: Oinr isch emmr dr Arsch(?)! Die in der breiten Öffentlichkeit stärker beachtet wurden.“ Geschichte der schwäbischen Rockgruppe „Schwoißfuaߓ. Zwi- 6 Stuart Hall verwendet den Begriff so, daß er mit ihm gleich- schen zeitig seine Entwicklung über einen längeren Zeitraum erfaßt prüfungsarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische und spricht hierbei von einer Logik der Identität, die bisher Kulturwissenschaft. Tübingen 1989. Vgl. außerdem Julian (bis zur Moderne) von einer stabilen Grundlage des Ich aus- Aicher: Ich wohne da nicht mehr und möchte da nicht mehr gegangen sei, welche sich „innerhalb der hektischen Erschüt- leben. Der Musiker Georg Köberlein über seine schwere Ge- terungen, Diskontinuitäten und Brüche der Geschichte [...] nur burtsstadt Schussenried. In: Ders.: Da läuft was. Einblicke in langsam verändert“. Damit sei es jetzt vorbei. Als Ursachen Rockszenen der oberschwäbischen Provinz. Ravensburg 1987, nennt die Einflüsse der Moderne auf unsere Sprache und un- S. 287. ser Denken: „Im Lichte dieser historischen Dezentrierungen 11 Das Interview mit Georg Köberlein fand am 18.07.96 in sei- gerät der Versuch, mit dem Begriff der Identität ins reine zu nem Wohnzimmer statt, das Interview mit Alex Köberlein am kommen, zu einem höchst problematischen Unterfangen. Aber 30.07.96 in dessen Wohnküche. Alle folgenden Zitate dieses es gibt noch weitere Störfaktoren, die die gefestigte Logik der Teiles stammen, soweit nicht anders kenntlich gemacht, aus Identität durcheinandergebracht haben. Denn mit dem relati- diesen beiden Interviews. ven Niedergang, der Erosion und Instabilität des National- 12 Lutz Röhrich: Heimatlieder... , S. 22. staats, der Autarkie der nationalen Ökonomien und somit auch 13 Das Interview mit der Gruppe Gonzo fand am 23.8.96 vor ih- der nationalen Identitäten fand gleichzeitig eine Fragmentierung rem Proberaum in Stuttgart-Botnang statt. Alle weiteren Zita- und Erosion kollektiver sozialer Identitäten statt. Ich meine te beziehen sich auf dieses Interview. hier die wichtigen sozialen Identitäten, die wir als große, all- 14 Dieses wie auch alle anderen Zitate stammen aus einem Inter- umfassende, homogene, vereinheitlichte kollektive Identitäten view mit Hank Häberle, das am 12.10.1996 in der Gemeinde- ansehen, als etwas, über das wir wie über individuelle Akteure halle Jungingen stattfand. Nach dem Interview gab er dort ein sprechen konnten. Diese Identitäten plazierten, positionierten Konzert vor ausverkaufter Halle. und stabilisierten uns und ermöglichten uns gleichzeitig, die 15 Lutz Röhrich: Heimatlieder... , S. 22.

182 „Duifer äckra...“

Frank Rumpel

„Duifer äckra, it so oberflächlich omanander scherra!“*

Betrachtungen zeitgenössischer Mundartdichtung

Der Dialekt ist in erster Linie eine gesprochene Spra- stimmten Gebrauchswerterwartung, die man in allgemein- che. Die Verschriftlichung mutet eher seltsam an. Das ster Form, vielleicht als symbolische Repräsentation des Lesen von Dialekttexten fordert eine gewisse Anstren- kollektiven Selbstverständnisses formulieren könnte.“ 2 gung, ein Einlassen auf den Text, ein wirkliches Le- sen-wollen, das am besten laut geschieht, um den Bo- 1803 erschienen die „Alemannischen Gedichte“ von gen zurück zum Gesprochenen zu schlagen. Johann Peter Hebel. Vor Hebel wurde der Dialekt in Mundartdichtung im deutschen Südwesten läßt sich der Literatur vor allem eingesetzt, um einen „lächerli- bis ins 17. Jahrhundert (mit einer Ausdehnung des chen Gegensatz zur kultivierten Sprech- und Lebens- Begriffs auch bis ins 16. Jahrhundert) zurückverfol- weise der Gebildeten oder als kritisch-lustige Kom- gen. Doch erst Sebastian Sailer schrieb ein Theater- mentierung dazu“ zu schaffen. „Für die Gebildeten stück, die Schöpfung, ganz im Dialekt. Es wurde 1743 war diese Dichtung gedacht; ihnen wurde das Bieder- in Schussenried uraufgeführt. Die Dialektdichtung vor Einfache vor Augen gestellt – in seiner beschränkten Sailer bestand in der Regel aus dem Montieren einzel- Einfalt oder seiner Pfiffigkeit. Bei Hebel dagegen ruht ner Dialektpassagen in einen Text. 1 die bäuerliche, die dörfliche Welt in sich selbst.“ 3 Nun soll hier keine Traditionslinie von Sebastian Bis ins späte 19. Jahrhundert ist die publizierte Dia- Sailer bis Helmut Pfisterer gezogen werden, die zwei- lektdichtung dominiert von Beschreibungen ländlicher fellos fragwürdig wäre. Wichtig ist in diesem Zusam- Idylle, jedoch ohne den menhang allerdings, daß es seit dem 18. Jahrhundert verschiedenste Ausformungen der Dialektdichtung und „lebendigen Bezug zur bäuerlichen Welt und ihrem sprach- eben auch Zuschreibungen an sie gab, mit denen sie lichen Ausdruck [...]. Mundart war für sie [die Schrei- bis heute konfrontiert ist, wie z.B. die direkte Verbin- ber der Mundart. A.d.V.] ein Mittel, vage Sehnsüchte dung von Dialekt- und Heimatdichtung. auszudrücken und billige Popularität herzustellen – und Der Dialekt bindet einen Text, je nach Dialektfär- zwar in erster Linie unter den gebildeten Städtern. Ihr bung, an eine größere oder kleinere Region. Lebensstil hatte sich von dem der Dörfer deutlich entfernt – um so mehr gedeiht die Sehnsucht nach der vermeintli- „Ihre Inhalte werden deshalb grundsätzlich als Auskunft chen Idylle ländlicher Natur.“ 4 über diese Region verstanden und unterliegen einer be-

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Eine Ausnahme sind die Gedichte von Michel Buck, wirkten: Kurt Marti, Ernst Eggimann oder Eugen die 1892 unter dem schwäbischen Blumennamen Gomringer. Bagenga posthum erschienen. In den siebziger Jahren kam es zu einem Boom von Mundartliteratur. „Michel Buck hegte und pflegte keine Idee der Heimat, sondern war der Wirklichkeit ihres Lebens zugewandt, „Als mündlich vorgetragene Dichtung war die Neue das er mit Zuneigung und Humor, nicht kritiksüchtig, Mundartliteratur vor allem wirksam in der Folkfestival- aber wach und wahrheitsliebend anschaute und abbilde- Bewegung, in Bürgerbewegungen gegen industrielle Groß- te.“ 5 projekte, sowie in der Ökologie- und Regionalismus- bewegung. Sie war maßgeblich mitbeteiligt an einer Neu- Ausgeweitet auf die erste Hälfte des zwanzigsten Jahr- definition des Begriffs ‘Heimat’ als kritische Heimat- hunderts sieht Hermann Bausinger auch Sebastian Blau dichtung. Die Neue Mundartliteratur erweist sich so als als Sonderfall an: untrennbar verbunden mit den gesellschaftlichen Auf- bruchsbewegungen der späten sechziger und der siebziger „Es ist bezeichnend, daß er nicht den Versuch machte, Jahre und mit dem literarischen Neuaufbruch dieser Zeit. bäuerliche Idyllen zu konstruieren, sondern daß er von Als diese Bewegungen ab- und ausklangen, endete auch der kleinbürgerlich-handwerklich geprägten Atmosphäre die Zeit der Neuen Mundartliteratur.“ 9 seiner Heimatstadt Rottenburg ausging [...] Sebastian Blau war eine der Ausnahmen von der Regel – die Regel Selbstverständlich riß diese „Welle“ nicht alle mit, will war eine Festlegung der Mundartpoesie auf demonstrati- heißen: nicht alle Dialektdichtung der 70er Jahre ist ve Grobheiten einerseits, übertriebene und letztlich verlo- der Neuen Mundartliteratur zuzurechnen. gene Idyllisierungen andererseits.“ 6 Dieser kurze, historische Abriß soll zeigen, daß der Richtungsweisende Akzente hin zu einer Neudefinition Dialektdichtung im Lauf der Zeit keine einheitliche von Dialektdichtung setzte sicherlich die später so be- Zuschreibung zugrunde lag und deshalb auch heute nannte „Wiener Gruppe“, ein Freundeskreis, dem nicht zugrunde liegen kann. Umso mehr bleibt zu fra- Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, H. C. Artmann, gen, wie zeitgenössische Mundartdichtung 1996 zu Gerhard Rühm und Oswald Wiener angehörten. betrachten ist.10 Rühm schreibt in einem Manifest: Ich will versuchen, dieser Frage mit vier Portraits näherzukommen, die auf Interviews basieren, die ich „wir haben den dialekt für die moderne dichtung ent- mit den AutorInnen geführt habe.11 Im Mittelpunkt deckt, was uns am dialekt interessiert, ist vor allem sein der Interviews standen Fragen nach den Ursprüngen lautlicher reichtum [...], der für jede aussage die typischen (Wie kamen Sie darauf, im Dialekt zu schreiben?), nuancen findet.“ 7 Beweggründen (Warum schreiben Sie im Dialekt?) und peripheren Assoziationen (Was verbinden Sie mit dem Hier findet eine rigorose Loslösung der Dialektdich- Begriff Heimat?). tung von der Zuschreibung Heimatdichtung statt. Der Alle vier Personen, die im folgenden portraitiert Dialekt wird als Verfremdungsmedium eingesetzt. Die werden, schreiben Mundartdichtung. Jedoch ist bereits Themen sind beliebig. Die oben zitierte, von Norbert beim Lesen ihrer Texte festzustellen, daß unterschied- Feinäugle angesprochene „Erwartungshaltung“, die der lichste Themen bearbeitet werden, die Darbietungs- Leser an einen Dialekttext heranträgt, wird hier be- formen und damit der jeweilige Umgang mit Sprache wußt enttäuscht.8 sich stark unterscheiden. Dies war das entscheidende Zu nennen sind in diesem Zusammenhang sicher Kriterium für die Auswahl der Personen. noch Schweizer Autoren, die in den 50er und 60er Jah- Die Zitate sind, sofern nicht anders gekennzeich- ren an einer Modernisierung von Dialektdichtung mit- net, den jeweiligen Interviews entnommen.

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August Mohn wurde 1920 geboren und lebt in erzählt, beweisen. Nur der Narr singt das Lob der guten Daugendorf bei Riedlingen. Er ist dort aufgewach- alten Zeit, heißt es in einem seiner Gedichte.“ 13 sen, arbeitete als Bauer und Wirt. Mundartgedichte schreibt er seit Ende der 80er Jahre und hat seither, Die Inhalte sind fest mit seiner Sprache verzahnt, da gefördert von Martin Walser, zwei Bücher veröffent- das Beschriebene stets im Biographischen wurzelt. So licht. Auf die Frage, wie er zur Mundartdichtung ge- ist sein Zugriff auf Politik und Geschichte stets di- kommen sei, tut sich eine informelle Verbindung zu rekt. August Mohn „macht keine Umwege zur Wirk- Michel Buck auf: lichkeit“.14 Als ein Beispiel sei hier die letzte Strophe des insgesamt 17-strophigen Gedichtes Bomba-Nacht „In eiser Gegend, da hats dr Michel Buck gea. Ond da (Ulm 17.12.44) angeführt: hot ma mal an Gedenktag ket, dr hondertschte Todestag. Ond da hat ma en kompetente Redner da ket ond der hot „Dui Hölla-Nacht nimmt gar koi End!/ Nuis Graua, gseit, des war dr Schtein des Anstoßes bei mir, der hot Elend, Sorga./ Für vill, mo gsund in d Bettstatt sind,/ gsait: Seit hundert Jahren, seit die Eisenbahn an den do geits koin ‘Junga Morga’!“ 15 Bodensee fährt, hat Oberschwaben keinen Mundartdich- ter mehr hervorgebracht. Ond na hanne denkt, ja leck me Zu den Inhalten seiner Gedichte gefragt, sagt Mohn, no am Arsch, desch’t ja dia hell Schand. Ha noch probieres er wolle „duifer äckra, it so oberflächlich omanander selber. Ond nach hamme dohinter klemmt.“ scherra“.

Die Mundart, er nennt sie lieber „Muatr-Sproch“, in Er schreibt ausschließlich wenn er etwas sieht, das zu der er schreibt, ist bei ihm identisch mit der Sprache, sagen ihm wichtig ist, wenn eine Erinnerung in ihm die er im täglichen Leben spricht. Er ist mit ihr aufge- aufsteigt, die er festhalten, einfrieren, vermitteln will, wachsen und sein Bestreben war und ist es, „die alte, um sie so erinnerbar zu machen. Er bezeichnet sich unverfälschte Bauernmundart zu Papier zu bringen, selbst als tiefgläubigen Menschen, fest in der Natur damit sie der Nachwelt erhalten bleibt.“ Heraus kommt verwurzelt und „gschdanda“. Seine Dichtkunst sieht eine auf den ersten Blick rauhe, sich dann aber auf er als Gabe, „ond weile Chrischt be, lasse dia Gab den zweiten Blick als detailliert und nuancenreich ent- ondert Leit“. puppende Sprache. Seine Themen kreisen um Natur- Als Heimatdichter will er nicht bezeichnet werden, beobachtung und die dörfliche Umwelt, handeln vom weil die Zuschreibung zu eng ist und er mit Schönfär- bäuerlichen Leben, von Kriegserinnerungen, die er „un- berei nichts am Hut hat. Den Begriff Heimat definiert mittelbar und unsentimen- er als etwas, das es zu empfinden und zu leben gilt. tal“12 schildert. Für ihn ist Heimat, wo er sich wohlfühlt, wo er „schwätza“ kann. „Seine besondere Beziehung zur Natur, die sozusagen im Blauen Anton steckt und nicht auf angelesene Erkenntnis fußt, macht ihn zum Feind von Giftspritzen Die Veröffentlichungen von August Mohn: und zum Artenschützer. Nostalgie hat der Bauer so- - Von dr Soot zom Schnitt. Gedichte in oberschwäbischer Mund- wieso seit Generationen wie art. Biberach 1988. eine Krankheit ausge- (vergriffen) schwitzt, wie die Gedichte, - Gedichte 1988-1995. Bad Buchau: Federsee-Verlag 1995. in denen August Mohn von landwirtschaftlicher Arbeit August Mohn

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Georg Holzwarth wurde 1943 in Schwäbisch-Gmünd densarten“, die beim Leser eine Erwartungshaltung geboren, wuchs im nahegelegenen Lautern auf und fördern, diese letztendlich aber enttäuschen. Das Auf- lebt heute in Pfrondorf bei Tübingen. Von 1970 bis brechen festgefahrener Redensarten war und ist dabei 1987 arbeitete er als Lehrer an verschiedenen Gymna- erklärtes Ziel. „Ich hab auf der einen Seite sehr viel sien im Kreis Reutlingen. Seither ist er freier Schrift- sprachkritisch gearbeitet und hab’ aber versucht auf steller. Er begann Anfang der 70er Jahre, Dialekt- der andern Seite verständlich zu bleiben.“ Dialekt wird gedichte zu schreiben und veröffentlichte 1975 sein als ästhetisches Medium eingesetzt, Inhalte dadurch erstes Buch (‘Denk dr no’) und seither neun weitere umgedreht, spielerisch verfremdet. Als Beispiel sei hier (zum Teil im Dialekt, zum Teil in Hochsprache). Au- ein kleines Gedicht aus dem zuletzt erschienenen Band ßerdem arbeitet er als Hörspielautor für den Südwest- angeführt: funk. Die Gedichte für den ersten Band waren zum einen „So isch// En Zau oms Gärtle/ s Audo en dr Garasch/ Aufarbeitung der Sprache, in der er erzogen worden d Rolläda ronter/ ond d Hausdiir zua// was ma hot/ war, die er heute im täglichen Leben aber kaum be- des hot ma.“ 16 nutzt. Holzwarth wuchs in einem kleinen Dorf auf, in dem wirklich nur Die direkten Bezug auf eine Region Dialekt gesprochen wurde. Diese empfindet Georg Holzwarth dabei sprachliche Umgebung änderte sich nicht als Einschränkung, weil er mit erst mit dem Eintritt in die Schule. diesen Texten auch die Leute errei- In den Gedichten wählte er also die chen wollte und will, „die sich so ver- Mundart, in der er seine Kindheit halten“, mit solchen Redensarten erlebt hatte, um dieses Erlebte und verwachsen sind. auch Erlittene „in eben dieser Spra- Neben den Mundarttexten, che wieder loszuwerden. Es war so schrieb er Texte in Schriftsprache, ein bißchen Aufarbeitung meiner darunter zwei Romane, viele Ge- Kindheit in diesem Dorf damals in schichten, die meistens im schwäbi- der Nachkriegszeit, wo man ja für schen Raum angesiedelt sind. Im Kinder nix übrig ghabt hat.“ Zum ‘Butterfaߒ beispielsweise, ist die anderen reagierte er auf das Nicht- Sprache Schriftdeutsch, jedoch flie- Vorhandensein moderner schwäbi- ßen immer wieder schwäbische Aus- scher Dialektgedichte. Vor allem ex- drücke, syntaktische Spielereien ein, perimenteller, auch spielerischer um die schwäbischen Schauplätze Georg Holzwarth Umgang mit Sprache, wie ihn bereits auch sprachlich zu definieren. Die Ende der 50er Jahre die Wiener Gruppe betrieb, dien- Thematik bleibt auch in diesen Texten einer Region te ihm als literarisches Vorbild. verhaftet. Die Antwort ist einfach:

„Mir war es wichtig, mit der Sprache auch zu spielen. „ Joyce hat auch immer nur über Dublin geschrieben. [...] Sie hat ja auch ein bißchen ‘ne Schwere. Ist im Grunde Ich schreib’ über das, was ich kenne, weil ich da sicher auch ‘ne alte Bauernsprache gewesen. Ist nicht so elegant bin, weil ich da meine Inspiration hab’, und wenn ich ein wie’s Wienerische, oder nicht so polternd grob wies Jahr in Köln leben würde, würd’ ich wahrscheinlich ‘ne Bayrische, sondern eher schwer. Ich versuchte auch durch Novelle oder ein Hörspiel über Köln schreiben, und wenn solche Methoden, die vom Dadaismus und von der Wie- ich drei Jahre auf den Bahamas oder auf den Philippi- ner Gruppe herkamen, das ganze ein bißchen leichter zu nen leben würde, dann würd’ ich über das schreiben. [...] machen.“ Wobei, ich hab’ nicht in Schwäbisch geschrieben, als ich in dem Dorf war und ausschließlich Schwäbisch sprach, Er arbeitet/e viel mit Sprichwörtern, Sprüchen, ver- sondern es ist immer auch dieses Moment der Rückerin- meintlichen Lebensweisheiten, also „verfestigten Re- nerung.“

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Angeregt durch die Diskussion, ob er denn nun Rösle Reck wurde 1929 in Wilflingen geboren und Heimatdichter oder Anti-Heimatdichter sei, hat Ge- lebt heute in Rulfingen bei Mengen. Sie schreibt seit org Holzwarth seine Texte daraufhin untersucht, ob Mitte der 70er Jahre Dialektgedichte, -prosa und klei- denn der Begriff Heimat darin vorkomme und dabei nere Volkstheaterstücke. Sie veröffentlichte ihr erstes festgestellt, daß dies nicht der Fall ist. Es kommt ein Buch 1982 und seither fünf weitere. Sie sieht das Schrei- einziges Mal in der Verneinung vor. Aber auf ben als Hobby mit „sehr großem Stellenwert“ an, be- Kategorisierungen solcher Art will er sich nicht ein- treibt es neben dem Haushalt, wenngleich mit zuneh- lassen. Grundsätzlich ist er weder Heimat- noch Anti- mendem Zeitaufwand. Die Verbindung zum Mundart- Heimatdichter. gedicht ist

„Heimat thematisiere ich nicht. Das ist auch kein litera- „irgendwie von dohoim aus prägt. Weil dr Michel Buck risches Thema in dem Sinne, sondern es ist eher ein ab- von Ertinga, den hot mei Großmutter zitiert mit siebzge, straktes Thema. [...] Ich hab etwas an dem Heimat- dia ganze Gedicht, des war am Abend ‘s Betthupferle begriff, was mich fasziniert, oder, wo ich ihn bis zu ‘nem [lacht] ond des ka sei, daß des dr Auslöser war, ieberhaupt, gewissen Grad nachvollziehen kann und es gibt viele dasse letschtendlich beim Schwäbischa glandat be.“ Dinge, die stoßen mich furchtbar ab. [...] Man hat schon ein Gefühl bei dem Begriff Heimat. Ich meine, die Spra- Sie schreibt in der oberschwäbischen Rulfinger Mund- che ist ja auch etwas, was einem Menschen beigebracht art, die sie auch spricht, nicht aber die (sehr viel breite- haben, die man eben gemocht hat [..] und des ist was re Wilflinger-)Mundart, in der sie aufgewachsen ist. Heimatliches für mich, aber ich mag den Begriff nicht in Die Benutzung und Bewahrung eines tradierten Schwä- der Abgrenzung zu anderen [...]“ bisch macht nur einen kleinen Teil ihrer Schreib- intention aus. Die Konservierung einzelner Ausdrük- ke und Formulierungen ist ihr wichtig,

Die Veröffentlichungen von Georg Holzwarth: „damit dia it verlora gangat [...]“ Ein Beweggrund hier- für war „am Anfang, do war des au grad dia Zeit, wo onsre Kender weg send ond zmol nemme gschwätzt hand, wia dohoim.[...] Und uns- - Denk dr no. Gedichte in mittelschwäbischer Mundart. Reut- re Nochbors Kender, dia schwätzat au nemme des Schwä- lingen: Knödler 1975. - ...des frißt am Gmiat. Schwäbische Mundartgedichte. In Tü- bisch, wo onsre Kender gschwätzt hand, wo se klei warat. bingen und anderswo. Tü- Desch zwar schad, aber id aufzomhalta.“ bingen 1977. - Jetzt grad mit Fleiß ed. Balladen und Lieder. Stuttgart: DVA Jedoch will sie sich auf eine Musealisierung nicht be- 1977. - ‘s Messer em Hosasack. Schwäbisches in Vers und Prosa. Stutt- schränken, gart: DVA 1980. - Das Butterfaß. Ein schwäbischer Dorfroman. Stuttgart: DVA „weil sich dia Sprach ja verändert. Die Sproch lebt ja 1982. (in Hochsprache) jetzt und i woiß it, worom ma do, woiß Gott, im vorige - Die Kommode. Geschichten aus dem Schwäbischen. Stuttgart: Jahrhundert bleiba soll. I breng au mal gern englische DVA 1985. (zum Teil in Hochsprache) - Die Fußreise. Roman. Stuttgart: DVA 1988. (in Hochsprache) Ausdrück nei [...] was halt im normala Sprachgebrauch - „Bei einem Wirte wundermild“ – Literarische Gasthäuser in heitzutag au vorkommt.“ Baden-Württemberg. Stuttgart: DVA 1990. (in Hochsprache) - Das schwäbische Dekameron. Geschichten vom irdischen Pa- Ihre Texte handeln von zwischenmenschlicher Bezie- radies. Stuttgart: DVA 1993. (in Hochsprache) hung, dem Jahresablauf in einem Bauerndorf, kirchli- - Zongaschläg ond Burzlbäum. Schwäbische Gedichte und Ge- chen Bräuchen, Traditionen, aber auch von Erlebnis- schichten. Stuttgart: DVA 1996. sen und Beobachtungen.

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„Jetzt wia zum Beischpiel Erntedank oder d’Sichelhenke, liche Sacha oder au mal Kritisches.“ Und doch spielt oder wia an Baurawaga zammagsetzt ischt, was heit ja a Heimat für sie keine unbedeutende Rolle, „weil i fend, Kend nemme woiß, was da alles fir Gegastend dra send daß Mundart a Schtuck Hoimat isch.“ Und die be- [...] oder wemma jetzt grad, wia bei ons auf Mariä Him- nützt sie, weil ihr „das Schwäbisch liegt“ und weil sie melfahrt so’n Schtrauß macht ent Kirch, halt Weihbuschel damit aufgewachsen ist. Aber sie benutzt den Begriff ond was da alles neikert, wia mas hollat, des kert ja alles auch gern als eine Art Trostpf laster, „jetzt wo alles au zur Hoimat, zur Tradition ond verliert sich mit dr emmer greßer wird, isch des scho au wichtig, daß ma Zeit.“ die kleine Regiona a bissle zu Wort komma laßt.“

Zudem verfaßt sie immer wieder Gebrauchsgedichte Die Veröffentlichungen von Rösle Reck: für bestimmte Anlässe, wie Geburtstagsglückwünsche, „Fir a Hochzeitsbaar“ oder „Beileid fir a jonge Wit- - Dur s Johr. Rulfingen Verlag Wolf, Öhringen 1982. (vergrif- we“. Das biographische Moment spielt eine wesentli- fen) che Rolle. Die Gedichte sind fast durchgängig in Reim- - Älles ischt menschlich. Reutlingen, Knödler 1986. - Schwäbische Weihnachten. Geschichten, Gedichte, Krippen- schemata gehalten. Der Ton ist meist leicht und heiter. spiele. Rulfingen, Selbstverlag 1986. Die Eingrenzung auf eine Region durch den Dia- - Schwäbisch a Leaba lang. Gedichte in schwäbischer Mundart. lekt empfindet sie nicht als Beschränkung. Die Men- Rulfingen, Selbstverlag 1988. schen, die beschrieben werden, der Blick auf etwas, - Dierla ond Leit, friher ond heit. Gedichte und Erzählungen in schwäbischer Mundart. Rulfingen, Selbstverlag 1993. die Örtlichkeiten sind schwäbisch, die Mundart, in der - Schwäbisch leasa ond losa. Gedichte und Geschichten in schwä- dies zu Papier gebracht wird, entsprechend. Rösle Reck bischer Mundart. Rulfingen, Selbstverlag 1996. sieht den Dialekt als „kraftvoller und prägnanter“ als die Hochsprache, wenn z.B. etwas Beobachtetes auf den Punkt gebracht werden soll. Zudem kann „ma des besser ausdrücka, was bei de Schwoba so üblich ischt. Wenn i was in Schwäbisch sag, betrifft des ja meischtens Helmut Pfisterer wurde 1931 in Leonberg geboren Schwoba.“ und ist dort aufgewachsen. Er arbeitete als Berufsschul- Sie selbst sieht sich nicht als Heimatdichterin. Ob- lehrer und war 1964-1967 als Lehrer im Iran und in wohl ihre Themen auch Brauchtum, Tradition und Afghanistan. Anschließend arbeitete er als Oberstudi- Heimatgefühl aufgreifen, will sie sich nicht darauf fest- enrat an einer Berufsschule in Stuttgart. Er lebt in Stutt- schreiben lassen. „I schreib lieber über zwischamensch- gart. Er begann schon früh zu schreiben, in Hochspra- che und seit den späten sechziger Jahren auch im Dia- lekt.

„Im Ausland, in Persien, Afghanistan hanne glitta drun- ter, daß i net so locker han schwäbisch schwätza dürfa, sondern mi immer bei dr Rede han astrenga müssa [...] und da han i zum erschta Mal bemerkt, was es heißt, im Elend, also im Ausland zu sein. Des isch, neben ande- ren Abwesenheiten natürlich [...], vor allem a sprachliche Sache. Hauptsächlich glaube, han i da Dialekt vermißt, daß ma so bequem schwätza darf.“

In seinen Auslandsjahren wurde auch die Grundidee, gleich alles in Schwäbisch zu sagen, geboren. Er be- gann, arbeitete lange und immer wieder an seiner ‘Welt- Rösle Reck sprache Schwäbisch’, die schließlich in der ersten Fas-

188 „Duifer äckra...“ sung 1980 und weiter, immer perfekter ausgearbeitet seit Johr ond Dag sages, daß e weg will aus’m Dialekt, in mehreren Folgebändchen erschien. daß e schriftdeutsch veröffentlicha will, daß e meine The- ma mit ma größera Lesekreis verbinda will. Des isch net Er „demonstriert an überzeugenden Beispielen [...], daß oifach, weil i ben für Mundart bekannt ond net fürs Englisch, Französisch, Italienisch, ja selbst Spanisch und Schriftdeutsche.“ Chinesisch nur exotisch geschriebenes Schwäbisch sind, in das sie bei richtiger Aussprache alsbald zurückverwandelt Der Heimatbegriff taucht in seinen Texten so gut werden können (when I defend / „wenn i de fend“).“ 17 „wie ned auf. Aber Heimat isch natürlich alles was ma Helmut Pfisterer hat insgesamt mehr als zwanzig Bü- mag. Und was mag ma? Des ka sei, a Erlebnis in Af- cher, dazu zahlreiche Hörspiele, sowohl in Mundart, ghanistan [...] alles was ma mag, was ma mega hat, isch als auch in Hochsprache veröffentlicht. Was in der Heimat [...] Ond sonsch gibt’s in dem, was ma Heimat ‘Weltsprache Schwäbisch’ noch nennt soviel Unangenehmes. Des isch koi Heimat. Wenn ich denk, dahanna rum, Leonberg, wo ich herkomm, „Spielerei mit schönen Überraschungseffekten ist, wird Schtuagat, bis hier, in die nägschte Umgebung, da isch später zum poetischen Erkenntnisprinzip. Pfisterer stößt vieles, was für mich koi Heimat isch [...].“ den Leser durch seine Variationstechnik auf Schritt und Tritt darauf, daß vermeintlich Eindeutiges auch ganz Heimatdichter will er auf keinen Fall genannt werden. anders verstanden werden könnte: ’Was i durchgmacht han! En meim Alder! Die ganz Nachd hane durch- gmachd!’“ 8

Was bewog ihn schließlich, nach der ‘Weltsprache Schwäbisch’ auch Gedichte im Dialekt zu verfassen?

„Der Dialekt ischt zweifellos die Sprache des Gemüts. I, wo mit dem Dialekt auf’d Welt komma bin, kann Sacha, wo no ‘n ganza Wuscht an Zeug drahengt, im Dialekt viel schneller auf dr Punkt brenga, als im Schrift- deutscha.[...] Im Schriftdeutscha würd vieles blasser rauskomma. [...] Für mi isch dr Dialekt id bloß so Nostalgiepflege, Heimweh ond so, da hanne nix im Sinn domit [...] I such zwar dia alte Wörter dr Vergessaheit zu entreißa, aber emmer mit ra Absicht. Net bloß Eidünschtglas aufmacha ond’s alte Gselz fressa.“

Die regionale Eingrenzung sieht er mit der Zeit als Problem an, vor allem, wenn er Themen, Probleme aufgreift, die nicht regional begrenzt sind. Für Sozial- und Gesellschaftskritisches steht er zwischen den Stüh- len, denn er ist nunmal als Dialektautor bekannt, wür- de sich für die Themen seines anstehenden Buches aber ein größeres Lesepublikum wünschen.

„I han grad des Beschtreba, koi Mundart me zu schreiba, bloß no Mundart für dr Funk, also Hörspiel z.B. [...] Helmut Pfisterer

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Die Veröffentlichungen in Hochsprache: Bei genauerer Betrachtung der Portraits wird klar, daß es sich um vier verschiedene Positionen, um verschie- - Die Liebe des Muezzin. Erzählung 1971. dene Verhältnisse zur Mundartdichtung handelt. Das - Formaja. Gedichte 1976. - Der Übertan. Satirische Verse 1979. vermeintlich gemeinsame Moment, die Verwendung - Nacht trinkt Sonnenblumen. Gedichte für Kinder 1982. einer Mundart, bleibt bei einer oberflächlichen Betrach- - Mondenlob. Zwei mal zwölf Kalendergedichte. Gedichte und tung bestehen, löst sich aber langsam auf, fragt man Parodien 1988. nach den Beweggründen. Da dies nicht grundsätzlich - Landschaft weißgehöht. Die Schwäbische Alb. Gedichte 1989 - Preis ich den Regenwurm. Gedichte 1989. zu leisten ist, bleiben nur die Inhalte und die Form zur - Sindelfingen. Literarisches Stadtportrait 1989. Beurteilung. - Aalen. Literarisches Stadtportrait, zum Teil in Mundart 1989. Grundsätzlich ist festzustellen (sowohl aus eigener - zahlreiche Hörspiele und Hörbilder; Te xte für TV/Kabarett Beobachtung, als auch aus Erzählungen der Interview- u.a. ten), daß der Leser/die Leserin einem Mundarttext (gemäß Norbert Feinäugle) mit einer gewissen Erwar- Die Veröffentlichungen in Mundart: tungshaltung entgegentritt. Diese kann erfüllt oder enttäuscht werden, je nachdem, inwieweit die - Weltsprache Schwäbisch. Gedichte. Leonberg: Galerie No.6 AutorInnen um diese Erwartungshaltung wissen und 1979. - Weltsprache Schwäbisch. norrobabbelds. Gedichte. Reutlingen: gewillt sind, diese zu erfüllen, zu benutzen, oder zu Knödler 1980. enttäuschen. - Komm gang mer weg. Gedichte, Stuttgart: Esslinger Press 1981 Es fällt zudem auf, daß keine der portraitierten Per- - Dialectos Schwäbisch. Varianten einer Weltsprache. Stuttgart: sonen sich als HeimatdichterIn bezeichnet wissen will. Amman 1982. - Handla widd? – Soddsch ned liaber fuaßla? Texte zum Frieden Für Autoren wie Georg Holzwarth und Helmut über den Unfrieden. Stuttgart: Selbstverlag 1983. Pfisterer, die (wie in den Interviews deutlich wurde) - Gsammelde Henderdürla. Vornawäg a Handvoll Leib- ond sowohl den Zu- und Umgang mit dem Dialekt, als Magawördr. Stuttgart: Schlack 1985. auch den Heimatbegriff differenziert problematisier- - Vers uff zwoe Fiass. (Mid Dialögla on Schbrüch). Stuttgart: Spectrum 1986. ten, liegt dieser Schluß nahe. Zudem veröffentlich(t)en - Brauchvers für Feschd on wo koine sen. Schwäbisches zu be- beide Autoren Texte in Hochsprache. Aber auch Rösle sonderen Anlässen. Stuttgart: Silberburg 1988. Reck und August Mohn, die sich ganz auf das Schrei- - Zettelwirtschaft. Schwäbische Vordrucke für alle Lebenslagen ben im Dialekt festgelegt haben und Heimat durchaus (Kurzmitteilungen und „Druxächla“). Stuttgart: Silberburg 1990. in einem herkömmlichen Sinn thematisieren, machten - Schwäbisch. Varianten einer Weltsprache. Stuttgart: Silberburg klar, daß sie eine solche Zuschreibung als Einengung 1992 verstehen würden. Ihr Selbstverständnis als Mundart- - Neue Brauchvers. Stuttgart: Silberburg 1993. autoren greift wesentlich weiter, als die enge, straff - Zammaleba. Stuttgart: Silberburg 1994; Ooverdruggds (Unverdrucktes). Schwäbisch gestichelt und gestreichelt. Tü- gespannte Hülle des Heimatdichter-Begriffs zuließe. bingen: Silberburg 1995. - Zahlreiche Hörspiele und Dialoge für SDR und SWF. „Wichtig ist, daß nach gängiger Meinung Mundartdich- tung zur ‘Heimatdichtung’ nicht erst auf Grund ihrer Inhalte wird, sondern durch ihre Sprachform immer schon ist. [...] Diese Grundüberzeugung prägt den Erwartungs- horizont, auf den Mundartliteratur trifft, und das gilt für alle Richtungen und Spielarten von der brauchtüm- lichen Gelegenheitsdichtung bis zur experimentellen oder konkreten Lyrik.“ 19

190 „Duifer äckra...“

Da der Dialekt stets räumlich gebunden ist, muß die 5 Ewald Gruber: Michel Buck und die schwäbische Dichtung Auseinandersetzung mit dieser vermeintlich zwangs- seiner Zeit. In: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biber- ach. 5. Jahrgang. Heft 1. 1982. läufigen Verbindung zwischen Mundart- und Heimat- 6 Hermann Bausinger: wie Anm. 1, S. 289. dichtung für die Autoren ein grundlegender Bestand- 7 Gerhard Rühm: Dialektdichtung. In: Gerhard Rühm (Hg.): Die teil ihrer Arbeit sein. Und die Leserin/der Leser ist Wiener Gruppe. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 20. gezwungen doch genauer hinzusehen. 8 Als wichtige Veröffentlichungen sind hier zu nennen: H.C. Art- mann: med ana schwoazzn dintn. gedichtar aus bradnsee. Salz- burg 1958. Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Gerhard Rühm: hosn rosn baa. Wien 1959. Als ein Beispiel sei ein Ge- dicht von Friedrich Achleitner angeführt: ausn bödd aussa/ iwa dschdiang owö/ iwa dwisn daonö/iwa dbruggn umö/ und ins wossa ainö/ und in himö auffö. Aus: F.A.: KAAAS. Dialekt- Anmerkungen: gedichte. Salzburg/Wien 1991. Wiederveröffentlichung. Das Gedicht stammt aus den 50er Jahren. 9 Christian Schmid-Cadalbert: Neue Mundartliteratur – An- spruch und Wirklichkeit. In: Eva-Maria Schmitt/Achim Thyssen (Hg.): Einstellungen und Positionen zur Mundart- literatur. Internationales Mundartarchiv „Ludwig Soumagne“ * Zitat von August Mohn im Interview; vgl. Anm. 11. des Kreises Neuss 1992. Frankfurt 1993, S. 108. 1 Eine ausführlichere Darstellung, incl. Beispielen, der Geschichte 10 Da in diesem Rahmen keine umfassende Darstellung zeitge- der Dialektliteratur im deutschen Südwesten bis in die siebzi- nössischer Mundartliteratur weder geleistet werden kann, noch ger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts findet sich bei: Her- will, sei auf eine Publikation verwiesen, die diesem Bestreben mann Bausinger: Dialektdichtung. In: Bernhard Zeller/Walter nahe kommt: Norbert Feinäugle/Wilhelm König: Mundart- Scheffler (Hg.): Literatur im deutschen Südwesten. Stuttgart dichtung in Württemberg seit 1945. Reutlingen 1991. 1987. Zu Sailer bleibt noch anzumerken: „Schon im sechzehn- 11 Interview mit August Mohn geführt am 16.08.1996 in ten Jahrhundert tauchen lustige schwäbische Einschiebsel in Daugendorf. Interview mit Georg Holzwarth geführt am geistlichen Dramen auf, und in der Klosterdramatik der Ba- 08.09.1996 in Pfrondorf. Interview mit Rösle Reck geführt am rockzeit waren solch heitere Zwischenspiele in der Mundart 09.09.1996 in Rulfingen. Interview mit Helmut Pfisterer ge- fast schon die Regel. Wenn man diese oft recht witzigen Pro- führt am 11.09.1996 in Stuttgart. dukte vieler unbekannter und oft auch ungenannter Poeten 12 Ewald Gruber in einer Rede zur Veröffentlichung des zweiten überblickt, erscheint es fast merkwürdig, wie sich der Nach- Buches von August Mohn, gehalten am 17.11.1995 in Bad ruhm auf Sebastian Sailer konzentriert. Vielleicht ist es eine Schussenried. List der Geistesgeschichte, daß sie ihre Epochen nicht mit all 13 Ebd. ihren komplizierten Brechungen, sondern im ungebrochenen 14 Ebd. Bild einer Persönlichkeit der Nachwelt überliefert.“ Hermann 15 August Mohn: Gedichte. Biberach 1988, S. 159. Als herausra- Bausinger: Sailer: Der Schwäbische Aristophanes. In: Ders.: gendes Beispiel sei außerdem noch verwiesen auf das Gedicht Ein bißchen unsterblich. Schwäbische Profile. Tübingen 1996, D Jüdana von Buacha!, das in seinem zweiten Gedichtband noch- S. 49-59; hier: S. 59. einmal abgedruckt wurde. 2 Norbert Feinäugle: Beobachtungen und Überlegungen zum 16 Georg Holzwarth: Zongaschläg ond Bruzlbäum. Stuttgart 1996, Stellenwert der Mundartliteratur in der Region. In: Eva-Maria S. 57. Schmitt/Achim Thyssen: Einstellungen und Positionen zur 17 Norbert Feinäugle: Mundartdichtung in Württemberg seit 1945. Mundartliteratur. Internationales Mundartarchiv „Ludwig Reutlingen 1991, S. 92. Soumagne“ des Kreises Neuss 1992. Frankfurt am Main 1993, 18 Ebd. S. 48. 19 Norbert Feinäugle: Beobachtungen und Überlegungen zum 3 Hermann Bausinger: wie Anm. 1, S. 283 Stellenwert der Mundartliteratur in der Region. In: wie Anm. 4 Ebd., S. 287. 2, hier: S. 23.

191 „Duifer äckra....“

Dichter und Denker

„Do braucht mr sich net verstecken, wenn man Schwabe ist. I mecht saga, viel bewußter die Sache auf der Zunge traga. Denn der Bayer dud sich au net mit seim Dialekt irgendwie komisch vorkomme, sich verstecka. Schwäbisch ghert viel mehr in Vordergrund grückt. Do komme so gscheite Leit her. [Frage: Wer?] Ha, unsere Dichter und Denker. Wo wohnt denn unser Schiller? In Marbach drunten. Also, der wird doch in der ganzen Welt zitiert. Techniker, Erfinder, gute Unternehmer!“

(Straßenumfrage in Stuttgart: Mann, ca. 60 J.)

192 Schwabentum als Performance

Katrin Wilkens

Schwabentum als Performance

Dr. Ulrich Keuler – Ein Portrait

Über Keuler:

Dr. Ulrich Keuler. Kabarettist und Komiker. Gebo- „Keuler ist so wie Matthias Richling. Nur im Gegensatz ren: 1952. Aufgewachsen in Wendlingen. Studium der zu ihm ist er ein richtiger, echter Schwabe und er hektikt Rhetorik, Germanistik und Empirischen Kultur- auch nicht so rum. [...] Politisch ist er eigentlich nicht, die wissenschaft in Tübingen. Anbetung einer Markklößchensuppe ist wohl eher 1980 die erste eigene Platte: Zuwiderhandelnde werden von gesellschaftskritisch.“ unseren Saalordnern geschunkelt. (Johannes Ö., 42, Gymnasiallehrer, ledig, 1 Kind, Badener) Er ist der Vorzeige-Künstler, wenn es um Schwa- ben-Fragen geht, gehört er doch seit Jahren zum Tü- „Keuler ist wohl mehr was für junge Leute, ich kann binger Lokalkolorit, wird geliebt und gefeiert und ist nicht soviel mit ihm anfangen. [...] Warum? Weiß ich in der Kabarett-Szene eine feste Schwaben-Größe. Er auch nicht, irgendwie finde ich das nicht so aufregend, ist sozusagen fleischgewordene Prominenz für unsere wenn er schwäbische Schnäppcheneinkäufer beschreibt, die Leitfrage: Was ist ein Schwabe? bei ihrer Suche nach günstigen Schnäppchen alphabetisch Die Kompetenz des Berufsschwabens Keuler soll vorgehen.“ uns bei dieser Suche auf eine humorvoll enttarnende (Georg K., 53, KFZ-Meister, verheiratet, 1 Kind, Schwabe) Weise helfen. Soll – aber will nicht! Denn Uli Keuler tut sich mit dem „gemeinen Feld-Wald-und-Wiesen- „Ich würd’ sagen, er trifft die schwäbische Spätzles- Schwaben“ genauso schwer wie wir. Zwar schwäbelt mentalität sehr gut [lacht] und versucht das irgendwie er auf der Bühne so stark, daß es den Norddeutschen wiederzugeben, [...] ich weiß nicht, ob der Humor z.B. in glatt die Schuhe auszieht, aber auf Klischees und Ste- Norddeutschland ankommen würde.“ 2 reotype läßt er sich nicht festlegen. Im Gegenteil, steckt (Student; Uni-Radio-Sendung über Uli Keuler, 1995) man ihn in die Schwaben-Schublade, fühlt er sich „ekla- Fragt man die Leute auf Tübingens Straßen nach Uli tant mißverstanden“. Sein Publikum stört sich an die- Keuler, fällt den meisten etwas zu ihm ein: Kabarettist sem nur scheinbaren Widerspruch nicht. Im Gegen- und Komiker; manche wissen, daß er über Häberle teil: und Pfleiderer promovierte, wenige kennen seinen Wohnort Mähringen und lediglich „Rei’gschmeckten“ „Uli Keuler? Das ist der mit der Geli und dem Bergstei- sagt er in der ersten Zeit nichts. Uli Keuler kennen im ger. [...] Bringt die Sachen, weil er so todernst bei der nicht-schwäbischen Raum nur Insider. Die Schar de- Sache ist, saukomisch rüber.“ 1 rer, die seinem Dialekt auch im „nicht-schwäbischen (Anita G., 32, Bürokauffrau, verheiratet, 2 Kinder, Schwäbin) Ausland“ lauschen, wächst allerdings beständig.

193 Schwabentum als Performance

„Das ist doch heute schick, Kabarett im Dialekt vorzu- tragen. Dabei ist es völlig egal, wo der einzelne Komiker herkommt und wo er seine Wurzeln her hat, Hauptsa- che, es wird nicht hochdeutsch vorgetragen. [...] Die Schwa- ben müssen da mit ihrem witzigen Dialekt sicher viel leiden, denn sie werden häufiger als jeder andere Stamm nachgemacht, selbst die Sachsen werden da sprachlich weniger verarscht.“ (Sascha H., 23, Soziologiestudent, ledig, Hesse)

Mit Keuler:

Uli Keuler – ein Schwabenkomiker? Er selbst hat eher Probleme den „typischen Schwaben“ zu beschreiben:

„Häufige Merkmale sind, daß er zwei Augen hat, eine Nase, einen Mund, zwei Ohren, dann unterschiedliche Geschlechtsmerkmale, genaueres würde ich da nicht sagen können.“ 3

Auch er selbst läßt sich ungern als „Schwabenkomiker“ bezeichnen. Im Gespräch mit uns distanziert er sich deutlich vom Bild des kabarettistischen Strategen, der Uli Keuler um des schnöden Erfolges willen seinen Dialekt pflegt: eine Brot backt man mit Kümmel und das andere Brot „Und es ist bei mir auch so [...] und das möchte ich backt man mit Anis, hat man etwas, das sich im Nähr- behaupten, macht meinen Erfolg mit aus: Ich überlege wert sehr, sehr ähnlich ist, auch im Grundaufbau, und nicht, was da jetzt irgendwie typisch schwäbisch sein könnte, nur weil ein relativ markant schmeckender Stoff anders sondern ich überlege mir etwas, was mir in meinem eige- ist, glaubt man, man hätte es mit etwas völlig anderem nen Alltag aufstößt oder auffällt und mach’ daraus einen zu tun. Also, ich fühle mich durch dieses ’auf ‘s Schwä- Text. Ich versteh’ also auch gar nicht ganz, wie man das bische festgelegt werden’, da oft ganz eklatant mißver- so eng bei mir festlegen kann.“ 4 standen.“ 5

Er will, so sagt er, ganz alltägliche Szenen spielen, nicht Ein schwäbisch sprechender Komiker, der sich miß- so sehr, um den Schwaben zu thematisieren, als viel- verstanden fühlt, wenn man ihn als Schwabenkomiker mehr durch die Verwendung des Dialekts den Alltags- bezeichnet? Der sich selbst als eingefleischten Schwa- bezug zu verstärken. „Ich habe mal einen Sketch ge- ben sieht – „Ha, i kann’s ja kaum leugne, gell?“ – und habt, wie ein Mann in eine Griesklößchensuppe ver- auch als wichtigste Kriterien für Schwabenidentifikation wandelt wird. Ja was soll daran typisch schwäbisch Dialekt und Region nennt? Es klingt so ein wenig nach sein?“, ruft er dann mit gespieltem Entsetzen aus: „Schwabe werden ist nicht schwer, Schwabe sein da- gegen sehr“. Ist es nun Klischee, Tradition, Werteüber- „Ich möchte das mal vergleichen: Wenn man z.B. ein lieferung, Vorurteil, daß sich die Schwaben mit ihrer Brot nimmt und man verwendet die gleichen Grundstof- Identifikation nicht so sehr nach draußen wagen, wie fe, also, was so in ein Brot alles hineinkommt, und das

194 Schwabentum als Performance z.B. die vor regionalem Selbstwertgefühl nur so strot- so. [...] Das wirkt zunächst freundlicher, wirkt offenherzi- zenden Bayern? ger, aber jeder, der hier lebt, weiß, daß das nicht so ge- Es ist ein zerissenes Bild, das man vom Komiker meint ist, sondern daß das ein Stil ist. [...] Das wird uns Keuler bekommt: Vordergründig benutzt er auf der denn oft als Unehrlichkeit unterstellt. [...] Also, das hat Bühne Klischees, verkörpert sie, spielt mit ihnen, jon- was damit zu tun, daß wir halt hier einen anderen Stil gliert. Seine Witze beruhen meist auf einem krassen, pflegen, den jeder, der hier in der Region lebt, auch ver- überzeichneten Alltagsbild, das „dialektisch“ vorgetra- steht. So wie jeder Norddeutsche versteht, wenn jemand gen, an Komik noch zusätzlich gewinnt. ihm also nicht gleich furchtbar freundlich kommt, also nicht gleich was persönlich gegen ihn hat. Aber das ist eben „Aber wenn man jetzt mal diesen Bergsteiger [einer sei- das Fatale an diesen Stereotypen, daß Stile auf den ner Sketche; Anm. d.Verf.] nimmt, der bezieht ja seine Charakter übertragen werden. Weil ich jetzt also et- Komik aus dem Zusammenprall zwischen völlig trivia- was verbindlicher wirke als jemand aus Norddeutschland lem, verhocktem Alltäglichem, an einem ganz langweili- im ersten Kontakt, und da mag jetzt noch nicht einmal gen Alltag, den man überall findet in modernen Gesell- eine Rolle spielen, wie ich mich wirklich verhalte, sondern schaften, wo man halt im Büro schafft und keiner größe- auch der Dialekt selber, was man da für Vorstellungen ren, körperlichen Gefahr ausgesetzt ist und diesem aben- damit verbindet, daß das eh schon als kleine, nette Sache teuerlich, leicht esoterisch-philosophisch angehauchten gilt, da muß ich noch gar nichts Nettes sagen, und ich wir- Abenteurertum – das macht die Komik dieser Sache und ke schon nett. Daß man dann, wenn man diesen Stil pflegt, der Dialekt ist höchstens noch eine zusätzliche Würze die Leute das auf den Charakter übertragen und glauben, oder eine Farbe.“ 6 ich bin so.“ 8

Andererseits vertritt Keuler in Interviews den „kor- rekten“ Umgang mit Klischees und Streotypen: Er er- innert an seine gleichmachende und damit der Sache Von Keuler: nicht gerecht werdende Wirkung. Klischees sind für Keuler, wenn sie auf der Bühne zweckentfremdet wer- den, ein legales Arbeitsmittel, weil sie durch die künst- Auch in seiner Doktorarbeit setzt sich Keuler mit dem lerische Verfremdung keine Diskriminierung darstel- Widerspruch auseinander, zwar als Schwabe angese- len, sondern Witz und Pointen hervorbringen und – hen zu werden, aber selbst keiner sein zu wollen. Keuler im besten Fall – die Leute zum Nachdenken über ih- untersucht die beiden Komiker Häberle und Pfleiderer ren eigenen Gebrauch von Stereotypen anregen. Pri- und vertritt die These, daß ein Klischee in Witzen hilf- vat allerdings lehnt er sie ab: reich sein kann, aber dennoch ein Konstrukt bleibt, das mit der Realität wenig gemein hat. „Wenn ich sage, der ist Schwabe, weil seine Vorfahren Die Komik des unterschiedlichen Paares Häberle hier leben und der ist Nicht-Schwabe, weil sein Vater in und Pfleiderer beruht nicht auf dem schwäbischen Istanbul geboren ist oder in Anatolien, dann wird’s schon Stammescharakter (die erste Szene, in der sich die komisch, gell?“ 7 Grundkonstellation wiederfindet, stammt aus Ungarn), sondern auf dem krassen Gegensatz der beiden Ko- Dieser Widerspruch läßt ahnen, daß Keuler sehr vor- miker. Trotzdem – schwäbische Stereotypen und Kli- sichtig und sparsam mit Stereotypen umgeht. Daß trotz- schees „machen die Welt kleiner und überschaubarer“, dem viele in ihm einen Komiker sehen, der „die Schwa- pflegt er zu sagen. In seiner Doktorarbeit hat er das so ben“ aufs Korn nimmt, weiß er – doch er lebt mit formuliert: dieser Diskrepanz: „Und Stammesvorstellungen gehen weniger von den ob- „Also, es ist in der Tat so, daß in Süddeutschland oder im jektiven Gegebenheiten aus, als von Bedürfnissen, die sich Schwäbischen die Leute zunächst einmal auf Anhieb ver- an objektiven Gegebenheiten entwickelt haben. Man glaubt bindlicher wirken als in Norddeutschland, das ist wirklich

195 Schwabentum als Performance

„Stil“ als bereinigte und damit legalisierte Definition von Stereotyp klingt nach Neutralität und allenfalls nach empirischer Sozialforschung. So sind wir auch nach dem Gespräch mit Uli Keuler nicht weiter gekommen auf der Suche nach einem „echten“ Schwaben, son- dern haben nur herausgefunden, daß er auf der Büh- ne zwar den Dialekt benützt, nicht aber die Vorurteile und Klischees. Sein Witz beruht auf dem „Nicht-fest- legen“ (sonst wäre es gar zu diskriminierend) bei gleich- zeitiger Entblößung vieler, kleiner, menschlicher Schwächen, die auf möglichst viele (also auch Nicht- Schwaben) zutreffen. Und in zumindest einem Punkt – der Kehrwoche – hat er uns dann doch helfen können, die eigenen Vor- Uli Keuler im „Lindenhof“ (1990) urteile zu besiegen: nicht, was man sieht, sondern sieht, was man glauben will.“ 9 „Und das andere mit dem Eigenheim-Bau, da bin ich dann einigermaßen sprachlos, daß das noch niemand auf- Das Stereotyp also als Mittler, das einem hilft, die un- gefallen ist. Beide Stereotype – das soll ja unsere innigste übersichtliche Welt in Schubladen zu ordnen und durch Leidenschaft sein, Kehrwoche zu machen und ein Eigen- Katalogisieren zu vereinfachen. Und als verbindendes heim zu besitzen – schließen sich aus. Ein Eigenheim- Band zu seinem oft schwäbischen Publikum wählt der Besitzer macht keine Kehrwoche. Jetzt könnte ich natür- Schwabe Keuler den Dialekt. Auch wenn es viele ver- lich kommen und sagen, das ist auch wieder so ein Stereo- schiedene Schwabendialekte gibt, wird durch den ei- typ, das ist die widersprüchliche Natur des Schwaben, der nen, gesprochenen Dialekt deutlich getrennt zwischen also verschiedene Dinge unter einen Hut bringt, und auch Schwaben und Nicht-Schwaben. Das hat nicht nur den diese Gegensätze vereinigt. Aber das wäre denn doch ein Grund, daß Keuler, wollte er „akzentfrei hochdeutsch“ bißchen eine faule Ausrede.“ 11 reden, „wie ein Dackel“ einen Sketch üben müßte, „um ihn dann einigermaßen „hingebügelt“ zu kriegen.

„Grundsätzlich“, so schreibt er in seiner Disserta- tion, „besitzt ein Dialekt Gebrauchswert als Kommuni- kationsmittel und Prestigefunktion als Sprache einer be- Anmerkungen stimmten Region. [...] Zugespitzt formuliert: Die Region wird nicht durch die Akteure repräsentiert, sondern durch ihre Mundart. Die regionale Einheit steht und fällt mit 1 Folgende Kurz-Interviews wurden am 30. Juli 1996 auf dem Tübinger Marktplatz durchgeführt. dem sprachlichen Ausdruck. [...] Der Dialekt ist Spie- 2 Hier beziehe ich mich auf eine Uni-Radio-Sendung vom 9. gel und Plakat zugleich für das „wir“-Bewußtsein der Februar 1996. Bewohner einer Region und die „Rollenerwartungen“, die 3 Interview mit Uli Keuler am 14. Februar 1996. von außen an sie herangetragen werden. [...] Der Dia- 4 Ebd. lekt macht die Welt kleiner, rührt an Sehnsüchten nach 5 Ebd. 6 Ebd. Wärme, Geborgenheit, Unmittelbarkeit, Heimat. Und 7 Ebd. er stellt ein Einvernehmen her zwischen den Akteuren 8 Ebd. und einem breiten Publikum. Sein Gebrauch besagt: Es 9 Ulrich Keuler: Häberle und Pfleiderer. Zur Geschichte, Machart geht ums Gewöhnliche, Unspektakuläre, um die Angele- und Funktion einer populären Unterhaltungsreihe. Tübingen 1992, S. 155. genheit der kleinen Leute, kurz: um eure Angelegenhei- 10 Ebd., S. 150. ten.“ 10 11 Interview mit Uli Keuler am 14. Februar 1996.

196 Tatort Württemberg

Ralph Winkle

Tatort Württemberg

Schwabenbilder im zeitgenössischen Kriminalroman

Mord und Totschlag in Schwaben Zahlen, die das Klischee vom „braven, biederen Schwa- ben“ untermauern und das Bild vom vorbildlichen „Musterländle“ auf den Bereich der sittlichen Ord- 1995 wurden in Baden Württemberg 579.325 Strafta- nung ausdehnen? Ein Beweis, daß an Klischees und ten bekannt und statistisch erfaßt, darunter 377 Fälle, Vorurteilen doch auch „immer etwas dran“ ist? Zahlen- die unter der Rubrik „Mord und Totschlag“ (147 Mor- spiele dieser Art können – wenn überhaupt – nur das de und 230 Fälle des Totschlags) in die Statistik ein- Oberflächenphänomen des schwäbischen Sozialcharak- gingen. 1994 wurden 444, 1993 429, 1992 408 und ters erfassen, bleiben aber für die Hintergründigkeit 1991 355 Straftaten begangen, die als Gewaltverbre- der schwäbischen Mentalität blind. Daß der Schwabe chen mit letalem Ausgang registriert wurden. Ein Ver- aggressive, gar kriminelle Potentiale eher „helinge“ aus- gleich mit den entsprechenden Kriminalstatistiken an- agiert und er durchaus rabiat sein kann – wenn auch derer Bundesländer bzw. mit dem Bundesgebiet ins- meistens in sehr sublimierter Form –, läßt sich an gesamt ergibt folgendes Ergebnis: Von allen statistisch schwäbischen Autoren eines populären Genres aufzei- erfaßten Bundesländern hatte Baden-Württemberg gen: dem zeitgenössischen Kriminalroman. 1991 die drittniedrigste Mord- und Totschlagsrate. Auch 1992 und 1993 Während die Verstöße gegen die so- lag Baden-Württemberg mit 4,1 und ziale und rechtliche Ordnung in Baden- 4,2 Mord- bzw. Totschlags-Fällen pro Württemberg deutlich unter dem Bun- 100.000 Einwohner deutlich unter desdurchschnitt liegen, wird im Schwä- dem Bundesdurchschnitt. Diese Ten- bischen die Liebe zu fik-tionalisiertem denz setzte sich auch im folgenden Mord und Totschlag intensiv gepflegt. Jahr fort. Mit 3,7 Fällen im gleichen George Bernard Shaws Diktum, die Proporz hatte das ‘Musterländle’ Deutschen hätten für zweierlei kein Ta- 1995 die viertniedrigste Mord- und lent: für die Revolution und für den Totschlagsrate. Betrug der Bundes- Kriminalroman, wurde – was die Re- durchschnitt in diesem Jahr 4,8 Fälle volution angeht – 1989/90 von den auf 100.000 Einwohner, so lag Ba- Bürgerprotesten in der DDR und – was den-Württemberg mit 3,7 Fällen um den Kriminalroman betrifft – u.a. von ein wesentliches darunter. schwäbischen Autoren wie Felix Huby und Fred Breinersdorfer widerlegt. Mit

197 Tatort Württemberg

Begründung der rororo-Thriller-Reihe 1962 hat der lorener Ehre von 1786 nicht nur als erster die Gattung Verlag so etwas wie eine Tradition des „neuen deut- der Novelle in Deutschland populär, sondern auch Ver- schen Kriminalromans“ geschaffen. Exakte Daten brechen und Verbrecher zum Gegenstand literarisch- bezüglich der Marktanteile von Autoren mit Wohnsitz moralischer Reflexionen gemacht. Neben Kleist, E.T.A. in Baden-Württemberg wollte der Rowohlt-Verlag, der Hoffmann, Hebbel und der Droste haben die Schwa- u.a. Felix Huby, Fred Breinersdorfer und Uta-Maria ben Eduard Mörike und Wilhelm Hauff diese Traditi- Heim verlegt, nicht mitteilen. Nach Informationen der on fortgesetzt.3 Presseabteilung des Rowohlt-Verlags befinden sich ge- nannte Autoren mit den Verkaufszahlen ihrer Bücher aber im oberen Drittel der in der Reihe verlegten Kri- mis. Schwäbische Krimis

Die aus Baden-Württemberg stammenden Krimi- autoren und -autorinnen zeichnet aber nicht nur der Immer wieder wird in der deutschen Kriminalliteratur Erfolg auf dem Absatzmarkt, sondern auch der regio- gerade die schwäbische Provinz zum Schauplatz lite- nale Bezug ihrer Werke aus – zwei Phänome, die mög- rarischer Verbrechen. Kriminalität und schwäbisches licherweise in Zusammenhang miteinander stehen. Milieu verdichten sich nicht nur bei den Erfolgsauto- Kein Wunder also, wenn die Krimiautorin Irene Rodian ren Huby, Heim und Breinersdorfer zu einer litera- vom zeitgenössischen deutschen Kriminalroman be- risch brisanten Mischung. Neben den literarischen hauptet, er habe „sehr wohl ein eigenes klares Profil Hauptfiguren der genannten Autoren und Autorinnen und das heißt mit wenigen Ausnahmen: Provinz.“1 gibt es noch eine ganze Reihe anderer Krimi-Helden, die nicht nur Morde und andere Verbrechen aufklä- Ob dies freilich eher einem Stigma oder doch einem ren, sondern auch literarische Einblicke in schwäbi- Markenzeichen gleichkommt, darüber sind sich die sche Regionen und Charaktere geben. Liebhaber des Genres uneinig. Fest steht, daß im ‘schwäbischen Krimi’ die Liebe zu provinziellen Struk- Fred Breinersdorfer kommt in zahlreichen Romanen turen dominiert und der literarische Kontrast zwischen ohne dick aufgetragenes Lokalkolorit aus; sein Held, Verbrechen und regionalem Milieu bei fast keinem der Jean Abel, hat aber in Tübingen Jura studiert und ver- in Baden-Württemberg schreibenden Autoren und Au- dient als Privatdetektiv in Stuttgart und Umgebung torinnen ausgespart bleibt. Jochen Schmidt, ein Chro- seinen Lebensunterhalt. Seine Erkundungen des Stutt- nist des Genres, hat darauf aufmerksam gemacht, daß garter Milieus rufen beim eingeweihten Lesepublikum erstaunlicherweise die Rhein-Ruhr-Region – ganz im Wiedererkennungseffekte hervor. Auch der Schriftstel- Gegensatz etwa zum Neckar-Bodensee-Gebiet – ler Roland Abele schickt seinen Privatdetektiv Klaus Reiche im Stuttgarter Großstadtdschungel auf „Autoren und Werke dieser ganz im lokalen Kolorit ver- Verbrecherjagd, während der Krimiautor Albert Ger- wurzelten Art praktisch nicht hervorgebracht [hat]. Das hard zwar die Schwabenmetropole zum Schauplatz ei- Ruhrgebiet scheint sich mit Fernsehserien zu begnügen; ner inzestuösen Mutter-Sohn-Beziehung werden läßt, vor dem Duisburger Schmuddelkind Schimanski hatte Mord und Totschlag aber ins ferne Griechenland ver- es bereits ein gewisser Haverkamp aus Essen zu einiger legt. In Der Schrei wird die Tochter eines schwäbischen Popularität als Fernsehkommissar gebracht.“ 2 Babystrickwaren-Magnaten zum Opfer eines Mordan- schlags; und weil sie sich zuvor sowohl mit einem Daß vielleicht nicht gerade die Wurzeln des schwäbi- Böblinger Eissalonbesitzer als auch mit einem Reut- schen Kriminalromans, aber doch der Hang schwäbi- linger Zahnarzt auf amouröse Abenteuer einließ, ge- scher Autoren zur Thematisierung des Verbrechens bis rät ihr Ehemann in den Verdacht, seine untreue Ehe- zum Klassiker Friedrich Schiller zurückreichen, sei hier frau ins Jenseits befördert zu haben. Das kriminalisti- nur am Rande erwähnt. Der Dichterfürst aus Marbach sche Nachspiel hat Stuttgarter Wachstuben und Ge- am Neckar hatte nämlich mit seinem Verbrecher aus ver- richte zum Schauplatz. Und erst in jüngster Zeit hat

198 Tatort Württemberg die Nachwuchsautorin Heike Pontius in ihrem Roman durch die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. Ums ganze Leben 4 einmal mehr die Schwabenmetropole Auch andere Krimiautoren greifen dieses Motiv auf. zum Operationsfeld der Russenmafia und skrupello- Thomas Geidel ist Autor eines „Filder-Krimis“8, in ser Organhändler gemacht. dem es um einen verschwundenen Kraut-Manager geht. Mord in Ulm oder Nette Leute in Ulm verraten schon Und auch Martin Walser, der Schreiber mit dem natio- im Titel die Tatorte mit schwäbischer Präzision geplan- nalen Gewissen, hat mit seinem schlitzohrigen Detek- ter und ausgeführter Verbrechen. Luisa Ferber, die tiv Thassilo S(okrates) Grübel eine Figur hervorge- Autorin dieser Krimis, ist zwar eine gebürtige Frank- bracht, die Gottes paradiesische Auen um den Boden- furterin, zu literarischen Morden wurde sie aber erst see als ureigenstes Jagdrevier betrachtet. inspiriert, nachdem es sie in die schwäbische Provinz verschlagen hatte. Ein Meister der Charakterisierung Das Schwäbische und das Mörderische bilden bei all provinzieller Milieus ist Kay Borowsky. Er zeichnet in den angeführten Autoren und Autorinnen einen mehr seinen Kriminalromanen die Physiognomie einer oder weniger engen Konnex – entweder biographischer schwäbischen Universitätsstadt, die aufgrund der de- oder/und literarischer Art. Darüber freilich, ob die in taillierten Porträtierung dem Kenner der Topographie der schwäbischen Kriminalliteratur verübten Verbre- leicht als Tübingen erkennbar ist. Die literarischen chen als eine symbolische Kompensation der sonst als Helden seiner Krimis kennen diesen Ort wie ihre We- ziemlich brav und bieder verschrieenen Schwaben fun- stentasche. Ein Großteil der Handlung von Schnee fällt gieren, kann hier nur spekuliert werden. Und auch die auf die Hüte 5 besteht in der Schilderung der rituellen Hypothese, daß die sprichwörtliche Prädestination der Streifzüge des Studenten Kirrmaier durchs Alltägliche Schwaben zu Ordnung und Anstand auf einer und Überschaubare der schwäbischen Universitätsstadt. psychodynamischen Verdrängungsleistung basiert, die Im Koordinatensystem des heimelig Idyllischen klafft sich in literarischen Phantasien von kriminellen aber im Augenblick des Mordes eine rätselhafte Leer- Ordnungsverstößen Luft macht, erscheint zu spekula- stelle, die nicht nur den gemütlichen Rhythmus des tiv, als daß sie hier weiter verfolgt werden soll. Gezeigt studentischen Alltags aus dem Takt bringt, sondern werden kann indessen nur, daß Schwabenbildern im auch das inwendig Vertraute unheimlich werden läßt. zeitgenössischen Kriminalroman eine literarische Funk- tion zukommt, die den Gegensatz von Idylle und Ver- Eine andere Autorin, Lydia Tews, ist für den Krimi- brechen inszeniert. Der ‘schwäbische Krimi’ bringt ten- Fachmann Jochen Schmidt Beispiel für „die Gemüt- denziell zwei vermeintliche Gegensätze zusammen, was lichkeit der Provinz“6 als literarisches Motiv. Sie selbst die Spannung zwischen den Polen Moral und Verbre- schreibt über ihre Beziehung zu den Orten ihrer chen, soziale Ordnung und Gesetzesbruch auf die (li- fiktionalen Verbrechen: terarische) Spitze treibt. Kurz: Während bereits im London Sherlock Holmes’, später im Paris Maigrets „Meine Geschichten spielen im Kleinstadtmilieu. Dort und Nestor Burmas und erst recht in den amerikani- siedle ich ein soziologisch überschaubares Beziehungsgeflecht schen Metropolen eines Philip Marlowe oder Mike mit seiner Vetternwirtschaft an, in das sich der Leser Hammer das Verbrechen etwas gewohnt Alltägliches leicht hineinfühlen kann. Es soll Modellcharakter ha- ist, weil die Großstädte als Brutstätten der Gewalt den ben. Unbestimmt auch nach dem Motto: Wenn es in Keim moralischer Verwerflichkeit immer schon in sich einer vermeintlich heilen Welt schon so zugeht, wie sieht tragen, gerät ein Mordfall in der schwäbischen Pro- es dann erst im Großen aus?“ 7 vinz unter der Hand der aufgeführten Autoren und Autorinnen nicht selten zum Einbruch jenseitiger, näm- Konsequent nimmt die Autorin den ersten Fall ihrer lich großstädtischer Gewalt in eine stilisierte Idylle. Ein Heldin, der Leiterin der Stuttgarter Mordkommission literarischer Kunstgriff, der Schmunzeln provoziert, Elfride Schuhmann, zum Anlaß für einen Streifzug gerade weil er stereotypisierte Bilder von schwäbischer durch die alternative Szene. Sie läßt ihre Heldin bei Kleinbürgerlichkeit in einen Kontext verschiebt, in dem Aussteigern aus der Leistungsgesellschaft vorbeisch- hinter der Fassade zur Schau getragener Anständig- auen und diskutiert die Bedrohung ländlicher Idylle

199 Tatort Württemberg keit Abgründe klaffen und so die Doppelmoral der theker das Leben. Er wird das Opfer eines als Suizid Akteure entlarvt wird. getarnten Mordes – die Parallelen zu Stammheim sind gewollt augenfällig.

Den Kontrast zwischen schwäbischer Behäbigkeit und Schwaben im Krimi einer bedrohlichen Außenwelt, die in Form von Ver- brechen die heile Welt schwäbischer Klein- und Groß- städte aus dem Lot bringt, inszeniert Huby durch den Zwischen klischeehafter Stilisierung und kriminolo- sogenannten „Glausereffekt“: gisch-literarischer Durchleuchtung schwäbischer Cha- raktere pendeln die Polizistenromane des Ex-Spiegel- „Der Schweizer Friedrich Glauser schuf die Gestalt des Reporters Eberhard Hungerbühler alias Felix Huby. Berner Fahnderwachtmeisters Studer, der als Amtsper- Er hat 1977 mit dem Roman Der Atomkrieg in son sich des Hochdeutschen bedient, aber immer dann, Weihersbronn 9 zugleich den Stuttgarter Hauptkommis- wenn er als Mensch und nichts sonst zu Wort kommt, in sar Ernst Bienzle geschaffen, der so schwäbisch ist, seinen Dialekt, ins Schwyzerdütsch verfällt. Hier findet „daß er vermutlich auch noch im Dialekt träumt“10. nun immer ein reizvolles Wechselspiel zwischen den bei- Huby typisiert durch den Kontrast von Hoch- und den Lebensbereichen in der einen Person statt. Bei Glauser Dialektsprache. Des Schwaben Bienzles Lieblings- kommt der gutwillige Mensch Studer immer wieder mit spruch in schwierigen Situationen „Oh, du liabs der Rolle des Polizisten in Konflikt – und dies nicht so Herrgöttle von Biberach“ hat sich während über zehn sehr für sich als für andere. Eben dadurch, daß er als Jahren und circa zwölf Kriminalromanen nicht geän- Mensch erscheint, verwirrt er die, die nur erwarten, in dert, nur pflegt sein Autor die Fortsetzung dieses Spru- ihm dem Beamten zu begegnen.“ 15 ches „wie hent di d’Mucka verschissa“ in den späten Romanen nur noch selten mitzuteilen. Die Fälle, die Der „Glauser-Effekt“ besteht in der Spaltung des der Stuttgarter Kommissar – vom Autor selbst zum Helden zwischen Person und Funktion, zwischen dem Nesenbach-Maigret geadelt, denn „Stuttgart liegt am fast ‘lyrischen’ Ton in der Darstellung regionaler Cha- Nesenbach und nicht am Neckar, wie viele glauben“ 11 raktere und der ‘Prosa’ krimineller Verhältnisse. Es gibt – zu klären hat, sind nie wirklich weltbewegend, son- den übergreifenden Staat, dessen Gesetzen der Beam- dern eher bescheiden. Das heißt nicht, daß die Verbre- te gehorcht, und die Region, die den Menschen formt. chen weniger scheußlich wären, auch wenn sie sich ge- In diesem Spannungsfeld gewinnt auch der schwäbi- genüber Sex-and-crime-Stories des hard-boiled-Krimis sche Hauptkommissar Bienzle an Glaubwürdigkeit. ‘idyllischer’ geben. Beim Atomkrieg in Weihersbronn 12 werden schwäbische Trollingerreben durch radioakti- Aber nicht nur sprachliche Eigentümlichkeiten, son- ven Atommüll und eine Kleinstadt durch die Erpres- dern auch ein schwäbischer Dickschädel machen das sungsversuche von als Idealisten getarnten Ganoven Profil der literarischen Figur aus. Als Kriminalist ist bedroht. In Tod im Tauerntunnel 13 reichen die Ausläu- Bienzle ein Häretiker, gemessen an den Normen der fer der neapolitanischen Camorra bis in Stuttgarter Vor- klassischen Detektivliteratur. Die herkömmlichen Prot- orte. Und in Sein letzter Wille 14 droht schwäbische agonisten dieses Genres zeichnen sich aus durch die Filzokratie einer Kleinstadtidylle den Garaus zu ma- an wissenschaftlichen Modellen erprobte Methode der chen. Das Unheil erscheint in Form von Betonklöt- Abduktion, mit der sie die noch so vertracktesten Fäl- zen, die anstelle altehrwürdiger Häuser überall und le zu lösen pflegen. Bienzle, der ein grundsätzliches eben auch in einer schwäbischen Kleinstadt hervor- Mißtrauen gegen alle „Großkopfeten“ und damit ge- sprießen. Ein Apotheker weigert sich, sein Anwesen gen die streng logischen Methoden der modernen Kri- zu verkaufen – nicht aus Geldgier, sondern aus Prin- minalistik hegt, kommt dem Verbrechen durch die Dia- zip: Er ahnt etwas von den Intrigen und der Korrupti- lektik von Geduld und Intuition, schwäbischer on im Baugewerbe, worin der Oberbürgermeister des Schlizohrigkeit und einem „G’spür für’d Leit“ auf die Ortes die Fäden zieht. Diese Einsicht kostet den Apo-

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Spur: Schwäbische Metis statt kühle Berechnung tri- Das Diktum des Kriminalautors Thomas Andresen, umphiert am Ende der Hubyschen Romane. der „Neue deutsche Kriminalroman“ sei „kritisch: so- zialkritisch, gesellschaftskritisch und verhaltens- Auch für die Kriminalautorin Uta-Maria Heim dient kritisch“22, trifft auf die Schriftstellerin Uta-Maria Heim die pittoreske Darstellung schwäbischer Mentalität und in allen Punkten zu. Ihre Polemik richtet sich nicht des kleinbürgerlichen Milieus als Kontrastfolie für die nur gegen schwäbische Vorder- („So ist’s recht, dachte Verbrechen, die Unordnung in die heile Welt schwäbi- Udo hässig, es herrscht Ordnung im Viertel. Der scher Kleinbürgerlichkeit bringen. Anders als etwa bei Schwabe ist sauber und säuft nur da, wo keiner ihn Huby ist das Verbrechen kein Fremdkörper in einem sieht“23) und Hinter-Gründigkeit („So zwanghaft sonst (seelisch) gesunden schwäbisch-robusten Volks- sauigelig konnten Schwaben sein. Sie hatten ein abso- körper, keine Dissonanz in einer schwäbischen Idylle, lut anales Verhältnis zu ihrem Dreck“24), sondern auch die mit der Aufklärung des Falls durch die Ordnungs- gegen Vetterleswirtschaft und mitunter reaktionären hüter wiederhergestellt werden kann. Oder anders ge- Konservatismus: „Man war sich einig darüber, daß die sagt: Uta-Maria Heim schreibt keine Krimis, in denen Ländlespolizei schlief, weil sie rechtslastig war.“25 „sich mit einer Butterbrezel und einem Trollinger alles wieder ins Lot bringen“16 läßt. Literarisches Sprachrohr dieser Polemik ist Hauptfi- gur und Anti-Held Udo Winterhalter, den es als Jour- Das Verbrechen hat in Heims Krimis die Funktion nalist aus der Provinz in die zwielichte Schwaben- der – freilich ironisch übersteigerten – Demaskierung. metropole verschlagen hat: „Dem eingefleischten Ale- Es dient dazu, hinter der Fassade schwäbischer Klein- mannen ist jeder Schwabe suspekt, schließlich stammt bürgerlichkeit, die zumeist mit den gängigen Stereo- er aus der Gegend bei Schramberg im Schwarzwald, typ der Kehrwoche und der sprichwörtlichen Sparsam- dort hausen noch die schwärzesten Alemannen.“26 Sei- keit („Was für Lore zählte, waren die Kehrwoche und ne Kritik zielt auf die schwäbische Hegemonie im oft- das Geld“17) charakterisiert wird, die Kälte und Kor- mals gespannten Verhältnis der landesgemeinschaft- ruption insbesondere in der Schwabenmetropole Stutt- lichen Ehe zwischen Badenern und Württembergern. gart sichtbar zu machen. In ihrer Trilogie Das Ratten- Aufhänger hierfür ist wieder einmal das genuin schwä- prinzip 18, Der harte Kern 19 und dem dritten Band, der bische Ritual der Kehrwoche: bezeichnenderweise Die Kakerlakenstadt 20 heißt, por- trätiert, oder besser, karikiert sie die Stadt, in der zwi- „Die Große Kehrwoche [...], die Mechanik, nach der dies schen „Schein und Reben“ der „Trollinger und das funktionierte, war zutiefst schwäbisch und von einem ge- Geld“ 21 fließen. Im Wochenmagazin Der Spiegel wurde standenen Alemannen und Schwarzwälder durchaus nicht Heims Debüt-Roman als „Kultur-Dschungelbuch über zu begreifen. Freilich wurde auch bei jenem germanischen die tödliche Wildnis der Kunstmetropole Stuttgart“ an- Stamm, dem Udo entsprungen war, inzwischen jeden gepriesen. Als Schlüsselroman in Verdacht geraten, ver- Samstag die Treppe geputzt; das hatten aber die Schwa- muteten Literaturkritiker reale Personen hinter den li- ben eingeführt, die wie die Schnaken in den Schwarzwald terarischen Figuren, eine heimliche Kulturmafia in eingefallen waren und sich die Urbevölkerung sprachlich Lothar Späths „Musterländle“, die mit product und kulturell unterworfen hatten. Bereits gab es gar Leu- placement und „Kultursponsoring“ in schwäbisch- te daheim in Mariabronn, die sagten statt gsi einfach großindustriellen Interessenverflechtungen die Fäden gwä. Und das war endgültig der Untergang.“ 27 zieht. Die „Schwäbischen Motorenwerke“ galten als Synonym für den Mercedes-Benz-Konzern. In Wirk- Heims „Glossen über die schwäbische Seele“28 sparen lichkeit ist die Stuttgart-Trilogie der Autorin kein nicht an ironischen Verdrehungen: Schlüsselroman, der tatsächliche Verhältnisse in der Landeshauptstadt entlarvt, sondern eine groteske Per- „Auf die Charakterautobahn der Schwaben rasen wir siflage auf die Kulturpolitik der Späth-Ära und die dennoch ab: Auf ihre Schmutzsucht, ihre Verschwen- Schwaben, die sich mit den ihnen zugeschriebenen Kli- dungsgier und ihre Faulheit. Dem kann man sich in der schees nicht selten identifizieren. Ländlesmetropole schlicht nicht entziehen.“ 29

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Sind es in der Winterhalter- Trilogie die ironisch über- spitzten Gegensätze zwi- schen dem mit Marx und Lenin sozialisierten aleman- nischen Journalisten und den mafiösen Machenschaf- ten schwäbischer Sauber- männer, dem latenten Fa- schismus Stuttgarter Rent- ner oder der Putzsucht ver- fallener Vermieterinnen, so lebt der nachfolgende Schwaben-Thriller Der Wü- stenfuchs 30 von den Kontra- sten zwischen den luxuriö- sen Kulturmeilen der „Spätzles-Metropole“, ihrer Synthese zwischen High- Schwabophobe Wurmfortsätze Tech und High-Culture und dem Anarchismus der örtlichen autonomen Hausbe- hänge herstellen noch Aufklärungsarbeit leisten kön- setzerszene, dem Multikulturalismus und den noch nen. Der gesellschaftliche Kontext konkurriert hier mit nicht der Sanierungswut zum Opfer gefallenen Relik- kryptischen Subtexten, der kriminalistische Plot wird ten Stuttgarter Originalität: von Metaebenen überlagert, auf denen bösartige Me- tastasen, schwabophobe Wurmfortsätze nur so ins „Nirgendwo im kehrwochengetrimmten Stuttgart kra- Kraut schießen. chen die sozialen Gegensätze so perfide aufeinander wie im Zentrum der Nesenbachallee, deren stadtzugewandte, Wie Siegfried Kracauer in seinem 1925 abgeschlosse- verslumte Hälfte der Endlösung harrte. [...] Neben dem nen philosophischen Traktat über die damals noch recht Kahlschlag rund um unsern Reanimationsblock, dem junge Gattung bemerkte, Interconti gegenüber, nebst dem benachbarten Pissoir am Ostendplatz und der kulturellen Notdurft bläht sich die „erhält der Verbrecher im Detektivroman“ häufig „das Provinzmetropole zum magischen Ort.“ 31 Gepräge des Exotischen. [...] Der Abkömmling aus je- nen Gefilden, der in unseren Großstädten auf- und unter- Tatsächlich gibt es im deutschen Krimi keine mon- taucht, muß nicht ein Verbrecher sein; seine Funktion ist strösere und hintergründigere Stadt als das Stuttgart vielmehr, die Stimmung des Außerhalb zu erzeugen.“ 34 Uta-Maria Heims. Neben „Maultaschen geschmälzt“32, Trollinger-Idylle und anderen Stereotypen provinziel- Bei der Krimiautorin Heim dreht sich dieses Verhält- ler Strukturen setzt Heim montagenartig harte Kon- nis zwischen Fremdheit und Vertrautheit um. Für den traste, Ungleichzeitigkeiten, die groteske Gegensätze Schwarzwälder Udo Winterhalter ist die Schwaben- entlarven. Die prekäre Idylle wird durch sprachliche metropole Stuttgart eine „Stadt, die er nicht durch- Rhythmen zertrümmert – in Heims Wüstenfuchs33 ver- schaute, deren geheime Gesetzmäßigkeiten er nicht ver- irren sich die Leser in Bilderrätseln und Syntax, so wie stand.“35 Die Schwabenmetropole als „Hochburg des sich ihre Helden und Heldinnen im verfilzten Kaff Kapitalismus“36 ist für ihn mitsamt ihren Bürgern terra der Absprachen und des Unausgesprochenen, der Cli- incognita. Die Autorin verfremdet mit Comic-Sprache quen und ‘G’schäftle’ verirren und weder Zusammen- und Wortkaskaden die schwäbische Provinzmetropole,

202 Tatort Württemberg indem sie Stereotype in surrealen Zusammenhängen Die Überblendung dieser Phänomene, die sich durch konterkariert: alle Krimis von Heim durchziehen, kulminiert in der Identifizierung der Architektur Stuttgarts mit der des „Die Gablenberger Hauptstraße lag an diesem Morgen Stammheimer Hochsicherheitstrakts: da wie die Rue Belleville: verschlafen, verdreckt und kunst- voll. Eingenommen von Arabern und Chinesen, was sich Stuttgart – das ist „alles die gleiche Architektur. Alles bei Manfred Esser und Daniel Pennac nachlesen läßt; eine speckige Parodie auf Stammheim. Stammheim sitzt von Arabern, die im sämigen Dämmer erst einmal einen uns im Nacken, es läßt uns nicht los, es ist das giganti- halben Liter frisches Stierblut tranken, und von Chine- sche Überbewußte, das auf dieser Stadt sitzt wie eine sen, die ihnen selbiges an langen Tresen feilboten, in die- Glocke. [...] Wo man auch hinging, man war und man sen schummrigen Bars mit halb heruntergelassenen Rol- blieb in Stammheim.“ 40 läden, aus denen das Klicken der Flipper drang, der Glücksspielautomaten, dazu diese faden Schwaden aus Uta-Maria Heim, die nach eigenen Aussagen bis auf Sägemehl und Kuhblut.“ 37 den Verlag und den Schauplatz Stuttgart nicht mit ih- rem Kollegen Huby teilt, verwendet in den Beschrei- Heims Thriller sind avantgardistische Arabesken. Die bungen der Tatorte ihrer Krimis Bilder und Stereoty- Figur des Täters, die zentrale Figur des klassischen pe, die auf das Schwäbische projiziert werden. In ih- Krimis, den es zu entlarven und dingfest zu machen ren wie in den Kriminalromanen anderer Autoren und gilt, damit die gesellschaftliche Ordnung am Ende des Autorinnen werden gewissermaßen die Fremd- und Buches wiederhergestellt ist, tritt in ihren Romanen in die Selbstbilder vom Schwaben zu kulturell präfor- den Hintergrund, in den Schatten der Schwaben- mierten Klischees und Stereotypen verdichtet, ironisch metropole selbst, mit ihrem Klüngel zwischen Indu- überhöht und gebrochen. An die Wahrheit über den strie und Politik und der Doppelmoral ihrer Bürger. Schwaben aber – kurz und schwäbisch – „kommt mr Das Bild eines im Kessel unter der Dunstglocke von net dran“. Sommersmog und Brauereischwaden liegenden Stutt- gart wird bei Heim überblendet mit dem Bild der „blei- ernen Zeit“ der 70er Jahre, für das bei ihr das Schlüs- selwort Stammheim steht. Gleichzeitig verschmilzt Anmerkungen darin das Motiv der Behäbigkeit schwäbischer Menta- lität mit der pietistischen Strenge und dem latenten provinziellen Faschismus: Die Schwäbin Gerda Mau- 1 Irene Rodian: Profil des deutschen Krimis: Provinz. In: K. ser z.B. „packte ein faschistoider, zwanghafter Neid, Ermert/W. Gast: Der neue deutsche Kriminalroman. Loccum dem mit Kontrolle nicht mehr beizukommen war“38. 1985, S. 99. Und die zwanghafte Akribie, die die schwäbischen 2 Jochen Schmidt: Gangster, Opfer, Detektive: Eine Typen- geschichte des Kriminalromans. Frankfurt am Main und Ber- Journalistenkollegen Winterhalters auszeichnet, ist sei- lin 1989, S. 617. ner Meinung nach 3 Ebd., S. 552f. 4 Heike Pontius: Ums ganze Leben. Zürich 1996. „nur in der Provinzhauptstadt dieses Ländles möglich. 5 Kay Borowsky: Schnee fällt auf die Hüte. Tübingen 1983. 6 Jochen Schmidt (wie Anm. 2), S. 615f. Wo Aberglaube und Scheinheiligkeit der Anthropo- 7 Lydia Tews: Was steckt hinter einem Verbrechen? In: Ermert/ sophoiden und Pietistoiden ein Klima schufen des Geizes Gast: Der neue deutsche Kriminalroman. Loccum 1991, S.101. und des aquarellierten Schaffertums. Nirgends sonst zahn- 8 Thomas Geidel: Der verschwundene Kraut-Manager. Ein ten die kalte Profitsucht des Geistes und deren Untersei- Filder-Krimi. Stuttgart 1989. 9 Felix Huby: Der Atomkrieg in Weihersbronn. Reinbek bei Ham- te, der reaktionäre Aberglaube dermaßen lückenlos in- burg 1977. einander.“ 39 10 Jochen Schmidt (wie Anm. 2), S. 613.

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11 Felix Huby: Sein letzter Wille. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 7f. 12 Felix Huby, wie Anm. 9. 13 Felix Huby: Tod im Tauerntunnel. Reinbek bei Hamburg 1977. 14 Felix Huby: Sein letzter Wille. Reinbek bei Hamburg 1979. 15 Jürgen Busche: Aus Schwaben. In: FAZ vom 28. März 1978, S. 26 16 Uta-Maria Heim: Die Kakerlakenstadt. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 49. 17 Uta-Maria Heim: Der Wüstenfuchs. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 65. 18 Uta-Maria Heim: Das Rattenprinzip. Reinbek bei Hamburg 1991. 19 Uta-Maria Heim: Der harte Kern. Reinbek bei Hamburg 1992. 20 Uta-Maria Heim (wie Anm. 16). 21 Uta-Maria Heim, (wie Anm. 18), S. 2. 22 Thomas Andresen: Wie man den Dicken aus Düsseldorf zum Mörder macht. Über die Situation der deutschen Kriminalro- manschriftsteller. In: Rudi Korst (Hg.): Der moderne deutsche Kriminalroman 2. Stuttgart 1982, S. 107. 23 Uta-Maria Heim (wie Anm. 19), S. 32. 24 Uta-Maria Heim (wie Anm. 16), S. 134. 25 Ebd., S. 144. 26 Uta-Maria Heim (wie Anm. 18), S. 2. 27 Uta-Maria Heim (wie Anm. 16), S. 109f. 28 Uta-Maria Heim (wie Anm. 17), S. 79. 29 Ebd., S. 94. 30 Uta-Maria Heim (wie Anm. 17). 31 Ebd., S. 52 u. S. 62. 32 Ebd., S. 33. 33 Ebd. 34 Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Frankfurt am Main 1979, S. 82f. 35 Uta-Maria Heim (wie Anm. 16), S. 135. 36 Ebd., S. 116. 37 Ebd., S. 38. 38 Ebd., S. 162. 39 Ebd., S. 107. 40 Uta-Maria Heim (wie Anm. 19), S. 144.

204 Wie Schwabenbilder betrachtet werden können

Silke Strecker

Wie Schwabenbilder betrachtet werden können

Ein Literaturbericht

1. Wo tauchen Schwabenbilder auf? „Selbst wenn wir als Kulturforscher zeigen können, wie Imagined Communities konstruiert sind, gibt uns dies kein Mandat, das Ernsthafte, die Gefühle und das En- „Schwabenbua (27 J., 1,75 m, schlank), naturverbun- gagement zu ironisieren.“ 4 den, romantisch, unkompliziert, sucht nettes Schwaben- mädle für alle Lebenslagen.“ 1

Eine nicht ungewöhnliche Kontaktanzeige, die darauf 2. Betrachtungsweisen verweist, daß auch im privaten Bereich, ja bei der Part- nersuche Vorstellungen vom „typisch-schwäbischen“ eine Rolle spielen, zumindest vorhanden sind. Aber Zum einen halte ich es im Rahmen einer reflexiven auch in ganz anderen Alltagsfeldern sind solche Bilder Wissenschaft5 für legitim, auch Besucher und Besu- präsent und als Orientierungshilfe im Einsatz: Im Tou- cherinnen zu genauer und kritischer Betrachtung un- rismus sowieso, aber auch in den Medien, im politi- serer Ausstellung einzuladen. Zum anderen geht es in schen Diskurs von rechts und links, in unseren2 Straßen- diesem Artikel um Schwabenbilder, die auch oder ge- umfragen, Tiefeninterviews und Telefonumfragen, ja, rade im Alltag anzutreffen sind. Es handelt sich also auch in Ausstellungen beispielsweise über Schwaben- keinesfalls um eine Direktive, die auf einen Blickwin- bilder sind sie nicht nur manifest, sondern auch latent kel festlegen soll; ich möchte vielmehr auf Ambiva- von prägender Kraft; Jonas Frykman hat das einmal lenzen hinweisen und halte es daher für notwendig, zugespitzt so formuliert, daß jede Schrift oder Aus- auch im Alltag immer wieder das scheinbar Selbstver- stellung auch eine Organisation von Erfahrungen oder ständliche eingehenden Beobachtungen und Hinter- Vorausdeutungen bedeute.3 fragungen zu unterziehen. Manche eindimensionale Sicher gibt es noch weitere Kontexte, in denen sol- Erklärungsmuster können zwar das Eigene, Selbstver- che Bilder mehr oder weniger bewußt funktionalisiert ständliche erhärten, stellen sich jedoch weiter reichen- werden. Hierbei werden sie aktualisiert, mit Bedeutung der Erkenntnisabsicht in den Weg oder engen die Sicht geladen und erhalten somit Realitätsgehalt. Bilder, Re- auf die Vielschichtigkeit der Dinge ein. Um das zu gionen oder auch Nationen als Konstrukte zu bezeich- zeigen, reflektiere ich einerseits den fachlichen Dis- nen, sie für mehr oder weniger bewußt „gemacht“ zu kurs6, insbesondere im Hinblick auf Begriffe wie „Kul- halten, bedeutet nicht, diese als falsch oder leer anzu- tur“ und „Region“, andererseits empirisches Material sehen; um mit Orvar Löfgren zu sprechen:

205 Wie Schwabenbilder betrachtet werden können in Form unserer7 teilnehmenden Beobachtungen und Kommunikationsraum, wird außerdem deutlich, daß Interviews. „Region“ kein „geschlossenes System“ darstellt, da sich die „Aktions- und Interaktionsräume verschiedener sozialer Gruppen und auch der verschiedenen Indivi- duen“ unterscheiden und überlagern, jedenfalls nicht 3. Stereotype, Region und Kultur als vor bzw. hinter der Grenze enden.12 Identifikationsangebote

Peter Berger und Thomas Luckmann zufolge kommt 4. Region, Regionalisierung, Regionalismus dem Vorgang der Typisierung bei Interaktionen im Alltag eine wesentliche Funktion bei der Erfassung und Behandlung des Anderen zu. Bereits 1979 stellte Konrad Köstlin auf dem Volks- kundekongreß in Kiel die These auf, daß „Mein Vis-à-vis-Verhalten wird von solchen Typisie- rungen geleitet, solange es nicht dadurch problematisch „in Geschichte und Gegenwart Regionen unter sehr vielen wird, daß der Andere sie über den Haufen wirft.“ 8 Aspekten, von sehr verschiedenen Interessen ausgehend produziert worden sind, von Menschen gemacht worden Typisierung stellt also eine elementare Orientierungs- sind.“ 13 hilfe dar, wodurch die erste Aufnahme eines Kontak- tes ungemein erleichtert werden kann. So lange Typisie- Er stellte außerdem fest, daß Kultur ihre universale rungen nicht durch abweichendes, also unerwartetes Neutralität verliere, sobald sie auf Region fixiert wer- Verhalten des Gegenübers in Frage gestellt werden, de und schloß mit der Bemerkung: bleiben sie zunächst verhaltensbestimmend innerhalb der Situation; ich denke z.B. an das mögliche Treffen „Gerade weil die Interdependenzen größer geworden sind, des Verfassers und einer Leserin der oben erwähnten kann die Domestizierung, die Handlichmachung des Un- Kontaktanzeige. überschaubaren auch leicht als Retusche der Resignation Auch Hermann Bausinger weist auf die integrative verstanden werden.“ 14 Funktion von Typisierung hin: „Stereotypen bewirken eine Ordnung diffusen Materials und damit eine Re- Besonders in den siebziger Jahren verstanden sich duktion von Komplexität“, außerdem bieten sie regionalistische Bewegungen in Europa teilweise als „Identifikationsmöglichkeiten“.9 Auch dem Begriff der Gegengewicht zum Zentralstaat. Ihre Voraussetzun- „Region“ kommt in diesem Sinne eine integrative Auf- gen, ihre Interessen, ihre Ziele und ihr Wirken sind gabe zu, die trotz späterer kritischer Betrachtung sei- jedoch keinesfalls einheitlich.15 Gelegentlich sind es ner „Schattenseiten“ zunächst zu erwähnen ist. durchaus wohlhabende Regionen, die sich abgrenzen, In seinem Aufsatz zum Thema „Region-Kultur-EG“ oder zumindest werbewirksam hervorheben wollen. definiert Hermann Bausinger „Region“ als Kultur- Lothar Baier merkt hierzu leicht polemisch an: raum10, weist jedoch ebenfalls darauf hin, daß es sich bei regionaler Eigenart um eine Zuschreibung sowohl „Der Umstand, daß an einem bestimmten Standort dy- von außen, als auch von innen handle, die der Über- namische Industrien konzentriert sind, wird merkwürdig brückung innerer Unterschiede diene. Deshalb be- kulturalisiert, wenn nicht ethnisiert: Ein ewiges schränkt sich Hermann Bausinger nicht darauf, „Regi- Lombardentum oder Schwabentum soll dafür verantwort- on“ als (Selbst-)täuschung zu interpretieren, sondern lich sein, daß in der Lombardei oder Württemberg mehr er möchte „Region“ vielmehr als „aktuellen Kommuni- erwirtschaftet wird als anderswo.“ 16 kationsraum“ verstanden wissen, in dem Zusammen- gehörigkeit auch ein „Moment der Erfahrung“ der dort Der Zürcher Geograph Benno Werlen bezeichnet po- lebenden Menschen ist.11 Begreift man „Region“ als litischen Regionalismus folgerichtig als „eine zentrale

206 Wie Schwabenbilder betrachtet werden können

Form des alltäglichen Geographie-Machens, wobei little absurd to outsiders, but had and still have great Menschen sowohl Geschichte, als auch Geographie importance for participants. Precisely they are claims to machen. Dies tun sie allerdings nicht unter ‘selbst- identity – given that who we are depends on who ‘we’ gewählten Umständen’.“17 Er weist darauf hin, daß po- were.“ 22 litischer Regionalismus „progressiv“ erscheinen und gleichzeitig „reaktionär“ wirken kann. Aktuelle Dies erinnert uns daran, daß diese Strategie, bei deren Regionalismen seien in enger Beziehung zur Globali- Erscheinung handfeste soziale und ökonomische Pro- sierung zu sehen.18 bleme merkwürdig verblassen, eben durchaus nicht In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig ‘nur’ auf dem Balkan, sondern auch in anderen Teilen im Auge zu behalten, daß Mobilität nicht für alle Men- Europas anzutreffen ist. Doch sei angemerkt, daß Lie- schen die gleiche Bedeutung hat. „Aber bei aller post- der ebensowenig wie Kultur, Region oder Geschichte modernen Dynamik: [...] Die meisten Menschen leben das eigentliche Problem darstellen.23 an einem Wohnort und haben, wenn es gut geht, einen Obwohl es zunächst merkwürdig anmuten mag, von Arbeitsplatz“19, diagnostiziert Hermann Bausinger. derartigen extremen Erscheinungformen, zum Alltag „Fore some living in transit is an adventure, for others zurückzukehren, wie er sich zum jetzigen Zeitpunkt an enforced ordeal,“ ergänzt Orvar Löfgren.20 in (Baden-)Württemberg präsentiert, können auch wir Um nochmals Benno Werlens Argumentation aufzu- uns – trotz aller Distanz und Distanzierungsbemühung greifen: Er fordert, zwischen „Region“ und „Regiona- – nicht als gänzlich unbetroffen von dieser Problema- lismus“ zu unterscheiden. Politischer Regionalismus tik bezeichen.24 könne auf typisierendem Regionalismus aufbauen. Kritisch merkt er abschließend an, daß der zentrale Motor des Regionalismus zwar Identitätsstiftung sein könne, die Erreichung regionalistischer Ziele jedoch 6. Ethnisierung nicht in jedem Fall mit einer Verbesserung der Per- spektiven persönlicher Biographien identisch sei.21 „Daß sich Migranten auf der Basis ihrer regionalen, ethnischen und nationalen Herkunft in Gruppen organi- sieren“, so Gisela Welz, „ist ein in modernen Ein- 5. Separatismen und gewaltsame Konflikte wanderungsgesellschaften innerhalb und außerhalb Eu- ropas seit langem beobachtbares Phänomen. [...] Werden Einwanderer aber von der ‘Gastgesellschaft’ auf eben diese Gewaltsame Separatismen, also Abspaltungsversuche kulturelle Zugehörigkeit, die sie strategisch einsetzen, fest- einzelner Regionen, deren Vertreter auch zu den Waf- geschrieben, spricht man von Ethnisierung.“ 25 fen greifen, um sich vom Zentralstaat zu lösen, sind der Extremfall, der hier (zum Glück) nicht zur Debat- Stuart Hall beschreibt, daß er sich erst als Immigrant te steht. Gleichwohl ist festzuhalten, daß auch in sol- bezeichnete, nachdem ihn seine Mutter quasi auf sei- chen explosiven Kontexten Begriffe wie Kultur, Reli- nen Status aufmerksam gemacht habe: gion und Ethnie im Zusammenhang mit Geschichte ‘bemüht’ und benützt werden. So werden zum Bei- „Ich ging nach England zurück und wurde, was man spiel Lieder aus der Vergangenheit auf eine Art und mich nannte. Sie hatten mich als Immigranten begrüßt. Weise aktiviert, durch die alle dazwischen liegenden Jetzt hatte ich entdeckt, wer ich war. Ich begann, mir die Zeiterfahrungen und Ereignisse irrelevant erscheinen. Geschichte meiner Migration zu erzählen.“ 26 Peter Burke stellt fest: Daß derartiges Bewußtsein auch auf regionaler Ebe- „Like archaeological remains, ballads were and are objects ne anzutreffen ist, ließ sich auch innerhalb unserer of conflicting claims to ownership on the part of different Interviews feststellen. Ein Interviewter27 berichtet: nations, claims which have tended to seem more than a

207 Wie Schwabenbilder betrachtet werden können

„Ich bin überhaupt nicht mit Erwartungen [aus Baden; Von kulturellem Fundamentalismus kann gespro- Anm. d. Verf.] hierhergekommen, daß das anders ist, chen werden, wenn anderes auf Grund seiner Anders- hab dann aber durch das, daß viele Schwaben dann doch artigkeit ausgeschlossen wird, wobei dann Kulturen so ein bißchen stolz sind auf das Schwabe-Sein, [...] die- nicht mehr als Identitätsofferten betrachtet werden, wie ses Badener Zeugs doch hoch[ge]halten. Das war ganz beispielsweise Aleida Assmann postuliert.32 Dies ist komisch, das war natürlich’s meiste nur spaßig, aber’s insbesondere in Kulturräumen möglich, von denen war dann echt so zum ersten Mal, daß mir bewußt wur- behauptet wird, daß sie homogen waren. Ob derartige de, daß Baden-Württemberg aus Schwaben und Badenern Behauptungen einer näheren Überprüfung standhal- besteht.“ ten, ist allerdings eine andere Frage.33

Im weiteren Verlauf des Interviews erwähnt er noch- mals, daß er erst hier auf diese Unterschiede aufmerk- sam geworden sei, und fügt hinzu, daß insbesondere 8. Ausblicke und Schlüsse in der Grenzregion viele Klischees, allerdings „in un- serer Generation nur auf der Witzebene“ zu beobach- ten seien. „Identitätsbildung in regionaler Reichweite vollzieht Eine Interviewte aus Thüringen28, die zu berichten sich zunehmend auf Individualebene“, stellt Heinz weiß, daß es auch bei ihr zu Hause eine Kehrwoche Schilling, der Leiter des Frankfurter Forschungsprojekts gegeben habe, bezeichnet sich inzwischen als integriert, zum Thema „Region“ fest.34 Dieses Projekt versuch- was vor über 40 Jahren noch nicht der Fall war. Sie te, mittels 146 Befragter eine Typologie von Raumbe- fühle sich nun zwar als Esslingerin, Schwäbin aber zogenheiten aufzustellen. Die hierbei aufgestellten könne sie, ihrer Selbsteinschätzung zufolge, jedoch nie Idealtypen wurden als „Lokalpatriot“, „Insulaner“, werden. „Ortloser“, „Weltbürger“, „Mehrörtler“, „Regionutzer“ und „Regionalist“ benannt; der „Regionalist“, der „nicht gemachte Erfahrungen bei einer regionalen Iden- tität eher durch Konstrukte (Geschichte, Menschen- 7. Kultureller Rassismus schlag, Natur bspw. dienen hier als symbolische Füll- masse)“ 35 ersetzte, war also nur einer unter vielen.

Rolf Lindner bemerkt, daß durch die zunehmende Ich möchte nochmals zwei unserer Interviewpartner Regionalisierung, Kulturalisierung und Ethnisierung zu Wort kommen lassen. Ein Befragter36 sagte: politischer Konflikte auch „die dunkle Seite“ des Dis- kurses aufgezeigt worden sei, „dessen Kern die Radi- „Ja, komische Sache, inwieweit man heute überhaupt noch kalisierung von Differenz bildet.“29 Hier werde, so Leute nach so engen Grenzgebieten bezeichnen kann. Also, Wolfgang Kaschuba30, nicht mehr „genetisch“, son- da ist man dabei, Europa zu basteln. Und die Welt dern „kulturalistisch“ argumentiert, werde die wird immer kleiner. Und dann wird’s schwierig, hier so kulturrelativistische Vorstellung von der Einzigartig- Unterschiede zu machen. Und jetzt hier nach Schwaben, keit und Besonderheit und dem Recht auf Existenz Bayern, Hessen zu unterscheiden, das ist eigentlich ziem- jeder Kultur insofern auf den Kopf gestellt, als daß lich witzlos!“ die Unaufhebbarkeit kultureller Differenzen behaup- tet werde. Grenzüberschreitungen, nicht nur im terri- Er wies im weiteren Verlauf des Gesprächs darauf torialen Sinn, würden als Bedrohung der jeweils „eige- hin, daß – abgesehen von Leuten aus anderen Gegen- nen“ Sprache, Religion und „kulturellen Tradition“ den innerhalb Deutschlands oder Flüchtlingen wie sei- dargestellt, durch die das „authentisch Eigene“ in Ge- ner Frau – auch Menschen aus der Türkei, Portugal, fahr sei.31 Mit anderen Worten: Es werden Ängste vor Italien usw. hier lebten, von denen manche besser Überfremdung geschürt. schwäbisch sprächen, als manche Deutschen. Er meint

208 Wie Schwabenbilder betrachtet werden können hier insbesondere den Landkreis Böblingen mit den als auch innerhalb der Wissenschaft hilfreich sein könn- Städten Böblingen und Sindelfingen. te, „Aspekte des Fremden im Eigenen“ miteinzu- Auf die Frage, ob sie glaube, auch ein bißchen beziehen, Befremdliches „in uns zu akzeptieren, und schwäbisch geworden zu sein, antwortete eine Inter- dadurch zu kontrollieren, um es nicht in der Außen- viewte37 schwedischer Herkunft: welt verleugnen oder umbringen zu müssen.“41 In der Absicht, auch auf bedenkliche Seiten der Betonung „Ja, des glaub’ ich. Ich glaube, deutsch und schwäbisch, von Differenz hinzuweisen, bin ich zeitweise recht weite das glaube ich schon. Zuerst rebelliert man vielleicht gegen Wege gegangen. Weil aber diejenigen, die ähnliche manches, und dann, so ganz unmerklich, übernimmt man Argumente in Kontexten verwenden, die keinesfalls dann auch vieles, aber was?“ „im Sinne des Erfinders“ sind, bisweilen noch viel weitere Wege gehen, scheint mir dies jedoch gerecht- Aber was? fertigt. Somit bleibt die Eingangsfrage, wie Schwaben- bilder betrachtet werden können, weiterhin offen; die Frage jedoch, wie sie niemals eingesetzt werden soll- ten, wurde – auf der theoretischen Ebene zumindest 9. Unüberschaubarkeit? – in Ansätzen dargestellt.

Die Reduktion von Komplexität, die mittels Typisie- rung erreicht werden soll, scheint zwar auf den ersten Blick durch Ausschluß des Fremden gewährleistet, ist aber bei vielen „Fremdeinflüssen“ schwer aufrechtzu- Anmerkungen erhalten. Gewaltsame Mittel aber, um einen Zustand, der nach herkömmlichen Typisierungsmustern erklär- bar ist, aufrecht erhalten zu können, führen eher ins 1 Sonntag Aktuell vom 21. Juli 1996. Gegenteil; im Kriegsfall nimmt die Verunsicherung 2 Dies bezieht sich auf innerhalb des Projekts „Schwabenbilder“ bekanntermaßen zu.38 in den Jahren 1995/96 durchgeführte qualitative Recherchen. 3 Vgl. Jonas Frykman: Försvenskande berättelser. In: Billy Ehn/ Der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung Jonas Frykman/Orvar Löfgren: Försvenskningen av Sverige gab anläßlich eines Vortrages bei den Europäischen („The Swedification of Sweden“). 1993, S. 131. Zu „Meta- Ethnologen in Lund zu bedenken: funktionen von Ausstellungen“ vgl. Anna Schober: Montierte Geschichte. Programmatische historische Ausstellungen. Wien 1994. „In a sense we also get the history we deserve given the 4 Försvenskningen av Sverige (wie Anm. 3), S. 267, meine Über- way we chose our defining points for our nations. Make setzung. violence sacred and canonise the wielders of force and history 5 Ich verwende den Begriff Reflexivität hier im Sinne eines Pro- will be made in that image.“ 39 zesses, in dem sich die Wissenschaft „als Teil der Wirklichkeit erkennt, die sie mit ihren Unterscheidungen konstruiert.“ P. M. Hejl, zit. nach Eckhard J. Dittrich/Frank-Olaf Radtke: Der Galtung stellt statt dessen das Konzept „shared history“ Beitrag der Wissenschaften zur Konstruktion ethnischer Min- in den Vordergrund: „A multi-cultural, multi-lingual derheiten. In: Eckhard J. Dittrich (Hg.): Ethnizität. Wissen- nation can be built on the basis of shared history“40. schaft und Minderheiten. Opladen 1990, S. 11-40, hier S. 13. Er macht damit deutlich, daß es mehr Gemeinsames Vgl. dazu Konrad Köstlin: Wissenschaft als Lieferant von Er- fahrung. In: Wissenschaft und Brauchtumspflege im Natio- (und somit auf universaler Ebene Verbindenderes!) als nalsozialismus in Salzburg. Salzburg 1995/96, S. 25-34. Kriegsgeschichte gibt. 6 In diesem Rahmen erhebe ich jedoch keinesfalls Anspruch auf In Anbetracht der Tatsache, daß es dennoch immer Vollständigkeit oder komplette Wiedergabe, sondern möchte Andere geben wird, die uns möglicherweise fremd er- vielmehr Aussagen insbesondere von kulturwissenschaftlicher, gelegentlich auch von soziologischer Seite reflektieren. scheinen, sei auch der überzeugende Hinweis Utz 7 Vgl. Anm. 2; zum Thema Interviews siehe auch den Beitrag Jeggles erwähnt, daß es sowohl innerhalb des Alltags von Katrin Weber „Interviews: Methode“ in diesem Band.

209 Wie Schwabenbilder betrachtet werden können

8 Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Kon- 30 Wolfgang Kaschuba: Kulturalismus. Vom Verschwinden des struktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Ders. (Hg.): Kultu- Frankfurt am Main 1996, S. 33. ren, Identitäten, Diskurse: Perspektiven Europäischer Ethno- 9 Hermann Bausinger: Fremde als Problem. In: Allmende 42/ logie. Berlin 1995, S. 11-30. 43. 14. Jahrgang. Eggingen 1994, S. 19-40, hier S. 26. 31 Ebd., S. 22. 10 Hermann Bausinger: Region – Kultur – EG. In: Österreichi- 32 Vgl. Aleida Assmann: Zum Problem der Identität aus kultur- sche Zeitschrift für Volkskunde, Band XLVIII/97. Wien 1994, wissenschaftlicher Sicht. In: Rolf Lindner (Hg.): Die Wieder- S. 113-140, hier S. 115f. kehr des Regionalen (wie Anm. 29), S. 13-35. 11 Ebd., S. 116. 33 Vgl. Hermann Bausinger: Lauter Ausländer. Die Südwestdeut- 12 Ebd., S. 117f. sche Kultur als Importerzeugnis. In: Landeszentrale für politi- 13 Konrad Köstlin: Die Regionalisierung von Kultur. In: Konrad sche Bildung (Hg.): Baden-Württemberg. Eine politische Lan- Köstlin/Hermann Bausinger (Hg.): Heimat und Identität. Neu- deskunde, Teil 2. Stuttgart 1991, S. 58-75. Vgl. dazu Konrad münster 1980, S. 25-36. Köstlin: Heimat geht durch den Magen. Oder: Das 14 Ebd. Maultaschensyndrom – Soul-Food in der Moderne. In: Beiträ- 15 Vgl. Hermann Bausinger: Region – Kultur – EG (wie Anm. ge zur Volkskunde in Baden-Württemberg, Band 4. Stuttgart 10). Vgl. dazu Hermann Lübbe: Die große und die kleine Welt. 1991, S. 147-164. Regionalismus als europäische Bewegung. Aulavorträge 50. 34 Heinz Schilling/Beatrice Ploch (Hg.): Region. Heimaten der 1990. individualisierten Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995. 16 Lothar Baier: Neun Thesen zum real existierenden Regiona- 35 Ebd., S. 249. lismus. In: Allmende 34/35. 12. Jahrgang. Baden-Baden 1992, 36 Interview Nr. 12 (m, tätig in der Straßenbauverwaltung, 43). S. 3-6, hier S. 5. 37 Interview Nr. 13 (w, Volkshochschullehrerin, 57). Zu 17 Benno Werlen: Regionalismus. Eine neue soziale Bewegung. Individualisierung, Pluralisierung und – da nicht unbedingt auf In: Dietrich Barsch/Heinz Karrasch (Hg.): 49. Deutscher altbekannte Verhaltensmuster zurückgegriffen werden kann – Geographentag Bochum 1993, Band 4. Stuttgart 1995, S. 46- damit in Zusammenhang stehenden „Identitätsverhandlungen“ 54, hier S. 46f. haben u.a. die Autoren Ulrich Beck, Jonas Frykman, Anthony 18 Ebd. Giddens und Ulf Hannerz Stellung genommen. Die zwei so- 19 Hermann Bausinger: Identität im deutschsprachigen Kultur- eben genannten Beispiele aus den Interviews können jedoch und Medienraum. In: Allmende 44. 15. Jahrgang. Eggingen weder über bereits genannte Ambivalenzen noch darüber hin- 1995, S. 10-28, hier S. 27. wegtäuschen, daß es auch bei uns bekanntermaßen Integrations- 20 Orvar Löfgren: Linking the local, the national and the global. probleme gibt. Im Rahmen eines von mir durchgeführten Past and present trends in European ethnology. 1995, S. 13. Gruppeninterviews in einer Kneipe in Gärtringen wies mein 21 Benno Werlen (wie Anm. 17), S. 54. Hauptinformant auf die Frage, ob alle, die sich im Raum be- 22 Peter Burke: We, the people. Popular culture and popular fänden, hier aufgewachsen seien, darauf hin, daß auch der identity in modern . In: Scott Lash/Jonathan Fiedemann ungarische und ex-jugoslawische Mitarbeiter bei Daimler-Benz, (ed.): Modernity and identity. 1996, S. 297. die ebenfalls der Kegelrunde angehörten, voll akzeptiert sei- 23 Auf materieller Ebene wäre an alltägliche Gebrauchsgegen- en: „Die send Schwoba, die hend do g’schafft ond i denk s’isch stände wie z.B. Messer zu denken, die theoretisch jederzeit als recht.“ Bei wohlgemerkt bereits abgeschaltenem Tonbandge- Waffe eingesetzt werden können, am Mittagstisch jedoch (zu- rät äußerte er in ernstem Tonfall jedoch die Befürchtung, daß meist) friedlichen Zwecken dienen. Zum Krieg im ehemaligen es hier möglicherweise auch irgendwann wie in Ex-Jugoslawi- Jugoslawien vgl. Ivan Colovic: Bordell der Krieger. Folklore, en zugehen werde, falls die Arbeitslosigkeit nicht nachlasse. Politik und Krieg. Osnabrück 1994. Zu weiteren Konflikten Dies sagt wohl weniger über die Zukunft, als über Ängste aus, in Europa (Nordirland etc.) vgl. Dirk Gerdes: Aufstand der die als solche zwar nicht überbewertet, aber trotzdem ernstge- Provinz. Regionalismus in Westeuropa. Frankfurt am Main/ nommen werden sollten. New York 1980. 38 Selbst wenn durch die Konstruktion eines äußeren Feindes 24 Vgl. Hermann Bausinger: Regionalkultur in der Krise? In: All- möglicherweise zunächst so etwas wie Gruppengemeinschaft mende 34/35. 12. Jahrgang. Baden-Baden 1992, S.8-12. erzeugt wird, wächst dennoch die Unsicherheit des Individu- 25 Gisela Welz: Multikulturelle Stadtpolitik. Das Frankfurter ums, da nicht ‘nur’ moralische Werte in Frage gestellt werden, Modell. In: MultiKultur Journal. Studierendenprojekt am Lud- sondern das Leben selbst bedroht wird. wig-Uhland-Institut der Universität Tübingen. Tübingen 1992, 39 Johan Galtung: Alternatives to national identities. Manuskript S. 6-12, hier S. 9. eines Vortrags, gehalten am 2. Mai 1996 in Lund/Schweden, 26 Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte S. 4. Schriften, Band 2. Hamburg 1994, S. 80. 40 Ebd., S. 8. 27 Interview Nr. 5 (m, Student, 26). 41 Utz Jeggle: Deutung und Bedeutung des Fremden in und um 28 Interview Nr. 3 (w, Hauswirtschaftsmeisterin, 70). uns. In: Kulturkontakt – Kulturkonflikt, Band 1. Frankfurt am 29 Rolf Lindner (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Main 1988, S. 89-98, hier S. 98. Formen kultureller Identität. Franfurt am Main/New York, S. 7-12, hier S. 9.

210 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder

Hollister Mathis

John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder

Hey J.C., J.C., won’t you smile for me, sana ho, sana hey Superstar! Andrew Lloyd Webber: „Jesus Christ Superstar“

Warum ‘Ballett-Wunder’? Ein Wunder ist nicht erklär- noch mit dem Vermögen, sich zu verändern, zusam- bar, es ist eine unerwartete Rettung, die aus einer an- menzubringen war. deren, unbekannten Welt kommt. Dies trifft jedoch die Entwicklung in Stuttgart so wenig, daß sich die Stutt- Unter ‘schwäbisch’ verstand man Fleiß und Sparsam- garter Urheber des Begriffs vermutlich eher auf die keit, Tüftler und Häuslebauer, Dichter und Denker – Initialien des Choreographen bezogen haben – J.C. (Je- aber nicht Optimismus und Affirmation, Tatendurst sus Christ). und Unschuld, Weltläufigkeit und Internationalität: also alles, was gemeinhin mit Crankos modernem Ballett Wenn die Stuttgarter ihren Weltrang im Ballett als verbunden wurde. Ganz klar ist dieser Begriff ‘schwä- ‘Wunder’ bezeichneten, so glaube ich, daß dies auf ihr bisch’ ein Stereotyp. Dank der Stereotypenforschung fehlendes Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Veränderung wissen wir, daß Stereotypen übermittelte, beliebig weist. Wer sich nicht der (post)modernen Komplexität vervielfältigbare, zählebige, nicht explizite Begriffe sind, anpassen, sich nicht im globalen Raum behaupten kann, die sich „auf Probleme des gesellschaftlichen Zusam- der scheitert jäh. Weil er in dieser Welt nicht über- menlebens“1 beziehen und die emotional beladen sind. lebensfähig wäre, müßte er sich ein völlig neues Also kann man über das ‘Schwäbische’ handeln und Identifikationsangebot suchen, um es als Über- dabei alles mögliche an Emotionalität hineinpacken, lebensmittel dem alten Selbstbild zuzufügen. Es gäbe wobei dieser Bezeichnungsinhalt letztlich nicht auf die wohl die Möglichkeit sich vom Neuen fernzuhalten ‘Schwaben’ begrenzt ist, sondern auf unabschätzbar und sich vor ihm zu schützen; nur wäre dies in unserer viele Menschen zutrifft. Es lassen sich übers ‘Schwä- Mediengesellschaft schwer zu erreichen – vielleicht mit bische’ auch ohne direkte Erfahrungen Meinungen äu- Gewalt verbunden – was wiederum die Überlebens- ßern. Es ist schwer zu glauben, daß in unseren ‘aufge- chancen buchstäblich verringern würde. klärten’ Zeiten solche Ungenauigkeit hoch im Kurs steht, aber wir wissen auch, daß diese Kategorien ins- Ich denke, die StuttgarterInnen brauchten ihr Ballett- besonders in den Momenten der Unsicherheit ge- wunder, also ihren ‘unerklärbaren’ Werdegang zur braucht werden, die heute durch unsere rapide sich Balletthauptstadt Deutschlands, Ballettzentrum der ändernde Welt immer häufiger auftreten.2 Welt, weil sie sich ‘schwäbisch’ fühlten oder als solche gesehen wurden (was schwer zu trennen ist), obwohl Im Hinblick auf unser Thema liegt die Vermutung das Schwäbischsein zunächst weder mit dem Ballett nahe, daß die Stuttgarter sich als ‘Schwaben’ verstan-

211 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder den, die von außen her geändert werden mußten. Es entsprach nicht ihrem Selbstbild und auch nicht dem Bild, das nach Meinung der ‘Schwaben’ andere von ihnen hatten, sich auf das Ballett einzulassen. Und so geschah das Wunder: Sie mußten sich gar nicht selber ändern, der ‘Savior’ machte das.

Dieses ‘Wunder’ ist also wohl als sozialpsychologisches Phänomen zu verstehen. Hier können zur Ergänzung des Arguments auch Parallelen zur neuen Konsum- welt des Wirtschaftswunders gesehen werden. Wie Crankos Ballett lehrte der american way of life die Körper- lichkeit und die Jugend, gemeinsames Genießen, Ju- beln und Emotionen, Individualität und eine neue Iden- tifikation, Zusammenarbeit, Internationalität, Er- folg. Und wie Cranko waren die AmerikanerInnen RetterInnen von außen, die etwas Neues möglich mach- ten, ohne daß die Deutschen mit der eigenen Vergan- genheit, den eigenen Stereotypen, abrechnen mußten. Dieses Neue war für die Verdächtigen auch als Flucht- weg vor der eigenen Vergangenheit interessant. Die ‘Schwaben’, die ‘Deutschen’ wurden verändert.

John Cranko oder J. C., der ‘Savior’ (Retter). Foto: Leslie

Wie ging dieses Stuttgarter Ballettwunder TänzerInnen zusammengebracht, die er für die Ver- vonstatten, wie wurde Stuttgart zur wirklichung seiner choreographischen Pläne braucht. Ballettmetropole? Natürlich erkennt zuerst nur er die künstlerische Qua- lität seiner Compagnie – insbesondere die des häßli- chen Entleins, das sich später in die John Cranko, ein in London für Ballett und Varieté verwandeln soll: Marcia Haydée. Mit einer choreogra- tätiger Choreograph, der sich schon einen Namen ge- phischen Interpretation von Shakespeares Romeo und macht hatte, wird im Herbst 1960 zur Inszenierung Julia schafft Cranko 1962 den künstlerischen Durch- eines seiner Londoner Stücke vom damaligen Gene- bruch. Dieses Ballett und viele andere genießen Mitte ralintendanten des Württembergischen Staatstheaters, der sechziger Jahre plötzlich große Beliebtheit in ei- Walter Erich Schäfer, nach Stuttgart eingeladen. Diese nem Opernhaus, dessen AbonnentInnen ein Jahrzehnt Einladungen von Gastchoreographen zur Vertretung zuvor Ballett per Umfrage ausdrücklich als „Zerrbild des Ballettdirektors Beriozoff waren übliche Praxis. der modernen Welt“3 abgelehnt hatten. Schäfer erkennt Crankos Qualitäten und läßt den aus Rußland stammenden Beriozoff entgegen dessen ver- Nach seiner Etablierung sucht Cranko die soziale Si- traglicher Bindung an Stuttgart ein Angebot in der tuation der TänzerInnen zu verbessern. Er setzt eine Schweiz annehmen, um dann dem Südafrikaner mit erstmalige Erhöhung der Corps de Ballet-Gage auf englischem Paß die Stuttgarter Ballettdirektion anbie- das Niveau der Gage des Opernchors durch, richtet ten zu können. ein Ballett-Internat ein, das gleichzeitig Schulabschluß und Bühnenreife ermöglicht. Das Stuttgarter Ballett Zuerst bastelt Cranko relativ unauffällig einige Jahre geht inzwischen auf internationale Tourneen, berühmte lang an seinem Ensemble, dann hat er diejenigen ChoreographInnen nehmen Gastverträge in Stuttgart

212 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder an und die Cranko-Schule bringt erste TänzerInnen agierte beispielsweise der lebensreformerische Tanz: und ChoreographInnen hervor, von denen einige noch In seiner reinen Huldigung der Natur plädierte er für zu Weltruhm gelangen werden. Die Krönung von die absolute Trennung von Kultur/Kunst und Politik Crankos Karriere ist zugleich die unwiderrufbare Be- (was wiederum auch eine Art Politik oder Propaganda stätigung des neuen Stuttgart: Cranko erobert 1969 New ist, die hier aber nicht beschrieben werden kann). So- York, die Hochburg des neo-klassischen und Moskau, viel zur Bandbreite des politischen Verständnisses des die Hauptstadt des romantischen Balletts. Balletts.

In Crankos Kunst wie auch in seiner Tätigkeit als Bal- lettdirektor werden Beispiele für seine ethische und Stuttgart hat Weltrang erreicht. Das Wunder humanitäre Orientierung sehr häufig erwähnt. Wenn ist geschehen. Cranko stirbt. der Ballettkritiker Hartmut Regitz von Crankos Inter- esse am „Mirakel Mensch“6 spricht und damit dessen Beschäftigung mit Themen aus dem wirklichen Leben Dies ist der entscheidende Moment für Stuttgart. Es in all seiner Vielfalt meint; wenn die damalige Londo- ist eine Sache, von außen verändert zu werden; es ist ner Corpstänzerin Judith Reyn die einzigartig lebendi- etwas ganz anderes, diesen neuen Weg ohne den ‘Ret- gen, interessanten und aufregenden Proben bei Cranko ter’ Cranko weiterzugehen. Einerseits kommt es dar- reflektiert, die sie überzeugten, ihre Karriere doch nicht auf an, die Funktionen, die das Ballett erfüllt, über- aufzugeben7; wenn Glen Tetley, nach Crankos Tod zwei haupt zu erkennen und diese dann konsequent weiter- Jahre lang Direktor des Stuttgarter Balletts, Crankos zuführen. Andererseits muß die Compagnie die Fä- higkeit besitzen, diese Funktionen dem Zeitgeist an- zupassen und zu modernisieren.

Die Funktionen von Crankos Ballett waren sozial- psychologischer Natur. Das Angebot war, wie am An- fang schon beschrieben wurde, für die ‘Schwaben’ und die ‘Deutschen’ ein Weg in die Moderne: Sie lernten beim Ballett eine neue, nämlich eine nicht mehr als nationalsozialistisch zu diskreditierende Körperlichkeit kennen und durften sie bejubeln. Dem Publikum moch- te die Begeisterung an der Körperlichkeit als äußerli- ches Indiz der gewonnenen Modernität genügen – aber die Funktion des Stuttgarter Tanzes reichte unter die Haut.

Wenn Helmut Plessner in seinem Werk Die verspätete Nation dieDeutschen als „apolitisch[es] Volk der Dich- ter und Denker“4 beschreibt, versteht er die Spannung zwischen Romantik und Materialismus als ein Resul- tat der „Trennung von kulturellem und politischem Denken“5. Diese Trennung hebt sich beim Crankoschen Ballett ein wenig auf: Die Körper in Crankos Romeo und Julia erleben soziale Verhältnisse – als etwas Politi- sches. Kultur/Kunst und Politik rücken näher anein- Der Balletdirektor analysiert seine Choreographien vor Publikum ander, Ethik und Humanität, die Grundsteine moder- (1964). Auch seine Tänzer treten mit Demonstrationsveranstaltungen ner Staaten, können reflektiert werden. Ganz anders an die Öffentlichkeit. Foto: Madeline Winkler-Betzendahl

213 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder sogenannte ‘Familie’ (die Compagnie) und Crankos bzw. der einzelnen Tänzerin) in ein System, in dem Liebe beschreibt, die sogar über Bühne und Zuschau- Selbstverwirklichung nur durch objektiv meßbare Lei- erraum hinaus in die ganze Stadt strahle8; wenn der stungen erreichbar ist. So verstanden, paßte Balanchines Feuilletonredakteur Ruprecht Skasa-Weiss9 und der Ballett tatsächlich in die materialistische, unpolitische baden-württembergische Ministerpräsident Hans Landschaft des deutschen Wirtschaftswunders.12 Filbinger10 das beim Applaus schwitzende, emotiona- lisierte Publikum betonen; wenn der Ballettkritiker Crankos Beitrag für die Kunst war, so Gabriele Klein, Horst Koegler Crankos Bereitschaft zum Experiment, die Zurückführung des Balletts auf den Menschen, seine stilistische Verführbarkeit, sein soziales Engage- wobei er „die Komplexität der menschlichen Existenz ment, seine Umgänglichkeit und die Verdienste als Bal- in einer konkreten Realität“13 zeige. Während Klein lettdirektor betont11 – dann ist immer das humanitäre sich hier auf das Bühnengeschehen beschränkt, möchte Ich Crankos gemeint. Alle Beispiele zeugen von ich ihre Gedanken weiterführen und darauf hinwei- Crankos Fähigkeit, mit Menschen und Figuren ethisch sen, daß Cranko die bis dahin existierenden Grenzen und demokratisch, zwischen künst- eben aufgeklärt um- lerischer und di- zugehen. rektorischer Lei- tung des Balletts Zum Vergleich könn- aufhob. Seine Ar- te das neoklassische beit als Ballettdi- Werk George Balan- rektor setzte sich, chines (1904-1983, wie oben be- Gründer, Direktor schrieben, durch- und Choreograph aus fürsorgend des berühmten New und vorausschau- York City Ballets) end mit der Situa- dienen, das im deut- tion des Tänzers schen Ballettboom bzw. der Tänzerin der 50er Jahre, als auseinander. Die- sich die Anzahl der ses Bewußtsein Ballettaufführungen für die Schwie- in Deutschland ver- rigkeiten des tat- dreifachte, gefeiert sächlichen Le- wurde: kurze Ballett- bens macht eine George Balanchines „The Four Temperaments“, Premiere 1946 – das erste moderne stücke ohne eigentli- Ballet. Foto: Channel WNET-13 Behandlung zwi- che Handlung, die schenmenschli- eine Ästhetik der Entpersonalisierung zeigen. Die cher Komplexitäten auf der Bühne in seinen TänzerInnen sind bei Balanchine in ihren körper- Handlungsballetten, wie Klein beschreibt, erst mög- betonten schwarz-weißen Trikots fern jeglicher Alltags- lich. In der Verknüpfung von Crankos künstlerischer erfahrung und bewegen sich minimalistisch-maschinen- Darstellung zwischenmenschlicher Komplexität mit gleich zu klassischer Musik. Die nachkriegsdeutschen seinem Einsatz für die Situation des einzelnen liegt ein ZuschauerInnen hielten diese Kunst vermutlich für un- Interpretationsansatz, mit dem die ‘Schwaben’ und die verdächtig: Sie schien ihnen nicht politisch instru- ‘Deutschen’ seiner Zeit Cranko verstanden. mentalisierbar (im Gegensatz z.B. zum Ausdruckstanz oder zum romantischen Ballett), weil sie in ihrer Le- Mag sein, daß in Stuttgart die ‘schwäbische’ Vorliebe bensferne gar keine Botschaft enthielte. Doch sehe ich für Tüftler und Bastler in Verbindung mit einem durch in der Ästhetik von Balanchine ein starkes Element den Pietismus geprägten Hang zur Individualität dazu der Einfügung des einzelnen (des einzelnen Tänzers führte, daß sich das Publikum mit der künstlerischen

214 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder

„Kreaturvergötzung“ die strenge Ablehnung des Bal- letts als „Zerrbild der modernen Welt“ durch die Stutt- garter OpernabonnentInnen im Jahre 1950/51 mit ver- ursacht. Allerdings war, wie Christel Köhle-Hezinger in ihrem Aufsatz Der schwäbische Leib beschreibt, der Leib und nicht der Körper das Objekt kirchlicher Sank- tionen. Der Leib der Vormoderne wurde als Quelle der Ablenkung vom Geistigen betrachtet, dessen ‘Nutz- losigkeit’ man überwinden müsse, während der Kör- per der Moderne als Instrument zu betrachten sei, des- sen Teile zerlegt oder als System für bestimmte Zwek- ke sinnvoll eingesetzt werden. Zwar kommen durch die Industrialisierung die Moderne und ihre funktio- nalisierten Körper auch nach Stuttgart, aber verspätet und insofern untypisch, als sich kein entwurzeltes, an- onymes Proletariat bildet15: Wegen der üblichen Real- teilung des Besitzes mußte niemand seine Heimat ver- lassen. So blieben wichtige Elemente der Vormoderne und ihrer Leiblichkeit in Stuttgart erhalten.16

Die Spannung zwischen Leiblichkeit und Körperlich- keit begründete in Stuttgart noch zu Beginn der fünfziger Jahre die Ablehnung des Balletts, der Modernisierungsschub der sechziger Jahre aber führte Marcia Haydée und Richard Cragun in Crankos „Der Widerspen- zur Akzeptanz des Balletts. Seine Funktion in diesem stigen Zähmung“ von 1969. Cranko formuliert zwischenmenschliche Zusammenhang ist der politischen Funktion ähnlich. Komplexität tänzerisch. Foto: Madeline Winkler-Betzendahl Wenn im politischen Kontext das Crankosche Ballett

Arbeit Crankos und dem individuellen Ausdruck der Compagnie identifizierte und sich mit den aufsteigenden „new- comers“ bzw. „underdogs“ solidarisierte. Daß eine pietistische Prägung Stuttgarts trotz der allgemeinen säkularen Tenden- zen der Großstädte vorhanden war, wur- de vor allem durch landeskirchliche Er- lasse erreicht – die Landeskirche war pie- tistisch genug, noch in den fünfziger Jah- ren ein Verbot gegen das Volksfest des Cannstatter Wasen zu erlassen: Die pieti- stische „Notwendigkeit des Verzichts auf Vergnügen, Theater, Tanz usw.“14 ist hier noch deutlich spürbar. „Les Sylphides“ von Michael Fokine (1909) in einer Einstudierung Peter Wrights beim Stuttgarter Ballett unter der Leitung John Crankos. Fokines Stück war eine Mit Sicherheit haben auch die über Jahr- Hommage an August Bournonvilles romantisches Ballett „La Sylphide“ von 1832. hunderte hinweg gültigen kirchlichen Fokines Ästhetik gleicht zwar jener der Romantik, verzichtet aber auf einen Tanzverbote wegen Unsittlichkeit und Handlungszusammenhang. Foto: Madeline Winkler-Betzendahl

215 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder die psychologisch heikle Trennung zwischen Kultur/ Kunst und Politik mittels der Inszenierung von Kör- pern in sozialen Zusammenhängen mildert, löst sein Ballett im kirchlichen, persönlichen Zusammenhang die Trennung zwischen Natur und Technik, zwischen Leib und Körper auf.

Am Anfang des deutschen Ballettbooms in der Saison 1950/51 war das Ballett für die Stuttgarter Opern- abonnentInnen ein „Zerrbild der modernen Welt“. Zu dieser Zeit gab es meistens entweder romantische Werke zu sehen oder Balanchines neoklassische. Bei- de Genres zeigen „beherrschte“ Körper. Im romanti- schen Ballett sind sie in einem „natürlichen“ Rahmen zu sehen, also als stereotype Tier- oder Märchenfigu- ren, die sich rollengemäß, nicht individuell, verhalten. Balanchines Körper bewegen sich ohne jegliche ‘Be- deutung’ in der absoluten Leere. Beide Betrachtungs- bzw. Inszenierungmöglichkeiten des modernen Kör- pers lehnten die Stuttgarter ab. Anscheinend wollten sie weder die abstrakte, reine Körperlichkeit Balan-

Richard Cragun und Birgit Keil in „Opus1“ von John Cranko (Pre- miere 1965). Ritus und Abstraktion, Emotionalität und Beherr- schung. Cranko versucht in seiner Arbeit zwischen der vormodernen und der modernen Tradition zu vermitteln. Fotos: Hannes Kilian

chines betrachten noch Körper, die stereotype ‘Natür- lichkeit’ vorführten. Vielmehr wollten und bekamen sie in Crankos Choreographien eine (inszenierte) Ver- söhnung zwischen Natürlichkeit und Technik, Leibern und Körpern zu sehen.

Die Kirche war gegen den Leib und für den Körper, aber in der zunehmend säkulären Gesellschaft wur- den ihre Gebote immer stärker mit persönlichen Be- dürfnissen überlagert. Im Aufbaudeutschland wurden alle sonstigen Träume dem Streben nach materiellem Wohlstand unterworfen. Um ihn zu erreichen, war höchste persönliche Disziplin angesagt. Ein solcher Extremzustand verlangte nach einem Ventil für den vorherrschenden Anpassungsdruck: Die freie Natür- lichkeit der Gesten und des Gebarens war Erkennungs- zeichen der Halbstarken, also der unangepaßten Ju- gendlichen. Der interessante Unterschied zur roman- tischen Reaktion auf die Industrialisierung war, daß

216 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder die Stuttgarter nicht lebensferne Natürlichkeit wollten, keine Sorgen mehr machen, da konnte man mitma- sondern wohl eher eine realitätsnahe Ausgelassenheit. chen, eine Begeisterung zeigen, die vorher verdächtig, Crankos choreographische Synthese von Emotionen unerwünscht oder diskreditiert gewesen war. und Beherrschung in nachvollziehbaren Szenen wur- de den Stuttgartern zum Anlaß, das vormoderne Leib- liche und das moderne Körperliche zusammenzurük- ken und zu versöhnen. In Cranko hatte Stuttgart das Sauber. Ordentlich. Geschickt. „missing link“ zwischen der Unterwerfung des Kör- pers und der Freiheit des Leibes gefunden. Hey, wait a minute, the show must go on! Klar ist die Diese Botschaft wurde sogleich in die Welt hinaus ge- Haydée inzwischen ausgeschieden, und heute zaubert schickt, um die erfolgreiche Eingliederung Deutsch- ein zu einem guten Drittel neues Team auf der Bühne. lands in die Reihe der gesitteten Nationen zu bestäti- Der ‘verlorene Sohn’ der ‘Familie’ Cranko, Reid gen. Daß ähnliche Begeisterung für Crankos Werk in Anderson, früher Tänzer und Ballettmeister, dann in- der ganzen Welt, zum Beispiel in New York und Mos- ternational tätig in der Einstudierung von Crankos kau, empfunden wurde, kam dort auch nicht von un- Werken und als Choreograph, danach engagiert als gefähr. Überall wo Brüche zwischen Vormoderne und Ballettdirektor, zuletzt in Toronto beim National Ballet Moderne erlebt wurden, sehnten sich die Menschen nach Möglichkeiten, diese Konflikte zu lösen. Nicht nur Cranko zeigte eine überzeugende Verbindung zwi- schen Freiheitswunsch und Realitätszwang, sondern auch beispielsweise die Pop-Musik. Eine eventuell be- stehende Unsicherheit, mit diesem Angebot umzuge- hen, konnte im Gruppenverhalten aufgehoben werden. Der ritenhafte, quasi vormoderne „Urschrei“17 z.B. bei Crankos Aufführung im Metropolitan Opera House und dem Konzert der Beatles im Shea Stadium in New York kann verstanden werden als ein gemeinschaftli- cher Prozeß, in dem persönliche materielle und emo- tionale Schranken überwunden werden. Im von den zeitgenössischen Kommentaren über Cranko-Auffüh- rungen sehr oft beschriebenen Ritual des gemeinsa- men Schwitzens, Schreiens und Jubelns nutzt der ein- zelne die Möglichkeit, in der Gemeinschaft seine Her- kunft, die bestehende Etikette, die aktuellen Gruppen- zwänge zu überwinden; mit dem Jubel setzt er also bestimmte Voraussetzungen außer Kraft. Zugleich schaffen er und die anderen bestimmte neue Voraus- setzungen; sie haben am Gegenstand und aus Anlaß der Cranko-Ballette gegen die verbotene ‘schwäbische’ und die verdächtige deutsche Begeisterung Äußerungs- weisen der Begeisterung neu zu formulieren versucht. Die ‘Schwaben’, die ‘Württemberger’, die ‘Deut- schen’, die (westliche) Welt behielten bzw. erhielten mit den Choreographien Crankos die offensichtlich not- Das Stuttgarter Ballett schlägt eine neue Richtung ein: Vladimir wendige Prise Romantik, neu vermengt mit der richti- Malakhov in Uwe Scholz’ „Notations I-IV“, 1996. Foto: Gundel gen Menge weltlicher Modernität. Da mußte man sich Kilian

217 John Cranko und das Stuttgarter Ballettwunder of Canada, ist inzwischen nach Stuttgart zurückgekom- Anmerkungen men. Er hat das kanadische Ballett (wieder) zu Welt- geltung gebracht wie einst Cranko das Stuttgarter. Prompt verabschiedete er vor kurzem den Rest der 1 Adam Schaff: Stereotypen und das menschliche Handeln. Mün- ‘Familie’ Cranko: Sie sei zu alt und zu teuer. Mitge- chen, Wien 1980, S. 33. bracht hat er nach vielen Verhandlungen den zur Zeit 2 Vgl. Sander L. Gilman: Rasse, Sexualität und Seuche. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 10. wohl meistdiskutierten Tänzer der Welt, Vladimir 3 W. E. Schäfer: John Cranko über den Tanz. Gespräche mit Malakhov. Daß Malakhov unter Haydées Leitung nicht Walter Erich Schäfer. Frankfurt/Main 1974, S. 53-54. gewollt war, heute aber das Stuttgarter Ballett prägt, 4 Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische ist wohl bezeichnend für das Ende einer Ära und zeigt, Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Frankfurt am Main 1992, daß das Stuttgarter Ballettwunder wohl einmalig war und S. 92. 5 Ebd., S. 92. nicht wiederholt werden kann. 6 Vgl. Hartmut Regitz: ‘Mirakel Mensch’. Zum 20. Todestag John Crankos. In: tanz aktuell. Nr. 5 1993. S. 22-24. Für Romantiker hat man nichts mehr übrig. Schluß 7 Marcia Haydée, Anne Woolliams, Hans-Peter Doll (Hg.): John mit den Träumen von sozialer Gerechtigkeit und emo- Cranko. Stuttgart 1973, S. 33. 8 Ebd., S. 41. tionaler Erfüllung! Heute wird technisch perfekt ge- 9 Ruprecht Skasa-Weiss: „Fröhliche Sänger, Grazile Springer“ tanzt und genau gerechnet. Der Zusammenhalt in der In: Merian 1/45: Stuttgart. Hamburg 1992, S. 132. ‘Familie’ und die Liebe, die einst über die Bühne hin- 10 Marcia Haydée, Anne Woolliams, Hans-Peter Doll (wie Anm. aus in die ganze Stadt strahlte, sind Teil der Gründungs- 7), S. 23. 11 Horst Koegler (Hg.): Ballett: Chronik und Bilanz des Ballett- legende des Stuttgarter Balletts geworden. Mit seinem jahres. Seelze 1974, S. 51f. nach Ballettmaßstäben vollkommenen Körper und sei- 12 Womit er nicht in die Fünfziger hineinpaßt, das ist sein im ner Technik repräsentiert Malakhov die tänzerische Per- Unterschied zum nationalsozialistischen Körperkult ganz fektion, während Anderson mit seinem direktorischen unideologisch formuliertes, abstrakt aufs Tänzerische konzen- triertes Arbeiten. Vielleicht findet in den Fünfzigern in der Kalkül und der ökonomischen Kalkulation ein effizi- westlichen Welt eine ideologische Vereinnahmung Balanchines entes Management zu betreiben sucht. durch die kapitalistische Logik statt? 13 Gabriele Klein: Frauen, Körper, Tanz. Eine Zivilisations- Wieder folgt Stuttgart dem Zeitgeist. Aber heute wird geschichte des Tanzes. München 1994, S. 237. 14 Joachim Trautwein: Religiosität und Sozialstruktur. Untersucht nicht mehr gebaschtelt! anhand der Entwicklung des württembergischen Pietismus. Stuttgart 1972, S. 49. 15 Ebd., S. 61. 16 Der besondere Erfolg der „barfüßigen Propheten“ in Stutt- gart ist dafür ein deutliches Zeichen. Vgl. Ulrich Linse, Barfü- ßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin 1983, S. 82-96. 17 Marcia Haydée, Anne Woolliams, Hans-Peter Doll (wie Anm. 7), S. 37.

218 „Eines nur?“ Oder: macht schwäbisch gesund?

Kaspar Maase

„Eines nur“? Oder: Macht schwäbisch gesund?

Kollegiale Kritik als Epilog

Da sitzt er nun, der Autor, vor einem Thema, mit dem Doch je mehr er sich bemüht, sie zu verstehen, desto er nicht klarkommt. Das ernsthafte und aufwendige unverständlicher wird ihm die Angelegenheit. Denn Nachdenken über das Schwäbische und über das offensichtlich handelt sich um Menschen, die Kultur- Schwäbisch-Sein bleibt ihm, so fürchtet er mittlerwei- wissenschaft als Aufklärung verstehen. Sie wissen, daß le, fremd. Als Kulturwissenschaftler kann er es aber „die Schwaben“ und „das Schwäbische“ luftige und nicht dabei bewenden lassen und sich mit dem Aus- willkürliche Konstruktionen sind. Sie sind sich des druck des Bedauerns für außerstande erklären, einen aktuellen Problems der Ethnisierung bewußt, die Men- Beitrag zu liefern. Fremdes verstehen ist die Parole schen in die Käfige einer ihnen zugeschriebenen Kul- des Faches, und daß es dabei immer auch um Selbst- tur einsperrt, und sie erkennen die Gefahr der syste- verstehen geht, eine Binsenweisheit. Keine Ausflüchte matischen Züchtung von Aggressionen gegen die also, benennen wir das Dilemma. Für das Selbstbild Anderen, die Fremden. Nichts liegt ihnen ferner als des Autors ist seine regionale Herkunft ohne Belang; Nationalismus; vielmehr zeigen sie, wie die Konstruk- wie kann er über Regionalität schreiben? Kann dabei tion der Schwaben als „potenzierte Deutsche“ für mehr herauskommen als die Rationalisierung eines Chauvinismus und Rassismus dienstbar gemacht wur- emotionalen Defizits? de. Bei der Suche nach dem Bild der Schwäbin finden Die Lesart mag der Autor nun auch nicht so stehen sie heraus, daß sie nur als ideale deutsche Hausfrau lassen, und daher versucht er, es sich schwer zu ma- und Mutter vorgesehen ist. chen. Nicht allgemein will er sein Problem mit regio- naler Identifizierung abhandeln, sondern mit einem So weit, so gut, denkt der Autor. Aber das Anliegen, Sonderfall einsteigen, dem Projekt „Schwabenbilder“. so nimmt er es wahr, geht darüber hinaus. Was hier Er kennt die meisten MitarbeiterInnen nicht nur aus betrieben wird, ist weder Entlarvung noch Ideologie- ihren Texten: er schätzt sie persönlich – und das be- kritik, schon gar nicht Warnung vor den Gefahren des deutet: Er kann sie nicht in die Schublade einordnen, Regionalismus. Ebensowenig handelt es sich um anti- in die er vielleicht Menschen hätte stecken mögen, die quarisches Interesse am angeblichen Aberglauben un- die Frage nach ihrem Schwäbischsein umtreibt. Denn serer Vorfahren. Es findet auch kein postmodernes das ist der irritierende Ausgangspunkt: Hier steht er Spiel mit Versatzstücken statt, bei dem die Frage nach KollegInnen gegenüber, für die, so scheint ihm, durch- der Wirklichkeit ohnehin verpönt ist. Nein, die Beiträ- aus von persönlichem Belang ist, was es denn mit dem ge umkreisen ein Faszinosum (der Begriff leitet sich Schwäbischen auf sich hat. ab von lat. „fascinare“: beschreien, behexen). Dem Autor fällt eine Anekdote ein, die über den Kernphy-

219 „Eines nur?“ Oder: macht schwäbisch gesund? siker Niels Bohr erzählt wird. Den fragte ein Kollege, Der Autor ist in Fahrt gekommen. Er spürt immer ob er abergläubisch sei, weil er über dem Hauseingang neue Motive auf für den Flirt mit dem Schwäbischen. ein Hufeisen aufgehängt hatte. Selbstverständlich, so Springt dabei vielleicht ein Gratisnutzen heraus? In- Bohr, glaube er nicht an irgendwelche übernatürlichen tellektueller zu sein, ist eine prekäre, eine zweifelhafte Kräfte. Aber das Hufeisen, so habe man ihm versi- Lebensform. Und wer sich als KulturwissenschaftlerIn chert, solle auch helfen, wenn man nicht daran glaube. mit der „Volkskultur“, der Lebensweise und den Sinn- Kann man mit dem Schwäbischen so umgehen wie horizonten der großen Mehrheit der Nicht-Intellektu- der Vater des Atommodells mit dem Hufeisen? ellen, der „einfachen Leute“ beschäftigt, dem beginnt Dafür sprächen, so überlegt der Autor, die frappie- die Problematik seiner Existenz irgendwann zu schwa- renden Erfahrungen, die wir mit Stereotypen machen. nen. Die Tradition der Volkskunde bietet da ein be- Das Heimtückische an ihnen ist ja, daß unsere Wahr- währtes Hilfsmittel: Identifizierung mit dem „under- nehmung sie in regelmäßigen Abständen bestätigt. Wir dog“, sei er nun Schwabe oder Unterschichtler oder begegnen Ihnen doch immer wieder, dem häßlichen am besten gleich beides zusammen. Amerikaner, dem affektierten Schwulen, dem eigen- brötlerischen Schwaben ... Und solches Wiedererken- Der moderne Kulturwissenschaftler ist sich gewiß: Im nen eines erwarteten oder auch befürchteten Musters Unterschied zu den Altvorderen des Fachs hat er völ- bleibt nicht ohne Folgen für unsere Weltsicht. lig unter Kontrolle, was hier passiert. Kein Volkstums- Dem Autor fallen weitere mögliche Motive für die mythos und kein Stammeskult mehr; die Roman- Faszination durch das Schwäbische ein. Kultur- tisierung des Bäuerlichen ist wie die Verklärung des wissenschaftler pflegen den Hang zum Besonderen, Arbeiters dem Säurebad der Selbstethnographie un- zur Differenz, zu dem, was von der glatten Einheits- terzogen worden. Völlig nüchtern analysiert er das norm abweicht. Kulturelle Eigenart betrachten sie a Machtverhältnis zwischen Metropole und Provinz, priori als bedroht und schützenswert. In Zeiten der Dialekt und elaborierter Rede – und fühlt sich ein biß- Verunsicherung (wann allerdings seit der Vertreibung chen besser, wenn er um Verständnis für die Schwä- aus dem Paradies herrschten die nicht?) und einer ver- cheren wirbt. So beweist er sich, daß Privilegien ihn muteten globalen Angleichung der Lebensformen nicht korrumpiert haben und daß er dem Anpassungs- könnte es ihnen geboten erscheinen, mit dem Schwä- druck standhält, den die akademischen Standards aus- bischen ein hilfreiches Identifikationsangebot zu ma- üben. chen. Die pessimistische Interpretation könnte lauten: Es wird versucht, mit den Schwabenbildern Wissen Verschafft es dem Kulturwissenschaftler, fragt sich der über eine vom Aussterben bedrohte Spezies in der kul- Autor, ein gutes Gefühl, für die zu sprechen, denen turellen Gen-Bank einzulagern. die Selbstidentifikation als Schwabe hilft, die Welt über- schaubar zu machen, einen Platz darin einzunehmen, Wie wäre es mit folgender Erklärung? Der Autor ver- sich zugehörig zu empfinden und das Eigene vom sucht sich hineinzuversetzen in Menschen, die aufge- Fremden abzugrenzen? Folgendes Argument, so mut- wachsen sind in einer Region, der Großstädter gern maßt er, könnte der Sympathie für regionale Selbst- das Etikett „Provinz“ aufkleben. Sie haben erfahren, definitionen zugrundeliegen. Ist es nicht einfach dem welche Reaktion zwischen mildem Lächeln und Her- Menschen gemäß, an einem bestimmten Ort, in einer ablassung die Dialektfärbung ihrer Sprache hervorruft. durch ihre Kultur wiedererkennbaren, einzigartigen Da wäre es geradezu verwunderlich, wenn es keine Region zu Hause zu sein – anstatt im Gefolge der glo- Trotzreaktion gäbe. Eine Person, der von außen, un- balen Kapitalströme das Netz geschichts- und bezie- gefragt die Rolle des Schwaben zugewiesen wird, kann hungsloser „Nicht-Orte“ (Marc Augé) zu frequentie- diese kultivieren: sie bearbeiten, pflegen, erweitern, ren, die Flughäfen, Schnellstraßen und Hotels aller umwerten, ihre Ambivalenzen und Widersprüche aus- Kontinente? So mag sich der anthropologisch belese- kosten. Sie kann den zugeschriebenen Ernst ad absur- ne Kulturwissenschaftler fragen, und vielleicht emp- dum führen durch den Witz, mit dem sie das Thema findet er dabei die Befriedigung, sich dem Zeitgeist zu umspielt. widersetzen und der allgegenwärtigen Zumutung, man

220 „Eines nur?“ Oder: macht schwäbisch gesund? möge die kapitalistische Globalisierung als Instrument im Sog einer Interessenpolitik wiederfinden, die mit der historischen Vernunft preisen. der Beschwörung des Schwäbischen auf höchst zwei- Schließlich könnte, so überlegt der Autor, noch ein felhafte Solidarisierungen ausgeht. Vielleicht aber, und weiterer Gedanke im Spiel sein. Wenn es Sinn und das wäre sicher der unglücklichste Effekt, machen sich Nutzen verspricht, das Schwäbische für etwas Wirkli- die Zuschauer am Rande der Arena einen eigenen Reim ches zu halten und sich selber als Schwaben zu defi- auf die kulturwissenschaftlichen Vorführungen – ei- nieren – warum soll das nur für die Objekte der For- nen Reim, der deren Absicht konträr entgegenläuft. schung gelten? Muß der Kulturwissenschaftler mit Vielleicht dient ihnen das dialektische Spiel mit den Gewalt ein Fremder bleiben in der Welt derer, die sich Schwabenbildern nur zur Bestätigung einer Neigung, selbst Bodenständigkeit zuschreiben? Wie soll er sie die derzeit fast unwiderstehlich scheint: nach einem verstehen können, wenn ihm jedes Verständnis für den unveränderlich und geschichtsbeglaubigt Eigenen zu Gefühlskomplex „Heimat“ abgeht? Und weiter (hier suchen und Sicherheit von Abgrenzung zu erwarten. gerät der Autor endgültig ins Feld der Spekulation), Das wäre dann zwar ein kapitales Mißverständnis der enthalten die Bindungen an regionale Kultur, an ihre in diesem Band vorgestellten Analyse – aber im wirk- räumlich verankerten Überlieferungen und Wissens- lichen Leben sind solche Umdeutungen eher die Re- bestände vielleicht ein Heilmittel gegen die Gefahr der gel als die Ausnahme. intellektuellen Existenz, sich in einem Universum will- kürlicher Begriffe zu verlieren, die vom realen Leben Freilich, ohne Stereotypen können wir uns nicht orien- durch eine unüberbruckbare Kluft getrennt sind? Wel- tieren, gar handeln in der Welt. Und die starren, sim- che Rolle spielt also bei der Beschäftigung mit plen Formeln, in die das Alltagswissen die fließende, Schwabenbildern die Hoffnung, daß schwäbisch ge- stets mehrdeutige Wirklichkeit zu bannen sucht, un- sund macht? terscheiden sich nur graduell von den Definitionen der Hier sieht der Autor ein, daß seine Versuche zu ver- Wissenschaft. Doch kann daraus nicht folgen, in der stehen erfolglos waren. Er hat Erklärungen entwickelt Nacht unserer Erkenntnisprobleme seien halt alle Kat- (von denen manche sich wie Unterstellungen anhö- zen grau. Dem Autor fällt beispielsweise auf, daß die ren) – aber der Faszination durch das Schwäbische steht Schwabenbilder fast ausschließlich in historischer Per- er immer noch fremd gegenüber. Er fragt sich: Was spektive behandelt werden. Diese Welt scheint offen kann, was darf eigentlich jemand kritisch bemerken nur in Richtung auf ihre Ursprünge hin; erklärt muß zu diesem Thema, für den es belangreich ist, daß der werden, wie der Schwabe zum Schwaben wurde. Aber Ort seiner Kindheit und Jugend eine Großstadt war, in dieser Gegend ist, wie überall im Lande, seit Jahr- aber nicht, daß er im Rheinland lag? Der Autor zehnten der Prozeß des Sich-Einstellens auf eine un- schwankt zwischen der Vermutung, dies sei keine bekannte Zukunft in einer zusammenrückenden Welt schlechte mentale Ausstattung für die Wanderexistenz im Gang. Im Beruf, in der Freizeit, in der Populär- und den offenen Umgang mit dem kulturell Fremden, kultur wie in der Nachbarschaft arrangieren Menschen die uns die Gegenwart abverlangt, und der Sorge, es sich mit bislang nie Gesehenem. Sie machen sich Stük- könne sich um ein Manko handeln, den Ausdruck eben ke aus verschiedenen Kulturen der Welt zu eigen (nicht jener ort- und bodenlosen intellektuellen Lebensform. nur Pizzastücke); zumindest üben sie den Umgang Aber dann bringt er es doch nicht über sich, seine Be- damit und lernen, mit Fremdem, Mehrdeutigem zu ko- denken herunterzuschlucken. existieren. Schmerzhaft, unter Druck, widerwillig lö- sen wir uns von Herkömmlichem – aber wir tun es Und so lauten die Einwände, die er zu machen hat. und und entwickeln Muster, Rituale und Traditionen Wer sich vom Regionalkulturellen faszinieren läßt und für eine Welt, die im Fluß ist, voll von hybriden Er- sich (beispielsweise) ins schwäbische Wesen vertieft, scheinungen und kulturell Rätselhaftem. der begibt sich aufs Eis dort, wo es am glattesten ist. Man kann hier, auf postmodern geschliffener Kufe, Schlagartig wird dem Autor bewußt, daß er hier nicht spielerisch Pirouetten drehen und zu eleganten Sprün- nur zu begründen versucht, warum er sich nicht als gen abheben. Man kann einbrechen und sich plötzlich Rheinländer fühlen kann. Auch Verärgerung führt die

221 „Eines nur?“ Oder: macht schwäbisch gesund?

Feder – Verärgerung angesichts der aktuellen gesell- herrscht – auch die Bewohner Schwabens können das. schaftlichen Debatte über kulturelle Globalisierung. Er (Und soweit sie es noch nicht ausreichend beherrschen, versteht, daß man sich vor allem den Problemen die- werden sie es üben.) ser Entwicklung zuwendet. Was ihn ärgert, ist, daß dabei die Leistungen alltäglichen Handelns völlig aus Die Mentalitätsgeschichte und die „history of dem Gesichtskreis verschwinden. Überlebensgroß hin- emotions“ könnten uns lehren, daß es kein unverän- gegen werden die psychischen Reaktionen gemalt – derliches, anthropologisch festgeschriebenes Maß da- reduziert zumeist auf Angst und Besorgnis. Abwehr für gibt, wieviel Neues Menschen bewältigen und mit und Flucht angesichts der Herausforderung zum Wan- welchen Gefühlen sie jeden Tag an diese Aufgabe her- del erscheinen als einzig natürliche Reaktion. Wider- angehen. Der Reflex, kulturell Unbekanntes als „Frem- stände und Widerwillen werden nicht nur gerechtfer- des“ zu identifizieren und mit der Beschwörung tigt, sie werden geradezu kultiviert. Ja, sie werden traditionsbeglaubigter Identität zu antworten, ist an- kulturalisiert: Das eigentliche Problem, so hört man trainiert, nicht angeboren. Und Kulturwissenschaft, so allerorten, sei die Erschütterung der kulturellen Iden- meint der Autor, ist aufgefordert, über ihren Beitrag tität. zur Erziehung der Gefühle nachzudenken. Der Schwa- be und die Schwäbin als Akteure einer ständigen Me- An diesem Punkt spürt der Autor die Versuchung, sel- tamorphose, respekteinflössend durch ihre Wandlungs- ber zurückzugreifen auf eine der Denkformen, die er fähigkeit und manchmal sogar zufrieden dabei – hat in diesem Text in Zweifel zieht: den „Nationalcharak- dieses Bild weniger Realitätsgehalt als das vom spar- ter“. Unterscheiden sich die Deutschen vielleicht doch samen und depressiven Schwaben? Warum spricht von ihren Nachbarn durch die ausgeprägte Kultivie- heute – beispielsweise – kaum jemand über die Aus- rung des Selbstmitleids? Liefern Migration und kultu- wanderer, die in so großer Zahl aus dem Schwaben- relle Globalisierung dafür nur den aktuellen Anlaß? land ins Unbekannte aufgebrochen sind? Waren sie schlechte Schwaben, wenn sie heute Ungarn oder Zu beobachten ist jedenfalls: In den Geschichten, mit- Amerikaner sind? tels derer die Deutschen ihren Erfahrungen Sinn ver- leihen, handeln keine Menschen, die – unsicher, voller Aber vielleicht ist die Frage falsch gestellt. Vielleicht Sorgen und mit Fehlern – kulturelle Herausforderun- fehlt der Wissenschaft noch ein Denkmuster für den gen bewältigen und sich dabei selbst verändern. Er- ständigen Wandel, für die Metamorphose als Kultur- zählt werden vorwiegend Geschichten über Ängste, die prinzip. Mehrdeutigkeit, Fluidität, Austausch und Mon- sie spüren, und über die Suche nach einer eindeutigen, tage, das nicht Fixierbare erfaßt sie bestenfalls als Rand- in Herkunft fest verankerten Identität, von der sie sich und Übergangsphänome bei ihrer Suche nach „We- angeblich Beruhigung versprechen. Für Zukunft, sen“, „Kern“, Struktur, Gesetz. Vielleicht ist hier et- Wandlungsfähigkeit und Neugier auf Kommendes sind was vom Kopf auf die Füße zu stellen, vielleicht wäre anscheinend nur mehr die Schönredner des technischen der Versuch über die Selbstveränderung ins Offene Fortschritts und die Ideologen des freien Weltmarkts hinein ein Thema unserer Zeit? Ob man von der Fra- zuständig. ge nach den Schwaben und dem Schwäbischen dort- hin gelangt, bezweifelt der Autor weiterhin. Dabei weisen ethnologische Untersuchungen kulturel- ler Globalisierung durchgängig auf eines hin: Nicht Wie es sich gehört, läßt er einem „Schwaben“ das letz- Uniformität, Angleichung, Einheitszivilisation ist der te Wort. Unter der Überschrift „Wurzel alles Übels“ Trend, sondern „Kreolisierung“: kreatives Sich- schrieb Friedrich Hölderlin folgendes Distichon: behaupten durch Ein- und Umschmelzen dessen, was als (meist ungewollter) kultureller Import über uns „Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht hereinzubrechen scheint. Nichts spricht dafür, daß man denn/unter den Menschen, daß nur Einer und Eines diese Kunst nur in Trinidad, Kenia und Indien be- nur sei?“

222 Anhang

Literatur

Utz Jeggle: „Wie echt“

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Bildnachweis

AutorInnen: 31, 32, 33/1, 33/2, 34, 61, 64, 65, 67, 68, 69, 113, Gundel Kilian, Fotojournalist und Archiv, Wäschenbeuren: 217 150, 173, 174/1, 174/2, 175, 177, 179, 180/1, 180/2, 185, Christel Köhle-Hezinger/Gabriele Mentges (Hg.): Der neuen Welt 186, 188, 189 ein neuer Rock. Stuttgart 1993, S. 195: 27/1 Bernd Bauknecht/Ludwig-Uhland-Institut: 2, 10/1, 10/2, 10/3, Abraham P. Kustermann/Dieter R. Bauer (Hg.): Jüdisches Leben 16/1, 16/2, 27/2, 28, 38/2, 42, 77, 122/1, 122/2, 137, 202 im Bodenseeraum. Ostfildern 1994, S. 203: 136 Besenmuseum Mochental: 85 Landesdenkmalamt Tübingen: 139/2, 140/1 Liselotte Bihl: August Lämmle-Lesebuch. ein schwäbisches Haus- Landeskirchliches Archiv: 74 buch. Mühlacker 1977 (3. Aufl.), S. 48f.: Landeskirchliches Museum, Ludwigsburg: 14, 73, 73, 76, 82, 84, 144 88 Soldat Birkmeyer aus Neuffen. Erinnerungen aus den Jahren 1863- Verlag Gebr. Metz, Tübingen: 11/1, 123/1-3 1871. Nürtingen 1985, S. 66: 36 Helmut Maier, Heiningen: 18 Lothar Bladt, Markgröningen: 87 Wolf-Dieter Nill, Tübingen: 21, 168 Dieter Blum, Esslingen am Neckar: 164 Walter Ott, Buttenhausen: 139/1 Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern (Hg.): Martin Scharfe, Marburg: 55, 56/2, 72 Schwäbisches Heimatbuch 1927. Stuttgart 1927, S.7: 145 Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar: 112 John Cranko Biographie. Stuttgart 1985: 212 Resi Schwarz, Shavei Zion: 140/2 Deutsches Theatermuseum, Archiv Madeline Winkler-Betzendahl, Staatsgalerie Stuttgart: 103, 105/1, 105/2, 110, 111, 114/1 München: 213, 215/1, 215/2 Stadtarchiv Stuttgart: 114/2, 141 Diakonisches Werk Württemberg: 11/2 Stadtarchiv Tübingen 116, 117, 131 Federseemuseum, Bad Buchau: 138/2 Stadtmuseum Göppingen: 126 Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart: Stadtverwaltung Tübingen: 29/2 46, 47, 50, 51 Städtisches Museum Ludwigsburg: 75 Heimatmuseum Mössingen: 10/2 Statistisches Landesamt, Stuttgart: 91, 92 Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. Tübingen 1969: 134 Bernhard Trebuth, Reutlingen: 169 Dorothea Kallenberg: Was dr Schwob ißt. Stuttgart 1986, S. 87: Volksbank Horb: 104 153/1, 153/2 Foto Weber, Haigerloch: 138/1 Dr. Ulrich Keuler, Kusterdingen: 194, 196 Württembergisches Landesmuseum, Stuttgart: 9, 38/1, 98, 99, 100, Hannes Kilian, Fotojournalist und Archiv, Wäschenbeuren: 216/ 120/1-4, 121, 123/4 1, 216/2 Zeitungsarchiv des Ludwig-Uhland-Instituts: 147

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Leihgeber

Archive und Museen: Firmen und Institutionen:

Heimatmuseum Betzingen Restaurant Waldhörnle, Bebenhausen Stadtmuseum Fellbach Evangelische Kirchengemeinde Leidringen Kutschenmuseum Felldorf Theater Lindenhof, Melchingen Stadtmuseum Gerlingen Bausparkasse Schwäbisch Hall Stadtmuseum Göppingen Feinkost Böhm, Stuttgart Heimatmuseum Jungingen Landesvermessungsamt Stuttgart Gemeindearchiv Leidringen Stuttgarter Ballett Landeskirchliches Museum, Ludwigsburg VfB Stuttgart 1893 e. V. Staatsarchiv Ludwigsburg Anatomisches Institut der Universität Tübingen Stadtmuseum Mössingen Anthropologisches Institut der Universität Tübingen Heimatmuseum Münchingen Restaurant Mauganeschtle, Tübingen Optikmuseum Oberkochen (Firma Zeiss) Schwäbischer Heimatbund Waldensermuseum Schönenberg Haus der Geschichte, Stuttgart Staatsgalerie Stuttgart Stadtarchiv Stuttgart Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart Württembergisches Landesmuseum, Stuttgart Stadtarchiv Tübingen Privatpersonen: Stadtmuseum Tübingen Universitätsbibliothek Tübingen Gertrud Buder, Waldenbuch Edmund Bernt, Weissach-Flacht Dr. Eberhardt, Mehrstetten Stefan Gränzer, Tübingen Dr. Ulrich Keuler, Kusterdingen Iris Koch, Tübingen Cem Özdemir, Bad Urach Familie Weißenbühler, Neuweiler im Schönbuch

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Für finanzielle, materielle und logistische Unterstützung der Ausstellung und der Buchproduktion danken wir:

LG-Stiftung Kunst und Kultur Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V. (TVV) Firma Egger, Brilon Württembergische Weingärtner-Zentralgenossenschaft e. G., Möglingen

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