RedakteurInnen in der Debatte: www.blaetter.de/podcast Debatte: inder RedakteurInnen Blätter-Pod Zu »Blätter«-Ausgabe jeder neuen –AutorInnen und cast in mit Kooperation

Blätter 8’19 Keeanga-Yamahtta Taylor Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Für eineFür Ökonomie Black Lives Matter Matter Lives Black Mariana Mazzucato Mariana der Hoffnung gegen Trumpgegen internationale deutsche und Blätter für Politik

Wolfgang Meyer-Hentrich in die Klimakatastrophe Kreuzfahrt Rafecas Daniel Schweigen das gegen Argentinien Hentges Gudrun Arendts Hannah Zur Aktualität Europa: Festung Wolfgang Engler die Demokratie und Die Ostdeutschen Pausch Robert und Felix Butzlaff SPD der Die Existenzkrise Moser,Thomas Steinhagen Martín Lübcke-Mord: Terror Führer? ohne 8’19

Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Jan M. Piskorski Autorinnen und Autoren dieses Heftes Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Samantha Power Ian Kershaw Heribert Prantl Samir Amin Norbert Frei Hans Blix, geb. 1928 in Uppsala/ Annett Mängel, geb. 1976 in Rode- Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Ulrich K. Preuß Schweden, PhD, Jurist, ehem. Außen- wisch, Politikwissenschaftlerin und Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Karin Priester minister Schwedens, ehem. Generaldi- Germanistin, „Blätter“-Redakteurin. Franziska Augstein Georg Fülberth Naomi Klein Avi Primor rektor der Internationalen Atomener- Uri Avnery James K. Galbraith Alexander Kluge Tariq Ramadan gie-Organisation, ehem. Vorsitzender Mariana Mazzucato, geb. 1968 in Susanne Baer Heinz Galinski Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann der UN-Rüstungskommisson, Mitglied Rom/Italien, Professorin für Wirt- Patrick Bahners Johan Galtung Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma der sicherheitspolitischen NGO „Euro- schaftswissenschaften am University Egon Bahr Timothy Garton Ash Otto Köhler Jens G. Reich pean Leadership Network“. College London und an der University Etienne Balibar Bettina Gaus Walter Kreck Helmut Ridder of Sussex/Großbritannien. Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling Micha Brumlik, geb. 1947 in Davos/ Paul Krugman Romani Rose Schweiz, Dr. phil., Prof. em. für allge- Wolfgang Meyer-Hentrich, geb. 1949 meine Erziehungswissenschaften an in Leverkusen, Historiker, Politikwis- Adam Krzeminski Rossana Rossandra In den »Blättern« der Universität Frankfurt a.M., „Blät- senschaftler und Soziologe, lebt als Erich Kuby Werner Rügemer ter“-Mitherausgeber. Publizist und Autor in Köln. schrieben bisher Jürgen Kuczynski Irene Runge Charles A. Kupchan Bertrand Russell Felix Butzlaff, geb. 1981 in Celle, Dr. Thomas Moser, geb. 1958 in Bracken- Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto disc. pol., Politikwissenschaftler am heim, Politikwissenschaftler, freier Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Oskar Lafontaine Saskia Sassen Institut für Gesellschaftswandel und Journalist. Fritz Bauer Heiner Geißler Claus Leggewie Albert Scharenberg Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirt- Yehuda Bauer Susan George Gideon Levy Fritz W. Scharpf schaftsuniversität Wien. Robert Pausch, geb. 1991 in Kassel, Ulrich Beck Sven Giegold Hans Leyendecker Hermann Scheer Politikwissenschaftler, Redakteur im Seyla Benhabib Peter Glotz Jutta Limbach Robert Scholl Wolfgang Engler, geb. 1952 in Dres- Politikressort der „Zeit“. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Birgit Mahnkopf Karen Schönwälder den, Dr. sc. phil., Professor fur Kultur- soziologie und Ästhetik, langjähriger Christine Pütz, geb. 1967, Dr. phil, Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Peter Marcuse Friedrich Schorlemmer Rektor der Hochschule fur Schauspiel- Politikwissenschaftlerin, Referentin Ernst Bloch André Gorz Mohssen Massarrat Harald Schumann kunst „Ernst Busch“ in Berlin. Europäische Union der Heinrich-Böll- Norberto Bobbio Glenn Greenwald Ingeborg Maus Gesine Schwan Stiftung in Berlin. E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Bill McKibben Dieter Senghaas Gudrun Hentges, geb. 1964 in Wittlich, Thilo Bode Jürgen Habermas Ulrike Meinhof Richard Sennett Dr. phil., Professorin für Politikwissen- Daniel Rafecas, geb. 1967 in Buenos Bärbel Bohley Sebastian Haffner Manfred Messerschmidt Vandana Shiva schaft, Bildungspolitik und Politische Aires, Dr. iur., Jurist, Professor für Heinrich Böll Stuart Hall Bascha Mika Alfred Sohn-Rethel Bildung an der Universität zu Köln. Strafrecht, Bundesrichter in Argenti- Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Pankaj Mishra Kurt Sontheimer nien. Ulrich Brand Heinrich Hannover Robert Misik Wole Soyinka Caro Keller, Kommunikationswissen- Karl D. Bredthauer David Harvey Hans Mommsen Nicolas Stern schaftlerin, Redakteurin beim antifa- Eva van de Rakt, geb. 1973, Büroleite- Micha Brumlik Amira Hass Wolfgang J. Mommsen Joseph Stiglitz schistischen Bündnis NSU-Watch. rin der Heinrich-Böll-Stiftung Euro- Nicholas Carr Christoph Hein Albrecht Müller Gerhard Stuby päische Union in Brüssel. Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Herfried Münkler Emmanuel Todd freier Journalist in Berlin. Norbert Reuter, geb. 1960 in Wegberg, Daniela Dahn Detlef Hensche Adolf Muschg Alain Touraine Dr. rer. pol., Volkswirtschaftler, Leiter Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Gunnar Myrdal Jürgen Trittin Daniel Leisegang, geb. 1978 in Unna, der Tarifpolitischen Grundsatzabtei- György Dalos Ulrich Herbert Wolf-Dieter Narr Hans-Jürgen Urban Politikwissenschaftler, „Blätter“-Re- lung der ver.di-Bundesverwaltung. Mike Davis Seymour M. Hersh Klaus Naumann Gore Vidal dakteur. Alex Demirovic Hermann Hesse Antonio Negri Immanuel Wallerstein Julia Schweers, geb. 1991 in Berlin, Frank Deppe Rudolf Hickel Oskar Negt Franz Walter Godela Linde, geb. 1945 in Varenholz, Sozialwissenschaftlerin, „Blätter“-Re- Dan Diner Eric Hobsbawm Kurt Nelhiebel Hans-Ulrich Wehler Juristin, Rechtsanwältin in Marburg, dakteurin. Walter Dirks Axel Honneth Oswald v. Nell-Breuning Ernst U. von Weizsäcker lange Jahre im gewerkschaftlichen Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Rupert Neudeck Harald Welzer Rechtsschutz tätig. Martín Steinhagen, freier Journalist Daniel Ellsberg Walter Jens Martin Niemöller Charlotte Wiedemann in Frankfurt a. M. mit dem Schwer- Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- punkt Rechtsextremismus. Wolfgang Engler Hans Joas Bahman Nirumand Rosemarie Will gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Hans-M. Enzensberger Tony Judt Claus Offe Naomi Wolf wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Keeanga-Yamahtta Taylor, PhD, Erhard Eppler Lamya Kaddor Reinhard Opitz Jean Ziegler Soziologin, Professorin für African- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Valentino Parlato Moshe Zimmermann Kenan Malik, geb. 1960 in Telangana/ American Studies an der Universität Iring Fetscher Petra Kelly Volker Perthes Moshe Zuckermann Indien, Neurologe, Wissenschaftshis- Princeton/USA. Joschka Fischer Robert M. W. Kempner William Pfaff toriker, Dokumentarfilmer und Autor. Heiner Flassbeck George F. Kennan Thomas Piketty ...und viele andere. Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 64. Jahrgang Heft 8/2019

Herausgeberkreis Katajun Amirpur Seyla Benhabib . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin INHALT KOMMENTARE 8’19 5 »Der Osten steht auf«: Die AfD als Führerpartei Albrecht von Lucke

9 EU-Wahl 2024: Aus Fehlern lernen Christine Pütz und Eva van de Rakt

13 Unter BDS-Verdacht: Der neue McCarthyismus Micha Brumlik

17 Kollege Weinstein: Sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz Godela Linde

21 Facebook: Mit Libra mal kurz die Welt retten? Daniel Leisegang

25 Plastik global: Die große Recyclinglüge Annett Mängel

REDAKTION 29 Ebola im Kongo: Anne Britt Arps Die ignorierte Epidemie Daniel Leisegang Julia Schweers Albrecht von Lucke Annett Mängel DEBATTE Julia Schweers Steffen Vogel 33 Die Gewerkschaften gegen die Klimakrise BESTELLSERVICE Norbert Reuter Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] KOLUMNE

WEBSITE 37 Der Preis der Abschottung www.blaetter.de Kenan Malik

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

41 »Wir müssen uns selbst retten« Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump Keeanga-Yamahtta Taylor

53 »Das Recht, Rechte zu haben« Die Festung Europa und die Aktualität Hannah Arendts Gudrun Hentges

61 Lübcke-Mord: Terror aus dem »führerlosen Widerstand«? Martín Steinhagen

66 Rechter Terror oder: AUFGESPIESST Die doppelte Vertuschung 60 Der Bremer Weg Thomas Moser zum Bürgermeister Jan Kursko 73 Verheißung und Enttäuschung Die Ostdeutschen und die Demokratie SCHLAGLICHT Wolfgang Engler 107 Iran: Washington auf 81 Partei ohne Erzählung: Eskalationskurs Die Existenzkrise der SPD Hans Blix Felix Butzlaff und Robert Pausch BUCH DES MONATS 89 Wertschöpfung statt Wertabschöpfung: 121 Deutschland Für eine Ökonomie der Hoffnung rechts außen Mariana Mazzucato Matthias Quent

101 Gegen den Pakt des Schweigens: EXTRAS Die Aufarbeitung des argentinischen Staatsterrors 39 Kurzgefasst Daniel Rafecas 124 Dokumente 125 Chronik des Monats 110 Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe Juni 2019 Wie Megaliner Natur und Mensch 128 Zurückgeblättert bedrohen 128 Impressum und Wolfgang Meyer-Hentrich Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Anzeige

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 KOMMENTARE

Albrecht von Lucke »Der Osten steht auf«: Die AfD als Führerpartei

„Die Revolution frisst ihre Kinder“: Nach der Gründung 2013 firmierte die Dieser aus der Französischen Revoluti- AfD recht bald als „Lucke-Partei“; im on stammende Satz trifft offensichtlich Sommer 2015 erfolgt dann der erste nicht weniger auf rechte Bewegungen Einschnitt, Luckes Entmachtung, und zu, wie gegenwärtig an der Entwick- daraufhin der Abgang der ersten Füh- lung der AfD zu beobachten ist. Wir rungsfigur. Die AfD wird danach zur erleben eine fundamentale Auseinan- „Petry-Partei“, doch schon im Sommer dersetzung zwischen dem rechtsradi- 2017 erfolgt die zweite Entmachtung kalen „Flügel“ um Björn Höcke und und nach der Bundestagswahl dann den sich selbst euphemistisch als eher auch der Abgang Frauke Petrys in die gemäßigt begreifenden rechtskonser- politische Bedeutungslosigkeit. Ihre vativen Kräften. Den Landtagswahlen Nachfolge tritt das Duo Alexander in Ostdeutschland – am 1. September Gauland und Jörg Meuthen an, alsbald in Brandenburg und Sachsen wie am ergänzt durch die zweite Fraktionsspit- 27. Oktober in Thüringen – kommt da- ze . Nun also, wieder im bei eine entscheidende Rolle zu. Zwei-Jahres-Zyklus, folgt der dritte ra- Auf dem jüngsten Kyffhäuser-Tref- dikale Einschnitt: Höcke stellt der Par- fen hat der unangefochtene Führer der teiführung die Machtfrage. „Ich kann rechtsradikalen Bewegung innerhalb euch garantieren, dass dieser Bundes- der AfD, Björn Höcke, deutlich wie vorstand in dieser Zusammensetzung noch nie seinen Machtanspruch for- nicht wiedergewählt wird“, so der muliert. Schon lange ist der Thüringer AfD-Führer wortwörtlich. Damit droht AfD-Chef das Gesicht des Flügels; jetzt vor allem Meuthen dasselbe Schicksal aber beansprucht er, mit seiner Art der wie zuvor Lucke und Petry. Frisst die Politik letztlich die AfD in Gänze zu Revolution also erneut ihre Kinder? verkörpern. Sein Ziel und das seiner Bisher hatte Höcke immer eher aus Anhänger besteht darin, aus der AfD dem Hintergrund agiert und vor allem eine Führerpartei zu machen – total in seinem Flügel den Führerkult ge- ausgerichtet auf Höcke selbst. pflegt. Auf diese Weise ließ er andere Bereits die bisherige, immer noch die „Drecksarbeit“ verrichten und das kurze AfD-Geschichte ist von starker vergleichsweise gemäßigte Führungs- Personalisierung, ja einem gewissen personal abservieren. Im Falle Luckes Personenkult gekennzeichnet. Das be- und Petrys waren ihm dabei Gauland ginnt mit der Gründerfigur Bernd Lu- und Meuthen gerne zu Diensten. Im cke und setzt sich fort mit der Über- Zweifel, wenn es unabdingbar war wie gangsvorsitzenden . Doch im Fall seiner berüchtigten Dresdner der Kult um Höcke ist von anderer Rede1 vom 17. Januar 2017, war Höcke Art, nämlich echter Führerkult. Damit sogar bereit, den allergrößten Tabu- ist der von ihm erhobene Führungs- bruch zumindest zu relativieren. anspruch der (vorerst) letzte von drei großen Schritten einer fortgesetzten 1 Darin bezeichnete er das Holocaust-Mahnmal Selbstradikalisierung der Partei. abfällig als „Denkmal der Schande“.

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Dabei hatte Höcke bereits damals vor nicht „bis zur Kenntlichkeit entstellt“, seinem Anhang seinen Anspruch ein- sondern im Gegenteil erst herausge- deutig erklärt: „Ich weise euch einen arbeitet. Am Ende jeder rechtspopu- langen und entbehrungsreichen Weg, listisch-antiparlamentarischen Revo- ich weise dieser Partei einen langen lution steht letztlich immer das Füh- und entbehrungsreichen Weg, aber es rerprinzip: „Ein Volk, ein Reich, ein ist der einzige Weg, der zu einem voll- Führer“. Höcke ist insofern nur kon- ständigen Sieg führt, und dieses Land sequent: Er fügt dem in der AfD herr- braucht einen vollständigen Sieg der schenden Freund-Feind-Denken, ihrer AfD.“ Denn, so sein immer wieder ge- radikalen Absage an die parlamentari- brauchter, dubiosester und zugleich sche Demokratie der „Kartellparteien“ vielsagendster Satz: „Die AfD ist die jetzt nur noch das letzte fehlende Glied letzte evolutionäre Chance für unser hinzu: Wo es ein gutes, unverdorbenes Vaterland.“ Die implizite Drohung lau- Volk gibt, braucht es nur noch den rich- tet: Wir übernehmen die Macht auf le- tigen, eben zutiefst aufrichtigen Füh- galem Wege oder es folgen Chaos und rer. Auf Twitter heißt es denn auch be- die gewaltsame Machtergreifung. reits allenfalls halbironisch über Hö- Gemeint ist mit Höckes „vollständi- cke: „Der Führer kommt.“ gem Sieg“ immer ein zweifaches: der Noch 2017 war die Lage eine völlig Sieg der AfD und der Sieg seiner eige- andere, für den Thüringer höchst pre- nen Strömung in der AfD. Im Ergeb- käre. Doch obwohl Höcke damals, wie nis steht dahinter nicht mehr und nicht schon mehrfach, vor dem Parteiaus- weniger als der Anspruch, aus der AfD schluss stand, hielten wieder ande- eine Flügel- und zugleich Höcke-Par- re schützend ihre Hand über ihn – im tei zu machen. Dafür wird der „Mensch Zweifel höchstper- Höcke“ wie jüngst auf dem Kyffhäu- sönlich. Heute aber bindet Björn Höcke ser-Treffen mit Fahnenaufzug und der so viele Personen, dass er für die Par- Huldigung der Massen als der makel- tei unverzichtbar geworden ist – nicht lose Nicht- und Anti-Politiker in Szene nur, aber gerade auch mit Blick auf die gesetzt; und Höcke inszeniert sich zu- Wahlen im Osten. gleich selbst als der einzige Aufrech- Tatsächlich kommt dem Osten in te (er ziehe keine Strippen, das sei be- den Plänen Höckes wie des gesamten kanntlich seine „große Schwäche“), Flügels entscheidende Bedeutung zu. der unerbittlich gegen die „Spalter und In seiner Dresdner Rede hatte er noch Feindzeugen“ zu Felde zieht, gegen all die Stadt an der Elbe zur „Hauptstadt die „Halben“, die „vom parlamentari- des Widerstands“ erkoren; jetzt wird schen Glanz der Hauptstadt fasziniert der ganze Osten zur Heimat der Bewe- werden“. Anders als früher agiert Hö- gung. Denn auch das Motto des dies- cke nun nicht mehr aus dem Hinter- jährigen Kyffhäusertreffens – „Der grund, sondern er sucht gezielt den Osten steht auf“ – hat einen eindeu- offenen Konflikt mit seinen einstigen tigen Hintergrund. Bei einem Mann Förderern – und zwar in dem Wissen, wie dem Geschichtslehrer Höcke, der dass seine Macht längst und wohl end- schon bei früherer Gelegenheit gern gültig zu groß geworden ist, als dass auf das „Tausenjährige Deutschland“ man ihn noch einfach aus der Partei zu sprechen kam, handelt es sich bei werfen könnte. Wie weit der Führer- diesem Motto keineswegs um eine kult bereits gediehen ist, belegt die harmlos-ironische Anspielung auf die Tatsache, dass Höcke beim Kyffhäu- gescheiterte linke Bewegung „Aufste- ser-Treffen eigene „Flügel“-Abzeichen hen“, sondern um eine sehr bewusste für treue Dienste verlieh. Faktisch Anleihe an das „Nun Volk steh auf und hat Höcke auf diese Weise den wah- Sturm brich los“ aus Goebbels berüch- ren Kern jeder völkischen Bewegung tigter Volkspalastrede.

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Es ist auch keineswegs das erste Mal, erste deutsche Rechtspartei unideo- dass Höcke fast wortgleich mit Hitlers logisch im alten Sinne sein, also nicht Reichspropagandaminister argumen- der völkischen NS-Ideologie und Ge- tiert. Schon früher wiesen seine Reden schichte verpflichtet, sondern mit der den typischen „Goebbels-Sound“ (Mo- Verteidigung des Abendlandes gegen nitor) auf. So postulierte er bei seiner das Feindbild Islam wirklich „europä- Kyffhäuser-Rede 2018: „Heute, liebe isch nationalistisch“. Und zudem sollte Freunde, lautet die Frage nicht mehr die Partei gerade keinen spezifischen Hammer oder Amboss, heute lautet die Führerkult pflegen. Die AfD hatte sich Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe insofern von der alten deutschen Rech- Freunde, meine hier, wir entscheiden ten gleich doppelt emanzipiert – vom uns in dieser Frage: Wolf.“ Mit eben- ideologischen NS-Bezug wie von der solchen Wolf-oder-Schaf-Vergleichen alles überragenden Führerfigur. argumentierte auch Goebbels, etwa in einem Leitartikel der NSDAP-Zeitung „Der Angriff“, in dem es heißt: „Wir Der charismatische Führer kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Jetzt aber – denn genau das zeigt Hö- Wie der Wolf in die Schafherde ein- ckes Frontalangriff auf die Parteifüh- bricht, so kommen wir!“2 rung – hat der Flügelführer sich von Bezeichnenderweise konnten all seinem Förderer Gauland emanzpiert. diese gezielten NS-Anspielungen Hö- Vor allem im Osten, aber keineswegs ckes Gegner in der Partei bisher nicht nur dort, stört der Führerkult offen- nennenswert beunruhigen; das aber sichtlich kaum mehr, im Gegenteil: Mit tut nun sein klar erhobener Allein- wachsendem Unbehagen an der De- vertretungsanspruch. „Mit seiner Re- mokratie wird autoritäre Führerschaft de beim Kyffhäuser-Treffen am Sonn- sogar attraktiv, wie der bemerkens- abend hat Björn Höcke die innerpartei- werte Zuspruch speziell für Wladimir liche Solidarität verletzt und ist damit Putin („Putin hilf!“) belegt. unseren Wahlkämpfern und Mitglie- Hinzu kommt: Höcke ist die bis heu- dern in den Rücken gefallen“, hieß es te einzige echte, charismatische Füh- denn auch umgehend in einem „Auf- rerfigur in der Partei. Anders als bei ruf der 100“, in dem vor allem aus dem allen anderen – und vor allem den drei Westen stammende Funktionäre wei- eher technokratischen Politikern an ter fordern: „Die AfD ist und wird kei- der Parteispitze (Gauland, Meuthen, ne Björn-Höcke-Partei.“ Höcke sol- Weidel) – gibt es im Falle Höckes eine le sich endlich auf seine Aufgaben in immense Bindung seiner Basis an ihn Thüringen beschränken. Doch davon als Parteiführer. Auch deshalb konnte wird in Zukunft noch weniger die Re- er sich über all die Tabubrüche an der de sein als bisher, da Höcke seinen Macht halten (anders als sein vormali- Führungsanspruch noch stärker gel- ger Flügel-Mitstreiter, der tumb rechts- tend machen dürfte. Damit aber bricht radikale ehemalige sachsen-anhaltini- er dezidiert mit der bisherigen Partei- sche AfD-Chef André Poggenburg). strategie. Das Neue und vermeintlich Das Problem speziell Gaulands, aber Erfolgversprechende an der AfD war auch Meuthens besteht zudem darin, aus Sicht von Gauland und Meuthen dass sie sich die Höckeschen Strategie ja gerade die Tatsache, dass sie ohne des gezielten Tabubruchs bereitwil- die Charakteristika der alten Rechten lig zu eigen gemacht haben (etwa mit auskommen sollte. Die AfD sollte als Gaulands Bezeichnung Hitlers als „Vo- gelschiss“ der Geschichte). Auch wenn 2 Siehe den Beitrag von Marc Röhlig auf www. Gauland auf dem diesjährigen Kyff- bento.de, 24.6.2018. häusertreffen für verbale Mäßigung

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 8 Kommentare plädierte, war diese Absage an Höcke Wenn die AfD-Spitze derzeit bestrei- keine Frage der Überzeugung, sondern tet, dass es eine „Unterwanderung rein instrumenteller Natur. Verbal radi- durch Rechtsextremisten“ gibt, ist das kal, aber immer unter dem bürgerlichen folglich eine maßlose Untertreibung Mäntelchen: Dieses bewusste Spiel mit – und zwar selbst ohne Höcke, wenn dem Feuer war die Methode Gauland. man bedenkt, dass in Schleswig-Hol- Aber genau sie wird nun zum Verhäng- stein mit Doris von Sayn-Wittgenstein nis: Viel zu lange haben die „Modera- soeben die Unterstützerin eines Ver- ten“ Höcke gezielt unterstützt, nun wer- eins von Holocaust-Leugnern erneut den sie ihn nicht mehr los.3 zur Parteivorsitzenden gewählt wurde, Schon einmal in der deutschen Ge- obwohl ihr längst der Parteiausschluss schichte glaubten deutsche Rechts- droht, und Parteichef Meuthen vom konservative, sie könnten einen selbst- eigenen rechtslastigen Kreisverband ernannten Führer so in die Ecke drü- nicht einmal zum Bundesparteitag im cken, „dass er quietscht“. Doch am En- November delegiert wurde. Auch ohne de „quietschten“ sie. Sollte sich dieses Höcke wäre die AfD also keine norma- Scheitern mit Höcke wiederholen? le „bürgerliche“ Partei; mit Höcke und Dafür spricht, dass der Flügel insge- wachsender Stärke seines Flügels auch samt längst viel zu stark geworden ist, im Westen aber wird sie mit Sicherheit als dass man sich von Höcke heute noch noch radikaler werden. Wie sagte einst trennen könnte. Speziell die Ost-AfD ist Hans-Olaf Henkel: „Wir haben ein absolut überzeugt davon, dass sie keine Monster geschaffen.“ Er könnte damit Konzessionen an einen irgendwie ge- Recht behalten. arteten bürgerlichen Common Sense Immerhin ein Gutes allerdings hat mehr machen will und machen muss. dieses „Monster“: Nach den kommen- Und die Wahlergebnisse scheinen ihr den Landtagswahlen wird sich näm- dabei recht zu geben – und werden es lich auch die CDU, speziell in Sachsen, im Herbst mit glänzenden Resultaten zu entscheiden haben, ob sie sich mit erneut tun. Es ist von besonderer Iro- dieser AfD einlassen will. Doch, Höcke nie, dass der Parteivorstand regelrecht sei Dank, 44 von 60 CDU-Direktkan- in eine Zwangssolidarität gedrängt didaten schließen nun eine Regierung wird: Wenn er sich nicht im Wahlkampf mit der AfD dezidiert aus – doch im- für den Osten engagiert, wird man ihm merhin noch 16 tun dies bisher nicht. Verrat vorwerfen. Engagiert er sich Ob allerdings der sächsische Lan- aber, stärkt er die Machtbasis des Flü- deswahlausschuss den Kampf gegen gels – zu seinen eigenen Lasten. Denn die AfD leichter gemacht hat, indem nach den Landtagswahlen könnte es er die AfD-Landesliste wegen forma- zur Entscheidungsschlacht kommen. ler Mängel bei den Nominierungspar- Dann wird Höcke bei der Wahl zum teitagen auf 18 Kandidaten zusam- Bundesvorstand unter Beweis stellen menstrich, bleibt abzuwarten. Denn müssen, inwieweit er bereit ist, dies- auch diese Entscheidung ist höchst mal seinen markigen Worten Taten fol- ambivalent: Sie stärkt die Wut der AfD gen zu lassen. Wenig spricht dafür, dass und damit auch ihren Kampf um die er selbst für den Vorstand kandidiert, Direktmandate. Und vor allem sichert aber alles, dass er einen seiner engen sie den Rechtsradikalen bei ihren An- Vertrauten durchbringt.4 Die Macht hängern den Opfermythos gegen die des Flügels dürfte in Zukunft also wei- angeblich korrupten „Altparteien“ ter wachsen. – und nichts behagt der Höcke-AfD mehr als das, bei ihrem Kampf gegen 3 Wenn Höcke doch stürzt, dann eher durch das verhasste „System“. einen anderen Rechtsradikalen, etwa den ei- gentlichen Strippenzieher im Hintergrund, den 4 Dabei könnte es sich um den Görlitzer Bundes- Brandenburger Parteichef Andreas Kalbitz. tagsabgeordneten Tino Chrupalla handeln.

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Christine Pütz und Eva van de Rakt EU-Wahl 2024: Aus Fehlern lernen

Die Wahl Ursula von der Leyens zur Teil des Spitzenteams der Liberalen, neuen EU-Kommissionspräsidentin sprach am Wahlabend eine klare Bot- stellt einen Rückschlag für all jene Ver- schaft aus: Neue Koalitionen können suche dar, das Europäische Parlament gebildet werden, es komme nun darauf durch das Spitzenkandidatenprinzip an, sich dem Wandel zu stellen. Gleich- zu stärken. Der Vorschlag des Europä- zeitig betonte auch das Spitzenteam ischen Rats hat in den letzten Wochen der Grünen, Ska Keller und Bas Eick- nicht nur für Ernüchterung und Empö- hout, seine Bereitschaft, Allianzen zu rung gesorgt, sondern auch viele Fra- schmieden, um bei Klimaschutz, sozia- gen zur Zukunft der Demokratie in der ler Gerechtigkeit und Rechtsstaatlich- EU aufgeworfen. Dabei war am Abend keit einen Wandel einzuleiten. des 26. Mai doch so viel von Wandel In Bezug auf die Besetzung der Kom- und einer breiten Allianz der progres- missionsspitze war sich das EU-Par- siven Kräfte die Rede gewesen. Die lament mehrheitlich einig. Die Vorsit- deutlich höhere Wahlbeteiligung wur- zenden der vier größten Fraktionen, de – völlig zu Recht – als eine Stärkung die zusammen eine deutliche pro-eu- der demokratischen Legitimation des ropäische Mehrheit stellen, erklärten Europäischen Parlaments verstanden wenige Tage nach der Wahl gemein- und als Zeichen dafür gewertet, dass sam, sie würden nur eine*n der Spit- immer mehr Menschen die Notwen- zenkandidat*innen wählen, die vor digkeit sehen, zentrale Themen auf eu- der Wahl aufgestellt worden waren. Sie ropäischer statt auf nationaler Ebene legten sich damit auf die gleiche Pro- anzupacken. zedur fest, die bereits fünf Jahre zu- Trotz deutlicher Verluste der zwei vor Anwendung fand und Jean-Clau- stärksten Fraktionen – der Europäi- de Juncker an die Spitze der Kommis- schen Volkspartei (EVP) und der Pro- sion brachte. Das Spitzenkandidaten- gressiven Allianz der Sozialdemokra- prinzip soll nicht nur der Europäischen ten (S&D) – gaben sich die Spitzenkan- Kommission zusätzliche demokrati- didaten von Konservativen und Sozi- sche Legitimität verschaffen, sondern aldemokraten, Manfred Weber und auch den Einfluss des Europäischen Frans Timmermans, zuversichtlich. Parlaments auf die Entscheidungspro- Beide sprachen von der Verantwor- zesse erhöhen. tung, eine positive Vision zu verwirk- Doch es kam bekanntlich alles an- lichen. Klar war nach den Ergebnissen ders, und von der Zuversicht und Auf- der Europawahl aber auch: Die zwei bruchstimmung ist heute nicht mehr größten Fraktionen sind nicht mehr in viel zu spüren. Indem er Ursula von der der Lage, die Spitzenposten der EU un- Leyen vorschlug, entschied sich der ter sich zu verteilen, da sie erstmals seit Europäische Rat gegen das vom Eu- 1979 nicht mehr die Mehrheit im Parla- ropäischen Parlament eingeforderte ment stellen. Spitzenkandidatenprinzip. Bei vielen Gestärkt gingen aus diesen Wahlen Wähler*innen löste die Nominierung die Liberalen sowie die Grünen hervor. von der Leyens massive Enttäuschung Margrethe Vestager, bislang dänische aus. Gerade nach der hohen Wahlbe- EU-Kommissarin für Wettbewerb und teiligung sahen viele in der Entschei-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 10 Kommentare dung des Europäischen Rats einen historisch einmalig. 2019 aber haben Schlag gegen die europäische Demo- Konstellationen und Entscheidungen kratie und einen Betrug gegenüber der sowohl im Europäischen Parlament als Wählerschaft. auch im Europäischen Rat zum Schei- Trotz der berechtigten Enttäuschung tern dieses Prinzips beigetragen. muss jedoch auch die schwierige Auf- Einen wichtigen Grundstein dafür gabe berücksichtigt werden, vor die hat das Europäische Parlament im Feb- der Europäische Rat gestellt war – und ruar letzten Jahres selbst gelegt, als ei- an der auch das Europäische Parlament ne Mehrheit der Abgeordneten gegen seinen Anteil hatte. Denn, das zeigt der die Einführung transnationaler Wahl- Fall von der Leyen exemplarisch, bei listen stimmte. Zwar sprachen sich fast der Besetzung des Kommissionsvorsit- alle Fraktionen weiterhin für das Spit- zes durch das EU-Parlament handelt zenkandidatenprinzip aus, doch wur- es sich keineswegs um einen Automa- de denjenigen Staats- und Regierungs- tismus. chefs, die sich gegen das Prinzip aus- sprachen, eine Steilvorlage geliefert. Denn ohne transnationale Listen wer- Der verhängnisvolle Verzicht auf den die von den europäischen Parteien transnationale Wahllisten nominierten Spitzenkandidat*innen nur in ihrem eigenen Land, aber nicht Die Besetzung der Kommissionsspitze EU-weit gewählt. basiert auf Artikel 17 Absatz 7 des Ein weiteres Fragezeichen setzte die Vertrags über die Europäische Union EVP bei der Wahl ihres Spitzenkan- (EUV).1 Das Spitzenkandidatenprinzip didaten. Im Vergleich zu Jean-Claude ist darin nicht eindeutig verankert: Der Juncker – zuvor langjähriger Minis- Europäische Rat und das Europäische terpräsidenten Luxemburgs und Eu- Parlament sind an der Besetzung der rogruppenchef – hatte Manfred Weber Kommissionsspitze beteiligt, wobei nicht das Profil, das bislang auch alle dem Europäischen Rat das Vorschlags- anderen Kommissionspräsidenten mit- recht zukommt – unter Berücksichti- brachten. Da Weber keinerlei Regie- gung des Wahlergebnisses. Gewählt rungserfahrung vorweisen kann, ka- (oder auch nicht) wird der Kandidat men bereits unmittelbar nach seiner oder die Kandidatin am Ende vom Eu- Nominierung bei diversen Staats- und ropäischen Parlament. Regierungschefs Zweifel auf – vor al- Beim Spitzenkandidatenprinzip lem bei dem neuen Zugpferd der Libe- handelt es sich folglich um eine spezi- ralen, dem französischen Staatspräsi- fische Auslegung des Vertragstextes, denten Emmanuel Macron. Dieser hat- die erst bei der Europawahl 2014 ange- te bereits früh betont, dass er das Spit- wendet wurde. Erstmalig schickten die zenkandidatenprinzip nicht als bin- meisten europäischen Parteien Spit- dend ansehe und sich Weber nicht als zenkandidat*innen ins Rennen. Die Kommissionspräsidenten vorstellen Benennung von Jean-Claude Juncker, könne. Spitzenkandidat der EVP, durch den Ausschlaggebend war zudem die Europäischen Rat ist insofern bisher Tatsache, dass die beiden großen Frak- tionen nicht mehr die absolute Mehr- 1 Wörtlich heißt es in Art. 17 (7) EUV: „Der Eu- heit innehaben und die Spitzenposten ropäische Rat schlägt dem Europäischen Par- somit nicht länger untereinander auf- lament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten teilen können. Vielmehr sind sie auf für das Amt des Präsidenten der Kommission Stimmen der Liberalen und, bei Ab- vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der weichler*innen in den eigenen Rei- Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandi- hen, auch auf Stimmen der Grünen an- daten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“ gewiesen – vorausgesetzt sie wollen

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kommentare 11 sich auf eine dezidiert pro-europäische zenkandidatenprinzip per se abge- Mehrheit stützen. Noch Wochen nach blockt hätte. Nachdem Manfred Weber der Wahl konnte keine Einigung auf nicht mehrheitsfähig war, gab es Ver- einen gemeinsamen Kandidaten oder suche, Frans Timmermans zu nomi- eine gemeinsame Kandidatin aus der nieren, welche auch von Angela Mer- Riege der aufgestellten Spitzenkandi- kel und Emmanuel Macron unterstützt dat*innen erzielt werden, weil die drei wurden. Dies scheiterte jedoch unter größten Fraktionen – EVP, S&D und Li- anderem daran, dass die EVP signa- berale – allesamt die Hoffnung hegten, lisierte, sie sei nicht bereit, den Spit- bei der schwierigen Kompromissfin- zenkandidaten der europäischen So- dung im Europäischen Rat zum Zuge zialdemokraten zu bestätigen, und zu kommen. Über ein eindeutiges Vo- nicht, wie in den Medien vielfach dar- tum des Europäischen Parlaments aber gestellt, einzig am Widerstand der Vi- hätte sich der Europäische Rat nicht so segrád-Staaten. leicht hinwegsetzen können. Die Kompromissfindung im Euro- päischen Rat per se als undemokra- tisch abzuwerten, greift zu kurz. So- Deutsch-französische lange die Nationalstaaten nicht in ei- Unstimmigkeiten nem europäischen Föderalstaat aufge- hen, bleibt der Europäische Rat – der Ein wesentlicher Grund für die zähen sich aus den demokratisch gewähl- Verhandlungen im Europäischen Rat ten Staats- und Regierungschefs der war auch die anfänglich fehlende Ei- EU-Mitgliedstaaten zusammensetzt – nigkeit zwischen Deutschland und einer der beiden zentralen Pfeiler der Frankreich. unterstütz- demokratisch legitimierten Entschei- te das Spitzenkandidatenprinzip und dungsfindung in der Europäischen hielt zunächst – entgegen der franzö- Union – neben dem Europäischen Par- sischen Position – an der Person We- lament, das in Direktwahl von den ber fest. Auch als Zeichen, dass seine EU-Bürger*innen gewählt wird. Ablehnung des deutschen EVP-Kan- Zu kritisieren ist allerdings, wie die didaten keine anti-deutsche Haltung Entscheidung im Europäischen Rat zu- sei, sprach sich Macron später für die stande kam. Es entstand der Eindruck, damalige deutsche Verteidigungsmi- dass hinter dem Personalpoker keine nisterin als zukünftige Kommissions- programmatischen Überlegungen und präsidentin aus. In der Person Ursula Visionen für die Zukunft der EU stan- von der Leyens konnten Macron und den, sondern sich die 28 Staats- und Re- Merkel ihren Frieden finden. gierungschefs unter großem Zeitdruck Der französische Staatschef schätzt auf nicht mehr als den kleinsten ge- die ehemalige Verteidigungsministe- meinsamen Nenner einigen konnten. rin seit längerem. Sie war eine der we- Zudem ging der Rat mit der Ent- nigen aus der CDU, die – anders als An- scheidung auf klaren Konfrontations- gela Merkel oder die neue Parteivorsit- kurs mit dem Europäischen Parlament zende Annegret Kramp-Karrenbauer und hat es dadurch schwer unter Druck – explizit positiv auf seine Sorbonne- Rede zur Zukunft der EU reagiert hat- te. Zudem gilt von der Leyen als ent- schlossene Verfechterin einer europä- ischen Verteidigungsunion, was den Trumps Welt französischen Bestrebungen entge- Das Dossier auf www.blaetter.de – genkommt. Man kann dem Europäischen Rat je- 20 »Blätter«-Beiträge für nur 7 Euro doch nicht vorwerfen, dass er das Spit-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 12 Kommentare gesetzt. Die Tatsache, dass sich rechts- solute Mehrheit benötigte und damit nationale Regierungschefs wie Viktor bei weitem nicht alle Stimmen aus dem Orbán mit großem Nachdruck für Ur- pro-europäischen Lager. sula von der Leyen ausgesprochen ha- Die fragile Mehrheit weist auf eine ben, stellt zudem für die demokrati- Herausforderung hin, der sich die neue sche, pro-europäische Allianz im Parla- Kommissionspräsidentin in den nächs- ment eine große Belastung dar. ten Monaten stellen muss. Wenn sie Im Ergebnis stellt sich die Frage, ob sich in Zukunft auf eine stabile demo- der Zeitdruck zur Besetzung der Spit- kratische, pro-europäische Mehrheit zenposten wirklich notwendig ist, oder stützen möchte, muss sie das Vertrauen ob mit mehr Zeit nicht auch tragfähi- zurückgewinnen, das durch das Schei- gere Einigungen sowohl im Europäi- tern des Spitzenkandidatenprinzips schen Parlament als auch im Europä- erschüttert wurde. ischen Rat zustande gekommen wä- Dafür gilt es, die zentralen Forde- ren. Auch wie politisch tragfähig das rungen aus dem Kreis der pro-europäi- gesamte Personaltableau des Europä- schen Fraktionen in ihrem Aktionspro- ischen Rats ist, wird sich erst zeigen gramm aufzugreifen, um das Legisla- müssen. Inwieweit mit diesem Vor- tivrecht der Europäischen Kommission schlag die großen Themen – Klimak- eng mit den politischen Mehrheiten im rise, Rechtsstaatlichkeit, soziale Ge- Europäischen Parlament zu verbinden rechtigkeit und die Flüchtlings-, Asyl und so nach dem gescheiterten Spit- und Migrationspolitik der EU – ange- zenkandidatenprinzip den demokra- gangen werden können, ist zumindest tischen Auftrag der Europawahl wie- fraglich. der aufzugreifen. Die Rede, die von der Leyen vor ihrer Wahl im Europäischen Parlament hielt, war dafür ein erster Vertrauen zurückgewinnen Schritt. Wichtig ist jetzt auch, dass das Euro- Angesichts der weltpolitischen Lage päische Parlament versucht, seine ei- wäre es natürlich sehr zu begrüßen, gene rechtliche Stärkung voranzutrei- wenn die EU-Institutionen schnell in ben. Es wird nun umso mehr darauf einen Arbeitsmodus zurückfinden. Der ankommen, für die Wahl des nächs- Hinweis, dass das Europäische Parla- ten Europäischen Parlaments transna- ment von der Leyen aus Gründen der tionale Listen sowie ein einheitliches Staatsräson nicht ablehnen dürfe, ist Wahlrecht in allen EU-Mitgliedsstaa- jedoch unangebracht. Das Parlament ten zu verankern. Nur so hat das Spit- hat das Recht, auf den Vorschlag des zenkandidatenprinzip eine Chance, Europäischen Rats zu reagieren und wirklich zu dem zu werden, was sein dessen Kandidatin abzulehnen.2 Name verspricht. Am Ende wurde Ursula von der Ley- Erst wenn bei der nächsten Euro- en mit 383 Stimmen an die Spitze der pawahl für die Wählerschaft erkenn- Kommission gewählt. Sie erhielt nur bar ist, für welche Personen und für neun Stimmen mehr als sie für eine ab- welches Programm die transnationa- len Listen stehen, kann tatsächlich der 2 Auch im Falle einer Ablehnung des Kandida- Grundstein für eine Europäisierung ten bzw. der Kandidatin für den Vorsitz des der nationalen Wahlkämpfe gelegt Europäischen Rats sieht Art.17 (7) EUV Me- werden. Damit wäre das Spitzenkandi- chanismen vor. Dort heißt es: „Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, so schlägt der datenprinzip nicht begraben, sondern Europäische Rat dem Europäischen Parlament würde sogar auf einem festeren Fun- innerhalb eines Monats mit qualifizierter dament stehen. Dann wären die Ent- Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, für des- sen Wahl das Europäische Parlament dasselbe täuschungen der letzten Wochen nicht Verfahren anwendet.“ umsonst gewesen.

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Micha Brumlik Unter BDS-Verdacht: Der neue McCarthyismus

Nach wochenlangen politischen Tur- geburt einer spezifischen Form des bulenzen trat Mitte Juni der Direktor McCarthyismus. McCarthyismus – so des Jüdischen Museums Berlin, Peter der in diesem Fall treffende Eintrag bei Schäfer, von seinem Amt zurück. Seit Wikipedia – ist ein für die demagogi- Jahren hatte es um das Haus und seine sche Kommunistenjagd in den USA der Leitung immer wieder Streit gegeben frühen 1950er Jahre benutzter Begriff, – wegen Schäfers vermeintlicher Nä- „bei der die hysterischen Ängste der he zur BDS-Bewegung, der Einladung Bevölkerung ausgenutzt worden seien, eines hohen Vertreters des iranischen um Unschuldige oder relativ harmlose Regimes oder auch der Jerusalem-Aus- Andersdenkende zu verfolgen; er wird stellung des Hauses, die im Mai dieses assoziiert mit Verschwörungstheorien Jahres auslief. Das Fass zum Überlau- und einer ‚Herrschaft des Terrors’“. fen brachte aber ein vom Museum ge- Und ganz ähnlich werden derzeit jene teilter Tweet der „taz“. Der dazugehö- verfolgt, die auch nur in den Verdacht rige Text kritisierte den Bundestagsbe- geraten, eine „falsche“ Meinung zu schluss vom 17. Mai, wonach der BDS vertreten oder einer bestimmten Hal- eine antisemitische Bewegung sei.1 tung auch nur nahezustehen – nämlich Vor allem der Zentralrat der Juden in der des BDS-Umfeldes. Deutschland empörte sich daraufhin, das Jüdische Museum sei scheinbar „gänzlich außer Kontrolle geraten“. Der Verfall liberaler Öffentlichkeit Unter diesen Umständen müsse man darüber nachdenken, ob die Bezeich- Der Vorwurf, jemand „stehe“ einer nung „jüdisch“ für das Museum noch Politik, einer Haltung, einer Meinung angemessen sei. „nahe“, ist schnell erhoben und kaum Das Haus selbst bemühte sich zwar belegpflichtig. Es war ironischerwei- eilig um Schadensbegrenzung: Es ha- se der inzwischen zurückgetretene be sich nicht gegen den Bundestagsbe- Direktor selbst, der vor gut zwei Jah- schluss positioniert, sondern nur auf ei- ren – politisch ungeschickt – ebenfalls nen Diskussionsbeitrag hingewiesen. derart rigide vorging. Im Juli 2017 soll- Doch es half nichts: Am Ende war der te der palästinensische, in den USA Druck zu groß, und Schäfer musste sei- lehrende Professor Sa’ed Athsan einen nen Hut nehmen. Vortrag zum Thema „Beeing queer in Dieser Vorgang ist in der Tat skan- Palestine“ („Queer sein in Palästina“) dalös – allerdings aus völlig anderen halten.2 Allerdings wurde der Vortrag Gründen, als der Zentralrat der Juden kurz zuvor abgesagt, weil der Referent anführt. Denn was wir hier erleben, ist im Verdacht stand, dem BDS nahezu- nichts anderes als die Neu- und Wieder- stehen – was aber nie hieb- und stich-

1 „BDS“ steht für „Boykott, Desinvestitionen 2 Queer bedeutet im Englischen „seltsam, ko- und Sanktionen“ und ist eine propalästinen- misch“. Seit den 1990er Jahren verwenden sische Organisation, die zum Boykott Israels Lesben, Schwule und Bisexuelle das Wort zur aufruft. Selbstbezeichnung.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 14 Kommentare fest belegt wurde. Peter Schäfer be- fall liberaler Öffentlichkeit hinzuwei- gründete die Entscheidung damit, dass sen. Das Perfide des neuen, BDS-bezo- sich Sa’ed Atshan bei Veranstaltungen genen McCarthyismus besteht zudem in den USA nicht deutlich genug vom darin, dass er sich wegen des darin BDS distanziert habe: „Ich habe den enthaltenen Antisemitismusvorwurfs Vortrag im Einvernehmen mit dem kaum ausweisen muss und er zudem Referenten bei uns im Haus abgesagt einen kaum widerlegbaren Vorwurf – er fand ja dann andernorts statt –, enthält: den der Kontaktschuld. In ei- weil ich befürchtete, dass er zu einer nem kulturellen Milieu mit hoher Kom- Pro-und-Contra-BDS-Veranstaltung munikationsdichte ist nämlich so gut umfunktioniert werden könnte“, be- wie niemand vor diesem Vorwurf ge- gründete Schäfer seine Entscheidung feit: Wer kennt nicht Leute, deren poli- später.3 tische Ansichten sie oder er überhaupt Auch den Medien genügt inzwi- nicht teilt, mit denen sie oder er aber schen mitunter ein vager Verdacht, gleichwohl verkehrt? um Mitarbeiter des Jüdischen Muse- ums in die Nähe des BDS zu rücken. So schrieb der „Welt“-Redakteur Jacques Der Pyrrhussieg des Zentralrats Schuster kürzlich über die ehemali- der Juden ge Programmdirektorin des Jüdischen Museums: „[Cilly] Kugelmann, der Der faktisch erzwungene Rücktritt Mitarbeiter im Museum nachsagen, Peter Schäfers mag den Zentralrat der sie stehe einigen Ideen der antiisrae- Juden angesichts seiner seit Jahren lischen Boykottbewegung BDS nahe, schwindenden Bedeutung mit neuem hat auch einen Teil der vergangenen Selbstbewusstsein erfüllen. Tatsäch- Konferenzen und Diskussionsforen in- lich aber hat der Zentralrat damit einen haltlich vorbereitet.“4 Pyrrhussieg errungen. Denn der Rück- Man muss sich schon wundern: Ist tritt Schäfers stellt auch einen Sieg es in einer Situation, in der Direktoren über den Pluralismus innerhalb der jü- zurücktreten, Mitarbeiter kündigen dischen Gemeinschaft dar – und zwar und im Jüdischen Museum allgemeine national wie weltweit. Unsicherheit um sich greift, politisch Der Anlass der Rücktrittsforderung, sinnvoll und journalistisch-ethisch an- der vom Museum geteilte Tweet der gebracht, derartige Gerüchte zu ver- „taz“, verwies auf eine Erklärung von breiten? Viel entscheidender aber ist, 240 jüdischen und israelischen Wissen- dass die Sätze des „Welt“-Redakteurs schaftlern.5 Und diese Erklärung war strukturell den Aussagen des Muse- alles andere als eine Solidaritätsbe- umsdirektors gleichen: Beide Male kundung mit dem BDS, sondern al- wird unter Berufung auf nicht näher lenfalls eine Richtigstellung, was un- genannte und wohl auch gar nicht be- ter Antisemitismus genau zu verste- kannte Quellen ein Verdacht erhoben, hen sei. Dass sich die Gelehrten damit der für die Betroffenen in der gegen- in einen Gegensatz zu einer Mehrheit wärtigen Situation in jeder Hinsicht nichtjüdischer Abgeordneter des Deut- bedrohlich ist. schen Bundestages gesetzt haben, ist Bei alledem geht es mir weder um unbestreitbar – aber warum soll die- Informantenschutz noch darum, je- sen Abgeordneten eine Deutungs- mandem Schmierenjournalismus vor- hoheit darüber zukommen, was „an- zuwerfen, sondern vielmehr darum, tijüdisch“ und damit eben auch, was auf ein weiteres Beispiel für den Ver- „jüdisch“ ist?

3 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 13.6.2019. 5 Vgl. 240 Akademiker gegen BDS-Votum, 4 Vgl. „Die Welt“, 28.6.2019. www.taz.de, 5.6.2019.

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Zu den Unterzeichnern dieser Erklä- Festzuhalten bleibt somit, dass dem rung gehörten zudem keineswegs nur Zentralrat der Juden die Meinung mehr – wie ein Kommentator meinte – die oder minder informierter Bundestags- „üblichen Verdächtigen“, sondern viel- abgeordneter offenkundig bedeuten- mehr Koryphäen ihres Faches: Eva der ist als die Überzeugung weltweit Illouz, die hierzulande bekannte So- als Gelehrte ausgewiesener Frauen ziologin von Liebe und Sexualität aus und Männer. Das aber widerspricht der Jerusalem; der in Berkeley forschende Tradition der jüdischen Gelehrtenkul- Daniel Boyarin, dem eine neue Sicht tur ebenso, wie es dem nahekommt, auf die Entstehung des Christentums was man früher als „Hofjudentum“ be- zu verdanken ist; der in Jerusalem zeichnet hat. wirkende Professor Amos Goldberg, dessen Werk über das Schreiben von Tagebüchern während des Holocaust Jüdische Interessen und zustimmendes Aufsehen erregt hat, so- universalistische Prinzipien wie – unter vielen weiteren – der eme- ritierte Tel Aviver Jurist Haim Gans, Gewiss, die aktuellen Debatten rund dem wir wesentliche Einsichten über um das Jüdische Museum finden auf die rechtlichen Bedingungen der zio- überaus schwierigem Gelände statt. nistischen Staatsgründung verdanken. Der Historiker Michael Wolffsohn hat Dies sind nur vier von 240 Personen, anlässlich des vom Zentralrat der Ju- die sich eben nicht mit dem BDS solida- den erzwungenen Rücktritts von Peter risierten, sondern lediglich feststellten: Schäfer jüngst zu entfalten versucht, „Die Unterzeichner dieser Erklärung worin die spezifischen Schwierigkeiten haben zu BDS unterschiedliche Mei- eines „Jüdischen Museums“ im Nach- nungen: Einige mögen BDS unterstüt- kriegsdeutschland im Unterschied et- zen, andere lehnen es aus verschiede- wa zu einem Museum des „Deutschen nen Gründen ab. Wir alle lehnen jedoch Judentums“ bestehen: „Grenzt man die trügerische Behauptung ab, dass Deutschlands Juden durch ein geson- die BDS-Bewegung als solche anti- dertes Jüdisches Museum nicht von der semitisch sei, und wir verteidigen das deutschen Allgemeinheit, ‚den‘ Deut- Recht jeder Person oder Organisation, schen, aus?“, fragt Wolffsohn. „Stößt sie zu unterstützen.“ oder verstößt man sie also, zumin- Und es kamen weitere Stimmen hin- dest symbolisch, nicht wieder hinter zu. Am 18. Juni erklärten 45 akademi- Ghettomauern?“7 sche Talmudgelehrte (!) – initiiert von Wolffsohns Hauptargument gegen Ishay Rosen Zvi von der Universität Tel dieses Selbstverständnis ist die Tat- Aviv sowie Moulie Vidas, der Talmud sache des Holocausts, der Schoah, al- in Princeton lehrt – ihre Solidarität mit so jenes genozidalen Massenmordes, Peter Schäfer. Zugleich lassen sie ihre den nazistische, aber auch nicht na- Besorgnis über das damit in Deutsch- zistische Deutsche sowie ihre europä- land einziehende politische Klima er- ischen Kollaborateure an sechs Milli- kennen: „Wir sind zutiefst beunru- onen europäischen Juden arbeitsteilig higt“, so die Unterzeichner, „über die verübten. Danach, so lässt sich Wolff- zunehmende Zensur der Meinungs- sohn verstehen, ist in einem dem jüdi- freiheit und die schwindenden Mög- schen Schicksal gewidmeten Museum lichkeiten, die Regierungspolitik Is- eine gleichsam naive Bezugnahme auf raels zu kritisieren oder gar zu hinter- universalistische Prinzipien sowie un- fragen.“6 terschiedliche Formen der Diskrimi-

6 Vgl. Jewish scholars support Berlin Jewish Museum director who resigned under pressure, 7 Vgl. Michael Wolffsohn, Unfreiwillige Ver- www.haaretz.com, 19.6.2019. wässerung, www.tagesspiegel.de, 17.6.2019.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 16 Kommentare nierung, die nicht nur Jüdinnen und und Äußerungsverbote gibt, nach de- Juden betreffen, nicht mehr möglich. nen Mitglieder, die den BDS zwar ver- Die zentrale Frage, um die es daher urteilen, aber nicht für antisemitisch systematisch gehen muss, lautet, ob es halten, ausgegrenzt werden. – wie Wolffsohn zu meinen scheint – Jene Formen universalistischer Mo- geradezu einen Kategorienfehler dar- ral, die in der Hebräischen Bibel be- stellt, nach der Schoah jüdische Inte- gründet postuliert werden, sind durch ressen in Deutschland mit universa- die Ereignisse der Schoah nicht wider- listischen Prinzipien auch nur ins Ge- legt worden – etwa die Weisung aus spräch zu bringen. Letztlich geht es 3. Mose 19, 33-34: „Wenn ein Fremd- darum, wie die durch den Holocaust ling bei euch wohnt in eurem Lande, bewirkte Gründung des Staates Israel den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll im Rahmen der ganzen jüdischen Ge- bei euch wohnen wie ein Einheimi- schichte – auch die der Juden in deut- scher unter euch, und du sollst ihn lie- schen Ländern seit dem vierten Jahr- ben wie dich selbst; denn ihr seid auch hundert – zu verstehen ist. Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“ Es war kein Geringerer als Martin Das Gebot des Pluralismus Buber, der betonte, dass für das jüdi- sche Volk der „sacro egoismo“ des üb- Dass die Sicherheit des Staates Israel lichen Nationalismus nicht gelte. Die- zur Staatsraison der Bundesrepublik se Überzeugung vertrat Buber in sei- gehört, hat nicht nur Bundeskanzlerin nem Buch „Zionismus und Nationalis- Angela Merkel immer wieder betont. mus“, das 1929 erschien – eine Aussa- Ob zu diesem Bekenntnis der Sicher- ge, die er nie zurückgenommen hat, heit auch ein Bekenntnis zur gegen- sondern vielmehr in seiner Schrift „Ein wärtigen Staatsform und der gegen- Land und zwei Völker“ auch noch nach wärtigen Grenzziehung gehört, muss dem Zweiten Weltkrieg weiterhin ver- demgegenüber offenbleiben. Ebenso trat. Und es war der eher konservati- muss offenbleiben, welches Verhältnis ve jüdische Philosoph Emil Facken- die in Deutschland lebenden und in heim, der immer wieder auf ein elftes Gemeinden verfassten Jüdinnen und Gebot hinwies: Du sollst Hitler nicht Juden zum israelischen Staat haben nachträglich Recht geben – was auch und haben sollten. Tatsächlich sehen für das Verständnis von (politischer) viele von ihnen Israel als den letz- Moral gilt. ten möglichen Zufluchtsort in Fällen Und das betrifft auch durchaus wün- der Verfolgung, während andererseits schenswerte streitige öffentliche De- doch nicht ganz wenige unter ihnen batten – ja, auch Debatten um Isra- entschiedene deutsche Verfassungs- el und das Judentum. Die neue Form patrioten sind. Und ebenfalls nicht des McCarthyismus ist derzeit noch ganz wenigen missfällt die rechts- auf das Themenfeld Israel, BDS und populistische Politik der Regierung Antisemitismus begrenzt. Und eben- Netanjahu, die eine Zweistaatenlösung dort sollten wir ihm auch entschieden praktisch ausschließt. entgegentreten. Nur so können wir Jüdische Stimmen, die die israe- verhindern, dass das Beispiel Schule lische Regierungspolitik kritisieren, macht. Denn dann geriete die mühsam sind von den Folgen dieser Kritik wo- errungene liberale öffentliche Kul- möglich weniger betroffen als Bürge- tur der Bundesrepublik Deutschland rinnen und Bürger des Staates Israel. in Gefahr. Damit aber drohte auch in Gleichwohl muss auch für die jüdische Deutschland der Anfang einer bereits Gemeinschaft ein Gebot des Plura- von vielen prognostizierten „illibera- lismus gelten, wonach es keine Denk- len“ Demokratie.

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Godela Linde Kollege Weinstein: Sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz

Harvey Weinstein, der einst gefeierte, Zwar ändert sich seit den Online-Kam- dann aber massiver sexueller Beläs- pagnen von #aufschrei bis #metoo das tigung und Vergewaltigung beschul- gesellschaftliche Klima und Frauen digte Hollywood-Produzent, greift auf trauen sich zunehmend, sexuelle Be- seine Versicherung zurück: Diese zahlt lästigung auch im alltäglichen Arbeits- 44 Mio. US-Dollar, davon 30 Mio. an umfeld anzuprangern. Aber zugleich betroffene Frauen, die Geldgeber sei- ist das Unwissen darüber, welche Rech- ner Filmfirma und deren Angestellte. te am Arbeitsplatz geltend gemacht Die übrigen 14 Mio. fließen in Wein- werden können, noch immer groß. steins Anwalts- und Prozesskosten. Neben der Selbstermächtigung durch Über 80 Frauen hatten Weinstein sexu- die diversen Kampagnen braucht es elle Belästigung und Vergewaltigung also noch ein anderes – Aufklärung vorgeworfen.1 Zwei strafrechtliche Be- über die Schutzrechte sowie eine kon- urteilungen von noch nicht verjährten sequente Umsetzung der rechtlichen Vergewaltigungen stehen noch aus. Vorgaben. Nur dann können endlich In Deutschland wären derartige Scha- jene gesetzlichen Schutz- oder zumin- denersatzsummen undenkbar. dest Strafrechtsmechanismen wirksam Doch selbst solche astronomischen aktiviert werden, die darauf angelegt Summen können weder das erlitte- sind, Belästigungen zu verringern und ne Leid ungeschehen machen noch es Belästiger zur Rechenschaft zu ziehen. anderen Opfern erleichtern, öffentlich Sexuelle Belästigung in der Arbeits- über das ihnen zugefügte Unrecht zu welt, das zeigen zahlreiche Untersu- sprechen. Und die Überwindung, die chungen, ist nach wie vor bittere Re- es selbst prominente Schauspielerin- alität.3 Dabei besteht an der gesetzli- nen gekostet hat, sexuelle Übergriffe chen Beurteilung kein Zweifel: Sexuel- zu benennen, potenziert sich bei der le Belästigung ist Diskriminierung und Verkäuferin, der Hotelfachkraft oder ein Verstoß gegen arbeitsvertragliche der Arbeiterin noch. Müssen sie doch Pflichten, so formuliert es seit 2006 das fürchten, den Arbeitsplatz und damit Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ihre finanzielle Absicherung zu verlie- (AGG). Die klaren Bestimmungen zur ren. Deshalb schweigen viele Betrof- fene und lassen die alltäglichen Über- Belästigungen am Arbeitsplatz aus. Männer griffe über sich ergehen. Die dabei sind in der Regel bei Belästigungen mit ihrem eigenen Verhalten zufrieden. Daher wird in empfundene Schmach und Ohnmacht diesem Artikel die männliche Form für die Be- führen zu erheblichen gesundheitli- lästiger und die weibliche Form für die Beläs- chen Beeinträchtigungen, bis hin zur tigten verwendet. Erwerbsunfähigkeit.2 3 Vgl. u.a. Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick, 2014, https://fra.europa.eu; Antidiskriminierungs- 1 Vgl. Ines Kappert, Harvey Weinstein oder das stelle des Bundes, Gleiches Recht. Jedes System sexualisierter Gewalt, in: „Blätter“, Geschlecht, 2015, http://www.antidiskrimi- 12/2017, S. 61-66. nierungsstelle.de; Europäische Kommission, 2 Die Zahl der Belästigungen von Männern ge- Spezial Eurobarometer 449: Geschlechtsspe- genüber Frauen macht den größten Anteil der zifische Gewalt, November 2016.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 18 Kommentare sexuellen Selbstbestimmung werden Betroffenen reden endlich miteinan- allerdings in der beruflichen Praxis der – und dann wird vieles einfacher. oft unscharf: Gesetzlich definierte se- Bis heute haben allerdings #metoo und xuelle Belästigungen – beispielswei- #aufschrei die betriebliche Wirklich- se das Anbringen aufreizender Bilder, keit kaum erreicht. unerwünschtes Anstarren, anzügliche Bemerkungen oder ungewollte Berüh- rungen – werden von Personalverant- Argwohn, Unterstellungen, Scham wortlichen und Betriebsräten meist gar nicht als sexuelle Belästigung bewer- Etwas vereint die prominenten Frauen, tet. Wenn aber selbst diese nicht wis- die in Harvey Weinsteins Finger ge- sen, dass bestimmte Verhaltensweisen rieten, mit den namenlosen Frauen in (gesetzlich) als sexuelle Belästigung Betrieben und Verwaltungen: Sie sind eingestuft werden, wie sollen dann dem Verdacht ausgesetzt, sich nicht die Belästigten wissen, dass da gera- hinreichend gegen unerwünschte Be- de nicht nur etwas Unangenehmes ge- lästigung gewehrt, diese herausge- schieht – sondern Unrecht? fordert, genutzt oder gar genossen zu Umfragen zu sexueller Belästigung haben. Doch wenigstens die bundes- erbringen auch aus diesem Grund nur deutsche Gesetzesgrundlage ist bereits die halbe Wahrheit und zeigen kaum sensibler angelegt, wenn es auch an der das wahre Ausmaß, in dem sexuel- Umsetzung zu oft noch mangelt: Seit le Belästigung stattfindet. Es ist nicht 2006 müssen Belästigte ihr fehlendes leicht zu entschlüsseln, warum eine Einverständnis nicht mehr beweisen befragte Frau nicht anprangert, dass und so entfällt die bizarre Beweiswür- sie belästigt worden ist. So kann es im digung, ob die Belästigte nichts gesagt persönlichen und beruflichen Umfeld hat, weil sie einverstanden war mit den wenig akzeptiert sein, offen über Er- Avancen des Vorgesetzten, oder nicht fahrungen von Übergriffen zu spre- reden konnte, weil er seine Zunge tief chen und selbstbewusst und aufmerk- in ihren Hals gesteckt hatte: „Die Zeu- sam auf Übergriffe zu reagieren. Die gin habe glaubhaft bekundet, dass sie Betroffene kann Übergriffigkeiten ge- sich vom Zungenkuss des Klägers, den wohnt oder eingeschüchtert sein, sie sie nicht erwidert habe, überrumpelt kann Angst vor Nachteilen oder das gefühlt habe und nicht gewusst habe, übergriffige Verhalten nicht entspre- wie sie sich verhalten sollte. Sie habe chend eingeordnet haben. Womöglich dargelegt, dass die sexuell bestimmten geht es aber auch um Selbstschutz oder körperlichen Berührungen und Auffor- die Angst vor Isolation, wenn das Erle- derungen des Klägers ihr unangenehm ben von sexueller Belästigung bei Um- gewesen seien und sie diese nicht ge- fragen verneint wird. Es scheint ein- wollt habe. Die Annäherungen des facher, eine sexuelle Belästigung zu Klägers hätten bei ihr zu großer Ver- verdrängen oder sie als harmlos ein- wirrung geführt und sie habe Angst um zustufen, als sich einzugestehen, dass ihre berufliche Zukunft gehabt.“ 4 die eigene Reaktion mit dem eigenen Ein weiteres gemeinsames Ele- Selbstbild nicht übereinstimmt. Wegen ment haben derlei Vorgänge: Sie ha- dieser Scham wird auch gegenüber Ar- ben nichts mit Erotik zu tun, sondern beitskolleginnen und Familienmitglie- mit Macht. Wenn die Belästigte gefragt dern in aller Regel nicht über sexuel- wird, warum sie sich nicht gewehrt hat, le Belästigung geredet. Das kann da- warum sie weiter zur Arbeit ging, wa- zu führen, dass ein Täter über sehr vie- rum sie nicht die ganze Abteilung zu- le Jahre mehrere Frauen belästigt und sammengeschrien hat, dann tritt zur diese am Ende keinen anderen Aus- weg sehen als zu kündigen. Oder die 4 LAG Niedersachsen, AZ 12 Sa 1418/02, 21.1.2003.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kommentare 19 sexuellen Belästigung die pädagogi- Diese Machtausübung ist es, die beim sche Bevormundung. Doch wie soll die Opfer Angst und Schuldgefühle ver- kurz beschäftigte Abrufkraft reagie- ursacht. Erst wenn der Machtausüben- ren, die tief über eine Tiefkühltruhe ge- de nicht mehr vor Ort ist und keine beugt steht und Ware entnimmt, wenn Macht mehr ausübt, ist für viele Opfer ihr Vorarbeiter von hinten so nah an sie der Zeitpunkt gekommen, Angst und herantritt, dass er sie berührt und das Schuldgefühle zu überwinden und unter dem Gelächter der Kolleginnen? sich zu offenbaren.“6 Was soll die Angestellte machen, die Bei den Belästigern steigt mit der hie- auf einer Leiter steht, um einen Ord- rarchischen Position und der damit ein- ner zu holen, und der Vorgesetzte zückt hergehenden Macht auch die Aktivität: seinen Fotoapparat? Was ist der Prakti- Der Vorgesetzte belästigt die Unterge- kantin zu raten, die beim Austeilen der bene, der Koch die Küchenhilfe, der heißen Suppe auf der Pflegestation un- Niederlassungsleiter die Assistentin, versehens von einem Pfleger umarmt der Oberarzt die Assistenzärztin, das wird? Oder wie lautet die flotte Ant- männliche Aufsichtsratsmitglied die wort auf das Angebot des vorgesetzten Managerin mit einem Jahreseinkom- Polizeihauptkommissars, dass sie ei- men von 110 000 Euro. Auszubildende ne Magnesiumtablette „unten reinste- und Praktikantinnen werden beson- cken solle, da dies schön sprudeln wür- ders häufig belästigt. In der Regel trifft de”? Dies sind beliebige Beispiele aus alles zusammen. Die Belästiger sind äl- bundesdeutschen Gerichtssälen, ge- ter, überhaupt sozial schutzwürdiger richtsfeste Geschichten von Beschuldi- (verheiratet), länger im Betrieb oder gungen und Ausflüchten.5 Und sie sind der Dienststelle, besser vernetzt, und kein bisschen komisch. sie haben die hierarchisch höhere Po- sition. Sie sind keine Außenseiter, son- dern Kollegen. Die (potentiell) betrof- Die Sache mit der Macht fenen Frauen sind gehandicapt durch eine ungesicherte Stellung im Betrieb: Ob sexuelle Belästigung notwendi- befristet, Leiharbeitnehmerin oder seit gerweise ein „sexuell bestimmtes“ kurzem beschäftigt. Erst mit steigen- Verhalten der Belästiger voraussetzt, der Integration und Anerkennung im also mit explizit sexuellen Handlungen Betrieb und einem Aufstieg in inter- und Zielsetzungen einhergeht, wie nen Strukturen erhöht sich der soziale es das Antidiskriminierungsgesetz Status, er gewährleistet Sicherheit, und formuliert, ist umstritten. Vielmehr Frauen werden weniger belästigt. ermöglichen die zugrundeliegenden Die Erkenntnis, dass Macht eine ent- Machtstrukturen die sexuelle Belästi- scheidende Voraussetzung für sexuel- gung, wie auch das Landesarbeitsge- le Belästigungen bildet, ist allerdings richt Köln feststellt: „Bei sexueller Be- noch nicht bis in alle Gerichtssäle vor- lästigung geht es um Machtausübung. gedrungen. So formulierte ein Bundes- gericht allen Ernstes: „Ob das Schrei- 5 Diese Beispiele und alle vorgestellten Sach- en und Zappeln der Klägerin als ei- verhalte aus deutschen Gerichtssälen finden sich in der Auswertung der Verfasserin von ne Abwehrhandlung anzusehen war, über 1000 Entscheidungen aller Gerichtszwei- ist in tatsächlicher Hinsicht nicht ge- ge in: Godela Linde, Basta! Gegen sexuelle klärt“. Selbst in aktuellen Urteilen fin- Belästigung am Arbeitsplatz. Ratgeber und den sich noch zensierende Bewertun- Rechtsberatung, Köln 2015, mit einem Vorwort von Ingrid Kurz-Scherf. Untersucht wurden gen, Einschätzungen der Attraktivität u.a. die Entwicklung der Rechtsprechung, die der Belästigten und Unterstellungen soziale Differenzierung der Beteiligten, die ihres Mitverschuldens. So berührte Stellung der Betriebsräte und Frauenbeauf- tragten, die Ausflüchte der Belästiger sowie die Folgen für die Belästigten. 6 LAG Köln, AZ 6 Sa 952/17, 2.3.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 20 Kommentare ein Stadtverwaltungsrat über Jahre tige, wenn es nur wirksam ist. Definitiv verschiedene Verwaltungsangestellte vorgeschrieben ist das Einrichten von bei diversen Gelegenheiten unter an- Beschwerdestellen. Doch zehn Jahre derem an Bauch, Po, Schulter und Tail- nach Inkrafttreten des Gesetzes, das le und setzte sich auf ihren Schoß. Das Arbeitgeber dazu anhält, solche Stel- Gericht übernahm die Darstellung des len einzurichten, ist wenig bis nichts Amtsmannes und akzeptierte, dass geschehen: Nur die Hälfte der Betrie- dies nicht sexuell bestimmt gewesen be hat Beschwerdestellen eingerichtet, sei: „Dieses Verhalten ist einerseits be- und spezielle Schulungen für die be- günstigt worden […] durch seine Vor- sonders gefährdeten Auszubildenden gesetzteneigenschaft, kraft derer er gab es nur in einem Prozent der Be- in überheblicher Art meinte, auf die- triebe, berichtete die Antidiskriminie- se Weise mit seinen Mitarbeiterinnen rungsstelle des Bundes (ADS). umgehen zu dürfen. Die Zeuginnen Wenn Arbeitgeber nichts tun, kei- waren somit aus der Sicht des Beamten ne schützenden Strukturen schaffen weniger Zielscheibe und Objekt sexu- und Belästiger gewähren lassen, kön- eller Begierde […] als vielmehr Opfer nen die Belästigten sich unter ande- seiner Machtausübung.“7 Er habe so rem beschweren sowie Entschädigung Beschäftigte vom Telefonieren abhal- und Schadensersatz fordern. Das be- ten wollen, sei plump und übergriffig sagt zumindest die Theorie. Doch in gewesen, aber – das war strafmindernd der Datenbank Juris mit ihren knapp – nicht sexuell motiviert. Und ein vor- 1,4 Mio. Entscheidungen finden sich gesetzter Meister kam mit der Erklä- nur zwei erfolgreiche Urteile zum Leis- rung davon, er habe jugendlichen Aus- tungsverweigerungsrecht und zur Ent- zubildenden hinterhergepfiffen, sie schädigung wegen sexueller Belästi- auch ständig gekitzelt und gezwickt, gung. Die heldenhafte Frau hatte als weil sie so lässig auf dem Stuhl geses- einzige Beschäftigte wegen der un- sen hätten und er pädagogisch habe beobachteten Belästigungen des Ge- einwirken wollen. schäftsführers die Arbeit eingestellt Langsam allerdings zeigen sich Ge- und Schadensersatz sowie Entschä- richte etwas sensibler bei der Bewer- digung eingeklagt und zugesprochen tung. Sie bringen mehr Verständnis für bekommen.8 Nur 19 Prozent der Be- Abhängigkeiten und unvollkommene fragten wussten bei einer Umfrage der Reaktionen auf. Sie bewerten sexuel- ADS, dass sie vom Arbeitgeber ver- le Belästigung durchaus auch dann als langen können, notwendige Maßnah- solche, wenn selbst die Belästigten das men zu ihrem Schutz zu ergreifen. Nur Verhalten ganz normal fanden. zwei Prozent wussten, dass sie die Ar- beit einstellen dürfen (dabei ist das bei unzumutbaren Arbeitsbedingungen Arbeitgeber in der Verantwortung schon seit 1900 geltendes Recht!) und dass ihnen keine Nachteile entstehen Verantwortlich für das belästigungs- dürfen, wenn sie gegen sexuelle Beläs- freie Klima ist der Arbeitgeber, so steht tigung vorgehen. es im Gesetz. Er muss vorbeugend ak- Hier zeigt sich ein noch immer vor- tiv werden. Wie immer im Arbeitsrecht, herrschendes, verstörend generelles muss er das geeignete, erforderliche Unwissen um eigene Rechte und und angemessene Mittel wählen. Sei- Handlungsoptionen. Es ist daher drin- ne Reaktion kann dabei variieren, vom gend geboten, wirksam für Aufklä- Missbilligen bis zur fristlosen Kündi- rung zu sorgen. gung. Das mildeste Mittel ist das rich- 8 ArbG Weiden, AZ 3 Ca 1739/14, 8.5.2015 und 7 VG Meiningen, AZ 6 D 60003/04.Me, 3.3.2005. AZ 3 Ca 1739/14, 16.9.2015.

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Daniel Leisegang Facebook: Mit Libra mal kurz die Welt retten?

„Facebook will reguliert werden!“ Das Mit der Libra-Einführung würde sich verkündete Nick Clegg überraschend ein lang gehegter Zukunftstraum der während eines Besuchs Ende Juni in Tech-Industrie erfüllen. Sie tüftelt Berlin. Vor Studierenden der Hertie zum einen schon lange und erfolglos School of Governance mahnte der Vize- an einem alternativen Bezahlmittel Kommunikationschef von Facebook im Netz. Kryptowährungen wie Bit- – und ehemalige stellvertretende bri- coin haben sich wegen enormer Kurs- tische Premierminister –, eine stren- schwankungen und Sicherheitsproble- gere Kontrolle sei „nicht die Aufgabe me bislang nicht durchsetzen können. privater Unternehmen, wie groß oder Zum anderen fußt Zuckerbergs Plan klein auch immer sie sein mögen.“ Die auf einer libertären Ideologie, die ins- Zuständigkeit dafür liege vielmehr besondere im Silicon Valley weit ver- bei „demokratischen Politikern in der breitet ist: Sie misstraut grundsätzlich demokratischen Welt“.1 staatlichem Handeln und setzt statt- Man hörte und staunte. Offenbar will dessen auf „smarte“ technologische Facebook, indem es sich nachdrück- Produkte, die komplexe gesellschaftli- lich zu Konzessionen bereit erklärt, die che Probleme lösen sollen.2 Allerdings massive Kritik entkräften, die der Kon- birgt insbesondere eine von Konzernen zern derzeit erntet – wegen zahlloser kontrollierte Digitalwährung immense Datenskandale, der Verbreitung von Risiken: Sie droht nicht nur den Daten- Fake News und Hassnachrichten so- schutz weiter auszuhebeln, sondern wie des allzu sorglosen Umgangs mit untergräbt vor allem auch die Ho- Nutzerdaten. Eine zunehmende Zahl heit der Zentralbanken und damit die an Politikern in den USA wie auch in Geldpolitik der Staaten. der EU bezweifelt inzwischen, dass der Riesenkonzern überhaupt noch ge- zähmt werden kann, und denkt laut Chinesische Super-App als Vorbild über dessen Zerschlagung nach. Vor diesem Hintergrund war es wohl Um das überaus ambitionierte Vorha- auch klüger, dass Clegg in seinem Vor- ben Facebooks zu stoppen, bleibt nicht trag kein Wort über Facebooks neues- viel Zeit. Bereits im kommenden Jahr te Pläne verlor. Nur wenige Tage zuvor soll die Digitalwährung an den Start hatte nämlich sein Chef Mark Zucker- gehen – zunächst in Facebooks eige- berg der Weltöffentlichkeit „Libra“ prä- nen Messenger-Apps, wenig später sentiert, eine neue digitale Währung. auch außerhalb der virtuellen Face- Sie soll „das Geld neu erfinden“ und zu book-Mauern. Das Bezahlen und Geld- dem Bezahlmittel im Internet werden überweisen soll dann so schnell und – eine Währung, die „wahrhaft global, einfach ablaufen wie das Versenden stabil und sicher“ ist. einer Textnachricht.

1 Vgl. Facebooks „Außenminister“ verlangt 2 Vgl. www.libra.org sowie Evgeny Morozov, neue Regeln für das Internet, www.spiegel.de, To Save Everything, Click Here. The Folly of 24.6.2019. Technological Solutionism, New York 2013.

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Als Vorbild dürfte Facebook dabei die den Unterschied, dass der Associati- Super-App WeChat des chinesischen on vor allem Großunternehmen ange- Internetkonzerns Tencent dienen. Dank hören, unter ihnen Mastercard, Visa, des integrierten Bezahldienstes We- Microsoft, PayPal, Spotify, Vodafo- Chat Pay – der jedoch nicht an eine ei- ne, Uber und Ebay.4 Zu dem exklusi- gene Währung, sondern an ein Bank- ven Club erhalten nur jene Konzerne konto geknüpft ist – können mehr als Zutritt, die einen Marktwert von min- eine Milliarde Nutzer in einer einzigen destens einer Milliarde US-Dollar auf- Anwendung Nachrichten und Zahlun- weisen und vorab zehn Millionen Dol- gen an Freunde senden, Taxis bestel- lar in die Libra Association investieren. len und direkt bezahlen, Lebensmittel Dieses Geld bildet die Rücklagen der kaufen oder ein Darlehen beantragen. neuen Währung, die von der Libra Re- Einen ähnlichen Komfort soll nun serve beaufsichtigt werden, einer Art auch Libra ermöglichen. Um die Wäh- privaten Zentralbank: Sie wacht über rung einsetzen zu können, müssen sich die Stabilität der Digitalwährung, de- Nutzer zunächst identifizieren. Im An- ren Wert an einen sogenannten Wäh- schluss können sie die Software Calibra rungskorb angebunden wird, in dem auf ihr Smartphone herunterladen, die ein Mix aus stabilen Währungen liegt. als digitaler Geldbeutel fungiert, und Außerdem wird sie in Staatsanleihen deren Funktionen zudem fest in Face- unterschiedlicher Länder investieren.5 books Apps integriert werden. Libras Dieses Währungsmodell unterschei- erhalten die Nutzer im Tausch gegen det sich erheblich von „klassischen“ Hartwährungen zu einem festgelegten Kryptowährungen wie Bitcoin, die auf Kurs; die Gebühren für den Umtausch technischem Wege erzeugt werden wie auch für die Transaktionen sollen und vor allem als Spekulationsobjekte überaus niedrig ausfallen. dienen. Gleichzeitig aber wirbt Face- book damit, die Blockchain, die auch Bitcoin zugrunde liegt, als eine Art di- Exklusiver Club der Konzerne gitales Kassenbuch einzusetzen. In ihr werden alle Finanztransaktionen fäl- Dass Libra einen erfolgreichen Start schungssicher gespeichert.6 Anders als hinlegen wird, verspricht bereits Fa- bei Bitcoin ist die Libra-Blockchain je- cebooks gewaltige Nutzerbasis. In den doch nicht öffentlich einsehbar. Statt- kommenden Monaten will der Konzern dessen haben ausschließlich die Mit- zudem den Onlinehandel mit Produk- glieder der Libra Association Zugriff ten massiv ausbauen – eine deutliche auf deren wertvolle Einträge, die den Kampfansage an den Internethändler sozialen und ökonomischen Status der Amazon. Schätzungen zufolge könn- Nutzerinnen und Nutzer preisgeben. te Facebooks Umsatz so innerhalb nur Noch kostbarer werden diese Da- eines Jahres um zusätzliche 19 Mrd. ten, wenn sie mit den Nutzungsdaten Dollar anwachsen – ein gewaltiges sozialer Netzwerke kombiniert wer- Plus von mehr als einem Drittel im Ver- den. Ebendies macht die Libra gera- gleich zum Jahr 2018.3 de für Facebook hochinteressant, zu- Derart kräftige Gewinnsprünge er- mal der Konzern derzeit händeringend hofft sich allerdings nicht nur Face- nach neuen Gewinnoptionen sucht. book. Die neue Digitalwährung soll die Der Grund: Das Wachstum seines Libra Association mit Sitz in Genf kon- 4 Aktuell hat die Assoziation 28 Mitglieder, zum trollieren. Sie gleicht einer staatlichen Libra-Marktstart sollen es insgesamt 100 sein. Finanzaufsicht – mit dem entscheiden- 5 Vgl. dazu: Peter Bofinger, Finger weg von Fa- cebooks Währung!, www.faz.net, 1.7.2019. 6 Vgl. Daniel Leisegang, Bitcoin: Demokra- 3 Vgl. König Zuckerbergs Dukaten, in: „Der tiefeindlicher Irrweg, in: „Blätter“, 12/2017, Spiegel“, 26/2019, S. 60-63. S. 91-94.

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Netzwerks ist in den Industrienationen wegen zu hoher Bankgebühren auf ein weitgehend ausgeschöpft. Neue Mit- eigenes Konto, sondern weil es ihnen glieder gewinnt der Konzern derzeit schlicht und einfach an einem ausrei- fast ausschließlich im globalen Süden. chenden Einkommen mangelt. So liegt Zugleich aber verdient er hier mit sei- beispielsweise das Durchschnittsein- nem Anzeigengeschäft weit weniger kommen der Inder bei gerade einmal als im globalen Norden: So nimmt Fa- rund 4 US-Dollar am Tag. Um ihnen hö- cebook in Indien, wo mehr als 260 Mil- here Einkünfte und damit mehr Wohl- lionen Menschen seine Dienste nutzen, stand zu verschaffen, braucht es indes im Quartal weniger als drei Dollar pro keine neue Digitalwährung, sondern Nutzer ein. In den USA ist es hingegen vielmehr eine entsprechende staatliche mehr als das Zehnfache. Sozial- und Wirtschaftspolitik. Ein globales Finanznetzwerk böte Entscheidend aber ist, dass Face- Facebook die Chance, sich einen ge- books neue Währung nur auf dem ers- waltigen Markt jenseits des Anzeigen- ten Blick günstig erscheint. Denn ein- geschäfts zu erschließen. Schätzun- mal mehr zahlen die Nutzer mit ihren gen zufolge überweisen allein Migran- Daten. Schon als der Konzern 2015 in tinnen und Migranten, die im globa- Indien „Free Basics“ einführen wollte, len Norden arbeiten, jedes Jahr insge- ein kostenfreies Schmalspur-Internet, samt eine halbe Billion US-Dollar an leitete er den gesamten Datenverkehr ihre Angehörigen im globalen Süden. zur detaillierten Auswertung über sei- Einen Großteil dieser Transaktionen ne eigenen Server. Diese digitale Form übernehmen derzeit Unternehmen wie des Glasperlen-Kolonialismus pries Western Union, M-Pesa oder Master- Zuckerberg damals ebenfalls als hu- card. Würde Facebook ihnen ein Drit- manitäres Projekt. Und auf ganz ähn- tel davon abnehmen und 0,5 Prozent an liche Weise lockt der Konzern nun mit Gebühren erheben, würde der Konzern der digitalen Libra, um so Unmengen so knapp eine Milliarde Dollar mehr im neuer Nutzungsdaten zu erhalten.8 Jahr erwirtschaften. (Zum Vergleich: Diese Daten sind nicht zuletzt für Western Union veranschlagt Gebühren Facebooks Bankgeschäft unentbehr- in Höhe von bis zu 10 Prozent.) lich. Denn der Konzern will künftig auch (Mikro-)Kredite vergeben. Spä- testens dann aber wird er die Transak- »Banking the Unbanked« tions- mit seinen Social-Media-Daten kreuzen, um so eine möglichst genaue Aus diesem Grund verkauft Zucker- Risikobewertung vornehmen zu kön- berg seine neue Digitalwährung auch nen, aus der sich dann der entsprechen- als humanitäres Projekt. Weltweit seien de Kreditrahmen und die Vergabekon- noch immer rund 1,7 Milliarden Men- ditionen ergeben. Damit aber würde schen ohne Bankkonto. Sie will der Facebook neben einer Digitalwährung Konzern für die Libra gewinnen: „Ban- auch ein Social-Scoring einführen, das king the Unbanked“ lautet das Motto. Nutzer, vergleichbar mit einer globalen Allerdings ist sowohl diese Zahl als Schufa, gemäß ihres Kauf- und Sozial- auch der humanitäre Anspruch überaus verhaltens erfasst, bewertet und ihnen fragwürdig. Denn zum einen ging die dann entsprechende Vergünstigungen Anzahl der Menschen ohne Bankkonto einräumt – oder verweigert.9 allein zwischen 2014 und 2017 um etwa 7 515 Millionen zurück. Zum anderen 8 Vgl. Daniel Leisegang, Facebook rettet die verzichten viele Menschen nicht etwa Welt, in: „Blätter“, 3/2016, S. 17-20. 9 Auch hier lohnt der Blick nach China: Vgl. Ka- tika Kühnreich, Soziale Kontrolle 4.0? Chinas 7 Vgl. Jon Evans, Who’s going to use the big bad Social Credit Systems, in: „Blätter“, 7/2018, Libra?, www.techcrunch.com, 23.6.2019. S. 63-70.

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Facebook: Zu groß für diese Welt? Kredite. Da sie aber ihr Währungsmo- nopol an die Europäische Zentralbank Mit der Libra erfindet Facebook aller- abgetreten hatten, erhielten sie diese dings nicht nur sein Kerngeschäft neu, nur unter Auflage drakonischer Spar- sondern droht obendrein die globale maßnahmen. In ähnlicher Weise könn- Finanzpolitik auf den Kopf zu stellen. te bald eine Handvoll der weltweit Denn innerhalb kürzester Zeit könn- mächtigsten Privatkonzerne über die te die Libra Association zur größten Politik – oder gar das Überleben – ein- Vermögensverwalterin der Welt auf- zelner, von ihnen abhängiger Volks- steigen. Bereits mit der Entscheidung, wirtschaften entscheiden. welche Währungen sie in ihren Wäh- Die Politik hat diese Gefahren bereits rungskorb aufnimmt, könnte sie dann erkannt. EZB-Direktor Benoît Cœuré unmittelbar das Vertrauen des Mark- warnt, Libra dürfe sich keinesfalls in tes beeinflussen. Ebenso könnte sie einem gesetzlichen Vakuum entwi- Staaten, die etwa die Libra aus ihrem ckeln. US-Präsident Donald Trump äu- Land verbannen, abstrafen, indem sie ßerte sich ebenfalls kritisch: „Wenn Fa- deren Staatsanleihen im großen Stil cebook und andere Unternehmen ei- abstößt. Das Konsortium erhielte da- ne Bank werden wollen“, twitterte er, mit eine ähnlich große Macht wie jene „dann sollten sie […] sich an Banken- intransparenten Rating-Agenturen, vorschriften halten.“ Und auch der die die Kreditwürdigkeit von Unter- US-Kongress zeigt sich zutiefst besorgt. nehmen und Staaten bewerten – allen Mitte Juli musste der zuständige Face- voran Standard & Poors, Moody’s und book-Manager David Marcus unter an- Fitch. derem vor dem Bankenausschuss des Hinzu kommt, dass Menschen in US-Senats Rede und Antwort stehen.11 Ländern mit instabilen Währungen Fast zeitgleich diskutierten die G7-Fi- mehrheitlich in die vergleichsweise nanzminister und Notenbankgouver- stabile, allerdings von Konzernen kon- neure während eines Treffens bei Pa- trollierte Libra flüchten könnten. Die ris in einer eigens dafür eingerichteten dortigen Zentralbanken wären damit Crypto Task Force die Pläne Facebooks. der Möglichkeit beraubt, wirtschaftli- Welche Folgen all dies für Face- chen Krisen mit einer gezielten Geld- book am Ende tatsächlich haben wird, politik entgegenzuwirken, weil sie nur bleibt abzuwarten. In der Vergangen- noch eingeschränkt Einfluss auf die heit konnte sich der multinational ope- im Umlauf gebrachte Geldmenge hät- rierende Digitalkonzern Zugriffsversu- ten: Weder könnten sie im Falle eines chen einzelner Staaten immer wieder Bankensturms Geld ausgeben, da sie entziehen. Somit ist zu hoffen, dass sich keine Libras drucken können, noch die Staaten möglichst bald gemein- wären sie in der Lage, den Regierun- sam auf ein Vorgehen einigen – und gen bei steigenden Zinsen anstelle pri- damit auf jene politische Regulierung, vater Investoren Geld zu leihen. Die- die Nick Clegg so energisch eingefor- ses wird etwa benötigt, um Schulden dert hat. Gelingt es ihnen jedoch nicht, zu begleichen oder Investitionen zu Facebooks Plänen für ein globales Fi- tätigen.10 Welche Folgen es hat, wenn nanzimperium Einhalt zu gebieten, Staaten die Hoheit über ihre Geldpo- wäre damit möglicherweise endgültig litik verlieren, zeigte sich vor gut zehn der Beleg erbracht, dass der Konzern Jahren in der EU: Infolge der damali- zu groß ist für diese Welt und tatsäch- gen Finanzkrise benötigten Mitglieds- lich zerschlagen gehört. staaten wie Griechenland dringend 11 Vgl. Testimony of David Marcus, Hearing before The United States Senate Commit- 10 Vgl. Yves Wegelin, Der Griff nach der Welt- tee on Banking, Housing, and Urban Affairs, macht, www.woz.ch, 27.6.2019. 16.7.2019, www.banking.senate.gov.

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Annett Mängel Plastik global: Die große Recyclinglüge

Wir leben in einer Welt aus Plastik. Die wahrscheinlich, dass es körperliche verschiedenen Kunststoffe sind aus Abläufe beeinträchtigt. Fest steht zu- unserem Alltag nicht mehr wegzuden- dem längst, dass sich an das Mikroplas- ken und finden sich inzwischen über- tik andere Schadstoffe binden, die vom all.1 Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Körper absorbiert werden, beispiels- ersetzen sie in rasantem Tempo All- weise Pflanzenschutzmittel aus der tagsgegenstände aus Glas, Porzellan Landwirtschaft. Hinzu kommt, dass und Papier. Sie sind billig herzustellen, unter den vielen chemischen Substan- leicht und vielseitig verwendbar. Das zen, aus denen Kunststoffe bestehen, macht sie so attraktiv – und gleichzeitig zahlreiche als sogenannte endokrine so gefährlich, denn Plastik ist äußerst Disruptoren gelten. Diese stören bereits langlebig: Es braucht Jahrhunderte, in winzigen Mengen den Hormonhaus- damit Plastik zerfällt. Dabei werden halt und stehen im Verdacht, Krebs Schadstoffe an die Umwelt abgegeben auszulösen sowie insbesondere mit- und es bleiben winzig kleine Teilchen verantwortlich dafür zu sein, dass die übrig, das sogenannte Mikroplastik. Zeugungsfähigkeit in den Industrie- Dieses findet sich inzwischen auf der ländern seit Jahren abnimmt.3 ganzen Welt: im Mariannengraben ebenso wie im Eis der Arktis, auf Ackerböden und in Binnengewässern. Von wegen Recyclingweltmeister Und so landet es früher oder später auf unserem Tisch: Jeder Mensch auf Und doch landet ein Großteil des der Welt, so errechneten australische Kunststoffs nach zumeist einmaligem Forscher jüngst, nimmt pro Woche fünf Gebrauch umgehend auf dem Müll: sei Gramm Mikroplastik über Atemluft, es die Verpackung für das Mittagessen Essen, Kosmetik und insbesondere Ge- mit den Kollegen im Büro oder die Un- tränke zu sich – das entspricht in etwa mengen von Plastikhüllen für Wurst, dem Gewicht einer Kreditkarte. Die- Käse, Obst und Gemüse. In Deutsch- ser Mittelwert variiert je nach Ernäh- land verdoppelte sich der Plastikmüll rung und Wohnort.2 Was das Mikro- seit 1994 – mit 38 Kilogramm pro Person plastik selbst im Körper anrichtet, ist und Jahr nahmen die Deutschen 2016 bislang nicht sicher erforscht. Klar ist nach Luxemburg, Irland und Estland aber, dass es je nach Größe direkt in europaweit den vierten Platz ein.4 innere Organe wie die Lunge und den Die Welt droht im Plastikmüll zu er- Darm gelangen kann, und es gilt als sticken, wenn wir nicht endlich gegen- steuern. Den Bildern toter Wale, die 1 Plastik umfasst als Sammelbegriff verschie- qualvoll an einem Magen voller Verpa- dene chemisch hergestellte Kunststoffe, die ckungsmüll verendeten, der riesigen je nach Verwendungszweck aus unterschied- lichen chemischen Stoffen bestehen. Vgl. die Grafik im gerade frisch erschienenen „Plas- 3 Vgl. Heike Holdinghausen, Unaussprechlich tikatlas“ der Heinrich-Böll-Stiftung und des und gefährlich, in: „die tageszeitung“ (taz), BUND, Berlin 2019, S. 11. 24.6.2019. 2 Vgl. Jeder isst und trinkt bis zu fünf Gramm 4 Spiegel, Deutschlands dreckiger Rest. Die Mikroplastik pro Woche, www.tagesspiegel.de, Müll-Lüge, 18.1.2019 und https://de.statista. 13.6.2019. com/themen/4645/plastikmuell.

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Müllstrudel in den Meeren und offe- Rest wird „thermisch“ verwertet, wie ner Deponien mit westlichem Plastik- es euphemistisch von Seiten der Müll- müll in Ländern des globalen Südens entsorger heißt, also verbrannt, oder kann sich keiner mehr entziehen – und als Ersatzbrennstoff in der Zement- doch geht es nur in Trippelschritten vo- industrie genutzt. Dabei bleiben gifti- ran: Die EU etwa unternimmt mit ih- ge Rückstände übrig, die in Bergwer- rer im Frühjahr verabschiedeten Plas- ken gelagert werden.7 Immerhin sor- tik-Richtlinie – mit der ersetzbare Ein- gen hierzulande wenigstens ausge- wegplastikprodukte ab 2021 verbo- reifte Filteranlagen dafür, dass schäd- ten sein sollen – zwar einen kleinen liche Gase nicht direkt die Umwelt ver- Schritt in die richtige Richtung, packt giften. Andernorts ist das aber längst das Problem aber nicht an der Wurzel. nicht der Fall. Im globalen Süden wird Denn um die wachsenden Müllberge der Müll oft im Freien verbrannt, lan- zu vermeiden, reicht es nicht, einige det auf offenen Deponien und somit in wenige Einwegprodukte zu verbieten. der Umwelt und im Meer. Stattdessen ist es notwendig, die Plas- tikproduktion weltweit massiv einzu- grenzen, indem man auf Ressourcen- Die Müllkippen des Nordens schonung, Wiederbenutzung und so- mit auf nachhaltige Produkte setzt. Dessen ungeachtet wird all das, was Doch bislang wächst der Kunststoff- die hiesige Müllindustrie nicht verar- berg Jahr für Jahr. Nur ein Bruchteil beiten kann, exportiert. Jahrzehnte- davon wird recycelt – anders, als man lang ging Müll nach China, das daraus hierzulande lange dachte. Wähnten in aufwendigen Verfahren sogenann- sich doch viele mit dem Wurf in die Gel- te Rezyklate herstellte, die wieder zur be Tonne im guten Glauben, dass die Kunststoffproduktion genutzt werden Styroporverpackung vom Imbiss oder können. Vor anderthalb Jahren aber der Plastikbecher der Kirschtomaten erhöhte das Land seine Anforderun- wie versprochen ordentlich entsorgt gen an importierten Kunststoffmüll und wiederverwendet wird. drastisch, um ihn besser verarbeiten Doch vom Recyclingweltmeister zu können, was einen faktischen Im- Deutschland kann überhaupt keine portstopp bedeutete. Malaysia und Rede sein: Zwar werden laut Umwelt- Indonesien sprangen als neue Müll- bundesamt 39 Prozent des Plastik- importeure ein. Mit fatalen Folgen: mülls recycelt – allerdings zählt dazu Denn während sich in China in den schon der Abfall, der in einer Sortier- vergangenen dreißig Jahren ein halb- anlage landet und in irgendeiner Form wegs funktionierendes Entsorgungs- weiterverarbeitet wird. Tatsächlich je- und Recyclingsystem entwickelt hat, doch wurden von den 5,2 Mio. Ton- türmt sich der Kunststoffmüll in Ma- nen Kunststoffabfällen aus dem Jahr laysia und Indonesien auf ehemaligen 2017 lediglich 810 000 Tonnen wirklich Landwirtschaftsflächen in der Nähe wiederverwertet, das entspricht einer bewohnter Gebiete. Anwohner berich- Quote von 15,6 Prozent.5 Setzt man al- ten von nächtlichen Bränden auf den lerdings diesen wiederverwendeten Müllhalden und klagen über stechen- Kunststoff ins Verhältnis zur Neupro- de Gerüche, Qualm und Atemwegser- duktion, kommt man mit dem Abfall- krankungen.8 experten des Wuppertal Instituts für Höchstens vier Prozent des Plastik- Klima, Umwelt und Energie, Hennig mülls werden in diesen Ländern recy- Wilts, auf lediglich 5,6 Prozent.6 Der 7 Vgl. Plastik für die Ewigkeit, Video, www.spie- 5 Vgl. Plastikatlas, a.a.O., S. 9. gel.de, 27.8.2018. 6 Vgl. Deutsches Recyclingsystem versagt beim 8 Vgl. Arne Perras und Vivien Timmler, Ver- Plastikmüll, www.spiegel.de, 18.1.2019. mülltes Idyll, www.projekte.sueddeutsche.de.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kommentare 27 celt. Exportiert man den Müll dorthin, Immerhin will die EU ihnen auf die ist also mit großer Wahrscheinlichkeit Sprünge helfen: Ab 2021, so hat sie im davon auszugehen, dass er letztlich die Frühjahr beschlossen, sollen Luftbal- Umwelt verschmutzt – ob als giftiger lonstiele, Plastikwattestäbchen, Be- Qualm, der die Anwohner direkt schä- steck, Teller und Fast-Food-Behälter digt, oder als umherfliegender Müll, aus Plastik verboten sein. Die neue der in den Gewässern landet und frü- Vorschrift zielt auf jene Kunststoffpro- her oder später auch auf unserem Tel- dukte, die in Europa am häufigsten an ler wiederzufinden ist. Stränden und in den Meeren gefun- den wurden.10 Das ist ein Schritt in die richtige Richtung – und trotzdem zu UNO-Vorstoß und EU-Trippelschritte kurzsichtig gedacht. Denn das Verbot soll nur solche Artikel betreffen, für die Immerhin haben die katastrophalen bereits sinnvolle Alternativen beste- Bilder brennender Plastikmüllkippen hen. Zu erwarten ist also keine Abnah- in Indonesien und Malaysia inzwischen me des Mülls, sondern lediglich eine auch die UNO aufgeschreckt: Mitte Ersetzung der Rohstoffe: An die Stelle Mai einigten sich 187 Staaten in einem der Plastiktüte tritt dann die Papiertü- Rahmenabkommen darauf, nur noch te, die als viel umweltfreundlicher gilt, sortierten und sauberen Plastikmüll in als ihr gebührt.11 Und auch Bambustel- Entwicklungsländer zu exportieren. ler und -besteck landen umgehend im Exporteure, die stark verschmutzte und Müll. Das ist zwar umweltfreundlicher unsortierte Abfälle loswerden wollen, als das Jahrhunderte nicht verschwin- müssen sich künftig die Erlaubnis der dende Plastik, trägt aber keinen Deut dortigen Regierungen einholen. Bis- zur Schonung von Ressourcen bei. lang war dies lediglich ein Geschäft Zugleich werden in verschiedenen zwischen privaten Firmen – und fand Bereichen die Hersteller stärker zur ohne staatliche Kontrolle statt. Nun soll Verantwortung gezogen. So soll die Ta- es hingegen „ein transparentes und bakindustrie ihre Käufer darüber auf- zurückverfolgbares System für Export klären, dass Zigarettenfilter, die oft und Import von Plastikmüll geben“, einfach weggeschnippt werden, Plas- wie Rolph Payet vom UN-Umweltpro- tikmüll sind. Sie enthalten zu einem gramm nach der Verabschiedung be- Großteil weiche Kunststoffe und Mikro- tonte.9 Anfang Juli schickte Indonesi- plastik, um Schadstoffe aus der Ta- en containerweise Mischmüll, der mit bakverbrennung zurückzuhalten. Am giftigen Substanzen versetzt war, in Schwarzen Meer machen Zigaret- Industrieländer zurück. tenkippen mehr als ein Drittel des am Das neue Abkommen ist ein wichti- Strand anfallenden Mülls aus, an der ger Schritt zur Eindämmung der Plas- Ostsee sind es immerhin zehn Pro- tikflut: Wenn die Industrieländer ih- zent.12 Die Tabakhersteller sollen auch re wachsenden Müllberge nicht mehr an den Abfallbeseitigungskosten be- einfach loswerden können, sondern teiligt werden. Zudem drängt die EU sich wieder selbst um die Entsorgung – ihre Mitgliedsländer, den Anteil von und am besten eine höhere Recycling- Recyclingkunststoffen an der Neupro- quote – kümmern müssen, wächst viel- duktion bis 2030 auf 30 Prozent zu stei- leicht auch der Druck, effektiv gegen- zusteuern. Allerdings wäre es illuso- 10 Vgl. Wegwerfprodukte aus Plastik: Parlament stimmt für Verbot ab 2021, www.europarl.eu- risch, dabei allein auf die Einsicht der ropa.eu, 27.3.2019. Hersteller und Verkäufer zu setzen. 11 Vgl. Heike Holdingshausen, Der Kampf gegen Plastikmüll. Nicht von Pappe, www.taz.de, 9 Vgl. Jona Spreter, Vereinte Nationen wollen 14.5.2019. Plastikabfälle reglementieren, in: www.zeit.de, 12 Vgl. die Grafik „Die Müllverschmutzung an 11.5.2019. Stränden“ in: Plastikatlas, a.a.O., S. 25.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 28 Kommentare gern und bereits ein Jahr zuvor 90 Pro- es. Oft ist nicht eindeutig zu erkennen, zent ihrer Kunststoffflaschen getrennt ob es sich um das eine oder das ande- zu sammeln. PET-Flaschen sind am re handelt. Notwendig wäre daher ei- besten fürs Recycling geeignet, weil ne zusätzliche eindeutige Kennzeich- sie relativ sortenrein sind. nung auf der Flasche, wie es auch die Der gemischte Grüne-Punkt-Müll „Mehrweg-Allianz“ fordert. Diese muss hingegen erst mühsam gereinigt setzt zudem auf eine zusätzliche Ab- und sortiert werden. Er enthält vie- gabe von 20 Cent auf Einwegflaschen le Verbundstoffe, also Verpackungen und Dosen.14 mit unterschiedlichen Materialien, die Auch im Fast-Food-Bereich und der sich schlecht bis gar nicht recyceln Take-Home-Gastronomie muss ein lassen. So wichtig eine verbindliche – Umdenken stattfinden: Einwegbecher dann aber auch zu sanktionierende! – und -behälter müssen durch nachhalti- Recyclingquote für neue Kunststoffe ge Alternativen ersetzt werden. Allein ist, zeigt sich hier doch die Zaghaftig- in den Fußballstadien der ersten und keit der EU. Denn sie sieht die Lösung zweiten Bundesliga fielen in der Saison des Problems bloß in etwas mehr Recy- 2018/2019 mehr als neun Mio. Weg- cling anstatt in der Eindämmung der werfbecher an.15 Dabei gibt es längst stetig wachsenden Müllflut. Pfandalternativen. In Berlin läuft aktu- ell eine Ausschreibung für ein Pfand- system von Kaffeebechern – 2,8 Mrd. Was ist zu tun? Wegwerfbecher werden jährlich hier- zulande verbraucht, ganze 34 pro Kopf. Für eine wirkliche Lösung müsste Doch bislang sperren sich vor allem die Brüssel sich mit den großen Konzer- großen Konzerne wie Starbucks dage- nen der petrochemischen Industrie gen – angeblich, weil es zu aufwendig anlegen. Diese sorgen mit viel Lobby- ist, vor allem aber, weil sie mit den ei- arbeit dafür, dass die Plastikherstel- genen To-go-Kaffeebechern eine we- lung weiter billig bleibt, beispielswei- sentliche Werbefläche verlören.16 se dadurch, dass das dafür benötigte Das bringt das grundlegende Dilem- Rohöl steuerfrei ist, oder die energie- ma auf den Punkt: Das globale kapi- intensiven Unternehmen von Abgaben talistische Konsummodell blendet die befreit werden.13 Folgekosten für die Welt komplett aus. Kurzfristig gilt es, neben mehr Recy- Sie sind weder eingepreist noch wer- cling schon jetzt Mehrwegsysteme an den sie von verantwortlicher Seite in die Stelle von Einwegprodukten zu Rechnung gestellt. Hier ist die Politik stellen: Eigentlich sind Supermärkte gefragt: Nachdem die UN-Umweltkon- in Deutschland seit Jahresbeginn da- ferenz in Nairobi im März dieses Jah- zu verpflichtet, bei Getränkeflaschen res anders als geplant keine Einigung eine Mehrwegquote von 70 Prozent zur Eindämmung von Plastikmüll in einzuhalten. Doch insbesondere die den Ozeanen traf, gehört das Thema großen Discounter wie Lidl und Aldi umgehend wieder auf die politische setzen zunehmend ausschließlich auf Agenda – und zwar weltweit. Anders Einwegflaschen – und verstoßen da- bekommen wir das Problem mit dem mit gegen die geltende Mehrwegquo- Plastikmüll nicht in den Griff. te, ohne bislang Sanktionen fürchten zu müssen. Das muss sich dringend 14 Vgl. Boykott der Mehrwegquote stoppen: Ver- bände Allianz fordert Abgabe auf Einweg, ändern. Auch an der seit diesem Jahr www.duh.de, 29.4.2019. geltenden Kennzeichnungspflicht von 15 Vgl. Deutsche Umwelthilfe, Mehrwegbecher Einweg- und Mehrwegflaschen hapert in Stadien, www.duh.de. 16 Vgl. Mirjam Hecking, Warum der Handel Mehrwegbecher meidet, www.manager-ma- 13 Vgl. Plastikatlas, a.a.O., S. 30 f. gazin.de, 26.6.2019.

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Julia Schweers Ebola im Kongo: Die ignorierte Epidemie

Nahezu unbemerkt von der interna- me denen der in Afrika weitaus häu- tionalen Gemeinschaft sind allein im figeren – und nicht von Mensch zu vergangenen Monat 300 000 Menschen Mensch übertragbaren – Malaria äh- aus dem Nordosten der Demokrati- neln, infizieren sich viele oft unbe- schen Republik Kongo geflohen. Die dacht. Eine Therapie gibt es bislang meisten von ihnen verbleiben als In- nicht, Ärzt*innen können daher nur landsvertriebene im Kongo, doch mehr einzelne Symptome lindern, indem als 29 000 Menschen haben sich seit Be- sie fiebersenkende Mittel verabrei- ginn des Jahres ins Nachbarland Ugan- chen oder den Flüssigkeits- und Elek- da aufgemacht.1 Was sie antreibt, ist ei- trolytverlust ausgleichen. Über 1600 ne doppelte Angst: die Angst vor einem Todesopfer wurden bei der gegenwär- neuen Bürgerkrieg – und vor Ebola. tigen Epidemie im Ostkongo bislang of- Die letzte Epidemie dieser Infek- fiziell bestätigt, doch die Dunkelziffer tionskrankheit liegt nur wenige Jahre dürfte um einiges höher liegen. Denn zurück: Zwischen 2014 und 2016 hat- obendrein flammen dort in den letzten te Ebola allein in Westafrika mehr als Monaten nun auch noch erneut bewaff- 11 300 Opfer gefordert. Das lag nicht nete Konflikte auf. nur am mehr als maroden Gesund- heitssystem der damals betroffenen Staaten. Vielmehr schaute die Weltge- Krankheit und Krieg sundheitsorganisation (WHO) seiner- zeit viel zu lange tatenlos zu. Wer aber Gewalt und Krieg sind nichts Neues in meint, die WHO hätte aus der dama- der abgeschiedenen Region: Seit mehr ligen Katastrophe gelernt und hand- als 20 Jahren destabilisiert eine Serie le diesmal im Kongo schneller, der irrt: von Bürgerkriegen insbesondere den Lethargisch steht sie auch diesmal wie- Osten des Kongos, bei der auch die der daneben, während sich die nächste östlichen Nachbarländer Uganda und Pandemie in Afrika ausbreitet. Ruanda mitgemischt haben. Immer Genau ein Jahr ist seit dem Beginn wieder fachten kongolesische Dikta- des neuesten Ausbruchs vergangen. toren gezielt ethnische Konflikte an Und seit einem Jahr breitet sich die und unterstützten bewaffnete Grup- Seuche stetig aus, zuletzt rasant. Das pen in der Region. So sicherten sie sich erst seit 1976 bekannte Ebolafieber ist einerseits Zugang zu begehrten Roh- hochansteckend und verläuft durch- stoffen und verschafften sich anderer- schnittlich bei jedem zweiten Infizier- seits einen Vorwand für das Vertagen ten tödlich. Es beginnt mit Übelkeit, demokratischer Wahlen.2 Die gleiche Gliederschmerzen und Durchfall, dar- Taktik wandte Uganda zwischen 1998 auf folgen innerhalb weniger Tage in- und 2003 an, nachdem es die kongole- nere Blutungen, die zum Tod durch sische Provinz Ituri besetzt hatte – das Organversagen führen. Da zu Beginn Zentrum des jetzigen Ebolaausbruchs. des Krankheitsverlaufs die Sympto- 2 Vgl. Janosch Kullenberg, Kalkulierte Destabi- 1 Vgl. UNHCR, DRC Influx Dashboard – Joint lisierung in der DR Kongo. Die Handlungslo- Border Monitoring. Uganda Refugee Respon- gik der Kabila-Regierung, in: „SWP Aktuell“, se, www.unhcr.org, 27.6.2019. 16/2018, S. 2, www.swp-berlin.org.

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Sie ist reich an Erdöl, Edelmetallen und den Staaten ist gegen den Flüchtling- Seltenen Erden. Während der Beset- sandrang aus dem Kongo kaum abzu- zung stellte Uganda unterschiedlichen riegeln. Sollte die Epidemie Ugandas ethnischen Gruppen Waffen zur Verfü- Hauptstadt Kampala erreichen, droht gung. Kongo finanzierte daraufhin als eine Pandemie, die den letzten großen militärisches Gegengewicht Milizen Ebolaausbruch noch in den Schatten der ethnischen Gruppe der Lendu und stellen dürfte. Denn die Metropole ver- Ruanda Milizen der Hema.3 So schuf fügt über den einzigen internationalen man einen gewaltsamen Konflikt, der Flughafen weit und breit, mit Direkt- bis heute schwelt und bei der kleinsten flügen nach Addis Abeba, Amsterdam, Gelegenheit wieder aufflammt. Brüssel, Dubai und Istanbul. Über den Nachdem sich zuletzt die Lage in Luftweg könnte sich die Krankheit da- Ituri wieder entspannt hatte, führte vor mit weit über Zentralafrika hinaus aus- einigen Wochen der Mord an einem breiten. Ähnliche Szenarien drohen, Lendu zu Vergeltungsschlägen, wel- falls sich die Seuche nach Ruanda aus- che die Gewaltspirale von neuem in dehnt. Gang setzten. Schon Ende Februar wa- ren mehrere Ebola-Behandlungszen- tren im Epizentrum der Epidemie von Die Passivität der WHO Milizen zerstört worden, worauf sich die einzige Hilfsorganisation vor Ort, Angesichts dessen hätte die WHO Ärzte ohne Grenzen, vorerst aus dem prinzipiell die Möglichkeit, den „inter- Gebiet zurückziehen musste.4 nationalen Gesundheitsnotstand“ (Pu- Spätestens seitdem aber kann sich blic Health Emergency of International die Ebolaepidemie nahezu ungehin- Concern, PHEIC) auszurufen. Dieser dert ausbreiten: Rund die Hälfte der greift bei Krankheiten, die ein „außer- bestätigten Kranken infizierte sich in- gewöhnliches Ereignis“ darstellen und nerhalb der vergangenen drei Mona- durch internationale Verbreitung zum te. Bei etwa 80 Prozent der Neuanste- „öffentlichen Gesundheitsrisiko“ für ckungen lässt sich obendrein nicht mehrere Länder zu werden drohen, da- nachvollziehen, über welche Kontak- her also einer „koordinierten interna- te die Betroffenen sich infizierten ha- tionalen Antwort“ bedürfen. Der Ge- ben. Daher lassen sich Krankheitsher- sundheitsnotstand soll ein Weckruf an de kaum noch identifizieren und ein- die Staatengemeinschaft und an Geld- dämmen. Schlimmer noch: Mitte Ju- geber sein und kann in die Entsendung ni wurden die ersten zwei Ebolaopfer einer UN-Mission in das Krisengebiet in Uganda bestätigt. Fluchtbewegun- münden. So ermöglichte erst das ko- gen in Richtung Südsudan und Ruanda ordinierte Handeln einer eigens dafür zeichnen sich bereits ab. Damit hat die ins Leben gerufenen UN-Mission die grenzüberschreitende Ausbreitung der erfolgreiche Bekämpfung der Epide- Krankheit begonnen. mie von 2014-2016. Und obwohl Uganda sich auf das Doch wie auch schon vor fünf Jah- Überschwappen der Epidemie vorzu- ren zögert die zuständige Experten- bereiten versucht, werden auch dort kommission der WHO weiterhin, den die Opferzahlen voraussichtlich zu- Notstand auszurufen: Diesen Sommer nehmen. Denn die rund 800 Kilome- entschied sie sich wiederholt dage- ter lange Grenze zwischen den bei- gen. Ihre Begründung klingt wie ein schlechter Scherz: Der Ebolaausbruch 3 Vgl. Alison Des Forges, Ituri: Die blutigste im Kongo sei sicherlich verheerend Ecke des Kongo, www.hrw.org, 7.7.2003. und tatsächlich breite sich die Epide- 4 Vgl. Ärzte ohne Grenzen, Ebola in der De- mokratischen Republik Kongo, www.aerzte- mie gerade über Staatengrenzen hin- ohne-grenzen.de, 24.6.2019. weg aus. Doch das stelle kein „außer-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kommentare 31 gewöhnliches Ereignis“ dar, schließ- stellte die Polizei sogar einen ganzen lich sei ja seit Monaten damit zu rech- Stadtteil unter Quarantäne – sprich: Sie nen gewesen, dass die Krankheit auch riegelte ihn gewaltsam ab und überließ die Nachbarländer nicht verschonen Zehntausende Bewohner*innen ihrem würde. Auch sei die Epidemie zwar ei- Schicksal. ne internationale Gefahr, aber eben nur innerhalb Zentralafrikas.5 Statt al- so mehr internationale Hilfe zuzusi- Erfolge und Märkte chern, sprach die WHO wieder einmal vor allem altväterliche Ratschläge aus: Während die WHO über die Misere Baut eure Katastrophenvorsorge aus, des Ausbruchs vor fünf Jahren be- schützt eure Grenzen besser, arbei- harrlich schweigt, schreibt sie sich tet besser zusammen. In einem Land medizinische Erfolge bei der Entwick- wie dem Kongo, das kaum einen Tag lung eines Impfstoffes gegen Ebola ohne bewaffnete Konflikte erlebt hat, auf die Fahne. Tatsächlich wurden in seit die CIA 1961 die Ermordung seines den vergangenen Monaten im Kongo ersten und einzigen demokratisch ge- Zehntausende Menschen gegen die wählten Staatschefs, Patrice Lumum- Infektion geimpft. Einen üblen Bei- ba, veranlasste, klingen solche Sätze geschmack hat die Sache dennoch: nicht nur realitätsfremd, sondern gera- Schon 2003 war der dringend benötig- dezu höhnisch. te Impfstoff entwickelt und erfolgreich Auch was den Umgang mit dem Kon- an Affen getestet worden. Danach ver- go anbelangt, werden traurige Erin- schwand er allerdings für elf Jahre in nerungen an den bisher verheerends- der Schublade. Der Grund: Es ließ sich ten Ebolaausbruch vor fünf Jahren ge- kein Geldgeber finden, um die für die weckt. Selbst als damals die Krankheit Lizensierung nötigen teuren Tests an bereits in drei Staaten – Guinea, Sier- Menschen durchzuführen. ra Leone und Liberia – wütete und dort Das änderte sich 2014 schlagartig: Im schließlich auch die urbanen Zentren September 2014 beschloss die WHO, es erreichte, sah die WHO keinen Grund sei ethisch vertretbar, im Krisenfall ex- zum Handeln. Sogar als die ersten Infi- perimentelle Impfstoffe einzusetzen. zierten in Nigeria und dem Senegal ge- Nur zwei Monate später kaufte sich der meldet wurden, erfolgte bei der Orga- US-Pharmakonzern Merck mit 50 Mio. nisation kein Sinneswandel. Doch nur US-Dollar in die Ebola-Forschung ein.6 drei Tage, nachdem der erste Nicht-Af- Der derzeitige Ausbruch im Kongo rikaner – ein spanischer Missionar – dient nun als große, für das Unterneh- ebolakrank in Europa eintraf, rief ein men äußerst preisgünstige Testphase. Ad-hoc-Gremium der WHO den Not- Immerhin scheint der Impfstoff bis- stand aus. Offensichtlich konnte ein her gut zu wirken, zumindest wohl einzelner erkrankter Europäer auslö- – das hat die Testreihe nun gezeigt – sen, was Zehntausend Sterbende in Af- ab dem zehnten Tag nach der Verab- rika nicht vermochten. Für sie kam die reichung.7 Doch die Vorräte werden Hilfe zu spät. Die politische Elite ih- knapp und reichen längst nicht für al- rer Staaten hatte sich schon längst ins le Menschen in der Region. Deswegen Ausland abgesetzt, Krankenhäuser ge- forderte die WHO im Mai, von nun an schlossen, weil schlichtweg kein Per- nur noch halb so große Dosen zu sprit- sonal mehr vor Ort war, und in Liberia 6 Vgl. New Link Genetics, Our Partnerships, www.newlinkgenetics.com, 2017; Public He- 5 Vgl. WHO, Statement on the meeting of the alth Agency of Canada, Fact Sheet VSV-EBOV, International Health Regulations Emergency 5.6.2018. Committee for Ebola virus disease in the De- 7 Vgl. Daniela Hüttemann, Ebola-Impfung mocratic Republic of the Congo, www.who.int, scheint hochwirksam zu sein, in: „Pharmazeu- 14.6.2019. tische Zeitung“, 24.4.2019.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 32 Kommentare zen und auch einen weiteren experi- rica Centres for Disease Control and mentellen Impfstoff des Pharmakon- Prevention“ noch im Aufbau. Die Bot- zerns Johnson & Johnson auszupro- schaft, die die AU auf ihrer Webseite bieren – wo sich ein Geschäft entwi- vermitteln will, ist dennoch klar: Wir ckelt, drängt auch die Konkurrenz auf bewältigen die Krise auch ohne Ge- den Markt. Fraglich ist, wie weit dabei sundheitsnotstand. Angesichts der ge- die Interessen der Menschen im Kon- rade einmal 41 medizinischen Fach- go und die drohende Ausbreitung der kräfte, die die Afrikanische Union in Seuche berücksichtigt werden. Mit das Krisengebiet entsandt hat, ist das Impfungen allein ist diese jedenfalls jedoch stark zu bezweifeln.9 Eine ehr- nicht mehr zu stoppen, das hat spätes- liche Anwaltschaft für die Menschen tens ihr Verlauf in den vergangenen in der betroffenen Region, die die dro- Wochen gezeigt. hende Katastrophe auch beim Namen nennt, wäre nützlicher. Es gibt jedoch darüber hinaus ei- Doppeltes Versagen nen ökonomischen Grund, warum af- rikanische Staaten den Gesundheits- Das abermalige Zögern der WHO, grö- notstand nicht befürworten: Sie fürch- ßere Hebel umzulegen, offenbart ein ten kontinentübergreifende Reise- und doppeltes Versagen. Zum einen ist die Handelsbeschränkungen, wie sie 2014 UN-Organisation chronisch unterfi- während des letzten Ebolanotstandes nanziert. Finanzierte sie sich in den ausgesprochen wurden. Der Rest der 1970ern noch hauptsächlich aus festen Welt würde davon kaum beeinträch- Beitragssätzen der UN-Mitgliedstaa- tigt, spielt doch Afrika in der Weltwirt- ten, so ist es deren Regierungen heute schaft nur eine marginale Rolle – der weitestgehend freigestellt, ob und in Kontinent selbst aber würde die Folgen welchem Ausmaß sie die WHO unter- schmerzhaft spüren, wenn Handel und stützen wollen. Tourismus wegbrächen. Nur vor dem Eigentlich sollten 80 Prozent des Hintergrund dieser wirtschaftlichen WHO-Etats heute aus freiwilligen Bei- Ängste wird verständlich, warum die tragszahlungen kommen. Doch die afrikanischen Mitglieder der WHO-Ex- Selbstverpflichtung funktioniert nicht pertenkommission die bisherigen Ne- und so klafft momentan eine Finanz- gativentscheidungen mittragen und lücke von 54 Mio. US-Dollar im Haus- warum jede ihrer Pressemitteilungen halt der Weltgesundheitsorganisation.8 mantrahaft vor Handelsbeschränkun- Die Staatengemeinschaft hat also dar- gen warnt. 10 in versagt, ihre Organisation wirklich So erweist sich die drohende Pande- handlungsfähig zu machen. mie als vermeidbare Katastrophe. Af- Zum anderen fehlt es gerade auf af- rikanische Wirtschaftsinteressen und rikanischer Seite an Solidarität: Die die Ignoranz der WHO – und damit der letzte Pressekonferenz der Afrikani- Weltgemeinschaft – verhindern im Zu- schen Union (AU) zur Lage im Kongo sammenspiel, dass Ebola eingedämmt ist ein Jahr her und die zentralafrikani- wird, solange es noch geht. Leidtragen- sche regionale Unterorganisation EC- de sind, wie so oft, die Bewohner*innen CAS (Economic Community of Cent- einer ohnehin schon krisengeschüttel- ral African States) meldet sich gar nicht ten Weltregion. erst zu Wort. Gleichzeitig befindet sich 9 Vgl. AU, Update on African Union Action in die 2015 gegründete und von der WHO Response to Recent Ebola Outbreaks, www. mitfinanzierte Unterorganisation „Af- au.int, 13.6.2019. 10 Vgl. u.a. WHO, High-level meeting on the Ebo- la outbreak in the DR of the Congo affirms sup- 8 Vgl. WHO, Emergency Committee press con- port for Government-led response and UN sys- ference, www.who.int, 14.6.2019. tem-wide approach, www.who.int, 15.7.2019.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 DEBATTE

Die Gewerkschaften gegen die Klimakrise

In der Juli-Ausgabe hatte »Blätter«-Mitherausgeber Ulrich Brand den Gewerkschaften vorgeworfen, sie seien zu sehr auf wirtschaftliches Wachstum fokussiert und würden daher keine angemessene Klimapo- litik betreiben. Dem widerspricht Norbert Reuter, Leiter der Tarifpoliti- schen Grundsatzabteilung bei ver.di.

Mangelt es den Gewerkschaften an sind offensichtlich zumeist hauptamt- einer ausreichenden sozial-ökologi- liche Beschäftigte, vor allem die Vor- schen Orientierung? Das versucht je- stände (der IG Metall) gemeint, die denfalls Ulrich Brand nachzuweisen. nach Ulrich Brand anders handeln soll- Doch schon der von ihm gewählte Plu- ten, als sie es tatsächlich tun. Gewerk- ral erweist sich als falsch, geht es in sei- schaften sind jedoch keine Vertretun- nem Text doch offensichtlich nicht um gen für die Beschäftigten, sondern der „die“ Gewerkschaften, sondern prak- Beschäftigten. In diesem Sinne verste- tisch ausschließlich um die IG Metall. hen sie sich auch nicht als Organisa- Lediglich in einer Fußnote wird auf tion, die – quasi stellvertretend – Politik die „Dienstleistungsgewerkschaften“ für die Beschäftigten macht. Vielmehr (im Plural!) verwiesen, die aber auch ist die Politik der Gewerkschaften aus- nicht „per se“ umweltfreundliche Inte- gesprochen basisdemokratisch orga- ressen vertreten würden. Da aber rund nisiert. Sie wird auf Bundeskongres- zwei Drittel der im DGB organisierten sen auf der Grundlage von Anträgen Gewerkschaftsmitglieder nicht der zu allen Themenbereichen festgelegt, IG Metall angehören, wäre es interes- die von allen Mitgliedern eingebracht sant zu erfahren, was Brand mit „per werden können. An die mit Mehrheit se“ genau meint.1 In jedem Fall sollte verabschiedeten Beschlüsse sind dann klar sein, dass die Politik der IG Metall die Hauptamtlichen und Vorstandsmit- nicht einfach mit „den Gewerkschaf- glieder gebunden. ten“ gleichgesetzt werden kann, wie Im Kerngeschäft der Gewerkschaf- es Brand in seinem Text tut. ten sind es wiederum die von den Überhaupt erweist sich das Gewerk- jeweils betroffenen Mitgliedern ge- schaftsverständnis in diesem Artikel wählten Tarifkommissionen, die, wie als höchst problematisch: Wann immer es beispielsweise die ver.di-Satzung von „den Gewerkschaften“ die Rede ist, vorsieht, die alleinige Hoheit haben, Tarifforderungen aufzustellen und 1 Vgl. hierzu Norbert Reuter, Ökologische Chan- zu verhandeln. Ihnen kommt auch cen der Dienstleistungsökonomie, in: Lothar die Aufgabe zu, die Verhandlungser- Schröder und Hans-Jürgen Urban (Hg.), Gute gebnisse am Ende anzunehmen oder Arbeit. Ökologie der Arbeit. Impulse für einen nachhaltigen Umbau, Frankfurt a. M. 2018, abzulehnen. In jüngster Zeit wird das S. 59-73. demokratische Prinzip oftmals noch

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 34 Norbert Reuter erweitert: Bereits im Vorfeld werden lektuellen eines Guten Lebens für die alle betroffenen Mitglieder direkt lohnabhängigen Menschen machen“. gefragt, mit welchen Forderungen in die Sprich: Weg mit dem basisdemokrati- Verhandlungen gegangen werden soll, schen Firlefanz? Stattdessen lieber die und am Ende erneut, ob sie dem Ver- klare Ansage der „organischen Intel- handlungsergebnis zustimmen oder lektuellen“, was zu tun ist? Und ob die nicht. Mehrheit der Gewerkschaftsmitglie- der dem folgt, das will und dann noch Mitglied bleibt, ist also egal? » Offensichtlich ist Ulrich Brand der „Sozial-ökologische Aufgaben müs- Ansicht, dass die Gewerkschafts- sen zu Kernanliegen der Gewerkschaf- spitzen gegen ihre Mitglieder eine ten werden“, lautet dann die Kernfor- ökologisch rückständige Politik derung von Ulrich Brand, damit sie der durchsetzen. « Wachstumsfalle entkommen. Statt- dessen hielten „die [!] Gewerkschaf- ten […] an der Exportorientierung und Trotz dieser starken demokratischen internationalen Wettbewerbsorien- „Erdung“ der Gewerkschaften ist es tierung“ fest. Bereits ein kurzer Blick zweifellos richtig, wenn Ulrich Brand in wirtschaftspolitische Publikatio- schreibt, dass „Teile der Belegschaften nen der Gewerkschaften hätte aller- ein stärkeres Krisen- und Verände- dings gezeigt: „Die“ Gewerkschaften rungsbewusstsein ausgebildet haben, – auch die IG Metall – sind sich sehr als ihnen von den Gewerkschaftsspit- wohl bewusst, wie problematisch die zen zugeschrieben wird“. Hier ist aus- einseitige Exportausrichtung und die nahmsweise einmal nicht von „den hohen Außenhandelsüberschüsse der Gewerkschaften“, sondern richtiger- Bundesrepublik sind und fordern eine weise von „den Gewerkschaftsspit- Reihe wirtschaftspolitischer Maßnah- zen“ die Rede, die Brand wohl in der men zur Korrektur dieser Entwick- Regel meint, wenn er von „den Ge- lung.2 werkschaften“ spricht. Aber was folgt daraus? Sollen die Gewerkschaftsspit- zen nun die Meinung von „Teilen der » Der ökologische Umbau ist eine Belegschaften“ vertreten – und die auf gesamtgesellschaftliche Aufgabe, breiter Basis in umfangreichen Debat- die nicht auf den Schultern einzelner ten auf Gewerkschaftskongressen und Beschäftigter abgeladen werden von gewählten Verhandlungskommis- darf. « sionen formulierten Positionen ignorie- ren? Offensichtlich ist Brand ohnehin der Ansicht, dass die Gewerkschafts- Dann kritisiert Brand, beim Konflikt spitzen gegen ihre Mitglieder eine zwischen Ökologie und Arbeitsplatz- ökologisch rückständige Politik durch- sicherheit obsiege die Beschäftigungs- setzen. Anders ist der Satz nicht zu sicherung. Was folgt daraus? Sollen verstehen, dass „die Gewerkschaften“ sich die Gewerkschaften nicht mehr (gemeint sind hier offensichtlich wie- für „stabile Arbeitsplätze und gute ta- der ihre Spitzen) „sich von einer stati- rifvertraglich abgesicherte Arbeitsbe- schen Vorstellung der Interessen ihrer dingungen“ einsetzen – also genau für [!] Mitglieder“ verabschieden müssen die Dinge, wegen derer Menschen in und „ein Stück Kontrolle [sic!] über eine Gewerkschaft eintreten? Und wie die Mitglieder abzugeben“ haben. Gewerkschaften – oder richtiger: Ge- 2 Vgl. hierzu u.a. etwa IG Metall-Vorstand, Wirtschaftspolitische Informationen, Nr. werkschaftsfunktionäre – sollen sich 6/2010 und Nr. 1/2018; ver.di-Bundesvorstand, dafür „stärker zu organischen Intel- Wirtschaftspolitik-Informationen, Nr. 1/2019.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Gewerkschaften gegen die Klimakrise 35 soll eine Politik „der Gewerkschaften“ Forderungen an die Politik – gestützt aussehen, damit sozial-ökologische auf eigens in Auftrag gegebene wis- Aufgaben sichtbar zu Kernanliegen senschaftliche Gutachten – sozial- der Gewerkschaft werden? Dazu fin- verträgliche Szenarien eines ökologi- det man in dem Text wenig Konkretes. schen Umbaus aufgezeigt. Mit Blick Brand sieht auf jeden Fall die Notwen- auf ökologisch erforderliche Ände- digkeit, „dass die Industrieproduktion rungen bei der Energieversorgung […] stark reduziert werden muss“. Wie hat ver.di beispielsweise bereits vor bitte sollen das „die Gewerkschaften“ einigen Jahren gefordert, für Deutsch- angehen? Dazu fehlt ihnen schlicht das land und die EU verlässliche Ausbau- Instrumentarium. Oder sollen die Ge- ziele für erneuerbare Energien und werkschaften beziehungsweise ihre klare Vorgaben für die Integration der Spitzen einen Abbau von Arbeitsplät- Erneuerbaren in den Strommarkt zu zen in ökologisch besonders problema- formulieren. Bund und Länder wurden tischen Branchen fordern? aufgefordert, die Ausbauziele für Wind Aber es ist doch gerade ihre Auf- und Photovoltaik regional zu konkreti- gabe, Jobs zu sichern und nur dann sieren. Parallel dazu hatte ver.di an die einem Abbau zuzustimmen, wenn EU appelliert, den deutschen Weg der entweder neue Arbeitsplätze bereit- Energiewende konstruktiv zu beglei- gestellt werden oder akzeptable Kom- ten und verbindliche Vorgaben für pensationen für die betroffenen Kolle- den Ausbau der Erneuerbaren in allen ginnen und Kollegen garantiert sind. EU-Mitgliedstaaten bis 2030 aufzu- Daher ist es zu einfach, den Gewerk- stellen. Auch für die sozialverträgliche schaften in diesen Fällen vorzuwerfen, Ausgestaltung eines Kohleausstiegs sie würden den „ökologischen Anfor- hatte ver.di bereits 2016 ein Gutachten derungen einer sozial-ökologischen anfertigen lassen. Die beauftragten Transformation zu wenig gerecht“. Wissenschaftler konnten anhand ver- Wer sonst als die Gewerkschaften schiedener Szenarien aufzeigen, wie könnte die Interessen der betroffe- der Kohleausstieg sozialverträglich nen Beschäftigten vertreten? Denn es gestaltet und finanziert werden kann. kann ja nicht als persönliches Pech Dazu schlugen sie konkret umsetzbare der Beschäftigten verstanden werden, Maßnahmen vor: Arbeitsplatzabbau dass sie sich vielfach vor Jahrzehnten hier, Arbeitsplatzaufbau dort, dazu – zu ganz anderen Zeiten – für eine Umschulungsnotwendigkeiten, Abfin- bestimmte, heute ökologisch bedenk- dungsregelungen und Vorruhestands- liche Branche entschieden haben. optionen. Niemand in einer Gewerkschaft besteht darauf, dass ein Arbeitsplatz prinzipiell erhalten werden muss, der » Sollen die Gewerkschaften ihre sich als klimaschädlich oder umwelt- Mitglieder in der Autoindustrie gefährdend herausgestellt hat. Es oder in Kraftwerken aufrufen, für geht dabei aber um die Erhaltung der den Abbau ihrer Arbeitsplätze zu Lebens- und Einkommensgrundlagen kämpfen? « der Menschen und ihrer Familien. Der ökologische Umbau ist eine gesamtge- sellschaftliche Aufgabe, die nicht auf Ohne Umweg über „die Politik“ kön- den Schultern einzelner Beschäftigter nen Gewerkschaften allerdings im abgeladen werden darf – nach dem laufenden Tarifgeschäft handeln und Motto: „Pech gehabt“. dabei etwa Lohnforderungen stel- Deshalb haben Gewerkschaften len und Arbeitsbedingungen gestal- bereits in der Vergangenheit immer ten. Nur sind in diesem Bereich die wieder mit öffentlichkeitswirksamen Möglichkeiten, einen ökologischen

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 36 Norbert Reuter

Umbau zu bewerkstelligen, sehr be- für eine „Kurze Vollzeit für alle“. grenzt. Geringere Lohnforderungen Arbeitszeitverkürzung mit vollem zu stellen, wie es vielleicht manchem Lohnausgleich ist ein probates Mittel, vorschwebt, würde gerade nicht zu den genannten Zielkonflikt zu umge- weniger Wachstum beitragen, sondern hen: Die Beschäftigten partizipieren lediglich die Umverteilung von der am Produktivitätsfortschritt, Arbeits- Arbeit zum Kapital beschleunigen.3 plätze werden erhalten – und das, Oder sollten die Gewerkschaften ihre ohne dass die Kapitalseite gewinnt Mitglieder in der Autoindustrie oder und die Wachstumsspirale weiterge- in Kraftwerken aufrufen, für den Ab- dreht wird. Aber auch diese Strategie bau ihrer Arbeitsplätze zu kämpfen, kann nicht „von oben“ durch „organi- weil diese Tätigkeiten zu ökologisch sche Intellektuelle eines Guten Lebens schädlichen Ergebnissen führen? Oder für die lohnabhängigen Menschen“ die Beschäftigten auffordern, weniger bestimmt werden. Sie muss vielmehr effizient zu arbeiten, weil dies ohnehin „von unten“ wachsen und von den nur genutzt wird, um am Ende mehr Gewerkschaften (als Interessenver- Produkte noch billiger zu produzieren? tretung der Beschäftigten) gewünscht Dies kann man nicht ernsthaft wollen. und im Rahmen von Tarifverhandlun- gen durchgesetzt werden. Hier ist viel Überzeugungsarbeit gefordert. Dazu » Eine Option, die tatsächlich machbar dienen etwa Umfragen, wie sie derzeit ist und im tariflichen Regelungsfeld von ver.di im öffentlichen Dienst unter der Gewerkschaften liegt: die Ver- knapp fünf Millionen Beschäftigten kürzung der Arbeitszeit. « durchgeführt werden und bereits in der Vergangenheit in anderen Bran- chen durchgeführt wurden, in denen Am Ende geht Ulrich Brand allerdings die Beschäftigten unter anderem nach auf eine Option ein, die tatsächlich ihren Arbeitszeitwünschen gefragt machbar ist und im tariflichen Rege- werden. lungsfeld der Gewerkschaften liegt: die Verkürzung der Arbeitszeit. Doch dieses Thema handelt er eher beiläufig » Natürlich geht es mit dem ökologi- ab und erwähnt nur den Tarifvertrag schen Umbau zu langsam. « der IG Metall (der im Übrigen auch Ar- beitszeitverlängerung regelt und zu- lässt). Dass andere Gewerkschaften bei Natürlich geht es mit dem ökologi- der Wahlmöglichkeit „Zeit statt Geld“ schen Umbau zu langsam. Und es ist weit vorangeschritten sind (vor allem verständlich, wenn Ungeduld auf- die Eisenbahngewerkschaft EVG und kommt. Nur ist es keine Lösung, die ver.di), bleibt bei Brand außen vor. Spitzen der Gewerkschaften zu ver- Arbeitszeitverkürzung ist das Mit- donnern, endlich voranzuschreiten tel, um den Zielkonflikt zwischen und den Beschäftigten zu sagen, wie Ökonomie, Ökologie und Sozialem zu sie sich zu verhalten haben. Die Be- minimieren. Hier aufklärerisch zu wir- schäftigten müssen mitkommen und ken, hat sich etwa ver.di zur Aufgabe mitgenommen werden – gerade die- gemacht und wirbt seit langem – legi- jenigen, deren Arbeitsplätze bedroht timiert durch Kongressbeschlüsse – sind. Hier ist die Politik gefordert. Und Aufgabe der Gewerkschaften 3 Vgl. Norbert Reuter, Erwerbsarbeit im Span- nungsverhältnis von Ökologie und Vertei- ist es, in der Zwischenzeit Einkommen lungsgerechtigkeit. Die Rolle der Gewerk- und Lebensperspektive der Beschäf- schaften, in: Irmi Seidl und Angelika Zahrnt tigten zu gewährleisten. Wer soll das (Hg.), Tätigsein in der Postwachstumsgesell- schaft, i. E. denn sonst tun?

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 KOLUMNE

Der Preis der Abschottung Von Kenan Malik

Die Fotos von Óscar Ramírez und seiner nach den Papieren fragt. Vielmehr bildet kleinen Tochter Valeria verfolgen und sie ein gewalttätiges, mit Zwang operie- quälen uns. Beim Versuch, die USA zu rendes, militarisiertes Kontrollsystem. erreichen, waren die beiden Migran- Als ein „Spiegel“-Journalist den Über- ten aus El Salvador im Rio Grande er- wachungsraum der EU-Grenzschutz- trunken. Die Bilder ihrer toten Körper agentur Frontex besuchte, fiel ihm die haben in Amerika für Empörung und dort verwendete Sprache auf: In ihr ging Wut gesorgt. Vor vier Jahren hatten die es darum, „Europa gegen einen Feind Aufnahmen des syrischen Kleinkindes zu verteidigen“. Alan Kurdi, der tot an einem türkischen Die Festung Europa ist eine Zitadelle Strand angeschwemmt wurde, Europa gegen Immigration: Sie wird von Ge- auf ähnliche Weise geschockt und er- setzen abgeschirmt, die die meisten le- schreckt. galen Zugangswege abschneiden, von Diese Tode sind jedoch weder Unfälle Mauern und Kriegsschiffen geschützt noch isolierte Ereignisse. Vielmehr re- und von Satelliten und Drohnen be- sultieren sie aus einer Einwanderungs- wacht. Diese Festung erstreckt sich weit politik auf beiden Seiten des Atlantiks, über die Grenzen Europas hinaus. Im die Migranten „abschrecken“ will. Ein vergangenen Jahrzehnt hat die EU ei- kleiner Junge, der tot am Strand liegt, ne Reihe von Vereinbarungen mit ver- ein Vater und seine Tochter, die mit dem schiedenen Autoritäten in Nordafrika, Gesicht nach unten im Fluss treiben – der Sahelzone, dem Horn von Afrika genau so sieht Abschreckung aus. und dem Mittleren Osten zusammenge- Allein in diesem Jahr sind an der schustert, damit sie als Europas Einwan- Grenze zwischen den USA und Mexiko derungspolizei agieren: mit der Türkei, mindestens 175 Menschen gestorben, mit Marokko und Libyen, mit Niger, darunter 13 Kinder. Über 2000 Men- Mali und Senegal, mit Äthiopien und schen waren es in den vergangenen fünf Eritrea. Die EU gibt gewaltige Summen Jahren. Die europäischen Zahlen sind an Geld aus, damit mögliche oder mut- noch alarmierender: Fast 600 Menschen maßliche Migranten festgenommen und ertranken in diesem Jahr bislang im eingesperrt werden, bevor sie die Küs- Mittelmeer – und rund 35 000 seit 1993. ten des Mittelmeers erreichen. Tausende mehr, vielleicht sogar Zehn- Allein in Libyen hat die dortige Re- tausende mehr, sind still und leise um- gierung mindestens 20 000 Migranten gekommen, ihre Tode wurden niemals inhaftiert. Tausende weitere werden registriert. Die Fälle von Alan Kurdi von Milizen und kriminellen Banden sowie von Óscar und Valeria Ramírez gefangengehalten. Sie alle leben unter stechen bloß dadurch hervor, dass die den entwürdigendsten Bedingungen, Bildsprache schockierend genug war, viele sind Folter, sexuellen Übergriffen um die Aufmerksamkeit der Öffentlich- und Erpressung ausgesetzt. An diesen keit zu erregen. Praktiken sind die europäischen Regie- Einwanderungskontrolle besteht heu- rungen beteiligt: Brüssel hat eine ge- te nicht einfach aus einem Grenzer, der waltige neue Entführungs- und Arrest-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 38 Kolumne industrie finanziert und aus Migranten Daher ist die Empörung über einen be- eine ausbeutbare Ressource gemacht. stimmten Todesfall nicht genug. Was Das ist einer der größten Skandale un- passierte nach der Wut über den Tod von serer Epoche. Und er versinkt fast voll- Alan Kurdi? Nichts. Die Politik der Fes- ständig in Schweigen. tung Europa wurde eher noch gestärkt Damit die Festung Europa noch un- und ausgeweitet. Und alle nahmen es einnehmbarer wird, beginnen europä- achselzuckend hin. So ähnlich wird es ische Regierungen nun, jeden Akt der wohl auch in Amerika geschehen. Rettung oder Solidarität zu kriminalisie- Wer die Politik der Festung Europa ren. Kapitäninnen von Seenotrettungs- und der Festung Amerika ausführt und schiffen wie Carola Rackete und Pia unterstützt, akzeptiert im Grunde, dass Klemp wurden in Italien verhaftet und die Tode von Alan Kurdi, von Óscar und sehen sich Anklagen wegen „Beihilfe Valeria Ramírez sowie der Tausenden, zur illegalen Einwanderung“ gegen- die im Mittelmeer ertrunken und in der über, auf die bis zu 20 Jahre Haft stehen. Wüste entlang der US-Grenze gestor- Weswegen? Weil sie Menschenleben ben sind, dass diese Tode der Preis der gerettet haben. Hätten Rackete oder Abschreckung sind – und dass sie die- Klemp Europäer gerettet, würde man sen Preis wert sind. Unser moralisches sie als Heldinnen bejubeln. Ihr „Verbre- Verständnis ist von der Migrationspanik chen“ besteht darin, den falschen Men- derart verbogen worden, dass wir all schen geholfen zu haben. dies zumeist noch nicht einmal für ein Aber nicht nur das Retten von Migran- Problem halten. Nur gelegentlich, wenn ten aus Seenot ist zur strafbaren Hand- es ein besonders schockierendes Bild in lung geworden. Eine Untersuchung des die Nachrichten schafft, dringt die mo- Onlinemagazins „openDemocracy“ er- ralische Abscheulichkeit dieser Politik gab, dass in den vergangenen fünf Jah- in unser Bewusstsein vor. ren mindestens 250 Menschen in 14 eu- Die Alternative dazu, massenhaften ropäischen Ländern verhaftet oder an- Tod, massenhafte Inhaftierung und die geklagt wurden, weil sie illegalisierte Kriminalisierung des Anstands zu ak- Migranten mit Lebensmitteln versorgt zeptieren, besteht darin, unsere Hal- oder anderweitig unterstützt hatten. tung zur Einwanderungskontrolle, zur Auch Amerika hat einen ähnlichen Festung Europa und zur Festung Ame- Kurs eingeschlagen, von militarisier- rika zu überdenken. Andernfalls haben ten Grenzpatrouillen über verwahrloste die für Alan Kurdi, für Óscar und Va- Masseninternierungslager bis zum Ver- leria Ramírez vergossenen Tränen nur bot jeglicher Unterstützung für undo- unsere Schuldgefühle weggewaschen kumentierte Migranten. Kriminalisiert – aber nichts getan, um so etwas in Zu- wird damit, wie es die Anwältin Fran- kunft zu verhindern. ces Webber ausdrückt, der „Anstand Copyright: Expressen.se selbst“. Übersetzung: Steffen Vogel

Wohnopoly: Die große Verdrängung

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Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 KURZGEFASST

Keeanga-Yamahtta Taylor: »Wir müssen uns selbst retten«. Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump, S. 41-52

Donald Trump fällt immer wieder durch rassistische Äußerungen auf. Ebendieser Rassismus bildet jedoch ein konstitutives Element der US-ame- rikanischen Gesellschaft, so die Sozialwissenschaftlerin Keeanga- Yamahtta Taylor. Dem widersetzt sich die Bewegung Black Lives Matter: Sie nahm vor genau fünf Jahren in Ferguson ihren Anfang und hat nun die Aufgabe, die verschiedenen Proteste gegen Trump zu vereinen.

Gudrun Hentges: »Das Recht Rechte zu haben«. Die Festung Europa und die Aktualität Hannah Arendts, S. 53-59

Die Festnahme der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete verdeutlichte ein- mal mehr den Missstand der europäischen Flüchtlingspolitik. Systematisch baut die EU das Recht auf Asyl ab, kritisiert die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges. Dagegen erneuert sie Hannah Arendts Forderung: das Recht, Rechte zu haben. Auf diese Forderung muss sich Europa zurückbe- sinnen, um seinen menschenrechtlichen Ansprüchen gerecht zu werden.

Martín Steinhagen: Lübcke-Mord: Terror aus dem »führerlosen Wider- stand«? und Thomas Moser: Rechter Terror oder: Die doppelte Ver- tuschung, S. 61-71

Nach dem Mord an Walter Lübcke sprechen viele von einer „neuen Quali- tät“ rechter Gewalt. Das aber zeugt davon, wie sehr die Gefahr von rechts jahrelang unterschätzt wurde. Tatsächlich existieren schon lange militante Strukturen, wie der Journalist Martín Steinhagen am Beispiel von „Com- bat 18“ zeigt. Und auch der NSU-Komplex ist alles andere als restlos auf- geklärt, so der Autor Thomas Moser. Rechte Terroristen können sich daher nach wie vor auf funktionierende Netzwerke verlassen.

Wolfgang Engler: Verheißung und Enttäuschung. Die Ostdeutschen und die Demokratie, S. 73-80

Angesichts des allgemeinen Rechtsrucks wird gerade den Ostdeutschen gerne ihre angebliche Demokratieunfähigkeit nach 40 Jahren Diktatur- erfahrung attestiert. Doch dieser Verweis ist unzureichend, bemängelt der Soziologe Wolfgang Engler. Vielmehr gelte es, die zurückliegenden drei- ßig Jahre, in denen die jungen Ostdeutschen sozialisiert wurden, mitsamt ihren politischen Fehlentscheidungen aufzuarbeiten.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 40 Kurzgefasst

Felix Butzlaff und Robert Pausch: Partei ohne Erzählung: Die Existenz- krise der SPD, S. 81-87

Der SPD gelang es einst meisterhaft, verschiedene Milieus durch große Erzählungen zu vereinen, etwa die von der Demokratisierung von Politik und Wirtschaft. Doch die Erzählungen, und damit auch eine konkrete Uto- pie, sind ihr abhandengekommen, konstatieren die Politikwissenschaftler Felix Butzlaff und Robert Pausch. Deswegen bleibt die SPD in einer für sie existenzbedrohenden Krise vor allem eines: sprachlos.

Mariana Mazzucato: Wertschöpfung statt Wertabschöpfung: Für eine Ökonomie der Hoffnung, S. 89-99

Der Preis bestimmt den Wert eines Produkts, heißt es heute allenthalben in Wirtschaft und Politik. Tatsächlich aber ist das ein zutiefst neoliberales Dogma, so die Wirtschaftswissenschaftlerin Maria Mazzucato. Mit seiner Hilfe falle es der Privatwirtschaft leicht, Wertabschöpfung als Wertschöp- fung zu deklarieren. Dagegen stellt die Ökonomin neue volkswirtschaft- liche Konzepte, die aufs Gemeinwohl orientiert sind.

Daniel Rafecas: Gegen den Pakt des Schweigens: Die Aufarbeitung des argentinischen Staatsterrors, S. 101-106

Noch lange Zeit nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 herrschte in Argentinien ein Pakt des Schweigens, der eine juristische Aufarbeitung der massiven Verbrechen verhinderte. Das jedoch hat sich inzwischen gewan- delt, so Daniel Rafecas, Bundesrichter am Obersten Gerichtshof Argenti- niens. Er zeichnet nach, wie die Täter doch noch belangt werden konnten – und so die Ohnmacht der Gesellschaft überwunden wurde.

Wolfgang Meyer-Hentrich: Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe. Wie Megaliner Natur und Mensch bedrohen, S. 110-120

Kreuzfahrten sind so beliebt wie nie. Aber die ökologischen und sozialen Konsequenzen des Massentourismus auf dem Meer sind verheerend, ana- lysiert der Autor Wolfgang Meyer-Hentrich. Die Folgen reichen von Todes- zonen in den Ozeanen bis zu dramatisch überfüllten Altstädten. Es ist daher höchste Zeit, dass Verbraucher und Regierungen Verantwortung überneh- men und die Kreuzfahrtgiganten nachhaltig ihren Kurs ändern.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 »Wir müssen uns selbst retten« Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump

Von Keeanga-Yamahtta Taylor

ehr als zweieinhalb Jahre ist Donald Trump jetzt im Amt. Und zumin- M dest in den USA ist der Schock über den offenen Rassismus und Sexismus, die offene Fremdenfeindlichkeit und Korruption seiner Regie- rung einem massiven Anstieg sozialer Kämpfe gewichen. Nach dem ersten Erschrecken über Trumps Wahlerfolg waren die Vorstellungen über den aus- gerufenen Widerstand noch lose und nebulös. Doch in den letzten anderthalb Jahren gab es eine Hinwendung zu einem Widerstand, der in Kämpfen und Organisierung wurzelt sowie in einer größeren politischen Klarheit darüber, was auf dem Spiel steht: All die Befürchtungen, die mit Trump verbunden waren, haben sich bewahrheitet – insbesondere, was die Rückkehr zu einer sehr viel älteren Phase in der Geschichte der Vereinigten Staaten betrifft, die geprägt war von offenem Rassismus und Feindseligkeit gegenüber Nicht-Weißen. Trump hat die Anhänger einer weißen Vorherrschaft (White Supremacists) bestärkt und die gewalttätigsten unter ihnen zu direkten, ver- abscheuungswürdigen Gewalttaten und Angriffen aktiviert. Selbst dem FBI zufolge, das diese Zahlen stets zu niedrig angibt, haben Hassverbrechen seit 2017 um 17 Prozent zugenommen. Das reicht vom entsetzlichen Massaker an Jüdinnen und Juden in der Tree of Life-Synagoge in Pittsburgh vergangenen Herbst bis zum scheinbar banalen Versuch von White Supremacists, in einer Washingtoner Buchhandlung den Abbruch einer Diskussion über Rassismus zu erzwingen. Die extreme Rechte in den USA wächst weiter an. Doch der ungeheuerlichste Rassismus zeigte sich teilweise in den Hand- lungen der Trump-Regierung selbst. Das rassistische Einreiseverbot für Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern ist dafür nur ein Beispiel. Erschreckend ist, dass an der US-Südgrenze Migranten sogar von ihren Kin- dern getrennt werden – eine Politik, die Trump damit rechtfertigt, bei den Einwanderern aus Mittelamerika und Mexiko handele es sich um Verge- waltiger, Drogendealer und Gangmitglieder. Und jeden Tag passiert etwas Neues in dieser Art. Aber all dies geschieht nicht in einem Vakuum, sondern zeitgleich mit dem Angriff auf die Lebensstandards von Arbeitern und Armen in den USA.

* Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Keeanga-Yamahtta Taylor auf Einladung der Humboldt- Universität zu Berlin und der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 5.6.2019 im Berliner Haus der Kulturen der Welt gehalten hat. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 42 Keeanga-Yamahtta Taylor

Es wird begleitet von der dramatischsten Vermögensumverteilung von den 99 zum einen Prozent seit zwei Generationen. Islamophobie und Rassismus gegen Einwanderer werden in zynischer Weise genutzt, um das erstaunliche US-Militärbudget zu rechtfertigen, das dieses Jahr 717 Mrd. US-Dollar über- stieg. Der rassistisch aufgeladene Kriminalitätsdiskurs in den Vereinigten Staaten soll legitimieren, dass die Budgets der Polizeidienststellen im ganzen Land weiter aufgebläht werden, während das öffentliche Sozialsystem mit weniger Mitteln mehr leisten muss.

Eine Herausforderung für den Trumpismus

Auf diese Weise nutzt die politische Rechte also den Rassismus, um Arbeiter und Arme zu spalten. Das hat die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit in den USA vertieft. Aber dies ist zugleich alles andere als eine einseitige Geschichte: Im vergangenen Jahr sind eine Reihe von bedeutsamen sozialen Kämpfen in den USA ausgebrochen, beginnend mit den Lehrerstreiks, die von der Basis angeführt wurden und sich von West Virginia im Osten des Landes über Kentucky, Los Angeles und Denver bis nach Oakland an der Westküste ausgebreitet haben und die in immer weiteren Regionen aufflam- men. Diese Streiks treffen ins Herz des Klassengegensatzes in den Vereinig- ten Staaten: Der Personalabbau im öffentlichen Sektor, die erbärmlichen Arbeitsbedingungen in amerikanischen Schulen und die Verarmung von Pädagogen resultieren daraus, dass Städte, Bundesstaaten und die Zentral- regierung sich weigern, die Reichen so zu besteuern, wie es ihrem Vermögen entspricht. Aber noch wichtiger ist, dass diese Streiks gezeigt haben, wie man nicht nur Trump und den Trumpismus herausfordert, sondern das gesamte poli- tische Projekt von Austerität, Haushaltskürzungen und den unablässigen Angriffen auf den Lebensstandard gewöhnlicher Menschen. Denn die Streiks haben nicht nur das Ausmaß des Klassenkampfes in den USA offen- bart, sondern auch, wie Unterdrückung und ökonomische Ungleichheit sich überschneiden: Die Ausstände wurden von Frauen angeführt, und in städti- schen Regionen haben Schwarze1 Frauen eine besonders prominente Rolle gespielt. Auch der Women’s March und der Klimaaktivismus treiben den lebendigen Widerstand in den USA an, indem sie soziale und ökonomische Fragen in den Blick nehmen und so zeigen, was große Bewegungen ermög- lichen können. In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben in den Ver- einigten Staaten mehr Menschen an Demonstrationen teilgenommen als in den 40 Jahren zuvor. Die Verzweiflung über die ökonomische und soziale Instabilität hat in Ver- bindung mit dem Hochgefühl, das die spürbare Opposition gegen den Hass

1 Im Anschluss an die Aktivistinnen Noah Sow und Kimberlé Crenshaw wird Schwarz hier groß geschrieben, da es sich um keine adjektivische Beschreibung, sondern um die politisch gewählte Selbstbezeichnung einer Gruppe handelt. Weiß dagegen wird als die Bezeichnung einer gesell- schaftlichen privilegierten Position kleingeschrieben. – D. Red.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump 43 und Rassismus im Herzen der amerikanischen Gesellschaft erzeugt, einen politischen Raum geschaffen, in dem sich der Sozialismus weit verbreiten konnte. Sozialismus ist kein Schimpfwort mehr. Das ist allerdings kein ganz neues Phänomen: Schon 2016 geschah etwas lange Zeit Undenkbares, als mit Bernie Sanders ein bekennender Sozialist in den Vorwahlen der Demo- kratischen Partei 13 Millionen Stimmen erhielt. Er ist in Umfragen nach wie vor äußerst beliebt und einer der führenden Kandidaten unter den möglichen demokratischen Herausforderern Donald Trumps. Nachdem dieser politische Raum eröffnet wurde, wich der Pessimismus zu Beginn von Trumps Präsidentschaft einer wachsenden Überzeugung, dass wir seine Agenda anfechten und bekämpfen können. Zugleich stellt sich aber die große Frage, wie uns das am effektivsten gelingen kann. Denn trotz der jüngsten Proteste von historischer Größenordnung haben wir in den USA noch keine Massenbewegung. Aus den Mobilisierungen ist noch keine dau- erhafte Organisation erwachsen. Es fehlt an Kontinuität zwischen den ver- schiedenen Mobilisierungen, und selbst wenn sie sich gegen ähnliche Pro- bleme wenden, fällt es ihnen schwer, eine wirksame Solidarität zu entwi- ckeln, um die Kämpfe zu verbinden. Zudem droht die Gefahr, dass zentris- tische und konservative Demokraten den Präsidentschaftswahlkampf 2020 nutzen werden, um ein Narrativ zu befördern, wonach wir einfach nur „zur Normalität zurückkehren“ müssen. Damit aber übersehen sie völlig, dass die Misserfolge der Obama-Regierung Trump überhaupt erst den Weg bereitet haben.

Trump und die Tradition des Rassismus

Die Erwartungen an Barack Obama waren 2008 enorm groß. Unter seinem Vorgänger George W. Bush hatten die USA illegale Kriege im Irak und in Afghanistan geführt, die Überschwemmung in New Orleans nach dem Hur- rikan Katrina war durch die Unfähigkeit seiner Regierung verschlimmert worden, und die US-Wirtschaft war zusammengebrochen. Es gab also die große Erwartung, die Obama-Regierung werde einen grundlegenden Wan- del herbeiführen – was zu einer ebenso großen Enttäuschung führte. All jene, die nun einwenden, die Erwartungen seien zu hoch gewesen, ignorieren, dass Obama von seinem Kampagnenteam als der wahre Erbe der Bürgerrechtsbewegung präsentiert wurde. Die großen Erwartungen wur- den also von Obamas noch größeren Versprechungen genährt. Wenn daher Hillary Clintons Präsidentschaftskampagne von 2016 etwas bot, und sie bot nicht viel, dann war es ein Armutszeugnis für die Obama-Regierung, die an der Reform des Status quo gescheitert war. Clintons Präsidentschaft sollte so etwas wie Obamas dritte Amtszeit bilden, aber stattdessen landeten wir bei Trump. Die Trump-Regierung markiert daher keine irgendwie seltsame Unterbre- chung des angeblichen langen Marsches der USA in Richtung Fortschritt, wie amerikanische Liberale und Konservative sich selbst gerne versichern. Viel-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 44 Keeanga-Yamahtta Taylor mehr sind es gerade die Idee der weißen Vorherrschaft, Polizeiterrorismus, tiefste Ungleichheit und rassistische Unterjochung, die diese Regierung an die sehr lange Linie amerikanischen Gemetzels im Namen von Imperium und Herrschaft binden. In einem Land, das aus dem Völkermord an den Indigenen entstand, das sich an jahrhundertelanger Zwangsarbeit versklavter Afrikaner bereicherte und in dem der Reichtum durch die gewalttätige Ausbeutung auf- einanderfolgender Wellen von Arbeitsmigranten vermehrt wurde – in einem solchen Land ist Trump nicht subversiv, sondern traditionell.

Amerikas Fehler

Die Probleme in den Vereinigten Staaten überragen daher jede einzelne politische Partei, jeden Präsidenten oder Präsidentschaftskandidaten. Kaum etwas hat uns mehr geholfen, dies zu verstehen, als die Black Lives Matter- Bewegung. Als sie sich im Schatten der Occupy-Bewegung entwickelte, ent- hüllte sie, dass wirtschaftliche Ungleichheit nur einen Aspekt der Ungerech- tigkeit in den USA bildet. Seit Trumps Wahl ist diese Bewegung, obwohl die Polizeigewalt gegen Schwarze andauert, weniger sichtbar geworden. Den- noch bleibt Black Lives Matter wichtig – nämlich für die Frage, welche Bewe- gung wir brauchen und wie wir sie aufbauen. Auch fünf Jahre nach dem Auftreten von Black Lives Matter steuert die US-Polizei darauf zu, erneut knapp 1000 Menschen zu töten – wie sie es in jedem der vergangenen fünf Jahre getan hat. Die Fälle sind ungeheuerlich: Erst vor einigen Wochen schoss im texanischen Houston ein weißer Polizist fünf Mal auf eine 44jährige Schwarze Frau, die unbewaffnet war und am Boden lag. Oft werden solche Taten auf Video festgehalten, aber sie rühren nicht länger an das Gewissen der Amerikaner. Das liegt nicht daran, dass die Bilder weniger schrecklich geworden wären, sondern dass auf sie keine Demonstrationen mehr folgen, die viel klarer vermitteln, dass die Polizei Schwarze Menschen ermordet. Deswegen war die Bildung von Black Lives Matter im Jahr 2014 so ent- scheidend. Die Bewegung erweiterte auf dramatische Weise unser Verständ- nis vom Charakter der Polizeiarbeit in den USA. So argumentierten die Akti- visten beispielsweise, dass die Probleme mit der Polizei nicht getrennt von größeren ökonomischen Fragen betrachtet werden sollten. Vielmehr sind die ökonomischen Fragen entscheidend, um diese Probleme zu verstehen. Denn wenn das politische Establishment beschließt, nicht länger in Institutionen, Jobs oder Wohnungsbau zu investieren, die nötig sind, um Nachbarschaften oder Gemeinschaften wieder aufleben zu lassen, dann verlegt es sich statt- dessen auf die Polizei. Die Polizei wird damit zum letzten Mittel öffentlicher Politik. Sie wird genutzt, um die Frustration in Schwarzen Arbeitergemein- den in Schach zu halten und hart durchzugreifen, wenn sie sich über die Grenzen der Nachbarschaft auszubreiten droht. Aber Black Lives Matter zeigte auch, dass die Reform von Polizeidienststel- len an ihre Grenzen stößt. Dies wurde insbesondere deutlich, als immer mehr

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump 45 von ihnen schnell Body-Cams einführten und so versuchten, oberflächliche Veränderungen als substanzielle Reformen zu verkaufen. Da die Staatsmacht hartnäckig den Status quo bewahrte und zugleich Übergriffe und Gewalt seitens der Polizei unvermindert anhielten, kamen viele Aktivisten zum glei- chen Schluss, den Martin Luther King am Ende seines Lebens gezogen hatte. In einem Essay, der 1969 – ein Jahr nach seiner Ermordung – in dem Sammel- band „Testament of Hope“ veröffentlicht wurde, schrieb er über die zentrale Bedeutung des Schwarzen Kampfes in den späten 1960er Jahren: „Unter die- sen schwierigen Umständen geht es bei der Schwarzen Revolution um mehr als nur einen Kampf für die Rechte der Neger. Es geht darum, Amerika zu zwingen, sich all seinen miteinander zusammenhängenden Fehlern zu stel- len: Rassismus, Armut, Militarismus und Materialismus. Es geht darum, all das Übel aufzudecken, das tief in der Struktur unserer Gesellschaft wurzelt. Die Schwarze Revolution enthüllt systemische statt bloß oberflächliche Feh- ler und behauptet, dass wir uns einem radikalen Neuaufbau der Gesellschaft stellen müssen.“2 Der Blick auf die Wurzeln von Black Lives Matter erlaubt uns daher drei Dinge: Er hilft uns, erstens, die romantischen Täuschungen der Vergangen- heit ebenso abzuweisen wie die Idee, wir sollten eine Rückkehr zur Normali- tät der Obama-Jahre anstreben. Damit hilft er uns, zweitens, die miteinander zusammenhängenden Fehler aufzudecken, die auch in der heutigen US-Ge- sellschaft Rassismus, Armut, Militarismus und Materialismus lauten. Und drittens schließlich zeigt er uns die erklärende Kraft sozialer Bewegungen, aber auch die Grenzen von Reformen in einer Gesellschaft, in der Unterdrü- ckung und Ausbeutung so fest verankert sind, dass sie für diese Gesellschaft konstitutiv sind.

Ferguson und die neue Schwarze Elite

Wo eine Bewegung ihren Ausgangspunkt nahm, ist immer umstritten. Ich betrachte den Ausbruch der Rebellion in Ferguson im August 2014 als Kataly- sator für Black Lives Matter. Diese Rebellion war gelebte Demokratie. Wann oder wo ein Aufbegehren gegen den Status quo auftritt, lässt sich unmög- lich vorhersagen. Aber wenn es so weit ist, wird sofort klar, was in unseren Gesellschaften typischerweise verborgen bleibt. Darauf spielte King an, als er sagte, die Schwarze Bewegung könne etwas über die USA enthüllen. Im Sommer 2014 betraf dies mehrere Dinge: Obwohl der Aufstieg Obamas und das Anwachsen der Schwarzen politischen Klasse ein bestimmtes Bild des Schwarzen Amerika entwarfen, blieb die große Mehrheit der Schwar- zen verborgen, unsichtbar und unbedeutend. Der Aufstieg der Schwarzen politischen und ökonomischen Elite präsentierte das Schwarzsein nicht nur als Kehrseite des Weißseins, sondern durch ihren eigenen Erfolg betonten

2 Martin Luther King Jr., A Testament of Hope, in: James Melvin Washington (Hg.), A Testament of Hope. The essential writings and speeches of Martin Luther King Jr., San Francisco 1969, S. 313- 330, hier: S. 315.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 46 Keeanga-Yamahtta Taylor sie, die institutionellen, strukturellen Aspekte der ethnischen Ungleichheit in den USA seien historisch, ein Relikt der Vergangenheit. Sie bekunde- ten, allein ihre Existenz sei Beweis genug, dass sich die Vereinigten Staaten gewandelt hätten. Wo es noch Mangel gab, wurden die darunter Leidenden resolut selbst für ihre Lebensumstände verantwortlich gemacht. Tatsächlich wurde dies zu Obamas Visitenkarte: Er machte sich in einer Weise über die Mühen armer Schwarzer Menschen lustig, wie es sich kein weißer Politiker hätte erlauben dürfen. So wurde aus der Obama-Generation die Fergus-Generation: Das waren junge Schwarze, die an das „Yes, we can!“ geglaubt hatten, die in so großer Zahl gewählt hatten wie nie zuvor, die es aber auch leid waren, billige Wahl- kampfslogans zu hören, paternalistisch gescholten zu werden und eine leicht- gewichtige politische Agenda zu sehen, die wenig bis nichts unternahm, um die enormen Verluste durch die Finanzkrise von 2008 zu erstatten. Die gro- ßen Erwartungen an den ersten Schwarzen Präsidenten verwandelten sich in eine große Enttäuschung, als er seine Versprechen nicht wahrmachte. Und es war auf der Straße, wo das Versprechen, ja selbst die Möglichkeit der Demo- kratie und die Stimmen dieser jungen Schwarzen Menschen endlich Gehör fanden. Ferguson erinnerte aber auch daran, dass in den Vereinigten Staaten, wie überall sonst, die Geschichte immer an die Gegenwart gebunden bleibt. Ohne ein reichhaltiges Verständnis der Vergangenheit können wir unsere gegenwärtige Lage nicht verstehen. Bereits 1951 hatten Bürgerrechtler in den USA den Slogan „Wir klagen an wegen Völkermord“ geprägt und damit die Komplizenschaft des Staates am Mord an Schwarzen Bürgern durch die Polizei angeprangert. Im selben Jahr reichten sie eine Petition bei den Ver- einten Nationen ein, in der es hieß: „Einst war die klassische Lynchmethode der Strick, jetzt ist es die Kugel des Polizisten. Für viele Amerikaner ist die Polizei die Regierung, sicherlich ihr sichtbarster Vertreter. Wir behaupten: Die Fakten belegen, dass das Töten von Negern in den Vereinigten Staaten zur Polizeipolitik geworden ist und dass die Polizeipolitik der praktischste Ausdruck von Regierungspolitik ist.“3 Ferguson erinnerte daran, dass der praktischste Ausdruck von Regie- rungspolitik sich nie verändert hatte. Der Mord an Michael Brown Jr. ent- hüllte die Grenzen des sogenannten Fortschritts und demonstrierte, wie leer das Versprechen „post-rassischer“ Vereinigter Staaten war. Arme Afroame- rikaner lüpften den Schleier, der Polizeiübergriffe und -gewalt verbarg, und zeigten deren Verbindung zu größeren systemischen Fehlern. Ferguson enthüllte, wie die Polizei eingesetzt wurde, um Schwarze Men- schen mit der Drohung physischer oder ökonomischer Gewalt zu disziplinie- ren. Wir erfuhren, dass die Polizei in Ferguson und im ganzen Staat Missouri die Verhaftung oder Bestrafung von Schwarzen als Einnahmequelle betrach- tete, mit der Weißen höhere Steuern erspart werden konnten. Die Proteste offenbarten, wie tausende Schwarze in einem System von Anwaltshonora-

3 William H. Patterson (Hg.), We Charge Genocide: The Historic Petition to the United Nations for Relief From a Crime of the United States Government Against the Negro People, New York 1951.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump 47 ren und Strafen gefangen blieben, weil man sie für gesellschaftlich entbehr- lich hielt. In den Augen des Gesetzes und der Gesetzgeber zählten Schwarze Leben nicht. Sie behandelten Schwarze Menschen auf eine Weise, die sie sich gegenüber den meisten Weißen nicht hätten herausnehmen können. Der Heroismus von Ferguson beruhte also darin, dass die Protestierenden die Furcht überwanden, die ihnen seit Generationen durch die rücksichts- lose und rassistische Behandlung seitens der Polizei eingeflößt worden war. Dadurch erzeugte ihr Aufstand ein enormes Gefühl von Solidarität. Viele Menschen demonstrierten nicht nur in Solidarität mit den Leuten in Fergu- son, sondern wandten sich damit auch gegen die Polizeipraxis in ihrer eige- nen Stadt, ihrer eigenen Gemeinde oder ihrem eigenen Vorort. Die Rebellion in Ferguson zeigte auch, wie eine wahre Demokratie aus- sehen könnte: Die jungen Leute, die die Proteste trugen, weigerten sich, den Liberalen und Funktionären der Demokraten nachzugeben, die ihnen rie- ten, die Straße zu verlassen. Für sie musste die Demokratie in der Freiheit der Straße geschmiedet werden, in den Straßenversammlungen, nächtlichen Kundgebungen und Demonstrationen.

Der Aufstieg von Black Lives Matter

Nach Mike Brown in Ferguson wurden im Sommer 2014 auch in Cleveland, Los Angeles und Staten Island junge Schwarze Männer und Frauen getötet. All diese Fälle von Polizeiterror und Polizeimorden wurden zum Wende- punkt, an dem ab dem Herbst 2014 Black Lives Matter entstand. Überall in den Vereinigten Staaten beteiligten sich im Dezember 2014 zehntausende Menschen an Aktionen gewaltfreien Ungehorsams. Anwälte, Ärzte, Studie- rende, Schüler, Krankenschwestern, gewöhnliche Leute und Profisportler – sie alle zogen am 13. Dezember 2014 in einer Menge von 50 000 Menschen durch New York. In ihren Sprechchören verbanden sie Ferguson mit New York und dem ganzen Land: „Hands up, don‘t shoot!“ (Hände hoch, nicht schießen!), „I can‘t breathe!“ (Ich bekomme keine Luft!), „Black lives mat- ter!“ (Schwarze Leben zählen!). In großen und kleinen Städten quer durch die USA kam es zu Protesten, die sich in einem Sprechchor, einer Forderung, einer Erklärung vereinten: „Black lives matter!“ – eine Parallele zum „Free- dom now!“ (Freiheit jetzt) während der Bürgerrechtsbewegung. Auf die Rebellion in Ferguson folgte jene in Baltimore im April 2015 nach dem Mord an dem 25jährigen Freddie Gray. Die Frage blieb, wie Afroame- rikaner die fortdauernde Polizeigewalt überwinden konnten, und die Rück- kehr dieser Frage zwang der Bewegung weitere, größere Fragen auf – von ihren Freunden wie Feinden. Zugleich wurde Black Lives Matter dafür gescholten, dass sie größere Fragen aufwarf. Diese Schelte erfolgte in Form von konstanten Nachfragen: „Wer führt diese Bewegung an?“ und „Was ist ihre Agenda?“ Wer so fragte, wollte keine Antwort hören, sondern die Bemühungen der Aktivisten unter- graben und sie demoralisieren. Denn diese andauernden Rückfragen sollten

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 48 Keeanga-Yamahtta Taylor die Bewegung spalten: in jene, die etwas bewirken wollen, die als realistisch und pragmatisch gelten, und in solche, die wegen ihrer Forderungen nach einem Systemwandel als unrealistisch dargestellt wurden. Angeführt von Barack Obama versuchte das politische Establishment, den Status quo zu retten, indem es die Bewegung drängte, eine engere Perspek- tive einzunehmen, ihren Horizont zu begrenzen und ihre Forderungen zu verschieben: von dem, was sie wollte, hin zu dem, was als möglich erach- tet wurde. Als sich beispielsweise Aislinn Pulley, eine Schwarze Chicagoer Aktivistin, weigerte, an einer Besprechung hinter verschlossenen Türen im Weißen Haus teilzunehmen, wurde sie von Barack Obama höchstpersönlich angegriffen. Er sagte: „Der Wert von sozialen Bewegungen und von Aktivis- mus besteht darin, an einen Tisch, in einen Raum zu kommen und zu versu- chen, das Problem zu lösen. Dann haben Sie die Verantwortung, eine Agenda vorzubereiten, die erreichbar ist und mit der sich die von Ihnen geforderten Veränderungen institutionalisieren lassen und darüber mit der anderen Seite zu verhandeln.“4 Hier wurde deutlich, dass es bei der Kritik an der Bewe- gung oft darum ging, die zunehmenden radikalen Schlussfolgerungen vieler Aktivisten einzudämmen. Dazu zählen Forderungen nach einer Abschaf- fung des Polizeiaufgebots und nach einer massiven Umverteilung von Arbeit und Ressourcen von den Reichen zur Arbeiterklasse. In vielerlei Hinsicht schuf Black Lives Matter damit Bedingungen, unter denen Bernie Sanders‘ Kandidatur gedeihen konnte. Und darin bestand aus Sicht der Demokraten und ihrer liberalen Anhänger das wahre Problem mit dieser Bewegung.

Das Scheitern Schwarzer Reformpolitik

1964 argumentierte der Schwarze politische Aktivist und Stratege Bayard Rustin, die Bürgerrechtsbewegung und die neuen Schwarzen Aufstände müssten vom Protest zur Politik übergehen: „Es ist klar, dass die Bedürfnisse der Neger nicht befriedigt werden können, solange wir nicht über das hin- ausgehen, was bislang auf der Agenda stand. Wie können diese radikalen Ziele erreicht werden? Die Antwort ist einfach, täuschend einfach: durch politische Macht. Wir stehen jetzt vor der Herausforderung, unsere gesell- schaftliche Vision zu verbreitern und funktionale Programme mit konkreten Zielen zu entwickeln.“5 Rustin behauptete, der Übergang zur formalen Poli- tik sei ein Zeichen politischer Reife und biete eine Gelegenheit, Schwarzen Gemeinden einen viel substanzielleren Wandel zu bescheren, als es Protest allein vermochte. Dieser Vorschlag war in vielerlei Hinsicht vernünftig. Und tatsächlich folgte Schwarze Politik seit 1964 nahezu ausschließlich diesem Pfad. Man könnte sagen, dass diese Strategie 2008 in der Wahl von Barack Obama kul- minierte – vom Protest zum Schwarzen Präsidenten. Aber 50 Jahre nach Rus-

4 The White House, Remarks by President Obama in Town Hall with Young Leaders of the UK, www.obamawhitehouse.archives.gov, 23.4.2016. 5 Bayard Rustin, From protest to politics: the future of the civil rights movement, New York 1965.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump 49 tins Überlegungen ist diese Strategie gescheitert, und dieses Scheitern stand hinter dem Aufstand in Baltimore 2015: Freddie Gray konnte von der Polizei ermordet werden in einer Stadt mit einer Schwarzen Bürgermeisterin und einem Schwarzen Polizeichef, wo der halbe Stadtrat aus Afroamerikanern bestand und nur 40 Meilen von Washington entfernt, wo der erste Schwarze Präsident im Weißen Haus residierte, der erste Schwarze Justizminister amtierte und wo es mehr Schwarze Kongressabgeordnete gab als jemals zuvor in der Geschichte der USA. Und selbst als die Rebellion ausbrach, war es ein Schwarzer Leutnant, der die Nationalgarde auf den Straßen Baltimores befehligte. Wenn aber diese ganze Schwarze politische Macht Freddie Gray nicht davor schützen konnte, dass die Polizei ihm das Genick brach, dann brauchen Schwarze weit mehr als Schwarze Amtsträger oder angemessene Repräsentation in den Institutionen, wenn sie auch nur den Anschein von Gerechtigkeit erreichen wollen. Die Fokussierung auf Wahlen übersieht, dass soziale Bewegungen in den USA fundamental wichtig waren, um das zu erreichen, was wir als Fortschritt betrachten. In den 1960er Jahren, als Afroamerikaner nahezu vollständig von Machtpositionen ausgeschlossen waren, war es durchaus sinnvoll, auf Wahlen zu setzen. Aber die Konzentration darauf hat oft vom wichtigeren Bemühen abgelenkt, die größtmögliche und ethnisch vielfältigste Bewegung aufzubauen – nicht nur im Kampf gegen den Trumpismus, sondern auch für unsere Ziele. Soziale Bewegungen bewahren die Interessen jener, die außerhalb des korrumpierenden und ruhigstellenden Einflusses einer auf Wahlen ausge- richteten Politik stehen. Das heißt nicht, dass eine solche Politik irrelevant wäre oder ignoriert werden sollte – das sollte sie nicht. Aber wir sollten auch nicht die Macht von Massenbewegungen ignorieren, die Amtsträger emp- fänglicher und kooperativer für die Ziele unserer Kämpfe zu machen. Alles, was in den Vereinigten Staaten dem Fortschritt gleicht, entspringt Kämpfen. Es entspringt dem Drängen, der Entschlossenheit und Kreativität gewöhn- licher Leute.

Radikal denken lernen

Aislinn Pulley, die Schwarze Frau aus Chicago, die von Obama persönlich gescholten wurde, hat eine ganz andere Vorstellung von Wandel als jene, die der damalige Präsident zu bieten hatte. In einem offenen Brief schrieb sie als Antwort auf seine Kritik: „Es wäre nicht integer gewesen, wenn ich an einem solchen Schwindel teilgenommen hätte, der nur das falsche Narrativ legi- timieren sollte, dass die Regierung daran arbeitet, die Polizeibrutalität und den dahinter stehenden institutionellen Rassismus zu beenden. Im Namen der wachsenden Zahl an Familien, die für Gerechtigkeit und Würde für ihre von der Polizei ermordeten Verwandten kämpfen, weigere ich mich, die Täter und ihre Helfer politisch zu decken, indem ich mit ihnen auftrete. Wir beteu- ern, dass der wahre revolutionäre und systemische Wandel letztlich nur von

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 50 Keeanga-Yamahtta Taylor gewöhnlichen arbeitenden Menschen, Studierenden und Jugendlichen her- beigeführt wird, die sich organisieren, die demonstrieren und den korrupten Eliten ihre Macht nehmen.“6 Die transformative Macht der sozialen Bewegungen beruht nicht nur auf ihrem Einfluss auf die Regierungsinstitutionen der USA. Vielmehr sollten wir nicht vergessen, welchen Einfluss die kollektive Organisierung und die Bewegung auf uns selbst haben. Der radikale Künstler und Kritiker John Ber- ger schrieb 1968 über Massendemonstrationen: „Theoretisch sollen Demons- trationen die Stärke einer Meinung oder Ansicht offenbaren, theoretisch sind sie ein Appell an das demokratische Gewissen des Staates.“ In diesem Sinne, so Berger weiter, „ist die Zahl der Demonstranten nicht nur wegen ihres Ein- flusses auf den Staat bedeutsam, sondern auch auf die Teilnehmer [...] Die Bedeutung dieser Zahl zeigt sich in der direkten Erfahrung der Teilnehmer oder der sympathisierenden Beobachter einer Demonstration. Für sie sind die Zahlen nicht länger Zahlen, sondern werden zum Beweis ihres Verstan- des, zu den Schlussfolgerungen ihrer Phantasie. Je größer die Demonstration ist, desto mächtiger und unmittelbarer, sichtbarer, hörbarer und greifbarer wird sie zur Metapher ihrer gesamten kollektiven Stärke.“ Bewegungen schaffen nicht nur die Möglichkeit, unsere materiellen Bedingungen zu verändern, indem sie die Kraft der vielen gegen die Unnach- giebigkeit der wenigen richten, sondern soziale Bewegungen schaffen auch Räume, in denen wir selbst transformiert werden können. Die Massenbewe- gung reißt uns aus der Isolation des Alltagslebens. Damit trotzen wir der ame- rikanischen Lüge des unbeugsamen Individualismus, die fälschlicherweise unsere Erfolge unserem persönlichen Einfallsreichtum und unser Scheitern unseren persönlichen Schwächen und Defekten zuschreibt. Die Massenbe- wegung, diese Arena des Kampfes, bringt uns zusammen, um unser Schei- tern zu teilen und unsere Verbindung und Beziehung zueinander zu zeigen. Während die vorherrschenden Ideen in unserer Gesellschaft das Gefühl von Fragmentierung und Trennung verstärken, zeigt uns der Kampf, was wir gemeinsam haben. Er durchbricht den Common Sense unserer Gesellschaft. Du bekommst nicht, was du siehst. Um unsere Welt zu verstehen, müssen wir die schlichten Narrative in Frage stellen, mit denen man uns füttert. Die Schwarze radikale Feministin Ella Baker hatte das verstanden. Sie schrieb, wenn wir ernsthaft die Gesellschaft transformieren wollen, müs- sen wir sie verstehen. Und dazu müssen wir genauer hinschauen und nicht für bare Münze nehmen, was uns als Wahrheit präsentiert wird. Baker sagte 1969: „Damit wir als Arme und Unterdrückte Teil einer sinnvollen Gesell- schaft werden können, muss das System, in dem wir heute existieren, radikal verändert werden.“7 Wir müssen also lernen, in radikalen Begriffen zu denken. Ich verwende den Begriff radikal in seiner ursprünglichen Bedeutung: zur Wurzel vorstoßen.

6 Aislinn Pulley, Black Struggle Is Not a Sound Bite: Why I Refused to Meet With President Obama, www.truthout.org, 18.2.2016. 7 Zit. nach: Barbara Ransby, Ella Baker and The Black Freedom Movement. A Radical Democratic Vision, Chapel Hill 2003, S. 1.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Black Lives Matter und der Widerstand gegen Trump 51

Das bedeutet, einem System gegenüberzutreten, das für deine Bedürfnis ungeeignet ist, und Mittel zu entwickeln, um dieses System zu verändern. Black Lives Matter hat dazu Möglichkeiten eröffnet, aber auch unendlich viel mehr Fragen aufgeworfen. Diese Bewegung ist ein Ausgangspunkt für die Untersuchung einer Gesellschaft, die Menschen in fortdauernder Armut und Ungleichheit hält und sie dann einsperrt und schonungslos bestraft, wenn sie ihre Lage anzufechten oder abzulehnen wagen. Soziale Bewegungen können sicherlich das Vorgehen der Polizei in Frage stellen, ebenso die Bedingungen, die Schwarze diesem Vorgehen gegenüber so verletzlich machen, und sie können sogar erreichen, dass einige Methoden von Polizeiarbeit oder Einkerkerung beendet werden. Aber eine soziale Bewe- gung, die das System der Ungleichheit reformieren will, kann nicht Polizei- vorgehen und Gefängnis ungeschehen machen und noch weniger die Armut und den Rassismus, die all dies in unserer Gesellschaft akzeptabel erscheinen lassen. Ein Profitsystem, das enorme Reichtümer für ein kleines Prozent der Bevölkerung schafft, während es Millionen andere in Not und Elend zwingt, nutzt den Rassismus, um diese Ungleichheit zu bagatellisieren. Schwarze sind faul, heißt es dann beispielsweise. So werden Mauern und Keile zwi- schen Schwarze, Weiße, Mexikaner, Muslime und alle anderen getrieben, die eigentlich ein Interesse haben sollten, Seite an Seite zu kämpfen.

Der Weg zur Freiheit

Die Krise in den USA geht auf Marktprobleme zurück, also auf dauerhafte Züge unserer Gesellschaft. Elend bedeutet Profit, Hunger bedeutet Profit, Krankheit bedeutet Profit, Abhängigkeit bedeutet Profit, Rassismus bedeutet Profit. Aufgrund ihrer Verwurzelung im Wirtschaftssystem erreicht die Krise eine Tiefe, die uns vor die Frage stellt, wie wir unsere Organisierung über die eindrucksvollen Mobilisierungen hinaus ausweiten, die die US-Gesellschaft in den vergangenen zweieinhalb Jahren durchgeschüttelt haben. Wir brau- chen eine Organisierung mit klareren und zugänglicheren Einstiegsmög- lichkeiten, wir müssen uns dabei stärker der internen Demokratie verpflich- tet fühlen, um die größtmögliche Teilhabe zu ermöglichen und ein reales Gefühl von Miteigentümerschaft zu wecken. Aber wir dürfen uns auch nicht derart an das pragmatische und vernünftige Erreichen von sogenannten messbaren Ergebnissen binden, dass wir dafür die Hoffnung auf eine bessere Welt opfern, die Menschen oft erst zum Engagement bringt. Tägliches Orga- nisieren bedeutet, dass wir die Realität fest im Blick behalten und das, was an einem gegebenen Tag mit den gegebenen Ressourcen und versammelten Menschen erreichbar ist. Doch wenn wir uns nur kurzsichtig dem verpflichtet fühlen, was an jenem Tag möglich ist, würden wir die Möglichkeiten verfehlen, die durch mehr Ressourcen und mehr Menschen in den folgenden Tagen entstehen könnten, sofern unsere Bewegungen eine Balance findet zwischen dem, was möglich

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 52 Keeanga-Yamahtta Taylor ist, und dem, was wir wollen. In der Schwarzen Bewegung heißt das: Wir müssen nicht nur einen Umgang mit den täglichen Angriffen auf Schwarze Leben finden, sondern auch Raum lassen, um uns der größeren Frage zu wid- men – wie wir frei werden. Die besten Vertreter der Schwarzen radikalen Tradition haben immer ver- standen, dass die Schwarze Befreiung – die Vorstellung, dass Schwarze frei von physischem, ökonomischem und gesellschaftlichem Zwang leben kön- nen – nicht innerhalb des Kapitalismus erreicht werden kann. Zugleich kann die Dialektik von Reform und Revolution nicht aufgelöst werden, indem man der einen den Vorzug über die andere gibt. Vielmehr bildet der Kampf um unser tägliches Leben die Voraussetzung, um sich eine andere Welt über- haupt vorstellen zu können. Black Lives Matter als ein Glaube, eine Äuße- rung, ein kollektiver Sprechchor und eine Möglichkeit, ist dafür ein Beispiel. Von Ferguson bis zur Rebellion in Baltimore bot die Verpflichtung junger Schwarzer auf Solidarität und Kämpfe jenen einen flüchtigen Blick auf die Freiheit, die ihr ganzes Leben unter dem Stiefel des Polizisten gelebt haben. Und diese Kämpfe sind nur der Anfang. Das Manifest Schwarzer Frauen, das 1970 von der Allianz der Frauen aus der Dritten Welt veröffentlicht wurde, beschrieb, wie wir vom Kampf einzelner zu den Kämpfen vieler gelangen: „Die neue Welt, für die wir kämpfen, muss Unterdrückung jeder Art zerstö- ren. Der Wert dieses Systems wird vom Status jener Menschen bestimmt wer- den, die derzeit am stärksten unterdrückt werden. Solange die Frauen nicht in allen versklavten Ländern vollständig befreit sind, kann dieser Wandel nicht wirklich als Revolution bezeichnet werden.“8 Eine Revolution, an der sich alle Mitglieder der Gemeinschaft beteiligen, Männer wie Frauen, führt infolge dieser Beteiligung zu einer bestimm- ten Transformation der Beteiligten: Sobald man einen Blick auf die Freiheit erhascht hat oder ein wenig Selbstbestimmung erfahren hat, kann man nicht mehr zu den alten Routinen zurückkehren, die in einem rassistischen kapi- talistischen System etabliert wurden. Eine andere Welt ist möglich, aber wir sind die einzigen, die sie erschaffen können. Niemand wird kommen, um uns zu retten. Wir müssen uns zusammenschließen und uns selbst retten.

8 Third World Women‘s Alliance, Black Women‘s Manifesto, New York 1970.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 »Das Recht, Rechte zu haben« Die Festung Europa und die Aktualität Hannah Arendts

Von Gudrun Hentges

as „Recht, Rechte zu haben“: Dieses zentrale Wort der Philosophin D Hannah Arendt wird bis heute häufig im Kontext von Flucht und erzwungener Migration zitiert. Arendt, die zunächst an der Philipps Uni- versität Marburg bei Martin Heidegger studierte, wurde durch die Gestapo kurzzeitig inhaftiert. Auch diese Erfahrung veranlasste sie dazu, bereits 1933 Nazi-Deutschland zu verlassen und in die USA zu emigrieren. Da sie 1937 vom NS-Regime ausgebürgert wurde, lebte sie einige Jahre als Staatenlose, bis sie schließlich 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Vor dem Hintergrund ihres eigenen Schicksals verfasste sie 1943 den Artikel „We refugees“.1 Dort formulierte sie erstmals die These, der zufolge Menschsein immer auch das „Recht, Rechte zu haben“ einschließt. Was aber verbirgt sich konkret hinter diesem Konzept? Hannah Arendt formulierte den revolutionären Anspruch, die zum damaligen Zeitpunkt herrschende „Drei-Elemente-Lehre“, entwickelt von dem Staatsrechtler Georg Jellinek, müsse radikal in Frage gestellt werden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts galt der Staat als soziales Gebilde, das sich durch Dreierlei auszeichnet: ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt. Die Erfahrungen mit dem NS-Unrechtsregime veranlassten Arendt dazu, anzuzweifeln, dass das Kon- zept von Nationalstaaten überhaupt dazu in der Lage sei, Menschen Schutz zu bieten. Vor dem Hintergrund des Holocausts müsse, so Arendt, die Vor- stellung in Frage gestellt werden, dass ein Staatsvolk in den Grenzen des Staates lebe und dessen Rechte durch die Staatsgewalt garantiert seien. Des- halb lautete ihre Forderung: Das „Recht, Rechte zu haben“, müsse auch jenen zugestanden werden, die nicht Bürger*innen eines Landes seien, also jenen, die weder über einen Pass noch über gültige Dokumente verfügten. Der moderne Nationalstaat – durch die amerikanische und französische Revolu- tion im 18. Jahrhundert aus der Taufe gehoben – habe sich zwar damals als Modell der Demokratien durchgesetzt, zur Lösung des Flüchtlingsproblems tauge er jedoch nicht (mehr). Das von Arendt vertretene Recht auf Asyl fand nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung des Nationalsozialismus nach 1945 Eingang in internationales

* Dieser Beitrag basiert auf der Antrittsvorlesung der Autorin an der Universität zu Köln, die am 10. Juli 2019 gehalten wurde. 1 Hannah Arendt, We Refugees, in: „Menorah Journal“, Januar 1943, S. 69-77.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 54 Gudrun Hentges

Recht: Mit der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) haben sich die Vereinten Nationen darauf geeinigt, wer als Flüchtling zu betrachten sei – nämlich eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeu- gung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (Art. 1). Fer- ner einigten sich die Unterzeichnerstaaten auf ein „Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“ (Art. 33). Demnach darf keiner der Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention einen Flüchtling über Grenzen von Gebieten ausweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit bedroht ist (Art. 33). Auch auf europäischer Ebene wurde der Flüchtlingsschutz verankert. So heißt es in Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Doch schon seit langem steht der gesamte Flüchtlingsschutz in Europa wieder massiv unter Druck.

Das Asylrecht zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Bereits im Jahr 2012 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschen- rechte Italien wegen umfassender Rechtsverletzungen. Der Anlass: Im Mai 2009 waren 231 Flüchtlinge in internationalen Gewässern in Seenot geraten, der italienische Grenzschutz rettete daraufhin zwar ihr Leben, brachte sie jedoch nicht ins nur 35 Meilen entfernte Lampedusa, sondern überführte sie auf Anweisung des italienischen Innenministers nach Libyen – und lieferte sie damit dem Gaddafi-Regime aus.2 Eine Zurückweisung von Flüchtlingen auf hoher See, so die Begründung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, stehe in Widerspruch zu besagtem Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Somit steht fest: Die Verantwortung der Staaten, die Menschenrechte zu beachten, endet nicht an den eigenen Staatsgrenzen – wie es nach der Drei-Elemente- Lehre von Jellinek der Fall wäre. Die Menschenrechte der Flüchtlinge sind vielmehr auch dann zu beachten, wenn sogenannte vorgelagerte Grenzkon- trollen vorgenommen werden. Doch wie verhält es sich heute mit Anspruch und Wirklichkeit? Wie stehen die Chancen für Flüchtlinge, die aufgrund von Verfolgung oder Bedrohung ihres Lebens ihre Herkunftsländer verlassen? Seit dem Jahr 2015 erleben wir sukzessive die Aufgabe des von Arendt for- mulierten und in den Menschenrecht-Chartas verankerten Rechts, Rechte zu haben. „Der lange Sommer der Migration“ (Sabine Hess u.a. 2016) begann ja keineswegs damit, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer humanitä- ren Ausnahmesituation die deutschen Grenzen geöffnet hätte, sondern dass sie sie nicht geschlossen hat. Sie gab so den „gestrandeten“ Geflüchteten die

2 Vgl. Gudrun Hentges, Universelle Menschenrechte in Zeiten von Frontex, in: „Erwägen – Wissen – Ethik“, 2/2013, S. 220-223.

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Möglichkeit, die österreichisch-deutsche Grenze zu überqueren, um den Geltungsbereich des Grundgesetzes zu erreichen. Vielfach wurde ihr vorge- worfen, sie habe mit dieser Entscheidung geltendes Recht verletzt und damit das deutsche Volk verraten. Tatsache ist jedoch, dass Merkels Entscheidung in Übereinstimmung mit dem Dubliner Übereinkommen steht. Rechtliche Grundlage für diese Entscheidung ist die folgende Passage: „Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können, um Fami- lienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftli- chen Beziehung zusammenzuführen, und einen bei ihm oder einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind.“ (Paragraph 17 des Dubliner Übereinkommens.) Auch in diesem Punkt zeigt sich die Überwindung der Drei-Elemente- Lehre und die Implementierung des „Rechts, Rechte zu haben“. Doch nach dem „langen Sommer der Migration“ wurden die Fluchtrouten nach und nach abgeriegelt, erst auf der sogenannten Balkan-Route, dann auch zwischen der Türkei und Griechenland. Aus menschenrechtlicher Perspektive besonders problematisch ist der EU-Türkei-Vertrag: Schutzsuchende Menschen werden direkt nach ihrer Ankunft auf den griechischen Inseln pauschal inhaftiert und somit ihrer Freiheit beraubt. Dies betrifft nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche, darunter auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen steht jedoch in Widerspruch zur UN-Kinderrechtskonvention. Mit deren Unterzeich- nung haben sich die Staaten dazu verpflichtet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, „um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt [...] angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ erhält, um seine Rechte wahrzunehmen, die in der UN-Kinderrechtskonvention oder anderen internationalen Übereinkommen festgelegt sind. Der UNHCR hat die Praxis der Inhaftierung denn auch scharf kritisiert. Auch Hilfsorgani- sationen wie Ärzte ohne Grenzen haben sich aus diesen „Hot Spots“ zurück- gezogen.3 Noch problematischer ist die Lage der Flüchtlinge in Libyen, einem der wichtigsten Transitländer afrikanischer Flüchtlinge auf dem Weg nach Euro- pa.4 Nach Angaben der UN halten sich in Libyen rund 43 000 vom UNHCR registrierte Flüchtlinge und Asylbewerber auf, die massiven Menschen- rechtsverletzungen ausgesetzt sind. Das Auswärtige Amt berichtet davon, dass Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern inter- niert, gefoltert und auch Opfer von Zwangsarbeit und Vergewaltigung wer- den. Auch von Hinrichtungen ist die Rede.5

3 Vgl. Hendrik Cremer: Menschenrechtliche Bewertung des Flüchtlingsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei, www.bpb.de, 6.3.2017. 4 Vgl. Georg Auernheimer: Wie Flüchtlinge gemacht werden. Über Fluchtursachen und Fluchtver- ursacher, Köln 2018, S. 126 ff. 5 Vgl. u.a. Sven Waskönig, Ein Warlord als Türsteher zur Hölle. Wie die neue „EU-Außengrenze“ in Libyen verteidigt wird, in: „Titel Thesen Temperamente“ (ARD), 9.7.2017.

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Faktisch avancierte die libysche Küstenwache mit Hilfe der EU zum „Türste- her der Festung Europa“ (Sven Waskönig) – und dies, obgleich die politischen Verhältnisse in einem Land, das über keine Rechtsstaatlichkeit verfügt und das von einem Bürgerkrieg geprägt ist, völlig unkontrollierbar sind. Kurzum: Europa trägt viel zur Abschottung und zur Errichtung einer Festung rund um den Kontinent bei, jedoch wenig zur Hilfe. Hier zeigt sich: Die Geschichte der europäischen Integration ist zugleich eine Geschichte der europäischen Flüchtlings- und Migrationsabwehrpoli- tik. Die Öffnung der Binnengrenzen bei gleichzeitiger Sicherung der Außen- grenzen - unter diesem Verdikt stand der Schengen-Prozess und steht somit auch die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik. Mit dem Aufbau von „Frontex“ als europäischer Grenz- und Küstenwache kam die Europäische Union der Errichtung einer „Festung Europa“ einen weiteren Schritt näher. „Die EU lässt Migranten ertrinken und verfolgt eine Politik, wie sie vor weni- gen Jahren nur Rechtspopulisten zu fordern wagten“, stellte der „Spiegel“ zu Recht fest.6

Die Kriminalisierung der privaten Seenotrettung

Auch die jüngste Geschichte der – nicht erfolgten – Seenotrettungen belegt das Prinzip der Abschottung. So sind nach Angaben der UN seit dem 1. Januar 2014 (Stand Mitte Juni 2018) 16 346 Menschen bei dem Versuch ertrunken, das Mittelmeer zu überqueren, um nach Europa zu gelangen.7 Anfangs wurde mittels „Mare Nostrum“ noch versucht, Schiffbrüchige zu retten. Doch nachdem sich abzeichnete, dass die EU und die anderen Mit- gliedsstaaten nicht dazu bereit waren, die Rettungsmissionen zu unterstüt- zen, wurden diese eingestellt. Vor diesem Hintergrund gewann die private Seenotrettung zunehmend an Bedeutung. Private, spendenfinanzierte Orga- nisationen haben in den letzten Jahren maßgeblich dazu beigetragen, Men- schenleben im Mittelmeer zu retten.8 Doch trotz der zivilen Rettungsaktio- nen mehrerer NGOs sind allein im Jahr 2017 mehr als 2 300 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Ohne die zivilen Rettungsaktionen wäre diese Zahl auf etwa 8000 angestiegen.9 Die Geschichte der privaten Seenotrettung ist zugleich eine Geschichte ihrer Kriminalisierung, die unter anderem durch ein Crowdfunding der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ (IB) vorangetrieben wird. Mit ihrer Kampagne „Defend Europe“ erteilte die IB den Rettungsschiffen der NGOs, die auf dem Mittelmeer unterwegs waren, eine Kampfansage. Zugleich verbreitete die IB erfolgreich ihre Botschaft, bei den Aktivist*in- nen der privaten Seenotrettung handele es sich um Kriminelle, die zusam-

6 Markus Becker et al., Heldin und Hassfigur, in: „Der Spiegel“, 6.7.2019, S. 10-14, hier S. 10. 7 Vgl. www.proasyl.de/thema/tod-an-den-aussengrenzen. 8 Vgl. Kai Biermann, Karsten Polke-Majewski, Steffen Tilman, Sascha Venohr: Seenotrettung im Mit- telmeer: Weniger Helfer bedeuten mehr Tote, in: „Die Zeit“, 19.7.2017. 9 Vgl. Maxie Römhild, Asozialer Aktivismus, „taz“, 9.6.2017.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Festung Europa und die Aktualität Hannah Arendts 57 men mit Schleppern ihr Unwesen im Mittelmeer trieben.10 Gleichzeitig nutzte Italien die Kriminalisierung der Seenotrettung, um gegen die euro- päische Flüchtlingspolitik zu demonstrieren.11 „Man muss sich das so vorstellen, dass hier ein Notruf getätigt wird und es kommt kein Notarztwagen“, brachte Sabine Hess diese absolute Ignoranz gegenüber Menschenleben auf den Punkt. Der Fall der 31jährigen Kapitänin der Sea-Watch 3, Carola Rackete, ist dabei nur eines der jüngsten Beispiele für die Kriminalisierung der privaten Seenotrettung. Nachdem das Ret- tungsschiff 53 Flüchtlinge vor der libyschen Küste vor dem Ertrinken gerettet hatte, kreuzte es 17 Tage im Mittelmeer, weil die italienische Regierung das Anlaufen der Insel Lampedusa untersagte.

Das Scheitern der EU

Auch der Versuch der Kapitänin, unter anderem über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu erwirken, dass Italien die Hafenein- fahrt gestattet, scheiterte. Die Richter lehnten den Antrag von Rackete ab, Italien dazu zu zwingen, der Sea-Watch 3 die Hafeneinfahrt zu erlauben. Sie begründeten dies damit, dass sich das Schiff oder seine Passagiere nicht in einer Notlage befänden. Nur in einem solchen Fall bestehe das see- rechtlich anerkannte Recht, einen Nothafen anzulaufen.12 Offensichtlich reichte es nicht, dass die 40 Flüchtlinge an Bord massive gesundheitliche Probleme hatten – unter anderem gab es bei einem Passagier Verdacht auf Tuberkulose – und die Befürchtung bestand, dass sich einige das Leben neh- men könnten. In dieser ausweglosen Situation steuerte die Kapitänin schließlich Lampe- dusa an und durchbrach so das Verbot der Anlandung eines italienischen Hafens, damit die Flüchtlinge dort an Land gehen konnten – was zur Fest- nahme Racketes und zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen sie führte. Wenige Tage nach Verhängung des Hausarrests und nach dem Verhör entschied die zuständige Haftrichterin, sie wieder freizulassen. In fast allen Punkten folgte die Richterin der Argumentation des Anwalts von Rackete. Die Richterin bestätigte auch, dass das Rettungsschiff Sea-Watch 3 nicht illegal in das italienische Hoheitsgewässer gelangt sei. Das Einfahrver- bot gelte nur für Schlepper, und dies treffe nicht auf die Crew der Sea Watch zu.13 Schließlich bestimmt Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen – ganz im Sinne Hannah Arendts und gegen die Drei-

10 Vgl. Gudrun Hentges, Die „Identitären“ – eine ‚Bewegung von rechts‘ auf dem Weg in eine andere Republik?, in: Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges, Bettina Lösch (Hg.), Auf dem Weg in eine andere Republik, Weinheim 2018, S. 76-97.. 11 Vgl. Philipp Hennig, Ermittlungen gegen private Seenotretter, www.ndr.de, 19.11.2018. 12 Da Italien im Falle der Sea-Watch 3 bereits elf Passagiere an Land gelassen hatte, u.a. Schwangere und Kinder, hatte der EGMR den Antrag von Rackete abgelehnt. Die Antragstellerin argumentierte, dass man doch nicht warten könne, bis aus jeder Person an Bord ein Notfall werde. Dieses Argument spielte jedoch, so der EGMR, keine Rolle. Vgl. Alexander Haneke: Grauzonen im Mittelmeer, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 3.7.2019. 13 Vgl. „Am Ende waren wir nur noch verzweifelt“. Spiegel-Gespräch mit der Kapitänin Carola Rackete, in: „Der Spiegel“, 6.7.2019, S. 15-17.

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Elemente-Lehre: „Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes [...] jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetrof- fen wird, Hilfe zu leisten [und] so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen.“14 Bei alledem zeigt sich: Das von Hannah Arendt erstmalig formulierte „Recht, Rechte zu haben“ ist heute – in einer Welt grassierender Bürger- kriege und sonstiger „Fluchtursachen“ – aktueller denn je. „Dass das Ende des Nationalstaates ein dramatisches Machtvakuum hinterlassen hat, wird jedem klar, der die Entwicklungen in Afghanistan, Libyen und vielen afrika- nischen Staaten beobachtet“, stellt zutreffend Thomas Meyer fest, um jedoch hinsichtlich des universalistischen Anspruchs der UN zu dem fatalistischen Fazit zu kommen: „Die sogenannte internationale Gemeinschaft ist bis heute offensichtlich nicht in der Lage, die Verantwortung für zerbrochene Staaten und entrechtete Völker zu übernehmen.“15 Ganz offensichtlich ist die „alte Dreieinigkeit“, so die Formulierung von Arendt zu Staatsvolk, Staatsgrenze und Staatsgewalt, nicht dazu in der Lage, das sogenannte Flüchtlingsproblem zu lösen. Heute muss dieser Gedanke jedoch erweitert werden: Auch die EU als Staatenbund ist nicht dazu in der Lage – oder jedenfalls nicht willens. Wie aber könnte diese immense huma- nitäre Katastrophe überwunden werden?

Vorbild Rackete

Selbstverständlich müssen die Ursachen für Flucht und Migration in den Her- kunftsländern der Flüchtlinge bekämpft werden. Da diese Ursachen höchst komplex sind, lässt sich dies jedoch keineswegs durch eine einzige politi- sche Maßnahme bewerkstelligen. Die erforderlichen Schritte auf dem Weg zu einer derartigen Lösung sind zudem gewaltig, als da wären eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, eine faire Handelspolitik, ein Ende der Waffenex- porte, vor allem in Krisenregionen, sowie effiziente Maßnahmen gegen den Klimawandel. Da eine solche sozial-ökologische Transformation derzeit nicht in Sicht ist, müssen die EU-Mitgliedsstaaten einen Weg finden, um Menschen auf der Flucht Schutz zu bieten. An dieser Maßnahme müssen sich jedoch alle EU-Staaten – etwa mit der Aufnahme von Geflüchteten – beteiligen. Es ist schlicht nicht fair, wenn allein die südlichen EU-Mitgliedsstaaten einen Großteil dieser Verantwortung tragen müssen. Hier bedarf es vielmehr einer gemeinsamen europäischen Lösung. Das gilt nicht zuletzt bei der privaten Seenotrettung, die das Versagen der EU besonders zum Ausdruck bringt. So fordert etwa Pro Asyl, dass die Bun- desrepublik die Initiative ergreifen solle, um in einem geordneten Verfah-

14 Dazu zählen auch das Internationale Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und das Internationale Übereinkommen von 1979 zur Seenotrettung. 15 Thomas Meyer, „Es bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt“, in: Hannah Arendt, Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer, Berlin 2018, S. 56.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Festung Europa und die Aktualität Hannah Arendts 59 ren Flüchtlinge aufzunehmen, die vor dem Ertrinken gerettet worden sind. Die ablehnende Position des Bundesinnenministers bezeichnet Pro Asyl- Geschäftsführer Günter Burkhardt dagegen als „unerträgliche Prinzipien- reiterei“; letztendlich wolle Horst Seehofer die Geflüchteten nur in den Erstanlandestaaten des Mittelmeers belassen.16 Am Beispiel des Umgangs mit dem Fall der Sea-Watch 3 zeigt sich die ganze Verlogenheit der aktuellen Debatte: Denn keine/r der politischen Akteur*innen in den EU-Mitgliedsstaaten würde es wagen, explizit die Idee der Menschenrechte in Frage zu stellen. Zugleich versuchen viele von ihnen die entscheidenden, vielleicht auch ihn oder sie betreffenden Fragen zu umgehen: Was bedeutet Seenotrettung genau? Bedeutet es, dass jede*r dazu verpflichtet ist, Menschen in Seenot zu retten – oder umfasst Seenotrettung auch die Verantwortung, dass die Menschen, die vor dem Ertrinken gerettet worden sind, an einen sicheren Ort gebracht werden? Ein Blick in die internationalen Verträge kann diese Fragen klar beant- worten. Demnach sollen Gerettete an einen sicheren Ort gebracht werden, der folgendermaßen definiert wird: „Es ist ein Ort, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse gedeckt werden können. Es ist weiter ein Ort, von dem auch Vorkehrungen für den Transport der Überlebenden zu ihrem nächsten oder endgültigen Bestimmungsort getroffen werden können.“17 Somit wird deutlich, dass Carola Rackete in Übereinstimmung mit den internationalen Verträgen gehandelt hat. Deutlich wird auch, dass Italiens Innenminister Matteo Salvini, der das Anlandeverbot aussprach, diese Prin- zipien der Seenotrettung damit eindeutig verletzt hat. Hoch problematisch ist vor diesem Hintergrund auch das Dekret, das die italienische Regierung im Juni 2019 im Eilverfahren erlassen hat. Es stellt die Rettung von ertrinkenden Flüchtlingen durch Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer unter Strafe. Demnach müssen Schiffe, die ohne Erlaubnis in italienische Hoheitsgewässer fahren, eine Strafe von 10 000 bis 50 000 Euro zahlen. Der UNHCR brachte zum Ausdruck, dass dieses Dekret das internationale System der Seenotrettung untergrabe. Darüber hinaus gehen die UNO sowie zahlreiche NGOs davon aus, dass ein solches Dekret gegen Menschenrechte verstoße. Somit hat Arendts Forderung nach dem „Recht, Rechte zu haben“ zwar Eingang gefunden in die Europäische Menschenrechtskonvention, in die Genfer Flüchtlingskonvention und andere internationale Vertragswerke. Zugleich aber werden diese Rechte immer wieder grob missachtet. Gegen diese offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen und die Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschenrechte verwirklicht wer- den können, bleibt das bis heute unerfüllte, aber unbedingt anzustrebende Ideal. Und es ist das Verdienst von Carola Rackete, genau daran erinnert zu haben.

16 Deutsches Rettungsschiff will in Lampedusa anlegen, in: „SZ“, 6.7.2019. 17 Seenotrettung: Diese Gesetze gelten, www.deutschlandfunk.de , 2.7.2019.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 AUFGESPIESST

Arme Sozialdemokraten! Da hatten sie auf diese Stadt – als Mittel gegen eure sich so große Hoffnungen gemacht, dass von-der-Leyen-Depression. Einen Ha- ihr fabulöser Spitzenkandidat Frans ken allerdings hat die Sache: Denn wel- Timmermans als EU-Kommissionschef che Stadt akzeptiert auf Dauer einen zum Zuge kommen würde, doch am Bürgermeister, den sie selbst nie ge- Ende machten ihnen die vermaledeiten wählt hat? Das gelingt nur unter einer Osteuropäer um Viktor Orbán einen Voraussetzung: Die Sympathiewerte Strich durch die Rechnung – und her- des alten müssen so niedrig sein, dass aus kam . Der SPD man den neuen blind akzeptiert. Zwei- aber blieb wieder einmal nur Heulen mal hat die Sache in Bremen jetzt schon und Zähneklappern, ein ziemlich un- geklappt. Und längst gibt es auch Nach- souveränes „Nein“ – und das Beharren fragen nach dem „Bremer Modell“ aus auf dem Spitzenkandidatenprinzip. Berlin, wo die Werte von Michael Mül- ler schon seit langem im Keller sind. Stellt sich nur die Frage: Wo soll das Der Bremer Weg bloß enden? Zum Glück hat alles eine natürliche, in diesem Falle prozentua- zum Bürgermeister le Grenze. Und da ist in Bremen wie in Berlin nicht mehr viel Spiel nach unten. Noch einmal fünf Prozentpunkte we- Hätte sich die Europa-SPD doch bloß ein niger und das war‘s dann mit der Bür- Beispiel an Bremen genommen! Dort germeisterschaft. „Bovi“ Bovenschulte lässt sich lernen, wie man einen ganz muss daher jetzt den Beweis antreten, anderen Weg gehen kann. Tatsächlich dass in Bremen der Machterhalt auch stellt die Partei in der Freien Hansestadt wieder anders geht – nämlich mit seiner noch immer den Bürgermeister. Dafür neuen rot-grün-roten Koalition. aber tritt mit schöner Regelmäßigkeit An seinem rot-rot-grünen Amtskol- der eigene Spitzenkandidat zurück. legen Müller aus Berlin sollte er sich Alles begann 2015: Als die SPD bei dabei besser nicht orientieren. Der wur- der Bürgerschaftswahl herbe Verlus- de soeben in einer Forsa-Umfrage zum te erlitt und von 38,6 auf 32,8 Prozent unbeliebtesten Regierungschef eines absackte, erklärte der damalige Bür- Bundeslandes gekürt. Vielleicht sollte germeister Jens Böhrnsen prompt sei- sich daher besser Müller – um endlich nen Rücktritt. Auf ihn folgte – unge- Popularität zu erlangen – an den Bre- wählt – Carsten Sieling, der am 26. Mai mer Koalitionsvorhaben ein Beispiel dieses Jahres fast 8 Prozentpunkte ver- nehmen, insbesondere am wohl ambi- lor und mit 24,9 Prozent das bis dato für tioniertesten: der autofreien Innenstadt undenkbar gehaltene möglich machte: bis 2030. In Berlin regiert Rot-Rot-Grün den Absturz der seit 1946 in Bremen re- nun schon seit bald drei Jahren, doch gierenden SPD hinter die CDU. Trotz- von autofreiem Stadtumbau kann bis dem gelang es dem honorigen Sieling, heute keine Rede sein, dafür aber viel seiner Partei in den rot-grün-roten Ko- vom flugverkehrsfreien BER. alitionsverhandlungen den OB-Pos- Deshalb könnte in Berlin 2021 auch ten zu sichern, um danach prompt nicht das Bremer, sondern das klassi- abzudanken und seinen ehemaligen sche Modell greifen: Auf die Klatsche WG-Kumpel Andreas „Bovi“ Boven- für die SPD folgt dann nicht die Macht- schulte als Nachfolger zu präsentieren. übergabe an den eigenen Genossen, Das ist der hanseatische Pragmatis- sondern an die gewählte Konkurrenz. mus: Da wird man zum Bürgermeister, Damit alles wieder seine schöne demo- ohne je eine Wahl gewonnen zu ha- kratische Ordnung hat. ben. Also, liebe SPD-Europäer: Schaut Jan Kursko

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Lübcke-Mord: Terror aus dem »führerlosen Widerstand«? Von Martín Steinhagen

enn die Berichte zum Fall #Lübeck [sic] zutreffen, dann war es kalt- W blütiger rechtsextremer Mord. Das haben wir seit den NSU-Morden nicht mehr für möglich gehaltenen [sic].“ Das twitterte Wirtschaftsminister am 17. Juni – einen Tag, nachdem bekannt wurde, dass der einschlägig vorbestrafte Stephan Ernst verdächtigt wird, Altmaiers CDU- Parteifreund Walter Lübcke erschossen zu haben. Nicht mehr für möglich gehalten? Vielleicht ist das ehrlicherweise keine überraschende, aber eine überraschend ehrliche Aussage darüber, wie der rechte Terrorismus seitens der Bundesregierung wahrgenommen wird. Doch was Altmaier, der von 2013 bis 2018 als Chef des Bundeskanzlerinnenamts wöchentlich von den Geheimdiensten über die Sicherheitslage informiert wurde, offenbar nicht mehr für möglich hielt, hat leider eine lange Tradition. Mit der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) im November 2011 bricht diese keineswegs ab. Auch die Bundesregie- rung hat danach weitere Tötungsdelikte als „rechts motiviert“ anerkannt, die Bundesanwaltschaft in mehreren Fällen Anklage gegen rechtsterro- ristische Organisationen wie „Revolution Chemnitz“ erhoben. Dennoch: Das Bewusstsein für die Gefahr des Terrorismus von rechts ist nach wie vor beängstigend gering. Immer wieder wird diese Bedrohung bagatelli- siert, werden sowohl Ideologie als auch Netzwerke nicht ausreichend ernst genommen und wird die Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Entwick- lungen unterschätzt. Dabei dürfte die Militanz der extremen Rechten hierzulande niemanden mehr überraschen, erst recht nicht „seit den NSU-Morden“. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs formierten sich in der Bundesrepublik wiederholt rechts- terroristische Strukturen, die immer wieder auch zur Tat schritten – und schreiten. Darüber hinaus hat nicht zuletzt die große Welle von Angriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten in den vergangenen Jahren eindrücklich vor Augen geführt, dass sich längst auch ein rechter „Feierabendterrorismus“ abseits fester Strukturen etabliert hat. Etliche der fast 200 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 mahnen, welch große Gefahr auch von spontan handelnden Tätern ausgeht. Schon bei der NSU-Aufarbeitung wurde immer wieder deutlich, dass die seit Jahren in der Szene diskutierten Strategien rechten Terrorismus vielfach

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 62 Martín Steinhagen unbekannt sind. In den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen war von Zeugen aus dem Sicherheitsapparat mitunter zu hören, dass Terroristen sich ja gewöhnlich zu ihren Taten bekennen würden und man deswegen nicht in Richtung Neonazis ermittelt habe. Zur aktiven Zeit des NSU kursierten aber längst Pamphlete in der Szene, die ein anderes Vorgehen empfahlen. Nur ein Beispiel: In dem seit den 1980er Jahren aktiven internationalen Netzwerk „Blood and Honour“ wurde eine Art Handbuch herumgereicht. Manches darin liest sich wie eine Blau- pause für die Taten des NSU – und für den Mord an Lübcke. Den Kamera- den in Deutschland wird im Kapitel „Gewalt und Terror“ explizit der „füh- rerlose Widerstand“ (William L. Pierce) empfohlen, das Agieren in kleinen, autonomen Zellen, die bewusst den Kontakt zu legalen Organisationen wie Parteien meiden. Dabei gilt: Die Tat ist das Bekenntnis. Die Opfer sollen die Nachricht verstehen. Und für die Gleichgesinnten soll sie zugleich Aufforde- rung sein, ebenfalls loszuschlagen. „Taten statt Worte“ war auch das Motto des NSU. Wenn es um rechte Terrorismuskonzepte geht, fällt immer wieder auch der Name „Combat 18“ (C18). Die Zahlenkombination 1 und 8 verweist auf den ersten und achten Buchstaben des Alphabets: A und H, die Initialen Adolf Hitlers. In der Szene steht der Name für den bewaffneten Arm von „Blood and Honour“, also für die Vorstellung, den vermeintlichen Abwehrkampf gegen die von „Zionisten“ kontrollierte Regierung und den imaginierten „Rassenkrieg“ auch mit der Waffe zu führen. „Blood and Honour“ selbst wurde in Deutschland 2000 verboten. C18 war damals aber nicht Teil der Verbotsverfügung. Es gebe keine entsprechend festen Strukturen, hieß es später. So konnten sich Neonazis hierzulande weiter unter diesem Namen vernetzen. Ganz offen propagieren manche ihre Ideologie: Der Sänger der Rechtsrockband „Oidoxie“ etwa trägt den Schriftzug als Tätowierung auf der Brust, singt Songs, in denen sich „terror machine“ etwas holprig auf „Combat eighteen“ reimt. Schon im Kontext des NSU drängt sich die Frage auf, ob diesen Worten auch Taten folgten. Am 4. April 2006 wurde in Dortmund Mehmet Kubas¸ık erschos- sen, nur zwei Tage danach Halit Yozgat in Kassel. Beide Städte verband zu jener Zeit die Neonazi-Gruppe „Oidoxie Streetfighting Crew“. Sie scharte sich just um die Band mit dem Terrorismus-Soundtrack. In Dortmund soll aus diesem Kreis damals eine C18-Zelle gegründet worden sein. Man habe sich Waffen besorgt, sagte ein Zeuge später aus. Bei den Ermittlungen nach dem Auffliegen des NSU spielte dies aber nur eine Nebenrolle, auch das Ober- landesgericht München lehnte Beweisanträge von Nebenklage-Anwälten dazu ab. Bis heute ist ungeklärt, ob der NSU lokale Helfer hatte. Ausgerechnet einer der Kasseler Neonazis, der damals in der militanten Szene mitmischte, gilt als führender Kopf von C18 in Deutschland. Auch der Tatverdächtige im Mordfall Lübcke dürfte ihn gekannt haben: Fotos aus dem Jahr 2002 zeigen die beiden gemeinsam vor einer Kneipe. „Hätte man sich um das Umfeld viel früher gekümmert, ich bin mir sicher, der Mord an Herrn Lübcke hätte

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Lübcke-Mord: Terror aus dem »führerlosen Widerstand«? 63 verhindert werden können“, sagte Abdulkerim S¸ims¸ek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver S¸ims¸ek, „Spiegel Online“ am Jahrestag des NSU- Urteils. Im Prozess habe man schließlich immer wieder auf die Szene in Nordhessen hingewiesen.

War Stephan Ernst ein Einzeltäter?

Auffällig ist, dass C18 in Deutschland lange ungestört agieren konnte. Die Sicherheitsbehörden stufen die Gruppierung zwar als gewaltbereit ein, sehen laut eines vertraulichen Berichts des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 2018 aber keine Hinweise auf einen tatsächlichen rechtsterroris- tischen Hintergrund – der Name diene „vorwiegend als populäres Marken- zeichen“. Auch seien ideologisch oder strategisch keine „verbindlich fixier- ten Zielsetzungen“ feststellbar, ebenso wenig gebe es Bestrebungen, sich tatsächlich als bewaffneter Arm von „Blood and Honour“ zu etablieren. Die Polizeikontrolle von zwölf C18-Leuten nach einem Schießtraining in Tsche- chien im Herbst 2017 gilt offenbar nicht als ausreichendes Indiz. Dennoch wird die Gruppe von den Inlandsgeheimdiensten beobachtet, auch V-Leute können dabei zum Einsatz kommen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schrieb Ende 2017 diesen bemerkenswerten Satz in einem Rundbrief: „Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich Einzelpersonen durch die Ideologie von C18 soweit indoktrinieren lassen, dass sie mit schweren rechtsextremis- tischen Gewalttaten in Erscheinung treten.“ Wenn in der Vergangenheit der Ruf nach einem C18-Verbot laut wurde, hieß es immer, die Gruppierung habe in Deutschland keine „verbotsfähige Struktur“. Jetzt, nach dem Mord an Lübcke, hat sich die Bewertung offenbar gewandelt. Ein Verbot werde geprüft, kündigte Innenminister Horst Seeho- fer im Innenausschuss des Bundestags an. , Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, hat wiederholt den Verdacht geäußert, die Behörden hätten die Gruppe so lange gewähren lassen, um V-Leute im militanten Milieu nicht auffliegen zu lassen. Sollte dies zutreffen, wäre es ein weiteres Beispiel für eine gefährliche Logik der Geheimdienste: Die Aufarbeitung des NSU hat gezeigt, dass dort mitunter entgegen der Auf-dem-rechten-Auge-blind-These durchaus Informatio- nen vorlagen, diese aber nicht weitergegeben oder aus ihnen die falschen Schlüsse gezogen wurden.1 Noch ist nicht bekannt, wie gut vernetzt in der Szene Ernst in den zehn Jahren vor der Tat noch war. 2009 beging er seine letzte den Behörden bekannte Straftat. Klar ist: Er verhielt sich im Vergleich zu seinem früheren Leben unauffälliger, lebte mit Frau und Kindern in einem Häuschen in Kas- sel, arbeitete im Schichtdienst. Aber er legte eben auch ein Waffendepot an, hielt zumindest zu einigen alten Kameraden Kontakt, einer soll ihm einen Waffenhändler vermittelt haben. Spricht dies für einen strategisch geplan-

1 Vgl. den Beitrag von Thomas Moser in dieser Ausgabe.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 64 Martín Steinhagen ten Rückzug aus der Szene, um aus der Deckung zuzuschlagen? Oder ver- lor Ernst zeitweise tatsächlich das Interesse an Aufmärschen und Kamerad- schaftsabenden, re-radikalisierte sich dann aber erneut? Noch ist das schwer zu sagen, aber auch sogenannte Einsamer-Wolf-Taten und das Anstiften zu diesen gehören zum Kalkül der Szene – auch darüber gibt schon das alte „Blood and Honour“-Handbuch Auskunft. Inwieweit das inzwischen wohl aus taktischen Gründen nach einem Ver- teidigerwechsel zurückgezogene Geständnis von Ernst – in dem er sich als Einzeltäter bezeichnet hatte – in dieser Hinsicht eine belastbare Quelle ist, muss sich zeigen. Die Bundesanwaltschaft, die sich im NSU-Komplex schnell auf die These vom Trio festlegte, hat zumindest angekündigt, den Hinweisen auf ein mögliches Netzwerk oder gar auf Verbindungen zum NSU nachge- hen zu wollen – auch C18 wurde dabei genannt.

»Volksverräter Lübcke«: Die Verrohung der öffentlichen Debatte

„Nein, bedauern tue ich das nicht. Aber ich find’s nicht in Ordnung.“ So antwortete ein Pegida-Demonstrant auf die Frage einer Journalistin des ARD-Magazins „Kontraste“ nach seiner Reaktion auf den Mord an Walter Lübcke. Und er fügte hinzu: „Ich sehe den Herrn Lübcke als Volksverräter.“ Diese Aussage und zahllose ähnliche Kommentare in den sozialen Netzwer- ken machen deutlich, wie verbreitet die ganz und gar nicht klammheimliche Freude über einen mutmaßlich rechtsterroristischen Mord im Deutschland des Jahres 2019 ist. Der Fall Lübcke könnte ein weiteres trauriges Beispiel sein für die Dynamik innerhalb des rechten Milieus, die immer wieder Men- schen zu Taten inspiriert und ihnen die Rechtfertigung liefert. Nicht nur in Dresden war Lübcke, Chef einer hessischen Mittelbehörde, geradezu prominent. Eine Äußerung bei einer Bürgerversammlung zu einer geplanten Unterkunft für Geflüchtete im Oktober 2015 hatte ihn bun- desweit zur Projektionsfläche des Hasses im breiten Milieu von der aufge- brachten AfD-Anhängerin bis zum Neonazi werden lassen. Lübcke hatte aggressiven Zwischenrufern damals entgegnet: „Da muss man für Werte eintreten und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Der kurze Videomitschnitt dessen macht seitdem in den sozialen Netzwer- ken die Runde. Darunter sammeln sich Beleidigungen, Gewaltphantasien, Drohungen. Nicht nur online: Bei einer Pegida-Demonstration in Dresden, wenige Tage nach der Bürgerversammlung, echauffierte sich der Schrift- steller Akif Pirinçci vor 20 000 Menschen über Lübcke. Die Menge skan- dierte „Widerstand“. Das Zitat passt offenkundig einfach zu gut zum rech- ten Verschwörungsmythos vom „großen Austausch“ der Bevölkerung, den die Regierung vermeintlich vorantreibe. So wird Lübcke auch zur negati- ven Symbolfigur für die verhasste „Willkommenskultur“ – „abgelegt unter Volksverräter“, wie das Hetzportal „PI News“ schrieb.

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Der Gewaltausbruch im Zuge des Rechtsrucks der vergangenen Jahre zeigt auch, dass die Verrohung der öffentlichen Debatte, die viel zitierte Erweite- rung des Raums des Sagbaren, eine Stimmung schafft, in der manche davon überzeugt sind, den „Volkswillen“ auszuführen. Diese Situation ist ver- gleichbar mit den 1990er Jahren, als rassistische Pogrome und Anschläge eine aufgeheizte Diskussion um das Asylrecht flankierten. Es ist die Zeit, in der auch die späteren NSU-Mitglieder politisch sozialisiert wurden. Ste- phan Ernst beging bereits 1993 einen – nur knapp vereitelten – Anschlag auf eine Unterkunft von Geflüchteten in einem kleinen Dorf im Taunus: Nur weil die Bewohner rechtzeitig das brennende Auto vor ihrem Heim bemerkten, wurde die Explosion der im Fahrzeug deponierten Rohrbombe verhindert.

Auf dem Weg zur Mosaik-Rechten?

Heute haben wir es längst mit einer breiten rechten Bewegung zu tun, mit fließenden Übergängen und Arbeitsteilung, mit Pegida-Demonstranten, die für den Mord an einem „Volksverräter“ Verständnis haben, mit einer AfD, die sich zur extremen Rechten nicht abgrenzt, mit neurechten Strategen, die auf eine „Mosaik-Rechte“ hinarbeiten,2 mit erfahrenen Neonazi-Kadern und jungen „Identitären“. Besonders gefährlich ist, dass auch in den Sicher- heitsbehörden Knotenpunkte dieses Netzes zu finden sind: Die Ermittlungen gegen extrem rechte Polizisten in Hessen sind ein Beispiel, genau wie die bekanntgewordenen Netzwerke in Polizei und Bundeswehr („Nordkreuz“). Auch die aktuellen Äußerungen des ehemaligen Chefs des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, werfen die Frage auf, wie es wohl um die Loyalitäten in seiner ehemaligen Behörde bestellt ist. Zuletzt ver- breitete er einen Link zu einem Desinformationsportal, auf dem auch für die „Identitären“ geworben wird, die Maaßens frühere Behörde nur wenige Tage zuvor als rechtsextrem eingestuft hatte. Zudem wissen wir aus den „Mitte-Studien“ seit langem, dass Elemente extrem rechter Ideologie auch weit über die Szene hinaus anschlussfähig sind. Derzeit ist dennoch kein großer gesellschaftlicher Umschwung zu erkennen, der die beschriebene Dynamik brechen könnte. Schlimmer noch: Ein Abklingen des Rechtsrucks oder der Eindruck, dass erhoffte „Erfolge“ ausblieben, könnte für Militante den gefühlten Handlungsdruck sogar noch erhöhen. Rund 12 700 Neonazis stuft allein der Inlandsgeheimdienst derzeit als gewaltbereit ein. Dazu kommen all jene, die auf diesem Radar nie auf- tauchen oder von diesem wieder verschwunden sind – so wie wohl Stephan Ernst und sicherlich etliche andere aus der „Generation NSU“. Für alle, die potentiell zum Ziel rechter Gewalt werden könnten, bedeutet dies leider: Sie müssen auch weiterhin vieles „für möglich“ halten.

2 Der Begriff ist die bewusste Abwandlung des Konzepts der „Mosaik-Linken“. Vgl. dazu Hans-Jür- gen Urban, Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: „Blätter“, 5/2009, S. 71-78.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Rechter Terror oder: Die doppelte Vertuschung Von Thomas Moser

enn nun, nach der Ermordung des hessischen Regierungspräsiden- W ten Walter Lübcke, von einer „neuen Qualität des rechten Terrors“ die Rede ist, dann handelt es sich dabei um eine gefährliche Begrifflichkeit. Denn sie verharmlost die „alte Qualität“ des rechten Terrors. Dessen Ausmaß verdeutlichte zuletzt die Mord- und Bombenserie, die mit dem Kürzel NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) verbunden ist. Ins- gesamt 13 parlamentarische Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Ländern sind mit dem NSU befasst gewesen. Und der Strafprozess gegen Beate Zschäpe in München hat mit fünf Jahren Dauer Justizgeschichte geschrieben. Dennoch ist eine umfassende Aufklärung des NSU-Terrors bis- lang nur unzureichend erfolgt. Laut offizieller Version der obersten Strafverfolgungsinstanz Deutsch- lands, die der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts in München über- nommen hat, gehen auf das Konto des NSU Morde an neun Männern tür- kischer, kurdischer und griechischer Herkunft sowie an einer deutschen Polizeibeamtin, drei Sprengstoffanschläge, zahlreiche weitere Mordversuche und 15 Raubüberfälle. Insgesamt mindestens 28 Taten, begangen innerhalb von 13 Jahren zwischen Dezember 1998 und November 2011. Für die Bun- desanwaltschaft wurde dies alles, inklusive vorbereitender Ausspähungen, ausschließlich von zwei Tätern verübt: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Ihnen soll als dritte Täterin Beate Zschäpe geholfen haben, allerdings habe sie weder bei einer der Taten noch bei den Ausspähungen direkt mitgewirkt. Zu den Kritikern dieser Darstellung zählen nicht nur mehrere Anwälte der Opferfamilien sowie einige Journalisten, sondern auch der gesamte zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages, der ausgerechnet von einem CDU-Mann geleitet wurde. Das Fazit dieses Ausschusses lautete: Die Zwei- bzw. Drei-Täter-Theorie ist nicht haltbar. Diese Differenz ist auch politisch interessant, weil sie bedeutet, dass zwei Staatsgewalten – Exekutive und Legislative – zu gänzlich unterschiedlichen Bewertungen der NSU-Ver- brechen kommen. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt eine doppelte Vertuschung insbe- sondere durch die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste: Die erste Ver- tuschung ereignete sich in der Phase vor dem 4. November 2011, die durch die zahlreichen Morde in der ganzen Bundesrepublik gekennzeichnet war;

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Rechter Terror oder: Die doppelte Vertuschung 67 die zweite Vertuschung setzte nach dem 4. November 2011 ein, dem Tag, als Böhnhardt und Mundlos ums Leben kamen, der NSU aufflog und die neo- nazistische Terrorzelle öffentlich bekannt wurde. Im Zentrum standen dabei immer wieder V-Leute der Geheimdienste.

Der Vertuschung erster Teil

Die offizielle NSU-Geschichte beginnt im Januar 1998 mit der Flucht des Jenaer Trios Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach Chemnitz. Dabei halfen mehrere V-Leute. Doch schon Jahre zuvor hatten verschiedene Verfassungs- schutzämter Neonazis, die im Laufe der Jahre eine Rolle spielen sollten, als V-Leute rekrutiert. In Chemnitz erhielt das Trio zudem Unterstützung von einem Neonazi, der im November 2000 V-Mann des Landeskriminalamtes Berlin wurde. Im Sommer 2000 zog das NSU-Kerntrio von Chemnitz nach Zwickau. Auch dort saß im Zentrum der Neonazi-Szene ein V-Mann des Bundes- amtes für Verfassungsschutz. Er hatte Kontakt zu Mundlos und Zschäpe, wie mehrere Zeugen glaubhaft versicherten. Wenige Monate später, im Septem- ber 2000, begann die Mordserie des NSU-Komplexes. Dessen erstes Opfer war, am Stadtrand von Nürnberg, der Blumenhändler Enver Simsek, der mit acht Schüssen getötet wurde. Die Polizei verdächtigte seinerzeit die Fami- lie des Opfers, die Täter blieben unentdeckt. Bis zum April 2006 ermordete der NSU insgesamt neun Migranten. Dass bei all diesen Morden die gleiche Waffe, eine Pistole der Marke Ceska 83, genutzt wurde, war eigentlich ein klares Indiz dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen den unterschied- lichen Taten gab. Dennoch lehnte die Bundesanwaltschaft eine Übernahme der Ermittlungen ab, und die Fahndung wurde nicht beim Bundeskriminal- amt (BKA) zentral zusammengeführt. Und dann, obwohl beim vorangegangenen Mord in Kassel ein Verfas- sungsschutzbeamter vor Ort war, wagten die Täter etwas noch Riskanteres. Im April 2007 griffen sie in Heilbronn zwei Polizeibeamte an – am helllich- ten Tag und auf einem belebten Platz, wo sich hunderte von Menschen auf- hielten, weil das Frühlingsfest aufgebaut wurde. Die Täter nahmen sich die Zeit, um die Dienstpistolen sowie andere Gegenstände der Opfer zu entwen- den. Aber handelte es sich bei den Tätern tatsächlich um dieselben, die auch die Morde an den Migranten verübt hatten? Warum verwendeten sie nicht erneut die Ceska-Pistole, sondern zwei andere Waffen? Und warum schossen sie nicht wie davor mehrfach auf die Opfer, sondern nur einmal, was dem zweiten Polizisten vermutlich das Leben rettete? Auch das baden-württembergische Landeskriminalamt kam zu der Ein- schätzung, dass die Tat von mindestens vier bis sechs Tätern ausgeführt wor- den sei. In den Ermittlungsakten finden sich Hinweise auf möglicherweise insgesamt bis zu zehn Täter. Ganz offensichtlich hat in Heilbronn eine Ope- ration stattgefunden. Was für eine Operation aber war dies, und wie passt das NSU-Trio in ein solches Szenario?

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 68 Thomas Moser

Letztendlich wurde bis zum November 2011 keiner der zehn Morde aufge- klärt. Auch der Begriff NSU blieb unbekannt. Dass es sich nicht etwa nur um ein Versehen oder Versagen handelte, sollte sich ab 2012 herausstellen, als diese Vergangenheit politisch und juristisch untersucht wurde und dabei Vertuschungsversuche quasi in Echtzeit zu beobachten waren.

Der Vertuschung zweiter Teil

Im November 2011, nach dem Auffliegen der Gruppe, begann Teil zwei der Vertuschung. Tatsächlich wurden in der Habe des Trios die Ceska-Mord- waffe gefunden, ebenso die zwei Tatwaffen von Heilbronn und die Dienst- pistolen der beiden Polizeibeamten – gewichtige Indizien, die für eine Täter- oder Mittäterschaft sprechen können. Dennoch ist der zweifelsfreie und ausschließliche Nachweis der Täterschaft bislang nicht gelungen. Vor allem aber bleibt die Frage nach weiteren potentiellen Tätern unbeantwortet. Ende 2011 nahm sich die Bundesanwaltschaft der Mord- und Bombenserie an. Zur gleichen Zeit löschte das Bundesamt für Verfassungsschutz jedoch mehrere Akten von V-Leuten in der rechtsextremen Szene – und zwar gezielt, um Spuren zu vernichten, wie Jahre später der zweite Untersuchungsaus- schuss des Bundestages herausfand. Die Bundesanwaltschaft duldete die Aktion und verschwieg sie. Gleichzeitig setzten die Ermittlungsbehörden offenbar alles daran, die Fra- ge nach weiteren Mittätern offenzulassen. Als sich Beate Zschäpe am 8. No- vember 2011 schließlich der Polizei stellte, gaben Bundesanwaltschaft und BKA den Ermittlungen eine neue Wendung: Die Täterschaft von Böhnhardt und Mundlos stehe fest; die „Terroristische Vereinigung NSU“ habe nur aus drei Personen bestanden und sei mit dem Tod der beiden Männer aufgelöst. Zwar bildete das BKA daraufhin eine Sonderkommission, in der zeit- weise über 400 Kriminalbeamte mit Unterstützung der Landeskriminal- ämter arbeiteten. Im regionalen Ermittlungsabschnitt Baden-Württemberg, der den Polizistenmord untersuchte, wurden allerdings ausgerechnet jene LKA-Beamten aussortiert, die an der Theorie festhielten, dass die Tat von mehr als drei Tätern begangen worden sei. Dennoch musste das BKA am Ende sein Scheitern eingestehen. Im Ermitt- lungsbericht vom Oktober 2012, auf dem die Anklageschrift des General- bundesanwaltes für den Prozess in München aufbaut, heißt es etwa zum Polizistenmord von Heilbronn: „Nach wie vor herrscht keine Klarheit über Ablauf der Tat und Anzahl der beteiligten Personen. Ein eindeutiger Nach- weis, dass zumindest Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am Tattag in unmit- telbarer Tatortnähe waren, konnte bislang nicht erbracht werden.“ Damit ist auch unklar, wie der Mord an der Polizistin mit den Morden an Migranten zusammenpasst. Gerade deshalb könnte die Heilbronner Tat den Schlüssel für den gemeinsamen Hintergrund aller Taten darstellen. Dass diese und viele weitere Fragen unbeantwortet blieben – nach mehr als sieben Jahren intensiver Ermittlungen und Recherchen sowie einer bis

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Rechter Terror oder: Die doppelte Vertuschung 69 dahin beispiellosen Anzahl parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und einem historisch langen Gerichtsprozess – gibt Anlass zur Besorgnis. Offen sind dabei vor allem die Umstände der Ermordung des Deutschtürken Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel. Die Tat fand im Beisein eines Mit- arbeiters des hessischen Verfassungsschutzes statt, der zeitweise sogar als Mordverdächtiger galt und festgenommen wurde.

Die Verstrickungen des Verfassungsschutzes mit der neonazistischen Szene

Immerhin eine gesicherte Erkenntnis aus dem NSU-Skandal gibt es. Heute wissen wir, dass der Verfassungsschutz rechtsradikale Gruppierungen anführt, finanziert und sogar gegründet hat: Der Thüringer Heimatschutz, der Fränkische Heimatschutz und das Thule-Netz, die Hammerskins Sach- sen, Blood and Honour (B&H) Thüringen, B&H Deutschland, Hooligans gegen Salafisten (Hogesa), der Ku Klux Klan Brandenburg, der KKK von Schwäbisch Hall – an der Spitze all dieser Gruppierungen standen V-Männer. In diesem Umfeld bewegte sich auch das NSU-Trio. Dass es eigene Ver- bindungen zu Behörden unterhielt, ist daher eine naheliegende Vermutung. Und natürlich muss man auch das scheinbar Unmögliche denken: Waren Mitglieder des Trios ebenfalls V-Leute? Offiziell wird die Frage verneint. So klar ist das aber nicht. Denn bei der Lagebesprechung der Polizei nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos im November 2011 wurden schriftlich Aus- sagen festgehalten wie: „Die Zielfahndung nach dem Trio wurde 2002 ein- gestellt. Es wurde bekannt, dass das Landesamt für Verfassungsschutz die Zielpersonen abdecke.“ Oder: „Der Leiter der Polizeidirektion will alles tun, um Frau Zschäpe zu finden, bevor sie vom LfV abgezogen wird.“ Diese Sätze aus den Ermittlungsakten zum Tod von Böhnhardt und Mundlos in Eisenach, die bekannt wurden, weil Abgeordnete sie in parlamentarischen Untersu- chungsausschüssen zitierten, legen den Verdacht nahe, dass die Mitglieder des NSU als V-Personen tätig gewesen sein könnten. Sicher wissen wir dies aber vermutlich erst, wenn es möglich ist, Einblick in die Akten des Verfas- sungsschutzes zum NSU zu erhalten. Am 11. Juli 2018 verkündete das Oberlandesgericht München nach fünf- jährigem Prozess seine noch nicht rechtskräftigen Urteile: Beate Zschäpe erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Der Angeklagte Ralf Wohlleben wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, kam eine Woche nach dem Urteil aber vor- läufig frei, weil er bereits zwei Drittel der Strafe abgesessen hatte. Der Ange- klagte André Eminger erhielt zweieinhalb Jahre Haft und wurde noch am selben Tag freigelassen. Von den beiden anderen Angeklagten, die je drei Jahre Haft erhielten, ist einer zurzeit ebenfalls auf freiem Fuß, der andere hat seine Strafe angetreten. Die Urteilssprüche erscheinen widersprüch- lich, denn nach Zschäpe kann man Wohlleben und Eminger durchaus als NSU-Mitglieder Nummer vier und fünf bezeichnen: Wohlleben wusste lange, wo sich die drei aufhielten, und Eminger soll von allen Taten gewusst und sie mitgetragen haben.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 70 Thomas Moser

Die größte Unbekannte aber bleibt nach wie vor die Hauptangeklagte. Mit ihrer Einlassung vom Dezember 2015 hat Zschäpe die Anklagekonstruktion gestützt und sich in gewisser Weise selbst zur Zeugin der Anklage gemacht. Demnach seien Böhnhardt und Mundlos die alleinigen Täter gewesen, von verstrickten Geheimdiensten ist keine Rede. Zschäpe hat damit sowohl der Bundesanwaltschaft als auch dem Staatsschutzsenat objektiv geholfen. Angesichts einer lebenslangen Haftstrafe stellt sich die Frage, was sie von der Vertuschung hat. Nimmt sie ein Leben im Gefängnis in Kauf, um Kompli- zen zu decken, die noch auf freiem Fuß sind? Oder wurde ihr möglicherweise eine Gegenleistung versprochen?

Verbindungen des NSU-Skandals zu anderen Terrorakten

Dass sich diese Frage überhaupt stellt, zeigt der Blick auf einen anderen Ter- rorkomplex. Im Jahr 1977 wurde das RAF-Mitglied Verena Becker wegen eines Mordversuchs an zwei Polizisten ebenfalls zu lebenslanger Haft ver- urteilt. Allerdings kam sie nach insgesamt zwölfeinhalb Jahren wieder frei – dank eines Gnadengesuches, dem der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker stattgab. Erst im Jahr 2012 wurde Becker im Zusammenhang mit dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleitern im April 1977 in Stuttgart zu weiteren vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ins Gefängnis musste sie nicht mehr. Ein Teil der Strafe galt als verbüßt, der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt. Brisanz erhielt der Prozess dabei nicht nur durch die Frage, ob die Angeklagte möglicherweise zum unmittelbaren Mordkom- mando zählte, sondern auch durch die neue Erkenntnis, dass sie als Infor- mantin des Bundesamtes für Verfassungsschutz tätig war. Unklar ist aller- dings, wann genau diese Zusammenarbeit begann – und ob dies bereits vor dem Anschlag im Jahr 1977 der Fall war. Sicher ist, dass diese bestand, als Becker 1989 begnadigt wurde und freikam. Könnte die Lösung im Fall Becker also auch eine im Fall Zschäpe sein? Nicht weniger brisant ist der Fall Anis Amri. Mitten in der NSU-Aufarbei- tung verübte mutmaßlich er am 19. Dezember 2016 einen Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt, der zwölf Todesopfer forderte. Wie beim NSU versuchen auch hier mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse Licht ins Dunkel zu bringen, in denen ähnliche Auseinandersetzungen um Zeugen und Akten stattfinden – mitunter sind dabei sogar dieselben Perso- nen aus den Sicherheitsbehörden beteiligt wie beim NSU-Fall. Auch im Fall Amri stößt man auf zahlreiche Manipulationen. Wieder gab es direkte Ver- bindungen zwischen den Behörden und dem mutmaßlichen Täter. Erneut wird offiziell von einem Einzeltäter gesprochen, was allerdings auch in die- sem Fall überaus zweifelhaft ist. Und einmal mehr bewegten sich im Umfeld des mutmaßlichen Täters Amri zahlreiche V-Personen mehrerer Sicherheits- behörden. Ihre Zahl hat im Fall Amri bereits „NSU-Niveau“ erreicht, etwa ein Dutzend wurden bisher gezählt.

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Die Grenzen der Aufklärung

Heute erkennen wir also, dass die RAF-Attentate, der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt und die NSU-Morde mit Blick auf die Vertu- schungspraktiken der Behörden zusammengedacht werden müssen. Der Sicherheitsapparat tut dies auf seine Weise auch. Überall verbergen sich die- selben Vielschichtigkeiten, dieselben undurchsichtigen Strukturen, ähnli- che Widersprüche und Fragen. Insbesondere im NSU-Komplex, der sich im Amri-Komplex auf dramatische Weise wiederholt, erleben wir damit eine fatale schrittweise Aushöhlung und Zerstörung des Rechtsstaates, die sich aus der Unterdrückung der Wahrheit ergibt. Unterdrückt wird sie vor allem durch das Schwärzen von Akten oder das Sperren von Zeugen durch die Geheimdienste. Ein besonderer Kunstgriff gelang dabei dem Bundesamt für Verfassungsschutz, als es dem NSU-Un- tersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages unpaginierte Seiten zur Verfügung stellte, also eine Blättersammlung ohne fortlaufende Seitenzah- len. Um deren Vollständigkeit vorzugaukeln, wurden die zusammengestell- ten ursprünglich unpaginierten Unterlagen obendrein speziell für den Aus- schuss mit einer eigenen durchgehenden Paginierung versehen. Offensichtlich sollte so verhindert werden, dass der Ausschuss feststellen kann, welche Akten geliefert wurden und ob diese auch vollständig sind bzw. welche Leerstellen sie aufweisen. Angesichts dieses dreisten Vorgehens stellt sich die Frage, warum eine Sicherheitsbehörde, die selbst Gegenstand einer parlamentarischen Unter- suchung ist, die Regeln der Untersuchung bestimmen darf. Längst sollten wir erkannt haben, dass es Zeit ist, die Regeln dieses Spiels zu verändern. Warum besuchen die Abgeordneten nicht die Registraturen der Ämter, um vor Ort Einsicht in die Originalunterlagen zu erhalten? Warum gibt es noch kein öffentliches Fragerecht von Zuhörerinnen und Zuhörern in Untersuchungs- ausschüssen? Diese könnten, wenn Abgeordnete keine Fragen mehr haben, eigene Fragen an vorgeladene Zeugen richten. Im NSU-Komplex wurde das von Beobachtern bereits in die Diskussion eingebracht. Und im Amri-Kom- plex haben Opfer und Hinterbliebene des Anschlages im Abgeordnetenhaus in Berlin ebenfalls explizit ein Fragerecht beantragt – bislang ohne Erfolg. Fest steht: Nur mit einer Veränderung der Spielregeln werden wir die die Taten rechter Terroristen hierzulande überhaupt aufklären können. Am Ende des NSU-Prozesses sagte Yvonne Boulgarides, die Witwe des Münch- ner Mordopfers Theodoros Boulgarides, in ihrem Schlusswort vor Gericht: „Dieser Prozess ähnelt für mich einem oberflächlichen Frühjahrsputz. Um der Gründlichkeit Genüge zu tun, hätte man die ‚Teppiche‘ aufheben müs- sen, unter welche bereits so vieles gekehrt wurde.“ Offensichtlich ist es an der Zeit, die gesamte Wohnung zu entrümpeln, um ein sicheres Heim für die Hinterbliebenen der Opfer, Menschen mit Migrationshintergrund und engagierte Demokraten zu schaffen. Andernfalls steht zu befürchten, dass Walter Lübcke bei weitem nicht das letzte Opfer rechten Terrors gewesen sein wird.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Anzeigen Wer wirklich Wohlstand schafft

Die Ökonomin Mariana Mazzucato stellt in ihrem neuen Buch die für die Veränderung unseres Wirtschaftssys- tems entscheidende Frage: Wer schöpft Werte und wer zerstört sie? Im Kern geht es darum, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Wir brauchen einen neuen Kapitalismus, von dem alle etwas haben!

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Foto: Beate Pundt

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Verheißung und Enttäuschung Die Ostdeutschen und die Demokratie

Von Wolfgang Engler

ie Ostdeutschen sind wieder im Gespräch, politisch wie medial. Der D Quell, aus dem sich das neu erwachte öffentliche Interesse speist, ist denkbar trübe: NSU-Komplex, Pegida und dann auch noch die AfD, die im Osten auf Landes- wie auf Bundesebene einen Wahlerfolg nach dem anderen verzeichnet. Militante Aufmärsche mit unverhüllt rassistischen Parolen wie im September 2018 in Chemnitz taten ein Übriges, um die Ostler in Verruf zu bringen. Im 30. Jahr des demokratischen Aufbruchs in der DDR, so der Vor- wurf, seien viele noch immer nicht im wiedervereinigten Deutschland ange- kommen. Geld und gute Worte hätten es offenkundig nicht vermocht, Demo- kratie, Rechtsstaat und zivilgesellschaftliches Engagement unverrückbar im Beitrittsgebiet zu verankern. Was ist da los? Spukt womöglich die DDR noch immer in den Köpfen allzu vieler? Nimmt derart die Diktatur späte Rache für ihr schmähliches Ende? Man muss diese Vermutungen nicht teilen, um das fortbestehende, teils sogar sich verfestigende West-Ost-Gefälle in den Ansichten, Gewohnheiten, den politischen Haltungen zumindest sonderbar zu finden. Daniel Dettling verlieh der verbreiteten Irritation speziell westlicher Interpreten in einem Gast- kommentar für die Neue Zürcher Zeitung vom 10. November 2018 wie folgt Ausdruck: „Den Menschen im deutschen Osten geht es heute so gut wie noch nie. Der Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland ist geringer denn je. Wirtschaftlich gesehen stehen die Ostdeutschen immer besser da. Um 75 Pro- zent wuchs ihr Vermögen seit der Jahrhundertwende von 2000. Seit der deut- schen Einheit vor fast dreißig Jahren ist die Lebenserwartung um sieben Jahre gestiegen. Produktivität, Löhne und Renten wuchsen in letzter Zeit schnel- ler und die Arbeitslosigkeit geht stärker zurück als im Westen. Und dennoch dominieren in den neuen Bundesländern ein Gefühl der Ohnmacht und ein politischer Populismus, der daraus Nahrung zieht. […] Der ökonomische Auf- bau hat bisher nicht zu einem Abbau an politischem Verdruss geführt.“ Es ist hier nicht der Ort, diesen Befund im Einzelnen zu diskutieren. Zahl- reiche ökonomische Daten vermitteln ein weniger optimistisches Bild des Aufholprozesses, legen nahe, dass dieser sich in jüngerer Zeit verlangsamt hat bzw. auf der Stelle tritt. Dagegen trifft zu, dass Wohnungen, Häuser,

* Der Beitrag wurde erstmals unter dem Titel „Die Ostdeutschen und die Demokratie“ auf der Web- site der Rosa-Luxemburg-Stiftung (www.rosalux.de) publiziert.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 74 Wolfgang Engler

Städte modernisiert, Infrastrukturen ertüchtigt oder neu geschaffen wurden; etliche Unternehmen produzieren mit modernster Technik, behaupten sich im Wettbewerb. Nur fragt sich in diesem Fall, in wessen Hand sich all das befindet, wer effektiv darüber verfügt. Oft genug schauen die Ostdeutschen, wenn sie durch heimische Gefilde streifen, fremden Reichtum an, und das trübt die Freude über das vor dem Verfall Gerettete bzw. das neu Geschaf- fene. Am Eigentumsvorsprung der Westdeutschen werden die Ostler abseh- bar nicht rütteln können. „Aufholen, ohne einzuholen“ lautet da die knappe Auskunft; einer der Gründe dafür, dass Angleichungsprozesse unter solchem Vorbehalt durchaus mit „politischem Verdruss“ vereinbar sind. Einen weiteren Grund benennt die Ko-Direktorin des Deutschen Zen- trums für Integrations- und Migrationsforschung, Naika Foroutan, in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 1. April 2019. „In den Strukturdaten holt der Osten tatsächlich auf. Die Arbeitslosenzahlen gehen zurück, die Armutsraten sinken, wenngleich es in der Vermögensbildung noch immer eklatante Unterschiede gibt. So lässt sich das folgende Phäno- men beobachten: Je stärker man im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft auf- holt, umso größer wird zu Recht die Unzufriedenheit darüber, was noch nicht aufgeholt ist. Das nennt man Emanzipation. Und dadurch fragen sich auch im Osten immer mehr Menschen, wie kann es sein, dass wir strukturell auf- holen, man uns kulturell aber noch immer als nicht zugehörig betrachtet?“ Der Erste, der dieses Paradoxon emanzipatorischer Prozesse formulierte, war Alexis de Tocqueville. „Sehr oft geschieht es, dass ein Volk, das die drü- ckendsten Gesetze ohne Klage und gleichsam, als fühlte es sie nicht, ertragen hatte, diese gewaltsam beseitigte, sobald ihre Last sich vermindert“, schrieb er in seinem Klassiker „Der alte Staat und die Revolution“ von 1856. Eine bis heute gültige Erkenntnis, geeignet, die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher mit dem bereits Erreichten aus eben jener emanzipatorischen Logik heraus zu verstehen, die keine Halbheiten gelten lässt und stets aufs Ganze zielt, in ihrem Fall auf die Anerkennung als Bürger erster Klasse. Ihnen Mal um Mal ihr doch recht kommodes Dasein im neuen Gemeinwesen vor Augen zu füh- ren, an ihre Dankbarkeit zu appellieren, fruchtet ebenso wenig wie der Ver- such, die Frauenemanzipation mit dem Verweis auf ihre bisherigen Erfolge abzufrühstücken. Diese Pflichtübung von Festrednern gelegentlich allfälliger Jubiläen verfehlt regelmäßig ihren Zweck und kann daher getrost entfallen.

Eine Frage der Zurechnung

Die Ostdeutschen segeln politisch in markant höherem Grad, als ihr Anteil an der bundesrepublikanischen Bevölkerung das erwarten ließe, in neurech- tem Fahrwasser, und nicht wenige tummeln sich im rechtsradikalen Sumpf. Wie lässt sich das erklären? Eine lange dominante Sicht macht die DDR dafür verantwortlich und beruft sich auf die Spätfolgen der zweiten deutschen Dik- tatur. Anders als die Westdeutschen seien die Menschen im Osten nach 1945 binnen Kurzem von einem „totalitären Regime“ ins nächste gestolpert. Sie

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Ostdeutschen und die Demokratie 75 hätten sich an die Üblichkeiten einer weithin „geschlossenen Gesellschaft“ äußerlich wie innerlich angepasst, einen kollektiven Habitus entwickelt, der unverkennbar autoritäre Züge trug. Nach dem Aufbruch von 1989 und dem nachfolgenden Beitritt zur Bundesrepublik unversehens in die „offene Gesellschaft“ entlassen, erlebten sie diese jähe Wende vielfach als Schock und klammerten sich, um damit zurechtzukommen, an ihr mentales Erbe. Derart blockierten sie die innere Ankunft im Westen, ihre Integration in die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Ihre Aversion gegen Neues, Fremdes und Fremde, ihre Phobien, ihr bald latenter, bald manifester Rassis- mus seien Ausdruck des Fortschleppens ihres in der DDR erworbenen und seither nicht abgeworfenen Gepäcks. Angenommen, es verhielte sich so, wie diese Betrachtung es nahelegt, dann drängt sich sogleich eine Frage auf: Warum wurde diese toxische Mitgift im Verlauf der zurückliegenden drei Jahrzehnte gesamtdeutscher Geschichte wenn schon nicht entsorgt, so doch zumindest etwas aufgezehrt? Diese Frage richtet sich an die Überzeugungskraft der neudeutschen Gesell- schaft für die Ostdeutschen. Ihr dadurch auszuweichen, dass man dieses Geschichtskapitel kurzerhand überspringt, als wäre es keiner eingehende- ren Untersuchung wert, und stattdessen stur auf die DDR als einzigem Grund des Übels rekurriert, ist ignorant. Gewiss, die Ostdeutschen lebten bis 1989 in einer ethnisch und kulturell sehr homogenen Gesellschaft. Deren hoch- beschleunigte Verwandlung in einen Schauplatz ökonomischer Globalisie- rung, kultureller, religiöser Vielfalt verstörte häufig, verunsicherte, führte zu Abstoßungsreaktionen, die in den frühen 1990er Jahren eskalierten. Dass seinerzeit vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an der Front der fremdenfeindlichen Ausfälle standen, weist in der Tat auf die DDR zurück, insbesondere auf deren letzte Dekade. Ihre Ablehnung des Staates, der alltäglichen Enge und Gängelung des Lebens unmissverständlich zu markieren, griffen Teile der Jüngeren zu radi- kalen Ausdrucksmitteln. Hooligans skandierten rassistische Slogans, verwüs- teten Züge, prügelten sich mit Ordnungshütern. Andere richteten ihren Frust gegen „linke“ Bands oder Umweltbewegte, staffierten sich mit NS-Symbolen aus und gerierten sich offen als „Faschos“. Die Aus- und Überfälle der frü- hen Umbruchjahre verweisen auf Wurzeln in der (späten) DDR. Aber je weiter man sich von dieser Zeit abstößt und auf die jüngere Gegenwart zubewegt, desto fragwürdiger wird diese Art der Zurechnung. Das Durchschnittsalter der heutigen Ostdeutschen liegt unter 50 Jahren. Die meisten absolvierten den Großteil ihres Lebens unter den gewandelten Verhältnissen, jene insbe- sondere, die ihre rechte, rechtsradikale Gesinnung auf die Straße tragen. Wer deren Demokratiefeindschaft unbeirrt der DDR zuschreibt, begeht einen dreifachen Fehler: Er infantilisiert die im Osten lebenden Menschen, indem er die Erfahrungen, die sie sie seit 1989 sammelten, für irrelevant erklärt; so, als hätten die Umstände ihres Lebens nach der DDR keine men- talen Abdrücke hinterlassen. Er betrachtet des Weiteren das habituelle Erbe der DDR nicht in seiner Widersprüchlichkeit, vielmehr eindimensional als Handicap, Ballast, den es nun endlich abzuwerfen gilt. Schließlich recht-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 76 Wolfgang Engler fertigt er, fast wie auf Bestellung, die Fehlentwicklungen, Ungerechtigkei- ten, Kränkungen, die mit dem Umbruch einhergingen, zahllose Menschen aus der Bahn warfen, zeitweise oder auf Dauer zu Bürgern zweiter Klasse stempelten. Die notorische Ausblendung der Nachwendegeschichte bei der Ergründung der Ursachen für die „Rechtslastigkeit“ der Ostdeutschen ist interessengeleitet, ist ordinäre Ideologie. Mit gelernten Duckmäusern hätte es den 89er Herbst niemals gegeben, so viel steht fest. Gerade weil der ostdeutsche Staat seinen Bürgern demo- kratische Grundrechte in der Praxis vorenthielt, war das Begehren nach poli- tischer und bürgerlicher Selbstbestimmung so verbreitet wie lebendig. Die Rechtfertigungsdenker unserer Tage leugnen diese Dialektik. Uwe Johnson, dem Autor der „Jahrestage“, der die DDR 1959 verließ, war sie wohl bewusst. „Man könnte sagen“, äußerte er in einem Interview 1964, „dass die Idee einer demokratischen Regierung lebendiger ist und schärfer konturiert wird in einem Staat, der nicht demokratisch regiert wird. Der Mangel an Demokratie prägt Demokratie viel entschiedener aus; und durch die scharfen und oft sehr weitgehenden Eingriffe des Staates in das persönliche Leben seiner Bürger kristallisiert sie sich noch deutlicher heraus.“ Diese Worte im Kontext nachzulesen sei ausdrücklich empfohlen („Wo ich her bin ...“ Uwe Johnson in der D.D.R., herausgegeben von Roland Berbig und Erdmut Wizisla, Berlin 1994), abermals mit der Frage verbunden, aus wel- chen Gründen sich viele Ostdeutsche von der Demokratie abwandten, die sie selbst herbeigesehnt und gemeinsam erkämpft hatten.

Der Preis des Beschweigens

Ein realistisches, ungeschminktes Bild des gesellschaftlichen Umbruchs im Osten und seiner lebenspraktischen Konsequenzen – daran fehlte es staat- licherseits und in den Massenmedien noch bis vor Kurzem ganz entschieden. Namentlich die Regierenden mochten sich dazu lange nicht bequemen und begriffen den Ernst der Lage erst, als das Wahlvolk zwischen Elbe und Oder auffällig nach rechtsaußen aus der Reihe tanzte. Nun rang man sich zu späten Einsichten durch, wie Martin Dulig, der Ostbeauftragte der SPD, in einem Bei- trag für „Das Parlament“ vom 1. Oktober 2018: „Die Nachwendezeit ist vorbei, ihre Aufarbeitung beginnt aber erst jetzt. Es war ein zentraler Fehler, über die damaligen Umbrüche, die Kränkungen und die Ungerechtigkeiten nicht öffentlich zu debattieren. Es wird Zeit, über die Form und Fehler des System- wandels zu sprechen, der damals unter marktradikalen Vorzeichen ablief.“ Günter Nooke, ab 2000 für viele Jahre Sprecher der ostdeutschen CDU- Abgeordneten im , räumte in einem Gespräch mit der „Zeit“ vom 3. März 2019 das Scheitern der alten Politik der „Aufarbeitung“ ein: „Ich weiß noch, dass ich damals eine Rede im Bundestag hielt. […] Ganz selbst- verständlich habe ich von Ostdeutschland gesprochen. Denn ich finde: Wer den Osten nicht kennt, der kann auch nichts für ihn fordern. Einen Tag später fuhr ich nach Thüringen zu einem Besuch beim damaligen Ministerpräsi-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Ostdeutschen und die Demokratie 77 denten Bernhard Vogel. […] Vogel bat mich, nicht diese ‚Ostkarte‘ zu ziehen. Er war der Meinung, dass wir sonst der Spaltung des Landes das Wort rede- ten. […] Der Zeitgeist war so. Manche waren von der Einheit so berauscht, dass sie sagten: Das dürfen wir auf keinen Fall gefährden, indem wir wei- ter in Ost und West unterscheiden. […] Kritik an der SED wollten die West- deutschen hören, aber Kritik an der aktuellen Lage im Osten? Besser nicht. Heute befinden wir uns in einer Situation, in der sich der Osten vielfach nicht repräsentiert und verstanden fühlt. Wir, also meine Generation, hat es nicht geschafft, dieses Problem zu lösen, und jetzt müssen die Jüngeren mal sehen, wie sie das anstellen.“ Nun also Aufarbeitung der Aufarbeitung, ihrer Einseitigkeiten, Versäum- nisse. Fehlerdiskussion, Benennung der wahren Ursachen für die beunruhi- gende Rechtsverschiebung im politischen Spektrum in den neuen Ländern, und Dulig gibt einen Fingerzeig für den gedanklichen Spurwechsel: „Sys- temwandel unter marktradikalen Vorzeichen“. Das trifft den Kern der Prob- lematik. Den hauptsächlichen Schlüssel zur Erklärung der unbestreitbaren Misere liefern die 1990er Jahre, insbesondere deren erste Hälfte.

Mehr Kapitalismus wagen!

Die Erzählungen der meisten Ostdeutschen, die die Jahre unmittelbar nach dem Systemwechsel bewusst erlebt haben, kreisen bis heute um den geschichtlich beispiellosen wirtschaftlichen Kahlschlag im gesamten Bei- trittsgebiet. Von den 150 Großbetrieben der DDR mit mehr als 5000 Beschäf- tigten verschwanden alsbald 145 von der Bildfläche, desgleichen die an diese Unternehmen gebundenen sozialen, medizinischen und kulturellen Einrich- tungen. In weiten Landstrichen verödete das Leben, kam das gesellschaft- liche Miteinander beinahe schlagartig zum Erliegen. Die Stützpunkte des geselligen Verkehrs schlossen ihre Türen, Bahnen fuhren nun oftmals vor- bei, Busse kamen nur mehr selten, das Gefühl, abgehängt, Provinz zu sein, griff um sich. Wer noch etwas vorhatte mit seinem Leben, suchte das Weite, und genau das taten Millionen von Ostdeutschen in den frühen 1990ern. Wer seine Arbeit behielt oder neue fand, schätzte sich glücklich und willigte aufgrund dieses Privilegs in außertarifliche Beschäftigungsverhältnisse ein. Ansonsten drohten prekäre Beschäftigung, Leih- und Zeitarbeit, Maß- nahmekarrieren oder Arbeitslosigkeit, die Metamorphose vom Citoyen zum Klienten der Behörden, zum Transferempfänger, Inbegriff einer großen, bis heute nicht verwundenen Kränkung. Binnen weniger Jahre wurde der Osten Deutschlands zum Experimentier- feld einer raueren, hart auf das Leben der Einzelnen zupackenden Gang- art des Kapitalismus. „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!“, „Sozial ist, was Arbeit schafft, welcher Güte auch immer!“, so lauteten die Schlagworte dieser Zeit. Der Osten war insofern „Avantgarde“, als die hier einstudierten Verhältnisse und Verhaltensweisen einen Paradigmenwechsel der Wert- schöpfung im ganzen Land befördern sollten – die Abkehr vom Teilhabe-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 78 Wolfgang Engler kapitalismus und dessen Ersetzung durch eine marktkonforme Demokratie. Diese raumgreifenden ökonomischen Flurschäden und sozialen Verwer- fungen prägten die ostdeutsche Erfahrung, nährten Zweifel an der Demo- kratie im Maßstab von etlichen Hunderttausenden. Singulär aufgrund des atemberaubenden Tempos, in der dieser Form- und Funktionswandel des Kapitalismus hier vonstattenging, korrespondiert die ostdeutsche Erfahrung gleichwohl mit der Erfahrung von Millionen von Menschen, die denselben Umbruch, nur zeitlich gestreckter, durchliefen und die nie auch nur einen Tag in einer Diktatur gelebt hatten. Im Rust Belt in den Vereinigten Staaten und in den klassischen Industrieregionen in England und Frankreich voll- zog sich dieselbe, tiefgreifende Umgestaltung von Wirtschaft und Gesell- schaft – mit demselben Resultat: der massenhaften Entfremdung der Bürger von demokratischen Institutionen, Verfahren und Prozessen sowie des dazu komplementären Aufstiegs nationalistischer, vulgärdemokratischer Strö- mungen und Parteien. Mit diesem Aspekt der hier untersuchten Thematik hat die DDR rein gar nichts zu tun.

Zweierlei Demokratieerfahrung

Demokratische Grundrechte, Westbindung, soziale Marktwirtschaft – auf diesen drei Säulen stand und entwickelte sich die Bundesrepublik seit ihrer Gründung im Mai 1949. Das demokratische Gehäuse, in das die Westdeut- schen einzogen, war vorgefertigt, ausgearbeitet vom Parlamentarischen Rat unter Mentorschaft der westlichen Alliierten. Sein wirtschaftlicher Unter- bau, gleichfalls vorgedacht, konzipiert noch in den Kriegsjahren, erwies sich als trag- und ausbaufähig, bescherte den Bundesdeutschen eine spürbare und lang anhaltende Verbesserung ihres materiellen Daseins. Zwar geschah kein Wunder, aber es ging kontinuierlich bergauf, und je länger der Auf- schwung währte, desto mehr festigte sich das Gefühl, es im Ganzen doch gut getroffen zu haben, und so lebte man sich nach und nach in den politisch- rechtlichen Rahmen des neuen Gemeinwesens ein. Das Drehbuch des deutsch-deutschen Einigungsprozesses von 1990 ff. stellte diese Abfolge in jeder Hinsicht auf den Kopf. Diesmal war die Demo- kratie von unten erkämpft, die Wiedervereinigung von der Mehrheit bejaht und gegen alle Einwände und Bedenken vorangetrieben. Kaum war das primäre Ziel des ostdeutschen Aufbruchs erreicht, verbriefte Grundrechte und elementare Freiheiten für jedermann, verloren Millionen von Ostlern den wirtschaftlichen und sozialen Halt. Bestimmungsgewinn in politischer und rechtlicher Hinsicht und sozialökonomischer Bestimmungsverlust gin- gen Hand in Hand. Der Boden, auf dem man sich bewegte, gab nach, und genau das untergrub die Identifizierung mit dem Rahmen, in dem man sich bewegte. Ohne Kenntnisnahme dieses Grundwiderspruchs wird die gesamte nachfolgende Entwicklung unverständlich. Weder versteht man den harten Kampf um Selbstbehauptung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch die aufkeimenden antidemokratischen Affekte

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Ostdeutschen und die Demokratie 79 der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts, die sich bereits damals weit ungemütli- cher hätten äußern können, wenn die Tränen der Enttäuschung und auch der Wut nicht auf den Kissen der parlamentarischen, demokratieaffinen Linken getrocknet wären. Spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 erlitt dieses Zweckbündnis Schaden – ob dauerhaften, bleibt abzuwarten. Seither adres- sieren veritable Teile der Frustrierten und Verprellten ihren Protest an den rechten Gegenpol der politischen Landschaft. Nun schreiten sie zur General- abrechnung mit dem „System“ und seinen Trägerschichten. Treuhandpolitik, Hartz-Gesetze, Bankenrettung, offene Grenzen für Flüchtlinge – alles über ihre Köpfe hinweg beschlossen und ins Werk gesetzt; „Schluss damit, jetzt reden wir“. Und mit einem Mal strömen Politiker, Journalisten, Wissenschaft- ler in den von ihnen so lange verschmähten Osten, um herauszufinden, was da schiefläuft. „Dann haben wir das doch richtig gemacht“, sagen sich die bis dato Abgeschriebenen. „Genau das war der Zweck unseres Radikalprotestes: die öffentliche Wahrnehmung unserer Lage, der Misere, die hier herrscht.“

Der Osten als Lehrstück

Die Schockwellen des großen Bebens der frühen Umbruchjahre pflanzen sich bis in unsere Tage fort und zwingen zur Bestandsaufnahme: ökonomischer Kahlschlag, Abwanderung, infrastrukturelle Verödung, Überalterung, Ver- männlichung der „Restbevölkerung“. Das gilt nicht für den gesamten Osten, aber für umfängliche Areale. Bleiben oder gehen, die Gretchenfrage in der DDR, stellt sich für jeden nachwachsenden Jahrgang erneut. Und sie beant- wortet sich in den kritischen Regionen auf altvertraute Weise. Die Beweg- licheren, Ambitionierteren, Jüngeren, die mit den besseren Schulabschlüs- sen, verlassen ihre Heimat. Sie schwächen, indem sie gehen, die gesellschaft- liche Mitte, diesen Garanten schlechthin für die Verteidigung demokrati- scher Errungenschaften. Die ostdeutsche Mittelschicht ist gleichsam „von Hause aus“ verwundbarer, vom sozialen Abstieg bedrohter, weil merklich ressourcenarmer als ihr westdeutsches Pendant. Der massenhafte Exodus zehrt ihr politisches Mobilisierungspotenzial zusätzlich auf. Oftmals steht sie auf verlorenem Posten, wenn die radikale Rechte aufmarschiert. Gar nicht so selten reihen sich Teilfraktionen der Mittelschicht in diese Märsche ein. Wortführer, Anhänger und Mitläufer dieser rechten Bewegung treten umso selbstbewusster auf, als sie um die Stärke wissen, die ihnen aus der Schwäche von ostdeutscher Mittelschicht und Zivilgesellschaft erwächst. Je mehr von denen, die ihnen die Stirn bieten könnten, abwandern, desto grö- ßer wird ihr politisches Gewicht vor Ort, in Wahlkreisen und Kommunen. Das wiederum gibt Menschen, die das schwer erträglich finden, den letz- ten Anstoß zur „Flucht“; ein Teufelskreis. Etwa noch verbleibende Zweifel an diesem Zusammenhang räumte das ebenso umfängliche wie detaillierte Dossier zur Ost-West-Wanderung auf, das „Die Zeit“ in ihrer Ausgabe vom 2. Mai 2019 veröffentlichte. Je gravierender der Abgang, desto stärker färbt sich die politische Landschaft blau. Durch den Rekurs auf die DDR wird diese

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 80 Wolfgang Engler

Korrelation um keinen Deut plausibler. Die Lehre aus diesem Dilemma ist einfach, jeder, der seinen Verstand gebraucht, kann sie verstehen. Ein derart umfassender und radikaler gesellschaftlicher Umbau, wie er sich im Osten Deutschlands nach 1990 vollzog, muss in allererster Linie die Ressourcen und die Kraft der einheimischen Bevölkerung stärken. Die schnell um sich greifende sozialökonomische Demobilisierung der Ostdeutschen war ein Unglück, das sich nicht hätte ereignen dürfen und dessen nun allseits sicht- bare Ausläufer das ganze Land betreffen. Die Vita activa ist die Mutter der Demokratie, und dieser Geist, diese Haltung, Mitzutun – in erster Reihe, aus eigenem Vermögen, in eigener Regie – kamen in viel zu vielen Fällen zum Erliegen, kaum dass das Hauptwerk, die Eroberung demokratischer Freihei- ten, verrichtet war.

P.S.

Ein Gutes hat die hier skizzierte Entwicklung – sofern man mit ihr umzuge- hen weiß. Der Auftrieb der Neuen Rechten bewirkte eine Repolitisierung der Gesellschaft, die bis heute anhält. Die Wahlbeteiligung steigt, die Profile der Parteien schärfen sich, die derweil weitverzweigten Kanäle der öffentlichen Meinungsbildung reflektieren die wachsende Polarisierung der Gemüter und verstärken sie zugleich. Der Druck, selbst Stellung zu beziehen, wächst. Zuschauer des politischen Geschehens werden zu Akteuren. Und das ist gut so. Wer handelt, trifft Entscheidungen, die so, aber auch anders möglich wären. Behaupte niemand, die Umstände diktierten seinen Willen, denn das ist eine Lüge. Noch die drückendsten Lebensbedingungen bringen eine Vielfalt individueller Antworten hervor. Es gibt, um wieder den Osten ins Spiel zu bringen, Dutzende von Gründen, warum professionelle Frust- verstärker hier solchen Zulauf finden. Kein einziger legitimiert den Beitritt ins Lager der Neuen Rechten. Es gibt keinen Notstand, auch keinen sozia- len, auf den man sich bei dieser Option berufen könnte. Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ von 1964 alles Nötige dazu gesagt: „Wenn der Angeklagte sich ent- schuldigt, er habe nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehan- delt, dessen Funktionen von jedem anderen ebenso gut hätten ausgeführt werden können, so ist es, als ob ein Verbrecher sich auf die Kriminalstatistik beruft, derzufolge soundso viele Verbrechen pro Tag an dem und dem Orte begangen werden, er also nur getan habe, was die Statistik von ihm verlangt habe – denn einer muss es dann doch schließlich machen.“ Die politische Rechte, die radikale zumal, hat die wahren Ursachen des verbreiteten Unbehagens am Zustand der Gesellschaft seit je zu kaschieren gewusst, und sie wird diesen auch derzeit nicht zu Leibe rücken. Man optiert, wenn man für sie optiert, gegen seine eigenen Lebensbedürfnisse. Das kann man wissen. Und viele wissen es. Und handeln, ihrem berechtigten Ärger Luft zu machen, wider besseres Wissen. Das ist ihr wunder Punkt. Da kann man sie packen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Partei ohne Erzählung: Die Existenzkrise der SPD Von Felix Butzlaff und Robert Pausch

an kann dieser Tage den Eindruck bekommen, dass die Sozialdemo- M kraten davon überzeugt sind, ihren dramatischen Niedergang strikt formal und bürokratisch aufhalten zu können: Da wird mit Blick auf den wie- der einmal neu zu bestimmenden Parteivorsitz voller Eifer über Doppelspit- zen und Einzelbewerber diskutiert, über vorgezogene Parteitage und was diese wohl kosten werden, über Online-Abstimmungen, Regionalkonferen- zen und Halbzeitbilanzen. Die Krise der Partei ist historisch – und vielen Mit- gliedern ist dies durchaus bewusst –, die Reaktionen aber sind auf fast schon beängstigende Weise normal: keine Richtungsdebatten, kein Grundsatz- streit, nicht einmal ein Wutausbruch. Es herrscht, vornehm gesprochen, eine „narrative Leere“ in der Partei. Die Sozialdemokraten wissen ganz offensicht- lich nicht mehr, was sie wollen, und auch nicht mehr, was sie wollen sollen. Einst verstand es gerade die Sozialdemokratie wie kaum eine andere poli- tische Kraft, ihr Handeln in einen großen Sinnzusammenhang zu stellen. Heute ist sie sprachlos geworden. Ganz offensichtlich hat sie das verloren, was sie einst ausmachte, ihre große Erzählung. Doch was ist davon heute überhaupt noch zu halten? Ist das Reden von einer politischen Erzählung heute nicht nur noch bloße Nostalgie aus einer Zeit organisierbarer Kollektive, fest geordneter Milieus, mithin aus der Mas- sengesellschaft des 20. Jahrhunderts, die sich im Zuge der Individualisie- rung längst in Luft aufgelöst hat? Weit gefehlt! Schon in den 1950er Jahren stellte Hannah Arendt fest, dass eine kollektive Politik ohne Erzählung fak- tisch unmöglich sei. Nur wer eine zukünftige, eine bessere Gesellschaft aus- male und erzähle, sei in der Lage, einen politischen Wandel zu organisieren und als demokratische Alternative Legitimation zu erfahren. Erzählungen sind aus dieser Perspektive das schöpferische Potential von Politik. Sie eröffnen Möglichkeitsräume und sammeln Mehrheiten. Sie erst strukturieren die politische Wahrnehmung, bieten Leitlinien und Orientie- rungspunkte und fügen die unverbundenen Pinselstriche des Alltagshan- delns zusammen zu einem größeren Bild und einer langfristigen Perspektive. Was aber, lautet dann die entscheidende Frage, macht eine erfolgreiche poli- tische Erzählung letztlich aus? Erfolgreiche große Erzählungen sind durch drei Charakteristika gekenn- zeichnet.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 82 Felix Butzlaff und Robert Pausch

Erstens wirken sie sinn- und identitätsstiftend. Menschen drücken mit ihrer Hilfe aus, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie gehen – Erzählun- gen haben also verschiedene Zeitstrukturen. Menschen und Gemeinschaf- ten erzählen sich ihre Vergangenheit, erklären damit ihre Gegenwart und betonen, was sich wie verändern und was weshalb bleiben soll. Damit sind Erzählungen Diagnose einer aktuellen Lebenslage und zugleich Motivation und Handlungsperspektive für die Zukunft. Ein zweites Merkmal großer Erzählungen ist, was durchaus überraschen mag, Vielstimmigkeit und Unschärfe. Sie bieten damit den Rahmen für eine Vielfalt an Erzählenden und Erzählsträngen, sind flexibel und anpassungs- fähig – sowohl über gesellschaftliche Gruppen als auch über die Zeit hinweg. Denn Erzählungen spiegeln Zeitgefühle und Zeitdiagnosen wider, müssen also permanent verändert und aktualisiert werden. Drittens muss eine große Erzählung, trotz oder gerade wegen ihrer Unschärfe, kohärent sein. Sie muss einen inneren Zusammenhang deutlich machen – ein gemeinsames Ziel und normative Grundlage als Vorausset- zung dafür, dass sie vermitteln kann, wie die verschiedenen Entwicklungen zusammenhängen und wie auf dieser Grundlage Gegenwart und Zukunft zu deuten sind. Eine politische Erzählung ist also weit mehr als die heute oft beschworene (oder gerade von der SPD bemängelte) „Kommunikation“ der „Inhalte“, sie bildet vielmehr deren Voraussetzung. Sie stellt die nötigen Verbindungen her zwischen den Einzelmaßnahmen, vermittelt zwischen Identitäten und Klas- senlagen und schafft so erst Gemeinschaft, wo vorher Fremdheit herrschte. Insbesondere die Sozialdemokraten waren in ihrer Geschichte oft Meister einer solchen politischen Sinnstiftung. Schon am Beginn der Arbeiterbewe- gung stand schließlich nicht die selbstbewusste Klasse für sich, sondern, wie schon Karl Marx bemerkte, ein „buntscheckiges“ Proletariat. Dass hieraus ein politischer Akteur, gar eine Bewegung wurde, war das Produkt eines „Making of the working class“, wie es der britische Historiker E.P. Thompson später nannte. Die Arbeiterklasse entstand also gerade nicht als bloßes Produkt von ökonomischen Zwangsläufigkeiten und scheinbar „objektiven“ Gegeben- heiten. Sie erschuf sich selbst: in Kneipen, durch Zeitungen, vermittelt von Organisatoren und Multiplikatoren. Das Bewusstsein wurde konstruiert, die Solidarität vermittelt – und am Anfang von alledem war die Erzählung: Der Schriftsetzer, der Gießer und der Bergarbeiter begannen ihre Gegenwart gemeinsam zu deuten, Intellektuelle entwarfen strahlende Zukunftsvisionen, und aus den vormals disparaten Teilen formte sich allmählich ein Kollektiv.

Von Bebel bis Brandt: Die Integration gesellschaftlicher Heterogenität

Dieses sozialdemokratische Prinzip der Integration gesellschaftlicher Hete- rogenität fand exemplarisch, und in noch breiteren Bögen, in der Bundesrepu- blik statt. In Willy Brandts historisch gewordenem Credo, mehr Demokratie zu wagen, formuliert in seiner ersten Regierungserklärung am 28. Oktober

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Existenzkrise der Sozialdemokratie 83

1969, steckte einerseits das Postulat einer kulturellen Liberalisierung, das sich an die akademische Jugend richtete, die gegen die rigiden Moralvorstel- lungen der Adenauer-Ära protestierte. Andererseits beinhaltete die sozial- demokratische Demokratisierung der Nachkriegsgesellschaft stets zugleich ein ökonomisches Versprechen an die sozial (noch) Zurückgehaltenen: „Wir wollen die demokratische Gesellschaft, zu der alle mit ihren Gedanken zu einer erweiterten Mitverantwortung und Mitbestimmung beitragen sollen“, versprach Brandt und kündigte damit konkret eines der großen sozialdemo- kratischen Projekte an: die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes und die Ausweitung der Mitbestimmung. Es war die Zeit, in der der sozialdemokratische Finanzminister Karl Schil- ler das Konzept der Globalsteuerung ins Zentrum der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik rückte. Durch die keynesianische Lenkung von Angebot und Nachfrage schien der Fortschritt planbar, die Krisenhaftigkeit der Öko- nomie überwunden und der soziale Aufstieg immer breiterer Schichten wie das logische Produkt. Das Versprechen der demokratischen Teilhabe war folglich nicht bloß Selbstzweck, sondern verband sich mit einer konkreten Veränderungsperspektive – und durch die sozialdemokratische Erzählung der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft gelang es auch hier, heterogene Milieus und Identitäten parteipolitisch zusammenzuführen. Zweierlei lässt sich daran erkennen: Erstens, dass eine Erzählung mehr ist als das bloße Vermitteln bestimmter Inhalte. Und, zweitens, dass sich politi- sche Integration nie automatisch vollzieht. Sie ist immer ein aktiver, narrati- ver Prozess. Doch ist dergleichen heute tatsächlich noch möglich?

Die großen Erzählungen haben heute die anderen

Moderne Gesellschaften, so der häufig zu hörende Einwand unter Hinweis auf das angebliche „Ende der großen Erzählungen“ (Jean-François Lyotard) und die „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz), seien viel zu zerklüftet und komplex, als dass sie sich in all ihrer Vielgestaltigkeit über- haupt noch mittels einer Erzählung organisieren ließen. Dabei zeigt sich gerade heute, dass auch nach ihrem sicher geglaubten Ende die großen Erzählungen ihre integrative Kraft keinesfalls verloren haben. Das Problem der SPD ist nur: Die großen Erzählungen haben heute die anderen. Da ist der Neoliberalismus, der mit seinem Prinzip der Individualität, der Selbstregulierungskraft der Märkte, der Konkurrenz und des Wachstums die Wirtschaftsliberalen mit Sinnangeboten und Handlungsempfehlungen ver- sorgt. Da ist die radikale Rechte, die mit essentialistischem Zugehörigkeits- denken und der Idee eines homogenen Volkes ein ebenso wirkmächtiges Narrativ anbietet. Und da ist die grüne Erzählung, nach der die Freiheitlich- keit demokratischer Systeme nur durch ein radikales Umdenken in ihrem Ressourcenverbrauch erhalten werden kann. Alle drei Erzählungen basieren auf den jeweils eigenen Werten der Individualität, der Volkszugehörigkeit und der Nachhaltigkeit, bieten damit plausible Interpretationen der Gegen-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 84 Felix Butzlaff und Robert Pausch wart und verbinden diese mit einem konkreten Versprechen für die Zukunft: Wenn sich jeder Einzelne anstrengt, dann geht es allen besser. Wenn wir die Gesellschaft vor Fremden schützen, verteidigen wir unseren Wohlstand. Wenn wir ökologisch handeln, bewahren wir die Welt für unsere Kinder. Gerade die letzten beiden Erzählungen haben in den vergangenen Jahren ihre Sammlungskraft eindrucksvoll unter Beweis gestellt, zuletzt bei den Euro- pawahlen in diesem Frühjahr. Rechtspopulisten und Grüne haben dabei ihre politischen Programme mit Menschenbildern und Identitäten verbunden, die glaubhaft das individuelle Wohlergehen mit einer Gegenwartsdiagnose und einer konkreten, kollektiven Handlungsdevise verquickt haben. Demgegen- über steht der begründungslose Eklektizismus der Sozialdemokratie, getreu der Devise: Für jeden irgendetwas! Für die Paketboten gibt es die „Nachun- ternehmerhaftung“, für die Familien das „Gute-Kita-Gesetz“, für die Alten womöglich bald die „Solidarrente“ und für die Jungen ein „Recht auf Homeof- fice“. Die materiellen Bedürfnisse dieser oder jener Klientel werden möglichst befriedigt, was wiederum mit der Hoffnung verbunden wird, dass sich dies in Dankbarkeit an den Wahlurnen übersetzt. Auf die Parzellierung der Gesell- schaft reagiert die Sozialdemokratie also mit einer Parzellierung ihrer Politik.

Individualisierung und Flexibilisierung als untaugliche Antworten

Auch organisatorisch sind Individualisierung und Flexibilisierung seit mitt- lerweile rund dreißig Jahren die Antworten der SPD auf eine individuali- sierte und flexibilisierte Gesellschaft. Durch direkte Partizipation soll „die Basis“ in eine Art unmittelbare Beziehung zur Parteiführung gesetzt werden. Nicht mehr die soziale Gruppe, das Kollektiv oder die Arbeitsgemeinschaft, in der sich Menschen organisieren, bilden den Bezugspunkt der Partei, son- dern allein der Einzelne. Auch wird die Mitgliederbeteiligung nicht mehr als eine Art demokratische Bürgerpflicht, sondern als ein bloßes „Angebot“ verstanden, welches der Einzelne frei und völlig unverbindlich zu seinen Bedingungen ausgestalten kann. Beides basiert auf der Annahme, dass das Umschiffen traditioneller, vermeintlich überkommener Kollektive, Milieus und Ebenen innerhalb von Parteien auch eine Befreiung und Emanzipation von als bevormundend empfundenen Strukturen bedeutet, da es nun – so das Versprechen – tatsächlich auf die Meinung und das Anliegen des Einzelnen ankommt, ohne dass Kompromiss- und Aushandlungsmechanismen diese verwässern. Wenn allerdings viele, im besten Falle alle mitsprechen können, wird die Sammlung kollektiver Gegenmacht (klassischerweise durch die mittlere Funktionärsebene) enorm erschwert. Zweifellos, und hier liegt das Dilemma gerade der SPD, müssen Parteien auf gesellschaftliche Modernisierung und Individualisierung reagieren: Die Bereitschaft zu dauerhaftem Engagement nimmt ab, die Ortsvereine sind in vielen Gegenden Deutschlands nur noch eingeschränkt kampagnenfähig, die Arbeitsgemeinschaften in den seltensten Fällen eine kraftvolle Vertre- tung ihrer jeweiligen Interessen. Doch andererseits führt gerade die Ver-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Existenzkrise der Sozialdemokratie 85 einzelung der Partizipation dazu, dass die Fähigkeit der SPD abnimmt, eine attraktive, kollektive politische Erzählung zu konstruieren. Denn speziell in der sozialdemokratischen Erzählung war die Emanzipation des Einzelnen stets das Ergebnis eines kollektiven Projekts: nicht das starke Individuum, das sich gegen Widerstände durchzusetzen vermochte, sondern die Solidarität der Vielen, die die Schwachen stärkte. Diese Spannung zwischen Individua- lität und Kollektivität konnten die Sozialdemokraten auflösen, weil sie selbst eingebunden waren in zivilgesellschaftliche Netzwerke und Verbindungen, weil die individuellen Mitglieder und Anhänger stets auch fester Bestand- teil des kollektiven Organisationskosmos waren: als Kassierer im Sportver- ein, als Elternsprecher in der Schule, als Mitglied im Kirchenvorstand. Und als Teil dieser Lebenswelt war der sozialdemokratische Funktionär zugleich Interpret und Multiplikator eines spezifisch sozialdemokratischen Sinnzu- sammenhangs mit originärer Sprache und Deutung der Gegenwart. Er oder sie „erzählte” Geschichte und Zukunft der SPD. Wo Partizipation allerdings nur noch als individueller Akt begriffen wird – und zudem die Geschichts- und Grundwertekommissionen der Partei sys- tematisch entwertet werden –, da verschwinden in einer Partei auch die Ressourcen, das Alltagswissen und die Organisationskompetenzen, die es braucht, um eine politische Erzählung überhaupt zu konstruieren. Nun ist die Organisation der alten Sozialdemokratie heute zweifellos nicht einfach wiederzubeleben. Jahrzehnte der Individualisierung haben die Mög- lichkeiten, soziale Kollektive zu begründen, deutlich eingeschränkt. Nur gilt das für andere Parteien genauso. Wenn die Sozialdemokratie also wieder als kraftvolle Erzählerin der eigenen Vergangenheit und Zukunft wahrgenom- men werden will, muss sie auf ihre organisationspolitischen Probleme end- lich eine überzeugende Antwort finden. Als Partei, die sich noch immer als wesentlicher Teil einer linken Zivilgesellschaft begreift, müsste sie insbeson- dere auf lokaler Ebene wieder belastbare Verbindungen zu Gewerkschaften, Kirchen, Initiativen und NGOs entwickeln, um gemeinsame Gegenwartsdia- gnosen und Handlungsperspektiven zu entwickeln. Nur wenn es hier gelingt, ein Gefühl der gemeinsamen Bewegung zu schaffen, wird sie wieder als legi- time und überzeugende politische Erzählerin wahrgenommen werden.

Sozialer Protest als Gefahr – eine verheerende Haltung

Es ist genau dieser Eindruck einer Verbindung aus Partei und politischen Vorfeldorganisationen (Vereinen, Initiativen, Bewegungen), der Rechtspo- pulisten und Grünen derzeit ihr politisches Momentum verleiht. Rechte zivil- gesellschaftliche Organisationen bilden das Unterstützerumfeld der AfD, Fridays for Future trägt die Forderungen der Grünen auf Schildern durch die Straßen. Wenn dagegen etwa in Berlin Zehntausende gegen steigende Mie- ten demonstrieren, dann scheint es, als fühlten sich die regierenden Sozial- demokraten hiervon zuerst bedroht. Den sozialen Protest sieht man nicht als Chance, sondern als Gefahr – eine verheerende Haltung.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 86 Felix Butzlaff und Robert Pausch

Neben der Organisationsfrage kommt es aber vor allem auf die inhaltliche Dimension an. Statt sich wie in den letzten Jahren als bloße Lieferantin sozial- politischer Dienstleistungen zu begreifen, müsste die SPD endlich wieder das gemeinsame Gestalten grundlegender sozialer Veränderungen in den Mit- telpunkt rücken. Zwar lässt sich eine neue Erzählung der Sozialdemokratie nicht einfach am Reißbrett entwerfen. Aber doch lassen sich in der Geschichte der Partei etliche bislang kaum bedachte Elemente erkennen, die wichtige Anknüpfungspunkte bieten für die drängenden Probleme der Gegenwart wie auch für eine zukunftsträchtige sozialdemokratische Erzählung. Da ist zum einen der reflexive Fortschrittsbegriff, den die Sozialdemokra- ten in den 1980er Jahren unter Erhard Eppler – und im Übrigen auch unter Oskar Lafontaine – für sich entdeckten. In der produktiven Auseinander- setzung mit der damals entstehenden Ökologiebewegung begannen die Sozialdemokraten, das eigene unreflektierte Fortschrittspathos der Indus- triemoderne infrage zu stellen. Sie sahen die Ambivalenzen einer wachs- tumsgetriebenen Ökonomie, die auf der einen Seite die Voraussetzungen des (eigenen) sozialen Aufstiegs schafft, aber zugleich ihre eigenen Grundlagen unterminiert – und zudem die Kosten ihres eigenen Wohlstands externali- siert. Damals führten die Sozialdemokraten eine durchaus anspruchsvolle Debatte darüber, welche Antwort die Partei der Arbeiterbewegung auf die eher bürgerliche Umweltbewegung geben sollte und wie sich Sozialismus und Ökologie am Ende des industriellen Zeitalters zueinander verhalten. Heute demonstrieren SPD-Minister zwar gemeinsam mit Fridays for Future – und damit faktisch gegen sich selbst –, doch scheint es damit zumeist auch schon getan. Eine intellektuelle Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit den systemischen Imperativen der Klimakrise ist kaum zu beobachten. Vielmehr versteckt sich hinter der bloßen Affirmation des Protests lediglich die eigene Ratlosigkeit. Schaut man in der SPD-Geschichte noch weiter zurück, wäre endlich der freiheitliche Sozialismus Eduard Bernsteins wiederzuentdecken, der – wie der kluge Tom Strohschneider in seinem neuen Buch „Eduard Bernstein oder: Die Freiheit des Andersdenkenden“ schreibt – oft zu Unrecht abfällig als blo- ßer „Revisionismus“ betrachtet wird. Dabei zielte Bernsteins Verständnis von Sozialismus stets darauf, die gesellschaftliche Macht gegen die kapitalisti- sche Aneignungslogik zu stärken und dieser im Hier und Jetzt Erfolge abzu- trotzen. Den Weg dahin sah Bernstein in einem demokratischen und ergeb- nisoffenen Transformationsprozess, nicht in einem tumben Antikapitalismus der radikalen Gesten. Sein leuchtendes Ziel waren die Selbstbestimmung und der Freiheitsgewinn des Einzelnen, ein Leben möglichst frei von Abhängig- keiten. Wenn die Sozialdemokraten heute über die digitale Arbeitswelt und die nächste Welle der Automatisierung diskutieren, sollten sie sich an dieses Denken erinnern: Der Kampf um höhere Löhne mag ehrenwert und eingeübt sein. Doch wer es ernst meint mit einer linken Erzählung von Freiheit und Selbstbestimmung, der (oder die) sollte gerade heute mehr über Arbeitszeit- verkürzungen sprechen, über die Viertagewoche – und der sollte gerade dort, wo die Krise des Marktprinzips für jeden zu erkennen ist, mit Bernstein über

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Die Existenzkrise der Sozialdemokratie 87

Genossenschaftlichkeit als zumindest eine von mehreren nicht-marktförmi- gen Alternativen zum Kapitalismus nachdenken, um endlich wieder „Mehr Demokratie zu wagen“ – gerade auch in der wirtschaftlichen Sphäre. Weiterreichende Auskunft dazu erhält man in der langen SPD-Geschichte auch bei Rudolf Hilferding und (dem Bernstein-Gegenspieler) Karl Kautsky. Diese ökonomischen Cheftheoretiker ihrer Zeit hatten immerhin noch eine präzise Vorstellung davon, was man in der Wirtschaft verändern müsste, um zu der von der SPD angestrebten „freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft“ zu gelangen. Und auch im heute immer wieder beschworenen Godesberger Programm von 1959 (gültig immerhin über 30 Jahre, bis 1989) wie auch in der Politik der sozialliberalen Koalition finden sich viele weitrei- chende Pläne für eine Demokratisierung der Wirtschaft. Schon diese wenigen programmatischen Anleihen zeigen die Möglich- keit, aus dem überreichen Fundus der sozialdemokratischen Bewegung eigene historische Kontinuitäten herauszustreichen. Genau dies ist schließ- lich ein Erfolgsrezept gerade von Rechtspopulisten und Grünen: dass sie mehr oder minder glaubhaft betonen, ihren eigenen Werten stets treu geblie- ben zu sein. Umso mehr kommt es für die SPD heute darauf an, an einer konsistenten Erzählung auf Basis ihrer eigenen Werte zu arbeiten. Einer Erzählung, die mehr ist als die bloße Addition der nächsten Vorhaben. Ver- mutlich aber werden die Sozialdemokraten in den nächsten Monaten wie- der nur über das Regieren und Opponieren diskutieren; sie werden über den Zwang der Verantwortung streiten und darüber, ob man sich nur in der Opposition wirklich regeneriert. Eines sollten sie dabei aber stets beden- ken: Ohne politische Erzählung, also ohne Zukunftsvorstellung und Sinn- perspektive, ist in der Politik am Ende alles nichts.

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Abstracts und Leseproben unter: M i  e l w e g   Zeitschrift des Hamburger www.mi elweg.de Instituts für Sozialforschung

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Wertschöpfung statt Wertabschöpfung: Für eine Ökonomie der Hoffnung Von Mariana Mazzucato

ie weltweite Finanzkrise, die 2008 begann und deren Nachwirkun- D gen wir noch auf Jahre hinaus spüren werden, hat überall zu Kritik am modernen kapitalistischen System geführt: Es sei zu „spekulativ“; es belohne Rent-Seeking anstelle wahrer Wertschöpfung und es habe das ungezügelte Wachstum des Finanzsektors zugelassen. All das habe dazu geführt, dass der spekulative Austausch von Finanzanlagen lukrativer ist als die Investi- tionen, die zu neuen Sachgütern und Arbeitsplätzen führen. Debatten über nicht nachhaltiges Wachstum sind vernehmlicher geworden, und man sorgt sich dabei nicht nur um die Wachstumsrate an sich, sondern auch um die Richtung, die sie nimmt. Zu den Rezepten für tiefgreifende Reformen dieses aus dem Ruder gelaufe- nen Systems gehören unter anderem: dafür zu sorgen, dass die Finanzbran- che sich mehr auf langfristige Investitionen konzentriert; durch Änderungen von Governance-Strukturen dafür zu sorgen, dass Unternehmen weniger auf Aktienkurse und Quartalsergebnisse fixiert operieren; eine stärkere Besteu- erung schneller Spekulationsgewinne; eine gesetzliche Deckelung exzessi- ver Vergütungen für das Management. Diese Kritik ist durchaus wichtig. Allerdings wird sie erst greifen und wirk- liche Reformen am Wirtschaftssystem hervorbringen, wenn sie durch eine Diskussion über die Prozesse wirtschaftlicher Wertschöpfung geerdet wird. Es genügt nicht, sich für weniger Wertabschöpfung und mehr Wertschöpfung stark zu machen. Zunächst muss der Begriff des „Werts“, der früher im Kern ökonomischen Denkens stand, wiederbelebt und besser verstanden werden. Der Wert hat sich verändert, von einer mit der Produktionsdynamik (Arbeitsteilung, Produktionskosten) verhafteten Größe im Kern wirtschafts- theoretischer Überlegungen in eine subjektive Größe, die an die „Präferen- zen“ wirtschaftlicher Akteure gebunden ist. Man interpretiert zahlreiche Übel, wie etwa die stagnierenden Reallöhne, als bewusst getroffene „Ent- scheidungen“ der Akteure in diesem System. Auch die Arbeitslosigkeit sieht

* Der Beitrag basiert auf dem letzten Kapitel von „Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern“, dem neuen Buch der Autorin, das soeben im Campus Verlag erschienen ist. Die Über- setzung aus dem Englischen stammt von Bernhard Schmid.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 90 Mariana Mazzucato man als Folge einer bewussten Entscheidung der Beschäftigten zwischen Arbeit und Freizeit. Desgleichen wird die Unternehmerschaft, dieser viel gepriesene Motor des Kapitalismus, eher als das Resultat individueller Ent- scheidungen betrachtet denn als Frucht des Produktionssystems beziehungs- weise der kollektiven Anstrengungen, in die sie eingebettet ist. Gleichzeitig ist der Preis zum Indikator für Wert geworden: Solange ein Gut auf dem Markt gekauft und verkauft wird, muss es auch einen Wert haben. So bestimmt nicht eine Werttheorie den Preis, sondern die Preistheorie den Wert.

Wohlstandsschöpfung statt -abschöpfung

Einhergehend mit dieser fundamentalen Veränderung des Wertgedankens hat heute ein anderes Narrativ Fuß gefasst. Ganz auf Wohlstandsschöpfer, Risikonahme und Unternehmerschaft fixiert, hat sich dieses Narrativ im poli- tischen wie im öffentlichen Diskurs breitgemacht. Es grassiert mittlerweile derart, dass sich ganz unbeabsichtigt selbst „progressive“ Systemkritiker seiner bedienen. Als in Großbritannien 2015 die Labour Party die Wahlen verlor, führte die Parteiführung das darauf zurück, dass man „Wohlstands- schöpfer“ nicht berücksichtigt hätte.1 Und wen meinten sie damit? Geschäfte und die Unternehmer, die sie führten. Sie stützten damit den Gedanken, Wert werde im privaten Sektor geschaffen und vom öffentlichen Sektor ver- teilt. Aber wie kann eine Partei, die das Wort „Labour“ im Namen hat, die Arbeiter und den Staat als nicht weniger wichtige Teile des Prozesses der Wohlstandsschaffung übersehen? Derlei Annahmen über die Wohlstandsschöpfung haben sich etabliert, und niemand stellt sie in Frage. Infolgedessen haben die, die sich als Schöpfer des Wohlstands gerieren, heute die alleinige Aufmerksamkeit des Staats. Gelun- gen ist ihnen das mit dem mittlerweile sattsam bekannten Mantra: weniger Steuer, weniger Regulierung, weniger Staat und mehr Markt. Mit dem Verlust unserer Fähigkeit, den Unterschied zwischen Wertschöp- fung und Wertabschöpfung zu erkennen, ist es für so einige leichter gewor- den, sich als Wertschöpfer zu bezeichnen und im Rahmen dieses Prozesses Wert zu extrahieren. Zu verstehen, dass wir von Narrativen über Wertschöp- fung – wenn auch nicht über den Wert selbst – umgeben sind, ist aber auch unabdingbar für die künftige Lebensfähigkeit des Kapitalismus an sich. Um eine wirkliche Veränderung anbieten zu können, müssen wir über die Lösung vereinzelter Probleme hinausgehen. Das bedeutet, ein Rahmenkon- zept zu entwickeln, das uns die Herausbildung einer neuen Form von Volks- wirtschaft ermöglicht, die tatsächlich dem Gemeinwohl dient. Es genügt nicht, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) neu zu definieren, um Indikatoren zur Lebensqualität, egal ob Glück,2 Wohlfahrt, unbezahlte Pflegearbeit und

1 Sowohl der ehemalige britische Premierminister Tony Blair als auch Chuka Umunna, der bei vielen als der kommende Mann der Labour Party gilt, meinten, Labour sollte die Geschäftswelt als „Wohl- standsschöpfer“ akzeptieren. 2 Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, Abschlussbericht, http://ec.europa.eu, September 2009.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Für eine Ökonomie der Hoffnung 91 kostenlose Informationen, Bildung und Kommunikation über das Internet miteinzubeziehen.3 Und es genügt auch nicht, den Reichtum zu besteuern. So wichtig solche Maßnahmen für sich genommen sind, die große Heraus- forderung, den kollektiven Beitrag zur Wertschöpfung zu definieren und zu messen, gehen sie nicht an. Aber nur so können wir verhindern, dass Wert- abschöpfung weiterhin als Wertschöpfung durchgeht.

Das fatale Preis-gleich-Wert-Denken

Der inzwischen herrschende Gedanke, der Preis definiere den Wert und Märkte seien das beste Mittel zur Bestimmung der Preise, hat alle möglichen üblen Folgen. Vier davon ragen dabei heraus. Erstens ermutigt dieses Narrativ diejenigen, die in der Finanzbranche und anderen Sektoren der Wirtschaft lediglich Wert abschöpfen. Die entschei- denden Fragen hierzu – welche Arten von Aktivitäten fügen der Volkswirt- schaft Wert hinzu und welche extrahieren solchen nur zugunsten der Ver- käufer – werden erst gar nicht gestellt. Der gegenwärtigen Denkart zufolge gelten, da der Preis den Wert bestimmt, Finanzhandel, Wucherkredite und die Finanzierung spekulativer Preisblasen auf dem Immobilienmarkt alle- samt als wertschöpfend: Wo ein Geschäft zu machen ist, ist auch Wert. Mit demselben Recht kann ein Pharmakonzern ein Medikament problemlos um das Hundert- oder Tausendfache seiner Produktionskosten verkaufen, schließlich bestimmt der Markt seinen Wert. Dasselbe gilt für CEOs, deren Vergütung das 340fache des Lohns eines Durchschnittsbeschäftigten beträgt (bei S&P-Unternehmen für 2015).4 Der Markt hat den Wert ihrer Dienste fest- gelegt – mehr ist dazu nicht zu sagen. Ökonomen wissen sehr wohl, dass einige Märkte alles andere als fair sind, nehmen wir nur Google und sein Quasimonopol auf dem Werbemarkt bei Suchmaschinen. Aber viel zu oft stehen sie unter dem Bann des Narrativs von der Effizienz der Märkte, um sich Gedanken darüber zu machen, ob es sich bei den Gewinnen um zu Recht verdiente Profite oder lediglich um Renten handelt. Wie sollten sie auch, wenn die Unterscheidung zwischen Profiten und Renten fehlt? Dieses Preis-gleich-Wert-Denken hält Unternehmen dazu an, in erster Linie Finanzmärkte und Investoren im Auge zu haben und anderen Stakeholdern so wenig wie nur möglich zu bieten. Es ignoriert dabei die Realität der Wert- schöpfung als kollektiven Prozess. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass alles, was das Geschäft eines Unternehmens anbelangt, angefangen mit den Inno- vationen und der technischen Entwicklung, auf der es aufbaut, aufs Engste verwoben ist mit Entscheidungen gewählter Volksvertreter, Investitionen von Schulen, Universitäten, Behörden, ja selbst Initiativen von Non-Profit-

3 Diane Elson, Macroeconomics and Macroeconomic Policy from a Gender Perspective, Public Hea- ring of Study Commission on Globalization of the World Economy-Challenges and Responses, Deut- scher Bundestag, Berlin, 18.2.2002. 4 „The Guardian“, 17.5.2016.

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Einrichtungen. Konzernchefs sagen daher nicht die ganze Wahrheit mit ihrer Behauptung, Aktionäre seien die einzigen Risikonehmer und verdienten deshalb den Löwenanteil der Gewinne aus einem Geschäft. Zweitens entwertet der konventionelle Diskurs tatsächliche wie potenti- elle Wertschöpfer außerhalb der Privatwirtschaft und schreckt sie ab. Es ist nicht einfach, Selbstbewusstsein zu entwickeln, wenn man ständig gesagt bekommt, man baue nur Mist und/oder sei Teil des Problems. Und das ist nicht selten der Fall für im öffentlichen Sektor Beschäftigte, ob es sich dabei nun um Pflegepersonal handelt, Behördenbeschäftigte oder Lehrer. Die sta- tischen Metriken, mit denen man den Beitrag des öffentlichen Sektors misst, und der Einfluss der Neuen Politischen Ökonomie auf den Gedanken vom effizienteren Staat haben vielen im öffentlichen Sektor Beschäftigten das Gefühl gegeben, nicht so gut zu sein wie die Leute aus der Privatwirtschaft. Das kann einen Bürokraten schon dazu bringen, seinen Hut zu nehmen und in den privaten Sektor zu gehen, wo oft auch noch mehr Geld zu verdienen ist. So sehen sich Akteure des öffentlichen Sektors genötigt, dem privaten Sektor nachzueifern, den fast ausschließlich Projekte mit schnellen Renditen interessieren. Schließlich bestimmt der Preis den Wert. Welcher Staatsdiener würde unter solchen Umständen den Finger zu heben wagen, seine Behörde könnte die Führung übernehmen, ein Problem mit einer langfristigen Per- spektive lösen, alle Seiten des Unterfangens (nicht nur die Profitabilität) durchdenken, die nötigen Mittel (geborgt, falls nötig) ausgeben und – jetzt ganz leise – öffentlichen Mehrwert schaffen. So überlässt er die großen Ideen eben dem privaten Sektor, dem er, wie man ihm gesagt hat, die Steigbügel halten soll. Und wenn dann Apple oder ein anderes Unternehmen aus der Privatwirtschaft seinen Aktionären Milliarden und seinem Topmanagement Millionen einbringt, dann wird er wahrscheinlich nicht auf den Gedanken kommen, dass diese Unternehmen größtenteils aus der kollektiven Arbeit anderer Kapital schlagen – seien das Behörden, Non-Profit-Einrichtungen oder Leistungen der Bürgergesellschaft, nicht zuletzt der Gewerkschaften, die sich seit jeher für die Fortbildung der Arbeiterschaft stark gemacht haben.

Wie wir Profite und Renten verwechseln

Drittens verwirrt dieses Marktnarrativ politische Entscheidungsträger. Im Großen und Ganzen wollen Politiker aller Parteien ihren Gemeinschaf- ten ebenso helfen wie ihrem Land. Die beste Methode dazu, so denken sie, bestehe in einem erhöhten Vertrauen in die Marktmechanismen – seitens der Politik brauche es da bestenfalls ein paar Korrekturen am Rande. Wichtig ist letztlich, als progressiv und „geschäftsfreundlich“ dazustehen. Aber ange- sichts eines ausgesprochen begrenzten Verständnisses davon, wo und wie Wert geschaffen wird, sind Politiker und allzu viele Staatsdiener wie Wachs in den Händen derer, die sich ihnen als Wertschöpfer präsentieren. Regulie- rungsbehörden sehen sich daher von der Lobby der Geschäftswelt zu politi- schen Maßnahmen verleitet, die die Pfründenbesitzer noch reicher machen,

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Für eine Ökonomie der Hoffnung 93 nur dass die erhöhten Profite kaum zu verstärkter Investitionstätigkeit führen. Zu den Beispielen dafür gehört die Art und Weise, wie sich der Staat in einem Gutteil der westlichen Welt dazu hat überreden lassen, die Steuern auf Veräußerungsgewinne zu reduzieren, obwohl es keinen Grund dafür gibt, wenn das Ziel die Förderung langfristiger statt kurzfristiger Investitionen ist. Darüber hinaus waren es Lobbyisten mit ihren Innovationsmärchen, die die Lizenzbox durchgedrückt haben, die Steuern aus Profiten von zwanzig- jährigen Patentmonopolen reduziert – obwohl ihre wesentliche Auswirkung gerade mal darin besteht, die Steuereinkünfte des Staats zu senken, anstatt die Art von Investitionen anzukurbeln, die überhaupt erst zu den Patenten geführt haben. All das führt letztlich nur dazu, dass der Volkswirtschaft Wert entzogen und die Zukunft für – fast – alle etwas weniger attraktiv wird. Ohne ein kla- res Verständnis des kollektiven Wertschöpfungsprozesses wird der öffent- liche Sektor auf diese Weise „vereinnahmt“ – hingerissen von Geschichten über Wohlstandsschöpfung, der wir die regressive Steuerpolitik verdanken, die die Ungleichheit nur verstärkt. Viertens und letztens zeigt sich die Verwechslung von Profiten und Renten in unserer Messweise des Wachstums selbst – im BIP. Und genau hier rächt sich die Produktionsgrenze: Wenn alles, was einen Preis hat, Wert darstellt, dann ist die Art und Weise, wie wir unsere gesamtwirtschaftlichen Volks- rechnungen erstellen, nicht in der Lage, zwischen Wertschöpfung und Wert- abschöpfung zu unterscheiden, was dazu führt, dass Politik, die auf Ersteres abzielt, unter dem Strich doch zu Letzterem führt. Das gilt nicht nur für die Umwelt, wo das Wegräumen des Drecks definitiv zu einer Steigerung des Bruttoinlandsproduktes führt (da der Aufwasch bezahlt werden will), wäh- rend eine sauberere Umwelt nicht notwendigerweise zu einem Anwach- sen des BIP führen muss (sie kann sogar einen Rückgang des BIP zur Folge haben, wenn es dazu führt, dass weniger „Dinge“ produziert werden). Wie wir gesehen haben, gilt das auch für die Finanzwelt, wo die Unterscheidung fehlt zwischen Finanzdienstleistungen, die für langfristige Kredite sorgen, und denen, die einfach andere Teile des Finanzsektors bedienen. Nur eine klare Wertdebatte, egal in welchem Sektor, auch dem öffentli- chen, lässt uns das Extrahieren von Renten erkennen, und nur so berauben wir dieses Phänomen seiner politischen und ideologischen Kraft.

Was sind Märkte – und wie funktionieren sie?

Eine Neudefinition des Werts muss mit einer eingehenderen Diskussion des Konzepts beginnen, auf dem ein Gutteil unserer heutigen Politik fußt. Zuerst, und das ist das Wichtigste: Was sind Märkte? Märkte existieren nicht von sich aus. Sie werden von der Gesellschaft geformt und sind Ergebnisse von Prozessen mit zahlreichen Akteuren in einem spezifischen Kontext. Märkte so zu sehen wirkt zwangsläufig verän- dernd auf unsere Auffassung von staatlicher Politik.

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Zweitens: Was sind öffentlich-private Partnerschaften? Oder präziser gesagt, welche Art von öffentlich-privaten Partnerschaften werden einer Gesell- schaft die gewünschten Resultate bescheren? Zur Beantwortung dieser Frage sollten sich Ökonomen von ihrem Wunsch verabschieden, Physiker zu sein, und sich stattdessen der Biologie zuwenden. Und als solche sollten sie sich vor Augen halten, dass funktionierende Partnerschaften eher solche sind, die ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Ökosystem nachzuahmen versuchen als ein parasitäres Räuber-Beute-System. Wie Karl Polanyi schrieb, ist das „wirtschaftliche System [...] in die all- gemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet“; die Märkte sind „bloß ein zusätzlicher Faktor eines institutionellen Rahmens, der [...] von der gesellschaftlichen Macht kontrolliert und reguliert“ wird.5 Märkte sind Ergebnisse komplexer Prozesse von Interaktionen zwischen wirtschaftli- chen Akteuren; der Staat ist nur einer davon. Wobei hier nicht von Normen, sondern von Strukturen die Rede ist – davon, wie neue sozio-ökonomische Arrangements zustande kommen. Der bloße Fakt, dass der Markt von unter- schiedlichen Akteuren gemeinsam gestaltet wird – darunter eben auch, und das mit wesentlicher Beteiligung, die politischen Entscheidungsträger –, gibt Hoffnung, dass eine bessere Zukunft tatsächlich machbar ist. Wir können Märkte auf eine Art und Weise ausformen, die zu wünschens- werten Ergebnissen führt. Nehmen wir etwa „grünes Wachstum“ oder eine „soziale“ Gesellschaft, deren Fürsorglichkeit Einfluss nimmt auf die Art von sozialer und physischer Infrastruktur, die wir bauen. Desgleichen können wir spekulativen kurzfristigen Finanzgeschäften erlauben, über langfristige Investitionen zu triumphieren. Selbst Adam Smith, der wohl bekannteste Protagonist der Idee der Markt- wirtschaft, war der Ansicht, dass Märkte zu formen sind. Im Gegensatz zur modernen Interpretation seines Werks im Sinne des „Laissez-faire“ (den Markt machen lassen), bestand seiner Auffassung nach die richtige Art von Freiheit keineswegs in der Abwesenheit des Staats als ordnender In- stanz, sondern vielmehr in der Befreiung von den Renten. Smith wäre ver- dutzt gewesen ob unserer Auffassung von wirtschaftlicher Freiheit als einem Minimum an staatlicher (nicht privater) Aktivität. Sein Werk „Wohlstand der Nationen“ ist nicht zuletzt deshalb ein derartiger Wälzer, weil es selbst in jener simpleren Wirtschaftswelt derart viele Möglichkeiten des Rent-Seeking zu diskutieren gab. Er verwandte viele Seiten auf die Unterscheidung zwi- schen produktiven und unproduktiven Tätigkeiten, wobei er – durchaus oft simplistisch – manche innerhalb der Produktionsgrenze verortete und andere außen vorließ. Marx ging da subtiler vor, indem für ihn nicht der Sektor an sich zählte, sondern wie dessen Interaktion mit der Wertschöpfung und dem wichtigen Konzept seiner Analyse, dem Mehrwert, genau beschaffen war. Polanyi hilft uns, über beide, Marx und Smith, hinauszusehen. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, welche Aktivitäten innerhalb und welche außer-

5 Karl Polanyi, The Great Transformation, The Political and Economic Origins of Our Time [1944], Boston 2001, S. 101. Siehe dazu auch Peter B. Evans, Embedded Autonomy: States and Industrial Transformation, Princeton 1995.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Für eine Ökonomie der Hoffnung 95 halb der Produktionsgrenze anzusiedeln seien, können wir heute darauf hin- arbeiten, dass alle Aktivitäten – sowohl die in der Real- als auch die in der Finanzwirtschaft – zu den gewünschten Ergebnissen führen: Wenn Quali- tät und Charakteristika einer bestimmten Aktivität wahren Wert schöpfen helfen, dann sollte sie dafür belohnt werden und innerhalb der Produktions- grenze liegen.

Wie schaffen wir den gerechten Deal – zwischen Privatwirtschaft und Staat?

Wir müssen die Politik zur Vermittlung von „Deals“ ermutigen, die symbioti- sche öffentlich-private Partnerschaften zur Folge haben. Im Falle der Finanz- wirtschaft würde das bedeuten, langfristige Investitionen kurzfristigen (etwa mittels einer Finanztransaktionssteuer) den Vorzug zu geben. Aber mehr noch würde es auf die Gründung neuer finanzieller Institutionen (mis- sionsorientierter staatlicher Investitionsbanken zum Beispiel) hinauslaufen, die für die strategische, langfristige Finanzierung bei hochriskanten Inves- titionen sorgen, wie sie für die – jeder Wertschöpfung zugrunde liegenden – Forschung und Entwicklung von so entscheidender Bedeutung sind. Jenseits des Finanzsektors sollten Patentrecht und -regulierung Big Pharma dazu anhalten, ihre Forschung auf dringend benötigte Medika- mente zu richten, anstatt – wie das heute so oft der Fall ist – Wettbewerb und Innovation durch starke und weit gefasste Patente zu blockieren. Außerdem sollten die Preise für Medikamente den übergeordneten „Deal“ zwischen öffentlichen und privaten Akteuren widerspiegeln, anstatt den Steuerzahler zweimal zur Kasse zu bitten. Darüber hinaus sollte der Staat den übermäßi- gen Aktienrückkauf im Sektor in Frage stellen, bevor er sich zu Geschenken entschließt. Und ganz allgemein sollte der Staat jede Unterstützung mit der Kondition einer verstärkten Investitionstätigkeit verknüpfen, um den Trend zu Hortung und Finanzialisierung einzudämmen. Im Sektor Informations- und Kommunikationstechnologie ist mehr Nach- denken über eine geeignete Besteuerung für Firmen wie Uber und Airbnb gefordert – Firmen, die es nie hätte geben können ohne öffentlich finanzierte Technologien wie GPS und Internet und die sich Netzwerkeffekte zunutze gemacht haben, um ihre potentiell hochprofitablen Pioniervorteile umzuset- zen. Es sollte klargestellt werden, dass viele – nicht nur die Beschäftigten der jeweiligen Unternehmen – zu ihrem Wettbewerbsvorteil beigetragen haben. Wie wir Technologie verwalten, wirkt sich auf die Verteilung ihres Nutzens aus. Die digitale Revolution bedarf der partizipativen Demokratie – der Bür- ger, nicht der Großkonzern oder der Staat, sollte im Zentrum technologischer Veränderung stehen. Nehmen wir nur die intelligenten Stromzähler oder Smart-Meter: Evgeny Morozov vertritt hier die Ansicht, dass wir, falls es sich dabei um geschlos- sene Boxen handelt, die Informationen übertragen, „im Wesentlichen wei- tere und zunehmend geschlossene Systeme einführen, die lediglich Renten

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 96 Mariana Mazzucato aus einer Infrastruktur zu beziehen versuchen, die wir alle mitfinanzieren, ohne uns, die Bürger, ebendiese Infrastruktur für unsere eignen Zwecke und zur Kontrolle des Staats nutzen zu lassen, sei es die Staatsverwaltung, sei es die Regierung selbst“.6 So können wir uns auch hinausbewegen über die Auffassung von öffent- lichen Gütern als bloßen „Korrekturen“, die sich auf Bereiche beschränken sollten, die (dank der positiven Externalitäten, die sie schaffen) der Reparatur bedürfen, hin zu „Planzielen“. Dazu bedarf es jedoch eines neuen Verständ- nisses von Politik als Instrument zur aktiven „Schaffung“ und „Gestaltung“ von Märkten, die öffentlichen Wert schaffen und damit der Gesellschaft im weiteren Sinne nützen. Wenn wir dafür sorgen, dass sich öffentlicher Wert besser rechtfertigen, schätzen und beurteilen lässt, würde das politischen Entscheidungsträgern potentiell ein neues Vokabular eröffnen. Statt lediglich „Regulierer“ des Gesundheitswesens oder der digitalen Agenda zu sein, hätte die Politik als Mitschöpfer dieser Fürsorge und der digitalen Agenda mehr berechtigten Anspruch darauf, dafür Sorge zu tragen, dass der Nutzen allen zugänglich ist. Ein anderes Vokabular und neue Rahmenbedingungen für die Politik wür- den darüber hinaus die Zaghaftigkeit reduzieren, die die Politiker nun seit Jahrzehnten davon abhält, dringend benötigte infrastrukturelle Projekte zu finanzieren – eine Zaghaftigkeit, die auch zu einer Reaktion auf die Krise von 2008 geführt hat, die fiskalisch wie legislativ kaum über das bloße Mini- mum hinausging. Ist das Potential von Exekutive und Legislative, zum Wohl der Gesellschaft zu wirken, erst einmal in seinem ganzen Ausmaß erkannt, können gewählte Amtsträger auch damit beginnen, höheren, aber durch- aus noch realistischen Erwartungen gerecht zu werden. Junge, ehrgeizige Menschen könnten sich mehr und mehr für eine politische oder eine Lauf- bahn im Staatsdienst entscheiden statt für einen Job in der „City“ oder in der Geschäftswelt – aber nur, wenn sie das Gefühl haben, dort einen wertvollen Beitrag zu leisten, der entsprechend geschätzt wird.

Volkswirtschaft mit Mission: Welche Wachstumsrichtung wollen wir?

Die wichtigste Frage bleibt auf dem Tisch: Welche Richtung soll die Wirt- schaft einschlagen, um der größtmöglichen Zahl von Menschen Nutzen zu bringen? Ein maximales Wachstum des BIP, um eine der heutigen Standardantwor- ten zu nehmen, ist viel zu krude, um hilfreich zu sein, lässt es doch all die ernsthaften Fragen zum Wert außen vor. Eine weitere landläufige Antwort ist die fiskalische Integrität, der zufolge der Staat für einen ausgegliche- nen Haushalt oder gar – wie in Deutschland – für einen Überschuss sorgt. Das freilich ist nicht nur krude, sondern schlicht verkehrt. Das Streben nach einer Reduzierung der Haushaltsdefizite nach der Rezession von 2009 steht

6 Evgeny Morozov, Democracy, Technology and City, Transkript eines CCCB-Vortrags, Barcelona 2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Für eine Ökonomie der Hoffnung 97 noch heute einem richtigen europäischen Aufschwung im Weg. Ein mög- lichst niedriges Haushaltsdefizit geht am Ziel vorbei. Die eigentliche Frage ist, wie Ausgaben und Investitionen der öffentlichen Hand für langfristiges Wachstum sorgen können. Und auch wenn derlei Investitionen kurzfristig höhere Defizite erfordern können, werden sie auf lange Sicht die Staatsschul- denquote im Zaum halten, denn durch die Auswirkungen wertschöpfender Investitionen wird sich das BIP erhöhen. Das ist auch der Grund dafür, dass so viele Länder mit nach wie vor bescheidenen Haushaltsdefiziten ebenfalls eine hohe Staatsverschuldungsquote haben können. Die Wachstumsfrage muss sich entsprechend weniger auf die Wachstums- rate an sich konzentrieren als auf die Richtung, die das Wachstum nimmt. Eine offenere Diskussion über den wirtschaftlichen Wert könnte, so glaube ich, auch zu den Diskussionen über die Richtung beitragen. Progressive Argumente gegen Austeritätsmaßnahmen begnügen sich häufig mit dem Ruf nach Investitionen in die Infrastruktur (durch „schaufelfertige“ Projekte), als wären sie die Allheilmittel. Aber das ist eine ausgesprochen bescheidene Forderung. Die Diskussion über infrastrukturelle Maßnahmen und ihre Beziehung zu größeren sozialen Zielen ist kindisch. Straßen und Brücken? Ist das alles? Ehrgeizige, von einer Vision getragene öffentliche Investitionen dür- fen nicht auf eine Liste traditioneller Projekte der physischen Infrastruktur beschränkt bleiben. Der erste Schritt sollte darin bestehen, ernsthaft über das eigentliche Problem nachzudenken. So bedarf etwa ein grüner Wandel nicht nur einer grünen Infrastruktur, sondern auch einer klaren Vision des- sen, was grünes Leben bedeutet. Es braucht dazu einen Wandel in allen Sek- toren, auch den traditionellen wie etwa der Stahlindustrie, die ihren Einsatz von kritischen Rohstoffen senken muss.7

Was wir von der Apollo-Mission für die Umweltfrage lernen können

Eine wesentliche Art und Weise, einige der dringlichsten gesellschaftlichen Probleme von heute anzugehen, besteht darin, aus historischen Perioden zu lernen, in denen man sich ambitioniert kühne Ziele zur Lösung schwieriger technologischer Probleme gesteckt hatte. Nehmen wir nur zwei Lektionen aus der Mondmission. Zunächst einmal bauten alle involvierten Behörden, von der NASA bis zur Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), ihre eigenen Kapa- zitäten und Kompetenzen aus. Man vergab weder seine Aufgaben noch das daraus resultierende Wissen an den privaten Sektor. Diese Praxis sollten wir auf keinen Fall vergessen, wenn wir uns die gegenwärtigen modischen Arrangements für öffentlich-private Partnerschaften ansehen. Sie werden erst als dynamische wissensintensive Kollaborationen Erfolg haben, bei

7 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hg.), Deutsches Ressour- ceneffizienzprogramm II – Programm zur nachhaltigen Nutzung und zum Schutz der natürlichen Ressourcen, Berlin 2016.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 98 Mariana Mazzucato denen beide Seiten gleichermaßen engagiert in hausinterne Kompetenzen und Fähigkeiten investieren. Zweitens erforderte die Apollo-Mission die Zusammenarbeit unterschied- lichster Akteure und Sektoren, von der Luft- und Raumfahrt bis hin zu inno- vativen Textilien. Man konzentrierte sich dabei nicht auf Subventionen eines einzigen Sektors (Aeronautik), sondern auf die gemeinsame Problemlösung zahlreicher Sektoren sowie verschiedener Arten von öffentlichen und priva- ten Kollaborateuren – selbst in Lowtech-Sektoren wie dem Textilbereich. Dasselbe gilt für die Herausforderung, den vom Menschen an der Umwelt angerichteten Schaden umzukehren; etwas, was nicht allein durch verstärk- tes Investment in erneuerbare Energien – eine technologische Herausforde- rung für sich – zu lösen ist, sondern einer gesellschaftlichen Verpflichtung zu neuen, weniger materialintensiven Ansätzen hinsichtlich unserer Lebens- art bedarf. Um den Kampf gegen Klimawandel oder Krebs voranzutreiben, braucht es konkrete Missionen mit Kollaborationen von Akteuren unter- schiedlichster Art; es braucht klar abgesteckte Ziele für eine Vielzahl von Akteuren über eine Vielzahl von Sektoren hinweg und gemeinsame Inves- titionen zur Erforschung neuen Terrains; und es braucht Geduld zum Errei- chen langfristiger Ziele. Man hat vergangene Perioden technologischer Umwälzungen mit Ver- änderungen in der Lebensweise in Verbindung gebracht, wie etwa beim Zusammenhang zwischen Massenproduktion und Suburbanisierung.8 Eine grüne Revolution bedarf einer überlegten und bewussten Veränderung sozi- aler Werte: einer Neuausrichtung der gesamten Wirtschaft, eines Wandels von Produktion, Verteilung und Konsum in allen Sektoren.

Eine bessere Zukunft für alle

Das Konzept des Werts muss einmal mehr seinen rechtmäßigen Platz im Zen- trum ökonomischen Denkens einnehmen. Befriedigendere Arbeitsplätze, weniger Verschmutzung, bessere Pflege, gerechtere Entlohnung – welche Art von Wirtschaft wollen wir? Ist diese Frage erst einmal beantwortet, kön- nen wir entscheiden, wie wir unsere wirtschaftlichen Aktivitäten gestalten wollen, und dabei Aktivitäten, die die gesteckten Ziele erfüllen, innerhalb der Produktionsgrenze verorten – als Belohnung dafür, das Wachstum in eine Richtung zu steuern, die uns wünschenswert scheint. Bis wir so weit sind, können wir schon einmal Aktivitäten einzuschränken versuchen, die aus- schließlich auf Rent-Seeking abzielen, und wirklich produktive Aktivitäten in höherem Maße belohnen als jetzt. Bei alledem geht es mir nicht darum, der einen oder anderen (historischen) Werttheorie das Wort zu reden. Ich möchte vielmehr eine neue Debatte ansto- ßen und den Wert zurück ins Zentrum ökonomischer Überlegungen stellen.

8 Carlota Perez, Capitalism, technology and a green global golden age: The role of history in helping to shape the future, in: Michael Jacobs und Mariana Mazzucato (Hg.), Rethinking Capitalism: Eco- nomics and Policy for Sustainable and Inclusive Growth, Chichester 2016.

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Es geht nicht darum, einen stabilen und statischen Zaun um die Produktions- grenze zu ziehen und einige Akteure als Parasiten oder Nehmer abzustem- peln, während wir andere zu glorreichen Wertschöpfern und Machern erklä- ren. Wir sollten vielmehr ein dynamischeres Verständnis dafür entwickeln, was Machen und Nehmen im Kontext unserer gesellschaftlichen Zielsetzung bedeuten soll. Hier kommen zweifelsohne objektive und subjektive Faktoren ins Spiel, nur sollten die subjektiven nicht alles auf eine einzige individuelle Wahlmöglichkeit reduzieren – bar jeden sozialen, politischen und ökono- mischen Kontexts, in dem entschieden wird. Es ist nun einmal der jeweilige Kontext, auf den sich die (objektive) Dynamik technologischer Veränderun- gen und unternehmerischer Governance-Strukturen auswirken – Letztere zum Beispiel auf die Entscheidung über die Art der Einkommensverteilung und die Macht der Arbeiter bei den Verhandlungen über ihren gerechten Anteil. Diese strukturellen Kräfte sind die Ergebnisse von Entscheidungs- prozessen innerhalb von Organisationen. Sie sind weder unvermeidlich noch determiniert. Zur Eröffnung dieses Dialogs habe ich aufzuzeichnen versucht, dass Wert- schöpfung kollektiv erfolgt, dass Politik bei der Schaffung und Gestaltung eine aktivere Rolle spielen kann und dass wahrer Fortschritt einer dynami- schen, auf die gesellschaftlichen Probleme des 21. Jahrhunderts konzen- trierten Arbeitsteilung bedarf. Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung ist dringend nötig. Mehr noch: Sie ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung einer neuen Ökonomie – einer Ökonomie der Hoffnung. Denn wenn wir nicht von einer besseren Zukunft träumen, nicht wenigstens auf eine solche hinarbeiten können, haben wir auch keinen guten Grund, uns Gedanken über den Wert zu machen. Und das ist vielleicht die größte Lektion.

Die Dokumente zum Zeitgeschehen: online, kostenfrei und zeitnah aktualisiert – auf unserer Blätter-Website

Weitere Informationen finden Sie in dieser Ausgabe auf Seite 124.

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Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Gegen den Pakt des Schweigens: Die Aufarbeitung des argentinischen Staatsterrors Von Daniel Rafecas

Lateinamerika steht vor einer neuen autoritären Wende. Umso mehr ist es von Belang, sich die letzte autoritäre Phase des Kontinents zu vergegenwärtigen – und deren Bewältigung. Das herausragende Beispiel dafür ist Argentinien. Seit 2004 ist der Bundesrichter Daniel Rafecas dort für einen Großteil der Gerichtsverfahren zur Aufarbeitung der argentischen Diktatur, die von 1976 bis 1983 herrschte, zuständig. Rafecas reflektiert im Folgenden diesen Prozess und geht dabei insbesondere der Frage nach, inwieweit die Verfahren zu Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit beigetragen haben. Die Übersetzung stammt von der Elisabeth Käsemann Stiftung. – D. Red.

rgentinien hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten viel Auf- A merksamkeit für einen außerordentlichen Prozess der Strafverfolgung erfahren. Im Zentrum standen und stehen dabei jene, die auf verschiedenen Ebenen für massive staatliche Verbrechen der Diktatur von 1976 bis 1983 ver- antwortlich waren und deren Machtübernahme sich nun zum 43. Mal jährt. In den Jahrzehnten nach der Gründung der argentinischen Republik im Jahr 1810 herrschten wirtschaftliche, politische, militärische und religiöse Eliten. Sie verfolgten die Interessen einer privilegierten gesellschaftlichen Gruppe unter Ausschluss der übrigen Bevölkerung – ungeachtet der Tatsa- che, dass 1853 eine freiheitliche Verfassung verabschiedet worden war. Diesen Gesellschaftsentwurf prägten insbesondere das Militär und die reaktionärsten Vertreter der katholischen Kirche („Kreuz und Schwert“). Ihre Macht sahen sie mit dem ideologischen Erstarken von Kommunismus, Sozialismus und Anarchismus bedroht, dessen Ideologien mit den Millionen europäischer Einwanderer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – unter ihnen vor allem Spanier, Italiener und Deutsche – das Land erreichten und zunehmend an Einfluss gewannen. Der Vormarsch linker Ideologien und demokratischer Parteien bedrohte das Vorhaben, Argentinien zu einem Land der Privilegien zu gestalten, von denen die Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen war. Infolgedessen kam es im vergangenen Jahrhundert in den Jahren 1930, 1943, 1955, 1962, 1966 und 1976 wiederholt zu Staatsstreichen, die demokratisch gewählte Regierungen stürzten und an ihre Stelle autoritäre Regime installierten.

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Im Argentinien des 20. Jahrhunderts regierten also mehr Diktaturen als Demokratien. Die politischen Verhältnisse führten zudem dazu, dass Latein- amerika während des Kalten Krieges nach 1945 von allen Seiten als eine Art „Einsatzgebiet“ betrachtet wurde, in dem sich die beiden antagonistischen Weltanschauungen – die kapitalistische und die sozialistische – gegenüber- standen. Somit sah sich das Land in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts selbst Diskursen und Praktiken ausgesetzt, die die globalen ideologischen Spannungen dieser Zeit widerspiegelten. In diesem Kontext entwickelten argentinische Parteien in den 1960er und 1970er Jahren Widerstandsstrategien, die die Interessen der benachteiligten Mehrheiten vertraten und die während der aufeinanderfolgenden Diktatu- ren hart verfolgt und unterdrückt wurden. Gegen diese Parteien und deren – mitunter auch bewaffnete – Organisationen gingen die wechselnden argen- tinischen Diktaturen mit aller Härte vor. Sie verbannten deren Mitglieder, schufen spezifische neue Delikte im Strafrecht, etablierten Sonderstrafge- richte und führten die Todesstrafe wieder ein. Dessen ungeachtet breiteten sich linke Organisationen weiter im Land aus. Am 24. März 1976, als das letzte Militärregime – angeführt von Diktator Jorge Rafael Videla sowie den Militärs Emilio Massera und Orlando Agosti – die Macht ergriff, begannen diese mit der „Ausrottung der Subversion“. Ihr Plan sah die systematische physische Vernichtung aller Mitglieder linker militanter Organisationen vor sowie all jener, die diese aus dem gewerkschaftlichen, universitären, politischen und religiösen Bereich unterstützten. Ihr Ziel bestand darin, dauerhaft einen autoritären, antiliberalen und antidemokratischen Staat zu errichten.

1976-1983: Staatlicher Terror in Argentinien

Heute, dreiundvierzig Jahre nach dem Putsch von 1976, wissen wir, dass die- ser mörderische Plan mit außerordentlicher Effizienz umgesetzt wurde. Das Militär – das Heer, Marine und Luftwaffe umfasst – sowie alle Sicherheitsbe- hörden und Geheimdienste wurden unter dem Kommando des Heeres in die Struktur eines einzigen gigantischen Machtapparats zusammengefügt, der von nun an in der Illegalität operierte. Zudem wurde das Land in fünf Operationszonen unterteilt, die wiede- rum in Unterzonen und Einsatzgebiete aufgeteilt wurden, die jeweils in der Verantwortung der Oberkommandierenden der drei Streitkräfte standen. Darüber hinaus wurden landesweit in allen größeren Städten geheime Zen- tren eingerichtet. Sie dienten den sogenannten Einsatzgruppen als Basis, in denen diese ihre Opfer ermordeten oder folterten, um so an Informationen über linkspolitische Netzwerke und Aktivitäten zu gelangen. Etwa 500 die- ser Terrorzentren soll es zwischen 1976 und 1977 schätzungsweise gegeben haben; in den größten von ihnen – die „Escuela de Mecánica de la Armada“ (ESMA) in Buenos Aires und „La Perla“ in Córdoba – waren zeitgleich bis zu 300 Menschen inhaftiert.

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In diesen geheimen Haftzentren herrschte ein System totaler Entmenschli- chung. Aus Individuen wurden Nummern, ähnlich wie in nationalsozialisti- schen Konzentrationslagern; und die meisten Gefangenen wurden nach der Folter ihrem finalen Schicksal zugeführt: ihrer Ermordung. Entweder wur- den sie nach ihrer Hinrichtung in Massengräbern verscharrt bzw. verbrannt oder sie wurden in den sogenannten Todesflügen halb bewusstlos ins Meer geworfen, wodurch sie zu „Desaparecidos“ (Verschwundenen) wurden. Schätzungsweise 30 000 Menschen wurden damals entführt oder „ver- schwanden“ spurlos; die meisten von ihnen – ihre Zahl ist heute nur noch schwer zu ermitteln – sind vermutlich ermordet worden. Nur ein kleiner Teil schaffte es, dem mörderischen System zu entkommen und zu überleben. Unter den Inhaftierten befanden sich auch zahlreiche Frauen. Sie wurden häufig in der Gefangenschaft durch männliche Täter missbraucht. Viele der Frauen waren zum Zeitpunkt ihrer Entführung zudem entweder schwanger oder Mütter kleiner Kinder. Auch für diese Fälle verfolgte die Diktatur einen grausamen Plan: Mehr als 500 Kinder und Babys wurden ihren Müttern rechtswidrig weggenommen und an Angehörige der Streitkräfte oder deren Verwandte übergeben. Das Eigentum aller Opfer galt dem Regime als „Kriegsbeute“ und wurde systematisch geplündert. Unternehmensanteile wurden an Personen über- schrieben, die dem Regime gegenüber loyal waren. Gewerkschaftsorgani- sationen und -vertreter hingegen wurden in Hunderten von Fabriken und öffentlichen Einrichtungen drangsaliert, verfolgt und ermordet.

Der Druck der internationalen Gemeinschaft

Zu Recht gelten diese Jahre der letzten Diktatur als das dunkelste und tra- gischste Kapitel in der jüngeren argentinischen Geschichte. Im Jahr 1985 – zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur – fand während der Amtszeit von Präsident Raúl Alfonsín vor der Bundeskammer in Buenos Aires ein beach- tenswertes Gerichtsverfahren gegen die Militärführung statt. Damals wurde nicht nur ein Dutzend Oberbefehlshaber zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, sondern es wurde auch die Erwartung geweckt, dass damit zugleich ein hei- lender Prozess eingeleitet würde, der Tausende von Tätern und Mittätern zur Rechenschaft ziehen würde. Doch dem war nicht so. Das Militär beendete die rechtsstaatliche Aufar- beitung, indem es mit einem neuen Staatsstreich drohte. Die damalige poli- tische Klasse kapitulierte mit der Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen, die den Tätern Straflosigkeit gewährten. Diese fatale Entwicklung fand ihren Abschluss, als Präsident Carlos Menem 1989 die wenigen Militärs begna- digte, die zuvor überhaupt verurteilt worden waren. In der Zeit der Straflosigkeit und des Vergessens, die von 1986 bis 2001 andauerte, hatten die Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen keine andere Wahl, als die internationale Strafverfolgung in Anspruch zu nehmen, um so Wahrheit und Gerechtigkeit anzustreben. In Madrid, Rom,

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Nürnberg, Paris und vielen anderen Teilen der Welt wurden daraufhin im Falle europäischer Opfer der argentinischen Militärdiktatur Ermittlungsfah- ren eingeleitet. Diese Prozesse übten zweifelsohne einen enormen Druck auf weite Teile der argentinischen Gesellschaft aus. Doch noch immer ließ Argentinien keine Aufarbeitung der Vergangenheit zu, um nicht die Verantwortung für das Geschehene übernehmen zu müssen. Stattdessen verbreiteten interes- sierte Kreise in jenen Jahren das Narrativ, dass in den 1970er und 1980er Jah- ren ein „schmutziger Krieg“ stattgefunden habe, in dem „zwei Dämonen“ einen Kampf ausgetragen hätten, und dass es nun notwendig sei, die „Seite umzublättern“, „nach vorne zu schauen“ und „die Argentinier zu versöhnen“.

2001: Der Fall »Simón« als Trendwende

Allerdings verhinderte dies der internationale Druck. Im Jahr 2001 erhielt der Damm der Straflosigkeit dann auch innerhalb Argentiniens erste Risse: Ein Bundesrichter nahm damals – entgegen der üblichen Handhabung – den Fall „Simón“ wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder auf und ver- haftete einen der zahlreichen Folterer des Diktaturregimes. Es war ebendie- ser Fall des Angeklagten Julio Simón, der vier Jahre später vor den Obersten Gerichtshof gelangte und einen Kurswechsel in Argentinien herbeiführte. Dabei schloss sich der Gerichtshof der internationalen Gemeinschaft an und sendete so eine klare Botschaft ins ganze Land aus: Damit Recht auch Gere- chigkeit schaffen kann, müssen die rechtlichen Hindernisse, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als solche zu ahnden, konsequent beseitigt werden. In den darauffolgenden 14 Jahren hat die argentinische Justiz im Zuge einer bemerkenswerten Entwicklung zahlreiche Ermittlungen in allen Groß- städten des Landes eingeleitet oder wiederaufgenommen. Bislang kam es zu 750 Verurteilungen, 800 weitere laufende Verfahren steuern auf ein Urteil zu. In meiner Funktion als Bundesrichter habe ich persönlich in diesem Zeit- raum rund 200 Personen festnehmen lassen und Gerichtsverfahren gegen sie in die Wege geleitet. Mehr als die Hälfte dieser Prozesse führte zu einer Verurteilung. Die Strafverfahren zeichneten sich dadurch aus, dass sie von verfassungsgemäßen Amtsrichtern durchgeführt wurden. Sie haben folge- richtig das zum Zeitpunkt der Tat gültige Strafrecht wie auch das Verfah- rensrecht konsequent angewandt, das die Unschuldsvermutung, das Recht auf Verteidigung und die Möglichkeit zur Anrufung einer zweiten Instanz vorsieht. Aufgrund dieser auf rechtsstaatlichen Prinzipien basierenden Ver- fahren wurden 300 Beschuldigte mangels Beweisen oder ähnlicher Begrün- dungen freigesprochen.1 Die überwiegende Mehrheit der Angeklagten wurde aufgrund des „unrechtmäßigen Freiheitsentzuges“ (Art. 144 bis inc. 1° del C.P.) und der „Folterung“ (Art. 144 ter del C.P.) schuldig gesprochen.

1 Wegen des Alters vieler Angeklagter wurde mitunter nur Hausarrest verhängt. Tatsächlich gibt es derzeit mehr, die ihre Haft unter diesen Bedingungen verbüßen (518) als in einem tatsächlichen Gefängnis (455).

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Verurteilungen wegen Mordes bildeten aufgrund unzureichender Beweise die Ausnahme.2 All diese Verfahren trugen dazu bei, die historischen Ereignisse der letz- ten Diktatur aufzuarbeiten, und förderten zugleich die Erinnerungspolitik in Bildungseinrichtungen, in den Medien und in der Kunst. Zwar fällt zum jetzigen Zeitpunkt eine endgültige Bilanz schwer – es käme dem Versuch gleich, einen Film zu bewerten, dessen Ende noch nicht bekannt ist. Und doch lässt sich das bislang Erreichte bereits jenem gegenüberstellen, was verfehlt wurde.

Der Pakt des Schweigens

Beginnen wir mit dem, was auf der Soll-Seite steht: Die schiere Zahl der umfangreichen Prozesse stellt die argentinische Judikative zweifelsohne vor gewaltige Herausforderungen. Mühsam mussten zahlreiche strukturelle Widerstände überwunden werden, um insbesondere im Bereich der zivilen Mittäterschaft Fortschritte zu erzielen. Und immer noch tappen wir bei der Aufarbeitung der letzten Phase des „Kampfes gegen die Subversion“, der Vernichtungsphase, die von der Dik- tatur betrieben wurde, weitgehend im Dunkeln. Nach juristischen Maßstä- ben kennen wir auch heute weder die Täter noch den genauen Tathergang bei einer großen Zahl von ermordeten oder verschwundenen Menschen. Es ist der Justiz, so bleibt leider festzuhalten, nach fast vier Jahrzehnten nicht gelungen, den Pakt des Schweigens aufzubrechen, der zwischen den dama- ligen Tätern noch immer besteht. Ebenfalls enttäuschend ist die hohe Zahl der unaufgeklärten und unge- sühnten Fälle von Kindesentführungen. Noch immer gibt es rund 400 Men- schen, deren wahre Identität unbekannt ist. Und noch immer sind viele Fami- lien, Großmütter, Väter und Mütter sowie Schwestern auf der verzweifelten Suche nach ihren Kindern und Angehörigen. Dennoch darf all dies nicht das bislang Erreichte überdecken. Seitdem die Bundeskammer der Stadt Buenos Aires 2003 im Fall „Poblete/Hlazuk“ die Verfassungswidrigkeit der Straffreiheitsgesetze bestätigte, haben sich die Prozesse wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutlich ausgewei- tet – von Süden (Rawson, General Roca, Neuquén) nach Norden (Salta, Jujuy, Formosa, Misiones) und von Osten (Mar del Plata, La Plata) nach Westen (Mendoza, San Juán, La Rioja). Gleichzeitig erhielten zehntausende Leidtragende des argentinischen Staatsterrorismus Recht. Sie sind heute anerkannte Opfer von Entführungen, Folterungen, Vergewaltigungen, gewaltsamem Verschwinden, von Mord, Plünderungen, Zwangsexil und Enteignung. Es ist ein bedeutender Meilen- stein der jüngeren argentinischen Geschichte, dass diese Verbrechen sicht- bar gemacht wurden, Opfer und Opferorganisationen Wiedergutmachung

2 Gemäß dem Verfassungsprinzip der Rechtmäßigkeit wurde in Argentinien zudem die Anwendung von Rechtsnormen wie Völkermord oder des gewaltsamen Verschwindenlassens ausgeschlossen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 106 Daniel Rafecas erfuhren und Gerechtigkeit wie auch Wahrheit hergestellt wurden. In den vergangenen 15 Jahren haben wir erreicht, dass aus dem ersten Angeklag- ten, Julio Simón, rund 1500 Angeklagte wurden, von denen die Hälfte bis- lang verurteilt wurde. Die Einrichtung der unabhängigen „Comisión Inter- poderes“,3 die am argentinischen Obersten Gerichtshof angesiedelt ist, sowie eines staatlichen Menschenrechtsbüros stellen ebenso wichtige Fort- schritte dar. Und es bedeutet auch einen Fortschritt, dass die Opfer von damals den ver- urteilten Tätern heute nicht mehr auf der Straße begegnen, sondern diese ihren gesellschaftlichen Status verloren haben. Denn auch in den Jahren nach der Diktatur waren viele Täter aufgestiegen. Gewiss, viele der dama- ligen Täter lebten als gewöhnliche Kriminelle, die sich weiterhin an Entfüh- rungen und Erpressungen beteiligten, oder sie boten ihre Fähigkeiten als Berater oder Söldner für „konterrevolutionäre“ Kämpfe in anderen Teilen des lateinamerikanischen Kontinents an. Viele andere aber bekleideten nach der Diktatur hohe Posten in der Gendarmerie oder in der Armee; wieder andere waren an der Gesetzgebung beteiligt, wurden Bürgermeister oder gar Gou- verneur; einige besetzten sogar die Posten von Richtern, Staatsanwälten und Abgeordneten oder sie wirkten als Journalisten, Unternehmer und Sicher- heitsexperten. Der Prozess, der diesen Personen etliche Jahre nach dem Ende der Dik- tatur gemacht wurde, erfolgte stets unter vollständiger Beachtung der ver- fassungsmäßigen Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren – und zwar sowohl in strafrechtlicher (Grundsatz der Rechtmäßigkeit und Schuld) als auch in prozessualer Hinsicht (Grundsatz der Unschuld, Verteidigung vor Gericht und in zweiter Instanz). Und trotz vieler Parallelen heben sich die Gerichtsverfahren deutlich von den Präzedenzfällen der NS-Prozesse in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ab. Denn in Argentinien bewerten die Opfer wie auch die Gesellschaft als Ganzes die verhängten Urteile als weitgehend angemes- sen angesichts der Schwere und des Ausmaßes der begangenen Verbrechen. Auf diese Weise haben die Verfahren der vergangenen Jahre zu einem Prozess der Erinnerung, der Wahrheit und der Gerechtigkeit geführt. Und sie haben damit zugleich maßgeblich dazu beigetragen, dass die autoritäre Kultur, die im Laufe des 20. Jahrhunderts tiefe Wurzeln in unserem Land geschlagen hat, heute in breiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird und stattdessen im Gegenzug demokratische Werte erheblich gefestigt wurden.

3 Die „Comisión Interpoderes“ ist ein Komitee, in dem Vertreter aus allen drei Staatsgewalten, der Legislative, Exekutive und Judikative, vertreten sind. Es wurde vom Obersten Gerichtshof berufen und koordiniert die Verfahren wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Vgl. Centro de Infor- mación Judicial, Lesa humanidad: se llevó a cabo una reunión de la Comisión Interpoderes, convo- cada por la Corte, www.cij.gov.ar, 26.9.2016 sowie a.a.O, Presentan comisión para acelerar causas de lesa humanidad, 5.4.2009.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 SCHLAGLICHT

Iran: Washington auf Eskalationskurs Von Hans Blix

Gegenwärtig besteht das Risiko eines nächst beraten und unterstützen und ausgewachsenen militärischen Angriffs dann Beschlüsse fällen konnte, die für der USA auf Iran. Darüber vergessen alle UN-Mitglieder, inklusive dieser Medien und Öffentlichkeit jedoch, dass sieben, bindend sind. Die verbindlichen die USA bereits eine andere Attacke Bestimmungen zur Aufhebung von ausgeführt haben – auf die Autorität des UN-Sanktionen sind wie ein Gesetz. Sie Weltsicherheitsrates und die Charta der enthalten keine Passagen, die irgend- Vereinten Nationen. Sowohl Medien als wem den „Ausstieg“ erlauben würden, auch Regierungen stellen routinemä- sondern empfehlen aufwendige Verfah- ßig fest, Washington sei aus dem „Ab- ren für den Umgang mit Beschwerden. kommen“ über das iranische Atompro- Doch die US-Regierung hat von diesen gramm – dem Joint Comprehensive Plan Verfahren keinen Gebrauch gemacht of Action (JCPOA) – „ausgestiegen“. und stattdessen unilateral erneut um- Doch das ist irreführend. fangreiche Sanktionen verhängt. Mit Die USA sind aus dem Pariser Klima- anderen Worten: Sie vollzog nicht den vertrag „ausgestiegen“ und handelten „Ausstieg“ aus einem Abkommen, son- dabei in Übereinstimmung mit einer dern verletzte einen Beschluss des Si- Klausel, die dies ausdrücklich erlaubt. cherheitsrates, der rechtlich bindend ist. Dies wurde von der ganzen Welt be- Und nicht nur das: Sie drängte zu- dauert, war aber gleichwohl legal. Nicht dem alle anderen UN-Mitglieder, sich so in diesem Fall: China, Frankreich, ihr in der Verletzung eines Beschlusses Deutschland, Russland, Großbritannien, anzuschließen, den zu respektieren sie die USA und Iran unterzeichneten kein verpflichtet sind (gemäß Artikel 25 der „Abkommen“ mit einer Ausstiegsklau- UN-Charta). Die US-Regierung machte sel. Sie unterzeichneten überhaupt kein zudem klar, dass sie ihr Finanzsystem Dokument. Vielmehr legten sie nach nutzen wird, um Firmen zu bestrafen, über zehn Jahren Verhandlung einen die mit Iran Handel treiben und sich gemeinsamen detaillierten Aktionsplan dabei bislang auf die Aufhebung der vor, der eine substantielle Reduzierung Sanktionen laut Beschluss des Sicher- des iranischen Atomprogramms, eine heitsrates und JCPOA verlassen haben. strikte Inspektion durch die Internatio- Tatsächlich wurden wir also Zeuge, wie nale Atomenergie-Organisation (IAEO) Washington den Anschein erweckte, und die Aufhebung von Wirtschafts- den Weltsicherheitsrat ersetzen zu wol- sanktionen gegen Iran vorsah. len. Und wie reagierte die Welt? Selbstverständlich können nicht sie- Angesichts der russischen Aktionen ben Mitglieder der Vereinten Nationen in der Ukraine ist in Europa und den im Alleingang Sanktionen aufheben, USA viel über die Notwendigkeit ge- die zuvor im Weltsicherheitsrat be- sprochen worden, die „regelbasierte in- schlossen wurden und für alle UN-Mit- ternationale Ordnung“ zu respektieren, glieder verbindlich sind. Daher legten zu der zweifellos die UN-Charta gehört. diese sieben Staaten ihren Plan dem Doch die US-Regierung arbeitet nun Sicherheitsrat vor, damit dieser ihn zu- ganz offensichtlich direkt daran, diese

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 108 Schlaglicht

Ordnung zu unterminieren, die sie einst umgesetzt werden. Man würde gerne als Hauptarchitektin mitgestaltet hatte. die wirklichen – statt der diversen ge- Die meisten anderen Regierungen – da- nannten – Gründe kennen, warum die runter die von China, Russland und den US-Regierung sich entschlossen hat, Staaten der Europäischen Union – fin- Iran mit illegalen Sanktionen lahmzu- den dies schockierend und haben sich legen und warum sie, wie im Falle des der illegalen Verhängung von Sanktio- Irak 2002 und 2003, Streitkräfte für ei- nen nicht angeschlossen. Mit einem Fi- nen Angriff zusammenzieht. Was soll nanzmechanismus zeigen die europäi- mit diesem Druck erreicht werden? schen Regierungen ihren guten Willen, eine Fortsetzung des Handels mit Iran zu schützen. Allerdings reicht dies – an- Vermeidbare Eskalation gesichts der amerikanischen Macht im globalen Finanzwesen – kaum aus, um Ähnlich wie seinerzeit beim Irak be- Unternehmen zu schützen, die weiter haupten die USA heute, Iran beabsich- Geschäfte mit Iran machen wollen, aber tige Atomwaffen zu entwickeln und sich dies aus Furcht vor wirtschaftli- der JCPOA biete dabei nur ein unzu- cher Bestrafung durch die USA nicht längliches Hindernis. Obschon man die trauen. Möglichkeit nicht ausschließen kann, Europäische und andere Regierun- dass ein bedrohter Iran eines Tages sei- gen haben die USA auf diplomatischem ne Kompetenzen in der Atomenergie Wege gebeten, ihren Kurs zu ändern – und seine entsprechende Infrastruk- jedoch vergeblich. Sie haben sich auch tur nutzen könnte, um tatsächlich ein an Iran gewandt und ihn gedrängt, Waffenprogramm zu starten, so muss mögliche Konzessionen an die USA doch festgehalten werden: Bis heute zu erwägen. Sie beschworen Teheran hat Iran den Aktionsplan zur Reduzie- auch, weiterhin vollständig den vom rung seines Atomprogramms vollstän- Sicherheitsrat mandatierten JCPOA zu dig eingehalten und die sehr aufdring- respektieren, obwohl dem Land der be- lichen IAEA-Kontrollen ausnahmslos absichtigte Nutzen vorenthalten wird. akzeptiert. Selbst das israelische Mili- Einige europäische Regierungen schei- tär scheint einen Militärschlag gegen nen Iran sogar mit der Wiederauflage das gegenwärtige iranische Atompro- von Sanktionen zu drohen, sollte er auch gramm nicht zu befürworten. Wie im nur im geringsten vom JCPOA abwei- Falle des Irak könnten die USA auch chen, den die USA doch schon nahezu hier angebliche Befürchtungen über vollständig zerstört haben. Das könnte Atomwaffen vorbringen, weil die Öf- beispielsweise der Fall sein, wenn Iran fentlichkeit Aktionen gegen die Weiter- die festgelegte Höchstlagermenge von verbreitung solcher Waffen eher unter- 300 Kilogramm leichtangereichertem stützt. Uran überschreiten sollte. Ist Iran, wie die USA behaupten, al- Wahr ist, dass es für Iran keine prakti- so eine Bedrohung für die Vereinigten sche Notwendigkeit gibt, die gesetzten Staaten oder die internationale Sicher- Grenzen zu überschreiten. Aber man heit – und gar eine, gegen die Washing- kann sich schon fragen, wie aussage- ton sich wehren müsste? Richtig ist, dass kräftig eine solche Drohung von euro- das Ergebnis des syrischen Bürgerkrie- päischer Seite ist, wenn die USA bereits ges für Iran eher positiv und für die USA Sanktionen gegen europäische Firmen und ihre Freunde eher negativ ausge- verhängt haben. Böse ironisch wirkt fallen ist. Auch die iranischen Verbün- diese US-„Realpolitik“ durch Washing- deten im Jemen schlagen sich gut. Aber tons zeitgleiches Beharren, die vom Si- all das macht aus Iran noch kein Land, cherheitsrat verhängten Sanktionen ge- das darauf brennt, seine Nachbarn fron- gen Nordkorea sollten von allen streng tal militärisch anzugreifen. Vielmehr

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Schlaglicht 109 unterliegt Iran einer aktiven Bedrohung es ihm erlauben, Iran beim Aufbau ei- durch Luftangriffe: Israel, Saudi-Ara- ner glänzenden Zukunft zu helfen – so- bien und die Vereinigten Arabischen gar ohne Regimewechsel. Würde er das Emirate sind bis an die Zähne bewaff- ernst meinen – und zu dieser Annahme net; die USA unterhalten eine große gibt es keinen Grund –, dann nähme er Marinebasis in Bahrein und eine große die Haltung des wohlmeinenden Kai- Luftwaffenbasis in Katar, haben zwei sers eines allmächtigen Amerikas ein, Flugzeugträger im Golf und Bodentrup- der dem Herrscher eines entfernten pen im Irak stationiert. Dennoch könn- unbedeutenden Reiches anbietet, vor ten Angriffe auf die iranischen Atom- ihn zu treten, die Probleme darzulegen anlagen mit Blick auf die Reaktionen und die Anweisungen der Mächtigen zu der internationalen Öffentlichkeit und erwarten. In Wahrheit geht es ihm wohl mögliche iranische Vergeltungsschläge darum, im Krisenfall behaupten zu kön- gegen Atomkraftwerke in Abu Dhabi nen, er hätte eine großzügige Versöh- problematisch sein. Angriffe auf Mili- nung angeboten, aber sein Ölzweig sei tär, Industrie und Infrastruktur des Iran zurückgewiesen worden. würden das Land zudem kaum bändi- Gleichzeitig aber will der US-Präsi- gen, sondern drohen eher, einen Flä- dent, anders als einige seiner Berater, chenbrand auszulösen – und das zu ei- wohl keinen bewaffneten Konflikt. Ge- ner Zeit, in der Präsident Donald Trump nauso wenig dürften Saudi-Arabien, die die US-Wählerschaft nicht von einem Vereinigten Arabischen Emirate und weiteren Krieg im Mittleren Osten ab- Israel begierig auf einen unvorherseh- gelenkt wissen will. baren Krieg und Regimewechsel in Iran sein. Es wäre aber verständlich, wenn sie um die Ausweitung von Irans Macht Trump will keinen Krieg und Einfluss auf wirtschaftlicher Ebene besorgt wären, statt um seine militäri- Sind die USA derart besorgt über Men- sche Macht. Und wenn diese Spekula- schenrechtsverletzungen und mangeln- tion zutrifft, könnten sie vor allem be- de Demokratie in Iran? Sind sie derart strebt sein, Irans ökonomische Entwick- erfüllt von den Erinnerungen an die lung so lange wie möglich zu bremsen. Besetzung der US-Botschaft in Teher- In einem solchen Szenario würden an 1980, dass all dies sie dazu treibt, mit Zugeständnisse oder Versöhnungs- Militäreinsätzen zu drohen, um das Re- gesten des Iran die gegenwärtige Situ- gime zu stürzen? Das ist unwahrschein- ation nicht entschärfen können. Viel- lich. Viele von uns im Westen sind nicht mehr könnten Spannungen genau das gerade verzückt von einem autoritären erstrebte Ziel sein, um mit ihnen jene Regime, das wie kaum ein anderes von Sanktionen zu rechtfertigen, die zu ei- der Todesstrafe Gebrauch macht. Aber ner schwachen wirtschaftlichen Ent- es ist schwer vorstellbar, dass Men- wicklung des Iran führen – und nicht zu schenrechtsbedenken für die USA ein bestimmten politischen Veränderun- zwingender Grund sein könnten, Mili- gen. In einem optimistischeren Szena- täreinsätze anzudrohen oder durchzu- rio jedoch würden einige iranische Ver- führen. Schließlich pflegt Washington söhnungsgesten es Washington wohl selbst eine enge Zusammenarbeit mit erlauben, seinen Sieg zu verkünden und Saudi-Arabien, einem Staat, der sogar zur regelbasierten internationalen Ord- ein Konsulat als Ort für eine seiner zahl- nung zurückzukehren. reichen Exekutionen genutzt hat. Trump hat wiederholt vorgeschlagen, Der Beitrag ist die deutsche Erstveröffentlichung ei- die iranische Führung möge ihn anru- nes Textes, der zuerst auf der Seite des „European fen, um die Situation zu beruhigen und Leadership Networks“ erschienen ist. Die Überset- alle Differenzen beizulegen. Das würde zung stammt von Steffen Vogel.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe Wie Megaliner Natur und Mensch bedrohen

Von Wolfgang Meyer-Hentrich

in gigantisches Schiff gleitet in behäbigem Tempo durch den Ozean. ELaute Popmusik mit knalligen Beats ertönt aus den Lautsprechern. An Bord befinden sich fast 7000 Passagiere und 2000 Besatzungsmitglieder, die den Reisenden ein angenehmes Leben auf dem Meer ermöglichen sollen. Die Menschen amüsieren sich, verzehren Unmengen von Lebensmitteln, faulenzen in Liegestühlen, flanieren durch Shoppingmalls, rackern sich in Fitnessstudios ab, trinken an unzähligen Bars, zocken in Spielkasinos, besu- chen Shows und tanzen bis in die frühen Morgenstunden. Das Gebiet, das der monströse Wellenbrecher durchpflügt, ist allerdings organisch tot. Unterhalb seines Kiels, in den Tiefen des Meeres, existieren weder Fische noch Krebse, Muscheln oder Plankton. Die Passagiere wissen nichts davon oder es ist ihnen gleichgültig. Sie wollen das Produkt genießen, das ihnen angepriesen wurde und wofür sie bezahlt haben: eine „Erlebnis- reise auf dem Meer“, wie es in der Werbung hieß. Eine düstere Zukunftsvision? Wer das meint, verkennt die Gegenwart. Über fünfhundert solcher abgestorbenen Bereiche gibt es inzwischen in den Welt- meeren. Dazu gehören die Buchten von New York und Montevideo, Teile der Ostsee, der Ägäis und des Gelben Meers, der Golfe von Oman und Mexiko sowie Areale vor der südamerikanischen Pazifikküste und der westindischen Küste. Manche dieser Todeszonen sind größer als Irland. Ständig werden es mehr. Und die stählernen Ungeheuer, die mit Tausenden von Passagieren über sie hinweggleiten, zählen zu den Verursachern solcher Todeszonen. Das Phänomen des Massentourismus auf den Weltmeeren ist jüngeren Datums. Vor dem Jahr 2000 waren Kreuzfahrtschiffe mit mehr als 1000 Pas- sagieren in Europa eine absolute Ausnahme. Auf den Meeren des Kontinents verkehrten nur knapp über 50 Kreuzfahrtschiffe, etwa 22 davon standen dem deutschen Markt zur Verfügung. Weltweit gab es gegen Ende des 20. Jahr- hunderts etwa 200 Kreuzfahrtschiffe, von denen die meisten in amerikani- schen Gewässern operierten. Heutzutage sind es mehr als doppelt so viele, und die Zahl der Deutschen, die eine Kreuzfahrt unternehmen, liegt deutlich über zwei Millionen pro Jahr. Daran hat AIDA einen großen Anteil. Ursprüng- lich dem Rostocker Nachfolgeunternehmen des DDR-Betriebs „Deutsche

* Der Text basiert auf „Wahnsinn Kreuzfahrt. Gefahr für Natur und Mensch“, dem jüngsten Buch des Autors, das im Christoph Links Verlag erschienen ist.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe 111

Seerederei“ zugehörig, wurde die Marke 2003 von der amerikanischen „Carnival Cruise Line“ übernommen, die inzwischen zum Platzhirsch der großen vier Schifffahrtsgesellschaften1 weltweit avancierte. Um den deut- schen Markt aufzurollen, wurde AIDA systematisch zu einer der größeren Tochtergesellschaften ausgebaut. Zwischen 2007 und 2013 wurde jedes Jahr ein neues Schiff auf den Markt gebracht; alle waren annähernd baugleich und für den deutschen und europäischen Markt mit einer Kapazität von rund 2500 Passagieren ungewohnt groß. Der Umsatz von AIDA vervierfachte sich von 2005 bis 2016. Später als AIDA baute TUI Cruises – seit dem Zusammenschluss mit Royal Caribbean 2008 zum zweitplatzierten der vier großen Schifffahrtskonzerne aufgestiegen – eine Flotte auf, die heute über sechs große Schiffe verfügt. Alle heißen „Mein Schiff“ und sind fortlaufend nummeriert. Mit ihren All- inclusive-Angeboten praktiziert TUI Cruises ein etwas anderes Konzept als AIDA, setzt aber in ähnlicher Weise auf Masse und große Schiffe. Die Auslastungsquoten haben alle Erwartungen übertroffen. Beide Unterneh- men haben sich den Mammutanteil des Kreuzfahrtgeschäfts in Deutschland gesichert. Der Weltverband der Kreuzfahrtunternehmen CLIA sieht die Ent- wicklung des deutschsprachigen Markts weiterhin positiv und rechnet hier für das Jahr 2020 mit mehr als drei Millionen Kreuzfahrtgästen.

Für die einen Urlaub, für die anderen Arbeit

Je mehr Reisende es gibt, um so mehr Personal wird auf den Schiffen benö- tigt: Die Cocktails wollen gerührt oder geschüttelt, die Buffets drapiert und die Kabinen gesäubert werden. Längst setzen sich die Schiffsmannschaften aus vielen Ländern zusammen. Rund 250 000 Seeleute stammen mittlerweile aus den Philippinen, fast jeder dritte Mitarbeiter auf Kreuzfahrtschiffen kommt von dort. Die Armut treibt die Menschen dazu, Arbeit in der Fremde zu suchen. Fast zehn Prozent der Bevölkerung arbeiten außerhalb des Lan- des, um sich selbst und ihre Familien zu ernähren, und leisten damit einen erheblichen Beitrag zum Sozialprodukt ihres Staates. Kreuzfahrtschiffe sind bei den Männern und Frauen begehrte Arbeitsplätze, dort verdienen sie deutlich besser als in ihrer Heimat, wo 2018 die durchschnittlichen Monats- löhne eines Arbeiters je nach Branche zwischen 220 und 270 US-Dollar lagen. In Manila gibt es viele große Jobagenturen, die sich darauf spezialisiert haben, Crewmitglieder für Kreuzfahrtschiffe zu vermitteln. Sie bieten Aus- bildungskurse für Köche, Bäcker, Stewards, Mechaniker oder Kellner an. Auf dem Areal einer dieser großen Agenturen in Manila wurde das Innere eines Kreuzfahrtschiffes der Art, wie sie bei Costa und AIDA in Betrieb sind, originalgetreu nachgebildet. Alle Tätigkeiten und Berufe, die an Bord ge-

1 Gemessen an der Passagier- und Kabinenkapazität beträgt der Anteil der „Großen Vier“ am Welt- markt heute 92 Prozent: Carnival Cruise Line: 52,2 Prozent, Royal Caribbean International: 23,5 Prozent, Norwegian Cruise Line: 9,3 Prozent, MSC Cruises 7 Prozent. Damit bilden diese Gesell- schaften ein Oligopol, das es so in kaum einer anderen Branche gibt. Schon die beiden größten Konzerne stellen 75,7 Prozent des gesamten Weltmarkts.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 112 Wolfgang Meyer-Hentrich braucht werden, können dort erlernt werden. Dafür müssen die Bewerber selbst aufkommen. Eine viermonatige Ausbildung zur Kellnerin kostet rund 750 Euro, die sechsmonatige Ausbildung zum Bordbäcker etwa 2500 Euro. Wer Koch werden will, muss rund 3300 Euro bezahlen. Alle großen Kreuzfahrtgesellschaften rekrutieren ihr Personal bei den Agenturen in Manila. Magsaysay, die größte davon, hat weit über 10 000 Menschen unter Vertrag, die als Leiharbeiter auf Kreuzfahrtschiffen tätig sind. Die meisten Philippiner, die an Bord arbeiten, bekommen ihr Gehalt von solchen Vermittlungsagenturen. Die Kreuzfahrtunternehmen erhalten auf diese Weise gut ausgebildetes Personal, das über Qualitäten verfügt, die bei Bewerbern aus anderen Ländern nicht selbstverständlich sind. Die Philippiner verfügen über schulische Bildung und sprechen in der Regel akzentfreies Englisch. Schiffseigner schätzen an ihnen, dass sie kaum Alko- hol trinken, fleißig sind, klaglos Überstunden machen und sich geschickt anstellen. Außerdem gelten sie als freundlich und als mitunter weniger anspruchsvoll als Kollegen aus anderen Ländern.

Ein skrupelloses System der Ausbeutung auf hoher See

Die Qualitäten des philippinischen Personals stehen allerdings in keinem Verhältnis zu seiner Bezahlung. Das Kreuzfahrtportal crew-center.com hat im Januar 2016 die Gehaltsliste von MSC Cruises veröffentlicht. Die Angaben decken sich mit Zahlen aus anderen Quellen. Die Einkommen sind exempla- risch für die großen Kreuzfahrtkonzerne und gelten auf deren Schiffen welt- weit.2 Da es kein Tarifrecht gibt, orientieren sich die Unternehmen an den Gehältern ihrer Mitwettbewerber, was zu einer globalen Vereinheitlichung der Löhne nach unten führt. Auch die großen deutschen Kreuzfahrtunter- nehmen sind da nicht besser und halten sich an das international Übliche. Als sich die Stiftung Warentest Anfang 2019 mit Kreuzfahrtschiffen beschäf- tigte, kam sie hinsichtlich der Situation des Personals zu dem Ergebnis: „Ex- tremes Pensum, niedrige Lohne.“ Aus einer ganz anderen Liga sind die Gehälter und Vergütungen der Topmanager der großen Kreuzfahrtunternehmen, die die Webseite Cruise Industry News regelmäßig veröffentlicht. Rekordverdiener war im Jahr 2017 Richard Fain, der Vorstandsvorsitzende (CEO) von Royal Caribbean, der es auf 13,343 Mio. US-Dollar brachte. Sein Kollege Arnold Donaldson, Gesamt- chef von Carnival Cruise Line, verdiente im gleichen Jahr 13,046 Mio. US-Dollar. Frank del Rio, CEO von NCL, erhielt im Geschäftsjahr 2017 knapp 10,5 Mio. US-Dollar an Vergütungen. Um das zu verdienen, was ein Vor- standsvorsitzender einer der drei größten Kreuzfahrtunternehmen der Welt an Vergütungen und Aufwandsentschädigungen in einem Jahr bekommt, müsste ein einfacher Kabinensteward über 1000 Jahre arbeiten. Die Entloh- nung von Crewmitgliedern auf Kreuzfahrtschiffen ist aber nicht nur wegen

2 So erhalten Küchenhilfen wie das Kabinenpersonal als Grundgehalt 657 US-Dollar, der erste Koch 1250 Dollar – bei freier Kost und Logis.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe 113 der Höhe beschämend ungerecht. Viele Mannschaftsangehörige werden schlichtweg aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt. „Die Zeit“ referierte 2016 die Erklärung eines AIDA-Sprechers, wonach „die Vergütungen für Positio- nen im Hotelservice auf den Philippinen nur 150 bis 250 US-Dollar im Monat betrügen, an Bord von AIDA hingegen durchschnittlich 700 bis 900 US- Dollar plus Kost und Logis. Erhielten diese Crewmitglieder allerdings den deutschen Mindestlohn, kämen sie auf mehr als 2000 US-Dollar.“ Der Hinweis auf das durchschnittliche Einkommen in den Heimatländern des Personals, das für ein paar Hundert US-Dollar auf den Kreuzfahrtschif- fen arbeitet, ist nicht nur zynisch, sondern auch ein klarer Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung und Gleichbezahlung. In Deutschland und anderen Ländern der EU würde eine ungleiche Entlohnung, die nur auf- grund der Herkunft zustande kommt, völlig zu Recht als Diskriminierung und daher als ungesetzlich betrachtet. Doch auf dem Meer und den Billig- flaggenschiffen gilt ja schon ein preiswertes staatliches Recht, das der „Flag- genstaaten“. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) versucht schon lange, die Methoden der Reeder an den Pranger zu stellen und die Interessen ihrer Mitglieder zu wahren. Doch die juristische Situation der Seeleute ist miserabel. Nichtsdestotrotz setzt sich die ITF dafür ein, die See- leute aller Nationalitäten vor der Ausbeutung durch Schiffseigner zu schüt- zen. Den Aktivitäten der Organisation ist es immerhin zu verdanken, dass es 2006 zu einem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (Maritime Labour Convention) gekommen ist, in dem zumindest weltweit verbindliche Minimalstandards der Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten verankert wurden. Gleichwohl können die Kreuzfahrtgesellschaften darauf verweisen, dass niemand zu dieser Tätigkeit gezwungen wird und es zur Vertragsfreiheit der Parteien gehört, solche Jobs anzunehmen oder nicht. Tatsächlich sind die Zeiten längst vorbei, in denen Seeleute trickreich betrunken gemacht, zu einer Unterschrift überlistet und dann zur Arbeit an Bord verschleppt wur- den. Der Bevölkerungszuwachs und die Armut im globalen Süden sorgen dafür, dass den global operierenden Kreuzfahrtunternehmen Arbeitskräfte in unbeschränkter Masse zur Verfügung stehen. Und sie nutzen diese Situa- tion schamlos aus. Manchen Kreuzfahrtunternehmen sind sogar die gut aus- gebildeten philippinischen Fachkräfte zu teuer geworden. In den letzten Jahren wurden zunehmend Menschen aus armen Ländern wie Bangladesch, Indonesien, Indien, Madagaskar oder aus mittelamerikanischen Staaten re- krutiert, die bis dahin keinerlei seemännische Erfahrung aufzuweisen hatten. Doch was gern als Ausdruck einer kosmopolitischen und multikulturellen Einstellung präsentiert wird, als bunte und rassismusfreie Welt, ist in Wirk- lichkeit ein modernes skrupelloses System der Ausbeutung auf hoher See, das es in keinem entwickelten Land der Welt so geben könnte. Der Druck auf die Beschäftigten ist immens. Jedem von ihnen wird klargemacht, dass es in irgendeiner Gegend dieser Erde Menschen gibt, die für noch weniger Geld bereit sind, ihren Platz einzunehmen. Eigentlich sind alle Reeder weltweit zur Einhaltung des Seearbeitsübereinkommens der Internationalen Arbeits-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 114 Wolfgang Meyer-Hentrich organisation verpflichtet. Dessen Regelungen begrenzen die wöchentliche Arbeitszeit auf maximal 72 Stunden und sehen mindestens einen freien Arbeitstag pro Woche vor. Doch selbst diese verhältnismäßig großzügigen Vorschriften finden nicht überall Beachtung. So setzen sich Reedereien wie Costa, MSC Cruises und AIDA einfach darüber hinweg. Das berichtete das „Zeit-Magazin“ im Januar 2019 in einer ausführlichen Titelgeschichte zur Situation der Beschäftigten auf den „Albtraumschiffen“ der großen Kreuz- fahrtunternehmen. 16-Stunden-Arbeitstage sind danach keine Seltenheit. „Auf dem Kreuzfahrtschiff ist es wie in einem Gefängnis: Wir kommen nie runter vom Schiff, wir sind den Schikanen unserer Vorgesetzten ausgesetzt, und wir arbeiten, bis wir nicht mehr können“, zitieren die Autoren einen phi- lippinischen Kellner.3 Würde man dem Personal bei Massenkreuzfahrten faire Löhne bezahlen, müssten die Kreuzfahrtanbieter die Kabinen ihrer Großschiffe wesentlich teurer anbieten, als dies im Moment der Fall ist. Dies hätte jedoch zur Folge, dass sich die Auslastung der Schiffe verschlechtern würde. Die Unternehmer müssten nicht nur ihre Profiterwartung drastisch reduzieren – das ganze Sys- tem der bis an die Grenzen ausgereizten Gewinnmaximierung stünde auf dem Spiel. Kreuzfahrten auf Massenschiffen sind ohne Ausbeutung deshalb kaum realisierbar. Das preiswerte Dolcefarniente an Bord ist nur möglich, weil andere zu Billiglöhnen dafür arbeiten.

Verpestete Luft – in den Häfen, auf den Schiffen und an entlegensten Orten der Welt

Der Boom der Kreuzfahrten wird jedoch nicht nur auf dem Rücken der Ange- stellten ausgetragen: Mittlerweile gibt es Reisen zu den entlegensten Orten der Welt – mit gravierenden Folgen für die dortigen Bewohner. Beispielhaft dafür steht Longyearbyen im arktischen Eismeer. Die nördlichste Stadt der Welt liegt auf der zu Norwegen gehörenden Inselgruppe Spitzbergen. Selbst dort legen die Riesenschiffe auf ihrer Nordlandtour inzwischen an. „Im Reich der Eisbären“ lautet die Überschrift für dieses Etappenziel meistens. Das rudimentäre Straßennetz rund um die ehemalige Bergarbeiterstadt mit ihren 2000 Einwohnern ist etwa 40 Kilometer lang. Genug, um die Busse für die Passagiere zum Einsatz kommen zu lassen. Die Einheimischen wundern sich über die seltsamen Menschenströme in ihrem Städtchen und die Preise, die die Fremden für banale Spaziergänge in die Umgebung zahlen. Vor allem sind sie froh, wenn die Passagiere am frühen Abend an Bord gehen und sie wieder ihre Ruhe haben. Spitzbergen hatte einmal die sauberste Luft der Welt. Da es kaum Straßen gibt, sieht man in Longyearbyen nur wenige Autos. Geheizt wird mit Strom und Fernwärme, die von dem Kohlekraftwerk der Stadt generiert werden. Es ist das letzte Kohlekraftwerk Norwegens. Die Einwohner Spitzbergens

3 Zit. nach: Anne Kunze und Miguel Helm, Unter Deck, in: „Zeit-Magazin“, 2/2019.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe 115 wollen es durch eine saubere Alternative ersetzen. Politiker haben sich dafür ausgesprochen, ein 1000 Kilometer langes Kabel zwischen Longyearbyen und dem Festland zu verlegen, um den Überschuss der sauberen Wind- und Wasserkraftwerke Norwegens nach Spitzbergen zu bringen. Aber was nutzt es, das Kraftwerk stillzulegen, wenn größere Schadstoffproduzenten im Hafen anlanden? Das Kraftwerk von Longyearbyen produziert 40 Tonnen

Kohlendioxid (CO2) im Jahr. Die großen Kreuzfahrtschiffe, die im Sommer am Pier des kleinen Hafens liegen, stoßen ein Vielfaches davon aus. Mit der guten Luft in Longyearbyen ist es jedenfalls zu dieser Jahreszeit vorbei. Denn durch den Verbrennungsprozess in den Schiffsmotoren entstehen Emissionen, die durch den Schiffskamin in die Atmosphäre ausgestoßen wer- den. Auf diese Weise gelangen Schadstoffe in die Luft. Die wichtigsten davon sind Schwefeloxide (SOx), Stickoxide (NOx) Kohlenstoffdioxid (CO2) sowie Rußpartikel und Feinstaub (PMx – PM steht für „Particular Matter“). Zudem enthalten Schiffsabgase noch Anteile von Schwermetall, Asche, Sedimente und flüchtige organische Verbindungen. Die Menge und die Schädlichkeit der Abgase hängen von der Zusammensetzung des Treibstoffs ab, den die Schiffe verwenden. Schweröl – der am meisten verwendete Kraftstoff auf Schiffen – verpestet die Luft am stärksten. Zudem setzen sich aus den Kaminen der Hochseeschiffe Stickstoffemissio- nen und Feinstaubpartikel im Meerwasser ab. All diese Stoffe nähren Algen und fördern deren ungehemmtes Wachstum. Sterben die Algen ab, sinken sie auf den Meeresgrund und werden von Bakterien zersetzt. Bei diesem Vor- gang wird dem Meerwasser vor allem in den tieferen Zonen der Sauerstoff entzogen. Hinzu kommt, dass sich durch die Erderwärmung die Oberflä- chenschichten des Wassers stark aufheizen und den Sauerstoffaustausch mit den tieferen Zonen behindern. Der Sauerstoffgehalt wird dort auf diese Weise so stark reduziert, dass Meeressäuger, Fische, Krebse, Muscheln und Koral- len ihre Lebensgrundlage verlieren. Wissenschaftler des Helmholtz-Zen- trums für Meeresforschung aus Kiel haben dazu Messdaten der letzten fünf Jahrzehnte ausgewertet. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Weltmeere im Vergleich zu 1960 bereits zwei Prozent weniger Sauerstoff enthalten, was der Menge von sieben Mrd. Tonnen entspricht. Kein Wunder, dass sich die Zahl der Todeszonen in den letzten 40 Jahren vervierfacht hat. Meeresforscher haben weit über 500 festgestellt. Im Golf von Oman ist eines dieser biologisch abgestorbenen Gebiete bereits größer als Österreich. Wissenschaftler und die Internationale Schifffahrtsorganisation (IMO) gehen davon aus, dass der gesamte Schiffsverkehr auf den Weltmeeren gut drei Prozent der klimaschädlichen CO2-Emissionen ausmacht. Der weltweite CO2-Ausstoß der Seeschiffe beträgt etwa eine Milliarde Tonnen – das sind mehr als die gesamten CO2-Emissionen Deutschlands und macht rund drei Prozent des von Menschen verursachten Kohlendioxids aus. Nach Berech- nungen des Umweltbundesamts betragen die Umweltschäden durch den Kohlenstoffdioxidausstoß rund 130 Mio. Euro im Jahr. Selbst wenn man kein Freund der Mega-Kreuzfahrtschiffe ist, muss man allerdings konstatieren, dass Containerschiffe, Tanker, Massengut- und

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Stückgutfrachter erheblich mehr zur Umweltverschmutzung beitragen als sie. Laut Umweltbundesamt verkehren auf den Weltmeeren 50 000 gewerb- liche Schiffe mit mehr als je 400 Tonnen Gesamtverdrängung. Die meisten davon sind Handelsschiffe wie Containerschiffe, Massen- und Stückgut- frachter und Tanker, hinzu kommen größere Fischerboote, Militärschiffe, Fähren und Kreuzfahrtschiffe. Nur etwa 500 Kreuzfahrtschiffe operieren weltweit auf den Ozeanen – das macht etwa ein Prozent aller Schiffe aus. Tatsache ist jedoch auch, dass die Kreuzfahrtindustrie seit Beginn des Jahrtausends überwiegend Großschiffe auf den Markt gebracht hat. Und diese setzen mehr Emissionen frei als vergleichbar große Containerschiffe, weil sie mehr Energie und damit mehr Treibstoff benötigen. Die größten Con- tainerschiffe und die größten Kreuzfahrtschiffe der Welt haben ungefähr die gleichen Ausmaße. Der Verbrauch der Kreuzfahrtschiffe, die über 6700 Passagiere und 2100 Besatzungsmitglieder zu versorgen haben, liegt fast ein Drittel über dem des Containerschiffs.

Müllkippe Meer

Die Abgase aus den Kaminen sind jedoch längst nicht die einzigen Umwelt- probleme, die Hochseeschiffe verursachen. Ihr Rumpf wird unterhalb der Wasserlinie von Seepocken, Muscheln und anderen Organismen bewachsen, das sogenannte Fouling. Es verlangsamt die Fahrt der Schiffe oder erhöht den Kraftstoffverbrauch. Die dadurch entstehenden Mehrkosten können bis zu 30 Prozent betragen. Um diese organischen Anhaftungen zu bekämpfen, benutzen Frachtschiffe und Kreuzfahrtschiffe hochgiftige Beschichtungen. Meistens werden biozidhaltige Anstriche verwendet. Aber diese vernich- ten nicht nur die Organismen am Schiffsrumpf, sondern geben permanent giftige Stoffe ins Wasser ab, die von Mikroorganismen in den Ozeanen auf- genommen werden und so in die Nahrungsketten von Fischen und sonstigen Meeresbewohnern gelangen. Zudem sammelt sich bei allen Schiffen auf hoher See im untersten Raum über dem Kiel („Bilge“) Wasser an, das trotz aller Abdichtungen durch den Schiffsrumpf eindringt. Dieses Bilgewasser wird regelmäßig mit Maschi- nenöl und Kraftstoffresten verunreinigt und bildet eine übel riechende Flüs- sigkeit, die auch „Kieljauche“ genannt wird. Dieses Bilgewasser soll in Tanks gepumpt und in den Häfen sachgerecht entsorgt werden. Viele Schiffe sparen sich die Kosten dafür jedoch und leiten die schmutzige Brühe direkt ins Meer. Mitten auf dem Ozean und in tiefer Nacht bleibt das fast immer unentdeckt. Ähnliches gilt für das Ein- und Auspumpen des Ballastwassers, das zur Sta- bilisierung der Schiffe in speziellen Ballasttanks aufbewahrt wird. Mit dem Wasser werden auch Organismen und Meerestiere aufgenommen, in fremde Regionen transportiert und durch das Auspumpen in die lokale Meeres- fauna entlassen. Dort haben sie oft keine natürlichen Feinde und können sich auf Kosten der einheimischen Arten ungehindert ausbreiten. Bekannte Beispiele dafür sind die Verbreitung der chinesischen Wollhandkrabben

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe 117 oder der Wandermuscheln. Nach einer Vorschrift der Internationalen See- schifffahrtsorganisation (IMO) aus dem Jahr 2017 darf Ballastwasser nicht mehr ungereinigt ausgewechselt werden. Doch einige Reeder und Kapitäne scheuen die mit dem Einbau und Betrieb von Filtern und Reinigungssyste- men verbundenen Kosten und tauschen das Seewasser nach wie vor direkt auf dem Meer aus. Sogar im Hamburger Hafen erwischt die Wasserschutz- polizei immer wieder Schiffe dabei, wie sie ihr Ballastwasser ablassen. Das ist noch längst nicht alles, was Schiffe ins Meer leiten. Ein Kreuzfahrt- passagier verbraucht durchschnittlich zwischen 200 und 300 Liter Wasser pro Tag. Dieses Wasser kommt aus dem Meer und wird durch energieaufwen- dige Entsalzungsanlagen in Trinkwasser umgewandelt. Nach dem Gebrauch wird es ins Meer zurückgeleitet. Laut den Bestimmungen der IMO dürfen Abwässer nur außerhalb der Zwölfmeilenzone vor der Küste ins Meer abge- leitet werden. Zwei Arten von Abwässern fallen an Bord an. Beim Schwarz- wasser handelt es sich vor allem um fäkal belastetes Schmutzwasser aus den Toilettensystemen. Doch auch Medikamentenreste, Bakterien, Hormone und Mikroplastik finden sich darin. Unter Grauwasser versteht man die Abwäs- ser aus den Duschen und Waschbecken, dem Swimmingpool oder der Küche. Sie sind weniger verschmutzt als das Schwarzwasser, können aber ebenfalls Arzneimittelreste und Rückstände von Körperpflegemitteln enthalten. Eine Belastung für das Meer sind ferner die Lebensmittelreste, die auf den Kreuzfahrtschiffen anfallen. In den großen Buffetrestaurants werden den Passagieren Unmengen von Essen angeboten. Strenge Hygienevorschriften, aber auch die Unsitte von Passagieren, den Teller vollzuladen und dann nur wenige Happen zu essen, führen zu gewaltigen Mengen organischer Abfälle. Bei einem größeren Kreuzfahrtschiff können es 30 Tonnen oder mehr pro Woche sein. Und die werden ins Meer verklappt – von allen Schiffen. Das geschieht durchaus im Einklang mit den Regularien der IMO. Die Lebensmit- telabfälle sind zwar nicht giftig, aber die enthaltenen Nährstoffe tragen zur Eutrophierung und damit zur Überdüngung und Algenbildung im Meer bei.

Fataler Hypertourismus in den Ausflugsorten

Akureyri ist mit 18 000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Islands. Sie liegt etwa 50 Kilometer unterhalb des Polarkreises am Ende des Eyjafjörður-Fjords und lebt überwiegend von der Fischerei und dem Handwerk. Wie bei allen isländischen Städten sind die Gebäude neueren Datums. Eigentlich gibt es nichts, was die Ortschaft zum Touristenmagneten prädestinieren würde. Doch sie dient Kreuzfahrtpassagieren als Ausgangspunkt für landschaft- liche Erkundungen im Hinterland. Hohe Wasserfälle, geothermische Are- ale, aus denen es raucht und dampft, sowie bizarre Berglandschaften sind lohnende Ausflugsziele. Außerdem steht der Golfplatz von Akureyri im Angebot, angeblich der nördlichste der Welt. Die Kreuzfahrtsaison dauert von Mai bis Ende August. Ungefähr 200 Schiffe unterschiedlicher Größe legen dann in der Stadt an; an manchen

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Tagen liegen zwei oder drei Schiffe gleichzeitig an den Piers. Eine Armada von Bussen und Jeeps wartet vor dem Hafen auf die Passagiere. Deren Groß- teil verschwindet mit den Fahrzeugen und kommt ein paar Stunden später wieder zurück. Andere nehmen an Mountainbike- oder Pedelectouren ins Hinterland teil oder können in einem Ponyhofgelände auf Islandpferden rei- ten. Unter dem Motto „Islands unberührte Natur entdecken“ bietet AIDA für 270 Euro pro Person eine siebenstündige Fahrt mit Geländewagen an, die zu einigen Wasserfällen und über enge Gebirgspässe führt. Der offensicht- liche Widerspruch, dass eine Natur nicht unberührt sein kann, durch die täg- lich Scharen von Menschen mit Allradantrieb brettern, dürfte den Anbietern zwar bewusst sein, doch der Verkaufsslogan kommt trotzdem immer gut an. Am Ausgang des Fjords halten sich während der Saison Minkwale, Buckel- wale und sogar Entenwale auf, weshalb „Whale Watching“-Touren ange- boten werden. Mit den großen Ausflugsbooten kostet so ein Trip 110 Euro; mit den Schlauchbootflitzern, die den Walen bis auf wenige Meter auf die Pelle rücken, kostet er das Doppelte. Wenn ein Schiff mit 2000 Passagieren den Ort wieder verlässt, können die Tourenmanager sich über einen Umsatz von weit über 200 000 Euro freuen. Für die Probleme, die sie dem Städtchen machen, fühlen sie sich nicht zuständig. Die sind in ihren Augen Sache der örtlichen Autoritäten. Da nicht alle Passagiere an den Ausflügen teilnehmen oder manche schon nach drei Stunden Ausflug wieder zurück sind, ergießt sich während der Kreuzfahrtsaison ein Strom von Spaziergängern durch die Fußgängerzone und die Straßen der Stadt. Es gibt keine öffentlichen Toilet- ten und kaum Cafes. Die Infrastruktur der Stadt ist auf Tourismus schlicht- weg nicht eingestellt und die Saison für aufwendige Investitionen zu kurz. Außerdem verzehren die Kreuzfahrttouristen dort nichts, weil sie Essen oder Trinken an Bord jederzeit umsonst bekommen. Thorny Bardadottir, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Akureyri und Mitarbeiterin des Icelandic Tourism Research Center, beklagt in einem norwegischen Fernsehbericht nicht nur die mangelnde Bedeutung des Schiffstourismus für die einheimische Wertschöpfung, sondern vor allem die fehlende soziale Nachhaltigkeit. Die Besucher benähmen sich wie zu Hause, hätten aber keinerlei Verständnis und Sensibilität dafür, dass die Menschen, bei denen sie zu Gast sind, Distanz, Achtung und Respekt erwarten. Wo immer ihre Schiffe anlegen, machen die Kreuzfahrtkonzerne die Ein- heimischen zu Sehenswürdigkeiten für ihre Kundschaft. Die ortsansässige Bevölkerung wird im wahrsten Sinne des Wortes entfremdet, weil sie von den Touristen zum Objekt gemacht wird. Sie gehört zu dem Warenpaket, für das die Touristen bezahlt haben. Der Vorgang der Entfremdung bezieht sich sowohl auf die Menschen selbst als auch auf deren Heimat. Die Ortsansässigen registrieren die unan- genehme Veränderung ihrer Quartiere und empfinden dies als Verlust ihres Territoriums und von Heimat. Plätze, die immer zum täglichen Leben gehört haben, gehen auf einmal verloren, weil sich fremde Gastronomen und Tou- risten dort breitmachen. Der Tourismus verbindet die Menschen nicht. Er spaltet sie und macht Fremde und Einheimische zu Gegnern.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Kreuzfahrt in die Klimakatastrophe 119

Die Kreuzfahrtmanager betonen jedoch immer wieder, dass ihre touristi- schen Strategien ausgewogen sind und den Prinzipien der sozialen Nach- haltigkeit entsprechen. Es hat den Anschein, dass „sustainability“ zum Lieblingswort aller Kreuzfahrtmanager geworden ist. Doch wenn Kreuz- fahrtmanager auf ihren Schiffen 3000, 4000 oder 6000 Touristen transportie- ren, erledigt sich der Begriff der Nachhaltigkeit von selbst. Massentourismus und Nachhaltigkeit sind ein antagonistischer Widerspruch. Der Massentou- rismus ist eine Form von unkontrollierter Gewalt, gegen die die ortsansässi- gen Bürger sich schlecht wehren können. Wer vorgibt, den Massentourismus zum sanften Tourismus umfunktionieren zu können, ist so glaubwürdig wie ein Feldherr, der einen gewaltfreien Krieg führen möchte.

Die Verantwortung von uns allen

Man könnte daher das moderne Phänomen des Massentourismus auf hoher See als zivilisierte Barbarei oder als Erscheinungsform einer barbarischen Zivilisation bezeichnen. Die zivilisierten Aspekte sind in diesem Zusammen- hang vor allem in dem hohen Maß an Organisation und Logistik sowie dem technischen Know-how zu sehen, das diese Form des Reisens erst möglich macht. Das barbarische Element zeigt sich in der Ignoranz gegenüber der Natur, dem rücksichtslosen Streben nach schnellen Profiten, der monströ- sen Banalität der Unternehmens- und Erlebnisphilosophien sowie der igno- ranten und parasitären Einstellung gegenüber der Kultur und den Lebens- gewohnheiten der Menschen in den Anlaufregionen. Die Menschen, die es auf die schwimmenden Ferienfabriken zieht, tra- gen Verantwortung dafür, was auf und mit den Weltmeeren passiert. Man wird ihre Einstellung nicht nur durch Aufklärung ändern können. Wenn die einheimische Bevölkerung sich immer stärker gegen den Massentouris- mus wehrt und ihren Protest energisch zum Ausdruck bringt, setzt das dem Ansturm der unerwünschten Besucher mitsamt seinen negativen Effekten spürbare Grenzen. Dennoch lassen sich die Probleme des Kreuzfahrttourismus nicht allein durch den guten Willen oder solidarisches Handeln der Verbraucher aus der Welt schaffen. Sie müssten vor allem dadurch bekämpft werden, dass nati- onale und internationale Institutionen ihre Aufsichts- und Kontrollfunktio- nen wahrnehmen. Dies bedeutet aber, dass die politischen Repräsentanten anfangen, sich kritischer mit der Kreuzfahrtindustrie und dem Massentou- rismus auseinanderzusetzen. Ein konsequentes Umdenken gegenüber dem fragwürdigen Geschäfts- gebaren der großen Kreuzfahrtunternehmen sowie den negativen Begleit- umständen des Kreuzfahrt- und Massentourismus ist dringend notwendig. Auch deshalb ist es wichtig, immer wieder auf die soziale und ökologische Unverträglichkeit der Massenkreuzfahrten hinzuweisen und institutionelle Restriktionen durchzusetzen. Einlaufverbote für Großschiffe, die keine Abgasreinigungsanlagen haben, – so wie es die Umweltschutzorganisation

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NABU für Hamburg fordert – können zum Beispiel ein Schritt in die richtige Richtung sein. Statt systematisch Monster- und Albtraumschiffe anzulocken und zu umgarnen, sollten sich Regierungen, Institutionen und Städte eher Gedan- ken darüber machen, wie man sie erfolgreich abwehrt und vergrämt. Die Kreuzfahrtriesen profitieren immens von der Inanspruchnahme der Infra- strukturen, die von den Anlaufhäfen und den Gastländern zur Verfügung gestellt werden. Doch für die Unterhaltung dieser aufwendigen Systeme werden sie bisher kaum zur Kasse gebeten. Auch für die ökologischen Schä- den, die sie anrichten, leisten sie keinerlei Entschädigungszahlungen. Das Mindeste wäre, für sie die Liegegebühren in den Häfen zu erhöhen und angemessene Einlaufabgaben zu fordern. Nicht zuletzt sollten die Staaten des globalen Nordens dafür Sorge tragen, dass der Grundsatz der fairen Ent- lohnung und gleichen Bezahlung auf den Schiffen beachtet wird. Die Giganten der Kreuzfahrtbranche sollten nicht mehr als willkommene Partner der Politik gesehen werden, sondern realistisch als das, was sie von Anfang an waren: profitgierige, trickreiche, egoistische und expansive Unternehmen. Ihre Gewinne sind so ungewöhnlich hoch, dass deren Redu- zierung zwar Hedgefonds und Großaktionäre schmerzen würde, aber sonst keine gravierenden Konsequenzen hätte. Wenn der Begriff der Nachhaltigkeit nicht zur bloßen Sprachhülse ent- wertet werden soll, müssen drei wichtige Bedingungen erfüllt werden: Dazu braucht man Schiffe, die weitgehend umweltneutral eingesetzt werden kön- nen, eine faire Bezahlung aller Mannschaftsangehörigen sowie einen öko- logisch, kulturell und sozial verträglichen Tourismus in den Zielorten. Die modernen Großschiffe der Kreuzfahrtveranstalter erfüllen keine einzige die- ser Bedingungen. Schon allein aufgrund ihrer Dimensionen können sie gar nicht ökologisch betrieben werden: Ihr Energiebedarf ist gewaltig, Emissio- nen und Abfälle sind enorm, die Beeinträchtigungen und Zerstörungen der maritimen Flora und Fauna vielfältig. Die Geschäftsgrundlage der Betrei- ber beruht im Wesentlichen darauf, Löhne und Gehälter zu zahlen, die weit unterhalb des Standards entwickelter Staaten liegen. Und wenn Tausende von Passagieren in Orte strömen, die sowieso schon im Fadenkreuz des Mas- sentourismus stehen, oder in kleine Orte einfallen, denen jede Infrastruktur für einen solchen Ansturm fehlt, kann von soziokultureller Nachhaltigkeit keine Rede sein. Wer heute eine Kreuzfahrt unternehmen möchte, sollte sich daher für Qua- litätsreisen entscheiden, die den sozialen und ökologischen Nachhaltigkeits- standards einigermaßen entsprechen. Doch das sind nur wenige kleinere und nicht eben preiswerte Schiffe. Für Schnäppchenpreise sollte das Meer jedenfalls nicht mehr zu haben sein.

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Die rechte Gefahr Von Caro Keller

Nach dem Mord an Walter Lübcke, der am 2. Juni 2019 offensichtlich von einem Neo- nazi auf der Terrasse seines Hauses bei Kas- sel erschossen wurde, entzündete sich eine bemerkenswerte gesellschaftliche Debatte. Bemerkenswert war sie deshalb, weil sie diese Tat – anders als bei anderen neonazisti- schen Gewalttaten – nicht einem „verwirrten Einzeltäter“ zuschrieb. Vielmehr wurde all- gemein betont, wie sehr sich seit 2013 der Dis- kurs in Deutschland nach rechts verschoben hat, wie erschreckend normal rechte Hetze geworden ist – und dass diese Entwicklung die terroraffine Neonaziszene ermutigt, zur Tat zu schreiten. Selbst führende CDU-Politi- ker*innen wiesen darauf hin, dass die AfD zu dieser Verrohung massiv beigetragen hat. Matthias Quent: Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Gleichzeitig betonten nicht wenige Macht greifen und wie wir sie stoppen Expert*innen, dass der Mord an Walter können. Piper, München 2019, 304 S., 18 Euro. Lübcke auch im Zusammenhang mit der nicht vollständig erfolgten Aufklärung des NSU-Komplexes gesehen werden müsse.1 Die Parallelen sind in der Tat augenfällig: Als letztes Opfer dieser rassisti- schen Mordserie wurde 2006 Halit Yozgat ebenfalls in Kassel umgebracht. Und Stephan Ernst, der zeitweilig geständige Verdächtige im Mordfall Lüb- cke, stammt aus der gleichen Neonazi-Generation wie die NSU-Mitglieder. Er bewegte sich zudem in Strukturen, die im Verdacht stehen, auch den NSU bei dessen Mordserie unterstützt zu haben. Ernsthafte Ermittlungen und die vollständige Zerschlagung des NSU-Netzwerks hätten den Mord an Walter Lübcke also möglicherweise verhindern können. Neben dem Entsetzen schwang in dieser Debatte mit, dass nun endlich ernsthaft etwas gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck, die Neonaziszene und rechten Terror getan werden müsse. Dies fordert schon lange Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena.

1 Vgl. dazu die Beiträge von Martin Steinhagen und Thomas Moser in dieser Ausgabe.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 122 Buch des Monats

Passend zu dieser dringend notwendigen breiten Diskussion legt er nun sein neues Buch „Deutschland rechts außen“ vor, das sich im Unterschied zu sei- nen wissenschaftlichen Veröffentlichungen an ein breites Publikum richtet. Obwohl das Buch vor dem Mord an Walter Lübcke fertiggestellt wurde, geht es auf alle wichtigen Stränge der aktuellen Diskussion ein. Es liest sich somit als eine treffende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation. Quent verfolgt in seinem Buch drei Themenstränge. Im Vordergrund steht eine Analyse des gesamten Spektrums extrem rechter Organisationen in Deutschland. Dabei unterstreicht der Soziologe: „Wer den Rechtsradikalis- mus verstehen will, muss seine Nähe zur Gewalt – sei sie in offener Aggres- sion oder in drohender Manier – einbeziehen. Und wer das, was derzeit in unserer Gesellschaft geschieht, verstehen will, muss die Kontinuität des Rechtsradikalismus berücksichtigen.“ Gleichzeitig zeigt Quent anhand vieler anschaulicher Beispiele und Statis- tiken auf, dass die radikale Rechte – bei aller mörderischen Gefahr, die von ihr ausgeht – gesellschaftlich nicht so mächtig ist, wie sie scheint. Er stärkt so allen, die für eine offene Gesellschaft einstehen, den Rücken: Der Slogan „Wir sind mehr“ ist nicht nur eine Floskel, sondern gesamtdeutsche Reali- tät. Aus diesen beiden Themensträngen folgt der dritte, in dem Quent Hand- lungsmöglichkeiten gegen rechts beschreibt. Dort plädiert er für eine kämp- ferische Zivilgesellschaft, die die erreichte größere Gleichberechtigung und Teilhabe verteidigen und weiter vorantreiben muss. Gegenüber rechts gelte es, „den Kurs der klaren Kante beizubehalten und die Instrumente für die neuen Formen des Rechtsradikalismus zu schärfen“.

Der Widerstand der Privilegierten

Klare Worte findet Quent für die radikale Rechte im Allgemeinen und die AfD im Besonderen. Das ist auch folgerichtig, geht er doch davon aus, „dass nicht Verharmlosung und Integration, sondern klare Abgrenzung und Verurtei- lung des Rechtsradikalismus“ den rasanten rechten Vormarsch zurückdrän- gen können. Dazu sei aber eine genaue Kenntnis von Neonazistrukturen und deren Ideologie vonnöten. Quent zieht dabei die Kontinuitätslinien vom Auf- stieg des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik über die Geschichte des Rechtsradikalismus nach 1945 und den NSU bis heute. Als verbindende Momente zwischen den verschiedenen Phasen des deutschen Rechtsradi- kalismus beschreibt er die jeweiligen Versuche, gegen gesellschaftliche Öffnung und Teilhabe vorzugehen. Ideologische Kristallisationspunkte sind dabei völkischer Antisemitismus, Antiliberalismus, Rassismus und Sexismus. Damit sei auch an der sogenannten Neuen Rechten nichts wirklich Neues. Diese versuche vielmehr bloß, erreichte Fortschritte rückgängig zu machen: „Der Backlash ist der Widerstand der Privilegierten, die sich gegen Versu- che benachteiligter Gruppen wenden, ihre Benachteiligung zu überwin- den.“ Dabei tappt Quent jedoch nicht in die Falle, die progressiven Kräfte für

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Buch des Monats 123 den Rechtsruck verantwortlich zu machen. Die Rechten erscheinen bei ihm nicht als vermeintliche Opfer gesellschaftlicher Modernisierung. Er benennt hingegen ganz klar die Motive der rechten Akteur*innen und Ideolog*in- nen und beschreibt ihr Projekt letztlich als ein nationalsozialistisches: „Der Rechtsradikalismus will zunächst seine Machtbasis in der politischen Kul- tur ausbauen, um dann einen politischen Umsturz anzuzetteln. Sein Ziel ist es, die Öffentlichkeit wieder an antisemitische, rassistische, nationalistische und rückwärtsgewandte Töne zu gewöhnen.“

Die offene Gesellschaft

Die Rechten, das betont Quent immer wieder, sind aber trotz wahrnehm- barer Diskursverschiebungen in dieser Gesellschaft nicht in der Mehrheit. Im Gegenteil, stellt er fest, dass „die Gesellschaft in Deutschland heute so offen eingestellt ist wie nie zuvor. […] Es ist das Ergebnis langer sozia- ler und politischer Kämpfe von zahllosen Menschen [...], die sich nicht mit Diskriminierung und Hass, Demokratieverdrossenheit und antimodernem Denken abgefunden haben, sondern die sich immer wieder kritisch einge- mischt, protestiert und gezeigt haben, dass eine andere und bessere Zukunft möglich ist.“ Gleichzeitig dringt Quent aber auch darauf, sich nicht auf dieser Mehrheits- position auszuruhen. Denn das hieße, dem Trugschluss aufzusitzen, das Pro- blem des aggressiven rechten Machtstrebens würde sich von selbst erledigen: „Ob der Griff nach der Macht über den Geist künftig erfolgreich ist, hängt nicht von der radikalen Rechten ab, wie diese gern glauben machen möchte, sondern von der Mehrheit, die für die offene Gesellschaft einsteht.“ In diesem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, in diesem Kampf um Deutungsho- heit und Durchsetzung gelte es, die Arena nicht kampflos preiszugeben. Das Buch von Matthias Quent verspricht bereits im Untertitel, es werde Strategien liefern, wie der rechte Griff nach der Macht gestoppt werden könnte. Diesem Anspruch wird der Band in der Tat gerecht. Der Jenaer Sozio- loge fordert: Ein Einknicken vor den Rechten dürfe es nicht geben; man dürfe Rechtsradikale nicht als diskursfähig adeln, um „sich dafür von ihnen verhöh- nen zu lassen“. Stattdessen müssten im Geist von Freiheit und Solidarität neue Visionen gesucht werden: „Wir alle können mehr Freiheit und Zufriedenheit finden, wenn wir den identitären Druck und die damit verbundenen Rollen- erwartungen aufgeben und uns als gleichwertige Menschen verstehen und begegnen.“ Um die Dringlichkeit seiner Forderung deutlich zu machen, zieht Quent an dieser Stelle eine Parallele zur Entstehung des Nationalso- zialismus: „Das Dritte Reich konnte nur entstehen, weil sich zu wenig Deut- sche gegen die Nazis und für die Demokratie einsetzten.“ Dennoch ist sein Buch frei von Alarmismus oder gar Fatalismus, vielmehr unterstreicht er die Notwendigkeit des Handelns. So kann „Deutschland rechts außen“ in der aktuellen Situation Mut machen, sich selbstbewusst der Auseinander- setzung mit der radikalen Rechten zu stellen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Das Repräsentantenhaus verurteilt Präsident Donald Trumps rassistische Kommentare« Resolution des US-Repräsentantenhauses, 16.7. 2019 (engl. Originalfassung)

• »Aufstehen für unser Europa« Bewerbungsrede von Ursula von der Leyen im Europaparlament, 16.7.2019

• »Jeder neunte Mensch auf der Welt leidet Hunger« UN-Bericht, 15.7.2019 (engl. Originalfassung)

• »Nur ein Drittel der Deutschen betrachtet den Islam als Bereicherung« Studie der Bertelsmann-Stiftung, 11.7.2019

• »Auch vier Jahre nach seiner Einführung arbeiten viele Menschen unterhalb des Mindestlohns« Studie des DIW, 10.7.2019

• »Die Klimaerwärmung trifft Metropolen besonders hart« Studie der ETH Zürich, 10.7.2019 (engl. Originalfassung)

• »Der Wasserschutz in der EU droht untergraben zu werden« Analyse des WWF, 10.7.2019

• »Klimawandel erschwert Armutsbekämpfung« Sustainable Development Goals Report der Vereinten Nationen, 9.7.2019 (engl. Origi- nalfassung)

• »In Venezuela kommt es zu Folter und willkürlichen Verhaftungen« Bericht der Vereinten Nationen, 5.7.2019 (engl. Originalfassung)

• »Aufforstung ist effektiver Klimaschutz« Studie der ETH Zürich, 4.7.2019

• »Mieten in deutschen Großstädten steigen seit 2016 um sechs Prozent jähr- lich« Wohngeld- und Mietenbericht des Bundesbauministeriums, 3.7.2019

• »Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge zieht nach Europa« Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, 3.7.2019

• »Die Auffanglager für Migranten sind gefährlich überfüllt« Bericht der US-Homeland Security, 2.7.2019 (engl. Originalfassung)

• »Die Erfahrungen von Überlebenden rechter Gewalt müssen in die Bekämp- fung des Rechtsterrorismus einbezogen werden« Pressemitteilung des Verbands der Beratungsstellen für die Opfer rechter Gewalt, 20.6.2019

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Chronik des Monats Juni 2019

1.6. – Ukraine. Die Außenminister Maas Tathergang und Hintergründe bekannt. (Deutschland), Le Drian (Frankreich) und der Spuren führen ins rechtsextreme Milieu. neue ukrainische Präsident Selensky (vgl. – SPD. Die Partei- und Fraktionsvor- „Blätter“, 6/2019, S. 127 und 7/2019, S. 125) sitzende kündigt überra- kündigen nach einem Treffen in Kiew einen schend ihren Rückzug von beiden Funk- neuen Versuch an, um den festgefahrenen tionen an. Die Diskussion und „die vielen Friedensprozess in der umkämpften Ostuk- Rückmeldungen aus der Partei haben mir raine wieder in Gang zu bringen. Auch die gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Äm- Gespräche mit Russland sollen wiederbe- ter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist“. lebt werden. – Vom 5.-6.6. besucht Selensky Das Land brauche eine starke SPD. Der stell- die Institutionen der Europäischen Union vertretende SPD-Vorsitzende Vizekanzler in Brüssel. Ratspräsident Tusk sagt der Uk- Scholz schließt eine Fortsetzung der Großen raine weitere Unterstützung zu: „Wir werden Koalition nach Ende der Legislaturperiode ihre besten Freunde und zuverlässigen Ver- aus. Drei Große Koalitionen in Folge „wür- bündeten bleiben.“ Selensky bekräftigt den den der Demokratie in Deutschland nicht prowestlichen Kurs seines Vorgängers Poro- gut tun“. Eine Fortsetzung der Koalition schenko: „Das hat in der ukrainischen Au- nach 2021 wolle niemand, nicht die Bürger, ßenpolitik Priorität.“ – Am 18.6. wird Selens- nicht die Union, „und wir schon gar nicht“. ky in Berlin mit militärischen Ehren emp- Mit der Führung der Partei werden zunächst fangen. Themen der Gespräche mit Bundes- die stellvertretenden Vorsitzenden Malu kanzlerin Merkel sind vor allem der Krieg in Dreyer, Manuela Schwesig und Torsten der Ostukraine und die deutsch-russische Schäfer-Gümbel beauftragt. Die „Troika“ Gaspipeline Nordstream Zwei. Merkel be- soll auch die Formalitäten für die Neuwahl tont, die Sanktionspolitik gegen Russland der Führungsgremien auf einem Parteitag müsse so lange weitergehen, bis die Krim Ende des Jahres vorbereiten. zur Ukraine zurückgekehrt sei. 3.6. – Finnland. Vertreter der Sozialdemo- – Naher Osten. Die Organisation für Is- kraten, der Zentrumspartei, der Schwe- lamische Zusammenarbeit (OIC), der 57 Mit- dischen Volkspartei, der Grünen und der gliedstaaten angehören, stellt auf einem Linken einigen sich auf ein neues Regie- Gipfel in Mekka einen Friedensplan vor. rungsprogramm. Ministerpräsident soll ein Frieden und Stabilität in der Region, so heißt Sozialdemokrat werden. es, sei nur „mit dem Rückzug Israels aus den 4.6. – Tschechien. Auf dem Wenzelsplatz 1967 besetzten Gebieten“ zu erreichen. Die in Prag demonstrieren Zehntausende und Gipfelteilnehmer verurteilen die Verlegung fordern den Rücktritt von Regierungschef der US-Botschaft nach Jerusalem und rufen Andrej Babis, dem Korruption vorgeworfen zu einem Boykott aller Länder auf, die dem wird. Milliardär Babis, der als zweitreichs- Beispiel Washingtons folgen. König Salman ter Mann des Landes gilt, soll unrechtmäßig von Saudi-Arabien, Gastgeber in Mekka, EU-Subventionen bezogen haben. erklärt, man werde nicht ruhen, bis alle „le- 5.6. – EU. Der für den Euro zuständige gitimen Ansprüche“ des palästinensischen Vizepräsident Valdis Dombrovskis erklärt in Volkes erfüllt seien. Brüssel, nach einer Analyse der wirtschaft- 2.6. – Hessen. Der Kasseler Regierungsprä- lichen Lage Italiens und der Reformpläne sident Walter Lübcke wird auf der Terrasse der Regierung in Rom halte die Kommission seines Privathauses durch einen Kopfschuss ein Defizitverfahren aufgrund der Schul- aus nächster Nähe getötet. Die Bundesan- densituation für gerechtfertigt. – Am 18.6. waltschaft übernimmt die Ermittlungen. Die vertagen die zuständigen Minister aus den Polizei kann einen möglichen Täter festneh- Mitgliedstaaten erneut die Entscheidung men, der nach einigen Tagen ein Geständnis über den Beginn von Beitrittsverhandlun- ablegt, später jedoch widerruft. Nach und gen mit Nord-Mazedonien und Albanien. nach werden immer mehr Einzelheiten über Im Vorfeld hatten Frankreich, die Nieder-

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 126 Chronik lande und Dänemark grundsätzliche Beden- 10.6. – Kasachstan. Übergangspräsident ken geäußert. Ebenfalls am 18.6. bezeichnet Tokajew (vgl. „Blätter“, 5/2019, S. 126) lässt der Gerichtshof der Europäischen Union sich bei einer umstrittenen Wahl im Amt be- (EuGH) die geplante deutsche PKW-Maut stätigen. Die Polizei geht mit Gewalt gegen als diskriminierend. Sie verstoße gegen das Demonstranten vor, die eine Demokratisie- einschlägige EU-Recht und belaste aus- rung und mehr Mitsprache fordern. Beob- schließlich die Fahrzeughalter in den ande- achter der Organisation für Sicherheit und ren Mitgliedstaaten. Bundesverkehrsminis- Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisie- ter Scheuer (CSU) erklärt in Berlin, die Maut ren den Wahlverlauf und die Unterdrückung sei in dieser Form vom Tisch. – Am 20./21.6. der Freiheitsrechte. befassen sich die Staats- und Regierungs- 14.6. – Russland. Örtliche Medien melden, chefs mit der anstehenden Neubesetzung die Behörden hätten damit begonnen, ge- wichtiger EU-Posten. Vor allem geht es um mäß einem Erlass von Präsident Putin rus- die Nachfolge des Kommissionspräsiden- sische Pässe an Ukrainer aus den von Sepa- ten, des Luxemburger Jean-Claude Juncker, ratisten kontrollierten Teilen der Donbass- dessen Amtszeit ausläuft. Außerdem wird Region auszugeben. Die Empfänger seien beschlossen, die Wirtschaftssanktionen ge- aufgefordert worden, ihre Fingerabdrücke gen Russland erneut zu verlängern. Die Ver- abzugeben und den Eid auf die Verfassung längerung gilt ab 31. Juli 2019 für weitere der Russischen Föderation zu leisten. sechs Monate. – Am 24.6. urteilt der EuGH, – USA/Polen. Die „Neue Zürcher Zei- die umstrittenen Zwangspensionierungen tung“ berichtet, Präsident Trump habe ge- am Obersten Gericht Polens verstoßen ge- genüber dem polnischen Präsidenten Duda gen europäisches Recht. angedeutet, in Washington sei geplant, die 5.-6.6. – D-Day. In der Nähe der Hafenanla- US-Truppenpräsenz in Polen zu erhöhen. Im gen der südenglischen Stadt Portmouth und Gespräch seien weitere 2000 Soldaten. Es an den Stränden der Normandie finden Ge- handele sich nicht um zusätzliche Truppen, denkfeiern zum 75. Jahrestag der Landung sondern es gehe darum, innerhalb Euro- alliierter Truppen zur Befreiung Europas pas Truppen zu verlegen, aus Deutschland vom deutschen Faschismus statt. An den oder von anderen Orten. Trump habe bei Feierlichkeiten nehmen Kriegsveteranen, dieser Gelegenheit seine Kritik wiederholt, Staats- und Regierungschefs westlicher Deutschland komme seinen Verpflichtun- Staaten sowie geladene Gäste teil. Die Lan- gen innerhalb der Nato nicht nach. deoperation „Neptun“ gilt als Anfang vom 16.6. – China. In Hongkong demonstrieren Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei einer ge- erneut Hunderttausende gegen ein geplan- meinsamen Begehung des Militärfriedhofs tes Gesetz, das unter bestimmten Bedin- Colleville-sur-Mer bei Bayeux wendet sich gungen die Auslieferung von Personen an Frankreichs Präsident Macron an seinen Behörden der Zentralregierung ermöglicht. US-Kollegen: „Amerika, lieber Präsident Die Sicherheitskräfte setzen Tränengas, Trump, ist immer dann am größten, wenn Pfefferspray und Gummigeschosse ein. Die es für die Freiheit für die anderen gekämpft umstrittene Vorlage wird von den örtlichen hat.“ Behörden zunächst „zurückgestellt“. Die 5.-7.6. – Russland/China. Präsident Putin Demonstrationen gehen jedoch verstärkt empfängt Staats- und Parteichef Xi Jinping weiter. In Sprechchören wird die Freilas- zu einem Staatsbesuch in Moskau. Xi nimmt sung festgenommener Mitstreiter gefordert. während seines Aufenthalts am Interna- Die ehemalige britische Kronkolonie Hong- tionalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg kong ist seit dem 1. Juli 1997 eine „Sonder- teil. verwaltungszone“ und Teil der Volksrepub- 7.6. – Nato. Die USA leiten Schritte zum lik China („ein Land, zwei Systeme“). Ausschluss der Türkei aus dem F-35-Kampf- 18.6. – USA. Mit einer Großkundgebung jetprogramm der Verteidigungsgemein- im Amway Center in Orlando (Bundesstaat schaft ein. Der Türkei wird vorgeworfen, Florida) startet Präsident Donald Trump of- sich russische S-400-Systeme zu beschaf- fiziell seine Kampagne zur Wiederwahl. In fen. Präsident Erdogan hatte erklärt, die einer Rede übt Trump wie gewohnt Kritik Türkei werde am Kauf dieses Systems fest- an den Medien und greift frontal die „ra- halten. dikalen“ Demokraten an, die „unser Land

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Chronik 127 zerstören und den Sozialismus einführen“ nien sieht u.a. ein Verbot der Lieferung von wollten. Kleinwaffen in Länder außerhalb der Nato 20.6. – USA/Iran. Das Verteidigungsminis- und EU vor. Der Verbleib exportierter Waf- terium in Washington bestätigt den Ab- fen soll stärker kontrolliert werden. schuss einer US-Aufklärungsdrohne durch – Bundestag.Parlamentspräsident das iranische Militär. Die Drohne habe sich Schäuble (CDU) gibt vor Beginn der Plenar- „im internationalen Luftraum“ über der sitzung eine Erklärung ab. Zur Ermordung Straße von Hormuz befunden. Im Iran heißt des Kasseler Regierungspräsidenten Lüb- es dagegen, die Drohne sei im Luftraum des cke heißt es, sollten sich die Vermutungen Landes abgeschossen worden. Medien be- der Bundesanwaltschaft über die Tatmotive richten übereinstimmend, Präsident Trump bestätigen, wofür vieles spreche, „haben habe zunächst einen Vergeltungsschlag ge- wir es mit einem erschreckenden Ausmaß gen den Iran erwogen, in letzter Minute je- an rechtsextremistischer Gewalt zu tun“. doch abgeblasen, da eine zu hohe Zahl von Menschenfeindliche Hetze sei auch heute Todesopfern befürchtet wurde. – Am 24.6. der Nährboden für Gewalt bis hin zu Mord; unterzeichnet Trump eine präsidiale Verfü- wer diesen Nährboden dünge, mache sich gung mit neuen Sanktionen gegen den Iran, mitschuldig. „Das sollte auch der Letzte jetzt die sich erstmals gegen den Führer der Isla- verstanden haben.“ mischen Republik Ayatollah Khamenei rich- 28.6. – Iran-Abkommen. Vertreter Chinas, ten. Der Präsident macht Khamenei auch für Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens den Abschuss der Drohne sowie für einen sowie Russlands (4+1) beraten in Wien mit Angriff auf Öltanker im Golf von Oman ver- dem Vizeaußenminister des Iran über Mög- antwortlich. lichkeiten, das Atom-Abkommen auch nach 20.-21.6. – China/Korea. Präsident Xi Jin- dem Ausscheiden der USA fortzuführen. Be- ping kommt zu einem Staatsbesuch in die obachter sprechen von der „letzten diploma- Demokratische Volksrepublik Korea (Nord- tischen Chance“, um die Vereinbarung zu korea), wo er in der Hauptstadt Pjöngjang retten. Der Iran hatte den übrigen Vertrags- von Staatsführer Kim Jong-un empfangen partnern eine Frist gesetzt, die Anfang Juli wird. Für Xi ist es der erste Besuch in dem d.J. ausläuft (vgl. „Blätter“, 7/2019, S. 126). Nachbarland. – Am 28.6. trifft sich Xi Jin- 28.-29.6. – G20-Gipfel. Die Vertreter der ping am Rande des G20-Gipfels in Osa- 20 führenden Industrie- und Schwellenlän- ka mit dem südkoreanischen Präsidenten der beraten in der japanischen Stadt Osaka Moon Jae In. Xi informiert Moon über sei- u.a. über Handelsfragen und Klimaschutz. nen Besuch in Pjöngjang und erklärt, Nord- Verabschiedet wird eine „Osaka-Erklärung korea sei weiterhin bereit, auf das Ziel der über digitale Wirtschaft“. Bis zur Minister- nuklearen Abrüstung und der Versöhnung konferenz der Welthandels-Organisation mit Südkorea hinzuarbeiten. (WTO) im Juni 2020 sollen Regeln für den 23.6. – Türkei. Die auf Antrag der regie- elektronischen Handel diskutiert werden. renden Partei für Gerechtigkeit und Ent- 30.6. – Korea/USA. Präsident Trump unter- wicklung (AKP) vom Obersten Wahlgericht bricht den Rückflug vom G20-Gipfel im ja- annullierte Wahl des Bürgermeisters von panischen Osaka, um sich erneut mit dem Istanbul (vgl. „Blätter“, 7/2019, S. 125) wird nordkoreanischen Führer Kim Jong-un zu wiederholt. Erneut liegt der Kandidat der op- treffen (vgl. „Blätter“, 4/2019, S. 127). Die positionellen Republikanischen Volkspartei überraschende Begegnung findet in Pan- (CHP) Ekrem Imamoglu vorn. Imamoglu er- munjom an der Grenze der beiden korea- hält 54 Prozent der Stimmen, der AKP-Kan- nischen Staaten statt. Nach einem kurzen didat Binali Yildirim erhält 45 Prozent. Präsi- Händedruck mit Kim überquert Trump als dent Erdogan gesteht die Niederlage seiner erster amtierender Präsident der USA die AKP ein und beglückwünscht Imamoglu Grenze und betritt nordkoreanischen Bo- zum Wahlsieg. Der „nationale Wille“ habe den. Vor der Presse betont der US-Präsident, sich „einmal mehr gezeigt“. Kim sei ihm ein „besonders guter“ Freund 26.6. – Bundesregierung. Das Kabinett be- geworden. Nach dem Treffen der beiden schließt eine Verschärfung der Regeln für Politiker heißt es, die Gespräche über das Rüstungsexporte. Die Neufassung der seit nordkoreanische Atomprogramm sollten fast 20 Jahren geltenden Ausfuhrrichtli- wieder aufgenommen werden.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Zurückgeblättert...

Vor 60 Jahren untersuchte der marxistische Philosoph und langjährige »Blätter«-Autor Hans Heinz Holz in zwei grund- legenden Analysen »Selbstbewußtsein und Krise des Libera- lismus« (8/1959, S. 646-658, und 10/1959, S. 875-883).

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Die gemeinnützige Blätter-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V. gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die »Blätter für deutsche und internationale Politik« heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die »Blätter« er- scheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugs- fähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 40147, 10061 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 10 Euro, im Abonnement jährlich 84,60 Euro (ermäßigt 67,20 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint zeitgleich mit der Dezemberausgabe auf www.blaetter.de. Heft 9/2019 wird am 30.8.2019 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E.

Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2019 Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Jan M. Piskorski Autorinnen und Autoren dieses Heftes Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Samantha Power Ian Kershaw Heribert Prantl Samir Amin Norbert Frei Hans Blix, geb. 1928 in Uppsala/ Annett Mängel, geb. 1976 in Rode- Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Ulrich K. Preuß Schweden, PhD, Jurist, ehem. Außen- wisch, Politikwissenschaftlerin und Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Karin Priester minister Schwedens, ehem. Generaldi- Germanistin, „Blätter“-Redakteurin. Franziska Augstein Georg Fülberth Naomi Klein Avi Primor rektor der Internationalen Atomener- Uri Avnery James K. Galbraith Alexander Kluge Tariq Ramadan gie-Organisation, ehem. Vorsitzender Mariana Mazzucato, geb. 1968 in Susanne Baer Heinz Galinski Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann der UN-Rüstungskommisson, Mitglied Rom/Italien, Professorin für Wirt- Patrick Bahners Johan Galtung Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma der sicherheitspolitischen NGO „Euro- schaftswissenschaften am University Egon Bahr Timothy Garton Ash Otto Köhler Jens G. Reich pean Leadership Network“. College London und an der University Etienne Balibar Bettina Gaus Walter Kreck Helmut Ridder of Sussex/Großbritannien. Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling Micha Brumlik, geb. 1947 in Davos/ Paul Krugman Romani Rose Schweiz, Dr. phil., Prof. em. für allge- Wolfgang Meyer-Hentrich, geb. 1949 meine Erziehungswissenschaften an in Leverkusen, Historiker, Politikwis- Adam Krzeminski Rossana Rossandra In den »Blättern« der Universität Frankfurt a.M., „Blät- senschaftler und Soziologe, lebt als Erich Kuby Werner Rügemer ter“-Mitherausgeber. Publizist und Autor in Köln. schrieben bisher Jürgen Kuczynski Irene Runge Charles A. Kupchan Bertrand Russell Felix Butzlaff, geb. 1981 in Celle, Dr. Thomas Moser, geb. 1958 in Bracken- Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto disc. pol., Politikwissenschaftler am heim, Politikwissenschaftler, freier Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Oskar Lafontaine Saskia Sassen Institut für Gesellschaftswandel und Journalist. Fritz Bauer Heiner Geißler Claus Leggewie Albert Scharenberg Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirt- Yehuda Bauer Susan George Gideon Levy Fritz W. Scharpf schaftsuniversität Wien. Robert Pausch, geb. 1991 in Kassel, Ulrich Beck Sven Giegold Hans Leyendecker Hermann Scheer Politikwissenschaftler, Redakteur im Seyla Benhabib Peter Glotz Jutta Limbach Robert Scholl Wolfgang Engler, geb. 1952 in Dres- Politikressort der „Zeit“. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Birgit Mahnkopf Karen Schönwälder den, Dr. sc. phil., Professor fur Kultur- soziologie und Ästhetik, langjähriger Christine Pütz, geb. 1967, Dr. phil, Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Peter Marcuse Friedrich Schorlemmer Rektor der Hochschule fur Schauspiel- Politikwissenschaftlerin, Referentin Ernst Bloch André Gorz Mohssen Massarrat Harald Schumann kunst „Ernst Busch“ in Berlin. Europäische Union der Heinrich-Böll- Norberto Bobbio Glenn Greenwald Ingeborg Maus Gesine Schwan Stiftung in Berlin. E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Bill McKibben Dieter Senghaas Gudrun Hentges, geb. 1964 in Wittlich, Thilo Bode Jürgen Habermas Ulrike Meinhof Richard Sennett Dr. phil., Professorin für Politikwissen- Daniel Rafecas, geb. 1967 in Buenos Bärbel Bohley Sebastian Haffner Manfred Messerschmidt Vandana Shiva schaft, Bildungspolitik und Politische Aires, Dr. iur., Jurist, Professor für Heinrich Böll Stuart Hall Bascha Mika Alfred Sohn-Rethel Bildung an der Universität zu Köln. Strafrecht, Bundesrichter in Argenti- Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Pankaj Mishra Kurt Sontheimer nien. Ulrich Brand Heinrich Hannover Robert Misik Wole Soyinka Caro Keller, Kommunikationswissen- Karl D. Bredthauer David Harvey Hans Mommsen Nicolas Stern schaftlerin, Redakteurin beim antifa- Eva van de Rakt, geb. 1973, Büroleite- Micha Brumlik Amira Hass Wolfgang J. Mommsen Joseph Stiglitz schistischen Bündnis NSU-Watch. rin der Heinrich-Böll-Stiftung Euro- Nicholas Carr Christoph Hein Albrecht Müller Gerhard Stuby päische Union in Brüssel. Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Herfried Münkler Emmanuel Todd freier Journalist in Berlin. Norbert Reuter, geb. 1960 in Wegberg, Daniela Dahn Detlef Hensche Adolf Muschg Alain Touraine Dr. rer. pol., Volkswirtschaftler, Leiter Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Gunnar Myrdal Jürgen Trittin Daniel Leisegang, geb. 1978 in Unna, der Tarifpolitischen Grundsatzabtei- György Dalos Ulrich Herbert Wolf-Dieter Narr Hans-Jürgen Urban Politikwissenschaftler, „Blätter“-Re- lung der ver.di-Bundesverwaltung. Mike Davis Seymour M. Hersh Klaus Naumann Gore Vidal dakteur. Alex Demirovic Hermann Hesse Antonio Negri Immanuel Wallerstein Julia Schweers, geb. 1991 in Berlin, Frank Deppe Rudolf Hickel Oskar Negt Franz Walter Godela Linde, geb. 1945 in Varenholz, Sozialwissenschaftlerin, „Blätter“-Re- Dan Diner Eric Hobsbawm Kurt Nelhiebel Hans-Ulrich Wehler Juristin, Rechtsanwältin in Marburg, dakteurin. Walter Dirks Axel Honneth Oswald v. Nell-Breuning Ernst U. von Weizsäcker lange Jahre im gewerkschaftlichen Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Rupert Neudeck Harald Welzer Rechtsschutz tätig. Martín Steinhagen, freier Journalist Daniel Ellsberg Walter Jens Martin Niemöller Charlotte Wiedemann in Frankfurt a. M. mit dem Schwer- Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- punkt Rechtsextremismus. Wolfgang Engler Hans Joas Bahman Nirumand Rosemarie Will gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Hans-M. Enzensberger Tony Judt Claus Offe Naomi Wolf wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Keeanga-Yamahtta Taylor, PhD, Erhard Eppler Lamya Kaddor Reinhard Opitz Jean Ziegler Soziologin, Professorin für African- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Valentino Parlato Moshe Zimmermann Kenan Malik, geb. 1960 in Telangana/ American Studies an der Universität Iring Fetscher Petra Kelly Volker Perthes Moshe Zuckermann Indien, Neurologe, Wissenschaftshis- Princeton/USA. Joschka Fischer Robert M. W. Kempner William Pfaff toriker, Dokumentarfilmer und Autor. Heiner Flassbeck George F. Kennan Thomas Piketty ...und viele andere. 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