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Kristian Buchna „Liberale“ Vergangenheits- politik. Die FDP und ihr Umgang mit dem National- sozialismus

Theodor-Heuss-Kolloquium 2017 Liberalismus und Nationalsozialismus – eine Beziehungsgeschichte 14.–15. September 2017

In Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte München- und seinem Zentrum für Holocaust-Studien

HEUSS-FORUM I S S N 2 6 9 9 - 0 1 6 4 www.stiftung-heuss-haus.de ϭ „Lierale“ Vergageheitspolitik

Kristian Buchna Episoden der Wechselbeziehung von FDP und NS-Vergangenheit können mittlerweile als gut erforscht gelten, erwähnt sei nur die

„Lierale“ Vergageheitspolitik. „Naumann-Affäre“ von 1953. Doch eine mo- Die FDP und ihr Umgang mit dem nographische Studie, wie sie jüngst etwa Kris- Nationalsozialismus tina Meyer über die SPD und die NS- Vergangenheit vorgelegt hat,2 bleibt im Falle der FDP noch immer ein Desiderat. In einem Am 11. Januar 1961 wandte sich Willy Max zwanzigminütigen Vortrag kann diese For- schungslücke nicht geschlossen werden, den- Rademacher, einstiges Mitglied der DDP und langjähriger Vorsitzender der betont linkslibe- noch möchte ich zur Geschichte des Umgangs der FDP mit dem Nationalsozialismus in der ralen FDP in , in einem Brandbrief an den FDP-Parteivorsitzenden . Zeit von ihrer Parteigründung bis zur sozialli- beralen Koalition fünf Thesen formulieren, die Angesichts zahlreicher Eklats, ausgelöst durch ehemalige Nationalsozialisten innerhalb der verdeutlichen sollen, dass sich eine solche Geschichte natürlich nicht in skandalisierender FDP, beschwerte sich Rademacher über „illi- „Nazi-Zählerei“ erschöpfen darf, wie dies in berale Tendenzen“, die „für eine liberale Partei letzter Zeit in politisch motivierten Auftrags- unerträglich“ seien. „Immer wieder“, so Ra- arbeiten der Partei DIE LINKE geschieht,3 demacher, sondern dass sie vielmehr einen Beitrag zum „ist es die nicht bewältigte Vergangenheit, die besseren Verständnis des parteipolitischen gerade in unseren Reihen im Sinne einer Nachkriegsliberalismus leisten kann. Achenbach’schen Generalamnestie benutzt werden soll, um nicht nur zu vergeben, sondern 1. Am Anfang der FDP stand keine kritische, um gleichzeitig total zu vergessen. Die täglich innerhalb des liberalen Spektrums integ- in der Presse behandelten Ereignisse beweisen aber mit aller Deutlichkeit, daß wir sowohl uns selbst gegenüber, als auch der Weltöffentlich- 2 keit gegenüber mit diesen Dingen alles andere Kristina Meyer: Die SPD und die NS- als fertig geworden sind. Wie kommt es eigent- Vergangenheit, Göttingen 2015. 3 Vgl. Hans-Peter Klausch: Braune Wurzeln Alte lich, daß innerhalb der CDU und noch mehr in- – Nazis in den niedersächsischen Landtagsfraktionen nerhalb der SPD kaum solche Auseinanderset- von CDU, FDP und DP. Zur NS-Vergangenheit von zungen notwendig sind wie gerade in unserem niedersächsischen Landtagsabgeordneten in der politischen Lager, das für sich in Anspruch 1 Nachkriegszeit, hg. von DIE LINKE. Fraktion im Nie- nimmt, Recht und Freiheit zu verteidigen?“ dersächsischen Landtag, [o.O.] 2008; Michael C. Hier formulierte der Hamburger Liberale eine Klepsch: 60 Jahre Landtag Nordrhein-Westfalen. entscheidende Frage, die sich angesichts fort- Das vergessene braune Erbe, hg. von Rüdiger Sa- gesetzter innerparteilicher Konflikte geradezu gel, MdL, DIE LINKE, NRW, [o.O.] 2009; Hans-Peter Klausch: Braunes Erbe – NS-Vergangenheit hessi- aufdrängt, von der Forschung jedoch bis heute scher Landtagsabgeordneter der 1. – 11. Wahlperi- nicht beantwortet wurde. Einzelne schillernde ode (1946–1987), hg. von DIE LINKE. Fraktion im Hessischen Landtag, Wiesbaden 2011; Hans-Peter 1 Willy Max Rademacher an Erich Mende, Klausch: Braune Spuren im Saar-Landtag. Die NS- 11.1.1961, abgedruckt in: Ulrich Keitel, „Sehr geehr- Vergangenheit saarländischer Abgeordneter, hg. ter Parteifreund…“. Parteiinterne Rundbriefe gegen von DIE LINKE. Fraktion im Landtag des Saarlandes, alte Nazis, Frankfurt am Main 2001, S. 127f. Saarbrücken 2013.

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rativ wirkende Auseinandersetzung mit Drittens haben wir es im Fall des Parteilibera- dem Nationalsozialismus. lismus mit Neugründungen zu tun. Ein ge- schichtsbewusstes Anknüpfen an liberale Par- Bei einem Blick auf die Gründungsdokumente teitraditionen war in aller Regel nicht möglich und -aufrufe liberaler Parteien in der unmittel- und in den meisten Fällen auch gar nicht ge- baren Nachkriegszeit fällt gerade im Vergleich wünscht. Nicht selten wurde sogar die eigene mit anderen Parteien auf, dass sich nur sehr Geschichts- und Erfahrungslosigkeit als par- selten eingehendere Ausführungen zur jüngs- teipolitisches Alleinstellungsmerkmal hervor- ten Vergangenheit finden. gehoben. So heißt es zum Beispiel in einem Vier Gründe lassen hierfür anführen: Aufruf der Krefelder FDP an die deutsche Ju- So ließe sich erstens die charakteristische Zu- gend: kunftszugewandtheit des Liberalismus ins Feld „Wir reden nicht zu Euch als Männer mit lan- führen, deren Preis im konkreten Fall jedoch gen Bärten, die wer weiß wie weise tun! Wir die Ausblendung bzw. schnellstmögliche reden nicht zu Euch als die allzeit Erfahrenen, Überwindung der jüngsten Vergangenheit sein die da wichtig meinen, andere und vor allem musste. „Über Gräber vorwärts“ – so lautet im Euch belehren zu müssen! Wir sind genauso August 1945 die Überschrift eines Leitartikels unerfahren wie Ihr, wie alle anderen auch. Wo hatte es sonst auf dieser Erde schon irgendwo von Wilhelm Külz, des Mitbegründers der so katastrophal-verworrene Verhältnisse gege- Berliner Liberal-Demokratischen Partei. In ben wie bei uns? Wer darf es sich da überhaupt diesem Artikel fragte der Autor „Wollen wir anmaßen, von Erfahrung zu reden? Unserer an diesen Trümmerstätten in Verzweiflung Meinung nach niemand!“5 klagend stehenbleiben?“ Seine vorwärtsbli- Nach dieser Auffassung handelte es sich beim ckend-optimistische Antwort lautete: „Wir Gründerkreis der südwestdeutschen Demokra- müssen und wir wollen den Weg über diese tischen Volkspartei um Reinhold Maier, Theo- Gräber hinweg in eine bessere Zukunft der dor Heuss und Wolfgang Haußmann um einen Menschheit suchen.“4 Zirkel von Männern mit sehr langen Bärten, Zweitens waren in den Gründungszirkeln libe- denn die Vertreter der DVP wollten bewusst raler Parteien – anders als etwa in der SPD – an liberale Traditionsstränge anknüpfen und Vertreter des Widerstands oder Opfer natio- ihre oftmals leidvollen Erfahrungen für die nalsozialistischer Verfolgung eher die Aus- politische Arbeit der Gegenwart und Zukunft nahme als die Regel. Gerade in Regionen mit fruchtbar machen. Bereits in diesem frühen einem historisch schwach ausgeprägten libera- Stadium wird somit deutlich, dass sich die für len Milieu finden sich unter den Gründungsli- die FDP so prägende Spannung zwischen libe- beralen zahlreiche Männer, die sich zuvor raler Milieupartei und nationaler Sammlungs- nicht parteipolitisch betätigt oder unter dem bewegung auch und gerade am Umgang mit NS-Regime gelitten hatten. In diesen Kreisen der jüngsten Vergangenheit entzündete. Je war das Bedürfnis nach einer Auseinanderset- liberaler das Selbstverständnis und je höher zung mit der Vergangenheit eher gering aus- der Anteil Weimarer Demokraten in den je- geprägt. 5 FDP Landkreisgruppe Kempen-Krefeld: Flugblatt 4 Artikel abgedruckt in: Vorwärts und aufwärts. „An die deutsche Jugend“ [1946], Archiv des Libe- Wege und Ziele der Liberal-Demokratischen Partei, ralismus (künftig: AdL), FDP-Landesverband Nord- Berlin 1945. rhein-Westfalen, 987.

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weiligen Gründungszirkeln, desto intensiver von Sachverhalt und Bedrohungspotential. fand eine abgrenzende Auseinandersetzung Zunächst setzt der Begriff der Unterwande- mit dem Nationalsozialismus statt. rung das Nicht-Wissen des Unterwanderten Der vierte Grund für die insgesamt dennoch voraus, zum zweiten verengt sich der Blick „auffallende Zurückhaltung in der Erwähnung allzu sehr auf besonders namhafte „Unterwan- und Analyse“6 des Nationalsozialismus dürfte derer“, allen voran auf den Kreis um den ehe- maligen Goebbels-Staatssekretär Werner darin zu suchen sein, dass der Liberalismus Naumann. Gegen diese Lesart wendet sich nicht über ein weltanschaulich grundiertes, meine zweite These: integrativ wirkendes Narrativ zur historischen Erklärung des Nationalsozialismus verfügte. 2. Das Gefahrenpotential der nationalen Hierin unterschied er sich deutlich vom Sozia- Sammlungspolitik bestand in der Bildung lismus und christlichen Konservatismus, in einer bundesweiten Rechtspartei, in der denen u. a. auch Elemente bzw. Übersteige- liberale, nationalistische, chauvinistische rungen des Liberalismus zur sinnstiftenden Deutung der Vergangenheit herangezogen und revisionistische Vorstellungen amal- wurden – sei es durch Verweise auf einen ego- gamierten und in der ehemals ranghohe istischen Individualismus, auf einen enthemm- Nationalsozialisten gezielt angeworben ten Kapitalismus oder auf die Säkularisierung und eingesetzt wurden. bzw. Entchristlichung der deutschen Gesell- In nuce lässt sich diese These am sogenannten schaft. Vergleichbar verkürzte, aber eben in- „Deutschen Programm“ von 1952 veranschau- tegrativ wirkende Vergangenheitsdeutungen lichen, das vom NRW-Landesverband der gab es im liberalen Spektrum nicht. FDP entworfen und insbesondere von Partei- Es ist hinlänglich bekannt, dass die FDP durch freunden in Niedersachsen und Hessen unter- eine „vorkämpferische“ Vergangenheitspolitik stützt wurde. Nach Bekunden der Initiatoren gezielt um die Gunst ehemaliger Nationalsozi- sollte das „Deutsche Programm“ Grundsätze alisten warb.7 Besonders erfolgreich war die- formulieren, die für eine „wahre Volksgemein- 8 ses Werben in den großen Landesverbänden schaft“ unerlässlich seien. Es strebte die Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die Überwindung der politischen Ordnung der sich einer nationalen Sammlungspolitik ver- Bundesrepublik an und weist dabei unüber- schrieben hatten. In der Forschung lässt sich sehbar Parallelen zu Reformvorstellungen auf, allerorten nachlesen, die dortigen Landesver- wie sie im Liberalismus der frühen 30er Jahre bände seien von ehemaligen Nationalsozialis- zur Überwindung der Staatskrise entwickelt ten „unterwandert“ gewesen. Diese Deutung worden waren. Getragen von parlamentaris- führt zu einer gleich doppelten Verkennung muskritischen und parteiskeptischen Überzeu- gungen forderte man ein führungsstarkes Prä- sidialregime innerhalb eines dezentralisierten 6 Erhard H. M. Lange: Politischer Liberalismus und Einheitsstaates. Das „Deutsche Reich“ wurde verfassungspolitische Grundentscheidungen nach als die „überlieferte Lebensform unseres Vol- dem Kriege, in: Lothar Albertin (Hg.): Politischer Liberalismus in der Bundesrepublik, Göttingen 1980, S. 48–91, hier S. 50. 8 Aus der Rede Friedrich Middelhauves auf dem 7 Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die An- Bielefelder Landesparteitag vom 25.-27.7.1952, fänge der Bundesrepublik und die NS- AdL, FDP-Landesverband Nordrhein-Westfalen, Vergangenheit, München ²2003. Landesparteitag, 26714.

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kes“ beschworen, die NS-Verbrechen wurden setzt, in denen sie sich bereits im Dritten Reich mit der alliierten Besatzungspolitik gleichge- „bewährt“ hatten. Da die Personalien Werner setzt. Gewiss nicht zufällig sucht man im Naumann und Werner Best sattsam bekannt „Deutschen Programm“ jede Erwähnung der sind, möchte ich zwei andere Beispiele anfüh- Demokratie, des Liberalismus oder auch nur ren: des Parteinamens FDP vergeblich.9 Wolfgang Diewerge, einer der auflagenstärks- Ebenfalls bewusst wurde das „Deutsche Pro- ten und perfidesten antisemitischen Hetzer des gramm“ mit symbolträchtiger schwarz-weiß- Dritten Reiches, Träger des Goldenen Partei- roter Umrandung gedruckt, auch für die „Nati- abzeichens und des SS-Ehrendolchs. Im Pro- onale Sammlung“ wurde in dieser programma- pagandaministerium war er u. a. mit dem Auf- tischen Farbgebung geworben. bau eines Netzes von Reichs-, Gau- und Kreis- rednern befasst. 1951 stellte der NRW- Das „Deutsche Programm“ sollte die national- Landesvorsitzende Friedrich Middelhauve liberalen Landesverbände der FDP dazu befä- Diewerge als persönlichen Büroleiter ein; eine higen, zum Kristallisationskern einer rechten seiner zentralen Aufgaben war der Aufbau Sammlungsbewegung zu werden. Zu diesem einer parteiinternen Rednerschulung. Zweck wurden – ohne Kenntnis der Bundes- partei – Fusionsverhandlungen mit zahlreichen Siegfried Zoglmann war in der NRW-FDP Verbänden und Parteien des rechten bzw. Leiter des dortigen „Propaganda-Referats“ und rechtsextremen Spektrums geführt: von der Chefredakteur der Parteizeitung „Die Deutsche Deutschen Partei über die Vereinigte Rechte, Zukunft“. Der ehemalige HJ-Hauptbannführer Ehemaligen-Verbände von Wehrmacht und und SS-Obersturmführer hatte bereits in jun- Waffen-SS bis hin zum österreichischen VdU, gen Jahren Propaganda im Dienste der Reichs- mit dessen Vertretern man die „Möglichkeiten jugendführung betrieben und sich u. a. als einer engen politischen Schicksals- und Schriftleiter der HJ-Reichszeitung hervorge- Kampfgemeinschaft“10 auslotete. tan. Am Beispiel der Personen, die am „Deutschen Friedrich Middelhauve, der selbst der Deut- Programm“ mitgewirkt hatten, lässt sich eine schen Staatspartei angehört hatte und kein Na- vergangenheitspolitische Maxime veranschau- tionalsozialist gewesen war, hat diese skanda- lichen, die besonders radikal im größten FDP- lös anmutende Personalpolitik mit der eigenen Landesverband Nordrhein-Westfalen prakti- Liberalität begründet: „Wir müssen aber diese ziert wurde. So wurde die politische Vergan- Menschen nicht nur als Wählerstimmen ge- genheit ehemaliger Nationalsozialisten nicht winnen, sondern als aktive Mitarbeiter der etwa ausgeblendet, vielmehr wurden die Ehe- Partei. Kann es uns dann stören, wenn einige maligen gezielt in solchen Bereichen einge- Kreisleiter der NSDAP waren? Gerade weil 11 wir liberal sind, können wir das tun.“ 9 Aufruf zur nationalen Sammlung – Das Deutsche Programm, 1952, abgedruckt in: Peter Juling: Pro- grammatische Entwicklung der FDP 1946 bis 1969. 11 Protokoll der Sitzung des FDP-Bundesvorstands Einführung und Dokumente, Meisenheim am Glan am 6.8.1952, in: FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen 1977, S. 120–124. unter dem Vorsitz von und Franz 10 Friedrich Middelhauve an Hans Freyborn (VdU), Blücher, Sitzungsprotokolle 1949–1954, bearb. v. 20.8.1952, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Udo Wengst, 1. Halbband, Düsseldorf 1990, Nr. 19, RWN 172/592, pag. 178. S. 376.

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Den innerparteilichen Kritikern im Südwesten dern.“14 Im rechten Spektrum des parteipoliti- oder in den Hansestädten war nur zu bewusst, schen Liberalismus gab es Strömungen, die dass hier eine instrumentelle Geschichtsver- solcherlei Positionen teilten, mindestens aber gessenheit als liberale Vorurteilslosigkeit ge- duldeten. Meinungsumfragen der 1950er und tarnt wurde. Aus eigener Kraft waren sie je- frühen 1960er Jahre bestätigen diesen Befund: doch nicht in der Lage, die Aushöhlung der Stets waren bei den Anhängern der demokrati- FDP durch illiberale Personen, Praktiken und schen Parteien antisemitische und pro- Ideen zu stoppen. Erst die Intervention der nationalsozialistische Positionen unter FDP- britischen Besatzungsmacht im Januar 1953, Wählern am weitesten verbreitet. also die Festnahme von Mitgliedern des

„Naumann-Kreises“, ermöglichte es der libera- 3. Die FDP ollrahte it ihrer „lierale“ len Opposition, das Ausmaß jener gezielt be- Vergangenheitspolitik eine hohe Integra- triebenen Infiltration durch eine innerparteili- tionsleistung, doch den Preis für die da- che Kommission untersuchen zu lassen. bei unterbliebenen Grenzziehungen hat- ten die gemäßigten und linksliberalen Das politische Projekt der „Nationalen Samm- lung“ war damit diskreditiert, doch am rechten Kräfte zu zahlen, zulasten der liberalen Rand der FDP blieb für ehemalige Nationalso- Substanz der FDP. zialisten der Anpassungsdruck an demokrati- „Steinzeit-Liberale“ und „Querulanten“ – so sche Verfahrensregeln und liberale Werte so wurden in rechten FDP-Kreisen jene „Partei- gering, dass in Teilen der Partei chauvinisti- freunde“ bezeichnet, die schon in der Weima- sche, rassistische und antisemitische Ressen- rer Republik einer liberalen Partei angehört timents virulent blieben. Schon der Partei- hatten und nun Kritik an einer schleichenden nachwuchs „Junge Adler“ trat in HJ-ähnlicher Renazifizierung ihrer Partei übten. In Nord- Manier auf, bis in die 1960er Jahre wurde das rhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen Absingen der ersten Strophe des Deutschland- gab es gezielte Bestrebungen, diese liberale liedes gefordert oder offen praktiziert, in Par- Opposition mundtot zu machen – sei es durch teiorganen wurden Unterschiede zwischen eine Fülle von Parteiausschlussverfahren oder 12 „Negern“ und „Europäern“ erörtert, der Nie- im Extremfall durch eine handstreichartige 13 dergang der „weißen Völker“ beschworen Übernahme renitenter Kreisverbände durch oder es wurde von „Machtzirkeln“ schwadro- linientreue, „aktivistische Kräfte“ – in aller niert, die vermeintlich hinter den Alliierten der Regel ehemalige Nationalsozialisten. Eine Weltkriege stehen und seit Jahrzehnten „Lü- Vielzahl liberaler Parteimitglieder zog jedoch gengift“ gegen Deutschland schleudern wür- von sich aus die Konsequenz und reagierte auf den, „um ihre Weltschuld zu tarnen und eine den fortgesetzten Rechtskurs mit dem Austritt faire geschichtliche Gegenrechnung zu verhin- aus der FDP. Im November 1957 gab sogar der gesamte Kreisverband Emden seinen Aus- tritt aus der Partei bekannt, da „[p]lanmäßig

[…] die rechtsstaatlich denkenden Menschen 12 Dr. Kellner: Soziale Sicherheit in wirtschaftlicher mit liberaler Überzeugung zermürbt und aus Freiheit, in: Die Plattform. Rednerdienst 1 (1950), S. 11. 13 August W. Halfeld: Unterwanderung der deut- schen Seele, 26.8.1960, Deutsche Saar. Stimmen 14 Otto Schmidt: Überbelichtet und unterentwickelt, der Demokratischen Partei Saar (DPS). 2.12.1960, Deutsche Saar.

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dem Landesverband entfernt“15 worden seien. aushalten – ohne erkennbare Auswirkungen Just in jener Zeit ging die FDP im niedersäch- auf seinen liberalen Widerstandsgeist. So or- sischen Landtag eine Fraktionsgemeinschaft ganisierte er etwa 1956 gegen den Willen der mit den Abgeordneten der rechtsextremen Landespartei die Vorführung von Alain Deutschen Reichspartei ein. Vor diesem Hin- Resnais Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“; tergrund warnte der Vorsitzende des Liberalen außerdem verschickte er zu Beginn der 1960er Studentenbundes Albrecht Menke im Bundes- Jahre zusammen mit drei Parteifreunden soge- vorstand: „Wenn die FDP mit Neo-Nazis pak- nannte „parteiinterne Rundbriefe“, in denen tiere und eine prinzipienlose Additionspolitik vor allem nationalsozialistische, antisemitische betreibe, so würden zahlreiche Jungliberale und rassistische Umtriebe oder Ausfälle inner- heimatlos.“16 halb der FDP angeprangert wurden. Welch schweren Stand junge Liberale inner- Die zahlreichen Reaktionen auf jene Rundbrie- halb der FDP hatten, zeigt das hier in Mün- fe können als Beleg für die tiefe Spaltung der chen und hier im Institut für Zeitgeschichte gut FDP auch noch zu Beginn der 1960er Jahre bekannte Beispiel von Hildegard Hamm- gelten. Während der führende Autor der Brücher, die aufgrund ihrer jüdischen Groß- Rundbriefe, Ulrich Keitel, vom hessischen mutter antisemitische Diffamierungen inner- Landesverband mit einem Parteiausschlussver- halb der eigenen Partei über sich ergehen las- fahren belegt wurde, erhielt er von linkslibera- sen musste, aber auch das Beispiel Gerhart len Parteimitgliedern dankbare Zustimmung, Baums, der sich gegen den „braune[n] Un- von Theodor Heuss sogar eine finanzielle geist“17 in der FDP zur Wehr setzte. Im Kölner Spende zur Unterstützung der Rundbrief- Kreisverband befand sich Baum nach eigenen Aktion. Worten „auf einer Insel der Reformliberalität in einem uns gegenüber feindselig gestimmten 4. Die Spaltung der Liberalen, ihre Rück- Landesverband.“18 Tatsächlich musste Baum sichtnahme auf potentielle Wählerstim- in den 1950er und 1960er Jahren ein Partei- e soie der hohe Ateil a „Eheali- ausschlussverfahren, eine manipulierte Ab- ge“ i de eigee Reihe erhiderte, wahl als Kreisvorsitzender sowie die systema- dass die FDP als Bundespartei einen kon- tische Fernhaltung von sicheren Listenplätzen struktiven Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit leistete. 15 Entschließung des FDP-Kreisverbandes Emden, 30.11.1957, zit. n. Manfred Jenke: Verschwörung Diese These ließe sich am Beispiel der ableh- von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalis- nenden Haltung der FDP in der Wiedergutma- mus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961, S. 196. chungsfrage, an ihrem gespaltenen Verhältnis 16 Protokoll der Sitzung des FDP-Bundesvorstands zum Widerstand des 20. Juli oder auch an ihrer am 30.11.1957, in: FDP-Bundesvorstand. Die Libe- einmütigen Ablehnung einer Verlängerung der ralen unter dem Vorsitz von und Verjährungsfrist für Mord in den 1960er Jah- Reinhold Maier, Sitzungsprotokolle 1954–1960, bearb. v. Udo Wengst, Düsseldorf 1991, Nr. 46, ren veranschaulichen. Die Verjährungsdebatte S. 327. zeigt besonders deutlich, wie liberale Rechts- 17 : Vorwort, in: U. Keitel: Rundbriefe, ideale, politisches Kalkül, Schlussstrich- S. 8. Mentalität und zählebige antijüdische Ressen- 18 Gerhart Baum / Burkhard Hirsch: Der Baum und timents ineinandergreifen konnten. In der poli- der Hirsch. Deutschland von seiner liberalen Seite, tischen Debatte waren für die Liberalen Berlin 2016, S. 75. Rechtssicherheit und die Ablehnung jeder

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Ausnahmeregelung die entscheidenden Grün- In der Bundestagsdebatte vom 10. März 1965, de für ihre Ablehnung einer Fristverlängerung. die gemeinhin als „Sternstunde des Parla- In der parteiinternen oder öffentlichen Diskus- ments“ gilt, blieb es dem jungen Christdemo- sion offenbarten sich jedoch weitere Motive. kraten Ernst Benda und dem Kronjuristen der „Wir haben es nicht nötig“ – so hieß es in ei- SPD vorbehalten, die moralische ner Entschließung des FDP-Bezirksverbandes Dimension der Ahndung von NS-Verbrechen Unterfranken – „20 Jahre nach Ende des Krie- und die daraus erwachsende Verantwortung ges und des unseligen Hitlerregimes künstlich für Politik und Gesellschaft zu benennen. Die den Schuldkomplex im deutschen Volke zu FDP-Bundestagsfraktion hingegen, deren An- erhalten und zu verstärken. Durch eine solche teil ehemaliger NSDAP-Parteimitglieder bei Maßnahme würde das Ansehen des deutschen über 50 % lag, lehnte eine Fristverlängerung Volkes schwer beschädigt werden.“19 ab. Im Anschluss zeigten sich die Liberalen hocherfreut über die „sehr gute Öffentlich- Immer wieder tauchte das Argument auf, 21 Deutschland dürfe sich dem Druck des Aus- keitswirkung“ ihrer Grundsatzfestigkeit in- lands nicht beugen, zumal nicht dem Druck nerhalb der FDP-Wählerschaft. Israels oder jüdischer Organisationen. Deren 5. Die sozialliberale Koalition wirkte für die Demonstrationen gegen ein Eintreten der Ver- FDP wie ein liberaler Filter gegen Perso- jährung würden vielmehr nach Meinung des nen und Ideen in den eigenen Reihen, de- FDP-Bundesjustizministers ren liberale Verwurzelung schon immer Antisemitismus schüren. Geradezu zynisch mutet es an, wenn ehemalige Nationalsozialis- zweifelhaft war. ten wie eben Ewald Bucher oder der FDP- „Opas FDP ist tot“ – so stand es im Januar Generalamnestie-Lobbyist 1968 auf Transparenten des Bundesparteitags die Opfer der NS-Verbrechen für ihre Argu- der FDP. Die jungen, progressiven Kräfte der mentation zu instrumentalisieren versuchten. Freien Demokraten waren wildentschlossen, Demnach würden neu aufgerollte Prozesse den (wie es hieß) „Muff der Mende-FDP“ zu nicht nur eine vermeidbare Belastung für die überwinden, und sie verfügten nunmehr über Opfer und Zeugen bedeuten, vielmehr gelte die notwendige innerparteiliche Basis, diesen auch – so Achenbach – die Faustregel: „Die liberalen Politikwechsel auch umzusetzen. Hälfte der Zeugen sind tot, das dritte Viertel löste den Ritterkreuzträger erinnert sich an gar nichts, und das vierte Vier- Erich Mende als Parteivorsitzender ab, der tel erinnert sich zwar, aber es ist sehr offen, ob Adler als Parteisymbol hatte zugunsten der die Erinnerungen richtig sind.“20 Achenbach Pünktchen-FDP ausgedient, Gustav Heine- selbst war als Gesandtschaftsrat an der Pariser mann wurde mit den Stimmen der Liberalen Botschaft in die Deportation französischer zum Bundespräsidenten gewählt, und jenes Juden involviert.

19 FDP-Bezirksverband Unterfranken an die FDP- 21 Vgl. Äußerungen von Erich Mende und Willi Bundestagsfraktion, 6.3.1965, AdL, 1655, Stellung- Weyer in der FDP-Bundesvorstandssitzung vom nahmen zur Verjährung. 1.4.1965, in: FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen 20 Interview-Aussage Achenbachs von 1974 in der unter dem Vorsitz von Erich Mende, Sitzungspro- TV-Dokumentation Hitlers Eliten nach 1945: Juris- tokolle 1960–1967, bearb. v. Reinhard Schiffers, ten – Freispruch in eigener Sache (2002). Düsseldorf 1993, Nr. 59, S. 621.

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„Stück Machtwechsel“ fand in der soziallibe- Zitation: ralen Koalition seine Vollendung. Kristian Buchna: „Liberale“ Vergangenheits- Die innere Liberalisierung der FDP spiegelt politik. Die FDP und ihr Umgang mit dem sich auch in Meinungsumfragen wieder: Wa- Nationalsozialismus, in: HEUSS-FORUM ren 1956 noch 56 % der FDP-Wähler der Mei- 15/2017, URL: www.stiftung-heuss- nung, Hitler wäre ohne den Krieg einer der haus.de/heuss-forum_15_2017. größten deutschen Staatsmänner gewesen, so stimmten dem 1972 „nur noch“ 23 % zu.22 Bemerkenswert ist: 1956 war es der Höchst- wert unter allen Parteianhängern, 1972 der niedrigste. In Verbindung mit der sozialliberalen Wirt- schafts-, Gesellschafts- und vor allem Außen- politik zog dieser liberale Aufbruch eine Welle von Parteiaus- und -übertritten von Vertretern der Parteirechten nach sich. Mit dem Rechtsli- beralen Arbeitskreis und v. a. mit der Natio- nalliberalen Aktion unter Siegfried Zoglmann kam es zu Partei-Abspaltungen, denen sich insbesondere in Nordrhein-Westfalen, Nieder- sachsen, Schleswig-Holstein und Bayern zahl- reiche enttäuschte FDP-Mitglieder anschlos- sen. Bei den Abtrünnigen fällt auf, dass es sich in der Mehrzahl der Fälle um ehemalige Nati- onalsozialisten handelte, die sich aufgrund der nationalen Sammlungspolitik der FDP ange- schlossen und nun, in der sozialliberalen Ära, ihre politische Heimat verloren hatten. Be- zeichnenderweise diente Zoglmann für seine Nationalliberale Aktion das „Deutsche Pro- gramm“ von 1952 als Vorbild. Doch was in der frühen Bundesrepublik Programmkern eines Großteils der FDP war, befand sich zu Beginn der 1970er Jahre deutlich außerhalb des liberalen Spektrums.

22 Vgl. Werner Bergmann, Rainer Erb: Antisemitis- mus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnis- se der empirischen Forschung von 1946–1989, Opladen 1991, S. 95.

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