Hartmut Scherzer

WELT SPORT 60 Jahre Erlebnisse einer Reporter-Legende

Für Jürgen, Ulfert und Fia

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“ Jean Paul

Inhalt

Vorwort 15 Prolog: Journalistische Faustregel 17 Vorgeschichte: Irrwitziger Schicksalstag 20 United Press International: 1960 – 1972 29 Mike, der totgesagte Kämpfer gegen den Krebs 58 Abendpost / Nachtausgabe: 1973 – 1988 62 Freier Journalist: 1989 – heute 77

Fußball- weltmeisterschaften 1962 – 2018

Chile 1962: Fahrian Nr. 1 und Äquator-Urkunde 85 England 1966: Wembley-Tor und Nicoles Geburt 91 Mexiko 1970: Jahrhundertspiel und 8 000 Rinder 99 Deutschland 1974: Qualm in der Küche und mein Maulwurf 104 Argentinien 1978: Schande von Cordoba und Pistole am Kopf 110 Spanien 1982: Skandal von Gijon und Drama von Sevilla 143 Mexiko 1986: Wilder Kaiser und Krach ohne Ende 148 Italien 1990: Imperator Roms und freier Genießer 154 USA 1994: Sündenbock Berti und Effenbergs Stinkefinger 160 Frankreich 1998: Entsetzen in Lens und Chablis zum 60. 165 Japan / Südkorea 2002: Treppenwitz und Abstecher nach Memphis 170 Deutschland 2006: Sommermärchen und Abschied vom Titan 174 Südafrika 2010: Die Rasselbande und ein Müller Schützenkönig 180

9 Inhalt

Brasilien 2014: Löw leuchtet endlich, und Gott ist kein Brasilianer 191 Russland 2018: Zerbrochener Mythos und Löws Absturz 206

Das Vermächtnis der Helden von Bern

Toni Turek: Vom Schicksal geschlagen 220 Jupp Posipal: Ein gemachter Mann 224 : Der verfemte Weltmeister 226 : Der Herold des Wunders 229 : Der Name leuchtet immer noch 231 Karl Mai: Drei Museen für Charly 235 : Der unsterbliche Boss 237 : Hans Sachs des Clubs 240 : Der unverwüstliche Achtziger 242 : Der verewigte Ruhm 245 Hans Schäfer: Legende im Ruhestand 247 : Der Adenauer des Fußballs 250

Neue Helden

Helmut Schön und die Märchenerzähler 256 Franz Beckenbauer: 50 Jahre im Gefolge des Kaisers 263 Berti Vogts: Männerfreundschaften 270 Lothar Matthäus: Mit der Ikone um die Welt 281 Jupp Heynckes: Probleme mit Yeboah 288 Uwe Seeler: Uns Uwe der Nation 297 Gerd Müller: Tore, Titel und Tragödien 301 Jürgen Grabowski: Freunde fürs Leben 305 Bernd Hölzenbein: Der mit der Schwalbe fliegt 314

10 Inhalt

Karl-Heinz Körbel: Rekord für die Ewigkeit 320 „Büffelherde“ zertrampelt Europas Fußballfelder 329 Uli Hoeneß: Händedruck mit dem Steuersünder 332 Otto Rehhagel: Zeuge der Verteidigung 335 Pelé: Als der Ball den Mond verdeckte 338 Eintracht Frankfurt: Meister für ein Taschengeld 343 Horror in Paris 349 Anekdoten: Charly Dörfels Toupet 357 Uli Dosts „Mauerfall“ 358 Mats Hummels’ Mutter, die exotische Kollegin 359 Louis van Gaals Respekt 360 Geisterspiele in Zeiten von Corona 362

Boxen I

Uni-Boxer: Kabinen- und Sekundentod 369 Sugar Ray Robinson: Abschiedsparty im Madison Square Garden 380

Muhammad Ali

Der Größte 391 Mein Freund: „We are getting old“ 396 Gold in Rom: Nurejew in Boxershorts 403 Ali – Hunsaker 1960: „Muhammad Ali’s First Professional Opponent“ 408 Karl Mildenberger: Der Journalist als Matchmaker 410 Ali – Terrell 1967: „What’s my name?“ 418 Wehrdienstverweigerung: Fünf Jahre Haft 420 Joe Frazier I: Mondlandung des Boxens 425

11 Inhalt

George Foreman: Happening am Kongo 435 Joe Frazier III: Epische Schlacht 443 Vier Frauen, neun Kinder 448 Ali – Berbick 1981: Drama in Bahama 451 Ein Tag bei Ali in L.A.: „Die denken, ich bin ein blödgeschlagener Fighter“ 454

Boxen II

Angelo Dundee: „Boxer trainieren ist wie Fische fangen“ 460 Mike Tyson: Donald Trump als Boxpromoter 469 Max Schmeling: Der wahre Mythos eines Champions 477 Gustav „Bubi“ Scholz: Das Hirn eines Boxers verdrängt die Tragödie 484 Henry Maske: Ikone der Wende 493 Graciano Rocchigiani: „Rocky“: Legende aus dem Leben 498 Axel Schulz: Von „drei blinden Mäusen“ betrogen 505 Vitali Klitschko: Champion und Bürgermeister 513 Wladimir Klitschko: Das letzte Hurra als Epos 523 Die Kolosse aus Kiew: Anruf aus 11 000 m Höhe 530 Rotlicht, Negerkalle, Hallenverbot 536 Gerry Storey: Der Friedenskämpfer von Belfast 546 Frauenboxen: Kinder kriegen und Kinnhaken austeilen 550

Olympische Spiele 1964 – 2016

Innsbruck 1964: Schlittenfahren statt Skirennen 556 Tokio 1964: Holdorf, Frazier, Sercu 559

12 Inhalt

Grenoble 1968: Heiße Kufen im Kalten Krieg 561 Mexiko-Stadt 1968: Black Power 563 Sapporo 1972: Märtyrer Karl Schranz und sein Hiob 568 Sarajevo 1984: Peter Angerer, Vater des Biathlon-Booms 572 Los Angeles 1984: Daley Thompson verhöhnt Carl Lewis 574 Seoul 1988: Der schnellste Mann der Welt ein Betrüger 581 Albertville 1992: Der Schnee ist nicht mehr rot 592 Barcelona 1992: Franziska van Almsick taucht auf 593 Lillehammer 1994: Der „Wasi“-Wahnsinn und die kühle Katja 600 Atlanta 1996: „Drei Goldmedaillen für ein Gelbes Trikot“ 603 Nagano 1998: Der Sturzflug des „Herminators“ 609 Sydney 2000: Cathy Freeman, Marion Jones – Kult und Knast 613 Salt Lake City 2002: Das verlorene Gold des „Juanito“ Mühlegg 619 Turin 2006: Unspektakuläre Spiele zum Vergessen 627 Peking 2008: Die „Außerirdischen“: Bolt und Phelps 628 Vancouver 2010: Maria und Magdalena 635 London 2012: Wiggins, Winokurow: Royales und schmutziges Gold 644 Rio de Janeiro 2016: Die Bolt- und Neymar-Spiele 650 The games must stop 656

Radsport

Doping bei der Tour de France: Beichten 662 Ich wusste Bescheid 665 Didi Thurau: Nur Adenauer war besser 673 Greg LeMond: Der Acht-Sekunden-Sieg 681 Jan Ullrich: Der gefallene Held 689 Marco Pantani: Der mysteriöse Tod des „Piraten“ 693 Lance Armstrong: Heilsbringer und Lügner 699

13 Inhalt

Erik Zabel: Der geständige Vater 713 Rudi Altig: Aufrecht bis zuletzt 719

Welt Sport

Nelson Mandela: Versöhnung auf dem Rugbyfeld 722

Epilog: Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit 730 Vita 732 Danksagung 735 Bildnachweis 736

14 Vorwort

Bereits mit dem Titel „Welt Sport“ lässt Hartmut Scherzer aufhorchen. Die Begriffe „Welt“ und „Sport“ ergeben zusammengesetzt entwe- der „Weltsport“ oder „Sportwelt“. Beiden Zusammenfügungen ist ein sportzentrischer Blickwinkel eigen und ganz sicher finden sie sich in den Abhandlungen dieses Buches an allen Stellen wieder. Hartmut Scherzers Ansatz geht jedoch weit darüber hinaus. Ihm geht es um die Welt und den Sport in ihr. Seine Kraft, seine Bedeutung, seine Einbettung, die zahl- reichen Höhepunkte und manche Untiefen – und das immer erzählt in der Wahrnehmung seiner Protagonisten aus nächster Nähe. Ihre Hand- lungen lassen erkennen, dass Sport eben nie nur Sport ist, sondern im- mer auch im Gesamtbild der Welt in ihrer jeweiligen Zeit zu sehen ist. Hartmut Scherzer begleitet seit 1960 die großen Sportereignisse dieser Welt. Fußball-Weltmeisterschaften, Olympische Spiele, Tour de France und weitere unzählige internationale Turniere, Meisterschaften und Wettbewerbe. Sein Buch gewährt Einblicke in die Begegnungen mit den größten Sportlern aus den vergangenen 60 Jahren des Weltsports. Er ist Zeitzeuge der sportlichen Entwicklungen, der Kommerzialisierung des Sports und seiner Grenzgänge zwischen Vorbildfunktion für ganze Generationen und seiner unmoralischen Verkommenheit. Hartmut Scherzer pflegt in all den Jahren als journalistischer Welt- reisender, kritischer Berichterstatter sportlicher Großereignisse von glo- baler Bedeutung und politisch wachsamer Betrachter der Verwobenheit des Sports mit Politik und Wirtschaft immer auch eine enge, aber stets objektive Beziehung zu seinem Lieblingsklub Eintracht Frankfurt. Die große Welt des Sports bringt er immer auch mit der etwas kleineren

15 Vorwort

Welt des Sports in Einklang. Er ist gut informiert, bis heute an den han- delnden Personen von Eintracht Frankfurt nah dran und im Kreise sei- ner Kollegen hoch angesehen. Er ist Journalist aus Berufung. Das vorliegende Werk bezeugt den Wandel der Welt und den Wandel des Sports in gleichem Maße und erzählt in spannender und unterhalt­ samer Weise von großen Sportlerpersönlichkeiten. Es gibt ein breites Zeitzeugnis aus der Welt des Sports ab, das seinesgleichen sucht.

Axel Hellmann Mitglied des Vorstands der Eintracht Frankfurt Fußball AG

16 Prolog Journalistische Faustregel

Ein Schlüsselerlebnis hat meine Einstellung zum Beruf, zum Verhältnis und zur Nähe zu Sportstars nachhaltig geprägt. Es ist der Morgen nach dem Kampf am 15. September 1960. Wir sind in einer Eisdiele in der Frankfurter Schillerstraße verabredet. Gustav „Bubi“ Scholz hat in der Festhalle quälend langweilige zehn Runden heruntergeboxt. Nach dem Unentschieden gegen Don Fullmer wurde das deutsche Sportidol jener Zeit von 11 000 Zuschauern gnadenlos ausgepfiffen. Ich diktierte in ei- ner Telefonzelle aus dem Stegreif der Aufnahme der „Frankfurter Rund- schau“ einen Verriss in den Stenoblock. Und das, obwohl wir seit einem Jahr bestens bekannt waren. Ich be- treute ihn, wann immer „Bubi“ in Bad Homburg die befreundete Fa- milie Quandt besuchte, die Großindustriellen des Wirtschaftswunders. Im weißen Cabrio Karmann Ghia des Abendpost-Sportchefs und Box­ experten Arthur Kohlberger holte ich „Bubi“ Scholz bei den Quandts ab und chauffierte ihn durch die Stadt zum Training. Ich habe ihm in der Boxschule Petrescu die Handschuhe verschnürt, die Zeit für die Runden gestoppt, ihm den Schweiß von der Stirn ge- wischt. Es entstand eine symbiotische Beziehung. „Bubi“ Scholz, mein guter Bekannter: Konnte es für einen Jungspund mit einen Faible fürs Boxen, kaum dass er von der Schulbank auf den Ringplatz gewechselt war, etwas Aufregenderes geben? Das schlechte Gewissen plagt mich, das Herz schlägt bis zum Hals. Ich hätte alles in der Welt darum gegeben, mein Pamphlet entschär- fen zu können. Wer bin ich denn, ein 22 Jahre altes Greenhorn, dass ich mir anmaße, Gustav „Bubi“ Scholz, den Franz Beckenbauer oder

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Prolog

Boris Becker jener Epoche, derart in die Pfanne zu hauen? Ich druckse herum, stochere im Eisbecher. Ein Kloß steckt im Hals. „Bubi, schon die Zeitungen gelesen?“ – „Ja, warum?“ – „Nicht böse wegen meines Berichts?“ Statt der befürchteten Schelte bekomme ich eine Lektion, wie sie in Journalistenschulen erteilt werden könnte: „Nun hör’ mal gut zu und merke dir: Mein Beruf ist Boxer, deiner Reporter. Wenn ich also deiner Meinung nach so schlecht geboxt habe, dann musst du mich auch so hart kritisieren. Das hat mit unserer Freundschaft überhaupt nichts zu tun.“ Ein berühmter Boxer hat mir die Ethik meines Berufs früh mit auf den Weg gegeben: Journalismus endet nicht, wenn Freundschaft be- ginnt. Nähe und Kritik schließen sich nicht aus. Unter diesem Aspekt sind meine Erlebnisse und Abenteuer mit Weltstars des Sports zu lesen.

„Bubi“ Scholz mit Betreuer Hartmut Scherzer 1960 in Frankfurt: Lektion für Journalisten

19 Vorgeschichte Irrwitziger Schicksalstag

Es gibt einen Tag früh im Leben, der entscheidet, wo es langgehen wird. Nach links oder nach rechts, nach oben oder nach unten. Mein Schick- salstag war der 1. April 1959. Die sonderbare Vorgeschichte, die zu die- sem irrwitzigen Tag führte: Ich war zwanzig Jahre alt (Jahrgang 1938, 13. Juni) und hatte im Jahr zuvor mit Ach und Krach das Abitur be- standen. Nun war ich offiziell Student der Philosophie, aber öfter in der Sportredaktion der Frankfurter Rundschau anwesend als im Hör- saal der Universität Frankfurt. Dennoch kann ich Testate von Theodor Adorno und Max Hork- heimer nach dem Sommersemester 1959 in meinem Studienbuch vor- weisen. Aber auch FR-Zeitungsartikel, etwa über den siegreichen Box- kampf des Nachkriegsidols Bubi Scholz um die Europameisterschaft im Mittelgewicht gegen den französischen Titelverteidiger Charles Humez im Oktober 1958 im Berliner Sportpalast. Die legendären Denker der Frankfurter Schule habe ich nicht ver- standen. Wohl aber verstand ich etwas vom Boxen und vom Schreiben darüber. Seit meiner Kindheit trieb ich mich in der Sportschule Petre- scu in der Kaiserstraße bei den Profis herum und sammelte praktische Erfahrung: Als hessischer Juniorenmeister im Leichtgewicht 1956 und deutscher Hochschulmeister im Halbweltergewicht 1959 (Januar). Mei- ne Abitur-Kameraden und nun Kommilitonen, die mir die Testate be- sorgten, spotteten, ich hätte mich nur immatrikuliert, um im Boxring Uni-Titel zu sammeln. Neben dem Studienbuch mit den Signaturen Adornos und Hork- heimers liegt auch mein Wehrpass als Makulatur im Schreibtischfach,

20 Vorgeschichte

ausgestellt am 8. Januar 1959. Bei der Musterung an diesem Tag im Frankfurter Kreiswehrersatzamt an der Friedberger Warte lehnte ich das gesetzlich mögliche Angebot des Regierungsrats ab, mich als Student zurückstellen zu lassen. Mein Vater, promovierter Jurist und Beamter bei der Bundesbank, sorgte sich bei alldem ziellosen Herumtreiben zwi- schen Sportredaktionen, Hörsälen und Sportschulen um meine Zukunft. Also hatten wir beschlossen, erst einmal den zweijährigen Wehrdienst hinter mich zu bringen. Kommt Zeit, kommt Rat. Die Frankfurter Rundschau stellte mir mit Datum 12. März 1959 ein Zeugnis aus, mit dem „Bedauern“, dass ich die Sportredaktion ver- lasse, um meiner Wehrpflicht zu genügen. „Herr Scherzer hat sich bei uns freiberuflich im dritten Jahr betätigt (Anmerkung: Also bereits wäh- rend meiner Schulzeit als Unterprimaner) und übte seit einem Jahr ei- nen ständigen Redaktionsdienst bei uns aus. Er hat sich in die Aufgabe einer Redaktion hervorragend eingearbeitet. Wir haben sein Wissen auf verschiedenen Sportgebieten, vor allem im Boxsport, sowie auch seine schnelle Auffassungsgabe in redaktionellen Angelegenheiten hoch einge- schätzt.“ Gezeichnet Erich Wick. Den FR-Sportchef hatte ich als jugendlicher Autogrammsammler bei den Sechs-Tage-Rennen kennengelernt. Als ich keine Lust mehr hatte, in den Großen Ferien auf dem Bau Geld zu verdienen, habe ich Wick gefragt, ob ich Zeitungen austragen könnte. Was für ein Glücksfall: Da seine Sekretärin gekündigt habe und die neue erst im September kom- men würde, könnte ich bis dahin in der Redaktion Manuskripte für die Setzerei abstempeln und andere Aufgaben übernehmen. Die neue Sekre- tärin kam. Ich blieb. Das war der Start. Die Passseiten über den Wehrdienst sind alle blank geblieben, ob- wohl mir die Einberufung zu den Panzergrenadieren, Bataillon 62, in Marburg/L. für den 6. April 1959, einen Montag, am 25. Febru- ar 1959 zugestellt worden war. Ich spielte als „Stift“ regelmäßig in der Frankfurter Sportpresse-Mannschaft Fußball. Damit ich an den

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Vorgeschichte

Meisterschaftsturnieren des Verbands Deutscher Sportjournalisten (VDS) teilnehmen konnte, hatte mich der Kapitän Karl Seeger schon als Pennäler zum Frankfurter Mitglied (VFS) gemacht. Den Freundschafts- spielen in hessischen Dörfern und Kleinstädten folgte stets ein feucht- fröhliches Beisammensein, wie auch an jenem schicksalhaften 1. April 1959, einem Mittwoch, in Gedern am Vogelsberg. Bier- und weinselig machten sich gestandene Sportredakteure, die meisten von ihnen Jahrgänge, die noch als Jugendliche, wie Günter Koll- mann von der dpa, im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, über mein bevorstehendes Soldatensein lustig – und mich fix und fertig. Allen vo- ran Arthur Kohlberger, der sarkastische Sportchef der alten Abendpost. Unterm Stahlhelm würde ich meine letzten Haare verlieren, während sie weiterhin diese fröhlichen Fußballfeste feierten. Ohne mich. Angetrunken und weinend bin ich vor unserem Kapitän auf die Knie gefallen. „Herr Seeger“, flehte ich, „Sie sind doch ein mächtiger Mann mit Beziehungen überall. Helfen Sie mir. Ich will nicht zur Bundeswehr.“ Wie ein Pfarrer legte Seeger, mehr Funktionär und Organisator als Jour- nalist, seine Hand auf mein Haupt mit dem schütteren Haar. „Bub, geh’ morgen zu Doktor S. ...“ Der informierte Arzt stellte donnerstags ein Problem im linken Knie durch das viele Fußballspielen und einen Scha- den im rechten Oberarm durch das viele Boxen fest.

Oberes Bild: Frankfurter Sportpresse-Fußballmannschaft 1957: hintere Reihe von links: Helmer Boelsen, Wolfgang Klubach, Günter Wölbert, Heinz Ulzheimer (zweifacher Bronzemedaillengewinner Olympische Spiele 1952 in Helsinki), Peter Weckerling, Günter Kollmann, vorne: Erwin Dittberner, Friedel Grüning, Unterprimaner Hartmut Scherzer, Werner Haupt, Werner Fleischhauer

Unteres Bild: Auf der Linie geklärt: Spiel zum 50-jährigen Jubiläum des VfR 07 Limburg

24 Vorgeschichte 26 Vorgeschichte

Mit dem Attest bin ich freitags aufs Kreiswehrersatzamt gehumpelt. Mit meiner Absage brachte ich den Beamten völlig aus der Fassung. „Wo soll ich über das Wochenende einen Ersatzmann herbekommen?“ Sein Problem. Wütend stellte er mich für ein halbes Jahr zurück. Ich aber machte nun, wie von demselben Regierungsrat bei der Musterung drei Monate zuvor angeboten, von der Möglichkeit Gebrauch, mich bis zum Ende meiner Studienzeit zurückstellen zu lassen. Genehmigt – mit der Auflage, in jedem Semester eine Bescheinigung der Universität bei der Bundeswehr abzuliefern. Mittlerweile war nicht nur die FR, sondern auch auch die amerika- nische Nachrichtenagentur United Press International (UPI) mein frü- her sportjournalistischer Tummelplatz geworden. Der verantwortliche Sportredakteur Karl-Heinz Huba war auf der Suche nach einer Vertre- tung mit englischen Sprachkenntnissen für seinen Sommerurlaub 1958 während der Tour de France bei der „Rundschau“ fündig geworden. Eine Zwei in Englisch hatte mein Abitur gerettet. Es ergab sich, dass Huba im Olympiajahr 1960 zur Welt nach Hamburg wechselte und so kurz vor den Olympischen Spielen in Rom mich dem Chefredakteur als einzig kompetenten Nachfolger empfahl. Am 1. Mai 1960 erhielt ich einen Anstellungsvertrag. Ich war 21. Der zweite Hochschultitel im Bo- xen im Februar 1960 war meine letzte studentische Tätigkeit. Die Bun- deswehr erhielt fortan keine Uni-Bescheinigung mehr. Der Bund hat von mir – und ich habe vom Bund nie mehr etwas gehört. Der Wehrpflichti- ge Hartmut Scherzer ist schlichtweg vergessen worden. Bei der UPI habe ich mit der Fernschreiberin Barbara Felker ange- bandelt und sie geheiratet. Wir haben zwei wunderbare Töchter, Nicole und Yvonne, und fünf Enkel. Vor allem auch als Englisch schreibender UPI-Korrespondent von den Weltereignissen des Sports bis Ende 1972, dann als Sportchef der im Dezember 1988 eingestellten Abendpost/ Nachtausgabe und seitdem als „Freier“ (u. a. für die Frankfurter Allge- meine Zeitung) habe ich den faszinierenden Beruf des Sportjournalisten

27 Vorgeschichte

mit Begeisterung gelebt und lebe ihn noch heute. 15 Fußball-Weltmeis- terschaften seit 1962, 21 Olympische Spiele seit 1964, 33-mal Tour de France seit 1977, Muhammad Alis Jahrhundert-Kämpfe in den Sieb- zigerjahren in New York gegen Joe Frazier, in Kinshasa gegen George Foreman und in Manila abermals gegen Frazier haben mir ein einzig- artiges, erfülltes Berufsleben geschenkt. Ziel ist Tokio 2021, die Olym- pischen Spiele zum zweiten Mal in Japans Hauptstadt – durch die vom Corona-Virus verursachte Verschiebung – nach nunmehr 57 Jahren. Bleibt also festzustellen: Ohne das Besäufnis nach einem Fußballspiel am 1. April 1959 in einem Kaff am Vogelsberg wäre mein Leben so auf- regend nicht verlaufen, sondern völlig anders. Auf alle Fälle ohne Barba- ra, Nicole und Yvonne.

28 United Press International 1960 – 1972

„The Kansas City Milkman“

Seit dem 1. Mai 1960 war ich also für die nächsten zwölf Jahre verant- wortlicher Sportredakteur beim deutschen Dienst der amerikanischen Nachrichten-Agentur United Press International (UPI). Die Hauptauf- gabe bestand darin, englische Texte über Sportereignisse aus aller Welt für einen gut geschriebenen deutschen Artikel zu verwerten. Nach mei- nem Gusto. Nicht nur übersetzen. In meinem Vertrag mit dem monatlichen Anfangsgehalt von 825 D-Mark hatte ich mit dem jovialen Chefredakteur und Direktor für Deutschland, Dieter J. Schmidt, eine Sondergenehmigung ausgehandelt, „wesentliche Boxsportereignisse (7 bis 8 im Jahr) selbst in der Bericht- erstattung wahrzunehmen. Bei Erstattung der Spesen durch UPI berich- tet Herr Scherzer dann selbstverständlich nur für UPI“. Außerdem wurde in einer Aktennotiz meine unregelmäßige Arbeits- zeit geregelt, die sich „im wesentlichen nach dem Anfall entsprechenden Materials richtet; ihre Einteilung unterliegt demnach im wesentlichen der Verantwortung von Herrn Scherzer selbst“. Das bedeutete: vormit- tags aufarbeiten, was nachts in aller Welt passiert war, am späten Nach- mittag die Aktualität – etwa die Etappe der Tour de France – möglichst spannend zu Papier zu bringen. Dazwischen bin ich ins Schwimmbad, ins Kino oder Bummeln gegangen. Sonntags war nonstop Hauptkampf- tag, manchmal zwölf Stunden und mehr. Meine Texte wurden mit „erz“ gekennzeichnet. Das Kürzel sollte mein Berufseben lang mein Marken- zeichen bleiben.

29 United Press International: 1960–1972

Die UPI in New York hatte als deutsche Zentrale Frankfurt auserko- ren. In Bonn unterhielt die Agentur lediglich eine Dependance. London war der Hauptsitz für Europa. Associated Press (AP) hieß vor allem in den USA der große Rivale. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) war der Konkurrent auf dem deutschen Markt. Im fünften Stock eines Büro- und Geschäftsgebäudes in der Kurt-Schumacher-Straße arbeiteten wir bereits in einem Großraum-Of- fice. In L-Form waren zum Teil schäbige, alte Holzschreibtische anei- nandergereiht. Die Bild-Redakteure und Fotografen hatten ihren eige- nen Bereich. Die englischen Nachrichten tickerten über Telex herein. Telex-Operator(innen) versandten die deutschen Manuskripte über gestanzte Lochstreifen an die Zeitungs- und Rundfunk-Kunden im deutschsprachigen Raum. Die Fernschreiber(innen) besaßen die erstaun- liche Fähigkeit, einen ganzen Artikel allein anhand der Löcher in den schmalen gelben Bändern zu lesen. Diese Erinnerungen habe ich in Zeiten von Trump-Tweets und Fake News aufgezeichnet. Welch himmelschreiender Kontrast zu den stren- gen Grundsätzen des Agentur-Journalismus. Die fünf Ws, wer, wo, wann, wie, warum, mussten in jedem Artikel so unabdingbar einge- halten werden wie die strikte Trennung zwischen Nachricht und Kom- mentar/Meinung. Das Fehlen der Quelle war Todsünde. Es gibt keine bessere Journalisten-Schule als die Nachrichten-Agentur. Karrieren von einstigen UPI-Redakteuren der Sechzigerjahre gefällig, die mit zu den angesehensten Journalisten und Autoren des Landes aufstiegen? Klaus Dreher wurde hoch geachteter Bonner Korrespondent der Süd- deutschen Zeitung und schrieb nach Meinung von Kritikern „die um- fassendste aller Kanzler-Biografien“ – 670 Seiten ohne Mitwirkung von Helmut Kohl. Harald Hotze schaffte es zum Spiegel-Korrespondenten in Brüssel. Ulrich Renz, Leiter der Inlandsredaktion, übernahm die Chef- redaktion der AP. Der Schwabe berichtete vor allem vom Bundesver- fassungsgericht in Karlsruhe, über 15 NS-Prozesse, darunter auch der

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