Musikstadt Wien Reloaded: Anno 1945 – Anno 1955 Der Wiederaufbau Und Die Kulturpolitischen Diskurse Um Den Austriazismus
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Musikstadt Wien reloaded: anno 1945 – anno 1955 Der Wiederaufbau und die kulturpolitischen Diskurse um den Austriazismus Susana Zapke Herrn Prof. Wildgans. Wien, den 29. Jänner 1947 M/M Dienstzettel Ich empfehle im Tagebuch eine Besprechung der Broschüre des Professors Schenk „950 Jahre Österreich“, Bellaria-Verlag, zu machen. Anhand dieser Broschüre kann man die Impotenz bestimmter musikalischer Faktoren in Wien gut aufzeigen. Bei dieser Gelegenheit eine Bilanz über Schenk machen. Stadtrat: Dr. Viktor Matejka Wollte man mit einem einzigen Begriff die Gründungsjahre des ‚neuen Österreich‘ nach Ende des Zweiten Weltkriegs charakterisieren, so wäre ‚Verösterreicherung‘ das richtige Schlagwort. Im Kleinformat ist das Phänomen für Wien, die ‚Verwienerung‘, genauso so treffend. Fragen nach dem Österreichischen – sei es in Bezug auf die Definition von Nation, auf das eigene (dialektale) Idiom, auf die Abgrenzung von allem „Deutschen“ oder auf einen sich aus der Kulturtradition herausbildenden Nationsbegriff – werden nach 1945 virulent debattiert. Dabei geht es nicht um eine Neuorientierung im Sinne der Aufarbeitung austrofaschistischer und nationalsozialistischer Prägungen als vielmehr um die Verfestigung einer Austriazismus-Mythomanie. Was das Österreichische und vor allem wer der österreichische Mensch sei, ob es so etwas wie eine Humanitas Austriaca1 als objektivierbaren theresianischen Begriff, der sich durch die gesamte Geschichte Österreichs zieht, gebe, und ob man mehr brauche als Grillparzer, Nestroy und Hofmannsthal sowie Schubert, Beethoven und Mozart sind überspitzt formuliert die Fragen, die den zwanghaften Versuch einer endgültigen Definition der österreichischen Identität nach 1945 begleiten.2 Besonders 1 Friedrich Heer: „Humanitas Austriaca. Menschentum und Mitmenschlichkeit in Österreich“ (1957), in: ders.: Land im Strom der Zeit. Österreich gestern, heute, morgen. Wien, München: Herold, 1958. Dazu auch Friedrich Heer: Der Kampf um die österreichische Identität. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 1981. 2 Siehe Wolfgang Kos und Georg Rigele (Hg.): Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik. Wien: Sonderzahl, 1996. Hier insbesondere die Beiträge von Sigrid Löffler: „Zum Beispiel 1 deutlich sind diese mythischen Diskurse über die österreichische Kulturnation im Kulturleben der unmittelbaren Nachkriegszeit, in den verschiedenen kulturellen Ereignissen und den darin abgebildeten ästhetischen Präferenzen zu erkennen. Zwei Schriften namhafter Politiker bilden die Stimmung im Jahr 1945 auf paradigmatische Weise ab. Hinter der Bestimmtheit ihrer Sprache, hinter dem Willen einer Abrechnung mit der invasiven Wirkungsmacht des Deutschtums verbirgt sich der Versuch einer würdigen Neudefinition Österreichs aus dem Blickwinkel der Kultur, wobei eine unverkennbare Unsicherheit beide Diskurse durchzieht. Diese lässt sich besonders an den nicht nur historiografischen, sondern auch politischen und geistesgeschichtlichen, stark subjektivierten Argumenten, die in aller Ausführlichkeit entfaltet werden, erkennen. Es geht dabei vor allem um zwei zentrale Leitmotive, die für den Beginn der Zweiten Republik prägend sind und als Warnung vor einer Kontinuität der falsch verstandenen „Humanitas“ im Sinne der totalitären Ideologie des Dritten Reichs verstanden sein wollen: das Leitmotiv der Eigenart des ‚österreichischen Volkscharakters‘ und das Leitmotiv einer ‚österreichischen Kultur‘. Ersteres ist vom damaligen (1945) Staatssekretär unter der provisorischen Regierung von Karl Renner, dem KPÖ-Politiker Ernst Fischer, in seiner Schrift Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters und Letzteres vom Stadtrat für Kultur und Volksbildung, Viktor Matejka, in seinem Vortrag Was ist österreichische Kultur? abgehandelt worden.3 Beide Texte wurden im Jahr 1945 verfasst, und beide zeugen vom agonischen Versuch, die Ursache der barbarischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs rational und analytisch zu erschließen. Während Matejka seine Gedanken in den Kontext eines ‚Neubaus Österreichs‘ stellt und einen allgemeinen sozialdemokratisch geprägten Begriff, bei dem es vorwiegend um den bereits in der Ersten Republik proklamierten Zugang aller Gesellschaftsschichten zu Kunst und Kultur geht, vertritt,4 verwendet Fischer in seinem Essay Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters eine Definition des österreichischen Volks und der österreichischen Nation in klarer Abgrenzung zu dem deutschen Volk und der deutschen Burg und Oper – zwei kulturimperialistische Großmythen“, S. 382–403, und Siegfried Mattl: „Die regulierte Demokratie. Eine kritische Bilanz der sozialen Systeme in Österreich“, S. 345–362. 3 Vgl. Ernst Fischer: Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters. Wien: Zeitungs- und Verlags- Gesellschaft, 1945 (= Schriftenreihe Neues Österreich 2). – Viktor Matejka: „Was ist österreichische Kultur?“ Vortrag gehalten in Wien am 25. Juli 1945. Wien: Selbstverlag [Wiener Rathaus], 1945. Ein drittes Statement, das zur Ergänzung dient, ist das von Bundeskanzler Leopold Figl: „Was ist Österreich“, in: Österreichische Monatshefte. Blätter für die Politik 1/1 (1945), S. 89–91. 4 Viktor Matjeka: „Die österreichische Kultur steht künftig im Zeichen einer organischen Gleichberechtigung aller arbeitenden Österreicher […]. Der Fortschritt unseres Jahrhunderts besteht in dem Fortschritt zur allgemeinen Anteilnahme“ und „Die Kultur eines Staates ist die Kultur der 24 Stunden des Tages, sie ist die Kultur der Arbeit, die Kultur der Ruhe, die Kultur der Erholung, der Wohnung […]“. Matejka: „Was ist österreichische Kultur?“, S. 7. 2 Nation. Beide Positionen stellen eine Gegenbewegung zum davor geltenden dualistischen Prinzip des Intellektualismus-Faschismus dar. Fischer betont die bestehende Gegensätzlichkeit zwischen Deutschen und Österreichern, die nach der preußisch-deutschen Nazityrannei noch markanter geworden sei. In seiner Argumentation greift er auf historische Gegebenheiten zurück und unternimmt den diffizilen Versuch, eine Definition des Volkscharakters der Österreicher aus jenen vermeintlich historischen Fakten herauszudestillieren. Dabei verfängt sich Fischer, wie bereits aus dem Titel nicht anders zu erwarten, in subjektivierten Zuordnungen wie etwa dem „Bedürfnis nach persönlicher Freiheit und Zwanglosigkeit“ und der „Abscheu vor jedem blinden Gehorsam und jedem tyrannischen Führerprinzip“ als Grundzügen des Charakters der Österreicher und insbesondere der ‚Wiener‘, die, wie er betont, Österreicher durch und durch seien.5 Kurioserweise kommt Matjeka in seinem Vortrag zu ähnlichen Lobpreisungen der österreichischen Seele und des österreichischen Charakters und spricht die Singularität sowohl der „österreichischen Geistes- und Herzensgesinnung“ als auch ihrer „Sprachgesinnung“ an.6 Auf die überströmende Musikalität der Österreicher und insbesondere der Wiener kommt Fischer etwas später zwangslos zu sprechen und wiederholt dabei alle Topoi der ‚Musikstadt Wien‘, die der seit dem 17. Jahrhundert fortlaufenden Mythomotorik entsprechen. Erstaunlich ist an der Diktion Fischers vor allem seine mangelnde kritische Distanz zum unmittelbaren Geschehen, also zur Täterrolle Österreichs im Zweiten Weltkrieg. Wenn er von der Toleranz und vom Verständnis der Österreicher gegenüber anderen Völkern ungeniert spricht, ist seine sonst kritisch-kaustische Ausdrucksart nicht mehr erkennbar, denn die Sprache, die er hierbei anwendet, ist weit von jener scharfsinnigen, alles durchleuchtenden Diktion, für die er seit den späten 1920er-Jahren und vor allem durch seine Artikel in der Arbeiter-Zeitung bekannt war, als er bereits auf die ersten Anzeichen einer totalitären Ideologie aufmerksam machte, entfernt.7 Letztendlich kreisen die großen Paraphrasen der Volksdefinition in seinem Essay über die Entstehung des österreichischen Volkscharakters um die Grundsatzfrage: „Sind wir Deutsche oder Österreicher?“8 Dabei 5 Fischer: Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters, S. 5. 6 „Das übernationale Denken, das Verlangen nach Freiheit, die Sehnsucht nach versöhnender Gerechtigkeit, der Mangel an Überheblichkeit, die Abneigung gegen jede Schnoddrigkeit, ein gesunder Sinn für schöpferische Schlamperei und Improvisation, seit jeher Wesenszüge unseres österreichischen Menschen […].“ „Aber wir sprechen unsere Sprache aus österreichischer Gesinnung […].“ Matjeka: „Was ist österreichische Kultur?“, S. 15, S. 16. 7 Siehe beispielsweise seine feine Symptomanalyse anhand der Schubert-Zentenarfeier von 1928 in Ernst Fischer: „Schubert und der Fremdenverkehr. Eine Nachlese“, in: Arbeiter-Zeitung, 25. Juli 1928, S. 5. 8 Fischer: „Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters“, S. 31. 3 weist Fischer auf das mangelnde Selbstbewusstsein der Sozialdemokraten hin, die von der „Lebensunfähigkeit“ Österreichs sprachen und somit Passivität sowie eine zugleich übertriebene Bescheidenheit zutage förderten. Österreich verkümmerte somit zu einem jämmerlich zerknitterten Männlein, von den Karikaturisten der Wiener Zeitung wiederholt als „Der Österreicher“ visualisiert. Während Fischers Essay sich nur in theoretischen Überlegungen bewegt, geht Matjekas Vortrag im zweiten Teil auf pragmatische, anwendungsorientierte Lösungen ein.9 Der Wiederaufbau von Opernhäusern und Theaterbetrieben steht im Zentrum seiner zielorientierten Politik, die allen Schichten der Gesellschaft den Zugang zur Hochkultur ermöglichen möchte und damit seine Haltung gegen eine kapitalistische Minderheitskultur signalisiert.10 Eine demokratische Sitzordnung und eine nicht nur traditionsorientierte