Waidmannslust um 1900 Manfred Mendes Ein Ort erwacht zum Leben

Um 1900, zur Zeit des Baubeginns der Es sind Erholungssuchende, die es hierher Schule, ist ein ländlich- zieht, um in der gesunden Umgebung idyllisches Anwesen weit vor den Toren Entspannung zu finden. Hier draußen im der Reichshauptstadt . Das Fließtal Walde und am Fließ wird man nicht wie in ist noch unberührt, zu beiden Seiten der der Innenstadt „von quietschenden und Straße nach dehnt sich stille Heide, kreischenden Straßenbahnen und Fuhr- auf dem Rollberg steht noch der Kiefern- wagen, bollernden Kehrmaschinen, das wald; die „Straße“ nach Lübars ist ein laute Klingeln und Rufen der Straßen- stiller Feldweg, an dem die Sauerkirsch- händler“, durch lärmende Kinder auf den bäume blühen, und nach geht Treppen und Höfen des Mietshauses, man auf Feldrainen zwischen Getrei- durch dessen Enge und Gestank, durch defeldern. Von der Höhe des Steinbergs das Singen der „nicht immer konservato- kann man den Turm des Roten Rathauses risch ausgebildeten Dienstboten, durch das

Waidmannstraße (heute Waidmannsluster Damm) um 1900 mit ebenerdigem Bahnübergang und die Schlosskuppel sehen. Die großen nicht endenwollende Teppichklopfen putz- Industrieanlagen in , Wittenau, süchtiger Hausfrauen oder durch mono- und Tegel stehen noch nicht. tones Klavierspiel höherer oder niederer Im Norden schiebt sich eben Töchter unter und über dem Schlaf- erst an seinen Wald heran, der weit zwi- zimmer“ ständig genervt. Hier in Waid- schen Hermsdorf, Hennigsdorf, Stolpe und mannslust wird man durch Vogelge- Bergfelde als unberührtes Revier sich dehnt zwitscher und das Krähen eines stolzen und dessen Wege selbst an Sonntagen Hahnes geweckt. Und man entgeht der in einsam sind. Berlin ist weit, Waid- den Berliner Mietskasernen als Volksseu- mannslust eine junge Kolonie im Walde che unter Armen und Reichen grassieren- von gerademal etwas mehr als 900 Ein- den Lungentuberkulose. Denn hier draußen wohnern, bekannt und beliebt als Aus- wird der Lunge reiner Sauerstoff zuge- flugs- und Kurort. führt und „nicht dauernd jenes denatu-

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„Bergschloß“ um 1900 (Nähe S-Bahnhof) rierte Gasgemisch, das man in Berlin werke des ganzen Gebäudes. Alle Säle, euphemistisch ‚frische Luft‘ zu nennen Logierzimmer etc. sind mit elektrischem beliebt“. Der Erholung vom Großstadt- Licht und Dampfniederdruckheizung ver- stress dienen gleich zwei Kuranstalten. sehen. Dem Auge bietet sich ein schönes Nicht zu übersehen ist das nahe der Bahn- landschaftliches Panorama, dessen süd- station gelegene burgartige „Kurhaus licher äußerster Rand die Türme von Bergschloß“. Seit 1888 betreibt es der aus Berlin erkennen lässt. Besonders ange- stammende Rentier Gustav nehm ist es für die dort weilenden Som- Joachim als Sanatorium. Durch ständige mergäste und die hiesigen Einwohner, dass Aus- und Umbauten dient es ab 1900 auch alle Arten von Bäder, auch elektrische als Gasthaus und erfreut sich „mit seinen Lichtbäder, die in der Neuzeit mit großem verschiedenen Nebengebäuden, umgeben Erfolg angewendet werden, im Hause zu von prächtigen Parkanlagen mit Fontänen haben sind“. Nur wenige Gehminuten und Kaskaden“ großer Beliebtheit. Stolz entfernt – entlang den Baugerüsten der berichtet die „Neue Vorortzeitung“ vom gerade entstehenden Schule in der Kur- 10. März 1900: „Das Innere des Kurhau- hausstraße – liegt die zweite Kuranstalt:

ses ist mit allen der Neuzeit entsprechen- in der Fürst - Bismarck - Straße 4-10, die den Einrichtungen ausgestattet. 40 allen damals noch Badstraße heißt, betreiben die hygienischen Anforderungen gerecht wer- Herren Zupke und Hellmuth seit 1894 eine dende Wohnungen sollen an Sommer- „Naturheilanstalt für Reconvaleszenten gäste vermietet werden. Breite, luftige und Erholungsbedürftige“. 1903 wird aus Corridore durchlaufen die einzelnen Stock- dem Heim, in dem Bäder verschiedener

12 Art, Massagen und Packungen angeboten haglich und wohnlich eingerichtet und werden, „Dr. F. Leonhards Sanatorium – bieten einen prächtigen Ausblick auf die Heil- und Pflegeanstalt für gemüts- und umgebenden meilenweiten Waldungen. nervenkranke Damen“. „Die Schlaf- und Zur Anstalt selbst gehören vier Morgen Tagesräume sind“ – wie der Anstaltspro- große Parkanlagen zur Benutzung für die spekt verspricht - „mit allem Comfort be- Kranken“.

Auch wen das Großstadtleben noch nicht Ausflugsziel entgegenfahren, „sich vor den krank gemacht hat, wer aber 10 oder gar 12 herabgelassenen Schranken der noch zu Stunden auf Baugerüsten oder in Fabriken ebener Erde verlaufenden Nordbahn- oder Büros schuftet, trägt alle Tage lang die gleise“ stauen oder wenn „aus dem hohlen Sehnsucht nach Wald, Wasser und Wiesen finstren Tor“ des Bahnhofsausganges „ein im Herzen. „Raus in die Mark“ heißt die buntes Gewimmel hervordringt“. Man Losung an besonnten Wochenenden. Es wandert ein Stück durch Wiesen, Felder sind einfache Menschen: der kleine Beamte und Wald, macht auf dem Fließ mit einem und Handwerker mit Frau und Kind – nein flachen Spreewaldkahn eine Bootspartie, Kindern; die niedliche Kartonagearbeiterin, um dann in einem der Ausflugslokale des die sich mühsam ein paar Groschen zum Ortes einzukehren. Sie sind nur wenige

Ausflügler in Waidmannslust um 1900

Ausflug zusammenspart; die dralle Köchin Gehminuten voneinander entfernt. Um und das fesche Stubenmädchen, der bessere 1900 sind es: das bereits als Kurhaus junge Arbeiter und natürlich, hochge- genannte „Bergschloss“ mit Lauben, schätzt der Grenadier, der Eisenbahner, der Veranden, Grotten, Statuen, Fontänen im Ulan, der Herr Kommerzienrat mit Gattin, parkähnlichen Garten; die ehemals von die in Kremser und Kutschwagen dem Bondick betriebene Gastwirtschaft „Waid- immer größer werdenden Berlin zu mannslust“ mit „Schaukeln, Karussell, entfliehen suchen. Es ist hübsch anzusehen, Würfel- und Schießbuden, Turngeräten“, wenn die mit Blumen und Fähnchen Musikpavillon und Kaffeeküche; der geschmückten Fuhrwagen mit Musike und „Waidmannshof“ von Kuchenbecker mit„ Vatern und Muttern, Sohn und Fräulein großem Fest- und Tanzsaal“; Hermann Braut, dem artigen Lieschen und dem Streckenbachs Restaurant „Tannenwäld- frechen Fritz, mit Peitschengeknalle dem chen“; die schräg gegenüber in der Diana-

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Gartenimbiss McDonald straße gelegene Gaststätte „Zur Fichte“ und so nennt man die Bewohner der „Freien das in der Fürst-Bismarck-Straße (damals Scholle“, deren erste vier Doppelhäuser Badstraße) am Fließ befindliche „Huber- erbaut sind. In diesen einfachen Gast- tusbad“ mit Badeanstalt. Beliebt ist aber wirtschaften wird wirklich noch Kaffee auch das Restaurant „Zum Schweizer- gekocht. Wie die schöne Inschrift besagt: häuschen“, dessen Areal sich von der „Der alte Brauch wird nicht gebrochen, Dianastraße bis zum Fließ erstreckt und mit hier können Familien Kaffee kochen“ und Blumenanlagen und Goldfischteichen den mitgebrachten Kuchen verzehren. In geschmückt ist oder “ MacDonalds“ im diesen Gartenlokalen mit kleinen Tivoli-

Ausflugsgesellschaft im sommerlichen Biergarten

Wäldchen gegenüber der Waldhornstraße Attraktionen und lampionumspannten gelegene Kaffeeküche, eine einfache Bret- Biergärten flutet das Leben des Sommer- terbude mit einer Kaffeekanne auf dem tags: Damen in farbenfrohen Kleidern, Dach, ein beliebtes Ziel für Steinwurf- duftig und leicht, Herren in großkarierten übungen bei Kindern der „Schollaner“ - Flanellanzügen mit der unvermeidlichen

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Sommerkopfbedeckung, dem flachen Strohhut, Kinder in Matrosenanzügen. Einige Lokale laden zu Konzerten und zum Tanz und sind sonntags knüppeldicke voll. Schmetternde Kapellen, Gewühl, Ge- dränge... Und wenn ein schneidiger junger Mann mit kühn hochgezwirbeltem Schnurr- bart oder ein flotter, nach Pomade duf- tender Konfektionsjüngling mit artiger Verbeugung zum nächsten Walzer oder zum Schunkeln auffordert, welches lebens- und liebeshungrige junge Ding wollte da widerstehen? Ist doch Schunkeln seit mehreren Jahren zum höchsten Ausdruck des „Pläsiervergnügens“ geworden! Mit heißen Gesichtern huschen sie dann hinaus in den kühlen Garten, wo man sich so schön in die Büsche schlagen kann... . Die großstädtischen Sommerfrischler und Aus- Fritz Bondick, Sohn des Gründers von Waidmannslust und Franz Menzel flügler, deren Zahl die der Einwohner um das Drei- bis Vierfache übersteigt, sind den zum Picknick niederzulassen, worüber die Gastwirten hochwillkommen, für viele Bache mit Frischlingen so in Harnisch ge- „Einheimische“ aber mitunter eine Heimsu- rät, dass sie den „Freßkober“ kaputt chung, eine Landplage, schlimmer als Rüs- trampelt. Wie schmerzvoll und belustigend selkäfer und Brände. „Dieses Volk“ spa- zugleich für einen Waidmannsluster ziert durch die „Colonie“ wie durch einen „Colonisten“, wenn er bei den Berliner Zoo, dringt ungebeten in Ställe und Gärten, Sonntagsausflüglern „einen Lehmann oder gafft durch offenstehende Fenster und be- Kulicke vor einem Roggen- oder Wei- nutzt einen Hochsitz als Liebesversteck. zenfeld zu seinem Sprößling in belehren- „Diese Leute“ trampeln über die Wiesen, dem Tone sagen hört: ‚Kiek mal, Eduard, als seien es Landstraßen, reißen im Wald det Jraß uff die Wiese steht aber scheene‘“. die Pilze mit Stumpf und Stiel aus dem Bo- Belustigt schlägt der Berichterstatter der den und bringen es sogar fertig, sich aus- Ortszeitung „Faust I“ auf und variiert gerechnet auf einem Wildschweinwechsel launig den Osterspaziergang:

„Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge die Wälder, Gärten und die Kneipen schlägt, Fließ oder See in Breit‘ und Länge So manchen lustigen Nachen bewegt. Vom Schanktisch jauchzet froh Getümmel, die Kaffeeküch‘ ist Mutters Himmel, frisch haut man in den Kuchen ein, freut sich, in unserem Ort zu sein.“

Aber die Ausflügler und Sommergäste städter betrachten den bekannten Rous- bringen nicht nur Geld unter die Leute, seau’schen Aufruf „Zurück zur Natur“ als sondern auch Aufschwung in die einsame innere Verpflichtung und siedeln sich in Siedlung. Für viele, die sie kennen lernen, Waidmannslust an, um eine gesunde und wird der stille Vorort mit Forst, Rollberg ausgeglichene Lebensweise anzustreben. und Fließtal eine ebenso preiswerte wie Seit es den tarifbegünstigten Vorortverkehr kultivierte Adresse. Immer mehr Groß- gibt, können die etwas besser Gestellten

15 die Vorteile des Wohnens im Grünen mit Uhr nachmittags“. Es gibt einen Arzt, dem Vorzug eines relativ hoch bezahlten Zahnarzt und eine Hebamme. Geschäfts- Berliner Arbeitsplatzes verbinden. „Viel leute, die sich vor allem an der Waidmann- angenehmer ist es, im Winter im geheizten straße, dem heutigen Waidmannsluster Eisenbahncoupé elegant die Zeitung zu Damm ansiedeln, haben sich den Bedürf- lesen“ und in etwa 25 Minuten „mit großer nissen der Vorortbewohner, deren Zahl Präzision wetterunabhängig“ in die ständig steigt, angepasst: Bäcker, Bauun- Innenstadt zum Stettiner Bahnhof ternehmer, Brennmaterialhandlung, Droge- gebracht zu werden, als die Qual des rie, Friseur, Gärtner, Glaser, Krämer, „Fahrens in überfüllten unpünktlichen Manufakturwarenhandlung, diverse Gast- Straßenbahnen, eingeklemmt zwischen stätten, Maler, Maurer, Papierhandlung, Hinz und Kunz“. Und auch auf Komfort Schneider, Schuhmacher, Töpfer, Zim- braucht man hier draußen nicht mehr zu mermann, Tischlerei sind vorhanden. verzichten. Im Morast unbefestigter Stra- Frühmorgens bereits werden Schrippen ßen muss man nicht mehr versinken. Denn ausgetragen. Dazu geben die Kundinnen

Waidmannstraße (heute Waidmannsluster Damm) / Düsterhauptstrasse 1902

Waidmann-, Kurhaus-, Hubertus- und eigens bestickte Schrippenbeutel an den Waldhornstraße sind bereits 1895 mit Bäcker, die man mit Frühstücksbrötchen Kopfsteinpflaster versehen worden, bis gefüllt an der Türklinke findet. Bauer 1906 werden auch fast alle anderen Stra- Qualitz fährt täglich frische Milch aus. ßen im westlichen Waidmannslust gepflas- Alle paar Monate geht ein Kesselflicker tert. Seit 1901 gibt es Gas, geliefert vom von Haus zu Haus oder ein Scheren- Gaswerk Tegel; die seit 1898 bestehende schleifer, dem die Kinder gern zusehen, freiwillige Feuerwehr hilft in der Not; es wenn er mit seinem Fuß auf einen Hebel existieren erste Telefonanschlüsse, eine tritt, um das Schleifrad in Schwung zu öffentliche Fernsprechstelle, eine Postagen- bringen, an dem Messer und Scheren wie- tur, und für schnelle Mitteilungen sorgt der scharf gemacht werden. Autos spielen eine „viermalige tägliche Postzustellung: im Straßenverkehr noch keine Rolle, Rad- ½ 8 und 11 Uhr vormittags, ½ 4 und ½ 8 fahrer gibt es nur vereinzelt, Pferdefuhr-

16 werke transportieren das meiste. Die Pfer- wird Obst und Gemüse angebaut, schwir- deäpfel holen sich die Anwohner und ren die Bienen und gackern die Hühner. düngen damit ihre Gärten. Handkarren ge- Den ländlichen Charakter will die Villen- hören zum Straßenbild. „An den Straßen- kolonie nicht leugnen. Noch 1912 muss der rändern weiden Ziegen und anderes Klein- Amtsvorsteher daran erinnern: „Es ist nicht getier und meckert abends müde durch die statthaft, dass die Hühner auf den Straßen Straßen dem Stalle zu.“ In den Gärten und den Anlagen herumlaufen.“

Dieser Umgebung passen sich viele Häuser an, die in dieser Zeit errichtet werden. Ihre Bauherren wollen sie aber mit allen Segnungen und Bequemlichkeiten der damaligen Zeit ausgestattet wissen und nennen sie nicht aus Überheblichkeit Villen, sondern verstehen nach französi- schem Sprachgebrauch darunter Landhäu- ser. „Billig, dabei durchaus solid und geschmackvoll, ist die erste Bedingung“. Als Beispiel für das Ideal der Land- hausarchitektur um 1900 für bürgerliches, repräsentatives Wohnen in naturnaher Umgebung – sei die Villa des Königlichen Oberrossarztes a.D. Thöns in der Kurhaus- straße 33 (jetzt Artemisstraße) genannt. Sein Architekt Prescher, der auch das „Hunde-Villa“ genannte „Jagdschloß Mehlich“ (Zehntwerderweg 41a) gebaut hat, beschreibt sie: Im Souterrain befinden sich „eine Portier- Wohnung von zwei Stuben und Küche, eine Waschküche, und zwei geräumige Wirtschaftskeller, das Erdgeschoß, 3,40m hoch, enthält ein Entree, drei geräumige Landhausvilla in Waidmannslust Zimmer nebst Küche, Speisekammer und Wasserklosett“ und einen Balkon. Im Reichsmark, so daß auf den Quadrat- Dachgeschoss liegen „außer mehreren meter bebauter Fläche ca. 125 Mk entfal- Wirtschaftsböden und Trockenboden, eine len“ . Beleuchtet werden die Räume bis Mädchenkammer und ein Fremden- etwa 1901/02 mit Petroleumlampen - zimmer“. „Der innere Ausbau ist einfach, bezogen von der seit 1888 in Waidmanns- aber solide hergestellt. Die Wasserver- lust ansässigen Budwegschen Lampenfa- sorgung ist vermittelst eines Abessinier- brik - teils mit Deckenlampen, sogenan- Brunnens bewerkstelligt... zur Bewässe- nten Lüstern, teils mit Tischlampen, teils rung des Klosetts ist im Dachgeschoß ein mit tragbaren Lämpchen in verschiedenen Reservoir aufgestellt. Zur Aufnahme der Größen. Das kleinste hängt in der Toilette. Küchenwässer etc. dienen zwei nebenein- Dessen Zylinder ist kaum mehr als 12 ander gelegte große Senkgruben im Hinter- Zentimeter hoch, aber ob groß oder klein, garten, die mit dem Klosett und dem jeden Tag muss Petroleum nachgefüllt und Küchenausguß durch Thonrohrleitungen in alle paar Tage die Zylinder gereinigt und Verbindung gebracht sind. Die Gesamt- das versengte Ende der Dochte kosten des Rohbaus betragen 14.000 abgeschnitten werden. Geheizt wird mit

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Kachelöfen. Nicht weg zu denken sind in der Winterzeit das stetige Summen der Kessel mit heißem Wasser in den mit einer Messingtür versehenen Ofenröhren, der Duft von dann gebratenen Äpfeln, ebenso- wenig wie der Geruch nach eingemotteten Pelzen, Bohnerwachs, nassen Hundehaaren und eingecremten „Schmierstiefeln“. Außer solchen Landhausvillen entsteht um 1900 eine größere Anzahl Häuser in anderen und recht unterschiedlichen Stil- formen. Blickfang für vornehmes und hochherrschaftliches Wohnen sind an den Eckpunkten der Siedlung im Osten das „Jagdschloß Mehlich“ und im Westen die „Villa Erbrecht“ (Dianastraße 49), Resi- denzen von Jägern. Andere Waidmänner haben sich wesentlich bescheidenere und oft nur im Sommer genutzte Holzhäuser in „Jagdschloß Mehlich“ der Nimrod- und Bondickstraße gebaut. Der Mode entsprechend gibt es auch Dianastraße. Fast alle diese Mietshäuser schwedische Typenholzbauten. Für die haben Vorgärten, ansehnliche Fassaden mit vielen Zuwanderer aus Berlin, die sich kein Anklängen an italienische Renaissance eigenes Haus leisten können, werden in oder prächtige Jugendstilelemente ; viele dieser Zeit repräsentative Mehrfamilien- haben Remisen auf dem Hof und Läden im Miethäuser errichtet, vor allem in der Erdgeschoss. Es wird viel gebaut, denn das Waidmann- , aber auch Bondick- und Interesse, hier zu wohnen, wächst. Hat

Waidmannslust um 1909

18 Waidmannslust 1892 beim Tod seines großbürgerlichen Oberschichten und den Gründers Bondick nur 389 Einwohner, sind proletarischen Unterschichten, politisch es 1901 bereits ca. 900, im Oktober 1902 aus der zwischen „links“ und schon 1218, im Jahr 1912 ca. 3000 Ein- „rechts“. Und kulturell schließlich als wohner. Es sind Beamte und Angestellte, Garant gesellschaftlicher Ordnung, Stabili- gut situierte Pensionäre und Rentner, viele tät und angemessener Repräsentation. Als selbständige und nur verhältnismäßig Werte der Moral und Schönheit gelten : wenige Arbeiter, die sich hier ansiedeln. Zu Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Sauber- ihrem überwiegenden Teil gehören die keit, Pünktlichkeit, Sittlichkeit ... sowie Einwohner also dem mittelständischen Erhabenheit, Reinheit, Harmonie, Identität, Bürgertum an und haben Profil und Historizität im kulturellen und ästheti- Identität ihrer Mittellage traditionell von schen Bereich. Man betrachtet sich als einem idealistischen Selbstbild her Gewährsmann für die Geltung dieser Tu- bestimmt und normativ begründet. genden und beansprucht folgerichtig ihre Ökonomisch, also im Anspruch auf eine Kontrolle nicht nur in der Familie, sondern „gerechte“ Vermögens- und Einkom- auch im „öffentlichen“ Bereich: in allem, mensverteilung, aus der Mitte zwischen was den ständig anwachsenden Ort betrifft.

Dort gibt es viele Probleme und Sorgen. Infrastruktur zu verbessern. Also ist Selbst- Die junge „Kolonie“ ist inzwischen der hilfe angesagt. Um sie besser koordinieren Muttergemeinde Lübars, auf dessen Grund und organisieren zu können, bilden sich – und Boden sie ja liegt, über den Kopf wie in vielen anderen Vorortgemeinden – gewachsen. Diese verträgt es schlecht, dass auch in Waidmannslust Vereine, die sich und wie ihr die „Tochter“ Waidmannslust der „Förderung der gemeinsamen Interes- den Rang abläuft und immer aufmüpfiger sen“ widmen. Vor allem der „Ortsverein“ wird. Die Lübarser Gemeindevertretung und der „Verein zur Hebung des Gemein- und ihr Vorsteher Rabe können und wollen wohls“ kümmern sich um kommunale Auf- nicht ständig den Waidmannslustern Geld gaben. Geleitet werden sie von im Ort und Hilfe zur Verfügung stellen, um deren hochangesehenen Persönlichkeiten wie

Freiwillige Feuerwehr von Waidmannslust auf dem Schulhof

19 dem Hofjuwelier Friedrich Schade und den Waidmannslustern in Eigeninitiative dem Versicherungsdirektor und Unterneh- errichtet und unterhalten, stehen im Ort an mer Rudolf Protz. Und tatkräftig unterstützt den Straßenkreuzungen und sollen die und gefördert werden diese Vereine von Richtung weisen. Viel Licht werfen sie Personen wie dem Lampenfabrikanten nicht auf die holprigen Wege. Allerhand Gustav Budweg, der sich schon als Sponsor lichtscheues Gesindel findet sich ein und für Schule und Kirche in ihren Anfangs- stiehlt Holz und Vieh. Deshalb sorgen die zeiten hervorgetan hat und dessen Tod im Ortsvereine dafür, dass Wilhelm Albert, Jahr 1900 einen schweren Verlust für den der spätere langjährige und beliebte Ort und seine Vereine bedeutet. Diese Schulhauswart als Nachtwächter angestellt bemühen sich um viele Verbesserungen im wird. Er zieht mit seinem treuen Hund und Ort z.B. bei der Königlichen Eisenbahn- mit Signalhorn des Nachts durch den Ort, direktion „um Errichtung einer verdeckten schützt die schlafenden Bürger vor Lang- Bahnsteighalle für die Bahnhofsanlage fingern und meldet ausbrechendes Feuer, hierselbst“; bei der Gemeindevertretung zu dessen Bekämpfung dann die um 1898 Lübars um die Verbesserung der „Wegezu- gegründete „Freiwillige Feuerwehr“ aus- stände“, d.h. darum, den „gefaßten Pflaste- rückt. Die Mittel für Fahrzeuge, Geräte rungsbeschluß“ auch für die Bondickstraße und Schutzkleidung und auch den Schup- endlich zu verwirklichen; bei der Berli- pen für deren Aufbewahrung müssen die ner Straßenbahngesellschaft darum, „ den Waidmannsluster vorerst selbst aufbringen.

Badeanstalt am Fließ um 1900

Schienenstrang von Tegel bis Waidmanns- Sie spenden auch, um die 1893 auf lust weiterzulegen“. Man kämpft erbittert Initiative des „Vereins zur Hebung des und lange vergebens um bessere „Erleuch- Gemeinwohls“ gegründete „Lesebiblio- tung“ des Ortes. Denn den Besuch aus der thek“ auszubauen. Und sie sorgen auch Stadt muss man abends mit der Stalllaterne dafür, dass „auf gesellige Genüsse“ nicht zum Bahnhof bringen, so spärlich ist die verzichtet werden muss. Man trifft sich Straßenbeleuchtung. Nur 19 Petroleum- regelmäßig im Gesangsverein „Waldes- lampen, sogenannte „Richtlaternen“, von grün“, im „Kriegerverein“, im Büchsen-

20 bolzenverein „Feinkorn“, um nur einige der nen“. „Konzert, Vorträge der Gesangver- um 1900 bestehenden Vereine zu nennen, eine, Kinderspiele aller Art“ und – natür- denen sich wenige Jahre später viele lich „Ball in den Festlokalen “. Diese Feier weitere hinzugesellen werden. So leben die bleibt allen Waidmannslustern lange in Waidmannsluster „im Verein vereint“, guter Erinnerung. Denn ihr Leben ist helfen sich untereinander und feiern mit- ziemlich karg, deshalb freut man sich auf einander. Besonders, als sie am Samstag, Höhepunkte. Das sind die Sonntage, die dem 4. August 1900, selbstbewusst und kirchlichen Feiertage, die „Stiftungsfeste“ froh die „Großartige Jubelfeier zur Erin- der Vereine und die Nationalfeiertage. nerung an das 25-jährige Bestehen der Kaisers Geburtstag am 27. Januar und der Villenkolonie“ begehen: mit Wecken durch Sedanstag am 2. September sind für patrio- Kanonenschläge, Kranzniederlegung am tische und weniger patriotische Mitbürger Grab von Bondick; Festumzug „unter den zumindest ein willkommener Grund, nicht Klängen von drei Musikkapellen durch die nur „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ aus reich geschmückten Straßen der Colonie“ - voller Kehle zu singen, sondern diese dabei die Teilnehmer erscheinen „in ländlicher auch nicht trocken werden zu lassen. Für Tracht als Zigeuner, Jäger, Schnitterin- die Kinder gibt es dann schulfrei.

Nicht nur an solchen Tagen fühlen sich die Waidmannsluster Kinder glücklich. Für viele von ihnen ist es hier fast paradiesisch. In den Gärten ist genügend Platz zum Höhlen bauen, Purzelbaum und Rad schla- gen. Man kann sich im Rasen wälzen, Vögel und Käfer beobachten und Blumen pflanzen, mit Pfeil und Bogen auf die Scheibe schießen, auf der Brettschaukel wippen, mit den Haustieren spielen ... Die Tierhaltung im Stall, die Arbeiten im Gar- ten und auf dem Feld vermitteln viele Ein- blicke in die Natur, die einem Stadtkind nur selten vergönnt sind. Die Waidmanns- luster beobachten schadenfroh, wie ängst- lich die „Stadtpflanze“, die zum Ausflug hierher gekommen ist oder sich zur Som- merfrische in den Sanatorien aufhält, einen respektvollen Bogen um das Ungeheuer Der Bollerwagen für alle Fälle von Kettenhund macht. Jedes Waidmanns- luster Kind weiß, wie man eine Wei- auf einem vollgeladenen Heu- oder Ge- denflöte schnitzt, auf den Grasblättern treidewagen mitfahren zu dürfen, wippend bläst, die richtigen Pilze oder Beeren findet auf der weichen Ladung. Oder mit dem oder auf Stelzen läuft. Allzu viel fertiges „Bollerwagen“ unterwegs zu sein. Den Spielzeug gibt es nicht. Dafür aber genug hat jede Familie. Er ist das Nutzfahrzeug Ersatz. Wird z.B. im Herbst oder Winter des kleinen Mannes, das Traumfahrzeug ein Schwein geschlachtet, so bekommt das der Kinder. Die Mutter holt damit Holz Kind die aufgeblähte Blase zum Spielen. und Kohlen, die Kinder benutzen ihn als Es füllt sie mit einigen Erbsen als Rassel Hochzeitskutsche oder als Eisenbahn- oder bindet sie der Katze oder dem Hund wagen, je nach Vorstellung. Das Fließ mit an den Schwanz, die dann vor Angst seinen Enten ist im Sommer ein ständiger davonjagen. Besonders aufregend ist es, Treffpunkt der Jugend. Wenn man nicht

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Badeausflug zum Fließ badet, kann man mit aus Papier gefalteten den mit Riesensprüngen die Krieger von oder aus Holz oder Borke geschnitzten beiden Seiten springen und dabei mit- Schiffchen Flotten bilden, die sich durch unter im Modder landen. Im Herbst lässt Steinwürfe gut versenken lassen. Die man auf den Rollbergen oder einem Waidmannsluster Jungen sind auf dem Stoppelfeld den vom Vater gebastelten Kriegspfad, „beschießen“ über das Fließ Drachen steigen. Wie schön das alles, die Hermsdorfer „Sioux“. Schreckliches wenn es nur nicht solche Probleme wegen Kriegsgeheul auch bei den Kämpfen gegen der Schule gäbe! die Dalldorfer am Packereigraben, über

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