Waidmannslust Um 1900 Manfred Mendes Ein Ort Erwacht Zum Leben
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Waidmannslust um 1900 Manfred Mendes Ein Ort erwacht zum Leben Um 1900, zur Zeit des Baubeginns der Es sind Erholungssuchende, die es hierher Schule, ist Waidmannslust ein ländlich- zieht, um in der gesunden Umgebung idyllisches Anwesen weit vor den Toren Entspannung zu finden. Hier draußen im der Reichshauptstadt Berlin. Das Fließtal Walde und am Fließ wird man nicht wie in ist noch unberührt, zu beiden Seiten der der Innenstadt „von quietschenden und Straße nach Tegel dehnt sich stille Heide, kreischenden Straßenbahnen und Fuhr- auf dem Rollberg steht noch der Kiefern- wagen, bollernden Kehrmaschinen, das wald; die „Straße“ nach Lübars ist ein laute Klingeln und Rufen der Straßen- stiller Feldweg, an dem die Sauerkirsch- händler“, durch lärmende Kinder auf den bäume blühen, und nach Wittenau geht Treppen und Höfen des Mietshauses, man auf Feldrainen zwischen Getrei- durch dessen Enge und Gestank, durch defeldern. Von der Höhe des Steinbergs das Singen der „nicht immer konservato- kann man den Turm des Roten Rathauses risch ausgebildeten Dienstboten, durch das Waidmannstraße (heute Waidmannsluster Damm) um 1900 mit ebenerdigem Bahnübergang und die Schlosskuppel sehen. Die großen nicht endenwollende Teppichklopfen putz- Industrieanlagen in Rosenthal, Wittenau, süchtiger Hausfrauen oder durch mono- Borsigwalde und Tegel stehen noch nicht. tones Klavierspiel höherer oder niederer Im Norden schiebt sich Hermsdorf eben Töchter unter und über dem Schlaf- erst an seinen Wald heran, der weit zwi- zimmer“ ständig genervt. Hier in Waid- schen Hermsdorf, Hennigsdorf, Stolpe und mannslust wird man durch Vogelge- Bergfelde als unberührtes Revier sich dehnt zwitscher und das Krähen eines stolzen und dessen Wege selbst an Sonntagen Hahnes geweckt. Und man entgeht der in einsam sind. Berlin ist weit, Waid- den Berliner Mietskasernen als Volksseu- mannslust eine junge Kolonie im Walde che unter Armen und Reichen grassieren- von gerademal etwas mehr als 900 Ein- den Lungentuberkulose. Denn hier draußen wohnern, bekannt und beliebt als Aus- wird der Lunge reiner Sauerstoff zuge- flugs- und Kurort. führt und „nicht dauernd jenes denatu- 11 „Bergschloß“ um 1900 (Nähe S-Bahnhof) rierte Gasgemisch, das man in Berlin werke des ganzen Gebäudes. Alle Säle, euphemistisch ‚frische Luft‘ zu nennen Logierzimmer etc. sind mit elektrischem beliebt“. Der Erholung vom Großstadt- Licht und Dampfniederdruckheizung ver- stress dienen gleich zwei Kuranstalten. sehen. Dem Auge bietet sich ein schönes Nicht zu übersehen ist das nahe der Bahn- landschaftliches Panorama, dessen süd- station gelegene burgartige „Kurhaus licher äußerster Rand die Türme von Bergschloß“. Seit 1888 betreibt es der aus Berlin erkennen lässt. Besonders ange- Pankow stammende Rentier Gustav nehm ist es für die dort weilenden Som- Joachim als Sanatorium. Durch ständige mergäste und die hiesigen Einwohner, dass Aus- und Umbauten dient es ab 1900 auch alle Arten von Bäder, auch elektrische als Gasthaus und erfreut sich „mit seinen Lichtbäder, die in der Neuzeit mit großem verschiedenen Nebengebäuden, umgeben Erfolg angewendet werden, im Hause zu von prächtigen Parkanlagen mit Fontänen haben sind“. Nur wenige Gehminuten und Kaskaden“ großer Beliebtheit. Stolz entfernt – entlang den Baugerüsten der berichtet die „Neue Vorortzeitung“ vom gerade entstehenden Schule in der Kur- 10. März 1900: „Das Innere des Kurhau- hausstraße – liegt die zweite Kuranstalt: ses ist mit allen der Neuzeit entsprechen- in der Fürst - Bismarck - Straße 4-10, die den Einrichtungen ausgestattet. 40 allen damals noch Badstraße heißt, betreiben die hygienischen Anforderungen gerecht wer- Herren Zupke und Hellmuth seit 1894 eine dende Wohnungen sollen an Sommer- „Naturheilanstalt für Reconvaleszenten gäste vermietet werden. Breite, luftige und Erholungsbedürftige“. 1903 wird aus Corridore durchlaufen die einzelnen Stock- dem Heim, in dem Bäder verschiedener 12 Art, Massagen und Packungen angeboten haglich und wohnlich eingerichtet und werden, „Dr. F. Leonhards Sanatorium – bieten einen prächtigen Ausblick auf die Heil- und Pflegeanstalt für gemüts- und umgebenden meilenweiten Waldungen. nervenkranke Damen“. „Die Schlaf- und Zur Anstalt selbst gehören vier Morgen Tagesräume sind“ – wie der Anstaltspro- große Parkanlagen zur Benutzung für die spekt verspricht - „mit allem Comfort be- Kranken“. Auch wen das Großstadtleben noch nicht Ausflugsziel entgegenfahren, „sich vor den krank gemacht hat, wer aber 10 oder gar 12 herabgelassenen Schranken der noch zu Stunden auf Baugerüsten oder in Fabriken ebener Erde verlaufenden Nordbahn- oder Büros schuftet, trägt alle Tage lang die gleise“ stauen oder wenn „aus dem hohlen Sehnsucht nach Wald, Wasser und Wiesen finstren Tor“ des Bahnhofsausganges „ein im Herzen. „Raus in die Mark“ heißt die buntes Gewimmel hervordringt“. Man Losung an besonnten Wochenenden. Es wandert ein Stück durch Wiesen, Felder sind einfache Menschen: der kleine Beamte und Wald, macht auf dem Fließ mit einem und Handwerker mit Frau und Kind – nein flachen Spreewaldkahn eine Bootspartie, Kindern; die niedliche Kartonagearbeiterin, um dann in einem der Ausflugslokale des die sich mühsam ein paar Groschen zum Ortes einzukehren. Sie sind nur wenige Ausflügler in Waidmannslust um 1900 Ausflug zusammenspart; die dralle Köchin Gehminuten voneinander entfernt. Um und das fesche Stubenmädchen, der bessere 1900 sind es: das bereits als Kurhaus junge Arbeiter und natürlich, hochge- genannte „Bergschloss“ mit Lauben, schätzt der Grenadier, der Eisenbahner, der Veranden, Grotten, Statuen, Fontänen im Ulan, der Herr Kommerzienrat mit Gattin, parkähnlichen Garten; die ehemals von die in Kremser und Kutschwagen dem Bondick betriebene Gastwirtschaft „Waid- immer größer werdenden Berlin zu mannslust“ mit „Schaukeln, Karussell, entfliehen suchen. Es ist hübsch anzusehen, Würfel- und Schießbuden, Turngeräten“, wenn die mit Blumen und Fähnchen Musikpavillon und Kaffeeküche; der geschmückten Fuhrwagen mit Musike und „Waidmannshof“ von Kuchenbecker mit„ Vatern und Muttern, Sohn und Fräulein großem Fest- und Tanzsaal“; Hermann Braut, dem artigen Lieschen und dem Streckenbachs Restaurant „Tannenwäld- frechen Fritz, mit Peitschengeknalle dem chen“; die schräg gegenüber in der Diana- 13 Gartenimbiss McDonald straße gelegene Gaststätte „Zur Fichte“ und so nennt man die Bewohner der „Freien das in der Fürst-Bismarck-Straße (damals Scholle“, deren erste vier Doppelhäuser Badstraße) am Fließ befindliche „Huber- erbaut sind. In diesen einfachen Gast- tusbad“ mit Badeanstalt. Beliebt ist aber wirtschaften wird wirklich noch Kaffee auch das Restaurant „Zum Schweizer- gekocht. Wie die schöne Inschrift besagt: häuschen“, dessen Areal sich von der „Der alte Brauch wird nicht gebrochen, Dianastraße bis zum Fließ erstreckt und mit hier können Familien Kaffee kochen“ und Blumenanlagen und Goldfischteichen den mitgebrachten Kuchen verzehren. In geschmückt ist oder “ MacDonalds“ im diesen Gartenlokalen mit kleinen Tivoli- Ausflugsgesellschaft im sommerlichen Biergarten Wäldchen gegenüber der Waldhornstraße Attraktionen und lampionumspannten gelegene Kaffeeküche, eine einfache Bret- Biergärten flutet das Leben des Sommer- terbude mit einer Kaffeekanne auf dem tags: Damen in farbenfrohen Kleidern, Dach, ein beliebtes Ziel für Steinwurf- duftig und leicht, Herren in großkarierten übungen bei Kindern der „Schollaner“ - Flanellanzügen mit der unvermeidlichen 14 Sommerkopfbedeckung, dem flachen Strohhut, Kinder in Matrosenanzügen. Einige Lokale laden zu Konzerten und zum Tanz und sind sonntags knüppeldicke voll. Schmetternde Kapellen, Gewühl, Ge- dränge... Und wenn ein schneidiger junger Mann mit kühn hochgezwirbeltem Schnurr- bart oder ein flotter, nach Pomade duf- tender Konfektionsjüngling mit artiger Verbeugung zum nächsten Walzer oder zum Schunkeln auffordert, welches lebens- und liebeshungrige junge Ding wollte da widerstehen? Ist doch Schunkeln seit mehreren Jahren zum höchsten Ausdruck des „Pläsiervergnügens“ geworden! Mit heißen Gesichtern huschen sie dann hinaus in den kühlen Garten, wo man sich so schön in die Büsche schlagen kann... Die großstädtischen Sommerfrischler und Aus- Fritz Bondick, Sohn des Gründers von Waidmannslust und Franz Menzel flügler, deren Zahl die der Einwohner um das Drei- bis Vierfache übersteigt, sind den zum Picknick niederzulassen, worüber die Gastwirten hochwillkommen, für viele Bache mit Frischlingen so in Harnisch ge- „Einheimische“ aber mitunter eine Heimsu- rät, dass sie den „Freßkober“ kaputt chung, eine Landplage, schlimmer als Rüs- trampelt. Wie schmerzvoll und belustigend selkäfer und Brände. „Dieses Volk“ spa- zugleich für einen Waidmannsluster ziert durch die „Colonie“ wie durch einen „Colonisten“, wenn er bei den Berliner Zoo, dringt ungebeten in Ställe und Gärten, Sonntagsausflüglern „einen Lehmann oder gafft durch offenstehende Fenster und be- Kulicke vor einem Roggen- oder Wei- nutzt einen Hochsitz als Liebesversteck. zenfeld zu seinem Sprößling in belehren- „Diese Leute“ trampeln über die Wiesen, dem Tone sagen hört: ‚Kiek mal, Eduard, als seien es Landstraßen, reißen im Wald det Jraß uff die Wiese steht aber scheene‘“. die Pilze mit Stumpf und Stiel aus dem Bo- Belustigt schlägt der Berichterstatter der den und bringen es sogar fertig, sich aus- Ortszeitung „Faust I“ auf und variiert gerechnet auf einem Wildschweinwechsel launig den Osterspaziergang: „Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge die Wälder, Gärten und die Kneipen schlägt, Fließ oder See in Breit‘ und Länge So manchen lustigen Nachen bewegt.