EINLEITUNG WIDERSTÄNDIGES VERHALTEN UND HERRSCHAFTS- PRAXIS IN DER DDR DER SECHZIGER JAHRE

Widerstand, Opposition, Protest und Verweigerung in der DDR gehören zu den zeithistorischen Themen, die seit 1990 besonders intensiv untersucht wurden. Dabei hat sich die Forschung auf Formen der fundamentalen Gegnerschaft poli- tischer und religiöser Gruppen oder Einzelpersonen gegen die Stalinisierung und den »Aufbau des Sozialismus« (1948-1961) konzentriert. Auch die systemimma- nente Gegnerschaft der Menschenrechts-, Friedens- und Umweltbewegung in den achtziger Jahren, die durch ihr Streben nach Reformen innerhalb des sozialistischen Systems das Herrschaftsmonopol der SED-Führung zunehmend in Frage stellten, fand bisher ein breites Forschungsinteresse.1 Zentrale historische Ereignisse wie der 17. Juni 1953 oder der Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 standen ebenso im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Untersuchung wie die Rolle des Ministeriums der Staatssicherheit oder die politische Strafjustiz des SED-Regimes.2 Die Debatten über verschiedene Methoden und Begriffe zur Erforschung wider- ständigen Verhaltens bezogen sich daher weitgehend auf die Anfangs- und End- phase der DDR. Für die sechziger und siebziger Jahre liegen demgegenüber bisher nur punktuelle Forschungsbefunde vor.3 Mit der Unterscheidung zwischen fun-

1 Vgl. Ulrike Poppe, Rainer Eckert, Ilko-Sascha Kowalczuk, Opposition, Widerstand und widerstän- diges Verhalten in der DDR. Forschungsstand – Grundlinien – Probleme, in: dies. (Hrsg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, 1995, S. 9-26, hier S. 16; außerdem Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1998, S. 25-33; Rainer Eckert, Widerstand und Opposition in der DDR. Siebzehn Thesen, in: ZfG 44 (1996), S. 49-67, hier S. 54 f. 2 Unter der Vielzahl der Publikationen zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 vgl. Bernd Eisenfeld, Ilko- Sascha Kowalczuk, Ehrhart Neubert (Hrsg.), Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte, Bremen 2004; Torsten Diedrich, Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, München 2003; Kowalczuk, 17.6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003; , Roger Engelmann, Der »Tag X« und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003. Zum Ende der DDR vgl. Günther Heydemann, Gunther Mai, Werner Müller (Hrsg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, Berlin 1999; Eberhard Kuhrt, Hannsjörg F. Buck, Gunter Holzweißig (Hrsg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusam- menbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999; Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- land. Zeitgeschichtliches Forum (Hrsg.), Der Weg zur Wiedervereinigung, Köln 1999. 3 Zum Forschungsdesiderat der sechziger und siebziger Jahre vgl. zusammenfassend Rainer Eckert, Dissidenz und Opposition im Schatten der Mauer – die sechziger und siebziger Jahre, in: Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-For- schung, Paderborn 2003, S. 167-172, hier S. 172. Erwähnenswert an dieser Stelle ist die 2003 erschie- nene Dissertation von Marc-Dietrich Ohse, die zumindest zum Protestverhalten Jugendlicher in den sechziger Jahren einen Überblick bietet. Vgl. Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974), Berlin 2003. Die jüngst erschienene Disser- tation von Babett Bauer liefert für die siebziger Jahre neue Befunde für die Erforschung widerstän- 12 Einleitung damentaler Gegnerschaft in der Anfangsphase und systemimmanenter Gegner- schaft im Endstadium erscheint das Jahrzehnt zwischen Mauerbau und dem Ende der Ära Ulbricht in der DDR-Geschichte als Übergangsphase, die bisher nicht genau einzuordnen war. Die folgende Studie versteht sich daher als ein Beitrag, widerständiges Verhalten der sechziger Jahre als ein Ergebnis von vorrangig asym- metrischen Interaktionen zwischen den Herrschenden und den Beherrschten in der DDR der sechziger Jahre zu erfassen und zu analysieren.

1. PROBLEMSTELLUNG

Die Ergebnisse der NS-Widerstandsforschung lassen sich sowohl methodisch als auch theoretisch für die Untersuchung widerständiger Verhaltensformen in der DDR aufgreifen. Die Kontinuitätslinien beider Diktaturen sah die bisherige For- schung vor allem in der politischen Mobilisierung der Bevölkerung wie auch in der Repression als Mittel zur Erhaltung der Macht. Beide Regime richteten sich gegen eine pluralistische, freiheitliche und demokratische Gesellschaftsordnung. Die Differenzen zwischen nationalsozialistischer Diktatur und SED-Regime las- sen sich hinsichtlich der Entstehung, der zeitlichen Dauer sowie der jeweils ver- folgten Ideologie feststellen. Wesentlich für die Entwicklung der differierenden gesellschaftlichen Strukturen in beiden Diktaturen waren die Unterschiede, die sich einerseits aus dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg ergaben, ausgelöst von den Nationalsozialisten zur Verfolgung ihrer rassenideologischen Ziele. An- dererseits war die DDR von einem radikalen Elitewechsel und einer tiefgreifenden Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und damit auch der ökonomischen und sozialen Strukturen geprägt.4 Die diktatorischen Herrschaftsstrukturen des jeweiligen Systems legten die Rahmenbedingungen widerständigen Verhaltens fest. Opponierende Akteure als handelnde Subjekte im gesellschaftlichen und staatlichen Kontext in beiden deut- schen Diktaturen des 20. Jahrhunderts verdeutlichen durch ihre Ziele und Moti- vationen jedoch auch die Grenzen dieser Herrschaftssysteme und bekräftigen gleichzeitig das Bekenntnis zu demokratischen Grundwerten wie die Achtung der Menschenwürde, der Menschenrechte sowie der Prinzipien des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung.5 Daher ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit

digen Verhaltens in der DDR. Vgl. Babett Bauer, Kontrolle und Repression. Individuelle Erfah- rungen in der DDR (1971-1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History, Göttingen 2006. 4 Vgl. Jürgen Kocka, Nationalsozialismus und SED-Diktatur im Vergleich, in: ders., Vereinigungs- krise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S. 91-101; vgl. umfassend zum Diktaturen- vergleich Günther Heydemann, Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Diktaturen in Deutschland – Ver- gleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, 2003. 5 Vgl. Peter Steinbach, Diktaturerfahrung und Widerstand, in: Klaus-Dietmar Henke, Peter Stein- bach, Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln, Weimar, Wien 1999,