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5 Kulturlandschaftsgenese von Strukturen als im Hügel- oder im Flachland. Andererseits sind Nordrhein-Westfalen in naturräumlich vergleichbaren Regionen durch anthropoge- ne Prozesse wiederum variierende Landnutzungs- und Sied- 5.1 Überblick der lungsstrukturen entstanden. Beispielsweise sind bei überwie- kulturlandschaftlichen Entwicklung gend agrarischer Nutzung die Eifel durch geschlossene Dorf- siedlungen und das Bergische Land dagegen durch Einzel- und Streusiedlungen gekennzeichnet. Das Siegerland wieder- Die natürliche Beschaffenheit hat bereits im Neolithikum und um ist historisch seit früher Zeit durch Eisenerzbergbau und in den Metallzeiten Gunst- und Ungunsträume im Gebiet von Eisenverhüttung und die damit verbundene Haubergwirt- Nordrhein-Westfalen entstehen lassen. Diese beziehen sich schaft sowie Besiedlungsschwerpunkte in den Fluss- und auf das Vorkommen von Rohstoffen, die Lage an Flüssen, die Bachtälern strukturell geprägt. Bodenbeschaffenheit, die Morphologie und die Klimaverhält- nisse. Sie haben jeweils spezifische, freilich über die Jahrhun- derte z.T. auch wechselnde Raumnutzungen gefördert. Paläontologisches Potential in Nordrhein-Westfalen

In den unterschiedlich ausgestatteten Naturräu- men mit ihren Geländeformen und ökologischen Rahmenbedingungen entstanden variierende Kulturlandschaftstypen und Land- nutzungssysteme. Im Mittelgebirgs- raum zeigen sich daher andere

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Der Kunstweg "MenschenSpuren" widmet sich im Neandertal dem Spannungsfeld Mensch-Natur. (Skulptur) Foto: LWL/M. Höhn

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Die nachfolgende Tabelle vermittelt einen Überblick über die Kulturlandschafts-Chronologie in Nordrhein-Westfalen.

Geologisch-paläontologische Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen

Zeit Geologische Epoche Geologisch-paläontologische Entwicklungen

570 – 440 Kambrium/Ordovizium erste fischförmige Wirbeltiere, Große Kopffüßer, Stachelhäuter Mio. J. v. h.

Landmassen in zwei Großkontinenten zusammengefasst, heftiger Magnetismus, 440 – 417 Silur in NRW geringmächtige Schelfablagerungen, Mio. J. v. h. erste echte Fische, Riesenkrebse, Tiere und Pflanzen erobern Süßwasser und Festland

in NRW Flachmeer mit Korallenriffen (Eifel, Bergisches Land), 417 – 358 Devon erste Amphibien und flügellose Insekten, Fischreichtum, Mio. J. v. h. erste Samenpflanzen

ausgedehnte küstennahe Waldmoore und üppige Sumpfwälder, intensive Steinkohlenbildung auf der Nordhalbkugel, 358 - 296 Auffaltung des Variszischen Gebirges, Entstehung des Mio. J. v. h. Karbon Riesenkontinents (Pangaea), erste Reptilien, flugfähige Großinsekten, erste Nadelbäume, Dominanz von riesigen Schachtelhalm-, Siegel- und Schuppenbäumen

296 - 251 auch in NRW Entstehung ausgedehnter Wüsten und eindampfen- Perm Mio. J. v. h. der Meeresbecken (Entstehung von Salzlagerstätten)

in NRW zeitweise vom Flachmeer überflutetes Festland, Fluss- und Seenlandschaften, Entstehung weiterer Rotsedimente und Salzlagerstätten, beginnender Zerfall des Riesenkontinents 251 - 208 Pangaea, Mio. J. v. h. Trias erste primitive Säugetiere, Entfaltung der Großreptilien 33 (Dinosaurier, Fischsaurier), Dominanz der Nacktsamer (z. B. Nadelbäume), Aussterben baum- förmiger Bärlappgewächse und Schachtelhalme

erste Vögel (z. B. Archaeopteryx), in NRW ausgedehntes Flachmeer 208 - 142 Jura Mio. J. v. h. mit reichem Tierleben (Muscheln, Schnecken, Stachelhäuter, Ammoniten)

in NRW erobert Flachmeer allmählich verbliebenes Festland bis auf den zentralen Teil des Rheinischen Schiefergebirges, 142 - 65 Kreide Ablagerung mächtiger heller Kalksteine, Mio. J. v. h. erste bedecktsamige Blütenpflanzen (Magnolie, Weide, Palme), Riesenwachstum und späteres Aussterben vieler Tierarten (z. B. Dinosaurier und Ammoniten)

die Niederrheinische Bucht senkt sich ab, abwechslungsreiche 65 - 23,8 Landschaft mit Seen, Mooren und Wäldern, Mio. J. v. h. Paleogen (Tertiär) Entfaltung der Säugetiere (z. B. Tapir, Nashorn, Pferd), Artenfülle bei den Bedecktsamern in tropischen und subtropischen Wäldern 23,8 - 2,4 Ausgedehnte Küstensümpfe, Braunkohlebildung in der Mio. J. v. h. Neogen (Tertiär) Niederrheinischen Bucht, Entwicklung von Mischwäldern (Nadel- und Laubhölzer)

Von Skandinavien vorrückendes Inlandeis gelangt bis zum Niederrhein (200.000 Jahre vor heute), Gletscher, Schmelzwässer und verwilderte Flüsse (Rhein, Maas) formen die Landschaft, ab 2,4 Quartär Entwicklung und Verbreitung des Menschen, Entfaltung, später Mio. J. v. h. Aussterben kälteangepasster Tier- und Pflanzengemeinschaften (z. B. Mammut, Polarweide), Moore und organische Ablagerungen am Grund von stehenden und fließenden Gewässern, Torfentstehung

Angaben oben gem. http://www.gd.nrw.de/w_ges.htm (26.11.2006)

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Kulturlandschaftliche Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen

Zeit Epoche / Ereignis Kulturlandschaftliche Entwicklungen

Neandertaler, ab ca. 35 000 v. heute moderner Mensch, 200.000 – Altsteinzeit Jäger und Sammler unter stark wechselnden Klimabedingungen 9.600 v. Chr. (Paläolithikum) (Kalt- und Warmzeiten) einfache Behausungen aus organischen Materialien

Jäger und Sammler unter heutigen Klimabedingungen, 9.600 – Mittelsteinzeit Aufsiedlung aller Naturräume in Mitteleuropa, 5.500 v. Chr. (Mesolithikum) erste geringfügige Eingriffe in die Naturlandschaft

Bandkeramik: Ackerbau und Viehzucht, Sesshaftwerdung, Ro- dung der fruchtbaren Lössbörden, 5.500 – Jungsteinzeit Rössener Kultur: bäuerliche Großsiedlungen, 2.000 v. Chr. (Neolithikum) Michelsberger Kultur: Anlage von Befestigungen, Trichterbecherkultur: Großsteingräber, erste Heidegebiete durch Übernutzung der Landschaft, Schnurkeramik-Glockenbecherkultur: Metallguss

2.000 – 40 v. Chr. Metallzeiten

2.000 – Bronzezeit 750 v. Chr. großflächige Entwaldungen, große Brandgräberfelder, 750 – Hallstattzeit erste Burgen im Mittelgebirgsraum, 500 v. Chr. Einführung der Töpferscheibe und des Münzgeldes, großflächig betriebene Weidewirtschaft, 500 – Laténezeit mosaikartige, z.T. parkähnliche Kulturlandschaft 40 v. Chr.

34 Römische Eroberung, 9 n.Chr. Schlacht im Teutoburger Wald – Ende der Römischen Ex- pansion in Westfalen, außerhalb des römischen Herrschaftsbe- reichs ähnliche Struktur der Kulturlandschaft wie in der Eisenzeit, im Rheinland: Beginn der Stadtkultur, Gründung Kölns (50) und 40 v. Chr. – Germanische Zeit / Xantens (100), 450 n. Chr. Römische Kaiserzeit Anlage eines leistungsfähigen Straßennetzes im römischen Herrschaftsbereich, römische Eifelwasserleitung (85 - 185), intensiv genutzte, planmäßig erschlossene Kulturlandschaft

Ausbau und Befestigung der römischen Grenzlinie sowie der größeren Städte, Anlage kleinerer Befestigungen, zweite Zerstörung des Limes, Verwüstung ganzer Landstriche 280 – 450 Spätantike im Rheinland in Folge von Tod und Flucht der ansässigen Bevöl- kerung vor eindringenden Germanen, Hellwegregion zeigt intensive Austauschbeziehungen zum Rö- mischen Reich

450 – 900 Frühmittelalter

im Rheinland: Fränkische Besiedlung, römisches Recht und Tei- 450 – 750 Merowingerzeit le der antiken Kultur wurden von den Franken übernommen, Ausdehnung des Frankenreiches, Hofanlagen und Reihengrä- 561 Aufteilung des berfelder, Bevölkerungsrückgang, Fränkischen Reiches in Westfalen einheimische Bevölkerung mit Kulturbeziehungen zur Küstenregion, später Einwanderung von Sachsen, weitgehende Entvölkerung der Mittelgebirge, 750 – 900 Karolingerzeit Fränkisches Großreich, Sachsenkriege, Eingliederung Westfa- lens in die politische und kirchliche Organisation des Karolingi- schen Reichs, Christianisierung, Bau von Kirchen, Schriftkultur, 800 Kaiserkrönung langsam einsetzendes Bevölkerungswachstum, erste Stadtgrün- Karls des Großen dungen

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Zeit Epoche / Ereignis Kulturlandschaftliche Entwicklungen

900 – 1300 Hochmittelalter Territorienbildung, Bevölkerungszunahme, 900 Romanik Plünderung und Zerstörung von Städten durch Kriegseinwirkun- gen, erst Flächenburgen, später Wehrtürme und Niederungs- burgen (Motten ab 11. Jahrhundert), 962 – 1806 Heiliges römisches Reich 10. Jahrhundert Umstellung auf Dreifelderwirtschaft mit Ertrags- deutscher Nation zunahme, in den Sandlandschaften Westfalens „ewiger Rog- genanbau“ mit Plaggendüngung, Bevölkerungswachstum, seit 1024 – 1125 Salierzeit ca. 1000 hochmittelalterliche Rodungen und Kolonisation, Hau- fendörfer, Kolonisation der Bruchgebiete, Reihensiedlungen, 1248 Baubeginn Deichbau am Rhein, Wassermühlen, Klöster, Burgen, des Kölner Doms Ausbreitung der Lepra, Städtegründungen seit ca. 1180 verstärkt Stadtgründungen mit Befestigungen

1300 – 1492 Spätmittelalter Bevölkerungsrückgang durch Epidemien (Pest) und Fehden, Wüstungen in Ungunstlagen, aber auch neue Siedlungsaktivitä- ten, Fehlgründungen, Windmühlen, Gründung von Minderstäd- 1300 Gotik ten (Flecken, Wigbolde), Kirchen, Keramikproduktionszentren von europäischem Rang, Wasserburgen als Adelssitze

1492 – 1789 Frühneuzeit 1492 Entdeckung Amerikas Siedlungs- und Ausbauphase, Erweiterung der Eschdörfer, in- (Zäsur) tensivierte Allmendenutzung, Bevölkerungsabnahme durch Kriegsauswirkungen, wirtschaftli- 1500 Renaissance che Stagnation und Rückgang, neues Städtebefestigungssystem, nach 1648 wieder Expansion und Neusiedlung, Bauernstand mit 1517 Reformation Geerbten, Köttern und Brinksitzern, Heidebauern, Holzexport, Hudewälder mit Walddevastierung, Torfgewinnung, 1600 Barock ländliches Textilgewerbe, 35 1618 – 1648 30-jähriger Krieg barocke Ausbauphase (Residenzen, Gärten, Parks, Alleen), Beginn der technischen Entwicklung, Massenfabrikation (erste 1780 Proto-Industrialisierung Fabriken) neben handwerklicher Einzelanfertigung, Landflucht, Verelendung in den Städten, Umbruch von der Agrar- zur Indus- 1789 Französische Revolution triegesellschaft beginnt

1789 – heute Neuzeit 1792 – 1815 Französische Periode Aufhebung der Grund- und Feudalherrschaft, Säkularisierung der Klöster, Gewerbefreiheit, einheitliches metrisches Maßsystem, 1815 – 1946 Rheinland und Westfalen Landesaufnahme und Einführung des Katasters für eine flächen- sind preußisch bezogene Grundsteuer, Bauernbefreiung, Kommunalverfassung, 1871 – 1918 Kaiserreich Gemeinheits-/Markenteilungen und Zusammenlegungen, Heide- 1914 – 1918 Erster Weltkrieg und Moorkultivierungen, nachhaltige Forstwirtschaft, Eisenbahn- und Straßenbau, Ziege- 1919 – 1933 Weimarer Republik leien, Ton-, Braunkohle-, Sand- und Kiesgewinnung, Industriali- 1933 – 1945 Drittes Reich sierung und Urbanisierung, Kohlenbergbau, Hochöfen, Binnen- schifffahrt, Modernisierung der Landwirtschaft, Genossenschafts- 1939 – 1945 Zweiter Weltkrieg wesen, Strom- und Wasserleitungsnetze, Raumordnung, Stra- 1945 – 1949 Besatzungszeit ßenbau, Talsperren, Siedlungserweiterungen, Kriegswirtschaft, alliierte Besatzung und Reparation, 1946 Gründung des Landes Inflation (1923), Industrieexpansion im Ruhrgebiet durch Wirt- Nordrhein-Westfalen schaftswachstum bis 1929, Wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosig- 1948 Das Land Lippe wird keit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Autobahnen, Teil von Nordrhein-Westfalen Aufrüstung, Kriegswirtschaft, Kriegsauswirkungen, Wiederaufbau, Neusiedlung für Flüchtlinge, Flächenmäßige Er- 1949 – heute Bundesrepublik Deutschland weiterung der Siedlungen und Städte, Gewerbe- und Industriege- 1955 Gründung der EWG biete, Großkraftwerke, Straßenausbau, Verdichtung Autobahn- (später EG, EU) netz, Brückenbau, Wirtschaftswegenetz, Flugplätze, Entwicklung des Dienstleistungssektors, Strukturwandel im - 1990 Wiedervereinigung gebiet, Bergwerkstillegung, IBA-Emscher, Stadtsanierung, Subur- banisierung, Agglomerationsbildung, Dorferneuerung, Flurbereini- 2002 Einführung des Euro gungen, Aussiedlerhöfe, infrastrukturelle Maßnahmen, Konversion

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Nach dem Ende der letzten Eiszeit vor ca. 11.000 Jahren ca. 2.800 v. Chr.) statt. Damit verbunden war eine Umstellung war das Gebiet des jetzigen Nordrhein-Westfalen bis auf die der Wirtschaftsweise mit stetig zunehmendem Getreidean- Flusstäler vollständig von dichten Wäldern bedeckt. Die Kul- bau und Haustierzucht. Spätestens ab der Eisenzeit (ab 500 turlandschaftsentwicklung setzt in den fruchtbaren Lössbör- v. Chr.) sind anthropogen geprägte Grünlandflächen für die den bereits im Neolithikum – vor ca. 7.500 Jahren – ein. Weidewirtschaft fassbar. Entgegen den schriftlichen Quellen Durch Rodung entstanden kleinere Ackerflächen im Urwald. der römischen Okkupationszeit dürften um Christi Geburt Die Einwirkung auf die Naturlandschaft blieb anfangs eher weite Teile des Rheinlandes und des nordwestlichen Westfa- gering, da fast über die gesamte Jungsteinzeit neben Acker- lens keine undurchdringlichen Urwälder und Sümpfe gewe- bau und Viehzucht auch Jagd, Fischfang und das Sammeln sen sein, sondern ein Mosaik aus Äckern, Wiesen und be- von Wildfrüchten die Ernährungsgrundlage lieferten. wirtschafteten Wäldern.

Im Bereich nördlich der Lössbörden und im Bergland er- Elemente der Kulturlandschaft des römischen Nieder- folgte der Übergang zur bäuerlichen Lebensweise mehr germaniens sind die zahlreichen Städte und stadtartigen als 1.000 Jahre später. Auch danach beschränkte sich der Siedlungen, die durch eine ausgebaute Infrastruktur (u.a. menschliche Einfluss auf die Naturlandschaft anfangs auf die Römerstraßen) in Verbindung standen, sowie eine flä- die Waldweide von Haustieren. Innerhalb der norddeut- chendeckende, auf hohem Niveau betriebene landwirt- schen Sandgebiete, so auch im Münsterland, entstanden schaftliche Nutzung, die zu einer Zurückdrängung der nach den Rodungen der Trichterbecherkultur vor 5.400 Naturlandschaft in noch nie gekanntem Maße führte. In Jahren erste Heidegebiete. der Hellwegbörde gab es zwar römische Einflüsse, aber keine römische Besiedlung. Die nordrhein-westfälische Eine großflächige Öffnung und Zurückdrängung der mit- Kulturlandschaft links des Rheins weist strukturell noch teleuropäischen Wälder fanden wahrscheinlich erst ab dem Merkmale der 500-jährigen römischen Anwesenheit auf, Endneolithikum und den anschließenden Metallzeiten (ab die rechts des Rheins weitgehend fehlen.

Karte des römischen Haupt-Straßennetzes am Niederrhein Foto: LWL/Rheinisches Amt für Bodendenkmalpflege

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Der Abzug der Römer bewirkte in den Landesteilen west- mendenutzung große Heideflächen entstanden. Außerdem lich des Rheins einen deutlichen Siedlungsrückgang. In gab es dort Moore, in denen seit dem 16. Jahrhundert Torf den rechtsrheinischen Gebieten kam es zu einem weitge- gestochen wurde. Wegen der Torfgewinnung und Entwäs- henden, wenn auch nicht vollständigen Siedlungsabbruch. serung sind nur wenige Moore erhalten geblieben. Neue In der merowingischen und vor allem karolingischen Peri- Landwirtschaftsflächen entstanden im 19. und 20. Jahr- ode setzte im Rheinland und den Hellwegbörden eine Pha- hundert mit der Rodung und Kultivierung von Moor-, Hei- se intensiver Besiedlung ein, die auch die Eifel – vor allem de- und Waldflächen nach den gesetzlichen Allmendetei- die Kalkeifel – einbezog. Für das nördliche Westfalen ist ei- lungen von 1821. Extensiv genutzte Heide- und Moorflä- ne flächendeckende Wiederaufsiedlung spätestens für das chen mit Ausnahme des Sennegebietes und der Wahner 7. Jh. fassbar. Aufgrund der klimatischen Verhältnisse wur- Heide sind bis auf einige Restflächen verschwunden. den das Bergische Land und das Sauerland großflächig erst im Hoch- und Spätmittelalter erschlossen.

Seit Beginn des Hochmittelalters führte die Einführung der Dreifelderwirtschaft vor allem in den Lössgebieten zu einer Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, die eine Bevölkerungswachstum vom 10. bis 13. Jh. ermög- lichte. Die Plaggeneschwirtschaft in Verbindung mit dem “Ewigen Roggenanbau” auf den Sandböden Nordwest- deutschlands sorgte für eine stabile Versorgung mit Getrei- deprodukten. Die negativen Folgen dieses Ackerbauver- fahrens waren großflächige Verheidung der Landschaft und Dünenbildungen. Relikte sind noch heute erkennbar.

Im römisch okkupierten Teil waren Köln und Xanten die ersten Städte. Im nichtrömischen Gebiet setzte die Stadt- entwicklung erst im Hochmittelalter ein (Dortmund, , Soest, Paderborn). Ungeachtet der Stadterhebungen im 18. Jahrhundert und der Städtebildungen des 19. Jahrhun- derts geht die Mehrzahl der heutigen Groß- und Mittelstäd- te auf die Stadtgründungswelle zwischen 1100 und 1350 37 zurück. Daneben gibt es eine große Zahl von spätmittelal- terlichen Stadtgründungen, die nicht über den Umfang ei- Extensiv genutzte Heideflächen waren häufig. nes Dorfes hinauswuchsen (Minderstädte, Wigbolde, Fle- Foto: LVR/E. Knieps cken) und im Lauf der Geschichte ihre Stadtrechte (z. T. nur vorübergehend) wieder verloren. Sie können in ihrem Aus- Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich technische sehen, ihrer Bausubstanz und ihrer Struktur jedoch bis Innovationen und die damit zusammenhängenden Wirt- heute Merkmale einer Stadt aufweisen. schaftskreisläufe, Standortbedingungen, Wirtschafts- und Dienstleistungsformen sowie eine staatlich gelenkte Pla- Während der französischen Periode wurde der Grund- nung auf die Kulturlandschaftsgestaltung ausgewirkt. Die stein für eine sehr dynamische Kulturlandschaftsentwick- Gemeinheitsteilungen ab 1821 förderten eine Individuali- lung gelegt, die das Landschaftsbild bis heute prägt. Die sierung anstatt der gemeinsamen Allmende- und Weiden- bis dahin bestehenden feudalen Strukturen hoben die utzungen und sorgten für eine Modernisierung der Land- Franzosen im Rheinland 1795 und in Westfalen 1806 auf. wirtschaft. Vor allem die seit 1885 durchgeführten Zusam- Bauernbefreiung, Verwaltungs- und Rechtsreformen, Auflö- menlegungen, die neue Flurparzellierung und die neuen sung der Zünfte und Zölle, Gewerbefreiheit, Aufhebung rasterförmigen Wirtschaftswegenetze hatten Auswirkungen der Herrschaften und Territorien (mit Ausnahme von Lippe) auf die Kulturlandschaft. Verbesserte Düngemittel ermög- sowie die Säkularisation der Klöster und die nachfolgende lichten seit 1820 die Umwandlung der Dreifelderwirtschaft Eingliederung in den zentralistischen preußischen Staat in eine Fruchtfolgewirtschaft sowie die Kultivierung von wirkten sich auf die Landschaft nur allmählich, aber sehr Heideflächen. Die Intensivierung der Landwirtschaft hing nachhaltig aus. ebenfalls mit der damaligs angestrebten Autarkie des Deutschen Reiches von ca. 1870 bis 1945 zusammen. Ge- Um 1800 war die Landschaft der Mittelgebirge außer meinschaftliche genossenschaftliche Organisationsverbän- dem Siegerland und Teilen des Bergischen Landes als Fol- de haben seit ca. 1880 die ersten Kreditanstalten und Wa- ge der Überweidung und Übernutzung der Wälder sehr renlager gegründet. waldarm. Deutliche Übergänge zwischen Wald-, Busch- und Offenland existierten noch nicht. Diese entstanden In den Mittelgebirgsregionen waren die Waldflächen teil- erst seit ca. 1850 mit den staatlich geförderten Aufforstun- weise stark heruntergekommen und eine Bodenerosion gen. Auch in den großen Sandgebieten des westlichen hatte hier eingesetzt. Seit ca. 1850 hatte der preußische Münsterlandes und des Niederrheins waren durch die All- Staat Aufforstungen gefördert. Diese hingen mit einer wirt-

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schaftlich orientierten modernen Forstwirtschaft und -verwal- Die stark verbesserten Transportmöglichkeiten von Gü- tung zusammen, von der z. B. die so genannten rechtecki- tern und die erhöhte Mobilität von Arbeitskräften machten gen Jagen in vielen Wäldern – vor allem Staatswäldern – die Standortwahl unabhängig vom Vorkommen örtlicher zeugen, die das alte Waldwegegefüge teilweise überlagern. Rohstoffe und Energiequellen. Die Anbindung an das Ver- kehrsnetz wurde ein entscheidender Faktor. In den gut er- schlossenen Regionen an Rhein und Ruhr setzte um 1850 – in verkehrsferneren Regionen erst mit zeitlichem Verzug – eine Industrialisierung ein, die auch zu Verlagerungen älte- rer Industriebetriebe aus dem Mittelgebirgsraum führte.

Die Eisenbahnerschließung, die Industrialisierung und der damit verbundene Zuzug von Industriearbeitern ließen die größeren Städte besonders im Ruhrgebiet und entlang des Rheins über ihre Altstadtbereiche hinaus wachsen. Dies geschah zunächst entlang der Ausfallwege. Später kamen großflächige Neubaugebiete wie Arbeiterwohn- quartiere, erste Werkssiedlungen und gründerzeitliche Viertel hinzu. Außerdem expandierten um die großen Städ- te Landwirtschaftsbetriebe, die sich aufgrund des sich ver- größernden Kundenkreises auf intensiven Gemüseanbau und Milchproduktion spezialisierten.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Konturen der Ballungsräume an Rhein und Ruhr, um Aa- chen und bei Bielefeld deutlich sichtbar. Den Zeitraum Der preußische Staat hat Fichten eingeführt. 1900-1950 prägten die industrielle Expansion und der In- Foto: LWL/M. Philipps frastrukturausbau mit steigendem Energie- und Rohstoff- bedarf sowie zunehmenden Umweltproblemen. Die Indus- Die nachlassende Bedeutung der verheideten Flächen trialisierung griff auf die benachbarten ländlich geprägten für die Landwirtschaft und das gleichzeitige Aufkommen Regionen mit guten Anschlüssen an das Verkehrsnetz 38 des modernen Bergbaus im Ruhrgebiet und im Aachener über. Wirtschaftlich bedingte Umstrukturierungen in den al- Raum machten das Nadelholz als Bau- und Grubenholz ten Industrierevieren folgten. wertvoll. Der Zusammenbruch des Buchenbrennholzmark- tes um die Jahrhundertwende bewirkte bis in die 60er und Im ländlichen Raum machten sich in dieser Zeit beson- teilweise in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Um- ders die Auswirkungen strukturverbessernder Maßnah- wandlung der Laubholz- in Nadelholzflächen. Eine andere men wie Flurbereinigung, Melioration, Entwässerung, Ge- Form der Waldbewirtschaftung stellte an wärmebegünstig- wässerbegradigung und Erschließung sowie großflächige ten Hängen die Aufforstung mit Eichen zur Gewinnung der Kultivierung und Aufforstung bemerkbar. Hierdurch waren Lohrinde dar, die vorwiegend im Niederwaldbetrieb bewirt- um 1950 bereits die meisten Heideflächen verschwunden. schaftet wurde. Sie wurde allerdings bereits um 1920 we- Die Landwirtschaft setzte zunehmend schweres techni- gen mangelnder Rentabilität eingestellt. Nur im Siegerland sches Gerät ein, das eine Anpassung der Parzellengrößen und in Teilen des Bergischen Landes hat sich der Zustand erforderte. Zahlreiche genossenschaftliche Einrichtungen des Waldes aufgrund der straff organisierten Haubergwirt- wie Molkereien, Warenlager und Vermarktungszentren schaft zunächst nicht verändert. Bei den Aufforstungen lag wurden errichtet. der Schwerpunkt lange Zeit auf Nadelhölzern, so dass der Anteil der Nadelforste an der gesamten Bestockungsfläche Zur Beförderung des Individualverkehrs entstanden au- auf über 55 % anstieg. togerechte Verkehrsstraßen und die ersten Autobahnen in den 1930er Jahren. Die ersten Flughäfen und -plätze Seit 1820 führten erste Mechanisierungsansätze der Pro- wurden gebaut. duktion zu einer Verlagerung von traditionellen kleinen ge- werblichen Produktionsstätten im Hausgewerbe zur ma- Der Staat beeinflusste die Kulturlandschaftsentwicklung schinellen Großproduktion in Fabriken. Besonders die durch reglementierende Planung und Raumordnung (u.a. maschinellen, industriellen Produktionsverfahren erfuhren für die Belange des Militärs). Im Gegenzug bildete sich eine eine dynamische Entwicklung und technologische Innova- Heimatschutzbewegung, aus der später der Naturschutz tionen. Moderne Verkehrstechnologien ließen eine zuneh- hervorging, und die sich auch den Belangen des Denkmal- mende Mobilität zu. Die Energieerzeugung wurde von Holz schutzes und der Baupflege widmete. Das Reichssied- auf Kohle und später auf Gas, Elektrizität und Erdöl umge- lungs- (1919) und das Reichsheimstättengesetz (1920) führ- stellt. Diese Entwicklungen haben einschneidende Verän- ten im ländlichen Raum zu neuen Landarbeitersiedlungen derungen in allen Wirtschaftsbereichen bewirkt und damit und bei den Städten und größeren Ortschaften zu Siedler- indirekt die Kulturlandschaft gestaltet. stellen, die auf Eigenversorgung ausgerichtet waren.

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Zur Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs wurden die lungen führten auch zu unterschiedlichen Verteilungsmustern Waffenproduktion und all jene Wirtschaftszweige gefördert, der Siedlungs- und Bevölkerungsdichte und zu neuen Land- die eine Autarkie sichern sollten. Dies betraf den Bergbau nutzungs-, Transport- und Kommunikationssystemen. und die Schwerindustrie, die Landwirtschaft und vor allem die chemische Industrie. Nordrhein-Westfalen entwickelte sich zu einem der pro- duktivsten Industrie- und Energiezentren der Bundesrepu- Die technische Entwicklung ermöglichte zu Beginn des 20. blik Deutschland und Europas. Jahrhunderts in den Mittelgebirgsregionen Bergisches Land, Sauerland und Eifel den Bau von insgesamt 73 Talsperren. Die steigenden Anforderungen und Bedürfnisse der In- Ganze Täler wurden entsiedelt und in Stauseen umgewan- dustriegesellschaft mit zunehmender Technisierung und delt. Im Ruhrgebiet mussten aufgrund der Bergschäden und Mobilisierung hatten besonders im Umfeld der Ballungsge- des Absinkens der Böden große Areale künstlich entwässert biete eine Reduzierung der Freiflächen und der landwirt- werden. In den Auen der größeren Flüsse wurde Lockermate- schaftlichen Produktionsflächen zur Folge. Die Entwick- rial entnommen und Baggerseen entstanden. Weitere neue lung des Gesundheitswesens erforderte zahlreiche Kran- Elemente sind Verkehrskanäle und Entwässerungssysteme. kenhäuser, Spezialkliniken und Kureinrichtungen.

Im Zuge dieser Veränderungen wurden zahlreiche Ge- wässer begradigt, in besiedelten Bereichen eingefasst und von ihren natürlichen Überschwemmungsflächen abge- schnitten. Die Rationalisierung der Landwirtschaft als größ- ter Landschaftsnutzer schritt voran und erforderte weitere Flächenzusammenlegungen. Kleine Kulturlandschaftsele- mente wie z. B. Wälle, Heckenreihen, Terrassenränder und Baumgruppen störten in der maschinengerechten Feldflur und wurden beseitigt.

In Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit der höchs- ten Bevölkerungsdichte, haben die Flächenansprüche von Industrie und Infrastruktur, Ressourcengewinnung - vor al- lem Braunkohle und Kies/Sand - sowie die Erweiterungen der Städte und Dörfer die regionalen Unterschiede der Kul- 39 turlandschaften verwischt. Möhnetalsperre bei abgelassenem Wasser Foto: LWL/M. Philipps Großflächig haben insbesondere die dynamischen Entwicklungen nach 1850 zu den heutigen unterschied- Sperrmauer der Aggertalsperre bei Engelskirchen lich geprägten Kulturlandschaftstypen in Nordrhein- Foto: LVR/W. Wegener Westfalen geführt:

G industriell geprägte Kulturlandschaften (wie das Ruhrge- biet), die ursprünglich land- bzw. forstwirtschaftlich ge- nutzt wurden

Der Kulturlandschaftswandel nahm nach 1950 aufgrund technischer Entwicklungen immer dynamischere Züge an. Hierdurch hat sich das Erscheinungsbild der nordrhein-west- fälischen Kulturlandschaften und insbesondere der Ballungs- Das Ruhrgebiet ist industriell geprägt. räume an Rhein und Ruhr erheblich verändert. Diese Entwick- Foto: LVR/M. Köhmstedt

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G bergbaugeprägte Kulturlandschaften (Ruhr- und Aache- ner Revier, Rheinisches Braunkohlengebiet)

G von Wald dominierte Kulturlandschaften in den Mittel- gebirgen, die nach 1850 zunehmend in einen Misch- bzw. Nadelwald übergegangen sind

Das Mittelgebirge ist von Wald dominiert. Foto: LWL/M. Philipps

Jede menschliche Nutzung stellt Forderungen an die Kulturlandschaft Foto: LWL/M. Philipps

G agrarisch geprägte Kulturlandschaften (Niederrhein, Wird die Welterbestätte ...... gefährdet durch Hochbauten? 40 Münsterland, rheinische und westfälische Börden) Fotos: LWL/M. Philipps

G dicht besiedelte, städtisch geprägte Kulturlandschaften (Ballungsräume an Rhein und Ruhr, Bielefeld-Minden, Aachen) Wie die Kulturlandschaft in der weiteren Zukunft ausse- hen wird, lässt sich aufgrund unvorhersehbarer Entwick- Markante Beispiele für die Veränderungen der historisch lungen nur schwer prognostizieren. Wenn sich die Theorie gewachsenen Kulturlandschaften sind der anthropogenen globalen Klimaerwärmung bestätigt, werden schon allein deren Auswirkungen auf die Vegetati- G der Wandel des Ruhrgebietes von einem Agrar- und on das Landschaftsbild entscheidend verändern. Der Waldgebiet in einen von Bergbau, Industrie, Verkehr, Sturm Kyrill am 18. Januar 2007 war vielleicht schon der Dienstleistung und Wohnen geprägten Ballungsraum Anfang dieser Dynamik.

G die großflächigen Ödlandkultivierungen und -auffors- tungen der extensiv genutzten Heide- und Moorflächen Die Zukunft? Foto: LWL/M. Philipps G die großflächigen hauptsächlich von Fichten dominier- ten Aufforstungen der Waldflächen in den Mittelge- birgsregionen

Aktuelle Prozesse wurden z.B. durch die Umstrukturie- rungen in der Schwerindustrie in Gang gesetzt, die zu- nehmend Zechenstilllegungen und Industriebrachen zur Folge hatten. Eine anhaltende Konfliktsituation für die ge- wachsene Kulturlandschaft außerhalb des Siedlungsrau- mes bilden der Aus- und Neubau weiterer Infrastrukturein- richtungen, der ansteigende Rohstoffbedarf und die Ex- pansion der Siedlungsflächen. Innerhalb des Siedlungs- raumes gefährden primär die Großmaßstäblichkeit von Neu- und Umbaumaßnahmen und die Umnutzung von Flächen und Bauten die Ablesbarkeit früherer Phasen der Kulturlandschaftsentwicklung.

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5.2 Archäobotanik, Archäozoologie, Archäopedo- Innerhalb Mitteleuropas zählt Nordrhein-Westfalen zu logie, Paläontologie den archäobotanisch am besten untersuchten Gebieten. Einen Überblick über die Vegetationsgeschichte liefert vor allem die Pollenanalyse, denn die durch den Wind verbrei- Die Kulturlandschaft in ihrer historischen Entwicklung teten Pollenkörner können über die großräumige Vegetati- birgt neben direkten Spuren und Zeugnissen menschli- onsverteilung auch jenseits der engen Grenzen eines ar- chen Wirkens und Schaffens in der Landschaft auch indi- chäologischen Fundplatzes informieren. Ein weiterer ar- rekte Belege für den gestaltenden menschlichen Einfluss chäobotanischer Arbeitsbereich erforscht die Nahrungs- auf die Landschaftsentwicklung. Diese Relikte werden in- und Nutzpflanzen. Die Großrestanalyse schließlich unter- ter- und multidisziplinär erforscht. sucht Früchte, Samen, Blätter, Blüten usw. aus archäologi- schen Befunden wie Latrinen, Abfall- und Vorratsgruben. Darüber hinaus sind die Grenzen der menschlichen Entwicklung und der Entwicklung des tierischen und pflanzlichen Lebens nicht scharf zu ziehen, nicht zuletzt Archäozoologie deshalb, weil ab einem nicht genau zu definierenden Zeit- punkt eine gewisse gegenseitige Bedingtheit zu erkennen Zu den biologischen Resten, die im Rahmen von archäolo- ist. Wie in vielen europäischen Nachbarländern sind auch gischen Ausgrabungen geborgen werden können, gehören letztere in Nordrhein-Westfalen Gegenstand des Denk- neben den pflanzlichen Resten, die im Rahmen der Archäo- malschutzes bzw. der Denkmalpflege. So werden sie hier botanik untersucht werden, auch solche tierischen Ursprungs in die Beschreibung der kulturlandschaftlichen Entwick- in verschiedenen Formen. Hierbei handelt es sich vor allem lung mit einbezogen. Dies auch deshalb, weil Böden und um Knochenreste, bei günstigen Erhaltungsbedingungen, Gesteine nicht selten maßgebliche Einflussgrößen und zum Beispiel im dauerfeuchten Umfeld alter Brunnen, kön- die Basis für eine kulturlandschaftliche Entwicklung dar- stellten und darstellen. Die Böden und Gesteine schließ- lich stellen die größten zusammenhängenden Archive der Natur- und Kulturgeschichte dar. Ihr Erhalt sichert die quasi Archivalien und bewahrt die Zeugnisse in ihrem ur- sprünglichen Zusammenhang, was für eine Erforschung immer wesentliche Grundlage ist.

41 Archäobotanik

Die archäologische Forschung beschäftigt sich nicht al- lein mit den unmittelbaren Hinterlassenschaften des Men- schen wie Scherben, Stein- und Holzgeräten oder Abfall- gruben und Pfostenlöchern. Vielmehr werden archäologi- sche Fragen auch von Botanikern, Zoologen, Physikern, Chemikern, Bodenkundlern und Geowissenschaftlern be- Wal aus dem Tertiär, Kevelaer-Kervenheim antwortet. Deren Ergebnisse sind es, die unseren Blick Foto: R. Gerlach über die kulturelle Entwicklung des Menschen hinaus auch für die gravierenden Umwelt- und Landschaftsver- änderungen im Laufe der Zeit geschärft haben. Am sicht- nen sich beispielsweise auch Teile von Insekten erhalten. barsten und am nachhaltigsten verändert sich die Land- Die Untersuchung dieser tierischen Reste beinhaltet ver- schaft, wenn sich ihr „grünes Kleid“, also ihre Wälder, schiedenste Aussagemöglichkeiten. Das Artenspektrum ei- Felder und Wiesen, wandelt. Wie die Menschheit weist nes Siedlungsplatzes spiegelt in gewissem Maße auch im- auch die Landschaft eine wechselvolle Geschichte auf, mer die umgebende Landschaft wieder. Dies gelingt zum die eng und unmittelbar mit den Fortschritten in der einen über die Anteile verschiedener Haustierarten, die die Landwirtschaft verbunden ist. Aufschlüsse über die Ver- Art der Viehwirtschaft und damit den notwendigen Natur- teilung von Wäldern und Feldern und über das, was auf raum charakterisieren. Zum anderen geben die Reste von den Äckern wuchs und den Menschen als Nahrung dien- Wildtierarten Aufschluss über die nähere und weitere Land- te, verdanken wir der Archäobotanik. Die Archäobotanik schaft um einen Siedlungsplatz, da diese Tiere sowohl in ist ein noch junger Forschungszweig, der sich archäolo- der Siedlung selbst gelebt haben können (Kulturfolger) oder gisch geborgener Pflanzenreste annimmt und aus diesen vom Menschen in der Umgebung gejagt worden sind. Ne- die „grüne“ Umgebung unserer Vorfahren mit erstaunli- ben diesen kulturlandschaftsgeschichtlichen Aspekten erlau- cher Detailfülle rekonstruiert und damit wichtige Beiträge ben archäozoologische Untersuchungen Aussagen zum Er- zum Siedlungsgeschehen liefert. Die Palette der unter- nährungsspektrum der Menschen verschiedener prähistori- suchten Pflanzenreste reicht von winzigen, nur unter dem scher und historischer Epochen. Anhand dieser Ergebnisse Mikroskop erkennbaren Pollenkörnern, über Reste von gelingen Aussagen zu sozialen, kulturellen und kulturge- Früchten und Samen bis hin zu Bau- und Nutzhölzern. schichtlichen Aspekten der verschiedenen Epochen.

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Archäopedologie historischer und historischer Zeit direkt oder indirekt geschaffen hat. Die Lage und Ausdehnung dieser Neben den „klassischen“ archäologischen Fundplät- schützenswerten archäobotanischen/archäopedologi- zen gibt es noch Hinterlassenschaften im Boden, die schen Befunde im Detail sind in der Regel den Boden- originär und alleine der wirtschaftende Mensch in prä- karten zu entnehmen.

Schützenswerte Böden in Nordrhein-Westfalen

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G Feuchtbodenablagerungen aus dem Holozän G Plaggenesche

Pollen und Makroreste, die in holozänen Niedermooren Plaggenesche sind als Folge früher Düngungsmaßnah- und Gleyböden gespeichert sind, spiegeln die Klima- und men, spätestens ab dem Mittelalter entstanden und sind Siedlungsgeschichte der Landschaften Nordrhein-Westfa- ebenfalls archäologische Artefakte; hinsichtlich ihrer Denk- lens wider. Archäobotanische Ablagerungen sind Artefakte. maleigenschaft sind sie gleich zu setzen mit Wölbäckern. Besonders häufig und in guter Erhaltung finden sich Pollen Auch diese Bodenkörper weisen ein hohes archäologi- und Makroreste in vom Grundwasser beeinflussten Böden sches Potential auf und sind schützenswert. (Gleyböden) und in Mooren. Die Bodenkörper weisen ein ho- G Kolluvien hes archäologisches Potential auf und sind im Hinblick auf die Archivfunktion unbedingt erhaltens- und schützenswert. Kolluvien entstehen ausschließlich als Folge von Rodun- gen und Ackerbau, spiegeln in ihrer Entstehung also immer Siedlungsphasen wider. Unterschiedlich datierbare kollu- viale Schichten lassen sich also mit regionalen Aktivitäts- phasen in der Besiedlung korrelieren. Im Hinblick auf das archäologische Potential sind Kolluvien bei anstehenden Nutzungsänderungen immer einer differenzierten Einzelfall- betrachtung zu unterziehen, um das archäologische Poten- tial dieser Böden zu ermitteln. Aufgrund der Archivfunktion sollten Kolluvien so weit wie möglich erhalten werden.

G Bergbauböden Bergbauböden sind Böden, die im Gefolge des Abbaus von Bodenschätzen unterschiedlicher Art entstanden sind. Sie enthalten regelmäßig archäologische Artefakte, die Aus- kunft über Abbaumethoden und Lebensweise der Men- schen zur dieser Zeit geben. Über die Vorkommen von Bergbauböden liegen bisher nur ganz wenige Kartierungen vor. Entweder lassen sich bergbaulich geprägte Böden an- hand von Reliefmerkmalen (Pingen, Halden) oder anhand ih- res anormalen geochemischen Inhaltes (Schwermetallkonta- 43 minationen aus archäologischer Zeit, bei Stolberg/Eifel oder im Bergischen Land oder aber durch Raseneisenerzabbau in Feuchtböden) erkennen. Das archäologische Merkmal ergibt sich hier aufgrund der geochemischen Metallverteilung. Das Große Torfmoor bei Lübbecke Foto: MBV/A. Thünker Das Große Torfmoor bei Lübbecke aus: Horn/Thünker: Zeitmarken/Landmarken, Köln 2000, S. 148

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Die ersten drei Kategorien der vorgenannten Böden kommen sind jedoch lokal eng begrenzt, sodass davon ab- sind in der Karte der Schützenswerten Böden in Nord- gesehen wurde, das gesamte Unterdevon-Verbreitungsge- rhein-Westfalen 1 : 1.000.000 dargestellt. biet, das erhebliche Flächen in Nordrhein-Westfalen ein- nimmt, als paläontologisch bedeutsame Kategorie auszu- Paläontologie weisen. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse im hohen Oberdevon und tiefen Unterkarbon mit den paläontologisch Beinahe alle geologischen Ablagerungen in Nordrhein- herausragenden Entdeckungen ursprünglicher Samen (Dia- Westfalen führen Fossilien. Ausnahmen bilden nur die Mag- sporen) und strukturbietenden Pflanzen: Diese stratigrafi- mengesteine (u.a. Siebengebirge) und reine sterile Sandab- schen Einheiten wurden ebenfalls nicht gesondert darge- lagerungen (Bundsandstein) bzw. quarzitische Sandsteine stellt, da die Fossilien auf sehr wenige Lokalitäten und ge- (vor allem aus Karbon und Devon). Die pflanzlichen und tieri- ringmächtige Horizonte beschränkt sind. In diesem Zusam- schen Lebewesen können als Abdrücke und Steinkerne, mit menhang sind auch die paläontologischen Funde im Quar- Resten der Hartteile oder auch mit ihren Fährten und Spu- tär zu erwähnen: In vielen Kies- und Sandgruben werden re- ren überliefert sein. Dabei hängt die denkmalrechtliche Be- gelmäßig Fossilreste z.T. in hoher Dichte gefunden. Beson- urteilung der Fossilien nicht von der Größe der Überreste ders erwähnenswert sind komplette Wirbeltierskelette wie ab. So können bestimmte sehr kleine Fossilien (die sehr sel- das Mammut von Ahlen oder der Wal von Kervenheim. We- tenen Blüten der frühen Bedecktsamer) eine viel größere Be- gen der großen Verbreitung der quartären Sedimente und deutung haben als große Schalenreste etwa von Muscheln. der zufälligen Verteilung der Funde ist eine Ausweisung aller quartären Sedimente in der Kategorie B aber nicht vertret- Die für die paläontologische Bodendenkmalpflege inte- bar. Einige kleinflächige Areale, überwiegend nicht darstell- ressanten Flächen wurden in zwei Kategorien unterteilt: In bar in einer Karte mit dem Maßstab 1 : 1.000.000, sind we- Flächen der Kategorie A sind Schichten mit generell hohem gen ihrer besonderen Tier- und Pflanzenfossilien aber von paläontologischem Potenzial von großer wissenschaftlicher herausragender Bedeutung und grundsätzlich schützens- Bedeutung zusammengefasst. In der Kategorie B sind da- wert. Dazu gehören Sinterkalkvorkommen, mit Quartär-Se- gegen Schichten dargestellt, die neben fossilarmen Ab- dimenten gefüllte, fossilführende Karstspalten und Karst- schnitten lokal auch besonders fossilreiche Faziesbereiche schlotten in den devonischen Massenkalkgebieten und mit hohem paläontologischem Potential besitzen. In diesen mehrere kleine, heute noch intakte Moorgebiete. Von den Flächen gibt es Gebiete geringerer und höherer Bedeutung. Moorgebieten können wegen ihrer Größe nur einige wenige Daher können hier auch außerordentlich wichtige, sogar (das Amtsvenn bei Alstätte) gesondert dargestellt werden. Sie weltberühmte Fossillagerstätten liegen, deren Ausweisung vermitteln aufgrund der Pflanzenreste, insbesondere der 44 aber nur in großmaßstäblichen Karten möglich ist. Pollenflora, ein vollständiges vegetations- und klimage- schichtliches Bild der jüngsten Vergangenheit.

In Nordrhein-Westfalen lassen sich demnach die nachste- henden geologischen Epochen bzw. Faziesbereiche mit denkmalwerten Fossillagerstätten benennen. Dabei muss zwischen solchen Formationen und Faziesbereichen unter- schieden werden, die recht eng zu begrenzen sind und de- ren Bedeutung einheitlich hoch ist (Kategorie A) und solchen großflächig auftretenden Formationen bei denen sich fossil- arme mit fossilreichen Faziesbereichen abwechseln, die mit genaueren Kartengrundlagen entsprechend genauer aufge- löst werden müssen (Kategorie B).

G Ablagerungen aus dem Kambrium/Ordivizium/Silur (570 bis 417 Millionen Jahre vor Heute) Bedeutung: Älteste Ablagerungen in Nordrhein-Westfalen. Doberg bei Bünde, oligozänzeitliche Im Rheinland Ablagerungen eines Wattenmeeres und Meeresablagerungen in einer aufgelassenen Mergelgrube Flachwasserbereiches. Prinzipiell sind in den Ton-Schluff- Foto: MBV/A. Thünker steinen Fossilien rar, aber wegen ihres Alters und Selten- heit von großer Bedeutung wie die Grabgänge von Watt- Stratigrafische Einheiten, die in der folgenden Zusam- bewohnern bei Stolberg. menstellung nicht aufgeführt sind, dürfen keinesfalls als Vorkommen: Vennsattel, Remscheider Sattel grundsätzlich fossilleer angesehen werden. Im Einzelfall Die ältesten Gesteine Westfalens werden in der ordovizi- sind auch hier wichtige Fossilfunde möglich, die dann auf- schen Herscheid-Gruppe zusammengefasst. Sie treten lo- grund ihrer Seltenheit sogar von größter Bedeutung sind. kal im Bereich des Ebbe-Sattels auf und zeichnen sich Beispielsweise sind aus dem Unterdevon des rechtsrheini- durch eine reiche Invertebratenfauna sowie durch Chitino- schen Schiefergebirges wissenschaftlich sehr bedeutende zoen und Acritarchen aus. Silurische Sedimente streichen in Fossillagerstätten mit Panzerfischen bekannt. Diese Vor- Westfalen ebenfalls nur im Ebbe-Sattel kleinräumig aus

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(Köbbinghausen-Formation). Sie führen u.a. Brachiopoden. G Unterkarbon in Karbonatfazies Vorkommen: Ebbe-Sattel (die klassischen Fundstellen in der (358 bis 318 Millionen Jahre vor Heute) Umgebung Kiesbert, Plettenberg, Herscheid, Hüinghausen) Bedeutung: Das Unterkarbon besteht überwiegend aus si- Kategorie A liziklastischen Sedimenten der Kulm-Fazies. Weit verbreitet sind kieselige Sedimente, die arm an Makrofossilien sind. Geringmächtige Karbonatbänke (Stockum-, Hangenberg-, G Unterdevon Erdbach-Kalk) sowie die mächtigeren Kulm-Plattenkalke (417 bis 398 Millionen Jahre vor Heute) können eine bedeutende Fauna liefern. Besonderheiten Bedeutung: Ablagerungen eines breiten Deltaraumes zwi- stellen örtlich reiche Pflanzenfunde im Kulm-Plattenkalk dar. schen Land und Meer. Vor allem bedeutend durch die Vorkommen: rechtsrheinisches Schiefergebirge Nachweise frühester Landpflanzen (Wahnbach-Flora) und Kategorie B durch die Überreste von Panzerfischen. Fossilien sind in den Schluff-Sandsteinen zwar unregelmäßig verteilt, aber Konzentrationen sind bedingt durch unterschiedliche Fazies G Oberkarbon möglich (zusammengespülte Fische in Wattkolken). (318 bis 296 Millionen Jahre vor Heute) Vorkommen: vor allem rechtsrheinisches Unterdevon Bedeutung: Während die mitteldevonischen bis unterkar- Kategorie B bonischen Sedimente in einem Meeresbecken abgelagert wurden, vollzieht sich im Namurium der Wechsel zu einem weitgehend nicht marinen, paralischen Faziesraum. Im un- G Mittel- und Oberdevon in Karbonatfazies teren Teil, dem „Flözleeren“ (Teile des Namuriums A und B), (398 bis 358 Millionen Jahre vor Heute) ist der marine Einfluss noch deutlich. Mit dem Auftreten der Bedeutung: Ab dem oberen Mitteldevon (Givetium) setzt ersten Kohlenflöze im obersten Namurium B beginnt die im Sauerland eine überwiegend karbonatisch entwickelte paralische Sedimentation, die nur von einigen weit aushal- Sedimentation ein. Zunächst lokal, dann weit verbreitet tenden marinen Horizonten unterbrochen wird. Weltbe- bilden sich Riffkomplexe (Briloner und Warsteiner Riff), die rühmt für exzellent erhaltene Arthropoden des unteren mehrere hundert Meter Mächtigkeit erreichen können Oberkarbons ist die Ziegeleigrube bei Hagen-Vorhalle, die (Massenkalk). Wie die heutigen Riffe waren auch die mittel- darüber hinaus auch eine reichhaltige Flora und Fischfau- und oberdevonischen extrem artenreich (insbesondere In- na geliefert hat. Das paläontologische Inventar der mächti- vertebraten). Sofern die Kalksteine nicht sekundär dolomi- gen flözführenden Schichten des Ruhrbeckens ist auf- tisiert sind, ist die Erhaltung der Fauna oft sehr gut. Eine grund des Bergbaus gut untersucht. Insbesondere die besondere Bedeutung haben Goniatiten führende Kalk- dünnen marinen Horizonte sind reich an Faunenresten. Im 45 steine der Schwellenfazies sowie die beiden oberdevon- Hangenden der Flöze können arten- und individuenreiche ischen Kellwasserhorizonte, die ein markantes Ausster- Floren geborgen werden. Bereiche, in denen flözführende beereignis dokumentieren. Oberkarbon-Schichten zutage treten, sind aufgrund der re- gelmäßig zu erwartenden Tier- und Pflanzenfossilien von Während die Massenkalk-Vorkommen im Maßstab 1 : paläontologischem Interesse und werden in die Kategorie 1.000.000 darstellbar sind, ist dies für einige karbonatisch B eingestuft. Für die großen Verbreitungsflächen des tiefe- entwickelte, fossilreiche Horizonte aufgrund der geringen ren Oberkarbons kann keine flächenhafte Ausweisung vor- Mächtigkeit nicht möglich. genommen werden, obwohl hier dünne Horizonte mit inte- Vorkommen: Eifelkalkmulden, rechtsrheinisches Schiefer- ressanten Goniatitenfaunen vorkommen. Lediglich die Vor- gebirge halle-Formation (Ziegelschiefer-Zone), aus der die berühm- Kategorie A ten Faunen und Floren des oberen Namuriums B stammen (Ziegeleigruben Hagen-Vorhalle und Fröndenberg-Voßacker), werden ebenfalls der Kategorie B zugeordnet. G Mitteldevon außerhalb der Rifffazies Vorkommen: südliches Ruhrgebiet (380 bis 358 Millionen Jahre vor Heute) Kategorie B Bedeutung: Meeresablagerungen, z.T. mit fossilreichen Kalkschichten, aber auch sterile Schichten. Fossilführung ist faziesabhängig. G Zechstein Vorkommen: Nordteil des rechtsrheinischen Schiefergebirges (ca. 258 bis 251 Millionen Jahre vor Heute) Kategorie B Bedeutung: Fossilführende, permische Sedimente sind in Nordrhein-Westfalen nur aus dem Zechstein bekannt. Insbe- sondere die dünnen Mergel- und Tonsteine an der Basis des G Unterkarbon im rechtsrheinischen Schiefergebirge Zechsteins (Kupferschiefer) und der Zechsteinkalk können (Kohlenkalk/Kulmfazies) (358 bis 318 Millionen Jahre vor Heute) reich an Floren und Faunen sein. So sind einige sehr große Bedeutung: Großer Artenreichtum (Makro- und Mikrofossilien) Pflanzenreste sowie Vertebraten (Fische und Reptilien) aus im Grenzbereich zwischen Flachwasser (Kohlenkalk: Korallen- dem Kupferschiefer bekannt. Bei Korbach (Hessen), wenige wachstum) zu einem tieferen Meeresbecken (Kulmfazies). Kilometer von der Landesgrenze entfernt, wurde in einer Vorkommen: Ratingen, Velbert, Aprath Spalte im Zechstein eine wissenschaftlich außerordentlich Kategorie A bedeutsame permische Wirbeltierfauna gefunden.

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Vorkommen: östliches rechtsrheinisches Schiefergebirge, Hierzu gehören insbesondere die in Lebensstellung erhal- Umgebung von Ibbenbüren sowie nahe der Landesgrenze tenen pilzartigen Schwämme, Großammoniten (darunter Hüggel, Piesberg der weltweit größte Ammonit) sowie vollständig überlieferte Kategorie A Krebse und Fische. Eine weitere Besonderheit stellen auch die oberkretazischen Seegräser aus der Umgebung der Baumberge dar. Paläontologisch weniger wichtig ist dage- G Muschelkalk gen die sandige Fazies der Oberkreide (Haltern-Formation) (ca. 243 bis 232 Millionen Jahre vor Heute) im südwestlichen Münsterland. Sie ist deswegen keiner Bedeutung: Triassische Sedimente mit bedeutender Fossil- Kategorie zugeordnet worden. führung sind in Nordrhein-Westfalen relativ selten. Im Mu- Vorkommen: Kreide bei Aachen und am Nordrand des schelkalk können einige Horizonte fast völlig aus den Hart- Schiefergebirges bei Essen und Mülheim, Westfälisches teilen von Muscheln, Seelilien oder Brachiopoden aufgebaut Tiefland, Teutoburger Wald und Egge-Gebirge, Westfäli- sein („Terebratelbank“, „Trochitenkalk“). Darüber hinaus sind sche Bucht, lokal im nördlichen Sauerland. Massenvorkommen von Seelilien mit den zugehörigen Kro- Kategorie B nen gefunden worden. Sehr selten sind dagegen Vertebra- tenreste, die gelegentlich auch im Keuper auftreten können. Vorkommen: Weserbergland G Tertiär Kategorie B (65 bis 2,4 Millionen Jahre vor Heute) Bedeutung: Pflanzenfossilien und Meeresbewohner aus der Zeit des letzten subtropischen Meeresvorstoßes in die G Jura Niederrheinische Bucht. Teilweise gut erhaltene Fauna und (208 bis 142 Millionen Jahre vor Heute) Flora in tonigen Süßwasserablagerungen (Rott, Brüggen). Bedeutung: Der überwiegend marin ausgebildete Jura ist Übergang von Warm- zu Kaltzeiten in den Pollenablage- generell sehr fossilreich. Bekannt sind die zahlreichen rungen ehemaliger Flussseen erhalten (Tone bei Brüggen). Funde von Ammoniten und Belemniten. Wichtiger sind je- In Küstensandablagerungen limonitisierte Steinkernerhal- doch die Funde von verschiedenen Vertebratenresten tung von Fossilien (Erkrath). Die Fossilführung ist von den (Reptilien) sowie Fährten von Dinosauriern. Die Fährten wechselnden Ablagerungsmilieus abhängig; diese reichen kommen in Sedimenten des küstennahen Flachwassers von tonig bis sandig sowie von limnisch bis marin. vor. Pflanzenreste sind in dem marin geprägten Ablage- rungsraum naturgemäß selten, wenngleich eine sehr Sedimente des Paläogens und Neogens sind bezüglich 46 reichhaltige Flora aus einer Linse im oberen Jura des ihrer Flächenausdehnung in Westfalen unbedeutend. Be- Wiehengebirges beschrieben wurde. sonders erwähnenswert sind die fossilreichen marinen Se- Vorkommen: Weserbergland und Wiehengebirge dimente im Raum Bünde. Sie haben neben zahlreichen Kategorie B Muscheln und Schnecken auch Reste eines Wales und ein fast vollständiges Seekuh-Skelett geliefert. Ebenfalls räum- lich stark begrenzt ist das Auftreten mariner und terrestri- G Kreide scher pflanzenreicher Sedimente dieses Zeitabschnitts in (142 bis 65 Millionen Jahre vor Heute) Subrosionssenken und Karstspalten. Bedeutung: Marine kreidezeitliche Sedimente sind am Vorkommen: Deutsch-Niederländisches Grenzgebiet bei Nordrand des rheinischen Schiefergebirges und in der Geilenkirchen-Wassenberg-Brüggen-Niederkrüchten, Vier- Westfälischen Bucht, insbesondere im Münsterland sowie sener Höhen, Braunkohletagebaugebiet, rechtsrheinischer im Teutoburger Wald und dem Egge-Gebirge, weit verbrei- Rand der Niederrheinischen Bucht von Duisburg bis zum tet. Festländische Ablagerungen sind dagegen überwie- Siebengebirge. westliches Münsterland, Weserbergland. gend nur in Relikten überliefert. Das Meer stieß von Nor- Kategorie B den vor und überflutete die nördlichen Teile der Rheini- schen Masse. Küstenkonglomerate, Steilklippen und Aus- kolkungen an einigen Lokalitäten im Ruhrgebiet dokumen- G Quartär: Holozän tieren heute die Strandlinie des Kreide-Meeres. (2,4 Millionen Jahre vor Heute bis Heute) Die limnisch-brackischen Ablagerungen der Bückeberg- Bedeutung: Pflanzenreste (Makroreste und Pollen) zeigen Formation („Wealden“) führen Pflanzenreste und sogar eine hochauflösende Klima- und Besiedlungsgeschichte. komplette Wirbeltiere (Reptilien), stellenweise können Koh- Vorkommen: Alle Niedermoore und Gleyböden (Feuchtbo- lenflöze eingeschaltet sein. Auch die Kuhfeld-Schichten denablagerungen) in den Fluss- und Bachauen. Dargestellt haben eine interessante Flora geliefert. Von besonderer wurden aus den in der Einleitung genannten Gründen nur Bedeutung für die Rekonstruktion des terrestrischen Öko- einige Moore. systems der Kreide-Zeit sind die in Karstspalten und -höh- Kategorie A len überlieferten Sedimente, die neben exzellent erhalte- nen Pflanzen auch zahlreiche Vertebratenreste (Iguanodon- Die beiden Kategorien A und B für hohes bzw. mittleres ten, Raub- und Flugsaurier, Säugetiere) lieferten. bis hohes paläontologisches Potenzial sind in ihrer Ver- Die marine Kreide in Westfalen ist insgesamt durch breitung in der Karte des Paläontologischen Potenzials in reichhaltige Fossilvergesellschaftungen gekennzeichnet. Nordrhein-Westfalen 1 : 1.000.000 dargestellt (s. Kap. 5.1).

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Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen // 2007 Kapitel 5

5.3 Gesellschaftliche, politische und spiele wie die „Bunten Kirchen“ im Bergischen Land er- religionsbezogene Funktionsbereiche zeugen regionale Identität. Große und bedeutende Klos- teranlagen, bis 1803 mit einem erheblichen, teils weit ver- 5.3.1 Religion / Kirche zweigten Landbesitz versehen, können weithin als domi- nante Landmarken erkennbar sein. Daneben gibt es zahl- Einführung reiche Kleinelemente wie Wegekreuze, Kapellen, Kreuz- wege u.v.m., die wichtige kulturhistorische Landschafts- Bauten und Anlagen für Religion und Kultur bilden elemente darstellen. schon seit vorgeschichtlicher Zeit, spätestens aber seit dem Mittelalter Fixpunkte in der Landschaft von Rheinland Der Bereich der Sagen und Legenden, die sich um die- und Westfalen. Trotz intensiver Besiedlung sowie Industria- se Orte ranken können, bildet einen Übergang zu der stark lisierung werden sie noch heute als wesentliche Gliede- ideell-religiösen Aufladung bestimmter Orte durch das rungselemente wahrgenommen. Sie markieren Stadtzen- Wallfahrtswesen. Letzteres hinterließ Strukturen und Ele- tren (Dom zu Münster), Höhenzüge (Abtei Siegburg) oder mente in der Landschaft und erfährt heute durch die Aufar- ganze Landschaften (Kölner Dom). Blickbeziehungen sind beitung und Ausschilderung von Pilgerrouten eine Bele- dabei von größter Bedeutung. bung. Beispiel hierfür sind die Wege der Jakobspilger.

Religiöse Bauten und Kulturlandschaftsbestandteile sind durch eine hohe Standortkontinuität gekennzeichnet. Durch das Hörstertor am jetzigen Hörsterplatz in Münster führte der Jakobsweg. Bereits in vorgeschichtlicher Zeit existierten Kultplätze und Foto: LWL/M. Philipps Heiligtümer. Die in römischer Zeit z.T. auf Vorgängern be- gründeten Tempel blieben über Jahrhunderte hinweg raumwirksam und konnten wiederum Ansatzpunkt für christliche Kirchenbauten sein. Hervorzuheben sind zu- dem die Nekropolen, die häufig im Zuge der Märtyrerver- ehrung für nachrömische Kirchengründungen Standort bildend waren.

Römischer Tempelbezirk Görresburg bei Nettersheim Foto: LVR/M. Thuns 47

Baudenkmale des Kultus sind fast ausschließlich aus dem christlichen Bekenntnis überliefert. Vorchristliche Kultstätten (sächsische Irminsul, Obermarsberg) sind allenfalls als Boden- denkmäler tradiert oder als historische Orte bemerkenswert. Im linksrheinischen römischen Territorium gehen mehrere Kir- chenbauten auf heidnische Tempel (St. Maria im Kapitol, Köln) oder römische Profanbauten (Groß St. Martin, Köln) zurück.

Die meisten jüdischen Gotteshäuser wurden in der Reichspogromnacht 1938 zerstört. Erhalten blieben vor al- lem Synagogen in kleinen Landgemeinden. Großstädti- sche Synagogen der Gründerzeit sind in Köln (Wiederauf- Im 9. Jh. wurde durch die Kapitularien Karls des Großen bau) und Essen (Alte Synagoge) erhalten. Synagogenneu- die Basis für das mittelalterliche Pfarrsystem mit ihren bauten wurden nach 1945 in größeren Städten errichtet Pfarrkirchen gelegt – eine herausragende Zäsur in der kul- (Dortmund, Minden, Münster, Aachen, Bonn, Duisburg, turlandschaftlichen Entwicklung. Die Kirchen mit ihren zu- Essen). Bauten anderer Glaubensrichtungen (Moscheen, meist hohen Türmen dominieren bis heute den überwie- Bethäuser) sind zumeist erst in jüngerer Zeit entstanden. genden Teil der Orts- und Stadtsilhouetten. Sie sind au- ßerordentlich starke Identitätsanker: Unübertroffen ist der Im Folgenden werden für die Landesteile Rheinland und zum Weltkulturerbe zählende Kölner Dom, aber auch Bei- Westfalen besondere Epochen und Bautypen herausgestellt.

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Bei Balve wurden menschliche Reste als Zeugnis mesolithischer Bestattungen gefunden. Foto: LWL/M. Philipps

Vorgeschichte Auch aus den nach- folgenden jungsteinzeit- Als älteste Bestattungen in Nordrhein-Westfalen wer- lichen Perioden sind im den die Skelette aus dem Neandertal bei Erkrath (Kreis rheinischen Landesteil Mettmann) angesehen, nur wenige Bestattun- die in die Mittlere Alt- gen bekannt. In Westfa- steinzeit datieren. Jün- len wurden in dieser ger sind die jungpaläo- Zeit eindrucksvolle Kol- 48 lithischen Bestattungen lektivgräber – Groß- aus Bonn-Oberkassel, steingräber überwie- Steinzeitliches Großsteingrab die um 12.250 v. Chr. gend im Münsterland bei Lengerich-Wechte datieren. Bemerkens- und Galeriegräber vor Foto: MBV/A. Thünker wert ist die Beigabe ei- allem in Ostwestfalen - nes Hundeskelettes, ei- errichtet, die bis heute landschaftsprägend geblieben sind. ner der frühesten Bele- Im Endneolithikum wird dann wieder die z.T. überhügelte ge für domestizierte Einzelbestattung bestimmend, die Sitten der nachfolgen- Tiere in Nordrhein- Vorgeschichtlicher Grabhügel den Metallzeiten vorwegnimmt. Westfalen. Menschliche aus dem Reichswald bei Kleve Reste aus der Balver- Foto: MBV/A. Thünker Das jungsteinzeitliche Großsteingrab Sloopsteene (Märkischer Kreis) und (Megalithgrab) bei Lotte-Wersen der Blätterhöhle (Hagen) sind in Anlehnung an belgische Foto: MBV/A. Thünker Befunde als mesolithische Bestattungen zu interpretieren. Sie sind gleichzeitig der ältesten Nachweis des Homo sa- piens in Westfalen (10.400 bis 10.700 v. Heute). Von dem et- wa gleichzeitigen Fundplatz Bedburg-Königshoven stam- men zwei Hirschgeweihmasken, für die eine Deutung als Kopfschmuck im Rahmen von schamanistischen Zeremo- nien erwogen wird.

Nur drei bandkeramische Gräberfelder mit Einzelbestat- tungen in Form von Brand- oder Körpergräbern sind in Nordrhein-Westfalen bislang bekannt, die vornehmlich ei- nen Bezug zu benachbarten Siedlungen haben (Aldenho- ven-Niedermerz, Inden-Altdorf, Bergheim-Zieverich). Gerade die Seltenheit dieser Bestattungen verweist auf die hohe Bedeutung der wenigen Befunde für die Erforschung der Menschen dieser ersten landwirtschaftlich geprägten Kul- turen in Nordrhein-Westfalen.

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Metallzeiten Siedlungskontinuität, aber nun werden neue Bestattungs- plätze in der Nachbarschaft der Hügelgräberfelder ange- In der frühen Bronzezeit herrscht die in spätneolithischer legt. Den Bestatteten beigegebene Glasarmringe sind bis in Tradition stehende Flachhockerbestattung vor, die jedoch in den Norden verbreitet. Im Süden treten am Ende der Eisen- Nordrhein-Westfalen aufgrund der starken Entkalkung des zeit erstmalig Brandgräber begrenzt durch eckige Einfrie- Bodens und der damit verbundenen Zersetzung der Kno- dungen (Grabgärten) auf. chen nur selten und nur unter günstigen Bedingungen nachgewiesen werden kann. In der mittleren Bronzezeit, Eisenzeitliche Grabhügel bei Kleve der Hügelgräberbronzezeit, werden die Toten in der Regel Foto: LVR/W. Wegener in Gräbern unter Hügeln in gestreckter Rückenlage bestat- tet. Es kommen aber bereits Brandbestattungen (Weeze- Kalbeck, Kevelaer, Paderborner Gruppe) unter Hügeln vor. Die Grabhügel können sowohl vereinzelt als auch in kleine- ren Gruppen beieinander angelegt sein. Hinweise einer so- zialen Klassenbildung lassen sich in einigen Fällen über sehr groß angelegte Grabhügel sowie Beigaben von Metall- objekten, Trachtzubehör und Waffen, die die herausragen- de soziale Stellung des Bestatteten widerspiegeln (Krieger- grab Langenfeld), nachweisen. Mit Beginn der Jungbronze- zeit, der Urnenfelderkultur, setzt sich die Brandbestattung in Urnen auf großen Gräberfeldern durch, welche in der Müns- terschen Bucht große Graben-Einhegungen und Pfosten- setzungen aufweisen (Ems-Gruppe). Ausgedehnte Bestat- tungsplätze wurden von Bewohnern mehrerer in der Nähe liegender Siedlungen über längere Zeiträume genutzt. Eine soziale Differenzierung anhand der Größe der Grabhügel oder Metallbeigaben lässt sich jetzt nur noch selten (Krie- gergrab Hennef) nachweisen. Die soziale Stellung des Be- In Westfalen setzen sich in der Eisenzeit die Traditionen statteten drückt sich nun überwiegend durch Anzahl und aus der Jungbronzezeit sehr lange fort. Bestandteil des To- Qualität des beigegebenen Keramikinventars aus. tenkultes ist nach wie vor die Brandbestattung mit oder oh- ne Urne. Nur das kleine Gräberfeld von Petershagen-Ilse 49 Die im nördlichen Rheinland ansässige niederrheinische an der Mittelweser bildet mit seinen Bestattungen unver- Nordwestgruppe der frühen Eisenzeit bestattete ihre Toten brannter Körper eine Ausnahme. Aber die Frauen, die dort weiterhin unter Grabhügeln. Die Brandgräber enthielten um 550 v. Chr. beerdigt wurden, waren eindeutig Fremde, meist nur einen Topf als Grabbeigabe, mit Leichenbrand- die aus dem südwestdeutschen Raum gekommen waren. nest und Rautöpfen als Urne. Der Süden des Rheinlands bildet die Randzone zur mittelrheinischen Laufeldergrup- An die großen Grabeinhegungen der jungbronzezeitli- pe. Hier herrscht die Brandbestattung vor. Fußschalen, chen Ems-Gruppe erinnern kleine ringförmige Gräben so- auch Eierbecher genannt, keramische Leitform dieser wie Rechteckgräben im nördlichen Münsterland, deren Gruppe, sind bis weit in den Norden des Rheinlandes ver- Hauptverbreitung in Westniedersachsen und im Norden breitet. Als Grabbeigabe wurde dem Toten ein Keramiksatz der Niederlande liegt. Als Urnen wurden in der Eisenzeit aus Topf, Schale und Beigefäß mitgegeben. Mit Beginn der häufig Gefäße wie Terrinen oder sog. Harpstedter Rautöpfe mittleren Eisenzeit ist der Süden Randgebiet der so ge- benutzt, die enge kulturelle Bindungen nach Norden (Nien- nannten Hunsrück-Eifel-Kultur. Nun wurden die Toten nicht burger Kultur, sog. Jastorf-Zivilisation) belegen. mehr verbrannt, sondern als Körperbestattung in West- Ost-Richtung mit Kopf im Westen beigesetzt. Außer Gefä- Eine Änderung der religiösen Vorstellungen findet in ßen wurden Schmuckelemente wie Wendelring zusammen Westfalen erst zu Beginn des 3. Jahrhunderts v.Chr. statt. mit Armringsätzen, selten Fibeln sowie Waffen, vor allem Sie hängt mit einer Einflussnahme der Kelten aus dem Sü- Lanzen beigegeben. Die Herausbildung einer Führungs- den zusammen und macht sich durch eine neue Grabform schicht ist im Grabkult an den separat liegenden, großen bemerkbar: Die sog. Brandgrubengräber betonen nicht Fürstengräbern mit aufwendigen Grabkammern, Wagen- mehr die sorgfältige Aufbewahrung der verbrannten Kno- beigaben und metallischem Trinkgeschirr (bislang im Rhein- chen, sondern vielmehr das Zeremonial der Verbrennung. land nicht belegt) aus den Nachbarregionen erkennbar. Die Lössgebiete des Rheinlands und das niederrheinische Die Bestattungssitten geben auch sonst Auskunft über Tiefland zeigen Kultureinflüsse aus dem benachbarten geänderte religiöse Vorstellungen der damaligen Bevölke- Westen, der Marnekultur. Ein Wandel in der Bestattungssit- rung, der sich vermutlich überall in einem Ahnenkult mani- te kennzeichnet dies: nun herrschen hier beigabenlose festierte. Ein Wechsel von der Körper- zur Brandbestattung Knochenlager und Brandgruben vor, Urnengräber bleiben lässt im Rheinland eine starke Organisation und Verein- die Ausnahme. In der späten Eisenzeit finden sich Flach- heitlichung der lokalen Kulturgruppen erkennen. Anzuneh- brandgräber im südlichen Rheinland. Es besteht zwar men ist, dass die Gräber oberirdisch mit Steinen oder

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Holzpfählen markiert waren, wie dies in Nachbarregionen Römerzeit z.T. nachgewiesen werden konnte. Desgleichen ist zu ver- muten, dass im Bereich der Bestattungsplätze kultische In der Römerzeit wurden zunächst die Toten verbrannt, Handlungen an „geheiligten Orten“, wie Kult- und Opfer- erst im Laufe des 2./3. Jahrhunderts kam die Körperbe- plätzen, vorgenommen wurden. Ansatzpunkte hierfür lie- stattung hinzu, die ab dem 3. Jh. die vorherrschende fern Kultpfähle auf Bestattungsplätzen. Auch die Deponie- Form war. Die Bestattungsplätze lagen außerhalb der rung von Metallobjekten oder Geschirrsätzen mit Speise- Siedlungen bzw. der Landgüter, auf diesen fanden sich beigaben auf oder in Nähe der Gräberfelder belegen kulti- auch die Verbrennungsplätze, auf denen die Toten ver- sche Riten und geben Hinweise auf die Jenseitsvorstellung brannt wurden. Nach dem Niederbrennen des Scheiter- der damaligen Bevölkerung. haufens wurden der Leichenbrand und die verbrannten Beigaben ausgelesen, in eine Urne gesammelt und in ei- Religion und Rituale waren stark mit Naturelementen nem Grab beigesetzt. Die Urnen konnten unterschiedli- (Quellen, Wäldern, Flüssen) verbunden. Metallzeitliche Heilig- che Formen haben, wie Glas- und Keramikgefäße, Blei- tümer bzw. Kultstätten könnten sich als geheiligter Bezirk im oder Steinkisten sowie Gefäße aus organischen Materia- Freien, in Hainen (Baum) oder Höhlen befunden haben, die lien. Gelegentlich gab man unverbrannte Beigaben mit, heute archäologisch nicht mehr oder nur sehr schwer nach- die zuweilen auch in gesonderten Nischen an der eigent- weisbar (Umzäunungen) sind. Diese Tradition reichte bis weit lichen Grabkammer aufgestellt und geschützt wurden. in die römische Zeit hinein: die Vorläufer der römischen Ma- Hierzu gehören mit Speisen gefüllte Gefäße, Getränke, tronenheiligtümer sowie der gallorömischen Umgangstem- Geschirrsätze, sonstiges Hausgerät, Schmuck, Schmink- pel im Rheinland sind keltischen Ursprungs. Eindeutige utensilien und Münzen; besondere Bestattungen haben Hinweise auf weitere kultische Anlagen liegen aus dem ihre alltäglichen Gebrauchsgegenstände mit, wie die Rheinland bislang nicht vor. In Westfalen sind zumindest ei- sog. Ärzte-, Schmiede- oder Malergräber zeigen. Auch senzeitliche Opferplätze bekannt: in den Höhlen des Sauer- die Beigabe von Lieblingstieren (kleine Hündchen) oder landes, in Ahlen-Dolberg und im Hiller Moor (Kreis Minden- Spielzeug waren geläufig. In der Regel finden sich auch Lübbecke). Darüber hinaus liegen die außergewöhnlichen apotropäische (Unheilabwehrende) Beigaben, wie Amulet- Funde aus dem jungbronzezeitlichen Grab einer Art Wan- te, Bergkristalle, Rasseln, Lampen oder Ähnliches. derpriesters, der zufällig in Gevelinghausen (Gem. Olsberg, Hochsauerlandkreis) starb und dort bestattet wurde, und die Waffenbeigaben waren den römischen Soldaten nicht sieben – in der Früheisenzeit einer Wassergottheit gewid- erlaubt, da die Waffen dem Staat gehörten. Gräber mit sol- meten – Bronzearmringe aus einem inzwischen verlandeten chen Beigaben werden den germanischen Soldaten zuge- 50 Teich in Nieheim-Sommersell (Kreis Höxter) vor, die ebenfalls sprochen, die entweder in Söldnerdiensten oder in regulä- Einblicke in die Frömmigkeit der Vorzeit geben. ren (Hilfs-)Truppen standen.

Archäologische Untersuchung eines römischen Urnengrabes über einem Kinderskelett bei Monheim Foto: P. Bürschel

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Die Erdgräber waren an der Oberfläche durch kleine Allgemein erkannten die Römer ohne weiteres die Göt- Grabgärten und Grabsteine, aber auch Grabaltäre, Grab- terwelt der von ihnen eroberten Stämme an, da es ihnen pfeiler oder Grabtempel gekennzeichnet. Diese waren in leicht fiel, in den verehrten Gottheiten dieselben Vereh- der Regel deutlich aufwändiger gestaltet als die eigentli- rungsaspekte wieder zu finden, die auch ihren eigenen chen Bestattungen. Sie stellten die Verbindung vom Toten Göttern innewohnten und man deshalb nur eine Namens- zu den Lebenden her und sollten an das Totengedenken ergänzung vornehmen musste: so war der keltische Heil- erinnern. Diese Grabsteine waren an den Straßen orien- gott Grannus, den man in Aachen verehrte, im Grunde tiert, die entweder aus den Siedlungen herausführten oder derselbe Gott wie der römische Heilgott Apollo und am die an den Landgütern vorbeiliefen. Niederrhein erkannte man in der dort verehrten Gottheit Magusanus eine Form von Hercules. Die römischen Bestattungen liefern wertvolle Informatio- nen zum Leben und Handeln der Lebenden, zur Jenseits- Eine Besonderheit des römischen Rheinlands ist die von vorstellung der Römer und der einheimischen Bevölke- der einheimischen Bevölkerung übernommene Verehrung rung und zur Behandlung und Verehrung der Toten jener der so genannten Matronen, von denen eine Vielzahl von Zeit. Große Gräberfelder wie in Krefeld-Gellep mit mehr Tempelanlagen und Weihesteinen bekannt ist. Sie tragen als 6.000 Bestattungen über einen Belegungszeitraum keltische (Ollogabiae) oder germanische (Alagabiae) Na- von mehr als sieben Jahrhunderten bieten wertvolle Er- men. In ihnen verehrte die ansässige Landbevölkerung die kenntnisse zu den Bestattungsformen, zur den Typolo- göttlichen Mächte, die Wohlstand und reiche Ernte garan- gien, d.h. den modischen Veränderungen der einzelnen tierten und die Familie beschützten. Beigaben und zur Sozialstruktur der lokalen Bevölkerung, Erkenntnisse, die aus den Siedlungsgrabungen nicht ge- Die orientalischen Kulte mit ihrem eher persönlichen Kult wonnen werden können. etablierten sich seit dem Ende des 3. Jahrhunderts. Von ih- nen sind allerdings nur wenige Relikte in Niedergermanien Auch im freien Germanien der Römischen Kaiserzeit do- erhalten. Ende des 4. Jahrhunderts setzte sich schließlich minieren zunächst Brandbestattungen. Teilweise großen das Christentum durch. Die ersten Kirchen entstanden über Gräberfeldern in Rheinnähe (Leverkusen-Rheindorf) stehen den Gräbern von Märtyrern, etwa in Bonn und Xanten. in Westfalen kleine Grabgruppen gegenüber. In der frühen Römischen Kaiserzeit werden die Toten meist ohne Urne in sog. Brandschüttungsgräben zusammen mit Resten des Merowingerzeit Scheiterhaufens beigesetzt, später kommen wieder ver- stärkt Urnenbestattungen auf (Castedt, Bielefeld-Sieker). Im Gräber stellen für die Merowingerzeit immer noch die aus- 51 Fundgut überwiegen Gegenstände, die eine Zusammenge- sagekräftigste Quellengattung dar. Mit der Ausbildung der hörigkeit mit dem Rhein-Weser-Germanischen Kreis bele- Beigabensitte im Bereich germanischer Angehöriger im spät- gen. Importe aus dem Römischen Reich sind selten. Im 5. römischen Militär und ihrer Angehörigen kommen zahlreiche, Jh. erfolgt der Übergang zur Körperbestattung in Süd- oft qualitätvolle kulturgeschichtliche Zeugnisse dieser Zeit auf Nord-Ausrichtung (Bad Lippspringe, Beelen). Germanische uns. Die Gräber, ihre Ausstattung und Anlage sind jedoch Opferplätze sind aus Castrop-Rauxel („Zeche Erin“) und nicht unmittelbarer „Spiegel des Lebens”, sondern eher ein Soest-Ardey bekannt, hier wurden vor allem Münzen, Me- „Zerrspiegel”, der von den jeweiligen Bestattungs- und Bei- talle und Lebensmittel in Gewässern geopfert. gabensitten abhängig ist. Vor allem mit Ende der Merowin- gerzeit, die gekennzeichnet ist durch allmähliche, regional Die Römer pflegten ein pragmatisches Verhältnis zu den durchaus unterschiedlich geartete und einsetzende Aufgabe göttlichen Mächten. Im Mittelpunkt stand die kapitolinische der Beigabensitte ab dem 7. Jahrhundert, entfallen hier die Trias Iupiter Optimus Maximus, Iuno und Minerva. Es war wichtigen archäologischen Quellen, bevor die schriftliche für den Römer eine politische Verpflichtung, diese Staats- Überlieferung zu einzelnen Orten einsetzt, die dann meist ab götter, später die Götter des Kaiserhauses als Garanten dem 9. Jh. zumindest einen nominellen Befund (Nennung von der Stabilität des Staatswesens zu verehren. Besitz- und Siedlungsverhältnissen) erbringen. Die Gräberfelder in Westfalen zeigen vor allem im Grabbrauch deutliche Un- Für alle Lebensbereiche des Menschen gab es eine terschiede zu jenen westlich des Rheins. Viele Gräber wei- spezifische Gottheit bzw. einen Schutzgeist (Genius). Mit chen von der üblichen Ost-West-Ausrichtung ab, geordnete ihnen schloss man zur Erfüllung eines „Wunsches“ ei- Reihenstrukturen sind selten. Neben den auch im Rheinland nen „Vertrag“, nach dessen Erfüllung man den Göttern üblichen Körperbestattungen gibt es Brandgräber, Grabhü- durch die Aufstellung eines Weihesteines Dank abstatte- gel mit und ohne Grabeneinhegung und bislang nicht ein- te. Als noch heute bekannte Gottheiten seien hier Venus, deutig erklärbare Pfostensetzungen (Kultbauten) auf den die Göttin der Schönheit und der Liebe genannt, Mars Friedhöfen. Bestattungen von Pferden und Hunden sind als als Gott des Krieges oder Mercurius als Schutzgottheit Beigaben für sozial herausgehobene Personenkreise zu wer- von Handel und Gewerbe, aber auch der Diebe. Der ten (Beckum, Warendorf-Müssingen, Wünnenberg-Fürstenberg). Angst, sich den Zorn einer Gottheit durch Nichtbeach- tung zuzuziehen, suchte man dadurch zu begegnen, Kommen im 6. Jh. noch vermehrt Kammergräber vor, dass man praktischerweise gleich „alle Götter“ anrief (di wird im 7. bis 10. Jh. fast ausnahmslos in Baumsärgen be- deaeque omnes). stattet. Beigaben und Trachtbestandteile entstammen hin-

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gegen in aller Regel dem fränkischen Markt. Dies gilt vor bäude (Pfarrhäuser, Küstereien, Vikarien, Schulen) zugeordnet allem für die Eliten wie den sog. „Fürst von Beckum“, der wurden, bildeten zumeist Ausgangspunkte für die Entwick- als einheimischer Lokalherrscher zu werten ist oder die lung dörflicher oder städtischer Siedlungen. Daneben betei- Damen aus Soest, deren Reichtum sich auf die lokalen ligten sich die Männerorden an der Missionierung und dem Salzvorkommen gegründet haben dürfte. Landesausbau (Corvey 822, Abdinghof Paderborn 1015, St. Mauritz Minden 1042, Grafschaft 1072; Kanonikerstifte 948 En- In Westfalen ist ein deutlich verzögertes Auslaufen so- ger, 965 St. Patrokli Soest, 1029 St. Martini Minden, 1036 Bus- wohl der Beigabensitte als auch der kirchenfernen Fried- dorf Paderborn, 1064 St. Mauritz Münster). höfe ganz allgemein zu beobachten. Noch im 9. Jh. gelan- gen regelhaft Trachtbestandteile in die Gräber, vereinzelt Die Kathedralen der westfälischen Bistümer (Minden, sind vermutlich heidnische Totenfeiern an den Gräbern bis Münster, Paderborn) haben eine lange Baugeschichte mit in das 10. Jh. nachweisbar (Dortmund-Wickede). Die Rei- mehrfachen Vorgängerbauten. Mit dem Westwerk in Min- hengräberfriedhöfe laufen damit noch längere Zeit parallel den ist noch ein markantes Bauteil aus dem 11. Jh. erhal- zu den ersten Friedhöfen an Kirchen und Klöstern (Herford, ten. Sowohl in Größe als auch an Bedeutung entsprachen Warendorf-Freckenhorst, Wadersloh-Liesborn), die ihnen in in Soest die Stiftskirche St. Patrokli (in ihrer heutigen Form der Anlagestruktur aber ähneln. überwiegend aus dem 12. Jh.) sowie die Kirche des reichs- unmittelbaren Stiftes Herford den Kathedralkirchen der westfälischen Bistümer. Eines der seltenen Relikte karolin- Christentum gischer Kirchenbaukunst ist im 873 bis 885 entstandenen Westwerk in Corvey zu finden. Bereits im 2. Jh. sind Christen im Rheinland überliefert, im Umfeld der römischen Coloniae in Köln und Xanten, oder in Der stattlichste Großbau der ottonischen Epoche ist der Nachbarschaft römischer Militärlager, wie in Bonn. Aller- wohl St. Patrokli in Soest. Den als Gewölbebasilika mit dings dürfte ihre Zahl noch gering gewesen sein. Erst im 4. Querschiff errichteten Großbauten (Gaukirche, Paderborn; Jh. wird das Christentum Staatsreligion. Ein Bischofssitz ist St. Martini, Minden; St. Marien, Dortmund) folgten kleinere für Köln gesichert, der erste schriftlich überlieferte Bischof Gewölbebasiliken. Daneben entstanden viele gewölbte war Maternus (313/314). Eine deutliche Verbreitung des Saalkirchen und Kreuzkirchen mit gerade geschlossenem Christentums erfolgte in der Merowingerzeit ausgehend oder apsidialem Chor. Eine Sonderform der Basilika mit ih- vom Frankenreich, vor allem nach der Taufe Chlodwigs im ren weitgespannten Arkaden bildet der 1225 begonnene Zeitraum 498/499. Diese Entwicklung erreichte den Nieder- Dom zu Münster. Der Neubau von St. Reinoldi in Dort- 52 rhein erst später, Ende des 7./Anfang des 8. Jahrhunderts, mund bleibt für lange Zeit die letzte Basilika, die in Westfa- durch die Missionierung angelsächsischer Mönche. Der be- len errichtet wird. Daraufhin setzt sich bei mehrschiffigen rühmteste Repräsentant dieser Bewegung war Willibrordi, Kirchenbauten die Halle als Raumform durch. ein Schüler Wilfrieds von York, der die kirchliche Organisati- on und die Gründung von Klöstern nach 695 im Gebiet zwi- Im Münsterland schließen sich viele Bauten an das Vor- schen Kleve-Rindern und Echternach nach römischem Vor- bild von St. Ludgeri in Münster (Stufenhalle) an (Marienkir- bild organisierte. Er fand dabei Unterstützung durch den che, Lippstadt; Petrikirche, ; St. Johannes, Bil- fränkischen Hausmeier, Pippin den Mittleren. lerbeck). Die richtungsweisende Weiterentwicklung kam von dem Neubau der Münsterkirche in Herford um 1228 Die Christianisierung erfolgte in Westfalen noch später, und dem Langhaus des Paderborner Domes. Rheinischer nämlich ab dem ausgehenden 8. Jh., und wurde durch Karl Einfluss lässt sich an einigen Kirchen feststellen (Pletten- den Großen während und nach den Sachsenkriegen mit berg, Balve und Wormbach). Höhepunkt westfälischer Hal- Gewalt und Macht vorangetrieben. Frühere Missionsversu- lenkirchenarchitektur bildet der Dom zu Minden. Die 1313 che, beispielsweise durch die beiden Ewalde blieben erfolg- begonnene Wiesenkirche in Soest zeigt die letzte Verfeine- los. Um 800 entstanden dann die ersten Bischofskirchen in rung des Hallenraumes. Paderborn, Münster und Minden sowie Eigenkirchen wie die der Hl. Ida in Herzfeld. Die Durchsetzung des Christentums Das Rheinland ist eine der bedeutendsten romani- auch im täglichen Leben dauerte allerdings vor allem nach schen Kunstlandschaften Europas. Die Anfänge der ro- Ausweis der Grabfunde noch fast zwei Jahrhunderte. manischen Architektur reichen hier bis in die karolingi- sche Zeit zurück. Das berühmteste Beispiel ist das Aa- chener Münster, die Pfalzkapelle Karls des Großen (erstes Zeugnisse religiösen Lebens im Mittelalter deutsches Objekt in der UNESCO Welterbeliste). Bauten wie St. Pantaleon in Köln, mit seinem charakteristischen Im Gefolge der Missionierung, die in der Zeit Karls des Westwerk, sind Schlüsselwerke der Frühromanik. Zu Großen begann, bildete sich eine vielfältige Kirchenland- höchster Blüte entwickelte sich die Sakralarchitektur hier schaft. Neben den Königskirchen (Aachen, Paderborn) pri- in der Hoch- und Spätromanik, also im 12. und 13. Jahr- mär entlang der vom fränkischen Heer genutzten Straßen hundert. Mehr als ein Dutzend bedeutender Kirchen ent- (Dortmund, Geseke, Paderborn etc.) und den Pfarrkirchen der standen allein in Köln. Der außergewöhnliche Zentralbau Ur-Pfarreien entstanden zahlreiche adelige Eigenkirchen. Die von St. Gereon ist beispielsweise über einem spätrömi- Pfarrkirchen, denen nach und nach weitere kirchliche Ge- schen Memorialbau errichtet worden und zählt deshalb

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zu den Inkunabeln der Architekturgeschichte. Darüber hi- errichtet wurde. In zahlreichen Fällen sind die mittelalterli- naus sind unter anderem Knechtsteden, Brauweiler, chen Klosteranlagen heute von großen barocken Umbau- Schwarzrheindorf, Bonn, Münstereifel, Steinfeld oder phasen geprägt, wie etwa in Marienfeld, oder in Grafschaft Werden (Essen) zu nennen. und Liesborn, Clarholz und Cappenberg; Brauweiler oder Knechtsteden im Rheinland. In zahlreichen Städten ent- Welche Bedeutung insbesondere dem Phänomen der standen seit dem 17. Jh. kleinere Klöster, insbesondere der rheinischen Spätromanik zukommt wird deutlich, wenn Franziskaner und Kapuziner, die die Stadtbilder durch ge- man sich vor Augen hält, dass die französische Gotik be- schlossene Baublöcke mit bescheidenen Barockfassaden reits um 1140 einsetzt – erst weit mehr als ein Jahrhundert der Kirchen-Westfronten bereicherten. später wird die romanische Kirche St. Kunibert in Köln voll- endet. Die Kunstgeschichte spricht deshalb vom „Über- Die „rheinische Romanik“ ist frühzeitig zu einem festen gangsstil“, also einer sehr langsamen Entwicklung von der Begriff der europäischen Architekturgeschichte geworden. Romanik zur Gotik. Die Ursachen des langen Festhaltens Im 19. Jh. galt sie aufgrund ihrer auf das Rheinland be- am romanischen Formenrepertoire sind unklar. Deutlich ist grenzten Besonderheiten als der typisch „deutsche“ Stil. aber, dass der Tradition im Mittelalter eine weit höhere Be- Das entsprach dem Geschichtsverständnis der historisti- deutung zugemessen wurde als in der dem Fortschritt ver- schen Epoche, aber nicht der historischen Realität des Mit- pflichteten Moderne. Jedenfalls hinterließ das Rheinland telalters, denn das kannte Nationalstaaten noch nicht. dem europäischen Kulturerbe damit eine außergewöhnli- Sichtbaren Ausdruck hatte diese Indienstnahme von histo- che und reiche Architekturlandschaft. Bewundert werden rischen Bauformen beispielsweise in der Kaiser-Wilhelm- die vielfältigen Fensterformen, die Zwerggalerien an den Gedächtniskirche in Berlin gefunden, die im Stil rheini- Apsiden oder die Bogenfriese an den Traufen, welche ge- scher Romanik und mit rheinischem Tuffstein 1891-1895 meinsam den besonderen Dekorreichtum ausmachen. errichtet wurde. Noch heute ist die „Rheinromanik“ eines der wichtigsten Ziele des Tourismus in dieser Region. Da- Noch heute bilden romanische Kirchen die historischen bei werden auch die kostbaren Goldschmiedearbeiten aus Kerne von Stadtbildern wie in Aachen, Bonn oder in Es- dieser Epoche gern besucht, die Reliquienschreine in Aa- sen. Das Essener Münster ist ein Beispiel dafür, wie trotz chen, Köln, Siegburg und Xanten sowie die Schatzkam- ausgedehnter Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg eine mit- mern vor allem in Aachen und Essen. telalterliche Kirche auch weiterhin ein zentrales Bauwerk im Stadtgefüge bildet. Auch in Köln prägt der „Kranz roma- Mit der Säkularisation von 1802/03 trat für die ehemali- nischer Kirchen“ noch immer die historische Stadtstruktur. gen Klöster- und Stiftskirchen die Funktion als Pfarrkirchen Groß St. Martin hat ungewöhnlicherweise über dem Ost- in den Vordergrund. Mit dem Übergang aller westfälischen 53 bau einen großen Turm, weil hier die Hauptansicht dem Länder und des Rheinlandes an Preußen wird nach 1815 Rhein zugewandt ist. Diese Kirche und St. Kunibert setzen ein starker Einfluss der preußischen Bauverwaltung er- – neben dem Dom – Akzente in der Rheinansicht der Me- kennbar. In die Jahrzehnte nach 1875 fällt ein neuerlicher tropole, die in jedem Prospekt der Stadt zu finden sind. Aufschwung des Kirchenbaus in überwiegend gotischen Die ehemalige Benediktinerabteikirche Brauweiler ist ein und romanischen Stilformen, später in Jugendstil- und ex- Beispiel dafür, wie eine romanische Kirche weithin die pressionistischen Formen. In den wachsenden Städten Landschaft prägt. Das gilt in gleicher Weise für die ehema- wurden neue Kirchen für die neu erschlossenen Sied- lige Prämonstratenserkirche Knechtsteden, die gemäß ih- rer ursprünglichen Ansiedlung abseits der Städte auch weiterhin von moderner Bebauung freigehalten wird. Arnsberg, Auferstehungskirche Foto: LWL/M. Philipps Baulich schlagen sich die Glaubensspaltungen des 16. Jahrhunderts in größerer Deutlichkeit erst seit dem frühen 17. Jh. nieder. Die Veränderungen der Kirchen in den luthe- rischen und reformierten Gebieten bezogen sich primär auf Umgestaltungen des Inneren. Einer der frühesten lutheri- schen Kirchenneubauten erfolgte 1615 in Petershagen. Die meisten lutherischen und reformierten Kirchen sind mit Ausnahmen schlichte Saalräume ([Borken-]Gemen 1703), bei denen, wie auch im zeitgleichen katholischen Kirchen- bau, vor allem die Ausstattung bemerkenswert ist. Eine Sonderform des nach-reformatischen Kirchenbaus sind die zahlreichen dörflichen Kapellenschulen im heutigen Kreis Siegen-Wittgenstein. Als reiche Kirchenbauten entstanden in größeren Orten große flachgedeckte Breiträume mit um- laufenden Emporen wie in Freudenberg (1601-06), Burbach (1774) und Wehdem (1800). Der erste Neubau der katholi- schen Gegenreformation war die Petrikirche in Münster (1590), die von Jesuiten bewusst in gotisierenden Formen

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lungsgebiete benötigt, aber auch auf den Dörfern wurden Kirchen des Historismus im Rheinland viele mittelalterliche, bisweilen verwahrloste Pfarrkirchen durch zumeist sehr große Kirchenneubauten ersetzt. Eine Die kirchlichen Strukturen erfuhren mit der Säkularisati- weitere Ursache des Kirchenbaubooms war das sich bis in on den deutlichsten Einschnitt ihrer Geschichte. Fast alle die 1920er Jahre hinziehende Bestreben vieler dörflicher Klöster und Stifte wurden aufgelöst. Damit war ein wichti- Gemeinschaften, nach Abpfarrung ihre Dorfkapellen zu ei- ges historisches Netz der europäischen Sozialstruktur zer- genen Pfarrkirchen zu erheben. In Stadt und Land ist die rissen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erholte Kombination des Kirchenbaus mit stilistisch gleichen kirch- sich dann die katholische Kirche von diesem Schlag. lichen Gebäuden (Gemeindehaus, Pfarrhaus u.a.) zu Grup- Selbst der schwerwiegende Einbruch im preußischen Kul- penbauten ein wesentlicher, für die Kulturlandschaft be- turkampf konnte letztlich überwunden werden. merkenswerter Entwicklungsstrang. Sichtbaren Ausdruck fand diese Entwicklung auch im Kirchenbau. Eine nie gezählte Menge von Kirchen wurde Klöster und Stifte nun gebaut. Diese entstanden gemäß den Baugepflogen- heiten der Zeit in historisierenden Stilen, man griff also auf Klöster und Stifte gibt es im Rheinland schon im 7. Jahr- Stilformen der Vergangenheit zurück. Dabei war die Wahl hundert. Bereits im 12./13. Jh. ist das ganze Land „flä- des Stiles von besonderem Interesse, denn damit wollten chendeckend“ mit geistlichen Orden belegt. Dabei fällt die die Bauherren etwas zum Ausdruck bringen. Die katholi- ziemlich große Menge an Stiften gegenüber den Klöstern, sche Kirche hat seit den 1850er Jahren bis zum Beginn aber auch der hohe Anteil an Frauenklöstern gegenüber des Ersten Weltkrieges die Neugotik bevorzugt, sie als den Männerklöstern auf. kirchliche Bauform ausdrücklich propagiert. Bewusst hatte man einen Stil des Mittelalters gewählt, weil diese Epoche Die 178 bis ins Zeitalter der Reformation in Westfalen- weit vor den als negativ empfundenen Umbrüchen der In- Lippe bestehenden Klöster und Stifte zeichnen sich bau- dustrialisierung sowie der Reformation lag. Sie galt als ei- lich neben den bei manchen Orden turmlosen Kirchen ne mit Gott im Einklang lebende Zeit und wurde deshalb durch die angefügten Kreuzgänge mit den Räumlichkei- zum Vorbild für die Gegenwart gewählt. Architektur wurde ten der Mönche und Nonnen, Stiftsdamen und Kanoniker zu einem Instrument religiöser Moral. aus. Neben der Eigenwirtschaft mit Vorwerken und Stadt- höfen bildeten die Klöster und Stifte den Bezugspunkt Köln war das bedeutendste Zentrum der Neugotiker, umfangreichen Grundbesitzes mit zahlreichen (im Falle was vor allem am Ausbau des im 16. Jh. unvollendet ge- 54 des Klosters Corvey bis zu 3.000) Bauernhöfen. Betrachtet bliebenen gotischen Kölner Domes ab 1842 lag. August man nur die Kirchenbauten, so sind neben Größenunter- Reichensperger und Vincenz Statz zählten zu den wortge- schieden auch die verschiedenen Anlageschemata bau- waltigsten und einflussreichsten Protagonisten des neugo- lich prägend für die Kulturlandschaft. tischen Stils. Das hatte Einfluss auf den Kirchenbau im ganzen Rheinland. Entscheidend war dabei, dass auch das erzbischöfliche Generalvikariat bei Kirchenneubauten Kloster Ölinghausen auf eine neugotische Bauart drängte. Das ließ sich gewiss Foto: LWL/M. Philipps nicht in allen Fällen durchsetzen, dennoch zeitigte all dies ein nachhaltiges Resultat: überall stehen neugotische Kir- chen. Wir finden sie in den großen Städten ebenso wie auf dem Lande. Gerade in den kleinen Ortschaften fallen sie noch heute besonders auf, weil sie nicht nur das Ortsbild, sondern auch die Landschaft weithin überragen; das gilt beispielsweise für den Niederrhein. Zumeist wurden diese Kirchen aus regionaltypischem Feldbrandstein erbaut, wo- raus sich ihre charakteristische bräunlich-rote Färbung er- klärt. Selbstverständlich gibt es in dieser Region auch ein- drucksvolle historistische Kirchen in anderen Stilformen, vor allem der Neuromanik.

Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Nordrhein-Westfalen

Bereits in den 1920er und 1930er Jahren hatte die Kir- chenarchitektur im Gebiet des späteren Bundeslandes Nordrhein-Westfalen insbesondere im Rheinland mit Archi- tekten wie Dominikus Böhm und Rudolf Schwarz eine ho- he Qualität erreicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten in Rheinland und Westfalen dann zahlreiche zerstörte Kir- chen neu errichtet werden. Gleichzeitig wuchsen die Städ-

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te und Siedlungen, was einen hohen Bedarf an Kirchen- überliefert. Seit dieser Zeit nahmen auch die Wallfahrten ei- neubauten nach sich zog. Als schließlich durch das Wirt- nen neuen Aufschwung, deren Baulichkeiten – Kreuzwege schaftswunder finanzielle Mittel in großer Menge zur Verfü- und Wallfahrtskapellen – aufgrund ihrer Anlage auf Berg- gung standen, war ein fruchtbarer Boden für den Kirchen- kuppen besonders in den katholischen Landesteilen (Sau- bau der Nachkriegszeit gelegt. Fast durchweg bilden heu- erland, Weserbergland, Niederrhein, Bergisches Land) bis te moderne Kirche die Kerne der neuen Siedlungen. Auch heute prägend sind (Kleinenberg, Kevelaer, Neviges). in den historischen, oftmals zerstörten Innenstädten ent- standen Kirchenneubauten, welche die Ortsbilder prägen. Ebenso blühte der Nachkriegskirchenbau auf dem Land. Bildstock im Kölnischen Sauerland Fotos: LWL/M. Philipps Zu den herausragenden Werken aus dieser Zeit zählt St. Engelbert in Köln-Riehl von Dominikus Böhm von 1930-32, denn dieser zentralisierte Bau entspricht bereits allen mo- dernen Anforderungen an die katholische Liturgie, wie sie schließlich im Zweiten Vatikanischen Konzil festgeschrie- ben werden sollten. St. Fronleichnam in Aachen von Ru- dolf Schwarz aus dem Jahr 1930 ist von kubischer, weißer Klarheit und gilt als ein Meilenstein des modernen Kirchen- baus, der sich mit Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp messen kann. Der 1963-69 erbaute Marienwallfahrtsdom in Neviges (Velbert) von Gottfried Böhm prägt als eine kris- tallin aufgetürmte Architekturskulptur die Bergische Land- schaft. Das Ruhrgebiet wiederum weist eine noch kaum ausgemessene Fülle an Kirchenneubauten auf.

Diese Bauwerke werden heute von Architekten, Studen- Christliche und jüdische Friedhöfe ten und Touristen in hoher Zahl aufgesucht. Insbesondere der moderne Kirchenbau im Erzbistum Köln gilt als rich- Seit der karolingischen Zeit bis zum Ende des 18. tungsweisend für den europäischen Sakralbau des 20. Jahrhunderts wurden die Kirchhöfe fast ausschließlich Jahrhunderts. Der moderne Kirchenbau in Nordrhein-West- als Friedhöfe genutzt. Sie waren oftmals von Mauern falen darf darum als ein architektonisches Erbe von epo- umgeben und konnten von Baulichkeiten (Torhaus, Spei- 55 chaler Bedeutung gelten. Moderner Kirchenbau in solcher cher) und Kleinarchitekturen (Beinhaus, Prozessionsanla- Dichte und Qualität ist in Europa einzigartig. Städte und gen) unterschiedlicher Genese und Funktion be- und Landschaften sind von ihm vielfach geprägt. umstanden sein. Auf staatliche Direktive wurden ab ca. 1800 die Friedhöfe in die Randlagen der Dörfer und Städte verlegt (Melatenfriedhof in Köln). Unabhängig von Wallfahrt und Kleindenkmäler der konfessionellen Bindung wurden die streng achsia- len Anlagen des 19. Jahrhunderts in den Städten oft- Das Land weist eine flä- mals mit großen Familiengräbern Gruften oder/und chendeckende Verbreitung Mausoleen entlang von Alleen ausgestattet. von Wallfahrtsorten aus dem Mittelalter und der frühen Neu- zeit auf. Dabei lassen sich in- haltlich und auch chronolo- gisch drei unterschiedliche Friedhof in Hohensyburg Stätten differenzieren: Orte der (alle Fotos) Fotos: LWL/M. Philipps Christus- und Apostelvereh- rung, die es hier nur vereinzelt gibt; Orte oder Reliquienstät- ten, an denen Märtyrer und Heilige verehrt wurden; Orte mit Marienverehrung (meist Wegekreuz im Rheinland frühneuzeitlich), um die sich Foto: LVR/M. Köhmstedt oftmals eine Legende rankt und an denen Bilder oder Sta- tuen angebetet wurden.

Wegekreuze und Bildstöcke, Erinnerungsmale und Hof- kapellen sind überwiegend erst seit dem Zeitalter vertiefter Konfessionalisierung im 17. Jh. in katholischen Regionen

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Jüdische Friedhöfe sind in vielen Städten und Gemeinden diesem Zusammenhang sind einige Grabfunde mit Stein- ein wesentliches Zeugnis für die Sesshaftigkeit dieser Bevöl- beilen als Beigabe und die erwähnten Befestigungen ein- kerungsgruppe seit dem Mittelalter. Meist sind sie seit jeher zelner Siedlungen zu sehen. Die inneren Spannungen vor den Toren der Städte angelegt. Im Unterschied zu den nehmen gegen Ende der Bandkeramik zu Beginn des 5. Synagogen sind zahlreiche jüdische Friedhöfe erhalten. Jahrtausends v. Chr. auch unter sich verändernden klimati- schen Verhältnissen zu.

Jüdischer Friedhof bei Xanten Vergleichbar große umfriedete Anlagen wurden im Jung- Foto: LVR/W. Wegener neolithikum, in der Zeit der Michelsberger Kultur angelegt. Auffallend ist jedoch die teilweise hohe Anzahl an Durch- lässen, die eine gezielte und dauerhafte Verteidigung der Anlagen nicht wahrscheinlich machen.

Im Spätneolithikum, der Zeit der Schnurkeramik und der Glockenbecherkultur, finden sich häufig Steinbeile als Bei- gaben männlicher Bestatteter. Hinzu kommen zahlreiche Einzelfunde von herausragend Bearbeiteten, sog. Streit- beilen, die zu aufwendig hergestellt wurden, um für profa- ne Zwecke bestimmt gewesen zu sein. Anscheinend mani- festierte sich in diesen Funden und Befunden eine stärkere gesellschaftliche Gliederung, die es erforderlich machte, sich und sein Eigentum zu verteidigen.

Metallzeiten

Bereits ab der älteren Bronzezeit lässt sich anhand von Waffenfunden – wie überall in Europa – auch in Nordrhein- Westfalen die Bildung einer Klassengesellschaft mit Krie- gereliten nachweisen. Daraufhin weisen Funde von bron- 56 5.3.2 Militär / Verteidigung zenen Schwertern, Dolchen, Lanzenspitzen und Beilen aus kultischen Deponierungen in Flüssen und Teichen sowie Einführung vereinzelte Waffenfunde, die Beigaben von gestörten Grä- bern darstellen könnten. Zwei der selten belegten Gräber Das menschliche Schutzbedürfnis drückt sich bereits in dieser Zeit waren das je eines Kriegers aus Delbrück-Wes- den ältesten baulichen Anlagen der Jungsteinzeit aus. terloh (Kreis Paderborn) mit Kurzschwert, Beil, Gewandna- Baudetails wie Wall-Graben-Anlagen und hölzerne Palisa- del und Golddrahtspirale sowie aus Langenfeld-Mehlbruch den zur Befestigung von Siedlungsplätzen verdeutlichen (Kreis Mettmann), der mit Dolch und Beil unter einem Grab- dies. Natürliche Schutzlagen wurden durch Kunstbauten hügel bestattet war. Eine weitgehend militärische Funktion verbessert, je nach naturräumlichen Voraussetzungen darf ferner für die Wallburg Schweinskopf in Tecklenburg- durch den Aushub von Gräben, die Umleitung von Was- Brochterbeck (Kreis Steinfurt) postuliert werden, mit der serläufen, die Anhäufung von Wällen und/oder das Auffüh- zwischen 1800 und 1600 v. Chr. ein Passweg durch den ren von Mauern. In diesem Kapitel – im Gegensatz zu Kap. westlichen Teutoburger Wald kontrolliert wurde. 5.3.3 – werden Einrichtungen beschrieben, die dem Schutzbedürfnis einer Gemeinschaft dienen. Aus der jüngeren Bronzezeit liegt aus Hennef-Geistingen ein einzigartiges Kriegergrab von überregionaler Bedeu- tung für das Mittel- und Niederrheingebiet vor. Nicht von Steinzeiten ungefähr endet in Hennef die Ost-West Verbindung der Nutscheidstraße, dem einzigen Höhenweg dieser Zeit Die in den ältesten bandkeramischen Siedlungen nach- durch das Bergische Land nach Osten. Von dem wohl na- gewiesenen Erdbefestigungen aus Wall und Graben sind he gelegenen Wohnsitz des Bestatteten aus konnte die nicht zwangsläufig militärisch im modernen Sinne zu inter- Straße und die Region kontrolliert werden. Der Tote war zu pretieren, aber sie stellen doch Annäherungshindernisse Lebzeiten ein Mitglied einer Adelsschicht. Darauf weisen für Tiere und Menschen dar. Wegen ihrer Geschlossenheit seine Grabbeigaben hin. Neben einigen Keramikgefäßen mit nur wenigen Durchlässen sind sie als Befestigungen war er ausschließlich mit seinen persönlichen Waffen be- der Siedlungen anzusprechen. Aber einige archäologische stattet worden. Dazu gehörten ein Schwert, Pfeile und Bo- Hinweise deuten auf innere Konflikte unter den einzelnen gen sowie ein Lederpanzer. Bronzene Pfeilspitzen weisen bandkeramischen Gruppen hin, die u.a. mit der lang an- auf die Fernwaffe Bogen hin. Bronzebesatzteile können ei- dauernden Siedlungskontinuität und damit aufkommen- nem Lederpanzer zugewiesen werden. In diesen Kontext den gesellschaftlichen Spannungen einhergehen. Auch in gehört auch ein Fund aus Lage-Müssen. Sicher zu der

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Kriegerklasse gehörte(n) der-/diejenigen, der/die in der Die römische Reichsgrenze Spätbronzezeit drei Bronzeschwerter dem Boden in Ha- „Niedergermanischer Limes“ gen-Vorhalle anvertraut haben. Die ausdifferenzierte militärische Organisation der römi- Mit einer Änderung in der Beigabensitte in der Eisenzeit schen Phase bildete Militärlager mitsamt der zugehörigen erlischt in ganz Nordrhein-Westfalen der Nachweis von Infrastruktur wie in Bonn aus. Der Rhein war in römischer Kriegern über ihre Grabbeigaben. Der Fortbestand der Zeit die Reichsgrenze; die Anlagen des niedergermani- Kriegerschicht lässt sich dennoch durch Zufallsfunde und schen Limes mit der diese begleitenden Limesstraße sind der Bau von Wehranlagen belegen. ein frühes Beispiel für auch überregional raumprägende Grenzbefestigungsanlagen. Unterschiede der kulturland- Durch ein Schadfeuer in zwei Siedlungen der jüngeren schaftlichen Struktur des Linksrheinischen und des Rechts- Eisenzeit in Eschweiler-Lohn und -Laurenzberg wurden rheinischen haben auch hier ihre Wurzeln. zahlreiche Waffen verbrannt und somit glücklicherweise überliefert. Waffenfunde in Siedlungen kommen selten vor, Große Flüsse sind durch die verschiedenen Zeiten land- da sie vererbt oder recycelt wurden. Ob das Feuer als Fol- schafts- und kulturprägende Elemente. Sie dienten als Han- ge einer kriegerischen Auseinandersetzung ausbrach ist delswege, Territorialgrenzen, Rohstoff- und Energielieferan- nicht klar. Erhalten waren Teile von eisernen Schwertern ten, waren prägend für die an ihren Ufern lebenden Men- mit Scheiden, Lanzenspitzen, Schildbuckeln und Schil- schen. Für Nordrhein-Westfalen ist dieses Landschaftsele- drandbeschlägen, eisernen Tüllenbeilen, eisernen Pfeil- ment sicherlich der Rhein. Geographisch teilt er das Land spitzen und Ton-Schleuderkugeln, die ein Bild der damali- in zwei Hälften – historisch ist er prägend für die Menschen gen Nah- und Fernwaffen bieten. Pferdetrensen zeigen die in allen Zeitperioden. Doch erst ab der Zeit der römischen Anwesenheit von berittenen Kriegern an, die uns von den Herrschaft wurde er vom Naturelement zum Zivilisationsbe- Kriegsberichten Caesars bekannt sind. standteil. Als Marke in der Landschaft dient der Rhein als Grenzlinie zwischen dem Römischen Reich links des Einen weiteren Einblick in die Bewaffnung der späten Ei- Rheins mit seiner Provinz Germania Inferior (Niedergerma- senzeit bietet der Bauopferfund der Wallburg Wilzenberg nien) und dem germanischen Stammesterritorium der Ger- bei Schmallenberg im Hochsauerlandkreis: zwei eiserne mania magna („Groß Germanien“) im Rechtsrheinischen. Schwerter und vier Lanzenspitzen, die vor der Deponie- rung unter dem Befestigungswall durch gewaltsame Ver- Die Wahl des Flusses als Grenzlinie steht am Ende eines biegung unbrauchbar gemacht worden waren. Aufschluss- Eroberungsprozesses, der ursprünglich die Unterwerfung reich ist auch die Toranlage der Hünenburg bei Gelling- und Eingliederung des Rechtsrheinischen bis an die Elbe 57 hausen (Gem. Borchen, Kreis Paderborn), unter deren abge- vorsah. Beginnend mit den Feldzügen und Brückenschlä- brannten Ruine fünf Lanzenspitzen entdeckt wurden, die gen Caesars während seines gallischen Krieges (58-51 v. wohl bei einem erfolgreichen Angriff verloren gegangen Chr.) über eine Konsolidierungs- und Vorbereitungsphase in waren. den letzten Jahrzehnten vor der Zeitenwende bis hin zu den Eroberungsfeldzügen um die Zeitenwende steht die Rheinli- Seit Beginn der Eisenzeit wurden, wie gerade angedeu- nie als Aufmarsch- und Versorgungsareal im Fokus der rö- tet, zahlreiche Ring- und Abschnittswälle auf den Randhö- mischen Militärpolitik. Es entstehen in Westfalen die Römer- hen der Niederrheinischen Bucht und in Süd- und Ost- lager von Bergkamen-Oberaden und Lünen-Beckinghau- westfalen gebaut. Mit ihren z.T. gestaffelten Gräben, Zwi- sen, Dorsten-Holsterhausen, Haltern, Delbrück-Anreppen schenwällen mit Palisaden und Holzerde-Mauern, die ur- und Rüthen-Kneblinghausen sowie der Militärstützpunkt auf sprünglich Holzbrüstungen trugen, sowie ihren massiven der Sparrenberger Egge in Bielefeld. Mit der einschneiden- Toren, gelegentlich mit Torgassen und Zwingern ausge- den Niederlage des Varus 9 n. Chr. gegen die Germanen stattet, demonstrieren sie profunde wehrtechnische Kennt- und der Aufgabe der Expansionspolitik nach Osten im Jahre nisse. Auch wenn die Ringwälle nicht ausschließlich zu mi- 16 n. Chr. wandelt sich der Rheinverlauf aus der Sicht der litärischen Zwecken gebaut worden sind, demonstrieren Römer von der Verkehrs- zu einer Grenzlinie. Nachweisen sie als Machtsymbol die kriegerische, militärische Ausrich- lässt sich dies anhand eines dauerhaften Ausbaus der Mili- tung der damaligen Gesellschaft. tärstandorte am Rhein, die bisher immer nur als Winterquar- tiere und Aufmarschbasen für die Aktivitäten der Armee Unter der Führung von Ambiorix vernichteten Krieger dienten. Die großen Legionslager erhielten einen festen In- des im Rheinland ansässigen Stammes der Eburonen im nenausbau mit Fachwerkgebäuden, die auf eine längerfristi- Winter 55/54 v. Chr. eineinhalb römische Legionen. Bei ge Stationierung der Einheiten vor Ort schließen lassen. Be- Caesars Vergeltungsfeldzug im darauf folgenden Jahr wur- legt sind noch militärische Aktivitäten im rechtsrheinischen de der Stamm vernichtet bzw. in die Sklaverei verkauft. Da- für den Verlauf des 1. Jahrhunderts durch archäologische mit wurde die seit der Bronzezeit währende Vorherrschaft Befunde und historische Überlieferung, doch ändert sich für der Kriegerschicht im Rheinland beendet. In Westfalen wa- die folgenden 400 Jahre nichts am Rhein als Grenze. ren die meisten der 30 eisenzeitlichen Befestigungen zur Caesars Zeit längst wieder aufgegeben worden – z.T. nach Dafür scheint sich der Raum noch im 1. und vor allem im heftigen Kämpfen (Hünenburg bei Gellinghausen, Gem. Bor- 2. Jh. wirtschaftlich verstärkt zu entwickeln, woran nicht zu- chen, Kreis Paderborn). letzt der Fluss als Handels- und Transportweg einen wichti-

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gen Anteil hat. Die militärische Präsenz am Rhein wird zum Die Größe der nachgewiesenen Lager liegt bei 2,3 bis 2,4 Ende des 1. und Beginn des 2. Jahrhunderts verringert, was ha für die Kohorten (Infanterie) und 3 bis 3,3 ha für die Alen mit der Einrichtung der Provinz Niedergermanien mit dem (Kavallerie). Standardisiert finden sich an allen Kastellplätzen Statthaltersitz in Köln einhergeht. Wirtschaftliche Aktivität im neben den Lagern mindestens ein Badegebäude, eine an- Rechtsrheinischen (Warenaustausch mit den Germanen, Roh- gegliederte Zivilsiedlung und Friedhofsareale. Aus dem Um- stoffgewinnung u.a.) belegt die offene Grenzlinie Rhein. feld der Legionsstandorte kennen wir weitere Bestandteile des militärischen Alltags, so von der Legion betriebene Zie- Erst in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts kommt die geleien oder Übungslager sowie Amphitheater als Element militärische Funktion des Rheins als Grenze wieder zum der Freizeitgestaltung. Tragen. Über 150 Jahre wird der Rheinverlauf wieder Kriegsschauplatz im Kampf zwischen den Römern und Neben den Kastellen der selbständigen Einheiten ken- dem aus dem Rechtsrheinischen eindringenden Germa- nen wir kleinere Anlagen, in die Untereinheiten abkom- nenstamm der „Franken“. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts mandiert wurden. Diese so genannten Kleinkastelle sind schwindet der Einfluss der Römer soweit, dass dann von in Duisburg-Werthausen und Neuss-Reckberg durch Aus- einem Ende des Römischen Reiches am Rhein und der grabungen nachgewiesen, für weitere Orte (Monheim- Funktion des Rheins als Grenze auszugehen ist. Haus Bürgel) können sie aufgrund von Indizien vermutet werden. Überwachungsfunktion hatten ebenfalls Gebäu- Die römische Grenzsicherung des Rheinverlaufs setzt sich dekomplexe in Rheinberg, die jedoch nicht wie die Kas- aus verschiedensten Elementen zusammen. Primär sind da- telle einem Bauschema folgten bzw. fortifikatorisch gesi- bei die Garnisonsorte der stationierten Truppen, die sog. chert waren. Außerdem war der Flusslauf durch eine Ket- Kastelle, zu nennen. Dabei unterscheiden sich die Standorte te von Wachttürmen gesichert, wie sich durch neuere For- der Legionen (ca. 6.000 Mann starke Infanterieeinheiten) von schungen am niederländischen Grenzabschnitt gezeigt denen der Hilfstruppen (Auxilia, ca. 500 Mann starke Infanterie-, hat und wie die beiden bisherigen Turmbelege bei Xan- Kavallerie- oder gemischte Einheiten). Legionslager finden ten-Lüttingen und Neuss-Reckberg für das Rheinland sich in Xanten, Neuss, Köln und Bonn, wobei die Lager nur ebenfalls vermuten lassen. im 1. Jh. n. Chr. gleichzeitig bestanden. Kontinuierlich be- setzt sind die Standorte Xanten und Bonn. Ihre Größe vari- In der Spätantike (4./5. Jh.) werden zum Teil neue Kastel- iert zwischen 24 und 60 ha, wobei letztgenannte Fläche der le zur verstärkten Sicherung der Grenzlinie errichtet. So Größe für zwei Legionen entspricht. Die Hilfstruppen wurden entstehen Anlagen dieser Zeit in Bedburg-Hau-Qualburg zwischen den Legionsstandorten oder bei den Legionen und Monheim-Haus Bürgel, an den bekannten Kastellorten 58 selbst stationiert. Lager dieser Einheiten sind aus Kalkar-Alt- wird die Grenzsicherung verändert oder ausgebaut. kalkar, Moers-Asberg, Krefeld-Gellep, Neuss und Dormagen bekannt, weitere werden in Kleve-Rindern, Wesel-Büderich, Eine andere Art der Flussüberwachung spiegelt sich in Duisburg-Halen, Köln-Worringen und Wesseling lokalisiert. der Existenz einer Flotteneinheit für den Rhein. Die sog.

römisches Lager Vetera I bei Xanten Foto: B. Song Kap_5_2_2.qxp 23.10.2007 11:23 Seite 59

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classis germanica hatte ihr Standlager im Kastell Köln-Alte- Rheinlinie – eine Tradition, die ihren Ursprung möglicher- burg und sorgte von dort aus für die Sicherheit der Fluss- weise in der römischen Grenzlinie haben könnte. grenze und des Verkehrs. Dass der Fluss als Verkehrsweg eine große Rolle spielte, belegt die Existenz verschiedener Die Bedeutung dieses Grenz- und Kulturraums ist auf- Hafenanlagen, die in Xanten, Moers-Asberg, Krefeld-Gel- grund der geschilderten Eigenheiten auf internationalem Ni- lep, Köln und Bonn nachgewiesen werden konnten und für veau anzusiedeln. Teile der römischen Landgrenzen (Hadri- die anderen Kastellorte wohl auch zu vermuten sind. Die ansmauer, Antoninusmauer, beide Großbritannien; Obergerma- Römer bemühten sich, nach ihren Möglichkeiten den Ver- nisch-Raetischer Limes, Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Würt- lauf des Flusses zu sichern, in dem beispielsweise ausge- temberg, Bayern) stehen auf der Liste der Welterbestätten diente Schiffe als Buhnen im Flusslauf versenkt wurden. der UNESCO bzw. sollen auf diese eingetragen werden. An der Donau sehen die Länder Slowakei, Ungarn und Kroatien Verbindendes Element der Grenzsicherung entlang des die gleiche Bedeutung für ihre Flussgrenze und bereiten ei- Flusses war eine Straßenverbindung, die in der Forschung ne Aufnahme vor. Die römische Rheingrenze stellt entspre- heute allgemein als „Limesstraße“ bezeichnet wird. Dabei chend ein völkerverbindendes Element zwischen zwei Län- ist zwischen der Fernverbindungsstrasse Mainz-Köln- dern mit verschiedensten Regionen dar. Nijmegen-Nordseeküste als Hauptweg und östlicher ver- laufender Nebenwege zu unterscheiden. Bei der Fernstra- ße können wir einen frühen Ausbau (spätestens durch den Mittelalter Kaiser Claudius, 42-54 n. Chr.) als Kieskörper mit mehreren Ausbesserungsphasen, seitlichen Straßengräben und zu- Kombinierte Wehranlagen, bestehend aus natürlichen gehörigen (Bau-)Elementen wie Brücken, hölzernen Siche- Schutzlagen und ergänzenden Kunstbauten, wie Gräben, rungseinbauten und Meilensteinen belegen. Von dieser Wällen oder Mauern, haben sich noch aus spätmittelalterli- zweigten Nebenstrecken zu den an der Rheinlinie direkt cher Zeit in einigen Adelsburgen fast komplett bewahren liegenden Kastellen ab, vor allem führte wohl auch eine können (Höhenburg Schnellenberg bei Attendorn, Niede- Straße als „Postenweg“ entlang des Flusslaufes. rungsburg Vischering bei Lüdinghausen). Aber auch zahlrei- che Gräfteanlagen um andere herausgehobene Anwesen Sicher ist der Rheinverlauf nicht als starre, undurchlässi- (Schultenhöfe, Pfarrhöfe) und die kräftigen Mauern um Klo- ge Grenzlinie im Sinne moderner Staatsgrenzen zu verste- sterbezirke und Kirchhöfe bezeugen das Schutzbedürfnis hen. Eine große Zahl römischer Fundgegenständen aus der Menschen. In fast allen Städten sind wenigstens in germanischem Siedlungskontext des Rechtsrheinischen Resten frühneuzeitliche Befestigungsanlagen erhalten. Am spricht für intensive Handelsbeziehungen. Darüber hinaus deutlichsten zeigt Soest das bis ins 16. Jh. hinein immer 59 haben wir auch etliche Belege für die Anwesenheit der Rö- weiter ausgebaute und verstärkte Befestigungssystem der mer selbst auf der anderen Rheinseite. So lässt sich die mit Türmen und Toren bewährten Mauer mit dem vorgela- Existenz militärischer Übungslager durch archäologische gerten Graben-Wall-System. Bestandteil war der äußere Forschung ebenso wie militärische Nutzfläche (Wiesenareal Ring der Landwehren wie sie auch die Gemarkungen länd- der Bonner Legion) auf einer Inschrift belegen. Im Rechts- licher Gemeinschaften umgaben: Wenige Durchlässe in rheinischen scheinen Bodenschätze von den Römern aus- den undurchdringlich bewachsenen Wasser-Graben-Anla- gebeutet worden zu sein, wie Bergbau- und Steinbruchakti- gen (heute Bodendenkmäler) bündelten den so besser zu vitäten dieser Zeit aus dem Bergischen und im Siebenge- kontrollierenden Verkehr; Warttürme (wie sie in größter An- birge ebenso andeuten wie Stempel auf Dachziegeln mit zahl Obermarsberg noch umgeben) sicherten die Kommuni- der Nennung einer tegula transrhenana (Ziegelei auf der ande- kation, in der auch die ebenfalls steinernen Türme der ren Rheinseite). Fast alle bisher nachgewiesenen Aktivitäten Pfarrkirchen einbezogen sein konnten. sind wohl ausschließlich mit dem Militär in Verbindung zu bringen. Nur die Bleigewinnung im Sauerland dürfte das Werk von Germanen gewesen sein. Querschnittskizze der Klevischen Landwehr aus: Horn/Thünker: Zeitmarken/Landmarken, Köln 2000, S. 220 Die römische Grenzsicherung hatte nicht nur Auswir- kungen auf ihre Zeit – ihre Existenz prägte in vielen Facet- ten die nachrömischen Perioden bis in die moderne Kul- turlandschaft. An einigen römischen Militärstandorten entstehen die Keimzellen mittelalterlicher Siedlungen. Teilweise werden die Lager als frühmittelalterliche Adels- sitze genutzt. Das Baumaterial aus hochmittelalterlich bis frühneuzeitlichen Kirch- und Profanbauten stammt aus den abgebrochenen Kastellmauern. Vor allem aber das Verkehrsnetz bleibt bis in moderne Zeiten das gleiche, so dass über 90% des Verlaufs der römischen Limesstraße noch heute als Verlauf von Bundes- und Landesstraßen genutzt wird. Auch historische wie moderne Landes-, Sprach- oder Brauchtumsgrenzen orientieren sich an der

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chen Bevölkerung als Fluchtstätten. Bekannt geworden sind beispielsweise die Erdschanzen bei Rheinberg. Zwischen 1583 bis 1703 kam es hier insgesamt zu 15 Belagerungen und Eroberungen. Die Verteidiger legten einzelne Schanzen und die Belagerer rund um die Stadt weitläufige Erdbefesti- gungen an. Von diesen Anlagen sind heute noch zwei Schanzen in Teilen erhalten. Die Errichtung der Schanze wird traditionell mit dem Namen des spanischen Feldherrn Mendoza verbunden, der Budberg 1598 eroberte. Im Nord- osten von Rheinberg lagen zu beiden Seiten eines alten Rheinstromarmes zwei Schanzen, die Efferschanz und die Speyschanze. Während von der Speyschanze heute keine Erdwälle mehr erhalten sind, sind von der Efferschanz noch die Nordwest- und die Nordosteckbastion der ursprünglich vier Bastionen erhalten. Vor allem die nordöstliche Bastion zeigt auch heute noch den typischen Aufbau einer Spitzbas- tion mit vorgelagertem Graben, Kontereskarpe und Glacis. Landgraben an der Hetter Landwehr Foto: MBV/A. Thünker

Die traditionellen Befestigungsanlagen verloren ihre Wehrfunktion – zumindest für den Fall größerer kriegeri- scher Auseinandersetzungen – mit Veränderungen der Waffentechnik (Verstärkung der Durchschlagskraft von Feuer- waffen) im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts. Städte wurden mit bastionären Befestigungsgürteln umgeben. So wurde Jülich nach dem Stadtbrand von 1547 als fünfeckige Idealstadtanlage mit dem zur Zitadelle ausgebauten Schloss wiedererrichtet. Ebenso ist die Veränderung ables- 60 bar an der Degradierung der Stadtbefestigungen zu Akzi- semauern mit Torschreiberhäusern (Münster, Warendorf) des frühen 19. Jahrhundert. Seit dem 18. Jahrhundert, verstärkt aber bis zum ausgehenden 19. Jh. erfolgte vielfach die Um- wandlung der Stadtbefestigungsanlagen zu Promenaden.

Im Zusammenhang militärischen Auseinandersetzungen zum Ende des 16. Jahrhunderts gelangten Schanzen zu großer militärpolitischer Bedeutung. Sie wurden zur Siche- rung von Gebieten und Städten angelegt, oder, im kleineren Burg und Schanze Lipperode bei Lippstadt-Lipperode Rahmen, in unzugänglichen Feuchtgebieten, von der ländli- aus: Horn/Thünker: Zeitmarken/Landmarken, Köln 2000, S. 128

Burg und Schanze Lipperode bei Lippstadt-Lipperode Foto: MBV/A. Thünker

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Im Zusam- ihres Schleifens 1763 – um die Stadt Lippstadt besonders menhang mit deutlich noch ablesbar. Im 19. Jh. war Minden der zentrale dem niederlän- befestigte Platz Westfalens, von dem besonders die drei dischen Befrei- erhaltenen Forts um den Bahnhof und die Defensionska- ungskrieg und serne an der „Hausberger Front“ zeugen. den Glaubens- auseinanderset- Im Rheinland hatten in französischer Zeit zahlreiche Be- zungen in Kur- festigungen die Funktion der Grenzsicherung verloren und köln (Truchsessi- wurden geschleift. Unter preußischer Herrschaft wurden die scher Krieg) ent- Schleifungen der Festungsanlagen mit Ausnahme von We- standen seit sel fortgesetzt. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts unter Hasewitz-Schanze an der 1586 in Schen- spanischer und niederländischer Herrschaft bereits stark Fossa Eugeniana bei Issum Foto: LVR/W. Wegener kenschanz um- befestigt, war Wesel in der Nachfolgezeit – seit 1667 bran- fangreiche Fes- denburgisch-preußisch – zur Festungsstadt mit Zitadelle tungsanlagen. Martin Schenk von Nideggen erkannte die ausgebaut worden. Nach dem erneuten Festungsbau unter strategisch günstige Lage im Trennungsbereich von Rhein französischer Herrschaft (1808-1814) folgte 1816-1870 ein und Waal und errichtet innerhalb weniger Monate eine weiterer Ausbau in preußischer Zeit zur Sicherung der erste Befestigung, die nunmehr nach dem Erbauer be- Westgrenze. Späte preußische Militärbaukunst zeigt der nannt wurde. Im Auftrag der Vereinigten Generalstaaten Ausbau Kölns zur Festungsstadt ab 1872 mit Anlage des erfolgte 1589 durch den bedeutenden Festungsbauer Festungsgürtels entlang des heutigen Militärrings. Adrian Anthonisz. ein Ausbau als zweiteilige Anlage. 1635 eroberten spanische Truppen in einem Überraschungsan- In Minden ist auch die größte Zahl früher Militärbauten griff die für uneinnehmbar geltende Festung. Zur Wieder- (Kasernen, Depots, Versorgungsgebäude) aus dem frühen 19. gewinnung dieses bedeutenden Platzes legten die nieder- Jh. erhalten. Sieht man von Pulvertürmen, Rüstkammern, ländischen Truppen weitreichende Befestigungswerke Zeughäusern u.a. ab, so sind Bauten des Militärs erst mit und Schützengräben an, allerdings gelang die Rücker- der Aufstellung fester Heere entstanden: die Kaserne von oberung erst nach neunmonatiger Belagerung. Mit Ende 1775 in Bielefeld ist nicht nur im erhaltenen Bestand das frü- des Dreißigjährigen Krieges verlor auch Schenkenschanz heste Beispiel der Gattung in Westfalen-Lippe. Kasernen- seine besondere strategische Bedeutung, blieb aber wei- bauten des späten 19. Jahrhunderts sind noch auf relativ ter im Besitz der Generalstaaten. wenige Standorte beschränkt (Minden, Münster, Düsseldorf). 61 Zu den zumeist wenig bekannten Bunkeranlagen aus Wälle der frühneuzeitlichen Schanze „Dicker Schlag“ Wilhelminischer Zeit gehören die Befestigungen in einem bei Freudenberg-Hochhain Foto: MBV/A. Thünker Wald nordöstlich von Emmerich-Elten. In diesem ausge- dehnten Waldgebiet haben sich nur noch in Rudimenten Teile des Befestigungssystems erhalten, das aus einzel- nen Bunkern und Schützengräben bestand. Mehr als 90 Jahre sind seit ihrer Erbauung vergangen, ohne dass die- ser Anlage bisher Beachtung geschenkt wurde. Dies liegt darin begründet, dass diese ersten, nach 1914 errichteten Bunker an der Grenze zu den Niederlande liegen, militä- risch keine Bedeutung hatten und mit dieser Zeitepoche des Ersten Weltkrieges Bunkerstellungen nicht in Verbin- dung gebracht werden. Nach dem Versailler Vertrag war es dem Deutschen Reich nicht erlaubt Befestigungsanla- gen an der Deutschen Westgrenze zu unterhalten. Betrof- fen davon waren auch die Unterstände im Bereich von El- ten. Ein entsprechender Befehl zur Sprengung erging am 8. Dezember 1920.

Erst im Zuge der Planungen zum Zweiten Weltkrieg wur- de insbesondere Westfalen-Lippe mit einem dichten Netz an großflächigen Kasernen überzogen. Denkmalwert sind Kasernen und Kommandozentralen der verschiedensten Neuzeit Waffengattungen (Herford, Lippstadt, Siegen, Soest) bis hin zu Luftwaffenkaserne mit Hangars (Detmold) und dem älte- Mit dem Entstehen des Absolutismus galt die Verteidi- ren, nach 1936 noch einmal vergrößerten Truppenübungs- gungsbemühung nicht mehr der einzelnen Siedlung, son- platz in der Senne. Als Schutzanlagen dieser Zeit sind dern dem Territorium als Ganzem: Die sich auf wenige zahlreiche Bunker erhalten, von denen die Hochbunker oft Plätze beschränkende sternförmige Fortifikation ist – trotz auch städtebaulich wirksam platziert wurden.

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Übersichtskarte zu den Befestigungsanlagen im Bereich des ehemaligen Westwalls, Rheinisches Amt für Bodendenkmalpflege

Nasser Panzergraben des Westwalls in der Ruraue bei Hückelhoven Foto: LVR/W. Wegener

Höckerlinie des Westwalls im Kreis Aachen Foto: LVR/W. Wegener

Ab 1938 wurde an der Westgrenze des Deutschen Rei- ches von den Niederlanden bis zur Schweiz der sog. Westwall als Befestigungssystem aus Bunkern und Pan- zersperren gebaut. Die Befestigung bestand aus einer Reihe von baulichen und technischen Anlagen, die durch eine Vielzahl von Erdbefestigungen wie Schütz- gräben und Schützenlöchern im Gelände ergänzt und so zu einer tief gestaffelten Befestigungslinie wurde. Sie er- strecken sich entlang der belgischen und niederländi- schen Grenze in einer Breite von einigen hundert Me- tern. Von Mönchengladbach im Norden bis Schmidtheim im Süden wurden 15 bis 30 km hinter dem Westwall die Bunkeranlagen der Luftverteidigungszone West errichtet. Der 1942 für Nachtjäger angelegte Flugplatz in der Ven- loer Heide sollte dem Schutz des Ruhrgebietes vor Luft- angriffen dienen.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Kasernen stellten Toten als wertvolle Beigaben sowie Metalldeponie- mit zugehörigen Wohnsiedlungen als militärische Standorte rungen in die reiche Grabausstattung mitgegeben. der Besatzungsmächte gebaut. Das Areal der Wahner Hei- de war Übungsplatz belgischer Truppen. In Mönchenglad- Es kam zu lokalen und regionalen Gebietsaufteilungen. bach-Rheindahlen entstand als planmäßige Anlage im Wald Die Führungsschicht kontrollierte die Transportwege, über das Nato-Hauptquartier mit Hospital (Joint Headquarter – die der Güterstrom mit Metallobjekten und anderen Han- JHQ). Für die 1955 geschaffene Bundeswehr mussten teil- delswaren stattfand (Wallburg Schweinskopf). Ausdruck der weise neue Kasernen errichtet werden, weil die vorhande- neuen Machtstrukturen und dem damit verbundenen nen meist von den alliierten Streitkräften genutzt wurden. Schutz- und Abgrenzungsbedürfnis des eigenen Besitzstan- Die Bauten sind von wesentlich bescheidenerem architekto- des sind die Befestigungsanlagen an exponierten Stellen nischem Anspruch, aber dem landschaftsgebundenen Bau- wie Flussübergängen und Höhenwegen. Die Metallgewin- en verpflichtet. Im „Kalten Krieg“ entstanden seit den nung (Bergbau) und Weiterverarbeitung von Bronze und Ei- 1960er Jahren Stationen für den Abschuss von Abwehrra- sen führte zu einer Arbeitsaufteilung und Spezialisierung keten mit Atomsprengköpfen, die unterirdische Lager und des Handwerks. Die Schmiedekunst nahm einen rasanten Abschussrampen sowie Mannschaftsgebäude umfassten Aufschwung und war in der Bevölkerung hoch geachtet, wie (Schöppingen, Münster-Handorf, Marienheide). Radaranlagen Gräber mit Schmiedewerkzeugbeigaben belegen. Qualität- (Goch, Schwerte) sollten den Luftraum überwachen. Diese voll gearbeitete und verzierte Metallgefäße und Schmuck im hatten zum Teil obertägig große geodätische Kuppeln, die Anklang an mediterrane Vorbilder bzw. aus dem Mittelmeer- ein neuartiges Element in der Militärarchitektur bildeten. raum importiert waren Kostbarkeiten, die der Elite vorbehal- Warnanlagen (Meinerzhagen) sollten das Militär informieren ten waren. Dies setzt einen intensiven Ideentransfer als auch und die Hilfsdienste koordinieren. Atomwaffen wurden de- weitreichende Handelskontakte im europäischen Raum in zentral gelagert (Dülmen). Kommandostände und Nachrich- der Bronze- und nachfolgenden Eisenzeit voraus. tenstellen waren in unterirdischen „Atombunkern“ unterge- bracht (Nordkirchen). Das gesamte Gemeinschaftsleben musste gut durch- strukturiert sein, um die Ernährung der Bevölkerung, auch Nach Beendigung des Kalten Krieges 1991 sind zahlrei- der nicht in der Landwirtschaft tätigen, eines Gebietes zu che Kasernenanlagen, Raketenstationen, Bunker, Flugplät- gewährleisten. Einen weiteren Einblick in die Organisation ze und andere Einrichtungen vom Militär aufgegeben und und Planung geben Großprojekte wie die Durchführung für eine zivile Nutzung freigegeben worden. Aufgrund der von Bauvorhaben wie Ringwällen, Gräberfeldern, die von Satellitenbeobachtung sind zudem die nachrichtentechni- mehreren zeitgleichen Siedlungen als Bestattungsplatz ge- schen Anlagen überholt; die meisten sind abgebaut. Den- nutzt wurden und lokalen Zentren (Dörfer und Wallburgen), 63 noch gehören die militärischen Anlagen immer noch zu die nach außen hin mit Wall, Graben und Palisaden die prägenden Elementen der Kulturlandschaft. einzelnen Machtansprüche demonstrierten.

Die Kontinuität der Besiedlung – gekennzeichnet vom 5.3.3 Herrschaft / Verwaltung / Recht Einzelgehöft der älteren Bronzezeit hin zum Dorf am Ende der Eisenzeit – sind archäologisch in so genannten Sied- Einführung lungskammern in einigen Teilregionen von Nordrhein- Westfalen gut erforscht und zeichnen die Entwicklung und Die Regulierung des politischen und gesellschaftlichen Aufbau dieser sozialen Strukturen im Laufe der Metallzei- Lebens hat sich im Laufe der historischen Kulturlandschafts- ten nach. So bleibt in Westfalen das Einzelgehöft bis zur entwicklung in einer Vielzahl von Elementen niedergeschla- Römischen Kaiserzeit die Regel. Mehrgehöftsiedlungen gen, wie den Burgen und Schlössern, Residenzanlagen sind hingegen seltener, regelrechte Dörfer mit Gemein- (Kleve), Amts- und Verwaltungssitzen (Stadthaus), Gerichts- schaftseinrichtungen kommen nicht vor. Insbesondere im und Hinrichtungsstätten (Galgen, Galgenhügel u.a.), Bannbe- Sandmünsterland erreichen diese Siedlungsplätze riesige zirken usw. Bereits in römischer Zeit war das Prätorium in Ausmaße, da die Gebäude der landwirtschaftlichen Einhei- Köln ein Verwaltungszentrum mit weitem Einzugsbereich. ten in großem Abstand zueinander errichtetet wurden. Eine soziale Differenzierung kann aber im Siedlungswesen nicht beobachtet werden. Da gleichzeitige Burgen oder Vorgeschichte Herrenhöfe fehlen, muss bis auf weiteres von einer weitge- hend egalitären Gesellschaft ausgegangen werden. Während in den Steinzeiten bislang kaum erkennbare gesellschaftliche Differenzierungen nachzuweisen sind, fin- Eine Festigung territorialer Gebietsansprüche unter loka- det bereits ab der älteren Bronzezeit mit der Kenntnis der ler Führung sowie deren Organisation auf höherer Ebene Metallverarbeitung die Bildung einer Klassengesellschaft, in einem größeren Raum führte am Ende der Eisenzeit im die hierarchisch aufgebaut war wie überall in Europa, statt. Rheinland bis hin zur eigenen Münzemission. Wirtschaft Dies führte zu einer Elitenbildung, wie lokalen Stammes- und Handel wurden in den Metallzeiten kontinuierlich auf- fürsten (Häuptlinge) und einer Kriegerschicht, die archäolo- und ausgebaut und erlebten bis hin zur römischen Okku- gisch über die Bestattungssitten zu erfassen sind. Presti- pation eine bis dato nie gekannte Blütezeit, die sich auf al- geobjekte, Statussymbole, wurden dem sozial höherge- le Lebensbereiche der ansässigen Bevölkerung auswirkte.

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Es kann von einer Vererbung des Besitzes innerhalb einer Familie ausgegangen werden, archäologisch über mit ei- nem Graben umgebene Höfe, die kleine Territorien darstel- len, nachweisbar, der zu einem gewissen Wohlstand einzel- ner Bevölkerungsgruppen führte. Historische Schriftsteller berichten über Stammesbildungen, territoriale Stammes- grenzen, kriegerische Auseinandersetzungen im Kampf um die Vormachtstellung und das soziale Gefüge im keltisch (Süden) und im germanisch (Norden) beeinflussten Raum.

Römerzeit

Erst in der Spätantike (3. bis 5. Jahrhundert) kam es ne- ben dem Ausbau der Reichgrenze zu zusätzlichen militäri- schen und zivilen Sicherungsmaßnahmen im Landesin- Archäologisch erfasste mittelalterliche Niede- nern. Entlang den wichtigsten Überlandstraßen wurden be- rungsburgen (Motten) im Kreis Heinsberg festigte Sicherungsposten (Burgi) errichtet. Hierbei handel- Foto: Rheinisches Amt für Bodendenkmalpflege te es sich um turmartige Befestigungen, die von einem Gra- ben umgeben waren. Aber auch die Zivilbevölkerung ergriff Selbstschutzmaßnahmen. In unmittelbarer Nachbarschaft Weitere Flächenbur- zu den bestehenden Landgütern finden sich zivile Burgi, in gen, die heute als Wall- die sich die Bevölkerung bei Gefahr zurückziehen konnte. burgen in Erscheinung treten, entstanden im 10. Jh. (Werl, Laer-Ol- Burgen des Frühmittelalters denburg, Marl-Sinsen), die Gründe hierfür sind Aus dem westfälischen Teil des Landes sind etwa 50 Wall- noch weitgehend unbe- burgen bekannt, die aus dem Früh- bis Hochmittelalter stam- kannt. Häufig zeigen men; manche waren bereits in der Vorrömischen Eisenzeit jüngere Kernwerke, die 64 erstmals genutzt worden. Ein Teil von ihnen ist vor der Ein- Zweiteilige Niederungsmotte bei Vorde in die Flächenburgen gliederung in das Karolingerreich, errichtet worden. Diese Be- Foto: LVR/T. Könings eingebaut wurden, den festigungen zeichnen sich durch ihre Ausdehnung aus und Übergang von der waren wohl als Volks- und Fliehburgen gedacht (Dortmund- „Volksburg“ zur „Adels- Hohensyburg, Marsberg-Obermarsberg, Warburg-Gaulskopf). burg“. Im späten Hochmittelalter kommen Turmhügelbur- Die Franken Karl des Großen eroberten sie, nutzten sie weiter gen, sog. Motten auf, die – wie durch Grabungen belegt und verkleinerten sie, um sie als Stützpunkte der Macht ver- (Münster-Haskenau, Gelsenkirchen-Horst) – oft auf unbefes- wenden zu können. Weitere Befestigungen entstanden dann tigten, älteren Hofanlagen gründen. Sie zeigen das Erstar- wie die Domburgen (Paderborn, Münster), die dazu dienten, ken des lokalen Kleinadels, hervorgerufen durch eine das Machtgefüge des damaligen Reiches zu verstärken. schwache Zentralmacht. Aus vielen dieser Turmhügelbur- gen gehen später die zunächst fortifikatorisch, später re- präsentativ ausgerichteten Ritterburgen (Tecklenburg, Lü- Dortmund, Burg Hohensyburg dinghausen-Burg Vischering) und Wasserschlösser (Nordkir- Foto: LWL/M. Philipps chen, Schloss Neuhaus) hervor, die vor allem für das Müns- terland charakteristisch sind.

Burgen und Schlösser

Burgen und Schlösser stellen die wichtigste Gattung profaner Baudenkmäler für die vergangenen tausend Jah- re dar. Sie repräsentieren durch ihre absolute Zahl wie durch ihre relative Dichte (eine der burgenreichsten Land- schaften Europas) die Entwicklung von Geschichte, Gesell- schaft, Wirtschaft und Kultur und sind nicht nur zum signifi- kanten Merkmal einer historischen Kulturlandschaft gewor- den, sondern mehr noch zu Kulminationspunkten dieser Landschaften. Burgen sind in der hiesigen Definition be- festigte Wohnbauten des Adels und entwickelten sich mit diesem als dessen spezifische Standesarchitektur. Unter

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den Bauten des Adels kann grob zwischen landesherrli- Burgen, vorzugsweise in der Art der zur Standardform ge- chen Burgen und Schlössern einerseits und den Sitzen wordenen zweiteiligen Wasserburg. Edelfreier bzw. des ministerialen Adels unterschieden wer- den, wenngleich nicht selten Übereinstimmungen in der Im 10./11. Jh. vollzieht sich auch in dem Gebiet, das Genese wie in der späteren baulichen Ausbildung vorlie- heute Westfalen-Lippe genannt wird, der Wandel von den gen. Hier wird der Blick primär auf die außerstädtischen – als archäologische Denkmäler fassbaren – Volksburgen Anlagen gerichtet, die jedoch gelegentlich Freiheiten oder zu den Dynastenburgen einzelner Herrengeschlechter, die Städte nach sich ziehen konnten. Städtische Adelshöfe im 12. Jh. aufgrund ihres Allodialbesitzes und ihrer Grafen- und Burgmannssitze sind ebenso in anderem Zusammen- rechte deutlich als Territorialherren in Erscheinung treten. hang abgehandelt wie die Klöster und Stifte als Bauten ei- Verstärkten Schutz boten die Motten durch den Ausbau ner weiteren, nicht ausschließlich adeligen Lebensform. zur Ringmauer- bzw. Ringmantelburg: Der Fuß des Hügels wurde mit einer Mauer umgeben und mit dem Erdreich der Die ersten adeligen Befestigungsbauten entstanden im 9. Kuppe hinterfüllt (Isselburg-)Anholt, (Borken-)Gemen, nach Jh. als Reaktion auf die Normanneneinfälle und bestanden Grabungsbefunden. In einer anderen Form verbesserter europaweit aus schnell befestigten Erdhügeln, die bald mit Sicherung wurden um den Kern der Anlage nach außen festen Turmbauten bestückt wurden. Diese „Motten“ legte wehrhafte, am Hügelrand stumpfwinklig aneinander sto- man in die Nähe der Siedlungen und unbefestigten Edelhö- ßende Gebäude errichtet („Amtshaus“ Lüdinghausen). Eine fe des frühen Adels, der Edelherren. Eine Ausnahme stellt genuine Ringmantelburg ist die 1271 gegründete Burg (Lü- die als Reaktion auf die Normanneneinfälle errichtete und dinghausen-)Vischering mit kreisförmiger Schildmauer, hin- nur kurzfristig belegte Burg Broich (Mülheim a.d. Ruhr) dar, ter der die Burghäuser ursprünglich wohl nicht sichtbar die bereits aus einen aus Bruchsteinen bestehenden Turm- waren. Der Typ lebte unter französischem Einfluss im 15. bau mit steinerner Umfassungsmauer bestand. Sie sollte Jh. in eckiger Form mit von Türmen besetzten Mauern wie- den Ruhr-Übergang im Zuge des Hellweges sichern. der auf, bei der Landesburg (Hörstel-)Bevergern.

Die anfänglich reinen Spätestens im 12. Jahrhundert entwickelte sich aus den Wehrbauten der Motten Motten der massive Wehrturm (Bergfried). Die dazugehöri- lösten im Rheinland ab gen Wohn-, Wirtschafts- und Vorratshäuser waren – wie bei dem 10. Jh. die Edelhö- den Höhenburgen – in einem Vorhof oder auf getrennter fe als Wohnsitze ab und Insel vorgelagert. Die Anlagen waren zuerst in der Hand wurden im Laufe der von Edelfreien, ab dem 13. Jh. auch von Vasallen u. a. weiteren Entwicklung (Haus Mark bei Hamm). Ab dem 14. Jh. wurden massive 65 um eine Wirtschaftsvor- Turmhäuser errichtet, in denen die Wohnverhältnisse burg und Wohngebäu- noch der Wehrhaftigkeit unterworfen waren. Der Typ blieb de erweitert, im Flach- bis ins 16. Jh. gebräuchlich (Beverungen, (Marienmünster-) land alles von Wasser- Ruine der Burg Frielingsdorf Oldenburg, (Salzkotten-)Dreckburg, (Höxter-)Tonenburg/Abtei gräben geschützt. Hö- bei Lindlar Corvey, (Hattingen-)Altendorf)). henburgen blieben Foto: MBV/A. Thünker noch die Ausnahme Der Sturz Heinrichs des Löwen begünstigte die Bil- (Tomburg, 10. Jh.) und den königlichen Stellvertretern, den dung weiterer Territorien: Grafen von der Mark (Altena und Pfalzgrafen, vorbehalten. Diese wie auch die Königsgewalt Mark als Stammburgen, Schwarzenberg, Wetter, Volmarstein, wurden in der Mitte des 11. Jahrhunderts endgültig von Blankenstein, Hohensyburg), Herzogtum Westfalen (Arns- den lokalen Gewalten aus dem Rheinland vertrieben, womit berg, Eversberg, Fredeburg, Bilstein, Hovestadt, Schnellen- die Zersplitterung in viele kleinere Herrschaften begann. berg), Tecklenburg, Ravensberg (Ravensberg, Limberg, Spätestens im 12. Jh. verlegten die mächtigeren Edelher- Vlotho, Sparrenburg). ren ihre Burgen auf natürliche Höhen und installierten von hieraus dauerhafte Herrschaften (Grafen von Berg, Grafen Ein selbständiges Territorium konnten im 12. Jh. die von Blankenheim, Grafen von Jülich, Grafen von Maubach, Edelherren zur Lippe ausbilden mit Brake, Blomberg, Herren von Reifferscheidt). Sternberg, Varenholz und Detmold als Residenzen.

Diese Burgen entstanden aus topographischen Gründen In den frühen Jahrhunderten boten die schwer zugängli- alle als Spornburgen auf annähernd ovalem Grundriss im chen Höhenburgen mit dem Wehrturm als zentralem Ele- Typ der Ringmauerburg mit freistehendem Bergfried, mög- ment den besseren Schutz. Sie wurden durch Mauerzüge lichst mit angeschlossener Siedlung, später Stadt. Die we- mit gesicherten Toranlagen und Trockengräben bewehrt. nigen Reichsburgen (Bergstein, Kaiserswerth, Kerpen, Duis- Seit Ende des 15. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der burg) verloren ihre Bedeutung schnell. Die Erzbischöfe von Feuerwaffen wurden sie fortifikatorisch bedeutungslos, Köln stützten sich von Anfang an auf befestigte Städte und dienten (wie auch so manche Landesburg in der Ebene) als Stadtburgen, für die sie den Kastelltyp bevorzugten (Leche- Verwaltungssitz. Nur bisweilen wurden sie festungsmäßig nich, Zons, Kempen, Zülpich). Seit dem 12. Jh. trat der Mi- verstärkt. Doch blieben besonders im Bergland Höhenbur- nisterialadel oder niedere Adel als Burgenbauherr in Er- gen in Benutzung und wurden zu bequemeren Schlössern scheinung und baute in der Folge 95% der rheinischen umgebaut. Dies trifft bezüglich der Höhenburgen insbe-

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sondere auf die Residenzen kleinerer Territorien, aber desherrliche Renaissancebauten wie Kleve, Düsseldorf auch kleinere Herrschaften wie beispielsweise die Hinnen- oder Jülich blieben hochkarätige Ausnahmen. oder die Erpernburg zu. Das Burgenbaurecht verliehen die Landesherren, z.T. Niederungsburgen im Flachland und den Flussauen erfor- wurde es auch angemaßt. Es kam zur Ausbildung eige- derten zur Sicherung umfangreiche Wasser- und Erdbauten ner Herrlichkeiten und Gerichte, beispielsweise Bodel- sowie technisch schwierige Fundamentierungen auf Holz- schwingh, Strünkede, Freiheit Westerholt, Herrlichkeiten rosten, erwiesen sich aber auf Dauer schon allein wegen Lembeck, Harkotten, Herrschaftsgebiete Erpernburg und der besseren Möglichkeiten zur Erweiterung wandlungsfähi- Hinnenburg. Ein Erstarken der Landstände ist ab dem ger und blieben bis weit in die Neuzeit lebensfähig. 14. Jh. zu beobachten. Der Dienstadel saß bis weit ins 13. Jh. auf umgräfteten Landgütern. Ihre Gebäude lagen Im durch die Territorialkriege vom 13. - 15. Jh. entstande- abgesehen von einem Speicher mit eigenem Grabenring nen Machtvakuum konnte der rheinische Adel weitgehend auf einer Insel, von Wällen und Gräften umgeben. Be- ungestört auf seinen Ländereien kleinere Burgen errichten, reits als befestigte Burgen gebaute Anlagen scheinen in meist ausgehend vom einfachen Burghaus oder Turmhaus der Regel das Wohnhaus von den Wirtschaftsgebäuden mit vorgelagerter dreiflügeliger Vorburg, die bis zum Ende getrennt in einer Erweiterung der Gräfte, direkt im Was- der Bauaufgabe Adelssitz unverändert und verbindlich ser, auf Pfahlrosten errichtet zu haben. Herrenhausinseln blieb. Das Herrenhaus variierte vom Burghaus zum Winkel- entstanden nachträglich durch Verlandung oder Auf- bau mit oder ohne Ecktürme und Wehrmauern, verzichtete schüttung. Im Laufe der Zeit traten ebenfalls getrennt lie- aber mit wenigen Ausnahmen (Harff, Zievel, Boetzelaer) auf gende Garteninseln hinzu. eigenständige Bergfriede als einer Bauform des Hochadels, der früheren Edelherren. Sehr selten adaptierte der Nieder- Im Zuge der Ausbildung stabiler Territorien bis zum 15. Jh. adel Bauformen des Hochadels wie das Kastell (Moyland). kam den rasch vermehrten Burgen als befestigten Plätzen – Hoch- und Niederadel sind seit dem 12. Jh. streng getrenn- neben den ummauerten Städten – eine herausragende Be- te Klassen mit jeweils eigener Architektur. Hochadelsarchi- deutung zu. Beispielsweise erlangte das Oberstift Münster tektur ging in Landesburgen, Festungen und Residenzsch- territoriale Hoheitsrechte. In seinen Grenzen behaupteten lösser über, Niederadelsarchitektur beschränkte sich auf die sich auf Dauer nur die Edelherren von Gemen und die Gra- Rittersitze, die seit dem 14. Jh. von den Landesherren allge- fen von Steinfurt. Bischöflich-landesherrliche Residenzen in mein vom Allod zum Lehen herabgestuft und in die Landes- Stromberg, Sassenberg, Wolbeck, Hausdülmen. Die Bischo- verfassungen eingebunden wurden. fe von Paderborn und Minden bildeten weitere Territorien mit 66 Beverungen, (Bad Driburg-)Dringenberg, (Paderborn-)Neu- Diese Rittersitze wurden zu Mittelpunkten kleiner Herr- haus, (Büren-)Wewelsburg; Petershagen, Rahden, (Petersha- schaftsbezirke mit weitreichenden Rechten und Einkünften gen-)Schlüsselburg. und demzufolge als Herrschaftsbauten immer weiter mo- dernisiert und repräsentativer, auch komfortabler ausge- Die bauliche Ausbildung der Burgen war von den topo- staltet. Da der Status der Zugehörigkeit eines Adeligen graphischen Verhältnissen abhängig. So sind im Oberstift zum jeweiligen Landtag am Besitz einer bestimmten Burg nur die Landesburg Stromberg und die Burg der Grafen hing, mussten Standort und Substanz der Burg unverän- von Cappenberg als Höhenburgen zu nennen. Die Ravens- dert bleiben. Neubauten an anderer Stelle waren von da- berger dagegen bevorzugten diesen Typ, die ältere Ra- her kaum möglich, das Weiterbauen an der überkomme- vensburg in ovaler, der jüngere Limberg in eckiger Form. nen Burg wurde zur Regel. Von Die mittelalterlichen Burgen waren reine Zweckbauten Mönchengladbach-Rheydt, Schloss der vielteiligen ohne künstlerischen Aufwand. Die Wohn- und Kapellentür- Foto: LVR/J. Gregori Konglomerat- me von Rheda und Burgsteinfurt setzen sich deutlich ab. burg des Spät- Die meist schwach befestigten Wasserburgen wurden in mittelalters der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch Erdwälle, (Adendorf, Boet- Bastionstürme u.a. gegen Feuerwaffen gesichert, während zelaer) versuchte gleichzeitig die Gebäude bereits mit großen Fenstern geöff- der ritterschaft- net waren. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts veränderten lich organisierte sich die Anlagen zu offenen Schlössern, ohne jedoch die Adelige seine Standesmerkmale, vor allem Wassergräben mit Stauen und Burg im Renais- Mühlen, Torhäuser, Zugbrücken und Türme mit Schieß- sancestil zu mo- scharten aufzugeben. dernisieren (Rheydt, Bed- Markstein im mittleren 16. Jh. war Schloss Horst als burg). Es blieb schmuckreicher Vierflügelbau mit Pavillontürmen. Meist jedoch im Allge- handelt es sich jedoch um Anlagen, die regulierend verein- meinen bei for- heitlicht wurden (Ausbau von Schloss Neuhaus (Paderborn), malen Überar- Lippetal-Assen). Vierflügelanlagen wurden noch bis weit ins beitungen. Lan- 17. Jh. errichtet, zuletzt in Westerwinkel (Ascheberg-Herbern).

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Jagdschlösser als weitere Elemente herrschaftlicher Le- führt wurden. Gelegentlich liegen in Nachbarschaft Wohn- bensführung, die zwischenzeitlich auch als Witwen- oder häuser für abhängige Landarbeiterfamilien. Wohnsitze von Nebenlinien dienen konnten, sind seit dem ausgehenden 16. Jh. überliefert, z.B. (Arnsberg-)Obereimer; Zum adeligen Selbstverständnis gehörte schon in früher Hövelhof, (Bad Berleberg-)Schwarzenau. Sie zeigen zwar – Zeit der Gottesdienst in eigener Kapelle entweder in die oftmals in Fachwerk errichtet – bescheidenere Bauformen, Wohnbauten integriert oder als selbständiger Baukörper. jedoch gleichfalls landschaftsarchitektonische Einbindung Weiträumige Park- und Gartenanlagen mit Lustbauten, ((Schlangen-)Oesterholz mit Fürstenallee). Ungewöhnlich in Orangerien, Erbbegräbnissen u.a. ergänzen in neuerer der Form auf sechseckiger Insel in einem ehemals ge- Zeit (17./18. Jh.) die Organismen. schlossenen Kranz von Wirtschaftsgebäuden präsentiert sich Schloss Holte. Pauschal ist festzustellen, dass die herrschaftlichen Bau- ten und solche mit Sonderfunktionen (Renteien, Archive) in Die Edelsitze entwickelten sich in der Regel aus sog. Fes- der Regel massiv (Naturstein oder Ziegel) errichtet, während ten Häusern – Wohnturm oder zweigeschossiges Haus –, die landwirtschaftlichen Nutzbauten in größerem Umfang die gelegentlich in späteren Erweiterungen überdauert ha- den bäuerlichen Gepflogenheiten entsprechend in Fach- ben. Es entstand ein zweiflügeliger Herrenhaustyp mit Trep- werkbauweise ausgeführt wurden. Ausnahmen sind penturm im Winkel (Petershagen, Olfen, Haus Sandfort). Be- gleichwohl zahlreich sowohl was fachwerkene Herrenhäu- sonders hervorzuheben ist das bereits um 1520 begonne- ser (Häuser Vorhelm, Pustekrey, Grevenburg) als auch massi- ne Schloss als vierflügelige Anlage unter französi- ve Wirtschaftsgebäude betrifft. schem Einfluss mit einem niedrigen Arkadenflügel und Rundtürmen an den Ecken. Nicht übersehen werden darf in Mit dem 18. Jh. als einer Periode langjährigen Friedens der Entwicklung auch das ältere Schloss Nordkirchen, und ungestörter Prosperität begann die Blütezeit rheini- 1703 für den Neubau abgebrochen. scher Adelsarchitektur. Die landesherrlichen Schlösser Bonn, Poppelsdorf, Brühl, Bensberg und Benrath erreich- Im Barockzeitalter wurde wegen der zahlreichen Kriege ten und markierten europäisches Spitzenniveau, während wenig gebaut, bis in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- der Adel auf seinen ländlichen Sitzen nach Lebenslust, derts die rheinischen Landesherren den allgegenwärtigen Eleganz und Komfort strebte, ohne Tradition und ritterliche Zerstörungen mit Neubauten begegneten (Alt-Benrath, Selbstdarstellung zu vernachlässigen. Moderne Landhäu- Bonn, Dyck). Der Adel nutzte die Phasen des Friedens und ser im französischen Stil mit den unvermeidlichen rheini- erneuerte viele Herrensitze in gemäßigter Moderne (Gartrop, schen Abwandlungen entstanden (Müddersheim, Roesberg, Eicks, Ehreshoven, Merode), wobei immer Ort und Substanz Türnich, Miel), basierend auf dem französischen Idealtyp 67 des Altbaues angemessen berücksichtigt wurden. der Maison de Plaisance, in der im Rheinland adelige Le- bensform zur Kunst stilisiert wurde. Repräsentative Achsbezüge finden im Verlauf des 17. Jahrhunderts auch in Westfalen Eingang in die Baukunst Viele Um- und Ausbauten bestehender Anlagen wurden der sich nun in die Landschaft öffnenden Schlösser, wofür bei aller Kompromisshaftigkeit zu Höhepunkten rheini- dreiflügelige Anlagen besonders geeignet waren. Für das scher Profanarchitektur (Lüftelberg Kleinbüllesheim, Wahn). „moderne“ französisch geprägte Schloss mit weitem Eh- Mit dem Einmarsch der französischen Revolutionsarmee renhof und Steigerung der Baumassen steht in Westfalen im Rheinland und dem Ende des Ancien Régime kam das ab 1703 neu errichtete Schloss Nordkirchen als her- auch das Ende adeliger Architektur als Machtsetzung und vorragendes Beispiel. Bestandteile barocker Prachtentfal- Bedeutungsträger. tung sind die regelmäßige Gruppierung der Wirtschaftsbe- reiche und die Anordnung repräsentativer An- und Auf- Während der französischen Besetzung wurde nicht ge- fahrten sowie weitläufiger Gärten. Eine individuelle Son- baut, da der Adel als Stand aufgehoben war und sich un- derlösung bietet Schloss Lembeck mit einer weit in das auffällig verhalten musste. Umland ausgreifenden, die Gebäude durchdringenden Erschließung. Eine Fülle kleiner Herrensitze erlangte Seit den Jahren um 1800 verdrängten Landschaftsgär- durch Um- bzw. Neubau eine plastische Durchbildung im ten die geometrischen Parkanlagen und veränderten das Sinne barocker Prachtentfaltung. Erscheinungsbild der Schlösser und Herrensitze. Nur eine kleine Anzahl klassizistischer Herrenhäuser ist zu verzeich- Adelige Lebensgrundlage war an erster Stelle der Land- nen, die – ausgestattet mit Säulenstellungen, Dreiecksgie- besitz in land- und forstwirtschaftlicher Nutzung, die zu- beln u.a. –, in der Regel den Typ des schlichten Rechteck- mindest teilweise im Eigenbetrieb vonstatten ging. Dem- hauses tradieren. entsprechend sind die mit der Hauptburg verbundenen Vor-, Unter- oder Wirtschaftsburgen, aber auch die Vor- In Folge des Reichsdeputationsschlusses von 1803 ist die werke für das Verständnis der funktionalen Zusammen- Geschichte der westfälischen Burgen und Schlösser der un- hänge von äußerster Wichtigkeit. Bauhäuser, Scheunen, tergegangenen Landesherrschaften von Umnutzungen meist Mühlen für unterschiedliche Nutzungen, Gewächshäuser für öffentliche Zwecke geprägt (Münster, (Paderborn-)Schloss u.a. bilden den Baubestand dieser Wirtschaftseinrichtun- Neuhaus). Die aufsteigende Industrie bewirkte eine Privatisie- gen, die häufig von einer Rentei in eigenem Gebäude ge- rung für ihre Funktionen (Witten, Wetter, Sassenberg).

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Schloss Herdringen Foto: LWL/M. Philipps

Von den relativ wenigen Um- und Neubaumaßnahmen ken ausformulierte, oder Schloss Frens, dessen im 16. Jh. seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist an erster Stelle begonnen Renaissanceanlage 1838-50 nach Erweiterungen Herdringen als burgenähnlicher historisierender Schloss- im 17. Jh. endlich zu Ende gebaut und ganz der Renais- bau von 1854 mit allen Elementen deutscher Ritterroman- sanceerscheinung verpflichtet wurde. Andere Häuser, wie tik zu nennen. Abgesehen von echter Frömmigkeit ließ Mit- Schloss Moyland, das, ursprünglich ein spätgotisches Kas- 68 telalterbegeisterung neuromanische und -gotische tell, im 17. Jh. zum Barockschloss überformt wurde, erhielt Schlosskapellen ebenso entstehen wie 1890 das Jagd- durch den Kölner Dombaumeister E. F. Zwirner ein neugoti- schloss (Möhnesee-)Wilhelmsruh oder zu Beginn des 20. sches Gewand und ließ dadurch seine lange Tradition – und Jahrhunderts Schloss Wildenburg in Olsberg-Brunskap- dadurch die ritterliche Legitimität seiner Besitzer – wieder pel. Die romantisierende Neuinterpretation von Burg Alte- aufscheinen. Etwa 150 rheinische Herrensitze erfuhren Um- na in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg wurde überre- gestaltungen dieser Art, womit gleichzeitig eine Umstruktu- gional heiß diskutiert. rierung der Innenorganisation nach dem viktorianischen Vor- bild einer höchst ausdifferenzierten adeligen Lebenskultur Im Zentrum stehen jedoch seit weit über 100 Jahren die einherging, die dem rheinischen Schlossbau das Gepräge Bemühungen um einen zeugnisfähigen Erhalt der Ge- äußerster Komplexität und gleichzeitig das inhaltlich vorge- schichtlichkeit von Schloss- und Adelsbauten. Dies gebene Ende seiner Bauform bescherte. Mit dem Ende der schließt eine Ergänzung für neue Zwecke in moderner For- Monarchie 1918 und der Aufhebung des Adels als Stand mensprache nicht aus, wie das Beispiel der im 19. Jh. ein- 1920 war die Architekturform Adelssitz abgeschlossen. gestürzten, bzw. im Zweiten Weltkrieg zerstörten ehemali- gen Wasserburgen (Gelsenkirchen-)Horst und Witten Ende des 20. Jahrhunderts zeigt. Landwehren

Seit dem Übergang des Rheinlandes an Preußen 1815 Landwehren sind bestimmende Elemente des landes- identifizierte sich der rheinische Adel zunehmend mit seiner herrschaftlichen Ausbaues im ausgehenden Mittelalter. neuen Rolle als weitgehend entmachtete, aber immer noch Große Teilstücke dieser Systeme sind in den Kreisen Kle- elitäre Gesellschaftsschicht mit Vorbildwirkung, die auf sei- ve, Viersen und Wesel sowie um Höxter, um Paderborn ner langen und ruhmreichen Geschichte beruhte. Dement- und im Münsterland sowie mit der sog. Siegener Hecke im sprechend änderte er seine Baumethoden, und, anstatt wie Siegerland (Kreis Siegen-Wittgenstein) erhalten. Im Oberber- bisher, angeregt von äußeren Einflüssen, seine Burgen zu gischen und in Wuppertal sind noch einzelne Abschnitte modifizieren und zu modernisieren, begann er sie zu Denk- der Bergischen Landwehr vorhanden. mälern seiner eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer selbst zu überformen, zu Eigendenkmälern. Dabei entstan- Landwehren wurden im Spätmittelalter und in der frühen den großartige Schöpfungen wie Kalkum, dessen winkelför- Neuzeit im unmittelbaren Bereich von Stadt-, Kirchspiel-, miger Altbau ab 1816 zu einer breiten Schlossfassade ver- Gerichts- oder Territorialgrenzen errichtet und bis in das doppelt wurde und damit den angedachten Schlossgedan- 17. Jh. hinein genutzt. Mit solchen Sperrwerken, die durch

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gien in geordneten hierarchischen Abhängigkeiten, dane- ben viele weitere vorbildliche Detaillösungen verwaltungs- technischer Anforderungen und Angelegenheiten des öf- fentlichen Interesses gehen auf die Verwaltung des römi- schen Staates zurück.

Polizei und Feuerwehr, öffentliche Gesundheitsfürsorge, Wasserversorgung und Geldwesen, Straßenverwaltung und die Errichtung öffentlicher Bauten finden sich neben vielen anderen in der Verwaltung des Imperiums erstmals oder erstmals nachhaltig geregelt und organisiert. Die Ge- staltung von Verträgen, Verkauf und Haftung, Klageerhe- bung, Entschädigung und Erbe sind nur einige Rechtsge- Hasewitz-Schanze an der Fossa Eugeniana bei Issum schäfte zwischen Zivilpersonen, die im römischen Recht Foto: LVR/W. Wegener systematisch und eindeutig geregelt werden. Daneben finden sich weitere Regelungen zwischen der Privatper- son und der Staatsgewalt. Auch die Bereiche des heuti- undurchdringliche Hainbuchen- und Weißdornhecken auf gen Vereins- und Bodenrechtes werden behandelt. den Wallkronen zusätzlich gesichert waren, wurde der Ver- kehr gezwungen, die an den Durchlässen liegenden Zoll- Nach dem Ende der römischen Herrschaft verloren römi- stellen zu passieren. Neben diesen dominierenden fiskali- sches Recht und römische Verwaltung in der Organisation schen Gründen bestand ihre Aufgabe auch darin, die Be- der Staaten für Jahrhunderte ihre Bedeutung. Anders ver- weglichkeit feindlicher Verbände einzuschränken und terri- hält es sich in der mittlerweile erstarkten Organisation der toriale Ansprüche festzulegen. Die Landwehren bestehen christlichen Kirche. Noch unter dem römischen Imperium zumeist aus mehreren Wällen und Gräben. Die Wallbreiten entstanden, bezieht die christliche Kirche ihre innere Ord- variieren zwischen 4,0 und 7,0 m bei einer Wallhöhe von nung sowohl bei der Organisation als auch bei Rechts- und 0,5 bis 1,5 m. Die Grabenbreiten betragen 2,5 bis 5,0 m Gewaltfragen aus der römischen Rechts- und Verwaltungs- bei einer Tiefe von 0,5 bis 1,0 m. systematik. Als maßgebliche Trägerin von sozialen und kul- turellen Aufgaben im mittelalterlichen Staat wirkt sie damit Im Münsterland waren die Landwehren als frühe Wallhe- als tradierende Kraft für antikes Gedankengut. Schrift und cken prägend für das Bild der Landschaft – die berühmte Sprache des römischen Staates werden ureigener Be- 69 Münsterländer Parklandschaft. standteil der Kirche. Damit werden am Rande theologischer Gelehrsamkeit auch andere wissenschaftliche Disziplinen wie Medizin und Rechtswissenschaft sowie Rhetorik tradiert Öffentliche Verwaltung und Justiz und erhalten. Ab dem 11. Jh. wird dann wieder in Bologna römisches Recht studiert, das zunehmend regional und Effizienz, Bestand und Nachwirkung des antiken römi- auch vielfach nach den jeweiligen Bedürfnissen verändert schen Staatsgebildes gründeten sich neben seinen militä- in der Praxis Anwendung findet. Mit der Renaissance, dem rischen Fähigkeiten und der Wirkung einzelner herausra- Humanismus und der Aufklärung nimmt die Bedeutung des gender Führungspersönlichkeiten insbesondere auf die antiken Rechts sprunghaft zu, so dass ab dem 16. Jh. in Qualitäten des römische Rechtssystems und der Reichs- ganz Europa wieder modifiziertes römisches Recht gilt, das verwaltung. Beide Bereiche wurden in ihrer gegenseitigen als Gemeines Recht oder Ius commune bezeichnet wurde. Ergänzung und Bedingung damals erstmalig und – das Recht betreffend – in wissenschaftlicher Form organisiert, Das römische Recht wurde in besonderem Maße in beschrieben und umgesetzt. Ihre Leitlinien und Grundge- Deutschland zur Grundlage der frühneuzeitlichen Recht- danken sowie ihre Systematik finden noch heute in den wissenschaft und Rechtsprechung. Die Rechtsliteratur ent- Rechtssystemen und Staatsorganisationen weltweit An- wickelte sich erst ab dem 13. Jh. durch erklärende Hinzu- wendung. Insbesondere Europa hat dieses Erbe bewahrt. fügungen zu den Urtexten, sog. Glossen, weiter. Die Glos- sen des Bolognesers Accursius wurde zur allgemeingülti- Römische Verwaltungsprinzipien und Organisationsfor- gen Kommentierung (glossa ordinaria) des Codex Iuris und men der römischen Staatsverwaltung gelten z.T. noch damit besonders einflussreich bei späteren Bearbeitungen heute oder liegen geltenden Regelungen zu Grunde: römischer Rechtstexte. Rechtsgebundenes Handeln der Staatsgewalt, die Institu- tion von Magistraten und Beamten, die Innere Ordnung Abgelöst wurde das römische Recht erst im 18./19. Jh. der Armee und ihr Verhältnis zur politischen Führung, die durch die Zivilrechtskodifikation in der Folge der Französi- Institution von Fiskalbehörden mit dem Census als Ermitt- schen Revolution. In manchen Gebieten Deutschlands galt lung der Besteuerungsgrundlagen, die Gestaltung der Be- das römische Recht noch bis zum Inkrafttreten des Bürger- steuerung insgesamt nach Person, Besitzstand oder Wa- lichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900. Auf dem Gebiet rengruppenabhängigkeit und Areal, die Delegation von der staatlichen Verwaltung brachte die Französische Revo- Aufgaben und Pflichten sowie von Rechten und Privile- lution mit der Abkehr vom Feudalstaat und der Wende hin

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Arnsberg, Bezirksregierung Landeshaus des Arnsberg, „Alte“ Regierung Foto: LWL/M. Philipps Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe Foto: LWL/M. Philipps Foto: LWL/M. Philipps

zu dem römischen Vorbild der Republik eine Renaissance chencharakter aus einem breiten Sockel öffentlicher römischer Verwaltungsmodelle und Begriffe bis hin zur na- Räume prägend (in Düren, Lünen, Münster). Auch im poleonisch interpretierten Funktion eines „Ersten Konsuls“. staatlichen Bereich führt das Anwachsen der Verwaltung zu einer Differenzierung der Strukturen bis hin zur bauli- Bauten mit der Primärfunktion für die Tätigkeit von ver- chen Loslösung von Spezialbehörden. Die Belange der schiedenen Zweigen der öffentlichen Verwaltungen sind Post haben schon in vorindustrieller Zeit mit den beiden erst im 19. Jh. als eigene Gattung ausgebildet. Angesichts wichtigen Postdiensten, der Thurn- und Taxis’schen des geringen Umfangs von Verwaltungstätigkeiten genüg- Reichspost und der preußische Staatspost, zu charakte- 70 ten in den früheren Epochen oftmals Schreibstuben u.a. in ristischen Baulichkeiten geführt. Mit dem Monopol der Gebäuden mit anderen Primärfunktionen. preußischen Post für die Rheinlande und Westfalen seit 1815 wurden Brief- und Paketpostämter, vermehrt nach In den städtischen Rathäusern dominierten die Funktio- 1870, errichtet. Neubauten, vor allem in den 1920er Jah- nen der Versammlung, des Festes und der Repräsentation ren, haben ihre Ursache nicht nur in einer Vermehrung oder des Verkaufs vor denen von Polizei und Gericht. des Postverkehrs, wofür Lager-, Umschlag- und KFZ-Hal- len benötigt wurden, sondern vor allem in der Verbrei- Das „Herrschaftliche Directorial-Gebäude“ mit Verwal- tung des Telefons (Vermittlungszentralen). tungsräumen, der Wohnung des fürstlichen Kanzleidirek- tors und der Münze in Rietberg (zwischen 1720 und 1746) und danach das preußische Regierungsgebäude zu Min- Bauten der Justiz den (1842) sind die ältesten öffentlichen Verwaltungsbau- ten in Westfalen-Lippe. Das erste preußische Regierungs- Aus älterer Zeit sind Monumente insbesondere aus dem gebäude im Rheinland wurde bereits 1823 in Düsseldorf Bereich der städtischen Justiz erhalten, von deren Eigen- und 1828 in Aachen errichtet. Die möglichst repräsentative ständigkeit bis heute mehrere spätmittelalterliche Roland- Lage im Siedlungsgefüge bleibt bis weit ins 20. Jh. hinein Statuen in Westfalen zeugen. Zeugnisse der Bestrafung ebenso charakteristisch wie, für die gesamte Baugattung, seit dem Mittelalter sind u.a. die vereinzelt erhaltenen die breit gelagerte Front. Schandpfähle (Bonn, Siegburg) und die Kerker in Stadttür- men oder kellerartigen Verliesen, wie sie sich besonders Im 19. und 20. Jh. kommt es im kommunalen Bereich häufig als Zeugnisse der adeligen Gerichtsbarkeit in den zur Ausgliederung von Funktionen mit Neubauten etwa mittelalterlichen Burgen erhalten haben. von Polizeipräsidien oder von „Stadthäusern“ als reinen Verwaltungsgebäuden (Bonn). Die historischen Rathäu- Separate Gerichtsgebäude für die einzelnen Sparten ser werden dann unter Bezug auf frühere Blütezeiten und Instanzen entstehen in größerer Zahl erst ab der städtischer Eigenständigkeit wieder ganz auf die Funkti- Mitte des 19. Jahrhunderts (Arnsberg, Bonn, Elberfeld, on als Sitzungs- und Repräsentationsbauten reduziert. Köln) mit einer Bauwelle nach 1870 (Aachen, Brilon, Für die multifunktionalen und damit wieder „kompletten“ Unna). Kleinere Amts- und Kreisgerichte waren oftmals Rathausneubauten der Zeit nach 1945 wird gelegentlich auch mit der Dienstvilla des obersten Richters sowie bis- das Herauswachsen eines Verwaltungshochhauses als weilen mit separaten Arrestgebäuden verbunden (Rhein- weithin sichtbarer optischer Bezugpunkt mit Wahrzei- bach 1901, Petershagen 1912).

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Münster, Prinzipalmarkt Foto: LWL/M. Philipps

Seit dem 19. Jh. sind neuzeitliche Gefängnisse baulich Topographisches Zeugnis des Handels im öffentlichen überliefert, von den wenigen Arrestlokalen bei örtlichen Ge- Raum sind in allen Städten bis heute die zumeist zentral ge- richten bis zu den großen Zentralgefängnissen und Zucht- legenen Marktplätze, zu denen in größeren Städten kleinere häusern in sternförmiger Anlage. Die Polizeipräsidien der Plätze für den Verkauf von einzelnen Waren (Butter, Fisch) Großstädte (Bochum 1929, Barmen 1936, Remscheid 1926) treten können. Von den auf den Plätzen fest installierten sind oft als Sinnbilder obrigkeitlicher Stärke gestaltet. Verkaufseinrichtungen (Scharne, Gademe, Fisch- und 71 Fleischbänke) wurden in Westfalen-Lippe die letzten (etwa in Minden) im Verlauf des 19. Jahrhunderts abgebrochen. So Bauten des Handels und der Dienstleitungen zeugen baulich heute nur noch offene Erdgeschoss-Hallen einiger am Markt stehender Rathäuser (Attendorn, Schwerte) Eigenständige Bauten des Handels und der Dienstleis- vom Handel in öffentlichen Gebäuden. In der größten Han- tungen sind ab dem Mittelalter überliefert. Bis in die Neu- delsstadt Nordrhein-Westfalens, der durch die Rheinlage zeit spielte sich der Handel einerseits im öffentlichen Raum und dem Stapelrecht begünstigten Stadt Köln entstand ein und in öffentlichen Gebäuden, andererseits in den Privat- differenziertes Netz von Markplätzen und eine Gruppe von häusern der Handeltreibenden ab. mehreren mittelalterlichen Stapel-, Lager- und Kaufhäusern. Das ehemalige Fischkaufhaus – später Stapelhaus – am Rhein und der im Erdgeschoß für Lagerzwecke genutzte Münster, Prinzipalmarkt Gürzenich verweisen auf diese Bautengruppe. Foto: LWL/M. Philipps Auf den Handel in den Privathäusern deuten bis heute die Dielentore, Speicherböden frühneuzeitlicher Kaufmanns- häuser, oft verbunden mit Kranbalken und Keller, hin. Der Girkeller in Köln ist einer der größeren erhaltenen privaten Lagerflächen aus mittelalterlicher Zeit. Spätestens im Ver- lauf des 18. Jahrhunderts wurden von den geräumigen Die- len neben Kontoren auch spezielle Ladenräume abgeteilt. Schaufenster als äußere Hinweise sind jedoch erst seit dem frühen 19. Jh. überliefert (Höxter, Westerbachstraße 34). In größerem Umfang sind Schaufenster und andere Werbeein- richtungen, oft durch Umbauten von Erdgeschossen, erst eine Folge der 1869 durchgesetzten Gewerbefreiheit.

Die Entwicklung seit dem ausgehenden 19. Jh., das Mehrsparten-Kaufhaus in zumeist zentraler Lage, ist auch in Nordrhein-Westfalen mit hervorragenden Beispielen

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überliefert. Das Spektrum reicht von den aus örtlichen Wur- Städte. Herausragende Bedeutung als Standort von Ver- zeln gewachsenen Häusern der Klein- und Mittelstädte (Kon- waltungsbauten erlangte Düsseldorf als „Schreibtisch des sumverein Lüdenscheid 1892, Iserlohn 1902, Ahlen 1906, Atten- Ruhrgebiets“. dorn 1909/10) bis zu den Häusern der großen Ketten in den Großstädten (Düsseldorf: Tietz 1907, und Carsch 1913; Köln: Gute Beispiele für private Verwaltungsgebäude finden Tietz 1912; Dortmund: Althoff / Karstadt 1910/11; Recklinghau- sich auch in Klein- und Mittelstädten. In der Zeit nach dem sen 1911). Erhaltene Beispiele aus der Wiederaufbauzeit Zweiten Weltkrieg überformen die Hochhausbauten priva- nach dem Zweiten Weltkrieg sind das Textilhaus Boecker in ter Verwaltungen die überlieferten Stadtsilhouetten (Köln, Bielefeld, Karstadt in Herne 1960/61, Kaufhof in Köln 1957. Düsseldorf, Dortmund).

Eine besondere Baugattung an der Schnittstelle zwi- schen Dienstleistung und Verwaltung stellen die Gebäude der Sparkassen und Banken mit ihren Schalterhallen dar, die seit der Zeit um 1900 dicht überliefert sind. Die Räum- 5.4 Wirtschaftlich orientierte Funktionsbereiche lichkeiten der nach der Mitte des 19. Jahrhunderts fast flä- chendeckend entstandenen Sparkassen sind als gemein- 5.4.1 Land- und Forstwirtschaft nützige Einrichtungen im ländlichen und kleinstädtischen Bereich oftmals in Gebäude mit anderen öffentlichen Nut- Einführung zungen (Amtssparkasse Dortmund-Aplerbeck 1914 und Ems- detten 1919) integriert. Zu starken Einrichtungen herange- Diese Funktionsbereiche haben als größte Raumnutzer wachsen, stehen die Sparkassen der Großstädte (Lünen mit zahlreichen punktuellen, linienförmigen und vor allem 1909, Rheine 1912 ff., Dortmund 1921-24, Bielefeld 1928- flächenhaften Elementen die Kulturlandschaftsentwicklung 29/1954-62) in ihrem baulichen Anspruch dem der privaten und das Landschaftsbild sehr stark geprägt. Die Agrarnut- Bankhäuser (Essener Kreditanstalt 1901; Recklinghausen zung ist für die Bestimmung einer historischen Kulturland- 1898, Barmer Bankverein/Commerzbank Düsseldorf 1912, schaft maßgeblich. Mit der neolithischen Landwirtschaft Deutsche Bank Hemer 1922/23, Dortmunder Bankverein transformierte der Mensch die ihn umgebende Landschaft 1930/31) nicht nach. Insbesondere die zahlreichen, bis zur durch agrartechnische Kultivierung. Diese Funktion besteht Weltwirtschaftskrise 1927 errichteten Filialen der Reichs- im Bereich der Börden somit über Jahrtausende hinweg. bank künden von der wirtschaftlichen Bedeutung der gro- Bis ca. 1880 war die Landwirtschaft wiederum abhängig ßen und mittleren Handelsplätze. von der Nutzung größerer Allmendflächen, die im 18. und 72 19. Jh. vielerorts aus Heide- und Ödlandflächen bestanden.

Verwaltung Durch Flurbereinigungen und Mechanisierung wurden seit ca. 1880 bereits viele seit dem Mittelalter entstandene Wie bei der öffentlichen Hand war auch bei der Privatwirt- Flur- und Wegesysteme, Raine und Terrassen, bäuerliche schaft der Umfang an Verwaltungstätigkeit bis ins ausgehen- Nutzwälder und Wallhecken beseitigt. Heute kommt deren de 18. Jh. so gering, dass kaum eigene Baulichkeiten dafür Erhaltung eine große Bedeutung zu. benötigt wurden. Immerhin kennzeichnen eigene Eingänge die Kontorbereiche in den Häusern der Manufakturen. Die agrarische Bausubstanz wurde insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts und vor allem nach 1955 auf- Für die Verwaltung der adeligen Güter wurden vereinzelt grund der starken Mechanisierung und der enormen Re- noch im 17. Jh., im 18. Jh., überwiegend jedoch in der ers- duktion der Arbeitsplätze sehr stark verändert. Der Funkti- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts Renteien erbaut (17. Jh.: onswandel der einst bäuerlichen Siedlungen zu Wohnvor- Brakel-Bellersen, Abbenburg; Marsberg-Canstein. 18. Jh.: Nie- orten der größeren Städte im Verlaufe des letzten Viertels heim-Holzhausen und -Mersheim; Rüthen-Kallenhardt, Schloss des 20. Jahrhunderts hat neben siedlungsstrukturellen Körtlinghausen; Schloss Nordkirchen 1725; Olsberg, Haus- Veränderungen auch in der agrarischen Bausubstanz sei- Bruchhausen 1788. 19. Jh.: Schloss Höllinghofen in Arnsberg- ne Spuren hinterlassen. Voswinkel 1833). Die von Überbewirtschaftung und Ausbeutung geprägte Dagegen blieb bis weit in das 19. Jh. hinein in den Wirt- Waldwirtschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit schafts- und Handelsbetrieben das Nebeneinander von wurde von einer nachhaltig geplanten Forstwirtschaft er- Wohnen, Lagern und Verwalten charakteristisch (Reidemeis- setzt, die von der neu eingerichteten preußischen Forstver- ter der Metallverarbeitung, Textilverleger, u.a.m.). Selbst die waltung vorangetrieben wurde. Seit der ersten Hälfte des Salinen als über Jahrhunderte größte Wirtschaftsbetriebe in 19. Jahrhunderts wurden großflächig Heide- und Ödland- Westfalen erreichten im ausgehenden 18. Jh. eine Größe, flächen vor allem mit Nadelgehölzen aufgeforstet, die seit- die eigenständige Verwaltungsbauten erforderlich machte dem das Landschaftsbild mitprägen. (Werl 1782-84, (Unna-)Königsborn 1816). Gerade im Bereich der nicht gebauten Relikte des kultu- Im späten 19. Jh. erfolgte die Verlagerung der Verwal- rellen Erbes der Region, die oft in Zusammenhang mit der tungen von den Betriebsstätten in zentralere Lagen der land- oder forstwirtschaftlichen Nutzung stehen, ist eine

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vordringliche Erfassung notwendig, da diese Elemente und Strukturen oft unwissentlich beseitigt werden.

Land- und Forstwirtschaft für Nahrungsmittelproduktion

Steinzeiten

Im Paläo- und Mesolithikum bildeten Jagd und Fisch- fang die wichtigste Subsistenzgrundlage; sie wurde durch Sammeln pflanzlicher Nahrungsmittel ergänzt. Bei der Fra- ge nach potentiellen Spuren des Vorganges „Jagd“ als Ausdruck kulturlandschaftsprägender Funktionsbereiche stoßen wir schnell an Grenzen der Kenntnisse. Hier sind als einzige Zeugen neben den Resten von Waffen diejeni- gen der Jagdbeute zu nennen. Reste solcher Objekte aus organischen Materialien können sich nur in Feuchtsedi- menten, d.h. in den Fluss- und Bachauen erhalten. Nord- Die Kartsteinhöhlen bei Mechernich-Weyer, Kreis Euskirchen; rhein-westfälische Fundstellen mit Resten der Jagdtierfau- Übersichtslageskizze na sind immer noch außerordentlich selten. Für das Jung- aus: Horn/Thünker: Zeitmarken/Landmarken, Köln 2000, S. 148 paläolithikum sind u.a. der Fundplatz Lommersum und die Kartsteinhöhle, beide Kreis Euskirchen zu nennen. Hinwei- Mesolithischer Fischfang ist durch Funde von Fischspee- se auf die Jagdbeute mittelsteinzeitlicher Jäger stammen ren und Angelhaken aus Ablagerungen von Lippe und Ems von Bedburg-Könighoven, Rhein-Erft-Kreis, Gustorf, Rhein- nachgewiesen. Regelrechte Installationen in Form von Kreis Neuss, Blätterhöhle/Hagen und Oelde, Kreis Waren- Fischwehren und Reusen, aber auch die ersten, zweifels- dorf. In Neuss-Hombroich konnte nachgewiesen werden, freien Wasserfahrzeuge in Form von Einbäumen konnten dass die frühholozänen Jäger und Sammler ganz bewusst für diese Zeit in den benachbarten Niederlanden entdeckt das Feuer zur Schaffung von Lichtungen in den sich nun- werden. Auch hier gilt wieder, dass sich naturgemäß solche mehr ausbreitenden Waldbeständen nutzten. Ein ähnli- Objekte nur in Feuchtsedimenten von Auen erhalten. ches „Ressourcenmanagement“ scheint sich auch für das Spätmesolithikum des Westmünsterlands anhand eines Neben der Landwirtschaft spielen im Neolithikum auch 73 Pollenprofils aus dem Zwillbrocker Venn abzuzeichnen. Jagd und Fischfang eine durchaus bedeutende Rolle. Ne- ben der klassischen „Versorgungsjagd“ tritt nun auch die „Schutzjagd“ auf, das heißt der Einsatz jagdlicher Maßnah- Das Umfeld der Kartsteinhöhlen bei Mechernich-Weyer men zum Schutz von Feldern und Gärten vor Übergriffen Foto: MBV/A. Thünker durch Wildtiere. Freilich lassen sich Spuren solcher Aktio- nen zumindest nicht direkt fassen.

Gegenüber den Jägern und Sammlern des Paläolithi- kums und Mesolithikums ist in der Jungsteinzeit, dem Neolithikum, die sesshafte Lebensweise mit Nahrungspro- duktion das wesentliche Kriterium. Eine stabile Nahrungs- gewinnung bildete die Grundlage für eine Vermehrung der Bevölkerung. Demzufolge entstanden zunächst kleine Siedlungskammern nach Rodung der Wälder. Durch die Bevölkerungszunahme während des Altneolithikums ent- wickelten sich Einzelhöfe und Siedlungen zu Dörfern und „Städten“: zentralen Orten, die Aufgaben für die kleineren Dörfer wahrnahmen. Verschiedene Ansätze der Entwick- lung der Kulturlandschaft wurden während des Neolithi- kums verfolgt, die nicht aufeinander aufbauten. Die Stand- ortkriterien waren dabei eng an die Sicherstellung der Le- bensgrundlage gebunden, das heißt an optimale Bedin- gungen für Ackerbau. Die landwirtschaftlich genutzten Flä- chen des Neolithikums sind eng an die Siedlungen ge- knüpft. Beschränkt sich der Ackerbau in der Bandkeramik zunächst auf die fruchtbaren Lössbörden, dehnt er sich im Laufe des Mittelneolithikums auch auf weniger fruchtbare Böden und bis in die Mittelgebirge aus. Die besonders fruchtbaren Böden der Lössbörden werden auch heute

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noch landwirtschaftlich genutzt und das Landschaftsbild fung und zur Schweinemast nutzbar ist. Rodungsinseln mit durch die intensive Nutzung geprägt. Das Relief erfuhr ackerbaulicher Nutzung sind auf den Lössflächen anzuneh- durch Erosionsprozesse eine Veränderung. men, wie auch in den Mittelgebirgen. In der Eifel ist durch die Rodung der Lindenwälder erstmals die Buche nach- Der bandkeramische Getreideanbau basierte auf den weisbar. Die Wirtschaftsweise der zur selben Zeit in Westfa- beiden Weizenarten Einkorn und Emmer und erforderte len ansässigen Trichterbecherkultur und der Wartberggrup- die fast ganzjährige Pflege und Anwesenheit der Men- pe ist noch ungenügend bekannt. In Gräbern entdeckter schen. Dabei ist die starke Bindung an den sehr fruchtba- Schmuck aus Tierzähnen sowie Jagdwaffen, aber auch Be- ren Boden auf den Lössflächen feststellbar. funde aus dem benachbarten Niedersachsen und den Nie- derlanden scheinen auf eine höhere Bedeutung von Jagd Neben dem Getreide bildeten die eiweißreichen Hülsen- und Fischfang hinzudeuten. Bodenkundliche Beobachtun- früchte Erbse und Linse einen weiteren Nahrungsgrund- gen unter norddeutschen Großsteingräbern legen den stock. Sie wurden vermutlich in der Nähe der Häuser auf Schluss nahe, dass extensiv betriebener Ackerbau und gartenartigen Flächen gezogen. Ebenfalls nachgewiesen ist Viehzucht zur Bildung erster Heidegebiete geführt haben. die Nutzung von Lein und Mohn. Schwierig ist der Nachweis von Gemüsepflanzen zur Deckung des Bedarfs an Vitami- Im Endneolithikum fanden die größten Veränderungen im nen und Spurenelementen. Anzunehmen ist der Verzehr neolithischen Waldbild statt. In den Lössbörden, den Mittel- von wild wachsendem Bärlauch und Weißem Gänsefuß. gebirgen und im westfälischen Tiefland findet man offene, helle Eichenbestände mit starkem Haselbewuchs. Pflanzen- Der Wald spielte neben der Deckung des Holzbedarfs kohlenpartikel belegen die Feuerrodung zur Schaffung einer als Bau- und Feuerholzlieferant eine wichtige Rolle für die parkähnlichen Landschaft, die besonders für die viehwirt- Viehwirtschaft. Er diente als Waldweide und war Grundla- schaftliche Nutzung geeignet ist. Nachweise für Landwirt- ge der Laubheufütterung. Trotz fehlender Knochenerhal- schaft sind sehr spärlich. Für das Wurmtal konnte eine vorü- tung in den Lössbörden ist sicher davon auszugehen, bergehende Existenz einer Grünlandvegetation nachgewie- dass neben dem schon seit dem Jungpaläolithikum do- sen werden. Offensichtlich hat sich der wirtschaftliche mestizierten Hund Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen Schwerpunkt vom Ackerbau auf die Viehhaltung verlagert gehalten wurden. Mit der Viehhaltung in Waldweide geht und ist als großflächiges Wirtschaftsphänomen zu bewerten. ein Anstieg des Eschenbestandes einher, der sich wäh- rend der Bandkeramik bis in die Eifel hinein erstreckte. Ge- gen Ende der Bandkeramik breitet sich nach Wüstfallen Metallzeiten 74 der Siedlungs- und Ackerflächen erneut Wald aus. In der Bronze- und Eisenzeit bildete eine agrarische Kennzeichnend für das Jungneolithikum ist die Erschlie- Mischwirtschaft mit einer deutlichen Ackerbaukomponente ßung vorher nicht genutzter Böden im Mittelgebirge. Trotz die landwirtschaftliche Grundlage (Subsistenzwirtschaft). der Fundarmut Michelsberger Befunde kann man auf eine Angebaute Feldfrüchte sind von zahlreichen Siedlungs- differenzierte Landwirtschaft und Landnutzung schließen. plätzen bekannt; das Rheinland darf zu einer der am bes- Im lindenreichen Wald auf den Lössbörden fand das Vieh ten archäobotanisch untersuchten Regionen Europas ge- unter dem dichten Kronendach kaum Futter, er war dem- zählt werden. Der Emmer war während der gesamten Me- nach viehwirtschaftlich nicht nutzbar. In der Eifel sind da- tallzeit das am häufigsten angebaute Getreide. Hinzu ka- gegen verstärkt Rodungen in Hangfuß- und Tallagen für men als weiteres bedeutendes Getreide die Gerste und den Ackerbau nachgewiesen. Auch dort kam vermutlich vor allem der Dinkel, der ab der mittleren Latènezeit noch die viehwirtschaftliche Nutzung der Wälder zum Erliegen. an Bedeutung gewann. Die als Getreide verwendete Hirse Das Kulturpflanzenspektrum blieb weitgehend gleich, der hatte im Rheinland der Urnenfelder- bis Frühlatènezeit eine Wärme liebende Hartweizen scheint zu dominieren. Aus überaus bedeutende Stellung in der Nahrungsmittelpro- dem Jungneolithikum sind in Westfalen etwa zehn sog. duktion. Die ohnehin große Bedeutung der Hirse im eisen- Erdwerke bekannt: ausgedehnte Grabensysteme von zeitlichen Mitteleuropa wird in Nordrhein-Westfalen in ei- noch unklarer Zwecksbestimmung. Es handelte sich we- nem Maße übertroffen, dass die Hirse hier geradezu als der um befestigte Siedlungen noch um gewaltige Viehpfer- ein charakteristischer Bestandteil im Speiseplan der spä- che. Wahrscheinlich bildeten die Erdwerke das Epizentrum ten Bronze- und frühen Eisenzeit gelten muss. Die Bewirt- der jeweiligen Rodungsinsel und dienten der bäuerlichen schaftung der Äcker erfolgte manuell mit Pflug und Zug- Bevölkerung als „Versammlungsplatz“ mit Funktionen des tier; die Äcker lagen in unmittelbarer Nähe der Siedlungen Viehmarktes, des politischen Entscheidungsortes für die und bestanden aus kleinen Ackerschlägen innerhalb der Gemeinschaft und der Kultstätte. Verschiedene Indizien ab der Eisenzeit zunehmend entwaldeten Kulturlandschaft. sprechen jedenfalls dafür. Der Nachweis verschiedener Unkrautgesellschaften, die Für das Spätneolithikum sind die Kenntnisse über die unterschiedliche Ansprüche an den Boden stellen, zeigt Wirtschaftsweise sehr eingeschränkt. Eine fassbare Verän- an, dass mit unterschiedlichen Ackerstandorten bzw. Bo- derung gegenüber dem Mittelneolithikum ist im veränder- denqualitäten gerechnet werden muss. Die eisenzeitliche ten Waldbild erkennbar. Bei der Gehölzzusammensetzung Landwirtschaft reagierte darauf mit dem Anbau von an den gewinnt die Eiche an Bedeutung, die für die Holzbeschaf- Boden angepassten Getreidearten bzw. Hirse. Über die

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beträchtliche Binnenkolonisation von der Spätbronzezeit ren Gerste, Roggen, Hafer und Hirse. Die fortschrittlichen bis zur mittleren Eisenzeit darf mit einer Ausweitung der technischen und agrarischen Möglichkeiten der Römer Ackerflächen gerechnet werden. Dies zeigt auch die Ent- ermöglichten es, hohe Erträge aus den Böden zu ziehen; wicklung der ab der Eisenzeit erstmals einsetzenden ge- Erträge, die erst wieder in der Neuzeit zu erzielen waren. schlossenen Auendecken größerer Flüsse. Sie gelten als Das geerntete Getreide wurde in den Landgütern weiter ein sicherer Hinweis auf Rodungen im Hinterland bzw. pe- verarbeitet, ein Teil für den eigenen Gebrauch verwendet, riodisch wiederkehrender Bodenabfluss durch landwirt- große Teile jedoch auf den Märkten verkauft oder der Mili- schaftlich ausgelöste Erosion. tärverwaltung übergeben.

Rind, Pferd, Schwein, Schaf und Ziege, Huhn sowie we- Neben dem Getreide wurden auch alle anderen Arten nige Wildtierarten wie Hirsch, Reh und Hase bilden den von Grundnahrungsmitteln erzeugt, wie Bohnen, Erbsen, archäozoologischen Bestand sowohl in der Niederrheini- Linsen, Möhren, Rüben, Feldkohl, Feldsalat, Knoblauch, schen Bucht als auch im Münsterland. Da Tierknochen- Portulak, Amarant, Bohnenkraut, Dill, Koriander, Kümmel, reste auf Ausgrabungen selten geborgen wurden, können Sellerie und Thymian. Zudem gab es wohl Obstplantagen die regelhaft kleinen Haustierrassen weder in ein verlässli- für Kirschen, Pflaumen, Zwetschgen, Pfirsiche, Äpfel und ches quantitatives Verhältnis zueinander gesetzt werden, Nussbäume. Der Weinbau ist im Rheinland bezeugt. Hinzu als auch der Anteil der Viehwirtschaft gegenüber dem kommt die Bienenzucht, da der Honig der einzige Süßstoff Ackerbau gewichtet werden. Es gilt als sicher, dass die für Speisen und Getränke war. Jagd eine untergeordnete Rolle spielte. Ab der jüngeren Bronzezeit kann neben der Nutzung des Waldes für Wald- Auf den weniger ertragreichen Böden von Eifel und Nie- weide und Schneitelung mit einer zunehmenden Nutzung derrhein bevorzugte man Viehzucht. Bezeugt sind Rinder, der Auen für die Grünlandwirtschaft gerechnet werden. Schweine, Schafe und Ziegen. Diese Tierarten unterschei- Die Nutzung als Viehtränke und spätestens ab der mittle- den sich deutlich von der älteren einheimischen Arten, da ren Eisenzeit als Weideflächen ist durch archäobotani- sie größer und ertragreicher waren; von Importen römi- sche Untersuchungen hinreichend nachgewiesen. Auch scher Rassen ist auszugehen. Sie deckten den Bedarf an der Fischfang dürfte in den fisch- und schalentierreichen Fleisch und Milchprodukten. Als Haustiere sind zudem Gewässern des Rheinlandes eine nicht zu unterschätzen- Pferd, Hund, Huhn, Gans und Ente belegt. Fischfang be- de Rolle gespielt haben. Nachgewiesen ist Fischfang saß eine große Bedeutung. Dagegen spielten Wildtiere nur durch den Fund eines Angelhakens in dem bronzezeitli- eine sehr ungeordnete Rolle bei der Ernährung. Sie sind chen Gräberfeld Ibbenbüren. eher im Umfeld der zirzensischen Vergnügungen des Mili- tär und der Stadtbevölkerung zu sehen. 75 Jenseits der offenen Kulturlandflächen bildeten geschlos- sene Waldflächen vor allem in den Mittelgebirgsregionen Neben der Grundversorgung mit Nahrungsmitteln erfüll- die vorherrschende Vegetation. Bereits im Endneolithikum ten die Landgüter spezielle Aufgaben, je nach lokalen waren die naturnahen Ulmen- und Lindenwälder in hasel- Rohstoffvorkommen und Möglichkeiten bzw. Fähigkeiten reiche Eichenwälder umgebildet worden. Im Verlauf der der Pächter/Besitzer. Belegt sind u.a. Ölpressen, Mühlen, Metallzeiten breitete sich die Buche stark in den Wäldern Webstühle, Back- und Räucheröfen, Metallschmelzen und aus. Waldweide und Schneitelung, Entnahme von Bauholz Schmieden, Töpferöfen und Glashütten. und Holzkohlegewinnung (wichtig für die Metallgewinnung und -verarbeitung) führten zu einer Auflichtung der Wälder, Im freien Germanien werden weitestgehend die Wirt- die besonders im Umfeld der Siedlungen zu einem Anstieg schaftsweisen der vorangehenden vorrömischen Eisenzeit des Offenlandanteils bis hin zur vollständigen Entwaldung weitergeführt. Dies zeigt sich beispielsweise an der fortlau- führte. Dies gilt in besonderem Maße für die Siedlungen um fenden Dominanz der Hirse im Speiseplan; auch auf den Christi Geburt an der mittleren und unteren Lippe. In den Viehbestand hatten die verbesserten Zuchterfolge westlich Mittelgebirgen muss mit Transhumanz gerechnet werden. des Rheins keine Auswirkungen. In der einheimischen Subsistenzwirtschaft sind keine entscheidenden Einflüsse aus dem Römischen Reich spürbar. Im Verlauf der Römi- Römische Zeit schen Kaiserzeit gewinnt der Anbau von Getreide, zu- nächst Weizen, später Roggen, größere Bedeutung, der In der Römischen Zeit bildete die Landwirtschaft eine Anteil der Hirse geht zurück. der wirtschaftlichen Grundlagen. Zwar wurden teilweise vorhandene Strukturen weitergeführt. Vorrangig war je- doch die Neuvermessung des Landes wohl noch in der Frühmittelalter zweiten. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. und die damit verbundene Landeinteilung in ein rechteckiges Muster. In- Bereits am Ende der römischen Zeit kam es im Rhein- nerhalb dieser Limitation wurden die Landgüter (villae rus- land zu deutlichen Veränderungen im ländlichen Raum, als ticae) angesiedelt, die die Versorgung der Provinzbevöl- – regional wohl unterschiedlich – nach und nach immer kerung mit Nahrungsmittel sicherstellten. Angebaut wur- mehr Gehöfte aufgegeben wurden. Während des 5. und 6. de – je nach örtlichen Bodenverhältnissen – neben Din- Jahrhunderts ist eine starke Wiederbewaldung der vorma- kel, Einkorn, Emmer hauptsächlich Weizen; seltener wa- ligen landwirtschaftlichen Flächen zu beobachten.

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Dennoch war das Gebiet des heutigen Nordrhein-West- Trotz moderner Bodenbearbeitungsmethoden und der falens auch in dieser Zeit nicht menschenleer. Zwar zeig- vielerorts erfolgten Flurbereinigung lassen sich auch heute ten schon die Reihengräberfelder, dass Menschen vor Ort noch in Wiesen oder Waldflächen die so genannten Wöl- gewohnt haben müssen, doch erst in den letzten Jahren bäcker beobachten. Gut erhaltene Relikte, die teilweise so- konnten auch entsprechende Siedlungsreste archäolo- gar die Rekonstruktion von Feldfluren erlauben, wurden im gisch untersucht werden. In Westfalen, besonders an bei Königswinter-Höhnchen, im Hambacher Forst, dem Ems und Lippe (Rheine, Münster-Gittrup, Telgte, Warendorf, Rheinbacher Stadtwald, dem Wildpark bei Dülmen und Haltern-Flaesheim) ist nach der Siedlungsdepression der dem Kreis Höxter dokumentiert. Ebenfalls ab dem 9. Jahr- frühen Jahrhunderte spätestens im 7. Jahrhundert ein hundert ist an einigen Stellen in Westfalen nachweisbar, deutlicher Anstieg der Siedlungstätigkeit zu konstatieren. dass Siedlungen aus dem Zentrum der landwirtschaftli- Hauptgetreide war der Roggen, gefolgt von Hafer und chen Anbauflächen an ihre Peripherie verlegt wurden. Dies Gerste. Sommergetreideanbau scheint vorzuherrschen, geht einher mit dem Übergang zur Eschwirtschaft - der Wintergetreideanbau ist aber nicht auszuschließen. Auch Düngung des Bodens mit Heide- oder Torfplaggen. Hier- Hülsenfrüchte zählten zum täglichen Speisezettel, wäh- durch wurde eine durchgehende Bewirtschaftung der rend Obst und Gemüse anscheinend keine Rolle spielten. Ackerflächen ermöglicht. Der ständige Bodenauftrag führte Für das Hochmittelalter lässt sich an mehreren Stellen zu den typischen, kissenartig erhöhten Eschflächen, die der Verzehr von Eicheln durch den Menschen nachwei- bis in die Neuzeit landschaftsprägend waren und sind. sen. In der Viehhaltung und -nutzung ist keine entschei- dende Veränderung gegenüber der vorangehenden Rö- mischen Kaiserzeit festzustellen; lediglich das Pferd spiel- Entstehung der ersten Grundmuster im Mittelalter te eine größere Rolle. Die kühle und feuchte Witterung des Subatlantikums ließ Die Einführung des Beet- oder Streichbrettpfluges, die in den Getreideanbau einbrechen. In der Zeit der sogenann- Westfalen ab dem späten 9. Jh. belegt ist, ermöglichte ten Völkerwanderung im fünften und sechsten Jahrhundert dem mittelalterlichen Landwirt eine deutliche Verbesse- fielen viele der bestehenden Siedlungen wüst. Die Neube- rung der Bodenbearbeitung. Wurde vorher der Boden siedlung des Landes durch fränkische und sächsische durch den Pflug nur aufgerissen, konnten die Schollen Stämme basierten auf den grundlegenden landwirtschaftli- dank der neuen Technik gewendet werden. Da der Pflug, chen Voraussetzungen der Winterfütterung, Stallung, Dün- anders als dies moderne Wendepflüge tun, den Boden nur gung und Dauernutzung der Felder. So bildeten sich wirk- in eine Richtung versetzte, musste die Pflugtechnik dieser lich dauerhafte landwirtschaftliche Siedlungsplätze. 76 Gegebenheit angepasst werden. In bis zu 0,5 km langen und zumeist sechs bis zehn Meter breiten Streifen wurde In der Zeit des fränkischen Reiches wurden zahlreiche der Boden immer zur Mitte hin gepflügt. Durch die jahr- Siedlungsplätze der Römer vollständig aufgegeben. Die hundertelange gleich verlaufende Beackerung entstand so Lebensweise der Franken war insgesamt mehr landwirt- eine gewölbte Beetflur (auch: „Wölbäckerflur“), die von der schaftlich geprägt. Nächsten durch eine grabenartige Senke getrennt war. Die ursprünglichen landwirtschaftlichen Siedlungsfor- men waren Einzelhöfe oder kleine Gruppen von wenigen Wölbäcker im Bürgewald bei Niederzier Höfen, die sich im 7./8. Jh. zu lockeren Gruppensiedlun- Foto: LVR/B. Päffgen gen (Altweiler, Drubbel und kleine Haufendörfer) weiter entwi- ckelten. Bevorzugte Nutzräume der Landwirtschaft waren wiederum die rheinischen und westfälischen Börden, aber auch trockene Geeststandorte in der Nähe der Flussauen.

Zwischen dem 8. und 10. Jh. lag eine Wachstumsperi- ode, in der sich die bestehenden Siedlungen erweiterten. Durch Parzellenteilung im Erbgang entstehen vielerorts Langstreifenfluren. Durch vermehrte Plaggendüngung, de- ren Spuren auch heute noch erkennbar sind, intensivierte sich die Bodennutzung. Auch neue Ackerschläge wurden auf Kosten der Allmende angelegt. In der Trägerschaft der Grundherren kommt es zu einer Binnenkolonisation in be- grenztem Umfang. So entstehen Waldhufensiedlungen der Engern im heutigen Ostwestfalen. Im Bergischen Land entstanden zahlreiche Einzelhöfe und Weiler, deren Na- men wie -rath, -scheid, -bach und -mecke auf mittelalterli- che Waldrodungen hinweisen.

Vom 10. bis zum 13. Jh. setzte in Europa ein starkes Be- völkerungswachstum ein.

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Dieses Wachstum im Hochmittelalter konnte sich auf Die nachfolgenden Zeiten des Friedens waren auch in landwirtschaftliche Neuerungen, Verbesserungen in der Nordrhein-Westfalen mit stetigem Bevölkerungswachstum Agrartechnik sowie auf die Erschließung zusätzlicher land- verbunden. Jedoch blieb die Produktion in der feudalen wirtschaftlicher Nutzfläche stützen. Der eiserne Pflug zur Epoche in zunehmendem Maße hinter dem Bedarf an Bearbeitung auch schwerer Böden oder die Entwässe- landwirtschaftlichen Erzeugnissen zurück. Im Vergleich rungstechniken für Sumpfgebiete gehören zu diesen zum Mittelalter wuchs bei geringerer Kaufkraft der Bevöl- Neuerungen. Die Produktion landwirtschaftlicher Güter kerung die Bedeutung des Ackerbaus. Der Nährwert für stieg in dieser Zeit stark an, auch weil die überkommene den Menschen bezogen auf die Anbaufläche liegt hier ent- Feld-Gras oder Feld-Wald-Wechselwirtschaften durch eine sprechend höher. Insgesamt kann man von einer landwirt- zu dieser Zeit moderne Dreifelderwirtschaft bestehend aus schaftlichen Übernutzung der Landschaft sprechen, da die Winterfrucht - Sommerfrucht - Brache abgelöst wurde. knappen Nährstoffe nicht im notwendigen Maß erneuert werden konnten. Das Abplaggen der Heideflächen und Die Agrarwirtschaft in Nordrhein-Westfalen war im Mittel- das Aufdüngen von Eschflächen brachte einen erhebli- alter neben der Selbstversorgung auf die Absatzmärkte chen Stofftransport und eine nachhaltige kulturlandschaft- ausgerichtet. Neben Köln waren Frankfurt, Flandern und liche Prägung der betroffenen Bereiche mit sich. die Küstenregion bedeutende Handelsgebiete. Wichtige Getreideanbaugebiete waren die Hellwegbörden und die In der Frühneuzeit ging die Landbewirtschaftung für die rheinischen Börden. Mit der Zunahme des Handels, ver- bäuerliche Bevölkerung mit einer doppelten Gebundenheit stärkt durch den Handelsbund der Hansestädte, wird der einher, nämlich als Untertanen der unterschiedlichsten Flachsanbau wichtiger. Die Spuren des Anbaus und der Herrschaften und als Genossen der Markgenossenschaf- Verarbeitung des Flachses als Rohstoff der Leinenherstel- ten mit regional unterschiedlichen Ausprägungen und Be- lung finden sich noch heute an vielen Stellen in der Land- zeichnungen. Die landwirtschaftliche Strukturen waren schaft. Ein Schwerpunkt des Flachsanbaus lag in den durch die Herrschaftsformen geprägt. Grenzen der Ge- nördlichen Landesteilen. Wichtige Handelsachsen lagen in richtsbarkeit, die Ausdehnung der jeweiligen Grundherr- West-Ost-Richtung und entlang von Rhein und Weser. schaft oder die Bindung durch Leibeigenschaft brachten gemeinsame Wirtschaftseinheiten bzw. Außengrenzen her- Bereits seit der Zeit der Karolinger wurde an den Hängen vor. Bäuerliches Eigentum an Grund und Boden war die des Rheintals Wein angebaut. Die mittelalterlichen Weinbau- große Ausnahme. Die Besitzrechte der Bauernschaft wa- gebiete erstreckten sich bis nach Köln, aber auch entlang ren zum Teil erblich, zum Teil als zeitlich begrenzte Lehen der Weser bis nach Minden. Eine ausgeprägte Heidewirt- ausgeformt. Diese Unterschiede spielten bei der späteren schaft entwickelte sich in ungünstigen Lagen der Eifel und Bauernbefreiung eine wichtige Rolle. 77 als Brand-Heidesystem in weiten Teilen des Sauerlands. Im regionalen Vergleich gab es in Nordhrein-Westfalen Nach dem Landausbau im Früh- und Hochmittelalter en- landwirtschaftstrukturelle Unterschiede. Ein Schwerpunkt det das Mittelalter mit einem drastischen Bevölkerungs- des klassischen Getreideanbaus mit kurzer Brache lag im rückgang. Die Pest forderte so viele Menschenleben, dass Kleimünsterland. Im nördlichen Westfalen wurden eng be- zahlreiche Siedlungen und in diesem Zusammenhang grenzte trockene Sandgründe zu Eschflächen erhöht, die auch Landwirtschaftsflächen aufgegeben wurden. Diese dadurch Getreide tragen konnten. Die niederrheinischen Wüstungsperiode wird auf den Zeitraum 1350 - 1470 da- Donken waren als geringfügige Erhebungen in ähnlicher tiert. In Nordrhein-Westfalen waren hiervon in erster Linie Weise traditionelle kleinflächige Ackerstandorte. In Ge- die ungünstigen Mittelgebirgslagen im Weserbergland, im birgslagen war ein dorfnahes Innenfeld mit mehrjährigen südlichen Westfalen und in der Eifel betroffen. In wesent- Roggen- und Haferfruchtfolgen und wenigen Brachejahren lich geringerem Umfang wurden die Hofstellen und Ort- von besonderer landwirtschaftlicher Bedeutung, während schaften der fruchtbaren Gunststandorte zum Beispiel in weitläufige Außenfelder mit Haferanbau, auf den zum Teil den rheinischen Börden aufgegeben. jahrzehntelange Brache folgte nachrangig waren. Insbe- sondere die rheinischen Börden sind durch traditionellen Gartenbau gekennzeichnet. Hier wurde schon früh Zucker- Landwirtschaft in der Frühneuzeit rübenanbau betrieben und ein überlegener Ackerbauer- trag eingefahren. Die Landwirtschaft der frühen Neuzeit entwickelte sich unter den Einwirkungen und schweren Rückschlägen zahl- Im 18. Jahrhundert beginnen die Vorbereitungen für eine reicher Kriege weiter. Der traurige Höhepunkt dieser Ausei- umfassende Intensivierung und Produktivitätssteigerungen nandersetzungen war der Dreißigjährige Krieg zwischen in der Landwirtschaft. Die Ökonomen sahen den Weg zur 1618-1648. Die Auswirkungen der Auseinandersetzungen Erhöhung der Getreideproduktion im Übergang zu einem waren im Land regional sehr verschieden. Es kam zu re- kontinuierlichen Fruchtwechsel. Die Abschaffung der Bra- gional begrenzten Wüstungen und während manche che, vermehrter Anbau von Futtergewächsen, zu denen Landstriche mit geringen Verlusten davon kamen, wurde auch Rüben und Kohl gerechnet wurde, die Anlage soge- die Bevölkerung beispielsweise im südlichen Westfalen um nannter Kunstwiesen durch Klee-Gras-Einsaat, die Ver- bis zu 50 % dezimiert. Der Westfälische Frieden von 1648 mehrung und ganzjährige Stallhaltung des Viehs und brachte eine territoriale Neuordnung mit sich. schließlich auch die Einbeziehung des Markenlandes wa-

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ren umwälzende landwirtschaftliche Verbesserungsmaß- Agrarreformen und Teilung der Gemeinheiten/Marken nahmen. Der Aufstieg des Agrarstaats Preußen beschleu- nigte diese Entwicklung. Um 1800 war die Landwirtschaft in unserem Land noch der wichtigste Wirtschaftssektor. Von ihm lebten rund 80% der Bevölkerung. Die so genannte Bauernbefreiung begann Beispiele kulturlandschaftlich bedeutsamer in Nordrhein-Westfalen unter französischer Herrschaft. Die Relikte landwirtschaftlicher Nutzungen Agrarreformgesetzgebung zwischen 1807 und 1813 umfass- te die Abschaffung der Hörigkeit oder Leibeigenschaft sowie die Ablösbarkeit von der Grundherrschaft durch Lösegeld. Bezeichnung Hinweise Im Zuge der Übernahme der Landesteile durch Preußen grif- fen dann auch die entsprechenden preußischen Regelun- Wölbacker mittelalterliche Beetpflügtechnik zur Bewirtschaftung vor allem gen. Die Stein-Hardenbergischen Reformen brachten ent- schwerer Lehmböden scheidende agrarsoziale und agrarwirtschaftliche Verände- rungen mit sich. Eine einschneidende Folge war die planmä- Hudeflächen Übergang von der Waldweide ßige Aufteilung der Gemeinheiten. Die Gemeinheiten waren zur offenen Weidelandschaft durch verschiedenartige Nutzungs- bzw. Wirtschaftsrechte belegt, die unterschiedlichsten Rechten wie Eigentum oder Flachsrösten kleinflächige Relikte, der Bezug Dienstbarkeit entsprangen. Dementsprechend komplex und und -bleichen zu den Leinenanbauflächen grundlegend war der Umstrukturierungsprozess. Beispiels- ist heute nicht mehr erkennbar, weise bestanden Anfang des 19. Jahrhunderts 50% der die Rösten liegen oftmals Landnutzungsflächen in Westfalen aus Gemeinheiten. Die siedlungsfern persönlichen Bindungen zwischen den Bauern und den Gutsherren wie etwa der Gesindezwangsdienst oder die Be- Zwergstrauchheiden Über lange Zeit stark bedrohte und Hochheiden und rückläufige Landschaftsty- schränkung der Freizügigkeit wurden aufgehoben. Die pen - die pflegeabhängigen durchgreifende Bodenreform brachte die Aufteilung der Reste sind heute wertvolle Nutzflächen zwischen den Grundherren und den vormals Naturschutzflächen nur nutzungsberechtigten Bauern mit sich. Quasi als Vorläu- fer der Flurbereinigung wurden die Grundstücke aufgeteilt, Marken- und Oft als Wallrelikte die gemeinschaftlichen Nutzungsrechten unterlagen. Zer- Flurgrenzen zum Beispiel im Wald streut liegende Eigentumsflächen wurden zusammengelegt. 78 Eschflächen Kleinflächig in unmittelbarer Die Entschädigungen waren abhängig von den sehr un- Nähe der Hofstandorte terschiedlichen Besitzrechten. Üblich waren Ablösen in Land, Rente, Naturalleistungen oder Kapital. Die neuen Ei- Wässerungswiesen Vorkommen im Siegerland gentumsgrenzen wurden insbesondere im Münsterland und in der Eifel vielfach durch Wallhecken markiert, die erst durch diese Phase der Markenteilung starke Verbreitung fanden. Ver- einzelt blieben die Marken auch zusammenhängend erhal- Flachsgruben im Schwalm-Nette-Gebiet ten. So gingen in Wittgenstein die Marken uneinge- Karte: Rheinisches Amt für Bodendenkmalpflege schränkt in den Besitz der Landesherren über. Im Sieger- land übernahmen die Gemeinden die Marken vielfach un- geteilt. Im Rahmen der Haubergswirtschaft blieben verein- zelt forstliche Gemeinschaftsflächen erhalten.

Es entstand die neue Landeigentümerschicht der freien Bauern, wobei dieser Umbruch auch zur Aufgabe vieler Hofstellen zum Beispiel aufgrund von Kapitalmangel führte. In der Struktur verdichtete sich in NRW das Netz von Ein- zelhöfen unterschiedlicher Größe durch die Markenteilung.

Die mittel- und großbäuerlichen Betriebe konnten durch Aufkauf der unrentablen Betriebsflächen ihre Position durchaus festigen. Im ganzen zeichnete sich die Landwirt- schaft im Lande durch produktive Kartoffel- und Getreide- betriebe und eine erhebliche tierische Erzeugung aus. Mit der Industrialisierung war eine Steigerung der Massen- kaufkraft verbunden, die auch die Preise für landwirtschaft- liche Produkte ansteigen ließ. Die Gründung des deut- schen Zollvereins 1834 begünstigte die Absätze der gro- ßen landwirtschaftlichen Betriebe weiter.

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Das Landschaftsbild und hier besonders das Verhältnis in den Kreisen Höxter, Warburg und Paderborn sowie im zwischen Offenland und Wald veränderte sich gravierend Weißen Venn im Kreis Coesfeld. Bis 1962 wurden 23.900 durch preußische Förderung der Forstwirtschaft. Insbeson- Siedlerstellen in NRW geschaffen, darin 1.600 Vollerwerbs- dere die Heideflächen wurden zum Ziel der staatlichen Auf- stellen und 22.300 Nebenerwerbs- oder Landarbeiterstel- forstungspolitik. Versuchte man zunächst noch vergeblich, len. Das für die Aufsiedlung bereit gestellte Land stammt in herkömmliche Buchen und Eichen auf der Heide zu ziehen, großen Teilen aus Staatsbesitz. So stellte das Land NRW so gelangen erst die Aufforstungen mit Kiefern und Fichten fast seinen gesamten Domänenbesitz zur Verfügung. auf den nährstoffverarmten, sauren Böden der alten Heide. Nie zuvor in der Geschichte veränderte sich die Land- wirtschaft so schnell und tiefgreifend wie in den Jahrzehn- Zeitalter der modernen Landwirtschaft ten nach der Währungsreform. Die vielseitig ausgerichtete Landnutzung, die noch um 1950 den landwirtschaftlichen Das Zeitalter der modernen Landwirtschaft beginnt mit Betrieb kennzeichnete, wurde in den 50er und 60er Jahren der Einführung des Kunstdüngers 1840/50. Die Landwirt- durch mechanisierte, hochtechnisierte und spezialisierte schaft erfuhr einen erheblichen Aufschwung, so dass der Betriebsabläufe ersetzt. Seither hat die Landgemeinde das wachsende Absatzmarkt versorgt werden konnte. Mit der bäuerlich bestimmte Dorf abgelöst. Die Veränderung der Gründung von Kredit- und Absatzgenossenschaften (zum ländlichen Flur waren dabei gravierend. Die Zusammenle- Beispiel 1848 Raiffeisen Genossenschaft) wurde der Wirt- gung der kleinen Parzellen und der Aus- und Umbau des schaftszweig der Landwirtschaft weiter gefestigt. Der Anteil ländlichen Wegenetzes waren Maßnahmen der Flurbereini- der landwirtschaftlich Beschäftigten verringerte sich stetig, gung auf dem Weg zur modernen Agrarstruktur. Im 19. Jh. verlagerte sich der Hauptanteil der Beschäftig- ten vom primären auf den sekundären und tertiären Sek- Das auffälligste Merkmal des fundamentalen Wandels tor: Um 1900 waren in NRW nur noch rund ein Drittel der auf dem Land ist das Schwinden der Bauernhöfe. Jahr- Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig. zehntelang hatte sich die Zahl der Höfe kaum verändert. Bis zum Ende der 1960er Jahre stellten in Nordrhein-West- Die durch die Gemeinheitsteilung eingeleitete Entwick- falen mehr als ein Drittel aller landwirtschaftlichen Betriebe lung der Bodenordnung wurde auch zu Beginn des 20. ihre Produktion ein. Betroffen von diesem Schrumpfungs- Jahrhunderts in verschiedenen Phasen fortgeführt. Unmit- prozess waren vor allem die Klein- und Kleinstbetriebe. telbar nach dem ersten Weltkrieg leitete der preußische Gleichzeitig glänzte die Landwirtschaft durch die höchsten Staat Maßnahmen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Wachstumsraten bei den Produktivitätszahlen. In dem Ma- Produktion ein, die vor allem in den Bereichen des land- ße, in dem sich die Traktoren und Mähdrescher auf den 79 wirtschaftlichen Wegebaus und der Regulierung der was- Höfen durchsetzten, veränderte sich mit den Arbeitsabläu- serbaulichen Zu- und Abflussverhältnisse griffen. fen im Ackerbau auch die Struktur der landwirtschaftlichen Beschäftigten. 1949 wurden auf den Bauerhöfen in Nord- Die Machtergreifung der Nationalsozialisten war gekenn- rhein-Westfalen rund 196.000 Arbeitskräfte gezählt, die zeichnet durch eine ideologisierte Blut- und Bodenpolitik in nicht zur jeweiligen Bauerfamilie gehörten. Zwanzig Jahre Verbindung mit umfassenden Autarkiebestrebungen bei der später waren es gerade noch 20.000. Arbeitslos wurden Nahrungsmittelversorgung. Der nationalsozialistische Erb- auch die Zugtiere. Kühe, Ochsen und vor allem Pferde hofbauer wurde zum Treuhänder seiner Sippe deklariert und wurden für die landwirtschaftliche Arbeit nicht mehr ge- musste „arisch“ sein. Die Agrarverbände wurden entmach- braucht. Die Stallungen wurden für eine intensive Verede- tet, um sämtliche Landwirte, Landarbeiter, Verarbeitungsbe- lungswirtschaft umgerüstet. Vor allem der Schweinebe- triebe von Agrarprodukten sowie den gesamten Landhandel stand - und hier vor allem in Westfalen und Lippe - vergrö- im sogenannten Reichsnährstand zur Vorbereitung der „Er- ßerte sich explosionsartig. Die arbeitsintensive Milchvieh- zeugungsschlacht“ einzuspannen. Das NS-Regime leitete haltung wurde zunehmend unattraktiver. Der Anteil des zur Arbeitsbeschaffung auch umfangreiche Meliorations- Grünlandes an der Wirtschaftsfläche nahm entsprechend maßnahmen ein. Mit Unterstützung des Reichsarbeitsdiens- ab. Als dieser Trend zum Verlust wertvoller Offenlandberei- tes und unter Einsatz von Zwangarbeitern wurde beispiels- che zum Beispiel im Bergischen Land führte und auf nas- weise die Flussbegradigungen der Ems umgesetzt. sen und feuchten Standorten des Münsterlandes und am Niederrhein die wertvollen Grünländereien verloren gin- Die Nachkriegsjahre waren von großer Not und fehlender gen, wurden die ökologischen Grenzen des Wachstums- Nahrungsversorgung geprägt. Ungeachtet dessen wurden prozesses und des Strukturwandels deutlich. die Flüchtlinge und Vertriebenen in den Dörfern und auf den Höfen aufgenommen. Die Ansätze zur Agrarreform in Die Bedeutung der Landschaftspflege sowie der Erho- Nordrhein-Westfalen standen in der Nachkriegszeit in er- lungs- und Umweltfunktion der Landwirtschaftsflächen wur- heblichem Maße unter dem Druck, Heimstätten und Be- den nach Jahrzehnten der Umformung und Veränderung der triebsstandorte für Heimatvertriebene und einheimische Maßstäbe in der Landschaft erkannt und in staatliche Pro- Landwirte und Landarbeiter bereit zu stellen. Seit Anfang gramme aufgenommen. Beispielsweise startete das Feucht- der 1950er Jahre wurden Siedlungen zum Beispiel in der wiesenschutzprogramm in Nordrhein-Westfalen als Förderin- Eifel und im staatliche Reichswald bei Kleve angelegt. Im strument, mit dem die landwirtschaftliche Weiternutzung wert- westfälischen Landesteil entstanden größere Siedlerdörfer voller Grünlandbereiche unter konkreten Pflegeauflagen gesi-

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chert wurde. Erholungsvorsorge und Landschaftsplanung 2006 der Anteil des ökologischen Anbaus bei 3,7% der wurden als Instrumente zur Aufwertung der Kulturlandschaft landwirtschaftlichen Nutzfläche des Landes. etabliert. In einem gewissen Rahmen entwickelte sich ein Dualismus. In den Gunstgebieten der Landwirtschaft wie in Die Szenarien zur Kulturlandschaftsentwicklung mit Blick den Rheinischen Börden oder auch im Münsterland setzten auf die weitere Entwicklung von globalen landwirtschaftli- sich große Vollerwerbsbetriebe mit Intensivierung und Spezia- chen Verflechtungen aus. Historische, regionaltypische lisierung durch, während vor allem in den Mittelgebirgslagen, Landnutzungsmuster können ein Bestandteil landwirtschaft- etwa im Sauerland oder in der Eifel die Erhaltung und Pflege licher Spezialisierung auch im Hinblick auf die Vermarktung der Gestaltmerkmale der ländlichen Kulturlandschaft als eine sein. Im Falle einer nachrangigen wirtschaftlichen Bedeu- zumindest gleichgewichtige Aufgabe angesehen wurde. tung können solche kulturlandschaftlichen Muster in erster Linie durch flankierende Maßnahmen erhalten werden. Die zunehmende Motorisierung mit Pkw in dem 70er Jah- ren des letzten Jahrhunderts beförderte ein weiteres Mal die Zersiedlung des ländlichen Raumes. Die neue Mobilität Land- und Forstwirtschaft für Rohstoffproduktion erlaubte die Auflösung der Dorfschulen und Industriean- siedlungen auf dem Lande. Gleichzeitig brachten geistige Das heutige Waldbild ist das Resultat einer jahrhunderte- und politische Veränderungen eine neue Wertschätzung langen Einflussnahme und Nutzung durch den Menschen. des ländlichen Raumes mit sich. Seit dem Europäischen Die von Natur aus innerhalb der heutigen Grenzen von Denkmalschutzjahr 1975 hat sich zum Beispiel der Begriff Nordrhein-Westfalen stockenden und annähernd geschlos- der erhaltenden Dorferneuerung eingebürgert. Das Pro- senen Laubwälder (von Ausnahmen abgesehen), erfuhren im gramm „Unser Dorf soll schöner werden“ besteht nunmehr Laufe der Geschichte zahlreiche Veränderungen, vor allem seit 45 Jahren und zeigt auch heute unter der Bezeichnung bezüglich ihrer flächenhaften Ausdehnung, ihres Waldauf- „Unser Dorf hat Zukunft“ Wege auf, wie Landwirtschafts- baus und ihrer Holzartenbestockung. strukturen und dörfliche Lebensqualität nachhaltig gesi- chert werden können. Eine ähnliche Zielsetzung hat auch Die allmähliche Umgestaltung der Natur- zur Kulturland- das NRW-Programm Ländlicher Raum, in dem die wirt- schaft im Hinblick auf die wald- und forstwirtschaftlichen schaftlichen und ökologischen bzw. kulturlandschaftlichen Entwicklungen ist Inhalt dieses Kapitels. Der Wald und seine Förderinstrumente neben den Ansätzen zur Verbesserung Produkte stellten über lange Zeiträume eine elementare Le- der ländlichen Lebensqualität gebündelt wurden. bensgrundlage des Menschen dar. Er lieferte Brenn- und Nutzholz, diente den Bauern als Weideareal für ihr Vieh, 80 Der heute weltweite Handel und der Preisverfall landwirt- stellte Waldfrüchte als Nahrungsmittel sowie Einstreumateri- schaftlicher Erzeugnisse führen auch weiterhin zu geän- al für die Ställe zur Verfügung. Auch in der vorindustriellen derten Landnutzungsstrukturen. Einerseits gewinnen gewerblichen Produktion waren die Rohstoffe des Waldes nachwachsende Rohstoffe als Anbauprodukte an Bedeu- für lange Zeit von grundlegender Bedeutung. Im Folgenden tung. Andererseits kommt es zu einer weiteren Spezialisie- werden die geschichtlichen Entwicklungen dargestellt, die rung und Segmentierung. Dabei werden auch besondere für die nachhaltige Prägung und Formung des heutigen Absatzmärkte verstärkt bedient. Beispielsweise lag im Jahr Waldbildes in unserer Kulturlandschaft verantwortlich waren.

Auch heute setzt die Landwirtschaft Akzente in der Kulturlandschaft. Foto: LWL/B. Milde Kap_5_2_5.qxp 23.10.2007 11:36 Seite 81

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Waldweide, Verbiss durch Ziegen ...... und Rinder. Foto: LWL/M. Philipps Foto: LWL/B. Milde

Erste anthropogene Einflüsse auf den Wald menden Ausbreitung der Kulturflächen. Verbesserte Gerä- te aus Metall zur Rodung der Wälder sowie ein effektiverer Bei der Wiedereinwanderung der Baumarten nach der Ackerbau durch den zusätzlichen Anbau von Wintergetrei- letzten Eiszeit spielten zahlreiche Faktoren wie etwa die Kli- de, machten dies möglich. maentwicklung, die unterschiedliche Wandergeschwindig- keit der Baumarten und die räumliche Lage der Rückzugs- Als Folge des feuchteren und kühleren Klimas im Laufe räume sowie die Sukzession am Standort eine Rolle. Erste der sich anschließenden Eisenzeit (ab ca. 800 v. Chr.) und nennenswerte Einflüsse des Menschen auf die Wälder setz- auch durch menschliche Einflüsse begünstigt, kam es zu 81 ten im Zuge der Sesshaftwerdung, ab ca. 5.500 v. Chr. ein. einer weiteren Ausbreitung der Buche. Die Eichenmisch- wälder wurden von Buchen- und Buchenmischwäldern ab- Während die Menschen in der Mittelsteinzeit noch gelöst. Da das Vieh aufgrund der verschlechterten Klima- hauptsächlich als Jäger und Sammler agierten, setzte bedingungen im Winter aufgestallt werden musste, nutzten sich in der Jungsteinzeit (Neolithikum) die sesshafte Le- die Menschen den Wald von nun an auch zur Futter- und bensweise mit Ackerbau und Viehzucht durch. Hiermit Streugewinnung. vollzog sich ein grundlegender Wandel der gesellschaftli- chen Verhältnisse. Hatte der Mensch bis dahin als Be- Erzvorkommen, das Wissen ihrer Verarbeitung und aus- standteil der Waldfauna von dem gelebt was die Natur zu reichender Holzvorrat ermöglichten eine zeitweilige und bieten hatte, so beeinflusste er von nun an aktiv die ihn punktuelle Besiedlung des Siegerlandes und der Eifel, vor umgebenden Wälder und veränderte deren Zusammen- allem seit der jüngeren Eisenzeit (ca. 400 v. Chr.). setzung und Verbreitung. Er rodete sie um Raum für Wohnsiedlungen und Kulturflächen zu schaffen. Als land- wirtschaftliche Nutzfläche diente neben dem Getreide- Traditionelle Waldnutzungen vor der Zeit einer gere- acker auch der Wald, in dem das Vieh ganzjährig gewei- gelten Forstwirtschaft det wurde. Im Übergang vom Endneolithikum zur begin- nenden Bronzezeit stockten in der Umgebung menschli- Bäuerliche Waldnutzungen cher Siedlungen lichte Eichenmischwälder mit überwie- gend Hasel, Birke, Schlehe, Holunder und Wildkirsche in Der Wald war bis ins späte 19. Jh. in erster Linie Nähr- der Strauchschicht. Diese lichtliebenden Baum- und wald der bäuerlichen Bevölkerung, der Brenn- und Nutz- Straucharten verdrängten die ursprünglich vorherrschen- holz, Nahrung und Futter zur Verfügung stellte. Von ele- den Ulmen- und Lindenwälder. mentarer Bedeutung für die bäuerliche Bevölkerung war die Nutzung des Waldes als Viehweide, die seit Beginn der Beschränkte sich die ackerbauliche Nutzung und Be- menschlichen Besiedlung bis weit ins 19. Jahrhundert siedlung zunächst auf die fruchtbaren Bördelandschaften (stellenweise sogar bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts) aus- (Jülicher und Zülpicher Börde, Kölner Bucht, Hellwegregion, geübt wurde. Vor allem Rinder, Schweine und Schafe aber ostwestfälische Trockenbörden) sowie auf die nähere Umge- auch Pferde und Ziegen wurden in beliebiger Zahl zum bung von Fluss- und Bachläufen, kam es im Laufe der Weiden in den Wald getrieben. Da viele Bauern mehr Vieh Kupfer- und Bronzezeit (ab ca. 3.000 v. Chr.) zu einer zuneh- hielten als sie durch die vorhandenen Heiden, Wiesen

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(Heu) ernähren konnten, wurden die Wälder oft bis in den Als eine Sonderform des Niederwaldes hatte sich seit Winter hinein beweidet, wodurch eine Verjüngung des Wal- dem Spätmittelalter die genossenschaftlich organisierte des als Folge des Abfressens von aufkommendem Jung- Haubergswirtschaft des Siegerlandes entwickelt. Sowohl wuchs zumeist unterblieb. Neben der Waldweide gehörte landwirtschaftliche als auch gewerbliche Ansprüche ließen die Streunutzung, das Laubschneiden (Schneiteln) und der sich hierbei auf einer Fläche miteinander kombinieren. Der Plaggenhieb zu den traditionellen Waldnutzungen. Die in- hauptsächlich mit Eichen und Birken bestockte Haubergs- tensive Streu- und Plaggennutzung verursachte eine Verar- wald wurde in zumeist 18 Parzellen („Schläge“, „Jähne“ mung, Versauerung und Versandung der Waldböden, die oder „Haue“) eingeteilt, wobei jährlich nur ein Schlag (der für einen Baumartenwechsel in vielen rheinisch-westfäli- älteste) abgetrieben wurde. schen Wäldern verantwortlich waren. Charakteristisch für die durch den Weidegang und den zahlreichen Nebennut- Nach der Räumung des Haubergschlages wurde die zungen immer lichter werdenden Hudewälder (Hut- oder Hü- Fläche abgebrannt und in die Asche für ein bis zwei Jahre tewälder) war ihre lichte und parkaähnliche Struktur und ihr Roggen, Hafer oder Buchweizen gesät. Als Folge der Frei- fließender Übergang in die umgebende Feldflur. Wenige stellung des Hauberges, siedelte sich Besenginster an, hochstämmige Buchen und Eichen bildeten die sehr lücki- welcher der Nährstoffanreicherung des Hauberges sowie ge Baumschicht, während der lichte Unterbewuchs aus der Futter- und Streugewinnung diente. Als weitere land- Stockausschlägen, Gras- und Heideflächen bestand. wirtschaftliche Zwischennutzung ließ man für einige Jahre Schweine, Schafe und Rinder auf der Fläche weiden, wäh- Die Schweinemast zählte bis ins 17. Jh. zu den wichtigs- rend im Schutz des Besenginsters die ersten Stockaus- ten landwirtschaftlichen Nebennutzungen des Waldes. Als schläge von Eiche und Birke emporwuchsen. Nach 17 lukrative Einnahmequelle für den Grund- bzw. Landesher- Jahren begann mit dem erneuten Holzeinschlag dieser ren übertraf sie in guten Mastjahren sogar die Einnahmen Parzelle ein neuer Zyklus im Wald-Feldbau-System. aus dem Holzverkauf. Neben der Haubergswirtschaft, die vor allem in Süd- Zur Mastzeit zwischen Oktober und Neujahr wurde der westfalen großen Raum einnahm, existierten weitere tradi- betroffene Wald für die übrigen Viehherden gesperrt. Nach tionelle Nutzungsarten im Niederwald-Betrieb wie die Rott- Ermittlung der potentiellen Masterträge wurde genau fest- wirtschaft, die Kopfholzwirtschaft oder der Eichenschäl- gelegt, welcher Bauer wie viele Schweine in den Wald ein- waldbetrieb. Die weite Verbreitung dieser Wald- bzw. Land- treiben durfte. Für jedes Schwein wurde ein Mastgeld be- schaftsnutzungen, vor allem in landwirtschaftlichen Un- rechnet. Oft wurde die Mast auch, vor allem in großen gunsträumen wie in den rheinisch-westfälischen Mittelge- 82 Waldgebieten (im Arnsberger Wald, Rothaargebirge, Kotten- birgen, führte zu einem über lange Zeit bestehenden und forst), an Auswärtige verpachtet. für Nordrhein-Westfalen kennzeichnenden verhältnismäßig hohen Niederwaldanteil.

Der Wald als vorindustrieller Rohstofflieferant Die intensive Holznutzung in den Niederwäldern hatte ei- nen Holzartenwechsel zugunsten von Baumarten mit einem Bis in die 1850er Jahre fand Holz neben der Nutzung guten Regenerationsvermögen zur Folge. Die Buche wurde als Bau- und Werkstoff, vor allem als Brennstoff (Brenn- aus vielen Niederwäldern der Mittelgebirgsräume verdrängt holz, Holzkohle) Verwendung. Zahlreiche Waldgewerbe, und von Eiche und Birke (auf Silikat-Untergrund) bzw. Eiche die sich insbesondere nach dem 30-jährigen Krieg stark und Hainbuche (auf kalkhaltigem Untergrund) ersetzt. ausbreiteten, waren die Hauptabnehmer der Holzkohle. Vor der Verwendung der Steinkohle war Holzkohle der Im Wiehengebirge (Ostwestfalen) konnte sich die Buche wichtigste Energieträger. Das Waldgewerbe der Köhlerei aufgrund des niederschlagsreichen, atlantischen Klimas brannte in Westfalen und im Rheinischen vor allem Bu- und der sehr langen Umtriebszeit, von über 20 Jahren, im chenholz, daneben auch Eiche, Birke oder Hainbuche zu Niederwaldbetrieb halten. Holzkohle. Gewaltige Mengen an Holzkohle waren für die Verhüttung und Weiterverarbeitung von Roheisen erfor- Mit der Verwendung der Steinkohle und infolge verbesser- derlich. Das heimische Eisengewerbe bezog diesen Ener- ter Transportbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- gieträger noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Auch hunderts, hatte der Energieträger Holz bzw. Holzkohle aus- die Glashütten hatten den Ruf eines „holzfressenden“ Ge- gedient. Auch der Preis für Lohrinde sank ab den 1890er werbes, da sie große Mengen an Pottasche als Flussmit- Jahren rapide ab, da andere Gerbmittel (ausländische Lohe, tel bei der Glasherstellung benötigten. Pottasche, ein wei- synthetische Gerbmittel) auf den Markt kamen. Die Wirt- ßes Salz, entsteht durch mehrfaches Aussieden von ver- schaftsform des Niederwaldes verlor immer mehr an Renta- brannter Holzasche. bilität. Viele Niederwälder wurden in Fichtenhochwald über- führt, was von staatlicher Seite gefördert wurde. Im Sieger- Ausgedehnte Niederwaldflächen entstanden im Land, die land blieb die Haubergswirtschaft noch einige Zeit bestehen. große Mengen an schwachem Brennholz lieferten und sich Erst nach 1900 kam es zu großflächigen Umwandlungen. hervorragend zum verkohlen eigneten. Auch bei der Leder- Noch heute prägen die verbliebenen Relikte der Niederwäl- herstellung (Lohgerberei) verarbeitete man die gerbstoffrei- der mit Restflächenanteilen von ca. 30.500 ha das Land- che Eichenrinde (Eichenlohe) aus Stockausschlagwäldern. schaftsbild des Siegerlandes und südlichen Sauerlandes.

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Der schlechte Waldzustand und die Sorge um eine Holznot

Aufgrund der hohen und vielfältigen Ansprüche die an den Wald und seinen Produkten durch eine schnell wach- sende Bevölkerung, die Landwirtschaft und das Gewerbe gestellt wurde, kam es regional zu Waldverwüstungen und -zerstörungen, vor allem in den Sandlandschaften und den Kammlagen der Mittelgebirge. Schon seit dem späten Mit- telalter häuften sich die Klagen über den schlechten Zu- stand der Wälder zusammen mit der Sorge um eine bevor- stehende Holznot. Die Landesherren versuchten, in immer wieder neu aufgestellten Forstordnungen, die Erhaltung und Nutzung der Wälder zu regeln. Um 1800 waren viele Waldflächen im heutigen Nordrhein-Westfalen durch Ro- dungen, übermäßige Holzentnahme, Überweidung, Plag- genhieb usw. stark verheidet und verödet. Die Höhen der Mittelgebirge waren zum Teil völlig waldfrei. Obwohl dama- lige Forstordnungen als Quelle für den Zustand der Wälder kritisch zu betrachten sind, da Eigeninteressen (Einnahmen Gleichaltriger Laubholzbestand aus dem Holzverkauf) sowie jagdliche Ambitionen den Erlass Foto: LWL/M. Philipps der Forstordnungen beeinflusst haben und es zudem an ei- ner exakten Vermessung der Wälder noch fehlte, geht man zu dieser Zeit von dem geringsten Hochwaldanteil über- Aufkommen einer staatlich und wirtschaftlich orientierten haupt aus. Die oft beschriebene Landschaft der Eifel war modernen Forstwirtschaft. Die streng eingeteilten rechtecki- weitgehend entwaldet. Im Ostmünsterland und Ostwestfa- gen Distrikte (Jagen, Schläge, Hauungen, Blöcke), vor allem len waren schon im 17. Jh. große Flächen verheidet (die in vielen Staatswäldern, zeugen noch heute davon. Nach Senne nördlich von Paderborn). In einem schlechtem Zu- dem Prinzip der Nachhaltigkeit durfte nicht mehr Holz dem stand befanden sich auch die Wälder der Grafschaft Mark Wald entnommen werden als nachwachsen konnte. Die und Ravensberg und selbst im großen zusammenhängen- zahlreichen Nebennutzungen des Waldes (Plaggen ste- den Waldgebiet des Arnsberger Waldes waren große Flä- chen, Streu sammeln, Brennholz schlagen u.a.) wurden abge- 83 chen übernutzt und devastiert. schafft, die Waldweide verboten. Die Wälder gingen in Staatsbesitz über oder waren Eigentum einzelner privater Waldbesitzer. Die Nutzungsraumtrennung zwischen Land- Der Wandel vom multifunktionalen Nährwald zum und Forstwirtschaft war damit vollzogen. Nutzholzproduzenten Der Wald, der bislang Lebensraum der Bevölkerung Bezüglich der Holzartenwahl und Kulturtechnik be- war und vorwiegend Brennholz zu produzieren hatte, er- schränkte man sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, fuhr ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen teilweise auch bis ins 19. Jh. hinein, schwerpunktmäßig Funktionswandel hin zum nutzholzreichen (Nadelholz)- auf das Schließen von Lücken im Wald mit heimischem Hochwald. Nadelholz fand, aufgrund der Entwicklung Laubholz und der Erhaltung ausreichend vieler Mast tra- des modernen Bergbaus im Ruhrgebiet, im Raum Aa- gender Bäume (Eichen und Buchen). Nadelholz (Fichte und chen und im Saarland, als Bau- und Grubenholz einen Kiefer) wurde im 18. Jh. eingesetzt um Heide- und Ödland- neuen Absatzmarkt. Diese und weitere Absatzmöglichkei- flächen wiederaufzuforsten. ten (z.B. als Papierholz) führten zu einem dauerhaften Baumartenwechsel und Nadelholz wurde zum gefragten Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann man mit einer ge- Wirtschaftsgut. Noch bis in die 1960/70er Jahre wurden zielten Umwandlung von Laubwald- in Nadelwaldbestände Laubwald- in Nadelwaldflächen umgewandelt. Die Bewirt- und mit großflächigen Ödlandaufforstungen. Nadelholz schaftung vieler Wälder erfolgte nachhaltiger aber auch war zunächst als Übergangslösung gedacht, da auf den monotoner (Reinbestände). durch Plaggenhieb und Streunutzung erschöpften Wald- böden vielfach nur eine Wiederkultivierung mit anspruchs- Mit dem Übergang von der regellosen Plenterwirt- losen Gehölzen möglich war. Vor allem die Fichte konnte schaft zum schlagweisen Altersklassenwald im Laufe sich auf den zum Teil stark verarmten Böden der Mittelge- des 19. Jahrhunderts, war das Wissen von der Größe birgsregionen etablieren (Eifel, Sauerland, Eggegebirge), und dem Zustand der Wälder notwendig. Diese Aufga- während Kiefernkulturen vorwiegend iauf sandigen Böden ben wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts von der im Flachland angelegt wurden. Forsteinrichtung übernommen, die neben der Vermes- sung und Einteilung der Wälder sowie der Ermittlung Die vom preußischen Staat geförderten großflächigen des Waldzustandes auch die Umtriebszeiten festsetzte Aufforstungen stehen im engen Zusammenhang zu dem und Betriebspläne aufstellte.

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Zusammenfassend zeichnete sich die rheinisch-westfäli- sche Forstwirtschaft des 19. Jahrhunderts durch eine Um- stellung der Betriebsarten und einen umfangreichen Baum- artenwechsel aus, die in weiten Teilen Nordrhein-Westfalens zu eingreifenden Veränderungen im Landschaftsbild führten.

Der Anteil des Nadelholzes hat auf Kosten des Laubhol- zes, vor allem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun- derts, deutlich an Fläche gewonnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Nadelholz noch einmal verstärkt zu Wie- deraufforstungszwecken und als Bauholz eingesetzt.

Erst seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nimmt der Laubwald wieder mehr als die Hälfte der Wald- bodenfläche in Nordrhein-Westfalen ein (1998: 52,7%). Monokultur eines Nadelwalds Foto: LWL/M. Philipps

Forstwirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart Da es an ausgebildeten Waldarbeitern mangelte, wur- den bei den umfangreichen Aufforstungsarbeiten vor allem Die Ausbeutung und Zerstörung der Wälder während des Flüchtlinge, Frauen und Jugendliche eingesetzt. In man- Ersten und Zweiten Weltkrieges und die anschließenden chen Gegenden halfen ganze Schulklassen an einem Tag Wiederaufforstungsmaßnahmen haben das heutige Wald- in der Woche („Pflanztag“) bei den Forstarbeiten. Die au- bild maßgeblich mitgeprägt. Schon während der Kriegszei- ßergewöhnliche Leistung der so genannten „Pflanzfrauen“ ten wurde der ursprüngliche Leitgedanke der Forstwirt- würdigte man auf dem 50-Pfennig-Stück, welches als Auf- schaft, nur soviel Holz zu nutzen wie im gleichen Zeitraum druck eine Frau beim Pflanzen einer Eiche zeigt. nachwachsen kann (Grundsatz der Nachhaltigkeit), nicht mehr eingehalten. Diese Entwicklung setzte sich auch nach Bei den Kulturarbeiten wurden die Holzart, die Güte der dem Ende des Zweiten Weltkrieges fort, denn der Rohstoff Pflanzen oder Standortansprüche nicht berücksichtigt. Die Holz war Mangelware. Der Forstwirtschaft kam daher beim Fichte war die am häufigsten gepflanzte Baumart. Laub- 84 Wiederaufbau des Landes eine zentrale Rolle zu. Neben hölzer waren schwieriger zu beschaffen und mit höheren Bauholz zur Reparatur von Häusern und Gebäuden wurde Kosten verbunden. Zudem hatte vor allem die spätfrostge- vor allem Brennholz zum Heizen und Kochen benötigt. fährdete Buche auf den riesigen Freiflächen Anwuchspro- Ebenso existierte eine große Nachfrage nach Grubenholz bleme. Auch fremdländische Baumarten wie die Dougla- für die Zechen im Ruhrgebiet. Der Holzmangel wurde zu- sie, die Schwarzkiefer, die Sitka-Fichte oder die Roteiche dem durch die großflächige Holzentnahme im Zuge der so kamen zum Einsatz. Die Wiederaufforstungsmaßnahmen genannten Reparationsleistungen weiter verstärkt. Gesun- sowie die Umwandlung von Niederwald in Hochwaldbe- de Bestände (ohne Splitter) wurden meistens per Kahlhieb stände wurden vom Staat bezuschusst. Vorrangiges Ziel eingeschlagen und zum Ausgleich von Kriegsschäden war die Aufforstung der Freiflächen und die Wiederherstel- nach England, Belgien und die Niederlande gebracht. lung der Rohstoffreserven der Wälder.

Daneben hatten die Wälder durch direkte Kriegseinwir- Nach dem Wiederaufbau der Waldbestände stand die kungen großen Schaden genommen. Zerstörte Waldbe- Steigerung der Ertragskraft im Vordergrund der Forstpolitik. stände (versplittert, abgebrochen oder abgebrannt) mussten Der Anbau von Nadelholz, Pappelhybriden und fremdländi- deshalb zunächst abgeholzt werden, bevor sie, wie die schen Baumarten sollte hierzu beitragen. Homogene Be- Kahlschlagflächen der Reparationshiebe, wieder aufge- stände entsprechend dem „Normalwaldmodell“ und Kahl- forstet werden konnten. Die Gefahr durch Minen war allge- schlagwirtschaft war die waldbauliche Vorgehensweise bis genwärtig und verzögerte die Aufforstungsarbeiten. Oft in die 1970er Jahre. Besonders der Anbau der schnellwüch- kam es auch zu Waldbränden, die durch unentdeckte sigen Hybridpappeln wurde in der Nachkriegszeit stark ge- Brandbomben ausgelöst wurden. Auch der Holzverlust fördert, die überwiegend entlang von Ufern, Wiesenrändern durch Borkenkäferkalamitäten war beträchtlich. Die Verket- und Landstraßen angepflanzt wurden. Ausgedehnte Pappel- tung vieler Faktoren wie u.a. große Mengen an Restholz im forste entstanden auch im Rahmen der Flächenrekultivie- Wald infolge der Reparationshiebe, schadhafte Bestände, rung auf den Kippen der Braunkohleabbaugebiete bei Köln. heiße Sommer und unaufgearbeitete Bauernwälder führten zum Anstieg der Borkenkäferpopulationen. In den 1970er Jahren setzte als Resultat von Umweltpro- blemen in vielen Lebensbereichen und dem schlechten Insgesamt verzeichnete Nordrhein-Westfalen mit Waldzustand, vor allem in den durch Immissionsbelastun- 120.000 ha den höchsten Anteil an Kahlflächen in der ge- gen stark betroffenen Ballungsräumen an Rhein und Ruhr, samten Bundesrepublik und es sollte bis weit in die 1950er ein wachsendes Umweltbewusstsein in der Bevölkerung Jahre dauern, diese Flächen wieder aufzuforsten. ein, welches sich in neuen gesellschaftlichen Ansprüchen

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an den Wald manifestierte. Studien über die Auswirkungen Montage von Stücken oder Fließgütern, die der Deckung des sauren Regens sowie Berichte über Waldschäden und menschlicher Bedürfnisse dienen. Alle nicht lagerbaren dem schlechten Zustand der Wälder führten zu heftigen Dis- Wirtschaftsgüter werden hingegen nicht produziert, son- kussionen und beeinflussten verstärkt das forstwirtschaftli- dern bereitgestellt wie etwa die Elektrizität. Arbeitskosten che Handeln, so dass der Schutz- und Erholungsfunktion und Nähe zum Markt bestimmen den Produktionsstandort. der Wälder in dem dicht besiedelten Land Nordrhein-West- Wie das mathematische Produkt hat Produktion etwas mit falen zunehmend mehr Bedeutung eingeräumt wurde. dem Hervorbringen eines Vielfachen zu tun.

Mit dem 1990 vom Ministerium für Umwelt, Raumord- Im Verlauf des Mittelalters kam es zu einer zunehmenden nung und Landwirtschaft Nordrhein-Westfalen (MURL) ver- Spezialisierung des Handwerks im städtischen Kontext, öffentlichtem Konzept „Wald 2000“ wurde die naturnahe während auf dem Land vielfach nur für den dörflichen Be- Waldbewirtschaftung eingeführt. Naturverjüngung, stand- darf produziert wurde. Dabei beeinflussten die örtlichen Ge- ortgerechte und ungleichaltrige Mischbestände sowie Ver- gebenheiten Art und Differenzierung der in Zünften organi- meidung großflächiger Kahlschläge sind Kennzeichnen die- sierten Handwerkszweige. Handelsstädte wie Köln, Neuss, ser Wirtschaftsweise. Die Abkehr von der Anpflanzung Duisburg oder Wesel zeichneten sich durch die Herstellung fremdländischer Baumarten (aufgrund von verstärkten Sturm- von Konsumartikeln und Endprodukten aus, während Städ- schäden, Schädlingsbefall sowie ökologischen und ökonomi- te mit reichen Ressourcen im Umland Roh- und Halbfabri- schen Gesichtspunkten), die sich schon in den 1970er und kate fertigten. So wurde in Stolberg und Aachen Messing 1980er Jahren abzeichnete, vollzog sich endgültig mit der gewonnen und verarbeitet, da in der Umgebung geeignete Einführung der naturnahen Waldwirtschaft. Heute sind Erze gefunden wurden. forstwirtschaftlich nur noch die fremdländischen Arten Dou- glasie, Roteiche und die Japanische Lärche von Belang. Lediglich in Ausnahmefällen kam es zur Verlagerung städtischen Handwerks ins Umland. Beispielhaft sei hier Die Forstwirtschaft der Gegenwart zeichnet sich durch eine die Abwanderung protestantischer Handwerker aus Aa- langfristige und nachhaltige Holzproduktion in gesunden, sta- chen erwähnt, die im Zuge der Glaubensauseinanderset- bilen und vielfältigen Wäldern aus, deren Handeln durch die zungen während des 16. und 17. Jahrhunderts ihre Betrie- Berücksichtigung und die Verknüpfung von ökonomischen, be aus Aachen an zu Herzogtum Jülich gehörenden Eifel- ökologischen und sozialen Anforderungen an den Wald als nordrand verlagerten. wesentliche Aufgaben und Herausforderungen bestimmt wird. Auf dem Land entwickelten sich nur in den Regionen, die besondere Standortvorteile boten, spezialisierte Hand- 85 werksbetriebe, die auch für einen regionalen oder interna- 5.4.2 Bergbau, Gewerbe, Industrie und Dienst- tionalen Abnehmerkreis produzierten und so lokal land- leistung schaftsprägend wurden.

Einführung Ohne eigene Bauten dafür hervorzubringen, waren anfäng- lich landwirtschaftliche und handwerkliche Fertigung inselhaft Produktion ist ein von Menschen betriebener “Hervor- an Klöster und Adelsgüter, städtische Häuser und Bauernhöfe bringungs”-Prozess der Umformung von natürlichen Aus- gebunden. Spinnen und Weben waren echte Hausgewerbe, gangsstoffen oder von bereits bestehenden Erzeugnissen die sich bis in die späte Neuzeit in den Häusern hielten, wo- zu lagerbaren Wirtschafts- oder Gebrauchsgütern unter bei nicht selten die Webstuhlbreite die Breite der Stube und dem Einsatz von Produktionsmitteln, worunter Energieein- damit das Grundraster der Häuser bestimmte. Beispiele vor- satz und Arbeitskraft zu rechnen sind. Die Arbeitskraft be- industrieller Fertigung in den Städten und Dörfern finden sich schränkt sich nicht nur auf Muskeleinsatz, sondern schließt in den Bereichen Schmieden, Backen, Brauen und Gerben. auch handwerkliches Geschick und auch je nach Höhe der Technisierungsstu- Bauten der Produktion sind in Nordrhein-Westfalen in ei- Kultur- und Sporteinrichtungen nut- fe dessen Umgestal- ner Weise überliefert, die sowohl hinsichtlich der Dichte als zen heute das Maschinenhaus der tung in arbeitsteilige auch der Breite der Produktionszweige, nach denen im ehemaligen Zeche Recklinghausen II. Foto: LWL/B. Milde Schritte ein. Die Pro- Folgenden gegliedert wird, einmalig ist. Der denkmalwerte duktion findet allge- Bestand setzt schon im 17. Jh. ein und reicht bis weit in mein in Betrieben statt, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere sind seien sie land- und Industriebauten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in al- forstwirtschaftlicher len Stilformen der Architektur überliefert. Natur, seien sie Betrie- be zur Rohstoffgewin- In der Manufakturphase entstanden die ersten großen nung als Abbau- oder Produktionsbauten. Aachen, Burtscheid und Monschau Bergwerks- oder Hüt- gehörten zusammen mit den heute in den Niederlanden tenbetriebe, oder seien und Belgien gelegenen Orten Eupen, Vervier und Vaals zu sie Fertigungsbetriebe den eindrucksvollsten Zentren der Protoindustrialisierung für die Erstellung oder im deutschsprachigen Raum. Einige wichtige Bauten wie

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das „Rote Haus“ in Monschau oder der Wylrersche Hof in Die ersten Fabrikenhäuser der Textil- und Metallindustrie, Aachen verweisen noch auf diese Zeit. Monschau und die wie sie sich in vielen Beispielen in Iserlohn, Hagen und Lü- Bauten der von der Leyens in Krefeld sind die landesweit denscheid befinden, bleiben hierbei verhältnismäßig wenig eindrucksvollste bedeutendsten Ensembles dieser Ent- tief und haben beiderseits belichtete Säle, vor deren Fens- wicklungsperiode. Stolberg bietet mit den Kupferhöfen tern dann die Maschinen in Reihe aufgestellt werden. Auf ebenfalls bedeutende Zeugnisse dieser Zeit aus einem an- dem Fabrikenhof fand das Kesselhaus mit dem Schorn- deren Produktionszweig. stein dicht am niedrigeren Flügel mit der Dampfmaschine Platz (Elbers in Hagen als neugotisches Beispiel). Diese Ent- wicklung nahm seit dem Anfang der 1860er Jahre ihren Essen-Bredeney, Villa Hügel Lauf, als die Dampfmaschine es möglich machte, die Ar- Foto: LVR/J. Gregori beitsstätten von den Wasserläufen zu den Menschen in den die Städten zu bringen. Die Dampfmaschinen getrie- benen Fabriken wurden Ausgangspunkt der Stadtbildung im 19. Jahrhundert.

Seit ca. 1850 wurden in der Umgebung der Rheinstädte größere Industriebetriebe in Flussnähe gegründet, die den Strom als Transportweg und Wasserlieferanten nutzten. Um 1900 wurden aufgrund der ständigen Nachfrage an Ar- beitskräften Werksiedlungen gegründet mit dem Ziel, die Arbeiter stärker an die Betriebe zu binden. Die gewerbliche Differenzierung und vor allem der Industrialisierungsschub im 19. Jh. ließ diesen Funktionsbereich kulturlandschaft- lich stark dominieren.

Seit den 1980er Jahren sind im Rahmen von Umstruktu- rierungen Industriebetriebe stillgelegt und abgerissen wor- den. Im Nordrhein-Westfalen befinden sich in ehemaligen Fabrikanlagen einige der rheinischen Industriemuseen, in denen die Produktionsverfahren des 19. und frühen 20. 86 Die Metall verarbeitenden Industrien ließen in den Städ- Jahrhunderts vorgestellt und wieder belebt werden. ten am Nordrand des Sauerlandes mehrgeschossige Fa- brikenhäuser wie in Iserlohn, An der Schlacht die Maste- Rohstoffgewinnung sche Fabrik oder ein weiteres an der Hardt mit großen, gut durchfensterten Werksälen entstehen, in denen dem Gürt- Alle in den älteren Steinzeiten (Paläolithikum/Mesolithi- ler- oder Nadlergewerbe nachgegangen wurde. In Solin- kum) zum Überleben benötigten Rohstoffe/-materialien gen sind die aus den Schleifkotten hervorgegangenen mussten sich die Menschen in ihrer Umwelt beschaffen. Dampfschleifereien zu nennen. Das Ensemble dieser Materialien lässt sich in organische und anorganische Materialien einteilen. Die Beschaffung Das entwickelte Mühlenwesen kennzeichnet auch in West- organischer Rohstoffe im Paläolithikum/Mesolithikum hin- falen und im Rheinland den Beginn der Mechanisierung und terlässt keinerlei direkte Spuren kulturlandschaftsprägen- des Maschinensystems. Die nach englischem System er- der Funktionsbereiche. bauten Spinnmühlen standen am Anfang der industriellen Revolution. Nur noch mittels archivalischer Dokumente sind Anders verhält es sich mit der Gewinnung von Gesteinsar- diese Anlagen in Aachen und Wuppertal nachweisbar. Mit ten, im Paläolithikum/Mesolithikum hauptsächlich Kieselge- der Spinnerei Cromford bei Ratingen ist der Pionierbau die- stein (Feuerstein, Hornstein, Kieselschiefer u.a.) und diverse ser Entwicklung in Deutschland und dem Kontinent erhalten Felsgesteinsarten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, geblieben. Auch die Textilfabriken an der Wupper bei Rade- dass bereits im Paläolithikum Gestein bergmännisch ge- vormwald basieren auf dieser Entwicklung. wonnen worden ist. Im Rheinland finden sich mehrere Bele- ge paläolithischer bergmännischer Aktionen, wie die mittel- So wie die Maschinen größer und schwerer, und nach- paläolithische Gewinnung von Quarzit am Ravensberg bei dem die Dampfmaschine als Zentralantrieb üblich wur- Troisdorf oder die jungpaläolithische von Chalzedon im Ma- den, ersetze man die anfänglichen Fabrikhäuser, eigent- rienforster Tal bei Bonn-Muffendorf sowie von Schotterflint lich „Mills“ nach englischem Vorbild, mit ihren Lochfas- aus der Maas-Hauptterrasse bei Geilenkirchen-Beeck. saden durch Skelettbauten als Ziegelbauten mit Kap- pengewölben auf Gusseisenstützen und den charakte- Überregional ist auch für das Mesolithikum eine ver- ristischen gusseisernen Fabrikfenstern. Eindrucksvolle gleichbare Gewinnung von Gestein nachgewiesen, von Beispiele dafür sind in Aachen, Mönchengladbach, En- Wommersom-Quarzit bei Tienen/Belgien. Für das Rhein- gelskirchen, Radevormwald, Bielefeld und bei Rheine land lässt sich hier lediglich die nur lokale Nutzung von erhalten geblieben. Lousberg- und Vetschauer-Flint sowie die flächendecken-

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de Nutzung von Schotterflint nachweisen, während in nen und im Bergischen Land seit etwa 1860 in verstärktem Westfalen vor allem Geschiebeflint und auch der regional Masse Grauwacke gebrochen. Darüber hinaus prägen die teils häufig vorhandene Kieselschiefer verwendet wurde. Steinbrüche noch heute das Landschaftsbild dieser Regio- nen. Kalksteinbrüche mit den zugehörigen Kalköfen, sind Auch zur Zeit des Neolithikums spielen diverse Gesteinsar- in guten Beispielen im Hönnetal zwischen Balve und Men- ten eine ausschlaggebende Rolle als Rohstoff für unter- den (Märkischer Kreis) sowie in Aachen-Walheim, in der Ei- schiedlichste Gerätschaften und zwar in aller erster Linie Feu- fel und bei Bergisch Gladbach erhalten. erstein und Felsgestein. Sie wurden seit dem Altneolithikum bergmännisch im Tage- und Untertagebau gewonnen. Se- Das Metallerz Kupfer liegt im Bergischen Land, in der Ei- kundär gelagerter Feuerstein findet sich in der Maas-Haupt- fel und im Hochsauerlandkreis meist in einer Schwefelver- terrasse, d.h. westlich der Rur und in der Rhein-Maas-Misch- bindung als Kupferkies vor. Bislang gibt es keine direkten fazies der Hauptterrassenschotter. Die einzigen primären Beweise für den metallzeitlichen Abbau von Kupferkies aus Feuersteinvorkommen in Nordrhein-Westfalen befinden sich diesen Regionen. Es ist aber durchaus denkbar, dass aus- in Aachen (Lousberg) sowie am Vetschauer Berg bei Laurens- beißender Kupferkies abgebaut wurde. Spuren solcher Ak- berg, nordwestlich von Aachen. Neolithische Abbauspuren in tivitäten wären dann durch jüngere Bergbauaktivitäten ver- Form von Ortsbrüsten mit Gezähespuren, im Hangschutt er- nichtet worden. Der Fund von eisenzeitlicher Keramik in ei- stickter großflächiger Abbaufronten sowie oberirdisch noch ner Abraumhalde im Bereich des karolingischen und neu- hervorragend erhaltener Haldenzüge sind jedoch nur vom zeitlichen Kupferbergwerks Anacker (Rösrath, Rheinisch- Lousberg nachgewiesen bzw. glaubhaft gemacht. Bergischer Kreis) könnte dies bestätigen.

Weitere Abbaugebiete finden sich im Neolithikum für Bronze (eine Legierung aus meist 90% Kupfer und 10% den Eschweiler Kohlensandstein sowie den Herzogenrat- Zinn) wurde wohl als Fertigprodukt in Form von Barren bzw. her und Kinzweiler Sandstein. Es ist davon auszugehen, Kuchen oder als Fertiggegenstände (Waffen, Schmuck, Si- dass sie nahezu exklusiv bergmännisch gewonnen wur- cheln, Rasiermesser) importiert. Funde von Gusskuchen und den, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach in Steinbrü- Gussformen der jüngeren Bronzezeit sowie kleine Gusstie- chen. In Eschweiler konnte dies jüngst beispielhaft glaub- geln der mittleren Eisenzeit belegen die Arbeit von Bronze- haft gemacht werden. Spuren entsprechender Steinbrüche gießern, die nach Wunsch der Kunden Schmuck und Waf- sind bislang nicht entdeckt worden, und es wird ins Feld fen vor Ort angefertigten. geführt, dass sie durch neuzeitlichen Abbau zerstört wor- den sein müssen. Mag dies auch fallweise zutreffen, so Die Einführung der Eisentechnologie machte die Bevöl- besteht doch nach wie vor die Wahrscheinlichkeit, dass kerung in Nordrhein-Westfalen vom überregionalen Metall- 87 bei Baumaßnahmen an den bekannten Vorkommen Spu- handel unabhängiger. Raseneisenerz steht auf der Nieder- ren des Bergbaus gefunden werden könnten. terrasse an, war leicht abzubauen und zu verhütten, da kaum Beischlag zugegeben werden musste. Im Sieger- Im ganzen Land gibt es Steinbrüche – besonders her- land setzte spätestens um 600 v. Chr. unter keltischem Ein- vorgehoben seien die Schieferbrüche im Sauerland (Best- fluss die Gewinnung von Eisen ein und dauerte bis zur An- wig, Olsberg, Schmallenberg) und im Wittgensteiner Land kunft der Römer am Rhein. Erst in der Späteisenzeit (letz- (Raumland). Am Siebengebirge wurde seit römischer und tes Jahrhundert v. Chr.) kann der bergmännische Abbau von verstärkt in mittelalterlicher Zeit Trachyt und Basalt gewon- Metallerzen, hauptsächlich Bleiglanz, in Königswinter- Uckerath nachgewiesen werden. Bei einer Ausgrabung dort fand sich eisenzeitliche Keramik zusammen mit Gang- Steinbruch bei Erwitte quarziten unter einer frührömischen Befestigung im Be- Foto: LWL/M.Baales reich des Bleibergwerkes. Spuren des eisenzeitlichen Ab- baus wurden vermutlich durch die Anlage eines mächtigen römischen Tagebaus überprägt. Ebenfalls vorrömisch da- tieren Stollen mit späteisenzeitlichen Münzfunden aus Me- chernich, die im 19. Jh. beobachtet wurden.

Ein Rennfeuerofen der frühen Eisenzeit aus Düsseldorf- Rath sowie zahlreiche Schlacken- und Ofensaufunde bele- gen die Beherrschung der Verhüttungstechnologie. In der Nordeifel bei Mechernich-Weyer (Kreis Euskirchen) wurde zur selben Zeit ein Grabhügel der Hunsrück-Eifel-Kultur über einer Schicht mit Schlacken und Eisenerz errichtet. Aus der späten Eisenzeit liegen Rennfeueröfen aus Rösrath (Rheinisch-Bergischer Kreis) vor. Bergbau, Verhüttung und die Ausschmiedung der Luppe lag in den Händen von Spe- zialisten. Eine große Palette an Produkten wurde hergestellt, nämlich Waffen (Schwerte, Dolche, Lanzen), landwirtschaftli- che Geräte (Beile, Pflugscharen, Hippen und Sensen), Geräte

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für den Haushalt (Nähnadeln, Messer, Scheren) und für den Transport (Wagenteile, Beschläge, Nabenringe und Pferdege- schirr) sowie für die Weiterverarbeitung (Barren).

Der eisenzeitliche Abbau und die Verhüttung des auf der Niederterrasse anstehenden Raseneisenerz im Bereich von Düsseldorf, Ratingen, der Münsterschen Bucht und des Weserberglandes sind durch zahlreiche Schlackenfun- de von den dortigen Siedlungsplätzen belegt. Das Vor- kommen von Raseneisenerz in diesem Raum ist beson- ders stark. Es ist aber anzunehmen, dass kleinere Vorkom- men überall auf der Niederterrasse und in den Tälern des Berglandes abgebaut und verhüttet wurden.

Im unmittelbaren Umfeld des eisenzeitlichen Ringwalles „Lüderich“ (Rösrath, Rheinisch-Bergischer Kreis) liegen Ra- seneisen- und Metallerze an. Das Raseneisenerz im Sülz- Aufgelassener Bergbau an der Rabenley bei Mechernich-Scheven bachtal ist nach Ausweis von Rennfeueröfen in der jüngeren Foto: MBV/A. Thünker Eisenzeit abgebaut und verhüttet worden. Im Bereich der neuzeitlichen Kupfergrube Anacker (Rösrath-Eigen) deuten eisenzeitliche Scherben in einer Halde auf einen möglichen zu haben. Dabei kann die heutige Stadt Soest, am Hell- früheisenzeitlichen Abbau von Kupfererzen hin. Ferner las- weg, für die Kommerzialisierung des Bleis eine besondere sen Funde von Azurit und Malachit in den römerzeitlichen Rolle gespielt haben. In einem germanischen Gehöft des Halden des Tagebaus „Heidenkeller“ in Rösrath-Hoffnungs- 1. Jahrhunderts n. Chr. bei Balve-Garbeck (Märkischer thal, auf einen mächtigen Kupferausbiss schließen, der Kreis) sind zahlreiche dieser Bleibarren („Typ Garbeck“) ent- möglicherweise schon in der Eisenzeit erschlossen war. deckt worden. Als „Zwischenhandelsstationen“ mögen die durch zahlloses römisches Metallmaterial besonders auf- Im Sauerland (um Brilon und Bad Wünnenberg) scheinen fälligen Siedlungen wie Kamen-Westick (Kreis Unna) oder Germanen nach Abzug der Römer im Jahre 16 n. Chr. das Castrop-Rauxel (Kreis Recklinghausen) in diesem Wirt- Geschäft mit der Bleigewinnung von ihnen übernommen schaftsverbund eine besondere Rolle gespielt haben. 88 In der römischen Zone bildeten die reichen Ressourcen Reste alter Abbaue in der Bleierzgrube Gottessegen, Mechernich-Kommern an Bodenschätzen, Rohstoffen und Baumaterialien eine Foto: LVR/S. Mentzel der Voraussetzungen für die wirtschaftliche Blüte der Pro- vinz Niedergermanien, besonders im 2. und 3. Jh. n. Chr. Die meisten Erzvorkommen lagen in der Eifel, die ab dem Ende des 1. Jahrhunderts intensiver besiedelt wurde. Es wurden reine Gewerbesiedlungen angelegt, wie in Stol- berg-Breinig, in denen Funde von Pingen, Halden, Schmel- zöfen und Schlacken die Verhüttung und Verarbeitung von Metallen belegen. Daneben wurden spezialisierte Arbeiten auch in einigen der Gutshöfe durchgeführt, bei denen die Landwirtschaft nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. In der Eifel wurden Eisenerze, Galmei, Blei, Silber, Gold und Kupfer abgebaut und verarbeitet. In den Niederungen der großen Flüsse, wie Rhein, Lippe, Erft, Issel und Niers, stand Raseneisenerz an, das nicht nur im Reichsgebiet, sondern auch in den rechtsrheinischen Gebieten gewon- nen und verarbeitet wurde. Explorationen, Abbau und Ver- hüttung von Metallen ist auch im Bergischen Land nachge- wiesen, teilweise im Auftrag durch die ansässigen Germa- nen durchgeführt. In den germanischen Siedlungen der Römischen Kaiserzeit, beispielsweise Borken, Heek-Nien- borg, Dorsten-Holsterhausen oder Dortmund-Oespel ist die Verhüttung von Eisen in sog. Rennfeueröfen die Regel.

Als Brennmaterial dienten die zunächst noch reichlich vorhandenen Holzvorkommen und die in Meilern gewon- nene Holzkohle. Allerdings gibt es Hinweise, dass im 3. Jh. die Holzvorkommen rapide zurückgehen. Im Aachener Kap_5_2_6.qxp 18.10.2007 13:14 Seite 89

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Raum ist die industrielle Nutzung von Steinkohle nachge- zu denen auch die baulich allerdings kaum noch in Erschei- wiesen; als Hausbrand auch in Bonn und Neuss. nung tretenden bergbauliche Anlagen wie die Grube Lüde- rich in Overath oder das Bleibergwerk in Mechernich gehö- Die Römer machten die Steinbauweise im Rheinland be- ren. Im gesamten Sauer- und Siegerland finden sich zahllo- kannt. Sie nutzten daher die reichen Baustoffvorkommen in se Relikte des neuzeitlichen (vor allem) Eisenbergbaus, der der Eifel und im Bergischen Land wie Sandsteine, Kohlen- die älteren Spuren oft zerstört hat. An vielen Berghängen kalke, Blausteine, Eifelgranite, Marmor, Plattenschiefer, sind verschüttete Stolleneingänge und Schachtpingen – so- Grauwacken, Trachyte, Basalte und Tuffsteine. Jedoch wur- wie Pingen des älteren Bergbaus – zu finden. In den Regio- den diese Materialien nicht nur lokal verwendet, sondern nen Bestwig, Balve, Marsberg (Hochsauerlandkreis) sind auch exportiert. Im Gegenzug wurden auch besondere heute Besucherbergwerke eingerichtet. Baustoffe importiert, hier sind vorrangig Marmore aus dem Mittelmeerraum zu nennen. In spezialisierten Betrieben wurde Branntkalk gewonnen wie die Kalkfabrik von Bad Rohstoffverarbeitung Münstereifel-Iversheim belegt. Weitere solcher Fabrikanla- gen sind aus Mechernich und Blankenheim dokumentiert. In der Nordeifel sind in römischer Zeit zahlreiche Me- tallschmelzöfen nachgewiesen, die belegen, dass man Im Rechtsrheinischen Gebiet sind die bekannten römi- die aus den Lagerstätten gewonnenen Erze gleich vor schen Lagerstätten für den Eisenerz- und Buntmetallerz- Ort verarbeitete. Hier wurden Barren erzeugt, die den bergbau seit dem Mittelalter, vor allem im 18. und 19. Jh. Transport zu den Schmieden erleichterten. Das Schmie- wieder intensiv bebaut worden. Dieser jüngere Abbau hat dehandwerk war hoch entwickelt und spezialisiert. Waf- die alten Bergbaurelikte zumeist überprägt, so dass nur in fen, Geräte, Werkzeuge und anderes aus Eisen waren einzelnen Bereichen die alten Arbeiten erhalten sind. weit verbreitet und in dauernder Benutzung. Hinzu ka- men Baubeschläge, Schlösser, Ketten, Wagenteile, Hufei- Bei den Eisenerzlagerstätten um Kall und Sötenich ha- sen u.v.m. Daneben wurden zahlreiche weitere Metalle ben sich große Pingenfelder erhalten, die sich auf den Hö- erzeugt und verarbeitet, wie Bronze, Kupfer, Zink, Mes- hen rund um Kall erstrecken. Das Aussehen der Pingen, sing, Gold und Silber. ihre Größe, Umfang, Durchmesser und Erhaltungszustand ergeben erste Hinweise auf Funktion und Datierung sol- cher Anlagen. Sie sind überwiegend mittelalterlicher bis frühneuzeitlicher Zeitstellung. Weitere Eisenerzvorkommen Nettersheim, Römischer Werkplatz Steinrütsch mit umfangreichen Bergbauspuren finden sich bei Foto: MBV/A. Thünker 89 Schmidtheim, Blankenheim, Lommersdorf und Kuffrath. Westlich von Lommersdorf befindet sich das alte, aufgelas- sene Bergbaufeld, von dem aber nur noch wenige Relikte erhalten sind. Von den Arembergern ausgebeutet, gehörte es vom 16. bis 18. Jh. zu den bedeutenden Eisenerzgru- ben und lieferte Erze für mehrere Hüttenwerke.

Relikte des alten Stollen- und Schachtbergbaues finden sich in den umfangreichen Bleierzlagerstätten bei Mecher- nich und Kall-Keldenich. Weitere Bergbauspuren und ein- zelne Schachtreste finden sich in den Rändern des heute aufgelassenen Tagebaus Günnersdorf bei Mechernich. Die alte Grube Wohlfarth bei Hellenthal-Rescheid ist heute ein Besucherbergwerk mit überschütteten Pingenzügen an der Oberfläche. Die erhaltenen Bergbauspuren sind dem ausgehenden Mittelalter bzw. der Frühneuzeit zuzuordnen. Abbaue des im 18. und 19. Jh. erfolgten Kammerbruch- baues haben sich an der Nordwestwand des Giersbergs bei Mechernich-Kommern erhalten. Vergleichbare Befunde von Schächten und Abbaukammern finden sich am Süd- westende des Mechernicher Bleiberges – an der Rabenley – und auf dem Kallmuther Berg. Ein weiteres auch im Mit- telalter und der Neuzeit abgebautes Bergwerkgebiet sind die Blei- bzw. Galmeilagerstätten südlich von Stolberg. Sie stehen im Zusammenhang mit der Aachener und Stolber- ger Messingindustrie.

Von besonderer Bedeutung sind die frühen montange- schichtlichen Reviere in der Eifel und im Bergischen Land,

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Verhüttung, Schmieden und Gießen setzen die Herstel- menhang mit dem Kloster Steinfeld beginnt ab dem 12. lung von großen Mengen von Holzkohle voraus, die auf Jh. eine intensive Eisenverarbeitung. Zuvor gab es re- Köhlerplatten und in Köhlergruben in den Wäldern herge- gional begrenzte früh- und hochmittelalterlichen Renn- stellt wurde. feuerverhüttung. Das Schleidener Tal ist eines der ältes- ten Eisenzentren der Eifel. Bereits im 12./13. Jh. stan- Die Holzgewinnung für Brennmaterial, Baubedarf und den hier einzelne Eisen verarbeitende Betriebe. 1438 Herstellung der mehrheitlich hölzernen Gegenstände des existierten hier fünf Hütten und vier Hammerwerke, die täglichen Lebens war eine wichtige Sparte. Überlieferte heute alle wüst gefallen sind, oder durch moderne In- Holzfunde der Späteisenzeit aus Porz-Lind (Stadt Köln) – dustrieanlagen überlagert werden. Neben dem Oleftal Gebäude- und Möbelteile, Schaufeln, Spaten, Paddel, Fäs- sind das Urfttal, die obere Ahr und Kyll zu nennen. In ser, Gefäße und Wagenteile – stehen stellvertretend für an- Kall und Gemünd entstanden seit dem 17. Jh. weitere dere selten gefundene organische Gegenstände aus Le- Zentren. Insgesamt lassen sich für diese Zeit in beiden der, Bein, Fasern, Korbwaren und Textilien. Lediglich die Tälern mehr als 18 Hütten- und Hammerwerke nachwei- häusliche Herstellung von Textilien wird durch Funde von sen. Als weitere frühere „Industriestandorte“ sind hier Spinnwirteln und Webgewichten überall in Nordrhein-West- das Vichttal und das Wehebachtal zu nennen. Seit dem falen belegt und die Salzgewinnung und -vermarktung im 15. Jh. existierte eine ausgedehnte Eisenindustrie, die Unteren Hellweg-Gebiet. durch den Herzog von Jülich gefördert wurde. Neben dem Ort Mulartshütte gab es vor allem nördlich von Frühes spezialisiertes Handwerk ist aus einem germa- Zweifall seit dem 16. Jh. zahlreiche Eisenwerke. Auf der nischen Gehöft bei Warburg-Daseburg (Kreis Höxter) be- Grundlage des vorhandenen Galmei entwickelte sich im legt. Die dort ansässige Familie schmiedete zu Beginn Stolberger Raum eine Messingproduktion, die im 17./18. des 1. Jahrhunderts n. Chr. kleine Gewandspangen (Fi- Jh. ihre Blütezeit erlebte. Hervorgegangen aus der Ei- beln) aus Bronze bzw. notfalls aus Eisen oder Edelmetall senindustrie und in Konkurrenz zu Aachen besaß der (Silber) für einen Markt, der zwar noch nicht greifbar ist Ort 1648 65 Kupferöfen, die jährlich rund 19.500 Zentner aber wahrscheinlich regional war. Dies bleibt vorerst ein Messing erzeugten. Das Kupfer wurde aus Mansfeld und Einzelfall, denn die zeitgleichen Bleierzeuger des Sauer- Skandinavien importiert. landes produzierten nur Barren, die anderswo (vor allem im Römischen Reich) weiter verarbeitet werden sollten. Von überregionaler Bedeutung ist die Zementfabrik in Bonn-Ramersdorf, die 1856 als zweite Zementfabrik des Genauere Kenntnisse über die Metallverhüttung der europäischen Kontinents in Betrieb genommen wurde. 90 Eifel liegen erst seit dem Hochmittelalter vor. Im Zusam-

Ruine des Bökershammers im Eifgenbachtal bei Burscheid Foto: LVR/W. Wegener

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Wind- und Wassermühlen nem quer durch den Fluss reichenden Wehr versorgte die Mühle mit Wasser und der Untergraben führte das Wasser Die Einführung der in den Fluss zurück. Wesentlich aufwändiger war das Sys- Wassermühlen zur Nut- tem weit ausgreifender Mühlengräben zur Versorgung zung der Wasserkraft mehrerer Mühlen und anderer Anlagen mit Kraftwasser wie ist als technische Inno- die insgesamt als denkmalwert eingestuften Rurteiche von vation im Rheinland in Kreuzau bis Linnich. das 8. und 9. Jh. zu datieren. Der Nachweis Eine spezielle Funktion haben einige der Wassermüh- einer karolingischen len am Niederrhein. Im Zuge der Aufsiedlung der Niede- Steg und Uferrandbefestigung der Mühle gelang 2005 zu- rungsgebiete gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden Clörather Mühle im ehemaligen fällig bei der „Renatu- große Areale trocken gelegt. Dies wurde hauptsächlich Niersbett, bei Viersen rierung“ des Rotba- von Holländern durchgeführt, die mit Privilegien für ihre Foto: LVR/S. Mentzel ches in Erftstadt-Nie- Ansiedlung angeworben worden waren. Die Windmühlen derberg: es fanden dienten dabei der Entwässerung tiefer liegender Feucht- sich hölzerne Relikte einer frühen Wassermühle mit gebiete durch Hebungen des Wassers in Abflusskanäle. Schaufelrad, dendrochronologisch datiert um 833 n. Chr. Spuren dieser Kolonisationsarbeiten sind als lang-schma- Damit handelt es sich um eine der ältesten Mühlen der le Entwässerungsgräben, die die eigentlichen Parzellen karolingischen Zeit in Deutschland. voneinander trennten, noch im Gelände erkennbar (in der Düffel bei Kranenburg). Die Getreidemühle, später oft verbunden Die Nutzung der Windkraft war – wie überall in Mittel- mit Anlagen zu Öler- europa seit dem 12. Jh. – in ganz Westfalen-Lippe und zeugung, wurde eine am Niederrhein gebräuchlich. Besonders in den Kreisen der wichtigsten Nut- Minden-Lübbecke, Kleve und Wesel entstanden diese zungsarten der Wasser- Windmühlen, seien es nun hölzerne und steinerne Turm- kraft besonders in den oder Bockwindmühlen oder Holländerachteckmühlen, in flachen Landesteilen, der ganzen Bandbreite ihrer Konstruktionsformen und aber auch in den bergi- Getreidemühle bei Lichtenau bieten noch heute einen wesentlichen Beitrag zum Land- gen Landesteilen. Foto: LWL/M. Philipps schaftsbild. Auch in der Nähe der Städte sind hochaufra- gend auf den Festungswällen oder in Verwendung von 91 Für eine möglichst effektive Art der Wassernutzung und Stadtmauertürmen Windmühlen entstanden. Besonders zur Erzeugung einer größeren Gefällehöhe wurde das beeindruckende Beispiele finden sich in Zons, Xanten Wasser durch Wehre gestaut. Nur selten wurden Mühlen und Kempen. Windmühlen wurden vor allem als Getrei- direkt an den bestehenden Wasserläufen wie an der Erft demühlen errichtet. Pumpwerke an Salinen wie der Müh- errichtet. Verbreitet war die Anlage separater, parallel zum lenturm der Saline Königsborn in Unna sind die seltene Fluss verlaufender Wassergräben. Der Obergraben mit ei- Ausnahme im Windmühlenbau.

Windmühle bei Straelen-Herongen Windmühle bei Petershagen Turmwindmühle bei Kempen Foto: LVR/J. Gregori Foto: LWL/T. Spohn Foto: LVR/J. Gregori

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Nicht erhalten haben sich Reste der zahlreichen Schiffs- Steinkohlen-Bergbau mühlen im Rhein, die bei größeren und kleineren Orten nachgewiesen sind, in Köln, Düsseldorf, aber auch Duis- Vermutlich seit römischer, mit Sicherheit aber seit mittelal- burg-Essenberg u.a. terlicher Zeit gibt es in Nordrhein-Westfalen Steinkohlenberg- bau. Die als Pingen bezeichneten, trichterförmige Vertiefun- gen in den Tälern von Wurm, Inde, Ruhr und auf den Berg- Hämmer und andere Industriemühlen, frühe Montan- ketten des Teutoburger Waldes und um Dortmund überzie- industrie hen auch heute noch gut sichtbar ausgedehnte Flächen.

Basierend auf der Mühlentechnik entstanden seit dem Die ersten schriftlichen Nachrichten über den Steinkoh- Mittelalter eine Vielzahl Industriemühlen zur Erzeugung lenabbau für den Aachener Raum erhalten wir 1133 aus den oder Verarbeitung von Eisen und Metalle, Papier, Holz usw. Jahrbüchern der Abtei Klosterrath. Der älteste und primitivs- Historisch besonders bedeutend ist die Eisenerzeugung te Abbau erfolgte in den Tälern der Inde und Wurm an der und Eisenverarbeitung in der Eifel und im Bergischen Land, nördlichen Mittelgebirgsabdachung auf den hier austreten- daneben aber auch im Eggegebirge. Hüttenwerke siedelten den Kohlenflözen. Es wurden Gräben angesetzt und in der sich seit dem 13. Jh. entlang der Wasserläufe an und nutz- Mächtigkeit der Flöze das Tal hinauf aufgegraben. Später er- ten die Wasserkraft für bis zu fünf Antriebsorten: Blasebälge folgte der Abbau über einzelne Schächte, die als Art Brun- der Hochöfen, Blasebälge der Frisch- und Hammeressen, nenbau kreisrund abgeteuft wurden. Mit der Anlage von Antrieb der Hämmer und Pochwerke. Allein an der Urft im Stollen aus den Tälern oder von den Bergseiten aus wurde Schleidener Tal gab es sieben Hüttenwerken. Bedeutende das Wasser gelöst und größere Schachttiefen erreicht. bauliche Reste sind jedoch nur an der Vicht zwischen Zwei- fall und Stolberg, am Kallbach in Simonskall und Zweifall- Zwischen Eschweiler und Stolberg liegt im Stadtwald ein shammer, an der Rur in Kreuzau und Düren-Lendersdorf ausgedehntes Bergwerksgelände des vorindustriellen und an der Inde in Aachen-Schmithof erhalten. Von überre- Steinkohlenbergbaus. Schon die Tranchot-Karte von gionaler Bedeutung war die Messingindustrie in Stolberg 1805/07 belegt für dieses Gebiet zahlreiche Schächte und mit einer Vielzahl so genannter Kupferhöfe mit Wasseran- Pingen. Vergleichbare Befunde sind im Wurmtal bei Herzo- trieb der Blasebälge und Hämmer durch die Vicht. genrath und Würselen an den Talhängen erhalten.

Auch im Bergischen Land gab es vor der industriellen Im Gebiet um Dortmund, Witten und Wetter ist die indus- Revolution eine eisenerzeugende Industrie, von der be- trielle Nutzung der Steinkohle seit dem späten 18. Jh. be- 92 merkenswerte bauliche Reste aber nicht erhalten sind. legt und erfährt im 19. Jh., besonders mit der Industrialisie- Stärker überliefert sind Anlagen zur Metallverarbeitung wie rung, einen ungeheuren Aufschwung. Eine erste oberflä- die Schleifkotten in Solingen und die noch weit verbreite- chennahe Gewinnung von Steinkohle ist – an der Syburg ten Hammeranlagen zur Eisenverarbeitung. Erwähnens- bei Dortmund – schon für Mittelalter/Frühneuzeit nach- wert ist besonders das Gelpetal bei Remscheid. weisbar. Zahlreiche Pingen von sog. „Privatpütts“ zeugen vom Abbau oberflächennaher Steinkohle im Raum Ibben- In Westfalen sind die Luisenhütte in (Balve-)Wocklum büren in den Zeiten nach den Weltkriegen. und die Wendener Hütte zu nennen. Im westfälischen Gebiet reihen sich, beginnend im 15. Jh., für den Be- trieb von Hammerwerken der Metallverarbeitung in dich- Braunkohlen-Bergbau ter Folge denkmalwerte Anlagen im Sauerländer Berg- land an den Läufen von Lenne, Volme, Ruhr und Enne- Schon im 17. Jh. als verwertbares Bodenmineral be- pe sowie deren Zuläufen. kannt, wurde Braunkohle im industriellen Maßstab erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgebaut. Der Ab- Von den übrigen Industriemühlen sind vor allem die Pa- bau erfolgte zeitweise auch im Tiefbau. Landschaftliche piermühlen im Raum Düren und Bergisch Gladbach zu be- Dominanz aber erreichten seit etwa 1900 die großen Tage- achten. Auf westfälischer Seite zeigt die Papiermühle in baue. Mit dem Übergang zu den Tieftagebauen seit 1945 Schieder-Schwalenberg (Kreis Lippe) das typische mehrge- erreichten die Abbaustätten der Braunkohle noch einmal schossige Dach mit langen Lüftungsschlitzen. eine neue Dimension. Die über der Braunkohle lagernden Bodenschichten wurden teilweise zur Schließung der Tag- Gemeinsam ist den Wassermühlen, Industriemühlen und baulöcher verwendet und auf Abraumhalden verkippt. Die Hüttenwerken die Nutzung der Wasserkraft. Die Flüsse ausgekohlten Grubenfelder wurden rekultiviert überwie- wandelten sich seit dem Mittelalter zu genau berechneten gend für landwirtschaftliche Zwecke, Wald, Seen und Tei- Kunstbauten mit Wehranlagen und parallel verlaufenden che, Wohnsiedlungen und Verkehrswege. Die Ausdeh- Gräben mit dem Zweck, das Gefälle und die damit verbun- nung der früheren Tagebaue und die Intensität und Quali- dene Wasserkraft zentimetergenau den jeweiligen Kraftan- tät der Rekultivierungsmaßnahmen prägen die differenziert lagen zur Verfügung zu stellen. Die Wasseranlagen bilden in Erscheinung tretenden Bergbaufolgelandschaften des mit den denkmalwerten Bauwerken eine funktionale, topo- Braunkohlereviers: Die Folgelandschaft des Südreviers bei graphisch-städtebauliche und oft auch entstehungsge- Brühl, Hürth, Kerpen und Erftstadt ist geprägt durch eine schichtliche Einheit. Vielzahl kleiner Seen mit bewegten Bodenformationen; ge-

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Eschweiler, Braunkohlekraftwerk, 2004 Eschweiler, Braunkohletagebau, 2004 Foto: LVR/J. Gregori Foto: LVR/J. Gregori

radlinige Wege und Dämme verweisen noch auf die alten Zur Trockenhaltung der Tagebaue war besonders nach Transportwege; das Mittel- und Nordrevier zwischen Fre- 1945 mit den Tieftagebauen und der Absenkung des Was- chen und Grevenbroich ist durch die großen Tieftagebaue sers zwischen 150 bis 300 Meter unter Gelände ein groß- der Nachkriegszeit gekennzeichnet mit großen, überwie- räumiges Entwässerungssystem notwendig. Die Erft wur- gend ebenen Flächen im Bereich der ehemaligen Tage- de schon seit etwa 1900 für die Ableitung von Sümpfungs- baue und den oft direkt daran anschließenden Abraumhal- wasser benutzt. Um die gewaltig ansteigenden Wasser- den; da die Tagebaue oft nicht bis auf das alte Niveau ver- massen bewältigen zu können, mussten Erft (Erftflutkanal) füllt wurden, werden durch steile Hänge noch die äußeren und Inde seit 1966 ausgebaut und reguliert werden. Der Grenzen der Abbaubereiche deutlich; das Verhältnis von 22 km lange Kölner Randkanal verbindet das Revier von Seenlandschaft, landwirtschaftlich genutztem Flachland Horrem-Götzenkirchen direkt mit dem Rhein. Das Pump- und Abraumhalden findet sich auch im Bereich zwischen werk bei Götzenkirchen fördert das Wasser der Tagebau Zülpich und Jülich. durch den eigens dafür erbauten Ville-Stollen in den nörd- lich um Köln herumführenden Randkanal. Das Wasser aus 93 Braunkohlenbergbau ist besonders durch zwei Archi- den Tagebauen ersetzt auch die Funktion der ursprünglich tekturgattungen geprägt: Brikettfabriken und Kraftwerke. eigens zur Versorgung der Kraftwerke erbauten, denkmal- Von den etwa 40 seit 1877 erbauten Brikettfabriken sind werten Wasserwerke Kirdorf und Dirmerzheim zwischen nur an fünf Orten nennenswerte Reste erhalten geblie- Hürth und Lechenich und Kenten bei Bergheim. ben: Frechen, Hürth-Knapsack, Bergheim-Niederaußem, Zülpich und Inden-Lucherberg. Die hohen und schma- Siedlungsstruktur und Erscheinungsbild der relativ kleinen len Backsteinbauten mit den zur Entstaubung dienen- Orte im Braunkohlenrevier werden geprägt durch die Wohn- den Brüdenschloten prägen in eigentümlicher Weise stätten von Bergleuten und die seit 1945 durchgeführten das Landschaftsbild. Noch sehr viel dominanter sind die Umsiedlungsmaßnahmen. Eine mit dem Ruhrgebiet ver- Kraftwerke mit den hohen Kesselhäusern, Kühltürmen gleichbare Baukultur im Werkswohnungsbau hat sich nicht und Schornsteinen. Von den fünf Großkraftwerken wer- ergeben. Nur wenige Werkssiedlungen in Frechen und Hürth den das Goldenberg-Werk in Hürth-Knapsack und Frim- stehen unter Denkmalschutz. Von den Umsiedlungsorten mersdorf I und II bei Grevenbroich als denkmalwert ein- sind bisher keine Anlagen als denkmalwert erkannt worden. gestuft. Gewaltige Dominanz erlangen aber auch die Kraftwerke Neurath bei Grevenbroich, Niederaußem bei Bergheim und Weisweiler. Töpfereien

Zu den landschaftsprägenden Elementen des Braunkoh- Die schlichten, handaufgebauten Formen der vorge- lenbergbaus gehören die Transporteinrichtungen für Kohle schichtlichen Keramik sowie die Art ihrer Anfertigung ma- und Abraum. Zur Verbindung innerhalb des Reviers ent- chen eine Herstellung für den Eigenbedarf wahrscheinlich. standen nach dem Zweiten Weltkrieg die Nord-Süd-Bahn Eine gewerbliche Herstellung ist erst denkbar mit der Ein- und die Hambachbahn. Anschluss an die Häfen Köln-Niehl führung der schnell rotierenden Töpferscheibe in der Spä- und Godorf-Wesseling ermöglichten die denkmalwerte teisenzeit. Die Töpfe wurden in Meilern bzw. in Töpferöfen Köln-Frechen-Benzelrather Eisenbahn und im Süden die gebrannt. Der Nachweis eines Töpferofens liegt aus einer Querbahn zwischen Hürth und Wesseling. Die Häfen Siedlung der mittleren Eisenzeit in Köln-Blumenberg vor. selbst sind wesentlicher Bestandteil der Verkehrs-Infra- struktur im Revier. Kilometerlange Bandanlagen ermögli- Bereits in römischer Zeit sind industriell geführte Töpfe- chen den ökonomischen Transport von Abraum in ausge- reien im Rheinland belegt. Bedingt durch ergiebige Ton- kohlte Restlöcher oder auf Abraumhalden. vorkommen und ausreichende Versorgung mit Wasser

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Gronau, Weberei von Delden Bielefeld, Ravensberger Spinnerei Ochtrup, Spinnerei Laurenz Foto: LWL/E. Lubahn Foto: LWL/M. Bange Foto: LWL/E. Lubahn

und Holz sicherten die Ansiedlung von Töpfereien in Vett- In einem Töpferofen bei Geseke wurde im 6./7. Jh. Ke- weiß-Soller, bei Aachen und Erftstadt-Friesheim. Allerdings ramik „fränkischer“ Machart produziert und über weite wurden auch die Rohstoffe zu den Töpfereien in Neuss, Teile Westfalens verhandelt. Auch aus dem Sauerland Aachen, Bonn, Köln, Krefeld-Gellep, Mönchengladbach, sind mittelalterliche Exporte von Keramik nach der Hell- Moers-Asberg, Xanten, Kalkar u.a. verbracht, um den wegzone bekannt. Sie zeichnet sich durch ihre Schiefer- Transport der zerbrechlichen Fertigwaren zum Kunden zu magerung aus. Die Produktionszentren sind noch nicht verkürzen. Hierzu gehören auch Militär- und Privatziegelei- lokalisiert. Blaugraue Irdenwaren wurden im Raum Teck- 94 en, wie sie in Bonn, Köln, Xanten, Dormagen, Krefeld-Gel- lenburg hergestellt und gelangten in großem Umfang in lep, Neuss, Aachen, aber auch im Rechtsrheinischen den regionalen Handel. nachgewiesen sind.

Das südliche Rheinland zeichnet sich durch Tonlagerstät- Textilindustrie ten aus, die für die Ansiedlung von Töpfereien seit der Rö- merzeit ausschlaggebend gewesen sind. Von besonderer Bereits in römischer Zeit gab es im Rheinland eine aus- Bedeutung sind die hier relativ oberflächennah auftretenden geprägte Textilindustrie, die alle Fertigkeiten von der Er- tertiären Tone (Steinzeugtone), die sich für die Herstellung zeugung der Rohmaterialien bis zur Endbearbeitung der von Gefäßen aus Steinzeug, das durch seine dichte und Stoffe umfasste. Neben den einheimischen Materialien wie wasserundurchlässige, steinartigen Struktur besonders wi- Flachs und Schafswolle wurden auch importierte Stoffe, derstandsfähig ist, eignen. Im Mittelalter und in der Neuzeit wie Seide aus , verarbeitet. wurden daraus Trinkgefäße daraus hergestellt, während heutzutage überwiegend Tonrohre im großen Umfang pro- Flachsrösten dienten der Vorbereitung der Flachs- duziert werden. Die weichere, poröse Irdenware, die mit pflanzen zur Fasergewinnung. Die Denkmäler bestehen bleihaltiger Glasur abgedichtet wurden, eignete sich dage- aus Ansammlungen von oft wassergefüllten Gruben, die gen eher als Kochgefäße und Vorratsgefäße trockener Le- künstlich angelegt wurden. Man findet sie ausschließ- bensmittel. Seit dem Mittelalter bis in die frühen Neuzeit wa- lich in vernässten, teilweise auch anmoorigen Niederun- ren die Töpfereien zwischen Frechen und Meckenheim und gen am linken Niederrhein, in der Münsterschen Bucht Siegburg von internationaler Bedeutung; die Region ist als oder im Ravensberger Land. Größere Anlagen sind das bedeutendste Töpfereizentrum nördlich der Alpen an- noch in den Kreisen Viersen, Warendorf und Heinsberg zusehen. Töpferwaren aus diesen Zentren wurden größten- erhalten. Diese Flachsrösten liegen zumeist entfernt teils über Köln weit über Europa hinaus verhandelt; Stein- von Siedlungen, da sich beim Röstvorgang/Fäulnispro- zeuggefäße aus Frechen und Siegburg gelangte durch den zess großer Gestank entwickelte; zudem lösten die Pro- Seehandel auch nach Amerika, Afrika und Australien. Fol- zesse ein Fischsterben aus. Sie stellen bedeutende gende Töpferorte sind archäologisch oder volkskundlich Zeugnisse ders Textilgewerbes des Mittelalters und der dokumentiert: Bergisch Gladbach-Katterbach und -Paffrath, Neuzeit dar. In der Zeit der französischen Herrschaft er- Troisdorf-Altenrath, Siegburg, Königswinter-Oberpleis, reichte dieser Wirtschaftszweig seinen Höhepunkt, wäh- Bonn, Meckenheim/Rheinbach, Alfter-Witterschlick/Heid- rend er im Zuge der Industrialisierung im 19. Jh. an Be- gen, Bornheim, Brühl, Frechen und Köln. deutung verlor.

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Das Rheinland ist eine der bedeutendsten deutschen Westfälische Ziegeleien sind mehrfach in Lippe überlie- Textilregionen mit einer breiten Palette von Rohstoffen und fert und einer der größten Ringöfen samt viereckigem Erzeugnissen. Seide, Wolle, Baumwolle und Flachs wur- Schornstein ist auf der Zeche Nachtigall in Witten-Bom- den hier verarbeitet, wobei die Produktion bereits in vorin- mern (Ennepe-Ruhr-Kreis) erhalten. Im Rheinland war der dustrieller Zeit beträchtliche Ausmaße annahm. Geogra- Niederrhein ein Zentrum der Ziegelherstellung mit denk- phisch sind hier vor allem die Region Aachen, das Bergi- malwerten Ringofenanlagen in Viersen und Düsseldorf. sche Land und der Niederrhein sowie in Westfalen das Münsterland und das Ravensberger Land zu nennen. Be- sonders im nördlichen Münsterland waren Textilerzeugung Rheda-Wiedenbrück, Ziegelei und Textilhandel seit dem ausgehenden Mittelalter bestim- Foto: LWL/E. Lubahn mende Wirtschaftszweige. Die lokalen und regionalen Er- zeugnisse wurden durch zu Fuß operierende Distributoren (Tüotten, Kiepenkerle) über weite Strecken verhandelt. Eini- ge der Handelsdynastien haben bis heute überlebt, wäh- rend die Textilherstellung, deren Blüte sich aus dem Mittel- alter in die industriellen Zeit fortsetzte, heute weitgehend zum Erliegen gekommen ist.

Sonstige Industriezweige

In römischer Zeit bestimmten Rohstofflager die Stand- orte einschlägiger Industrien. Im linksrheinischen Um- feld von Köln sind zahlreiche, an die lokal vorkommen- den Quarzsande gebundene Glashütten dokumentiert. Diese produzieren herausragende technische und künstlerische Erzeugnisse bis in die Spätantike und die Merowingerzeit hinein.

In der Nordeifel sind in römischer Zeit zahlreiche Me- tallschmelzöfen nachgewiesen, die belegen, dass man 95 die aus den Lagerstätten gewonnenen Erze gleich vor Ort verarbeitete. Hier wurden Barren erzeugt, die den Trans- Seit dem Hochmittelalter wurden in den waldreichen Re- port zu den Schmieden erleichterten. Das Schmiede- gionen des Eggegebirges und des Brakeler Berglandes in handwerk war hoch entwickelt und spezialisiert. Waffen, so genannten Waldhütten transluide und farbige Gläser Geräte, Werkzeuge und anderes aus Eisen waren weit produziert. Die Glasherstellung stand in ihrer Frühphase verbreitet und in dauernder Benutzung. Hinzu kamen offensichtlich im Zusammenhang mit dem Bau von Kir- Baubeschläge, Schlösser, Ketten, Wagenteile, Hufeisen chen (u.a. in Paderborn). Im 15./16. Jh. wurden dann u.a. u.a.m. Daneben wurden zahlreiche weitere Metalle er- auch qualitativ hochwertige Hohlgläser mit Email- und zeugt und verarbeitet, wie Bronze, Kupfer, Zink, Messing, Goldbemalung produziert. Gold und Silber. Die industrielle Entwicklung der Getreideverarbeitung Für die römische Zeit sind alle bekannten Handwerker spielte sich besonders in den Rheinhäfen ab. Große Müh- vorauszusetzen, die auch im Mittelalter überliefert sind. So lengebäude entstanden in den Häfen von Duisburg, Uer- sind Zimmerleute, Schreiner, Maurer, Verputzer, Steinmetz, dingen, Neuss und Köln. Als westfälisches Beispiel sei Bir- Maler und Anstreicher, Mosaizisten, Tischler, Wagner, Bött- schels Mühle in Hattingen (Ennepe-Ruhr-Kreis) angeführt. cher, Weber, Walker, Färber, Schneider, Gerber, Schuhma- cher, Hersteller von Lederpanzern, Zeltmacher, Schuster, Brauereien und Brennereien finden sich vielfach im 19. Sattler, Flickschuster, Drechsler, Elfenbeinschnitzer, Kamm- und 20. Jh. noch im ländlichen Bereich, wie die heute als macher, Seiler, Müller, Bäcker, Metzger, Stempelschneider, Kulturzentrum weit bekannte Lindenbrauerei in Unna, oder Punzenmacher, Gefäßmaler, Brennmeister, Waffenschmied die im Rundbogenstil errichtete Brennerei in Rönsahl (Märki- und viele andere spezialisierte Berufe überliefert. Die Quel- scher Kreis). In größerem Maßstab wurde Bier in den Städ- lenlage lässt eine derart differenzierte Betrachtung für das ten produziert. Die Dortmunder Union und die Sünner freie Germanien nicht zu. Viele der genannten Handwerke Brauerei in Köln sind Beispiele. Die Tabakindustrie hatte ih- sind aber auch hier anzunehmen. Die Verarbeitung von re räumlichen Schwerpunkte im Kreis Herford (Tabakspei- Buntmetall ist aus Borken belegt, wobei als Rohmaterial cher in Bünde), am Niederrhein und in Köln. vor allem römischer Bronzeschrott Verwendung fand. Be- sondere Ausmaße erreichte die Metallverarbeitung in Ka- Mit steigender Bevölkerungszahl und höheren Anforderun- men-Westick; hier muss an einen überregionalen Abneh- gen an die Hygiene entstanden vielerorts und besonders pa- merkreis gedacht werden. rallel zur Ausbildung der Großstädte Schlachthöfe mit großen

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Verarbeitungshallen und eigener Veterinärverwaltung (Buer in 5.4.3 Wasserbau / Wasserwesen Gelsenkirchen, Aachen). Auch die Holzverarbeitung, eigent- lich eine Domäne im Umkreis von Land- und Forstwirtschaft, Einführung entwickelt sich in Westfalen zu einer großen Industrie. Säge- werke versorgen die Bergwerke mit Grubenholz und die Mö- Die Nähe zum Wasser ist seit jeher die Voraussetzung belfabriken mit ihrem Schwerpunkt im Ravensbergischen. für eine kulturlandschaftliche Entwicklung. Neben der Wasserversorgung spielt auch der Schutz vor zu viel Was- Die Zeugnisse von Bauten der Glasindustrie sind in West- ser eine große Rolle in der Landschaftsgestaltung. Ab den falen und Rheinland selten geworden, wenngleich viele vor- und frühgeschichtlichen Perioden wurden für die Was- Ortsnamen auf diese ehemals weit verzweigte Industrie hin- serversorgung Brunnen gebaut. Bereits in der Römerzeit weisen. Beispielhaft seien hier die ehemalige Glashütte in wurde mit der römischen Wasserleitung von Nettersheim Neuenbeken-Buchholz (Kreis Paderborn) und die museal in der Eifel nach Köln ein großes wasserbauliches Projekt aufbereitete in Petershagen-Gernheim (Kreis Minden-Lübbe- durchgeführt. Entlang der großen Flüsse in Nordrhein- cke) genannt. Beide zeigen die kegelförmigen Ofenhäuser, Westfalen belegen historische Deichsysteme das Bemü- die den natürlichen Windzug für eine hohe Schmelztempe- hen der Menschen, sich vor Fluten zu schützen. ratur ausnutzten. Im Rheinland sind die Glashütten in Düren, Stolberg, Düsseldorf-Gerresheim und Köln-Porz zu nennen. Vorgeschichte Einen wesentlichen Beitrag hat das Rheinland in den Bran- chen Motor- und Fahrzeugbau, Chemie und Stromerzeugung In den Jüngeren Steinzeiten wurden die Siedlungen na- zur Zweiten Industriellen Revolution geliefert. Von herausra- he von Fließgewässern zur Versorgung von Mensch und gender Bedeutung ist die erste Motorenfabrik der Welt in Tier mit Frischwasser und zur Abfuhr des Brauchwassers Köln-Deutz von Nikolaus August Otto und Eugen Langen, die angelegt. Zusätzlich wurden Brunnen gebaut, an Stellen, zeitweilig auch Wirkungsstätte von Daimler, Maybach und Bu- an denen die Wasserversorgung durch natürliche Fließge- gatti war. Zum Fahrzeugbau gehören die Waggonfabriken in wässer nicht möglich oder verlässlich war. Herausragen- Aachen (Talbot), Köln (van der Zypen & Charlier) und Düsseldorf des Beispiel ist der Brunnen von Erkelenz-Kückhoven, mit (DÜWAG). Ein vorläufiger Höhepunkt in der architektonischen zwei Bauphasen, die dendrochronologisch um 5.090 und Präsentation war das Ford-Werk in Köln von Edmund Körner. um 5.057 v. Chr. datiert werden können und damit die äl- testen Holzbauwerke in Nordrhein-Westfalen darstellen. Die chemische Industrie hatte im Rheinland und in West- 96 falen wichtige historische Spuren hinterlassen. Schloss Die Lage metallzeitlicher Siedlungen in der Nähe von Wocklum bei Balve (Märkischer Kreis) und die Abtei Alten- Flüssen und Bächen sicherte für Mensch und Tier die un- berg waren frühe Orte der chemischen Produktion. Große mittelbare Nutzung der Gewässer für die Ver- und Entsor- Bedeutung für die Chemische Industrie in Deutschland gung mit Trink- und Brauchwasser. Daneben ermöglichen hatten die Bayer-Werke in Leverkusen mit aussagekräfti- die Fließgewässer die Ausübung von handwerklichen Tä- gen denkmalwerten Produktionsbauten u.a. von Emil Fah- tigkeiten, wie Töpferei und Metallverarbeitung. Dies bele- renkamp. Der Rhein wurde zu einem bevorzugten Standort gen einzeln stehende Häuser oder Arbeitsgruben, die teil- weiterer chemischer Werke, von denen sich heute folgen- weise in der feuchten Aue angelegt worden sind (Düssel- de Anlagen mit denkmalwerten Bauten präsentieren: das dorf-Rath, Moers-Hülsdonk). Allerdings spielt bei diesen An- ehemalige Hydrierwerk in Wesseling (heute Shell), die lagen der damalige Wasserstand eine bedeutende Rolle, Shell-Anlage in Monheim, Henkel in Düsseldorf-Reisholz, der von den heutigen Verhältnissen stark abwich. Typisch die Seifenfabrik der GEG im Düsseldorfer Hafen. für die Nutzung der Niederungsgewässer sind Wasserent- nahmestellen. Hier werden größere Gruben bis in die was- Im südlichen Münsterland spielte am Ende des 19. und zu serführenden Schichten abgeteuft, an einer Seite der Gru- Beginn des 20. Jahrhunderts der Abbau von Strontianit für be Stufen und eine kleine Plattform erstellt, von der aus die Zuckerherstellung bzw. für Feuerwerkskörper eine große man das Wasser mit Schöpfern oder Leder-/Holzeimern Rolle. Der kurzfristige Aufschwung verebbte aber bald nach schöpfen kann (in Moers-Hülsdonk). der Einführung alternativer Fertigungsmethoden wieder. Bis heute haben sich vielerorts, vor allem in Drensteinfurt und Einen bedeutenden Anteil an der Wasserversorgung in Sendenhorst, Halden dieses Strontianitabbau erhalten. den jungsteinzeitlichen und metallzeitlichen Siedlungsepo- chen haben Brunnen. Diese sind in der Regel nicht sehr Im Norden des Ruhrgebiets ist die (petro-)chemische In- tief (selten mehr als zwei Meter) und die Seiten mit einer dustrie bedeutend. Die in den 1960ern errichtete große La- Holzkonstruktion versteift. Vom überstehenden Rand (da- gerhalle für Kalkammonsalpeter in Castrop-Rauxel ist hier mit kein Schmutz und Tiere in den Brunnen fallen können) beispielhaft für die Großbauten zu nennen. schöpft man mit einem Holz- oder Ledereimer das Wasser. Weitere Informationen zur Konstruktion von Haspeln o.a. Kraftwerke als weitere Komponenten der Zweiten Indus- sind aus Nordrhein-Westfalen bislang nicht bekannt. Diese triellen Revolution sind im Rahmen der öffentlichen Versor- Brunnen versorgen Mensch und Tier, aber auch Hand- gung und im Rheinland als Teil des gesondert dargestell- werksbetriebe. Sie dienen in der Regel als zusätzliche Ver- ten Braunkohlenbergbaus zu verstehen. sorgung zur Nutzung der natürlichen Gewässer.

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Die römische Eifelwasserleitung

Die Entwicklung der Wasserversorgung Kölns ist auf das engste verbunden mit der Geschichte der Stadtwerdung dieser antiken Großstadt von ihren Anfängen an. Die wich- tigsten Stufen des Ausbaus von der Ubierstadt bis zur Hauptstadt Niedergermaniens lassen sich auch in den Bauphasen der städtischen Aquädukte ablesen: Schon ab ca. 30 n. Chr. war das Oppidum Ubiorum durch eine mehre- re Kilometer lange Fernwasserleitung von Quellen im Hang des Vorgebirges versorgt worden. Nachdem Köln 80/90 n. Chr. Hauptstadt der neu eingerichteten Provinz Niederger- manien geworden war, orientierte man sich in der Wasser- versorgung gänzlich neu und baute um 80/90 n. Chr. den fast 100 km langen Aquädukt in die Eifel. Die Leitung sollte für rund 190 Jahre die städtische Versorgung sicherstellen.

Teilweise rekonstruierte Aquäduktbrücke der römischen Eifelwasserleitung nach Köln bei Mechernich-Vussem Foto: LVR/E. Knieps

Römische Wasserleitung Eifel – Köln, Übersichtslageplan aus: Horn/Thünker: Zeitmarken/Landmarken, Köln 2000, S. 92

Eine der Schwierigkeiten beim Bau lag in der Überwin- dung der Wasserscheide zwischen Urft und Erft. Das größ- te Geländehindernis war der sich von Süden nach Norden 97 erstreckende Höhenrücken der Ville. Man hat sich vor der Swist-Niederung für eine Lösung entschieden, die sicher- lich einfach und kostengünstig zu bauen war: In einer ost- wärts geführten Trassenschleife hat man das Swistbachtal in einem weiten Bogen ausgefahren. Im Scheitel dieses großen Trassenbogens wurde zur Überquerung des Swist- baches eine Aquäduktbrücke errichtet: zwar nur rund 11 m hoch über der Talsohle, erreichte die Brücke mit knapp 300 Bogenstellungen eine Länge von 1.400 m. Neben den beiden großen Aquäduktbrücken über die Erft (550 m lang) und den Swistbach waren unzählige kleinere Brücken und Brückchen zur Überquerung der Leitung von Bächen und Seitentälern erforderlich.

Die Quellen für die Was- Das Kanalbauwerk selbst hat weitgehend einheitlichen serversorgung Kölns wa- Aufbau. In einem Baugraben wurde zuunterst eine Packla- ren über ein größeres Ge- ge aus Bruchsteinen gesetzt, worauf die Sohle aus Opus biet verteilt, die „Söteni- caementicium gegossen wurde. Dann brachte man für die cher Kalkmulde“. Durch Errichtung der Seitenwangen entweder eine Holzschalung die in den Eifeler Quellen ein oder man mauerte aus handlichen Quadersteinen eine angetroffenen Schüttmen- „verlorene“ Schalung auf; in beiden Fällen wurde der Raum Römische Wasserleitung gen war der Aufwand der zwischen Schalung und Baugrubenwand mit „Beton“ aus- Eifel – Köln; Aufschluss bei Kall Errichtung der fast 100 km gegossen. Um dem Gerinne Dichtigkeit zu verleihen, wurde Foto: MBV/A. Thünker langen Leitung durchaus es auf der Sohle und an den Wangen mit einer Schicht hy- gerechtfertigt. Es wurden draulischen Putzes (Opus signinum) verkleidet. Danach wur- täglich 20 Millionen Liter Wasser nach Köln geführt, womit de unter reichlicher Verwendung von Mörtel das Gewölbe pro Kopf und Tag etwa 1.200 Liter Wasser zur Verfügung gesetzt, ehe der Kanal mit einer etwa 1 m starken Lage von gestanden haben; immerhin rund die achtfache Menge, Erdreich zwecks Frostsicherung abgedeckt wurde. die von den heutigen Kölnern verbraucht werden kann.

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Neben den Quellfassungen und den Brücken waren schaften, die zum Bau der Anlagen unabdingbar waren. auch im Verlauf der Kölner Leitungen einige Kleinbauwer- Im Osten des Rheinlands war der Schutz vor Hochwas- ke erforderlich. Dazu gehörten Einstiegsschächte für Revi- ser das Leitmotiv, während im Ruhrgebiet die Sicherstel- sionszwecke und Reparaturarbeiten, Sammelbecken, in lung ausreichender Trinkwassermengen im Vordergrund denen das Wasser zweier Leitungsäste vereinigt wurde, stand. Im Westen entstand im Lauf der Urft die damals Absetzbecken zur Klärung des Wassers und Tosbecken größte Talsperre Europas, die als eine der ersten zur Er- zur Ausgleichung von Höhendifferenzen, die in der Naht- zeugung von Strom in der Heimbacher Kraftzentrale he- stelle von zwei Baulosen auftreten konnten. rangezogen wurde. Die erste westdeutsche Trinkwasser- talsperre entstand 1891 mit der Eschbachtalsperre bei Die steinerne Eifelleitung, besonders die oberirdischen Remscheid, der allein im Rheinland bis in die Nach- Brückenbauwerke, ist über weite Streckenabschnitte ein kriegszeit zehn weitere Anlagen folgten. Opfer des Mittelalters geworden. Dabei war nicht nur das Mauerwerk Ziel dieser Steinbruchtätigkeit, sondern in In gemeinsamem Interesse der Versorgung von Indus- ganz besonderen Maßen auch die bis zu 30 cm starke trie und Bevölkerung mit Wasser erfolgte 1899 die Grün- Schicht der Kalkablagerungen. Während man aus den ge- dung des Ruhrtalsperrenvereins, des heutigen Ruhrver- wonnenen Steinblöcken Burgen, Kirchen und Klöster in bandes. Bereits fünf Jahre nach Gründung konnten vier der Umgebung errichtete, wurde der Kalksinter zu Säulen, Talsperren mit einem Gesamtstauraum von 16,1 Mio. m³ Altarplatten u.a. verarbeitet und diente vornehmlich der für die Niedrigwasseranreicherung der Ruhr in Trockenzei- Ausschmückung der romanischen Kirchen. Dieses Materi- ten in Betrieb genommen werden. Die in der Architektur an al war dann ein begehrtes Handelsgut, das wir heute mittelalterlichen Stadtmauern orientierten Staumauern der selbst in Dänemark, den Niederlanden und in Großbritan- Fürwigge (1902), Oester- (1904), Möhnetalsperre nien wieder finden. (1908/1943) und Urfttalsperre (1904) sind als technische Meisterleistungen in die Denkmallisten eingetragen. Als zumeist städtische Anlagen zur Bereitstellung von Trink- Bauten für die Ver- und Entsorgung wasser mit Brunnen, Filter, Pumpen und oft auch Wasser- speichern entstanden Wasserwerke, von denen einige, Bauliche Anlagen zur Gewinnung und Zuleitung von u.a. auch städtebauliche eindruckvolle Exemplare aus der Wasser bzw. zur Ableitung von Abwasser sowie zur Ener- Zeit um 1900 bis 1950 denkmalwert sind (Severin I und II in giegewinnung sind Bestandteile bereits der ältesten Köln 1895-1901). Zu den Wasserwerken kommen aus glei- menschlichen Siedlungen. Mit der Urbanisierung werden chen Gründen Pumpwerke. 98 sie – ebenso wie die neuen Anlagen in Zusammenhang mit Gas und Strom – zu den umfangreichsten und aufwän- digsten Bauten der Kommunen. Abwasserentsorgung

Auch Baumaßnahmen zur Ableitung von Schmutzwas- Wasserversorgung ser reichen schon bis in die Anfänge mittelalterlicher Bau- tätigkeiten, d.h. bis zu den unter Klostergebäuden verleg- Von den Bauten zur Trinkwasserversorgung sind auf ten Bachläufen (Marsberg-Bredelar) zurück. Grund ihrer großen Zahl zuvörderst die Brunnen in Stadt und Land zu nennen. Wo sie nicht unmittelbar austretende Mit dem seit etwa 1850 steigenden industriellen und Quellen – die bisweilen baulich besonders gefasst sind – häuslichen Wasserverbrauch war zwangsläufig auch ein oder das Grundwasser nutzen, wurden sie von bis ins Mit- höherer Abwasseranteil verbunden, der den Flüssen unge- telalter zurückreichenden Versorgungsleitungen gespeist. klärt zugeleitet wurde. Um die Jahrhundertwende führten Neben den zahlreichen archäologischen Denkmälern der diese großen Abwassermengen, insbesondere bei Niedrig- hölzernen Röhrensysteme seien die „Grube“ in Höxter als wasser, zu erheblichen Missständen und Krankheiten. Versorgungsleitung für das Kloster Corvey, das „Stadtwas- Krankheiten, wie Malaria, Typhus und Ruhr, waren unmit- ser“ des 13. Jahrhunderts in Schwalenberg und das um- telbar auf diese unerträglichen hygienischen Zustände zu- fangreiche Wasservorsorgungssystem von Burg Blanken- rückzuführen. berg hervorgehoben. 1899 wurde als erster Verband dieser Art in Deutsch- Mit der Industrialisierung und dem Anstieg der Einwoh- land die Emschergenossenschaft gegründet. Ihre Aufga- nerzahlen stellte sich die Frage der Wasserversorgung ben waren die Kanalisierung der Emscher zur Vermei- neu. Wassertürme, Wasserhochbehälter, Wasserwerke dung von Verseuchungen im Umland und weitere Maß- entstammen zumeist dem späten 19. Jh. bis frühen 20. nahmen zur Gewässerregulierung. Die Emschergenos- Jahrhundert. Das Jahr 1891 ist der Auftakt des sog. Jahr- senschaft war Vorbild für viele weitere Verbände, vor al- zehnts des Talsperrenbaus, welches, vom Rheinland lem den Lippeverband mit gleichen Aufgaben im nördli- ausgehend, weite Teile des Deutschen Reichs erfasste. chen Ruhrgebiet und dem angrenzenden Münsterland. Otto Intze, Aachener Ordinarius für Wasserbau, entwi- 1906 begann die Emschergenossenschaft mit dem Aus- ckelte Prinzipien für standsichere Staumauern und sorg- bau der Emscher zu einem regulierten Fluss. Als der te auch für die Bildung von kapitalkräftigen Genossen- Emscherlauf nach vierjähriger Bautätigkeit 1910 in Be-

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Till-Deich bei Bedburg-Hau Foto: Rheinisches Amt für Bodendenkmalpflege

trieb genommen wurde, war sein Lauf von 109 auf 77 km 5.4.4 Verkehr / Transport / Infrastruktur 99 gekürzt und 4 bis 5 m tiefer gelegt worden. 273 Seiten- bäche mussten der Emscher neu angeschlossen wer- Einführung den. 655 Brücken und Durchlässe querten den neuen Lauf dieser weltweit vorbildlichen Entsorgungsanlage. Das Wort „Verkehr“ ist ebenso eine Neuerfindung erst des späteren 18. Jahrhunderts wie die Einrichtungen, die Beeindruckende Beispiele im Rheinland sind das Ab- zur Ausübung eines gedeihlichen „Handels und Wandels“ wasserreinigungswerk in Krefeld (1909), das Klärwerk in in eben jener Zeit erst geschaffen wurden. So sind die Meerbusch (1930er und 50er Jahre) und die Faulturmbatte- Bauten des Verkehrs, seien es nun Wegeführungen oder rie des Klärwerks in Köln-Stammheim (1951-53). technische Einrichtungen von der Schleuse bis zum Rin- glokschuppen, seien es nun die architektonischen Begleit- bauten in ihrer Vielzahl und ganzen Palette von Bauzeiten, Deiche -typen, -zwecken und -erscheinungen, die unmittelbaren Zeugnisse wirtschaftlicher, industrieller und bevölkerungs- Erste Deiche entstanden am Niederrhein um die Sied- geographischer Entwicklungsschübe. lungen auf den hochwasserfreien Uferwällen bereits vor 1300. Solche Deiche sind beispielsweise der Ringdeich von Kalkar-Wissel oder der Drususdeich bei Kleve-Rin- Vorgeschichte dern. Hinzu kommen Quer- und Sommerdeiche. Bereits 1257 existieren erste Deiche zwischen den Grafschaften In der ausgehenden Jungsteinzeit und verstärkt in den Kleve und Geldern. Technisches Fertigkeiten und rechtli- Metallzeiten gewann der Handel mit Gütern, die nicht mehr che Strukturen übernahm man von holländischen Spe- vor Ort gewonnen bzw. hergestellt werden konnten, einen zialisten. Zu beiden Seiten des Rheines sind heute noch bedeutenden Anteil am Leben der Bevölkerung. Man den- die Banndeiche von der Landesgrenze bis Duisburg vor- ke nur an das Import von Feuerstein aus dem mittelfranzö- handen. Durch Erneuerung, Änderung und Rückverle- sischen Grand-Pressigny oder von Jadeit aus Nordwestita- gung sind viele Binnendeiche heute funktionslos und von lien sowie von Hornsteingeräten aus süddeutschen Lager- Zerstörung bedroht. Vor allem südöstlich von Kleve bis stätten. Insbesondere die Importe von Waffen, Geräten, Rheinberg sind durch die spätmittelalterlichen, frühneu- Werkzeugen und Schmuck aus Metall veränderten die so- zeitlichen Rheinstromverlagerungen umfangreiche ziale und wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft. Damit Deichsysteme entstanden. verbunden war eine Verstärkung von weitreichenden Han-

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delsbeziehungen und die Errichtung und Nutzung von Ver- Lippe bei Haltern und Bonn mit der Siegmündung sowie kehrswegen. Metalle, besonders die Bronze, aber auch in Höxter und in Minden anzunehmen. Diese Übergänge Edelmetalle, mussten importiert werden, da die Rohmate- dienten nicht nur dem überregionalen Transitverkehr, rialien lokal nicht vorkamen. Darüber hinaus waren beson- sondern auch dem lokalen Handel, beispielsweise mit dere Kenntnisse von Benutzung, Reparatur und – ab der Metallen, Holz und anderen Rohstoffen aus dem Bergi- Urnenfelderzeit – auch der Herstellung aus diesen Materia- schen Land nach Westen (vgl. Gewinnung von Raseneisen- lien erforderlich. Diese Abhängigkeit von Im- und Exporten erzen im Raum Düsseldorf/Ratingen, Bergbaugebiete auf verringerte sich in der Eisenzeit, als das wichtige Rohmate- dem Lüderich bei Rösrath). rial Eisen in ausreichender Menge und Qualität vor Ort ge- wonnen werden konnte. Als Ergänzung zu den Wasserwegen, als Überbrückung zwischen den Flussläufen und zur wetterunabhängigen Er- Charakteristisch für das Rheinland in den Metallzeiten ist schließung der Regionen dienen Landwege. Hierbei han- die Einbindung in überregionale Handelsnetze, dabei fun- delt es sich prinzipiell um mehr oder weniger gut begehba- giert das westliche Rheinland überwiegend als Transitland. re und befahrbare Feldwege, die eher als ein Band von Dies gilt in gleichem Maße auch für die westfälische Hell- mehreren Trassen in einem Korridor anzusehen sind. Aus- wegzone nördlich des Sauerlandes, der das Rheinland mit gegrabene Belege für Straßen oder Bohlenwege sind aus Ostwestfalen und Regionen darüber hinaus verband. Im Nordrhein-Westfalen bislang nicht bekannt. Indirekte Hin- Rheinland kreuzen sich überregional bedeutende Handels- weise auf Wege bieten aber lang gestreckte gräberfreie Zo- wege, wie die Maas und der Rhein mit dem Hellweg und nen innerhalb einiger großen Urnengräberfelder (Vreden- der Nutscheidstraße. Diese Kontakte belegen die hier auf- Friedhof, Ibbenbüren – Auf´m Trüssel, Münster-Gittrup u.a.), gefundenen Metallgegenstände, die Verbindungen nach anhand der Wegetrassen rekonstruiert werden. Auf diesen Skandinavien/Nordosteuropa, in den süddeutsch-schwei- Wegen wird der Transport von Waren durch Tiere (Esel, zerisch-ostfranzösischen Raum, nach Mittel-, Ost- und Pferde u.a.) und Menschen sichergestellt. Wagen und Zug- Südeuropa, in den niederländisch-belgisch-nordfranzösi- tiere (Ochsen, Pferde) sind vorauszusetzen, auf denen man schen Raum und nach Großbritannien verdeutlichen. Ver- größere Mengen und schwere Lasten transportieren kann. gleiche der Keramik und von Schmuckformen bezeugen die intensiven lokalen Beziehungen einzelner Siedlergrup- Die Verkehrsräume sind an die naturräumlichen Voraus- pen untereinander, wie vom Niederrhein in den niederländi- setzungen gebunden. Hier sind zunächst die hochwasser- schen Raum, von der Voreifel in den belgisch-luxemburgi- freien Terrassenkanten entlang der Flüsse und Bäche zu schen Raum oder vom rheinnahen Bergischen Land zum nennen, solche Wege können für das Rhein- und Maastal 100 Mittelrhein-/Moselgebiet. Ähnlich sind die Verhältnisse in erschlossen werden, aber auch für alle anderen Gewässer. Westfalen mit dem Hellweg, den Flussachsen und der Hinzu kommen Verkehrsräume, die nicht an Gewässer ge- Fernverkehrstrasse am Nordfuß des Mittelgebirges. bunden sind. Beispiele sind der Hellweg als Hauptverkehrs- weg zwischen dem Rheintal und dem mitteldeutschen In den Metallzeiten läuft der Verkehr über Wasser- und Raum, die Nutscheidstraße über die Höhen des Bergischen Landwege. Obwohl bislang keine eindeutigen Belege für Landes in Richtung Sauerland/Nordhessen / Mitteldeutsch- die Nutzung der Wasserwege aus dem Rheinland bekannt land mit den reichen Metall- und Salzvorkommen und deren sind (Boote oder Flöße) – aus Westfalen gibt es immerhin Fortsetzung mit der Querung der Lössbörde sowie die Ver- von dem Gräberfeld Ibbenbüren – Auf´m Trüssel ein Ra- bindung aus der Lössbörde über die Eifel in Richtung Mo- siermesser mit Bootsdarstellung –, ist von einer intensiven sel-Saargebiet. Kürzere Landverbindungen ermöglichen die Nutzung der Flüsse und Bäche auszugehen. Dies belegen Verbindung von Verkehrs- und Siedlungsräumen, wie die zum einen die Siedlungen, die in unmittelbarer Nähe von Verbindung aus dem Ahrtal in das Swisttal andeutet. Flüssen und Bächen liegen und damit unmittelbar vom Handel auf den vorbei fließenden Gewässern profitieren. Grundsätzlich verbinden die Verkehrsräume Siedlungen Zum anderen können selbst auf einfachen Booten und Flö- miteinander und dienten dem Transport von Handelswaren ßen große Lasten leicht und bruchsicher transportiert wer- aller Art; daneben werden Ideen und Vorstellungen, Tech- den (Metallgegenstände/-barren, Keramik). Dabei ist nicht niken und Wissen vermittelt. Darüber hinaus werden offen- von einer dauerhaften, sondern eher von einer saisonbe- bar Stapelplätze angelegt (Weeze, Dortmund), an denen dingten und wasserstandsabhängigen Befahrung auszuge- beispielsweise Getreide gesammelt und/oder zwischenge- hen. In den Metallzeiten ist ein Netz von größeren und klei- lagert werden können. Solche Plätze sind auch an den neren befahrbaren Flüssen und Bächen zu rekonstruieren, Flussläufen anzunehmen, bislang allerdings noch nicht mit der Maas und dem Rhein, der Erft, Niers, Inde, Wurm, endgültig belegt (Bergkamen an der Lippe?). Sie verdeutli- Rur, Schwalm, Emscher, Lippe, Issel, Ems, Weser u.a. chen organisierten Handel, der sicherlich von den metall- zeitlichen Eliten kontrolliert und beherrscht wird. Die größeren Flüsse, wie der Rhein, die Maas und die Weser, werden auf Furten gequert. Solche wasserstands- An Handelsgütern können durch Funde und Befunde abhängigen Übergänge sind für den Raum Wesel/Xan- zahlreiche Materialien belegt werden. Dies sind vorrangig ten, den Bereich Moers/Duisburg gegenüber der Ruhr- Metalle, wie Bronze (Kupfer und Zinn), Eisen, Blei, Gold, Sil- /Emschermündung, im Raum Düsseldorf mit der Düssel- ber u.a., die als Rohmaterialien, als Halb- oder Fertigpro- mündung, bei Leverkusen (Wupper-/Dhünnmündung), die dukte verhandelt werden. Edelmetallfunde (der Goldbecher

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von Wachtberg-Fritzdorf oder der goldene Eidring aus Xanten) regelrechte Kunstbauten, um die Steigungen und Neigun- stellen dabei die Höhepunkte der Entwicklung dar, wobei gen zu meistern. Dabei zeigte sich, dass Gefälle von bis zu hier unklar ist, ob das Ziel der Transporte dieser Gegen- 20% ausgebaut worden sind – fielen geradlinig geplante stände das Rheinland ist oder ob sie auf dem Transport Trassen steiler aus, so wurde durch Anlage von Serpenti- zufällig hier in den Boden kommen. Importe sind in Form nen das Maximalgefälle eingehalten. von Keramik und Glasschmuck (in der Eisenzeit) zu bele- gen. Importe aus den keltischen Bereichen Süd- und Die Untersuchung dieser Kunststraßen trug einiges zum Westeuropas (Olfen, Erwitte) oder Thüringens (Oelde) bele- Verständnis des Straßenausbaus und der Organisation gen, dass auch Westfalen am überregionalen Warenaus- des römischen Straßenverkehrs bei. So war die römische tausch teilhatte. In Westfalen wurde Salz produziert (sog. Hauptstraße zwischen Köln und Trier hinsichtlich des Aus- Briquetage-Funde) und vermarktet. Keine Hinweise gibt es baus keineswegs mit der aus Großsteinpflastern bestehen- sonst für die exportierten Materialien, hier sind Naturpro- den Via Appia vergleichbar, sondern glich eher einem gut dukte wie Holz, Honig, Tiere, weiterverarbeitete Produkte ausgebauten Feldweg unserer Tage. Eine archäologische oder auch Menschen anzunehmen. Untersuchung des römischen Straßendamms bei Marma- gen zeigte im Straßenprofil zuunterst eine 5,55 m breite und bis zu 40 cm starke, linsenförmig gewölbte Packlage, Römerstraßen auf der eine 5 cm starke wassergebundene Verschleiß- schicht aufgetragen worden war. Diese hatte man durch Aus der Eroberungsphase Germaniens ist eine Straße, Auffüllung ständig erneuert, was zu einem Anwachsen des die entlang der Lippe führte, durch Aufschlüsse in Haltern, Straßenkörpers bis zu knapp 1 m Höhe führte. Da es auf Dorsten-Holsterhausen und Delbrück-Anreppen bekannt, beiden Seiten Straßengräben gab, deren Böschungen bei die wahrscheinlich noch keinerlei Trassenbefestigung, aber jeder Erneuerungsphase zu berücksichtigen waren, wurde randbegleitende Gräben aufwies. Der Verkehrsraum war 36 der Straßenkörper nach oben hin immer schmaler, bis die m breit im Westen (Haltern) und noch 25 m breit im Osten Straße schließlich unbrauchbar wurde und die Trasse ver- (Anreppen). Darüber hinaus sind die Fahrspuren einer „im- legt werden musste. provisierten“ Wegetrasse bei Anreppen festgestellt worden. Wichtige Hilfsmittel für die Datierung einer Straße sind Sind in den Anfängen römischen Straßenbaus die militä- die im Rheinland vorkommenden Meilensteine. Im Falle risch begründeten Streckenverbindungen deutlich erkenn- der Eifelstrecken sind auf diese Weise allerdings nur Stra- bar, so kommt es nach und nach zum Ausbau von Verbin- ßenerneuerungen belegt, so dass über den Ursprung nur dungen, die auch für die Verwaltung und den Handel von be- wenig auszusagen ist. Wichtige zeitgenössische Strecken- 101 vorzugter Bedeutung sein sollten. Ein besonders anschauli- beschreibungen stehen mit dem antoninischen Itinerar (mit ches Beispiel für die Erschließung einer römischen Provinz den Etappenorten Marcomagus/Marmagen, Belgica/Billig, Tol- ist Niedergermanien mit der Hauptstadt Köln, was sogar in biaco/Zülpich) und der Tabula Peutingeriana (mit Marcoma- den Grundzügen des heutigen Straßennetzes noch sichtbar gus/Marmagen), einer spätantiken Straßenkarte in mittelal- wird: Neben der Limesstraße entlang des Rheins führen zwei terlicher Abzeichnung, zur Verfügung. bedeutende Straßen nach Köln – oder, wenn man so will, von Köln aus in das Hinterland: Zum einen westwärts gerich- tet die Straße über Jülich, Tongeren und Bavai nach Boulo- Mittelalterliche und neuzeitliche Straßensysteme gne-sur-Mer und zum anderen die Anbindung an Südfrank- reich und schließlich nach Italien über die Eifelstrecke und In den Gebieten westlich des Rheines verfiel das von das Rhônetal. Letztere Verbindung führte auf schnurgerader den Römern errichtete Straßensystem während des Mittel- Straße südwestlich nach Tolbiacum/Zülpich und verzweigte alters. Allerdings lassen sich die alten Strecken in ihren sich hier in zwei – über Gemünd-Reims und über Trier-Metz – wesentlichen Zügen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts in verlaufende Straßen Richtung Rhônetal. der Landschaft verfolgen. Von Bedeutung blieben die ehe- maligen römischen Reichsstraßen zum einen als Verbin- Die von Köln, Wesseling und Bonn aus dem Rheintal dung entlang des Rheins von Nijmegen über Kalkar und Richtung Trier verlaufenden Straßen, die sich bei Marma- Neuss nach Köln und zum anderen die Ost-West-Verbin- gen vereinigten und auf einer einzigen Trasse Richtung dung von Köln über Jülich nach Aachen. Hinzu kamen Süden verliefen, sind seit einigen Jahren Gegenstand der Verbindungen, die von Flandern und Brabant sowie von Forschung. Ein erstes und dabei überraschendes Ergeb- Amsterdam über das Rheinland an die Ostsee, Mittel- und nis dieser Arbeiten war, dass von den in Frage kommen- Ostdeutschland, sowie nach Frankfurt führten. Zentraler den Strecken im Gelände erheblich mehr erkennbar oder Punkt dieser Verbindungen war Köln, das für die Rhein- sogar erhalten war, als man vermuten konnte. So haben schifffahrt Stapelrecht besaß. Als weitere wichtige Städte die römischen Straßentrassen im agrargenutzten Flach- sind Neuss, Duisburg, Dortmund und Wesel zu nennen. land über weite Strecken im heutigen Straßennetz über- lebt, während sich auf den Eifelhöhen unter dem Schutz Als eine der bedeutenden Verkehrswege existierte seit des Waldes sogar die Straßendämme streckenweise gut dem Frühmittelalter die Frankfurt - Aachener Heerstraße, erhalten konnten. Die tief eingeschnittenen Täler, die im die von der Ahrmündung entlang des Mittelgebirgsrandes Straßenverlauf zu queren waren, erforderten mancherorts der Eifel über Düren nach Aachen führt.

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Historische Straßen in einem Ausschnitt im südlichen Nordrhein-Westfalen

Bergische Eisenstraße Hilinciweg Straße von Köln nach Frankfurt Straße von Köln über Schwelm Brüderstraße Köln - Kürten - Wipperfürth - Werl nach Dortmund Haus Bürgel - Wuppertal Limesstraße strata coloniensis

Heidenstraße Mauspfad untergeordnete Verbindungsstraße

Hellweg Polizeiweg Zeitstraße

Hileweg Straße von Frankfurt zum Hellweg Karte: Rheinisches Amt für Bodendenkmalpflege

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Im Hochmittelalter behält der Hellweg seine Bedeutung, Oberbergischen Landes mit dem Siegerland und dem die er bereits in vorgeschichtlicher Zeit besaß. Der Land- Rhein. Weitere Abzweigungen verbanden andere Handels- wegkorridor führte vom Rhein bei Duisburg über Essen - wege ins Märkische Land oder über den Nutscheid zur Bochum - Dortmund - Soest nach Paderborn und darüber Sieg; eine Abzweigung bei Oberwiehl erreichte über Sin- hinaus. Er diente als Heerweg der Konstituierung der Macht spert die Silberkuhle. und entwickelte dann aus den anliegenden Stätten der Salzgewinnung oder den großen Burgen Handelsplätze. Erst das System der Poststraßen machte seit den 1780er Mehrere der vielen Trassen konnten bei archäologischen Jahren aus den für Fahrzeuge fast untauglichen Fernwe- Untersuchungen in Westfalen freigelegt werden. Zu den be- gen leidlich unterhaltene Straßen. Aus den berittenen deutenden Ost-West-Verbindungen im Mittelalter gehörte Nachrichtenposten wurden relaisgestützte Fahrposten. Zu- der Verkehrsweg von Neuss über Düsseldorf nach Hagen. gleich entstanden die ersten dauerhaften Straßenbrücken.

Der Naturweg der sog. Nutscheid-Straße nutzte einen In napoleonischer und preußischer Zeit entstanden wich- West-Ost verlaufenden Höhenzug, der nördlich des Sieg- tige Militärstraßen als Fernverbindungen, wie Osnabrück tals vom Rhein in Richtung Osten verläuft. Im Bereich von über Münster über Wesel-Büderich nach Venlo oder die Ko- Erdingen teilt sich der Weg nach Siegen (später von der Brü- blenz-Mindener Militär- und Landstraße, 1816-1828, die derstraße genutzt) und nach Olpe. In beiden Fällen wird hier erstmals Nordrhein-Westfalen zur Gänze durchquerte. Im die Nord-Süd verlaufende Strecke der alten Straße von Zuge der Fernverbindung Saargemünd bis Bremen wurden Frankfurt zum Hellweg berührt, die ebenfalls ein alter Natur- in Nordrhein-Westfalen bis 1838 die Abschnitte Münster - weg aus der Wetterau nach Norden ist. Da in vorrömischer Schwelm - Köln - Trier fertig gestellt. Einzelne preußische Zeit das Rheintal zwischen Andernach und Bonn-Mehlem Meilensteine haben sich auch an diesen Straßen erhalten. nicht passierbar war, erfolgte der Kontakt zwischen Ober- und Niederrheingebiet über diese östliche oder eine westli- Als archäologische Relikte napoleonischer Militär- und che Umgehung durch die Eifel. Die bandkeramische Be- Verkehrsplanung haben sich Reste von Chausseedämmen siedlung des Rheintals erfolgte zum Teil über diesen Weg. bei Dülmen und Telgte erhalten. Im weitesten Sinne in die- sen Bereich gehören auch die Überreste einer unvollendet Als Nord-Süd-Verbindungen sind die Strata Colonensis und gebliebenen Eisenbahnlinie der Mitte des 19. Jahrhunderts der Mauspfad zu nennen. Relikte dieser zumeist über die bei Lichtenau, Kreis Paderborn und Willebadessen, Kreis Höhen geführten Handelswege sind heute in Form von Hohl- Höxter, die eine Eggeüberquerung möglich machen sollten. wegen oder Hohlwegbündeln erhalten. Sie stellen wichtige Monumente der mittelalterlichen Verkehrs- und Handelsbe- Bis in die 1870er Jahre baute man Fernstrecken neu, 103 ziehungen dar. Die Kölnische Straße führte von Meschede seit Mitte des 19. Jahrhunderts verdichten Kreis- und Kom- nach Westen als eine südliche Parallele des Hellweges munalstraßen das Straßennetz. Vereinzelt werden privat- durchs Kurkölnische. Weitere wichtige Nord-Süd-Verbindun- wirtschaftlich Maut- oder Aktienstraßen gebaut (Mülheim - gen sind der Frankfurter Weg von Frankfurt zur Weser – er Essen). Den Vorzug in der Fernverkehrsplanung hat seit ih- kreuzt bei Paderborn den Hellweg – und die Friesenstraße rer Erfindung bis in die 1920er Jahre eindeutig die Eisen- von Hessen über Soest entlang der Ems nach Norden. bahn. Dies gilt zumindest bis zu individuellen Motorisie- rung mit der erst das heutige dichte Fernstraßennetz mit In Westfalen sind zahlreiche alte Straßentrassen be- den heute gewohnten staubfreien Oberflächen und Quer- kannt. Von besonderer Bedeutung waren drei große, das schnitten samt der Infrastruktur, wie den Tankstellen oder südliche Westfalen durchziehende Wege: Eisenstraße, Rö- Autoreparaturwerkstätten, entsteht. merweg und Heidenstraße. Diese dienten dem überregio- nalen Handelsverkehr und wurden u.a. auch als Pilgerwe- Planung und Bau der Autobahnen (erste Teilstrecke zwi- ge genutzt. Von diesem Weg sind zahlreiche Hohlweg- schen Bonn und Köln) waren Vorreiter für eine dann über- stränge erhalten, ebenso Zuwegungen. Die Eisenstraße greifende Straßennetzentwicklung. von Nassau in Richtung Olpe durch das Rothaargebirge ist ein Beispiel für Altstraßenverläufe, die von Landwehren be- gleitet wurden. Ein dichteres Straßennetz entsteht erst mit Wasserstraßen der Industrialisierung. Daneben ist die Friesische Straße von Münster an die Nordsee zu diesen historischen Stra- Seit frühester Zeit nutz- ßenzügen zu rechnen. In das internationale Netz der Pil- ten die Menschen Bäche gerwege mit Ziel Santiago waren Verbindungen von Osna- und Flüsse und die sie be- brück über Münster nach Köln oder von Ostwestfalen über gleitenden Landwege zum Soest nach Dortmund. Austausch und Transport von Waren und Informatio- Die Brüderstraße ist ein mittelalterlicher Fernhandelsweg nen. Besonders der Rhein zwischen Köln und dem Bergbaugebiet um Siegen, wahr- wuchs seit der Römerzeit scheinlich zuerst in karolingischer Zeit genutzt. Im Laufe zur wichtigsten europäi- Römischer Prahm (Flachbo- denschiff) in einer Kiesgrube der Zeit entstanden entlang des Weges vereinzelt Siedlun- schen Verkehrsader mit ar- am Niederrhein – Skizze gen, so Overath. Sie war die wichtigste Verbindung des chäologisch nachgewiese- Foto: J. Obladen-Kauder

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nen Häfen in Köln und Xanten. Die Römer trugen auf der cken die unvermeidbaren Niveauunterschiede. Sie wurden Lippe und in ihrer Talaue ihre Feldzüge vom Rhein aus vor. meist aus Steinmauern mit Holztoren errichtet. Die Weser war ein verlässlich schiffbarer Weg. Die Ems be- günstigte die Ausbreitung des Christentums wie die Raub- Zu den ältesten Kanälen im Rheinland gehört der Spoy- züge der Normannen. Bis Lippstadt fand Schifffahrt über kanal bei Kleve. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts erfolgte das Mittelalter hinaus statt: Mit Packtieren besorgte man in der Ausbau eines Altrheinarms als Wasserstraße von Kleve vorindustrieller Zeit von den Steinkohlenrevieren der mittle- nach Brienen zum Rhein. ren Ruhr nach Norden über den Gahlener Kohlenweg den Kohlenabsatz. Wichtige Versorgungs- und Absatzrouten Mit der Fossa Eugeniana unternahm die Generalstatt- reichten von den Flüssen in die industriellen Zentren des halterin der spanischen Niederlande, Erzherzogin Isabel- Mittelalters hinein: Eifel, Bergisches Land, Sauerland. la Clara Eugenia seit 1626 den Versuch, eine schiffbare Verbindung vom Rhein bei Rheinberg zur Maas bei Venlo Unter den Häfen der Neuzeit erlangte der Duisburg- herzustellen. Durch den Kanalbau sollte der wichtige nie- Ruhrorter Hafen europäische Bedeutung, wobei der Ruhr- derländische Rheinhandel abgeschnitten und zum Vorteil orter Hafen zum Umschlag von Schüttgut (Kohle und Erz) durch spanisch-niederländisches Gebiet umgeleitet wer- ausgebaut wurde und der Duisburger Hafen, besonders den. Weiterhin sollte die Fossa Eugeniana als eine zu- der Innenhafen zum Standort von Kornmühlen, Holzhandel sätzliche Verteidigungslinie dienen. Nach Festlegung der und Speicherbauten wurde. Von europäischer Bedeutung endgültigen Trasse bildeten die befestigten Städte war im Mittelalter auch der vom Stapelrecht begünstigte Rheinberg und Venlo die Kanalendpunkte. In der Mitte Kölner Hafen entlang der Rheinkais vor den Stadtmauern. des Kanalverlaufes bot vor allen Dingen die starke Fes- Im späteren 19. Jh. löste der Komplex aus Rheinauhafen, tung Geldern sicheren Schutz. Auf halbem Wege zwi- Deutzer Industriehafen, Mülheimer Hafen und später noch schen diesen drei Städten lag jeweils eine große Erd- Niehler Hafen den alten Flusshafen in seiner Bedeutung schanze mit vier Bastionen. Außerdem befanden sich ab. Auch alle anderen Rheinstädte entwickelten in dieser zwischen den oben erwähnten festen Punkten noch in Zeit teilweise große Bassinhäfen mit auch heute noch be- regelmäßigen Abständen insgesamt 22 weitere kleinere eindruckenden Speicher- und Produktionsbauten. Zu nen- Erdschanzen mit Halbbastionen. nen sind besonders Düsseldorf, Neuss und Krefeld. Ein weiteres Wasserbauprojekt aus der Zeit des Merkan- tilismus stellt der Max-Clemens-Kanal von Münster bis Römischer Prahm (Flachbodenschiff) in einer Kiesgrube am Niederrhein Maxhafen (Kreis Steinfurt) dar, der über die Vechte das 104 Foto: W. Sengstock Münsterland mit den niederländischen Seehäfen verbin- den sollte. Der Mitte des 18. Jahrhunderts gebaute Kanal wurde geradlinig über lange Strecken geführt, z.T. in Trog- lage, z.T. in Dammlage mit beidseitigen Treidelpfaden. Die Kanaltrasse mit einer Länge von mehr als 40 km wirkt bis heute landschaftsprägend, obwohl der Güterverkehr auf dem Kanal bereits 1840 eingestellt wurde.

Max-Clemens-Kanal; Übersichtskarte aus: Horn/Thünker: Zeitmarken/ Landmarken, Köln 2000, S. 161

Kanäle

Mit der Entwicklung der Kammerschleuse im 15. Jh. nahm die Kanalschifffahrt einen regen Aufschwung: Seit dieser Zeit wurden bis heute Verbindungen zwischen na- türlichen Wasserwegen geschaffen und Wirtschaftsräume erschlossen. Schifffahrtskanäle zählen zu den hervorra- genden wirtschaftlichen Hinterlassenschaften des Spätmit- telalters, der Frühneuzeit und Neuzeit. Schleusen überbrü-

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sung von Wasser und auch an einer möglichst günstigen Verteidigungslinie in Richtung Osten. Die Entscheidung fiel 1806/07 für die Strecke von Neuss-Grimlinghausen, an Viersen vorbei zum Nettetal und von dort über Herongen in einem nördlichen Bogen auf Venlo zu. Die Gesamtlänge der Strecke betrug 53,5 km, bei veranschlagten Baukosten von 6 Millionen Francs. Der Kanal sollte mit zwei Schleusen vom Rhein bei Grimlinghausen aus auf eine Wasserschei- telhöhe von 37,10 m ü. N.N. gehoben werden und auf die- sem Niveau bis zum Steilabfall im Maastal verlaufen. Ab Straelen-Louisenburg erfolgte dann der Abstieg mit sieben Schleusen, die jeweils einen Hub von 4 m besaßen, in das Maastal bis zur Stadtbefestigung von Venlo. Am 18.1.1811 wurden die Arbeiten eingestellt.

In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfolgte unter wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten der Ausbau der Ruhr als Schifffahrtsweg. Mehrere Schleu- senanlagen wurden gebaut, um den sehr unterschiedli- chen Wasserstand des Flusses zu regulieren. Kohlen- schiffe konnten so über Mühlheim bis nach Ruhrort ihre Krefeld, Rheinbrücke schwarze Fracht transportieren. Gegen Eisgang und Foto: LVR/J. Gregori Hochwässer erbaute man an verschiedenen Stellen so genannte Sicherheitshäfen. Ein vergleichbarer Ausbau erfolgte auch an der Lippe. Der Gedanke des Baues des Nordkanals stammt von Napoleon persönlich, der nach dem Frieden von Lunéville Seit dem späten 18. Jh. begann Preußen aus Lippe 1801 den Rhein unter Umgehung des Vereinigten Königrei- und Ruhr ein Wasserstraßensystem zu entwickeln, um ches der Niederlande über die Maas und Schelde mit Ant- Salz und Kohle massenhaft fort- und Getreide heranzu- werpen, dem seinerzeit nördlichsten französischen Seeha- schaffen. Es entstanden Buhnen, Schleusen, Häfen. Pa- fen, verbinden wollte. Die 1802 durchgeführten Untersu- rallel mit der Entwicklung des Eisenbahnnetzes komplet- 105 chungen zur vorteilhaftesten Linienführung orientierte sich tierte sich seit den 1890er Jahren um beide Flüsse, de- an der Kürze der Verbindung, an einer möglichst geringen ren Schifffahrt dann freilich zum Erliegen kam, ein noch Anlage von Kunstbauten, über eine ausreichende Einspei- heute funktionierendes und modern gehaltenes Kanal- netz mit Dortmund-Ems-Kanal, Rhein-Herne-Kanal, Mit- tellandkanal, Datteln-Hamm-Kanal und Wesel-Datteln-Ka- Duisburg-Ruhrort, Homberger Brücke nal und Ruhrschifffahrtskanal nach Mülheim/Ruhr samt Foto: LVR/J. Gregori einer Vielzahl von technisch meisterhaften Wehre, Schleusen, Dükern, Wasserstraßenüberführungen und Straßen- und Bahnbrücken.

Eisenbahn

Nachdem die ersten Bahnen bereits in der Frühen Neu- zeit in den Kohlengruben erbaut wurden – es handelt sich hierbei um kleine hölzerne Wagen, die auf ebenfalls höl- zernen Schienen liefen – können als älteste Eisenbahnen im Ruhrgebiet die Verbindungsbahnen von den Zechen zu den Kohlenniederlagen (Stapelplätzen) an der Ruhr be- zeichnet werden. Um 1787 wurde von vier Zechen der knapp zwei Kilometer lange „Rauendahler Kohlenweg“ bei Hattingen angelegt, die wohl älteste Kohlenbahn Deutsch- lands.

Mit der Inbetriebnahme (1801) der ersten Dampfmaschi- ne zur Wasserhebung in den Kohlenstollen entstand mit den geförderten Kohlenmengen ein enormer Transportbe- darf. So baute man bis 1831 die Verbindung Essen-Steele nach Wuppertal-Vohwinkel, zunächst als pferdebetriebene

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Karte des Eisenbahn-Direktions-Bezirks Köln 1917 Karte: Rheinisches Amt für Bodendenkmalpflege

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Schmalspurbahn, später auf Normalspur umgebaut. Als äl- knotenpunkte wie Langendreer oder Dortmunderfeld entwi- teste Vollbahnstrecke im Nordrhein-Westfalen wird die Ver- ckelten sich nicht nur im Bergbaugebiet, sondern auch an bindung von Düsseldorf nach Erkrath angesehen, die früher entlegenen, kleinen Orten wie Altenbeken. 1838 eröffnet und 1841 nach Wuppertal-Vohwinkel verlän- gert wurde. Sie stellte die Verbindung von den wirtschaftli- Kennzeichnend für die frühen Bahnstrecken ist die mög- chen Zentren im Wuppertal zum Rhein und damit zu den lichst gradlinige Streckenführung, da es sich um Überland- Abnehmern im In- und Ausland her. verbindungen handelte, die der Verbindung zwischen gro- ßen Städten bzw. zwischen den Be- und Entladestellen Die bahnbrechende Erfindung der Dampflokomotive und dienten. Wie alle frühen Eisenbahnen war der Güterverkehr die Steinkohlenvorkommen im Ruhrgebiet und Aachener die Grundlage für die Anlage und Führung der Bahntras- Revier und die Position Kölns als zentraler Handelsort er- sen. Erst in der Folge der Entwicklung intensivierte sich der forderten schon bald die Erschließung des Landes durch Personenverkehr, zunächst als Fernverbindungen, später die Eisenbahn. auch im Regionalverkehr. Dies ermöglichte u.a. die Auswei- tung der Siedlungsgebiete, da durch die häufig verkehren- Die Rheinische Eisenbahn zur Verbindung Kölns mit Ant- den Züge der tägliche Weg von der Arbeitsstätte zur Woh- werpen über Aachen und Lüttich (1839-41) war die erste nung deutlich verlängert werden konnte. Fernbahn mit übernationaler Perspektive. Das Ziel, die bei- den großen preußischen Steinkohlenreviere Oberschlesien Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 brachte auch und Ruhrgebiet über Berlin miteinander zu verbinden, um für den Eisenbahnbau einen gewaltigen Aufschwung. Bis den Austausch von Waren und Fachkräften und damit ech- zum Ersten Weltkrieg floss ein ganz erheblicher Teil der ten Verkehr zu ermöglichen, wurde aus lokalen Anfängen wirtschaftlichen Wertschöpfung Preußens in die Entwick- 1846-47 durch Trassenverbund mit der Köln-Mindener Ei- lung dieses Verkehrsmittels. Bis in die Mitte der 1880er senbahn erreicht. Doch erst in den 1860er Jahren begann Jahre waren die Fernstrecken durch Nordrhein-Westfalen der Bau der heute wichtigsten Bahnverbindung zwischen vollständig, d.h. die großen Bahnhöfe mit ihren Empfangs- Duisburg und Dortmund über Mühlheim, Essen und Bo- gebäuden, Güterhallen und Betriebswerken waren sämt- chum. Diese Trasse führte über bereits dicht besiedeltes lich entstanden. Im Ruhrgebiet bestand bereits ein dichtes Gebiet und bot durch die Ausläufer des Bergischen Lan- Eisenbahnnetz, das die Linien der Bahngesellschaften un- des topographische Schwierigkeiten, die sich teilweise in tereinander und mit den Zentralorten verband. Große Einschnitten und Dammlagen repräsentierten. Diese Stre- Bahnhofsbauten (Köln, Köln-Deutz, Aachen, Bonn, Düren, cke folgt weitgehend dem mittelalterlichen Hellweg und Krefeld, Elberfeld und Barmen, Hagen, Hamm) wie auch Aus- wurde 1862 durchgehend eröffnet. besserungs- und Betriebswerke (Aachen, Düren, Köln-Nip- 107 pes, Krefeld, Oberhausen, Gummersbach) sowie auch die Eine Industriewirtschaft im modernen Sinne konnte als- großen Eisenbahnbrücken in Köln (Hohenzollernbrücke und dann auch unter vollkommen neuen politischen Entwick- Südbrücke) oder die Talbrücke bei Müngsten zwischen So- lungen wie den Märzereignissen beginnen. Bis 1849 hatte lingen und Remscheid künden von diesem gewaltigen die Bergisch-Märkische-Eisenbahn die Strecke Elberfeld- Ausbau bis 1920. Wegen der Modernisierungen in späte- Dortmund erbaut, 1855 Hamm-Münster und 1856 Münster- rer Zeit gelten ganze Strecken oder Streckenteile aus die- Emden. Hamm entwickelte sich am Rand des Reviers zu sem Fernbahnnetz nicht als denkmalwert. einem Verkehrsknotenpunkt. Der Engpass der Porta West- falica erhält den Charakter einer echten Verkehrsschiene. Im östlichen Bergland Westfalens wurden große Viadukte Köln, Hohenzollernbrücke erbaut, die noch heute zum Eindruckvollsten unter den Foto: LWL/M. Philipps Verkehrsbauten rechnen.

Die Verbindung von Duisburg-Homberg über Krefeld nach Mönchengladbach errichtete man bereits 1849/51, mit Anschluss nach Aachen 1852. Der Rhein wurde mittels eines Trajektes verbunden. Auf beiden Rheinseiten erbaute man Eisenbahnhäfen und Hebetürme, linksrheinisch ist das Ensemble vollständig erhalten, rechtsrheinisch exis- tiert die Hafenanlage noch.

1861 wurde mit der tunnelreichen Strecke Hagen-Haiger das Altindustriegebiet am Nordrand des Sauerlandes mit dem Frankfurter Raum verbunden. Und bereits 1862 ent- stand an der Köln-Mindener Eisenbahn im Ruhrgebiet ein lokales Eisenbahnverkehrsnetz um die Emschertalbahn. Der Bergbau im Ruhrgebiet konnte dank paralleler technischer Entwicklungen in der Wasserhaltung sofort die Absatzmög- lichkeiten nachziehen, welche die Eisenbahn bot. Verkehrs-

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Die Zeit nach 1890 war sehr stark durch den Bau von Neben- oder Sekundärbahnen zur flächenhafte Erschlie- ßung des Landes geprägt, bei der bald jedes Dorf seinen Anschluss, sei es durch Regelspur, sei es durch Schmal- spur erhält. Einige der Sekundärbahnen sind derart gut überliefert, dass sie als Liniendenkmale gelten: Wiehltal- bahn im Bergischen Land, Köln-Frechen-Benzelrather-Ei- senbahn, Oleftalbahn und Vennbahn.

Für den Linienbau nach 1900 erwähnenswert sind die vielgleisige Hamm-Osterfelder Bahn für die neu anzule- genden Großzechen in der nördlichen Emscherzone, die gleichzeitig zum Kanalnetz gebaut wird, und etwa auch die Strecke Brilon Stadt-Brilon Wald. In den Gebirgsgegenden gehen nun aufwändig geführte einspurige Stichbahnen in jeden Talwinkel, von denen einige durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unvollendet bleiben. Nach dem Ers- ten Weltkrieg ist vor allem die Eisenbahnstrecke Preußen- Wuppertaler Schwebebahn Lünen-Münster mit ihren einheitlichen ländlichen Emp- Foto: LWL/M. Philipps fangsgebäuden beispielhaft. Zu den großartigen Bahn- hofsneubauten der Zeit nach 1920 zählen die Hauptbahn- höfe in Düsseldorf, Duisburg und Oberhausen. Der Bau der Eisenbahnen im Rheinland ermöglichte erst die enorme wirtschaftliche, infrastrukturelle und soziale Seit etwa 1890 entwickelte sich in den Städten und als Entwicklung seit rund 200 Jahren. Mit ihren landschafts- Verbindung zwischen Städten und Vororten auch ein dich- verändernden Eingriffen haben sie das teilweise noch tes Netz von Straßenbahnen, das mit den auf Individual- mittelalterlich strukturierte Land grundlegend verändert, verkehr ausgerichteten Straßenverbesserungen jedoch durch die Transportmöglichkeiten im Massenverkehr die nach Zweiten Weltkrieg wieder reduziert wurde. Erhalten wirtschaftliche Entwicklung im Land vorangetrieben so- blieben aus der großen Zeit der elektrischen Straßenbahn wie die Entwicklung der Städte verändert bzw. erst er- die Depotbauten sowie vereinzelte Streckenbauten (Tunnel, möglicht. In der Landschaft erkennbar sind die eisen- 108 Bahndämme). Ein einzigartiges Denkmal des Nahverkehrs bahntypischen Bauwerke wie die Strecken mit Dämmen entstand mit der Schwebebahn in Wuppertal. und Einschnitten, Brücken und Tunnel und den damit verbundenen Durchschneidungen der vorhandenen Landschaftsstruktur, darüber hinaus die Bahnhöfe für den Station der Wuppertaler Schwebebahn Personenverkehr, die Rangieranlagen, den Hafenbahnhö- Foto: LWL/M. Philipps fen und Fabrikanschlüsse für den Güter- und Massenver- kehr. Die Bahntrassen sind in ländlichen Gegenden als gestalterische Eingriffe des Menschen anzusehen, an de- ren Erhaltung ein hohes öffentliches Interesse besteht. Deshalb ist die Einbindung in aktuelle Planungen wie touristische Nutzungen als Fahrradwege zu fördern, da sie durch die Nutzung die dauerhafte Erhaltung und da- mit die Verbindung zu den Menschen gewährleisten. An- dere eisenbahntechnische Bauwerke wie Brücken und Tunnel können in Verbindung mit dem Umwelt-, Land- schafts- und Tierschutz genutzt werden, was ebenfalls deren dauerhafte Erhaltung sichert.

Luftverkehr

Das Aufkommen des Luftverkehrs vor dem Ersten Welt- krieg ist bereits der nächste, den Personenverkehr revolu- tionierende Entwicklungsschub. Die Postflugzeuge beför- dern schon bald nach dem Krieg auch Passagiere, so dass in den 1920er Jahren bereits ein regelrechter Linien- verkehr entstehen kann. Die Flugplätze der Anfangszeit, große Felder mit Randstraßen und -bebauung, von denen sich Dortmund-Brackel und Köln-Butzweiler als eindruck- volles Beispiele erhalten haben, werden jedoch bald militä-

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risch genutzt. Andere entwickeln sich als Folge der Ver- hofsgebäuden die bemerkenswertesten historischen Pro- sailler Vertrags aus Vereinsflugplätzen über denselben mili- fanbauten in den Innenstädten. tärischen Zwischenzustand zu heutigen Sportflugplätzen (Meschede-Schüren, Hangelar bei Bonn) und Verkehrsflug- Früheste bauliche Maßnahmen zur Energiegewinnung häfen (Köln-Bonn). sind die Anlagen von Stauwehren, deren Niveau-Gefälle zur Anlage von Wasserkraftwerken genutzt wurden. Den ungezählten Wassermühlen in ganz Nordrhein-Westfalen Nachrichtensysteme ähnliche Anlagen, bestehend aus Wehr, Zulauf, Stauteich und Untergraben, reihen sich, beginnend schon im 15. Nachrichtensysteme sind unter denkmalpflegerischen Jh., für den Betrieb von Hammerwerken der Metallverar- Gesichtspunkten nur dann sinnfällig, wenn sie sich an Ge- beitung in dichter Folge in allen Mittelgebirgsräumen. bäuden festmachen lassen. So funktionierte – alte Blickbe- züge zwischen Wart- und Kirchtürmen außer Acht gelas- Vielen der Mühlen und Hammerwerke ist kurz nach 1900 sen – 1835 bis 1849 eine optische Telegraphenlinie von die Funktion der Stromerzeugung zugewachsen. Zur Ver- Koblenz nach Berlin, von der noch je zwei Semaphoren in stätigung der Wasserzufuhr- und Industrieanlagen des Westfalen und im Rheinland (Köln-Flittard und Hennef-Sö- Sauerlandes wurden seit 1891 Talsperren angelegt, denen ven) erhalten sind. Aus der Frühzeit des Telefons gibt es ei- sekundär Funktionen für die Trinkwasserversorgung und nige Fernmeldeämter, deren Gebäude verdeutlichen, mit schließlich auch für die Freizeitgestaltung zuwuchsen. An welch großem technischem Aufwand und Personalbestand den Staumauern sowie an weiteren Wasserbauten an den die neue Technik bewältigt werden musste. Unterläufen der Flüsse wurden größere Anlagen zur Stromerzeugung errichtet.

Die nach 1900 entstandenen und heute denkmalwerten Köln, optischer Telegraf Bauten der Stromversorgung gehören in ihrer Vielfalt zu Foto: LVR/J. Gregori den prägendsten Zeugnissen der Industrialisierung in Stadt und Land. Das Spektrum reicht von Wasser-, Kohle- und Gas-Kraftwerken über Umspannstationen bis zu den Trans- formationsstationen im ländlichen Raum, sind in Nordrhein- Westfalen verschiedenste denkmalwerte Anlagen zu sehen, die nicht nur regionalgeschichtlich bedeutsam, sondern durch ihre gestalterische Anpassung an ihre Umgebung 109 auch architekturgeschichtlich von Interesse sind.

Die Nutzung von Gas für öffentliche Beleuchtungen, später auch Haushalte und Industrie, setzt nach Anfängen ab 1830 (erhalten in Warendorf) im Umfang großer Gasan- stalten kurz vor 1900 ein. Die Entwicklung ist überliefert in weithin sichtbaren Gashochbehältern („Gasometer“) in Her- ne, Münster, Oberhausen, Wuppertal u.a.; hinzukommen etliche Kugelgasbehälter sowie die Herforder Gasanstalt (1908/09). Innerhalb denkmalwerter Industrieanlagen sind weitere Beispiele zu finden.

5.5 Sozial und kulturell geprägte Funktions- bereiche

5.5.1 Wohnen / Siedlungswesen

Einführung

Gebäude mit ausschließlicher Wohnfunktion finden erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts allgemeinere Verbreitung. Zuvor und vielfach noch bis in die Gegenwart dienen städ- Die Posten, welche sich zugleich mit den Poststraßen tische wie ländliche Häuser auch dem Wirtschaften. Das langsam entwickelten, fast jeder Ort weist eine „Alte Post“ trifft auf Handel und Handwerk ebenso zu wie auf landwirt- auf, wurden seit der 1870er Jahren zu Postämtern. Viele schaftliche Tätigkeiten, denen nicht nur die ländlichen, Beispiele der unterschiedlichsten Größen haben sich hier sondern zumindest im Rahmen der Selbstversorgung erhalten, sind sie doch heute neben Rathaus und Bahn- auch die städtischen Haushalte nachgingen.

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Vorgeschichte Die frühesten gesicherten Zeugnisse der Anwesenheit des Menschen in Nordrhein-Westfalen stammen aus dem Das Paläolithikum in Nordwest-Europa ist geprägt durch ausgehenden Altpaläolithikum (vor 300.000 vor Heute). Es einen Wechsel von Kalt- und Warmzeiten, denen sich die Jä- handelt sich um Steinartefakte aus dem Travertin der Kart- ger und Sammler anpassen mussten. In den Kaltzeiten do- steinhöhle bei Mechernich und um drei Quarzgerölle aus minierten in den eisfreien Gegenden (Periglazialräumen) wei- der Ziegeleigrube bei Mönchengladbach-Rheindahlen. te kahle Tundrensteppen mit entsprechender Steppenfauna Vielleicht wenig jünger sind die Funde aus Essen-Vogel- wie Mammut, Wollnashorn, Rentier, Pferd und Hirsch. Die heim und Velen in Westfalen. Warmzeit war geprägt durch Waldsteppen, in denen Wald- elefant, Flusspferd, Reh, Hirsch und Wildschwein lebten. Fundstellen aus dem Mittelpaläolithikum finden sich auf Löss- und Lehmböden. Fundplätze sind die Kartsteinhöhle Die umherziehenden Jäger und Sammler des Paläolithi- bei Mechernich und die Balver, Feldhof- und Volkringhau- kums verfügten nicht über feste Wohnplätze, sondern zo- ser Höhle im Sauerland, Lössschichten bei Mönchenglad- gen in kleinen Gruppen durch die Landschaft, wobei sie bach-Rheindahlen, in Ratingen und in Troisdorf sowie Ter- ihre Lagerplätze immer wieder wechselten. Definitive Aus- rassenfunde des Sauerlandes, so um Meschede (Hochsau- sagen über die Lage damaliger Siedlungsplätze können erlandkreis). Ebenso anzuschließen sind einige stratigra- kaum gemacht werden, da die paläolithische Land- phisch schwer zu fixierende Funde aus Sandgruben an schaftstopografie gänzlich anders ausgesehen hat als Ems, Lippe und Emscher. Die ältesten menschlichen Fos- heute, und wir uns nur ein grobes Bild der damaligen silien von Nordrhein-Westfalen wurden 1856 in einer Kalk- Landschaft machen können. Durch die Veränderung der steingrotte im Neandertal bei Erkrath-Hochdahl gefunden. Landschaft während der verschiedenen Eis- und Warm- Ihnen lässt sich das vor kurzem gefundene Schädelfrag- zeiten liegen ehemalige Siedlungsplätze entweder unter ment eines Neandertalers aus dem Kottruper See bei Wa- mehreren Meter mächtigen Bodenaufträgen und sind bis- rendorf zur Seite stellen. lang unbekannt, oder sie wurden durch die gewaltigen nacheiszeitlichen Flussverlagerungen abgetragen oder im Der Übergang vom Mittel- zum Jungpaläolithikum findet günstigsten Fall angeschnitten. vor etwa 40.000 Jahren statt. Das Ende gegen 12.000 v. Chr. geht mit der schrittweisen Erwärmung und der da- durch bedingten Veränderung der Pflanzen- und Tierwelt Sommerzelt von Rentierjägern einher. Wie im Mittelpaläolithikum haben die Menschen in Rekonstruktion Archäologisches Freilichtmuseum, Oerlinghausen Foto: LWL/B. Milde Höhlen (Kartstein, Balver Höhle) oder in Freilandstationen 110 gewohnt. Jagdlager sind ebenfalls aus unserer Region be- kannt. wie die im Löss erhaltene Freilandstation Weilers- wist-Lommersum im Süden der Niederrheinischen Bucht.

Im Zuge des in den Ostseeraum zurückweichenden Ei- ses wurde auch das nördliche Eisvorland wieder besiedelt (ca. 16.000 vor heute). Aus dieser Zeit stammt ein weiterer Fundplatz mit menschlichen Fossilien. In Bonn-Oberkassel wurden die Gräber eines älteren Mannes, einer jüngeren Frau und eines Hundes entdeckt. Einige Fundplätze sind aus den rheinischen Lössbörde bekannt. Fundplätze in Jü- chen-Kamphausen, in Alsdorf, in Hückelhoven, Erkelenz und Wegberg, belegen, dass nicht nur die Mittelgebirgszo- nen – wie mit der Feldhofhöhle bei Balve – von den jung- paläolithischen Jägern und Sammlern aufgesucht wurden, sondern auch die nördlich anschließenden Gebiete.

Um 12.500 v. Chr. erwärmte sich das Klima deutlich. In- folge der veränderten Umwelt unterschied sich die Le- bensweise des Menschen in dieser Zeit deutlich von der im vorhergehenden Magdalénien. Sie lebten in kleineren Bei den meisten altsteinzeitlichen Fundplätzen handelt Gruppen und waren weniger sesshaft. Besonders zahl- es sich entweder um Einzelfunde oder um Oberflächen- reich sind spätpaläolithische Fundplätze im dem dicht von fundplätze, die zu längerfristig besiedelten Basislagern, zu Flüssen und Bächen durchzogenen Niederrheinischen kurzfristig aufgesuchten Jagdlagern oder zu Plätzen gehö- Tiefland, was vermutlich aber auf eine intensive Sammler- ren, die nur zur Rohmaterialbeschaffung dienten. Seltener tätigkeit in diesem Gebiet zurückzuführen ist. Weitere sind Fundstellen in Höhlen bekannt, in denen durch strati- Fundplätze fanden sich am Rande des Rurtales bei Jülich- graphisch sich überlagernde Fundhorizonte nachgewiesen Barmen, am Ziegenberg bei Troisdorf, auf dem Kaiserberg werden konnte, dass diese Siedlungsstellen über sehr lan- in Duisburg und unter einem Felsdach am Kartstein in der ge Zeiträume hin immer wieder aufgesucht wurden. Eifel. Ausgedehnte Fundlandschaften des Spätpaläolithi-

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kums findet sich um Westerkappeln (Kreis Steinfurt) und chenfunde vor; ein besonderes Fundzentrum befindet sich Rietberg (Kreis Gütersloh). Weiterhin sind die Funde der um Netphen (Kreis Siegen-Wittgenstein), aber auch im Sau- Höhlenstationen Martinshöhle bei Iserlohn-Letmathe (Mär- erland (Meschede, Hochsauerlandkreis). kischer Kreis) und Hohler Stein bei Rüthen-Kallenhardt (Kreis Soest) von besonderer Bedeutung. Am Beginn des Neolithikums steht die Bandkeramische Kultur. Die nach Nordrhein-Westfalen eingewanderten Träger Auch im Mesolithikum bestimmte die aneignende Wirt- dieser Kultur errichteten nach Rodung des Waldes Pionier- schaftsweise mit Jagd und Sammeln das Leben der Men- siedlungen und im Abstand von wenigen Hundert Metern schen. Die Jagd auf standorttreue Waldtiere, das reiche An- Nebensiedlungen in Form von Einzelhöfen und Weilern. Die gebot an Fischen und die große Auswahl an Sammelpflan- Großsiedlungen nahmen im Tauschnetzwerk eine zentrale zen erlaubte die Beschränkung der menschlichen Aktivitä- Rolle ein und waren über viele Generationen hinweg ortskon- ten auf vergleichsweise kleine Reviere. Zur optimalen Aus- stant. Errichtet wurden unterschiedlich große Wohnbauten in nutzung des Nahrungsmittelangebots musste man in Klein- Pfostenbauweise mit einer mittleren Größe von 20 x 6,5 m. gruppen das ganze Jahr umherziehen, so dass sich sai- Außerdem sind Grabenanlagen für zentrale Siedlungen sonale, locker gestreute kleinere Lagerplätze ausbildeten. nachweisbar. Die beschriebenen Siedlungsgruppen nehmen charakteristische Standorte ein: die fruchtbaren Lössflächen westlich des Rheins und am Hellweg. In der Regel nutzte man Korridore von ca. 500 m Breite beiderseits von kleineren Wasserläufen. Die Siedlungskonzentrationen nehmen dabei einen Abstand von 10 bis 20 km ein. Aber auch Standorte mehrere Kilometer entfernt von Oberflächengewässern in Plateaulage wurden bereits früh aufgesucht (Erkelenz-Kück- hoven). Ebenso weichen isoliert liegende Weiler von der re- gelhaften Siedlungsstruktur ab (Minden-Dankersen).

Während der Rössener Kultur ist im Rheinland eine Ver- kleinerung des Siedlungsgebietes mit deutlicher Meidung der aufgelassenen bandkeramischen Orte feststellbar. Die Siedlungen liegen in möglichst großer Entfernung von die- sen. Sie werden insgesamt größer, bestehen aber im Ge- Mittelsteinzeitliche Hütte ... Baumaterial Birkenrinde gensatz zur Platzkonstanz während der Bandkeramik nicht 111 Rekonstruktion Archäologisches Freilichtmuseum, Oerlinghausen lange. Der Abstand zwischen gleichzeitigen Siedlungen be- Fotos: LWL/B. Milde trägt 2 bis 4 km. Diese bilden in der rheinischen Lössbörde und der Münsterländer Börde Verbände mit Entfernungen Die überwiegende Zahl der mesolithischen Siedlungs- von 10 bis 30 km. Die Orientierung an den Gewässern ist plätze in Nordrhein-Westfalen besteht aus Artefaktstreuun- ähnlich der Bandkeramik, allerdings siedelte man auch et- gen an der Oberfläche, die entweder auf oder in Sanddü- was weiter im Hinterland. Charakteristisch sind trapezförmi- nen oder am Rand von Feuchtgebieten bzw. Fluss- oder ge Pfostenbauten unterschiedlicher Größe, besonders auf- Bachauen zu finden sind. In mesolithischer Zeit bestanden fallend sind Großbauten mit bis zu 300 m² Innenfläche. hier häufig noch offene Wasserflächen wie Tümpeln und Altarme. Die Menschen lebten in Zelten oder leichten Hüt- Langhaus der Rössener Kultur ten, die kaum Spuren hinterließen. Es werden saisonbe- Rekonstruktion Archäologisches Freilichtmuseum, Oerlinghausen dingte Lagerplätze – zumeist Sommer- und Winterlager – Foto: LWL/B. Milde unterschieden. Die wenigstens für einige Wochen genutzte Basislager (Bedburg-Königshoven) waren 50-200m² groß und befanden sich häufig im Flachland direkt am Wasser. Hier lebten möglicherweise drei bis vier Familien.

Fundlandschaften mit zahlreichen Fundplätzen finden sich u.a. am Niederrhein und im westlichen Münsterland (Velen, „Die Berge“). Aber auch aus Ausbaggerungen der Flüsse, des Rheins, der Lippe oder um Paderborn, sind zahlreiche – meist organische – Relikte des Mesolithikums geborgen worden.

Die Mittelgebirgszone Westfalens ist ebenso von mesoli- thischen Jäger- und Sammlergruppen vielfach aufgesucht worden. Die Präsenz von Feuerstein im Siegerland, der aus Eiszeitablagerungen im mittleren Westfalen stammt, unter- streicht deren hohe Mobilität. Es liegen zahlreiche Oberflä-

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Der Übergang zum Jungneolithikum bildet die in Nord- lungsweise, kleine Streuhofsiedlungen, können auf ei- rhein-Westfalen bisher wenig bekannte Bischheimer Kultur. nem Areal mit bis zu 40 ha Fläche verteilt sein. Mit Be- Charakteristisch sind Einzelhöfe in Pfostenbauweise und ginn der späten Eisenzeit lassen sich im Rheinland be- Grubenhäuser. In der Michelsberger Kultur sind große Gra- grenzbare Siedlungsgebiete unterschiedlicher Größe fas- benanlage ein charakteristisches Element, Hausbefunde sen. Jetzt kann eine Siedlungsplatzkonstanz (Eschweiler) sind dagegen selten. Gruppen von sich einander zeitlich festgestellt werden. Neben weilerartigen Gehöften (Bour- ablösenden Erdwerken dieser Kultur sind bekannt. Diese heim) treten erstmalig befestigte dorfähnliche Siedlungen zwischen 5 und 7,5 km voneinander entfernten Erdwerke (Hambach) auf. Die Menschen leben nun auf engerem bilden eine Gruppe. Raum gemeinschaftlich zusammen, was eine Differenzie- rung und Spezialisierung in der Arbeitsaufteilung vermu- Im Spätneolithikum ist eine starke Abnahme der Fund- ten lässt. Handel und Handwerk nehmen zu diesem Zeit- stellendichte zu beobachten. Siedlungsbefunde in der punkt einen hohen Stellenwert ein. Da die Bewohner im- Rheinischen oder Münsterländer Bucht sind sehr selten. In mer wieder an gleicher Stelle ihre Gebäude errichten, Westfalen fallen im Nordwesten die Großsteingräber der kann von einem vererbbaren Besitzrecht ausgegangen Trichterbecherkultur und im Osten die Steinplatten-Grab- werden. In Westfalen wird hingegen die Siedlungsweise kammer der Soester und Wartberg-Gruppe auf. Für die zu- der vorangegangenen Jahrhunderte fortgeführt. erst genannte Gruppierung sind durch die Untersuchun- gen von Heek-Ammerter Mark (Kreis Borken) drei rechtecki- Die Gräberfelder liegen in der Nähe der Siedlungen. ge Pfostengebäude bekannt, die auf eine Siedlungsstruk- Große Gräberfelder wurden von unterschiedlichen Sied- tur aus Einzelgehöften oder kleinen Weilern schließen las- lungsgemeinschaften über Jahrhunderte hinweg genutzt. sen. Das Verhältnis derartiger Wohnplätze zu kleineren Die ehemaligen Grabhügel sind heute durch die intensive Flachgräbergruppen und zu den wenigen Großsteingrä- landwirtschaftliche Bearbeitung eingeebnet und nur noch bern ist aber nach wie vor nicht geklärt. im Luftbild als Kreisgraben zu erkennen. Nur noch wenige Grabhügel in günstigen Lagen unter Wald sind erhalten. Erst mit den Becherkulturen des Endneolithikums wer- den das Rheinland und Westfalen wieder in einen größe- ren Verbreitungskreis, den von Schnurkeramik und Glo- Die römische Kaiserzeit ckenbecher Kultur, integriert. Diese Kulturen erschließen sich im Wesentlichen über Grabbefunde, Grabhügelbestat- Die römische Landbesiedlung setzte im Laufe des ersten tungen um Arnsberg (Hochsauerlandkreis), Borken und Jahrhunderts, verstärkt ab der Mitte des 1. Jahrhunderts 112 Werl (Kreis Soest); Angaben zum Siedlungsverhalten sind ein. Bei den landwirtschaftlichen Betrieben handelt es sich in Nordrhein-Westfalen bisher kaum möglich. um Einzelgehöfte vom Typ Villa rustica. Die vierseitigen, im Grundriss quadratisch bis rechteckigen Hofplätze sind 1 bis 5 ha groß. Anlage und Bebauung sind Ausdruck einer Metallzeiten planmäßigen Raumordnung, der eine übergeordnete Landvermessung (Limitation) zu Grunde liegt. Das in der Für die gesamte Bronze- und Eisenzeit waren offene mittleren Kaiserzeit landwirtschaftlich genutzte Acker- und Flachlandniederlassungen unterschiedlicher Größe ty- Weideland war gleichfalls in vierseitige oder den Gelände- pisch. Es gab Einzelhöfe und weilerartige Siedlungen. Die bedingungen angepasste Flurareale unterteilt. Die Wirt- reliefarme Landschaft bot kaum Möglichkeiten für die Anla- schaftsflächen erreichten Größen von 50 ha pro Siedlungs- ge von befestigten Höhensiedlungen und im Gegensatz zu einheit. Die antiken Hofplätze lagen in Entfernungen von 1 Gebirgslandschaften fehlt dieser Siedlungstypus hier völ- bis 2 km zueinander. lig. Ihre Stelle nehmen in der Spätlatènezeit im Rheinland weiler- bis dorfartige Plätze ein. Unter den angebauten Getreidearten dominierten Dinkel und Gerste. Die Viehhaltung basierte auf Grünland- und In der älteren Bronzezeit sind vereinzelt inselartig gero- Weidewirtschaft. Die Gutshöfe besaßen im 2. Jh. Steinfun- dete Siedlungs- und Wirtschaftsflächen nachzuweisen, damentierte Wohn- und Hauptgebäude. Vorgängerbauten die im Verlauf der folgenden Jahrhunderte immer weiter waren auf Holzpfosten und Schwellbalken gegründet. ausgedehnt wurden, so dass kleinere Siedlungskammern Frühphasen der Besiedlung sind bereits in spätaugus- entstanden. Für die Urnenfelderzeit sind auf diesen Area- teisch-tiberischer Zeit im nördlichen Lössgebiet festgestellt len weilerartige Gehöfte, die vermutlich drei bis fünf Ge- worden. Kolluviale Schichten haben die bessere Erhaltung nerationen lang an einem Ort existierten, belegt. Einige der Befunde begünstigt, sie aber gleichzeitig überlagert, dieser Siedlungen dauern bis in die Frühlatènezeit fort so dass prospektive Maßnahmen nur sehr eingeschränkt mit kleinräumiger Bauplatzverlagerung. Während der frü- Ergebnisse liefern können. hen und mittleren Eisenzeit nahm die Bevölkerung weiter zu, immer mehr Waldflächen mussten gerodet werden. Bereits die Römer erschufen am Rhein eine erste „Städte- Es entstanden gemischt-bäuerliche Betriebe mit intensiv landschaft“ mit der Colonia Claudia Ara Agrippinensium genutzten, zusammenhängenden Ackerflächen. Die Holz- (CCAA) und der Colonia Ulpia Traiana (CUT). Hinzu kommen gebäude wurden nach ihrem Verfall nicht an gleicher die Legionslager des Limes mit ihren zivilen Ansiedlungen Stelle errichtet, sondern etwas entfernt dazu. Diese Sied- wie in Neuss und Bonn. Im Hinterland lagen zahlreiche

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Siedlungen, die als Vici bezeichnet werden. Sie weisen zwar schen Reich. Importe aus römischen Werkstätten – in ers- keinen städtischen Charakter aus, aber in der Spätantike ter Linie Keramik neben Luxusgegenständen wie Glas oder waren von ihnen Jülich, Aachen und Zülpich ummauert. Als Buntmetallerzeugnissen – fanden sich in großer Zahl vor al- Infrastruktur bzw. Verwaltung entstanden Institutionen und lem in den Gräbern in Rheinnähe. Dazu kommen aber Strukturen, an denen sich später die mittelalterliche Stadt auch römische Mühlsteine aus der Eifel, die in praktisch al- orientiert. Mit den Übergriffen durch die Franken, spätes- len einheimischen Siedlungen regelhaft vertreten sind. tens aber im 5. Jh., wurde dieses System einer Städteland- schaft weitgehend zerstört. Geblieben sind mit dem auf- Mit den Unruhen nach der Mitte des 3. Jahrhunderts n. kommenden Christentum die Kirchen, die eines der bedeu- Chr. ging auch die Blütezeit der germanischen Besiedlung tenden Elemente für eine topographische und funktionale des rechtsrheinischen Limesvorlands zu Ende. Nur wenige Kontinuität bzw. als Faktor für den erneuten Stadtwerdungs- Fundstellen belegen, dass das Land nicht vollständig ver- prozess bis ins 12. Jh. bilden. Als weitere antike Grundla- lassen worden war. Diese wenigen archäologischen Zeug- gen für die erneute Stadtwerdung sind das Beibehalten als nisse lassen bis heute genauere Einblicke in die Entwick- Bischofssitzes oder Gemeindekirche (Köln), die Funktion als lung der fränkischen Herrschaft im Verlauf des 4. und 5. Markt für den Fernhandel und Umgebung, Erhalt der Stadt- Jahrhunderts n. Chr. nicht zu. mauer und Begräbnisplatz eines Heiligen (Köln) zu nennen. Topographische Kontinuität, aber keine oder nur geringe Der römische Einfluss nimmt mit steigender Entfernung funktionale Kontinuität, sind für Bonn, Neuss und Jülich zu zur Rheinlinie schnell ab. Während Südwestfalen weitge- vermerken. Keinen Einfluss auf die mittelalterliche Stadtwer- hend siedlungsfrei bleibt, finden sich im Münsterland und dung ergeben sich für Aachen, Duisburg, Zülpich und Xan- Ostwestfalen Einzelgehöfte (Vreden) und kleine Gehöft- ten. Die römische Tradition lebte aber im Bewusstsein der gruppen (Bielefeld-Sieker für die jüngere Kaiserzeit). In Dors- Bevölkerung dieser Städte im gesamten Mittelalter weiter. ten-Holsterhausen und Beelen wanderten kleinere Streu- siedlungen während des 1. bis 5. Jahrhunderts kontinuier- Nach der Mitte des 3. Jahrhunderts erschütterten ver- lich innerhalb eines größeren Areals, behielten aber wohl mehrt Unruhen die Grenzprovinz am Rhein. Neben den ihre Wirtschaftsräume bei. Vor allem aus dem Hellweg- Einfällen germanischer Franken in das Reichsgebiet geriet raum und Ostwestfalen sind durch Metallfunde große Sied- die Region auch in die Auseinandersetzungen um das gal- lungsplätze mit Kontinuität von der frühen Römischen Kai- lische Sonderreich, deren (Gegen-)Kaiser in Köln und Trier serzeit zum Teil bis in das Hohe Mittelalter belegt. Im residierten. Bis in die ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts Hausbau sind große Wohnstallhäuser vorherrschend, die folgte eine Zeit der immer wiederkehrenden Auseinander- in Ostwestfalen (Paderborn, Enger) Längen von bis zu 50 m setzungen mit den Franken, in dessen Folge weite Land- erreichen können. Hier wohnten Mensch und Tier unter ei- 113 striche verödeten. Im Verlauf des 4. und des frühen 5. nem Dach. Ergänzt wurde der Baubestand der weiterhin Jahrhunderts hatten sich immer mehr germanische Siedler landwirtschaftlich orientierten Gehöfte durch Speicher und auf römischem Boden niedergelassen, auch war der Anteil sog. Grubenhäuser, deren Fußboden bis zu einem Meter an Germanen im römischen Heer stetig angewachsen. Der abgesenkt war. Sie dienten als Werkstätten für vielerlei Übergang von der römischen zur fränkischen Herrschaft handwerkliche Tätigkeiten, insbesondere als Webhütten. um die Mitte des 5. Jahrhunderts dürfte deshalb letztend- An der Lippe sind kleine Wohnhäuser üblich. Hier ist dafür lich nur noch eine Formsache gewesen sein. der Anteil der Grubenhäuser in den Siedungen größer, was auf eine unterschiedliche Verteilung der anfallenden Funk- Der Rhein bildete seit den Feldzügen Caesars in Gallien tionen und Tätigkeiten auf die Gebäude schließen lässt. die Grenze zwischen dem römischen Reich und den von Erstmals sind Zäune belegt. Siedlungen des 4. und 5. germanischen Stämmen besiedelten Gebieten östlich des Jahrhunderts sind im Kernmünsterland selten. Im westli- Flusses. Wieweit die alteingesessene keltisch geprägte chen Münsterland orientieren sie sich zur Rheinlinie (Heek- späteisenzeitliche Bevölkerung durch diese Ereignisse ver- Nienborg), während Ostwestfalen und das östliche Müns- drängt oder von den neuen Bewohnern assimiliert wurden, terland Anschluss an die Bereiche an der Nordseeküste kann bis heute nicht abschließend entschieden werden. bzw. der mittleren Weser zeigen. Jüngste Grabungsergebnisse sprechen jedoch für ein Fortbestehen der einheimischen Siedlungen bis in römi- sche Zeit. Erst mit der Etablierung der römischen Herr- Merowingerzeit / Mittelalter schaft links des Rheins änderte sich das Siedlungsbild auch auf der östlichen Rheinseite. Durch die Römer wurde Bereits am Ende der römischen Zeit kam es zu deutli- jetzt das Grenzland intensiv wirtschaftlich genutzt, v.a. chen Veränderungen im ländlichen Raum, als nach und Rohstoffe wie Metalle, Holz oder Stein wurden im grenzna- nach immer mehr Gehöfte aufgegeben wurden. Während hen Barbaricum beschafft. des 5. und 6. Jahrhunderts ist eine starke Wiederbewal- dung der vormaligen landwirtschaftlichen Flächen zu be- Ab der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. begannen neue obachten. Dennoch war das Rheinland auch in dieser Zeit germanische Gruppen aus dem Rhein-Weser-Raum das nicht menschenleer. Zwar zeigten schon die Reihengräber- rechtsseitige Rheinland neu zu besiedeln. Die bisher unter- felder, dass Menschen vor Ort gewohnt haben müssen, suchten Siedlungsstellen und Gräberfelder belegen die en- doch erst in den letzten Jahren konnten auch entspre- gen Kontakte der einheimischen Bevölkerung zum römi- chende Siedlungsreste archäologisch untersucht werden.

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Die frühesten Siedlungen, in denen sich fränkische Zu- se bei einander standen. Grundstücksgrenzen waren stel- wanderer niederließen oder die von der verbliebenen ro- lenweise durch Gräben markiert. Im Verlauf des Hochmit- manischen Bevölkerung bewohnt waren, fanden sich zu- telalters fiel die eine Siedlung wüst, während die andere meist auf dem Gelände vormaliger römischer Bauernhöfe. deutlich dichter bebaut wurde. Jetzt waren auch geregelte Dabei handelte es sich um Einzelhöfe, die nur wenige Ge- Strukturen wie die Ausrichtung an einer Straße erkennbar. bäude umfassten. In unmittelbarer Nähe zu aufgegebenen Ausgrabungen im Gebiet der Stadt Krefeld konnten ähnli- römischer Wohngebäuden bei Jüchen-Hochneukirch und che Entwicklungen aufzeigen. Allerdings ließen sich hier Aldenhoven-Niedermerz wurden Pfostenbauten germani- anhand der Hausformen stärkere Bezüge in den Nord- scher Tradition entdeckt. deutschen Raum nachweisen.

Aber auch an Orten, wo offensichtlich keine Weiternut- In Westfalen ist im Verlauf des 7. Jahrhunderts ein zung römischer Betriebe erfolgte, scheinen vor allem ein- sprunghaftes Ansteigen der Siedlungstätigkeit nachzu- zeln liegende Gehöfte und kleine Weiler die vorherrschen- weisen. Aufgesucht wurden zumeist die gewässernahen, de Siedlungsform der Merowingerzeit gewesen zu sein. hochwasserfreien Flächen mit leichten Böden. Dies gilt Häufig haben sich nur die in den Boden eingetieften Gru- vor allem für das Münsterland mit Ems, Dinkel, Vechte benhäuser erhalten, wie sie in Titz-Hasselsweiler, Köln- und Glane, aber auch für den Lipperaum, Weser und Porz, Lohmar, Meerbusch, Rees-Haldern oder Xanten-Lüt- Werre. Das Siedlungsmuster gleicht jenen der vorrömi- tingen ausgegraben worden sind. Viele dieser Gehöfte wa- schen Eisenzeit, so dass häufig beide Perioden an dersel- ren nur eine oder zwei Generationen lang bewohnt, bevor ben Stelle angetroffen werden. Im Hausbau gehört West- man sie an anderer Stelle neu errichtete. Große Dörfer falen im frühen Mittelalter zu einer Fundlandschaft, die konnten im Rheinland bisher nicht untersucht werden. sich von Ostwestfalen über Münster- und Emsland bis weit in die östlichen Niederlande erstreckt. Zunächst Zu den prägenden Siedlungselementen einer Flussland- kennt man Gebäude, deren Wände aus in die Erde ge- schaft gehören die künstlich erhöhten Siedlungsplätze, die rammten Spaltbohlen aufgebaut sind. Bereits im 8. Jh. Wurten, auch Poll genannt. Am Niederrhein sind Siedlun- werden diese aber abgelöst durch große „schiffsförmige“ gen auf diesen Wurten seit der späten Hallstattzeit archäo- Hallenhäuser mit charakteristisch ausbauchenden Längs- logisch bezeugt. Auf der Blouswart bei Emmerich-Praest wänden, teils mit schrägen Stützpfosten (Typ Warendorf). konnte eine kontinuierliche Besiedlung vom 5. Jh. v. Chr. Aus dieser Hausform entwickeln sich über mehrere Stu- bis ins 19. Jh. nachgewiesen werden. Siedlungsschwer- fen hinweg Vorformen des Niederdeutschen Hallenhau- punkte datieren in die Latènezeit, ins 3. bis 5. Jh. n. Chr. ses (Telgte, Dorsten-Holsterhausen). Zum Gebäudebestand 114 und ins 10. bis 11. Jahrhundert. Eine der bedeutenden gehören weiterhin Nebengebäude, Speicher, Grubenhäu- Flusslandschaften in Nordrhein-Westfalen ist die Düffel, in ser und sog. Heubergen. Bei den frühen Siedlungen han- der heute noch zahlreiche künstliche Siedlungsplätze exis- delt es sich meist um Mehrgehöftsiedlungen von zwei bis tieren. Die Düffel ist geprägt durch die gezielte Landgewin- fünf Höfen, die aber im Verlauf des 9. Jahrhunderts oft zu- nung in den Bruch- und Altrheingebieten, die Wasserregu- gunsten von Einzelgehöften aufgegeben werden. Eine lierung über die Weteringen und den zahlreichen Altdei- soziale Differenzierung anhand der Architektur oder des chen. Es handelt sich dabei um ein Altsiedelland. Auch die Gebäudebestandes gelingt bislang nicht, selbst Häuser Flur- und Namensbezeichnungen weisen auf den frühen in Burgen (Hünenburg bei Liesborn, Burg Marl-Sinsen) wei- Landesausbau hin, Flurnamen wie Hohe Wurt oder Hofes- sen dieselben Charakteristika auf wie jene in rein bäuerli- namen wie Wurtschenhof bezeugen dies. Westlich eines chen Ansiedlungen. Erst im 10. und 11. Jh. lassen sich Landrückens von Düffelward bis Bimmen liegen bis heute größere „Herrenhöfe“ oder „Meierhöfe“ (Hamm-Westhafen, die meisten Höfe und Siedlungen (Niel, Mehr) auf alten, im- Sendenhorst, Dülmen-Merfeld) nachweisen. Auffällig ist, mer wieder erhöhten Wurten. dass die Sachsenkriege keine Zäune im Siedlungswesen mit sich bringen. Weder Zerstörungshorizonte noch neue Erst im weiteren Verlauf des Hochmittelalters änderte Siedler konnten bislang dokumentiert werden. Viele Sied- sich die Siedlungsstruktur langsam. Zwar wurden bis in lungsplätze wiesen eine Kontinuität bis in das späte Mit- das Hochmittelalter hinein auch in Gegenden mit frucht- telalter auf, die Nachfolgehöfe stehen oft heute noch in baren Böden Einzelhöfe nachgewiesen. Wie der Hof bei der direkten Nachbarschaft. Swisttal-Schillingskapellen können sie durch einen Gra- ben befestigt gewesen sein; am Niederrhein nutzte man Parallel zur Entwicklung der ländlichen Siedlungen bil- hierfür jedoch vielfach die natürlichen Gegebenheit der deten sich an den nach den Sachsenkriegen entstehen- Donkenlandschaft, wie dies die Grabungen in Moers- den Kirchen – die wiederum zumeist auf älteren Höfen ge- Hülsdonk gezeigt haben. Dennoch können zunehmend gründet wurden – feste Siedlungen und frühe Städte (Pa- mehr Weiler und dorfartige Ansiedlungen beobachtet wer- derborn, Minden, Soest, Münster u.a.). Neben geistlichen den. Als ein Beispiel für eine aus nur drei Gehöften, die je- Einrichtungen konzentrierte sich hier auch das speziali- weils von einem flachen Graben umgeben waren, beste- sierte Handwerk. Für den Kirchenbau wurden Baumeister hende Siedlung ist die Wüstung Wüstweiler zu nennen. und Steinmetze benötigt. Bereits im 9. Jh. ist in Höxter Bei Inden-Altdorf war es möglich, zwei zunächst unabhän- Buntmetallverarbeitung belegt, aus Münster stammt eine gige Siedlungskerne zu untersuchen. Es fanden sich Kammmacherei des 10. Jahrhunderts. In Soest wurde in Pfostenbauten und Grubenhäuser, die in lockerer Bauwei- großem Stil Salz gewonnen.

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Von besonderer Bedeutung als Mittelpunkte geistlichen Zu den Bauernhäusern, den so genannten „Haupthäu- Lebens auf dem Lande waren Klöster und Stifte, die eben- sern“, treten zumeist Nebengebäude. Deren Zahl ist von falls ab dem 9. Jh. entstanden (Herford, Steinfurt-Borghorst, verschiedenen Faktoren abhängig: als erstes von der Wirt- Wadersloh-Liesborn). Kirchen, Städte und Stifte veränderten schaftskraft und der wirtschaftlichen Ausrichtung des Ho- das Leben nachhaltig, sei es durch die Einführung von fes: Auf großen Höfen beispielsweise können neben dem Schulen und anderer Sozialeinrichtungen, des Steinbaus Haupthaus weitere Wohngebäude für Altenteiler oder Ge- oder der Schriftkultur oder durch die Ablösung der alten sinde notwendig werden; auch die Errichtung eines – aus Friedhöfe abseits der Siedlungen durch Kirchhöfe inmitten Feuerschutzgründen zumeist separat stehenden – Back- der Gemeinschaft der Lebenden. hauses wird erst bei entsprechender Haushaltsgröße sinn- voll. Des Weiteren wird die Typologie der Nebengebäude vom Zweck und damit von der Wirtschaftsweise der Regi- Ländliche Privatbauten on bestimmt: Insbesondere die Getreidespeicher, die oft- mals als Statussymbole baulich besonders hervorstechen, An der land- und forstwirtschaftlichen Produktion sind aber auch Flachsrösten, Obstdarren, Bienenstöcke, die – in anderen Abschnitten behandelten – Wirtschaftsbe- Bleichhütten, Pferdeställe, Mühlen, Hammerwerke u.v.a. triebe der Klöster und des Adels in wesentlichem Umfang können bis heute Hinweis geben auf die spezifische Aus- beteiligt. In diesem Abschnitt wird jedoch der Blick allein richtung der landwirtschaftlichen Produktion einer Region. auf jene Bauten der ländlichen Bevölkerung gerichtet, die Und zuletzt sind Nebengebäude wiederum Veränderungen man gemeinhin als „Bauernhöfe“ zu bezeichnen pflegt. des Wirtschaftslebens unterworfen, die kleinräumig bis Dabei ist zu berücksichtigen, dass Land- und Forstwirt- weltweit wirksam werden können: Im 19. Jh. nimmt die schaft keineswegs ausschließlich die Lebensgrundlagen Zahl an Schafställen mit dem Ende der einst bedeutenden der ländlichen Bevölkerung waren. Ebenso wie weite Teile Produktion von Wolle aufgrund internationaler Konkurrenz der ländlichen Bevölkerung nach Gelegenheit nicht-land- ab. Dagegen werden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wirtschaftliche Einkunftsmöglichkeiten wahrnahmen (Fuhr- aufgrund steigender Ernteerträge vermehrt Scheunen und gewerbe, Treideln, Ausbeutung von Bodenschätzen (Steine, wegen der Mechanisierung der Landwirtschaft zunehmend Erze u.a.) gingen andere Teile hauptseitig nicht-landwirt- auch Unterstellmöglichkeiten (Remisen) benötigt. Der schaftlichen Tätigkeiten (Handwerk und Gewerbe in Weiter- Übergang zur ganzjährigen Aufstallung erfordert vermehr- verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte (Hanf, Holz, Leinen, ten Stallraum für Rindvieh. Erst als gegen Ende des 19. Milch) sowie Wanderhandel u.a. nach. Darüber hinaus war Jahrhunderts über den Eigenbedarf hinaus die Produktion das Verhältnis von der generellen Subsistenzwirtschaft zur von Milch und Schweinefleisch einsetzt, werden dafür spe- landwirtschaftlichen Über-, d.h. Marktproduktion in den Er- zielle Einrichtungen und Baulichkeiten (Milchvieh- und 115 trägen der landwirtschaftlichen Betriebe starken zeitlichen Schweineställe) notwendig. Bauten für die Weiterverarbei- Schwankungen unterworfen. tung (Brennereien) können hinzu treten.

Zu den sich daraus teilweise auch baulich niederschla- So bestimmt oftmals Vielhäusigkeit das Bild der ländlichen genden Besonderheiten tritt die starke soziale Differenzie- Hofstellen, die gesäumt waren von Hausgärten und Baum- rung der ländlichen Bevölkerung. Dies betrifft weniger die höfen sowie – im Streusiedlungsgebiet – hofnahen Laub- Rechtsstellung der Personen und der Höfe, für die bis ins baum-Kämpen. Diese Einbettung in die Landschaft erfuhr in ausgehende 18., zumeist jedoch bis ins 19. Jh. die Eigen- größerem Umfang mit dem Bau von Maschinenhallen und behörigkeit bzw. das Anerbenrecht weitgehend herrschte, weiteren Gebäuden für spezifische und industrielle Produkti- als vielmehr die ganz unterschiedliche Ausstattung der Hö- onszweige (Kälberzucht, Bullenmast, Milchwirtschaft, Geflü- fe nach Flächengröße und Bodengüte. Während die Zahl gelzucht) erst nach dem Zweiten Weltkrieg Veränderungen. der großen Voll- und Halb-Meier- bzw. Voll- und Halb- Spänner-Höfe seit dem Mittelalter weitgehend konstant Das niederdeutsche Hallenhaus als Haupt- und damit blieb, hat sich – unterbrochen durch Wüstungsepochen dominierender Bau der ländlichen Hofanlagen erfuhr seit insbesondere des späten Mittelalters und des Dreißigjähri- der Mitte des 18. Jahrhunderts Modifikationen. Am prä- gen Krieges – vor allem im Verlauf des 16. Jahrhunderts gendsten für die Kulturlandschaft wurde die Ablösung die Zahl der kleineren Kötter-Höfe und seit dem 17. Jh. die des Wohnteiles vom Wirtschaftsteil, wobei beide Bauteile Zahl der nicht markenberechtigten Neubauern, Heuerlinge zumeist durch einen Trakt für Hauswirtschaftsräume mit- u.a. beträchtlich erhöht; insbesondere Meliorationsmaß- einander verbunden bleiben. Diese Entwicklung setzt in nahmen und Gemeinheitsteilungen seit dem 18. Jh. ver- der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umkreis der mehrten die Zahl klein- und unterbäuerlicher Anwesen entstehenden Ballungszentren ein und ist auch in den noch einmal wesentlich. peripheren Räumen wenig nach 1900 abgeschlossen. Wohnhaus und Nebengebäude sind oftmals – an die Trotz dieser Differenzierungen dominiert im Baubestand adeligen Gutsanlagen des 18. Jahrhunderts erinnernd – aller bäuerlichen Anwesen in Westfalen-Lippe bis zur Mit- symmetrisch aufeinander bezogen, bevor für die sehr te des 18. Jahrhunderts das niederdeutsche Hallenhaus, zahlreichen Aussiedler-Bauernhöfe im Zuge der Flurbe- in dem die zentralen Funktionen der Landwirtschaft (Auf- reinigungen seit den 1950er Jahren „Kopf-Hals-Rumpf“- stallung, Erntebergung, Weiterverarbeitung) mit dem Wohnen Typen gebräuchlich werden, deren Anlage an den funk- und der Hauswirtschaft unter einem Dach vereint sind. tionalen Betriebsabläufen orientiert ist. Die jüngste Ent-

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wicklung mit dem Bau separater Wohnhäuser im Bunga- bestellt, Obstwiesen angelegt, es wurde Wein angebaut low-Stil spiegelt die zunehmende Trennung von Wohnen und Vieh auf Weiden gehalten. Ländliche Siedlungsstruk- und Arbeiten auch im landwirtschaftlichen Bereich (u.a. turen, verknüpft mit landwirtschaftlichen Anbaumethoden durch Bewirtschaftung nicht zum Hof gehörender Flächen; entsprechend den regionalspezifischen Merkmalen und to- Einsatz von Lohnunternehmen) wider. pographischen und klimatischen Gegebenheiten, prägen das Land vom Niederrhein bis zur Eifel, über die Jülich- Was die Baumaterialien und damit ein wesentliches Ele- Zülpicher Börde und die Köln-Bonner Bucht bis ins Bergi- ment des Erscheinungsbildes der Bauernhöfe betrifft, so sche Land. Lebensnotwendiges Kriterium für die Anlage stand und steht bei der Auswahl zumeist das Kriterium der einer Siedlung war das Vorhandensein und die Nutzbarkeit preiswerten Verfügbarkeit im Vordergrund. Dadurch domi- von Wasser, so dass sich Hofstellen und Dörfer bevorzugt nieren bis zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse für an Bachläufen, an Siefen in Tallagen entwickelten, vor Wit- Massengüter, d. h. im Wesentlichen bis zum Bau der Ei- terung geschützt in Hangmulden, zur Sonne ausgerichtet, senbahnen, die regional vorkommenden, d. h. ohne Trans- in Niederungen zurückgezogen auf erhabenen trockenen portkosten zu beschaffenden Materialien möglichst aus Plätzen, auch wurden fruchtbare Bereiche für den Acker- den eigenen Beständen. So herrscht – mit Ausnahme von bau von Bebauung freigehalten. Das jeweilige Siedlungs- Teilen des Sauerlandes – über lange Zeit der Fachwerkbau gefüge und Abstand der Ansiedlungen ergaben sich – ab- zumeist mit einer Ausfachung aus Lehm-Flechtwerk vor. hängig von der Bodenzusammensetzung und Bodenquali- Von den schon früh zum Backsteinbau genutzten Lehm- tät – aus der zur Existenzsicherung der Einwohner notwen- vorkommen des Münsterlandes abgesehen, setzt sich der digen Wirtschaftsfläche um die Orte. Massivbau erst nach 1800 durch, wobei der Natursteinbau in den Mittelgebirgslandschaften lange einen bedeutenden Die Form der jeweiligen Ansiedlung, wie Streusiedlung, Anteil gegenüber dem – sichtbaren oder verputzten – Hofschaft, Haufendorf, Straßendorf waren durch die örtli- Backsteinbau bewahren konnte. Eine neue Prägung der chen Gegebenheiten, wie Klima, Bodenbeschaffenheit, To- Kulturlandschaften durch Kunststeine, Metall- und Beton- pographie, strategische Lage, Verlauf von überörtlichen konstruktionen setzt nach Anfängen um 1900 in größerem Straßen bestimmt. Orte siedelten sich wegen guter Han- Umfang nach 1945 ein. delsmöglichkeiten an Durchgangsstraßen an, gekoppelt an die Festsetzungen des Grundbesitzes, der Landauftei- Auch die besonders in der Fernsicht wirkenden Materia- lung und des Erbrechtes, die sich in den Flurformen und in lien der Dachdeckung weisen in einzelnen Kulturland- der Ausweisung von Allmendeflächen niederschlagen. schaften Sonderprägungen auf: Die Weichdächer aus 116 Stroh im Flachland und Schindeln im bewaldeten Berg- Die Dörfer bestehen im Inneren aus – ebenfalls regional land, aber auch die regional verbreiteten Sandsteinde- differenziert – Haupt- und Nebenbauten: Wohn-, Wohn- ckungen werden verstärkt seit dem frühen 19. Jh. von stallhäusern, Ställen, Scheunen, weiteren baulichen Anla- Hartdeckungen aus Ziegel-, Schiefer- oder Natursteinen gen wie Speicher, Backhäuser, Silos, Mistplätzen. Kirchen, und seit dem ausgehenden 19. Jh. auch von vielfältigen Friedhöfe, öffentliche Bauten wie Schulen, Gerichtsstätten Industrieprodukten abgelöst. sind räumlich auf die Orte so verteilt, dass sie aus der Um- gebung in fußläufiger Entfernung erreicht werden konnten. Solche regionalen Sonderungen der Bautypen und Bau- materialien haben jedoch zu keinem Zeitpunkt zu einer Das Jahrhunderte lange Leben von Felderträgen und das vollständigen Vereinheitlichung des Erscheinungsbildes ei- Bestellen der Felder in Drei- und Mehrfelderwirtschaft hat ner Kulturlandschaft geführt. Zu konstatieren ist vielmehr Spuren hinterlassen: wie Siedlungsschwerpunkte, histori- eine bemerkenswerte Vielfalt, die nicht allein in der topo- sche Dorfkerne, tradierte Hofstellen, Wegenetze, Wegeaus- graphischen Durchmischung von bäuerlichen mit adeli- prägungen, Hohlwege, Viehtriften, Ackerraine, Parzellentei- gen, kirchlichen und (klein-)städtischen Bauaufgaben ihre lungen, Flurgrenzen, Begrenzungen, Gliederung in Bauland, Ursache hat. Die bis heute bestehende Vielfalt auch allein Feld- und Waldflächen. Solche Spuren sind regional ver- des bäuerlichen Bauens ist auf die ungezählten Fälle zu- schieden und als flächenhafte Zeugnisse und Systeme in rückzuführen, in denen das ökonomische Moment entwe- der Landschaft erhaltenswert. Im räumlichen Miteinander bil- der bei der Auswahl der Materialien außergewöhnlich wirk- den bauliche Anlagen und landwirtschaftliche Strukturen sam wurde, weil schiffbare Flüsse oder eine Förderung Hauslandschaften ab und sind bedeutende Geschichtszeug- durch die Obrigkeit Baumaterialien verbilligten, oder aber nisse zum Verständnis der einzelnen Landschaftsräume. umgekehrt aufgrund der besonderen Bedeutung einzelner Bauaufgaben (etwa Speicher) in den Hintergrund traten. Bis in die Neuzeit hinein bildete das Hallenhaus den die Landschaft am unteren Niederrhein prägenden bäuerli- Landwirtschaft hat die Kulturlandschaft des Rheinlandes chen Haustyp. Es handelt sich dabei um ein längs aufge- über Jahrhunderte wesentlich gestaltet und die Oberfläche schlossenes Wohnstallhaus, bestehend aus vorderem bis heute kontinuierlich bearbeitet. Mit der Anlage erster Wohnteil mit zentralem Herdraum und hinterem Stallteil mit fester Siedlungsplätze wurde das umliegende Land zur Ei- Tenne und seitlichen Kübbungen zur Unterbringung des genversorgung kultiviert. Boden und Wasser wurden ge- Viehs sowie einem Bergeraum für einen Teil der Ernte un- nutzt, Wälder zur Holznutzung gerodet, das Holz als Bau- ter einem Dach, das vorne und hinten einen Halb- oder stoff und Brennmaterial verarbeitet, Felder beackert und Viertelwalm aufweist. Dieser Haustyp bildete den Hauptbe-

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Münster, historisches Rathaus Bad Salzuflen, Rathaus Lemgo, Rathaus Foto: LWL/M. Philipps Foto: LWL/Bildarchiv Foto: LWL/Bildarchiv

standteil des sog. Streuhofes, zu dem bei größeren Gehöf- besonders in den Industriegebieten viele neue Städte heran- ten in der Regel eine Scheune mit Seitenlängstenne und wachsen. Die „alten“ Städte bildeten eigene Rechtsbezir- andere kleinere Wirtschaftsgebäude (Karrenschuppen, ke, waren zur Förderung des Gewerbes mit speziellen Pri- Schafstall, Backhaus) gehörten. Die Anordnung der Baulich- vilegien ausgestattet und durch zum Teil aufwendige keiten nach einem heute nicht immer einsehbaren Bezugs- Schutz- und Verteidigungsanlagen gegenüber dem offe- schema dürfte aber nicht planlos, sondern mit Rücksicht nen Land gesichert. Ausdruck der gewonnenen Privilegien auf Geländeverhältnisse und Verkehrswege erfolgt sein. waren im Inneren das Rathaus und andere repräsentative Wohl schon seit dem 17. Jh. wird die Fachwerkausführung städtische Gemeinschaftsbauten, im Äußeren die Befesti- durch Backsteinmauerung abgelöst (was die geringe Anzahl gungswerke mit zeichenhaften Tor- und Turmbauten und 117 der erhaltenen Fachwerkbauten erklärt), wobei aber das in- vorgelagerten Landwehrsystemen. In den Städten entstan- nere Tragegerüst mit den beiden Ständerreihen und den den nicht nur besondere Einrichtungen wie Spitäler, Schu- verbindenden Ankerbalken weiterhin aus Eichenholz be- len oder Verwaltungen, sondern es entwickelten sich auch steht. Größerer Wohnkomfort wurde dadurch erreicht, speziellere Handwerke und Gewerbe mit spezifischen Ge- dass man die Wohnzone unter quer gestelltem Dach seit- werbebautypen und ggf. darauf abgestellte Wasserbauten. lich über die Stallzone hinaus dehnte, so dass die Firste Über die Städte wurden die Produkte des Landes (insbe- beider Hausteile ein T bildeten. sondere Wolltuch und Leinen, Getreide, Bier und Käse) ex- und die fehlenden Güter importiert. Alle dafür benötigten Der Typ dieses sog. T-Hauses wurde auch für die geregel- Sonderbautypen sind in den anderen Abschnitten dieses te Hofanlage übernommen, die etwa ab der der Mitte des Kapitels behandelt. Hier soll der Blick allein auf diejenigen 19. Jahrhunderts zur bestimmenden Gehöftform wurde. Pa- Bauten gerichtet werden, die auch oder primär dem Woh- rallel zum Wohnstallhaus wird die Scheune angelegt. Beide nen dienten: Auch sie spiegeln die weite soziale und wirt- Gebäude können durch Nebengebäude oder Mauern ver- schaftliche Differenzierung der Städte wider. bunden werden, die den Hofraum umstellen und eine ge- schlossene Anlage bewirken. Auslöser für diese Entwick- Die städtischen Höfe von Adel und Patriziat, Landesherr- lung, die zum Neubau umfangmäßig beträchtlicher, heute schaft und Klöstern, deren blockhafte und eingehegte noch das Bild der bäuerlichen Architektur bestimmender Areale zumeist die Stadtrandlagen einnehmen. Die häufig Anlagen geführt hat, war eine erhebliche Ertragsteigerung, steinernen Wohnhäuser stehen nicht in der Straßenflucht, die aus der Melioration der Böden, zunehmender Mechani- und sind von oft Nebengebäuden für Landwirtschaft und sierung und aus dem Einsatz von Kunstdünger resultierte. Lagerung umgeben.

Die großen Häuser der bürgerlichen Mittel- und Ober- Städtebau und Wohnen schicht liegen bevorzugt an den Marktplätzen und ent- lang der Hauptstraßen, nahe den Stadttoren und auf Von wenigen älteren Beispielen abgesehen, sind die Eckgrundstücken. Sie sind in Klein- und Mittelstädten bis meisten Städte in Nordrhein-Westfalen im Laufe des 12. bis auf herausragende Ausnahmen in Fachwerk und nur in 14. Jahrhunderts entstanden. In der Folge bleibt die Zahl den größeren Städten allgemeiner in Ziegel- oder Natur- an Stadtgründungen bzw. -erweiterungen gering, bis – un- stein aufgeführt. Mit den großen Toren zur Befahrung der ter gewandelten Voraussetzungen – im ausgehenden 19. Jh. weiten, auch wirtschaftlichen Zwecken dienenden Dielen

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und mit den Lagergeschossen prägen die hoch aufra- ten Bauvorschriften. Ein Beispiel ist Jülich. Die frühneu- genden Fassaden dieser Häuser bis heute wesentlich zeitlichen Stadtanlagen sind auf Fernwirkung geplant und das Bild vieler Städte. beherrschen das umgebende Land.

Die uns umgebende Landschaft ist durch ein weit ge- In den Residenzstädten des 18. Jahrhunderts dominie- spanntes Netz von Siedlungsplätzen bedeckt und ge- ren Schloss und Parkanlage die durch Achsen architekto- prägt. Die Siedlungsplätze sind im Ursprung aus den re- nisch und städtebaulich zugeordnete Stadt wie in Bonn, gionalen Gegebenheiten entwickelte, weitgehend gleich- gleichzeitig öffnet sich die Gesamtanlage nach außen und mäßig verteilte Hofstellen und Dörfer inmitten ihres Wirt- bezieht die Landschaft in die Konzeption ein, zum Beispiel schaftslandes. Innerhalb dieses landwirtschaftlichen Ge- Brühl und Kleve. füges übernahmen im Laufe der Jahrhunderte einzelne Orte in strategisch günstiger Lage für die nähere und Mit Auflösung der mittelalterlichen Rechtsverhältnisse in weitere Umgebung zentrale Funktionen im Bereich von französischer Zeit 1794 bis 1814 und Aufhebung der Religion, Verteidigung, Handel, Verwaltung und Kultur. Kleinststaaten erlosch für die meisten Städte die strategi- Mit der Bündelung von Funktionen waren Zuzug der Be- sche Notwendigkeit, Stadtmauern und aufwändige Fes- völkerung, Anwachsen und bauliche Verdichtung der Or- tungswerke zu erhalten. Nahezu alle Befestigungen wur- te verbunden, die sich unter dem besonderen Rechtssta- den geschleift, die freiwerdenden Flächen als Bauflächen tus einer „Stadt“ nicht nur als funktionale, sondern durch in Erweiterungsplanungen einbezogen, als ringförmige auch als optische Fixpunkte herausbildeten. Die ge- Verkehrsführung um den Stadtkern und die Wall- und Gra- schlossene Ortsform, die kompakte Silhouette mit ver- benzonen als städtische Parkanlage mit Stadtteich ausge- dichteter und überhöhter Mitte und charakteristischen baut, wie in Düsseldorf, Köln oder Moers. Dominanten und die gebündelten Wege- und Wassersys- teme wirken und greifen weit in die Landschaft. Mit der fortschreitenden Industrialisierung des 19. Jahr- hunderts und verstärktem Zuzug der Landbevölkerung Das Rheinland blickt auf etwa 2000 Jahre Geschichte verdichteten sich die Stadtkerne und erweiterten sich jen- der Stadt zurück. Erste befestigte Siedlungsplätze mit Ein- seits der einstigen Befestigungsringe entlang der Ausfall- fluss auf heutige Siedlungsstrukturen sind seit römischer straßen. Einzelne Städte explodierten zu Industriestädten Zeit vom ersten bis zum vierten Jahrhundert nach Christus mit großflächigen Fabrikanlagen, zugehörigen Siedlungen überliefert. Den Status einer „colonia“, der höchsten wie Kamp-Lintfort und Stadterweiterungsquartieren wie Rechtsform einer Siedlung mit Stadtmauer und öffentli- Duisburg, Essen, Wuppertal. 118 chen Gebäuden, besaßen Köln und Xanten. Die immer stärker differenzierten öffentlichen Funktio- Im Mittelalter wurde eine Siedlung durch die Verlei- nen setzten im städtischen Bild neue Schwerpunkte oder hung besonderer Rechte zur Stadt erhoben. Die Stadt- wurden als großflächige Anlagen am Stadtrand errichtet: rechte umfassten in der Regel mit dem Recht zur Befes- wie Krankenanstalten, Justizvollzugsanstalten wie in Rem- tigung eine Trennung der Rechtsbereiche außerhalb scheid-Lüttringhausen, Zoologische Gärten, Waldparkan- und innerhalb der Stadt, außerdem das Recht auf lagen mit weit auf die Landschaft gerichteten Aussicht- Selbstverwaltung, Gerichtsbarkeit und das Marktrecht. stürmen wie im Wuppertal, Bade- und Kureinrichtungen Die mittelalterliche Stadt lag logistisch exponiert an mit repräsentativer Wirkung, beispielsweise in Bad Müns- überörtlichen Verkehrswegen, an schiffbaren Flüssen, tereifel und in Aachen. wichtigen Flussquerungen oder an Kreuzungen von Handelsstraßen. Ihre überlieferten markanten Elemente Stadtanlagen des 20. Jahrhunderts sind als Formen der sind die Befestigung aus Stadtmauer, Toren, Wall und Stadterweiterung Gartenstädte und Satelliten- oder Tra- Graben, der Marktplatz, Kirchen/Kirchtürme, Klöster, all- bantenstädte, wie Düsseldorf-Garath und Köln-Chorweiler. gemeine und öffentliche Bauten wie Rathaus, Stapel- haus, Waage, Schule oder Gerichtsort. Beispiele sind Zusammenfassend ist eine Stadt ein Geschichtsdoku- Siegburg, Lennep, Bergheim. ment, das einerseits im Stadtinneren durch das räumliche Miteinander der Bauten in den Straßenzügen, Plätzen, den Gründungsstädte des 12. und 13. Jahrhunderts weisen Stadtteilen und in der gesamten Stadtgestalt überliefert untereinander bis heute ähnliche Merkmale der planmäßi- wie Menschen über Jahrhunderte gelebt und ihr Zusam- gen befestigten Rechteckanlage mit gerasterter Straßen- menleben organisiert haben. Andererseits strahlt die Stadt, führung und eigens befestigter Burganlage auf, wie Zons durch die topographische Lage unterstützt, mit Wegestruk- und Lechenich. turen, optischen Bezügen, Stadtansichten und Silhouette nach außen, ist in den umgebenden Landschaftsraum ein- Auch die Festungsstadt des 16./17. Jahrhunderts si- gebunden und vermittelt zusammen mit der umgebenden cherte die Grenze des jeweiligen Territoriums. Sie zeich- Landschaft historische Entwicklungen. Das Rheinland ist net sich durch einen gemauerten sternförmig-polygona- durch zahlreiche regionaltypische Kleinstädte, durch eine len Festungsgürtel mit Wall- und Wassergrabenzone aus, Häufung von Großstädten am Rhein und durch eine Ver- der die gerasterte oder radiale Stadtanlage umgibt. Die dichtung städtischer Strukturen zu einer Stadtlandschaft aufgehende Bausubstanz unterlag zweckmäßig bestimm- im Ruhrgebiet geprägt.

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Auch die großen Städte Westfalen-Lippes waren durch- Städte beanspruchte. Die erneut große Wohnungsnot – ent- aus nicht primär von dicht gedrängten Reihen giebelständi- standen durch die vielfach starken Zerstörungen insbeson- ger Häuser geprägt, sondern es gab deutliche Hausabstän- dere der innerstädtischen Wohnbebauung während des de und große Freiflächen, die als seitliche Einfahrten sowie Zweiten Weltkrieges und verstärkt durch die ab 1945 einset- als Hof- und Wirtschaftsplätze mit Lagerhäusern und Scheu- zenden großen Ströme von Flüchtlingen – sollte das Bauge- nen auf den Rückgrundstücken, aber auch als Gärten und schehen der nächsten 30 Jahre im ganzen Lande prägen. sogar als Wiesen genutzt wurden, wovon insbesondere das Stadtbild von Soest bis heute noch eine Ahnung vermittelt. Vor dem Hintergrund einer neuen Flexibilität durch das Auto setzte nun ein Wachstum der Wohnbebauung ein, die Aufgrund der zentralen Lagen waren aber gerade die fast ungezügelt in die Landschaft hineinwuchs und neben bürgerlichen Hausstellen und Häuser den späteren Verän- dem zunächst im Vordergrund stehenden Etagenwoh- derungen besonders stark ausgeliefert. Vor allem die nungsbau durch Siedlungsgesellschaften bald von einem Funktionsveränderungen seit der Mitte des 19. Jahrhun- Meer von Ein- und Mehrfamilienhäusern bestimmt wurde, derts führte zur allmählichen Verdrängung der Wohnfunkti- das ein lichtes und luftiges Wohnen im Grünen, „am Stadt- on zuerst in die Obergeschosse der Häuser und schließ- rand“ versprach, aber bald auch zu nicht mehr zu lösenden lich aus den alten Stadtkernen mit dem Umbau der Erdge- Verkehrs- und Versorgungsfragen führen sollte. Der Kon- schosse zu Ladenlokalen bzw. mit dem Neubau reiner Ge- trast zwischen der bebauten Stadt und dem weiten grünen schäfts- und Kaufhäuser seit dem späten 19. Jahrhundert. Land mit kleinen Städten und Dörfern wurde in vielen Land- schaften durch eine starke Zersiedelung verwischt. Die Häuser der unteren bürgerlichen Schichten säumten zumeist ebenfalls giebelständig die Nebenstraßen. Sie sind kleiner dimensioniert und zumeist ohne Einfahrtstore, Siedlungen wenngleich auch hier nicht nur gewohnt, sondern auch – zumeist im Handwerk – gearbeitet wurde. Das Thema Siedlungen gehört zum Funktionsbereich Wohnen und Siedlungswesen, der sich unter kulturland- Die nichtbürgerliche städtische Unterschicht bewohnte schaftlichen Gesichtspunkten (der Gebietsentwicklung) mit dagegen Mietshäuser, unter denen sich das Gadem als ty- jenen von Landwirtschaft, Bergbau/Industrie und Städte- pische Bauform herausgebildet hat: Oftmals zu langen Zei- bau überschneidet. len addiert, säumen die niedrigen, traufenständigen Klein- häuser die wallbegleitenden Gassen und die Rückräume Siedlungsbau kann als Kleinwohnungsbau bezeichnet bürgerlicher Hausstellen entlang der Hinterstraßen. werden, der in der Landwirtschaft Landarbeiterhäuser und 119 Kotten betrifft, aber auch planmäßig angelegte Siedlungen, Ein grundlegender Wandel der städtischen Bebauungs- wie im Rheinland Pfalzdorf (1741) und Louisendorf (1821), strukturen setzte nach 1800 ein. Dies betrifft den rechtli- die in das Umfeld der Binnenkolonisation des 18. Jahrhun- chen Status ebenso wie die Größe der Städte und die Art derts gehören und ein Bindeglied zu den Zechen- und ihrer Bebauung, in der Wohnen und Arbeiten immer deutli- Werkssiedlungen des 19. Jahrhunderts darstellen. Dazu cher getrennt werden. Nach Jahrzehnten ungesteuerten gehören Einzelhäuser für Forst- und Landarbeiter (des Wildwuchses kam es seit dem späteren 19. Jh. zur funktio- preußischen Staates) wie die Bergmannskotten an der Ruhr nalen Segregation mit der Umwandlung der Altstädte zur (Altendorf, Stiepel, (Essen-)Heisingen)). Handels- und Verwaltungszone (Citybildung) und der An- siedlung von Industriebetrieben sowie von mehr oder min- Die Vor- und Frühindustrialisierung hat in den verschie- der reinen Wohngebieten in den ehemaligen Feldmarken. denen Teilen des Rheinlandes wichtige Vorstufen von Einerseits entstanden durchgrünte Gebiete mit weitgehend (An)siedlungen hervorgebracht, Spinnerei Cromford/Ratin- freistehenden, oft als Villen bezeichneten repräsentativen gen (1820), chemische Fabrik Siedlung Im Kunstfeld, Köln Einfamilienhäusern des gehobenen Bürgertums, anderer- (1825), die Textilfabriken mit Fabrikantenvillen, Arbeiterhäu- seits und bei Weitem zahlreicher die zumeist dichte Be- sern in Radevormwald/Dahlerau (1836-1850), im Aachener bauung mit Wohnhäusern, in denen die Handwerker, Ar- Revier Eschweiler-Pumpe, Arbeiterwohnungsbau Ende beiter und Angestellten Unterkunft fanden. Dominierend 18./Anfang 19. Jh. oder in Stolberg die Glashütte mit Fabri- für diese Bauaufgabe wurde das zwei- bis viergeschossige kantenvilla und Arbeiterreihenhäusern (ab 1840). Etagenmiethaus in geschlossener Zeilenbauweise, oftmals in größeren Einheiten von Bauunternehmern errichtet. Am Charakteristisches bauliches Merkmal der Siedlungen ist Ende der Entwicklung wurde im 20. Jh. unter dem Begriff die aufgelockerte Bauweise, die durch die geringe Höhe der „städtisch“ vor allem eine stark verdichtete, geschlossene Wohnhäuser und die für den Eigenbedarf der Mieter ange- Wohnbebauung verstanden. legten Gärten erreicht wird. Ursprünglich vermittelten Sied- lungen zumeist den Eindruck einer „kolonialen“, also abge- Nach dem Ersten Weltkrieg erlangte besonders der ge- schiedenen Lage in der Nähe der Betriebe, aber in noch nossenschaftliche und kommunale Wohnungsbau zur landwirtschaftlich anmutender Umgebung. Wurden die Überwindung der fatalen Wohnungsnot in Zahl und städte- Wohnhäuser anfänglich ein- bis viergeschossig an schema- baulicher Prägung Bedeutung, der zwar stärker durchgrünt tisch parallelen Wegen und auf gleich geschnittenen Parzel- war, damit aber auch weitere große Flächen am Rande der len errichtet und schlicht in Ziegelstein aufgeführt, so setzt

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sich später in Architektur und städtebaulicher Zuordnung Siedlungsbau um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein und die Idee der „Gartenstadt“ durch. Im Rahmen der allgemei- hat seinen ersten Höhepunkt in den Jahrzehnten zwischen nen historistischen Entwicklung sind Siedlungen in jegli- 1870 und 1929. Die Siedlungen umfassen zumeist ca. 50 chen Stilformen und mehr oder weniger aufwändigem For- bis 400, in der Spitze aber auch bis zu 800 oder gar 3.000 menkanon erbaut worden und erhalten geblieben (Herne (Radbod) Wohneinheiten. „Teutoburgia“ 1909, Gelsenkirchen „Schüngelberg“ 1901-1916). Von Bedeutung ist der ab 1850 einsetzende Arbeiterwoh- nungsbau, der bis 1890 als Bestandteil der Fabrik-, Ze- chen- oder Eisenbahnarchitektur reiner Zweckbau ist, da standortgebunden: lineare Backsteinsiedlungen mit Haus- anordnung entlang paralleler Straßen, Haustyp des Vier- spänners und großer Garten (zur Anwerbung und Anbindung der Arbeiter). Trotz malerischer Belebung der Häuser ab 1890 und der ersten Bebauungspläne (Biegungen, Verset- zungen usw.) ab 1895, erster organischer Gesamtanlagen um 1900 besteht kein städtebaulich-räumliches Verhältnis dieser Siedlungen zur Gesamtstadt. Beispiele: Zechenko- lonien Zollverein Essen, ab 1870 das „Siedlungswerk Krupp“, die Siedlungen der Bayerwerke in Leverkusen- Wiesdorf (Leverkusen ist neben Oberhausen eine der Ausnah- men für die Herausbildung einer neuen Stadt auf industrieller Grundlage) oder die Eisenbahnersiedlung in Leverkusen- Opladen. Erst unter dem Einfluss der Gartenstadtbewe- gung (1890-1930) entstehen eigenständige Großsiedlungen im Umfeld historischer Stadtkerne von städtebaulicher Re- Herne, Siedlung „Teuroburgia“ levanz, eine besondere Form von Regionalstadt mit effekti- Foto: LWL/T. Spohn vem Transportsystem zur Kernstadt. Beispiele Margare- thenhöhe Essen, Wedau-Siedlung in Duisburg, Margare- thensiedlung in Rheinhausen u.v.m. Der steigende Wohnraumbedarf im Gefolge der Indus- 120 trialisierung wurde nicht nur durch mehr Etagen-Mietshäu- Nach dem ersten Weltkrieg wird der bis dahin von den ser in den Stadterweiterungsgebieten, sondern in großer Unternehmen betriebene Siedlungsbau von Wohnungs- Zahl auch durch einen Siedlungsbau befriedigt, der in den baugesellschaften und Genossenschaften, Aachener Anfängen zumeist werksgebunden war. Nicht vorausset- Bergmannswohnstätten, Treuhandstelle für Bergmanns- zungslos – frühe Vorläufer in Form lang gezogener Reihen- wohnstätten (Ruhrgebiet) u.a., weitergeführt, gekennzeich- hausbebauung finden sich aus den 1660er Jahren in Ha- net von den Reformbestrebungen der Weimarer Republik. gen-Eilpe, den 1780er Jahren bei der Saline Unna-Königs- Von Bedeutung ist die frühe Gründung der Kölner GAG born, der 1820er Jahre bei der Glashütte Petershagen- 1913, ein Verbund von Stadt, Arbeitgeber, Genossen- Gernheim sowie auf landwirtschaftlichen Gütern – setzt der schaft; durch die Festlegung auf Bau von Wohnungen für „minderbemittelte Schichten“ wird der Kleinwohnungsbau fortgesetzt: Orientiert noch bis 1926 an der Gartenstadtbe- Petershagen-Gernheim, Glashütte wegung (Köln-Bickendorf I 1913, Mülheim „Heimaterde“ Foto: LWL/E. Lubahn 1918, Oberhausen-Osterfeld 1921), folgt ein allmählicher Übergang zur 3-4geschossigen Blockbebauung, unter ex- pressionistischem, funktionalistischem Einfluss (Köln Bi- ckendorf II, Weiße Stadt 1926, Duisburg Einschornsteinsied- lung 1927). Die Siedlungen der 1920er Jahre zeigen am Beispiel Köln eine stadtbildende Kraft, da sie die einge- meindeten Vororte untereinander und mit der Kernstadt stärker verbunden haben und den Siedlungsbau der 1950er und 1960er Jahre als Großraumerweiterungen der Städte vorbereiten.

Von dem Siedlungsbau nach 1933 ist wenig erhalten (Kre- feld „Klein Österreich“, Duisburg-Rheinhausen). Die Entwick- lung nach 1945 ist am Beispiel der Bonner Bundessiedlun- gen ablesbar: formale Kontinuität aus der Vorbereitung des „sozialen Wohnungsbaus nach dem Kriege“ der 1940er Jah- re und dem Siedlungsbau der Nachkriegszeit in der Lothar- straße (1951), ausländische (schwedische, schweizerische)

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Einflüsse in der HiCoG Siedlung Tannenbusch 1951, wo erst- gegründeten Städten Espelkamp und Sennestadt. Relativ mals die Großraumsiedlung am Stadtrand als weiträumig an- einheitlich und in der Anlage und der Gestalt den Klein- gelegte, durchgrünte Stadt mit zweigeschossigen Reihen- siedlungen der 1920er und 1930er Jahre ähnlich sind die häusern, fünfgeschossigen Laubenhäusern und elfgeschos- Flüchtlingssiedlungen, die zumeist von der Siedlungsge- sigen Hochhäusern gebaut wird, ein Siedlungstyp, der sich sellschaft Rote Erde getragen in den Randlagen vieler Dör- erst Ende der 1950er Jahre in Deutschland durchsetzen wird, fer und Kleinstädte entstanden. die Siedlung Reuterstraße („Gartenstadt“ von Max Taut, 1949- 1952), die Siedlung Hochkreuzallee in Friesdorf (ab 1955) und Im Rahmen der beständigen Nordwanderung des Stein- schließlich die Großsiedlung Tannenbusch (1957-1960), deren kohlenbergbaus fand der Wohnungsbau für Bergarbeiter Bauten z.T. schon auf die 1960er Jahre hinweisen. Höhe- und wohl auch Endpunkt ab 1961, als im heutigen Dorsten die neue Stadt „Wulfen-Barkenberg“ für 60.000 Be- Die Großraumsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre wohner geplant und für 10.000 Menschen gebaut wurde. Zu sind für die Stadt- und Gebietsentwicklung ebenso bedeut- den bemerkenswerten Bauformen gehört das Baudenkmal sam wie die Vorstufen der Industrialisierung, vor allem „Habiflex“, das 1972 bezogene Haus zum flexiblen Wohnen. aber auch die Arbeitersiedlungen des 19. Jahrhunderts, da sie zumeist die Standorte der inzwischen nicht mehr vor- handenen Industrieanlagen markieren. Bauten im Dienste von Wohlfahrt und Gesundheit

In der Hauptsache entstanden Siedlungen dort, wo der Zu den Bauten für die Wohlfahrt der Bevölkerung gehör- Wohnraumbedarf schnell wachsender Industriebetriebe ten in vormoderner Zeit (vor 1800) Hospitäler, Seuchenhäu- vor Ort keine entsprechenden Voraussetzungen antraf. ser, Armen- und Waisenhäuser. In weiterem Sinn können Schwerpunkte sind die Siedlungen der Berg- und Hütten- auch Badehäuser, die gleichermaßen zur Schmutz- und industrie in Westfalen in der vordem dünn besiedelten Em- Triebabfuhr dienten, dazugerechnet werden. Von dieser scherzone des Ruhrgebiets, aber auch im Siegerland und Baugruppe sind nur wenige Hospitäler, Seuchen (Pest-) im Märkischen Sauerland sowie im Raum um Ibbenbüren. und Armenhäuser erhalten geblieben, meist in kleineren Siedlungen der Textilindustrie finden sich konzentriert im Ortschaften (Arme Mägdehaus in Xanten (erste Hälfte 16. nordwestlichen Münsterland bei Rheine und Gronau. Sied- Jh.)); Siechenhäuser in Soest, Paderborn, Münster; Armen- lungen für Eisenbahner finden sich an allen größeren häuser in Burgsteinfurt, Lüdinghausen, Minden, Nordkir- Bahnknotenpunkten, Ausbesserungswerken u.a. chen; Waisenhaus Barntrup 1785/1825).

Nach dem Ersten Weltkrieg führten veränderte Gesetze Frühe Krankenhäuser bestanden in der Regel aus einem 121 und Geldmangel in den Ballungszentren zu neuen, verdich- oder mehreren Krankensälen sowie einer Kirche und/oder teteren Bau- und Organisationsformen. Neobarocke Großar- Kapelle und waren nicht selten einem Kloster angegliedert. chitekturen bestimmten den Siedlungsbau (Hamm „Vogel- Mit Ausnahme einiger Kapellen sind keine vormodernen sang“ 1920-1922, Schwerte „Kreinberg“ 1922, Bocholt „Yorck- Krankenhausgebäude überliefert. Siedlung“ 1925/35), der nun häufig von Genossenschaften und gemeinnützigen Unternehmen getragen wurde. Von den ebenfalls zum Gesundheitswesen zählenden Apotheken, für die – über ein nach der Vorschrift massi- In ländlichen Randlagen entstanden in großer Zahl Klein- ves und gewölbtes Laboratorium hinaus – kein einheitli- siedlerstellen mit Nebenerwerbscharakter, was in vermeint- cher Bautyp ausgebildet wurde, sind einige (Detmold, lich handwerklichen und ortsgebundenen Bauformen in Lemgo) erhalten geblieben. Seltener ist vor Ort der Er- traditionellen Baumaterialien mit Siedlungen der NS-Zeit halt des mit einem typischen Inventar versehenen Ver- (Bottrop „Sydowstraße“ 1936, Marl „Bereitschaftssiedlung“ kaufsraumes (Halver, Frankfurter Straße; Minden, Markt; 1939/42) fortgesetzt wurde. Schwelm, Altmarkt).

In großer Zahl entstanden zwischen 1933 und 1945 La- Heilbädern werden insbesondere im ostwestfälisch-lippi- ger verschiedenster Zweckbestimmung aus genormten schen Bereich und am Haarstrang in vielfältiger sozialer Ab- Barackenbauten, von denen nur wenige überdauert haben stufung der Nutzer (Gesundbrunnen, „Bauernbädern“) und (Zwangsarbeitersiedlungen in Waltrop, Vinckestraße 1943, Bo- dementsprechend unterschiedlichem architektonischen Auf- chum, Gewerkenstraße und Bergener Straße 1941). wand fassbar. Einige davon haben sich zu umfangreichen Kurorten entwickelt, deren vielfältige Bauten vom 18. bis in die Zu keiner Zeit wurden in Nordrhein-Westfalen wie in erste Hälfte des 20. Jahrhunderts reichen. Dazu zählen neben ganz Deutschland so viele Siedlungen errichtet wie nach den eigentlichen Bädereinrichtungen auch Wandelhallen, Lo- dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1949 bis etwa 1965. Hier- gierhäuser (Bad Godesberg) und andere Beherbergungsstätten, bei handelt es sich um regional prägnante Beispiele so- Gasthäuser und Cafés (Horn-Bad Meinberg, Bad Salzuflen). Sie wohl traditioneller als auch moderner Formensprache, in sind in und um Kurparks angeordnet, von denen einige be- Castrop-Rauxel („Pestalozzi-Siedlungen“ 1949/57) oder Gel- deutende Zeugnisse der Gartenarchitektur sind (Aachen, Kle- senkirchen („Hesterkampsweg“ 1953). Die Abfolge verschie- ve, Bad Honnef; Bad Oeynhausen, Bad Driburg). Bei einigen So- dener Formen des Siedlungsbaus von den 1950er bis in lebädern sind aufwändige Gradierwerke als Relikte der un- die 1970er Jahre ist besonders gut abzulesen in den neu tergegangenen Salinen erhalten.

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Um 1800 entstand mit der „Irrenanstalt“ eine neue Form sonders gut am Klinikum der Universität Münster zu sehen des Krankenhauses, deren Begründung u.a. dem Umstand (erste Phase 1912-1916 mit Gebäuden für die verschiedenen zu verdanken ist, dass Irresein als im Prinzip heilbare medizinischen Fächer, weitere Bauten 1928, letzte Ausbaupha- Krankheit erkannt worden war und für die Therapie zentrale se Großklinikum 1972-1983). Spezialkliniken vervollständigen Spezialkliniken nötig waren. Die neuen psychiatrischen Kli- das Bild (Kinderklinik Gelsenkirchen). Eine junge Entwick- niken wurden von Staats wegen errichtet und im Laufe ei- lung sind die immer zahlreicher werdenden Privat- und Ta- nes Jahrhunderts zu großen Anlagen mit zahlreichen mehr- geskliniken. Einen einheitlichen Bautyp gibt es spätestens stöckigen, großvolumigen Gebäuden. Sie gehören – teil- seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr. weise in Umnutzung und Erweiterung säkularisierter Klos- teranlagen – zu den frühesten modernen Krankenhausbau- Seit ca. 1870 entstanden bevorzugt im Sauerland, aber ten (Siegburg; Marsberg, Lengerich; wohl die früheste, wenig auch am Teutoburger Wald und im ländlichen Flachland nach 1800 entstandene Einrichtung dieser Art ist das „Linden- (und außerhalb Westfalens an der Nordsee) Lungenheilstät- haus“ in Lemgo-Brake). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ten sowie allgemeine Erholungsheime für die unter der wurden diese Kliniken häufig mit einem landwirtschaftlichen Verseuchung ihrer Arbeitsstätten und Umwelt schwer lei- Betrieb verkoppelt, auf dem die Kranken zur Arbeit einge- dende Bevölkerung des Industriereviers (Meschede-Bering- setzt wurden (Arbeitstherapie). Neben diesen staatlichen hausen). Für Kinder wurden eigene Heime (Kindererho- Einrichtungen, deren Architektur der preußischen Schule lungsheim Bad Sassendorf, gegründet 1877), für Schulkinder verpflichtet war, gab es auch zahlreiche baulich ähnliche, Schullandheime (Winterberg) gebaut. Auch in den Städten die von Orden und Stiftungen unterhalten wurden. werden kommunale Kinderheime gegründet (Lüdenscheid, Bonn). Die Baugestaltung ist meist der landschaftlichen Zur größten Einrichtung ihrer Art wuchsen die bei Bielefeld oder städtischen Umgebung angepasst. 1867 für Epileptiker gegründeten „von Bodelschwingschen Anstalten“ heran; die Baulichkeiten verschiedener Zeitstel- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden – häufig lungen und unterschiedlichster Funktion bilden die großflä- als Stiftungen – Anstalten zur Aufbewahrung und Besse- chige und fast eigenständige Siedlungseinheit Bethel. rung von „verwahrlosten und schwer erziehbaren Kin- dern“ und Jugendlichen sowie anderer, von der Gesell- schaft als nutzlos Erachteter, die in der Regel aus den Bielefeld, Alt-Ebenezer (Gründungshaus Bethels) Industriegebieten kamen (und meist männlich waren). Die- Foto: LWL/M. Bange se zum Teil recht großen Einrichtungen liegen abseits der Städte, sind oft mit einem Bauernhof verbunden und 122 verfügen neben den Wohngebäuden und einer Kapelle über Werkstätten, um eine Berufsausbildung zu bieten. Im 20. JH. wurden sie um Turnhallen und Sportstätten erweitert. Die Architektur, insbesondere der historisti- schen Gebäude, macht dabei häufig den obrigkeitlichen Anspruch der Träger deutlich, sollte aber auch in ästheti- scher Hinsicht einen Gegensatz bilden zu der oft slumar- tigen Herkunft der Jugendlichen (Nottuln, Martinistift). Für verwahrloste Mädchen und ehelose junge Mütter ent- standen eigene Heime.

Die Entwicklung verlief im Rheinland ähnlich. Hervorzuhe- ben sind die Rheinischen Landeskliniken, hervorgegangen aus den Heil- und Pflegeanstalten (Irrenanstalten) der Provin- zialverwaltung, die ab 1865 errichtet wurden (Bonn, Düren); nach 1897 kamen die Anstalten in Bedburg-Hau, Süchteln- Johannisthal und Langenfeld hinzu. Die großzügigen Anla- gen mit Männer- und Frauenhäusern, Ärztehäusern und Bauten für Pflegepersonal, Kapelle, Wirtschaftseinrichtungen Mit dem Bevölkerungswachstum im Laufe des 19. Jahr- gehörten zu den modernsten und bedeutendsten Bauten ih- hunderts wurden auch in größeren Dörfern Krankenhäuser rer Art, eingebettet in Gärten und von Mauern begrenzt. errichtet, die zum Teil von großem architektonischen An- spruch sind (Sendenhorst); in den Großstädten werden sie Zahlreiche weitere Fürsorgebauten (Blinden-, Taubstum- zu größeren Baukomplexen und entwickelten sich nicht zu- men-, Krüppel- und Fürsorgeanstalten) entstanden unter der letzt aufgrund der wissenschaftlichen medizinischen Er- Ägide der Provinzialverwaltung im Rheinland und sind bis kenntnisse, der daraus resultierenden Spezialisierung so- heute erhalten. Auch private und städtische Anlagen exis- wie der Technisierung der Medizin und der regionalen Kon- tieren bis heute. zentration im 20. Jh. in vielen Fällen zu Großkrankenhäu- sern mit zahlreichen Fachabteilungen. Die Anfänge dieser In landschaftlich reizvoller Lage liegt die ehemalige Lun- bis heute anhaltenden Entwicklung sind in Westfalen be- genheilstätte Hohenhonnef von 1892 im Siebengebirge

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oberhalb Bad Honnefs (seit 1979 Einrichtung für Menschen Strenge und Schlichtheit aus (Krefeld, Katholische Volksschule mit Behinderung). Nordstraße 1874). Die vermehrte Zahl an Klassenräumen wird durch die Zwei- und Mehrgeschossigkeit erkennbar, die Ge- Ein besondere Bauaufgabe stellen die Universitätsklini- schlechtertrennung an zwei separaten Eingängen in axial- ken (Bonn, Köln, Düsseldorf) dar, die ähnlich wie Städti- symmetrischer Anordnung. In zeitlich deutlichem Stadt- schen Krankenanstalten mit ihren Fachkliniken flächenaus- Land-Gefälle werden die Wohnungen für Lehrer und Lehre- greifend sind, die aber im Laufe der Zeit der modernen rinnen aus dem Raumprogramm genommen und mit ver- medizinischen Entwicklungen stetig angepasst wurden. besserter Infrastruktur die vordem separat stehenden Aborte Als Beispiel für den modernen Krankenhausbau einerseits als Sanitärräume baulich integriert. Sonderräume in (Fach- und Universitätsklinikum andererseits ist das Klinikum in räume, Verwaltung u.a.) und neben (Turnhallen, Pausenhallen) Aachen (1969-1984), das Lehre, Forschung und Kranken- den Klassentrakten treten allmählich hinzu. versorgung in einem Bau vereint, ein bedeutendes Zeug- nis der High-Tech-Architektur. Das frühe 20. Jh. bringt neben stilistischen Modifizierungen bis hin zum Neubarock der 1920er Jahre vor allem die Ablö- sung der geschlossenen, fast militärisch-strengen Baukörper Bauten im Dienste von Bildung und Kultur durch eine weitgehend aufgelockerte, möglichst zur Natur geöffnete Bauweise (in Westfalen-Lippe: Hagen, Franzstr. 1912; Da Kunst und Bildung, insbesondere höhere Bildung, Gladbeck, Bottroper Str. 1925; Soest, Schonekindstr. 1928/29; im über Jahrhunderte Privilegien der herrschenden Schichten Rheinland: Köln, Schule Siedlung Mauenheim 1922). des Adels und des Klerus bzw. angehender Kleriker waren, sind entsprechende Räumlichkeiten – Bibliotheken, Ge- mäldegalerien u.a. – den Adelssitzen und Schlössern, den Weiterführende Schulen Klöstern und Konventen zugeordnet. Eigene Bautypen werden erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit zuneh- Für die weiterführenden Schulen – Lateinschulen, Gym- menden bürgerlichen Einflussmöglichkeiten fassbar. Dies nasien – ist über Jahrhunderte die Unterbringung in Klos- trifft bedingt auch auf Schulen und insbesondere auf wei- tergebäuden charakteristisch. Dies trifft nicht nur auf Klos- terführende Schulen zu, die vordem ganz überwiegend in terschulen (Soest, Remter Patroklistift), sondern oftmals kirchlicher Trägerschaft standen. auch auf Ratsgymnasien in den Zeiten nach der Reformati- on (Minden in Räumen des Paulinerklosters 1530) und nach der Säkularisation von 1803 (Arnsberg, Prämonstratenser- Elementarschulen kloster; Büren, Jesuitenkolleg; Hilchenbach, Stift Keppel; War- 123 burg, Dominikanerkloster) zu. Schon zuvor hatten Landes- Entsprechend der kirchlichen Schulträgerschaft stehen herren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch höhere die Elementarschulen zumeist auf kircheneigenem Grund Schulen errichten lassen, beispielsweise das Progymnasi- vorwiegend im Umkreis der Pfarrkirchen. Baulich kaum vor um von 1746-1750 in der Grafschaft Rietberg. die Zeit um 1700 zurückgehend, zeichnet sich für solche Schulgebäude – ebenso wie für die an Zahl geringeren Als eigenständiger Bautyp treten Gymnasien als mehr- Bauerschaftsschulen – ein eingeschossiger Typ beschei- geschossige Repräsentationsbauten erst im frühen 19. Jh. dener Dimension überwiegend aus Fachwerk besonders (als frühes Beispiel in Westfalen: Warendorf 1828-30; im deutlich ab. Das Raumprogramm mit einem oder höchs- Rheinland: Siegburg 1826-1830), gehäuft dann in zeittypi- tens zwei Klassenräumen, das um eine Lehrerwohnung schen Stilen seit dem ausgehenden 19. Jh. (kleinstädti- ggf. mit bescheidenem landwirtschaftlichen Nutzteil er- sche Beispiele: Attendorn 1877/78, Minden Ratsgymnasium gänzt sein kann, bleibt im ländlichen Raum bis weit ins 19. mit Aula 1889, Lüdenscheid 1890, Lüdinghausen 1904/05, Jh. hinein weitgehend konstant. Bünde 1906/07, Detmold 1907, Herten 1927/28) in oft städtebaulich prägnanten Lagen in Erscheinung. Nur im Eine bauliche Sonderform stellen die so genannten Ka- gestalterischen Aufwand unterscheiden sich bisweilen pellenschulen dar, die in den Fürstentümer Nassau und die neuen Schulformen (Detmold 1871/1910; Wuppertal- Siegen bis in die 1920er Jahre hinein errichtet wurden (in Cronenberg um 1900). Nicht selten stehen diese Lyceen Hilchenbach-Grund). Die frühesten Beispiele solcher Schu- anfänglich unter der Leitung von Orden (Ursulinen-Anstal- len, die auch als Andachtsstätten genutzt wurden und da- ten in Lippstadt (Arnsberg-)Neheim, Werl; im Rheinland: her Dachreiter mit Glocken tragen, finden sich in Hilchen- Bonn, Josephinum; Hersel, Ursulinenschule; Rheinbach: bach-Ruckersfeld (1710), Wilnsdorf-Rinsdorf (1749) und Vincenz-Palotti-Gymnasium, vorm. Collegium Hermanninum Neunkirchen-Wiederstein (1759). 1882 und St. Josef Mädchengymnasium 1909-1914)), so dass hier zumeist Kapellen die gymnasialen Aulen (bei- Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahr de äußerlich deutlich ablesbar) ersetzen. Weitere Beispie- 1825 bedeutete für die Kommunen, die vorhandenen Ge- le aus dem Rheinland: Krefeld, Lyzeum für Mädchen bäude umzubauen bzw. neue zu errichten. Die ab der (heute Ricarda-Huch-Schule), 1908-1911 mit Direktoren- Reichsgründung 1871 nun nicht allein in den schnell wach- wohnhaus; Gymnasium am Moltkeplatz, 1912-1915; senden Ballungszentren in großer Anzahl vornehmlich als Bonn-Bad Godesberg: Pädagogium 1901; Clara-Fey- Ziegelbauten errichteten Schulgebäude zeichnen sich durch Mädchengymnasium 1905.

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Die Neuordnung des Schulsystems in der Weimarer Re- Die 1819 unter Peter Cornelius gegründete Kunstakade- publik ist u.a. an Bauten der neu etablierten Berufsschulen mie in Düsseldorf wurde nach einem Brand 1875-1879 von (Handelslehranstalt Münster, Hansaring 1928/29) und Gewer- H. Riffart neu errichtet. beschulen (Detmold, Schubertplatz 1927) ablesbar. Aus der Zeit des Nationalsozialismus mit seinem Ideal der „körper- Die 1901 gegründete Kölner Handelshochschule erhielt lichen und charakterlichen Erziehung“ sind weniger Neu- 1905-1907 ein neues Gebäude in neubarocken Formen. bauten von Schulen, als vielmehr für außerschulische Hei- me der HJ (Kreisführerschulen Lübbecke, 1938/40; HJ-Heime Die älteste Hochschule in Westfalen wurde im neoba- im Rheinland in Hilden 1936/37, Duisburg-Neudorf und -Rhein- rocken Stil als Ziegelbau mit Sandsteingliederungen zu hausen 1938); sowie für die schon ab 1870 institutionali- Beginn des 20. Jahrhunderts in Münster errichtet (1912- sierten Landwirtschaftsschulen (Wiedenbrück, 1936; Düren 1928 Klinikgebäude der Medizinischen Fakultät). Von den 1924/1952) hervorzuheben. denkmalwerten Hochschulbauten der jüngeren Gründun- gen ist hier beispielhaft die Ruhr-Universität Bochum Nach 1945 entwickelte sich das Schulsystem auf der (1963-1972) zu nennen, charakterisiert durch den 13 Insti- Basis der Strukturen der Weimarer Republik mit der Kul- tutstrakte umfassenden Campus, das verbindende Forum turhoheit der Länder wieder neu (vierjährige Einheitsschu- mit den daran angeordneten Gebäuden von Mensa, Audi- le, Dreigliedrigkeit des Schulsystems, bundeseinheitliche torium Maximum, Bibliothek, Verwaltung und musischem Einführung von Gymnasien und Realschulen, Auflösung der Zentrum. Die rheinischen Universitätsbauten in Wuppertal ländlichen Zwergschulen u.a.). Mit der Tagung im Juni und Duisburg schließen sich als komplexe Anlagen an. 1949 im sauerländischen Fredeburg wurden die „Frede- burger Richtlinien“ bestimmend für den Schulbau der frü- Weiter zurück reichen die baulichen Zeugnisse der nach hen 1950er Jahre in Nordrhein-Westfalen. Ab Mitte der 1872 institutionalisierten Lehrerausbildung. Baulich ganz 1950er Jahre ging man zu neuen Schulbaurichtlinien ähnlich strukturiert, konnten die in zahlreichen Kleinstädten über, die bis in die 1970er Jahre eine große Anzahl viel- entstandenen „Präparandien“ (Petershagen und Soest 1875, fältiger Schulneubauten aller Schultypen hervorbrachten. Hilchenbach 1896) fast unverändert als Gymnasien weiter Während zunächst nüchterne, funktionale Stahl-Skelett- genutzt werden, als nach 1925 zentralisierte Pädagogische Bauten vorherrschten, entwickelten sich bald Anlagen in Hochschulen eingerichtet worden waren. Von deren Bauten aufgelockerter, naturnaher Bauweise im Pavillonstil (stell- ist die 1930 fertig gestellte Pädagogische Akademie in Dort- vertretend: Lünen, Geschwister-Scholl-Gesamtschule 1956- mund erwähnenswert, ein durch die Formensprache des 1962; Marl-Drewer, Martin-Luther-King-Schule 1960-1964; Neuen Bauens geprägter Funktionsbau in städtebaulich he- 124 Krefeld, Marianne-Rhodius-Schule 1955 ff.). rausgehobener Lage am Rheinlanddamm. Ebenso die gleichzeitig errichtete Pädagogische Akademie am Rhein- Eine eigene Gattung innerhalb der Schulbautypen stel- ufer in Bonn, die später als Deutscher Bundestag und Bun- len die Gewerbe- und Berufschulen dar, die aus den Fort- desrat in die Geschichte der Bundesrepublik Eingang fand. bildungsschulen des 19. Jahrhunderts hervorgegangen sind. Ein eigener Schultypus entwickelte sich erst ab 1950 Von weiteren Sparten der Berufsausbildung seien die mit neuen Richtlinien. Bemerkenswerte Beispiele aus den Kunstgewerbeschulen (Dortmund, Brügmannstr. 1910; Biele- 1950er Jahren befinden sich im Rheinland in Köln, Lever- feld, an der Sparrenburg 1913) und die Baugewerksschulen kusen und Wuppertal. (Höxter; Technikum Lage 1925) genannt.

Die ersten Bibliotheken befanden sich in den Klöstern Hochschulen und Stiften, denn das Studium und das Abschreiben der Heiligen Schrift waren in vielen Ordensregeln festgelegt. Von den frühen Hochschul- bzw. Universitätsbauten sind Die in Westfalen-Lippe einzige baulich erhaltene mittelalter- außer der Hohen Schule in Burgsteinfurt aus dem späten liche Klosterbibliothek befindet sich im ehemaligen Augus- 16. Jahrhundert bauliche Zeugnisse nicht erhalten. tinerchorherrenkloster Böddeken (um 1480, Stadt Büren).

Die älteste rheinische Universität ist die 1818 gegrün- Das Aufleben der antiken Studien in der Zeit des Huma- dete Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn (Kurfürstli- nismus begünstigte den Sammeleifer vornehmlich gebil- ches und Poppelsdorfer Schloss), die schon im Laufe des deter Landesherren und reicher Patrizierfamilien, die priva- 19. Jahrhunderts sukzessive um Institutsgebäude erwei- te Bibliotheken errichten ließen (Höxter-Corvey; Haus Ruhr in tert wurde (Anatomie von Waesemann 1821 – heute Ar- Senden-Bösensell). Die Entstehung wissenschaftlicher Bi- chäologisches Institut und Akademisches Kunstmuseum, bliotheken ging einher mit der Gründung von Universitä- Universitätssternwarte von J. P. Leydel 1840-1845, Landwirt- ten. Nach der Säkularisation fielen die Bibliotheksbestände schaftliche Fakultät von Zwirner 1850, Neue Anatomie von entweder den Städten oder den Landesherren und gelehr- A. Dieckhoff 1860-1865, Chemisches Institut von A. Dieck- ten Bildungsanstalten zu. Die um die Mitte des 19. Jahr- hoff 1864-1867 u.a.). Das Polytechnikum Aachen, Kern hunderts aufkommende Volksbüchereibewegung fand be- der RWHT Aachen, entstand zwischen 1865 und 1868 sonders in den 1920er Jahren weite Verbreitung und führte und ist bis in die Moderne kontinuierlich erweitert wor- zum Bau zahlreicher allgemeiner Büchereien. Die Wieder- den (zuletzt Klinikum Aachen). aufbauphase brachte Bibliotheksbauten hervor, die zeitty-

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pische Konstruktionsweisen und Baumaterialien verwen- Bonn 1962-1965, Düsseldorf 1965-1968, Essen, Aalto-Theater deten und häufig auch städtebaulich exponiert waren. So 1959 und 1983-1988, Köln, Theater und Oper 1952-1957, die Universitätsbibliothek in Bonn von F. Bornemann / P. Krefeld 1961-1963, Wuppertal 1966). Vago von 1957-1960. Jüngstes Beispiel ist die Diözesan- Bibliothek von M. Dudler aus dem Jahr 2006 in Münster. Zwar waren vereinzelt schon in der frühen Neuzeit Ball- häuser (in Lemgo 1608) und Saalbauten vor allem im 19. Jh. errichtet worden (Wuppertal, Stadthalle 1895-1900), jedoch Bauten für die darstellenden Künste sind solche Zeugnisse bürgerlicher Kultur in größerer Zahl erst aus dem 20. Jh. überliefert (die Oetkerhalle in Bielefeld Kulturbauten der darstellenden Künste umfassen Thea- 1929 f.; Dortmund, Westfalenhalle; Münster, Halle Münsterland; ter, Opernhäuser, Konzertsäle, Stadthallen und Kinos. Zu- Bonn, Beethovenhalle 1956-1959). nächst standen die Repräsentation und das Selbstver- ständnis eines Landesherrn im Vordergrund der baulichen Bald nach Entstehung des Mediums Film entstanden Ausprägung. Theater waren, ähnlich dem Konzertsaal im Lichtspieltheater, die in der Regel aus Saalbauten mit an- Bagno (Burgsteinfurt), in Schlossanlagen integriert und sprechender Gestaltung der Straßenfassaden und der En- wurden erst im 19. Jh. (Lippisches Landestheater, 1825 er- trés bestanden. Das älteste erhaltene Kino wurde 1911 in richtet, nach einem Brand 1914-1918 neu erbaut) an stadt- Detmold errichtet; 1920er Jahre: Bonn, Metropol 1928; Es- räumlich hervorgehobenen Plätzen erbaut und so auch für sen, Lichtburg 1928; Bünde, Kino Bahnhofstraße; beson- das Bürgertum zugänglich. ders charakteristische Kinobauten der 1950er Jahre sind in Warendorf („Theater am Wall“ 1950), Münster („Schlossthea- Ein Zugang für die breite Bevölkerung wurde zu Beginn ter“ am Kanonierplatz 1953), Dortmund („Film-Casino“ am Os- des 20. Jahrhunderts durch die Errichtung städtischer tenhellweg 1956) und Lüdenscheid („Kinopalast“, Werdohler Kulturbauten ermöglicht (Bielefeld, Stadttheater 1902/04, Str. 1954/56) erhalten. Im Rheinland: Aachen, Capitol; 1945/50; Minden, Stadttheater 1906/08; Hagen 1910/11; Es- Bonn, Rex-Theater; Wuppertal, Rex. sen, Grillo-Theater 1890/92, Wiederaufbau 1950er Jahre). Pa- rallel existierte ein Sondertypus, das leicht gebaute Som- mertheater (in Detmold 1889 ff.), das als saisonaler Spiel- Bauten für die bildenden Künste betrieb alle Bevölkerungsschichten ansprach. Nach den starken Kriegszerstörungen wurden in den 1950er und Einige der heutigen Museen gingen aus adeligen 1960er Jahren in vielen größeren Städten moderne Thea- Sammlungen (Burgsteinfurt, Ende 18. Jh.) bzw. bischöfli- terbauten errichtet (in Bochum 1951/53; Münster 1954/56; chen Kunstkammern (die Domschatzkammern in Minden, 125 Münster und Paderborn) hervor.

Bielefeld, Stadtteather erbaut 1902 Im 19. Jh. führten Vorarbeiten zumeist bürgerlicher Ver- Foto: LWL/M. Bange eine die Bestrebungen des Reiches und der Provinzen zu Museumsgründungen mit bedeutenden Sammlungen, die repräsentative Architektur hervorbrachten und bis heute städtebauliche Dominanten bilden (ehemaliges Provinzial- museum für Naturkunde, Münster,1889-1891; Museum Folk- wang, jetzt: Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen 1898-1900; ehemaliges Provinzialmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster 1904-1907; Krefeld, Kaiser-Wilhelm-Museum 1894- 1897, Bonn, Museum-Alexander-Koenig 1918-1934;). Teilwei- se wurden Bauten anderen Ursprungs zu Museen umge- nutzt (Wuppertal Von-der-Heydt-Museum, ursprünglich Rat- haus 1829 und 1839; Märkisches Museum als Villa errichtet, Witten 1909-1911). An Bauten jüngerer Zeit seien für West- falen die Kunsthalle in Bielefeld (1966-1968) und das „Qua- drat“ in Bottrop (1975/76) genannt. Im Rheinland sind in zahlreichen Städten neue Museen entstanden: in Bonn, Museumsmeile 1985-1992 von Peichl, Schultes und Rüdi- ger; Düsseldorf, Kunsthalle und Sammlung Nordrhein- Westfalen; Köln, Museum Ludwig (Busmann und Haberer); Mönchengladbach, Museum Abteiberg (Hollein).

Als eines der frühen Industrie- und in Ansätzen bereits „Erlebnis“museen kann das Deutsche Bergbaumuseum in Bochum (seit 1935 im ehemaligen Schlachthofgebäude) gelten als Vorläufer einer in Westfalen-Lippe großen An- zahl von Museen für Industriekultur. Freilichtmuseen be-

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wahren und präsentieren – teilweise in situ (Bielefeld, Rah- zeit. Im Rahmen der den), teilweise nach Translozierung (Detmold, Hagen) – REGIONALEN ab bedeutende bauliche Zeugnisse und Lebenswelten un- 2000 wurden viele tergegangener Epochen überwiegend der ländlichen Kul- Gärten und Parks wie- tur. Ebenso die Freilicht- (Kommern, Lindlar) und Industrie- der Instand gesetzt museen (Bergisch Gladbach, Cromford/Ratingen, Euskir- und der breiten Öf- chen-Kuchenheim, Engelskirchen, Oberhausen, Solingen) fentlichkeit nahe ge- des Landschaftsverbands Rheinland. bracht. Bereits die äl- testen in ihrer Sub- stanz erhaltenen Gär- ten im Rheinland, die 5.5.2 Kultur / Erholung / Fremdenverkehr von Johann Moritz von Nassau-Siegen Einführung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts In der Zeit vor der Industrialisierung spielten Erholungs- in und um Kleve an- Stiftskirche des Stifts Hochelten stätten für die breite Bevölkerung keine bedeutende Rolle gelegten Tiergärten, Foto: LVR/W. Wegener und sind baulich nicht überliefert. Erst seit der Entfestung zeigen, dass eine der Städte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden solche Anlage immer auf den ehemaligen Befestigungsgürteln der Städte Pro- auch Teil ihrer Umgebung ist: Gerade Kleve bezieht die menaden angelegt. Sie prägen noch heute den Randbe- Landschaft im weitesten Umkreis ein. Vor allem der Blick reich mancher Stadtkerne. über den Moritzkanal auf den etwa 10 km entfernten El- tenberg und den Turm der Stiftskirche von Hochelten ist auch heute noch nachvollziehbar. Als weiteres Beispiel Parks und Gärten kann der Schlosspark von Heimerzheim (Rhein-Sieg-Kreis) genannt werden, der als point-de-vue den Turm der Tom- Nordrhein-Westfalen besitzt einen außerordentlichen burg in ungefähr 12 km Entfernung hat. Auch in (Düssel- Reichtum an historischen Gärten durch die Zeiten – vom dorf-)Benrath war die umliegende dörfliche Landschaft in Barock bis zur nahen Gegenwart – und durch die Typen – demjenigen Sinn einbezogen, wie sie die englische Gar- vom Schlosspark bis zum Kleingarten. Das beginnt mit tenkunst entwickelt hatte. Die optische Verbindung zum 126 den großen Gartenanlagen in Nordkirchen und Kleve und Rhein ist bis auf einen ganz geringen Rest verloren. Der geht über die Schlossgärten von Brühl und Benrath, die erste Landschaftsgarten des Rheinlandes, der Park von Stadtgärten und Volksparks des 19. und 20. Jahrhunderts Schloss Dyck (Jüchen, Rhein-Kreis Neuss) bezieht seine bis hin zu privaten und öffentlichen Gärten der Nachkriegs- Wirkung ebenfalls im Wechselspiel mit der Landschaft.

Brühl, Schloss Augustusburg Foto: LVR/J. Gregori Kap_5_2_11.qxp 18.10.2007 16:01 Seite 127

Wildpark Dülmen Foto: LWL/H. Kalle

Ein interessantes westfälisches Beispiel ist der histori- Conrad Schlaun gestaltete Parkanlage, die Anfang des 127 sche Tiergarten am Wasserschloss in Raesfeld aus der 20.Jahrhunderts noch einmal neobarock überarbeitet wur- zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der in seiner Gestal- de. Im 19. Jahrhundert sind auch in Westfalen viele Park- tung deutliche Strukturen der Spätrenaissance enthält, die anlagen im englischen, landschaftlich geprägten Stil ent- sich bis heute erhalten haben. Als beispielhaft für eine ba- standen, wie der Wildpark in Dülmen, der Landschaftspark rocke Gartenanlage kann der nach Plänen von Johann Rheder in Brakel oder Teile des Parks am Schloss Anholt. Conrad Schlaun rekonstruierte Garten am Haus Rüsch- haus in der Nähe von Münster, und die rekonstruierte Gar- Eine Besonderheit in Ostwestfalen sind die Kurpark- tenanlage am Schloss Neuhaus in Paderborn gelten. He- anlagen, deren Ausgestaltung z.B. in Bad Driburg be- rauszuheben ist auch der Schlossgarten von Nordkirchen, reits Ende des 18. Jahrhunderts begann und die sich dem „Westfälischen Versailles“, eine ebenfalls von Johann heute überwiegend im landschaftlichen Stil dem Besu- cher darstellen.

Bad Driburg, Kurpark Im Bereich der städtischen öffentlichen Gärten gibt es mit Foto: LWL/H. Gerbaulet dem Düsseldorfer Hofgarten (um 1770), dem Bagno in Burg- steinfurt (ab 1765) und dem Lousbergpark in Aachen (ab 1807) bemerkenswert frühe Beispiele für fürstliche Fürsorge einerseits und bürgerliches Engagement andererseits.

Städtische Parks und Gärten, die gleichzeitig der Stadt- hygiene als auch der Erholung der Stadtbevölkerung die- nen sollten, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun- derts insbesondere in den Großstädten des Ruhrgebiets angelegt (Stadtpark Bochum). In einigen Fällen sind sie mit Wäldern verbunden und greifen in die freie Land- schaft aus (Gelsenkirchen-Buer); in anderen Fällen sind sie mit Parks ehemaliger Residenzen oder Adelssitze ver- bunden und teilweise zu botanischen Gärten genutzt (Rombergpark Dortmund-Brünninghausen, Münster). Auch

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künstliche Seenlandschaften wurden geschaffen, in man- Historische Gärten sind wichtiger Bestandteil der Kul- chen Fällen, um Sumpf- und Überschwemmungsgebiete tur- und Denkmallandschaft. In gleicher Weise dienen sie zu regulieren (Gelsenkirchen, Aasee in Münster). Zum In- als Bildungsort für Kinder und Jugendliche, der Bevölke- ventar gehören Caféhäuser, Kioske, Schutzhütten, verein- rung zur Erholung und als naturnaher Teil der Umwelt. zelt auch Bootshäuser, bei botanischen Gärten auch Ge- Sie und ihr Umfeld zu bewahren ist eine wesentliche Auf- wächshäuser. gabe der Planung.

Von besonderer Qualität sind die Anlagen des zu Beginn Bedeutende Historische Zoologische Gärten sind in Köln, des 20. Jahrhunderts entstandenen Grüngürtels um Köln. Wuppertal und Krefeld erhalten, neuere wie der Duisburger Aber auch andere Städte besitzen erwähnenswerte öffent- Zoo (gegründet 1934) oder der Allwetterzoo in Münster liche Parkanlagen, teils als solche angelegt, teils – wie et- (1974 eröffnet) wurden nach dem Krieg ausgebaut. wa Greifenhorstpark und Burgpark Linn in Krefeld – aus privaten Gärten hervorgegangen. Frei- und Hallenbäder

Als weitere Gartentypen sind die Klostergärten, Bau- Zunächst nur der Hygiene und der Erholung, später auch erngärten, Vor- und Hausgärten, Villengärten oder Fried- dem Sport dienten die Frei- und Hallenbäder. Während von höfe zu nennen. Eine wichtige Rolle in den Städten oder den Flussbädern, die am Anfang der Entwicklung stehen, in deren Umfeld spielen Kleingärten, sei es, dass sie Be- nur wenig erhalten ist (Wapelbad Gütersloh), sind mehrere standteil von Siedlungen sind – z.B. in Viersen-Rahser der im frühen 20. Jh. bis in die 1960er Jahre zahlreich er- innerhalb der Baublöcke –, dass sie vor einer Stadt au- bauten Freibäder noch in nahezu authentischem Zustand ßerhalb der mittelalterlichen Befestigung liegen wie in erhalten. Die Hallenbäder der Zeit vor dem Zweiten Welt- Heimbach unterhalb der Stadt an der Rur oder dass sie krieg wurden bis auf wenige Ausnahmen (Krefeld, Neuss, wesentlicher Bestandteil des sozialen Lebens wie im Viersen, Wuppertal-Unterbarmen) abgerissen oder im Krieg Ruhrgebiet sind. zerstört; von denen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben dagegen einige ihren Zeugniswert bewahrt (Bonn, Eine neue Art von Parkanlagen entstand in den letzten Leverkusen, Wuppertaler Schwimmoper). Jahrzehnten mit dem Landschaftspark Duisburg Nord oder dem Landschaftspark Emscherbruch im Ruhrgebiet, die ehemalige Industriestandorte oder Kohleabraumhalde Sportanlagen als gestaltete Erholungsflächen der Öffentlichkeit zugäng- 128 lich machen. Auf die Sorge der Ärzte und insbesondere der Militärs um die Gesundheit der Industriebevölkerung sind die An- Was hier an wenigen herausragenden Beispielen darge- fänge der zahlreichen Sportanlagen – Sportplätze, Turnhal- stellt wird, gilt für viele weitere Gärten und Parkanlagen, an len – zurückzuführen. Mit dem Aufkommen des Leistungs- denen Nordrhein-Westfalen so reich ist. sports und der Wettkämpfe gegen Ende des 19. Jahrhun- derts wurden diese nach festgelegten Normen gebaut. Städte planten vielgliedrige Sportanlagen, die Ballspiel- Schlosspark in Bad Berleburg plätze mit umlaufenden Aschenbahnen sowie Sprung- und Foto: LWL/M. Philipps Wurfbereichen sowie Tribünen, separate Tennisplätze, Frei- und Hallenbäder sowie Luftbäder (Liegewiesen) um- fassen konnten (Gladbeck, Vestische Kampfbahn; Dortmund, Rote Erde). Nach 1970 wurden für die Massenattraktion Fußball spezielle, nach außen hermetisch durch steile Tri- bünenbauten abgeschlossene Stadien gebaut, die in jüngster Zeit auch für spektakuläre Massenevents (Konzer- te u.a.) ausgelegt sind.

Turnhallen sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist in Verbindung mit (höheren) Schulen entstanden, doch gab es auch davon unabhängige, der Initiative von Turnverei- nen zu verdankende Gebäude. Die nach 1945 entstandenen Turnhallen waren in der Regel – oftmals als Typenentwürfe wie die Rundsporthalle (als Denkmal eingetragen in Hagen- Haspe, Enneper Straße) – für alle Schularten bestimmt, wur- den zunehmend aber auch in den Großstädten für den Ver- eins- und Breitensport gebaut und vielfältig nutzbar.

Von Beginn an spezialisierte Anlagen sind auch die Trab- und Galopprennbahnen des Pferdesports. Davon konnten sich nur wenige bis in die heutige Zeit halten Kap_5_2_11.qxp 18.10.2007 16:01 Seite 129

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(Dortmund, Gelsenkirchen-Feldmark, Castrop-Rauxel, Reck- im Weserbergland mit Beispielen schon aus der Mitte, im linghausen, Krefeld, Neuss). Sauerland (Astenturm Winterberg; Rhein-Weser-Turm Kirch- hundem) erst aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Saalbauten großen Nationaldenkmäler am Teutoburger Wald (Kaiser- Wilhelm-Denkmal Porta Westfalica, Hermanns-Denkmal Det- Von den zahlreich nachzuweisenden städtischen Saal- mold) und die speziellen Wintersporteinrichtungen bauten der frühen Neuzeit ist in Westfalen-Lippe keiner (Sprungschanzen, Bob-Bahn Winterberg) – die zum Was- baulich nachweisbar. Die frühesten erhaltenen Zeugnisse sersport nutzbaren Talsperren nicht zu vergessen. Ande- eines Freizeit-Amusements sind so die Säle, die – vermehrt rerseits wurden zur Beherbergung der Erholungs-Su- gegen Ende des 19. Jahrhunderts – als Anbauten an Gast- chenden verschiedene Bautypen ausgebildet. Das Spek- wirtschaften besonders im Umkreis der größeren Städte trum reicht von den privaten Ferienhäusern (besonders errichtet wurden. Mit dem Aufkommen von Straßenbah- seit den 1920er Jahren, gehäuft am Möhnesee und im Asten- nen als Massenverkehrsmitteln entstanden besonders an gebiet) über die Jugendherbergen (Burg Altena; Tecklen- landschaftlich markanten Punkten ausgesprochene Saal- burg) bis zu den Erholungshäusern einzelner Industrie- bauten mit einem Fassungsvermögen von bis zu 1.000 städte (Haus Dortmund in Meschede) oder von Vereinen Personen (Freischütz zwischen Dortmund und Schwerte). (Kohlberghaus des SGV) und schließlich den privaten Pen- sions- und Hotelbetrieben. Eine zentrale Funktion im örtlichen Gemeinschaftsleben übernehmen die Schützenhallen, die in manchen Regionen Im Rheinland bildet der Rhein Ausgangspunkt für den Nordrhein-Westfalens den Baubestand nahezu jedes Dor- Fremdenverkehr. Die Städte am Rhein von Bad Honnef bis fes prägen, nachdem seit dem späten 19. Jh. die vordem Emmerich spielen dabei eine besondere Rolle. Königswin- üblichen Zelte durch feste Konstruktionen abgelöst wurden ter, als Stadt am Rhein am Fuße des Drachenfels gelegen, (besonders prägnante Beispiele: (Bad Sassendorf-)Lohne wurde schon im 18. Jh. wegen der geologischen Beson- 1891, (Winterberg-)Siedlinghausen 1905, Brilon 1924). derheiten des vulkanischen Siebengebirges zum Ziel von Bereisungen, die sich ab 1800 mehr und mehr auch den Naturschönheiten dieser Rheingegend zuwandten. Die Tourismus markante Silhouette des Siebengebirges als Ausläufer des Mittelrheins in die Köln-Bonner Bucht wurde vielfach Ge- Sieht man von den oben behandelten Heilbädern ab, genstand künstlerischer Darstellungen. Sagen und My- so setzt ein Fremdenverkehr in größerem Umfang als Re- then, genährt vor allem von der Burgruine auf dem Dra- flex auf die Urbanisierung erst seit der Mitte des 19. Jahr- chenfels, wo auch der Kampf Siegfrieds mit dem Drachen 129 hunderts ein. Insbesondere im Bergland ist seitdem die angesiedelt wurde, gaben literarischen Stoff für die Rhein- Prägung der Kulturlandschaft durch Einrichtungen des romantik. Die Mönche vom Petersberg, die Klosterruine Fremdenverkehrs unverkennbar. Dazu gehören einerseits Heisterbach, Schloss Drachenburg und später auch die besondere Attraktionen. Zu nennen sind Aussichtstürme, politische Geschichte um das Hotel auf dem Petersberg

Robert-Kolb-Turm auf der Nordhelle bei Herscheid Foto: LWL/M. Philipps Kap_5_2_11.qxp 18.10.2007 16:01 Seite 130

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Hohensyburg, Kaiser-Wilhelm-Denkmal Foto: LWL/M. Philipps

und nicht zuletzt der Wein ließen den Fremdenverkehr 130 kontinuierlich zunehmen. In der Stadt richtete man sich wie auch anderswo am Rhein durch reichliches Hotel-, Pensions- und Gaststättenangebot auf die Gäste von nah und fern ein. Natur, Kultur und Denkmäler gingen hier eine Synthese ein, die dem Tourismus förderlich war. Kultur- schichten sind von der Vor- und Frühgeschichte über die Römerzeit bis ins 19. Jh. und die Moderne nachweisbar. Vielfache Blickbeziehungen auch über den Rhein (Rolands- bogen, Nonnenwert, Godesberg, Bonn bis zum Kölner Dom). Mit der Wartburg und dem Heidelberger Schloss gehörte der Drachenfels zu den drei herausragenden Standorten in Deutschland, die als Blickfang für die Villenansiedlungen wohlhabenden Großbürgertums dienten (Villa Hammer- schmidt, Palais Schaumburg u.a. Villen am Rheinufer zwischen Bonn und Mehlem).

Das Bergische Land und die Eifel sind zu Tourismus- schwerpunkten vor allem wegen der bergigen Naturschön- heiten geworden, wobei die zahlreich erhaltenen Burgen Anlaufpunkte sind.

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