DIE ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DER PRODUKTION VON TECHNISCHER KERAMIK, INSBESONDERE ELEKTROTECHNISCHEN PORZELLAN- UND STEATITARTIKELN IN BAYERN UND THÜRINGEN BIS IN DIE 1920er JAHRE

- Eine Untersuchung im oberfränkisch-oberpfälzisch- südthüringischen Wirtschaftsraum an sozial-, wirtschafts- und technikhistorischen Paradigmata -

Diese Dissertation widme ich meinem Vater DIE ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DER PRODUKTION VON TECHNISCHER KERAMIK, INSBESONDERE ELEKTROTECHNISCHEN PORZELLAN- UND STEATITARTIKELN IN BAYERN UND THÜRINGEN BIS IN DIE 1920er JAHRE

- Eine Untersuchung im oberfränkisch-oberpfälzisch- südthüringischen Wirtschaftsraum an sozial-, wirtschafts- und technikhistorischen Paradigmata -

von

Heinz-Peter Rönneper, M.A.

Marktredwitz

Lehrgebiet Neuere Geschichte FernUniversität -GHS- Hagen zur Erlangung des akademischen Grades

Doktor phil.

vorgelegte Dissertation

Vorsitzender: Prof. Dr. Peter Brandt

Berichter: Prof. Dr. W. Jäger

Marktredwitz, den

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INHALTSVERZEICHNIS

0. Einführung...... 1 0.1. Problemstellung und Ziele...... 1 0.2. Ablauf der Untersuchung...... 4 0.3 Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes...... 6 0.4 Literatur- und Quellenlage...... 6

I. Industrialisierung...... 11 1. Allgemeine Entwicklung im Deutschen Reich ...... 11 2. Industrialisierung in Nordostbayern ...... 15 2.1 Der Aufschwung des östlichen Fichtelgebirges durch die Porzellanindustrie...... 25 2.2 Entwicklung in der Porzellan- und Keramikindustrie...... 28

II. Die Entwicklung der keramischen Industrie in den einzelnen Regionen...... 49 1. Keramische Industrie im Raum Oberfranken ...... 49 2. Raum Oberpfalz ...... 54 3. Raum Südthüringen ...... 58 4. Exkurs: Porzellanfabrikation in Böhmen...... 66

III. Elektrifizierung und Technische Keramik: Interdependenz ...... 69 1. Elektrizität: Entwicklung und erste Anwendungen...... 69 2. Elektrifizierung und Energieversorgung...... 75 3. Bedeutung und sozioökonomische Folgen der Elektrifizierung...... 86

IV. Technische Keramik...... 99 1. Begriffsbestimmung und Darstellung...... 99 2. Rohstoffe und Fertigungsverfahren...... 107 3. Produkte und Einsatzgebiete ...... 111 3.1 Chemisch-technisches Porzellan ...... 112 3.2 Elektrotechnische Installation...... 112 3.2.1 Keramik als Substitutionswerkstoff ...... 113 3.3 Hochspannungstechnik: Isolatoren ...... 114 3.4 Isolatoren in der HF-Technik ...... 115 3.5 Technische Keramik: Wärmetechnik...... 116 3.6 Technische Keramik in der Mechanik...... 116 3.7 Hochleistungskeramik ...... 121 3.8 Technische Keramik und Elektronik...... 123 3.9 Chemische Verfahrenstechnik und Umweltschutztechnik ...... 126 3.10 Technische Keramik: Hochtemperaturtechnik...... 129 3.11 Keramische Hochtemperatursupraleiter ...... 131

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V. Technische Keramik: Technikgeschichte ...... 132 1. Geschichtliche Entwicklung der Technischen Keramik...... 132 2. Baukeramik...... 134 3. Keramik in der Chemie...... 134 3.1 Keramik in chemischen Laboratorien ...... 151 3.2 Säure- und alkalifeste Steine ...... 152 3.3 Schalen und Töpfe für verschiedenen Gebrauch...... 152 3.4 Rohre, Hähne, Regelungsvorrichtungen...... 153 3.5 Speicheranlagen und Transportgefäße ...... 154 4. Speckstein und Steatit...... 155 4.1 Speckstein ...... 156 4.2 Steatit ...... 168 5. Elektrokeramik...... 172 5.1 Keramik in der Schwachstromtechnik ...... 172 5.2 Keramik in der Hochspannungstechnik ...... 188 5.2.1 Isolatoren: Fertigungstechnik...... 196 6. Keramik in der Hochfrequenztechnik...... 208 7. Die Porzellanfabrik ...... 210 7.1 Maschinen...... 211 7.2 Historische Entwicklung der Maschinen am Beispiel Formgebung...... 217 7.3 Historische Entwicklung der Brennöfen ...... 223 7.3.1 Feuerungsverfahren...... 230 7.3.2 Brennofensysteme ...... 230 7.3.3 Brandführung ...... 231 7.3.4 Bildung des keramischen Scherbens...... 233 7.3.5 Temperaturmessung...... 234

VI. Technische Keramik: Wirtschaftsgeschichte...... 237 1. Volkswirtschaftliche Bedeutung der keramischen Industrie...... 237 2. Standortverteilung der keramischen Industrie...... 244 3. Rationalisierung ...... 248 3.1 Rationalisierung einzelner Produktionsabschnitte ...... 250 3.2 Rationalisierung und Motorisierung ...... 254 3.3 Betriebs- und Unternehmenskonzentration...... 255 3.3.1 Einzelne Konzerne...... 257 4. Produktionskosten ...... 267 4.1 Materialversorgung...... 268 4.1.1 Kaolin ...... 270 4.1.2 Feldspat ...... 273 4.1.3 Quarz ...... 274 4.1.4 Brennstoffe ...... 275 4.1.5 Sonstige Materialien ...... 276 4.1.6 Frachten...... 276 4.2 Allgemeine Unkosten, Abschreibungen, Steuern...... 277 4.3 Löhne, Gehälter, Sozialabgaben...... 278 5. Arbeitnehmerverhältnisse: Wirtschaftsgeschichtliche Relevanz ...... 279 5.1 Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft...... 279 5.1.1 Angestellte...... 279 5.1.2 Männliche und weibliche Arbeiter ...... 281 5.1.2 Gelernte und ungelernte Arbeiter...... 283 5.1.4 Jugendliche Arbeiter...... 289

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5.2 Arbeitsbedingungen ...... 290 5.2.1 Lohnsystem...... 295 5.2.2 Vortarifliche Entwicklung der Löhne und Arbeitslosigkeit...... 298 5.2.3 Tariflöhne...... 302 5.2.4 Effektivlöhne...... 304 5.2.5 Arbeitszeit und Urlaub...... 308 5.3 Streiks und Aussperrungen...... 310 6. Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer...... 312 7. Technische Keramik: Absatz und Handel...... 317 7.1 Allgemeine Absatzbedingungen ...... 318 7.1.1 Hochspannungsporzellan...... 319 7.1.2 Niederspannungsporzellan...... 321 7.1.3 Konjunkturelle und saisonale Schwankungen...... 322 7.2 Absatzregelungen der Verbände...... 324 7.2.1 Vereinigte Hochspannungs-Isolatoren-Werke G.m.b.H...... 325 7.2.2 Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken E.V...... 329 7.3 Elektroporzellan: Außenhandel...... 332 7.3.1 Deutschlands Import ...... 332 7.3.2 Deutschlands Export ...... 333 8. Unternehmensformen ...... 339 8.1 Aktiengesellschaften...... 339 8.2 Gesellschaften mit beschränkter Haftung ...... 342 9. Darstellung einzelner Unternehmen der Keramikindustrie ...... 343 9.1 Steatit-Magnesia AG (Stemag) ...... 343 9.2 Rosenthal-Isolatoren GmbH (RIG) ...... 352 9.3 Kronacher Porzellanfabrik ...... 355 9.4 Die Laufer Speckstein- und Steatitindustrie...... 356 9.5 PF Julius Hering & Sohn, Köppelsdorf...... 357 9.6 Porzellanfabrik Kloster Veilsdorf...... 358 9.7 PF Ernst Heubach, Köppelsdorf ...... 363 9.8 PF Armand Marseille GmbH, Neuhaus-Schierschnitz...... 364 9.9 PF Mengersgereuth-Hämmern...... 366 9.10 PF Beutelsdorf ...... 366 9.11 PF Hüttensteinach...... 367 9.12 Porzellan-Industrie-Gesellschaft Berghaus, Auma...... 368 9.13 Hermsdorf-Schomburg-Isolatoren GmbH (Hescho) ...... 370 9.14 PF H. Schomburg & Söhne...... 370 10. Zusammenfassung der Ergebnisse...... 380

VII. Porzelliner: Sozialgeschichtliche Einzelaspekte ...... 385 1. Entwicklung des Tarifvertragswesens ...... 385 1.1 Einzelvertragliche Regelungen und Ansätze zu Kollektivverträgen...... 386 1.2 Arbeitsordnungen - Fabrikordnungen ...... 387 1.2.1 Arbeitsordnungen in der Vorkriegszeit ...... 389 1.3 Erster Weltkrieg: Entwicklung von Kollektivabkommen ...... 401 1.4 Weiterentwicklung der Tarifverträge infolge der politischen Verhältnisse ...... 411 1.5 Erster Reichstarifvertrag in der feinkeramischen Industrie 1920...... 415 2. Sozialpolitische Maßnahmen...... 421 2.1 Staatliche Sozialpolitik ...... 422 2.2 Betriebliche Sozialpolitik...... 430

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2.2.1 Betriebskranken- und –pensionskassen...... 431 2.2.2 Fabrikwohnungsbau...... 434 2.2.3 Fabriksparkassen...... 440 2.2.4 Werkskonsumvereine...... 441 2.2.5 Sonstige Einrichtungen...... 442 2.3 Gewerkschaftliche Sozialpolitik und Eigeninitiativen der Arbeiterschaft...... 445 2.3.1 Hilfs- und Unterstützungskassen...... 445 2.3.2 Spar- und Vorschußvereine ...... 456 2.3.3 Arbeiterkonsumvereine ...... 458 3. Arbeiterverhältnisse und Arbeitsbedingungen: Sozialgeschichtliche Relevanz...... 461 3.1 Kinderarbeit und jugendliche Arbeiter...... 463 3.2 Arbeiterinnen in der Porzellanindustrie ...... 468 3.3 Lehrlinge in der Porzellanindustrie ...... 474 3.4 Morbidität und Mortalität der Porzellanarbeiter...... 482 3.5 Betriebssicherheit, Arbeiterschutz und Unfälle ...... 492 4. Alltagswelt...... 495 4.1 Wohnverhältnisse der Porzelliner ...... 495 4.2 Baugenossenschaften und Bauvereine ...... 513 4.3 Ernährung...... 524 4.4 Freizeitverhalten der Arbeiter ...... 534

VIII. Porzelliner und Sozialdemokratie in Oberfranken...... 551 1. Entstehung sozialdemokratischer Organisationen im BA Rehau...... 555 2. Die SPD bei Reichstags- und Kommunalwahlen ...... 560 3. Kommunalwahlen am Beispiel Selb ...... 562 4. Die Arbeiterschaft im Ersten Weltkrieg...... 568 4.1 1914 – 1916: Krise der Porzellanindustrie und Verschlechterung der materiellen Lage der Porzellanarbeiter ...... 568 4.2 1916 - 1918: Langsamer Aufschwung der Porzellanindustrie und soziale Proteste der Porzellanarbeiter...... 571 4.3 Das BA Rehau als Zentrum der USPD und die wachsende Radikalisierung der Arbeiterschaft ...... 575 5. Die Arbeiterschaft und ihre Parteien 1918 – 1923...... 577

IX. Arbeiterbewegung: Geschichte der Gewerkschaften...... 584 1. Der Gewerkverein der Porzellan- und verwandten Arbeiter...... 586 2. Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter...... 589 3. Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter...... 601 4. Gewerkschaftsbewegung bei den oberfränkischen und oberpfälzischen Porzellinern...... 608

X. Zusammenfassung und Ausblick...... 641

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VERZEICHNIS DER TABELLEN UND ABBILDUNGEN

TABELLEN 1 Industrieproduktion in Deutschland 1851-1914...... 14 2 Entwicklung des Fernmeldewesens...... 15 3 Bevölkerungsentwicklung ...... 16 4 Industrialisierungsgrad 1907 ...... 18 5 PF im Bezirksgremium Wunsiedel 1890...... 53 6 Entwicklung der oberfränkischen Porzellanindustrie ...... 53 7 Porzellanproduktion Thüringen – Deutsches Reich 1882...... 59 8 Beschäftigte in der feinkeramischen Industrie Thüringens 192...... 60 9 Die wichtigsten Standorte der Produktion von Elektro- und Chemisch-Technischem Porzellan in Thüringen 1926...... 61 10 Patentanmeldungen im Bereich E-Technik 1894 – 1900...... 70 11 Entwicklung des jährlichen spezifischen Stromverbrauchs...... 83 12 Stand der Elektrifizierung in Deutschland 1885 ...... 94 13 Motorleistung der Berliner Elektrizitätswerke 1914...... 96 14 Prozeßfolge bei der Herstellung...... 102 15 Anwendungen der Keramik...... 105 16 Klassifizierung der Technischen Keramik...... 106 17 Kaolinproduktion in Bayern ...... 107 18 Fertigungsschema für keramische Werkstücke ...... 108 19 Keramische Formgebung und Oberflächentechnik...... 110 20 Einsatzbereiche und Werkstoffe der Biokeramik ...... 121 21 Historische Entwicklung der Technischen Keramik ...... 133 22 Übersicht über die Anteile der beteiligten Werke am Konventionsumsatz ...... 144 23 Die Entwicklung der Telegraphenanlagen in Bayern und Württemberg...... 184 24 Die Entwicklung der Fernsprechanlagen in Bayern und Württemberg .....184 25 Die Entwicklung der Telegraphenanlagen im Reichspostgebiet...... 185 26 Die Entwicklung der Fernsprechanlagen im Reichspostgebiet...... 186 27 Lieferungen von Isolatoren durch die Fa. Gebr. Hannemann & Co...... 187 28 Entwicklung der Isolatoren 1858 – 1936 ...... 192 29 Keramische Werkstoffe der Hochfrequenztechnik...... 209 30 Entwicklung des Tunnelofenbrandes in der feinkeramischen Industrie....229 31 Brennöfen und Maschinen in der deutschen Keramikindustrie 1875 ...... 235 32 Zahl der keramischen Betriebe...... 237 33 Zahl der Arbeitskräfte...... 238 34 Anteil der Bevölkerung an der Porzellan- und Steingutbranche 1895...... 239 35 Zahl der Porzellanfabriken und der Beschäftigten...... 241 36 Porzellanherstellung und –veredlung 1921 ...... 241 37 Porzellanfabriken nach Betriebsgrößen...... 242 38 Produktionsmenge und –wert der TK 1913 und 1925 – 1928 ...... 244 39 Produktion und Produktionssteigerung in zwei TK produzierenden Betrieben...... 250 40 Betriebsgröße und Zahl der beschäftigten Personen 1907 und 1925 ...... 255 41 Porzellanproduktion der Konzerne 1928...... 257 42 Kaolingruben in Deutschland 1882...... 270 43 Kaolinimport und –export Deutschlands ...... 271

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44 Tarifliche Gehaltssätze für Angestellte in der Porzellanindustrie Bayerns in RM pro Monat (Stand April 1928...... 280 45 Frauenarbeit in der thüringischen Porzellanindustrie ...... 281 46 Prozentanteil der Arbeitskräfte in der Porzellanindustrie 1894 und 1899 ...... 284 47 Gliederung der Arbeiterschaft nach der Stellung im Beruf I (1925...... 286 48 Gliederung der Arbeiterschaft nach der Stellung im Beruf II (1927...... 287 49 Einteilung der Arbeiter auf die Produktionsbereiche...... 293 50 Vergleich der Wochenverdienste 1895 und 1906 ...... 299 51 Regionale und lokale Lohnunterschiede 1906...... 299 52 Arbeitslosigkeit im Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter 1903 – 1909...... 301 53 Entwicklung der Akkordbasen in der feinkeramischen Industrie 1925-1929...... 303 54 Entwicklung der Zeitlöhne in der feinkeramischen Industrie 1925-1929...... 303 55 Durchschnittstagelohn in Selb 1913, 1918 und 1919...... 304 56 Durchschnittliche Stundenverdienste der Porzelliner 1929...... 306 57 Vergleich der effektiven Stundenlöhne 1914 – 1928 ...... 307 58 Entwicklung der Arbeitszeitabkommen 1920 – 1929...... 309 59 Arbeitskämpfe in der Porzellanindustrie 1899 – 1907...... 311 60 Organisationsgrad in der feinkeramischen Industrie 1927/28...... 316 61 Produktion und Verbrauch von Elektroporzellan 1925 – 1928 ...... 319 62 Absatz von Hochspannungsporzellan 1924 – 1930...... 321 63 Entwicklung der Dividenden 1888 – 1913...... 323 64 Export von chemisch-technischem Porzellan 1925 – 1928...... 334 65 Export von Elektroporzellan 1913 und 1925 – 1928 ...... 335 66 Bedeutung der Absatzmärkte für die Elektro- und Elektroporzellanindustrie ...... 337 67 Absatzmärkte der Elektro- und Elektroporzellanindustrie im Vergleich...337 68 Unternehmensformen in der Porzellanindustrie 1882 und 1925...... 339 69 Gründungen von Aktiengesellschaften in der Porzellanindustrie ...... 340 70 Kapitalaufstellung von 26 Aktiengesellschaften 1907...... 340 71 Beschäftigte und Ofentypen im Rosenthal-Konzern...... 354 72 Investitionen in den Werken der PF Kloster Veilsdorf 1890-1933...... 361 73 Beschäftigte der PF Neuhaus 1917...... 365 74 Isolatorenlieferungen an die staatliche Telegraphenverwaltung 1879 – 1897...... 375 75 Stundenlöhne jugendl. Hilfsarbeiterinnen Oberfranken und Oberpfalz 1917...... 403 76 Vergleich Krankenkassen ...... 431 77 Entwicklung der Beiträge und des Krankengeldes bei Fabrikkrankenkassen...... 432 78 Mitgliedsbeiträge, Kranken- und Sterbegelder der "Vereinigten" 1910...... 451 79 Beiträge und Leistungen der Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins...... 453 80 Übersicht über die Tätigkeit der Kranken- und Begräbniskasse 1877-1888...... 454 81 Mitgliederbestand örtlicher Verwaltungsstellen der Hilfskasse 1888...... 455 82 Spar- und Konsumgenossenschaft Marktredwitz 1900 bis 1927/28...... 460 83 Mitglieder- und Umsatzentwicklung , Spareinlagen des Konsumvereins Selb ...... 460

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84 Morbidität der Porzelliner der KPM...... 484 85 Vergleich der an TBC erkrankten Porzelliner mit der übrigen Bevölkerung...... 484 86 Morbidität im Selber Bezirk 1892-1907...... 488 87 Mortalität im Selber Bezirk 1898-1907 ...... 489 88 Wohnungsverhältnisse von Porzellanarbeitern in Selb 1914...... 496 89 Bevölkerungswachstum und Porzellanarbeiter in Oberfranken – Konjunkturverlauf in der Porzellanindustrie 1860 bis 1920 ...... 498 90 Bevölkerungsentwicklung im BA Rehau und in Selb 1896-1925...... 498 91 Mieten, Wohnraum und Wohnbevölkerung in Rehau und Schönwald 1918...... 503 92 Jahresmieten im Vergleich ...... 506 93 Porzellinerbetriebswohnungen in Oberfranken/Oberpfalz...... 510 94 Baugenossenschaften und -vereine in den Bezirksämtern Wunsiedel und Rehau...... 517 95 Geschäftstätigkeit der Allgemeinen Baugenossenschaft Marktredwitz....519 96 Bautätigkeit der Marktredwitzer Baugenossenschaften...... 521 97 Ausstattung der genossenschaftlichen Wohnungen ...... 523 98 Nahrungsmittelbudget einer Nürnberger und Selber Arbeiterfamilie...... 526 99 Jahresdurchschnittspreise von Grundnahrungsmitteln in Hof 1913...... 528 100 Höchstpreise in Selb sowie in den BÄ Rehau und Wunsiedel 1916...... 529 101 Tagelöhne und Lebensmittelpreise in der Oberpfalz 1884-1914 ...... 533 102 Arbeitervereine in BÄ Rehau und Wunsiedel bis 1920 ...... 537 103 Sozialdemokratisches Wählerpotential, Gewerkschafts- und Parteimitglieder...... 560 104 Beschäftigte in 6 Selber Porzellanfabriken 1913, 1916 und 1918...... 568 105 Durchschnittliche Stundenlöhne der PF Rosenthal 1914 – 1918 ...... 570 106 Mitgliederentwicklung Gewerkverein der deutschen Porzellan- und verwandten Arbeiter ...... 589 107 Ausgabenentwicklung des Porzellanarbeiterverbandes 1898 – 1914...... 593 108 Mitgliederentwicklung Porzellanarbeiterverband ...... 600 109 Ausgabenentwicklung Verband christlicher Keramarbeiter...... 602 110 Mitgliederentwicklung Verband christlicher Keramarbeiter...... 608 111 Übersicht über Versammlungen der Porzellanarbeiter in der Oberpfalz 1880 – 1912...... 635

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ABBILDUNGEN

1 Porzellanindustrie und Eisenbahnbau im Fichtelgebirge ...... 27 2 Kaolinschlämmerei ...... 55 3 Nernst-Lampe und Tantallampe ...... 74 4 Umfassendes Versorgungssystem Berlin 1930 ...... 97 5 „Stammbaum“ Deutsche Ton- und Steinzeugwerke ...... 147 6 Schlangenfabrikation 1909...... 149 7 Besatz eines Brennofens mit weißem Steinzeug 1909...... 150 8 Wannen für die Anatomie der Universität München; ca. 1930...... 151 9 Säurespeicheranlage, um 1930 ...... 154 10 Musterkoffer mit Speckstein-Gasbrennern der Fa. Helios ...... 162 11 Specksteinbrenner der Fa. Helios...... 163-165 12 Fertigung der Specksteinbrenner und Hülsen ...... 166-167 13 Entwicklung der Telegraphenisolatoren...... 181-182 14 Delta-Glocke...... 189 15 Kondensatordurchführung aus DTS-Sillimanit mit ölgefülltem Gehäuse für die Siemens-Schuckert-Werke...... 194 16 Maschinen und Formgebungsverfahren in der Isolatorenproduktion...... 207 17 Keramische Bauteile in der HF-Technik...... 210 18 Zusatzerfindungen ...... 236 19 Standortverteilung der keramischen Industrie 1925 nach der Zahl der Arbeiter ...... 245 20 Aufbau des Strupp-Konzerns...... 260 21 Aufbau Arnhold-Konzern...... 264 22 Aufbau Rosenthal-Konzern...... 266 23 Zentralzüge und Zugpendel für Elektroleuchten ...... 369 24 Firmenwerbung der PF Schomburg 1843 bis 1900...... 376 25 Lohnauszahlung 1911...... 391 26 Arbeitsordnung der PF Ph. Rosenthal von 1911...... 395-398 27 Kgl.-bayerischer Fabriken-Inspector mit Zweispitz und Degen...... 425 28 Die ersten Arbeiterwohnhäuser aus dem Jahre 1884...... 434 29 Planskizze für Arbeiterwohnhaus Selb, Längenauerstraße von 1900...... 436 30 Arbeiterfrauen bringen ihren Männern das Mittagessen ans Fabriktor...... 443 31 Aufruf zur Generalversammlung des Konsumvereins Marktredwitz...... 459 32 Anzeige der Fachschule für Porzellanindustrie ...... 476 33 Todesursache "Porzellinerkrankheit"...... 492 34 Anzeigenteil SNN vom 16.1.1920 ...... 535 35 Proklamationen zum 1. Mai ...... 554 36 Versammlung am 10.11.1918 zur Bildung eines Arbeiterrates in Selb ...... 579 37 Flugblatt des Porzellanarbeiterverbandes zur Aussperrung in der PF Burggrub...... 614 38 Bekanntmachung des Stadtmagistrats Selb bzgl. der Aussperrung ...... 624 39 Versammlungsaufruf anläßlich der Aussperrung in der Porzellanindustrie...... 625 40 Flugblatt für den Werkverein der PF Bauscher...... 640

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

AB Anlagenband a.d.E. an der Eger ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund A.E.G. Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen AK Arbeitskräfte A.K. Armeekommando APM-DDR Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin BA Bezirksamt BBC Brown, Boveri & Cie. BS(Kgr)B Beiträge zur Statistik (des Königreichs) Bayern(s) cfi ceramic forum international / Berichte der DKG DKG Deutsche Keramische Gesellschaft D.R.P. Deutsches Reichspatent ETZ Elektrotechnische Zeitschrift F & E Forschung und Entwicklung FF Feuerfest FN Fußnote FT Fränkische Tagespost FV Fränkische Volkstribüne GGM Königliche Gesundheitsgeschirr-Manufaktur HESCHO Hermsdorf-Schomburg-Isolatoren GmbH HF Hochfrequenz HMB Halbmonatsbericht HSTA Hauptstaatsarchiv JFI Jahresberichte der kgl.-bayerischen Fabriken- und Gewerbeinspektoren JFT Jahresberichte über die Fortschritte der chemischen Technologie Jhdt. Jahrhundert JHO Jahresberichte der Handelskammer für Oberfranken KA Kriegsamt KPM Königliche Porzellan-Manufaktur M Mark

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MEW Marx-Engels-Werke MKr Ministerium des Krieges Opf. Oberpfalz OK Oberpfälzer Kurier OPD Oberpostdirektion OVZ Oberfränkische Volkszeitung PF Porzellanfabrik/en PIZ Patentinformationszentrum Nürnberg RGO Reichsgewerbeordnung RM Reichsmark S.A. Sachsen-Altenburg S.C. Sachsen-Coburg S.M. Sachsen-Meiningen SNN Sechsämter Neueste Nachrichten StA Stadtarchiv STA Staatsarchiv STB Selber Tagblatt TK Technische Keramik V.D.E.P. Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken V.E.G. Vereinigte Elektrizitäts-Großfirmen V.H.I.W. Vereinigte Hochspannungs-Isolatoren-Werke G.m.b.H. WB Wochenbericht W.V.E. Wirtschaftsverband der Elektrizitätswerke Z(Kgl)BStLA Zeitschrift des (Königlich) Bayerischen Statistischen Landesamtes

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GLOSSAR

Apparateporzellan Isolierkörper, die für elektrische Apparate verwendet werden; meist Großkörper

Arkanum (lat. Areanum=Geheimnis). Rezeptur für Masse- und Glasurversätze sowie für Herstellungsbedingungen, die geheimgehalten wurde

Aufbereitung Behandlung von natürlichen und synthetischen Rohstoffen oder Rohstoffgemischen vor ihrer Weiterverarbeitung bei der Formgebung

Baukeramik Sammelbegriff für grobkeramische Erzeugnisse, die beim Bauen Verwendung finden (Mauer- und Dachziegel, Verblender, Kanalisations- und Drainagerohre) und für Wand- und Bodenplatten

Brennen Erhitzen der getrockneten keramischen Erzeugnisse, so daß die endgültige Festigkeit erreicht wird Sintern

Brennhilfsmittel Feuerfestes Material, mit dessen Hilfe die Produkte im Brennofen gestapelt und vor direkter Rauchgaseinwirkung geschützt werden

Cermet (engl. ceramic metals) Mischungen von Metallen mit keramischen Phasen, z.B. Mo-Al2O3 für hohe mechanische Festigkeit.

Dekor Sammelbegriff für die Oberflächengestaltung keramischer Waren

Dekorbrand Muffelbrand

Drehen Formen rotationssymmetrischer Gegenstände aus plastischer Masse

Durchführung Isolator einer Anlage, die elektrische Spannungen isoliert durch z.B. ein Trafo- Gehäuse hinduchführt

Durchschlagsfestigkeit Festigkeit eines Porzellans gegen elektrische Entladungen

Elektrokeramik Sammelbegriff für Keramiken, die aufgrund ihrer besonderen elektrischen Eigenschaften Verwendung finden (Isoliermaterial, Dielektrika, Magnetwerkstoffe, Halbleiter)

Elektrolyt Stoff, bei dessen Auflösung Ionen entstehen, durch die Wasser leitend wird

Engobe (Anguß, Beguß) Dünner Überzug aus fein geschlämmtem Ton, der die Oberfläche eines unebenen Scherbens abdeckt. Engoben können mit Metalloxidzusätzen beliebig gefärbt werden

Fayence (Majolika) Keramik mit porösem farbigem Scherben unter weißer deckender Zinnglasur

Feinkeramik Keramiken, deren Scherben als homogen erscheint

Feldpat Oberbegriff einer Gruppe von Silicaten . Feldpate gehören zu den häufig vorkommenden gesteinsbildenden Mineralen

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Feuerfeste Erzeugnisse Bei hohen Temperaturen (mindestens bis 1500°C) beständige keramische Massen und Produkte, die vorwiegend als Baustoff, Mörtel und Brennhilfsmittel Verwendung finden

Flußmittel Zusätze zur Masse, welche die Sinter- oder Schmelztemperatur herabsetzen

Formgebung Fertigungsabschnitt bei der Keramikherstellung, in dem das Produkt seine Gestalt erhält

Freleitungsisolatoren Sammelbegriff für verschiedenen Isolatortypen, die unter atmosphärischen Bedingungen eingesetzt werden

Fritte Glasartiges ungeformtes Produkt aus erhitzten Rohstoffgemischen. Wasserlösliche Salze können auf diese Weise in unlösliche Produkte übergeführt werden (z.B. für Glasurmassen, deren Bestandteile nicht in den Scherben eindringen sollen)

Garbrand Glattbrand

Gießharzfertigung Herstellung von Isolatoren aus Gießharz

Gießen Keramisches Formgebungsverfahren, bei dem der wäßrige Rohstoffbrei in eine saugfähige Gipsform gegossen wird

Glasur Glasartiger Überzug auf keramischen Scherben. Die Glasur glättet die Oberfläche, dient als Dekor und dichtet den porösen Scherben ab

Glasurbrand Brand, bei dem die Glasur auf den Scherben aufgeschmolzen wird

Glattbrand (Glutbrand, Garbrand, Scharffeuerbrand) Zweiter Brand, der dem Scherben seine endgültigen Eigenschaften verleiht

Grobkeramik Keramik, deren Scherben Inhomogenitäten erkennen läßt

Hafnerware Irdenware

Irdengut Irdenware

Irdenware (Irdengut, Tonwaren, Töpferware, Hafnerware) Keramik mit farbigem porösem Scherben. Kann mit Engoben, Bleiglasur oder Zinnglasur ( Fayence) überzogen sein

Isostatische Fertigung Die aufgemahlene Masse wird zu einem Granulat versprüht, das in einer Hochfrequenzpresse zu einem Preßling verarbeitet wird

Kaolin Keramischer Rohstoff mit hohem Tonanteil, der aus verwittertem feldspathaltigem Gestein entstanden ist

Kaolinit Zweischicht-Tonmineral, Hauptbestandteil des Kaolins. Beim Brennen zerfällt Kaolin unter Wasserabgabe oberhalb 500°C zu Metakaolin

Kappenisolator Durchschlagbarer Hängeisolator; die einzelnen Isolatoren sind mittels Klöppel beweglich miteinander verbunden

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Kapsel Früher aus Schamotte, heute aus Siliciumkarbid hergestellte feuerfeste Behältnisse zur Aufnahme des Brenngutes, das vor Feuerungsgasen und Flugasche geschützt werden soll

Kollergang Dient der Zerkleinerung mittelgroßer Feststoffe: Zwei waagerecht um eine senkrechte Drehachse angeordnete Walzen zerdrücken auf einer festen Unterlage das Mahlgut

Korund Kristalline Form von Aluminiumoxid

Laborporzellan Chemisch resistentes Gießporzellan für Artikel der chemischen Labors

Langstabisolator Durchschlagsicherer Freileitungsisolator, dessen Einspannenden mittels Portlandzement, Schwefelzement oder Blei mit den metallischen Armaturen verbunden sind

Magerungsmittel Unplastische Zuschlagstoffe, die zu starkes Schwinden verhindern

Majolika Fayence

Masse Gemisch von Rohstoffen und Zusätzen

Metakaolin Zustand des Kaolinits im Temperaturbereich 500-800°C nach der Wasserabgabe

Muffelbrand (Dekorbrand) Brand, bei dem im Temperaturbereich 500-850°C die Dekorfarben eingebrannt werden

Mullit Aluminiumsilicat, das beim Brennen von Keramiken entsteht

Ofenatmosphäre Zusammensetzung der Brenngase im Ofen ( Oxidations-, Reduktionsbrand)

Oxidationsbrand Brand in sauerstoffreicher Atmosphäre, der meist Weiß-, Gelb- oder Rottöne des Scherbens ergibt

Oxidkeramik Reine Oxide werden keramisch verarbeitet und gesintert, z.B. Al2O3, MgO, ZrO2

Plastizität (Bildsamkeit) Ermöglicht die bleibende Verformung einer Masse ohne Rißbildung

Porosität Der Anteil der Poren im keramischen Scherben, der abhängig von der Wasseraufnahmefähigkeit ist

Porzellan Keramik mit dichtem, weißem, durchscheinendem Scherben

Pyrolan Ein mit Al2O3 stark angereichertes Porzellan, das für hohe Temperaturen eingesetzt wird

Quarz Kristalline Form des Siliciumdioxids

Reduktionsbrand Brennen in sauerstoffarmer Atmosphäre, der meist Braun-, Grau- oder Schwarztöne des Scherbens ergibt

Ringkammerofen Kontinuierlich arbeitender ringförmiger angeordneter Brennofen mit wandernder Brennzonen (heute bei der Produktion von TK nicht mehr eingesetzt)

Rohbrand Schrühbrand

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Rundofen Diskontinuierlich arbeitender Brennofen mit rundem Querschnitt und zwei Etagen

Sanitärkeramik Keramische Produkte für sanitäre Zwecke (Waschbecken, Klosetts)

Schamotte Vorgebrannter feuerfester Ton ohne Schwindung

Scharffeuerbrand Glattbrand

Scherben Bezeichnung für den gebrannten keramischen Körper

Schlämmen Trennen von groben und feinen Teilchen nach Größe und Dichte mittels Aufrühren in Wasser

Schlicker Gießmasse: Die aus der Filterpresse gewonnenen Massekuchen werden zerkleinert, mit Wasser aufgeschlämmt und mit einem Alkalizusatz versehen, so daß ein zähflüssiger Brei entsteht

Schmelzofen Ofen für das Einbrennen der Glasur

Schneidkeramik Schneidplättchen aus Oxid- oder Mischkeramik für die Bearbeitung von Metallen

Schrühbrand (Verglühbrand, Rohbrand, Biskuitbrand) Dieser erste Brand im Temperaturbereich 800-1250°C dient der Verfestigung der Keramik vor ihrer Weiterverarbeitung

Schwindung Volumenverringerung des Körpers beim Trocknen und Brennen; bedingt durch Wasserabgabe und Verringerung der Porosität

Segerkegel Von SEGER eingeführte pyramidenförmige Schmelzkörper zur Kontrolle des Brennvorgangs

Silicate Verbindungen von Siliciumdioxid (SiO2) mit Metalloxiden

Sintern Bei hohen Temperaturen wachsen die Festkörperteilchen an den Korngrenzen zusammen und verfestigen sich dadurch

Sprühtrocknung Masseschlicker wird in heiße trockene Luft gesprüht. Diese entzieht das Wasser, wodurch man ein rieselfähiges Pulver oder Granulat erhält

Steatit Keramischer Werkstoff auf der Basis von Magnesiumsilicat mit hoher mechanischer Festigkeit und guten elektrischen Isoliereigenschaften

Steingut Keramik mit porösem weißem Scherben und durchsichtiger Glasur

Steinzeug Keramik mit dichtem farbigem Scherben

Stoßspannung Zur Prüfung eines Isolators wird eine blitzähnliche Spannung erzeugt

Strangpressen (Extrudieren) Ein endloser Massestrang wird durch ein Mundstück gepreßt und in gewünschter Länge abgeschnitten. Das Querschnittprofil der Formkörper ist abhängig von der Form des Mundstücks

Stützer Tragisolator mit hoher mechanischer Beanspruchung, z.B. in Schaltern und Trennern

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Töpferware Irdenware

Ton Natürlicher keramischer Rohstoff aus verwittertem feldspathaltigem Gestein

Tonerde Al2O3 als keramischer synthetischer Rohstoff

Tonschlicker Wäßrige Aufschlämmung von Ton

Tonware Irdenware

Trenner Elektrischer Schalter für hohe Spannungen

Trockenpressen Preßverfahren für Massen mit geringem Wassergehalt oder für unplastische Massen. Durch hohen Preßdruck wird die ungebrannte Keramik verfestigt

Trocknung Durch den Trocknungsprozeß wird dem geformten Körper das physikalisch gebundene Wasser entzogen

Tunnelofen Kontinuierlich arbeitender Brennofen in Form eines Tunnels

Überschlagsfestigkeit. elektrische Bei genügender großer Spannung schlägt ein Isolator außen am Schirm über; der Überschlagswert ist für seine Festigkeit maßgeblich

Verschleißelemente Keramische Produkte in der Textilfertigung, z.B. Fadenleitelemente

Weißbearbeitung Ein getrockneter Rohling wird mittels eines Drehmeißels bearbeitet und als Isolator geformt

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LITERATURVERZEICHNIS Quellen und Literatur

A. Quellen

I. Ungedruckte Quellen

Stadtarchiv Arzberg

- Act. No. 11: Die Beschichtung jugendlicher Arbeiter in der Porzellan Fabrik des F. Bauer dahier; nun Carl Auvera 1879. - Act. No. 19: Die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in der Porzellan-Fabrik der Firma Schumann & Rieß 1888. - Act. No. 33: Die dahier anberaumte Versammlung von Fabrikarbeitern in spec. Porzellaneindreher 1869. - Act. No. 34: Die Bildung eines Localvereins der internationalen Gewerksgenossenschaft der Manufactur-, Hand- und Fabrikarbeiter 1870. - Act. No. 43: Gründung eines Ortsgewerkvereins der Porzellan-, Glas- und verwandten Arbeiter 1889. - Mappe : Betr. den Vollzug des Reichsgesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokraten 1878. - Protokollbuch Gesangverein der Fa. Theodor Lehmann (neu: Porzellanfabrik Schönwald, Abt. Arzberg), 1901-1914 u. 1926-1929.

Stadtarchiv Mitterteich

- Akt 2292 Wohlfahrtseinrichtungen, Arbeitervereinigungen. - Akt 2385 Statuten 1886-1906 - Akt 2774 Arbeiter - Ernährungsverhältnisse der Arbeiter in der Oberpfalz - Akt 2968 Streik - Nachweisung über einen Streik - Gemeinderat: Fragen an Porzellanfabrik Mitterteich wg. Streik - Nachweisung über eine Aussperrung (Formblatt)

Stadtarchiv Waldsassen

Listen der jugendlichen Arbeiter der Firma Bareuther & Co. von 1886 und 1887. Akt EAPI 520 Nr.1 Turnverein Waldsassen. Akt EAPI 680 Nr.2 Porzellanfabrik Bareuther. - Akt EAPI 824 Nr.3 Fabrik-Ordnung der Porzellan-Manufaktur Waldsassen von 1887.

Stadtarchiv Weiden

- Akt A III Nr. 436 Betriebskrankenkasse Porzellanfabrik Chr. Seltmann 1911. Nr. 803 Porzellanfabrik Bauscher Nr. 808 Porzellanfabrik Bauscher: Soziale Fragen 1923.

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Stadtarchiv Wunsiedel

Schreiben des J. von Schwarz an Lauboek & Hilpert über den Verkauf der Firma vom 4. Mai 1904. - Verzeichnis der im Gemeindebezirk der Stadt Wunsiedel befindlichen Fabriken, sowie aller sonstigen Betriebe und Werkstätten, in denen durch elementare Kraft bewegte Triebwerke nicht bloß vorübergehend zu Anwendung kommen von 1893. - Listen der in Wunsiedel beschäftigten jugendlichen Arbeiter vom 11. März 1886 und vom 9. Juni 1886. - Akt XXIX/534 Lauboeck & Hilpert.

Stadtarchiv Selb

- Akt 026.21–23 Wochenberichte 1916-1920. - Akt 53.I.00 (Baupolizei Selb) Einrichtung von Arbeiterwohnhäusern durch die Hutschenreuther`sche Stiftung Selb. 1900. - Akt 132.1/1 Erlaubnisscheine für Tanzvergnügen 1864-1885. - Akt 134.1/1 Aufstellung der Vereine von 1873. - Akt 410.8/10 Ernährungsausschuß 1918/1920. - Akt 452.2/4 Errichtung einer Allgemeinen Ortskrankenkasse 1913. - Akt 452.2/5 Vereinigung AOK – Freie eingeschriebene Hilfskasse 1913. - Akt 452.3/4 Eingeschriebene Hilfskasse Porzellanmaler 1884/1914. - Akt 452.3/7 Betriebskrankenkasse Ph. Rosenthal 1891/1911. - Akt 660/6 Gemeinnütziger Bauverein Selb 1909/1928. - Akt 660/7 Erbauung von Arbeiterwohnungen durch Industrielle 1913/1920. - Akt 672/1 Heimgärten 1900-1941. - Akt 663.2/1 Bau von Wohnungen durch Gemeinnützigen Bauverein 1912/1921. - Akt 680/1-8 Wohnungsmangel 1890–1920. - Akt 810.1/3 Streik und Aussperrungen in den gewerblichen Betrieben 1907/1948. - Akt 810.1/11 Vollzug der Gewerbeordnung; hier Arbeitsordnungen für Betriebe 1920/1934. - Akt 810.4/2 Statistik der Streiks und Aussperrungen 1920. - Akt 811.6/5 Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in der Lorenz Hutschenreuther`schen Fabrik 1881/1909. - Akt 811.6/14 Jugendliche Arbeiter in der Porzellanfabrik Paul Müller 1891/1901. - Akt 811.6/17 Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in der Porzellanfabrik Ph. Rosenthal 1890/1918. - Akt 812/1-2 Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte 1918/20.

Stadtarchiv Lauf

- Akt HGI/1135 Jubiläumsschrift Fa. Sembach & Co. KG 1954.

Stadtarchiv Kemnath

MEIER, L. 1986: Informationen zu Fa. Helios. Ms. Verkaufsprospekte Fa. Helios - Übersicht Gasbrennerfertigung

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Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar

Porzellanfabrik Kahla Bdl. 71 - B385; Bdl. 315 - B14; Bdl. 317 - B2, - B21, - B22; - Hescho 033, 136, 147, 148, 153, 533, 849.

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München

Abteilung I Allgemeines Staatsarchiv Akt MH 15950 Lage der bayerischen Spiegelglasindustriearbeiter und der Porzellanindustriearbeiter 1914-1918. Akt MF 57075. Akt ASR 11.

Abteilung IV Kriegsarchiv Bestand Stellvertretendes Generalkommando III. A. K. (Kriegsamtsstelle Nürnberg), Bünde 15/6, 15a/7, 72, 97, 98, 127, 362. Bestand Kriegsministerium, Akt MKr 14262 (Porzellanfabriken 1913-1916); Akt MKr 14164 (Porzellanfabriken 1916-1919 u. Demobilmachung); Akt MKr 17306 (Porzellanfabriken, Lohnlisten); Akt MKr 17314 (Einzelne Porzellanfabriken).

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Außenstelle Bautzen

- HLA 2925, 4021, 4027, 7563, 7569 Arbeiterbewegung in Großdubrau 1900 – 1912.

Staatsarchiv Bamberg

- K3 / 1967 1220 Regelungen der Arbeitsverhältnisse 1918-1931. 2151 Wochenberichte. Arbeiterunruhen bei Hof 1891-1918. 4842 Gemeingefährliche Bestrebungen der Sozialdemokratie. 4844 Die USPD in Oberfranken (Stand1918). 4863 Die allgemeine Volksstimmung 1864-1931. Wohnungswesen. 5587 Förderung des Kleinwohnungsbaues Selb. 5603 Gemeinnütziger Bauverein Selb. 5615 Gemeinnütziger Wohnungsverein Selb. Förderung des Kleinwohnungsbaues. Baugenossenschaft für Rehau und Umgebung. Bauverein Hohenberg 1919-1925. - K3 / 1971 9250 Fachschule für Porzellan. - K3 / F Ib 2170 Verband Keramischer Gewerke in Deutschland 1872-1885. 2142 Arbeiter-Versammlungen 1875-1891. - K3 / H 93 Regierung von Oberfranken; Statistik 1875-1909. - K3 / F VIa 110 Arbeiterverhältnisse 1875-1876. 114 Hausindustrie 119 Fabriken- und Gewerbe-Inspektion 1884-1911. 121 Lehrlingswesen; 163 Konsumvereine 1917-1930; 195 Arbeiterschutz.

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- K3 / Präs. Reg. 1818 - 1887 (Wochen- und Halbmonatsberichte). 1892a Arbeitervereine in Bayern 1898-1932. 1893 Revolutionäre Arbeiterbewegung 1897-1918. 1955 Politische Verhältnisse in der Hof-, Selb, Marktredwitzer-Ecke. - K18/ 1 1543 Sozialdemokratische Bewegung 1878-1921. 1549 Politische Vereine 1857-1925. 1555 Aussperrungen in Porzellanfabriken 1912-1913. 1559 Streikbewegungen 1897-1931. 1720 Arbeitsordnungen 1892-1918. 1725 Arbeiterschutz 1914-1922. 1808 Übersichten der Kranken- und Hilfskassen 1886-1914. 1810 Hilfskasse der Porzellanmaler von Selb und Erkersreuth 1906-1914. 1811 Eingeschriebene Hilfskasse der Porzellanmaler von Selb und Erkersreuth 1906-1914. 1816 Gründung von Spar- und Unterstützungsvereinen 1864-1903. 3832 Unterstützungskasse B: Fabrikpersonal Hutschenreuther Hohenberg 1885-1948. 3833 Unterstützungskasse A: Dreher und Malerpersonal Hutschenreuther Hohenberg 1873-1943. - K 18, X 82 Kostkinder. 89 Errichtung von Turnvereinen 127 u. 128 BA Rehau 128 / 2a BA Rehau: Statistik über Streiks und Aussperrungen. - K 18, XI 131 Kleinwohnungsbau - K 18, XII 117 Hilfskassen der Porzellanmaler. 122 Vorschuß- und Sparkassenverein Hutschenreuther, 1863. 123 Gründung von Spar- und Unterstützungsvereinen. - K 22, XX 813 Dampfkessel in der PF Winterling, Marktleuthen, 1897. - K 22, XIII 426 Erhebungen über Hilfskassen. - K 22, XVIII 1331 Arbeitseinstellungen und Aussperrungen 1898-1952. 1618 Beschäftigung von Frauen in Fabriken 1899-1937.

Staatsarchiv Nürnberg

- Gewerbeaufsicht Rep. 270 III, KdJ, Nr.1794.

Staatsarchiv Amberg

- Reg. d. Opf., 5452 Die Fabriken- und Gewerbeinspektion 1911-1916. Abg. 1949 13755 Porzellanindustrie. 13883 Arbeiterbewegung. 13933 Allg. Volksstimmung u. Anzeigen wichtiger Vorgänge 1890-1891. 13940 Streiks und Aussperrungen. 13748, 14122, 14202. - Reg d. Opf. 14423/V Protokoll der Fabrikinspektoren-Jahreskonferenz v. 1896. Protokoll der Fabrikinspektoren-Jahreskonferenz v. 1909. Protokoll der Fabrikinspektoren-Jahreskonferenz v. 1910. 9710 Streiknachweise - BA Vohenstrauß 1296 Wohnungsverhältnisse in Pleystein. - BA Neustadt 2402 Die sozialistische Bewegung - Maifeier. 1890-1929.

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Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin

- IV 7370 Statistik über Lohn- und Arbeits-Verhältnisse der deutschen Porzellan- Arbeiter 1894-1895. - P II 778 Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen: Protokolle der Generalversammlungen 1896-1925. - P II 1563/ Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter: Kurze Geschichte und Entwicklung des Verbandes sowie Geschäftsbericht des Vorstandes. 1912. - P II 1563/ Der Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter Deutschlands in 1912-1913 den Jahren 1912 und 1913.

Rosenthal-Archiv Selb

- Fabrikbuch Selb-Plössberg 1913 - 1918 - 1934 - Manuskript: Rosenthalchronik von 1960 - Protokollbuch des Dreher Personals der Firma Ph. Rosenthal & Comp. Selb 1904-1914. - Jubiläumsschrift zum 25jährigen Betriebsjubiläum, 1905. - Lehrvertrag Nicol Gogler, 1881. - Lehrvertrag Walter Löffler, 1922

Hutschenreuther-Archiv Selb

- Protokollbuch des Arbeitsausschusses der Porzellanfabrik C.M. Hutschenreuther Hohenberg, 1892-1914. - Schätzungen 1902. - Strafenbuch der PF C. M. Hutschenreuther von 1919. - Aufnahmebedingungen der PF Lorenz Hutschenreuther für Lehrlinge, 1858. - Lehrvertrag Martin Thumser, 1907. - Lehrvertrag Nikol Kießling, 1898. Baupläne.

Archiv Förderverein „Margarethenhütte“ Großdubrau/Sachsen

- Isolatorenhandbuch „Schomburg-Isolatoren für Hochspannung“, Auszugsliste, 1923. - Geschäftsberichte, Bilanzkonten und Gewinn- und Verlustkonten von 1898/1899, 1912/1913, 1918/1919. - Gewinnentwicklung der PF Schomburg & Söhne AG von 1898 – 1944 (Zahlenmäßige und grafische Darstellung von ZELLMANN, H.J. 1992.).

Vereinsarchive Selb

- Protokollbuch des Turnvereins I 1893-1897. - Protokollbuch des Turnvereins I 1897-1904. - Protokollbuch des Malergesangvereins 1893-1907. - Protokollbuch des Malergesangvereins 1907-1924. - Revidierte Statuten des Malergesangvereins vom 26.4.1899 - Protokollbuch des Männergesangvereins Stopfersfurth 1902-1912. - Protokollbuch des Arbeitergesangvereins „Einigkeit“ Stopfersfurth 1913-1930. - Liederverzeichnis des Arbeitergesangvereins „Einigkeit“ Stopfersfurth.

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DGB-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie Bonn

- Materialsammlung des Verbandes der Fabrikarbeiter Deutschlands: Lohnbewegungen und Wirtschaftslage 1929. - AKP 507 Verband der Porzellanmaler: Protokolle der Generalversammlung 1913, 1922. - AKP 508 Kassenberichte des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen 1907-1917. - AKP 831 Geschäftsbericht des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter 1911/12. - AKP 1097 Lohn-Statistik des Verbandes der Porzellan- u. verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen für das Jahr 1906. - AKP 1224 Verband der Porzellanarbeiter: Anträge zur General-Versammlung 1913.

Archiv der IG Chemie-Papier-Keramik, Hannover

- Protokollbuch des Malerpersonals von Zeh, Scherzer & Co. zu Rehau, 1888-1908.

Siemens-Archiv München

- Statistik der Porzellan-Fabrik Neuhaus vom Oktober 1917. - Syndikats-Vertrag zwischen den Vereinigten Porzellan-Isolatoren-Werken und Siemens vom 30.12.1918.

Patentinformationszentrum Nürnberg

- Patentschrift Nr. 110961: Stützisolator für hohe Spannungen, 1898. - Patentschrift Nr. 124627: Isolatorenpresse, 1900. - Patentschrift Nr. 147021: Gießform für Isolatoren aus Porzellanmasse, 1903.

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II. Gedruckte Quellen

1. Satzungen, Statuten, Fabrikordnungen und sonstige

- Arbeitsordnung PF Hutschenreuther von 1892 (gedr. 1906, Hof). - Arbeitsordnung PF Müller, Schönwald von 1904. Hof. - Arbeitsordnung PF Schönwald von 1892 (gedr. 1904, Hof). - Arbeitsordnung PF Rosenthal von 1911 (gedr. 1912, Hof). - Arbeitsordnung PF Krautheim und Adelberg von 1911. Selb. - Denkschrift des Kgl. Bayer. Statist. Bureaus von 1906: Die Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in bayerischen Fabriken und größeren Gewerbebetrieben. München. - Ergebnisse der über die Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen und Fabrikarbeiter auf Beschluß des Bundesraths angestellten Erhebungen, zusammengestellt im Reichkanzler-Amt. Berlin. 1876. - Geschäftsbericht des Gemeinnützigen Bauvereins Selb e.V. für das Geschäftsjahr 1912. Selb. 1913. - Höchstpreisliste vom 10. September 1916 der Bayerischen Landespreisprüfungsstelle. - Reglement des Gewerkschaftskartell Selb und Umgebung von 1909. Hof. - Reglement für die Unterstützung arbeitsloser und nothleidender Mitglieder des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und anderer Arbeiter von 1886. Berlin. - Satzung des Berufsverbandes deutscher Keramarbeiter von 1920. Aschaffenburg. - Satzungen der Extra-Kranken-Unterstützungskasse a.G. des Dreherpersonals der Lorenz Hutschenreuther`schen Porzellanfabrik von 1903. Selb. - Satzungen des Katholischen-Arbeiter-Vereins Vohenstrauß von 1906. München. - Statut der Zuschuß-, Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und verwandten Arbeiter von 1885. Berlin. - Statut der Fabrik-Krankenkasse der Firma Porzellanfabrik Bareuther & Co. in Waldsassen von 1904. Waldsassen. - Statut der Freien eingeschriebenen Hilfskasse der Porzellanmaler von Selb und Erkersreuth von 1884. Hof. - Statut der Freien eingeschriebenen Hilfskasse vereinigter Porzellanarbeiter von Selb und Umgegend von 1910. Selb. - Statut der Krankenkasse für die Porzellanfabrik der Firma Gareis, Kühnl & Comp. in Waldsassen von 1900. Hof. - Statut der Unterstützungskasse der Porzellanfabrik Ph. Rosenthal von 1912. Selb. - Statuten der Krankenkassa der Firma Chr. Seltmann, Porzellanfabrik in Weiden von 1911. Weiden. - Statut des Arbeitersekretariats Hof und Umgebung von 1909. Hof. - Statut des Gemeinnützigen Bauvereins Selb e.V. von 1909. 1918. Selb. - Statut des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und anderer Arbeiter (Hirsch-Duncker) von 1886. Berlin. - Statut des Lese-Vereins Selb von 1895. Selb. - Statuten des Zentralverbandes christlicher Keramarbeiter Deutschlands von 1908. O.O. - Statuten der Begräbniskasse der Porzellanfabrik-Personale von Selb und Umgegend von 1885. Selb. - Statistische Erhebungen in der chemischen Industrie über Organisationsverhältnis, Arbeitszeit, Akkord- und Prämienarbeit im Jahre 1929. Hannover. - Jahresberichte über die Fortschritte der chemischen Technologie, Jg. 1880-1920. - Jahresberichte der Handelskammer für Oberfranken, Jg. 1880-1913. - Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern, Jg. 1880-1920.

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- Jahresberichte der kgl.-bayerischen Fabriken- und Gewerbe-Inspektoren, Jg. 1880-1922. - Das Kaolin-Regulativ von 1896. Karlsbad. - Auschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Untersuchungsausschuß) 1931: Die deutsche Porzellan- und Steingutindustrie. Bd.12, Tl.1 und Bd.13, Tl.2. Berlin.

2. Zeitungen, Zeitschriften

- Oberfränkische Volkszeitung, Jg.1899-1920. - Selber Tagblatt, Jg. 1902-1923. - Marktredwitzer Tagblatt, Jg. 1900-1927. - Sechsämter Neueste Nachrichten, Jg. 1920-1960. - Keramischer Bund, Jg. 1927-1930. - Keramische Rundschau, Jg. 1893-1925. - Sprechsaal, Jg. 1868-1925. - Thonindustrie-Zeitung, Jg. 1877-1920. - Keramos, Jg. 1922-1930. - Keram- und Steinarbeiter-Zeitung, Jg. 1908-1923. - Fränkische Volksbühne, Jg. 1910-1920. - Die Ameise. Verbandsorgan der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands, Jg. 1876-1928. - Hescho-Mitteilungen, Jg. 1922-1933. - Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen, Jg.1901. - Bote aus den sechs Ämtern, 1872-1911. - Fränkische Tagespost. - Fränkische Volkstribüne. - Oberpfälzer Kurier.

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B. Literatur

ALBERS-SCHÖNBERG, E. 1939: Hochfrequenzkeramik. Dresden/Leipzig. AUWEILER, A.H. 1929: Porzellan und anderes. In: Das Bayerland, 40.Jg., H.3, S.92-94.

BALD, A. 1991: Porzellanarbeiterschaft und punktuelle Industrialisierung in Nordostoberfranken. Diss. Bayreuth. BAUER, E.P. 1923: Keramik. Fortschritte der chemischen Technologie in Einzeldarstellungen, Bd.1. Dresden/Leipzig. BAUMGART, W. (Hg.) 1991: Quellenkunde zur Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart. Bd.5,1-2: Imperialismus und 1. Weltkrieg (1871-1918). 2.Aufl. - dto., Bd. 6, 1-2: Zwischenkriegszeit und 2. Weltkrieg (1919-1945). Bearb. von HOCKERTS, H.G./ELZ, W. BAYERISCHES OBERBERGAMT (Hg.)1924: Die nutzbaren Mineralien, Gesteine und Erden Bayerns. Bd. I: Frankenwald, Fichtelgebirge und Bayerischer Wald. München. BAYERISCHES STAATSMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALORDNUNG (Hg.) 1979: 100 Jahre Bayerische Gewerbeaufsicht 1879 - 1979. Bayreuth. BECKER, G.W. 1929: Die Wettbewerbslage der oberpfälzisch-oberfränkischen Porzellanindustrie. Diss. München. BENISCHKE, G. 1923: Die Porzellan-Isolatoren. Berlin. BISCHOF, C. 1895: Die feuerfesten Thone. Leipzig. - ders. 1923: Die feuerfesten Tone und Rohstoffe sowie deren Verwendung in der Industrie feuerfester Erzeugnisse. Leipzig. BOGNER, F. 1909: Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse bei den Porzellanarbeitern in Deutschland, insbesondere im Bezirk Selb-Rehau in Bayern. Diss.med. Braunschweig. BOHRER, H. 1929: Selb – eine Kirchen- und Heimatkunde. Selb. BORN, K.E. (Hg.) 1966: Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte. Köln/Berlin. BORSDORF, U. 1987: Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Köln. BOTT, G. (Hg.) 1985: Leben und Arbeiten im Industriezeitalter. Katalog zur Ausstellung „Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns seit 1850“. Stuttgart. BRANDSTAETTER, C./HUBMANN, F. 1977: Made in . Die Gründerzeit deutscher Technik und Industrie in alten Photographien 1840-1914. Wien/München/Zürich. BRAUN, E.W. 1940: Die Begründung der deutsch-böhmischen Porzellanfabriken und ihre Entwicklung während des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftskunde, H.5, S.73-79. Leipzig. BRÜGGEMEIER, F.J./KOCKA, J.1985: „Geschichte von unten - Geschichte von innen“. Kontroversen um die Alltagsgeschichte. Hagen. - ders./WIERLING, D. 1986: Einführung in die Oral History. Hagen. BUBLITZ, E. 1937: Das Gesundheitsgeschirr und die Berliner Gesundheitsgeschirr- Manufaktur. In: Berichte der Deutschen Keramischen Gesellschaft, Bd.18, S.193-197. BUCHHEIM, G. / SONNEMANN, R. (Hg.) 1990: Geschichte der Technikwissenschaften. Leipzig. BÜHLING, D. 1990: 100 Jahre technische Entwicklung in Hermsdorf - Ausblick und Rückblick. In: Hermsdorfer Technische Mitteilungen, Bd.30, H.77, S.2430-2434.

CHANDLER, M. 1971: Keramische Werkstoffe. Stuttgart. CIPOLLA, C.M./BORCHARDT, K. (Hg.) 1985: Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd.3: Die Industrielle Revolution. Stuttgart.

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0. EINFÜHRUNG

0.1 Problemstellung und Ziele

"Technische Keramik ist nicht erst im Elektronik- und Raumfahrtzeitalter entstanden. Sie hat schon viel früher anderen Technikzweigen auf den Weg geholfen und dabei bedeutende erfinderische Leistungen eingebracht. Hüttentechnik, Chemie und Elektrotechnik sind die bekanntesten Beispiele. Bei anderen technischen Systemen... war technische Keramik von Anfang an dabei." 1

Die vorliegende Arbeit versucht auf der Basis von technikhistorischen, v.a. aber wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Paradigmata aufzuzeigen, inwieweit das vorstehende Zitat Gültigkeit besitzt. Dabei soll in erster Linie auf die Entstehung und weitere Entwicklung der Technischen Keramik in den Jahren 1880 bis 1920 eingegangen werden und hier insbesondere im oberfränkisch-oberpfälzisch-thüringischen Wirtschaftsraum.

Die zeitliche Beschränkung erschien notwendig, da eine Darstellung der Weiterentwicklung der Technischen Keramik in den Jahren nach 1920 den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde; eine solche Beschreibung bleibt einer späteren Untersuchung vorbehalten. Das Gebiet Oberfranken-Oberpfalz-Thüringen, das von jeher den Schwerpunkt der deutschen Porzellan- und Keramikindustrie bildete, begründet die räumliche Begrenzung.

Es wird hier also keineswegs versucht, eine umfassende Geschichte der TK i.S. eines Standardwerkes zu schreiben; vielmehr soll anhand einzelner Daten und Fakten eine zutreffende und hinreichende Darstellung und Beschreibung des Produktionszweiges Technische Keramik versucht werden. Wobei es sicherlich von größtem Interesse sein wird, die Interdependenz der TK zu anderen Produktionszweigen wie auch die Auswirkungen auf Produzenten und Konsumenten zu betrachten.

In folgenden Arbeiten fand sich kein einziger Hinweis auf Technische Keramik resp. auf deren Anwendungsrelevanz bei der Entwicklung von Chemie, Hüttenwesen und insbesondere Elektrotechnik, was bedeutet, daß die Bedeutung der Technischen Keramik für die Industrialisierung und speziell Elektrifizierung bislang weit unterschätzt oder sogar gar nicht erkannt wurde.

1 Keramikmuseum Westerwald 1997, S.12.

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Die grundlegenden Arbeiten von GEBHARDT,2 WEHLER,3 RÜRUP,4 NIPPERDEY,5 und RITTER / TENFELDE6 gehören zur Gruppe der umfassenden und übergreifenden historischen Literatur und lassen von daher kaum Rückschlüsse auf die Entwicklung einzelner Industrien resp. deren Produkte zu. TREUE, W.7 und besonders TREUE, W./MAUEL, K. befassen sich zwar mit der Entwicklung der Elektrizität,8 der Starkstromtechnik,9 der Nachrichtentechnik10 und der elektrotechnischen Industrie;11 auf die wichtige Rolle der Technischen Keramik wird jedoch mit keinem Wort hingewiesen. Gleiches läßt sich für KELLENBENZ12 sagen. Auch bei HAHN13 und RADKAU14 finden sich keine Verweise auf Technische Keramik oder Elektroporzellan, ebensowenig bei SCHULZ-HANSSEN,15 der explizit die Wertigkeit der Elektroindustrie im Industrialisierungsprozeß untersucht. HENNING16 stellt zwar die durch die Industrialisierung bedingten strukturellen Veränderungen in der Gesellschaft sowie in Volks- und Betriebswirtschaft heraus, faßt die dabei auftretenden Kräfte und Zusammenhänge jedoch nur kompendienhaft zusammen. Auch hier fehlt jeglicher Hinweis auf Technische Keramik. Der Frankfurter Wirtschaftshistoriker PIERENKEMPER beschreibt die höchst unterschiedlichen Industrialisierungsprozesse in England, Belgien, Frankreich, Rußland und insbesondere Preußen.17 Die radikale und unumkehrbare Veränderung wirtschaftlich-sozialer Verhältnisse in Europa wird dabei zwar herausgearbeitet, doch auf einzelne Determinanten geht auch PIERENKEMPER nicht ein.

2 GEBHARDT, B. 1960: Handbuch der deutschen Geschichte. Stuttgart. 3 WEHLER, H-U. 1973: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen. 4 RÜRUP, R. 1984: Deutschland im 19. Jahrhundert. Göttingen. 5 NIPPERDEY, T. 1990: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd.1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München. 6 RITTER, G.A. / TENFELDE, K. 1991: Lohnarbeit, Arbeiterleben und sozialer Konflikt. Arbeiter im Kaiserreich 1871/75 bis 1914. Bonn. 7 TREUE, W. 1975: Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert. München. 8 GERLACH, W.: Die Entwicklung der Physik der Elektrizität im 19. Jahrhundert. In: TREUE, W. / MAUEL, K. (Hg.) 1976: Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im 19. Jahrhundert. Göttingen. 9 WIßNER, A.: Entwicklungen der Starkstromtechnik. In: Ebd., S.511-521. 10 ASCHOFF, VOM: Die elektrische Nachrichtentechnik. In: Ebd., S.522-541. 11 TRENDELENBURG, F.: Die Verwissenschaftlichung der Technik im Bereich der elektrotechnischen Industrie, gezeigt an Beispielen aus der Forschung des Hauses Siemens. In: Ebd., S.542-564. 12 KELLENBENZ, H. 1981: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Bd.2: Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. München. 13 HAHN, H.-W. 1998: Die Industrielle Revolution in Deutschland. München. 14 RADKAU, J. 1989: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main. Darin S.254-269: Elektrifizierung und chemische Synthese als Technologiepfade und gruppenbildende Prozesse. 15 SCHULZ-HANSSEN, K. 1970: Die Stellung der Elektroindustrie im Industrialisierungsprozeß. Berlin. 16 HENNING, F.-W. 1973: Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd.2: Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914. Paderborn. 17 PIERENKEMPER, T. 1996: Umstrittene Revolutionen. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main. Darin besonders S.90-126: Die Industrialisierung Preußens/Deutschlands: Erfolgreicher Spätkömmling?

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TILLYs Standardwerk18 geht von ähnlichen Prämissen aus, ohne spezielle Bestimmungsgrößen näher zu untersuchen. Ebenso fehlen in AUBIN / ZORNs Handbuch19 sowie in KIESEWETTERs Untersuchung20 Hinweise auf Technische Keramik. Die von BUCHHEIM und SONNEMANN herausgegebene „Geschichte der Technikwissenschaften“21 befaßt sich zwar eingehend mit der Herausbildung der Technikwissenschaften insbesondere während der Industriellen Revolution und untersucht zugleich die Rolle der Stark- und Schwachstromtechnik beim Prozeß der Industrialisierung, doch fehlt auch hier jeglicher Verweis auf Keramik allgemein und Porzellan oder Steatit im besonderen als „conditio sine qua non“ bei der Entwicklung der chemischen und Elektrotechnik.

Eine detaillierte Untersuchung wie sie von David E. NYE für die USA vorgelegt wurde22 und welche die sozialen Auswirkungen der Elektrifizierung auf Industrie, Landwirtschaft, Verkehrssystem, Nachrichtenwesen und Privathaushalte beschreibt, fehlt bisher für den deutschen Sprachraum völlig. „Im Zeitraum 1880 bis 1940 hatte der Prozeß der Elektrifizierung das Aussehen von Städten, Fabriken, Häusern und Bauernhöfen verändert. Die Amerikaner integrierten elektrische Erfindungen in ihr Leben, ... so daß die soziale Realität elektrifiziert wurde. Sechs Jahrzehnte nachdem EDISON, BRUSH und andere Erfinder begonnen hatten, die Elektrizität allgemein nutzbar zu machen, war diese zu einem essentiellen Bestandteil der Zivilisation geworden, deren Bereiche sie fast ausnahmslos abdeckte. Ihre Akzeptanz hatte profunde Konsequenzen für die Stadtplanung, das Theaterwesen, den Bau von Fabriken, die häusliche Umgebung, auf Kunst und Fotografie, Transport-, Kommunikations- und Sicherheitssysteme - kurz: für die gesamte soziale Konstruktion der Realität einschließlich der Optionen für zukünftige Entwicklungen.... Für den normalen Durchschnittsbürger ist eine neue Technologie zunächst eine mysteriöse Novität. Nie sah der Durchschnittsamerikaner Elektrizität ausschließlich funktional; Elektrizität behielt eine Aura des Geheimnisvollen, ihr wurden symbolische Dimensionen zugeschrieben. Tatsächlich datieren die ´unpraktischen´ 23 Bühnen- und Theaterbeleuchtungen vor EDISONs "practical electric light" und bis nach 1900 hatte der Durchschnittsbürger viel eher Kontakt mit Elektromedizin als mit Elektrogeräten im Hause. Von Anfang an haben die Amerikaner Elektrizität mit Bedeutungen überhäuft, die von den Visionen utopischer Romane zu den Metaphern der Umgangssprache reichten.24 Die Elektrifizierung der USA ist daher weit mehr als nur eine Geschichte von Erfindungen und Versorgungsunternehmen; sie beinhaltet die Akzeptanz persönlicher und sozialer Transformationen durch die Bevölkerung.“ 25

18 TILLY, R.H. 1990: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914. München. 19 AUBIN, H. / ZORN, W. (Hg.) 1976: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd.2: Das 19. und 20. Jahrundert. Stuttgart. 20 KIESEWETTER, H. 1989: Industrielle Revolution in Deutschland 1815-1914. Frankfurt/Main. 21 BUCHHEIM, G. / SONNEMANN, R. 1990: Geschichte der Technikwissenschaften. Leipzig. 22 NYE, D. E. 1990: Electrifying America. Social meanings of a New Technology 1880-1940. Cambridge/Mass. 23 Im Sinne von "unnütz", nur für dramatische Effekte im Theater geeignet. 24 Beispiele hierfür in der deutschen Sprache: "Auf der Leitung stehen", "eine lange Leitung haben", "die Batterie wiederaufladen". Beispiele aus der englischen Sprache: "to get someones wires crossed", "to suffer short circuits", "to recharge someones batteries". 25 NYE, D.E. 1990, S.381f. (Übersetzung des Verf.)

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Aber auch in „Electrifying America“ wird mit keinem Wort auf den Anteil und die Bedeutung der Technischen Keramik bei der Elektrifizierung eingegangen! Gleiches läßt sich für CIPOLLA / BORCHARDT sagen, wo S. LILLEY26 zwar kurz die technische Entwicklung darstellt, dabei jedoch die wichtige Rolle der Technischen Keramik bei der Genese der Elektrizität und deren Anwendungen vernachlässigt. Um so wichtiger erscheint der hier vorliegende Versuch, die Wichtigkeit und den Wert der Technischen Keramik bei – zunächst technischen - Entwicklungen hervorzuheben, deren Auswirkungen weit über die Grenzen der nur industriellen Anwendung hinausgingen und das tägliche Leben aller Menschen verändern, ja verbessern halfen.

0.2 Ablauf der Untersuchung

Die Dissertation gliedert sich in einen Text- und einen Anlagenband. Im Textband wird auf die Abbildungen des Anlagenbandes hingewiesen. Diese hätten den Textband überfrachtet und der Übersichtlichkeit geschadet. Da sie dem Verf. jedoch als nützliche und anschauliche Ergänzung des Textes erscheinen, wurden sie in einem gesonderten Anlagenband aufgenommen

Zunächst wird kurz die Industrialisierung allgemein dargestellt, um dann die Industrialisierung in Nordostbayern zu beleuchten. In einem weiteren Schritt wird sich die Untersuchung mit der Porzellan- und Keramikindustrie beschäftigen, wobei an dieser Stelle erst ein allgemeiner Überblick über Entstehung und Entwicklung dieser Branche gegeben wird.

Das zweite Kapitel befaßt sich mit der Genese der keramischen Industrie in den einzelnen Regionen. Oberfranken, Oberpfalz und Thüringen als die Hauptproduktionsgebiete der Technischen Keramik werden gesondert betrachtet und dargestellt. In einem Exkurs wird auf die nicht unerhebliche Porzellanproduktion in Böhmen eingegangen.

Im dritten Kapitel wird die große Importanz der Elektrifizierung für die eigentliche Entstehung und Weiterentwicklung des Produktionszweiges Technische Keramik beleuchtet.

26 LILLEY, S. 1985: Technischer Fortschritt und die Industrielle Revolution 1700-1914. In: CIPOLLA, C.M. / BORCHARDT, K. (Hg.): Die Industrielle Revolution, S.151-1670. Stuttgart.

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Ohne Elektrifizierung hätte die Technische Keramik nicht die Bedeutung erlangt, die sie schließlich bekam und umgekehrt wäre die Elektrifizierung ohne Technische Keramik kaum so schnell und unproblematisch möglich gewesen. Während zunächst die Entwicklung und erste Anwendungsmöglichkeiten der Elektrizität dargestellt werden, beschäftigt sich der nächste Abschnitt mit der eigentlichen Elektrifizierung. Hier wird nicht nur die Wichtigkeit für die Technische Keramik erläutert, sondern es werden auch die Folgewirkungen der Elektrifizierung auf die Gesellschaft angesprochen werden.

In einem weiteren Kapitel wird die TK vorgestellt: Neben dem Versuch einer Definition der TK werden Rohstoffe und Fertigungsverfahren sowie Produkte und Einsatzgebiete dargestellt.

Im nächsten Kapitel wird die Technikgeschichte der TK anhand der Veränderungen der Maschinen und Produkte beleuchtet.

Das folgende Kapitel widmet sich der Wirtschaftsgeschichte der TK, wobei auf einzelne Firmen sowie auf Zusammenschlüsse und Syndikate näher eingegangen wird.

Das zentrale Kapitel sieben behandelt die Sozialgeschichte der Porzelliner.27 Anhand diverser Paradigmata aus Arbeits- und Alltagswelt wird versucht, ein anschauliches Bild vom Leben und Arbeiten der Porzelliner in der Zeit um die Jahrhundertwende zu geben. Dabei nehmen Themen wie jugendliche Arbeiter, Frauenarbeit, Berufskrankheiten und hohe Sterblichkeit aus der Arbeitswelt sowie Wohnung, Ernährung und Freizeitverhalten aus der Alltagswelt einen besonderen Stellenwert ein.

Das achte Kapitel versucht, die politische Rolle der Arbeiterschaft anhand ihres Verhältnisses zur Sozialdemokratie darzustellen. Dabei wird die Entstehung und Entwicklung sozialdemokratsicher Organisationen bis etwa 1923 untersucht.

Der Geschichte der Gewerkschaften widmet sich das folgende Kapitel, um schließlich zuletzt eine Zusammenfassung der Ergebnisse unter den Prämissen der technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung der TK zu versuchen und einen kurzen Ausblick auf die Chancen der TK in der Zukunft zu geben.

27 "Porzelliner" werden alle in der Porzellan- und Keramikindustrie Beschäftigten genannt, insbesondere die Arbeiter.

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0.3 Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung der Produktion von Technischer Keramik in Bayern und Thüringen bis ca. 1920. Die Vorgabe, einen möglichst umfassenden Überblick über die geographische Verteilung der Produktion von Technischer Keramik zu erhalten, bedingte die zeitweilige und teilweise Aufhebung dieser geographischen Eingrenzung. Des weiteren beziehen sich Einzelergebnisse der vorliegenden Untersuchung nicht explizit auf den Produktionssektor Technische Keramik, sondern können, da die Produktion von Technischer und sonstiger Keramik sowie Porzellan weitgehend „unter einem Dach“, also in einem Unternehmen stattfand, transferiert werden. Hingegen wird das Produktsegment elektrotechnische Porzellan- und Steatitartikel besonders ausführlich dargestellt, weil diese Artikel in den Anfangsjahren der Produktion von Technischer Keramik nicht nur den Hauptanteil ausmachten, sondern auch in ihrer Bedeutung über rein ökonomische Belange weit hinausreichten. So trugen gerade die keramischen Bauteile für die Elektrotechnik in entscheidendem Umfang dazu bei, die Elektrifizierung der Industrie, des Verkehrs, aber auch der Privathaushalte zu ermöglichen und voranzutreiben. Technische Keramik, insbesondere Elektrokeramik ist daher in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen und steht - wenngleich bislang keinesfalls solcherart gewürdigt - signifikant für die Entwicklung von neuen Technologien, mithin für die Entwicklung unserer heutigen Zivilisation.

0.4 Literatur- und Quellenlage

Der Verf. hat sich bemüht, einen möglichst umfassenden Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Technischen Keramik zu geben. Dazu waren etliche Firmenbesichtigungen sowie Besuche in diversen Archiven der näheren und weiteren Umgebung nötig. Im einzelnen erwiesen sich das Staatsarchiv Bamberg und dort besonders die Bestände über die Fabriken- und Gewerbeinspektion, die Unterstützungs- und Hilfskassen sowie die Wochen- und Halbmonatsberichte als ergiebige Quelle. Ähnliches läßt sich über das Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin sagen, dessen Akten über Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Porzellanarbeiter und deren Verbände und Gewerkschaften ebenfalls sehr nützlich waren. Das DGB-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie, Bonn erwies sich insbesondere im Hinblick auf Lohnstatistiken und Gewerkschaftspolitik als

7 fruchtbare Quelle, ebenso das Archiv der IG Chemie-Papier-Keramik, Hannover. Beim Besuch des Thüringischen Hauptstaatsarchivs, Weimar fanden sich umfangreiche Bestände der Porzellanfabriken Kahla und Hescho. In Selb waren das Stadtarchiv mit seinen Beständen über Wohnungswesen sowie Kranken – und Unterstützungskassen (Statuten) sowie die dort befindlichen Firmenarchive der Porzellanfabriken Rosenthal und Hutschenreuther - diese insbesondere in Bezug auf Lehrverträge, Fabrik- und Protokollbücher – von großem Nutzen. Die Besuche bei weiteren Archiven erbrachten z.T. ergiebiges Material zu anderen Aspekten der Themenstellung, das i.e. belegt wird.

Bei den gedruckten Quellen erwiesen sich Satzungen, Statuten u.ä. insbesondere im Hinblick auf die Untersuchung von Kranken- und Hilfskassen, Bau- und sonstigen Genossenschaften als hilfreich. Hinzu kamen die sehr detaillierten Jahresberichte der kgl.-bayerischen Fabriken- und Gewerbe-Inspektoren, die eine umfassende und – jedenfalls aus der Sicht der Fabrikinspektoren – realistische Darstellung der sozialen Verhältnisse der Porzellanarbeiterschaft gaben. Das im Sprechsaal-Verlag Coburg erschienene Industrie- Bedarfs-Adressbuch für die Keram-, Glas- und Email-Industrie lieferte in seinen diversen Auflagen neben dem von VERSHOFEN herausgegebenen Handbuch28 erste für die Wirtschaftsgeschichte der Porzellanindustrie grundlegende Informationen über Porzellanfabriken und deren Produktionsprogramm. Diese konnten u.a. mithilfe des vom Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (kurz: Untersuchungsausschuß) herausgegebenen 12. Bandes (Die deutsche Porzellan- und Steingutindustrie) ausgearbeitet und konkretisiert werden. Die dort gebotene Fülle von Einzelinformationen zur Porzellan- und Steingutindustrie, die sonst kaum hätten aufgefunden werden können, stellte somit eine wertvolle Quelle zur Wirtschaftsgeschichte dar. Um das primäre Quellenmaterial zu verifizieren und aussagekräftiger zu gestalten, wurde im besonderen auf Sekundärquellen wie Zeitschriftenaufsätze, Dissertationen, Handbücher et al. zurückgegriffen. Zur Einarbeitung in die Materie war ein umfangreiches Literaturstudium nötig, das dazu führte, einen sehr detaillierten Einblick in die Entstehung und Entwicklung der Technischen Keramik und, damit zusammenhängend, in Leben und Arbeiten der Porzellanarbeiter um die Jahrhundertwende geben zu können.

28 VERSHOFEN, W. 1923: Handbuch des Verbandes Deutscher Porzellangeschirrfabriken. Ms. Berlin.

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Verschiedene Zeitungen und Zeitschriften trugen in unterschiedlicher Quantität dazu bei, Themenfelder und -schwerpunkte insbesondere zu sozialgeschichtlich relevanten Fragestellungen bearbeiten zu können. Zu nennen sind hier Die Ameise als Verbandsorgan der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands, die Fachzeitschriften Keramische Rundschau, Sprechsaal und Thonindustrie-Zeitung sowie die Hescho-Mitteilungen, die sich mit der Entwicklung innerhalb des Hermsdorf-Schomburger Unternehmens beschäftigten und diese ausführlich darstellte.

Bei der Sekundärliteratur ist zunächst das mehrbändige Kompendium von KINGERY29 zu erwähnen, das die Entwicklung keramischer Techniken und Produkte in Bezug auf zivilisatorische Fortschritte untersucht. Des weiteren die grundlegenden Forschungen von TRÜBSBACH zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Oberfrankens30 sowie BALDs Dissertation über die Industrialisierung in Oberfranken und die Porzellanarbeiter.31 EIDELLOTHs,32 GERLACHs33 und VELHORNs34 Arbeiten befassen sich mit der Porzellanindustrie Oberfrankens bzw. der Oberpfalz, während GRADL35 den Selber Raum spezifizierte. Als besonders ergiebig in Bezug auf die Darstellung des Thüringer Wirtschaftsraumes und dessen Porzellanindustrie erwiesen sich die neuere Arbeit von GREINER-ADAM über die Entwicklung der Technischen Keramik in Südthüringen36 sowie die älteren Darstellungen von MUELLER37 und WINDORF,38 die zahlreiche Statistiken enthalten und auch die Zusammensetzung der Arbeiterschaft thematisieren. Darüber hinaus

29 KINGERY, W.D. (ed.) 1985ff: Ceramics and Civilization. Vol.1-7. Westerville/Ohio, USA. 30 TRÜBSBACH, R. 1989: Literatur- und Forschungsbericht zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Oberfrankens im 19. Und 20. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken, H.69, S.437-452 und ders. 1990: Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In: ROTH, E. (Hg.): Oberfranken im 19. und 20. Jahrhundert, S.585-675. Bamberg. 31 BALD, A. 1991: Porzellanarbeiterschaft und punktuelle Industrialisierung in Nordostoberfranken. Diss. Bayreuth. 32 EIDELLOTH, G. 1914: Die Entwicklung der Porzellanindustrie Oberfrankens. Diss. Erlangen. 33 GERLACH, H. 1924: Die Porzellanindustrie Oberfrankens. Diss. Greifswald. 34 VELHORN, J. 1925: Die Entwicklung der Porzellanindustrie in der Nordostoberpfalz. Diss. Ms. Erlangen. 35 GRADL, H. 1919: Die Porzellanindustrie zu Selb. Diss. Ms. Erlangen. 36 GREINER-ADAM, R. 1990: Traditionen, Gründung und Entwicklung des Industriezweiges Technische Keramik unter besonderer Berücksichtigung des südthüringer Wirtschaftsraumes. Diss. Freiberg/Sachsen. 37 MUELLER, J. 1927: Die thüringische Porzellanindustrie. In: Vierteljahrsberichte des Thüringischen Statistischen Landesamtes, Bd.6, S.260-272 und ders. 1928: Die Zusammensetzung der Arbeiterschaft der thüringischen Industrie nach Geschlecht, Alter und Familienstand. In: Vierteljahrsberichte des Thüringischen Statistischen Landesamtes, Bd.7, S.11-32. 38 WINDORF, H. 1912: Die Thüringische Porzellanindustrie. Diss. Halle.

9 zeigen die Aufsätze GREINER-ADAMs39 und LANGEs40 sowie insbesondere KRÖCKELs41 die Entstehung und Entwicklung der porzellanindustriellen Produktion Thüringens anhand einzelner Fabriken auf.

Für den Bereich Technikgeschichte fanden sich relevante Angaben in der Dissertation von LANGE42 sowie bei HEGEMANN, der den Produktionsprozeß ausführlich darstellt.43 Die Entwicklung der keramischen Hochspannungsisolatoren ist Thema eines Forschungsberichtes der Deutschen Keramischen Gesellschaft,44 während REBMANN die Steatitindustrie untersuchte.45 Von großem Nutzen für die vorliegende Untersuchung waren auch SINGERs Ausführungen über Steinzeug und industrielle Keramik.46 Die Entstehung und Entwicklung der Elektrokeramik wurde besonders in einer vom Heimatmuseum Tiergarten im Rahmen einer Ausstellung herausgegebenen Schrift exponiert.47 Daneben konnten Einzelaspekte aus den Arbeiten von SCHIVELBUSCH48 und WESSEL49 zur Verdeutlichung der Technischen Keramik im Kontext der Elektrifizierung herangezogen werden.

39 GREINER-ADAM, R. 1996: Porzellanwerk Kloster Veilsdorf: Die älteste Isolatorenfabrik. In: Keramische Zeitschrift, 48.Jg., H.5, S.423-427 u. H.6, S.516-519. 40 LANGE, P. 1977: Einflußfaktoren auf die Entwicklung der Porzellanindustrie in Thüringen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, 24.Jg., H.4/5, S.435-441 und ders. 1981/82: Geschichte der Porzellanfabriken Beutelsdorf und Uhlstädt. In: Rudolstädter Heimathefte, 27.Jg., H.11/12, S.221-225 und 28.Jg., H.1/2, S.22-25. 41 KRÖCKEL, O. 1967: Die Porzellanindustrie im Stadtgebiet Sonneberg. In: Festschrift "650 Jahre Sonneberg", S.239-246; ders. 1994a: Thüringer Porzellan (1) – Eine Nacherfindung. In: Museumsverein Schieferbergbau Steinach/Thür. e.V. (Hg.), H.37; ders. 1994b: Thüringer Porzellan (2): Veilsdorf, Rauenstein, Hüttensteinach. In: Ebd., H.41; ders. 1996: Thüringer Porzellan (3): Steinach, Köppelsdorf, Neuhaus-Schierschnitz. In: Ebd., H.52; ders. 1997a: Technische Keramik – Porzellan als Isolator. In: Sonneberger Museums- und Geschichtsverein e.V. (Hg.), H.1; ders. 1997b: Aufstieg und Untergang der Porzellanfabrik Neuhaus. In: Heimatkundliche Arbeitsgemeinschaft Neuhaus-Schierschnitz / Stockheim e.V. (Hg.); ders. 1999: Die Porzellanfabrik Neuhaus-Schierschnitz – ein ehemaliges Forschungszentrum der technischen Keramik. In: Jahrbuch des Kreises Sonneberg, S.130-134. 42 LANGE, P. 1984a: Die Herausbildung der Silikattechnik als eine Disziplin der Technikwissenschaften. Diss. Dresden. 43 HEGEMANN, H. 1904: Die Herstellung des Porzellans. Erfahrungen aus dem Betriebe. Berlin. 44 DKG-FACHAUSSCHUSSBERICHTE 1991: Geschichte der keramischen Hochspannungsisolatoren in Deutschland. Nr. 29. Köln. 45 REBMANN, W. 1952: Die technische und wirtschaftliche Entwicklung der Steatitindustrie. Dipl.-arbeit. Nürnberg. 46 SINGER, F. 1924: Steinzeug als Konstruktionsmaterial für Hochspannungsisolatoren. In: Elektro Journal, 4.Jg., H.1, S.1-5; ders. 1929: Das Steinzeug. Braunschweig; ders./SINGER, S. 1964ff: Industrielle Keramik. Bd. 1-3. Berlin/New York. 47 HEIMATMUSEUM TIERGARTEN (Hg.) 1996: Kennen Sie Schomburg? Elektrokeramiker aus Moabit. Berlin. 48 SCHIVELBUSCH, W. 1983: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München. 49 WESSEL, H. A. 1983: Die Entwicklung des elektrischen Nachrichtenwesens in Deutschland und die rheinische Industrie. Von den Anfängen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wiesbaden.

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Wichtige Grundlagen für den Themenschwerpunkt Wirtschaftsgeschichte fanden sich in den Dissertationen von ROLLE zu den Standortfaktoren,50 von KINDERMANN zu konjunkturellen Phasen51 sowie von PROBST zu Aktiengesellschaften in der Porzellanindustrie.52 SINGERs Darstellung53 zeigt industrielle Anwendungsbereiche und volkswirtschaftliche Bedeutung der Keramikindustrie auf.

Der Darstellung der Lebens- und Arbeitswelt der Porzelliner diente im besonderen die Dissertation BOGNERs über die Morbidität und Mortalität in der porzellanindustriellen Arbeiterschaft54 sowie die Aufsätze KOELSCHs55 und SOMMERFELDs56 über Berufskrankheiten der Porzellanarbeiter, insbesondere Tuberkulose. Regionale und lokale gewerkschaftliche Anfänge und Entwicklungen sowie Streikbewegungen werden in verschiedenen, von der IG Chemie, Papier, Keramik57 herausgegebenen Schriften dokumentiert.58

50 ROLLE, G. 1928: Standortsstudien in der deutschen keramischen Industrie. Diss. Coburg. 51 KINDERMANN, H.-J. 1934: Der Konjunkturverlauf in der Porzellanindustrie von 1871 bis 1932. Diss. Greifswald. 52 PROBST, F. 1909: Die deutsche Porzellan- und Steingutindustrie. Ihre technischen Grundlagen, ökonomische Entwicklung und heutige volkswirtschaftliche Bedeutung unter besonderer Berücksichtigung der Rentabilität der Aktiengesellschaften. Diss. Halle. 53 SINGER, F. 1923: Die Keramik im Dienste von Industrie und Volkswirtschaft. Braunschweig. 54 BOGNER, F. 1909: Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse bei den Porzellanarbeitern in Deutschland, insbesondere im Bezirk Selb-Rehau in Bayern. Diss. med. Braunschweig. 55 KOELSCH, F. 1919: Porzellanindustrie und Tuberkulose. In: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose und spezifischen Tuberkulose-Forschung, Bd.42, S.184-282; ders. 1963: Die Porzellinerkrankheit. Ein geschichtlicher Rückblick. In: Berufskrankheiten in der keramischen und Glas-Industrie, H.14, S.3-11. 56 SOMMERFELD, Th. 1893: Die Berufskrankheiten der Porcellanarbeiter. In: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege, H.3, S.277-299. 57 Heute: IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie). 58 IG CHEMIE-PAPIER-KERAMIK (Hg.) 1990a: 1890-1990. 100 Jahre Industriegewerkschaft Chemie-Papier- Keramik. Von den Verbänden der ungelernten Fabrikarbeiter, der Glas- und Porzellanarbeiter zur modernen Gewerkschaftsorganisation. Köln; dies. (Hg.) 1990b: 1890-1990. Seit Beginn. 100 Jahre Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik. Ausstellungskatalog. Hannover; dies.(Hg.) 1990c: 40 Jahre Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik,Verwaltungsstelle Kronach. Hannover; dies. (Hg.) 1992: 100 Jahre Gewerkschaft der Porzellan- und Glasarbeiter in der Region Weiden. Amberg.

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I. INDUSTRIALISIERUNG

1. Allgemeine Entwicklung im Deutschen Reich

"An Unseen revolution: The birth of high-tech ceramics. Toward the end of the nineteenth century the maturing age of electricity evolved systems for which novel materials were essential components. This led to the development and manufacturing of oxide electrolytic conductors, electrical insulators, incandescent and structural refrectaries that were modern ´high-tech´ ceramics in every sense. This technology arose from a combination of chemistry and engineering joining together to meet the pressing needs of new electrical devices." 1

Beginnend mit den 1830er Jahren des 19. Jahrhunderts setzte, beginnend in England, die industrielle Revolution ein, die mit einiger Verspätung auch Deutschland erreichte. Insbesondere der Eisenbahn- und Schiffsbau sowie bedeutende Erfindungen auf den Gebieten der Chemie, Optik, Elektro- und Hüttentechnik revolutionierten die Industrie und mit ihr die Gesellschaft; es entstanden der Phänotyp des Arbeiters und damit zusammenhängend die Klasse des Proletariats. Die industrielle Revolution, also die Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, begründete sich v.a. auf den Übergang zur maschinellen Erzeugung in Großbetrieben. Sie begann in der Textilindustrie (mechanischer Webstuhl), dehnte sich auf die Eisenerzeugung (Bessemer2- und Thomasverfahren3) und den Bergbau aus und war seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Revolutionierung des Verkehrswesens (Eisenbahn, Dampfschiff) verbunden. Als ursächliche Faktoren der industriellen Revolution gibt SIEFERLE folgende an: Durchsetzung von Machtverhältnissen, von Warentausch und Geldwirtschaft; Universalität und Absolutheit des Privateigentums: Alles, auch Boden und Arbeit, wird verkäuflich und auf dem Mark gehandelt; Emanzipation des wissenschaftlichen Denkens von kulturellen Einbindungen, d.h. Durchbrechen der stabilisierenden Kraft der Tradition; Emanzipation des naturveränderten Handelns von kulturellen Beschränkungen: Was machbar ist, wird auch getan;

1 KINGERY, W.D. 1990, p.293. 2 Das Bessemerverfahren leitete die Ära der kontinuierlichen Stahlproduktion ein. Der Aufschwung der Stahlproduktion wiederum verlangte neue Verformungsmethoden und neue Produktionsmittel in Gestalt von Dampfhämmern, Konvertern, starken Antriebsmaschinen und Gebläsen. 3 Durch die Einführung des Thomas-Verfahrens wurde die Herstellung von Stahl aus phosphorhaltigen Erzen, die die Hauptmasse der europäischen und insbesondere der lothringischen Eisenerzvorkommen ausmachten und einer schnellen Ausbreitung des Bessemer-Verfahrens auf dem Kontinent hinderlich waren, ermöglicht.

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Emanzipation des ökonomischen Handelns, d.h. Etablierung des Prinzips der

Gewinnmaximierung als treibendes Motiv der Individuen. Infolgedessen Ausdehnung der

Produktion, Akkumulation von Kapital, wachsender Verbrauch von Rohstoffen und

Naturgütern;

Herausbildung von Territorialstaaten mit einheitlichem Recht und Bürokratie;

Kulturelle Diversifizierung, Entmachtung der Kirche; Bevölkerungswachstum; Vorkommen und Nutzung fossiler Brennstoffe.4

Die Zeittafel im Anlagenband5 stellt die Entwicklung auf dem wirtschaftlichen und politischen Sektor sowie die wichtigsten Inventionen und Innovationen in Deutschland dar.

Auf fast allen Gebieten der technischen Erneuerungen war Technische Keramik entscheidend mit beteiligt; ohne Technische Keramik wären viele Entwicklungen und Innovationen gar nicht möglich gewesen:. Telegraf und Telefon als neue Kommunikationsmedien erforderten Schwachstromisolatoren, die aus technischer Keramik produziert wurden. Das Auto hatte Zündkerzen aus Keramik. Bei sämtlichen chemischen Neuerungen und Prozessen kam Technische Keramik zur Anwendung. Der elektrische Strom, der von den Dampfmaschinen erzeugt wurde und sowohl Beleuchtungszwecken (Glühbirne) wie auch dem Antrieb von Maschinen (Elektromotoren) diente, mußte über große Entfernungen sicher und störungsfrei transportiert werden: An den zu installierenden Überlandleitungen bewährte sich Technische Keramik als isolierender und chemisch und physikalisch resistenter Werkstoff bei den Isolatoren.

Insofern ist KINGERY zuzustimmen, wenn er die Entstehung, Entwicklung und Anwendung von Technischer Keramik als eine "unseen revolution"6 bezeichnet. Im Rahmen der qualitativen Entwicklung der Produktivkräfte sind folgende sich überschneidende und durchdringende Grundtendenzen signifikant: Konzentration,

4 1986, KE 3, S.5f. 5 Vgl. AB, Anl.1. 6 KINGERY, W.D. 1990, p.293.

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Mechanisierung, Chemisierung, Elektrifizierung. Indispensabel und für die vorliegende Untersuchung von vorherrschender Bedeutung ist die Elektrifizierung als neue Möglichkeit, Strom mittels Drähten zu übertragen. Hatten die Industrieunternehmen bislang eigene "Kraftwerke" (Batterien) in Kellerräumen gehabt, war es nunmehr möglich, produzierten Strom über weite Entfernungen zu transportieren und bei der Verbrauchsstelle dem Stromnetz zu entnehmen. Dies wiederum ermöglichte künstliches Licht in den Arbeitsräumen, mithin Arbeit in mehreren Schichten. Die Thonindustrie-Zeitung schreibt 1890 dazu: "In keiner Gegend Deutschlands hat die elektrische Beleuchtung eine enormere Anwendung gefunden, als in dem industriereichen Ruhrgebiet. Von dort ist jetzt ein weiterer Fortschritt zu verzeichnen. Der Rhein-Ruhr-Kanal, eine Verbindung der beiden Flüsse bei Duisburg, wird gegenwärtig in seiner ganzen Ausdehnung mit elektrischem versehen. Hieran anschließend folgt zunächst der große Duisburger Hafen und weiter die Stadt selbst. Längs dem Hafen wird das elektrische Licht es endlich ermöglichen, daß der Verkehr auch in den langen Winterabendstunden ohne Unterbrechung fortgehen kann. Es können Ladungen gelöscht werden, welche jetzt vom Eintritt der Dunkelheit an bis zum nächsten Morgen liegen bleiben mußten, und die Schifffahrt (sic!) hat auch wieder diesen Liebesdienst dem elektrischen Lichte zu verdanken." 7

Doch auch auf anderen Bereichen revolutionierte die Elektrifizierung das tägliche Leben: Die Leute gingen nun auch abends auf die Straße, Kinos entstanden und es gab Restaurants und Läden mit Schaufensterbeleuchtung. All diese Veränderungen wären ohne Technische Keramik nicht möglich gewesenen. Die folgenden Kapitel versuchen, diese These zu verifizieren.

Die eigentliche Entstehung des Produktionszweiges Technische Keramik läßt sich nicht eindeutig festlegen. FROTSCHER determiniert als Beginn der technischen Keramiknutzung das 14. Jahrhundert, da man zu dieser Zeit die ersten Destillierteile für Alkoholbrennereien aus Keramik herstellte.8 Er führt weiter aus, daß im 15. Jahrhundert G. AGRICOLA feuerfeste Werkstoffe für die Glasschmelze benutzte und daß ab 1795 mit den ersten Zinkdestillationen in Europa Schamottemuffeln zur Anwendung kamen. Die ab 1780 in Stourbridge/England abgebauten Tone seien zur Herstellung von Feuerfestmaterialien z.B. für die Auskleidung des Feuerraumes bei Dampfkesseln oder die Trockendestillation von Kohle zu Gas benötigt worden.9 Im Gegensatz dazu bezeichnet REH bereits Keramikspindeln, die 6.250 v.Chr. in der Türkei gefertigt wurden sowie Bronzegußformen aus Keramik, die 1.500 v.Chr. in Griechenland verwendet wurden, als Technische Keramik und datiert damit die

7 1890, 14.Jg., H.1, S.4f. 8 FROTSCHER, S. 2003, S.69. 9 Ebd.

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Entstehung noch wesentlich früher als FROTSCHER.10 Auch STEPHAN datiert die Entstehung sehr früh: "Die früheste Erwähnung der Herstellung von technischer Keramik ist indirekt durch den 1503 belegten Abbau von Glashafenton gesichert, von Tiegelmachern ist erstmals 1600 die Rede." 11

Da die Vorgenannten unter Technischer Keramik jedoch in der Hauptsache Tiegel, insbesondere Schmelztiegel sowie Baukeramik, Feuerfestkeramik und Tonpfeifen subsumieren,12 und da in der vorliegenden Untersuchung der Zeitraum auf 1880 bis 1920 eingeschränkt wurde, läßt sich hier der Beginn der Technischen Keramik mit einiger Berechtigung auf den Einsatz als Brenner beim Gasglühlicht determinieren. Die industrielle Entwicklung im Deutschen Reich in den Jahren 1851 bis 1914 verdeutlicht folgende Tabelle:

Tab.1: Industrieproduktion in Deutschland 1851-1914

Periode a b c 1851/60 17 -- -- 1860/66 23 36 4,2 a Index: 1900=100 1867/75 31 38 4,1 b Wachstum von Periode zu Periode in % 1876/86 42 36 3,1 c Jährliche Wachstumsrate von Periode zu 1887/93 60 42 4,0 Periode in % 1893/02 88 45 5,1 1902/14 129 48 3,8

HENNING macht im Zeitraum 1873 bis 1913 ein überdurchschnittliches Wachstum von 162 % für den Bereich Chemie, Steine, Erden aus, der hier von besonderem Interesse ist.13 Dabei kam der Elektroindustrie in der Entwicklung der Produktivkräfte die entscheidende Rolle zu. Der Anteil des Lichtstroms 14 an der Erzeugung der öffentlichen Elektrizitätswerke15 betrug 1896 noch über 75%, während er in den Jahren 1900 auf 50% und 1915 auf 28% sank. Während in der Anfangsphase der Elektrifizierung hauptsächlich Kleinbetriebe den Elektromotor nutzten, war es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Großindustrie, die den Elektromotor mehr und mehr einsetzte. So waren 1895 nur in 1,3% der

10 In: cfi 2003, 80.Jg., H.10, S.9. 11 1995, S.9. 12 Zum Problem der Definition von Technischer Keramik vgl. Kap.IV. 13 1989, S.220. Korrespondierend damit wuchs die Elektroindustrie im genannten Zeitraum um 161% (ebd.). 14 Man nannte damals die Stromrechnung allgemein die "Lichtrechnung"; dieser Ausdruck ist vielerorts auch heute noch gebräuchlich. 15 Vgl. AB, Anl.2 Entwicklung der öffentlichen Elektrizitätswerke.

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Maschinenfabriken Elektromotoren im Einsatz, während sich dieser Anteil bis 1907 auf fast 50% erhöhte. Die mit der Vergrößerung der Betriebe einhergehende Vergrößerung der Produktion und die daraus folgende Verlängerung der Transmissionswege erzwang den Übergang vom Zentralantrieb durch Dampfmaschinen zum elektromotorischen Gruppenantrieb, der die Voraussetzung für den später entwickelten Einzelantrieb bildete. Ein weiteres Anwendungsgebiet war der städtische Nahverkehr, dessen Grundlage Ende des 19. Jahrhunderts die elektrisch betriebene Straßenbahn wurde. Telegrafen- und Telefonverkehr, die zu dieser Zeit begannen bzw. eine rasche Ausdehnung erfuhren, waren eo ipso elektrophysikalisch fundiert.

Tab.2: Entwicklung des Fernmeldewesens16 Jahr Telegramme Fernsprechstellen Telefongespräche in Tausend in Tausend In Millionen 1880 13.518 1885 15.844 1890 22.158 58,2 249,7 1895 31.991 131,6 524,5 1900 39.688 289,6 691,0 1905 42.647 592,0 1207,4 1910 46.802 938,9 1670,2 1913 52.271 1387,3 2518,0

2. Industrialisierung in Nordostbayern17

"Karl BOSL hat den seit dem frühen 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierungsprozeß in Bayern wegen der objektiven Ungunstfaktoren (Binnenlage, fehlende Rohstoffe, schwaches Bevölkerungswachstum, fehlendes Kapital usw.), aber auch wegen der mangelnden Bereitschaft der Regierungsbürokratie bis in die 60er Jahre hinein, die Industrialisierung tatkräftig zu fördern, als `geminderte Industrialisierung` bezeichnet, in deren Verlauf Prozesse zeitlich verzögert und Krisen weniger massiv verliefen als im übrigen Deutschland. Industrialisierungsansätze seien in den städtischen Industriegebieten allenfalls in Halbformen, im ländlichen Bayern lediglich in Kümmerformen ausgeprägt." 18

Gewerbliche Tätigkeiten hatten sich in Oberfranken schon früh entfalten können und müssen. Können, da die Erzvorkommen im Fichtelgebirge und im Frankenwald (Gold, Silber, Eisen, Kupfer und Zinn) zunächst ausreichende natürliche Voraussetzungen boten. Müssen, da die

16 Aus: HOHORST, G. 1978, S.83 (Auszug). 17 Vgl. dazu die Übersichtskarte von Nordostbayern in AB, Anl.3. 18 BALD, A. 1991, S.6.

16 landwirtschaftlich nicht oder nur wenig nutzbaren Böden nur geringe Erträge brachten, so daß sich die Bevölkerung zusätzliche Erwerbsquellen suchen mußte.

Verknüpft waren die industriellen Anfänge Oberfrankens mit dem Übergang der wirtschaftlich vom Merkantilismus geprägten Herrschaft der Bayreuther Markgrafen zur liberalen Wirtschaftsverfassung des 19. Jahrhunderts, die durch die Namen HARDENBERG und MONTGELAS charakterisiert ist: Auf dem Gebiete des Gewerbewesens hat Montgelas die überlebte Selbstherrlichkeit der Zünfte dadurch gebrochen, daß er den Gewerbebetrieb auch aufgrund der staatlichen Konzession ermöglichte." 19

Die strukturellen Voraussetzungen, die in ihrer Kombination den industriellen Prozeß auslösten, waren im einzelnen: Bevölkerungswachstum und Wandel von Erwerbsstrukturen, Unternehmertum und Kapitalgrundlage, Verkehrsinfrastruktur und Rohstoffproblematik, staatliche Wirtschaftspolitik und gewerbliche Traditionen.

Bevölkerungswachstum und Berufsstruktur Ein Vergleich des Bevölkerungswachstums von Oberfranken und Bayern zeigt einen relativ starken Zuwachs bis zur Gründung des Zollvereins (1834), eine Verlangsamung bis zur Reichsgründung (1871) und danach einen sprunghaften Anstieg als Folge der Hochindustrialisierung:

Tab.3: Bevölkerungsentwicklung20

Zeitraum Oberfranken Bayern 1818-1834 + 18,0% + 14,0% 1834-1855 + 5,9% + 6,9% 1855-1871 + 8,4% + 4,4% 1871-1910 + 22,0% + 41,0%

Die Bevölkerungsdichte in den einzelnen Bezirken war durchaus unterschiedlich: BA Rehau 118,5 Einw./km² BA Wunsiedel 108,0 Einw./km² BA Münchberg 105,5 Einw./km²

19 EHEBERG, K.TH. vom 1897: Die industrielle Entwicklung Bayerns seit 1800. Erlangen. S.67. 20 Aus: TRÜBSBACH, R. 1990. S.5. Vgl. hierzu auch: KOLB, G. 1966, Anh. Tab.VIg, X, XIII.

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BA Berneck 73,4 Einw./km² BA Weidenberg 73,1 Einw./km² BA Tirschenreuth 54,8 Einw./km² BA Kemnath 51,0 Einw./km²

Der Grund für die unterschiedliche Bevölkerungsdichte liegt in den orographischen21Verhältnissen Oberfrankens, genauer des Fichtelgebirges: Am dichtesten ist die Bevölkerung im Gebiet der inneren Hochfläche und am Nordrand des Gebirges, während im eigentlichen Bergland die Besiedelung wesentlich dünner ist. Ursächlich dafür wiederum ist, daß sich in der Ebene der Verkehr zusammendrängt und die Industrie günstigere Möglichkeiten hat, sich anzusiedeln.

Es ergeben sich nach FORSTER im Zeitraum seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1920 für die einzelnen Bezirksämter folgende Zu-(+) bzw. Abnahmen des Bevölkerungsstandes:22 Kemnath + 2,4%, Tirschenreuth + 37,4%, Berneck + 0,3%, Münchberg + 12,1%, Rehau + 91,1%, Wunsiedel + 42,5% und Weidenberg – 5,2%. Die Bezirksämter Wunsiedel und Rehau nehmen dabei mit großem Abstand die Spitze ein, was wiederum auf den Aufschwung der Industrie, insbesondere der Porzellanindustrie in deren Gebiet zurückzuführen ist. "Solange die unterständischen Schichten nicht genügend Arbeitsplätze fanden, führte die Überbevölkerung zur Krise, zu 'Pauperismus', auf den mit Binnen- und Auswanderung reagiert wurde. Im Rückblick ist daher festzustellen, daß gerade die Industrialisierung... erst die Voraussetzung für die Existenz einer steigenden Bevölkerung schuf." 23

Was den Industrialisierungsgrad angeht, so belegen die Daten für 1907, daß im Vergleich zum Deutschen Reich der Übergang Bayerns vom Agrar- zum Industriestaat verzögert erfolgte; wohl liegt dabei Oberfranken hinsichtlich seines Industrialisierungsgrades mit an der Spitze:

21 Orographie: Gebirgskunde. 22 1924, S.37. 23 Ebd.

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Tab.4: Industrialisierungsgrad 190724 Land- und Forstwirtschaft Industrie Oberbayern 32,3% 32,1% Niederbayern 59,8% 19,9% Pfalz 30,4% 47,2% Oberpfalz 52,0% 26,2% Oberfranken 38,3% 39,4% Mittelfranken 30,9% 41,8% Unterfranken 48,0% 26,9% Schwaben 45,9% 28,2%

Bayern gesamt 40,3% 33,4%

Deutsches Reich 28,6% 42,8%

Der Prozentsatz der in der Industrie Beschäftigten steigerte sich in Oberfranken von 1882 mit 34,5% über 1895 mit 37,1% auf 39,4% im Jahre 1907. Dabei stand Rehau bei den Bezirksämtern mit einer Industriebevölkerung von 62,9% an erster Stelle. In den Ämtern Wunsiedel, Münchberg, Naila und Hof lag der prozentuale Anteil bei über 50%! "Die Industriebevölkerung hat sich in dem Zeitabschnitt 1882 bis 1895 in den Bezirksämtern um 5,0 v.H. vermehrt, in der Periode 1895-1907 um 14,7 v.H. .... Zwei Gebiete zeichnen sich durch eine besonders große Zunahme aus. Es ist in erster Linie das östliche Oberfranken mit den Bezirken Wunsiedel und Rehau... Außerdem verlief die industrielle Entwicklung günstig in dem zum Thüringerwald hin sich erstreckenden Teile Oberfrankens... Die Gründe dieser Zunahme liegen vor allem in der gewaltigen Ausbreitung der Industrie der Steine und Erden, insbesondere der Porzellanfabrikation, die in den beiden genannten Gebieten das wichtigste Gewerbe ist." 25

Erst in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden auch in der Oberpfalz, allerdings beschränkt auf einzelne Regionen, die Großbetriebe der Glas- und Porzellanindustrie. Erwähnenswert sind hier vor allem die großen Glashütten in der nördlichen Oberpfalz (Weiden, Neustadt a.d.Waldnaab, Windischeschenbach, Mitterteich und Waldsassen), dann die ebenfalls in der Nordoberpfalz entstandenen Porzellanfirmen, die vor dem Ersten Weltkrieg zusammen 3.000 Beschäftigte zählten.

Folgende Vergleichszahlen26 sollen dazu dienen, die eher späte und zögerliche Industrialisierung in Bayern und hier v.a. in der Oberpfalz darzustellen: Der Anteil der Arbeiterschaft an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen bzw. an der Gesamtbevölkerung (Zahlen in Klammern) betrug:

24 Aus: HEYL, H. 1918, S.18. 25 Ebd., S.40f. 26 Aus: MÜLLER, G. 1988, S.32.

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im Deutschen Reich in Bayern in der Oberpfalz 1882 33,7% (35,5%) 22,3% (28,3%) 24,2% 1895 36,1% (39,1%) 28,0% (31,0%) 24,1% 1907 37,2% (42,8%) 27,4% (33,3%) 26,2%

Unternehmertum und Kapital Ehrgeizige und risikobereite Unternehmer, die den Vertrieb, die Organisation und Rohstoffbeschaffung sowie die Produktionskontrolle beherrschten, somit über technische und kaufmännische Erfahrung verfügten, bildeten als Manufakturunternehmer die Grundlage des industriellen Unternehmertums. Das Kapital für Unternehmensgründungen stammte hauptsächlich aus der Industrie selbst. Handelskapital von Textilkaufleuten und Agenten floß in den Industrieaufbau; danach gewann die Kreditschöpfung durch Banken und Sparkassen mehr und mehr an Bedeutung.

Verkehrsinfrastruktur Das Zeitalter der Industrialisierung ist auch ganz wesentlich "Eisenbahnzeitalter". Wie noch nie in der Geschichte wurden Reisen und Transport beschleunigt, sicher und verbilligt, die Eisenbahn sorgte für eine regelrechte "Verkehrsrevolution": Städte wie Bamberg, Kulmbach oder Hof erhielten wesentliche wirtschaftliche Impulse durch den Anschluß an Magistralen des Eisenbahnnetzes. Hof lebte durch die Einführung der Eisenbahn und der daraus resultierenden Verkehrssteigerung merklich auf; Handel und Industrie wurden geschaffen, gefördert und belebt. Der erste Bahnhof wurde am 1. November 1848 eröffnet. In Hof trafen sich zwei Strecken, die bayerische "Ludwigs-Süd-Nord-Bahn", von Lindau über Ausgburg, Nürnberg und Bamberg sowie eine sächsische Bahn von Leipzig und Dresden über Plauen kommend. Die wichtigsten Massengüter, die auf diesem neuen Verkehrsweg nun nach Hof kamen, waren die Steinkohle aus dem Gebiet von Zwickau und die Baumwolle, die von Hamburg auf der Elbe bis Riesa und von dort mit der Bahn weitertransportiert wurde. Baumwolle war für die Textilindustrie als Rohstoff ebenso wichtig wie Steinkohle für die Porzellanindustrie für die Befeuerung der Brennöfen. Da der alte "Kopfbahnhof" schon bald zu klein wurde, errichtete man 1880 mitten auf freiem Feld einen neuen "Durchgangsbahnhof", der schnell zu einem der wichtigsten Bahnhöfe auf den deutschen Nord-Süd-Strecken wurde.

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Leitsektoren Insbesondere die folgenden Industrien entwickelten sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zu Leitsektoren der Industrialisierung in Oberfranken und der Oberpfalz:

Textilindustrie Hanf, Flachs und Schafwolle bildeten in Oberfranken den Ursprung für die textilgewerbliche Entwicklung; später kam die Baumwolle hinzu, die für den Raum beherrschend werden sollte. Diese Rohstoffe wurden seit Jahrhunderten in den Hauswirtschaften zwischen Frankenwald und Fichtelgebirge verarbeitet. Während in der Schweiz, Schwaben, Sachsen und Schlesien eine Industrialisierung bereits um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert einsetzte, vollzog sich in Oberfranken die Umstellung zur industriellen Spinnerei und Weberei erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Voraussetzung dafür war der Eisenbahnbau. Die sächsische und böhmische Kohle war als preiswerter Energieträger (Dampfkraft) ausschlaggebend für die Entwicklung von Industrieunternehmen. Die ersten Betriebe entstanden entlang der Eisenbahnstrecke Bayreuth-Kulmbach-Münchberg-Hof. Im weiteren Verlauf der Entwicklung gingen die Unternehmer auf die Dörfer, wo textilerfahrene Arbeitskräfte froh waren, geregelte Verdienstmöglichkeiten zu erhalten. Dies bildete einen Grundstein für das Entstehen einer industriellen Landschaft in nordöstlichen Oberfranken. Bis dahin lebte die Landbevölkerung, oft an kleinen Haus- und Grundbesitz gebunden, von den niedrigen und unregelmäßigen Erlösen ihrer Heimarbeit.

Steingewinnung und -bearbeitung Die gewerbliche Nutzung der oberfränkischen Granitvorkommen im Fichtelgebirge blieb bis weit in das 19. Jahrhundert hinein örtlich begrenzt, denn ein Transport schwerer Steinfrachten über weitere Entfernungen war umständlich und wenig lohnend. Für den heimischen Hausbau wurde meist das billigere Holz genommen. Daher konnte die Steingewinnung und -verarbeitung zunächst keine größere gewerbliche Bedeutung erlangen. Mit dem Bau von Eisenbahnstrecken änderte sich auch auf diesem Gebiet sehr viel: Der immense Bedarf an Granitwürfeln für den Gleisbau und an Granitquadern für den Bau von Brücken, Schutzmauern, Laderampen und Bahngebäuden begründete die steile industrielle Entwicklung. Aus handwerklich geführten Steinmetzgeschäften entstanden in kurzer Zeit Industriebetriebe. Die neuen Bahnstrecken verbesserten gleichzeitig die Transportmöglichkeiten, so daß sich der aufstrebenden Granitindustrie bald auch ferner liegende Absatzgebiete erschlossen. Dies wurde für sie um so bedeutungsvoller, nachdem es

21 gelungen war, das bislang nur roh behauene Gesteinsmaterial durch Schleifen und Polieren zu veredeln. Damit waren dem Granit vielfältige neue Absatzmöglichkeiten (Grabsteine, Denkmale, Fassaden u.v.m.) eröffnet worden. Zudem entstand eine eigene Steinbearbeitungsmaschinen-Industrie: An die Stelle der hölzernen Maschinen traten leistungs- und widerstandsfähigere aus Eisen und Stahl.

Von außen her begünstigt wurde der Aufstieg der Granitindustrie durch die rege Bautätigkeit nach der Reichsgründung 1871 und den sich an den siegreichen Ausgang des Krieges 1870/71 anschließenden wirtschaftlichen Aufschwung. Bis zum Beginn des 1. Weltkrieges war die Industrialisierungsphase der oberfränkischen Natursteinindustrie weitgehend abgeschlossen.

Porzellanindustrie Als es im Zeitalter des Barock gelungen war, in Sachsen das Geheimnis der "China-Waare" 27 zu ergründen, blieben Porzellanservice und -figuren noch lange den Fürstenhäusern vorbehalten. Eine allgemeine Verbreitung des Geschirrporzellans erfolgte erst mit Beginn der industriellen Massenfertigung. Dieser Entwicklung vorausgegangen war das ideelle und materielle Interesse absolutistischer Herrscher, eigene Manufakturen zu gründen. Im östlichen Franken wurde 1794 in Tettau die erste Fabrikationsstätte für Porzellan errichtet, die der preußische König Friedrich Wilhelm II. privilegiert hatte. Fayencen waren zuvor in Creußen und in Bayreuth gefertigt worden. Die industrielle Entwicklung beginnt mit dem Besuch des aus Thüringen kommenden Carolus Magnus HUTSCHENREUTHER in Hohenberg, der am Steinberg zufällig Porzellanerde (Kaolin) fand. Die für den Brennprozeß notwendigen Holzmengen waren ebenfalls in ausreichendem Umfang vorhanden.

Die hohen Temperaturen mit Holz zu erreichen, war schon ein Problem der Porzellanentdecker BÖTTGER und TSCHIRNHAUS gewesen, außerdem war der Holzbedarf für die Ofenfeuerung erheblich. Dieser war fast ein Grund für die Ablehnung des Konzessionsgesuches von HUTSCHENREUTHER gewesen, zumal sich vier kleine Hammerwerke und die Märkte Thiersheim und Selb bei der Königlichen Generalkommission des Mainkreises in Bayreuth gegen die Errichtung einer "Porcellain-Fabrique" in Hohenberg erklärt hatten. Als 18838 ein anderer Porzellanmaler, Lorenz Christof ÄCKER, beim Landgericht Wunsiedel ebenfalls um eine Konzession nachsuchte, erhob diesmal

27 Alte Bezeichnung für Porzellan.

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HUTSCHENREUTHER Einwendungen, da er die Konkurrenz fürchtete. ÄCKER konnte jedoch nachweisen, daß er seine Öfen mit Torf und Kohle heizte und erhielt daraufhin die Erlaubnis, seine Fabrik zu errichten.

1856 machte sich HUTSCHENREUTHERs Sohn Lorenz selbständig und zog nach Selb, das kurz vorher von einem Großfeuer heimgesucht worden war. Die Selber hatten bis dahin vorwiegend von der Hausweberei gelebt. Durch das Feuer waren die Webstühle vernichtet worden, so daß die Ansiedlung von Porzellanfabriken Ersatz für die verlorengegangenen Arbeitsmöglichkeiten bot.

Die Kaolin- und Kohlevorkommen im Karlsbader Raum ließen dann in der weiteren industriellen Entwicklung den Raum Selb zum deutschen Porzellanzentrum werden: "Die Kaoline jener Orte 28, wie die sächsischen 29, sind bedeutend billiger als jene der Karlsbader Gegend, haben aber den Nachteil, daß sie zu `kurz` sind, also nicht jenen hohen Grad an Plastizität besitzen, wie er den Karlsbader Kaolinen eigen ist. Der Karlsbader Kaolin muß also überall dort verwendet werden, wo auf Qualität entscheidend Wert gelegt wird."30

Während der Gründerzeit erhielt auch die Porzellanindustrie durch die steigende Nachfrage lebhaften Auftrieb, der sich in den zahlreichen Fabrikgründungen zwischen 1871 und 1900 zeigt. Kennzeichnend für die Porzellanindustrie war von Anfang an das Vorherrschen größerer Betriebe. 1907 waren in Oberfranken in 71 Porzellanfabriken annähernd 10.500 Arbeitskräfte beschäftigt. Die Standortwahl orientierte sich nicht ausschließlich an den Rohstoffvorkommen entlang der böhmischen Grenzen. Frühere Hausweber und ehemalige Arbeitskräfte aus dem Bergbau kamen in der Porzellanindustrie unter und fanden wieder geregelte Arbeit. Die Porzellanunternehmen förderten häufig auch von sich aus die Erhaltung eines festen Facharbeiterstammes, indem sie z.B. für Bauvorhaben zinsgünstige Darlehen gewährten oder für längere Betriebszugehörigkeit Prämien zahlten.

Glasherstellung Der Holzreichtum und die Quarzvorkommen des Thüringer Waldes und des Fichtelgebirges ließen Glashütten im östlichen Franken entstehen, nachdem fachkundige Glasmacher aus Italien und Böhmen hierhin gezogen waren. Das Holz war nicht nur anfangs einziges

28 Gemeint sind hier die Kaolinlagerstätten südlich der Eger bei Saaz: Podersam, Rudig und Pomeisl. 29 Die sächsischen Kaolinlager befanden sich bei Hohburg, Mügeln, Meißen und Rochlitz. 30 GEORGI, O. 1922, S.10.

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Brennmaterial, sondern diente zugleich der Gewinnung von Pottasche, die als Flußmittel bei der Glasschmelze notwendig war.

Als Holz seine Bedeutung für die Glasherstellung verlor, erloschen die zahlreichen "Waldhütten" im Fichtelgebirge und Holz wurde durch Kohle substituiert. Dennoch lebte die Tradition der Hohlglasherstellung fort: Kohle aus den nahegelegenen Vorkommen (Sachsen und Böhmen) löste Holz als Energiequelle ab.

Korbwarenherstellung Ausgangspunkt für die oberfränkische Korbflechterei waren die reichen wilden Weidenbestände im Maintal zwischen Lichtenfels und Burgkunstadt. Ihr gewerblicher Ursprung war das Körbeflechten in den ländlichen Hauswirtschaften. Nachdem anfangs die heimischen Weiden den Bedarf gedeckt hatten, mußten mit dem Einsetzen der industriellen Entwicklung das Rohmaterial auch von auswärts importiert werden. Dabei war das Oder- und Weichselgebiet der Hauptlieferant. Zwar spielten die heimischen Weiden für die Korbwarenindustrie schließlich nur noch eine marginale Rolle; dennoch blieb die Korbflechterei bodenständig, da sie sich an den kostengünstigen Arbeitsbedingungen orientierte. Die mittel- und süddeutschen Agrarräume waren gute Absatzmärkte für die Lichtenfelser Korbwaren, doch dominierte vor dem 1. Weltkrieg das Auslandsgeschäft. Aus der Korbflechterei entwickelte sich mit fortschreitender Industrialisierung die Korbmöbel- und Kinderwagenfertigung.

Bierbrauerei Die oberfränkische Gewerbestatistik aus dem Jahr 1907 weist 699 Haupt- und 300 Nebenbetriebe in der Bierbrauerei aus. Diese Vielzahl erklärt sich aus den für Oberfranken lange typisch gewesenen Kommunbrauereien (öffentliche Brauhäuser), in denen die Bürger zunächst für ihren Eigenbedarf, später aber auch für den Ausschank ihres Haustrunkes Bier brauten.31 Neben die "brauenden Bürger" traten konzessionierte Brauer. Die Bierproduktion diente zunächst dem lokalen Bedarf. Die verbesserten Verkehrswege und die damit erleichterten Versandmöglichkeiten ließen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts größere Braustätten meist durch den Zusammenschluß einzelner bisher selbständiger Brauer entstehen. Mit der Vervollkommnung der Brautechnik dehnte sich auch der Bierhandel aus;

31 Diese Tradition findet man auch heute noch im sog. "Zoigl-Bier", einer Art Haustrunk.

24 nach 1870/71 entwickelten sich auf dieser Basis die Industriebrauereien. Die oberfränkischen Biere gingen nach Sachsen, Thüringen, Berlin und in den norddeutschen Raum; exportiert wurde vorwiegend in die USA, Frankreich, Belgien und England.

Faßt man die Entwicklung dieser für Oberfranken maßgebenden Sektoren der industriellen Produktion zusammen, so ergeben sich für die industrielle Standortbildung der oberfränkischen Gewerbe als gemeinsame Grundlage die Rohstofforientierung, eine gute Verkehrsanbindung und eine seit Generationen gewerblich tätige Bevölkerung. Im 19. Jahrhundert setzte mit der Verkehrserschließung des Raumes und der sich daraus ergebenden Möglichkeit, Rohstoffe leicht heranzuführen, die industrielle Entwicklung ein. Die industrielle Gesellschaft entstand in weiten Teilen Deutschlands durch Wanderungsbewegungen der Bevölkerung. Wanderungziel war der industrielle Standort, in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadt. Begrenzt zeigt sich diese Entwicklung auch in Oberfranken, in Hof, Bayreuth und Bamberg. Wenn sich aber während der Industrialisierungsphase in Oberfranken kein größeres städtisches Zentrum entwickeln konnte, so hing dies nur teilweise mit der geschichtlichen Entstehung Oberfrankens zusammen.32 Entscheidender war die Seßhaftigkeit der Landbevölkerung, die in der Regel mit kleinem Haus- und Grundbesitz verbunden war. Es ist eine Besonderheit der industriellen Entwicklung Oberfrankens, daß neben den Fabrikgründungen in der Stadt die Fabriken hinaus in die Landschaft gegangen sind, wo sie ihren Bedarf an Arbeitskräften aus den zurückgehenden Hausgewerben und dem Niedergang des Bergbaues decken konnten. Gleichzeitig begrenzte aber der Zug der Industrie auf die Dörfer jeweils die Betriebsgröße, denn die Einzugsbereiche der einzelnen Industriegemeinden waren von Anfang an klein. Im Nordwesten und entlang der sächsischen und böhmischen Grenze entwickelte sich eine flächenmäßig weitgestreute Industriezone von rasch aufstrebenden Textil-, Porzellan-, Granit- und Holzbetrieben. Die historische Entwicklung führte in den Räumen Lichtenfels, Münchberg-Helmbrechts-Hof und Selb zu Monostrukturen, die z.T. heute noch erkennbar sind.

32 Die bambergischen Ämter waren weit weniger industrialisiert als die Amtshauptmannschaften in der Markgrafschaft, deren kärgliche Bodenverhältnisse ihre Bewohner schon frühzeitig vom gewerblich- kaufmännischen Sinn der Nürnberger Burggrafen erfassen ließ. Im Bamberger Land war dagegen die gewerbliche Entwicklung der handwerklichen Betriebe zu Manufakturen durch hoheitliche Verbote behindert worden.

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2.1 Der Aufschwung des östlichen Fichtelgebirge durch die Porzellanindustrie

Lange Zeit hindurch stand der östliche Fichtelgebirgsraum ökonomisch im Schatten des westlichen Raumes. Frühe Erzfunde, deren Verarbeitung sowie das Zentrum des Glas- und Textilgewerbes lagen im westlichen Teil des Fichtelgebirgshufeisens. Zwar bildeten die Städte Marktredwitz, Selb und Rehau sowie der Raum Arzberg-Schirnding eine gewisse Ausnahme, doch erreichten diese bei weitem nicht die Bedeutung Weißenstadts oder Wunsiedels.

Dies änderte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als C.M. Hutschenreuther 1814 die erste Porzellanfabrik des Fichtelgebirges in Hohenberg a.d. Eger gründete. Die Kaolin- und Pegmatitvorkommen in unmittelbarer Nähe Hohenbergs, das Vorhandensein der ebenfalls benötigten Rohstoffe Feldspat und Quarzsand, schließlich Holzbestände als Brennmaterial begünstigten die Gründung einer Porzellanfabrik. Die bis dahin im Textilheimgewerbe Beschäftigten wanderten wegen der besseren Bezahlung zum Teil in die Porzellanindustrie ab.

Hohenberg bildete somit den Ausgangspunkt der nordostbayerischen Porzellanindustrie, dem 1838 eine weitere Fabrikgründung in Arzberg folgte. Mit der gleichzeitigen Gründung einer Porzellanfabrik in Tirschenreuth dehnte sich dieser Industriezweig auch in die angrenzende nördliche Oberpfalz aus. Den eigentlichen Durchbruch zu großer industrieller Bedeutung schaffte die Porzellanproduktion jedoch erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der große Stadtbrand von Selb verwüstete 1856 fast die gesamte Stadt: 221 von 300 Häusern waren zerstört, 80% der 3.389 Einwohner waren obdachlos. 60-70% der Bevölkerung waren Hausweber und deren Angehörige, die ihre Webstühle verloren hatten und vor dem wirtschaftlichen Ruin standen. Um dieses billige und willige Arbeitskräftereservoir zu nutzen, gründete L. Hutschenreuther die erste Porzellanfabrik in Selb.

Nachdem die Gründungen in Hohenberg, Arzberg und Tirschenreuth als initiale Vorläufer anzusehen sind, machten die rasch folgenden Industriegründungen der Firma Zeidler & Co. 1864 und der Porzellanmalerei Rieber & Co. 1868 Selb zu einem Innovationskern für die Porzellanindustrie Nordbayerns. Entscheidende Impulse zu Verbesserungen im Produktionsablauf und in der Produktionstechnik gingen von den Porzellanfabriken Selbs aus; Fachkräfte aus Selber Betrieben wurden bei der Planung, dem Bau und schließlich der

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Produktion anderweitiger Unternehmen herangezogen; die Selber Porzellanfachschule bildete ab 1909 den Nachwuchs für die Industrie aus.

Bis zum Jahre 1890 verstärkte sich die Konzentration der Porzellanindustrie im östlichen Fichtelgebirge: Im Zentrum Selb wurden die Firmen Rosenthal (1890), Krautheim & Adelberg (1894) und Paul Müller (1890) gegründet; nördlich von Selb entstanden zur gleichen Zeit Porzellanfabriken in Schönwald, Rehau, Schwarzenbach a.d. Saale, Oberkotzau und Hof-Moschendorf; südlich Selbs wurde in Arzberg eine weitere Fabrik gebaut, es entstanden Porzellanfabriken in Waldsassen, Mitterteich und Weiden. Bis 1890 war somit ein schmales Band von Porzellanfabriken entstanden, das von Hof über Selb, Arzberg und Tirschenreuth bis nach Weiden reichte. Die innere Fichtelgebirgshochfläche westlich von Selb und Arzberg besaß zu dieser Zeit noch keine Porzellanfabriken.

Bereits vor der Jahrhundertwende löste sich die Porzellanindustrie von der Rohstofforientierung ihrer Gründungsphase; nun wurde der Eisenbahnanschluß zu einem wichtigen Standortfaktor. Es wurden nun nicht mehr nur örtlich gefundene Rohstoffe verwendet; vielmehr stammten die Kaoline aus Böhmen, der Oberpfalz oder England, Quarz z. B. aus Pfahl im Bayerischen Wald, Feldspate aus Schlesien. Schwefelarme Braunkohle aus dem Falkenauer und Duxer Revier (Böhmen) sowie Steinkohle aus Zwickau hatten Holz als Brennstoff abgelöst. Unter der Arbeiterschaft der frühen Porzellanbetriebe waren nur wenige Facharbeiter aus dem thüringischen und sächsischen Gebiet. Diese wurde durch einheimische, aus dem Töpfergewerbe stammende Arbeiter ergänzt; die Mehrheit bildeten jedoch ehemalige Textilheimarbeiter. Die Abwanderung von (Heim-) Arbeitern aus der Textilindustrie wurde durch die 1870/71 erfolgte Angliederung Elsaß-Lothringens an das Deutsche Reich noch beschleunigt, da hierdurch der oberfränkischen Textilindustrie ein großer Konkurrent entstand, der zudem eine weit höhere Produktivität besaß. Der Wettbewerb mit den elsässischen Textilfabriken zwang zu Rationalisierungs- und Konzentrationsmaßnahmen, die bis 1900 andauerten und diejenigen Städte bevorzugten, die bis dato schon größere Textilfabriken beherbergten: Hof, Helmbrechts, Münchberg und Kulmbach. Das Textilheimgewerbe verlor im Fichtelgebirge jegliche Bedeutung, kleinere Firmen hielten sich in Wunsiedel und Marktredwitz. Damit wiederum war eine der Voraussetzungen für eine Expansion der Porzellanindustrie in den westlichen Fichtelgebirgsraum - brachliegendes Arbeitskräftepotential - geschaffen worden.

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Da der Arbeitsmarkt der frühen Porzellangebiete gesättigt war und bereits viele Arbeiter aus der ländlichen Umgebung in die Porzellanstädte gezogen waren, dehnte sich die Porzellanindustrie nach Westen aus. Den bisher im Heimgewerbe beschäftigten Arbeitskräften wurde nun auch hier, wie bereits im östlichen Fichtelgebirgsraum bei den ersten Firmengründungen, Arbeit in der Porzellanindustrie angeboten, soweit die Arbeiter nicht schon in die Granitindustrie abgewandert waren. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war auf der inneren Fichtelgebirgshochfläche die wirtschaftliche Bedeutung von Granit- und Porzellanindustrie durchaus gleichwertig. Dieses ökonomische Gleichgewicht verschob sich während des Ersten Weltkrieges, insbesondere jedoch nach dessen Ende zugunsten der Porzellanindustrie, die ihre Produktionsstandorte nach Westen ausdehnte und sich in den einst von der Granitindustrie geprägten Städten Kirchenlamitz (Schaller & Co., 1920), Weißenstadt (Dürrbeck & Ruckdäschel, 1920) und Marktleuthen (Vates & Co., 1921; bereits vorher Winterling, 1898) ansiedelte. Damit waren die Expansionsphasen der nordostbayerischen Porzellanindustrie abgeschlossen, die industrielle Struktur des gesamten inneren Fichtelgebirgsraumes war durch die Porzellanfabriken geprägt.

Porzellanindustrie und Eisenbahnbau im Fichtelgebirge33

33 Aus: RUPPERT, H. 1971, S.314.

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2.2 Entwicklung in der Porzellan- und Keramikindustrie

Während FORBERGER die Meinung vertritt, daß eine, wenn auch verzögerte, Industrielle Revolution beim Produktionsprozeß des Porzellans sehr wohl stattgefunden hat, „... das Eindringen der Industriellen Revolution in den Fertigungsbereich des Werkstoffs Porzellan ... (erfolgte) grundlegend seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die technisch-technologischen Wandlungen vollzogen sich 1. durch eine allerdings langsame bzw. späte Entwicklung der Mechanisierung in der Massebereitung, 2. einen nach etwa 20jähriger Stagnation erfolgenden Fortschritt in der Brenntechnologie, die ... innerhalb der Manufaktur das technisch fortschrittlichste Gebiet der Produktion war, und 3. durch die Anwendung chemischer Versuchsergebnisse auf dem Gebiete der Zusammensetzung der Erden für die Masse sowie der Herstellung von Porzellanscherben.“ 34 und diese These mit Beispielen au der Porzellanmanufaktur Meißen zu belegen sucht, geht im Gegensatz dazu MÄMPEL davon aus, daß in der Keramikproduktion eine Industrielle Revolution nicht stattgefunden hat. Er untermauert diese Annahme mit folgenden 5 Thesen:35 In vielen Keramikbetrieben wurde schon seit der Renaissance arbeitsteilig produziert. Die Arbeitsteilung war verknüpft mit der Mechanisierung der keramischen Formgebung auf der Töpferscheibe. Bereits im 17. Jahrhundert wurden Maschinen zur Masseaufbereitung eingesetzt. Ziegler und Töpfer benutzten schon frühzeitig Formen und Model, um Produkte wie Ziegel, Fliesen und Gefäße in großer Stückzahl herstellen zu können. Die Brennanlagen entwickelten sich sukzessiv von Kammeröfen über Ringöfen zu Tunnelöfen. Grundlegende Innovationen entstanden erst mit der Schnellbrandtechnik im 20. Jahrhundert.

MÄMPEL führt weiter aus: "Mit neuen technischen Errungenschaften in Handwerksbetrieben und Manufakturen des 17. Jahrhunderts wurden Arbeitsveränderungen geschaffen, die die Industrialisierung vorantrieben. Massenproduktion, Meßmethoden und die Verwendung von Halbfertigfabrikaten sind nicht erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. In Ziegeleien und Manufakturen wurden große Mengen gleichförmiger Produkte hergestellt... Die Keramikbetriebe des 17. Jahrhunderts standen am Anfang der Industrialisierung." 36

Betrachtet man die Entwicklung in der Porzellan- und Keramikindustrie, so lassen sich drei größere Zeitabschnitte ausmachen: 1710 bis 1860, 1860 bis 1890 und ab 1890.

34 FORBERGER, R. 1985, S.15. 35 1995, S.4. 36 MÄMPEL, U. 1995, S.6

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1710 bis 1860 Dieser Zeitraum ist charakterisiert durch das Überwiegen manueller Fertigung bei Masseaufbereitung,37 Formgebung und Dekoration des Porzellans. Die Produktivität wurde ausschließlich durch den Produktionsfaktor Mensch gesteigert, indem die Zergliederung des Arbeitsprozesses in arbeitsteilige38 Einzelschritte konsequent durchgeführt wurde. Die Aufgliederung in Dreher, Former und Bossierer39 einerseits und in Blaumaler, Buntmaler, Blumenmaler, Genremaler andererseits beweist, daß in Formgebung und Dekoration nur durch Spezialisierung der Arbeitskräfte eine höhere Produktivität und eine Steigerung der Qualität erreicht werden konnte, da in diesem Zeitraum nur die Drehscheibe (Formgebung) bzw. Feder und Pinsel (Malerei) zur Verfügung standen. Bis 1850 setzte sich der Rundofen durch; eine Mechanisierung der Produktion war nur in der Masseaufbereitung erkennbar und der Einsatz von Dampfmaschinen erwies sich zunächst noch als kostenungünstig. Da ein Patent- oder Gebrauchsmusterschutz unbekannt war, wurden empirisch bzw. "wissenschaftlich" erzielte Ergebnisse geheimgehalten. Was die Tätigkeit der Arbeiter in diesem Zeitraum angeht, so ist zu sagen, daß z.B. Maler und Modelleure künstlerisch tätig waren, während Dreher und Brenner eher eine technische Tätigkeit ausübten. Dieser Unterschied im sozialen Niveau der einzelnen Berufsgruppen läßt sich auch in der sozialen Sicherstellung im Krankheitsfall nachweisen: So bestand in der Porzellanmanufaktur Plaue bereits seit 1821 eine Krankenunterstützungskasse für Maler, während solche Kassen für Dreher erst 1846 und für Brenner erst 1859 gegründet wurden.

1860 bis 1890 Durch den Wegfall der Konzessionierungspflicht in den Gewerbegesetzen von 1862/64 wurde die ungehinderte Gründung von Porzellanfabriken möglich. Der Zeitraum von 1860 bis 1890 ist gekennzeichnet durch die größte Anzahl von Fabrikneugründungen in der gesamten Geschichte der Porzellanindustrie. Durch die Ansiedlung der Porzellanindustrie in Oberfranken, im damaligen Niederschlesien und Böhmen, in der Oberpfalz sowie der Ausweitung dieser Industrie in Thüringen entstand die Standortstruktur der Keramik- und Porzellanindustrie, die auch heute noch Gültigkeit besitzt.

37 Die Massebereiter hießen früher "Arkanisten". 38 Die arbeitsteilige Aufgliederung wurde beibehalten und war bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch für die Porzellanindustrie. So unterschied man noch 1934 nach 71 diversen Einzeltätigkeiten. 39 Bossierer waren Modelleure.

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Der Rückgang der Eisenhüttenindustrie bewirkte, daß die Porzellanindustrie als Brennholzverbraucher diese Lücke füllen konnte. So wurden ehemalige Eisenhütten, besonders in Thüringen, in Porzellanfabriken umgewandelt. Ferner kennzeichnet diesen Zeitraum der hohe Prozentsatz an Heimarbeit, der die Investitionskosten der Gebäude für Maler und Former einsparen half.

In der Formgebung fanden nur geringe Veränderungen statt, ebenso in der Dekoration; 40 lediglich die Einführung des Preßverfahrens für trockene Massen bedeutete eine neue Technologie. Wegen der geringen Trockenschwindung der Preßartikel war es nun möglich, Produkte, bei denen es auf hohe Maßgenauigkeit ankam, herzustellen; solche waren insbesondere Porzellanteile für die Elektroindustrie und den Apparatebau. Der Brennprozeß unterlag großen Wandlungen, nachdem der Eisenbahnbau den Kohletransport möglich gemacht hatte. Ab 1860 ging man zur Kohlefeuerung beim Brand über,41 wenngleich in vielen älteren Porzellanfabriken noch bis zur Jahrhundertwende mit Holz gebrannt wurde.42 Die neu errichteten Porzellanfabriken wurden in diesem Zeitraum sofort für Steinkohlenfeuerung und Dampfmaschinenantrieb eingerichtet. Um 1890 war jedoch die Vergrößerung des Antriebs mittels Dampfmaschine weitgehend erschöpft, da die Transmissionen zuviel Antriebsenergie verbrauchten. Trotzdem wirkte sich die Einführung des Dampfmaschinenantriebs fördernd auf die Porzellanindustrie aus, da diese sich nunmehr entlang der Eisenbahntrassen ansiedeln konnte, ohne auf vorhandene Wasserkräfte angewiesen zu sein. Bei der Masseaufbereitung gab es in diesem Zeitabschnitt durch die Einführung der Masseschlagmaschine, der Filterpressen, der Trommelmühlen und Strangpressen den größten technischen Fortschritt.

Die Rohstoffversorgung konzentrierte sich durch die Bahnverbindungen auf wenige Kaolinlagerstätten. So wurden Kaoline aus Morl, Bennstedt, Salzmünde bei Halle, Kemmlitz bei Oschatz und Zettlitz bei Karlsbad verwendet und Feldspat wurde aus Schweden und Norwegen importiert. Dadurch wurde die Porzellanindustrie unabhängig von Lagerstätten. An den Kaolinlagerstätten selbst wurden Aufbereitungsanlagen (Schlämmereien) errichtet, die ein gleichmäßigeres Produkt lieferten. Der Zeitraum 1860 bis 1890 war gekennzeichnet durch die

40 Die Innovationen in der Porzellanindustrie werden ausführlich im Kap.V dargestellt. 41 In der PF Kahla (Thüringen) wurde 1861 ein kohlebeheizter Rundofen erbaut. 42 Ursächlich dafür war, daß viele PF sog. "Holzgerechtsame" (=Holzrechte) besaßen, die ihre Belieferung mit Brennholz garantierten. So hatte bspw. die PF Rauenstein (Thüringen) einen solchen Kontrakt, der bis 1907 Gültigkeit besaß.

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Herausbildung der Silicattechnik als Wissenschaft. Es mußten Methoden zur Beurteilung der Feuerfestigkeit von Tonen43 geschaffen werden sowie Methoden zur Berechenbarkeit von Massen und Glasuren, deren Bearbeitung bis dahin eher den Charakter einer empirischen Rezeptwirtschaft besaß.

Durch den verstärkten Einsatz von Maschinen und Antriebsmitteln erfolgte der Übergang von der Manufaktur zur Fabrik, deren Betriebsgröße bis zu 1.000 Beschäftigte betrug. Zur Gründung von Porzellanfabriken war nunmehr Kapital in einer Höhe erforderlich, die ein einzelner Unternehmer nicht mehr aufbringen konnte, weswegen der Mehrunternehmerbetrieb (GmbH oder oHG) die vorherrschende Betriebsform wurde. Mit der Umwandlung der Porzellanfabriken in Aktiengesellschaften, die 1884 insbesondere durch den Strupp-Konzern begann, wurde die Entwicklung der übrigen deutschen Industrie auch von der Porzellanindustrie übernommen. Durch den Rückgang der künstlerischen Tätigkeit (Abnahme des manuellen Bemalens) näherten sich die Porzelliner dem modernen Industrieproletariat immer mehr an. Dies fand seinen Ausdruck in der Gewerkschaftsbewegung. So wurde 1869 der Gewerkverein der Porzellan- und Glasarbeiter gegründet und es kam zu ersten Streiks.44

Ab 1890 Der Zeitraum bis zum Ersten Weltkrieg ist gekennzeichnet durch Steigerungen der Produktion und des Exportes. Während des Ersten Weltkrieges und in den Jahren danach verringerte sich der Produktionsumfang und wegen Brennstoffmangels wurden einige Werke zeitweise stillgelegt.45 Die Expansionsphase der deutschen Porzellanindustrie endete und es setzten verstärkt Rationalisierungsmaßnahmen ein. Da die meisten Porzellanfabriken in Oberfranken und der Oberpfalz erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert entstanden waren, boten sie günstigere bauliche Voraussetzungen für Rationalisierungen als die älteren thüringischen Porzellanfabriken, die technologisch, z.B. beim Einsatz der modernen Tunnelöfen, zurückblieben.46 Durch einen immensen Bedarf an elektrischem Isoliermaterial entwickelte sich ein völlig neuer Zweig der Porzellanindustrie. Zunächst auf Berlin

43 Feuerfeste Porzellanmassen wie bspw. die von F. H. RIDDLE beschriebene Marquardtsche Masse wurden durch Erhöhung des Tonerdegehaltes verfertigt. In: Transactions of American Ceramic Society 1917, 19th ann., p.397. 44 1869 wurden in Thüringen die PF von Taubenbach und Stützerbach bestreikt. 45 In Thüringen z.B. die PF Freienorla und Stadtilm. 46 Der technologische Rückstand führte dazu, daß z.B. die thüringischen Werke der Kahla AG nach dem Ersten Weltkrieg fast ausschließlich billige Massenware produzierten, während in den oberfränkischen Werken dieser Aktiengesellschaft Qualitätsporzellane hergestellt wurden.

32 beschränkt (Schomburg), wurden schon bald Elektroporzellanfabriken in Niederschlesien und in der Lausitz (Großdubrau) gebaut und auch in Thüringen, der Oberpfalz und Oberfranken entstanden Elektroporzellanfabriken.47

Mit der Entstehung und Entwicklung der Elektroporzellanindustrie gewann die Formgebung durch Pressen an Bedeutung und auch im Gieß- bzw. Drehverfahren wurden wichtige Fortschritte erzielt; zunehmend wurde der Elektroantrieb in den Porzellanfabriken eingesetzt. In der Brenntechnologie setzte sich die Gasbeheizung durch, die Voraussetzung für den Einsatz der modernen Tunnel-, Gaskammerring- und Rundöfen war. Was die Rohstoffgewinnung betrifft, so ist zu sagen, daß hier keine großen Veränderungen eintraten.

An Elektroporzellan wurden bestimmte Anforderungen hinsichtlich mechanischer Festigkeit, elektrischer Durchschlagfestigkeit und Kriechstromverhalten gestellt, was eine wissenschaftliche fundierte Produktionskontrolle bedingte. Dies führte zur Einrichtung von Hochspannungsprüfanlagen und Betriebslabors, die gleichzeitig auch neue Produkte entwickelten.48 Röntgenologische Untersuchungen an Porzellanscherben49 führten zur Umwandlungsreihe Kaolinit-Metakaolinit-Mullit und lieferten damit Erkenntnisse über Struktur und mineralogische Zusammensetzung des Porzellans; die Erfassung der Werkstoffkenngrößen eröffnete weitere Verwendungsmöglichkeiten.50

Das mit der Gründung von Aktiengesellschaften eingesetzte Bankkapital wurde hauptsächlich in der Elektroporzellanindustrie eingesetzt, weil man dort am ehesten eine hohe Rendite erwartete. Dabei handelte es sich um die gleichen Banken, die auch die Elektroindustrie finanzierten. Die Elektro- und Geschirrporzellanbranche wurden weitgehend monopolisiert. So umfaßte bspw. der Kahla-Konzern im Jahre 1922 folgende Werke: PF Kahla AG; PF Gebr. Bauscher, Weiden; Lorenz Hutschenreuther, Selb; PF Hermsdorf; PF Freiberg; PF Zwickau; PF Rauenstein; PF Königszelt (Schlesien); PF Schönwald; E.u.A. Müller, Schönwald; PF Veilsdorf; Kaolinwerk Kemmlitz.

47 So wurde 1891in Thüringen die als Geschirrporzellanfabrik gegründete PF Hermsdorf auf die Produktion von Elektroporzellan umgestellt; gleiches gilt für die PF Neuhaus-Schierschnitz und Kloster Veilsdorf. 48 Im Betriebslabor der PF Hermsdorf/Thür. wurde 1897 die Deltaglocke als neue Isolatorenform entwickelt. 49 FRIEDL definiert Scherben als "... .keineswegs Bruchstücke, sondern den eigentlichen Körper des Gegenstandes, die Masse, aus der er geformt ist....Der Scherben kann braun, rot, grau oder weiß, er kann porös oder dicht gesintert (wasserundurchlässig), er kann durchscheinend (transparent bzw. transluzent) oder nicht durchscheinend sein, je nach Art des betreffenden keramischen Erzeugnisses." 1980, S.6. 50 So z.B. Porzellanfliesen zur Auskleidung von Unterführungen der Reichsbahn (ab 1901 in Kahla produziert), Porzellanrohre für die Sanitärtechnik und Fadenführer für die Textilindustrie.

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Außerdem fusionierte man 1922 mit der Firma J. Schachtel AG, Sophienau (Schlesien) und 1926 mit der Firma Schomburg, Großdubrau. Die PF Triptis, Roschütz, Volkstedt wurden durch Vertreter der Kahla AG mittelbar kontrolliert.

Bereits im Jahre 1871 entstand mit der Gründung des Verbandes der keramischen Gewerke in Deutschland der erste Unternehmerverband auf dem Sektor der Stein- und Erdenindustrie. Eine Preiskartellierung in der Porzellanbranche suchte die 1899 gegründete Vereinigung deutscher Porzellangeschirrfabriken zur Hebung der Porzellanindustrie durchzusetzen.51 Unter der Dachorganisation des Verbandes keramischer Gewerke Deutschlands entstanden bis1921 insgesamt 30 Kartellverbände, die den Gesamtbereich der Keramik umfaßten, darunter der Verband deutscher keramischer Malereien, der Verband deutscher Luxusporzellanfabrikanten, der Verband deutscher elektrotechnischer Porzellanfabrikanten (gegr. 1919), die Vereinigten Porzellan-Isolatorenwerke (gegr. 1910) und der Verband deutscher Spülwaren- und Sanitätsgeschirrfabrikanten (gegr.1906).

Auch die Porzellanarbeiter suchten sich zu organisieren und 1869 wurde der Gewerkverein der Porzellan- und Glasarbeiter Deutschlands gegründet, der den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen angeschlossen war und die Mitgliedschaft in der sozialdemokratischen Partei verbot. Bis zum Jahre seiner Auflösung (1911) erreichte er mit ca. 4.700 Mitgliedern einen Organisationsgrad von 10% der Porzellanarbeiter. Ausgelöst durch das nachgiebige Verhalten des Gewerkvereins kam es in den Jahren 1885-1890 zur Gründung von 10 neuen Gewerkschaftsverbänden auf regionaler Ebene; in diesen waren hauptsächlich Maler organisiert. Durch Austritt aus dem Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein und durch Zusammenschluß mit den regionalen Verbänden entstand 1891/92 eine der Generalkommission der Gewerkschaften angeschlossene Einheitsgewerkschaft, der Verband der Porzellanarbeiter Deutschlands. Diesem konnten auch ungelernte Arbeiter und ab 1896 auch Frauen beitreten.52 Im Jahre 1913 organisierte er mit 16.972 Mitgliedern ungefähr 25% der Porzelliner und konnte die Streiks des Jahres 1911 zum Teilerfolg führen. Am 7.5.1918 kam es zu einem ersten regional begrenzten Tarifvertrag zwischen Unternehmern und der Gewerkschaft in der Porzellanbranche; diesem folgte am 25.8.1919 ein erster für ganz

51 Dieser Verband besaß folgende Unterabteilungen: Verband Bayerischer Porzellanindustrieller (Hof), Thüringer Bezirksvereinigung des Verbandes deutscher Porzellanfabriken (Stadtlengsfeld), Verband Ostdeutscher Porzellanfabriken (Altwasser/Schles.). Vgl. FILLMANN, A. 1925, S.181 und von YSENBURG-PHILIPPSEICH, L. 1921, S. 17. 52 Quelle: APM-DDR PII 778. Protokoll der 2. ordentlichen Generalversammlung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen 1896. S.32ff.

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Deutschland geltender Tarifvertrag (Reichstarifvertrag). Dies führte zu einer starken Belebung der Gewerkschaftsbewegung: 1919 waren 42.645 Arbeiter der Glas- und Keramikbranche gewerkschaftlich organisiert; hinzu kamen noch 22.000 Mitglieder christlicher Gewerkschaften. 1921 waren 60.425 Arbeiter organisiert (77%) und 1922 erreichte der Organisationsgrad mit 74.077 Mitgliedern fast 100%! Durch den Zusammenschluß des Verbandes der Porzellanarbeiter, des Verbandes der Glasarbeiter und der Abteilung Steine und Erden des Verbandes der Fabrikarbeiter Deutschlands zum Keramischen Bund gelang es am 1.8.1926, die Gewerkschaftsbewegung weiter zu stärken.

Untersucht man MÄMPELs Thesen nach Maßgabe der eben dargestellten Entwicklungen, so läßt sich folgendes feststellen: Arbeitsteilung: Ausgehend von den Bemühungen um Geheimhaltung des Produktionsverfahrens und zur Erzielung einer hohen Produktivität in manufaktureller Produktion wurde die Porzellanproduktion schon von Beginn an arbeitsteilig extrem aufgegliedert.53 Mechanisierung der Formgebung: Bereits 1765 war die Wedgwood-Drehbank zum Abdrehen der keramischen Rohlinge im Einsatz. Hierbei drehte eine Hilfskraft ein Schwungrad, dessen Energie mittels Transmission die Töpferscheibe antrieb. Später wurde die Drehscheibe durch Transmission von einer Dampfmaschine angetrieben. Es folgten maschinengetriebene Drehscheiben mit Selbstregulierung und maschinengetriebene Abdrehbänke, außerdem wurde die Anwendung von Schablonen und Dreheisen erweitert. 1863 wurde in Österreich das Patent für einen Friktionsantrieb für beliebige veränderbare Geschwindigkeiten für Drehmaschinen erteilt. Des weiteren kamen Drehspindeln verschiedener Ausführung zur Anwendung. Maschinen zur Masseaufbereitung: Die Zerkleinerung der Hartstoffe erfolgte nach dem Vorbild der Erzaufbereitung vorwiegend in Pochwerken, die mit Wasserkraft angetrieben wurden. Formen und Model: Die chinesischen Töpfer verwendeten Formen aus gebranntem Ton. Gipsformen wurden schon bei BÖTTGER in Dresden verwendet, um große Stückzahlen herstellen zu können. Bei der Kachelproduktion wurde seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich die Töpferscheibe eingesetzt. Vielmehr wurden die Blattkacheln in Matrizen gepreßt, die zunächst aus gebranntem Ton, später aus Gips und Gußeisen

53 Vgl. Anm.38.

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bestanden. Dazu walzte der Hafner54 den Ton zu einem Fladen aus, legte ihn auf die Matrize und drückte ihn mit einem groben Leinentuch in alle Vertiefungen der Form. Nach dem Trocknen konnte der Abdruck zusammen mit dem Tuch aus der Form genommen werden. Bei der Produktion von großen Ziegelmengen wurde der Ton in hölzerne oder eiserne Rahmen gefüllt und mit einer Holzrolle glattgestrichen. Entwicklung der Brennöfen: Die Brenndauer wurde erst mit Einführung der Schnellbrandtechnik im 20. Jahrhundert erheblich verkürzt. Außerdem stellt die Befeuerung mit Strom die unproblematischste Brennweise dar, weil keine ständige Befeuerung mit Kohle oder Holz und keine ständige Überwachung wie bei Öl oder Gas mehr nötig ist.

Aus den genannten Gründen ist MÄMPELs Verneinung einer industriellen Revolution auf dem Gebiet der Keramikproduktion zu bestätigen. Wenn auch angemerkt werden muß, daß die Entstehung der Technischen Keramik durchaus als eine „unseen revolution“ i.S. KINGERYs verstanden werden kann.55 Denn es bestand eine Interdependenz zwischen den Innovationen auf technischem, besonders elektrotechnischem, Gebiet und den Entwicklungen und Erfindungen im Bereich der Keramik. Diese wechselseitige Abhängigkeit und Beeinflussung, die ihren Niederschlag in der Verwendung neuer Massen (Steatit), der Entwicklung neuer Formgebungsverfahren (Pressen, Stanzen) sowie der Verbesserung bestehender und Weiterentwicklung neuer Produkte (Elektrotechnische Artikel, Isolatoren) bei der Keramik und der sukzessiven Entwicklung der Beleuchtungs- und Übertragungstechnik (Glühlampen, Fernleitungsbau, Telegrafie, Telefonie) auf elektrotechnischem Bereich fand, läßt sich durchaus als „technologische Revolution“ bezeichnen. Diese jedoch veränderte ähnlich der Industriellen Revolution das Leben und den Alltag der Menschen nachhaltig.

Insofern greift MÄMPELs Annahme etwas zu kurz; wenn für den Bereich der Keramik eine industrielle Revolution bestritten wird – und dies mit einiger Berechtigung -, so darf darüber die technologische Revolution, die sich allerdings erst ein halbes Jahrhundert später vollzog, nicht vergessen werden. Obwohl diese technologische Revolution hier nur in einem

54 Hafner stellten Kacheln, insbes. Ofenkacheln her. 55 Vgl. S.12.

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Teilbereich der Industrie betrachtet wird – keramische und elektrotechnische Industrie -, war sie doch von größter Bedeutung für die Gesellschaft und die in ihr lebenden Individuen.56 Mithin ist MÄMPELs Bemerkung verifizierbar, sollte jedoch um den Aspekt der technologischen Revolution erweitert werden.

Als für jede Industriesparte allgemeingültig kann der Beginn der industriellen Revolution festgelegt werden auf die Übernahme von bis dahin mit Muskelkraft verrichteten Arbeitsvorgängen durch Maschinen. Nach Ansicht von WEDGWOOD sind demnach die 1870er Jahre als Zeitpunkt anzusehen, an dem in der Keramikindustrie zunehmend Maschinen eingesetzt wurden.57 Die Fortschritte in der keramischen Technologie waren Resultate umwälzender Veränderungen, denen sich die Keramikindustrie seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zu stellen hatte. Veränderungen, die in neuen Anforderungen an die Keramik ebenso begründet waren wie in neuen Produktionsverfahren und neuartigen Materialien. Im Gegenzug ermöglichten die keramischen Produkte erst neue Herstellungsverfahren und Fabrikate in anderen Industriebereichen. Diese Interdependenz war im Bereich der chemischen, Elektro- und Metallindustrie besonders nachhaltig und wirkungsvoll, da keramische Erzeugnisse nicht mehr nur Endprodukte waren, wie z.B. Geschirr- und Zierporzellan oder Mauerziegel, sondern als Hilfsmittel für andere Industrien dienten. So mußten Hochöfen mit feuerfestem Material verkleidet werden, in der Chemoindustrie wurden große Vorratsbehälter für Säuren und Laugen ebenso benötigt wie säurefeste Pumpen und Auskleidungen, die Elektroindustrie brauchte Isolatoren und Widerstände aus isolierendem Material. Die während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden Veränderungen und Umwälzungen lassen sich auf die enorme Ausweitung der Anwendungsgebiete von Keramik reduzieren: Qualitative und quantitative Weiterentwicklung der bestehenden Fabriken, ein verändertes und vergrößertes Produktsortiment sowie neuartige Produktionsverfahren dienten diesem Zweck. Die wichtigste Veränderung jedoch war die Ablösung einer quasi "empirischen" Periode in der Keramindustrie von einer "wissenschaftlichen" Periode, beginnend etwa in den 1870er Jahren. Dies bedeutet jedoch nicht, daß nicht schon vor dieser Zeit sehr detaillierte theoretische Experimente und Fragestellungen entwickelt wurden und selbst in der heutigen Zeit kann auf die Erfahrung eines Meisters bei der Zusammenstellung der Massen nicht gänzlich verzichtet werden.

56 Bedeutend waren die Entwicklungen auf elektrotechnischem Gebiet (Strom, elektrische Kraft, Beleuchtung) insofern, als sie wesentlich dazu beitrugen, den Alltag, sowohl den Arbeits- als auch den freizeitlichen Alltag nachhaltig zu beeinflussen und zu verändern. Vgl. S.13. 57 Vgl. WEDGWOOD, L. 1923: Staffordshire Pottery and its History. London.

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Insgesamt gesehen ist zu sagen, daß im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Wissenschaft eine immer bedeutendere Rolle auf dem Gebiet der Keramik spielte. Damit verbunden war das Erfordernis nach einem neuen Typus von "Töpfern": Keramiker, Keramikingenieure oder wie immer man die Meister nennen könnte, die ihr Fach nicht nur in der Fabrik durch "learning by doing" erlernten, sondern eine spezifische Ausbildung benötigten, um die Rohstoffe und deren Zusammensetzung zu erforschen. Erst dadurch waren sie in der Lage, den bei der Masseherstellung, der Formgebung und dem keramischen Brand auftretenden Problemen durch Neu- und Weiterentwicklungen verfahrenstechnischer Art wie auch durch neuartige Produkte zu begegnen. Dabei bestanden diese Schwierigkeiten bei der Keramikproduktion schon seit Jahrhunderten, deren Ursachen wurden jedoch früher nicht erkannt. Mit der Forderung nach ausgebildeten Keramikern entstanden entsprechende Schulen, Ausbildungsgänge sowie Forschungs- und Lehrbereiche an den Universitäten, die sich ausschließlich mit Fragen der Keramik beschäftigten. Eine engere Spezialisierung auf ein genau umschriebenes Teilgebiet der Keramik fand jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht statt.58 Einige der alteingesessenen Manufakturen wie diejenigen in Etruria/Staffordshire, Wien und Sèvres besaßen lange Zeit ihre eigenen Ausbildungsstätten, aber sukzessive wurden in ganz Europa eigenständige Institute und Forschungseinrichtungen geschaffen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts griff diese Entwicklung auf Nordamerika über und 1894 wurde an der Ohio University die erste, zunächst noch wenig bedeutende Keramikabteilung gegründet.

Wissenschaft und Forschung Wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Keramik konzentrierte sich auf drei Hauptgegenstände: Die Beschaffenheit und Zusammensetzung der verwendeten Rohstoffe, die Kontrolle des Produktionsprozesses und die Entwicklung von Hilfsmitteln, um die ersten beiden Ziele zu unterstützen.

In früheren Zeiten machten Forscher oft zur gleichen Zeit gleiche oder ähnliche Erfindungen und die Wahrscheinlichkeit dieser kontemporären Inventionen stieg nach der Erfindung des Buchdrucks sowie der damit verbundenen schnelleren Ausbreitung von Wissen stark an. Es wäre daher müßig - und im übrigen auch unrichtig -, einen einzelnen Keramiker als "Vater der wissenschaftlich fundierten Keramik" zu bezeichnen, wenngleich H. SEGER, der sich nach

58 Zwar sind Keramiker heutzutage meist Spezialisten, doch ist diese Spezialisierung bei weitem noch nicht abgeschlossen.

38 einem Studium der Chemie und Tätigkeiten in verschiedenen Industriezweigen voll und ganz der Keramik widmete, zweifelsohne das meiste Verdienst zukommt. Vor SEGER hatten sich andere auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung der Keramikproduktion hervorgetan: Th. GRAHAM aus London kann als der Gründer der Kolloidchemie59 angesehen werden, die ab 1861 bekannt wurde; W. RUPERT-ELSNER aus Wien beschrieb 1861 die Veränderungen des spezifischen Gewichtes von Silikaten beim Erhitzen; in Frankreich erschienen in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts P.G. HAUTEFEUILLEs Arbeiten über die verschiedenen Silikatformen und ihre Modifikationen; 1884 publizierte A.W. CROMQUIST in England die ersten mikroskopischen Untersuchungen von Silikaten und anderen Feuerfestmaterialien; J.W. MELLOR untersuchte, warum einzelne keramische Materialien unter diversen Bedingungen spezifische Effekte zeigten. Auf dem Gebiet der Hilfsmittel führte C.W. SIEMENS 1871 als erster eine Pyrometrie anhand des elektrischen Widerstands ein, um die Temperaturen in Hochöfen zu messen;60 das theoretische Grundlagenwissen wurde 1878 um das von J.W. GIBBS (Yale University) formulierte Phasengesetz61 erweitert.

Trotz allem war es SEGER, der als Pionier der keramischen Wissenschaft bezeichnet werden kann. So formulierte er bspw. im Jahre 1872 eine Regel, nach der poröse Körper eine Zustandsänderung durch koordinierte Ausdehnung des keramischen Scherbens und seiner Glasur erfahren, um ihrer Zerfallstendenz zu begegnen. Diese Regel bezog sich auf den Anstieg der Quarzbestandteile, feinere Mahlung des Quarzes und aller anderen Komponenten, Kalzinieren des Quarzes, steigende Brenntemperaturen, sinkenden Tonanteil des keramischen Körpers sowie zunehmenden Anteil der nicht-plastischen Komponenten. Zwei Jahre später veröffentlichte SEGER eine Analyse der tonhaltigen Werkstoffe, gemeinhin als "SEGER- Analyse" bekannt geworden, in der er die Werkstoffe nach Tonen, Quartzen und Feldspaten klassifizierte. SEGERs Verdienst besteht darin, daß seine Methode der Analyse keramischer Massen mit geringen Abwandlungen bis in die Gegenwart Anwendung findet. Eine andere Erfindung SEGERs, die Brennkegel, beschrieb er in seinem Artikel "Die Zusammensetzung von Standardkegeln zur Messung hoher Temperaturen in Brennöfen der keramischen

59 Erforschung des Zerteilungsgrades der Stoffe. 60 Nach anfänglichem Interesse geriet diese Methode zunächst in Vergessenheit; erst 1894 wurde SIEMENS` Idee von Le CHATELIER bei der Konstruktion seines Pyrometers wieder aufgegriffen. 61 Das Phasengesetz beschrieb die Bedingungen , unter denen ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Aggregatzuständen herrschte. Unterschiedliche, trennbare und in sich homogene Teile waren dabei Teile eines heterogenen Systems. Die drei Aggregatzustände Eis, Wasser und Wasserdampf bilden bspw. ein solches System, das aus drei Phasen besteht.

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Industrie." Diese Erfindung betraf hauptsächlich die Schmelzpunkte keramischer Massen und war ausgesprochen simpel: Kegel aus spezifischen keramischen Massen wurden nebeneinander auf eine feuerfesten Unterlage in den Brennofen gesetzt, so daß sie von außen beobachtet werden konnten. Wurde eine bestimmte Temperatur erreicht, bog sich der entsprechende Kegel nach vorne und schmolz schließlich.62 ORTON in den USA wandte das gleiche Prinzip an und LAUTH und VOGT führten 1882 ihre Brennkegel in Sèvres ein; alle jedoch waren nur Variationen, allenfalls Verbesserungen der SEGERschen Brennkegel. Geschirr- und Kunstporzellan.

Für die Allgemeinheit ist Keramik gleichbedeutend mit Töpferei und mit Töpferei verbindet man gewöhnlich nur Geschirr. Betrachtet man die vielen nahezu perfekten Porzellanstücke, die aus dem 18. Jahrhundert erhalten geblieben sind, mag es auf den ersten Blick scheinen, als ob Verbesserungen kaum möglich waren; trotzdem gab es sehr beachtliche Fortschritte auf zwei Hauptbereichen: Zunächst wurde eine Verbesserung der keramischen Scherben und Glasuren erreicht, nachdem Masseaufbereitung und Brand zunehmend wissenschaftlich erforscht wurden und damit auch kontrolliert werden konnten. Des weiteren wurde durch die technische Entwicklung entsprechender Maschinen eine Massenproduktion erst möglich, die, zusammen mit Verbesserungen im Transport und in der Logistik, billiges, wenn auch nicht immer gutes, Geschirr in nahezu jeden Hauhalt brachte. Zu den Faktoren, die maßgebend daran beteiligt waren, die Produkte - wenn auch in anderer Hinsicht - zu verbessern, zählte in England der Versuch, bleihaltige Bestandteile aus der Glasur gänzlich zu entfernen. Zwar konnte ein gesetzliches Verbot der Bleiglasur erst 1913 erreicht werden, doch waren englische Produzenten und Konsumenten (im Gegensatz zu deutschen Arbeitern und Verbrauchern) bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegen Bleivergiftung geschützt, da für die Glasuren keine bleihaltigen Substanzen mehr verwendet wurden.

Auch im künstlerischen Bereich erzielte man bei der Glasur beachtliche Fortschritte. So stellte J.T. DECK in Paris ab 1861 sein hochprämiertes Persisches Türkisblau her, eine Farbe, die nach ihrem Erfinder als bleu de Deck bekannt wurde. In Kopenhagen arbeitete CLEMENT inzwischen an farbigen Kristallglasuren für Kunstgegenstände der dortig ansässigen Königlichen Manufaktur. Neue Farbstoffe wurden verwendet (Uran 1853) und neuartige Farbeffekte wurden durch gezielte Kontrolle der Brennofenatmosphäre

62 Die Kegel wurden klassifiziert durch Kegelnummern; so schmolz Kegel Nr. 1 bei ungefähr 1.150°C, Kegel Nr. 42 bei ca. 2.015°C.

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(Scharffeuerglasur) erreicht. Das bereits 1756 angewandte Bedrucken von Keramik mit Abziehbildern war zunächst nur einfarbig möglich, ab 1846 (Patent an F.E. PRATT) auch mehrfarbig; ab etwa 1851 wurden Keramiken mit einem Goldrand verziert.

Seit Porzellan aus dem Fernen Osten importiert wurde, war es der Wunsch jedes Töpfers, dieses möglichst exakt zu imitieren. Dabei kamen einige diesem Ziel sehr nahe, andere erzielten völlig andere Ergebnisse als beabsichtigt. Als dann das Geheimnis der Porzellanherstellung entschlüsselt war, wurden sehr unterschiedliche Porzellane entwickelt. So stellte 1862 STELLMACHER in Böhmen ein Porzellan her, das zu 0,8% aus Kalium- Feldspat bestand und beim Segerkegel Nr. 8 bis 9 gebrannt wurde. LENOX aus Tenton in den USA produzierte als erster Beleek-Porzellan. Die in den 1850er Jahre in Sèvres entwickelte berühmte pâte-sur-pâte-Technik wurde schließlich 1878 in Meißen erfolgreich kopiert. Bis zum Jahre 1866 wurde europäisches bone-china ausschließlich in England produziert, danach begann eine Fabrik in Odelberg in Schweden mit der Produktion zunächst kleiner Stückzahlen. Dieses Unternehmen verbesserte den keramischen Scherben so sehr, daß acht bis zehn Teller übereinander in die Brennkapseln gestellt werden konnten, während die Teller in England einzeln gebrannt werden mußten.

Es war folgerichtig, daß man, als die Herstellungsweise von Porzellan bekannt war, mit diesem Material experimentierte, um neue Produkte kreieren. Als solche kam ab ca. 1851 das sog. Victoria-Geschirr auf den Markt, 63 und 1860 wurde von G. DONATI in Italien eine Okarina-Flöte aus Porzellan konstruiert, die zwar exzellente und sehr reine Töne hervorbrachte, wegen ihrer leichten Zerbrechlichkeit jedoch keine weitere Bedeutung mehr erlangte. Durch die Verbesserung der Feuerungstechniken und der Brennöfen wurde es möglich, Stücke von immer größeren Ausmaßen zu produzieren; so entwarf 1885 der Bildhauer ANDRESEN einen Kamin, der dann in Meißen hergestellt wurde und vollständig aus Porzellan bestand. 64 Der Höhepunkt wurde auf der Weltausstellung 1900 in Paris erreicht, als die Manufaktur von Sèvres einen Keramikpalast zeigte, der äußerlich aus Steingut bisher unbekannter Feinheit und im Innern komplett aus Porzellan bestand. Zur gleichen Zeit wurde jedoch offensichtlich, daß Porzellan selbst nicht für größere Skulpturen geeignet war, obschon der Keramikpalast gezeigt hatte, was machbar war.

63 Dieses, von M. FARKASGAGY-FISCHER in Herend/Ungarn geschaffene Porzellan besaß einen imitierten Korbgeflecht-Rand und zeigte im chinesischen Stil mit Szenen der ungarischen Geschichte. 64 Dieser Kamin war besonders aufwendig gestaltet und besaß auf seinem Sims einen Spiegel, der von Figurinen, Engeln und vier Kerzenständern eingerahmt war.

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Elektroporzellan, Porzellan für chemische Zwecke, Steingut Inzwischen wurden die für die Elektro- und chemische Industrie nützlichen Eigenschaften des Porzellans keinesfalls übersehen, so daß in diesen Industrien Porzellan und verwandten Materialien immer mehr Anwendungsbereiche erschlossen wurden. Seit den 1850er Jahren waren glockenförmige Telegraphenisolatoren auf der ganzen Welt in Gebrauch. mit der rapid steigenden Anwendung des Lichtstroms stieg auch die Nachfrage nach Porzellan-Isolatoren jeder Art und Form; vice versa entstanden der Produktion daraus jedoch neue Probleme. Eine Produktion von Isolatoren in großer Stückzahl , eine Massenproduktion, wurde erforderlich, verbunden mit gleichbleibender Maßgenauigkeit und hoher Qualität. Formen mittels Druck war dazu das naheliegende Verfahren, und man versuchte intensiv, durch Trockenpressen der keramischen Massen die Schwindung und das Verziehen der Körper zu verhindern. Die Aufmerksamkeit richtete sich dabei hauptsächlich auf die Schmierung der Stempel, auf ihre Konstruktion und Handhabung. Dazu benutzte man pflanzliche und mineralische Öle, doch erst ein Zufall brachte wesentliche Fortschritte auf diesem Gebiet.

Im Jahre 1878 ließ NEIDNICHT in Saalfeld versehentlich etwas Stanzöl65 in die Keramikmasse fallen, die mit dem Öl vermischt wurde.66 Die aus dieser Masse gepreßten Stücke waren weitaus zufriedenstellender als die bisherigen, so daß seitdem der Masse Stanzöl beigemengt wird.

In England, den USA und einigen Kantonen der Schweiz wurde zu dieser Zeit mit der Produktion von Hoch- und Niederspannungsporzellanen immer größeren Ausmaßes begonnen. Davor wurde schon seit einiger Zeit Speckstein für diverse Anwendungsbereiche verwendet, doch erst 1888 wurde Speckstein in pulverisierter Form und mit Flußmitteln gemischt für die Elektroindustrie genutzt.

Im Jahre 1891 entdeckte VOIGT, daß Gold, in dekorativen Bändern auf Porzellan aufgebracht, seine Fähigkeit, elektrischen Strom zu leiten, beibehielt. Zwar beinhalten Widerstände, die auf diesem Prinzip basieren, andere Metalle als Gold, doch wurden der Keramik durch diese Entdeckung zusätzliche Anwendungsgebiete erschlossen. Auch die sich entwickelnde Industrie der Verbrennungsmotoren stellte neue Anforderungen an die

65 Es handelte sich bei diesem Öl um ein Abfallprodukt, das beim Destillieren von Schieferöl entstand. 66 Andere Literatur gibt als Urheber dieses Verfahrens REISSMANN an, dem dieses Mißgeschick passierte. Vgl. JAMESON, I. 1958, p.663.

42 keramischen Werkstoffe. 1888 erhielt H.K. SHANK in Columbus/Ohio das erste Patent auf Zündkerzenisolatoren.67

Keramische und chemische Industrie beeinflußten und förderten sich lange Zeit gegenseitig. Selbst gegenwärtig kann eine Vielzahl chemischer Prozesse wie z.B. die Produktion von Säuren nur in keramischen oder mit Keramik ausgekleideten Containern durchgeführt werden. Chemisch-technisches Porzellan und Steingut ist mit Ausnahme von Hydofluoridsäure resistent gegen alle kalten und die meisten heißen Säuren. Tankbehälter, Röhren, Pumpen und Entleerungsanlagen wurden aus keramischen Werkstoffen, insbesondere Steinzeug, gefertigt oder mit diesen ausgekleidet. De BUFFON erhielt 1861 ein Patent auf Porzellanfilter für Trinkwasser und chemisch resistente Kacheln sowie Ziegel für Fabriken, Werkstätten und Laboratorien wurden produziert.

Feuerfeste Materialien Im Jahre 1856 veröffentlichte BESSEMER sein neues Verfahren zur Produktion von Stahl. Alle Schmelzprozesse wurden dabei in Hochöfen ausgeführt, die mit Baustoffen ausgekleidet sein mußten, die gegen Hitze, Schlacke, Gase, Säuren und geschmolzene Metalle widerstandsfähig waren. Seit der Mensch gelernt hatte Metalle zu schmelzen, wurde als feuerfester Baustoff für die Schmelzöfen gewöhnlicher Ton verwendet. Beginnend mit der ersten Anwendung 1860 in Leoben/Österreich wurde zu diesem Zweck jedoch zunehmend österreichischer Magnesit gebraucht, der mit einem Teil Ton versetzt war. Zeitgleich durchgeführte Experimente mit anderen, örtlich vorhandenen Materialien in Frankreich, England und Deutschland erbrachten nur ungenügende und außerdem zu teure Resultate. Bis 1914, als der Erste Weltkrieg die Lieferungen unterbrach, setzte sich kristalliner Magnesit aus der Steiermark als grundlegender feuerfester Baustoff überall durch.68

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde versucht, das billigere und in größerer Menge vorhandene Dolomit als Substitut für Magnesit zu verwenden, doch hatte dieser Werkstoff etliche Nachteile, die die Fabriken entweder nicht überwinden konnten, oder nicht für behebenswert hielten. Erst als durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Lieferungen mit Magnesit unterbrochen wurden, wurde verstärkt Dolomit als Feuerfestmaterial

67 Zu den Werkstoffen, die für die elektrische Isolation geeignet schienen, zählten neben Porzellan und Statit noch Glimmer, Zirkon und Glas. 68 So importierte etwa die Otis Company in Cleveland/Ohio 1885 die ersten 800 Tonnen österreichischen Magnesit; bis zum Ende des Jahrhunderts hatte sich die Menge vervielfacht.

43 herangezogen und diese Tendenz wurde durch den hohen Marktpreis des Magnesits noch verstärkt, selbst nachdem dieser wieder verfügbar war. Ebenso fanden Kohlenstoff (Karbon) und Kieselerde (Silicat) Anwendung als feuerfeste Baustoffe: Karbonziegel wurden zum ersten Mal 1863 in England hergestellt und französische Experimente führten zur Produktion von Silicat-Karbon-Ziegeln aus synthetische amorphen oder mikrokristallinen Material.

Baustoffe Es ist wenig bekannt, daß viele der heutzutage verwendeten Bausteine und Dachziegel erst seit weniger als einem Jahrhundert gebräuchlich sind. Mit der Ausdehnung der Fabriken und der Errichtung größerer Bauten wuchsen auch die Gefahren des Ausbruchs und der Folgen eines Feuers; um diesen Risiken vorzubeugen, verlangten baupolizeiliche Verordnungen nichtbrennbare Materialien für Fußböden und Decken. Dabei waren gewöhnliche Ziegel viel zu schwer für diesen Zweck, so daß man Hohlziegel entwickelte. Zwar wurden diese bereits vor 1850 hergestellt, doch hatte man bis zu diesem Zeitpunkt noch kein rationelles Fertigungsverfahren entwickeln können. A.F. CROTTE entwickelte schließlich eine entsprechende Maschine, mußte jedoch feststellen, daß C. SCHLICKEYSEN ihm zuvorgekommen war. Das Gewichtsproblem betraf auch die Dachkonstruktionen, so daß sogar die anfänglich noch wenig ineinandergreifenden Dachziegel, die von GILARDONI in Alsace/Italien 1841 auf den Markt gebracht wurden, sofort angenommen wurden und sowohl die Baukosten senkten als auch eine Umstellung von mit Stroh und Schiefer gedeckten zu mit Ziegeln gedeckten Dächern bewirkten.

Gleichzeitig jedoch wurden für Straßen- und Brückenbauten schwerere und mit einem Glasanteil verstärkte Steine benötigt. Die Vereinigten Staaten, die Niederlande und Deutschland waren die Hauptproduzenten solcher Straßenbausteine, in den USA wurden zudem Spezialmaschinen zur Verlegung dieser entwickelt. Da die ein Jahrhundert zuvor gebauten Hauptstraßen den Gewichtsbelastungen und Vibrationen des zunehmenden Straßenverkehrs nicht mehr stand hielten, mußten die Oberflächen der neu verwendeten Bausteine ungewöhnlich resistent gegen Abnutzung und Witterungseinflüsse sein. Rohstoffe

Die Verwendung neuer Rohstoffe ermöglichte eine beachtliche Ausweitung der Produktion und Anwendung feuerfester Baustoffe. Wie bereits erwähnt, bestanden diese zunächst

44 hauptsächlich aus Magnesit, Dolomit, Silicat oder Kohlenstoff, während drei weitere feuerfeste Rohstoffe erst später größere Bedeutung erlangten.

1888 entdeckte W. TAYLOR in Fort Benton/Montana ein Mineral, das er Taylorit nannte; da jedoch bereits eine andere Substanz so hieß, bezeichnete man das neue Mineral als Bentonit. Bentonit, dessen Hauptbestandteil Montmorillonit, ein hydriertes Magnesiumsilicat ist, hat die Eigenschaft, ein Vielfaches seines eigenen Volumens an Wasser zu absorbieren und wurde daher in den verschiedensten Anwendungsbereichen genutzt. Obschon weitere Lagerstätten von Bentonit (mit unterschiedlichen Verunreinigungen) an vielen Orten gefunden wurden, blieb das Bentonit aus Montana das geeignetste.

Seit der Römerzeit wurde der Fels um Les Baux in der Provence als Steinbruch genutzt, hauptsächlich für Pflastersteine. Daß dieser Stein als Rohstoff zur Gewinnung von zunächst Tonerde, später Aluminium genutzt werden konnte, wurde erst in den 1850er Jahren entdeckt. Zwar wird dieser Rohstoff nicht mehr nur in Südfrankreich abgebaut, doch blieb der Name, der auf den ersten Fundort Les Baux hinweist, erhalten. Wenngleich Bauxit in der Hauptsache zur Gewinnung von Aluminium verwendet wurde, wurden in der keramischen Industrie beachtliche Mengen an Tonerde gebraucht. Gesinterte Tonerde ist temperaturbeständig und chemisch resistent und wurde als einer der härtesten Werkstoffe in großem Umfang für Schneid- und Schleifwerkzeuge verwendet.

Der dritte neue Rohstoff war Mullit, dessen isolierende Eigenschaften 1890 von A. POULSEN in Kopenhagen erkannt wurden. Mullit ist eine Kieselgurerde, aus der Hohlblöcke gefertigt wurden, die wegen ihrer großen mechanischen Härte und Feuerbeständigkeit breite Anwendung im Baubereich fanden. Heutzutage ist Mullit trotz des Abbaus ähnlicher Rohstoffe in anderen Teilen der Welt einer der wichtigsten Exportrohstoffe Dänemarks. Brennöfen

Ursprünglich orientierte sich der Standort einer Töpferei an der Versorgung mit Brennstoffen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde, um bestimmte Menge Ton zu brennen, die dreifache Menge Kohle benötigt, so daß bereits zu dieser Zeit versucht wurde, die Wirtschaftlichkeit des keramischen Brandes zu verbessern Neben einer Reduzierung der benötigten Kohlenmenge standen dabei effizientere Feuerungsverfahren sowie Rauch- und Abgasverminderung im Vordergrund. Zudem verschmutzte der traditionelle Rundofen in

45 hohem Maße die Gebiete im Umkreis eines keramischen Betriebes, so daß ab etwa 1855 in verschiedenen Ländern versucht wurde, sowohl in periodischen als auch in kontinuierlichen Öfen zunächst Kohlenstoff- oder Generatorgas, später Elektrizität zum Brennen von Töpfer- und Irdenwaren zu nutzen. F. HOFFMANN entwickelte im Jahre 1856 den ersten kontinuierlichen Ringofen. Er plazierte dabei den Brandherd in die Ofenöffnung, so daß die Heizgase die übrigen Kammern durchliefen und auf diese Weise das noch nicht gebrannte Brenngut vorwärmten. Der erste dieser Ringöfen wurde 1857 in Betrieb genommen, das entsprechende Patent wurde 1858 verliehen. Der kontinuierliche Ringofen wurde weiterentwickelt zum Mehrkammer-Ringofen, von dem der erste 1864 in Konstanz gebaut wurde. Mit nur unwesentlichen Abwandlungen und Veränderungen blieb dieser Ofentypus bis in die Gegenwart in Gebrauch.

Nicht nur in Deutschland (HOFFMANN) wurden neue Typen von Brennöfen entworfen. Die wirklich bahnbrechende Entwicklung neuer Ofentypen geschah in einem Land, in dem ökonomischer Umgang mit Brennstoffen eine absolute Notwendigkeit war, in Dänemark. Dort wurde 1839 der erste Tunnelofen gebaut, der zwar noch nicht sehr ausgereift war, doch erkannte man den potentiellen Nutzen, so daß die Entwicklung weiter vorangetrieben wurde. 1873 wurde ein Tunnelofen gebaut, der mit Generatorgas oder Kohle befeuert werden konnte; dieses System wurde 1877 patentiert. Der Hauptnachteil dieser Öfen bestand jedoch im Hitzeverlust durch die beweglichen Roste, weswegen man diese mit Sand isolierte. Ein Jahr später stellte eine Fabrik in London den ersten ringförmigen Tunnelofen auf, der den vorhandenen Raum besser ausnutzen sollte, zur gleichen Zeit wurde in Ungarn ein gleicher Ofentyp gebaut. In den USA wurde der erste Tunnelofen 1889 in Chicago zum Brand trockengepreßter Ziegelsteine aufgestellt, kurze Zeit später wurden Tunnelöfen in noch größerer Ausführung in den Niederlanden gebaut.

Zeitgleich mit den genannten Entwicklungen auf dem Sektor des Ofenbaus wurde versucht, den Brennvorgang zu kontrollieren und damit zu optimieren, was zur Entwicklung von Abluftöfen, Muffelöfen für den Dekorbrand und elektrisch befeuerten Brennöfen führte. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse fanden nicht nur beim eigentlichen Brand, sondern auch beim Vorbrand Anwendung. Im Jahre 1881 wurde in England die Feuchttrocknung feuerfester Teile eingeführt, bei der die Trockenkammer so dicht wie möglich mit diesen vollgepackt wurden, dazwischen befanden sich Wasserbehälter. Sodann wurden die Kammer verschlossen und von außen erhitzt und erst als die eingesetzten Teile eine hohe Temperatur

46 erreicht hatten, wurde der Dampf abgelassen und trockene, heiße Luft eingeblasen. Auf diese Weise wurden bemerkenswerte Erfolge selbst bei großen Teilen, die, in herkömmlicher Weise getrocknet, leicht brachen, erzielt. Dieser Prozeß wurde bald darauf dahingehend weiterentwickelt, daß der entweichende heiße Dampf in angrenzende Kammern weitergeleitet wurde. Es versteht sich von selbst, daß eine enge Beziehung zwischen Brennofen- und Maschinenbau bestand, die sich darin äußerte, daß Neuentwicklungen für Fundamente, Ofenwagen, Heißluftpumpen, Gasgeneratoren, Heißluftumwandler, Ventile und andere Hilfsmittel nachgefragt wurden.

Maschinen Der Übergang von der Hand- zur Maschinenarbeit vollzog sich in der keramischen Industrie allmählich. Dampfbetriebene Massemühlen, Steinbrecher und Mischer für keramische Rohstoffe wurden u.a. von J. WATT konstruiert und in den Soho-Werken in Birmingham gebaut. Die Formgebung geschah weiterhin entweder durch Drehen oder durch Gießen, wobei beide Methoden zeitraubend waren und die Körper wegen ihres hohen Wasseranteils lange Trockenzeiten benötigten, leichter brachen, größere Schwindung besaßen und viel Lagerraum in Anspruch nahmen.

Den Forderungen der Allgemeinheit (Geschirrporzellan) sowie anderer Industrien (Metall-, Elektro-, und chemische Industrie) konnte die keramische Industrie nur durch umfassende Steigerung und Standardisierung ihrer Produktion nachkommen, was eine Mechanisierung und Maschinisierung des Produktionsprozesses bedeutete. Bei der Weltausstellung 1851 wurden zum ersten Mal Maschinen vorgestellt, die für die Keramikindustrie entworfen worden waren, darunter Röhrenpressen für die Herstellung von Steinzeugröhren. Diese in England entwickelten Pressen und die ersten mechanischen Mixer, die alle vertikal geformt waren, wurden auch auf dem europäischen Kontinent aufgestellt. Die 1852 von BOCH im Saarland konstruierten hydraulischen Pressen zur Kachelherstellung ersetzten die bis dahin gebräuchlichen Spindelpressen. SCHLICKEYSEN in Berlin und HERBERT in Reims konstruierten Maschinen zur homogenen Durchmischung der Rohstoffe; SCHLICKEYSENs Schraubenmischer wurde 1854 auf der Weltausstellung in Paris gezeigt und ein Jahr später demonstrierte HERBERT eine Vertikalbohrmaschine für plastische Körper, die von Pferden angetrieben wurde. Erst einige Zeit später wurde die vertikale Formgebung dieser Maschinen zugunsten einer horizontalen aufgegeben. Im Jahre 1874 wurden dann Rollen und wassergespeiste Mundstücke hinzugefügt.

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Zu den Entwicklungen auf dem Sektor des Maschinenbaus gehört ebenfalls die Einführung von Schablonen auf der Töpferscheibe, die bis dahin jedesmal neu von erfahrenen Meistern kopiert werden mußten.

Das Brechen und Mahlen der Rohstoffe mittels mechanischer Werkzeuge war eines der frühesten Probleme der keramischen Industrie. Die ersten dampfbetriebenen Massemühlen erlaubten es auch denjenigen Fabriken, die nicht in der Nähe eines Flusses standen, ihre Rohstoffe selber zu mahlen statt sie bei anderen Fabriken mahlen zu lassen. Sie waren damit nicht mehr abhängig von der Zulieferung der Rohstoffmengen in der benötigten Korngröße. Im Jahre 1856 konstruierte BLAKE in den Vereinigten Staaten den ersten Backenbrecher, dessen keilförmiges Mundstück von zwei Backen eingefaßt war. Eine davon war an ihrem oberen Ende an einer horizontal verlaufenden Welle befestigt, die von einem Hebelstangenmechanismus angetrieben wurde; die andere Brechbacke war unbeweglich fixiert. Die Unterkante des Mundstücks konnte mit Hilfe von Keilen angepaßt werden. Versuche, diesen Prototyp zu verbessern, hatten alle das Ziel, das druckerzeugende Getriebe zu vervollkommnen, um für den Zerkleinerungsvorgang maximalen Druck bei minimalen Reibungsverlusten zu erhalten.

Daneben wurden auch andere Typen von Mühlen zur Naß- und Trockenmahlung entwickelt, wie z.B. von DAVIDSON in Kopenhagen die Rohrmühle oder die 1890 von den Kuhnert Turbowerken gebaute Tiegelmühle, deren Teile austauschbar waren. Da die Rohstoffe nach dem Brechen und Mahlen gesiebt und sortiert werden mußten, waren auch zu diesem Zweck Maschinen zu entwickeln; als Beispiel hierfür sei das 1887 von MUMFORT und MOODIE entworfene Zentrifugalsieb genannt.

Wie erwähnt wurden in großem Umfang keramische Massen für elektrotechnische Zwecke benötigt, weswegen geeignete Pressen konstruiert werden mußten; das gleiche galt im übrigen auch für Ziegel, Kacheln, Fliesen, Haushaltsporzellan usw. 1867 zeigte S. FRÈRES in Paris die erste für Ziegel und Kacheln konstruierte Revolverpresse, die bis 1877 noch etliche Verbesserungen erfuhr, so daß sie danach über zwei Dekaden als die beste Presse galt. Der Schwachpunkt aller Neuentwicklungen von Pressen war und blieb jedoch deren Mundstück bzw. dessen Verschleiß.

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In allen Keramik produzierenden Ländern wurde mit mehr oder weniger Erfolg versucht, dieses zu optimieren, indem man die Mundstücke aus Stahl, diversen Legierungen, Glas oder Porzellan, mit oder ohne Schmiermittel, konstruierte. Das Problem der Abnutzung bei den Mundstücken besteht bis in Gegenwart fort.

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II. DIE ENTWICKLUNG DER KERAMISCHEN INDUSTRIE IN DEN EINZELNEN REGIONEN

GEORGI macht folgende Faktoren für die Entstehung und Entwicklung der Porzellanindustrie aus: "Indes hat sich aber die Porzellanindustrie doch dort dauernd eingewurzelt, wo für sie die anfänglich günstigsten Bedingungen waren, wie das Vorhandensein reicher Holzbestände und ausgiebiger Wasserkräfte. Das war besonders in den Gebirgen der Fall, für deren Bewohner, da diese keinen genügenden, zum Teil gar keinen Ertrag aus der Landwirtschaft zu ziehen vermochten, die gewerbliche Tätigkeit einen willkommenen Unterhalt abgab. Das beweist in besonderem Maße die Ansiedelung der Porzellanindustrie in Thüringen, Oberfranken und Schlesien... (und) die böhmischen Porzellanfabriken... War es ehedem der Holzreichtum, dann das Vorhandensein der benötigten Rohmaterialien in ziemlicher Nähe, welche die Entstehung von Fabriken begünstigten, so wurde es mittlerweile die berufsmäßig geschulte Arbeiterschaft, die für spätere Fabrikgründungen den Ausschlag gab." 1

1. Keramische Industrie im Raum Oberfranken

Für die vorliegende Untersuchung sind Ton, Speckstein, Kaolin und deren Abbau relevant.

Ton Mit zum ältesten Gewerbe im Fichtelgebirge zählt das der Töpfer (Hafner), da ausreichende Tonvorkommen vorhanden waren, die den Abbau lohnten. Bereits die alten Glasmacher im Zentralstock des Gebirges verwendeten das Material zur Herstellung ihrer feuerfesten Schmelztiegel.2 In den Städten Kirchenlamitz, Thiersheim, Selb, Wunsiedel, Arzberg, Thierstein, Weißenstadt und Marktleuthen waren bereits im Mittelalter Töpfermeister mit ihren Gesellen ansässig. Neben Gebrauchsgegenständen für das tägliche Leben wurden in Arzberg auch Kacheln für Öfen hergestellt. Tonlagerstätten unterschiedlicher Mächtigkeit und Qualität befanden sich in Niederlamitz: Herrschaftliche Tongrube , Wunsiedel: Am Siechenbächlein, Krugelsbach und im Röslautal, Steinberg in der Nähe von Hohenberg a.d.E., Preisdorf bei Arzberg und Meußelsdorf.

1 GEORGI, O. 1922, S.7. 2 Vgl. die Schmelztiegel, die STEPHAN für das Gebiet Großalmerode beschreibt.

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Speckstein3 Der Speckstein (Schmerstein, Seiffenstein, Mehlstein, Schaberstein) erstreckt sich in einem Lager zwischen Göpfersgrün und Thiersheim. Dieses Magnesiumsilicat läßt sich leicht bearbeiten und nimmt durch Brennen eine große Härte an. Im Mittelalter4 diente der Speckstein zur Anfertigung von Flintenkugeln,5 Knöpfen, Kugeln und im 19. Jahrhundert zur Bereitung von Puder, Schneiderkreide und Füllmaterial in der Papier- und Seifenindustrie sowie zur Fertigung von Gebrauchsgegenständen wie Uhrengewichte, Dosen und Pfeifenköpfe. 1850 etwas setzte die bergmännische Gewinnung ein, nachdem man bis dahin im Raubbau abgebaut hatte. Im Tage- und teilweise auch im Stollenbau wurde auf mehreren Zechen in unmittelbarer Nähe von Thiersheim Speckstein gewonnen. Dazu bemerkt BRUSCHIUS: "Thiersheim ist auch ein Marck / Markgggraven Albrechts von Brandenburg an dem Titersbach / ein halbe Meil von Artzburg / auf halbem Weg zwischen Eger und Wohnsiedel gelegen. In diesem Marck wird jährlich eine unzähliche Menge Kugeln / damit die Kinder spielen; Item der grossen Kugeln / so man aus den Büchsen schiesset / aus einem zehen und frischen Erdreich (welches die Einwohner Schmerstein nennen / und es umb den Flecken allenthalben herumb ausgraben) von allen Einwohnern Aalten und Jungen Leuten gemacht /Die werden darnach vom Feuer gehärtet / und mit vielen Wägen gen Nürnberg / und wiederum von dannen durch gantz Teutschland geführet. Es haben auch gemeldten Fleckens Einwohner neben dem Ackerbau kein andere Handthierung, / der sie sich erhalten oder ernehren." 6

Und PACHELBEL bedauert fast zwei Jahrhunderte später: "Was Brusch (Bruschius, d.Verf.) geschrieben / hat zwar viele Jahre nach seinem Todt continuirt, allein vor ungefehr 18 oder 20 Jahren ist der letzte Mann gestorben / der solchen Schmeer-Stein,/ welchen man auch hier zu Lande Meel-Batz nennet / im Feuer zu härten gewust / da er dann Steinfeste worden / daß er sich hat poliren lassen / wovon allerley Kugel-, Knöpff- und andere dergleichen Güß-

3 Vgl. dazu SCHMIDT, A. 1907: Der Speckstein. In: Der Steinbruch, 15.Jg., H.10, S.327-329 u. H.11, S.361-368. 4 REBMANN nennt als erste schriftliche Erwähnung des Specksteins das Jahr 1542 und beruft sich dabei wohl auf BRUSCHIUS` Anmerkungen (s.u.). Es ist jedoch davon auszugehen, daß Speckstein bereits viel früher bearbeitet wurde, wofür etliche Funde von Urnen, Knöpfen, Spinnwirbeln und anderen handgeschnitzten Gebrauchsgegenständen aus Göpfersgrün und Thiersheim sprechen. Vgl. REBMANN, W. 1952, S.7. 5 Die Bezeichnung "Thiersheimer Kuglschowa" (=Kugelschaber) stammt aus dieser Zeit. Man produzierte steinerne Büchsen- und Flintenkugeln mit Hilfe einer Drehbank, brannte diese und verfrachtete sie in Fuhrwerken nach Nürnberg. Zum Einsatz kamen die Kugeln u.a. im Bauernkrieg 1524/25. Die Bevölkerung nannte den Speckstein auch Model-Stein, weil man später aus Speckstein auch Gießformen schnitzte, in die Blei gegossen wurde. Auf diese Weise wurden Musketenkugeln hergestellt. 6 BRUSCHIUS, C. 1542: Gründliche Beschreibung des Vichtelgebirges in der alten Narisenland gelegen, aus welchem vier schiffreiche Wasser, der Main, die Eger, die Nab und Saal entspringen. Darinnen vil alter historien erklert werden . Weitere Erwähnung findet die früheThiersheimer Specksteinverwertung in: KIRCHMAJER, G.C. 1687: Jnstitutiones Mettalicae, Das ist / Wahr- und klarer Vnterricht vom Edlen Bergwerck. Wittenberg. S.102f. WILL, J. 1692: Das Teutsche Paradeiß in dem vortrefflichen Fichtelberg. BRUCKMANN, F.E. 1730: Magnalia Die in locis subterraneis, oder Unterirdische Schatzkammer aller Königreiche und Länder, T.II. Wolfenbüttel. S.154, S.158. ZEDLER, J.H. 1743: GroßesVollständesUniversal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Stichwort "Schusser, Schnipfkügelein".

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Mödel und Formen seynd gemacht worden: Und ist zu betauern /daß / da dieser Stein genugsam am besagten Ort anzutreffen / gleichwohl die Kunst, ihn zuzurichten / untergehen solle." 7

Trotz PACHELBELs Befürchtung hielt sich die Kunst, den Speckstein "zuzurichten", wie die Bemerkungen von ULLMAN, der die Gegenstände aus Speckstein als "Fabrikation von allernettesten einem Marmor hartgezachten unvergleichlichen Sachen" 8 bezeichnet und F.E. BRUCKMANN belegen: "Von dem Schmerstein oder selbstgewachsenen porzellain bey Göpfersgrün und Thiersheim, wozu zu erinnern, daß die Kunst, den Schmerstein zuzurichten und zu härten anitzo so gut und besser als vorher wieder erfunden." 9

Das wirtschaftlich bedeutsamere Vorkommen baute man jedoch in der "Johanneszeche" bei Göpfersgrün ab. So erwähnt KRETSCHMANN 1741 einen "Schmeersteinbruch bey Thiersheim und Gopffersgrün"10 und berichtet über Speckstein weiter: "Vier Sorten eines Lapidis Siliceo arenosi, hiesiges Landes Knopff Stein genennet, aus der Gegend des Ochsen KopffBerges am Fichtel Gebürge, welche Art Steine binnen 6 Stunden in Glaß Ofen zu einen zehen Glaß schmelzet, aus welche zu Bischoffsgrün und warmen Steinach allerley Kugeln groß und klein, auch mancherley Figuren gemachet werden, aus welchen paternoster 11 und andere Halßgehänge formiret, die auch sogar biß Ost-Indien verführet werden, welcherley Kügelein die vulgus anstatt pater nosterlein nach der Fichtelberger Mundart zu nennen pfleget 12...Vier Sorten eines Grau gelblichen Mehl- oder SchmerSteines der bey der GlaenzelMühl über Eppenreuth in der Landes Hauptmannschaft Hof ... gegraben wird.... Gedreheter dergleichen Mehlstein in Form einer Dose... Drey Stücke feiner weiser Smertis, Schmehr oder Mehl-Stein, der zwischen Thiersheim und Gopffersgrün aus denen Bürger Güttern, Gang weiß in der Erde bricht... Drey Pfeiffgen...Ein Bret- Spiel Stein, von dergleichen Schmehr Stein...Vier aus diesen Schmehrstein geschnittene Flinten-Steine, die wann sie im Töpffer Feuer gebrennet werden, Feuer so gut als ein Kießel-Stein schlagen." 13

HELFRECHT ergänzt ein halbes Jahrhundert später:

" In dieser Gegend findet man ebenfalls Schmeerstein, welcher ehemals einen vorzüglichen Nahrungszweig der Thiersheimer abgab, dann von den Zoeplitzer Serpentinsteindrechslern zu Röhrenhof (bei Berneck) mit verarbeitet wurde, jetzt aber meistens ungebraucht liegt. Man könnte ihn, wie schon bey dem Göpfersgrüner Schmeer- und Kreidensteine bemerkt worden, sehr vorteilhaft anwenden, wenn man Gefäße daraus schneiden oder wenigstens eine Schussermühle 14 anlegen wollte, da der Stein sich bequem erweichen und schneiden läßt und eine feine Bearbeitung, Härtung und Politur zuläßt. ... Die vornehmsten Gruben sind im Walde bey dem Dorfe Wampen gegen Göpfersgrün zu." 15

7 PACHELBEL, J.Ch. 1716: Ausführliche Beschreibung des Fichtel-Berges in Norgau liegend von einem Liebhaber göttlicher und natürlicher Wunderwerke. Leipzig. S.112. 8 ULLMANN, J.G. in einem Brief an F.E. BRUCKMANN von 1727. Zit. nach DKG-Fachausschußbericht 1991, S.48 9 BRUCKMANN, F.E. 1730, S.154. 10 KRETSCHMANN, J.W. 1741: Sammlung zu einer Berg-Historia des Markgraftums Brandenburg-Bayreuth. Hof. T.II, S.880. 11 "Vaterunserkugeln" am Rosenkranz. 12 Die Bevölkerung nannte diese Kugeln "Paterlein". 13 KRETSCHMANN, J.W. 1741, T.III, S.332ff. 14 Kugelmühle 15 HELFRECHT, J. 1799: Das Fichtelgebirge, nach vielen Reisen auf demselben beschrieben, Bd. I, Hof. S.236f.

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Kaolin Die Kaolinvorkommen im Fichtelgebirge waren die Grundlage für die Gründung von Porzellanfabriken. Kaolinvorkommen, die abgebaut wurden, befanden sich an folgenden Orten:

Steinberg südwestlich von Hohenberg a.d.E. (z.B. folgende Gruben: "Fleißiger Bergmann", "Glück mit Freuden", "Friedrich Wilhem", "Großes Los"). Preisberg bei Preisdorf. Groschlattengrün und Kondrau. Haingrün (Ruhberg): Grube "Saturn".16 Wölsau, Haid und Seußen. Büschelberg bei Mitterteich/Opf., Grube "Zum weiteren Glück". Umgebung von Wunsiedel, Holenbrunn und Göpfersgrün. Thiersheim, Kothigenbibersbach. Ebnath, Neusorg, Pullenreuth, Langentheilen. Kreuzweiher zwischen Waldershof und Pullenreuth

"Bei der Selber Gruppe 17 ist besonders erwähnenswert das Vorkommen von Feldspaatausscheidungen (sic!). Diese kommen in solcher Menge vor, dass sich Gewinnung für die Porzellanindustrie lohnt." 18

Die Porzellanindustrie in Oberfranken19 entwickelte sich von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert an stetig und erreichte im Jahre 1865 mit 12 Fabriken und über 2.000 Beschäftigten einen ersten Höhepunkt.20 1871 wird die Porzellanindustrie in einem Jahresbericht der Handelskammer für Oberfranken als "eine der hervorragendsten des Fichtelgebirges"21 bezeichnet. Die weitere Entwicklung charakterisiert H. BREDOW so:

"In den nächsten Jahren setzte in der Porzellanindustrie Oberfrankens ein wahres Gründungsfieber ein, es entstanden in den Jahren 1880-1888 allein 12 Betriebe." 22

16 Die Grube "Saturn" förderte jährlich ca. 20.000 Ztr. Kaolin, das hauptsächlich zur Kapselherstellung verwendet wurde. Vgl. Jahresberichte der Handelskammer für Oberfranken [JHO] 1882, S.46. 17 Gemeint ist die Selber Gneisgruppe. 18 FORSTER, W. 1924, S.7. 19 Vgl. AB, Anl.4: Übersicht der PF in Oberfranken und der Oberpfalz, die 1910 Technische Keramik produzierten. 20 Vgl. AB, Anl.5 PF in Oberfranken, die 1920 TK produzierten. 21 Zit. nach GERLACH, H. 1924, S.16. 22 In: Die Ameise, 1916, 43.Jg., Nr.52.

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Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die im Jahr 1890 im Bezirk Wunsiedel bestehenden Porzellanfabriken:

Tab.6: Porzellanfabriken im Bezirksgremium23 Wunsiedel 189024 Firma Sitz Gründungsjahr Zahl d. Arbeiter Zahl d. Öfen C.M. Hutschenreuther Hohenberg 1814 400 9 C. Auvera Arzberg 1838 146 3 L. Hutschenreuther Selb 1857 500 12 Zeidler Selb 1866 300 8 Müller Schönwald 1879 290 6 Schumann u. Rieß Arzberg 1881 175 4 Gebhardt & Müller Selb im Bau 3 Rosenthal Selb im Bau 3

Wie stark sich die oberfränkische Porzellanindustrie im 19. Jahrhundert bis 1925 entwickelte, macht folgende Tabelle deutlich:

Tab.7: Entwicklung der oberfränkischen Porzellanindustrie25 Jahr Betriebe Beschäftigte 1827 6 429 1847 7 486 1861 10 511 1865 12 2000 1894 28 4121 1898 32 5221 1902 36 6678 1905 43 8811 1909 41 13000 1912 47 12100 1913 47 14000 1925 90 18000

Ergänzend zu TRÜBSBACH, der keine Angaben für 1865 bis 1894 macht, hier noch einige Zahlen für diesen Zeitraum: 1877 waren in Oberfranken 29 keramische Betriebe der Porzellanfabrikation mit 1.199 Beschäftigten vorhanden, 1882 48 Betriebe mit 1.746 Arbeitern.26

23 Bezirksgremium für Handel und Gewerbe: Bezirksverwaltungsstelle der Handelskammer für Oberfranken. 24 Quelle: JHO 1890, S.73. Vgl. dazu: EIDELLOTH, G. 1914, S.36f. 25 Aus: TRÜBSBACH, R. 1990, S.615. 26 Vgl. Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern (BSKgrB) 1881, H.1, 2 u. 1886, H.3, 4. Allerdings subsumieren diese Statistiken auch die Kaolingruben und –schlämmereien sowie Steingut- und Fayencefabriken unter den Begriff Porzellanfabrik.

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2. Raum Oberpfalz

"Aehnlich wie die Eisenerze so ist auch das Kaolin über die ganze Oberpfalz verbreitet, doch nicht überall in der gleichen Fülle, sodass wir nur zwei Kaolinvorkommen grösseren Umfangs und von wirtschaftlicher Bedeutung beobachten können. Das erste liegt in der Zentraloberpfalz, das zweite ist im Nordteile, nähmlich (sic!) in der Gegend von Mantel, Wiesau, Tirschenreuth zu suchen. Somit war von Anbeginn eine günstige Basis für die Porzellanindustrie vorhanden."27

Bei der Kaolingewinnung ist zu unterscheiden zwischen der Förderung des Rohmaterials (Kaolinerde oder Rohkaolin) aus der Grube und der Gewinnung des Kaolins aus der Kaolinerde mittels Schlämmen. Zweck des Schlämmens ist, das Kaolin aus dem Gemisch von Quarz, Feldspat und Kaolin zu isolieren und den Feldspat- bzw. Quarzgehalt aus dem Kaolin möglichst vollständig zu isolieren; dies geschieht mit Hilfe von Rührwerken (Quirlen). Dabei macht man sich die unterschiedlichen spezifischen Gewichte der Bestandteile zu Nutze: Da Kaolin das geringste und Quarzsand das größte spezifische Gewicht hat, wird sich Kaolin am längsten im Wasser suspendiert halten, während die spezifisch schwereren Bestandteile sich nach und nach absetzen. Danach wird der Kaolinschlamm durch Filterpressen gedrückt, wobei das Filtertuch das Kaolin zurückhält, während das Wasser abfließt. Beim Auseinandernehmen der Pressen finden sich kompakte Tafeln (Kaolinkuchen), die, nachdem sie nochmals getrocknet sind, in den Handel gelangen.

27 VELHORN, J. 1925, S.3.

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2 Kaolinschlämmerei28

Die oberpfälzische Kaolinindustrie produzierte folgende Erzeugnisse: Kaolin (Porzellanerde), Pegmatit (Schlämmrückstände), Kaolinerde, Feldspat, Quarzsand. Kaolin wurde hauptsächlich von der Papierindustrie verwendet, da das oberpfälzische Kaolin zu wenig bildsam war, so daß sich beim Brennen Haarrisse bilden konnten. Pegmatit, bestehend aus Feldspat und Quarz, wird vorzugsweise von der Porzellanindustrie verwendet, da Pegmatit zur Herstellung der Porzellanmasse nur noch mit dem adäquaten Kaolin versetzt werden muß.

28 Aus: HEGEMANN, H. 1904, S.95.

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Kaolinerde diente der Fertigung feuerfester Klinkerplatten, Kapseln und Muffeln. In den Kapseln wurde das Porzellan gebrannt, die Muffeln dienten zum Einbrennen der Aufglasurfarben. Feldspat ist integraler Bestandteil der Porzellanmasse. Quarzsand wird im Verlauf des Schlämmens abgesondert und diente als Mauerverputz; außerdem wurden Kunstsandsteine daraus hergestellt.

Im Jahre 1909 bestanden in der Oberpfalz folgende Kaolinwerke:29

Amberger Kaolinwerke GmbH, Hirschau, Fa. Gerding, Haidmühle bei Schnaittenbach, Gebr. Dorfner, Scharhof b. Schnaittenbach, Dorfner & Co., Schnaittenbach, Fa. Eduard Kick, Schnaittenbach, Fa. Isidor Schmidl, Kohlberg, Fa. Heinrich Knab, Steinfels, PF AG Tirschenreuth; dieser gehörten die Gruben bei Schmellitz und Schönhaid.

In der nördlichen Oberpfalz wurde die erste Porzellanfabrik 1836 in Tirschenreuth gebaut, die zweite 1862 in Waldsassen. Weitere Standorte der Keramikproduktion,30 die sich im Stiftland31 und Egerland32 bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen läßt,33 waren Waldershof, Mitterteich, Wiesau, Ernestgrün, Hardeck, Hatzenreuth, Konnersreuth, Bärnau, Fuchsmühl, Falkenberg und Kondrau. In der Oberpfalz gab es 1877 21 keramische Betriebe der Porzellanproduktion mit 537 Beschäftigten, 1882 12 Betriebe mit 520 Arbeitern.34

Die 1910 bestehenden, nachfolgend aufgeführten Porzellanfabriken beschäftigten 4.350 Arbeiter:35

29 Vgl. RASEL, E. 1909, S.36. 30 Vgl. AB, Anl.6 Übersicht der PF in der Oberpfalz, die 1920 Technische Keramik produzierten. 31 Unter Stiftland versteht man das zu Altbayern zählende, in der nördlichen Oberpfalz gelegene Gebiet, das dem ehemaligen Zisterzienserstift Waldsassen unterstand. Es entspricht in etwa dem Landkreis Tirschenreuth vor der Gebietsreform von 1972. 32 Egerländer und Stiftländer Keramik-Werkstätten (Karte) in AB, Anl.7. 33 So gab es bereits 1589 eine "Ordnung der Hafner (Töpfer) im Gericht Waldsassen". Vgl. Stiftlandmuseum Waldsassen 1987, S.12. 34 Vgl. BSKgrB 1881, H.1-4 u. 1886, H.1-4. 35 Vgl. VELHORN, J. 1925, S.31ff. und KUHLO, A. 1926, S.92ff., S.516f.

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PF Bavaria AG, Tirschenreuth. Gegründet 1836 entwickelte sich die PF Bavaria im 19. Jahrhundert zu einem großen Betrieb, in dem bspw. 1925 750 Beschäftigte zu finden waren. Die Fabrik verfügte im gleichen Jahr über 8 Öfen, 2 Muffelöfen,36 4 Tonbearbeitungsmaschinen und 2 Schlagmaschinen, 18 Masse- und Glasurtrommeln und 10 Filterpressen. PF Bareuther in Waldsassen, die 1866 gegründet wurde. Im Jahre 1906 hatte die PF Bareuther 10 Porzellanöfen und 600 Beschäftigte. Der Erzeugung des Porzellans dienten u.a. 28 Trommelmühlen und 12 Brennöfen mit überschlagender Flamme. PF Gareis & Kühnl in Waldsassen. Gegründet 1898 als PF Fortuna ging diese schon 1899 in Konkurs. Als PF Gareis, Kühnl & Cie. neu gegründet mit 1925 ca. 300 Beschäftigten. Die PF Gebr. Bauscher, Weiden wurde 1881 mit 70 Arbeitern gegründet und beschäftigte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1.000 Arbeiter. PF Seltmann in Weiden, die 1911 mit 5 Öfen, Massemühle und Malerei gegründet wurde und 1923 630 Arbeiter und Angestellte zählte. PF Seltmann, Vohenstrauss verfügte über folgende Einrichtungen: 10 Trommeln, 3 Massepressen, 3 Rührwerke, 2 Quirle, 4 Schlagmaschinen, 3 Massepumpen und 1 Kollergang. PF Ottmar Opfinger. Gegründet 1921, bestand diese PF nur bis zum Jahre 1924. Sie beschäftigte 180 Arbeiter und produzierte ausschließlich elektrotechnisches Porzellan. PF Tirschenreuth, die auf kleinste Anfänge in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zurückging. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigte die PF Tirschenreuth zeitweise mehr als 1.000 Arbeiter und Angestellte und es waren 8 Brennöfen in Betrieb. Die PF Mitterteich wurde im Jahre 1886 gegründet. Nach mehreren Umbauten und Erneuerungen der maschinellen Einrichtungen beschäftigte diese PF 1925 300 Arbeiter.37 1899 wurde die PF Josef Rieber & Co. in Mitterteich mit 1 Brennofen gegründet. 1914 verfügte diese PF schon über 4 Brennöfen und beschäftigte in den 20er Jahren 200-250 Arbeiter. M. Zehendner erbaute 1923/24 an der Bahnstrecke Eger-Wiesau eine PF mit 3 Öfen; beschäftigt wurden rd. 100 Arbeiter. PF Plankenhammer bei Floss besaß 3 Brenn- und Muffelöfen sowie eine Malerei.

36 Auf die verschiedenen Ofentypen wird in Kap. VI eingegangen. 37 Andere Quellen geben für die 1920er Jahre einen ständigen Personalstand von 600-700 Arbeitern an. Zur Begründung werden die Personalkosten des Zeitraumes 1924 bis 1934 i.H. von 250.000 RM bis 554.000 RM jährlich den durchschnittlichen Wochenlöhnen eines Arbeiters i.H. von 12 bis 14 RM gegenübergestellt. Vgl. hierzu www.porzellanfabrik-mitterteich.de

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PF Mandl, Krummenaab wurde 1889 erbaut und umfaßte 2 größere und 1 kleineren Brennofen. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden außerdem noch folgende Porzellanfabriken: Porzellanfabrik Waldershof; Bavaria Ullersricht; Haberländer Windischeschenbach; PF Erbendorf.

3. Raum Südthüringen

In Thüringen waren v.a. die Kaolinlagerstätten bei Königsee und Steinheid von wirtschaftlichem Interesse. Beide wurde 1760 entdeckt und bis 1918 bzw. 1939 ausgebeutet. Als Begründer der thüringischen Porzellanindustrie im 18. Jahrhundert werden MACHELEIDT und GREINER angesehen. Die ältesten thüringischen Porzellanfabriken sind -Volkstedt (gegr. 1760), Gera (1762), (1764), Kloster Veilsdorf (1765), Gotha (1767), Limbach (1772), Groß-Reitenbach (1779), Rauenstein (1783), Blankenhain (1790), Eisenberg (1795) und Pößneck (1799).

In Thüringen waren im Zeitraum 1881-1890 3 Betriebe vorhanden, die ausschließlich elektrotechnisches Porzellan produzierten,38 im Zeitraum 1891-1900 2 Fabriken und 1901 - 1910 existierten 4 Betriebe der elektrotechnischen Keramikbranche.39

38 Vgl. AB, Anl.8 Übersicht der PF in Thüringen, die TK produzierten. 39 Vgl. WINDORF, H. 1912, S.24.

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Tab.7: Porzellanproduktion in Thüringen – Deutsches Reich 1882 40 Betriebe Nebenbetriebe Arbeitskräfte davon weiblich Sachsen-Weimar 39 2 721 96 Sachsen-Meiningen 537 125 3069 804 Sachsen-Altenburg 46 3 732 71 Sachsen-Coburg- 101 12 1643 420 Gotha Schwarzburg- 160 - 780 143 Sondershausen Schwarzburg- 404 20 2628 507 Reuß ältere Linie 4 - 567 164 Reuß jüngere Linie 7 - 72 9 Reg.Bez.Erfurt 29 - 1085 121 Thüringen ges. 1327 162 11297 2335 Dt. Reich 2033 226 22915 4817

Anhand der Tabelle läßt sich erkennen, daß in den letzten Jahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts der Hauptstandort der deutschen Porzellanindustrie eindeutig in Thüringen war: Von insgesamt 2033 Porzellanfabriken lagen mit 1327 Fabriken 65,3% in Thüringen! Auch bei der Zahl der Beschäftigten nahm Thüringen die Spitze ein: 11297 der gesamt 22915 Arbeiter waren in thüringischen Porzellanfabriken beschäftigt, mithin fast die Hälfte!

Allein in Großraum Köppelsdorf entstanden im Zeitraum 1885 bis 1909 7 Porzellanfabriken, die sich vorwiegend mit der Produktion von technischem Porzellan befaßten. Im einzelnen waren dies: 1885 PF Marseille in Köppelsdorf 1887 PF Heubach in Köppelsdorf 1894 PF Hering (vorm. Koch & Weithase) in Köppelsdorf 1898 PF Rauschert in Hüttengrund 1906 PF Marseille in Neuhaus-Schierschnitz 1907 PF Bernhardshütte in Blechhammer 1909 PF Craemer in Mengersgereuth-Hämmern41 „Eine bemerkenswerte Verschiebung der Produktionsausrichtung fand ... in Thüringen statt, hier geriet die Zierporzellanproduktion infolge veränderter Nachfrage in Schwierigkeiten, die aufgefangen werden konnten durch die Umorientierung auf Porzellanverarbeitung für elektrotechnische Artikel und anderen technischen Bedarf.“42

40 Quelle: Statistik des Deutschen Reiches (Berufsstatistik 1882) 1884. Bd.2, NF. Berlin. 41 Vgl. KRÖCKEL, O. 1997, S.5. 42 SCHÄFER, H. 1986, S.477.

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Nach der Berufszählung vom 16. Juni 1925 waren in der thüringischen feinkeramischen Industrie 21.980 Arbeiter beschäftigt; davon 13.347 männlich (=60,7%) und 8.633 weiblich (=39,3%). Die nachfolgende Tabelle spezifiziert diese absoluten Zahlen nach Alter und Familienstand:

Tab.8: Beschäftigte in der feinkeramischen Industrie Thüringens 192543 Alter männlich weiblich Summe ledig verh. verw./gesch. insges. ledig verh. verw./gesch. insges. unter 14 ------14 – 16 690 -- -- 690 632 -- -- 632 1322 16 – 18 857 -- -- 857 1000 -- -- 1000 1857 18 – 20 723 -- -- 723 1182 7 -- 1189 1912 20 – 25 1281 451 1 1733 1907 397 7 2311 4044 25 – 30 254 1195 9 1458 557 457 56 1070 2528 30 – 40 83 2253 32 2368 283 599 262 1144 3512 40 – 50 55 2447 70 2572 89 425 231 745 3317 50 – 60 36 1882 119 2037 39 178 179 396 2433 60 – 65 15 401 64 480 6 24 58 88 568 65 – 70 4 212 55 271 1 10 20 31 302 70 + 3 100 55 158 2 7 18 27 185 Summe 4001 8941 405 13347 5698 2104 831 8633 21980 dgl. in % 18,2 40,7 1,8 60,7 25,9 9,6 3,8 39,3 100,0

Hieraus ist ersichtlich, daß das Gros der männlichen Arbeiter verheiratet war; die Altersstruktur ergibt mit 52,6% einen überwiegenden Anteil der 30- bis 50jährigen. Bei den weiblichen Arbeitern überwog der Anteil der ledigen Frauen; mit 54,2% stellte die Altersgruppe der 18 bis 25jährigen die größte Gruppe.

Die wichtigsten Standorte der thüringischen Porzellanindustrie stellt die nachfolgende Tabelle dar. Danach war fast die Hälfte der thüringischen Porzellanindustrie auf dem Thüringer Wald oder dessen unmittelbarem Vorland ansässig. Das Schwergewicht lag dabei im südöstlichen Teil des Thüringer Waldes mit den Kreisen Sonneberg, Saalfeld und Rudolstadt. Der mittlere Thüringer Wald mit Ilmenau als Zentrum ist an zweiter Stelle zu nennen, südlich davon war v.a. Kloster Veilsdorf wichtig; auch im Saaletal bestanden einige Porzellanfabriken. Hauptstandorte der porzellanindustriellen Produktion waren hier Rudolstadt mit seinen Nachbarorten Volkstedt und Schwarza sowie Kahla. Östlich der Saale trat die Porzellanindustrie nicht in einem geschlossenen Verbreitungsgebiet auf, sondern nur punktuell. Die 1926 in Thüringen bestehenden 136 Betriebe waren in der Mehrzahl (108

43 Aus: MÜLLER, J. 1928, S.31.

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Betriebe) kleine und mittlere Betrieb mit einer Beschäftigtenzahl bis zu 200. Mehr als 200 Arbeiter beschäftigten nur 28 Fabriken, davon 5 mehr als 500 Arbeiter.

Tab.9: Die wichtigsten Standorte der Produktion von Elektro- und Chemisch-Technischem Porzellan in Thüringen 192644 Techn. und Elektrotechn. Sanitätsporzellan Porzellan Landkreise Arbeiter Arbeiter (Auszug) männlich weiblich insgesamt männlich weiblich insgesamt Stadtroda ------397 252 649 Hildburghausen ------574 483 1057 Sonneberg 104 128 232 802 683 1485 Gera ------181 167 348 Saalfeld ------24 27 51 Rudolstadt ------16 22 38 Arnstadt 157 80 237 4 16 20 Land Thüringen 261 208 469 2162 1923 4085

Bezogen auf die Arbeiterzahl (12.318 von insgesamt 19.539 = 63%) und die Anzahl der Betriebe (92 von insgesamt 136 = 68%) waren 1926 rd. zwei Drittel der thüringischen Porzellanindustrie in den Landkreisen Sonneberg, Stadtroda, Rudolstadt und Arnstadt ansässig, hinzu kam als weiterer wichtiger Standort der Kreis Saalfeld.

Mit der Produktion von Porzellangebrauchsgegenständen für chemische Laboratorien und technischen Bedarf, für die Krankenpflege, die Hygiene und den Gebrauch in einzelnen Berufen (Friseure etc.) waren 1926 in Thüringen 7 Betriebe befaßt; davon produzierten nur zwei Fabriken ausschließlich Sanitäts- und technisches Porzellan, die übrigen fertigten als sogenannte „gemischte Betriebe“ auch andere Porzellane. Die Standorte verteilten sich gleichmäßig auf die beiden Landkreise Sonneberg und Arnstadt.

Die Produktionspalette der Elektroporzellanindustrie Thüringens umfaßte 1926 neben Isolatoren für Hoch- und Niederspannung vielfältige Zubehörteile wie Rollen, Tüllen, Einführungspfeifen, Klemmen und Glocken sowie ein umfangreiches Sortiment an Montageartikeln wie Sicherungen, Fassungen, Dosen, Stecker u.v.m. Da der Aufschwung der Elektroporzellanindustrie erst in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts fiel, war sie als quasi ‘moderne Industrie’ keinen historischen Bindungen bzgl. ihrer Standorte unterworfen. Eine

44 Aus: MÜLLER, J. 1927, S.262.

62 verkehrstechnisch günstige Lage schien jedoch im Hinblick auf den Massencharakter der produzierten elektrotechnischen Erzeugnisse und der damit verbundenen Frachtkosten durchaus notwendig, so daß die abgelegeneren Teile des Thüringer Waldes bei der Standortwahl zunächst hätten ausscheiden müssen. Daß genau das Gegenteil der Fall war, sich also durchaus Elektroporzellan produzierende Betriebe im Thüringer Wald nebst dessen Vorland ansiedelten, erklärt sich aus dem Umstand, daß diese sich zum größten Teil an der Eisenbahnstrecke von Sonneberg über Lauscha nach Neuhaus (Köppelsdorf, Hüttengrund, Blechhammer, Steinach, Lauscha, Neuhaus) ansiedelten, mithin Bahnanschluß besaßen. Mit 15 von insgesamt 23 Betrieben, in denen 1.556 von insgesamt 4.085 Arbeiter mit der Produktion von elektrotechnischen Porzellanen beschäftigt waren (Stand 1926), stellte das Gebiet des Thüringer Waldes sogar den größten Anteil innerhalb Thüringens. Östlich der Saale waren nur drei Betriebe in Hermsdorf, Auma und Meuselwitz ansässig; von den im übrigen Thüringen gelegenen Fabriken ist Kloster Veilsdorf mit Zweigbetrieben in Eisfeld und Brattendorf als wichtigster zu nennen. Die Massenfabrikation bedingte in hohem Maße Maschinenverwendung und schuf damit eine der Voraussetzungen für Großbetriebe.45 So waren tatsächlich 3.706 von 4.085 Arbeitern (= 91%) in Fabriken mit mehr als 100 Arbeitern beschäftigt, davon wiederum rd. 2/3 (2.374 Arbeiter) in Betrieben mit mehr als 500 Arbeitern (Kloster Veilsdorf, Neuhaus, Hermsdorf).

Die Entwicklung der Porzellanindustrie in Kahla46 bis in die zwanziger Jahre skizziert beispielhaft die Evolution der thüringischen Porzellanindustrie: 1844 durch Ch. ECKHARDT gegründet, hatte die PF in Kahla zunächst nur einen Brennofen, der mit Holz befeuert wurde. 1864 wurde ein zweiter Brennofen in die Fabrik eingebaut und gleich für Steinkohlenfeuerung eingerichtet. 1873 wurde eine neue Massemühle eingebaut und zum ersten Mal Dampfkraft mittels einer Dampfmaschine von 15 PS genutzt. 1878 versuchten Gewerkschafter der in Berlin-Moabit erscheinenden Gewerkschaftszeitung "Die Ameise" vergeblich, die Arbeiter der PF Kahla gegen ihren Fabrikherrn wg. zu später Lohnzahlung aufzubringen und sie zu einem Streik zu bewegen. 1881 zählte die Belegschaft bereits 300 Personen und war bis 1885 auf 400 Beschäftigte angewachsen. Im Jahre 1888 wurde die PF auf Wunsch und mit Unterstützung des Bankhauses B.M. STRUPP in Meiningen in eine

45 Zugrunde gelegt wurden dabei folgende Betriebsgrößenklassen: Kleinbetrieb = bis 50 Arbeiter; mittlerer Betrieb = 50 bis 100 Arbeiter; Großbetrieb = mehr als 100 Arbeiter. Vgl. MÜLLER, J. 1927, S.272. 46 Vgl. i.e. DENNER, R. 1930.

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Aktiengesellschaft umgewandelt. Dieser Aktiengesellschaft wurde die 1890 in Hermsdorf mit 10 Rundöfen erbaute Porzellanfabrik angegliedert. Das erste Geschäftsjahr brachte den Aktionären eine Dividende von 14%. Auf Betreiben des Fabrikinhabers Hermann KOCH wurde 1889 in Kahla ein Konsumverein gegründet und mit Mitteln der Fabrik ein Konsumvereinshaus gebaut. Dieser Konsumverein bestand jedoch wegen der Opposition der ortsansässigen Geschäftsleute nur bis 1893. 1890 wurde die PF Zwickau, die bis 1889 der Fa. Unger & Schall gehört hatte, aufgekauft und in Kahla selbst die Alte Lehmannsche Porzellanfabrik mit 5 Brennöfen. Zu dieser gehörte auch die Saalemühle, die in Folge zu einer Massemühle mit Kaolinschlämmerei ausgebaut wurde. Man gewann so nicht nur den für die Massebereitung notwendigen Quarzsand für den eigenen Bedarf, sondern konnte diesen darüber hinaus noch an andere PF verkaufen. Das Werk zählte zu dieser Zeit 38 Brennöfen, 6 Zug- und 10 Muffelschmelzen sowie 350 mechanische Drehscheiben.

Im Jahre 1900 wurde die Jägersdorfer Mühle erworben, die zu einer elektrischen Zentrale mit 200 PS ausgebaut wurde und die PF durch eine 5 km lange Leitung mit Lichtstrom und Kraftstrom versorgte. Im Zweigbetrieb in Hermsdorf wurde ein großes Arbeiterwohnhaus errichtet und in Kahla selbst begann man 1901 mit dem Bau eines neuen, größeren Fabrikgebäudes.

Großer Holzreichtum des Altenburger Holzlandes, günstige Verkehrslage an der 1876 eröffneten Bahntrasse Gera-Weimar und Vorhandensein zahlreicher Arbeitskräfte in dem existenzarmen Waldgebiet sind als Standortvorteile Hermsdorfs zu nennen. Während in den ersten beiden Jahren ihres Bestehens die PF Hermsdorf ausschließlich Geschirrporzellan fertigte, begann man 1892 mit der Produktion von elektrotechnischem Porzellan: "Ausgeprägt war um die Jahrhundertwende auch die Vergabe von Heimarbeit an Familien des Holzlandes, um erforderliche Erweiterungsbauten einzuschränken. Diese extensive Ausdehnung der Fertigung mit extra dafür entwickelten Kleinpressen diente vor allem der Herstellung elektrokeramischer Preßartikel." 47

Anfänglich wurden außer den Preßartikeln nur Telegrafenglocken hergestellt, doch schon nach kurzer Zeit produzierte Hermsdorf auch Starkstrom- und vor allem Hochspannungsisolatoren (‘Hochstromer’). Innerhalb kurzer Zeit sicherte sich das Werk große Aufträge von Siemens & Halske, Schuckert & Co u.a. Hermsdorf lieferte auch die

47 TRIDELTA AG 1991, S.10.

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Starkstromisolatoren für den Nordostseekanal in einer besonderen Scharffeuer-Blauglasur. Auch aus dem Ausland erhielt die PF Hermsdorf bedeutende Aufträge. So produzierte man Telegraphenglocken für Rumänien und Isolierteile für Kraftübertragungen nach Norwegen und Schweden.

Der durch Patente im In- und Ausland geschützte Isolator Nr. 358 (Delta-Glocke) wurde in Hermsdorf maßgeblich mitentwickelt und brachte der PF Hermsdorf durch millionenfache Auslieferung einen raschen Aufschwung.48 Im Jahr 1901 baute man in Hermsdorf ein elektrisches Prüffeld. Die Zahl der dort jährlich geprüften Isolatoren stieg von ca. 150.000 i.J. 1902 auf über 2,6 Mill. 1913. In den Kriegsjahren wurden wg. Produktionsrückgangs weniger Isolatoren geprüft, doch bereits 1920 wurde mit rd. 2,3 Mill. geprüfter Isolatoren/Jahr ein neuer Höchststand erreicht.49 Der Hermsdorfer Belegschaftsstand lag 1901 bei 700 und stieg bis zum Jahr 1914 auf 1000. Damit hatte sich die PF Hermsdorf zu einem Großbetrieb entwickelt, der wichtiger Zulieferer der Rüstungs- und Kriegsproduktion war und dessen Inlandsaufträge i.J. 1917 zu 90% aus Heereslieferungen bestanden. Die Licht- und Kraftversorgung geschah zunächst mittels einer Dampfmaschine, später kam ein Dieselmotor dazu, bis man ein Elektrokraftwerk mit einer Leistung von 1000 kW anlegte. Nach dem ersten Weltkrieg wurde in Hermsdorf eine neue Fabrikanlage gebaut, in der erstmals gasbeheizte Tunnelöfen zum Einsatz kamen. Außerdem wurden die keramischen Labors sukzessive erweitert und ein neues Prüffeld errichtet, das die gleichzeitige Prüfung von mehreren Tausend Kappenisolatoren ermöglichte.

Da in Hermsdorf die Grenzen der Kapazität erreicht waren, die Nachfrage an technischen Porzellanerzeugnissen und Isolatoren jedoch unvermindert groß war, baute man 1906 ein weiteres Zweigwerk in Freiberg/Sachsen mit 6 Rundöfen und 800 Beschäftigten. Dort wurden neben den elektrischen Isolationsartikeln auch chemisch-technische Porzellane produziert. Der Umsatz stieg so an, daß 1913/14 weitere Rundöfen dazugebaut werden mußten und nach den kriegsbedingten Umsatzrückgängen 1921 ein Tunnelofen mit kontinuierlichem Betrieb errichtet wurde, der leistungsmäßig 15-20 Rundöfen größeren Inhalts gleichkam. Die Belegschaft betrug zu dieser Zeit rd. 400 Arbeiter und Angestellte. Schon in den 20er Jahren hatte Freiberg ein Hochspannungsprüf- und –versuchsfeld für 1 Million Volt. In eigenen

48 Die ‘Hermsdorf-Nummern’, beginnend mit der Reihenbezeichnung I 1380, werden von Elektrotechnikern häufig als allgemein bekannte Formel bzgl. der Größe von Hochspannungsisolatoren benutzt. 49 Vgl. Forschungsgesellschaft 1922, S.26.

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Werkstätten wurden die benötigten Matrizen und Spezialmaschinen selbst hergestellt. So erfand man dort den sog. "Teleo-Kitt", durch den die mehrteiligen Deltaglocken sprengungssicher verbunden wurden.50 "Hermsdorf und Freiberg führen das gleiche Fabrikzeichen.51 Sie haben viele Millionen Freileitungsisolatoren für Hochspannungsleitungen von 5000 bis 130000 Volt Spannung geliefert. Hunderte von Überlandzentralen und Kraftwerken des In- und Auslandes führen ihre Leitungen auf den Hermsdorf-Freiberg-Isolatoren.. Überall im Ausland ist das Hermsdorf-Freiberg-Zeichen bekannt. Vor dem Krieg wurden etwa jährlich 2700000 Stück Hochspannungsisolatoren geprüft."52

Erwähnenswert ist das soziale Engagement der PF Kahla. Mit finanzieller Unterstützung des Unternehmens wurde Wohneigentum für die Arbeiter geschaffen. 1904 errichtete man eine Badeanstalt und eine Tagesunterkunft für Kinder von Werksangehörigen.

Das Unternehmen Kahla gründete 1906 die Kemmlitzer Kaolinwerke und übernahm schließlich die gesamten Anteile an diesem Unternehmen. Das Kemmlitzer Kaolin war wegen seiner rein weißen Brennfarbe besonders begehrt und übertraf in der Güte noch die sonst so geschätzten Zettlitzer Kaoline.53

1922 schloß das Unternehmen einen Interessengemeinschaftsvertrag mit der AG H. Schomburg & Söhne in Großdubrau und beteiligte sich an der Tonwarenfabrik Schwandorf AG. Ein Teil dieses Werkes wurde in eine Fabrik für elektrotechnisches Porzellan umgebaut. Das Schomburg-Werk, 1853 gegründet, bestand ursprünglich aus einer Fabrik in Berlin, die jedoch bald wieder stillgelegt wurde. 1877 baute man die Zweigfabrik in Margarethenhütte bei Großdubrau und 1898 eine weitere Fabrik in Roßlau. Damit beschäftigte Schomburg ca. 1600 Menschen und produzierte vorwiegend Isolationsmaterial für die Elektrotechnik. Die 1890 gegründete Tonwarenfabrik Schwandorf besaß Werke in Schwandorf, Wiesau, Birkensee und Schwarzenfeld.

Im Jahre 1927 fusionierte man endgültig mit der Firma H. Schomburg & Söhne und mit E.u.H. Müller, Schönwald. Die Müllersche Fabrik beschäftigte 600 Arbeiter. Das Werk Schönwald beschäftigte ca. 650 Arbeiter; das angegliederte, 1890 errichtete Werk in Arzberg ebenso viele.

50 Vgl. TRIDELTA AG 1991, S. 10. 51 Es handelte sich dabei um einen stilisierten Delta-Isolator. 52 DENNER, R. 1930, S.360. 53 Zum Zettlitzer Kaolin vgl. S.38f.

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Die 1922 gegründete Hermsdorf-Schomburg-Isolatoren GmbH ("HESCHO") diente der Zusammenarbeit der elektrotechnischen Abteilungen der Werke Hermsdorf und Freiberg (beide PF Kahla) sowie Margarethenhütte und Roßlau (beide PF Schomburg) auf folgenden Bereichen: " ... gemeinsame Propaganda und gemeinsames Werbewesen, gemeinsame Konstruktion der Fabrikate, gemeinsamen Ein- und Verkauf und gemeinsames Arbeiten beim Patentwesen und den gewerblichen Schutzrechten, die aus dem Betrieb einer der angeschlossenen Werke hervorgehen." 54

4. Exkurs: Porzellanfabrikation in Böhmen

Im Gebiet um Zettlitz wurde schon in früheren Zeiten nach Ton und Kaolin gegraben.55 Die Erschließung des Zettlitzer Kaolinrevieres war eng verbunden mit der Gründung der böhmischen Porzellanindustrie. Aufbauend auf kleineren Anfängen wurden im Jahre 1892 die Zettlitzer Kaolinwerke AG gegründet,56 die bis 1914 um die Firmen Zebisch & Pfeiffer, W. Lorenz & Comp., Karlsbader Kaolin-Industrie-Gesellschaft und Fa. Gottl erweitert wurden. Damit umfaßten die Zettlitzer Kaolinwerke AG zu dieser Zeit 23 Werke: 9 Roherdeschächte, 10 Schlämmereibetriebe, 2 Dampfziegeleien, 1 Braunkohlenbergwerk und das Elektroporzellanwerk Merklin (Merkelsgrün). Die Zahl der Beschäftigten lag bei 1.500.

Um die Jahrhundertwende sind im Bereich der Zettlitzer Kaolingewinnung folgende Schächte in Betrieb: Pfarrgrube, Lorenzschacht, Schacht "Fischers Erben", Pfeiffer-Lorenzschacht, Premlowitz- oder Friedhofsschacht, Libertasschacht, Oberer Marienschacht, Unterer Marienschacht, Exzelsiorzeche, Eleonorazeche, Köstlerschacht, Habsburg- und -Austria- Tiefbauschacht, Bohemiaschacht, Reinwarth-Schacht.

Den Betrieb von Kaolinschächten regelte penibel das 44 Punkte umfassende "Regulativ betreffend die Errichtung und den Betrieb der gewerblichen Anlagen für die Kaolinerden-,

54 SERFLING, S. 1997, S.7. 55 Die älteste überlieferte Quelle stammt aus dem Jahre 1544 und berichtet von einer Verhandlung im 'Sitzenden Recht' zu Zettlitz, in der es um die Abgaben für Tongruben und Eisenbergwerke ging. Vgl. KARRELL, VOM 1953, S.212. 56 Bereits am 11.11.1892 ließ man die Schutzmarke Zettlitzer Kaolin eintragen. Vgl. cfi, 2002, H.3, S.21

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Kapselerden- und Tongewinnung im Amtsbezirke der k.k. Bezirkshauptmannschaft Karlsbad" vom 19.April 1896.57

Schon 1793 wurde in Schlaggenwald und Klösterle mit der Porzellanherstellung begonnen. Im Jahre 1803 wurde die Manufakturen in Pirkenhammer und Gießhübel gegründet; 1804 entstand in Dallwitz bei Karlsbad eine Steingutfertigung. Es folgten Gründungen von Porzellanfabriken in Chodau, Altrohlau, Elbogen, Budau, Lubenz, Fischern bei Karlsbad, Teplitz, Mariaschein, Znaim, Prag, Teinitz und Neumark.58 Die Staatsfachschule für Keramik und verwandte Kunstgewerbe in Teplitz-Schönau wurde 1875 gegründet und sollte die zukünftigen Führungskräfte der keramischen Industrie in technischer und künstlerischer Hinsicht ausbilden. Eine spezielle Fachschule für Porzellan entstand 1925 in Karlsbad. Die wirtschaftliche Bedeutung der Porzellanindustrie in Böhmen läßt sich anhand folgender Zahlen ablesen: 1938 gab es 36 Fabriken mit ca. 180 Rundöfen, davon stellten 5 Fabriken ausschließlich Elektroporzellan in 26 Rundöfen her.59 Von diesen wiederum besaßen 3 Fabriken Prüffelder mit einer Spannung bis zu 1 Million Volt: Merkelsgrüner PF AG, Fa. G. Bihl & Co. in Ladowitz und PF Theodor Pohl in Schatzlar. 1928 erreichte die Belegschaft der böhmischen Porzellanfabrikation ihren Höchststand mit ca. 19.000 Arbeitern.60

Die überregionale Bedeutung der PF Merklin und insbesondere deren Elektoporzellanfertigung rechtfertigen einige Anmerkungen zur Geschichte dieser Porzellanfabrik. 1868 als Fabrik für Porzellan- und Tonwaren gegründet, produzierte die Fabrik ab 1870 Porzellanerzeugnisse und firmierte unter dem Namen Becherska Porcelanka Merklin. Die Fabrik erlebte in den Folgejahren etliche Besitzerwechsel, bis sie 1890 von der Karlsbader Kaolin-Industrie-Gesellschaft aufgekauft wurde. Ab 1897 stellte die PF Merklin neben Geschirrporzellan auch Elektroporzellanartikel her. Wie ein Firmenkatalog von 1904 belegt, wurden Hochspannungsisolatoren diverser Bauformen für Betriebsspannungen bis 60 kV hergestellt, darunter auch Delta-Glocken bis 50 kV. Es existierten eine Prüfstation und eine elektrische Zentrale mit zwei Drehstromgeneratoren; seit 1902 besaß die Fabrik Gleisanschluß. Die starke Produktdiversifikation der Folgezeit wird durch das Fabrikationssortiment von 1910 dokumentiert:

57 Vgl. AB, Anl.9 Kaolin-Regulativ vom 19. April 1896. 58 Karte der Standorte der PF in Böhmen in AB, Anl.10. 59 Vgl. Übersicht der PF in Böhmen, die Technische Keramik produzierten in AB, Anl.11. 60 Im einzelnen sei verweisen auf M. WINTER, der die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der böhmischen Porzellanarbeiter ( "Purzliner" ) untersuchte. 1901, S.19ff.

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„Hochspannungs-Isolatoren für höchste Spannungen und größte Zugfestigkeit ...; technische Artikel für die gesamte Industrie; feuer- und säurebeständige Geräte für chemische Zwecke; Porzellanteile für Webereimaschinen; Gebrauchsgeschirre aller Art für Haus, Hotel und Kaffeehäuser; moderne Genres in Speise-, Kaffee-, Tee-, Mokka- und Fischservicen von den einfachsten bis reichsten Ausführungen, auch mit Wappen , Monogramm, Schleifen, Devisen etc.; dünne Tassen, weiß und bemalt; Grabplatten, Schilder und Weihkessel.“61

Das Werk, dessen Beschäftigtenzahl zu dieser Zeit etwa 500 betrug, verfügte über 10 Öfen (Rückschlagsflamme), die mit Steinkohle und Brüxer Braunkohle befeuert wurden. Die in Merklin produzierten Artikel wurden nach ganz Europa exportiert. Im Jahre 1912 ging der Betrieb als „Abteilung Porzellanfabrik Merkelsgrün“ an die Zettlitzer Kaolinwerke A.-G. über. Ab 1926 wurden in Merklin fast ausschließlich Elektroporzellanerzeugnisse gefertigt, wodurch der Betrieb zum wichtigsten Produzent dieser Branche in der Tschechoslowakei wurde.

61 Quelle: Industrie-Bedarfs-Adressbuch für die Keram-, Glas- und Email-Industrie, Jg.1910, S.293f.

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III. ELEKTRIFIZIERUNG UND TECHNISCHE KERAMIK: INTERDEPENDENZ

1. Elektrizität: Entwicklung und erste Anwendungen

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war es nur möglich, Elektrizität durch Reibung zu erzeugen. Dies änderte sich erst, als es A. VOLTA gelang, eine Art Batterie zu erfinden, mit deren Hilfe es möglich war, Strom zu erzeugen. Im Jahre 1812 entwickelte M. FARADAY den Dynamo und damit die Möglichkeit, mechanische Energie in elektrischen Strom zu transformieren. Damit waren die Grundlagen für die Weiterentwicklung und –verbreitung der Elektrizität und der mit dieser verbundenen Möglichkeiten wie elektrisches Licht, Telegraf, Telefon, Elektromotoren, Funk, Radio geschaffen. Doch erforderte die Entwicklung der Elektrizität auch neue Materialien: "The practical achievment of all these things was limited and required the discovery and development of new materials." 1

Hier bot sich Technische Keramik durch seine hervorragenden mechanischen, thermischen und elektrotechnischen Eigenschaften geradezu zwingend an und ermöglichte somit erst die Elektrifizierung nicht nur der gesamten Industrie, sondern die "Elektrifizierung der Gesellschaft".

Die Bedeutung der Elektrotechnik läßt sich an der Anzahl der erteilten Patente erkennen: In der Zeit von 1877 bis 1886 wurden sieben Patente auf Glühlampen erteilt, drei auf Bogenlampen, sechs auf Akkumulatoren, zwei auf Elektrizitätszähler, sechs auf Verteilsysteme und Schaltungen, jeweils ein Patent auf Fernsprecher, Schalter und Stromwandler. Die Zahl der Patentanmeldungen im Bereich Elektrotechnik auf dem Gebiet des kaiserlichen Patentamtes stieg von 567 im Jahre 1891 über 666 im Jahre 1895 auf 1565 im Jahre 1900.2 Dabei waren die einzelnen Bereiche der Elektrotechnik wie folgt vertreten:

1 KINGERY, W.D. 1990, Vol.V, p.295. 2 Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen 1902. S.108f.

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Tab.10: Patentanmeldungen im Bereich Elektrotechnik 1894-1900 3 Bereich 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900

Telegraphie, Fernsprechwesen 99 128 97 151 195 220 283

Galvanische Elemente, Sammler, 106 153 136 216 242 197 208 Thermoelemente Leitungs- und Installationswesen 120 124 178 183 267 376 368

Maschinen, Motoren, 139 115 136 148 175 195 199 Verteilungssysteme Meßtechnik 45 48 53 91 105 117 149

Beleuchtung 94 98 107 115 198 251 250

Hilfsgeräte - - 17 27 31 54 58

Wärmeerzeugung ------50

Th.A.EDISON ließ sich im Jahre 1878 den Gebrauch von Ruß in einem Karbon-Mikrofon patentieren, das zusammen mit dem von A.G.BELL entwickelten Sprechapparat den Grundstein für die Telephonie legte.4

Die erste Demonstration, Elektrizität in Licht (Lichtbogen) zu verwandeln, stammt aus dem Jahre 1808 und wurde von H.DAVY durchgeführt. Während vieler Jahrhunderte wurden Öle, Wachs, harzige Hölzer und Gas verbrannt; bei der Verbrennung entstanden weißglühende Kohlenstoffpartikel, welche die Lichtquelle bildeten. Zwar wurden die Öllampen im Laufe der Zeit verbessert,5 doch war flackernde Gasbeleuchtung mit niedriger Lichtstärke im Zeitalter der Elektrizität ein Anachronismus. Daher gab es während des gesamten 19. Jahrhunderts parallele Bemühungen, Kohlenstoff-Bogenlampen und elektrische Platinglühfaden-Lampen zu entwickeln. Der erste Erfolg zeigte sich Anfang der 70er Jahre mit der Erfindung des Dynamos. Dieser ermöglichte es, Bogenlampen für Außenbeleuchtungen in Serie einzurichten. Zwar wurde durch diese Bogenlampen ein helles, blendendes Licht erzielt, doch die hohen Stromstärken, die Anordnung in Gruppen und die Notwendigkeit dauernder Nachjustierungen waren unvorteilhaft für Innenbeleuchtungen.

3 Quelle: Blatt für Patent-, Muster und Zeichenwesen 1902, S.109. 4 Vgl. AB, Anl.12 Rußproduktion für Karbonmikrophone. 5 A.ARGAND entwickelte 1784 einen röhrenförmigen Docht, verbesserte den Lufteinlass und schuf einen Glaszylinder, der die Luftzufuhr zur Flamme vergrößerte und regulierte.

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Eine der Hauptforderungen für elektrische Beleuchtung war die nach einem brauchbaren Glühfaden. EDISON sah als erster das Problem der Rückkopplungskontrolle, d.h. daß die Temperaturen, denen das Platin ausgesetzt war, zwar nahe dem Schmelzpunkt lagen, diesen jedoch nicht überschreiten durften. Er fand heraus, daß Platin noch besser im Vakuum funktionierte, besonders wenn es erhitzt wurde, um noch vorhandenen Gase zu entfernen, bevor das Vakuum geschlossen wurde. Schließlich kam EDISON auf Kohlenstoff für den Glühfaden zurück; er entwickelte eine komplett versiegelte Glashülle mit Kabeldurchführungen aus Platin.6 Diese Zusammenstellung war schließlich erfolgreich und außerdem von hoher Produktlebensdauer. "On New Year´s Eve 1879 Edison exhibited his system by ligthing up Menlo Park in a presentation for the general public. This show attracted a large crowd and received immense publicity in the daily press, weekly magazines and specialist journals. Nothing could better illustrate the excitement and anticipation with which the arrival of practical electrical lighting was awaited and the opportunity for developing a great new industry." 7

Ein Intermezzo auf diesem Weg stellt die von C AUER von WELSBACH entwickelte Gas- Glühstrumpf-Lampe dar. Sie brachte der Gasbeleuchtung als Wettbewerber der neuentwickelten Beleuchtung durch Elektrizität zwar für kurze Zeit neuen Aufschwung, doch war sie nur für ländliche Gegenden ohne Elektrifizierung von Interesse und blieb weitgehend unbedeutend. Ihre eigentliche Importanz besteht darin, daß hier zum ersten Mal gesinterte Oxide verwendet wurden, die aus chemisch vorbereiteten Rohstoffen hergestellt wurden.

Ein weiteres Stadium der Entwicklung der elektrischen Beleuchtung widerspiegelt die von W.H.NERNST entwickelte und nach ihm benannte NERNST-Lampe.8 Bei dieser heizte eine Spirale, die sich um ein feuerfestes Rohr wand, einen Glühfaden auf, bis dieser stromleitend war. Sobald der Strom floß, trennte eine elektromagnetische Spule die Heizspirale vom Stromkreis. Ein Widerstand aus Eisen stand in Verbindung mit dem Glühfaden und befand sich in einer Wasserstoff-Umgebung. Diese sollte den Kreislauf ausbalancieren und vermeiden, daß sich der Glühfaden zu stark aufheizte. Die NERNST-Lampen waren jedoch im Vergleich zu den Kohlenstoff-Glühlampen zu teuer und zu kompliziert, außerdem waren die frühen NERNST-Lampen nur von kurzer Lebensdauer. Sie nehmen in der Entwicklung der Beleuchtungstechnik eine Mittelstellung zwischen den Kohlenstoff-Glühlampen und der Kohlenstoff-Lichtbogen-Beleuchtung ein.9

6 Vgl. AB, Anl.13 EDISON`s Vakuumlampe. 7 KINGERY, W.D. 1990, p.303. 8 Vgl. AB, Anl.14 NERNST-Lampe. 9 Vgl. AB, Anl.15 Glühlampen.

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Technische Keramik läßt sich zu dieser Zeit somit definieren als Keramik, die aus speziell bearbeiteten Rohstoffen hergestellt wurde, um optimale Ergebnisse für einzelne Anwendungen oder Erfindungen zu erzielen. Der Gebrauch von künstlich produziertem Kohlenstoff (Ruß) für das Mikrophon und von Kohlenstoff-Glühstrümpfen, die Entwicklung von silikon-karbidischen Schleifmitteln, die Anwendung von Mischungen aus Thorium-Oxid und Cerium-Oxid bei AUERs Gas-Glühstrumpf-Lampe und von Zirkonium-Yttrium Brennern bei den NERNST-Lampen, schließlich die Verwendung von Thorium-Oxid-Stützen in AUERs Osmium-Lampe können alle mit einiger Berechtigung als Vorläufer, wenn nicht sogar Anwendungen der Technischen Keramik in ihrer heutigen Bedeutung gesehen werden. Gemeinsam ist all diesen neuen Produkten und Entwicklungen, daß sie im neuen Zeitalter der Elektrizität praktisch nutzbare Ergebnisse erst ermöglichten. Des weiteren ist zu bemerken, daß alle genannten Innovationen unabhängig von der traditionellen Keramikindustrie gemacht wurden, die sich bis dato nur als eine "Tonaufbereitungs-Industrie" verstand; niemand dachte daran, die neuentwickelten Werkstoffe etwa als Keramik zu bezeichnen.

Die Bedeutung des Zeitalters der Elektrizität ist in jeder Hinsicht immens, wenn sie sich auch differenziert darstellt. Durch die hohen Temperaturen, die mit einer nun zuverlässigen Lichtbogen-Technologie erreicht wurden, war die Synthese einer in der Natur unbekannten Verbindung –Siliziumkarbid - gelungen. Die Entwicklung und der Bau der leistungsfähigen Westinghouse-Dynamos bei den Niagara-Fällen machte die Produktion und die kommerzielle Nutzung einer bislang unbekannten Keramik erst möglich. Die spezifischen Eigenschaften des Silziumkarbids wie physikalische Härte vergleichbar der des Diamanten, höchste Hitzebeständigkeit bei beträchtlicher Resistenz gegen Oxidation und chemische Trägheit und v.a. elektrische Leitfähigkeit machten es zu einem überaus geeigneten Substitut für andere Materialien. Einmal verfügbar, wurde es rasch akzeptiert und von der gesamten keramischen Industrie in den Produktionsprozeß eingebaut.

Im Gegensatz zur traditionellen keramischen Industrie stand die neu aufgekommen elektrotechnische Industrie. Für sie waren neue Materialien10 Grundforderungen für effektive Telefon- und Beleuchtungssysteme, denn hier erwartete man einen großen Markt. Daher waren hohe Forschungs- und Entwicklungskosten z.B. bei der Westinghouse-Company in den USA und der AEG in Deutschland geradezu zwingend notwendig, wollte man nicht die

10 Das Elektroporzellan war lange Zeit nichts anderes als das traditionelle Geschirrporzellan.

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Chance zur Expansion und ökonomischen Verwertung verpassen. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, daß die deutsche AEG sowie später die amerikanische General Electric Company jede Bemühung unternahmen, um an der neuen Technologie zu partizipieren. Die Integration von chemischen, keramischen und metallurgischen Forschungen in die Elektroindustrie begann mit EDISON und setzte sich konsequent in den F&E-Abteilungen der großen Unternehmen fort. Diese Abteilungen forschten in ihren Laboratorien für alle Nutzanwendungen der Elektrizität und entwickelten dabei notwendigerweise auch neue Verfahren sowie Materialien. So baute bspw. die General Electric Company ein zentrales Forschungslabor, das gänzlich von der eigentlichen Produktionshalle separiert war und in dem auf vier konstitutiven Feldern geforscht wurde: Quecksilber-Dampflampen, NERNST- Lampen, neuartige Glühfäden und neue Materialien für Lichtbogen-Elektroden. Diese Kombination der Produktion von Technischer Keramik einerseits und Forschungsprogrammen, die auch die Suche nach neuen Materialien einschlossen, andererseits war die eigentliche Innovation, welche die Entwicklung der Materialwissenschaft, der Technologie und der Ingenieurwissenschaften maßgeblich beeinflußte. Das Zeitalter der Elektrizität transmutierte sukzessiv in das Zeitalter der Elektronik mit stetigen Bedürfnissen nach neuen Materialien, um die sich bietenden neuen Applikationen umsetzen zu können. So wurde das Muster der zentralen Forschung weitergeführt in Laboratorien, die sowohl auf dem Gebiet der militärischen Nutzanwendung forschten wie auch auf solchen der Atomindustrie, Stahlproduktion, Automobilindustrie, Nuklearindustrie und anderer. Dabei blieb die Elektronik Basis und Motor für weitere Entwicklungen.

Die Entwicklung von Silikonkarbid-Pulver und der gesamten Elektrokeramik fand gänzlich außerhalb der eigentlichen keramischen Industrie statt. Dies hing mit der Beschränktheit der klassischen Organisierung von Technologie zusammen: Technologie hatte sich ausschließlich auf industrielle Belange zu konzentrieren, Grundlagenforschung im heutigen Sinne existierte nicht. Ziegeleien, Terrakotta-Unternehmen, Kachel- und Tiegelfabriken war gemeinsam, daß sie mit Ton arbeiteten und die gleichen Probleme hinsichtlich Rohstoffbearbeitung, Plastizität, Trocknung, Brennen und Glasieren hatten. Außerdem waren alle Produkte dieser Unternehmen in gleicher Weise von niedriger Qualität. Versuchte man, diese zu verbessern, so wurden dazu ausschließlich die traditionellen Methoden angewandt; wissenschaftliche Forschung hatte nicht das Ziel der Innovation, schon gar nicht der totalen Revolutionierung.

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Das Augenmerk der Industrie war hauptsächlich gerichtet auf Prüfung der Rohstoffe, Entwicklung effizienterer und effektiverer Maschinen sowie Substitution der Rohstoffe.

Die erste vollständige Forschung, Entwicklung und Produktion von moderner "High-Tech- Keramik", stellten die elektrolytischen Leiter und Hochtemperatur-Isolatoren dar, wie sie für die NERNST-Lampe entwickelt wurden, ebenso wie die AUERschen Gas-Glühstrumpf- Lampen. Wenn man EDISON als Gründer der modernen Materialwissenschaften betrachtet, so kann man mit einiger Berechtigung von NERNST als dem "Vater der High-Tech-Keramik" sprechen. Wie wichtig die Erfindungen waren, die erst mit Hilfe der Technischen Keramik ermöglicht wurden, läßt sich gut an folgender kleiner Anekdote erkennen, die von K.MENDELSSOHN wiedergegeben wird: "Some inventions are just too beautiful for this world. In his 11 lectures he used to mention that the little blemish of preheating was not too serious. Fortunately, he said, another great invention, the telephone, was installed in Berlin at the same time when his lamp came on the market. This made it possible for the brokers at the Stock Exchange to ring up home when business was finished and asked their wives to switch on the light." 12

3 Nernst-Lampe und Tantallampe13

11 Gemeint ist EDISON. 12 Zit. nach KINGERY, W.D. 1990, p.321. 13 Quelle: HUGHES, Th. P. 1988, p.66f.

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2. Elektrifizierung und Energieversorgung

"Das Aufkommen der Ueberlandzentralen (sic!) in diesen Jahren 14 und die allgemeine Ausbreitung des Telegraphen- und Telefonnetzes verschaffte der Porzellanindustrie neue Erwerbszweige. Dieser Umstand wirkte in erheblichem Maße fördernd auf die Porzellanindustrie, der gegenüber anderen Gründen nicht unterschätzt werden darf." 15

Die Anfänge der theoretischen Grundlagen der Elektroindustrie reichen zurück bis ins 18. Jahrhundert; zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts lagen sie grundsätzlich vor. FARADAY gelang es schon 1831, mechanische Bewegung in elektrischen Strom umzuwandeln. Trotzdem dauerte es noch ca. ein halbes Jahrhundert, bis diese Erkenntnisse ihren Niederschlag in der Produktion fanden. Ursächlich dafür war der rasche Aufschwung der Dampfkraftnutzung sowie die Fortschritte auf dem Gebiet der Gastechnik. Da Gas und Dampf den Industriebedarf weitgehend deckten, gab es für die Verwendung der Elektrizität weder einen profitablen Markt noch wurde ihre Bedeutung erkannt. Erst die Entdeckung des dynamoelektrischen Prinzips durch W.v. SIEMENS im Jahre 1866 brachte die Wende. Die Dynamomaschine verwandelte mechanische Energie in elektrische. Die Umkehrung dieses Prinzips schuf die Grundlagen für den Elektromotor. So konnte SIEMENS 1879 auf der Berliner Gewerbeausstellung eine elektrische Lokomotive vorführen: Ein funktionierender Gleichstrommotor war geschaffen worden, zugleich eine neue Bewegungsmaschine.

Die Einführung des Elektromotors in die industrielle Produktion gestaltete sich jedoch zunächst schwierig. Die Gründe dafür lagen in der hohen Leistungsfähigkeit des Dampfmaschinenantriebs sowie der Gasmotoren; hinzu kam, daß Elektromotoren zu kostenaufwendig waren und nur durch Massenabsatz verbilligt werden konnten.

Einen ersten Anfang bildete der Lichtstrom, der durch die Entwicklung der Bogenlampen seit 1861 in Deutschland eingeführt war. Problematisch war, daß dieses Beleuchtungssystem jedoch zunächst für jede Bogenlampe ein eigenes Stromaggregat erforderte. 1879 gelang es Th.A.EDISON, eine elektrische Beleuchtungsanlage mit einer Kohlefadenglühlampe zu entwickeln. 1881 wurde in New York das erste öffentliche Elektrizitätswerk errichtet, das einen ganzen Stadtteil versorgte.

14 Gemeint sind hier die Jahre um die Jahrhundertwende. 15 GRADL, H. 1919, S.10f.

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Die erste internationale Elektrizitätsausstellung 1881 in Paris, auf der EDISON seine Glühlichtbeleuchtung einschließlich des Systems der Elektroenergieerzeugung und – verteilung vorführte, war für die deutsche Entwicklung maßgebend: E.RATHENAU baute die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG) auf, die 1890 die Aktienmehrheit der Deutschen Lokal- und Straßenbahnen-Gesellschaft erwarb und somit mit der Elektrifizierung der Bahnen beginnen konnte, die der Gesellschaft gehörten.

Bis 1880 kannte die Elektrotechnik nur die Bogenlampenbeleuchtung, wobei das stromerzeugende Aggregat, da es nur eine bestimmte Gruppe von Bogenlampen versorgen konnte, in der unmittelbaren Nähe dieser plaziert sein mußte. Jedoch gelang es M. DEPRÉZ bei der zweiten internationalen Elektrizitätsausstellung 1882 in München, Strom über weite Entfernungen zu transportieren. Wenn auch die Ergebnisse dieser Fernübertragung16 über 57 km bei einer Spannung von 2.000 Volt und einer Leistung von ca. 2 PS (1,48 kW) mit Hilfe einer Telegrafenleitung äußerst bescheiden waren, da die Leitungsverluste bei 75% lagen, so war dies doch der Beginn der ersten Etappe der Elektroenergieversorgung, der zwei weitere folgen sollten:

1. Epoche der B l o c k s t a t i o n e n 17 und S t a d t z e n t r a l e n 1880 bis 1894: Verwendung vorwiegend für Beleuchtung, in erster Linie Gleichstromverteilung. "Um das Jahr 1880 bestanden schon einige elektrische Einzelbeleuchtungsanlagen, vorwiegend für Leuchttürme, Straßen, Bahnhöfe und für militärische Zwecke, bei denen für je eine bestimmte Gruppe von Bogenlampen eine eigene Maschine in allernächster Nähe der Lampen aufgestellt war. Erst die Internationale Elektrizitäts-Ausstellung... machte die Welt mit der neuen Kraft bekannt. Man sah dort staunend zum erstenmal die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des elektrischen Stromes in Telegraphie und Telephonie, vereinzelt auch schon für die Kraftlieferung, vor allem aber als Lichtquelle. Berichte von der Ausstellung schildern den ungeheuren Eindruck, den die Lichtfülle der verschiedenen Bogenlampen auf alle Besucher machte, sie erzählen auch von den Schlangen, die sich vor der kleinen Edison-Glühlampe gebildet hatten, da jeder selbst das unglaubliche Wunder erleben wollte, durch einfaches Drehen eines Schalterhahnes dieses zauberhafte Licht ein- und auszuschalten. .... Die Ausstellung und die begeisterten Berichte darüber hatten den Wunsch nach elektrischer Beleuchtung allgemein angeregt und damit den Boden bereitet, auf dem in den folgenden Jahren in vielen Städten die elektrischen Blockstationen zur Versorgung eines größeren Abnehmerkreises entstehen konnten. ... Die Bezeichnung Blockstation kommt von Häuserblock, denn das Versorgungsgebiet dieser ersten kleinen Elektrizitätswerke war auf die Abnehmer innerhalb eines Häuserblockes beschränkt ..." 18

16 Vgl. AB, Anl.16 Chronologie der Starkstrom-Fernübertragung. 17 Vgl. AB, Anl.17 Blockstationen, Kraftwerke. 18 MILLER, R.von 1936, S.113.

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2. Epoche der Ü b e r l a n d w e r k e 1895 bis 1914: Neben Beleuchtung Verteilung von Kraft für Kleingewerbe und Bahnen. Aufkommen der Wechsel- und Drehstromverteilung. "Für die Weiterentwicklung der öffentlichen Elektrizitätsversorgung war es ... von ausschlaggebender Bedeutung, daß man die Stromabgabe auf `Nebenbetriebe` ... ausdehnte, d.h. daß man die Lieferung von Kraftstrom an Kleinabnehmer aufnahm. ... Maßgebend ... war in erster Linie die wohlgelungene Kraftübertragung Lauffen-Frankfurt ... Damit wurde der Weg für die Ausdehnung der Stadtzentralen auf das umgebende Land und die Errichtung der Überlandwerke gewiesen. Diese entstanden meist im Anschluß an natürliche Energiequellen, so z.B. im Jahre 1895 die Isarwerke bei München, die aus drei hintereinanderliegenden Kraftstufen der Isar das Gebiet südlich Münchens und einen geplanten Industriebezirk bei Sendling mit billigem Licht.- und Kraftstrom versorgten. Es war...für die Durchsetzung des Wechsel- bzw. Drehstroms von ausschlaggebender Bedeutung, als um das Jahr 1890 eine Reihe hervorragender Erfinder auf der Entdeckung des Drehfeldes durch FERRARIS weiterbauend, den Drehstrommotor schufen. Ein ... wichtiges Absatzgebiet wurde für den Elektromotor durch den Betrieb elektrischer Bahnen erschlossen. In erster Linie wurden hierbei die Straßenbahnen, die früher mit Pferde- oder Dampfkraft betrieben wurden, auf elektrischen Betrieb umgestellt. Es folgten Hoch- und Untergrundbahnen sowie Vorortstrecken ..." 19

3. Epoche der G r o ß k r a f t w e r k e und der V e r b u n d w i r t s c h a f t ab 1915: Ausdehnung der Stromlieferung an Großindustrie (z.B. zur Rohstoffherstellung) und Verteilung von Wärmestrom an Haushalt, Gewerbe und Industrie; fast restloser Übergang zur Drehstromverteilung.20 "So wie Abschnitt I durch den Wunsch nach elektrischer Beleuchtung, Abschnitt II durch Inangriffnahme der Kraftverteilung im Kleingewerbe eingeleitet wurde, so steht an der Wende zum Abschnitt III der Wunsch, die Versorgung der öffentlichen Werke auf die Belieferung der Großindustrie auszudehnen und später den elektrischen Strom auch zur Erzeugung von Wärme in Industrie und Gewerbe sowie im Haushalt zu verwenden. Die Belieferung der Großindustrie hatte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Strom in ausreichender menge und zu günstigen Bedingungen angeboten werden konnte. Hierzu war es nötig, leistungsfähige und mit größtmöglicher Wirtschaftlichkeit arbeitende Stromerzeugungsanlagen zu verwenden. Diese Bestrebungen wurden bei Ausbruch des (Ersten, d.Verf.) Weltkrieges noch verstärkt durch die Forderung sparsamsten Auskommens mit Energiemitteln, Unterhaltung der Stromversorgung mit geringstem Personalaufwand und Bereitstellung großer billiger Strommengen für die Kriegsindustrie. Die aus diesen Forderungen entstehende Entwicklung der Werkanlagen führte zur Errichtung der Großkraftwerke und zur Verlegung der Kraftwerke an die natürlichen Kraftquellen. ... Auf diesen Grundlagen entstand eine großzügige Verbundwirtschaft oder Großraumversorgung, worunter man den Zusammenschluß mehrerer Kraftwerke und der ihnen zugeordneten Verbrauchsgebiete durch entsprechend leistungsfähige Hauptstromleitungen zu einem nach einheitlichen Gesichtspunkten geleiteten größeren Verbrauchsgebiet versteht." 21

19 MILLER, R.von 1936, S.116ff. 20 Einen Überblick über die Entwicklung des jährlichen Stromverbrauchs gibt Tab.12. 21 MILLER, R. von 1936, S.119ff.

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ENGELS bewertet in einem Schreiben an BERNSTEIN im Februar 1883 die Bedeutung des Wirkens von DEPRÉZ und die gesellschaftlichen Konsequenzen der Fernübertragung von Strom folgendermaßen: Der Lärm wegen der elektrotechnischen Revolution ist bei V. (Viereck, d.Verf.), der absolut nichts von der Sache versteht, reine Reklame für die von ihm verlegte Broschüre. In der Tat aber ist die Sache enorm revolutionär.22 Die Dampfmaschine lehrte uns Wärme in mechanische Bewegung zu verwandeln, in der Ausnutzung der Elektrizität aber wird uns der Weg eröffnet, alle Formen der Energie: Wärme, mechanische Bewegung, Elektrizität, Magnetismus, Licht, eine in die andere zurückverwandeln und industriell auszunutzen. Der Kreis ist geschlossen. Und Depréz neueste Entdeckung, daß elektrische Ströme von sehr hoher Spannung mit verhältnismäßig geringem Kraftverlust durch einen einfachen Telegraphendraht auf bisher ungeträumte Entfernungen fortgepflanzt und am Endpunkt verwandt werden können – die Sache ist noch im Keim -, befreit die Industrie definitiv von fast allen Lokalschranken, macht die Verwendung auch der abgelegensten Wasserkräfte möglich, und wenn sie im Anfang den Städten zugute kommen wird, muß sie schließlich der mächtigste Hebel werden zur Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land." 23

Durch die erweiterten Übertragungsmöglichkeiten war es durch Blockstationen und betrieblichen Kraftzentralen möglich, Versorgungsgebiete von 600 bis 800 m zu schaffen. Das von J. HOPKINS entwickelte Dreileitersystem führte zur Verdoppelung des Versorgungsgebietes einer Zentrale. Dennoch wären unter diesen Bedingungen Ende der achtziger Jahre mehr als 100 Kraftzentralen nötig gewesen, um bspw. das damalige Stadtgebiet von Berlin mit Lichtstrom zu versorgen. Die elektrische Beleuchtung war zwar besser, sauberer und ungefährlicher als die Gasbeleuchtung oder gar die Petroleumbeleuchtung, auch erwies sie ihre großen Vorteile für das entstehende Nachtschichtsystem; aber Gleichstrom konnte im Gegensatz zum Gas nicht gespeichert werden. Daher mußten die Anlagen in den Blockstationen auf die Spitzenbelastungen ausgerichtet sein. Strom war somit wesentlich teurer als Gas. Hinzu kamen die hohen Glühlampenpreise und die generell höheren Kosten, welche die Kleinproduktion von Elektroenergie verursachte.

Für die Weiterentwicklung der Elektroenergieerzeugung war der von Ingenieuren der Firma Ganz & Co. (Budapest) 1885 vorgestellte Transformator von entscheidender Bedeutung. Er erlaubte es, hochgespannten Wechselstrom mit minimalen Verlusten in niedergespannten Wechselstrom zu verwandeln und niedergespannten Wechselstrom unter den gleichen Bedingungen in hochgespannten Wechselstrom zu transformieren. Die räumliche Trennung von Erzeugung und Verbrauch wurde damit möglich. Der Transformator begünstigte die

22 Vgl. KINGERY, W.D. 1990, p.293 (S.4, Anm.3). 23 Zit. nach MEW, Bd.35, S.444f.

79 profitable Erzeugung und Verteilung der Elektroenergie, denn die Elektrizitätswerke konnten nun dort errichtet werden, wo die Brennstoffzufuhr bzw. die Brennstoffgewinnung am günstigsten war. Die Nutzung der Wasserkraft gewann erneut an Bedeutung, weil selbst relativ schwache Wasserkräfte zur Elektrifizierung kleiner Orte genutzt werden konnten. Neben reinen Wechselstromanlagen24 entstanden vorübergehend Gleichstrom-Wechselstrom- bzw. Gleichstrom-Drehstromanlagen, deren Arbeitsprinzip darin bestand, hochgespannten Wechsel- oder Drehstrom vom Ort der Erzeugung zum Ort des Verbrauchs zu leiten und dort in niedergespannten Gleichstrom umzuwandeln. Voraussetzung dafür war die Verbesserung der Stromübertragung.

Der entscheidende Durchbruch in der Fernübertragung von Elektroenergie gelang Michael OSSIPOWITSCH von DOLIVO-DOBROWOLSKI. 1891 führte er die erste elektrische Kraftübertragung über 175 km bei einer Spannung bis zu 30.000 Volt und einer Leistung von 300 PS mit einem Nutzeffekt von 77% durch. Dadurch war die Grundlage geschaffen, die Blockstationen durch Überlandwerke zu ersetzen, die in den Jahren 1895 bis 1914 vorherrschten. In der ersten Phase der Blockstationen und Stadtzentralen wurde in öffentlichen Werken in der Hauptsache Lichtstrom erzeugt, während die betriebseigenen Kraftzentralen Gleichstrom für den Antrieb von Maschinen und für Beleuchtungszwecke produzierten. Dies bedeutete, daß die größten Industriebetriebe sich die Vorzüge der Elektrizität am stärksten zu eigen machten, während den öffentlichen Kraftwerken zunächst nur die Licht- und Kraftstromversorgung des Kleingewerbes und Teilen des städtischen Nahverkehrs oblag.

Die Konkurrenz zwischen der öffentlichen Stromversorgung und der Versorgung der Unternehmen durch eigene Kraftzentralen war Mitte der neunziger Jahre grundsätzlich entschieden. Die internationale Elektrizitätsausstellung 1891 in Frankfurt/M. hatte durch die Gegenüberstellung von Gleich- und Wechselstrom und die gelungene Fernübertragung von Kraftstrom die Überlegenheit des Wechselstroms eindeutig nachgewiesen. Dennoch stieg der Anteil der Stromerzeugung in betriebseigenen Anlagen bis zum Ende des Jahrhunderts weiter an. Die Ursache dafür lag in der fehlenden Bereitschaft der Industrie, soweit sie über eigene Anlagen verfügte, diese Investitionen aufzugeben. Außerdem hatte die Großgasmaschine der innerbetrieblichen Stromerzeugung in Unternehmen, in denen Abgase anfielen, einen Aufschwung gegeben.

24 1890 wurde in Bad Reichenhall die erste deutsche Wechselstromanlage gebaut.

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Die Krise der öffentlichen Elektroenergieversorgung war nur durch die Schaffung neuer Absatzmöglichkeiten für Elektroenergie zu meistern. Die Auslastung der Anlagen in den wenigen Abendstunden durch die Lichtkunden rückte den Lichtstrom in die Nähe eines Luxusartikels. Die Senkung der Strompreise bescherte dagegen der Elektroindustrie einen Massenabsatz für ihre Produkte. Ende 1883 waren in Deutschland 12.000 Glühlampen in Gebrauch. Eine Glühlampe kostete jedoch 5 M. Mitte der achtziger Jahre hatte man in Berlin für eine Kilowattstunde 80 Pf. zu entrichten. Die Grundgebühr pro Jahr und Glühlampe betrug 6 M, die der Bogenlampe 40 M. Die Zählermiete lag zwischen 15 und 40 M pro Jahr. 1904 betrug der Preis pro Kilowattstunde immer noch 40 Pf., wenn auch die Grundgebühren und die Zählermiete weggefallen waren.25 Nimmt man das Jahreseinkommen eines Arbeiters im Jahre 1888 mit ca. 1.000 Mark an, so wird die relative Kostspieligkeit des elektrischen Lichts zur damaligen Zeit deutlich: „1890 gab das Freie Deutsche Hochstift eine Schrift heraus, die die Zusammenstellung von drei Farnkfurter Arbeiterbudfgets und deren Analyse enthielt; im einzelnen die Lebenskosten der Familie eines bei der Eisenbahn beschäftigten Arbeiters, eines Chemiearbeiters und eines ungelernten Arbeiters. Sie lassen einige Rückschlüsse zu über Aufwand und Kosten der technischen Ausstattung Arbeiterwohnungen und sind somit geeignet, die gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutungen des Elektrizitätswerkprojekts (für Frankfurt, d.Verf) vor einem allgemeineren Hintergrund zu verdeutlichen. Der Petroleumverbrauch der Familie des Eisenbahnarbeiters betrug im Jahre 1888 etwa 100 Liter, was sich mit 20 Mark im Jahresbudget niederschlug oder 2% der Gesamtausgaben. ... Der Haushalt verfügte über eine Petroleumlampe und eine kleine Küchenlampe, die vermutlich nur im Winter mit Spiritus betrieben wurde (Betriebskosten 30 Pfennige). Der Liter Petroleum kostete 1888 etwa 22 Pfennige. Auch der Haushalt des Chemiearbeiters verfügte über eine Petroleumlampe und eine Küchenlampe wie der des Eisenbahners. ... Der Haushalt des ungelernten Arbeiters gab etwa 8 Mark im Jahr für Petroleum aus. Er wohnte in einer Zweizimmerwohnung im Nordend, die über eine Gaszuleitung verfügte. Die Familie benutzte sie nicht, weil das Petroleumlicht billiger kam als das Gaslicht. Der Chemiearbeiter und der Eisenbahnarbeiter wohnten am Stadtrand. Ihre Wohnviertel waren nicht an das Gasversorgungssystem angeschlossen. In allen drei Haushaltungen belasteten die Kosten für die Beleuchtung die jährlichen Budgets mit etwa 2%. Eine Kohlenfadenlampe zu 16 Kerzen kostete um 1890 etwa 6 Mark. Sie hatte eine Brenndauer von ungefähr 300 Stunden. Legen wir den Preis pro kWh von 80 Pfennig zugrunde, mit dem das Frankfurter Kraftwerk 1894/95 eröffnete, kämen (ohne Berücksichtigung der Installationskosten, der Zählermiete und weiterer Kostenfaktoren) bei angenommenen 300 Stunden Brenndauer im Jahr 14,40 Mark hinzu. Das entspricht etwa den Jahresausgaben für Petroleum der Facharbeiterhaushaltungen. Nun kamen die Familien mit einer großen Petroleumlampe aus, weil die Lampe hochmobil war; sie konnte innerhalb der Wohnung ohne besonderen Aufwand dort hingestellt werden, wo Licht notwendig war. Bei einer Wohnung mit einer Küche und zwei Zimmern mußten sich folglich die Kosten des Glühlichts mindestens verdreifachen.“26

Die öffentliche Stromversorgung mußte sich daher – mit dem Kapital in der Elektroindustrie eng liiert, wenn nicht sogar identisch – auf die Propagierung des Elektromotors in der

25 Vgl. MATSCHOSS, C. et al.. 1935, S.24. 26 STEEN, J. 1981: Die Zweite industrielle Revolution. Frankfurt und die Elektrizität 1800-1914. Bilder und Materialien zur Ausstellung im Historischen Museum, S.76f. Frankfurt/Main.

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Industrie, im Kleingewerbe und auch im Transportwesen orientieren. Dem kam entgegen, daß es 1889 DOLIVO-DOBROWOLSKI gelungen war, einen in der Industrie verwendbaren ersten Drehstrommotor zu schaffen. Dieser Motor zeichnete sich gegenüber anderen Antriebsmaschinen durch geringere Abmessungen und geringeres Gewicht bei hoher Leistung und Betriebssicherheit aus. Trotz dieser günstigen Bedingungen für den Elektroantrieb auch in kleinen und mittleren Betrieben blieb der Elektromotor bis zur Mitte der neunziger Jahre letztlich für die industrielle Produktion unbedeutend. Der geringe Anteil des Kraftstromes am Gesamtaufkommen beruhte auf dem niedrigen Leistungsvermögen der Elektromotoren und dem Fehlen von Arbeitsmaschinen, die für den Elektroantrieb geeignet waren. 1895 besaßen von den mit Motorkraft ausgestatteten 164.483 Betrieben nur 2.259 Betriebe Elektromotoren.

Mit der durch DEPRÉZ begründeten und in der Folgezeit weiterentwickelten effektiven Fernübertragung elektrischer Energie, der Überwindung der Schwächen der ersten Generation der Elektromotoren, entstand für die industrielle Produktion - und nicht nur für sie - eine neue energetische Grundlage. Durch die Möglichkeit, Erzeugung und Verbrauch der Elektroenergie immer weiter voneinander zu entfernen, konnte Elektroenergie in jedem Landesteil profitabel genutzt werden. War im Zeitalter der Dampfmaschine die Übertragung der Energie an den Transport der Brennstoffe gebunden, so begann sich diese Fessel nun zu lösen. Die Block- und Stadtzentralen verloren an Bedeutung, sie wichen den sog. Überlandzentralen mit stark erweiterten Versorgungsgebieten. Der neue Kraftwerktyp wurde dort etabliert, wo Brennstoffe und Wasser vorhanden waren oder kostengünstig antransportiert werden konnten. Die Wasserkraft gewann neue Bedeutung. Dennoch war die Phase der Überlandwerke, die bis ca. 1914 datiert, nur eine Übergangslösung zum Großkraftwerk. Erst mit dem Großkraftwerk konnten die Möglichkeiten des Ferntransportes der Energie voll ausgeschöpft und die Vorteile des Verbundsystems genutzt werden.27

Welche Vorzüge jedoch schon die Überlandwerke für die Elektroenergieversorgung brachten, weisen sehr deutlich die Anteile aus, die in den Jahren von 1896 bis 1915 auf Lichtstrom, Kraftstrom für das Handwerk und kleinere Industriebetriebe und auf die Großbetriebe entfielen. 1896 lieferten die öffentlichen Elektrizitätswerke noch 77% Lichtstrom und nur 23% sog. Kleinkraftstrom. Bis 1915 fiel der Anteil des Lichtstroms auf 28%, der Anteil des Kleinkraftstroms stieg dagegen auf 32% und der des Kraftstroms für die Großindustrie auf

27 Vgl. AB, Anl.18: Zeittafel zur Entwicklung der Elektrizitätsversorgung.

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40%, obwohl die Lieferungen an die Großindustrie erst 1910 eingesetzt hatten. So beachtlich die Elektroenergieproduktion und die damit verbundene Zunahme der Elektrifizierung der Industrie auch war, so darf nicht verkannt werden, daß die Dampfkraft absolut dominierte und andere motorische Kräfte noch eine beachtliche Rolle spielten: Im Jahre 1907 nutzten zwar 71.316 Betrieb Elektroenergie und nur 69.635 Dampfkraft, doch von den 8.008.405 PS, die in den 233.360 Motorenbetrieben der Industrie installiert waren, entfielen allein auf die Dampfkraft 6.499.602 PS! Bei der Industrie der Steine und Erden, die für die vorliegende Untersuchung am interessantesten ist, lag im Jahre 1907 die Zahl der Elektroenergie nutzenden Betriebe bei 2.047, der Anteil lag damit bei 2,9% aller Elektroenergie nutzenden Betriebe; der Elektroenergieverbrauch in dieser Industriesparte lag 1907 bei 91.012,9 Kilowattstunden, was 6,7% der Gesamtkilowattstunden entspricht.28

Mit der Dampfturbine war nach der Entwicklung der Fortleitungstechnik eine weitere Kondition für die Produktion von Elektroenergie in großem Maße entstanden. Die Elektrizitätswirtschaft konnte nun die gegebenen technischen Möglichkeiten zur Elektrifizierung des Landes voll ausschöpfen, was in erster Linie bedeutete, die Versorgungsnetze auszubauen. Wurden 1900 von den öffentlichen Elektrizitätswerken, die zu dieser Zeit noch den geringeren Teil Strom lieferten, je Einwohner 4,4 kWh erzeugt, so stieg die Erzeugung bis 1903 auf 7,0 kWh. 1914 lag sie bereits bei 41,0 kWh; 1919 erreichte sie 80,5 kWh. Stellt man in Rechnung, daß vor dem Ersten Weltkrieg nur etwa 10% der deutschen Haushalte an das Stromnetz angeschlossen waren, daß in Berlin erst im Jahre 1900 die Zahl der Anschlüsse für Kraftstrom schneller zu wachsen begann als die Zahl der Anschlüsse für Lichtstrom, dann werden die großen Chancen deutlich, die der Elektroenergieerzeugung und damit zusammenhängend der Technischen Keramik noch offenstanden.29

28 Quelle: Statistik des Deutschen Reiches, Bd.214, II, 1910, S.2/3. 29 Siehe dazu die Werbemittel der Elektrizitätswirtschaft in AB, Anl.19.

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Tab.11: Entwicklung des jährlichen spezifischen Stromverbrauchs30

100

80

60 Licht Kraft 40 Rohstoffe Wärme 20

0 1885 1890 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1925

Deckte die Elektroenergiewirtschaft den Bedarf durch ihre quantitative Erweiterung, so machte sich bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine gegenläufige Tendenz bemerkbar: das Großkraftwerk. Die Gründung von Elektrizitätswerken hatte in Großstädten wie Berlin und Hamburg ihren Ausgangspunkt genommen. In dem Maße aber, in dem der Bau von Großkraftwerken technisch möglich wurde, verlagerte sich der Schwerpunkt der Elektroenergieerzeugung um die Jahrhundertwende in die Industriezentren.

1866 waren in England die ersten Versuche zur Stromspeicherung mit Hilfe von Akkumulatoren unternommen worden. Drei Jahre später hatte sich die deutsche Industrie diese Methode zu eigen gemacht. Dennoch erwies sich der Akkumulator letztlich als ungeeignet, die Elektrifizierung voranzubringen. Sein entscheidender Mangel bestand darin, daß er nur für die Speicherung von Gleichstrom genutzt werden konnte. Es war möglich, während des Tages die Batterien aufzuladen, um Lichtstrom für die Nacht zu speichern; es war auch möglich, dieses Aggregat als Pufferbatterie zu nutzen, um Schwankungen im Stromverbrauch auszugleichen – so z.B. bei Straßenbahnen, bei Aufzügen, in Walzwerken, aber auch in Warenhäusern und Theatern. Erst zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als die Isolierung der einzelnen Elektrizitätswerke durch die beginnende Herausbildung des Verbundsystems zwischen den entstehenden Großkraftwerken allmählich aufgehoben wurde, bahnte sich eine Wende an.

30 Aus: MILLER, R.von 1936, S.32.

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Sowohl die elektroenergieerzeugende Industrie als auch die Elektroindustrie waren Ausgangspunkte der Massenproduktion. Die Spezifik ihrer Produktion drängte nicht nur zum Massenabsatz ihrer Erzeugnisse, sondern ihre Produkte mußten von einer gewissen Vereinheitlichung, von der Normierung ausgehen. Mit dem Anstieg der Elektroenergieerzeugung von den neunziger Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wuchsen auch die Anforderungen an die Erzeugung von Kabeln und Installationsmaterial, an die Quantität und Qualität der Glühlampenerzeugung und die Produktion von Elektromotoren. Dabei kam der Technischen Keramik eine wichtige Rolle zu. 1911 betrug der mittlere Stromverbrauch in Berlin pro Einwohner 170 kWh; 1913 überschritt die Jahreshöchstleistung der Berliner Elektrizitätswerke erstmals 100.000 kWh. Zwei Jahre später bezogen bereits 20% der Orte in Deutschland Strom, d.h. auch, 75% der deutschen Bevölkerung wurde mit Strom versorgt. Produzierte die A.E.G. 1890/91 eine Million Glühlampen, so stellte sie zehn Jahre später bereits zehn Millionen her.

Der qualitative Wandel, den der Elektromotor für die industrielle Produktion brachte, bestand zunächst darin, daß er eine Bewegungsmaschine darstellte, die fast unbegrenzt mobil war. Industrie und Handwerk konnten sich einer motorischen Kraft überall dort bedienen, wo die Dampfkraft ökonomisch nicht vertretbar gewesen wäre. Deshalb setzte mit dem Elektromotor eine neue Mechanisierungswelle ein. Hinzu kam, daß der Elektromotor eine sehr effektive Bewegungsmaschine war. Er konnte im Gegensatz zur Dampfmaschine zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort in Betrieb gesetzt werden. Seine geringen Abmessungen gestatteten die Mechanisierung der Fertigung auch dort, wo bis dahin die Arbeitsmaschinen nicht aufgestellt werden konnten. Die neue Antriebsmaschine löste die Arbeitsmaschine aus ihrer Abhängigkeit von der Dampfmaschine und der Störanfälligkeit der Transmissionen. Der Elektromotor brachte daher nicht nur einen rigorosen Abbau der mit der Verlängerung der Transmissionen ständig wachsenden Energieverluste durch die Reibung. Er erlaubte durch seine relative Standortungebundenheit die räumliche Erweiterung des betrieblichen Produktionsprozesses, die Vertiefung der innerbetrieblichen Arbeitsteilung und damit die Erhöhung der Arbeitsproduktivität.

Die Zerlegung der Arbeitsoperationen war bis dahin, bedingt durch den Dampfmaschinenbetrieb an die damit verbundenen Transmissionen, an die ersten Grenzen ihrer Ausdehnungsfähigkeit gestoßen. Das herrschende Werkstattprinzip, das in der Phase des zentralen Dampfkraftantriebs üblich war, faßte zahlreiche gleichartige Arbeitsmaschinen

85 räumlich zusammen. Die Arbeitsmaschinen waren über eine Transmissionswelle mit der Antriebsmaschine verbunden. Dieses System erforderte nicht nur einen umfangreichen innerbetrieblichen Transport der Werkstücke, sondern beschränkte die Möglichkeiten der Zergliederung der Arbeitsoperationen. Durch die Einführung des Elektromotors, der die Mobilität des Antriebs vergrößerte, erhöhte sich die Mobilität der Arbeitsmaschinen. An die Stelle des Werkstattprinzips trat immer stärker die erzeugnisgebundene Fertigung. Diese ging bei der Anordnung der Maschinen von den für die Erzeugung eines Endproduktes notwendigen Arbeitsoperationen aus. An die Stelle der räumlichen Konzentration gleichartiger Maschinen trat die räumliche Konzentration von verschiedenen Spezialmaschinen, an denen die arbeitsteilig bedingten Arbeitsoperationen ausgeführt wurden. Damit waren erste Grundlagen für die Einführung der Fließbandproduktion gelegt.

LEWE faßt ausführlich und in charakteristischer Weise die Anwendungsbereiche und Einsatzmöglichkeiten des Elektrizität und damit ihre Bedeutung für die Technische Keramik zusammen:

"Wenn sinnreich konstruierte Hochspannungsisolatoren in langen Ueberland-Leitungen die starke Energie in hochgespannten Strömen näher an den Ort ihrer Verwendung gebracht haben, verläßt sie hernach in schwächerer Gestalt die Umformer-Werke, um ihren Bestimmungsorten zuzufließen. Wenig sehen wir von ihr. Am deutlichsten tritt sie (die elektrische Energie, d.Verf.) noch in den Telegraphenlinien in Erscheinung, die sich, Draht an Draht, Kilometer an Kilometer, durch das Land schwingen. ... Der scheinbar unendliche Verlauf der feinen Drähte wird jählings unterbrochen durch ragende Maste, an denen viele weiße Porzellan-Isolatoren nebeneinander hocken ... . Viel weniger tritt das elektrotechnische Niederspannungs-Porzellan dort in Erscheinung, wo es am häufigsten gebraucht wird: Im Hause. Wer denkt viel an diesen stummen Diner, wenn man das Licht aufflammen läßt oder irgendeinen Haushalt-Apparat durch den elektrischen Strom in Tätigkeit setzt? Wem fällt es ein, daß der stromspendende Draht von Sicherungselementen aus Porzellan empfangen wird, daß sich Sicherungsstöpsel und –Patronen dazwischen schalten, daß fügsame Rollen ihn weiter leite, daß Unterputz-Sockel in der Wand verborgen sind an Stellen, wo ein kleiner Griff aus Porzellan über einem Deckel oder einer Platte aus dem gleichen Stoff es ermöglicht, die Glühbirnen im Kronleuchter aufflammen zu lasse, wo sie in weißen Porzellan-Fassungsringen stecken, während an der Decke eine kleine Lüsterklemme für die auch dort notwendige Isolierung sorgt? Oder gar an den ganz verborgenen Fassungsstein in der intimen Tischlampe, nicht zu reden von den vielen anderen unsichtbaren Porzellanstücken, seien es Einführungspfeifen oder Tüllen, zu denen sich in langer Reihe die vielen Deckenrosetten, Wandfassungen, Steck- und Abzweigdosen, Stecker, Lampenpendel, Widerstands-Zylinder usw. gesellen. Und kann aus einer der modernsten Errungenschaften, der Radio-Technik, das Porzellan fortdenken, wo es uns als Abspann-Kugel oder Abspann-Ei begegnet, zu schweigen von den mächtigen Porzellan-Isolatoren, auf denen die ragenden Funktürme ruhen?"31

31 LEWE, H. 1926a, S.51.

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3. Bedeutung und sozioökonomische Folgen der Elektrifizierung

„Das künstliche Licht wurde rational-ökonomisch eingesetzt, indem es dazu diente, die Unabhängigkeit des Arbeitstages vom natürlichen Lichttag zu gewährleisten. Diese Unabhängigkeit war durch die Einführung der mechanisch gemessenen Uhrzeit im 16. Jhdt. bereits etabliert. Der bürgerlich-handwerkliche Arbeitstag begann und endete zu fester Stunde, im Winter Stunden vor bzw. nach Sonnenaufgang und -untergang. Solange die zu beleuchtende Arbeit an den individuellen Handwerker gebunden war und lediglich die Morgen- und Abendstunden im Winter solcher Hilfsbeleuchtung bedurften, reichte der Lichtschein der traditionellen Kerzen und Öllampen aus. Das änderte sich jedoch mit dem Aufkommen der industriellen Produktionsweise, die den Arbeitsvorgang vom Einzelarbeiter löste und zu einem ineinandergreifenden Gesamtprozeß machte. Für die neuen Fabrikhallen, die für diese Produktionsweise gebaut wurden, waren andere Lichtquellen erforderlich. Nicht nur größere Raumeinheiten mußten nun beleuchtet werden, auch die Dauer der künstlichen Beleuchtung nahm zu. Konsequenter als irgendwo sonst wurde in der Fabrik die Nacht zum Tage gemacht. Die industriellen Lichtbedürfnisse ließen sich durch bloße Summierung traditioneller Lichtquellen nicht befriedigen. ...Da sich die Lichtfülle aus ökonomischen Gründen nicht mehr extensiv, durch die Summierung von immer mehr Einzellichtern, erhöhen ließ, blieb nur die intensive Lösung übrig, die Leuchtkraft der einzelnen Lichtquelle zu steigern.“32

Am Ende des 18. Jahrhunderts geriet die Beleuchtungstechnik in Bewegung. Antrieb dazu war der erhöhte Lichtbedarf, unmittelbarer Auslöser die Theorie der Verbrennung, die LAVOISIER in den 1770er Jahren entwickelt hatte. Das Lampenmodell, das der Chemiker F.A. ARGAND 1783 in Paris der Öffentlichkeit präsentierte, stellte die direkte praktische Anwendung der LAVOISIERschen Erkenntnisse dar. Die Lampe zeichnete sich vor allem durch eine Neugestaltung des Dochtes aus, wodurch eine Verdoppelung der Luftzufuhr und damit eine restlose Verbrennung der Kohlenstoffteilchen ermöglicht wurde, die im traditionellen massiven Docht größtenteils unverbrannt als Ruß in die Luft gegangen waren und die Leuchtkraft der Flamme beeinträchtigt hatten. Diese Wirkung verdoppelte Luftzufuhr wurde noch gesteigert durch die ARGANDschen Gaszylinder, in den die Flamme eingeschlossen war. Außerdem ließ sich durch einen Mechanismus der Docht heben und senken, d.h. verlängern und verkürzen, wodurch Ölzufuhr und damit Lichtstärke der Flamme geregelt wurden.

Seit dem 17. Jahrhundert war bekannt, daß bei der Destillation von Kohle und Holz brennbares Gas entsteht. Obwohl Herstellungsverfahren und Eigenschaften dieses Leuchtgases bekannt waren, fand es doch in den folgenden Jahrzehnten keine praktische Anwendung. Es wurde lediglich zu Unterhaltungszwecken vorgeführt. Erst um 1800 entdeckte man plötzlich, daß sich das Gas sehr gut zur Beleuchtung der neuartigen

32 SCHIVELBUSCH, W. 1983, S.16f.

87 industriellen Einrichtungen eignete, die um diese Zeit in England entstanden und einen großen Lichtbedarf entfalteten.

Die Apparaturen, die Ph. LEBON und W. MURDOCH33 Ende des 18. Jahrhunderts konstruierten und die unter der Bezeichnung Thermolampe bekannt wurden, unterschieden sich nur unwesentlich: Gas wurde in der Retorte hergestellt, in einem Behälter gespeichert und durch Röhren zu den Brennstellen geleitet. Der Unterschied bestand darin, daß LEBONs Thermolampe nicht nur Beleuchtungszwecken dienen, sondern zugleich heizen und darüber hinaus als allgemeine Energiequelle wirken sollte. Wenn der Thermolampe auch kein unmittelbarer Erfolg beschieden war, so zeigte sie doch erstmals die Möglichkeit einer zentralen Beleuchtung und Beheizung.

Um 1800 waren die Grundlagen für die Gasbeleuchtung ausgebildet. Die Technologie lag vor in den Anlagen, die Watt & Boulton für die Industrie bauten; die Idee einer allgemeinen, nicht nur auf Fabriken beschränkten Anwendung war mit LEBONs Thermolampe gegeben. F.A. WINSOR brachte diese beiden Ideen zusammen: Versorgung der Konsumenten mit Gas aus einer zentralen Versorgungsstätte mittels Leitungsröhren. Im technischen Prinzip unterscheidet sich die zentrale Gasversorgung einer Stadt durch die Gasanstalt nicht von derjenigen eines einzelnen Hauses durch die Thermolampe. Der Unterschied besteht lediglich in der Größe der Anlage und der Ausdehnung der Leitungen.

„Stellte die Vergrößerung der Thermolampe zur Gasanstalt technisch nichts Neues dar, so waren ihre Folgen weitreichend. Der Anschluß des Hauses an ein System der zentralen Gasversorgung bedeutete das Ende seiner Autarkie. Die Thermolampe hatte die Beleuchtungs- und Heizungsanlagen lediglich innerhalb des Hauses zentralisiert, nun wurden sie nach außen, in eine vom Hausvater nicht mehr kontrollierbare Ferne verlegt. Mit der öffentlichen Gasversorgung trat die häusliche Beleuchtung in ihr industrielles Stadium. Das Haus, das aufhörte, seine eigene Beleuchtung und Heizung zu produzieren, entmündigte sich gleichsam, indem es sich wie mit einer Nabelschnur an den industriellen Energieproduzenten anschloß und damit von diesem abhängig machte. Die Ende der häuslichen Autarkie muß im größeren Zusammenhang der Auflösung des ´ganzen Hauses´ 34 gesehen werden: der Absorption von immer mehr Tätigkeiten und Funktionen, die ursprünglich im Hause beheimatet waren, durch die arbeitsteilig sich organisierende Markt- und Verkehrswirtschaft. Mit dem Heraustreten der Beleuchtung und Heizung aus der häuslichen Produktion erhielt dieser Vorgang eine neue Qualität.. Denn nun gab das Haus ab, was seit Urzeiten als sein Herzstück und Lebenszentrum galt, das Herdfeuer...... Die Ersetzung der häuslichen Öllampe .. .durch das Industrieprodukt Gaslicht schlug sich in den Gemütern ähnlich nieder wie die Ersetzung der Postkutsche durch die Eisenbahn. Der im 19. Jahrhundert gängige Vergleich von Gaslicht und Eisenbahn bezieht sich nicht nur auf ihre Zeitgenossenschaft als bedeutsame technisch-industrielle

33 In Soho bei Birmingham bei der Fa. Watt und Boulton. 34 Vgl. BRUNNER, O. 1956: Das ´ganze Haus´ und die alteuropäische ´Ökonomik´. In: Neue Wege zur Sozialgeschichte. Göttingen. S.33-61. Der Ausdruck "ganzes Haus" stammt ursprünglich von dem Volkskundler W.H. RIEHL.

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Innovationen, sondern ebenso auf ihre Technik. ... Beide Systeme wurden als eine riesige krakenhafte Ausdehnung der Industrieanlage erfahren, an die als Konsument angeschlossen zu sein etwas höchst Beklemmendes hatte.35

London wurde innerhalb weniger Jahre die erste weitgehend mit Gas versorgte Großstadt; hingegen verlief die Entwicklung in Deutschland wesentlich langsame: 1862 verbrauchte London alleine doppelt so viel Gas wie ganz Deutschland. Mit dem Gaslicht begann die Industrialisierung der Beleuchtung.

Das von dem österreichischen Chemiker und Ingenieur Auer von WELSBACH im Jahre 1886 erfundene Gasglühlicht basierte nicht mehr auf der Leuchtkraft der Flamme, sondern nutzte deren Heizkraft. Gasglühlicht entstand, indem ein aus einer Legierung seltener Erden angefertigter Glühstrumpf durch eine Flamme zur Weißglut erhitzt wurde. Das dabei entstehende Licht war um ein mehrfaches heller als das der traditionellen Gasflamme und verbrauchte dabei doch weniger Gas. Das mit offener Flamme brennende Gaslicht war durch diese Innovation überflüssig geworden, und selbst die elektrische Beleuchtung erhielt einen ernsthaften Konkurrenten, da das Gasglühlicht nur ein Fünftel bis ein Sechstel des elektrischen kostete.36

"It is electric light without electricity".37 Diese Definition des Gasglühlichts aus dem Jahre 1887 teilt mit, woher es seine Inspiration erhielt. Es war der Versuch der alternden Gastechnik, durch Nachahmung der erfolgversprechenden elektrischen Technik zu überleben. Nachdem durch Bogenlicht und Glühbirne gezeigt worden war, daß durch Erhitzung fester Körper ein helleres, gleichmäßigeres und billigeres Licht zu erzielen war als durch eine offen brennende Flamme, war ein Anreiz gegeben, mit Gas nachzuahmen, was mit Elektrizität vorgeführt worden war. Der Übergang von der offenen Gasflamme zur geschlossenen Glühbirne bestand im offenen elektrischen Glühlicht.

Das Bogenlicht38 ist nicht in erster Linie eine Folge des elektrischen Bogens selber, sondern

35 SCHUIVELBUSCH, W. 1983, S.34. 36 Vgl. hierzu: BRAUN, H.J. 1980: Gas oder Elektrizität? Zur Konkurrenz zweier Beleuchtungssysteme 1880-1914. In: Technikgeschichte, Bd.47, Nr.1. 37 Financial Times vom 21. März 1887. Zit. nach CHANDLER, D. 1936: Outline of History of Lighting by Gas. London. S.193. 38 H. DAVY beschrieb 1812 erstmals ein Phänomen, das er 1800 beobachtet hatte: Die Lichterscheinung, die durch die Entladung einer elektrischen Spannung zwischen zwei Kohlen-Elektroden entsteht [DAVY, H. 1812: Elements of Chemical Philosophy. London. vol.1, p.152]. Vgl. hierzu von CZUDNOCHOWSKI, W.B. 1904: Das elektrische Bogenlicht. Seine Entwicklung und seine physikalischen Grundlagen. Leipzig. S.4f.

89 es entsteht dadurch, daß die beiden Kohleelektroden durch die Entladung zur Weißglut gebracht werden. Im Unterschied zum luftdicht abgeschlossenen Glühlicht "brennt" das offene Bogenlicht an den Elektroden. In den 1870er Jahren fand eine Bogenlichtanlage allgemeine Verwendung, die Jablochkoff-Kerze, deren Elektroden in Form zweier Kohlenstifte parallel angeordnet und durch eine Isolationsschicht aus Gips getrennt waren. Der Lichtbogen wurde am oberen Ende entzündet und brannte daraufhin langsam ab, bis die Kohlenstifte verzehrt waren.

War das Bogenlicht aufgrund technischer Verbesserungen (Differentialregulator, Dynamomaschine, synthetische Kohlenstäbe) in den 70er Jahren voll einsatzfähig, so blieb es in seiner Anwendung doch auf bestimmte Bereich beschränkt: Fabriken, Kaufhäuser, Bahnhofshallen, Baustellen, Kaianlagen usw. Für andere Bereich wie z.B. die Wohnung erwies es sich wegen seiner Helligkeit als ungeeignet. Als Scheinwerfer gebündelt konnte das Bogenlicht militärische Ziele über Entfernungen von bis zu sechs Kilometern anstrahlen.39

Die Kohlenfadenglühlampe, die EDISON 1879 konstruierte, wurde als gelungene Imitation des Gaslichts erkannt und akzeptiert. Damit war erstmals ein Fortschritt erzielt nicht durch Lichtsteigerung, sondern durch Imitation der vorhandenen Lichtstärke durch eine neue Technik. Daß das Licht der ersten Glühlampen von annähernd derselben Stärke und Tönung war wie das Gaslicht erklärt sich u.a. aus dem Material des Glühfadens. Der Kohlenglühfaden, der bis in die späten 1890er Jahre verwendet wurde, stellte die Kontinuität des elektrischen Lichts mit den älteren Lichttechniken her, die ja alle auf der Verbrennung des Kohlenstoffs basierten. Die Glühbirne begann auf organischer Basis, indem der Glühfaden aus verkohlten pflanzlichen Fasern gefertigt wurde. Auf der Suche nach einer geeigneten Faser verkohlte EDISON annähernd 6.000 pflanzliche Stoffe. Er begann mit Alltagsmaterialien wie Papier, Garn, Kork, Zelluloid, Leinen, Holz, Menschen- und Tierhaaren und entdeckte dabei, daß die Bambusfaser besonders geeignet war. Es folgte der faserlose synthetische Glühfaden, der aus Metallegierungen bestand.

39 Die militärische Verwendung des Bogenlichts zeigte sich in den 1880er Jahren insbesondere im Kolonialkrieg ebenso erfolgreich wie im 16. Jahrhundert die europäischen Feuerwaffen. Eine englische Kriegsflotte vor Alexandria "bringt allnächtlich einige elektrische Bogenlampen zum Einsatz, deren Strahl auf die Stadt und die sich anschließenden Küstenabschnitte gerichtet wird - zum großen Entsetzen der ägyptischen Soldaten, die in dieser für sie vollkommen rätselhaften Erscheinung einen Eingriff übernatürlicher Kräfte vermuten." [La Lumière Electrique 1882, Bd.6, S.566].

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Es gehört zum Thema der Wechselwirkung zwischen alten und neuen Techniken, daß die erste praktikable Metallfadenlampe - die Osmiumlampe - im Jahre 1898 von demselben Auer von WELSBACH konstruiert wurde, der einige Jahre zuvor mit dem Gasglühlicht so erfolgreich die Technologie des elektrischen Glühlichts auf die Gasbeleuchtung "übertragen" hatte.40 Die Materialkenntnis, die er dabei entwickelte - bzw. die ihm überhaupt seine Erfindung möglich gemacht hatte -, erwies sich nun als rückanwendbar auf das elektrische Licht, womit sich der Kreis der Wechselwirkung schloß.

In den neunziger Jahren wurden Glühfäden aus den verschiedenartigsten Metallegierungen hergestellt,41 die jedesmal eine Lichtsteigerung möglich machten, durch die sich die elektrische Beleuchtungsindustrie der Konkurrenz des Gasglühlichts zu erwehren suchte. Schließlich setzte sich in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg der Glühfaden aus Wolfram durch. Erst damit erreichte das Glühlicht seine Vollendung, d.h. seine Bandbreite vom schwach- rötlich schimmernden Glühfaden bis zur blendendweißen Lichtfülle einer modernen 300- Watt-Birne. Wenngleich ein Vergleich der Kosten elektrischer Beleuchtungen mit denen der Gasbeleuchtung schwierig erschien,42 versuchte die Zeitschrift für angewandte Elektricitätslehre im Jahre 1880 einen solchen. Danach kosteten43 1 Serrinsche Lampe (Bogenlampe) 360 Mk 1 Grammesche Maschine (ab Paris) 1.200 Mk Transport, Aufstellung, Leitung, Transmission 1.200 Mk ______2.760 Mk

Jablochkow-Kerze und dynamoelektrische Maschine ca. 600 Mk Differentiallampe von Siemens & Halske 210 Mk Wechselstrommaschine 400 Mk Glasballon 25 Mk Aufhängung, Leitung 150 Mk Fracht, Montage etc. 70 Mk ______855 Mk

40 Im Jahre 1889 wurde von AUER von WELSBACH die Deutsche Gasglühlicht Auer-Gesellschaft gegründet, die zunächst nur Glühstrümpfe herstellte. Nach seiner 1902 der Öffentlichkeit vorgestellten Osmiumlampe gelang es AUER 1906, einen Metallfaden aus einer Legierung von Osmium und Wolfram herzustellen, die Voraussetzung für die späteren Leuchtkörper von Osram. Die Produktion von Glühlampen und seiner von ihm 1885 erfundenen Gasglühlichtkörper erfolgte in mehreren in- und ausländischen Fertigungsstätten; in der Berliner Auer-Lichtgesellschaft waren allein mit der Glühlampenfertigung etwa 5.000 Arbeiter beschäftigt. 41 Die Berliner Firma Siemens & Halske produzierte bspw. Glühlampen mit einem Metallfaden aus Tantal. 42 „Es fehlt hier deshalb die sichere Grundlage, weil man nicht allgemein sagen kann, wie viele Gasflammen resp. welchen Gasconsum man gebraucht, um das Licht einer elektrischen Lampe dieser oder jener Art zu ersetzen. ... Ueber die Art und Weise, wie die photometrischen Messungen, aus denen die Zahlen gewonnen sind, ist wenig bekannt“. Zeitschrift für angewandte Elektricitätslehre 1880, Bd.2, S.112f. 43 Ebd., S.111.

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Das EDISONsche Glühlicht beschränkte sich nicht darauf, die Lichtstärke und -qualität der Gasbeleuchtung zu imitieren; auch in anderen Punkten folgte es dem Modell seines Vorgängers. Am bedeutendsten war die Übertragung des Prinzips der zentralen Versorgung. Das Bogenlicht hatte darauf verzichten können, da es nur für große öffentliche Räume und Plätze verwendbar war und für diese ohne Schwierigkeiten eigene Generatorenanlagen eingerichtet werden konnten. Diese Situation änderte sich, als das elektrische Licht durch die Glühbirne zu einer überall verwendbaren Beleuchtung wurde. Da es schlecht möglich war, jede Wohnung mit einem eigenen Generator zu versehen, drängte sich eine zentrale Versorgung nach dem Modell der Gasbeleuchtung geradezu auf. Im Jahre 1880, als die Glühbirne vorhanden war, nicht jedoch die zentrale Stromversorgung, beschrieb BERNSTEIN die Situation folgendermaßen: "Uns Stadtbewohnern wird das Gas fertig ins Haus geliefert, wir öffnen den Hahn, halten ein brennendes Streichholz an die Mündung des Rohres, und unsere Arbeiten, um ein Licht zu erhalten, sind beendigt. Wir schließen den Hahn, und das Licht ist erloschen. Das ist außerordentlich bequem, ja, man möchte sagen, verführerisch bequem. Ganz anders beim elektrischen Licht; der Strom, de wir zur Erzeugung desselben gebrauchen, muß von uns selber hergestellt werden, da sich vorläufig noch keine Gesellschaft mit der Lieferung eines elektrischen Stromes befaßt." 44

Nachdem sich herausgestellt hatte, daß Starkstrom über große Entfernungen geleitet werden konnte, ohne dabei nennenswert an Spannung zu verlieren, entwickelten sich aus den elektrischen Zentralstationen Kraftwerke, die nicht mehr in der Stadt errichtet wurde, die mit Strom zu versorgen war, sondern dort, wo die zur Stromherstellung erforderliche Energie am billigsten war. Die neuen Standorte - Kohlenreviere, Wasserfälle, Stauseen - waren oft Hunderte von Kilometern vom Ort des Verbrauchs entfernt.45 „Der Enthusiasmus, mit dem das ausgehende 19. Jahrhundert das elektrische Licht begrüßte, erinnert in vielem an die Reaktionen auf die Einführung der Gasbeleuchtung siebzig Jahre zuvor. Beide Innovationen wurden als das modernste, das hellste, sauberste und ökonomischste Licht betrachtet; deutlich war in beiden Fällen der industrielle Charakter; und schließlich erschien das elektrische Licht als nichts anderes denn als Nachbildung des Systems der Gasbeleuchtung. Neben diesen Gemeinsamkeiten gab es jedoch wesentliche Unterschiede. Während das Gas wegen seines unangenehmen Geruchs, seiner Giftigkeit und Explosivität nur zögernd in die bürgerliche Wohnung eingelassen wurde, öffneten sich dem elektrischen Licht sofort alle Türen. ... Es war die Eigenschaft des elektrischen Stroms, reine, geruchlose und körperlose Energie zu sein, die ihn sofort salonfähig machte. Die Elektrizität war nicht nur nicht gesundheitsschädlich oder gar lebensgefährlich, sondern sie wurde im Gegenteil als ausgesprochen heilsam46, fast als eine Art Vitamin betrachtet. 47 ... Die Medizin, die Landwirtschaft und die Beleuchtung waren nicht die einzigen Anwendungsbereiche der Elektrizität. In den Jahren 1880 bis 1920 begann die Elektrizität die moderne großstädtische

44 BERNSTEIN, A. 1880: Die elektrische Beleuchtung. Berlin. S.61. 45 Die erste bedeutende deutsche Überlandleitung wurde 1891 in Betrieb genommen und verband auf einer Länge von 179 Kilometern das Kraftwerk in Lauffen am Neckar mit Frankfurt am Main. 46 Beispiele dafür sind die Elektrotherapie in der Medizin und die "Elektrokultur" in der Landwirtschaft. Vgl. i .e. URBANITZKY, A. Ritter von 1895: Die Elektrizität im Dienste der Menschheit. Wien/Leipzig. S.353 und BEARD, G. 1874: Medical and Surgical Uses of Electricity. London. 47 SCHIVELBUSCH, W. 1983, S.72f.

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Zivilisation zu durchdringen. Das Nahverkehrssystem, die Aufzüge, das Telefon, das Radio, das Kino, eine immer größere Anzahl von Haushaltsgeräten waren ohne Elektrizität undenkbar." 48

Neben der rein technischen Entwicklung bzw. Bedeutung der Elektrifizierung kam dieser auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Charles STEINMETZ, Manager bei General Electric, hielt das kapitalistische Großunternehmen für "das wirkungsvollste Mittel, in unserer Zivilisation die Entwicklung des Individuums zu fördern."49 Und LENINs bekannte Formel "Elektrifizierung + Sowjetmacht = Kommunismus" stellt einen radikale These dieser auf Elektrifizierung basierenden Gesellschaftstheorie dar. Beispielhaft sei hier die Beleuchtung der Straße genannt, deren Entwicklung im 18. Jahrhundert mit den Réverbèren (Reflektorlaternen) begonnen hatte. Mit der Gasbeleuchtung, die das Lichtniveau um ein Mehrfaches erhöhte, wurde ein weiterer Entwicklungsschritt getan. Als nach 1850 die ersten Experimente mit dem elektrischen Bogenlicht in der Straßenbeleuchtung unternommen wurden, erschien das Gaslicht schlagartig so überflüssig wie einige Jahrzehnte zuvor die Öllampen. Da das Bogenlicht annähernd die gleiche Spektralzusammensetzung wie das Tageslicht besaß, sah das Auge im Schein des Bogenlichts wie am hellen Tage. Die dergestalt lichtdurchflutete Straße, in der man Zeitung lesen und die Fliegen auf den Häuserwänden sehen konnte,50 wurde in den 1880er Jahren als das Ziel aller öffentlichen Beleuchtung angestrebt, doch wegen der hohen Kosten der elektrischen Beleuchtung konnte sich das Bogenlicht nur sehr beschränkt durchzusetzen.51 In Europa wurden nur wenige besonders repräsentative Straßen, Plätze und Gebäude mit Bogenlicht beleuchtet.52 Die reguläre Straßenbeleuchtung blieb diejenige mittels Gaslicht, das sich unter dem Konkurrenzdruck des Bogenlichts allerdings modernisierte und in Form des Gasglühlichts mit verfünffachter Intensität leuchtete

48 SCHIVELBUSCH, W. 1983, S.76. 49 General Electric Review 1915, Bd.18, S.810. Zit. nach NOBLE, D.F. 1977, p.42. 50 Bericht der Allgemeinen Zeitung aus Petersburg 1850: die Häuser seien "so hell beleuchtet, daß man eine Fliege hätte sitzen sehen können, obgleich sie von der Admiralität (dem Standort der Bogenlampe, d. Verf.) 300-400 Schritte entfernt sind". Zit. nach HASSENSTEIN, C.H. 1859: Das elektrische Licht. Weimar. S.129. 51 Wenngleich es, besonders in Frankreich, zahlreiche Vorschläge gab, Bogenlichter auf Säulen oder Türmen zu plazieren, um auf diese Weise nicht nur einzelne Straßen oder Plätze, sondern ganze Stadtteile auszuleuchten. 52 In Paris u.a. die Place de la Concorde, die Oper und der Platz davor sowie die Avenue de l´ Opera, der Arc de Triomphe, die Place du Corps Legislatif, das Theâtre du Châtelet. In Petersburg das Winterpalais und der Newski-Prospekt. In wie geringem Maße das Bogenlicht in der öffentlichen Beleuchtung verwendet wurde, geht aus der Zahl der von Siemens gebauten Anlagen hervor. Von den insgesamt 1.850 Bogenlichtanlagen, die Siemens bis 1890 lieferte, waren lediglich 11 für "Straßen und öffentliche Plätze" bestimmt, dagegen 250 für "Webereien, Spinnereien", 226 für "verschiedene Werkstätten, Fabriken usw.", 139 für "Büros, Verkaufs- und Geschäftslokale". Quelle: REBSKE, E. 1962: Lampen, Laternen, Leuchten - Eine Historie der Beleuchtung. Stuttgart. S.169.

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Während Vorstellungen von durch Lichttürme taghell erleuchteten Stadtteile oder Städten in Europa auf die Utopie blieben, wurden sie in den USA realisiert. Als mit dem elektrischen Bogenlicht die erforderlichen Lichtmassen und Lichtstärken zur Verfügung standen, gingen zahlreiche amerikanische Städte, vor allem im mittleren Westen und im Westen, zur Lichtturm-Beleuchtung ("Tower Lighting") mit Lichttürmen oder –masten, die zwischen 50 und 150 m hoch waren, über. Detroit, dessen Stadtgebiet eine Fläche von 21 Quadratmeilen umfaßte, wurde als einzige Großstadt ausschließlich mit dem Lichtturm-System, das aus 122 Türmen von jeweils 50 m Höhe bestand, beleuchtet. Die Abstände zwischen diesen Lichtquellen variierten; im Zentrum betrugen sie zwischen 350 und 400 Meter, in den Außenbezirken bis zu 1000 Meter,53 was eine unterschiedliche Leuchtdichte zur Folge hatte. Seit es eine öffentliche Beleuchtung gab, hatten wichtige Geschäfts- und Verkehrsstraßen mehr Laternen erhalten als Seiten- und Nebenstraßen. Die Lichttürme dagegen schufen Lichtbezirke oder Lichtgürtel, die nichts mehr mit der individuellen Straße verband, sondern die sich gleichsam als einheitlicher Lichtteppich über die Stadt legten. Eines der Hauptargumente für diese Art der Beleuchtung war denn auch ihre ausgleichende Wirkung. So begründete das City Council Committee von Flint (Michigan) seine Entscheidung, das Leuchtturm-System einzuführen, damit, "... daß durch dieses System nicht nur die Straßen beleuchtet werden, sondern ebenso Hinterhöfe, Eisenbahnübergänge, Frachthöfe, Brücken und sogar Privatgelände. ... Dabei ist es gleichgültig, wie viele Straßen überhaupt bebaut sind oder wie viele Häuser sich in einem Lichtbezirk befinden. Das ganze Gebiet ist erhellt. ... Man kann mit Recht von der Beleuchtung des kleinen Mannes sprechen, denn infolge ihrer Stärke und ihrer Reichweite sind die Außenbezirke ebensogut beleuchtet wie das Stadtzentrum. Anstelle des schwachen und flackernden Lichts der Petroleumlaternen durchdringt ein klares und helles Licht auch die entferntesten Wohngebiete der Stadt." 54

Den Stand der Elektrifizierung in Deutschland i.J. 1885 macht folgende Übersicht deutlich.

53 Vgl. WHIPPLE, F. H. 1888: Municipal Lighting. Detroit. p.157. 54 Zit. nach WHIPPLE, F. H. 1888, p.162f. [SCHIVELBUSCH, W. 1983, S.85].

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Tab.12: Stand der Elektrifizierung in Deutschland 188555 Stadt Zahl der Anlagen Bogenlampen Glühlampen Berlin 80 zusammen 400-500 Hamburg 35 125 2.100 München 34 140 4.045 Hannover -- 74 300 Bremen 2 8 400 Leipzig 7 -- -- Dresden 14 62 446 Breslau Einige Restaurants u. Geschäfte Chemnitz 17 117 470 Krefeld 17 69 1.203 Barmen 14 81 659 Elberfeld 7 9 126 M.-Gladbach 15 15 230

Die Einführung der Elektrizität entsprang nicht dem Bedürfnis weiter Bevölkerungskreise und hing nicht nur mit rationalen, sondern auch mit emotionalen Erwägungen zusammen. In seiner Arbeit über den Beginn kommunaler Stromversorgung in einem Hamburger Stadtteil nennt TETZLAFF folgende Motivationen: Reiz der Neuheit und Repräsentationsbedürfnisse; neue Formen der wirtschaftlichen Werbung; Verbesserung der Luftverhältnisse gegenüber Gas- und Petroleumlicht; Reduzierung der Brandgefahr bei der Beleuchtung; Erzielung neuer künstlerischer Effekte (Theater, Fotografie, Ausstellungen); Verbesserung der Straßenbeleuchtung; Verringerung der Umschlagszeiten im Hafen; Verbesserung des allgemeinen Signal- und Nachrichtenverkehrs.56 Wie schon die Einführung der elektrischen Beleuchtung wurde auch die Anwendung der Elektrizität im Haushalt propagiert. DETTMAR stellte 1911 neben der bekannten Nutzanwendung elektrischer Beleuchtung die Möglichkeiten elektrischen Kochens, Heizens und des elektrischen Antriebs vor und führte dazu aus: „Beim elektrischen Kochen wird die Küche ihres bisherigen Charakters ganz entkleidet. Sie erhält vielmehr den gleichen Charakter wie jedes andere Zimmer, da die Entwicklung von Staub, Rauch, Ruß Abgasen usw. vollkommen wegfällt. Auch ihrer Einrichtung nach nähert sie sich vielmehr dem Charakter eines Wohnzimmers. Das ist von ganz besonderer Bedeutung für die minderbemittelte Bevölkerung, besonders in den Großstädten. Dort bringen bekanntlich die Bewohner der kleinen Wohnungen einen großen teil des Tages und Abends in der Küche zu, so daß man hier vielfach von

55 Aus: LINDNER, H. 1985, S.162. 56 TETZLAFF, S. 1994: Elektrifizierung als stadtübergreifendes Projekt. Zu den Entstehungsbedingungen der Altonaer Stromversorgung 1890-1912. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, H.80, S.117.

95 sogenannten Wohnküchen spricht. ... Die elektrisch eingerichteten Küchen sind dann wirklich für das bewohnen hygienisch einwandfrei, so daß gewissermaßen dadurch die Bewohner ein Gebrauchszimmer mehr erhalten, ohne daß für das Kochen höhere Ausgaben entstehen wie beim Kochen mit Gas.“57

Anzumerken bleibt, daß vor dem Ersten Weltkrieg z.B. in Berlin nur 5,5% der Wohnungen mit Elektrizität versorgt wurden;58 zudem wären die für Lichtstrom ausgelegten Leitungen für den benötigten Kraftstrom ungeeignet gewesen. Auf dem Gebiet der elektrischen Heizung fand sich bereits 1890 eine Vielzahl Geräte für den häuslichen Gebrauch, wie bspw. Elektrische Kamine, Heizteppiche, Fuß-, Bett-, Schuh-, Leib- und Badetuchwärmer, Brennscheren, Haartrockner, Milchflaschenwärmer, Warmwasserapparate, Kaffeeröster sowie Leimkoch- und Siegelapparate. Wie beim Übergang von der Gas- zur elektrischen Beleuchtung hing die Einführung des Kochens und Heizens mit Elektrizität ganz wesentlich von den Stromtarifen ab. Aus diesem Grunde führten die Elektrizitätswerke neben dem Lichttarif einen gesonderten Krafttarif ein, der erheblich unter dem Preis des ersten lag: Der Preis pro kWh Lichtstrom sank im Zeitraum 1900 bis 1912 von 52,4 Pf. auf 36,1 Pf., während der Preis für Kraftstrom im gleichen Zeitraum von 20,9 Pf. auf 14,8 Pf. abnahm. Weniger für Privathaushalte als vielmehr für Hotels und Großküchen war der Einsatz des Elektromotors konzipiert, der über ein Reduktionsgewinde Messerputzmaschinen, Fleischhackmaschinen, Kaffeemühlen, Brot- und Bohnenschneidemaschinen, Eismaschinen, Aufwasch-, Näh- und Waschmaschinen sowie Wäscherollen antrieb.59

Wie im Haushalt ließen sich auch in der Landwirtschaft und im Gewerbe Licht, Kraft und Wärme elektrisch erzeugen. Als Beispiele für elektrische Anwendungen in diesen seien hier genannt:60 Bäckerei: Teigknetmaschine, Backofen, Semmelreibe- und Sackausklopfmaschine; Baugewerbe: Winden, Pumpen, Fallrammen, Hebezeuge, Kräne, elektrische Meißel, Bohrer und Mörtelmischmaschinen; Gastronomie: Küchen-, Wasch-, Stiefelputz- und Geschirrspülmaschinen, Kühlschränke, Springbrunnen; Graphisches Gewerbe: Leimkocher, Steinschleifmaschinen, Druckpressen, Papierschneidemaschinen; Holzbearbeitung: Kreissägen, Entstaubungsanlagen;

57 DETTMAR, G. 1911, S.76. 58 Vgl. MATSCHOSS, C. 1935, S.56 u. HUGHES, Th. P. 1988, p.190. 59 Vgl. DETTMAR, G. 1911, S.122. 60 Vgl. hierzu LINDNER, H. 1985, S.230f.

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Metallverarbeitung: Handbohrmaschinen, Schleif- und Poliermaschinen, Drehbänke, Lötkolben, Schweißgeräte; Landwirtschaft: Mühlen, Häcksel- und Dreschmaschinen, Schlepper.

Tab.13: Motorleistung der Berliner Elektrizitätswerke 191461 Anwendung Anzahl der Motoren Kilowatt Metallverarbeitung 7.023 24.155 Aufzüge 4.940 28.939 Holzverarbeitung 3.816 11.464 Pressen 3.749 8.997 Ventilatoren 3.297 1.240 Fleischverpackung 1.724 5.287 Nähmaschinen 1.638 1.280 Waschmaschinen 1.026 1.947 Pumpen 880 5.813 Papiermühlen 698 1.831 Textilverarbeitung 630 390 Lederverarbeitung 571 1.615 Schleifen und Polieren 493 1.381 Teig- und Buttermaschinen 400 1.881 Rühr-, Mix-, Mahlmaschinen 395 2.154 Spinnmaschinen 274 558 Dynamoantrieb 188 2.743 Kaffeeröstung 156 273 Tabakproduktion 146 393 Hutproduktion 146 393 Diverse 4.686 14.030 Summe 36.783 116.484

Eine erwähnenswerte Begleiterscheinung der Einführung der Elektroenergie in die Industrie stellt die Belieferung benachbarter Kleinstädte mit Strom durch stromerzeugende Fabriken dar. Als Beispiele hierfür lassen sich in Thüringen, in dessen Holzwaren-, Porzellan- und Metallindustrie elektrische Maschinenantriebe eingeführt wurden, insbesondere die Porzellanfabriken rund um Rudolstadt sowie einige Porzellanfabriken in Thüringen nennen, die eine eigene Elektroenergieerzeugung betrieben und tw. die umliegenden Ortschaften aus ihrem eigenen Stromnetz versorgten. Die Porzellanfabriken Wallendorf, Geiersthal, Tettau, Rauenstein, Neuhaus-Schierschnitz und Blechhammer gehörten zu diesen autarken und sustentativen Betrieben.62

61 Quelle: HUGHES, Th. P. 1988, p.191. [Berliner Electricitäts-Werke, Geschäftsbericht 1914/15, S.10f.]. 62 Vgl. i.e. LANGE, P. 1995, S.2f.

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Die Elektrifizierung des Verkehrs begann um 1880 durch den Bau von elektrisch betriebenen Straßenbahnen.63 Daneben entstanden auch Industriebahnen64 und sukzessive wurde auch der Fernverkehr elektrifiziert. Eine Ingenieurgruppe aus Melbourne beurteilte 1912 Berlin als

4 Umfassendes Versorgungssystem Berlin 193065

63 Auf der Berliner Gewerbeausstellung 1879 stellte SIEMENS eine schienengebundene elektrische Lokomotive mit drei kleinen Wagen zur Personenbeförderung vor. Diese erreichte auf der 300 m langen Rundstrecke mit einem 3 PS-Motor eine Geschwindigkeit von 7 km/h. 64 1882 lieferte Siemens & Halske für das Bergwerk Zaukerode (Dresden) eine elektrische Bahn für eine 700 m lange, 260 m tief unter der Erde liegende Strecke. Bei einer Geschwindigkeit von ca. 12 km/h zog diese eine Last von 8 t. Vgl. ETZ 1883, S.4. 65 Quelle: MATSCHOSS, C. 1935, S.90.

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„electrically the most important city“,66 zumindest innerhalb Europas. Die Elektroindustrie hatte dort in den neunziger Jahren die bis dahin führende Maschinenindustrie überholt. Zu einer flächendeckenden Elektrifizierung der Haushalte kam es in Berlin erst in den zwanziger Jahren, zusammen mit einer Verkabelung und unterirdischen Verlegung der Leistungsnetze, so daß ab ca. 1930 ein umfassendes elektrisches Versorgungssystem vorhanden war.

66 Zit. nach RADKAU, J. 1989, S.269.

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IV. TECHNISCHE KERAMIK

1. Begriffsbestimmung und Darstellung

Eine allgemeingültige Definition des Begriffes "Technische Keramik" erscheint nicht möglich; in der Literatur wird dieser Terminus für durchaus verschiedenartige Keramiken, Verarbeitungsmethoden und Anwendungsbereiche gebraucht. Diese Meinung teilt auch KREUZIGER, wenn er Technische Keramik folgendermaßen zu beschreiben sucht:

"Technische Keramik ist ein Sammelbegriff für Problemlösungen mit keramischen Werkstoffen in technischen Anwendungen. Schon dieser Ansatz einer Klarstellung läßt erkennen, daß es sich dabei handelt um - viele Anwendungen mit zum Teil sehr unterschiedlich langen Produktlebenszyklen - eine große, fluktuierende Anzahl einzelner Produkte - unterschiedliche Werkstoffe. Die Vielfalt der Technischen Keramik in der Kombination von Werkstoffen, Produkten, Märkten und Branchen ist so groß, daß die Hilflosigkeit bei der Suche nach Systematik zu Begriffen führt wie Advanced Materials, Konventionelle Keramik, Strukturbauteile. Aber wie sollte man auch Hochspannungsisolatoren, keramische Hüftknochen, Tongeber, Substrate für Hybride, Sensoren, Katalysatorträger und Ferrite, Gleitringe... nach vergleichbaren, charakteristischen Segmente ordnen?" 1

Hinzu kommt, daß Technische Keramik bzw. deren Anwendungsgebiete Ende des 19. Jahrhunderts anders definiert wurden als heutzutage. Es erscheint daher sinnvoll, zunächst den Begriff Keramik einzugrenzen, um dann Technische Keramik als Teilgebiet der Keramik zu spezifizieren, wobei die angesprochenen Schwierigkeiten bei einer Beschränkung auf die Jahre 1880-1920 als die Anfangsjahre der Technischen Keramik nicht so groß sein dürften. "Keramik ist ein Zweig der chemischen Technologie oder Hüttenkunde, der sich mit der Herstellung, keramischer Werkstoffe und Weiterverarbeitung bis zum keramischen Erzeugnis befaßt. Keramische Werkstoffe sind anorganisch, nichtmetallisch (dabei sind aber durchaus auch metallische Bindungsanteile zulässig), in Wasser schwer löslich und zu wenigstens 30% kristallin. In der Regel werden sie bei Raumtemperatur aus einer Rohmasse geformt und erhalten ihre typischen Gebrauchseigenschaften durch eine Temperaturbehandlung, meist über 300°C. Gelegentlich geschieht die Formgebung auch bei erhöhter Temperatur oder gar über den Schmelzfluß mit anschließender Kristallisation." 2

Innerhalb der Keramik unterscheidet man die Grobkeramik und die Feinkeramik.3 Die Grobkeramik umfaßt Ziegel, Bauterrakotten, Klinker, Grobsteinzeug (z.B. Rohre für Kanalisation), Schamotteziegel und Bauteile. Zur Feinkeramik gehören einfache Töpferware

1 In: cfi,1995, 72.Jg., H.8, S.452. 2 Definition der Deutschen Keramischen Gesellschaft. 3 Vgl. AB, Anl.20 Tonwarenübersicht.

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(Irdenware), Majolika, Fayence, Steingut, Steinzeug, Feinsteinzeug, Vitreous China, Porzellan, Sanitärsteingut, Technische Keramik.

Für die Produktion keramischer Erzeugnisse werden plastische (bildsame) und unplastische Rohstoffe benötigt, wobei Tone und Kaoline zu den plastischen und Quarz, Feldspat und Pegmatit4 zu den unplastischen Rohstoffen zu zählen sind. Somit ermöglichen Tone und Kaoline die Gestaltung und äußere Formgebung, während Quarz und Feldspat für Dichte, Festigkeit und Güte des inneren Gefüges nach dem Brand verantwortlich sind. Daher werden Quarz und Feldspat bzw. Pegmatit nur für Versätze derjenigen keramischen Produkte eingesetzt, die bei höheren Temperaturen gebrannt werden wie Steingut, Steinzeug, Vitreous China und Porzellan.

Die Aufbereitung der keramischen Massen erfolgt zunächst durch Vormahlung der Tone in Kollergängen, Walzwerken oder Mühlen; danach wird aufgeschlämmt, d.h. mit Wasser versetzt und verrührt. Filterpressen entnehmen der Masse das überflüssige Wasser, so daß sog. Massekuchen übrigbleiben; diese werden geschnitzelt in die Vakuumpresse gegeben. Kommen zum Ton noch andere Rohstoffe hinzu, spricht man von Masseversatz. Hier werden die harten Mineralien Quarz und Feldspat nochmals mittels Trommelmühlen feingemahlen. Der entstehende Mineralbrei wird mit dem aufgeschlämmten Ton bzw. Kaolin verrührt, über Magnete und Siebe in große Rührbottiche geleitet und von dort in die Filterpressen gepumpt. Während die Masseaufbereitung früher in fabrikeigenen Massemühlen geschah, werden die Massen den Firmen heute in flüssigem Zustand (für Gießverfahren), in plastischem Zustand (für Freidrehen, Eindrehen, Überformen, Roller- und Stanzverfahren) oder als sprühgetrocknetes Pulver (=Granulat, nach Befeuchtung für alle Herstellungsverfahren verwendbar) geliefert.

Die Herstellung des Porzellans5 erfolgt durch Freidrehen, Eindrehen, Überformen, Rollen, Modellieren, Gießen, Pressen oder Stanzen, je nach Art der Masse und der Gestalt des zu fertigenden Stückes. Nach einem relativ langen Trocknungsprozeß wird die Keramikware vorgebrannt oder verglüht, tw. auch nur getrocknet, glasiert und dann fertig gebrannt oder glatt gebrannt.

4 Mischgestein aus Quarz und Feldspat. 5 Eine schematische Darstellung der Produktion von Porzellan gibt AB, Anl.21.

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Der früher benutzte Rundofen mit 20-100 m3 wurde abgelöst vom Tunnelofen. In den Rundöfen mit überschlagender Flamme wurde auf mehreren Etagen gebrannt: Parterre: Glattbrand; 1. Etage: Verglühbrand; 2. Etage: Vortrocknen der Kapseln. Kontinuierliche Tunnelöfen 6 sind langgestreckte Öfen: Glühöfen ca. 70 m, Glattöfen ca. 85 m lang. Das Porzellan, das tw. in Kapseln gefüllt ist, nähert sich im Tunnelofen auf Spezialwagen gestapelt der Feuerzone, passiert diese und verläßt sie wieder, wobei es sich langsam abkühlt. Des weiteren verwendet man sog. Schnellbrandöfen.7 Befeuert wurden die Öfen zunächst mit Holz, später mit Kohle und heute mit Gas oder Öl.8

Porzellan ist eine chinesische Entwicklung aus dem Steinzeug und kam erst relativ spät nach Europa. Das europäische Porzellan wurde 1709 in Meißen von BÖTTGER und VON TSCHIRNHAUS erfunden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts breitete sich die Herstellung des Porzellans immer mehr aus. Neben den fürstlichen Manufakturen entstanden auch merkantilistische Unternehmungen v.a. in Thüringen, Oberfranken und Schlesien. Maßgeblich für die Standortwahl war neben der günstigen Rohstofflage (Holz, Kohle, Kaolin und Tone) der Überschuß an billigen Arbeitskräften, der in Oberfranken durch die Mechanisierung des Webprozesses und der damit verbundenen Freisetzung der in der Handweberei Beschäftigten entstanden war. In Thüringen waren viele der früheren ‘Brettschneider’ durch die Einführung mechanischer Sägemühlen im Altenburger Holzland beschäftigungslos geworden.

In Abgrenzung zu Metallen und zu Kunststoffen werden unter dem Begriff "Keramik" im weitesten Sinne alle nichtmetallischen anorganischen Werkstoffe zusammengefaßt: Werkstoffe: Metalle Keramik Kunststoffe (Polymere) Verbundwerkstoffe Während die amerikanische Bedeutung von "ceramics" die Werkstoffgruppen Glas, Glaskeramik und die anorganischen Bindemittel (Zement, Kalk, Gips) einschließt, sind diese Untergruppen wie auch die Hartmetalle in der deutschen Bedeutung von "Keramik" nicht

6 Kontinuierlich, weil diese Öfen dauernd in Betrieb sind. 7 Auf die Entwicklung der einzelnen Ofentypen wie auch der keramischen Technik wird später eingegangen. 8 Vgl. dazu AB, Anl.22 Einblicke in eine PF um die Jhdt.-wende.

102 enthalten, da sie zwar zahlreiche gemeinsame Eigenschaften besitzen, sich jedoch wesentlich in der Prozeßfolge bei ihrer Herstellung unterscheiden:

Tab.14: Prozeßfolge bei der Herstellung

Schritt 1 Schritt 2 Schritt 3 Keramik Pulver Form Hitze Glas Pulver Hitze Form Bindemittel Hitze Pulver Form

Keramische Werkstoffe gewannen zunehmend an Bedeutung. Hauptgrund hierfür waren die sich ständig erweiternden Anwendungsgebiete in der Technik. Die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten keramischer Erzeugnisse beruhten auf den spezifischen Eigenschaften keramischer Werkstoffe, die in vielen Beziehungen von anderen Werkstoffen nicht erreicht wurden. Hervorzuheben sind hier v.a.: Unveränderlichkeit und Formstabilität, Härte und mechanische Festigkeit, hohes elektrisches Isoliervermögen, vorteilhaftes dielektrisches Verhalten, große Korrosionsbeständigkeit infolge hoher Beständigkeit gegen chemische Einflüsse aller Art sowie Hitze- und Witterungsbeständigkeit

Diese hervorragenden Eigenschaften erlauben einen vielgestaltigen Einsatz. Je nach Qualität und Zusammensetzung der verwendeten Rohmaterialien, nach ihrer Aufbereitung und Formgebung sowie der Art des Brennens, lassen sich die unterschiedlichsten Produkte herstellen. Die Eigenschaften der jeweiligen Erzeugnisse können so dem beabsichtigten Verwendungszweck in hohem Maße angepaßt werden.

Einer der klassischen keramischen Werkstoffe, der diese Eigenschaften fast ausnahmslos aufweist, ist das Porzellan. Seine Verwendung in der Technik erfolgte bereits 1849, als man für die Isolation der Telegrafenleitung von Frankfurt nach Berlin erstmals Isolatoren aus Porzellan eingesetzt hat. Die rasche Entwicklung der Elektrotechnik zwang sehr bald zu einer genauen Bestimmung der Eigenschaften keramischer Werkstoffe und führte in umfangreichen

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Versuchen zu ihrer Verbesserung. Aber auch für Anwendungen in der Chemie, in der Wärmetechnik und im Maschinenbau wurden Werkstoffe entwickelt und charakterisiert.

Der steigende Energieverbrauch erforderte eine permanente Weiterentwicklung der Elektrotechnik und somit zwangsläufig die Entwicklung neuer Werkstoffe und auch neuer Herstellungstechnologien. Die Eigenschaften der klassischen keramischen Werkstoffe Porzellan, Steatit und anderer wurden ständig verbessert.

Durch Weiterentwicklung bisher schon bekannter und durch die Entwicklung neuer keramischer Werkstoffe wurden auch Anwendungsgebiete für die zukünftige Technik erschlossen. Dazu gehören z.B. Aluminiumoxid-Werkstoffe Siliciumcarbid-Werkstoffe Titandioxid-Werkstoffe Zirkondioxid-Werkstoffe Aluminiumtitanat-Werkstoffe Siliciumnitrid-Werkstoffe 9

In vielen Bereichen sind erst durch die Entwicklung keramischer Werkstoffe Produkte und technische Lösungen möglich geworden, die heute als selbstverständlich gelten.

Hinsichtlich Qualität und Feinheit der verwendeten Ausgangsstoffe kann man bei der Entwicklung keramischer Werkstoffe drei Entwicklungsstufen unterscheiden. In der ersten Stufe wurden Rohstoffe aus natürlichen Gesteinen (Ton, Kaolin, Feldspat, Sand) geformt und im Feuer zum Werkstoff umgewandelt. Die Korngrößen der Massebestandteile lagen im Mikronenbereich10 und enthielten zahlreiche Verunreinigungen. Durch eine intensive Aufbereitung und Reinigung der Rohstoffe konnten im Mittelalter die Eigenschaften der keramischen Werkstoffe wesentlich verbessert werden. Solche Verbesserungen fanden ihren Niederschlag u.a. in der Entwicklung des harten, chemisch resistenten und optisch transluzenten Porzellans.11 Die Verwendung natürlicher Rohstoffe mit geringem Aufbereitungsgrad nahm während dieser Phase progressiv ab.

9 Eine detaillierte Übersicht über die Werkstoffgruppen der Keramik gibt AB, Anl.23. 10 Der Tonmineralanteil liegt bei allen Tonen und Kaolinen bei etwa 0,1 bis 2 μm. 11 Kornfeinheit allein ist kein genügendes Kriterium für den Technisierungsgrad, eher die Menge der Feinstfraktion.

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Die zweite Entwicklungsstufe keramischer Werkstoffe wurde mit dem Aufstreben der Chemie-, Elektro- und Feuerfestindustrie zu Beginn der Industrialisierung um 1850 eingeleitet. Da Keramiken aus natürlichen Rohstoffen hinsichtlich Reinheit und Gleichmäßigkeit der Eigenschaften nicht allen technischen Anforderungen entsprachen - mit Ausnahme des technischen Steinzeugs, das aus ausgewählten natürlichen Rohstoffen hergestellt wurde - begann die Produktion synthetischer Rohstoffe. Über spezielle Verfahren wurden und werden auch heute noch Produkte hergestellt, die ganz gezielt in bestimmten Eigenschaften optimiert werden. Der Korngrößenbereich der entsprechenden Werkstoffe liegt zwischen 10 – 100 µm.

Die dritte Entwicklungsstufe keramischer Werkstoffe beginnt mit der Entwicklung hochfeiner und hochreiner synthetischer Rohstoffe (um 1950). Ihre Produkte zeichnen sich aus durch maßgeschneiderte Eigenschaften, oft auch in gewünschten Kombinationen. Die Korngrößen liegen bei 10 µ-Meter und deutlich darunter (Trend zu nanokristallinen Keramiken). Eine Verbesserung der Eigenschaften wird durch die Beseitigung von Poren, Dichtegradienten und Preßrissen erzielt. Durch den gezielten Einbau von Vorspannungen, Rissen, Fasern, Whiskern (Mikrofasern) und Platelets (Mikroplättchen) erhält man besondere mechanische Eigenschaften im Bereich der sogenannten Hochleistungskeramiken.

"Technische Keramik" definiert der Verfasser als Keramik, die industriell gefertigt wurde und nicht unmittelbar für den Hausgebrauch bestimmt war.12

Diese Ansicht teilt REH, wenn er bemerkt, daß "... Technische Keramik Produkte umfaßt, die technischen Zwecken dienen bzw. in der Technik Verwendung finden." 13

Damit läßt sich als eine der ersten Anwendungen von Technischer Keramik der Einsatz als Brenner im Gasglühlicht (Steatit) festlegen,14 dabei außer acht lassend, daß bereits Mitte des 19. Jhdts. chemisch-technisches Steinzeug für die aufstrebende chemische Industrie

12 Im Gegensatz. z.B. zu Geschirrporzellan. 13 In: cfi, 1998, 75.Jg., H.4, S.70. 14 H. THURNAUER vertritt ebenfalls diese Ansicht: "I consider the era of the gaslight as the start of the technical ceramic industry." In: The American Society Ceramic Bulletin 1977, Vol.56, No.10, p.861. Ebenso W. S. MILLS: „In the 1880`s D. M. Steward patented the process of machining soapstone (talc) which originally was used for parts in the gas lighting industry.“ (1995, p.10).

105 produziert wurde.15 Der eigentliche Aufschwung der Technischen Keramik begann jedoch mit der Elektrifizierung und der Verwendung von Technischer Keramik in allen wesentlichen elektrotechnischen Anwendungen. Beispiele hierfür sind Klemmenträger, Schalter, Sicherungen, Abzweigdosen (Niederspannung) und Isolatoren (Hochspannung). Die nachfolgende Tabelle klassifiziert Technische Keramik genauer anhand ihrer Anwendungen.

Tab.15: Anwendungen der Keramik16

Gebrauchskeramik − Haushalts-/Zierkeramik (Geschirr, Figuren) − Sanitärkeramik (Klosetts, Waschbecken) − Baukeramik (Mauer-, Dachziegel)

Feuerfestkeramik, Schleifwerkzeuge, Filter

Technische Keramik − Konventionelle Technische Keramik − Klassische Elektrotechnik − Klassische Labortechnik − Klassische Chemietechnik − Hochleistungskeramik − Mechanisch − Thermisch − Chemisch-Biologisch Strukturkeramik − Nuklear − Optisch − Elektrisch/Magnetisch ⊃⊃ Funktionskeramik

Die sog. HL-Keramik (Hochleistungskeramik) definiert REH folgendermaßen: HL-Keramikprodukte werden aus keramischen Werkstoffen hergestellt, bei denen ein (oder mehrere) Parameter auf Spitzenwerte getrimmt bzw. bestimmte nachteilige Parameter eliminiert wurden und die in der Technik eingesetzt werden. Dabei kann es sich um ein- oder mehrphasige Gefüge handeln." 17

Diese Charakterisierung beginnt jedoch erst dort, wo zur Herstellung synthetische Rohstoffe eingesetzt werden, also etwa 1924 mit der Entwicklung der Al2O3-Produkte und 1932 mit den Kondensatoren. Traditionelle Silicat- und Feuerfestkeramik sowie Hochspannungsisolatoren werden hier nicht mehr zur HL-Keramik gerechnet. Da aber gerade diese im Untersuchungszeitraum 1880-1920 die wichtigste Rolle spielten, erscheint die in Tabelle 12

15 So hat die Thonwaarenfabrik Ernst March Söhne, Charlottenburg neben ihrer bedeutenden Terrakotta- Fabrikation schon um 1853 in großem Umfang chemisch-technisches Steinzeug produziert. Vgl. FISCHER, P. 2000, S.4. 16 Aus: MAIER, H.R. 1991, S.22. 17 In: cfi 1996, 73. Jg., H.3, S.155.

106 getroffene Klassifizierung anhand der Anwendungen umfassender und –jedenfalls für die vorliegende Untersuchung- brauchbarer. Somit umfaßt der Begriff Technische Keramik sowohl die Konventionelle Technische Keramik als auch die HL-Keramik.

Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich im wesentlich auf die traditionellen Produkte der Technischen Keramik, also chemisch-technisches Porzellan, Steatit für Gasbrenner und Elektroporzellan. Die moderneren Produkte werden der Vollständigkeit halber nur kurz vorgestellt. Es bleibt einer späteren Untersuchung vorbehalten, die Entwicklung dieser näher darzustellen. Tab.16 klassifiziert die Technische Keramik umfassend: Tab.16: Klassifizierung der Technischen Keramik18

Hauptgruppe Untergruppe Wesentliche Beispiele Eigenschaften Biokeramik Implantate; biokompatibel Hüftgelenk Zahnkrone Dentaltechnik mechanisch fest Chemokeramik Chemotechnische chemisch beständig Auskleidungen, Rohre, Keramik Apparateteile Aktive Chemokeramik chemisch aktiv Katalysator, Sensor Elektrokeramik Passive elektrisch isolierend Isolator, Zündkerze, E-Keramik Substrat Aktive E-Keramik spezielle elektrische Kondensator, Varistor, Eigenschaften, z.B. Widerstände Ionenleitfähigkeit Feuerfestkeramik Konstruktions- thermisch beständig Steine, Massen, Feuerfestkeramik Brennhilfsmittel, Schutzrohre, Isolations- thermisch isolierend Steine, Isolierfasern keramik Magnetokeramik Weichmagnete Ummagnetisi- Spulenkern, rung Speichermedium Dauermagnete magnetische Motormagnet, Energiedichte Lautsprecher Mechanokeramik Maschinenbau- Verschleißteile keramik Matrizen, Fadenführer, Ventil Schneidkeramik mechanisch fest Schneidplatte Schleifkeramik Schleifscheibe Porokeramik definierte Porosität Filter, Diaphragma Optokeramik Passive Optokeramik durchscheinend Optisches Fenster, Lampengehäuse Aktive Optokeramik opto-elektrisch Lasermaterial, elektro- opt. Wandler Reaktorkeramik Strahlenbeständigkeit, Kernbrennstoff, Ionenleitfähigkeit Absorbermaterial

18 Aus: cfi 1998, 75.Jg., S.70.

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2. Rohstoffe und Fertigungsverfahren

Wie bereits erwähnt, sind die Hauptbestandteile der Keramik Quarz, Feldspat und Kaolin. Vor allem das Vorkommen von Kaolin begünstigte die Ansiedlung der Keramikindustrie in Oberfranken -hier besonders im Fichtelgebirge- und der Oberpfalz. Das Bayerische Oberbergamt gibt 1924 einen detaillierten Überblick über die Kaolinvorkommen und erwähnt folgende Lagerstätten: 19

Groschlattengrün, Kothigenbibersbach, Preisdorf, Neudorf, Groppenheim, Netzstahl, Reutlas, Haingrün, Wölsau, Büchelberg, Dietersgrün, Holenbrunn, Göpfersgrün, Bergnersreuth, Ebnath, Neusorg, Pullenreuth, Langentheilen, Waldershof, Arzberg, Fichtelberg, Winthersreuth, Leupoldsdorf, Schachten, Wondreb, Großensees, Marchaney, Matzersreuth, Brand, Tirschenreuth, Wiesau, Großensterz, Schmellitz, Schönhaid, Kornthann.

Allein diese Aufzählung läßt erkennen, wie umfangreich die Kaolinvorkommen in Oberfranken und der Oberpfalz waren und daß sich ein Abbau wirtschaftlich durchaus rentierte.20 Tab.17: Kaolinproduktion in Bayern21 Jahr Werke Arbeitskräfte Tonnage Wert in TM 1874 22 155 6.702 101,1 1875 20 139 6.949 112,9 1876 22 144 6.908* 105,7* 1877 28 137 7.697 121,4 1878 19 114 7.285 107,9 1879 18 111 9.645 116,3 1880 12 99 6.732 116,5 1881 15 148 11.023 132,8 * ohne Niederbayern

Für Thüringen beschreibt STAHL folgende Kaolinlagerstätten: Weißenfels, Skortleben, Eisenberg, Gleina b. Köstritz, Uhlstedt, Neuhaus, Scheibe, Steinheid, Martinroda, Elgersburg, Tabarz, Schmiedefeld.22

19 Bayerisches Oberbergamt 1924, S.142-145. 20 Vgl. AB, Anl.24 Karte der Kaolinlagerstätten. 21 Quelle: LANGE, P. 1984, S.241 nach Statistik Jahrbuch des Deutschen Reiches. 22 STAHL, A. 1912, S.60.

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Die Herstellung von Keramik wurde an anderer Stelle schon angesprochen, weswegen hier eine Übersichtsdarstellung genügen soll:

Tab.18: Fertigungsschema für keramische Werkstücke

Rohstoffe

Mahlung

Vorratsquirl

Filterpresse

Trocknung Sprühtrocknung

Absiebung

Granulat

Zubereitung

Naßpressen Trockenpressen Isostat. Pressen Strangpressen Spritzpressen Gießen

Vorbrand

Weichbearbeiten

Brand

Hartbearbeiten

Glasieren

Glasurbrand

Metallisieren

Werkstücke

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Dabei bedeuten die Verarbeitungstechniken im einzelnen folgendes: Naßpressen: Das Naßpressen wird bei plastischen Massen, insbesondere für komplizierte Werkstücke mit seitlichen Durchbrüchen, bevorzugt angewandt. Trockenpressen: Trockenes Granulat wird zur Herstellung maßgenauer Massenartikel in Stahlwerkzeugen hoch verdichtet. Isostatisches Pressen: Isostatisches Pressen ist die Herstellung von gleichmäßig verdichteten Rohteilen unter Verwendung von Gummiformen. Strangpressen (Extrudieren): Im Strangpreßverfahren wird feuchte, plastische Masse durch eine Strangziehpresse zu rohr- oder stabförmigen Werkstücken geformt. Spritzpressen: Werkstücke mit sehr komplizierten Konstruktionsmerkmalen werden durch thermoplastische Verformung im Spritzpreßverfahren hergestellt. Gießen: Im Gießverfahren wird die flüssige Masse in Gipsformen eingebracht, die dem Schlicker die Feuchtigkeit entziehen. Weichbearbeiten: Zur Bearbeitung der Formteile können folgende spanabhebende Verfahren angewendet werden: Schleifen, Bohren, Fräsen, Drehen, Sägen. Durch automatisierte Bearbeitung können Geometrien realisiert werden, die durch die vorhergehenden Verarbeitungstechniken nicht oder nur durch hohen Kostenaufwand möglich wären. Brand: Die keramischen Rohteile werden in kontinuierlichen Tunnelöfen oder periodischen Öfen mit den erforderlichen Temperaturen bis zu 1.400 °C gebrannt. Die während des Brennvorgangs ablaufenden physikalischen und chemischen Vorgänge bewirken je nach Werkstoff und Verarbeitungstechnik eine dafür spezifische Schwindung. Hartbearbeiten: Sehr enge Maßtoleranzen und hohe Oberflächengüten werden durch Hartbearbeiten wie Rundschleifen, Flachschleifen, Bohren, Läppen und Honen erreicht. Glasieren: Zur Verminderung von Verschmutzungen und zur Erleichterung der Reinigung kann die natürliche Rauheit der Oberfläche durch eine glatte, meist glänzende Glasierschicht überdeckt werden. Zur Kennzeichnung können farbige Glasuren verwendet werden. Metallisieren: Keramische Werkstücke können mit einem weich- oder hartlötbaren Metallbelag versehen werden.

Die nachfolgende Darstellung verdeutlicht die keramische Formgebung und Oberflächentechnik:

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Tab.19: Keramische Formgebung und Oberflächentechnik23

Urformende Verfahren: Abtragende/Trennende Verfahren: 1. Gießen 1. Grünbearbeitung − Hohlgießen − Fräsen − Vollgießen − Bohren − Kerngießen − Drehen − Foliengießen − Schleifen − Druck-/Sauggießen − Trennen − Schleudergießen − Stanzen − Vibrationsgießen (Tixatropie) − Gefriergießen − Schmelzgießen

2. Plastisches Formen 2. Weißbearbeitung − Spritzgießen/Spritzpressen − Fräsen − Strangpressen − Bohren − Prägen/Rollern − Drehen − Einformen/Überformen − Schleifen − Trennen

3. Pressen 3. Fertigbearbeitung − Stampfen − Bohren − Feuchtpressen − Drehen − unaxial − Schleifen − biaxial − Trennschleifen − Trockenpressen − Innenlochsägen − unaxial − Honen − biaxial − Läppen − Kalt-isostatisches Pressen − Polieren − mit Naßmatrize − Ultraschallgestützte Verfahren − mit Trockenmatrize − Lasergestützte Verfahren − Funkenerodieren − Wasserschneiden − Ätzen − Sandstrahlen

4. Spezielle Verfahren Keramische Oberflächentechnik − Laminier- und Garniertechnik − Glasieren − Elektrophorese − PVD (physical vapour desposition) − Sol Gel Technik − CVD (chemical vapour desposition) − Vibrationsverdichten − Ionenimplantieren − Lasergestütztes Implantieren − Elektrochemische Abscheidungen 5. Formgebung und Brennen − Flammspritzen − Unaxiales Heißpressen − Lichtbogenspritzen − Heißisostatisches Pressen − Plasmaspritzen − Gasdrucksintern − Galvanik − Heißisostatisches Nachverdichten − Explosionsverdichten − Schmelzoxidation − Schmelzgießen − Plasmaspritzen (Formteile) − Flammspritzen

23 Aus: MAIER, H.R. 1992, S.21.

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3. Produkte und Einsatzgebiete

Bereits im Altertum hat die Keramik einen wichtigen Beitrag zur Zivilisation geleistet: Ziegelsteine zum Bau von Straßen und Häusern, Wasser- und Abwasserleitungen sowie Heizanlagen sind aus keramischen Baustoffen errichtet worden. Zum Schmelzen von Metallen und zur Glasproduktion benötigte man feuerfeste Tiegel und aus Steinzeug wurden Behälter für Chemikalien und pharmazeutische Produkte angefertigt. Ohne Feuerfestkeramik wäre die Metallgewinnung nicht möglich gewesen, ohne Gefäße und Apparate aus Steinzeug hätte die chemische Industrie nicht die Bedeutung erlangt, die sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte. Des weiteren war erst mit Hilfe von Isolatoren aus Porzellan die effektive Nutzung der Elektrizität möglich geworden. Dies sind die Wurzeln der Technischen Keramik, ohne die die heutige HL-Keramik nicht möglich gewesen wäre und die es im einzelnen darzustellen gilt.

Folgende Anwendungsbereiche der TK werden kurz porträtiert: Chemisch-technisches Porzellan Elektrotechnische Anwendungen Hochspannungstechnik (Isolatoren) Hochfrequenztechnik Wärmetechnik Anlagen- und Maschinenbau Elektronik Chemische Verfahrens- und Umweltschutztechnik Hochtemperaturtechnik

Dabei handelt es sich zum größten Teil um moderne Anwendungen und Einsatzgebiete der Technischen Keramik, die hier der Vollständigkeit halber wiedergegeben werden und um einen Eindruck der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der TK zu bieten. Die traditionellen Anwendungen, die für die Zeit um die Jahrhundertwende charakteristisch und damit für diese Untersuchung von besonderem Interesse sind, werden im nächsten Kapitel in ihrer historischen Entwicklung gesondert dargestellt.

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3.1 Chemisch-technisches Porzellan

Die Laborgeräte aus Porzellan sind mit der Zeit immer zahlreicher geworden: Schmelztiegel, Abdampf-, Verbrennungs-, Reib- und Glühschalen, Mensuren, Standgefäße, Kochbecher, Kasserollen,24 Trichter, Mörser, Pistillen (Stößel), Wannen, Spatel, Retorten,25 Rohre und Bottiche.26 Neben den alten Formen gibt es heute moderne Filtriergeräte wie heizbare und mehrteilige Nutschen, mit porösem oder Siebboden, glühfeste Porzellanfiltriertiegel für die quantitative chemische Analyse. Mit Gas oder Strom beheizte Sand- und Wasserbäder, Wasserbehälter für Durchlauferhitzer und Boiler werden aus Porzellan gefertigt. Des weiteren sind anzuführen die mannigfachen Tauchformen für die Gummi- und Kunststoffindustrie und die verschiedensten Ausführungen von Porzellanwalzen ebenso wie Rohrleitungen mit den passenden Absperr- und Formstücken sowie Pumpen und Rührwerke aus Porzellan. Zum Teil werden diese Erzeugnisse in Metallummantelung hergestellt und für Unter- und Überdruckoperationen eingesetzt. Filterapparaturen finden auch in der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie Verwendung.

3.2 Elektrotechnische Installation

Die Einführung der Elektrizität in Industrie und Haushalt und ihre weite Verbreitung als Beleuchtungs- und Antriebsmittel für eine Unzahl von Geräten, Maschinen und Einrichtungen hat einen enormen Bedarf an Installationsteilen wie Schalter, Abzweigdosen, Sicherungen, Klemmleisten usw. mit sich gebracht.27

Bei der Verteilung der elektrischen Energie im Niederspannungsbereich übernehmen Werkstücke aus keramischen Werkstoffen zwei wichtige Funktionen: Isolation der spannungsführenden Teile der Leitungen und Anlagen gegen Erde und ggf. gegen Berührung. Und mechanische Fixierung der spannungsführenden Teile. Diese Funktionen erfordern von Werkstoffen für die elektrotechnische Installation als wichtigste Eigenschaften:

24 Kleine, tiefe Schalen mit flachem Boden und Griff. 25 Destillationsgefäße. 26 Vgl. i. e. Keramische Rundschau 1926, 34.Jg., Nr.14, S.163f. 27 Siehe dazu AB, Anl.25 Elektrotechnische Installation.

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Sehr gute elektrische Isolationseigenschaften, Alterungsbeständigkeit, Kriechstromfestigkeit, hohe mechanische Festigkeit, geringe dielektrische Verluste, Temperaturwechselbeständigkeit, Formstabilität auch bei hohen Temperaturen und Widerstandsfähigkeit gegenüber aggressiven Medien

Porzellan, Steatit und Sondersteatit, die keramischen Werkstoffe mit der ältesten Tradition als Isolierstoffe für die Elektrotechnik, erfüllen diese Bedingungen technisch und wirtschaftlich optimal: „The versatility of porcelain is illustrated by the fact it is used in practically every room in a home through some sort of electrical appliance, such as base sockets, switches, lighting fixtures, radios, television, kitchen appliances, being an imperishable guardian against trouble.“28

Der Masseversatz, bestehend aus natürlichen und synthetischen Rohstoffen, wird in Trommelmühlen zerkleinert. Nachdem der erwünschte Homogenisierungsgrad und die erforderliche Mahlfeinheit erreicht sind, können organische Binde- und Gleitmittel eingebracht werden, um die spätere Weiterverarbeitung zu erleichtern. Das vorwiegend durch Sprühtrocknung erzeugte Granulat steht dann für die verschiedenen Verarbeitungstechniken zur Verfügung.

3.2.1 Keramik als Substitutionswerkstoff

Als im Jahre 1936 die Reichswirtschaftsplaner bereits Engpässe bei Metallen für den zivilen Bedarf einkalkulieren mußten, wurden im damals verabschiedeten Vierjahresplan erhebliche öffentliche Mittel für die Entwicklung von Ersatzstoffen für Metalle bereitgestellt. Wie schon im Ersten Weltkrieg wurden große Anstrengungen unternommen, möglichst viele Produkte des Haushalts- und Installationsbedarfs aus technischer Keramik herzustellen. In der Folgezeit wurden bspw. folgende Produkte entwickelt und in Serie gefertigt: Elektrische Wärmeplatten; elektrisch beheizte Kaffeemaschinen; elektrische Grillhauben ("Küche des Junggesellen");

28 MILLS, W. S. 1995, p.8.

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Zigarettenanzünder; Radiatoren für elektrische und Warmwasser-Raumheizungen; Rohre und Formteile für Druck- und Abflußleitungen; Brunnenfilter; Bügeleisen; elektrische Bettwärmer29

Einige dieser Produkte wurden bis nach der Währungsreform 1948 hergestellt. Dann jedoch mußte die Fertigung wegen der zu hohen Produktionskosten und wegen der Bruchempfindlichkeit der damaligen Technischen Keramik eingestellt werden.

Als Kuriosum am Rande sei vermerkt, daß während der Inflation eine Zeitlang ernsthaft darüber nachgedacht wurde, statt Papiergeld Notgeld aus keramischen Massen herzustellen.30

3.3 Hochspannungstechnik: Isolatoren

Die elektrische Energie hat in der modernen Gesellschaft eine überragende Bedeutung. Daher werden an ihre ständige Verfügbarkeit und ihre Sicherheit bei der Erzeugung sowie bei der Übertragung und der Verteilung hohe Anforderungen gestellt. Deshalb müssen sich die hierfür notwendigen Einrichtungen und Anlagen durch außergewöhnliche Zuverlässigkeit auszeichnen.

Bei der Übertragung und Verteilung elektrischer Energie übernehmen Hochspannungsisolatoren zwei wichtige Funktionen: Sie isolieren die spannungsführenden Teile der Leitungen und Anlagen gegen Erde und sie übernehmen die mechanische Fixierung der spannungsführenden Teile im System Diese Funktionen erfordern von Werkstoffen für Hochspannungsisolatoren eine hohe elektrische wie auch mechanische Festigkeit. Einrichtungen und Anlagen für die Übertragung elektrischer Energie müssen über Jahrzehnte unter extremen Bedingungen ihre Funktion störungsfrei erfüllen. Alterungs- und Korrosionsbeständigkeit sowie Kriechstromfestigkeit sind daher weitere wichtige Anforderungen an Isolatorenwerkstoffe. Porzellan und Steatit, die keramischen Werkstoffe

29 Vgl. dazu AB, Anl.26 Substitution. 30 Hierzu: Sprechsaal 1920, 53.Jg., S.354f. Keramische Rundschau 1920, 28.Jg., S.435f. Thonindustriezeitung 1920, 44.Jg., S.958. Zeitschrift für angewandte Chemie 1922, 35.Jg., S.81ff.

115 mit der ältesten Tradition in der Verwendung als Isolierstoffe in der Elektrotechnik, erfüllen diese Bedingungen technisch wie auch ökonomisch in optimaler Weise.

In Mitteleuropa herrscht als Hochspannungs-Freileiterisolator der sog. Stab- oder Langstabisolator vor, der es ermöglicht, Spannungen von 420.000 Volt sicher zu übertragen. Es bereitet keinerlei Schwierigkeiten, einen Langstab mit bis zu 200 mm Strunkdurchmesser und über 2 Metern Länge und mit beliebigen Schirmzahlen aus einem stranggezogenen Hubel im Maschinenabdrehverfahren herzustellen. Hierzu haben besonders auch die Fortschritte im Bau von leistungsfähigen Vakuum-Strangpressen und von automatischen Abdrehmaschinen geführt, die einen weitgehend homogenen und fehlerfreien Massestrunk gewährleisten. Auch die Fortschritte im Brennen solcher langgestreckter Körper und nicht zuletzt die sorgfältig ausgearbeiteten Prüfverfahren wie z.B. Ultraschall haben wesentlich dazu beigetragen, daß man heute einen Langstabisolator zur Verfügung hat, der als nichtdurchschlagbare Form elektrisch überhaupt nicht anfällig ist und bei dem in mechanischer Beziehung jegliche Zweifel hinsichtlich Bruchgefahr beseitigt sind.

3.4 Isolatoren in der HF-Technik

Die guten Festigkeitseigenschaften des Steatits und sein niedriger dielektrischer Verlustwinkel haben es zum Tragen von schwersten Antennenmasten geeignet gemacht. So trägt ein einziger hohlkegel- oder tonnenförmiger Mastfußisolator Gewichte bis zu 1.000 Tonnen; dabei ist die tragende Querschnittsfläche nicht größer als ein DIN-A4-Blatt! Abspannisolatoren in Form des Gurtbandisolators tragen bis zu 100 Tonnen und sind an fast allen höheren Antennenmasten zu finden.

Spezialmassen hoher und höchster Dielektrizitätskonstanten und niedrigsten Verlustwinkels zusammen mit der Formbeständigkeit bei Temperaturschwankungen und gegenüber atmosphärischen Einflüssen haben seit dem Beginn der Hochfrequenztechnik am Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre in steigendem Maße die Keramik als Baustoff für die

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Bauelemente der Nachrichtentechnik, als Aufbauelemente für Hochfrequenzanlagen und als Dielektrikum für Kondensatoren eingeführt.31

3.5 Technische Keramik: Wärmetechnik

Die wärmetechnische Anwendung der elektrischen Energie in Industrie und Haushalt wurde erst durch keramische Werkstoffe ermöglicht.32 Die Vorzüge keramischer Werkstoffe für die Wärmetechnik sind: Hohe Temperaturwechselbeständigkeit, Isolationsvermögen auch bei hohen Temperaturen, Alterungsbeständigkeit, Indifferenz gegen Heizleiterlegierungen, hohe Hitzebeständigkeit und Lichtbogenfestigkeit.

Keramische Werkstoffe für die Wärmetechnik werden i.d.R. aus silicatischen Rohstoffen hergestellt. Für spezielle technische Anforderungen kommen auch Oxide zum Einsatz. Als Rohstoffe werden vorwiegend Ton, Speckstein und Aluminiumoxid verwendet.33

3.6 Technische Keramik in der Mechanik

In AB, Anl.28 findet sich eine Übersichtsdarstellung über Anforderungen, Produkte und Werkstoff-Alternativen der Technischen Keramik in der Mechanik; an dieser Stelle werden die einzelnen Anwendungsbereiche kurz vorgestellt und porträtiert.

Keramische Werkstoffe für den Anlagen- und Maschinenbau Der Werkstoff Keramik hat sich in den letzten Jahren auch im Anlagen- und Maschinenbau für viele Anwendungsbereiche durchgesetzt und ist dabei, wegen seiner herausragenden Härte, Verschleißfestigkeit, Temperatur- und Korrosionsbeständigkeit sowie spezieller

31 Vgl. FREUND, B. 1924: Die Isolatorenfrage der modernen drahtlosen Großstationen. In: Keramische Rundschau, 32. Jg., Nr.19, S.232f. 32 Vgl. dazu ANDERSEN I. 1912: Keramische Zentralheizung. In: Keramische Rundschau, 20.Jg., Nr.6, S.59f. 33 Siehe dazu AB, Anl.27 Wärmetechnik.

117 funktionaler Eigenschaften, weitere Märkte durch neue Einsatzmöglichkeiten zu erschließen. Dabei eröffnet die Technische Keramik dem Entwicklungsingenieur völlig neue Möglichkeiten zur Verbesserung und Weiterentwicklung von Anlagen und Maschinen hinsichtlich Lebensdauer, Zuverlässigkeit und neuer Einsatzgebiete.

Die heutigen und zukünftigen Einsatzgebiete Technischer Keramik für den Anlagen- und Maschinenbau sind nicht nur auf den Motorenbau beschränkt, sondern erstrecken sich vor allem auf Gleit--, Dicht- und Lagerelemente sowie Düsen und Ventile. Hierfür ist wegen abrasiver und/oder korrosiver Beanspruchung der Werkstoff Keramik besonders gut geeignet. Im Hochtechnologiebereich sind spezielle Funktionskeramiken auf dem Gebiet der "Mechano-Elektronik" wie z.B. Sensorik, Atorik und Mikromotorik, nicht mehr wegzudenken.

Bauteile für allgemeine Anwendungen Gleit- und Dichtelemente In modernen Wasserarmaturen des Haushalts haben keramische Dichtscheiben aus Aluminiumoxid bereits einen festen Platz. Keramische Dicht- und Regelscheiben ersetzen Dichtelemente aus Metall und Gummi. Dicht- und Regelscheiben aus Aluminiumoxid zeigen auch nach mehr als zwei Millionen Bewegungen unter Betriebsbedingungen noch keinen meßbaren Verschleiß. Die hohe Härte der Keramik verhindert Beschädigungen auf der Gleitfläche durch im Wasser mitgeführte Abrasivstoffe wie z.B. Rost und Sand. Durch die gleichbleibende Ebenheit der Scheiben ist eine dauerhafte Dichtfunktion gewährleistet. Im industriellen Bereich werden Hydraulik- und Pneumatikventile aus keramischen Werkstoffen als Dichtelemente eingesetzt.

Kugel-, Gleit- und Wälzlager Die Vorteile der Keramik sind hier ihre niedrige Dichte, die geringe Wärmeausdehnung, hohe Härte und Warmfestigkeit, ihre gute Maßstabilität auch bei extrem hohen Temperaturen, die sehr gute chemische Beständigkeit sowie der höhere Elastizitätsmodul. Dadurch lassen sich Lager mit niedrigerem Gewicht, höhere Steifigkeit, niedrigeren Fliehkräften und guten Not- und Trockenlaufeigenschaften herstellen.

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Düsen Wegen des hohen Widerstandes gegen abrasiven Verschleiß werden keramische Werkstoffe zur Herstellung von Düsen verwendet. Anwendungsbeispiele sind das Verdüsen von Kalkmilch bzw. Kalkmehl in Rauchgasentschwefelungsanlagen und der Einsatz bei Luft/Feststoff- und Flüssigkeits/Feststoff-Gemischen (Sandstrahlen). Eine interessante Entwicklung stellen Wasserstrahldüsen zum Trennen harter und zäher Werkstoffe dar. Bei einem Durchmesser von 0,8 mm werden Hartstoff-Wasser-Suspensionen mit einem Druck bis zu 4.000 bar durch die Düsen gepreßt.

Sensoren und Aktoren Speziell entwickelte Piezokeramiken auf der Basis von Bleizirkonattitanat (PZT) werden als Umsetzer von elektronischen Signalen in mechanische Bewegung oder umgekehrt zur elektronischen Erfassung von Bewegungen bzw. Kräften verwendet. Derzeit werden verschiedene piezoelektrische Prinzipien angewendet, um auch kontinuierliche Bewegung zu erzeugen. Piezomotoren ermöglichen ohne Übersetzung und Getriebe verschiedene Drehzahlen im unteren und mittleren Bereich durch elektronische Ansteuerung. Wegen ihrer extrem kurzen Reaktionszeiten werden sie heute bereits im Autofocus von Fotoapparaten und Camcordern eingesetzt und in Zukunft auch bei Stellmotoren im Automobilbau und in Haushaltsgeräten Verwendung finden.

Anwendungen in ausgewählten Industriezweigen Aufbereitungstechnik Maschinen und Anlagen in der Förder- und Aufbereitungstechnik (z.B. im Bergbau, in der Eisen- und Stahl- oder in der Zementindustrie) unterliegen einer starken Beanspruchung durch Verschleiß und Korrosion. Auskleidungen aus keramischen Werkstoffen haben sich bei Gewinnung, Tarnsport, Verarbeitung, Aufbereitung und Reinigung von Massenschüttgütern vielfach bewährt. Wichtige Einsatzgebiete sind die Auskleidungen von Rinnen und Rutschen, Bandübergabestellen, pneumatische und hydraulische Fördersysteme (z.B. Rohrleitungen), Rührwerke und Mischer, Fülltrichter und Zyklonen. Keramische Auskleidungen und Mahlkugeln ermöglichen eine eisenfreie und alkaliarme Vermahlung. Wegen ihres minimalen und nichttoxischen Abriebs sind sie auch für die Mahlung von Lebensmitteln bestens geeignet.

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Textilmaschinenbau Der Trend zu weitgehend automatisierten und wartungsfreien Anlagen, auf denen die modernen Chemiefasern mit Fadenlaufgeschwindigkeiten von tw. über 8.000m/min. verarbeitet werden, setzt zuverlässige Fadenführer voraus, die über Jahre hohe Verschleißfestigkeit gewährleisten müssen. Eine weitere wichtige Forderung an die Fadenführer sind reibungsarme, fadenschonende Oberflächen. Aus diesen Gründen eignen sich keramische Werkstoffe besonders für Bauteile im Textilmaschinenbau wie Fadenführer, Ösen, Haken und Rollen.

Metallindustrie In der metallischen Formgebung finden Keramikwerkstoffe als Ziehwerkzeuge wie Konen, Leitrollen und Ringe zur Drahtherstellung sowie als Umformwerkzeuge beim Biegen und Aufweiten von Rohren und als Strangpreßmatrizen vielseitige Verwendung; außerdem werden diese Werkstoffe bei Zerspanaufgaben eingesetzt. Schneidkeramik ermöglicht gegenüber konventionellen Schneidstoffen (z.B. Hartmetall) etwa dreimal so hohe Schnittgeschwindigkeiten.

Sonderanwendungen Keramische Beschichtungen Eine Ergänzung der keramischen Formgebungs- und Fertigungstechnologien sind die Verfahren zur Oberflächenbeschichtung. Dabei werden Schichten verschiedener Art auf metallische Werkstücke aufgetragen, um die Oberfläche gegen Verschleiß, Reibung und Korrosion zu schützen oder bei hohen Temperaturen elektrisch zu isolieren. Dabei werden Schichtdicken von 0,1 bis zu einigen Millimetern erreicht. Nahezu alle Metalle können beschichtet werden, vom unlegierten, rostfreien oder sogar gehärteten Stahl bis zum Aluminiumdruckguß.

Biokeramik „Bereits die Phönizier und die Etrusker hatten es verstanden, ausgefallenen oder –gezogene Zähen des Menschen durch z.B. Tierzähne zu ersetzen – wobei die Befestigungsarten allerdings noch sehr unvollkommen waren: die Befestigung mit Edelmetallspangen hielt naturgemäß nur bedingt den Kau- und Beißanforderungen stand. Auch bei Maja-Mumien fand man Perlmutteile als Zahnersatz, die sogar richtig ´eingewachsen´ waren. Später wurden für die verschiedenen Körperteile künstliche Materialien wie Holz, Stein, Elfenbein usw. versucht.“34

34 REH, H. 2005: Biokeramik – ein wichtiger Helfer der Menschheit. In: cfi, Nr.81, S.23ff.

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Keramik wird in der Humanmedizin wegen ihrer Gewebeverträglichkeit und Verschleißfestigkeit zunehmend seit Beginn des Jahrhunderts eingesetzt.35 Zahnimplantate, Hüftgelenkprothesen, Gehörknöchelchenketten oder auch Formkörper und Granulate zum Auffüllen von Knochendefekten sind charakteristische Anwendungsfälle. Für die Konstruktion und bei der Fertigung werden dabei besonders hohe Anforderungen an Maßtoleranzen, Phasenreinheit und Struktur gestellt. Porzellan als Zahnersatz wurde 1788 zuerst von CHEMANT eingesetzt, der auf die Vorarbeiten von DUCHATEAU zurückgreifen konnte. Um 1900 wurden Keramikkronen (Jacket-Kronen) eingeführt.36 Der Sprechsaal berichtet 1908 über ein Reichspatent zur Herstellung künstlicher Zähne aus Porzellanmasse:

"Der Teil des Zahnes, an welchem die bekannten Befestigungsstifte sitzen, wird aus einer Mischung von Porzellanmasse mit einem Metalloxyd hergestellt, die mit den anderen Teilen des Zahnes geformt und gebrannt wird. ... Die genannte Mischung verbindet sich beim Schmelzen vollkommen mit der Porzellanmasse, hält die Stifte dauernd und sicher fest und läßt sie nicht durchscheinen." 37

Als wichtige Entwicklungsstufen der Biokeramik lassen sich kennzeichnen: 1808 Erste Porzellan-Einzelzähne in Frankreich. 1893 Erste deutsche Zahnfabrik (Fa. de Trey). 1920 Zum ersten Mal erkannte man die Fähigkeit von Calciumphosphat-Pulver zur Knochenbildung; dies wurde jedoch zunächst nicht weiter verfolgt.

1969 Erste AL2O3-Gelenkprothese in den USA entwickelt. 1972 Erste Bioaktive Keramikwerkstoffe 1972 Erste keramisches Kniegelenk in Deutschland entwickelt. 1983 Kommerzieller Einsatz von Hydroxylapatit.

Heute werden folgende Bereiche der Biokeramik unterschieden:38 Biofunktionelle Keramik - Einsatz von Keramikkomponenten in biologischen Systemen, z.B. Hüftgelenke und Zahnimplantate. Biomorphe Keramik - Keramik, welche die Natur nachahmt; Beispiele hierfür sind Zellularkeramik (Holzstruktur), Fibrillarkeramik (Papierfasern) und keramische Whisker (organische Fasern).

35 Vgl. STEIN, H. 1914: Künstliche Zähne. In: Keramische Rundschau, 22.Jg., Nr. 17, S.178f. Siehe auch: EISENLOHR, H. in DKG-Berichte 1922, 3.Jg., S.347-352 und Keramische Rundschau 1920, 28.Jg., S.203f., 225f., 248. 36 Vgl. cfi 1999, 76.Jg., H.6, S.13. 37 Sprechsaal 1908, 41.Jg., H.12, S.160. 38 Hierzu i.e. REH, H. 2005, S.23.

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Biocere - Bioorganisch-anorganische Komposita, z.B. werden Bakterien in einer extrem feinen Keramikstruktur gelagert und können in diesem Filter reinigend wirken. Biogene Keramik - Verbundstrukturen von anorganischen Bestandteilen mit einer organischen Matrix wie bspw. Muschelschalen und Perlmutt.

Gegenwärtig gibt es über mehr als 50 keramische bzw. gläserne Ersatzteile im und am menschlichen Körper. Beispiele hierfür sind Schädeldecken, Augenhöhlenwandungen, Ohrknorpel, Mittelohrimplantate, Glasaugen, Augenlinsen, Nasenwurzeln, Zahnwurzeln und –füllungen, Zahnimplantate, Kieferrekonstruktionen, Wirbelersatz, Teile von Herzschrittmachern, einpflanzbare Infusionspumpen, Ellbogenprothesen, Hüftgelenke, Hand- und Fingergelenke, Kniescheiben und Fußknochen.

Tab.20: Einsatzbereiche und Werkstoffe der Biokeramik39

Einsatzbereich Werkstoffe

Orthopädie Al2O3, ZrO2, HA-Pulver, bioaktive Glaspulver Coatings für bioaktive Haftung HA, bioaktive Glaskeramik Knochenspaltfüller Tricalciumphosphat, Ca-Phosphatsalze

Dentalimplantate Al2O3, ZrO2, HA, bioaktive Gläser Künstliche Sehnen u. Bänder PLA-Kohlefasercomposits Rückgrat-Chirurgie Bioaktive Glaskeramik, HA Therapeutische Tumorbehandlung Nano-Ferrite, Nano-Glaskügelchen, Seltenerd-dotierte Al-Silicatgläser Künstliche Herzklappen Pyrolytischer Kohlenstoffüberzug

Otolaryngolocal Al2O3, HA, bioaktive Gläser, Glaskeramik, PE-HA-Komposite PLA = Polymilchsäure PE = Polyethylen HA = Hydroxylapatit

3.7 Hochleistungskeramik

Keramische Hochleistungswerkstoffe haben in den letzten Jahren immer breitere Anwendung in allen Bereichen der Technik gefunden. Weltweit wird mit großer Intensität an ihrer

39 Vgl. REH, H. 2005, S.24.

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Weiterentwicklung geforscht. Diese modernen Werkstoffe unterscheiden sich von den traditionellen, silicatkeramischen Werkstoffen im wesentlichen durch die Verwendung synthetischer Rohstoffe. Die besonderen Eigenschaften keramischer Hochleistungswerkstoffe sind: Hohe Festigkeit auch bei extremen Temperaturen, hohe Härte, hohe Festigkeit gegen erosiven und abrasiven Verschleiß, Korrosionsbeständigkeit, Hochtemperaturbeständigkeit, Formbeständigkeit und Kriechfestigkeit und geringes spezifisches Gewicht.

Aufgrund dieser Eigenschaften, die Metalle und Kunststoffe nicht in dem Maße aufweisen, erschließt sich den keramischen Hochleistungswerkstoffen ein umfangreiches Anwendungsgebiet im Maschinen-, Anlagen- und Apparatebau.40

Die Hochleistungskeramik läßt sich unterscheiden in: Oxidkeramik

Aluminiumoxid-Werkstoffe (Al2O3)

Zirkoniumdioxid-Werkstoffe (ZrO2)

Aluminiumtitanat (Al2TiO5)

Titandioxid (TiO2) Nichtoxidkeramik Siliciumcarbid-Werkstoffe (SiC)

Siliciumnitrid-Werkstoffe (Si3N4)

Keramische Verbundwerkstoffe Darunter versteht man homogene Verbindungen unterschiedlicher Werkstoffe, deren jeweilige günstige Eigenschaften kombiniert werden. Als Beispiele für Verbundwerkstoffe

sind zu nennen: Mit ZrO2 verstärkte Aluminiumoxide; mit TiC verstärkte Aluminiumoxide;

Einbau von Fasern und Whiskern aus Al2O3, SiC und Si3N4 in eine Matrix; mit Kohlenstoffasern verstärkter Kohlenstoff; mit metallischem Silicium infiltriertes SiC.

40 Siehe hierzu AB, Anl.29 Hl-Keramik.

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Werkstoffverbunde Dies sind inhomogene Verbindungen unterschiedlicher Werkstoffe, die ebenfalls zum Ziel haben, die Eigenschaften der einzelnen Werkstoffe durch Kombination die einzelnen Eigenschaften zu optimieren.

3.8 Technische Keramik und Elektronik

Ohne speziell für die Elektronik entwickelte keramische Werkstoffe hätte diese heute nicht ihre technologische Schlüsselstellung. Die vielfältigen Eigenschaften keramischer Werkstoffe erlauben einen breiten Einsatz in der Elektronik, z.B. als Trägermaterial, Gehäuse und Bauelemente. Die zunehmende Miniaturisierung und höhere Integration elektronischer Schaltungen verlangt keramische Werkstücke von größter Präzision.

Substrate Aluminiumoxidkeramik Substrate sind Trägerplatten, auf die mikroelektronische Schaltungen (Leiterbahnen, Widerstände, Kondensatoren und integrierte Schaltungen) aufgebracht werden. Man unterscheidet Substrate für Dickfilmschaltungen und solche für Dünnfilmschaltungen. Gestanzt werden Dick- und Dünnfilmsubstrate aus dünner, flexibler keramischer Folie in verschiedensten Formaten. Zur Folienherstellung wird der Gießschlicker auf Gießbändern im Endlosverfahren vergossen. Aus Folien gestanzte Substrate lassen sich in Dicken zwischen 0,25 mm und 1,25 mm fertigen und mit Bohrungen, Durchbrüchen, Aussparungen, Vorsprüngen sowie Brechkerben versehen. Substrate größerer Dicke sowie unterschiedlicher Geometrien werden trockengepreßt. Vielfach üblich sind das Ritzen von gesinterten

Substraten mit CO2-Lasern und das anschließende Brechen in kleine Trägerplättchen. Auf gleiche Weise können engtolerierte Bohrungen und Durchbrüche angebracht werden.

Sonderwerkstoffe Substratwerkstoffe für Hochleistungsanwendungen mit besonders hohen Anforderungen an die Wärmeableitung sind aus Berylliumoxid (BeO) oder Aluminiumnitrid (AlN).

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Metallisierte Substrate Metallisierte Substrate werden in der Leistungselektronik eingesetzt. Die Grundmetallisierung besteht aus Wolfram oder Molybdän-Mangan, die durch Siebdruck aufgebracht wird. Darauf befindet sich eine Nickelschicht, auf die wiederum als Korrosionsschutz eine dünne Goldschicht abgeschieden werden kann.

Gehäuse für integrierte Halbleiterschaltungen Um hochwertige, integrierte elektronische Mikroschaltungen vor Umwelteinflüssen zu schützen, werden die Mikroprozessoren (Chips) in weiße oder schwarze keramische Gehäuse dicht eingeschlossen. Sie ermöglichen die elektrische Signalübertragung zwischen Chip und Leiterplatte. Auch die Karten zur Herstellung von ein- und mehrlagigen Halbleitergehäusen werden wie Substrate aus Al2O3-Folien gestanzt und mit Leiterbahnen aus Molybdän-Mangan oder Wolfram bedruckt. In mehreren Schichten lassen sich die bedruckten Karten aus Keramikfolie übereinander anordnen. Unter Druck- und Wärmeeinwirkung werden sie zusammenlaminiert und anschließend zu einem dichten Block monolithisch zusammengesintert. Nach dem Aufbringen einer Nickelschicht werden die äußeren Anschlüsse angelötet. Als Korrosionsschutz und Legierhilfe zum Aufbringen des Chips und Festmachen der dünnen Gold- oder Aluminiumkontaktdrähte wird noch eine dünne Goldschicht galvanisch aufgebracht.

Gegenüber den herkömmlichen Dual-Inline-Gehäusen ermöglicht die verkleinerte Baugröße der Chip Carrier und Pin Grid Arrays höhere Packungsdichten der Schaltungen und verringert den Platzbedarf. Mit steigenden Anschlußzahlen würden verhältnismäßig große Chip Carrier- Abmessungen notwendig. Pin Grid Arrays ermöglichen als hochpolige Gehäuse eine deutliche Verkleinerung der Bauteile, weil fast die gesamte Fläche als Anschlußfläche verwendet werden kann.

Aluminiumoxidkeramik für verschiedene Anwendungen Gehäuse für Thyristoren und Dioden sowie Vakuumschaltkammern, Gehäuse für Überspannungsableiter, Durchführungen und transparente Al2O3-Keramik (Natriumdampfhochdrucklampen)

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Piezokeramik Der piezoelektrische Effekt wurde bereits 1880 entdeckt. Man stellte fest, daß Kristalle bei mechanischen Verformungen elektrische Ladungen freisetzen und umgekehrt diese Kristalle unter dem Einfluß eines elektrischen Feldes ihre Dimension ändern. Dieser piezoelektrische Effekt tritt auch bei keramischen Werkstoffen auf, die auf dem Mischkristallsystem Blei- Zirkonat-Titanat basieren. Die Ausgangmaterialien zur Herstellung piezokeramischer Keramik sind hochreine Oxide und Karbonate, die kalziniert werden. Nach dem Brennen wird die Keramik metallisiert. Erst durch Anlegen eines hohen elektrischen Feldes werden die bis dahin regellos verteilten Dipole vollständig ausgerichtet und es ergibt sich der piezoelektrische Effekt, der auch nach Abschalten des elektrischen Feldes weitgehend erhalten bleibt.41

Kondensatoren In Verbindung mit Widerständen, Induktivitäten und Halbleitern gehören Kondensatoren zu den wichtigsten Bauelementen der Elektronik. Bei ihnen wird neben der Funktion als Isolierstoff die Fähigkeit des Dielektrikums, elektrische Ladungen zu speichern, genutzt. Übliche Herstellverfahren für Keramikkondensatoren sind das Trockenpressen (Scheiben, Trapeze, Rotore, Durchführungen) und das Strangpressen (Rohre).

Im Bestreben, immer mehr Kapazität in immer kleineren Volumina unterzubringen, ist die Multilayertechnik entwickelt worden: Auf ungebrannte gegossene Keramikfolien werden Edelmetallbeläge aufgedruckt, die Folien dann gestapelt, zusammengepreßt, in einzelne Kondensatoren getrennt und gebrannt. Nach dem Brand erfolgt die Verbindung der Elektroden, die sich zwischen den Schichten befinden, durch Metallisierung der Stirnflächen. Anwendungsgebiete für Keramikkondensatoren sind Büro-, Haushalts-, Kfz- und Unterhaltungselektronik, Telekommunikation, Meß-, Steuer- und Regeltechnik.

Hochfrequenzkeramik

Als Hauptrohstoff wird Speckstein (Magnesiumsilicat) verwendet. Die Werkstücke können metallisiert werden. Erzeugnisse der HF-Keramik sind Achsen, Abdeckscheiben, Durchführungen, Halterungen, Kondensatoren, Schutzrohre, Sockel, Spulen und Stützer.

41 Die Anwendungsbereiche der Piezokeramik werden in AB, Anl.30 dargestellt.

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Widerstandsträger Keramische Stäbe und Rohre werden als Tragkörper für elektrische Kohleschicht-, Metallschicht- und drahtgewickelte Widerstände eingesetzt. Wichtige Voraussetzung für die eingesetzten Werkstoffe ist dabei, daß diese gleichstromfest sein müssen.

Magnetkeramik Keramische Magnete finden in der Technik Anwendung als Weich- oder Hartferrite. Die Weichferrite eignen sich wegen ihrer niedrigen magnetischen Verluste besonders für Bauteile der HF-Technik, während die Hartferrite eine permanentmagnetische Erregung von Elektromotoren ermöglichen. Der Wirkungsgrad dieser Motoren ist höher und die Herstellkosten sind niedriger als bei elektromagnetisch erregten. Daher sind heute die meisten Servomotoren in Kraftfahrzeugen (Scheibenwischer, Gebläse) sowie Startermotoren und einige Elektromotoren im Haushalt mit Hartferriten (Strontiumferrit) ausgerüstet.

3.9 Chemische Verfahrenstechnik und Umweltschutztechnik

Für die chemische Verfahrenstechnik sind keramische Werkstoffe besonders vorteilhaft. Sie sind hochtemperaturfest, verschleiß- und korrosionsbeständig. Dabei können Korrosionen auftreten durch Flüssigkeiten (Säuren, Laugen, Salzlösungen), Heißgase (aggressive Gase, Oxidation) und Schmelzen (metallische und nichtmetallische Schmelzen). In der Korrosionsbeständigkeit übertreffen die keramischen fast alle metallischen Werkstoffe.

In der Umweltschutztechnik bieten keramische Werkstoffe eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten zur Reduzierung der Schadstoffemissionen von Kraftwerken, Industriebetrieben und Kraftfahrzeugen.

Chemische Prozeßtechnik Füllkörper, die als geformte Einzelkörper (Ringe, Kugeln, Zylinder) den Innenraum einer Anlage als regellose Schüttung oder als geordnete Packung ausfüllen sowie

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Katalysatorträger (Kugeln, Sterne): Für großtechnisch durchgeführte Reaktionen sind Katalysatoren notwendig, die als Schicht auf die keramischen Träger aufgebracht werden.

Umweltschutztechnik Abgasreinigung in der Industrie: Unbeschichtete Wabenkörper aus Keramik werden sowohl für die Oxidation (Kraftwerksentschwefelung) als auch bei der Reduktion (Entstickung) eingesetzt. Weitere Anwendungsmöglichkeiten liegen im Bereich der Abgasreinigung von Industriefeuerungen aller Art, Diesel-Stationärmotoren und bei der katalytischen Nachverbrennung. Abgasreinigung in Kraftfahrzeugen: Bei Benzinmotoren hat sich der geregelte Dreiwege-Katalysator mit Lambda-Sonde bewährt. Die eigentliche Abgasreinigung findet an einem mit Edelmetall (Platin, Rhodium) beschichteten, wabenförmigen Keramikteil statt. Um die Abgastemperatur für die Katalyse möglichst hoch zu halten, werden Portliner (Zylinderkopf-Auskleidungen) aus Aluminiumtitanat eingesetzt. Die Verbindung Katalysator- Portliner vermindert den Schadstoffausstoß noch einmal erheblich.

Filter- und Membrantechnik Gase und Flüssigkeiten Zum Filtern, Begasen, Entlüften und Verteilen von Gasen und Flüssigkeiten werden poröse keramische Werkstoffe verwendet. Anwendungsbeispiele sind: Entfernung von Schadstoffen aus Flüssigkeiten, Gasen und Dämpfen. Filtration von Flüssigkeiten (Abwasserreinigung). Reinigung von chemischen Lösungen. Filtration von Gasen, Dämpfen und Metallschmelzen. Abscheidung von Säurenebeln, Staub und Ölen. Verteilung von Gasen in Flüssigkeiten. Belüftung von Kühlwasser und Kläranlagen. Separierung von Gasen und Flüssigkeiten. Entlüftung von technischen Bädern.

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Metallschmelzen Die Verwendung von keramischen Gießfiltern bringt folgende Vorteile: Weniger Ausschuß durch Einschlüsse von Schlacke, Form- und Feuerfeststoffen, weniger Gasblasen durch Verringerung des Mikroschlackenanteils, bessere Ausbringung der Formen wegen der Verringerung von Kanälen, bessere mechanische Bearbeitbarkeit der Gußteile und weniger Bearbeitungsausschuß Zum Einsatz kommen gepreßte Filter mit runden Löchern und stranggepreßte Filter mit quadratischen oder rechteckigen Kanälen, die u.a. bei der Herstellung von Gußteilen für den Automobilbau verwendet werden.

Heißgasfiltration Das Entstauben von heißen Gasen, z.B. bei der Wirbelschichtbefeuerung von Kohlekraftwerken und der Staubabscheidung in Müllverbrennungsanlagen wird mit keramischen Filtern durchgeführt, wodurch die Energie der eingesetzten Brennstoffe besser ausgenutzt wird.

Spezielle Anwendungen Labortechnik Eine bereits lange bekannte Anwendung Technischer Keramik ist das Laborporzellan. Tiegel, Schalen, Mörser, Abdampfschalen und andere Produkte dienen in den Laboratorien von Industrie und Forschung als Hilfsmittel bei der chemischen Analyse.

Tauchformen Zur Herstellung von speziellen Latexprodukten werden Tauchformen aus Keramik benötigt, die an die unterschiedlichen Anwendungen durch unterschiedliche Oberfächenstrukturen angepaßt werden können (glatt, rauh, mit Relief).

Nukleartechnik Formteile aus Keramik ermöglichen den Aufbau von Strahlenschutzwänden in Laboratorien, Kraftwerken und medizinischen Geräten.

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Keramische Sensoren Gassensoren (Lambda-Sonde) Feuchtsensoren Temperatursensoren Druck- und Schallsensoren Strahlungssensoren

3.10 Technische Keramik: Hochtemperaturtechnik

Keramische Werkstoffe haben für Anwendungen in der Hochtemperaturtechnik (über 1.000°C) eine lange Tradition. Beispiele sind Ofenausmauerungen, Brennhilfsmittel und Brennerdüsen. Die moderne Verfahrenstechnik fordert jedoch Werkstoffe für immer höhere Einsatztemperaturen, um den Wirkungsgrad der Prozesse zu verbessern, Energie einzusparen und Umweltbelastungen zu reduzieren. Wichtige Hochtemperatureigenschaften keramischer Werkstoffe sind: Hoher Schmelzpunkt, thermodynamische Stabilität, hohe Heißbiegefestigkeit und Druckfeuerbeständigkeit, Korrosionsbeständigkeit gegen heiße Gase und Schmelzen, geringe Wärmeleitfähigkeit sowie kleiner Wärmeausdehnungskoeffizient.

Keramik kommt in folgenden Bereichen der Hochtemperaturtechnik zum Einsatz: Wärmeisolation Feuerfeste Steine zur Isolation von Ofen- und Feuerungswänden und keramische Fasern, die als verdichtete Platten und Matten der Wärmedämmung, der Isolation von Hausgeräten, dem Brandschutz und in der Automobilindustrie als Reib- und Bremsbeläge dienen.

Brennhilfsmittel Traditionelle Brennhilfsmittel, z.B. Tellerkapseln für die Herstellung von Geschirrporzellan. Moderne Brennhilfsmittel: Balken, Stützen und Siliciumcarbid sind hochbelastbare

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Tragelemente für höchste Anwendungstemperaturen. Aufgrund von Hohlprofilausführungen sind sehr leichte und dadurch energiesparende Ofenaufbauten möglich. Hohe Wärmeleitfähigkeit und sehr gute Temperaturwechselbeständigkeit sind herausragende Merkmale der SiC-Werkstoffe. Nur dadurch lassen sich kurze Brennzyklen von weniger als fünf Stunden realisieren. Die Herstellung von großformatigen und komplex geformten Bauteilen ist Voraussetzung für große Nutzflächen. Die daraus resultierende hohe Setzdichte und das niedrige Brennhilfsmittelgewicht führen zu einer beachtlichen Steigerung der Brennkapazität und zu einer deutlichen Senkung der Energiekosten.

Ofenbau und Brenntechnik Tragrollen für Rollenöfen: Die Forderung nach höherer Wirtschaftlichkeit, hoher Besatzdichte und schnellen Brennzyklen führte zur Entwicklung des Rollenofens. Bei diesem Ofentyp wird das Brenngut durch rotierende, keramische Rollen durch den Brennraum befördert. Mit der Einführung der Rollenofentechnik werden die an die Tragrollen gestellten Anforderungen immer höher. Heute sind Rollendimensionen bis 42 mm Durchmesser und 3200 mm Länge üblich. Wand- und Bodenfliesen, Geschirrporzellan, Sanitärkeramik und Technische Keramik werden in Rollenöfen gebrannt. Flammrohre und Brennerdüsen: Keramische Flammrohre und Brennerdüsen werden im Industrieofenbereich, aber auch bei Haushaltsheizungen eingesetzt.

Spezielle Anwendungen Keramische Pyrometerrohre: Zur Temperaturmessung werden in unterschiedlichsten Industriezweigen Thermoelemente und Widerstandsthermometer eingesetzt. Diese werden durch umgebende Rohre aus Keramik gegen Druck, Strömung und Korrosion geschützt. Keramische Wärmetauscher: Wärmetauscher sind wichtige Aggregate für die chemische Verfahrenstechnik und die Wärmerückgewinnung in Industrie und Haushalt. Sie dienen der Energieeinsparung und damit auch der Schadstoffreduzierung. Beispiele sind die Säurekühlung in der chemischen Industrie und gas- oder ölbefeuerte Brennwertheizgeräte in der Heiztechnik.

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Keramische Lochplatten für Gasbrenner: Das Arbeitsprinzip der Flächenbrenner beruht auf der Wärmeübertragung durch Strahlung im Infrarotbereich. Keramische Lochplatten sorgen für eine schadstoffarme, nahezu vollständige Verbrennung des Gas-Luft-Gemisches. Diese Lochplatten werden in Raumheizgeräten im Haushalt eingesetzt, aber auch in Trocknungs- und Temperanlagen der Ofenbau- und Papierindustrie. Hochtemperatur-Verfahrenstechnik: Auskleidungen aus Aluminiumoxid haben sich in Hochtemperaturzyklonen zur Entstaubung in Kraftwerken, Müllverbrennungsanlagen und in der Stahlindustrie bewährt.

3.11 Keramische Hochtemperatursupraleiter

Als Supraleitung bezeichnet man das bei vielen Metallen und Legierungen zu beobachtende Phänomen, daß bei tiefen Temperaturen der elektrische Widerstand bei einer charakteristischen Temperatur sprungartig auf unmeßbar kleine Werte absinkt. Die Supraleitung wurde experimentell erstmals im Jahre 1911 beobachtet. Voraussetzung dafür war die Verflüssigung von Helium in einer geeigneten Temperatur, um hinreichend tiefe Temperaturen erzeugen zu können.

Die Aussicht, elektrischen Strom verlustfrei zu transportieren, hat Wissenschaftler und Techniker zu intensiven Forschungsarbeiten motiviert, um die Supraleitung unter experimentell einfacheren Bedingungen zu erreichen. Dabei stand v.a. die Suche nach möglichst hohen "Sprungtemperaturen" im Vordergrund. Es gelang 1986, in einer speziellen Oxidkeramik (Ba-La-Cu-O-Oxidkeramik) Supraleitung mit einer weitaus höheren Sprungtemperatur nachzuweisen. Einen Durchbruch stellen Sprungtemperaturen oberhalb der Temperatur des flüssigen Stickstoffs dar. Dadurch bietet sich die Chance, Supraleitung durch Kühlung mit flüssigem Stickstoff statt mit flüssigem Helium zu erreichen, wodurch die Betriebskosten deutlich reduziert werden können. Die technischen Anwendungen befinden sich noch in der Entwicklung. Es werden die Möglichkeiten erforscht, aus Hochtemperatursupraleitern flexible Materialien für stromführende Leiter oder dünne Schichten, die auf elastische Materialien aufgebracht werden können, herzustellen. Dünne Schichten aus Hochtemperatursupraleiter-Keramik sind für die Mikroelektronik im Hinblick auf den verlustfreien Transport von Strömen in Computern von besonderem Interesse.

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V. TECHNISCHE KERAMIK: TECHNIKGESCHICHTE

1. Geschichtliche Entwicklung der Technischen Keramik

In der Literatur werden unter dem Begriff Technische Keramik die verschiedensten Gegenstände und Anwendungen von Keramik subsumiert. So berichtet die Thonindustrie- Zeitung bereits 1884 über "neue Artikel der keramischen Industrie" und meint damit Stock- und Schirmgriffe, Polsternägel, Messerhefte, Glockenzughandhaben, Knöpfe und Knäufe für Rolläden1 und H. LEWE bezeichnet in der Keramischen Rundschau folgende Gegenstände als "technisches Porzellan" oder "Thüringer Artikel":2

Porzellanringe und –quasten an Gardinen, Breithalter, Weichen-Markierzeichen, Ringe für Bleichereien, Bierwärmer, Eisbüchsen, Mundstücke für Musikinstrumente, Augenbäder, Nasenduschen, Cremedosen, Lampenblaker, Kruken,3 Seifenschalen, Türgriffe und –knöpfe, Schlüsselloch-Plättchen, Schubladenknöpfe und –schilder, Arznei- und Schwammschalen, Kopier-, Tusch- und Vogelnäpfe, Zahnstocherbehälter, Herd- und Kinderwagengriffe, Buchstaben, Ziffern und Flaschenverschlüsse.4

Da diese Anwendungen und Produkte zwar industriell gefertigt wurden, jedoch ganz unmittelbar für den Hausgebrauch bestimmt waren, lassen sie sich nicht zur oben definierten Technischen Keramik zählen. Wohl ist die industrielle Massenfertigung ein Beleg für den fortschrittlichen Stand der Technik, denn die Artikel wurden naß- bzw. trockengepreßt oder gestanzt. Die nachfolgende Tabelle stellt die historische Entwicklung der TK anhand von Verfahrens- und Produktentwicklungen dar:5

1 Thonindustrie-Zeitung 1884, 8.Jg., H.41, S.402. 2 Die Bezeichnung "Thüringer Artikel" weist darauf hin, daß Thüringen eines der Zentren der Keramik- und Porzellanproduktion im Deutschen Reich war. Dazu MÜLLER, J. 1927, S.271: „Eine Besonderheit der thüringischen Porzellanindustrie sind die sog. ´Thüringer Artikel´. Man versteht unter ihnen z.B. Becher, Schalen, Leuchter, Töpfchen, Dosen, Untersetzer, Näpfchen, Trichter, Löffel und viels andere mehr. Sie sind teils Geschirr-, teils figürliches, teils Sanitäts- und technisches Porzellan. Auch die Betriebe, die diese Thüringer Artikel herstellen, sind nicht einheitlich organisiert, sondern gehören verschiedenen Verbänden zu. Dies hat seinen Grund vor allem darin, daß es keinen einzigen Betrieb gibt, der ausschließlich ´Thüringer Artikel´ herstellte. Alle 30 Betriebe, die hier in Frage kommen, verfertigen vielmehr im übrigen teils Geschirr-, teils figürliches Porzellan. Endlich unterliegt die Produktion der ´Thüringer Artikel´ besonders starken Konjunktur- und Saisonschwankungen“ (Hervorhebung des Verf.). 3 Diese Gefäße wurden zur Abgabe von Pasten, Salben oder Sirup benutzt. 4 In: Keramische Rundschau 1926, 34.Jg., S.164. 5 Eine Übersicht der historischen Entwicklung der Technischen Keramik nach Anwendungsbereichen spezifiziert bietet AB, Anl.31.

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Tab.21: Historische Entwicklung der Technischen Keramik6

Jahr Produkt/Verfahren Jahr Produkt/Verfahren Jahr Produkt/Verfahren 7000 Lehmziegel 1855 Strangpresse 1943 Substrat (gedruckte Schaltungen) v.Chr. 6250 Keramikspindel 1856 Magnesiasteine 1949 Oxidkeramische Schneidwerkz. 3300 Kanalisationsrohre 1857 Kohlenstoffsteine 1950 Permanentmagnete 3000 Ziegel, gebrannt 1857 Schleifscheibe 1950 Sprührostverfahren 2450 Ziegelhochbau 1858 Bauxitsteine 1951 Kaltleiter 1500 FF-Form (Bronzeguß) 1859 Elektrokeramik 1952 Keramikfasern 800 Dachziegel 1860 Zündkerze Gasmotor 1955 Synthetische Diamanten

100 Leichtbausteine 1861 Filter 1959 Transparentes Al2O3 50 Öllampen 1877 Klosett 1959 Spritzgießen 650 n.Chr. Ofenkacheln 1877 Ionenleiter 1961 Schutzschild Raumkapsel 1290 Feuerfeststeine 1880 Heizleiter-Träger 1962 Sprühtrocknen 1590 Laborgefäße 1886 Chromeisensteine 1963 Schaumkeramik

1599 Schmelztiegel 1887 Bayer-Verfahren :Al2O3 1968 Heißisostatpressen 1708 Zahnersatz 1891 Hochspannungs-Isolator 1969 Gelenkprothese 1713 Kapseln 1892 Acheson-Verfahren zur 1974 Hochfeuerfeste Fasern Herstellung von SiC 1735 Hochofenauskleidung 1894 Elektrokorund 1975 Rekristallisiertes SiC 1780 Chemische Gefäße 1900 Sic-Heizstäbe 1975 Polycarbosilan-Faserherstellung 1795 Zn-Destillationsmuffel 1908 Ferrite in HF-Technik 1975 Katalysator-Wabe 1805 Fadenführer 1917 Sillimanitstein 1976 Lambda-Sonde 1809 Mechanische Presse 1918 Oxidkeramik 1977 Keramik-Wälzlager

1815 Lochziegel 1925 Mullitstein 1980 Stabilisiertes ZrO2 1820 Chemische Apparate 1927 Schmelzgegoss. Steine 1986 Keramische Supraleiter 1820 Schamotteretorte 1929 Zündkerze 1986 Turbolader 1822 Silikasteine 1930 Keramik-Radioröhre 1991 Motorventil 1840 Isolatoren 1930 Hartmetall.- 1994 Leistungskühler Schneidwerkzeuge 1846 Trockenpresse 1932 Kondensator

1849 Telegraphenlinie mit 1940 Reaktorkeramik Freileitungs-Isolatoren

6 Aus: cfi 1998, 75.Jg., H.4, S.69.

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2. Baukeramik

Für die rasch wachsenden Städte des 19. Jahrhunderts wurden Tonröhren aller Art benötigt: poröse Drainagerohre, Wasserleitungs- und Kanalisationsröhren. Diese spielten bei der Mechanisierung der keramischen Industrie eine Vorreiterrolle, wurden doch zur Fertigung von großen Stückzahlen weniger gleichbleibender und relativ einfacher Röhrentypen für die Formgebung halbautomatische Maschinen verwendet.7

3. Keramik in der Chemie 8

"Und so finden sich schon in den ältesten Laboratorien primitive keramische Gefäße, mit deren Hilfe so mancher grundlegende Versuch gemacht werden konnte. ... Erst als auf Grund kleiner ... Anfänge die seit Jahrhunderten auf dem Gebiete häuslicher Geräte arbeitende Steinzeugindustrie ihre zeitgemäße Aufgabe in der Schaffung geeigneter Großapparaturen erblickte, setzte eine neue Epoche großindustriellen Aufschwungs für die chemische Industrie ein. ... Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man heute behauptet, daß die chemische Industrie ihre ungeahnten Fortschritte nächst dem Ausbau des Forschungswesens in weitestgehendem Maße der hervorragenden und schnellen Entwicklung der Steinzeugindustrie verdankt." 9

Mit der Erfindung des Porzellans durch BÖTTGER und VON TSCHIRNHAUS war ein Werkstoff geschaffen worden, dessen Anwendungsgebiet anfangs nur im Rahmen der Wohnkultur lag. Für die Aufbewahrung von Tee, Tabak u.ä. wurden aus diesem absolut dichten, also auch das Aroma bewahrenden Werkstoff Vorratsgefäße geschaffen, die in derselben Gestalt heute noch als Kugelmühlen für Laboratorien10 hergestellt werden.

Bald nach der Einführung des Porzellans in den Haushalt wurde es zu technischen Zwecken in den Apotheken und chemischen Laboratorien herangezogen. So wurden schon im 18. Jahrhundert in den Königlichen Porzellanmanufakturen Meißen und Berlin Apothekerstandgefäße,11 Filtriertrichter, Infundierbüchsen,12 Flaschen, Fäßchen,

7 Vgl. KERL, B. 1907, S.478ff. 8 Über Eigenschaften und Herstellung von chemisch-technischem Porzellan: Zeitschrift für angewandte Chemie 1918, 31.Jg., H.2, S.110, 317. 9 SINGER, F. 1923, S.673. 10 Verschließbare Porzellanbüchsen mit Mahlkugeln aus Porzellan, Feuerstein oder Stahl, die per Hand oder automatisch so lange gedreht werden, bis die gewünschte Feinheit des Materials erreicht ist. 11 Apothekerstandgefäße und anderes chemisch-technisches Porzellan produzierte auch die 1865 in Charlottenburg gegründete PF Haldenwanger. 12 Infundierbüchsen mit umlaufendem Wulst dienten zur Warmbereitung pflanzlicher Auszüge. Man setzte diese in den Dampfraum eines Infundierapparates, wo sie Wasserdampf von konstanter Temperatur umgab.

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Schmelztiegel, Abdampfschalen13 und Destillierkolben angefertigt.14 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte man in Berlin schon Porzellankessel mit mehreren hundert Litern Inhalt herstellen. Diese großen Gefäße konnten allerdings nicht in den damals recht kleinen Rundöfen gebrannt werden. Langwierige Brennversuche ab 1868 führten schließlich zu dem ersten Kammerringofen für Porzellanbrand.

Porzellanfabrik Haldenwanger, Sanitätsporzellan-Manufaktur 1865 von Wilhelm HALDENWANGER in Berlin gegründet, wurden in dieser Porzellanfabrik im Laufe der Jahrzehnte gezielt Porzellanmasse-Versätze entwickelt, welche die für die chemische Industrie, die Medizin sowie die Apotheken besonders geforderten Eigenschaften wie Härte, Festigkeit oder Temperaturresistenz in idealer Weise erfüllten. Das in der Firma entwickelte Porzellan des Typs „Pythagoras“ (stark mullithaltiges Porzellan) wurde zum Synonym für Technisches Porzellan höchster Güte. Die Fertigung keramischer Rohre, zunächst nur mit kurzen Längen und kleinen Durchmessern, begann 1910.15

Die anorganische Großindustrie hat ihren Grundstock in der Erzeugung von Schwefelsäure. Dazu war zunächst Blei als säurewiderstandsfähiges Material verwendet worden. Erst mit der Einführung des Gloverturmes begann der Aufschwung der Keramik in der Chemie, da zur Ausmauerung wurden säurefeste Ziegel aus Steinzeug verwendet wurden. Des weiteren sind Füllkörper aus Steinzeug und Porzellan in Form von Ringen (sog. Raschig-Ringe) verwendet worden. Diese dienten dazu, die in den Reaktionstürmen herabrieselnden Flüssigkeiten über eine große Oberfläche zu verbreiten und somit die gegenseitige Einwirkung von Gasen und Flüssigkeiten zu optimieren.

Auch bei der großindustriellen Produktion von Salzsäure war Keramik unentbehrlich. Hier wurden v.a. Steinzeugarmaturen, Gasleitungsrohre, Kondensationsgefäße, Absorptionstürme, Flüssigkeitsverteiler, Kühlaggregate und Pumpen aus Steinzeug eingesetzt.

13 Zum Verdampfen und Eindicken von Flüssigkeiten über offenem Feuer bzw. in Sand- oder Wasserbädern wurden Behälter mit großer Oberfläche benutzt; diese sog. Abdampfschalen waren zur besseren Reinigung bzw. Entleerung innen glasiert und mit einer Ausgußkerbe versehen. 14 Noch früher datieren die sog. "Creußener Krüge". Diese Tonkrüge wurden im 16. und frühen 17. Jhdt. in Creußen bei Bayreuth hergestellt und dienten wegen ihrer Säurebeständigkeit als Apothekengefäße. Sie wurden später durch Glas- und Keramikprodukte verdrängt. Vgl. Marktredwitzer Tagblatt 1938, Nr.177, S.6. 15 Vgl. hierzu REH, H. 2001: Pioniere der Hochleistungskeramik. In: cfi, 78.Jg., H.6, S.14-17.

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Die Herstellung der Salpetersäure nach dem Haber-Bosch-Verfahren wurde durch Steinzeugschlangen wesentlich erleichtert. Weitere Anwendungsgebiete der Keramik waren die Sprengstoffindustrie, die pharmazeutische Industrie, die Nahrungsmittelindustrie, die Papier- und Textilindustrie. Bei all diesen war es von besonderer Bedeutung, metallische Verunreinigungen auszuschließen, wozu Steinzeug geradezu prädestiniert war.

Während man heutzutage säureexponierte Anlagen aus Kunststoff, korrosionsfesten Stählen oder Graphitkeramik baut, wurden ab etwa 1850 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges diese und sogar komplette Maschinen aus chemisch-technischem Steinzeug hergestellt. Ein Bericht aus dem Jahre 1902 verdeutlicht den hohen Stellenwert dieser Industrie um die Jahrhundertwende: „Ein sehr großer Steinzeugtopf erregte die gelegentliche Aufmerksamkeit von Besuchern aus der Laienwelt, während sich der Fachmann naturgemäß sagen mußte, daß die Dimensionen der Erzeugnisse ... bloß begrenzt werden durch den Umfang der zu ihrem brennen erforderlichen Öfen und daß vor dem Bau dieser letzteren in dem nöthigen Umfang die Thonwaaren-Industrie noch niemals zurückgeschreckt ist, wenn sie erkannte, daß für irgend welche Gefäße in größeren Dimensionen der nöthige Absatz vorhanden sei. In dem Bau von Steinzeugpumpen für die Bewegung von Mineralsäuren und insbesondere von Salzsäure ist die deutsche Steinzeug-Industrie bahnbrechend unter der Führung der Firma Ernst March Söhne voran gegangen. Diese Firma war leider auf der Ausstellung16 nicht vertreten, eine von anderer Seite ausgestellte Steinzeugpumpe bewies, daß an der constructiven Ausgestaltung dieses nützlichen Apparates, wie sie von der Firma March geschaffen worden ist, auch die neueste Zeit nichts zu ändern gefunden hat.“17

Während anfangs Glas für Labor- und Apothekengefäße benutzt wurde, verwendete man für chemische Prozesse zunehmend auch Geräte aus Steinzeug. So benutzte etwa die Metallurgie zur Extraktion von Metallen Säuren wie etwa Sapetersäure – Scheidewasser genannt – zur Trennung von Silber und Gold. Gemischt mit konzentrierter Salzsäure ergab sie das sog. Königswasser, das Gold auflösen konnte. Die dabei benutzte Gefäße wurden einfach als „Irdene Töpfe“ bezeichnet, wie etwa 1556 von AGRICOLA.18 Es liegt nahe, daß es sich dabei um chemisch-technisches Steinzeug handelte, dessen Bedeutung auch den sächsischen Hüttenleuten bekannt war und die aus dem nahe gelegenen Waldenburger Revier bezogen Petrus ALBINUS identifiziert 1589 diese Waldenburger Produkte eindeutig als technisches Steinzeug: „Die fürnemesten Erden im Lande zu Meyssen sind diese: Erstlich hat man zu Waldenburg an der Schneebergischen Mulden ein Erdreich / so etwas Ascherfärbicht unnd dicht / zum Theil auch lichtgraw: daraus macht man die Edlen und weitberümbten Gefeß / so nichts von Säften in sich ziehen

16 Gemeint ist hier die Weltausstellung 1900 in Paris. 17 WITT, O. 1902: Die chemische Industrie des Deutschen Reiches. Berlin. 18 AGRICOLA, G. 1556: De re metallica (Übersetzt vom SCHIFFNER u.a. 1977. Zwölftes Buch. München).

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/ jha auch das Scheidewasser oder aquafort / wie das Venedische Glas / halten Item in Fewer lang austawren.“19

Ebenso verweist ein Text aus dem 18. Jahrhundert auf die frühe technische Bedeutung diese Waldenburger Steinzeugs: „Waldenburger Gefäß wird dasjenige Töpffer-Geschirr genannt, welches von denen in der Altstadt- Waldenburg, an der Mulde gelegen, wohnenden Töpffern in großer Menge gar sauber und fein bereitet und bereits in die 300 Jahre verfertiget wird. ... und werden wegen ihrer Reinlichkeit und Beständigkeit auch so gar in auswärtige Länder häuffig abgeholet. Absonderlich verfertigen sie Gefäße, die entweder in die Laboratorien und Apoteken gehören, als Retorten mit ihren Recipienten, Kolben, Hüte, Capellen, vielerley Gattungen Flaschen, Krüge, Büchsen und so weiter ... .“20

Ein frühes technisches Einsatzgebiet war die Produktion der konzentrierten (rauchenden) Schwefelsäure durch Abrösten natürlicher Sulfate wie Alaun, Eisen- und Kupfervitriol. Die durch Erhitzen in Retorten entstehenden Schwefeltrioxiddämpfe wurden dann in Steinzeugvorlagen aufgefangen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde bspw. im Harz dieses Verfahren angewandt, das dann von dem in England entwickelten Bleikammerverfahren abgelöst wurde.21

Gesundheitsgeschirr-Manufaktur Der Aufstieg der chemischen Industrie war eng verbunden mit der Entwicklung bzw. dem Chemikalienbedarf anderer Industrien: Schwefelsäure zum Bleichen und Färben von Textilien, Soda für die Glasproduktion, Salpetersäure und Ammoniak für die Sprengstoffherstellung und die Düngemittelindustrie. Sukzessive kamen Produktionszweige wie die Farbenchemie sowie die Herstellung von Kunststoffen und –fasern und von synthetischem Kautschuk hinzu. Steinzeugbehälter dienten jedoch auch zur geschmacksneutralen Aufbewahrung von Lebensmitteln und Spirituosen. Da es zu dieser Zeit keinen anderen säurefesten Werkstoff gab, hatten Betriebe, die in der Lage waren, großformatige Steinzeugartikel herzustellen, in dieser Phase Hochkonjunktur. Bereits um 1820 stellte die englische Firma DOULTON neben Rohren und Schornsteinaufsätzen auch Säurebehälter für chemische Fabriken her. In Berlin hatte man bei der Königlichen Porzellan-Manufaktur im späten 18. Jahrhundert einen neuen Keramiktyp

19 PETRUS ALBINUS 1589: Meißnische Bergk-Chronica. S.173. Dresden. Zit. nach HORSCHIK, J. 1978: Steinzeug. Dresden. S.46. 20 ZEDLER 1747: Großes Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Leipzig und Halle. Bd.52. S.1308. Zit. nach HORSCHIK J., S.58f. 21 Vgl. BUCHHEIM, G. / SONNEMANN, R. (Hg.) 1990, S.135f.

138 entwickelt. Dieser, unter dem Namen „Gesundheits-Geschirr“22 firmierende Geschäftszweig entwickelte sich so erfolgreich,23 daß dafür 1816 eine eigene Fabrik am Tiergarten errichtet wurde, die dort bis 1866 chemisch-technisches Porzellan produzierte, die Gesundheitsgeschirr-Manufaktur (GGM). Als 1891 am Stammsitz der KPM in der Leipziger Straße Parlamentsbauten geplant waren, verlegte diese ihre Produktionsanlagen ganz an den ehemaligen Standort der Gesundheitsgeschirr-Manufaktur. Technikgeschichtlich ist die Gesundheitsgeschirr-Manufaktur von Bedeutung, weil sie 1851 den ersten Auftrag über die Lieferung von Porzellanisolatoren für die preußische Staatstelegraphie erhielt und insofern als Geburtsstätte der elektrokeramischen Industrie gelten kann. Das Gesundheits-Geschirr bestand aus Porzellan-Abfallmasse, die mit plastischem Ton gemischt wurde24 und nach dem Brennen einen steinzeugartigen Scherben ergab. Die benötigte Porzellanerde wurde aus den Gruben von Morl und Seeben (beide bei Halle), der notwendige Feldspat aus der Lomnitzer Gegend bezogen. Daraus ließen sich auch größere Geschirre bis zu Einmachtöpfen herstellen, die wegen ihrer bleifreien Glasur im Gegensatz zu Töpferware ungiftig und im Vergleich zu Porzellan billig waren, da sie in den schwächer beheizten Zonen der Brennöfen mitgebrannt werden konnten. Schon in den ersten Preislisten der Gesundheitsgeschirr-Manufaktur wurden jedoch auch Schmelztiegel, Abrauch-Schalen, Mörser mit Pistill und Apotheker-Kruken angeboten.25 Da die Hauptabsatzartikel der GGM jedoch Pfeifen- und Puppenköpfe blieben und die konkurrierende Privatindustrie diese billiger anbieten konnte, wurde die Produktion dieser Artikel um 1835 fast völlig eingestellt. Die bald nach der Einführung der Telegrafie in Preußen aufgenommene Produktion von Isolierköpfen konnte den Ausfall nicht wettmachen, obschon die Telegrafen-Direktion 1852 73.000 Stück dieser Isolatoren bestellte. Da immer weniger Aufträge eingingen und die Warenbestände sich immer mehr anhäuften, schränkte man die Produktion 1849 erheblich ein; zu dieser Zeit waren bei der GGM noch 164 Arbeiter beschäftigt. Die Gesundheitsgeschirr-Manufaktur wurde 1866 ganz aufgelöst.

22 Der Name „Gesundheitsgeschirr“ entstand durch Übertragung des französischen `Hygiocerames` ins Deutsche. In Paris hatte man ein porzellanartiges Geschirr ohne Bleiglasur angefertigt und dieses, weil die Glasur gesundheitsunschädlich war, „Hygiocerames“ genannt. 23 Mit der Herstellung von Gesundheitsgeschirr waren bei der KPM i.J. 18oo fünf Dreher, i.J. 1801 acht Dreher, 1802 zehn Dreher und Former und 1803 bereits vierzehn Dreher und Former beschäftigt. 24 Die Sanitätsgeschirrmasse bestand aus 12 Teilen Porzellanerde, 5 Teilen Feldspat und 3 Teilen Ton. Die Weiße kam der des Porzellans ziemlich nahe, wogegen dem Gesundheitsgeschirr durch den Tonzusatz die Transluzenz fehlte. Vgl. BUBLITZ, E. 1937, S.193. 25 Vgl. ebd., S.194f.

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Außer der GGM stellten auch die Elgersburger Fabrik von C.E. und F. ARNDT 26 und die Firma Ch. G. SCHIERHOLZ aus Plau bei Arnstadt Gesundheitsgeschirr her. Der Niedergang der GGM lag darin begründet, daß man das Produktionsprogramm nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, auf technische und Apothekergeräte beschränkte, sondern alles, was man in Porzellan fertigen konnte, auch in Gesundheitsgeschirrmasse herstellte. Ein Kabinettsbefehl vom 22. Oktober 1810 zeigt, welcher Beliebtheit sich das Gesundheitsgeschirr erfreute und welche weitgehenden Pläne in bezug auf dessen allgemeine Einführung man hatte: „Diesem zufolge sollte ein Zeitraum öffentlich bestimmt werden, nach dessen Ablauf alle kupfernen Milchkannen abgeschafft sein müssen, und deren Ersetzung durch solche aus Gesundheitsgeschirrmasse. Auf die von dem damaligen Arkanisten der Manufaktur, Roesch, geäußerten Bedenken wegen der leichten Zerbrechlichkeit der Milchkannen beim Transport kam dieser Befehl nicht zur Ausführung.“27

Fa. Ernst March Söhne In Charlottenburg gündete1836 Ernst MARCH eine Werkstatt, die sich binnen weniger Jahrzehnte zum führenden Unternehmen der chemisch-technischen Keramikindustrie entwickelte. Während hauptsächlich Gebrauchskeramik, später Bauterrakotten28 hergestellt wurden, gehörten technische Artikel wie Tonformen für die Zuckerindustrie und Wasserfilter zunächst nur in kleinerem Umfang zum Produktionsprogramm. Sukzessive wurde die Palette des chemisch-technischen Steinzeugs erweitert29 und es wurden Chlorentwicklungskolben, Tourills,30 Gefäße, Hähne, Pulver- und Salbenbüchsen für Apotheken sowie größere Steinzeuggefäße mit bis zu 2.500 Litern Inhalt hergestellt.31 Zum Kundenkreis gehörten neben den Berliner Firmen Schering, Kahlbaum, Gehe & Co. und Kunheim & Co. auch die Chemische Fabrik Marquardt (Bonn), Heyden (Radebeul), Pfannenschmidt (Danzig), Kaliwerke Aschersleben sowie Großunternehmen wie Gebr. Giulini (Ludwigshafen), Merck (Darmstadt), Farbwerke Höchst, Forster & Grüneberg (Köln), Badische Anilin- und

26 Diese Fabrik brachte unter dem Namen „Emilian“ ein Spezialporzellan auf den Markt, das weniger spröde als das übliche Porzellan war. Vgl. MÜLLER, G. 1959, S.304. 27 BUBLITZ, E. 1937, S.197. 28 MARCH konnte Ziegel und Bauterrakotten, die SCHINKEL zu einem Markenzeichen der Berliner Architektur gemacht hatte, in verschiedenen Farben liefern. Nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IVOM im Jahre 1840 und einer weiteren Steigerung der Bautätigkeit und damit auch der Verwendung von keramischem Fassadenschmuck wurde MARCH zum führenden Terrakottalieferanten. Vgl. STRUBE, W. 1984: Der historische Weg der Chemie. Bd.1, S.59. Leipzig. 29 Vgl. Thonindustriezeitung, Jg. 1919, Nr.150. 30 Durch Rohre verbundene Gefäße zur Kondensation. 31 Bereits 1853 gelang es, ein Gefäß von ca. 2.500 Litern zu fertigen. Vgl. SINGER, F. 1929, S.21.

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Sodafabrik32 Durch maßgenaues Schleifen des gebrannten Steinzeugs und Normung von Abmessungen und Anschlußmaßen gelang es, ganze Maschinen aus Steinzeug zu bauen: „Begnügte man sich früher mit der Herstellung von ... Töpfen, Türmen, Filtern etc., so bedarf die chemische Industrie jetzt auch solcher Apparate, die, in Verbindung mir Eisenteilen, mechanische Arbeit im Dienst der Säurefabrikation zu leisten haben. Hierher gehören die Exhaustoren, die Plungerpumpen, die Zentrifugalpumpen, die Druck- und Vacuumpumpen und die automatischen Montejus. ... Zur Herstellung solcher ´Tonmaschinen´ sind ... Erfahrungen nicht nur auf dem Gebiet der Keramik, sondern auch die genaue Kenntnis der chemischen verfahren erforderlich, in denen solche Maschinen Verwendung finden ... . Außerdem kann nur exakteste Schleifarbeit ... zu guten Erfolgen führen ... . Beispiele sind die Kolben der Plungerpumpen, die Schutzhülsen in den Stopfbuchsen der Exhaustoren und Zentrifugalpumpen, die Zylinderventile in den automatischen Montejus und unsere Sicherheitsventile.“33

Der starke Aufschwung, den speziell die chemische Industrie nahm, hatte zur Folge, daß immer neue Produkte nachgefragt wurden. Daher wurden bereits zu Beginn der 1880er Jahre neben den bereits erwähnten Produkten auch Kolbenpumpen, Röhren und Kühlschlangen sowie Kondensationsgefäße, Kondensrohre und -türme aus Steinzeug hergestellt. Diverse Pulver- und Sprengstoff-Fabriken wie etwa die Puverfabrik Hanau, die Munitionsfabrik Spandau und die Dynamit-Fabrik Krümmel bezogen die von ihnen benötigten Spezialapparaturen von der Fa. March.34 Dazu gehörten Kolbenpumpen, Ventile mit Paragummi, umkleidete Steinzeugkugeln, Hähne mit Spritzglocken-Kegeln und präzisem Durchgang, ferner Rohre mit geschliffenen Flanschen und Druckbirnern (Montejus). Einen weiteren Auftrieb und eine bedeutende Entwicklungsanregung erfuhr die Firma 1887 durch zwei große Staatsaufträge: „Für die Neubauten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in der Marchstraße und des Reichsgesundheitsamtes in der Kloppstockstraße wurden weiß glasierte Steinzeug-Ausgußbecken und Tröge in den verschiedensten Ausführungen und Formen, sowie Ventilationsschieber und Apparate für die Laboratorien angefertigt. Beide Staatsaufträge bedeuteten nicht nur einen Erfolg der Firma in finanzieller Hinsicht, sondern stellten auch einen wichtigen technischen und marktmäßigen Entwicklungsschritt dar, weil damit säurefestes, weißglasiertes Steinzeug durch Paul March erstmals auf den Markt gebracht worden war.“35

Mitte der neunziger Jahre des 19. Jhdts. wurde auch die Fabrikation von säurebeständigen Exhaustoren aufgenommen, welche die bisher gebräuchlichen gußeisernen und mit Blei ausgekleideten überall dort ersetzten, wo aggressive und giftige Abgase auftraten, insbesondere bei der Sprengstoffabrikation. Des weiteren wurden Kreiselpumpen aus säurebeständigem Steinzeug ins Fabrikationsprogramm aufgenommen, die der Entwässerung

32 Vgl. HOFFS, F. 1964, S.41. 33 Katalog der Deutsche Ton- und Steinzeugwerke A.-G. 1905. Berlin-Charlottenburg. (Firmenschriftenarchiv des Deutschen Museums München). 34 Vgl. JOCHENS, B. / HÜNERT, D. 2000, S.55. 35 HOFFS, F. 1964, S.42.

141 von Kanalisationsgräben dienten. Schließlich entwickelte man bei der Fa. March Nitrier- Zentrifugen aus Steinzeug für die Schießbaumwollfabrikation der Sprengstoffwerke.

Zur Produktionstechnik ist zu bemerken, daß die Steinzeugmasse, deren Ton- und Kaolinbestandteile einwandfrei abgeschlämmt und gesiebt zur Anwendung gelangten, mit schwedischem Feldspat und einem magernden Zusatz von gebrannter Schamotte aus gleichem Gemisch versehen wurde. Nach vorgeschriebenem Rezept wurden die einzelnen Mengen in eine sogenannte Tonbank eingefahren und dort, in Schichten gelagert, unter Wasserzusatz eingesumpft, um einen Tag anzuziehen. Anschließend wurde der Ton reihenweise mit dem Spaten aus der Tonbank ausgestochen und in einem stehenden Tonschneider durchgeknetet und gemischt. Diese Prozedur wiederholte sich drei- bis viermal. Danach mußte die so aufbereitete Masse in einem Tonkeller für einige Zeit mauken, ehe sie zur Verwendung gelangte. Für besondere Preßmassen war sogar ein mehrwöchiges Ablagern der Masse im Maukkeller erforderlich. Die Formgebung geschah entweder mittels Röhrenpressen, durch Freidrehen auf der Töpferscheibe, durch Gießen oder Formen in Gipsformen. Das Brennen der Steinzeugartikel erfolgte zunächst nur in kleineren Rundöfen, die durch Veränderung der Feuerführung für den Steinzeugbrand hergerichtet wurden. Man brannte bis zum völligen Durchsintern des Scherbens, was durch kleine Handproben, die aus dem Ofen gezogen wurden, nachzuprüfen war. Um eine glatte Oberfläche des Brenngutes zu erhalten, wurde nach Erreichen des Garbrandes Kochsalz auf die Feuerungen gegeben, so daß sich eine braungefärbte Salzglasur auf dem Produkt bildete. Die anschließende Qualitätsprüfung und –überwachung erfolgte dergestalt, daß man die Gefäße längere Zeit mit Salzsäure gefüllt stehen ließ, um so deren Verwendbarkeit für die chemische Industrie zu testen.

In Deutschland stellten nur wenige Firmen Steinzeugapparate für die chemische Industrie her: Die Firma Ernst March Söhne, die Deutsche Steinzeugwaarenfabrik für Canalisation und Chemische Industrie in Friedrichsfeld, die Westdeutschen Steinzeug-, Chamotte- und Dinaswerke Euskirchen und die 1887 gegründete Steinzeugfabrik Bettenhausen bei Kassel. 1904 entstanden durch Fusion der Firmen Ernst March Söhne und Tonwarenfabrik A. Kypke in Muskau/Oberlausitz, dem Tonwarenwerk Kassel-Bettenhausen, der Steinzeugfirma Ludwig Rohrmann AG in Krauschwitz sowie dem Steinzeugröhrenwerk Deutsche Tonröhren- und Chamottefabrik AG in Münsterberg/Schlesien die Deutschen Ton- und Steinzeugwerke A.-G. (DTS), deren Finanzier bis 1933 das Bankhaus Gebr. Arnhold in Dresden war.

142

Deutsche Ton- und Steinzeugwerke A.-G. Die bereits 1894 entwickelten „lose gelagerten Kühlschlangen“ wurden bei der DTS weiterentwickelt: Größere Rohrweiten (100 mm) wurden möglich und die Fertigung aus eisenfreiem weißem Steinzeug verlängerte deren Lebensdauer erheblich. Ebenso wurden Ausgußbecken, Rohrleitungen und Apparaturen für Laboratorien, Krankenhäuser, Forschungsinstitute etc. aus weißem Steinzeug hergestellt, womit an die Tradition der Fa. March angeknüpft wurde, die bei der Produktion von weißem Steinzeug eine Pionierrolle gespielt hatte. Die Produktion von Kühlschlangen, deren Wandstärke relativ dünn mußte, wurde insbesondere in Krauschwitz ausgebaut, da dort ein hierfür besonders geeignetes Tonvorkommen bestand. Während bis zu diese Zeit nur Kühlschlangen mit einer Windunglage gefertigt werden konnten, war es nun möglich, Kühlschlangen mit bis zu fünf Windungslagen herzustellen.36

Die im Werk Kassel-Bettenhausen produzierte Panzerkessel `System Marx` wurde ebenfalls weiterentwickelt. Die sechsteiligen zusammenschraubbaren Eisenkessel mit bis zu 12.500 Litern Fassungsvermögen wurden mit einer doppelten Schicht brauner oder weißer Steinzeugplatten säurefest ausgekleidet, die man bis dahin von der Schamotte- und Tonwarenfabrik J.R. GEITH, Oeslau bei Coburg bezogen hatte. Da die weißen handgeformten Platten jedoch häufig nicht formgerecht waren und insofern nachgeschliffen werden mußten , was entsprechende Mehrkosten verursachte, wurden sie ab 1909 im Trockenpreßverfahren selbst produziert. Diese für die DTS neue Fabrikationsmethode verbilligte nicht nur die Panzerkessel, sondern erhöhte auch infolge der höheren Dichte der weißen Hartsteinzeugplatten die Haltbarkeit dieser Erzeugnisse.

Die Zusammensetzung des Krauschwitzer Tons, der mit geringsten Zuschlägen eine ideale Steinzeugmasse speziell für dünnwandige und temperaturwechselbeständige Gegenstände ergab, wurde erforscht, um zu versuchen, durch Mischung ähnlich gearteter und gereinigter Rohstoffe eine gleichwertige Masse zu erhalten.37 Außerdem wurde versucht, die Nachteile des Krauschwitzer Tons – nur geeignet für dünnwandige Erzeugnisse – durch Zusatz grobkörniger Schamotte und Feldspat auszugleichen. Auf diese Weise konnte in Krauschwitz und Lugknitz die Produktion dickwandiger Gefäße mit 4.000 Litern Fassungsvermögen aufgenommen werden. Die Herstellung von Abdampfschalen bis 1.000 mm Durchmesser

36 Vgl. Preiskatalog der DTS von 1910, S.14. (Firmenschriftenarchiv des Deutschen Museums München). 37 Vgl. SINGER, F. 1929, S.22.

143 sowie Kristallisiergefäßen gehört ebenso zu den Entwicklungserfolgen wie das Gießen von Steinzeug-Hähnen aus einem Stück unter Anwendung von Luftdruck. Der Preiskatalog von 1910 beweist die Vielfalt der aus Steinzeug produzierten Artikel, wie z.B. Regenerations-, Rektifikations-38 und Destillationsanlagen für Säuren, Denitrationsanlagen für Abfallsäuren, Wannen für galvanische Bäder und Akkumulatorenkästen. Das Produktionsprogramm folgte somit den Entwicklungen in der chemischen, elektrochemischen und elektrotechnischen Industrie und nutzte die sich dort bietenden Absatzchancen. Wenngleich zu bemerken ist, daß die Herstellung dieser Produkte nur vorübergehend erfolgte, da technische Schwierigkeiten auftraten. Das galt insbesondere für das weiße Steinzeug, dessen Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde, so daß sie in den 1920er Jahren neu aufgenommen werden mußte.

Während des Ersten Weltkrieges war die Auftragslage für die chemisch-technisches Steinzeug produzierenden Werke besonders günstig, da die chemische Industrie zusätzlichen Bedarf an Ausrüstungen für Sprengstoffabriken hatte. Dieser, für die Rüstungsindustrie bestimmte Produktionsanteil, war im Laufe des Krieges so stark angewachsen, daß das Kriegsende mit seinem Verbot (später: Beschränkung) der Sprengstoffherstellung einen bedeutenden Umsatzverlust mit sich brachte. Hinzu kamen das Überangebot an Steinzeugartikeln im Inland, das von den vorher auf die Kriegswirtschaft ausgerichteten Fabriken stammte, die allgemeine Kohlenverknappung39 sowie der fast vollständige Wegfall des Exports. Daher bemühte sich die DTS um neue Märkte und damit auch neue Absatzmöglichkeiten. Die Einführung von Steinzeug-Akkumulatorenkästen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte, wurde nun verstärkt propagiert ebenso wie die Herstellung von Röntgenfilm-Trögen. Ein weiteres neues Absatzgebiet wurde in der Likör- und Branntweinfabrikation gewonnen, wo man absolut dichte Gefäße benötigte, um die Alkoholverdunstung, die bei hölzernen Gefäßen nicht unerheblich war, zu verhindern. Großräumige Essigbildner aus Holz, die in der Essig-Industrie Verwendung fanden, wurden durch solche aus Steinzeug substituiert. Die Herstellung elektrolytischer Bleichlösungen und die wegen der besonders aggressiven Laugen und Säuren damit verbundenen besonderen Ansprüche an die Geräte eröffneten dem chemisch-technischen Steinzeug ein weiteres Einsatzgebiet, auf dem v.a. die Papier-, Textil- und Kunstseideindustrie wichtige Kunden waren. Das Erschließen neuer Absatzmöglichkeiten war nicht nur eine dringende

38 Flüssigkeitsgemische werden durch wiederholte fraktionierte Destillation getrennt. 39 Zur Produktion von 1 t Steinzeug wurden 500-700 kg Kohle benötigt.

144

Notwendigkeit infolge der mit dem Kriegsende zusammenhängenden, bereits erwähnten Fakten, sondern auch wegen der neu erwachsenen Konkurrenz anderer säureresistenter Materialien wie z.B. säurefesten Stählen, Kunstharzen und Kohlederivaten. Bereits 1907 konnte die DTS bei den Konkurrenten eine Preiskonvention durchsetzen, die „Konvention für chemisches Steinzeug“, die bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Bestand hatte und zwischen folgenden Firmen abgeschlossen wurde: Deutsche Ton- und Steinzeugwerke AG, Charlottenburg; Deutsche Steinzeugwaarenfabrik für Canalisation und Chemische Industrie, Mannheim- Friedrichsfeld; Westdeutsche Steinzeug-, Schamotte- & Dinaswerke, Euskirchen/Rheinland; Fr. Chr. Fikentscher, Keramische Werke AG, Zwickau/Sachsen; Österreichischer Verein für chemische und metallurgische Produktion, Aussig/Elbe; ab 1927: Lugknitzer Steinzeugröhrenfabrik GmbH, Lugknitz/Oberlausitz.

Tab.22: Übersicht über die Anteile der beteiligten Werke am Konventionsumsatz (in %)40 Jahr Charlottenburg Friedrichsfeld Zwickau Euskirchen Aussig Lugknitz 1909 50,77 23,19 7,65 8,11 10,28 1910 51,26 22,21 6,77 8,89 10,87 1911 49,68 22,99 6,38 10,60 10,35 1912 51,68 21,19 6,71 10,09 10,33 1913 50,75 25,00 6,51 7,27 10,48 1914 49,39 25,85 7,35 8,27 9,14 1915 45,76 26,20 6,13 11,44 10,47 1916 45,97 28,15 7,07 10,09 8,72 1917 45,38 27,07 7,78 11,61 8,16 1918 43,37 30,32 8,38 10,06 7,87 1919 49,00 23,50 11,50 8,50 6,50 1920 46,12 27,02 12,56 9,06 5,24 1921 42,49 29,32 10,33 13,70 4,16 1924 43,44 39,98 6,35 7,16 3,70 1925 45,60 42,37 4,32 4,76 2,95 1926 49,35 38,21 3,38 4,99 4,07 1927 48,29 36,23 3,79 8,18 3,51 1928 43,83 38,31 2,32 6,17 5,65 3,72 1929 43,14 37,07 2,35 6,19 7,25 4,00 1930 47,51 33,49 2,20 5,73 7,03 4,04

Wenngleich der Umsatzanteil der DTS (Charlottenburg) von 50,77% im Jahre 1909 aufgrund einer Neufestlegung der Beteiligungsquoten stetig sank, nahm diese doch zusammen mit der ihr seit 1922 in einem Interessengemeinschaftsvertrag verbundenen Deutschen

40 Aus: HOFFS, F. 1964, S.265.

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Steinzeugwarenfabrik, Mannheim-Friedrichsfeld weiterhin eine marktbeherrschende Stellung in der Konventionsgemeinschaft der chemischen Steinzeugfabriken mit teilweise bis zu 88% des Gesamtumsatzes (1925) ein. Die Anteilswerte der übrigen Fabriken änderten sich dabei gleichzeitig relativ geringfügig, so daß deren Einfluß auf die Preisgestaltung und das Produktsortiment gering blieb. Die wenigen verbliebenen nicht der Konvention angehörenden Fabriken hatten im Vergleich zu den Konventionswerken keine Marktbedeutung; teilweise kamen ihre Bemühungen auch den der Konvention angeschlossenen Werken zugute: „Die Konvention gewährte den Außenseitern ... einen Wiederverkaufsrabatt von 5% (zeitweilig 10%) für die Artikel, die die Außenseiter bei Konventionswerken bezogen, weil sie selber nicht in der Lage waren diese zu produzieren. Sie mußten diese Ware ihren Kunden zu Konventionspreisen anbieten. Dadurch erfaßte die Konvention wenigstens indirekt mit Teillieferungen auch die sonst von den Außenseitern belieferten Steinzeugverbraucher.“41

Die Vormachtstellung der DTS innerhalb der „Konvention für chemisches Steinzeug“ wird auch durch die Steigerung der Beschäftigtenzahl von 970 auf 1.170 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges signifiziert. Gleichzeitig wurde in den Abteilungen für chemisches Steinzeug die Zahl der Öfen von 14 auf 19 mit einer Kapazität von 1.16o m2 erhöht.

Die weitverzweigten Interessen der DTS werden durch die Aufzählung ihrer sämtlichen Werke, Tochtergesellschaften und Beteiligungen verdeutlicht; die Entstehungsgeschichte der DTS läßt sich anhand des abgebildeten „Stammbaums“ nachvollziehen. Werke der DTS: Münsterberg in Schlesien; Krauschwitz b. Muskau (Oberlausitz); Muskau (Oberlausitz); Lugknitz (Oberlausitz); Kassel-Bettenhausen; Charlottenburg-Westend; Bad Freienwalde a.d. Oder; Berlin-Lichtenberg. Tongruben der DTS: Beckern, Kr. Striegau in Schlesien; Peicherwitz, Kr. Neumarkt in Schlesien; Espenhain b. Rötha in Sachsen; Münsterberg in Schlesien; Krauschwitz b. Muskau; Sagar b. Lugknitz. Tochtergesellschaften: Ton- und Steinzeugwerke W. Richter & Cie. A.-G., Bitterfeld; (100% Beteiligung Grube Graf Zinzendorf G.m.b.H., Waldgut Horka (Oberlausitz); der DTS) Technochemie A.-G., Berlin-Heinersdorf; O. Stegmeyer Maschinenfabrik G.m.b.H., Berlin; Keramische Industrie-Bedarfs-Aktiengesellschaft, Berlin.

41 HOFFS, F. 1964, S.103.

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Tochtergesellschaften: Steatit-Magnesia A.-G., Pankow mit Werken in: (mehr als 50% Berlin-Pankow, Berlin-Tempelhof, Berlin-Weißensee, Beteiligung der DTS) Holenbrunn b. Wunsiedel, Lauf a.d. Pegnitz. Hruschauer Tonwarenfabrik A.-G. Hruschau (Tschechoslowak.); Deutsch-Englische Quarzschmelze G.m.b.H., Berlin-Heinersdorf; Keramische Werke Raschig A.-G., Ludwigshafen; General Ceramics Company, New York. Sonstige Beteiligungen: Annawerk Schamotte- und Towarenfabrik A.-G., Öslau/Obfr.; Porzellanfabrik Triptis A.-G., Triptis in Thüringen Keramag Keramische Werke A.-G., Bonn; Braukohlen- und Brikett-Industrie A.-G., Berlin; Deutsche Hume-Röhren A.-G., Berlin; Triton-Werke A.-G., Hamburg; Bank für keramische Industrie A.-G., Berlin und Dresden.

Auch die neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der Technischen Keramik wurden aufgegriffen: Säurespeicheranlagen, Schalen, Wannen, Ausguß- und Spuckbecken für Krankenhäuser und Bäder wurden aus weißem Steinzeug - teilweise im Gießverfahren zur Verbesserung der Produktqualität – hergestellt. Von Bedeutung war auch die Entwicklung der sogenannten „Pyroton-Masse“, zur Verbesserung der Temperaturwechselbeständigkeit. Bei dieser Neuentwicklung bildetet die Masse einen etwas porösen Scherben, der mit einer vollkommen glatten Glasur versehen wurde, damit er undurchlässig wurde. Durch die glatte Oberfläche war eine leichte Reinigung mittels Abspritzen möglich. Die Pyrotonmasse wurde besonders bei der Herstellung der Färbekessel und –wannen für die Textilindustrie eingesetzt. Die bedeutendste keramische Entwicklung bei der DTS im Zeitraum 1918 bis 1933 stellte jedoch die Herstellung von Isolatoren für die Elektrotechnik dar, die im Kapitel „Keramik in der Hochspannungstechnik“ gesondert dargestellt wird. Erwähnenswert bleibt, daß Anfang der zwanziger Jahre im Einflußbereich der DTS das später unter dem Namen STEMAG bekannt gewordene Unternehmen entstand, das Hochfrequenzkeramik für die Rundfunktechnik herstellte.42

42 Hochfrequenzkeramik auf Steatitbasis gehört damit zu den ´modernen´ Keramikprodukten, die ihren industriellen Ursprung in Berlin hatten; 1927 folgte SIEMENS mit der ersten industriellen Fertigung von Aluminiumoxidkeramik für Zündkerzenisolatoren.

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„Stammbaum“ Deutsche Ton- und Steinzeugwerke43

43 Quelle: Keramos 1929, 8.Jg., H.12, S.446

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Deutsche Steinzeugwaarenfabrik für Canalisation und Chemische Industrie Neben Röhren wurden in diesem Unternehmen seit den 1880er Jahren auch Steinzeugprodukte für die chemische und elektrochemische Industrie hergestellt, deren Anteil an der Gesamtproduktion zu Beginn der neunziger Jahre bei rd. 10% lag. Für das Rohmaterial dieses chemischen Steinzeugs war eine andere Masseaufbereitung notwendig als bei der Röhrenfabrikation. Während dort überwiegend Odenwälder Tone verwendet wurden, bestand in der chemischen Abteilung die Masse hauptsächlich aus pfälzischen Tonen. Das Verfahren beruhte auf der Naßaufbereitung, die durch Anschaffung eines Brechwalzwerkes (1894) und später eines Glattwalzwerkes wesentlich verbessert wurde. Da es trotzdem nicht gelang, die pfälzischen Tone restlos aufzuschließen, wurde ab 1905 ein grundlegend neues maschinelles Verfahren eingeführt.44 Die Gefäße wurden anfangs in einzelnen Ringen auf einer manuell angetriebenen großen Töpferscheibe gedreht und in angesteiftem Zustand zusammengarniert. Diese Methode wurde durch die Einführung der motorgetriebenen Einformscheibe dadurch verbessert, daß nun die in der Modellwerkstatt angefertigten Gipsformen mit einer Holzschablone eingeformt wurden (Schlickerverfahren). Der Firmenkatalog des Jahres 1913 weist neben Transport- und Aufbewahrungsgefäßen auch Steinzeugapparate und -maschinen für die Fabrikation verschiedener Säuren, Berieselungseinrichtungen für Glover- und Gay- Lussac-Türme45 sowie Wannen für galvanische Bäder, Akkumulatorenkästen, Schlangen und Turills zum Kühlen und Wärmen von Gasen und Flüssigkeiten aus.46 Die Anwendung von Steinzeuggefäßen und –rohrleitungen in der chemischen Industrie führte zur Produktion von entsprechenden säureresistenten Absperrvorrichtungen wie Hähnen, Schieber, Klappen und Drosselklappen aus Steinzeug. Während die Fabrikation zunächst von Hand erfolgte, wurden diese seit 1910 maschinell hergestellt, wodurch eine vollkommene Gleichmäßigkeit und Formgebung sowie größte Dichte der Fabrikate erreicht wurden. Insbesondere die Dichte der Hähne verlangte, daß Hahngehäuse und Hahnküken in gebranntem Zustand maßgenau bearbeitet wurden, wozu Präzisionsschleifmaschinen entwickelt und gebaut wurden. Hinzu kam die Produktion von verschiedenen Maschinen aus Steinzeug, insbesondere für die chemische Industrie, wie Rührwerke, Pumpen, Zentrifugen und Gebläse.

44 Vgl. PROBST, Hj. 1993, S.78. 45 Glover- und Gay-Lussac-Türme wurden bei der Produktion von Schwefelsäure eingesetzt. 46 Vgl. PROBST, Hj. 1993, S.81.

149

6 Schlangenfabrikation 190947

Wie bei den übrigen Steinzeugfabriken wurde auch bei der Friedrichsfelder Firma weißes Steinzeug hergestellt. Dazu verwendete man weißbrennende Tone aus Meißen, denen man Zettlitzer Kaolin zusetzte; diese weiße Steinzeugmasse diente der Produktion von Ausgußbecken und Einrichtungsartikeln für chemische Laboratorien. Spezialfabrikate, die besondere Anforderungen hinsichtlich Temperaturbeständigkeit und mechanischer Festigkeit erfüllen mußten, wurden aus einer bei der Friedrichsfelder Firma entwickelten und patentierten Steinzeugmasse, der Patentkorundsteinzeugmasse, hergestellt.

47 Aus: PROBST, Hj. 1993, S.82.

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Besatz eines Brennofens mit weißem Steinzeug 190948

Dem nach dem Ersten Weltkrieg stark gesunkenen Bedarf an chemisch-technischem Steinzeug standen die während des Krieges und dem damit verbundenen Bedarfsanstieg aufgebauten Überkapazitäten des Friedrichsfelder Werkes gegenüber. Unter Rückgriff auf Vorkriegsentwicklungen wurden neue Steinzeugmassen entwickelt, die es ermöglichten, neue Einsatzmöglichkeiten und damit Absatzchancen für Steinzeug zu erschließen. Insbesondere das Korundsteinzeug wurde Anfang der dreißiger Jahre durch Mischung von pfälzischen Tonen mit 10 – 15% Zettlitzer Kaolin zu einem weißen Steinzeug weiterentwickelt, das mit weißer Glasur in einem Muffelofen gebrannt wurde und sich, da es fast völlig eisenfrei war, besonders für Wasserstoffsuperoxidanlagen eignete. Durch die Produktion einer schwarzen, aus dunklen Tonen gebrannten Steinzeugmasse, die sich weich schleifen ließ und durch die eigene Herstellung von Schleifscheiben gelang es ab Mitte der zwanziger Jahre, in bis dato verschlossene Absatzgebiete einzudringen. Hier sind v.a. die Essig-, Akkumulatoren- und Lebensmittelindustrie zu nennen, in denen Steinzeug die bisher verwendeten Werkstoffe Metall und Holz substituieren konnte. Die Friedrichsfelder Steinzeugwarenfabrik dehnte ihr Produktionsprogramm ähnlich der DTS auf Produkte für die Likör- und Branntweinindustrie

48 Aus: PROBST, Hj. 1993, S.80.

151 aus, ebenso wurden Steinzeugmaschinen für die pharmazeutische, Textil-, Nahrungsmittel-, Bijouteriewaren-49 und Kunstdüngerindustrie hergestellt, während die versuchsweise Produktion von Steinzeugisolatoren bereits nach kurzer Zeit wieder aufgegeben wurde.

8 Wannen für die Anatomie der Universität München; ca. 193050

3.1 Keramik in chemischen Laboratorien 51

Keramische Geräte ersetzen in Laboratorien solche aus Glas, wenn große Festigkeit, geringe Temperaturempfindlichkeit und große chemische Widerstandsfähigkeit vonnöten waren.52 Hier kamen folgende zum Einsatz:

Schamotte- und Tonwaren: Tiegel, Kacheln für Verbrennungsöfen, Einsätze, Tonessen, Muffeln, Tonplatten und –teller zum Trocknen von Präparaten.

49 Schmuckwaren 50 Aus: PROBST, Hj. 1993, S.148 51 Siehe dazu AB, Anl.32. 52 Vgl. dazu MURRAY,G.A.1912: Porzellan für den Gebrauch in chemischen Laboratorien. In: Keramische Rundschau, 20.Jg., Nr.49, S.536f.

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Steinzeug: Abdampfschalen, Ausgußbecken, Misch- und Abklärtöpfe, Standgefäße, Retorten, Kolben, Stopfen, Steinzeugplatten für Beläge. Porzellan: Schalen und Tiegel zur Bereitung von Lösungen und zum Erhitzen, Trichter, Filter, Siebplatten und Nutschen zu Filtrationszwecken, Röhren für Verbrennungen organischer Stoffe.53

Neben diesen fanden noch viele weitere Apparate und Geräte aus Steinzeug oder Porzellan in den Laboratorien Verwendung: Trommelmühlen, Heizmäntel für Siedeapparate, Brenner, Entwicklungsapparate, Spatel, Rührer, Mensuren, Einsätze für Zentrifugen, Pressen, Autoklaven, Ringe für Filtriergestelle und Wasserbäder, Filtrierkonusse, Teller für Waagschalen u.v.m. So berichtet die Thonindustrie-Zeitung 1903 über Bunsenbrenner aus Porzellan: "In erster Linie haben sie den Vorzug größerer Reinlichkeit, sowie rascher und bequemer Reinigung, ferner leisten sie bei Veraschungen, Flammenreaktionen, sowie ganz besonders beim Abdampfen saurer Flüssigkeiten im Abzuge, wobei alle Metallbrenner mehr oder minder leiden, sehr gute Dienste. ... Im Vergleiche zu bereits früher gefertigten Bunsenbrennern aus Glas weisen die Porzellanbrenner einen ungleich höheren Grad von Widerstandsfähigkeit auf." 54

3.2 Säure- und alkalifeste Steine

Metalle sind durch chemische Substanzen leicht angreifbar, weswegen schon seit langer Zeit keramischen Massen verwendet wurden, die je nach chemischen Reaktionen und Temperaturen verschiedenen Zusammensetzung und Formen besaßen. Das keramische Material konnte für sich gebraucht oder aber zur Verkleidung von Wänden aus Ziegelsteinen, Beton, Eisen oder Blei benutzt werden.

3.3 Schalen und Töpfe für verschiedenen Gebrauch

Man verwendete Schalen, Töpfe, Krüge, Kessel, Becher, Eimer usw. hauptsächlich dort, wo die gewöhnlichen Baumaterialien der Apparaturen wie Holz, Kupfer oder Eisen angeätzt oder

53 Vgl. N.N. 1917: Technisches Porzellan. In: Die Ameise, 44.Jg., H.43. 54 Thonindustrie-Zeitung 1903, 27.Jg., No.62, S.1003.

153 zerfressen wurden. Der keramische Scherben durfte nicht zu dünn sein, mußte aber trotzdem Temperaturveränderungen gut aushalten können. Folgende Hohlgefäße waren in Gebrauch: Schalen, Tassen, Pfannen, Becher, Kessel, Töpfe, Tiegel für die verschiedensten chemischen Zwecke, außerdem Abblasetöpfe für Sapetersäure, Steinzeugkrüge und –flaschen zum Transport von Säuren. In der Textilindustrie fanden keramische Materialien vor allem auf dem Gebiet der Textilfaserveredelung Verwendung. Die Chlorwassermaschine, die Chlorgas zum Bleichen erzeugte, wurde z.B. aus säurefestem Steinzeug hergestellt; dem gleichen Zweck dienten Bleichkästen aus Keramik. Keramische Geräte für fotografische Zwecke: Hier kamen Spülwannen, Entwicklerschalen, Fixierbäder, Rillenkästen zum Einsatz, die ebenfalls wegen ihrer Säurebeständigkeit, Widerstandsfähigkeit gegen Temperaturschwankungen, aber auch wegen ihrer mechanischen Festigkeit und Glätte gebraucht wurden.

3.4 Rohre, Hähne, Regelungsvorrichtungen

Rohre dienten dem Fortleiten von Flüssigkeiten, Gasen und festen Substanzen. Ihr Durchmesser hing von der zu befördernden Menge ab und konnte von 1 Millimeter bis zu 2 Meter betragen. Wegen der völligen Gasdichtigkeit kam auch hier Keramik zum Einsatz. Rohre wurden aus Steinzeug, Quarzglas und Porzellan hergestellt. Zur Produktion von Porzellanrohren wurde eine plastische Masse in Strangform gepreßt. Die Rohre dienten bei Schmelz- und Glühprozessen, zu Erhitzungs- und Kühlungzwecken. Sie fanden Verwendung als Füllkörper, Düsen, Mundstücke, Ventile, Hülsen und Türme. Das bedeutendste Anwendungsgebiet keramischer Rohre war jedoch die Kanalisation. Hähne wurden in verschiedenen Formen gebraucht und dementsprechend hergestellt: Klotzhähne, Schnabelhähne, Durchgangshähne, Dreiwegehähne, aber auch als Hahnschieber, Drehschieber und Rückschlagventile zum Einsatz.

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3.5 Speicheranlagen und Transportgefäße

Zum Zwecke des Transportes oder der Lagerung von Säuren hatten sich säurefestes Steinzeug schon lange bewährt. So produzierte man z.B. Töpfe mit zylindrischer, konischer oder nach unten abgeschrägter Kugelform. Die Töpfe hatten bis zu mehreren Tausend Litern Inhalt. Um das bestehende Bruchrisiko zu verringern, wurden auch Versandgefäße aus Holz, Eisen oder Beton mit säurefester Keramik ausgekleidet. Ebenso wurden sog. Panzerkessel innen mit Steinzeug oder Porzellan ausgelegt und dann durch Anziehen der Außenschrauben unter Druck gesetzt, was die Formstücke dicht aneinander preßte. Dadurch wurden die Kessel sehr widerstandsfähig gegen äußere und innere Beschädigungen, wärmebeständig und chemisch resistent. Eingesetzt wurden sie in der Nahrungsmittelindustrie sowie zur Lagerung und zum Transport von Salze, Beizen, Laugen usw.

9 Säurespeicheranlage, um 193055

55 Aus: PROBST, Hj. 1993, S.151.

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4. Speckstein und Steatit

Speckstein und Steatit unterscheiden sich durch ihre Zusammensetzung bzw. durch ihre Verwendbarkeit. Dem in den Gruben geförderten weichen Speckstein wurde nach dem Bearbeiten mittels Brennen die nötige Härte verliehen. Die auf diese Weise produzierten Fabrikate dienten als Brenner für Acetylen-, Leucht-, Kohlen-, Öl- und Wasserstoffgas sowie als Karbidbrenner für Grubenlampen und Autoscheinwerfer. Außerdem wurden aus Speckstein Spitzen für Lötkolben, Brennerdüsen und Bunsenbrenner sowie elektrotechnische Kleinteile wie Widerstandsspulen und –rohre hergestellt.

Steatit besteht zwar zum größten Teil aus einer Specksteinmasse, ist jedoch mit keramischen Zuschlägen wie Feldspat und Ton versehen und erhält ebenfalls durch Brennen seine charakteristische Härte.56 Besonders in der Niederspannungstechnik wurde Steatit zur Produktion von Sockeln und Platten für Aus- und Umschalter, Innenteile in Schaltern wie Sterne und Rädchen sowie Sicherungsschrauben verwendet. Weitere Anwendungsgebiete waren die Produktion von Koch- und Heizapparaten, wo aus Steatit Heizplatten, Durchführungen, Widerstandsträger usw. hergestellt wurden sowie die Motorenindustrie, wo Zündkerzen aus Steatit produziert wurden. In der chemischen Industrie kam Steatit zur Produktion von Filterkörpern, Rohren, Zylindern, Mörsern usf. zum Einsatz, ferner wurden Schleifkörper aus Steatit hergestellt.57 Während die Produkte aus Speckstein Fertigfabrikate darstellten, waren diejenigen der Steatitindustrie Halbfabrikate, die den anderen Industrien zur weiteren Bearbeitung zugeliefert wurden.

56 Im Ggs. zum englischen Sprachraum, der unter "steatite" (engl.) auch Speckstein subsumiert. 57 Vgl. Keramische Rundschau 1924, 32.Jg., Nr. 19, S.233f. A. VOM BLEININGER in DKG-Berichte 1921, 2.Jg., S.20-26. F. H. RIDDLE in Journal of the American Ceramic Society 1920, 2nd ann., p.564-575.

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4.1 Speckstein58

Vorläufer der Gasbeleuchtung waren die Öllampen des Altertums bzw. in späteren Zeiten die Öl- und Petroleumbeleuchtung, deren Lampen aus keramischen Werkstoffen gefertigt waren. Mit Einführung der Gasbeleuchtung etwa 1792 eröffneten sich auch für die Keramik neue Einsatzmöglichkeiten; man kann sogar mit Berechtigung sagen, daß ohne keramische Werkstoffe die Gasbeleuchtung nicht die Bedeutung erzielt hätte, die sie letztlich erhielt.

Zunächst wurde bei der Gasbeleuchtung Leuchtgas verwendet, das bei der Verbrennung von Holz oder Kohle entsteht. Später verwendete man Acetylengas, bei dem glühende Kohleteilchen, die durch die Zersetzungsvorgänge des Gases in der heißen Flamme entstehen, die eigentlichen Lichtspender sind. Die dazu notwendigen Brenner mußten so konstruiert werden, daß sie ein Maximum an Licht aussandten. Dazu verwendete man zunächst Brenner aus Eisen, Messing oder anderen Metallen,59 doch die hohe Temperatur der Flamme verursachte Beschädigungen an diesen Brennern. Außerdem verursachte ihre gute Wärmeleitfähigkeit eine Überhitzung der zugeleiteten Gase, so daß Rußabscheidungen und andere Partikel die Brenneröffnungen verstopften.60

58 PASCHOLD (1935, S.19ff) gibt verschiedene, z.T. tradierte Bezeichnungen für Speckstein an: Topfstein: Der Speckstein wurde häufig zu Töpfen gedreht. Lavezstein/Laverstein: Volkst. Übersetzung des lat. Lebetum lapis. Schmeerstein/Schmehrstein/Schmärstein: Aus dem fränkischen Schmeer=Fett oder andere Schreibweise für Schmierstein. Bezieht sich auf das fettige Anfühlen des Specksteins. Seifenstein: Übersetzung des engl. Soapstone. Schabestein/Schaberstein: Nahm Bezug auf die leichte Bearbeitbarkeit. Taubstein/Taufstein: Tradierter Brauch, einem jungen Brautpaar bei der Hochzeit ein Stück Speckstein zu schenken, da abgeschabter Speckstein bei Säuglingen als Puder gegen Wundliegen verwendet wurde. FÜSSEL wies bereits 1787 darauf hin: "Indessen sah ich einen andren Gebrauch, den die Mütter dieses Orts von diesem Stein machen. Wenn das Fleisch der ganz kleinen Kinder in den Fugen der Gelenke wund geworden ist, so schaben sie ein wenig davon (gemeint ist Speckstein, d.Verf.) drauf. Sie versichern aus langer Erfahrung, daß dies Pulver kühle und schnell heile. FÜSSEL, J.M. 1787: Unser Tagebuch. Erlangen. S.155. Kreitenstein/Schreibstein: Mit Speckstein ließ sich auch schreiben. Modelstein: Verwendung zu Schnitzarbeiten. Meelpatz/Mehlbatzstein: Deutete auf Farbe und Weichheit des Specksteins hin. Kleberstein: Zur Bearbeitung wurde der Speckstein mit Pech an ein Stück Holz geklebt. Federweiß: Bezog sich auf die Farbe. Spanische, englische, venezianische oder Brianconer Kreide: Bezug zum Export über Briancon u. Venedig Talk/Talkum; Gilstein. 59 STONE erfand 1805 den ersten und am meisten verwendeten Schnittbrenner. Weitere Brennerformen waren die Einloch-, Zweiloch und Argandbrenner, die in einem Kranz angeordnete Löcher besaßen. 60 Vgl. WENING, E.: Die bayerische Speckstein- und Steatitindustrie. In: KUHLO, A. 1926, S.116ff.

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Die hervorragenden Eigenschaften der Keramik in bezug auf Härte, Schmelzpunkt, Feuerfestigkeit und Wärmeleitfähigkeit boten diese zur Brennerfertigung geradezu zwingend an und es wurde in Speckstein der geeignetste Werkstoff gefunden: "Die Specksteinbrenner entsprachen in jeder Beziehung den an sie gestellten Forderungen. Sie hielten auf Grund der dem Speckstein eigentümlichen Eigenschaften bei erheblicher Härte höchste Hitzegrade aus ohne ihre Beschaffenheit zu ändern oder von der Flamme angegriffen zu werden. Vielmehr wurden sie durch die Hitze immer härter und der Schnitt bekam durch die Zusammensinterung eine besonders große Widerstandsfähigkeit. Infolge der geringen Wärmeleitfähigkeit des Specksteins kam die Verbrennungswärme der eigenen Flamme zugute, so daß sich die Leitungen nicht mehr erwärmten und die Brenner während des Betriebes mit bloßer Hand abgenommen werden konnten." 61

J.VON LIEBIG machte den Besitzer der ertragreichsten Specksteingruben im Fichtelgebirge, J.VON SCHWARZ, 1854 auf diese Verwendungsmöglichkeiten für Speckstein aufmerksam62 und es wurden ab diesem Zeitpunkt Brenner aus Speckstein hergestellt.63 Dazu wurde der Speckstein aus der Grube zunächst getrocknet und geputzt, d.h. alle Verunreinigungen wurden entfernt. Danach schnitt man die Specksteinstücke in viereckige Stifte verschiedener Länge, in Würfel und Platten, die, um ein Zerbrechen zu verhindern, vor der Weiterverarbeitung verglüht wurden. Dazu wurden die Stifte in Muffeln eingesetzt und, da sie beim Brennen leicht sprangen, zuerst 4-5 Stunden einem schwachen Feuer ausgesetzt, um dann noch einmal 2 Stunden in einem starken Feuer verglüht zu werden. Nach dem Verglühen wurden die Stücke auf der Drehbank ciniert, d.h. mit Stahlinstrumenten wurden die Brenner durch Drehen geformt. Danach wurden die Kanäle gebohrt und die Brennlöcher eingeschnitten, wobei die Gas- und Luftlöcher exakt die vorgeschriebenen Abmessungen haben mußten, um den für den Brenner berechneten Gasverbrauch pro Stunde einhalten zu können. Die Brenner wurden in Öl gelegt und gekocht, um sie gegen die Aufnahme von Feuchtigkeit zu schützen. Nach dem Trocknen und Polieren war der Brenner gebrauchsfertig. Nach einiger Zeit gab man das Verglühen der Specksteinstifte und –platten wieder auf, da man inzwischen gelernt hatte, auch den naturbelassenen, weichen Speckstein zu bearbeiten. Da J.VON SCHWARZ schnell erkannt hatte, welche Bedeutung die von ihm produzierten Specksteinbrenner für das Beleuchtungswesen hatten, wollte er sich das alleinige Recht zur Herstellung dieser Brenner durch ein Gewerbepatent sichern, weshalb er 1853 beim Magistrat der Stadt Nürnberg einen Antrag auf Verleihung eines Gewerbeprivilegs "für Gasbrenner aus

61 PASCHOLD, H. 1935, S.70. 62 Vgl. LIEBIG, J. vom 1857: Gasbrenner aus Speckstein. In: Annalen der Chemie und Pharmacie, S.180. 63 Siehe dazu die Specksteinbrenner in AB, Anl.33.

158 einer von ihm erfundenen und präparierten Steinmasse"64 stellte. Er begründete seinen Antrag mit der höheren Leuchtkraft seiner Brenner und dem um ein Drittel geringeren Gasverbrauch. Dieses Privileg erhielt er 1854 auf die Dauer von drei Jahren.

Eine Fabrikationsliste aus dem Jahre 1868 umfaßte 12 Arten von Brennern: Fischschwanz- oder Manchesterbrenner mit 1-8 Kubikfuß Gasverbrauch pro Stunde Schnittbrener mit 1-9 Kubikfuß Gasverbrauch pro Stunde Fantasiebrenner in 5 Sorten mit 7-12 Löchern Fischschwanz- und Schnittbrenner für Holzgas in 5 Sorten Schnittbrenner für künstliche Blechblumen Ölgasbrenner Sparbrenner mit 3,5 Kubikfuß Gasverbrauch pro Stunde und einer Lichtstärke von 18 Wachskerzen Zwillingsbrenner in 2 Sorten Argandsche Brenner mit 36 Löchern Kniebrenner mit 18-36 Löchern Dunasbrenner in 3 Sorten Koch- oder Apparatebrenner in 3 Sorten 65

Im Untersuchungszeitraum 1880–1920 gab es im Fichtelgebirge durchschnittlich 6-12 Specksteingruben, wobei zwei Drittel der Gesamtfördermenge auf die SCHWARZschen Gruben entfiel.66 Zu diesen gehörten das staatliche Grubenfeld, das ca. 2 km nordöstlich von Göpfersgrün lag und 1857 von J. von SCHWARZ in einer Größe von 172,66 ha mit Mutungen67 nach Speckstein erworben wurde; dieses Grubenfeld gehörte später zum Bereich der Johanneszeche; die Emilienzeche, die zwischen dem SCHWARZ`schen Grubenfeld und Thiersheim lag, wurde 1864 von der Fa. I.H. Steadler, Nürnberg gekauft. Ca. 1880 ging die Emilienzeche an die Fa. Jean Stadelmann & Co., Nürnberg über und wurde 1882 von Moritz Thurnauer erworben. 1921 wurde sie dem Unternehmen J. v. SCHWARZ angeschlossen; die Concordiazeche (Konkordienzeche): Die Gasbrennerfabrik Gebr. Lauboeck, Nürnberg, die 1879 als Fa. Lauboeck & Hilpert nach Wunsiedel verlegt wurde, erwarb 1865 diese in den Gemarkungen Thiersheim, Stemmas und Neuenreuth gelegene Zeche. Später wechselte

64 Zit. nach PASCHOLD, H. 1935, S.73. SCHWARZ wollte den Werkstoff Speckstein nicht erwähnen, um so das Rohmaterial der Brenner geheimzuhalten. Obwohl das prüfende Ministerium für Handel und öffentliche Arbeiten den Ausdruck präparierte Steinmasse durch Speckstein ersetzte und die im Antrag gestellte Laufzeit von 15 Jahren auf 3 Jahre reduzierte, genügte dieser Schutz, um eine marktbeherrschende Stellung der SCHWARZschen Brenner zu erreichen. 65 Vgl. PASCHOLD, H. 1935, S.88 u. REBMANN, W. 1952, S.12. 66 Vgl. Statistiken der General-Bergwerks- und Salinen-Administration und Statistiken des Oberbergamtes München über Bergbau, Steinbrüche und Gräbereien, Hütten und Salinen 1880-1920. 67 Mutung = Bergrechtlicher Antrag auf Genehmigung zum Abbau.

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der Besitz dieser Zeche an die Fa. Adam Weber & Co., Nürnberg; durch das Zusammenwirken von Rosenthal und Stemag ging die Concordiazeche 1921 in die Fusion ein; die Karolinenzeche, die südlich der Straße von Göpfersgrün nach Thiersheim lag, ging mit dem Erwerb der Fa. Lauboeck & Hilpert gemeinsam durch die Firmen J. v. Schwarz und Jean Stadelmann & Co. an diese beiden Firmen und 1904 allein an J. v. Schwarz über; die Baumannzeche und die Marthazeche (beide Thiersheim), die 1867 von der Fa. Gebr. Lauboeck erworben wurden. In den 1880er Jahren wurden diese Zechen von der Fa. Hofmann & Sticht, Nürnberg übernommen und gingen mit dieser an die Fa. Jean Stadelmann % Co. über; die Benediktzeche, die südlich an Karolinen- und Emilienzeche angrenzte und 1868 an Benedikt v. Schwarz als Inhaber der Fa. J. v. Schwarz überging; die Theresienzeche, die in der Flur rund um Grafenreuth südlich und östlich zwischen und Wampen an der Straße von Lorenzreuth nach Thiersheim lag, wurde 1868 von der Fa. Gebr. Lauboeck gekauft und 1904 an J. v. Schwarz und Jean Stadelmann & Co. verkauft. Im gleichen Jahr wurde die Fa. J.v. Schwarz alleiniger Eigentümer dieser Zeche; die Ludwigszeche, die südlich an die Karolinenzeche und östlich an die Benediktzeche angrenzte, wurde 1868 von J.v. Schwarz erworben; die Brönnersgrube68 bei Hohenberg/Eger; die Johanneszeche, die 1868 zusammen mit der Ludwigszeche von der Fa. J.v. Schwarz erworben wurde, nördlich an das v. Schwarz`sche Grubenfeld angrenzte und die Lücke zur Baumann- und Emilienzeche schloß. Diese Zeche besaß von Anfang an das ergiebigste Specksteinvorkommen und blieb als einzige über das Jahr 1921 hinaus in betrieb. Sie war die wichtigste Rohstoffquelle der Steatit-Magnesia und wurde fortlaufend erweitert und modernisiert. 69

Sämtliche Specksteingruben waren vor Inkrafttreten des Berggesetzes 1869 aufgrund der brandenburgisch-bayreuthischen Bergordnung von 1619 gemutet worden, da der Erwerb nach dem neuen Gesetz wesentlich erschwert wurde. Diese Grubenfeldbesitzer 'älteren Rechts' hatten ein quasi unbeschränktes Recht auf den in ihrem Grubenfeld gefundenen Speckstein,

68 Andere Literatur nennt diese "Brömersgrube", so z.B. DKG-Fachausschußbericht 1991, S.54. 69 Vgl. SINGER, F.W. 1982, S.287 u. DKG-Fachausschußbericht 1991, S.48f.

160 das sogar soweit ging, daß der beim Bearbeiten des Bodens vom Grundbesitzer gefundene Speckstein an den Grubenbesitzer abgeliefert werden mußte.

Ein weiterer Schritt wurde getan, indem man in einer an sich nicht leuchtende Flamme feste Körper mit großem Strahlungsvermögen auf hohe Temperaturen erhitzte. Auf diese Weise entstanden um 1895 das Gas- und Acetylenglühlicht ebenso wie Petroleum- und Spiritusglühlicht. Bei diesen wurden gewebte oder gestrickte Strümpfe mit einer Nitratlösung getränkt und abgebrannt, wobei ein Aschenskelett entstand, welches bei der hohen Temperatur der Flamme ein blendend weißes Licht aussandte. Um mit einer bestimmten Energiemenge (Verbrennungswärme) eine möglichst hohe Lichtausbeute zu erzielen, war es erforderlich, die festen Körper auf möglichst hohe Temperaturen zu bringen, d.h. die Flamme so zu gestalten, daß sie möglichst hohe Temperaturen erreichte. Dies stellte wiederum hohe Anforderungen an die Feuerfestigkeit der Brenner. So war z.B. bei den AUERschen Lampen in den Metallkörper der Krone ein Ring aus Steatit eingefügt, der die Wärmeableitung nach unten verkleinerte. Die Glühlichtbeleuchtung verwendete statt der Brenner Glühköpfe. Da jedoch die Produktion dieser Glühköpfe aus Speckstein zu aufwendig war, verlegte sich die Specksteinindustrie darauf, besagte Ringe zur Wärmeisolation zu fabrizieren.

Noch wichtiger war die Keramik bei den sog. Invertbrennern, bei denen die Glühstrümpfe nach unten hingen. Metallteile wären für diese Brenner nicht zu verwenden gewesen, da sie in der Gasflamme zu leicht oxydiert und abgeblättert wären, was den Strumpf beschädigt hätte. Invertbrenner ohne hochfeuerfeste und schlecht wärmeleitende keramische Stoffe wären kaum machbar gewesen.

Ein wichtiger Vorteil des Gasglühlichtes, der diesem zum Wettbewerb mit dem aufkommenden elektrischen Licht verhalf, war die hohe Präzision in der Formgebung der keramischen Brennerteile. Paßgenaue Matrizen ermöglichten es, selbst komplizierteste Ausführungen in Serie zu fertigen, die den hochwertigen Ausführungen der Metallindustrie gleich kamen, doch in der Herstellung wesentlich billiger waren.

Durch das Aufkommen der Acetylenbeleuchtung wurde der Umsatzrückgang, den die Speckstein- und Steatitindustrie durch den Wegfall der alten Gasbrenner erlitten hatte, ausgeglichen. Im Jahre 1918 bestanden 5 Fabriken, die ausschließlich Brenner fertigten und 3 Firmen, die Brenner und Steatitartikel produzierten. Zur Produktion der Acetylengasbrenner

161 wurde der Speckstein auf der Grube sortiert und getrocknet, danach mit Kreissägen in verschieden große Platten und Streifen zerschnitten. In der Fabrik wurden die Specksteinstücke mit Messern auf einer Drehbank zunächst äußerlich auf die Brennerform zurechtgeschnitten, ebenso wurde das Gewinde angeschnitten. Danach wurde der innere Kern aufgeschnitten, so daß zwei zueinander senkrechte Arme entstanden. Anschließend wurden die Gaskanäle und Brenneröffnungen und schließlich die sog. Konsumlöcher, aus denen das Gas ausströmt, gebohrt. Die Brenner wurden danach in Schamottekapseln gesetzt und bei 1050°C gebrannt. Dabei betrug die Schwindung nur o,5-1%, was vorher bei der Fabrikation berücksichtigt worden war. Zum Schluß wurden die Brenner in ein mit einem Gewinde versehenes Messingunterteil eingeschraubt und eingekittet. In das Messingunterteil war ein Gewebesieb eingesetzt, damit sich Unreinheiten vor dem Sieb ablagern und so die Konsumlöcher nicht verstopfen konnten.

Im folgenden soll die Firma Helios in Erbendorf/Oberpfalz näher dargestellt werden.70 Bereits vor Gründung dieser Fabrik war in Erbendorf die Fa. Rauber ansässig, die Artikel für die Elektrotechnik und Brenner für Acetylengaslampen aus Naturspeckstein durch Sägen, Fräsen und Drehen produziert hatte. Diese Fabrik wurde jedoch nach dem Ersten Weltkrieg geschlossen. Die gesamte Betriebseinrichtung sowie ein Teil der Belegschaft wurden von M. MEIER übernommen, der den Betrieb nach Obere Hopfau verlegte, weil dort durch den Fluß Fichtelnaab günstige Voraussetzungen hinsichtlich der benötigten Energie gegeben waren (Wasserräder). Außerdem besaß MEIER in direkter Nähe bereits eine Specksteinlagerstätte an der Straße zwischen Erbendorf und Grötschenreuth (Flur Mauswinkel). 1920 wurde im ehemaligen Glaspolierwerk Obere Hopfau bei Erbendorf das Süddeutsche Specksteinwerk Helios gegründet, das Specksteingasbrenner produzierte und zeitweise mehr als 100 Arbeiter, vorwiegend beschäftigte. Dabei wurde die Produktion der Brennerköpfe wesentlich dadurch rationalisiert, daß man diese nicht mehr aus dem Naturspeckstein herausarbeitete, sondern im Preßverfahren aus keramischer Masse mit hohem Specksteinanteil und plastilinähnlicher Konsistenz herstellte; hierzu wurden Massemühle und Filterpresse eingerichtet. Die in Erbendorf in einer Vielzahl von Typen produzierten Brenner wurden in die ganze Welt exportiert; in vielen Ländern hatte die Firma eigene Vertreter, für die Kataloge in Englisch, Französisch, Italienisch usw. zur Verfügung standen.71

70 Hierzu und i.f.: MEIER, L. 1986: Informationen zu Fa. Helios. Ms. sowie Tageszeitung Der Neue Tag vom 3.Juni 1965. Weiden. 71 Vgl. StA Kemnath, Verkaufsprospekte Fa. Helios.

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10 Musterkoffer mit Speckstein-Gasbrennern der Fa. Helios72

70-80% der Fertigung wurden ausgeführt, wobei die Anwendungsbereiche sehr vielfältig waren: Die Eisenbahnen vieler Länder wurden mit Brennern für Schaffnerlampen beliefert; in den meisten Bergwerken wurden Karbidlampen als Lichtquelle und zur Kontrolle der Bewetterung in Stollen und Schächten verwendet; Fischer in vielen Ländern benutzten Acetylenlampen als Positionslaternen und besonders lichtstarke Lampen am Bug zum Anlocken der Fische bei Nacht; auf Hausbooten in Ostasien brannten Karbidlampen, die mit Helios-Brennern bestückt waren; beim Tunnelbau im Gebirge oder auf den Berghütten war man auf Acetylenlampen angewiesen; Arbeiter auf den Gummiplantagen in Malaysia verrichteten ihre nächtliche Arbeit im Schein von Karbidlampen mit dem Brenner Typ 220 M (= Malaysia); in Zelten und Bunkern verwendeten die Soldaten ebenfalls Karbidlampen.

72 Quelle: Heimatmuseum Erbendorf (Internetseite).

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11 Specksteinbrenner der Fa. Helios73

73 StA Kemnath, Verkaufsprospekte Fa. Helios.

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Während zunächst noch der im Raum Erbendorf vorkommende Speckstein hinsichtlich seiner Beschaffenheit und Zusammensetzung ausreichend war, kam es beim Preßverfahren in der Brennerkopffertigung zunehmend auf chemische Reinheit an. Daher wurde der bessere Speckstein aus Sizilien, Australien, Indien und China importiert. Dabei wurde dann bspw. der Rohstoff Speckstein auch China importiert und das Fertigprodukt Gasbrenner wieder nach China exportiert.74 In den 1950er Jahren wurde die Produktion um die für die Brenner notwendigen Hülsen erweitert und diese wurden auch an Konkurrenzbetriebe, z.B. an die Stemag in Lauf, geliefert. Die um 1965 begonnene Herstellung von Keramikröhrchen für die Elektrotechnik, Schweißröhrchen für das Stumpfschweißverfahren in Kabelwerken sowie Zweilochröhrchen für elektrische Lötkolben konnten den Umsatzrückgang bei der Gasbrennerproduktion nicht ausgleichen,75 so daß der Betrieb 1981 geschlossen wurde. Die Lagerbestände und die Kundenlisten wurden von der Fa. Sembach in Lauf übernommen.

Da sich die Fertigung der Specksteingasbrenner in ihren Grundzügen im Lauf der Jahrzehnte kaum veränderte, scheint es sinnvoll, eine Ablaufskizze wiederzugeben, die von einer

74 Vgl. MEIER, L. 1986, S.2. 75 Hinzu kam, daß der Erbendorfer Speckstein große Mengen Eisenoxid enthält und daher für die E-Technik weniger geeignet ist (Kriechströme).

166 ehemaligen Arbeiterin des Helios-Werkes angefertigt und dem Verfasser zur Verfügung gestellt wurde:

12 Fertigung der Specksteinbrenner und Hülsen76

76 Aufzeichnung von Frau B., Erbendorf. 2002.

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Die Blütezeit der Specksteinindustrie, die durch die Fabrikation der Specksteingasbrenner gekennzeichnet war, - allein in die USA wurden in den Jahren 1880 bis 1913 über 750.000 Specksteinbrenner exportiert - 77 endete mit dem Aufkommen der elektrischen Beleuchtung. Trotz des Zusammenschlusses der wichtigsten Speckstein- und Steatitunternehmen zur Steatit-Magnesia AG im Jahre 1921 war der Niedergang dieser Industrie nicht mehr aufzuhalten.

4.2 Steatit 78

Nicht nur beim Zurechtschneiden in der Grube, sondern auch in der Fabrik bei 10-20 Bearbeitungsgängen fiel sehr viel Abfall an. Während man in den ersten Jahren der Brennerfabrikation von 1oo kg Speckstein schließlich 1 kg fertige Brenner gewinnen konnte, wurde dieses Mißverhältnis zwar langsam besser; trotzdem rechnete man mit 50-95% Ausschuß in Form von Specksteinpulver, für das man eine Verwendung suchte. Durch die AUERschen Erfindungen des Glühstrumpfes und der Osmiumglühlampe wurde die Nachfrage nach Gasbrennern immer geringer. Jedoch benötigte die sich rasch entwickelnde Elektrotechnik zur Fernübertragung elektrischen Stromes brauchbare und zuverlässige Isolatoren aller Art und hier bot sich der Speckstein- und Steatitindustrie ein neues Betätigungsfeld.

Bereits in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten Töpfer die Beobachtung gemacht, daß, wenn sie dem Ton Specksteinabfälle beimischten, die daraus produzierten Töpfe und Ofenplatten wesentlich haltbarer und temperaturbeständiger waren. Man wandte dieses Verfahren dann an, um feuerfeste Ziegel und Kapseln für die Porzellanproduktion sowie Fußbodenplatten 79 herzustellen.

Die weitere Entwicklung forcierten VON LIEBIG und VON BIBRA, die VON SCHWARZ den Rat gab, die Specksteinabfälle zu vermahlen und auf mechanischem Wege weiter zu

77 Vgl. REBMANN, W. 1952, S.9. 78 Vgl. hierzu die Anwendungen von Steatit in AB, Anl.33.1-3. 79 Der damals verlegte Fußboden im Bahnhof Holenbrunn (b.Wunsiedel) und z.T. im Nürnberger Bahnhof bestand aus solchen Mettlacher Platten.

169 verarbeiten, nachdem man zunächst Isolatoren aus dem rohen Speckstein gedreht und anschließend gebrannt hatte. Die gestiegene Nachfrage machte es aber in der Folge unmöglich, jedes Stück einzeln zu drehen. Daher begannen Ingenieure der Siemens- Schuckert-Werke damit, aus gepulvertem Speckstein unter Verwendung von keramischen Zusätzen durch Pressen Körper herzustellen, die nach dem Brand noch die für die Elektroindustrie positiven Eigenschaften des Specksteins besaßen. 1889 gelang es, eine Masse zu finden, die nach dem Brand allen Anforderungen entsprach und aus der man Massenartikel gleichmäßig produzieren konnte: Steatit.

Der Produktionsprozeß begann mit der Masseaufbereitung, bei der man drei Aufbereitungsmethoden unterschied: Trocken-, Naß- und Halbnaßaufbereitungsverfahren. Beim am häufigsten angewendeten Naßmahlverfahren wurde der Speckstein zunächst mittels Kugelfallmühlen oder per Hand von Fremdbestandteilen gereinigt, um dann in Walzwerken zerkleinert zu werden. Es folgte der Zusatz von keramischen Zuschläge wie Ton und Feldspate. Die so aufbereitete Masse wurde unter Wasserzusatz in rotierenden Trommelmühlen mit Hilfe von Flintsteinen gemahlen und anschließend von Eisenbestandteilen mittels Magneten befreit. Danach durchlief die Masse eine Filterpresse, in der die feste Substanz als Filterkuchen zwischen den Filtertüchern abgeschieden wurde, während das Wasser, das 70-80% ausmachte, ablief. Die Massekuchen wurden getrocknet und nochmals in Walwerken oder Kollergängen zerkleinert.

Als nächster Schritt in der Fabrikation geschah das Pressen, wobei man Trocken- und Naßpressverfahren unterschied. Beim Trockenpreßverfahren erhielt die Masse ihre Form durch Pressen in Stahlmatrizen, die aus einer Stahlplatte als Unterteil, in die die Umrisse des herzustellenden Gegenstandes eingearbeitet waren und einem Stahlstempel als Oberteil bestanden, wobei für kompliziertere Werkstücke auch mehrere Stempel im Ober- und Unterteil eingesetzt wurden. Der Hohlraum des Matrizenunterteiles wurde mit der Masse gefüllt und durch Fuß- oder Handhebel bewegten sich die Stempel von oben und unten gegen das Innere der Hohlform und preßten dabei die Masse zusammen. Eine solche Presse beschreibt eine Patentschrift von 1901: "Isolatorenpresse, dadurch gekennzeichnet, daß der Oberstempel aus zwei durch Bolzen lose mit einander verbundenen, für sich bewegbaren Theilen (a) und (b) besteht, von welchen der Theil (a) das bekannte Räderwerk für die Schraubenspindel enthält, während der Theil (b), welcher auf dem Bolzen der letzteren gleitet, den an dem Verbindungsbolzen befestigten, in der Ringnuth (sic!) gleitenden Pressring aufnimmt, welcher durch den Obertheil (a) im Betriebe derartig auf- und niederbewegt wird, daß er beim Pressen infolge der Niederbewegung des Obertheils allmählich in die Form

170 eindringt, während er nach der Pressung zunächst mit dem Obertheil aus der Form gehoben und darauf erst der Untertheil (b) emporbewegt wird." 80

Nach dem Pressen wurde der Pressling mittels eines Aushebers aus der Form genommen und anschließend verputzt. Im Unterschied dazu wurde beim Naßpressverfahren die Stanzmasse durch Zusatz von Stanzöl und Petroleum feucht in die Stahlform gebracht. Der Oberstempel wurde durch eine Stanze auf die Form aufgeschlagen und quetschte die Masse, soweit sie nicht in die Form gedrückt werden konnte, zwischen Stempel und Form an. Bei diesem Verfahren trat der Stempel also nicht in die Form ein, sondern schlug die feuchte Masse in die Form hinein. Die Nachteile des Naßpressverfahrens bestanden in der Ungenauigkeit der Presslinge, der leichten Deformierbarkeit und darin, daß der Körper durch das schlagartige Pressen sehr leicht Risse bekam; außerdem war hier die Schwindung mit 16-17% gegenüber 4% beim Trockenpreßverfahren nicht unerheblich. Dies bedingte, daß gerade für die Artikel der elektrotechnischen Industrie, bei denen es in höchstem Maße auf Paßgenauigkeit ankam, fast ausschließlich das Trockenpreßverfahren anwendete.

Die Steatitkörper wurden in Schamottekapseln eingesetzt und in periodischen Rundöfen, Tunnelöfen und sog. Mendheimschen Gaskammeröfen scharf gebrannt. Falls nötig, wurden die fertig gebrannten Teile noch mit einer Glasur versehen, um beim späteren Gebrauch z.B. bei Schaltungen die Reibung möglichst zu minimieren und anschließend dem Glasurbrand unterzogen, der in Zug-, Fürbringer- oder Geithmuffeln geschah. Das Glasieren geschah ebenfalls mittels Scharffeuerglasur, bei der die Presslinge nicht erst glattgebrannt wurden; sie wurden in der oberen Etage des Rundofens zunächst nur verglüht, dann wurde die Glasur aufgetragen und schließlich die Körper im Scharfbrand fertig und glattgebrannt. "So sind Isolatoren aus Steatit auf Specksteinbasis mit dem Siegeszug der elektrischen Energie unlösbar verbunden." 81

Man versuchte auch, Steatitmassen zur Herstellung von Hochspannungsisolatoren zu verwenden, was jedoch zunächst an der Größe der zu produzierenden Isolatoren scheiterte. In Melalith, einer Mischung aus Porzellan und Steatit, fand man einen geeigneten Werkstoff zur Isolatorenherstellung. Dabei wurde die gemaukte82 Masse in Ballen auf eine Drehscheibe gesetzt und dort per Hand in die gewünschte Form und Größe gebracht. Die auf diese Art

80 Quelle: PIZ, Patentschrift Nr.124627, ausgegeben am 26. Oktober 1901. 81 MARCUSSOHN, H. 1971, S.1188. 82 Die keramischen Massen wurden in sog. Maukkellern einige Zeit stehen gelassen, um eine bessere Plastizität zu erreichen. Diesen Vorgang bezeichnet man als Mauken oder Rotten.

171 fertiggestellten Hubel83 wurden sodann mittels Handpressen in Gipsformen 84 gepreßt, die genau die zukünftige Form des Isolators besaßen. Die innere Form des Isolators wurde durch Aufsetzen der gefüllten Gipsform auf eine Drehscheibe und mit einer Messing- oder Stahlblechschablone erreicht; danach wurde das Gewinde eingeschnitten. Kompliziertere Isolatoren konnten nicht in einem Stück gefertigt werden, sondern es mußten mehrere Teile hergestellt werden, die dann durch Schlicker angarniert 85 wurden.

Im Ersten Weltkrieg entfiel die Zulieferung des tschechischen Tons, weswegen man deutschen Ton einsetzte. Auch die tschechische Kohle fiel weg und Versuche, diese durch deutsche Kohle zu ersetzen, fielen wegen der starken Schlackenbildung negativ aus. Man konstruierte daher die Brennöfen um, so daß man (wieder) mit Holz feuern konnte. Auch machte sich durch den Krieg ein Mangel an Öl bemerkbar, den man dadurch zu umgehen suchte, daß man fast ausschließlich das Trockenpreßverfahren anwandte. Das Glasieren der Teile, das bisher mittels Pinsel geschehen war, wurde durch den kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften nun mit Spritzapparaten durchgeführt.

In den Jahre 1895 bis 1920 bestanden bis zu 13 Steatitfabriken, deren Zahl jedoch aufgrund von Konzentrationsbestrebungen bis auf 4 im Jahre 1928 zurückging.86 Um ihre Interessen besser durchsetzen zu können und der wachsenden Konkurrenz durch Porzellan und Steinzeug entgegentreten zu können, wurde 1922 der Verband Deutsche Steatitfabriken gegründet. Diese Arbeitgeberorganisation hatte zum Ziel, die einzelnen Steatit produzierenden Unternehmen syndikatsmäßig zusammenzufassen, weswegen es schon im Jahre 1925 zu Preisabsprachen innerhalb des Verbandes kam und mit dem Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken eine Übereinkunft hinsichtlich Lieferungs- und Zahlungsbedingungen getroffen wurde.

83 Zunächst gedrehter, später mittels Pressen hergestellter Isolator-Rohling. 84 Es wurden Formen aus Gips verwendet, da diese Wasser anzogen. Dadurch war es möglich war, den Hubel herauszunehmen, ohne ihn zu beschädigen. 85 Schlicker nennt man die flüssige Keramikmasse; angarnieren bedeutet zusammensetzen. 86 Vgl. ROLLE, G. 1928, S.91ff.

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5. Elektrokeramik 87

„Mit der Elektrotechnik und ihrem Werdegang, mit der zunehmenden Nutzbarmachung der Elektrizität ist das Porzellan aufs engste verknüpft; es ist aus deren Geschichte nicht mehr fortzudenken. In dem Maße, in welchem die Verwendung der Elektrizität zunahm und der Aufschwung der Elektrotechnik sich vollzog, entwickelte sich die Fabrikation des elektrotechnischen Porzellans.“88

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Elektrizität zum Motor der industriellen Entwicklung in Deutschland. Die Entwicklung der Isolatoren, die schon seit Beginn aus Keramik hergestellt wurden, steht damit in engem Zusammenhang. Mit der Weiterentwicklung der Schwachstrom- zur Starkstromtechnik und der Steigerung der Übertragungsspannungen stiegen auch die Anforderungen an die Isolatoren. Folgende Isolatoren lassen sich unterscheiden: Schwachstromisolatoren zur Isolierung von Leitungen für Telegrafen-, Telefon- und Signalanlagen Niederspannungs-Starkstrom-Isolatoren für bis ca. 500 V betriebene Leitungen der Verteilnetze Hochspannungsisolatoren für Energiefernübertragung.

5.1 Keramik in der Schwachstromtechnik 89

Mit Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts stiegen die Anwendungen der Elektrizität in Deutschland stark an, was zur Folge hatte, daß der Bedarf an Isolierteilen wuchs.90 Die bis dahin verwendeten Unterteile für Schalter und Sicherungen waren aus Holz, geformten Isoliermischungen sowie Schiefer und waren nur bedingt tauglich. Ab 1866 wurde Porzellan als Isoliermaterial eingeführt, was zu Firmenneugründungen und Umstellungen bestehender Betriebe auf die ausschließliche Produktion von elektrotechnischem Porzellan führte. Der Prozentsatz der elektrokeramischen Industrie am Gesamtproduktionsvolumen und an der Beschäftigtenzahl betrug vor 1914 ca. 7% und stieg bis 1925 auf etwa 25%. Porzellan fand in der Schwachstromtechnik Verwendung bei der Telegrafie, der Telefonie und im Signalwesen.

87 Siehe AB, Anl.34: Herstellungsgang von Porzellan-Isolierteilen. 88 LOEWE, H. 1927, S.705. 89 Siehe hierzu AB, Anl.35: Keramische Produkte in der Niederspannungstechnik. 90 Vgl. dazu RICHTER, E. 1914: Herstellung elektrotechnischer Bedarfsartikel aus Porzellan. In: Keramische Rundschau, 22.Jg., Nr.23, S.241f.

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Bei diesen diente es als Isolator der stromführenden Leitungen und wurde meist in Glockenform hergestellt und eingesetzt.

GAUß und WEBER hatten 1833 den ersten elektromagnetischen Telegrafen erprobt und MORSE hatte dieses System durch Schreibtelegrafen und Einführung des Alphabets anwendungsreif gemacht. 1843 nahm die erste deutsche Telegrafenlinie ihren Betrieb auf.91 Als Hauptbestandteile einer oberirdischen Telegraphenlinie waren zu unterscheiden: Der Leiter des elektrischen Stromes in Form von Metalldraht (Leitung); die Vorrichtung zur Isolation des Leiters (Isolatoren); die Stützen zur Befestigung der Isolatoren an den Unterstützungspunkten; die Träger zur Unterstützung des Leitungsdrahtes. An dieser Stelle soll näher auf die Entwicklung der Telegraphenisolatoren eingegangen werden.

Zur Isolierung der ersten in Preußen hergestellten Leitungen aus Kupferdraht dienten einfache Glocken aus dünnem Porzellan in der von SIEMENS vorgeschlagenen Form. Oben hatte der Hals des Isolators eine Einschnürung, um welche der Draht einmal herumgelegt und befestigt wurde. Zur Verbindung der Isolatoren mit den Stangen dienten für die oberste, die sogenannte Hauptleitung, gerade Stützen aus Schmiedeeisen, welche mihilfe von Schwefel in die Glocken eingekittet und auf dem Zopfende der Tragstangen befestigt wurden. Die Glocken für die darunter zu beiden Seiten der Stangen angebrachten Leitungen, Nebenleitungen genannt, wurden mittels zweier lappenförmiger durchlochter Ansätze aus Porzellan durch entsprechend starke Holzschrauben mit flachen Köpfen an der Stange befestigt. Der Isolatorkopf trug einen fest eingekitteten 5/16 Zoll starken Draht, welcher am unteren Ende zur Aufnahme des Leitungsdrahtes mit einer Öse versehen war. Da die Glocken für die Nebenleitungen hinsichtlich ihrer Isolationseigenschaften weniger leistungsfähig waren als diejenigen für die Hauptleitung und außerdem die Porzellanansätze beim Abschrauben häufig absprangen, führte man auch für die Nebenleitungen Glocken ohne derartige Absätze ein und versah sie mit eisernen Stützen. Diese waren am unteren Ende zu einem breiten Blatt ausgeschmiedet und wurden durch einen Überwurf und zwei Schrauben an der Stange befestigt.

91 Während staatliches Interesse (Militär, Diplomatie) den Aufbau von Verbindungen mittels optischer Telegrafen initiiert hatte und auch weiterhin bedeutend blieb, waren die mit der Industrialisierung zusammenhängenden Erfordernisse schneller Kommunikationswege für die Entwicklung des elektrischen Telegrafen maßgeblich. Dabei bildete die Eisenbahn die ökonomische Grundlage, ermöglichte die telegrafische Ankündigung und Überwachung des Zugverkehrs doch erst den Gegenverkehr auf eingleisigen Strecken, was die Kapazität der eingleisigen Bahnstrecken verdoppelte. Vgl. KÖNIG, W./ WEBER, W. 1990, S.214.

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Die ersten Isolatoren waren in verschiedener Hinsicht mangelhaft: Das feine Porzellan war durch Reibung oder Zug des Drahtes vielfachen Beschädigungen ausgesetzt, der Kopf brach häufig ab oder zersprang in Folge ungleicher Ausdehnung der Stütze und des Porzellans bei steigender Temperatur; überdies ließ die Wirksamkeit des Isolators bei feuchtem Wetter nach. Als ab 1852 statt Kupferdraht Eisendraht von entsprechender Stärke verwendete und die Spannweiten bedeutend vergrößert wurden, mußten auch stärkere, anders geformte Porzellanglocken in Gebrauch genommen werden. Da der weniger biegsame Eisendraht nicht durch Umwicklung um den Glockenkopf befestigt werden konnte, versah man die Glocke auf dem Kopf mit einem Einschnitt zur Aufnahme des Leitungsdrahtes und am Hals mit einer Rinne, in welche der zur Befestigung dienende Bindedraht eingelegt wurde. Der untere Rand der Glocke war ausgekehlt, um das Aufsteigen des bei Regen am äußeren Mantel ablaufenden Wassers an der Innenseite zu erschweren. Der Leitungsdraht, welcher durch die Bindung fest in den scharfkantigen Einschnitt am Kopf des Isolators eingepreßt wurde, verursachte jedoch oft die Spaltung des Isolators vom Einschnitt aus oder sprengte den Kopf, so daß der Leitungsdraht mit der eisernen Stütze in Berührung kam. Um dies zu verhindern, rundete man ab 1853 die Einschnitte ab, wodurch der Draht einen größeren Spielraum zur freien Bewegung am Aufhängungspunkt erhielt. Die durch den spiralförmigen Wuchs der Stangenhölzer und die Einwirkung der einseitig auffallenden Sonnenstrahlen und des Regens veranlaßte drehende Bewegung der Stangen am Zopfende um ihre eigene Achse führte jedoch weiterhin zu zahlreichen Brüchen der Glocken. Daher versah man ab 1854 den oberen Teil des Isolators mit einer gußeisernen Kappe, wodurch dem Absprengen des Kopfes durch den Draht vorgebeugt wurde. Bei plötzlichen Temperaturwechseln jedoch verursachten die ungleichen Ausdehnungen des Eisens, des Porzellans und des als Bindemittel in die Zwischenräume zwischen Kappe und Glocke sowie zwischen Glocke und Stütze gegossenen Schwefels ein oftmaliges Zerspringen der Glocke, welche zudem zu dünn war, um den mechanischen Einwirkungen des Drahtzuges zu widerstehen. Ab 1855 wurden nach dem Vorbild US-amerikanischer Telegraphenlinien eiserne Isolierglocken eingeführt, die mit einem eingekitteten Porzellanfutter versehen waren. Als Kittmittel zwischen Glocke und Futter sowie zwischen Porzellanfutter und Stütze benutzte man zuerst Schwefel, teilweise mit einem Zusatz von Sand oder Ziegelmehl. Nachdem man festgestellt hatte, daß der heiße Schwefelkitt beim Erkalten kristallisierte, sich infolgedessen ausdehnte und das Porzellanfutter sprengte, wurde als Kittmittel ein Gemenge von Kolophonium und Ziegelmehl verwendet. Der eiserne Glockenkopf lief in zwei durchbohrte Lappenansätze aus, zwischen

175 welche der Leitungsdraht lose eingelegt wurde. Ein in die Durchbohrung gesteckter federnder Splint hinderte das Herausfallen des Drahtes.

Um die Leitung festzulegen und bei etwa eintretenden Drahtbrüchen das Durchgleiten des Drahtes auf kurze und übersichtliche Entfernungen einzugrenzen, kamen ab 1856 nach je 10 bis 12 Stangenintervallen stärkere Glocken, sogenannte Spannisolatoren zur Anwendung. Diese trugen oben zwei starke Ansätze mit einem konischen Loch, in welches zwei halbkonische, etwas ausgehöhlte und in der Höhlung feilenartig gerauhte Keile aus Eisen paßten, die den Draht zwischen sich festklemmten. Wenn der eiserne Isolator auch eine größere Widerstandsfähigkeit zeigte als seine Vorgänger, so besaß er doch andere erhebliche Mängel. Häufig entstanden Brüche des Leitungsdrahtes sowohl neben den Spannisolatoren, wo der Draht durch die Einkeilung geschwächt und von dem ganzen Zug seines Gewichtes beansprucht wurde als auch an denjenigen Stellen, wo der Draht auf den übrigen Isolatoren auflag und sich in Folge seines Hin- und Herschleifens auf dem eisernen Ansatz durchrieb. Nicht selten wurden die Stützen der Spannköpfe in Folge des auf sie einwirkenden starken Drahtzuges schief gezogen. Bei Störungen, die ihren Ursprung in dem durch Bruch oder Sprung der inneren Porzellanhülle schadhaft gewordenen Isolator selbst hatten, war der beschädigte Isolator schwer zu erkennen und aufzufinden; die Beseitigung der Störung wurde dadurch erheblich verzögert. Ein weiterer Mißstand ergab daraus, daß bei mehreren Leitungen an demselben Gestänge ein paralleler Drahthang dauernd nicht erhalten werden konnte und man daher gezwungen war, die Abständer der Isolatoren an den Stützpunkten sehr groß zu halten, um die Leitungen vor gegenseitiger Berührung zu schützen. Der größte Nachteil bestand darin, daß bei nassem Wetter die inneren Höhlung der Glocke bis hin zur Stütze befeuchtet und dem Strom ein weg über Stütze und Stange zu den Nachbarleitungen und zur Erde geboten wurde. Damit war schon bei nur mäßig feuchter Witterung das Telegraphieren auf größere Entfernungen unmöglich.

Ein Spannisolator besonderer Konstruktion wurde seit 1853 zur Regulierung des Durchhangs der auf der Stadtmauer in Berlin entlang geführten Leitungen benutzt. Die kurze und breite Porzellanglocke besaß in ihrem starken Kopf eine Durchbohrung mit eingesetzter Metallbuchse, in welcher der Draht durch zwei Stahlkeile festgehalten wurde. Die Glocken saßen auf kräftigen, oben gegabelten Stützen und waren in allen Winkelpunkten und

176 außerdem in Abständen von 1.000 bis 1.5000 Fuß92 an eisernen Spannböcken derart angebracht, daß sich immer zwei Glocken für jede Leitung auf 2 ½ Fuß93 gegenüberstanden.

An der unmittelbar bei der Telegrafenstation aufgestellten Stange, wo die von weither kommende Leitung in die Station eingeführt wurde, fand ein Isolator Verwendung, welcher aus einer starken Porzellanglocke auf gerader, mittels einer Konsole befestigten Stütze bestand. In einer Vertiefung am Hals trug der Isolator ein breites, eisernes Band. Am vorderen Ende zweier am Band befestigten Schienen befand sich eine aus Messing gefertigte, um eine Achse drehbare Buchse, durch deren Öffnung der Draht geführt und mittels zweier Stahlkeile festgeklemmt wurde.

Wesentliche Vorteile gegenüber den bis dato verwendeten Konstruktionen boten erst die im Jahre 1857 eingeführten Isolatoren, die von BORGGREVE entwickelt wurden und die anfangs sowohl aus Glas als auch aus Porzellan hergestellt wurden. Durch Verstärkung des Porzellanmantels, Beseitigung des oberen Drahtlagers, welches durch eine geringe Auskehlung unterhalb des Kopfes ersetzt wurde, sowie durch festbinden des Leitungsdrahtes an jedem Isolator sollten die neuen Anlagen zunächst eine größere Sicherheit erhalten; eine zolltiefe, scharfe Unterschneidung auf der unteren Seite sollte die sich etwa bildende Feuchtigkeitsschicht unterbrechen und der Ableitung des Stromes vorbeugen. Die Befestigung des mit einer großen quadratischen Höhlung versehenen Isolators erfolgte bei Hauptleitungen auf gerader, bei Nebenleitungen auf hakenförmiger Stütze von quadratischem Querschnitt. Damit die in das Holz eingeschraubten Teile zweier einander gegenüberstehender Nebenleitungsstützen nicht aufeinander treffen konnten, rückte man den der Straße zugekehrten Isolator um etwa 2 Zoll94 höher als denjenigen an der Feldseite. Doch auch beim Borggreve-Isolator traten Mängel der Art auf, daß die Festigkeit der Glocke zu wünschen übrig ließ; außerdem wurde sie bei hoher Temperatur infolge der Ausdehnung der Stütze, besonders an den Endpunkten der quadratischen, zur Aufnahme der Stütze bestimmten Höhlung, häufig zersprengt. Der Prozentsatz der hierdurch unbrauchbar gewordenen Isolatoren betrug bis zu 30% jährlich. Dabei fiel die Glocke nicht immer auseinander, sondern die zerbrochenen Teile wurden durch den Bindedraht zusammengehalten. Dadurch war man gezwungen, bei auftretenden Störungen Leitern anzulegen und die Isolatoren einzeln zu

92 Ca. 300 bis 450m. 93 Ca. 0,75 m. 94 Ca. 7,5 cm.

177 untersuchen, um den Fehler zu ermitteln. Auch die Isolationsfähigkeit war mangelhaft, da bei regen und Tau leicht Feuchtigkeit in die nur flache untere Aushöhlung der Glocke eintrat, wodurch Draht und Stütze in leitende Verbindung gesetzt wurden.

Da somit einerseits die fortgesetzten Bemühungen, die Isolatoren zu verbessern, nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatten, andererseits der Mangel an zweckmäßigen, sicheren und gut funktionierenden Isolatoren durch die erhebliche Steigerung des Telegrammaufkommens und dem damit verbundenen Bedürfnis, auf weitere Entfernungen als bis dato ohne Übertragung telegraphieren zu können, immer fühlbarer wurde, berief man 1857 eine Kommission bei der Telegraphenverwaltung in Berlin ein. Diese stellte als Ergebnis ihrer Beratungen und Versuche den sog. Commissions-Isolator vor, einen Isolator von bedeutender Länge und geringem Durchmesser der inneren Höhlung. Durch die Wahl dieser Form wollte man insbesondere die Bildung feuchter, die Isolationsfähigkeit beeinträchtigender Niederschläge im Innern der Glocke verhindern. Man verlängerte daher den Mantel des Isolators, ohne dessen Festigkeit zu beeinträchtigen und seine Verwendung zu erschweren, um auf diese Weise in der engen, inneren Höhlung zwischen Stütze und innerer Mantelfläche eine ruhende Luftschicht von beträchtlicher Höhe zu schaffen. Gleichzeitig hoffte man, durch die steile Form des Zylinders ein rasches Ablaufen der Feuchtigkeit an dessen senkrechten Wänden und damit ein schnelles Abtrocknen des Isolators zu erreichen. Dieser war am Hals mit einer Rinne zur Aufnahme des Leitungsdrahtes versehen und wurde bei Nebenleitungen auf S-förmigen Stütze von 15 Zoll Länge aus ¾-zölligem Quadrateisen befestigt. Als Material für den Isolator schlug die Kommission weißes Glas vor, um so das Innere der Glocke einsehen zu können. Die gläsernen Glocken bewährten sich in der Praxis jedoch nicht, das Glas sich als zu spröde und zu wenig widerstandsfähig gegen äußere Einflüsse erwies. Obwohl die Commisionsglocken an Isolierfähigkeit alle bis dahin erprobten Isolatoren an Isolierfähigkeit übertrafen, kamen sie nur versuchsweise auf einzelnen Telegraphenlinien zur Verwendung, da der 1858 vom preußischen General-Telegraphendirktor VON CHAUVIN konstruierte Isolator mit doppeltem Mantel, die Doppelglocke, alle Bedingungen eines brauchbaren Isolators vollkommener erfüllte.

Der Isolator von CHAUVIN bestand aus einer äußeren Porzellanglocke mit kräftigem, außen senkrecht abfallendem, sich nach unten verjüngenden Mantel, einer Einschnürung am Hals für das seitliche Drahtlager sowie einer halbkreisförmig ausgerundeten Vertiefung auf dem Kopf für das obere Drahtlager. Die innere Glocke, ein etwas schwächerer und kürzerer

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Zylinder, wurde durch den Mantel der äußeren Glocke vollständig bedeckt. Um den als Bindemittel zwischen Stütze und Glocke dienenden Kitt an der Glocke fester haften zu lassen, war die zur Aufnahme der Stütze bestimmte Höhlung mit rillenförmigen Einschnitten versehen. Die Porzellan-Doppelglocke besaß nicht nur die Vorzüge des Commisionsisolators, sondern auch eine bequeme, handliche Form und größere Festigkeit; sie gewährte zudem hinreichenden Schutz gegen Befeuchtung der inneren Oberfläche durch Tau. Dieser bildete sich im Innern einer Porzellanglocke, sobald diese sich bis unter den Sättigungspunkt der eingeschlossenen Luft abkühlt; dabei erfolgte die Taubildung um so schneller und stärker, je rascher und stärker die Abkühlung vor sich ging und je näher der Taupunkt der inneren Luftsäule derjenigen Glockentemperatur liegt, bei welcher die Abkühlung begann. Die Abkühlung des Glockenmantels wurde durch Wärmeausstrahlung nach außen verursacht. Diese Ausstrahlung ließ sich durch eine schützende Decke verzögern, so daß in der Höhlung des Isolators eine zweite, innere Glocke angebracht wurde, wodurch die zwischen den beiden Glocken ruhende Luftschicht Schutz gegen Wärmeableitung bot. Die Temperaturänderungen der inneren Glocke wurden somit derart verlangsamt, daß sich auf der innersten Oberfläche kaum Tau bilden konnte. Selbst bei vollständiger Befeuchtung der inneren und äußeren Glockenwände war der Widerstand, der sich dem Übergang des Stroms auf dem langen Weg zwischen Draht und Stütze bot, so groß, daß ein bedenklicher Stromverlust nicht stattfand. Ein weiter Vorteil der Doppelglocke bestand darin, daß sie sich als ausgesprochen widerstandsfähig gegen Steinwürfe und andere äußere Einwirkungen durch die Stärke des äußeren Mantels erwies. Hinzu kam, daß bei einer Zertrümmerung der äußeren Glocke die Isolation nicht völlig aufgehoben wurde, sondern vom inneren Mantel noch in ausreichender Weise übernommen wurde, so daß durch Bruch verursachte Störungen nur selten auftraten.

Bei gerader Linienführung erhielt der Leitungsdraht seine Lage in der halbkreisförmigen Einsenkung auf dem Kopf des Isolators; dagegen wurde der Draht vorher nicht an jeder einzelnen, sondern erst an jeder fünften oder sechsten Stange mittels Bindedraht befestigt, der in der unterhalb des Kopfes befindlichen Einschnürung gehalten wurde. Auf den dazwischen angebrachten Isolatoren konnte sich der Draht frei bewegen, er wurde nur mittels eines über dem oberen Teil der Doppelglocke geformten Drahtbügels gegen Herunterfallen gesichert. Dabei reichten die Enden des Bügels bis zum Hals des Isolators und waren dort zu Ösen umgebogen zum Durchziehen des Bindedrahtes, mit welchem der Drahtbügel am Hals der Glocke festgebunden wurde. Diese Lage des Drahtes entsprach sowohl dem natürlichen Drahthang als auch der Haltbarkeit des Kittes und der rückwirkenden Festigkeit des

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Isoliermaterials. Mußte die Telegraphenlinie in Winkeln geführt werden, wurde die Leitung seitlich befestigt. Auch dabei wurde die Widerstandsfähigkeit des Isolators nicht gefährdet, da die im Innern eingekittete Stütze über das seitliche Drahtlager hinausgriff. Die Befestigung der Glocke auf der Stütze erfolgte dadurch, daß mit Leinöl getränkter Hanf um das gekerbte Ende der Stütze gewickelt und der Kopf des Isolators kräftig aufgeschraubt wurde. Diese Art der Befestigung war sehr haltbar und bot den Vorteil, daß kein Zerspringen der Glocke bei ungleicher Ausdehnung der Stütze und des Porzellans mehr stattfinden konnte, da der elastische Hanf dem Druck nachgab.

Um vergleichende Prüfungen über einen längeren Zeitraum anzustellen zu können, wurde im Herbst des Jahres 1858 auf der oft sehr nebligen Linie Berlin-Magdeburg-Köln eine Leitung mit Doppelglocken ausgerüstet, eine zweite Leitung mit Kommissionsköpfen versehen und bei einer dritten wurden Borggreve-Isolatoren angebracht. Das Ergebnis fiel eindeutig zugunsten der Doppelglocke aus und bestätigte deren Vorzüge gegenüber den anderen Isolatortypen. Infolge dieser Überlegenheit gegenüber sämtlichen übrigen Isolatorformen ging man ab 1862 dazu über, ausschließlich Doppelglocken zu verwenden. Eine geringfügige Änderung wurde ab 1863 vorgenommen, als man statt Rillen ein Gewinde in die Glockenhöhlung einschnitt. Die Doppelglocken wurden in drei gängigen Größen normiert: Doppelglocke Nr. I für Hauptlinien, Doppelglocke Nr. II für Nebenlinien und Doppelglocke Nr. III an Überführungssäulen und bei Einführung in die Betriebsstellen. Für Stadt- Fernsprechleitungen wurden bei Verwendung von Gußstahldraht Doppelglocken Nr. II und bei Verwendung von Bronzedraht Doppelglocken Nr. III benutzt.

Eine Unterart des Doppelglocken-Isolators stellte der ebenfalls von CHAUVIN entwickelte Baum-Isolator zur Aufhängung der Leitung an Bäumen dar. Als im Jahre 1857 auf der entlang der Ostseeküste führenden Straße von Cöslin nach Danzig eine Leitung aufgestellt wurde, benutzte man die dort angepflanzten Pappeln zum Anbringen von Borggreve- Isolatoren. Wegen des Schwankens der Bäume wurde der Draht nicht in der sonst üblichen Weise starr befestigt, sondern man legte ein Schlinge aus Bindedraht lose um den Hals des Isolators, drehte die Enden mehrmals umeinander und wickelte sie dann nach beiden Seiten um den Leitungsdraht. Der lose Bindungsdraht hielt dabei den Leitungsdraht vollkommen fest, machte es durch seine Beweglichkeit jedoch möglich, daß die Leitung den Schwankungen des Baumes folgte. Dadurch war das Durchbiegen des Drahtes bei Schwankungen der Bäume zumindest soweit beseitigt, daß ein Drahtbruch nicht mehr zu

180 befürchten war. Zur Erhöhung der Beweglichkeit wurde später das herabhängende Ende der Schlinge zu einer Öse geformt und in diese eine zweite Öse aus Bindedraht geschlungen, dessen Enden um den Leitungsdraht gewickelt wurden. Man erreichte hierdurch eine Verschiebung des Festpunktes des Drahtes am Isolator in Richtung des Drahtzuges; außerdem sollte einem Abdrehen des Drahtes und einer Sprengung desselben bei zu großer Zugspannung vorgebeugt werden. Dieser Zweck wurde jedoch nur unvollkommen erreicht, da die Bindedrähte bei Stürmen oft rissen oder auf die Seite gezogen wurden, wodurch der Leitungsdraht unter den Isolator und in Berührung mit der Stütze kam. Bei starken Schwankungen der Bäume wurde die Leitung zuweilen sogar über den Isolator hinweg auf die Stütze geworfen.

Diese Unzulänglichkeiten wurden durch die Entwicklung des Pendel-Isolators beseitigt. Der nach der Form der Doppelglocke konstruierte, aus einer Porzellanglocke mit gußeisernen Mantel bestehende Isolator war an seinem oberen Teil mit einer Stange versehen, die mit einem Haken in die Öse eines Baumträgers griff. Die Spitze des Hakens war so gewunden, daß das Hinüberschlagen der Vorrichtung über den Träger und das Aufliegen des Drahtes auf der Stütze verhindert wurde. In den Isolator war ein eiserner Halter für den Leitungsdraht eingekittet, der sich außen aufwärts krümmte und so die Berührung des Drahtes mit dem Baum verhinderte. Um in Winkelpunkten zu vermeiden, daß die Glocke aus der waagerechten Lage herausgezogen wird und in Schrägstellung das Eindringen von Schlagregen ermöglichte, war in diesen Fällen die Glockenstange schief angenietet, so daß erst der Drahtzug den Isolator in die normale Lage brachte; außerdem war der Drahtträger länger und stärker gekrümmt. In einwärts gebogener Leitungsführung wurde der Baumträger umgekehrt, so daß eine Strebe nach oben kam; der Isolator wurde verkehrt herum eingehakt und der Haken nach der entgegengesetzten Seite aufgebogen. Beim Pendel-Isolator konnten die Bäume nach jeder Richtung hin schwanken, ohne daß sich die Bewegungen auf den Draht übertrugen, der wegen seiner Schwere und seines Beharrungsvermögens in der Ruhelage zu bleiben trachtete. Zwar bewährten sich Pendel-Isolatoren selbst bei stärksten Stürmen, erwiesen sich jedoch zur dauernden Installierung in ein größeres Telegraphennetz als ungeeignet, da die Zahl der Leitungen wegen der Größe dieses Isolatorsystems sowie wegen des in der Regel unregelmäßigen Baumwuchses beschränkt war.

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13 Entwicklung der Telegraphenisolatoren95

95 Alle Abbildungen aus: NOEBELS, J. 1892, S.417ff. Vgl. hierzu auch AB, Anl.61.1-3 Entwicklung der Telegrafen-Isolatoren und Isolatortypen.

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W. v. SIEMENS, dessen 1847 gegründete Telegraphen-Bau-Anstalt von Siemens und Halske Weltruf erlangte, beschäftigte sich selbst mit Fragen der Isolation: "Die unvollkommene Isolation der Leitungsdrähte war... ein hauptsächliches Hindernis einer sicheren und directen (sic!) telegraphischen Verbindung... Bei feuchter Witterung bilden die den Draht tragenden Pfosten eine leitende Verbindung desselben mit dem Erdboden... Die früher benutzten Isolationsmittel, durch welche man den Draht von den feuchten Stangen zu isoliren (sic!) suchte, wie Glas- oder Porcellanringe, durch welche er gezogen wurde, Umwickeln des Drahtes an den Berührungsstellen mit Kautschuk etc., Anbringung eines schützenden Daches auf den Stangen konnten nur unvollkommene Dienste leisten... Die neuerdings angewandten Trichter von Glas, Porcellan oder Steingut erfüllen dagegen den Zweck der Isolation in sehr vollkommenem Grade. Bei der von mir im Winter vorigen Jahres ausgeführten ... überirdischen Leitung zwischen Eisenach und Frankfurt a.M. ... wurden oben geschlossene Porcellantrichter angewendet, die auf eiserne Stangen so aufgekittet waren, daß die Glocke nach unten gerichtet war... Die innere Fläche des Trichters bildet hier die stets trocken bleibende isolirende Schicht..." 96

Nach vielen verschiedenen Versuchen97 konnte sich wie erwähnt die 1858 von CHAUVIN vorgeschlagene Doppelglockenform durchsetzen. Sie wurde mit ihrem zweiten Mantel, der den Isolationsweg verlängerte, zum Vorbild für alle weiteren Telegrafenisolatoren.98 Die spezifischen Sonderformen, die bei in- und ausländischen Bahn- und Postverwaltungen, bei Heer und Marine zum Einsatz kamen, basierten alle auf dem Prinzip der Doppelglocke. Die drei Firmen KPM (Berlin), Schomburg (Moabit) und Schachtel (Schlesien) dominierten dabei in den Jahren 1880 bis 1895 die Isolatorenlieferungen an die staatliche Telegrafenverwaltung.99 Durch das von BELL im Jahre 1877 entwickelte Telefon wuchsen die Schwachstromnetze schnell an.100 SIEMENS bemerkt dazu: "Der Telephonschwindel ist jetzt in Deutschland in voller Blüte. ... Heute sind ca. 100 Briefe, welche Lieferung von Telephonen verlangen, eingegangen, und so geht es täglich. Dazu die Berliner, die unser Geschäft vollständig belagern. ... Es ist eine wahre Kalamität! Ich habe leider den Preis zu niedrig normiert." 101

Berlin besaß 1890 bereits 15.000 Telefonanschlüsse und lag damit weltweit an der Spitze.102 Für das Telefonnetz wurden die gleichen Isolatortypen verwendet wie für die Telegrafie, außerdem brauchte man Rollen, Klemmen, Durchführungen für Hausanschlüsse u.ä.m.

96 SIEMENS, W. vom 1889: Über telegraphische Leitungen und Apparate. In: Poggendorff`s Annalen der Physik und Chemie, Bd.79, S.481ff. Zit. nach Keramikmuseum Westerwald 1997, S.34. 97 Zu diesen sind der Borggreve-Isolator und der sog. Kommissionskopf (beide 1857) zu zählen. Letzterer wurde von einer durch das preußische Handelsministerium eingesetzten Techniker-Kommission gestaltet. 98 Vgl. CHAUVIN, F. 1859: Über Form und Einrichtung der Isolirglocken zu oberirdischen Telegraphenleitungen. In: Zeitschrift des deutsch-österreichischen Telegraphen-Vereins, Bd.VI, S.237ff. 99 Vgl. dazu SIEBENEICKER, A.: Die Manufaktur Schomburg als Konkurrent der königlichen Porzellanbetriebe in Preußen 1853-1902. In: Heimatmuseum Tiergarten 1996, S.62-71. 100 Vgl. SPÄTH, H.: Das Zeitalter der Elektrotechnik. In: Heimatmuseum Tiergarten 1996, S.18-28. 101 Zit. nach RITTER, G.A./KOCKA, J. 1982, S.103. (Brief von Werner SIEMENS an seinen Bruder in London vom 19.11.1877). 102 Bericht über den Handel und die Industrie von Berlin im Jahre 1890. 1891. Berlin. S.94.

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Gerade diese Kleinteile waren es, die ein Vordringen rationeller maschineller Formgebungsverfahren (Pressen) in der keramischen Industrie beschleunigten.

Im Zeitraum von 1880 bis 1914 bestanden im Deutschen Reich noch drei staatliche Telegraphenverwaltungen, und zwar im Königreich Bayern, im Königreich Württemberg und im Reichstelegraphengebiet. Außerdem erfuhr das elektrische Nachrichtenwesen durch die Einführung des Fernsprechers eine wesentliche Erhöhung seiner Leistungsfähigkeit sowie eine Ausdehnung seiner Wirkungsmöglichkeiten. Die Entwicklung der Telegraphen- und Fernsprechanlagen in Bayern und Württemberg verdeutlichen nachfolgende Tabellen:

Tab.23: Die Entwicklung der Telegraphenanlagen in Bayern und Württemberg (Auszug)103 Jahr Telegraphenanstalten Telegraphenlinien (km) Telegraphenleitungen (km) Bayern Württemb. Bayern Württemb. Bayern Württemb. 1880 1.112 393 8.118 2.748 35.266 7.266 1885 1.245 427 8.519 2.855 37.154 7.480 1890 1.535 537 9.248 3.391 40.626 8.443 1895 2.129 691 13.775 4.967 43.472 13.345 1900 2.771 917 16.900 5.400 46.500 12.600 1905 3.600 1.800 20.200 7.300 56.700 16.300 1910 7.591 2.139 26.800 10.800 161.400 60.700 1913 9.136 2.368 31.700 11.400 185.500 72.600

Tab.24: Die Entwicklung der Fernsprechanlagen in Bayern und Württemberg (Auszug)104 Jahr Orte mit Stadt- Länge der Lange der Anzahl der fernspr.-einricht. Linien (km) Leitungen (km) Sprechstellen Bayern Württ. Bayern Württ. Bayern Württ. Bayern Württ. 1888 7 7 841 261 4.437 1.406 3.353 1.040 1890 11 14 957 520 5.104 1.670 5.084 1.680 1895 42 44 2.594 1.000 16.543 7.333 12.085 5.435 1900 549 680 9.600 2.900 76.200 40.300 29.100 13.400 1905 2.505 1.646 13.700 3.800 241.300 83.400 56.500 24.700 1910 4.839 2.090 10.000 2.300 295.900 92.500 92.500 38.900 1913 5.906 2.255 10.600 2.900 375.900 127.700 115.000 50.400

Dia die im Jahre 1868 eingeführte Porzellandoppelglocke nur ungenügende Isolierfähigkeiten besaß und sich dieser Mangel in den dicht verzweigten Anlagen besonders negativ auswirkte

103 Nach WESSEL, H.A. 1983, S.411, S.457 (zusammengestellt nach Angaben in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1880-1915). 104 Nach ebd., S. 416, S.463 (zusammengestellt nach Angaben im Statistischen Jahrbuch des Deutschen Reiches 1889-1915).

185 und zu Übertragungsfehlern führte, entschied sich die Telegraphenverwaltung Bayerns daher zu Beginn der 90er Jahre für eine größere Isolierglocke.105 Dabei bezog die bayerische Telegraphenverwaltung ihren Bedarf an Porzellanglocken ausschließlich von bayerischen Porzellanfabriken.106 In zwei Eingaben vom 20. und 21.Februar 1907 an das Reichsverkehrsministerium beklagte sich die Kgl. Preußische Porzellanmanufaktur darüber, daß „... es ihr trotz langjähriger Bemühungen und zu konkurrenzfähigen Preisen sowohl bei den Post- als bei den Eisenbahnbehörden in Bayern noch niemals gelungen ist, Aufträge auf Porzellan-Isolatoren zu erhalten, ... vielmehr die Erfahrung machen mußte, .. daß die bayerischen Behörden ausnahmslos bayerische Fabrikate bevorzugen und nur bei bayerischen Fabriken bestellen.“107

„... notorisch die bayerischen Behörden, sowohl der dortigen Postverwaltung wie auch der Eisenbahn, ihren ganzen Bedarf an Isolatoren ausschließlich nur bei den bayerischen Fabriken decken und niemals einer außerbayerischen Fabrik einen Auftrag erteilen ...“108

Eine Offerte der „Carbone-Licht-Vertriebs Gesellschaft Köhler & Co.“ aus Köln aus dem Jahre 1910 an die bayerische Verwaltung für die Lieferung von Glasisolatoren des Typs „Isolferm“ wurde ebenfalls abschlägig beschieden.

In Württemberg blieben die an Tragstangen und Dachständern verwendeten Isolatoren hinsichtlich Form und Beschaffenheit unverändert. Neu waren die Schnabelisolatoren mit Ebonitglocken, die der möglichst nebenschlußfreien Einführung der Fernsprechleitungen in Gebäude dienten.

Tab.25: Die Entwicklung der Telegraphenanlagen im Reichspostgebiet (Auszug)109 Jahr Telegraphenanstalten Telegraphenlinien (km) Telegraphenleitungen (km) 1880 8.475 59.961 213.327 1885 11.446 71.618 252.435 1890 15.380 90.669 315.703 1895 17.893 113.173 433.235 1900 20.768 108.500 424.500 1905 26.912 117.800 469.800 1910 35.332 188.200 1.615.800 1913 38.509 195.400 1.863.600

105 Für die Leistungen der Stadtfernsprechanlagen genügten jedoch weiterhin kleinere Isolatoren. 106 Am Ende des Jahres 1887 standen in den bayerischen Staatstelegraphenanlagen 918.806 Isolierglocken. (Nach WESSEL, H.A. 1983, S.432: Archiv für Post und Telegraphie 1889, Nr.6, S.176.) 107 Zit. nach WESSEL, H.A. 1983, S.433 (In: Zentrales Staatsarchiv, Historische Abteilung II (Merseburg), Rep.93, Abt.E, Nr.2951). 108 Ebd. 109 Nach WESSEL, H.A. 1983, S.483 (Statistik des deutschen Reiches und Statistik der Reichspost- und Telegraphenverwaltung)

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Tab.26: Die Entwicklung der Fernsprechanlagen im Reichspostgebiet (Auszug)110

Jahr Orte mit Fernspr.- Länge der Länge der Anzahl der einrichtungen Linien (km) Leitungen (km) Sprechstellen 1887 155 4.606 40.122 25.211 1890 233 8.134 82.331 51.419 1895 448 16.116 181.985 114.057 1900 14.304 66.900 716.600 247.100 1905 21.397 120.100 2.368.400 510.000 1910 29.736 98.900 4.182.100 907.800 1913 32.682 115.700 5.464.200 1.221.900

Im Reichspostgebiet wurden die Porzellan-Doppelglocken in den bis dahin gebräuchlichen drei verschiedenen Größen beibehalten. Es wurden angebracht im Zeitabschnitt Porzellan-Doppelglocken (Mio. Stück) 1891 – 1895 3,4 1896 – 1900 8,3 1906 – 1910 21,0 Lieferanten waren die Kgl. Porzellanmanufaktur in Berlin und Porzellanfabriken in Sachsen und Bayern. Eine besondere Rolle spielte die Firma Gebrüder Hannemann & Cie. in Düren/Rheinland; sie lieferte Porzellanisolatoren, die sie aus der Fabrik Lorenz Hutschenreuther in Selb/Bayern bezog und - falls beauftragt - auf selbstgefertigte Stützen montierte.111 Bei den Isolatoren für die Nachrichtenanlagen der Staatseisenbahnen entsprachen die Porzellandoppelglocken in Größe und Form dem bei der Reichstelegraphenverwaltung gebräuchlichen Material. Die an der Bedarfsdeckung beteiligten Firmen dürften gleichfalls weitgehend mit den „Postlieferanten“ identisch gewesen sein. Die Kgl. Porzellanmanufaktur in Berlin beklagte sich allerdings im Jahre 1882 beim Ministerium für öffentliche Arbeiten darüber, daß sie aufgrund spezieller Bedingungen in den Ausschreibungen kaum Aufträge von den Eisenbahndirektionen erhalte – im Gegensatz zu den Telegraphenbehörden, deren Bedarf sie zum großen Teil decke. Zwei andere preußische Porzellanfabriken wünschten im Jahre 1907 eine Bevorzugung der preußischen Fabrikate und wiesen auf die Praxis der bayerischen Behörden und die direkt oder durch Zwischenhändler eingereichten Angebote bayerischer Porzellanfabriken hin. Das Ministerium forderte daraufhin die Beschaffungsdirektionen Berlin, Köln und Hannover zur Berichterstattung auf. Den Berichten ist zu entnehmen, daß die Beschaffungsdirektion Berlin von preußischen

110 Nach WESSEL, H.A. 1983, S.493 (Statistik des deutschen Reiches und Statistik der Reichspost- und Telegraphenverwaltung) 111 Vgl. ebd., S.564 (Zentrales Staatsarchiv II, Rep.93, Abt.E, Nr.2951 und Archiv für Post und Telegraphie 1905, Nr.15, S.489).

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Unternehmen und außerdem von Rosenthal & Co. bezog. Köln hatte bei der letzten Ausschreibung gleichfalls neben inländischen auch bayerische Fabrikate in die engere Wahl einbezogen. Die Firma Rosenthal fiel aus, weil sie im Preis unterboten wurde, und die Isolatoren der Firma Gebrüder Hannemann & Co. in Düren, die bayerischen Ursprungs waren, entsprachen nicht den geforderten Bedingungen. Bei der Eisenbahndirektion Hannover hatte das Dürener Unternehmen den Zuschlag auf folgende Mengen erhalten:

Tab.27: Lieferungen von Isolatoren durch die Fa. Gebr. Hannemann & Co112 Zahl der Isolatoren Typenbezeichnung Preis / Stück (Pfennig) Frei Bestimmungsbahnhof 20.000 1 38,5 Altona 3.000 2 21 Altona 49.800 1 35 Gotha 6.000 2 19,5 Gotha 8.000 1 36,5 Münster 800 3 12 Münster Summe: 87.600 29.946 Mark

Die drei Eisenbahndirektionen sprachen sich übereinstimmend gegen den Ausschluß bayerischer Unternehmen aus. Im Etatjahr 1909 wurden für die Beschaffungsdirektion Berlin von der Firma Gebr. Hannemann & Co. in Düren 48.800 Stück Doppelglocken Nr.1 (ohne Stützen) zum Preis von 37 bis 39,5 Pfennig/Stück beschafft und 4.000 Stück Doppelglocken Nr.2 (ohne Stützen) zum Preis von 22 Pfennig/Stück, von zwei anderen Unternehmen 7.100 Stück Doppelglocken. Für die Beschaffungsdirektion Hannover wurden von zwei Unternehmen, darunter ein bayerisches, 18.000 Stück Doppelglocken geliefert. Für die Beschaffungsdirektion Köln wurden von der Fa. Gebr. Hannemann 55.000 Stück Doppelglocken Nr.1 (ohne Stützen) zum Preis von 35,5 Pfennig/Stück und 9.500 Stück Doppelglocken Nr.2 (ohne Stützen) zum Preis von 23,5 Pfennig/Stück geliefert. Außerdem erhielt die Beschaffungsdirektion Kattowitz von einem thüringischen Unternehmen 63.000 Stück Doppelglocken.

Insgesamt wurden also 117.300 Stück (=57%) von dem Dürener Unternehmen geliefert, das die Porzellanglocken nicht selbst herstellte, sondern von bayerischen Herstellerfirmen bezog.

112 Nach WESSEL, H.A. 1983, S.626 (Zentrales Staatsarchiv II, Rep.93, Abt.E, Nr.2951).

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5.2 Keramik in der Hochspannungstechnik113

Der 1850 entwickelte erste Freileitungsisolator war ein Stützenisolator, der in den kommenden Jahren eine Weiterentwicklung zum Doppelglockenisolator erfuhr. Um den Oberflächenwiderstand als maßgebenden Faktor bei der Verwendung als Telegrafenisolator weiter zu steigern, wurde der Ölisolator entwickelt.114 Diese Stützenisolatoren fanden zunächst auch für Starkstromzwecke noch bis etwa 1900 Verwendung, bis man erkannte, daß für höhere Spannungen nicht nur der Oberflächenwiderstand, sondern auch die Beherrschung des elektrischen Feldes hinsichtlich Durchschlag und Überschlag eine wesentliche Rolle spielt.115 Isolationsschwächen der zunächst eingesetzten Isolatoren konnten mit Hilfe der 1896 in Italien entwickelten Paderno-Glocke überwunden werden. 1897 entstand die Delta- Glocke116, die mit steigender Spannung und zunehmender Größe größere Anforderungen an die keramische Fertigung stellte und neben rein formgebungs- und brenntechnischen Problemen auch solche des Zusammenfügens von mehreren Stücken mit Kitt brachte,117 weil die keramische Herstellung von für die notwendige Durchschlagfestigkeit genügend dicken Scherben nicht ohne weiteres beherrscht wurde. WEICKER bemerkte zur Entwicklung und Wirksamkeit der Delta-Glocke:

„Die günstige Wirkungsweise dürfte hauptsächlich auf den durch passend angeordnete Zwischenmäntel unterbrochenen großen Abstand von dem Tropfrand des obersten Regenschutzmantels nach der Stütze beruhen, da durch die Größe dieser Entfernung in erster Reihe die Höhe der Regenüberschlagsspannung eines Isolators bedingt ist.“118

113 Siehe AB, Anl.36: Entwicklungsstufen der Starkstromisolatoren. 114 Vgl. WEICKER, W. 1931, S. 62f. Diese Ölisolatoren waren in den 1870er Jahren von der Fa. Johnson & Philipps (England) entwickelt worden und wurden seitdem auch von der Fa. Oerlikon, die zusammen mit der A.E.G. die Demonstrationsleitung vom Neckarkraftwerk Lauffen zum Ausstellungsgelände Frankfurt/M. projektierte, bei kleineren Kraftübertragungen in der Schweiz verwendet. Das Konzept eines von der PF Schomburg (vgl. S.257f.) in Zusammenarbeit mit der Elektrofirma Gebr. Naglo 1879 auf der Berliner Gewerbeausstellung präsentierten ähnlichen Isolators, der statt mit Öl "mit Chlorkalzium in Stücken oder mit konzentrierter Schwefelsäure ausgefüllt (war), um die darüber in der Höhlung befindliche Luft trocken zu erhalten und so eine bessere Isolierung zu erzielen" [LOEWENHERZ, L. (Hg.) 1880: Bericht über die wissenschaftlichen Instrumente auf der Berliner Gewerbeausstellung 1879. Berlin. S.495] wurde bald wieder verworfen. 115 Vgl. BENISCHKE, G. 1923, S.13ff. 116 Die Delta-Glocke stellt den ersten auf wissenschaftlicher Basis konstruierten Hochspannungs- Freileitungsisolator dar. Sie geht auf Entwicklungen von R.M. FRIESE (Schuckert-Elektrizitäts-AG) und der PF Hermsdorf zurück. Siehe hierzu AB, Anl. 37 Entwicklung der Delta-Glocke. 117 Vgl. LUFTSCHITZ, H. 1924: Isolatorenkittung. In: Keramische Rundschau, 32.Jg., Nr.19, S.226ff. 118 WEICKER, W. 1927, S.15.

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14 Delta-Glocke119

Zunehmende Anforderungen an die mechanische und Durchschlagfestigkeit führten über den Weitschirmisolator zum verstärkten Deltaisolator. Die Starkstromtechnik bzw. die Energieversorgung von Wirtschaft und Haushalt entwickelte sich nach den ersten Versuchen mit Drehstrom als Folge der günstigen Ergebnisse der ersten Kraftübertragung Lauffen- Frankfurt und der einfachen Möglichkeit der Umspannung schnell in Richtung höherer Spannungen, und schon 1900 findet man Spannungen von 30.000 Volt für Zwecke der elektrischen Energieübertragung eingesetzt.

119 Aus: www.ceramic-journals.com

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Damit war eine Weiterentwicklung von Isolatoren gefordert, die für solche und höhere Spannungen geeignet waren: Kettenisolatoren in hängender Leitungsanordnung (z.B. Hewlett-Isolator). Zur gleichen Zeit (1905) wurde der sog. Kappenisolator entwickelt, der aus einem Isolierkörper mit Schirm und rundem Kopf mit außen befestigter Kappe und innen befestigtem Klöppel bestand. Neben dem Kappenisolator entstanden für Niederspannungszwecke die sog. Sattel-, Eier- und Schäkelisolatoren.

Zu Beginn des Jahrhunderts kam man zu dem Ergebnis, daß drei grundlegende Formen von Hochspannungsisolatoren möglich waren: Hewlettisolator, Kappenisolator sowie eine Isolatorform, die aus einem ggf. mit Regenschutzschirmen versehenen keramischen Stab besteht, an dessen beiden Enden Kappen als Armaturen aufgebracht waren. Ausgehend von einem Hanfseil oder Holzstab, die mit einem Porzellanrohr überzogen waren und später dann einem reinen Porzellanstab, versuchte man zunächst, einen Isolator für die Antennenisolation von Sende- und Empfangsanlagen zu schaffen. Man ging also von einem Gebiet aus, bei dem ein möglicher Bruch des Isolators nicht so katastrophale Folgen hatte wie bei einer Freileitung, die über von Menschen begangenes Gelände führte und damit Gefährdung von Menschenleben und starke Betriebsstörungen bedeutete, wenn sie herabfiel. Einen weiteren Entwicklungsschritt stellt der Doppelkappenisolator dar, der auf beiden Seiten mit Außenkappen bestückt war und noch nicht den vollkommenen Schritt zum Vollstrunk bedeutete, weil er infolge seiner Aussparungen unter den Kappen noch durchschlagbar war. Es entstand der Motorisolator, der erstmalig als Vollstrunkisolator mit groß ausgebildeten Schirmen als voll durchschlagsicher gelten konnte. Dieser Motorisolator wurde etwa ab 1925 neben dem Kappenisolator zunehmend eingebaut. Die früher in der elektrischen Energieverteilung fast ausschließlich gebauten Innenraumanlagen benötigten Stützer für die Sammelschienen und Wand- und Gerätedurchführungen. Die großen Vorteile keramischer Werkstoffe (chemische und Wetterbeständigkeit) kamen hier noch nicht zum Tragen. Man verwendete für Durchführungen z.B. mit Kunstharz getränktes Weich- und Hartpapier. Auch hier verlangten die steigenden Spannungen neue Wege, die aus Kostenersparnisgründen und wegen der Möglichkeiten, die Schalt- und Umspannstationen außerhalb der Städte und Dörfer zu legen, in Richtung des Baues von Freiluftstationen ging. Für die Stützer und Geräteisolatoren von Leitungen und elektrischen Apparaten waren Werkstoffe erforderlich, die den Witterungseinflüssen auf lange Zeit standhalten konnten, und hier kamen die guten

191 diesbezüglichen Eigenschaften der keramischen Werkstoffe besonders zur Geltung.120 So begründete die PF Kahla den Patentanspruch für ihren Stützisolator folgendermaßen:

„Stützisolator für hohe Spannungen mit mehreren gleichartig und schirmförmig um die Stütze angeordneten, sich gegenseitig Deckung gewährenden Mänteln, dadurch gekennzeichnet, daß einer oder mehrere der Innenmäntel unter möglichst spitzem Winkel gegen die Horizontale aus der Randebene des Außenmantels so weit hervortreten, daß sie den vom Rande des Außenmantels abträufelnden, elektrostatisch geladenen Wassertheilchen (sic!) den Weg zur Stütze versperren und sie nach außen hin ablenken, wodurch eine Stromentweichung vom Mantel zur Stütze verhindert wird.“ 121

Die Entwicklung ging vom Hohlstützer über den Mehrfachzwischenbodenstützer zum mit Stickstoff gefüllten ‚abgeschmolzenen Stützer‘. Mit dem Aufkommen des Langstabisolators ging man über zum teilmassiven und schließlich zum Massivstützer, wie wir ihn heute kennen. Parallel dazu begann man bei den Leistungsschaltern alle mechanischen Kräfte vom elektrisch-isolierenden Isolator übernehmen zu lassen und die notwendigen Überschlagswerte für die hohen Spannungen durch den Zusammenbau von mehreren mit Armaturen versehenen Isolatorelementen zu gewinnen. Als Beispiel für einen solchen „Leistungsisolator“ sei hier der Druckrohrisolator genannt. Ebenso wurden Gehäuseisolatoren entwickelt, die als Überwurf über Kondensator-Wickeldurchführungen für Decken, Wände, Transformatoren und Schalter dienten.122

Langstabisolatoren werden auf Zug beansprucht und werden ab 20kV bis zu den höchsten Spannungen verwendet. Stützenisolatoren werden auf Druck und Biegung beansprucht und finden in den unteren Spannungsebenen bis 30kV Anwendung. Nachfolgende Tabelle veranschaulicht die Entwicklungsstadien der Isolatoren.

120 Vgl. CORDES, W. 1924: Die Lebensdauer von Porzellan-Isolatoren. In: Keramische Rundschau, 32.Jg., Nr. 19, S.234ff. 121 Quelle: PIZ, Patentschrift Nr. 110961, ausgegeben am 22. Mai 1900. 122 Siehe auch AB, Anl. 38: Starkstromisolatoren u. AB, Anl.39: Überwürfe und Durchführungen.

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Tab.28: Entwicklung der Isolatoren 1858 – 1936123 1858 Porzellandoppelglocke; Einführung ab 1862 1886 Porzellan als Installationsmaterial eingeführt 1891 Ein- und zweiteilige Hochspannungsölisolatoren für 15 kV Betriebsspannung (Lauffen nach Frankfurt/M.) 1895 Isolatoren mit drei zylindrischen Mänteln für die ersten 10 kV –Leitungen 1897 Deltaglocke 1900 Steatit als Spezialmasse für höhere elektrische u. mechanische Festigkeit bei der Installation eingeführt 1904 Zweiteilig zusammengebrannter Deltaisolator für 40 kV Betriebsspannung 1906 Metallschirmisolator; Einteilige u. gekittete Stützenisolatoren für 50 kV-Anlagen (Schweden, Norwegen) 1907 Hewlett-Hängeisolatoren 1910 Kappen-Hängeisolatoren in Flachtellerausführung; Abspannisolatoren: „Vedovelly- Isolatoren“ 1911 Hängeisolatoren mit eingelassener Kappe; Abspannisolatoren in Fischschwanzform für 110 kV-Leitung Lauchhammer-Gröba; Hängeisolatoren mit mehrfach unterteilten Schutzarmaturen 1912 Schäkelisolatoren für Abspannzwecke 1913 Hängeisolatoren mit kittloser Klöppelbefestigung; Kugelkopfisolator 1914 Kappen-Hängeisolatoren mit abgestufter Kapazität 1919 Motorisolatoren 1920 Kittlose Teltow-C-Hängeisolatoren 1921 Faradoid-Isolator als Weitschirmisolator; Kittloser Kegelkopf-Hängeisolator; Kittloser Kappen-Hängeisolator (V-Klötzchen, V-Ring-Isolator) 1922 Kittloser Kappen-Hängeisolator; Federring-Isolator 1923 Selbstreinigende Kettenisolatoren ("Ewag-Isolatoren"); Klein-Kettenisolator für Mittelspannung; Motor-Isolator aus Steatit 1925 Durchschlagsichere, massive Stützenisolatoren; Durchschlagsichere Vollkern- Stützenisolatoren; Verstärkte Isolatoren in Delta- und Weitschirmform; Groß-Kettenisolator für 220 kV-Leitungen; Kittlose Kappenisolatoren; Befestigung der Armaturen ohne Zement 1926 Kugelring-Isolator 1927 Einteilige Ölschalter-Durchführungen für 220 kV-Ölschalter und Transformatoren 1928 Normung von Kappen- und Vollkernisolatoren, von (verstärkten) Delta- und Weitschirmisolatoren sowie von Stützern und Durchführungen ______1931 Verschmutzungsresistente Hängeisolatoren 1936 Langstabisolatoren

Eine Sonderstellung innerhalb der Hochspannungsisolatoren nahmen die Isolatoren aus Steinzeug ein, auf deren Produktion bei der DTS hier eingegangen wird. Um den Energieverlust auf den z.T. langen Leitungswegen zwischen den stromerzeugenden Kraftwerken und den E-Werken möglichst gering zu halten, war man gezwungen, mit immer höheren Spannungen zu arbeiten. Während bei der Schwachstrom- und Niederspannungstechnik Isolatoren aus Porzellan die relativ geringen Anforderungen bezüglich Isolation und mechanischer Leistung zureichend erfüllten, ergaben sich bei der Fernstromversorgung (Hochspannung) Mängel, die von der Porzellanindustrie Anfang der

123 Aus: GREINER-ADAM, R. 1990, Anl.22.

193 zwanziger Jahre nicht mit Sicherheit und ohne großen Ausschuß gelöst werden konnten.124 Die Hochspannungsisolatoren, die mit steigender Spannung immer länger wurden, mußten trotz der geforderten Länge möglichst aus einem Stück gefertigt, also frei von Kittstellen sein.125 Dies wurde mit Hilfe des plastischen Steinzeugtons ermöglicht, während das weniger plastische Kaolin sich für die Fertigung großer Isolatoren als weniger geeignet erwies. Hinzu kam, daß die Porzellanmasse eine größere Gesamtschwindung als das Steinzeug hatte, woraus sich weiter produktionstechnische Schwierigkeiten ergaben.126 Die geringe Trockenfestigkeit der Porzellanmasse verursachte zudem erhebliche Mengen an Trockenbruch, da die aus Porzellan gefertigten Isolatoren sich nur schlecht zu den Öfen transportieren ließen. Ein weiteres Manko der Porzellanisolatoren bestand darin, daß diese sich mit wachsender Läge unverhältnismäßig verteuerten. Die führte dazu, daß bereits 1921 die ersten, 2.050 mm langen, einteiligen Steinzeugisolatoren mit ölgefülltem Gehäuse von der DTS an die Dr. Paul Meyer AG in Berlin ausgeliefert wurden.127 Bei diesen wie auch bei allen später gelieferten handelte es sich um Durchführungen, Stützer und Verbundisolatoren, die in Elektrizizätswerken, Überlandzentralen und Umspannwerken zum Einsatz kamen. Die bei der Hochspannung ebenfalls benötigten Freileitungsisolatoren wurden weiterhin aus Porzellan hergestellt, da Steinzeug die Anforderungen bzgl. Zugfestigkeit nicht erfüllte.128

Den Anstoß zur Produktion von Steinzeugisolatoren bei der DTS lieferte deren Zusammenarbeit mit der Steatit-Magnesia AG, die Isolatoren aus dem hochwertigen, jedoch teureren Speckstein herstellte. Die Nachfrage nach Steinzeugisolatoren stieg insbesondere in den Jahren nach 1920 wegen des fortschreitenden Ausbaus der Elektrizitätsversorgung stark an. Dabei kamen der DTS ihre geschäftlichen Beziehungen zur im Berliner Raum konzentrierten elektrotechnischen Industrie sowie die Entwicklung einer sehr dichten Steinzeugmasse (DTS-Sillimanit),129 die mit einem minimalen Porenraum die erforderliche elektrische Durchschlagfestigkeit ergab, zugute.130 Im Jahre 1925/26 wurde die Produktion von Steinzeugisolatoren zur Hauptsparte des Unternehmens, dessen Werk Muskau-Lugknitz damit völlig ausgelastet war. Hauptauftraggeber waren die Firmen AEG, Siemens-Schuckert

124 Vgl. DEMUTH, W. 1927, S.2f. 125 Vgl. SINGER, F. 1924, S.2 u. LOEWE, H. 1927, S.709. 126 Vgl. SINGER, F. 1929, S.155. 127 Vgl. SINGER, F. 1924, S.3. 128 Vgl. LOEWE, H. 1927, S.709. 129 Da Isolationssteinzeug per se keine nach außen offenen Poren besaß, bewirkte nicht erst die Salzglasur die Dichte des gesinterten Scherbens; vielmehr diente die Glasur der leichteren Reinigung der Steinzeugisolatoren. 130 Vgl. SINGER, F. 1924, S.5.

194 sowie BBC, wobei tw. Einzelaufträge über 600-800 Isolatoren erteilt wurden. Die größten gefertigten Stücke hatten bei einer Länge von 3,50 m ein Gewicht von 900 kg, der Schirmdurchmesser betrug 1.200 mm, die elektrische Durchschlagfestigkeit 220.000 Volt Betriebsspannung.131

Die Aufbereitung des Werkes Muskau-Lugknitz wurde für die Zubereitung der Steinzeugmasse völlig auf feinkeramische Basis umgestellt (Trommelmühle, Filterpresse, Schlämme); die geforderte mechanische Festigkeit der Masse wurde durch einen 10%igen Quarzzusatz erreicht. Der Brand der großen Isolatoren erfolgte mittels einer feuerfesten Spezialstange, die durch den hohlen Kern des Isolators geschoben wurde und auf diese Weise ein Verziehen verhinderte.

15 Kondensatordurchführung aus DTS-Sillimanit mit ölgefülltem Gehäuse für die Siemens-Schuckert-Werke132

Ende 1925 hatte das Werk in Muskau-Lugknitz seine Kapazitätsgrenze erreicht, weswegen man - bei anhaltend starker Nachfrage - begann, auch den Krauschwitzer Betrieb für die Isolatorenfertigung umzurüsten, zumal die Nachfrage nach chemisch-technischem Steinzeug stagnierte bzw. sogar zurückging. Im Gebäude der Töpferei wurde eine Stockwerkdecke

131 Siehe hierzu SINGER, F. 1929, S.25 und DEMUTH, W. 1927, S.4. 132 Aus: SINGER, F. 1924, S.5.

195 herausgebrochen, um so den nötigen Raum für die hohen Isolatoren zu schaffen. Außerdem wurde einer der alten Rohrmann`schen Öfen umgebaut, so daß daraus ein Ofen mit flacher, nicht gewölbter Decke entstand, die lose auf den Seitenwänden auflag, so daß sich der Ofen beim Aufheizen dehnen konnte. Die Nachteile der flachen Decke bestanden jedoch in der schlechten Flammenführung und der ungenügenden Isolierung, weswegen der Kohleverbrauch dieses Ofens sehr hoch war. Während die dadurch entstandene Kostensteigerung bei der hochwertigen Produktgruppe Steinzeugisolatoren leicht an die Abnehmer weitergegeben werden konnte, gelang dies beim chemischen Steinzeug nicht; daher wurde dieser Ofen nach Auslaufen der Isolatorenproduktion wieder stillgelegt. Die Krauschwitzer Umbauarbeiten, die sich über ein Jahr bis 1927 hingezogen hatten, bewirkten, daß die Produktion von Steinzeugisolatoren erst 1928 richtig anlief. Bereits ein Jahr später wurde diese Produktionssparte in Krauschwitz wieder aufgegeben. Der Grund hierfür lag in der den Porzellanisolatoren herstellenden Unternehmen durch die Steinzeugisolatoren erwachsene Konkurrenz, auf die es zu reagieren galt. Während zunächst dieser Konkurrenzkampf und damit die Bemühungen um die Abnehmer sich dadurch äußerten, daß man in Fachzeitschriften den Vorteilen der eigenen die Nachteile der anderen Produkte gegenüberstellte, kulminierte der Streit darin, daß die Elektroporzellanindustrie der DTS vorwarf, kein eigenes Prüffeld zu besitzen, mit dem eine Kontrolle der Isolatoren hinsichtlich Durchschlagfestigkeit vor dem Versand hätte erfolgen können. Zwar vereinbarte daraufhin die DTS mit der AEG, die an diese zu liefernden Isolatoren auf deren Prüffeld einer Probe zu unterziehen, doch blieben die Lieferungen an die übrigen Abnehmer weiterhin ungeprüft. Der Bau eines eigenen Prüffeldes erschien der DTS wegen der damit verbundenen Investition nicht opportun.133

Infolge des zurückgehenden Inlandsabsatzes und der beginnenden Weltwirtschaftskrise vereinigten sich die DTS und die Elektroporzellan produzierenden Unternehmen 1929 in der Sillimanit-Vertriebsgesellschaft (SIV), über die der Verkauf aller Hochspannungsisolatoren aus Porzellan und Steinzeug erfolgte. Die von den Porzellanfabriken dominierte Vertriebsgesellschaft garantierte der DTS einen Jahresumsatz von 1 Million Mark und zahlte bei Minderabnahmen gestaffelte Vertragsstrafen. Im Verlauf der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und in deren Folge des regressiven Isolatorenverkaufs vergab die Vertriebsgesellschaft die noch hereinkommenden Aufträge vorrangig an die Porzellanfabriken. Zwar wurden die vereinbarten Konventionalstrafen an die DTS gezahlt

133 Obwohl die Baukosten nur 40.000 Mark betragen hätten.

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- waren die Porzellanfabriken doch auf diese Weise in der Lage, in ihren Werken weiter zu produzieren, was die zu zahlende Strafe mehr als aufwog -, doch kam das Isolatorengeschäft der DTS wegen der einseitigen Vergabepolitik der Sillimanit-Vertriebgesellschaft fast völlig zum Erliegen. Die 1932 erfolgte Auflösung des Vertrages brachte der DTS zwar eine Abfindung in Höhe von 125.000 Mark; die Herstellung von Isolatoren jedoch war für die DTS durch die zwischenzeitliche technische Weiterentwicklung der Isolatorenproduktion in der Porzellanindustrie gänzlich weggefallen. Insgesamt waren bis zu diesem Zeitpunkt 23.000 große und kleinere Steinzeugisolatoren von der DTS hergestellt worden.134

5.2.1 Isolatoren: Fertigungstechnik

Der überwiegend manuell durchgeführte Roh- und Brennstofftransport erforderte umfangreiches Entladepersonal. Eine leichte Verbesserung trat mit der Anbindung der Werke an das Schienennetz (Werksanschlüsse) ein.

Für die Masseauf- und vorbereitung kamen nach 1860 die ersten transmissionsgetriebenen Maschinen wie Massetrommeln, Kollergänge, Tonschnitzelmaschinen, Schneckenmesser und Filterpressen auf. Vakuumpressen gewährleisteten eine bessere Homogenität der Masse und erleichterten wesentlich die Arbeit im Vergleich zu früher, als die Hubel per Hand gedreht wurden. Die Isolatoren wurden auf zwei Arten gedreht: Eindrehen in Gipsformen und Abdrehen nach dem Vortrocknen der Hubel auf horizontalen oder vertikalen Drehbänken.135 Zum Ziehen von Walzen, Rohren, Stäben und Profilstangen wurden Vakuumpressen oder Strangpressen eingesetzt. Hingegen wurden z.B. unrunde Körper, die sich durch Drehen nicht formen ließen, durch Gießen hergestellt, wobei man nach Hohlguß, Kernguß und Vollguß unterschied.136 Komplizierte Formen wurden in Einzelteilen gegossen und danach zusammengarniert.

134 Hierzu HOFFS, F. 1964, S.133f. 135 Vgl. GREINER-ADAM, R. 1990, S.82. 136 Vgl. Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken 1936, S.8.

197

Als die Porzellan und Keramik produzierenden Betriebe137 ihre Produktion auf Technische Keramik umstellten, waren ausschließlich die Formgebungsverfahren Drehen und Gießen bekannt. Das Drücken der plastischen Masse in Matrizen war schwierig138 und damit die Herstellung von Massenartikeln nicht effizient genug. Man begann damit, die Masse in lufttrockenem und anschließend pulverisiertem Zustand zu verarbeiten.139 Um den Zusammenhalt des Presslings zu gewährleisten, war eine Befeuchtung der Masse notwendig.

Um den Formgebungsvorgang zu mechanisieren, gestalteten der Heimarbeiter WELLER und der Schreinermeister POMMER aus Veilsdorf (Thüringen) 1862 eine Kartoffelpresse um. Dieser folgten Pressen aus Eisen, sog. Tritt- und Schlagpressen. Mit Hilfe dieses Formgebungsverfahrens gelang es, Technische Keramik, insbesondere Elektrokeramik, in hoher Produktivität herzustellen. Angewandt wurden das Naß- und Trockenpreßverfahren. Danach wurden die Presslinge entgratet (verputzt), anschließend getrocknet und glasiert.

Das Brennen geschah in zweistöckigen Rundöfen. Diese bestanden aus dem Glattbrandraum bis 1400°C und dem Glühbrandraum bis 900°C. Vor allem Pressartikel wurden vor dem Verputzen und Glasieren verglüht, um ihnen eine höhere Stabilität und eine porösere Struktur zum Auftragen der Glasur zu geben. Gebrannt wurde bis ca. 1850 mit Holz, danach verwendete man Stein- und Braunkohle.

Beim Elektroporzellen war die absolute Dichte der Artikel von eminenter Bedeutung, weswegen die Brandführung besonders Augenmerk verlangte. Nach den von A.H. SEGER entwickelten Methoden und mit den nach ihm benannten Schmelzkegeln (Segerkegel) war es ab etwa 1894 möglich, den Temperaturbereich von 750°C bis 1700°C zu messen. Um Feuerschlag, Befall und beschädigte Glasuren zu vermeiden, war es nötig, die zu brennenden Produkte in Kapseln zu setzen und bei Isolatoren Brennstützel anzubringen. Nach dem Entleeren der Rundöfen wurden die sog. Brennbomsen140 abgeschliffen und die Erzeugnisse

137 Siehe hierzu AB, Anl.40: Werbeanzeigen der HESCHO. 138 Dieses Pressen ging auf das 1805 eingeführte Sonneberger Drückerhandwerk zurück, bei dem geteilte Gipsformen verwendet wurden, in welche die Papiermaché-Masse eingedrückt wurde. Vgl. KRÖCKEL, O. 1997, S.3. 139 Anfangs wurde die trockene Masse mit Hilfe eines Nudelholzes auf einem Küchendeckel pulverisiert. 140 Teilweise war es erforderlich, dem keramischen Körper eine Brennunterlage, Boms genannt, zu geben. Um einem Verziehen des Körpers im Brand vorzubeugen, mußte dieser Boms aus der gleichen Masse hergestellt werden wie der zu brennende Körper.

198 wurden mechanischen und elektrischen Prüfungen unterzogen, bevor sie sortiert und verpackt wurden.141

Bei den Bemühungen um Fortschritte in der Fertigungstechnik waren folgende Punkte von Bedeutung: Verbesserung der elektrischen und mechanischen Eigenschaften, Senkung der Herstellkosten durch Rationalisierung, Verbesserung der mangelhaften Hygiene im Umfeld der Arbeitsplätze (Staub, Hitze, Ruß)142

Masseaufbereitung Zunächst wurden die Rohstoffe (Ton, Quarz, Feldspat) mit Wasser und Mahlkörpern 143 in Trommelmühlen144 mit zunächst nur 500 kg Fassungsvermögen gemahlen, wobei die Beschickung per Hand erfolgte. Der Masseschlicker gelangte dann durch ein Sieb und passierte einen Magneten, um mechanische und magnetische Verunreinigungen zu entfernen. Mittels einer Filterpresse wurde ein Großteil des Wassers entzogen und die Masse wurde zum Ablagern in den Maukkeller verbracht. Die abgelagerte Masse wurde dann mit Hilfe einer Schneckenpresse für die Formgebung vorbereitet,145 es wurde ein endloser Strang produziert, aus dem je nach Bedarf Stücke unterschiedlicher Länge geschnitten wurden, die Hubel. Die Aufbereitung der Masse sollte hauptsächlich folgende Aufgaben erfüllen: Hoher Reinheitsgrad vom Rohstoff bis zum Hubel; genaue Einhaltung der Masserezeptur durch exakte Wägung und genaue Einrechnung der Ausgangsfeuchte; gleichmäßig abgestufte Korngrößen durch konstante Mahlwirkung; maximale Homogenität der Partikel; gleichmäßiger Wassergehalt.146

Das Fassungsvermögen der Trommelmühlen wurde nach und nach erweitert, Trommelfutter und Mahlkörper bestanden später aus hochtonerdehaltigem Hartporzellan oder Sinterkorund;

141 Siehe AB, Anl.41 Isolatorenproduktion. 142 Vgl. DKG-Fachausschußbericht 1991, S.123. 143 Diese Mahlkörper waren i.d.R. durch Gezeiteneinfluß abgerundete Flintsteine, wie sie z.B. an der Nordseeküste gefunden wurden. 144 Die erste mit Quarzit (Silex) ausgemauerte Trommelmühle wurde um 1865 gebaut. 145 Als Alternative zur Schneckenpresse kamen voma. in den ersten Jahren Tonschneider und Masseschlagmaschinen zum Einsatz. 146 Vgl. DKG-Fachausschußbericht 1991, S.124.

199 die Pendel- und Rechenrührer der Massebecken wurden durch Quirle ersetzt. Die Erfindung der Vakuumschneckenpresse147 ermöglichte es, die gestiegenen Anforderungen hinsichtlich Gefügehomogenität und Blasenfreiheit des Massestranges zu erfüllen.

Formgebung Die Größe und die Geometrie des herzustellenden Isolators bestimmten das anzuwendende Verfahren.

Gießverfahren Ausgangsmaterial für die Herstellung des flüssigen Masseschlickers ist getrockneter Filterkuchen, der unter Zusatz von Wasser und alkalischen Stoffen 148 aufgeschlämmt wird. Die einzelnen Gießtechniken in der Reihenfolge ihrer zeitlichen Einführung waren: Hohlguß, Kernguß, Vollguß, Zusammenguß vorgegossener Teile, Guß mit Hilfe von Vakuum oder Druckluft, Guß mit evakuierter Masse, Guß mit rotierender Form. Leitungsstützer, Wanddurchführungen und Trafoisolatoren wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Kern- und Vollgußverfahren, die bis ca. 1910 die gebräuchlichsten Gießverfahren blieben, hergestellt. Ein Patent für eine Gießform beschreibt diese wie folgt:

"Gießform für Isolatoren aus Porzellanmasse, dadurch gekennzeichnet, daß deren mit Gewinde versehener Innenkern einen durchgehenden Kanal besitzt, durch welchen der Einguß der Porzellanmasse bei auf den Kopf gestellter Form erfolgt." 149

Drehen, Freidrehen, Kopierdrehen, Eindrehen Rotationssymmetrische Körper wie Kappen, Langstäbe, Hohl- und Vollkernstützer sowie konische und zylindrische Geräteporzellane eigneten sich für das Drehen. Ob die Hochspannungsisolatoren (bis 60 kV) gegossen oder gedreht wurden, hing von der Zusammensetzung der Masse ab. Durch die steigenden Abmessungen der Isolatoren wurde es bereits zu Beginn der 20er Jahre nötig, das Eindrehen in Gipsformen weiter zu entwickeln. Hierbei wurde auf der Vakuumpresse vorbereitete Masse in Gipsformen eingedreht; der einzelne Formling entsprach dabei dem Ringteil, das bei der Zerlegung des Körpers durch waagerechte Teilung zwischen den Schirmen entstand. Die Trocknung war wg. des wasseraufsaugenden Gipses gefahrlos möglich und die genaue Kontur konnte danach mittels einer Schablone durch Abdrehen erzeugt werden, danach wurden die Einzelteile

147 Die Vakuumschneckenpresse wurde 1922 von R.H. STANLEY (USA) erfunden. 148 Es wurde Natriumkarbonat, Kaliumkarbonat oder Kaliumsilicat verwendet. 149 Quelle: PIZ, Patentschrift Nr.147021, ausgegeben am 31. Dezember 1903.

200 zusammengarniert. Durch die größeren Isolatormaße wurde es erforderlich, die Auf- und Eindrehscheiben größer zu gestalten und mit Antrieben zu versehen. Die Formgebung eines Freileitungsisolators nach dem Kleineindrehverfahren war in den 10er und 20er Jahren die gebräuchlichste. Dieses Verfahren wurde schon Jahrzehnte vorher in der Geschirrproduktion zur Herstellung von Tassen und Tellern verwendet.

Trocknung Die Vortrocknung, die den Wassergehalt der Hubel von ca. 23% auf ca. 14% senken sollte, geschah an der Raumluft oder in schwachbeheizten Kammern. Die Nachteile dabei waren großer Raumbedarf, hoher Zeitaufwand und ungleiche Feuchtigkeitsverteilung mit der Gefahr der Rißbildung. Die Endtrocknung wurde in der Anfangszeit an der Raumluft durchgeführt, wozu man die strahlende Abwärme der Öfen benutzte. Um den Trockenvorgang zu beschleunigen und um eine gleichmäßigere Trocknung zu erreichen, wurden schon im 19. Jahrhundert Trockenanlagen gebaut, deren Prinzip darin bestand, vorgewärmte Luft von ca. 80°C über die Oberfläche des Trockengutes zu führen, wodurch die Wasserdämpfe abgeführt wurden.

Glasur Hochspannungsisolatoren erforderten unbedingt eine glasierte Oberfläche, wobei für die Glasur zunächst die Rezepte der weißen Porzellanglasur aus der Geschirrproduktion übernommen wurden. Da die Ausschmelztemperatur der Glasur und die Bildungstemperatur des Porzellans übereinstimmten, konnte man die Glasur auf den getrockneten Körper auftragen und bei 1350°C brennen.

Zunächst wurde fast ausschließlich weiße Glasur verwendet, doch zu Anfang der 20er Jahre dieses Jahrhunderts ging man dazu über, färbende Metalloxide zu verwenden. So benutzte man Chromoxid für grüne Glasur und Mischungen von Eisen-, Chrom- und Manganoxid für braune Glasur. Dabei waren folgende Erfordernisse zu beachten: Gleichmäßige Kornfeinheit und stabile Homogenität des Glasurschlickers, Viskosität in engen Toleranzen, Abstimmung des Ausdehnungskoeffizienten der Glasur zum Porzellankörper, gleichmäßige Schichtdicke des Glasurauftrages, optimale Brandführung zwecks blasenfreier Oberfläche und gleichmäßiger Färbung der Glasur.

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Die Glasur erfolgte je nach Größe und Form des Isolators durch Eintauchen oder Begießen, später mittels einer Spritzpistole.

Brand Das Brennen der Isolatoren geschah in Rundöfen und Kammeröfen, die periodisch in Betrieb waren und vorwiegend mit Kohle beheizt wurden. Für den kontinuierlichen Betrieb wurden Tunnelöfen eingesetzt.150 Der gebräuchlichste Ofentyp war der seit etwa 1880 eingesetzte kohlebefeuerte Rundofen mit überschlagender Flamme und zwei Etagen. Zur Kontrolle der Brenntemperatur standen zunächst nur Segerkegel 151 zur Verfügung. SCHWEHN beschreibt anschaulich die Probleme und Schwierigkeiten, die beim Brand in Rundöfen auftraten: - "Die sich selbst entzündenden Kohlehalden. - Die Knochenarbeit des Herankarrens der Kohlen von der Halde zum Ofen. - Die rauchige Luft und die Hitze in den Brennhäusern. - Das Wegschmelzen des Mauerwerkes der Feuerungen und des Ofenfutters durch den Zugriff der Flugasche. - Den sich daraus ergebenden ständigen Einsatz einer Kolonne von Ofenmaurern für Reparaturen und Reinigungen der Ofenzüge. - Die aufmerksame Beobachtung der Segerkegel und der Brennproben, um die Übergänge vom Oxidationsfeuer zum Reduktionsfeuer, von diesem zum Scharfbrand und den richtigen Zeitpunkt des Brandendes nicht zu verpassen. - An die durch den Kamin austretenden Rußwolken während des Reduktionsfeuers und die Fuchsflamme am Ende des Kamins während des Scharfbrandes. Ca 80% der aufgewendeten Energie gingen verloren. - Die Hitze, mit der sich die Ofenarbeiter beim Austragen des Brenngutes abfinden mußten. - Die gespannte Erwartung, wenn die gemauerte Ofentür nach dem Brand geöffnet wurde. Der jeweils sichtbare Einsatz wurde nach evtl. eingestürzten Kapselstößen oder nach verrußter, "gebratener" Glasur abgeleuchtet." 152

Schleifen Zu Anfang des Jahrhunderts wurden die Isolatoren zum Schleifen in das Futter einer Drehbank eingespannt und mit Hilfe einer auf dem Support 153 befestigten, durch Elektromotor angetriebenen Schleifscheibe, die aus Siliziumkarbid oder Korund bestand,154 bearbeitet.

150 1906 kam der erste generatorgasbefeuerte Tunnelofen in der Porzellanindustrie zum Einsatz. 151 Segerkegel waren kleine Pyramiden aus keramischen Massen, die je nach Zusammensetzung bei verschiedenen Hitzegraden weich wurden bzw. schmolzen. Es ist das Verdienst A. SEGERs, diese Hilfsmittel für den keramischen Brand entwickelt zu haben, die es ermöglichten, innerhalb des Temperaturbereichs von 600°C bis 2000°C durch unterschiedliche Schmelzpunkte die Temperatur in Schritten von 20°C anzuzeigen: Sobald ein bestimmter Kegel sich neigte, wußte man, daß eine bestimmte Temperatur erreicht war. 152 In: DKG-Fachausschußbericht 1991, S.141. 153 Der Support ist der verstellbare Werkzeugträger an Werkzeugmaschinen. 154 Zu keramischen Schleifscheiben, deren Produktion und Anwendung siehe: HERMINGHAUSEN, W. in Stahl und Eisen 1911, S.830-841. HECHT, K. in Keramische Rundschau 1920, 28.Jg., S.511f., 521. EXNER, F. in Thonindustriezeitung 1920, 44.Jg., S.908.

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Armieren Stützer und Freileitungsisolatoren haben neben ihrer Isolierungsfunktion auch noch die Aufgabe, Kräfte zu transferieren. Dazu waren feste Verbindungen mit Metallen nötig, die dazu dienten, die Isolatoren dauerhaft in Leitungen in Geräte zu integrieren. Folgende Punkte waren neben der Härte des Isolatormaterials für die Festigkeit der Verbindung Porzellan- Metall bedeutsam: Griffigkeit der Teile der Isolatoroberfläche und Innenoberfläche der Armatur, die die Kittung Trugen; Kittmaterial; paßgenaue Kittlehre für die präzise Verbindung zwischen Isolator und Armierungsmetallen; lunkerfreie155 Einbringung des Kitts in den Raum zwischen Isolator und Armatur.

Um eine optimale Griffigkeit zu erreichen, wurde die Porzellanoberfläche grob geriffelt, erhaben oder vertieft.156 Als Kittarten kamen in Frage: Marmorzement, ein modifizierter Gips, der durch Aufnahme von Kristallwasser härtet (bis in die 50er Jahre) und Schwefelzement, der durch Erstarrung aus dem Schmelzfluß härtet (seit den 20er Jahren). Kittlehre: Die älteste Methode war die sog. Verdrängungskittung, bei der der Zement mit geringem Überschuß in die Armaturen gefüllt wurde und sodann der beim Zusammenfügen der Teile in der Lehre überquellende Kitt abgestrichen wurde. Schmelzkitte wurden mit Hilfe von einer Kelle vergossen; dabei wurden Isolatoren und Kappen vorgewärmt, um den Erstarrungsvorgang zu verzögern.

Die Technik der Isolatorenfertigung um die Jahrhundertwende beschreibt ausführlich HEGEMANN.157 Nach dessen Darstellung wurden zum Pressen von kleineren Isolatoren bis ca. 100 mm Höhe Spindelpressen mit Matrizeneinrichtung eingesetzt. Die aus gepulverter Porzellanmasse gepreßten Isolatoren eigneten sich nicht wie gedrehte Isolatoren für hohe Spannungen, da ihr Scherben weniger dicht war. Für das Pressen von Isolatoren war eine gute Pulverung der Porzellanmasse erforderlich, die mit 2/3 Wasser und 1/3 Rüböl angefeuchtet und durch ein Sieb gerieben wurde. Dabei durfte die Masse weder zu klebrig noch zu trocken sein, außerdem mußten die Gewichtsverhältnisse von gepulverter Masse zu Wasser und Rüböl genau bemessen sein, um eine gleichmäßige Schwindung zu erreichen. Beim Einsetzen der Matrizen wurde das Oberteil mit einem Zapfen eingesetzt und mit einer Stellschraube

155 Unter "Lunker" versteht man Hohlräume. 156 In der Praxis wurde diese Riffelung "Fischhaut" genannt. 157 Vgl. HEGEMANN, H. 1904, S.258ff.

203 festgeklammert. Anschließend wurde das Matrizenunterteil mit dem Ausheberstift angebracht und so eingestellt, daß der Rand des Oberteils in die Mitte des Unterteils paßte und so das untere Teil festklammerte. Sodann wurde die Untermatrize mit Masse gefüllt und, falls nötig, etwas trockene Masse mittels eines Haarsiebes aufgesiebt, um ein leichtes Lösen vom Oberteil zu erreichen und Risse zu vermeiden. Die Pressung geschah langsam und kräftig mit einem starken Druck ohne Zurückdrehung, weil anderenfalls das Gewindes im Preßlings beschädigt wurde. Der Gewindezapfen wurde danach aus dem Isolator herausgedreht, das Matrizenoberteil wurde angehoben und der Preßling konnte mit Hilfe des Aushebers herausgenommen werden.

Im Gegensatz zu Isolatoren für niedriggespannte Ströme bedürfen Isolatoren für hochgespannte Ströme eines dichten, festen Gefüge, welches man selbst bei Tonzusatz zur Masse durch Pressen nicht erzielte. Diese Isolatoren wurden durch Drehen der plastischen Masse hergestellt, wobei der Tonzusatz gleichzeitig ein scharfes Gewinde bewirkte, das teilweise ebenfalls glasiert wurde und eine feste Verbindung zwischen Isolator und Stütze sicherte. Da die gedrehten Isolatoren Stärken von 5 – 25 mm im Scherben aufwiesen, neigten sie bei ungleichmäßiger Trocknung und unterschiedlicher Schwindung besonders zum Reißen, zumal ihnen Ton zugesetzt wurde. Wurden bei Masseversatz und Trocknung nicht größtmögliche Sorgfalt und Genauigkeit eingehalten, zeigten sich schon nach dem Abdrehen in der Hohlkehle (Nute) Risse, die dazu führten, daß Kopf und Mantel des Isolators vollständig getrennt wurden. Ebenso verhielt es sich bei der Kopfrille, was darauf zurückzuführen war, daß Hohlkehle und Kopfrille weniger starke Wände hatten als Kopf und Mantel, mithin eine stärkere Schwindung als jene aufwiesen. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, wurden mittels einer Zylinderstrangpresse Massestränge mit dem für den jeweiligen Isolatortyp nötigen Durchmesser hergestellt. Die Strangpressen konnten, aufgeschraubt auf einen Tisch oder ein Bockgestell, in liegender oder stehender Anordnung eingesetzt werden, wobei die liegende Strangpresse mit Kurbelbetrieb wegen der größeren Kraftwirkung leichter zu handhaben war als die stehende Presse mit Griffrad. Aus dem mit der Strangpresse hergestellten Massestrang wurden Bolzen (Hubel) in der benötigten Länge geschnitten, die in die Mitte einer Isolatorform gelegt, mit einem Leinwandlappen158 bedeckt und dann unter eine Quetschpresse geschoben wurden. Diese Presse bestand aus einem einfachen eisernen Träger, durch welchen eine Stahlstange von oben nach unten lief. In der

158 Der Leinenlappen diente dazu, die in der Masse befindliche Luft entweichen zu lassen.

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Mitte der Stange befand sich ein Drücker, am unteren Ende war ein Kreuz eingeschraubt, an dem sich ein Holzbolzen anbringen ließ. Mit dieser Presse konnte man auf den in der Gipsform liegenden Massehubel einen allmählichen, nach jeder Seite gleichmäßigen Druck ausüben, durch welchen gleichzeitig etwa noch in der Masse vorhandene Blasen nach außen getrieben und zum Platzen gebracht werden konnten. Die Pressung des Holzbolzens auf den Massestrang bewirkte ebenso eine teilweise Aushöhlung des Stranges, wodurch der Mantel des Isolators schon vorgeformt war und es nur eines ein- oder zweimaligen Ausstegens mit der Schablone bedurfte, um den Mantel mit Gewindeloch glatt auszudrehen.

Dank ihrer großen Nutzhöhe von 30 – 60 cm wurden zur Fertigung von Isolatoren von 5 – 25 cm Höhe nebst zylindrischen oder konischen Gewinden von 5 – 30 mm Drehspindeln mit Schablonenhaltern eingesetzt. Die Gewinde wurden dabei in den noch weichen Teil des Kopfes oder Mantels mit einer Gewindeschneidemaschine geschnitten, die mittels eines Anschlaghebels einen Strähler (Viertelbohrer) an die Drehspindel hielt, so daß diese ein Gewinde der gleichen Steigung erhielt, wie in den Isolator geschnitten werden sollte. Besonders schwierig war die Herstellung von Isolatoren, deren Gewinde an der äußeren Seite des Mantels oder Kopfes angebracht werden sollte. Hierbei wurde über ein maßgenaues Metallmodell des Isolators Gips gegossen und der Isolator in lederhartem Zustand aus der blasenfreien Gipsform gedreht. Sodann wurde die Hülse des Isolators mit Massebällchen gequetscht und mit Schlicker eingarniert. Das Eindrehen der Nute geschah, nachdem man den Mantel über einen Gipskeil stülpte, mit einem Formeisen, welches genau der Hohlkehle entsprach. Kopfrillen befanden sich in der Form und wurden infolge des kräftigen Druckes der Presse einwandfrei ausgeformt. Um Kopflöcher an den Isolatoren anzubringen, wurden diese der Breite nach gespalten; danach wurde ein der Größe des Loches entsprechendes Messingrohr durch den Kopf geschoben, an dessen Enden Führungen aus Blech aufgesetzt wurden. Nachdem ein Metallmantel herumgelegt worden war, wurde Gips darüber gegossen und das lange Rohr nach Abbinden des Gipses herausgezogen. Der Gips wurde bis an die darin befindliche Führung abgedreht, so daß man ein genaues Bohrmodell erhielt. Um die Wassertropfenbildung am unteren Rand des Isolators zu verhindern, wurden diese auf dem Kopf stehend gebrannt.

Isolierröhren für Mauerwerk und Balken bis zu einem Durchmesser von 50 mm und einer Läge von ca. 1 m wurden mittels einer Strangpresse gezogen. Diese bestand aus einem runden Eisenkessel, welcher am oberen Ende einen Zylidereinsatz aus Messing enthielt. Zwischen

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Kessel und Zylinder befand sich ein Stahlkreuz mit einem Gewinde, in welches ein der Höhlung des Rohres entsprechender Stahlstift eingeschraubt werden konnte. Der untere Teil des Kessels war durch eine Platte, an der sich eine Schraube mit Schwungrad befand, luftdicht verschlossen. Nach Füllung des Kessels mit Masse und Aufdrehen des Schwungrades wurde die Platte auf die Masse gepreßt; diese schob sich zwischen Zylinder und Stahlstift hindurch und trat als Rohr aus dem Zylinder aus.

Größere Rollen für die Starkstromtechnik mußten ein oder mehrere Rillen besitzen und wurden daher wie Isolatoren in Gipsformen gedreht, um dann auf der Abdrehmaschine mit Hilfe eines Formeisens ausgekehlt zu werden. Beleuchtungsarmaturen, wie sie bspw. für Bogenlampen nötig waren, wurden mittels einer Strangpresse eingepreßt und mit dem Schablonenhalter ausgestegt; das Gewinde wurde mit einer Voll- oder Hohlbohrmaschine eingeschnitten. Diese Gewindeschneidemaschine diente zum Einschneiden von Gewinden beliebiger Stärke und Form in solche Isolatoren, in welche die eiserne Isolatorstütze ohne Verpackung (Dichtung) eingeschraubt wurde. Im Gegensatz zum bereits genannten Strähler wurde das Gewinde hier mit einem hohlen Gewindebohrer eingeschnitten. Dazu wurde ein Schlitten bis zum Anschlag herabgelassen und so die Gewindespindel in den Isolator eingeführt; die Drehung der Kurbel bis zum zweiten Anschlag bewirkte das Einschneiden des Gewindes. Danach wurde die Hohlspindel durch Drehung der Kurbel in umgekehrter Richtung wieder herausgedreht, der Schlitten hochgehoben und der Isolator mit dem fertigen Gewinde aus der Gipsform (Futter) genommen.

Armaturen und Einführungen wurden gedreht oder gegossen und auf den Mantel garniert. Gepreßte oder gestanzte Einführungen wurden vorher verglüht, ineinander geschliffen, gewaschen und mittels Glasur und Klebstoff garniert. Da die Armaturen als die eigentlichen Halter der Bogenlampen dienten und außerdem als Isolierung für die Durchführung der Leitungsdrähte sowie als dichtschließende Fassung der Glasglocke dienten, wurden an die Paß- und Formgenauigkeit der Armaturen hohe Anforderungen gestellt.

Außer den dargestellten Pressen kamen bei der Herstellung keramischer Artikeln noch Supporte, Matrizenhalter, Lochapparate usw. zum Einsatz. Dabei stellten viele Porzellanfabriken die benötigten Matrizen in diversen Ausführungen in ihren Werkstätten selbst her. Supporte waren erforderlich, wenn, wie z.B. bei Isolierrollen, eine stehende Teilung der Matrizen nötig war. So bestand eine Schlagpresse zum Pressen von

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Flaschenverschlußknöpfen aus einer geteilten Matrize, deren linke Hälfte eine zwar nachstellbare, aber fest eingestellte prismatische Leiste war; die rechte Hälfte wurde durch einen Handgriff in Verbindung mit einem Kniehebel zur Pressung geschlossen und nach Entnahme des Preßlings wieder geöffnet.

Zur Veranschaulichung zeigt nachstehende Abbildung die wichtigsten Maschinen der Isolatorenfertigung um die Jahrhundertwende.

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16 Maschinen und Formgebungsverfahren in der Isolatorenproduktion159

159 Aus: HEGEMANN, H. 1904, S.259ff.

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6. Keramik in der Hochfrequenztechnik

„Als die Hochfrequenztechnik Umschau nach geeigneten Isolierstoffen hielt, bot sich ihr ein solcher in Gestalt des normalen Steatits fertig dar.“160

Der im Vergleich zu Porzellan und Hartpapier kleine Verlustfaktor des Steatits von 1,5 - 2‰ sowie seine Dielektrizitätskonstante von 5,5 – 6,0 erwiesen sich als niedrig genug, um Steatit als Werkstoff in der Hochfrequenztechnik anzuwenden. Als wesentlich erwies sich dabei zudem der Umstand, daß sich leitende Metallschichten unmittelbar festhaftend auf der Oberfläche keramischer Formstücke anbringen ließen, wodurch eine vollkommen starre Lagerung der Leiter und somit eine außerordentliche Beständigkeit der Geräte ermöglicht wurde. Die einzelnen Specksteinknollen wurden zunächst mittels Stahlsägen zunächst in Platten, Blöcke oder Stäbe zerschnitten. Die weitere Formgebung konnte wegen der Weichheit des Gesteins durch Fräsen oder Drehen auf der Drehbank – vergleichbar der Holz- und Metallbearbeitung – vorgenommen werden. Die Zähigkeit des Naturspecksteins erlaubte es auch, kompliziert gestaltete Körper ohne Ausbröckelungen anzufertigen. Die Metallisierung der Werkstücke geschah nach dem Verfahren der Edelmetalleinbrennung bzw. nach dem Schoopschen Spritzverfahren. Erzeugnisse der HF-Keramik sind Achsen, Abdeckscheiben, Durchführungen, Haltungen, Kondensatoren, Schutzrohre, Sockel, Spulen und Stützer. „Lava (steatite) was a natural material and good machining techniques were developed, but whitewares remained in crude form from early days of electricity until radio and high frequency equipment in the late 1920`s and ´30`s dictated need for bodies with defined physical properties.“161

160 ALBERS-SCHÖNBERG, E. 1939, S.3. 161 MILLS, W.S. 1995, p.1.

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Tab.29: Keramische Werkstoffe der Hochfrequenztechnik162 Handelsname Gruppenzugehörig- Chemischer Verwendung in der HF- Hersteller keit nach VDEP Aufbau Technik Steatit Steatite Magnesiumsilicat Isolierteile großer Abmessungen Stemag Frequenta Steatite Magnesiumsilicat Isolierteile aller Art Stemag Calit Steatite Magnesiumsilicat Isolierteile aller Art Hescho Calan -- Magnesiumsilicat Isolierteile f. Sonderzwecke Hescho Condensa C, N Rutilhaltige Massen TiO2 in keramischer Kondensatoren Hescho und F Bindung Kerafar R u. S Rutilhaltige Massen TiO2 in keramischer Kondensatoren Stemag Bindung Kerafar U u. T -- TiO2-ZrO2 in Kondensatoren Stemag keramischer Bindung Kerafar V -- TiO2 in keramischer Kondensatoren, Isolierteile Stemag Bindung Tempa N -- TiO2 in keramischer Kondensatoren, Isolierteile Hescho Bindung Tempa S -- Magnesiumtitanat Kondensatoren, Isolierteile Hescho Diakond Magnesiumtitanat Kondensatoren, Isolierteile Stemag Sipa H Tonsubstanz- MgO-Al2O3-SiO2 Isolierteile für Stemag Specksteinhaltige temperaturabhängige Massen Schaltelemente Ardostan Tonsubstanz- MgO-Al2O3-SiO2 Isolierteile für Hescho Specksteinhaltige temperaturabhängige Massen Schaltelemente Ergan -- Verbindungen Isolierteile für Elektronenröhren, Stemag feuerfester Oxide Modellkörper

162 Aus: ALBERS-SCHÖNBERG, E. 1939, S.160

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17 Keramische Bauteile in der HF-Technik163

7. Die Porzellanfabrik 164

Für den Bau und die Inbetriebnahme einer feinkeramischen Fabrik waren nach HERDA u.a. folgende Faktoren von Bedeutung:165 Eisenbahn: Die Fabrik sollte einen Gleisanschluß besitzen, um die Frachtkosten für Rohstoffe zu minimieren. Arbeitslöhne: Diese machten mit 40-60% einen hohen Anteil am Gesamtumsatz aus. Wasserqualität: Verunreinigtes Wasser schmälerte die Qualität der Endprodukte. Abfälle: Asche, Schlacke und alte Gipsformen konnten entweder zum Auffüllen des

163 Aus: ALBERS-SCHÖNBERG, E. 1939, SS. 119, 121, 129. 164 Vgl. dazu AB, Anl.42 Porzellanfabrik, Schlämmerei, Aufbereitungsanlage. 165 HERDA, H. 1909: Allgemeine Gesichtspunkte bei der Anlage feinkeramischer Fabriken. In: Keramische Rundschau, 17.Jg., Nr.26, S.381f. u. ders. 1909: Einige Winke beim Bau von Porzellanbrennöfen. In: Keramische Rundschau, 17.Jg., Nr.40, S.505f.

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Baugrundstückes verwendet werden oder es wurden Nebenbetriebe eingerichtet, die Asche und Schlacken zu Kalk-Aschenziegel und Gipsformen zu Düngegips weiterverarbeiteten. Transport: Die Fabrikräume sollten so konzipiert werden, daß der Fabrikationsvorgang sich stets nach vorwärts bewegte und ein Transport unfertiger Ware vermieden wurde. Zwischen den Stockwerken sollten Fahrstühle installiert sein. Vorratsräume: Diese sollten so bemessen werden, daß der Bedarf für längere Zeit gedeckt war. Insbesondere offen transportierte Rohstoffe wie Tone und Erden sollten im Sommer in trockenem und damit gebrauchsfertigem Zustand eingelagert werden und um nicht für das im feuchten Material enthaltene Wasser Materialpreis und Fracht zahlen zu müssen. Arbeitsräume: Insbesondere die Räume für Gießerei, Dreherei und das Brennhaus sollten großzügig bemessen werden, um genügend Formen bzw. Kapseln unterbringen zu können. Mittlere Öfen beanspruchten eine Brennhaustiefe von 18-20 m und eine Länge von 16 m. Heizung: Zur Beheizung der Fabrikräume sollte die Abhitze der Öfen verwendet werden. Brennöfen: Das Schamottemauerwerk sollte gleichzeitig mit dem Ofenmantel aufgemauert werden, um eine feste Verbindung von Futter- und Mantelmauerwerk zu erreichen und somit die Brennkammer dicht abzuschließen.

7.1 Maschinen 166

Bei den Maschinen ist zu unterscheiden zwischen Kraftmaschinen, die eine verfügbare Energie so umsetzen, daß treibende Kräfte erzeugt werden, die einen Kolben hin und her bewegen oder eine drehende Bewegung hervorrufen. Arbeitsmaschinen: Vorrichtungen, die eine bestimmte Arbeit verrichten.

Kraftmaschinen bis 1800: Wasserräder, Windmühlen, Göpelwerke,167 Dampfmaschinen.

166 Vgl. i.e. WETZEL, C. 1912: Arbeitsmaschinen für die Keram- und Glasindustrie. In: Keramische Rundschau, 20.Jg., Nr.22-24, S.232f, S.242f.,S.263f. SAUER, U. 1925: Allgemeine Maschinen in der keramischen Industrie. In: Keramische Rundschau, 33.Jg., Nr.24, S.375-378. Chemisches Laboratorium für Tonindustrie (Hg.) 1938: KERAMIKMASCHINEN-AUSSTELLUNG. Amtlicher Führer. S.15-19. 167 Göpelwerke oder Roßwerke verwandelten die Zugkraft von Tieren in vielseitig genutzte Drehbewegung.

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Kraftmaschinen ab 1800: Während sich die Dampfmaschine in England und Amerika nach 1800 sehr rasch durchsetzte, ging diese Entwicklung in Deutschland nur zögernd vonstatten. 1799 wurde in der KPM in Berlin eine erste Dampfmaschine in der keramischen Industrie eingesetzt, 1853 eine in Meißen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. nimmt die Zahl der Dampfmaschinen in der keramischen Industrie rasch zu. Mit Beginn des 20. Jhdts. wurde die Dampfmaschine mehr und mehr durch den Elektromotor ersetzt.168

Arbeitsmaschinen bis 1800: Eine der ersten Arbeitsmaschinen in der keramischen Industrie stellt die hölzerne Schraubenpresse dar, die seit etwa 1750 verwendet wurde und auf die griechische Schraubenpresse (ca. 25 v. Chr.) zurückgeht. In England wurden bereits im 17. Jhdt. Ziegelmaschinen entwickelt und gebaut.169 KINSLEY erhielt 1799 ein Patent für eine Ziegelformmaschine. In den Niederlanden wurde 1643 eine Claymühle (Kleiemühle) aus Holz mit feststehenden geraden Messern konstruiert, die der Aufbereitung der Pfeifentone diente. 170 Zerkleinerungsmaschinen wie z.B. Pochwerke171 wurden erst mit Beginn der Porzellanerzeugung wichtig, da man Hartstoffe in feinpulveriger Form benötigte. Da man erkannte, daß der beim Mahlen entstehende Staub ausgesprochen gesundheitsschädlich war, entwickelte man in England im 18. Jhdt. das Naßmahlverfahren; 172 1795 erfand BRAMAH die hydraulische Presse.

Arbeitsmaschinen ab 1800: Aufbereitung173 Die Schlämmanlagen unterschieden sich hinsichtlich der Zahl der hintereinander aufgereihten Bassins wie auch der verwendeten Maschinen.174 Besonders in Ziegeleien, in denen große Mengen an Ton verarbeitet wurden, wurde das Treten der Tone durch Mensch oder Tier mechanisiert: In Radbahnen wurden an einer

168 Vgl. Kap.III. 169 1619 erhielt J. ETHERINGTON ein Patent auf eine Ziegelmaschine. 170 1643 von J.J. SPECKSTRUYFF in Gouda entwickelt. 171 Ende des 16. Jhdts. konstruierte VOM ZONCA in Italien die ersten Pochwerke und Kollergänge. 172 ASTBURY erhielt 1720 ein Patent auf Naßmahlen von calciniertem Flint; ein weiteres Patent auf Naßmahlverfahren wird 1726 an Th. BENSON erteilt. 173 Die Aufbereitungsmaschinen sind dargestellt in AB, Anl.43. 174 Die Bassins dienten der Absetzung der größeren Bestandteile. Außerdem wurden zur besseren Durchmischung tw. Rührtrommeln verwendet.

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horizontalen Welle Speichenräder durch Zugtiere so bewegt, daß die Tone eine möglichst gleichmäßige Konsistenz erhielten. 175

Die Claymühle wurde zum Tonschneider176 und zur Strangpresse weiterentwickelt. Knetmaschinen und Mischer.177 Mahlanlagen und Mühlen 178 dienten der Zerkleinerung des Materials, was insbesondere bei der Rezeptur der keramischen Massen sowie der Glasur von Wichtigkeit war. Neben dem Trockenmahlverfahren wurde zunehmend auch das Naßmahlverfahren eingesetzt. So soll die KPM schon 1876 eine "Naß-Trommelmühle mit kartoffelgroßen Flintsteinen" 179 eingesetzt haben. Bereits 1879 stellte die Firma DORST Trommelmühlen mit 2,35 m Durchmesser für 2.700 Kg Mahlgut her. Für die grobe Vorzerkleinerung erfand BLAKE in den USA 1856 den Backenbrecher (Concasseur), der die groben und besonders harten Steinbrocken für den Kollergang 180 vorbrach. Der weiteren Zerkleinerung und Pulverisierung dienten Walzwerke und Schleuderapparate.181 Um die Rohstoffe in verschiedene Korngrößen zu scheiden, wurden Siebmaschinen eingesetzt. Dabei ging die Entwicklung von Klopf- bzw. Stoßsieben über Schüttelsiebe Zylinder- und Trommelsiebe bis zu den schwingenden Vibrationssieben.182 Bei der Aufbereitung von Quarz, Feldspat und Kaolin wurden Eisenpartikel an

175 Diese ringförmigen Bahnen (sog. Traden) fanden noch bis in die 80er Jahre des 19. Jhdts. Anwendung. An den Rädern waren z.T. noch Eggen, Harken oder Pflugscharen angebracht. Vgl. LITZOW, K. 1984, S.100. 176 In Sèvres (Frankreich) wurde um 1800 ein Tonschneider entwickelt, bei dem auf den Messern zusätzliche Dornen und zur besseren Entleerung im unteren Teil schräggestellte Schabebleche angebracht waren. 1844 wird in der englischen Maschinenfabrik H. CLAYTON der Holzbottich durch ein eisernes Gefäß ersetzt und 1854 erhält SCHLICKEYSEN in Deutschland ein Patent auf einen Tonschneider mit schraubenartig gebogenen Messern. 177 1829 wurden von FERRAND und 1847 von BOLAND (beide Frankreich) Mischer konstruiert. G. EIRICHT begann um die Jhdt.-wende in Deutschland, Mischer für Beton zu bauen, die für die Keramik zum Ringtrog- und Tellermischer und schließlich 1924 zum Gegenstrommischer weiterentwickelt wurden. 178 Die Mühlen entwickelten sich von der Topf- oder Kugelmühle (1760) über die Blockmühle (1825) zur Schleppmühle (1830). 1876 wurde in Deutschland ALSINGs Kugelmühle zum Trockenmahlen patentiert; dieser folgte die Rohrmühle. Über Kugelmühlen schreibt C. WETZEL 1912: "Kugelmühlen werden schon in der Größe von 0,66 m Trommeldurchmesser und 0,35 m Breite hergestellt. ... Es werden Kugeln von 60 bis 125 mm Durchmesser verwendet." In: Keramische Rundschau, 20.Jg., Nr.22, S.232. 179 Zit. nach LITZOW, K. 1984, S.103. 180 Über die Leistung von Kollergängen schreibt WETZEL: "Mit einem Kollergang von 1000 mm Läuferdurchmesser und 250 mm Läuferbreite, der mit einer Geschwindigkeit von 15 Touren in der Minute getrieben wird, ist eine stündliche Leistung von annähernd 500 kg zu erreichen." In: Keramische Rundschau 1912, 20.Jg., Nr.22, S.232. 181 1866 erfand Th. CARR einen solchen Desintegrator. 182 Diese sog. Viscosiebe wurden 1919 in den USA erfunden.

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Maschinenteilen abgerieben. Dies versuchte man dadurch zu verhindern, daß man in den Rinnen, durch welche die Aufschlämmungen geleitet wurden, Magnete installierte. Da sich die festen Teilchen einer Suspension in einem elektrischen Feld zur Anode bewegen (Kataphorese), versuchte man, Ton und Kaolin aus Aufschlämmungen auf diese Art abzuscheiden. Außerdem sollten Verunreinigungen (Eisen) entfernt werden. Wirtschaftliche Überlegungen verhinderten eine weitere Ausbreitung dieses Verfahrens.183 Bei der Naßaufbereitung versuchte man zunächst, das überschüssige Wasser durch die Abwärme der Öfen bzw. in besonderen Heizanlagen (Slipkiln) zu verdampfen. Später füllte man den Masseschlicker in Säcke und beseitigte das Wasser durch Pressen.184 Um einen gleichen Wassergehalt bei den zu verarbeitenden Massen zu erhalten, wurden außerdem noch Knetbaum, Stampfwerk und Tonschneider eingesetzt. Zur Beseitigung von Lufteinschlüssen wurden die Tone zunächst von Hand geschlagen,185 bis Masseschlagmaschinen diese Arbeit übernahmen. Der ersten, von FAURE 1878 auf der Weltausstellung in Paris vorgestellten Masseschlag- und –knetmaschine folgte 1897 die von DORST gebaute Masseknetmaschine, die von den Firmen DORST und REISSMANN immer wieder verbessert wurde. Um die Luft auch aus den feinen Poren der plastischen Massen zu entfernen, konstruierte man Entlüftungsmaschinen.186 Strang- und Zylinderpressen wurden bereits 1897 eingesetzt, um die Masse zu homogenisieren. Ebenso wurden um die Jhdt.-wende Formpressen zur Erzeugung von Hubeln (Isolatorenfertigung) konstruiert. 1922 entdeckte R.H. STANLEY, daß sich nur sehr dünne Massestränge unter Vakuum ausreichend entlüften lassen und entwickelte die erste Vakuumstrangpresse, deren Konstruktionsprinzip für alle folgenden Strangpressen (z.B. Kolbenstrangpresse, hängende und liegende Strangpresse) übernommen wurde.

183 Erste Versuche in dieser Richtung unternahm 1807 REUSS. 1911 erhielt VON SCHWERIN ein Patent auf ein darauf basierendes Verfahren, die Elektroosmose. 184 Hebel- und Schraubenpressen wurden dazu verwendet. Zum ersten Mal eingesetzt wurden sie in Frankreich 1833 von GROUVELLE und HONORÉ. Einfache Pressen bestanden nur aus einem mit Kies gefüllten Trichter, über den ein Tuch gespannt war. Verbesserte Pressen wie die von ALNAUD, De CAEN und TALBOT (1834) nutzten den Atmosphärendruck. 1853 konstruierten NEEDHAM und KITE eine Filterpresse, deren Prinzip auch bei späteren Typen noch angewendet wurde. 185 "Vor dem Formen muß die Erde gut geschlagen, geknetet und durchgearbeitet werden, damit sie geschmeidig und von der in ihr enthaltenen Luft befreit wird., welche beim Brennen des Porzellans Blasen und Risse erzeugen würde." LEUCHS, J.C. 1829: Die Verfertigung der irdenen Waren. Nürnberg. S.45. 186 1902 erhält S. RALEIGH in den USA ein Patent auf eine Entlüftungsmaschine für keramische Formlinge und 1908 wird ein Vakuumentlüfter für Massen patentiert.

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Dem innerbetrieblichen Transport dienten sog. Schaukel-Elevatoren 187 und Aufzüge, die seit ca. 1890 im Einsatz waren.

Formgebung Bei der Formgebung entwickelte sich im Gegensatz zur Aufbereitung eine Vielzahl jeweils produktbezogener Maschinen. Am Beispiel des Massenproduktes ´Ziegel´ unterscheidet HEUSINGER V. WALDEGG diese wie folgt: "A. Maschinen mit wirklich beweglichen Formen wie beim Handformen. B. Maschinen, deren Formen entweder in einer feststehenden Tischplatte oder auf einer waagerechten Scheibe angebracht sind. C. Maschinen, bei denen die Formen auf der gekrümmten Fläche eines um die waagerechte Achse sich drehenden Zylinders angeordnet sind. D. Maschinen, welche vermittelst einer Form die Ziegel aus einem Tonkuchen ausstechen. E. Maschinen, welchen einen Strang oder ein Band von Ton erzeugen und denselben nachher in einzelne Ziegel zerschneiden." 188

Um 1850 wurde das Prinzip des Strangpressens auch bei der Produktion von Ton- und Steinzeugröhren angewendet.189 Diverse Pressen190 sollten der maschinellen Verarbeitung der plastischen Massen dienen. Die insbesondere bei technischen Artikeln geforderte hohe Maßgenauigkeit verlangte, die Trockenschwindung auszuschalten oder zumindest zu begrenzen. Dieser Forderung dienten Handpressen, wie sie als Kniehebel- und Schwungradpressen191 in der Feuerfestindustrie ab ca. 1870 zum Einsatz kamen. Parallel zur Formung von Massen mit verringertem Wassergehalt versuchte man, trockene Massen zu pressen.192 Dies geschah mit Hilfe von Friktions- und hydraulischen Pressen.

187 Beim Schaukel-Elevator bildete die zerlegbare Treibkette den fördernden und treibenden Teil; die Schaukeln bestanden aus eisernen Gehängen, die auf Holzbrettern aufgeschraubt waren. 188 HEUSINGER VOM WALDEGG, E. 1891, 5. Aufl. Zit. nach LITZOW, K. 1984, S.107f. 189 Der mit einem Mundstück am Boden versehene stehende Tonschneider wird zum Grundprinzip aller kontinuierlich arbeitenden Röhrenpressen. 190 1813 produzierte POTTER in England Porzellanknöpfe mit Hilfe von Pressen. MATELIN (Frankreich) baute 1816 Pressen zum Formen von Tonwaren in Metallformen. DELPECH formte 1838 auf diese Weise Porzellan. FEILNER und HUMMEL preßten 1839 in Berlin Ofenkacheln. 1855 entwickelte COCHRANE die Tellerpresse. Die 1867 erstmals gezeigten Maschine zum Pressen von Falzziegeln mittels Gipsformen wurde weiterentwickelt zur Revolverpresse (Gebr. SCHMERLER, Paris) und zur Ziegelpresse mit Malteserkreuz (1881 von LUDOWICI konstruiert). 191 Diese Maschinen wurden zum Nachpressen vorgetrockneter Steine verwendet, die auf Strangpressen gezogen und geschnitten wurden. 192 In Frankreich wurden bereits 1809 und 1816 Versuche zum Pressen von Massepulver unternommen, ebenso 1830 in Amerika. 1840 erhält PROSSER in England ein Patent auf Trockenpressen von Knöpfen. Während die von PROSSER entwickelte Presse jeweils nur einen Knopf erzeugte, baute BRIARE in Frankreich eine Maschine, die 500 Knöpfe pro Druckvorgang fabrizierte. Das Patent PROSSERs wurde von MINTON erworben, der die Presse für größere Produkte weiterentwickelte. Damit begann die Massenproduktion von Wand- und Fußbodenplatten.

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Brand193

"Wenn auch in anderen Gewerben mit hohen Temperaturen gearbeitet wurde, so lagen doch für die Keramik sehr spezifische Besonderheiten vor, denn zumindest formlich fertiggestellte Gegenstände wurden erst durch die Feuerbehandlung ... in den gewünschten Endzustand gebracht. Im Unterschied zu Werkstoffen wie Glas, Metall etc., die erst nach dem Schmelzprozeß gestaltet werden, waren hier wesentlich größere Räume ... zu beheizen und zwar möglichst gleichmäßig, wobei die geringe Wärmeleitfähigkeit des Stoffes die Aufgabe sehr erschwerte." 194

Bei den Brennöfen läßt sich eine Entwicklung vom Lang- bzw. Rundofen über den Etagen- Rundofen zum Tunnelofen feststellen. Ebenso ist für die Feuerungsenergie der Öfen eine Entwicklungsreihe Holz > Kohle > Gas > Öl > Elektrizität erkennbar.195 Die Brennöfen lassen sich unterscheiden in periodisch arbeitende Öfen und Öfen mit kontinuierlichem Betrieb:

Periodisch arbeitende Öfen Kammer- bzw. Rundofen: Dieser Ofentyp war die einfachste Form des Brennofens. Aus ihm sind alle anderen Formen entwickelt worden. Das Brenngut wurde unmittelbar im Ofen gestapelt oder in Kapseln eingesetzt oder in besonderen, in den Ofen fest eingefügten Kammern (Muffeln) dem Brand ausgesetzt. Der Nachteil dieses Ofentyps bestand darin, daß er nach jedem Brand vorübergehend stillgelegt wurde und abkühlen mußte. Eine bessere Wärmeausnutzung wurde erreicht, indem man den Kammerofen mehretagig baute. Porzellanrundofen mit Oberofen: Im Unterofen erfolgte der Glattbrand, im Oberofen der Rohbrand. Scharffeuermuffelöfen: Dieser Ofentyp wurde eingesetzt, um das Brenngut gegen die Einwirkung von Feuerungsgasen zu schützen. Kontinuierlich arbeitende Öfen Ringofen: Die einzelnen Brennkammern werden horizontal nebeneinander angeordnet, so daß ein geschlossener Brennkanal entsteht; außerdem stehen die Ofenkammern unmittelbar in Verbindung. Kammerringofen: Bei diesem Ofentyp ist jede Ofenkammer von der benachbarten durch massive Wände getrennt. Das Arbeitsprinzip von Ring- und Kammerringofen ist gleich: Die Heizgase, welcher aus einer im Brand befindlichen Kammer abziehen, durchlaufen

193 Vgl. hierzu i.e. HECHT, A. 1976, S.52-59. SCHMIDT, A. 1927, S.84-94. FUNK, N. 1919: Das Brennproblem in der Porzellanindustrie und seine Geschichte. In: Sprechsaal, 52.Jg., Nr.30, S.255f. u. Nr.31, S.267f. HEINECKE, A. 1908: Ueber das Brennen von Porzellan. In: Thonindustrie-Zeitung, 32.Jg., Nr.94, S.1410-1416. 194 LITZOW, K. 1984, S.111. 195 Vgl. WEISS, G. 1964: Ullstein-Porzellanbuch. Berlin. S.181.

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weitere Kammern und wärmen so das dort vorhandene Brenngut vor. Nachdem die erste Kammer abgebrannt ist, wird die Feuerzone in die nächste, vorgewärmte Kammer verlegt. Tunnelofen: Während der Konstruktionsgedanke bei Ring- und Kammerringöfen war, "das Feuer wandern zu lassen", legte man beim Tunnelofen das Feuer fest und "ließ das Brenngut wandern." Dies wurde dadurch erreicht, daß man die zu brennende Keramik auf feuerbeständigen Wagen durch einen Tunnel schickte, in dem Vorwärmung, Brand und Abkühlung auf dem Weg durch die einzelnen Brennzonen erfolgten.

7.2 Historische Entwicklung der Maschinen am Beispiel Formgebung

Wie vorerwähnt, lassen sich drei Arten der Formgebung unterscheiden: Drehen, Pressen und Gießen. Im hier zu untersuchenden Zeitraum lassen sich folgende Korrektionen und Innovationen feststellen:

Drehen196 "Das Drehen umfaßt die Grundvorgänge der Urformung, der Umformung und der spamgebenden Verformung. Der Wassergehalt liegt bei 0 bis 28%. Es können nur rotationssymmetrische Körper hergestellt werden. Die einfachste Formgebungseinrichtung des Drehens ist die Töpferscheibe. Mit ihr kann eingeformt, übergeformt und abgedreht werden." 197

1897: Drehspindeln mit Transmissionsantrieb. Diese Spindeln besaßen entweder keine Geschwindigkeitsregulierung oder die Geschwindigkeit wurde mit Hilfe von Leerlaufscheibe und Bremse reguliert. Bei englischen Modellen geschah die Geschwindigkeitsregulierung mittels Friktionsübertragung. Eine Weiterentwicklung stellten die Drehspindeln mit Schablonenhalter dar. 1897: Abdrehmaschinen, die der spangebenden Verformung von Hohlgeschirren und Tonsträngen dienten. Auch die Abdrehmaschinen unterschieden sich nach Maschinen ohne Geschwindigkeitsregulierung und solchen mit Regulierung durch Friktionsübertragung mit Vor- und Rückwärtslauf. 1897: Schablonenhalter, die nach Schneid- und Quetschschablonen unterschieden wurden. Sie dienten der Befestigung und Führung und waren solche mit Doppelbewegung, für Flach- und Hohlgeschirre und mit Gelenkarm.

196 Siehe AB, Anl.44: Darstellung der Drehmaschinen. 197 MÜLLER, R. 1981, S.9.

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1897: Vertikal-Schablonenhalter waren geeignet, tiefe Löcher mit kleinem Durchmesser herzustellen. Die Schablonenstange wurde mit Rollen oder Hebeln ausbalanciert. 1904: Selbsttätige Bechereindrehmaschinen dienten der massenhaften Produktion von gleichartigen Produkten wie Bechern, Tassen usw. Hierzu versetzte ein endloses Seil oder ein Riemenantrieb zwei Spindeln in schnelle Umdrehung und beeinflußte gleichzeitig den Tisch und die beiden Schablonenhalter. "Während die überstehenden Formen gefüllt werden, senkt sich selbsttätig der ganze Tisch. Die beiden rechts stehenden Formen werden stoßfrei von den Spindeln erfaßt und in Umdrehung versetzt, gleichzeitig senkt sich der Schablonenhalter und formt aus. Nach Beendigung schneiden Messer den überstehenden Rand sauber ab, worauf die Schablonenhalter wieder in die Höhe gehen. Der Arbeitstisch geht ebenfalls aufwärts, die Formen heben sich von den Spindeln ab. Der Tisch läßt sich auf die entgegengesetzte Seite schieben. Das Abnehmen und Füllen der Gipseinsätze benötigt genau so viel Zeit wie der Ausformvorgang. Damit ist eine hohe Leistung zu erreichen. Zur Bedienung wird eine Arbeitskraft benötigt." 198

1920: Drehspindeln der Fa. DORST. Diese Maschine war mit Transmissionsantrieb versehen, ihre Geschwindigkeit wurde mittels Friktion reguliert. Sie wurde insbesondere beim Drehen von Isolatoren verwendet. Man baute Drehspindeln mit Schablonenhalterungen und Spindeln, die durch Elektromotor angetrieben wurden. Der Ritzel auf der Welle war dabei verstellbar und eine Bremse ermöglichte sofortigen Stillstand der Spindel. 1920: Eindrehmaschinen der Fa. DORST. Diese dienten "zur Herstellung hoher, enger, nach dem Boden hin ausgebauchter Hohlkörper. Eine ausgedehnte Verwendung finden sie auch in der Hochspannungsisolatorendreherei."199 1920: Abdrehmaschinen der Fa. DORST. Diese besaßen eine Gewindeschneideinrichtung und dienten der Herstellung von Hochspannungsisolatoren. Angetrieben wurden diese Maschinen entweder durch Transmission oder mit einem Elektromotor. Es wurden Maschinen für Rechts-/Linkslauf sowie vertikale Maschinen gebaut. Außerdem konstruierte man Abdrehmaschinen mit zwei Spindelstöcken, die von einem gemeinsamen Vorgelege angetrieben wurden. 1929: Drehspindel des Typs REISSMANN mit Transmissionsantrieb und Geschwindigkeitsänderung durch Friktion.200

198 MÜLLER, R. 1981, S.12. Vgl. dazu HEGEMANN, H. 1904, S.239f. 199 Maschinenfabrik DORST 1920: Katalog. Maschinen für die keramische Industrie. Oberlind-Sonneberg. 200 Vgl. REISSMANN AG 1929: Maschinenkatalog. Saalfeld.

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Pressen 201 "Das Pressen ist ein Formgebungsverfahren, bei dem eine rieselfähige, krümlige oder plastische Arbeitsmasse unter Druck verdichtet wird. Das Verdichten ist ein Formgebungsprozeß, der zum Grundvorgang Urformung gehört. Der Feuchtigkeitsgehalt des Pulvers liegt zwischen 4-16%. Das Pressen entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem bedeutenden Formgebungsverfahren. Die Urformen des Pressens gehen weit in die Geschichte zurück.202 Das Pressen entwickelte sich Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Formgebungstechnologie.203 Bis das Pressen aber zu einem vollautomatischen Arbeitsprozeß wurde, hatte es viele Stationen zu durchlaufen." 204

1897: Hand-Schlagzeuge zur Herstellung kleiner massiver Artikel mittels Pressen zwischen Stahlformen. 1897: Schlagpressen zum Stanzen kleiner Massenartikel aus pulverisierter Porzellanmasse. Ein Eisengestell ermöglichte den Fußbetrieb. 1897: Tisch-Kurbelpressen verwendeten plastische und pulverisierte Massen. Es wurde ein Druck ohne Schlag ausgeübt. 1897: Säulen-Kurbelpressen dienten der Erzeugung von Schraubdosen, Fassungssteinen, Klemmen, Isolierrollen, Hülsen usw. 1897: Spindelpressen, bei denen ein größerer Druck) als bei Schlag- oder Kurbelpressen möglich war (1.000 – 12.000 kp). Hier ist besonders die Friktionsplattenpresse zu erwähnen, die eine Leistung von 300-350 Platten/Stunde erbrachte. Die Drehbewegung der Spindel wurde dabei durch Friktionsräder (Reibungsräder) erreicht. Zwei große Scheibenräder waren an einer waagerechten beweglichen Welle befestigt und wurden durch einen Motor angetrieben. Zwischen diesen Scheibenrädern befand sich ein waagerecht angebrachtes Friktionsrad, das den oberen Abschluß der Spindel bildete. Abhängig davon, welches Scheibenrad an der waagerechten Friktionsscheibe anlag, wurde die Spindel mit dem Stempel entweder emporgedreht oder gesenkt. Nach 1900: Spindelpressen mit Friktionsantrieb (System FKP): Durch Betätigung des Umsteuerhebels wurde das Schwungrad mit der Spindel von der einen sich drehenden Friktionsscheibe erfaßt, in Bewegung gesetzt und der Preßstempel ging selbsttätig wieder in seine Grundstellung zurück. 1904: Selbsttätige Komprimiermaschine für Presslinge mit kleinen Abmessungen. Diese Maschine dosierte selbsttätig die erforderliche Massemenge, preßte Artikel und beförderte sie selbständig weiter. Sie wurde zur Produktion von Niederspannungsartikeln eingesetzt.

201 Vgl. dazu AB, Anl.45: Darstellung der Pressen. 202 Vgl. S.212: Die Schraubenpresse der Griechen wurde bereits 25 v. Chr. erfunden. 203 Vgl. Anm.190: Die von BRAMAH, POTTER, MATELIN, DELPECH usw. konstruierten Pressen spiegeln diese Technologie wider. 204 MÜLLER, R. 1981, S.21.

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1913: Friktionspresse System ALTHOFF-DORST. Diese handgesteuerte Spindelpresse mit selbsttätiger Füll- und Ausstoßvorrichtung produzierte 600-700 Platten pro Stunde und benötigte eine Arbeitskraft. Eingelegt wurden Matrizen mit niedergehendem Rahmen. Der Ober- und Unterstempel wurde elektrisch auf Handwärme beheizt. Außerdem wurden Friktionsplattenpressen gebaut, denen eine Putzmaschine zum Entgraten angeschlossen war. 1913: Patent für Isostatisches Pressen an H.D. MADDEN zur Produktion von Barren aus hochschmelzenden Metallpulvern bei Zimmertemperatur. Als Drucküberträger dienten Öle und Wasser, dem Korrosionsschutzmittel beigegeben wurde. 1915: Patent für Verfahren zur Formgebung von Steinzeug und Frittenporzellan an NEIL. 1925: Kniehebelpressen wurden von der Maschinenfabrik DORST gebaut als Doppel- Kurvenpressen zur Herstellung von Presslingen aus pulverisierter Porzellan- oder Steatitmasse und als Mechanische Doppelständer-Kurbelpressen zur Produktion größerer Presslinge aus pulverisierter Masse. 1925-1929: Kurbelpressen, mit deren Hilfe man Stanzartikel wie Fassungsringe, Isolierrollen, Klemmplatten usw. produzierte. Die Kurbelpressen unterscheiden sich wie folgt: Freistehende Kurbelpresse mit Handausstoßvorrichtung Mechanische Kurbelpresse mit selbsttätiger Aushebung. Die Bauart war die gleiche wie bei den Handkurbelpressen; der Antrieb geschah durch eine als Schwungrad ausgebildete Riemenscheibe unmittelbar auf die Kurbelwelle. Eine Stiftkopplung, die durch einen Fußhebel ausgelöst wurde, ermöglichte einen Arbeitstakt und die mechanische Bewegung des selbsttätigen Aushebens wurde durch einen auf der Kurbelwelle sitzenden Hebedaumen ermöglicht. Säulen-Kurbelpresse für Kraftbetrieb mit und ohne Rädervorgelege (Typ SKK). Automatische mechanische Kurbelpressen (Typ SKA). Es wurden normale Säulen- Kurbelpressen für Kraftantrieb verwendet. Der mechanische Automat wurde von einem Kettengetriebe von der Kurbelwelle aus angetrieben mit Transportband bzw. mit Abnahmevorrichtung. 1929: Hydraulische Presse, die als Einplatten- und Mehrplattenpresse gebaut wurde.

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Gießen "Das Gießen ist eines der jüngeren Formgebungsverfahren der Feinkeramik. Es ist ein Formgebungsprozeß, der zur Urformung gehört. In den letzten 100 Jahren hat es sehr an Bedeutung gewonnen, da eine variable geometrische Gestaltung des Formlings möglich wurde. Als Formwerkstoff wird Gips verwendet. Die zum Gießen verwendete Masse wird Schlicker genannt. Sie liegt als Suspension mit einem Wassergehalt von 32- 36% vor." 205

Während beim Drehen und Pressen die Maschinen verbessert oder neu konstruiert wurden, bestanden die Neuerungen beim Gießen darin, die Verfahren zu differenzieren.

1891: Es wurde ein Patent erteilt auf die Herstellung von Gießschlicker für Porzellan- und Steinguterzeugnisse mit Hilfe von Natriumkarbonat und Natriumbikarbonat.206 1896: SEGER weist auf die verflüssigende Wirkung von Alkalien 207 und der versteifenden Wirkung von Säuren auf Ton bzw. tonhaltige Massen hin.208 1904: Beim neu entwickelten Sodagießverfahren wurde durch Zugabe von Ammoniaksoda die Gießmasse verflüssigt, gleichzeitig wurde ihr Wasser entzogen. Dadurch ergaben sich folgende Vorteile gegenüber dem herkömmlichen Schlicker: Geringere Trocken- und Brennschwindung,209 Wegfall des Einpinselns der Formen 210 und mehrmalige Benutzbarkeit der Formen.211 1908: BÖTTCHER entdeckt, daß jeder Ton zu seiner Verflüssigung eine definierte Menge Alkali benötigt; wird diese wesentlich überschritten, versteift der Schlicker.212 1917: Das Schichtengießverfahren wird eingeführt, "indem man im Feuer leicht schmelzbare Massen mit schwerer schmelzbaren Massen hintergießt, um im Feuer standhafte Erzeugnisse zu erhalten." 213

Die keramische Formgebung war einer Mechanisierung und Automatisierung nur schwer zugänglich, da die zu verarbeitenden Rohstoffe keine konstanten Verarbeitungseigenschaften besaßen. Sie wurde stark von anderen Industriezweigen interferiert und war unmittelbar vom

205 MÜLLER, R. 1981, S.35. 206 Vgl. LITZOW, K. 1984, S.48. 207 Zu diesen Laugen bzw. alkalisch wirkenden Salzen sind zu zählen: Natronlauge, Soda, Pottasche, Wasserglas, Seife, Glasfritten. Zu den Säuren zählen v. a. Salz- und Essigsäure. 208 Vgl. HECHT, H. 1930. S.95. 209 Der Wassergehalt des Gießschlickers wurde durch Zusätze dem Gehalt der Drehmasse angeglichen, was eine hohe Formkonstanz durch geringe Trocken- und Brennschwindung bedeutete: Der Wassergehalt betrug bei der Gießmasse 33-40%, bei der Drehmasse 30-35%. 210 Das bis dahin übliche Einpinseln der Gipsformen mit Öl entfiel, da durch den Alkalizusatz (Soda) dem Schlicker Wasser entzogen wurde, wodurch sich der gegossene Körper besser von der Form lösen ließ. 211 Die Formen konnten 15-18 mal hintereinander benutzt werden. Vgl. HEGEMANN, H. 1904, S.244f. 212 Vgl. HECHT, H. 1930. S.95. 213 Ebd.

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Entwicklungsstand der Technik und v.a. des Maschinenbaus abhängig. Eine eigenständige Entwicklung der Formgebung in der keramischen Industrie läßt sich erst seit dem Beginn des 19. Jhdts. ausmachen. Diese Entwicklung entbehrte der wissenschaftlichen Grundlagenforschung, hinderte der Manufakturcharakter der Industrie doch diese Forschung. In den vorwiegend auf Handarbeit eingestellten Manufakturen wurde eine breite Palette einzelner Artikel in geringen Stückzahlen produziert. Verbesserungen des Produktionsablaufs geschahen eher zufällig i.S. eines "trial and error" 214 und wurden tw. auch nicht fortgeführt. Der wachsende Bedarf an feinkeramischen Produkten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert215 und besonders die Elektrifizierung und der mit dieser verbundene immense Bedarf an elektrischem Installationsmaterial und Isolatoren erforderten eine Steigerung des Produktionsvolumen. Die chemische sowie die Sanitärindustrie216 entwickelten sich rasch und benötigten ebenfalls Produkte der Porzellan- und Keramikindustrie (Technische Keramik). Dies wiederum bedingte eine Spezialisierung der Produktionsverfahren. Um wenige unterschiedliche Artikel in großen Stückzahlen herstellen zu können, war eine Mechanisierung unumgänglich. Neue Herstellungsverfahren und Maschinen in der

Formgebung ermöglichten es, nichtqualifizierte Arbeitskräfte mit wenig Aufwand hochwertige Produkte herstellen zu lassen; dies steigerte den Profit der Unternehmer.

Das Formgebungsverfahren Gießen besaß folgende Vorteile gegenüber den anderen Verfahren: Kostengünstigere Herstellung der Masse, Erleichterung des Arbeitsablaufs, eine unqualifizierte Arbeitskraft konnte statt eines qualifizierten Formers die Arbeit

214 Ein Beispiel aus dem Bereich des keramischen Brandes bietet der Brennvorgang selbst, bei dem es auf die persönlichen Erfahrungen des Brennmeisters und auf sein Fingerspitzengefühl ankam, so daß man das Brennergebnis nicht vorhersagen konnte. Dies kam u.a. darin zum Ausdruck, daß in den Lieferverträgen eine Klausel ("gut Brand vorausgesetzt" ) den Käufer zur Abnahme von 10% Über- bzw. Unterfertigung verpflichtete. Diese Klausel war bis in die 1970er Jahre Bestandteil der Verträge und ist auch heute noch in den AGB enthalten. Außerdem versammelte sich bis in die 1960er Jahre die gesamte Belegschaft beim Entzünden eines Ofens zum "Gebet um guten Brand". 215 Der Charakter des Porzellans war zu dieser Zeit einem Wandel unterworfen: Porzellan war nicht länger Luxusartikel, sondern wurde zum allgemeinen Gebrauchsgut: "Während vor noch nicht langer Zeit der Besitz des Porzellans ein Vorrecht der reicheren Klassen war, der mittlere Bürger- und Bauernstand sich auf den Gebrauch von Fayance und Irdenwaare beschränkte, hat jenes gegenwärtig in allen Klassen der Consumenten Eingang und damit einen erheblich erweiterten Markt gefunden. Es beruht dies theils auf dem gestiegenen Luxus jener Mittelklassen, theils in der gesteigerten Fabrikation, welche es verstanden, das Erzeugniß, namentlich durch Verwendung eines minder kostspieligen Brennmaterials (Steinkohle), wohlfeiler darzustellen und es damit weiteren Kreisen zugänglich zu machen." Bericht über den Handel und die Industrie von Berlin im Jahre 1864. 1865. Berlin. S.34f. 216 Hier ist insbesondere die "KERAMAG" Keramische Werke AG Meiningen zu nennen, die in ihren Betrieben Wesel, Flörsheim und Ratingen Steinguterzeugnisse wie Badewannen, Wasch- und Spüleinrichtungen, Klosetts, Bidets, Wandbecken, Brunnen und Urinalstände herstellte.

223 ausführen, die Arbeitsproduktivität wurde erhöht und die Garnierungen konnten mit angegossen werden. Diesen standen nur geringe Nachteile wie größerer Aufwand an Formen und stärkere Abnutzung dieser sowie höherer Wärmebedarf bei der Trocknung gegenüber. Es wurde daher versucht, das Gießen weiter zu mechanisieren. Dies gelang jedoch erst ab 1930, als man Gießschlicker durch Rohrleitungen transportierte und 1959 mit der Konstruktion der Radialgießmaschine.

Das Drehen war das Formgebungsverfahren, bei dem zuerst eine Mechanisierung versucht wurde. Im 19. Jhdt. gelang es zunächst nur, den Antrieb der Drehspindel zu mechanisieren. Die 1904 konstruierte Bechereindrehmaschine mit feststehender Schablone war der erste Schritt zur automatischen Taktstraße. Das bei dieser Maschine angewandte Prinzip wurde bis 1930 soweit verbessert, daß die Formgebung nunmehr vollständig maschinell geschah und somit eine großtechnische Nutzung möglich wurde.

Beim Pressen wurde ebenfalls sehr früh versucht, Arbeitsabläufe durch Einsatz geeigneter Maschinen zu mechanisieren. Dabei vollzog sich die Entwicklung von der Spindelpresse zur Friktionsspindelpresse. Bereits 1913 kamen teilautomatische Fliesenpressen zum Einsatz, die bis 1920 zu Halbautomaten weiterentwickelt wurden.

7.3 Historische Entwicklung der Brennöfen 217

"Bei geschichtlicher Betrachtung muß beachtet werden, daß die Brennöfen die kostspieligste Ausrüstung der Keramiker waren und manchmal über mehrere Generationen erhalten wurden. Soweit nicht Entstehung neuer Produkte oder Steigerung der Nachfrage zu Investition und Neubau herausforderten, blieben mancherorts die ältesten Ofentypen bestehen." 218 Ausgehend von offenen Feuerstellen (Feldbrand) entwickelten sich zunächst Erdöfen zum Brennen der keramischen Ware. Dies waren Erdmulden, die man zusätzlich durch einen Wall aus Feldsteinen schützte. Oberzügige Brennöfen sind in Mitteleuropa bereits in der Steinzeit bekannt. Bei diesen wurde in den runden Wandungen eine seitliche Öffnung zum Beschicken ausgespart. Nach dem Verschließen des Ofens wurde durch die Zuglöcher im unteren

217 Siehe AB, Anl.46 Brennöfen. Vgl. hierzu i.e.: PFANNKUCHE, B. 1986, S.40-45. LITZOW, K. 1984, S.111-132. MÄMPEL, U. 1985, S.188-196. SCHMIDT, A. 1927, S.84-95. 218 LITZOW, K. 1984, S.111.

224

Ofenbereich Feuer gelegt; durch die Löcher und die Abzugsöffnung im Dach war es möglich, den Zug und damit die Verbrennungsgeschwindigkeit zu regeln. Das Prinzip dieser oberzügigen Brennöfen mit gemeinsamem Brenn- und Feuerraum hat sich mit gewissen Abwandlungen bis in die Gegenwart tradiert.

Brennöfen mit untergesetzter Feuerung sind solche, bei denen der Brenn- und der Feuerungsraum getrennt sind. Die Erkenntnis, daß sich die größte Hitze eines Feuers stets vor der sichtbaren Flamme entwickelt, hat die Entwicklung dieses Brennofentyps verursacht: Ein Feuer, das unterhalb der eingesetzten Keramikware brennt, erzielt höhere Brenntemperaturen und -damit zusammenhängend- auch besser gebrannte Keramik und geringeren Brennstoffverbrauch. Auch dieser Ofentyp ist schon in der Steinzeit nachweisbar.

Eine Kombination dieser beiden Ofentypen stellt der heute noch in Ungarn zu findende stehende, oberzügige Öfen mit untergesetzter Feuerung dar, wobei die Formen von rund über glockenförmig bis eckig reichen und die Brennkammern teils unterirdisch, teils freistehend sind. Westlich der Donau ist ein Ofentyp auszumachen, der eine vollkommen neue Bauform des Keramikbrennofens darstellt, der liegende Ofen. Dieser liegende Ofen ermöglichte eine bessere Energieausnutzung und somit höhere Brenntemperaturen. Außerdem waren diese Öfen leichter zu konstruieren und zu bauen als runde Öfen; sie mußten nicht sehr breit sein und ihre Länge hatte keine negativen Auswirkungen auf ihre Stabilität. Während dieser Ofentyp in Europa erst im 6. Jhdt. n.Chr. zu finden ist, wurden in China bereits im 1. Jhdt. n.Chr. liegende Öfen gebaut.

Sonderformen dieser liegenden Öfen stellen die sog. Westerwälder Salzglasuröfen und die Kasseler Öfen dar.Vorläufer des Kasseler Ofens war der sog. Meilerofen, ein offener Ziegelofen mit untergesetzter Feuerung. Bei den Salzglasuröfen befanden sich an der Vorderseite untergesetzte Feuerungen, die sich in Kanälen 219 bis ans andere Ende des Ofens fortsetzten. Durch diese Kanäle verteilte sich das Feuer unter der zu brennenden Ware. Beim Kasseler Ofen220, der für das Brennen von Ziegelsteinen ausgerichtet war, wurde das bekannte Bauprinzip durch Ansetzen eines Schornsteins verbessert. Die Schornsteine und die

219 Die Kanäle werden "Füchse" genannt. 220 1827 entwickelte C.A. HENSCHEL für seine Ziegelei in Möncheberg b. Kassel den Prototyp des Kasseler Ofens. Dieser besaß eine reduzierende Atmosphäre, welche die in den Tonen und dem Brennmaterial enthaltenen Schwefelverbindungen hinderte, Schwefeltrioxid zu bilden. Dadurch erhielten die gebrannten Ziegel eine schönere Farbe.

225

Installation von Zwischenfeuerungen sollten die ungleiche Temperaturverteilung im Brennraum ausgleichen.221 Der Kasseler Ziegelflammofen wurde von einem Ziegelmeister und zwei Steinschiebern bedient. Für einen Brand waren durchschnittlich 9 ½ Tage erforderlich: 1 ½ Tage zum Einsetzen der Steine und Ausmauern der Einsetztür, 3 Tage Brenndauer, 3 ½ bis 5 Tage Abkühlung, 1 Tag zum Auskarren der Ziegel. Der Verbrauch betrug ca. 80 Scheffel222 Steinkohlen und am letzten Tag 1 Klafter223 Holz oder 240 Scheffel Braunkohlen.224

F. NEUMANN stellt 1874 folgende Grundsätze für den Bau von Ziegelöfen auf: "1. Die Form muß, aus ökonomischen und technischen Rücksichten, den naturgemäßen Gesetzen der Wärmestrahlung entsprechen und denselben keine, selbst nicht geringe Hindernisse entgegenstellen. 2. Die Verhältnisse der Höhe, Breite und Länge eines Ofens richten sich nach der inneren Form, die den Wirkungen des anzuwendenden Brennmaterials angemessen sein muß. 3. Dabei hat man vorzüglich zu erwägen, daß die Flamme, im Verhältnis der Abnahme ihres Umfanges, auch an Kraft verliert, sich während ihres Zuges aber durch völlige Zersetzung der bis dahin gar nicht oder nur unvollkommen zersetzten Luft und der verflüchtigten und las Rauch entweichenden brennbaren Theile auch wieder verstärkt. 4. Daraus folgt: a) daß der Ofen nach seinem Ende hin in demselben Verhältnisse am innern Raum abnehmen soll, als die Kraft der Flamme sich mindert; b) daß die Länge des Ofens von der Größe der Feuerkammer abhängig sei, d.h. daß der Ofen so lang sein müsse, daß die Flamme, welches das von der Feuerkammer aufgenommene Brennmaterial hervorbringt, Zeit gewinne, sich auf die vorbeschriebene Weise zu verstärken. 5. Wenn ein Brennmaterial angewendet wird, welches wenig Flamme, aber desto mehr strahlende Wärme hervorbringt, so muß der Ofen so gestaltet sein, daß diese Wärme sämtliche Waare leicht erreichen könne. Diese Absicht erreicht man, wenn man den Weg, welche die Hitze bis zur entferntesten Waare zurückzulegen hat, abkürzt und den Zug dahin möglichst zu verstärken sucht. 6. Wenn das Brennmaterial seinen Dienst vollkommen leisten soll, so muß ihm eine solche Lage gegeben werden, daß die zuströmende Luft es auf möglichst vielen Punkten berühren könne, damit dasselbe schnell verbrenne, aber nicht verkohle. 7. Die freie Luft muß in solcher Menge zuströmen, daß das Feuer hinreichende Nahrung erhalte, aber auch im Stande sei, sie völlig zu zersetzen. Was über diese Verhältnis hinaus zuströmt, ist dem Zunehmen der Wärme hinderlich, oder wirkt demselben gar entgegen. 8. Der Zug der Luft wird kräftig vermehrt, wenn man hinter dem Ofen einen leeren Raum anbringt, in welchem durch die sich mittheilende Wärme des Ofens die Luft verdünnt und dadurch der erhitzten, zur Unterhaltung des Feuers nicht mehr tauglichen, Luft der Abzug erleichtert wird. Im Innern des Ofens und der Feuerkammer entsteht dadurch eine Leere, welche die dichte Luft von außen auszufüllen strebt. Wir nennen diesen Raum eine Röhre, einen Kamin. Je länger und enger dieser Raum ist, je mehr wir denselben gegen das Abkühlen durch die atmosphärische Luft schützen können, desto mehr erhitzt er sich und desto bessere Dienste leistet er. Wir thun daher auch in dieser Hinsicht wohl daran, wenn wir den Kamin mit einem Mantel umgeben." 225

221 In Großalmerode wurden in die Mitte der dort aufgestellten Kasseler Öfen Tonrohre gesetzt, die im unteren bis mittleren Bereich Öffnungen zum Brennraum besaßen. Nach oben führten die Rohre durch die Decke des Ofens und konnten verschlossen werden. Hatte beim Brand der Bereich hinter der Feuerung genügend Temperatur, wurde Holz in die Rohre geworfen. Dieses entzündete sich sofort und sorgte dadurch für die nötige Temperatursteigerung im hinteren Bereich des Brennraumes. Vgl. STEPHAN, H.-G. 1995, S.27. 222 Scheffel = Früheres deutsches Hohlmaß. Entspricht 30-300 Liter, abhängig von der Region. 223 Klafter = Raummaß für Holz. Entspricht ca. 3,3 m3 224 Vgl. MÄMPEL, U. 1985, S.191. 225 NEUMANN, F. 1874: Die Ziegelfabrikation. Weimar. S.228f.

226

Die beginnende Massenproduktion keramischer Produkte führte im ausgehenden 18. Jhdt. dazu, das Bauprinzip des Rundofens wieder anzuwenden.226 Ausgehend von Frankreich und England wurden Öfen konstruiert, die den Forderungen nach einer bestimmten Größe – bedingt durch die Menge des Brenngutes - und nach einer möglichst hohen Brenntemperatur dadurch nachkamen, daß die Rundöfen mit mehreren Feuerungen versehen wurden. Zunächst wurden wieder oberzügige Öfen mit unter- oder vorgesetzter Feuerung gebaut. Zwar herrschte bei diesen Öfen im unteren Bereich die größte Hitze, was ungleiche Brennergebnisse beim Brennen von Steingut, Steinzeug und Porzellan hervorbrachte, doch baute man diesen Ofentyp insbesondere in England und Frankreich in diversen Ausführungen. Es entstanden Öfen mit bis zu vier Stockwerken übereinander wie z.B. 1841 in Sèvres.

Zu Beginn des 19. Jhdts. wurden unterzügige Brennöfen entwickelt, bei denen die Brenngase von den außen angebrachten Feuerungen nach oben stiegen, von dort wieder zur Sohle herabgezogen wurden und über einen oder mehrere Abzugskanäle unterhalb des Ofenbodens zum Schornstein geleitet wurden.227 Die weitere Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Entwicklung von kombinierten Öfen mit einer unterzügigen ersten Brennkammer und einer oder mehreren oberzügigen Kammern darüber.228 Neben diesen Rundöfen entstanden auch rechteckige Öfen.229

Um die Brennenergie besser auszunutzen, wurden parallel zum vertikalen Mehrkammerofen liegende Mehrkammeröfen entwickelt. Bei diesen war jede Kammer mit Feuerungen versehen und die Abgase der gerade im Brand befindlichen Kammer heizten die folgenden Kammern vor. Die Verbrennungsluft wurde außerdem durch die schon ausgebrannten Kammern geleitet und so vorgewärmt, was gleichzeitig ein Abkühlen des Besatzes bedeutete.230 Sobald die gerade befeuerte Kammer die Garbrandtemperatur erreicht hatte, wurden Feuerungen und Füchse geschlossen und mit dem Befeuern der nächsten Kammer begonnen.231 Auf diese

226 Der erste deutsche Rundofen wurde 1779 in Ludwigsburg gebaut. Vgl. LITZOW, K. 1984, S.119. 227 AUGUSTINS Brennofen mit Treppenrosten und überschlagender Flammenführung ist ein frühes Beispiel für einen solchen Rundofen, bei dem die Temperaturverteilung im Ofeninnenraum optimal gewährleistet war. 228 Ofen von BERNIER von 1868, bei dem die Brennstoffe Holz und Kohle in separat arbeitenden Generatoren entgast wurden und das auf diese Weise erhaltene Gas direkt zur Befeuerung der Brennöfen eingesetzt wurde. 229 FEILNER entwickelte in Berlin einen dreistöckigen Ofen, in dem die Abgase der ersten Kammer die beiden folgenden Kammern vorheizten. 1771 waren an der KPM in Charlottenburg zehn Rechtecköfen in Betrieb. 230 Bereits 1776 hatte in Berlin ein Ziegelbrenner aus sechs Einzelöfen einen Verbund gebildet, bei dem die Abgase der ersten Kammer die folgenden Kammern vorheizten. Vgl. LITZOW, K. 1984, S.127 231 Bei späteren Konstruktionen wurden die Kammern nicht ringförmig, sondern längs hintereinander angeordnet. Vgl. PFANNKUCHE, B. 1986, S.43.

227

Weise wanderte das Feuer ringförmig von Kammer zu Kammer, womit zum ersten Male ein kontinuierlicher Brennbetrieb möglich wurde.

Beim sog. Hoffmann-Lichtschen Ringofen (Ziegelproduktion) bestand der Brennraum aus einer durchgehenden Kammer, die durch Schieber unterteilt wurde.232 Die Befeuerung geschah durch über dem Ofen angebrachte bewegliche Feuerungen, durch die das Brennmaterial (Kohlen oder Torf) eingeworfen wurde. Sobald eine Zone ausgebrannt war, wurde mit der Befeuerung der nächsten begonnen; die zur Verbrennung nötige Luft wurde durch die schon ausgebrannten Zonen herangeführt und dadurch vorgewärmt. Nach HEUSINGER v. WALDEGG waren die Ringöfen 1876 wie folgt bemessen:233 Breite des Ofenkanals 1,57 - 4,71 m Höhe des Ofenkanals 1,57 - 3,45 m Durchmesser des Kanalrings 12,56 - 47,10 m Schornsteinhöhe 18,84 - 50,24 m Nach REULEAUX bestanden 1873 im Deutschen Reich 500 Ringöfen 234 und WITTE gibt für 1893 4000 Ringöfen in Deutschland an. 235

Tunnelöfen 236 stellen den letzten Entwicklungsschritt dar. In Tunnelöfen wandert das Feuer nicht von Kammer zu Kammer, sondern die Brennware bewegt sich durch eine Zone, in der die gewünschte Temperatur konstant gehalten wird. Die Thonindustrie-Zeitung schreibt 1899 zur Einführung des Tunnelofens ("Canalofens"): "Die mit beweglicher Sohle versehenen continuirlichen Oefen, welche bis jetzt zum Brennen von keramischen Waaren vorgeschlagen sind, nutzen die von den Brennstoffen gelieferte Wärme nicht ausreichend gut aus und genügen hinsichtlich der für die keramischen Waaren nöthigen progressiven und gleichmässigen Erhitzung und Abkühlung nicht den an sie zu stellenden Ansprüchen. Der Zweck der ... unter D.R.P. No.10424 geschützten Erfindung ist, diese Bedingungen durch eine besondere Gestaltung des Gewölbes und der Seitenwände des Ofens und durch feuerfeste, sich mit den zu brennenden Waaren verschiebende Seitenwände zu erfüllen, wobei die Gesammtheit dieser Einrichtungen derart ist, dass die Verbrennungsgase gezwungen werden, alle zu brennenden Waaren nach einander und in gleichem Grade zu bestreichen, und dass die zur Abkühlung nöthige Luft einen ähnlichen Weg durchlaufen muss. Der Ofen ist ein geradliniger Tunnel, durch welchen die Wagen ...

232 Vgl. hierzu BOCK, O. 1888: Der Gasringofen von Z. von Lazar. In: Jahresberichte über die Fortschritte der chemischen Technologie [JFT] 1889, Bd.34, S.815f. 233 HEUSINGER VON WALDEGG, E. 1876, S.113. 234 REULEAUX, C. 1873: Der Hoffmann`sche Ringofen. Berlin. 235 WITTE, O. 1928: Die deutsche Ziegelindustrie, ihre geschichtliche und wirtschaftliche Entwicklung. In: Thonindustrie-Zeitung, 52.Jg., Nr.38, S.754f. 236 Erste Ideen zu Tunnelöfen gab es schon im 16. Jhdt.; ein Vorläufer des Tunnelofens soll 1751 von GERIN in Vincennes gebaut worden sein (vgl. LANGE, P. 1984a, S.166), doch wurden technisch zulängliche Tunnelöfen erst im 19. Jhdt. aus den Ringöfen entwickelt. P.A.YORDT (Dänemark) erhielt 1840 ein Patent auf einen von ihm konstruierten Tunnelofen, der durch seitliche Rostfeuerungen in der Mitte des Brennkanals beheizt wurde.

228 hindurchrollen. Die gewölbte Decke des Tunnels ist an verschiedenen Stellen gewölbt oder flacher gestaltet, und die Seitenwände des Tunnels sind mit Canälen versehen, welche ihn einerseits mit der Aussenluft, andererseits mit den Feuerungen... und mit dem Schornstein ... in Verbindung setzen." 237

Seit Beginn des 20. Jhdts. hat der Tunnelofen alle anderen Ofentypen im industriellen Sektor und bei der Produktion von Großserien verdrängt. In den Jahren 1907 bis 1911 wurden 8 gasbefeuerte Tunnelöfen in der Porzellanindustrie in Betrieb genommen, 1921 bis 1923 weitere 15 Tunnelöfen.238 Die Gründe für den steigenden Einsatz des Tunnelofens in der Porzellanindustrie waren - die Brennmaterialeinsparung von 35 - 60% gegenüber dem Rundofen, - die sehr gute Regulierbarkeit der gasbeheizten Tunnelöfen, - die Anpassung an unterschiedliche Mengen, - der gleichmäßige Brand über den ganzen Brennkanalquerschnitt und - die Einsparung von Kapseln infolge geringerer Belastung bei nur 1,40 m hohen Kapselstößen auf den Herdwagen.239 "Besonders in der Elektroporzellanindustrie setzten sich die Tunnelöfen rasch durch, denn hier bestand ein günstigeres Verhältnis zwischen Kapselmasse und Masse des Brenngutes als beim sperrigen Geschirrporzellan, so daß eine hohe Energieeinsparung erzielt werden konnte. Das Elektroporzellanwerk Hennigsdorf arbeitete schon 1927 mit 4 Tunnelöfen und in der Margarethenhütte Großdubrau wurde 1928 der dritte Tunnelofen gebaut. ... Die Anwendung kurzer Tunnelöfen bei der Herstellung von Erzeugnissen wie Porzellan und Feuerfestmaterialien, die hohe Brenntemperaturen erforderten, verursachten häufig Problem bei der Kühlung. Um bei Schubzeiten von 40-55 Minuten bleiben zu können und um Kühlrisse zu vermeiden, wurden die Tunnelöfen länger gebaut als die ersten Tunnelöfen im 19. Jahrhundert. Sie erreichten in der Elektroporzellan-Industrie 125 m Länge ..." 240

237 23.Jg., Nr.7, S.1211-1213. Vgl. auch: Kanalofen zum Porzellanbrennen. In: Thonindustrie-Zeitung 1907, 31.Jg., Nr.45, S.495-499 u. SCHÄRTLER, C. 1914: Ueber Tunnelöfen, insbesondere den Dreßler- Tunnelofen. In: Sprechsaal, 47.Jg., Nr.25, S.420-422. 238 Diese Tunnelöfen standen u.a. in der Margarethenhütte Großdubrau, in der PF Freiberg und in der PF Königszelt/Schlesien. 239 Vgl. dazu: POHL, W. 1923: Neues über Tunnelöfen in der feinkeramischen Industrie. In: Berichte der DKG, Nr.4, S.256-271. 240 LANGE, P. 1984a, S.171f.

229

Tab.30: Entwicklung des Tunnelofenbrandes in der feinkeramischen Industrie241 1898 Patent für einen Tunnelofen für feinkeramische Produkte (FAUGERON, Frankreich) 1905 Elektrobeheizter Tunnelofen für Steingut (LICHTENSTERN, Österreich) 1906 1. Tunnelofen (System FAUGERON) in d. Porzellanindustrie (Fa. Tielsch & Co./Schle 1909 1. Tunnelofen in der österreichischen Porzellanindustrie 1909 Elektro-Tunnelofen System HORPER u. FITZGERALD (USA) 1910 Tunnelofen System DRESSLER zum kapsellosen Brand v. Feinkeramik (USA) 1914 Klein-Tunnelofen (Fa. Padelt, Leipzig) 1921 1. Tunnelöfen in d. Elektroporzellanproduktion (PF Freiberg und PF Großdubrau) 1922 Tunnelofen in der Wandplattenproduktion (Meißner Ofen- und Porzellanfabrik) 1927 Elektro-Tunnelofen in d. Porzellanproduktion (Wedgwood, England) 1930 1. Tunnelöfen in d. thüringischen Porzellanindustrie (Lichte-Wallendorf, Taubenbach) 1930 Schnellbrand-Kleintunnelofen (Mc. DOUGAL, USA)

Die Möglichkeit, nach Holz, Torf, Kohle und Gas Elektrizität zum Beheizen von Öfen zu verwenden, machte mit dem Beginn des 20. Jhdts. den Einsatz von Elektroöfen möglich. Elektrizität stellt die unproblematischste Beheizung eines Ofens dar, weil keine ständige Befeuerung mit Kohle oder Holz und keine Überwachung der Öfen wie bei Öl oder Gas nötig ist. Zwar wurde bereits 1905 der erste elektrisch beheizte Tunnelofen in Betrieb genommen, doch dauerte es bis in die 50er Jahre d. Jhdt., bis sich der Elektroofen in der Industrie durchsetzte. Ursächlich dafür waren die Investitionen, die im großindustriellen Bereich durch die Umstellung zunächst von Steinkohle auf Öl und danach auf Erdgas nötig waren, was zur Folge hatte, daß zunächst nur mittlere und kleinere Kammeröfen mit Elektrizität beheizt wurden.

Sonderformen von Brennöfen sind Muffelöfen, Dekoröfen und Herdwagen-/Haubenöfen. Muffelöfen wurden eingesetzt, um das Brenngut vor dem direkten Zugriff der Flammen oder vor Ascheflug zu schützen und wurden besonders beim Glasur- oder Dekorbrand eingesetzt.243 Dekoröfen waren kleinere Öfen, in Aufglasurfarben auf gebrannte Stücke aufgeschmolzen wurden. Herdwagen-/Haubenöfen wurden entwickelt, um von allen vier Seiten an die Oberfläche des Bodens der Öfen heranzukommen, was das Setzen der Keramik sehr erleichtert.

241 Aus: LANGE, P. 1984a, Anlagenband, Tab.36. 242 Vgl. hierzu LOESER, C. 1907: Die neue Porzellanfabrik von C. Tielsch & Co. in Altwasser und die Bedeutung des Kanalofens für die Porzellanindustrie. In: Keramische Rundschau, 15.Jg., Nr.38, S.925ff. 243 Vgl. S.45.

230

7.3.1 Feuerungsverfahren

Nachdem zunächst fast ausschließlich mit Holz befeuert wurde,244 dessen Energie man noch durch Einsetzen eines Rostes245 zu optimieren suchte, wurden die Brennöfen - ausgelöst durch die Verknappung des Brennstoffes Holz - in frühindustrieller Zeit sukzessive mit Kohle beheizt. Auch bei der Kohlefeuerung war der Einsatz von Rosten zur vollständigen Verbrennung der Kohlen nötig und es wurden neben dem Planrost mit waagerecht liegenden Roststäben246 diverse Typen von geneigten Rosten und Etagenrosten247 entwickelt. Bei der Pultfeuerung, die eine Weiterentwicklung des Etagenrostes darstellt, werden Verbrennungsluft und Brennmaterial aus der gleichen Richtung in den Feuerungsraum eingebracht, was zur Folge hat, daß die freigewordenen Gase bereits vermischt mit Sauerstoff durch die brennende Schicht eintreten und somit eine bessere und rauchfreiere Verbrennung stattfindet. Bei der Pultfeuerung verbrennen immer wg. der ständigen Luftzufuhr von oben nur dünne Lagen des Brennmaterials; die Verbrennung geschieht dadurch vollständiger und es bildet sich kein Rauch. Bei der Planrostfeuerung wird der neue Brennstoff auf die schon brennende Schicht geworfen, wodurch die brennbaren Stoffe zwar vergasen, jedoch mangels genügendem Sauerstoff keine Oxidation dieser Gase stattfindet: Es bilden sich Rauch und eine reduzierende Atmosphäre.

7.3.2 Brennofensysteme

Alle Brennofenkonstruktionen basieren auf folgenden Möglichkeiten der Flammenleitung: Oberzügig, in liegenden Öfen, unterzügig.

Flammenverlauf in oberzügigen Öfen Hierzu gehören alle Brennöfen, bei denen die Flammen am Boden eintreten, die gesetzte Keramik, die Kapseln oder die Muffeln umstreichen und den Brennraum durch Abzugslöcher

244 Nachweislich wurde bereits im 17. Jhdt. Steinkohle zum Brennen von Ziegeln verwendet. Vgl. PFANNKUCHE, B. 1986, S.48. 245 Der Brennrost wurde im 16. Jhdt. erfunden. 246 Auf die Roststäbe wurde von oben Kohle geschüttet; die Asche fiel durch die Zwischenräume der Stäbe nach unten. Die Zufuhr der zur Verbennungsluft geschah über den Ascheraum. 247 Beim sog. Langenschen Etagenrost wurde die Kohle auf drei Ebenen von hinten unter die brennenden Kohleschichten geschoben; ebenso wurde die Verbrennungsluft an das Feuer geführt.

231 im Gewölbe (oder frei bei Öfen ohne Gewölbe) verlassen.248 Die Beheizung erfolgt mit untergesetzter, vorgezogener oder seitlich angebrachter Feuerung.

Flammenverlauf in liegenden Öfen Bei dieser Ofenart befindet sich die Feuerung an einer Schmalseite und der Abzug an der gegenüberliegenden Seite.249 In diesem Ofentypus entstanden unterschiedliche Temperaturbereiche, was man dadurch zu beheben suchte, daß man seitliche Zusatzfeuerungen oder dem Brennraum untergesetzte Feuerkanäle entwickelte.

Flammenverlauf in unterzügigen Öfen / überschlagende Flamme Die Flamme dringt bei diesen Öfen seitlich oder am Boden in den Brennraum ein, steigt zum Gewölbe auf und wird durch den Sog des Schornsteins wieder zum Abzugskanal am Boden gezogen. Die Vorteile gegenüber Öfen mit aufsteigender Flamme liegen in der optimalen Energieausnutzung, gegenüber liegenden Öfen in der besseren Temperaturverteilung.

7.3.3 Brandführung

Da jeder Brennstoff zur vollkommenen Verbrennung eine bestimmte Menge Sauerstoff benötigt, es aber in praxi unmöglich ist, den Brennstoff so aufzuspalten, daß alle Moleküle gleichzeitig die erforderliche Luftmenge erhalten, wird Luft zugeführt, um eine oxidierende Atmosphäre erhalten. Hingegen verbinden sich beim reduzierenden Brand die Kohlen- und Wasserstoffmoleküle der Brenngase mit den Sauerstoffmolekülen, die in Scherben, Glasur und Ofenmauerung enthalten sind, was deren Sauerstoffanteil reduziert. Bei Aufrechterhaltung der reduzierenden Atmosphäre kommt es zu Kohlenstoffablagerungen in der Glasur. Da Metalloxide wie Eisenoxid in den Glasuren ihre Farbe ändern, wird der Reduktionsbrand insbesondere verwendet, um Farbwirkungen hervorzurufen.

Beim Porzellanbrand ist eine reduzierende Brandführung oder zumindest eine solche, die Reduktionsphasen einlegt von großer Bedeutung: Brennt man Porzellan in einer oxidierenden

248 Zu den oberzügigen Öfen zählen der Erdofen, der Brennofen der Römerzeit und der frühindustrielle Ofen zum Brennen von Porzellan (Böttgerofen). 249 Zu den liegenden Öfen gehören der asiatische Anagama, der französische Ofen von La Borne, der altdeutsche liegende Töpferofen sowie der Kasseler Ofen.

232 oder neutralen Atmosphäre, färbt das im Scherben in geringem Umfang enthaltene Eisenoxid das Produkt und läßt es nach dem Brand gelblich erscheinen. Durch Reduktion gelingt es, das Eisenoxid in Verbindungen mit geringerem Sauerstoffanteil zu transferieren, wodurch der Scherben weiß wird.

Elektroofen: Da Elektroöfen nicht vollkommen dicht ist und in ihnen außerdem kein Brennstoff verbrannt wird, entsteht dort meist eine oxidierende Atmosphäre. Will man eine reduzierende Atmosphäre schaffen, müssen stark kohlenstoffhaltige Materialien wie Holz und Gummi, aber auch Propangas in den Ofen eingebracht werden. Gasofen: Zur Erzielung einer reduzierenden Atmosphäre muß ein Überschuß an Brenngasen gegenüber dem Sauerstoff vorliegen. Dies wird bei Gebläsebrennern dadurch erreicht, daß der Luftanteil der Gas-Luft-Mischung gedrosselt wird; bei atmosphärischen Brennern wird die Primärluftversorgung des Brenners herabgesetzt. Holz- und kohlebefeuerte Öfen: Bei diesen Öfen entsteht, sobald neuer Brennstoff auf die Feuerung gelangt, sofort eine reduzierende Atmosphäre, da zur Verbrennung der aus dem Brennstoff freiwerdenden Gase nicht mehr genügend Sauerstoff zu Verfügung steht - der Schornstein qualmt. Mit fortschreitender Verbrennung werden weniger Gase frei, die nachströmende Luft reicht aus, diese zu verbrennen und es entsteht eine neutrale Atmosphäre. Während der Brennstoff weiter abbrennt und der thermisch bedingte Sog mehr Luft anzieht als zur Verbrennung notwendig ist, entsteht eine oxidierende Atmosphäre. Bei Öfen, die mit Festbrennstoffen beheizt werden, schwankt die Ofenatmosphäre mithin ständig von reduzierend über neutral zu oxidierend. Hierauf läßt sich mit Hilfe der Befeuerung Einfluß nehmen. Da die größte Wärmeenergie bei neutraler Ofenatmosphäre freigesetzt wird, wurde, um eine nicht-reduzierende Atmosphäre zu erreichen, in kurzen Abständen jeweils wenig Brennstoff in die Feuerung gegeben. Zur Erreichung einer reduzierenden Atmosphäre wurde dafür gesorgt, daß mehr Brenngase freigesetzt werden, als Sauerstoff zur Verfügung steht. Dies bedeutete in der Praxis, daß der Brennstoff in der Feuerung niemals ganz abbrennen durfte.

233

7.3.4 Bildung des keramischen Scherbens

Der Zweck des Brandes ist, die geformten Gegenstände unter Einwirkung von hohen Temperaturen zu verfestigen, zu verdichten und die Gestalt zu fixieren. Beim Glattbrand bestehen Gestaltungsmöglichkeiten durch Schaffung einer geeigneten Ofenatmosphäre sowie durch die Wahl des Brennstoffes. Durch die steigende Temperatur im Ofeninnenraum durchläuft die Keramik folgende Stadien: 80-120°C: In diesem Temperaturbereich entweicht das mechanisch gebundene Wasser. 275°C: Erster Quarzsprung. Ab 1100°C wird Quarz in Cristobalit umgewandelt, das anschließende Abkühlen ist mit einer Volumenverringerung von ca. 3% verbunden. Beim Wiederaufheizen wird Alpha-Cristobalit bei 275°C zu Beta-Cristobalit. 250-750°C: Das Kristallwasser spaltet sich von der Masse ab. Da das kristallin gebundene Wasser ca. 14% des Kaolinits ausmacht, bedeutet die Abspaltung einen Verlust von ca. 20 Volumenprozent. Der Vorgang ist nicht umkehrbar, der Scherben bleibt porös und damit saugfähig zur Aufnahme des Glasurwassers. 500-900°C: Durch Abspaltung der Kohlensäure bilden sich Oxide. 575°C: Zweiter Quarzsprung, bei dem Beta- zu Alpha-Quarz umgewandelt wird, was eine Volumenzunahme um 1,35% bedeutet. Aufgrund der Volumenzunahme beim Aufheizen und der Volumenverringerung beim Abkühlen ist der keramische Brand in diesem Temperaturbereich äußerst schwierig. 870°C: Dritter Quarzsprung, bei dem Alpha-Quarz sich in Alpha-Tridymit umwandelt, verbunden mit einer Volumenzunahme. Wird ein Schrühbrand in diesem Temperaturbereich abgebrochen, wird die Ware wg. der auftretenden Spannungen Risse bekommen. Um 900°C: Schrühbrandtemperatur, bei der im allgemeinen die Umwandlung des Tons aus einer plastischen Substanz in eine wasserunlösliche Form beendet ist. Wenn die Schrühbrandtemperatur zu hoch gehalten wird, beginnt der Scherben zu sintern, die Poren schließen sich und die Oberfläche verliert so ihre Fähigkeit, Glasurwasser aufzunehmen. Ab 900°C: Die als Flußmittel wirkenden Massebestandteile beginnen zu schmelzen, die schwerer zu schmelzenden Bestandteile zu umschließen und schließlich zu "verkitten". Durch diese Versinterung verringert sich das Volumen (Brennschwindung).250 Die keramischen Massen, die bis zu ihrem Sinterpunkt gebrannt wurden, sind wasser-, luft- und

250 Trockenschwindung ist dieVolumenverringerung beim Übergang vom feuchtplastischen zum lufttrockenen Zustand. Trocken- und Brennschwindung zusammen ergeben eine Gesamtschwindung von 8-10%.

234

gasdicht. Beim Erreichen der Glattbrandtemperatur sollte getempert 251 werden, um die Versinterung vollständig durchzuführen. Die Sinterpunkte liegen beim Steinzeug bei 1250-1280°C, beim Porzellan bei 1200-1480°C.252 Ziegelton, Irdenware und Steingut wurden nicht bis zum Sinterpunkt gebrannt, sind mithin nicht völlig dicht. Irdenware und Steingut werden daher mit einer rißfrei ausschmelzenden Glasur überzogen, um den Scherben wasserdicht zu machen. Abkühlphase: Nach der Temperzeit wird die Befeuerung eingestellt und man läßt den Ofen abkühlen. Beim Reduktionsbrand in Gas- oder Holzöfen werden diese möglichst dicht verschlossen, damit keine Nachoxidation stattfinden kann und die reduzierende Atmosphäre erhalten bleibt. Das Abkühlen in den drei Temperaturbereichen, in denen Quarzsprünge stattfinden, sollte besonders langsam und vorsichtig geschehen.

7.3.5 Temperaturmessung

Die Töpfer und Brennmeister beurteilten die Ofentemperatur nach der Glutfarbe der Atmosphäre und der keramischen Ware. Wenn nach Stunden oder Tagen des ununterbrochenen Brandes eine nach Erfahrungswerten festzulegende Rotglut herrschte, wurde diese einige Zeit beibehalten, um den Brand danach zu beenden. Bei dieser optischen Kontrolle galten folgende Werte: 253 Beginn des Glühens 525°C Dunkle Rotglut 700°C Beginnende Kirschrotglut 800°C Starke Kirschrotglut 900°C Völlige Kirschrotglut 1000°C Dunkle Gelbrotglut 1100°C Helles Glühen 1200°C Weißglut 1300°C

Es ist leicht ersichtlich, daß es beim Brennen von Keramik zunächst sehr auf die Erfahrung der Beteiligten ankam und ein Ge- oder Mißlingen des Brandes vom Können und dem

251 Tempern bedeutet, daß die erreichte Temperatur über einen bestimmten Zeitraum gehalten wird. 252 Der Sinterpunkt ist abhängig von der Art des Porzellans: Weich- und Knochenporzellan sintert bei 1200-1320°C, Hartporzellan bei 1360-1480°C. 253 Nach PFANNKUCHE, B. 1986, S.230.

235

"Know-how" des Brennmeisters abhing.254 Um eine genauere Temperaturmessung zu erzielen, was besonders bei Glasuren wichtig war, wurden kleine Gefäße oder glasierte Scherbenstücke so im Ofen plaziert, daß sie bei Erreichen der vermeintlichen Ausschmelztemperatur mit langen Eisenwerkzeugen aus dem Ofen gezogen werden konnten.255 Dann ließ sich feststellen, ob der Scherben bzw. die Glasur gelungen war. Die optische Beurteilung bzw. das Ziehen einer Brennprobe waren bis zur Industrialisierung die einzigen Möglichkeiten, die im Ofen stehende Keramik zu beurteilen. Die von A.H. SEGER entwickelten Segerkegel bestanden aus keramischen Rohstoffen, die bei bestimmten Temperaturen zu schmelzen begannen und somit das gleiche Verhalten wie Tone und Glasuren zeigten.256 Da Schmelz- und Sinterprozesse nicht nur von der Temperaturhöhe, sondern auch von der Dauer der Temperatureinwirkung abhängen, war die Temperaturmessung mittels Segerkegeln optimal geeignet, den Zustand der Brennware zu beurteilen. Die technische Ausstattung der deutschen keramischen Industrie im Jahre 1875 veranschaulicht folgende Übersicht:

Tab.31: Brennöfen und Maschinen in der deutschen Keramikindustrie 1875 257 Ziegelbrennöfen...... 2213 Öfen für gewöhnliche Tonwaren...... 1149 Öfen für Feuerfestprodukte...... 917 Öfen für Steingut...... 394 Öfen für Porzellan...... 469 Poch- und Stampfwerke...... 416 Kollergänge...... 538 Ziegelpressen...... 246 Röhrenpressen...... 770

Die Spezialfabriken für den Bau von Keramikmaschinen und –öfen sind in AB, Anl.47 aufgeführt. Nachfolgende, das Kapitel Technikgeschichte abschließende Tabelle faßt die Zusatzerfindungen bei Maschinen, Öfen und Formgebungsverfahren nochmals zusammen.

254 "Minerale von veränderlicher Zusammensetzung und zweifelhafter Reinheit werden einer nicht meßbaren Wärmebehandlung ausgesetzt, die lange genug dauert, um unbekannte Reaktionen unvollständig ablaufen zu lassen, wobei sich das heterogene nichtstöchiometrische Material bildet, welches als Keramik bekannt ist." Diese zwar humorvolle Charakterisierung von Keramik zeigt doch sehr wohl, wie schwierig es war, keramische Brände zu messen und zu steuern. 255 Dieses sog. "Ziehen einer Probe" wird auch heute noch in vielen kunsthandwerklichen Töpferwerkstätten praktiziert 256 Vgl. Anm.151. 257 Quellen: ENGEL, K. 1880: Die deutsche Industrie 1875 und 1861. Berlin und JFT 1876, Bd.21, S.575.

236

18 Zusatzerfindungen258

258 Aus: WEISS, G. 1964, S.182f.

237

VI. TECHNISCHE KERAMIK: WIRTSCHAFTSGESCHICHTE

1. Volkswirtschaftliche Bedeutung der keramischen Industrie

Der Untersuchungszeitraum wird hier bis ca. 1930 ausgedehnt, weil speziell für den Bereich Wirtschaftsgeschichte exaktes Zahlenmaterial aus der Zeit nach 1920 vorliegt, das Vergleiche in der Entwicklung der TK ermöglicht. "Nach den statistischen Angaben der Töpferei- und Ziegelei-Berufsgenossenschaften verschafft die keramische Industrie 1 ½ Millionen Einwohnern Deutschlands ihre Existenz. Die Grobkeramik beschäftigt 450.000 Arbeiter, die Feinkeramik 70.000 und die zugehörigen Ton- und Kaolinbetriebe 25.000. Diese 545.000 Beschäftigten und deren rund 1 Million Familienmitglieder sind jedoch nur der durch die Berufsgenossenschaften ziffernmäßig erfaßbare Teil der im Dienst der Keramik beschäftigten Arbeitskräfte. Diesen sind Zehntausende von Angestellten in den Fabrikationsstätten und eine gleich große Zahl im Handel keramischer Erzeugnisse beschäftigter Personen hinzuzurechnen. Noch größer wird die Zahl der von den keramischen Industrien abhängigen Personen, wenn man an die indirekt in diesen Fabrikationszweigen Beschäftigten denkt, an alle Lieferanten von Maschinen, Apparaten, Chemikalien, Farben, Ölen, Rohstoffe aller Art und besonders Kohlen." 1

Die volkswirtschaftliche Bedeutung der keramischen Industrie um die Jahrhundertwende läßt sich anhand folgender Tabellen ablesen:

Tab.32: Zahl der keramischen Betriebe2

1 SINGER, F. 1923, S.1. 2 Aus: SINGER, F. 1923, S.2.

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Nimmt man die keramischen Betriebe hinzu, die der Ziegeleiberufsgenossenschaft angeschlossen waren, so bestanden im Jahre 1890 ca. 13.250 keramische Betriebe.3 Diese Zahl steigerte sich bis 1900 auf ca. 15.000 Betriebe, sank dann auf 12.250 im Jahre 1910 und schließlich auf ca. 10.000 im Jahre 1920.

Tab.33: Zahl der Arbeitskräfte 4

Addiert man zu diesen Zahlen ebenfalls die Betriebe, die der Ziegeleiberufsgenossenschaft angehörten, so ergibt sich folgendes Bild: 1890 waren 185.000 Arbeiter in keramischen Betrieben beschäftigt, 1895 190.000 Arbeiter; zur Jahrhundertwende stieg die Beschäftigtenzahl (Arbeiter) auf 260.000, 1905 waren 285.000 Arbeiter in keramischen Betrieben beschäftigt, 1910 in etwa die gleiche Anzahl. Im Jahre 1915 sank die

3 Dies ist die Summe der Betriebe, die einer der beiden Berufsgenossenschaften (Töpfereiberufsgenossenschaft bzw. Ziegeleiberufsgenossenschaft) angehörten. 4 Aus: SINGER, F. 1923, S.4.

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Beschäftigtenzahl kriegsbedingt auf ca. 105.000, bis 1920 stieg die Anzahl der in keramischen Betrieben beschäftigten Arbeiter wieder auf rd. 200.000 an.5

Während SINGER eine sehr allgemeine Einschätzung der keramischen Industrie und deren Bedeutung für die Volkswirtschaft bringt, ist für die vorliegende Untersuchung eine Spezifizierung auf die feinkeramische Industrie und hier v.a. auf die Industrie der Technischen Keramik angezeigt.

1882 bestanden nach der Statistik des Deutschen Reiches in der Porzellanindustrie 1.807 Betriebe mit 22.915 Erwerbstätigen und 1895 1.503 Betriebe mit 35.914 Beschäftigten. Dies bedeutete im Zeitraum 1882 bis 1895 eine Zunahme der Beschäftigtenzahl um 56,7%, der eine Abnahme der Betriebe um 16,8% gegenüberstand. Folglich entfielen auf einen Betrieb der Porzellanindustrie im Jahre 1882 12,7 Arbeiter, im Jahre 1895 dagegen schon 23,9 Personen, was die Tendenz zum Großbetrieb veranschaulicht.6 Es läßt sich dabei ein eindeutiger geographischer Schwerpunkt der Porzellanindustrie ausmachen: So bestanden im Jahr 1907 von 208 PF allein 130 in Thüringen und 53 PF in Bayern. Der Anteil der ortsansässigen Bevölkerung an der Arbeiterschaft der Keramikindustrie bestätigt die Behauptung einer geographischen Konzentration dieser Industrie auf Bayern und Thüringen: Tab.34: Anteil der Bevölkerung an der Porzellan- und Steingutbranche 1895 7 Von 1.000 Einwohnern gehörten zur

Kleinere Industrie der Steine und Fayence- u. Porzellanfertigung Verwaltungsbezirke Erden und -veredlung Rehau 280,5 96,6 Königsee 251,7 67,4 Sonneberg 210,3 30,3 Saalfeld 156,2 24,4 Wunsiedel 153,8 19,0 Tirschenreuth 113,4 22,8 Rudolstadt 100,4 26,7 Roda 98,4 29,3 Neuhaldensleben 95,3 18,0 Hof 91,0 22,8

5 Summen der Arbeiter aus Betrieben , die einer der beiden Berufsgenossenschaften angehörten. 6 Vgl. PROBST, F. 1909, S.23. 7 Aus: PROBST, F. 1909, S.31 (Auszug).

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1895 waren 5.550 Arbeitskräfte der Keramikindustrie Nebenerwerbslandwirte, was einer Quote von 12,5% entspricht. Die Zahl der Heimarbeiter nahm deutlich ab: Waren 1882 noch ca. 3.000 hausindustriell beschäftigt, nahm diese Zahl bis 1895 auf ca. 2.100 ab. Noch deutlicher wird die Abnahme der Heimarbeit, wenn man die entsprechenden Verhältniszahlen vergleicht: 1882 waren noch 18,3% der in der Porzellanindustrie Beschäftigten Heimarbeiter, während es 1895 nur noch 8,9% waren. Ein Verlagsgeschäft der Porzellanfabrikation und –veredlung beschäftigte außerhalb der Betriebsstätte 1882 durchschnittlich 60 Arbeitskräfte, 1895 nur noch 38,4 Heimarbeiter. Da WINDORF für das Gebiet Thüringen zu ähnlichen Ergebnissen kommt8 und für die Bezirksämter Rehau und Wunsiedel 1882 von den zuständigen Behörden nur das Weben als Hausindustrie festgestellt wurde,9 weil außerdem das Gros der Heimarbeiter aus Porzellanmalern bestand, mithin für den Produktionsbereich Technische Keramik relativ unbedeutend war, erscheint eine Vernachlässigung der heimindustriell tätigen Arbeiter vertretbar; es soll an dieser Stelle ein Hinweis auf ihre wirtschaftliche und soziale Situation genügen: "Verhältnismässig ist die Bedeutung der Heimindustrie in der Porzellanfabrikation nicht sehr gross. ... Aber wo wir mit der Heimarbeit zu tun haben, da stossen wir auf dieselben Missstände (sic!), die auch in anderen Berufen die Heimarbeit begleiten und sie charakterisieren: Übermässige Arbeitszeit, niedrige Löhne, unbeschränkte Frauen- und Kinderarbeit, Verseuchnung der Wohnungen, Ruin ganzer Familien, Abgeschlossenheit des Heimarbeiters. Und gerade das letzte erschwerte uns auch seit jeher, einen genügenden Einblick in die Verhältnisse unserer Heimarbeiter tun zu können. – Dass auch in unserem Berufe die Frau bei der Heimarbeit in den Vordergrund tritt, hängt auf engste mit der ganzen Fabrikationsweise des Porzellans zusammen. Jene Verrichtungen, die ohne das Vorhandensein besonderer Einrichtungen ausgeführt werden können, fallen den Heimarbeitern zu; und diese Arbeiten sind zumeist die leichteren, die von den Frauen gemacht werden. Ist also der Dreher, Former, Kapselmacher, Modelleur, Brenner etc. an die Fabrik gebunden, so kann das Malen, Giessen, Pressen, Quetschen, Verputzen etc. ausserhalb des Betriebes vorgenommen werden. ... In Thüringen sind so neben den Männern vielfach auch Frauen und auch Kinder, welche die Heimarbeit ausführen. Diese Heimarbeit entstand, nachdem die Fabriken eingerichtet waren, sie ist demnach eine Ausdehnung der Fabrikarbeit. – Wesentlich anders verhält es sich aber mit der Dresdner Heimarbeit. Die dortigen heimarbeitenden Porzellanmaler ... sind als ein Rest vordem selbständiger Maler anzusehen, die früher einmal (wirklich) ihre eigenen kleinen Unternehmer waren, heute aber von den grösseren Malereibesitzern und Porzellanhändlern abhängiger sind als ihre in den Werkstätten arbeitenden Kollegen. Zu den allgemeinen Schäden der Heimarbeit (niedrige Löhne, übermässig ausgedehnte Arbeitszeit, Kinderarbeit) kommen für den heimarbeitenden Porzelliner noch besondere hinzu, die in der Eigenart der Beschäftigung, des zu bearbeitenden Materials etc. begründet sind. Das ist in erster Linie das Risiko für die leicht zerbrechlichen Sachen. Der Heimarbeiter muss seine Ware von der Fabrik holen und wieder dorthin schleppen. Eine Bezahlung dafür erfolgt nicht, und nicht selten gehen für das Liefern dem Heimarbeiter Stunden und selbst ganze Tage verloren. Was auf dem Wege oder im Hause entzwei geht, hat er zu ersetzen. – Dazu die an und für sich recht ungesunde Beschäftigung. Man denke sich die vielleicht einzige Stube mit Formen ausgefüllt. Die Formen werden vollgegossen, und dann lässt man sie in demselben Raum bei übermässig hoher Temperatur

8 Vgl. WINDORF, H. 1912, S.93ff. 9 Vgl. STA Bamberg, K 3 F/VI a 114.

241 austrocknen; oder die Gegenstände werden verputzt, die Ränder geglättet, abgekratzt etc. Ebenso schlecht sieht es beim heimarbeitenden Maler aus." 10

Tab.35: Zahl der Porzellanfabriken und der Beschäftigten11 Jahr Zahl der Fabriken Zahl der Arbeiter Zahl der beschäftigten Personen 1907 230 45.000 49.000 1913 258 53.068 -- 1925 ca. 310 63.800 68.800 1926 293 50.620 -- 1927 291 57.640 -- 1928 289 58.800 69.00

Eine spezifizierte Aufstellung für das Jahr 1921 findet sich im Reichsarbeitsblatt, das die Keramikindustrie hinsichtlich ihrer Beschäftigten bzw. der Anzahl der Betriebe insgesamt und in den einzelnen Gebieten darstellte: Tab.36: Porzellanherstellung und –veredlung 192112 Gebiet / Ort Arbeiter männlich weiblich Summe Betriebe Deutsches Reich 29.553 24.004 53.557 356 Preußen 3.951 4.738 8.689 44 davon: Berlin 487 173 660 5 Brandenburg 630 494 1.124 4 Schlesien 2.339 3.616 5.955 20 davon: Waldenburg 946 1.973 2.937 5 Sachsen 393 373 766 10 Schleswig-Holstein 9 -- 9 1 Hannover 15 20 35 1 Westfalen 9 4 13 2 Rheinprovinz 69 58 127 1 Bayern 12.311 10.192 22.503 121 davon: Selb 3.303 2.382 5.685 11 Wunsiedel 1.362 1.315 2.677 16 Rehau 1.498 1.159 2.657 13 Tirschenreuth 1.045 900 1.945 7 Weiden 804 829 1.633 7 Marktredwitz 665 665 1.330 3 Kronach 579 477 1.056 3 Freistaat Sachsen 2.125 1.191 3.316 14 Württemberg 158 199 357 5 Baden 580 129 709 13 Thüringen 10.122 7.223 17.345 155 davon: Sonneberg 1.883 1.384 3.267 20 Jena-Roda 2.042 1.114 3.156 20 Rudolstadt 1.550 1.019 2.569 33 Arnstadt 1.272 947 2.219 33 Saalfeld 936 843 1.179 21 Braunschweig 171 110 281 1 Anhalt 118 147 265 1 Lübeck 17 75 92 2

10 Die Ameise, Sonderabdruck 1906. Zit. Nach PROBST, F. 1909, S.33f. 11 Quelle: Ausschuß z. Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der dt. Wirtschaft (Untersuchungsausschuß) 1931, S.4. 12 Quelle: Reichsarbeitsblatt 1923, Nr.22/23. In: Thonindustrie-Zeitung 1924, 32.Jg., Nr.18, S.206f.

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An dieser Tabelle lassen sich eindeutig die geographischen Schwerpunkte, mithin die Standortverteilungen der Porzellanindustrie ablesen: Von insgesamt 356 Betrieben der Porzellanerzeugung und –veredlung befanden sich im Jahre 1921 121 (34%) in Bayern, von diesen wiederum 60 PF (50%) in Oberfranken und der Oberpfalz. In Thüringen bestanden sogar 155 Fabriken (44%), wovon 127 (75%) in Thüringen lagen. Gleiches läßt sich für die Beschäftigtenzahl sagen: Von insgesamt 53.557 Arbeitern in der Porzellanindustrie waren 22.503 (42%) in bayerischen Betrieben beschäftigt, hiervon wiederum 16.983 (75%) in obefränkischen/oberpfälzischen Unternehmen. In thüringischen PF arbeiteten 17.345 Arbeiter (32%), davon entfielen auf Thüringen 12.990 Beschäftigte (75%).

Tab.37: Porzellanfabriken nach Betriebsgrößen13 Betriebe 1907 1925 mit ... Personen Betriebe % Beschäftigte % Betriebe % Beschäftigte %

1 - 3 1.195 74,6 676 1,4 868 66,1 390 0,5 4 - 5 51 3,2 217 0,4 42 3,2 187 0,3 6 - 10 52 3,3 401 0,8 39 3,0 283 0,4 11 - 50 88 5,5 2.366 4,6 107 8,1 2.739 3,9 51 - 200 129 8,1 14.295 27,8 149 11,3 16.945 23,8 201 - 500 71 4,4 22.787 44,3 72 5,5 22.386 31,5 501-1000 12 0,8 8.634 16,8 31 2,4 21.256 29,9 > 1000 2 0,1 2.010 3,9 5 0,4 6.916 9,7 Insges. 1.600 100 51.386 100 1.313 100 71.102 100

In den letzten Vorkriegsjahren nahm die Porzellanindustrie einen raschen Aufschwung. So hatte sich in dem Zeitraum 1907 – 1914 die Zahl der Betriebe um 12%, die Zahl der Vollarbeiter um 20% erhöht. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges stagnierte diese Entwicklung, um in den Nachkriegsjahren wieder fortzuschreiten: 1928 lag die Zahl der Vollarbeiter um 11% über der letzten Vorkriegszahl und 1925, einem Jahr mittlerer Hochkonjunktur, war diese Zuwachsrate sogar noch überschritten worden.

Bedingt durch die Elektrifizierung hatte sich v.a. die Zahl der Elektroporzellanfabriken seit der Vorkriegszeit stark erhöht. Der Verband Keramischer Gewerke gab eine Erhöhung der

13 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.5. Das Zahlenmaterial der hierzu vom Untersuchungsausschuß herangezogenen Quellen (Amtliche Betriebszählungen, Erhebungen der Töpfereiberufsgenossenschaft und des Verbandes Keramischer Gewerke) zeigte z.T. erhebliche Unterschiede.

243 reinen Elektroporzellanfabriken von 32 i.J. 1913 auf 57 i.J. 1927 an und stellte fest, daß die Zahl von ca. 30 gemischten Betrieben14 sich seit der Vorkriegszeit kaum verändert hatte. Der Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken ermittelte für das Jahr 1929 29 (reine und gemischte) Porzellanfabriken, die sich mit der Produktion von elektrotechnischem Porzellan befaßten.15 Diese Zahlen lassen sich noch weiter spezifizieren: Mit der Produktion von Hochspannungsporzellan waren 1913 12 Betriebe und 1928 18 Unternehmungen mit 23 Betrieben befaßt.16 Von den an der Produktion von elektrotechnischem Porzellan beschäftigten Arbeitern entfielen 1928 3.000 bis 4.000 auf die Herstellung von Hochspannungsporzellan und ca. 6.000 bis 7.000 auf die Herstellung von Niederspannungsporzellan. Chemisch-technisches Porzellan wurde 1928 von 8 Fabriken erzeugt; diese stellten zum größten Teil auch andere Technische Keramik her.17 Auf die Produktion von chemisch-technischem Porzellan entfielen in diesem Jahr 800–1.000 Arbeiter, während 1.200 bis 2.000 Arbeiter sonstige Technische Keramik herstellten. Von den in der Porzellanindustrie beschäftigten Arbeitern stellten 1928 ca. 78% (=ca. 45.000 Arbeiter) Haushaltungsporzellan und rd. 22% (=ca. 13.000 Arbeiter) technisches Porzellan her.

Der Produktionswert der Porzellanindustrie betrug 1925 ca. 182 Mill. RM, von denen etwa 40 Mill. RM, also rd. 22% auf Technisches Porzellan entfielen. Dieser Prozentsatz steigerte sich noch auf 25% i.J. 1928.

"Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Anteil des technischen Porzellans am Produktionswert der Porzellanindustrie im Vergleich zur Vorkriegszeit gestiegen ist. Genaue zahlenmäßige Unterlagen liegen für die Vorkriegszeit nicht vor, nach Meinung von sachverständigen hat jedoch der Anteil des technischen Porzellans damals kaum mehr als 7% betragen. Die Produktion von technischem Porzellan dürfte sich im Vergleich zur Vorkriegszeit mehr als verdoppelt haben." 18

14 Im Ggs. zu reinen Elektroporzellanfabriken, die ausschließlich Elektroporzellane herstellten, produzierten gemischte Betriebe Geschirrporzellane und Elektroporzellane. 15 Die Differenzen erklären sich aus der Tatsache, daß während des 1. Weltkrieges mehrere Luxus- und Geschirrporzellanfabriken die Produktion von Elektroporzellan für den Kriegsbedarf aufgenommen hatten, denn die Herstellung von Elektroporzellan begründete einen bevorzugten Anspruch auf Kohlenlieferungen, die auch der Produktion des übrigen Porzellans zugute kamen. Ein Teil dieser Fabriken hat nach dem Krieg die Herstellung von Elektroporzellan wieder aufgegeben, andere Fabriken behielten diese bei, allerdings in so geringem Umfang, daß sie vom Verband Elektrotechnischer Porzellanfabriken nicht mehr als Elektroporzellanfabriken gezählt wurden. Zu den Fabriken, die während des Krieges ihre Produktion tw. auf die Fabrikation von Isolatoren umstellten, ist die 1897 gegründete PF Marktredwitz Jaeger & Co. zu zählen. Vgl. STEPHAN, C. 1933, S.100 u. WESTFEHLING, J. 1932, S.16. 16 Diese Betriebe stellten jedoch auch andere Technische Keramik, wie bspw. Niederspannungsporzellan her. 17 "Eine eindeutige Verteilung der Arbeiterzahl auf die einzelnen Industriezweige ist nicht möglich, weil in den zahlreichen gemischten Betrieben dieselben Arbeiter abwechselnd oder auch zu gleicher Zeit (wie z.B. Brenner) an der Herstellung ganz verschiedener Porzellane beteiligt sein können." [Untersuchungsausschuß 1931, S.8]. 18 Untersuchungsausschuß 1931, S.9.

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Tab.38: Produktionsmenge und –wert der TK 1913 und 1925-1928 (Auszug)19

Menge in 1.000 t | Wert in Mill. M/RM20 Produkt Jahr 1913 1925 1926 1927 1928 1913 1925 1926 1927 1928

Technisches Porzellan --- 46-49 37-38 54 54 --- 40 33 47 54 insgesamt ¾ Hochspannungs- --- 17 16 19 20 6 16 16 20 22 porzellan ¾ Niederspannungs- --- 24-27 17-18 30 30 --- 18 12 20 23 porzellan ¾ Chemisch-technisches --- 1 1 1 1 --- 2 2 3 3 Porzellan ¾ Sonst. technisches --- 4 3 4 3 --- 4 3 4 6 Porzellan

2. Standortverteilung der keramischen Industrie

Nach WEBER sind die Standortfaktoren die Möglichkeiten, "den als Ganzes betrachteten Produktions- und Absatzprozeß eines bestimmten Produkts nach irgend einer Richtung billiger durchzuführen als anderswo." 21

Dabei unterscheidet er nach generellen, für alle Industrien geltenden Standortfaktoren wie Transportkosten, Arbeitskosten und Gewinn sowie nach speziellen, nur für bestimmte Industrien oder Industriegruppen geltenden speziellen Standortfaktoren. Als Standorte der keramischen Industrie im hier untersuchten Zeitraum kommen demnach im wesentlichen Bayern, Thüringen, Sachsen und Schlesien in Frage.22 Auf Bayern, insbesondere Oberfranken, entfielen 20% der deutschen Produktion an Hochspannungsisolatoren; Niederspannungs- und sonstige technische Keramik wurde in Sonderheit in Thüringen

19 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.9 (Auszug). 20 Seit 1871 war die Währungseinheit des Deutschen Reiches die Mark. Nach der Inflation wurde 1923 die Rentenmark eingeführt, der 1924 die Reichsmark folgte. Daher werden f.d. Zeitraum 1913-1928 zwei verschiedene Währungseinheiten angegeben. 21 WEBER, A. 1922: Ueber den Standort der Industrien, S.16. 22 Wenngleich RUPPERT einschränkend bemerkt, daß "die heutige Forschung ... die Mittelgebirge (mithin auch das Fichtelgebirge und den Thüringer Wald als Zentren der Porzellanindustrie, d.Verf.) als einen sozioökonomischen Raum (wertet), dessen Bedeutung darin besteht, daß für die Erklärung der industriellen Entwicklung nicht mehr primär die von Alfred Weber aufgezeigten Standortfaktoren herangezogen werden können." Ein weitaus größeres Gewicht sei auf "das interdependente Verhältnis von Bevölkerungsstruktur und sozialen Bedingungen auf der einen und wirtschaftlicher Betätigung als Erwerbsgrundlage auf der anderen Seite zu legen. 1971, S.300.

245 produziert und Sachsen war charakterisiert durch große Elektroporzellanfabriken. Übereinstimmend dazu stellt LOEWE fest: „Der Sitz der elektrotechnischen Porzellanfabriken ist zum größten Teil derselbe wie der übrigen Porzellanindustrie, entsprechend den Ursprüngen der Elektroporzellanfabrikation, die zuerst von den alten Porzellanfabriken ... gepflegt wurde. So kommt es, daß die alten Porzellanländer Bayern (Oberfranken), Thüringen und Schlesien die Hauptproduktionsgebiete auch für das elektrotechnische Porzellan sind. Daneben hat sich seine Industrie ... auch in Sachsen entwickelt, sich den ihre Produkte abnehmenden und weiterverarbeitenden elektrotechnischen Fabriken folgend in und um Berlin angesiedelt ... und schließlich ..., zu einem allerdings ganz bescheidenen Teil, im Rheinland und in Westfalen.“23

19 Standortverteilung der keramischen Industrie 1925 nach der Zahl der Arbeiter24

Betrachtet man den Produktionszweig "Hochspannungskeramik" (Isolatoren), so läßt sich feststellen, daß im Zeitraum 1913 bis 1927 der Anteil Thüringens an dieser Produktionssparte von 48% auf 26% zurückgegangen ist, während der Prozentsatz Sachsens von 19% auf 31%

23 LOEWE, H. 1927, S.705. 24 Quelle: Statistik des Deutschen Reiches 1930, Bd.418, Anhang, Karte 8.

246 und derjenige Berlins (KPM, Schomburg) von 12% auf 20% stieg; Schlesien war mit rd. 3% Anteil vor und nach dem Ersten Weltkrieg relativ unbedeutend.25

Während die ersten Porzellanmanufakturen Gründungen der jeweiligen Landesherren waren,26 entstanden in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. in Thüringen private Betriebe unter landesherrlicher Genehmigung und Privilegierung. Die vorhandenen Roh- und Betriebsstoffe – Kaolin aus Lagerstätten bei Steinheid, Ton aus Coburg, kaolin- und feldspathaltige Porzellanerde aus Rudolstadt, Gotha, Kahla und Sonneberg, Holz aus dem Thüringer Wald - waren für den damaligen Umfang der keramischen Industrie in Thüringen ausreichend. Die bayerische, insbesondere die oberfränkische Porzellanindustrie entstand im Anschluß an Kaolinfunde HUTSCHENREUTHERs in der Nähe von Hohenberg a.d.Eger. Hier waren die reichen Holzvorräte des Fichtelgebirges sowie Quarz- und Kaolinvorkommen ausschlaggebend. Die räumliche Nähe zur böhmischen Kohle und zu hochwertigen Kaolinvorkommen im Karlsbader Becken begünstigte die Ausdehnung der keramischen Industrie in Oberfranken. Für die Gründung der schlesischen Industrie waren Holz- und Kohlevorkommen im Waldenburger Revier entscheidend.

Betrug der Anteil Thüringens an der Gesamtzahl der Porzellanfabriken 1895 noch ca. 60%, so sank der Prozentsatz bis 1925 auf rd. 45% ab; ebenso ging der Anteil Schlesiens von 10% auf 6% zurück. Dagegen wiesen Sachsen mit 4% auf 5% eine geringfügige Steigerung und Bayern mit 18% auf 30% eine starke Zunahme auf. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der prozentualen Zunahme der Porzellanfabriken in den einzelnen Regionen im Zeitraum 1895 bis 1925 wider, die in Bayern 207% ,27 in Sachsen 128%, in Thüringen 38% und in Schlesien 6% betrug.28 Die Verschiebung der prozentualen Anteile hatte ihre Ursache in der Verschiebung bzw. Neugewichtung der Standortfaktoren. Während ursprünglich Roh- und Brennstoffvorkommen Faktoren der Standortbildung der keramischen Industrie – soweit diese privater Initiative entsprang – waren, spielte für die weitere Entwicklung die Anwesenheit eines seit Generationen ansässigen Facharbeiterstamms an diesen Standorten eine ausschlaggebende Rolle:

25 Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.19. 26 So z.B. folgende Porzellanmanufakturen: Meißen 1713, Nymphenburg 1747, Frankenthal 1754, Ansbach 1759, Kloster Veilsdorf 1760, KPM Berlin 1760, Volkstedt 1767. Die Produkte dieser Manufakturen sollten dem Glanz der fürstlichen Hofhaltung dienen, jedoch auch die Schatullen füllen. 27 Nach einer Aufstellung der der Töpfereiberufsgenossenschaft angeschlossenen keramischen Betriebe stieg die Zahl der Porzellanfabriken in Bayern von 30 i.J. 1895 auf 92 i.J. 1925. Vgl. ROLLE, G. 1928, S.106. 28 Vgl. ROLLE, G. 1928, S.76.

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"In keiner Industrie ist es so schwierig, ein neues Unternehmen konkurrenzfähig zu machen, wie in der keramischen.. Die rationellste Anlage, die zweckentsprechenste maschinelle Einrichtung, der erfahrenste Fachmann und der branchenkundigste Kaufmann genügen hierzu nicht, solange nicht ein gut eingearbeiteter Arbeiterstamm herangebildet ist." 29

In der Gründungphase nach dem Krieg von 1870/71 wurden in den ursprünglichen Produktionszentren zahlreiche Porzellanmalereien durch ehemalige Porzellanarbeiter oder hinzugezogene Unternehmer errichtet; diese bezogen zunächst das Weißporzellan zur Dekoration, gingen dann jedoch selbst zur Porzellanproduktion über. So bedeutete die Lage der keramischen Industrie an den ursprünglich roh- und brennstofforientierten Standorten in der weiteren Entwicklung v.a. auch eine Arbeitsorientierung: "Durch den Bau der Eisenbahnen war die traditionelle Bindung der Porzellanfabriken an einheimische Roh- und Brennstoffe nicht mehr nötig. Durch die Nutzung der Elektroenergie entfiel auch die Bindung der Masseaufbereitung an vorhandene Wasserkräfte. Da die Porzellanindustrie ein arbeitskräfteintensiver Industriezweig war, wurden ab 1880 Arbeitskräftesituation und Eisenbahnverbindungen30 zu den wichtigsten Standortfaktoren für die Ausbreitung des Industriezweiges." 31

Die Ansiedlung der Porzellan- und Keramikindustrie vorwiegend in Klein- und Mittelstädten war durch das Bestreben der Unternehmer begründet, das Lohnniveau möglichst gering zu halten. Die Porzellanfabrik war in den meisten Fällen die wichtigste, wenn nicht sogar einzige Arbeitsstätte für die einheimische Bevölkerung, die damit der Lohnpolitik des jeweiligen Unternehmens ausgesetzt war. Ein weiterer Grund war die Opposition gegen gewerkschaftliche Organisationen, die in Thüringen schon relativ früh bestanden. Die Unternehmer befürchten, daß in Orten, in denen bereits Organisationen anderer Gewerkschaften bestanden, auch bald solche der Porzellanarbeitergewerkschaft entstehen würden; dies jedoch hätte die Bereitschaft zu Arbeitskämpfen erhöht: "Für die Arbeitsverhältnisse in der oberfränkischen Porzellanindustrie ist von grundlegender Bedeutung die Tatsache, daß die Fabriken starker lokaler Dezentralisation meist auf kleine Orte verteilt sind. Dadurch ist für den Unternehmer von vornherein eine gewisse Überlegenheit gegenüber den Arbeitern begründet. Die ansässige Arbeiterschaft, vielfach durch kleinen Grundbesitz an die Scholle gefesselt, konnte dem Fabrikherrn nicht mit gleichen Forderungen gegenübertreten wie ein städtischer besitzloser Proletarier. Zudem ist der Ausbreitung einer beruflichen Organisation der ländliche Charakter der Arbeiterbevölkerung ebenso ungünstig wie das Fehlen eines starken Rückhalts an größeren, lokal konzentrierten Arbeitermassen. Von den Unternehmern wurde die Erhaltung eines bodenständigen Arbeiterstammes häufig gefördert durch Gewährung billiger

29 PAUL, G. 1925, S.9. 30 Beispiele aus dem Thüringer Raum sind die Bahnverbindung Gera-Saalfeld, an deren Strecke es zur Gründung der PF Triptis und Könitz kam, des weiteren die Strecke Orlamünde-Pößneck, die zur Gründung der PF in Freienorla und Langenorla führte und die Trasse -Sonneberg, die PF in Sonneberg, Probstzella, Gräfenthal, Lippelsdorf, Steinach entstehen ließ. Ähnliches läßt sich auch für die Bahnverbindungen Plaue-Ilmenau, Rottenbach-Königsee, Ilmenau-Schleusingen und Ilmenau- Großbreitenbach nachweisen. 31 LANGE, P. 1977, S.438.

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Hypothekendarlehen ... an hausbesitzende Arbeiter oder an solche, die Gelegenheit hatten, sich ein kleines Anwesen zu erwerben." 32

Zusammenfassend läßt sich somit sagen, daß "die oberfränkische Porzellanindustrie ... nur noch in geringem Maße einer Transport- bezw. Materialorientierung (unterlag, d.Verf.), dass auch durch Agglomeration ausgelöste Kräfte ohne namhaften Einfluss auf den Standort (waren), dass dagegen eine gewisse Arbeitsorientierung immer noch vorhanden (war) ..." 33

Diese Feststellung GERLACHs läßt sich auf die thüringische Porzellanindustrie übertragen: "... konnten die anderen, auf die Wahl des Standorts einwirkenden Momente, besonders billige Arbeitskräfte, in sehr viel größerem Umfange als bisher ... Berücksichtigung finden. ... Während einstmals Waldreichtum und Materialvorräte die Pfeiler darstellten, auf denen sich unser Industriezweig aufbaute, haben heute beide Faktoren fast keine Bedeutung mehr für ihn." 34

3. Rationalisierung

Rationalisierungsmaßnahmen erstreckten sich einerseits auf die einzelnen Stadien des technischen Prozesses sowie auf ihre organisatorische Verknüpfung (Arbeitsanordnung) innerhalb des Betriebes; andererseits wurden durch Rationalisierung, über die Grenzen des einzelnen Betriebes hinausgreifend, größere Gruppen des Industriezweiges erfaßt, was Vereinbarungen über Spezialisierung, Normung, Austausch technischer Erfahrungen, gemeinsame Einkaufs- und Absatzorganisation zur Folge hatte, die ihrerseits wieder den Anstoß zur weiteren innerbetrieblichen Rationalisierung gaben. Die Arbeiterschaft, insbesondere die Gewerkschaften, brachten der technischen Rationalisierung keinen Widerstand entgegen, vielmehr bedauerten sie vielfach die technische Rückständigkeit vieler kleinerer Betriebe. Folgende Äußerungen, die von gewerkschaftlichen Sachverständigen 1931 vor dem Untersuchungsausschuß bzgl. Rationalisierungen in der Materialaufbereitung bzw. Einsatz des Tunnelofens gemacht wurden, belegen diese These: "Die Mühlen, in denen das harte Material aufbereitet wird, waren früher verhältnismäßig primitiv; sie sind in den letzten Jahren wesentlich verbessert worden. Die Masse wird heute fast überall durch Masseschlagmaschinen geknetet; früher ist diese Arbeit zum Teil mit der Hand gemacht worden, ... früher waren nur wenige Betriebe, heute sind die meisten Betriebe maschinell ausgerüstet."35 "Bis vor wenigen Jahren habe ich eine Fabrik gekannt, in der der Ton noch barfuß getreten wurde. In Thüringen haben wir noch recht viele Betriebe, die nach dem alten Verfahren arbeiten." 36

32 METZGER, K.A. 1921, S.98f. 33 GERLACH, H. 1924, S.46. 34 WINDORF, H. 1912, S.12. 35 FROMM, M. vom Berufsverband christlicher Keramarbeiter. Zit. nach: Untersuchungsausschuß 1931, S.53. 36 HOFFMANN vom Keramischen Bund (s.S.23). Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.54.

249

"Soweit und bekannt ist, beruhen die schlechten Betriebsergebnisse einiger Tunnelofenfabriken nicht auf der Tunnelofenanlage. Uns ist übrigens bekannt, daß man in Schwarzenbach a.S. vorzügliche Erfahrungen mit Tunnelöfen gemacht hat." 37 "Beim Ausnehmen eines Rundofens müssen 3 oder 4 Arbeiter in den heißen Ofen hineingehen, während beim Tunnelofen ein Wagen durch den Tunnel fährt und die Waren außerhalb des Ofens erst abkühlt, ehe die Kapseln entleert werden." 38

Vergleicht man die Pro-Kopf-Leistung in der Keramikindustrie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit derjenigen nach dem Krieg, so läßt sich feststellen, daß bei einer Jahresarbeitszeit von ca. 3000 Stunden vor dem Krieg und ca. 2400 Stunden nach dem Krieg die Stundenproduktion bis 1925 um 70 – 100% stieg, wobei der Prozentsatz für Elektroporzellan tw. noch höher lag. Da die Preise 1925 jedoch nur um 50% über dem Vorkriegsniveau gelegen haben, ist die Steigerung der Stundenproduktion auf die höhere Effizienz der Arbeitskräfte zurückzuführen. Folgende Tabelle vergleicht die Produktionen je Arbeiter und Woche in den Jahren 1914 und 1929:39

37 KARL vom Keramischen Bund. Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.65. 38 APEL vom Keramischen Bund. Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.65. 39 Da in der Vorkriegszeit die Wochenarbeitszeit höher war als 1929, ist die Produktion je Stunde stärker gestiegen als die Werte in der Tabelle erkennen lassen.

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Tab.39: Produktion und Produktionssteigerung in zwei TK produzierenden Betrieben40 Betrieb A Betrieb B Produkt Wochenproduktion Produktions- Produkt Wochenproduktion Produktions- je Arbeiter in Stück steigerung in % je Arbeiter in Stück steigerung in % 1914 1929 1914 1929 Artikel Nr. 1 11 21 91 Durchführungen 30 42 83 98 2 6,5 9,5 46 31 210 351 67 3 3,5 5,5 57 32 158 280 77 4 225 425 89 33 28 47 69 5 225 350 55 34 12 26 120 6 145 300 103 35 79 141 79 7 120 280 125 36 194 280 45 8 90 220 120 37 144 241 67 9 45 100 122 38 79 141 79 10 25 56 104 Isolatoren 39 206 292 42 11 50 110 120 Deltaglocke 13 450 530 18 14 400 480 20 15 350 410 17 16 300 350 17 17 255 320 27 18 190 285 50 19 145 230 59 20 60 120 100 Stützen 21 700 1100 57 22 550 900 64 23 400 650 62 24 300 500 67 25 180 320 78 26 130 220 70 Schäkel 27 500 1000 100 28 400 880 120 29 350 600 71

3.1 Rationalisierung einzelner Produktionsabschnitte

Materialaufbereitung Masseschlagmaschinen, Massemühlen, drehende Walzen auf festem Tisch oder rotierende Tischplatten unter stehender Walze wurden eingesetzt, um die Masseaufbereitung zu

40 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.40.

251 rationalisieren. Ebenso wurde die Kapselherstellung bereits während des Ersten Weltkrieges automatisiert, was die Lebensdauer der Kapseln auf drei bis vier Brände erhöhte.

Formgebung Beim Drehverfahren wurde die Handarbeit zunächst durch die Schubscheibe mit Fußantrieb, später durch die maschinell angetriebene Drehspindel unterstützt; in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurden tw. Halbautomaten eingesetzt. Beim Gießverfahren wurden die Arbeitsabläufe dadurch rationalisiert, daß man nicht mehr, wie früher üblich, den flüssigen Schlicker aus einem Bottich an den Arbeitsplatz holte, sondern diesen durch eine Rohrleitung an den Arbeitsplatz leitete und durch einen Schlauch mit Hahn in die Form einfüllte.

Zur Produktion von Technischer Keramik (insbesondere Niederspannungsartikel) wurden automatische Pressen eingesetzt. Beim Steatit war der Anwendungsbereich der automatischen Pressung umfangreicher als beim Porzellan, da Steatit im Gegensatz zum Porzellan trocken gepreßt werden konnte. Der Vorteil der automatischen Pressung lag in der relativ hohen Stückzahl vollkommen gleicher Produkte. Die Betriebe der Niederspannungsporzellanindustrie waren kaum spezialisiert, was bedeutete, daß jeder Betrieb viele unterschiedliche Artikel in unterschiedlichen Stückzahlen herstellen mußte. Dies wiederum bedeutete, daß die Produktion an den automatischen Pressen zum Einspannen neuer Matrizen oft unterbrochen wurde, was deren Effektivität senkte. Um diesen Effektivitätsverlust zu mindern, wurde versucht, der Zahl der herzustellenden Artikel zu beschränken. Dies konnte durch Normung in Absprache mit der elektrotechnischen Industrie geschehen oder durch Unternehmenskonzentrationen, welche die Spezialisierung der einzelnen Betriebe ermöglichte. 41

Trocknung Neben der üblichen Kammertrocknung wurden zunehmend Mangeltrockner eingesetzt. Bei diesen liefen durch einen rundum geschlossenen Kasten (Trockenelevator) in auf- und absteigender Bahn zwei parallel geführte endlose Ketten, zwischen denen Schaukeln hingen, die die Formen trugen. Auf der Stirnseite setzte der Dreher die frisch geformte Ware auf, die dann den Trockner durchlief und danach bereits lederhart war. Die Vorteile bestanden in einer wesentlichen Verkürzung der Trocknungsdauer, dadurch weniger Kapitalbindung, einer

41 Die Unternehmenskonzentrationen in der keramischen Industrie werden im folgenden genauer untersucht.

252

Verringerung der Transportkosten sowie einer Einsparung an Gipsformen. Die Trocknungszeit konnte mit Hilfe dieser neuer Methoden auf ein Achtel bis ein Zehntel gesenkt werden: Bei Isolatoren wurde die Trocknungszeit von einem Monat auf drei Tage, bei großen Elektroporzellanteilen von 12 Wochen sogar auf fünf Tage gesenkt werden.

Brand Die Rationalisierungsmöglichkeiten des Brennprozesses erstreckten sich auf die Ofenbausysteme, die Art der verwendeten Brennstoffe und die Raumausnutzung der Öfen. Die Rationalisierung im Ofenbau war gekennzeichnet durch den Übergang vom periodischen Rundofensystem zu kontinuierlichem Tunnelofenbetrieb. Während die üblichen Rundöfen zunächst mit den gefüllten Kapseln besetzt, abgebrannt, abgekühlt und ausgenommen wurde, was einen zwei- bis dreimaligen Brand pro zwei Wochen ergab, stand der Tunnelofen kontinuierlich unter Feuer: Das in Kapseln gefüllte Brenngut gelangte auf Wagen durch eine Schleuse in den Ofen, passierte hier nacheinander eine Vorwärmzone, die Brennzone und eine Abkühlzone, um dann den Ofen wieder zu verlassen. Die Vorteile lagen in der Brennstoffersparnis von 30 – 50%, der kürzeren Brenndauer und besseren Wärmeausnutzung, einem geringeren Kapselverbrauch, einer 30%igen Arbeitsersparnis, besseren Arbeitsbedingungen für die Brennhausarbeiter, höherer Warenqualität, geringerem Ausschuß, größerer Betriebssicherheit sowie der Möglichkeit permanenter Brandkontrolle. Insbesondere für Elektroporzellan waren die Tunnelöfen den Rundöfen technisch und wirtschaftlich überlegen.

Als Brennstoff wurde nach Holz zunächst Steinkohle verwendet, daneben kam in der Nachkriegszeit auch Braunkohle zum Einsatz. Tunnelöfen wurden tw. mit Gas geheizt, das in eigenen Generatorenanlagen gewonnen wurde. Erst sehr viel später wurde elektrischer Strom für den Brand verwendet. Wegen der Preispolitik des Mitteldeutschen Braunkohlensyndikats ging man in den Elektroporzellanfabriken Thüringens, in denen man mit gutem Erfolg Braunkohlenbriketts für den Brand benutzt hatte, wieder zur Steinkohle zurück. In den meisten Betrieben wurde eine gemischte Schürweise mit Braun- und Steinkohle bevorzugt, die als "wirtschaftlich überaus günstig"42 bezeichnet wurde.

42 Untersuchungsausschuß 1931, S.44.

253

Die Ausnutzung des Ofenraums wurde dadurch verbessert, daß man die Kapselstöße dichter setzte und die Umtriebsgeschwindigkeit, d.i. die Zahl der Brände pro Ofen und Jahr, erhöhte. Diese Umtriebsgeschwindigkeit betrug in den Vorkriegsjahren durchschnittlich 50-52 Brände, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurden 90-100 Brände erreicht. Möglich wurde diese Steigerung der Anzahl der Brände dadurch, daß man die heiße Luft nach dem Brand absaugte und somit den Ofen schneller ausräumen konnte.

Innerbetrieblicher Transport Die in der Keramikindustrie lange Zeit charakteristischen Transporte von geformten Gegenständen oder Kapseln auf Planken, die durch den Betrieb getragen wurden, wurden durch den Einsatz von Hubwagen, Schaukelförderern und Plankenaufzügen rationalisiert. Fließbandarbeit wurde erst in sehr geringem Umfang praktiziert, da die große Anzahl der produzierten Artikelarten einem kontinuierlichen Produktionsprozeß im Wege stand.

Ein Bericht der Gewerbeinspektion Bayern aus dem Jahre 1927 charakterisiert summarisch die betrieblichen Rationalisierungsmaßnahmen in der Keramikindustrie, die v.a. darauf gerichtet waren, Mehrleistungen von weniger Arbeitskräften zu erbringen: "In der Fabrikation elektrischer Bedarfsartikel wurden die Handpressen durch Automaten ersetzt. Ferner wurde Kreislauftransport von der Brennkapselherstellung über den Vorbrand der Pressereien zur Spritzlackierung und zum Glasurbrand sowie Ersatz der Hand- und Tauchglasierung durch automatische Spritzlackierung und Trocknung eingeführt. Durch die Maßnahme können etwa der vierte Teil der Glasiererinnen und nahezu die Hälfte der Presserinnen aus dem Arbeitsverfahren ausgeschaltet werden."43

Zusammenfassend ist zu sagen, daß Normung, Typisierung und Spezialisierung als mögliche Rationalisierungsmaßnahmen bei der Produktion von elektrotechnischem Porzellan direkt vom Stand der Normung in der elektrotechnischen Industrie abhängig waren. Davon unabhängig bestanden Möglichkeiten der Rationalisierung in der Verwendung von automatischen Pressen für elektrotechnischen Niederspannungs- und sonstige technische Porzellane (Leistungssteigerung nahezu 100%), dem Einsatz von Mangeltrocknern (Verkürzung der Trocknungsdauer des ungebrannten Porzellans auf bis zu 10% der ursprünglichen Dauer) und einem kontinuierlichen Tunnelofenbetrieb (Brennstoff-, Kapsel- und Arbeitserparnis in erheblichem Umfang, Beschleunigung des Brennvorgangs).

43 In: DGB-Archiv, Materialsammlung 1929, S.36.

254

3.2 Rationalisierung und Motorisierung

Außer an Antriebskraft für die Arbeitsmaschinen bestand in der keramischen Industrie dauernder Bedarf an Wärme für die Trocknungsprozesse. Dieser gleichzeitige Bedarf von Kraft und Wärme bedingte die Art der Energieversorgung: In einer eigenen Dampfzentrale wurde - sofern keine Wasserkraft zur Verfügung stand - die Antriebsenergie erzeugt und der Abdampf der Wärmekraftmaschinen für die diversen Heizungs- und Trocknungsaufgaben eingesetzt. Fremdenergie wurde nur zu Reservezwecken bezogen und auch nur in den Nachtstunden, wenn die eigenen Kraftzentralen stillagen. Beleg dafür ist, daß bei 3 erfaßten Elektroporzellanfabriken i.J. 1928 die Möglichkeit des Fremdbezuges von Energie nur 30% der maximal möglichen Energieversorgung betrug. Ein Vergleich zwischen Geschirrporzellan- und Elektroporzellanfabriken ergab, daß die maximal mögliche Kraftversorgung je Kopf der Belegschaft bei ersteren nur 0,77 PS betrug, bei den PF, die elektrotechnisches Porzellan herstellten, hingegen 1,4 PS.44 Ursächlich dafür war die Produktion großstückiger Ware in den Elektroporzellanwerken, die einen höheren Kraftbedarf erforderte; außerdem verlangte die Prüfung der Hochspannungsisolatoren beträchtliche elektrische Spitzenleistungen. Hinzu kam, daß die Elektroporzellan produzierenden Betriebe den jüngsten Zweig der Keramikindustrie bildeten, mithin a priori entsprechend der fortgeschrittenen technischen Entwicklung moderner und rationeller ausgerüstet wurden. Bedingt durch die zunehmende Mechanisierung in der Keramikindustrie war der Zeitraum 1907 bis 1928 gekennzeichnet durch eine erhebliche Steigerung der Krafterzeugung. Dieser parallel verlief eine Zunahme des Kraftverbrauchs, was sich in der Steigerung der Motorenleistung um ca. 50% gegenüber 1907 widerspiegelt: 1907 0,30 PS Motorenleistung je beschäftigte Person, 1928 0,46 PS Motorenleistung je beschäftigte Person. Dabei fand die elektrische Energie hauptsächlich bei den Masseaufbereitungsmachinen und den Drehspindeln, vereinzelt auch bei Automaten, Anwendung. Signifikant ist die direkte Relation zwischen Betriebsgröße und Ausstattung mit maschineller Kraft: Je größer der Betrieb war, desto höher waren elektrische Kraftversorgung bzw. elektrischer Kraftverbrauch. Dabei war die Entwicklung geprägt durch einen Übergang vom direkten Antrieb der Arbeitsmaschinen zum Elektromotorenantrieb.45

44 Vgl. hierzu und im folgenden: Untersuchungsausschuß 1931, S.47ff. 45 Vgl. S.15, S.75f., Tab.13.

255

3.3. Betriebs- und Unternehmenskonzentration

"Daß sich in der Porzellanindustrie ein zusammenhängender sehr großer Betrieb nicht herausgebildet hat, liegt insbesondere daran, daß eine Aufspaltung des Herstellungsprozesses in selbständige Industriezweige nicht stattgefunden hat. Der Herstellungsprozeß vom Rohstoff bis zum Fertigprodukt erfolgt immer im gleichen Betrieb." 46

Der wesentlich traditionell bestimmten Technik des z.T. noch fast handwerklichen Produktionsprozesses entsprach der Aufbau der Industrie: Eine große Zahl kleiner und mittlerer Unternehmungen hatte sich trotz der verstärkt auftretenden Unternehmenskonzentration behaupten können. Die durchschnittliche Betriebsgröße – gemessen an der Zahl der Arbeiter – und die Zahl der in Großbetrieben beschäftigten Personen waren im Verhältnis zur Gesamtindustrie nur wenig gewachsen. Auch die Konzerne – meist nicht durch Neugründungen, sondern durch Zusammenschluß bestehender Unternehmen entstanden – behielten den Betrieb mittlerer Größe als Betriebseinheit bei. So waren bspw. im Jahr 1925 60% der Beschäftigten in Betrieben mit weniger als 500 Arbeitern tätig, nur 10% in Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten. Da die Steigerung der Zahl der Beschäftigten seit 1907 um 20.000 überwiegend auf Betriebe mit mehr als 500 Arbeitern entfiel, läßt sich für die Porzellan- und Keramikindustrie zumindest der Trend zum Großbetrieb erkennen.47 Tab.40: Betriebsgröße und Zahl der beschäftigten Personen 1907 und 1925 48 Zahl der Betriebe Zahl der Personen

Betriebsgröße absolut in % absolut in %

1907 1925 1907 1925 1907 1925 1907 1925

11 – 50 Personen 81 107 27,7 29,4 2.075 2.739 4,1 3,9 51 – 200 " 127 149 43,3 40,9 14.125 16.985 28,5 24,2 201 – 500 " 71 72 24,2 19,8 22.787 22.386 45,9 31,9 501 – 1.000 " 12 31 4,1 8,5 8.634 21.256 17,4 30,2 über 1.000 " 2 5 0,7 1,4 2.010 6.916 4,0 9,8

46 Untersuchungsausschuß 1931, S.68. 47 BSKgrB 1911, H.82, S. 174ff. 48 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.69. Die gegenüber Tab.25 tw. abweichenden Zahlenangaben resultieren aus der unterschiedlichen Erhebungsgrundlage: In Tab.25 wurden, anders als hier, auch die in großer Zahl vorhandenen Porzellanmalereien, -reparaturanstalten und –kittereien erfaß; außerdem stützte sich Tab.28, im Gegensatz zu Tab.25, ausschließlich auf Zahlen aus amtlichen Betriebszählungen.

256

In der Elektroporzellanindustrie war hinsichtlich der optimalen Betriebsgröße zu unterscheiden zwischen Betrieben, die vorwiegend Hochspannungsporzellan und solchen, die überwiegend Niederspannungsporzellan produzierten. Ein Unternehmen für Hochspannungsporzellan arbeitete nur dann rentabel, wenn die nötigen Armierungseinrichtungen sowie die elektrischen Prüffelder sich amortisierten und somit die Fabrikation in möglichst großem Umfang betrieben wurde. Die Rentabilität stieg mit der Betriebsgröße, außerdem wurde zur möglichst effizienten Ausnutzung des Brennraumes tw. auch Niederspannungsporzellan mit gebrannt. Bei den Niederspannungsporzellan produzierenden Unternehmen wurde eine Betriebseinheit von 6 Öfen als optimal angesehen. In diesem Industriezweig bestanden viele kleinere Betriebe, die einer Rationalisierung durch Betriebskonzentration hinderlich waren.

In der Porzellanindustrie spielten horizontale und vertikale Unternehmenskonzentrationen eine wichtige Rolle. Die Anfänge dieser Konzentrationsbewegung reichten bis in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurück. Im Jahre 1930 bestanden folgende Großunternehmen: Kahla-Konzern PF Kloster Veilsdorf AG Lorenz-Hutschenreuther-Konzern Rauschert-Konzern PF Philipp Rosenthal & Co. AG Winterling-Konzern Gruppe Bankhaus Gebr. Arnhold

Die Unternehmen der Porzellanindustrie sahen sich vor die doppelte Aufgabe gestellt, einerseits beim Haushaltsporzellan ein umfangreiches Sortiment unterschiedlichster Dekore, Abmessungen, Qualitäten und beim technischen Porzellan eine Vielzahl verschiedenster Artikel für diverse Anwendungen in unterschiedlichen Größen zu produzieren, sich andererseits aber zu spezialisieren, um rationell produzieren zu können. Dies erforderte die Zusammenfassung spezialisierter Betriebe in Großunternehmen. Die Zusammenfassung von Technischer Keramik und Haushaltsporzellan in einem Konzern –so bspw. im Kahla- und Rosenthal-Konzern – induzierte nicht nur fabrikationstechnische Vorteile, sie minderte auch das konjunkturelle Risiko und trug damit zur Sicherung der Rentabilität bei. Die horizontale Konzentration - Bildung von Konzernen mit universalem Produktionsprogramm und betrieblicher Spezialisierung - führte zugleich zur vertikalen Konzentration. Diese war gekennzeichnet durch die Angliederung von Rohstoffquellen (Kaolin, Feldspat, Pegmatit, Ton, Speckstein) und Zulieferindustrien (Ofen- und Maschinenbau, Buntdruckanstalten)

257 sowie durch Errichtung eigener Verkaufsorganisationen, die sich direkt an den Endverbraucher wandten (Rosenthal-Konzern).

Die Sicherung der eigenen Rohstoffbasis ermöglichte durch die Lieferung gleichbleibender und exakt bekannter Qualitäten eine technische Sicherung des Produktionsprozesses und damit einen Konkurrenzvorteil. Großunternehmen waren des weiteren bei den benötigten Kapitalien zur Finanzierung von Produktion und Absatz im Vorteil. Nicht zuletzt waren hohe Aufwendungen für wissenschaftliche und technische Forschung und Beaufsichtigung des Produktionsprozesses erforderlich. Aus diesen Gründen wurde Hochspannungsporzellan fast ausschließlich von Großunternehmen hergestellt. Die o.g. Konzerne waren 1928 mit einem Anteil von 94% beim Hochspannungsporzellan marktbeherrschend, beim Niederspannungs- und sonstigen technischen Porzellan mit 63% marktführend.

Tab.41: Porzellanproduktion der Konzerne 1928 (in 1000 RM) 49

Art Deutsche Kahla* C.M. Steatit- Lorenz Rosen- Winterling Kloster Rauschert Konzerne In % der Produktion Hutschen Magnesia Hutschen- thal Veilsdorf insges. deutschen reuther + PF reuther Produktion Teltow Hochsp. 22.000 10.340 -- 3.215 -- 5.067 -- 2.027** -- 20.649 94 porzellan

Niedersp. 2.800 -- 5.046 -- 873 -- porzellan 32.000 1.269*** 4.388 20.008 63 Sonst. 640 -- 4.780 -- 212 -- techn.. Porzellan

* Ohne Kloster Veilsdorf ** Inkl. PF Hentschel & Müller *** Inkl. Gebr. Kühnlenz; exkl. PF Hentschel & Müller

3.3.1 Einzelne Konzerne

Der Kahla-Konzern (Strupp-Konzern)50 Die PF Kahla entwickelte sich aus einer 1844 im thüringischen Kahla gegründeten Porzellanfabrik durch Intervention des Bankhauses Strupp (Meiningen),51 das die PF in den achtziger Jahren zu einer Aktiengesellschaft umgründete, zu einem der bedeutendsten Konzerne mit etlichen Zweigfabriken: Anfang der neunziger Jahre entstand das Zweigwerk Hermsdorf, das zunächst Niederspannungsporzellan, später auch Hochspannungsporzellan

49 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.72 (Auszug). 50 Vgl. dazu AB, Anl.48 Entwicklung des Kahla-Konzerns u. S.35ff. 51 Spätere Bank für Thüringen.

258 herstellte; ab 1896 wurde in dem Zweigwerk Zwickau Geschirrporzellan und ab 1906 im Werk Freiberg b. Dresden Hochspannungsporzellan erzeugt. Im Jahre 1922 wurde eine Interessengemeinschaft mit der PF H. Schomburg & Söhne A.-G. und deren Elektroporzellan produzierenden Werken in Roßlau und Margarethenhütte begründet: "Die Interessengemeinschaft gilt schnell als bedeutendster Unternehmensverbund in der deutschen Porzellanindustrie überhaupt, der bei der Herstellung von elektrotechnischem Porzellan ohne größere Konkurrenz dasteht." 52

1927 fusionierte man mit diesen Werken, um die Konkurrenz zwischen den Betrieben der PF Kahla und den Fabriken der PF Schomburg zu beenden. Zur gleichen Zeit erwarb man die PF E. & A. Müller in Schönwald und die PF Schönwald A.-G. mit Werken in Schönwald und Arzberg.

Die Zahl der zum Kahla-Konzern gehörenden Arbeiter (außer PF Kloster Veilsdorf) stieg gegenüber der Vorkriegszeit um 25% von 5.200 auf 6.580, die Produktion von Hochspannungsporzellan verdreifachte sich, der Umsatz an Niederspannungsporzellan war rückläufig. 1913 betrug der Wert der gesamten produzierten Technischen Keramik 7,3 Mill. M gegenüber 13,8 Mill. RM 1928. Der Gesamtumsatz des Konzernes betrug 1928 32,2 Mill. RM (1913: 14,8 Mill. M) , wovon 43% (1913: 49%) auf technisches Porzellan entfielen; die Quote im Syndikat für Hochspannungsporzellan betrug 46%,53 der Anteil an der deutschen Produktion von Niederspannungsporzellan lag bei 12%.

Der Konzern war außerdem an der PF Kloster Veilsdorf beteiligt, die 1065 Arbeiter beschäftigte und in ihren Fabriken hauptsächlich Niederspannnungs- und sonstiges technisches Porzellan produzierte (Wert 1928: 3,4 Mill. RM). Weiterhin bestanden Beteiligungen an der englischen Steatite and Porcelain Products Ltd. sowie enge Geschäftsverbindungen zur Schweizer Porzellanfabrik Langenthal.54 Die Fabriken des Kahla- Konzerns deckten ihren Rohstoffbedarf zu etwa 40% aus konzerneigenen Rohstofflagern.55 Eine der PF Freiberg angegliederte Maschinenbauanstalt lieferte den Konzernbetrieben die nötigen Spezialmaschinen.

52 PHILIPP, T. 1996, S.19. 53 Vgl. S.327. 54 AB, Anl. 49 bietet eine Übersicht über die Fabrikationsstätten des Kahla-Konzerns. 55 Das Streben nach Autarkie bei der Rohstoffversorgung kommt sehr deutlich in einem Schreiben des Fabrikdirektors W. HOFMANN an den Gesamtvorstand von 1928 zum Ausdruck, in dem dieser eine detaillierte Übersicht der für den Konzern relevanten und verkäuflichen Specksteinvorkommen gibt. Quelle: Thür. HSTA, Hescho 136.

259

Im Jahre 1921 wurde von den der Bank für Thüringen nahestehenden Unternehmen die Forschungsgesellschaft Vereinigter Porzellanfabriken mit Sitz in Meiningen gegründet, deren Aufgaben wie folgt beschrieben wurden: "Vornahme von Forschungen auf keramischem Gebiet, insbesondere auf dem der Porzellanindustrie, Errichtung und Beteiligung an industriellen, kaufmännischen, bergbaulichen und solchen Unternehmungen, die in irgendeiner Weise der Forschung auf keramischem Gebiet unmittelbar oder mittelbar dienstbar gemacht werden können, in jeder Form, insbesondere auch durch den Erwerb von Aktien oder Anteilen von Gesellschaften, Erwerb solcher Unternehmungen, Errichtung und Betrieb von Fabrikanlagen, Erwerb und Verwertung von Patenten, Verfahren, Lizenzen und Schutzrechten."56

Zu den Erfolgen der Forschungsgesellschaft zählten insbesondere die Einführung der Feuchtluft-Umwälztrocknung in der keramischen Industrie sowie die Umstellung des Brandes von Steinkohle auf Braunkohlenbriketts.57

56 Sprechsaal 1921, 54.Jg., Nr.33, S.389. 57 Vgl. cfi 1996, H.10, S.608.

260

20 Aufbau des Strupp-Konzerns58

58 Aus: TRÖMEL, W. 1926, S.50.

261

Konzern Bankhaus Gebr. Arnhold59 Der Arnhold-Konzern begründete sich auf die Gründungs-, Fusions-, Sanierungs- und sonstige Finanzierungstätigkeit des Bankhauses Gebr. Arnhold (Dresden-Berlin) im Sektor Porzellanindustrie; die Inhaber des Bankhauses waren – meist als Vorsitzende – im Aufsichtsrat der betreffenden Unternehmen vertreten. Als Finanzierungsinstitut wurde in den zwanziger Jahren die Bank für keramische Industrie mit einem Aktienkapital von 3 Mill. RM gegründet. Zum Interessenkreis des Bankhauses Gebr. Arnhold gehörten neben anderen die Gruppe C.M. Hutschenreuther (Geschirrporzellan), die Gruppe Älteste Volkstedter Porzellanfabrik ( Zier- und Elektroporzellan, Ziersteingut), die Gruppe Deutsche Ton- und Steinzeugwerke (Keramische Materialien f.d. Technik).

Die Gruppe C.M. Hutschenreuther steigerte ihren Umsatz im Zeitraum 1913 bis 1928 von 5,2 Mill. M auf 11,3 Mill. RM um mehr als das Doppelte, die Arbeiterzahl stieg um 28% von 2.495 auf 3.204. Da dieser Konzern in der Hauptsache Geschirrporzellan herstellte,60 sei hier nur erwähnt, daß auch C.M. Hutschenreuther neben eigenen Werken in Hohenberg und Arzberg sowie Mehrheitsbeteiligungen an anderen Porzellanfabriken61 eigene Rohstoffquellen, Maschinen- und Ofenbaufirmen, eine Porzellanmalerei und zwei Vertriebsgesellschaften besaß oder zumindest daran beteiligt war,62 mithin auch in vertikaler Richtung konzernstrukturiert war.

Die Gruppe Älteste Volkstedter Porzellanfabrik, die aus dem i.J. 1762 gegründeten Stammwerk hervorging, umfaßte i.J. 1928 neun Betriebe mit rd. 1.200 Arbeitern. Sie produzierte in diesem Jahr Porzellan im Wert von 5,1 Mill. RM, wovon 25% Elektroporzellan mit einem Wert von 1,3 Mill. RM war. Die zur dieser Gruppe gehörenden Betriebe stellten

59 Vgl. AB, Anl.50 Entwicklung des Arnhold-Konzerns. 60 Allerdings gehörte aus dem Bereich der Technischen Keramik noch die Radeberger Zahnfabrik für künstliche Zähne zur C.M. Hutschenreuther A.-G. Deren relativ geringe Bedeutung (3 Öfen, 66 Arbeiter) rechtfertigt jedoch eine Vernachlässigung an dieser Stelle. 61 Mehrheitsbeteiligungen an Altrohauer PF A.-G. (Tschechoslowakei), C. Tielsch & Co. A.-G., Waldenburg- Altwasser (Schlesien), Beteiligung an PF Triptis A.-G. Die PF Triptis A.-G. wiederum war beteiligt an: Steatit-Magnesia A.-G., PF Gebr. Kühnlenz A.-G., Steingutfabrik Max Roesler, Altrohlauer PF A.-G., Bank für keramische Industrie. 62 Zu diesen sind folgende zu zählen: Steinfels A.-G. (Pegnmatit, E-Werk, Sägewerk); Quarzsandgrube Grüßau b. Landshut (zu C. Tielsch & Co. gehörig); Tongrube Imligau (Tschechoslowakei, zu Altrohauer PF A.-G. gehörig); Kuhnert-Turbo-Werke A.-G. (Maschinenfabrik); Keramische Industrie-Bedarfs-A.-G. (Ofenbau); Porzellanmalerei Dresden; Keramische Rohstoff-Gesellschaft m.b.H. (Vertrieb); Saxonia-Dental- Verkaufsgesellschaft A.-G., Dresden (Vertrieb von künstlichen Zähnen).

262 etwa 5,6% des deutschen Niederspannungsporzellans und verfügten über 38 Öfen mit einem Brennraum von 1.826 m3. Folgende Werke produzierten Niederspannungsporzellan: Porzellanfabrik Bergmann in Neuhaus (3 Rundöfen); Heinz & Co. in Neuhaus (6 Öfen, 220 Arbeiter, Niederspannungssteingut); Gebr. Kühnlenz A.-G. in Kronach (4 Öfen, 250 Arbeiter, 33,3% ige Beteiligung). Außerdem gehörten diesem Konzern noch folgende Werke an: Porzellanfabrik Mann & Porzelius in Unterweißbach Porzellanfabrik Dressel, Kister & Co. in Passau PF Eckert in Volkstedt Max Roesler, Feinsteingut A.-G. mit Betrieben in Rodach und Darmstadt.

Die hier interessierende Produktion der Gruppe Deutsche Ton- und Steinzeugwerke A.-G. bestand aus Steinzeugisolatoren und aus Steatiterzeugnissen. Diese Produkte standen in Konkurrenz zu denen aus Porzellan, wenngleich der Umsatz der Steinzeugisolatoren sich wertmäßig nur zwischen 2 und 5% des gesamten Isolatorenumsatzes bewegte. Es bestand zunächst ein sehr starker Konkurrenzkampf zwischen Steinzeug- und Porzellanisolatoren, der dadurch beendet wurde, daß die Deutschen Ton- und Steinzeugwerke dem Hochspannungssyndikat63 den Vertrieb ihrer Steinzeugisolatoren überließen. Hingegen blieb die Konkurrenz der von der Steatit-Magnesia A.-G., die sich zu 40% im Besitz der Deutschen Ton- und Steinzeugwerke befand, hergestellten Steatiterzeugnisse weiterhin bedeutend.

Die Steatit-Magnesia A.-G. entstand 1920 durch Fusion mehrerer Steatitfabriken sowie der Vereinigten Ernst Hildebrand und Magnesia A.-G., an der die Deutschen Ton- und Steinzeugwerke maßgebend beteiligt waren. 90% der deutschen Steatitproduktion wurden von der Steatit-Magnesia A.-G. kontrolliert, daneben wurde u.a in der PF Teltow auch Porzellan produziert (ca. 3-4% des Umsatzes). Das Produktionsprogramm der Steatit-Magnesia verteilte sich auf 5 Standorte: Die Betriebe Lauf I und Lauf II produzierten Artikel bis zu einer Größe von 60 mm, alle größeren Teile wurden in Holenbrunn hergestellt; im Werk Weißensee wurden Steingutartikel für die elektrotechnische Industrie erzeugt, im Werk Pankow Armaturen für die Gasindustrie, temperaturwechselbeständige Isolatoren für die elektrotechnische und chemische Industrie sowie hochohmige Widerstände (Dralowid).

63 S. dazu unter 7.2.1.

263

Während die Betriebe der Steatit-Magnesia vor dem Krieg hauptsächlich für die Gasindustrie produzierten, waren nach dem Krieg die elektrotechnische (70%) und chemischen Industrie (30%) Hauptabnehmer. Im Hochspannungsporzellansyndikat erhielt die Steatit-Magnesia zur Zeit ihres Eintritts 1923 eine Quote von 1%; konnte diese nach Angliederung der PF Teltow auf 8% und nach dem Erwerb dieser PF sogar auf 16,5% steigern; damit nahm die Steatit- Magnesia die dritte Stelle im Syndikat ein. Durch Aufstellung von Vollautomaten und Einrichtung einer Tunnelofenanlage in den Laufer Betrieben konnten die Betriebsabläufe deutlich rationalisiert werden, wodurch die Steatit-Magnesia einen Konkurrenzvorsprung nicht nur vor den übrigen Steatitfabriken, sondern auch vor den Elektroporzellanfabriken erhielt. Die Monopolstellung dieser Aktiengesellschaft beruhte auf dem alleinigen Besitz der bayerischen Specksteingruben, deren Förderung in den Jahren 1925 bis 1928 um rd. 60% von 3.400 t auf 5.400 t gesteigert werden konnte. 90% dieser Förderung wurden in eigenen Betrieben verarbeitet, die restlichen 10% an die Konkurrenz verkauft. Über die Geschäftspolitik der Steatit-Magnesia äußerte sich deren Vorstandsmitglied A. JOSEPH wie folgt: "Wir haben s.Z. (seinerzeit, d.Verf.) eine rumänische Grube aufgekauft, nicht weil wir den dortigen Speckstein für besonders gut hielten, sondern weil wir den Markt behalten wollten. Heute legen wir weniger Wert auf den Besitz des Rohmaterials, weil wir so große Fortschritte auf dem Gebiete der Rationalisierung erzielt haben, daß eine neue Konkurrenzfabrik kaum etwas verdienen würde. In Indien gibt es Speckstein, in den Pyrenäen und in Italien; aber alle diese Vorkommen haben den Nachteil, daß die chemische Zusammensetzung stark variiert, wodurch eine Herstellung stets gleichmäßig ausfallender Teile schwer möglich ist. Versuche zur Errichtung von Steatitfabriken scheitern meist nicht nur an der Rohmaterialfrage, sondern auch daran, daß diese Fabriken nicht über unsere hochentwickelte Maschinentechnik verfügen und infolgedessen gegenüber Porzellan nicht konkurrenzfähig sind. Wir bauen unsere Maschinen selbst, entwickeln sie dauernd weiter und verkaufen sie nicht. Das bei uns in Maschinen investierte Kapital dürfte von keiner Porzellanfabrik erreicht werden." 64

64 Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.86.

264

21 Aufbau Arnhold-Konzern 65

65 Aus: TRÖMEL, W. 1926, S.51.

265

Lorenz-Hutschenreuther-Konzern Die Lorenz Hutschenreuther A.-G. produzierte in ihren 5 Betrieben Geschirr- und Zierporzellan. Der Umsatz konnte gegenüber der Vorkriegszeit mengenmäßig von 1913: 6.890 t auf 1928: 9.361 t um 36% gesteigert, wertmäßig von 1913: 7,0 Mill. M auf 1928: 14,4 Mill. RM mehr als verdoppelt werden. Die Zahl der Arbeiter erhöhte sich im gleichen Zeitraum um 33% von 2.470 auf 3.290. Die Lorenz Hutschenreuther A.-G. verfügte über 56 Rundöfen mit 3.580 m3 Ofenraum. Auch dieses Unternehmen war durch Angliederung von Rohstofflagern66 und Fabriken der Hilfsproduktion67 vertikal konzentriert. Zum Unternehmen gehörten folgende Firmen: Stammfabrik Ludwigsmühle, Selb "Abteilung B", Selb68 Gebr. Bauscher, Weiden Paul Müller, Selb69 Porzellanfabrik Tirschenreuth70

Konzern PF Ph. Rosenthal & Co. A.-G.71 Das Schwergewicht der Produktion dieses Konzerns lag auf Geschirr- und technischem, insbesondere Hochspannungsporzellan. Im Vergleich zur Vorkriegszeit konnten die Fabriken des Konzerns ihren Umsatz mengenmäßig fast, wertmäßig mehr als verdreifachen (von 1913: 7,1 Mill. M auf 1928: 24,6 Mill. RM). 1928 betrug die Zahl der Arbeiter 5.061. Der Wert des produzierten Hoch- und Niederspannungsporzellans wurde von 1,9 Mill. M i.J. 1913 auf 6,2 Mill. RM i.J. 1928 mehr als verdreifacht. Damit betrug der Anteil des Rosenthal-Konzerns an der deutschen Produktion von Hochspannungsporzellan ca. 26%, von Niederspannungsporzellan ca. 4%. Die vertikale Konzentration vollzog sich durch die Beteiligung an den Kaolin-, Ton- und Sandwerken in Halle sowie dem Besitz einiger Gruben für Kapselroherde in Wiesau.72 Daneben suchte dieser Konzern seine Interessen durch Aktienbesitz an den Zettlitzer Kaolinwerken zu sichern; diese hatten 1929 die sächsischen Elektro-Osmose-Kaolinwerke erworben.

66 Kaolinwerk Fischern b. Karlsbad, Kaolin- und Pegmatitwerk Schmellitz, Feldspatwerk Hagendorf, Pegmatitwerk Rupprechtsreuth. 67 Das Unternehmen verfügte über 3 Schnellpressen für Buntdrucke, eine eigene Maschinenschlosserei sowie ein kleines Laboratorium. 68 1906 durch Angliederung und Ausbau der PF Jäger, Werner & Co. entstanden. 69 1917 wurde die PF Paul Müller aufgekauft. 70 1927 wurden die PF Bauscher und die PF Tirschenreuth angegliedert. 71 S. dazu AB, Anl.51 Entwicklung und Produktionsstätten der Rosenthal-Konzerns. 72 Nebenbei sei erwähnt, daß unter den Konzernen der Porzellanindustrie die Rosenthal A.-G. als einzige eine eigene Kleinhandelsorganisation mit 10 in- und 3 ausländischen Niederlassungen besaß.

266

22 Aufbau des Rosenthal-Konzerns73

73 Aus: TRÖMEL, W. 1926, S.49.

267

Sonstige Konzerne Zu den bedeutenderen Konzernen der Porzellanindustrie sind der Winterling-Konzern (Geschirrporzellan) und der Rauschert-Konzern (Elektroporzellan) zu zählen. Der Gesamtumsatz des Winterling-Konzerns betrug 1928 8,2 Mill. RM, er beschäftigte 2.070 Arbeiter und besaß 30 Rundöfen sowie einen Tunnelofen. Zum Konzern gehörten folgende Fabriken: Gebr. Winterling in Röslau, Oskar Schaller & Co. Nachf. in Schwarzenbach und Kirchenlamitz und Eduard Haberländer in Windischeschenbach.

Zum Rauschert-Konzern gehörten die Fabriken in Hüttengrund, Bodenkirchen, Steinbach, Steinwiesen und Schmiedeberg. Die Betriebe produzierten 1928 mit insgesamt 1.680 Arbeitern in 28 Rundöfen Niederspannungs- und sonstiges technisches Porzellan im Wert von 4,4 Mill. RM.

4. Produktionskosten

Um die Jahrhundertwende ergab sich folgende Rentabilitätsberechnung für die Neuanlage einer Porzellanfabrik mit sämtlichen Betriebsunkosten:74 Abschreibung und Zins für die Gesamtanlage; Abschreibung und Zins für Mobilien und Maschinen; Gehälter und Löhne; Steuern und Abgaben; Reisekosten, Provisionen, Inserate, Musterlager und Messen; Rabatte und Verluste; Porti, Bürobedarf; Kataloge und Vorlagen; Verpackungsmaterial; Modelle und Formen; Rohstoffe für Masse und Glasur inkl. Fracht und Nebenkosten; Kohlen einschl. Fracht und Nebenkosten; Ofenreparatur und –abnutzung;

74 Vgl. HEGEMANN, H. 1904, S.367.

268

Reinigungskosten des Dampfkessels und der Wasserzuläufe; Beleuchtung, Heizung, Reinigung, Bewachung; Bruch und Verlust; Diverse Unkosten: Schmieröl, Putzmittel, Siebe, Preßtücher, Treibriemen, Trommelfutter, Werkzeuge, Planken, Seife, Pinsel, Schellack, Wasser, Sand, Roststäbe u.v.m.

Betrachtet man gesondert die Produktionskosten der Keramikindustrie, erscheint es zunächst interessant, einen Blick auf die einzelnen Kostenfaktoren zu werfen. Bei der Technischen Keramik betrug der Anteil dieser an den Gesamtkosten: Gesamte Materialkosten 27,6 % Gesamte Arbeitskosten 43,4 % (Löhne 32,2 %, Gehälter 8,2 %, Sozialabgaben 3,0 %) Allgemeine Betriebskosten 9,4% Steuern 3,1 % Verzinsung des Fremdkapitals 1,7 % Abschreibungen 3,5 % Sonstige Kosten 11,3%

4.1 Materialversorgung

Wichtig sind hier v.a. die zur Massebereitung nötigen Rohstoffe, die in ihrer Zusammensetzung durchaus unterschiedlich waren, wie nachstehende Tabelle verdeutlicht: Tab.64: Art und Zusammensetzung der Rohstoffe nach Herkunft (in %)75 Geschlämmte Kaoline Pegmatite Porzellan- u. Feldspatsande Ton Quarz Feldspat Ton Quarz Feldspat Ton Quarz Feldspat Börtewitz 84,3 15,1 0,6 Tirschenreuther 5,9 46,4 47,7 Neuhaus 11,2 62,4 26,4 Morl 90,3 8,4 1,3 Bauscher, Weiden 10,3 52,8 36,9 Martinroda 15,5 53,6 30,9 Hirschau 95,3 1,7 3,0 Weiherhammer 8,0 60,0 32,0 Kahla 6,0 70,0 24,0 Kemmlitz 92,1 7,2 0,7 Steinfels, ungew. 10,0 58,0 36,0 Hirschau 9,2 26,1 64,7 Zettlitz 98,5 1,1 0,4 Steinfels, gewasch. -- 64,0 36,0 Seilitz 82,4 7,9 9,7 Ströbel-Spat 7,7 31,4 60,9

Zu diesen Rohstoffen kamen noch Versatzstoffe wie Magnesit, Kalkspat und Dolomit hinzu, die neben Quarz, Feldspat und Kaolin für die Glasur gebraucht wurden. Folgende Hilfsstoffe wurden benötigt:

75 Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.96.

269

Bei der Aufbereitung der Masse: Quarzitsteine (Silex) sowie Flintsteine (Feuersteine) zur Ausfütterung der Trommelmühlen. Bei der Zubereitung der Masse: Filtertücher in Filterpressen, die einem großen Verschleiß unterlagen. Bei der Formgebung: Formgips zur Herstellung der Gipsformen. Da diese sich schnell abnutzten, war die verbrauchte Menge an Formgips entsprechend groß. Eine Wiederverwertung des verbrauchten Gipses war meist nicht möglich, so daß man diesen nur noch als Düngegips verwenden konnte. Ferner wurde beim Gießverfahren Soda benötigt; zur Produktion von 1.000 kg Trockenmasse brauchte man 2 – 5 kg Soda. Beim Stanzen von Niederspannungsteilen in Metallmatrizen wurde der Masse Stanzöl zugesetzt. Beim Brennen: Schamottekapseln dienten der Unterbringung der Ware im Ofen. Sie wurden aus feuerfestem Ton, gebranntem Ton (Schamotte) und Rohkaolin hergestellt. Der Bedarf an Schamottekapseln war abhängig von der Art und Größe der Keramik, von der Brenntemperatur, von der Qualität der Kapseln, vom Ofentyp und vom Brennmaterial ab. Die Kapseln überdauerten meist nur wenige Brände und wurden sodann als Kapselbruch. zu Schamotte verarbeitet. Als Brennstoff diente zunächst Kohle, später Gas, Öl und Elektrizität.

Bei der Dekoration: Farben und Edelmetalle waren zur Auf- bzw. Unterglasur bei Kunst-, Zier- und Geschirrporzellan nötig. Bei der Technischen Keramik wurden zur Glasur - nachdem man zunächst die weiße Glasur des Geschirrporzellans übernommen hatte - färbende Metalloxide verwendet.76 Der prozentuale Anteil einzelner Roh- und Hilfsstoffe an den Gesamtkosten der Produktion von Elektroporzellan betrug ca. 11,4%. Im einzelnen betrug der Prozentsatz: Kaolin 4,3%, Feldspat 1,7%, Quarz 0,3%, Pegmatit 0,1%, Gips 0,4%, Ton 2,7%, Farben 1,9%.

76 Vgl. S.200.

270

4.1.1 Kaolin

Die hauptsächlichsten Lagerstätten von Kaolin in Deutschland waren in Sachsen, Schlesien, Thüringen und Bayern. Die Vorkommen von Kemmlitz,77 Börtewitz und Mügeln (Sachsen) sowie diejenigen von Meißen (Thüringen) und Halle waren die ergiebigsten. Die bayerischen Kaoline stammten aus der Gegend von Amberg und Hirschau.78 Das Kaolin wurde sowohl im Tage- als auch im Tiefbau gewonnen und gelangte gewöhnlich erst in gereinigtem (geschlämmten)79 Zustand zur Weiterverarbeitung in die Porzellanfabriken. Die Zahl der deutschen Kaolingruben stieg im Zeitraum 1907 – 1925 von 39 Betrieben mit 1.368 Beschäftigten um knapp 60% auf 62 Betriebe mit 2.056 Beschäftigten. Vorherrschend waren mit 63,7% von allen die mittleren Betriebe mit einer Größe von 50 – 200 Arbeitern.

Tab.42: Kaolingruben in Deutschland 188280 Land Bezirk Betriebe Arbeitskräfte Preußen Merseburg 4 24 Bayern Niederbayern 1 1 Oberpfalz 3 84 Oberfranken 5 21 Pfalz 6 63 Sachsen Leipzig 1 2 Dresden 3 91 Hessen Starkenberg 1 4 Oldenburg Birkenfeld 1 10 Sachsen-Weimar 5 21 Sachsen-Meiningen 25 76 Sachsen-Coburg/Gotha 13 29 Schwarzburg-Sondershausen 10 36 Schwarzburg-Rudolstadt 2 5

Die Kaolinproduktion betrug 1913 in Bayern 80.700 t, 1925 waren es bereits 372.900 t; 81 in Sachsen betrug die Förderung 61.800 t im Jahre 1913 und 93.000 t im Jahre 1925. 82 Im gesamten Deutschen Reich wurden 1907 760.000 t Rohkaolin gefördert; diese Menge, auf

77 Die einsetzende Elektroporzellanproduktion war ursächlich für die 1883 beginnende Entwicklung der Kaolinproduktion im Kemmlitzer Revier, da nur der Abbau von Großlagerstätten den gestiegenen Bedarf zumindest teilweise decken konnte. Vgl. hierzu ILSCHNER, W. 1983: Entwicklung der Kaolingewinnung im Raum Kemmlitz. In: Silikattechnik, 34.Jg., H.6, S.164-168. 78 Vgl. DAMMER, B. / TIETZE, O. 1927: Die nutzbaren Mineralien mit Ausnahme der Erze und Kohlen. Stuttgart. Bd. II, S.447. 79 3,8 t Rohkaolin ergaben 1 t geschlämmtes Kaolin. 80 Quelle: LANGE, P. 1984, S.241 nach Statistik Jahrbuch des Deutschen Reiches. 81 Gewerbe und Handel in Bayern. In: BSB 1927, 2.Jg., H.14, S.5. 82 Vgl. DAMMER, TIETZE 1927, S.447.

271 geschlämmtes Kaolin umgerechnet, ergab zusammen mit dem importierten83 geschlämmten Kaolin (240.000 t) einen Jahresbedarf von ca. 440.000 t. Da der gewichtsmäßige Anteil des Kaolins an der erzeugten Porzellanmenge rd. 80 - 85% betrug, bedeutete dies bei einer Porzellanproduktion von ca. 135.000 t im Jahre 1928 einen Kaolinverbrauch von 112.000 t in der Porzellanindustrie, die damit hinter der Papierindustrie84 der zweitwichtigste Abnehmer von Kaolin war. In der Technisches Porzellan produzierenden Industrie betrug der Kaolinverbrauch 1913 2.692 t und steigerte sich auf 40.753 t im Jahre 1928. Von der Porzellanindustrie wurden vor dem 1. Weltkrieg mehr als 70% des benötigten Kaolins aus dem Ausland, vorwiegend aus Böhmen, importiert, im Jahre 1928 hingegen nur noch 40%. Begründet war dies in der Ausweitung der Elektroporzellanproduktion, bei der – im Gegensatz zur Geschirrporzellanproduktion – das in Deutschland geförderte Kaolin Qualitativ ausreichend war,85 so daß 1928 die Elektroporzellanindustrie 90% ihres Kaolinbedarfs aus inländischen Vorkommen decken konnte.

Tab.43: Kaolinimport und –export Deutschlands (Auszug)86 Einfuhr Ausfuhr Jahr Menge in kt Wert in TM Menge in kt Wert in TM 1873 31,6 316 2,1 21 1875 26,9 1.080 2,9 1880 59,2 2.371 7,9 314 1885 95,9 4.868 26,8 1.074 1888 115,3 4.611 40,8 1.630 1900 265,3 29,4 1906 215,5 7.972 22,6 836 1910 261,7 34,7 1913 301,3 10.847 42,1 1.403 1920 131,1 31,2 1925 226,7 28,9

83 Die Hauptimportländer waren die Tschechoslowakei (vor dem 1.Weltkrieg: Böhmen) mit 75% des deutschen Kaolinimports, ferner Großbritannien und Österreich-Ungarn. 84 Die in der Papierindustrie verwendeten, minderwertigeren Kaoline dienten als Füllstoffe. 85 Die wesentlichsten Anforderungen, die an Kaolin bei der Porzellanproduktion gestellt wurden, waren: gute Verarbeitungsfähigkeit beim Drehen, Formen und Gießen; möglichst geringe Schwindung beim Trocknen und Brennen; weiße Brennfarbe, d.h. geringstmöglicher Gehalt an Eisen- und Titanverbindungen; Bildung eines transparenten Scherbens (vgl. S.15). Der Leiter der technischen Versuchsanstalt bei der Staatlichen Porzellanmanufaktur Berlin, RIEKE, bemerkte dazu: "Böhmische Kaoline der Karlsbader Gegend, z.B. diejenigen von Zettlitz, entsprechen diesen Anforderungen in hohem Maße. Es gibt viele deutsche Kaoline, die eine so geringe Plastizität haben, daß sie höchstens in geringem Prozentsatze den Massen zugesetzt werden können. Nur sehr wenige deutsche Kaoline entsprechen den Anforderungen; in erster Linie kommt Kemmlitzer Kaolin hier als Ersatz der böhmischen Kaoline in Frage, daneben auch einzelne Vorkommen bei Halle a.d.S., Hohburg, Seilitz und anderen Orten." Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.108. Zur Geschichte der Versuchsanstalt bei der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin vgl. KERBE, F., WIEGMANN, J. 2004: Geburtsstunde der Keramikwissenschaft. In: cfi, 81. Jg., No.1-2, S.21ff. 86 Quelle: ROLLE, G. 1928, S.24 u. Statistik Jahrbuch des Deutschen Reiches.

272

Auch die Inbetriebnahme neuer Kaolinbetriebe bspw. im Kemmlitzer Revier und in Niederschlesien konnte den durch die Elektroporzellanproduktion gestiegenen Bedarf nicht decken, so daß der Import bis zum Jahre 1912 ständig wuchs. Das signifikante Überwiegen des Import geht aus der Relation Import - Export hervor, die von 15:1 im Jahre 1873 auf 2,8:1 im Jahre 1888 fiel und bis 1906 wieder auf 9,5:1 stieg (siehe Tab.57).

Die Mangelsituation bei Kaolin trug wesentlich zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Rohstoff bei, sie hatte aber auch entscheidenden Einfluß auf technische Veränderungen bei der Kaolinaufbereitung. Die traditionelle Aufbereitung, die mit Hilfe von Schlämmgerinne, Klärbecken und Sümpfen erfolgte, bewirkte, daß bspw. die Fa. Boltze in Salzmünde 1879 nur 550 t Schlämmkaolin und 9.000 t Rohkaolin gewinnen konnte.87 Große Porzellanwerke wie z.B. die PF Krister in Waldenburg/Schlesien hatten jedoch schon zu dieser Zeit einen Jahresbedarf von 1.410 t Schlämmkaolin.88 Mit Einführung der Kammerfilterpresse in die Kaolinaufbereitung gelang eine bedeutende Produktionssteigerung bei Schlämmkaolin, weswegen bereits 1881 bei der Fa. Gebr. Baensch in Halle-Dölau neben fünf traditionellen Klärbecken drei Filterpressen im Einsatz waren.89 Da es trotz dieser technischen Fortschritte nicht gelang, die Importquote wesentlich zu senken, bemühten sich die größeren Porzellanfabriken nach dem Vorbild der Porzellanmanufaktur Meißen und der PF Krister um eigene Kaolinbetriebe, so daß nach der Jahrhundertwende etliche Kaolinwerke den Porzellankonzernen angegliedert wurden. Damit war die kapitalabhängige Voraussetzung für eine nochmals gesteigerte Kaolinförderung großen Stils geschaffen worden, die die kriegsbedingten Ausfälle der Kaolinimporte aus England auszugleichen suchte. Der also noch verschärfte Kaolinmangel war ursächlich für weitere Verbesserungen bei der Aufbereitung wie z.B. das Elektro-Osmose-Verfahren,90 mit dem es gelang, auch solche Kaolinqualitäten zu produzieren, die bis dato importiert worden waren. Steigende Autarkie der deutschen Porzellanindustrie hinsichtlich Kaolin sowie sinkende Importquoten waren die Folge.

In der Zeit nach dem 1. Weltkrieg entstanden im Zuge der Kapitalkonzentration auch in der Kaolinindustrie Großbetriebe, die in der Lage waren, eigene Forschungsabteilungen zu finanzieren. Hierzu zählte u.a. das Sächsische Elektro-Osmose Kaolinwerk G.m.b.H. (SEOK) in Kemmlitz, dem im Jahre 1927 (bei einer Tagesproduktion von 100 t aufbereitetem Kaolin)

87 Thonindustrie-Zeitung 1879, 3.Jg., S.467. 88 Thonindustrie-Zeitung 1878, 2.Jg., S.406. 89 Thonindustrie-Zeitung 1881, 5.Jg., S.322. 90 Elektrostatische Schadstoffabscheidung. Vgl. S.182.

273 ein eigenes Laboratorium für Forschung, Entwicklung und Qualitätssicherung zur Verfügung stand.91

Der Preis des Kaolins hing im wesentlichen von der Qualität bzw. bei geschlämmtem Kaolin von der Feinheit der Schlämmung ab. Dabei waren die minderwertigeren deutschen Kaoline nur etwa halb so teuer wie die qualitativ hochwertigen böhmischen resp. tschechoslowakischen Kaoline. Das in der Keramikindustrie verwendete Kaolin war in etwa 70 –100% teurer als das in der Papierindustrie verwendete. Ursächlich für diese Differenz waren die höheren Gestehungskosten: Minderwertigeres Kaolin wurde im Tagebau, hochwertiges Kaolin im Tiefbau gewonnen92 und erforderte eine sorgfältigere Aufbereitung sowie einen längeren Schlämmprozeß. Hinzu kam, daß sich in der Industrie der Steine und Erden seit den zwanziger Jahren monopolistische Tendenzen entwickelten, die zu Preisabsprachen, mithin einer Verzerrung des Wettbewerbs und einer Verteuerung der Rohstoffe führten. So wurde1920 der Verband der deutschen Kaolinwerke e.V., dem 26 Firmen angehörten, gegründet. Im Rahmen dieses Verbandes wurde eine bis 1929 gültige Preiskonvention beschlossen, nach der kartelliertes Kaolin um 25% teurer als kartellfreies Kaolin war.

4.1.2 Feldspat

Feldspat schmilzt bei etwas tieferer Temperatur als die übrigen Bestandteile der Keramikmasse und wirkt somit als Flußmittel, das die Ton- und Quarzbestandteile miteinander verbindet. Die bedeutendsten deutschen Vorkommen fanden sich im Bayerischen und Oberpfälzer Wald, im Fichtelgebirge sowie bei Ströbel in Schlesien. Da diese für den Bedarf der Keramik- und Porzellanindustrie nicht ausreichten, wurde Feldspat, insbesondere aus Skandinavien, importiert. Während die Geschirrporzellanproduktion ihren Bedarf an Feldspat zu 65% aus dem Ausland deckte, war die Produktion von Technischer Keramik mit 13% Anteil an ausländischem Feldspat wesentlich geringer von Importen abhängig. Die im Jahre 1928 im Bereich Technische Keramik verbrauchte Menge von 24.000 t Feldspat wurde zu 87% aus dem Inland bezogen. Der Rückgang der Importe aus den nordischen Ländern in

91 Vgl. VVB Keramik (Hg.) 1964: 200 Jahre Seilitzer Kaolin 1764-1964. Erfurt. 92 Das qualitativ hochwertige Zettlitzer Kaolin wurde ausschließlich im Tiefbau gefördert.

274 der Zeit nach dem 1. Weltkrieg um ca. 25% war begründet in der Produktionsausdehnung des schlesischen Vorkommens bei Ströbel von 8.500 t 1915 auf 31.200 t 1925. Außerdem kamen nicht nur reine Feldspate, sondern zunehmend auch quarz- und feldspathaltige Sande (Pegmatite) zum Einsatz.93 Dessen ungeachtet, war es ökonomisch nicht opportun, sich von den skandinavischen Feldspatimporten vollständig zu emanzipieren, obwohl dies technisch möglich gewesen wäre: das skandinavische Material kam in natürlicher Form in so reinem Zustand vor, daß es wesentlich geringere Sortierungskosten verursachte als der deutsche Feldspat. RIEKE bestätigt dies, wenn er bemerkt, daß " ... bayerische und böhmische Feldspate häufig von störenden Beimengungen durchsetzt (sind), so daß sie dann nur noch nach sorgfältigem Sortieren für besseres Porzellan benutzt werden können. Dieses Sortieren verteuert das Material. Pegmatite und andere feldspathaltige Gesteine haben den Nachteil, daß ihre Zusammensetzung öfters schwankt, so daß manche Fabriken, die nicht in der Lage sind, ständige Betriebskontrollen vorzunehmen, um den Versatz ihrer Massen der jeweiligen Zusammensetzung der gelieferten Rohstoffe anzupassen, die wenn auch teuren, aber sehr gleichmäßig gelieferten skandinavischen Feldspate vorziehen." 94

Feldspat wurde in Stücken oder als Feldspatmehl gehandelt; der Preis war abhängig von der Qualität bzw. von Feinheitsgrad des Mehls. Je nach Qualität kosteten 1927 10 t Feldpat zwischen 120 RM (Ströbel-Feldspat, vorgebrochen) und 760 RM (skandinavischer Feldspat, feingemahlen), bayerischer Feldspat war mit 360 – 560 RM pro 10 t mittelpreisig. Die Feldspatpreise entwickelten sich von 1914 bis 1928 sehr unterschiedlich: So ist 1926 gegen 1914 eine Verteuerung von ca. 26% auszumachen, die sich im Jahre 1927 auf 31% gegen 1914 erhöhte; die Teuerungsrate 1928 gegen 1914 betrug sogar 34%. Dabei war die Preissteigerungsrate gegenüber der Vorkriegszeit von der Qualität des Feldspats abhängig und betrug nur 15% für bayerischen, aber 41% für skandinavischen Feldspat.

4.1.3 Quarz

Quarz wurde entweder als reiner Stückquarz oder als Quarzsand in die keramische Masse eingeführt. 1928 wurden nach einer Erhebung des Verbandes Keramischer Gewerke 40.600 t Quarz und Quarzsande in der keramischen Industrie verbraucht, von denen rd. 14% aus dem Ausland eingeführt wurden. Bei der Technischen Keramik betrug der Verbrauch 14.900 t, die

93 Vgl. SINGER, F. 1923, S.26. 94 Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.120.

275 sogar zu 95% aus dem Inland stammten.95 Die deutschen Quarzlagerstätten befanden sich hauptsächlich bei Usingen (Taunus) sowie im Bayerischen Wald. Ein nicht unbedeutender Teil des für die Masse erforderlichen Quarzes wurde durch quarz- und feldspathaltige Sande gewonnen.96 Die wichtigsten Herkunftsländer für Quarz waren Dänemark, Schweden, Norwegen und Frankreich, von deren Exporten nach Deutschland ca. 20% in der keramischen Industrie verbraucht wurden. Ebenso wie beim Feldspat wurde nicht ganz auf den Import von ausländischem Quarz verzichtet, da dieser aufgrund seiner chemischen Zusammensetzung und physikalischen Struktur transparentere Porzellane bildete.97 Der deutsche Quarz wurde von den Porzellanfabriken direkt von der Grube, der ausländische via Importeure bezogen. Gegenüber dem Vorkriegsniveau verteuerte sich der Preis für Quarz und Quarzsande mit 47 – 53% ganz erheblich.

4.1.4 Brennstoffe

Der prozentuale Anteil der Kraft- und Brennstoffkosten an den Gesamtkosten der Porzellanproduktion lag bei der Technischen Keramik zwischen 6,8% (Elektroporzellan) und 7,5% (Niederspannungsporzellan). Dabei wurden v.a. Steinkohle und Braunkohlenbriketts verbraucht und es entfielen ca. 2 – 4 t Steinkohle auf 1 t Porzellan. Für die Wahl der Kohleart war die Nähe zu den Gruben bzw. die Art der Brennöfen maßgebend. Im Jahre 1928 verbrauchte die Industrie der Technischen Keramik 15.190 t Kohlen; davon wurden 77,8% aus dem Inland bezogen (westfälische, sächsische und schlesische Steinkohle sowie Braunkohle) und die restlichen 22,2% aus der Tschechoslowakei. Der böhmischen Steinkohle wurde wg. des niedrigeren Preises oft der Vorzug vor deutscher Kohle gegeben. Außerdem war sie durch ihren geringen Schwefelgehalt und die geringe Schlackenbildung für die Keramikproduktion optimal geeignet. Das gleiche galt für die böhmische Braunkohle, die einen höheren Heizwert hatte als die deutsche hatte und deren Preise unter denen des Mitteldeutschen Braunkohlensyndikats lagen. Die Preise für deutsche Kohle stiegen in Abhängigkeit von der verwendeten Kohlensorte gegenüber der Vorkriegszeit um ca. 15 bis

95 Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.122. 96 Vgl. S.274. 97 Zwar besaß das Deutsche Reich in den Vorkommen von Pleystein (Bayern) ein dem skandinavischen Quarz gleichwertiges Material, doch durfte dieses nicht abgebaut werden, da die Gegend zum Naturschutzgebiet erklärt worden war.

276

50%; dabei war die Verteuerung der mitteldeutschen Braunkohle mit knapp 50% am stärksten. Böhmische Braunkohle verteuerte sich um 40%, böhmische Steinkohle um 60%. Dabei waren die Preisdifferenzen durchaus unterschiedlich: Thüringische Porzellanfabriken hatten für mitteldeutsche Braunkohle trotz größerer räumlicher Nähe einen höheren Preis zu zahlen als oberfränkische Betriebe. Das Mitteldeutsche Braunkohlensyndikat begründete diesen Umstand mit der Notwendigkeit, im tschechischen Grenzgebiet gegen die böhmische Kohle konkurrieren zu müssen, die von den oberfränkischen Betrieben zu billigeren Exportpreisen und geringeren Frachtkosten bezogen werden konnte. Dies veranlaßte einige thüringische Betriebe, ihre Brennöfen von reinem Brikettbrand wieder auf gemischten Brand umzustellen.

4.1.5 Sonstige Materialien

Außer den angeführten Roh- und Brennstoffen waren zahlreiche andere Materialien für den Produktionsprozeß bedeutend: Flintsteine, Quarzsteine, Filtertücher, Bedarf für Brennhaus Dreherei, Schleiferei, Maschinen und Kessel sowie Malerei- und Druckereibedarf, Verpackungsmaterial, Stanzöl und Matrizen. Ursächlich für den mit 10 - 25% hohen Anteil der "sonstigen Materialien" an den Produktionskosten der Technischen Keramik war der große Bedarf an Armaturen für Hochspannungsisolatoren. Der Grund für die prozentuale Streuung war, daß verschiedene Firmen betriebseigene Maschinenschlossereien besaßen, in denen die benötigten Stanzmatrizen selbst produziert wurden, andere Firmen diese Matrizen von betriebsfremden Schlossereien bezogen. Bei ersteren stand dem niedrigeren Prozentsatz der sonstigen Materialien an den Selbstkosten ein höherer Anteil an den Arbeitskosten (für das Personal der Schlosserei) gegenüber, bei letzteren war es umgekehrt.

4.1.6 Frachten

Gegenüber der Vorkriegszeit erhöhte sich in den zwanziger Jahren der Anteil der Fracht am Wert der transportierten Roh- und Hilfsstoffe um einige Prozent, was bedeutete, daß die Kosten für Materialfrachten höher waren: Um 70 bis 80% für geschlämmtes Kaolin, 45 bis

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55% für Feldspat und Quarz und um 35 bis 50% für Stein- und Braunkohle. Dabei waren die Frachtkostensteigerungen abhängig von den Entfernungen wie auch von der Tonnage. Gleiches galt für die Fertigfabrikate, bei denen die Frachtsätze bspw. für Elektroporzellan um 50 bis 150% über dem Vorkriegsniveau lagen. Beim Export von Elektroporzellan galten besondere Ausnahmetarife, so daß die Verteuerungen gegenüber der Vorkriegszeit etwas geringer ausfielen: Beim Export über die trockene Grenze 51,4%, über die nasse Grenze 51,6%. Der Anteil der Frachtkosten am Produktwert betrug lt. einer Erhebung der Vereinigten Hochspannungsisolatoren-Werke G.m.b.H. i.J. 1928 4,6% gegenüber 4,04% vor dem Krieg.98

4.2 Allgemeine Unkosten, Abschreibungen, Steuern

Die allgemeinen Betriebsunkosten (Reparaturen, Versicherungen, Aufwand für Versuche) beliefen sich i.J. 1928 bei der Elektroporzellanindustrie auf 3,8 bis 8,4%. In der Hochspannungsporzellan produzierenden Industrie waren die allgemeinen Betriebskosten wg. der elektrischen Prüffelder entsprechend höher als in der Niederspannungsporzellanindustrie. Gleiches galt für die Abschreibungen, die durchschnittlich 3,5% an den Gesamtkosten der Industrie der Technischen Keramik ausmachten; dabei wurden Brennöfen mit 0,3%, Gebäude mit 0,9% und Maschinen mit 1,7% abgeschrieben. Die allgemeinen Handlungsunkosten machten beim Hochspannungsporzellan 11,3% aus, die sich auf Reklame mit 0,4%, Bürokosten mit 7,6%, Provisionen für Vertreter mit 1,1% und sonstige Unkosten mit 2,2% verteilten. Beim Niederspannungs- und sonstigen technischen Porzellan betrug der Prozentsatz der allgemeinen Handlungsunkosten 7,7%. Auffallend die mit 1,5% deutlich geringeren Bürokosten und die mit 0,7% bzw.1,8% höheren Prozentsätze für Werbung bzw. Provisionen (1,8%). Diese Unterschiede erklärten sich aus dem Umstand, daß Hochspannungsporzellan fast ausschließlich von Großbetrieben produziert wurde, die einen entsprechend höheren Verwaltungsaufwand hatten resp. daraus, daß Niederspannungsartikel wg. der größeren Konkurrenz viel stärker beworben werden mußten und – im Gegensatz zu Hochspannungsisolatoren, die man direkt an die Auftraggeber auslieferte – oft über Handelsvertreter abgesetzt wurden. Die Ausgaben für Werbung lagen jedoch insgesamt unter denen der Geschirr- und Zierporzellanindustrie (1,8%), die eigene Musterlager unterhielt,

98 Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.137.

278

Kataloge drucken ließ und ihre Produkte häufig auf Messen und Ausstellungen präsentierte. Steuern und Abgaben machten beim Elektroporzellan ca. 3,4% der Gesamtkosten aus.

4.3 Löhne, Gehälter, Sozialabgaben

In der Elektroporzellanindustrie (inkl. Steatit) betrug der Anteil der Löhne an den Kosten ca. 33%,99 der Anteil der Gehälter lag bei 8 – 11%, die Sozialabgaben hatten einen Kostenanteil von 3 – 4%. Die Elektroporzellanindustrie kam in den Betrieben für Niederspannungs- und sonstiges technisches Porzellan mit einem niedrigeren Prozentsatz von Facharbeitern aus als in den spezifischen Betrieben der Hochspannungsporzellan produzierenden Industrie. Der Lohndurchschnitt in der Industrie für technische Artikel war durch den besonders niedrigen Lohnanteil in der Steatitindustrie bedingt, die in der Lage war, den Produktionsprozeß weitgehend zu mechanisieren. Der Lohnkostenanteil von 33% bestand mit 7,3% nur zu einem geringen Teil aus Löhnen für Facharbeiter, den weitaus größeren Teil stellten die Löhne der "sonstigen Arbeiter" mit 25,7%. Nimmt man für die Gehaltskosten einen Durchschnittswert von 9,5% an, so läßt sich ermitteln, daß davon 6% auf Gehälter für kaufmännische Angestellte und 3,5% auf Gehälter für technische Angestellte entfielen. Es versteht sich von selbst, daß die Sozialversicherungsbeiträge bei niedrigem Lohn- und Gehaltsanteil sanken, während sie bei höherem Lohn- und Gehaltsanteil entsprechend stiegen. Die Keramikindustrie lag mit ca. 50% Anteil der Arbeitskosten an den Produktionskosten weit über dem Durchschnitt der Gesamtindustrie und gehörte somit zu den arbeitsintensivsten deutschen Industrien.100

99 Elektroporzellanindustrie außer Steatit: 42-45%. 100 Der Reichsverband der deutschen Industrie ermittelte 1925 für die gesamte Industrie einen durchschnittlichen Anteil der Arbeitskosten (Löhne, Gehälter, Sozialabgaben) an den Selbstkosten von 30,2%.

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5. Arbeitnehmerverhältnisse: Wirtschaftsgeschichtliche Relevanz

Um die Arbeitnehmerverhältnisse in der Keramik- und Porzellanindustrie unter ökonomischen Gesichtspunkten zu untersuchen, erscheint es sinnvoll, zunächst die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft zu betrachten, um danach die Arbeitsbedingungen zu beleuchten. Die Arbeitnehmerschaft wird nach Status (Angestellte – Arbeiter), Geschlecht (männliche – weibliche Arbeiter), Stellung im Beruf (gelernt – ungelernt) und Ausbildung (Jugendliche Arbeiter, Lehrlingswesen) spezifiziert. Die Arbeitsbedingungen werden hinsichtlich Lohnsystem, Tariflohn, Effektivlohn, Arbeitszeit/Urlaub sowie Berufskrankheiten dargestellt.

5.1 Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft

Die hier primär interessierende Gruppe der Arbeiter stellte den weitaus größten Teil der Arbeitnehmerschaft. Dennoch erscheint es sinnvoll, einen kurzen Blick auf die zahlenmäßig zwar geringe, jedoch zunehmend bedeutendere Gruppe der Angestellten zu werfen, um dann auf die Arbeiterschaft speziell einzugehen.

5.1.1 Angestellte

Nach der amtlichen Betriebszählung von 1925 waren von 72.900 Beschäftigten der Keramikindustrie101 5.800, mithin 8% Angestellte. Von diesen entfielen 4,8% auf kaufmännische und 3,2% auf technische Angestellte. Eine von der Enquete-Kommission zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft 1928 durchgeführte Fragebogenerhebung, die insgesamt 33.010 Beschäftigte umfaßte, ergab 5,3% kaufmännische und 4,1% technische Angestellte.102 Von 1913 bis 1928 stieg der Prozentsatz der Angestellten insgesamt im Durchschnitt von 6,6% auf 9,4%, wobei die Zunahme bei den

101 Inklusive Speckstein- und Steatitindustrie 102 Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.142.

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Konzernbetrieben noch erheblich stärker war (8,2% auf 10,7%).103 Dieser Anstieg war bei den technischen Angestellten durch Rationalisierungsmaßnahmen begründet, die einerseits mehr Aufsichts- und Kontrollpersonal erforderten, andererseits eine Abnahme der Zahl der Transportarbeiter u.a. mit sich brachten. Der Grund für die Zunahme der kaufmännischen Angestellten lag in der Aufgabenvergrößerung der Lohnbüros sowie in der im Vergleich zur Vorkriegszeit stärkeren Zersplitterung der Aufträge. In der Elektroporzellanbranche ergab sich 1928 ein Durchschnittsumsatz von rd. 93.000 RM pro kaufmännischem Angestellten. Die tariflich geregelten Gehälter der Werkmeister sowie technischen und kaufmännischen Angestellten gibt nachfolgende Übersicht wieder:

Tab.44: Tarifliche Gehaltssätze für Angestellte in der Porzellanindustrie Bayerns in RM pro Monat ( Stand April 1928) 104

103 Vgl. Rosenthal-Archiv: Fabrikbuch Selb-Plössberg, S.137ff. 104 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.143.

281

Das durchschnittliche Jahresgehalt der Angestellten lag 1928 bei 3.440 RM; dabei schwankt das Gehalt bei den technischen Angestellten zwischen 2.400 RM und 5.780 RM, bei den kaufmännischen Angestellten zwischen 2.500 RM und 4.800 RM. Der Urlaub der Angestellten war für alle Gruppen einheitlich geregelt und betrug im ersten bis vierten Berufsjahr 6 Arbeitstage, vom fünften bis achten Berufsjahr 9 Arbeitstage usw. bis maximal 18 Arbeitstage ab dem 15. Berufsjahr.

5.1.2 Männliche und weibliche Arbeiter

Im Zeitraum 1895 bis 1907 nahm die Zahl der weiblichen Arbeiter in der bayerischen Industrie der Steine und Erden von 7.371 auf 13.771 um 86,8% zu.105 Diese Zunahme war v.a. auf die wachsende Zahl von Arbeiterinnen in den Porzellanindustrien Oberfrankens und der Oberpfalz zurückzuführen.106 Für die thüringische Porzellanindustrie liegt spezifiziertes Zahlenmaterial vor, das für den gleichen Zeitraum eine Steigerung des Anteils der weiblichen Beschäftigten um sogar 98,3% ausweist:

Tab.45: Frauenarbeit in der thüringischen Porzellanindustrie107 Gesamt- Davon Prozent- Gesamt- Davon Prozent- Gesamt- Davon Prozent- zahl der Arbeite- satz zahl der Arbeite- satz zahl der Arbeite- satz Arbeiter rinnen Arbeiter rinnen Arbeiter rinnen Sachsen-Weimar- 721 96 13,3 1.757 499 28,4 2.472 790 31,9 Eisenach S.-Meiningen 3.069 804 26,2 3.762 1.105 29,3 6.452 2.252 34,9 Sachsen-Altenburg 732 71 9,7 1.946 373 19,1 3.191 1.256 39,3 S.-Coburg-Gotha 1.643 420 25,6 1.887 580 30,7 3.845 1.183 31,0 Schwarzburg- 780 143 18,3 1.541 341 22,1 1.843 523 28,5 Sondershausen Schw.-Rudolstadt 2.628 507 19,3 3.364 828 24,6 4.291 1.517 35,3 Reuß ältere Linie 567 164 27,1 480 147 30,6 412 143 34,7 Reuß jüngere Lin. 72 9 12,5 98 27 27,5 174 70 40,2 Zusammen 10.212 2.214 21,6 14.835 3.900 26,3 22.680 7.734 34,1 1882 1895 1907

105 BSKgrB 1911, H.82, S.272. 106 Vgl. Jahresberichte der kgl.-bayerischen Fabriken- und Gewerbeinspektoren [JFI] 1893, S.119 (Oberfranken); JFI 1895, S.193 (Oberpfalz); JFI 1901, S.91 (Oberfranken). 107 Aus: WINDORF, H. 1912, S.87.

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Die Zunahme der Zahl der Arbeiter im Zeitraum 1907 bis 1928 um 33% war ebenfalls v.a. eine Zunahme der weiblichen Arbeiter. Während die Anzahl der männlichen Arbeiter im angegebenen Zeitraum um immerhin 17,6% wuchs, lag die prozentuale Steigerung bei den weiblichen Arbeitern mit ca. 60% wesentlich höher. Damit verschob sich ebenso auch der Anteil der weiblichen Arbeiter an der Beschäftigungszahl in der Porzellanindustrie von 37,5% i.J. 1907 auf 44,8% i.J. 1925; der Prozentsatz der männlichen Arbeiter fiel von 62,5% auf 55,2%.108 Somit bestand 1925 annähernd die Hälfte der Arbeiterschaft in der Porzellanindustrie aus Frauen. Dabei wurden die weiblichen Arbeiter überwiegend für Hilfs- und sonstige Tätigkeiten eingesetzt,109 Facharbeiter waren fast ausschließlich Männer. In der Specksteinindustrie – und hier v.a. in der Gasbrennerfabrikation – wurde durch die Weiterentwicklung der Maschinen zu Halbautomaten und Automaten die Arbeit in jeweils geschlechtsspezifisch besetzte qualifizierte und unqualifizierte Tätigkeiten differenziert: un- oder angelernte Frauen bedienten die Maschinen,110 qualifizierte Männer waren als Mechaniker, Drechsler oder Schreiner tätig.111

Die Zusammensetzung der Arbeiterschaft nach dem Geschlecht war in der Porzellanindustrie keinesfalls einheitlich, sondern schwankte in den einzelnen Betrieben sehr stark. In der Elektroporzellanindustrie wurden zur Fabrikation von großen und schweren Hochspannungsporzellanen vorwiegend männliche Arbeiter eingesetzt; bei der Produktion von Niederspannungsporzellan (Stanzen gleichartiger Teile mit geringen Abmessungen und geringem Gewicht) überwog der Anteil der Frauen. Diese produktionsabhängigen Differenzen wurden noch regional modifiziert: In Schlesien bestand die Belegschaft sogar zu 75% aus Frauen; im Waldenburger Revier arbeiteten die Männer in den Bergwerken und die Frauen in der Porzellanindustrie; in Kahla arbeiteten die Männer in der Porzellanfabrik, die Frauen in der Textilindustrie.

Die Substitution der männlichen Arbeiter durch weibliche hing vor allem mit Rationalisierungsmaßnahmen zusammen. Der innerbetriebliche Transport gefüllter Kapseln oder schwerer Planken geschah zunehmend durch Karren oder Schaukelförderer. Das Spritzverfahren in der Dekoration sowie die Ausbreitung des Gießverfahrens auf Kosten der

108 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd.213,1 u. Bd.413. 109 „... wie anderseits die Einfachheit mancher Handgriffe geben der weiblichen Arbeitskraft in großem Umfange den Vorzug vor der männlichen, so daß die weibliche Arbeiterschaft in der Porzellanindustrie einen so hohen Prozentsatz ausmacht wie nur in wenigen anderen thüringischen Industrien.“[MÜLLER, J. 1927, S.264}. 110 Zu nennen sind insbesondere Bohr- und Fräsmaschinen, Stanzen, Pressen und Drehbänke. 111 Vgl. KUHLO, A. 1926, S.117ff.

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Dreherei begünstigten ebenfalls den Einsatz weiblicher Arbeiter.112 Kennzeichen dieser Verfahren war die Dequalifikation von Arbeitsprozessen in der Porzellanindustrie, die damit zum Arbeitsgebiet unqualifizierter Frauen wurden. Nicht zuletzt waren die unterschiedlich hohen Löhne von Männern und Frauen für die Unternehmen Anreiz, möglichst viele männlich besetzte Arbeitsplätze durch Frauen zu ersetzen. "Frauen wurden dort eingestellt, wo es die Dequalifikation eines Arbeitsvorganges durch technischen Wandel möglich machte, vor allem aber dort, wo die geschlechtsspezifische betriebliche Kalkulation von der Qualifikations- und Belastungsanforderung her sie geeignet erscheinen ließ."113

Daß bereits um die Jahrhundertwende Bestrebungen seitens des Staates und der Gewerkschaften erkennbar waren, die Frauenarbeit zurückzudrängen mit dem Argument, daß diese die Qualität mindere,114 sei nur am Rande erwähnt. Denn gleichzeitig widersprachen sich die so Argumentierenden durch die Behauptung, daß gleichmäßige monotone Arbeit besser von Frauen als von Männern verrichtet werden könne, da Frauen über ihr Tun nicht in dem Maße nachdächten und somit gefügiger seien als Männer.115

5.1.2 Gelernte und ungelernte Arbeiter

"Im Uebrigen hat sich jeder Fortschritt, jede neue oder verbesserte Erfindung doch nur stets zum Vortheile des Besitzenden und zum Nachtheile des Arbeiters erwiesen. Hiervon haben wir ja die deutlichsten Beweise in der Porzellanindustrie, die von dem einstigen Kunstgewerbe, infolge des wachsenden Angebots von Arbeitskräften und daraus resultierenden unfreiwilligen Konkurrenz bis zur schlecht bezahlten Tagelöhnerarbeit gesunken ist." 116

Durch weitgehende Arbeitsteilung ließen sich zahlreiche Arbeiten mechanisieren, so daß sie ohne weiteres von ungelernten Kräften ausgeführt werden konnten und auch ausgeführt wurden. Die wichtigsten Produktionsbereiche wie Formgebung, Brand und Dekoration wurden jedoch von gelernten Arbeitskräften wahrgenommen. Dabei waren im Bereich Formgebung Modelleinrichter, Formengießer, Dreher, Gießer und Kapseldreher, im Bereich Brand die Scharfschürer und im Bereich Dekoration –soweit sie Handarbeit war- Auf- und Unterglasurmaler gelernte Arbeiter. Folgende Übersicht stellt die Prozentsätze der gelernten,

112 Vgl. JFI 1888, S.49 (Oberpfalz); JFI 1903, S.104 (Oberfranken). 113 PLÖSSL, E. 1983, S.161. 114 JFI 1888, S.74. 115 Vgl. SCHOENLANK, B. 1887, S.24. 116 Die Ameise vom 17. Mai 1901.

284 ungelernten und weiblichen Arbeitskräfte sowie der Lehrlinge des Jahres 1894 den prozentualen Anteilen des Jahres 1899 gegenüber.

Tab.46: Prozentanteil der Arbeitskräfte in der Porzellanindustrie 1894 und 1899 117 1894 1899 Männliche Männliche Weibliche Lehrlinge Männliche Männliche Weibliche Lehrlinge gelernte ungelernte gelernte ungelernte Modelleure 83,14 2,282,85 11,71 84,74 2,17 0,27 12,8 Formgießer 67,11 12,694,61 15,57 73,79 11,74 0,45 14,00 Dreher 65,96 2,8910,68 20,16 63,17 5,23 17,29 14,29 Gießer 33,17 4,9047,51 14,39 29,05 9,39 53,40 8,14 Stanzer 10,70 52,8431,77 4,68 13,80 22,71 62,84 0,63 Garnierer 14,02 8,4163,21 14,34 15,00 5,86 73,95 5,16 Schlämmer 40,46 54,065,14 0,33 39,97 54,53 5,49 0,00 Glasurer 10.93 11,0877,10 0,88 8,82 7,18 83,45 0,52 Schleifer 48,46 24,3711,05 21,10 41,88 25,42 23,72 8,95 Kapselmacher 58,36 35,692,41 3,53 50,44 44,39 3,98 1,18 Brenner/Ofenarbeiter 29,99 43,18 25,74 1,07 34,96 41,55 22,62 0,85 Packer/Sortierer 19,39 35,56 42,15 2,88 26,34 25,65 46,90 1,09 Maler 60,24 2,4717,70 19,57 61,48 1,19 22,90 14,41 Graveure 93,38 3,670,00 2,94 83,65 5,76 2,88 7,69 Drucker 10,95 2,1085,37 1,57 10,37 3,47 84,91 1,23 Schmelzer 43,79 48,863,29 4,05 57,65 38,29 3,40 0,63

Diese Zahlen bestätigen oben geäußerte Thesen: Im Produktionsbereich Formgebung (Modelleure, Formengießer, Dreher, Kapselmacher) überwog die Zahl der gelernten männlichen Arbeitskräfte. Eine Ausnahme bildeten die Gießer, bei denen der Anteil der (ungelernten) weiblichen Arbeitskräfte mit 47,51% (1894) überwog und bis 1899 sogar auf 53,40% stieg. In der Gruppe der Stanzer trat im untersuchten Zeitraum insofern eine Verschiebung ein, als der Anteil der männlichen Ungelernten sich von 52,84% auf 22,71% verringerte; gleichzeitig stieg der Anteil der weiblichen ungelernten Stanzer von 31,77% auf 62,84%. Ähnliches gilt für die Gruppe der Garnierer, in der der Anteil der weiblichen Arbeitskräfte von 63,21% auf 73,95% unter gleichzeitigem Rückgang der Zahl der Lehrlinge (von 14,34% auf 5,16%) stieg. Die zwar körperlich anstrengenden, doch kaum qualifizierten Tätigkeiten der Schlämmer wurden hauptsächlich von männlichen ungelernten Arbeitern verrichtet, der Anteil der Frauen in diesem Produktionsbereich war mit 5,14% bzw. 5,49% gering. Die verschwindend kleine Zahl an Lehrlingen (1894: 0,33%) sank bis 1899 auf Null und korrespondierte mit dem hohen Anteil von Ungelernten (54,06% bzw. 54,53%) und war auf

117 Quelle: Die Ameise 1900, 27.Jg., H.1, Beilage (Auszug). Durch die Rundung auf zwei Stellen nach dem Komma ergeben sich Rundungsdifferenzen.

285

das niedrige geringe Anforderungsprofil dieser Berufsgruppe zurückzuführen. Im Bereich Glasieren waren ebenfalls die hohen Prozentanteile der dort arbeitenden Frauen signifikant: 77,10% bzw. 83,45%. Beim Produktionsabschnitt Brand (Brenner und Ofenarbeiter) überwog die Zahl der ungelernten männlichen Arbeiter (43,18% und 41,55%), was mit den dort herrschenden Arbeitsbedingungen (Hitze, körperlich schwere Arbeit) zusammenhing. Packer und Sortierer waren in der Mehrzahl weibliche Arbeitskräfte (42,15% bzw. 46,90%), da diese Tätigkeit keine besonderen Kenntnisse verlangte und auch körperlich nicht allzu anstrengend war. Auf- und Unterglasurmaler hatten diesen Beruf in der Regel erlernt, was den hohen Prozentsatz (60,24% und 61,48%) der gelernten Arbeiter und umgekehrt den niedrigen Anteil der ungelernten Arbeiter (2,47% bzw. 1,19%) in dieser Berufsgruppe erklärt. Daß der Beruf des Porzellanmalers hochangesehen und entsprechend nachgefragt war, beweist der relativ große Anteil der Lehrlinge in diesem Bereich (19,57% resp. 14,41%). Graveure zählten ebenfalls zu den Berufsgruppen, in denen in der Hauptsache gelernte Arbeiter beschäftigt wurden (93,38% und 83,65%). Das Drucken hingegen wurde meist von ungelernten weiblichen Arbeitskräften ausgeführt, wie die Zahlen belegen: 1894 waren 85,37% der Drucker weibliche ungelernte Arbeiter, 1899 84,91%. Da der Produktionsablauf beim Schmelzen detaillierte Kenntnisse erforderte, wurden in diesem Bereich vorzugsweise gelernte Arbeiter eingesetzt (1894: 43,79%; 1899: 57,65%), die im übrigen – anders als die meisten anderen Arbeitergruppen, die im Akkord beschäftigt wurden - im Zeitlohn arbeiteten.

Inwieweit die gelernten, in der Regel männlich besetzten Berufsgruppen tatsächlich mit ungelernten bzw. weiblichen Arbeitern in Konkurrenz standen bzw. durch diese sogar verdrängt und ersetzt wurden, läßt sich anhand folgender, für die Produzenten von Technischer Keramik spezifizierter Zahlen erkennen:118 Dreher: Waren 1894 noch 42,39% der Dreher gelernte männliche Arbeiter und 15,58% weibliche, so waren es 1899 nur noch 39,66% männliche gegenüber 17,75% weiblichen Drehern.

118 Die Ameise 1900, 27.Jg., H.1, Beilage.

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Gießer: 1894 waren 8,38% der Gießer gelernte männliche Arbeiter, 7,89% ungelernte weibliche Arbeiter; bis 1899 hatte sich das Verhältnis in 6,57% zu 13,28% geändert. Stanzer: Der Anteil der ungelernten weiblichen Arbeiter erhöhte sich von 1894: 0,42% auf 1899: 1,92%.

Die Tendenz, höherbezahlte gelernte Arbeiter durch niedriger entlohnte ungelernte oder weibliche Arbeitskräfte zu substituieren, läßt sich auch für die nachfolgenden Zeiträume nachweisen und erreichte bis 1930 einen vorläufigen Höhepunkt. In der Porzellanindustrie wurden die Arbeiter nach 1920 tarifvertraglich in drei Gruppen unterschieden: Facharbeiter, die eine Lehre absolviert hatten; Facharbeiter ohne Lehre, die jedoch aufgrund mehrjähriger Tätigkeit im Betrieb Anspruch auf Facharbeiterentlohnung erworben hatten; ungelernte Arbeiter. Im Tarifvertrag wurden die ersten beiden Gruppen als Facharbeiter zusammengefaßt, die dritte Gruppe wurde als "Sonstige Arbeiter" geführt. Um den prozentualen Anteil der jeweiligen Gruppe an der Gesamtarbeiterzahl zu bestimmen, ist man auf Schätzungen angewiesen, da nur ungenaues bzw. unvollständiges Zahlenmaterial vorliegt. So unterschied die Berufszählung für die Feinkeramik von 1925 nach "Charakteristischen Berufen", "Betriebshandwerkern" und ""Übrigen Arbeitern". Hierbei ist die Bezeichnung "Charakteristischer Beruf" jedoch nicht gleichbedeutend mit dem enger gefaßten Begriff "Facharbeiter".

Tab.47: Gliederung der Arbeiterschaft nach der Stellung im Beruf I (1925) 119 Beruf Zusamen In % Männer Männer in % Frauen Frauen in % gesamt von allen gesamt von allen Arbeiter...... 111.388 100,0 72.702 65,3 38.686 34,7 darunter Arbeiter in charakteristischen Berufen... 45.895 41,2 35.146 76,6 10.749 23,4 darunter 100,0 Brenner...... 4.343 9,5 4.178 96,2 165 3,8 Dreher...... 9.498 20,7 8.354 88,0 1.144 12,0 Former...... 5.075 11,1 3.415 67,8 1.660 32,7 Gießer...... 5.261 11,5 2.543 48,3 2.718 51,7 Maler...... 13.977 30,5 8.993 64,3 4.984 35,7 Töpfer...... 7.741 16,7 7.663 99,0 78 1,0 Betriebshandwerker und Hilfsberufe...... 7.507 6,7 7.345 97,8 162 2,2 Übrige Arbeiter...... 57.986 52,1 30.211 52,1 27.775 47,9

119 Quelle: Berufszählung von 1925. In: Untersuchungsausschuß 1931, S.146.

287

Nach dieser amtlichen Statistik waren rd. 41% der Arbeiter in charakteristischen Berufen tätig, wovon die männlichen Arbeiter einen Anteil von 76,6% und die weiblichen einen solchen von 23,4% hatten. Ebenfalls lassen sich anhand obenstehender Tabelle die schon erwähnten, rationalisierungsbedingten Verschiebungen der Zusammensetzung der Arbeiterschaft hinsichtlich des Geschlechtes erkennen: Bei den Gießern überwog der Prozentsatz der Frauen mit 51,7% gegenüber 48,3% männlichen Gießern;120 der Prozentsatz der übrigen Arbeiter war mit 47,9% weiblichen gegenüber 52,1% männlichen Arbeitern annähernd gleich und belegt den Ersatz männlicher durch weibliche Hilfsarbeiter. Bei den traditionell männlichen, weil physisch schweren Arbeiten wie Drehen und Brennen hingegen überwog weiterhin der Anteil der Männer mit 88% bzw. 96,2% gegenüber 12% bzw. 3,8% bei den Frauen.

Eine Teilerhebung des Arbeitgeberverbandes für die feinkeramische Industrie ermittelte 1927 den Anteil der Facharbeiter mit 35,8%. Dabei bezog sich diese Erhebung zwar auf 70% der dem Arbeitgeberverband angehörenden Betriebe, jedoch wurden nur Arbeiter über 24 Jahre bzw. Arbeiterinnen über 20 Jahre erfaßt. Nach der Statistik der Gewerbeaufsichtsbeamten betrug 1927 jedoch allein die Zahl der Arbeiter unter 16 Jahren 5.540, also 5,7% der Belegschaft, die Zahl der Lehrlinge 3.932, was 5,5% der Belegschaft ausmachte. Hinzu kommt, daß die Zahl der Arbeiter zwischen 16 und 20 bzw. 24 Jahren unberücksichtigt blieb.

Tab.48: Gliederung der Arbeiterschaft nach der Stellung im Beruf II (1927) 121 Arbeitergruppe Stücklöhner In % Zeitlöhner In % Summe In % % zus. Männl. Facharbeiter 8.734 33,2 3.490 21,4 12.224 28,5 Weibl. Facharbeiter 2.891 11,0 211 1,3 3.102 7,3 35,8 Männl. sonst. Arbeiter 4.406 16,7 7.309 44,8 11.715 27,5 Weibl. Sonst. Arbeiter 10.300 39,1 5.262 32,5 15.562 36,7 64,2 Insgesamt 26.331 100,0 16.272 100,0 42.603 100,0 100,0

Auch diese Tabelle belegt das Überwiegen von männlichen Facharbeitern mit 28,5%, wohingegen nur 7,3% der Frauen Facharbeiter waren. Umgekehrt überwiegen bei den weniger qualifizierten sonstigen Arbeitern die Frauen mit 36,7% gegenüber 27,5% bei den

120 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß auch das Gießen z.T. von gelernten Arbeitern ausgeführt wurde, die, da sie gelernte Dreher waren, tarifvertraglich festgelegten Anspruch auf Facharbeiterentlohnung hatten. 121 Quelle: Teilerhebung des Arbeitgeberverbandes von 1927. In: Untersuchungsausschuß 1931, S.146.

288

Männern. Eine weitere, vom Enquete-Ausschuß durchgeführte Erhebung ermittelte 1928 den Prozentsatz der Facharbeiter mit 25,3%. Die divergierenden Angaben lassen sich mithin nur schätzungsweise zusammenfassen: In den dreißiger Jahren bestand die Belegschaft einer Porzellanfabrik ungefähr zu einem Drittel (34%) aus Facharbeitern;122 von diesen waren mehr als ¾ Männer (78,1%) und nur knapp ¼ Frauen (21,9%). Ursächlich für die Verschiebung der Belegschaft in Richtung mehr Hilfs- und "sonstiger Arbeiter " (von 47, 9% 1925 über 64,2% 1927 auf 74,7% 1928) 123 waren die bereits erwähnten Rationalisierungsmaßnahmen, die zwar dazu führten, daß die Facharbeiter Mehrleistungen erbrachten; die Produktivität der "sonstigen Arbeiter" konnte jedoch nicht in der gleichen Weise gesteigert werden, weswegen entsprechend mehr Hilfsarbeiter eingestellt werden mußten. Hinzu kam, daß infolge veränderter Arbeitsmethoden zunehmend Facharbeiter durch angelernte Arbeiter ersetzt wurden. Als Beispiele hierfür seien die sukzessive Verdrängung der Handmalerei durch Spritz- und Druckverfahren sowie die bereits erwähnte Ausbreitung des Gießverfahrens zu Lasten der Dreherei genannt.124 Wegen der Lohndifferenz zwischen Facharbeitern und ungelernten "sonstigen" Arbeitern waren die Unternehmer bestrebt, wo immer möglich, Facharbeiter durch ungelernte Arbeitskräfte, insbesondere Frauen, zu ersetzen: "Der Wunsch, sich von den Ansprüchen der teuren Facharbeiter zu befreien, wird so auch zum Ansporn für die wissenschaftliche Erforschung des Produktionsprozesses, die Rationalisierungen und den Einsatz ungelernter Arbeiter erst möglich macht." 125

122 Der Anteil der Facharbeiter an der Gesamtarbeiterzahl einer Fabrik variierte in Abhängigkeit von der jeweiligen Sparte: Zierporzellan ca. 66,2%, Geschirrporzellan ca. 27,9%, Elektroporzellan ca. 24,9% Facharbeiter. Dies bedeutet, daß im Bereich Elektroporzellan betriebliche Rationalisierungsbestrebungen und Ersatz von Facharbeitern durch un- oder angelernte Kräfte am weitesten fortgeschritten waren. Vgl. KÜGEMANN, R. 1931, S.67 und BALD, A. 1991, S.28. 123 Quelle: Fragebogenerhebung des Enquete-Ausschusses, die den Anteil der Facharbeiter i.J. 1928 mit 25,3% ermittelte. In: Untersuchungsausschuß 1931, S.146. 124 Vgl. S.181. 125 SPÄTH, H. 1996, S.38. Allerdings ist zu bemerken, daß SPÄTHs Datierung der wissenschaftlichen Erforschung der Produktion sowie der daraus resultierenden Rationalisierungsmaßnahmen auf Anfang des 19. Jhdts. nicht verifizierbar ist, da erst ab ca. 1860 mit wissenschaftlichen Methoden geforscht wurde bzw. darauf basierende Verbesserungen des Produktionsprozesses eingeführt wurden. Vgl. S.19f.

289

5.1.4 Jugendliche Arbeiter 126

Da in den Jahresberichten der Fabrikinspektoren in den meisten Fällen nicht zwischen jugendlichen Arbeitern, Kindern und Lehrlingen unterschieden wird und weil sich das Kapitel "Sozialgeschichte" gesondert mit der Kinderarbeit sowie der Lehrlingsausbildung befaßt, wird an dieser Stelle die wirtschaftliche Relevanz der jugendlichen Arbeiter mit den Lehrlingen zusammenfassend dargestellt.

Der Jahresbericht des Fabriken-Inspektors für die Regierungsbezirke Oberpfalz und Regensburg, Oberfranken, Mittelfranken, Unterfranken und Aschaffenburg wies im Jahre 1882 für die Industrie der Steine und Erden insgesamt 483 jugendliche Arbeiter (403 männlich, 80 weiblich) aus, was einem Anteil an der Gesamtbeschäftigtenzahl von 5,7% entsprach; von diesen waren 453 im Alter von 14 bis 16 Jahren und 30 im Alter von 12 bis 14 Jahren (6,2%), also noch Kinder.127 Die Zahl der in dieser Industrie beschäftigten jugendlichen Arbeiter hatte sich bis zum Jahr 1893 allein in Oberfranken auf 779 gleich 7,4% (567 männlich, 212 weiblich) erhöht, wovon 72 (9,2%) Kinder unter 14 Jahre waren.128 Bis zum Jahr 1901 stieg diese Zahl nochmals um rd. 60% auf 1.246 jugendliche Arbeiter (778 männlich, 468 weiblich) und lag damit bei 10,9%, wovon 214 (17,1%) Kinder unter 14 Jahren waren.129 1913 konstatierte der Jahresbericht für die oberfränkische Porzellanindustrie, die "infolge von Betriebsvergrößerungen 24,3% ... jugendliche Arbeiter mehr als im Vorjahre ..."130 beschäftigte, eine (weitere) Steigerung und 1925 lag der Anteil der allein in der feinkeramischen Industrie131 Bayerns beschäftigten jugendlichen Arbeiter mit 2.751 (1.472 männlich, 1.279 weiblich) bei 8,7%;132 davon waren 338, also 12% Kinder unter 14 Jahren. Βemerkenswert erscheint die kontinuierliche Steigerung der Quote der jugendlichen Arbeiter an der Gesamtbelegschaft von 5,7% auf 10,9%; erst im Jahr 1925 ist ein Rückgang auf 8,7% zu verzeichnen. Gleiches gilt für die Zahl der beschäftigten Kinder unter 14 Jahren, deren

126 § 135 der Gewerbeordnung subsumierte unter "Jugendliche Arbeiter" Kinder unter 14 Jahren sowie Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren. 127 JFI 1882, S.68, S.73. 128 JFI 1893, S.140. 129 JFI 1901, S.182f. Während die Zahlen der vorher zitierten Jahresberichte die Industrie der Steine und Erden nicht weiter spezifizierten, listet dieser Jahresbericht gesondert die Ziegeleien und Glashütten auf; diese sind in den o.a. Daten nicht enthalten. Die Steigerung für die gesamte Industrie ist, nimmt man die Ziegeleien und Glashütten hinzu, noch wesentlich höher (104%). 130 JFI 1913, S.140. 131 Direkte Vergleiche erschienen schwierig, da die Jahresberichte sukzessive die jeweiligen Industrien (hier: Steine und Erden; diese ohne Ziegeleien und Glashütten; schließlich nur feinkeramische Betriebe) spezifizierten. Der Trend zur Mehrbeschäftigung jugendlicher Arbeiter ist indessen klar erkennbar. 132 JFI 1925, S.148f.

290

Anteil von 6,2% auf 17,1% stieg, um erst 1925 auf 12% zu sinken. Dies deutet, daß die Porzellanfabrikanten unter allen Umständen versuchten, billige, mithin jugendliche Arbeitskräfte zu beschäftigen, um auf diese Weise die Lohnkosten senken und profitabler produzieren zu können. Dem gleichen Zweck diente der auffallend hohe Prozentsatz der in der keramischen Industrie arbeitenden Kinder unter 14 Jahren; zwar durften diese "nur" 6 Stunden täglich beschäftigt werden, doch wurde vielfach und vielerorts gegen diese Schutzbestimmungen verstoßen:133 "... findet eine regelmässige ortspolizeiliche Revision trotz bestehender Anordnungen nicht überall statt, sonders es wird zur Ermittlung der Daten ... der Fabrikbesitzer schriftlich zu den nöthigen Mittheilungen aufgefordert."134

Daß aufgrund der auf diese Weise praktizierten Vorgehensweise gesetzliche Schutzvorschriften keine oder kaum Wirkung zeigten, liegt auf der Hand. Wie sehr sich, zumindest in den Anfangsjahren ihres Bestehens, die Gewerbeaufsicht als Interessenvertretung weniger der Arbeiter als vielmehr der Arbeitgeber verstand,135 zeigt folgende Stellungnahme: "Irgend eine Beanstandung bezüglich der Art der Beschäftigung der jugendlichen Arbeiter konnte ich nirgends erheben; im Gegentheil ist in sehr vielen Fällen der Aufenthalt in der Fabrik bei geordneter Arbeit für dieselben eine heilsame und nothwendige Ergänzung der häuslichen Erziehung, jedenfalls aber dem Herumlungern auf der Strasse weit vorzuziehen. ... Eine nachtheilige Einwirkung der Fabrikarbeit auf die körperliche Entwicklung der jugendlichen Arbeiter konnte ich nirgends wahrnehmen, und einem solchen auf die sittliche Entwicklung entgegenzuwirken, ist Sache der häuslichen Zucht: so lange es aber mit letzterer in unseren Arbeiterfamilien noch vielfach so traurig bestellt ist, wird auch erstere nicht zu vermeiden sein." 136

5.2 Arbeitsbedingungen

Die Darstellung der Arbeitsbedingungen der Arbeiter beschränkt sich zunächst auf rein wirtschaftshistorische Daten und Fakten. Bei dieser Sichtweise wird der Arbeiter reduziert auf seine Eigenschaft als "Produktionsfaktor", Arbeits- und Lebensumwelt sind zunächst nicht observabel. Die Untersuchung und Darstellung dieser unter sozialgeschichtlichen Prämissen bleibt dem nachfolgenden Kapitel vorbehalten.

133 Näheres unter Kap. Kinderarbeit. 134 JFI 1882, S.51. 135 Vgl. hierzu auch unter Kap.VIII: Staatliche Sozialpolitik. 136 JFI 1882, S.51f.

291

Die bereits mehrfach angesprochene Arbeitsteilung in der Porzellanindustrie stellte sich in einer Porzellanfabrik in den zwanziger Jahren wie folgt dar:

Masseaufbereitung Kiesklopfer glühten den Quarz aus und Kollergangarbeiter besorgten das Vermahlen des Quarzes und des Feldspates. Nach den von Chemikern in einem Laboratorium berechneten Zusammensetzungen führten die Massemüller dem Quirl die festgesetzten Rohstoffmengen zu. Sobald die Rohstoffe ausreichend vermengt waren, wurde die flüssige Masse mittels Pumpen in Pressen gedrückt, die von Massepressern bedient wurden. Diese nahmen den Massekuchen heraus und übergaben ihn den Masseschlägern, die ihn in die Masseschlagmaschinen warfen. Anschließend wurde die Masse von den Massefahrern in die Arbeitsräume gebracht. Zur Massemühle gehörten außerdem die Tongewölbearbeiter, welche die Tonmasse zur Kapselherstellung bereiteten; die fertige Tonmasse wurde von Tonfahrern in die Kapseldreherei gefahren.

Formgebung Aus den Berufen des Drehers und Formers entwickelte sukzessive sich eine Vielzahl von "Spezialisten". Die Modelleinrichter fertigten nach Zeichnungen Modelle an, von denen die Formgiesser Gipsabdrücke herstellten. Anschließend wurden die Formen von Formträgern aus der Formgiesserei zu den Drehern und Gießern gebracht. Jeweils zwei Dreher wurden von einem Hubelquetscher bedient, der aus dem Massekuchen ein Stück im ungefähren Umfang der gewünschten Form herausnimmt, so daß die Dreher die Masse in handlicher Größe erhielten. Den Gießern wurde die Masse von anderen Arbeiten zu Schlicker angerührt; die Stücke, die in mehreren Teilen gegossen werden mußten, wurden von den Garnieren und Verputzern zusammengesetzt. Zwei später im Produktionsprozeß benötigte Hilfsmittel - Kapseln und Bomsen -137 wurden in der Dreherei von Kapseldrehern und Bomsenmachern hergestellt.

Brand Zwar war die Zahl der beim keramischen Brand beschäftigten Personen verhältnismäßig groß, doch waren nur zwei Arbeiter, Vorwärmer und Scharfschürer, für den eigentlichen Brand

137 Vgl. S.197. In der Literatur findet sich auch der Begriff 'Bumsen' für diese Brennunterlagen.

292 verantwortlich. Während der Vorwärmer für das Vorfeuer verantwortlich war, hatte der Scharfschürer für die richtige Temperatur des Scharffeuers zu sorgen. Für die Bekohlung und Entschlackung stand ihnen je ein Kohlenträger als Hilfsarbeiter zur Verfügung. Die übrigen Brennereiarbeiter waren mit vorbereitenden oder abschließenden Arbeiten beschäftigt: Kapselschmierer sorgten für ebene Kapseln, Kapselkehrer befreiten sie von Schmutz und Staub, Bomsenschleifer schliffen alle Unebenheiten an den Brennbomsen ab, Bomsenstreicher bestrichen die Brennunterlagen mit dem feuerfesten Material, das ein Festbacken verhinderte, Tellerfüller stellten das Porzellan in die Kapseln, Einfüller trugen die Kapseln in den Ofen. Im Ofen wurden die Kapseln vom Vorwärmer und Scharfschürer aufgeschichtet. Tellerfüller und Einfüller teilten sich in zwei Gruppen, von denen die eine die erste Etage des Ofens, die andere die zweite befüllte. In die dritte Etage wurde von Kuppelmachern die frisch gedrehten Kapseln verbracht. Nach dem Brand brachten Ausleerer die Kapseln aus dem Ofen, wo sie von Ausnehmern geleert wurden. Die Stücke wurden nach dem Vorbrand durch Abstauber von Sandkörnchen gereinigt, die beim Brand von den Kapseln abgeplatzt waren. Danach drückten Stempler die Fabrikmarke auf den Boden, die Unterglasurmaler trugen die Farben auf und die Glasurer tauchten die Teile in die Glasurmasse.

Dekoration Aus der Brennerei kam das Porzellan, falls es verziert werden sollte, in die Aufglasurmalerei, wo jeder Maler auf eine bestimmte Verzierung spezialisiert war. Die auf mechanischem Wege hergestellten Dekore wurden durch Bunt- und Stahldrucker auf das Porzellan gebracht; anschließend wurden die Verzierungen von Schmelzern durch den Muffelbrand in die Glasur eingeschmolzen.

Sortiererei In diesem Produktionsbereich feilten die Arbeiter zuerst die Vorsprünge und Erhebungen die insbesondere bei gegossenen Stücken vorhanden waren, glatt. Schleifer schliffen sodann den Boden der Porzellanstücke glatt, Sortierer teilten die Stücke in erste bis vierte Wahl bzw. Bruch und Zusammensteller setzten schließlich die einzelnen Service zusammen.

Die nachfolgende Aufstellung und Einteilung der Arbeiter in der Hermsdorf-Schomburg- Isolatoren GmbH verdeutlicht diese extrem arbeitsteilige Produktionsweise im Bereich der keramischen Industrie:

293

Tab.49: Einteilung der Arbeiter auf die Produktionsbereiche138 Isolatorendreherei Oberdreher, Dreher, Hilfsdreher, Lehrlinge, Hülsendreherinnen, Giesser, Giesserinnen, Schlämmer, Masseschläger, Rohwarenträger, Formenträger Geschirrdreherei Oberdreher, Dreher, Hilfsdreher, Geschirrdreherinnen, Henkelmacherinnen, Tagarbeiter, Henkelgarniererinnen Brennhaus I: Meister, Aufseher, Füller, Einsetzer, Glühfüller, Austräger, Glasiererinnen, Stäuberinnen, Brenner, Mitbrenner, Glattausträger, Austrägerinnen, Kapseldreher, Kapselpresser, Masseauslader, Kohlenauslader, Tonhausarbeiter, Tagarbeiter, Ofenmaurer Stanzerei Oberstanzer, Stanzer, Putzerinnen, Massemüller, Hauspresserinnen Brennhaus II Füller, Stützenmacher, Bomsenmacher Glasursaal Aufseher, Glasiererinnen, Glühfüllerinnen, Glattfüllerinnnen, Ausleerer Diverse Portier, Sattler, Heizer, Maschinist, Kutscher, Auflader, Gärtner, Zimmerleute, Stubenmaler, Kehrfrauen Prüffeld Monteure, Isolatorenprüfer Geschirr- u. Elektromalerei Obermaler, Mustermaler, Maler, Lehrlinge,Malerinnen, Druckerinnen, Schmelzer Geschirrlager Expedient, Sortierer, Packer, Packerinnen, Schleifer Isolatorenlager Kontorbeamte, Aufseher, Sortierer, Packer, Packerinnen, Stützeneindreher, Kitter, Schleifer Modellierstube Modelleure, Lehrlinge, Formengiesser Schlosserei Meister, Schmiede, Schlosser, Dreher, Lehrlinge

Die durch die vorgestellte Arbeitsteilung erfolgte Zerlegung des Produktionsprozesses erforderte eo ipso eine Zusammenführung der einzelnen Produktionsabschnitte, um den Erfolg der Produktion zu gewährleisten und eine mögliche Produktivitätssteigerung zu erreichen. Dieser Zusammenführung dienten technische Einrichtungen wie Drahtseilbahnen und Elevatoren zwischen den einzelnen Abteilungen wie auch Fahrstühle und Paternosteraufzüge zwischen den Stockwerken; hinzu kam die sinnvolle Nutzung des Fabrikgebäudes: im Keller wurden Rohstoffe und Kohlen gelagert, im Erdgeschoß befanden sich Massemühle und Brennhaus und auf diese Weise folgten die Abteilungen Etage für Etage bis zum letzten Stockwerk, in dem sich Lagerräume und Musterzimmer befanden. Diese technischen Einrichtungen erleichterten zwar die Zusammenarbeit der einzelnen Abteilungen und somit die Arbeitsvereinigung, stellten jedoch noch keinen Produktionserfolg sicher. Die Produktion einer Porzellanfabrik war kein kontinuierlicher Prozeß, in dessen Verlauf die Produkte von Hand zu Hand, von Abteilung zu Abteilung gingen. Vielmehr verschwanden die Produkte für Wochen, tw. sogar für Monate aus dem Produktionsgang, und dies nicht immer erst dann, wenn sie eine bestimmte Abteilung durchlaufen hatten, sondern es traten auch bei der Bearbeitung innerhalb derselben Abteilung längere Unterbrechungen auf. Um den Produktionsprozeß dennoch genau verfolgen und überwachen zu können, wurden Meister ausgebildet, deren Stellung weit über die eines Vorarbeiters hinausging und die keine Arbeiter, sondern Angestellte waren. Diese Meister waren größtenteils ältere, erfahrene

138 Quelle: Thür. HSTA, Hescho 849.

294

Arbeiter, z.T. waren sie aus Fachschulen hervorgegangen. Ihr Aufgabengebiet und ihre Kompetenz für die innerbetrieblichen Produktionsabläufe sind einer Dienstanweisung der PF Rosenthal139 zu entnehmen, wonach die Meister für folgende Bereiche verantwortlich waren: Arbeitsraum: Sauberkeit des Arbeitsraumes, Instandhaltung aller Einrichtungen, Kontrolle Arbeitsmaschinen: Funktionsfähigkeit der Maschinen Arbeitsprozess: Prüfung der Werkstoffe, Überwachung des Produktionsprozesses, Produktabnahme, -prüfung und –verrechnung, Qualitätskontrolle, betriebliche Verbesserungen. Personal: Kontrolle der Arbeiterschaft auf Pünktlichkeit, Einhaltung der Arbeitsordnung und Vermeidung von Streitigkeiten, Distribution der Arbeit, Anlernen der Hilfsarbeiter, Steigerung der Frauenarbeit, Überprüfung und statistische Erfassung von Leistungssteigerungen und Gesundheitszustand der Arbeitskräfte, Kalkulation der Akkorde, Beachtung der Unfallverhütungsvorschriften, Regelung von Einstellungen, Kündigungen und Entlassungen. Sonstiges: Vermeidung bzw. Abhilfe von Störungen des Arbeitsprozesses, Wahrung von Betriebsgeheimnissen.

Neben dieser Vielzahl von Aufgaben und Obliegenheiten erscheint die Funktion interessant, nach der die Meister bzw. Obermeister direkte Einflußnahme auf die Arbeiterschaft im Interesse der Unternehmer ausüben sollten. So legte die Dienstanweisung fest, daß "die Arbeiter ... zur Schonung und Instandhaltung der Arbeitsplätze, Arbeitsmaschinen und Werkzeuge planmässig zu erziehen (sind)" und weiter, daß

"die Arbeit sachgemäss und zweckentsprechend zu verteilen (ist) unter dem Gesichtspunkt bestmöglicher Auswertung der Arbeitskräfte, zu diesem Behufe auch einzelne Arbeitskräfte auszutauschen und umzustellen (sind)." 140

Aufgrund dieser Pflichten, die letztlich auch Rechte gegenüber den übrigen Porzellinern darstellten, waren die Meister, auch durch ihre Stellung als Angestellte, aus der Masse der Porzelliner herausgehoben und nahmen eine dem heutigen 'middle-management' vergleichbare Stellung ein. Sie standen einer Arbeitergruppe, z.B. Giessern oder Drehern vor;

139 Die vollständige Dienstanweisung für Meister der PF Rosenthal ist in AB, Anl. 53 wiedergegeben. 140 Zit. nach PAUL, G. 1925, S.81f. (Hervorhebungen d.Verf.).

295 und wurden von Obermeistern kontrolliert, die eine vollständige Produktionsstufe leiteten. Durch die von den Meistern zu führenden Statistiken war die Betriebsleitung über den Stand der Produktion genau informiert und konnte entsprechend reagieren.

5.2.1 Lohnsystem

In der Porzellanindustrie als einer überwiegend von Handarbeit bestimmten Industrie war der Akkordlohn die übliche und auch von den Arbeitern allgemein akzeptierte, ja gewünschte Lohnform war. Da bei einer Umstellung der gesamten Industrie auf Zeitlohn diese nicht mehr konkurrenzfähig gewesen wäre, hätte dies den Verlust der Arbeitsplätze bedeutet. Selbst in der Zeit nach der Novemberrevolution, als der Akkordlohn in der Arbeiterschaft noch mehr als früher als `Mordlohn` verschrien war, wurde –mit Zustimmung der Arbeitnehmer- nicht von diesem Lohnsystem abgegangen. Für die Arbeitgeber bedeutete das Akkordlohnsystem Kostenersparnis in bezug auf Arbeitskräfte und Betriebsmittel: "Einer Ersparnis für den Unternehmer kommt es auch gleich, dass die mit der Akkordarbeit verbundene Arbeitsteilung Gelegenheit zur Einstellung von mehr ungelernten, also billigeren Arbeitskräften gegeben hat, und dass die jetzt mögliche genaue Kontrolle der Arbeitsleistung jedes Einzelnen die Auswahl vollwertiger Arbeiter gestattete."141

In den Tarifverträgen wurde vereinbart, daß Arbeiten, die sich nach Art und Zeit zur Ausführung im Akkord eigneten, nach Verständigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung im Akkord auszuführen seien. Dies bedeutete für die einzelnen Produktionsstufen: 142

Masseaufbereitung Obwohl die Masseaufbereitung hauptsächlich durch Maschinen geschah, wurden die dort beschäftigten Arbeiter im Akkord entlohnt, da der Erfolg der Arbeitsleistung wesentlich von

141 GLÜHMANN, B. 1902: Die soziale Bedeutung der Akkordarbeit (Vortrag vor der Hauptversammlung des Verbandes deutscher Thonindustrieller E.VOM am 27. Febr. 1902). In: Thonindustrie-Zeitung, 26.Jg., Nr.61, S.818. Bezeichnend sind auch die weiteren Ausführungen GLÜHMANNs, der, vordergründig den Mehrverdienst der Arbeiter durch Akkordarbeit betonend, vielmehr die ökonomische Relevanz dieses für den Unternehmer meint: "Der Mehrverdienst kommt in erster Linie dem Organismus des Arbeiters zu Gute, weil er ihn in die Lage versetzt, für seine Ernährung mehr auszugeben, als bei dem geringeren Zeitlohn. Infolge besserer und reichlicher Kost wird der Arbeiter gesünder, kräftiger und leistungsfähiger." Ebd., S.816 (Hervorhebung d. Verf.). 142 Vgl. PAUL, G. 1925, S84ff. Die im folgenden aufgeführten Akkordlohngruppen der PF Rosenthal bestanden in ähnlicher Form auch bei den anderen Porzellanfabriken.

296 der Schnelligkeit der Arbeiter beim Zufüllen und Ausleeren des Materials abhing. Dabei wurden die Akkordsätze bei den Tonfahrern nach der Menge des herangeschafften Materials berechnet, bei den an den Zerkleinerungs- und Mischwerken beschäftigten Arbeitern nach der Menge der hergestellten Masse und bei den Massepressern nach der Zahl der aus der Presse entnommenen Kuchen.

Formgebung In dieser Produktionsstufe wurde das Tempo der Arbeit allein von den Arbeitern bestimmt wurde, daher existierten hier alle Lohnformen: Einzel- und Gruppenakkord sowie Zeitlohn. Im Gruppenakkord wurden Dreher und Hubelquetscher entlohnt, wobei sich eine Gruppe aus zwei Drehern mit gleich hohem Lohnanteil und einem Hubelquetscher mit deutlich geringerem Lohnanteil zusammensetzte. Die von den entsprechend hoch qualifizierten Modelleinrichtern zu bearbeitenden Stücke waren durchaus unterschiedlich, was eine Bezahlung im Zeitlohn rechtfertigte. Formträger und Schlickermacher waren zwar nur Zuarbeiter, doch da diese Handlangerdienste nicht in ununterbrochener Reihenfolge benötigt wurden, wurden auch diese Arbeitergruppen im Zeitlohn entlohnt. Alle übrigen Arbeiter der Formgebung wurden im Akkord beschäftigt.

Brand Alle Arbeiter, die nicht direkt an den Öfen arbeiteten, wurden nach dem Stücklohnsystem bezahlt. Zu diesen gehörten Abstauber, Bomsenanstreicher, Bürster, Glasurer, Kapselschmierer, Stempler und Unterglasurmaler. Die direkt an den Öfen tätigen Arbeiter wurden im Gruppenakkord mit Prämienzuschlägen bezahlt. Zwar war es nicht möglich, den Prozeß des Brandes direkt zu beeinflussen, doch konnte durch schnelles Entleeren und Neubeschicken des Ofens der Zeitraum zwischen zwei Bränden erheblich verkürzt werden. Die Besatzung eines Ofens bestand aus einem Scharfschürer, einem Vorwärmer, zwei Kohlenträgern, acht Ausnehmern, vier Kapselkehrern, vier Frauen zum Füllen, vier Frauen zum Ausleeren und zwei Tellerfüllern. Auf diese Arbeiterkolonne wurde der für einen Ofen ausgeworfene Lohnsatz nach einem bestimmten Schlüssel verteilt. Dazu kamen ggf. folgende Prämien: die Brennprämie für einen guten Ausfall des Brandes (das Urteil darüber fällte der Meister); die sog. 'Hitzprämie', die gezahlt wurde, wenn beim Entleeren die Temperatur im Innern des Ofens über 50° C lag;

297 die Sandprämie, die den Scharfschürern und Füllern gezahlt wurde, wenn im Sommer weniger als 14%, im Winter weniger als 18% des Inhaltes durch Sandkörner beschädigt war, die bei unvorsichtiger Behandlung der Kapseln absprangen.143

Dekoration Mit Ausnahme der Schmelzer wurden in der Dekorationsabteilung alle Arbeiter im Einzelakkord bezahlt. Die Schmelzer arbeiteten im Zeitlohn, da das Einschmelzen der Farben je nach ihrer Zusammensetzung unterschiedlich lange dauerte.

Sortiererei In dieser Abteilung wurde ausschließlich im Akkord gearbeitet, wobei die Höhe der Akkordsätze aufgrund der Durchschnittsleistungen um des um 25% erhöhten Mindeststundenlohnes der Arbeiter über 24 Jahre bzw. der Arbeiterinnen über 20 Jahre berechnet wurde.

Verschiedene Erhebungen kamen zu folgenden Prozentanteilen der Akkordarbeiter an der Belegschaft: 67% (Arbeitgeberverband 1927), 71% (Enquete-Ausschuß 1928), 74% (Keramischer Bund 1929). Somit läßt sich ein durchschnittlicher Anteil der Akkordlöhner an der Gesamtbelegschaft in der Porzellanindustrie der zwanziger Jahre festlegen auf ca. 71%; er lag damit um über 20% niedriger als 1895, wo nach einer Erhebung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter noch 92,3% im Akkordlohn und nur 7,7% der Arbeiter im Zeitlohn beschäftigt waren. Ursächlich für diesen Rückgang der Akkordlöhner waren sicher die zunehmende Differenzierung und Spezialisierung in der Porzellanindustrie, die entsprechend höhere Anforderungen an die Beschäftigten stellten. So konnten bspw. Isolatoren nicht im Akkord produziert werden, sondern waren Einzelanfertigungen, deren Herstellung besonders ausgebildete Facharbeiter verlangte. Im Gegensatz dazu wurden Stanzartikel von un- oder angelernten Arbeitern bzw. Arbeiterinnen erzeugt. Der prozentuale Anteil von Akkord- bzw. Zeitlohn war somit abhängig von Produktionssparte bzw. Betriebsstandort und erfuhr gegenüber der unmittelbaren Vorkriegszeit keine wesentliche

143 Neben diesen gab z.B. bei der PF Rosenthal (jedenfalls im Zeitraum 1920-1923) noch Abfuhrprämien für Kutscher, besondere Zulagen für Zusammensteller und Kiesschieber, sowie "Monteur-" und "Handwerkszeuggeld" für Schmiede, Schlosser, Zimmerer und Schreiner. Vgl. Rosenthal-Archiv, Fabrikbuch Selb-Plössberg, S.223.

298

Änderung. Der im Jahre 1921 kurzzeitig eingeführte Soziallohn, der Kinderzulagen vorsah, fand bei der Gewerkschaft keine Zustimmung und wurde daher wieder aufgegeben.144

5.2.2 Vortarifliche Entwicklung der Löhne und Arbeitslosigkeit

Die durchschnittlichen Jahreslöhne in der Porzellan- und Keramikindustrie stiegen nach einer Aufstellung der Töpferei-Berufsgenossenschaft von 619,3 M im Jahre 1886 um 11,4% auf 690,0 M im Jahre 1895.145 Der Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter befragte seine Mitglieder im Rahmen von Lohnerhebungen in den Jahren 1894/95 und 1906. Beim Vergleich dieser beiden Statistiken (Tabelle 36) ergibt sich ein durchschnittlicher Lohnzuwachs um 27,7% von 19,30 M pro Arbeitswoche (6 Tage) i.J. 1895 auf 24,65 M i.J. 1906. Auffallend dabei die erheblichen Unterschiede in der Entlohnung der Arbeiter, die z.T. auf das Fehlen eines einheitlichen Tarifvertrages zurückzuführen, z.T. betriebsabhängig (Akkordsätze, Kapazität, Auslastung) waren.146 Die Lohnerhebung für 1895 beschränkte sich ausschließlich auf die männlichen Arbeiter, während die Statistik für 1906 auch die weiblichen Arbeiter erfaßte. Bei diesen ließ sich ein durchschnittlicher Wochenlohn von 9,72 M ermitteln. Die Lohnstatistik von 1906 spezifizierte außerdem nach den jeweiligen Standorten; auch dabei existierten in großem Umfang Lohnunterschiede, die Löhne differierten sogar lokal von Betrieb zu Betrieb, wie Tabelle 70 verdeutlicht.

144 Vgl. NENNINGER, E. 1925, S.27. 145 Vgl. PROBST, F. 1909, S.106. 146 So gibt MEY für 1904 die folgenden durchschnittlichen Tageslöhne der PF Moschendorf (b. Hof) an: Modelleure, Oberdreher, Obermaler, Oberbrenner u. Comptoirgehilfen 5,00 M; Dreher, Maler, Kapseldreher, Schleifer, Schmelzer, Ziegler 3,90 M; alle übrigen männl. Arbeiter über 16 Jahre 2,30 M; Gießerinnen, Druckerinnen u. Malerinnen über 16 Jahre 1,90 M; alle übrigen weibl. Arbeiter über 16 Jahre 1,50 M; alle männl. und weibl. Arbeiter unter 16 Jahre 1,00 M. Vgl. MEY, E. 1996, S.46.

299

Tab.50: Vergleich der Wochenverdienste 1895 und 1906 (in Mark) 147 Beruf 1895 1906 durchschnittl. höchster niedrigster durchschnittl. höchster niedrigster Modelleure 29,24 48 19,75 33,34 78 21,72 Formgiesser 21,42 36,11 9,66 23,82 48,24 11,12 Dreher u. Former 20,74 43,94 3,52 24,75 49,16 10,23 Kapseldreher 18,75 35,30 9,75 24,04 33,72 13,67 Massemüller 18,75 31,20 11,48 15,97 29,10 10,70 Schleifer 18,45 28,45 7,16 21,68 31,62 10,08 Masseschläger 16,99 19,83 14,60 20,74 33,75 13,25 Brenner und 16,61 31,59 9,63 19,71 35,92 9,90 Packer u. Sotierer 16,07 26,37 10,53 17,09 34,89 7,20 Giesser u. Stanzer 15,56 29,93 5,66 18,27 26,19 8,10 Schmelzer 15,36 23,07 10,36 17,21 37,98 12,04 Dreher-Lehrlinge 8,34 14,47 3,72 10,58 19,95 4,32 Maler-Lehrlinge 8,00 19,67 3,00 9,07 14,94 4,08 Dreherinnen und ------11,87 16,26 5,34 Formerinnen Putzerinnen und ------10,51 16,92 2,79 Verputzerinnen Glasurerinnen ------9,71 16,78 4,74 Packerinnen und ------8,51 12,48 6,06 Sotiererinnen

Tab.51: Regionale und lokale Lohnunterschiede 1906 (Wochenlohn in Mark) 148

Ort und Firma Dreher u. Kapsel- Brenner u. Formträger Dreher- Gieße- Former dreher Brhs.-arb. lehrlinge rinnen Arzberg: Auvera 22,44 -- 18,78 -- 12,54 15,48 AG Schönwald 23,82 18,10 19,83 17,40 12,24 -- Schumann 19,63 -- 17,93 26,70 9,57 -- Ilmenau: PF Ilmenau AG 22,30 21,43 21,37 17,84 -- 12,29 Galluba & Hoffmann 23,15 25,80 22,43 -- -- 7,32 Metzler & Ortloff 21,94 -- 13,77 ------Marktredwitz: Jäger & Co. 26,33 25,95 20,38 9,59 8,36 7,50 Thomas 29,54 23,92 21,04 15,00 11,93 15,18 Mitterteich: Emanuel & Co 23,42 25,86 -- -- 9,14 -- Rother 20,67 -- 18,11 ------Rehau: Schödel, Jacob & Co. 23,76 24,70 19,88 14,94 -- -- Zeh, Scherzer & Co. 25,83 15,12 18,84 13,23 -- 11,02 Rudolstadt: Bohne Söhne 26,88 ------Strauß & Co. 29,97 ------7,83 Schönwald: Müller 23,37 23,46 21,21 -- -- 14,49 PF Schönwald AG 24,46 30,26 17,15 -- 16,26 14,65 Waldsassen: Bareuther & Co. 20,61 20,93 ------Fortuna 22,56 ------Gareis, Kühne & Co. 20,28 ------Weiden: Bauscher 25,33 18,61 ------

147 Quelle: APM-DDR IV 7370 Statistik über Lohn- und Arbeits-Verhältnisse der deutschen Porzellan-Arbeiter von 1896 und DGB-Archiv AKP 1097 Lohn-Statistik des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen für 1906, S.12f. (Auswahl d.Verf.). 148 Quelle: DGB-Archiv AKP 1097 Lohn-Statistik des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen für 1906, S.16ff (Auswahl d.Verf.).

300

Die Beschäftigungssituation spiegeln die Zahlen des Kaiserlich Statistischen Amtes wider, das 1895 die Arbeitslosigkeit unter den 41.166 Arbeitern der Porzellan- und Steingutfabrikation und -veredlung mit jahresdurchschnittlich 886 Arbeitern bezifferte, was 2,14% entsprach.149 Mit 2,3% berechnete der Verband der Porzellanarbeiter in seiner Statistik über Lohn- und Arbeitsverhältnisse die Arbeitslosenquote in ähnlicher Höhe und forderte: "Würde nun die Arbeitszeit soweit gekürzt, daß jeder der Beschäftigten nur den 43. Theil seiner Arbeitsleistung weniger zu verrichten hätte, dann könnten sämmtliche Arbeitslose Beschäftigung finden. Zunächst im Interesse der Arbeitslosen ist eine Verkürzung der Arbeitszeit dringend geboten."150

Bereits 1886 hatte der Gewerkverein der Porzellan-, Glas- und anderer Arbeiter ein "Reglement für die Unterstützung arbeitsloser und nothleidender Mitglieder" beschlossen, das arbeitslosen Porzellinern, die mindestens drei Jahre dem Gewerkverein angehörten, 1 Mark Unterstützung pro Tag aus der Ortsvereinskasse zusicherte.151

Exakte quartalsmäßige Aufzeichnungen wurden erst ab 1903 geführt, als das Kaiserlich Statistische Amt die Arbeitslosigkeit aufgrund der von den Arbeiterverbänden gezahlten Arbeitslosenunterstützungen berechnete. Zwar bezogen sich diese Statistiken nur auf die Mitglieder der jeweiligen Fachverbände, doch ließ sich anhand dieses Zahlenmaterials auf den Stand der Arbeitslosigkeit insgesamt rückschließen. Folgende Tabelle gibt die vom Verband der deutschen Porzellan- und verwandten Arbeiter berichteten Arbeitslosenzahlen für 1903 bis 1909 wieder:

149 Statistik des Deutschen Reiches 1895, Bd.102. 150 APM-DDR IV 7370, S.53. Die gegenwärtig von den Gewerkschaften erhobene Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit zum Abbau der Arbeitslosigkeit ist insofern durchaus keine neue Forderung, sondern wurde bereits 1896 aufgestellt! 151 Vgl. Reglement von 1886, § 1. Als Einrichtung der Arbeiterselbsthilfe wird diese Arbeitslosenversicherung später noch genauer dargestellt.

301

Tab.52: Arbeitslosigkeit im Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter 1903 - 1909 152

Jahr Quartal Mitglieder davon Arbeitslose Arbeitslose Zusammen Arbeitslosen- Durchschn. insgesamt weiblich männlich weiblich in % tage gesamt Arbeitslosig- in % in % keit in Tagen 1903 2 7531 287 4,1 12,2 4,4 254 16 3 8314 317 1,9 1,3 1,9 317 23 4 8613 338 3,5 3,6 3,5 326 17 1904 1 7471 262 3,3 1,3 3,7 2613 24 2 7883 301 2,5 1,0 2,4 2128 16 3 8366 441 2,5 2,1 2,4 2363 26 4 8722 510 0,8 -- 0,7 3776 26 1905 1 9577 672 2,7 0,4 2,5 3588 14 2 9464 792 2,9 2,3 2,8 2800 15 3 10294 799 2,5 1,5 2,4 4002 20 4 11320 1161 4,0 3,3 3,9 7222 19 1906 1 12094 1364 3,9 1,3 3,6 4982 13 2 12754 1461 2,7 0,6 2,5 2583 9 3 13343 1463 2,9 0,6 2,6 4147 13 4 13902 1829 3,2 0,6 2,9 5434 13 1907 1 14550 1965 2,8 1,2 2,6 7623 20 2 14900 2166 3,0 1,7 2,8 4588 10 3 14961 2067 2,2 1,0 2,1 5285 15 4 15223 2395 3,0 2,0 2,9 7798 17 1908 1 15187 2329 6,0 6,6 6,1 20316 22 2 14230 1976 6,0 3,3 5,6 18991 22 3 12640 1607 7,5 2,3 6,8 23096 27 4 11641 1338 8,1 5,5 7,8 24385 26 1909 1 10981 1087 8,5 5,0 8,2 29463 31 2 10806 1002 5,8 4,6 5,7 16093 25

Bemerkenswert ist, daß die Mitgliederzahlen bis Ende 1907 konstant anstiegen, ab 1908 war diese Tendenz rückläufig. Zu den Ursachen für diesen Mitgliederschwund bemerkt der Kassenbericht des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter für das Jahr 1908: "Das Jahr 1908 stand unter dem Zeichen der industriellen Krise, welche sich auch in der Porzellanindustrie in einem Umfange geltend gemacht hat, wie wohl keine Krise vorher. Von allen Orten wurden über bedeutende Betriebseinschränkungen und Arbeiterentlassungen berichtet. Eine derartige, ... die gesamte Porzellanindustrie umfassende Krise übt selbstverständlich auch auf die Finanzen des Verbandes ihren verderblichen Einfluß aus ... Es kommt noch hinzu, daß bei der bekannten Animosität der Unternehmer gegen die Organisation und deren Mitglieder, bei Entlassungen unsere Mitglieder besonders stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. ... Die Wirkung der Krise zeigt sich .. recht deutlich in der Mitgliederbewegung. Mußte schon im vorigen Bericht konstatiert werden, daß die Zahl der Neuaufnahmen gegenüber 1906 eine geringere war, so ist im Berichtsjahre die Zahl der Neuaufnahmen noch weit geringer, dagegen überwiegen die Austritte die Neuaufnahmen recht bedeutend." 153

Die schwindenden Mitgliederzahlen korrelierten also im wesentlichen mit der steigenden Arbeitslosigkeit: Im Jahre 1903 lag die Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt bei 3,3%, während sie ab 1908, dem Beginn des Rückgangs der Mitgliederzahlen, auf 6,6% anstieg und

152 Quelle: Reichsarbeitsblatt 1903-1909. 153 Archiv der soz. Demokratie: AKP 508, S.5.

302

1909 sogar bei 7,0% lag. Dabei waren die weiblichen Arbeiter weniger stark von Arbeitslosigkeit betroffen, die Arbeitslosenquote betrug bei den Frauen im Zeitraum 1904 bis 1907 im Durchschnitt 1,4%, bei den männlichen Arbeitern 2,9%. Diese Unterschiede waren für die Jahre 1908 und 1909 noch signifikanter: 1908 stand 4,4% Arbeitslosenquote bei den Frauen 6,9% bei den Männern gegenüber , 1909 4,8% gegen 7,2%. Dies und der überproportionale Anstieg des Prozentsatzes der weiblichen Arbeitskräfte in der Porzellanindustrie154 bestätigen die bereits erwähnte These, daß die Unternehmer zunehmend versuchten, männlich besetzte Arbeitsplätze durch schlechter entlohnte weibliche Arbeitskräfte zu besetzen.

5.2.3 Tariflöhne

Die Stundenlöhne in der feinkeramischen Industrie waren ab 1919 durch Tarifverträge geregelt, die zwischen Facharbeitern, sonstigen Arbeitern, Facharbeiterinnen und sonstigen Arbeiterinnen unterschieden. Als gelernte oder Facharbeiter galten zunächst alle Arbeiter, die eine vereinbarte oder berufliche Lehrzeit in ihrem Fach absolviert hatten und in diesem Beruf arbeiteten. Weiter wurden folgende Gruppen von Arbeitern als Facharbeiter geführt und entsprechend bezahlt: Modelleure, Modelleinrichter, Abgiesser, Formengiesser, Dreher, Giesser, Kapseldreher, Maler, Handwerker, verantwortliche Brenner, Maschinisten, Dampfkesselheizer, Kraftwagenführer.155 Voraussetzung bei diesen Gruppen war eine nachweisbare Tätigkeit des Arbeiters in der betreffenden Beschäftigungart, die um ein halbes Jahr länger war als die berufsübliche Lehrzeit.156

Innerhalb dieser Kategorien wurden die Löhne noch hinsichtlich Alter und Ortsklasse (Groß- Berlin, Ortsklassen A, B, C) abgestuft. Die meisten Betriebe der Porzellanindustrie waren in Orten der Ortsklasse B ansässig. So gehörten in Oberfranken die Orte Arzberg, Bayreuth, Coburg, Holenbrunn, Kronach, Marktredwitz, Moschendorf, Neustadt, Rehau, Schirnding, Schlottenhof, Schönwald, Selb, Selb-Plössberg, Tettau und Wunsiedel der Klasse B, die

154 Vgl. S.181. 155 Die angegebenen Berufsgruppen beziehen sich auf die elektrotechnische Porzellanindustrie. Für die Porzellangeschirr- und Luxusporzellanindustrie gab es jeweils eigene Listen solcher Berufsgruppen. Vgl. Reichstarifvertrag vom 1.4.1924, S.7ff. 156 Vgl. GERLACH, H. 1924, S.108. Die dadurch eröffnete Möglichkeit, Facharbeiter ohne entsprechende Lehrzeit und ohne die damit verbundenen finanziellen Einbußen zu werden, führte zu einer spürbaren Verminderung der Lehrlingszahl.

303

übrigen der Klasse C an. Nach § 22 des Reichstarifvertrages von 1919 wurden die Akkordbasen für die jeweiligen Produkte aufgrund der Durchschnittsleistung und des um 25% erhöhten Mindestlohnes der über 24 Jahre alten Arbeiter bzw. der über 20 Jahre alten Arbeiterinnen ermittelt. Vergleicht man die Entwicklung der Tariflöhne von 1925 bis 1929 anhand untenstehender Tabellen, so ergeben sich Tariflohnzuwächse von 32,8% bis 38,5%.

Tab.53: Entwicklung der Akkordbasen in der feinkeramischen Industrie 1925-1929 157 Arbeitergruppe 1925 1927 1928 1929 Steigerung in % Facharbeiter 62,5 72,5 81,5 85 36,0 Sonstige Arbeiter 55 64 72,5 74,5 35,4 Facharbeiterinnen 38 44 49,5 52 36,8 Sonst. Arbeiterinnen 33,5 39 43,5 44,5 32,8

Tab.54: Entwicklung der Zeitlöhne in der feinkeramischen Industrie 1925-1929 158

Arbeitergruppe 1925 1927 1928 1929 Steigerung in % Facharbeiter 57 67 75 78 36,8 Sonstige Arbeiter 48,5 56,5 63,5 66,5 37,1 Facharbeiterinnen 34,5 40,5 44,5 46,5 34,7 Sonst. Arbeiterinnen 28,5 33,5 38 39,5 38,5

157 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.157 ( Berechnungen d.Verf., Ortsklassen B und C zusammengefaßt). 158 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.157 (Berechnungen d.Verf., Ortsklassen B und C zusammengefaßt).

304

5.2.4 Effektivlöhne

Tab.55: Durchschnittstagelohn in Selb 1913, 1918 und 1919159 Männliche Arbeiter Weibliche Arbeiter Erwerbsgruppe 1913 1918 1919 1913 1918 1919 Dreher a 2,50 5,50 6,75 ------b 6,00 11,00 12,90 5,00 10,00 11,20 Gießer 5,00 11,00 12,80 ------Formengießer a 1,50 3,00 4,25 ------b 5,50 9,00 10,30 ------Überformerin ------3,00 7,00 8,25 Fertigmacherin ------3,00 5,50 7,75 Putzerin ------3,00 5,25 7,25 Garniererin ------3,50 6,00 7,30 Hubelquetscherin a ------1,50 3,00 4,15 Glasurerin ------3,00 6,00 6,75 Abstauberin ------2,90 3,60 6,35 Stanzer 5,00 11,00 12,20 5,00 7,75 8,30 Kapseldreher a 1,50 3,00 4,80 ------b 5,50 7,75 11,00 ------Kapselschmierer 4,75 6,20 8,75 ------Tonarbeiter 4,85 8,00 10,70 ------Massemüller 5,10 8,70 9,00 ------Einfüller 5,40 10,60 14,15 1,75 5,90 7,80 Brenner 5,60 9,00 10,50 ------Sortierer 4,50 7,50 8,00 2,30 4,85 5,50 Schleifer a 2,00 3,50 5,65 ------b 4,50 7,25 9,20 3,10 5,00 7,00 Packer 4,50 7,00 9,10 ------Binderin a ------1,75 4,15 4,95 b ------2,85 5,00 6,35 Maler a 1,75 3,25 7,15 1,50 3,00 5,20 b 5,50 11,00 14,10 3,25 7,50 8,75 Druckerin a ------1,75 3,25 5,15 b ------3,00 7,00 8,15 Steindrucker a 2,00 4,00 5,20 ------b 6,00 11,00 12,50 ------Schmelzer 4,50 11,00 12,70 ------Schmelz.-arbeiterin ------2,00 4,10 5,20 Tagelöhner 3,00 – 6,00 7,00 – 8,00 8,00 – 9,00 2,00 – 3,00 4,00 5,20 a = jugendliche Arbeitskräfte b = erwachsene Arbeitskräfte

Wie vorerwähnt, arbeitete der größte Teil der Arbeiterschaft in der Porzellanindustrie im Akkord, weswegen die Effektivverdienste die Tariflöhne häufig überschritten. Nach einer Erhebung des Arbeitgeberverbandes der feinkeramischen Industrie aus dem Jahre 1928 lagen die durchschnittlichen Effektivverdienste bei männlichen Stücklöhnern um 30%, bei weiblichen Stücklöhnern um 3 bis 16%, bei männlichen Zeitlöhnern um 5 bis 18%, bei weiblichen Zeitlöhnern bis zu 13% über Tarif.

159 Aus: GRADL, H. 1919, Anl. No.6.

305

Die Entwicklung der Effektivlöhne verlief parallel der Entwicklung der Tariflöhne; nach Erhebungen des Verbandes Keramischer Gewerke stiegen die Effektivverdienste männlicher, im Zeitlohn beschäftigter Arbeiter im Zeitraum 1925 bis 1928 um 46%, weiblicher Zeitlöhner um 54,5%. Die im Akkordlohn beschäftigten Arbeiter verdienten 1928 effektiv 42,5%, die Arbeiterinnen 41% mehr als 1925.

Eine vom Keramischen Bund im Rahmen einer von der Internationalen Föderation der Keramarbeiter durchgeführte Erhebung über die Durchschnittsverdienste ergab 1929 einen durchschnittlichen Stundenlohn aller Arbeiter von 0,68 RM, was einem Jahresverdienst von 1.632 RM entsprach.160 Dabei lag der Durchschnittsstundenlohn bei den Männern bei 86,7 Pf, bei den Frauen bei 49 Pf.161 Wie aus der nachfolgenden Übersicht deutlich wird, erzielten bei den Männern die Graveure mit 1,25 RM, bei den Frauen die Schablonenschneiderinnen mit 0,60 RM den höchsten Durchschnittsstundenlohn. Da ein hoher Prozentsatz der Arbeiterschaft im Akkord arbeitete, Leistung, Beschäftigungsgrad und Akkordsätze jedoch betriebsabhängig waren, waren auch die Jahresverdienste der Arbeiter von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich.162 Der Jahreslohn für Facharbeiter lag zwischen 1.200 und 2.370 RM, der Jahreslohn für sonstige Arbeiter zwischen 940 und 1.850 RM.163 Aufgrund der geringen Einkommen in der Porzellanindustrie zahlten 1928 nur ca. 30% der Belegschaft der Porzellanfabrik Krautheim & Adelberg in Selb Lohnsteuer, 1932 nur noch 3 von 197 Arbeitern (=1,5%).164

160 Berechnungsgrundlage: 300 achtstündige Arbeitstage. Die Erhebung des Keramischen Bundes unterschied abweichend vom Tarifvertrag (Ausbildung und Geschlecht) nach Beschäftigungssparten und Geschlecht; sie spezifizierte somit nicht ungelernte und gelernte Arbeiter. Daher lagen die tatsächlichen Stundenverdienste von Facharbeitern etwas höher als hier angegeben. 161 Internationaler Vergleich: Nach einer 1929 von der Internationalen Föderation der Keramarbeiter veröffentlichten Lohnerhebung betrug der durchschnittliche Stundenlohn in der Oberfranken benachbarten Tschechoslowakei bei Männern umgerechnet 60,6 Pf und bei Frauen 31,8 Pf. Damit lagen dort die Stundenlöhne bei Männern um 30%, bei Frauen um 35% unter den deutschen Löhnen. Vgl. hierzu auch WINTER, M. 1901, S.31ff. und AB, Anl.54 Stundenlöhne in der tschechoslowakischen Porzellanindustrie. Allerdings lagen die deutschen Löhne z.T. erheblich unter denen der wichtigsten Industriestaaten: Englische Arbeiter der Porzellanindustrie erhielten bereits 1924 mit umgerechnet durchschnittlich 1,19 RM 37% mehr, 1925 mit ungerechnet durchschnittlich 1,69 RM 95% mehr Stundenlohn als ihre deutschen Kollegen 1929. Gegenüber den USA, wo die Keramarbeiter schon 1925 umgerechnet 3,74 RM Stundenlohn erhielten, war das Lohngefälle noch gravierender. Quelle: DGB-Archiv, Materialsammlung 1929, S.57ff.Vgl. hierzu auch Keramischer Bund 1927, Nr.8, Nr.19. 162 Gleiches ließ sich auch schon für den Zeitraum vor dem Ersten Weltkrieg feststellen. Vgl. S.200 u.Tab.37. 163 So ermittelte der Enquete-Ausschuß 1928 einen durchschnittlichen Jahresverdienst von 1.840 für Facharbeiter und 1.255 RM für sonstige Arbeiter, während die Berufsgenossenschaft einen Jahresdurchschnittslohn von 1.340 RM für alle Arbeiter angibt. Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.160f. 164 Die Lohnsteuer bemaß sich einkommensabhängig, wobei 1930 je nach Familienstand 80 RM (Ledige), 120 RM (verh., 2 Kinder) monatlich steuerfrei waren. Vgl. EIBER, L. 1981/82, S.170.

306

Tab.56: Durchschnittliche Stundenverdienste der Porzelliner 1929 (in Pf ) 165

Beruf Männer Frauen Beruf Männer Frauen

Modelleure, Abgießer, 100,8 51,0 Brennhausarbeiter 76,2 45,1 Einrichter (Füller, Ausleerer) Formengießer 93,5 44,8Packer, Sortierer 77,2 44,1 Dreher 105,0 47,2Massemüller, 80,0 47,3 Schlemmer Gießer 91,6 48,7Maler (Aufglasur) 101,3 55,0 Former 106,5 55,0Maler (Unterglasur) 100,0 54,8 Stanzer 80,0 49,3Schablonenschneider 96,6 60,0 Garnierer, Konditoren, 93,2 48,5 Aerographen-Spritzer 101,0 55,7 Flechter Beleger 83,5 50,0Graveure (Stahldruck 125,0 58,0 Buntdruck, Abzieherinnen) Glasurer 81,6 45,4Polierer 97,5 49,6 Schleifer 101,0 47,5Drucker (Stahldruck, 78,0 46,8 Buntdruck, Abzieherinnen) Kapseldreher, 94,2 52,6 Schmelzer 79,7 44,4 Kapselmacher Brenner 87,4 --Sonstige Hilfsarbeiter70,0 39,8 Summe 86,7 49,0

Ein Vergleich der Stundeneffektivverdienste in der feinkeramischen Industrie vor und nach dem Ersten Weltkrieg ergibt eine wesentliche Steigerung gegenüber der Vorkriegszeit.166 Dabei war die Steigerung bei den sonstigen Arbeiterinnen mit 120% am größten, während sie bei den männlichen Facharbeitern mit 86% am geringsten ausfiel. Der durchschnittliche Anstieg der Effektivlöhne pro Stunde gegenüber der Vorkriegszeit betrug 107%, wobei die im Akkordlohn beschäftigten Arbeiter effektiv 109% mehr Stundenlohn erhielten, die Zeitlöhner 105% mehr.

165 Quelle: Erhebung des Keramischen Bundes von April 1929. 166 Unberücksichtigt bleibt hierbei die seit Kriegsbeginn 1914 einsetzende Geldentwertung. Vgl. hierzu auch: SINGER, F. 1923, S.6.

307

Tab.57: Vergleich der effektiven Stundenlöhne 1914 -1928 (in Pf pro Std.) 167

Arbeitergruppe Zeitlöhne Akkordlöhne 1914 1928 Steigerung in % 1914 1928 Steigerung in % Facharbeiter 48,5 89,9 86 53,2 109.9 106 Sonst. Arbeiter 36,2 70,4 95 44,4 90.2 103 Facharbeiterinnen 23,2 50,7 118 26,8 56,5 110 Sonst. Arbeiterinnen 18,9 41,6 120 23,8 51,2 115

Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Untersuchungen der Berufsgenossenschaft, des Zentralverbandes christlicher Fabrik- und Transportarbeiter sowie des Keramischen Bundes. Da seit der Vorkriegszeit die regelmäßige Arbeitszeit von 10 auf 8 Stunden verkürzt und darüber hinaus durch zeitweilige Arbeitslosigkeit168 und Kurzarbeit die tatsächlich im Jahresdurchschnitt geleistete Arbeitszeit weiter vermindert wurde, ist das Jahreseinkommen der Arbeiter trotz Leistungssteigerungen bedeutend weniger gestiegen als der Stundenverdienst. Zwar waren die Stundenlöhne (Zeitlöhne und Akkordlöhne) gegenüber 1914 um 107% gestiegen, das jährliche Lohneinkommen lag jedoch nur 51% über dem Vorkriegsniveau.169 Damit lagen die Lohnsteigerungen aber immer noch deutlich über denjenigen der vergangenen Jahrzehnte: Im Zeitraum 1886 bis 1895 betrug der Lohnzuwachs nur 11,4% und 1895 bis 1906 nur 27,7%.170

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die niedrigbezahlten Arbeiterkategorien eine stärkere prozentuale Lohnsteigerung erfahren haben als die höherbezahlten Facharbeiter. Auffallend sind die Steigerungen bei den Frauenlöhnen, auch die der Facharbeiterinnen, die sogar niedriger bezahlt wurden als die sonstigen männlichen Arbeiter. Erklärt wird dieser Umstand z.T. durch die Tatsache, daß gegenüber der Vorkriegszeit verstärkt Frauen eingestellt wurden, die die traditionell männlich besetzten Arbeitsplätze einnahmen. Insgesamt gesehen ist ein Trend zur Lohnnivellierung in der Porzellanindustrie erkennbar.

Die 1928 bei der PF Krautheim & Adelberg erreichten durchschnittlichen wöchentlichen Facharbeiterlöhne betrugen 49,93 RM bei Brennern, 54,21 RM bei Drehern bzw. 47,52 RM bei Porzellanmalern; die durchschnittlichen wöchentlichen Nettolöhne von Hilfsarbeiterinnen

167 Quelle: Angaben des Arbeitgeberverbandes. In: Untersuchungsausschuß 1931, S.161. 168 Vgl. S.301f. 169 Gleiches läßt sich für die Wochenlöhne sagen, die lt. Aufstellung einer Selber PF auch nur um durchschnittlich 50% gegenüber 1914 gestiegen waren. Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.163. 170 Vgl. S.298

308 wie Packerinnen/Binderinnen lagen bei 20,06 RM, von Druckerinnen bei 19,94 RM.171 Da das von KUCZYNSKI für 1928 errechnete Existenzminimum jedoch bei 49 RM lag,172 wird deutlich, daß nur die am besten verdienenden Porzellanfacharbeiter – und dies auch nur in wenigen Jahren – Wochenlöhne erzielten, die an das Existenzminimum heranreichten bzw. dieses leicht überschritten. So stellte auch Keramos, das Fachorgan der Geschirrporzellanindustrie, bereits 1922 fest, „...daß für die Tätigkeit des Drehers und Gießers teilweise bereits ein Lohnminimum in Betracht kommen konnte, das nicht mehr unterschritten werden kann, wenn ein Existenzminimum aufrecht erhalten werden soll.“173

5.2.5 Arbeitszeit und Urlaub

Die Wochenarbeitszeit in der Porzellan- und Keramikindustrie war vor dem 1. Weltkrieg tariflich nicht geregelt, sie betrug i.d.R. 60 Stunden.174 Es wurde an 6 Tagen jeweils 10 Stunden, in manchen Betrieben sogar 11 Stunden gearbeitet, wobei Brenner und Schmelzer z.T. erheblich länger arbeiten mußten. Ab Dezember 1918 wurde die wöchentliche Arbeitszeit tariflich geregelt; sie betrug 48 Stunden, wobei zwischen Werksleitung und Betriebsvertretung vereinbarte Überstunden zulässig waren. Ab Februar 1925 wurden besondere kollektive Überzeitabkommen geschlossen, die zwar die 48stündige Arbeitszeit grundsätzlich aufrechterhielten, jedoch die Möglichkeit von Überstunden zuließen. "Der Arbeitgeber hatte seitdem die Möglichkeit, bis 6 Überstunden in der Woche anzuordnen. Überstundenzuschläge hatte er für diese 6 Stunden nicht zu zahlen. Wenn Überstunden über 6 Stunden in der Woche gemacht werden sollten, so mußte die gesetzliche Betriebsvertretung die Zustimmung geben, und für diese Überstunden mußten 25% Zuschlag gezahlt werden. Sonntagsarbeit mußte mit 50% Zuschlag bezahlt werden." 175

171 Vgl. EIBER, L. 1981/82, S.171. 172 KUCZYNSKI, J. 1964: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd.5. Berlin. S.222. 173 Keramos 1922, H.12, S.51. 174 Dauernde Verstöße gegen Schutzgesetze (Gesetz betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben vom 30.März 1903) und Verordnungen betr. die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern bzw. Arbeiterinnen (Gewerbeordnung f. d. Deutsche Reich in d. Fassung vom 26. Juli 1900) waren dabei jedoch an der Tagesordnung. Die Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten der thüringischen Staaten stellten bspw. für das Jahr 1902 Verstöße gegen folgende Regelungen fest: Verbot der Kinderarbeit (unter 13 Jahren); tägliche Höchstarbeitszeit bei Kindern von 13-14 Jahren: 6 Stunden; tägliche Arbeitszeit bei Jugendlichen: 8 Stunden; tägliche Arbeitszeit der Arbeiterinnen: 8 Stunden. In: Thonindustrie-Zeitung 1903, 27.Jg., No.136, S.2080. Gleiches läßt sich auch für die oberfränkische Porzellanindustrie feststellen: Vgl. JFI 1893, S.120 und JFI 1901, S.91. 175 Gutachten des Keramischen Bundes. Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.164.

309

Diese Überzeitabkommen wurden sukzessive dahingehend geändert, daß zunächst auch für die ersten 6 Überstunden ein Zuschlag von 5% gezahlt wurde. Nach dem Tarifvertrag von 1929 durften die Arbeitgeber nach Anhörung der Betriebsvertretung nur 3 Überstunden anordnen, die mit 20% Zuschlag entlohnt wurden; weitere Überstunden bedurften der Zustimmung der Betriebsvertretung und wurden mit 25% Zuschlag entgolten.

Tab.58: Entwicklung der Arbeitszeitabkommen 1920-1929 176 Datum Grundsätzliche Mehrarbeit nach Anhörung Mit Zuschlag Mehrarbeit mit Mit Zuschlag Wochenarbeitszeit der Betriebsvertretung von % Zustimmung der BV von % 1.1.1920 48 -- -- über 48 Std. 25 26.1.1924 48 bis 6 Stunden -- darüber 25 1.2.1925 48 bis 6 Stunden 5 " 25 1.4.1927 48 bis 3 Stunden 10 " 25 (nur für 2 Monate) 1.4.1928 48 bis 3 Stunden 15 " 25 (nur für 3 Monate; nach dem 1. Monat Pause) 1.6.1929 48 dto. 20 " 25

In der Vorkriegszeit bestanden keinerlei gesetzlich oder vertraglich festgelegte Ansprüche auf Gewährung von Urlaub. Vielmehr war es ins Ermessen des jeweiligen Unternehmens gestellt, ihren Arbeitern Erholungsurlaub zu gewähren oder nicht. Eine vom Reichsarbeitsblatt 1909 veröffentlichte Statistik ergab, daß nur 20,9% der Firmen ihren Arbeitern Urlaub zugestanden, wobei die keramische Industrie das Schlußlicht bildete. Der Urlaub betrug zwischen einem Tag und zwei Wochen, abhängig vom Alter und der Dauer der Betriebszugehörigkeit. Daß die Unternehmer den Jahresurlaub auch von der Zugehörigkeit zu bestimmten Vereinen – wohl eher: der Nicht-Zugehörigkeit etwa zur SPD oder zur Gewerkschaft – abhängig machen konnten, sei nur am Rande vermerkt. Dazu passend jedenfalls die Feststellung des Centralverbandes Deutscher Industrieller, dessen Intention, regelmäßigen Urlaub allein unter ökonomischen Gesichtspunkten zu gewähren, klar zum Ausdruck kommt: "In Anbetracht dessen, daß die allermeisten Firmen die Urlaubseinrichtungen in irgendeiner Form getroffen haben, diese von einem gewissen Alter und guter Führung abhängig machen, und mit Rücksicht darauf, daß die bisherigen Erfahrungen fast ohne Ausnahme als gut bezeichnet werden, scheint sich die Einführung eines regelmäßigen Jahresurlaubs unter Lohnfortzahlung als ein Mittel zu erweisen, die Seßhaftmachung de Arbeiter zu erleichtern und die Heranziehung eines Stammes von älteren bewährten Arbeitern zu ermöglichen." 177

176 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.165. 177 Zit. nach Thonindustrie-Zeitung 1914, 38.Jg., H.67, S.1130.

310

Auch EIDELLOTH betont bzgl. der Gewährung von Urlaub den Charakter einer Gratifikation, die nur langjährigen und verdienten Arbeitern zukomme, mithin im wirtschaftlichen Interesse der Unternehmer motiviert sei, um auf diese Weise die Fluktuation zu vermindern und die Leistungsbereitschaft der Arbeiter zu erhöhen: "... die Fortbildung des Arbeiterverhältnisses, die in der Belohnung von Arbeitern durch Gewährung von Arbeitern durch Gewährung von Urlaub besteht, wie z.B. in den Fabriken von Rosenthal u. Co. und Zeh, Scherzer u. Co. in Rehau und Karl Schumann in Arzberg. Die Firma Rosenthal gewährt jedem Arbeite bei zehnjähriger Dienstzeit jährlich 14tägigen Urlaub unter Fortzahlung des Lohnes. Im Jahre 1907 wurde rund 60 Arbeitern und Arbeiterinnen diese Vergünstigung zuteil. ... Der Arbeitgeber kommt durch Erhaltung eines tüchtigen, bodenständigen Arbeiterstammes dabei auch auf seine Rechnung." 178 Tarifvertraglich festgelegt waren die Urlaubsansprüche der Arbeiter ab 1919: Ab dem auf den Eintritt in den Betrieb folgenden Kalenderjahr standen jedem Arbeiter 3 Urlaubstage zu. Mit jedem weiteren Jahr Betriebszugehörigkeit erhöhte sich dieser Anspruch um einen Tag; bei 15jähriger Betriebszugehörigkeit wurde ein Urlaub von 12 Tagen, bei 25jähriger Beschäftigungsdauer ein Urlaub von 13 Tagen gewährt.179 Streitigkeiten hinsichtlich Überstunden bzw. Urlaubsregelungen sollten paritätisch besetzte Schiedsinstanzen (Schiedsämter und Oberschiedsamt) schlichten, deren Leiter der Vorsitzende eines Arbeitsgerichts war.

5.3 Streiks und Aussperrungen

OLDENBERG gibt für die Zeit 1892 bis 1897 24 Streiks an,180 die für die Porzelliner erfolglos verliefen. Die Kosten beliefen sich dabei insgesamt auf 158.828 M, wovon allein 102.693 M auf das Jahr 1895 entfielen, in dem 7 Streiks mit 490 streikenden Arbeitern stattfanden. Nach Angaben der christlichen Gewerkschaft waren 1903 bis 1906 1.469 Arbeiter an 55 Streiks und Aussperrungen beteiligt,181 so daß pro Streik etwa 27 Arbeiter beteiligt waren. 80% der Streiks waren Angriffsstreiks, nur 20% waren Abwehrstreiks bzw. Aussperrungen. Im Jahre 1906 erzielten 2.080 Mitglieder der christlichen Gewerkschaft eine Lohnerhöhung von 0,80 bis 4,20 M pro Woche und 1.470 Mitglieder eine

178 EIDELLOTH, G. 1914, S.45 (Hervorhebungen d. Verf.). 179 Tarifvertrag vom 1.4.1928, S.34ff. 180 OLDENBERG, K. 1898: Arbeitseinstellungen. In: Artikel für Handwerksbetriebe u. Steuerwesen, Bd.I, S.767. 181 Reichsarbeitsblatt 1907, H.12.

311

Arbeitszeitverkürzung von 3 bis 12 Std. wöchentlich. Nachfolgende Tabelle informiert über die Arbeitskämpfe der Jahre 1899 bis 1907.

Tab.59: Arbeitskämpfe in der Porzellanindustrie 1899 – 1907 182 Verlust an Ergebnis für die Arbeiter Jahr Zahl Dauer Beteiligte Arbeitszeit Arbeitsver- Gesamt- Erfolg geringer kein unbe- (Tage) (Tage) dienst (M) ausgaben Erfolg Erfolg kannt 1899 9 441 363 -- -- 26.444 1 1 7 - 1900 a 2 136 106 7.679 18.807 15.479 -- -- 1 1 b 8 427 212 7.434 24.213 18.642 4 -- 4 -- 1901 a 1 1 33 33 160 -- 1 ------b 6 186 172 5.515 12.687 10.569 -- -- 5 1 1902 a 2 -- 13 ------1 -- 1 -- b 1 -- 131 ------1 -- 2 -- c 2 -- 131 ------1 -- 2 -- 1903 a 2 161 64 3.146 11.022 9.018 1 -- 1 -- b 5 377 258 19.751 47.857 35.973 1 -- 2 2 1904 a 3 58 31 209 973 553 1 1 1 -- b 4 296 345 42.212 128.925 93.621 1 -- 3 -- c 2 162 193 5.718 14.173 10.758 -- -- 1 1 1905 a 1 166 164 7.624 37.682 26.900 -- 1 -- -- b 5 199 70 1.555 4.650 3.810 -- 2 3 -- c 4 308 314 18.245 44.886 40.160 -- -- 3 1 1906 a 11 445 327 11.579 38.499 29.853 4 2 5 -- b 5 77 92 1.013 2.979 2.110 1 1 3 -- c 5 233 88 1.601 6.942 4.123 -- -- 5 -- 1907 a 5 137 34 928 4.395 2.844 1 1 2 1 b 8 324 300 7.691 20.185 13.618 3 1 4 -- c 7 236 636 21.785 51.092 39.105 3 -- 4 -- a = Angriffsstreiks b = Abwehrstreiks c = Aussperrungen

Aus der Tabelle ist ersichtlich, daß sich die Anzahl der Streiks von 1899 an zunahm und sich bis 1907 nahezu verdoppelt hat. Gleiches gilt für die Dauer der Streiks und die daran Beteiligten. Das Jahr 1904 war durch einen besonders hohen Ausfall von Arbeitstagen (48.139 Tage) sowie durch die daraus entstehenden Verdiensteinbußen (144.071 M) gekennzeichnet. In den Jahren 1900 bis 1907 überwogen die Abwehrstreiks mit 42 eindeutig die Angriffsstreiks mit 26, auch kam es in diesem Zeitraum nur zu 20 Aussperrungen. Die Angriffsstreiks führten nur in 9 von 26 Fällen zum Erfolg, die Abwehrstreiks waren mit 11 von 42 noch weniger erfolgreich. Es läßt sich somit sagen, daß den Forderungen der Arbeiter nach Lohnerhöhung bzw. Arbeitszeitverkürzung trotz der gestiegenen Streikbereitschaft gleich wenig Erfolg beschieden war.

GRADL gibt für Selb einen Streik bei der Malerei der Firma Krautheim im Jahre 1912 an, wo

182 Quelle: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands 1900-1908.

312 anstelle des neunstündigen Arbeitstages der 10-Stunden-Tag eingeführt werden sollte und für 1912 eine allgemeine, vom Verband deutscher Porzellanfanbriken angeordnete, vierwöchige Aussperrung.183

6. Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Arbeitgeber Der 1877 gegründete Verband Keramischer Gewerke hatte i.J. 1910 rd. 125 Mitglieder - in der Hauptsache Porzellan- und Steingutfabriken - und diente der Durchsetzung allgemeiner wirtschaftspolitischer Ziele. Nach § 1 des Verbandsstatutes richtete sich die Tätigkeit - "auf die internationalen Zoll- und Handelsverträge und deren Abänderung bzw. Verhandlungen darüber, - auf die wirtschaftliche und gewerbliche Gesetzgebung des Reiches und der Einzelstaaten, - auf die Gestaltung der Eisenbahntarife, - auf die Ein- und Ausfuhrbewegung aus und nach dem Auslande bzw. Absatzverhältnisse, Konjunkturen, Kreditzustände usw., - auf die Fortschritte der ausländischen Industrie und deren Verbreitung unter den Mitgliedern, - auf Einrichtungen zur Hebung der inländischen Fabrikation und Beseitigung von noch bestehenden Erschwerungen und Hindernissen, - auf soziale Einrichtungen, - auf direkte Geltendmachung der Fachinteressen bei den Reichs- und Landesbehörden, bei Reichstag und Landtagen durch Deputationen, Petitionen usw., - auf Hebung und Pflege des genossenschaftlichen Geistes und einigen Sinnes der Fachgenossen im Bewusstsein der Solidarität der Interessen und Berufsehre." 184

Im Jahre 1900 schlossen sich in der Porzellangeschirrindustrie etliche Firmen zu einer Arbeitgeberorganisation zusammen: "In der Generalversammlung vom 15. Mai 1900 wurde von 36 Porzellanfabriken ... mit insgesamt 11.318 Arbeitern der sogenannte Schutzverein Deutscher Porzellanfabriken gegründet mit dem Zweck: Unterstützung der Mitglieder in Fällen von Arbeitersperren und ungerechtfertigten Arbeiterausständen." 185

Da noch keine eigentlichen Tarifverhandlungen zu führen waren, beschränkte sich die Aufgabe dieses Schutzvereins auf die Regelung betrieblicher Mißstände, tw. in Zusammenarbeit mit dem Porzellanarbeiterverband.186 Seit 1919 übte der Verband keinerlei Funktion mehr aus und wurde 1929 endgültig aufgelöst.

183 Vgl. GRADL, H. 1919, S.67. 184 Zit. nach PROBST, F. 1909, S.47. 185 VERSHOFEN, W. 1923: Handbuch des Verbandes Deutscher Porzellangeschirrfabriken. Ms. Berlin. S.20 186 Vgl. APM-DDR, P II 778: Protokoll der Generalversammlung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands 1911, S.47.

313

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine Organisation zur einheitlichen Regelung der Arbeitgeberinteressen in der feinkeramischen Industrie gegenüber der organisierten Arbeiterschaft erforderlich, da die einzelnen Fachverbände diese Aufgabe nicht mehr erfüllten. In der ordentlichen Generalversammlung des Verbandes Deutscher Porzellanfabriken vom 12. Dezember 1918 wurde angeregt, "daß eine geschlossenen Organisation der Arbeitgeber den Organisationen der Arbeitnehmer gegenübergestellt werden sollte. Nachdem die 3 Porzellanverbände die letzten Lohnverhandlungen gemeinsam geführt hatten, lag die Vereinigung zu einem gemeinsamen Arbeitgeberverband nahe. Dieses Problem wurde Ende des Jahres 1919 dadurch gelöst, daß die 3 Verbände zusammen mit den Steingutverbänden einen gemeinsamen Arbeitgeberverband als selbständige und neue Organisation entwickelten." 187

Die Aufgabe dieser neugegründeten Organisation namens Arbeitgeberverband der Deutschen Feinkeramischen Industrie e.V.188 bestand in der "... Wahrung der Rechte und Interessen der Verbandsmitglieder im weitesten Umfange in ihrer Stellung als Arbeitgeber." 189

Als Verbandsmitglieder kamen u.a. die den folgenden Fachverbänden angeschlossenen Unternehmen in Betracht:190 Verband Deutscher Porzellangeschirrfabriken G.m.b.H., Berlin Verband Deutscher Fabriken für Gebrauchs-, Zier- und Kunstporzellan G.m.b.H., Weimar Vereinigte Hochspannungs-Isolatoren-Werke G.m.b.H., Berlin Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken e.V., Berlin Vereinigung Deutscher Steingutfabriken G.m.b.H., Neubabelsberg Vereinigung Deutscher Spülwaren- und Sanitätsgeschirrfabriken G.m.b.H., Neubabelsberg Verband Deutscher Kachelofenfabrikanten Verband Deutscher Wandplattenfabrikanten Mosaikplattenverband

Insgesamt bestanden i.J. 1925 mehr als 30 Unternehmerverbände der keramischen Industrie,191 die im Anlagenband Anl.52 dargestellt sind.

187 VERSHOFEN, W. 1923, S.144. 188 Als Vorläufer können gelten der Arbeitgeber-Schutzverband deutscher feinkeramischer Fabriken, dem 24 thüringische Fabriken angehörten sowie der 32 Mitglieder zählende Verband Mitteldeutscher Porzellanfabriken. Vgl. vom YSENBURG-PHILIPPSEICH, L. 1921, S.64. 189 HUTH. W. 1927, S.101. 190 Vgl. ebd., S.75f. 191 Vgl. JACOBOWITZ, H. 1926, S.39.

314

Der Verband Keramischer Gewerke in Deutschland e.V. (Berlin)192 bildete die Spitzenorganisation dieser Verbände, deren Aufgabe in der ".. Förderung der gewerblichen Interessen" 193 lag und die sich zu diesem Zweck "... fast ausschließlich mit der Marktpolitik ihrer Branchen" 194 befaßten. Die Mitgliedsfirmen waren in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitgeberverband beizutreten. Bei Eintritt in den Verband mußte eine einmalige Beitragssumme entrichtet werden, deren Höhe sich nach der Beschäftigtenzahl richtete. Außerdem wurden bestimmte Prozentsätze der Lohn- und Gehaltssummen als laufende Beiträge eingezogen, die zur Deckung der Geschäftskosten dienten bzw. einem Fonds für Streiks und Aussperrungen zuflossen. Die Zahl der dem Arbeitgeberverband angeschlossenen Mitgliedsfirmen betrug im Jahre 1919 250 Firmen, 1921 240 Firmen und im Jahre 1925 270 Firmen mit 62.863 Arbeitern.195 Neben der Berliner Zentrale des Arbeitgeberverbandes bestanden in den einzelnen Industriegebieten noch Gauleitungen: In Selb für Bayern und Thüringen, in Rudolstadt für Nordthüringen, in Waldenburg-Altwasser für Schlesien und Sachsen, in Bonn für Westdeutschland und in Berlin für Nord- und Mitteldeutschland.

Durch die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit in den Tarifverträgen wurden auch die nicht dem Arbeitgeberverband angehörenden Unternehmen gezwungen, die getroffenen Vereinbarungen zu übernehmen. Im Jahre 1928 waren in der Porzellanindustrie von 232 Betrieben mit 54.897 Arbeitern 184 Firmen mit 50.039 Arbeitern Mitglied im Arbeitgeberverband, 48 Betriebe mit 4.858 Arbeitern waren nicht verbandlich organisiert. Zwar lag der Prozentsatz der dem Arbeitgeberverband nicht angeschlossenen Unternehmen mit 20,7% relativ hoch, doch war die große Mehrheit der Arbeiter in Mitgliedsfirmen beschäftigt (91,2%). Dies läßt darauf schließen, daß es sich bei den Nichtorganisierten in der Hauptsache um kleine Betriebe mit geringer Belegschaft handelte.196

192 Vgl. S.187. 193 VERSHOFEN, W. 1927: Die Lage der deutschen Porzellanindustrie in den Jahren 1925, 1926 und Anfang 1927. In: Nürnberger Beiträge zu den Wirtschaftswissenschaften, H.7, S.3. 194 Ebd. 195 Quelle: Jahrbuch der Berufsverbände im Deutschen Reiche, 36. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt, Ausgabe 1927, S.8ff. 196 VERSHOFEN spricht in diesem Zusammenhang von "Zwergbetrieben".

315

Die Vielzahl der Verbände und Interessenvertretungen auf Arbeitgeberseite spiegelt sich in der Aufstellung der PF Rosenthal wider, die im Zeitraum 1918 bis 1929 Beiträge für u.a. folgende Verbände auflistet:197 Arbeitgeberverband der deutschen feinkeramischen Industrie, Deutsche Keramische Gesellschaft, Schutzverein Deutscher Porzellanfabriken, Verband Deutscher Porzellangeschirrfabriken, Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken, Verband bayerischer Porzellanindustrieller, Verband der Warenzeichen-Interessen, Zentralstelle für Interessenten der Leipziger Muster-Messe, Töpferei-Berufsgenossenschaft, Bayerischer Landesverein zur Förderung des Wohnungswesens, Deutscher Versicherungs-Schutzverband, Vereinigte Hochspannungs-Isolatoren-Werke Verband Deutscher Luxusporzellanfabriken, Bayerischer IndustriellenVerband, Verband Keramischer Gewerke.

Arbeitnehmer Die in der Gewerkschaftsbewegung maßgeblichen drei Richtungen waren auch in der feinkeramischen Industrie vertreten und traten beim Abschluß von Tarifverträgen als Vertragsparteien auf. Es waren dies die freigewerkschaftliche Richtung, die, basierend auf einer sozialistischen Grundanschauung, für den Aufstieg der Lohnarbeiterklasse kämpfte; die christliche Gewerkschaftsbewegung, die ihre Forderungen nach Gleichberechtigung der Arbeiterschaft in Staat und Wirtschaft gemäßigter vertrat; die Hirsch-Dunckersche Richtung, die auf der Grundlage parteipolitischer und religiöser Neutralität für eine Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft eintrat.198 Die folgende Tabelle zeigt das Verhältnis von organisierten zu nicht-organisierten Arbeitern sowie die zahlenmäßige Verteilung der den drei Gewerkschaftsrichtungen angehörenden Arbeitnehmer.

197 Quelle: Rosenthal-Archiv, Fabrikbuch Selb-Plössberg, S.260ff. 198 Vgl. WEBER, A. 1930: Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit. 5.Aufl.. Tübingen. S.77ff.

316

Tab.60: Organisationsgrad in der feinkeramischen Industrie 1927/28199 In der Organisierte Nichtorganisierte feinkeramischen Industrie Beschäftigte Freie Christliche Hirsch- Gewerkschaften Gewerkschaften Dunckersche Gewerkschaften Keramischer Andere freie Bund Gewerkschaften Männl. 41.470 28.598 1.654 1.038 88 10.092 55,34% 68.96% 3,99% 2,5% 0,21% 24,34% Weibl. 33.464 18.942 77 698 22 13.725 44,66% 56,6% 0,23% 2,09% 0,66% 41,01% Zus. 74.934 47.540 1.731 1.736 110 23.817 100,00% 63,44% 2,31% 2,32% 0,15% 31,78% 49.271 65,75%

Knapp zwei Drittel der Arbeiterschaft (65,75%) war demnach in den freien Gewerkschaften organisiert, hiervon wiederum die überwiegende Mehrheit (63,44%) im Keramischen Bund. 31,78%, mithin beinahe ein Drittel der Arbeiterschaft gehörte keiner Gewerkschaft an, der relativ unbedeutende Rest (2,47%) war Mitglied in christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften. Zwar waren die männlichen Arbeiter absolut gesehen zu rd. 76% gewerkschaftlich organisiert, während die weiblichen Arbeiter nur zu ca. 60% organisiert waren. Doch erscheint die Feststellung bemerkenswert, daß sich der Organisationsgrad der Frauen, gemessen am Prozentsatz der Organisierten in Relation zum Prozentsatz aller Beschäftigten, mit 1,32 gegenüber dem Organisationsgrad der Männer mit 1,36 nur unbedeutend unterschied.

Der größte Teil der Porzellanarbeiterschaft gehörte dem Keramischen Bund an. Dieser stellte eine Abteilung des freigewerkschaftlichen Verbandes der Fabrikarbeiter Deutschlands dar. Am 1. August 1926 hatten sich der Zentralverband der Glasarbeiter und –arbeiterinnen Deutschlands sowie der Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands zum Keramischen Bund zusammengeschlossen.200 Ihm gehörten 1929 ca. 50.000 Arbeiter und 20.700 Arbeiterinnen diverser keramischer Gewerbe an. Von diesen entfielen 30.300 Arbeiter beiderlei Geschlechts auf die Porzellanindustrie, was einen Organisationsgrad von ca. 50% der gesamten Porzellanarbeiterschaft bedeutete. Der Keramische Bund gab eine Zeitung gleichen Namens heraus.

199 Quelle: Keramischer Bund, Jg. 1928, Nr. 24. 200 Vgl. S.34.

317

Der Berufsverband deutscher Keramarbeiter bestand als eine Untergruppe des Zentralverbandes christlicher Fabrik- und Transportarbeiter Deutschlands. Zusammen mit dem Berufsverband deutscher Glasarbeiter wurde die Keram- und Glasarbeiter-Zeitung herausgegeben.

Von nur marginaler Bedeutung war der Verband Deutscher Gewerkvereine H.-D.,201 der zusammen mit dem Deutschen Metallarbeiterverband, dem Zentralverband der Maschinisten und Heizer sowie dem Deutschen Verkehrsbund bei Tarifverhandlungen auftrat.

7. Technische Keramik: Absatz und Handel

Die vorangegangenen Ausführungen über wirtschaftsgeschichtliche Einzelfragen bezogen sich zum größten Teil auf den Gesamtbereich der Keramik, da es sich meist als unmöglich (und auch unnötig) herausstellte, das Zahlenmaterial nach Haushaltungs- und technischem Porzellan zu spezifizieren. Der Grund hierfür wurde bereits an anderer Stelle genannt:202 Die Porzellanfabriken stellten in ihrer Mehrzahl nicht ausschließlich Haushaltsporzellan bzw. technisches Porzellan her, vielmehr wurden unterschiedlichste Porzellane sowohl für den Haushaltsgebrauch als auch für technische Zwecke produziert. Die betrieblichen Maschinen und Anlagen waren zum großen Teil sowohl für die Produktion von Haushaltsporzellan wie auch von technischem Porzellan einsetzbar. Auf diese Weise gelang es, das konjunkturelle Risiko zu minimieren, da die Produktion den jeweiligen Bedürfnissen des Marktes angepaßt wurde.203 Somit sind die bisherigen Ausführungen durchaus auch für den Bereich der Technischen Keramik relevant.

Die nachfolgenden Untersuchungen über Absatz und Handel hingegen spezifizieren Elektroporzellan als Einzelsparte der Technischen Keramik. Umfang und Bedeutung der Produktion von Elektroporzellan als größtem Teilbereich der Technischen Keramik

201 Hirsch-Duncker. 202 Vgl. S.256. 203 Dazu MÜLLER, J. 1927, S.261: „... daß zahlreiche größere Betriebe zum Zwecke des Risikoausgleiches nicht einen der drei Zweige der Porzellanindustrie (Geschirrporzellan, Zier- und Kunstporzellan, Elektroporzellan, d.Verf) allein pflegen, sondern nebeneinander recht ungleichartige Fabrikationen, z.B. von figürlichem Porzellan und Elektroporzellan, aufgenommen haben, um sich je nach dem Gang der Konjunkturen einmal mehr auf diese, das andere Mal mehr auf jene Fabrikation stützen zu können.“

318 legitimieren diese Auswahl, die als signifikant für die gesamte Technische Keramik gelten kann.

Der Absatz der Produkte der Hochspannungsporzellanindustrie vollzog sich fast ausschließlich ohne Vermittlung eines Zwischenhandels direkt an die großen Elektizitätsgesellschaften, die Elektrizitätswerke und die Großabnehmer von Innenraumisolatoren. Der Handel mit Hochspannungsporzellan war somit bedeutungslos. Etwas anders lagen die Verhältnisse beim Absatz von Niederspannungsporzellan. Auch hier wurde allerdings der bei weitem größte Teil der Produktion ohne Vermittlung eines Zwischenhandels vertrieben; nur bei gewissen typisierten Artikeln (Artikel für die Radotechnik und Isoliermaterial für Innenleitungen und Freileitungen) war der Handel von gewisser Bedeutung. Beim chemisch-technischen Porzellan lagen die Verhältnisse ähnlich: Ein großer Teil ging direkt an die chemischen Fabriken, ein anderer Teil an die Fabriken für Laborbedarf zur Weiterverarbeitung. Ein nicht unerhebliche Teil allerdings schon wurde über die Laborbedarfs-Großhandlungen an die Verbraucher, die chemischen Fabrikslaboratorien und die Laboratorien der Handelschemiker, abgesetzt.204

7.1 Allgemeine Absatzbedingungen

Der Bedarf an Elektroporzellan in den zwanziger Jahren hing wesentlich ab von der Beanspruchung der bestehenden Anlagen für Stromleitung, Telefonie und Telegrafie sowie vom Tempo der weiteren Elektrifizierung. Auf der anderen Seite wurde der Bedarf dadurch gemindert, daß tw. Freileitungen durch Kabelleitungen und elektrotechnisches Porzellan durch Porzellansurrogate (Steatit, Bakelit) ersetzt wurde. Trotzdem stiegen Produktion und Inlandsverbrauch an elektrotechnischem Porzellan linear an, wie nachstehende Tabelle verdeutlicht:

204 Vgl. WESTFEHLING. J. 1932, S.3f.

319

Tab.61: Produktion und Verbrauch von Elektroporzellan 1925-1928 ( in Mill. RM) 205 Hochspannungsporzellan Niederspannungsporzellan 1925 1926 1927 1928 1925 1926 1927 1928 Produktion 16,0 16,0 20,0 22,0 18,0 12,0 20,0 23,0 Verbrauch 11,3 11,4 14,6 17,4 16,1 9,9 16,4 19,2

Das Tempo der Elektrifizierung und der wachsende Stromverbrauch wurden an anderer Stelle bereits eingehend dargestellt,206 weswegen hier zwei Zahlen aus den zwanziger Jahren genügen sollen: Von 1925 bis 1928 betrug der Zuwachs an installierter Stromleistung (Elektrifizierung) rd. 3 Mill. Kilowatt, der Zuwachs der Stromerzeugung (Verbrauch) betrug im gleichen Zeitraum rd. 9 Mill. Kilowattstunden. Der Anteil des technischen Porzellans an der Kapazität der gesamten Porzellanindustrie stieg von 7% in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf ca. 25% nach dem Krieg, was 1928 einem Produktionswert von etwa 70 Mill. RM entsprach.

7.1.1 Hochspannungsporzellan

Der Strombezug von großen, untereinander verbundenen und daher gleichmäßig belasteten Überlandwerken war billiger als der von lokalen Elektrizitätswerken. Dies erforderte die Fernübertragung hochgespannter Ströme, was wiederum dem Absatz von Hochspannungsisolatoren zugute kam. Da Deutschland zum Ende der zwanziger Jahre jedoch fast flächendeckend mit einem Freileitungsnetz überzogen war,207 konnten installierte Maschinenleistung und Energieerzeugung weiter steigen, ohne daß der Absatz von Hochspannungsisolatoren proportional dazu stieg. Vielmehr wurden bei der Aufstellung neuer Stromerzeugungsanlagen zunehmend Apparateporzellane und weniger Freileitungsisolatoren benötigt. Der Oberingenieur DAHL aus Berlin bemerkt dazu: "Früher hat man zum Übertragen von 200 oder 380 kV etwa 5 bis 6 Freileitungen bauen müssen, was natürlich viel Hochspannungsporzellan erforderte, heute dagegen genügt eine Doppelleitung. Infolgedessen braucht man für dieselbe Energieleistung, Maschinenleitung weniger Hochspannungsporzellan. ... Ich habe durchgerechnet, was beispielsweise bei einer 100-kV-Leitung an Isolatoren für 100 km gebraucht wird und bin dabei auf 46 000 Stück gekommen. Bei einer 220-kV-

205 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.251. 206 Vgl. Kap.III, S.83ff. 207 Vgl. Jahresbericht der Vereinigung der Elektrizitätswerke e.VOM 1928, S.18.

320

Leitung braucht man nur 14 500. Geldlich drückt sich das so aus, daß für die 100-kV- Betriebsspannung 710 000 RM für Isolatoren aufgewandt werden müssen, bei 220 kV nur etwa 230 000 RM." 208

Auch die Konkurrenz durch Kabel führte zu Absatzeinbußen beim Hochspannungsporzellan, wenngleich der Anteil der unterirdischen Hochspannungskabel mit ca. 17% nur gering ausfiel und sich außerdem fast ausschließlich auf Spannungen bis 35 kV beschränkte. Da die Kosten für eine Kabelleitung in etwa 2 ½ mal so hoch waren wie die für eine Freileitung, zogen die Elektrizitätswerke jedoch weiterhin den Bau von Freileitungen vor, wenn keine dringende Notwendigkeit zur Kabelverlegung – wie etwa in Städten – bestand.

Wie bereits erwähnt eignete sich auch Steatit für die Herstellung von Isolatoren209, insbesondere solchen, die auf Zug beansprucht wurden und bei denen hohe Festigkeit verlangt wurde; Steatit konnte daher Porzellan bei den Hochspannungsisolatoren tw. substituieren. Ebenso wurden in geringem Umfang210 Überwurfdurchführungs- und Stützenisolatoren aus Steinzeug hergestellt, da diese keiner Zugbeanspruchung ausgesetzt waren. Isolatoren aus Glas, die in Deutschland nicht für Hochspannungszwecke verwendet wurden, jedoch in der Produktion billiger waren, konkurrierten auf dem internationalen Markt mit den deutschen Porzellanisolatoren.211 Weitere Bemühungen, Hochspannungsisolatoren aus Porzellan durch andere Werkstoffe zu restituieren, führten zu Isolatoren aus Basalt212 und Kunstharz (Bakelit).213 Insgesamt gesehen blieben die Versuche, Porzellan als Material bei Hochspannungsisolatoren zu ersetzen, erfolglos.

208 Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.253. 209 Siehe S.102f. 210 Ca. 3,5% des Gesamtumsatzes an Hochspannungsisolatoren. 211 In Frankreich, Italien und Spanien wurden Glasisolatoren auch für 60kV- Spannungen in erheblichem Umfang eingesetzt. 212 Basaltisolatoren wurden als Stromschienenisolatoren eingesetzt. 213 Kunstharzisolatoren wurden bei Innenraumisolationen eingesetzt, da sie witterungsempfindlicher als Porzellanisolatoren waren. In den letzten Jahren werden zunehmend wieder Isolatoren aus Kunststoff hergestellt, so z.B. bei HCT in Wunsiedel-Holenbrunn.

321

Tab.62: Absatz an Hochspannungsporzellan 1924 -1930 214 Jahr Gesamt Inland Ausland Tonnen 1000 RM Tonnen 1000 RM Tonnen 1000 RM 1924 10.489 847 5.472 4.395 5.017 4.077 davon A 5.527 2.816 2.711 B 1.478 795 683 C 1.476 784 683 1925 17.020 15.846 10.884 11.514 6.136 4.332 davon A 8.328 5.880 2.448 B 3.587 2.817 770 C 3.931 2.817 1.115 1926 15.459 15.527 10.911 11.300 4.548 4.227 davon A 8.236 5.893 2.344 B 2.666 1.930 735 C 4.625 3.477 1.148 1927 17.663 18.969 10.576 13.888 7.087 5.081 davon A 9.346 6.787 2.559 B 4.545 3.667 878 C 5.078 3.435 1.644 1928 19.122 20.542 14.301 16.278 4.821 4.174 davon A 9.518 7.380 2.139 B 5.658 4.786 872 C 5.275 4.112 1.163 1929 17.364 19.439 11.328 13.425 6.036 6.014 davon A 9.213 6.052 3.161 B 4.766 3.699 1.067 C 5.460 3.674 1.786 1930 10.659 12.101 6.285 7.809 4.374 4.292 davon A 5.810 3.490 2.320 B 3.337 2.352 985 C 2.954 1.967 985 A = Freileitungsisolatoren B = Innenraumisolatoren C = Armaturen

7.1.2 Niederspannungsporzellan

Da die Deutsche Reichspost in den zwanziger Jahren in verstärktem Maße dazu überging, anstelle von Freileitungen unterirdische Kabel zu legen, schrumpfte der Bedarf an Niederspannungs-Freileitungsisolatoren für Telefonie und Telegrafie in erheblichem Umfang. Dieser Ausfall konnte nur zum Teil durch den verstärkten Bedarf an Montage- und Installationsmaterial, der durch die Ausdehnung des Kommunikationsnetzes entstand, kompensiert werden. Während vor dem Ersten Weltkrieg die Deutsche Reichspost Hauptabnehmer für Niederspannungs-Freileitungsisolatoren war, sank der Isolatorenbedarf der Post von Jahr zu Jahr, so daß die Niederspannungsporzellan produzierende Industrie aus der Vergrößerung des Fernsprech- und Fernschreibnetzes keinen Nutzen ziehen konnte.

214 Aus: DKG-Fachausschußbericht 1991, S.27ff.

322

Gleiches läßt sich für die Reichsbahn feststellen, die Niederspannungsisolatoren nur noch in eingeschränktem Umfang bezog. Der prozentuale Anteil der Isolatoren am Absatz von Niederspannungsporzellan fiel daher auf ca. 18%. Auch beim Niederspannungsmaterial erwuchsen dem Porzellan in Steatit und Bakelit Konkurrenten; insbesondere aufgrund seiner geringeren Produktionskosten konnte Steatit seinen Anteil am Absatz von Niederspannungsartikeln kontinuierlich steigern.215

7.1.3 Konjunkturelle und saisonale Schwankungen

KINDERMANN macht für den Zeitraum 1871 bis 1932 folgenden Konjunkturverlauf in der gesamten Porzellanindustrie aus:216 Stagnation von 1874 bis 1894, Aufschwung von 1895 bis 1913, Kriegs- und nachkriegsbedingter Kojunkturverlauf

Dabei waren die einzelnen Perioden nicht durchgängig von konjunkturellem Aufschwung Niedergang oder wirtschaftlicher Stockung gekennzeichnet; vielmehr gab es innerhalb dieser Zeitabschnitte ebenfalls wirtschaftliche Höhen und Tiefen, die tw. durch die in- und ausländischen Nachfrageschwankungen, tw. durch Überproduktionen, tw. durch Interdependenzen zur gesamtwirtschaftlichen Konjunktur hervorgerufen wurden. Dabei versuchten die Porzellanfabriken, die Konjunktur in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation bzw. ökonomischer Depression durch Einschränkung der Produktion, Vorratsproduktion, Steigerung des Exportes, Senkung der Betriebskosten sowie Verlustproduktion zu heben. Wie sich die Konjunktur in der Porzellanindustrie im Zeitraum 1888 bis 1913 im einzelnen darstellte, macht folgende Tabelle deutlich, in der die Dividenden dieses Zeitabschnitts vergleichend gegenüberstellt werden:217

215 Erzeugnisse aus Steatit konnten trocken gepreßt und automatisch produziert werden, was zu einer Senkung der Lohnkosten führte. Die Produktion von Niederspannungsartikeln aus Steatit wurde in den Jahren 1925-1928 um 43% gesteigert. 216 Vgl. KINDERMANN, H.-J. 1934, S.69ff. 217 Im AB, Anl.55 sind einige Stellenangebote aus dem Jahre 1887 (beginnender Aufschwung) zusammengestellt.

323

Tab.63: Entwicklung der Dividenden 1888 – 1913 218 Konjunkturelle Schwankungen Durchschnittliche Veränderung gegenüber der Dividende vorausgegangenen Periode Aufschwung 1888 – 1890 11,8% ... Stockung 1891 – 1894 6,4% - 46% Aufschwung 1895 – 1900 9,3% + 45% Stockung 1901 – 1902 8,7% - 6% Aufschwung 1903 – 1907 11,7% + 35% Stockung 1908 – 1909 7,2% - 38% Aufschwung 1910 - 1913 9,4% + 31%

Der Absatz von Hochspannungsporzellan war konjunkturell relativ unempfindlich, da der Ausbau des Leitungsnetzes mittelfristig und planmäßig im voraus festgelegt wurde. So wurden Hochspannungsleitungen für die Dauer von 10 bis 20 Jahren oder für noch längere Zeiträume gebaut, während Maschinen zur Erzeugung von elektrischer Energie bedarfsabhängig installiert wurden. Die Industrie des Niederspannungsporzellans hingegen war in hohem Maße von der Bautätigkeit abhängig. Somit entsprach die Konjunkturkurve für Niederspannungsmaterial im Gegensatz zu der für Hochspannungsmaterial dem Verlauf der allgemeinen Wirtschaftskonjunktur: Der Absatz an Niederspannungsartikeln (Porzellan und Steatit) lag bspw. 1927 mengenmäßig um 64% und wertmäßig um 52% über dem Absatz des Depressionsjahres 1926. Der Absatz von Hochspannungsporzellan war zwangsläufig saisonal unterschiedlich: Durch die Bautätigkeit in den Sommermonaten stieg die Nachfrage, während sie in den Wintermonaten, wenn Außenarbeiten nicht möglich waren, fiel. Umgekehrt stieg der Absatz beim Niederspannungsmaterial im Herbst und Winter, wenn die Häuser fertiggestellt waren und mit der Inneninstallation begonnen wurde.219

Im Ersten Weltkrieg stieg der Bedarf an Isolatoren infolge der Elektrisierung der Front und des ausgedehnten Telefonnetzes in den besetzten Gebieten und entlang den Fronten stark an. Daher wurde die Elektroporzellanindustrie von der Heeresverwaltung zur kriegswichtigen Industrie erklärt und erhielt vorzugsweise Kohle zugeteilt.220 Hinzu kam in großem Umfang

218 Aus: KINDERMANN, H.-J. 1934, S.158. 219 Die konjunkturellen und saisonalen Schwankungen des Absatzes von Elektroporzellan verdeutlicht Anl.56 im AB. 220 Vgl. GRADL, H. 1919, S.97.

324 die Produktion von Gefäßen für flüssige Luft, die zu Sprengzwecken an der Front verwendet wurden.221

RIEBER bemerkt zum Konjunkturverlauf in der Elektroporzellanindustrie: "In der Elektrobranche (Elektroporzellanindustrie, d.Verf.) wurde der Höchststand im November 1921 erreicht. Es wurden in diesem Monat ... 11.605 mit der Herstellung elektrotechnischen und ´technischen´Porzellans und 608 mit der Herstellung chemo-technischen Porzellans beschäftigte Personen gezählt. ...In der Elektrobranche erreichte die Hochkonjunktur bereits im Frühjahr 1923 ihr Ende. ... Im April waren es nur noch 9.818 und 747. Die Zahlen sind danach weiter zurückgegangen. Die meisten Fabriken arbeiteten später (besonders 1926) beschränkt und zwar vielfach nur 24 Stunden in der Woche Eine Besserung war ... erst dann zu erwarten, wenn der Inlandsmarkt wieder aufnahmefähiger wurde, was erst dann der Fall sein konnte, wenn auf dem Gebiete des elektrischen Bahnbaus und in der Anlage elektrischer Kraftwerke und Kraftleitungen eine Belebung eintrat, und auch die sonstige Bautätigkeit ... wieder zunahm." 222

7.2 Absatzregelungen der Verbände

Bei der Absatzregelung waren besonders zwei Verbände von Interesse; dies waren beim Hochspannungsporzellan die Vereinigten Hochspannungs-Isolatoren-Werke G.m.b.H. (V.H.I.W.) und beim Niederspannungsporzellan der Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken (V.D.E.P.). Diese gilt es hier näher bzgl. Aufgabenstellung, Kontingentierung, Absatzwegen, Zahlungs- / Lieferungsbedingungen, Kartellsicherung und Preisbindung zu untersuchen. Als Vorläufer kann die Vereinigung der Fabriken elektrotechnischer Porzellanware angesehen werden, die 1908 als Preiskonvention der bedeutenderen deutschen und österreichischen Produzenten technischer Porzellane zustande kam.

221 Vgl. Thonindustrie-Zeitung 1900, 24.Jg., Nr.5, S.46f. Dem Verf. wurde von einem ehemaligen Vertriebsleiter in Selb berichtet, daß auch im 2. Weltkrieg bei der PF Rosenthal solche Gefäße hergestellt wurden. Diese sog. "Sprengluft" bestand aus Keramikkugeln oder konischen Zylindern, die gebrannt, mit einem Aufschlagzylinder versehen und anschließend mit Preßluft befüllt wurden. Die von Flugzeugen abgeworfenen Keramiksprengsätze kamen nur wenige Male zum Einsatz, da die Splitterwirkung so verheerend war, daß Rußland mit dem Einsatz von Giftgas drohte. Daraufhin ließ Hitler, der die Wirkung von Giftgas im 1. Weltkrieg selbst erlebt hatte, die Produktion dieser Keramiksprengsätze einstellen. 222 RIEBER, F. 1930, S.79.

325

7.2.1 Vereinigte Hochspannungs-Isolatoren-Werke G.m.b.H.

Bereits 1908 gründeten die wichtigsten Unternehmen der Elektroporzellanindustrie Deutschlands und Österreichs eine Preiskonvention unter dem Namen Internationaler Verband zur Hebung der Fabrikation elektrotechnischer Porzellanwaren G.m.b.H. Da sich dieser Verband jedoch nicht durchzusetzen vermochte, schlossen sich 1910 die 10 bedeutendsten deutschen Produzenten von Hochspannungsporzellan zu den Vereinigten Porzellan-Isolatoren-Werken G.m.b.H zusammen. Nach zwischenzeitlicher Auflösung wurde dieser Verband 1923 unter dem Namen Vereinigte Hochspannungs-Isolatoren-Werke G.m.b.H (Sitz: Berlin). Die wichtigsten im Jahre 1924 Hochspannungsporzellan produzierenden Unternehmen im einzelnen: 223 Akt.-Ges. Porzellanfabrik Weiden (Bay.) Gebr. Bauscher, Weiden Porzellanfabrik und –malerei Heinrich & Co., Selb (Bay.) Porzellanfabrik Hentschel & Müller, Meuselwitz (Sachs.) Porzellanfabrik Julius Hering & Sohn, Köppelsdorf (Thür.) Hermsdorf-Schomburg-Isolatoren G.m.b.H.: Werke in Hermsdorf (Thür.), Margarethenhütte (Sachs.), Freiberg (Sachs.), Roßlau (Anhalt), Schwandorf (Bay.) Gebr. Heubach Akt.-Ges., Lichte (Thür.) Vereinigte Köppelsdorfer Porzellanfabriken, Köppeldorf Gebr. Kühnlenz Akt.-Ges., Kronach (Bay.) Rheinische Porzellanfabrik G.m.b.H., Mannheim-Käferthal Ph. Rosenthal & Co. Akt.-Ges., Abt. E, Selb Porzellanfabrik Ph. Rosenthal & Co. Akt.-Ges. Hennigsdorf b. Berlin Rosenthal, vorm. Jacob Zeidler & Co., Bahnhof Selb Porzellanfabrik Joseph Schachtel Akt.-Ges. Sophienau (Schles.) Gebr. Schoenau-Swaine & Co. G.m.b.H., Hüttensteinach (Thür.) Porzellanfabrik Stadtlengsfeld Akt.-Ges., Stadtlengsfeld (Thür.) Kronacher Porzellanfabrik Stockhardt & Schmidt-Eckert, Kronach (Bay.) Porzellanfabrik Teltow G.m.b.H., Teltow b. Berlin Porzellanfabrik zu Kloster Veilsdorf, Veilsdorf (Thür.)

Die Unternehmen der Elektroporzellanindustrie, die Hochspannungsporzellan produzierten, waren fast ausnahmslos in den V.H.I.W. zusammengeschlossen, die ein Kartell mit Absatzkontingentierung und Mindestpreisbindung darstellten. Dieses war in sich besonders stabil und marktmächtig, weil die Produktion auf relativ wenige Typen beschränkt war und gerade im Bereich der Hochspannungsporzellanindustrie weitgehende Unternehmens- und

223 Vgl. HUTH, W. 1924: Die Entwicklung der deutschen elektrotechnischen Porzellanindustrie. In: Keramische Rundschau, 32.Jg., Nr.19, S.237.

326

Betriebskonzentration herrschte.224 Die V.H.I.W. bezeichneten sich selbst als Syndikat und legten in § 3 des Syndikatsvertrages die Pflichten der Mitglieder fest:

(a) "einheitliche Mindestpreise einzuhalten; (a) einheitliche Berechnungsformeln anzuwenden; (b) einheitliche Verkaufs-, Lieferungs- und Garantiebedingungen zu erfüllen; (c) einheitliche elektrische, mechanische und thermische Wertangaben anzuwenden; (d) die jeweilig gültigen und die durch Beschlüsse der Syndikatsfirmen von der Werkeversammlung festzulegenden Normen zu befolgen; (e) an Käufer, Wiederverkäufer und Händler nur diejenigen Rabatte und Umsatzvergütungen zu gewähren, zu denen sämtliche Syndikatsfirmen durch gemeinsame Verträge berechtigt sind; (f) Provisionen nur an solche Vertreter oder Agenten zu zahlen, welche in festem Vertragsverhältnis zu einer bestimmten Syndikatsfirma stehen; (g) für die Herstellung und den Vertrieb der Erzeugnisse sich allen sonstige Maßnahmen und Beschränkungen zu unterwerfen, welche der Vertrag und die zukünftigen Beschlüsse der Syndikatsfirmen vorschreiben bzw. vorschreiben werden; (h) für die genaue Befolgung der syndikatlichen Vereinbarungen und Vorschriften Sorge zu tragen und dieselbe allen Beamten und Vertretern zur Pflicht zu machen, sie auch darauf hinzuweisen, daß ein absichtlicher Verstoß gegen die Pflichten sofortige Entlassung zur Folge haben kann." 225

Zusätzlich zu diesen Pflichten vereinbarten die Mitgliedsfirmen eine gegenseitige Mitbenutzung erteilter oder erworbener Schutzrechte auf Isolatoren und Armaturen gegen Lizenzgebühr. Diese betrug bei Patenten 10% des Isolatorenpreises, bei Gebrauchsmustern 5% des jeweiligen Teiles. Außerdem durften keine Schutzrechte bzw. Lizenzen an Drittfirmen vergeben werden, wenn dadurch die Lizenzvergabe an eine Syndikatsfirma unmöglich gemacht wurde. Unter den Syndikatsvertrag fielen Hochspannungsfreileitungs-Isolatoren, Innenraum-Isolatoren, Armaturen, Stützer und Zubehörteile.

§14a des Syndikatsvertrages kontingentierte den Absatz nach Quoten und verteilte die Quoten auf die einzelnen Mitgliedsfirmen wie folgt: "Der gesamte Absatz sämtlicher Syndikatsfirmen während eines Kalenderjahrs an Isolatoren, die unter diesen Vertrag fallen, ausschließlich der Armaturen und Befestigungskosten, bildet ein Ganzes, an welchem jede Syndikatsfirma einen bestimmten prozentualen Anteil hat." 226

224 Vgl. S.257ff. 225 In: Untersuchungsausschuß 1931, S.262f. 226 In: Ebd., S.263.

327

Quotenverteilung für das Geschäftsjahr 1928:

Kahla-Konzern 46,43% Rosenthal-Konzern 22,23% Steatit-Magnesia A.-G. 7,29% Porzellanfabrik Teltow 8,98% Porzellanfabrik Kloster Veilsdorf 1,02% Porzellanfabrik Hentschel & Müller 5,53% Porzellanfabrik Geb. Kühnlenz 0,10% Porzellanfabrik Josef Schachtel 3,51% 4 weitere Firmen zus. 4,91% ------100,00%

Nach dem Zusammenschluß der PF Teltow mit der Steatit-Magnesia und nachdem die PF Kloster Veilsdorf die PF Hentschel & Müller in Meuselwitz gekauft und mit der PF Gebr. Kühnlenz in Kronach fusioniert hatte, entfielen über 90% des Umsatzes auf nur vier Unternehmen, davon allein 69% auf den Kahla- und den Rosenthal-Konzern. Vierteljährlich wurde überprüft, ob die Mitgliedsfirmen die ihr zugewiesenen Quoten über- bzw. unterschritten hatten. Die Betriebe, die ihre Quote um mehr als 2% überschritten hatten (Plusfirmen), hatten den Betrieben, deren Betriebsergebnis um mehr als 2% hinter ihrer Quote zurückblieb (Minusfirmen), einen Teil des Überschusses in bar zu vergüten (Barausgleich von etwa 10%).

Der Absatz des Hochspannungsporzellans geschah nicht durch das Syndikat, sondern durch die einzelnen Mitgliedsunternehmen selbst. Als potentielle Abnehmer kamen in Frage: Die großen Elektrizitätsgesellschaften der Vereinigten Elektrizitäts-Großfirmen (V.E.G.) wie z.B. A.E.G., Siemens-Schuckert, BBC, Bergmann Elektrizitätswerke; die Mitglieder des Wirtschaftsverbandes der Elektrizitätswerke (W.V.E.) und sonstige in- und ausländische Abnehmer.

Ein Vertrag von 1918 zwischen den V.H.I.W. und den Siemens-Schuckert-Werken G.m.b.H. gibt im § 2 Auskunft über die Geschäftspolitik des Syndikats, Großabnehmer durch Bonifikationen längerfristig zu binden: "Die Isolatorenwerke verpflichten sich, während der Dauer dieses Vertrages dem Siemenskonzern am Schlusse jeden Kalenderjahres für alle von den Mitgliedern der Isolatorenwerke insgesamt bezogenen Isolatoren, welche unter dieses Abkommen fallen, eine Jahresvergütung unter den nachfolgenden Bedingungen zu gewähren. Andererseits verpflichtet sich der Siemenskonzern, während der Dauer dieses Vertrages von seinem Gesamtbedarf an den diesem Abkommen unterworfenen Isolatoren abzüglich der in ihm gehörigen Betrieben hergestellten Isolatoren 85% von den jeweiligen Mitgliedern der Isolatorenwerke zu beziehen. Letztere verpflichten sich, diesen bedarf zu decken. Weiter verpflichtet sich der Siemenskonzern, Isolatoren ..., die unter dieses Abkommen fallen,

328 gleichviel ob sie von den Isolatorenwerken oder von dritter Seite bezogen oder in dem Konzern gehörigen Betrieben erzeugt sind, nicht unter den von den Isolatorenwerken jeweilig festgesetzten Verkaufspreisen, Verkaufsbedingungen und Umsatzvergütungen ausserhalb des Siemenskonzerns weiter zu veräussern." 227

Der Gesamtwert des Inlandsabsatzes betrug 1928 15,8 Mill. RM (Vorjahr: 13,6 Mill. RM); davon entfielen auf die V.E.G.-Firmen 32,4% (29%), auf die W.V.E.-Mitglieder 49,7% (44%), auf Großabnehmer von Innenraumisolatoren 9,7% (11,7%), auf übrige Bonifikationskunden 2,4% (5,3%) und auf sonstige Abnehmer 5,7% (10,1%). Vom Auslandsabsatz des Jahres 1928 im Gesamtwert von 3,9 Mill. RM (Vorjahr: 4,8 Mill. RM) entfielen 37,8% (36,2%) auf Lieferungen an V.E.G.-Betriebe einschließlich Tochterfirmen, 61,9% (63,8%) wurden direkt von den Syndikatswerken exportiert und nur 0,36% (0,13%) entfielen auf Lieferungen an Vertragsexporteure.

Insbesondere die der V.E.G. und dem W.V.E. angeschlossenen Unternehmen erhielten umsatzabhängige Bonifikationen bis zu 17%, während sich diese Firmen auf der anderen Seite verpflichteten, 85% des Gesamtbedarfes von den Syndikatsfirmen zu beziehen. Hinzu kam, daß sich die V.H.I.W.-Betriebe verpflichteten, diese Großbetriebe kostenmäßig günstiger zu behandeln als Einkaufsvereinigungen der "Konsumenten" (Überlandwerke).

Die in §3, Pkt.c) des Syndikatsvertrages genannten einheitlichen Verkaufs-, Zahlungs- und Lieferungsbedingungen bestimmten, daß 10% Überproduktion vom Kunden abgenommen werden mußten, 10% Unterproduktionen zulässig waren und kein Anspruch auf Nachlieferung bestand, Zahlungen spätestens 30 Tage nach Rechnungsstellung fällig waren, Lieferfristen für die Produzenten unverbindlich waren, Abweichungen von +5% bzw. –5% bzgl. der Abmessung vorbehalten blieben, Schutzrechtsverletzungen Dritter zu Lasten des Bestellers gingen, Matrizen, Werkzeuge, Formen u.ä., die auf Kosten des Bestellers von der Lieferfirma gestellt wurden, in das Eigentum der Lieferfirma übergingen.

Um das Kartell gegen Außeneinflüsse, aber auch gegen widerstrebende Interessen unter den Mitgliedern zu schützen, wurden in weiteren Paragraphen des Syndikatsvertrages hohe Vertragsstrafen angekündigt. So war es den Betrieben des Syndikates bei einer

227 Quelle: Vertrag zwischen den VOMH.I.W. und den Siemens-Werken vom 30.12.1918.

329

Konventionalstrafe von 100.000 RM nicht erlaubt, sich an Außenseiterwerken zu beteiligen oder diese zu unterstützen. Die Syndikatskosten wurden durch eine umsatzbezogene, ca. 8%ige Umlage finanziert. Mit dem Hochspannungsporzellan-Kartell der tschechoslowakischen Porzellanindustrie228 als dem wichtigsten europäischen Konkurrenten bestand seit 1928 ein Vertrag, der Preise regelte und Interessengebiete abgrenzte.

Die Preise entwickelten sich gegenüber der Vorkriegszeit unterschiedlich: Bei den Freileitungsstützen-Isolatoren ist 1913 gegenüber 1925 eine Preissteigerung von 35% festzustellen, gegenüber 1928 sogar eine Steigerung von 59%; die Hängeisolatoren wurden im Zeitraum 1913-1925 um 110% teurer, im Zeitraum 1913-1928 um 150%; bei den Innenraumisolatoren betrug die Preissteigerungsrate in den genannten Zeiträumen 57% bzw. 83%. Dies bedeutet, daß sich die Preise für Isolatoren insgesamt im Laufe von 15 Jahren nahezu verdoppelt, speziell für Hängeisolatoren fast verdreifacht hatten. Der Geschäftsbericht der V.H.I.W. von 1928 begründet diese außerordentliche Preissteigerung gerade bei Hängeisolatoren mit der technischen Qualitätsverbesserung: "Der kittlose Hänge-Isolator, der heute auf den Markt gebracht wird und der als das vollendete Zeugnis der deutschen Isolatoren-Technik gilt, kann nicht verglichen werden mit dem Hänge-Isolator, der als Ausgangspunkt der Entwicklung in der Vorkriegszeit zur Verfügung gestellt wurde." 229

7.2.2 Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken E.V.

Im 1919 mit 39 Mitgliedsfirmen230 gegründeten Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken (Sitz: Berlin) waren ca. 75% der Niederspannungsporzellan produzierenden Unternehmen organisiert.231 Als Vorläufer dieses Verbande bestand die Vepso, die Vereinigung elektrotechnischer Porzellanfabriken Thüringens und Oberfrankens (Sitz: Coburg). Die Mitglieder dieses sowie des daneben bestehenden Verbandes der elektrotechnischen Porzellanfabriken Oberfrankens und angrenzender Bezirke (Sitz: Hof) traten fast ausnahmslos dem V.D.E.P. bei. Dem V.D.E.P. gehörten u.a. folgende Firmen an:232

228 Dieses bestand aus 3 Mitgliedsfirmen: Merkelsgrüner PF A.-G. (Tochterfirma der Zettlitzer Kaolinwerke), PF G. Bihl & Co. in Ladowitz und PF Theodor Pohl in Schatzlar. 229 Zit. nach Untersuchungsbericht 1931, S.269. 230 Vgl. Die Ameise 1919, 46.Jg., H.33. 231 Die Zahlenangaben hierfür schwanken zwischen 50 und 95%, so daß ein Mittelwert angenommen wurde. 232 Vollständige Liste der Mitgliedsfirmen in AB, Anl.57.

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Ernst Abendroth, Ilmenau (Thür.) Porzellan-Industrie Akt.-Ges. Berghaus, Auma (Thür.) Porzellanfabrik Bernhardshütte G.m.b.H., Blechhammer (Thür.) Porzellanfabrik Brambach, Brambach (Sachs.) Bremer & Schmidt, Eisenberg (Thür.) Porzellan- und Tonwarenfabrik G.m.b.H. Coburg, Coburg (Bay.) Albin Eichhorn, Görtzmühle (Thür.) Metallwarenfabrik Hermann Grau, Friedrichshagen b. Berlin Jul. Eginh. Harras, Großbreitenbach (Thür.) Lorenz Hutschenreuther Akt.-Ges., Selb (Bay.) Keramische Werke G.m.b.H., Cainsdorf (Sachs.) Porzellanfabrik Mengersgereuth-Sonneberg, Mengersgereuth (Thür.) Isolatorenwerke Mutzschen G.m.b.H., Mutzschen (Sachs.) Ottmar Opfinger, Weiden (Bay.) Georg Pohl Akt.-Ges. Akt.-Ges., Schmiedeberg (Schles.) Porzellanfabrik G.m.b.H. Neudorf (Rheinprov.) Th. Recknagel, Alexandrinenthal (Thür.) Carl Scheidig, Gräfenthal (Thür.) Jon. Gg. Schneider, Lauscha (Thür.) Siegerländer Porzellanfabrik, Siegen Stadtilmer Porzellanfabrik G.m.b.H., Stadtilm (Thür.) Porzellanfabrik Tettau Akt.-Ges., Werk Mainleus b. Kulmbach (Bay.) Porzellanfabrik zu Kloster Veilsdorf, Veilsdorf (Thür.) Aelteste Volkstedter Porzellanfabrik, vorm. Rudolf Heinz & Co., Neuhaus (Thür.)

Außerdem schlossen sich im Jahre 1923 die folgenden vier, dem Verband Deutscher Steatitfabriken (Sitz: Nürnberg) angehörenden Steatitbetriebe dem V.D.E.P. an: Doebrich & Heckel, Lauf Elektro-Steatitwerke G.m.b.H., Fürth Speckstein-Steatit-Gesellschaft, Lauf Steatit-Magnesia-AG, Nürnberg-Ostbahnhof 233 Die Zahl der Niederspannungsporzellan produzierenden Unternehmen läßt sich nicht genau festlegen, da sämtliche Fabriken, die sich mit der Herstellung von Hochspannungsporzellan befaßten, auch als Produzenten von Niederspannungsporzellan in Frage kamen. Außerdem richteten viele Porzellanfabriken, insbesondere solche, die elektrotechnisches Porzellan lediglich als Beifüllartikel zur besseren Ausnutzung des Ofenraumes erzeugten, ihre Produktion nach der jeweiligen Konjunktur aus, indem sie bei schlechter Wirtschaftslage teilweise oder völlig auf die Produktion von Elektroporzellan verzichteten. Daher sind die in der Literatur angegebene Zahlen234 von 80 bis 200 Betrieben nur unter Vorbehalt gültig, auch weil es sich sehr oft nur um Kleinstbetriebe handelte.

233 Die Steatit-Magnesia trat außerdem noch dem VOMH.I.W. bei, da sie außer Niederspannungs- auch Hochspannungsporzellan produzierte. 234 Vgl. HUTH, W. 1924, S.237 u. LEWE, H. 1926a, S.52. HUTH gibt 70 bis 80 Niederspannungsporzellan produzierende Firmen an, LEWE sogar 200 Betriebe.

331

Der V.D.E.P. stellte ein Preis- und Konditionenkartell dar, zu dessen Hauptaufgaben die Festlegung von Liefer- und Zahlungsbedingungen sowie die Normung von Niederspannungsartikeln gehörten. Wie in der Vorkriegszeit geschah der Absatz meist ohne Einschaltung eines Zwischenhandels. Die z.T. sehr speziellen Aufträge der elektrotechnischen Fabriken als Hauptabnehmer des Niederspannungsporzellans mußten z.T. nach vorgegebenen Konstruktionszeichnungen ausgeführt werden, was einen engen Kontakt zwischen Auftraggeber und Lieferant erforderte. Daher wurde Niederspannungsporzellan meist ohne Zwischenhandel vertrieben, mit Ausnahme standardisierter bzw. typisierter Produkte und abgesehen von Erzeugnissen, die ohne weitere Bearbeitung einsetzbar waren (Niederspannungs-Freileitungs-Isolatoren, Rollen, Abspannisolatoren).

Die ersten Preisvereinbarungen datieren in die Vorkriegszeit, als es für kurze Zeit gelang, die Preise für Freileitungs-Isolatoren festzulegen. Zwar kam nach dem Ersten Weltkrieg eine umfassendere Preiskonvention zustande, doch hatte diese kaum Bestand. Im Jahre 1924 wurden die Verbandspreise infolge der Kartellverordnung gänzlich aufgehoben. Versuche, neue Preisvereinbarungen zu treffen, scheiterten am Widerstand der dem V.D.E.P. nicht angeschlossenen Firmen, die keiner Preiskonvention zustimmen wollten; daher war die Preisbildung bei Niederspannungsartikeln nach Aufhebung der Preisbindung starken Schwankungen unterworfen. Die Preissteigerungsrate betrug z.B. bei Isolatoren Typ RTJ 125 1914 gegenüber 1927 17,9% (1914 gegenüber 1924: 22%), bei Rollen Typ R 24 124,5% (97%), bei zweipoligen Sicherungen 8,8% (7%), bei Fassungssteinen 0,9% (21%) usw.;235 andere Untersuchungen ergaben Preissteigerungen zwischen 30 und 130%. Nach Berechnungen d.Verf. liegt die Preissteigerungsrate beim Niederspannungsporzellan im Zeitraum 1913 bis 1928 in etwa bei 45%, wobei die Schwierigkeit, Produkte miteinander zu vergleichen, die in einem Zeitraum von 15 Jahren Konstruktionsveränderungen erfahren hatten, deren preisliche Auswirkungen nicht feststellbar waren, nicht verschwiegen werden soll.

Zahlungs- und Lieferkonditionen hatten sich dagegen im Vergleich zur Vorkriegszeit nicht geändert: Zahlungen waren spätestens 30 Tage nach Rechnungsstellung ohne Skonto fällig, wobei der Verzug ohne besondere Mahnung eintrat und Verzugszinsen in Höhe des Reichsbankdiskontsatzes zuzüglich ¼ % nach sich zog. Der Vollständigkeit halber und als

235 Quelle: Übersicht des VOMD.E.P. In: Untersuchungsausschuß 1931, S.270.

332 interessante Marginalie sei erwähnt, daß die meisten Betriebe der chemisch-technischen Keramikindustrie ebenfalls im V.D.E.P. organisiert waren.236

7.3 Elektroporzellan: Außenhandel

In den zwanziger Jahren waren die wichtigsten Elektroporzellan produzierenden Länder die USA, Deutschland, Großbritannien, Japan, Frankreich und die Tschechoslowakei. Dabei betrug der jährliche Produktionswert der Weltproduktion ca. 200 Mill. RM. , die sich prozentual folgendermaßen auf die einzelnen Länder verteilten: USA 49%, Deutschland 23%, Großbritannien 11,5%, Japan 6,5%, Frankreich 6,5% und Tschechoslowakei 3,5%. Von der Weltproduktion gelangten Produkte im Wert von rd. 25 Mill. RM in den Welthandel, somit betrug die Welthandelsquote ca. 12,5%. Den absoluten Zahlen nach war Deutschland dabei das größte Exportland; es bestritt rd. 35% des Welthandels, gefolgt von den USA und Großbritannien. Die qualitative Zusammensetzung der Ausfuhr war dabei sehr unterschiedlich: Während in Deutschland und den USA mehr als die Hälfte der Ausfuhr aus Hochspannungsporzellan bestand, exportierten die übrigen Länder überwiegend Niederspannungsporzellan.

7.3.1 Deutschlands Import

Die positive Außenhandelsbilanz in Elektroporzellan war auf die relativ unbedeutende Einfuhr zurückzuführen, der eine umso größere Ausfuhr gegenüberstand. Zwar wurde von der tschechoslowakischen Porzellanindustrie der Versuch unternommen, Hochspannungsporzellan nach Deutschland zu exportieren, doch der Vertrag zwischen dem deutschen und tschechischen Kartell 237 verhinderte weitere derartige Lieferungen. Auf den Import von Niederspannungsmaterial aus der Tschechoslowakei wurde trotz geringerer Lohnkosten238 und damit niedrigerer Preise der dortigen Produkte ganz verzichtet, da das

236 Bereits 1907 bestand eine Übereinkunft zwischen den Produzenten chemisch-technischer Porzellane, wonach auf alle Verkaufspreise ein Konventionalaufschlag von 7,5% erhoben wurde. 237 Vgl. S.329. 238 Vgl. Anm.161.

333 deutsche Porzellan qualitativ höherwertig war. Machte der Import von Elektroporzellan bereits 1913 nur 47,5 t im Wert von 45.000 M aus, so sank dieser Wert im Jahresdurchschnitt 1925-1928 noch weiter auf 13,5 t im Gesamtwert von 27.000 RM und war damit im Vergleich zur deutschen Produktion an Elektroporzellan verschwindend gering (0,07%).239

7.3.2 Deutschlands Export

Die Exportentwicklung von Technischer Keramik insgesamt in den Jahren 1898 bis 1908 machen folgende Zahlen deutlich: Von 1.134 t im Jahre 1898 stieg der Export über 1.703 t 1905 auf 6.074 t im Jahre 1908. Dabei war insbesondere in den Jahren 1906 bis 1908 die prozentuale Steigerung mit 45% besonders hoch. Einschränkend ist allerdings zu bemerken, daß die Statistiken während dieses Zeitraumes noch nicht nach Hochspannungs-, Niederspannungs- bzw. chemisch-technischem Porzellan spezifizierten. Daher sind die angeführten Zahlen nur dazu geeignet, den allgemeinen Exportzuwachs bei Technischer Keramik aufzuzeigen.

Wenngleich bzgl. der Außenhandelsstatistik im besonderen Elektroporzellan untersucht wird, soll doch ein kurzer Blick auf den Export von chemisch-technischem Porzellan geworfen werden. Die in der nachfolgenden Übersicht angegeben Zahlenangaben unterscheiden sich z.T. beträchtlich. Dies lag an der unterschiedlichen Deklaration von chemisch-technischem Porzellan: Die amtliche Außenhandelsstatistik wies ausgeführtes chemisch-technisches Porzellan, das nicht ausdrücklich als solches gekennzeichnet war, einer anderen Position (etwa: weißes Porzellan) zu; die vom V.D.E.P., der das Gros der chemisch-technischen Porzellanindustrie vertrat240, angeführten Ausfuhrzahlen bezogen sich jedoch auf die Gesamtheit des chemisch-technischen Porzellans und können daher als zutreffender angesehen werden. Dabei war die Steigerung des Exportes von chemisch-technischem Porzellan im Zeitraum 1925-1928 mit 37% mengenmäßig und 49% wertmäßig in relativer Sicht beachtlich, wenn sie auch absolut gesehen unbedeutend war, handelte es sich doch um Beträge und Mengen von volkswirtschaftlich geringer Relevanz.

239 Die deutsche Elektroporzellan-Produktion hatte im Jahresdurchschnitt 1925-1928 einen Gesamtwert von ca. 40 Mill. RM. Vgl. Tab.26 u. Tab.46. 240 Vgl. S.332.

334

Tab.64: Export von chemisch-technischem Porzellan 1925-1928 241 Mengen in t Wert in 1000 RM 1925 1926 1927 1928 1925 1926 1927 1928 Amtliche Zahlen 20,8 14,3 4,8 8,1 123 88 41 69 Verbandszahlen 16,5 17,0 17,5 22,7 544 595 666 815

Von weitaus größerer Bedeutung war der Export von Hoch- und Niederspannungsporzellan: 85% des Ausfuhrwertes und 90% der Ausfuhrmenge des gesamten technischen Porzellans entfielen auf Elektroporzellan. Die gesamte Elektroporzellanausfuhr bestand im Jahre 1928 mengen- und wertmäßig zu 72% aus Isolatoren und dieser Anteil wiederum setzte sich wertmäßig zu mehr als 80% aus Hochspannungsisolatoren zusammen. Die folgende Tabelle verdeutlicht die starke Exportstellung der Hochspannungsisolatoren und zeigt die Steigerung der Exportquote anhand von Vergleichszahlen der Jahre 1913 und 1925-1928 auf. Dabei unterschied die amtliche Statistik nur zwischen Isolatoren bzw. sonstigem Elektroporzellan, während die Verbandsstatistik zusätzlich nach Hoch- und Niederspannungsprodukten spezifizierte. Um die Ausfuhr von Elektroporzellan möglichst umfassend und zutreffend darstellen zu können, wurden beide Statistiken eingebracht.

241 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.277.

335

Tab.65: Export von Elektroporzellan 1913 und 1925-1928 242 Sonstiges Niederspann.- Hoch- und Elektroporzellan porzellan Niederspann.- Isolatoren (Niederspann.- insgesamt porzellan Jahr porzellan) insgesamt Insgesamt Hochspannungs- Niederspannungs isolatoren isolatoren 1. 2. 3. 4. ( 3 + 4 ) ( 1 + 4 ) Mengen in t 1913 Amtl. Z.* 9686 ------9686 Verb.Z.** ------1925 Amtl. Z. 6552 -- -- 2326 -- 8878 Verb. Z. -- 5590 -- -- 2760 8350 1926 Amtl. Z. 5890 -- -- 2053 -- 7943 Verb. Z. 6762 4978 1775 1743 3518 8505 1927 Amtl. Z. -- -- 2283 -- 9007 Verb. Z. 6724 5040 2377 2046 4423 9463 1928 Amtl. Z. 6135 -- -- 2580 -- 8715 Verb. Z. 7100 4581 2519 2537 5056 9637 Werte in 1000 M/RM 1913 Amtl. Z. 6440 ------Verb. Z. ------1925 Amtl. Z. 6297 ------Verb. Z. -- 4734 -- -- 1872 6606 1926 Amtl. Z. 6185 ------Verb. Z. 5270 4624 646 1426 2072 6696 1927 Amtl. Z. 7097 -- -- 2191 -- 9288 Verb. Z. 6190 5358 832 1622 2454 7812 1928 Amtl. Z. 6270 -- -- 2556 -- 8826 Verb. Z. 5584 4607 977 2076 3053 7660

* Amtliche Zahlen ** Verbandszahlen

Hochspannungsporzellan Nach den amtlichen Zahlen des Exportes der wichtigsten Elektroporzellane, der Hoch- und Niederspannungsisolatoren, ergab sich eine mengenmäßige Minderung der Exportquote

242 Quelle: Untersuchungsausschuß 1931, S.279.

336 gegenüber dem Vorkriegsniveau um 30% i.J. 1927 und sogar um 37% i.J. 1928, wobei sich der Wert der Ausfuhr - ohne Berücksichtigung der Preis- und Sortimentsverschiebung - knapp auf Vorkriegshöhe hielt. Zwar war der Export von Hochspannungsisolatoren seit dem Kriege expandiert, doch die Ausfuhr von Niederspannungsporzellan war disproportional stark zurückgegangen. Verantwortlich für diese Minderung waren die gleichen Faktoren, die auch auf dem Binnenmarkt zum Tragen kamen: Statt Freileitungen wurden zunehmend Kabelleitungen verlegt und Surrogate wie Steatit und Bakelit ersetzten Porzellan bei den Niederspannungsartikeln.243 Während sich also der Vorkriegsexport weitgehend aus Isolatoren, genauer: Niederspannungsfreileitungsisolatoren zusammensetzte, bestand die Ausfuhr nach dem Krieg im wesentlichen aus Hochspannungsisolatoren sowie Niederspannungsmontageporzellan und nur noch in geringem Umfang aus Niederspannungsisolatoren. Vergleicht man die Isolatorenausfuhr der Vorkriegszeit mit dem Export von Isolatoren und sonstigem elektrotechnischen Niederspannungsmaterial der Nachkriegszeit (Tab.47), so ergibt sich, daß die exportierte Menge von 9.686 t i.J. 1913 auf 8.715 t i.J. 1928 zurückgegangen ist, mithin um 10%; der Ausfuhrwert dagegen stieg im gleichen Zeitraum von 6,44 Mill. M auf 8,82 Mill. RM an, also um 37%. Die größere Wertschöpfung der Isolatoren, die produktions- und absatzmäßig wesentlich teurer waren als Niederspannungsmaterial, sowie der wachsende Anteil der Isolatoren am Export begründeten diese Wertsteigerung.

Der europäische Absatzmarkt, der bereits vor dem Krieg 70% der Isolatorenausfuhr abgenommen hatte, gewann in der Nachkriegszeit für Deutschland mit 76% noch mehr an Bedeutung; der Exportverlust machte sich am stärksten auf den nord- und südamerikanischen Märkten bemerkbar, die nur etwa die Hälfte der Vorkriegsmenge abnahmen. Innerhalb Europas vollzog sich eine Schwerpunktverlagerung nach Osten und Südosten, wohingegen die west- und südeuropäischen Märkte schrumpften. So waren 1913 die Schweiz und Großbritannien mit jeweils 10% die Hauptabnehmerländer,244 gefolgt von Italien mit 9% und Spanien sowie Frankreich mit jeweils 7,5%. Dagegen gewann Rußland in den Nachkriegsjahren neben der Schweiz und Großbritannien zunehmend an Bedeutung, während der Export nach Italien und Frankreich stark rückläufig war. Anhand nachfolgender Tabellen läßt sich in weiten Bereichen eine auffallende Parallelität zwischen der

243 Vgl. S.318. 244 PROBST gibt für 1906 sogar 20,8% für Großbritannien und 13,8% für die Schweiz an. Vgl. PROBST, F. 1909, S.79.

337

Elektroporzellanausfuhr und dem Export von elektrotechnischem Material feststellen. Ursächlich dafür war, daß beim Bau elektrischer Anlagen durch deutsche Firmen im Ausland fast ausschließlich Isoliermaterial aus deutscher Produktion verwendet wurde. Dies legitimiert zu der Aussage, daß der Anteil Deutschlands an der Elektrifizierung der Welt nicht unbedeutend war. Tab.66: Die Bedeutung der Absatzmärkte für die deutsche Elektro- und Elektroporzellanindustrie 1913 und 1928 (in %) 245 Absatzgebiet Elektroindustrie Elektroporzellan (Isolatoren) 1913 1928 1913 1928 Großbritannien, Niederlande 15,6 16,4 13,1 19,9 Osteuropa* 10,8 15,7 2,3 13,5 Mitteleuropa** 8,8 13,9 7,0 12,7 Nordeuropa*** 10,9 12,8 9,9 6,6 Westeuropa**** 17,1 10,1 10,4 3,2 Italien, Schweiz 9,3 9,1 19,6 14,7 Sonstiges Europa 0,1 0,2 7,7 5,1 Europa 72,6 78,2 70,0 75,7 Südamerika 11,9 9,3 12,5 7,2 Ostasien 5,7 5,4 3,4 4,8 Britische Kolonien 3,0 2,9 4,5 3,1 Nord- u. Mittelamerika 4,6 2,7 7,4 4,3 Sonst. außereurop. Länder 2,2 1,5 2,2 4,9 Übersee 27,4 21,8 30,0 24,3

* Rußland, Polen, Danzig, Lettland, Litauen, Estland ** Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien *** Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland ****Belgien, Luxemburg, Frankreich, Saargebiet, Elsaß-Lothringen

Tab.67: Absatzmärkte der Elektroindustrie und der Elektroporzellanindustrie im Vergleich

245 Quellen: Statistischer Bericht des Zentralverbands der deutschen Elektrotechnischen Industrie 1929, S.17 und Außenhandelsstatistiken des Deutschen Reiches von 1913 und 1928. Pos. 733a (Isolatoren). Vgl. RIEBER, F. 1930, S.185.

338

Das Hauptgewicht der Elektroporzellanausfuhr lag bei den Hochspannungsisolatoren, wobei besonders die Beteiligung der deutschen Industrie am Auf- und Ausbau der Kraftnetze anderer Länder von Bedeutung war. Der Export ging zu mehr als 90% ins europäische Ausland, wobei 1928 folgende Länder Hauptabnehmer waren: Rußland mit 19,8%, Großbritannien (einschl. Kolonien) mit 18,0%, Schweiz mit 16,5%, Ungarn mit 6,2% und Spanien mit 5,9% der Gesamtausfuhr. Nach Angaben des V.H.I.W. betrug der prozentuale Anteil des Exportes nach Übersee 1913 noch 38%; dieser Anteil sank in der Nachkriegszeit beträchtlich ab, da die nordamerikanische Konkurrenz diese Märkte erobern konnte. Wirtschaftliche sowie technische Ursachen waren für diesen Rückgang verantwortlich: Die US-amerikanische Elektro- und Elektroporzellanindustrie wurde stark subventioniert und außerdem durch Schutzzölle gefördert. Hinzu kam die Vorschrift, daß Anlagen, die von amerikanischen Firmen errichtet wurden, nur von amerikanischen Firmen gewartet bzw. ausgebaut werden durften. Da die diesen Firmen angehörenden Ingenieure jedoch während ihrer Ausbildung ausschließlich amerikanische Normenbezeichnungen kennengelernt hatten, war es nur zu verständlich, daß jene das amerikanische Material vorzogen.246 In Deutschland versuchte man auf ähnliche Art, neue Märkte - besonders in Osteuropa - zu erschließen.247

Niederspannungsporzellan Beim Export von Niederspannungsporzellan wurde der Anteil der Niederspannungsisolatoren immer geringer; hingegen wurde das 'sonstige elektrotechnische Porzellan' ( Montageporzellan) mit 50% Anteil an der Menge und sogar 70% Anteil am Wert des exportierten Niederspannungsporzellans immer bedeutender. Da die Ausfuhr von Niederspannungsporzellan (ohne Niederspannungsisolatoren) erst seit 1926 gesondert vom Statistischen Reichsamt erfaßt wurde,248 ist ein Vergleich mit den Vorkriegszahlen nicht möglich. Es läßt sich jedoch mit einiger Sicherheit behaupten, daß der Export gegenüber der Vorkriegszeit zurückging, da, wie bereits erwähnt, in Steatit ein starker Konkurrent auftrat, der sukzessive das Montagematerial aus Porzellan verdrängte.

246 So bevorzugten amerikanische Ingenieure z.B. gekittete Isolatoren, die "in Deutschland geradezu verpönt" (Untersuchungsausschuß 1931, S.284) waren. Im Gegensatz dazu war man in Deutschland stolz darauf, einen kittlosen Isolator entwickelt zu haben (Vgl. S.221, Geschäftsbericht des VOMI.H.W. von 1928). 247 "Ganz entsprechend ist es durch die Kredithilfe des Deutschen Reiches und die Ausbildung zahlreicher russischer Ingenieure auf deutschen Hochschulen gelungen, den deutschen Export an Hochspannungsisolatoren nach Rußland so zu steigern, daß Rußland der wichtigste Markt für die deutsche Isolatorenindustrie geworden ist." [Untersuchungsausschuß 1931, S.284]. 248 Nr. 912 F2 Gruppe 8 der Außenhandelsstatistik.

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8. Unternehmensformen

Während in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die individuelle Einzelunternehmung die vorherrschende Unternehmensform in der Porzellanindustrie war, wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Aktiengesellschaften und GmbHs als gesellschaftlicher Unternehmensform gegründet, deren Kapitalhöhe und Produktionsumfang so groß war, daß sich aus den Bilanzen dieser Gesellschafterunternehmungen der Zustand der Gesamtindustrie ablesen ließ.

Tab.68: Unternehmensformen in der Porzellanindustrie 1882 und 1925 249

Im Besitz 1882 1925

absolut % absolut % einzelner Personen 453 78,8 360 59,2 mehrerer 112 19,5 29 4,7 Gesellschafter wirtschaftlicher 6 1,0 217 35,6 Gesellschaften und Genossenschaften des Staats 4 0,7 2 0,3

An obenstehender Tabelle läßt sich ein starker Rückgang der im Besitz einzelner oder mehrerer Personen befindlichen Porzellanfabriken im Zeitraum 1882 bis 1925 erkennen, ebenso nahm die Zahl der Unternehmen ab, die sich im Besitz von öffentlichen Körperschaften befanden. Hingegen stieg die Zahl der Firmen überproportional an, die eine gesellschaftliche Unternehmensform besaßen, also Offene Handels-, Kommandit- und Aktiengesellschaften sowie Gesellschaften mit beschränkter Haftung.

8.1 Aktiengesellschaften

Erste Anfänge von Aktiengesellschaften entwickelten sich bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der PF Buckau (1857 gegründet) und der PF in Gross-Breitenbach/Thür. (Gründungsjahr 1858).250 Die Beendigung des deutsch-französischen Krieges gab dem

249 Quelle: Gewerbestatistik von 1882 u. Statistik des Deutschen Reiches, Bd.413, Tl. IVOM 250 Die PF Buckau wies ein Aktienkapital von 250.000 Talern, die PF von Gross-Breitenbach ein Aktienkapital von 200.000 Talern auf. Vgl. Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik, Jg.1859, S.152.

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Wirtschaftsleben neue Impulse und führte auch der Keramikindustrie neue Kapitalien zu; man gründete daher neue Aktiengesellschaften wie 1871 die von SCHUMANN übernommene Berliner Porzellanmanufaktur (Aktienkapital 900.000 M) und 1872 die Schlesische Porzellanmanufaktur (Aktienkapital 600.000 M). Beide Gesellschaften wurden jedoch kurze Zeit später wieder aufgelöst.

Nach diesen Mißerfolgen begann in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine neue Gründungswelle von Aktiengesellschaften, wie nachfolgende Übersicht verdeutlicht:

Tab.69: Gründungen von Aktiengesellschaften in der Porzellanindustrie251 Jahr Neugründung Jahr Neugründung Jahr Neugründung von AGs von AGs von AGs 1890 7 1897 3 1902 2 1891 2 1898 3 1903 1 1892/94 -- 1899 3 1904 3 1895 1 1900 1 1896 2 1901 2

Insgesamt war die Zahl der Aktiengesellschaften in der Porzellanindustrie nach KINDERMANN mit 48 im Jahre 1925 acht mal so hoch wie 1888, als nur 6 Aktiengesellschaften bestanden .252 Im Jahre 1907 bestanden 26 Aktiengesellschaften für Porzellanfabrikation, deren gesamtes Aktienkapital sich auf 28,443 Mill. Mark belief.253 Die finanzielle Situation dieser 26 Unternehmen veranschaulicht die folgende Zusammenstellung:

Tab.70: Kapitalaufstellung von 26 Aktiengesellschaften 1907 (Bilanzauszug)254 in 1.000 M in % des Aktienkapitals Aktienkapital 28.443,0 -- Ordentliche Reserven 3.563,1 zus. 14,7 Spezialreserven 623,8 Obligationen 8.991,3

Hypotheken 2.586,0 Reingewinn netto 3.752,0 13,2 Dividenden 2.953,5 10,4 Abschreibungen 1.750,4 6,2

251 Aus: PROBST, F. 1909, S.50. 252 Vgl. KINDERMANN, H.-J. 1934, S.163. 253 KINDERMANN gibt für 1907 sogar 29 Aktiengesellschaften mit 30,160 Mill. Mark Aktienkapital an. 254 Aus: KINDERMANN, H.-J. 1934, S.52.

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Durchschnittlich entfiel demnach auf eine Aktiengesellschaft der Porzellanindustrie ein Aktienkapital von 1,094 Mill. M. Die durchschnittliche Verzinsung des Aktienkapitals während des Zeitraums 1887 bis 1907 betrug 9,4%, wobei die Dividenden zwischen 5,7% (1893) und 13,1% (1906) schwankten.255 Im folgenden sollen die 9 Aktiengesellschaften der Porzellanindustrie mit Kursnotierung kurz betrachtet werden, die an der Berliner Börse gehandelt wurden:256

(1) Die PF Kahla bestand als AG seit 1888. Das ursprüngliche Aktienkapital von 1 Mill. M wurde 1890 um 300.000 M erhöht. Außerdem wurden emittiert: 1896 200.000 M zu 200%, 1900 600.000 M zu 175% und 1904 900.000 M zu 175%. Außer dem 4 Betriebe mit etwa 1100 Arbeitern und 28 Öfen umfassenden Hauptwerk in Kahla besaß die Gesellschaft eine Filiale in Hermsdorf-Klosterlausitz mit 1000 Arbeitern und 18 Öfen; ferner Zweigniederlassungen in Freiberg/Sachsen mit 300 Arbeitern und 6 Öfen sowie in Zwickau (Zwickauer PF) mit 450 Arbeitern und 6 Öfen. (2) Die 1886 gegründete PF Königszelt erhöhte ihr ursprüngliches Aktienkapital von 1,6 Mill. M 1905 auf 2,6 Mill. M. Diese Aufstockung diente dem Erwerb von Aktien der PF Hutschenreuther im Wert von 800.000 M. Die PF Königszelt besaß 14 Brennöfen von je 5 Meter innerem Durchmesser und beschäftigte ca. 700 Arbeiter. (3) Die 1897 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte PF Ph. Rosenthal & Co. erweiterte um die Jahrhundertwende ihre Betriebsanlagen in erheblichem Umfang: Die Vergrößerung der Abteilung für Elektroporzellan in Selb im Jahre 1901 erforderte Aufwendungen in Höhe von 74.000 M, der Kauf der PF Kronach eine Summe von 500.000 M. Das Grundkapital von 1,5 Mill. M wurde 1906 zur Stärkung der liquiden Mittel auf 2 Mill. M erhöht; diese 500.000 M neuen Aktien wurden den Aktionären 3:1 zu 197,50% angeboten. Die Hauptfabrik in Selb beschäftigte ca. 1200 Arbeiter, die PF in Kronach 300 Arbeiter. (4) Die A.G. PF Triptis, die 1896 mit einem Aktienkapital von 1 Mill. M gegründet wurde, übernahm die 1891 erbaute Fabrik der Firma Unger & Gretschel für 600.000 M. Der Rest des Aktienkapitals diente zur Betriebserweiterung und als Betriebskapital. Zwecks Übernahme der seit 1882 bestehenden Steingutfabrik Gebr. Urbach wurde 1906 das

255 Vgl. GOLDMANN, C. 1907, S.25f. AB, Anl.58 bietet eine Übersicht über die Entwicklung der Dividenden der Aktiengesellschaften im Zeitraum 1887 bis 1907. 256 AB, Anl.59 führt alle Aktiengesellschaften der Porzellan- und Steingutindustrie auf.

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Kapital durch Ausgabe von 100 neuen Aktien zu 104,75% auf 2 Mill. M erhöht. Die AG Porzellanfabrik Triptis beschäftigte rd. 500 Arbeiter. (5) Die PF Schönwald A.G. wurde 1898 zwecks Fortführung der PF. J.N. Müller mit einem Aktienkapital von 800.000 M gegründet, das im gleichen Jahr noch um 200.000 M erhöht wurde. Der Erwerb der PF Th. Lehmann in Arzberg machte 1903 eine weitere Kapitalerhöhung nötig; beide Werke hatten jeweils 600 Arbeiter. (6) Die A.G. H. Schomburg & Söhne (Berlin) wurde 1898 mit einem Grundkapital von 1 Mill. M gegründet. Sie stellte einen Zusammenschluß der bis dahin bestehenden Firmen H. Schomburg & Söhne, Margarethenhütte Hermann Schomburg (Bautzen) und PF Rosslau Rudolf Schomburg dar und produzierte hauptsächlich Elektroporzellan. (7) Die Duxer Porzellanmanufaktur A.G. (vorm. Ed. Eichler) hatte ihre Zentrale zwar in Berlin, der Produktionsort jedoch befand sich in Dux (Böhmen). Sie wurde 1897 mit einem Kapital von 1 Mill. M gegründet. Der Wert der von den 500 Arbeitern dieser Aktiengesellschaft hergestellten Jahresproduktion belief sich auf etwa 700.000 M und wurde fast ausschließlich exportiert. (8) Die Sitzendorfer Porzellanmanufaktur A.G. (vorm. Gebr. Voigt), 1896 mit 1 Mill. M Aktienkapital gegründet, besaß außer der seit 1850 bestehenden Fabrik in Sitzendorf, die 300 Beschäftigte zählte, eine Filiale in Unterweissbach mit 150 Arbeitern. (9) Die AG. L.Wessel für Porzellan- und Steingutfabrikation in Poppelsdorf b. Bonn wurde 1888 mit einem Grundkapital von 2,1 Mill. M gegründet und stockte dieses 1890 auf 2,625 Mill. M auf; sie beschäftigte ca. 1000 Arbeiter.

8.2 Gesellschaften mit beschränkter Haftung

Die Bedeutung dieser Unternehmensform nahm auch in der Porzellanindustrie immer mehr zu. So waren im Jahre 1904 bereits 17 Gesellschaften mit beschränkter Haftung gegründet, die ein Kapital von 6,67 Mill. M darstellten (rd. 392.000 M pro Gesellschafter). Die Zahl der GmbHs erhöhte sich bis 19907 noch auf 22. Als einzige Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht (eGmbH) bestand seit 1904 die Neue Porzellanfabrik zu Tettau.

343

9. Darstellung einzelner Unternehmen der Keramikindustrie

Die Betrachtungen über die Wirtschaftsgeschichte werden abgeschlossen mit Kurzporträts einiger ausgewählter Betriebe der Keramikindustrie. Dabei werden sowohl Speckstein und Steatit verarbeitende Unternehmen als auch Porzellanfabriken in den drei zu untersuchenden Regionen Oberfranken, Oberpfalz und Thüringen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklung dargestellt. Diese Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll sie doch nur dazu dienen, anhand einiger Exempel die Bedeutung und Leistungsfähigkeit der Keramikindustrie – insbesondere der Technische Keramik produzierenden Industrie – zu veranschaulichen. Außerdem wurde von einer Vielzahl von Porzellanfabriken Technische Keramik in Form von Kleinisolatoren, Seil- und Fadenführern, Irrigatoren257 und Rouleauxringen zumindest zeitweise und/oder zur Vergrößerung der Produktpalette hergestellt, um auf diese Weise besser konjunkturelle Schwankungen beim Absatz von Geschirr- und Zierporzellan ausgleichen zu können.258

9.1 Steatit-Magnesia AG (Stemag)

Nachdem i.J. 1810 die fränkischen Provinzen endgültig an Bayern gefallen waren, übernahm das Königreich Bayern auch die Specksteingruben und versuchte mit wenig Erfolg, den Speckstein zur Herstellung von Schneiderkreide, als Schmiermittel für Maschinen, Putz- und Schleifmaterial für weiche und empfindliche Stoffe sowie zum Glätten in der Papierfabrikation und Gerberei abzusetzen.259 Erst durch die Initiative der Privatindustrie im Nürnberg-Laufer Raum, im oberfränkischen Fichtelgebirge sowie in Berlin erlangte der Speckstein eine größere ökonomische Bedeutung.

Während die Gewinnung des Specksteins bis weit ins 19. Jahrhundert mittels 'Gräberei' an der Erdoberfläche geschah, begann man danach mit dem bergmännischen Abbau in 10 bis 80 Meter Tiefe, teils im Tagebau, teils im Untertage-Tiefbau. Um die Jahrhundertwende wurde die Werksanlage um den Ludwigsschacht konzentriert, massive Gebäude entstanden und eine

257 Medizinische Einlaufgeräte. 258 Vgl. S.256, S.317. 259 Zur Geschichte der Specksteinverarbeitung im Fichtelgebirge vgl. S.50f.

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Lokomobile diente der Förderung und Wasserhaltung. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde der geförderte Speckstein mit Pferdefuhrwerken von Göpfersgrün nach Holenbrunn transportiert, wo sich der Steinschneidebetrieb befand; nach der Eröffnung der Bahnlinie Holenbrunn-Selb (1914) geschah dieser Transport mit der Eisenbahn.260 Außerdem wurde 1921 eine Feldbahn von den Werksgebäuden und der Grube zur Bahnlinie gelegt, die das Verladen des Fördergutes wesentlich beschleunigte.

Nach dem Ersten Weltkrieg mußten infolge Bodensenkungen neue Gebäude und Betriebsanlagen in den Jahren 1921 bis 1923 errichtet werden, wobei der bis dahin in Holenbrunn befindliche Steinschneidebetrieb in diesen neuen Gebäude der Johanneszeche verlegt wurde. Seit 1923 erfolgte der Abbau in der Johanneszeche zunehmend im Tagebau und 1929 wurden zusätzliche Gebäude für Steinwäsche und Mühlen gebaut. Dadurch war es möglich, das geförderte Rohmaterial zu waschen, auszuklauben und zu trocknen, um eine möglichst große Reinheit für die Produktion zu erreichen. Seit 1932 wurde das für die Keramik unbrauchbare Gestein zu Talkum vermahlen, das in der Gummi- und chemischen Industrie (Schädlingsbekämpfungsmittel) Verwendung fand.

Angeregt durch die Erfolge der Fa. J.v.Schwarz mit ihren ersten, 1857 aus bayerischem Staatsbesitz erworbenen Gruben und Mutungen nach Speckstein, bemühte sich eine Vielzahl, z.T. schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehender Firmen um die Grubenfelder in Oberfranken. Diese Unternehmen gingen fast alle in der späteren Steatit-Magnesia Aktiengesellschaft auf; sie wie auch die sonst im Raum Lauf/Nürnberg/Wunsiedel sowie Berlin beteiligten Firmen werden an dieser Stelle zunächst etwas näher dargestellt, bevor die weitere Entwicklung der Stemag behandelt wird.

J.v. Schwarz261 1868 erwarb die Fa. J.v. Schwarz die Johanneszeche, die Ludwigs- und die Benediktzeche; eine Betriebserweiterung geschah 1888 durch einen Neubau in Nürnberg-Ostbahnhof. Durch die Übernahme der Fa. Lauboeck und Hilpert 1904 gingen die Karolinen- und die Theresienzeche in den gemeinsamen Besitz der Firmen J.v. Schwarz sowie Jean Stadelmann & Co und noch im gleichen Jahr in den alleinigen Besitz J.v. Schwarz über. 1921 kam die Emilienzeche dazu.

260 Die Fa. J. von Schwarz hatte die Baukosten dieser Strecke - nicht ohne Eigeninteresse - stark bezuschußt. 261 Vgl. S.157ff.

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Nach der Erfindung des Glühlichtstrumpfes sank ab Mitte der 90er Jahre des 19. Jhdts. der Bedarf an Specksteingasbrennern. Durch die aufkommende Acetylen-Beleuchtung an Fahrrädern und den Export in Länder mit weniger entwickelter zentraler Gasversorgung wurden diese Absatzeinbußen aufgefangen. Dieser Geschäftszweig entwickelte sich zunächst so günstig, daß die Firmen J.v. Schwarz und Jean Stadelmann & Co. eine gemeinsame Verkaufsgesellschaft, die Acetylena GmbH, gründeten.262

Die in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. sich entwickelnde Elektrotechnik benötigte zunehmend Isolatoren und Isolierteile. Aus dem Abfallspeckstein, der mit keramischen Zuschlägen und Flußmitteln versehen wurde, schuf LINDHORST um die Jahrhundertwende ein geeignetes Isolationsmaterial, das Steatit.263 Neben der allmählich immer bedeutungsloser werdenden Produktion von Gasbrennern begann man im Nürnberger Werk mit der Herstellung von Niederspanungspreßartikeln aus Steatit als Installationsisolierteile für die Elektrotechnik. Im Ersten Weltkrieg gelangte diese Werk durch die Produktion von Zündkerzen für Autos bzw. Flugzeuge zu besonderer Bedeutung. 1923 wurde das Werk, das inzwischen zur Steatit-Magnesia Aktiengesellschaft gehörte, stillgelegt.

Das in den Jahren 1900 bis 1902 in Wunsiedel-Holenbrunn errichtete Werk für Fußbodenplatten264 wurde bald auf die Produktion von Preßartikeln aus Steatit umgestellt, da die Herstellung von Fußbodenplatten zu teuer und mithin unrentabel war. Diese Fabrik übernahm zunehmend Aufträge des Nürnberger Werkes,265 das an seine Kapazitätsgrenze gelangt war und stellte in einer eigenen Werkstatt Werkzeuge und Matrizen her.

Die beiden Werke Nürnberg-Ostbahnhof und Wunsiedel-Holenbrunn sowie die Specksteinzechen bildeten die 1921 zur Aktiengesellschaft umgewandelte J.v. Schwarz AG. Diese fusionierte noch im gleichen Jahr mit den Firmen Jean Stadelmann & Co, (Lauf/Nürnberg), Ravené & Bernstil (Lauf), Acetylena GmbH (Nürnberg), Pressolith-Werke mbH (Nürnberg) und Vereinigte Magnesia & Co. Ernst Hildebrandt AG (Berlin-Pankow) zur Steatit-Magnesia Aktiengesellschaft (Stemag).

262 REBMANN nennt als zweite Verkaufsgesellschaft noch die Brenner-Lux GmbH, Lauf. Vgl. REBMANN, W. 1952, S.55. 263 LINDHORST, der 1901 das erste Patent erhalten hatte, nannte den neuen Werkstoff Steatit = griech. Speckstein. Vgl. SCHÜLLER, K.-H. 1991, S.14. 264 Vgl. S.168. 265 Die in Holenbrunn hergestellte Spezialmasse mit der Bezeichnung "Ost" erinnerte noch jahrelang an den Betrieb Nürnberg-Ostbahnhof.

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Jean Stadelmann & Co. Um 1875 stellte die in Nürnberg bestehende keramische Fabrik Jean Stadelmann & Co. ihre Produktion auf die Fabrikation von Gasbrennern aus Speckstein um. Trotz der zur Fa. J.v. Schwarz bestehenden Konkurrenz wurde von beiden Firmen die bereits erwähnte Acetylena GmbH gegründet und die Fa. Lauboeck & Hilpert, Wunsiedel als Zulieferer für ihre Specksteinbrennerfabrikation erworben. Jean Stadelmann & Co. erwarb zudem 1916 mehrere Werke in Nürnberg und Lauf, darunter die Fa. Hofmann & Sticht, Nürnberg sowie die Steatit Aktiengesellschaft, Lauf, mit denen sie als "Steatit Aktiengesellschaft und Jean Stadelmann & Co." in Lauf firmierte. Als solche war sie schließlich bei der Fusion zur Stemag beteiligt.

Gebr. Lauboeck, Nürnberg und Lauboeck & Hilpert, Wunsiedel Eine weitere potente Konkurrenz zur Fa. J.v. Schwarz bestand in der zunächst Gasbrenner, später Specksteinbrenner produzierenden Fabrik Gebr. Lauboeck (Nürnberg), die bereits 1857 die Karolinenzeche und 1868 die Theresienzeche als Rohstoffbasen erworben hatte. Infolge der Transportschwierigkeiten (noch keine Eisenbahnverbindung zu den Zechen) und wg. der steigenden Nachfrage verlagerte die Firma 1879 ihre Produktion unter dem Namen Lauboeck & Hilpert nach Wunsiedel in die Nähe der Specksteingruben und beschäftigte im Jahre 1893 28 Arbeiter, davon 15 weibliche.266 1904 wurde sie von Schwarz und Stadelmann übernommen: "Herr Franz Lauboeck hat seinen Gesamtbesitz, Specksteingruben, Fabrik, Wohnhaus und Grundstücke an die Herren Benedikt von Schwarz, Georg von Schwarz und Philipp, Freiherr von Frays, sämtlich in Nürnberg, verkauft. Die Genannten werden die Fabrik in unveränderter Weise und unter der seitherigen Firma ´Lauboeck und Hilpert in Wunsiedel´ weiterbetreiben." 267

Die Firma arbeitete in der Folgezeit als Zulieferer für Gas- und Acetylenbrenner dieser beiden Firmen.268 1921 wurde das Werk wegen Auftragsmangel stillgelegt, die Fertigung ging an das Stemag-Werk in Lauf über.

Pressolith-Kunstmassen-Werke mbH, Nürnberg Die in Nürnberg bestehenden und Preßteile herstellenden Pressolith-Kunstmassen-Werke wurden 1921 in die Stemag aufgenommen und existierten bis 1924 als Tochtergesellschaft

266 Quelle: StA Wunsiedel, Verzeichnis der im Gemeindebezirk d. Stadt Wunsiedel befindlichen Fabriken 1893. 267 Bote aus den sechs Ämtern Nr. 124 vom 29.5.1904. Vgl. dazu AB, Anl.60 Schreiben der Fa. J. von Schwarz an Lauboeck und Hilpert mit Bestätigung des Verkaufs. 268 Bereits ab 1882 hatte die Fa. Lauboeck und Hilpert eine "Gasbereitung für den eigenen Bedarf" (StA Wunsiedel, XXIX/534) und erhielt 1899 ein Patent für Acetylengas-Specksteinbrenner (Bote aus den sechs Ämtern Nr.75/1899).

347 dieser. Ab 1923 befand sich die Verwaltung in Holenbrunn; 1924 wurde sie in die Zentralleitung der Stemag nach Berlin verlegt.

Hofmann & Sticht, Nürnberg Die Fa. Hofmann & Sticht, die in Nürnberg Preßteile produzierte, erwarb in den 80er Jahren von der Fa. Gebr. Lauboeck die Baumann- und die Marthazeche. Firma und Zechen gingen 1916 an die Steatit Aktiengesellschaft und Jean Stadelmann & Co und mit dieser 1921 an die Stemag.

I.H. Steadtler, Nürnberg Die Fa. J.H. Steadler übernahm 1864 die Emilienzeche und verkaufte diese 1882 an die Fa. Moritz Thurnauer weiter. Aus deren Besitz ging die Grube 1921 bei der Fusion mit in die Stemag ein.

Acetylena GmbH, Nürnberg Nach dem Aufkommen der elektrischen Beleuchtung ging der Absatz dieser von den Firmen Schwarz und Stadelmann gegründeten Verkaufsgesellschaft sukzessive zurück, so daß sie bei der Fusion 1921 erlosch.

Ravené & Bernstil, Lauf Die Fa. Ravené & Bernstil besaß keine eigenen Specksteingruben und fusionierte über die Fa. Stadelmann & Co. mit der Stemag.

Matrizen-Werkstatt Fromm GmbH, Lauf Die Entwicklung des Trockenpreßverfahrens für die tw. komplizierten Artikel erforderte aufwendige, vielfach unterteilte Preßwerkzeuge. Die Matrizen-Werkstatt Fromm GmbH spezialisierte sich auf solche Werkzeuge und produzierte für die Steatit verarbeitenden Betriebe zunächst die Matrizen für die Kniehebel- (Handbetrieb) und später mechanischen Pressen. Die steigende Größe der Preßteile erforderte höhere Preßdrücke, was zum Bau hydraulischer Pressen führte und die in dieser Firma gebauten ersten Trocken-Preßautomaten erlaubten eine Steigerung der Produktion. Da jedoch die Steatitbetriebe mehr und mehr dazu übergingen, Maschinen und Werkzeuge in eigenen Werkstätten zu bauen, ging die Fa. Matrizen-Werkstatt Fromm GmbH 1925 im Werk Lauf der Stemag und der dort bereits mit Facharbeitern arbeitenden Maschinenbau- und Werkzeug-Matrizen-Abteilung auf.

348

Steatit Aktiengesellschaft, Lauf Wie erwähnt wurde diese Firma 1916 mit der Fa. Jean Stadelmann & Co. 1916 zur Steatit Aktiengesellschaft und Jean Stadelmann & Co., Lauf vereinigt und kam als solche 1921 an die Stemag.

Adam Weber & Co., Nürnberg Die Fa. Adam Weber & Co. war Eigentümerin der Konkordiazeche, die sie von Lauboeck & Hilpert übernahm. 1921 übernahmen die Ph. Rosenthal AG und die AEG die Adam Weber & Co., die außer der Konkordiazeche noch die Brönnersgrube besaß. 1923/24 wurde die Firma stufenweise von der Stemag übernommen.

Die beteiligten Berliner Werke Die süddeutschen Betriebe hatten sich zunächst v.a. auf die Entwicklung und Produktion von Specksteinbrennern für die Gas- und Acetylenbeleuchtung spezialisiert; dagegen waren nach der Entwicklung des Gasglühlichtes durch AUER von WELSBACH269 einige Berliner Firmen dazu übergegangen, keramische Formteile als Träger der Gaslichtstrümpfe zu produzieren. Da der Werkstoff für diese Formteile hohe Temperatur- und Temperaturwechselbeständigkeit besitzen mußte, wurde zuerst Magnesiumoxid270 eingesetzt. Bereits nach kurzer Zeit wurde Magnesiumoxid durch den besser geeigneten und preisgünstigeren Rohstoff Speckstein ersetzt, der zudem zu paßgenaueren Formteilen gepreßt werden konnte. Auf diese Weise kam die geschäftliche Verbindung zu den Specksteingruben im Fichtelgebirge zustande. Folgende Berliner Firmen waren am Zusammenschluß zur Stemag beteiligt: Magnesia-Werke Weißensee, Berlin-Weißensee Vesta-Werke271, Berlin Ernst Hildebrandt, Berlin-Pankow Porzellanfabrik Teltow, Teltow b. Berlin Die drei erstgenannten Werke schlossen sich 1908 zur Vereinigten Magnesia Co. & Ernst Hildebrandt AG zusammen. Die PF Teltow stellte keramisch-technische Produkte, u.a. die sog. "Teltower Plättchen" (Fußboden- und Wandbeläge) und ab 1904 Artikel für die

269 Vgl. S.71. 270 Hiervon leitete sich zunächst die Bezeichnung Magnesia-Werke Weißensee ab. Dieser Name blieb auch bei den späteren Firmenzusammenschlüssen ("Vereinigte Magnesia Co. und Ernst Hildebrand AG" sowie "Steatit-Magnesia AG") erhalten, obwohl Magnesiumoxid längst nicht mehr verwendet wurde. 271 In der Literatur taucht gleichbedeutend der Name „Wester-Werke“ auf. Da jedoch sowohl REBMANN (1952, S.55) als auch HOFFS (1964, S.171) als auch die Zeitschrift Keramos (1929, H.12, S.14) den Namen „Vesta-Werke“ angeben, wurde dieser Name als der wahrscheinlichere vom Verf. übernommen.

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Elektrotechnik her. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jhdts. hatte man Absatzerfolge bei Isolatoren für Freileitungen und Anlagen, insbesondere durch den sog. "Teltower Freileitungs-Kappen-Isolator".272 Trotz Bau eines 400 kV-Prüffeldes mußte die Fabrikation in den 20er Jahren stillgelegt werden. 1929 wurde das Werk von der Stemag übernommen, die teils wg. des nicht übertragbaren Syndikatskontingents an Hochspannungsisolatoren, teils wg. des sich stark entwickelnden Dralowidwerkes, für das die Fabrik in Pankow zu klein wurde und für das neue Gebäude gesucht wurden, besonderes Interesse an einer Übernahme hatte.

Die Unternehmensgruppen in Süddeutschland und Berlin produzierten technische Artikel für die Gas- und Elektrotechnik. Zu ihren Spezialprodukten gehörten Magnesia- Glühstrumpfhalter, Glühlichtisolationen, Magnesiaringe und –stifte sowie Magnesiafaconstücke für die Gasglühlichtindustrie. Außerdem wurden keramische Glühkörper für die Gasbeheizung, temperaturwechselbeständige Siebköpfe, Düsen, Lochplatten für Industriegasöfen (Schmelz- und Härteöfen)sowie hochhitze- und hochsäureresistente Geräte, Tiegel und Röhren Laboratorien und die chemische Industrie gefertigt.273 Die dazu verwendeten Rohstoffe mußten besondere physikalische, chemische und verfahrenstechnische Eigenschaften besitzen. Daher waren beide Gruppen an Speckstein sowie Steatit als Roh- und Werkstoff interessiert und dadurch kam eine Verbindung zwischen diesen beiden Gruppen zustande. Die somit schon zusammengeschlossenen, mindestens jedoch durch gemeinsame Interessen verbundenen Unternehmen fusionierten am 13.6.1921 zur Steatit-Magnesia Aktiengesellschaft, die zu dieser Zeit aus folgenden Betrieben bestand: J.v. Schwarz, Nürnberg-Ostbahnhof Steatit Aktiengesellschaft und Jean Stadelmann & Co., Lauf und Nürnberg Vereinigte Magnesia & Co. und Ernst Hildebrandt AG, Berlin-Pankow Magnesia-Werke Weißensee GmbH, Berlin-Weißensee (Beteiligung) Pressolith-Kunstmassen-Werke GmbH, Nürnberg (Tochterunternehmen)

In ihrem Betrieb Holenbrunn produzierte die Stemag Steatit-Preßteile für die Installationselektrotechnik. Die Aufträge hierzu kamen meist über das Werk Nürnberg- Ostbahnhof, das bei steigender Nachfrage immer mehr Aufträge an Holenbrunn abgeben mußte, so daß das Werk Nürnberg-Ostbahnhof 1923 schließlich stillgelegt wurde.

272 Vgl. DKG-Fachausschußbericht 1991, S.55. 273 Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften, Bd. 1930, S.2453.

350

Nach der Inbetriebnahme des Werkes Holenbrunn 1902 wurden zunächst Isolierglocken, Nieder- und Mittelspannungsisolatoren sowie chemisch-technische Keramiken gefertigt, später wurde das Produktionsprogramm um Freileitungs- und Anlagenisolatoren für Hochspannung erweitert. Zur Beachtung der dabei bestehenden Prüfvorschriften mußten eine Zugmaschine für 50 t Zugkraft, eine elektrische Stoßprüfanlage, ein Hochspannungs- Prüftransformator bis 330 kV und eine Hochfrequenz-Prüfanlage bis 1000 kV angeschafft werden. Auf dem Gebiet der Gehäuseisolatoren stellte man Großisolatoren aus Melalith 274 als Gehäuse für Hochspannungstransformatoren und Ölschalterdurchführungen sowie für Hochspannungs-, Strom- und Spannungswandler her. Diese erreichten in einteiliger Ausführung eine Höhe bis zu 2,5 Meter bei einem Durchmesser bis zu 1 Meter und hatten damit ein Gewicht von bis zu 760 kg; damit war Holenbrunn zur damaligen Zeit die einzige Fabrik, die Isolatoren solchen Ausmaßes fertigen konnte. "Mit dieser ganzen Entwicklung einher ging die Verbreitung des elektrischen Stromes für Heizzwecke im Haushalt, wozu das Werk Pankow mit der Herstellung von keramischen Heizplatten, Heizkreuzen und Rohren aus porösen Massen beitrug ... . Langsam liefen die Artikel für Elektro-Wärme denen für Gaswärme den Rang ab. Die Herstellung derartiger Teile erfolgte grundsätzlich nach einem Feuchtpreßverfahren, d.h. die Masse war so plastisch, daß sie komplizierte Formen beim Pressen ausfüllte." 275

Um das Syndikatskontingent zu vergrößern, erwarb die Stemag die PF Teltow, die für ihre Freileitungsketten-Kappenisolatoren276 bekannt war und steigerte auch auf diesem Sektor ihren Produktionsbereich. Für die Hochfrequenztechnik produzierte die Stemag Steatit- Fußisolatoren für Sendetürme sowie Gurtbandisolatoren (Pardunenabspannisolatoren).277 Weitere Entwicklungen, an denen die Betriebe der Stemag maßgeblich beteiligt waren und die in das Produktionsprogramm aufgenommen wurden, waren auf Zug beanspruchte Isolatoren in Vollkernausführung (Motor- und Langstab) sowie auf Zug, Druck, Biegung und Innendruck beanspruchte Vollkern- und Hohlisolatoren.278 Letztere konnten die hohen Anforderungen der die Hochspannungs-Ölleistungsschalter ablösenden Druckluftschalter aufgrund der guten Festigkeitseigenschaften des Steatits in optimaler Weise erfüllen. Die Weiterentwicklung der Gehäuseisolatoren führte zu Isolatoren bis zu 4 Metern Höhe und ca. 1 Meter Durchmesser, welche für die zu diesem Zeitpunkt erreichte Übertragungsspanunng von 380 kV ausreichten. Des weiteren wurden Isoliergehäuse für Durchführungs-, Querloch-, Strom- und Spannungswandler im Gießverfahren hergestellt.

274 Vgl. S.170. 275 MARCUSSOHN, H. 1971, S.11. 276 Sog. Teltow-C-Ketten-Isolatoren nach Reichspatent Nr. 429 504. 277 Vgl. S.115. 278 Vgl. S.192.

351

Die Massenfertigung elektrotechnischer Preßartikel in den Laufer Betrieben erforderte qualitativ hochwertige Maschinen höchster Präzision. Die zunächst als Zulieferer arbeitende Matrizenwerkstatt Fromm GmbH ging 1925 im Hauptwerk Lauf der Stemag auf und entwickelte sich zum modernsten Matrizenbaubetrieb mit einigen hundert qualifizierten Werkzeugmachern. Infolge der großen Leistungsfähigkeit dieser Laufer Fabrik wurde auch die Holenbrunner Presserei 1931 nach Lauf verlegt.

Die Innovationen auf dem Gebiet der Spezialmassen auf Speckstein- und Steatit-Basis führten zum Einsatz keramischer Kondensatoren im HF-Senderbau, die besondere dielektrische Eigenschaften (hohe Dielektrizitätskonstante, kleiner Verlustfaktor, Temperaturkonstanz) erfüllten.279

Die Hochfrequenztechnik hatte zunächst in der kommerziellen Nachrichtentechnik sowie im militärischen Fernmeldewesen eine eher bescheidene Rolle gespielt. Ab etwa 1924 stieg ihre Bedeutung durch das Aufkommen des Rundfunks von den USA aus auch in Deutschland stetig.280 Der dadurch einsetzende Bedarf an Bauelementen für Rundfunkgeräte stellte die Stemag vor die Aufgabe, konstante Hochohmwiderstände zu entwickeln. Dies führte 1926 zur Gründung des Dralowidwerkes in Berlin-Tempelhof, das nach unbefriedigenden Versuchen mit anderen Werkstoffen überwiegend Keramik als Trägermaterial für Widerstände einsetzte. Die große Nachfrage erforderte eine Übersiedlung des Werkes nach Berlin-Pankow und führte 1929 zum Kauf der Teltower Porzellanfabrik,281 um weiter expandieren zu können. Die dort wg. der Umstellung des Produktionsprogramms von Isolatoren auf Kondensatoren und Widerstände erforderlichen Umbauarbeiten zogen sich, bedingt durch die gedämpfte Konjunktur der späten 20er und frühen 30er Jahre, bis zum Jahre 1934/35, als das Teltower Werk bezogen wurde. Das dort noch bestehende Hochspannungsprüffeld wurde nach Holenbrunn übergeführt.

Die für alle Werke der Stemag wichtige und notwendige wissenschaftliche und produktionstechnische Forschung und Entwicklung veranlaßten 1928 den Bau eines Zentrallaboratoriums in Pankow, dessen Aufgaben sich auf Keramik, Elektrokeramik und keramische Spezialwerkstoffe für die Hochfrequenz-, Elektrowärme- und Piezotechnik

279 Vgl. S.115f. 280 Die erste Rundfunksendung wurde im Oktober 1923 in Berlin ausgestrahlt. 281 Vgl. S.263.

352 erstreckten. Bedingt durch den steigenden Bedarf an Brennraum wurde im gleichen Jahr der erste Tunnelofen in Betrieb genommen. Die in diesem erfolgte Vergasung von Braunkohle mittels Rohgaserzeuger verbilligte zwar den Brennprozeß, doch brachte die Einführung von Tunnelöfen auch Problem mit sich. So beschwerten sich 1928 Nachbarn wg. der Rauchentwicklung aus den Kaminen der Feuerungsanlagen, die den Aufenthalt in benachbarten Häusern beeinträchtige.

Dieses hier dargestellte Konglomerat aus Produktionsstätten, Zechen, Zentral- und Werkslaboratorien bildete bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Substanz der Stemag.

9.2 Rosenthal-Isolatoren GmbH (RIG)

Im Jahre 1900 wurde auf Initiative von Geheimrat Philip Rosenthal eine Abteilung "E" (Elektrotechnik) in der damaligen PF Ph. Rosenthal & Co. AG in Selb geschaffen. Nachdem die ersten Isolatoren zusammen mit Geschirr- und Kunstporzellan in einem Ofen gebrannt worden waren, machte die Erweiterung der Produktionspalette um Preßporzellanartikel 1901 den Neubau eines Rundofens für die Abteilung E erforderlich, dem zwei weitere Öfen mit jeweils 65 m3 folgten. Die bestehenden Prüfvorschriften erforderten 1904 den Bau eines Prüffeldes für Spannungen bis zu 100 kV, das ein Jahr später auf 200 kV erweitert wurde.

Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges stieg die Produktion von Elektrokeramiken so stark, daß trotz wachsender Konkurrenz die Abteilung E 1910 schon eine Million Mark umsetzen konnte. Die rasche Entwicklung auf diesem Sektor läßt sich daran ablesen, daß 1912 bereits 9 Rundöfen allein für die Isolatorenproduktion im Einsatz waren und eine eigene Massemühle in Betrieb genommen wurde, nachdem man bis dato die Porzellanmassen von der Geschirrabteilung bezogen hatte. Da man bei der Hochspannungsübertragung inzwischen auf Betriebsspannungen von 110 kV übergegangen war, mußte 1912 ein zweites Prüffeld gebaut werden, das für Prüfungen bis 500 kV ausgelegt war.

Der Beginn des Ersten Weltkrieges bedeutete für die Abteilung E der Rosenthal AG, daß viele Spezialkräfte zum Kriegsdienst eingezogen wurden und die Umsätze deutlich zurückgingen. Erst ab 1917 stiegen die Umsätze allmählich wieder an und ab 1920 konnte mit

353 dem Bau neuer Gebäude für Verwaltung und Prüffeld begonnen werden. Es folgte 1921 der Abschluß eines Interessengemeinschafts-Vetrages zwischen der Rosenthal AG und der A.E.G., in dem eine Zusammenarbeit des Rosenthal-Isolatorenwerkes Selb und der 1910 erbauten Elektroporzellanfabrik Hennigsdorf der A.E.G. (b. Berlin) mit einer Laufzeit von 80 Jahren vereinbart wurde. Unbeschadet der beiderseitigen Besitzverhältnisse übernahm die Fa. Rosenthal auf Provisionsbasis die Betriebsführung der PF Hennigsdorf: "Die A.E.G. hat für ihren Betrieb eine sachkundige Leitung gefunden, um sich die Erfahrung eines in der Porzellanfabrikation führenden Unternehmens zur Verfügung zu stellen, ihre Wünschen kann sie durch den Betriebsausschuss Geltung verschaffen, der Rosenthalkonzern andererseits erhält für die Fabrikation von der A.E.G. viele Anregungen, die nicht nur dem Hennigsdorfer Betriebe, sondern die den elektrotechnischen Abteilungen in Selb und Selb-Plössberg zugute kommen, und vor allem hat sich der Rosenthalkonzern einen Abnehmer grössten Stils gesichert; diese Massnahme war umso wichtiger als die Konkurrenz in der elektrotechnischen Porzellanindustrie besonders gross ist, und der andere grosse deutsche Elekto-Konzern Siemens-Schcukert sich im Jahre 1917 zwei Porzellanfabriken zur Herstellung von elektrotechnischem Porzellan angegliedert hatte." 282

Im Jahre 1925 gliederte sich der Rosenthalkonzern wie folgt: Der unmittelbaren Leitung unterstanden PF Ph. Rosenthal AG, Geschirrabteilung Selb PF Ph. Rosenthal AG, Kunstabt. Selb PF Ph. Rosenthal AG, Abt. E, Selb Rosenthal PF, vorm. Jakob Zeidler & Co., Selb-Plössberg PF Ph. Rosenthal AG, Kronach PF F. Thomas & Co., Marktredwitz PF Ph. Rosenthal & Co. AG, Abt. C, Marktredwitz Krister Porzellanindustrie AG, Waldenburg A.E.G. Porzellanfabrik Hennigsdorf, Betriebsführung Rosenthal, Hennigsdorf PF Bohemia, Karlsbad

Zu diesen Betrieben gehörten folgende Nebenbetriebe Möbelfabrik Rosenthal Holzabteilung, Marktredwitz Maschinenfabrik, Marktredwitz Holzwollefabrik, Marktredwitz Buntdruckanstalt, Selb Maschinenfabrik, Selb Elektrische Prüfstation, Selb Schlosserei und Klempnerei, Waldenburg Schreinerei, Waldenburg Buntdruckanstalt, Waldenburg Rohkaolinlager b. Halle

Beteiligt war der Konzern an der Steatit-Magnesia AG und der Fa. Mikro-Metallwaren, Johann Labien & Rosenthal & Co. AG, Dresden

282 PAUL, G. 1925, S.14f.

354

Der Konzern beschäftigte 5.500 Arbeiter und 700 Angestellte; die Zahl der Öfen betrug 63 Normalöfen, 17 Spezialöfen und 4 Tunnelöfen, deren Leistungsfähigkeit ungefähr der von 40 Normalöfen entsprach. Zu dieser Zeit besaß nur der Kahla-Konzern eine größere Produktionskraft mit 10.000 Arbeitern und Angestellten und 140 Öfen. Die Beschäftigten bzw. Öfen des Rosenthalkonzerns verteilten sich auf die einzelnen Werke wie folgt:

Tab.71: Beschäftigte und Ofentypen im Rosenthalkonzern 283 Werke Arbeiter Angestellte Normalöfen Spezialöfen Selb 1.400 260 - Geschirrabtlg. 10 4 Schmelzmuffeln, 2 Kobaltöfen - Kunstabtlg. 2 große, 1 kleiner 2 Kunstmuffeln - Abteilung E 9 Selb-Plössberg 480 60 - Geschirrabtlg. 3 2 kleine Öfen - Abteilung E 3 Kronach 340 40 3 Marktredwitz 900 110 6 2 Schmelzmuffeln - Abteilung C 2 1 kleiner chemischer Ofen Waldenburg 1.100 90 4 1 Calcinierofen, 2 Schmelzmuffeln Hennigsdorf 600 60 4 4 Tunnelöfen Karlsbad 450 50 4

1936 wurde die Interessengemeinschaft zwischen der Rosenthal AG und der A.E.G. umgewandelt in die Rosenthal-Isolatoren GmbH, kurz RIG, an der beide Unternehmen mit jeweils 50% beteiligt waren.

Die 1903 gegründete PF F.Thomas & Co. in Marktredwitz wurde 1908 der Rosenthal AG angeschlossen und 1917 wurde dort mit der Produktion von Isolatoren begonnen. In der Zeit von Mitte 1917 bis Ende 1921 wurden ca. 400 t Isolatoren an die Oberpostdirektion Erfurt geliefert, im Jahre 1920 ca. 185 t Isolatoren für Stauwerke in der Schweiz. An die 1921 von Selb nach Marktredwitz in die PF F.Thomas & Co. verlegte Abteilung für chemisch- technische Porzellane wurde ein wissenschaftliches Laboratorium mit zwei Abteilungen angegliedert.

Die erste Abteilung, das Untersuchungslaboratorium, beschäftigte sich vorwiegend mit chemischen Analysen von Porzellanmasse; die Aufgaben des betriebstechnischen Laboratoriums lagen hingegen bei der Herstellung neuer Versätze, dem Testen neuer Brandverfahren und keramischer Farben sowie in der Kontrolle der laufenden Produktion. Die

283 Aus: PAUL, G. 1925, S.21.

355

Zahl der Beschäftigten der PF F. Thomas & Co. stieg von 1908 bis 1928 um ca. 150% von 385 auf 961; die Zahl der Brände konnte mehr als verdoppelt werden (1910: 194, 1927: 409).284

Die Rosenthal AG produzierte in ihren Werken Selb, Abt. E, Selb-Plössberg und Hennigsdorf bedarfsabhängig sowohl Hoch- als auch Niederspannungsporzellan, im Marktredwitzer Werk wurden in der Abt. C Laboratoriumsgeräte fabriziert. Insofern war die Rosenthal AG ein 'parallelisiertes' Unternehmen, da eine große Menge unterschiedlicher Waren der gleichen Produktionsstufe hergestellt wurde.

9.3 Kronacher Porzellanfabrik

Im Jahre 1913 durch STOCKHARDT und SCHMIDT-ECKERT gegründet, wurde die Fertigung der Kronacher Porzellanfabrik für elektrotechnisches Porzellan eingerichtet. Die Gesamtanlage bestand aus Fabrikationsgebäuden, Brennhaus mit zwei Brennöfen, Masselager, Masseaufbereitung, Dampfmaschine und Bürogebäude. 1914 wurde die Hammermühle zugekauft, die beiden Wasserräder durch eine Turbine ausgetauscht und ein Kleinelektrizitätswerk mit einer Leistung von 100 PS angeschlossen. Im gleichen Jahr wurde eine neue Massemühle gebaut und das Brennhaus um drei Rundöfen erweitert. 1916 wurde die Fabrik durch ein Industriegleis direkt an die Eisenbahn angeschlossen, außerdem wurde eine eigene Matrizenschlosserei errichtet. Die 1917 aufgekaufte Wahrenburgsche PF wurde mit ihren bestehenden zwei Rundöfen und einem 1920 neuerbauten Ofen wurde ebenfalls für die Produktion von Elektroporzellan eingerichtet. Im Jahre 1918 begann man mit der Herstellung von Hochspannungsisolatoren und baute ein Prüffeld bis 200 kV. Die 1920 erfolgte Gründung der Bayern Porzellan diente der Herstellung und dem Vertrieb von Installationsmaterial.

284 Vgl. STEPHAN, C. 1933, S.106.

356

9.4 Die Laufer Speckstein- und Steatitindustrie

Im Jahre 1904 gründete O. SEMBACH, der bis dahin in der Fa. Jean Stadelmann in Nürnberg beschäftigt gewesen war, eine eigene Firma in Lauf, die sich mit dem Trockenpressen von Steatit in Stahlmatrizen zur Produktion von elektrotechnischen Isolationen befaßte. Vorausgegangen waren Versuche SEMBACHs, bei der Fa. Stadelmann die Steatitfertigung zu verbessern. Dabei zeigte sich, daß eine eigentlich mißlungene, weil zu weit abgetrocknete Masse sich gut verpressen ließ, womit eine neue Verarbeitungs- und Formgebungstechnik, das Tockenpressen, gefunden wurde. Die von SEMBACH gegründete Fabrik, die Speckstein- Steatit-Ges. m.b.H.,285 bestand zunächst aus einem 16 m langen und 8 m breiten, einstöckigen Gebäude mit einem Brennofen von 0,5 m3 Fassungsvermögen, der täglich einmal gebrannt wurde. Bereits ein Jahr später wurde ein zweiter Ofen mit 1,3 m3 Brennraum errichtet und die Fabrikationsräume wurden erweitert.

Der Teilhaber P. MOLZBERGER schied 1907 aus und gründete mit B. DÖBRICH die Fa. Döbrich & Molzberger.286 Doch schon 1910 wurde dieses Unternehmen aufgelöst und DÖBRICH verkaufte seinen Geschäftsanteil an C. SCHÄTZ, der 1911 die "Fabrik keramisch- elektrotechnischer Bedarfsartikel Schätz & Co." gründete. 1912 verkaufte SCHÄTZ seine Geschäftsanteile an BERNSTIL, der zusammen mit RAVENE die Fa. Ravenè und Bernstil gründete. Trotz aller Bemühungen arbeitete das Unternehmen unrentabel, so daß es während des Ersten Weltkrieges stillgelegt und später von dar Fa. Stadelmann & Co. übernommen wurde.

DÖBRICH gründete zusammen mit W. HECKEL die Fa. Döbrich & Heckel. Der 1907 anstelle von MOLZBERGER in die Speckstein-Steatit Ges. eingetretene B. PASCHOLD verließ bereits 1909 die Firma wieder und gründete in Ansbach eine eigene Fabrik. Sein Nachfolger G. STETTNER verließ 1923 die Firma und gründete mit A. BÜTTNER in Lauf die vierte Produktionsstätte für Steatit, die Fa. Stettner & Co.287 BÜTTNER hatte ein Jahr zuvor die Bayerische Elektrozubehör GmbH (Bezeg) gegründet, die elektrisches

285 Vgl. StA Lauf, HGI/1135. 286 SCHÜLLER gibt DÖBRICH und MOLZBERGERs Ehefrau als Gründer an. Vgl. SCHÜLLER, K.-H. 1991, S.18. 287 Da die Erzeugnisse der Bezeg unter der Bezeichnung ABL (Albert Büttner, Lauf) vertrieben wurden, wurde die neue Firma nach G. STETTNER benannt.

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Installationsmaterial produzierte.288 Er beabsichtigte mit der Schaffung einer eigenen Steatitfabrik, den Bedarf der Bezeg an keramischen Isolierteilen zu sichern.

Die Fa. Speckstein-Steatit Ges. m.b.H. errichtete 1907 ein neues Brennhaus und einen neuen Rundofen mit 7 m3 Inhalt; 1912 wurden ein neuer Preßsaal, ein Bürohau und ein Kesselhaus gebaut. In diesem befand sich eine Dampflokomobile mit einer Leistung von 14 PS, die den gesamten in der Fabrik benötigten Licht- und Kraftstrom erzeugte. Die Zahl der beschäftigten Frauen über 16 Jahren lag 1912 bei 25, außerdem waren noch 6 Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren sowie 2 Kinder unter 14 Jahren im Betrieb tätig. "Das Hilfsdienstgesetz vom Dezember 1916 führte zu einer Eingliederung einer größeren Zahl von Frauen in den Arbeitsprozeß, und ihr Anteil an der Belegschaft wuchs beträchtlich." 289

1917 wurde erneut ein größeres Brennhaus mit einem Brennofen von 15 m3 errichtet, hinzu kamen Erweiterungen der Schlosserei, der Masseaufbereitungsanlage und diverser anderer Abteilungen. Der Kauf eines angrenzenden, 1,6 ha großen Grundstückes ermöglichte die Vergrößerung des Betriebsgeländes und damit die weitere Ausdehnung der Betriebsstätten. In den Nachkriegsjahren mußte die Produktion wg. Kohlenmangel zeitweise eingestellt werden. In den späten zwanziger Jahren wurden die bis dahin gebräuchlichen Handpressen durch automatische Pressen ersetzt und 1927 übernahm ein 40 PS-Dieselmotor die Aufgaben der Lokomobile, die von diesem Zeitpunkt an nur noch als Dampfquelle für die Zentralheizung diente. 1936 wurde die Firma in eine Kommanditgesellschaft mit dem Namen Sembach & Co. KG, vorm. Speckstein-Steatit-Ges.m.b.H. umgewandelt.

9.5 PF Julius Hering & Sohn, Köppelsdorf

1890 durch KATZKY und KOCH gegründet und in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Köppelsdorf erbaut, lag die Fabrik nach dem Anschluß der Bahnlinie Sonneberg-Lauscha verkehrsmäßig ausgesprochen günstig. Die Produktion wurde 1892 mit Niederspannungsporzellan und Puppenköpfen begonnen. Nach dem Ausscheiden von KATZKY firmierte die Fabrik unter dem Namen Koch & Weithase KG Köppelsdorf und

288 Die Bezeg war maßgeblich an der Entwicklung des Schuko- (Schutzkontakt-) Systems beteiligt, für das sie 1925 ein Patent erhielt. 289 SCHÜLLER, K.-H. 1991, S.21.

358 besaß i.J. 1900 eine Belegschaft von 100 Arbeitern und Angestellten. Unter der Leitung von HERING, der 1902, von der PF Ilmenau kommend, in die Fabrik eingetreten war, wurde die Produktion auf Gebrauchsporzellan, das vorwiegend für den Export bestimmt war und unter dem Namen "Thüringer Artikel"290 bekannt wurde, ausgedehnt. Nach dem Ausscheiden WEITHASEs 1908 trat HERINGs Sohn Fritz in die Firma ein, die fortan den Namen Julius Hering & Sohn, Köppelsdorf trug. Nach einem Totalschaden durch Brand i.J. 1911 wurde das Werk unverzüglich wieder aufgebaut und die jährliche Kapazität Rundöfen auf 8.200 m3 bedeutend erhöht. Während bis 1930 der größte Teil der Produktion ins Ausland ging, wurde nach der Weltwirtschaftskrise das Inlandsgeschäft gesteigert. In 5 kohlebeheizten Rundöfen wurde neben der Herstellung von Hoch- und Niederspannungsporzellan auch weiterhin Gebrauchsgeschirr produziert.

9.6 Porzellanfabrik Kloster Veilsdorf

1760 von PRINZ Fr. W. EUGEN von SACHSEN-HILDBURGHAUSEN gegründet, stellte die PF Kloster Veilsdorf zunächst hauptsächlich Kunst- und Ziergegenstände aus Porzellan her. Die Standortwahl war auch in Veilsdorf abhängig von den in unmittelbarer Nähe gelegenen Lagerstätten der Rohstoffe: Porzellanerde in Pfersdorf bei Hildburghausen,291 Quarzsand in Sophienthal südlich von Hildburghausen, Ton in Ummerstadt. Mit der Übernahme der Fabrik durch die Söhne von Gotthelf GREINER i.J. 1797 wurde die Produktion auf Geschirrporzellan und Pfeifenköpfe reduziert, deren Absatz, da sie den Bedürfnissen großer Teile der Bevölkerung entsprachen, garantiert war. Den in den folgenden Jahren häufigen Besitzerwechsel beendete 1884 die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft.

Bereits 1863 wurde die Produktion mit dem Eintritt E.A. HEUBACHs als Mitbesitzer grundlegend verändert und auf 'technische Artikel' wie Knöpfe, Schilder, Rosetten und Flaschenverschlüsse bzw. Zubehörteile für die Spielwarenindustrie wie Puppenköpfe und Badekinder umgestellt. Dabei ließ HEUBACH unverkäufliche Lagerbestände, die sich z.T. schon seit Jahrzehnten angesammelt hatten, vernichten, um auf diese Weise Lagerraum für

290 Vgl. S. 132. 291 Die Kaolinlager bei Steinheid wurden erst von GREINER für die Porzellanproduktion abgebaut.

359 die neue Produktion zu schaffen.292 Die Produktionssteigerungen der folgenden Jahre waren v.a. auf den Beitrag der Heimarbeiter zurückzuführen, deren Zahl ca. 1.000 bis 1.200 betrug. Hierbei handelte es sich um Kleinbauern mit geringem Haus- und Grundbesitz, die aus existentiellen Gründen gezwungen waren, einem Nebenerwerb nachzugehen. Hausindustrielle Produzenten, die bereits für die Spielwarenindustrie als Schnitzer, Drechsler oder Näherinnen beschäftigt gewesen waren, begannen nun, in Heimarbeit für die sich entwickelnde Porzellanindustrie zu produzieren. Aus diesem Personenkreis rekrutierte sich auch der Nachwuchs für die Porzellanfabrik.293

Die zum Zeitpunkt der Umstellung der Produktion auf 'technisches Porzellan' bekannten Formgebungsverfahren Drehen und Gießen erbrachten nicht die für die Herstellung von Massenartikeln nötige Produktivität; hinzu kam, daß sich das Drücken der plastischen Masse in Matrizen schwierig gestaltete. Durch die nachfolgende Erkenntnis, daß sich die Masse nicht nur im plastischen, sondern auch im lufttrockenen und anschließend pulverisierten Zustand verarbeiten ließ und durch die Entdeckung NEIDNICHTs, der der Masse Öl zusetzte, so daß diese sich leichter aus der Form herausnehmen ließ sowie durch den Umbau einer Kartoffelpresse zu einer Porzellanpresse,294 wurde ein neues Formgebungsverfahren (Trockenpressen) entwickelt. Dieses erst ermöglichte eine Produktivitätssteigerung bei technischen und elektrotechnischen Porzellanen.

Die Produktionsumstellung erforderte umfangreiche Investitionen und damit größere Kapitalmengen. Da die Besitzer diese nicht kurzfristig aufbringen konnten, wurde die PF Kloster Veilsdorf 1884 unter Beteiligung der Strupp`schen Bank Meiningen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die in der Folgezeit getätigten Investitionen, insbesondere die räumliche Aufgliederung der Produktion, brachten zwar neue logistische Aufgaben hinsichtlich des organisatorischen Ablaufs mit sich, doch dienten sie dazu, die Mehrzahl der bisher in Heimarbeit tätigen Arbeiter nun in der Fabrik zu beschäftigen und somit billige Arbeitskräfte zu erhalten. Die Investitionen im einzelnen: Errichtung von Faktoreien in Schloß Weitersroda 1884 – 1887 und Heubach 1896. Errichtung von Pressereien in den Dörfern Schwarzenbrunn, Sachsendorf, Waldau und

292 Vgl. i.e. VERSHOFEN, W. 1940: Figurine und Fadenführer. 180 Jahre Porzellanfabrik zu Kloster Veilsdorf. Bamberg. 293 Vgl. hierzu STIEDA, W. 1902, S.98. 294 Vgl. S.197.

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Merbelsrod 1910 – 1915.295 Bau einer Spezialfabrik für Preßporzellan in Brattendorf 1892. Übernahme der Fabrik Schuster & Co. 1905 (Werk II). Eingliederung der Fabrik Schönau & Müller, Eisfeld 1906 (Werk IV). In diesem Betrieb wurde ab 1907 Hochspannungsporzellan produziert. Aufkauf der Geschirrfabrik C. Liebmann, Schney 1923. 1929 Übernahme der PF Gebr. Kühnlenz, Kronach. Übernahme der PF Hentschel & Müller, Meuselwitz 1929.

All diese ökonomischen Entscheidungen dienten dem Zweck, der Pionierrolle bei der Produktion technischen und elektrotechnischen Porzellans gerecht zu werden, zumal sich mit der Ausweitung des Strupp-Konzerns296 weitere bedeutende Betriebe diesem Produktionszweig zuwandten. Die betriebswirtschaftliche Strategie zur Erreichung dieses Zieles bestand in der Anpassung an veränderte Marktbedürfnisse, der Erweiterung der Kapazitäten und der Konzentration durch Aufkauf von Konkurrenzbetrieben. Die damit verbundenen steigenden Produktionsvolumina vor dem Ersten Weltkrieg korrelierten mit einer wachsenden Beschäftigtenzahl, die auf 1.520 anstieg.

Die Kriegsjahre 1914-1918 führten zur fast völligen Verdrängung deutscher Industrieprodukte auf dem Weltmarkt. Nach dem Krieg verschlechterten sich die Exportmöglichkeiten durch Ausfuhrbeschränkungen sowie Versorgungsengpässe bei Roh- und Brennstoffen. Als unmittelbare Kriegsfolge waren in einigen Ländern, die, wie bspw. die Vereinigten Staaten, vor dem Krieg bedeutende Abnehmer technischer Porzellane gewesen waren, moderne Fabriken entstanden, die sich ausschließlich mit der Produktion dieser Porzellane beschäftigten. Die dadurch entstandene Konkurrenz auf dem europäischen Markt sowie die Schutzzollpolitik diverser Staaten hatten Absatzeinbußen und sinkende Preise zur Folge. Daß die PF Kloster Veilsdorf dennoch relativ günstig abschnitt, läßt sich an der Zahl der Beschäftigten ablesen, die mit 1.300 fast wieder das Vorkriegsniveau erreichte.297

Die oben aufgeführten Aufkäufe von Porzellanfabriken nach 1923 belegen, daß die Betriebsleitung trotz zeitweiligen Auftragmangels, Teilstillegungen und Kurzarbeit in den

295 Vgl. hierzu: GAUß, R. et al. 1986. 296 Vgl. S.257f. 297 Vgl. GREINER-ADAM, R. 1996, S.516f.

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Jahren 1923 bis 1925 mit Umsatzsteigerungen rechnete. Die Wirtschaftskrise der Jahre 1929/30 führte jedoch zu Massenarbeitslosigkeit und immensen Umsatzrückgängen,298 so daß es zur Stillegung und schließlich Veräußerung der kurz zuvor erworbenen Porzellanfabriken Schney, Kronach und Meuselwitz sowie zur vollständigen Schließung der Filiale Brattendorf kam.

Die nachfolgende Übersicht stellt exemplarisch für alle Porzellanfabriken die Investitionen, Neu-, Um- und Anbauten, Erweiterungen sowie Innovationen in den Werken der PF Kloster Veilsdorf im Zeitraum 1890 bis 1933 dar:

Tab.72: Investitionen in den Werken der PF Kloster Veilsdorf 1890-1933299 Werk I Hauptwerk 1898 Einbau Dampfmaschinenanlage 1897 Inbetriebnahme Dampfheizung Massemühle 1898 Wiederaufbau hinteres Brennhaus Apr. 1900 Bau eines Güterschuppens 1900 Bau von zwei Kohlenschuppen Apr. 1901 Anbau Schmelze Febr. 1905 Neubau Kontor Juli 1906 Anbau an Lager 1 Apr. 1907 Ausbau Kontor Mai 1907 Neubau Münzbau 22.12.1909 Fertigstellung Neubau vorderes Brennhaus 1.6.1910 Fertigstellung Abortanlage 1911 Aufbau Brennhaus 3: 2 Öfen mit überschlagender Flamme 1912 Baubeginn Pferdestall; Koksschacht für Dampfheizung; Einbau Schreibzimmer 1913 Fertigstellung Pferdestall; Aufstockung Massemühle; Bau Aufseherkontor Brennhaus 3; Bau von Waschhaus, Lager und Gifthütte Okt. 1919 Umstellung von Ofen 4 auf Holzfeuerung Okt. 1920 Bau Maschinenraum Dez. 1921 Umbau Telefonanlage; Bau neuer Abortanlage; Wasserpumpenstation 24.2.1922 Anlage eines Weges hinter Massemühle 22.5.1922 Anlage eines Weges hinter Stanzerei 1922 Neubau Verwaltungsgebäude; Einbau von Autohallen 25.02.1923 Einbau von zwei neuen Sumpfgruben in der Schamottemühle Apr. 1923 Fertigstellung Umgehungsstraße; Umzäunung des gesamten Fabrikgeländes 23.4.1923 Einrichtung eines Werkzeuglagers in der Dreherei Okt. 1923 Stahlbau bei der Massemühle; Kauf von 3 Paar Pferdegeschirren März 1925 Abbruch Ofen 6 (18 m3); Neubau Ofen mit 46 m3 Rauminhalt Nov. 1925 Aufstellung Niederdruck-Dampfheizungskessel für Kapseltrockenraum 4.2.1926 Einbau einer Masseknetmaschine mit Reduktionsgetriebe in Dreherei 6.3.1926 Anschluß an elektrisches Leitungsnetz 23.3.1926 Inbetriebnahme Wärmeabsauger für Brennhaus 5.6.1926 Weißlager durch Brand zerstört: Ersatzweise dreistöckiger Anbau an Brennhaus 1 23.7.1926 Modellager abgebrannt: Neubau

298 So sank 1931 der Gesamtumsatz gegenüber dem Krisenjahr 1930 um weitere 23,3%. In den folgenden Jahren arbeitete die PF Kloster Veilsdorf mit hohen Verlusten und konnte ihren Betrieb nur durch Aufnahme von Anleihen aufrecht erhalten. 299 Aus: GREINER-ADAM, R. 1990, Anl.7 (Auszug).

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Nov. 1926 Abriß Brennofen 5; Neubau Ofen mit 55 m3 Volumen 4.2.1928 Pferdestall und Scheune abgebrannt 26.1.1929 Verkauf der Pferde 18.5.1929 Kauf neuer Pferde 28.12.1930 Ausbau der Sortiererei 24.4.1933 Inbetriebnahme neue Schleiferei Werk II Veilsdorf 30.12.1905 Übernahme des Betriebes Schuster & Co. Apr. 1906 Ausbau und Erweiterung der Stanzerei 29.6.1907 Neubau Ölkeller 1911 Kleine Schuppen an Kontor und Packerei angebaut 14.2.1912 Brennhaus abgebrannt 1915 Neubau Brennhaus Juli 1922 Umbau Ofen 13 1922 Erweiterung der Niederdruck-Dampfheizanlage 1.2.1924 Eibau Lastenaufzug 28.12.1932 Inbetriebnahme Isolith-Massemühle Werk III Brattendorf 21.11.1892 Fertigstellung der Filiale Brattendorf Mai 1896 Bau einer Schmelze 1897 Bau Massemühle 15.9.1897 Fertigstellung Hochdruckwasserleitung 1900 Elektrische Lichtanlage 1906 Bau von Stanzerei und Arbeiterheim 18.2.1908 Brand Massemühle; Bau Brennhausvorbau 1913 Wasserbassin an der Mühle 1914 Umsiedlung der Dreherei von Eisfeld Apr. 1915 Vollständige Übernahme der Eisfelder Fabrikation Apr. 1919 Umbau Trockenraum Okt. 1920 Einrichtung eines Lohnbüros Dez. 1921 Umbau Telefonanlage 1921 Neubau Schlosserei; Einrichtung eines Baderaumes 1923 Fertigstellung Holzschuppen 31.08.1924 Stillegung des Betriebes Nov. 1924 Wiedereröffnung des Betriebes; Einbau Dampfheizung in Autohalle Dez. 1924 Umbau Ofen 1 Nov. 1926 Vergrößerung Bürogebäude; Umbau und Erweiterung des Doppelwalzwerkes für Kapselscherben 26.9.1927 Einrichtung der Schamottesteinfabrikation 27.4.1932 Vollständige Stillegung des Betriebes Werk IV Eisfeld 18.10.1906 Aufkauf des Betriebes Schöntu & Müller, Eisfeld 1.11.1906 Übernahme des Betriebes Nov. 1906 Anbau Schamottemühle 1907 Bau Massemahlgang und Materialschuppen März 1908 Einrichtung Dreherei Apr. 1908 Anbau Massemühle Okt. 1908 Inbetriebnahme der Anschlußgleise Juli 1909 Ankauf Lagerschuppen Löhlefink Okt. 1909 Fertigstellung neuer Zufahrtsweg Nov. 1909 Fertigstellung Schlossereianbau 13.12.1909 Abnahme der Hochspannungsprüfstation 1.6.1910 Fertigstellung Ölkeller 1.8.1910 Änderung der Transmission für Schlosserei und Dreherei; Neubau Sortierlager; Fertigstellung Massekeller und Masseschlagraum 1.10.1910 Fertigstellung Kohlenlagerschuppen und Baderaum 1911 Vergrößerung von Dreherei und Schlosserei 1912 Erweiterung Massemühle; Brennhausanbau für Dreherei 1913 Bau von Matrizenlager, Kontor und Übergang

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Okt. 1916 Vermietung der Fabrikräume an das Kriegsamt; Einlagerung von 6.000 m2 Stockholz als Ersatz für Kohlen Sept. 1917 Beschlagnahme von Trafos, Elektromaschinen und Treibriemen 27.8.1918 Kündigung der vermieteten Räume Nov. 1921 Wiederaufnahme des Betriebes mit zehn Stanzern Juni 1922 Beginn Neubau Prüffelder und Verwaltungsräume 1922 Abriß alter Lagerschuppen; Verlegung des alten Prüfraumes zum neuen Prüffeld Mai 1923 Einbau eines gebrauchten Dampfkessels 1923 Neubau Lagergebäude mit Anschluß an das Verwaltungsgebäude; Erweiterung Schamotteanlage; Neubau eines dreigeschossigen Brennhauses für 2 Öfen á 65m3 Aug. 1925 Einbau einer Entstaubungsanlage in Schamotterie Dez. 1925 Umbau der alten Schamotterie zur Vergrößerung der Massemühle Sept. 1926 Einbau Trockenkammer für Feuchttrocknung; Einbau Trockenanlage in Schamotterie 26.9.1927 Fertigstellung der neuen Massemischanlage 28.12.1927 Anschaffung einer neuen elektromechanisch-hydraulischen Zugmaschine 19.8.1930 Erste Versuche mit einer automatischen Presse

9.7 PF Ernst Heubach, Köppelsdorf

1887 von E. HEUBACH in Köppelsdorf gegründet, fertigten in dieser Porzellanfabrik zunächst 30 männliche und 20 weibliche Beschäftigte Biskuit-Puppenköpfe für die Spielwarenindustrie. Der ursprüngliche Bau von 30 m Länge und 12 m Breite wurde bereits 1890 um 18 m verlängert und es wurden zwei weitere Brennöfen errichtet. 1892 richtete man in diesem Anbau eine Dreherei mit 10 Drehspindeln und Schubscheiben ein und begann mit der Produktion von elektrotechnischen Bedarfsartikeln wie Niederspannungsisolatoren, Tüllen und Einführungspfeifen. Dem zurückgehenden Bedarf an Puppenköpfen300 und –gliedern stand eine wachsende Nachfrage von Hoch- und Niederspannungsporzellan gegenüber, die weitere Anbauten in den Jahren 1896, 1904 und 1907 erforderlich machte. Die PF Ernst Heubach, Köppelsdorf nahm im folgenden als spezielle Fertigungszweige die Produktion von Hartporzellanwalzen für Mühlen und Verdrängungskörpern für Elektrokessel auf. Die hierbei gesammelten Erfahrungen bei der Herstellung großer Körper301 erleichterten die Produktionsaufnahme von Geräteisolatoren größerer Abmessung, die den schon bestehenden hohen Produktionsanteil an Freileitungsisolatoren ergänzte. In den Jahren 1922 bis 1932 wurde das Werk stetig erweitert, insbesondere, nachdem sich die PF Ernst Heubach mit der PF Armand Marseille im Jahre 1919 zusammengeschlossen hatte. Die neue Fabrik

300 Die Produktion von Puppenköpfen aus Porzellan wurde durch die Einführung leichteren und unzerbrechlichen Zelluloid-Puppenkopfes stark beeinträchtigt, da die Produktivität bei diesen wesentlich größer und die gewichtsabhängigen Zollkosten bedeutend geringer waren. Vgl. KRÖCKEL, O. 1996, S.4. 301 Die Verdrängungskörper besaßen bei einer Höhe von 1.800 mm einen Durchmesser von 600 mm.

364 firmierte unter dem Namen Vereinigte Köppelsdorfer Porzellanfabriken, Armand Marseille und Ernst Heubach Köppelsdorf, wurde jedoch bereits 1932 wieder aufgelöst. Die ursprüngliche PF Ernst Heubach behielt den Namen bei und firmierte weiter als Vereinigte Köppelsdorfer Porzellanfabriken , vorm. A. Marseille und E. Heubach. Durch die Lizenzproduktion von Motorisolatoren302 der Firma Motor-Columbus Schweiz und die Übernahme der Lizenz für Langstabisolatoren von der Firma BBC eröffneten sich dem Unternehmen in der Folgezeit neue Absatzmärkte.

9.8 PF Armand Marseille GmbH, Neuhaus-Schierschnitz

Der hohe Bedarf an Puppenköpfen sowie der Anstieg der ausländischen Nachfrage veranlaßten 1904 A. MARSEILLE eine Porzellanfabrik zur Herstellung von Porzellan- Puppenköpfen. in Neuhaus-Schierschnitz als Zweigwerk seines Köppelsdorfer Betriebes zu errichten. Ausschlaggebend waren dabei die verkehrsmäßige Anbindung durch die Strecke Sonneberg-Neuhaus-Schierschnitz-Stockheim, der Möglichkeit des Grunderwerbs, die Aussicht auf billige Arbeitskräfte, das Sandvorkommen in der 'Biene'303 und der Holzreichtum des Neuhäuser Gebietes. Die Produktion begann 1906, "... doch nur wenige Jahre dauerte die Fertigung von Puppenköpfen an. Eine allgemeine Wirtschaftskrise und einschneidende Veränderungen im Zollwesen, wonach die Porzellanartikel nicht mehr nach Stück, sondern nach Gewicht verzollt werden mußten, zwangen Marseille zu einem Wechsel in der Produktion." 304

Diese Produktionsumstellung wurde relativ schnell vollzogen und es wurden zunächst Fernmelde-305 und Niederspannungsisolatoren306 hergestellt. Der neue Produktionszweig erforderte neue und höhere Qualitätsparameter bzgl. Dichte des Scherbens, Durchschlagfestigkeit, Einhaltung entsprechender Toleranzen und geeigneter Glasuren. Da somit an die gesamte keramische Technologie höhere Anforderungen gestellt wurden, war man mit Erfolg in Oberfranken, Ostthüringen, der Niederlausitz und Teltow Frei- und Großdreher an. Die ersten Großkörper konnten in Folge an die Hauptabnehmer A.E.G.,

302 Typen VK 60, VK75 und VK 95. 303 Vermutlich leitet sich der Name von "Pinge" ab: Erdvertiefung, die durch den Zusammenbruch alter Stollen entstanden ist 304 Autorenkollektiv 1965: 650 Jahre Neuhaus-Schierschnitz. Sonneberg. Zit. nach DKG-Fachausschußbericht 1991, S.166. 305 Typen RM I (Reichsmodell), RM II und RM III. 306 Typen N 80 und N 95.

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Berlin, Voigt und Haffner, Frankfurt/Main und Siemens-Schuckert-Werke, Berlin ausgeliefert werden. Infolge der guten Auftragslage entstanden in den Jahren 1911/12 die Ofenhäuser V-VIII mit vier weiteren Rundöfen, die Beschäftigtenzahl stieg auf 500. Damit wurde das Zweigwerk in Neuhaus-Schierschnitz größer und bedeutender als das Stammwerk in Köppelsdorf. Dennoch wurde der Betrieb 1913 an die Siemens-Schuckert-Werke, Berlin verkauft und firmierte danach unter Porzellanfabrik Neuhaus vorm. A. Marseille GmbH Neuhaus-Schierschnitz. Die Zahl der Brände betrug durchschnittlich 350 pro Jahr, wobei nur 4,5% Ausschuß anfiel. Über die Zahl der Beschäftigten gibt die nachfolgende Tabelle Auskunft.

Tab.73: Beschäftigte der PF Neuhaus 1917 307 Büropersonal Männlich Weiblich Summe Erwachsene Jugendliche Beamte 9 -- 3 12 Hilfsbeamte ------Hilfsangestellte 1 -- 1 2 Lehrlinge, kaufm. 1 -- -- 1 Summe 11 -- 4 15 Arbeiter Dreher 40 16 -- 56 Stanzer 10 16 22 48 Gießer ------Verputzer -- 4 48 52 Glasierer -- 6 26 32 Brennhaus- u. 32 6 28 66 Glühofenarbeiter Massemüller 5 -- -- 5 Kapseldreher u. 6----6 Plattenmacher Schamottemüller ------Packer 3 3 12 18 Formgießer u. 2----2 Formträger Schlosser 3 2 -- 5 Maschinisten 1 -- -- 1 Tischler 2 -- -- 2 Betriebsarbeiter 8 -- 4 12 Diverse 6 -- 2 8 Heimarbeiter 1 -- 10 11 Summe 119 53 152 324

Insgesamt 130 53 156 339

In den Jahren 1919 bis 1923 wurden die Großkörper-Rundöfen IX und X gebaut, wodurch den neuen Entwicklungen beim Brand von Großkörpern Rechnung getragen wurde. Die Zahl

307 Quelle: Statistik der Porzellan-Fabrik Neuhaus pro Monat Oktober 1917 (Privatarchiv d.Verf.).

366 der Beschäftigten stieg gegenüber der Vorkriegszeit auf 700; damit stellte die Porzellanfabrik Neuhaus den größten Arbeitgeber des Landkreises Sonneberg dar. Zwar wurden die betrieblichen Aufgaben vom Berliner Stammhaus vorgeschrieben, doch blieb die Porzellanfabrik bis 1925 ein eigenständiger Betrieb. Produziert wurden im Freidrehverfahren Stützisolatoren und Schalterporzellane sowie Kappen für Freileitungen und Wandler. Nachfolgende Aus- und Umbauten308 sowie die Entwicklung von Spezialmassen aus Steatit und Mullit dienten der Ausweitung der Produktion von Isolations- und Installationsmaterial, die Beschäftigtenzahl stieg auf 1.110; während der Weltwirtschaftskrise309 fiel sie auf 250.

9.9 PF Mengersgereuth-Hämmern

1909 durch CRAEMER gegründet, mußte die PF Mengersgereuth-Hämmern (bei Sonneberg) bereits 1913 wieder geschlossen werden. 1915 wurde sie von G. LIEBERMANN übernommen, der zunächst Puppenköpfe fabrizieren ließ; dessen Sohn stellte die Produktion auf technisches Porzellan, hauptsächlich Trafodurchführungen für Hochspannung und chemisches-technisches Porzellan wie Schalen, Mörser, Becher u.v.m. um. Neben der Dreherei besaß die "Meng-Hämmer", wie sie im Volksmund genannt wurde, auch eine Gießerei und eine Stanzerei und beschäftigte ca. 200 Personen.310

9.10 PF Beutelsdorf

1828 in Beutelsdorf/Kreis Rudolstadt gegründet, erlebte die PF Beutelsdorf eine wechselvolle Geschichte, in der größtenteils Pfeifenköpfe, Tassen sowie figürliche Porzellane und Puppenteile hergestellt wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg firmierte die Fabrik ab 1919 unter dem Namen Altenburgische Porzellanfabrik elektrotechnischer Artikel und produzierte Sicherungen, Lampenfassungen, Schalter und Verteilerdosen.311 Infolge des im Jahre 1922

308 So wurde z.B. 1926 das Gebäude des ehemaligen Walzwerkes von J. MEYER in das Werk integriert. 309 Als Kuriosum sei erwähnt, daß während der Inflation Neuhäuser Notgeld in verschiedenen Scheinen mit dem Symbol eines Freileitungsisolators ausgegeben wurde. 310 Vgl. KRÖCKEL, O. 1997, S.8. 311 Hierzu LANGE, P. 1981/82, S.224.

367 vorgenommenen Eigentümerwechsels wurde die Fabrik in Thüringer Porzellan Industrie G.m.b.H. umbenannt;312 1925 wurde die Beutelsdorfer Porzellanfabrik ganz geschlossen. Verschiedene Versuche, die Porzellanfabrik danach wieder in Betrieb zu setzen, scheiterten. Die Tatsache, daß sich die PF Beutelsdorf, die nur über einen einzigen Brennofen verfügte, in unmittelbarer Nähe des großen Kahlaer Konzernbetriebes überhaupt so lange halten konnte, erklärte sich aus der fehlenden Industrialisierung im „Hexengrund“ bzw. der mangelnden Verkehrsanbindung Beutelsdorfs. Nur so war es möglich, Minimallöhne zu zahlen, ohne daß die Arbeiter abwanderten. Auch nach der Elektrifizierung des Kreises Rudolstadt und trotz des darauf folgenden Einsatzes einiger Stanzen und Pressen war es dem bis dahin schon wenig rentablen Betrieb nicht möglich, von der weitgehend manufakturellen Produktion abzugehen. Da die weiterhin benötigten erheblichen Investitionsmittel fehlten und seitens der bestehenden Konkurrenzbetriebe kein Interesse am Erhalt der veralteten Fabrik bestand, wurde die Produktion schließlich ganz stillgelegt.

9.11 PF Hüttensteinach

Die 1817 gegründete, aus einem Hammer- und Hüttenwerk hervorgegangene Porzellanfabrik Hüttensteinach bestand als erste Porzellanfabrik des Steinachtals zunächst nur bis 1830. Nach der Neugründung 1864 firmierte die Fabrik unter Gebr. Schoenau und produzierte mit 50 Arbeitern und einem Ofen.313 Als eine der ersten Fabriken erhielt die Firma einen eigenen Gleisanschluß an die 1886 eröffnete Bahnlinie nach Lauscha. Die Produktion umfaßte ab diesem Zeitpunkt neben Gebrauchsporzellan auch technische Porzellane für die aufkommende Elektrotechnik, so daß sich die Produktionskapazität bei einer Erweiterung auf 9 Öfen innerhalb von 25 Jahren verdreifachte.

312 Industrie-Bedarfs-Adressbuch für die Keram-, Glas- und Email-Industrie, Jg. 1922. 313 Vgl. KRÖCKEL, O. 1994 b, S.7.

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9.12 Porzellan-Industrie-Gesellschaft Berghaus, Auma

Nachdem sich im thüringischen Auma bereits die PF Oberländer & Krüger (gegr. 1908) angesiedelt hatte, gründete der aus böhmischen PF Merkelsgrün kommende R. BERGHAUS am 15. April 1909 die Porzellan-Industrie-Gesellschaft Berghaus, Auma.314 Die neue Fabrik wurde nach den Erfahrungen BERGHAUS` aus seiner Merkelsgrüner Zeit mit für die damalige Zeit modernster Technologie ausgerüstet, um das Produktionsprogramm – Elektroporzellan, insbesondere Hoch- und Niederspannungsisolatoren – optimal durchführen zu können: Ein Brennhaus mit vier Rundöfen von insgesamt 247 m3 Brennraum, Gebäude mit Massemühle, Presserei und Trockenkammern, Maschinen- und Kesselhaus, Verwaltungsgebäude, Gebäude für Lager und Transport, Hochspannungsversuchsfeld für 250.000 Volt. Infolge der wirtschaftlich guten Entwicklung konnte im August 1911 die benachbarte PF Auma G.m.b.H. (vorm. PF Oberländer & Krüger) gepachtet werden.

Um notwendige Investitionen tätigen zu können, wurde die Fabrik am 4. September 1911 in die Porzellan-Industrie-Aktiengesellschaft Berghaus, Auma i.Thür. umgewandelt, deren Aktienkapital 600.000 M betrug, ausgegeben zu 600 Aktien á 1.000 M. Gute Absätze insbesondere an Reichspost und –bahn erforderten 1911 die Erweiterung des Betriebes um ein neues Brennhaus mit 3 Rundöfen von 236 m3 Rauminhalt. Am 1. Oktober 1914 wurde die bis dahin gepachtete PF Auma, die Gleisanschluß an die Bahnstrecke Triptis-Ziegenrück- Lobenstein hatte, gekauft (späteres Werk II). Zu dieser Zeit waren im Werk ca. 300 Personen beschäftigt, deren Fluktuation allerdings sehr hoch war. Um hier Abhilfe zu schaffen, waren bereits 1911 über 100 junge Mädchen und Frauen vorwiegend aus Böhmen, Schlesien und der Tschechoslowakei, eingestellt worden, die im Mädchenheim für Fabrikarbeiterinnen untergebracht wurden.

Mit Beginn der zwanziger Jahre übernahm O. BRUNNQUELL, der Inhaber einer Fabrik für elektrotechnische Apparate und Beleuchtungen in Sondershausen, die Aktienmehrheit des Unternehmens (95%). Durch diese Verbindung mit der Elektroindustrie wurde das Sortiment um Pressporzellane erweitert, die in großen Serien für Lampenfassungen und Schaltersockel produziert und als Zulieferteile zur Komplettierung nach Sondershausen gebracht wurden. Zum benachbarten Werk Ronneberger & Fischer, das "Matrizen und Pressen für

314 Vgl. hierzu KERBE, F. et al.. 2000: 90 Jahre Technische Keramik aus Auma. In: cfi, 77.Jg., H.8, S.34ff.

369 elektrotechnische Isolationskörper und andere Teile aus keramischen Massen"315 herstellte und als Ausrüster elektrotechnischer Porzellanfabriken am Markt auftrat, bestanden enge wirtschaftliche Beziehungen.

In den dreißiger Jahren war die Exportquote mit 25% relativ hoch; exportiert wurden hauptsächlich nach Belgien, Bulgarien, Finnland, Holland, Indien, Jugoslawien, Norwegen, Rumänien, Schweiz, Türkei, Ungarn und Uruguay. Die Stärke der Belegschaft schwankte in Abhängigkeit von der gesamtwirtschaftlichen und betrieblichen Lage und betrug im Durchschnitt 400 Abeiter, zum Ende der Weltwirtschaftskrise 1932 allerdings nur noch 153 Beschäftigte. Das Produktions- und Lieferprogramm umfaßte zu dieser Zeit: - Niederspannung-Freileitungsisolatoren: Reichsmodelle, R.T.J.-Isolatoren, Krücken-, Schäkel-, Rillenisolatoren - Hochspannungs-Stützenisolatoren: Delta-, Weitschirm-, Kappen-, Vollkern- und Stabisolatoren - Abspann-, Radio- und Antennen-Abspannisolatoren - Innenraumstützer und –durchführungen - Freiluftdurchführungen - Installations- und Einführungsmaterial - Weichenmarkierungszeichen - Porzellanleuchten - Pendelaufzüge - Zentralzüge und Zugpendel für elektrische Leuchten nach eigenem Patent316

23 Zentralzüge und Zugpendel für Elektroleuchten317

315 Werbeprospekt von 1935. Zit. nach KERBE, F. et al.. 2000, S.35. 316 D.R.P. Nr. 614 114 von 1935. 317 Aus: KERBE, F. et al.. 2000, S.35.

370

9.13 Hermsdorf-Schomburg-Isolatoren GmbH (Hescho)

Die Ursprünge der Hescho gehen auf Bestrebungen des Strupp-Konzerns zurück, ein Unternehmen zu schaffen, das innerhalb der Kahla AG die Interessen auf dem Geschirr- und Isolatorensektor vereinigen sollte. Die Porzellanindustrie in Kahla, die 1844 von Christian ECHHARDT durch den Umbau eines Farbenwerkes zu einer Massemühle mit einem Brennofen begann, entwickelte sich rasch, insbesondere, nachdem das Bankhaus Strupp 1888 durch Emission von Aktien dabei half, das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Die weitere Entwicklung wurde bereits ausführlich dargestellt,318 so daß an dieser Stelle der Hinweis genügen soll, daß über 80% der elektrotechnisches Porzellan produzierenden Betriebe dem Kahla- bzw. Strupp-Konzern angehörten.

9.14 PF H. Schomburg & Söhne

Die Bedeutung der PF Schomburg begründet eine breitere Darstellung des Werdegangs dieser Porzellanfabrik. Gegründet wurde die PF i.J. 1853 in Berlin; 1877 bzw. 1898 entstanden Zweigwerke in Margarethenhütte/Sachsen und Roßlau/Anhalt.

Stammwerk Berlin-Moabit Das Berliner Werk geriet schon bald nach der Gründung in Solvenzschwierigkeiten und konnte seine Gläubiger nicht mehr bedienen; es wurde daher unter 'gerichtliche Administration' gestellt.319 Während in den ersten Jahren nach der Gründung hauptsächlich Porzellanartikel für Apotheken bzw. medizinische Zwecke produziert wurden, begann man 1866 mit der Herstellung von technischem Porzellan, insbesondere Isoliermaterial für die Elektrotechnik. Die ersten Telegrafen- und Telefonisolatoren wurden neben der KPM Berlin vom Berliner Stammwerk320 der PF Schomburg geliefert.321

318 Vgl. S.63ff. u. S.257f. 319 Vgl. SPÄTH, H.: Die Leistungen der Porzellanmanufaktur Schomburg – eine Firmengeschichte. In: Heimatmuseum Tiergarten 1996, S.38-61. 320 Da sich in Reichweite der PF Schomburg die KPM, die Fabrik Ernst March Söhne und das Labor SEGERs (Kruppstraße) befanden, kann man die Gegend westlich des Tiergartens als die „klassische Quadratmeile der Technischen Keramik“ bezeichnen. 321 Vgl. dazu AB, Anl.61.1-3 Entwicklung der Telegrafen-Isolatoren und Isolatortypen.

371

Die ernüchternden Erfahrungen mit unzureichend isolierten unterirdischen Telegrafenleitungen hatten dazu geführt, daß ab etwa 1852 die zahlreichen neu entstehenden Leitungen in Deutschland oberirdisch verlegt wurden. Die hierdurch sowie durch den Krimkrieg (1853-1856) bedingte steigende Nachfrage nach Porzellanisolatoren wurde zunächst fast ausschließlich von der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) und der Königlichen Gesundheitsgeschirr-Manufaktur (GGM, 1866 aufgelöst) befriedigt. Die Besonderheiten dieses Marktes - relativ große Aufträge gleichförmiger Artikel, kurze Lieferfristen, beschränkter Kundenkreis322 – verlangten eine gewisse Erfahrung bei der Massenproduktion der Artikel. Die am Rande des Konkurses stehende PF Schomburg schien mithin alles andere als prädestiniert, in diesen Markt vorzudringen. Trotzdem gelang es, v.a. durch Aufträge aus dem Hause Siemens, sich diesen neuen Geschäftszweig zu erschließen und sowohl im Inland wie im Ausland bedeutende Absatzerfolge zu erzielen. Die Fertigung von Telegrafenisolatoren wurde in den Jahren 1866 bis 1871 weiter ausgebaut, wobei die PF Schomburg besonders in den Kriegsjahren 1870/71 ihr Renommee bei den deutschen Eisenbahn- und Staats-Telegraphen-Behörden durch schnelle Lieferung von Kriegs- Telegrafen steigern konnte. Der erste Vertrag zwischen der PF Schomburg und dem größten inländischen Abnehmer von Porzellanisolatoren, der Königlichen Telegraphen-Direktion Preußens, datiert 23.5.1866 und umfaßte die Lieferung von 50.000 Doppelglocken in wöchentlichen Chargen von 2.500 Isolatoren zu einem Preis von 7 Silbergroschen pro Stück. Anschlußaufträge folgten, so daß die PF Schomburg ernsthafte – und vorläufig einzige323 - Konkurrentin der KPM wurde.

Anfang 1872 wird die Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die unter dem Namen Actiengesellschaft für Telegraphen-Bedarf, vorm. Hermann Schomburg firmiert und deren Grundkapital 400.000 Taler beträgt.324 Kurze Zeit später werden als Zweigniederlassung die Ton- und Braunkohlenwerke Margarethenhütte in Großdubrau bei Bautzen erworben. Das konjunkturelle Hoch der Gründerjahre – bei Schomburg durch steigenden Absatz von Elektroporzellan gekennzeichnet – bedingte eine steigende Nachfrage nach Arbeitskraft. Dies wiederum veranlaßte die Arbeiter, Erhöhungen der Akkordlöhne zu fordern. Durch gemeinsame Absprachen versuchten die Berliner Porzellanbetriebe – KPM, Schumann,

322 Staatstelegrafenbehörden sowie Eisenbahnen des In- und Auslands. 323 Bis dato war nur ein einziger Auftrag nicht von der KPM bzw. der GGM ausgeführt worden: 1858 erhielt die PF Schumann einen Auftrag über 14.000 Stück. 324 Vgl. ZELLMANN, H.-J. 2003, S.25.

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Schomburg und Schmidt – diese Forderungen abzuwehren, wie nachfolgende Äußerungen H. SCHOMBURGs aus Briefen an den Direktor der KPM, MÖLLER, belegen: 4.3.1872: "Die von den Arbeitern geforderten 25% Lohnerhöhung sind allseitig abgelehnt worden, dagegen haben wir unser Personal aufgefordert, diejenigen Artikel, bei welchen ihnen eine Aufbesserung der Preise325 wünschenswert wäre, zu bezeichnen, indem neben die alten Löhne die Mehrforderung gesetzt würde, wobei es sich speciel um solche Arbeiten handelt, deren Preise nach ihrer Ansicht gedrückt wären. Unser Vorgehen hat die Billigung der übrigen Fabriken erhalten, welche eine ähnliche Aufforderung an ihre Arbeiter erlassen werden, um ... eine einheitliche Festsetzung der Lohnpreise möglichst sämtlicher hiesiger Fabriken zu vereinbaren, welche indessen 10% nicht übersteigen soll." 16.3.1872: "Wir haben inzwischen eine Einigung in der Weise vollzogen, daß wir unseren Drehern auf Sanitätsgeschirr und Isolatoren ca. 10% zulegten, womit sie sich zufrieden erklärten; ... Die Schumannsche Fabrik hat ihren Drehern ... zu Neujahr bereits 5% zugelegt und noch ferner 5% p. 1.Juli versprochen. Dagegen haben deren Kapseldreher und Maler bereits seit Beginn des Jahres 10% mehr erhalten." 326

In der Folgezeit kam es wg. der bevorstehenden Verstaatlichung der deutschen Bahnen zu einem Rückgang der Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen der Privatbahnen. Da diese jedoch einen bedeutenden Teil der Nachfrage ausmachten und die Reichstelegrafenverwaltung als weiterer Großkunde Schomburgs ab 1876 mit dem Bau eines unterirdischen Telegrafennetzes begann, waren Umsatzeinbußen bei der Isolatorenfertigung die Folge. Hinzu kam, daß die stattlichen Auftraggeber gezielt Aufträge an andere Porzellanfabriken327 erteilten, um durch die so entstandene Konkurrenz die Preise zu drücken. So erhielt die PF Haas & Czizek in Schlaggenwald bei Karlsbad 1877 einen Auftrag über die Lieferung von ca. 25.000 Doppelglocken und bei der PF Joseph Schachtel in Sophienau wurden 1878 ca. 23.000 Doppelglocken in Auftrag gegeben. Die garantierte Mindestabnahmemenge der Reichstelegrafenverwaltung bei Schomburg halbierte sich innerhalb von 2 Jahren von ca. 120.000 Isolatoren i.J. 1875 auf 60.124 i.J. 1877. Für jeweils 100 Isolatoren RM I, die an die Oberpostdirektion Aachen geliefert wurden, erhielt die Firma zu Beginn des Jahres 1877 noch 77 RM, Ende 1877 nur noch 68 RM.328 Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten führten 1879 zur Liquidation der Aktiengesellschaft; die Firma konnte jedoch – im Gegensatz zur Berliner Porzellan-Manufaktur (ehemals PF Schumann), die 1880 geschlossen wurde – unter dem Namen H.Schomburg & Söhne fortgeführt werden.

325 Gemeint sind hier die Löhne. 326 Zit. nach SPÄTH, H. 1996, S.44 327 PF Schachtel, in Sophienau, PF Richter in Charlottenburg, PF Tielsch in Altwasser, PF Ludloff in Moabit, PF Kahla in Hermsdorf. 328 Vgl. SPÄTH, H. 1996, S.45.

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In den folgenden Jahren konzentrierten sich die ökonomischen Aktivitäten einerseits wieder mehr auf die Keramik als dem eigentlichen Kerngeschäft, andererseits war man bemüht, durch Aufkauf diverser Firmen anderer Industriesparten flexibler auf Nachfrageschwankungen reagieren zu können. So besaß die PF Schomburg 1876–1883 eine Hanfspinnerei und Seilerwaaren-Fabrik Schöna in Sachsen und produzierte 1880–1883 Porzellanmühlsteine für Müllereibetriebe. Zwar konnten die von der Hanfspinnerei gefertigten Filtertücher aus Hanfgarn für Filterpressen verwendet werden, doch war diesem Geschäftszweig wie auch der Mühlsteinproduktion kein Erfolg beschieden. Hingegen war die Erzeugung von Gasretorten relativ krisenunabhängig, da diese als Verschleißartikel von den Gasanstalten ständig nachgefragt wurden. Auch der Bau von Feuerungsanlagen wie die 1893 vorgestellte `Halbgasfeuerung´ Schomburgs,329 die eine bessere Brennstoffverwertung und eine für den Porzellanbrand günstige "lange Flamme" durch den Einsatz eines schrägen Rostes330 ermöglichen sollte sowie die Herstellung von Schamottesteinen und feuerfesten Auskleidungen von Öfen und Heizanlagen gehörten zum Produktionsprogramm. Die Halbgasfeuerung Schomburg´schen Typs konnte sich kaum am Markt durchsetzen, da es nicht gelang, die zum Porzellanbrand nötige reduzierende Atmosphäre zu schaffen. Auch das 1889 von der AG für Monierbauten (G.A. WAYß) entwickelte System unterirdischer Leitungskanäle für elektrischen Strom, das aus "kastenförmige(n) Monierkanäle(n) aus Eisenbeton, in denen blanke Kupfer-Stromschienen auf Schomburg-Isolatoren montiert waren" 331 bestand, erwies sich als völliger Fehlschlag. 1893 begann man bei Schomburg mit der Produktion von hochfeuerfesten Chromitsteinen nach einem Patent des Laboratoriums für die Thonindustrie (SEGER-Labor).

Alle diese Bemühungen auf den verschiedensten Produktionsgebieten zeugten von einer großen Unsicherheit über die zukünftige Entwicklungen des Marktes und konnten dennoch die Stagnation des Betriebes nicht aufhalten, der 1883 nur noch 100 Arbeiter beschäftigte.332 Zwar machte die Herstellung von Isolatoren nach wie vor den bedeutendsten und

329 Vgl. Sprechsaal 1893, 26.Jg., S.314f. 330 Vgl. S.230. 331 SPÄTH, H. 1996, S.51. 332 Zahlenangabe bezieht sich ausschließlich auf das Berliner Stammwerk. Vgl. Adreßbuch der Keramischen Industrie 1883. Coburg. S.114.

374 umsatzstärksten Teil der Schomburg´schen Produktion aus,333 doch war die Produktpalette der 1880er Jahre ebenso umfangreich wie unterschiedlich: Isolatoren, Apothekergeschirr, Schamottewaren und –heizöfen, Gasretorten, Kaffeekannen, Aschenbecher, Tintenfässer, Seilerwaren, Mühlsteine, Mineralienhandel, Ruß- und Funkenfänger, Feuerungsanlagen.

Erst zu Beginn der neunziger Jahre begann für die PF Schomburg ein wirtschaftlicher Aufschwung, da die erste deutsche Hochspannungsanlage Lauffen-Frankfurt (1891) erfolgreich334 mit Schomburg-Isolatoren ausgerüstet wurde. "Für das Frankfurter Projekt stellte sich nun die Frage, wer die ca. 10.000 Isolatoren liefern sollte. ... Schließlich erhielt Schomburg den mit erheblichem Renommee verbundenen Auftrag; damals eine der leistungsstärksten Firmen der Isolatorenbranche, die nicht nur über reichliche Erfahrung mit Telegrafen-Glocken verfügte, sondern auch schon früher für Johnson & Philipps 335 Ölisolatoren 336 gefertigt hatte." 337

Nach diesem Erfolg wurden in den Werken Berlin und Margarethenhütte zunehmend Hochspannungsisolatoren, vorwiegend vom Typ Deltaglocke, produziert. Die zunehmende Elektrifizierung und der damit verbundene steigende Bedarf an Isolatoren führten auch zu einer Zunahme bei den Arbeitskräften: 1896 beschäftigte Schomburg ca. 300 Arbeiter, davon 120 in Margarethenhütte.338 Die Produktion des Berliner Stammwerkes wurde sukzessive bis 1903 wg. der dort bestehenden Standortnachteile (Rohstofferne, Grundstückskosten, Lohnniveau) nach Roßlau in die ehemalige Steingutfabrik Steinbrecht verlagert; die Firma wurde in den beiden bisherigen Filialen Margarethenhütte und Roßlau weitergeführt und 1897 erneut in eine Aktiengesellschaft umgewandelt: Aktiengesellschaft H. Schomburg & Söhne. „Die Eröffnungsbilanz von 1897 umfaßt Aktiva und Passiva im Wert von 1.649.294,85 M. Der Wert der drei Produktionsstätten wird für Berlin mit 308.747,22 M, für die Margarethenhütte Großdubrau

333 Die PF Schomburg war weiterhin regelmäßiger Lieferant der Reichstelegrafenverwaltung sowie von etwa 20 (von 40 bestehenden) Oberpostdirektionen. Im Jahre 1887 bspw. belief sich die Jahresproduktion an Isolatoren auf 300.000 Stück. Die KPM, Berlin und die PF C. Tielsch, Altwasser/Schles. waren in den 1880er Jahren die Hauptkonkurrenten des Unternehmens. 334 Nach damaligen Standards legte man besonderen Wert auf Oberflächenisolation und schrieb daher Ölisolatoren mit drei Ölrinnen vor. Zwar konnte wegen der Kompliziertheit der Fertigung sowie der Kürze der Lieferzeiten nur ein Drittel der bestellten Isolatoren mit den geforderten drei Ölrinnen produziert werden, doch da insgesamt der Nachweis, elektrische Energie über große Entfernungen verlustarm zu transportieren, mithilfe der Schomburg-Isolatoren gelang, konnte dies als großer Geschäftserfolg gewertet werden. Vgl. ZELLMANN, H.-J. 2003, S.27 335 Vgl. S.188. 336 Vgl. WEICKER, W. 1931, S.63f. Da es kaum gelang, die bis dato größten Isolatoren in einem Stück zu brennen (80% Ausschuß), ging man dazu über, diese aus zwei ineienandergekitteten Stücken herzustellen. Auch konnte wg. Zeitdruck nicht die gesamte Strecke mit dem größeren Isolatortyp ausgerüstet werden, weswegen man eine Teilstrecke mit dem einfacheren Modell der Fa. Johnson & Philipps betrieb. Von allen gelieferten Isolatoren versagte nur ein einziger wg. Fabrikationsmängel. Vgl. hierzu auch: Die Isolatoren der Lauffener Kraftübertragung. In: Hescho-Mitteilungen 1931, H.59/60, S.52f. 337 SPÄTH, H. 1996, S.25. 338 Vgl. Adreßbuch der Keramischen Industrie 1896. S.209f.

375 mit 595.413,16 M und Roßlau mit 95.631,79 M angegeben. Typische Erzeugnisse der damaligen Zeit waren: Ölisolatoren, Postisolatoren, Deltaglocken und Niederspannungsisolatoren.“339

Tab.74: Isolatorenlieferungen an die staatliche Telegraphenverwaltung 1879-1897 340 KPM Schomburg Schachtel Andere Berlin Moabit Sophienau Manufakturen 1879/80 35.846 31,7% 50.536 44,6% 26.798 23,7% -- -- 1880/81 15.968 32,7% 18.972 38,9% 13.891 28,4% -- -- 1881/82 9.811 32,9% 10.085 33,8& 9.924 33,3% -- -- 1882/83 13.952 28,9% 25.706 53,2% 8.679 17,9% -- -- 1883/84 52.964 45,7% 44.832 38,7% 18.098 15,6% -- -- 1884/85 56.182 49,9% 56.333 50,1% ------1885/86 71.102 53,9% 60.758 46,1% ------1886/87 85.730 54,9% 70.406 45,1% ------1887/88 79.595 47,2% 89.212 52,8% ------1888/89 100.917 48,0% 109.235 52,0% ------1889/90 210.312 51,4% 198.773 48,6% ------1891/92 229.717 56,9% 173.917 43,1% ------1892/93 230.130 33,5% 273.985 39,9% 182.668 26,6% -- -- 1893/94 225.286 29,2% 439.990 57,0% -- -- 106.190 13,8% 1894/95 215.000 31,6% -- -- 34.800 5,1% 430.272 63,3% 1895/96 134.870 32,1% 246.350 58,6& 5.750 1,4% 33.350 7,9% 1896/97 184.115 30,5% 209.160 34,6% 32.450 5,4% 178.246 29,5%

Um die Jahrhundertwende belieferte die PF Schomburg Kunden in aller Welt mit unterschiedlichsten Artikeln der Elektroisolation. Die Debitorenliste mit offenen Kundenrechnungen umfaßte allein im Betrieb Roßlau 250 Kunden, unter ihnen Großkonzerne wie Siemens und A.E.G.341 Da die Normierung von Elektroartikeln noch nicht besonders fortgeschritten war, ließ sich jeder Kunde Artikel nach eigenen Maßen fertigen. Dies führte dazu, daß die Musterlisten immer umfangreicher wurden und bspw. ein Katalog der lieferbaren Niederspannungsisolatoren aus dem Jahre 1903 200 Positionen auf 104 Seiten aufführte.342 Das 1910 gebildete Isolatorensyndikat343 gab für die PF Schomburg die Umsatzquote für Hochspannungs-Freileitungsisolatoren mit 22% vor, doch fiel dieser Anteil, nachdem sich weitere Firmen dem Syndikat angeschlossen hatten, bis 1913 auf 3,77%. Zur Jahreswende 1912/13 wurde der offizielle Firmensitz nach Margarethenhütte verlegt.

339 ZELLMANN, H.-J. 2003, S.27. 340 Aus: SIEBENEICKER, A. 1996, S.68. (Die drei gelieferten Isolatortypen RM I, II und III wurden jeweils in einer Summe zusammengefaßt; wg. unvollständiger Angaben blieb das Haushaltsjahr 1890/91 unberücksichtigt). 341 Vgl. Thür. HSTA, PF Kahla, Bdl.315, B14. 342 Vgl. Thür. HSTA, Hescho 148. 343 Vereinigte Hochspannungsisolatoren-Werke. Vgl. S.217ff.

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24 Firmenwerbung der PF Schomburg 1843 bis 1900344

344 Links von oben nach unten: 1843, 1860, 1868, 1876, 1893. Aus: Heimatmuseum Tiergarten 1996, S.55. Rechts: ca. 1900. Aus: TRIDELTA AG 1991, S.4.

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In das Jahr1912 fiel ein Streik der Porzellandreher, der von der PF Teltow ausgegangen war. Dort versuchte die Betriebsleitung in persona H. SCHOMBURG, der seit 1904 diese Fabrik unabhängig von der Aktiengesellschaft betrieben hatte, die durch fehlgeschlagene Versuche mit der Herstellung von Kunstporzellan entstandenen Verluste durch Einsparungen bei den Arbeitslöhnen zu kompensieren. Es kam zu Lohnauseinandersetzungen, in deren Verlauf Vertrauensleute des Porzellanarbeiterverbandes durch die Betriebsleitung gemaßregelt wurden, woraufhin die Dreher, die ihren 'Marktwert' kannten, in den Streik traten;345 die übrige Belegschaft war daran nicht beteiligt. Als die Betriebe in Roßlau und Margarethenhütte begannen, für Teltow Streikarbeit zu liefern bzw. Streikbrecher anzuwerben, traten die Dreher dieser Fabriken ebenfalls in den Ausstand. Auch andere Betriebe der Elektrokeramik wurden, nachdem sie sich durch Übernahme von Schomburg- Aufträgen in den Arbeitskampf eingemischt hatten, bestreikt: "An die Kollegen in der Isolatorenbranche! Folgende Betriebe sind wegen Lieferung von Waren an beziehungsweise für die bestreikten Betriebe von Schomburg in Teltow,Roßlau und Margarethenhütte gesperrt: Arzberg, Auvera Freiberg i.S., Akt.-Ges. Hermsdorf, Akt.-Ges. Hüttengrund, Rauschert Kronach, Kühnlenz Meuselwitz, Hentschel & Müller Selb, Rosenthal & Co. In diesen Betrieben ... haben die Kollegen die Kündigung bereits eingereicht. ... Wir erwarten, daß unsere Mitglieder sich nirgends durch Drohungen, Kündigungen oder Entlassungen ins Bockshorn jagen lassen, dem Verbandsbureau von allen Vorkommnissen sofort und ausführliche Mitteilung machen und dann die Stellungnahme des Vorstandes in aller Ruhe abwarten." 346

Die drohende Ausweitung des Streiks auf die Geschirrporzellanindustrie konnte zwar durch eine Vereinbarung zwischen Gewerkschaften und Unternehmern verhindert werden,347 der Streik selbst ging jedoch erst nach 42 Wochen mit einer Niederlage für die Arbeiter, die tw. in andere Branchen oder Gegenden abgewandert waren, zu Ende. Die Beherrschung des Herstellungsprozesses von Porzellan, die nüchterne Kalkulation mit Produktionsfaktoren, die gelungene Organisation der Arbeitsabläufe ... ermöglichte es der Firma überhaupt erst, die Gunst der Stunde ... zu nutzen. 348 ... Telegrafenisolatoren, Laborgeschirr, Schamottesteine und Gasretorten in bewährten, kaum noch zu verbessernden Formen, mit gleichbleibender Qualität und in hoher Stückzahl zu produzieren, dabei die beim Porzellanbrennen unvermeidlich hohe Ausschußrate in erträglichen, d.h. gewinnbringenden Grenzen zu halten ... dies war die Basis ihres Erfolges." 349

345 Vgl. Die Ameise vom 2.2.1912. 346 Ebd. 347 Vgl. Die Ameise vom 29.3.1912. 348 Gemeint ist hier der durch die Elektrifizierung sprunghaft gestiegene Bedarf an keramischem Isolationsmaterial aller Art. 349 SPÄTH, H. 1996, S.53.

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PF Margarethenhütte Um die Jahrhundertwende umfaßte das Zweigwerk in Margarethenhütte eine Dampfmaschine mit einer Leistung von 100 PS, drei liegende Ziegelmaschinen mit doppeltem Walzwerk, einen Kollergang, einen Steinbrecher mit Walzwerk, eine Kugelmühle, ein Nocken-Walzwerk für eingesumpftes Rohmaterial, drei Tonrohrpressen, drei Filterpressen, eine Glasurtrommel, eine Masseknetmaschine. Das Drehen der Isolatoren geschah mittels Drehscheiben, die sowohl maschinell als auch per Fuß angetrieben wurden; Schamottesteine wurden auf Kniehebelpressen per Hand gepreßt und Kleinteile wurden mit Handpressen gestanzt. Mit eigener Braunkohle sowie schlesischer Steinkohle wurden die Öfen befeuert. Produziert wurden neben Schamottesteinen und Tonröhren alle Arten von Elektroporzellan sowie Aschenbecher und Tintenfässer.350 Während des Ersten Weltkrieges produzierte das Werk Margarethenhütte wöchentlich bis zu 30.000 Telegrafenisolatoren.

1922 waren im Werk Margarethenhütte 8 Rundöfen, 1 Gaskammerofen und 2 gasbefeuerte Tunnelöfen mit jeweils 80 m Länge in Betrieb, wobei zur Gaserzeugung 2 Generatoren für Braunkohlenvergasung zur Verfügung standen. Die Leistung der gesamten Anlage entsprach 30 Rundöfen mit 1.800 m3 Volumen. In den Jahren 1914 bis 1921 wurden in der PF Margarethenhütte ein neuer Typ Hängeisolator, der Kugelkopf-Isolator und ein neuer Typ Stützisolator, der Weitschirm-Isolator351 entwickelt und erfolgreich auf den Markt gebracht. Die dortige Fabrik war auf die Massenfabrikation von Hängeisolatoren eingerichtet, von denen monatlich etwa 50.000 Stück hergestellt wurden.352 Außerdem stellte man in Großdubrau fest, daß die Deltaglocke noch nicht die günstigste Form des Freileitungs- Stützen-Isolators darstellte: „Betrachtet man eine Deltaglocke, die unter einer Spannung nahe der Überschlagsspannung steht, so bemerkt man zwischen den Schirmen ein starkes Glimmen und ziemlich lebhafte Gleitfunken. Dies zeigt, daß an dieser Stelle die Luftschicht überbeansprucht ist. Aus dieser Beobachtung heraus werden Versuche gemacht, diese Erscheinung zu beseitigen. Nachdem man durch diese Versuche die tatsächliche Feldform festgestellt hatte, konnte man daran gehen, den Isolator dieser Feldform anzupassen, und zwar in der Art, daß die Porzellanflächen entweder parallel oder senkrecht zu den Feldlinien verlaufen. ... Durch diese Anordnung werden die Gleitfunken vermieden. Die Schirmabstände werden an der Einsatzstelle möglichst weit gewählt, wodurch ein großer Luftzwischenraum geschaffen wird und die Luft an dieser Stelle selbst bei hoher Spannung nicht überbeansprucht und dadurch ein Glimmen vermieden wird.“353

350 Vgl. ZELLMANN, H.-J. 1996: Zur Geschichte der Margarethenhütte – älteste elektrotechnische Porzellanfabrik Deutschlands. In: Heimatmuseum Tiergarten, S.101-104. 351 In Anlehnung an den in den USA gebräuchlichen Faradoid-Isolator. 352 Vgl. Forschungsgesellschaft 1922, S.79. 353 Archiv Förderverein „Margarethenhütte“, Isolatorenhandbuch 1923, S.32.

379

PF Roßlau Im Jahre 1900 beschäftigte die PF Roßlau 198 Arbeiter und stellte mit 13,3% der Erwerbstätigen den drittgrößten Arbeitgeber in Roßlau dar. Die enge Verbundenheit der Stadt mit der Porzellanfabrik kam auch darin zum Ausdruck, daß die Fabrik im Volksmund "Porzellbude" und die dort arbeitenden weiblichen Arbeiter "Porzellpuppen"354 genannt wurden. Die Beschäftigtenzahl stieg bis 1925 auf 300 Arbeiter und 20 Angestellte an. In den Jahren 1906/07 und 1911/12 kam es zu Streiks der Porzellanarbeiter, die höhere Löhne forderten. 1911/12 war das Lohngefälle zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern ursächlich für die Arbeitsniederlegungen: Die zunächst ungelernten Roßlauer Arbeiter hatten im Laufe der Zeit die gleiche Leistung und Qualität erreicht wie ihre aus dem Schomburgschen Stammwerk Berlin-Moabit kommenden Kollegen. Während diese wie Facharbeiter entlohnt wurden, erhielten jene nur die Bezahlung von Ungelernten. Die Streiks endeten mit Niederlagen für die Arbeiter, die entlassen wurden und, da die anderen Roßlauer Unternehmer keine Streikenden einstellen wollten, sich an anderen Orten neue Arbeit suchen mußten.

Das Werk Roßlau besaß 7 Rundöfen und produzierte alle Arten von Niederspannungsisolatoren sowie Hochspannungsisolatoren bis 25 kV Betriebsspannung; die Isolatoren für höhere Spannungen wurden in Margarethenhütte hergestellt. Beiden Werken angegliedert waren umfangreiche Prüffelder mit 6 Transformatoren für Spannungen von 100 kV-500 kV. In Margarethenhütte befanden sich zusätzlich noch ein Hochspannungsversuchsfeld für 500 kV sowie eine Freileitungsversuchsstrecke für 300 kV. Beide Fabriken zusammen zählten ca. 1.600 Beschäftigte.

PF Teltow 1904 von R. SCHOMBURG gegründet, bestand diese PF unabhängig neben der PF Schomburg & Söhne und produzierte zunächst Kunstporzellan. Bereits im ersten Jahr warnte der Porzellanarbeiterverband seine Mitglieder vor den dort herrschenden Verhältnissen und verhängte eine Vollsperre über diesen Betrieb.355 1906 wird die PF Teltow auf die Produktion von Isolatoren und chemisch-technischem Porzellan umgestellt. Die Arbeitskämpfe dauern

354 Der Ausdruck bezieht sich wahrscheinlich auf den hohen Anteil junger, unverheirateter Frauen an der Belegschaft. 355 Vgl. Die Ameise vom 23.9.1904.

380 fort, so daß 1910 die Hälfte der Dreher, die wg. der Kürzung ihres Vorschusses streikten, gekündigt wurde.356

1913 waren in Teltow 59 Dreher beschäftigt, davon 44 gelernte, 9 ungelernte und 6 weibliche. Gewerkschaftlich organisiert waren 41 Arbeiter (39 gelernte, 1 ungelernter, 1 weiblicher), außerdem waren 12 Dreher "gelb"357 organisiert. Ungelernte Arbeiter erhielten ¾ des normalen Dreherlohns, weibliche Arbeiter die Hälfte; die Arbeitszeit betrug täglich 9 Stunden bzw. 54 Stunden pro Woche. 358 Die PF Teltow GmbH, wie die Fabrik seit der Umstellung auf Elektroporzellan firmierte, wurde 1929 an die Stemag verkauft.359

10. Zusammenfassung der Ergebnisse

Aufgrund der weiter voranschreitenden innerdeutschen und ausländischen Elektrifizierung und durch die Erschließung neuer Exportmärkte befand sich die Produktion von Keramik zu elektrotechnischen Zwecken in den zwanziger Jahren in ständigem Aufschwung;360 die Produktionsmenge konnte im Zeitraum 1925 bis 1928 von 46.000 t auf 54.000 t, der Produktionswert von 40 Mill. RM auf 54 Mill. RM gesteigert werden.361 Die wichtigsten Produktionszentren von Elektroporzellan lagen in Nordbayern, Thüringen und Schlesien, also in der Nähe wichtiger Rohstoffvorkommen, wo ein seit Generationen geschulter Arbeiterstamm zur Verfügung stand. Dabei entwickelten sich die einzelnen Standortbezirke jedoch durchaus unterschiedlich: Das Wachstum der Gesamtindustrie kam in der Hauptsache den nordbayerischen Standorten zugute, während die thüringischen Porzellanfabriken lediglich den Produktionsumfang der Vorkriegszeit aufrechterhalten konnten und dies auch nur, weil die rückläufige, für den thüringischen Standort typische Produktion von Zier- und Kunstporzellan durch die Produktion von Elektroporzellan ausgeglichen wurde.

356 Vgl. Die Ameise vom 3.6.1910. 357 In Deutschland entstanden seit 1905 nach französischem Vorbild sog. "Gelbe Gewerkschaften", die als wirtschaftsfriedliche Werkvereine Einvernehmen mit den Arbeitgebern anstrebten und deren Anhängerschaft aus ansonsten gewerkschaftlich unorganisierten Arbeitswilligen bestand. 358 Vgl. Die Ameise vom 4.4.1913. 359 Vgl. S.350. 360 S. hierzu AB, Anl.62: Geschäftsverbindungen für Specksteingruben und Elektroporzellan-Fabriken. 361 Vgl. Tab.38.

381

Bemerkenswert erscheint die Tatsache, daß die Porzellanfabriken sich nicht an Standortfaktoren wie Konsumorte und Ausfuhrhäfen orientierten, sondern sich eher in kleineren Orten ansiedelten.

Der Produktionsprozeß erfuhr gegenüber der Vorkriegszeit keine wesentlichen Innovationen, technische Fortschritte wurden v.a. bei der Produktion in Großbetrieben angewandt. So konnte die Aufbereitung der Rohstoffe durch verbesserte Methoden ökonomischer gestaltet, die Herstellung von Niederspannungsporzellan vereinzelt automatisiert und die innerbetrieblichen Transporte rationalisiert werden. Beim Brand wurden die Brennstoffe bzgl. optimaler Wärmeausnutzung ausgewählt und der zur Verfügung stehende Ofenraum besser genutzt. Bedeutende Veränderungen hinsichtlich der Ofentypen bahnten sich insofern an, als sich allmählich der Übergang vom periodischen Rundofen zum kontinuierlichen Tunnelofen vollzog.

Von den Produktionskosten entfielen 25-28% auf Roh- und Hilfsstoffe und 43-58% auf Löhne und Gehälter; damit gehörte die deutsche Keramikindustrie zu den kosten- und lohnintensivsten der gesamten deutschen Fertigindustrie. Beim Elektroporzellan waren die Lohnkosten zwar etwas geringer als beim Haushaltsporzellan, doch mußten hier umso größere Aufwendungen für allgemeine Handlungsunkosten sowie für wissenschaftlich-technische Zwecke (Hochspannungsprüffelder) aufgebracht werden.

Der Absatz von Hochspannungsporzellan war direkt abhängig von der allgemeinen Entwicklung und dem Tempo der Elektrifizierung. Die Fernübertragung hoher Spannungen erforderte zwar eine etwas höhere Anzahl von Isolatoren, doch wurde die Zahl der Leitungen und damit der gewichtsmäßige Anteil der Isolatoren im ganzen verringert. Auch der Übergang zur Kabelverlegung sowie die Konkurrenz durch Surrogate setzten dem Absatz von Hochspannungsporzellan Grenzen. Preise und Verkaufsbedingungen wurden durch ein Kontingentierungskartell (V.H.I.W.) bestimmt, das 95% der deutschen Produktion repräsentierte.

Ebenfalls vom Übergang von der Freileitung zur Kabelverlegung z.B. bei der Reichspost betroffen war die Niederspannungsporzellan produzierende Industrie. Die starke Zersplitterung dieses Industriezweiges, in dem die einzelnen Fabriken Tausende unterschiedlichster Niederspannungsartikel herstellten, stand einer Rationalisierung im Wege.

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Im V.D.E.P., der Zahlungs- und Lieferungsbedingungen regelte, waren ca. 65% der deutschen Niederspannungsporzellan-Industrie organisiert.

Die Weltproduktion an Elektroporzellan war zum Ende der zwanziger Jahre mit 200 Mill. RM zu beziffern; davon entfielen ca. 50% auf die USA, rd. 25% auf Deutschland. In den Welthandel gelangten nur 12% der Weltproduktion im Wert von 25 Mill. RM, davon allein ein Drittel aus Deutschland. Das Hauptgewicht der deutschen Elektroporzellanausfuhr lag beim Hochspannungsporzellan mit einem Gesamtwert von 4,6 Mill. RM, wovon der größte Teil mit 4,2 Mill. RM ins europäische Ausland, besonders nach Rußland, Großbritannien und der Schweiz, exportiert wurde. Vor dem Kriege nahmen die überseeischen Märkte noch 38% des deutschen Exportes auf; diese wurden nach dem Kriege von den USA dominiert. Elektrotechnisches Niederspannungsmaterial ging zu 75% nach europäischen Ländern, in der Hauptsache nach der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Großbritannien und Schweden. Der deutsche Export von Elektroporzellan hing direkt mit der Ausfuhr der elektrotechnischen Industrie zusammen und war von dieser in starkem Maße abhängig.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden zunehmend Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung gegründet, welche die bis dahin vorherrschenden Einzelunternehmungen sukzessive ablösten und bzgl. ihrer ökonomischen Größe und Bedeutung die bestimmende Unternehmensform in der Porzellan- und Keramikindustrie wurden.

Abschließend einige Bemerkungen zur US-amerikanischen Industrie der Technischen Keramik, die nicht nur führend auf dem Weltmarkt war, sondern auch von deutschen Keramikern beeinflußt wurde: „Early manufacturing techniques came to US with Central European and German immigrants who were familiar with European porcelain.“362

Hinzu kommt, daß sich zwischen der Entwicklung der Technischen Keramik in Europa, speziell Deutschland und derjenigen in den USA durchaus Parallelen aufzeigen lassen.

Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in den USA nur zwei Firmen, die Technische Keramik aus Speckstein produzierten: Die 1876 gegründete D. M. Steward Manufacturing Company

362 MILLS, W.S. 1995, p.1.

383 produzierte zunächst Brenner für Gasglühlicht aus Steatit, später Keramikartikel für die Elektrotechnik. Die kurz nach der Jahrhundertwende gegründete Sun Brite Manufacturing Company wurde kurz Zeit später von der Fa. J. Stadelmann & Co., Nürnberg erworben und firmierte fortan unter dem Namen German-American Lava Company. Nach dem Ersten Weltkrieg beteiligte sich die Fa. Moritz Kirchberger & Comp., New York an diesen beiden Unternehmen. KIRCHBERGER hatte als Vertreter der Fa. J. von Schwarz zunächst Gasbrenner, Glaslüster und keramische Ofenteile nach Amerika importiert, bevor er während des Ersten Weltkrieges selbst mit der Produktion von Steatitartikeln begann.

Die Herstellung kleiner Porzellanteile für die Elektrotechnik sowie von Sanitärkeramik begann in den 1880er Jahren im Gebiet um Trenton, New Jersey, in dessen Nähe sich ergiebige Tonlagerstätten fanden. Da im benachbarten West Orange EDISON seine Forschungen auf dem Gebiet der Elektrotechnik anstellte, entwickelte sich dieses Gebiet zum Zentrum für elektrotechnische Porzellanartikel, in dem sich als erste die Unternehmen New Jersey Porcelain, Cook Ceramic, National Porcelain und Star Porcelain gründeten.

Die Star Porcelain Company war 1899 von H. SINCLAIR gegründet worden, um die Abhängigkeit der amerikanischen Industrie von deutschen und englischen Importen elektrotechnischer Porzellane zu verringern. Die Produktion wurde zunächst mit selbstentwickelten und –gebauten Handpressen aufgenommen, später benutzte man Fußpedalpressen und ab 1905 maschinelle Tonpressen. Zum Kundenstamm gehörten die Westinghouse Company, Bryant Electric, Harvey Hubbell Comp. und General Electric. Der firmeneigene Handelsname Lavolain verwies darauf, daß die verwendeten Rohstoffe gewisse Quantitäten an Talk363 bzw. Speckstein (lava oder talc) enthielten. Da der Bedarf an elektrotechnischen Porzellanerzeugnissen während des Ersten Weltkrieges rapide anstieg, sich außerdem mit der Produktion von Zündkerzenisolatoren ein neues Geschäftsfeld eröffnete, wurde 1919 ein zusätzliches Werk in Frenchtown gebaut.

Die ersten Zündkerzenisolatoren waren aus Glimmer oder Glimmer-Glas-Verbindungen hergestellt worden. Da Frankreich nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges keine Zündkerzenisolatoren mehr aus Deutschland beziehen konnte, wurde 1920 mit französischem Kapital in Belleville, New Jersey ein Werk gebaut, dessen Isolantith-Isolatoren jedoch nicht den US-amerikanischen Andalucith-Standard erfüllen konnten, woraufhin die Produktion auf

363 Dieser Rohstoff wird auch als Cordierit oder Semi-Steatit bezeichnet.

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Hochfrequenzkeramik umgestellt wurde. Die Zündkerzenisolatoren aus Frenchtown hingegen bestanden aus Al2O3-Keramik.

Mit Ausnahme der im Tennessee Valley ansässigen Steatitproduzenten lagen die Standorte der Elektrokeramikfabriken in der Nähe ihrer Kunden; an der Ostküste der USA war die Lage der Rohstoffe maßgebend für die Standortwahl. So gründete der deutschstämmige L. A. STOHL 1919 in Sun Prairie die Wisconsin Porcelain Company Inc., die Hochspannungsisolatoren produzierte. Während diese zunächst mittels Handpressen gefertigt wurden, benutzte man ab Mitte der 1920er Jahre automatische Pressen. 1926 erhielt die Firma ein Patent auf das Einfügen eines Gewindes in Porzellansicherungen. Der in Wisconsin verwendete Masseversatz bestand zu einem gewissen Anteil aus Cordierit (Magnesium- Aluminium-Silicat), das wegen seiner hohen Temperaturwechselresistenz und weil es glasiert werden konnte besonders geeignet für Leitungs-, und Geräteisolatoren wie auch für Hochspanungsisolatoren war. Nachdem Hochgeschwindigkeits-Preßtechniken entwickelt worden waren, produzierte die Wisconsin Porcelain Millionen Geräteisolatoren in den verschiedensten Ausführungen wie Rinnen-, Kamm- und Schlangenbuchsen. In den dreißiger Jahren wurde zudem die Produktion von Hochfrequenzkeramiken aufgenommen und ein Patent auf Isolatoren für elektrisch geladene Drahtzäune erworben, deren alleiniger amerikanischer Hersteller die Wisconsin Porcelain war.

Eine weitere Firma wurde von S. STUPAKOFF, einem deutschen Einwanderer aus Hamburg, 1997 in East Pittsburgh, Pennsylvania gegründet. Die Stupakoff Laboratories, - ab 1939 in Latrobe, Pennsylvania als Stupakoff Ceramic and Manufacturing firmierend - die zunächst Maschinen und Geräte für Gießereien, Schmieden und Porzellanfabriken bauten, stellten ihre Produktion kriegsbedingt auf Technische Keramik um. Ab ca. 1915 wurden Schutzröhren für Thermoelemente aus Keramik hergestellt, die bis dahin nur aus Deutschland importiert werden konnten. Hierbei wurden die sogenannten Makkaroni-Pressen so verbessert, daß die Fa. Stupakoff in den 1920er und 1930er Jahren Hauptlieferant keramischer Radioröhren war.

385

VII. PORZELLINER: SOZIALGESCHICHTLICHE EINZELASPEKTE

1. Entwicklung des Tarifvertragswesens

"Die Porzellanarbeiter galten bis ins 19. Jahrhundert hinein geradezu als Künstler. Sie trugen die Künstlerkleidung, Schnallenschuhe und Zylinderhut, und die Dreher und Maler mancher Betriebe genossen sogar das fürstliche Privileg des Degentragens." 1

Durch den Abbau der Bedeutung der menschlichen Muskelkraft im Produktionsprozeß und durch die fortschreitende Arbeitsteilung, die zur Vereinfachung der Arbeitsoperationen führte, stieg die Zahl der niedrigentlohnten weiblichen Arbeitskräfte erheblich an. Mit der beginnenden wissenschaftlichen Erforschung des Fertigungsablaufes und dem Einsatz komplizierter Arbeitsmaschinen wuchsen hingegen die fachlichen Anforderungen und Qualifikationen an einen Teil der Facharbeiter und Meister. Dabei waren die Spezialmaschinen so ausgelegt, daß auf die handwerkliche Geschicklichkeit der Maschinenarbeiter mehr und mehr verzichtet werden konnte. Dies führte dazu, daß eine wachsende Zahl von Arbeitskräften für diese Maschinen lediglich anzulernen war.

Die im Zeitraum 1870 – 1913 erzielte Steigerung der Produktion beruhte nicht nur auf einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität, sondern war hauptsächlich eine Steigerung der Arbeitsintensität. Die zu diesem Zweck von den Unternehmern eingesetzten betrieblichen Mittel waren die Erhöhung der Arbeitsgeschwindigkeiten der arbeitsteiligen Maschinerie, die Mehrfachbedienung von Maschinen, die beginnende Verwissenschaftlichung des Arbeitsprozesses, die verstärkte Anwendung von Lohnanreizen und das betriebliche Strafsystem.

1 HOFFMANN, E. 1916: Der Thüringer Porzellanarbeiter einst und jetzt. In: Die Ameise 1917, 44.Jg., Nr.52.

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1.1 Einzelvertragliche Regelungen und Ansätze zu Kollektivverträgen

Tarifliche Vereinbarungen kollektiver Art waren in der feinkeramischen Industrie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht existent. Ursächlich dafür war das Fehlen legislativer Normen zur Schaffung von Tarifverträgen sowie die mangelhafte Organisierung und fehlende Solidarität der Arbeiterschaft. Um für größere Bezirke geltende Tarifverträge abschließen zu können, mußten die gewerkschaftlichen Organisationen zunächst mitgliederstärker werden, um von Unternehmerseite als Interessenvertretung der Arbeiter wahrgenommen und akzeptiert zu werden. So forderte der Verband der Porzellanarbeiter bereits 1896 tarifvertragliche Regelungen: "... muß aber mindestens an Stelle der einseitigen Feststellung des Lohnsatzes durch den Unternehmer die Lohnvereinbarung treten." 2

In der vortarifvetraglichen Zeit standen Unternehmer und einzelner Arbeiter in einem Vertragsverhältnis, das bei Arbeitsantritt durch den Einzelvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeschlossen wurde. Dieser Vertrag war bis zur Novellierung der Reichsgewerbeordnung (1891), welche die Arbeitsordnung als Vertragsgrundlage aufstellte, an keine Form gebunden.

Ansätze zur kollektiven Regelung der Arbeitsverhältnisse waren dadurch gegeben, daß zunächst einzelne Berufsgruppen wie bspw. Maler oder Dreher mit der jeweiligen Betriebsleitung Verträge abschlossen. Durch den wachsenden Einfluß der gewerkschaftlichen Organisationen, die in einzelnen Fabriken Lohnerhöhungen, Verkürzungen der Arbeitszeit, Abschaffung der "Nebenarbeiten" 3 für Facharbeiter und Lohnzuschläge für "Sonderarbeiten" 4 durchsetzte, entwickelten sich betriebsspezifische Regelungen, die man als 'Firmentarifverträge' bezeichnen könnte. In anderen Betrieben wurden bestimmte Facharbeitergruppen vom Reinigen der Arbeitsräume befreit und - wohl wichtiger - die Anerkennung einer Preiskommission zur Festsetzung der Akkordsätze erreicht:5 "An einzelnen Fabriken gibt es sogenannte Preiskommissionen ... Diese Preiskommissionen fragt der Chef um ihr Einverständnis, wenn es sich um Herabsetzung der Preise für solche Artikel handelt, für die ursprünglich eine höhere Lohnquote zur Auszahlung gelangte, deren Höhe aber fortan nicht mehr beibehalten werden kann, wenn die Annahme des Auftrages bestätigt werden soll." 6

2 APM-DDR IV 7370, S.53. 3 Zu diesen sind Masseschlagen sowie Formen- und Kapselaustragen zu zählen 4 Bspw. Schlacke aus den Brennöfen entfernen. 5 Vgl. APM-DDR PII 778. Protokoll der Generalversammlung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands 1911, S.48ff. 6 WINDORF, H. 1912, S.97.

387

Die weitere Entwicklung zum Flächentarifvertrag führte in der Folgezeit an einigen Orten zum Ortstarifvertrag, der für die thüringische Porzellanindustrie im Gebiet Rudolstadt- Volkstedt nachzuweisen ist. Infolge des hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der dortigen Porzelliner gelang es, für alle im angegeben Raum ansässigen Unternehmen verbindliche Akkordsätze zu vereinbaren. Diese Lohnaufstellungen und -vereinbarungen waren für 9 Rudolstadt-Volkstedter Porzellanfabriken gültig und enthielten unter namentlicher Aufführung der nach Berufen getrennten Arbeiterschaft genaue Angaben über Stunden-, Wochen- und Jahreslöhne.

1.2 Arbeitsordnungen - Fabrikordnungen

Bedingt durch die größer werdenden Fabriken und, damit zusammenhängend, die steigende Zahl der Beschäftigten, wurde es nötig, einheitliche Normen in Form von Arbeitsordnungen zu schaffen. Dabei stellte die Arbeitsordnung im Gegensatz zum Tarifvertrag eine Betriebsvereinbarung dar, die vom einzelnen Betrieb zur Regelung der betrieblichen Arbeitsverhältnisse und zur Aufrechterhaltung der betrieblichen Ordnung erlassen wurde; Vereinbarungen über Löhne waren in den Arbeitsordnungen nicht enthalten. Tarifverträge hingegen regelten die Bedingungen für den Abschluß von Arbeitsverträgen zwischen Arbeitnehmervereinigungen und einzelnen Arbeitgebern oder Arbeitgebervereinigungen durch schriftlichen Vertrag. Bei unterschiedlichen Bestimmungen in Tarifvertrag und Arbeitsordnung galt der Tarifvertrag als stärkere Norm.

Gesetzliche Grundlage der Arbeitsordnungen war die Gewerbeordnung. Der Erlaß von Arbeitsordnungen wurde 1891 durch das Arbeiterschutzgesetz bzw. durch das Abänderungsgesetz zur Gewerbeordnung für jeden Betrieb mit mindestens 20 Arbeitern vorgeschrieben7. Eine weitere Regelung wurde 1908 mit dem Abänderungsgesetz zur Gewerbeordnung durchgeführt. 8

Die Bestimmungen der Arbeitsordnung unterschieden in obligatorische und fakultative. Die obligatorischen Vorschriften und Bestimmungen waren nochmals untergliedert in unbedingt

7 Gesetz vom 1. Juni 1891. Maßgebend hier die §§ 134a ff. 8 Gesetz vom 28. Dezember 1908.

388 und bedingt notwendige Regelungen. Zu den unbedingt notwendigen Bestimmungen gehörten solche über Arbeitszeitbeginn und –ende sowie Zeit und Art der Lohnabrechnung und Lohnzahlung. Bedingt notwendig9 waren Bestimmungen über Vertragsauflösungs- und Entlassungsgründe, Strafen und über die Verwendung verwirkter Lohnbeträge. Fakultativ waren Bestimmungen über die betriebliche Ordnung, das Verhalten der Arbeiter im Betrieb, die Benutzung der betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen, das Verhalten Minderjähriger außerhalb des Betriebes sowie über gesundheitliche Vorsorge.10 Hinzu kamen Vorschriften zur Aufrechterhaltung der technischen und wirtschaftlichen Organisation eines Betriebes: "Grundsätzlich gesehen bedurfte es zunächst der Aufstellung formalisierter und unpersönlicher Arbeitsregeln, die die bestehenden Konfliktfelder aufgriffen und den Arbeitern ... zur Kenntnis gebracht wurden. Wie sich anhand der zahlreich überlieferten `Fabrikordnungen` oder `Fabrikgesetze` rekonstruieren läßt, bezog sich ihre Thematik vorrangig auf die ... Probleme der Zeitökonomie, weiterhin auf die Ökonomie der Arbeitsmittel, ..., schließlich auf die betrieblichen Herrschaftsverhältnisse."11

Zweck der Arbeitsordnung war die schriftliche Fixierung von Bedingungen, denen sich der einzelne Arbeiter bei Eintritt in den Betrieb unterwerfen mußte. Die Arbeitsordnung wurde nach der Gewerbeordnung in der Fassung von 1891 - nach Anhörung eines ständigen Arbeiterausschusses, dessen Einrichtung jedoch fakultativ war und dessen Aufgabe sich darauf beschränkte, "Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu befördern ... und eine gewisse Mitwirkung der Arbeiter an den zu ihrem Besten geschaffenen Wohlfahrtseinrichtungen zu ermöglichen"12 einseitig vom Arbeitgeber festgelegt. Durch das Betriebsrätegesetz13 geschah insofern eine Änderung, als der Entwurf einer Arbeitsordnung dem Arbeiter- bzw. Betriebsrat zur Zustimmung vorgelegt werden mußte. Bei Nichteinigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat entschied auf Anruf ein Schlichtungsausschuß. Die Arbeitsordnung mußte zudem

9 Bei den bedingt notwendigen Bestimmungen war die Wirksamkeit vertraglicher Vereinbarungen abhängig von deren Aufnahme in die Arbeitsordnung. 10 Die Unfallverhütungsvorschriften der Töpferei-Berufsgenossenschaft vom 15. 11.1902 beinhalteten in 35 Paragraphen Vorschriften für Arbeitnehmer. Sie waren Bestandteil verschiedener Arbeitsordnungen wie z.B. in § 7 der Arbeitsordnung der PF E. & A. Müller von 1904 (STA Bamberg K 18 Nr.1720): "Die in allen Arbeitsräumen ausgehängten Unfallverhütungsvorschriften sind schon im eigenen Interesse der Arbeiter strengstens zu befolgen." Ähnlich lautende Bestimmungen enthielten auch die Arbeitsordnung der PF Schönwald von 1904 in § 14, die Arbeitsordnung der PF Lorenz Hutschenreuther von 1906 in § 4 ( STA Bamberg K 18 Nr. 2073) und die Arbeitsordnung der PF Krautheim und Adelberg von 1921 in § 18 (StA Selb 810.1/11). 11 ENGELHARDT, T. 1985: Menschen nach Maß. In: BOTT, G. (Hg.), S.290. 12 JFI 1894, S.XXVI. Vgl. hierzu auch: JFI 1902, S.IX f. und JFI 1904, S.XI, die stereotyp diese Aufgaben – Schaffung und Bewahrung eines guten Betriebsklimas und Kassenverwaltung (der Strafgelder) – betonen. 13 Gesetz vom 4. Februar 1920.

389 der unteren Verwaltungsbehörde (Gewerbeaufsicht) vorgelegt werden,14 die jedoch nur dann ein Veto einlegen konnte, wenn Bestimmungen der Arbeitsordnung gegen bestehende Gesetze verstießen. Daß dies sehr häufig geschah, belegt nachstehender Bericht der Gewerbeaufsicht: "Die Prüfung der in Vorlage gebrachten Arbeitsordnungen gab zu nachstehenden Beanstandungen Anlaß: ... zu hohe oder gar unzulässige Strafen, unstatthafte Lohnverwirkungen, Nichtfestsetzung der Verwendung letzterer, sowie der Strafgelder, unzulässige Bestimmung betr. Sonntagsarbeit; unrichtige oder gar keine Festlegung der Arbeitszeit und Pausen."15

1.2.1 Arbeitsordnungen in der Vorkriegszeit

Arbeitsordnungen, die eine andere rechtliche Qualität als Tarifverträge besaßen und in praxi auch anders bewertet wurden, wirkten dennoch auf die Gestaltung der Tarifbedingungen ein und können ihrem Inhalt nach als Vorläufer der Tarifverträge angesehen werden. Als Verträge zwischen Arbeiter und Unternehmer waren sie für beide Seiten rechtsverbindlich; dies wurde dadurch zum Ausdruck gebracht wurde, daß nach § 134e II der Gewerbeordnung jedem Arbeiter beim Eintritt in den Betrieb ein Exemplar der jeweils gültigen Arbeitsordnung auszuhändigen war und dieser die Einhaltung der darin enthaltenen Bestimmungen per Unterschrift zu bestätigen hatte: "Vorstehende Fabrikordnung haben gelesen, sind damit einverstanden und bestätigen dies durch ihre Unterschrift."16

Die Arbeitsordnungen in der feinkeramischen Industrie differierten in der Vorkriegszeit nur wenig. So läßt sich anhand der Arbeitsordnungen zeigen, daß eine tägliche Arbeitszeit von 10 Stunden die Regel war; in einigen Betrieben wurde 11 Stunden, selten 9 Stunden täglich gearbeitet. Die tägliche Arbeitszeit galt ohne Einrechnung von Pausen, die gesondert festgelegt wurden, wie nachfolgendes Beispiel verdeutlicht. Die Arbeitszeit betrug vormittags von 6.45 h bis 8.30 h = 1 ¾ Stunden vormittags von 9.00 h bis 12.00 h = 3 Stunden nachmittags von 13.00 h bis 15.30 h = 2 ½ Stunden nachmittags von 16.00 h bis 18.45 h = 2 ¾ Stunden ______Summe 10 Stunden

14 Die Vorlage bei der Gewerbeaufsichtsbehörde verlangten sowohl die Gewerbeordnung von 1891 als auch das Betriebsrätegesetz von 1920. 15 JFI 1901, S.95. 16 Thür. HSTA, PF Kahla Bdl. 317-B21, Arbeiterverzeichnisse 1892 u. 1899.

390

In manchen Betrieben galten im Sommer bzw. Winter unterschiedliche Arbeitszeiten. Die Betriebsleitung konnte einseitig Überstunden oder Arbeitszeitverkürzungen anordnen. Lohnzahlungen wurden teils wöchentlich, teils 14tägig durchgeführt;17 in einzelnen Fällen war die Abrechnungsperiode auch länger, doch wurde dann eine Zwischen- bzw. Abschlagszahlung geleistet. "Arbeiter auf Zeitlohn werden fast durchweg in 8tägigen oder 14tägigen Fristen ausgelohnt. Arbeiter auf Stücklohn erhalten zu den gleichen Zeiten Abschlagszahlungen auf ihre Arbeit, während die vollständige Abrechnung erst bei deren Ablieferung erfolgt. Zwischen der Abrechnung und der Auslohnung bleibt wohl ein Zwischenraum von einem Tag, auch von einigen Tagen, für welchen die Löhnung erst bei der nächsten Abrechnung festgestellt wird. Ein gewisser Theil des Lohns bleibt daher bei dem Arbeitgeber stehen." 18

Lohnabrechnung und Lohnauszahlung unterschieden sich bei im Tag- bzw. Zeitlohn Beschäftigten gegenüber Akkordlöhnern dadurch, daß bei Akkordlöhnern längere Abrechnungs- und Auszahlungsperioden üblich waren. Ursächlich dafür war, daß über größere Zeiträume sich erstreckende Aufträge im Akkord gefertigt wurden und sich mithin ein längerer Abrechnungszeitraum anbot. Die Löhne wurden meist aufgrund einer Lohnliste oder eines Lohnbuches zum Wochenende ausgezahlt.

"Bezüglich der Fristen, innerhalb welcher die Lohnzahlung stattfindet, so herrscht die wöchentliche Auszahlung des Lohns vor, aber auch die 14tägige oder halbmonatliche Auszahlung ist in vielen Betrieben, zumal in den größeren, üblich, hingegen sind größere Zahlungsfristen verhältnißmäßig (sic!) selten. ... ergibt sich, daß in der weitaus größten Zahl der Betriebe der Sonnabend als Tag der Lohnzahlung gebräuchlich ist.19 ... Was des Weiteren den Tag der Woche anlangt, auf welchen die Auszahlung des Lohnes verlegt worden ist, so ist, sowohl in Rücksicht auf den ´blauen Montag´, als auch auf den Wochenmarkt in vielen Fällen der Freitag gewählt worden. ... Die Auslohnung geschieht auf Grund einer Lohnliste oder eines Lohnbuches, welche vom Arbeitgeber oder dem von demselben damit Beauftragten geführt werden. ... In anderen, namentlich in größeren Anlagen, erfolgt die Auszahlung des Lohnes entweder an einer bestimmten, gemeinsamen Zahlstelle, meist der Casse, durch einen besonderen Angestellten, oder durch die Vorsteher der einzelnen Betriebsabtheilungen, Werkmeister, Saalmeister, Vorarbeiter u.s.w. Diese erhalten von dem Arbeitgeber die Lohnliste für die betreffende Abtheilung ausgehändigt, die Lohnsumme zugezählt und führen alsdann die Einzelbeträge an die betreffenden Arbeiter ab. In beiden Fällen wird eine schriftliche Berechnung des Lohnes dem Arbeiter in der Regel nicht mitgetheilt." 20

17 Monatslohn erhielten ausschließlich aufsichtführende Oberdreher und –maler. 18 Erhebungen des Bundesraths 1876, S.104. 19 Thür. HSTA, PF Kahla Bdl. 317-B22: Das Lohnbuch der PF Kahla, das für 1899 nur Samstage als Zahltage aufführt, bestätigt diese Ansicht. 20 Sprechsaal 1889, 22.Jg., No.46, S.888 (Amtliche Mittheilungen aus den Jahresberichten der mit der Beaufsichtigung der Fabriken betrauten Beamten für 1888. Berlin. 1889).

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25 Lohnauszahlung 191121

Vielfach wurde von der in § 122 der Gewerbeordnung vorgesehenen Kündigungsfrist von 14 Tagen abgewichen. So konnte das Arbeitsverhältnis ohne Kündigungsfrist aufgelöst werden oder es war nur eine eintägige bzw. einwöchige Kündigungsfrist vorgesehen, die für Arbeiter und Unternehmer in gleichem Umfang galt. Die meisten Arbeitsordnungen sahen eine einwöchige bis 14tägige Kündigungsfrist vor, wobei oftmals ein Zusatz bestimmte, daß die Kündigung nur am Lohntag ausgesprochen werden konnte. Diese 14tägige Kündigungsfrist galt in einigen Betrieben ausschließlich für Dreher und Maler, den anderen Arbeitern wurde keine Kündigungsfrist eingeräumt. Vorausgegangen war dieser Frist für Dreher und Maler jedoch eine vierwöchige Probezeit mit der Möglichkeit der täglichen Entlassung bzw. des täglichen Austritts. ... ist überwiegend die gesetzliche Kündigungsfrist in Geltung ... Die Einrichtung, daß beide Theile alsbald und ohne Kündigung das Arbeitsverhältnis aufheben können, ... ist im übrigen jedenfalls häufig. ... In der Oberpfalz scheint ... die sofortige Lösbarkeit der Arbeitsverträge zu überwiegen . ... In Oberfranken ist die Vereinbarung von Kündigungsfristen vorherrschend; die Dauer derselben bewegt sich zwischen 8 Tagen und 4 Wochen ... Bei Stückarbeitern ist häufig die Aufhebung des Arbeitsvertrages von der Vollendung der übergebenen Stückarbeit abhängig gemacht. In einzelnen

21 Aus: IG CHEMIE-PAPIER-KERAMIK (Hg.) 1990b, S.78. „In den Großbetrieben fand die Lohnauszahlung am Freitagabend vor Arbeitsschluß statt. Aus dem Lohnbüro kam ein Angestellter mit weißem Kragen und Krawatte und brachte das Geld. Der Meister oder Vorarbeiter bezahlte dann jedem Arbeiter die errechnete Lohnsumme aus.“ [Ebd.}.

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Fabriken können die Arbeiter ohne Rücksicht auf die gesetzlichen Entlassungsgründe jederzeit von dem Arbeitgeber entlassen werden, während sie ihrerseits eine 14tägige Kündigungsfrist einzuhalten verpflichtet sind. In Hof ist von den Arbeitgebern während einer ausgedehnten Arbeitseinstellung im Jahre 1873 eine gemeinschaftliche Fabrikordnung angenommen worden, der zufolge im Mangel gegentheiliger Vereinbarungen beiderseitig alle Kündigungsfristen ausgeschlossen sind." 22

Die Fabrikordnung für die bei der Margarethenhütte in Sachsen beschäftigten Arbeiter von 1900 legte als Arbeitszeit 7.00 bis 19.99 Uhr bzw. 19.00 bis 7.00 Uhr fest, wobei jeder Arbeiter ausdrücklich zur Nachtarbeit verpflichtet war. Als Pausen waren ½ Stunde für Frühstück, eine Stunde für Mittag sowie ½ Stunde für Vesper vorgesehen. Die Fabrikordnung der Margarethenhütte unterteilte die Arbeiter in fünf Klassen. Klasse 1: Maschinenwärter und Heizer; Klasse 2: Handwerker; Klasse 3: Kohlenarbeiter; Klasse 4: Tonarbeiter; Klasse 5: Tagearbeiter.23

Verschiedene Arbeitsordnungen listeten detailliert mögliche Verstöße, Zuwiderhandlungen und Pflichtverletzungen sowie die hierauf zu verhängenden Strafen auf.24 Das betriebliche Strafsystem stufte in Abhängigkeit von der Schwere des Verstoßes nach Verwarnungen, Verweisen, kleineren Geldstrafen, hohen Geldstrafen,25 vorübergehendem Ausschluß aus der Fabrik, Kündigung und fristloser Entlassung. Als strafwürdig waren u.a. folgende Verhaltensweisen eingestuft: Verspätungen, Verlassen der Arbeitsstätte vor Arbeitsende, Rauchen, Alkoholgenuß, Tätlichkeiten gegen Mitarbeiter.26 Doch auch das Lesen von Gewerkschaftszeitungen sowie der Besuch von SPD- oder Gewerkschaftsversammlungen konnte zur fristlosen Entlassung führen, wie nachfolgender Ausschnitt eines Zeitungsartikels belegt: "Was werden in manchen großen Werken oft sans Facons für Statuten und Tagesbefehle angeschlagen und darin befohlen, was der Arbeiter in seinem Privatleben zu thun und zu lassen habe; da wird ihm jede politische Beschäftigung nach eigener Ueberzeugung, sobald sie dem `Herrn` nicht gefällt, untersagt ...; da wird das Lesen gewisser Zeitungen, das Besuchen gewisser Lokale verboten, bei Strafe sofortiger Entlassung. Was das sagen will, ist ohne Weiteres für jeden klar, wenn man unter den heutigen Musterverhältnissen die Schwierigkeiten erwägt, die ein Wechsel der Arbeitsstelle ... mit sich bringt." 27

22 Erhebungen des Bundesraths 1876, S.108f. 23 Vgl. Sächs. HSTA, HLA 4027. 24 Vgl. ZIMMERMANN, R.J. 1903: Arbeitsordnung für Zement- und Tonwarenfabriken. In: Thonindustrie- Zeitung, 27.Jg., No.33, S.455ff. 25 Als hohe Geldstrafen galten Geldbeträge in Höhe eines halben oder ganzen Tagesverdienstes. 26 Zumeist war die Aufzählung strafwürdiger Verhaltensweisen den Bestimmungen des § 123 Gewerbeordnung entlehnt. 27 Die Ameise vom 17. Mai 1901.

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Daß das Verbot, bestimmte Lokale zu besuchen, nicht nur gängige Praxis, sondern auch durchaus legitim war, stellte das Reichsgericht in einem Urteil aus dem Jahre 1908 klar,28 in dem es dem Fabrikherrn das Recht zubilligte, seinen Arbeitern zu verbieten, in sozialdemokratischen Lokalen zu verkehren. Begründet wurde dies mit den berechtigten wirtschaftlichen Interessen des Fabrikbesitzers, z.B. der „.... Absicht, eine Gefährdung der Autorität des Fabrikherrn zu verhindern oder die Aufrechterhaltung der Arbeitsordnung zu sichern. Ist doch hier davon auszugehen, daß die Handlungsweise des Fabrikherrn an und für sich eine sehr berechtigte war. Wenn der Fabrikherr seinen Arbeitern Bedingungen stellt, unter denen er sie beschäftigt, so ist das ein gutes Recht.“29

Verhängte Strafgelder und einbehaltene Lohnbeträge mußten nach den Vorschriften der Gewerbeordnung "... zum Besten der Arbeiter des Betriebes verwendet werden ... (Sie) fließen in eine Unterstützungskasse (und) ... werden zum Wohle bedürftiger Arbeiter nach Beschluß des Arbeiterausschusses verwendet ...(und)... kommen bedürftigen Arbeitern in Krankheitsfällen zu (oder) werden an die Betriebskrankenkasse abgeliefert." 30

Die meisten Strafandrohungen wurden, der Tendenz zur Formalisierung folgend, in die Arbeitsordnungen aufgenommen und dabei nach juristischem Vorbild genau umschriebenen Tatbeständen zugeordnet, so daß Max WEBER mit Recht deren "Schutzmannsjargon"31 kritisierte: "Wer zu spaet zur Arbeit kommt oder vor beendigter Arbeitszeit weg geht, oder in der Zwischenzeit ohne Erlaubnis die Arbeit verlaesst, wird mit einer Geldstrafe bis zur Hoehe des halben durchschnittlichen Tagelohnes bestraft." 32

Die in den Arbeitsordnungen enthaltenen weiteren Bestimmungen waren fakultativer Art und betrafen Vorschriften über die Benutzung betrieblicher Kontrolleinrichtungen,33 den Umgang mit Betriebsmitteln, Maschinen und Werkzeugen,34 die Funktion und Organisation des

28 6. Zivilsenat, Nr.235/08. 29 Thonindustrie-Zeitung 1909, 33.Jg., Nr.127, S.1426. 30 Gewerbeordnung § 125. 31 WEBER, M. 1924: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Tübingen. S.396. 32 Paragraph 12 der Arbeitsordnung der PF Kloster Veilsdorf vom 15.03.1907. In: GREINER-ADAM, R. 1990, Anl.6. 33 Hierzu gehörten z.B. das Hängen von Arbeitsmarken sowie die Verpflichtung, sich nach den Fabriksignalen (Glocken, Sirenen, Dampfpfeifen) zu richten. 34 Dazu waren Bestimmungen über die sachgemäße Bedienung von Aufzügen, die ausschließliche Bedienung bestimmter Maschinen durch eigens dazu determinierte Personen, die pflegliche Behandlung der Werkzeuge usf. zu zählen.

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Betriebes35 sowie in einigen Fällen über Konfliktregelung,36 Bildung von Arbeiterausschüssen oder Lohnkommissionen sowie Lehrlinge/jugendliche Arbeiter.37 Der industrielle Disziplinierungsprozeß wurde vom Staat dadurch gefördert, daß die novellierte Gewerbeordnung von 1891 zwar die Sonntagsruhe einführte, doch bis 1918 –mit Ausnahme der Arbeitsschutzvorschriften für Kinder, Jugendliche und Frauen- keine gesetzliche Arbeitszeitbeschränkung erfolgte. Vielmehr wurden auf Betreiben der Unternehmer die gesetzlichen Feiertage weiter reduziert und v.a. der sog. "Blaue Montag" streng unterdrückt: "Sogenannte blaue Montage sind bei Ordnungsstrafe von 1 bis 3 Mark untersagt und können Rückfällige sofort entlassen werden."38

Nach Art.155 des bayerischen Polizeistrafgesetzbuches konnte das "Blaumontagfeiern" mit Geldstrafe bis zu 45 Mark oder Haft bis zu acht Tagen geahndet werden.39 Dadurch erweiterten sich die betrieblichen Sanktionsmittel um die Möglichkeit der Anzeige, worauf in einigen Fabrikordnungen ausdrücklich hingewiesen wurde.40

Auf der anderen Seite versuchten die Unternehmer schon frühzeitig, mit Mitteln der betrieblichen Sozialpolitik Wohlverhalten und Firmenbindung der Arbeiter zu erreichen, wenngleich diese Maßnahmen mit patriarchalischer Fürsorge motiviert wurden. Zu den betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen gehörten Kranken-, Pensions- und Sparkassen, Werkswohnungen, Dienstalters- und Jahresprämien sowie Werkküchen, Umkleide- und Waschräume und Kantinen. Auch die Vergabe zinsgünstiger Darlehen zum Bau eines Eigenheimes durch die Arbeitgeber sollte dazu dienen, sich einen "Stamm verläßlicher Arbeiter zu erziehen" und diese seßhaft zu machen.41

35 Darunter fielen Vorschriften über den ausschließlichen Aufenthalt im jeweiligen Arbeitsraum, die Sauberkeit am Arbeitsplatz, die Ordnung und Reinlichkeit in den Betriebsräumen. 36 Diverse Arbeitsordnungen bestimmten bei Streitfällen den Einsatz eines besonderen Schiedsgerichts. 37 Diese waren gehalten, in- und außerhalb der Fabrik ein bescheidenes Wesen zu zeigen und den Anweisungen der Meister und vorgesetzten Arbeiter Folge zu leisten. Daß die Disziplinierung der Arbeiterschaft bereits bei den Lehrlingen ansetzte, wurde nicht nur an diesen (fakultativen) Bestimmungen der Arbeitsordnungen deutlich, sondern bereits in den Lehrverträgen, die in besonderer Weise das inner- und außerbetriebliche Wohlverhalten der Lehrlinge forderten. Vgl. S.323. 38 StA Waldsassen EAPI 824 Nr.3: § 8 der Fabrik-Ordnung der Porzellan-Manufaktur Waldsassen vom 20. Juni 1887. Noch 1901 berichtete die Gewerbeaufsicht von Änderungen bei etlichen Arbeitsordnungen, welche die "Erhöhung der Strafen für Blaumachen" betrafen (JFI 1901, S.95). 39 Diese Bestimmung galt bis zur Neufassung des Gesetzes 1911. 40 Vgl. Centrum Industriekultur Nürnberg 1980: Lebensgeschichten zur deutschen Sozialgeschichte 1850-1950. S.18f. Nürnberg 41 Vgl. hierzu SCHIMM, C. 1905: Wie erzieht man sich einen Stamm verläßlicher Arbeiter. In: Thonindustrie- Zeitung, 29.Jg., No.116, S.1614f. u. Thonindustrie-Zeitung 1913: Seßhafte Arbeiter. 37.Jg., Nr.38, S.505ff.

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26 Arbeitsordnung der PF Ph. Rosenthal von 191142

42 Quelle: STA Bamberg, K 18/1, 1720.

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Wegen der Bedeutung und Importanz der Arbeitsordnungen hinsichtlich der Disziplinierung der Arbeiterschaft wird im folgenden die Arbeitsordnung der PF Ph. Rosenthal von 1911 exemplarisch dargestellt und untersucht.43

Hatte die Reichsgewerbeordnung von 1871 den Erlaß von Fabrik- und Arbeitsordnungen noch – in völliger Verkennung der tatsächlichen Machtverhältnisse – zum "Gegenstand freier Übereinkunft" erklärt, so waren in der Gewerbeordnungsnovelle von 1891 (Art. 134) zumindest erste Einschränkungen getroffen worden hinsichtlich der unternehmerischen Gestaltungsfreiheit der konkreten Ausgestaltung von industriellen Lohnarbeitsverhältnissen und damit verbunden auch der Aufstellung und Festlegung von Arbeitsordnungen: der Erlaß von Arbeitsordnungen war verbindlich, der inhaltliche Rahmen war vorgegeben, ein Anhörungsrecht der Belegschaft wurde initiiert.44 Somit wurde die vorstehende Arbeitsordnung der PF Ph. Rosenthal & Co. dem Arbeiterausschuß zwar "zur Kenntnisnahme und Aeußerung" (§ 1) vorgelegt, ein regelrechtes Vetorecht besaß dieser jedoch nicht.45 Die Arbeitsordnung war der unteren Verwaltungsbehörde (Kgl. BA Rehau) zur Genehmigung vorgelegt worden und besaß für Arbeitgeber und Arbeitnehmer Rechtsverbindlichkeit. Die Arbeitsordnung erhielt dadurch, daß der einzelne Arbeiter deren Erhalt "mit seiner Namensunterschrift" (§ 2) bestätigen mußte, die Qualität eines rechtskräftigen Arbeitsvertrages: "Damit ist der Vertrag rechtskräftig abgeschlossen" (§ 2). Die Arbeitsordnung war demnach, mit Ausnahme der Lehrlinge, für die "insbesondere die Bestimmungen des Lehrvertrages" (§ 4) galten, als Arbeitsvertrag anzusehen.

Paragraph 3 bestimmte, daß jeder bei der PF Rosenthal beschäftigte Arbeiter der Freien eingeschriebenen Hilfskasse vereinigter Porzellanarbeiter von Selb und Umgegend beizutreten hatte46 und § 5 schrieb die regelmäßige tägliche Arbeitszeit vor, die an 6 Tagen der Woche bei männlichen Arbeitern über 16 Jahre rd. 10 Stunden täglich und bei jugendlichen Arbeitern 9 Stunden 50 min. betrug. Bemerkenswert erscheint die

43 AB, Anl.64 bietet eine weitere Arbeitsordnung (PF Schönwald von 1892) . 44 Vgl. S.387f. 45 Die im Nachtrag der Arbeitsordnung befindliche "Genehmigung" durch den Arbeiterausschuß war demnach eine bloße Formalie und bedeutete de facto nur, daß der Arbeiterausschuß dieselbe zur Kenntnis genommen hatte. 46 § 2 des Statutes der Freien eingeschriebenen Hilfskasse vereinigter Porzellanarbeiter von Selb und Umgegend bestimmte, daß Mitglied der Kasse nur werden konnte, "wer in Selb und in unmittelbarer Nähe wohnt; bei den folgenden Firmen: Ph. Rosenthal & Co., Krautheim & Adelberg, Heinrich & Co., Sack & Voit, Josef Rieber, Gräf & Krippner, Franz J. Brückner, Thomas & Stöffel, Groh & Co., Lorenz & Frabe in Arbeit steht und gesund ist " (1910, S.3).

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Konstatierung: "Es ergibt sich hieraus also eine Gesamtarbeitszeit von 60 Stunden pro Woche, also von 10 Stunden pro Tag", obwohl sich bei genauem Nachrechen eine Wochenarbeitszeit von 60 Stunden und 20 min. ergibt! Bei allen weiblichen Arbeitern betrug die tägliche Arbeitszeit 9 ¾ Stunden, obschon die "Einhaltung von halbstündigen Frühstücks- und Vesperpausen" bei jugendlichen Arbeiterinnen betont wurde. Diese gegenüber den männlichen Arbeitern um jeweils 10 min. verlängerten Pausen galten jedoch sowieso schon für weibliche Arbeiter: "Diese tägliche Arbeitszeit wird noch unterbrochen durch eine halbstündige Vormittagspause von 8 ½ bis 9 Uhr und eine ebensolange Nachmittagspause von 3 Uhr 390 bis 4 Uhr." (§ 5, B). Weitere Bestimmungen regelten die gesonderten Arbeitszeiten für Brenner und Jugendliche sowie den Mutterschutz.

§ 6 bestimmte, daß Überstunden und Kurzarbeit einseitig vom Unternehmer angesetzt werden konnten und von den Arbeitern einzuhalten waren. Die Entscheidung über die hierfür angegebenen Ursachen (außergewöhnliche Häufung der Arbeit, stiller Geschäftsgang, bauliche Veränderungen, Naturereignisse, Unglücksfälle) fiel ins alleinige Ermessen der Unternehmensleitung. Die bereits angesprochene Überwachung der Arbeiterschaft mittels Instrumenten der Zeitökonomie47 (hier: Fabrikpfeife) wurde ebenso schriftlich fixiert (§ 6) wie die Kontrolle der Arbeiter mit Hilfe des bewachten Haupteingangs (§ 7). Das Werktor diente der Überprüfung von Zutritts- und Ausgangsberechtigten sowie der Pünktlichkeitskontrolle. Als Vorkehrung gegen Diebstähle waren "Kontrolle(n) vonseiten des Portiers" vorgeschrieben, die in Form von Gepäck- und Leibesvisitationen stattfinden konnten. Diese Funktionen wurden durch das Verbot, die Fabrik auf anderem Wege als durch den Haupteingang zu betreten oder zu verlassen, zusätzlich abgesichert. "Mauern, Wände und Zäune sonderten die Fabriken als geschlossene Anstalten vom sozialen Umfeld ab und zwangen zur Benutzung der bewachten Werkstore, die so die Rolle einer Kontrollstation für den Grenzverkehr zwischen Betrieb und Außenwelt zugewiesen bekamen."48

Die Unterwerfung unter das strikte Reglement der industriellen Disziplin kam besonders in § 8 zum Ausdruck, der jeden Arbeiter verpflichtete, "den Fabrikherren und den von denselben bestellten Beamten, Meistern und sonstigen Vorgesetzten in bezug auf die Arbeit und alle Einrichtungen der Fabrik Gehorsam zu leisten". § 9 listete ausführlich Ge- und Verbote auf und versuchte, den Tagesablauf rigoros jeder eigenen Disposition der Arbeiter zu entziehen und diesen zugleich in voneinander isolierte Elemente –Arbeitszeit, Pause, Freizeit-

47 Vgl. Anm.33 48 ENGELHARDT, T. 1985, S.291.

401 zu zerlegen. In der zeitlichen und räumlichen Arbeitssphäre waren alle nicht auf die Arbeit bezogenen Tätigkeiten ausdrücklich verboten. Das in § 11bestimmte Verbot der gleichzeitigen Beschwerde von mehr als drei Arbeitern korrelierte mit § 9k, der "Zusammenkünfte, Beratungen und Versammlungen ... in den Räumen... der Fabrik " verbot. Auf diese Weise wollte der Unternehmer die Solidarität unter den Arbeitern begrenzen und sicherlich auch gewerkschaftliche bzw. parteiliche Einflüsse eindämmen.

Wichtig erscheint auch die in § 13 niedergelegte Bestimmung, die es der Fabrikleitung gestattete, nicht nur bei vorsätzlichem, sondern insbesondere auch bei fahrlässigem Verhalten eines Arbeiters am Arbeitsplatz, diesen für durch seinen Fehler entstandene Schäden in Regreß zu nehmen und zusätzlich zum Schadenersatz Ordnungsstrafen zu verhängen. Die in § 15 formulierten und verhängten Strafgelder bis zu einem vollen Tagesverdienst wurden protokolliert49 und zur Unterstützung kranker oder verunglückter Arbeiter verwendet. Eine direkte Weitergabe dieser Gelder an die Hilfskasse erfolgte nicht, vielmehr bedingte sich die Unternehmensleitung ausdrücklich die Genehmigung der vom Arbeiterausschuß vorgeschlagenen Unterstützungen50 aus. Auch dies ist als Versuch der Disziplinierung der Arbeiterschaft zu werten, indem man die Vergabe von Unterstützungen an bestimmte Arbeiter von deren und von des Arbeiterausschusses Wohl- und Konformverhalten abhängig machen konnte.

1.3 Erster Weltkrieg: Entwicklung von Kollektivabkommen

Bereits im Jahre 1916 bemühte sich die Arbeiterschaft der Porzellan- und Steingutindustrie in den einzelnen Fabriken um einen Lohnausgleich in Form von Lohn- bzw. Teuerungszulagen für den durch die Umstellung der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse eingetretenen Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie durch Kurzarbeit und Feierschichten bedingte

49Auch andere Firmen führten ähnliche Verzeichnisse, so z.B. das Strafenbuch der PF Hutschenreuther das1919 begonnen wurde und akribisch die Namen der Bestraften, Tag der Bestrafung sowie Höhe und Grund der Strafe angab. Vgl. Hutschenreuher-Archiv, Strafenbuch 1919.Auch diese Aufzeichnungen dienten der Disziplinierung der Arbeiter und erinnern, obschon 80 Jahre später verfaßt, fatal an das "Rothe Strafbuch" der Schnellpressenfabrik König u. Bauer in Oberzell b. Würzburg, das ab 1835 alle Verfehlungen der Arbeiter und die dafür verhängten Geldstrafen aufzeichnete. Vgl. ENGELHARDT, T. 1985, S.289. 50 Die ledigliche Mitwirkung der Arbeiter an der Verwendung der Strafgelder betont auch die Gewerbeaufsicht. So z.B. JFI 1893, S.98.

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Lohnausfälle; diese Forderungen wurden jedoch nur von wenigen Unternehmern, die eine 5- 10%ige Zulage bewilligten, erfüllt: "Die Arbeiter seien daher gezwungen gewesen, an die Arbeitgeber das Ansinnen zu stellen, ihnen eine 20 % ige Teuerungszulage zu gewähren. Tatsächlich hätten auch einige Betriebe bereits eine 10 % ige Zulage bewilligt."51

Die Porzellanfabrik E. & A. Müller, Schönwald bewilligte jedem Arbeiter eine wöchentliche Teuerungszulage von 80 Pf, jeder Arbeiterin 40 Pf und den jugendlichen Arbeitern 30 Pf. Die Firma Schumann, Arzberg zahlte zusätzlich eine Mark, an Ehefrauen 50 Pf und an Jugendliche 30 Pf.52 Die weitaus meisten Unternehmer lehnten jedoch die Forderungen unter Hinweis auf ihre schlechte wirtschaftliche Lage ab.53 Keine Zulagen gewährten u.a. folgende Firmen: Hutschenreuther, Selb; Rosenthal, Selb; Krautheim & Adelberg, Selb; Gräf & Krippner, Selb; Heinrich, Selb; Schönwald AG, Schönwald; Zeh, Scherzer & Co., Rehau; Jacob Zeidler, Selb-Plössberg; Paul Müller, Selb.

Infolge dieser Ablehnung versuchte im Juli 1916 die Porzellanarbeitergewerkschaft mit dem in Berlin ansässigen „Schutzverein deutscher Porzellanfabriken“ in Verhandlungen über eine reichseinheitliche Regelung der schwebenden Lohnerhöhungen zu treten. Dieses Anliegen wurde jedoch vom Schutzverein unter Hinweis auf die differenten Bedingungen in den Produktionsgebieten und auf fehlende Zwangsmittel gegenüber den Mitgliedsfirmen abgelehnt und es wurden gebietsspezifische Einzelregelungen empfohlen. Die Arbeiter versuchten daraufhin nochmals in den einzelnen Betrieben oder geschlossen in den Produktionsgebieten ihre Forderungen durchzusetzen, hatten damit jedoch nur geringe Erfolge.

51 StA Mitterteich, Akt 2774: Schreiben des BA Tirschenreuth an den Magistrat der Stadt Mitterteich vom 15.6.1916. 52 Vgl. Die Ameise vom 1.12.1916. 53 Die ökonomisch ungünstige Lage war im wesentlichen durch den kriegsbedingten Mangel an Kohlen gekennzeichnet, der etliche Verhandlungen mit den Behörden um Zuteilung von Brennstoffen erforderte. Die Ameise zählte folgende oberfränkischen und oberpfälzischen Betriebe auf, die vom Kohlenmangel betroffen waren und daher Feierschichten und Kurzarbeit einrichteten: AG Schönwald, Abt. Arzberg; Seltmann, Schlottenhof; Sigmund Mayer, Bayreuth; Kühnlenz, Kronach; Winterling, Marktleuthen; Julius Rother, Mitterteich; Greiner & Herda, Oberkotzau; Zeh, Scherzer & Co., Rehau; Hertel & Jacob, Rehau; AG Schirnding; Liebmann, Schney; Schaller & Co., Schwarzenbach; Kronester, Martinlamitz; Zeidler, Selb- Plößberg; Seltmann, Vohenstrauß; Gareis & Kühnl, Waldsassen; Bareuther & Co., Waldsassen; Retsch & Co., Wunsiedel. Vgl. Die Ameise vom 30. März 1917. Dieses sog. "Feiern", also der zeitweilige Verlust von Arbeit und Lohn wg. schlechter Wirtschaftslage der Unternehmen, führte nicht nur zu weiteren Forderungen der Arbeiter nach Entschädigungen, die jedoch abgelehnt wurden, sondern erklärt – zumindest teilweise – auch die hohe Mobilität der Porzellanarbeiter.

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In den Produktionszentren Bayerns, Oberfranken und Oberpfalz, kam es 1917 zu einem einheitlichen Vorgehen der Arbeiter: Gestützt auf die gewerkschaftliche Organisation, hatten die Porzellanarbeiter ihre Forderungen auf eine 25%ige Lohnerhöhung und eine Verbesserung der allgemeinen Arbeitsbedingungen präzisiert. Die meisten oberfränkischen und oberpfälzischen Porzellanfabriken waren im Verband der Porzellan-Industriellen von Oberfranken und Oberpfalz organisiert, der 41 Mitgliedsbetriebe zählte. Der weitaus größte Teil der in diesen Betrieben während der Kriegsjahre Beschäftigten bestand aus weiblichen und jugendlichen Hilfsarbeitern, wovon die jugendlichen Arbeiterinnen äußerst geringe Stundenlöhne erhielten, wie nachfolgende Aufstellung zeigt:

Tab.75: Stundenlöhne jugendl. Hilfsarbeiterinnen Oberfranken u. Oberpfalz 1917 (Zeitlohn) Brennhaus-Hilfsarbeiterinnen 22, 27, 28 Pfg. Hilfsdreherinnen 21, 24, 25 Pfg. Schleiferinnen 12, 21, 23 Pfg. Massemüllerei-Hilfsarbeiterinnen 11, 25, 27 Pfg. Putzerinnen 20, 21, 23 Pfg. Sortiererinnen 16, 23 Pfg. Tagelöhnerinnen 20, 27 Pfg. Druckerinnen 18, 21, 25 Pfg. Malerinnen 11, 18, 23 Pfg. Kapseldreherinnen 25, 29 Pfg. Glasurerinnen 19, 22, 25 Pfg.

Insgesamt waren die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in der Minderheit; im oberfränkisch-oberpfälzischen Sektor waren nur etwa 20% der Arbeiter Mitglieder einer Gewerkschaft. Der örtliche Organisationsgrad war abhängig von den geographischen Gegebenheiten unterschiedlich. In den oberfränkischen Industrieorten waren prozentual mehr Arbeiter organisiert als in den kleineren Orten der ländlich strukturierten Oberpfalz und des Frankenwaldes. Während in Oberfranken die freie Porzellanarbeitergewerkschaft vorherrschte, war in der Oberpfalz die christliche Gewerkschaft dominierend.

Im August 1917 richtete die Gauleitung der freien Gewerkschaft eine Eingabe an die einzelnen Unternehmer Oberfrankens und der Oberpfalz, um eine Teuerungszulage von 25% zu erreichen. Gleichzeitig wurde die Kriegsamtsstelle Nürnberg eingeschaltet, um die bestehenden Lohnverhältnisse einer Prüfung zu unterziehen und Verhandlungen einzuleiten. Kurze Zeit später folgte die bayerische Bezirksleitung des Zentralverbandes der christlichen Keram- und Steinarbeiter diesem Beispiel und stellte einen ähnlichen Antrag. Die freie Gewerkschaft trat außerdem mit ihrer Verbandsleitung in Berlin-Charlottenburg in Kontakt,

404 um von dort Unterstützung für ihre Forderungen zu bekommen. Da die Verbandsleitung auf den Abschluß eines reichseinheitlichen Tarifvertrages drängte und die erstrebten Lohnverhandlungen für die nordbayerischen Porzellanarbeiter zum Ausgangspunkt der Lohn- und Tarifverhandlungen für die gesamte deutsche feinkeramische Industrie gemacht werden sollten, wurde die gewünschte Unterstützung gewährt. Die Forderungen, welche die Grundlage des von der Gewerkschaft gewollten Tarifvertrages bilden sollten, wurden mittels Flugblättern in den einzelnen Fabriken verbreitet und hatten folgenden Inhalt: "I. a) Erhöhung aller bestehenden Grundlöhne /Akkordsätze und Stundenlöhne) um 25%. b) Teuerungszulagen in Höhe von 25% der nach a) erhöhten Grundlöhne. II. In den Betrieben von Oberfranken und Oberpfalz Nachzahlung von 25% der erzielten Löhne für die Zeit vom 16.Juli 1917 ab, an welchem Tage den einzelnen Unternehmern des Bezirkes eine diesbezügliche Forderung von Seiten der Arbeiterorganisation zugestellt wurde. III. An jeder neu von den Unternehmern allgemein oder bezirksweise in irgend einer Form beschlossenen Warenpreiserhöhung nehmen die Arbeiter in prozentual gleicher Höhe ohne weiteres teil in der in Ziffer I. a) und b) geübten Weise. IV. Alle Lohnzuschläge, bezw. Teuerungszulagen sind gleichzeitig mit dem fälligen Grundlohn auszuzahlen. Eine Verlängerung der z.Zt. bestehenden Lohnzahlungs-Perioden ist unzulässig. V. Garantie von Mindeststundenlöhnen und bei Akkordarbeitern Mindeststunden-Verdiensten unter Nichtzulassung einer Herabsetzung bereits bestehender bezw. Durch die Verhandlungen vor der Kriegsamtsstelle festgelegter höherer Akkord- und Stundenlöhne und Teuerungszulagen nach Maßgabe folgender Bestimmungen: Der Mindeststundenlohn und –Verdienst einschließlich der Teuerungszulage hat, solange nicht Ziffer III Platz greift, zu betragen: a) für gelernte und solche ungelernte Arbeiter, welche denselben Beruf gelernter Arbeiter bereits vier Jahre ausüben pro Stunde M. -,80 b) für ungelernte männliche Arbeiter in Berufen gelernter Arbeiter, welche denselben Beruf noch nicht vier Jahre ausüben, aber über 21 Jahre alt sind pro Stunde M. -,70 c) für männliche Arbeiter, die nicht gelernte oder nicht ausgelernte (Lehrlinge) oder noch nicht vier Jahre im Beruf gelernter Arbeiter beschäftigt sind und Arbeiterinnen, erstere wie letztere im Alter von 18 Jahre an pro Stunde M. -,50 d) für Arbeiter (auch Lehrlinge) und Arbeiterinnen von 16 Jahren an pro Stunde M. -,40 e) für Arbeiter (auch Lehrlinge) und Arbeiterinnen unter 16 Jahren gilt freie Vereinbarung, die aber nicht unter die in demselben Spezialberuf für diese Altersklasse z.Zt. bestehenden Akkord- und Stundenlöhne und die nach Ziffer I a) und b) und im Eventualfalle Ziffer III geltenden Zuschläge herabgehen dürfen. f) für Invaliden gelten in jedem Falle die Akkordsätze und Zuschläge der Vollarbeiter; Stundenlöhne sind zwischen Unternehmer und Arbeiterausschuß oder einer von der in Frage kommenden Berufsgruppe gewählten Lohnkommission zu vereinbaren. VI .Damit vorbezeichnete Mindestlöhne und –Verdienste nicht allmählich zu Normal- und Höchstlöhnen werden, gilt das Folgende: 1 Soweit Stundenlöhne oder Verdienste bereits höher sind, dürfen sie nicht herabgesetzt werden. 2. Neue Muster und Formen sind entsprechend den für gleiche Arbeitsleistung jeweilig geltenden Akkordsätzen zu kalkulieren, soweit sie nicht zur Erreichung des Mindestverdienstes im Preise höher zu stellen sind. 3. Bei Akkordarbeitern muß zeitweiliger Stundenlohn dem bis dahin erzielten Durchschnittsverdienst entsprechen. VII. Für gleiche Arbeit müssen Arbeiterinnen den gleichen Akkordsatz erhalten, wie die männlichen Arbeiter. (Bei Stundenlohn gilt V. c) bis e), VI. 1.). VIII. Für Arbeiter, die während der Essens- und Ruhepausen die Betriebsstätte nicht verlassen dürfen (so Brenner, Schmelzer, Maschinisten), gelten diese Pausen als voll zu bezahlende Arbeitszeit. IX. Lohnvereinbarungen, die diesem Vertrag entgegenstehen und mit einzelnen oder mehreren Arbeitern, Arbeitsgruppen oder Betriebspersonen getroffen werden, sind unzulässig und unwirksam.

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X. Ablösung von Arbeiterinnen und Jugendlichen von zu schwerer oder aus anderen Gründen gesundheitlich schädigender Arbeit und Innehaltung der gesetzlich festgelegten Arbeitszeiten, -Dauern und –Pausen."54

Hauptforderung der Gewerkschaft war demnach eine Erhöhung aller bestehenden Grundlöhne, sowohl der Akkordsätze wie auch der Stundenlöhne um 25%. Hinzu kam die Forderung nach einer Teuerungszulage von weiteren 25% auf die bereits um 25% erhöhten Grundlöhne, was einer realen Lohnerhöhung um 56,25% entsprochen hätte. Bemerkenswert erscheint auch die gewerkschaftliche Forderung nach Kongruenz des Preisanstiegs bei den Porzellanerzeugnissen mit der Lohnsteigerung, was bedeutet hätte, der Arbeiterschaft Einblick in die Preisgestaltung und indirekt Einfluß auf die Preispolitik zuzugestehen. Als Kernpunkt der Forderungen ist das Verlangen nach einer Lohngarantie anzusehen, die in Form von Mindestlöhnen für die einzelnen Arbeitergruppen eingeführt werden sollte. Die ausdrücklich erhobene Forderung nach Gleichstellung der Männer- und Frauenlöhne entsprach zum einen der gewerkschaftlichen Grundhaltung, zum anderen trug sie der in der Kriegszeit gewachsenen Bedeutung der Frauenarbeit Rechnung.

Nachdem mehrmalige Versuche des Porzellanarbeiterverbandes in Lohn- und Tarifverhandlungen mit dem Schutzverein deutscher Porzellanfabriken zu treten, gescheitert waren,55 kam es im Herbst 1917 in der oberfränkischen und oberpfälzischen Arbeiterschaft zu Unruhen.56 Im November 1917 fand auf gemeinsamen Antrag der freien und christlichen Gewerkschaften die erste Verhandlung über die Lohnverhältnisse der nordbayerischen Porzellanarbeiter vor der Kriegsamtsstelle Nürnberg57 statt. Diese konstatierte noch vor Verhandlungsbeginn, daß in den meisten Fabriken die Löhne zu niedrig

54 Quelle: Bay. HSTA, Akt MKr 14164. 55 Hierzu und zum folgenden: KÜGEMANN, R. 1931, S.29ff. sowie Bay. HSTA Abt. IV, Stellvertr. Gen. Kdo. III. A.K., Bd. 97 u. 98 (Lohnverhältnisse und Lohnstreitigkeiten in der Porzellanindustrie). 56 Bay. HSTA, Bund 97: Bericht der Kriegsamtsstelle Nürnberg an das Kgl. Kriegsministerium, Kriegsamt München vom 16. Mai 1918. Die OVZ berichtete in ihrer Ausgabe vom 27.7.1917 von einer Gewerkschaftskonferenz, die im Juli 1917in Rehau stattfand und bei der man ein energisches Vorgehen der Verbandsleitung forderte und eine 25%ige Lohnerhöhung angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten noch für zu gering hielt. 57 Den Kriegsämtern bzw. den Kriegsamtsstellen als deren Unterabteilungen oblag die Wahrung wirtschaftlicher und industrieller Belange. Organisiert waren sie in wirtschaftliche Verwaltungsstellen, die der Industrie und dem Gewerbe Rohstoffe, Betriebsstoffe und Arbeitskräfte zuwiesen und in sozialpolitische, deren Aufgabe es war, den Arbeitsfrieden zu erhalten und etwaige Streitigkeiten zu schlichten. Aufgrund des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5. Dezember 1916 (Kriegshilfsdienstgesetz) hatten die Kriegsämter zu diesem Zweck Schlichtungsstellen zu bilden, deren Vorsitzender ein Beauftragter des Kriegsamtes war und denen jeweils drei Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter angehörten. Die Schlichtungsstellen traten auf Anruf einer Partei tätig zusammen und entschieden in Form von Schiedssprüchen.

406 seien und daß die Porzellanfabriken in Schönwald das Zentrum des Unmutes sei.58 Die Arbeitgeber erklärten sich zu Abmachungen irgendwelcher Art außerstande und wollten zunächst nur beratend mitwirken. Sie argumentierten außerdem mit der bei einer nur für Nordbayern geltenden Tarifregelung möglichen Benachteiligung der dort ansässigen Porzellanindustrie hinsichtlich konkurrierender Regionen.59 Es war daher das Bestreben des Unternehmerverbandes, eine Benachteiligung des nordbayerischen Gebietes durch eine etwaige Lohnerhöhung zu vermeiden, indem die Verhandlungen auf das gesamte Reichsgebiet übertragen wurden.

Da ein reichsweiter Tarifabschluß sich auch als Ziel gewerkschaftlicher Forderungen darstellte,60 war die Übertragung der Verhandlungen auf die jeweiligen Dachorganisationen sowohl Gewerkschaften wie auch Unternehmern wünschenswert. Nachdem der Schutzverein der deutschen Porzellanfabriken sich zum unverzüglichen Eintritt in die Verhandlungen bereit erklärt hatte, baten die Arbeitnehmervertreter das Kriegsamt in Berlin, einen neutralen Verhandlungsort zu bestimmen. Dieses gab die Angelegenheit weiter an das Reichswirtschaftsamt, das jedoch eine Vermittlung mit dem Hinweis auf die zu bildenden Arbeitskammern ablehnte.61 Durch diesen erneuten Rückschlag, der von Gewerkschaftsseite den Arbeitgebern angelastet wurde, wuchs die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft und es kam zu Unruhen und Ausständen. Um diesen zu begegnen, empfahl der Verband der Porzellanindustriellen Oberfrankens und der Oberpfalz seinen Mitgliedern, örtliche bzw. Werktarifverträge abzuschließen und die Löhne zu erhöhen resp. Teuerungszulagen zu zahlen. Daraufhin zahlten drei Fabriken des BA zwar 10-25% höhere Löhne, jedoch nur für wenige Berufsgruppen. Alle Fabriken gewährten eine 25%ige Teuerungszulage, die jedoch gegenüber der bisherigen Kriegszulage eine Verschlechterung darstellte, da sie pauschal pro Arbeiter bezahlt wurde, wodurch der Kinderzuschlag entfiel. Auf einen weiteren Nachteil der Teuerungszulagen wies der Porzellanarbeiterverband hin: „Jede Teuerungszulage, die heute geschaffen wird, kann von den Unternehmern in einem Vierteljahre wieder illusorisch gemacht werden, indem neue Faconen und Muster eingeführt werden, wofür der Grundlohn niedriger bemessen wird.“62

58 Bay. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III. A. K., Bd.97: Schreiben des KA Nürnberg vom 10.11.1917. 59 Bay. HSTA, Bund 72: Bericht des Verbandes der Porzellan-Industriellen von Oberfranken und Oberpfalz an die Kriegsamtsstelle Nürnberg vom 3. Dezember 1917. 60 Der christliche Keramarbeiterverband wie auch der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein hatten sich den freigewerkschaftlichen Forderungen angeschlossen. 61 Das KA Nürnberg wertete in seinem Abschlußbericht vom 13.5.1918 dies als eine „Hinausschiebung ins Ungewisse“ und als Verschleppungsversuch der Unternehmer. [Bay. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III. A.K., Bd.97]. 62 Bay. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III. A. K. Bd.97: Undatierter Bericht des Porzellanarbeiterverbandes (Februar 1918).

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Da die Unternehmer weiterhin eine Wiederaufnahme der Verhandlungen vor dem Kriegsamt Nürnberg blockierten, erhöhte sich die Streikbereitschaft der Porzellanarbeiter, wie der Porzellanarbeiterverband63 feststellte: „Gerade die älteren und besonneneren Elemente unter den Arbeitern in Schönwald wie Selb ... unterhalten sich ernstlich über Möglichkeiten und Aussichten eines Streikes.“64

Die Verhandlungen wurden am 11. April 1918 erneut aufgenommen; neben der freien und der christlichen Gewerkschaft nahm erstmals auch die Hirsch-Dunckersche Organisation daran teil. Die Lohnforderungen waren noch weiter erhöht worden und es wurde eine Sonderstellung für die Brenner hinsichtlich Arbeitszeit und –lohn verlangt. Zu der einschließlich Zulage geforderten 40%igen Lohnerhöhung bemerkte das - wenig arbeiterfreundliche - Bezirksamt: „Wenn man die Riesengewinne der Porzellanfabriken in Betracht zieht, kann man die Forderung der Arbeiter wohl verstehen.“65

Durch den Schiedsspruch der Kriegsamtsstelle Nürnberg kam am 7. Mai 1918 ein Abkommen zustande, das die erste tarifvertragliche Regelung für ein größeres Gebiet der deutschen feinkeramischen Industrie darstellte.66 Wegen der Bedeutung dieser Vereinbarung werden einzelne Ausführungen im folgenden näher dargestellt und erläutert.

Lohnregelung Es wurde eine allgemeine Lohnerhöhung von 25% vereinbart, die die bestehenden Ungleichheiten zwischen den einzelnen Fabriken und zwischen männlichen und weiblichen Arbeitern beseitigen sollte. Zu diesem Zweck mußte zunächst eine einheitliche Basis festgelegt werden, welche die Gewerkschaften in Form von Mindestlöhnen durchsetzen wollten.67 Da die Arbeitgeber jedoch umgekehrt auf Mindestleistungen beharrten, kam eine solche Regelung nicht zustande. Der Kompromiß bestand in der Wahl eines Stichtages und der an diesem Tag gezahlten Löhne als Basis für die 25%ige Lohnerhöhung. Da im Februar 1918 der Verband der Porzellanindustriellen Oberfrankens und der Oberpfalz seinen

63 Nach Inkrafttreten des Hilfsdienstgesetzes stieg die Mitgliederzahl des Porzellanarbeiterverbandes reichsweit um 30-50%. Hierzu: BIEBER, H.-J. 1981: Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920. Bd.1. Hamburg. S.308. 64 Bay. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III. A. K. Bd.97: Undatierter Bericht des Porzellanarbeiterverbandes (Februar 1918). 65 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1836, WB vom 20.4.1918. 66 S. AB, Anl. 63: Erste tarifvertragliche Regelung für die nordbayerische Porzellanindustrie vom 7. Mai 1918. 67 Vgl. Bayer. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III. A. K.: Scheiben des KA Nürnberg an das KA MKr in München vom 13.5.1918.

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Mitgliedern eine einseitige Lohnerhöhung empfohlen hatte,68 wurde der 1.1.1918 als Stichtag festgelegt. Da diese Lohnerhöhung jedoch in keiner Weise den bis dahin eingetretenen Kaufkraftverlust auffangen konnte, wurden des weiteren Teuerungszulagen vereinbart, die - im wesentlichen an den Vorstellungen der Gewerkschaften orientiert - nach Verdiensthöhe und Ortsklassen gestaffelt waren. Die Teuerungszulagen betrugen, abhängig von einer der beiden festgesetzten Ortsklassen, zwischen 10 und 15% der bereits um 25% erhöhten Grundlöhne und fielen, um einen Ausgleich zu schaffen, für höher entlohnte Arbeiter geringer aus als für niedriger entlohnte. Für weibliche und männliche Arbeiter war die Höhe der Zulagen gleich, für Jugendliche unter 16 Jahren und für Lehrlinge betrugen sie die Hälfte.

Arbeitszeit und Überstunden Die einheitliche Regelung der Arbeitszeit stieß wegen der großer Unterschiede in den einzelnen Betrieben auf erhebliche Schwierigkeiten. Vor der Vereinbarung wurden durchschnittlich 54 – 60 Stunden pro Woche gearbeitet; in der Brennerei und Schmelzerei war außerdem eine produktionsbedingte Ausdehung der Arbeitszeit auf 26 bis 28 Stunden durchgehend keine Seltenheit. Da die Unternehmer sich gegen eine direkt bindende Bestimmung wehrten, sollte sich "die Arbeitszeit nach den Bestimmungen der jeweiligen Fabrikordnung" richten. Die tägliche Arbeitszeit sollte 10 Stunden nicht überschreiten, Überstunden sollten mit 25% Zuschlag und Sonntagsarbeit sollte mit 50% Zuschlag entlohnt werden. Für in der Brennerei und Schmelzerei beschäftigte Arbeiter wurde hingegen eine Normalarbeitszeit von 12 Stunden festgelegt, deren Überschreitung zuschlagspflichtig war.

Abzüge für Ausschußware Es lag im besonderen Interesse der Arbeiter, eine einheitliche Regelung bzgl. Ausschuß zu treffen, da die Haftung für zerbrochenes, verzogenes oder gesprungenes Porzellan sehr oft zu Streitigkeiten innerhalb eines Betriebes geführt hatte. Über solche, von Arbeitgeberseite oft willkürlich gehandhabte Abzüge für Defekt- oder Ausschußware berichtete die Ameise: "Die Fa. AG Schönwald, Abtl. Arzberg ... gibt Anlaß zu berechtigten Klagen. Hier ist es in erster Linie die Dreherei. ... Die Direktion verlangt von den betreffenden Arbeitern die Lieferung einer guten und tadellosen Ware. ... Jedoch müssen auch die Vorbedingungen dafür geschaffen sein, die Ware in der verlangten Qualität liefern zu können; ... Die zur Verarbeitung gelangende Masse entspricht nicht den Anforderungen, die an die Masse ... gestellt werden müssen. ... Es ist ja furchtbar leicht zu behaupten der Dreher ist schuld, wenn die Ware nicht taugt; es ist auch furchtbar leicht, dem Arbeiter die sauer verdienten Groschen vor der Nase wegzunehmen am Lohntage. ... Wenn die Dreher und Gießer bisher schwiegen, so darf die Direktion daraus nicht den Schluß ziehen, daß die Lohnabzüge für Defekte als berechtigt angesehen wurden. Im Gegenteil, sollten die unberechtigten Lohnabzüge nicht aufhören,

68 Vgl. S.406.

409 werden sich die Arbeiter bemühen, die Direktion an anderer Stelle überzeugen lassen, daß gesetzliche Bestimmungen darüber bestehen, inwieweit berechtigte Lohnabzüge gemacht werden dürfen."69

Die Vereinbarung legte nun fest, daß "Abzüge nur bei nachweisbarer Böswilligkeit und grober Fahrlässigkeit stattfinden dürfen". Die Entscheidung darüber hatten der Arbeitgeber und eine Kommission sachverständiger Arbeiter einvernehmlich zu treffen. Wesentlich war erstens, daß Schäden zukünftig nicht a priori zu Lohnabzügen führten und zweitens, daß der Arbeiterschaft eine Mitwirkung bei der Entscheidung über die Zulässigkeit von Lohnabzügen eingeräumt wurde.

Durchführung und Schlichtung Zwar hatte der Verband der Porzellanindustriellen keine Machtmittel, die mit der Gewerkschaft getroffenen Vereinbarungen bei seinen Mitgliedsfirmen durchzusetzen, doch lag es im Interesse der Unternehmen selbst, die Bestimmungen in ihren Betrieben durchzusetzen. Des weiteren sollten Streitigkeiten und Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern von einem neutralen Gremium, der Kriegsamtsstelle geschlichtet werden. Diese doppelte Bindung hinsichtlich Durchsetzung der Vereinbarungen und Anrufung einer neutralen Schlichtungsstelle verpflichtete Arbeitgeber und Gewerkschaften in gleicher Weise. Das Zustandekommen dieses ersten Kollektivvertrages zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen in der feinkeramischen Industrie war seitens der Militärbehörden (Kriegsamtsstelle) sehr gefördert waren, da es in Kriegszeiten im besonderen Interesse der staatlichen Stellen lag, eine Art " wirtschaftlichen Burgfrieden" zu erhalten und mögliche lange Arbeitskämpfe zu vermeiden.

Vergleicht man die im Jahre 1917 von den Arbeitern aufgestellten Forderungen mit dem Abkommen vom 7.5.1918, so läßt sich ein Teilerfolg der Arbeiterschaft feststellen: Die Gewerkschaft hatte ihr Ziel, den Einstieg in ein System von Flächentarifverträgen zu schaffen, erreicht. Die Lohnerhöhungen entsprachen im wesentlichen den gestellten Forderungen, wenn auch zu bemerken ist, daß die 1918 erfolgte Erhöhung der Löhne infolge inflationärer Tendenzen bei weitem nicht mehr die Kaufkraft besaß, die sie 1917 bei Aufstellung der Forderungen besessen hatte.

69 Die Ameise vom 19.3.1915.

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Nicht durchsetzen konnten sich die Gewerkschaften mit ihrer Hauptforderung nach Festsetzung von Mindestlöhnen.

Durch die Beteiligung der Gewerkschaften an den Lohnverhandlungen und durch die getroffene Lohnvereinbarung selbst wurden diese seitens der Militärbehörden (Kriegsamtsstelle Nürnberg) de facto als Interessenvertreter der Arbeiterschaft anerkannt, obwohl tatsächlich nur etwa 20% der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert waren. Der Tarifabschluß und die daraus resultierenden Lohnsteigerungen bewirkten einen erheblichen Anstieg der Mitgliederzahlen. Eingehalten wurde die Vereinbarung sowohl von Arbeitgeber- wie auch von Arbeitnehmerseite, da sie unter Vermittlung einer Militärbehörde abgeschlossen worden war, die den beiden Parteien auch eine rechtsverbindliche Regelung hätte diktieren können. Später auftretende Differenzen wurden vertragsgemäß beigelegt; die nordbayerische Porzellanindustrie richtete sich noch im Jahre 1919 nach den Bestimmungen dieses Abkommens, obschon bereits Ende 1918 neue Vertragsbestimmungen für das ganze Deutsche Reich aufgestellt worden waren, die das bayerische Abkommen in Bereichen wie Arbeitszeit und Lohnhöhe überholten.

In den übrigen Porzellan-Produktionsgebieten kam eine tarifvertragliche Regelung zunächst nicht zustande, da die dortige Arbeiterschaft nur zum geringsten Teil gewerkschaftlich organisiert war70 und somit kaum Möglichkeiten bestanden, den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Trotzdem liefen die Bestrebungen der anderen Bezirke darauf hinaus, den bayerischen Vereinbarungen gleiche oder vergleichbare zu erreichen. Da das Abkommen in Bayern vor einer Militärbehörde abgeschlossen worden war, versuchten bspw. die sächsischen und schlesischen Gewerkschafter, die dortigen Kriegsamtsstellen ebenfalls als Schlichtungsstellen einzusetzen, um unter Vermittlung dieser zu einem Vertrag zu kommen.71 Während diese Bemühungen erfolglos blieben, gelang es dem Verbandsvorstand der freien Porzellanarbeitergewerkschaft, einen großen Teil der Betriebe im übrigen Deutschen Reich zu einer Anerkennung und Übernahme des bayerischen Vertrages zu bewegen.

70 Der ohnehin geringe Organisationsgrad war infolge des Krieges noch weiter zurückgegangen. 71 Vgl. APM-DDR PII 778. Protokoll der General-Versammlung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands 1919, S.64.

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1.4 Weiterentwicklung der Tarifverträge infolge der politischen Verhältnisse 1918/19

"Das epochemachende Zentralabkommen vom 15.11.1918 zwischen den maßgebenden Spitzenverbänden auf der Arbeitgeber- und auf der Arbeiter- und Angestelltenseite, das die vollkommenste Anerkennung der Gewerkschaften als der berufensten Arbeiterinteressenvertretungen brachte und die Errichtung von Reichsarbeitsgemeinschaften zwischen den beiderseitigen Organisationen proklamierte, schuf die breite Grundlage für eine Massenentwicklung der Tarifverträge." 72

Die Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23. November 1918 legte den Achtstundentag fest; in der Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23. Dezember 1918 erfolgte eine gesetzliche Regelung des Tarif- und Schlichtungswesens sowie der Arbeitervertretung. Durch letztere wurde die Unabdingbarkeit, d.h. die bindende Kraft eines Tarifvertrages für beide Parteien ebenso eingeführt wie eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung bereits bestehender Tarifverträge, die für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen einer Berufsgruppe in einem bestimmten Tarifgebiet überwiegende Bedeutung erlangt hatten.73 Das infolge der politischen Ereignisse (Novemberrevolution) gewachsene Verlangen nach tarifvertraglichen Regelungen der Lohn- und Arbeitsverhältnisse in der gesamten deutschen Wirtschaft und die als Folge inflationärer Tendenzen steigenden Preise begründeten diese gesetzlichen Grundlagen. Dadurch waren gesetzliche Grundlagen zur gleichberechtigten Mitwirkung der Arbeiterschaft bei der Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse, verbunden mit der Anerkennung der Berufsorganisationen und den Prinzipien des wirtschaftlichen Rätesystems geschaffen worden, die zudem verfassungsmäßig verankert wurden: "Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt. Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihre sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat. Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. ..." 74

72 ZIMMERMANN, W. 1928: Tarifvertrag. In: ELSTER, L. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 4. Aufl., Bd.8, S.14f. Jena. 73 Die Bestimmungen über Arbeiter- und Angestelltenausschüsse sowie über die Schlichtung wurden durch das Betriebsrätegesetz vom 4.11.1920 und die Verordnung vom 30.10.1923 neu gefaßt 74 Reichsverfassung vom 11. August 1919, Art. 165 (Auszug).

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Die Organisationsverhältnisse stellten sich in den Jahren 1918/19 so dar, daß den drei gewerkschaftlichen Richtungen freie, christliche und Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften zunächst die nach einzelnen Branchen unterteilten Unternehmerverbände gegenüberstanden, deren Hauptaufgabengebiet jedoch mehr die Preis- und Absatzpolitik und weniger das Tarifwesen war. Der bereits im Jahre 1900 gegründete Schutzverein Deutscher Porzellanfabriken trat als Verhandlungsgegner nicht auf.

Vereinbarungen in der Porzellanindustrie Auf Drängen der Gewerkschaften sahen sich die Unternehmerverbände erstmals im Dezember 1918 veranlaßt, reichsweit gültige Verträge abzuschließen. VERSHOFEN bemerkt dazu: "Die erste Aufsichtsratsitzung (des Verbande deutscher Porzellangeschirrfabriken, d.Verf.) fand nach dem Zusammenbruch am 3. Dez. 1918 in Berlin statt. ... Die erste Sachfrage, über die man zu verhandeln hatte, betraf den Achtstundentag und die Lohnforderungen der Arbeiter. Man sah, im Gegensatz zu der früheren Stellungnahme, nunmehr einmütig die Notwendigkeit der Verhandlungen mit den Arbeitnehmerorganisationen ein und beschloß, in derartige Verhandlungen gemeinsam mit den beeiden anderen Porzellanverbänden (Verband Deutscher Luxusporzellanfabriken und Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken) einzutreten." 75

Somit kam am 5. Dezember 1918 ein Vertrag mit dem Verband Deutscher Porzellangeschirrfabriken, dem Verband Deutscher Luxusporzellanfabriken und der Vereinigung der Elektrotechnischen Fabriken Thüringens und Oberfrankens zustande, in dem folgende Punkte festgelegt wurden: - "Einführung des Achtstundentages. - Die Porzellangeschirrindustrie erhöht die am 9. November 1918 bestandenen Grundlöhne um 100%. - Die Mitglieder des Verbandes Deutscher Luxusporzellanfabriken und der Vereinigung Elektrotechnischer Fabriken Süd-Thüringens und Oberfrankens erhöhen die Friedenslöhne nach dem Stande vom 31. Juli 1914 um 125 Prozent. - Sollte der jetzige Arbeitslohn 100 Prozent bezw.125 Prozent über den an genannten Daten bestandenen Grundlöhnen stehen, dann ist für den durch die Einführung des Achtstundentages entstehenden Lohnausfall eine entsprechende Vergütung zu gewähren. - Wenn in einzelnen Betrieben einzelne Löhne unter dem Zwang der Verhältnisse eine anormale Höhe erreicht haben, darf, nachdem der betreffende Arbeiter gehört, mit dem Arbeiterausschuß ein normaler Grundlohn erst gesucht werden, ehe die Aufschläge nach Ziffer 2,3 und 4 erfolgen. - Die Zuschläge nach Ziffer 2 bis 4 erhalten Jugendliche bis zu 16 Jahren, einschließlich der Lehrjungen, zur Hälfte. - Für Überstunden sind 25 Prozent und für Sonntagsarbeit 50 Prozent als Lohnzuschlag zu zahlen. Brenner (Scharfschürer) erhalten für die 48 Stunden in der Woche übersteigende Arbeitszeit die Überstundenzuschläge. - Die Vereinbarung soll gelten von der am 15. Dezember laufenden Lohnperiode ab."76

75 VERSHOFEN, W. 1923: Handbuch des Verbandes Deutscher Porzellangeschirrfabriken. Ms. Berlin. S.131f. 76 NENNINGER, E. 1925, S.25f.

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Der bereits gesetzlich eingeführte Achtstundentag war somit auch tarifvertraglich festgelegt. Die starke Erhöhung der Löhne hing mit der wachsenden Geldentwertung zusammen; die unterzeichnenden Verbände vertraten die große Mehrheit der Porzellanfabriken.

Vereinbarungen in der Steingutindustrie Bedingt durch die geographische Lage eines Teils der Steingutfabriken, die auf linksrheinischem Gebiet, insbesondere in der Pfalz, angesiedelt waren und infolge der Besetzung dieser Gebiete durch die Siegermächte war die Schaffung eines einheitlichen Tarifvertrages kaum möglich. Hinzu kam, daß, anders als in der Porzellanindustrie, in der mit dem bayerischen Abkommen vom 7. Mai 1918 ein Vorläufer für einen reichseinheitlichen Tarifvertrag geschaffen worden war, in der Steingutindustrie noch keine derartige Vereinbarung bestand, die hätte als Vorlage dienen können. Auf Bestreben des Porzellanarbeiterverbandes, des Verbandes der Deutschen Fabrikarbeiter und des Zentralverbandes christlicher Keram- und Steinarbeiter kam es am 19. Februar 1919 zu Verhandlungen mit den Vereinigten Steingutfabriken und der Vereinigung Deutscher Spülwaren- und Sanitätsgeschirrfabriken. Die Mehrheit der organisierten Arbeiter gehörte der sozialistischen Gewerkschaftsrichtung an, war jedoch in zwei konkurrierende Verbände, Porzellanarbeiter- und Fabrikarbeiterverband, gespalten, die den jeweils anderen Verband in den einzelnen Betrieben zu verdrängen suchten. Dies und mangelnde Erfahrungen mit tariflichen Abmachungen erschwerten die gewerkschaftliche Arbeit nicht unerheblich. Trotzdem gelang es, folgende Vereinbarungen vertraglich zu regeln: Ähnlich dem für die Porzellanindustrie am 5. Dezember 1918 geschlossenen Vertrag sollten die Löhne um 125% gegenüber den Friedenslöhnen steigen. Jugendliche und Lehrlinge sollten die Hälfte des Lohnaufschlages erhalten. Überstunden- und Sonntagsarbeit wurde mit den üblichen Zuschlägen entlohnt. Brenner durften über die übliche Arbeitszeit hinaus bis zu 60 Stunden pro Woche arbeiten, wobei die ununterbrochene Arbeitszeit 12 Stunden nicht überschreiten durfte. Die den Unternehmerverbänden nicht angeschlossenen Betriebe sollten sich diesen Bedingungen ebenfalls anschließen, um so die Konkurrenzfähigkeit der organisierten Unternehmer zu erhalten. Unbeschränkt gültig war der Vertrag zunächst nur für die im unbesetzten Gebiet liegenden Unternehmen. 77

77 Vgl. Die Ameise, 1919, 46.Jg., Nr.9.

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Die Tarifverträge vom 5. Dezember 1918 und vom 19. Februar 1919 stellten die ersten tarifvertraglichen Vereinbarungen in der feinkeramischen Industrie dar, deren Geltungsbereich sich auf das ganze Deutsche Reich erstreckte. Zusatzverträge, welche inflationsbedingte Zuschläge und erstmalig Bestimmungen über Urlaubsgewährung und -dauer enthielten, wurden für die Porzellanindustrie am 28. Mai und für die Steingutindustrie am 30. Juni 1919 abgeschlossen.

Erste gemeinsame Lohnvereinbarung für die gesamte Industrie Die bis zu diesem Zeitpunkt getroffenen Tarifvereinbarungen waren sowohl in der Porzellan- wie auch in der Steingutindustrie auf Unternehmerseite von den einzelnen Fachverbänden abgeschlossen worden. Um den Organisationen der Arbeitnehmer auf Arbeitgeberseite einen geschlossenen Verband gegenüberzustellen, gründeten die einzelnen Fachverbände der beiden Industrien im August 1919 einen gemeinsamen Arbeitgeberverband, den Arbeitgeberverband der Deutschen Feinkeramischen Industrie. Dieser Verband schloß mit den Gewerkschaften am 25. August 1919 in Dresden eine Lohnvereinbarung ab, die wesentliche Änderungen gegenüber den bisherigen Verträgen brachte:78 Als Folge des Zusammenschlusses der Arbeitgeberverbände kam erstmals eine Lohnregelung für die gesamte feinkeramische Industrie zustande, bei welcher der Arbeitgeberverband, der Porzellanarbeiterverband und der christliche Keramarbeiterverband vertragschließende Parteien waren. Tarifliche Mindestlöhne: Während sich bisher die prozentualen Erhöhungen stets auf die im vorhergehenden Lohnabkommen geltenden Löhne bezogen und als Basis für diese Erhöhungen entweder die Lohnhöhe vom November 1918 oder sogar die Vorkriegslöhne gewählt worden waren, stellte das Mindestlohnsystem eine neuartige und in sich autonome Lohngrundlage dar.

Da die Gewerkschaften mit ihrer damaligen Forderung nach Abschaffung der Akkordarbeit keinen Erfolg hatten, strebten sie die Festlegung tariflicher Mindestlöhne an, um auf diese Weise sowohl für die Akkord- wie auch für die Zeitlöhnern eine Lohngarantie zu schaffen: Bei Zeitarbeit wurde dieser Lohn auch dem relativ weniger leistungsfähigen Arbeiter als Mindesteinnahme garantiert, der leistungsfähigere Arbeiter konnte darüber hinaus entsprechend mehr verdienen. Bei Akkordarbeit war der Lohnsatz für die zu produzierenden

78 Vgl. Die Ameise, 1919, 46.Jg., Nr.36.

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Artikel so zu berechnen, daß kein Arbeiter mit normaler Leistung unter diesem als Mindestlohn festgelegten Lohnsatz verdiente; die im Akkord leistungsfähigeren Arbeiter konnten entsprechende Mehrverdienste erzielen.

Die Aufstellung von Mindestlöhnen im Vertrag vom 25. August 1919 führte zu einer Neuregelung der Prinzipien der Lohnbildung, die in dieser Form mit wenigen Änderungen bei allen späteren Tarifverträgen bestehen blieben. Die Mindestlöhne mußten in eine Lohntafel eingereiht werden, für die eine Systematik nach folgenden Kriterien zu schaffen war: Einteilung der Arbeiter nach Alter, Geschlecht und Beschäftigungsart und Einteilung der Produktionsorte nach Maßgabe der dortigen Lebensverhältnisse. Für männliche und weibliche Arbeiter ergab sich somit eine Staffelung der Lohnsätze in drei Altersstufen, in Facharbeiter und sonstige Arbeiter, in Zeit- und Akkordlöhner und in drei Ortsklassen, wobei die Schwierigkeit bei der erstmaligen Aufstellung darin bestand, die für die Porzellanindustrie typische Zergliederung des Produktionsprozesses in viele verschiedene Arbeitsschritte in einen einheitlichen Lohnrahmen zu bringen. Der zustandegekommene Vertrag war als Ergänzungsvertrag zu den vorherigen Vereinbarungen anzusehen und rekurrierte nur auf Lohnfragen.79 Ein Tarifvertragsverhältnis, das sämtliche Lohn- und Arbeitsbedingungen verbindlich regelte, fehlte noch.

1.5 Erster Reichstarifvertrag in der feinkeramischen Industrie 1920

Die im August 1919 abgeschlossene Vereinbarung wurde vom Porzellanarbeiterverband zum 31. Dezember 1919 gekündigt. Begründet wurde diese Kündigung in einer Resolution, welche auf der Generalversammlung im September 1919 in Marktredwitz verabschiedet wurde: "Vor allen Dingen muß die Spezialisierung der Facharbeiter erfolgen. Die 3. Mindestlohnklasse ist zu beseitigen, der Mindestlohn muß allgemein erhöht, ein Mindestlohn auch für die Jugendlichen festgelegt werden. In der Ferienfrage ist dafür zu sorgen, daß nicht nur die Tätigkeitsdauer im Betriebe, sondern die in der Industrie Berücksichtigung findet. An der Forderung auf Beseitigung der Akkordarbeit ist festzuhalten, der Grundsatz 'gleicher Lohn für gleiche Arbeit' ist durchzuführen." 80

79 Wenngleich anzumerken ist, daß Lohnvereinbarungen den Kern jedes Tarifvertrages bilden. 80 APM-DDR, P II 778. Protokoll der General-Versammlung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands 1919, S.122.

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Diese Forderungen wurden, ergänzt durch weitere Anträge, die auf einer im November 1919 stattgefundenen Konferenz des Gaues Oberfranken-Oberpfalz aufgestellt worden waren, zu einem Vertragsentwurf ausformuliert. Dabei unterschieden sich die gewerkschaftlichen Forderungen nach Dringlichkeitsanträgen und Anträgen zum Vertrag selbst. Als Dringlichkeitsantrag wurde als erstes die Gewährung einer einmaligen Wirtschaftsbeihilfe für das Jahr 1919 aufgeführt, die sich folgendermaßen staffeln sollte: Für verheirate Männer 600,- M; für verheiratete Frauen 500,- M; für Ledige 500,- M; für Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr 200,- M; Unterstützung für jedes Kind bis zur Schulentlassung 50,- M. Zum zweiten wurde eine ausreichende Unterstützung bei kurzzeitigem oder zeitweiligem Produktionsstillstand gefordert, was eine Kurzarbeiter- bzw. Arbeitslosenunterstützung bedeutet hätte, die von Unternehmerseite hätte aufgebracht werden müssen. Der Vertragsentwurf selbst enthielt exakt formulierte Anträge über Einstellung/Entlassung von Arbeitern, Arbeitszeit und Pausen, Überstunden und Sonntagsarbeit, Lohnregelungen, Lohnzahlung, Urlaub, Wahrung des Koalitionsrechtes und Mitwirkung der Betriebsräte. Bei Einstellungen und Entlassungen sollte der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bekommen und Entlassungen sollten nur bei einer Einschränkung der Arbeitszeit auf 30 Stunden (Kurzarbeit) zulässig sein. Die Wochenarbeitszeit von 48 Stunden sollte auch für die Brenner betragen, Arbeitspausen sollten als voll zu zahlende Arbeitszeit gelten. Über Überstunden- und Sonntagsarbeit sollte der Betriebsrat mitbestimmen, für diese sollte ein 25 bzw. 50%iger Lohnzuschlag gezahlt werden. Eine weitere Forderung bestand in der Abschaffung der dritten Ortsklasse; bei den dann noch bestehenden zwei Ortsklassen sollten die meisten Orte in die erste Klasse eingereiht werden.

Für sämtliche bestehenden Zeit- und Akkordlohnsätze wurde eine Erhöhung um 25% gefordert.81 Die Mindestlöhne bezogen sich auf Facharbeiter und sonstige Arbeiter; diese Kategorien wurden im Vertragsentwurf bestimmt. Danach wurden als Facharbeiter solche Arbeiter angesehen, die eine berufsübliche Lehrzeit absolviert hatten, weiterhin diejenigen Arbeiter, die eine dreieinhalbjährige Tätigkeit in dem entsprechenden Beruf82 nachweisen konnten. Richtlohn für die Festsetzung der Akkordlöhne sollte dabei der um 25% erhöhte Stundenlohn der über 20 Jahre alten Arbeiter sein. Die Entlohnung der weiblichen Arbeiter sollte nach dem Grundsatz geschehen, daß "Frauenarbeit in nach Leistung genügendem

81 Die Konferenz des Gaues Oberfranken-Oberpfalz forderte sogar eine 50%ige Erhöhung. 82 Z.B. Dreher oder Gießer.

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Ersatz für Männerarbeit nach den Lohnsätzen der Männer bezahlt werden sollte."83 Außerdem sollte die Berechnungsgrundlage bei der Festsetzung der Stücklöhne für Heimarbeiter nicht niedriger sein als die der Betriebsarbeiter.

Vom 11.-13. Dezember 1919 fanden in Leipzig Verhandlungen zwischen dem Arbeitgeberverband und den Arbeitnehmerorganisationen statt, bei denen die Arbeitgeber ihrerseits ein Vertragsangebot vorlegten, das die Forderungen der Arbeiterschaft teilweise erfüllte. Die Dringlichkeitsanträge wurden zurückgewiesen mit dem Bemerken, daß eine Wirtschaftsbeihilfe wg. der damit verbundenen finanziellen Belastung von der Industrie nicht gezahlt werden könne und daß Unterstützungen bei zeitweiligen Betriebsstillegungen vom Reich zu zahlen wären. Auch sollte die dritte Ortsklasse nach Ansicht des Arbeitgeberverbandes bestehen bleiben. Die Lohnangebote der Arbeitgeberseite lagen bei den Facharbeitern um 9,8%, sonstigen Arbeitern um 18,2%, Facharbeiterinnen um 22,1%, sonstigen Arbeiterinnen um 24,7% unter den Forderungen der Arbeiter. Die von der Gewerkschaft vorgeschlagene Aufteilung der Arbeiter in Fach- und Nichtfacharbeiter wurde von den Arbeitgebern größtenteils akzeptiert, die Eingruppierung der Brenner, Schmelzer, Packer und Masseschläger als Facharbeiter dagegen abgelehnt. Da die Parteien sich weigerten, weitere Zugeständnisse zu machen, wurden die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen. Somit herrschte ab dem 1. Januar 1920 ein vertragsloser Zustand, den der Arbeitgeberverband einseitig dadurch zu beenden suchte, daß er seine Mitglieder dazu verpflichtete, die bei den Leipziger Verhandlungen angebotenen Lohnsätze zu zahlen. Die Arbeiter hingegen hielten an ihren Forderungen fest und verlangen insbesondere eine Wirtschaftsbeihilfe zum Ausgleich für die in den letzten Monaten des Jahres 1919 als Folge der Inflation gesunkenen Reallöhne.

Die weitere Entwicklung wurde wesentlich von der nordbayerischen Arbeiterschaft bestimmt. Diese war in den größeren Industrieorten infolge der hohen Dichte der dortigen Porzellanindustrie in relativ hohem Maße gewerkschaftlich organisiert, was sich bereits beim Zustandekommen des ersten, für Nordbayern geltenden Kollektivabkommens im Jahre 1918 gezeigt hatte.84 Die Lohnkämpfe wurden nunmehr von den Arbeitern in die einzelnen Betriebe selbst verlegt. Am 5. Januar 1920 erhob die Arbeiterschaft von Marktredwitz

83 Vgl. Bay. HSTA, Akt MKr 14164: Demobilmachungsstelle Nordbayern über Lohnfragen in der keramischen Industrie. 84 Vgl. S.403ff.

418 gegenüber den dortigen Fabriken eine lokale Lohnforderung, nach der ab dem 1. Januar auf die bestehenden Löhne ein Aufschlag von 50% und außerdem die in Leipzig postulierte Wirtschaftsbeihilfe verlangt wurde. Demgegenüber erklärten sich die Unternehmer außerstande, in Verhandlungen einzutreten und als Einzelunternehmen Abkommen zu treffen. Zur Begründung wurde die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband der deutschen feinkeramischen Industrie angeführt und auf dessen alleinige Zuständigkeit für Verhandlungen und Vereinbarungen verwiesen.85 Daraufhin traten am 6. Januar 1920 in Marktredwitz ca. 1.300 Arbeiter in den Streik, dem sich ein großer Teil der Arbeiter im oberfränkisch-oberpfälzischem Bezirk anschloß.86 In der Folge wandten sich die Kreisregierung von Oberfranken in Bayreuth und das für Marktredwitz zuständige Bezirksamt Wunsiedel an das Ministerium für soziale Fürsorge in München, das seinerseits die Demobilmachungsstelle Nordbayern in Nürnberg mit der Beilegung des Streiks und der Durchführung einer Lohnregelung in der feinkeramischen Industrie beauftragte.

Den Demobilmachungsbehörden waren durch die Verordnung vom 3. September 1919 weitreichende Befugnisse im Schlichtungswesen zuerkannt worden.87 So war bestimmt worden, daß Schiedssprüche, die bei Streitigkeiten und Arbeitskämpfen über Löhne, Gehälter und Arbeitsbedingungen gefällt worden waren, von den Demobilmachungsbehörden für verbindlich erklärt werden konnten. Sollte also eine Vereinbarung zwischen den beiden Vertragsparteien nicht zustande gekommen sein, so konnte die Behörde die Arbeitsentgelte und –bedingungen einseitig festlegen. Die Behörde rief die Parteien zu Verhandlungen nach Nürnberg, die Mitte Januar 1920 stattfanden. Die Arbeitgeber wurden durch den Arbeitgeberverband sowie Abgeordnete des vom Streik betroffenen bayerischen Bezirkes vertreten. Die Arbeitnehmer entsandten neben Vertretern der Zentralorganisation einige Gewerkschaftsfunktionäre des bayerischen Gaues. Die Arbeitgeber unterbreiteten infolge der Streiksituation weitere Vorschläge und sicherten weitergehende als die bisherigen Konzessionen zu. Da es trotz langwieriger Verhandlungen zu keiner Einigung kam, mußte eine schiedsgerichtliche Lösung gefunden werden. Auf diese Weise kam am 16. Januar 1920 ein Abkommen zustande, das den ersten Reichstarifvertrag für die deutsche feinkeramische Industrie zum Ergebnis hatte. Wegen seiner Bedeutung als Prototyp aller folgenden

85 Vgl. Bay. HSTA, Akt MKr 14164: Demobilmachungsstelle Nordbayern. 86 Der Streik weitete sich in den folgenden Tagen auf Weiden, Bayreuth, Selb und Arzberg aus. Zu einem bezirksweiten Ausstand kam es jedoch nicht. 87 Vgl. Demobilmachungsverordnung vom 3.9.1919. In: Reichsgesetzblatt 1919, S.1507f. und FEIG, J. 1928: Schlichtungswesen. In: ELSTER, L. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 4. Aufl., Bd.7, Jena. S.236.

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Tarifverträge wird dieser erste kollektive Flächentarifvertrag in der keramischen Industrie etwas näher dargestellt.

Vertragschließende Parteien waren auf Arbeitgeberseite88 der Arbeitgeberverband der Deutschen Feinkeramischen Industrie und auf Arbeitnehmerseite der Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands, der Berufsverband deutscher Keramarbeiter, vereint im Zentralverband christlicher Fabrik- und Transportarbeiter Deutschlands, der Verband der deutschen Gewerkvereine H.-D. der Deutsche Metallarbeiterverband, der Zentralverband der Maschinisten und Heizer sowie der Verband der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe Deutschlands.

Der Vertrag gliederte sich im wesentlichen in folgende Bereiche: Geltungsbereich Als Reichstarifvertrag abgeschlossen, erstreckte sich dessen Geltungsbereich auf alle im Deutschen Reich ansässigen Porzellan- und Steingutfabriken. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen wurden ausschließlich für Arbeiter und Arbeiterinnen vertraglich geregelt, Angestellte wurden davon ausgeschlossen.

Geltungsdauer Der Vertrag war rückwirkend ab dem 1. Januar 1920 gültig und hatte eine halbjährige unkündbare Laufzeit, danach war eine Kündigung mit einer Frist von zwei Monaten möglich. Das aus dem Manteltarifvertrag herausgenommene Lohnabkommen hatte nur eine vierteljährliche Laufzeit.89

Einstellung und Entlassung von Arbeitern Die bereits gesetzlich vorgeschriebene Unabdingbarkeit90 der Tarifbestimmungen wurde

88 Vgl. Reichstarifvertrag für die deutsche feinkeramische Industrie vom 16.1.1920. 89 Der Grund für diese kurze Laufzeit lag in der zunehmenden Geldentwertung, mithin dem Verfall der Löhne bei steigenden Preisen. 90 Unabdingbarkeit = Nichtzulässigkeit abweichender Bestimmungen. Vgl. S.281.

420 vertraglich nochmals fixiert. Einstellungen von Arbeitern durften nicht "zu ungünstigeren Bedingungen" als den vertraglich festgelegten erfolgen. Neueinstellungen von Arbeitskräften waren nur unter Vermittlung der staatlichen Arbeitsnachweisstellen zulässig, sofern nicht eigene paritätisch besetzte Arbeitsnachweise bestanden. Bei Entlassungen durfte nur nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften verfahren werden; keinem Arbeiter konnte wegen "Eintritt für die Erfüllung des Vertrages"91 gekündigt werden.

Arbeitszeit Gemäß den gesetzlichen Bestimmungen wurde die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden festgelegt; die Einteilung der täglichen Arbeitszeit sowie die Festsetzung der Pausen hatte zwischen Betriebsleitung und Arbeiterausschuß einvernehmlich zu geschehen. Arbeitspausen wurden im allgemeinen nicht zur Arbeitszeit gerechnet; eine Überschreitung der Arbeitszeit war nur auf Vereinbarung zwischen Arbeiterausschuß und Betriebsleitung zulässig. Überstunden- und Sonntagarbeit waren mit einem 25 bzw. 50%igen Zuschlag zu entlohnen. Die Brenner konnten "aus technischer Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit" grundsätzlich eine längere Arbeitszeit als 48 Wochenstunden leisten; bei einer Beschäftigung von mehr als 48 Stunden bestand Anspruch auf Überstundenvergütung. Die Urlaubsdauer betrug 3 bis 10 Tage, abhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit. Für den Urlaub waren ausschließlich Arbeitstage anzurechnen, die voll zu bezahlen waren. Die Auszahlung des Urlaubsanspruches war nicht möglich, während seiner Dauer war eine anderweitige entgeltliche Beschäftigung untersagt.

Arbeitslohn Entsprechend der Abstufung der Mindestlöhne in solche für Facharbeiter und Nichtfacharbeiter war eine Abgrenzung dieser beiden Gruppen vorgenommen worden. Anspruch auf Facharbeiterentlohnung hatten in erster Linie die gelernten Arbeiter; des weiteren die in verschiedenen Berufsgruppen wie z.B. Dreher, Maler usw. angelernten Arbeitskräfte, sofern sie in der betreffenden Gruppe ein halbes Jahr länger beschäftigt waren als die übliche Lehrzeit der Gelernten ausmachte.92 Die Produktionsorte waren in 5 Klassen unterteilt, wodurch sich 5 Lohnklassen ergaben. Als Grundlage für die Berechnung der Akkordlöhne galt der im 25% erhöhte Mindeststundenlohn der über 24 Jahre alten Arbeiter

91 Mit dieser vertraglichen Bestimmung wurde den Arbeitern indirekt ein Streikrecht zugestanden. 92 Dies waren in der elektrotechnischen Porzellanindustrie: Modelleure, Modelleinrichter, Abgießer, Formengießer, Dreher, Gießer (soweit sie gelernte Dreher oder Former waren, vgl. Anm.440), Kapseldreher, Maler und Handwerker. Vgl. Die Ameise vom 15. Oktober 1920.

421 und der über 20 Jahre alten Arbeiterinnen. Eine besondere Klausel regelte die Entlohnung von Minderleistungsfähigen. Bei der Festsetzung der Stücklöhne erhielten die Arbeiter durch die Aufstellung einer Preiskommission ein Mitbestimmungsrecht. Frauen hatten bei Qualitätsleistungen einen Entlohnungsanspruch nach den Lohnsätzen der Männer, die Stücklöhne der Heimarbeiter durften nicht niedriger sein als die der Betriebsarbeiter.

Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten Bei Durchführung des Vertrages entstehende Arbeitsstreitigkeiten waren paritätisch besetzten fachliche Schlichtungsinstanzen vorzulegen, welche bei Nichteinigung per Schiedsspruch zu entscheiden hatten.

Sonderbestimmungen Rechte und Pflichten der gesetzlichen Arbeitervertretung waren vertraglich festgelegt, die Koalitionsfreiheit war vertraglich zugesichert. Die von der Arbeiterschaft in den Vertragsverhandlungen mehrfach geforderte Wirtschaftsbeihilfe wurde zugesagt und betrug für die im letzten Vierteljahr vor Vertragsabschluß in die Betriebe eingetretenen Arbeiter einen Wochenverdienst, für die bereits vor dieser Zeit Beschäftigten zwei Wochenverdienste.93

2. Sozialpolitische Maßnahmen

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden wesentlich durch sozialpolitische Maßnahmen mitbestimmt, die vom Staat, von einzelnen Betrieben oder von den Gewerkschaften unternommen wurden, um eine Stabilisierung der materiellen Existenzbedingungen der Arbeiterschaft zu erreichen und sie in den bürgerlichen Staat zu integrieren. Im folgenden sollen diese Einrichtungen näher dargestellt werden.

93 Auch in der nachfolgenden Zeit wurden von den Belegschaften mehrerer Fabriken wiederholt Anträge an die Firmenleitungen auf Lohnverbesserungen und -zulagen gestellt, was darauf schließen läßt, daß die zugesagte Wirtschaftsbeihilfe bei weitem nicht ausreichend war. So richteten die Massekeller-Arbeiter der PF Hermsdorf 1921 eine Eingabe an die Betriebsleitung, in der sie eine Lohnerhöhung von 33 1/3% mit der Begründung forderten, daß "seit langer Zeit alle Lebensmittel und Bedarfsgegenstände erheblich im Preis gestiegen" seien. 1922 baten in Hermsdorf die Masseschläger der Abt. Massekeller "die Betriebsleitung um eine Lüftungszulage von 25% ... , da jetzt bei der furchtbaren Teuerung nicht mehr auszukommen ist." In ähnlicher Weise wandten sich 1924 die Schlämmer an die Direktion der PF Hermsdorf: "Mit dem jeweiligen Lohn ist bei den jetzigen Preisen an ein Auskommen nicht zu denken." (alle: Thür. HSTA, Hescho 033).

422

2.1 Staatliche Sozialpolitik

"Der Industrialisierungsprozeß hatte auch in Bayern teilweise Lebens- und Arbeitsbedingungen hervorgebracht, die nicht nur als menschenunwürdig, sondern auch als politisch gefährlich und dem Wirtschaftswachstum letztlich als nicht förderlich betrachtet wurden. Die Arbeiterbewegung war auch aus dem Kampf um bessere Arbeitsverhältnisse hervorgegangen, und mit ihrem Einfluß wuchs im Bürgertum die Einsicht, tatsächliche Mißstände zu beseitigen und berechtigte Forderungen zu erfüllen, um auf diese Weise die sozialen Gegensätze zwar nicht aufzuheben, aber in ihren Auswirkungen zu entschärfen."94

Bei der Lösung dieser "Sozialen Frage" zeichneten sich im wesentlichen drei Richtungen ab: Der Arbeiterschutz versuchte, durch eine Umgestaltung der industriellen Arbeitsverhältnisse Krankheitsursachen und Gefahrenquellen möglichst zu beseitigen, um so eine gesundheitliche Gefährdung der Arbeiter auszuschließen. Die als unvermeidlich angesehenen gesundheitlichen Folgen der industriellen Arbeit sollten gelindert, ihre sozialen Kosten verteilt und nicht allein dem Verursacher zur Last gelegt werden. Im Wege der Prophylaxe sollten Lebens- und Wohnverhältnisse sowie medizinische Betreuung verbessert werden, um auf diese Weise die Anfälligkeit für Krankheiten (auch: Berufskrankheiten) zu minimieren.

Arbeiterschutz In Bayern begannen die gesetzlichen Arbeiterschutzbestimmungen mit den Kinderschutzverordnungen der Jahre 1840 und 1854.95 Verstärkt wurden diese 1861durch das bayerische Polizeistrafgesetzbuch, das bei Verstößen gegen die Fürsorgepflicht für Leben und Gesundheit der Arbeiter Strafen vorsah. Eine entsprechende Vorschrift beinhaltete auch die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869, die 1872 in Bayern in Kraft trat. Hier wurde bestimmt, daß die Arbeitgeber auf eigene Kosten die zur Sicherung der Arbeiter vor Lebens- und Gesundheitsgefahren notwendigen Einrichtungen bereitzustellen hatte. Konkret bedeutete dies, daß bereits in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts der Einbau von Schutzvorrichtungen, Entstaubungs- und Absauganlagen u.a. gesetzlich vorgeschrieben war, wenngleich diesen Bestimmungen faktisch kaum Folge geleistet wurde. Weiterer Ausdruck staatlichen Arbeiterschutzes waren in der Folgezeit Schutzbestimmungen für Jugendliche und Frauen sowie Bestimmungen über die Gewerbeaufsicht.

94 FOERSTER, C.: Der Staat und die "Soziale Frage". In: BOTT, G. 1985, S.505. 95 Als weitere wichtige Stationen der bayerischen Sozialgesetzgebung sind das Gesetz über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt (25.4.1868) und das Gesetz, die öffentliche Armen- und Krankenpflege betreffend (29.4.1868) zu nennen.

423

Seit 187996 oblag den Fabriken-Inspektoren die Aufsicht über die Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen zum Arbeiterschutz. Die bayerischen Inspektoren rekrutierten sich aus berufserfahrenen, wissenschaftlich vorgebildeten Technikern, standen also wegen ihres bisherigen beruflichen und sozialen Umfeldes den Arbeitgebern näher als den Arbeitern. Diese Distanz, verstärkt und augenfällig symbolisiert durch die Uniform der Gewerbeinspektoren,97 die diese als Vertreter der Obrigkeit auswies, sollte die Forderung der Sozialdemokratie nach Aufsichtsbeamten aus dem Arbeiterstand überwinden helfen. Im Jahre 1897 wurden mehrere Arbeiter, ab 1898 auch weibliche,98 als Assistenten angestellt, deren Zahl sich bis 1921 mit 24 auf knapp die Hälfte aller Stellen erhöhte. Ab 1909 beriet in Bayern ein sog. Landesgewerbearzt99 die Gewerbeaufsichtsbeamten in hygienischen Fragen. Deren Aufgaben, die zunächst nur als Ergänzung zu den Aufgaben der Polizeibehörden gedacht waren, die die Einhaltung der Schutzbestimmungen zu kontrollieren hatten, vergrößerten sich sukzessive entsprechend der Erweiterung der betreffenden Gesetze und Verordnungen: Überwachung der Vorschriften zur Kinderarbeit, ab 1891 auch zur Frauenarbeit, Überwachung gesetzlicher Regelungen zur Arbeitszeit (ab 1892 Erweiterung der Fabrikinspektion um die Gewerbeinspektion), zum Trucksystem,100 zur Führung der Arbeitsbücher, Kontrolle der Fabrik- und Arbeitsordnungen, Überprüfung der Arbeitsräume hinsichtlich sanitärer und hygienischer Erfordernisse sowie technischen Anlagen (z.B. Dampfkessel) hinsichtlich der Betriebssicherheit. Schwerpunkt der Arbeit der Fabrikinspektion bzw. Gewerbeaufsicht war demnach in den ersten Jahren ihres Bestehens die Revisionstätigkeit, über die Gedächtnisprotokolle, sog. Tagebücher angelegt wurden, die später durch eigene Formblätter ersetzt wurden. Später wuchsen den Fabrikeninspektoren zusätzlich neue Aufgaben zu, da sie mehr und mehr auch als Auskunfts-, Beratungs- und Vermittlungsorgane fungierten sowie zunehmend Anregungen zu betrieblichen und technischen Verbesserungen gaben. Hauptmängel der Fabrik- und Gewerbeinspektion waren

96 Die ersten drei Fabriken-Inspectoren mit Dienstsitz in München, Nürnberg und Speyer wurden durch Königlich Allerhöchste Verordnung vom 17. Februar 1879 bestellt. 97 Die Dienstuniform eines Fabriken-Inspectors mit Zweispitz und Degen sowie seine Ausstattung mit Pferdekutsche samt Kutscher als dienstlichem Verkehrsmittel verdeutlichte seinen Status als Vertreter der Obrigkeit (siehe Abb.). 98 Bei der Einstellung von Arbeitern, insbes. weiblichen Arbeitern als Gewerbeaufsichtsbeamte kam Bayern eine Vorreiterrolle zu. Obschon sich die Fabrikeninspektoren zunächst gegen die Einstellung von Frauen gewehrt hatten, rechtfertigte der wachsende Anteil weiblicher Arbeitskräfte in der Industrie den sukzessiven Einsatz von Frauen in der Gewerbeaufsicht. In Nürnberg wurde 1898 die erste Funktionärin im Gewerbeaufsichtsdienst eingestellt. Vgl. STA Nürnberg, Rep. 270 III, KdJ, Nr. 1794. 99 Der erste bayerische Landesgewerbearzt, F. KOELSCH, trat besonders durch seine Untersuchungen der Erkrankungen in der Porzellanindustrie hervor. Vgl. S.213. 100 Das besonders im 18. Jhdt. in der Porzellanindustrie weitverbreitete Trucksystem (Bezahlung der Arbeiter in Waren, besonders Nahrungs- und Genußmitteln anstelle des Barlohnes) wurde durch § 115 Gewerbeordnung verboten.

424 die unzureichende personelle Ausstattung, die kaum mehr als eine stichprobenartige Kontrolle101 zuließ sowie das Fehlen exekutiver Vollmachten, weswegen die Inspektoren bei einer Strafverfolgung auf die Amtshilfe der – meist sehr unwilligen und nachlässigen – Ortspolizeibehörden angewiesen waren.102 In der vorgenannten Verordnung kam damit klar zum Ausdruck, daß die Fabriken-Inspectoren nicht an die Stelle der ordentlichen Polizeibehörden treten sollten. Nominell wurden ihnen zwar die amtlichen Befugnisse der Ortspolizeibehörden zugestanden, nicht jedoch die Möglichkeit, auf administrativem Wege Verfügungen zu erlassen. Das für jegliche Hoheitsverwaltung unverzichtbare Mittel des Verwaltungszwanges blieb den Ortspolizeibehörden vorbehalten. Deren Befugnis und Verpflichtung zur Wahrnehmung der Aufsicht über die gewerblichen Anlagen bestand somit unverändert fort. Die Fabriken-Inpectoren, deren Zahl sich bis 1910 sukzessive auf 11 erhöhte, waren bei den Bezirksregierungen (Kammer des Innern) angestellt, in deren Bezirk sie ihren Dienstsitz hatten. Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Fabrikinspektoren charakterisiert der Jahresbericht der Gewerbeaufsicht noch 1893 folgendermaßen: "Bezüglich des Verkehrs mit den Arbeitern selbst ist eine Besserung gegen das Vorjahr nicht eingetreten. Persönliche Beschwerden von Arbeitern sind nicht eingekommen ... Nachdem persönliches Befragen der Arbeiter gelegentlich der Besichtigungen in den betrieben niemals zur Ermittlung derartiger Missstände (sic!) führte, so ist beabsichtigt, in Zukunft die Anwesenheit des Gewerbeaufsichtsbeamten an grösseren Industrie-Plätzen den Arbeitern durch die Presse bekannt zu machen, um denselben Gelegenheit zu geben, zu bestimmten Stunden allenfallsige Beschwerden etc. persönlich vorzubringen."103

Daraus ist zu folgern, daß die Befürchtung, bei einer Beschwerde den Arbeitsplatz zu verlieren, die meisten Arbeiter davon abhielt, bei einer im Beisein des Unternehmers durchgeführten Besichtigung und Kontrolle des Betriebes über etwa vorhandene Mängel und Mißstände zu berichten. Die angesprochenen und avisierten Sprechstunden wurden ab 1894 tatsächlich in allen vier bayerischen Aufsichtsbezirken eingerichtet,104 doch wurden die Beamten bis 1905 kaum konsultiert. Erst danach wurde die Gewerbeaufsicht – auch durch die Unterstützung und Kooperation der reformorientierten Arbeiterorganisationen – sukzessive

101 In den ersten Jahren ihrer Tätigkeit erbrachten die Fabriken-Inspectoren tw. eine Revisionsleistung von durchschnittlich 450 besichtigten Fabriken pro Jahr bei einer Reisedauer von 140 Tagen. Da sich darunter nicht selten Großbetriebe mit mehr als 2.000 Beschäftigten befanden, außerdem noch ein immenser Postumlauf (400 Eingänge, 300 Ausgänge jährlich) zu bewältigen war, konnten die Revisionen bestenfalls oberflächliche und lückenhafte Momentaufnahmen der revidierten Fabriken und der Arbeitsverhältnisse sein. Vgl. Bayer. Staatsmin. f. Arbeit u. Sozialordnung 1979, S. 16f. 102 Vgl. hierzu GRESSER, A. 1984, S.165ff. 103 JFI 1893, S.115. 104 JFI 1894, S.X.

425 von den Arbeitern als neutrale und unparteiische Vermittlungsinstanz zwischen ihnen und den Unternehmern akzeptiert.105

27 Kgl.-bayerischer Fabriken-Inspector mit Zweispitz und Degen106

Nachdem durch die Schaffung der obligatorischen Fabrikinspektion - zumindest formal - der Grundstein für einen Schutz des Arbeiters am Arbeitsplatz gelegt worden war, richteten sich die sozialpolitischen Bestrebungen der 1880er Jahre auf den Arbeiter selbst und die Linderung seiner durch Krankheit oder Unfall hervorgerufenen Notsituation, wobei die hohen Versicherungsleistungen auch aus volkswirtschaftlicher Sicht eine Rückführung der Unfallziffern wünschenswert erscheinen ließen. Die nach dem Rücktritt BISMARCKs einsetzende Politik des Neuen Kurses ließ die Diskussion um den Arbeiterschutz verstärkt aufleben, so daß die von Kaiser Wilhelm II. 1890 einberufene internationale Arbeiterschutzkonferenz sich auf bestimmte Forderungen verständigte, die in der Gewerbeordnungsnovelle vom 1.6.1891 weitgehend realisiert wurden. In der Praxis blieben die Bestimmungen dieser Verordnung107 – obligatorischer Erlaß von Arbeitsordnungen,

105 STA Amberg, Reg. d. Opf. 5452: Protokoll der Fabrikinspektoren-Jahreskonferenz vom November 1909. Vgl. auch JFI 1908, S.89. 106 Quelle: Bayer. Staatsmin. f. Arbeit u. Sozialordnung 1979, S.17. 107 Vgl. S.387f.

426 fakultative Einrichtung von Arbeiterausschüssen und Gewerbegerichten in Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern – jedoch weitgehend ohne Wirkung.

Sozialversicherung Während staatliche sozialpolitische Maßnahmen in Bayern im Rahmen von Arbeiterschutzgesetzen bei den Verursachern von Schadensfällen ansetzten, indem sie den Unternehmern Auflagen zur Betriebssicherheit machten, blieben die Daseinsvorsorge, mithin auch die Maßnahmen der sozialen Fürsorge bei einem eingetretenen Krankheits- oder Unglücksfall zunächst der privaten Initiative, Kirchen und Kommunen überlassen. In der Folge entwickelte sich aus differenten Ursachen108 heraus ein Sozialversicherungssystem, als dessen Begründer BISMARCK angesehen werden kann. Einerseits sollte "eine Rente, eine staatliche Versorgung, ... die Anhänglichkeit an den Staat stärken und den Arbeitern eine konservative Gesinnung vermitteln, die den Umsturz der Staatsverfassung und den damit verbundenen Verlust der Rente fürchten ließ."109

Auf der anderen Seite bestand eine soziale Motivation dieser Gesetzgebung durch die für die Arbeiterschaft ungewohnten industriellen Arbeitsbedingungen, die durch vermehrten Einsatz von Maschinen und einem gegenüber Landwirtschaft und Handwerk veränderten Arbeitsrhythmus gekennzeichnet waren. Auch die Bestimmungen des Reichshaftpflichtgesetzes vom 7.6.1871, nach denen nicht nur der Unternehmer, sondern auch dessen Bevollmächtigte hafteten, änderten nichts daran, daß im Unglücksfall der Arbeiter und dessen Angehörige meist unversorgt blieben, da der Nachweis eines unternehmerischen Verschulden äußerst schwierig war. Die infolge Rückwanderung aus den industriellen Regionen wachsende Zahl der Kranken, Invaliden und Alten wurde von den Kommunen betreut, deren Kassen dadurch erheblich belastet wurden. Die Sozialversicherung,110 die als ein System staatlicher, sich ergänzender Hilfsmaßnahmen angesehen werden kann, verschob diese Belastung von den Gemeinden auf den Staat.

Mit dem 1883 erlassenen Gesetz über die Krankenversicherung wurde der Versuch unternommen, die vielfältigen bereits bestehenden und auf Initiative zunächst qualifizierter

108 Mögliche Kausalitäten bestehen in den Auswirkungen der Gründerkrise auf die Arbeiterschaft, im für das Bürgertum negativen Vorbild der Pariser Kommune sowie in der Absicht, die dem Staat durch das Sozialistengesetz entfremdeten Arbeiterschichten stärker zu integrieren. 109 FOERSTER, C. 1985, S.508. 110 Wegen der Beschränkung der Versichertengruppe zunächst auf gewerbliche Arbeiter mit einer regelmäßigen Beschäftigung und einem Jahreseinkommen bis zu 2.000 Mark wurde die gesetzliche Sozialversicherung zuerst als Arbeiterversicherung bezeichnet.

427

Arbeiter,111 später der Gewerkschaften112 gegründeten Hilfskassen und Unterstützungsvereine zu vereinheitlichen und besser zu nutzen. Die bestehende Unübersichtlichkeit und Rechtsunsicherheit erschwerte die Mobilität der Arbeiter, die bei einem Stellen- oder Ortswechsel ihre Ansprüche gegenüber der Kasse verloren. Außerdem konnten kaum größere Rücklagen geschaffen werden, was dazu führte, daß die geringe Finanzkraft der oft sehr kleinen Kassen diese zu einer scharfen Auswahl der Mitglieder –Ausschluß kranker und alter Arbeiter - und strenger Krankenkontrolle zwang. Daher wurde auf Reichsebene mit dem Hilfskassengesetz vom 7.4.1876 erstmals versucht, das Krankenversicherungswesen transparenter und effizienter zu gestalten. Diese Gesetz zwang die bis dato bestehenden Kassen zur Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Statuten, um als eingeschriebene Hilfskassen anerkannt zu werden. Andererseits wurden den Gemeinden zugestanden, für die Personen, die als nicht versicherungsfähig galten, eine Gemeindekrankenkasse und für solche Gewerbezweige, deren Mitgliederzahl zur Gründung einer eigenen Kasse zu gering war, eine Ortskrankenkasse einzurichten.

Die durch das Krankenversicherungsgesetz erhoffte Steigerung der Versichertenzahl blieb jedoch aus: De facto war nur etwa die Hälfte der durch das Gesetz erfaßten Arbeiter krankenversichert, der Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug sogar nur 5%. Träger der Krankenversicherung waren die eingeschriebenen Hilfskassen, die Orts- und Gemeindekrankenkassen sowie die Betriebs-, Bau-, Innungs- und Knappschaftskrankenkassen. Während die Beiträge der eingeschriebenen Hilfskassen von den Arbeitern alleine aufzubringen waren, beteiligten sich die Unternehmer bei den übrigen Kassen mit einem Drittel an den Beiträgen. Die Leistungen der Krankenversicherung, die für 13 Wochen gewährt wurden, enthielten ärztliche Behandlung, Heil- und Hilfsmittel, Krankenhausaufenthalt sowie Krankengeld in Höhe der Hälfte eines durchschnittlichen Tagelohns.113

Die gesetzliche Unfallversicherung trat, unabhängig vom Verursacher, für die Folgeschäden eines Arbeitsunfalls ein. Träger dieser Versicherung wurden die neu errichteten

111 Arbeiter einzelner Betriebe oder Branchen wie schlossen auf der Grundlage von Selbsthilfe und Solidarität zu solchen Hilfskassen zusammen; so gründete die Arbeiterverbrüderung 1849 in Berlin einen Gesundheitspflegeverein. 112 Die ab 1860 von den Gewerkschaften errichteten Unterstützungskassen boten den potentiellen Mitgliedern einen zusätzlichen Anreiz zum Beitritt. 113 Bei Krankenhausaufenthalt verringerte sich das Krankengeld auf ein Viertel des durchschnittlichen Tagelohns.

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Berufsgenossenschaften der Unternehmer, die in der Folge auch verbindliche Unfallverhütungsvorschriften formulierten.114 Die Leistungen der Unfallversicherung begannen, nachdem die Ansprüche an die Krankenversicherung erloschen waren und beinhalteten die weiteren Kosten des Heilverfahrens sowie eine Rente von zwei Drittel des Arbeitslohns für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit; im Todesfall wurde den Angehörigen ein Sterbegeld und eine Hinterbliebenenrente gezahlt. Dabei waren die finanziellen Unterstützungen so knapp bemessen, daß die verunglückten Arbeiter gerade noch vor der Armenfürsorge bewahrt wurden. Des weiteren sollte die geringe Höhe Fahrlässigkeiten der Arbeiter vorbeugen und die von den Unternehmern als alleinige Träger gefürchtete Simulation verhindern.

Die Fürsorge für Invalidität und Alter stellte die dritte Säule des Sozialversicherungssystems dar. Arbeitern, die nicht mehr fähig waren, ein Drittel des von vergleichbaren Arbeitnehmern erzielten Lohns zu verdienen, wurde eine Invalidenrente gewährt. Da ein altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht existierte, sollte die Altersrente die mit steigendem Alter sinkende Erwerbsfähigkeit ausgleichen; sie war daher als Zuschuß zum noch vorhandenen Einkommen grundsätzlich niedriger als die Invalidenrente. In Trägerschaft der Landesversicherungsanstalten bestanden die Renten aus einem Grundbetrag und einem Reichszuschuß und staffelten sich darüber hinaus nach Beitragshöhe und –jahren; Beiträge wurden jeweils zur Hälfte von Arbeitern und Unternehmern gezahlt. Aufsichtführendes Organ über Landesversicherungsanstalten und Berufsgenossenschaften war das Reichsversicherungsamt. Der Versuch, die weiterhin bestehende Uneinheitlichkeit und Undurchsichtigkeit des Sozialversicherungssystems mit seinen unterschiedlichen Trägern, Statuten und Leistungen durch die Reichsversicherungsordnung vom 19.7.1911 zu beseitigen, muß als gescheitert angesehen werden.115

Während Kranken- und Unfallversicherung von den Unternehmern durchweg positiv bewertet wurden, standen diese der Alters- und Invalidenversicherung eher ablehnend gegenüber, da eine zu große ökonomische Unabhängigkeit der Arbeiter – die durch den gesetzlichen Fürsorgeanspruch eher bestand als durch freiwillige Leistungen der Unternehmer - als potentielle Gefährdung der Betriebshierarchie angesehen wurde. Die Arbeiterbewegung,

114 Vgl. Anm.10. 115 Die Reichsversicherungsordnung war mit ihren nahezu 2.000 Paragraphen selbst für Fachleute kaum noch verständlich.

429 insbesondere die Sozialdemokratie lehnte zunächst das gesetzliche Sozialversicherungssystem aufgrund seines repressiven Charakters als Kehrseite des Sozialistengesetzes und kritisierte die unzureichenden Leistungen.

Öffentliche Gesundheitspflege Mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung und der sukzessiven Erweiterung des von dieser erfaßten Personenkreises änderte sich auch das bis dahin eher fatalistische Verhältnis zur Krankheit. In der Folge hatten die Arbeiter nicht nur die Möglichkeit, sondern waren, wollten sie die vorgesehene Unterstützung erhalten, gezwungen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und den Krankheitszustand attestieren zu lassen. Medizinischer und sanitärtechnischer Fortschritt, verbesserte Diagnose- und Therapieformen sowie ein Funktionswandel des Krankenhauses, das sich von einer Versorgungsanstalt für Kranke, Gebrechliche und Arme zu einer Einrichtungen entwickelte, die heilbar Kranke aller Sozialschichten und Altersgruppen vorübergehend untersuchte und behandelte, trugen dazu bei, die entstandenen Herausforderungen der Industriegesellschaft eher zu bewältigen als die überkommenen Heilmethoden. Trotz dieser Fortschritte wurde die Bedeutung einer vorbeugenden und begleitenden Gesundheitspflege erkannt, in deren Mittelpunkt die Hygiene stand, die als Soziale Hygiene die sozio-ökonomischen Beeinflussungen der Gesundheit durch Lebens- (Wohnung, Ernährung) und Arbeitsverhältnisse (Berufskrankheiten, Gefahren am Arbeitsplatz) betonte. Es wurden daher in der Folgezeit verstärkt Volks- und Brausebäder - teilweise auch betriebseigene Bäder wie 1904 bei der PF Kahla in Hermsdorf 116 -, Werkswohnungen, werkseigene Läden und Speisehäuser errichtet, Unfallverhütungs- und technische Vorschriften117 sowie Schutzgeräte und Erste-Hilfe-Maßnahmen118 entwickelt.

Zusammenfassung Staatliche Sozialpolitik war zunächst auf die Arbeiterschaft bezogen und vollzog sich im wesentlichen als Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung. Qualitativer und quantitativer Ausbau der medizinischen Versorgung sowie hygienische, v.a. auch gewerbehygienische Maßnahmen sollten dazu beitragen, die bürgerlichen Reformbestrebungen in der

116 Vgl. S.65. 117 So befaßte sich etwa der Bayerische Dampfkesselrevisionsverein (als Vorläufer des heutigen TÜV) mit der technischen Prüfung und Abnahme von Dampfkesselanlagen. 118 Als eine der ersten Einrichtungen dieser Art kann die Freiwillige Sanitätskolonne München angeführt werden.

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Arbeiterschaft zu realisieren. Sie sind daher als Versuch des Bürgertums zu werten, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Werktätigen mit den Spezifika der Industriegesellschaft in Einklang zu bringen.

2.2 Betriebliche Sozialpolitik

Maßnahmen der betrieblichen Sozialpolitik unterscheiden sich nach SCHULZ119 in paternalistische und protektorale. Als paternalistisch werden solche Bemühungen bezeichnet, die als sozialsichernde Leistungen vom Unternehmer freiwillig und widerruflich gewährt wurden, bei denen die Arbeiter jedoch keinerlei Mitwirkungsmöglichkeiten und keinen Rechtsanspruch besaßen. Protektorale Maßnahmen hingegen suchten die Arbeiter durch Beteiligung an der Verwaltung wie auch durch finanzielle Beteiligung z.B. an Betriebskranken- und –pensionskassen zu integrieren. Die bei diesen vorhandene relative Absicherung sozialer Leistungen hätte demnach einen höheren Integrationsgrad -trotz fehlender Gleichbehandlung - zur Folge als bei paternalistischen Einrichtungen

Zu den paternalistischen Maßnahmen sind mithin Fabrikwohnungen, -sparkassen, Urlaub und Werkskonsumvereine zu zählen, die als betriebliche Wohlfahrtseinrichtungen materielle Anreize und Gratifikationen schafften. Hierdurch wurde die Abhängigkeit der Arbeiter vom jeweiligen Unternehmer auf Wohnung und Ernährung ausgedehnt, was jedoch keinesfalls deren Attraktivität innerhalb der Arbeiterschaft schmälerte. Betriebskranken- und pensionskassen dagegen waren meist protektoral strukturiert, deren Mitgliederzahlen und Kapitaleinlagen weit größer als die der Unterstützungskassen sozialdemokratischer Prägung.

119 SCHULZ, G. : Integrationsprobleme der Arbeiterschaft in der Metall-, Papier- und chemischen Industrie der Rheinprovinz 1850-1914. In: POHL, H. (Hg.) 1978: Forschungen zur Lage der Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Stuttgart. S.70ff.

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2.2.1 Betriebskranken- und –pensionskassen

Im BA Rehau (Oberfranken) wurden bis 1891 die bestehenden Arbeiterkrankenkassen der Porzellanfabriken A. Hutschenreuther (Hohenberg), J. Zeidler (Selb-Plößberg), J.N. Müller (Schönwald), Zeh, Scherzer & Co. (Rehau) sowie Hutschenreuther (Selb) und Rosenthal (Selb) in Fabrikkrankenkassen umgewandelt,120 obschon sich anfänglich einige Fabrikanten aus Furcht vor zu hohen Kosten gegen die Einrichtung von Fabrikkrankenkassen wehrten. So richtete der Porzellanfabrikant J.N. MÜLLER 1884 folgende Eingabe an die Regierung von Oberfranken: "Die Zahl meines Arbeiterpersonals beträgt gegenwärtig 92 Personen, wovon aber höchstens zehn gesetzlich zu Krankenbeiträgen angehalten werden können, weil die übrigen Arbeiter entweder versicherte Familienväter oder Frauen von Weberstaglöhnern oder Witwen sind und einen eigenen Haushalt in der hiesigen sowie den Nachbargemeinden führen. Weitaus der größte Teil der Arbeiter sind Kinder von Familien von hier und der Nachbargemeinden und leben bei ihren Eltern und können solche nach Art.20 des Armengesetzes nicht zu Krankenhausbeiträgen herangezogen werde."121 und auch die PF Rosenthal sah zunächst keine Notwendigkeit, eine Fabrikkrankenkasse für ihre Arbeiter zu gründen, "weil diese Mitglieder der freien eingeschriebenen Hilfskasse sind."122 Ein Vergleich der Leistungen kommunaler und betrieblicher Krankenversicherungen der Jahre 1889/90 ergibt folgendes Bild: Tab.76: Vergleich Krankenkassen123 Ort: Hohenberg Kassentyp Gemeindekasse Fabrikkrankenkasse C.M. Hutschenreuther Beitragssatz 1,50% 2,10% Höhe Krankengeld 50% 50% Dauer Krankengeld 13 Wochen 20 Wochen Ort: Selb Kassentyp Gemeindekasse Fabrikkrankenkasse L. Hutschenreuther Beitragssatz 1,50% 3,40% Höhe Krankengeld 50% 50% Dauer Krankengeld 13 Wochen 26 Wochen Ort: Selb-Plößberg Kassentyp Gemeindekasse Fabrikkrankenkasse Jacob Zeidler Beitragssatz 1,50% 2,33% Höhe Krankengeld 50% 50% Dauer Krankengeld 13 Wochen 52 Wochen

120 Vgl. STA Bamberg K 22, XIII 426: Erhebungen über die Hilfskassen. § 60 des Krankenversicherungsgesetzes vom 10. April 1892 schrieb außerdem die Einrichtung von Betriebs- bzw. Fabrikkrankenkassen zwingend vor. 121 Ebd. 122 StA Selb 452.3/7: Betriebskrankenkasse Ph. Rosenthal 1891/1911. 123 Vgl. STA Bamberg, K22, XIII 426.

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Aus obiger Tabelle läßt sich erkennen, daß die Krankenkassenbeiträge der Fabrikkrankenkassen (2,10 bis 3,40% des Durchschnittslohnes) zwar etwas höher als die Beiträge der kommunalen Krankenkassen (durchschnittlich 1,50%) lagen; die Höchstdauer der Gewährung von vollem Krankengeld war hingegen mit 20 bis 52 Wochen wesentlich länger als bei Gemeindekrankenkassen, die nur 13 Wochen lang volles Krankengeld zahlten.

Der Wochenbeitrag betrug 1882 bei der Mehrzahl der Fabrikkrankenkassen rd. 10 bis 15 Pfennig, das Krankengeld 6 bis 7 Mark wöchentlich.124 Zur Untersuchung der weiteren Entwicklung wurden die Statuten folgender drei Fabrikkrankenkassen herangezogen: Krankenkasse für die Porzellanfabrik der Firma Gareis, Kühnl & Co., Waldsassen; Fabrik-Krankenkasse der Firma Porzellanfabrik Waldsassen Bareuther & Co. und Krankenkassa der Firma Christian Seltmann, Porzellanfabrik in Weiden. Tab.77: Entwicklung der Beiträge und des Krankengeldes bei Fabrikkrankenkassen Eintrittsgeld Beitragssatz Höhe Dauer Sterbegeld Krankengeld Krankengeld PF Gareis & 6 Wochenbeiträge 3% 50% 13 Wochen 20 Tagelöhne Kühnl, 1900 PF Bareuther, --- 2,5% 50% 26 Wochen 20 Tagelöhne 1904 PF Seltmann, 6 Wochenbeiträge f. 3% 50% 26 Wochen 20 Tagelöhne 1911 Arbeiter über 45 J.

Über die tatsächliche Höhe der Beiträge bzw. des Kranken- und Sterbegeldes informiert nachstehende, für die PF Gareis, Kühnl & Co. zusammengestellte Übersicht. Die wöchentlichen Beiträge zur Fabrikkrankenkasse betrugen für Werkmeister und Beamte...... 63 Pf. für männliche, großjährige Arbeiter...... 45 Pf. für Arbeiter von 16 – 21 Jahren...... 36 Pf. für großjährige Arbeiterinnen...... 24 Pf. für Arbeiterinnen von 16 – 21 Jahren...... 18 Pf. für männliche Arbeiter unter 16 Jahren und Lehrlinge...12 Pf. für Arbeiterinnen unter 16 Jahre...... 12 Pf. Das Krankengeld wurde vom dritten Tag nach dem Tag der Erkrankung für jeden Arbeitstag gezahlt und betrug 50% des durchschnittlichen Tagelohns, demnach für Werkmeister und Beamte...... 1,75 M.

124 Vgl. JFI 1882, S.65.

433 für männliche, großjährige Arbeiter...... 1,25 M. für männliche Arbeiter von 16 – 21 Jahren...... 1,00 M. für großjährige Arbeiterinnen...... 0,65 M. für Arbeiterinnen von 16 – 21 Jahren...... 0,57 M. für männliche Arbeiter unter 16 Jahren und Lehrlinge...0,37 M. für Arbeiterinnen unter 16 Jahren...... 0,35 M. Das Sterbegeld, das zur Deckung der Begräbniskosten dienen sollte und dem hinterbliebenen Ehegatten bzw. den Erben ausbezahlt wurde, betrug für Werkmeister und Beamte...... 70 M. für männliche, großjährige Arbeiter...... 50 M. für männliche Arbeiter von 16 – 21 Jahren...... 40 M. für großjährige Arbeiterinnen...... 26 M. für Arbeiterinnen von 16 – 21 Jahren...... 23 M. für männliche Arbeiter unter 16 Jahren und Lehrlinge...... 15 M. für Arbeiterinnen unter 16 Jahren...... 14 M. 1914 betrug der wöchentliche Versicherungsbeitrag z.B. bei der PF Bauscher 24 bis 26 Pfennig.125 Die weitere Beitragsentwicklung läßt sich anhand des Fabrikbuches Selb-Plößberg wie folgt skizzieren:126 1918 betrug der monatliche Beitrag für die durchschnittlich 270 Versicherten (68% der Belegschaft) der PF Jacob Zeidler 2,47% (~3,66 Mark), der Unternehmer zahlte 1,19% (~1,77 Mark). 1919 waren von 473 Betriebsangehörigen im Durchschnitt 447 in der Fabrikkrankenkasse versichert (95%) und zahlten monatlich 2,35% (~5,68 Mark) des Lohnes an Versicherungsbeiträgen, der Unternehmeranteil betrug 1,11% (~2,78 Mark). 1920 waren alle Arbeiter bei der Betriebskrankenkasse versichert; der Versicherungsbeitrag dieser betrug 2,67% (~14,44 Mark), der Unternehmer zahlte 1,28% (~6,94 Mark).

Im Jahre 1919 wurde die Gründung weiterer Betriebs- und Gemeindekrankenkassen gesetzlich verboten und den bestehenden Kassen nahegelegt, der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) beizutreten.127 Als Beispiele für betriebliche Pensionskassen seien genannt:

125 Vgl. VELHORN, J. 1925, S.117. 126 Vgl. Rosenthal-Archiv Selb: Fabrikbuch Selb-Plößberg. 127 Für den Distrikt Selb wurde 1913 eine "Allgemeine Ortskrankenkasse Selb" errichtet. Vgl. StA Selb, Akt 452.2/4.

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Die Witwenpensionskasse der PF Tettau, die 1892 mit einem Kapital von 7.000 Mark eingerichtet wurde. Deren Mitgliedsbeitrag betrug 25 Pfennig pro Woche, die jährliche Unterstützung der Witwen verstorbener Arbeiter lag bei 30 Mark.128 Die Invalidenpensionskasse der PF Hutschenreuther, die entsprechend der gestaffelten wöchentlichen Beitragshöhe (50 Pf, 70 Pf, 1M) eine Unterstützung von 3,34 M, 5 M und 6,80 M pro Woche gewährte, wobei im Todesfall die Witwe des verstorbenen Arbeiters ein Viertel der Pension des Mannes erhielt. Die Firma übernahm ein Drittel der Beiträge und überwies der Kasse unregelmäßig größere Beträge.129

2.2.2 Fabrikwohnungsbau130

28 Die ersten Arbeiterwohnhäuser aus dem Jahre 1884131

128 Vgl. JFI 1893, S.132. 129 1902: 120.000 M; 1904: 5.000 M; 1906: 30.000 M. 130 Siehe hierzu auch Kap. über die Wohnverhältnisse der Porzelliner. 131 Aus: MEY, E. 1996, S.25.

435

Zu den ersten, von einer Porzellanfabrik für ihre Arbeiter errichteten Wohnhäusern gehörten die oben abgebildete Häuser Oberkotzauer Str. 26-28 (heute: Nr. 52-54). Diese Arbeiterwohnhäuser der PF Moschendorf besaßen jeweils vier Wohnungen, deren Wasseranschluß und Abort sich im Gang befanden.

In Marktleuthen erbaute die PF Winterling 1909 ein Arbeiterwohnhaus, im gleichen Jahr wurde von der PF Sonntag & Söhne, Tettau ein Ledigenheim errichtet, das 20 Arbeiterinnen Unterkunft und Verpflegung bot.132 In diesem und anderen Arbeiterwohnhäusern herrschte eine strenge Hausordnung, die u.a. verbot, schmutzige Wäsche in den Wohnräumen aufzubewahren, Beleuchtungen in den Nachtstunden zu löschen und tagsüber die Betten zu benutzen.133 In Schönwald wurde von der dortigen Porzellanfabrik 1900/01 ein Arbeiterwohnhaus errichtet;134 die PF F. Thomas & Co. in Marktredwitz besaß Ende der 1920er Jahre fünf eigene Wohnhäuser und förderte durch die Unterstützung der ortsansässigen Baugenossenschaften auch sonst den Wohnungsbau. Um die Jahrhundertwende wurde durch die E. & L. Hutschenreuther`sche Stiftung in Selb, Längenauerstraße ein Arbeiterwohnhaus errichtet.

Für die Region Oberpfalz sind folgende Wohnungsbauten von Porzellanfabriken zu nennen: 1895 wurden von der PF Tirschenreuth zwei Häuser mit jeweils 12 Wohnungen gebaut, die aus 2 Zimmern und Küche bestanden; die Häuser besaßen Kellerräume, Waschküche und Gartenparzellen. 1920 wurden 500.000 Mark zu weiteren Wohnungsbauten aufgewendet. 1896 wurden von der PF Bauscher in Weiden Wohnungen für 12 Familien errichtet, die zusätzlich eine Badekabine besaßen.135

132 Vgl. JHO, 1909, S.335. 133 Vgl. Thonindustrie-Zeitung 1903, 27.Jg., Nr.30, S.396: Hausordnung für Arbeiterwohnhäuser. 134 Vgl. JFI 1901, S.103. 135 Vgl. VELHORN, J. 1925, S.115.

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29 Planskizze für Arbeiterwohnhaus Selb, Längenauerstraße von 1900136

Für die Stadt Selb soll der Fabrik- und öffentliche Wohnungsbau hier etwas genauer und exemplarisch dargestellt werden. Im Jahre 1897 wurde von der PF Hutschenreuther in Hohenberg ein Bauverein gegründet, der aus 35 Mitgliedern bestand und über 8 Häuser mit 33 Wohnungen verfügte;137 im gleichen Jahr ließ die PF Rosenthal in Selb 12 Häuser mit 48 Wohnungen bauen.138 Da bei diesen wie auch den übrigen betriebseigenen Bauvorhaben ein gewisses Grundkapital Voraussetzung war, dürften als Mieter zunächst gutbezahlte

136 Quelle: StA Selb Akt 53.I.00 (Baupolizei Selb) von 1900: Einrichtung von Arbeiterwohnhäusern durch die Hutschenreuther´sche Stiftung. 137 Vgl. JFI 1897, S.252 und JFI 1905, Anhang betreffend Erhebungen über die wirtschaftliche Lage der gewerblichen Arbeiter Bayerns, Teil II: Lohnverhältnisse, Wohnungs- und Ernährungswesen, S.88-115; hier: S.96. 138 Vgl. JFI 1905, S.142.

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Facharbeiter in Frage gekommen sein; dies wiederum war Teil der Unternehmenspolitik der jeweiligen Firmen, da sie auf diese Weise die qualifizierten Facharbeiter an sich banden.139 Die im Verhältnis zur gestiegenen Nachfrage geringen Bautätigkeiten bzw. Initiativen der Unternehmer änderten am Grundproblem des Fehlens von preiswerten Kleinwohnungen140 nichts. Dies hatte steigende Mieten zur Folge, was bereits 1896 vom zuständigen Fabrikinspektor für Selb konstatiert wurde.141 Auch im nachfolgenden Zeitraum blieb die Situation unverändert schlecht, wie BOGNER 1909 konstatierte: "Einzelne Betriebe haben zwar Arbeiterwohnhäuser gebaut; ob bei der Anlage aber Rücksicht auf den heutigen Stand der Wohnungshygiene genommen, ob ein Sachverständiger zugezogen wurde, möchte ich bezweifeln. Der Mangel an Wohnungen überhaupt und die infolgedessen auftretende Unmöglichkeit, so viele Arbeiter einzustellen, als der Betrieb benötigte, waren wahrscheinlich die Triebfeder zur Erbauung der Arbeiterwohnhäuser. Jedenfalls wurden nachträglich diese Wohnungen durch Schlafgänger wieder überfüllt." 142

Daß sich die Situation auch ein Jahrzehnt später unverändert schlecht darstellte, zeigt eine Notiz in der OVZ: „Selb. ... Es fällt der Firma gar nicht ein der Abwasserregulierung nachzukommen. Die Firma R.143 läßt vielmehr die Wohnungen in einem unhaltbaren Zustande, der sogar die Bewohner zu einer Eingabe an den Stadtrat veranlaßte, ...“ 144

Die Motivation zum Bau von betriebseigenen Arbeiterwohnungen durch die Porzellanfabriken rührte aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen: Zum einen ging es dem Unternehmer in einer relativ bevölkerungsarmen, wenig industrialisierten Region darum, überhaupt Arbeitskräfte für seinen betrieb zu bekommen; die Werkswohnung diente dabei als zusätzlicher Anreiz. Zum anderen stellte eine kontrollierte Ansiedlung dringend benötigter Facharbeiter in der Hochkonjunktur die kontinuierliche Produktion sicher, so daß der Wohnungsbau der Porzellanfirmen "... am wenigsten den Charakter einer Wohlfahrtspflege..." darstellte, sondern als "notwendige Betriebseinrichtung"145 verstanden wurde. Des weiteren eröffnete die Vermietung einer Betriebswohnung zusätzliche Möglichkeiten der Disziplinierung der Arbeiter, da diese nach einer erfolgten Kündigung des

139 Siehe hierzu NIETHAMMER, L./BRÜGGEMEIR, F.-J. 1976, S.131f. 140 Dabei war jedoch für einen Porzellanarbeiter eine Wohnung, wie sie die amtliche Definition von Kleinwohnungen als "... Einzelwohnungen mit nicht mehr als 3 Zimmern nebst Küche und Zubehör" (ZBStLA 1918, H.50, S.666) beschrieb, nahezu unerreichbar. 141 Siehe hierzu JFI 1896, S.220. 142 BOGNER, F. 1909, S.36. 143 Gemeint ist hier wohl die PF Rosenthal. 144 OVZ vom 14.9.1920. 145 Kgl. Bayer. Statistisches Bureau 1906, S.69.

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Arbeitsverhältnisses aus der Werkswohnung ausziehen mußten und angesichts des chronischen Wohnungsmangels nur sehr schwer eine neue Wohnung fanden. Schlimmstenfalls waren die Porzelliner gezwungen, den Wohnort zu wechseln, da sie zwar eine neue Arbeitsstelle, jedoch kaum eine neue Wohnung fanden;146 dies mag eine weitere Ursache der hohen Mobilität der Porzellanarbeiter gewesen sein. Somit besaß der Unternehmer durch Koppelung von Arbeits- und Mietvertrag ein effizientes Mittel zur Disziplinierung der Arbeiterschaft: Bei nicht willfährigem Verhalten wie der Beteiligung an Streiks, Protestaktionen oder der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft folgte die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis und somit auch die Kündigung der Werkswohnung. Durch gezielte Belegung der Werkswohnungen war es dem Unternehmer mithin möglich, Betriebsstörungen in seinem Sinne zu vermeiden. Der Arbeiter hingegen wurde durch Arbeitsstelle und Betriebswohnung doppelt abhängig.147

Von städtischer Seite geschah in Selb bis 1909 fast nichts, um das Wohnungselend zu lindern. Die städtische Honoratiorenschicht, die die Kommunalpolitik bestimmte und durch Bürgerrecht und Wahlrechtsbeschränkungen noch vor der zahlenmäßig längst dominierenden Arbeiterschaft "geschützt" war, hatte Sparsamkeit – auch beim Bau von Arbeiterwohnungen - zur obersten Priorität städtischer Ausgabenpolitik erklärt und verhinderte so eine Integration der Arbeiterschaft in die Kommune. Die Initiative zur Gründung eines Gemeinnützigen Bauvereins, in dessen Vorstand Fabrikanten, Vertreter der Kommune und nur ein einziger Porzellanarbeiter saßen,148 ging daher auch nicht von städtischer Seite aus, sondern auf eine Aufforderung des Zentralwohnungsinspektors des Staatsministeriums des Innern aus dem Jahre 1908 zurück: "Meine in Selb wiederholt gepflogenen Erhebungen haben ergeben, daß die dortigen Wohnungsverhältnisse namentlich der minderbemittelten Klassen sehr verbesserungsbedürftig sind, sei es, daß es an Kleinwohnungen überhaupt mangelt – leerstehende Wohnungen werden überhaupt keine oder nur wenige vorhanden sein – sei es, daß die vorhandenen Kleinwohnungen vielfach übermäßig belegt sind. Die namentlich mit Industriellen gepflogenen Besprechungen haben ferner ergeben, daß auch auf dieser Seite der Wunsch nach positiven Maßnahmen zur Verbesserung de Wohnungswesens besteht. Und zwar wurde, soweit die Selbsthilfe in Betracht kommt, der Kleinwohnungsbau auf genossenschaftlichem Wege und zu diesem Zwecke in Vereinigung von Industriellen und Arbeitern zu einer gemeinnützigen Baugenossenschaft als dringend wünschenswert erachtet. Um nun beurteilen zu können, ob und wieviele Arbeiter sich an einer zu gründenden Genossenschaft beteiligen wollten, würde ich es für zweckdienlich und der Sache förderlich halten, wenn der Magistrat ... in den einzelnen Fabrikbetrieben unter den Arbeitern eine Umfrage nach dieser Richtung veranstalten und Anmeldungen ... entgegennehmen wollte. ... Ich selber würde mich ...

146 Hierzu SCHNORBUS, A. 1969, S.195. 147 Vgl. hierzu WURZBACHER, M. et al.. 1994, S.148. 148 Siehe hierzu Gemeinnütziger Bauverein Selb 1984, o. S.

439 erbötig machen, in einer öffentlichen Versammlung die Ziele und Wege der Baugenossenschaft zu erörtern." 149

In dieses Bild einer an der Wohnungsnot der Arbeiter desinteressierten Verwaltung paßt, daß zwar sofort nach Gründung rd. 100 Arbeiter Anteilsscheine zeichneten, die Stadt und die Industrie sich jedoch kaum finanziell beteiligten.150 Auffällig sowohl bei firmeneigenen wie auch städtischen Bauvorhaben ist, daß man insgesamt bei der Wohnungsbelegung von 4 Personen ausging, was - zumindest bei Einzimmerwohnungen - einer billigenden Inkaufnahme der Untervermietung mit all ihren negativen Auswirkungen gleichkam.

Allgemein ist zu bemerken, daß sich der hohe Bodenpreis, der insbesondere nach der Jahrhundertwende durch private Spekulation in die Höhe getrieben wurde und in den letzten Vorkriegsjahren um das 20fache angestiegen war, hemmend auf die Bautätigkeit auch der Porzellanfabrikanten auswirkte. 151 Obwohl verschiedene Vorschläge für preiswertes Bauen von Arbeiterwohnhäusern gemacht wurden, wie z.B. von der Thonindustrie-Zeitung, welche die Vorzüge der Betonbaublock-Bauweise hervorhob und die Gesamtkosten eines solchen, 72 m2 großen Hauses mit nur 4.620,-- Mark bezifferte,152 ließ die Bautätigkeit stark nach. Die Keramische Rundschau begründete die zögerliche Haltung der Werkbesitzer beim Bau von Werkswohnungen mit der – ihrer Ansicht nach – zu mieterfreundlichen Gesetzgebung. Der Mieterschutz war dadurch gestärkt worden, daß eine Kündigung des Arbeitsplatzes nicht automatisch auch eine Kündigung der Werkswohnung nach sich ziehen durfte. "Die Behörden drängen auf Vermehrung der Werkwohnungen in dem Glauben, daß damit der Wohnungsnot etwas gesteuert wird. Freilich würde der Wohnungsmangel um diese Räume geringer; aber der Wohnungsnot an sich würde nicht geholfen, wohl aber dem Arbeitgeber vom Gelde. Lediglich mehr Verdrießlichkeit würde ihm erwachsen, und er würde nichts weiter erreichen, als daß er noch weitere Räume von Gewaltbewohnern besetzt hätte und ihm noch mehr Unkosten für Räumungsklagen erwüchsen. Aus diesem Grunde lassen die Werkbesitzer auch die Hände so lange weg vom Werkwohnungsbau, bis durch eine andere Gesetzgebung erträgliche Zustände auf dem Wohnungsmarkte geschaffen werden."153

Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang das Bauvorhaben der PF Rosenthal aus dem Jahre 1912, die dem Stadtmagistrat der Stadt Selb einen Bauplan zur raschen Genehmigung

149 StA Selb, Akt 660/6 Gemeinnütziger Bauverein Selb 1909-1928: Schreiben des Zentralwohnungsinspektors an den Bürgermeister der Stadt Selb vom 21. Sept. 1908. 150 OVZ vom 2.3.1909. Von der Gründung einer städtischen Baugenossenschaft in Rehau berichtet die OVZ in ihrer Ausgabe vom 25.5.1909. 151 Die Ameise bemerkte in ihrer Ausgabe vom 16. November 1917 (44.Jg., Nr.46) dazu: "Hervorgerufen ... in erster Linie durch die wahnsinnige Spekulation mit Häusern wie mit Grund und Boden, sowie durch das Profitstreben der ... Wohnungshersteller und Hausbesitzer." (44.Jg., Nr.47). Vgl. hierzu auch: Wohnungsnot- Hausbesitz – Miete – Mieter. In: STB vom 3., 4. und 5. Januar 1921. 152 Vgl. Thonindustrie-Zeitung 1908, 32.Jg., Nr.83, S.1246: Ein billiges Arbeiterwohnhaus. 153 Keramische Rundschau 1923, 31.Jg., Nr.52, S.471.

440 vorlegte. Auch bei diesem Schreiben sind die oben angesprochenen Intentionen der Porzellanfabrikanten - kontrollierte Ansiedlung von Facharbeitern in der Hochkonjunktur sowie soziale Disziplinierung – klar erkennbar: „Wir gestatten uns, Ihnen beifolgend einen Baulinienplan zu überreichen und erlauben uns, die höfliche Bitte auszusprechen, diesen Plan umgehend, selbst wenn eine Specialsitzung dafür erforderlich ist, genehmigen zu wollen. Die Dringlichkeit dieser Angelegenheit möchten wir damit motivieren, daß wir infolge der bedeutenden Fabrik-Vergrösserungen gezwungen sind, noch in diesem Jahre 6 bis 10 Wohnhäuser zu bauen und dürfte auch daran die Stadt Selb das grösste Interesse haben, denn die Fabrikvergrösserungen würden zwecklos sein, wenn nicht von seiten der Industrie im Verhältnis Arbeiter-Wohnhäuser gebaut werden. ...“ 154

Die Mieten in den Werkswohnungen lagen um etwa 20-50% unter denen auf dem freien Wohnungsmarkt, auch waren die technischen und hygienischen Ausstattungen in etwa vergleichbar.155 Nach dem Ersten Weltkrieg ging der Arbeiterwohnungsbau jedoch insgesamt stark zurück bzw. blieb noch weiter hinter dem Bedarf zurück.1920 wurde ein Fehlbedarf von 1,5 Mio. Wohnungen festgestellt.156 Zwar wurden noch Wohnungen errichtet, diese waren jedoch größer und somit für einen durchschnittlich verdienenden Arbeiter nicht bezahlbar.

2.2.3 Fabriksparkassen

Im Jahre 1905 wurden in der Oberpfalz bei den Porzellanfabriken Bauscher (Weiden) und Max Emanuel & Co. (Mitterteich) Werkssparkassen gegründet.157 Die Errichtung von Fabriksparkassen diente, wie alle übrigen betrieblichen Maßnahmen der Sozialpolitik, in erster Linie dazu, der Arbeiterschaft bürgerliche Lebens- und Wertvorstellungen zu vermitteln und sie auf diese Weise stärker an den jeweiligen Betrieb zu binden. Erziehung zur Sparsamkeit und, damit verbunden, zur konservativen Mentalität sowie zur politischen Askese lesen sich im Geschäftsbericht der PF Bauscher für das Jahr 1907 wie folgt: "Ein nüchterner, arbeitsfroher und Arbeiterstand ist für die Zukunft unseres Vaterlandes von ausschlaggebender Bedeutung. Jeder Arbeiter, der sich im Laufe der Jahre ein kleines Kapital erspart, sondert sich von der Partei der prinzipiell Unzufriedenen."158

154 StA Selb, Akt 660/7, Erbauung von Arbeiterwohnungen durch Industrielle 1913/20. Bereits 1913 wurden diese geplanten Häuser mit insgesamt 18 Wohnungen gebaut. Vgl. Tab. Porzellinerbetriebswohnungen. 155 Vgl. TEUTEBERG, H. J. (Hg.) 1985: Homo habitans: Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit. Münster. S.375. 156 Vgl. RECK, S. 1977: Arbeiter nach der Arbeit. Gießen. S.89. 157 JFI 1905, S.213. 158 In: Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer für die Oberpfalz von 1907, S.107.

441

Wenngleich die - wenigen -159 bestehenden Fabriksparkassen ihren Mitgliedern eine gewisse Sicherung gegen die materiellen Folgen von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall usw. ermöglichten, so ist doch festzuhalten, daß die dazu nötigen Rücklagen und Sparbeiträge nur von besserverdienenden Arbeitern aufgebracht werden konnten. Bei diesen wurde zudem versucht, sie durch Ausschluß von der Kassenverwaltung weiter zu bevormunden. Eine gewisse Ausnahme bildete die Fabriksparkasse der PF Lorenz Hutschenreuther, da sie als Zwangssparkasse organisiert war. 1885 war jeder Akkordarbeiter war zu einer Einlage von 5% des Lohnes, jeder im Taglohn Arbeitende zur Einlage von 1 Mark monatlich verpflichtet. Die Einlage wurde vom Arbeitgeber mit 4% verzinst und nur beim Ausscheiden aus der Fabrik oder im Todesfall ausgezahlt.

2.2.4 Werkskonsumvereine

Der Gewerbeaufsichtsbeamte berichtet für 1881, daß "Arbeiterconsumvereine nur in einzelnen ... grösseren Etablissements vorhanden ..."160 waren. Im Jahre 1900 wurde bei der PF Waldsassen ein Betriebskonsumverein gegründet,161 dessen Mitglieder Betriebsangehörige der Porzellanfabrik sein mußten und 1908 wurde in Selb-Plößberg auf Betreiben des dortigen Fabrikinhabers eine Konsumvereinsfiliale errichtet.162 Die weitaus meisten Konsumvereine wurden jedoch autonom von den Arbeitern gegründet und von diesen auch selbst verwaltet.163

159 "Die Verbreitung der Sparkassen ist eine geringe" (JFI 1882, S.66). 160 JFI 1882, S.64. 161 JFI 1900, S.76. 162 Es konnte nicht eindeutig eruiert werden, ist jedoch wahrscheinlich, daß es sich dabei um die PF Zeidler handelte, welche die benötigten Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Bei der genannten Konsumvereins- Filiale handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den Konsumverein Selb. Vgl. S.339. 163 Die Arbeiterkonsumvereine werden später dargestellt.

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2.2.5 Sonstige Einrichtungen

Die 1874 vom Königlichen Staatsministerium des Innern veröffentlichte "Erhebung über die in bayerischen Fabriken und größeren Gewerbebetrieben zum Besten der Arbeiter getroffenen Einrichtungen" erfaßte für Oberfranken 73 Betriebe mit 7.572 Arbeitern in 37 Orten und gab für diese folgende Einrichtungen an:164 Krankenunterstützungskassen...... 35 Bereitstellung von Wohnungen...... 37 Unfallversicherungen...... 20 Beihilfen zur Ernährung...... 20 Speiseeinrichtungen...... 13 Einrichtungen für geistig-sittliche Ausbildung...21 Einrichtungen für Gesundheitspflege...... 17 EIDELLOTH, der sich auf die gleiche Erhebung bezog, spezifizierte die Ergebnisse für die Porzellanindustrie Oberfrankens und stellte für diese folgende "Wohlfahrtseinrichtungen" fest:165 PF C.M. Hutschenreuther: Kranken- und Unterstützungskasse; Beerdigungskasse der Maler und Dreher; Beerdigungskasse der sonstigen Fabrikarbeiter und –arbeiterinnen; Zeichenschule für Malerlehrlinge. PF Lorenz Hutschenreuther: Fabriksparkasse, Krankenunterstützungs- und Invalidenkasse; Arbeiterhaus mit 10 Wohnungen; Turnanstalt; Fortbildungsschule für Erwachsene; Zeichenschule; geselliger Verein für das Fabrikpersonal; Vorschußverein; Unterstützung verwaister Lehrlinge. PF Greiner/Schauberg: Freies Brennmaterial und freie Badegelegenheit. PF Sonntag & Söhne/Tettau: Lohnfortzahlung bei Unfällen; Invalidenkasse.

Bereits vor 1848 hatte der Moabiter Porzellanfabrikant F.A. SCHUMANN für seine Belegschaft eine Sozialversicherungskasse eingerichtet und war sozialpolitisch im "Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen" engagiert. Die PF Villeroy und Boch in Mettlach galt im späten 19. Jahrhundert als sozialpolitischer Musterbetrieb mit eigener Krankenkasse, Poliklinik und Arbeitersiedlung. Hingegen wurden bei der PF Schomburg erst ab etwa 1900 in den Werken Margarethenhütte und Roßlau Betriebskrankenkassen

164 Vgl. TRÜBSBACH, R. 1990, S.629. 165 Vgl. EIDELLOTH, G. 1914, S.51.

443 eingerichtet; in Großdubrau entstand 1921 – 1923 eine Werkssiedlung mit 20 Arbeiterwohnungen166

Der Fabrikinspektor beschreibt 1882 die vorgefundenen Wohlfahrtseinrichtungen folgendermaßen: "Fabrikspeiseanstalten fand ich nirgends; kann der Arbeiter zum Mittagessen nicht nach Hause gehen,167 so zieht er es meist vor, eine Garküche oder eine Wirthschaft zu besuchen, oder sich, wo es irgend thunlich ist, durch ein Familienmitglied das Essen bringen zu lassen.168 In grösseren Etablissements ... finden sich zu diesem Behufe Speisezimmer mit Wärmeschränken ... . Badeanstalten, Arbeiterbibliotheken, Kinderbewahranstalten und dergl. finden sich hie und da, aber nur in einzelnen weniger bedeutenderen ... Fabriken."169

30 Arbeiterfrauen bringen ihren Männern das Mittagessen ans Fabriktor (1900)170

In den folgenden Jahren wurden (auch) in Porzellanfabriken Werkskantinen eingerichtet, so z.B. bei der PF Jaeger & Co. und der PF Thomas & Co. (beide Marktredwitz) und bei der PF

166 Vgl. SPÄTH, H. 1996, S.29. 167 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang die Sonderstellung der sog. Elf-Uhr-Frauen: In vielen Porzellanfabriken durften verheiratete Arbeiterinnen mit Familie die Arbeitsstelle vor der Mittagspause verlassen, um für Mann und Kinder das Mittagessen bereiten zu können. 168 Die Ehefrauen brachten als sog. Suppn-Troch-Weiwer Suppe oder Eintopf in Henkelmännern zu ihren Männern und Kindern an den Arbeitsplatz. Vgl. SIEMEN, W. 1987 , S.36. 169 JFI 1882, S.67. 170 Aus: IG Chemie-Papier-Keramik 1990b, S.67.

444

Hutschenreuther in Selb.171 In der Fabrikkantine der PF Thomas wurde im Ersten Weltkrieg eine Volksküche eingerichtet, in der gegen einen ermäßigten Preis, tw. gegen Freikarten die Angehörigen der Kriegsteilnehmer Essen erhielten. 172 Als weitere Einrichtungen betrieblicher Sozialpolitik kamen Wasch- und Baderäume hinzu, deren Bestand in Porzellanfabriken keinesfalls selbstverständlich war. So wurden 1900 "Badeeinrichtungen ... in einer ... Porzellanfabrik ... neu geschaffen"173 und 1902 errichtete die PF Lorenz Hutschenreuther einen Baderaum. Auch der Bau von Kinderbewahranstalten,174 die Einrichtung von Handarbeitsschulen175 und Kochkursen, der Kauf von Zeitschriften,176 die Einrichtung von Arbeiterbibliotheken177 sowie die Vergabe von Prämien und Gratifikationen178 sollten dazu dienen, "... dass die Bereitwilligkeit der Arbeitgeber, Einrichtungen zum Besten ihrer Arbeiter zu schaffen und Opfer dafür zu bringen, von den Arbeitern auch durch Anhänglichkeit und Ausdauer belohnt wurde."179

Stiftungen wie bspw. 1901 von L. HUTSCHENREUTHER, der 30.000 Mark zum Bau von Arbeiterwohnungen und zur Unterstützung von Invaliden zur Verfügung stellte180 sowie Schenkungen wie die der Inhaber der PF Bauscher, die 1912 "... an Arbeiter, welche unter 25 M pro Woche verdienen und mindestens 5 Jahre in der Fabrik beschäftigt sind, 10 000 M verteilen ..." 181 ließen, dienten dem gleichen Zweck.

171 Hutschenreuther-Archiv, Schätzungen 1902. 172 Vgl. STEPHAN, C. 1933, S.106. 173 JFI 1901, S.104 (Oberfranken). 174 Vgl. S.338. Im Jahre 1900 gab es solche Anstalten in Marktredwitz und Wunsiedel; die 1899 in Schönwald vom dortigen Pfarrer gegründete Kinderbewahranstalt wurde von der ansässigen Porzellanfabrik mit jährlich 300 Mark unterstützt. 175 Solche Handarbeitsschulen für Porzellanarbeiterinnen existierten in Marktredwitz, Arzberg und Wunsiedel. 176 "So werden von der Firma Lorenz Hutschenruether jährlich für 400 Mk Familienzeitschriften angeschafft, die unter den Arbeiterfamilien zirkulieren" (EIDELLOTH, G. 1914, S.53f.). 177 Die PF Thomas, Marktredwitz errichtete 1910 für ihre Arbeiter eine Bibliothek mit Büchern im Wert von 7.000 Mark. 1912 umfaßte diese 1.600 Bände. Vgl. EIDELLOTH, G. 1914, S.54 u. STEPAN, C. 1933, S.106. 178 "Aus 19 Fabriken ist die Verteilung von Geldgeschenken im Betrage von 50, 100-250 M pro Arbeiter für langjährige Dienstzeit bekannt geworden. Weihnachtsgeschenke an Arbeiter und deren Familienangehörige sind immer noch vielfach üblich" (JFI 1913, S.130). Vgl. auch JFI 1893, S.133, JFI 1901, S.104. 179 JFI 1893, S.133 (Oberfranken). 180 Vgl. JFI 1901, S.104. 181 JFI 1913, S.130.

445

2.3 Gewerkschaftliche Sozialpolitik und Eigeninitiativen der Arbeiterschaft

Zu den Maßnahmen, die lange vor Beginn staatlicher Sozialpolitik ergriffen wurden, um sozialen Mißständen zu begegnen, gehörten neben den erwähnten innerbetrieblichen Einrichtungen Aktivitäten, die auf Eigeninitiativen der Arbeiterschaft sowie Aktionen gewerkschaftlicher Organisationen oder kirchlicher Stellen zurückgingen. Im folgenden werden insbesondere die Selbsthilfeeinrichtungen der Porzellanarbeiter vorgestellt.

2.3.1 Hilfs- und Unterstützungskassen

Ursprünglich im Manufakturgewerbe in Form von Kranken- und Beerdigungskassen182 entstanden, hatte sich das Kassenwesen im Deutschen Reich wie auch in den untersuchten Regionen besonders früh bei den Porzellanarbeitern entwickelt. So bestand seit 1736 in der Meißner Manufaktur eine von den dort beschäftigten Porzellinern gegründete "Allgemeine Sterbekasse der Maler und Modelleure", die im Todesfall die Hinterbliebenen eines Porzellanarbeiters finanziell unterstützte.

In der Oberpfalz war bereits 1832 bei der Dorfner`schen Porzellanfabrik in Hirschau eine Kranken-, Unfall- und Witwenkasse eingerichtet worden, die jedoch nur den von auswärts geholten Drehern und Formern vorbehalten war; im Jahr 1864 gründete sich in der Tirschenreuther PF Muther & Tittel eine selbstverwaltete Dreher-Unterstützungskasse.183 Bis zum Jahre 1870 waren in allen oberpfälzischen Porzellan- und Steingutfabriken Krankenkassen eingerichtet. Die Teilnahme von Delegiertem dieser Kassen an der Gründungsversammlung des Gewerkvereins der Porzellan- und verwandten Arbeiter im Jahre 1869 bewies die bei den Arbeitern gewachsene Einsicht notwendiger organisatorischer Autonomie und Zentralisation.

In Oberfranken gründeten 1837 die Dreher und Maler der PF C.M. Hutschenreuther eine Kranken-Unterstützungs- und Beerdigungskasse; 1865 schlossen sich alle übrigen Arbeiter

182 Auch von anderen Bevölkerungsgruppen richteten wurden solche Kassen eingerichtet, z.B. 1831 die "Ältere städtische Leichenkasse Selb"; 1900 der "Sterbekassenverein der freiwilligen Feuerwehr Selb"; 1903 der "Sterbe-Kassen-Verein beim Militär-Verein Selb". 183 Vgl. MÜLLER, G. 1988, S.66.

446 dieser Porzellanfabrik zu einer Hilfskasse zusammen, deren Statuten die Zielsetzungen und Leistungen dieser "Kranken-Unterstützungs und- und Beerdigungs-Casse für das Fabrikpersonal der C.M. Hutschenreuther`schen Porzellanfabrik zu Hohenberg" wie folgt beschreiben: " § 1: Der Zweck dieser Kasse ist, dem ... Fabrikpersonal, männlichen und weiblichen Mitgliedern, mit Ausnahme der Porzellandreher und Maler, für welche bereits eine derartige Cassa besteht, in Krankheitsfällen oder bei Verwundungen freie ärztliche oder chirurgische Behandlung und außerdem für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit eine bare Geldunterstützung, sodann in ganz besonderen Fällen auch noch anderweite Unterstützung zu gewähren. Es sind dabei Erkrankungen nur derjenigen Personen verstanden, welche selbst in der Fabrik in Arbeit stehen, ihre Angehörigen zu Hause sind demnach nicht mit inbegriffen. " 184

Mithin war der Beitritt zur Kasse obligatorisch für jeden Arbeiter, dessen Angehörigen jedoch nicht mitversichert waren. Der Beitragssatz staffelte sich in zwei Klassen und betrug monatlich 12 resp. 24 Kreuzer. Den Kapitalstock bildeten neben den Beiträgen auch Strafgelder und Donationen des Fabrikinhabers. Ein aus drei Arbeitern gebildeter Ausschuß hatte folgende Aufgaben: "Der Ausschuß tritt zusammen auf Verlangen der Fabrikherrn. Seine Aufgabe ist im Wesentlichen: 1. über die Berechtigung der Betreffenden zu Ansprüchen an die Kasse zu entscheiden, 2. außergewöhnliche Unterstützungen zu beraten, 3. dem Comptoir die nöthige Weisung zur Auszahlung der Unterstützungen zu geben, 4. am Jahresschluß den Hauptrechnungsabschluß einzusehen, Erinnerungen abzugeben und die übrigen Mitglieder dieser Casse von den Resultaten in Kenntniß zu setzen. Übrigens steht es ihm jederzeit frei, in dem Rechnungsbuche der Kasse nachzusehen."185

Eine weitere Bestimmung des Statuts schränkte die freie Arztwahl ein, da es im Ermessen des Fabrikanten lag, den behandelnden Arzt zu bestimmen; außerdem wurden die Leistungen der Kasse aufgeführt, wobei nur tatsächlich Erkrankte Anspruch auf Unterstützung hatten und "in keinem Falle ... eine Unterstützung bei nur leichtem Unwohlsein von kurzer Dauer gewährt" wurde. Auch bei "Krankheiten oder Verwundungen in Folge von Völlerei, Rauferei und anderer grober Selbstverschuldung" sowie bei Entbindungen, Verweigerung der ärztlichen Behandlung oder Simulation zahlte die Kasse keine Unterstützung. "Jeder Erkrankte hat wegen seiner ärztlichen Behandlung sich sofort an den Ausschuß zu wenden und erhält darauf aus dem Comptoir den nöthigen Schein an den betreffenden Arzt... . Außer den Kosten für die ärztliche Behandlung ... gewährt die Kasse den Erkrankten für die Dauer ihrer nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit auch noch bare Geldunterstützung ... nach II Classen: die der ersten Classe Beigetretenen erhalten pro Woche ... eine Unterstützung von ... drei Gulden, diejenigen welche in die zweite Classe eingetreten sind, eine solche von ... ein Gulden dreißig Kreuzer... ." 186

Ähnlich der Meißner Allgemeinen Sterbekasse gewährte auch die Kranken-Unterstützungs- Kasse in Ausnahmefällen Kredite:

184 STA Bamberg, K 18, XII 123. 185 Ebd.: Statuten § 7. 186 Ebd., §§ 9f.

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"Unterstützungen für besondere außerordentliche Fälle, wie zum Beispiel bei großer unverschuldeter häuslicher Bedrängnis – nicht nur bei persönlicher Krankheit des Arbeiters – liegen auch mit in dem Zweck dieser Casse. Auch solche Extra-Unterstützungen sind aber abhängig von dem Stand der Casse und unterliegen in jedem einzelnen Falle dem berathenden Vorschlage des Ausschusses und der Bewilligung des Fabrikherrn... ." 187

Da die Entscheidungsbefugnis bzgl. aller unmittelbaren Arbeiterangelegenheiten (z.B. Prüfung der Anspruchsberechtigung) somit zwar dem Arbeiterausschuß oblag, dieser jedoch vom Fabrikherrn einberufen wurde, weil außerdem der Arbeitgeber den behandelnden Arzt bestimmte und bei Kreditvergaben sein Einverständnis erklären mußte, behielt der Unternehmer weitgehende Einfluß- und Anordnungsmöglichkeiten, die der (weiteren) Disziplinierung der Arbeiterschaft dienen konnten. Es läßt sich daher resümierend konstatieren, daß die Mitglieder der Hutschenreuther`schen Kranken-Unterstützungs-Kasse ein lediglich partielles Selbstbestimmungsrecht, jedoch keine völlige Autonomie bzgl. ihrer Selbsthilfeorganisation besaßen. Gleiches galt im übrigen für die Mehrzahl der firmengebundenen Arbeiterselbsthilfeorganisationen, wie aus den ähnlich formulierten Statuten der 1873 von Drehern und Malern der PF Jacob Zeidler, Selb-Plößberg gegründeten Hilfskasse sowie aus den Statuten der Kranken- und Unterstützungskasse der Margarethenhütte bei Bautzen zu entnehmen ist. Letztere bestimmten, daß der Vorstand sich in Sonderheit aus dem Fabrikdirektor und dessen Stellvertreter zusammensetzte und sicherten durch die Vorgaben, daß Strafgelder, „freiwillige Spenden bei Besichtigen“ sowie „Zuschüsse der Firma (von) jährlich 10 Neugroschen pro Mitglied“188 an die Kasse fließen sollten, der Firmenleitung weitgehende Einflußmöglichkeiten zu.

Erwähnenswert ist ferner die "Extra-Kranken-Unterstützungskasse des Dreherpersonals der Lorenz Hutschenreuther`schen Porzellanfabrik", deren Mitgliedschaft den Drehern vorbehalten war und die "... den Mitgliedern sowie deren Hinterbliebenen außer der von der Fabrikkrankenkasse zu leistenden Unterstützung noch eine Extra-Unterstützung ..." 189 gewährte. Außerdem die 1906 gegründete Unterstützungskasse der Porzellanfabrik Ph. Rosenthal & Co., deren Statuten bestimmten, daß „... ein von der Direktion zu bestätigender Vorstand zu wählen ...“190

187 Ebd., § 15. 188 Sächs. HSTA, HLA 4027: Statuten für die Kranken- und Unterstützungskasse der Margarethenhütte bei Bautzen, §§13-17. 189 Satzung der Extra-Kranken-Unterstützungskasse von 1903, § 1. 190 Statut der Unterstützungskasse der PF Ph. Rosenthal, 1912. Selb. §2.

448 sei und deren Mitgliedschaft ausschließlich aus bei der PF Rosenthal beschäftigten Arbeitern bestand. Auch bei dieser Kasse besaß die Unternehmensleitung damit ein wirksames Instrument, ihr unliebsame Arbeiter sozial zu disziplinieren. Im übrigen bestand die Unterstützungskasse aus drei Beitragsklassen und zahlte festgelegte Summen bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit, Krankheit, allgemeinen Notlagen, beim Wechsel der Arbeitsstelle sowie an Witwen und Hinterbliebene.191 Die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen durch den von der Direktion sanktionierten Vorstand,192 ein Gründungszuschuß von 1.000,- Mark von der PF Rosenthal193 sowie die Genehmigung von Statutenänderungen durch die Betriebsleitung194 verstärkten die Abhängigkeit vom Unternehmer und lassen die geringen Selbstbestimmungs- und -gestaltungsmöglichkeiten der Kasse bzw. ihrer Mitglieder erkennen.

Daneben gab es allein im Amtsbezirk des BA Wunsiedel nach einer Aufstellung aus dem Jahre 1899 195 noch eine Vielzahl örtlicher Hilfs- und Unterstützungskassen sowie sonstige Einrichtungen der Arbeiterselbsthilfe, u.a. in Brand: Begräbniskasse, Konsumverein; Dörflas: Begräbnis-Unterstützungs-Anstalt, Arbeiterkasse; Kirchenlamitz: Begräbniskasse der Arbeiter, Unterstützungsverein; Lorenzreuth: Krankenkasse; Redwitz: Begräbnis- und Unterstützungs-Anstalt, Krankenverein und Unterstützungskasse; Roethenbach: Konsumverein, Arbeiter-Krankenunterstützungskasse; Schlottenhof: Kosum- und Begräbnisverein; Schoenbrunn: Krankenunterstützungskasse; Erkersreuth: Unterstützungskasse der Arbeiter; Thiersheim: Arbeiterhilfskasse, Unterstützungskasse: Thierstein: Begräbnis- und Unterstützungs-Anstalt Weißenstadt: Krankenhilfs-, Unterstützungs- und Begräbniskasse Wunsiedel: Kranken- und Begräbnisverein, Krankenunterstützungsverein der Atmungskranken, Arbeiter-Krankenunterstützungsverein.

191 Ebd., §8. 192 Statut der Unterstützungskasse der PF Ph. Rosenthal, 1912. Selb. §8. 193 Ebd., §11. 194 Ebd., §16. 195 Vgl. STA Bamberg. K 22 XIII, 426.

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Neben diesen meist orts- oder betriebsgebundenen Kassen existierten auch überbetriebliche Hilfskassen wie z.B. der 1876 in Wunsiedel gegründete "Arbeiter-Kranken- Unterstützungsverein"196 und der 1877 gegründete "Arbeiter-Kranken-Unterstützungsverein von Arzberg und Umgebung".197 Des weiteren sind zu nennen die 1885 gegründete "Begräbniskasse der Porzellanfabrik-Personale von Selb und Umgegend", welche die Mitgliederzahl auf 230198 und das Höchstalter auf 40 Jahre beschränkte. Der Vereinszweck wurde wie folgt beschrieben: "... den Hinterbliebenen eines jeden verstorbenen Mitgliedes zur Bestreitung der Begräbniskosten durch Geldmittel momentan an die Hand zu gehen. ... Die Relikten199 des verstorbenen Mitgliedes erhalten bei dessen Ableben 225 M ... ausbezahlt." 200

Von überregionaler Bedeutung war die "Freie Eingeschriebene Hilfskasse der Porzellanmaler von Selb und Erkersreuth", in der bereits im Gründungsjahr 1884 42 Arbeiter, größtenteils Maler und Malerlehrlinge, der Porzellanfabriken Rosenthal, Rieber & Hornis sowie Bareuther Mitglied waren.201 Die Statuten beschreiben die Bestimmung dieser Kasse folgendermaßen: "Die Hilfskasse bezweckt die gegenseitige Unterstützung für den Fall der Krankheit und die Gewährung einer Beihilfe für die Hinterbliebenen verstorbener Mitglieder." 202

Beitrittswillige Arbeiter, die ihren Gesundheitszustand durch einen Kassenarzt überprüfen lassen und dem Vorstand Auskunft über ihre persönlichen Verhältnisse geben mußten, durften nicht älter als 50 Jahre sein. Die in den Statuten von 1884 noch enthaltene Möglichkeit der Rückerstattung der Beiträge an ausgetretene Mitglieder war in dieser Form einzigartig unter den Hilfskassen, wurde allerdings in späteren Statuten aufgehoben. Sie sollte wohl der hohen Migration der Porzelliner Rechnung tragen und war insoweit berufsspezifisch; doch war die Kasse in den ersten Jahren ihres Bestehens ausschließlich Malern vorbehalten, die durch ihren Status als gelernte Arbeiter wenig Mobilität zeigten. Erst als die Kasse auch für andere Arbeiter der Porzellanindustrie, mithin auch für ungelernte, zugänglich wurde, stiegen die Austritte wegen Ortswechsel und damit die möglichen Rückzahlungen an ausgetretene Arbeiter in einem Maße an, daß man, um die Zahlungsfähigkeit der Kasse zu sichern, die Rückzahlung unterbinden mußte:

196 Vgl. ebd. 197 Vgl. SNN vom 28.5.1955. 198 Die mit Satzungsänderung vom 14. Januar 1900 beschlossene Heraufsetzung der Höchstzahl der Mitglieder auf 330 kann als Zeichen dafür gewertet werden, daß die bestehenden sozialen Sicherungssysteme nicht ausreichend waren und weiterhin ein hoher Bedarf nach Absicherung finanzieller Risiken, wie z.B. Bestattungskosten und Verdienstausfall bestand. 199 Hinterbliebenen. 200 Statuten der Begräbniskasse von 1885, §§ 1, 2. 201 Vgl. StA Selb, 452.3/4. 202 Statut der Freien eingeschriebenen Hilfskasse der Porzellanmaler von Selb und Erkersreuth von 1884, § 1.

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"Das ausgetretene ... Mitglied hat kein Recht, die Beiträge ganz oder teilweise zurückzufordern." 203 Die Mitversicherung der Ehefrauen und Angehörigen von Mitgliedern sowie die Anlage der Kassenreserven in Schuldverschreibungen und Rentenbriefen (§14) können als durchaus fortschrittlich und keinesfalls allgemein üblich gewertet werden. Sie führten dazu, daß die Attraktivität dieser Hilfskasse auch nach Inkrafttreten eines neuen Krankenversicherungsgesetzes 1885 ungebrochen war. Diese stetig wachsende Nachfrage nach Absicherung im Krankheits- oder Todesfall löste 1891 innerhalb der Kasse einen heftigen Streit aus: 1890 waren sämtliche Arbeiter der PF Paul Müller und Ph. Rosenthal in die Selber Hilfskasse eingetreten, so daß der Name nunmehr in "Freie eingeschriebene Hilfskasse vereinigter Porzellanarbeiter von Selb und Erkersreuth"204 geändert wurde. Dadurch, daß nun nicht mehr nur Maler, sondern alle Arbeiter mitgliedsberechtigt waren, verzeichnete die Kasse einen enormen Mitgliederzuwachs.205 Dies wiederum führte zu erhöhten Aufwendungen, die aus den Beiträgen und dem Fond nicht gedeckt werden konnten. Zur Abhilfe wurde eine Beitragserhöhung beschlossen, woraufhin die Arbeiter der PF Paul Müller und die Maler der PF G. Gebhardt geschlossen austraten. Somit waren 1894 nur noch Arbeiter der PF Rosenthal, Krautheim & Adelberg, Gebr. Lang und Rieber Mitglieder der "Vereinigten", wie die Hilfskasse von den Porzellinern kurz genannt wurde; um den Mitgliederschwund zu bremsen, bot man diesen im gleichen Jahr an, sich trotz bestehender Lohnklasse höher zu versichern.206

Die Statuten von 1910 unterschieden folgende vier Klassen: Klasse I: Erwachsene männliche Arbeiter über 16 Jahre mit einem durchschnittlichen Wochenverdienst von 15 bis 18 Mark. Klasse II: Erwachsene männliche und weibliche Arbeiter über 16 Jahre mit einem durchschnittlichen Wochenverdienst von 12 bis 15 Mark. Klasse III: Männliche und weibliche Arbeiter unter 16 Jahre sowie Lehrlinge mit einem durchschnittlichen Wochenverdienst von 8 bis 11 Mark. Klasse IV: Männliche und weibliche Arbeiter unter 16 Jahre mit einem durchschnittlichen Wochenverdienst von 5 bis 7 Mark.

203 Statut der Freien eingeschriebenen Hilfskasse vereinigter Porzellanarbeiter von Selb und Umgegend von 1910, § 3. 204 1910 abgeändert in: "Freie eingeschriebene Hilfskasse vereinigter Porzellanarbeiter von Selb und Umgegend ". 205 Eine Aufstellung vom 22. Juni 1891 umfaßte allein 188 Namen von Arbeitern der PF Ph. Rosenthal, die Mitglieder der "Vereinigten" waren. Vgl. StA Selb, 452.3/7 Betriebskrankenkasse Ph. Rosenthal 1891-1911. 206 Vgl. STA Bamberg, K 18 XII, 117.

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Tab.78: Mitgliedsbeiträge, Kranken- und Sterbegelder der "Vereinigten" 1910 (in Mark) 207 Klasse Einstand Mitgliedsbeitrag In % des Krankengeld Sterbegeld wöchentlich Wochenlohnes täglich einmalig I 4,- 0,68 4,1 2,- 120,- II 3,- 0,51 3,7 1,33 80,- III 2,- 0,34 3,6 0,80 48,- IV 1,- 0,22 3,7 0,50 30,-

Im Jahre 1911 verteilten sich die Mitglieder der Kasse auf folgende Unternehmen: Ph. Rosenthal 943 208 Heinrich & Co. 304 Krautheim & Adelberg 83 Josef Rieber 26 Gräf & Krippner 19 Thomas & Stössel 14 Lorenz & Frabe 13 Groh & Co. 10 Franz J. Brückner 2 Sack & Voit --

Die im Jahre 1913 erstmals an die "Vereinigte" ergangene Aufforderung, sich mitsamt ihrem Kapital der Allgemeinen Ortskrankenkasse Selb anzuschließen, wurde von der PF Rosenthal, die eine eigene Betriebskrankenkasse zu gründen beabsichtigte, zurückgewiesen: "Soweit uns bekannt, sind wohl drei Viertel der gesamten Mitglieder der `Freien eingeschriebenen Hilfskasse` zu dem Personal unserer Firma gehörig und würde daher diesen Leuten ein großer materieller Verlust entstehen, wenn ihnen das Gesamtvermögen der Kasse ... vollständig verloren geht, zugunsten von Personen, welche mit dem größten Teil der in Frage kommenden ersparten Reservefonds der `Freien eingeschriebenen Hilfskasse` nicht das mindeste zu tun haben ..." 209

Im Jahre 1919 schließlich traten auch die Mitglieder der "Freien eingeschriebenen Hilfskasse vereinigter Porzellanarbeiter von Selb und Umgegend" geschlossen zur AOK über;210 die Kasse selbst wurde in eine "Allgemeine Kranken- und Sterbekasse, Zuschußverein für Selb und Umgebung" umgewandelt.211

Abschließend sollen an dieser Stelle die 1877 gegründete "Zuschuß212-Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und verwandten 213 Arbeiter" sowie das 1886 beschlossene "Reglement für die Unterstützung arbeitsloser und nothleidender

207 Quelle: Statut der "Vereinigten" von 1910, §§ 6, 7, 9. 208 Die hohe Mitgliederzahl speziell bei der PF Ph. Rosenthal erklärt sich aus § 3 der Arbeitsordnung von 1911, der jeden Arbeiter verpflichtete, Mitglied dieser Hilfskasse zu werden. Vgl. S.290. 209 StA Selb, 452.2/5 Vereinigung AOK – Freie eingeschriebene Hilfskasse 1913. 210 Vgl. S.433. 211 Vgl. Rosenthal-Archiv: Fabrikbuch Selb-Plößberg. 212 In späteren Jahren fiel der Namenszusatz "Zuschuß" weg. 213 Anstelle des Ausdrucks "verwandte Arbeiter" findet sich in den Statuten auch der Ausdruck "andere Arbeiter". Außerdem fiel in späteren Jahren der Zusatz "Zuschuß" im Namen weg.

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Mitglieder des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und anderer Arbeiter"214 als originäre Organe der Arbeiterselbsthilfe dargestellt und untersucht werden.

Die Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins hatte als eingeschriebene Hilfskasse "... die gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder für den Fall der Krankheit und die Gewährung einer Beihülfe an die Hinterbliebenen verstorbener Mitglieder"215 zum Ziel. Dabei konnten ausschließlich Mitglieder des Gewerkvereins der Kasse beitreten; diese durften beim Eintritt außerdem nicht älter als 40 Jahre sein216 und mußten einen Gesundheitsschein nach ärztlicher Untersuchung beibringen. Die in § 4 des Statutes festgelegte Bestimmung, nach der ein Mitglied der Kasse bei Ortswechsel sofort und uneingeschränkt, d.h. ohne Wartezeit und ohne neues Einstandsgeld weiterversichert war, ist in diesem Falle – im Gegensatz zu den Bestimmungen in den 1884er Statuten der Hilfskasse der Porzellanmaler von Selb und Erkersreuth – als tatsächliches Zugeständnis an die häufigen Orts- und Arbeitgeberwechsel der Porzelliner anzusehen;217 gleiches gilt für die Rückzahlung der Eintrittsgelder bei Ausscheiden eines Mitgliedes vor Ablauf von zwei Jahren218. Die Aufnahme- bzw. Einstandgebühr betrug 50 Pfennige resp. 25 Pfennige für Lehrlinge und jugendliche Arbeiter, wobei Neumitglieder sich nur in der untersten Stufe versichern konnten. Eine Höherversicherung war erst nach 26 Wochen Mitgliedschaft und nur für Mitglieder bis zu 40 Jahren möglich. Nachstehende Tabelle stellt die Beiträge, Kranken- und Sterbegelder dieser Hilfskasse zusammen:

214 Vgl. S.300. 215 Statut der Zuschuß- Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und verwandter Arbeiter von 1885, § 1. 216 Das Durchschnittsalter der Versicherten betrug 34 Jahre. 217 Der starken Migration der Porzelliner trug insbesondere der "Kartellvertrag der eingeschriebenen Hülfskassen der Gewerkvereine " Rechnung, dessen § 1 jede diesem Kartell angehörende Kasse verpflichtete, "berechtigte Mitglieder jeder andern Hülfskasse bei einem ... Uebertritt infolge von Wohnungs- und Berufswechsel ... zu vollen Rechten ohne Eintrittsgeld aufzunehmen" (Zit. nach Statut von 1885, Anhang). 218 Statut von 1885, § 5.

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Tab.79: Beiträge und Leistungen der Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins219 Klasse I Wöchentl. Beitrag bei einem Eintrittsalter bis zu Krankengeld: 10 Mark 30 Jahre 40 Jahre 45 Jahre wöchentlich Sterbegeld: 100 Mark 40 Pf. 50 Pf. 60 Pf. Klasse II Krankengeld: 12,50 Mark wöchentlich Sterbegeld: 125 Mark 50 Pf. 63 Pf. 75 Pf. Klasse III Krankengeld: 15 Mark wöchentlich Sterbegeld: 150 Mark 60 Pf. 75 Pf. 90 Pf. Klasse Lehrlinge I 16 Jahre Krankengeld: 4,50 Mark wöchentlich Sterbegeld: 45 Mark 18 Pf. Klasse Lehrlinge II Krankengeld: 6,- Mark wöchentlich Sterbegeld: 60 Mark 24 Pf.

Bemerkenswert erscheint auch die in den Satzungen enthaltene Bestimmung, nach der Zuwendungen und Geschenke Dritter zwar zulässig waren, aus diesen jedoch kein Anspruch auf Teilhabe an der Verwaltung erwuchs. Dies bedeutete, daß die Gründer der Kasse von vornherein bestrebt waren, den Einfluß der Arbeitgeber weitgehend zu unterbinden; dem gleichen Zweck diente ein dichtes Netz örtlicher Verwaltungsstellen, die schon eingerichtet wurden, wenn 5 Mitglieder der Kasse in einem Ort wohnten.

Die Satzung beschrieb exakt und detailliert die einzelnen Organe der Hilfskasse wie Verwaltungsstellen, Vorstand, Ausschuß und Generalversammlung bzw. deren Aufgaben, was zu – sicherlich beabsichtigter – größtmöglicher Transparenz der Kasse nach innen und außen führte. Wegen ihres im Vergleich zu den Statuten orts- oder fabrikgebundener Hilfskassen größeren Umfangs und ihrer nachgerade peniblen Auflistung aller Eventualitäten und der daraus entstehenden Handlungsvorschriften für die Selbstverwaltungsorgane dieser bedeutenden überregionalen Kasse läßt sich die These aufstellen, daß die Organisation "Gewerkverein" bemüht war, sowohl staatlichen Vorgaben Genüge zu tun als auch in gewisser Weise bürgerliche Selbsthilfeeinrichtungen resp. deren Satzungen als "Vorbild" zu

219 Quelle: Statut von 1885, § 6.

454 nehmen. Die Maßgabe zur Bildung eines Reservefonds in Höhe der durchschnittlichen Jahresausgabe der letzten fünf Jahre (§ 42) sowie die dem Subsidiaritätsprinzip folgende Bestimmung, nach der die Einnahmen jeder Verwaltungsstelle zuerst zur Bestreitung der Ausgaben ebendieser dienen sollten (§ 38), bestätigen die oben geäußerte Annahme.

Einen Überblick über Mitgliederentwicklung, Krankentage, Sterbefälle sowie Einnahmen und Ausgaben der Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas und verwandten Arbeiter gibt nachfolgende Tabelle. Dabei wird deutlich, daß sich in der Dekade von der Gründung der Kasse 1877 bis 1888 die Mitgliederzahl mehr als verdoppelt hat und die Einnahmen und Ausgaben proportional dazu anstiegen. Der auffallend hohe Kassenstand zum Ende des Jahres 1881 (13.289 Mark) erklärt sich einerseits aus der Neugründung verschiedener örtlichen Verwaltungsstellen220 und damit verbunden einem verhältnismäßig hohen Zugang an Neumitgliedern, andererseits sank die Zahl der Kranheitsfälle und die Krankheitsdauer: Betrug der Prozentsatz der Erkrankten im Jahre 1880 noch 30% mit umgerechnet 10 Krankentagen pro Mitglied, so waren 1881 nur noch 26% der Versicherten mit umgerechnet 9 Krankentagen pro Mitglied erkrankt; entsprechend niedriger war auch die Summe der auszuzahlenden Krankengelder (9.919 Mark), was wiederum nahezu zu einer Verdoppelung des Kassenvermögens von 7.349 Mark auf 13.289 Mark führte.

Tab.80: Übersicht über die Tätigkeit der Kranken- und Begräbniskasse 1877 – 1888 221

Jahr

Mitglieder Einnahmen Ausgaben Kassenbestand Krankenfälle Krankentage Krankengeld Sterbefälle Sterbegeld 1877 943 13.638 9.655 3.983 236 6.378 7.127 9 670 1878 1027 16.155 17.419 2.718 383 12.434 13.895 23 1.750 1879 1077 18.162 16.735 4.145 358 14.205 12.395 23 1.770 1880 1040 20.086 16.881 7.349 299 10.680 11.464 28 2.230 1881 1077 19.636 13.697 13.289 283 9.501 9.919 21 1.770 1888 2.134 71.310 66.753 4.573 845 24.320 35.918 28 2.925

220 So wurde bspw. 1888 von Arbeitern der Mitterteicher PF Lindner & Cie. die Errichtung einer örtlichen Verwaltungsstelle der Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins angezeigt. Vgl. StA Mitterteich, Akt 2292: Schreiben des kgl. Bezirksamtmanns an das BA Tirschenreuth vom 22. Sept. und 8.Okt. 1888. Entsprechend niedrig war 1888 mit 11 Arbeitern der Mitgliederbestand dieser Hilfskasse in Mitterteich. Vgl. Die Ameise 1889, 16.Jg., Nr.17. 221 Quelle: Die Ameise 1882, 9.Jg., Nr.29 u. 1889, 16.Jg., Nr.17. Die Geldbeträge (Einnahmen, Ausgaben, Kassenbestände und Krankengelder) wurden vom Verf. auf volle Mark gerundet.

455

Die prozentual meisten Erkrankungen betrafen 1881 mit knapp 40% die Atmungsorgane;222 diese Erkrankungen waren mit 57% auch die häufigste Todesursache (13 von 21 Verstorbenen). Ähnliches läßt sich für das Jahr 1888 feststellen, in dem 33,5% der Erkrankungen Krankheiten der Atmungsorgane waren, die mit 54% ebenfalls die häufigste Todesursache darstellten (15 von 28 Verstorbenen).223 Sowohl bei den aufgetretenen Fällen als auch bei der Gesamtzahl der Krankentage waren Dreher, Former und Maler überproportional stark betroffen: 224 Dreher:225 Von 361 Mitgliedern dieser Berufsgruppe (33,5% der Gesamtmitgliederzahl) erkrankten 141 (49,8% der Gesamtkrankenfälle) mit insgesamt 3.807 Krankheitstagen (40% der Gesamtkrankentage). Former:226 Von 179 eingetragenen Mitgliedern (16,6%) erkrankten 52 (18,4%) mit zusammen 1.897 Krankheitstagen (16,3%). Maler: Von 180 Malern (16,7%) erkrankten 43 (15,2%) mit insgesamt 817 (8,6%) Krankheitstagen. Dies bedeutet, daß allein diese drei Berufsgruppen zwar zwei Drittel der Mitglieder der Hilfskasse stellten, daß jedoch der Anteil dieser an der Zahl der Erkrankungen mit 83,4% überproportional hoch lag.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Kranken- und Begräbniskasse des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und verwandten Arbeiter besonders stark in den östlichen Teilen des Reichsgebietes wie z.B. Thüringen vertreten, weniger stark in Bayern, wie nachfolgende Zahlen belegen:

Tab.81: Mitgliederbestand örtlicher Verwaltungsstellen der Hilfskasse 1888 227 Ort Mitglieder Ort Mitglieder Althaldensleben 191 Moschendorf/Oberfr. 13 Neuhaldensleben 27 Rehau/Oberfranken 8 Ilmenau/Thüringen 63 Mitterteich/Opferpfalz 11 Kahla/Thüringen 33 Rudolstadt/Thüringen 135

222 Die Statistik der Hilfkasse nannte u.a.: Rachenentzündung, Kehlkopfkatarrh, Luftröhrenentzündung und -katarrh, Lungenkatarrh, Lungenschwindsucht, Lungenschleimhautentzündung, Lungenentzündung, Lungenfistel, Brustfellentzündung, Bronchialkatarrh, Tuberkulose. In: Die Ameise 1882, 9.Jg., Nr.29. 223 Vgl. Die Ameise 1889, 16.Jg., Nr.17, Nr.31. 224 Vgl. später: Morbidität und Mortalität der Porzellanarbeiter. 225 Dreher für Porzellan, Steingut und Tonwaren. 226 Former für Porzellan, Steingut und Tonwaren sowie Formgießer. 227 Quelle: Die Ameise 1889, 16.Jg., Nr.17 (Auszug).

456

Das 1886 beschlossene Reglement für die Unterstützung arbeitsloser und nothleidender Mitglieder des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und anderer Arbeiter sicherte den "Mitglieder(n) des Gewerkvereins, welche demselben mindestens 3 Jahre ununterbrochen angehört haben ,... bei nach Ablauf dieser Zeit eintretender Arbeitslosigkeit pro Tag (außer Sonntags) 1 Mk. Unterstützung aus der Ortsvereinskasse"228 zu, Lehrlinge und jugendliche Arbeiter erhielten 50 Pf. pro Tag. Diese Sustentation stellt sich demnach als Arbeitslosenversicherung dar, die, von einer gewerkschaftlichen Organisation initiiert, jedem ihrer Mitglieder qua Mitgliedschaft materielle Hilfe bei eintretender Arbeitslosigkeit bot. Die Unterstützung war allein an eine dreijährige Zugehörigkeit zum Gewerkverein und den damit verbundenen Beiträgen von wöchentlich 15 Pf. bei volljährigen bzw. 8 Pf. bei jugendlichen Arbeitern gebunden und wurde für eine Dauer von 10 Wochen gezahlt. Wenngleich die gezahlten Unterstützungen nicht sonderlich hoch waren und kaum zum Leben ausgereicht haben dürften, so stellte dieses Reglement doch einen nicht- staatlichen, vielmehr autonomen Versuch der Porzellanarbeiterschaft bzw. ihrer Organisation dar, eine kollektive Arbeitslosenversicherung zu schaffen. Das dabei zugrundeliegende Solidaritätsprinzip ließ ebenfalls eine Unterstützung einzelner in Not geratener Mitglieder zu. Diesen wurde, sofern sie 6 Monate dem Gewerkverein angehörten, eine einmalige finanzielle Hilfe von höchstens 20 Mark aus Gewerkvereinsmitteln gezahlt.229

2.3.2 Spar- und Vorschußvereine

Während die Hilfs- und Unterstützungskassen die Vorsorge im Krankheits- oder Todesfall zum Ziel hatten, sollten die von den Porzellinern gegründeten Spar- und Vorschußvereine die Absicherung bei finanziellen Notlagen bezwecken. Zwar wurden auch von den Unterstützungskassen vereinzelt Kredite vergeben, jedoch geschah dies nur bei extremen Notfällen und zu ungünstigen Konditionen. Im Untersuchungsraum Oberfranken ist exemplarisch der "Privat-Spar- und Vorschußverein" der PF C.M. Hutschenreuther zu nennen, dessen Ziele das Statut von 1863 wie folgt beschrieb:

228 Reglement von 1886, § 1. 229 Ebd., § 26.

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"Die unterzeichneten Mitglieder bezwecken durch den Zusammentritt zu diesem Vereine durch systematisches Aufsparen die Ansammlung von Capital ... durch ihren gemeinschaftlichen Credit, wenn ein Mitglied deren bedarf, die erforderlichen baaren Geldmittel zu verschaffen." 230

Durch geringe Sparbeträge von monatlich mindestens 18 Kreuzern sollte die Möglichkeit geschaffen werden, Kredite als Vorschüsse an Mitglieder zu vergeben, dies allerdings nur gegen sehr hohen Zins, "um ein leichtfertiges Leihen dadurch zu vermeiden und ... weil diese hohen Zinsen immer dem Darleher mit zu Gute kommen, indem beim jedesmaligen Rechnungsabschluß die Zinsen als Dividende den Mitgliedern gut geschrieben werden." 231

Da der Spar- und Vorschußverein sich ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte und die Fabrik lediglich bei Rückzahlungen von Vorschüssen mittels Lohnabzügen und anschließender Überweisung an den Verein beteiligt war, ist dieser de facto als genuines Organ der Arbeiterselbsthilfe anzusehen. Die statutarisch definierte uneingeschränkte Haftpflicht, nach der jedes Vereinsmitglied bei Auflösung der Kasse mit seinem gesamten Vermögen haftbar war, ist ebenfalls als, wenn auch unvorteilhafter, Schritt in Richtung Autonomie von der Fabrikleitung zu werten. Die Vereinsmitglieder hatten neben dem Anspruch auf Gewährung von Vorschüssen auch das Recht, am Gewinn durch Auszahlung der Dividenden beteiligt zu werden. Jeder Vorschuß von i.d.R. nicht unter drei und nicht über 50 Gulden bedurfte eines Bürgen, wobei ein Porzelliner für einen anderen zeichnen konnte. Die Rückzahlungsfrist betrug drei Monate und konnte um den gleichen Zeitraum verlängert werden. Die Konditionen zur Gewährung eines Vorschusses waren detailliert dargelegt und sollten so eine größtmögliche Sicherheit bei der Kreditvergabe gewährleisten sowie etwaige Verluste wg. nicht zurückgezahlter Vorschüsse möglichst verhindern : "... daß er der staatsbürgerlichen und Ehrenrechte nicht verlustig und Mitglied des Vereins ist, ... daß er auf frühere Vorschüsse weder im Rückstande gegen die Kasse sich befindet, noch einen etwaigen Bürgen in Schaden gebracht hat ... daß seine Verhältnisse die nöthige Sicherheit für Rückerstattung des Vorschusses darbieten. Was die Sicherheit betrifft, so hat der Ausschuß bei Beträgen, welche das Guthaben der Einzelnen um nicht mehr als 10 Gulden übersteigen, nur darauf Rücksicht zu nehmen, ob die Persönlichkeit und die Verhältnisse des Gesuchstellers derart sind, daß eine Rückerstattung mit Wahrscheinlichkeit zu verhoffen steht und einzig hierauf zu entscheiden. Es ist dabei hauptsächlich auf Thätigkeit, Geschicklichkeit, Ordnungsliebe und Rechtlichkeit zu sehen und können vom Ausschusse zuverlässige, mit den Verhältnissen bekannte Vertrauensmänner aus den Vereinsmitgliedern nach seine Wahl zugezogen und gutachtlich über alles dieses gehört werden. ... Bei höheren Vorschüssen muß von dem Nachsuchenden Sicherheit durch Bürgen oder Pfand erfordert werden, deren Annehmlichkeit der Ausschuß lediglich zu beurtheilen und darauf das Gesuch zu gewähren oder abzulehnen hat." 232

230 STA Bamberg, K 18 XII, 122: Statut des Vorschuß- und Sparkassenvereins der PF Hutschenreuther (Hohenberg) von 1863, § 1. 231 Ebd. 232 Ebd., § 11.

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2.3.3 Arbeiterkonsumvereine

Im Jahre 1897 existierten in Oberfranken 20 Konsumvereine mit etwa 2.700 Mitgliedern. Daß die Arbeiterkonsumvereine durchaus nicht unumstritten waren und mit dem Widerstand der ortsansässigen Geschäftswelt und den diese unterstützenden Unternehmern zu rechnen hatten, belegt folgende Äußerung eines oberfränkischen Porzellanfabrikanten: „Wir sind auch Gegner von Konsumvereinen und der Ansicht, daß die Arbeiter ihre Bedürfnisse bei den Gewerbetreibenden des Platzes decken sollen; wer die mit der Industrie verbundenen Belästigungen zu ertragen hat, soll auch deren Segnungen genießen.“233

Der 1890 gegründete "Konsumverein für Hof und Umgebung", der 1896 749 Mitglieder zählte und bis 1914 auf fast 4.000 Mitglieder anwuchs, verfügte über eine eigene Dampfbäckerei,234 Limonadenfabrik, Kaffeerösterei, Heringsräucherei und ein Zentrallager verfügte,235 und kann als der wohl bedeutendste Konsumverein in der untersuchten Region angesehen werden. So erzielten in den zwei städtischen Verkaufsstellen jeweils 6 bis 8 Verkäufer einen stetig wachsenden Jahresumsatz (1893: 150.000 Mark), der auch dadurch erreicht wurde, daß die Niederlassungen von 7.00 bis 22.30 Uhr geöffnet hatten,236 mithin auch Arbeitern, die auswärts arbeiteten, den Einkauf von Lebensmitteln, Schuhen, Weiß- und Kurzwaren sowie anderer Waren des täglichen Bedarfs ermöglichten. Zwei Vereine in Bayreuth mit zusammen 530 Mitgliedern (1896) sowie der Konsumverein Marktredwitz, der 1905 einen Mitgliederstand von rd. 1.200 hatte und eine eigene Bäckerei besaß, sind als weitere größere, weil mitgliederstarke Konsumvereine zu nennen; letzterer soll hier näher dargestellt werden .

Auf Initiative von Webern aus Dörflas237 wurde am 4. März 1900 im Saal des Gasthauses „Schübel“238 von der Marktredwitzer Arbeiterschaft die "Konsum- und Spargenossenschaft Marktredwitz und Umgebung e.G.m.b.H." in der Absicht gegründet, nicht nur durch berufliche Interessenvertretungen (Gewerkschaften), sondern auch durch wirtschaftliche Autonomie und größtmögliche Autarkie ihre Lage zu verbessern.239 In einem Aufruf des Konsumvereins aus dem Jahre 1902 heißt es dazu:

233 In: Denkschrift des Kgl. Bayer. Statist. Bureaus von 1906, S.62f. 234 Die 1908 errichtete Bäckerei setzte bereits kurz nach ihrer Eröffnung täglich 900 Laib Schwarzbrot um. 235 Vgl. TRÜBSBACH, R. 1990, S.630. 236 Vgl. JFI 1893, S.130. 237 Damals eigenständig, heute Ortsteil von Marktredwitz. 238 Heute „Goldener Löwe“. 239 Die Arbeiter folgten damit dem Leitspruch der Begründer der Genossenschaftsbewegung , der "Redlichen Pioniere von Rochdale" (England), die bereits 1844 gefordert hatten: "Wir wollen unsere wirtschaftlichen Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen und darin behalten."

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„Tretet ein in unsere Reihen, helft mitarbeiten am gemeinsamen Werk, lasst euch nicht abhalten durch Verleumdungen, die über den Verein ausgestreut werden, denn die Zukunft gehört der freien Genossenschaftsbewegung!“240

31 Aufruf zur Generalversammlung des Konsumvereins Marktredwitz241

Die Genossenschaft konnte ihren Mitgliederbestand242 wegen des starken Anteils der Arbeiterschaft an der Bevölkerung von Marktredwitz und den umliegenden Ortschaften rasch steigern und errichtete eine Vielzahl örtlicher Verteilungsstellen in Oberfranken und der Oberpfalz. Im Jahre 1927 existierten 22 solcher Verteilungsstellen, u.a. in Dörflas, Oberredwitz, Marktleuthen, Wunsiedel (2), Waldsassen und Kirchenlamitz; in Marktredwitz selbst bestanden 4 Verteilungsstellen. Der Umsatz allein der genossenschaftseigenen Bäckerei betrug 1927 421.377 RM, was einem Umsatz von täglich 0,35 RM pro Mitglied entsprach. Der Gesamtumsatz betrug im gleichen Jahr 1.415.000 RM, was einem durchschnittlichen Umsatz von 423,31 RM pro Mitglied entsprach. Sämtliche nicht in eigenen Betriebe hergestellten Waren wurden von der Großeinkaufsgesellschaft Deutscher Konsumvereine in Hamburg bezogen. Welch große Bedeutung der Marktredwitzer Konsum- und Spargenossenschaft in bezug auf Einkäufe von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs unter den Arbeitern zukam, belegen folgende Absatzzahlen des Geschäftsjahres 1927/28: Kartoffeln: 2.054 Ztr.; Butter: 41 Ztr.; Schweinefett: 252 Ztr.; Margarine: 918 Ztr.; Salz: 1.171 Ztr.; Weizenmehl: 2.453 Ztr.; Reis: 267 Ztr.; Mais: 479 Ztr.; Kraut: 2.340 Ztr.; Zwiebeln: 447 Ztr.; Gurken: 190 Ztr.; getrocknete Früchte: 206 Ztr.; Marmelade: 40 Ztr.; Kunsthonig: 32 Ztr.; Haferflocken: 48 Ztr.; Erbsen: 37 Ztr.; Weizengrieß: 193 Ztr.; Zucker: 3.700 Ztr.; Wurstwaren: 548 Ztr.; Speck, Fleisch, Schinken, Corned Beef: 116 Ztr.; Bohnenkaffee: 69 Ztr.; Eier: 141.600 Stck.; Zitronen: 11.900 Stck.; Zigaretten: 580.000 Stck.; Zigarren: 111.770 Stck.; Bier: 1.915 hl; Wein: 2.343 Fl.

240 Zit. nach SPD-OV Marktredwitz 2002, S.26. 241 Aus: SPD-OV Marktredwitz 2002, S.27. 242 Zahl der Gründungsmitglieder: 189.

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Der Konsumverein besaß eigene Kraftwagen, die Waren an die Verteilungsstellen lieferten. Der Geschäftsanteil jedes Mitgliedes an der Genossenschaft betrug im Jahre 1900 5,26 Mark, 1910 14,64 Mark und 1928 28,67 Reichsmark. Neben dem Ein- und Verkauf von Waren wurden auch Spareinlagen entgegengenommen, die Genossenschaft fungierte somit auch als Arbeitersparkasse. Die eingezahlten Beträge wurden bei der Bankabteilung der Großeinkaufsgesellschaft angelegt und waren jederzeit verfügbar. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die Entwicklung der Konsum- und Spargenossenschaft Marktredwitz und Umgebung:

Tab.82: Spar- und Konsumgenossenschaft Marktredwitz 1900 bis 1927/28 243 Geschäftsjahr Mitglieder Verteilungsstellen Umsatz in Rückvergütungen in Geschäftsanteile in M oder RM M oder RM M oder RM 1900 226 1 36.615 2.158 1.189 1904/05 1.145 3 253.156 29.728 12.466 1909/10 1.727 9 465.800 35.707 26.638 1914/15 3.479 16 877.501 63.353 51.749 1919/20 4.502 18 ------1924/25 4.395 19 782.185 62.871 36.487 1927/28 3.343 22 1.415.109 100.006 95.834

Als weiterer bedeutender Arbeiterkonsumverein der Region ist der Konsumverein Selb zu nennen, der 1898 von 84 Mitgliedern gegründet wurde. Gegenstand des Vereins war der gemeinschaftliche Einkauf von Lebens- und Wirtschaftsbedürfnissen im großen und deren Weitergabe und Verkauf im kleinen an die Mitglieder. Eigene Werkstätten, in denen Bedarfsartikel des täglichen Lebens (z.B. Möbel) produziert und weiterverarbeitet wurden sowie die Annahme von Spareinlagen gehörten ebenfalls zu den Aktivitäten des Konsumvereins. Tab.83: Mitglieder- und Umsatzentwicklung sowie Spareinlagen des Konsumvereins Selb244 Jahr Mitglieder Umsatz (Mark) Spareinlagen (Mark) 1899 197 37.100,------1902 391 57.885,------1906 1.053 276.549,40 20.355,08 1910 1.387 292.159,28 58.858,27 1914 1.623 371.805,42 113.578,-- 1917 1.744 395.111,52 145.475,13

243 Aus: STEPHAN, C. 1933, S.122f. (Auszug). 244 Aus: GRADL, H. 1919, S.79f.

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Sowohl bei der Mitgliederzahl als auch beim Umsatz und den Spareinlagen ist eine starke Zunahme verzeichnen: In den knapp zwanzig Jahren seit Bestehen stieg die Zahl der Mitglieder, fast ausschließlich Porzelliner, auf fast das Neunfache an; gleichzeitig verzehnfachte sich der Umsatz und die eingezahlten Sparbeträge wuchsen in nur zehn Jahren um das Sechsfache. Dies läßt auf eine große Nachfrage nach preiswerten Nahrungsmitteln und Gebrauchsartikeln schließen, die der Konsumverein zu befriedigen suchte. Die gleiche Zielsetzung verfolgte ein 1904 in Selb gegründeter Rabattsparverein, dem fast alle örtlichen Geschäfte angeschlossen waren und dessen Auszahlungen im Zeitraum 1905 bis 1913 von 1.075,64 Mark um das Vierzigfache auf 43.921,77 Mark stiegen.

3. Arbeiterverhältnisse und Arbeitsbedingungen: Sozialgeschichtliche Relevanz

Vor der Einführung des elektrischen Lichtes hatten Maler und Dreher selbst für eine ausreichende Beleuchtung des Arbeitsplatzes zu sorgen; selbst nachdem die meisten Porzellanfabriken elektrisch beleuchtet waren, versuchten die Unternehmer, die Kosten dafür auf die Arbeiter abzuwälzen, obwohl die ausreichende Beleuchtung der Arbeitsräume lt. Gewerbeordnung zu den Pflichten des Unternehmers gehörte. Die Ameise beschrieb 1901 in drastisch-ironischer Weise diese in der Porzellanindustrie zwar durchaus übliche, doch rechtswidrige Unsitte: " `Es werde Licht` - so sagte ja wohl der Herrgott bei der Erschaffung der Erde, und es ward Licht! Er dachte aber da wohl nicht an die Möglichkeit, daß nach so viel tausend Jahren es arme Porzellaner geben könnte, die sich um das bißchen Licht, das sie zur Arbeit nach des Tages Licht brauchen, und sei es auch die billigste `Oelfunzel` so herumschlagen müssen. Hätte er daran gedacht, daß es einmal eine Sorte Menschenkinder geben würde, die von ihren Nebenmenschen verlangen, daß sie ihnen durch ihrer Hände Arbeit Reichthümer erwerben und auch noch das bei der Nachtarbeit benöthigte Licht aus ihrer leeren Tasche bezahlen müssen, er hätte sicherlich in seiner bekannten großen Güte den Porzellanern eine Extrasonne nach Untergang unserer gewöhnlichen lieben Sonne scheinen lassen und –eine Lichtgeldfrage hätte dann bei uns nicht gegeben. Na, es war nun einmal Licht. Es bildete sich infolge der Anmaßung der Unternehmer und der Dummheit der Arbeiter der `Zopf`, genannt Lichtgeld. Wenn auch schließlich so mancher alte Zopf abgeschnitten wurde, ... das `Lichtgeld` blieb den Porzellanarbeitern bis auf den heutigen Tag erhalten. Doch scheint es beinahe, als wenn nun endlich doch eine Aenderung bezüglich des Lichtes in den Arbeitsräumen, respektive des Bestreitens der Kosten hierfür, eintreten würde."245

245 Die Ameise vom 6. September 1901.

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Ähnliche Verhältnisse fanden sich in fast allen Porzellanfabriken wie bspw. bei der PF Margarethenhütte in Großdubrau, wo die Porzellanarbeiter bei einer Versammlung am 3.11.1900 „ ... freies Licht, Reinigung der Arbeitsräume und Aborte, bessere Arbeits- und Wasserverhältnisse und Schutzvorrichtungen “246 verlangten. Auch andernorts setzten sich die Arbeiter zwar für eine Abschaffung des Lohnabzuges für die Benutzung elektrischen Stroms zu Beleuchtungszwecken (Lichtgeld) ein - so bat 1900 ein Mitglied des Malerpersonals der PF Zeh, Scherzer & Co., Rehau "bei der Geschäftsleitung vorzusprechen zwecks Abschaffung des Lichtgeldes"247 – und außerdem hatten die bayerischen Bezirksämter 1901 entschieden, daß der § 120a, Abs. 2 Gewerbeordnung Anwendung finden müsse, wonach die ausreichende Beleuchtung der Arbeitsräume zu den Obliegenheiten des Unternehmers zähle und ein Lohnabzug in Form eines `Lichtgeldes` ungesetzlich sei: "Dem in Porzellanfabriken eingebürgerten Brauch, die Arbeiter für die Kosten der künstlichen Beleuchtung der Arbeitsräume aufkommen zu lassen, ist als ungesetzlich entgegenzutreten, da nach § 120a, Absatz 2 der Gewerbeordnung die Gewerbeunternehmer verpflichtet sind, für geeignetes Licht in den Betriebsstätten Sorge zu tragen."248

Daß sich die Porzellanfabrikanten jedoch dessen ungeachtet gegen die Durchführung dieser Verordnung wehrten, und versuchten, auch weiterhin die Beleuchtungskosten den Arbeitern in Rechnung zu stellen, zeigt ein Schreiben des Unternehmers Th. LEHMANN, der Inhaber der PF Arzberg und zugleich Bürgermeister von Arzberg war. "Als Bürgermeister leitete Theodor Lehmann die Verfügung an die betroffenen Betriebe weiter. Als Unternehmer wies er die Verfügung als „Eingriff in meine Rechte als Fabrikant“ zurück. Dabei drohte er sogar, seine „sämtlichen Maler und Dreher im kommenden Winter nur bei Tageshelle“ arbeiten zu lassen. Ihr Verdienstausfall sei dann ´bei weitem schwerwiegender´ als ´das bißchen Lichtgeld´, das Lehmann mit knapp 25 Pf. pro Woche und Person angab." 249

Von einem ähnlichen Fall berichtete die Gewerbeaufsicht 1901: "Mit welcher Hartnäckigkeit oft Arbeitgeber an althergebrachten Zuständen festhalten, zeigt der Fall, daß ein Porzellanfabrikant, dem die Auflage zur Uebernahme der Kosten der Beleuchtung der Arbeitsplätze für seine Akkordarbeiter gemacht wurde, einfach denselben das Arbeiten bei künstlicher Beleuchtung verbot." 250

246 Sächs. HSTA HLA 4021. 247 Archiv der IG Chemie, Protokollbuch Malerpersonal Zeh, Scherzer & Co., Eintrag vom 10.9.1900. 248 Die Ameise vom 6. Sept. 1901. 249 HÜSER, K.: Arbeiter und Arbeitsleben in der Porzellanfabrik Arzberg – Splitter. In: SIEMEN, W. 1987, S.31. 250 JFI 1901, S.95 (Oberfranken).

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Porzelliner mußten oft stundenlange Weg zur und von der Arbeit in Kauf nehmen, da sie häufig in kleinen Dörfern in weitem Umkreis um den Standort der jeweiligen Fabrik wohnten. Die morgendliche Brotzeit bestand meist aus einer Flasche Malzkaffee und einem Stück Schwarzbrot mit Gänse- oder Schweinefett bestrichen. Wurst gab es nur, wenn im Winter das gemästete Schwein geschlachtet wurde. Das Mittagessen, in der Hauptsache Kartoffeln und Schwarzbrot, brachten die Frauen im Wechsel für drei bis vier Arbeiter im Huglkorb in die Fabrik. Die sog. Suppentroger-Weiber packten das Essen in Ton- oder Emaillegefäße und hielten diese mit Decken und Tüchern warm.251

3.1 Kinderarbeit und jugendliche Arbeiter 252

"... sei mir erlaubt, die ... Bemerkung zu wiederholen, dass für unsere bayerischen Verhältnisse, wo der Eintritt des jugendlichen Arbeiters in die Fabrik erst nach Entlassung aus der Schule und somit nur kurze Zeit vor Antritt des 14. Lebensjahres erfolgt, die Beschränkung der Arbeitszeit auf täglich 6 Stunden für Kinder unter 14 Jahren unvortheilhaft wirkt ..." 253

Die zitierte Bemerkung des Fabrikinspektors aus seinem Jahresbericht von 1882 bezog sich auf die Vorschrift, nach der Kinder unter 12 Jahren nicht mehr regelmäßig, Kinder von 12 bis 14 Jahren nur noch 6 Stunden täglich beschäftigt werden durften.254 Diese Bestimmung stieß sowohl bei den Handels- und Gewerbekammern als auch bei den Eltern, die ihre schulentlassenen Kinder in den Fabriken unterbringen wollten, auf Widerstand und wurde "als eine in das Familienleben der Arbeiter tief einschneidende Maasregel angesehen." 255 Da bspw. die oberpfälzischen Unternehmer sich wegen dieser Schutzvorschriften tw. weigerten, 13- jährige Kinder in ihren Fabriken zu beschäftigen, wurde die Forderung aufgestellt, "dass Kinder mit dem vollendeten 13. Lebensjahre in Fabriken mit leichter Arbeit 10 Stunden im Tag beschäftigt werden dürfen." 256

Zwar war diesem Ansinnen kein Erfolg beschieden, wie oft jedoch auch und gerade Porzellanfabrikanten gegen Kinder- und Jugendschutzbestimmungen verstießen, läßt sich

251 Vgl. ebd., S.36. 252 Als jugendliche Arbeiter galten nach § 135 Gewerbeordnung Kinder unter 14 und Jugendliche von 14 bis 16 Jahren. Vgl. Anm.442. 253 JFI 1882, S.52f. 254 Bestimmung der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869, die per Reichsgesetz vom 12. Juni 1872 auch in Bayern eingeführt worden war. 255 JFI 1893, S.92f. (Oberpfalz). 256 Ebd.

464 anhand von Verzeichnissen und Aufstellungen über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter nachweisen: In der PF Hutschenreuther (Selb) wurden im Zeitraum 1881 bis 1883 47257 und 1884 18 13-jährige Kinder (meist) als Dreher- oder Malerlehrlinge eingestellt, deren Arbeitszeit im Sommer von 6.00 h -18.00 h mit je ½-stündiger Vor- und Nachmittags- und einstündiger Mittagspause dauerte.258 Die Specksteingasbrennerfabrik Lauboeck (Wunsiedel) beschäftigte 1886 2 Kinder im Alter von 12-14 Jahren und 5 Jugendliche im Alter von 14-16 Jahren bei 10-stündiger Arbeitszeit.259 In der PF Bareuther & Co. (Waldsassen) arbeiteten 1886/87 13 Kinder im Alter von 13 Jahren und 24 Jugendliche im Alter von 14-16 Jahren 10 Stunden täglich hauptsächlich in der Dreherei, Schmelzerei und Malerei.260 1892 waren in der PF Paul Müller (Selb) 8 Kinder unter 14 Jahren 6 Stunden täglich und 14 Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren 10 Stunden täglich beschäftigt, wobei zwei der Jugendlichen das 14. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Aufstellung des Verzeichnisses noch nicht vollendet hatten, mithin nur 6 Stunden täglich hätten arbeiten dürfen.261 Ph. ROSENTHAL gab mit Schreiben vom 30. April 1892 dem Stadtmagistrat Selb bekannt, daß in seiner Porzellanfabrik 5 Kinder unter 14 Jahren 6 Stunden täglich sowie 27 männliche und 23 weibliche Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren 10 Stunden täglich arbeiteten; hierbei fehlte jedoch eine genaue Auflistung der Namen und v.a. der Geburtsdaten, was eine Kontrolle unmöglich machte.262

Ein umfangreicher Schriftwechsel zwischen dem Inhaber der PF Carl Auvera, Friedrich BAUER und dem Stadtmagistrat Arzberg aus dem Jahre 1879 kann ebenfalls als Beleg für die Schwierigkeit der Durchsetzung der Schutzbestimmungen bzw. für die uneinsichtige Haltung der Unternehmer herangezogen werden: "... hiermit anzuzeigen, daß in meiner Porzellan-Fabrik jugendliche Arbeiter vom 12. bis 16. Jahr beschäftige, deren Namen, Alter und Art der Beschäftigungen in dem beiliegenden Verzeichniße zusammengefaßt habe. Die Beschäftigung derselben findet nur an Wochentagen von Montag bis Samstag ... statt. Die Arbeitszeit der in dem beigelegten Verzeichniße unter No. 1 bis 7 aufgeführten

257 5 davon waren weiblich und wurden als Formerinnen oder Verputzerinnen beschäftigt. 258 Vgl. StA Selb, Akt 811.6/5: Verzeichnis der in der PF Hutschenreuther beschäftigten jugendlichen Arbeiter. 259 Vgl. StA Wunsiedel: Listen der in Wunsiedel beschäftigten jugendlichen Arbeiter von 1886. 260 Vgl. StA Waldsassen: Listen der jugendlichen Arbeiter der Fa. Bareuther & Co. von 1886 und 1887. 261 Vgl. StA Selb, Akt 811.6/14: Jugendliche Arbeiter in der Porzellanfabrik Paul Müller 1891/1901. 262 Vgl. StA Selb, Akt 811.6/17: Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in der Porzellanfabrik Ph. Rosenthal 1890/1918. Daß eine Kontrolle durchaus angebracht gewesen wäre, läßt sich anhand der in bezug auf die Altersangabe fehlerhaften Aufstellung der PF Müller erkennen.

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Arbeiter beginnt vom 1. Oktober bis Ende März früh 7 Uhr und endigt Abend 7 Uhr, und in der Zeit vom 1. April bis Ende September früh 6 Uhr bis abends 6 Uhr. An jedem Arbeitstag finden regelmäßige Pausen und zwar vormittags von 8 bis ½ 9 Uhr, mittags von 12 bis 1 Uhr, nachmittags von 3 bis ½ 4 Uhr statt." 263

Das für das zweite Halbjahr 1879 angelegte Verzeichnis umfaßte einen 12-jährigen, drei 14- jährige und vier 15-jährige Kinder bzw. jugendliche Arbeiter; von diesen wurden 4 Mädchen als Ansetzerinnen, 4 Knaben als Dreherlehrlinge beschäftigt.264 Der damalige Bürgermeister Arzbergs, BUCHKA nahm dazu wie folgt Stellung: "Gegen gefällige Wiedereinsendung sammt 3 Beilagen zurück an den Herrn Porzellainfabrikbesitzer Friedrich Bauer dahier unter folgenden Erinnerungen: Nach § 135 des Gesetzes vom 17. Juli 1878, die Abänderung der Gewerbeordnung betr. darf die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren die Dauer von 6 Stunden und diejenige von jungen Leuten zwischen 14 und 16 Jahren die Dauer von 10 Stunden täglich nicht überschreiten. Gleichwohl werden nach Ihrer Bemerkung im Verzeichnisse die 13 und bezw. 15 Jahre alten Arbeiter Leutner, Feig und Kießling, dann Heinrich, Bauernfeind, Döbereiner und Reuß volle 12 Stunden durch, allerdings mit Gewährung der vorgeschriebenen Pausen, beschäftigt. Ob dieser Unzulässigkeit haben Sie hiernach sofort die Herabsetzung der Arbeitszeit auf die vorgeschriebenen Dauer, hinsichtlich der 13 Jahre alten Leutner, Feig und Kießling auf 6 Stunden täglich zu veranlassen. Im übrigen wollen Sie im Hinblick auf § 138 Abs.2 des bezeichneten Gesetzes noch bemerken, ob Seitens der jugendlichen Arbeiter an allen oder nur an einzelnen Wochentagen und im letzteren Falle an welchen gearbeitet wird. Im allgemeinen werden Sie darauf aufmerksam gemacht, daß nach § 138 Abs.1 gen. Gesetzes die schriftliche Anzeige vor dem Beginn der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter, keineswegs also halbjährig der Ortspolizeibehörde zu erstatten ist."265

Der Unternehmer BAUER antwortete darauf: "Mit Verfügung des verehrlichen Stadt-Magistrats vom 25.c., welche sämmt. Beilage anbei wieder vorlege, wurde ich aufgefordert, die Arbeitszeit der jugendlichen Arbeiter auf 6 bezw. 10 Stunden zu reduciren. Für die 13 Jahre alte Arbeiterin Marg. Kießling habe ich angeordnet, daß dieselbe nur 6 Stunden täglich beschäftigt wird, während für die 13-jährigen Lehrlinge Leuthner und Feig die allgemeine in meiner Fabrik eingeführte 10-stündige Arbeitszeit beibehalten muß, da dieselben auf Lehrvertrag aufgenommen und für diese nach § 134 des Gesetzes vom 17. Juli 1878 die §§ 126 bis 133 zur Anwendung kommen, wonach dieselben anderen Lehrlingen gleichzuachten sind. Ebenso verhält es sich mit den Lehrlingen Heinrich und Bauernfeind. Da in meiner Fabrik die jugendlichen Arbeiter von 14 bis 16 Jahren tathsächlich nur 10 Stunden arbeiten, denn 2 Stunden Pausen dürften als Beschäftigung nicht anzunehmen sein, so dürfte der Anordnung verehrl. Stadt-Magistrats, die Arbeitszeit auf 10 Stunden zu reduciren, Genüge geleistet sein. Im Hinblick auf § 138 Abs.2 des obigen Ges. erkläre ich hiermit ergänzend, daß die jugendlichen Arbeiter nur an Wochentagen u. zwar von Montag bis Samstag beschäftigt werden."266

Bürgermeister BUCHKA legte schließlich dem Magistrat folgenden Entwurf zur Entscheidung vor:

263 StA Arzberg, Akt No. 11: Die Beschichtung jugendlicher Arbeiter in der Porzellanfabrik des F. Bauer. Schreiben Fr. Bauer an den Magistrat vom 9. Januar 1879. 264 Ebd., Schreiben des Fr. Bauer an den Magistrat vom 24. Juli 1879. 265 Ebd., Schreiben Bgm. Buchka an Fr. Bauer vom 25. Juli 1879 (Hervorhebungen im Dokument). 266 Ebd., Schreiben des Fr. Bauer vom 30. Juli 1879.

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"Die Herabsetzung der Beschäftigungsdauer auf 6 Stunden täglich hinsichtlich der 13 Jahre alten Margarethe Kießling dient befriedigend, ebenso die Angabe in Bezug auf die Beschäftigung der jugendlichen Arbeiter die Wochentage. Der Anschauung dagegen, 1. daß die Fabriklehrlinge den anderen Lehrlingen gleich zu achten seine, dann 2. daß eine Beschäftigungsdauer von nur 10 Stunden täglich anzunehmen sei, wenn die Arbeiter von 6 Uhr Früb – 6 Uhr Abends mit Berücksichtigung einer 2-stündigen -getheilten- Pause beschäftigt werden, kann diesseits als richtig im Sinne der abgeänderten Gewerbe-Ordnung vom 17. Juli 1878 nicht beigetreten werden. § 134 der Gewerbe-Ordnung sagt allerdings, daß die Bestimmungen der §§ 126 bis 133 Anwendung finden, wenn die Fabrikarbeiter als Lehrlinge anzusehen sind. Allein damit ist noch nicht die Richtigkeit der sub. Ziffer 1 aufgestellten Behauptung bewiesen. Es ist insbesondere unter Anrufung dieser Gesetzesstelle keineswegs dargethan, daß die Fabriklehrlinge unter 14 Lebensjahren mehr als 6 Stunden und jene zwischen dem 14. und 16. Lebensjahre mehr als 10 Stunden täglich, oder überhaupt nach Belieben beschäftigte werden dürfen. Die §§ 126 - 133 behandeln nur die allgemeinen Verhältniße eines Lehrlings, die Beschäftigungsdauer dagegen ist, soweit sie jugendliche Arbeiter betrifft, - als solche gelten ohne Zweifel auch Personen im jugendlichen Alter, welche die Art der Beschäftigung in Fabriken erst erlernen müssen, - ausdrücklich den Bestimmungen der folgenden §§ 135 u. 136 vorbehalten. Die Lehre in einer Fabrik kann mit der in einer kleinen Werkstatt oder sonst mit einer anderen Lehre nicht völlig gleichgestellt werden. Die Verhältniße in einer Fabrik sind eben zumeist anders gelagert als solche in einer Werkstelle, die nicht in den Begriff einer Fabrik fällt. Der Gesetzgeber hat denn auch die Bestimmung geschaffen, daß jugendliche Personen unter dem 14ten Lebensjahre mehr als 6 Stunden, und jene zwischen dem 14. U. 16. Lebensjahre mehr als 10 Stunden täglich in einer Fabrik nicht beschäftigt werden dürfen. Es ist übrigens gar nicht abzusehen, warum eine Bestimmung nm Bezug auf Beschäftigungsdauer, die offenbar aus Rücksicht für die Gesundheit jugendlicher Personen geschaffen worden ist, nur für einzelne jugendliche Personen gelten soll. Was die Aufstellung der Behauptung unter Ziff.2 betrifft, so kann in Verbindung mit § 136 der bez. Gewerbeordnung der vorhergehende § 135 nicht anders gedeutet werden, als daß eine 12-stündige Beschäftigungsdauer anzunehmen ist, wenn die Arbeitszeit um 6 Uhr Früh beginnt und um 6 Uhr Abends endigt. Die Pausen kommen nicht in Abrechnung. Dieselben liegen innerhalb der Beschäftigungsdauer und sind besonders vorgeschrieben, indem es im § 136 heißt, daß zwischen den Arbeits- (identisch mit Beschäftigung) Stunden an jedem Arbeitstage regelmäßige Pausen gewährt werden müssen. Es dürfte hiernach dem Herrn Bauer zu bedeuten sein, daß er sich nach den Direktiven, welche ihm von diesseitiger Ortspolizeibehörde mit Verfügung vom25. d.M. ertheilt wurden genau zu richten habe, wenn er nicht gewärtigen wolle, daß die Entscheidung der Aufsichtsbehörde des kgl. Bezirksamtes Wunsiedel veranlaßt werde."267

Der Magistrat der Stadt Arzberg entschied in seiner Sitzung vom 2. August 1879 gegen die Vorstellungen des Bürgermeisters und gab den vom Unternehmer BAUER vorgebrachten Ansichten statt. Inwieweit damit tatsächlich de jure entschieden wurde oder aber de facto den Wünschen eines nicht unwichtigen Fabrikanten entsprochen wurde, ließ sich nicht eindeutig eruieren. Dennoch erscheinen die Ausführungen BUCHKAs stringent, so daß der Verfasser die Ansicht vertritt, daß hier gegen geltende Gesetze verstoßen wurde. Für diese Annahme spricht auch, daß die PF Carl Auvera dem Magistrat 1889 folgende jugendliche Arbeiter meldete, die als Lehrlinge 6 Stunden täglich beschäftigt wurden: "Christ. Neuberger und Ludw. Glaesel v. hier, Bab. Reichel v. Haid als Dreherlehrlinge mit beschraenkter Arbeitszeit in Fabrik beschäftigt."268

267 Ebd., Niederschrift Bgm. Buchka vom 31. Juli 1879 (Hervorhebungen im Dokument). 268 Ebd., Schreiben Porzellan-Maunfaktur Carl Auvera vom 24. September 1889 (Hervorhebung d. Verf.).

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Auf Vorhaltungen Bürgermeister BUCHKAs nach fehlenden Arbeitszeiten und Pausen wurde seitens der Porzellanfabrik mitgeteilt, daß "umstehend benannte Arbeiter bis zum zurückgelegten 14ten Lebensjahre von 9 bis 12 Uhr Vormittags u. 1 bis ½ 5 Uhr Nachmittags mit Einschluß der halbstündigen Pause von ½ 4 – 4 Uhr beschäftigt werden." 269

Eine weiteres Schreiben der PF Auvera aus dem Jahre 1891 bestätigt ebenfalls die oben geäußerte Annahme:

"Bestehenden Vorschriften zu Folge zeige ich hiermit an, daß ich heute 5 männliche jugendliche Arbeiter als Dreherlehrlinge angenommen habe, wovon 3 Vormittags und 2 Nachmittags je 6 Stunden Arbeitszeit beschäftigt werden. Außer diesen 5 Personen stehen andere mit unter 14 Jahren nicht bei mir in Arbeit." 270

Auch die Arzberger PF Schumann & Rieß verstieß 1890 offensichtlich gegen die Bestimmungen über die Arbeitszeit jugendlicher Arbeiter, wie sich anhand folgender Mitteilung über die Beschäftigung von 3 Maler- und 7 Dreherlehrlingen erkennen läßt: "In Erledigung einer Zuschrift des hohen Magistrates vom 4.vor.Mts. theilt unterzeichnete Firma ergebenst mit, daß folgende jugendlichen Arbeiter, die noch nicht das 16. Lebensjahr erreicht haben, von derselben beschäftigt werden ... . Die Arbeitszeit beginnt an sämmtlichen Wochentagen morgens 6 h und endet abends 6 h mit je einer halbstündigen Pause vor- und nachmittags, einer einstündigen Pause mittags."271

Daß weiterhin häufig von Unternehmerseite versucht wurde, gesetzliche Bestimmungen und Schutzvorschriften offen (durch Eingaben an die zuständigen Behörden) oder verdeckt (durch die tägliche Praxis) zu unterlaufen, zeigen die sich wiederholenden Beanstandungen der Gewerbeaufsicht bzgl. fehlender Arbeitsbücher,272 unzulässiger273 oder zu

269 Ebd., Schreiben PF Carl Auvera vom 26. September 1989. 270 Ebd., Schreiben Porzellanfabrik Carl Auvera vom 5. Mai 1891. 271 StA Arzberg, Act No.19: Die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in der Porzellan-Fabrik der Firma Schumann & Rieß. Schreiben der Porzellanfabrik vom 18. April 1890. 272 Vgl. JFI 1893, S.116f.; JFI 1901, S.88; JFI 1913, S.140. Vgl. insbesondere auch StA Arzberg, Act No.19: 1890 wurde dem Lehrling Karl Sommerer, der wg. Nichtzahlung des Lohnes seine Lehrstelle bei der PF Schumann & Rieß gekündigt und in einer anderen Firma eine neue Lehre begonnen hatte, die Herausgabe seines Arbeitsbuches mit dem Bemerken verweigert, er solle auch "fernerhin in der Lehre bleiben." Der dargestellte Fall stellt einen zwar besonders krassen, wenn auch sicher nicht atypischen Verstoß gegen gesetzliche Bestimmungen dar, da nach §123f. Gewerbeordnung eine Kündigung des Lehrvertrages wg. Lohnforderungen rechtmäßig war. 273 "Unzulässige Nachtarbeit jugendlicher Arbeiter wurde in einer Porzellanfabrik angetroffen." (JFI 1913, S.140).

468 langer274 Arbeitszeiten sowie unerlaubter Tätigkeiten.275 Eine im übrigen lächerlich geringe276 Geldstrafe für solche Vergehen hatten die betroffenen Unternehmer in den seltensten Fällen zu entrichten, da die Fabrikaufsicht selbst keine polizeilich-exekutive Vollmachten besaß, mithin auf die Amtshilfe der - wenig kooperativen, weil ortsansässigen - Polizeibehörden angewiesen war.277

3.2 Arbeiterinnen in der Porzellanindustrie

Die Gründe, welche die Frauen dazu bewogen, Fabrikarbeit anzunehmen, besser: annehmen zu müssen, faßten die von der Gewerbeaufsicht 1899 vorgenommenen "Erhebungen über die Beschäftigung verheiratheter Arbeiterinnen in Fabriken" zusammen:278 Von 307 befragten Frauen in Oberfranken gaben 163 ungenügenden Verdienst des Ehemannes an, 8 Krankheit des Mannes, 115 Frauen die Erhaltung verdienstunfähiger Kinder, Eltern oder Verwandter an und 21 Frauen waren infolge Scheidung oder Witwenschaft unbedingt auf einen Verdienst angewiesen. Dies bedeutet, daß mehr als die Hälfte der befragten oberfränkischen Fabrikarbeiterinnen "auf den Mittelerwerb angewiesen (war), da zur Erhaltung der Familie der Verdienst des Mannes allein nicht ausreicht(e)."279

Ähnliche Beweggründe stellte die thüringische Gewerbeaufsicht 1899 fest und kam zu dem Schluß, daß

274 So berichtet die Gewerbeaufsicht (Oberfranken) von "zwei Gesuche(n) von Porzellanfabriken, die Vor- und Nachmittagspausen der jugendlichen Arbeiter auf eine Viertelstunde zu verkürzen ..." Diese Eingaben wurden jedoch "seitens der K. Regierung in Rücksicht auf die schwere und ungesunde Arbeit in Porzellanfabriken abschlägig verbeschieden." (JFI 1901, S.89). Anhand des hier von der Gewerbeaufsicht zitierten, im übrigen offiziellen Bescheides läßt sich auch erkennen, daß die Gesundheitsgefährdungen in der Porzellanindustrie, auch und gerade für junge Arbeiter, durchaus bekannt und (an-) erkannt waren. S. dazu Anm.798. 275 So wurde von der Gewerbeaufsicht bspw. festgestellt, "daß ein jugendlicher Arbeiter mit der gänzlich ungeeigneten und ... verbotenen Beschäftigung des Schürens eines Ringofens betraut war; ja der Genannte mußte sogar an Feiertagen die ganze Nacht hindurch den fraglichen Ofen bedienen ..." (JFI 1901, S.90). 1913 monierte die Gewerbeaufsicht "in einer Porzellanfabrik die Beschäftigung eines jugendlichen Arbeiters beim Ausnehmen noch heißer Brennöfen." (JFI 1913, S.141). 276 Die diversen Jahresberichte geben hier Strafgelder in Höhe von 3-30 Mark an. Vgl. JFI 1901, S.89; JFI 1913, S.141. 277 Vgl. S.424. 278 In: JFI 1899, S.243. 279 Ebd., S.185.

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"... allein die Gründe, aus welchen sich die Frauen der Fabrikarbeit unterwerfen, ... eine Ausschließung der Frauen von der Fabrikarbeit des vorliegenden Gewerbezweiges280unmöglich erscheinen (lassen)."281

Daß die weiblichen Arbeitskräfte dabei - neben dem im Verhältnis zu ihren männlichen Kollegen niedrigeren Lohn - zusätzlich durch körperlich schwerste Arbeiten "Als besonders bemerkenswerther Fall ungeeigneter Beschäftigung von Arbeiterinnen wird die Bedienung eines Ringofens durch eine Frau angeführt."282 und etliche Überstunden

"Die ziemlich zahlreichen Überschreitungen der gesetzlich zulässigen Beschäftigungsdauer der Arbeiterinnen an den Wochentagen wie besonders an den Vorabenden der Sonn- und Festtage entfallen zum großen Teil auf die Porzellanindustrie ... ."283 ausgebeutet wurden, beweisen die sich wiederholenden Revisionen der Fabrikinspektion. Während des Ersten Weltkrieges verschärfte sich die Situation der Frauen in der Porzellanindustrie dadurch, daß die Mehrzahl der Männer zum Militärdienst eingezogen worden war. Nun mußten die weiblichen Arbeitskräfte auch all diejenigen Tätigkeiten, zudem wiederum niedriger entlohnt, ausführen, die sie vorher wegen - tatsächlicher oder unterstellter- fehlender Qualifikation nicht machen durften, wie nachfolgender Artikel, der mit der Zustandsbeschreibung die Aufforderung zur Organisation verbindet, sehr deutlich beschreibt: "Wohl in keiner Industrie ist die männliche Arbeitskraft während des Krieges durch die weibliche Arbeitskraft so ersetzt worden, wie in der Porzellanindustrie. ... Heute findet man die Arbeiterin in allen Abteilungen des Porzellanbetriebes, und es haben sich dieselben schnell den Anforderungen angepaßt. Waren früher den weiblichen Arbeitskräften weniger komplizierte Arbeiten zugemutet worden, so müssen sie heute alle vorkommenden Arbeiten verrichten. In den Drehereiabteilungen stehen sie an den Plätzen der eingezogenen gelernten Dreher ... In den elektrotechnischen Abteilungen ist oft die Frau nebst jugendlichen Arbeitskräften in den Kolonnenakkord mit eingereiht und muß dort Schulter an Schulter mit der männlichen Arbeitskraft wetteifern. ... Trotz dieser körperlich schweren und gesundheitsgefährlichen Arbeit der Porzellanarbeiterinnen ist ihr Verdienst sehr gering. Alle Arbeiten in der Porzellanindustrie sind Akkordarbeiten; dabei erhält aber die weibliche Arbeitskraft nur die Hälfte, selten ¾ des festgesetzten männlichen Akkordpreises. Dieserhalb ist auch die weibliche Arbeitskraft den Porzellanfabrikanten ein willkommenes Ausbeutungsobjekt. ... Körperlich äusserst schwere Arbeiten müssen die Arbeiterinnen im Brennhaus und Glühboden leisten. Oft noch erhitzt vom Ausnehmen der Oefen müssen die Arbeiterinnen meterhohe Kapselstöße über den zugigen Fabrikhof tragen. In heißen Brennöfen, in denen oft bis zu 90° Celsius Hitze herrschen, müssen die Arbeiterinnen die gefüllten Kapseln, in denen das Porzellan gebrannt wird und von denen ein Stück 20-30 Pfund wiegt, ausnehmen. In den Oefen sind oft 2000- 2500 Stück dieser Kapseln enthalten. Im Glühboden sind wegen Mangel an männlichen Arbeitskräften meist nur Arbeiterinnen beschäftigt. Diese müssen dort Arbeiten verrichten bei 90-100° Celsius. Auf

280 Untersuchungsgegenstand waren die 22 Porzellanfabriken Schwarzburg-Rudolstadts; von den dort beschäftigten 3.521 Arbeitern waren 1.024 (=29%) Frauen. 281 Zit. nach WINDORF, H. 1912, S.89. 282 JFI 1901, S.92. 283 JFI 1913, S.139.

470 schwankenden Stiegen müssen sie von hohen Kapselstößen Kapseln herunternehmen im Gewichte von ebenfalls 40-50 Pfund und mehr. Da diese Kapseln oft noch glühend sind, müssen die Hände mit Hadern umwickelt werden. ... Aber auch zu weiteren schweren körperlichen Arbeiten, in der Packerei, im Lager und zu Hofarbeiten werden Arbeiterinnen herangezogen. Dort müssen die Arbeiterinnen oft Kisten und Kästen bis zu zwei Zentner schwer transportieren, aber der Lohn ist ebenfalls sehr gering; er beträgt oft nur 15-20 Pf in der Stunde. In der Entlohnung der Arbeiterinnen der Porzellanindustrie muß daher eine baldige Änderung geschaffen werden und zwar mit Hilfe des Staates, da das Unternehmertum leider den Willen nicht hat, die Arbeiterinnen besser zu entlohnen. Noch dringender aber ist die Selbsthilfe der Arbeiterinnen in der Porzellanindustrie durch innigen Zusammenschluß mit ihren Berufsschwestern im Porzellanarbeiterverbande."284

Beim im Artikel erwähnten Kolonnenakkord für das Drehen von elektrotechnischen Isolatoren fertigten die Frauen die Artikel mit Hilfe von Schablonen, die an einer Spindel befestigt das auf der Form aufliegende Masseblatt aufdrückten, wobei ein angesetztes Messer den überstehenden Rand abschnitt. Die Arbeitsvorrichtungen waren jedoch für Männer konzipiert und konnten von den körperlich zumeist kleineren Frauen nur mittels Holzpodesten erreicht werden. Der Kraftaufwand für das Herabdrücken der Spindel mit der anmontierten Schablone konnte aufgrund fehlender Sitzgelegenheiten und Armstützen nicht kompensiert werden.

Ebenfalls von Gewerkschaftsseite wurde die Heranziehung von Arbeiterinnen für den Transport schwerer Lasten kritisiert. Insbesondere das Tragen von Gipsformen und Schamottekapseln im Weißbetrieb sowie von ca. 40 Pfund schweren Planken geschah ohne Rücksicht auf die körperliche Leistungsfähigkeit der weiblichen Arbeiter. Die Planken mußten dabei ca. 60 – 80 mal pro Tag in höhere Regale geschoben werden, was einer Hebleistung von ca. 300 Zentnern pro Tag und Arbeiterin entsprach.285

Was die innerbetriebliche Stellung der Frauen im Produktionsprozeß der Porzellanindustrie - und nicht nur dort - betraf, so ist zu sagen, daß sie im Betrieb zweifach untergeordnet waren: Unter die Machtbefugnis und Befehlsgewalt männlicher Vorgesetzter286 und unter die Geringschätzung und Verachtung ihrer männlichen Kollegen. Eingestuft wurde die Arbeit von Frauen, wie auch im – niedrigeren - Lohn sichtbar, noch unter der des unqualifizierten

284 Die Ameise vom 7.12.1917. 285 Ebd. 286 Weibliche Aufsichtspersonen oder Vorgesetze gab es, selbst in Fabriken mit ausschließlich weiblicher Belegschaft, kaum: JFI 1882, S.53 (Oberpfalz u. Oberfranken): "Weibliche Aufsicht für die Arbeiterinnen findet sich ... aber nur sehr selten." JFI 1893, S.122 (Oberfranken): "Weibliche Aufsicht bestand in 5 Betrieben, welche ausschliesslich Arbeiterinnen beschäftigten."; dies waren nur 0,9% der revidierten 576 Betriebe.

471 männlichen Arbeiters. Durch die Unterordnung unter die Machtbefugnisse männlicher Vorgesetzter entstand ein Abhängigkeitsverhältnis, "das die Arbeiterin noch in ihrer außerbetrieblichen materiellen Existenz von der persönlichen Gunst des Vorgesetzten, dessen willkürlicher Ausübung der Macht ..." 287 dependent machte, da Zuteilung der Arbeit,288 Verhängung von Strafen, Entlassungen u.a. ins Ermessen des Vorgesetzten gestellt waren. Der in den Fabrik- und Arbeitsordnungen verlangte unbedingte Gehorsam dem Vorgesetzten und seinen Anordnungen gegenüber, der im übrigen für die männlichen Arbeitskräfte in gleicher Weise bestand, erhielt bei den weiblichen Arbeitskräften seine Besonderheit dadurch, daß zur betrieblichen Unterordnung die gesellschaftliche Diskriminierung der Frauen hinzutrat. So stellte KEMPF über die Stellung der Fabrikarbeiterinnen fest: "Die in den Fabriken arbeitenden Männer sprechen von den weiblichen Arbeitskräften stets als von ”Weibern”, während die Frauen und Mädchen von ihren Arbeitskollegen als von ”Herren” sprechen." 289

Diese Besonderheit der weiblichen Industriearbeit, die sich auf Absicherung der familiären Existenz und der Vorstellung nur befristeter Berufsausübung290 gründete, führte zur Verachtung und Geringschätzung des Geschlechtes und der weiblichen Berufsarbeit: "Die Frauen, ob jung oder alt, ob verheirathet oder ledig, werden, sobald sie ... in Arbeit treten, mit Du angeredet."291

"So wurde angeführt, daß ... verheiratete Frauen mit Fetzen und Schlangen und sonstigen noch schlimmeren Kosenamen bedacht werden."292

Damit korrespondierend schätzten Instanzen wie Kirche, Staat und Gewerkschaften die Frauenarbeit gering ein und bezeichneten sie als Arbeit der Frauenzimmer293 oder

287 PLÖSSL, E. 1983, S.255f. 288 Dies bedeutete, daß bei unzureichender Auftragslage der Meister entschied, wer arbeiten durfte und wer nach Hause geschickt wurde (meist die weiblichen Arbeiter), mithin nichts verdiente. Gleiches galt für die Vergabe bestimmter, höher oder niedriger eingestufter Tätigkeiten und den damit verbundenen erzielbaren Löhnen. 289 KEMPF, R. 1911: Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München. Die soziale und wirtschaftliche Lage ihrer Familie, ihr Berufsleben und ihre persönlichen Verhältnisse. Nach statistischen Erhebungen dargestellt an der Lage von 270 Fabrikarbeiterinnen im Alter von 14 bis 18 Jahren. Diss. München, Leipzig. S.93. 290 Das Festhalten an der Vorstellung nur bis zur Heirat befristeter Frauenarbeit erwies sich meist als Utopie, da der Verdienst des Mannes allein oft nicht ausreichte, die Familie zu ernähren (vgl. S.183f.). Dem von WINDORF (1912, S.88) für die thüringische Porzellanindustrie angegebenen Prozentsatz von 19,5% verheirateter Arbeiterinnen (inkl. Witwen) i.J. 1907 stehen für Bayern 34,8% verheiratete Arbeiterinnen ( verheiratet + verwitwet) entgegen (ZKglBStLA 1909, Nr.3/4, S.510)., die in der Mehrzahl in den - auch in der Porzellanindustrie - sich entwickelnden Großbetrieben beschäftigt waren (vgl. S.162). Dort betrug der Anteil der verheirateten Frauen an der Belegschaft sogar 65,4% (BSKgrB 1911, H.82, S.271). 291 Fränkische Tagespost Nr.162 vom 13. Juli 1904. Zit. nach PLÖSSL, E. 1983, S.257. 292 Schwäbische Volkszeitung Nr.109 vom 13. Mai 1910. Zit. nach ebd. 293 JFI 1890, S.67.

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Weiberarbeit.294 Hinzu kam bei den männlichen Arbeitern die - nicht unberechtigte - Befürchtung, durch weibliche Konkurrenz und Lohndruck ihren Verdienst und Arbeitsplatz bedroht zu sehen, so daß "... nicht einmal sie ... in der mit ihnen arbeitenden Frau die gleichgestellte und sozial gleichwertige Kollegin rückhaltlos ..."295 anerkannten. Die Ausübung von Macht durch Vorgesetzte und übergeordnete Angestellte konnte durchaus die Form von handgreiflichen Übergriffen und Mißhandlungen annehmen.296 Kontrolle der Arbeit und deren Ausführung sowie willkürliche Schikanen zwangen die ökonomisch abhängigen Frauen, wollten sie nicht durch Ungehorsam Lohnabzüge oder sogar Verlust des Arbeitsplatzes in Kauf nehmen, zur Unterwerfung und damit zur Entwürdigung und ständigen Angst. Der Wunsch, beim Vorgesetzten positiv angesehen zu sein , um dadurch kleine Erleichterungen der Arbeitsbedingungen, eine (gewisse) Sicherung des Arbeitsplatzes oder eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen zu erreichen, trieb die Frauen, deren Arbeitsleistung ohnehin als minderwertig angesehen wurde, dazu, persönliche, d.h. "weibliche" Mittel einzusetzen, um die Gunst des Vorgesetzten zu erlangen. Sexuelle Belästigungen und Übergriffe gehörten damit als Ausdruck der Machtausübung über untergeordnete Frauen im Betrieb zur täglichen Praxis und setzten sich vom Vorarbeiter über den Meister und Angestellten bis zum Unternehmer fort. Dabei gingen die meisten sexuellen Übergriffe, sofern sie überhaupt bekannt wurden, von den Meistern aus, die den weiblichen Arbeitskräften täglich und am unmittelbarsten als Verkörperung von Machtstrukturen innerhalb des Betriebes gegenübertraten:297

"Nicht ganz unbeachtet zu lassen dürfte auch eine gewisse Art von Abhängigkeit sein, in welcher öfter Arbeiterinnen, darunter vielfach jugendliche von den männlichen Arbeitern stehen, denen sie als Hilfsarbeiterinnen zugetheilt sind, ... Nach erhaltenen Mittheilungen führt ein solches Abhängigkeitsverhältnis nicht selten zu einem sehr vertrauten Umgang beider." 298

Die Ausnutzung der materiellen Abhängigkeit der Arbeiterinnen ermöglichte dem Vorgesetzten, ohne offene Gewaltanwendung sein Ziel zu erreichen und war Grund dafür, daß keine beweisbaren Gründe für strafrechtliche Sanktionen gegeben waren.

294 STA Bamberg, K 3/F VIa 107. 295 KEMPF, R. 1911, S.93. Zur weiblichen Konkurrenz in den bis 1918 vornehmlich von Männern beherrschten Bereichen Drehen, Malen und Brennen vgl. EIBER, L. 1981/82, S.165f. Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch die Bemerkungen in den Protokollbüchern der Personalen, also den zunftähnlichen Zusammenschlüsse von Drehern oder Malern einer Fabrik. Dort war man übereingekommen, den Frauen keine Hilfestellung mehr zu geben. Vgl. Rosenthal-Archiv Selb: Protokollbuch des Dreherpersonals der Fa. Ph. Rosenthal & Comp, Selb. 1904-1914. 296 Vgl. hierzu PLÖSSL, E. 1983, S.257ff., die verschiedene Quellen (Zeitungsartikel) dazu aufführt. 297 Vgl. auch JFI 1894, S.151 (Oberpfalz); JFI 1907, S.194 (Unterfranken). 298 JFI 1886, S.96.

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"Auf vorgebrachte Klagen mehrerer Arbeiterinnen ... über fortgesetzte unsittliche Angriffe von Seiten eines Werkmeisters wurde eine protokollarische Vernehmung derselben bethätigt. Nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft ergab sich, daß die Angaben leider nicht die benöthigte Grundlage zum Einschreiten lieferten, da nach dem Geständnis der mißbrauchten Arbeiterin der Werkmeister ohne Gewalt und Drohung zu seinem Zwecke gelangte. ... Durch die Arbeiterinnen wurde besonders betont, daß die Begünstigungen, die einwilligende Arbeiterinnen im Betriebe erfahren, sich für andere, solches Ansinnen abweisende Mädchen, in sehr unangenehmer Weise fühlbar machen."299

Hinweise auf sexuelle Übergriffe tauchen nur sehr spärlich auf, so z.B. 1908 bei der Porzellanfabrik Rosenthal, wo ein Dreher die Bemerkung ins Protokollbuch aufnehmen ließ, "er wünsche in Zukunft, daß die Kollegen bezüglich der Frauenzimmer Einhalt machen ..." 300; sie wurden, wenn überhaupt, erst dann publik, wenn eine strafbare Handlung nachgewiesen werden konnte, also z.B. ein Arzt eine Abtreibung bei einer ledigen Fabrikarbeiterin vorgenommen hatte.301 Arbeiterinnen, die sich den sexuellen Wünschen ihrer Vorgesetzten nicht fügten, wurden durch schlechtere Arbeitsbedingungen, damit verbundene Lohnschmälerungen, Schikanen bis zur Entlassung zermürbt oder sie kündigten von sich aus den Arbeitsplatz.

Weitere Schwierigkeiten für arbeitende Frauen bestanden in der Unterbringung der minderjährigen Kinder während der Arbeitszeit. Obwohl einige Unternehmer, so z.B. der Inhaber der PF Arzberg, Th. LEHMANN,302 den Bau von betrieblichen Kinderbewahranstalten förderten und finanziell unterstützten, blieb vielen berufstätigen Müttern keine andere Möglichkeit als ihre Kinder als sog. Kostkinder in andere Familien zu geben. Wie aus Akten des Staatsarchivs Bamberg hervorgeht, häuften sich solche Unterbringungen im Bezirksamt Rehau, wobei "die Motivation zur Aufnahme nicht immer nur auf lautere Absichten gegründet ..."303 war, da die aufnehmenden Frauen - meist nichtberufstätige Porzellinerehefrauen – durch die Kostkinder einen nicht unbeträchtlichen Zuverdienst erhielten. Daß dabei Obhut und Fürsorge für die Kinder meist vernachlässigt wurden und es oft sogar zu Übergriffen und Mißhandlungen kam, läßt sich anhand der Akten nachverfolgen, die solche Fälle protokollierten.304

299 JFI 1900, S.24. 300 Rosenthal-Archiv Selb: Protokollbuch Dreherpersonal. Eintrag vom 7.3.1908. 301 MACHT, R. 1989, S.38. 302 Vgl. HÜSER, K. "Arbeiter und Arbeitsleben in der Porzellanfabrik Arzberg – Splitter. In: SIEMEN, W. 1987, S.37. 303 STA Bamberg, K 18 X 82. 304 Vgl. ebd.

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3.3 Lehrlinge in der Porzellanindustrie

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts geschah die Lehrlingsausbildung ausschließlich fabrikintern: Die Lehrlinge unterstanden einem Meister, der den gesamten Verdienst derselben erhielt und dem jeweiligen Lehrling nur einen gewissen Anteil zuwies. In der Oberpfalz erhielten die Lehrlinge vor dem Ersten Weltkrieg keinen Lohn, sondern lediglich Donationen als Unterhaltsbeiträge, deren Zahlung und Höhe im Ermessen des Unternehmers lag.305 Wenngleich es also keine Richtlinien für die Lehrlingsausbildung gab und förmliche Lehrverträge bis zur Jahrhundertwende eher die Ausnahme bildeten,306 so hatten schon Mitte des 19. Jahrhunderts etliche Fabriken Aufnahmebedingungen für Lehrlinge formuliert, welche die Pflichten dieser genau umschrieben: "Bedingungen für die Lehrlinge in meiner Porzellanfabrik: A. Jeder aufzunehmende Lehrling muß eine ausreichende Schulbildung genossen haben, und hat seinen Schulentlaßschein beizubringen. Schlecht erzogene Jungen werden nicht angenommen. ... B. Jeder Lehrling hat eine monatliche Probezeit zu bestehen, nach welcher die eigentliche Lehrzeit beginnt. ... C. Die Lehrzeit ist auf 6 Jahre festgesetzt. Diese Zeit kann vom Fabrikherrn durch eigenes Gutdünken, durch gutes lobenswertes Betragen, Fleiß und Geschicklichkeit des Lehrlings, abgekürzt werden, sowie sie auch verlängert werden kann, wenn der Lehrling nicht fleißig ist oder die nötige Geschicklichkeit noch nicht erlangt hat. D. Während dieser Zeit erhält der Lehrling den halben Arbeitslohn gegen Ausgelernte, und hat dagegen seine Lebensbedürfnisse selbst zu bestreiten. E. Bei Beginn der Lehrzeit zahlt der Lehrling fünf Gulden als Einstand; nach Verlauf der halben Zeit fünfzehn Gulden und nach Beendigung derselben fünfzehn Gulden welche der Fabriks-Kranken- und Unterstützungskasse zufließen, und zugleich nach der Lehrzeit als Aufnahmegebühr eines Mitgliedes dieser Cassa dienen. F. Ferner zahlt jeder Lehrling ein jährliches Lehrgeld von fünf Gulden an den Fabrikherrn und zu dessen alleinigen Verfügung, dafür genießt der Lehrling Unterricht im Zeichnen, Malen, Drehen, Modellieren u.a. Arbeiten je nach Fähigkeit und Beruf. G. Diese einmal ganz oder teilweise eingezahlten Gelder können im Fall eines Austritts oder Sterbefalls nicht zurückgefordert werden ... H. Auskehren der Arbeitslokale, Heizen derselben, Wasser holen, Gänge tun und andere Handreichungen ist Pflicht der Lehrlinge ... I. Strenge verboten sind: Tabak rauchen oder schnupfen, Kartenspiele, der Besuch der Wirtshäuser, Tanzplätze und der sog. Rockenstuben.

305 Vgl. VELHORN, J. 1925, S.89. 306 Vgl. JFI 1882, S.52: "Das Lehrlingswesen ist in manchen Fabriken ... ein durch Vertrag geregeltes, in sehr vielen aber auch ohne diesen ein nothwendiges Institut zur Nachzucht gelernter Arbeiter; es wäre zu wünschen, dass von dem Abschlusse bestimmter Lehrverträge im Fabrikbetriebe häufigerer Gebrauch gemacht würde, weil eine geregelte Form des Lehrlingsverhältnisses den Werth desselben nur nützlich beeinflussen kann." Vgl. weiterhin JFI 1893, S.118 (Oberfranken): "Schriftliche Lehrverträge waren in 48 (von 113 kontrollierten, d.Verf.) Betrieben vorhanden." In der Oberpfalz war der Abschluß schriftlicher Lehrverträge (auch) in der Porzellanindustrie erst ab 1910 allgemein üblich. Vgl. STA Amberg: Reg. d. Opf, 5453 Protokoll der Fabrikinspektoren-Jahreskonferenz vom 7./8.11.1910.

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K. Solche, die sich gegen obige Vorschriften vergehen, oder faul, widerspenstig oder nachlässig sind, werden durch Aufgaben von Strafarbeiten (Jour halten ) bestraft. Rückfällige werden der Polizei zur Züchtigung übergeben, oder aus der Lehre entlassen." 307

Bemerkenswert an diesen Aufnahmebedingungen erscheinen folgende Punkte: Beginnend mit einer einmonatigen Probezeit dauerte die volle Lehrzeit sechs Jahre; während dieser Zeit erhielt der Lehrling nur den halben Lohn eines fertig ausgebildeten Arbeiters. Die Einstands- und sonstigen Gelder, die der Lehrling während seiner Lehre zu entrichten hatte, flossen der fabrikeigenen Kranken- und Unterstützungskasse zu, deren Mitglied der Lehrling nach beendeter Lehre qua eingezahlter Beiträge automatisch wurde. Das jährliche Lehrgeld in Höhe von 5 Gulden ist als Schulgeld für die Unterrichtung in berufsspezifischen Fächern anzusehen. Eine im Ermessen des Unternehmers liegende mögliche Verkürzung bzw. Verlängerung der sechsjährigen Lehrzeit hing vom inner- und außerbetrieblichen Wohlverhalten des Lehrlings ab. Dazu gehörte die Einhaltung von zwar innerbetrieblichen, doch ausbildungsfremden Pflichten (Kehren, Heizen, Wasser holen, Gänge machen, Handreichungen) ebenso wie das Verbot, sich während der Freizeit in bestimmten Lokalen (Gastwirtschaften, Tanzlokale) aufzuhalten oder Tabak zu konsumieren. Hierin kam das Selbstverständnis des Unternehmers, der sich als "Fabrikherr" das Recht anmaßte, junge Menschen nach seinen Vorstellungen zu bilden, zum Ausdruck.

Ganz ähnliche Bestimmungen, die auf - von den Eltern durchaus geduldete - pädagogische Einflußnahme, mehr noch auf Disziplinierung schon des Lehrlings abzielten, waren auch in den Lehrverträgen, so überhaupt abgeschlossen, enthalten. So verbot ein Lehrvertrag aus dem Jahre 1881 den Besuch öffentlicher Schank- und Tanzlokale, untersagte den Tabakgenuß und drohte bei Pflichtverletzungen mit Strafen wie "körperliche Züchtigung und ... polizeilichen Maßregeln",308 wenn auch die Lehrzeit (Malerlehrling) bereits auf fünf Jahre verkürzt worden war.

Genaue Angaben über Kündigungsgründe, die sich im wesentlichen an den §§ 123, 124 und 127 der Gewerbeordnung orientierten, fanden sich erst in Lehrverträgen nach der Jahrhundertwende. Nach Ablauf der vierwöchigen Probezeit konnte das Lehrverhältnis einseitig vom Arbeitgeber gekündigt werden wg. falscher Zeugnisse, Straftat, unbefugten

307 Hutschenreuther-Archiv: Aufnahmebedingungen für Lehrlinge der PF Lorenz Hutschenreuther vom 17. November 1858. 308 Rosenthal-Archiv: Lehrvertrag Nicol Gogler vom 1. Mai 1881.

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Verlassens der Arbeitsräume, unvorsichtigen Umgangs mit Feuer und Licht, Tätlichkeiten, Beleidigungen, Sachbeschädigung, Anstiftung zu strafbaren oder sittenwidrigen Handlungen, dauernder Arbeitsunfähigkeit, "abschreckender" (wohl: ansteckender) Krankheit und wg. wiederholter Pflichtverletzungen. Zu den zwar umfassend, doch wenig konkret formulierten Obliegenheiten, die den Lehrling zu "... Fleiß und Ordnung bei seinen Arbeiten, zu Gehorsam gegen seine Vorgesetzten, gegen den ständigen Arbeiterausschuß, zur pünktlichen Einhaltung der Arbeits-Ordnung und der Unfallverhütungsvorschriften, zum Beitritt zu allen Wohlfahrtseinrichtungen und den Hülfskassen der Fabrik, zu bescheidenem gutem Betragen und gesittetem Lebenswandel in und außer der Fabrik " 309 verpflichteten, gehörte auch der Besuch der Fortbildungs- bzw. ab 1909 Fachschule in Selb.310

32 Anzeige der Fachschule für Porzellanindustrie311

309 Hutschenreuther-Archiv: Lehrvertrag Martin Thumser vom 20. Februar 1907, § 4. Dieser Lehrvertrag ist in AB, Anl.65 abgebildet. 310 Vgl. S.334. Das Schulgeld, das1915 für bayerische Schüler 10 Mark, für auswärtige 50 Mark betrug, konnte bei Bedürftigkeit ganz oder tw. erlassen bzw. durch ein Stipendium finanziert werden, das vom Verband der Porzellanindustriellen oder dem Unternehmer selbst begabten, aber minderbemittelten Schülern zur Verfügung gestellt wurde. Vgl. hierzu STA Bamberg, K 3/1971, 9250: Fachschule für Porzellan in Selb. 311 In: Marktredwitzer Tagblatt vom 9. August 1912.

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Der Lehrling oder dessen gesetzliche Vertreter konnten von sich aus die Lehre beenden bei dauernder Arbeitsunfähigkeit des Lehrlings, Verführung zu strafbaren oder sittenwidrigen Handlungen, Lohnforderungen, Gesundheitsgefährdungen durch die Arbeit,312 Übergriffen seitens des Lehrherrn ( "...das Recht der väterlichen Zucht mißbraucht" 313) sowie bei einem Wechsel der Lehrstelle. Wenngleich hier also erstmals Kündigungsgründe schriftlich niedergelegt wurden, blieb doch das auffallende Mißverhältnis dieser, für den Arbeitgeber weitaus zahlreicher vorhandenen und einfacher, weil ermessensabhängig formulierten, praktizierbaren zu den wenigen, ohnehin in der Gewerbeordnung festgelegten Kündigungsgründen auf Seiten des Lehrlings. Es war somit weiterhin völlig und allein dem Urteil des Unternehmers (oder seiner Bevollmächtigten) anheimgestellt, ob und inwieweit der Lehrling sich "zu bescheidenem gutem Betragen und gesitteten Lebenswandel in und außer der Fabrik" 314 bereit fand, ob mithin ein Kündigungsgrund vorlag oder nicht. In der Praxis bedeutete dies nichts anderes als eine direkte Einflußnahme auf die arbeits- und alltagsweltliche Lebensführung und Lebensgestaltung der Lehrlinge und somit den (fortbestehenden) Versuch der Disziplinierung dieser.

312 Die Gesundheitsgefährdungen, die an den Arbeitsplätzen der Porzellanindustrie gerade auch für junge Menschen bestanden, waren schon vorher allgemein bekannt. Vgl. hierzu Die Ameise vom 16.10.1885: "Schon beim Eintritt des Lehrlings in die Fabrik ist seine erste Beschäftigung, ehe er noch etwas anderes lernt, das Scheiben- und Zimmerkehren ... noch viel schlimmer ist das Kehren der Lokale (=Arbeitsräume, d. Verf.) ... So wird das wichtigste Organ, die Lunge, schon im zarten Knabenalter vom Staub durchzogen und dem jungen Manne gleichzeitig der Todeskeim eingeimpft .. Wäre es viel verlangt, wenn man in Fabriken für solche Lehrlinge ... die verhältnismäßig geringe Auslage sich machte und einige Dutzend `Lungenschützer` kaufte?" Vgl. auch SOMMERFELD, Th. 1893, S.281: "Da die Wirkung einer jeden andauernden Schädlichkeit, als welch wir z.B. die Einathmung der mannigfachen mineralischen Staubarten in der Porcellanfabrikation zu betrachten haben, sehr wesentlich von der Entwickelung des gesammten Organismus des Arbeiters abhängt, so unterlasse ich es nicht, zur besonderen Würdigung der Verhältnisse hier hervorzuheben, dass von allen Porcellanarbeitern regelmässig nur die Dreher und Former ihr Handwerk meist vom fünfzehnten Lebensjahre an in fünfjähriger Lehrzeit erlernen und somit in den gefährlichen Beruf bereits in einem Lebensalter eintreten, in welchem sich der Körper noch nicht völlig entwickelt hat, insbesondere die Lungen sich noch als zu wenig widerstandsfähig erweisen." Die Aufnahme des Kündigungsgrundes "...wenn bei Fortsetzung der Arbeit das Leben oder die Gesundheit des Lehrlings einer erweislichen Gefahr ausgesetzt sein würde, welche bei Eingehung des Lehrvertrages nicht zu erkennen war" (Lehrvertrag Martin Thumser, § 6) in den Lehrvertrag sollte einzig den Bestimmungen der Gewerbeordnung genügen und geschah somit aus rein formalen Gründen. WINDORF stellte dazu für die thüringische Porzellanindustrie fest: "...zum Teil aber ist die Abnahme der Lehrlinge in einzelnen Fabriken auch den gesundheitsschädlichen Wirkungen, die der Beruf des Porzellanarbeiters mit sich bringt, zuzuschreiben." (1912, S.90). Vgl. hierzu auch Anm.452. 313 Lehrvertrag Martin Thumser, § 6. Dieses Recht des Lehrherrn zur körperlichen Züchtigung des Lehrlings war expliziter Bestandteil aller Lehrverträge und leitete sich aus § 127a Reichsgewerbeordnung (RGO) ab: "Der Lehrling ist der väterlichen Zucht des Lehrherrn unterworfen ...". Vgl. Lehrvertrag Nicol Gogler, Lehrvertrag Martin Thumser, § 6, Lehrvertrag Walter Löffler, § 6, in denen dieses Recht ausdrücklich Erwähnung findet und Lehrvertrag Helmut Gentsch, § 8: "... regelt sich das Lehrverhältnis nach den Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung." Die maßgeblichen Bestimmungen der RGO (darunter § 127a) waren bei letzterem zusätzlich "auf der letzten Seite des Vertrages abgedruckt." (Ebd.) 314 Ebd., § 4.

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Dem in diesem Lehrvertrag erstmals angesprochenen Recht des Lehrlings, nach beendeter Lehre "vom Lehrherrn ein ausführliches Zeugnis" 315 zu erhalten, standen nach wie vor ein Einstandsgeld von 10 Mark zuzüglich weiterer 60 Mark Lehrgeld entgegen, die die Lehrlinge während ihrer fünfjährigen Ausbildungszeit zu zahlen hatten. Der Lohn betrug 50%, "sobald der Lehrling brauchbare Arbeit leistet oder Waare abliefert ..." 316 bzw. nach Beendigung der Lehre im sechsten Jahr 75% der festgesetzten Stücklöhne. Ab 1918 wurde die Lehrzeit auf vier Jahre verkürzt, doch erst ab1922 wurde kein Lehrgeld mehr erhoben.317 Lehrlinge konnten nunmehr im Stücklohn beschäftigt werden und erhielten im ersten und zweiten Lehrjahr 50%, im dritten und vierten Lehrjahr 75% der Stücklohnsätze.318 Zwar hatten sich die Lehrlinge auch zu dieser Zeit weiterhin den sehr rigiden Vorschriften der Lehrverträge unterzuordnen, "Der Lehrling ist der väterlichen Zucht des Lehrherrn unterworfen und dem Lehrherrn sowie demjenigen gegenüber, welcher an Stelle des Lehrherrn die Ausbildung zu leiten hat, zu Folgsamkeit und Treue, zu Fleiß und anständigem Betragen verpflichtet" 319 doch waren erstmals neben den Pflichten des Lehrlings auch Pflichten des Lehrherrn aufgeführt: 320 "Die Firma verpflichtet sich, den Lehrling in allen im Lehrfach vorkommenden Arbeiten, dem Zwecke der Ausbildung entsprechend, zu unterweisen, bezw. ihn durch einen geeigneten, besonders dazu bestimmten Vertreter unterweisen zu lassen, ihn zum Besuche der Fortbildungs- oder Fachschule anzuhalten und den Schulbesuch zu überwachen, außerdem den Lehrling zur Arbeitsamkeit und zu guten Sitten zu ermahnen und vor Ausschweifungen zu warnen, sowie ihn gegen Mißhandlungen der Arbeitsgenossen zu schützen."321

Eine Ausdehnung dieser, dem Lehrherrn obliegenden Pflichten erfuhr der Lehrvertrag durch die Aufnahme eines ausdrücklichen Paragraphen "Ausbildungspflicht des Lehrherrn": 322 "Die Ausbildung des Lehrlings erfolgt im Formgießer-Beruf. Die Firma verpflichtet sich, den Lehrling im Rahmen des für die Lehrlinge des Betriebes geltenden Ausbildungsganges in den im Betrieb vorkommenden Arbeiten des Faches zu unterweisen und ihm Gelegenheit zu geben, sich zu einem tüchtigen Facharbeiter heranzubilden. Die Anleitung erfolgt durch einen geeigneten, jeweils ausdrücklich dazu bestimmten Vertreter, der dabei nach den Bestimmungen der § 127 RGO zu verfahren hat."323

315 Ebd., § 8. 316 Ebd., § 3. 317 Vgl. Rosenthal-Archiv: Lehrvertrag Walter Löffler vom 2. Juni 1922, § 3. 318 Ebd., § 4. 319 Ebd., § 6. 320 Sieht man von der nichtssagenden und auslegungsbedürftigen "Verpflichtung des Fabrikherrn zu einer guten Ausbildung" ab, wie sie in Lehrverträgen aus der Zeit um die Jhdt.-wende zu finden ist. Vgl. Hutschenreuther-Archiv: Lehrvertrag Nikol Kießling von 1898. 321 Ebd., § 5. 322 Vgl. hierzu u.i.f.: Thür. HSTA, Bdl. 71-B385: Lehrvertrag PF Kahla – Helmut Gentsch vom 12. April 1927. 323 Ebd., § 2.

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Die Pflichten des Lehrlings waren in diesem Lehrvertrag aus dem Jahre 1927 zwar etwas moderater formuliert, doch bestand das Motiv der Unternehmensleitung, den Lehrling rasch an industrielle Arbeitsprozesse zu gewöhnen und ihn auch über die Arbeitszeit hinaus zu disziplinieren, erkennbar fort: "Der Lehrling verpflichtet sich, allen Fleiß und alle Aufmerksamkeit auf die Erlernung des Berufes zu verwenden, alle Obliegenheiten, die ihm der Vertrag und das Lehrverhältnis auferlegen, gewissenhaft zu erfüllen und sich den Bestimmungen der für den Betrieb und für die Lehrlinge des Betriebes im besonderen geltenden Vorschriften zu unterwerfen. Seinem Lehrherrn und den mit seiner Ausbildung Beauftragten ist der Lehrling stets Gehorsam schuldig, den Angestellten und Arbeitern der Firma hat er jederzeit die schuldige Achtung zu erweisen und zu seinen Mitlehrlingen ein gutes kameradschaftliches Verhältnis zu pflegen. Innerhalb und außerhalb des Werkes hat er sich stets sittsam zu betragen."324

Im Jahre 1925 waren lt. Statistik der Gewerbeaufsichtsbeamten in den Betrieben der feinkeramischen Industrie des Deutschen Reiches 5.800 Jugendliche unter 16 Jahren beschäftigt, was ca. 6% der Belegschaft ausmachte. Die amtliche Betriebszählung wies für das gleiche Jahr 3.932 Lehrlinge in der Porzellanindustrie aus. Nach einer Erhebung des Keramischen Bundes325 aus 1928 waren von 25.430 in bayerischen Porzellanfabriken beschäftigten Arbeitern 5.270, mithin 20,7% Jugendliche unter 18 (!) Jahren. Eine andere Erhebung des Keramischen Bundes aus dem Jahre 1929 erfaßte 44.770 Arbeiter, wovon 3.500, d.h. 8% Jugendliche unter 18 Jahren (inkl. Lehrlinge) waren, ungefähr zu gleichen Teilen männlich und weiblich.326 Hingegen hatte EIDELLOTH für einen früheren Zeitraum festgestellt: "Auch die Anzahl der jugendlichen Arbeiter ist sehr stark. Die Versuchung zur Ausnützung der billigen Arbeitskraft der Lehrlinge ist zu groß. ... Die Zahl der Lehrlinge betrug 1890 bei 9 Fabriken ... 30-51 Proz., in einem Falle sogar 62 Proz. ... der Gesamtarbeiterschaft. Der Grund der starken Heranziehung der Lehrlinge liegt also in dem niedrigen Lohn der Jugendlichen."327

Im Gegensatz dazu berechneten GERLACH328 und WINDORF329 übereinstimmend für den Zeitraum 1895 bis 1924 den Anteil der Lehrlinge am Gesamtpersonal mit ca. 9% in Oberfranken bzw. Thüringen. Die Differenz erklärt sich aus dem Umstand, daß EIDELLOTH für seine Berechnungen nur 9 oberfränkische Fabriken, die zudem nur Klein- bzw. mittelgroße Betriebe waren, zugrundelegte, während bei den beiden anderen Autoren die Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten bzw. die Mitteilungen des Verbandes der

324 Ebd., § 5. 325 Der Keramische Bund war die freigewerkschaftliche Organisation der Porzellanarbeiter. Die Gewerkschaften der Porzelliner werden gesondert dargestellt. 326 Vgl. Untersuchungsausschuß 1931, S.147f. 327 EIDELLOTH, G. 1914, S.43. 328 Vgl. GERLACH, H. 1924, S.105. 329 Vgl. WINDORF; H. 1912, S.89.

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Porzellanarbeiter die Berechnungsgrundlage bildeten. Insofern erscheint die Annahme eines Prozentsatzes von unter 10% Lehrlingen an der Gesamtbelegschaft wohl zutreffender, zumal dieser für den Zeitraum ab 1925 durch o.a. Zahlenmaterial noch bestätigt wird. Die Feststellung EIDELLOTHs, daß die relativ hohe Beschäftigungsquote jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen in deren niedrigerem Arbeitslohn begründet lag, traf dessen ungeachtet zu.330 So beklagte die Fabrikinspektion im Jahre 1896 die "Lehrlingszüchterei", die dazu führte, daß die Unterschiede im Qualifikationsniveau zwischen "ungenügend und wohl theilweise auch schlecht"331 ausgebildeten Gesellen und angelernten Fabrikarbeitern sich zusehends verringerten.332

Bemühungen der freien und christlichen Gewerkschaften, das Lehrlingswesen einheitlich zu regeln, scheiterten am Widerstand der Unternehmer. Begründet wurde dieser mit den unterschiedlichen Verhältnissen der einzelnen Lehrberufe und Betriebe: Während für die Malerei eine übergroße Nachfrage nach Lehrstellen bestand, herrschte in der Dreherei ein Mangel an Lehrlingen.333

Eine große Anzahl Fachschulen sollte den Nachwuchs für den keramischen Beruf ausbilden. Hierzu gehörten die Staatliche Fachschule für die Porzellanindustrie in Selb/Oberfranken,334 die Staatliche keramische Fachschule in Bunzlau/Schlesien, die Fachschule in Lichte/Thüringen, die Staatliche keramische Fachschule in Höhr b. Koblenz und die Staatliche Fachschule in Landshut/Bayern. Neben diesen gab es noch keramische Abteilungen, die anderen Fachschulen angeschlossen waren (Berlin, Zwickau, Stuttgart). Die Ausbildung dauerte zwei bis vier Jahre und erstreckte sich auf chemische, technische und künstlerische Fächer.

Bemerkenswert erscheinen in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Vertretern der Gewerkschaften bzw. der Unternehmer. Während sich die Gewerkschafter durchgehend

330 Vgl. auch die Äußerungen KARLs, S.335. 331 JFI 1895, S.189 332 Vgl. hierzu STA Amberg: Reg. d. Opf. 14423/V Protokoll der Fabrikinspektoren-Jahreskonferenz vom 9.11.1886; JFI 1909, S.111; JFI 1910, S.119. 333 Die von den Gewerkschaften hierzu vorgebrachte Begründung der schlechten Berufsaussichten der Lehrlinge in der Dreherei erscheint vor dem Hintergrund der eben dargestellten Rationalisierungsmaßnahmen durchaus schlüssig. 334 Diese war 1909 auf Initiative der bayerischen Porzellanindustriellen (1907 Denkschrift an das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus) eröffnet worden. Zunächst wurde im Rathaus unterrichtet, 1919 wurde ein Neubau bezogen.

481 kritisch zum Lehrlingswesen in der Porzellanindustrie äußerten, bestand für die Unternehmer - wie schon an anderer Stelle erwähnt - keinerlei Veranlassung, die bestehenden Verhältnisse in der Lehrlingsausbildung zu ändern: "Ich kann nur für die Kahla-Werke sprechen. Das Lehrlingswesen erfährt bei uns eine besonders sorgfältige Beachtung. Wir haben Lehrverträge, die in der Regel eine vierjährige Lehrzeit vorsehen. Der Lehrling wird vor der Einstellung einer Eignungsprüfung unterzogen und dann der für ihn geeigneten Beschäftigungssparte zugewiesen. Er wird einem Meister, z.B. einem Oberdreher oder Obermaler, zur Ausbildung überwiesen. Wir legen aber Wert darauf, daß der Lehrling sich auch in anderen Abteilungen des Betriebes umsieht. Der Lehrling arbeitet ein bis zwei Jahre im Zeitlohn, in den letzten zwei Jahren im Akkordlohn." 335

Ähnlich positiv äußerte sich ARNDTS von der PF Rosenthal & Co. AG, Marktredwitz : "Zur Ausbildung der Malerlehrlinge haben wir eine besondere Schule mit einem Obermaler an der Spitze. Die Lehrlinge haben dort vier Stunden in der Woche Zeichenunterricht,336 abgesehen vom Unterricht in der Fortbildungsschule. Angestellte geben ihnen noch besonderen Unterricht, damit sie genaue Kenntnis von dem ganzen Betriebsgang bekommen." 337

Ganz anders hingegen ein Vertreter der Gewerkschaften: "Wir haben ... gehört, daß die Lehrlinge in einigen Betrieben die ersten zwei Jahre im Zeitlohn, später im Akkordlohn arbeiten. In den meisten Betrieben der Industrie sieht es wesentlich anders aus. Die Lehrlinge werden dort sehr bald nach Beginn der Lehrzeit im Akkord beschäftigt. ... In einem großen Teil der mittleren und kleineren Betrieb werden die Lehrlinge nur als billige Arbeitskräfte betrachtet."338

Der Porzellanmaler LISSON von der PF C. Tielsch & Co., Altwasser ergänzte:

"Meine Erfahrungen in schlesischen Fabriken bestätigen, daß die Lehrlinge vielfach ausgenutzt werden. Für die große Zahl der Lehrlinge, die in den letzten fünf Jahren ausgebildet sind, ist keine Existenzmöglichkeit vorhanden. ... Die Lehrlinge, die in den Jahren 1922 und 1923 eingestellt worden sind und jetzt frei werden, wurden sämtlich wieder entlassen. ... Das starke Angebot an Lehrlingen wird dazu mißbraucht, die Lehrlinge auszunutzen. Viele Facharbeiter werden nicht durch fertig ausgebildete Lehrlinge, sondern durch Mädchen ersetzt, weil an die Facharbeiter höhere Löhne gezahlt werden müssen.339 Der fertig ausgebildete Lehrling wird entlassen und man stellt für ihn neue Lehrlinge ein." 340

335 Dr. RICHTER, Vorstandsmitglied der PF Kahla. Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.149. Nach dem Reichstarifvertrag vom 25.8.1919 (Vgl. S.23) erhielten Lehrlinge in dritten und vierten Lehrjahr den Satz der jugendlichen Arbeiter, so daß die Firmen a priori kein besonderes Interesse hatten, Lehrlinge statt jugendlicher Arbeiter einzustellen. 336 Solche Zeichenschulen bestanden bereits in den 1880er Jahren in anderen Fabriken: "So in der Fabrik von Zeh, Scherzer u. Co.. in Rehau, wo junge Leute unter 14 Jahren durch Zeichenunterricht zu Malern und Drehern vorbereitet werden, ebenso in den Fabriken von Hutschenreuther zu Selb und Hohenberg. Die Zeichenschule in der Fabrik zu Selb unterrichtete 1881 ungefähr 100 Knaben ..." (EIDELLOTH, G. 1914, S.44). "Besondere Fabrikschulen finden sich in einzelnen grösseren der inspizirten Fabriken, ... z.B. eine vortrefflich geleitete Zeichenschule in der Hutschenreuther`schen Porzellanfabrik zu Selb, welche von nahezu 100 Knaben besucht wird." (JFI 1882, S.52). 337 Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.150. 338 KARL vom Keramischen Bund. Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.150f. 339 So arbeiteten bei der KPM bereits ab 1829 Mädchen als Garniererinnen, "die bei sehr herabgesetztem Arbeitslohn nur die Hälfte desselben erhielten." FRICK, G.F.C.1845: Geschichte der Königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin seit ihrer Entstehung. Ms. Berlin. S.103. 340 Zit. nach Untersuchungsausschuß 1931, S.151.

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APEL vom Keramischen Bund bemerkte zum Thema Lehrlingswesen: "Wir können nicht verstehen, daß gerade in Betrieben, die viel für die Ausbildung ihrer Lehrlinge tun die Lehrzeit verlängert worden ist. Die Lehrlinge dieser Betriebe vermuten, daß sich diese Firmen um die Zahlung des Facharbeiterlohnes drücken wollen. Die Firmen ließen die Lehrlinge kommen und machten einen Zusatzkontrakt. In dem Zusatzjahr bekommt der Lehrling die Hälfte oder drei Viertel des richtigen Stückpreises." 341

Die Äußerungen FROMMs vom Berufsverband christlicher Keramarbeiter fassen die Ausbildungssituation in der Porzellanindustrie in den dreißiger Jahren zusammen: "In manchen Betrieben scheint die Sache so zu sein, daß der Dreher, wenn er nicht einen Lehrling als Hilfskraft dabei hat, nicht auf seinen Tariflohn kommen kann. Deswegen möchte jeder Facharbeiter einen Lehrling haben. Die Folge ist, daß der Lehrling, wenn er überhaupt ausgebildet wird, eine einseitige Ausbildung erhält. Wir halten es für notwendig, daß für Lehrlinge die Akkordarbeit beseitigt wird und daß das Lernen das Primäre ist. Auf die Dauer leidet der Ruf unserer Industrie unter schlechter Lehrlingsausbildung." 342

3.4 Morbidität und Mortalität der Porzellanarbeiter

"Eine Porzellinerlunge. Im 'Nahrungsmitteluntersuchungsamt' der Universität Jena wurde auf Veranlassung des Professor Dr. Müller die Lunge eines verstorbenen Porzellanarbeiters untersucht. In 40 Gramm Asche wurden 0,7343 Gramm Kieselsäure, 0,8524 Gramm Aluminiumoxyd und 0,0888 Gramm Kalziumoxyd festgestellt. Die Lunge war so hochgradig mit Mineralbestandteilen durchsetzt, daß sie nur unter großer Gewaltanwendung mit Messer und Scheere (sic) zu zerkleinern war." 343

Unter den gesundheitsschädigenden Einflüssen,344 denen die Porzelliner am Arbeitsplatz ausgesetzt waren, war die Staubentwicklung sicherlich die signifikanteste und schädlichste. Das dauernde Einatmen des Tonstaubes führte in Sonderheit zu Krankheiten der

341 Zit. nach ebd., S.152. 342 Zit. nach ebd. 343 Die Ameise vom 19.6.1908. 344 Weitere gesundheitsschädliche Folgen der Arbeit in der Porzellanindustrie: Rheumatische Erkrankungen infolge der Temperaturschwankungen in den Brennhäusern; Ekzeme und Geschwüre durch Fluorwasserstoff beim Ätzen von Ornamenten; Haltungsschäden durch zu schweres Tragen, insbes. bei Frauen; Blei- und Benzolvergiftungen bei Malern. Dazu stellten die Fabrikinspektoren fest, daß von 105 im Jahre 1902 aufgetreten Bleierkramkungen allein 35 Porzelliner, in der Hauptsache Maler, betroffen waren, die an Farbmühlen und am Arbeitsplatz selbst mit bleihaltigen Farben in Kontakt kamen. Zur Vorbeugung der Bleivergiftung, die sich durch zittrige Hände und einen Bleisaum am Zahnfleisch äußerte (Vgl. VELHORN, J. 1925, S.119), wurde "teilweise Anordnung über Wechsel der Kleidung, Waschen der Hände vor dem Essen usw. getroffen und dadurch ein Abnehmen bewirkt." (STA Bamberg K 3/F VI a, 119). Von Hautausschlägen bei jugendlichen Arbeitern infolge Verwendung von Stanzöl in der Stanzerei einer oberfränkischen Porzellanfabrik berichtet die Gewerbeaufsicht in JFI 1901, S.100.

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Respirationsorgane, v.a. zu Lungenkrankheiten.345 Die in Frage kommenden Substanzen Kaolin, Quarz und Feldspat sind alle in den Körperflüssigkeiten nicht löslich. Kaolin besteht mikroskopisch hauptsächlich aus amorphen Teilchen und ist daher wenig aggressiv. Feldspat und Quarz hingegen bestehen aus vielen spitzen und zackigen Kristallen, die nach dem Einatmen das Lungengewebe verletzen können; das verletzte und vernarbte Gewebe aber ist ideale Angriffsfläche der Tuberkelbazillen. In Regionen, in denen die Porzellanindustrie stark vertreten war, war daher die "Staublunge" (Silikose) besonders häufig und nachgerade typisch; der "Würgeengel der Porzellanarbeiter"346 wurde vom Volksmund treffend als "die Porzellinerkrankheit" bezeichnet. Die in der Vorkriegszeit fälschlich unter dem Begriff "Lungentuberkulose" subsumierte Silikose sowie die durch Silikose hervorgerufene und beschleunigte Lungentuberkulose hatten entscheidenden Einfluß auf die Lebenserwartung der Porzellanarbeiter.

SOMMERFELD berechnete für den Zeitraum 1874 bis 1888 347 bei den Porzellinern das Verhältnis der an Lungentuberkulose Verstorbenen zu sämtlichen Todesfällen mit 60%, die Sterblichkeit an Krankheiten der Atmungsorgane insgesamt sogar mit 74,3%,348 das durchschnittliche Lebensalter betrug 41 Jahre. Für den Zeitraum 1879 bis 1892 349 konnte er bei den Porzellanmalern einen Anteil von 61,9% (Dreher: 59,3%) an Lungentuberkulose Verstorbenen, von 67,5% (Dreher: 67,1%) an Krankheiten der Atmungsorgane insgesamt Verstorbenen ermitteln,350 die durchschnittliche Lebenserwartung betrug bei den Malern 36 Jahre, bei den Drehern 38 Jahre. SOMMERFELD untersuchte an der KPM in Berlin auch die Morbidität von 220 Porzellanarbeitern (= 60% der Gesamtarbeiterzahl der KPM), also die "... Erkrankungen, durch welche die Porcellanarbeiter genöthigt worden sind, auf eine längere Zeit ihre Arbeit auszusetzen oder sich in ein Krankenhaus aufnehmen zu lassen" 351 und kam dabei zu folgenden Ergebnissen:

345 W. SONNE berichtet von einer in Böhmen auftretenden sog. "Erbsenkrankheit", bei der sich infolge Ablagerungen von Sandpartikeln und Kieselsäure regelrechte Lungensteine bildeten. In: SCHREBER, B. 1918: Handbuch der Hygiene. Bd.7, Tl.5. Leipzig. S.670f. Vgl. auch SPÄTH, H.: Leben und Sterben der Porzellanarbeiter(innen). In: Heimatmuseum Tiergarten 1996, S.29. 346 OVZ vom 26.10.1912. 347 SOMMERFELDs Berechnungsgrundlage bildeten die in der Ameise (Jg.1874-1888) angegebenen 323 verstorbenen Mitglieder der Krankenkasse der Porzellan-, Glas- und verwandten Arbeiter. 348 Thonindustrie-Zeitung 1896, 20.Jg., S.946. Zu ähnlichen Ergebnissen kam 1896 auch der Verband der Porzellanarbeiter: "Schließlich sterben ¾ der Porzellanarbeiter an Krankheiten der Athmungsorgane, mehr als 3/5 an der Schwindsucht." APM-DDR IV 7370, S.54. 349 Berechnungsgrundlage SOMMERFELDs: "Wöchentliche Todtenschauen" (=Todesanzeigen) in Sprechsaal, Jg.1879-1892. 350 Vgl. SOMMERFELD, Th. 1893, S.283f. 351 Ebd., S.285.

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Tab.84: Morbidität der Porzelliner der KPM 352 Durchschnittl. Durchschnittl. Durchschnittl. Prozentsatz der Prozent der an Eintrittsalter Lebensalter Arbeitszeit Tuberkulösen Erkrankungen (Jahre) (Jahre) (Jahre) der Atemwege Leidenden Dreher (82) 14 30,8 19,4 16 31,9 Maler (48) 14 28,6 13,6 15 31,6 Ofenarbeiter (39) 28,5 37 8,4 20,5 35,8 Glasurer (21) 27,3 37,7 10,4 28,8 52,8 Schlämmer (15) 28 34 6 26 46,5 Schleifer (12) 24,3 38,2 13,8 25 58,9 Tontreter (3) 28,6 30 1,4 -- 33,3 Summe (220) 23,5 33,8 10,4 18,7 41,5

Der Staubentwicklung am Arbeitsplatz waren insbesondere Schleifer, Verputzer und Glasurer ausgesetzt, wie sich anhand der Tabelle eindeutig erkennen läßt. Wie stark die Beeinträchtigung der Porzelliner durch gesundheitliche Risiken war, verdeutlicht nachfolgende Tabelle. Die Gewerbeaufsicht Erfurt stellte die der Betriebskrankenkasse einer thüringischen Porzellanfabrik gemeldeten TBC-Fälle denjenigen der Ortskrankenkasse gegenüber. Geradezu frappierend ist der hohe Prozentsatz der an Tuberkulose Erkrankten, der bei den Porzellanarbeitern mit 7,01% siebenmal so hoch lag wie bei der übrigen Bevölkerung mit 0,97%. Tab.85: Vergleich der an Tuberkulose erkrankten Porzelliner mit der übrigen Bevölkerung353 Betriebskrankenkasse Ortskrankenkasse Jahr Zahl der erw. Tuberkulose- TBC-Erkrank. Zahl der erw. Tuberkulose- TBC-Erkrank. Arbeiter Erkrankungen in % Arbeiter Erkrankungen in % 1895 202 11 5,44 900 9 1,0 1896 220 13 5,91 950 11 1,16 1897 212 12 5,66 950 8 0,84 1898 183 15 8,20 1010 7 0,69 1899 177 17 9,60 1060 10 0,94 1900 178 14 7,86 1110 13 1,17 Durchschnitt 195 13,67 7,01 997 9,67 0,97

Zu ähnlichen Ergebnissen kam KOELSCH, der für den Zeitraum 1908 bis 1912 die Krankenkassenlisten und amtlichen Sterberegister der sechs bayerischen Bezirksämter Rehau, Wunsiedel, Tirschenreuth, Neustadt a.d.W, Teuschnitz und Kronach untersuchte.354 KOELSCH maß die Staubentwicklung in Arbeitsräumen der Porzellanindustrie und erhielt

352 Aus: SOMMERFELD, Th. 1893, S.292. 353 Quelle: Jahrbuch der Gewerbeaufsicht 1902, Bd.I,1, S.200. Vgl. auch WINDORF, H. 1912, S.90. 354 Vgl. KOELSCH, F. 1920: Die Staubfrage in der Porzellanindustrie. In: Sprechsaal, 53.Jg., Nr.15, S.147-149 u. Nr. 16, S.155-157. Berechnungsgrundlage KOELSCHs waren 123.000 Porzelliner im Alter von 15 bis 70 Jahren.

485 dabei folgende Werte pro Kubikmeter Luft:

Trockenabdrehen von Isolatoren...... 83 mg Putzen von Isolatoren...... 64 – 266 mg Glasurputzen von Hand...... 55 – 256 mg Glasurputzen mit Bürste...... 22 – 48 mg Abstauben mit Preßluft...... 37 – 62 mg Reinigungsarbeiten (Kehren)...... 109 mg

Da die normale Verstaubung der Luft jedoch 0,5 bis 6 mg pro Kubikmeter beträgt, lag es nahe, die große Staubentwicklung an Arbeitsplätzen der Porzellanindustrie für die hohe TBC- Sterblichkeit der Porzellanarbeiter zumindest mitverantwortlich zu machen. KOELSCH konnte nachweisen, daß die TBC-Sterblichkeit bei der erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von 15 bis 70 Jahren (ohne Porzelliner) bei 2,64‰ lag, während sie bei den Porzellinern mit 6,65‰ etwa 2 ½ mal so hoch lag.355 Das BA Rehau (mit Selb) nahm dabei mit der vierfachen TBC-Sterblichkeitsquote der Porzelliner gegenüber der übrigen Bevölkerung die erste Stelle ein, gefolgt von Kronach und Tirschenreuth; relativ "günstig" war die Quote in Wunsiedel (3,42‰ vs. 2,42‰) und Neustadt a.d.W., wo der Anteil der Porzelliner mit 2,37‰ sogar niedriger als derjenige der übrigen Bevölkerung mit 2,59‰ ausfiel. Ursächlich dafür war nach KOELSCH, daß sich in Regionen, in denen die Porzellanindustrie schon seit Generationen ansässig war, "mit dem Beruf auch die 'Berufskrankheit' durch Generationen hindurch" 356 vererbte. Die Porzellanindustrie war aber in Selb schon 80 Jahre länger ansässig als bspw. in Wunsiedel. Neben allgemeinen, auch für die übrige Bevölkerung geltenden Ursachen wie mangelnde Hygiene, direkte/indirekte Infektion, unzureichende

355 Die auf den ersten Blick wesentlich geringeren Zahlen KOELSCHs (‰) gegenüber den Angaben SOMMERFELDs bzw. der Gewerbeaufsicht Erfurt (%) erklären sich aus der jeweiligen Relation: Während für SOMMERFELD und die Gewerbeaufsicht die Zahl der Arbeiter Bezugspunkt ist, nimmt KOELSCH die Gesamtbevölkerung als Bezugsgröße. Die hierbei von beiden getroffene Feststellung der überproportional hohen TBC-Sterblichkeit bei Porzellinern bleibt davon unbeschadet allgemeingültig. Außerdem berichtet EIDELLOTH, "daß gerade bei Tuberkulosefällen oft nicht Tuberkulose, sondern irgend eine anderen Krankheit als Todesursache zur Anzeige kommt, weil bei Tuberkulosetodesfall Desinfizierung verlangt wird, deren Nutzen bei den bestehenden Arbeiterwohnungsvverhältnissen in umgekehrtem Verhältnis zu den Kosten stehe." (1914, S.46). 356 In: Sprechsaal 1920, 53.Jg., Nr.16, S.155.

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Wohnungsverhältnisse und ungesunde Lebensführung357 macht auch KOELSCH v.a. die Staubentwicklung am Arbeitsplatz für die Häufung der TBC-Fälle unter den Porzellanarbeitern verantwortlich: "Im allgemeinen können wir auf Grund unserer Erhebungen sagen, daß die Tuberkulosesterblichkeit der ´Porzellaner´ gegenüber der gleichalterigen anderweitigen Bevölkerung zum Teil ganz erheblich gesteigert ist, und zwar umso mehr, je alteingesessener die Porzellanindustrie in der betreffenden Gegend ist, je mehr Generationen bereits in der Porzellanindustrie tätig waren und je mehr sich die Lebensführung der Arbeiter dem Fabrikarbeitertyp nähert, worunter wir verstehen Vererbung des Berufes durch Generationen, frühzeitiges Eintreten in die Fabrik gleich nach der Schulentlassung, Wohnung am Fabrikort oder in nächster Nähe, städtische Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse."358

"Es muß also ein besonderes Moment vorhanden sein, welches die Uebersterblichkeit der eigentlichen Porzelliner gegenüber der Gesamtbevölkerung und den unter gleichen äußeren Bedingungen lebenden Veredlern und Hilfsarbeitern bedingt – und dieses ausschlaggebende Moment ist nichts anderes wie die fortgesetzte Staubinhalation, welcher die Porzelliner im Gegensatz zu den anderen Gruppen dauernd ausgesetzt sind." 359

In völligem Widerspruch dazu stehen die Äußerungen eines Redakteurs der Thonindustrie- Zeitung, der sich auf Grundlage der Erhebungen der preußischen Gewerbeaufsichtsbeamten für das Jahr 1912 folgendermaßen äußert: "Von der Gesamtzahl der 5922 Arbeiter der Porzellan- und Tonwarenindustrie, über die diese Erhebungen gesammelt wurden, entfielen auf die Altersstufe bis 20 Jahre, auf die einzelnen, je zehn Jahre umfassenden, Altersstufen der Lebensalter von 20 bis 50 Jahren und auf die Altersstufe der über 60 Jahre alten: 23,4 v.H.; 19,2 v.H.; 25,9 v.H.; 21,1 v.H.; 8,1 v.H. und 2,3 v.H. ... Bei der Betrachtung dieser Aufstellung zeigt sich deutlich, ...daß die Tätigkeit der in der Porzellan- und Tonwarenindustrie beschäftigten Arbeiter keinen Nachteil für ihre Gesundheit hat, indem ein großer Teil der Arbeiter bis zu einem hohen Alter arbeitsfähig bleibt. ... Wenn es gestattet ist, einen sicheren Schluß aus den zahlenmäßigen Angaben zu ziehen, so ist es jedenfalls der, daß man heute von einer besonderen Schädlichkeit der Berufstätigkeit der Porzellan- und Tonarbeiter auf den Gesundheitszustand nicht sprechen kann." 360

Dazu ist zunächst zu bemerken, daß der Autor sich auf Erhebungen der preußischen Gewerbeaufsicht bezieht, mithin auf Zahlenmaterial aus einem Gebiet, in dem kaum keramische Industrie angesiedelt war. Des weiteren läßt sich aus der Tatsache, daß 10,4% der Arbeiter der Porzellan- und Tonwarenindustrie über 50 Jahre alt waren –ein ohnehin geringer Prozentsatz- keinesfalls ableiten, daß die Arbeit in der Keramindustrie ohne gesundheitliche Risiken wäre. In diesen 10,4% sind außerdem alle Arbeiter der Porzellan- und

357 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang die von KOELSCH nachstehend angeführte Äußerung, daß „... nach Angabe verschiedener Arbeitgeber der allgemeine Gesundheitszustand ungünstig beeinflußt worden sein soll durch die in den letzten Jahren sich steigernde Zuwanderung minderwertiger ausländischer (besonders böhmischer) Arbeiterfamilien.“ [KOELSCH, F. 1919, S.275; Hervorhebung d.Verf.]. Die hier einigen Arbeitgebern zugeschriebene Meinung ist um so weniger verständlich als die böhmischen Zuwanderer als Arbeitskräfte in der Porzellanindustrie willkommen waren. 358 KOELSCH, F. 1919, S.223. 359 ders. in: Sprechsaal 1920, 53.Jg., Nr.16, S.155. 360 In: Thonindustrie-Zeitung 1914, 38.Jg., Nr.51, S.873f.

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Tonwarenfabrikation erfaßt, ohne nach Arbeitsplätzen zu spezifizieren, die mehr oder minder gesundheitsgefährdend waren. Schließlich ist das zugrundegelegte Panel von 5.922 Arbeitern wesentlich zu gering, um daraus Rückschlüsse auf die Situation aller Beschäftigten in der Keramikindustrie zu ziehen.361

Dagegen berechnete der Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter in seiner Statistik über Lohn- und Arbeitsverhältnisse der deutschen Porzellanarbeiter aus dem Jahre 1896 den Anteil der über 40jährigen im Deutschen Reich mit 26,3%; der Prozentsatz der Porzellanarbeiter, die älter als 40 Jahre waren, lag hingegen nur bei 6,3%, weswegen der Verband zu folgender Feststellung kam: "Wenn in der Lebensdauer die Gesammtsumme des sozialen, wirthschaftlichen und sanitären Wohlbefindens der Bevölkerung oder einzelner Schichten derselben zum Ausdruck gelangt, dann ist es damit bei den Porzellanarbeitern außerordentlich schlecht und traurig –dringend der Aufbesserung bedürftig- bestellt." 362

Vergleichbares Zahlenmaterial für die Oberpfalz bieten auch die Generalberichte über die Sanitätsverwaltung im Königreiche Bayern. So erkrankten 1881 von den 90 Arbeitern der PF Tirschenreuth 51 an akuten resp. chronischen „Bronchialkatarrhen“,363 von den 58 Porzellandrehern der Dorfner`schen Steingutfabrik in Hirschau erkrankten 7 an Tuberkulose. 1882 erkrankten in Hirschau 3 von 59 Drehern an „Lungenschwindsucht“, in der PF Tirschenreuth starb ein Arbeiter an Tuberkulose, häufigste auftretende Krankheit war Lungentuberkulose.364

BOGNER hatte bereits für den Zeitraum 1898 bis 1907 die mit 67,2% überdurchschnittlich hohe Mortalität der an Tuberkulose verstorbenen Porzellanarbeiter gegenüber 28,4% der Gesamtbevölkerung365 ermittelt und für den angegeben Zeitraum folgende Morbiditäts- und Mortalitätstabellen erstellt:

361 Die Zahl der Beschäftigten in der gesamten Keramikindustrie betrug i.J. 1910 285.000 (vgl. S.146); die Zahl der in der Porzellanindustrie Beschäftigten betrug 1912 rd. 53.000 (vgl. Tab.23). Somit umfaßten die Erhebungen nur 2,08% bzw. –bestenfalls- 11,2% aller Beschäftigten und waren damit absolut nicht repräsentativ! 362 APM-DDR IV 7370, S.51. 363 Es ist anzunehmen, daß unter dem Oberbegriff „Bronchialkatarrh“ jede Erkrankung der Atemwege, also auch tuberkulöse Erkrankungen, subsumiert wurde. 364 Vgl. SCHOENLANK, B. 1887, S.28f. 365 BOGNER, W. 1909, S.29. Nicht zuletzt den Bemühungen BOGNERs ist die Anerkennung der Silikose als Berufskrankheit - allerdings erst 1929 - zu verdanken. Allerdings bleibt bei dieser von verschiedenen Autoren (u.a. BALD, A. 1991, S.46) vorgenommenen Datierung unberücksichtigt, daß bereits am 24.11.1925 in einer Sitzung im Reichsgesundheitsamt "das Bestehen einer Staublungenerkrankung bei den Porzellinern und deren Anerkennung als `Berufskrankheit` amtlich sanktioniert wurde " (KOELSCH, F. 1963, S.7; Hervorhebung d. Verf.).

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Tab.86: Morbidität im Selber Bezirk 1892 – 1907 366 Gesamtzahl Kranke Tuberkulose Krankheiten der Rheumatische Atmungsorgane Erkrankungen Massemüller 767 343 18 41 67 Gießerei 2092 727 54 94 60 Tagarbeiter 843 274 10 35 46 Brenner 1883 557 39 56 126 Packerei 1275 329 13 37 30 Schleiferei 794 199 10 20 12 Verputzerei 1948 485 45 61 38 Malerei 4240 995 75 93 141 Schmelzerei 523 116 6 23 18 Lagerarbeiter 1244 243 10 29 32 Dreherei 4557 887 81 139 112 Druckerei 3351 647 44 49 48 Stanzerei 583 94 2 11 16 Steindruckerei 432 58 8 5 10 Modelleure 93 9 2 1 --

BOGNER wertete das statistische Material von 27.727 Porzellinern aus und konnte anhand dieser Unterlagen nachweisen, daß mit 1.254 von insgesamt 6.596 nahezu 20% aller Erkrankungen, die bei diesem als Arbeitsunterbrechungen von mehr als drei Tagen Dauer zusammengefaßt sind, auf Krankheiten der Atmungsorgane inklusive Tuberkulose zurückzuführen waren. In Abteilungen einer Porzellanfabrik, in denen die Staubentwicklung besonders groß war und in Bereichen, in denen vorzugsweise jugendliche und weibliche Arbeitskräfte beschäftigt waren, häuften sich die Erkrankungen an Staublunge. So fanden sich, abgestuft nach der Häufigkeit, die meisten Erkrankungen in der Gießerei: Trocknen und Abschleifen des Porzellans (junge Mädchen als Arbeitskräfte); in der Massemühle: Offene Kollergänge; bei den Verputzerinnen (jüngere Frauen als Arbeitskräfte); in der Brennerei: Trockenheit und Hitze (Trockenräume als Arbeitsplätze für Dreher und Gießer); in der Malerei (tw. jugendliche Arbeitskräfte). Neben diesen berufsbedingten Ursachen für das Auftreten der Staublunge konstatierte BOGNER nichtberufsbedingte Faktoren wie schlechte Allgemeinkostitution , v.a. aber quantitativ und qualitativ unzureichende Ernährung sowie unbefriedigende Wohnverhältnisse der Arbeiterbevölkerung. "Alte einstöckige Häuser mit lächerlich niedrigen Zimmern und kleinen Fenstern finden wir in der großen Mehrzahl; in solchen Häusern bewohnt die meist starke Arbeiterfamilie ein, wenn es gut geht, zwei Zimmer, von denen das eine noch als Küche benutzt werden muß; für viele Familien ist aber das

366 Aus: BOGNER, F. 1909, S.15 (Auszug).

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Zimmer: Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer zugleich. Ein anderer Teil der Arbeiter, die ledigen Schlafgeher wohnen in Holzverschlägen im Dachraum, allen Unbilden der Witterung ausgesetzt. ... Aber die Lebensmittel sind hier teuer und nicht gerade erstklassig, die Hauptnahrung bilden Kartoffeln in allen möglichen Zubereitungen, die Fleischnahrung tritt sehr in den Hintergrund, die Milch ist nicht kräftig genug, Eier sind kostspielig; Märkte, auf welche die Landbevölkerung ihre Erzeugnisse bringt gibt es nicht; es gehen also alle Nahrungsmittel durch Zwischenhände, wodurch sie natürlich sehr verteuert werden."367

Somit trat neben die berufsspezifische Anfälligkeit eine klassenspezifische Gefährdung der Porzellanarbeiterschaft: Zwar war die Staublunge zunächst eine Berufskrankheit, doch im weiteren Sinne auch eine "Proletarierkrankheit", die zu den "sozialpathologischen Begleiterscheinungen"368 des Industrialisierungsprozesses im Untersuchungsraum (und nicht nur dort) zu zählen ist. Daß die beruflichen und sozialen Bedingungen in die ursächlichem Zusammenhang mit der Staublungenerkrankung standen, belegte BOGNER noch stringenter anhand der Mortalität der Porzelliner.

Tab.87: Mortalität im Selber Bezirk 1898-1907 369 Gesamtzahl der Durchschnitts- Tuberkulose Krankheiten Rheumatische Verstorbenen* alter der Erkrankungen Atmungsorgane Bürgerliche 347 61,6 14,8% 9,5% -- Bevölkerung Ländliche Bevölkerung 281 62,8 13,9% 12,5% -- Arbeiterbevölkerung** 273 61,6 24,5% 8,8% 0,7% Porzellanarbeiter- 306 42,8 59,8% 7,9% 0,9% bevölkerung*** Gesamtzahl 1207 57,2 28,4% 9,6% 0,4% Porzellanarbeiter**** 195 44,2 67,2% 6,2% 1,0%

* Aufgenommen wurden alle über 13 Jahre alten Erwerbsfähigen. ** Alle in Handwerks- oder Fabrikbetrieben beschäftigten Arbeiter ohne Porzellanarbeiter. *** Inkl. Frauen und Kinder der Porzellanarbeiter. **** Selbst in Porzellanfabriken tätig gewesen.

Die von BOGNER erstellte Sterblichkeitsstatistik unterschied zwar wenig exakt nach bürgerlicher, ländlicher, Arbeiter- und Porzellanarbeiterbevölkerung, doch lieferte sie durchaus aufschlußreiche Ergebnisse. Demnach lag das Durchschnittsalter der Porzellanarbeiterbevölkerung ca. 20 Jahre unter dem der übrigen Bevölkerung und die häufigste Todesursache war die Tuberkulose. Bemerkenswert ist, daß auch bei der nicht in der Porzellanindustrie tätigen Arbeiterbevölkerung die TBC-Sterblichkeit noch um 10% höher als

367 BOGNER, F. 1909, S.26f. 368 BLASIUS, D. 1977: Volksseuchen. Zur historischen Dimension von Berufskrankheiten. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, H.6, S.57. 369 Aus: BOGNER, F. 1909, S.29 (Auszug).

490 bei den anderen Bevölkerungsgruppen. Dies kann als ein weiteres Indiz dafür gewertet werden, daß neben den berufsbedingten Gefährdungsfaktoren die Wohn- und Lebensverhältnisse eine entscheidende Rolle bzgl. des Erkrankungsrisikos spielten.370 Das niedrige Durchschnittsalter der Porzelliner begründete auch den mit 2,9% gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen wesentlich geringeren Prozentsatz der an Altersschwäche Verstorbenen.371 BOGNER faßte diesen Tatbestand treffend zusammen: "1/3 der Landbewohner, über 1/5 der Bürger, nahezu 1/6 der Arbeiter starben an Altersschwäche. Von den Porzellanarbeitern nur 1/39!"372

Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen LEYMANNs, "... daß die Frage, ob die früher festgestellte oder angenommene große Tuberkulosesterblichkeit der Arbeiter in den Porzellanfabriken und anderen keramischen Betrieben durch besondere Berufsschädlichkeiten –zumal durch Staub- oder durch allgemeine Ursachen wie ungesunde Wohnungen, unzweckmäßige oder unzureichende Ernährung usw.- hervorgerufen oder begünstigt worden ist, noch als eine offene angesehen werden müsse"373 "... daß nämlich die Frage, ob die mehrfach festgestellte große Verbreitung der Tuberkulose unter den Porzellanarbeitern durch besondere Berufsschädlichkeiten –zumal durch die Einatmung von Staub- oder durch andere, mit dem Beruf nicht zusammenhängende Ursachen hervorgerufen ist, als eine offene betrachtet werden muß"374 ebenfalls als völlig obsolet und dem Kausalzusammenhang zwischen Arbeitsplatz und hoher Sterblichkeit widersprechend zu werten. 375 Wie eng hingegen der Gesundheitszustand der Porzelliner mir deren Arbeits- und Lebensverhältnissen376 zusammenhing, belegt eindrucksvoll eine Zeitungsnotiz in der OVZ: "Ein für `Porzelliner` selten vorkommendes Fest feierte am Samstag der Modelleinrichter Achtziger in der Hutschenreutherschen Porzellanfabrik. Es war am genannten Tage 40 Jahre, daß A. in das Etablissement eintrat."377

Mögliche Schutzmaßnahmen gegen das Einatmen von Porzellanstaub waren Entstaubungsanlagen und geeignete Arbeitskleidung; diese wurden jedoch zu wenig

370 Vgl. BALD, A. 1991, S.44. 371 Als solche wurden in den amtlichen Statistiken diejenigen Verstorbenen über 60 Jahre zusammengefaßt, deren Todesursache nicht eindeutig feststellbar war. 372 BOGNER, F. 1909, S.30. 373 LEYMANN, A. 1915, S.105. 374 Ebd., S.211. 375 Wie schwierig es zur damaligen Zeit war, den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Porzelliner- Arbeitsplatz und Silikose-Erkrankung in der Öffentlichkeit durchzusetzen, belegen auch Äußerungen KOELSCHs, der rückblickend bemerkt, " ... daß (seine, d.Verf.) Untersuchungen anfänglich von manchen Betriebsführern recht ungnädig aufgenommen worden waren In den Ministerialakt wurde um 1912 ein Zeitungsausschnitt eingeheftet mit der Warnung: Achtung! Von München kommt ein junger Arzt, der bei den Porzellinern eine neue Krankheit erfinden will. Wenn er kommt, laßt ihn nicht herein!" (KOELSCH, F. 1963, S.4) 376 Auf die Lebensverhältnisse, insbesondere Wohnung und Ernährung, wird später noch eingegangen. 377 OVZ vom 9.2.1903.

491 eingesetzt bzw. waren im Falle der Entstaubungsanlagen wenig wirksam.378 Das Abstauben bspw. sollte mittels Preßluft unter einer Haube vorgenommen werden und der sich dort und auf dem Boden bildende Staub sollte abgesaugt,379 der Boden anschließend feucht gewischt werden. Die Gewerbeaufsicht empfahl weiter die Ausgabe von geeigneter Arbeitskleidung380 wie z.B. in der PF Suhl, wo jedem Dreher, Former und Giesser unentgeltlich Hemden und lederne Schurzfelle, jeder Arbeiterin Leinenschürzen gestellt wurden. Auch KOELSCH empfahl als prophylaktische Maßnahme die Ausgabe von Schutzkleidung durch den Arbeitgeber; diese sei zweimal wöchentlich zu entstauben und wöchentlich zu wechseln. Neu- und Umbauten sollten fugenlose Fußböden aus Zement oder Linoleum erhalten. Das Tragen von eigener Arbeitskleidung sollte untersagt werden, da die Arbeiter ihre Kleidung auch beim Verlassen der Fabrik nicht wechselten und den Staub so in ihre Wohnungen trugen; dadurch bestand die Gefahr, den an der Kleidung haftenden Staub an Familienangehörige zu übertragen. "Soll die Lebensdauer der Porzellanarbeiter sich erhöhen, dann müssen die Lebensbedingungen derselben besser gestaltet werden. Das sind im Wesentlichen die Arbeitsbedingungen." 381

Daß diese vom Verband der Porzellanarbeiter aufgestellte Forderung nach Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zunächst nicht von den Unternehmern, sondern von den Arbeitern selbst beachtet und durchgesetzt werden sollte, zeigt eine Artikelserie der Ameise: "Gesundheit ist das höchste Gut des Lebens! Doch nicht allein die Gesetzgebung, nicht nur die Besitzer, welche vieles unterlassen, was sie zum Nutzen und Frommen der Arbeiter thun könnten, trifft der Vorwurf. Auch der Arbeiter selbst könnte so manches thun und so manches lassen, um sich vor der Krankheit zu schützen . ... Bekanntlich sind es gerade die Porzellandreher, welche am frühesten theils mit, am meisten aber ohne Schuld vorzeitig dahingerafft werden. ... Licht, Luft und Wärme sind ... außer unseren Nahrungsmitteln die Hauptfaktoren, welche uns erhalten und beleben. ... Wollt ihr daher gute Luft, ... ersucht eure Arbeitgeber, Euch zu geben, was Ihr mit Recht zu fordern habt: Künstliche Zuführung von guter Luft und Beseitigung der Überfüllung in den Arbeitssälen ... Manche Portion Staub wird eingeatmet, was bei größerer Vorsicht vermieden werden könnte. ... Auch beim Formentragen begegnen wir einem Übelstande. Gar häufig kommt es vor, daß die schon lange, oft Jahre lang auf dem Boden stehenden Formen entweder nur dürftig oder gar nicht von der Ruß- und Staubdecke befreit sind, wenn sie in die Dreherei kommen. Dort erst werden sie von dem Dreher sauber gereinigt, wobei ... der ungeheuer viel Staub verzehrt. Die Formen müssen auf einem luftigen Platze ausserhalb der Dreherei von mit Respiratoren382 geschützten Leuten gereinigt werden! ... In der Dreherei ist wichtiger noch wie in jeder anderen Hauswirtschaft die `Reinlichkeit`! ... Es muß daher in jeder Dreherei täglich gekehrt werden; ... abends nach Feierabend ... gut lüften! Auch sollten wenigstens alle vier Wochen einmal die Wände und das Regal, jedes Scheibenrad, ... gut vom Staube gereinigt, alles ausgekehrt und ... alles gut gewaschen werden ... Unter anderen schädlichen

378 Außerdem kam es nicht selten vor, daß die Absaugöffnungen mit Lappen verstopft wurden, da die Zugluft als störend empfunden wurde. 379 Vgl. Keram- und Steinarbeiter-Zeitung:„Die zu entstaubenden Gegenstände werden in einem dicht geschlossenen Schrank aufgestellt und der Staub mittelst (sic) einer maschinellen Entstaubungsanlage beseitigt.“ (1911, 7.Jg., H.25, S.100). 380 Vgl. Jahrbuch der Gewerbeaufsicht 1903, Bd.I,1, S.222. 381 Quelle: APM-DDR IV 7370 S.55. 382 Siehe hierzu AB, Anl.66 "Respiratoren".

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Arbeitsgewohnheiten ist noch folgende zu nennen: Häufig kommt es vor, daß flache Geschirre oft wochenlang stehen, ehe sie `fertig gemacht` werden, so daß auf der oberen Fläche der Staub oft sich bedenklich lang ansammelt. ... Dann wird der Staub weggeblasen! ... Eine Untugend mancher Stubenarbeiter ist es, selbst Mittags, obwohl sie oft ziemlich nahe an der Fabrik wohnen, sich das Essen in die Fabrik tragen zu lassen. Muß denn der Staubgenuß durch eigenes Verschulden auch bei der Mahlzeit fortgesetzt werden? ... Nur durch Reinlichkeit in der Kleidung ..., nur durch große Reinhaltung unserer Werkstätten können wir unsere Lungen vor übermäßigem Staubgenuß schützen ... ." 383

33 Todesursache "Porzellinerkrankheit" 384

3.5 Betriebssicherheit, Arbeiterschutz und Unfälle

Die Jahresberichte der Gewerbeinspektion listeten detailliert Unfälle, Unfallursachen und –folgen auf und führten Verstöße gegen Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften sowie betriebliche Unfallquellen auf. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß längst nicht alle Unfälle zur Anzeige kamen; außerdem ist in den Jahresberichten generell die Tendenz erkennbar, "die leichteren (Unfälle, d.Verf.), welche vollständige Heilung nach 2 bis 8wöchiger Arbeitsunfähigkeit im Gefolge hatten ..."385 auszuscheiden und nur solche Unfälle statistisch zu erfassen,

383 Die Ameise vom 25.9., 2.10., 16.10. und 23.10.1885. 384 Quelle: Die Ameise 1903, 30.Jg., Nr.11. 385 JFI 1882, S.56.

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"... welche mit bleibendem Nachtheil verbunden waren ..." 386 Als solch "bleibender Nachteil" galt der Verlust einer Hand, eines Armes, eines oder mehrerer Finger oder Tod. Dabei stellten Aufzugsanlagen, Dampfkessel und Transmissionen die Bereiche mit dem größten Gefahrenpotential dar, in denen es immer wieder zu Unfällen kam und die Anlaß zu ständigen Mängelnachweisen seitens der Gewerbeaufsicht gaben.387 Überhaupt gehörte die Industrie der Steine und Erden zu den unfallträchtigsten: 1893 entfielen von 424 in Oberfranken gemeldeten Unfällen 161, also 38% auf diese Industrie,388 1901 geschahen 154 von 806 gemeldeten Unfällen in der Industrie der Steine und Erden (19%)389 und 1913 betrug der Anteil dieser Industrie an der Zahl der gemeldeten Unfälle mit 158 von 1.045 immerhin noch 15%.390 Die Gewerbeaufsicht begründete den Anstieg der Unfallzahlen391 völlig zurecht mit "... der Mehrung der Fabriken und Betriebe mit motorischer Kraft, der umfangreicheren Verwendung von Arbeitsmaschinen, sowie den gewissenhafteren Anzeigen geringfügiger Unfälle und pünktlicher Einsendung der Unfallanzeigen," 392 um daraus voreilig zu schlußfolgern, daß

"einen nicht geringen Theil der Schuld aber auch das mangelnde Verständniß für die Gefahren (trägt), einen weitaus größeren (trägt, d.Verf.) jedoch die eigene Unachtsamkeit der Arbeiter, manchmal auch die mangelnde Nüchternheit."393

Dazu ist zu bemerken, daß es ja gerade das Bestreben der Unternehmer war, zunehmend un- oder nur angelernte Arbeiter, und hier insbesondere jugendliche und weibliche Arbeiter statt gelernter Arbeiter zu beschäftigen, um auf diese Weise die Lohnkosten senken zu können. Es liegt nahe anzunehmen, daß gerade diese ungelernten bzw. angelernten Arbeiter, die zudem noch im Akkord, d.h. unter ständigem Zeitdruck arbeiteten, die Gefahren, die bei der Bedienung von Maschinen auftraten , weder vollständig kannten noch richtig einschätzen konnten. Die Arbeiter konnten somit schon aus ihrer Stellung als Un- oder Angelernte nur wenig Verständnis für die Gefahren aufbringen, waren sie doch nur ungenügend darauf hingewiesen worden; sie waren zudem quasi "gezwungen", unachtsam(er) zu arbeiten, um

386 Ebd., S.57. 387 So stellte die Gewerbeaufsicht 1882 im Bereich Steine und Erden in 69 inspizierten Fabriken 13 mangelhafte Transmissionen fest. Vgl. JFI 1882, S.71ff. 388 Vgl. JFI 1893, S.125f (Oberfranken). 389 Vgl. JFI 1901, S. 97 (Oberfranken). 390 Vgl. JFI 1913, S.143 (Oberfranken). 391 1882 wurden der Gewerbeaufsicht (Mittel-, Ober- und Unterfranken , Oberpfalz) insgesamt nur 76 Unfälle gemeldet; die Zahl der gemeldeten Unfälle stieg allein in Oberfranken von 424 (1893) über 620 (1900) und 806 (1901) auf 1.045 (1913). 392 JFI 1901, S.98. 393 Ebd.

494 den geforderten Akkordsatz erbringen und halten zu können. Die gesundheitsschädliche Staubentwicklung in Betrieben der Keramikindustrie wurde zwar von den Fabrikinspektoren erkannt, jedoch verharmlosend dargestellt: "Auch die Bearbeitung des Specksteines in einer Gasbrennerfabrik verursacht bedeutende Staubentwicklung. Künstliche Staubabsaugung aus dem Arbeitsraum ist bis jetzt nicht vorhanden, da die Dampfmaschine zu schwach ist. Obwohl Erkrankungen von Arbeitern in Folge dieses Staubes nicht zur Kenntnis kamen, wurde wenigstens häufige Lüftung der Arbeitsräume und öfters Reinigen derselben verlangt und von den Betriebsunternehmern zugesichert." 394

Beanstandet durch die Gewerbeaufsicht wurden vielfach auch mangelhafte Beleuchtung und Ventilation, unzureichende Ausgestaltung der Arbeitsräume, ungenügende oder fehlende Toiletten und Waschgelegenheiten, unzureichende Ausstattung der Aufenthalts-, Speise- und Schlafräume sowie fehlendes Trinkwasser.395

Die Aufgaben der Gewerbeaufsicht konzentrierten sich in den ersten Jahres ihres Bestehens auf die Revision betrieblicher Anlagen und Gebäude, wobei die mangelhafte personelle Ausstattung, die fehlende Befugnis, Anordnungen mittels Strafandrohungen durchzusetzen und ggf. Strafen zu verhängen sowie die mangelnde Kooperation mit den örtlichen Polizeibehörden eine effektive Arbeit der Gewerbeaufsicht behinderten. Daraus ist zu folgern, daß das Selbstverständnis der Fabrik– und Gewerbeinspektoren - zumindest in den ersten Jahren ihrer Einsetzung bis etwa 1905 - mehr einer Interessenvertretung der Unternehmer und weniger der Arbeiter entsprach.396 Nicht anders sind die tw. verharmlosenden und den berechtigten Interessen der Arbeiterschaft nach Betriebs- und Arbeitsplatzsicherheit sowie Unfallverhütung entgegenstehenden Bemerkungen der Gewerbeaufsichtsbeamten zu verstehen, die vorhandene betriebliche Mängel und Gefahren nur aufsummierten und sich so ausschließlich als "Buchhalter betrieblicher Defizite und Unfälle" betätigten. Diese Ansicht wird durch folgende Stellungnahme der Ameise nachhaltig unterstützt: "Gar häufig wird ein Misstand ... im Stillen beklagt. ... Wir haben ja Farik-Inspektoren, höre ich sagen ... In sanitärer Hinsicht helfen die Fabrik-Inspektoren uns aber wenig oder nichts. Nicht selten ist ihr Besuch beim Besitzer schon vorher bekannt. Ich kenne einen Fall, wo mitten in der Arbeit zusammengeräumt und eiligst gekehrt wurde, und dann kam der inspizierende Herr nicht weiter als in das Comptoir, Lager und in die Wohnung des Besitzers. Und gerade während dieser Zeit konnten die Dreher kaum drei Scheiben weit sehen, so zum Ersticken war der Raum angefüllt mit Rauch. ... Soll das Institut der Fabrik-Inspektoren zum wirklichen Nutzen für den Arbeiter sein, so müssen die Inspektoren zunächst bedeutend vermehrt werden, ... Die Inspektoren müßten ferner selbst die nöthigen Anordnungen treffen und deren Durchführung eventuell erzwingen können." 397

394 JFI 1893, S.129. 395 Vgl. JFI 1901, S.101 (Oberfranken); JFI 1913, S.127 (Oberpfalz). 396 Vgl. S.310f. 397 Die Ameise vom 2.10.1885.

495

4. Alltagswelt

Im folgenden soll die alltägliche Lebenswelt der Porzelliner anhand ihrer Wohnsituation, der Ernährung und Freizeitgestaltung näher untersucht und dargestellt werden.

4.1 Wohnverhältnisse der Porzelliner

„Die Preise für Miethwohnungen in der Regel aus 1 Zimmer und 1 Kammer mit Küche und Speicherbodenantheil, meist auch mit Kellerantheil bestehend, betragen ... in Lauf 50 bis 60 Mark, ..., in Schwarzenbach a.S. 42-54 Mark, ...398

Im Zeitraum 1871 bis 1910 wuchs die Bevölkerung des Deutschen Reiches von 41 Mio. auf 65 Mio., so daß der in den industriellen Zentren zur Verfügung stehende Wohnraum schnell belegt war und die Schaffung von ausreichend großem, dabei bezahlbaren Wohnraum für die Arbeiter sich zu einem sozialen Problem entwickelte.399 Ende des 19. Jahrhunderts wohnte daher der größte Teil der un- und angelernten Arbeiter in Einzimmerwohnungen. Größere, meist aus zwei Zimmern bestehende Wohnungen, konnten sich in der Regel nur gelernte Arbeiter, die über in regelmäßiges Einkommen verfügten, leisten.400 Die Gruppe der ungelernten bzw. angelernten Arbeiter hatte unter der Wohnungsnot besonders zu leiden. In deren Unterkünften herrschten meist bedrückende hygienische Verhältnisse und räumliche Enge vor, da die Familien groß waren, der Verdienst zur Finanzierung eines größeren Wohnraumes jedoch nicht ausreichte. Die dunklen, feuchten und meist nur schlecht zu belüftenden Räume waren daher wesentlich mitverantwortlich für die Verbreitung der Tuberkulose als „Proletarierkrankheit par excellence.“401 Dies bestätigen auch die Untersuchungen KOELSCHs, der 1914 bzw. 1918 233 Wohnungen von Porzellanarbeitern in Selb bzgl. Personenzahl, Zahl der Schlafgänger und Kubikmeter Raumluft untersuchte.402 Er kam dabei zu dem Ergebnis, daß auf eine

398 JFI 1887, S.71. 399 Vgl. hierzu RUPPERT, W. 1986: „Trautes Heim – Glück allein.“ Arbeiterwohnen, S.117. In: ders. (Hg.): Die Arbeiter: Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum „Wirtschaftswunder“. München. 400 Ebd., S.119. 401 RECK, S. 1977: Arbeiter nach der Arbeit. Gießen. S.84. Vgl. hierzu auch die Ergebnisse BOGNERs im Kap. über Morbidität und Mortalität der Porzelliner. 402 KOELSCH, F. 1919, S.271ff. 496

Wohnung durchschnittlich 6,27 Personen entfielen, wobei jeder Person ca. 10 m3 Raumluft zur Verfügung stand.403

Tab.88: Wohnungsverhältnisse von Porzellanarbeitern in Selb 1914404 Wohnungsgröße Familien Personenzahl Einzimmerwohnung 11 31 Zweizimmerwohnung 88 425 Dreizimmerwohnung 91 617 Vierzimmerwohnung 35 298 Fünfzimmerwohnung 8 91

Von den 233 untersuchten Familien nahmen 73, also ein Drittel, Schlafgänger auf, und zwar 35 Familien je 1 Schlafgänger 14 Familien 2 Schlafgänger 9 Familien je 3 Schlafgänger 7 Familien je 4 Schlafgänger 3 Familien je 5 Schlafgänger 3 Familien je 6 Schlafgänger 2 Familien je 7 Schlafgänger. Zwar waren die Einzimmerwohnungen bezogen auf die Personenzahl am wenigsten stark belegt, da dort wg. des zur Verfügung stehenden kleineren Raumes insbesondere auch die „Chambregarnisten“ (Schlafgänger) bzw. „Aftermieter“ fehlten; trotzdem war die Tuberkulosehäufigkeit in den Einraumwohnungen doppelt so hoch wie in den Mehrraumwohnungen, was seine Ursache in der bereits angedeuteten Enge, Feuchtigkeit und schlechten Durchlüftbarkeit dieser Räume hatte, wie MARIÉ-DAVY prägnant formulierte: „Die Sterblichkeit an Tuberkulose steigt mit der abnehmenden und sinkt mit der steigenden Fensterzahl.“405

Die zwar graduell abnehmende Belegdichte in den Mehrraumwohnungen führte jedoch keineswegs, wie vielleicht anzunehmen wäre, zu einer geringeren Tuberkulose-Gefährdung, da in diesen Wohnungen die meist kleinen, gesonderten Schlafzimmer durch Schlafgänger

403 Wie KOELSCH ausdrücklich bemerkt, fehlen bei der Personenzahl sehr oft die Männer, im Krieg waren. Folglich lag die wirkliche Belegdichte noch höher. 404 Quelle: KOELSCH, F. 1919, S.273. 405 MARIÈ-DAVY, L. 1911: Le maladies de maison. Vortrag gehalten auf dem 3. Intern. Wohnungshygiene- Kongreß, Dresden.

497 wiederum überfüllt wurden. Da folglich die Bewohner die Nacht in den Schlafräumen dicht zusammengedrängt verbrachten, bildeten diese Schlafzimmer wirksame Infektionsstätten. Der vermeintliche Vorteil in einer größeren Wohnung leben zu können, wurde dadurch schnell in sein Gegenteil verkehrt, daß die Mieter gezwungen waren, Untermieter, Aftermieter und Schlafgänger aufzunehmen, um die höhere Miete überhaupt bezahlen zu können.

Daß der Zusammenhang zwischen überbelegtem bzw. fehlendem Wohnraum und Tuberkulosehäufigkeit auch der Stadtverwaltung in Selb bewußt war, ist nachstehendem, vom 4.5.1920 datierten Schreiben an die ortsansässigen Industriellen zu entnehmen, in dem um Zuwendungen an den Gemeinnützigen Bauverein gebeten wird. Gleichzeitig wird hieran deutlich, daß die Porzellanfirmen nach dem Ersten Weltkrieg in stärkerem Maße dazu übergingen, gemeinnützige Baugenossenschaften zu unterstützen statt Wohnhäuser zu kaufen bzw. selbst zu bauen. „Wie Ihnen wohl bekannt ist herrscht die Tuberkulose hier in erschreckendem Maße. Die weite Verbreitung der Tuberkulose ist neben der ungesunden Beschäftigung in den Fabriken auch den misslichen Wohnverhältnissen zuzuschreiben. Die Bekämpfung der Krankheit ist nicht nur im allgemeinen menschlichen Interesse gelegen, sondern vor allem auch im Interesse der hiesigen Industrie, da ein gesunder Arbeiterstand viel mehr leistet wie ein kränklicher. Es ist daher freudigst zu begrüßen, wenn der Gemeinnützige Bauverein die Aufgabe übernimmt, Wohnungen zu erbauen. Das Bauprogramm desselben für 1920 sieht für heuer die Herstellung von 46 Wohnungen vor. Die Teile der Baukosten, die durch den Bauverein selbst und die Zuschüsse des Staates und der Gemeinde nicht gedeckt werden können, belaufen sich auf etwa 120.000 M. Wird dieser Fehlbetrag nicht aufgebracht, kann an die Erbauung der Wohnungen nicht gedacht werden. Wir erlauben uns daher, an die industriellen Kreise die Bitte zu stellen, diesen Fehlbetrag zu übernehmen und hoffen in Rücksicht auf den rühmlich bekannten sozialen Sinn der hiesigen Industriellen keine Fehlbitte zu tun.“406

Für die Wohnverhältnisse der Porzellanarbeiter waren die Faktoren Bevölkerungsdichte, Lohn, Familiengröße, Beruf und Wohnort sowie Wohnungstyp, Angebot und Nachfrage deteminativ. In Oberfranken konnte bis 1900 der Arbeitskräftebedarf in der Porzellanindustrie fast ausschließlich durch die natürliche Bevölkerungsbewegung, also den Geburtenüberschuß gedeckt werden.407 Erst ab ca. 1905 rekrutierten sich bspw. in Selb über 50% der Porzellanarbeiter aus Zuwanderern.408 Anhand des Konjunkturverlaufes in der oberfränkischen Porzellanindustrie und des ab 1880 einsetzenden sprunghaften Anstiegs der Gründung von Porzellanfabriken läßt sich ab etwa diesem Zeitpunkt ein gesteigerter Arbeitskräftebedarf feststellen. Dieser machte sich jedoch erst ab 1895 auf dem

406 StA Selb, Akt 660/7. Schreiben des Stadtrates Selb vom 4.5.1920 407 Vgl. hierzu KOLB, G. , der für den Zeitraum 1881 bis 1905 in Oberfranken einen durchschnittlichen jährlichen Geburtenüberschuß von 10,86 pro 1.000 angibt (1966, S.136). 408 Vgl. BALD, A. 1991, S.22f.

498

Wohnungsmarkt insbesondere der Porzellanzentren Marktredwitz, Arzberg und Selb409 bemerkbar, als Zuwanderungsrate und Bevölkerungszunahme im wesentlichen dem Konjunkturverlauf in der Porzellanindustrie folgten.

Tab.89: Bevölkerungswachstum und Porzellanarbeiter in Oberfranken - Konjunkturverlauf in der Porzellanindustrie 1860 bis 1920 410

60000 Einwohner BA Rehau 50000 Einwohner BA Wunsiedel Porzellanarbeiter 40000 Konjunktur 30000 20000 10000 0 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920

Spezifiziert man das Bevölkerungswachstum weiter nach Zuwanderung bzw. natürlicher Zunahme, so lassen sich folgende prozentuale Zu- und Abnahmen registrieren:

Tab.90: Bevölkerungsentwicklung im BA Rehau und in Selb 1896 – 1925411

Zeitraum BA Rehau ohne Selb Selb ______1896 - 1900 Natürliche Zunahme 80,2% 121,9% Zuwanderung - 21,9% 19,8% 1901 - 1905 Natürliche Zunahme 88,4% 61,1% Zuwanderung 11,6% 38,9% 1906 - 1910 Natürliche Zunahme 125,7% 46,6% Zuwanderung - 25,7% 53,4% 1910 - 1925 Natürliche Zunahme 9,2% 12,5% Zuwanderung - 5,7% 14,8%

409 Der Wohnungsbestand Selbs war schon durch den Stadtbrand von 1856 stark dezimiert worden. 410 Aus: BALD, A. 1991, S.16 (Auszug). 411 Aus: BALD, A. 1991, S.22f., S.105 (Auszüge).

499

Nahm also die Bevölkerung Oberfrankens, speziell der Porzellanzentren im Zeitraum 1895 bis 1925 durch Erhöhung der Geburten- und Zuwanderungsraten stetig zu, korreliert dieser Befund mit der Zunahme der oberfränkischen Porzellanarbeiter, deren Zahl sich im Zeitraum 1895 bis 1925 von 5.000 auf 17.000 mehr als verdreifachte. Dazu ist zu bemerken, daß ein allgemeingültiges Charakteristikum von industrialisierten Kleinstädten – um solche handelte es sich in den untersuchten Regionen größtenteils – die späte und unzureichende Entwicklung des Wohnungsmarktes darstellt. Obschon diese Kleinstädte gegen Ende des 19. Jahrhunderts von zuwandernden Arbeitern geradezu überschwemmt wurden, fehlte es den jeweiligen Stadtverwaltungen an der nötigen Perspektive, wurden also keine oder viel zu wenig Wohnungen gebaut.412

Genaueren Einblick in die Wohnungsverhältnisse der Porzellanarbeiter ermöglicht eine Zusammenstellung über die Anzahl der Zimmer, Monatsmieten, Untermieter und Gesamtzahl der untergebrachten Personen.413 In deren Mittelpunkt standen die Porzellanindustrie Oberfrankens und hier insbesondere 50 Selber Porzellanarbeiter vom gutverdienenden Maler über Dreher und Brenner bis zum geringbezahlten Lagerarbeiter, wobei jedoch einschränkend zu bemerken ist, daß die Inspektoren die vorgefundenen Verhältnisse eher beschönigten: "...der Eindruck ist überwiegend kein günstiger." 414 Die Durchschnittswohnung, in der rd. 60-70% der Arbeiter wohnten, besaß ein Zimmer, in dem 5 Personen wohnten, "...doch sind auch 9 Köpfe als Belegschaft für 1 Zimmer nichts Ungewöhnliches"415 nur ein Viertel der Wohnungen hatte eine Küche, jedoch 80% einen Keller oder Speicher, eine Dachkammer oder einen Schuppen. Die Monatsmiete betrug durchschnittlich 7,80 M und entsprach damit ca. 10% des Monatslohns des Ehemannes, wobei die Miete ab dem Jahre 1900 bereits Anfang des Monats zu begleichen war, der Lohn jedoch erst Ende des Monats ausbezahlt wurde.416 Untervermietet wurde weniger von schlechter verdienenden Lagerarbeitern, deren beschränkte Räumlichkeiten dies meist gar nicht zuließen, als von besserverdienenden Arbeitern (z.B. Malern), die sich die im Verhältnis zur Einzimmerwohnung (7,09 M) relativ teurere Zweizimmerwohnung (10,29 M) nur dann leisten konnten, wenn sie durch Untermieter – entweder als Schlafgänger oder als

412 Vgl. hierzu NIETHAMMER,L./BRÜGGEMEIER, F.-J. 1976, S.107. 413 In: JFI 1905, Anhang betreffend Erhebungen über die wirtschaftliche Lage der gewerblichen Arbeiter Bayerns, Teil II: Lohnverhältnisse, Wohnungs- und Ernährungswesen, S.88-115. 414 Ebd., S.97. 415 Ebd. 416 NIETHAMMER, L./BRÜGGEMEIER, F.-J. 1976, S.81.

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Dauermieter – mitfinanziert wurde. Die Wohnsituation beschrieb der Fabrikinspektor wie folgt: "Unter den besuchten Wohnungen war auch nicht eine, die sämtlichen an eine Wohnung zu stellenden hygienischen und sittlichen Anforderungen vollständig entsprochen hätte. Die Wohnungen sind meist für das dürftige Möbel schon zu knapp und gestatten keine Bewegungsfreiheit. Die Küchen, soweit solche vorhanden, sind meist dunkel und bedürfen vielfach auch des Tages über der künstlichen Beleuchtung. Für die Unterbringung alleinstehender lediger Arbeiter ist nichts von Belang geschehen. Die große Masse der Ledigen beiderlei Geschlechts ist genötigt, als Aftermieter und Schlafgänger eine gar häufig in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung mangelhafte oder bedenkliche Unterkunft zu suchen." 417

Obwohl die elende Wohnungssituation städtischen und staatlichen Behörden wie auch Firmenleitungen bekannt war, wurde nur sehr wenig unternommen, hier Abhilfe zu schaffen. Eher zögerlich wurde mit dem Bau von werkseigenen Arbeiterwohnungen begonnen oder Bauvereine wie 1897 bei den Porzellanfabriken Hutschenreuther, Hohenberg (35 Mitglieder, 8 Häuser mit 33 Wohnungen) und Rosenthal, Selb (12 Häuser mit 48 Wohnungen) gegründet.418 Um Mitglied in einem Bauverein zu werden, war ein bestimmtes Grundkapital Voraussetzung, weswegen in erster Linie gutbezahlte Facharbeiter in Frage kamen. Den auf diese Weise herangezogenen Facharbeiterstamm zu stabilisieren, zu disziplinieren und depolitisieren, war dabei Teil des unternehmerischen Kalküls:419 Zunächst sicherte die kontrollierte Ansiedlung dringend benötigter Porzellanarbeiter in der Hochkonjunktur die kontinuierliche Produktion, so daß die Betriebswohnungen "am wenigsten den Charakter einer Wohlfahrtspflege" trugen, sondern als "notwendige Betriebseinrichtung" 420 verstanden werden mußten. Weiterhin bestand bei Werkswohnungen immer die Möglichkeit der Disziplinierung,421 da man nach einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses die Betriebswohnung räumen mußte und angesichts der herrschenden Wohnungsnot nur schwer eine neue Wohnung fand. Schlimmstenfalls war man gezwungen, die Stadt zu verlassen, da man zwar eine neue Arbeitsstelle, nicht aber eine neue Wohnung fand.422

417 JFI 1905, S.97. 418 Vgl. Kap. Fabrikwohnungsbau. 419 Vgl. NIETHAMMER, L./ BRÜGGEMEIER, F.-J. 1976, S.131f. 420 Kgl. Bayer. Statistisches Bureau (Hg.) 1906: Die Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in bayerischen Fabriken und größeren Gewerbebetrieben (Denkschrift). München. S.69. 421 Von den Freien Gewerkschaften wurde der Werkswohnungsbau als Neuauflage des Trucksystems abgelehnt. Hierzu CALWER, R. 1908: Das Kost- und Logiswesen im Handwerk. Berlin. S.109. 422 Hierzu SCHNORBUS, A. 1969: Arbeit und Sozialordnung in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg (1890-1914). München. S.195.

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Das Angebot an Kleinwohnungen blieb weit hinter der Nachfrage zurück, was hohe Mieten zur Folge hatte, wie bereits 1896 vom Fabrikinspektor für Selb moniert wurde.423 BOGNER bemerkte 1909 über den Fabrikwohnungsbau: "Einzelne Betriebe haben zwar Arbeiterwohnhäuser gebaut; ob bei der Anlage aber Rücksicht auf den heutigen Stand der Wohnungshygiene genommen, ob ein Sachverständiger zugezogen wurde, möchte ich bezweifeln. Der Mangel an Wohnungen überhaupt und die infolgedessen auftretende Unmöglichkeit, so viele Arbeiter einzustellen, als der Betrieb benötigte, waren wahrscheinlich die Triebfeder zur Erbauung der Arbeiterwohnhäuser. Jedenfalls wurden nachträglich diese Wohnzungen durch Schlafgänger wieder überfüllt." 424

Von städtischer Seite geschah ebenfalls wenig, um die Situation auf dem Wohnungsmarkt zu verbessern. Die städtische Honoratiorenschicht, welche die Kommunalpolitik bestimmte und durch Bürgerrecht sowie Wahlrechtseinschränkungen noch vor der zahlenmäßig längst dominierenden Arbeiterschaft "geschützt" war, setzte in der Ausgabenpolitik auf Sparsamkeit und ließ dadurch jeglichen Weitblick vermissen. Eine Integration der Arbeiterschaft in die Kommune wurde mithin nicht als vorrangiges Ziel betrachtet.425 Der Anstoß zur Gründung eines gemeinnützigen Bauvereins, in dessen Vorstand Fabrikanten, Vertreter der Stadt und ein Porzellandreher (!) saßen,426 kam daher auch nicht von städtischer Seite, sondern ging zurück auf eine Initiative des Zentralwohnungsinspektors im Bayerischen Staatsministerium des Innern. Zwar zeichneten sofort nach Gründung ca. 100 Arbeiter Anteilsscheine zu je 200 M; Stadt und ansässige Industrie beteiligten sich jedoch kaum, wie die OVZ bemerkte.427 Bis 1914 wurden vom Gemeinnützigen Bauverein Selb 11 Häuser mit insgesamt 47 Wohnungen gebaut.428

Die Berichte der Fabrikinspektoren vermittelten hingegen den Eindruck von Wohnungsnot als einer nur kurzfristigen Erscheinung. So teilte 1898 der zuständige Fabrikinspektor mit, er habe die "... Distriktpolizeibehörden veranlaßt, nach Thunlichkeit darauf hinzuwirken, daß in jenen Gemeinden, in welchen die Wohnungsverhältnisse der Arbeiterbevölkerung mißlich sind, die Gemeindevertretungen sich mit der Verbesserung derselben befassen und insoweit nicht durch die Unternehmer oder Vereine Abhilfe zu erwarten ist, selbst mit der Errichtung von Arbeiterwohnungen vorzugehen." 429

423 Vgl. JFI 1896, S.220. 424 BOGNER, F. 1909, S.36. 425 Vgl. BOHRER, H. 1929, S.218. BOHRER kritisierte in scharfer Form den fehlenden Weitblick des Magistrats. 426 Vgl. Gemeinnütziger Bauverein Selb 1884, o.S. 427 OVZ vom 2.3.1909. In ihrer Ausgabe vom 25.5.1909 berichtet die OVZ außerdem über die Gründung einer Baugenossenschaft in Rehau unter Führung des SPD-Politikers Anton ROTHEMUND. 428 Siehe BOHRER, H. 1929, S.286. 429 STA Bamberg, K 3, F VIa, 119 Fabriken- und Gewerbeinspektion.

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Das BA Rehau reagierte 1899 auf diese Aufforderung und erklärte, "... daß in Rehau zur Zeit kein Mangel an entsprechenden Wohnungen für Arbeiter besteht, daß auch in Selb eine eigentliche Wohnungsnoth nicht mehr vorhanden ist. ... Als ein sicheres Zeichen dafür, daß die Nachfrage nach Wohnungen keine so starke mehr ist, kann wohl gelten, daß die Zahl der Gesuche um Genehmigung von Wohnungsbauten in der Stadt Selb in diesem Jahre eine verhältnismäßig geringe ist. Dies hat aber wiederum seinen Grund darin, daß infolge der gegenwärtig bemerkbaren Krise in der Porzellanbranche der Zuzug von Arbeitern etwas nachgelassen hat." 430

Während also das BA Rehau einen wirtschaftlichen Abschwung in seinem Bereich konstatierte und damit einen Mehrbedarf an Wohnungen negierte, stellte das BA Wunsiedel zeitgleich einen wirtschaftlichen Aufschwung in der Porzellanindustrie fest, was die Arbeiterwohnungsfrage in den Mittelpunkt der Kommunalpolitik stelle. Wie das BA Wunsiedel mitteilte, bestünden trotz Bautätigkeit große Engpässe, da Baugenossenschaften und Gemeinden (noch) nicht als Bauherren auftraten und lediglich Privatpersonen bzw. Firmen als solche in Frage kamen.431 Die zur gleichen Zeit getroffenen Aussagen der beiden Bezirksämter differieren deutlich, obwohl es sich beim untersuchten Raum geographisch um ein relativ kleines Gebiet handelt. Dies legt den Schluß nahe, daß zwar der Zusammenhang von Konjunkturlage und Wohnungsmarkt erkannt wurde; für den Wohnungmarkt bedeutender war jedoch die wirtschaftliche Situation ortsansässiger Unternehmen sowie das Engagement von Gemeinde- und Industrievertretern.

Der Beginn des Ersten Weltkrieges und der damit verbundene Konjunktureinbruch brachte nur in den beiden ersten Jahren eine Besserung auf dem Wohnungsmarkt, während die 1918 durchgeführte Wohnungszählung für Selb keine leerstehenden Kleinwohnungen feststellte. Die Kleinwohnungen, die 95% des gesamten Wohnungsbestandes ausmachten, bestanden zu einem Viertel aus nur einem Raum und zur Hälfte aus zwei Räumen, wobei Küche bzw. Dachkammer statistisch schon einbezogen waren.432

Unter der Prämisse, daß eine Zweizimmerwohnung ohne Küche die Obergrenze433 dessen darstellte, was sich eine Porzellanarbeiterfamilie – und hier in erster Linie die besser verdienenden Facharbeiter – leisten konnte, ist festzustellen, daß auch in anderen Porzellanorten wie z.B. Rehau und Schönwald ähnlich schlechte Wohnungsverhältnisse

430 Ebd. 431 Vgl. STA Bamberg K3 3 Präs. Reg. 1898/99. 432 STB vom 6.8.1918. 433 JFI 1905, Anhang S.106.

503 herrschten. In Rehau lebten insgesamt 45% der Wohnbevölkerung in Kleinwohnungen mit ein bis zwei Wohnräumen, in Schönwald 56%.

Tab.91: Mieten, Wohnraum und Wohnbevölkerung in Rehau und Schönwald 1918434 1 Wohnraum ohne 1 Wohnraum mit 2 Wohnräume 2 Wohnräume mit Küche Küche ohne Küche Küche Rehau Jahresmiete in M 70 108 99 138 Wohnräume in % 13 4 27 6 Bevölkerung in % 8 4 26 7 Schönwald Jahresmiete in M 75 133 90 166 Wohnräume in % 9 17 20 13 Bevölkerung in % 6 19 17 14

Die von einer Funktionärin des Gewerkvereins der Porzellanarbeiter drastisch geschilderten Verhältnisse spiegeln die Wohnsituation wider und geben einen Einblick in das Wohnungselend der Porzelliner zu Beginn des 20. Jahrhunderts:

"Jedes deutsche Kind muß uns heilig sein, schrieb mir einmal eine sehr achtbare bürgerliche Dame. ... Wie ganz anders aber wird das Kind bewertet, wenn man auf der Wohnungssuche ist! `Wieviel Kinder haben Sie?` ist die erste Frage, die einem gestellt wird. Geht es über die Zahl zwei oder höchstens drei hinweg, erfolgt das bekannte Achselzucken. So geht man straßauf, straßab bis man endlich einen Winkel gefunden hat, wohin man sich für teures Geld mit den Seinen verkriechen kann. Die schlechtesten Wohnungen, enge kleine Räume werden daher oft von kinderreichen Familien bezogen, meist feuchte, dumpfe Löcher, die nicht so leicht vermietet werden. So beschränkt ist der Raum oft, daß in allen Ecken und Winkeln Schlafstätten aufgeschlagen werden müssen. Ja, nicht selten ist ein Bett Tag und Nacht belegt. Ich sah einst eine Wohnung, die bestand aus Stube, Schlafstube und Küche. Alles sehr kleine Räume, darin wohnten, um nicht zu sagen hausten neun Personen. In der Wohnstube sowie in der Küche waren Schlafstellen eingerichtet. In einem Bett hielt am Tage der 18jährige Sohn, der Bäcker war, seine `Nachtruhe`, abends kroch die übermüdete 16jährige Schwester ... in das nie gelüftete Bett. Krankheiten finden nur zu leicht in diesen Schlupfwinkeln der Armut Tor und Tür." 435

Die besonders gravierende Wohnungsnot der Jahre 1912 bis 1920 veranlaßte den Stadtrat von Wunsiedel 1918 den Zuzug zu beschränken, da keine Kleinwohnungen mehr frei waren: "Es wird die Genehmigung von Zuzug versagt, wenn die auswärtige Wohnung beibehalten wird. ... Die Genehmigung kann ferner versagt werden, wenn und solange die Lage des Wohnungsmarktes oder die Ernährungsverhältnisse derart sind, daß durch weiteren Zuzug die Unterbringung oder Ernährung der einheimischen Bevölkerung gefährdet würde." 436

434 Quelle: Statistik des Deutschen Reiches 1919, H.287: Reichswohnungszählung im Mai 1918, I. Teil, S.40f., S.88f.; II. Teil S.20f. 435 Die Ameise vom 26.10.1917. 436 STA Bamberg K 2 1967, 5095 Wohnungswesen.

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In Selb war die Wohnungssituation nicht viel besser: Obschon die Stadt 1918 über 3.030 Wohnungen verfügte, fehlten noch immer 110 Wohnungen.437 Die Arbeiterfamilien in Selb waren bei meist sehr schlechten Wohnverhältnissen durchweg sehr kinderreich. Obwohl schon der Raum für die Familie beschränkt war, wurden von solch kinderreichen Familien die besten Betten sog. Schlafgängern überlassen. Nach der Reichswohnungszählung vom Mai 1918 befanden sich in Selb Wohnungen438 mit einem Raum: 661 Zimmer mit 1.810 Bewohnern, mit zwei Räumen: 1.303 Zimmer und 13 Kammern mit 5.315 Bewohnern, mit drei Räumen: 542 Zimmer und 28 Kammern mit 2.254 Bewohnern, mit vier Räumen: 200 Zimmer und 8 Kammern mit 826 Bewohnern, mit fünf Räumen: 165 Zimmer und 31 Kammern mit 695 Bewohnern.

Die Stadt Selb nahm unter den Industrieorten des Bezirksamtes Rehau, sogar in ganz Oberfranken insofern eine Sonderstellung ein, als die Bevölkerungszunahme im Zeitraum 1910 bis 1925 mit 27,3% weit über der Zunahme aller übrigen oberfränkischen Städte und Bezirksämter lag.439 Dabei übertraf die Zuwanderung mit 14,8% sogar noch den natürlichen Geburtenüberschuß, der im genannten Zeitraum 12,5% betrug. Ursächlich für die hohe Zuwanderungsrate waren in erster Linie die sich nach dem Krieg rasch belebende Konjunktur in der Porzellanindustrie sowie - in geringerem Umfang – die heimkehrenden Soldaten und die aus ökonomischen und nationalen Motiven aus der Tschechoslowakei zugewanderten Arbeitskräfte. Angesichts des massiven Zuzugs erließ die Regierung des Volksstaates Bayern am 22. November 1918 ein Gesetz, das unter bestimmten Bedingungen eine Zwangsvermietung ermöglichte: 440 „Auf Aufforderung des Stadtmagistrats oder des Städt. Wohnungsamts müssen binnen der von diesen zu bestimmenden Frist vom verfügungsberechtigten Mieter geräumt werden: a) Räume, die baupolizeilich als Wohnräume genehmigt sind, zzt. aber zu anderen Zwecken, insbesondere als Fabrik-, Lager, Werkstätten-, Dienst- oder Geschäftsräume verwendet werden, b) Räume, die zwar zu Wohnzwecken vermietet sind, tatsächlich aber nicht bewohnt werden, c) Wohnräume, deren Inhaber noch über eine andere Wohnung, wenn auch in einer anderen Gemeinde, verfügen. ... Die Inhaber (Eigentümer, Mieter) von – im Verhältnis zur Kopfzahl und Zusammensetzung des Haushalts – unnötig großen Wohnungen sind auf Aufforderung des Stadtmagistrats (Wohnungsamts) verpflichtet, die entbehrlichen Räume en ihnen vom Stadtmagistrat (Wohnungsamt) zugewiesenen Wohnungssuchenden (Einzelpersonen und Familien) gegen angemessene Vergütung – und zwar in der

437 STA Bamberg K 3/1967, 5587 Kleinwohnungsbau Selb. 438 Vgl. GRADL, H. 1919, S.70f. 439 Berechnet nach BSB 1927, H.112: Volkszählung in Bayerns 1925, S.6-9. 440 Vgl. RABENSTEIN, Ch. 1986, S.43, der diese Verordnung allerdings fälschlich auf März 1919 datiert; zu diesem Zeitpunkt (18.3.1919) wurden die näheren Ausführungsbestimmungen zu o.a. Gesetz per Ministerialentschließung erlassen.

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Regel ohne Mobiliar und Kochgelegenheit – mietweise zu überlassen. Die Mitbenützung der Abortanlage ist zu gestatten.“441

Die gleiche Intention lag dem Gesetz zugrunde, das am 29. April 1919 vom Gesamtministerium des Freistaates Bayern verordnet wurde: „Wohnungen und Wohnräume dürfen nur mit behördlicher Genehmigung vermietet werden. ... Auf behördliches Verlangen müssen freiwerdende Wohnungen an bestimmte Personen vermietet werden.... Jeder Haushalt hat nur die zur angemessenen Unterbringung der Haushaltsangehörigen und für deren Berufstätigkeit erforderlichen Räume ... für sich zu beanspruchen; alle übrigen für Unterbringung fremder Personen geeigneten Räume sind auf behördliche Anforderung zur Unterbringung obdachloser oder ungenügend untergebrachter Familien und Einzelpersonen gegen angemessene Vergütung zur Verfügung zu stellen. Wohnungen und Wohnräume dürfen nur behördlich vermittelt werden.“442

Es liegt auf der Hand, daß diese Verordnungen das Konfliktpotential zwischen Vermietern und Wohnungssuchenden noch steigerte. Ein vom Selber Stadtrat verhängtes Zuzugsverbot wurde durch die Regierung von Oberfranken als übergeordneter Behörde wieder aufgehoben.443

Die 1920 vom damaligen zweiten Selber Bürgermeister, einem Mitglied der USPD, angestellte Überlegung, die Gewinne der Porzellanindustrie für Wohnungsneubauten zu verwenden, verrieten zwar dessen klassenkämpferische Grundhaltung, entbehrten jedoch jeglichen politischen Rahmens. Daß es sehr wohl einen Zusammenhang zwischen schlechten Wohnbedingungen und politischer Radikalisierung der Arbeiterschaft gab, erkannte auch das Bezirksamt, als es 1924 mit untypischer Deutlichkeit feststellte: "Es bestehen dort schauerliche Zustände im Wohnungswesen, die in erster Linie für die Volksgesundheit und –sittlichkeit von größtem Schaden sind, die sich aber auch in politischer Hinsicht schädlich auswirken. Die Porzellanindustrie in Selb hat sich in kurzer Zeit auf hohen Stand entwickelt und besitzt heute Weltruf. Andererseits hat die Stadt Selb den traurigen Ruf, zu den Städten mit der größten Tuberkulosesterblichkeit in Deutschland zu zählen. Leider hat die Industrie in Selb während der Zeit ihrer raschen Entwicklung für die Erstellung von Arbeiterwohnungen sehr wenig getan. Wenn sie auch nicht die rechtliche Verpflichtung dazu hatte, so doch die moralische. In den letzten Jahren hat sie zwar durch eigene Bauten oder Unterstützung von Baugenossenschaften zur Beschaffung einer Anzahl von Wohnungen beigetragen, aber immer noch wenig im Verhältnis zur großen Wohnungsnot und der weiteren Vergrößerung verschiedener Betriebe. Dabei wird zugegeben sein, daß sie das zur Zeit der Hochkonjunktur Unterlassene rasch nachholen könnte. Die Reichsregierung trifft der Vorwurf, zu spät gesetzlich eingegriffen zu haben. ... Es wäre aber angebracht, daß auch die Industrie zur Schaffung ruhigerer Verhältnisse mehr als bisher beiträgt, indem sie insbesondere für Wohnungen ihrer Arbeiter sorgt und sich dadurch einen Stamm zufriedener Arbeiter heranzieht." 444

441 StA Selb, Akt 680/6 Vorschriften gegen Wohnungsmangel und Obdachlosigkeit 1919. 442 StA Selb, Akt 680/6, „Bekämpfung der Wohnungsnot“. Merkblatt der Stadt Selb 1919. 443 Hierzu STA Bamberg K 3/1967, 5095. 444 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1856, WB vom 29.2.1924. Vgl. Anm.704.

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Die hier vom BA - wenn auch nur konjunktivisch - angedeuteten Vorstellungen, die Industrie an der Wohraumbeschaffung für ihre Arbeiter zu beteiligen, waren dabei zwar den Vorschlägen des zweiten Selber Bürgermeisters nicht unähnlich, gründeten jedoch auf eine völlig andersartige, nämlich sozialpatriarchalische Intention der Behörde. Eine weitere Verschärfung der Wohnsituation trat ein, als im Jahre 1926 Wohnungen auf Verlangen des Vermieters geräumt werden mußten, ohne daß Ersatzwohnungen bereitzustellen waren.445 Es verwundert daher nicht, wenn sich in jenen Jahren Klagen wie die des BA, daß nach einer Zwangsräumung ein Familienvater in einem Gasthaus und seine Familie im Krankenhaus untergebracht werden mußten, häuften.446

Während sich die Wohnungssituation in den porzellanindustriellen Zentren als ausgesprochen schlecht darstellte, standen in den umliegenden Dörfern meist noch Wohnungen zur Verfügung. So fanden Porzelliner aus Marktredwitzer und Arzberger Porzellanfabriken Wohnung in der Umgegend, wie nachfolgende Quelle belegt: „Eine große Zahl von Arbeitern ... ist gezwungen, in den umliegenden, oft über eine Stunde entfernten Ortschaften passende Miethäuser zu suchen, nachdem Private mit der Erbauung von Arbeiterwohnungen sich nicht befassen. ... Es suchen auch sehr viele Arbeiter in den benachbarten Orten Unterkunft und was hier nicht unterkommt, benützt aus dem Umkreis die Eisenbahn zur Fahrt von und zu der Arbeitsstelle.“447

Auch die Porzelliner der PF Retsch in Wunsiedel wohnten oftmals in den umliegenden Ortschaften Tröstau und Nagel und mußten bis zum Bau der Eisenbahnlinie Wunsiedel- Leupolsdorf (1913) morgens und abends mehr als eine Stunde Fußweg auf sich nehmen, um zur Arbeitsstätte zu kommen. Nachfolgende Tabelle führt Tabelle 116 fort und vergleicht die Jahresmieten in weiteren Orten der oberfränkischen Porzellanindustrie:

Tab.92: Jahresmieten im Vergleich448 Jahr Ort Wohnungsgröße Miete 1912 Selb – Gemeinnütziger Bauverein 2 Zimmer 150 – 180 M 3 Zimmer 170 – 245 M 1913 Marktredwitz – Gemeinnützige 1 Zimmer 70 – 120 M Baugenossenschaft 2 Zimmer 80 – 150 M Selb – PF E & A Müller 2 Zimmer 150 – 195 M Selb – PF Rosenthal 2 – 3 Zimmer 220 – 230 M 1914 Selb 3 Zimmer 250 M 1920 Selb 3 Zimmer 375 – 405 M

445 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1867, HMB (Stadtrat Selb) vom 29.11.1926. 446 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1871, HMB (Stadtrat Selb) vom 31.10.1927. 447 STA Bamberg K3 / F VIa, 110. 448 Quellen: STA Bamberg, K3 / 1967, 5603 u. 5095; StA Selb Akt 660/6; STEPHAN, C. 1933, S.124.

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Hieraus wird erkennbar, daß ein Dreher, der in Marktredwitz beschäftigt war und dort auch wohnte, bei einem durchschnittlichen Jahresverdienst von 1.440 – 1.730 M im Jahre 1913 nur 5 – 10% seines Einkommens für Miete aufzuwenden hatte, wohingegen ein Tagelöhner nur 565 M verdiente, mithin 12 – 26% für seine Wohnung ausgeben mußte. Da die Mietpreise in Selb aufgrund der starken Nachfrage höher waren, lag der Prozentsatz des Einkommens, der für Miete aufgewendet werden mußte, mit 10 – 16% bei Drehern und 25 – 40% bei Tagelöhnern wesentlich höher als in den Nachbargemeinden. Wo in Marktredwitz bei vergleichbaren Wohnungen die Mietobergrenze lag, begann in Selb die untere Mietgrenze. Außerdem bestätigen diese Zahlen NIETHAMMERs Feststellung, daß „je geringer das Einkommen (ist), desto höher der Anteil, der für Miete verausgabt werden muß. Je geringer das Einkommen, desto mehr wächst der Mietanteil über die Jahre ... .“449

Erwähnenswert ist, daß ursächlich für die im Vergleich teureren Betriebs- bzw. Bauvereinswohnungen deren jüngere Bauausführung, teilweise bessere Ausstattung und zentralere Lage war.

Legt man für das Jahr 1918 im Untersuchungsraum Oberfranken einen durchschnittlichen Jahresverdienst von 2.640 M zugrunde, so betrug der prozentuale Anteil des Einkommens, der für die Miete von Ein- und Zweizimmerwohnungen aufgewendet werden mußte in Rehau nur noch 3 – 5%, in Schönwald nur noch 3 – 7%. Dies bedeutet, daß die Mietpreise im Zeitraum 1905 bis 1913 stark angestiegen waren und ab 1913 mit dem Ende der Hochkonjunktur eine fallende Tendenz zeigten. Ähnliches läßt sich für den Untersuchungsraum Oberpfalz feststellen, in dem im Jahre 1908 der Mietpreis für eine frei finanzierte Wohnung bei etwa 18-27%, der Mietanteil für eine Werkswohnung bei ca. 8-16% eines Facharbeiterlohnes lag.450 In den Jahren 1909/10 wurden in der Oberpfalz die Mieten überproportional – in Relation zu den Einkommenssteigerungen – erhöht: In Regensburg und Amberg um etwa 10-25%, in den meisten übrigen Orten um 5-30% und darüber.451

Kleinstwohnungen wurden nur übergangsweise angemietet und gekündigt, sobald eine bessere, d.h. größere und bezahlbare Wohnung gefunden worden war. Die daraus resultierende starke Fluktuation führte zusammen mit der Überbelegung insbesondere bei Einzimmerwohnungen zu starker Abwohnung. Da es im 19. Jahrhundert noch keine

449 NIETHAMMER, L. / BRÜGGEMEIER, F. 1976, S.79. 450 Vgl. MÜLLER, G. 1988, S.57. 451 JFI 1910, S.129.

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Kündigungsfristen für Mietwohnungen gab,452 mußte ein Arbeiter beim Wechsel der Arbeitsstätte innerhalb kürzester Zeit – manchmal nur einer Woche - eine neue Wohnung finden, weshalb die Gewerkschaft bereits 1890 angemessene Kündigungsfristen forderte: „In welcher Lage befindet sich ... der Arbeiter, wenn es zwischen ihm und der Fabrik zu Differenzen ernstlicher Art, d.h. zur Arbeitseinstellung kommt? Er hat nur die Wahl, entweder auf die Bedingungen des Arbeitgebers einzugehen ... oder aber mit der Familie, mit Frau und Kind obdachlos zu werden. ... Der schädliche Einfluß des Abmiethens der Arbeiterwohnungen auf das Arbeitsverhältniss wäre nicht vorhanden, wenn die bezüglichen `Miethverträge` statt gar keiner oder nur 14 - 8-tägigen Kündigungsfrist eine solche von genügender Länge beispielsweise von drei Monaten enthielten.“453

Mit zunehmender Betriebsgröße, während Phasen der Hochkonjunktur, jedoch auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten wie bspw. während des Ersten Weltkrieges nahm der Industriewohnungsbau stark zu.454 Zu Beginn der Porzellanfabrikation in Oberfranken war es durchaus üblich, ledige Porzelliner auf dem Betriebsgelände unterzubringen;455 so gab es noch 1902 im sog. Wirtschaftsgebäude der PF Lorenz Hutschenreuther in Selb 24 heizbare Zimmer.456 Daß kleinere Betriebe wie die PF Jaeger & Werner in Selb zum Teil Finanzierungsschwierigkeiten beim Bau von Arbeiterwohnungen hatten, monierte 1899 der zuständige Fabrikinspektor: „Sehr zu beklagen ist, daß diese Firma im laufenden Jahre von der Versicherungsanstalt in Bayern keine Kapitalien zu den weiter beabsichtigten Arbeiterwohnhausbauten erlangen konnte.“457

Um trotzdem Wohnraum für ihre Arbeiter zu schaffen, unterstützten zunächst kleinere Betriebe und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auch die großen Firmen gemeinnützige Baugenossenschaften.458 Der Ankauf von Miethäusern durch die Porzellanfabriken wurde erst ab ca. 1918 aufgegeben, als man erkannte, daß durch diese Vorgehensweise kein zusätzlicher Mietraum geschaffen wurde, sondern lediglich die bestehenden Häuser den Besitzer wechselten. „Näheren Mitteilungen habe ich insbesondere entnommen, daß die größeren Porzellanfabriken in Selb keine oder doch nur verhältnismäßig wenig werkseigene Arbeiterwohnhäuser haben, ... wobei sich aber die Firma Heinrich durch tatkräftige Unterstützung des Gemeinnützigen Bauvereins verdient machte. Bei dieser Sachlage begrüße ich lebhaft eine Besprechung, die der Landeswohnungsrat mit Vertretern der Stadtgemeinde und der Industrie in Selb abhielt. Das Ergebnis zeigte, daß die Fabriken von dem bereits eingeleiteten Wegkaufen von Häusern absehen und zusammen mit dem

452 Erst i.J. 1900 machte das BGB für Mietwohnungen vierteljährliche, für möblierte Zimmer monatliche Kündigungsfristen verbindlich. 453 Die Ameise vom 11.7.1890. 454 Siehe hierzu AB, Anl. 67 Bauplan für ein Arbeiter-Wohnhaus der PF Hutschenreuther. 455 Vgl. BOHRER, H. 1929, S.230. 456 Hutschenreuther-Archiv Selb, Schätzungen 1902. 457 STA Bamberg, K3 F VIa, 119. 458 Vgl. Schreiben des Stadtrates Selb vom 4.5.1920, in dem um Spenden an den Gemeinnützigen Bauverein gebeten wird. [StA Selb, Akt 660/7].

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Gemeinnützigen Bauverein gemeinsam an die Erstellung der notwendigen Kleinwohnungsbauten gehen wollen.“ 459

Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zogen es die Porzellanfabriken Angestellte und Facharbeiter den un- und angelernten Arbeitern als Mieter ihrer Betriebswohnungen vor.460 So besaß die Firma Rosenthal noch 1899 lediglich Beamtenwohnungen, weshalb die Arbeiter in Erkersreuth und Plößberg bei privaten Vermietern Quartier nehmen mußten.461 Über die schlechte Qualität der Betriebswohnungen resp. die Motivation zum Betriebswohnungsbau äußerte sich 1909 der Arzt Dr. BOGNER.462 Danach war das primäre Anliegen der Porzellanfabrikanten zwar, Wohnraum für ihre Arbeiter zu schaffen, doch ebenso wichtig erschien ihnen die soziale Disziplinierung der Arbeiterschaft mittels Förderung der kontrollierten Ansiedlung und damit Seßhaftigkeit sowie durch Anhalten zu einem geordneten Leben und Förderung des Ordnungssinns. Diese Abhängigkeit der Porzellanarbeiter war auch der Grund für die völlige Ablehnung der Betriebswohnungen seitens des Verbandes der Porzellanarbeiter, wenngleich die Selber Porzelliner sich gegen eine pauschale Verurteilung aussprachen: „Die im heutigen wirthschaftlichen Leben und in der Produktion maßgebenden Verhältnisse erfordern aber mit Nothwendigkeit, daß der Arbeiter in allen Dingen ... möglichst unabhängig dem Arbeitgeber gegenüber dasteht, um ... nicht gezwungen zu sein, in ungünstige Arbeitsbedingungen sich fügen zu müssen.“463

Die von den Unternehmern gewünschte bzw. von den Gewerkschaften befürchtete Verbürgerlichung der Arbeiter durch Eigenheime bzw. Wohnung und Garten trat jedoch in Selb nicht ein. Vielmehr entstand eine eigene Subkultur in den Arbeiterwohnbezirken, die von der bürgerlichen Mittelschicht abfällig als „Zigeunerviertel“ oder „Maria Kulm“464 bezeichnet wurden. Nachfolgende Tabelle stellt die Betriebswohnungen im Raum Oberfranken/Oberpfalz zusammen. Abschließend soll exemplarisch der Werkswohnungsbau in den drei Orten Waldsassen, Arzberg und Selb-Plößberg dargestellt werden.

459 STA Bamberg, K3/1967, 5587. 460 Vgl. hierzu NIETHAMMER, L. / BRÜGGEMEIER, F. 1976, S.131f. u. BALD, A. 1991, S.39. 461 STA Bamberg, K3 F VIa, 119. 462 Vgl. Kap. Fabrikwohnungsbau. 463 Die Ameise vom 11.7.1890. 464 Wallfahrtsort bei Eger.

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Tab.93: Porzellinerbetriebswohnungen in Oberfranken / Oberpfalz465

Jahr Ort Firma Wohnungen 1895 Tirschenreuth PF Tirschenreuth 12 Wohnungen 1896 Weiden Bauscher 13 Wohnungen 1897 Rosenthal 48 Wohnungen 1899 Selb Hutschenreuther 30 Wohnungen* Jaeger & Werner 8 Arbeiterhäuser* Paul Müller 7 Wohnungen* Arzberg Auvera 18 Wohnungen* Marktredwitz Jaeger & Thomas 2 Arbeiterhäuser* 1902 Selb Hutschenreuther 24 Wohnungen* 1913 Rosenthal 18 Wohnungen* Schönwald E & A Müller 24 Wohnungen* 1918 Selb Hutschenreuther 44 Arbeiterhäuser+ Rosenthal 77 Arbeiterhäuser+ 1920 Tirschenreuth PF Tirschenreuth 1 Arbeiterhaus+ 1921 Hutschenreuther 29 Wohnungen* 25 Wohnungen im Bau Selb Rosenthal 32 Wohnungen* 26 Wohnungen im Bau Heinrich 1 Wohnung* 17 Wohnungen im Bau Gräf & Krippner 4 Wohnungen* Mitterteich PF Mitterteich 1 Häuserkolonie+

* in diesem Jahr erbaut + Gesamtbestand zum jeweiligen Zeitpunkt

Werkswohnungen in Waldsassen Bedingt durch die Gründung der Porzellanfabriken verdreifachte sich in Waldsassen im Zeitraum 1860 bis 1919 die Einwohnerzahl von 1.700 auf rd. 5.000. Werkswohnungen wurden zunächst ausschließlich von der 1884 gegründeten Glashütte errichtet, die bereits ein Jahr nach ihrer Gründung mit dem Bau von Arbeiterwohnhäusern begann. Nach der Stillegung der Fabrik im Jahre 1929 übernahm die PF Bareuther die Gebäude auf der Mitterteicher Straße und ließ zunächst noch die alten Mieter, also die „Hitterer“ (Hüttenleute)466 dort wohnen, quartierte jedoch nach und nach auch Porzelliner dort ein. Im Haus Mitterteicher Str. 3 befanden sich 7 Wohnungen mit 1-3 Zimmern; in den Häusern Mitterteicher Str. 5 und 7 gab es zusammen 42 Wohnungen. Der Komplex war zweistöckig, sämtliche Wohnungen waren mit Wasserabfluß, elektrischem Licht, Herd und Kachelofen ausgestattet, außerdem gehörte zu jeder Wohnung ein Nutzgarten. Ein Gemeinschaftsbackofen sowie ein 1920 errichtetes Waschhaus komplettierten die Anlage. Die Mieten lagen in diesen Fabrikwohnungen zwar deutlich unter denen vergleichbarer Wohnungen, der Allgemeinzustand war jedoch eher schlecht, da die Wohnung überbelegt und

465 Quellen: STA Bamberg K3/1967, 5095, 5587 u. F VIa, 119; StA Selb, Akt 680/4; Hutschenreuther-Archiv, Schätzungen 1902. Vgl. hierzu VELHORN, J. 1925 S.116ff u. BALD, A. 1991, S.39. 466 Arbeiter in Glashütten.

511 feucht waren. Die monatlichen Mietpreise betrugen bspw. 1932 für eine Wohnung mit drei Räumen 18 RM, zwei Räume kosteten 13,20 RM und für eine Einraumwohnung betrug die monatliche Miete 5 RM.467 Da Kredite während der Inflation billig waren, investierte die PF Bareuther auch in den Fabrikwohnungsbau und baute von1919 bis 1921 ein Doppelwohnhaus mit Zwei- und Dreizimmerwohnungen sowie ein weiteres Haus mit 12 Zweizimmerwohnungen. Danach wurden keine weiteren Werkswohnungen mehr gebaut.

Die ebenfalls in Waldsassen ansässige PF Gareis, Kühnl & Co. erwarb bzw. erbaute ab 1910 mehrere Fabrikwohnungen: Finkenbühlstraße 2 und 4 (1910),468 Mitterteicher Straße 28 (1917) und Mitterteicher Straße 13 bis 17 (20er Jahre). Nach der Betriebszusammenlegung kamen diese Werkswohnungen zum Bestand der PF Bareuther.

Werkswohnungen in Arzberg In Arzberg stieg durch die Einwohnerzahl durch die Ansiedlung von Porzellanfabriken von 500 im Jahre 1840 auf 5.850 im Jahre 1910. Zunächst sahen die ortsansässigen Betriebe keine Notwendigkeit, Betriebswohnungen für ihre Arbeiter zu bauen, zumal viele Pendler von auswärts in die Stadt kamen. 1905 wurden von der PF Arzberg wie auch von der PF Schumann je 10 Werkswohnungen errichtet, um zusätzliche Arbeitskräfte an den betrieb zu binden. Weitere 24 Arbeiterwohnungen wurden in den Jahre 1905-1908 durch die PF Schumann gebaut. Während des Ersten Weltkrieges fand so gut wie keine Bautätigkeit statt, insbesondere wurden keine Werkswohnungen gebaut. Erst im Jahre 1919 wurden von der PF Arzberg 7, von der PF Hutschenreuther 4 Wohnungen für ihre Arbeiter errichtet. 1921 wurde das sog. „Röslautal“ errichtet,469 ein Haus, in dessen Schlafsaal auswärtige Arbeiter untergebracht wurden.

Werkswohnungen in Selb-Plößberg Durch die Fertigstellung der Bahnlinie Hof-Eger im Jahre 1865 verbesserte sich für den Selber Raum die verkehrsmäßige Anbindung an Rohstofflager an Absatzmärkte. Daher siedelte sich bereits 1867 am damaligen Bahnhof von Selb die PF Jakob Zeidler an. Da die Fabrik etwa 2 km außerhalb der Stadt Selb und des Dorfes Plößberg lag, wurde gleichzeitig

467 StA Waldsassen, Akt EAPI 680 Nr.2 Porzellanfabrik Bareuther. 468 Siehe hierzu AB, Anl.68: Grundriß EG Finkenbühlstraße. 469 Hierzu: AB, Anl.69: Ansicht PF Schumann mit „Röslautal“.

512 mit dem Bau der Fabrik damit begonnen, Wohnungen für die Arbeiter zu errichten, um diesen einen Anreiz für den Zuzug zu geben. So entstanden zwischen 1870 und 1900 17 Werkswohnungen, deren erste im sog. „Pöhlmannhaus“, bereits 1870 fertiggestellt wurden.

Im Jahre 1897 entstanden gegenüber der Bahnstation zwei Wohnhäuser „Am Hübel“.470 In einem dieser Häuser wohnten lt. Plan im Erdgeschoß in jeweils nur einem Zimmer von ca. 16,5 bis 19,5 m2 4 Familien, was bei durchschnittlich 5 Familienmitgliedern für den Einzelnen einen persönlichen Raum von nur 3-4 m2 bedeutete.471 Da die Räume sowohl Schlaf- als auch Wohn- mithin Aufenthaltsraum waren, herrschten dort ausgesprochen beengte Verhältnisse, so daß BALD beizupflichten ist, der bemerkt: „Von einer Wohnung, wie sie die amtliche Definition der Kleinwohnungen umriß (Einzelwohnungen mit nicht mehr als drei Zimmern nebst Küche und Zubehör)472 konnte ein Porzellanarbeiter nur träumen.“473

Im oberen Stockwerk befanden sich 3 Wohnungen, die jeweils nur 10 resp. 12 m2 groß waren, auf dem Dachboden zusätzliche Kammern, in denen die Jugendlichen schlafen mußten. In den Jahren 1906 bis 1908 errichtete die PF Zeidler mehrere Wohnhäuser in der heutigen Hauptstraße. Pro Haus lebten dort 4 bis 5 Familien in Zweizimmerwohnungen, in denen nur die Küche heizbar war. Zu den Wohnungen gehörten jeweils Gartenanteile und Schuppen, an die sich ein Waschhaus anschloß, in dem die Bewohner nur nach vorheriger Anmeldung waschen durften. Auch der Bau von vier neuen Wohnhäusern durch die PF Rosenthal in den Jahren 1929 bis 1935 verbesserte die mangelhafte Wohnsituation der Porzelliner in Selb- Plößberg nur unwesentlich, da die neu erstellten Wohnungen wg. ihres hohen Mietpreises fast ausschließlich von besserverdienenden Angestellten bezogen wurden. Die 1928 bei der PF Rosenthal Bahnhof-Selb474 bestehende Belegschaft von ca. 900 Arbeitern pendelte daher auch zum großen Teil aus den umliegenden Ortschaften Schönwald, Rehau und Asch475 dorthin.

470 Hierzu: AB, Anl.70: Werkswohnungen „Am Hübel“. 471 Siehe AB, Anl.71: Grundriß 1.Etg. Wohnhaus „Am Hübel“. 472 ZBStA 1918, H.50, S.666. 473 BALD, A. 1991, S.40. 474 Da eine Lokalverbindung nach Selb geschaffen wurde, hieß der Ort ab 1894 Selb-Plößberg. 475 Damaliges Böhmen, heutiges Tschechien.

513

4.2 Baugenossenschaften und Bauvereine

„Infolge ihres oft recht geringen Einkommens können sie (die Arbeiter, d.Verf.) für eine Wohnung niemals soviel zahlen wie andere, besser gestellte Schichten des Volkes. Darum bleiben für sie stets die kleinsten, billigsten und natürlich auch schlechtesten Wohnungen übrig. ... Aber nicht nur an guten Wohnungen ist die Arbeiterschaft stark interessiert; ihre Wohnungen sollen außerdem auch billig sein. In den letzten Jahrzehnten sind die Häuser und Wohnungen immer mehr zu Waren geworden und die Wohnungsmieten andauernd gestiegen, und gerade diese Mieteteuerung hat die Massen der Arbeiterschaft ... zur stärksten Einschränkung im Wohnen gezwungen. Hervorgerufen wird die Mieteteuerung nicht, wie von den Hausbesitzern und ihrer Presse so oft behauptet wird, durch die ´hohen´ Arbeiterlöhne, sondern in erster Linie durch die wahnsinnige Spekulation mit Häusern wie mit Grund und Boden, sowie durch das Profitstreben der privaten Wohnungshersteller und Hausbesitzer. ... Diesem Treiben ist mit Aussicht auf Erfolg nur die Schaffung einer ausreichenden Zahl von Wohnungen durch die gemeinnützige Bautätigkeit entgegenzuwirken.... Die Förderung des Kleinwohnungsbaues ist also dringend notwendig, wenn es nach dem Kriege nicht zu gefährlichen Zuständen auf dem Gebiete des Wohnungswesens kommen soll. Und da nach dem Kriege vom privaten Wohnungsbau nicht viel zu erwarten ist, da es weiter auch an Geld zum Bauen fehlen wird, so muß die gemeinnützige Wohnungsbautätigkeit mit allen Kräften gefördert werden. Riech, Einzelstaaten und Gemeinden müssen entweder selbst Kleinwohnungen bauen oder aber der gemeinnützigen Bautätigkeit durch Aufschließung von Bauland, Hergabe billigen Baugeldes, Beschaffung billiger Hypotheken usw. unter die Arme greifen.“476

Privater und Fabrikwohnungsbau konnten den gestiegenen Wohnungsbedarf bei weitem nicht decken, weswegen Selbsthilfeorganisationen in Form von Baugenossenschaften gegründet wurden. Die Ziele der ersten Baugenossenschaften wurden 1865 wie folgt formuliert „ Dem Mangel an guten, gesunden Arbeiterwohnungen können in der Regel auf dem Prinzipe der Selbsthilfe beruhende Baugenossenschaften abhelfen, sofern dieselben kleine, für je eine Familie bestimmte Häuser bauen und ihren Mitgliedern gegen ein Kaufgeld, welches durch terminliche, auf eine Reihe von Jahren zu verteilende Raten amortisiert wird, zu ausschließlichem Eigentume überlassen.“477

Während die älteren Formen der Baugenossenschaften mithin den Eigentumserwerb als Zielsetzung proklamierten, waren die spätere gegründeten Baugenossenschaften und –vereine bestrebt, preisgünstige Mietwohnungen zu schaffen, wenngleich bspw. in Oberfranken etwa die Hälfte aller Bauvereine den Kauf gemieteter Häuser und Wohnungen ermöglichten. Die Baugenossenschaftsidee war erst ab ca. 1899 erfolgreich, da man zu diesem Zeitpunkt die Gemeinschaftshaftpflicht aufhob und statt dessen die beschränkte Haftpflicht einführte. Hinzu kam, daß nicht mehr lediglich sozialistische Umtriebe hinter dieser Idee vermutet wurden, so daß sich das bayerische Staatsministerium des Innern im gleichen Jahr veranlaßt sah, in einer Anweisung die Bezirksämter Wunsiedel und Rehau aufzufordern, alle Bauvorhaben der Bauvereine und –genossenschaften zu unterstützen.478 Daß somit die langjährige Ablehnung

476 Die Ameise vom 16. u. 23.November 1917. 477 Allgemeiner Verband Deutscher Genossenschaften. Entschließung auf dem Verbandstag Stettin 1865. 478 Vgl. STA Bamberg, K/3 1967, 5587.

514 der Baugenossenschaften und der hinter diesen stehenden Idee wenig förderlich gewesen war, wurde 1918 vom Selber Tagblatt konstatiert: „Offen muß anerkannt werden, daß es eine große Wohltat ist, daß der gemeinnützige Bauverein seinerzeit gegründet wurde, denn jetzt, da sich die Wohnungsnot ganz bedeutend bemerkbar macht, dürfte sich einwandfrei erwiesen haben, daß der Gemeinnützige Bauverein früher ungerechterweise angefeindet worden ist.“479

Als einer der ersten bestand im Untersuchungsraum Oberfranken seit 1890 unter den Arbeitern der PF C.M. Hutschenreuther (Hohenberg) ein Verein zum Bau von Arbeiterwohnungen. Dieser hatte bis 1893 zwei Doppelhäuser erbaut mit zusammen 4 Wohnungen, die jeweils aus 2 Zimmern, 3 kleinen Kammern, Küche, Keller und Holzlege mit kleinem Vorgarten bestanden. Die Miete betrug 160 Mark pro Jahr und die Mitglieder des Bauvereins erwarben durch monatliche Zahlungen an den Bauverein allmählich die Häuser bzw. Wohnungen.480 Bis 1897 baute dieser Verein insgesamt 8 Häuser mit 33 Wohnungen und hatte 35 Mitglieder. „Der im Berichtsjahre (1909, d.Verf.) neugegründete Bauverein Selb erbaute bereits 2 Häuser mit je 4 Wohnungen und der gemeinnützige Bauverein Marktredwitz hat ein neues Haus mit Hilfe der Vereinigten Chamottefabriken ... errichtet, welche dem Vereine neuerdings 3.000 M spendeten und die sämtlichen Arbeiten zu dem neuen Hause zum Selbstkostenpreis lieferten. In Pegnitz hat der dortige Konsumverein ein größeres Grundstück erworben, um darauf Arbeiterwohnhäuser zu erbauen. Eine weitere kräftige Förderung des Kleinwohnungsbaues steht durch die im Berichtsjahre neugegründeten Bauvereine in Hof, Marktredwitz und Schwarzenbach a.S. zu erwarten, welchen in diesen Orten sowohl seitens der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer großes Interesse entgegengebracht wird.“ 481

Auf Initiativen von (Porzellan-) Fabrikanten (30%), von Arbeitern (25%) bzw. von Kaufleuten, kleineren Beamten, Handwerkern und Arbeitern (45%) wurden in den Jahren 1905 bis 1920 weitere Baugenossenschaften und Bauvereine gegründet. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen betrieblichen Baugenossenschaften, als deren Mitglied ausschließlich Arbeiter der betreffenden Porzellanfabrik in Frage kamen und gemeinnützigen Baugenossenschaften, deren Mitglied „jede versicherungsfähige Person“482 werden konnte. Bei letzteren war neben einem geringen Eintrittsgeld ein Anteilschein zu erwerben, dessen Betrag beim Gemeinnützigen Bauverein Selb 200,- Mark betrug. Dieser Anteilschein war sofort bei Aufnahme der Mitgliedschaft mit 10,- Mark anzuzahlen, der Rest war in monatlichen Mindestraten von 3,-Mark zu begleichen.483 Die Mitgliedsbeiträge bildeten

479 STB vom 5.11.1918. 480 Vgl. JFI 1893, S.131. BALD gibt hier als Gründungsjahr irrtümlich 1897 an. 481 JHO 1909, S.335. 482 Statut d. Gemeinnützigen Bauvereins Selb von 1909, §3. 1918. 483 Ebd., §2.

515 neben staatlichen Zuschüssen und Spenden von Industriellen484 die finanzielle Basis der gemeinnützigen Baugenossenschaften, deren Zweck wie folgt determiniert wurde: „... Beschaffung gesunder, freundlicher und praktisch angelegter Wohnungen für minderbemittelte Personen durch Erwerbung von Grundstücken, Bauen von Wohnhäusern und Überlassung dieser zur Miete, und zwar ausschließlich bzw. überwiegend an die ... Mitglieder...“485

Hatte ein Mitglied mindestens 25% des Anteilscheines (= 50 M.) einbezahlt, so konnte es sich für eine Wohnung bewerben. Da jedoch das Angebot an gemeinnützig finanzierten Wohnungen die Nachfrage bei weitem überstieg, waren Wartelisten und damit lange Wartezeiten die Folge. Im folgenden sollen einige Bauverein näher dargestellt werden.

Der Gemeinnützige Bauverein Selb wurde 1909 auf Initiative des damaligen Zentralwohnungsinspektors beim Staatsministerium des Innern von Porzellanfabrikanten und –arbeitern, von Kaufleuten, Bauunternehmern sowie Stadtverordneten gegründet. Die Mieter der vom Gemeinnützigen Bauverein in Selb erbauten Wohnungen waren ausschließlich Porzelliner, da bei diesen der Wohnungsbedarf am größten war. So arbeiteten 1918 von den insgesamt 113 Mietern 35 bei der PF Rosenthal, 12 bei der PF Hutschenreuther, 6 bei der PF Paul Müller, 28 bei der PF Heinrich, 3 bei der PF Krautheim & Adelberg, einer bei der PF Gräf & Krippner und 28 in anderen Porzellanfabriken.486 Die vom Bauverein errichteten Gebäude konzentrierten sich hauptsächlich auf drei Straßen; die dort befindlichen Grundstücke wurden meist von Porzellanindustriellen zu Verfügung gestellt.487 Der Bauverein besaß die Anwesen Längenauer Straße 61,63,65,67 und 69, Luitpoldstraße 23,28,29, 30 und 31 sowie Gabelsbergerstraße 1,3,7,8,10,11,12,13,14,15 und 17.488

Dem Geschäftsbericht für das Jahr 1912489 ist zu entnehmen, daß der Gemeinnützige Bauverein Selb zwei Wohnhäuser errichtet hat, und zwar an der Vielitzerstraße mit 2 Wohnungen zu je 3 Räumen und 3 Wohnungen zu je 2 Räumen und an der Längenauer Straße mit 7 Wohnungen zu je 2 Räumen; ein weiteres Wohnhaus an der Vielitzerstraße wurde zum 1.2.1913 bezugsfertig. Der Immobilienbesitz des Bauvereins betrug damit zum Ende des Jahres 1912 4 Wohnhäuser an der Längenauer Straße und 6 an der Vielitzerstraße mit

484 1920 wurden dem Gemeinnützigen Bauverein Selb gespendet von der PF Heinrich 25.000 M, von der PF L. Hutschenreuther 10.000 M und von der PF Rosenthal 12.000 M. Vgl. StA Selb, Akt 660/7. 485 Statut d. Gemeinnützigen Bauvereins Selb von 1909, §1. 1918. 486 STA Bamberg, K3/1967, 5587. 487 STA Bamberg K3/1967, 5714. 488 StA Selb, Akt 660/6. 489 Geschäftsbericht des Gemeinnützigen Bauvereins Selb 1913, S.3.

516 zusammen 44 Wohnungen. Die Mieten für die Wohnungen mit Gartenanteil betrugen einschließlich Nebenkosten für Wasser und Müllabfuhr für Wohnungen mit 3 Räumen 170,-- Mark bis 245,-- Mark pro Jahr für größere Wohnungen mit 2 Räumen 150,-- Mark bis 185,-- Mark pro Jahr für kleinere Wohnungen mit 2 Räumen 85,-- Mark pro Jahr.

Ferner gibt der Geschäftsbericht Auskunft über die Grundstückskäufe des Bauvereins in 1912. Danach wurden zwei Grundstücke Am Steinbühl490 und zwei weitere an der Vielitzerstraße für insgesamt 17.512,85 Mark erworben und später bebaut. Der Verein zählte zum Jahresende 1912 185 Mitglieder, die Zahl der Anteilscheine betrug 262. Die Bilanz für 1912 konnte nur ausgeglichen gestaltet werden, weil die PF Heinrich ihr Anteilguthaben von 6.000 Mark auf 10.000 Mark erhöhte und diesen Betrag dem Bauverein als Darlehen zur Verfügung stellte.

Während des Ersten Weltkrieges standen etliche Bauvereinswohnungen leer, da die Mieter eingezogen worden waren. Andere Mieter waren mehrere Monate mit der Miete im Rückstand, da der verdienst des eingezogenen Ehemannes fehlte. Da der Gemeinnützige Bauverein Selb aus diesem Grund in den Jahren 1914 bis 1916 ein Mietensoll von insgesamt 10.648 M. und einen Verlust von 16.822 M. aufwies, erhielt er 1917 von der Kgl. Zentralstaatskasse einen Zuschuß in Höhe von 5.000 M.491 Mithilfe von Darlehen durch die PF Heinrich (10.000 M.) und die örtliche Sparkasse (20.370 M.) gelang es 1917, die Bilanz auszugleichen. Bereits ein Jahr später hatte sich die finanzielle Lage derart verschlechtert, daß der Vereinsvorstand beschloß, „... weitere Wohnbauten nur noch zu errichten, wenn der Verein von der Industrie, die doch das größte Interesse an Arbeiterwohnungen habe, entsprechende Unterstützung finde.“492

Die Porzellanindustriellen unterstützten daraufhin den Gemeinnützigen Bauverein Selb in etwas stärkerem Maße durch Zuschüsse.493

490 Siehe AB, Anl.72 Bauplan Wohnhaus Am Steinbühl. 491 StA Selb, Akt 663.2/1. 492 STA Bamberg, K 3/1967, 5587. 493 Vgl. S.497.

517

Tab.94: Baugenossenschaften und -vereine in den Bezirksämtern Wunsiedel und Rehau494

Kauf x x x x x x x

100 M. 100 M. 200 M. 150 M. 200 M. 100 M. 200 M. 100 M. 200 M. 200 M. 500 M. Geschäfts- anteil

9 2 6 4 6 5 9 18 14 44 24 16 50 10 14 42 33 16 31 17 52 37 20 113 328 100 Wohnungsbestand Wohnungsbestand

1918 1921 1912 1913 1916 1919 1929 1919 1929 1919 1919 1919 1918 1921 1919 1897 1914 1919 1920 1918 1919 1921 1918 1919 1921 1920 Jahr Mieter u. Arbeiter Angestellte PF Rosenthal Jede versicherungs- Person fähige Beamte der PF Rosenthal Arbeiter PF Hutschenreuther Arbeiter PF Heinrich Minderbemittelte Personen Beamte u. Arbeiter PF Zeidler -- -- Minderbemittelte Personen Arbeiter PF C.M. Hutschenreuther Minderbemittelte Personen Minderbemittelte Personen Arbeiter Katholische Arbeiter Mitglieder u. Arbeiter Angestellte PF Rosenthal Porzelliner Beamte der PF Rosenthal Arbeiter PF Hutschen- reuther Arbeiter PF Heinrich -- Beamte u. Arbeiter PF Zeidler ------Arbeiter PF C.M. Hutschen- reuther Jede geschäftsfähige Person Arbeiter, Angestellte, Beamte Arbeiter Katholische Arbeiter ------1918 1909 1919 1909 1918 1920 1911 1890 1906 1909 1914 1920 Gründung Gründung Name Gemeinnütziger Wohnungsverein Bauverein Gemeinnütziger G.m.b.H Eigenheim Bauverein Baugenossenschaft Ludwigsmühle Baugenossenschaft Papiermühlweg Bauverein Gemeinnütziger Gemeinnützige Baugenossenschaft Bauverein Baugenossenschaft Lehmbaukolonie Rehau für Baugenossenschaft und Umgebung Bauverein Gemeinnützige Baugenossenschaft Allgemeine für Baugenossenschaft und Umgebung Marktredwitz Eigenheim Baugenossenschaft Baugenossenschaft Selbsthilfe Ort Selb Selb Selb Selb Selb Schönwald Plößberg Rehau Rehau Rehau Hohenberg Marktredwitz Marktredwitz Marktredwitz Marktredwitz

494 Quellen: STA Bamberg, K 18 XI, 131; STA Bamberg, K3/1967, 2151, 5587, 5615, 5714, 5717, 5718; StA Selb, Akt 660/6 u. Akt 680; STEPHAN, C. 1933, S.124ff.

518

Für die Arbeiter als direkt von der Wohnungsnot Betroffene lag der Gedanke zur Selbsthilfe durch genossenschaftlichen Zusammenschluß nahe. Da die zum Bauen benötigten finanziellen Mittel durch genossenschaftliches Sparen der wirtschaftliche Schwachen nicht in genügender Höhe und vor allem erst nach relativ langer Zeit zur Verfügung standen, wurden in Marktredwitz die ersten Baugenossenschaften auf Initiative und unter finanzieller und organisatorischer Mitwirkung einzelner Unternehmer gegründet. 1906 wurde als erste die Gemeinnützige Baugenossenschaft zu Marktredwitz vom damaligen Direktor der Schamottefabrik, H. GEYER, gegründet. Diese finanzierte sich zunächst aus Zuwendungen des Gründers, während die Mitgliedsbeiträge niedrig waren (Eintrittsgeld 2 M.; Geschäftsanteil 100 M.). Der Zweck der Gemeinnützigen Baugenossenschaft war in § 2 der Statuten festgelegt und bestand, ähnlich wie beim Bauverein Selb, darin, „.... minderbemittelten Familien gesunde und zweckmäßig eingerichtete Wohnungen in eigens erbauten, angekauften oder gemieteten Häusern zu billigen Preisen zu verschaffen, und zwar durch Ueberlassung zur Miete oder zum Eigentum.“ 495

Ferner wurde in § 3 bestimmt, daß die Mitgliedschaft sich nicht ausschließlich auf die Betriebsangehörigen der Schamottefabrik beschränkte, sondern daß die Bewerber in Marktredwitz und umliegenden Orten wohnen oder arbeiten mußten. Der Mitgliederbestand Die Gemeinnützigen Baugenossenschaft wurde mit 50 Mitgliedern gegründet, der Mitgliedsstand betrug in den Jahren 1912 45, 1914 50 und 1915 47 Mitglieder.

Vom damaligen Bürgermeister WINTER und von Industriellen496 wurde 1909 als bedeutendste der Marktredwitzer Baugenossenschaften die Allgemeine Baugenossenschaft für Marktredwitz und Umgebung gegründet. Der Zweck der Genossenschaft bestand in der Schaffung von Wohnraum für Minderbemittelte durch Bau oder Kauf, jedoch nicht Anmietung von Häusern. Das Eintrittsgeld betrug bis 1927 10 M, danach wurde es auf 50 RM erhöht; ebenso stieg der zu erwerbende Geschäftsanteil von zunächst 200 M auf zwei Geschäftsanteile zu je 100 RM (ab 1927) bzw. sogar drei Geschäftsanteile, wenn ein Mitglied sich um eine Wohnung bewarb. Ein Mitglied konnte sich mit höchstens 20 Geschäftsanteilen beteiligen. Mitglieder konnten nicht nur natürliche Personen, sondern auch juristische Personen werden. Der nach Abzug von Reserven und Abschreibungen verbleibende Gewinn wurde unter die Genossen als maximal 4%ige Dividende verteilt. Die Genossenschaft

495 Zit. nach STEPAN, C. 1933, S.124. 496 Insbesondere der Direktor der PF Rosenthal, F. THOMAS, sowie der Direktor der Chemischen Fabrik, KOSSEL.

519 verpflichtete sich gegenüber der Stadt Marktredwitz, 50% der neuerbauten Wohnungen an kinderreiche Familien zu vermieten. Die Wohnungen besaßen meist ein bis zwei Zimmer mit Küche, teilweise auch mit Bad. Der Mietpreis lag für ältere Wohnungen bei 5 bis 6 RM, für neuere Wohnungen bei 7 bis 10 RM pro m2 und Jahr. Ca. 25% der benötigten Gelder brachte die Genossenschaft selber auf, der Rest wurde durch städtische und staatliche Darlehen finanziert. Außer mit der Bautätigkeit befaßte sich die Genossenschaft auch mit der Annahme und Verzinsung von Spareinlagen ihrer Mitglieder. Jede Einlage betrug mindestens 1 RM, höchstens 25.000 RM und wurde mit 4% verzinst. 1925 besaß die Allgemeine Baugenossenschaft 13 Zweifamilienhäuser,497 7 Vierfamilienhäuser, 5 Fünffamilienhäuser, 3 Sechsfamilienhäuser und 6 Siebenfamilienhäuser mit insgesamt 139 Wohnungen. Die Mitgliederzahl blieb zunächst ziemlich konstant, stieg jedoch nach Kriegsende ständig an. Auf ein Mitglied entfielen 1912/13 1,8 Geschäftsanteile, im letzten Inflationsjahr 1923 3,5 und 1928 1,7 Anteile. Die Höhe der Spareinlage stieg ebenfalls kontinuierlich gegenüber dem Vorkriegsstand. Über die Entwicklung der Allgemeinen Baugenossenschaft informiert nachstehende Tabelle.

Tab.95: Geschäftstätigkeit der Allgemeinen Baugenossenschaft Marktredwitz498 Jahr Mitglieder Geschäftsanteile Dividende Spareinlagen in M oder RM 1909 81 -- 1910/11 120 1911/12 114 4% 1.280 1912/13 108 197 4% 3.728 1913/14 119 220 4% 7.932 1914/15 108 209 4% 6.668 1915/16 111 212 4& 8.735 1916/17 112 217 4% 9.238 1917/18 112 220 4% 16.660 1918/19 168 331 4% 35.590 1919/20 200 4% 1920/21 229 4% 1921/22 261 783 4% 1922/23 278 973 4% 1924 279 1925 305 456 15.697 1926 332 480 17.175 1927 395 595 22.431 1928 417 726 4% 24.205 1929 439

497 Der Bau von Zweifamilienhäusern ist nach dem Ersten Weltkrieg wegen der höheren Kosten aufgegeben worden. 498 Aus: STEPHAN, C. 1933, S.126.

520

Im Jahre 1914 wurde von Arbeitern die Baugenossenschaft Eigen-Heim für Marktredwitz und Umgebung gegründet, deren Aufbau und Zielsetzung der Allgemeinen Baugenossenschaft vergleichbar waren. Die Aufnahmegebühr betrug zunächst 1 M, später 5 RM, hinzu kam ein Monatsbeitrag von -,50 RM bis zur Auffüllung des Geschäftsanteils von 200 RM. Von der Genossenschaft erworbene Häuser durften nicht an Dritte veräußert werden, sondern mußten an die Genossenschaft zurückverkauft werden. Die bei der Gründung bestehende Mitgliederzahl von 27 konnte während des Ersten Weltkrieges nicht wesentlich gesteigert werden. Erst in der Nachkriegszeit stieg sie auf 164 im Jahre 1928 und auf 200 1929. Zu Beginn der dreißiger Jahre besaß die Genossenschaft Eigen-Heim zwei Vierfamilienhäuser und mehrere Zweifamilienhäuser. Die anfangs errichteten Einfamilienhäuser wurden bereits 1923 verkauft.

Ende 1920 wurde vom Sekretär des katholischen Arbeitervereins HÖRMANN die Baugenossenschaft Selbsthilfe gegründet, deren Zielgruppe katholische Arbeiter war. Gegenstand der Genossenschaft war nach § 2 der Statuten:

„1. Der Bau von Häusern zur Wohnungsnutzung für die minderbemittelten Genossen. 2.Die Annahme von Spareinlagen von Genossen zur Verwendung im Betrieb der Genossenschaft mit der Beschränkung auf eine Verzinsung von jährlich höchstens 5%. Der Zweck der Genossenschaft ist ausschließlich darauf gerichtet, Minderbemittelten gesunden und zweckmäßig eingerichtete Wohnungen in eigens erbauten Häusern zu billigen Preisen zu verschaffen.“499

Die Aufnahmegebühr betrug 5 RM; der Geschäftsanteil wurde bei der Gründung auf 500 M festgelegt, nach der Inflationszeit auf 200 RM. Die benötigten Gelder wurden in der Mehrzahl durch städtische Darlehen (Städtische Sparkasse) und staatliche Zuschüsse aufgebracht, weniger durch Darlehen von Industriellen. Bei ihrer Gründung hatte die Genossenschaft 31 Mitglieder, 1927 127 und 1928 131 Mitglieder. Gebaut wurden hauptsächlich Mehrfamilienhäuser, wobei sich die Genossen häufig selbst an den einfacheren Bauarbeiten (Erdaushub, Handlangerdienste) beteiligten. Die von den vier Marktredwitzer Baugenossenschaften in den Jahren 1919 bis 1929 erbauten Wohnungen faßt nachstehende Tabelle zusammen.

499 Zit. nach STEPHAN, C. 1933, S.127.

521

Tab.96: Bautätigkeit der Marktredwitzer Baugenossenschaften500 Jahr Gemeinnützige Allgemeine Eigenheim Selbsthilfe 1919 6 37 -- -- 1920 -- -- 9 -- 1921 5 20 -- 12 1922 ------15 1923 ------1924 -- 6 2 6 1925 4 24 14 16 1926 -- 26 4 -- 1927 -- 31 8 10 1928 -- 35 8 -- 1929 -- 19 8 14 Summe 15 198 53 73

Ergänzend zur Tabelle folgende Anmerkungen bzgl. der Bautätigkeit in Marktredwitz während der Nachkriegszeit: Von 1919 bis 1929 wurden insgesamt 604 Wohnungen gebaut, also durchschnittlich 55 pro Jahr bzw. 0,7 Neubauwohnungen auf 100 Einwohner. An diesen 604 Neubauwohnungen waren die Baugenossenschaften mit 339 Wohnungen (= 56,1%) beteiligt, auf private Bauherren entfielen 225 Wohnungen (= 37,3%), von städtischer Seite wurden 38 Wohnungen (= 6,3%) und staatlicherseits wurden 2 Wohnungen (= 0,3%) gebaut. 80,1% (= 484 Wohnungen) wurden mit öffentlichen Darlehen erbaut, 120 ohne Zuschüsse. Daß die hier dargestellte Bautätigkeit der Genossenschaften keinesfalls dazu beitragen konnte, das Wohnungselend zu beseitigen, sondern bestenfalls als ein im Rahmen der Selbsthilfe unternommener Versuch anzusehen ist, wenigstens für einige Arbeiter neuen Wohnraum zu schaffen und ungenügende Wohnverhältnisse zu beseitigen, braucht bei den vorliegenden Zahlen nicht weiter betont zu werden.

Wie sich aus Bauplänen entnehmen läßt, überwogen bei genossenschaftlichen bzw. betriebseigenen Wohnungen im Gegensatz zu von privater Seite errichteten Wohnungen solche mit zwei oder drei Zimmern bei einer Durchschnittsfläche von 50 m2. Außerdem besaß die Mehrzahl der Wohnungen eine Küche, die, wo vorhanden, größer als die übrigen Räume und somit ausdrücklich als Wohnküche konzipiert war; jeder Raum besaß zudem mindestens ein Fenster.501 Die 1905 vom zuständigen Fabrikinspektor getroffene Feststellung „Die Küchen, soweit solche vorhanden, sind meist dunkel und bedürfen vielfach auch des Tages über der künstlichen Beleuchtung ...“502

500 Aus: STEPHAN, C. 1933, S.128. 501 Die Miethäuser waren relativ klein, weswegen keine (fensterlosen) Innenwohnungen entstehen konnten. 502 JFI 1905, S.97. Vgl. oben, S.485.

522 war daher in Bezug auf genossenschaftliche resp. Fabrikwohnungen keinesfalls zutreffend, sondern bezog sich auf den privaten Wohnungsmarkt. Auch in anderer Hinsicht lassen sich diese Wohnungen als im Vergleich zu privat vermieteten Wohnungen überdurchschnittlich gut bezeichnen, da neben der Küche noch ein weiterer Raum heizbar war. In den wenigsten Fällen war innerhalb der Wohnung eine Badekabine geplant;503 vielmehr stand zu diesem Zweck mehreren Parteien eine Blechwanne in der Waschküche zur Verfügung. Ein Abort fand sich bis 1908 lediglich auf jedem Stockwerk. Die zu jeder Wohnung gehörigen, relativ großen Vorplätze waren meist innerhalb derselben, seltener außerhalb und dienten der Unterbringung von Dingen, die nicht im täglichen Gebrauch waren (Schubkarren, Kinderwagen, Fahrräder etc.); außerdem befand sich dort die einzige Wasserstelle der jeweiligen Wohnung. Lediglich ein Drittel der Wohnungen besaß eine Dachkammer, die als Abstellraum bzw. zum Wäschetrocknen genutzt wurde. Hingegen gehörte zu 50% der Wohnungen ein Kellerraum bzw. ein Schuppen, die als Lagerraum für Kartoffeln, Holz, Kohlen dienten. Ebenfalls die Hälfte aller Wohnungen besaß einen Garten, der insbesondere dazu diente, Obst und Gemüse anzubauen und somit ein gewisses Maß an gewisse Autarkie zu erreichen. Die Wohnungen der Lehmbausiedlung504 in Rehau besaßen zudem bereits ab 1921 durchgehend elektrische Beleuchtung und waren teilweise mit belüfteten Speiseschränken ausgestattet.

503 Zur Standardausstattung gehörten Bäder erst ab ca. 1930. Hingegen hatte die Baugenossenschaft Marktredwitz ihre Wohnungen bereits 1927 mit Bädern nachgerüstet. 504 Siehe hierzu AB, Anl.73 Lehmbausiedlung Rehau.

523

Tab.97: Ausstattung der genossenschaftlichen Wohnungen505

e nn

r latz p adewa Garten Garten Remise Stall Jahr Vermieter Anzahl Zimmer davon heizbar Fläche pro Zimmer Fenster pro Zimmer Küche Waschküche/ B Bad Toilette Vor Dachboden Kelle 1895 Pf Tirschenreuth 2 ------x x x x x 1896 PF Tirschenreuth 2 ------x x x x x x 1902 PF Hutschenreuther, Selb 3 ------x x 1906 PF Hutschenreuther 2 3 -- 2 x x* x x x 1906 PF Hutschenreuther 1 2 -- 2 x x x* x x x 1908 PF Hutschenreuther 2 3 50 m2 1-3 x x* x x 1908 PF Hutschenreuther 2 3 51 m2 1-3 x x** x x x x 1908 PF Hutschenreuther 2 3 53 m2 2-3 x x** x x x x 1909 PF Hutschenreuther 2 -- 52 m2 2x x** x x 1912 Gemeinnütz. Bauverein 1------x x x Selb 1912 Gemeinnütz. Bauverein 2 ------x x x 1913 Gemeinnützige 1------x Baugenoss. Marktredw. 1913 Gemeinnütz. Baugenoss. 2 ------x 1913 PF E & A Müller, Selb 2 ------x x x 1913 PF Rosenthal, Selb 1 ------x x x 1913 PF Rosenthal 2------x x x 1920 Gemeinnütz. Bauverein, 1254 m2 1xx x* x x Selb 1921 Gemeinnütz. Bauverein -- -- 55 m2 -- x x 1921 Baugenossenschaft Rehau 1 1 66 m2 2-3 x x x* x x x x 1921 Baugenossenschaft Rehau 3 3 -- 2-3 x x x* x x x x 1921 Baugenossenschaft Rehau 3 3 80 m2 2-3 x x x* x x x x 1921 Baugenossenschaft Rehau 3 3 44 m2 2-3 x x x* x x x x 1921 Baugenossenschaft Rehau 3 3 76 m2 2-3 x x x* x x x x

* Etagentoilette ** Wohnungstoilette

Zusammenfassend ist zu sagen, daß die ab 1880 in Oberfranken von Baugenossenschaften errichten Wohngebäude als überdurchschnittlich gut bewertet werden müssen. Dementsprechend äußerten sich auch staatliche Wohnungsinspektoren: „Die Mitglieder, welche in Häusern des Gemeinnützigen Bauvereins wohnen, haben verhältnismäßig wirklich billige Wohnungen, und in Anbetracht der schönen, hellen und geräumigen Zimmer, der gut eingeteilten Zubehöre wie Badezimmer, Bodenkammer, Keller, Remise sowie Gartenanteile sind durchgehend auch vorzügliche Wohnungen vorhanden.“506

Daß die meisten nicht-genossenschaftlichen Arbeiterwohnungen dennoch als unzureichend und ungesund eingestuft wurden, begründeten die Inspektoren mit dem Kinderreichtum und dem unzulänglichen Einkommen der Arbeiter bzw. deren Desinteresse an größeren und saubereren Wohnungen:

505 Quellen: STA Bamberg, K18 X!, 131; K3/1967, 5587, 5603.5615, 5717; Hutschenreuther-Archiv, Baupläne; StA Selb Akt 660/6. 506 STA Bamberg, K3/1967, 5587.

524

„Wenn in Selb verschiedene Arbeiterwohnungen als ungesund bezeichnet werden müssen, so liegt der Grund hierin nicht so sehr in den Wohnungen, sondern an den Arbeitern selbst. In den als ungesund bezeichneten Wohnungen wohnen zumeist Arbeiter mit starken Familien, zu deren Unterhalte der Arbeitsverdienst des Ehemannes und eventuell der Frau dazu nur mit Mühe ausreicht. Hieraus erklärt sich wohl, daß solche Arbeiter weniger auf Schönheit, Größe etc. der Wohnung sehen, als vielmehr auf Billigkeit derselben.“507

Dabei wurde, neben dem ohnehin bestehenden Wohnungsmangel, völlig verkannt, daß an- und ungelernte Arbeiter, Tagelöhner und sonstige Hilfsarbeiter gerade wegen ihres geringen Einkommens nicht in der Lage waren, sich eine Genossenschaftswohnung zu leisten, auf die sie zudem wegen des krassen Mißverhältnisses von Angebot und Nachfrage noch hätten lange warten müssen.

4.3 Ernährung

„Würden viele dieser Arbeiter, Steinmetzen und Fabrikarbeiter das Sparen verstehen und einsehen, daß Unmäßigkeit die Kräfte des Körpers und der Seele nicht stärkt, sondern zerstört, so würden sie in kurzer Zeit zu bedeutendem Vermögen kommen und einem heiteren Alter entgegensehen können.“508

Die hier zitierte Feststellung des greisen Selber Pfarrers CLOETER aus dem Jahre 1867 verkennt in geradezu eklatanter Weise die realen Lohn- und Existenzbedingungen der Arbeiter und kann insofern nur als alters- und zeitbedingte Äußerung verstanden werden, die dennoch nützlich erscheint, die unsensible und realitätsferne Sichtweise großer Teile des Bürgertums darzustellen. Um so erstaunlicher mutet jedoch die Meinung von RIESS aus dem Jahre 1900, also immerhin 43 Jahre später, an, der in ähnlicher Weise schlußfolgerte, daß „... die Nahrung der Selber – wir sprechen hier natürlich von den eigentlichen Selbern, dem Bürgerstand – durchschnittlich gute Hausmannskost (ist). Kartoffel und Gemüse bilden neben Fleisch einen wichtigen Faktor der Nahrung.“509

Die Ausgrenzung der Arbeiterschaft vom Bürgertum sowohl im traditionellen wie auch im heimatrechtlichen Sinne implizierte, daß sich jene, nicht zu den „eigentlichen Selbern“ gehörende Bevölkerungsgruppe nicht von „durchschnittlich gute(r) Hausmannskost“ ernährte, ohne diese im Vergleich bedeutend schlechtere Ernährung bzw. deren Ursachen zu hinterfragen. Für die vorliegende Untersuchung sicher ergiebiger, weil realistischer und

507 STA Bamberg, K3/1967, 5095. 508 CLOETER, C. 1867: Geschichte der Stadt und Kirchengemeinde Selb. Bayreuth. S.93f. 509 RIEß, L. 1900, S.16.

525 weniger beschönigend sind dagegen die Generalberichte über die Sanitätsverwaltung im Königreiche Bayern, die sich zur Ernährungssituation der 1880er Jahr wie folgt äußern: „In Oberfranken läßt die Ernährungsweise an manchen Orten, zumal bei der Ueberbevölkerung, vieles zu wünschen übrig. ...Im Landbezirk Hof wurden konsumirt (sic!) 14,2 Kilo Fleisch auf den Kopf per Jahr.“ 510

„Eine Speisekarte aus dem Frankenwalde bietetMorgens Cichorienbrühe und Kartoffel, Mittags Kartoffelklöße mit saurer Brühe aus Mehl, Essig und Wasser oder mit Sauerkraut, Abends Cichorienbrühe (häufig ohne Milch) und Kartoffel. Der Kartoffelkonsum des Tages kommt bis auf 1500 Gramm. Dazu wird viel Schnaps getrunken.“511

Auch 1897 stellten die Jahresberichte der Königlich Bayerischen Fabriken- und Gewerbeinspektion fest, daß Kartoffeln Hauptnahrungsmittel der Arbeiterschaft seien,512 wie zwei zur damaligen Zeit in Selb sehr bekannte Liedverse bestätigen: Fröi Erdäpfl, in aller Fröi. In der Frühe Kartoffeln, in aller Frühe. Mittog Erdäpfl und a wenig Bröih. Mittags Kartoffeln mit ein wenig Brühe. Nachts Erdäpfl mit zamtn Kloid. Abends Kartoffeln mit Schale. Der Herr sei uns gnädi in Ewigkeit! Der Herr sei uns gnädig in Ewigkeit!

Siem mal Kraut in aner Wochn Siebenmal Kraut in der Woche, Tout ja die Frau Dötschi kochn. weil die Frau Kraut mit Klößen kocht. Dabei frogt s noch alle Tog, Und dann fragt sie noch jeden Tag, ob mer ka sauers Kraut nit mog.513 ob man kein Sauerkraut mag.

In Oberfranken bereitete man aus Kartoffeln Kochtakniala (rohe Klöße), Bamwillana (gekochte Klöße) sowie Bachna Kniala (Kartoffeln, Milch und Mehl) und Salzkartoffeln.514 Weitere regionale Besonderheiten hinsichtlich der Speisen gibt RIEß an:515 Salate aus Wurst, Zwiebeln, Essig und Öl sowie Stockfisch mit Zwiebeln und Speck als Mittagessen und Backnes Blout (Gebackenes Blut; Speck, geröstete Semmeln, Zwiebeln und Majoran) als Abendmahlzeit; außerdem wurden jahreszeitlich abhängig Beeren und Pilze gesammelt und verzehrt.

Die Ernährungssituation stellte sich 1905 nur wenig verändert dar, als die Jahresberichte zu den Hauptnahrungsmittel noch Brot und Kaffee hinzurechneten,516 wohingegen teures Gemüse sowie Schweine- und Rindfleisch kaum verzehrt wurden. Wenn überhaupt, wurde auf billiges Pferdefleisch zurückgegriffen, das in Selb an Markttagen in geräuchertem Zustand

510 Generalberichte über die Sanitätsverwaltung im Königreiche Bayern, das Jahr 1880 umfassend, S.87, S.91. Zit. nach SCHOENLANK, B. 1887, S.40f. 511 Generalberichte sc. für 1881, S.88. Zit. nach SCHOENLANK, B. 1887, S.41. 512 JFI 1897, S.251. 513 Aus: RIEß, L. 1900, S.50 [Translation d. Verf.]. 514 Vgl. BOHRER, H. 1929, S.46. 515 RIEß, L. 1900, S.49ff. 516 JFI 1905, Anhang S.98.

526 angeboten wurde. Die Jahresberichte von 1905 bieten in ihrem Anhang auch ein Budget einer Selber Porzellanarbeiterfamilie,517 wobei einschränkend zu bemerken ist, daß die untersuchte Familie mit einem 41jährigen Lagergehilfen in einer Porzellanfabrik als Vater, einer im Haushalt tätigen Mutter und acht zum größten Teil minderjähriger Kinder eher atypisch für eine Porzellinerfamilie war, die durchschnittlich vier bis fünf Personen umfaßte; hinzu kam, daß ein Lagergehilfe eher zu den unteren Lohngruppen zu rechnen ist. Wenn hier trotzdem ein Vergleich mit dem Haushaltsbudget einer vier bis fünf Personen zählenden, zur oberen Lohngruppe gehörenden Nürnberger Arbeiterfamilie, die ROSSMEISL untersucht hat,518 angestellt wird, so ist zu beachten, daß das Budget des größten Teils der Porzellanarbeiter eher zwischen diesen beiden gelegen haben dürfte. Dabei ist an dieser Stelle vor allem der Haushaltsposten „Ernährung“ von Interesse, der bei den untersuchten Familien mit 60,5% (Nürnberg) bzw. 56,4% (Selb) der Gesamtausgaben nahezu gleich hoch ausfiel und sich wie folgt spezifizierte:

Tab.98: Nahrungsmittelbudget einer Nürnberger und Selber Arbeiterfamilie (in %)519 Jährliche Ausgaben für Nürnberger Arbeiterfamilie (1900) Selber Arbeiterfamilie (1905) Brot 15,1 24,7 Kartoffeln 2,0 4,5 Fleisch, Wurst 25,1 14,9 Mehl, Getreideprodukte 2,8 6,9 Zucker 2,5 4,2 Schweineschmalz 2,5 7,7 Milch 7,9 15,3 Bier 15,9 8,6 Eier 2,9 2,8 Gemüse 1,6 0,7 Kaffee 1,9 6,0 Butter 1,2 1,4 Sonstiges 18,6 2,3

Bei Betrachtung der ersten drei Ausgabenposten, die nahezu die Hälfte der gesamten Auslagen für Lebensmittel ausmachen, wird erkennbar, daß die Selber Familie fast ein Viertel ihrer Ausgaben für Brot aufwendete, wogegen die Nürnberger Familie nur rd. 15%. Dabei wurde im Selber Arbeiterhaushalt das im Vergleich billigere Schwarzbrot bevorzugt (22,1% für Schwarzbrot und nur 2,6% für Weißbrot), während in Nürnberg etwa zu gleichen Teilen

517 Ebd., S.111ff. Die Aufzeichnungen im Haushaltsbuch der Familie datieren allerdings nur für den Zeitraum von 10 Wochen (1.Mai bis 12.Juli) und sind dann hochgerechnet worden. 518 ROSSMEISSL, D. 1977: Arbeiterschaft und Sozialdemokratie in Nürnberg 1890-1914. Nürnberg. S.90ff. 519 Nach: ROSSMEISSL, D. 1977, S.100ff. u. S.285 und JFI 1905, Anhang S.112. Die Absolutwerte bei ROSSMEISSL wurden in Prozentwerte umgerechnet und auf das Budget für Nahrungsmittel (100%) bezogen.

527

Weiß und Schwarzbrot verzehrt wurde.520 Der gegenüber dem eigenen Brotverbrauch und im Vergleich zur Nürnberger Familie wesentlich geringere Fleisch- und Wurstkonsum der Selber Familie weist verweist ebenso auf das geringe Einkommen des Selber Lagergehilfen - zumal die Preissteigerungen in Selb zu den höchsten in Oberfranken zählten521 - wie der im Vergleich zum Nürnberger Haushalt doppelt so hohe Verbrauch an Kartoffeln. Der relativ hohe Milchkonsum und der hohe Verbrauch an Mehl, Grieß und Hafer als Kindernahrung erklären sich aus dem Kinderreichtum des Selber Fabrikarbeiters. Signifikant ist auch der höhere Prozentwert beim billigeren Schweineschmalz, das bei der Selber Familie als Butterersatz verwendet wurde. Wesentlich erhöht war hingegen der Kaffeeverbrauch der Selber Familie, wobei es sich allerdings um Surrogate wie Malzkaffee und Zichorie gehandelt haben dürfte. Der Gemüseverbrauch der Selber Familie lag mit 0,7% noch unter dem der Nürnberger Familie (1,6%), was durch den hohen Gemüsepreis erklärt wird, der sich für die Selber Familie dadurch noch mehr verteuerte, daß das Gemüse aus Bamberg angeliefert wurde. Rund 1/5 der Ausgaben der Nürnberger Familie gegenüber lediglich 2,3% der Selber Familie entfiel beim Posten „Sonstiges“ auf Fisch, Erbsen, Bohnen, Linsen, Maggi-Suppen, Tee sowie auf Kakao und Schokolade, die bei der Familie in Selb fast völlig fehlten, wodurch deren Mahlzeiten eintöniger und weniger nährstoffreich waren.

Nach GREBING wurden in kinderreichen Arbeiterfamilien ca. 15% des Jahreseinkommens nicht durch den Verdienst des Mannes, sondern durch die Ehefrau, mitarbeitende Familienangehörige sowie durch Untervermietung aufgebracht.522 Bei der Nürnberger Familie stieg der Anteil auf 20% des jährlichen Gesamteinkommens,523 bei der Familie in Selb betrug dieser sogar 41,4%, die sich aus 25,4% Einnahmen von zwei arbeitenden Kindern 8,2% Einnahmen der Ehefrau und 7,8% sonstigen Einnahmen zusammensetzten.524 Somit wäre das Budget des Selber Haushaltes ohne das Einkommen der beiden ältesten Kinder derart geschmälert worden, daß es die Familie insbesondere im Hinblick auf die ohnehin mangelhafte Ernährung empfindlich getroffen hätte. Festzuhalten bleibt, daß das gesamte Familieneinkommen beider Familien gerade eben ausreichte, um zu existieren. Da jedoch erst ab einem Jahreseinkommen von ca. 2.000 RM regelmäßig und in ökonomisch relevantem

520 Vgl. ROSSMEISSL, D. 1977, S.101. 521 Vgl. JFI 1905, S.140 u. Anhang S.114f. Danach stiegen die Preise für 1 Pfd. Ochsenfleisch von 66 Pf. i.J. 1901 auf 80 Pf. 1905; 1 Pfd. Schweinefleisch kostete 1901 70 Pf und 1905 90 Pf. Bereits im Zeitraum 1893 bis 1901 waren die Fleischpreise in Oberfranken nicht unbedeutend angestiegen. Vgl. JFI 1901, S.101. 522 GREBING, H. 1987, S.90. 523 ROSSMEISSL, D. 1977, S.93f. 524 JFI 1905, Anhang S.112.

528

Umfang gespart werden konnte,525 die untersuchten Familien dieses Einkommen jedoch nicht erreichten, konnten keine Rücklagen gebildet werden. Krankheiten oder Unfälle und die daraus resultierenden Verdienstausfälle hatten somit existenzbedrohende finanzielle Engpässe zur Folge.

Tab.99: Jahresdurchschnittspreise von Grundnahrungsmitteln in Hof 1913 (in Mark)526 Mehl Roggenbrot Schweinefleisch Kartoffeln Milch Butter Schmalz Sommerbier (Pfund) (Pfund) (Pfund) (Pfund) (Liter) (Pfund) (Pfund) (Liter) 0,17 0,14 0,97 0,03 0,20 0,69 1,61 0,28

Der Verdienst eines Tagelöhners in der Porzellanindustrie, der sich 1913 auf ca. 27 Mark wöchentlich belief,527 reichte gerade eben aus, eine vierköpfige Familie zu ernähren – stellt man diesem die von der Ameise angegeben wöchentlichen Minimalausgaben alleine für Lebensmittel von 26 Mark gegenüber.528 Da hierbei die übrigen Ausgaben für Miete, Kleidung, Hausrat, Medizin und weiteres noch gar nicht enthalten sind, reichte der Verdienst des Mannes alleine keinesfalls aus.529 Durch Zuverdienst von Ehefrauen und arbeitenden Kindern, Untervermietung sowie Ausweichen auf billigere Lebensmittel wie z.B. Pferde- und Hasenfleisch, Malzkaffee etc. versuchten die Familien, die Differenz auszugleichen. Über die Ernährungslage der Arbeiter im Jahre 1911 schreibt der Vorwärts: „Morgens gibt es Kaffee(-Brühe) mit trockenem Brot. Mittags gibt es nach übereinstimmender Auskunft und wie wir uns in 5 Haushaltungen selbst überzeugten 4-5 mal in der Woche bayerische Knödel. Dazu gibt es mindestens 3 x in der Woche Fleisch! Man höre und staune, 3 x Fleisch? Jawohl! Und zwar nur deswegen, weil sich die Mahlzeit am billigsten herstellen läßt. Das 2 Fleischquantum, das gekauft wird, ist nämlich nur ¼ Pfund, oder bei Besser-Situierten /5 Pfund, also im Höchstfall 220g. Dieses Quantum wird in einer langen Brühe gekocht und muß für die ganze Familie reichen.“530

Die Ernährungssituation der oberfränkischen Porzelliner verschärfte sich noch während des Ersten Weltkrieges, als sich insbesondere die - ohnehin schon knappen - Grundnahrungsmittel

525 Vgl. GREBING, H. 1987, S.91 u. ROSSMEISSl, D. 1977, S.96. 526 Aus: ZEH, E. 1916: Heimatkunde der Stadt Rehau. Rehau. S.200. 527 Vgl. Tab.55. 528 Die Ameise vom 2.7.1915. 529 Auch bis 1938 hatte sich daran wenig geändert: Dem Nettowochenlohn eines Selber Facharbeiters (Porzellanmaler) von 31,74 RM stand ein von E. REICHEL [1939, S.10] angegebener wöchentlicher Nahrungsmittelbedarf von 12,88 RM pro Person gegenüber. Dies bedeutete, daß unter Berücksichtigung der sonstigen Kosten für Miete, Kleidung, Haushaltsutensilien, Reinigung usw. „... allenfalls ein alleinstehender Facharbeiter mit diesem Lohn auskommen konnte.“ [EIBER, L. 1981, S.172]. Vgl. hierzu auch die Aufstellung REICHELs [1939, S.11], aus der ersichtlich wird, daß sich die Art und Zusammensetzung der Hauptnahrungsmittel der Porzellanarbeiter des Jahres 1938 nur unwesentlich von derjenigen früherer Jahre unterschied.. 530 Zit. nach TRÜBSBACH, R. 1990, S.627.

529 massiv verteuerten. Im Zeitraum 1914 bis 1918 stiegen die Preise für Brot um 132%, für Kartoffeln um 160% und für Rind- und Schweinefleisch sogar um 250% (jeweils bezogen auf 1 Kg).531 In Folge der sich verschärfenden Lebensmittelknappheit bzw. –verteuerung kam es in Selb im Mai und Juli 1916 zu Demonstrationen von einheimischen Arbeiterinnen, böhmischen Arbeitern und Hausfrauen, die in den Wochenberichten als „Zusammenrottung von Weibern, die höhere Brotrationen ... erzwingen wollten.“532 beschrieben werden. Der Ernährungsausschuß der Stadt Selb charakterisierte die Situation 1916 wie folgt: „Die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung ist unbefriedigend. Besonderer Mangel besteht an Fett, Gemüse, Kartoffeln, Reis, Grieß und Gerstenmehl. ... Die Stimmung ist durch die anhaltende Verteuerung der notwendigen Lebensmittel und Mangel an solchen ungünstig beeinflußt. Zu begrüßen wäre es, wenn gegenüber der eingetretenen Verteuerung der Kartoffeln, die neben dem Brot das wichtigste Nahrungsmittel bilden, ein Ausgleich durch Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln geschaffen werden könnte.“533

Daß sich die Nahrungsmittel des täglichen Bedarfs keineswegs nur in Selb, sondern in ganz Oberfranken verteuert hatten, läßt sich aus folgender Tabelle ablesen, die die amtlich festgelegten, in Selb geltenden Höchstpreise des Jahre 1916 denen der Bezirksämter Rehau und Wunsiedel gegenüberstellt: Tab.100: Höchstpreise in Selb sowie in den BÄ Rehau und Wunsiedel 1916 (in Mark)534 Mehl Roggenbrot Butter Milch Malzkaffee Schweinefleisch Kartoffeln (Pfund) (Pfund) (Pfund) (Liter) (Pfund) (Pfund) (Pfund) Selb 0,21 0,17 1,50 0,22 -- 1,66 0,05 Rehau 0,21 0,17 1,50 -- 0,58 1,66 0,05 Wunsiedel 0,23 0,19 -- 0,20 0,58 1,66 --

Die Situation verbesserte sich auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zunächst nicht535 und wurde noch dadurch verschlechtert, daß sich die Bauern weigerten, Kartoffeln und Getreide zu den staatlich festgesetzten Höchstpreisen abzugeben. Dies führte zu Konflikten zwischen Arbeitern und der Landbevölkerung536 und schließlich im Jahre 1919 zu erneuten

531 Vgl. BALD, A. 1991, S.89. 532 STA Bamberg K3 Präs. Reg. 1828, WB vom20.5.1916. 533 StA Selb, Akt 026.21. 534 Quelle: Höchstpreisliste vom 10. September 1916, S.30f., 38f., 54f., 70f. Aufgrund des Reichsgesetze betr. Höchstpreise vom 4. August 1914 nebst Ausführungsbestimmungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern wurden ab 1914 Reichs-, Landes- und Regierungsbezirkshöchstpreise von der Bayerischen Landespreisprüfungsstelle amtlich festgelegt. 535 Vgl. StA Selb Akt 026.22. 536 Vgl. STA Bamberg, K3/1967, 2151.

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Demonstrationen gegen Bauern und Einzelhandel.537 Wie schwierig sich die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren gestaltete, läßt sich den Niederschriften über die Sitzungen des städtischen Ernährungsausschusses Selb entnehmen, wo es dazu heißt: „Er (der Vorsitzende, d. Verf.) gibt den Hauptinhalt der Min.Entschl. ... bekannt, die ihrerseits ab 1.12.1918 eine Mehlzulage von 60 g gewähre, andererseits aber vor der Hinausgabe dieser Mehlmenge warne, indem sie auf die Gefahr einer bevorstehenden Brotnot hinweise. ... Die Kartoffelversorgung gebe zu enrnstesten Bedenken Veranlaßung. Die bisherige Eindeckung des Kommunalverbandes sei eine ganz ungenügende, die noch hereinzubringenden Kartoffelmengen seien bei der fortgeschrittenen Jahreszeit .. keine sehr großen. Sparsamkeit sei daher unter allen Umständen geboten; eine Nachlieferung von Kartoffeln an Verbraucher, die die ihnen zustehende Menge zu rasch aufbrauchen ... sei gänzlich ausgeschlossen. ... Die Milchversorgung ist ... das Schmerzenskind des hiesigen Kommunalverbandes. Um nur den versorgungsberechtigten Verbrauchern die nach der Reichsmilchverordung vom 3.10.1916 in Betracht kommende Milchmenge zuzuführen, wären hier wöchentlich 10.105 l nötig. Bei Berücksichtigung der bezugsberechtigten Kinder und Leute über 70 Jahren mit täglich ½ l wären weiter 9.275 l und bei Einbeziehung der Erwachsenen mit nur 1 l wöchentlich noch einmal 7.700 l, sohin insgesamt ca. 27.000 l nötig. Die tatsächlich zur Verfügung stehenden Milchverteilungsmenge betrage jedoch nur ca. 7.000 l.538

Die Porzellanfabriken als wichtigste Arbeitgeber in den Bezirksämtern Rehau und Wunsiedel versuchten durch Einrichtung von Betriebskantinen und Freikartenausgabe die Ernährungslage ihrer Arbeiter zu verbessern.539 Daß für die Nahrungsmittelbeschaffung Initiative und Organisationstalent vonnöten waren, beweisen folgende Fälle: Um für die Arbeiterspeiseanstalt (Kantine) in Selb-Plößberg 125 Zentner Kartoffeln zu erhalten, bot die PF Zeidler dem Ernährungsausschuß im Austausch 250 Zentner Briketts an, was von diesem auch akzeptiert wurde.540 Die PF Thomas wiederum hatte Felder gepachtet, um dort Kartoffeln und Gemüse für ihre Arbeiter anzupflanzen; außerdem kaufte man in großen Mengen Lebensmittel ein, die kontingentiert an die Betriebsangehörigen abgegeben wurden.541

Von Interesse ist auch die Betrachtung der Ernährungsverhältnisse der Arbeiterschaft in der Oberpfalz. Diese Region wurde 1893 vom zuständigen Fabrikinspektor in Bezug auf die Ernährungsweise in drei Zonen unterteilt:542 Die erste Zone bestand aus dem landwirtschaftlich ertragreichen, an den Bahnverkehr angeschlossenen Gebiet um Regensburg sowie den Städten Amberg und Neumarkt; die zweite Zone umfaßte die landwirtschaftlich

537 Vgl. BALD, A. 1991, S.104. 538 StA Selb, Akt 410.8/10. Niederschrift über die Sitzung des Ernährungsausschusses vom 6. Dezember 1918. 539 Vgl. S.444. 540 StA Selb, Akt 410.8/10. Niederschrift über die Sitzung des Ernährungsausschusses vom 20. Februar 1919. 541 STA Bamberg, K3/1967, 2151. 542 Vgl. JFI 1893, S.102f.

531 weniger ertragreichen, jedoch ans Eisenbahnnetz angeschlossenen Gebiete; die dritte Zone wurde gebildet aus den ertragsarmen und vom Bahnverkehr weit entfernten Regionen der Oberpfalz. In der ersten Zone war es den Arbeitern, soweit ihr Einkommen ihnen dies erlaubte, möglich, zwischen diversen Fleischsorten sowie zwischen Fleisch und anderer Kost zu wechseln. In den beiden anderen Zonen war die Ernährung – schon aufgrund fehlender Einkaufsmöglichkeiten, auf Kartoffel- und Mehlspeisen beschränkt. „Während ferner in der ersten Zone Brot und Bier in meist sehr guter Qualität zu haben sind, nimmt die Güte dieser Hauptnahrungsmittel in der zweiten schon bedeutend ab und in der dritten steht dem Arbeiter in der Regel nur sehr geringwerthiges Bier und schweres, mit Hafer vermischtes Roggenbrot zur Verfügung.“543

Diese Beschreibung des oberpfälzischen Fabrikinspektors wird bestätigt und konkretisiert durch einen in der sozialdemokratischen Presse veröffentlichten Leserbrief eines Arbeiters aus Hemau:544 „In den kleinen Orten sind die Verhältnisse für die Arbeiter noch viel schlechter und selten kann man in der Presse darüber Berichte finden, weil eben diese Leute nicht selbst schreiben können oder nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. ... Dabei sind die Miethpreise verhältnismäßig hoch, die Lebensmittel theurer und von geringerer Qualität als in den großen Städten. Von Untersuchung der Lebensmittel wie in den größeren Städten ist natürlich keine Rede. Unser Bier ist schon mehr gefärbtes Wasser, Hopfen und Malz scheinen neben die Braupfanne gekommen zu sein; für Schweineschmalz erhält man aufgelöstes Unschlitt, und so ist es mit allen Lebensmitteln.“545

STELZLE gibt eine Verbrauchsrechnung aus dem Jahre 1893 wieder,546 nach der eine neunköpfige Familie aus dem der dritten Zone zugehörigen Bezirk Erbendorf in einem Monat folgende Nahrungsmengen verzehrte: 365,64 kg Kartoffeln; 9,75 kg Weizenmehl und 90 kg Roggenmehl zum Brotbacken; 45 l Milch; 6 kg Zucker; 1,5 kg Butter; 15 kg Kraut; 1,5 kg getrocknete Zwetschgen; 0,6 kg Steinpilze; 1,5 kg Ochsenfleisch und für 0,50 Mark Kaffee. Damit erhielt eine Person pro Tag 5,5 g Butter und 5,5 g Fleisch. Etwas besser stellte sich die Ernährungslage im zur Zone zwei gehörigen Amtsbezirk Tirschenreuth dar, wo der Speiseplan um dreimal wöchentlich Fleisch angereichert werden konnte. Der Fleischkonsum der oberpfälzischen Arbeiter war also eher gering, außerdem konjunkturell und regional stark unterschiedlich. Die insbesondere in Zeiten starker Teuerung steigende Nachfrage nach billigem Pferdefleisch konnte durch die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durchschnittliche jährliche Zahl Pferdeschlachtungen von ca. 500547 nicht befriedigt werden.

543 Ebd., S.103. 544 30 km westlich von Regensburg. 545 Fränkische Tagespost vom 9.1.1892. 546 STELZLE, W. 1980: „...dass die Bonzen auch nichts haben.“ Bauernelend und Bauernrebellion in der Oberpfalz. Magisterarbeit. Nürnberg. S.99. 547 JFI 1910, S.127.

532

Somit gestaltete sich der tägliche Speiseplan der oberpfälzischen Arbeiter außerordentlich bescheiden und ernährungsphysiologisch mangelhaft: „Früh Kaffee mit Milch und Schwarzbrot oder Kartoffel-, Milch- oder Brennsuppe. Mittags wöchentlich ein- bis dreimal Fleisch, vorwiegend Schweinefleisch mit Kartoffeln, die anderen Tage Mehl- oder Kartoffelspeisen, als Hefeteignudeln, Kartoffelnudeln, Kartoffelklöße usw., wozu sehr häufig Kraut gegessen wird. Abends Kaffee, Kartoffel-. Milch- oder Brennsuppe, hie und da ½-1 Liter Bier dazu. Zu jeder Mahlzeit wird reichlich Brot konsumiert. Als vorherrschend ergibt sich der Genuß von Kartoffeln und der daraus zubereiteten Speisen.548

Daß der jährliche Pro-Kopf-Bierkonsum der oberpfälzischen Arbeiterschaft im Jahre 1900 von durchschnittlich 518,5 l (Zone 1)549 bzw. immerhin noch 330 l (in Zone 3 mit geringwertigem Bier) weit über dem bayerischen Durchschnitt von 235 l (Periode 1909- 1913)550 lag, bestätigt RASELs Schätzung, daß „der Bierkonsum ein sehr reichlicher (ist), - der Arbeiter verbraucht ungefähr ¼ seines Lohnes für Bier ... .“ 551

Dabei wurde Bier, neben seiner Funktion als psychisches Betäubungsmittel, hauptsächlich wegen seines Nahrungs- und Stärkungseffektes konsumiert.552 Der steigende Alkoholkonsum in der deutschen Arbeiterschaft wurde im übrigen von der Sozialdemokratie auf heftigste bekämpft, da nach ihrer Meinung „... die trunksüchtigsten Bezirke auch die Heimat der Sozialistenfresser, der Streikbrecher und der unterthänigen, keiner Aufklärung zugänglichen Knechtsseelen (waren).“553 Um zumindest den Konsum hochprozentiger Alkoholika am Arbeitsplatz einzudämmen, stellte einige Fabriken Kaffeespender auf: „Wir erkennen an, daß beim Beginn der Arbeit ... ein warmes Getränk wohltätig ist, zumal in der kälteren Jahreszeit. Um den Branntwein entbehrlich zu machen, haben wir schon vor zehn Jahren einen Apparat aufgestellt, um jedem Arbeiter beim Beginn seines Tagewerks eine Tasse schwarzen Kaffee zu rechen.“554

Trotzdem stieg vor allem der Bierkonsum bis zur Jahrhundertwende weiter an,555 wobei es interessant ist, anzumerken ist, daß die meisten Porzellanfabriken über einen Bierausschank verfügten, der während der Arbeitszeit v.a. von den gutverdienenden Arbeitern der Weißbetriebe mit viel Staubentwicklung stark frequentiert wurde.

548 JFI 1910, S.128. 549 Generalberichte sc., für 1900, S.229. 550 Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Königreich Bayern 1915, Bd.13, S.15. 551 RASEL, E. 1909, S.42. 552 Vgl. hierzu ROBERTS, J.S. 1980: Der Alkoholismus deutscher Arbeiter im 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft, H.2, S.222, 229. 553 Fränkische Tagespost vom 17.11.1900. 554 Thonindustriezeitung vom 2.7.1887. 555 Um die Jhdt.-wende gab es einen deutlichen Rückgang des Alkoholkonsums der Arbeiter, insbesondere bei hochprozentigen Alkoholika. Vgl. ROBERTS, J.S. 1980, S.223f.

533

Die folgende Tabelle stellt die Entwicklung der Tagelöhne männlicher und weiblicher Arbeiter in der Oberpfalz derjenigen von Preisen wichtiger Bedarfsgüter im Zeitraum 1884 bis 1914 gegenüber. Danach lassen sich folgende Aussagen machen: Während des gesamten Vergleichszeitraumes war der finanzielle Spielraum einer oberpfälzischen Arbeiterfamilie äußerst gering. So konnte bspw. ein Arbeiter von seinem Tagelohn im Jahre 1914 rd. 2 ½ Pfd. Fleisch kaufen, also nur unwesentlich mehr als im Vergleichsjahr 1892. Des weiteren standen den erzielten Lohnzuwachsraten von 60% bei den Männern und 57% bei den Frauen im Zeitraum 1892 bis 1914 erhebliche Preissteigerungen beim Fleisch (36%) und Bier (1906 bis 1914: 9%) gegenüber. Die Preise für Kartoffeln unterlagen erntebedingt starken Schwankungen und konnten innerhalb eines Jahres um 33-50%,556 teilweise sogar um 100% steigen;557 nur die Brotpreise blieben im Vergleichszeitraum fast stabil.

Tab.101: Tagelöhne und Lebensmittelpreise in der Oberpfalz 1884-1914 (in Mark)558 Jahr Tagelohn Roggenbrot Kartoffeln Schweinefleisch Sommerbier m w (Pfund) (Pfund) (Pfund) (Liter) 1884 1,20 1,12 0,14 0,02 0,59 0,22 1888 1,20 0,91 0,13 0,02 0,60 0,22 1892 1,39 1,06 0,16 0,03 0,66 0,22 1896 1,39 1,07 0,14 0,03 0,63 0,22 1901559 1,60 1,14 0,14 0,03 0,63 0,22 1906 1,83 1,25 0,14 0,02 0,81 0,22 1908 2,11 1,47 0,16 -- 0,72 -- 1914 2,23 1,66 0,15 0,03 0,90 0,24

Es läßt sich somit sagen, daß in der Oberpfalz - nicht anders als in Oberfranken – das Arbeiterdasein aus reiner Existenzsicherung und Bereitstellung des absoluten Existenzminimums zum Überleben bestand. Auch hier war es den Arbeitern unmöglich, nennenswerte Beträge zu sparen, um in gewissem Umfang Daseinsvorsorgen treffen und ein zumindest kleinbürgerlichen Verhältnissen ähnliches Leben in relativer Sicherheit und bescheidenem Wohlergehen führen zu können. Saisonale, regionale oder konjunkturelle Arbeitslosigkeit, Erwerbslosigkeit im Alter, Krankheit, Unfall oder Tod des Haupternährers bedeuteten somit auch für die oberpfälzischen Arbeiterfamilien nicht abzusichernde Lebensrisiken, die die Existenz bedrohen und vernichten konnten.

556 1904 stieg der Kartoffelpreis in der gesamten Oberpfalz stark an. Vgl. JFI 1904, S.105. 557 So verdoppelte sich der Kartoffelpreis in Regensburg im Jahre 1911. Vgl. JFI 1911, S.111. 558 Aus: MÜLLER, G. 1988, S.58. 559 KUCZINSKI gibt für Anfang des 20. Jhdts. ähnliche Nahrungsmittelpreise an: 1 Pfd. Roggenbrot 14 Pfg.; 1 Pfd. Kartoffeln 4 Pfg.; 1 Pfd. Rindfleisch 87 Pfg.,; 1 Pfd. Butter 135 Pfg. Vgl. KUCZINSKI, J. 1967: Das große Geschäft. Die Verbrechen des deutschen Imperialismus. Berlin. S.64.

534

4.4 Freizeitverhalten der Arbeiter

Bei der Untersuchung des Freizeitverhaltens der Arbeiterschaft ist zu unterscheiden zwischen individueller, im Rahmen der Familie stattfindender Freizeitgestaltung und solcher kollektiver Art, wie sie in Vereinen ausgeübt wurde. Zunächst sollen einige allgemeine Anmerkungen zur individuellen Freizeitgestaltung gemacht werden, bevor das kollektive Freizeitverhalten und hier insbesondere verschiedene Arbeitervereine näher dargestellt werden.

Individuelle Freizeitgestaltung Die hauptsächliche individuelle Freizeitgestaltung der Porzelliner im Untersuchungsraum Oberfranken war das Wandern in der näheren Umgebung, wie auch schon RIEß feststellte: „Vielen Menschen, die ... den Staub der Fabriken in die Laugen saugen, ist dieses Egertal560 die ganze Sommerfrische oder ihre bessere Welt. Hier wandern sie ..., führen ihre Lieben durch die Wälder. Es ist wenig genug für (diese, d. Verf.) Menschen.“561

Neben Wandern war Lesen eine mögliche individuelle Freizeitbeschäftigung, wenn auch in sehr beschränktem Umfang, da kaum Bibliotheken zur Verfügung standen: „In Oberfranken bestehen keine öffentlichen Lesehallen, Fabrikbibliotheken sind ... vorhanden und werden fleißig benützt; auch konfessionelle Vereine und Fortbildungsvereine besitzen meist keine Büchersammlungen.“562

Neben der bereits erwähnten, bei der PF Thomas / Marktredwitz bestehenden Fabrikbücherei563 bestanden 1920 solche auch in der Oberpfalz bei den Porzellanfabriken in Waldsassen, Mitterteich und Weiden.564

Die männlichen Porzellanarbeiter besuchten regelmäßig eine Gastwirtschaft, um dort Bier zu trinken, sich zu unterhalten oder zu kegeln; auch wurden in den Gasthäusern in unregelmäßigen Abständen Lustspiele u.ä. von Wanderbühnen aufgeführt. Eine weitere Freizeitaktivität war der Besuch von Tanzveranstaltungen, die allerdings beim Bezirksamt angemeldet und von diesem gebührenpflichtig genehmigt wurden. Ein solcher Erlaubniß- Schein lautete dann bspw. wie folgt: „Dem Porzellanmalereibesitzer Herrn Max Jena in Selb wird hiermit als Vorstand des Vereins Liederkranz in Selb die Erlaubniß zur Abhaltung eines Balles für den genannten Verein im

560 Bei Selb. 561 RIEß, L. 1900, S.27. 562 STA Bamberg, K3 / F VIa, 119. 563 Vgl. Anm.177. 564 Vgl. VELHORN, J. 1925, S.124.

535

Hoefer`schen Saale dortselbst am Sonntag, den 8ten November 1885 von Nachmittags 8 Uhr an bis früh vier Uhr unter der Bedingung ertheilt, daß er 1) für Einhaltung der festgesetzten Stunde, 2) für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung, 3) für Fernhaltung schulpflichtiger Jugend vom Tanzvergnügen Sorge zu tragen habe. ... Die Gebühren zu 7 Mark 70 Pfg. werden durch Postnachnahme erhoben.“565

Der Besuch solcher Tanzveranstaltungen nahm bis 1920 derart zu, daß sich das BA Rehau veranlaßt sah, die Gebühren drastisch anzuheben, „... um der Tanzwut einen Riegel vorzuschieben.“566

34 Anzeigenteil SNN vom 16.1.1920

Eine weitere Freizeitaktivität, an der auch Porzellanarbeiterinnen teilnahmen, war der Besuch von Lichtspielvorführungen, die zunächst von Wanderkinos in Gasthäusern betrieben wurden; 1911 entstanden in Rehau und Arzberg, 1920 in Hohenberg Lichtspielhäuser.567 Schließlich sind noch die Wiesenfeste, von denen das Selber Wiesenfest das älteste und bedeutendste war,568 zu erwähnen, die sich als eigenständige Festform der porzellanindustriellen

565 StA Selb, Akt 132.1/1. 566 SNN vom 4.2.1920. 567 SNN vom 19.2.1920. 568 Das Selber Wiesenfest wurde erstmals 1807 begangen. Vgl. BOHRER, H. 1929, S. 389.

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Arbeiterschaft entwickelten und dieser somit die Möglichkeit der Selbstdarstellung und – da auch andere Bevölkerungskreise daran teilnahmen - Integration boten.

Kollektive Freizeitgestaltung Nach dem Erlaß der Sozialistengesetze (1868) waren proletarische Bevölkerungskreise gezwungen, politisch neutrale Vereine wie etwa Turn- und Gesangsvereine zu nutzen, um in diesen teilweise als Tarnorganisation bestehenden Vereinen eine Versammlungs- und Diskussionsmöglichkeit zu erhalten.569 Dabei blieb das Hauptziel der Vereine jedoch die Förderung der Geselligkeit, Unterhaltung und Erholung, wobei die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls und des Selbstbewußtseins der Arbeiterschaft durchaus willkommen war. Alle Arbeitervereine befriedigten somit vorrangig das Bedürfnis nach Geselligkeit und sozialem Kontakt, wozu außer den regulären Vereinsaktivitäten wie sportliche und kulturelle Betätigung auch regelmäßig stattfindende Theateraufführungen, Ausflüge, Vereinsfeste, Tanzabende und Musikvorführungen dienten.

Die Verbürgerlichung der Arbeitervereine im Zeitraum 1848 bis 1895 war die einzige Möglichkeit, öffentlich anerkannt, mithin wenigstens in Ansätzen integriert zu werden und eine eigenständige Arbeiterkultur zu entwickeln. Politische und soziale Forderungen hingegen wurden von den in der Folgezeit legalen Parteien und Organisationen übernommen, während sich die Arbeitervereine dem Aufbau einer eigenständigen Arbeiterkultur widmeten, die sich jedoch wiederum an bürgerlichen Idealen orientierte. Daß dies durchaus von der Sozialdemokratischen Partei sowie den freien Gewerkschaften durchaus kritisch gesehen wurde, belegt folgender Artikelauszug: „Muß denn das bißchen freie Zeit, über das der Arbeiter zu verfügen hat, mit lauter Klimbim vertrödelt werden?! All die Vereine und Vereinchen, vom Schützenbund angefangen bis herunter zum Schafkopfklub, tragen nichts bei zur Aufklärung der Arbeiterschaft! ... Gewiß, es soll auch der Arbeiter sein vergnügen haben, es sei ihm gerne gegönnt; aber er darf dabei nicht vergessen, daß er der Arbeiterklasse angehört! Die bürgerlichen Vereine bilden insofern eine Gefahr für die moderne Arbeiterbewegung, als die Arbeiter, die darin verkehren, von ihren Klassengenossen entzweit, die Kräfte zersplittert werden. Diese Arbeiter verlieren die so notwendige engere Fühlung mit ihren anderen Berufskollege, sie gehen ihre eigenen Wege und täuschen sich dann über so manches hinweg zum Nachteil der gesamten Arbeiterschaft. ... Ja, das gibt es Arbeiter ... , die ganz glücklich sind, wenn sie mit „Besseren“ in einem Verein sein dürfen, denen das Herz höher schlägt, wenn sie im Wirtshaus mit ihrem Vorgesetzten an einem Tisch sitzen können und der Gipfel der Glückseligkeit ist erklettert, wenn der Arbeiter gar mit dem Unternehmer gar eine Partie Schafkopf oder Tarok spielt ... . Die Arbeiter, die bei gemeinsamem Schaffen gemeinsame Leiden und Beschwerden haben, müssen auch außerhalb der Fabrik gemeinsam verkehren, sie müssen auch ihre Feste gemeinsam feiern.“ 570

569 Vgl. JEISMANN, K.-E. 1983: Industrialisierung, sozialer Wandel und Arbeiterbewegung in Deutschland und Polen bis 1914. Braunschweig. S.130. 570 OVZ vom 15.3.1912.

537

Von 1820 bis 1920 wurden in den Bezirksämtern Wunsiedel und Rehau nahezu 100 Vereine gegründet, die jedoch teilweise nur kurze Zeit bestanden. Die nachfolgende Übersicht listet nur diejenigen Vereine auf, deren Mitgliedschaft den Quellen nach entweder zum Teil oder überwiegend aus Porzellanarbeitern bestand.

Tab.102: Arbeitervereine in BÄ Rehau und Wunsiedel bis 1920 (Auswahl)571 Name Hervorgegangen aus Gründungsort und Mitglieder -jahr Turnerschaft Arzberg Turnverein Arzberg Arzberg 1884 Arbeiter PF Schumann Allgemeiner Turnverein Arzberg 1893 Arbeiter, Bürger Freie Turnerschaft -- Arzberg 1906 Industriearbeiter Radfahrerverein Victoria -- Arzberg ~1900 Arbeiter PF Lehmann Arbeiter Rad- und -- Arzberg 1908 vorwiegend Arbeiter Kraftfahrverein Solidarität VfB Arzberg Fußballabtl. TV Arzberg Arzberg 1911 mehrheitl. Porzelliner Gesangverein der PF Lehmann -- Arzberg 1900 Arbeiter PF Lehmann TuS Erkersreuth Turnverein Erkersreuth Erkersreuth 1891 Porzellanarbeiter Gesangverein Erkersreuth Erkersreuth1907 mehrheitl. Porzelliner Turnverein 1884 e.V. Turnverein Hohenberg 1862 Arbeiter, Bürger Männergesangverein 1864 -- Hohenberg 1864 mehrheitl. Porzelliner TVO Marktredwitz TV Oberredwitz Marktredwitz 1897 einige Porzelliner Arbeiter-Turn-Verein Selb- -- Plößberg 1912 mehrheitl. Arbeiter Plößberg Geflügel- und Kaninchenzucht- -- Plößberg 1910 Arbeiter PF Rosenthal verein Plößberg Lese-Verein Selb -- Selb 1895 vorwiegend Arbeiter TSV Röthenbach Vereinigung Erheiterung Röthenbach 1897 einige Porzelliner Malergesangverein von 1887 Sängerabt. des Malerpersonals Schönwald 1887 bis 1905 nur der PF Hutschenreuther Porzellanmaler Gesangverein Concordia Gesangsabtl. der Zahlstelle der Schönwald 1907 mehrheitl. Porzelliner Porzellanarbeiter TS Selb von 1897 e.V. Turnverein I Selb 1887 einige Porzelliner Turnverein II Selb 1887 wenige Porzelliner Männergesangverein Selb -- Selb 1887 hauptsächl. Porzelliner Schützengesellschaft Zimmerstutzengesellschaft Hohenberg 1898 hauptsächl. Porzelliner von 1898 e.V. Hohenberg a.d.E. Schützengesellschaft Selb e.V. -- Selb 1894 wenige Porzelliner TSV Selb 1906 e.V. Arbeiterturn- und Sportverein Selb 1906 Arbeiter SpVgg Selb 1913 e.V. -- Selb 1913 hauptsächl. Porzelliner Sechsämter Sängerbund -- Wunsiedel 1892 Arbeiter, Bürger Gesangverein „Freie Sänger“ -- Wunsiedel 1902 Arbeiter Arbeiter-Turn-Verein --- Wunsiedel 1903 Arbeiter „Freie Turner“ Arbeiter-Gesangverein -- Wunsiedel 1903 vorwiegend Arbeiter Arbeiter-Radfahrverein -- Wunsiedel 1910 hauptsächl. Arbeiter Arbeiter-Athletenklub -- Wunsiedel 1911 mehrheitl. Arbeiter

Die überwiegende Mehrheit der hier dargestellten und zu Zeiten der Hochindustrialisierung gegründeten Arbeitervereine befaßte sich demnach mit Sport oder Kultur (Gesang). Es

571 Diverse Quellen aus STA Bamberg, K3/Prä.Reg. 1892a, StA Selb, Vereinsarchiven Selb.

538 sollen im folgenden einige dieser Vereine näher dargestellt werden.

Im 1862 mit Unterstützung von Porzellanfabrikanten gegründete Hohenberger Turnverein waren viele Porzellanarbeiter Mitglied, die nach Meinung der Fabrikbesitzer durch die sportliche Betätigung von anderen „gefährlichen“, also sozialistischen Aktivitäten abgehalten werden könnten, was einen „gesunden Arbeiterstamm“ hervorbringen würde:572 „... Gesuch betreffs Gründung eines Turnvereins, ... zudem ersuchen wir ein Kgl. Baubezirksamt, Rücksicht darauf zu nehmen, da der größte Teil der Bewohner Hohenbergs dem Fabrikarbeiterstande angehört, dem eine freie, körperliche Ausbildung nur von höchstem Werthe sein kann ... .“573

Zwar löste sich der Verein kurze Zeit später auf, wurde jedoch 1884 neugegründet. Der Mitgliedsbeitrag betrug monatlich 25 Pf, wer unentschuldigt in der Turnstunde fehlte, hatte ebenfalls 25 Pf zu zahlen. 1890 zählte der Verein 78, ein Jahr später bereits 117 Mitglieder. Schon die Satzungen von 1862 sahen ein „Zöglingsturnen“ für Lehrlinge vor, wogegen Schülerturnen erst ab 1906 eingeführt wurde.574 Frauenturnen bzw. Damenriegen entstanden im Untersuchungsraum Oberfranken erst ab ca. 1920.575

Die 1906 in Arzberg von 39 Industriearbeitern gegründete Freie Turnerschaft wurde seitens der kaiserlichen Behörden von Anfang an ständig observiert und mußte häufig die Turnstätten wechseln, bis in der örtlichen Konsumgenossenschaft ein Wirtschaftsbetrieb mit Turnsaal entstand. Bald nach Gründung des Vereins entstanden Fuß- und Faustballmannschaften sowie ein Trommler- und Pfeifenkorps, außerdem baute man in Eigenleistung einen Sportplatz.576

Andere, in den Bezirksämtern Rehau und Wunsiedel gegründete Vereine waren bspw. Arbeiterradfahrvereine, die, zusammen mit den anderen Arbeitersportvereinen, der Dachorganisation Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB)577 angeschlossen waren. So bestand in Arzberg ab ca. 1900 der Radfahrerverein Victoria, der auf Initiative des Porzellanfabrikanten LEHMANN gegründet worden war und dessen Mitglieder sich hauptsächlich aus Arbeitern der Lehmann`schen Porzellanfabrik rekrutierten. Zusätzlich wurde 1908 der Arbeiter Rad- und Kraftfahrverein Solidarität gegründet.

572 RITTER, G. A. 1979: Arbeiterkultur. Königstein. S.60. 573 STA Bamberg, K 18, X 89. 574 Ebd. 575 Bei der „Freien Turnerschaft Arzberg“ bestanden schon 1911 Damenriegen. Vgl. SNN vom 5.2.1955. 576 WURZBACHER, M. et al. 1994, S.167. 577 Der 1919 gegründete ATSB war Nachfolger des Arbeiterturnerbundes (ATB, gegr. 1893).

539

Etwas näher soll hier die Entwicklung des Turn- und Sportvereins von 1906 Selb dargestellt werden. Dieser Verein, 1906 als Arbeiterturn- und Sportverein gegründet, hatte sich von Beginn an zum Ziel gesetzt, die Ziele der Arbeiter durch Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft zu unterstützen und somit einen Gegenpol zu den national-kaisertreuen Wertvorstellungen anderer Vereine zu bilden. Der erste Vorsitzende des Vereins von 1908/10, H. SCHERER, gehörte ebenso der SPD an wie die meisten der übrigen Mitglieder. Auch unterstützte der Verein offen den Kongreß der internationalen Sozialdemokratie gegen Kriegshetze und Kriegsgefahr, der am 24./25 November 1912 in Basel stattfand. Erwähnenswert ist, daß während der Unruhen im Herbst 1923 ein Mitglied des Vereins von Nationalsozialisten erschossen und unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit beigesetzt wurde.578

Mitte der zwanziger Jahre änderte sich die vereinsinterne Struktur, da ab 1925 kommunistisch orientierte Mitglieder die bis dahin dominierenden Sozialdemokraten aus der Vorstandschaft verdrängten und die Führung des Vereins übernahmen. Die verbliebenen Sozialdemokraten verließen zum größten Teil den Turnverein und gründeten 1926 die Freie Turnerschaft, die sich jedoch bald wieder auflöste. Die Mitgliedschaft des TSV 06 bestand in der Folgezeit größtenteils aus jungen Arbeitern, von denen viele dem „Rote-Frontkämpfer-Bund“ der KPD angehörten. Nach 1933 wurde der Verein aufgelöst, sein Vermögen eingezogen und etliche Mitglieder wurden verhaftet. Resümierend ist zu sagen, daß der Turn- und Sportverein von 1906 Selb sich seit seiner Gründung als Arbeiterverein verstand und auch im wilhelminischen Deutschland offen die Ziele die SPD unterstützte. Die sozialdemokratisch Orientierung war auch nach dem Ersten Weltkrieg zunächst dominierend, bis sich in der späten Weimarer Republik klare Tendenzen zur Radikalisierung durchsetzten. Insofern stellt der TSV 06 eine Ausnahme unter den (Arbeiter-)Vereinen Oberfrankens dar, die insgesamt eher gemäßigt agierten.579

Bei den Gesangvereinen ist der Malergesang-Verein Selb von 1887 besonders zu erwähnen, der von Porzellanmalern der PF Lorenz Hutschenreuther gegründet wurde und dessen Mitgliedschaft bis 1900 ausschließlich aus Porzellanmalern bestand. Erst danach wurden auch

578 Vgl. STB vom 23.10.1923. 579 Zum Vergleich folgende Bemerkung BOHRERs, die diese These unterstreicht: „Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß Selb an alle den Bewegungen, die durch die Großstädte gehen, irgendwie teilnahm, wenn auch diese Bewegungen tiefere Einflüsse hier nicht auszuüben vermochten.“ (1929, S.292).

540 andere Porzelliner, wie z.B. Brenner und Dreher aufgenommen,580 die jedoch mindestens 18 Jahre alt sein mußten. Die besondere Stellung der Porzellanmaler als Facharbeiter innerhalb der Porzellanfabrik äußerte sich demnach auch in ihrer Freizeit, in der sie sich von den anderen Beschäftigten durch Gründung eines eigenen, internen Vereins abgrenzten.581 Dies bestätigen die Gründungen anderer Malergesangvereine in Selb-Plößberg und Arzberg. Den exklusiven Charakter dieser Malergesangvereine machen auch die Statuten des Selber Malergesangvereins von 1888 deutlich, in denen es heißt: „Jeder Maler, welcher seine Lehrzeit beendet und das 18. Lebensjahr zurückgelegt hat, kann Mitglied des Vereins werden.“582

Der Malergesangverein zählte 1897 bereits 109 Mitglieder, davon 47 aktive Sänger, 1899 waren 123 Porzellanmaler Mitglieder diese Vereins. Nach der Lockerung der Berufszugehörigkeit 1899 waren u.a. folgende Berufe im Verein vertreten: Schneider, Bader, Oberbrenner, Porzellandreher, Steinmetz, Dreher;583 die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder bestand jedoch nach wie vor aus Porzellanmalern. Ab 1902 veränderte sich die Mitgliederstruktur dahingehend, daß immer mehr Bürger dem Verein beitraten, wie eine Auswahl der Berufe neuaufgenommer Mitglieder verdeutlicht: Werksführer, Baumaterialienhändler, Metzger, Techniker, Mustermaler, Kaufmann, kgl. Gerichtsvollzieher.584 Dieser innere Wandel hin zu einem eher bürgerlich orientierten Gesangverein wird auch durch die Ehrenmitgliedschaften des Porzellanfabrikanten HUTSCHENREUTHER, zweier weiterer Fabrikbesitzer und eines Kommerzienrates sowie durch eine stabile Rechnungslage und steigende Zahlen von (bürgerlichen) Mitgliedern sinnfällig. Als in dieser Hinsicht signifikant erweist sich ebenfalls eine Aufstellung der zum 25jährigen Vereinsjubiläum 1912 eingeladenen Vereine: Fortuna Asch, Liederkranz, Liedertafel, Männergesangverein, Gesangvereine Arion, Edelweiß, Thalia, Vorwärts, Kriegerverein, Militärverein, Turnverein I und II, Freie Turnerschaft, Radfahrerverein, Schützengesellschaft, Bavaria-Schützen, Fortbildungsverein, Katholischer Gesellenverein, Pfeifenklub. Ausdrücklich nicht eingeladen wurden die sozialdemokratisch eingestellten Vereine Männergesangsverein Stopfersfurth, Vereinigung Frohsinn Stopfersfurth und TV 06

580 Vgl. Revidierte Statuten vom 26.4.1899. 581 Es ist anzunehmen, jedoch quellenmäßig nicht verifizierbar, daß sich neben den Malern auch andere in Personalen organisierte Facharbeiter wie Schlosser und Dreher außerhalb der Arbeit zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten zusammenfanden. 582 Zit. nach WURZBACHER, M. et al. 1994, S.170. 583 Vgl. Protokollbuch 1893-1907; Aufzeichnungen 1899. 584 Aus: Protokollbuch 1893-1907; Aufzeichnungen ab 1902.

541

Selb.585 Das durch den Zuwachs an bürgerlichen Mitgliedern vor dem Ersten Weltkrieg in den Verein eingeflossene bürgerlich-nationale Gedankengut blieb auch nach dem Krieg bestimmend, wie folgende Protokollaufzeichnung über die Generalversammlung vom 26.1.1923 belegt: „Der erste Vorstand eröffnete die Generalversammlung und verliest ... den Jahresbericht, der ein Bild von der Tätigkeit des Vereins im verloschenen Jahr gibt und mit der Mahnung schließt, treu zum Verein und zum deutschen Lied zu halten. ... Der Vorstand ermahnt zum Schluß, fest zur Fahne zu halten.“586

Obschon die Vereinsgesinnung des Malergesangvereins Selb vor dem Ersten Weltkrieg als kaisertreu-national gelten kann, trat man 1903 aus dem konservativen Deutschen Sängerbund587 aus, weil dieser den Mitgliedern zu deutschnational war.588 Doch auch ein mehr den originären Arbeiterinteressen zugewandtes Vereinsleben, wie es etwa der 1907 in Schönwald gegründete Gesangverein Symphonia vertrat,589 war nicht Ziel des Malergesangvereins. Vielmehr setzte sich in diesem wie in allen deutschen Arbeitergesangvereinen eine eher unpolitische Grundhaltung durch, die Parteien und Gewerkschaften als passende Orte der Politik und des Politisierens ansah, diese aus den Gesangvereinen jedoch verbannte. Zusätzliche Verärgerung entstand für Arbeiterparteien und Gewerkschaften aus der Tatsache, daß Singstunden oft besser besucht waren als Partei- oder Gewerkschaftsversammlungen, gaben sie den Arbeitern doch Gelegenheit, dem tristen Alltag zu entfliehen.590

Das Repertoire des Malergesangvereins war dem 1843 erschienenen Liederbuch des Deutschen Volkes entnommen und umfaßte Volks-, Kunst-, jedoch auch patriotische Lieder.591 1926 wurde beim Malergesangverein das neue Liederbuch Kamerad Lied in größerer Stückzahl angeschafft, welches eine Fortführung und Neuauflage des alten Liederbuches des Deutschen Volkes war. Im Vorwort desselben wird die Liederauswahl wie folgt begründet:

585 Protokollbuch 1907-1924, S.73; Ausschußsitzung vom 15.5.1912. 586 Protokollbuch 1907-1924, S.166f. Die Bemerkung ist sicherlich auch vor dem Hintergrund des französischen Einmarsches ins Ruhrgebiet (11.1.1923) zu werten. 587 1862 in Coburg gegründet. 588 Vgl. von STETTEN, 1983, S.12. 589 Vgl. MÜLLER, J. 1980: Die Arbeiterbewegung in Schönwald. Schönwald. S.21. 590 RITTER, G.A. 1979, S.124. 591 Auch ein Liederverzeichnis des der Sozialdemokratie nahestenden Gesangverein Einigkeit aus Stopfersfurth enthielt zusammen mit anderen Liedern das gleiche Liedgut. Eine Erklärung liefert das Bedürfnis der stark wachsenden Bevölkerungsschicht der Arbeiter nach Integration durch Übernahme nationaler, damit zwangsläufig bürgerlicher Kultur.

542

„Über 125 Lieder enthält der Band; eine Auswahl der besten Volks- und volkstümlichen Lieder wie leichterer Kunstlieder, soweit sie zum eisernen Bestande des deutschen Männergesangs gehören und zur zeit erreichbar waren. Was mit echter Volkspoesie und Volkskunst nichts gemein hat, ist von der Aufnahme ausgeschlossen worden.“592

Somit bleibt festzuhalten, daß kein Lied in dieses, beim Malergesangverein verwendete Liederbuch aufgenommen wurde, das auch nur den Anschein hatte, revolutionär oder ein Freiheitslied zu sein, was als weiterer Beleg für die konservative Grundhaltung dieses Gesangvereins gewertet werden kann; diese Einstellung wurde durch den vermehrten Eintritt bürgerlicher Mitglieder noch verstärkt.

Als weiteres Beispiel eines Gesangvereins soll hier der Arbeitergesangverein Einigkeit Stopfersfurt vorgestellt werden. Dieser, 1913 durch den Zusammenschluß des Männergesangverein Stopfersfurth (gegr. 1902) und der Sänger- und Schützengesellschaft Frohsinn entstandene Verein, führte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges den Beinamen „Arbeitergesangverein“.593 Zur Gründungszeit bestand Stopfersfurth nur aus wenigen Gehöften außerhalb der Stadt Selb,594 weswegen die Gründungsmitglieder durchweg Arbeiter und Bauern waren. Dies stellte eine entscheidende Voraussetzung für den Eintritt weiterer Arbeiter aus der Umgebung dar, deren politische Ansichten somit als im Verein dominierend bezeichnet werden können. Einen Beleg für die Vereinsstruktur bietet auch das Protokollbuch, das – im Gegensatz zu Vereinen mit überwiegend bürgerlichen Mitgliedern - größtenteils recht unsauber und in fehlerhafter Orthographie geführt wurde.595 Dies zeigt, daß der Verein für das Amt des Schriftführers kein Mitglied mit gehobener Bildung (z.B. Lehrer) zur Verfügung hatte und daher einen Schriftführer aus der eigenen Mitgliedschaft rekrutieren mußte, die aus Bauern und Arbeitern bestand und insofern nur sehr beschränkte orthographische und Buchführungskenntnisse besaß. Die Protokollbücher des Männergesangvereins (als Vorläufer) und des Arbeitergesangvereins geben auch Aufschluß über die Berufe der Mitglieder und führen i.e. Bauer, Brenner, Sortierer, Massemühlearbeiter, Waldarbeiter, Bierwirt, Gärtner, Steinhauer auf,596 mithin alles Berufe, die zu den unteren Einkommensschichten zu zählen sind. Mit Gründung des Vorläufervereins beschränkten sich die Aktivitäten nicht allein auf den Gesang, sondern es wurden auch Theaterabende,

592 Zit. nach STETTEN, W. von 1983, S.12. 593 Vgl. STETTEN, W. von 1983, S.14. 594 Vgl. BOHRER, H. 1929, S.5f. 595 Vgl. Protokollbuch Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Stopfersfurth 1913-1930. 596 Vgl. Protokollbücher Männergesangverein Stopfersfurth 1902-1912 und Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Stopfersfurth 1913-1930

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Familiennachmittage und Ausflüge organisiert,597 was als deutliches Indiz für das Überwiegen proletarischer Mitglieder gewertet werden kann, da sich diese leichter von tradierten Formen gesellschaftlichen Beisammensein lösten als bürgerliche Schichten. Die somit latent vorhandene Nähe zur Sozialdemokratie äußerte sich ab 1911 offen, indem ab diesem Jahr regelmäßig Feiern zum 1. Mai abgehalten wurden und der Männergesangverein sich am 1.4.1911 dem Deutschen Arbeitersängerbund anschloß. In einer Protokollaufzeichnung von 1912 findet sich außerdem zum ersten Mal die Anrede „Genosse“,598 die bis 1930 beibehalten wurde und ein klarer Beleg für die inzwischen eindeutig erkennbaren Sympathien für die Sozialdemokratie ist. Aufschlußreich sicherlich auch, daß der bei der Vereinszusammenlegung von Männergesangverein und Vereinigung Frohsinn gewählte Name „Arbeitergesangverein“ auf keinen Widerstand stieß. Die sozialdemokratisch eingestellte Grundhaltung der „Einigkeit“ änderte sich auch nicht während des Ersten Weltkrieges, als man - im Gegensatz zu vielen bürgerlichen Vereinen - den Krieg nicht verherrlichte, sondern diesem durchaus kritisch gegenüberstand.599 Daß der Arbeitergesangverein „Einigkeit“ auch in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg versuchte, die sozialdemokratisch geprägte interne Struktur beizubehalten und dabei unter Aufgabe der politischen Neutralität, wie sie bspw. für einige Turnvereine bezeichnend war, diese offensiv durchsetzt, wird anhand einer Ausschußsitzung aus 1923 deutlich: „Das Mitglied Max Schiefer wird auf Grund des §8 des Vereinsstatuts600 einstimmig aus dem Verein ausgeschlossen, weil er Mitglied einer vaterländischen Vereinigung ist, und dies ist mit den Interessen des Vereins nicht in Einklang zu bringen.“601

Die politische Grundhaltung des Arbeitergesangvereins „Einigkeit“, die einer sozialdemokratisch-reformerisch geprägten Richtung den Vorzug vor einer revolutionär- kommunistischen gab, läßt sich auch anhand einiger Eintragungen der Jahre 1921-1926 belegen. In dieser Zeit war N. SOMMERER erster Vorsitzender des Vereins, zugleich jedoch auch Mitglied des Kampfbundes „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Das Reichsbanner, von den demokratischen Parteien der Weimarer Republik zum Schutz vor radikalen Kräften gegründet, wurde stark von der SPD beeinflußt. Die Mitgliedschaft des ersten Vorsitzenden wurde im Gesangverein geduldet, was darauf hindeutet, daß die Mehrheit im Verein

597 Vgl. Protokollbuch Männergesangverein Stopfersfurth 1902-1912. 598 Vgl. Protokollbuch Männergesangverein Stopfersfurth, Aufzeichnung vom 5.4.1912. 599 Vgl. ebd., Protokollbuch Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Stopfersfurth, Aufzeichnung vom 5.9.1914: „Maßregelung des Krieges“. 600 Leider ist kein Vereinsstatut mehr vorhanden. Es läßt sich jedoch annehmen, daß die Mitgliedschaft in der „Einigkeit“ eine solche bei vaterländischen, Militär- oder Kriegervereinen ausschloß. 601 Protokollbuch Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Stopfersfurth, Ausschußsitzung vom 8.11.1923. [8./9.11.1923: Hitlerputsch in München].

544 sozialdemokratisch eingestellt war. Hingegen wurde ein Schreiben der KPD an den Verein lediglich zur Kenntnis genommen, jedoch nicht beantwortet.602

Der im Sommer 1925 - nach einer erregten Debatte - erfolgte Ausschluß einiger Mitglieder wurde mit deren Teilnahme an der Fahnenweihe eines Militärvereins begründet. Die dabei zu Tage tretenden Kontroversen widerspiegeln die Diskrepanz im Verein, einerseits offensiv die Ideale der Sozialdemokratie zu vertreten, sich jedoch andererseits mit den bestehenden bürgerlichen Organisationen arrangieren zu müssen: „Der Genosse Mundler spricht sich darüber aus, daß sie nimmer die Singstunden besuchen, wenn solch ein Bild wieder vorkommt, wie vorigen Sonntag, daß Vorstandsmitglieder an der Fahnenweihe mitmachen vom Veteranenverein. ... Der Genosse Röscher ... sagte, daß sämtliche Teilnehmer aus dem Verein austreten ... Der Genosse Prell stellte den Antrag, daß der Arbeitergesangverein Einigkeit einen anderen Namen erhält und daß der ´Arbeiter´ weggelassen wird.“ 603

Daß die ausgeschlossenen Mitglieder nur zwei Monate später wieder in den Verein aufgenommen wurden, weist ebenfalls auf eine eher gemäßigte politische Einstellung hin.

Das Liedgut der „Einigkeit“ bestand zunächst aus den gleichen Liedern wie bei den anderen (bürgerlichen oder bürgernahen) Gesangvereinen.604 Abweichend von diesen wurden jedoch auch Lieder in das Repertoire aufgenommen, die arbeitertypisch waren. Beispiele hierfür liefert das Liederverzeichnis, in dem sich Titel wie „Die Internationale“, „Die neue Zeit“,, „Klinge, Lied, dem Frieden“ und „Weltenfriede“ finden.605 Gerade das letzte, ein Antikriegslied, galt in großen Teilen der Bevölkerung als „revolutionär“: Neuer Tag, mit deinen Strahlen Länger nicht mit Blut und Eisen Töte, töte nun die alte Nacht, feste sich der Menschheit Band, löse sie lind von ihren Qualen, Liebe soll uns Pfade weisen, die so schwere Zeit durchwacht! Die wir wandeln Hand in Hand!

Refrain: Völker wollen Frieden Frieden jedes Menschenherz! Frieden, Frieden!606

Am Rande sei noch erwähnt, daß die allgemeine Wirtschaftslage der 1920er Jahre auch den Arbeitergesangverein insofern betraf, als dieser über einige Jahre hinweg praktisch zahlungsunfähig war.607

602 Protokollbuch Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Stopfersfurth, Eintrag vom 14.7.1927. 603 Ebd., Protokoll vom 4.7.1925. 604 Vgl. Anm.591. 605 Vgl. Liederverzeichnis Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Stopfersfurth. 606 Ebd. 607 Vgl. Protokollbuch Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Stopfersfurth, 1922/23.

545

Als weiterer Gesangverein wurde 1900 in Arzberg der Gesangverein der Porzellanfabrik Theodor Lehmann gegründet, der jedoch erst sechs Jahre später Fahnenweihe feierte. Bei diesem Ereignis trat auch ein Massenchor des Sechsämter Sängerbundes unter Beteiligung von Frauen- und gemischten Chören auf, der als genuine Idee der Arbeitersängerbewegung neuartige Ausdrucksformen ermöglichte.608 Dem Protokollbuch dieses Gesangvereins ist zu entnehmen, daß hauptsächlich Dreher und Maler, also Facharbeiter Mitglied waren. Außerdem wurde häufig über Schwierigkeiten beim Eintreiben rückständiger Mitgliedsbeiträge geklagt, deren Gros das „Salaire“ des Dirigenten verschlang.609

Alle Sport- und Gesangsvereine hatten zum Ziel, das Bedürfnis nach Geselligkeit und sozialem Kontakt zu befriedigen, wozu außer den regulären Vereinsaktivitäten wie sportliche und kulturelle Betätigung auch regelmäßig stattfindende Theateraufführungen, Ausflüge, Vereinsfeste, Tanzabende und Musikvorführungen dienten.

Neben Sportvereinen und solchen, die der Unterhaltung und Erholung dienten, wurden in Oberfranken auch solche gegründet, die existentielle Bedürfnisse sichern sollten. Insbesondere 1914 und 1920, also in Zeiten unzulänglicher Lebensmittelversorgung, entstanden Obst- und Gartenbau- sowie Tierzuchtvereine. Die autonome Versorgung mit Obst, Gemüse und Fleisch konnte helfen, das Überleben der Porzellinerfamilien zu sichern. Da viele Porzellinerwohnungen mit einem Schuppen ausgestattet waren, wurden dort Kleintiere wie Geflügel und Kaninchen gehalten. Um Gemüse und Obst anbauen zu können, stifteten einige Porzellanfabrikanten ihren Arbeitern Grundstücke. So übergab die PF ROSENTHAL 1920 145 Parzellen zu je 100 m2 am Selber Reuthberg an ihre Arbeiter (Gartenbauverein Rosenthal) und die PF HEINRICH stellte an der Selber Brunnenstraße ein Grundstück zur Verfügung.610

Beachtung verdient der 1895 gegründete Lese-Verein Selb, dessen Zweck die Vereinsstatuten wie folgt beschreiben: „Der Verein hat den Zweck, die Bildung, die guten Sitten, sowie den Sinn für anständigen, geselligen Verkehr zu fördern; die Mittel zur Erreichung dieses Zweckes sind: Wissenschaftliche Vorlesungen, Vorträge, Besprechungen, Bibliothek, Zeitschriften und gemeinsame gesellige Vergnügungen.“611

608 Hierzu: TEICHLER, H.-J. 1985: Arbeiterkultur und Arbeitersport. Clausthal-Zellerfeld. S.64f. 609 StA Arzberg, Protokollbuch Gesangverein Theodor Lehmann, 1902. 610 StA Selb, Akt 672/1. 611 StA Selb, Akt 312.1/8, Statut des Lese Vereins Selb von 1895, §2.

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Dabei konnte ausdrücklich nur „jeder unbescholtene rechtliche Arbeiter..., (der) in Selb und dessen Umgebung wohnhaft ist“612 nach Vollendung des 18. Lebensjahr Mitglied werden, dessen Beitrag monatlich 10 Pf betrug. An diesen - vordergründigen - Zielen des Lese-Vereins ist zunächst expressis verbis die Absicht erkennbar, sich bürgerliche Ideale wie Bildung, gute Sitten und anständiger, geselliger Verkehr zu eigen zu machen, um durch Übernahme dieser bourgeoisen Werte eine Integration der Arbeiter in die Gesellschaft zu erreichen. Zu diesem Zweck trafen sich die Mitglieder wöchentlich einmal (!) sonntags, um „wissenschaftliche Vorlesungen“ zu hören und „Besprechungen über dieselben“ 613 abzuhalten. Das Bemühen sich in Eigeninitiative weiterzubilden kann ebenfalls als Versuch gewertet werden, eine Annäherung an bürgerliche Schichten und damit eine größere gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Hinter diesen statutenmäßig und damit öffentlich dargelegten Zielen stand jedoch die agitatorische Tätigkeit für die Sozialdemokratische Partei, die in Kontakten zu auswärtigen Parteiorganisationen, öffentlichen Versammlungen und Tätigkeiten für die Reichstagswahlen bestand. Die im Hause Badershof No. 1 vom Porzellanmaler Johann REUL betriebene Gastwirtschaft diente als Vereinslokal, wodurch man, neben den bereits erwähnten vordergründig bürgerlichen Vereinszielen, einen hinreichenden Schutz vor den immer noch von den Behörden ausgesprochenen Versammlungsverboten erreichen konnte

Zu erwähnen, wenn auch nur von marginaler Bedeutung, sind noch Haus- und Grundbesitzer- sowie Mietervereine, in denen sich Porzellanarbeiter organisierten, um sich gemeinsam gegen staatliche Steuerpolitik bzw. Willkür der Vermieter zur Wehr setzen zu können. Als Beispiele seinen hier der 1912 von Drehern und Malern in Arzberg gegründete Haus- und Grundbesitzerverein sowie der Arzberger Mieterverein genannt, wobei Ziel des ersten war, den Mitgliedern „.... Schutz gegen übermäßige Steuern und Richtlinien für Miet- und Pachtverhältnisse“ zu geben und „in Beschwerde und Ausgleichsausschüssen mitzuwirken.“614 Auch in der benachbarten Oberpfalz wurde eine Vielzahl von Arbeitervereinen gegründet, deren Zweck sportliche und kulturelle Aktivitäten waren. In der nördlichen Oberpfalz entstanden im letzten Jahrzehnt vor Beginn des Ersten Weltkrieges in Weiden, Amberg, Tirschenreuth, Mitterteich und Waldsassen einige, teilweise sehr aktive und mitgliederstarke Arbeitergesangvereine, weshalb diese Region als das Zentrum der Arbeitersängerbewegung in

612 StA Selb, Akt 312.1/8, Statut des Lese Vereins Selb von 1895, §3. 613 Ebd., §12. 614 SNN vom 7.5.1955.

547 der Oberpfalz gelten kann. So wurde 1904 in Weiden ein Arbeitergesangverein gegründet, der 1906 bereits 67 Mitglieder zählte.615 Bereits 1905 war dieser Verein in Gesangverein Lyra umbenannt worden, weil man hoffte, durch diesen „unverdächtigeren“ Namen den ständigen Pressekampagnen (Oberpfälzischer Kurier), den Saalverboten und den beruflichen Repressalien der Mitglieder entgehen zu können. Diese Absicht blieb jedoch erfolglos, was, insbesondere nach der Aussperrung der Porzellanarbeiter im Jahre 1912, als die Mitgliederzahl auf 53 schrumpfte, verstärkt zu Vereinsaustritten führte.

Im Jahre 1911 wurde in Waldsassen ein Arbeitergesangverein gegründet (81 Mitglieder), ein Jahr später ein solcher in Tirschenreuth mit 31 Mitgliedern, darunter 12 Frauen).616 1913 schlossen sich in Mitterteich und Waldsassen die jeweiligen Arbeiter-Gesangvereine und – Turnvereine zusammen. Dabei war der Arbeiter-Gesangverein in Mitterteich, das zurecht als „rote Hochburg“ bezeichnet wurde, weil dort 1912 bspw. „... das Parteiblatt „Fränkische Volkstribüne“ ... in acht Wirtschaften, bei jeweils zwei Schreinermeistern, Schuhmachern und Gemüsehändlern sowie bei einem Friseur und einem Bader auslag,...“ 617 der mit Abstand aktivste und mitgliederstärkste in der nördlichen Oberpfalz. Dieser Verein, 1909 gegründet, feierte am 16. Juni 1912 seine Fahnenweihe mit einem beeindruckenden Arbeiter-Sängerfest, das bereits am Vorabend mit einem Fackelzug von 120 Fackelträgern eröffnet worden war. Vormittags zogen dann 42 auswärtige Vereine und 300 Arbeiter- Radfahrer zum Marktplatz, nachmittags fand ein Festzug zur Festwiese statt, wo ein Sängerwettstreit mit Massenchören, gemischten Chören und Einzelchören abgehalten wurde.618 Bemerkenswert ist das an diesem Tag demonstrativ gezeigte Selbstbewußtsein der Arbeitersänger, die durchaus eigenständige Formen der Geselligkeit,619 wie sie in dieser Form bei bürgerlichen Gesangvereinen kaum vorstellbar waren, entwickelten, zumal die sogenannte Fahnen-„weihe“ ohne geistliche Mitwirkung ablief. Erstaunlich sind sicherlich auch der Mut und der Elan, mit dem die Arbeiter dieses Fest gegen den offenen und/oder verdeckten Widerstand ihrer bürgerlichen Umgebung wie Presse, Kirche und Behörden organisierten und durchführten.

615 Vgl. MÜLLER, G. 1988, S.108. 616 Vgl. FV Nr.157 vom 8.7.1911 u. Nr.36 vom 12.2.1913. 617 MÜLLER, G. 1988, S.113, Anm.106. 618 Vgl. FV Nr. 148 vom 27.6.1912. 619 So z.B. Massenchöre als Eigenentwicklung der Arbeitersängerbewegung. Vgl. S.35f.

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Neben den Arbeitersängern als mitgliederstärkster Kulturorganisation der Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg überhaupt war in der Oberpfalz auch die Arbeitersportbewegung durch den Arbeiter-Turnerbund,620 den Arbeiter-Radfahrer-Bund „Solidarität“ und den Verein „Naturfreunde“621 vertreten, die alle seit 1912 einer von der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften initiierten Zentralkommission für Arbeitersport und Körperpflege angehörten. Bereits 1886 entstand der Turnverein Waldsassen, in dessen siebenköpfigem Vorstand allein 6 Porzellanmaler saßen,622 worin man „einen Hinweis auf die in der Facharbeiterschaft verbreiteten Verbürgerlichungstendenzen sehen (kann), die im Bewußtsein der Betreffenden auch nicht mit einem Engagement in der Arbeiterbewegung (z.B. Gewerkschaften) kollidieren mußten.“623

Grundsätzlich ist jedoch zu sagen, daß sich die Arbeitersportbewegung in der Oberpfalz erst relativ spät entwickelte. So wurde in Weiden erst 1906 ein Arbeiterturnverein gegründet, dessen Entfaltung jedoch in der Folgezeit „... einesteils durch feindselige Gegner, andernteils durch eine interessenlose, bürgerlichem Klimbim anhängende große Zahl von Arbeitern...“624 stark behindert wurde. Auch der geplante - und in Waldsassen und Mitterteich erfolgreich durchgeführte - Zusammenschluß von Arbeiterturnverein und –gesangverein kam in Weiden trotz jahrelanger Verhandlungen nicht zustande. Während sich also die Mitglieder des Arbeiter-Gesangvereins Mitterteich, wie dargestellt, durchaus selbst- und standesbewußt zeigten und diese Haltung insbesondere bei deren Festen öffentlich erkennbar war, lassen die Weidener Arbeitersänger diese Einstellung vermissen. Durch den Zusammenschluß von Arbeiterturn- und –gesangverein in Waldsassen und Mitterteich wurde die Arbeiterkultur in diesen Orten gestärkt, der gescheiterte Vereinigungsversuch in Weiden isolierte hingegen die Arbeiterkulturvereine in einer ihnen feindlichen gesonnenen bürgerlichen Umwelt noch weiter. In den folgenden Jahren wurden weitere Arbeiterturnvereine in der Oberpfalz gegründet, so u.a. 1908 in Neumarkt und 1911 in Regensburg.

Der zweitstärkste Arbeitersportverband, der Arbeiter-Radfahrer-Bund „Solidarität“, war seit 1905 bzw. 1907 mit Vereinen in Regensburg resp. in Schwandorf in der Oberpfalz

620 Dem sozialdemokratischen Arbeiter-Turnerbund stand als Pendant die bürgerlich orientierte Deutsche Turnerschaft gegenüber. 621 1895 in Wien entstanden, widmete sich diese Arbeiterorganisation hauptsächlich der Durchführung von Wanderungen und Ausflügen. 622 StA Waldsassen, Akt EAPI 520 Nr.1. 623 WURZBACHER, M. et al. 1994, S.168. 624 FV Nr.130 vom 7.6.1911.

549 vertreten.625 In Relation zu den insgesamt 86 Vereinen mit 3.232 Mitgliedern des Gaues Nordbayern der „Solidarität“ erscheinen diese beiden Vereine jedoch eher unbedeutend. Ursächlich für das Desinteresse der meisten freiorganisierten Arbeiter war, daß diese eine Mitgliedschaft in bürgerlichen Radfahrvereinen der Teilnahme an der „Solidarität“ vorzogen. Erst nach Einführung einer Radunfallversicherung und eines Radrechtsschutzes sowie nach Gründung einer sogenannten „Reigenmannschaft“, also einer Kunstfahrformation, die häufig bei Arbeiterfesten auftrat, stiegen die Mitgliederzahlen des Regensburger Vereins nennenswert an (1912 Anstieg von 110 auf 166 Mitglieder) und gründeten sich sieben neue, der „Solidarität“ angeschlossene Arbeiterradvereine.

Als mitgliederärmster, mithin weniger interessanter Arbeitersportverband sei hier der Vollständigkeit halber der Wanderverein „Naturfreunde“ genannt, der ab 1908 in Nürnberg, ab 1909 in Regensburg und Fürth und ab 1913 in Weiden und Amberg mit Ortsgruppen vertreten war.

Zu den eher konfessionell eingestellten Vereinen ist der in Waldsassen existierende Katholische Arbeiterinnenverein zu zählen, dessen satzungsgemäße Aufgaben darin bestanden, „das religiös-sittliche Leben seiner Mitglieder (zu) fördern; für die berufliche Ausbildung derselben zu sorgen; ihnen zur Wahrung ihrer rechtlichen Interessen behilflich zu sein; sie zur genossenschaftlichen Selbsthilfe und zur Übung gegenseitiger christlicher Nächstenliebe an(zu)leiten; die Geselligkeit (zu) pflegen.“626

Festzustellen bleibt, daß die sozialdemokratisch orientierten Arbeiterkulturvereine auch in der Oberpfalz zur Organisierung und Politisierung der Arbeiterschaft beitrugen, dies jedoch erst ab der Jahrhundertwende und mit unterschiedlichem Erfolg. Hinsichtlich der Chancen sozialdemokratischer Kulturorganisationen in der Oberpfalz ist zu sagen, daß infolge des mentalitätsprägenden Einflusses der katholischen Kirche nur ein Bruchteil der oberpfälzischen Arbeiterschaft durch die sozialdemokratische Presse erreicht werden konnte. Auch die wenigen sozialdemokratischen Bibliotheken, zudem erst relativ spät errichtet, waren nicht in der Lage, sich gegen in großer Zahl existierenden katholischen Arbeiter- und Gesellenvereinsbibliotheken zu behaupten. Ähnliches gilt für die drei in den letzten

625 Auch in anderen Teilen des Dt. Reiches bestanden Ortsgruppen bzw. Zweigvereine der „Solidarität“. So wurde bspw. im Herbst 1906 in Großdubrau, dem Sitz der PF Margarethenhütte, der Arbeiter-Radfahr- Verein „Vorwärts“ gegründet. Dieser erhob ein Eintrittsgeld von 60 Pfg. sowie einen Monatsbeitrag von 30 Pfg. und zählte ein Jahr nach seiner Gründung 21 Mitglieder. Vgl. Sächs. HSTA HLA 7563. 626 Zit. nach WURZBACHER, M. et al. 1994, S.171.

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Vorkriegsjahren gegründeten sozialdemokratischen Ortsbildungsausschüsse, die mit ihren sporadischen Vortragsveranstaltungen der Jahre 1909 bis 1913 aufgrund der bis dahin längst abgeschlossenen organisatorischen und ideologischen Immunisierung großer Teile der oberpfälzischen Arbeiterschaft gegen die Sozialdemokratie - durch katholische Arbeiter- und Gesellenvereine sowie bürgerliche Geselligkeitsvereine - kaum Wirkung erzielen konnten.

Mehr Erfolg hatten hingegen die sozialdemokratisch beeinflußten Arbeiterturnvereine, -radvereine und v.a. –gesangvereine, die zwar hauptsächlich in den wenigen oberpfälzischen Industriegebieten präsent waren, dort jedoch das Monopol der klerikal beeinflußten bürgerlichen Geselligkeitsvereine zumindest in Frage stellen konnten. Dies galt in Sonderheit für die Arbeitersängerbewegung in der Nordoberpfalz, wohingegen es bei den Arbeitersportorganisationen nur dem Arbeiter-Radfahrer-Bund „Solidarität“ gelang, Mitglieder in nennenswerter größerer Zahl zu rekrutieren - und dies auch erst ab 1912. In Regensburg engagierte sich die freiorganisierte Arbeiterschaft lieber in den „bürgerlichen Klimbimvereinen“ (wie die bürgerlichen Geselligkeitsvereine von der sozialdemokratischen Konkurrenz abfällig bezeichnet wurden)627 als in den sozialdemokratischen Organisationen; in Weiden litt der Gesangverein „Lyra“ wegen der Überrepräsentanz von Eisenbahnern und Porzellinern und deren beruflicher Repressionsanfälligkeit an dauerhaftem Mitgliederschwund. In Tirschenreuth, Waldsassen und Mitterteich hingegen dominierten die Arbeitergesangvereine das dortige Vereinsleben und es wurden durchaus autonome Formen einer proletarischen Festkultur entwickelt.

627 Vgl. FV Nr.130 vom 7.6.1911.

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VIII. PORZELLINER UND SOZIALDEMOKRATIE IN OBERFRANKEN

„Die Arbeiter werden aufgefordert, sich in Zukunft besser um ihre Interessen zu bekümmern und nicht so gedankenlos in den Tag hineinzuleben. Klagen über schlechten Verdienst und allerlei Schikanierereien hört man zu jeder Zeit, doch wenn es gilt, auf dem Posten zu sein, da sind sie zu träge. Hoffentlich tragen diese Zeilen dazu bei, daß bei einer weiteren Versammlung sich mehr Arbeiter beteiligen als das letzte Mal, wo im ganzen kaum 20 Mann anwesend waren. Es ist dies ein beschämendes Zeichen für Selb, für eine Arbeiterschaft, die sonst genug Geld für Vereinsmeierei übrig hat.“1

Diese, an die Adresse der Selber Arbeiterschaft gerichtete Mahnung erscheint aus mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Selb als größte Industriestadt im BA Rehau verfügte fast ein Jahrzehnt nach Aufhebung des Sozialistengesetzes und ein Jahr nach Auslaufen des bayerischen Vereinsgesetzes von 1850, das die Einrichtung von - beschränkt handlungsfähigen - lokalen Wahlvereine zugelassen hatte, noch immer nicht über eine örtliche Organisation der Sozialdemokratischen Partei. Des weiteren ist in der Zeitungsmeldung deutlich die Enttäuschung und Verständnislosigkeit der SPD-Funktionäre gegenüber dem politischen Desinteresse der Selber Arbeiterschaft spürbar, wofür die „Vereinsmeierei“ ebendieser als Verursacher ausgemacht wurde: die Integration der Arbeiter in das von bürgerlichen Kreisen dominierte und geprägte Vereinswesen verhinderte nach Meinung der SPD ein politisches Engagement für die Ziele der Partei.2 Dabei wurde jedoch verkannt, daß in einem kleinstädtisch geprägten Umfeld wesentlich weniger Freizeitmöglichkeiten bestanden als bspw. in einer Großstadt, den Arbeitern somit zunächst nur die bestehenden bürgerlichen Vereine zur Freizeitgestaltung zur Verfügung standen. Hinzu kommt, daß trotz des Ablaufs des Sozialistengesetzes noch genügend Repressionsmöglichkeiten seitens staatlicher Organe und Unternehmerschaft bestanden, um Mitglieder der SPD oder SPD-naher Organisationen sozial zu disziplinieren.

Die in Deutschland seit 1872 am 18. März veranstalteten Märzfeiern sollten an die Pariser Kommune von 1871 wie auch an die Deutsche Revolution von 1848 erinnern: „Wir sind hier versammelt, nicht allein um den 18. März des Jahres 1871 zu feiern, sondern um uns alle die Märztage zu erinnern, welche für alle Gesellschaftsklassen von so großer Bedeutung waren. ... Ich erinnere nur an den 18. März des Jahres 1848 wie er in Berlin und Wien gefeiert wurde.“3

1 OVZ vom 1.12.1899. 2 Vgl. FV Nr.130 vom 7.6.1911. 3 Germanisches Nationalmuseum (Hg.) 1987: Geschichte Bayerns im Industriezeitalter. Stuttgart. S.192.

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Die Märzfeiern blieben zunächst auf industriell geprägte Regionen beschränkt, so daß das BA Rehau 1874 der Regierung von Oberfranken mitteilen konnte, „... daß der gestrige Tag im Amtsbezirk ohne irgend eine Feier von Seite der Arbeiter- und Parteigenossen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins abgelaufen ist. Weder öffentlich noch in Lokalen irgendwelche Aktivitäten..“4

Erst im Jahre 1911 veranstaltete der Ortsverein Selb der SPD eine vom Porzellanmaler FUHRMANN einberufene Märzfeier im Zentralsaal, auf der der Abgeordnete SIMON zum Thema „Märzstürme in der deutschen Politik“ sprach.5 Während Märzfeiern als vergangenheitsorientierte Veranstaltungen nur für die Dauer des Kaiserreiches abgehalten wurden, sollten Maifeiern dem Proletariat Hoffnung für die Zukunft geben.6 Der 1897 auf dem Sozialistenkongreß in Paris proklamierte Weltfeiertag der Arbeiter wurde in Oberfranken erst nach der Jahrhundertwende begangen. Anders als in Frankreich waren die deutschen Maifeiern lokal organisiert und folglich dezentral. Die Kommunalbehörden, die den 1. Mai lediglich als Podium zur Massendemagogie verstanden, untersagten häufig Auftritte von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären: „Wir beabsichtigen am 1.5. ein Festkonzert mit Gesang und Festrede abzuhalten. Die Festrede ist in letzter Stunde verboten worden; wir bitten um gütige Genehmigung derselben.“7

Der Maifeiertag wandelte sich sukzessive vom Klassenkampf- zum Arbeiterkulturtag mit Gesang, Turnen und ähnlichen Aktivitäten, wie aus nachstehenden Ankündigungen ersichtlich ist. So teilte der Porzellandreher LANG als Vorsitzender des Gewerkschaftskartells Selb 1909 dem BA Rehau mit, daß „... das Kartell am 1. Mai abends 8 Uhr im Ankersaal eine sogenannte Maifeier, bestehend aus Konzert und Festrede, gehalten von Arbeitersekretär Dorn aus Nürnberg, veranstaltet “8 und der Porzellanmaler BESSER reichte dem Bezirksamt 1910 folgendes Programm des Maifeiertages in Schönwald ein:

4 STA Bamberg K 3 F Ib, 2142. 5 STA Bamberg K 18 X, 127. Hierzu auch: Reglement des Gewerkschaftskartells Selb und Umgebung von 1909, das in § 9 als besondere Aufgabe des Kartells ausdrücklich die „Kontrolle der Vergnügungswesen der Gewerkschaften“ nennt. 6 DÜDING, D. 1988: Öffentliche Festkultur – Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek. S.341. 7 STA Bamberg Präs. Reg. K 3, 1893. (Telegramm des Festkomitees in Selb an die Regierung von Oberfranken, Kammer des Inneren vom 30.4.1904). 8 STA Bamberg K 18 X, 127.

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„Halb sechs Uhr morgens: Tagesreveille9 ausgehend von Buchbacher Weg durch den Ort, nachmittags ein Uhr: Festzug von der Rehauer Straße durch den Ort zum Gasthof ´Zur Goldenen Tasse´, danach Konzert und Festrede unter freiem Himmel (keine politische Versammlung!), 19.30 Uhr: Festkonzert im Saal ´Gasthof zur Krone´ bis 24 Uhr.“10

Auffällig ist hier die Betonung, daß es sich um keine politische Versammlung handele, was darauf schließen läßt, daß die Behörden nach wie vor die Maifeiern argwöhnisch beobachteten. Die veranstaltende Arbeiterschaft wollte einem eventuellen Versammlungsverbot seitens des Bezirksamtes mit dem Hinweis auf den unpolitischen, kulturellen Charakter der Feierlichkeit vorbeugen. Daß diese äußerst kritische Einstellung der Behörden den Maifeiern gegenüber auch und gerade im Ersten Weltkrieg fortbestand, als man Proteste und Massenstreiks gegen Lebensmittelknappheit und die Fortführung des Krieges befürchtete, läßt sich anhand eines Schreibens des Regierungspräsidiums von Oberfranken an die Distriktverwaltungsbehörden feststellen: „Über den Verlauf des 1. Mai ist am folgenden Tage telegraphisch ... zu berichten. Soviel bisher bekannt wurde, beabsichtigt die (rechtsstehende) sozialdemokratische Parteileitung, den ersten Mai 1918 in der Weise zu feiern, daß nach Arbeitsschluß Versammlungen abgehalten werden, die unter Veranstaltung von Aufzügen ... aufgesucht werden sollen. Für die Veranstaltung eines politischen Massenstreiks ... liegen bis jetzt keinerlei Anzeichen vor. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß da oder dort oder auch vielleicht allgemein trotz der oben erwähnten Absicht der Parteileitung, nur Abendversammlungen zu veranstalten, aus Anlaß der Maifeier eine teilweise oder auch ganztägige Arbeitseinstellung erfolgt. In diesem Falle würde es dann wohl wahrscheinlich sein, daß auch Versammlungen unter freiem Himmel gehalten werden. Hierzu bemerke ich, daß eine derartige vorübergehende Arbeitseinstellung derzeit auf die Rüstungsindustrie keinerlei schädlichen Rückschlag hat und daß auch vom politischen und polizeilichen Standpunkt aus... kein Anlaß besteht, die Maifeierveranstaltungen, solange wenigstens die öffentliche Ordnung und Sicherheit in entsprechender Weise gewahrt wird, anders zu beurteilen, wie im Frieden. ... Wieweit die Angehörigen der sogenannten unabhängigen Gruppe bei der Maifeier mit der gemäßigten Partei zusammengehen werden, kann nicht gesagt werden. Im allgemeinen wird vielleicht angenommen werden können, daß es zur Hintanhaltung des Einflusses der Unabhängigen förderlich sein könnte, wenn die gemäßigte Richtung die Veranstaltung und Leitung der Sache an sich zieht, es ist aber immerhin auch möglich, daß wenigstens an einzelnen Plätzen – je nach der Zahl der Anhänger, der Zugkraft der Führer, der Stimmung der Massen usw. – Sonderunternehmungen der Unabhängigen ins Auge gefaßt werden und auch daß dabei die Maifeier nur einen Vorwand für andere Zwecke bildet. Solchen Unternehmungen wäre natürlich ein besonderes Augenmerk zuzuwenden.“11

Nachdem sich ab 1908 auch Frauen Vereinen anschließen konnten, entwickelte sich der 1.Mai zu einem Fest für die gesamte Arbeiterfamilie. Im Untersuchungsraum Oberfranken fanden Maifeiern vor dem Ersten Weltkrieg zuletzt 1913 statt; die nach 1918 organisierten

9 Weckruf. 10 STA Bamberg K 18 X, 127. (Hervorhebung d. Verf.). 11 STA Bamberg K 18, 1549. Sicherlich ist auch bemerkenswert, daß die Behörden der USPD ein größeres „Störungspotential“ unterstellten als der MSPD, der man einen mäßigenden Einfluß zugestand. Die These von der wachsenden Bedeutung der Unabhängigen in den Jahren nach 1917 (vgl. S.569) wird dadurch bestätigt

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Maifeiern hatten jedoch eine gänzliche andere Funktion. Die bis dato äußerst eingeschränkten Möglichkeiten, politische Gesinnung öffentlich und selbstbewußt zu demonstrieren, wandelten sich zu einer klassenbewußten und kämpferischen Gestaltung der Maifeier durch die Porzelliner, wozu auch die Forderung nach und Durchführung der Arbeitsfreiheit am 1. Mai gehörte: „Die Arbeitsgemeinschaft der Betriebsräte von hier und Umgebung hat in einer am Samstag abend abgehaltenen Versammlung beschlossen, den 1. Mai im heurigen Jahre 1920 durch völlige Arbeitsruhe zu feiern. Früh sechs Uhr soll ein Demonstrationsausflug auf die Luisenburg unternommen werden, woselbst gemeinsam mit der Wunsiedler Arbeiterschaft versucht werden soll, die Gegensätze, die zwischen beiden Städten bestehen, zu überbrücken.“12

35 Proklamationen zum 1. Mai13

12 SNN vom 29.4.1920. 13 Die Ameise 40.Jg., Nr.18 vom 2.5.1913 und 44. Jg., Nr.17 vom 27.4.1917.

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Für den Untersuchungsraum Oberpfalz lassen sich größere und organisierte Maifeiern ebenfalls erst nach der Jahrhundertwende nachweisen. So berichten Fränkische Tagespost und Fränkische Volkstribüne von diversen Maifeiern u.a. in Amberg, („... von ungefähr 250 Personen besuchte Maifeier ...“14), Weiden, Floß15, Mitterteich16 und Tirschenreuth („ ... nach einem schön verlaufenen Festzuge mit 285 Personen ...“17): „Sowohl der Arbeiter-Gesangverein wie die Maler-Musikkapelle (13 Mann stark) trugen zur Verschönerung des Abends wacker bei. Besonders die Leistungen der fast nur Porzellanmalern bestehenden Kapelle riefen wahre Beifallssalven hervor.“18

„Die Maifeier nahm einen sehr schönen Verlauf. Angeführt von einer Schar 12-14jähriger Knaben, jeder stolz eine rote Fahne tragend, durchzog der Festzug mit Musik das Dörfchen. Der Festrede der Genossin Helene Grünberg lauschten über 200 Männer und Frauen.“19

Daß die spontanen Maifeiern vor der Jahrhundertwende auch in der Oberpfalz behördlicherseits kritisch beobachtet und nach Möglichkeit unterbunden wurden, zeigt folgender Bericht: „ ... größere Ruhestörung ..., wobei ein Gendarm genöthigt war, einem auf ihn eindringenden Angreifer eine Säbelhieb über den Kopf zu versetzen. Die Ruhestörer wurden zuerst aus der Wirtschaft entfernt und suchten nun unter den Rufen ´ nieder mit der Gendarmerie, hauts zu, Wienerisch muß es zugehen, heute feiern wir den ersten Mai´ in diese Wirtschaft wieder einzudringen, bis es der Gendarmerie unter Beihilfe des Wirths gelang, einen der Haupterredenten zu verhaften, worauf sich die Uebrigen zerstreuten.“20

1. Entstehung sozialdemokratischer Organisationen im BA Rehau

Als erste sozialdemokratische Organisationen im BA Rehau lassen sich neben der bereits bestehenden Porzellanarbeitergewerkschaft die Arbeiterkonsumvereine in Rehau, Selb und Schönwald nachweisen, die nach der Jahrhundertwende gegründet wurden.21 Die Mitgliedschaft in den Konsumvereinen erforderte nicht den vergleichsweise hohen Zeitaufwand und kein parteipolitisches Engagement wie ein Beitritt zur SPD, außerdem war damit der Vorteil des billigen Einkaufs verbunden. Der Konsumverein Rehau zählte daher

14 FT Nr.102 vom 3.5.1911. 15 Vgl. FV Nr.105 vom 7.5.1910. 16 Vgl. FT Nr.101 vom 2.5.1913. 17 FT Nr.101 vom 2.5.1913 und FV Nr.103 vom 5.5.1913. 18 Ebd. 19 FT Nr.101 vom 2.5.1910. 20 STA Amberg, Reg. d. Opf. 13933, Bericht vom 18.5.1890. 21 Zu Rehau: Vgl. JFI 1900, S.264; zu Schönwald: Vgl. OVZ vom 25.2.1899; zu Selb: Vgl. GRDADL, H. 1919, S.79.

556 bereits im Jahre 1904 700 Mitglieder und hatte damit doppelt so viele Mitglieder wie der freigewerkschaftliche Porzellanarbeiterverband.22 Dies nahm die SPD-nahe Oberfränkische Volkszeitung zum Anlaß, über den „Indifferentismus“23 der Arbeiter in Rehau und deren verfehltes Interesse für bürgerliche Vereine und Feste Klage zu führen. Im Oktober 1899 kam es zur Gründung eines SPD-Ortsvereins in Rehau mit „einigen fünfzig“24 Mitgliedern. Die Zusammensetzung dieser Organisation läßt sich wg. fehlender Mitgliederlisten nicht mehr nachvollziehen, so daß auch MEHRINGERs These, nach der in industriell geprägten Kleinstädten der bayerischen Provinz „... häufig als Ergebnis punktueller und monokultureller Industrialisierung von Branchen mit hohem Anteil von ungelernten oder schnell anlernbaren Arbeitern und Arbeiterinnen (Textil, Bergbau, Glas, Keramik), die Arbeiter-Unterschicht auch innerhalb der SPD eine größere Rolle gespielt haben dürfte.“25 für Rehau nicht verifizierbar ist. In die gleiche Richtung weisen sich wiederholende Aufforderungen der Parteizeitung26 an die un- und angelernten Rehauer Porzellanarbeiter, sich zu organisieren: „Es wäre an der Zeit, daß die hiesigen Arbeiter, die doch nicht etwa im Paradiese leben, mehr Solidaritätsgefühl an den Tag legten.“27

Den hier dargestellten Organisierungsschwierigkeiten der SPD hinsichtlich der un- und angelernten Arbeiter, welche die Mehrheit der porzellanindustriellen Arbeiterschaft stellten, standen anders geartete Probleme mit den Facharbeitern gegenüber. Diese, ohnehin infolge ihres Standesbewußtseins eher in bürgerlichen Vereinen organisiert, liberal wählend und auch nicht den Freien Gewerkschaften angehörend, bildeten ein dauerndes Angriffsziel der sozialdemokratischen Presse, blockierten sie doch nach Meinung der SPD eine Solidarisierung der Arbeiterschaft insgesamt. Einen Beleg dafür bietet die Antwort der OVZ auf die Ausfälle eines Pfarrers, der anläßlich der Fahnenweihe des Selber Malergesangvereins (1901) die Sozialdemokratie als umstürzlerisch und vaterlandslos charakterisierte: „... die zufriedenen Aucharbeiter,28 die mit Schweifwedeln sich an ihre Stelle klammern und sich den Teufel um die Opfer der Industrie ... bekümmern.“29

22 Vgl. OVZ vom 15.2.1904. 23 OVZ vom 11.5.1899. 24 OVZ vom 29.10.1899. 25 MEHRINGER, H. 1983: Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS-Regimes. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand. In: BROSZAT, M. / MEHRINGER, H. (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd.V, S.291. 26 Vgl. OVZ vom 27.1.1900 und 8.6.1900. 27 OVZ vom 27.1.1900. 28 Gemeint sind hier die Facharbeiter, insbes. die Porzellanmaler. 29 OVZ vom 27.7.1901 (Hervorhebung d. Verf.).

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Die Appelle zur Geschlossenheit der Arbeiterschaft wurden bei jeder Gelegenheit wiederholt, sei es als einige Porzellanmaler aus Rehau, die dem bürgerlichen Sänger- und Schützenbund angehörten, ein eigenes Volksfest gegen das des SPD-Ortsvereins organisierten30 oder der Hinweis, während des Faschings 1901 die „Dividendenbrühe“ einer boykottierten Rehauer Brauerei nicht zu trinken.31 Die genannten Aufrufe, auch und gerade an die Selber Arbeiterschaft, sich mehr in sozialdemokratischen Organisationen zu engagieren,32 konnten jedoch die Stagnation der Mitgliederentwicklung in den sozialdemokratischen Ortsvereinen nicht wesentlich beheben. So blieb die Zahl von 50 Mitgliedern beim Rehauer Ortsverein während der ersten Jahre seines Bestehens konstant, während im Jahre 1905 124 Abonnenten die OVZ bezogen und sogar 250 Mitglieder in den Freien Gewerkschaften organisiert waren.33 Zu den drei bestehenden Ortsvereinen in Rehau, Selb (gegr. 1903) und Schönwald (gegr. 1902) kamen bis 1907 zwar noch Ortsvereine in Martinlamitz und Regnitzlosau hinzu, doch lag der Organisationsgrad, also die prozentuale Relation zwischen den SPD-Wählern der Reichstagswahlen von 1907 und den eingeschriebenen SPD-Mitgliedern, mit 10 – 15% weit unter dem nordbayerischen Durchschnitt von 26%, obschon es in allen Orten mit Ausnahme Regnitzlosaus mehr Mitglieder gab als im nordbayerischen Durchschnitt (24 Mitglieder pro Ortsverein).34 Nur Selb erreichte mit 25,9% den durchschnittlichen Organisationsgrad35 und Martinlamitz übertraf diesen mit 48,5% sogar stark.36 Es läßt sich somit von einen durchschnittlichen bis unterdurchschnittlichen Organisationsgrad im Bereich des BA Rehau ausgehen, der jedoch immer noch höher als im benachbarten Amtsbezirk Wunsiedel lag. Der dort 1875 gegründete sozialdemokratische Wahlverein löste sich unter dem Sozialistengesetz wieder auf und erlangte auch später nur noch marginale Bedeutung.37

Wenngleich Selb als die Stadt mit dem höchsten Organisationsgrad gelten kann, blieben doch die Schwierigkeiten, den dort beschäftigten besonders großen Anteil von un- und angelernten Arbeitern zu organisieren, bestehen, wie die nachfolge Einschätzung der OVZ erkennen läßt: „... der Künstlerstolz der Porzellanarbeiter spielt in allen möglichen Klimbim-Vereinen seine Rolle, nur in der Arbeiterbewegung ist die große Masse gleichgültig.“38

30 OVZ vom 18.8.1901. 31 OVZ vom 26.1.1901. 32 Hierzu: OVZ vom 17.4.1903, 20.2.1904 u. 24.1.1906. 33 OVZ vom 18.10.1905. 34 Bis auf den Ortsverein Selb, der einen Bestand von 203 Mitgliedern hatte, kann man von einer durchschnittlichen Mitgliederzahl von ca. 50 pro Ortsverein ausgehen. 35 Vgl. hierzu: OVZ vom 20.3.1907 u. 25.8.1908. 36 Da die Arbeiterschaft in Martinlamitz sich auf ein Eisenwerk und eine Porzellanfabrik als die alleinigen industriellen Arbeitgeber des Ortes konzentrierte, war der Organisationsgrad entsprechend hoch. 37 Hierzu STEPHAN, C. 1933, S.146f. 38 OVZ vom 28.5.1908. Vgl. FV Nr.130 vom 7.6.1911 [FN 1502 u. 1504].

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In nicht zu übertreffender Deutlichkeit und drastischer Ausdrucksweise wurde einige Monate später nochmals das fehlende Engagement der Selber Arbeiterschaft angeprangert und die Ursache hierfür mit bitterer Ironie dargestellt:

„In Selb, der aufblühenden Industriestadt, herrscht ein unbeschreiblicher Stumpfsinn unter der Mehrheit der Arbeiter. Die großen Probleme der zeit rauschen ungehört an ihnen vorüber. Ohne Ideale, ohne Mut und Hoffnung, dem Herdentiere gleich, in ewiger Angst vor etwas Ungewissem, so verbringen sie ihr jämmerliches leben. Oh pfui über solche erbärmlichen Knechtsseelen. Sie lassen andere ihre Stellung, ihre Gesundheit und Ehre aufs Spiel setzen und steigen dann feige die Beute ein. ... Warum? Weil ein großer Teil der Arbeiter glaubt, schon schlau genug zu sein. ... Schlau genug seid ihr schon, ... schlau genug, euere Frauen in die Fabrik zu jagen, weil euch der Fabrikant den Brotkorb höher hängt; schlau genug, die Seelen der Kinder vergiften zu lassen durch pfäffische Lügenmoral und Phantasterei; schlau genug seid ihr, euere eigenen Kollegen um Brot und Arbeit zu bringen; schlau genug, euch die Schwindsucht an den Hals zu schuften, aber zu feige und borniert, eure Lage zu begreifen.“39

In der Folgezeit entstanden zwar in Plößberg und Pilgramsreuth neue Ortsvereine, doch sanken in allen Orten die Mitgliedszahlen und damit der Organisationsgrad auf die Hälfte oder sogar noch darunter. Ursächlich für die Verringerung waren v.a. die sinkende Konjunktur in der Porzellanindustrie; außerdem, wenn auch nur von marginaler Bedeutung, die ab 1914 einsetzenden Bemühungen der Liberalen, durch Gründung nationaler Arbeitervereine sowie durch eigene Versammlungen und die Herausgabe einer Nordbayerischen Arbeiterzeitung - die allerdings schon nach kurzer Zeit wieder eingestellt wurde – die tradierten Bindungen der Arbeiter an die SPD zu lösen.40 Wenn überhaupt, wurden nur Teile der besserverdienenden Arbeiterschaft erreicht, was die OVZ dazu veranlaßte, diesem „neuen Mittelstand“ aus Obermalern, Technikern und Aufsehern fehlendes bzw. falsches Klassenbewußtsein zu attestieren: „Ihre Mitglieder (der liberalen Arbeitervereine, d. Verf.) bilden sich meist ein, etwas mehr zu sein ala ein gewöhnlicher Arbeiter, obgleich sie der kapitalistischen Willkür genauso wie die Arbeiter preisgegeben sind. ... Nicht nur innerhalb des Betriebs, in bürgerlichen vereinen und überall, wo es gilt, sich als Schützling der heilen kapitalistischen Ordnung zu zeigen, drängt sich das Kleinbeamtentum vor.“41

Entgegen dem allgemeinen Trend hatte sich nur in Schönwald bis 1914 eine solide, sozialdemokratisch geprägte Arbeiterkultur ausgebildet, die ihren Ausdruck in einer Vielzahl von Arbeitervereinen42 und einer Verdoppelung der Mitgliederzahl seit 1907 auf 86 Genossen fand; dies entsprach einem Organisationsgrad von 26,5% und übertraf damit denjenigen Selbs

39 OVZ vom 2.8.1908. 40 Vgl. hierzu: OVZ vom 2.3.1914, 23.3.1914 u. 6.4.1914. 41 OVZ vom 7.4.1914. Der Begriff „Kleinbeamtentum“ bezieht sich polemisierend auf Angestellte. 42 Hierzu: MÜLLER, J. (Hg.) 1980: Die Arbeiterbewegung in Schönwald. Chronik der Arbeitervereine. Schönwald. S.21f.

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(9,5%) und Rehaus (3,7%) um ein Vielfaches.43 Auf die Stärke und lokale Verwurzelung der Sozialdemokratie in Schönwald weist auch der Umstand hin, daß im dortigen Ortsverein - im Gegensatz zu den übrigen Orten des Bezirksamtes, in denen die Frauen eine verschwindend kleine Minderheit bildeten – nahezu die Hälfte der Mitglieder Frauen waren. Da Frauen jedoch erst ab dem liberalisierten Vereinsgesetz von 1908 politischen Vereinen beitreten durften, läßt sich vermuten, daß bei vielen Familien, in denen die Ehemänner schon Parteimitglieder waren, auch die Ehefrauen der SPD beitraten.44

In Marktredwitz wurde zwischen April und Juni 1902 ein Sozialdemokratischer Verein gegründet, der sich auf eine potentielle Wählerschaft von ca. 1.000 Arbeitern stützen konnte, die zu dieser Zeit allein in den dortigen Porzellanfabriken beschäftigt waren. Ursächlich für die nicht exakte Datierung des Gründungsdatums des Marktredwitzer Ortsvereins ist die mangelnde Quellenlage. Die bürgerliche Presse, speziell das „Marktredwitzer Tagblatt“, veröffentlichte zu dieser Zeit nichts über Existenz und Aktivitäten der Arbeiterbewegung; die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“45 wurden ignoriert bzw. totgeschwiegen. Zwar war die sozialdemokratische Parteipresse mit der in Hof erscheinenden „Oberfränkischen Volkszeitung“ sowie der in Bayreuth herausgegebenen „Fränkischen Volkstribüne“ relativ stark vertreten, doch fehlt der entsprechende Jahrgang der OVZ und die FV wurde erst 1903 neu gegründet. Daß 1902 als Gründungsjahr des Marktredwitzer SPD- Ortsvereins dennoch als sichert gelten kann, belegt der „Bericht des Gauvorstandes für den Gau Nordbayern“, in dem es heißt: „Im Jahr 1902 wurden in folgenden Orten Sozialdemokratische Vereine gegründet: Berneck, Bischofsgrün, Gefrees, Goldkronach, ... , Markt Redwitz. ... . Die Zahl der Mitglieder der Sozialdemokratischen Vereine ist von 9000 auf nunmehr rund 15000 im Gau gestiegen. Alles in allem kann daher wohl gesagt werden: Wir sind im Gau Nordbayern ein gutes Stück vorwärts gekommen. Das darf uns aber nicht hindern, die Organisation auszubauen und zu festigen. Jeder einzelne muss es sich zur Aufgabe machen, unermüdlich für die Sache des Proletariats zu kämpfen. ... Auf mit vereinten Kräften gegen Volksausbeutung und Unterdrückung, auf für die Freiheit und das Volkswohl! Vorwärts!“46

Daß sich Marktredwitzer Arbeiter bereits vor der Gründung eines SPD-Ortsvereins für die Sozialdemokratie eingesetzt haben, belegt ein Bericht des „Marktredwitzer Tagblattes“ aus dem Jahre 1900:

43 Nach OVZ vom 18.3.1914. 44 Vgl. hierzu: GROßMANN, A. 1983: Milieubedingungen von Verfolgung und Widerstand am Beispiel ausgewählter Ortsvereine der SPD. In: BROSZAT, M. / MEHRINGER, H. (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd.V, S.512f. 45 Sozialistengesetz von 1878. 46 Zit. nach SPD-ORTSVEREIN Marktredwitz 2002, S.23.

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„Heute findet dahier die Wahl des Reichstagsabgeordneten statt. Die Wahlhandlung beginnt vormittags um 10 Uhr und endet abends 6 Uhr. Im Interesse der für unseren Wahlbezirk so wichtigen Sache erlauben wir uns mit der Bitte, darauf aufmerksam zu machen, sich recht pünktlich und zahlreich zur Wahl einfinden zu wollen. ... Die Sozialdemokraten bringen jeden Mann zur Wahlurne. Wähler in Stadt und Land! Wollt ihr den Wahlkreis an eine Partei, die gegen Religion, Sitte und Ordnung anstürmt, verloren gehen lassen? Nein! Nein! Nein! Veteranen und altgediente Soldaten, wollt ihr denn, dass der Wahlkreis in die Hände eines vaterlandslosen Sozialdemokraten fällt? Nein! Hundertmal Nein!“47

Außerdem beteiligten sich viele SPD-Anhänger aus Marktredwitz vor 1902 an Veranstaltungen in den Nachbargemeinden – bspw. nahmen am 5. Mai 1901 50 Marktredwitzer Genossen an einer Maifeier in Breitenbrunn teil - bzw. waren dort parteilich organisiert.48

2. Die SPD bei Reichstags- und Kommunalwahlen

Seit 1893 konnte die SPD bei den Reichstagswahlen starke Stimmenzuwächse im Bereich des BA Rehau verzeichnen. Wenngleich nur wenig Datenmaterial überliefert ist, erscheint es sinnvoll, das sozialdemokratische Stimmenpotential sowie die Zahl der Gewerkschafts- und Parteimitglieder darzustellen: Tab.103: Sozialdemokratisches Wählerpotential, Gewerkschafts- und Parteimitglieder49 Reichstagswahl SPD-Stimmen bei Mitglieder der Freien SPD-Mitglieder im BA Reichstagswahl Gewerkschaften 1898 1557 499 ~ 50 (1899) 1903 2272 648 -- 1907 2311 1158 369 1912 3178 3184 ~ 280 (1914)

Auffällig ist die zwar allgemeine, jedoch nicht kontinuierliche Zunahme der Wählerstimmen sowie der Gewerkschaftsmitglieder. Nach einer Phase des Wachstums von 1898 bis 1903 begann die Stimmenzahl zu stagnieren, während sich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder bis 1907 fast verdoppelte. Der Stillstand bei den Wählerstimmen im BA ging konform mit dem landes- und reichsweiten Trend zum Rückgang der SPD-Stimmenanteile, wohingegen die nur in den Jahren 1908/09 abgeschwächte Hochkonjunktur in der Porzellanindustrie

47 Marktredwitzer Tagblatt vom 6.3.1900. 48 Vgl. i.e. SPD-ORTSVEREIN Wunsiedel (Hg.) 1983: Sozialdemokratie in Wunsiedel 1900/1903/1983. Wunsiedel. 49 Nach BALD, A. 1991, S.71.

561 ursächlich für die erhebliche Zunahme der Gewerkschaftsmitglieder war. Signifikant ist, daß im Jahre 1912, also auf dem Höhepunkt der Konjunktur, die Wählerstimmenzahl und die der Gewerkschaftsmitglieder nahezu identisch sind, daß mithin fast alle Gewerkschaftsmitglieder sozialdemokratisch wählten. Der Befund korreliert mit der gerade zu diesem Zeitpunkt wachsenden Streikbereitschaft der Arbeiter, die um höhere Löhne kämpften und deren teilweise Erfolge die Bereitschaft, den Feien Gewerkschaften beizutreten, förderte; Streiks als „komprimierte Lernprozesse“50 bewirkten demnach einen Anstieg der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften

Organisatorische Mängel sowie ganz besonders die im Gemeindewahlrecht festgelegten weitgehenden Wahlrechtsbeschränkungen verhinderten zunächst nennenswerte sozialdemokratische Einflußnahmen auf die Kommunalpolitik im BA Rehau. Danach durfte nur derjenige wählen, der männlich und über 21 Jahre alt war, außerdem jedoch das Bürgerrecht, welches wiederum an das Heimatrecht gekoppelt war, besaß. Viele Porzelliner, als Arbeitsmigranten aus benachbarten Regionen zugewandert, blieben nur vorübergehend in einem Amtsbezirk, so daß nur wenige von ihnen das Bürgerrecht erlangten. Wollten die Arbeiter dieses Recht erhalten, so mußten sie sich mehrere Jahre im jeweiligen Amtsbezirk aufhalten und hatten eine beträchtliche Gebühr zu zahlen, falls sie das Bürgerrecht überhaupt erhielten. Um die Bürgerrechtsgebühren zu senken, ging die SPD bei den Gemeindewahlen 1899 und 1902 Wahlbündnisse mit den Freisinnigen ein, die jedoch nicht die erhofften Änderungen brachten.51 Daß für viele Arbeiter die hohen Heimat- und Bürgerrechtsgebühren mithin ein Haupthindernis bildeten, die kommunale Wahlberechtigung zu erhalten, veranlaßte die OVZ wie folgt Stellung zu nehmen: „Daß sich bei dieser hohen Bürgerrechtsgebühr mit der Zeit zwischen der Zahl der Bürger und den Gesamteinwohnern ein unhaltbares Mißverhältnis herausbildet, das ausschließlich den seitherigen eingefleischten, kurz den Plutokraten zugute kommt, ist doch klar.“52

50 SCHÖNHOVEN, K. 1980, S.210. 51 Vgl. OVZ vom 6.12.1904 u. 16.11.1905. 52 OVZ vom 17.12.1905.

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3. Kommunalwahlen am Beispiel Selb

Nach der bayerischen Gemeindeordnung von 1869 war die Erlangung des Gemeindebürgerrechts zunächst an allgemeine Voraussetzungen wie bayerische Staatsangehörigkeit, männliches Geschlecht, Volljährigkeit, Selbständigkeit, ständiger Aufenthalt in der Gemeinde und Veranlagung zu direkten Steuern gebunden. Zusätzlich jedoch mußte derjenige, der das kommunales Wahlrecht ausüben wollte, im Besitz des Heimatrechtes sein, dessen Erwerb, wie erwähnt, mit hohen Gebühren und einer vier- bis siebenjährigen Wartezeit verbunden war. Insofern entwickelte sich das Bürgerrecht zum willkommenen Instrument in den Händen der bürgerlichen Honoratiorenschicht, um die zahlenmäßig immer stärker werdende Arbeiterschaft von der Mitbestimmung bei städtischen Angelegenheiten auszuschließen.53 Vor Gründung des SPD-Ortsvereins Selb lag der Prozentsatz der wahlberechtigten Gemeindebürger bei ca. 4,7%, was in absoluten Zahlen bedeutet, daß 1902 von 7.700 Einwohnern nur 366 wahlberechtigt waren.54 Angesichts der wenigen Wahlberechtigten ist das Desinteresse großer Teile der Einwohnerschaft Selbs - dies waren in der Mehrheit Porzellanarbeiter - wenig überraschend.

Das bayerische Heimatgesetz bestimmte, daß Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern als Gebühr für die Heimatverleihung von nichtbayerischen Reichsangehörigen sowie von Reichsfremden maximal 60 Mark erheben konnten, wobei die Gebühren für bayerische Bewerber nur die Hälfte betrugen, für „Ausländer“ jedoch auf das Doppelte angehoben werden konnten. Ein Großteil der Selber Arbeiterschaft bestand aus nichtbayerischen Arbeitskräften, die während der Hochkonjunktur der Porzellanindustrie zugezogen waren. Diese setzten sich aus nichtbayerischen Reichsangehörigen und Staatsangehörigen fremder Nationen zusammen, die alle unter dem Oberbegriff „Ausländer“ subsumiert wurden. In Selb mit 14,3% und in Schönwald mit 18,2% Ausländern bestand diese Bevölkerungsgruppe 1900 zu 2/3 aus reichsfremden Arbeitsmigranten,55 die aus dem benachbarten böhmischen Raum stammten und deren Anteil proportional zur Konjunktur anstieg. Geht man von einem durchschnittlichen Monatsverdienst zwischen 57 Mark (männliche Sortierer) und 97 Mark (männliche Dreher) im Jahre 1905 aus56 und legt man eine Gebühr von 50 Mark zugrunde,

53 Hierzu i.e.: ECKERT, H. 1968: Liberal- oder Sozialdemokratie. Frühgeschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung. Stuttgart. S.37ff. und ROSSMEISSL, D. 1977: Arbeiterschaft und Sozialdemokratie in Nürnberg 1890-1914. Nürnberg. S.16ff. 54 Vgl. STB vom 10.12.1902. 55 BSKgrB 1900, Bd.63, S.166. 56 Vgl. JFI 1905, S.100f.

563 bedeutet dies, daß ein Porzellanarbeiter für den Erwerb des Heimatrechtes rd. die Hälfte bis vier Fünftel seines Monatsverdienstes aufwenden mußte. Es ist offensichtlich, daß diese hohen Gebühren die meisten der Betroffenen davon abhielten, das Heimatrecht zu erwerben. Die Möglichkeit, das Bürgerrecht nach zweijährigem Aufenthalt in der Gemeinde zu erhalten setzte die sog. „Naturalisation“ des Antragstellers voraus, also den Erwerb der bayerischen Staatsangehörigkeit. Diese wurde jedoch nur dann gewährt, wenn der Betreffende sofort danach Heimat in einer bayerischen Gemeinde erhielt, was wiederum die Zahlung der Heimatrechtsgebühr nach sich zog. Daß dabei die Heimatrechtsgebühren von den Bürgerrechtsgebühren subtrahiert wurden, fiel bei der Höhe von bis zu 130 Mark Bürgerrechtsgebühren kaum ins Gewicht. Neben den hohen Gebühren war demnach sicherlich auch die Unübersichtlichkeit und Komplexität der Bestimmungen ein Hemmnis für die Arbeiter, sich kommunalpolitisch aktiv zu beteiligen.

Obwohl die Zahl der Bürgerechtserwerbungen mit 77 im Jahre 1905 bedeutend zugenommen hatte,57 beschränkte sich die SPD angesichts der wenigen sozialdemokratischen Wahlberechtigten in ihrem ersten Selber Kommunalwahlkampf darauf, eine sehr zurückhaltende Wahlempfehlung zu geben: „Jene Herren der anderen Bürgerschaft, welche gesonnen sind, der Arbeiterschaft zu ihrem Recht, einige Vertreter im Kollegium zu haben, verhelfen zu wollen, werden ersucht, sich aus unseren Kandidaten einige Herren auszuwählen und diese auf den Stimmzettel mit aufzunehmen.“58

Das relative Mehrheitswahlrecht, nach dem jeder Kandidat von jedem Wähler nur eine Stimme bekommen konnte und das eine Stimmenhäufung zugunsten sozialdemokratischer Kandidaten ausschloß, verhinderte, daß trotz eines Anteils von 24% der abgegebenen Stimmen die SPD einen Vertreter ins Gemeindekollegium59 entsenden konnte, da dem relativ hohen Stimmenanteil eben nur eine geringe Stimmenzahl von 53 Stimmen entsprach.60

57 ZKglBStLA 1912, Bd.44, S.484. 58 STB vom 25.11.1905. 59 Mit Ausnahme von Selb und Rehau, die als einzige eine Gemeindeverfassung besaßen, zählten die übrigen Orte des BA Rehau zu den Landgemeinden mit lediglich einem Gemeindeausschuß. Das in Selb und Rehau praktizierte Zweikammersystem bestand aus dem Kollegium der Gemeindebevollmächtigten als legislativer und dem Magistrat sowie dem Bürgermeister als exekutiver Gewalt. 60 Nach: STB vom 1.12.1905. Die Stimmenzahl war nahezu identisch mit der Zahl der Ortsvereinsmitglieder. Die Zahl der SPD-Stimmen wäre u.U. höher gewesen, wenn die Wahlzeit nicht von 9 bis 11 Uhr beschränkt gewesen wäre. Da in dieser Zeit mit 57% mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben hatte, galt die Wahl danach als beendet und die später kommenden Wahlberechtigten konnten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch mehr machen. Vgl. STB vom 1.12.1905.

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Da die bayerische Regierung einige Monate vor der nächsten Kommunalwahl im Jahre 1908 für Gemeinden über 4.000 Einwohner das Verhältniswahlrecht mit freien Listen und der Möglichkeit der Stimmenhäufung eingeführt hatte,61 stiegen die Wahlchancen für die Sozialdemokratie. Hinzu kam, daß in den Jahren 1906 bis 1908 ca. 2/3 der Heimatrechtsverleihungen in den oberfränkischen Städten gebührenfrei erfolgt waren,62 was bedeutete, daß - neben Dienstboten und Gewerbegehilfen - auch Fabrikarbeitern nach einem siebenjährigen ununterbrochenen Aufenthalt in der jeweiligen Gemeinde und ohne Freiheitsstrafen das Heimatrecht gebührenfrei zuerkannt worden war; auch die Zahl der Bürgerechtserwerbungen erreichte mit 100 im Jahre 1908 einen neuen Höchststand. Das Wahlprogramm der SPD für die Kommunalwahl 1908 beschränkte sich auf pragmatische Forderungen wie Einrichtung von Kaufmanns- und Gewerbegerichten, mehr hygienische Einrichtungen in den Fabriken, Verbesserung der Volksschule und Verbot der Vergabe öffentlicher Aufträge an Mitglieder des Gemeindekollegiums und verzichtete auf die radikalen Positionen des Ludwigshafener Kommunalprogramms von 1902:63 „Nicht Umsturz, sondern Ausbau der Gemeinde ist das Ziel der Sozialdemokratie.“64 Zwar konnte die SPD ihren Stimmenanteil auf 31% steigern und erhielt zwei Mandate im Gemeindekollegium, doch standen diese beiden sozialdemokratischen Vertreter einer Dominanz von 22 bürgerlichen Mandatsträgern gegenüber.65 Da Bürgermeister und Magistratsräte als eigentliche Stadtregierung mit exekutiven Vollmachten von den Gemeindebevollmächtigten gewählt wurden, konnte die SPD keinen Magistratsrat stellen.

Die Differenzen zwischen der - zwar im Gemeindekollegium, nicht jedoch im Magistrat vertretenen und damit relativ machtlosen - Sozialdemokratie und den Gemeindevertretern aus dem bürgerlichen Lager traten 1911 offen zutage, als das Gesuch zweier nichtbayerischer Porzellanarbeiter um Naturalisation (als Voraussetzung für die Erlangung des Heimatrechtes) vom Stadtmagistrat abgelehnt wurde. Dem Magistrat stand jedoch lediglich ein Anhörungsrecht in Bezug auf Unbescholtenheit, Unterkunft und wirtschaftliche Verhältnisse der Antragsteller zu, ein Einspruchsrecht besaß nur die übergeordnete Behörde. Die OVZ hingegen bescheinigte den beiden Porzellinern durchaus geordnete Verhältnisse in Familie

61 Hierzu besonders: ZKglBStLA 1909, Bd.41, S.602. 62 BSKgrB 1911, Bd.83, S.43. 63 Zum Ludwigshafener Programm siehe ROSSMEISSL, D. 1977, S.181. 64 STB vom 1.12.1908. 65 Vgl. ZKglBStLA 1909, Bd.41, S.630f.

565 und Beruf, ein gewisses Sparguthaben sowie einen über zehnjährigen Aufenthalt in Selb und bemerkte zu dem Fall: „... Ein Arbeiter, der in seiner Jugend durch die wirtschaftlichen Verhältnisse nach Selb verschlagen wird, sich hier einen Haushalt gründet, Familienvater wird, seine Kinder in der hiesigen Schule ausbilden läßt, zu den Steuern und Umlagen genausoviel beiträgt wie jeder Bayer, ist um das Wohl seiner Kinder besorgt, will ihnen ihr späteres Fortkommen erleichtern und ihnen dort die Heimat sichern, wo sie geboren sind und ihnen die Staatsangehörigkeit verschaffen. ... Der Ausländer ist für die Selber Stadtväter wohl gut genug, an der Hebung der Industrie mitzuarbeiten, Steuern und Umlagen zu zahlen, aber dann, wenn er kommt und gegen bare Münze sich die bürgerlichen Rechte erwerben will, wird er abgewiesen. Er ist eben bloß Arbeiter.“ 66

Die am 5.3.1911 veranstaltete Protestversammlung gegen die Diskriminierung nichtbayerischer Arbeiter wies auch darauf hin, daß sich eine derartige Zurückweisung seitens des Magistrates gegen ein Fünftel der Selber Bevölkerung richten würde.67 In der Folgezeit versuchte die SPD weiter gegen die Benachteiligung nichtbayerischer Arbeiter beim Erwerb der Staatsangehörigkeit und des Heimatrechts anzukämpfen; gleichzeitig versuchte man die bayerischen Arbeiter darüber aufzuklären, daß jeder von ihnen nach einem zweijährigen Aufenthalt in der Gemeinde das Bürgerrecht erhalte.68 Daß diese Argumentation nicht erfolglos war und viele Arbeiter trotz einer Gebührenerhöhung das Bürgerrecht erwarben, läßt sich anhand der Zunahme der Bürgerrechtserwerbungen erkennen: In Relation zu 1909/10 verzehnfachten sich diese im Jahre 1911, wobei mehr als 1/3 (329) der Wahlberechtigten (924) erst in diesem Jahr das Bürgerrecht erwarb. Damit stieg zwar die Zahl der Wahlberechtigten auf 8,5% der Einwohnerschaft Selbs,69 das Wählerpotential der SPD war hingegen keineswegs ausgeschöpft, da der minderbemitteltere Teil der Arbeiterschaft mit ca. 500 bis 600 Arbeitern nicht in der Lage war, die hohen Gebühren aufzubringen.70 Die dadurch wachsende Bedeutung der Arbeiterschaft konnte von den bürgerlichen Wahlvereinigungen nicht länger ignoriert werden, so daß der Freie Bürgerverein - im Gegensatz bspw. zum Haus- und Grundbesitzerverein, der auf die Anliegen der Arbeiterschaft überhaupt nicht einging - in seinem Wahlaufruf ausdrücklich betonte, daß man deren Ziele wie Aufhebung des Schulgeldes, Anstellung eines Schularztes, Einrichtung eines Kaufmannsgerichtes, Förderung des Bauvereins und Senkung der Bürgerrechtsgebühren auch schon bisher unterstützt habe.71 Die Ziel der SPD hingegen gingen über die des Freien Bürgervereins hinaus, da man nicht nur eine Senkung, sondern eine völlige Abschaffung der Bürgerrechtsgebühren, neben der

66 OVZ vom 28.2.1911. 67 OVZ vom 5.3.1911 u. 8.3.1911. 68 OVZ vom 9.6.1911. 69 Nach ZKglBStLA 1912, Bd.44, S.514f. 70 OVZ vom 25.11.1911. 71 STB vom 23.11.1911.

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Aufhebung des Schulgeldes auch Lernmittelfreiheit sowie die Einschaltung der Gewerkschaften bei städtischen Auftragsvergaben - und damit tarifähnliche Arbeitsvetragsbedingungen - forderte: „Es könnte aber bedeutend mehr erreicht werden, wenn dem Arbeiter nicht durch übermäßige Höhe der Bürgerrechtsgebühren, welche erst im letzten Jahre zu Ungunsten der Minderbemittelten bedeutend erhöht wurden, die Möglichkeit entzogen worden wäre, um den Wünschen der Arbeiter im Rathause mehr Geltung zu verschaffen.“ 72

Da die SPD bei der Gemeindewahl von 1911 5 Mandate für Gemeindebevollmächtige hinzu gewinnen konnte, konnte sie zwar die Wahl des ersten sozialdemokratischen Magistratsrates in Selb durchsetzen, dieser sah sich jedoch einer Majorität von 9 bürgerlichen Magistratsräten gegenüber.73 Daß jedoch nach wie vor eine tiefe Kluft zwischen Sozialdemokratie und bürgerlichen Parteien bestand, belegen zwei Beispiele: Die Einladung zu einem Arbeitersängerfest im Jahre 1912 nahm der erste rechtskundige Bürgermeister Selbs, MARQUART, nur unter Betonung der konträren Weltanschauungen an74 und erst 1910 wurde ein SPD-Mitglied zum Schöffen beim Selber Amtsgericht berufen.75

Bei den bereits unter Kriegsbedingungen stattfindenden Gemeindewahlen von 1914 versuchten die bürgerlichen Parteien sich Vorteile zu verschaffen. Zwar hatte die bayerische Staatsregierung unmittelbar nach Kriegsbeginn das Heimatrechtsgesetz im August 1914 aufgehoben und durch diesen inneren „Burgfrieden“ ein wesentliches Hindernis für die Beteiligung der Arbeiterschaft an den Gemeindewahlen beseitigt, doch bedeutete die auf Druck des Zentrums und gegen den Widerstand der SPD angesetzte Wahl optionale Verluste für die Sozialdemokraten, da diese stärker als andere Parteien von Einberufungen betroffen waren. Die Bürgerlichen nutzten die Situation von Witwen aus, die zwar das Bürgerrecht besaßen, dieses aber nur mittels eines männlichen Bürgen ausüben konnten. Ein städtischer Polizeibeamter suchte diese Witwen auf und drängte sie dazu, ihr Wahlrecht einem auf seiten der bürgerlichen Parteien stehenden Mann zu übertragen.76 Die OVZ, die diesen Vorfall aufdeckte, sah sich allerdings gezwungen zuzugeben, daß die SPD ähnliche Methoden anwandte, woraufhin die Bürgerlichen wiederum die Witwen zu überreden versuchten, ihre den Sozialdemokraten gegebenen Vollmachten zurückzufordern.77

72 STB vom 24.11.1911. 73 STB vom 9.12.1911. 74 Vgl. hierzu: STB vom 25.6.1912. 75 STB vom 16.12.1910. 76 OVZ vom 26.11.1914. 77 OVZ vom 14.12.1914.

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Im Wahlkampf lehnten die bürgerlichen Parteien die Forderungen der SPD als überzogen bzw. zu teuer ab; insbesondere müßten nach einer Aufhebung der Bürgerrechtsgebühren „alle nur möglichen Elemente aufgenommen werden“, eine Formulierung, die die SPD zu folgender Erwiderung veranlaßte: „Als vor Wochen ´diese Elemente´ hinauszogen, um das Vaterland zu verteidigen, da lernten wir so manchen ´Maulaufreißer´ kennen. Viele von diesen Elementen haben bereits Blut und Leben für das Vaterland geopfert, diese Maulaufreißer sitzen aber daheim in der warmen Stube und befleißigen sich, die Anhänger einer Partei herabzuwürdigen und zu entrechten.78

Angesichts einer gesunkenen Zahl von Wahlberechtigten resp. Wählern war das Ergebnis der Gemeindewahl von 1914 für die SPD durchaus positiv: Sie gewann bei den Gemeindebevollmächtigten drei und bei den Magistratsräten zwei Mandate und stellte im ersten Kollegium 10 von 30 und im zweiten 2 von 8 Mitgliedern.79

Ein Vergleich mit den Nachbargemeinden verdeutlicht die relativ starke Stellung der SPD in Selb. In Rehau waren die Sozialdemokraten trotz des Höchstsatzes an Bürgerrechtsgebühren von 85 Mark80 seit 1908 mit zwei Sitzen im Kollegium der Gemeindebevollmächtigten vertreten. Obwohl die SPD diese Zahl bis 1914 verdoppeln konnte, war sie aufgrund der bürgerlichen Mehrheiten in dem 24köpfigen Gremium nicht in der Lage, einen Magistratsrat zu stellen.81 Das Wahlergebnis der Gemeindewahlen von 1911 in Schönwald, wo ein zahlenmäßig starker SPD-Ortsverein vertreten war, wurde als „nicht zufriedenstellend“82 bezeichnet; in der Gemeinde Pilgramsreuth, in der vorwiegend Steinarbeiter ansässig waren, errang die SPD zwar alle neun Sitze im Gemeindeausschuß, konnte jedoch nicht den Bürgermeister stellen. Auch in Plößberg bemühte man sich durch Gründung eines SPD-nahen Sparvereins zum Erwerb des Heimatrechtes, die Position der Sozialdemokratie durch eine Verbreiterung der Wählerschaft zu stärken.

Resümierend ist festzuhalten, daß der Einfluß der Sozialdemokratie auf die Gemeindepolitik insbesondere in Selb zwar zugenommen hatte, daß die SPD jedoch nach wie vor sowohl in den städtischen wie auch in den Landgemeinden in Relation zum prozentualen Anteil der Arbeiterbevölkerung als ihrer potentiellen Wählerschaft stark unterrepräsentiert war. Hinzu

78 STB vom 14.12.1914 79 ZKglBStLA 1915, H.47, S.302 und STB vom 15.12.1914. Nach den Bestimmungen der Gemeindeordnung mußte der 1911 gewählte Magistratsrat der SPD ausscheiden. Vgl. STB vom 17.11.1914. 80 Vgl. OVZ vom 11.7.1908. 81 Vgl. ZKglBStLA 1915, H.47, S.317. 82 OVZ vom 1.12.1911.

568 kam, daß die Bürgermeister der beiden Stadtgemeinden Selb und Rehau, die nicht von der SPD gestellt wurden, von den Gemeindegremien vergleichsweise unabhängig waren. Dies bedeutete auf der einen Seite einen schwerwiegenden Nachteil für die Integration der Arbeiterschaft in die Gemeinden, andererseits konnte die SPD wegen ihrer Nichtbeteiligung an der Exekutive auch nicht für die unmittelbaren kriegsbedingten Probleme wie Versorgungs- und Arbeitskräftesituation verantwortlich gemacht werden.

4. Die Arbeiterschaft im Ersten Weltkrieg

4.1 1914 – 1916: Krise der Porzellanindustrie und Verschlechterung der materiellen Lage der Porzellanarbeiter

Die mit dem Abschwung der Konjunktur nach 1912 einsetzende schwierige ökonomische Situation der Porzellanindustrie wurde während des Ersten Weltkrieges noch durch ausbleibende Exporte und zurückgehende Binnennachfrage verschärft.83 So wurde bereits im Januar 1914 bei der PF Hutschenreuther die tägliche Arbeitszeit um drei Stunden verkürzt.84 Hinzu kam, daß sich die hohe Zahl der einberufenen Porzellanarbeiter - bis zum Sommer 1915 waren bereits ca. 40% der Selber Porzelliner eingezogen worden85 - negativ auf die Betriebsstrukturen und innerbetrieblichen Produktionsabläufe auswirkte. Nachfolgender Überblick belegt den Rückgang der Beschäftigtenzahl bis 1916 im Vergleich zu 1913 um ca. 35%, wobei insbesondere die Zahl der männlichen Beschäftigten sank, während die Zahl der weiblichen Beschäftigten nahezu konstant blieb. Tab.104: Beschäftigte in 6 Selber Porzellanfabriken 1913, 1916 und 191886 1.12.1913 1.12.1916 Sommer 1918 Beschäftigte % Beschäftigte % Beschäftigte % Männer 2.170 59 937 26 1.317 36 Frauen 1.486 41 1.438 39 1.959 54 Gesamt 3.656 100 2.375 65* 3.276 90* • Im Vergleich zur Gesamtbeschäftigtenzahl von 1913.

83 JFI, 1914-1918, S.148. 84 Vgl. STB vom 8.11.1914. 85 Bay. HSTA Abt. I, MH 15950. Nach STB vom 16.8.1915 wurden von 3.000 Porzellanarbeitern Selbs 1.300 eingezogen. 86 Quellen: Bay. HSTA Abt. IV, MKr 1462 und Stellvertr. Gen. Kdo. III. A.K. 15/6, 15a/7.

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Nicht nur die hohe Zahl der einberufenen Porzellanarbeiter, sondern auch die durch das Fehlen qualifizierter Facharbeiter, mangelnde Inlands- und kriegsbedingt ausbleibende Auslandsnachfrage bedingten Produktionsausfälle und bedeuteten für die verbliebenen Porzelliner Kurzarbeit bzw. Arbeitslosigkeit. Dies wiederum schwächte die Arbeiterorganisationen, so daß bspw. der Porzellanarbeiterverband wegen der hohen Zahl der kurzarbeitenden oder arbeitslosen Mitglieder bereits 1914 eine Kürzung der Arbeitslosenunterstützung beschließen mußte.87 Die SPD entsandte im Januar 1915 eine Delegation oberfränkischer und oberpfälzischer Arbeiter zur Regierung nach München, um auf die hohe Arbeitslosigkeit aufmerksam zu machen88 und darauf hinzuweisen, daß die betroffenen Gemeinden die Situation eher beschönigten, da diese bei Einführung der Erwerbslosenfürsorge finanzielle Belastungen befürchteten. Daß jedoch auch die Gemeinden die wirtschaftlich schlechte Lage noch hinreichend deutlich schilderten, macht nachfolgender Bericht an das Staatsministerium deutlich: „Porzellanindustrie – 9 Betriebe. 1 Woche ganz still, seit dieser Zeit wird beschränkt gearbeitet, durchschnittlich 20 Stunden die Woche, einzelne Betriebe sind mit geringfügigen Unterbrechungen ganz stillgelegen. Die Woche vor Weihnachten Beschäftigung in den meisten Betrieben 8 bis 9 Stunden täglich, gegenwärtig 20 Stunden pro Woche. Verdienst 2 - 12 Mark pro Woche. Außerdem besteht die Beschränkung, daß von jeder Familie nur ein Glied beschäftigt wird. Nur in ganz besonderen Fällen werden Ausnahmen zugelassen.“89

Das Ministerium sah sich daraufhin veranlaßt, Porzellanarbeitergemeinden wie Selb und Rehau finanziell zu unterstützen90 und ein Exportverbot für Nahrungsmittel zu erlassen.91 Zwar gab es zu dieser zeit schon deutliche Anzeichen für eine Verteuerung der Grundnahrungsmittel, da Teile der Ernte zurückgehalten wurden um bessere Preise zu erzielen,92 doch scheint die Stimmung allgemein noch relativ ruhig gewesen zu sein.93 Im Mai 1916 kam es dann in Selb zu ersten Demonstrationen, als 800 bis 1.000 Leute wegen der Verschiebung der Brotmarkenausgabe öffentlich protestierten. Die vom BA geäußerte Befürchtung, daß es im Sommer d.J. erneut Krawalle geben könnte,94 stellte sich als richtig heraus, als eine „Zusammenrottung von Weibern, die höhere Brotrationen ... erzwingen wollten ...“

87 OVZ vom 20.10.1914. 88 Bay. HSTA Abt.I, MH 15950. 89 Ebd., undatierter Bericht. 90 Ebd., Schreiben vom 7.8.1915. 91 STB vom 19.1.1915. 92 STB vom 27.9.1915. 93 Im Gegensatz übrigens zum nur wenige Kilometer entfernten böhmischen Asch, wo es wegen der Brotknappheit schon im Sommer 1915 erste Unruhen unter der Bevölkerung gab. Vgl. STB vom 19.7. und 22.9.1915. 94 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1828, WB vom 20.5.1916.

570 stattfand, woraufhin der Bezirksamtmann nur lapidar bemerkte: „Eine bedauerliche Erscheinung ist der stets wachsende Haß der unteren Klassen gegen die ´Reichen´.“95

Die im Sommer 1916 von den Porzellanarbeitern Oberfrankens an den Arbeitgeberverband gerichtete Forderung nach einer Teuerungszulage wurde abgelehnt,96 was das BA wie folgt kommentierte: „Je mehr Unterstützungen gewährt werden, desto unersättlicher und fauler werden die Kriegerfrauen in Selb.“97

Daß diese Charakterisierung insbesondere der Arbeiterfrauen, die durch Haushalt, Alleinverdienst (wegen Einberufung der Ehemänner) und Lebensmittelknappheit mehrfach belastet waren, kein Einzelfall war, sondern allgemein vom BA vertreten wurde, zeigt dessen Stellungnahme angesichts einer Protestaktion gegen die Brotrationen in Rehau: „Die Leute sind hier recht ungezogen.“98

Betrachtet man die Lohnentwicklung der Jahre 1914 bis 1918 und nimmt hierzu als Vergleich die durchschnittlich gezahlten Stundenlöhne von 23 Lohngruppen bei der PF Rosenthal, so ergibt sich folgendes Bild:

Tab.105: Durchschnittliche Stundenlöhne der PF Rosenthal 1914 – 1918 (1914 = 100)99 Jahr 1914 1915 1916 1917 1918 23 Lohngruppen 100 91 97 112 162

Demnach sanken die Löhne als Wirkung auf die schlechte Ertragslage der Porzellanindustrie bis 1916 unter den Index von 1914, um in der Folge wieder anzusteigen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß in den Indizes für 1917 und 1918 bereits Teuerungszulagen enthalten sind und zudem für 1918 die durch Tarifverhandlungen erzielte Erhöhung der Grundlöhne inbegriffen ist. Die Verdoppelung der Löhne, wie im gleichen Zeitraum bei den übrigen Industrien Bayerns eintrat,100 kann somit bei der Porzellanindustrie nicht beobachtet werden, so daß diese zusammen mit der Glasindustrie bei einer gesamtbayerischen Untersuchnung unter 21

95 STA Bamberg K3 Präs. Reg. 1829, WB vom 29.7.1916. 96 OVZ vom 5.9.1916. 97 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1829, WB vom 9.9.1916. 98 STA Bamberg K3 Präs. Reg. 1830, WB vom 21.10.1916. 99 Quelle: Lohnliste in Bay. HSTA Abt. IV, MKr 17306. 100 Vgl. BRY, G. 1960: Wages in Germany 1871-1945. Princeton. p.199, tbl.48.

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Industrien den letzten Platz belegte.101 Den gestiegenen Nominallöhnen standen Verteuerungen bei den Lebensmitteln gegenüber, die bspw. in Marktredwitz von 1914 bis 1918 bei Brot 132%, bei Kartoffeln 160% und bei Rind- und Schweinefleisch 250% betrugen (jeweils bezogen auf 1 kg).102 Die desolate Ernährungssituation der Bevölkerung wird durch eine Bemerkung des BA charakterisiert, das im März 1917 angesichts wiederholter Kürzungen der Brotrationen betonte, daß eine Erhöhung der Fleischzuweisung keine Lösung der Nahrungsmittelknappheit bedeute, da „... die ärmere Bevölkerung sich dasselbe nicht kaufen kann.“103 Mithin verschlechterte sich die materielle Lage der porzellanindustriellen Arbeiterschaft in den ersten beiden Kriegsjahren zunehmend, wobei es dieser nur wenig half, daß es wegen des kriegsbedingten Bevölkerungsrückgangs von 3.000 Personen bis Ende 1916104 erstmals seit Beginn des starken Bevölkerungswachstums leerstehende Wohnungen und Mietpreissenkungen gab.105 Proteste der Bevölkerung richteten sich zunächst nur gegen die unzureichende Versorgungslage, politische Forderungen aus den ersten beiden Kriegsjahren sind nicht aktenkundig.

4.2 1916 - 1918: Langsamer Aufschwung der Porzellanindustrie und soziale Proteste der Porzellanarbeiter

Ursächlich für den relativen Aufschwung in der Porzellanindustrie ab 1916 war, daß Porzellan auf vielen zivilen Gebieten zunehmend als Substitutionswerkstoff für die kriegswichtigen Metalle diente wie auch der Ausbau des militärischen Nachrichtenwesens und der damit verbundene steigende Bedarf an Porzellanisolatoren.106 Seit Mitte des Jahres 1917 wurden die doppelten Friedenspreise sowie ein 25%iger Aufschlag berechnet, so daß die

101 Vgl. i.e. KREINER, K. 1921: Die Arbeits-, Lohn- und Produktionsverhältnisse der bayerischen Industrie im Juni 1914, Oktober 1918 und Mai 1919 aufgrund der Wirtschaftserhebung des Staatskommissars für Demobilmachung. In: ZBStLA, H.53, S.33ff. 102 Berechnet nach: Bay. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III, A.K. 97. 103 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1832, WB vom 31.3.1917. 104 Selb hatte im Juli 1914 13.500 Einwohner. Vgl. Bay. HSTA Abt. IV, 14262. Für 1916 gibt RIEß die Einwohnerzahl mit rd. 10.550 an [1949, S.130]. 105 Vgl. STB vom 6.8.1918. 106 Vgl. JFI 1914-1918, S.148f. und KINDERMANN, H.-J. 1934, S.122f.

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Porzellanindustrie 1917 und 1918 hohe Gewinne erzielte.107 Dabei vollzog sich der Aufwärtstrend jedoch nicht gleichmäßig, sondern es kam immer wieder zu wirtschaftlichen Abschwüngen, weil die Rohstoffe Kohle und Kaolin von den böhmischen Produzenten nicht rechtzeitig geliefert wurden bzw. die Rohstoffproduzenten im Reich angesichts der sich verschlechternden Rohstoffsituation nur noch unregelmäßig lieferten und diese Lieferungen zudem von Gegenlieferungen insbesondere von Naturalien abhängig machten, wie das BA angesichts einer viertägigen Arbeitspause wegen Rohstoffmangels in der PF Schönwald bemerkte: „Die sächsischen Zechen scheinen die Lieferung von Kohlen immer noch von der Gegenlieferung von Kartoffeln abhängig zu machen.“108

Neben Energie- und Rohstoffverknappung trugen der kriegsbedingte Mangel insbesondere an Facharbeitern sowie ein drohender Abzug weiterer Arbeitskräfte aufgrund des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst (Kriegshilfsdienstgesetz) vom Dezember 1916 zu Produktionseinschränkungen in der Porzellanindustrie bei. Die daraus resultierenden Folgen, Kurzarbeit resp. Arbeitslosigkeit, führten dazu, daß der bayerische Staat sich gezwungen sah, die arbeitslosen Porzellanarbeiter im Juni 1917 finanziell zu unterstützen.109 Aufgrund der Initiative des Selber Stadtmagistrats sowie des Verbandes der Porzellanindustriellen gelang es, Betriebsstillegungen aufgrund des Abzuges Hilfsdienstpflichtiger aus Betrieben der Porzellanindustrie zu vermeiden.110 Bei einer von den Gewerberäten im Januar 1917 durchgeführten Umfrage über die Lage der Porzellanfabriken des BA Rehau111 beantworteten die betroffenen Betriebe die Frage nach Betriebsstillegungen wie folgt: Da es im BA kaum andere Industrien gäbe, müßte mit steigender Arbeitslosigkeit gerechnet werden; außerdem wären abwandernde Facharbeiter, die sich an anderen Orten neue Arbeit suchen würden, auf Dauer für die Porzellanindustrie verloren. Des weiteren verwies man „... auf die steigenden Heeresaufträge, wo neben Porzellanisolatoren die als Nebenprodukt bei der Porzellanherstellung anfallenden Kapselscherben als Schamottemehl zur Herstellung feuerfesten Materials in der Munitionsproduktion eine Rolle spielten, während die geplante Herstellung von Handgranatenstielen bei Hutschenreuther in Hohenberg oder ... die beabsichtigte Produktion von Patronen aus Porzellan bei Heinrich in Selb wohl eher einen Hinweis darauf geben, wie hektisch man auf die Restriktionen des Hilfsdienstgesetzes zu reagieren gewillt war.“112

107 Vgl. KINDERMANN, H.-J. 1934, S.124. 108 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1834, WB vom 15.12.1917. 109 Bay. HSTA Abt. I MF 57075: Schreiben des Ministerium des Innern an die Regierung von Oberfranken vom 13.6.1917. 110 Vgl. Bay. HSTA Abt. IV MKr 14262: Schreiben des Stadtmagistrats Selb an das Kriegsamt Nürnberg vom 22.12.1916 sowie Denkschrift des Verbandes der Porzellanindustriellen von Oberfranken und der Oberpfalz vom Januar 1917 an das Kriegsamt Nürnberg. 111 Bay. HSTA Abt. IV, MKr 17314. 112 BALD, A. 1991, S.91. [Hervorhebung d. Verf.].

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Diese Argumente im Verbund mit der von den Behörden bei Betriebsstillegungen befürchteten soziale Instabilität bewirkten schließlich, daß die Porzellanindustrie im BA von Betriebsschließungen verschont blieb, wenngleich ab August 1917 als Folge der zunehmenden Kohleknappheit eine Kürzung des Bedarfs um 50% verfügt wurde. Günstigere Konditionen, mithin wesentlich näher am tatsächlichen Bedarf berechnete Kohlelieferungen, wurden ausschließlich den kriegswichtigen, Isolatoren produzierenden Betrieben eingeräumt.113

Während im übrigen BA die Bevölkerungszahl während des Ersten Weltkrieges zurückging, vergrößerte sich diese in Selb im Jahre 1917 um 660 Personen, die hauptsächlich aus dem Raum Asch wegen der Regression der dortigen Textilindustrie zugezogen waren.114 Die höhere Protestbereitschaft der ungelernten und daher einkommensschwachen zugewanderten böhmischen Arbeiter wegen der unzureichenden Brotrationen wurde vom BA mehrmals hervorgehoben und führte dazu, daß in einem Schreiben an die Firmenleitungen mit der Ausweisung dieser gedroht wurde.115 Die ohnehin angespannte Lebensmittelversorgung wurde im Laufe des Jahres 1917 noch zusätzlich durch Hamsterfahrten hungernder Menschen aus Asch ins BA verschärft, „... aus Böhmen kommen nachts ganze Banden, die Schweine, Kälber und Hühner stehlen....“116 so daß der Selber Bürgermeister den Zustand wie folgt beschrieb: „... Arme Gemeinde! Du sollst nicht nur die dir vom Staate schon in Friedenszeiten im Interesse der Schonung seines eigenen Beutels aufgepackten Lasten, die er von rechts wegen selbst zu tragen hätte, schleppen, du hast nicht nur neue Kriegsaufgaben in vollstem Maße zu erfüllen, du mußt nicht nur im Gewande einer neuzeitlichen Ceres als Kommunalverband für der Leibes Nahrung und Notdurft sorgen, wobei von dir die Wiederholung des Bibelwunders der Speisung der Tausenden Hungrigen mit fünf Gerstenbroten und zween Fischen verlangt und als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, du bist auch auserkoren, die Wohnungsnot, eine Folge unserer Kriegswirtschaft, zu beheben.“117

Wenngleich die Lebensmittelversorgung der als städtischer Kommunalverband eingestuften Stadt Selb besser war als die der Nachbarstadt Rehau,118 die als ländlicher Kommunalverband

113 Vgl. Bay. HSTA Abt. IV, MKr 14262: Schreiben des bayerischen Beauftragten des MKr beim Preußischen Kriegsamt an das MKr vom 9.8.1917. 114 Siehe hierzu STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1831-1833, WB vom 24.3., 26.5., 9.6. und 7.7.1917. 115 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1832, WB vom 14.4.1917. Angesichts des Arbeitskräftemangels wurde die Ausweisung jedoch nicht realisiert. 116 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1833, WB vom 28.7.1917. 117 STB vom 6.8.1918. 118 Vgl. Bay. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III. A.K. 127: Schreiben des BA an KA Nürnberg vom 2.3.1918 und STA Bamberg K3 Präs. Reg. 1836, WB vom 8.6.1918.

574 mit entsprechend höherem Selbstversorgungsgrad betrachtete wurde,119 scheiterten weitergehende Bemühungen des Selber Magistrates und der betroffenen Betriebe bei der Kriegsamtsstelle Nürnberg, die Porzellanarbeiter wegen der Heeresaufträge als Schwerstarbeiter einzustufen und damit deren Brotzulagen zu erhöhen.120 Wegen der fortdauernden Lebensmittelknappheit sowie einer seit 1917 zu beobachtenden Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung121 registrierte das Bezirksamt Anzeichen für soziale Proteste und befürchtete eine zunehmende Radikalisierung der Arbeiterschaft, da

„... der Haß gegen die `Großen` .. immer stärker...“122 werden würde. So fanden ab 1916 in Rehau und Selb vereinzelte Demonstrationen statt, bei denen sich einige hundert Arbeiter vor dem Bezirksamt bzw. Rathaus versammelten, um gegen die Lebensmittelknappheit zu demonstrieren, ohne daß es zu Ausschreitungen kam. Auch während der durch weitere Senkungen der Brotrationen ausgelösten Streiks im April 1917 wurde in Selb lediglich demonstriert, weitergehende politische Forderungen wurden jedoch nicht gestellt.123 Ebenso führten die bayernweiten Januarstreiks von 1918124 im Bereich des Bezirksamtes nicht zu Arbeitsniederlegungen, wenngleich das BA bemerkte, daß „... die Arbeiterschaft den Streikenden volle Sympathie entgegenbringt und den Streik mit Jubel begrüßt hat.“125

Ursächlich für die bemerkenswerte Zurückhaltung der teilweise nahe dem Existenzminimum lebenden Porzellanarbeiter hinsichtlich einer Beteiligung an Streiks könnten deren im Vergleich mit den weitaus besser verdienenden und unentbehrlicheren Rüstungsarbeitern größere Risiken hinsichtlich Lohneinbußen und Entlassungen gewesen sein. Auch der vergleichsweise hohe Anteil an Frauen in der Porzellanindustrie könnte als mitverantwortlich für die niedrige Streikbereitschaft herangezogen werden, da diese wegen der beruflich- familiären Doppelbelastung in hohem Maße Verantwortung gegenüber ihren Familien trugen und insofern die Vor- und Nachteile eines Streiks genauer abwägen mußten - wenngleich die

119 Die Ministerialbürokratie ging dabei irrtümlich von landwirtschaftlichen Erträgen aus, die in Südbayern, nicht jedoch in Oberfranken oder der Oberpfalz erzielt wurden. 120 Bay. HSTA Abt. IV Stellvertr. Gen. Kdo. III. A.K. 127: Schreiben KA Nürnberg an Stadtmagistrat Selb vom 25.4.1917. 121 Siehe hierzu auch die Abschrift einer von der USPD verfaßten „Anleitung zur Verteilung von Flugblättern“ in AB, Anl.74. 122 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1833, WB vom 28.7.1917. 123 Vgl. STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1832, WB vom 14.4.1917. 124 Siehe hierzu i.e.: BOLDT, W. 1965: Der Januarstreik 1918 in Bayern mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, 25.Jg., S.3-42. 125 STA Bamberg K3 Präs. Reg. 1835, WB vom 2.2.1918. Zwar fanden in einer Rehauer Fabrik lebhafte Diskussionen über eine Streikbeteiligung statt, letztlich kam es jedoch zu keiner Arbeitsniederlegung. Vgl. STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1835, WB vom 9.2.1918.

575 hohe Beteiligung gerade von Frauen an Demonstrationen gegen die niedrigen Brotrationen ausreichend belegt ist. Ausschlaggebend für das Ausbleiben von Streiks in der oberfränkischen Porzellanindustrie im Januar 1918 waren jedoch die zu diesem Zeitpunkt bereits laufenden Lohnverhandlungen zwischen Arbeitgebern und dem freigewerkschaftlichen Porzellanarbeiterverband vor der Kriegsamtsstelle Nürnberg,126 die durch einen Streik aus politischen Motiven gefährdet worden wären.127 Somit bleibt anzumerken, daß im Gegensatz zur Nürnberger Rüstungsarbeiterschaft, die wegen ihrer heterogenen Zusammensetzung dem mäßigenden Einfluß der Gewerkschaft weitgehend entzogen war,128 der Porzellanarbeiterverband seinen Einfluß auf die oberfränkischen Porzellanarbeiter nicht verloren hatte.

4.3 Das BA Rehau als Zentrum der USPD und die wachsende Radikalisierung der Arbeiterschaft

Die von MÜLLER-AENIS für Kleinstädte Schwabens und Mittelfrankens konstatierte Politisierung in der Endphase des Ersten Weltkrieges, die ihren Ausdruck in der Friedensbewegung im Zuge der Januarstreiks von 1918 gefunden habe,129 läßt sich auf die Industrieorte des BA übertragen. Spätestens nach dem Sieg der SPD bei der Reichstagswahl von 1912 war auch das BA Rehau zu einer Hochburg der SPD geworden. Maßgeblich für einen zunehmenden Linkstrend im Laufe des Krieges waren neben personellen Faktoren – zu nennen sind hier der Chefredakteur der OVZ Max BLUMTRITT130 sowie der dem linken Parteiflügel angehörende Landtags- und Reichtagsabgeordnete Josef SIMON131 - noch die „... Determinanten einer punktuellen bzw. monoindsutriellen Industriekultur ..., wo die Verschlechterung der Verdienst- und Lebensverhältnisse sowohl innerhalb eines Großbetriebs als auch im täglichen Leben der Kleinstadt kollektiv erfahrbar war und Mißstimmung sowie Kritik einen geeigneten Resonanzboden fanden.“132

126 Vgl. KÜGEMANN, R. 1931, S.34f. 127 Die sich im Winter 1917 anbahnenden Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk weckten innerhalb der Arbeiterschaft große Hoffnungen auf ein Kriegsende und auf politische Veränderungen. 128 Vgl. BOLDT, W. 1965, S.21. 129 MÜLLER-AENIS, M. 1986: Sozialdemokratie und Rätebewegung in der Provinz. Schwaben und Mittelfranken in der bayerischen Revolution 1918-1919. München. S.34. 130 Zu BLUMTRITT vgl. RABENSTEIN, Ch. 1986, S.179f. 131 Zu SIMON vgl. MIRKES, A. (Hg.) 1985: Josef Simon, Schuhmacher, Gewerkschafter, Sozialist mit Ecken und Kanten. Köln. S.102. 132 BALD, A. 1991, S.98f.

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Die im April 1917 gegründete USPD bot dem linken Parteiflügel ein Sammelbecken und beeinflußte in Folge auch die Politik des BA, was bei einer am 30.9.1917 in Hof stattfindenden Wahlkreiskonferenz deutlich wurde, als die dort vertretenen Ortsvereine geschlossen zur USPD übertraten.133 Dabei verweigerte die Parteibasis der –führung die Gefolgschaft, denn trotz der Bedenken SIMONs wurde auf Antrag der Hofer und Selber Delegierten der Anschluß an die USPD beschlossen. Im Unterschied zu den von TENFELDE untersuchten Entwicklungen in der oberbayerischen Bergarbeiterkommune Penzberg134 dominierte im Bezirksamt nicht mehr sie SPD, sondern die USPD, wenngleich keine neuen Leitfiguren auftauchen, sondern die bewährten Arbeiterführer nach ihrem Übertritt weiterhin wichtige Funktionen innerhalb der USPD innehatten. Als Konsequenz verstärkten sich die Aktivitäten der USPD im BA; so fanden im Dezember 1917 Veranstaltungen mit SIMON und BLUMTRITT statt und eine Rede des USPD-Reichstagsabgeordneten DITTMANN war geplant.135

Obwohl es also legitim erscheint, von einer gewissen Radikalisierung der Arbeiterschaft im BA seit etwa Herbst 1917 zu sprechen, so fehlt ein Merkmal einer USPD-typischen Entwicklung:136 die Beteiligung der Arbeiter an den Massendemonstrationen und –streiks im Januar 1918. Diese bayernweit in den Zentren der Unabhängigen stattfindenden Streiks fanden ohne nordostoberfränkische Beteiligung, allenfalls mit latenten Sympathiekundgebungen ohne weitergehende Aktionen statt. Die für die oberfränkischen Arbeiter typische Trennung von rein ökonomischen Forderungen - vertreten durch moderate Gewerkschaften - von politischen - vertreten durch die USPD - wird z.B. an der Person des Selber Gewerkschaftssekretär AHLENDORF deutlich, der gleichzeitig führender Vertreter der lokalen USPD war.137 Die Mitgliederentwicklung der USPD spiegeln folgende Zahlen wider: Von den ca. 3.000 USPD-Mitgliedern im rechtsrheinischen Bayern entfielen allein auf das Gebiet des BA Rehau ca. 900. Nach Schätzungen der Behörden138 hatte Selb 400

133 Vgl. hierzu OVZ vom 1.10.1917 sowie MIRKES, A. (Hg.) 1985, S.106f. und MÜLLER-AENIS, M. 1986, S.42f. 134 TENFELDE, K. 1981: Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900-1945. In: BROSZAT, M./FRÖHLICH, E./GROßMANN, A.: Bayern in der NS-Zeit, Bd.IV. München. S.97. 135 Vgl. STA Bamberg K3 Präs. Reg. 1834, WB vom 8.12.1917. DITTMANN mußte seine Rede zum Thema „Im Kampf um Frieden und Freiheit“ dann wg. eines Todesfalles absagen. Vgl. ebd., WB vom 15.12.1917. 136 Vgl. MÜLLER-AENIS, M. 1986, S.35, der auf die Kongruenz zwischen Verbreitung der USPD und Auftreten von Streiks hinweist. 137 Vgl. STA Bamberg K3 1967, 4844: Die USPD in Oberfranken nach dem Stand vom 13.9.1918. 138 Hierzu: STA Bamberg K 3 1967, 4842.

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Anhänger (vergleichbar München), Rehau einige Hundert und Schönwald 250 USPD- Mitglieder (wie Augsburg). Damit übertraf die Mitgliederzahl des Gesamt-BAs sogar die Nürnberg als der stärksten bayerischen Ortsgruppe mit etwa 600 Parteimitgliedern.139 Die Mitgliedszahlen allein täuschen jedoch über den tatsächlichen Manifestierungsgrad der USPD in der Arbeiterbevölkerung: Zunächst handelte sich um Schätzwerte, des weiteren spiegelte ein geschlossener Übertritt nicht zwangsläufig auch die Meinung der Basis wider und außerdem fand auch in der nordbayerischen MSPD seit dem Frühjahr 1918 eine Orientierung nach links statt.140 Ein einfaches Parteimitglied sah demnach keine wesentlichen Unterschiede zwischen Unabhängigen- und Mehrheitssozialisten, was umgekehrt bedeutete, daß bei einem geschlossenen Übertritt von Ortsgruppen auch kein radikaler Bruch mit den bisherigen politischen Grundanschauungen vollzogen wurde. Trotzdem sahen sich die Behörden veranlaßt, der wachsenden USPD-Anhängerschaft erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen, da man wegen der zunehmenden Brotknappheit im Reich und der noch weitaus schlimmeren Ernährungssituation im benachbarten Ascher Raum ein Übergreifen der dortigen Unruhen auf das Gebiet des BA befürchtete.141 Eine sich infolge des Ernährungsnotstandes von August bis November 1918 im BA Rehau rasch ausbreitende Grippeepidemie forderte allein im September 120 Todesopfer,142 darunter viele an Staublunge leidende Porzelliner.143

5. Die Arbeiterschaft und ihre Parteien 1918 - 1923

Das Gewicht der Unabhängigen stieg mit dem geschlossenen Übertritt der Ortsvereine des Wahlkreises Hof im Herbst 1917 zur USPD an. Dies wurde besonders deutlich, als der Abgeordnete Josef SIMON eine Ende August 1918 an das bayerische Innenministerium adressierte Eingabe bzgl. der Nahrungsmittelknappheit öffentlichkeitswirksam in der OVZ veröffentlichte. Die Replik des Bezirksamtmannes charakterisiert die Volksstimmung gegen Kriegsende recht genau: „Tritt die von mir schon längst mit allen Mitteln erstrebte Verbesserung der Lebensmittelverhältnisse erst auf die Eingabe des Abgeordneten Simon ein, dann ist die Autorität des Amtes dahin, und die

139 Vgl. MÜLLER-AENIS, M. 1986, S.37ff. 140 Hierzu SCHWARZ, K.-D. 1971: Weltkrieg und Revolution in Nürnberg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Stuttgart. S. 253f. 141 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1836, WB vom 15.6.1918. 142 Vgl. STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1838, WB vom 4.11.1918. 143 Vgl. BOHRER, H. 1929, S.269.

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Bevölkerung wird in Zukunft mehr Vertrauen zum sozialdemokratischen Abgeordneten als zum Bezirksamtmann haben.“144

Ein Redeverbot für eine Versammlung am 14. Oktober 1918 in Hof veranlaßte SIMON zur Drohung, die Versammlung trotzdem stattfinden zu lassen und damit auf die potentielle Stärke der USPD in Nordostoberfranken anzuspielen.145 Die für den 10. November geplanten Veranstaltungen in Hof und Selb wurden aufgrund der revolutionären Ereignisse abgesagt.146

Im November und Dezember 1918 bildeten sich in allen größeren Kommunen im nördlichen Oberfranken Räteorganisationen, deren Namen Zusammensetzung der Mitgliedschaft sowie politische Orientierung andeuten: Hof Soldatenrat gegr. 9.11.1918 Selb Arbeiterrat gegr. 10.11.1918 Rehau147 Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat gegr. 12.11.1918 Schönwald148 Arbeiterrat gegr. 13.11.1918 Plößberg149 Arbeiter- und Bauernrat gegr. 23.11.1918 Hohenberg150 Arbeiter- und Bauernrat gegr. 30.12.1918

Die drei Faktoren, die nach MÜLLER-AENIS zu einer schnellen und spontanen Akzeptanz der revolutionären Veränderungen in München führten,151 trafen für Hof völlig zu. Dies waren i.e. eine Konzentration industrieller Arbeiterschaft, ein handlungsfähiger – in Hof der USPD angehöriger – Ortsverein sowie das Vorhandensein einer Garnison mit unzufriedenen Soldaten – in Hof ein Bataillon Landsturm. So kam es am 9. November 1918 zur Bildung eines Soldatenrates, der sofort Verbindung zur lokalen USPD aufnahm.

In Selb fand am Nachmittag des 10. November eine Versammlung auf dem Bahnhofsgelände am Grafenmühlweiher statt, auf der ein Hofer USPD-Funktionär sowie der OVZ-Redakteur SEIDEL sprachen. Es wurde ein zehnköpfiger Arbeiterrat gewählt, der aus Arbeitern, Konsumvereins- sowie Gewerkschaftsangestellten bestand und dessen Vorsitz der

144 STA Bamberg K 3 Präs. Reg. 1837, WB vom 31.8.1918. 145 Vgl. MÜLLER-AENIS, M. 1986, S.45f. 146 STA Bamberg K3 Präs. Reg. 1838, WB vom 8.11.1918. 147 OVZ vom 13.11.1918. 148 OVZ vom 15.11.1918. 149 STA Bamberg, K 3 Präs. Reg. 1838, WB vom 23.11.1918. 150 MÜLLER-AENIS, M. 1986, S.245f. 151 Ebd., S.91.

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Porzellanmaler Oskar SCHRAMM übernahm. Der Arbeiterrat zog daraufhin zum Rathaus, um den Bürgermeister zu fragen, ob die Verwaltung auch unter dem Arbeiterrat loyal weiterarbeiten würde. Als dies zugesichert wurde, hißte man auf dem Rathausdach eine rote Fahne.152

36 Versammlung am 10.11.1918 zur Bildung eines Arbeiterrates in Selb153

Hauptanliegen der neugebildeten Räteorganisationen waren die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sowie an die Bauern gerichtete Appelle, Kartoffeln und Getreide zügig abzuliefern, um so die Ernährungssituation zu stabilisieren; in ähnlicher Weise wurde versucht, im Benehmen mit Industrie und Verwaltung Betriebsstillegungen zu vermeiden.154 Die Ansicht, die Räte seien auch in Oberfranken in erster Linie bloße Erfüllungsgehilfen der Verwaltung insbesondere bei den schwierigen Aufgaben der Wohnraum- und Lebensmittelbeschaffung gewesen, sollte anhand der Zusammensetzung, der politischen Wirksamkeit sowie der Bereitschaft der Räteorganisationen, bürgerliche und bäuerliche Gruppierungen in die Entscheidungen mit einzubinden, überprüft werden. Dabei reichte das Spektrum der Zusammensetzung der sozialdemokratischen Räte von völligem Ausschluß - so kam es in von der USPD dominierten Räten in keinem Fall zur Aufnahme von bürgerlichen Vertretern - bis hin zur Integration bürgerlicher Kreise. Folgt man der von MÜLLER-AENIS

152 StA Selb, Akt 812/1-2 und STB vom 10.11.1918. 153 Aus: BALD, A. 1991, S.109. 154 Hierzu STB vom 12.11.1918 sowie StA Selb, 812/2: Erstes Treffen des Selber Arbeiterrates mit Porzellanindustriellen am 14.11.1918.

580 vorgeschlagenen Unterteilung der Räte in fünf Typen, die vom reinen Arbeiterrat bis hin zum von bürgerlichen und/oder bäuerlichen Vertretern dominierten Volksrat reichten,155 so bestand ausschließlich in Selb ein echter Arbeiterrat. Der wenige Tage später gegründete vierköpfige Bauernrat war dem Arbeiterrat untergeordnet und besaß keinerlei Weisungsbefugnis wie auch ein Schreiben des Kaufmännischen Vereins Selb mit der Bitte um Zusammenarbeit vom Arbeiterrat unbeantwortet blieb.156 Die Gegensätze zwischen sozialdemokratischem Arbeiterrat und städtischem Bürgertum scheinen mithin unüberbrückbar gewesen zu sein, so daß eine Aufnahme nichtsozialdemokratischer Gruppen - anders als in Schönwald, Rehau und Plößberg – in den Selber Arbeiterrat unmöglich war. Die in den „Provisorischen Richtlinien für die Arbeiterräte“ des Innenministers AUER vom 26.11.1918 enthaltene Verpflichtung jeder Gemeinde zur Bildung von Arbeiter- und Bauernräten führte bspw. in Hohenberg mit einem großen Arbeiteranteil, jedoch ohne sozialdemokratischen Ortsverein dazu, daß der am 30.12. gegründete Rat mehrheitlich aus Handwerkern und Bauern bestand.157

Betrachtet man das revolutionäre Selbstverständnis sowie die daraus resultierenden Maßnahmen der einzelnen Räte, so ist zu sagen, daß auch hier der Selber Arbeiterrat am weitesten ging. Um seine übergeordnete Position hervorzuheben, verlangte dieser bereits einen Tag nach seiner Wahl von der Gemeindeverwaltung, daß Beschlüsse vor dem Vollzug dem Arbeiterrat „zur Kenntnis“ vorzulegen seien. Auf eine dsbzgl. Anfrage des selber Bürgermeisters antwortete das Innenministerium: „Dem Arbeiterrat Selb steht daher ein recht, Beschlüsse der städtischen Kollegien vor dem Vollzuge zur Kenntnisnahme zugeleitet zu erhalten, nicht zu. Inwieweit es zweckmäßig ist,... dem Arbeiterrat freiwillig entgegenzukommen, bleibt der Würdigung des Stadtmagistrats im benehmen mit dem zuständigen Bezirksamt überlassen.“158

Als weiteres Beispiel für den Versuch, neugewonnene Macht anzuwenden, zumindest jedoch auszuloten, ist der Arbeiter- und Bauernrat Schönwald zu nennen, der zunächst den örtlichen evangelischen Pfarrer aufforderte, sein Amt niederzulegen.159 Des weiteren war man bemüht, den Leiter der lokalen Lebensmittelstelle abzusetzen, was von der Stadtverwaltung unter

155 Siehe MÜLLER-AENIS, M. 1986, S.182f. 156 StA Selb, Akt 812/2: Schreiben des Kaufmännischen Vereins Selb an den Arbeiterrat vom 15.11.1918. 157 Bay. HSTA Abt. I, ASR 11: Schreiben des Hohenberger Arbeiter- und Bauernrates an dem Münchner Landesarbeiterrat vom 30.12.1918. 158 StA Selb, Akt 812/2; auch: MÜLLER-AENIS, M. 1986, S.172. 159 Diese Forderung wurde zwar wieder zurückgenommen, dennoch verließ der Geistliche ein halbes Jahr später die Gemeinde wegen der „unerquicklichen Verhältnisse der Jetztzeit“[STB vom 26.6.1919].

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Hinweis auf die ministeriellen Bestimmungen abgelehnt wurde.160 Der Versuch des Schönwalder Werkmeisterverbandes, dem die örtlichen Porzellanmaler und –dreher angehörten, den Rat abzusetzen, scheiterte. Hingegen wurden im November 1918 drei Frauen in den Schönwalder Arbeiter- und Bauernrat aufgenommen, ein Indiz für den überproportional hohen Frauenanteil im dortigen Ortsverein.161

Nach dem Inkrafttreten der Provisorischen Richtlinien für die Arbeiterräte, die diesen Eingriffe in Verwaltungshandeln verboten, gerieten die Räte des BA Rehau immer mehr unter die Kontrolle der Gemeindeverwaltungen. So wurde die geplante symbolische Aktion des Plößberger Arbeiter- und Bauernrates, in den Amts- und Schulräumen die Herrscherbilder abhängen zu lassen, vom Gemeindeausschuß völlig ignoriert.162 Die durch Arbeitslosigkeit, Lebensmittelknappheit und niedrige Erwerbslosenunterstützung verursachte Unzufriedenheit bei Arbeitern, Handwerkern und entlassenen Soldaten führte zu einer zunehmenden Radikalisierung der Entwicklung nach der Ermordung EISNERs (21.2.1919), welche sich in Oberfranken bereits vorher angekündigt hatte. So kam es in Bayreuth bereits am 17./18.2. und in Hof am 19.2. zu Handgreiflichkeiten gegen die Bürgermeister und zu Aktionen gegen die bürgerlichen Zeitungen.163 In Selb konnte das Unruhepotential zunächst noch auf einer Gewerkschaftsversammlung am 18.2. mit 4.000 Teilnehmern kanalisiert werden, auf der der Kartellvorsitzende die hohen Lebensmittelpreise, die geringen Arbeitslosenunterstützungen und die Kohleknappheit anprangerte und die ohne Ausschreitungen verlief.164 Die Kundgebung anläßlich der Beisetzung EISNERs am 26.2. in Selb entwickelte sich jedoch mit 5.000 Teilnehmern zur größten Demonstration, die die Stadt bis dato gesehen hatte.165 Da man glaubte, in der bürgerlichen Presse einen Schuldigen für das sich verschlechternde politische Klima gefunden zu haben, mußten sich sowohl das Selber Tagblatt wie auch das Rehauer Tagblatt redaktionelle Eingriffe gefallen lassen. Die politischen Forderungen und materiellen Probleme der Bevölkerung lassen sich den Tafeln entnehmen, die auf einer Protestaktion in Rehau mitgeführt wurden: „1. Nieder mit der Reaktion. 2. Für die Räterepublik. 3. Die Gerbereiarbeiter Rehaus protestieren gegen den Meuchelmord Eisners. 4. Kartoffeln heraus! 5. Gegen den Lebensmittelwucher!“166

160 STB vom 3.12.1918. 161 OVZ vom 6.12.1918. 162 OVZ vom 4.4.1919. 163 Vgl. RABENSTEIN, Ch. 1986, S.62f. 164 Vgl. OVZ vom 20.2.1919. 165 Siehe Rehauer Tagblatt vom 25.2.1919 und OVZ vom 27.2.1919. 166 Rehauer Tagblatt vom 27.2.1919.

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Eine gewaltsame Eskalation erfuhr die Entwicklung durch den sog. „Grafenmord von Sophienreuth“, bei dem am 12. März 1919 der Kammerherr von ARNIM einen in seinen Wäldern Holz sammelnden Invaliden erschoß, woraufhin eine aufgebrachte Menge den Adeligen so mißhandelte, daß dieser seinen schweren Verletzungen erlag. Die Erbitterung in der Bevölkerung war so groß, daß Mitglieder des Arbeiter- und Bauernrates Schönwald das gräfliche Schloß Sophienreuth eine Woche lang bewachen mußten, um weitere Ausschreitungen zu verhindern.167

Die am 7. April 1919 in München ausgerufene und im Bereich des BA Rehau durch Plakatanschlag verkündete erste (anarchistische) Räterepublik ordnete an, daß die Arbeiterräte die örtliche Gewalt übernehmen und die Verwaltung kontrollieren sollten.168 In Selb, Selb- Plößberg und Rehau stellte man sich zunächst hinter die Räterepublik. Während der Rehauer Rat ein vollständig zustimmendes Telegramm nach München schickte „Wir ... stehen geschlossen hinter euch. Die vereinigten sozialistischen Arbeiterparteien Rehau.“169 fand in Selb die Räterepublik nur bei den Unabhängigen Zustimmung, wohingegen sich die - zahlenmäßig allerdings bei weitem unterlegene – MSPD davon distanzierte und weiterhin die Regierung HOFFMANN unterstützte. Auf einer Versammlung am Nachmittag des 7. April 1919 wurde zwar eine Resolution für die Räterepublik angenommen, doch griff man in den Bereich der Verwaltung nicht ein. Wohl war eine Ausweitung der Rechte von Arbeitern in den Betrieben wie die Wahl von Vertrauensmännern vorgesehen. Unter dem Eindruck der realen Machtverhältnisse begann man jedoch bereits einige Tage später, die Zustimmung zur Münchener Räterepublik zu revidieren. Dieser Umschwung der politischen Orientierung fand seinen stärksten Ausdruck auf einer Versammlung der nordostoberfränkischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte am 10. April 1919 in Hof, wo sich die Bauernräte gegen die Räterepublik stellten und mit Lebensmittelboykott drohten, während die Arbeiterräte die Räterepublik, wenn auch nur mit Vorbehalten, unterstützen wollten. Man faßte schließlich den Beschluß, daß eine Räterepublik zwar grundsätzlich zu begrüßen, momentan jedoch nicht zu realisieren sei.

167 Näheres zu dem Vorfall bei GROßMANN, A. 1983: Milieubedingungen von Verfolgung und Widerstand am Beispiel ausgewählter Ortsvereine der SPD. In: BROSZAT, M. / MEHRINGER, H.(Hg.): Bayern in der NS- Zeit, Bd.V. München. S.514f. 168 Vgl. SELIGMANN, M. 1989: Aufstand der Räte. Die erste bayerische Räterepublik vom 7. April 1919. Grafenau. S.207-227. 169 Zit. nach ebd., S.215.

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Die sich in München anschließende zweite (kommunistische) Räterepublik wirkte sich im Bereich des BA Rehau kaum aus, da dort noch keine kommunistische Organisationsstruktur existierte. Im März 1920 wurden alle Räte im Bereich des Bezirksamtes durch das Chiemgauer Freikorps zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen.170

Die politischen Unruhen infolge der bayerischen Revolution fanden infolge der starken USPD-Orientierung großen Widerhall in Nordostbayern. In fast allen Industrieorten wurden im November 1918 Räte gegründet, wobei die bürgerlichen Gruppierungen kaum einbezogen wurden. Die Stadt Selb spielte in dieser Entwicklung eine Sonderrolle, da nur der dortige Rat fast ausschließlich aus Arbeitern bestand und sich bzgl. seiner Forderungen am radikalsten gab. Die Tätigkeit der Räte allgemein wurde jedoch ab November 1918 durch die Anweisungen des Innenministeriums begrenzt und von den Verwaltungsbehörden kontrolliert. Diese politischen Obstruktionen, verbunden mit den weiterhin bestehenden ungünstigen Existenzbedingungen der Arbeiterbevölkerung führten zu Unruhen und Protesten, die in den Ereignissen von Sophienreuth einen gewaltsamen Kulminationspunkt fanden. Zwar bekannten sich die Arbeiter zunächst grundsätzlich zur Räterepublik, gingen jedoch dabei nicht über die schon 1918 vorgebrachten Forderungen hinaus und waren letztendlich realistisch genug, das Scheitern der Räterepublik und die damit verbundenen Konsequenzen anerkennen zu müssen. Zusammenfassend ist zu sagen, daß die zunehmend sozialistische Einstellung der Arbeiterschaft - erkennbar am Anwachsen der USPD - mit der nach der Jahrhundertwende einsetzenden Migration von Arbeitern aus Böhmen, Thüringen und Sachsen - die aus ihrer Heimat sozialistisches Ideengut mitbrachten und dieses in Oberfranken verbreiteten - sowie der sich verschärfenden Wohnungssituation und Lebensmittelversorgung in den Bezirksämtern Wunsiedel und Rehau zusammenhing.

170 Vgl. BALD, A. 1991, S.124.

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IX. ARBEITERBEWEGUNG: GESCHICHTE DER GEWERKSCHAFTEN

Es würde bei weitem den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte man versuchen, eine umfassende und hinreichende Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung im Deutschen Reich oder auch nur im Untersuchungsraum zu geben. Daher wird zunächst ein kurzer allgemeiner Abriß der für die Themenstellung relevanten Gewerkschaften und ihrer Geschichte versucht, um in einem weiteren Schritt die Genese und Evolution dieser an einigen Orten exemplarisch aufzuzeigen.

Der am 1. Juli 1890 in Hannover gegründete „Verband der Fabrik-, Land- und gewerblichen Hülfsarbeiter Deutschlands“ kann als eigentliche Vorläuferorganisation der heutigen Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie (IG BCE) angesehen werden. Die damals relevanten und diskutierten Themen waren Normalarbeitstag, Sonntags- und Überstundenarbeit sowie Frauen- und Kinderarbeit.1 Da der Fabrikarbeiterverband bereits früh die Relevanz der „Frauenfrage“ für die Gewerkschaftsbewegung erkannte, wurde schon auf dem 1. ordentlichen Verbandstag 1892 beschlossen, auch Frauen aufzunehmen und den Namen in „Verband der Fabrik-, Land-, Hülfsarbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands“ zu ändern. Trotz Widerstände seitens des Staates und seitens der Unternehmer konnte der Verband seine Mitgliederzahlen von 31.000 i.J. 1900 auf 207.000 i.J. 1914 steigern.

Eine weitere Vorgängerorganisation ist der im August 1890 gegründete „Glasarbeiterverband“, der i.J. 1899 nur 7.000, 1913 jedoch bereits 18.000 Mitglieder hatte. Der liberale Hirsch-Dunckersche „Porzellanarbeiterverband“, der 1892 den Freien Gewerkschaften beitrat, zählte 1900 9.000 und 1913 16.000 Mitglieder. Als weitere für den Untersuchungsgegenstand Keramik wesentliche Gewerkschaftsbewegungen bestanden der 1869 gegründete Hirsch-Dunckersche „Gewerkverein der deutschen Fabrik- und Handarbeiter“ (Mitgliederstand 1913: 18.000), der 1900 entstandene christliche „Fabrikarbeiterverband“ ((Mitgliederstand 1913: 11.000) sowie der christliche „Keramarbeiterverband“ (Mitgliederstand 1913: 8.000). Der Vollständigkeit halber - wegen seiner marginalen Bedeutung jedoch im folgenden nicht weiter untersuchter Verband - sei der Allgemeine Unterstützungsverband gelernter keramischer Arbeiter Deutschlands genannt, der seinen Sitz in Selb hatte und dem 1907 320 Mitglieder und 1908 303 Mitglieder angehörten.

1 Vgl. IG Chemie-Papier-Keramik 1990a, S.3.

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Der Fabrikarbeiterverband als wichtigste gewerkschaftliche Organisation der hier zu untersuchenden Branche erfüllte im Kaiserreich als Freie Gewerkschaft drei wichtige Funktionen: Organisation der ungelernten Arbeiter diverser Branchen, Entwicklung zur Großgewerkschaft mit entsprechender Organisationsstruktur und Rezeption von Arbeitern aszendierender Industriezweige wie etwa der Chemie. Die Mitgliederzahl des Fabrikarbeiterverbandes als Teil das ADGB (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund) stieg nach dem Ersten Weltkrieg stark von 256.000 i.J. 1918 auf 733.000 i.J. 1922 an, wobei gewerkschaftliche Erfolge hinsichtlich Tarif- und Unterstützungswesen zu verzeichnen waren. Wenngleich mit der Unternehmerseite in der „Reichsarbeitsgemeinschaft Chemie“ bis 1933 und von 1922 bis 1933 in der „Tarifgemeinschaft Chemie“ eine zumindest in Teilen erfolgreiche Zusammenarbeit versucht wurde, bleibt festzuhalten, daß neben fortdauernden externen Problemen und Schwierigkeiten auch gewerkschaftsintern Versäumnisse und Fehler gemacht wurden. Dazu zählt das nur verbale Bekenntnis zur „Sozialisierung“ bei gleichzeitiger undifferenzierter Opposition gegen die Linkssozialisten, die im Fabrikarbeiterverband als USPD und später als Kommunisten keine Chance der Mitsprache hatten. Ebenso war und blieb das Verhältnis zu den Hirsch-Dunckerschen und v.a. den christlichen Gewerkschaften, die der Weimarer Republik wesentlich kritischer gegenüberstanden als die Freien Gewerkschaften, problematisch, zudem beide Verbände ihren Mitgliederbestand noch weiter vergrößern konnten: Christlicher Verband der Fabrik- und Transportarbeiter 1921 108.000 Mitglieder; Hirsch-Dunckerscher Verband 1921 50.000 Mitglieder.

Der Verband der Fabrikarbeiter hatte bis zum Jahre 1930 drei Entwicklungsstadien durchlaufen: Die erste Phase war gekennzeichnet durch die „Organisation aller ungelernten Arbeiter“, es folgte bis zum Ersten Weltkrieg der Aufstieg zum „Industrieverband im alten Wortsinn“ als Organisation der „ungelernten und angelernten Arbeiter der zuständigen Industriegruppe“ 2 und in der dritten Phase nach dem Ersten Weltkrieg entstand ein moderner Industrieverband, der im Keramischen Bund eine neue Organisationsform fand. Der Fabrikarbeiterverband erreichte in den Jahren bis 1930 kürzerer Arbeitszeiten, Lohnerhöhungen, Urlaubregelungen, ein kollektives Arbeitsrecht sowie eine Erweiterung des Arbeits- und Krankheitsschutzes; außerdem unterstützte er seine Mitglieder bei Streiks, Aussperrungen und Arbeitslosigkeit, gewährte Rechtsschutz und gestaltete eigene

2 HERFARTH, E. 1929: Strukturwandlungen im Fabrikarbeiterverband Deutschlands. [Zit. nach IG Chemie- Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.10].

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Bildungsangebote. Diesen Zwecken diente auch die gewerkschaftseigene Presse: Seit 1892 „Der Proletarier“, ab 1922 „Der Betriebsrat“ und ab 1926 zusätzlich „Keramischer Bund“.

1. Der Gewerkverein der Porzellan- und verwandten Arbeiter

Der Gründungskongreß des Gewerkvereins der Porzellan- und verwandten Arbeiter im Mai 1869 in Berlin-Moabit, auf dem Delegierte aus 79 Orten ca. 4.400 Mitglieder vertraten, wurde begünstigt durch die seit den 1860er Jahren bestehenden Unterstützungsverbände, die Porzellanmaler- und –drehergesellen auf Wanderschaft Reisegelder zahlten. Das Organisationsstatut ähnelte dem der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und legte fest, daß der neugegründete Verband neben Porzellanmalern und -drehern auch Handwerkern und Angelernten der Keramikindustrie offenstand, wohingegen Ungelernte (Hilfsarbeiter) und Frauen - die zusammen einen beträchtlichen Prozentsatz in der industriellen Keramikproduktion ausmachten - zunächst ausgeschlossen blieben. Mit dem Ausbau des gewerkschaftlichen Unterstützungswesens nicht nur in Deutschland, sondern auch in Böhmen, Mähren und Polen, wurden die Wanderunterstützungsvereine sukzessive zurückgedrängt. Ende des Jahres 1869 bestanden 90 Ortsvereine mit ca. 5.000 Mitgliedern. Im Jahre 1883 wurden die Berufsgruppen festgelegt, für die der Gewerkverein zuständig war, nämlich insbesondere die Porzellan-, Steingut-, Schamotte- und Tonwarenarbeiter (mit Ausnahme der gelernten Töpfer) sowie die Glasarbeiter, Modelleure, Schleifer, Gießer und Packer. Während die Porzellanarbeiter im wesentlichen dem Gewerkverein beitraten, fand dieser bei den Glasarbeitern wenig Resonanz. Das gewerkvereinseigene Presseorgan, der „Sprechsaal für die Arbeiter-Angelegenheiten der Porzellan, Steingut- Thonwaaren- und Siderolith-Fabriken“, erschien zunächst als Beilage zum Coburger „Volksblatt“. Als sich die Redaktion ab 1872 den Interessen der Industrie öffnete, verzichtete der Gewerkverein auf den Sprechsaal als Publikationsorgan. Statt dessen brachte „Der Gewerkverein“ als Zeitung des Hirsch-Dunckerschen Dachverbandes ab Januar 1874 eine Beilage betitelt „Organ des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und verwandten Arbeiter“ heraus, die ab Oktober 1874 als selbständige Wochenschrift unter dem Titel „Die Ameise“ erschien. Das Organisationsstatut von 1886 benannte als Zweck des Gewerkvereins

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„... den Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder auf gesetzlichem Wege.“3 Dieser sollte erreicht werden „1. durch Versicherung gegen Krankheit und Todesfall in der vom Gewerkverein errichteten Kranken- und Begräbniskasse; 2. durch Errichtung einer invaliden- und Alter-Versorgungs-Kasse des Gewerkvereins ... sowie durch Errichtung einer Witwenkasse des Gewerkvereins; 3. durch Errichtung einer Versicherungskasse gegen Arbeitslosigkeit bzw. durch Errichtung einer Wander-Unterstützungskasse für Arbeit suchende Mitglieder des Gewerkvereins sowie durch Unterstützung der Mitglieder in Nothfällen...; 4. durch Unterstützung derjenigen Mitglieder, welche in Folge von Aussperrung ... ohne Arbeit sind oder durch Naturereignisse ... arbeitslos werden; 5. durch unentgeltliche Rathsertheilung in Rechtsstreitigkeiten sowie Führung von Prozessen auf Vereinskosten gemäß dem Rechtsschutzreglement; 6. durch Aufstellung und Fortführung einer Arbeits-Statistik des genannten Gewerks und hierauf begründete Arbeitsvermittelung; 7. durch Beförderung der allgemeinen Bildung und des gewerblichen Unterrichts sowie Beaufsichtigung des Lehrlingswesens; 8. durch Vertretung der Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern, dem Publikum und den Behörden bei alle Art Beschwerden; 9. durch Gründung und Unterstützung von wirthschaftlichen Genossenschaften, insbesondere Produktiv-Genossenschaften des Gewerks; 10. durch Verbindung mit den anderen Deutschen Gewerkvereinen zur gegenseitigen Förderung und Unterstützung; 11. durch Bildung von Schiedsgerichten, zusammengesetzt aus Arbeitgebern und –Nehmern des Gewerkes, sowie unparteiischen Obmännern; 12. durch Erhaltung und möglichste Verbreitung des Vereinsorgans.“4

Als leitende Grundsätze des Gewerkvereins hinsichtlich einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen formulierte das Statut folgende: „1. Der Arbeitslohn muß ausreichen zum kräftigen Unterhalt des Arbeiters und seiner Familie mit Einschluß der Versicherung gegen jede Art von Arbeitsunfähigkeit sowie der nöthigen Erholung und humanen Bildung. 2. Abzüge von dem bedungenen Lohne dürfen nur unter Betheiligung der Arbeitnehmer gemacht werden. 3. Die Sonntagsarbeit ist, bis auf das unerläßlich Nothwendige, gänzlich abzustellen. 4. Die Arbeitszeit für Erwachsenen ist auf höchstens 12 Stunden, incl. 2 Stunden Pause, zu ermäßigen. 5. Die Nachtarbeit ist, ebenfalls bis auf das unerläßlich Nothwendige, gänzlich abzustellen. 6. Jede Fabrik- resp. Arbeitsordnung ist zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu vereinbaren. 7. Zur Erledigung von Differenzen zwischen Arbeitgebern und -Nehmern ist ein bleibendes Schiedsgericht zu bilden, welches zu gleichen Theilen von beiden Parteien gewählt wird und einen unparteiischen Obmann hat. 8. Das weibliche Geschlecht soll vollständige Arbeitsfreiheit genießen; doch ist das Arbeiten desselben in Fabriken und Werkstätten mit allen Garantien für Gesundheit und Sittlichkeit zu umgeben. 9. Die gewerbliche Arbeit für Kinder und Unerwachsene muß so beschränkt werden, daß die vollständige körperliche, geistige und sittliche Ausbildung der Jugend dadurch nicht beeinträchtigt wird.

3 StA Mitterteich, Akt 2385: Statut des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und anderer Arbeiter. §1. 4 StA Mitterteich, Akt 2385: Statut des Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und anderer Arbeiter. §2.

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10. Die Zuchthausarbeit darf nicht von den Arbeitgebern, indem sie ihre Arbeit ganz oder theilweise durch Sträflinge versehen lassen, zur Konkurrenz mit der freien Arbeit mißbraucht werden.“5

Während der ersten Kriegsjahre des Ersten Weltkrieges unterschied sich die Haltung der Gewerkvereine zur Kriegspolitik deutlich von derjenigen der Freien Gewerkschaften. Zunächst wurde die offizielle Version eines „Verteidigungskrieges“ kritiklos übernommen und ab Ende 1914 traten sogar deutlich nationalistische Ansichten in den Vordergrund, da der Zentralrat als Leitungsgremium des Hirsch-Dunckerschen Dachverbandes sich zunehmend mit den Expansions- und Annexionsbestrebungen der deutschen Militärs identifizierte. Ähnlich wie bei den Freien Gewerkschaften hatte auch der Gewerkverein kriegsbedingt unter starken Mitgliederverlusten, Einberufungen seiner Funktionäre zum Militärdienst, Anstieg der Arbeitslosigkeit, geringeren Mitgliedsbeiträgen und somit finanzieller Schwächung zu leiden. Zwar verlor bspw. der Gewerkverein der Fabrik- und Handarbeiter zwischen 1913 und 1916 „nur“ 43% seiner Mitglieder (gegenüber 62% Mitgliederverlusten in allen Freien Gewerkschaften), doch kam die praktische Arbeit in vielen Orten völlig zum Erliegen.

„Die Verabschiedung des Hilfsdienstgesetzes im Dezember 1916 wurde vom Gewerkverein ... einhellig begrüßt. Er sah darin seine auf Zusammenarbeit und gesamtnationale Integration zielende Politik bestätigt. Zugleich setzten die Gewerkvereine mehr und mehr auf eine Kooperation aller drei Gewerkschaftsrichtungen. ... Die Streikbewegungen 1917/18 berührten den Gewerkverein nicht ... . Die 13. Generalversammlung Anfang April 1918 in Berlin billigte einmütig die seit Mitte 1917 verfolgten Friedensinitiativen der Sozialdemokratie, der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und des Zentrums im Reichstag. Bis zur Revolution trat der Verband durch eigene gewerkschaftliche oder politische Aktivitäten nicht mehr hervor.“6

5 Ebd., §3. 6 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.191.

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Tab.106: Mitgliederentwicklung Gewerkverein der deutschen Porzellan- und verwandten Arbeiter (Hirsch-Duncker)7 Jahr Mitglieder 1872 865 1875 924 1876 1.081 1877 997 1878 1.088 1879 1.208 1880 1.169 1881 1.138 1882 1.293 1883 1.652 1884 2.928 1885 2.474 1886 2.571 1887 2.530 1888 3.015 1889 3.589 1890 4.022 1891 1 3.935 1 1892 verließ der Verband die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine und ging im freigewerkschaftlichen Porzellanarbeiterverband auf.

2. Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter

Die sich in den 1890er Jahren in allen Regionen, in denen Porzellan produziert wurde, bildenden Vereinigungen von Porzellinern unterschieden sich erheblich hinsichtlich ihrer Ziele, politischen Orientierung und Mitgliedschaft. Während einige Verbände nur Facharbeiter als Mitglieder aufnahmen - etwa Porzellanmalervereinigungen in diversen Teilen Thüringens und der Oberpfalz sowie Porzellandreherverbände in Dresden und Magdeburg - war es das erklärte Ziel anderer Verbände, auch un- und angelernte Arbeiter aufzunehmen.8 Die politische Ausrichtung reichte von Annäherung an die legalen Hirsch-Dunckerschen Verbände bis hin zu offener oder versteckter Sympathie zur unter dem Sozialistengesetz verbotenen und verfolgten Sozialdemokratie. Während einige Verbände sich ernsthaft um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen bemühten, beschränkten andere ihre Tätigkeit

7 Aus: IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.632. Vergleichbare Zahlenangaben finden sich auch in PROBST, F. 1909, S.114. 8 Vgl. ebd., S.96.

590 ausschließlich auf Reise- und Sterbeunterstützungen. Trotz oder gerade wegen der unterschiedlichen politischen Orientierung, Zielsetzung und Mitgliedschaft bestand durchaus ein Interesse, eine einheitliche Organisation für alle Verbände zu schaffen.

Den erste Anstoß zur Gründung einer solchen Zentralorganisation gab der Delegiertentag der Porzellanmaler, der im August 1899 in Zwickau/Sachsen stattfand und an dem Vertreter von acht Verbänden teilnahmen. Der dort gegründete „Verband Deutscher Porzellanmaler und Berufsgenossen“ sollte seinen Sitz in Fraureuth/Sachsen haben, war jedoch praktisch unbedeutend und wurde kaum aktiv.

Der Vorstand des „Schlesischen Porzellanmalerverbandes“ (Sitz: Altwasser) war im Jahre 1890 zurückgetreten, nachdem ein vom Vorstand geplanter Übertritt zu den Hirsch- Dunckerschen Gewerkvereinen mehrheitlich von den Mitgliedern abgelehnt worden war. Der neugewählte Vorstand unter seinem Vorsitzenden WOLLMANN berief im Mai 1891 eine Konferenz der Porzellanmalerverbände nach Berlin ein, auf der acht Verbände durch 13 Delegierte vertreten waren und die eine einheitliche Dachorganisation schuf, den „Verband der Porzellanmaler und verwandten Berufsgenossen Deutschlands“. Dieser Verband stand auch Ungelernten und Hilfsarbeitern offen und verstand sich von seiner Gründung an als den Freien Gewerkschaften zugehörig.

An der im Oktober 1891 in Charlottenburg tagenden Generalversammlung des seit 1869 bestehenden Hirsch-Dunckerschen „Gewerkvereins der Porzellan-, Glas- und verwandten Arbeiter“ nahmen auch Vertreter des „Dresdner Porzellandreherverbandes“ teil. Die Delegierten beider Verbände beschlossen mehrheitlich zu fusionieren und den Austritt aus dem „Verband der deutschen Gewerkvereine“. Begründet wurde dies mit der zur Einstellung des Hirsch-Dunckerschen Dachverbandes divergierenden Haltung zu Lohnfragen resp. Streiks; außerdem lehnte man den geforderten Revers ab, auf dem die Mitglieder per Unterschrift bestätigen sollten, nicht der Sozialdemokratie anzugehören. Die neugegründete Organisation namens „Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter“ (Sitz: Berlin- Charlottenburg) führte als Verbandsorgan „Die Ameise“ fort, das bis dato traditionelle Organ der Hirsch-Dunckerschen Porzellanarbeiter. Durch die Gründung dieses Verbandes arbeiteten somit zwei Verbände nebeneinander, der freigewerkschaftliche Porzellanmalerverband und der Porzellanarbeiterverband. Schon auf der ersten Generalversammlung des Porzellanmalerverbandes 1892 wurde die Fusion beider Verbände angeregt, außerdem sollten

591 auch Ungelernte und Frauen in den neu zu schaffenden verband aufgenommen werden. Im Oktober 1892 beschlossen Delegierte beider Vereinigungen den Zusammenschluß, wobei die vom „Schlesischen Malerverband“ gestellten Bedingungen zumindest teilweise erfüllt wurden: Der neue Verband schloß sich der Generalkommission an und es wurden auch ungelernte Hilfsarbeiter aufgenommen; Frauen blieb die Mitgliedschaft jedoch zunächst noch vorenthalten.

Diese seit Januar 1893 bestehende einheitliche Organisation für alle Arbeiter der Porzellanindustrie nahm ab Mai 1896 auch Frauen als Mitglieder auf, wodurch ein umfassender Industrieverband entstanden war.9 Ende des Jahres 1893 waren 5.700 Mitglieder im Verband organisiert, der schon auf seinem Gründungs-Verbandstag die Schaffung einer Streik- und Krankenunterstützungskasse sowie die Einführung eines Rechtsschutzes beschlossen hatte. Die häufig diskutierte Frage, ob die Gewerkschaft mehr ein Kampf- oder mehr ein Unterstützungsverband sei, wurde von JAHN, dem Redakteur der Ameise, auf der zweiten Generalversammlung 1896 mit dem Hinweis darauf beantwortet, daß der Verband in der Vergangenheit schon bewiesen habe, beides zugleich zu sein. So waren Verbandsmitglieder in Mitterteich (Oberpfalz), Rudolstadt (Thüringen), Annaberg (Sachsen) und Altwasser (Schlesien) in größere Arbeitskämpfe involviert gewesen. „Zwar endeten die Streiks oft mit Niederlagen, aber dennoch hatte sich nach Ansicht Jahns der Verband mit diesen Kämpfen bei den Fabrikanten `Geltung verschafft`: Er hatte seine Entschlossenheit gezeigt, Lohnkürzungen nicht ohne Gegenwehr hinzunehmen. Ursache der Mißerfolge war, wie so oft in jener Zeit, der Einsatz von Streikbrechern. Gelobt wurden dagegen mehrfach die böhmischen Porzellanarbeiter für ihr solidarisches Verhalten in diesen Streiks.“10

Obschon in der damaligen Porzellanindustrie noch kein zentralisierter Unternehmerverband existierte, wandten sich die Fabrikanten in massiver Form gegen die Organisationsbestrebungen der Porzelliner. Als unmittelbare Folge der Arbeitskämpfe drohte dem Porzellanarbeiterverband der finanzielle Ruin, weshalb sich der Vorstand gezwungen sah, die Unterstützungssätze zu kürzen und die Karenzzeiten zu verlängern. „Die Mehrzahl der Berichte der insgesamt 28 Delegierten auf der 2. Generalversammlung, die 1896 rund 7150 Mitglieder vertraten, über die Lohn- und Arbeitsbedingungen aus allen Regionen waren wenig ermutigend. Aus Thüringen wurden Durchschnitts-Jahresverdienste von 800 bis 900 Mark für Maler und 900 bis 1000 Mark für Dreher genannt: sehr lange Arbeitszeiten, bis zu 12 Stunden, waren dabei an der Tagesordnung. In anderen Gegenden lagen die Löhne meist niedriger, erheblich darunter die der Ungelernten und der Frauen. Bei Facharbeitern war zudem eine vier- oder

9 Von den wichtigen Vorläuferorganisationen bestand lediglich der Magdeburger „Reise- und Unterstützungsverband Deutscher Porzellandreher“ bis zu seiner Auflösung 1911 weiter, wenn auch mit sinkenden Mitgliedszahlen. Vgl. IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.98. 10 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.100.

592 fünfjährige Lehrzeit keine Ausnahme. Delegierte klagten über `erbärmliche Lebenshaltung, dabei traurige sanitäre Einrichtungen und schlechte Behandlung`. Die Löhne der Verbandsmitglieder lagen über dem Niveau der Hilfsarbeiter, wie sich an den Mitgliedsbeiträgen zeigte. Es wurden dafür vier Stufen beschlossen, zwischen 20 und 35 Pfennig wöchentlich. Dem angepaßt waren die Unterstützungsleistungen. “11

Auf der im Mai 1899 im thüringischen Rudolstadt tagenden 3. Generalversammlung beklagte der Verbandsvorsitzende WOLLMANN das geringe Wachstum auf nur 8.500 Mitglieder, wobei eine große Fluktuation zu verzeichnen gewesen war. Ursächlich für die Stagnation der Mitgliedszahlen waren interne Zwistigkeiten sowie fehlende Agitation. Dazu bemerkte WOLLMANN: „Die Organisation ist sozusagen auf dem Geldsack eingeschlafen. ... Es fehlt an der nöthigen Täthigkeit und Bewegung in der Organisation, die allein im Stande ist, dieses Gefühl der Sattheit in das der Kraft umzuwandeln. So sind drei Jahre in einer wirthschaftlich günstigen Zeit, wie sie nicht bald wiederkehren wird, für uns nutzlos vergangen.“12

Fast alle Streiks zwischen 1896 und 1899 waren trotz günstiger Konjunktur verloren gegangen, nicht zuletzt wegen der unter den Porzellinern gestiegenen Bereitschaft zum Streikbruch. Hinzu kamen die mangelnde Agitation der Porzellanarbeiter, für den Verband im Kollegenkreis zu werben sowie die unzureichende Realisierung von Vorstandsplänen wie etwa der Schaffung einer verbandseigenen Arbeitsvermittlung und vorstandsinterne Meinungsverschiedenheiten über Stellung und Kompetenz des Verbandsschiedsgerichtes. Durch eine Statutenänderung wurden die Differenzen zwar beseitigt und die Kompetenzen neu verteilt, jedoch verloren auf der außerordentlichen Generalversammlung im Juli 1900 alle Vorstände, die früher Anhänger der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine gewesen waren, ihren Einfluß.

Die Auseinandersetzungen im „Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter beiderlei Geschlechts“ waren damit jedoch nicht beendet; die Mitgliedszahlen stagnierten - Rückgang gegenüber 1899 um 700 auf 8.300 - und die finanzielle Situation verschlechterte sich zusehends. So verzeichnete der Kassenbericht eine Steigerung der Unterstützungszahlen nach 1899 um 130%, wogegen die Einnahmen nur um knapp 25% gestiegen waren. WOLLMANN kritisierte auf dem Verbandstag im Mai 1902 in Berlin die Lage des Verbandes:

11 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.100. 12 APM-DDR P II, 778: Protokoll der 3. ordentl. Generalversammlung des Verbandes der Porzellanarbeiter von 1899, S.10.

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„(Es) zeigte sich auch, daß diejenigen Personen, auf die sich der Verband bei der Agitation stützen wollte, ihn vielfach im Stich ließen, ja zum Theil gegen ihn arbeiteten..“13

Ursächlich für die Finanzkrise waren Beschlüsse der Generalversammlung von 1899 gewesen, wo man - basierend auf unzutreffenden Finanzplanungen - eine Arbeitslosen- und Streikunterstützung sowie „Treueprämien“ für fünf- bzw. zehnjährige Mitgliedschaft beschlossen hatte. Der erhoffte Rückgang der Fluktuation trat jedoch nicht ein, vielmehr verließe viele Porzellanarbeiter nach Zahlung der Treueprämie den Verband. Eine 1902 initiierte Sanierungskommission reduzierte daraufhin die Unterstützungszahlungen in beträchtlichem Umfang. Um die Entwicklung des Porzellanarbeiterverbandes, vor allem der Leistungen der gewerkschaftlichen Organisation für ihre Mitglieder zu skizzieren, sind in der folgenden Tabelle die wichtigsten Ausgabenposten des Verbandes in den Jahren 1898 bis 1908 absolut und relativ dargestellt. Hieraus wird ersichtlich, daß die Unterstützungszahlungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit tatsächlich ab 1902 rückläufig waren, um dann ab 1907/08 wieder anzusteigen. Die Ausgaben für das Verbandsorgan bzw. Agitation wurden nur geringfügig und nur für kurze Zeit gesenkt. Die Höhe der gezahlten Streikunterstützungen hingegen konnte nicht verringert werden, sie erhöhte sich vielmehr wegen der gestiegenen Streikbereitschaft der Porzellanarbeiter und der daraus resultierenden größeren Zahl an Arbeitskämpfen in bedeutendem Umfang. Tab.107: Ausgabenentwicklung des Porzellanarbeiterverbandes 1898 – 1914 (in Mark)14 Jahr Arbeitslosen- Kranken- Streik- Verbandsorgan Agitation unterstützung unterstützung unterstützung Summe pro Kopf Summe pro Kopf Summe pro Kopf Summe pro Kopf Summe pro Kopf 1898 33.407 3,77 30.513 3,45 20.339 2,30 8.013 0,90 1.135 0,13 1899 22.907 2,64 20.218 2,49 26.444 3,05 12.229 1,41 1.391 0,16 1900 45.600 4,91 27.039 2,91 38.169 4,11 15.542 1,67 864 0,09 1901 59.489 6,83 32.431 3,72 31.936 3,67 16.607 1,91 784 0,09 1902 50.168 6,08 32.367 3,93 32.768 3,97 5.094 0,62 997 0,12 1903 32.137 3,93 27.444 3,35 89.549 10,95 1.678 0,21 823 0,10 1904 22.206 2,76 15.794 1,96 103.415 12,84 1.075 0,12 3.013 0,37 1905 23.588 2,34 13.545 1,34 82.517 8,18 15.607 1,55 6.008 0,60 1906 31.068 2,41 17.311 1,34 45.967 3,57 18.190 1,41 12.260 0,95 1907 34.468 2,34 49.544 3,36 177.145 12,03 21.598 1,47 13.115 0,89 1908 120.190 9,27 58.363 4,50 92.432 7,12 20.803 1,60 11.277 0,87 1909 84.601 8,02 58.032 5,50 5.182 0,48 1910 46.615 3,75 58.873 4,74 20.735 1,68 1911 51.875 3,30 69.214 4,41 108.840 6,94 1912 27.218 1,64 63.474 3,83 428.001 25,82 1913 34.879 2,10 71.608 4,32 56.537 3,41 1914 208.434 -- 58.665 -- 53.587 --

13 APM-DDR P II, 778: Protokoll der Generalversammlung des Verbandes der Porzellanarbeiter von 1902, S.8. 14 Aus: PROBST, F. 1909, S.116 (1898 – 1908) und Die Ameise 1916, 43.Jg., Nr.52 (1909 – 1914).

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Die Mitgliedszahlen des Verbandes stiegen nur allmählich und lagen 1905 bei ca. 9.300 Porzellinern, wobei die Frauenquote unter 5% lag und die Fluktuation trotz Treueprämie außerordentlich hoch geblieben war, da die Zahl der Ein- und Austritte fast so hoch war wie die Zahl der Mitglieder. Während die Mitgliederzahl bis 1907 auf 14.800 und der Frauenanteil auf 26% stiegen, sank die Zahl der Mitglieder bis Ende 1910 um 12% auf 13.000, wobei der Rückgang unter den weiblichen Mitglieder überproportional groß war, da diese stärker von Entlassung und Arbeitslosigkeit betroffen waren. Der konjunkturbedingte Auf- und Abschwung der Mitgliederzahlen blieb auch in den folgenden Jahren maßgebend: 1911 16.700 Mitglieder, Abschwung bis Ende 1912, Zunahme bis Ende 1913 auf rd. 17.000 Mitglieder. Um der Mitgliederstagnation resp. dem -schwund zu begegnen, wurde auf der Generalversammlung von 1899 die Einrichtung sog. „Agitationsbezirke“ beschlossen, die jedoch nur in geringem Umfang erfolgreich waren. Die Einsetzung eines hauptamtlichen Gauleiters zunächst nur für Thüringen durch die Generalversammlung von 1905 hingegen erbrachte schon bald erhebliche Zuwächse. So registrierte der Rechenschaftsbericht von 1908 ein Mitgliederwachstum von 68% - gegenüber nur 31% im übrigen Deutschen Reich. Aufgrund dieser Erfolge, die auf verbesserter Agitation sowie engerem Kontakt mit den Zahlstellen - deren Zahl von 137 i.J. 1893 auf 195 i.J. 1908 gestiegen war15 - und den Mitgliedern beruhten, wurde 1910 ein Gauleiter für die Oberpfalz und Oberfranken und 1912 ein solcher für Schlesien und Sachsen bestellt.

Neben verbandsinternen Streitigkeiten traten ab 1905 zunehmend auch Differenzen mit dem Fabrikarbeiterverband auf, der „... in einer größerer Anzahl von Betrieben eingedrungen war... und dort sogar gelernte Arbeiter aufgenommen hatte.“

Die angesprochenen Betriebe aber sowie insbesondere die gelernten Porzelliner zählte der Porzellanarbeiterverband zu seiner ureigensten Klientel, weshalb sich WOLLMANN über solche Abwerbungsversuche beschwerte und „... betonte, daß für alle im Porzellan-, Steingut-, Fayence-, Terrakotta-, Majolika-, Syderolith- und Terralith-Fabriken beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen, ausschließlich etwa beschäftigter Handwerker, Maschinisten und Fuhrleute nur unser Verband zuständig...“16 sei. Zwar gestand der Fabrikarbeiterverband dies zu, stellte seine Agitation durch Mitglieder und Funktionäre in den Betrieben des Porzellanarbeiterverbandes jedoch keineswegs ein, so

15 Vgl. Keramische Rundschau 1909, 17.Jg., No. 44, S.557. 16 APM-DDR P II, 778: Protokoll der Generalversammlung des Verbandes der Porzellanarbeiter von 1911, S.185.

595 daß sich Gauleiter HOFFMANN aus Thüringen darüber beklagte, daß der Fabrikarbeiterverband mit seinen unlauteren und unfairen Werbemethoden „... an niedrigste Instinkte der Kollegenschaft...“17 appelliere. Die Streitigkeiten mit dem Fabrikarbeiterverband, der niedrigere Beitragssätze als der Porzellanarbeiterverband anbot, dauerten bis zum Kriegsausbruch unvermindert an. Hinzu kam die Konkurrenz christlicher Gewerkschaften, die den bayerischen Gauleiter BREDOW zu der Bemerkung veranlaßte, daß ein großer Teil der Porzelliner noch „...unter dem Einfluß der Klerisei...“18 stehe, so daß der Porzellanarbeiterverband „...es noch mit der verleumderischen Hetze christlicher Organisatoren zu tun ...“19 habe. Folge der internen Probleme sowie der unbefriedigenden Agitation war, daß nur wenige lohn- und tarifpolitische Erfolge zu verzeichnen waren: „1908 berichtete der Vorstand über insgesamt 57 Lohnbewegungen seit der letzten Generalversammlung, die zumeist Abwehrbewegungen gewesen waren, mit insgesamt 2500 Beteiligten. Zwölf davon endeten mit vollem, vierzehn mit einem Teilerfolg für die Arbeiter, 29 gingen dagegen verloren. Das Verhältnis hatte sich in der Berichtsperiode vor der Generalversammlung 1911 nicht wesentlich verändert. Dort nannte der Vorstand insgesamt 28 Bewegungen, fünf von vollem Erfolg gekrönt, zwei mit Teilerfolgen, immerhin 14 Kämpfe gingen verloren und einige Auseinandersetzungen dauerten noch an. 1911 konnten sie, anders als die Glas- und Fabrikarbeiter, auch noch nicht über den Abschluß von Tarifverträgen mit Unternehmen berichten. Hier blieb der Durchbruch noch aus. In diesem Jahr diskutierte ein Verbandstag auch erstmals intensiver über die Arbeitszeitfrage. Nach einem Referat ... über den Neunstundentag verabschiedeten die Delegierten einstimmig eine Resolution zur Verkürzung der Arbeitszeit. “20

Bereits ab 1905 wurde über den Zusammenschluß mit anderen Verbänden, namentlich dem Töpfer- und Glasarbeiterverband, diskutiert, der sich wegen unterschiedlicher Beitragssätze und Unterstützungsleistungen schwierig gestaltete. So besaß der Porzellanarbeiterverband eine gut funktionierende Kranken- und Arbeitslosenunterstützung, während der Töpferverband keine Arbeitslosen- und der Glasarbeiterverband keine Arbeitslosenversicherung besaß, außerdem waren die Beiträge der Glasarbeiter geringer als die der Töpfer und Porzellanarbeiter. Die Angleichung der Beitragssätze sowie der Unterstützungsleistungen benötigte einige Jahre und führte zum Entwurf eines sog. „Normalstatuts“, das 1913 jedoch von allen drei beteiligten Verbänden abgelehnt wurde. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterbrach zunächst die Bemühungen um einen Zusammenschluß mit anderen Verbänden. Anzumerken ist, daß der Porzellanarbeiterverband

17 Ebd., S.187. 18 Ebd., S.195. 19 Ebd. Vgl. vice versa die Einstellung der christlichen Gewerkschaft gegenüber den freien Gewerkschaften, die sich in ebenso scharfen Worten ausdrückte (S. Kap.5). 20 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.153.

596 sich im Jahre 1911/12 erstmals in einem großen Arbeitskampf als schlagkräftige Organisation erwies. Im Juni 1911 brach ein Streik zur Abwehr von Maßregelungen in einer Teltower Porzellanfabrik aus, den die Unternehmer mit Massenaussperrungen beantworteten, die sich auf 61 Betriebe in 38 Orten erstreckten und den Porzellanarbeiterverband 480.000 Mark an Unterstützungsgeldern kostete; die Maßregelungen wurden im übrigen erfolgreich abgewehrt.

Da die Porzellanindustrie nicht zu den unmittelbar kriegswichtigen Branchen zählte, traf die Mobilmachung die in dieser Industrie Beschäftigten besonders hart. Infolge durch Kohlemangel bedingte Produktionseinschränkungen und Betriebsstillegungen stieg die Arbeitslosigkeit stark an, die verbliebenen Arbeiter mußten Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen hinnehmen. „Wie in allen Gewerkschaften wurden ... als Folge des Kriegsausbruchs Mitgliederrückgang, Arbeitslosigkeit, Einschränkung der Organisationsarbeit, Unterstützung für die Familien der Eingezogenen und ... der Kriegsopfer zu drängenden Problemen. Hinzu kamen bald die Notwendigkeit der Abwehr der Teuerung, die Sorge um eine angemessene Ernährung der Beschäftigten sowie die Erhaltung der erkämpften Arbeitsbedingungen unter den Verhältnissen des Krieges. ... Wie der Fabrikarbeiterverband ... [war auch der Verband der Porzellanarbeiter, d. Verf.] kurzfristig gezwungen, die satzungsgemäßen Unterstützungsleistungen zu kürzen, um überhaupt arbeitsfähig zu bleiben. Unmuts- und Protestäußerungen aus der Mitgliedschaft mußten hingenommen werden - es gab keine realistische Alternative.“21

Der Porzellanarbeiterverband bemühte sich im Krieg erfolgreich darum, Arbeitseinkommen tariflich abzusichern und erreichte im Mai 1918 mit den Porzellanindustriellen Oberfrankens ein Abkommen über Grundlohnerhöhung, Teuerungszulagen, Arbeitszeit sowie Schlichtungsverfahren.22 Im Gegensatz zu anderen Verbänden wie bspw. dem Glasarbeiterverband kam es im Porzellanarbeiterverband kaum zu inneren Richtungskämpfen, vielmehr folgte dieser im Ersten Weltkrieg der Generalkommission der Gewerkschaften und der MSPD ohne erkennbaren Widerstand.

Die Novemberereignisse 1918 – das Ende des Kaiserreiches, der Waffenstillstand sowie die neue Regierung – wurden in der Ameise begrüßt, wobei der Vorstand forderte, daß der politischen Gleichberechtigung nun auch die ökonomische Besserstellung der Arbeiterschaft folgen müsse und daß die Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens „ ... vor den Toren der Fabriken nicht halt machen....“23

21 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.188. 22 Vgl. S.407ff. 23 Die Ameise Nr. 48 vom 29.11.1918.

597 dürfe. Dabei vertrat der Porzellanarbeiterverband aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage und der Nahrungsmittelkrise in Bezug auf eine Sozialisierung der Wirtschaft moderate Forderungen, indem er darauf hinwies, daß es in der Übergangswirtschaft auf das Zusammenwirken aller Wirtschaftsverbände ankäme.24 Insofern wurde all jenen Ansinnen im Verband eine Absage erteilt, die auf eine rasche Umwandlung der Wirtschaft und die Instituierung eines sozialistischen Staates drängten. Um die Errungenschaften der Novemberrevolution und einen bedeutenden Einfluß der Gewerkschaften auf die gesellschaftliche Entwicklung zu sichern sowie die Verhandlungsposition gegenüber den Unternehmern zu festigen, richtete der Porzellanarbeiterverband den Appell an seine Mitglieder, zur organisatorischen Stärkung und Entwicklung beizutragen. „Leitstern“ der Gewerkschaftstätigkeit sollte daher zunächst eine Verringerung der unorganisierten Arbeiter und damit eine Steigerung des Organisationsgrades in der Keramindustrie sein.25

In der Zeit nach der Novemberrevolution konnte der Porzellanarbeiterverband eine rasche und stetige Zunahme an Mitgliedern verzeichnen. Im Zeitraum von 1918 bis 1922 stieg die Mitgliedszahl von 16.425 um über 300% auf 70.089; 1918 betrug die Zahl der weiblichen Mitglieder 8.255, 1922 bereits 32.628. Zwar waren damit fast 50% der Mitglieder Frauen, jedoch spiegelte sich dieser hohe Prozentsatz keineswegs im Organigramm wider, da es im Porzellanarbeiterverband keine weiblichen hauptamtlichen Funktionäre gab und auch an den Generalversammlungen - wenn überhaupt - nur relativ wenig weibliche Delegierte teilnahmen.26 Bis zum Jahre 1922 hatte der Porzellanarbeiterverband fast alle in der keramischen Industrie Beschäftigten organisiert, so daß dem Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein bzw. dem christlichen Verband nur noch wenige tausend Beschäftigte verblieben.

Die wichtigsten Tagungsordnungspunkte der ersten Generalversammlung des Porzellanarbeiterverbandes nach 1913, die im September 1919 in Marktredwitz stattfand, betrafen Kollektivverträge und Zusammenschlüsse mit anderen Verbänden; auch die folgenden Generalversammlungen vom Juli 1922 in Dresden und vom September 1925 in Magdeburg beschäftigten sich in der Hauptsache mit diesen Themen. Zwar wurde auf der

24 Vgl. Die Ameise Nr. 47 vom 22.11.1918. 25 Vgl. Die Ameise Nr. 49 vom 6.12.1918. 26 Generalversammlung 1919 in Marktredwitz: Von 50 Delegierten waren 19 weiblich; 1922 in Dresden: Eine weibliche Delegierte; 1925 in Magdeburg: Keine weibliche Delegierte.

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Marktredwitzer Generalversammlung Kritik am Vorstand, insbesondere an dessen eigenmächtiger Zustimmung zum Kriegshilfsdienstgesetz und zur Zentralen Arbeitsgemeinschaft geübt, doch wurde dieser letztlich entlastet und Georg WOLLMANN zum Vorsitzenden wiedergewählt.

Im Juli 1919 wurden, den Vereinbarungen der Zentralen Arbeitsgemeinschaft vom 5. 12.1918 folgend, die ersten Lohnverhandlungen zwischen den Verbänden der Arbeitgeber, dem Porzellanarbeiterverband und dem Verband christlicher Keram- und Steinarbeiter abgeschlossen. Dabei konnten weder die gewerkschaftlichen Forderungen nach Abschaffung der Akkordarbeit noch nach Festsetzung von Mindestlöhnen durchgesetzt werden, wofür der Vorstand auf der Marktredwitzer Generalversammlung heftig kritisiert wurde. In einer einstimmig verabschiedeten Resolution wurde der abgeschlossene Kollektivvertrag zwar als Fortschritt gegenüber früheren Verhältnissen gewertet; gleichzeitig jedoch wurde der Vorstand beauftragt, den Vertrag zum Jahresende zu kündigen und in neuen Verhandlungen Verbesserungen zu erreichen. Wenngleich unter dem Eindruck der inflationären Entwicklung und regionaler Teuerungsraten der Nutzen zentraler Lohnabkommen in der Ameise durchaus kontrovers diskutiert wurde, hielt der Porzellanarbeiterverband auf den Generalversammlungen in Dresden und Magdeburg am Reichstarifvertrag fest.

Bereits auf der Marktredwitzer Generalversammlung hatten sich die Delegierten mehrheitlich für eine Wiederaufnahme der 1913 gescheiterten Verhandlungen zur Verschmelzung des Porzellanarbeiterverbandes mit den Verbänden der Glasarbeiter und Töpfer ausgesprochen.27 Die innerhalb des ADGB geführten Diskussionen um ein neues Organisationsprinzip veranlaßten die drei Verbände jedoch zu abwartender Haltung, so daß auf der Generalversammlung von 1922 keine Annäherung der Standpunkte konstatiert werden konnte. Die finanziellen Probleme des Verbandes, verursacht durch die allgemeine inflationäre Entwicklung, den Kauf eines eigenen Verbandsgebäudes in Berlin- Charlottenburg28 sowie nicht zuletzt durch den großen Porzellanarbeiterstreik von 1921, hatten zur Folge, daß die Gewerkschaft praktisch streikunfähig und somit bar ihres stärksten Kampfmittels den Unternehmern gegenüber war: Der Zusammenschluß mit anderen Verbänden war unumgänglich geworden. Die Magdeburger Generalversammlung von 1925

27 APM-DDR PII 778. Protokoll der Generalversammlung des Porzellanarbeiterverbandes von 1919, S.105ff. 28 Zur Mitfinanzierung von Verbandsgebäuden wurden vom Porzellanarbeiterverband „Bausteine“ in Form von Sondermarken herausgegeben.. AB, Anl.75 zeigt eine solche Sondermarke für das Verbandsgebäude in Weiden/Opf.

599 beschäftigte sich daher fast ausschließlich mit dieser Frage, nachdem der Porzellanarbeiterverband zuvor einen Vorschlag an den ADGB-Bundesvorstand gerichtet hatte, alle Keramarbeiter organisatorisch einheitlich zusammenzufassen. Dieser Antrag entsprach den Beschlüssen des Breslauer Gewerkschaftskongresses, sich in Industrieverbänden zusammenzuschließen. Falls die Etablierung eines selbständigen Keramarbeiterverbandes nicht möglich sei, regte der Porzellanarbeiterverband eine „... Zusammenfassung der Keramarbeiter zu einer besonderen Unterabteilung einer größeren Gruppenorganisation ...“29 an. Da sich die Gründung einer einheitlichen Organisation wegen unterschiedlicher und teils widerstrebender Interessen der beteiligten Verbände (Porzellanarbeiterverband, Fabrikarbeiterverband, Glasarbeiterverband, Töpfer im Baugewerksbund) als undurchführbar erwies, strebte man die Bildung eines eigenständigen Keramarbeiterverbandes innerhalb einer Dachorganisation an. Die hierfür relevanten Organisationen waren der Verband der Fabrikarbeiter Deutschlands sowie der Baugewerksbund, wobei sich bei der Urabstimmung im Juni 1926 90,53% der Mitglieder des Porzellanarbeiterverbandes für eine Verschmelzung mit dem Fabrikarbeiterverband aussprachen. Gemeinsam mit den Glasarbeitern, Grobkeramikern und Zieglern bildeten die Porzellanarbeiter im Fabrikarbeiterverband seit dem 1. August 1926 den „Keramischen Bund“, der seinen Sitz im ehemaligen Verbandsgebäude des Porzellanarbeiterverbandes in Berlin-Charlottenburg hatte. Zum Vorsitzenden wurde Georg WOLLMANN gewählt; das Wochenblatt Keramischer Bund wurde zum Verbandsorgan für 160.000 Mitglieder. Die Vorteile, welche die Gründung des Keramischen Bundes den drei beteiligten Verbänden brachte, überwogen bei weitem die Einschränkung der bisher gehandhabten Verbandsautonomie, die zudem dadurch abgemildert wurde, daß die Sektion Keramischer Bund eine eigene Satzung erhielt, die ihr weiterhin eine relative Eigenständigkeit garantierte. Durch Einsparungen im Verwaltungsbereich hoffte man die Finanzkraft der drei Verbände zu stärken und dadurch Streiks zur Durchsetzung besserer Lohn- und Arbeitsbedingungen erfolgreicher einsetzen zu können. Hinzu kam, daß die Bedeutung des Industriezweiges Keramik innerhalb des ADGB gestärkt wurde und daß sich durch das hier angewandte Industrieverbandsprinzip der Organisationsrahmen des Fabrikarbeiterverbandes wesentlich vergrößerte.

29 APM-DDR PII 778. Protokoll der Generalversammlung des Porzellanarbeiterverbandes von 1925, S.25f.

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Tab.108: Mitgliederentwicklung Porzellanarbeiterverband30 1893 Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter 1899 Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter beiderlei Geschlechts 1905 Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands

Jahr Männlich Weiblich Insgesamt 1892 1 5.112 -- 5.112 1893 -- -- 5.991 1894 -- -- 6.578 1895 -- -- 7.044 1896 7.807 302 8.109 1897 8.303 365 8.668 1898 8.442 415 8.857 1899 8.400 260 8.660 1900 8.923 357 9.280 1901 8.338 364 8.702 1902 7.936 309 8.245 1903 7.883 291 8.174 1904 -- -- 8.592 1905 10.054 1.095 11.149 1906 12.363 1.806 14.169 1907 12.753 2.125 14.878 1908 11.411 1.563 12.974 1909 9.653 894 10.547 1910 -- -- 13.052 1911 -- -- 16.743 1912 -- -- 16.078 1913 13.293 3.679 16.972 1914 7.965 3.033 10.998 1915 3.439 2.217 5.656 1916 (2.583) (1.841) 4.424 1917 2.465 2.612 5.077 1918 8.170 8.255 16.425 1919 24.005 18.638 42.643 1920 30.777 25.424 56.201 1921 34.190 28.618 62.808 1922 2 -- -- 72.497 1923 39.143 33.321 72.464 1924 29.490 21.055 58.545 1925 28.649 18.885 47.534

1 Bei den Angaben für 1892 bis 1903 handelt es sich um Jahresdurchschnittswerte. 2 Zahlenangabe für 1922 aus KÜGEMANN, R. 1931, S.123.

30 Aus: IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.630. Entsprechende Zahlenangaben für die Jahre 1893 bis 1908 finden sich auch in Keramische Rundschau 1909, 17.Jg., No.44, S.557. Nur geringfügig abweichende Angaben in Die Ameise1916, 43.Jg.,Nr.35 u.Nr.42. Vergleichbare Daten ebenfalls bei YSENBURG-PHILLIPSEICH (1921, S.80f.), der jedoch für das Kriegsjahr 1916 1.870 männliche und 3.060 weibliche, also insgesamt 4.930 Mitglieder angibt. Die Umkehrung des Verhältnisses Männliche Mitglieder : Weibliche Mitglieder zugunsten der weiblichen Mitglieder erscheint angesichts einer wachsenden Zahl von einberufenen Porzellanarbeitern und einer steigenden Frauenquote in der Porzellanindustrie durchaus plausibel.

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3. Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter

Am 12. Oktober 1902 gründeten Vertreter aus drei Verbänden - der Hafnersektion im Münchner Verein „Arbeiterschutz“, dem Oberpfälzer Glasarbeiterverband (Sitz: Erbendorf) und dem Glasarbeiterverband in Stolberg/Rheinland – in Frankfurt/Main den „Zentralverband christlicher Arbeiter und Arbeiterinnen der keramischen Industrie“, der in fünf Ortsgruppen 417 Mitglieder organisierte. Nur zwei Jahre später zählte der Verband bereits 1.500 Mitglieder in 30 Ortsgruppen und ab 1905 erschien „Der Keramarbeiter“ als eigenes Verbandsorgan. Im Jahre 1908 schloß sich der überwiegende Teil der christlich organisierten Steinarbeiter dem Verband an, der fortan unter dem Namen „Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter Deutschlands“ firmierte und dessen Verbandsorgan in Keram- und Steinarbeiter-Zeitung umbenannt wurde. Die Statuten von 1908 bezeichnen als Zweck des Verbandes „... die geistige und sittliche Hebung und gewerbliche Ausbildung sowie die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Mitglieder auf christlicher und gesetzlicher Grundlage ...“ 31 und führen als Mittel zur Erreichung dieses folgende an: „... statistische Untersuchungen; Verhandlungen mit Arbeitgebern in Arbeits- und Lohnfragen, Vermittlung bei berechtigten Beschwerden und Wünschen der Mitglieder; belehrende und bildende Vorträge in Versammlungen; Errichtung von Bibliotheken sowie Herausgabe eines Verbands- Organes; Errichtung von Arbeitsnachweisen, Rechtsschutz und Ratserteilung in Fragen des Arbeitsverhältnisses; Errichtung von Unterstützungskassen.“32

Zur Verbandstätigkeit i.S. einer Interessenwahrnehmung und -förderung seiner Mitglieder zählte in den Folgejahren auch die Eingabe von Petitionen an Bundesrat, Reichstag, verschiedene Länderparlamente sowie an Gemeindeverwaltungen.33 Wegen des hohen Differenzierungsgrades der Löhne in der Keramindustrie führte der Zentralverband christlicher Keramarbeiter als eine der ersten Gewerkschaften ein nach der Lohnhöhe gestaffeltes Beitragssystem ein. Mit der Verlegung des Verbandssitzes von München nach Köln, wo auch der Gesamtverband christlicher Gewerkschaften seine Zentrale hatte,

31 Statuten des Zentralverbandes christlicher Keramarbeiter Deutschlands 1908, §2. 32 Ebd., §3. 33 Vgl. APM-DDR Berlin, P II 1563 / 1912: Geschäftsbericht des Vorstandes des Zentralverbandes christlicher Keram- und Steinarbeiter Deutschlands 1912, Köln: „In Form von Petitionen wandte sich die Verbandsleitung ... an über 200 Stadtgemeinden zwecks Verwendung einheimischen Materials zu Straßenpflasterungen, Bauten usw. – Uebertragung von Aufträgen an Arbeitgeber, welche das Koalitionsrecht der Arbeiter anerkennen, Tariflöhne bezahlen usw. – und zwecks Verhinderung von Arbeitsmonopolen der Sozialdemokraten.“ (S.4).

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überwand der Verband die regionale Begrenzung auf Bayern und konnte seinen Mitgliederbestand bis 1907 auf 10.000 steigern, von denen 80% außerhalb Bayerns, besonders im Rheinland, lebten. „Das Jahr 1906 bescherte dem christlichen Keramarbeiterverband einen Mitgliederzuwachs von über 120 Prozent: Allein im Saarrevier wurden über 1000 Neueintritte von Porzellan- und Glasarbeitern verzeichnet, die durch Streiks mobilisiert worden waren.“34

Die Ausgaben des christlichen Verbandes in den Jahren 1904 bis 1908 widerspiegeln dessen Entwicklung anhand der gezahlten Unterstützungen bzw. Kosten für das Verbandsorgan und Agitation: Tab. 109: Ausgabenentwicklung Verband christlicher Keramarbeiter (in Mark)35 Jahr Streik- und Reise- und Sonstige Verbandsorgan Agitation Gemaßregelten- Arbeitslosen- Unterstützungen Unterstützungen Unterstützungen 1904 246 -- 20 839 895 1905 3.710 558 350 1.971 4.960 1906 22.378 864 80 4.326 9.561 1907 27.527 1.728 5.225 4.502 9.439 1908 21.210 4.869 4.416 6.700 14.616

Trotz unternehmerischer Repressalien gegen die gewerkschaftlichen Vertrauensleute und damit gegen die Organisierung von Arbeitern beteiligte sich der christliche Keramarbeiterverband 1906 an zehn, 1907 bereits an 110 Arbeitskämpfen, die teilweise zusammen mit den Freien Gewerkschaften, teilweise auch allein organisiert wurden. Insbesondere auf dem dritten Verbandstag, der 1908 in München stattfand, wurden umfassende Änderungen hinsichtlich Unterstützungsleistungen (Einführung der Arbeitslosensustentation) und Beitragssystem (Einführung der Beitragsstaffelung mit Niedrigklasse für Frauen und Jugendliche) durchgeführt. Das Verbandsgebiet umfaßte zu diesem Zeitpunkt zwölf Bezirke, von denen elf von hauptamtlichen Sekretären geleitet wurden. In den Jahren 1911 und 1912 erweiterte der Verband sein außerbayerisches Agitationsgebiet erheblich, so daß in Baden, im Westerwald, in Kassel, Sachsen, Thüringen und Schlesien neue Zahlstellen gegründet wurden. Der christliche Keramarbeiterverband betrieb schon früh - etwa ab 1910 - eine ausgedehnte Haus- und Flugblattagitation und beschäftigte sich früher als andere Verbände mit der Situation einzelner Industrien. „ Dem für die Stärkung und Ausbreitung des Verbandes so wichtigen Gebiet der Agitation wurde die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Es wurde nicht bloß jede sich bietende Gelegenheit ausgenützt, sondern selbst Situationen für erfolgreiche Agitation geschaffen. ... Zwei über das ganze

34 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.174. 35 Aus: PROBST, F. 1909, S.119.

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Verbandsgebiet sich erstreckende planmäßig durchgeführte Hausagitationen waren von gutem Erfolge. Über 100.000 Flugblätter, für die einzelnen Berufsgruppen berechnet und den jeweiligen Umständen angepaßt, wurden ausgegeben. Dazu kommen noch die nicht geringe Zahl der vom Gesamtverbande herausgegebenen Flugblätter.“36

In einer vom Verbandsvorstand 1914 herausgegebenen Druckschrift über die Entwicklung des Verbandes 1912/13 werden namentlich 20 Flugblätter aufgezählt, die allein im genannten Zeitraum verbreitet wurden:37 Arbeiter und Arbeiterinnen der Industrie der Steine und Erden 4seitig 30.000 Exemplare Steinarbeiter, höre 2seitig 5.000 Exemplare Was nützt es dem jungen Berufskollegen..... 2seitig 10.000 Exemplare An die Frauen und Mädchen der Porzellan-, Ton- und Ziegelindustrie 2seitig 5.000 Exemplare Arbeiter der Hartsteinindustrie aufgepaßt 2seitig 6.000 Exemplare Wer zahlt die Kosten? 1seitig 5.000 Exemplare Meister und Gehilfen der Grafschaft Glatz, wacht auf! 4seitig 3.000 Exemplare Glasarbeiterjugend, Aufgepaßt! 2seitig 5.000 Exemplare An alle Arbeiter der Tonwaren-, feuerfesten Industrie usw. 4seitig 10.000 Exemplare Die Wahrheit über die Streikbewegung auf der Ehrenfelder Glashütte 4seitig 5.000 Exemplare Porzellan-Steingutarbeiter und Töpfer 4seitig 5.000 Exemplare Ziegeleiarbeiter, wachet auf! 4seitig 5.000 Exemplare Weckruf! 2seitig 3.000 Exemplare Schwemmsteinarbeiter! 2seitig 1.000 Exemplare Christlich-national oder sozialdemokratisch? 12seitig 11.000 Exemplare ------Die Wahrh. üb. Wesen u. Charakt. d. sozialdemokrat. Steinsetzerverb. 8seitig 38 Pflasterer und Rammer, aufgepaßt 2seitig Wer verrät die Pflasterer und Rammer 4seitig Wo sitzen die Lügner und Fälscher 2seitig Was der sozialdemokratische Steinarbeiterverband verschweigt 12seitig

Auch in der Keram- und Steinarbeiter-Zeitung wurde für den Eintritt in die Organisation geworben: „Die geringen Beiträge, die von den Mitgliedern an den Verband geleistet wurden, sind ihnen mehr als zehnfach wieder zugeflossen durch Verbesserung der Lohnverhältnisse, ganz abgesehen von sonstigen Vorteilen bzgl. Verhandlung, Beseitigung drückender Mißstände, Verbesserung der Arbeitsbedingungen. ... Wären doch alle Arbeiter so verständig und würden vereint im christlichen Keram- und Steinarbeiterverband zur Hebung ihres Standes zusammenwirken. Welch glänzende Erfolge könnten da nicht erzielt werden! Es muß jedem denkenden Arbeiter in der Seele weh tun, wenn er sieht, daß gerade seine Standeskollegen sich so entsetzlich gleichgültig zeigen gegenüber ihrer Berufsorganisation, obwohl auch sie unzufrieden mit den Erwerbsverhältnissen sind und der karge Lohn kaum zum Lebensunterhalt ausreicht. ... Kollegen! So lange Ihr mit dem beitritt zum Verband auf die „Andern“ wartet, so lange müßt Ihr auch auf die Besserung Eurer Erwerbsverhältnisse warten. Wer den Verbandsbeitrag sparen will, braucht sich keine Hoffnung auf Lohnerhöhung zu machen. ... Darum hinein in die Organisation!“ 39

36 APM-DDR Berlin, P II 1563 / 1912: Geschäftsbericht des Vorstandes des Zentralverbandes christlicher Keram- und Steinarbeiter Deutschlands 1912, S.11. Köln. 37 APM-DDR Berlin, P II 1563 / 1912-1913: Der Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter Deutschlands in den Jahren 1912 und 1913, S.7f. 38 Die fünf letztgenannten Flugblätter wurden erst zu Beginn des Jahres 1914 verbreitet; daher fehlen hier Angaben über die Auflagenhöhe. 39 Keram- und Steinarbeiter-Zeitung 1910, 6.Jg., H.4, S.175.

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Wenngleich in genanntem Artikel von einer „Berufsorganisation“ gesprochen wird, so bleibt doch festzuhalten, daß sich der christliche Verband keineswegs als reine Berufsorganisation verstand, sondern sich vielmehr von Anfang an als Industrieverband konstituierte, der so unterschiedliche Berufsgruppen wie „... Glasarbeiter, Porzellan- und Steingutarbeiter, Töpfer, alle in Tonwarenfabriken, Fabriken feuerfester Erzeugnisse, Ziegeleien, Dachziegelwerken, in Terrakotta-, Gips- und Zemmentwarenfabriken (sic!) Steinbrüchen und Steinhauereien beschäftigten Arbeiter, sowie die Arbeiter des Steinmetz- und Pflasterergewerbes ...“ 40 vertrat. Eine Aufstellung von Ende März 1912 verzeichnet 7.172 Mitglieder, von denen 3.838 Steinarbeiter, 1.410 Tonarbeiter, 1.005 Glasarbeiter, 512 Porzellanarbeiter sowie 407 Kunststein- und sonstige Keramarbeiter waren. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges baute der Verband sein Tarifvertragswesen soweit aus, daß mehr als die Hälfte aller Mitglieder nach Tarifvertrag arbeiteten; ferner wurde unter dem Druck der konkurrierenden Freien Gewerkschaften eine verbandseigene Arbeitsvermittlung (Arbeitsnachweis) geschaffen. „Die christlichen Gewerkschaften standen im Weltkrieg in `Treue zu Kaiser und Reich`. Im vermeintlichen Bewußtsein, daß das `Recht und damit auch die Hilfe Gottes ... auf unserer Seite` seien, so die `Keram- und Steinarbeiterzeitung` unmittelbar nach Kriegsbeginn, verkündeten sie umgehend den `Burgfrieden`. Zugleich sahen sie aber, ähnlich wie große Teile der Freien Gewerkschaften, im Krieg auch eine Chance, die Arbeiterschaft und ihre Organisationen aus ihrer sozialen Isolation zu befreien und ihnen mehr Einflußmöglichkeiten im politischen Leben zu sichern.“41

Das Verhältnis des christlich orientierten Verbandes gegenüber den freien Gewerkschaften, insbesondere dem Porzellanarbeiterverband, war von gegenseitigem Mißtrauen und Ablehnung geprägt; für die sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften bestand die Tätigkeit des christlichen Verbandes ausschließlich in „verleumderischer Hetze“ der „Klerisei“,42 während die christlichen Gewerkschafter den Porzellanarbeiterverband als Vertreter einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, verbunden mit einer radikalen Ablehnung des Christentums, ansahen und in ähnlich scharfer Form angriffen: „Die christliche Organisation nimmt die gegenwärtige Gesellschaftsordnung zur Grundlage ihrer Arbeit und sucht dieselbe zu reformieren und für den Arbeiter besser zu gestalten. Die sozialistische Bewegung dagegen erhebt den Klassenkampf zum obersten Prinzip und will erst auf den Trümmern der heutigen Gesellschaftsordnung eine Bessergestaltung der Arbeiterlage aufbauen. ... Die sogenannten „freien“ Gewerkschaften dagegen erblicken im Christentum einen noch größeren Feind als in den Auswüchsen kapitalistischer Produktion. Zu allen christlichen Festen bringen

40 Keram- und Steinarbeiter-Zeitung 1910, 6.Jg., H.4, S.176. 41 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a., S.192. 42 APM-DDR P II, 778: Protokoll der Generalversammlung des Verbandes der Porzellanarbeiter von 1911, S.195.

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„Steinarbeiter, Fachgenosse, Ameise, Töpfer, Steinsetzerzeitung, Proletarier“43 usw. Festartikel, die das Christentum mit altheidnischen Sagen auf eine Stufe stellen und als Kindermärchen verspotten und lächerlich zu machen suchen. ... Wo diese Verbände die Macht haben, werden die Mitglieder offen aufgefordert, aus der Kirche auszutreten. ... Sage selbst, kann sich damit auch nur ein Arbeiter ein Stück Brot kaufen? Schadet dieser fanatische Kampf gegen alle Religion nicht der gesamten Arbeitersache ganz ungeheuer, ohne im geringsten nützen zu können? Die Stellung der sogenannten „freien“ Gewerkschaften zur Religion beweist: Der Kampf gegen das Christentum und das Streben, die Arbeiter mit Abscheu und Haß gegen alles was christlich ist, zu erfüllen, ist ihnen wichtiger, als praktisch an der Besserstellung der Arbeiter zu wirken.“ 44

Daß sich diese Auseinandersetzungen nicht nur auf Funktionärsebene abspielten, sondern durchaus auch in die Betriebe getragen wurden, zeigt folgender Artikel: „Es gibt in manchen betrieben einzelne Vorgesetzte, welche selbst die einfachsten formen des Anstandes gegenüber den Arbeitern nicht zu wahren wissen. Auch in der Porzellanfabrik in Weiden bei Bauscher & Co. ist ein gewisser Herr, der obwohl sonst zur Partei der `Brüderlichkeit` gehört, sich recht ´nett´ zu benehmen versteht. Er interessiert sich für die Gesinnung seiner ihm unterstellten Arbeiter, bezeichnet solche, welche christliche Ideen verfolgen, als geistig nicht normal. Schimpft über diejenigen, welche in das Gesellenhaus gehen und Hurra schreien, eine Revolution wäre sein Wunsch. Als Kosenamen bezeichnet er Arbeiter wie z.B. `verfluchter Schafskopf´ usw. Diesem Herr Oberdreher L. kann geholfen werden. Die Organisation kann ihm im Wiederholungsfalle seines `Christenkollers´ beweisen, daß sie geistig normale Leute hat und wird eventl. gegen ihn so ein kleines Revolutiönchen inszenieren. Wer dabei den kürzeren zieht, wird der Agitator für seine roten Gesinnungsgenossen verspüren. Wir empfehlen ihm für heute anständig zu sei, sonst werden wir deutlicher. Unseren Kollegen aber rufen wir zu, die Ruhe zu bewahren, es sind schon andere Größen durch die Organisation klein geworden. Das Recht, sich seiner Existenz wahren, steht auch den christlichen Arbeitern zu und `bange machen gilt nicht`.“45

Bei Kriegsausbruch leitete der christliche Keram- und Steinarbeiterverband Maßnahmen ein, die im Falle der Einberufung von Funktionären und einfachen Verbandsmitgliedern die reibungslose Weiterführung der Verbandstätigkeit sichern sollten. Ebenso wurden Beitrags- und Unterstützungsleistungen neu geordnet: Für alle zum Militärdienst einberufenen Mitglieder ruhten Rechte und Pflichten, Arbeitslose wurden von der Beitragspflicht befreit und die Unterstützungszahlungen wurden nicht gänzlich eingestellt (wie in den meisten anderen Gewerkschaften), sondern nur auf die Hälfte reduziert, um dadurch Gelder für die betroffenen Soldatenfamilien bereitstellen zu können. Hinzu kam, daß das Verbandsorgan Keram- und Steinarbeiter-Zeitung nur noch in eingeschränktem Umfang erschien und daß die hauptamtlichen Funktionäre sich einer freiwilligen Gehaltskürzung um bis zu 40% unterwarfen. Durch Einberufungen und Abwanderungen von Mitgliedern, die in kriegswichtigen Industrien Beschäftigung fanden bzw. aus stark dezimierten Zahlstellen austraten, wurden die christlichen Verbände stark geschwächt. Ein Tiefstand wurde im Herbst 1916 erreicht, als der christliche Fabrikarbeiterverband nur noch über 330 zahlende

43 Verbandsorgane diverser sozialdemokratisch geprägter Gewerkschaften. 44 Keram- und Steinarbeiter-Zeitung 1910, 6.Jg., H.4, S.174. 45 Keram- und Steinarbeiter-Zeitung 1911, 7.Jg., H.9, S.35.

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Mitglieder verfügte und der Keramarbeiterverband sogar nur noch 100 zahlende Mitglieder zählte. Bemerkenswert scheint, daß die Einberufungen eines Großteils der christlichen Funktionäre und Vertrauensleute von den betroffenen Unternehmen gefördert wurden, um auf diese Weise mißliebige Gewerkschafter loszuwerden - ein Vorgehen, das sicherlich und in besonderem Maße auch bei Mitgliedern der Freien Gewerkschaften Anwendung fand - , wobei es dem Keramarbeiterverband jedoch gelang, die Einberufungen von mehreren hundert seiner Vertrauensleute rückgängig zu machen.

Da im September 1914 rd. ein Drittel der Mitglieder des Keramarbeiterverbandes arbeitslos war – hauptsächlich Glas- und Porzellanarbeiter – konzentrierte sich die Verbandsarbeit in erster Linie auf die Bekämpfung der Erwerbslosigkeit. So konnte der Verband durch Eingaben Arbeit u.a. für bayerische Ziegler und oberpfälzische Glasarbeiter in der Landwirtschaft vermitteln. Ebenso bemühte man sich mittels Eingaben um Teuerungszulagen und Lohnerhöhungen, wobei 69 von 79 Eingaben des christlichen Fabrikarbeiterverbandes im Jahre 1915 erfolgreich waren. Da sich die Lebensmittelversorgung in den ländlichen Industrieregionen, in denen die Mehrheit der Mitglieder lebte, äußerst schwierig gestaltete und die Teuerungsraten besonders hoch waren, initiierte der christliche Keramarbeiterverband Preisprüfungsstellen und Großeinkäufe; außerdem bemühte er sich nach Einführung des Lebensmittelkartensystems sehr um die Anerkennung eines Großteils seiner Mitglieder als Schwer- oder Schwerstarbeiter. „Mit zunehmender Kriegsdauer häuften sich die Klagen über die unvermindert unsoziale und gewerkschaftsfeindliche Haltung einer Vielzahl der Arbeitgeber. Die christlich-nationale Idee von der `Schicksalsgemeinschaft` des deutschen Volkes wurde immer mehr ad absurdum geführt, der Krieg zum `kapitalistischen Geschäft` reduziert, wie das Organ des Keramarbeiterverbandes 1916 erkannte. Mit Bestürzung verfolgten die christlichen verbände, wie mit hohen Gewinnen einerseits und mit niedrigen Lohnkosten andererseits die Streikkassen der Unternehmer für die Zeit nach dem `Burgfrieden` prall gefüllt wurden, während sie selbst durch ihre hohen Ausfälle und Unterstützungsausgaben gänzlich geschwächt waren. Dementsprechend große Hoffnungen setzte die christliche Arbeiterbewegung in das 1916 verabschiedete Hilfsdienstgesetz. Trotz aller darin enthaltenen Einschränkungen sahen sie die vorgesehenen Arbeitervertretungs- und Schlichtungsorgane als großen Schritt auf dem Wege zu einer vollständigen gesetzlichen Absicherung der Gewerkschaften an.“46

Sowohl der christliche Keramarbeiter- wie auch der christliche Fabrikarbeiterverband konnten ab Frühjahr 1917 ihren Mitgliederbestand wieder deutlich steigern. So erreichte der Keramarbeiterverband 1917 mit 4.000 Neuaufnahmen fast wieder seinen Vorkriegsstand und der Fabrikarbeiterverband erhöhte seine Mitgliederzahl von 4000 auf 9.000. Zum Ende des

46 IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.193f.

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Weltkrieges konnte sich der Keramarbeiterverband wieder auf die inhaltliche Arbeit konzentrieren47 und auch die Unterstützungsleistungen wurden wieder in vollem Umfang gezahlt. Trotz der negativen Erfahrungen mit gewerkschaftsfeindlichen Unternehmern und Kriegsgewinnlern hielten die christlichen Gewerkschaften weiterhin an der Idee der Volksgemeinschaft als einer Kultur- und Schicksalsgemeinschaft fest.

Die Beziehungen zwischen den christlichen und den sozialdemokratisch geprägten freien Gewerkschaften entwickelten sich nach der Revolutionszeit „ ... zu einer Mischung aus pragmatische Kooperation im gewerkschaftlichen Alltag und prinzipieller Abgrenzung im weltanschaulichen Bereich“ 48

KRENNs Auffassung, daß es erst in der Revolutionszeit zu von sozialdemokratischen Gewerkschaftern erzwungenen Übertritten christlicher Gewerkschafter in die Freien Gewerkschaften kam, muß jedoch widersprochen werden. So berichtet die Keram- und Steinarbeiter-Zeitung bereits 1910 von solchen erzwungenen Übertritten: „Wo er (der Porzellanarbeiterverband, d. Verf.) die Macht hat, werden christliche Arbeiter und Familienväter brotlos gemacht, oder gegen ihre Ueberzeugung in den roten Verband gezwungen. (Siehe badische Hafnergewerbe, Hiltrup, Porzellanarbeiterverband in Marktredwitz usf.).“ 49

Zwar hemmten die sozialistischen Kampfmaßnahmen - die in erzwungenen Übertritten, Entlassungen christlicher Gewerkschafter und sogar Überfällen und Mißhandlungen derselben bestanden - insbesondere während der unmittelbaren Nachkriegszeit die Mitgliederentwicklung der christlichen Gewerkschaften in beträchtlichem Maße, doch blieben „... viele katholische Arbeiter, die während der Revolutionszeit in die sozialistischen Organisationen gezwungen worden waren, weiterhin Mitglieder, da sie die wirtschaftlichen Vorteile nicht aufgeben wollten.“ 50

47 In Eingaben und öffentlichen Erklärungen wandte sich der Keramarbeiterverband nun erstmals gegen das Zwischenmeistersystem in der Glasindustrie. 48 KRENN, D.-M. 1991, S.575. 49 Keram- und Steinarbeiter-Zeitung 1910, 6.Jg., H.4, S.174. 50 KRENN, D.-M. 1991, S.576.

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Tab.110: Mitgliederentwicklung Verband christlicher Keramarbeiter51 1901 Zentralverband christlicher Arbeiter und Arbeiterinnen der keramischen Industrie 1908 Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter Jahr Mitglieder 1902 400 1903 600 1904 1.551 1905 3.645 1906 8.022 1907 10.000 1908 5.558 1909 5.934 1910 6.019 1911 6.841 1912 8.219 1913 8.539 1914 3.109 1915 1.616 1916 1.497 1917 4.877 1918 10.898 1919 1 22.263

1 Zusammenschluß mit dem Zentralverband christlicher Fabrik- und Transportarbeiter am 1.1.1920.

4. Gewerkschaftsbewegung bei den oberfränkischen und oberpfälzischen Porzellinern

Als Frühformen gewerkschaftlicher Organisation können die sog. Personalen angesehen werden, die sich aus den spezifischen Arbeitsbedingungen der Porzellanmanufakturen zunächst in Thüringen und Böhmen entwickelten und von dort mit den migrierenden Arbeitern, insbesondere den Malern und Drehern, auch nach Oberfranken gelangten. Diese pflegten ein an Handwerkstraditionen orientiertes Standesbewußtsein, was sich u.a. auch in der Kleidung und speziellen Verhaltensmustern ausdrückte. „So galt dort (bei den Personalen, d. Verf.) das Zahlen eines Einstandes als Zeichen der Aufnahme in das Kollektiv der qualifizierten Arbeiter. Auch bestanden Hilfskassen, in die regelmäßig eingezahlt wurde. Daraus wurde ausgebildeten Arbeitskräften, wenn sie auf Arbeitssuche in die Manufaktur kamen, ein Geldbetrag für die Zehrungs- und Reisekosten gezahlt oder auch Unterstützungen im Fall von Krankheit.“ 52

51 Aus: IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990a, S.631 (Auszug). F. PROBST (1909, S.118) gibt zudem die Zahl der weiblichen Mitglieder der christlichen Gewerkschaft an, die sich von 20 i.J. 1903 auf 367 i.J. 1908 erhöhte, wodurch sich der Prozentsatz der weiblichen Mitgliedschaft bezogen auf die Gesamtmitgliederzahl im genannten Zeitraum mehr als verdoppelte. 52 WURZBACHER, M. et al. 1994, S.126. Hierzu auch: GAUß, R. et al. 1986, S.53ff.

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Das Statut des Geschirrdreherpersonals der Firma Rosenthal aus dem Jahre 1911 beschreibt den Zweck des Personals wie folgt: „ ... das kollegialische Gefühl zu heben und die Zusammengehörigkeit im Geschäft zu pflegen, sowie bei Preisangelegenheiten und sonstigen Streitigkeiten als erste Instanz zu fungieren.“53

Dabei wurde besonderer Wert auf eine Anbindung an die Gewerkschaft gelegt: „Jeder neu eintretende Kollege ist verpflichtet dem Personal beizutreten, jedoch ist Bedingung, daß derselbe einem Verband angehört, worüber Nachweis beim Vorstand zu erbringen ist, wenn selbiges nicht der Fall ist, so liegt ihm die Verpflichtung ob, seinen beitritt zum Berliner Verband 54 zu bestätigen, letzeres gilt besonders für neu ausgelernte Kollegen.“55

Ähnliche Bestimmungen finden sich bspw. in den Malerpersonalstatuten der Fa. Zeh, Scherzer & Co. in Rehau au den 1890er Jahren.56 Zur Durchsetzung der Forderungen der Maler und Dreher bestanden somit als Interessenvertretung innerhalb einer Porzellanfabrik die Personalen und außerhalb die überbetrieblichen Gewerkschaften, wobei die Mitgliedschaft in der zur damaligen Zeit noch relativ schwachen Gewerkschaft ab etwa 1913 zur Grundbedingung für eine Aufnahme in die Personale wurde. Dies wird auch daran deutlich, daß an den Sitzungen der Personale später meist auch der örtliche Zahlstellenleiter der Gewerkschaft teilnahm, wie es beim Malerpersonal in Arzberg üblich war. Aufgabe dieser im übrigen durch Vorstand, Schriftführer und Ausschüsse stringent organisierten Malerpersonale war die Festlegung von Akkordstückpreisen und die Erörterung anderer wichtiger Abteilungsangelegenheiten. Zu diesem Zweck fanden regelmäßige Treffen in örtlichen Lokalen statt, um der Kontrolle durch den Betrieb zu entgehen. Hierbei wurden die Ergebnisse dann dem Obermaler vorgetragen, der anfänglich dem Personal angehörte und tw. sogar als deren Vorstand fungierte.57

Die Einrichtung von Gemeinschaftskassen, in die regelmäßig ein festgelegter Betrag eingezahlt wurde, wovon dann bei Jubiläen, Todesfällen oder anderen Fällen Unterstützungen gezahlt wurden, erinnert an die Ursprünge „organisierter Selbsthilfe des Manufakturproletariats“.58 Gleiches gilt für die Krankenunterstützungskassen wie sie z.B. vom Malerpersonal der PF Bareuther in Waldsassen gegründet wurden. Zur Stärkung des

53 Rosenthal Archiv Selb: Protokollbuch des Dreher Personals der Firma Ph. Rosenthal & Comp. 54 Gemeint ist hier der Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter. 55 Rosenthal Archiv Selb: Protokollbuch des Dreher Personals der Firma Ph. Rosenthal & Comp. §1. 56 Vgl. Archiv der IG Chemie-Papier-Keramik, Hannover: Protokollbuch des Malerpersonals von Zeh, Scherzer & Co. zu Rehau, 1888-1908. 57 Vgl. ebd. 58 GAUß, R. et al. 1986, S.53.

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Standesbewußtseins und des kollegialen Miteinanders innerhalb einer Abteilung fanden insbesondere in den 1920er Jahren häufig gesellige Veranstaltungen statt.59 Einen Einblick in die Tätigkeit einer Personale liefern Protokollbücher resp. die darin enthaltenen Statuten: „§1: Sämtliche ausgelernte Maler der Fa. Zeh, Scherzer zu Rehau bilden ein Personal. §2: Jeder neu aufgenommene Kollege muß eine mindestens vierjährige Lehrzeit absolviert haben. Ebenso ein Freisprechgeld von 30 Mark binnen sechs Wochen entrichten, einen guten Leumund besitzen und eine gute Führung als Lehrling gegen Kollegen sich befleißigt haben. §3: Jeder neu eintretende Kollege muß im Besitze eines den Anforderungen genügenden Personalzeugnisses sein. Derselbe hat sodann einen Einstand von vier Mark binnen fünf Wochen an den Personalkassier zu entrichten. ... §5: Jeder Kollege, welche obige Pflichten nicht nachgekommen ist, kann die Rechte des Personals so lange nicht geniessen, bis derselbe seine Obliegenheiten geregelt hat. §6: Jeder neueintretende Maler, welcher gefälschte Zeugnisse aufweist, hat eine Strafe, deren Höhe das Personal bestimmt, zu entrichten und muß sämtliche Wochenbeiträge von dem Tage des Anfanges des letzten Arbeitsplatzes á 10 Pf pro Woche nachzahlen. Ebenso obliegen Einstand von vier Mark binnen fünf Wochen. Aller Umgang der Kollegen mit demselben ist solange verboten, bis die Schuld des Betreffenden gesühnt ist durch vollständige Zahlung. §7: Jeder Umgang ausgelernter Maler mit Lehrlingen ist untersagt und ist jeder Fall mit einer Mark zu bestrafen, welcher Betrag in die Personalkasse fließt. §8: Jeder Lehrling, welcher in seiner Lehrzeit durch sein schlechtes Betragen in moralischer und sonstiger Beziehung sich hauptsächlich gegen ausgelernte Maler vergeht, soll bei seinem Auslernen auf einige Zeit von der Aufnahme in das Personal ausgeschlossen werden. Es kann aber auch auf Geldstrafe bis zehn Mark erkannt werden durch Personalversammlung. §9: Jeder Kollege ist verpflichtet, gegen andere sich stets eine guten und höflichen Betragens zu befleißigen. §10: Streitigkeiten unter Kollegen regelt die gesamte Vorstandschaft und hat sich innerhalb des Personals jeder derselben dem Ausspruch der Vorstandschaft zu fügen. Dieselbe kann auch bei Schlägereien und groben Vergehen auf eine Geldstrafe bis zehn Mark erkennen. ... §14: Wenn ein Mitglied des Personals die Versammlung nicht besucht, resp. wenn der Wegbleibende von der Versammlung keinen trifftigen (sic) Entschuldigungsgrund anzugeben hat, ... mit 25 Pf bestraft. §15: Sämtliche Einstands-, Freisprech-, Straf- und sonstige Gelder fließen in die Personalkasse und der Überschuß wird bei Jahreswechsel, je nach Eintrittstage an die Kollegen verteilt. Sollte vor der bestimmten Zeit ein Kollege ausscheiden, so kann er seinen Teil der auf ihn fällt beanspruchen. §16: Jeder neu ausgelernte Maler hat an dem Tage seine Freisprechens, bei welchem ein gemütlicher Abend veranstaltet wird, Essen und Trinken frei ebenso ein Angehöriger und ist jeder Kollege verpflichtet, an dem Abend teilzunehmen. §17: In der Personalkasse muß ein beständiger Fond von 15 Mark vorhanden sein. ... §19: Jedes Jahr, und zwar im Monat August, findet ein gemütlicher Tag unter dem Personale statt, und werden hierzu 20 Mark aus der Personalkasse bewilligt, für weitere Ausgaben hat jeder Kollege selbst Sorge zu tragen. ... §23: Ausschlüsse aus dem Personal werden nur von der Personalversammlung verfügt und werden öffentlich in den Fachblättern bekannt gegeben, und dem Verband zur Darnachachtung angezeigt.“60

Anhand dieser Statuten lassen sich zwei Merkmale besonders erkennen, die im übrigen auf alle Personalen zutrafen: Innerhalb der Personale bestand eine strenge Hierarchie zwischen ausgelernten Malern und Lehrlingen, nach außen demonstrierte die Personale eine in sich

59 Vgl. AB, Anl.76: Einladung zu einer Veranstaltung durch das Druckerpersonal der PF Zeidler & Co. 60 Archiv der IG Chemie-Papier-Keramik, Hannover: Protokollbuch des Malerpersonals von Zeh, Scherzer & Co. zu Rehau, 1888-1908. Statut vom 14.7.1891.

611 geschlossene, disziplinierte und dadurch durchsetzungsfähige Organisation. Die Personalen setzten sich innerhalb der Porzellanfabriken für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder ein. So forderte ein i.J. 1900 ein Mitglied des Malerpersonals der PF Zeh & Scherzer die „Abschaffung des Lichtgeldes“61, während i.J. 1911 das Dreherpersonal der PF Rosenthal die „Abschaffung der Masseprozente“, mit denen die Schlickerträger bezahlt wurden, postulierte und sich über die mangelhaften hygienischen Zustände beschwerte: „ ... alle 14 Tage waschen (der Arbeitsräume, d. Verf.) und Kehren mit Sägespänen, Reinigen der Fenster sowie Instandhalten derselben ... sowie Überlassung eines zweiten Abortes.“ 62

Um den Forderungen des Personals die nötige Unterstützung zu geben, wurde der regelmäßige Besuch der Personalversammlungen angemahnt, weshalb der Vorstand an die Mitglieder appellierte, „ aufs zahlreichste zu erscheinen“ da „... eine Einigkeit unter allen Umständen Notwendigkeit sei“63, und „... nur durch einiges Zusammengehen ... sich der Stolz des Personals heben ...“64 könne. Da auch diese Appelle nicht den gewünschten Erfolg zeitigten, wurden Strafgelder eingeführt: „Bei Wünschen und Anträgen stellte Kollege R. den Antrag, daß wenn einer unentschuldigt den Versammlungen fernbleibt 50 Mark Strafe zu bezahlen hat.“65

Zunächste stellte sich das Verhältnis der Personalen gegenüber Parteien und Gewerkschaften noch als wenig konstruktiv dar, da man „ ... in einer politischen Richtung ... durchaus nichts Gutes und dem Verband förderliches ...“66 erkannte und folglich noch 1906 einen Antrag auf Ausschluß der nicht im Porzellanarbeiterverband organisierten Mitglieder ablehnte.67 Erst während des Streiks von 1912 solidarisierten sich die Mitglieder der Personalen und standen einmütig zum Porzellanarbeiterverband und den Forderungen der streikenden Kollegen. Im gleichen Jahr sammelte ein Geschirrdreherpersonal für die ausgesperrten Isolatorendreher und kam einstimmig der Aufforderung nach „ ... betreffs Hausagitation und Adressvermittlung mitzuwirken.“68 Im Jahre 1913 hatte sich die Einstellung der Personalen den Gewerkschaften und Arbeiterparteien gegenüber dahingehend grundlegend geändert, daß man sich mit den Zielen

61 1888-1908. Eintrag vom 10.9.1900. Vgl. S.462. 62 Rosenthal-Archiv Selb: Protokollbuch Dreherpersonal 1904-1914, Eintrag vom 18.2.1911. 63 Ebd., Eintrag vom 15.4.1905. 64 Ebd., Eintag vom 27.3.1908. 65 Ebd., Eintrag vom 9.5.1912. 66 Archiv der IG Chemie-Papier-Keramik, Hannover: Protokollbuch des Malerpersonals von Zeh, Scherzer & Co. zu Rehau, 1888-1908. Eintrag vom 15.8.1891. 67 Ebd., Eintrag vom 29.1.1906. 68 Rosenthal-Archiv Selb: Protokollbuch Dreherpersonal 1904-1914, Eintrag vom 31.8.1912.

612 derselben identifizierte und diese offensiv vertrat. Diese neue Haltung wurde auch äußerlich durch die neue Anrede „Genosse“ statt wie bisher „Kollege“ deutlich.69

Der allmähliche Bedeutungsverlust der Personalen hatte bei den einzelnen Organisationen unterschiedliche Ursachen: Während die Malerarbeit in den Betrieben immer mehr zurückging, wurden bei den Dreher zunehmend Maschinen eingesetzt sowie die gelernten Dreher durch an- und ungelernte Arbeitskräfte ersetzt; bei den Brennern hingegen erschwerte die Menge der unterschiedlichen (und unterschiedlich bezahlten) Einzeltätigkeiten den Erhalt der Personalen. Zusammenfassend ist jedoch zu sagen, daß „das Personal es den Facharbeitern (erleichterte), ihre angesehene Stellung über einen langen Zeitraum zu erhalten. In der Auseinandersetzung mit dem Unternehmer verschaffte es zusätzlich zur Gewerkschaft Rückhalt.“ 70

Im Gegensatz zu Personalen, die nur Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe organisierten, gehörten einem Arbeiterausschuß alle Beschäftigten einer Porzellanfabrik an. Während sich die Personalen mit großem Engagement der Verbesserung der Arbeitssituation der jeweiligen Berufssparte widmeten und dabei sukzessive die Bedeutung der Gewerkschaften und politischen Parteien anerkannte und diese fortan unterstützten, läßt sich bei den Arbeiterausschüssen nichts Vergleichbares erkennen. Diese, aus unterschiedlichen, mithin auch divergierenden und in ihren Zielsetzungen widersprüchlichen Berufsgruppen zusammengesetzten Organisationen, deren Zweck in der Vertretung der Interessen aller Arbeiter bestand, konnten diesen Zweck tatsächlich nur scheinbar erfüllen. De facto erwiesen sie sich als willfähriges Kontrollinstrument des Unternehmers über die Arbeiterschaft; deren Einrichtung daher seitens der Arbeitgeber stark gefördert wurde. Daß die Arbeiterausschüsse nicht oder jedenfalls kaum bestrebt waren, die Arbeitsbedingungen der Arbeiter zu verbessern, läßt sich anhand des Protokollbuches des Arbeiterausschusses der PF Hutschenreuther in Hohenberg erkennen, das lediglich ein Strafenverzeichnis bei Vergehen gegen die Fabrikordnung darstellt: „Vor den Arbeiterausschuß wurden geladen die Druckereiarbeiter Chr. K. und J. G., nachdem zur Kenntnis kam, daß G. dem K. während der Arbeitszeit ... einen Porzellanteller an den Kopf warf, so daß dieser erheblich verletzt wurde. Nach Anhören beider Beteiligter wird folgendes konstatiert: ... In Anbetracht des Vergehens gegen die Arbeitsordnung und des Verhaltens dieser jungen Leute zueinander wird für k. eine Strafe nach §13,2 und für G. nach §13,8 und für beide im Wiederholungsfall oder sonstigen Verstoß gegen die Arbeitsordnung sofortige Entlassung beantragt. Notiert im Strafenbuch mit einer Mark.“ 71

69 Rosenthal-Archiv Selb: Protokollbuch Dreherpersonal 1904-1914, Eintrag vom 28.2.1913. 70 WURZBACHER, M. et al. 1994, S.133. 71 Hutschenreuther-Archiv Selb, Protokollbuch Arbeiterausschuß Fa. C.M. Hutschenreuther 1892-1914. Eintrag vom 23.12.1898.

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Oberfranken In einer Meldung des Magistrates der Stadt Arzberg ist als Gründungsdatum des„Ortsgewerks-Vereins der Porzellan, Glas- und verwandten Arbeiter“ das Jahr 1885 angegeben, die Zahl der Mitglieder mit 87. Die Ameise berichtet am 12. März 1888 von der Gründung in Arzberg und gibt für dieses Jahr 15 Mitglieder an. Der Verein löste sich jedoch bereits Ende 1888 wieder auf, da er nur noch 3 Mitglieder besaß; die Neugründung erfolgte am 15. Februar 1889.72

Hauptaufgabe des am 1. Februar 1903 gegründeten „Gewerkschaftskartells für Kronach und Umgebung“73 war die Auskunftserteilung in allen Fragen der Sozialgesetzgebung. Hierzu zählten lt. einer Annonce in der Kronacher Zeitung „Fränkischer Wald“ „... Mieter und Vermieter, Kranken-, Unfall-, Invaliditäts-, Altersversicherung und Gewerbeordnung; Klagen, Anträge, Beschwerden, Einsprüche, Berufungs- und Revisionsschriften in Civil- und Strafprozeßsachen; Eingaben und Gesuche in Militär-, Verwaltungs-, Polizei-, Steuer-, Gewerbe-, Heimats- und Bürgerrechtsangelegenheiten sowie Beilegung und Regelung von Differenzen bei Lohnstreitigkeiten.“74

Die Unternehmer im Kronacher Raum versuchten mit Repressalien wie 20 - 40%igen Akkordlohnreduzierungen sowie befristeten Fabrikschließungen gegen das in der Gewerbeordnung garantierte Koalitionsrecht und damit gegen die Gewerkschaften vorzugehen. Über einen besonders eklatanten Fall berichtete der erste Arbeitersekretär des Gewerkschaftskartells Kronach, SEELMANN: „Im Dezember 1904 gab es bei der Firma Schönau u. Hoffmeister in Burggrub (Porzellanfabrik) Lohndifferenzen. Die Verhandlungen blieben erfolglos. Die Arbeiter traten in den Streik.75 Wer sitzen geblieben ist, erhält als Weihnachtsgeschenk die 25prozentige Lohnreduzierung. Im Ganzen kamen 28 Männlein und Weiblein in Betracht, welche Streikbrecher spielten, die allesamt aus dem katholischen Neukenroth stammten. Die Streikleitung sprach bei dem damaligen Pfarrer Koch vor und nach Anhörung der Verhältnisse gab Koch seiner Empörung Ausdruck über den Fabrikanten sowohl, als auch über seine Pfarrkinder und versprach, diese streng ins Gebet zu nehmen. Da aber die Streikbrecher weiter gearbeitet haben, ja aus dem katholischen Wilhemsthal ganze Trupps Burschen und Mädchen in der Porzellanfabrik in Burggrub die Arbeit aufgenommen haben, war es den Streikenden klar, daß die Herren Geistlichen dieser beiden Orte damit einverstanden gewesen sind. Und wie waren die damaligen Verhältnisse in dieser Fabrik? Da der Betrieb vom Wohnort der

72 Vgl. i.e. StA Arzberg, Act No.43. 73 Hierzu zählten insbesondere Teuschnitz, Lichtenfels, Weismain und Stadtsteinach. 74 Fränkischer Wald vom 2.2.1903. 75 Mit einer am 26.bJanuar 1905 im „Fränkischen Wald“ erschienenen Anzeige versuchten die Arbeiter - letztlich ohne Erfolg - sich gegen Streikbrecher zu wehren: „Da die Ausschneider, Gießer und Gießerinnen der Porzellanfabrik Burggrub wegen Ablehnung bedeutender Lohnreduzierungen ausgesperrt sind und fast alle sonst in Betracht kommenden Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik gekündigt haben, so bitten wir alle Kollegen und Kolleginnen, überhaupt alle Arbeiter und Arbeiterinnen, insbesondere auch die Eltern von minderjährigen Arbeitern und Arbeiterinnen, den Zuzug von Arbeitskräften jeder Art von Burggrub so lange fernzuhalten, bis unserseits die Differenzen als beendet erklärt werden.Die in den Abwehrkampf gedrängten Arbeiter und Arbeiterinnen der Porzellanfabrik Burggrub.“

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Streikbrecher zu weit entfernt war, kam Stroh auf die Fabrikböden und dort wurden die Burschen und Mädchen zusammen jede Nacht untergebracht. Die Arbeitszeit dauerte täglich 10 Stunden, da aber der Verdienst recht niedrig gewesen ist, sagte der damalige Betriebsleiter Maché: `Arbeitet länger!` Und das ließen sich die Wilhelmthaler und Neukenrother nicht zweimal sagen. Es wurden täglich 13, 14 und 15 Stunden gearbeitet. Montag bis Samstag, dann wurde ein zweistündiger Marsch angetreten, bis diese armen Menschen nach W. gelangten. Eine Familie hauste mit ihren 4 Kindern und 5 Kostgängern in zwei kleinen Räumen (12 Personen); Alt wie Jung beiderlei Geschlechts und die 5 Kostgänger dazu. Der strenge Pfarrer Leisner von Wilhemsthal wußte dieses und ließ es geschehen.- Der Streik selbst war für die Aufrechtstehenden verloren und mußte nach 18wöchiger Dauer abgeblasen werden.“76

37 Flugblatt des Porzellanarbeiterverbandes vom Januar 1905 zur Aussperrung in der PF Burggrub77

76 Bericht J. SEELMANN von März 1928. In: IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990c, S.15. 77 Aus: IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1990c, S.16.

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Nach diesen zwei Einzelbeispielen soll die Entwicklung in der für die Porzellanindustrie bedeutendsten Stadt Selb etwas näher untersucht werden. In Selb entstand 1869/70 ein Ortsverein des „Gewerkvereins der Porzellan- und Glasarbeiter“, der mit Forderungen nach ausreichendem Lohn, Invaliditätsversicherung, Abschaffung von Nacht-, Sonntags- und Kinderarbeit liberale Zielsetzungen verfolgte. Die zu Beginn der 1890er Jahre in Selb gegründete Zahlstelle des „Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter“ konnte in den Anfangsjahren nur relativ wenig Porzellanarbeiter organisieren. Somit existierten vor der Jahrhundertwende im Bereich des BA Rehau mindestens zwei gewerkschaftliche Organisationen der Porzellanarbeiter: Der Ortsverband Hirsch-Dunckerscher Richtung und der freigewerkschaftliche Porzellanarbeiterverband.

Der geringe Organisationsgrad sowie strukturelle Ungunstfaktoren wie schwere Organisierbarkeit der ungelernten Arbeiter, hoher Anteil an weiblichen Arbeitskräften sowie große Fluktuationsraten programmierten Mißerfolge bei den ersten Arbeitskämpfen vor.78 Eine Anmerkung in der OVZ, die damit auf Entlassungen bei einer Rehauer Porzellanfabrik reagierte, wo allen Drehern und Malern im Jahre 1900 aufgrund von Kohleknappheit gekündigt worden war, verdeutlicht indirekt den zu dieser Zeit hohen Anteil nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeiter in der Porzellanindustrie: „Leider haben sich gerade unter jenen Arbeitern (Dreher und Maler, d.Verf.) bislang immer noch welche gefunden, welche glaubten, vor den Proletariern etwas vorauszuhaben.“79

Hinzu kam die Konkurrenz der durch die PF Hutschenreuther protegierten liberalen Gewerkschaft, des sog. „Selber Verbandes“, der mit seinen 300 Mitgliedern (1907) gegenüber 771 im Porzellanarbeiterverband organisierten Arbeitern zumindest bis 1910 einen ernstzunehmenden Konkurrenten darstellte. Die OVZ bemerkte bzgl. dieser Hemmnisse: „Ist doch das industrielle Selb ein Ort, in welchem die Unternehmer noch unbeschränkt ihre Herrschaft über die Arbeiter ausüben können. Und leider ist es Tatsache, daß die Arbeiter in Selb den größten Teil ihrer Unterdrückung selbst verschulden dadurch, daß sie die Bestrebungen der Freien Gewerkschaften in ganz ungenügender Weise unterstützen.80

Die Mitgliederzahlen im Porzellanarbeiterverband stagnierten denn auch bis 1909, was zu vielfachen Anlaß gab, sich über die Passivität der Arbeiter zu beklagen. Auch eine von der Gewerkschaft gewährte Umzugsunterstützung bei Arbeitsplatzverlust wegen Kündigung

78 Hierzu MACHT, R. 1989, S.140f. und BALD, A. 1991, S.59f. 79 OVZ vom 17.3.1900. 80 OVZ vom 6.5.1908.

616 konnte die Arbeiter nicht dazu bewegen, der Gewerkschaft in größerer Zahl beizutreten; vielmehr reagierten diese auf die angebotene Unterstützung mit dem Bemerken: „Wir gehen nicht von hier fort, infolgedessen brauchen wir keine Unterstützung.“81 Daß die Forderung der 1901 in Rehau bzw. 1906 in Selb entstandenen Gewerkschaftskartelle82 nach Gewerbegerichten, die ab 1904 auch in ländlichen Regionen mit überwiegender Arbeiterbevölkerung eingerichtet werden konnten, zunächst (1906) am Widerstand von Behörden und Unternehmern scheiterte,83 trug ebenfalls nicht zu einer Steigerung der Mitgliederzahlen bei. Angesichts der zu dieser Zeit verhältnismäßig schwachen Position der Gewerkschaften ist es nicht verwunderlich, daß Tarifverträge, wie sie bspw. für die Granitindustrie schon in einigen Fällen bestanden, für die Porzellanindustrie als Branche mit dem größten Arbeiteranteil im Fichtelgebirge noch nicht existierten. Auch ein 1906 vom Porzellanarbeiterverband vorgeschlagener Reichstarifvertag wurde von den Unternehmern ignoriert, was einen zeitgenössischen Beobachter zu der Bemerkung veranlaßte, die Gewerkschaftsinitiative sei „... um so kühner, als die Organisation noch sehr wenig aktionsfähig war.“ 84 Ebenfalls in das Jahre 1906 fallen die erfolglosen Verhandlungen mit dem Hirsch- Dunckerschen Gewerkverein in Selb über einen Zusammenschluß.85 Die beiden ersten Streiks im Bereich des BA Rehau fanden 1906 bzw. 1908 in zwei Rehauer Porzellanfabriken statt und endeten jeweils mit einem Mißerfolg.86

Der bis 1907 erreichte relativ niedrige Organisationsgrad von 18,1% von 4.300 Porzellanarbeitern im BA Rehau bedeutete, daß lediglich jeder fünfte Porzellanarbeiter Gewerkschaftmitglied war.87 Zu den Ursachen sei nochmals angemerkt, daß der niedrige Organisationsgrad auf folgende Faktoren zurückzuführen war: - Der in der Porzellanindustrie bestehende hohe Anteil un- bzw. angelernter Arbeiter verringerte die Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

81 OVZ vom 27.2.1906. 82 Zu Rehau: OVZ vom 6.7.1901. Zu Selb: JFI 1906, S.125. 83 Vgl. OVZ vom 31.1.1906. 84 Zit. nach KÜGEMANN, R. 1931, S.23. 85 Vgl. OVZ vom 22.5.1906. 86 STA Bamberg K 18, X 128/2a. Die Ursachen für diese beiden Streiks – Entlassung eines unorganisierten Arbeiters bzw. Kündigung eines Arbeiters wg. „ungezogenen“ Benehmens – lassen vermuten, daß es der Gewerkschaft hier weniger um konkrete Ziele wie Lohnerhöhungen oder Verbesserungen der Arbeitsbedingungen als vielmehr um einen ersten Test für die Durchsetzung von Streiks überhaupt ging. 87 Hierzu: HIRSCHFELD, P. 1908, S.129.

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- Die hohe Quote an weiblichen Arbeitskräften - insbesondere unter den weniger qualifizierten Arbeitern - , die „so gut als gar nicht organisiert sind“88 erwies sich ebenfalls als Hemmnis. So wiesen die beiden Rehauer Porzellanfabriken, die 1911 einen Anteil von über 50% weiblichen Arbeitskräften hatten, den niedrigsten Organisationgrad im gesamten BA Rehau auf.89 - Die starke Differenzierung hinsichtlich der einzelnen Tätigkeiten in der Porzellanindustrie schwächte die Solidarität innerhalb der Porzellanarbeiterschaft. - Die hohe Mobilität innerhalb der porzellanindustriellen Arbeiterschaft, vice versa die starken Zuwanderungsbewegungen erwiesen sich ebenfalls als ungünstig für eine gewerkschaftliche Orientierung, da nach SCHÖNHOVEN hierfür eine längere Seßhaftigkeit an einem Ort unabdingbare Voraussetzung ist.90 - Der von den Unternehmern geförderte liberale Gewerkverein hielt viele Arbeiter davon ab, dem bei den Arbeitgebern mißliebigen freigewerkschaftlichen Porzellanarbeiterverband beizutreten.

Von den nachfolgenden Jahren der Hochkonjunktur (1910 – 1913) konnte der sozialdemokratisch orientierte Porzellanarbeiterverband auf zwei Arten profitieren: Zunächst wurde im Jahre 1908 im nahegelegenen Marktredwitz ein Gewerkschaftssekretariat errichtet und weiter wuchsen 1911 mit den zugewanderten Arbeitern auch die Mitgliederzahlen des Verbandes in Selb von 350 auf ca. 1.000. Nun war die Reaktion der OVZ geradezu euphorisch: „Es ist nicht zuviel gesagt, daß Selb noch große Kämpfe in seinen Mauern sehen wird, die zwischen Kapital und Arbeit ausgefochten werden. Für die Porzellanarbeiterschaft von Oberfranken und der Oberpfalz, ja ganz Deutschlands, wird einst Selb der Maßstab für die Entwicklung unserer Organisation und unserer Kämpfe sein.91

Beim Streik von 1912 und der anschließenden reichsweiten Aussperrung aller, also auch der unorganisierten Porzellanarbeiter gelang es den Unternehmern in Selb nicht, die Produktion aufrechtzuerhalten, da sich nur etwa 15% der etwa 3.000 Arbeiter arbeitswillig zeigten, was letztlich auf den bis dahin erreichten hohen Organisationsgrad von 53,2% zurückzuführen war.92 Über die Gründe hierfür lassen sich nur Mutmaßungen anstellen: In einem Porzellangroßbetrieb waren aufgrund der überwiegend manuellen Produktionsweise

88 OVZ vom 3.7.1908. 89 Vgl. STA Bamberg, K 18 X 128/1. 90 SCHÖNHOVEN, K. 1987, S.79. 91 OVZ vom 29.6.1911. 92 Vgl. STA Bamberg, K 18/1 1555.

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Isolierung und Anonymität möglicherweise weniger gegeben als in einer weitgehend mechanisierten Industrie wie bspw. der Textilindustrie Hofs; 93 auch könnte eine gewisse Kleinstadt-Konformität maßgeblich zum hohen Organisationsgrad beigetragen haben. Von der reichsweiten Aussperrung waren im Bezirk des BA Rehau rd. 3.700 Arbeiter betroffen94 In Selb waren von ca. 3.000 Arbeitern rd. 450 bereit, die Arbeit wieder aufzunehmen. Diese verteilten sich auf die einzelnen Porzellanfabriken wie folgt:95 Hutschenreuther, Abt. A 80 männliche, 57 weibliche Arbeiter Hutschenreuther, Abt. B 15 männliche, 52 weibliche Arbeiter Rosenthal 50 männliche, 100 weibliche Arbeiter Müller 22 männliche, 17 weibliche Arbeiter Heinrich u. Co. 24 männliche, 8 weibliche Arbeiter Krautheim 6 männliche, 6 weibliche Arbeiter Gräf u. Krippner 1 männlicher, 6 weibliche Arbeiter Lorenz u. Frabe ---- 2 weibliche Arbeiter Rieder ------Arbeiter

Bei den Arbeitswilligen handelte es sich zum Großteil um ungelernte bzw. Hilfsarbeiter sowie Lehrlinge, junge Mädchen und ältere Frauen. Die ausgebildeten Arbeiter blieben in ihrer Mehrzahl der Arbeit fern96 und gingen nicht auf die von den Unternehmern angebotene Wiederaufnahme der Arbeit bei vollem Lohnausgleich, jedoch Austritt aus dem Verband der Porzellanarbeiter ein.

Ausgehend von einem lokalen Streik in der Isolatorenfabrik Teltow, bei dem die organisierten Isolatorendreher streikten, als eine Verhandlungskommission der Arbeiter wegen Lohndifferenzen entlassen werden sollte, weitete sich der Streik zunächst auf ein zweites Werk des Unternehmens aus.97 Dort waren vom Unternehmer Streikbrecher angeworben worden, die als ungelernte Arbeitskräfte jedoch nicht die hochqualifizierte Arbeit der Isolatorendreher ersetzen konnten. „Andererseits stand aber fest, daß das dortige Streikbrechermaterial alles andere als eine brauchbaren Isolator herstellen kann. ... uns wurde in letzter zeit zur Gewißheit, daß trotzdem

93 Hierzu: BALD, A. Gewerkschaften und Arbeiterparteien der nordostoberfränkischen Industriestädte Hof und Selb im ersten Drittel des 20. Jahrhundert. In: EIBER, L. et al. (Hg.) 1997, S.85f. 94 Vgl. STA Bamberg, K 18 X 128/2a sowie Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands 1912, 22.Jg., SS.137f., 154f., 170,, 182f., 194f. 95 Nach OVZ vom 9.3.1912. 96 Unter diesen befanden sich auch etliche christlich organisierte Arbeiter, welche die Weisungen ihres Verbandes nicht befolgten und die Arbeit nicht wiederaufnahmen: „... daß auch christlich organisierte Arbeiter ihren Arbeitsbrüdern nicht in den Rücken gefallen sind, sie haben eben auf den Beschluß der christlichen Leitung gepfiffen, ihre persönliche Ehre stand ihnen höher als der Profit der Unternehmer.“ (STB vom 6.3.1912) 97 Hierzu AB, Anl. 77: Artikel in der Ameise.

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Lieferungen für Schomburg und Söhne weiter übernommen und auch ausgeführt wurden. ... Mit den Arbeitskräften der übrigen Fabriken des Isolatorensyndikats hätte man die Lieferbedingungen für Schomburg u. Söhne aufrechterhalten und die dort streikenden Kollegen weißbluten lassen, um in nicht allzu ferner Zeit dasselbe umgekehrt zu machen. Der Selbsterhaltungstrieb veranlaßte daraufhin die Isolatorenarbeiter der übrigen dem Syndikat angeschlossenen Fabriken, ihre Kündigung einzureichen. Die Kollegen waren zur Notwehr gezwungen, sie waren von dem organisierten Unternehmertum angegriffen. Und nun trete der Mann vor die Öffentlichkeit, der angesichts dieser Tatsachen noch zu behaupten wagt,, die Arbeiter haben durch ihre frivole Herausforderung sämtliche Arbeitgeber gezwungen, die Aussperrung vorzunehmen. ... Wie kommt man in Fabrikantenkreisen zu der Behauptung, dem Kampfe der Isolatorendreher liege eine Lohn- und Arbeitszeitverkürzungs- Forderung zu Grunde. Das ist ebenfalls nicht wahr. Wie kommt man zu der Angabe, daß die Isolatorendreher pro Tag 12 Mark verdienen. Man bringe uns einen Isolatorendreher, der jährlich 3600 Mk. verdient, mit dem machen wir ein Museum auf. “ 98

Der vom Unternehmer eingeschaltete Verband Elektrotechnischer Porzellanfabriken verteilte die Aufträge an andere Mitgliedsfirmen, woraufhin der Porzellanarbeiterverband auch diese Firmen bestreikte. Dies führte in Selb dazu, daß am 25. Januar 1912 113 Isolatorendreher der PF Rosenthal die Arbeit niederlegten. Da jedoch zwei Unternehmen des Verbandes der Isolatorenfabrikanten, nämlich ein Rosenthal-Werk in Halle und ein Werk der PF Kahla in Hersmdorf, gleichzeitig mit ihrer Geschirrproduktion dem „Schutzverein deutscher Porzellanfabrikanten“ als Unternehmerverband der Geschirrproduzenten angehörten, benutzten die Unternehmer diese Doppelmitgliedschaft als willkommene Gelegenheit, um den Konflikt von den gut organisierten Isolatorendrehern auf die reichsweit schlechter organisierten Arbeiter der Geschirrporzellanbranche auszuweiten. „Wie kommen aber die Unternehmer der Geschirrbranche dazu, die mit dem Isolatorensyndikat gar nichts zu tun haben, ihre Arbeiter auszusperren? Der nichtsahnende, die Entwicklung nicht verfolgende Arbeiter steht vor einem Rätsel. Uns war es schon längst klar, daß das Unternehmertum diesen Angriff auf uns plant. Die Aussperrung beschäftigt die Unternehmer seit geraumer Zeit, sie sollte nur einige Monate später vorgenommen werden. Auch in den Unternehmerkreisen der Porzellanindustrie gibt es, wie überall, Scharfmacher. Die Scharfmacher sind die Großen und haben das Bedürfnis, die Kleinen aufzufressen. ... Was uns anbetrifft - nun auf unserer Seite ist das Recht, auf unserer Seite ist die Wahrheit und unsere Mitglieder, auf deren gewerkschaftliche Erziehung wir bauen, die überall mit Enthusiasmus geloben, in diesem heroischen Kampfe auszuharren. Mit diesen drei Faktoren nehmen wir den Kampf auf. “ 99

Daß die Unternehmer diesen Konflikt mit dem Porzellanarbeiterverband suchten und den Ausstand der Isolatorendreher lediglich als Anlaß nahmen, belegt die am 20. Februar 1912 in Hof auf Anregung des Fabrikinspektors für Oberfranken stattgefundene Konferenz.100 Dort wollte der Porzellanarbeiterverband Beweise für Streikarbeit vorlegen und drang aus diesem

98 OVZ vom 11.2.1912. 99 Ebd. 100 Teilnehmer an dieser Konferenz waren auf Unternehmerseite die Herren ZEH (Rehau) und THOMAS (Marktredwitz), beide Inhaber der gleichnamigen Porzellanfabriken sowie auf Arbeitnehmerseite die Herren WOLLMANN und SCHNEIDER vom Porzellanarbeiterverband.

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Grund auf Nachforschungen in den Betrieben. Die Geschirrfabrikanten lehnten dies jedoch mit der Behauptung ab, daß keine Streikarbeit geleistet worden sei und wiesen - formal korrekt, doch wenig evident – darauf hin, daß sie mit dem V.D.E.P. als Interessenvertretung der Elektroporzellanindustrie nicht zu hätten und sie insofern Arbeitskampfmaßnahmen des Porzellanarbeiterverbandes zu Unrecht treffen würden. Daß diese Stellungnahme der Porzellanindustriellen zudem lediglich in einem Telegramm und in geradezu provozierend dürren Worten formuliert wurde, sei nur am Rande vermerkt: „Elektrisches Syndikat steht uns vollständig fern. Uns sind dessen Beschlüsse fremd. Können lediglich versichern, daß unsere Mitglieder Hermsdorf und Rosenthal nachweislich keine Streikarbeit geliefert haben. Schutzverband deutscher Porzellanindustrieller.“101

Da diese Konferenz ebenso wie eine am 9./10. März 1912 in Hof stattgefundene Verständigungsverhandlung zwischen dem Porzellanarbeiterverband und dem Schutzverein deutscher Porzellanfabrikanten102 ergebnislos blieben und der Termin für die Wiederaufnahme der Arbeit durch die Isolatorendreher ergebnislos verstrich, sperrten die Unternehmer am 24. Februar 1912 reichsweit ca. 8.500 Porzellanarbeiter aus;103 davon waren allein im Bereich des BA Rehau 3.718 Arbeiter ( = 44% der Ausgesperrten) betroffen. Auch an dieser Stelle wurde das eigentliche Ziel der Fabrikanten, nämlich die Zerschlagung des Porzellanarbeiterverbandes, deutlich: Den Arbeitern wurde offeriert, bereits nach einer Woche bei Zahlung eines Wochenlohnes wieder arbeiten zu können, wenn sie ein Revers über die Nichtzugehörigkeit zum Verband unterschrieben.104 Daß das Kalkül der Unternehmer zumindest teilweise aufging, belegt die Tatsache, daß der Porzellanarbeiterverband durch die Aussperrung finanziell schwer getroffen wurde und von anderen Verbänden unterstützt werden sowie Extrabeiträge erheben mußte. „Der gegen 16ooo Mitglieder zählende Verband der Porzellanarbeiter steht jetzt vor einem seiner schwersten Kämpfe. Am 24. Februar sperrten die in dem `Schutzverein deutscher Porzellanfabriken` organisierten Unternehmer gegen 8500 Mitglieder des Verbandes aus. ... Aber der Porzellanarbeiterverband wird sich zu wehren wissen. Gewiß bedeutet dieser Kampf eine schwere Belastungsprobe für ihn, aber er wird sich schon durchhauen. Namentlich wenn ihm die Sympathie und Unterstützung der anderen Verbände sicher ist. Wohl wird der Verband bemüht sein, alle seine Kräfte für diesen Kampf anzubieten – und so werden bereits Extrabeiträge in der dreifachen Höhe der ordentlichen Beiträge erhoben -, aber er wird in diesem schweren Ringen nicht ganz der Hilfe anderer Organisationen entsagen können. Mag dieses Ringen ausgehen wie es will: der Verband wird allemal dabei gewinnen. Selbst wenn er unterliegen sollte – was nicht wahrscheinlich ist -, wird aus diesem

101 In: OVZ vom 6.3.1912. 102 Vgl. STA Bamberg K18/1, Nr.1555: Protokoll der Verständigungsverhandlungen. 103 Aussperrung bei der PF Rosenthal in Selb bereits am 22. Februar 1912. 104 Vgl. u.a. OVZ vom 16.2.1912.

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Verlust ein neuer Erfolg entstehen: der stärkere Drang zur baldigen Verschmelzung mit andern Verbänden.“105

Nach Angaben der OVZ vom 12.3.1912 erstreckte sich die Aussperrung der Porzellanarbeiter in Bayern auf die Orte Arzberg, Selb, Selb-Plößberg, Schönwald, Hof-Moschendorf, Marktleuthen, Marktredwitz, Rehau, Tirschenreuth und Kronach; in der thüringischen Porzellanindustrie wurde in den Orten Ilmenau, Gotha, Eisenberg, Blankenhain, Stadtilm, Volkstedt, Uhlstädt, Kloster Veßra (=Veilsdorf), Hermsdorf, Kahla, Katzhütte, Burgau, Meuselwitz und Hüttengrund ausgesperrt; in Sachsen waren die Orte Oberhahndorf, Fraureuth, Freiberg, Schedewitz und Margarethenhütte, in Schlesien Altwasser, Waldenburg und Niedersalzbrunn betroffen, während im übrigen Reichsgebiet noch bei den Porzellanfabriken in Charlottenburg, Teltow, Roßlau, Lettin und Zell (Baden) ausgesperrt wurde.

Obwohl in den größeren Städten des Bezirksamtes die Gendarmerieposten verstärkt und in Bayreuth Soldaten in Bereitschaft gehalten wurden,106 kam es weder zu Ausschreitungen noch zur Auflösung der Streikfront, vielmehr schlossen sich viele Unorganisierte den Ausgesperrten an. Hinzu kam die Homogenität innerhalb der Arbeiterschaft, die bei einem Organisationsgrad von 54,3% im BA - bei den beiden Porzellanfabriken in Schönwald betrug der Anteil der im Porzellanarbeiterbverband Organisierten sogar rd. 75% - hohe Streikbereitschaft und –solidarität gewährleistete.107 Zum Beschluß des Gemeindekollegiums Selb vom 26. Februar 1912 die Gendarmerie zu verstärken und andere Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, berichtet der Polizeikommissär HEIM am 2. März 1912: „Die Verlegung der Gendarmeriemannschaft in den kleinen Rathaussaal ist eine polizeiliche Massnahme aus sicherheitsdienstlichen Gründen. Die Verstärkungsmannschaft der Gendarmerie sollte nach dem Willen der Behörden weder in Wirtschaften noch in Fabrikräumen oder dergleichen untergebracht werden, um Reibereien oder falsche Auslegungen zu verhüten. Die Verteilung derselben in Privatquartieren erschien aus taktischen Gründen nicht tunlich, denn der Zweck der Verstärkung verlangt, dass man die Mannschaft im Bedarfsfalle sofort bei der Hand hat und nicht erst einzeln zusammenrufen muss. ... Die Anordnung, daß die gewöhnliche Halbnachtbeleuchtung während der Aussperrungszeit auf die ganze Nacht ausgedehnt wird, ist ebenfalls eine sicherheitspolizeiliche Massnahme. Die Distriktspolizeibehörde verlangte u.a. in einer Verfügung, dass die an den einzelnen Porzellanfabriken vorbeiführenden Strassenzüge mit Eintritt der Dunkelheit in einer durchaus genügenden Weise beleuchtet werden und demgemäss musste auch die Ortspolizeibehörde die fragliche Anordnung treffen ... Was nun den Karakter (sic!) der verschiedenen Sicherheirtsmassregeln betrifft, so mögen darüber noch einige Bemerkungen gestattet sein, nachdem in der Presse sowohl wie am Biertisch und anderswo verschiedentlich von Provokationen oder doch von unnötigen Vorkehrungen gesprochen worden ist. Dass es sich nicht um Provokationen, sondern lediglich um

105 Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 22.Jg., Nr.9 vom 2.3.1912. 106 Vgl. OVZ vom 12.3.1912. 107 Vgl. STA Bamberg K 18, 1 X 128/2a: Tabelle über die Aussperrung bei den Porzellanfabriken des BA.

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Vorbeugungsmassregeln, und zwar um vollständig angebrachte, im Interesse Aller handelt, dürfte bei einsichtigen Leuten, die sich nur einigermassen Mühe geben, objektiv darüber nachzudenken, wohl keinem Zweifel unterliegen. Die Behörden haben nun einmal die gesetzliche Pflicht, nicht nur strafbare Handlungen zu verfolgen, sondern sie vor allem nach Möglichkeit zu verhüten. Bei Streiks und Aussperrungen kommt es aber erfahrungsgemäss leicht zu Ausschreitungen trotz aller Abmahnungen der Führer. ... Kommen im Laufe der Bewegung keinerlei Ausschreitungen, keinerlei strafbare Handlungen vor, ... dann wird dies zum grössten Teile der vorbeugenden Wirkung der getroffenen Sicherheitsmassregeln zuzuschreiben sein und dann haben sie letzten Endes ihre Aufgabe am besten erfüllt.“108

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang eine Meldung, die im Selber Tagblatt vom 14.2.1912 veröffentlicht wurde und die zeigt, wie gereizt die Stimmung war: „Es gehen uns nachstehende Zeilen mit der Bitte um Aufnahme zu: `Die Aussperrung der Porzellanarbeiter wirft bereits grelle Schatten der zu erwartenden Rohheiten und Ausschreitungen voraus. Ganz unbeteiligte Personen werden jetzt schon auf öffentlicher Straße in gemeinster Weise angepöbelt und mit Schlägen bedroht. Es dürfte gut sein, wenn Polizei und Gendarmerie sich für solche Subjekte in besonderer Weise interessieren würde.` Vorstehende Mitteilung kommt von ganz verlässiger Seite. Wir glauben aber doch, daß die hier gerügten Vorfälle nur eine Ausnahme bilden und vertrauen zu dem Ordnungssinn und der Disziplin unserer Arbeiterschaft, daß sich derartiges nicht wiederholt, sodaß es sich erübrigt, nach Polizei und Gendarmerie zu rufen.“109

Wenngleich die Redaktion des Selber Tagblattes die oben wiedergegebene Meinung eines Lesers mäßigend und beschwichtigend kommentierte - zu fragen bleibt, um wen es sich dabei handelte und welche Absichten damit verfolgt wurden; ob es sich bspw. um einen Unternehmer handelte, der auf diese Weise die Arbeiterschaft, insbesondere die streikwilligen Isolatorendreher in toto in Mißkredit bringen wollte. Insofern sahen sich die Streikenden veranlaßt zu antworten: „Durch Inserat in heutiger Nummer ds. Blattes werden sämtliche ausständige Isolatorenarbeiter bei Ph. Rosenthal aufgefordert, heute abend dreiviertel 7 Uhr in einer Versammlung Stellung zu nehmen zu der Notiz in gestriger Nummer d. Bl. betreffend `Rohheiten und Ausschreitungen`. Es ist notwendig einwandfrei festzustellen, ob derartige Elemente unter den freiorganisierten Porzellanarbeitern vorhanden sind. Es ist also Ehrensache jedes Ausständigen, in dieser Versammlung pünktlich zu erscheinen.“ 110

„Zu dem gestrigen Artikel im Selber Tagblatt möchten wir, Einsender dieses, bemerken, daß, obgleich die betreffende Person vielleicht begründete Furcht vor der nahenden Aussperrung der Porzellanarbeiter zu haben scheint, dieselbe ganz unberechtigt sein dürfte, denn wie die Redaktion am Schlusse des Artikels richtig bemerkte, wird von seiten der Einwohnerschaft Selbs im allgemeinen die Intelligenz der organisierten Porzellanarbeiter anerkannrt und werden es diese wohl kaum sein, welche Grund zu derartigen klagen geben würden, sondern es sind dies in solchen Fällen nur sogenannte Hinzebrüder mit ihren Hintermännern, wie die verschiedenen jüngsten Vorgänge anderorts zeigten. Sollte der betreffende lieber die geharnischte Gewalt auf den Straßen patrouillieren

108 StA Selb, Akt 810.1/3. Ungeachtet der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen wurden in allen Orten Streiks sowie deren Ursachen, beteiligte Personen und Dauer akribisch erfaßt und der übergeordneten Behörde vierteljährlich zugeleitet. Siehe hierzu AB, Anl.78: Nachweisung über einen Streik. 109 STB vom 14.2.1912. 110 STB vom 15.2.1912.

623 sehen, so kann sich derselbe dieses ja gegebenenfalls auf seine eigenen Kosten leisten, wir geben ihm aber auch in diesem Falle den guten Rat, seinen Einfluß an maßgebender Stelle geltend zu machen, damit es nicht zur Aussperrung kommt, er könnte sich dadurch Verdienste um die ganze hiesige Einwohnerschaft erwerben. ... Mehrere Arbeiter.“ 111

Auch in der sozialdemokratisch orientierten Oberfränkischen Volkszeitung wurde die Zeitungsnotiz des Selber Tageblattes kommentiert: „Das Selber Tagblatt gibt ... eine ihm zugegangene Mitteilung wieder, in welcher behauptet wird, daß die kommende Aussperrung grelle Schatten der zu erwartenden Rohheiten und Ausschreitungen bereits vorauswerfen. Es sollen Personen von Arbeitern angepöbelt und mit Schlägen bedroht worden sein. ... Wir wissen zur zeit nicht, ob sich etwas derartiges ereignet hat, oder wenn schon, ob man es dann mit der Aussperrung in Verbindung bringen kann. Dem Einsender möchten wir schon raten, mit seinen Ausführungen etwas vorsichtiger zu sein, aber gegebenenfalls die Namen der beteiligten Personen zu nennen. Die Selber Arbeiterschaft wird, davon sind wir überzeugt, wie immer so auch in diesem ihr von dem Unternehmertum aufgedrängten Kampf ihre Disziplin wahren.“112

Der Stadtmagistrat Selb sah sich dennoch veranlaßt, quasi prophylaktisch folgende Bekanntmachung zu veröffentlichen:

111 STB vom 15.2.1912. 112 OVZ vom 16.2.1912.

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38 Bekanntmachung des Stadtmagistrats Selb bzgl. der Aussperrung113

113 STB vom 27.2.1912.

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39 Versammlungsaufruf anläßlich der Aussperrung in der Porzellanindustrie114

Während sich auch der Hirsch-Dunckersche Verband für den Streik aussprach, „Interessant ist, daß einige Dreher bei Hutschenreuther, Abt. A, die in einem Hirsch-Dunckerschen Verband organisiert sind, sich zur Arbeit begaben, obwohl sie von der Verbandsleitung den Auftrag hatten, fernzubleiben.“ 115 empfahl der christliche Keramarbeiterverband die Wiederaufnahme der Arbeit, weil der Ausstand unbegründet erscheine: „Die gegen den sozialdemokratischen Porzellanarbeiterverband von Seiten des Arbeitgeber- Schutzverbandes gerichtete Maßregel der Aussperrung berührt die Mitglieder des christlichen Verbandes nicht. Die christlich organisierten Arbeiter nehmen daher am 4. März überall die Arbeit auf. ... Es handelt sich bei der gegenwärtigen Aussperrung weder um Angriffe auf das Koalitionsrecht der Arbeiter, noch um Erkämpfung von Vorteilen für die Gesamtheit der Porzellanarbeiter. Die Ursachen der Aussperrung sind vielmehr auf Differenzen zurückzuführen, die sich ausschließlich zwischen dem sozialdemokratischen Porzellanarbeiterverband und einzelnen Unternehmern abspielten. ... Dazu kommt noch, daß der sozialdemokratische Verband von jeher und auch noch während der Aussperrung die christliche Organisation in der schofelsten Weise bekämpft und ihr jede Existenzberechtigung abgesprochen hat. Aus all diesen Gründen lehnen die christlich organisierten Arbeiter ab, am 4. März in den Streik zu treten und sich in die Differenzen zwischen dem sozialdemokratischen verband und den Unternehmern einzumischen.“ 116

Der Porzellanarbeiterverband sah sich daraufhin veranlaßt, in einer Erwiderung auf die Stellungnahme des christlichen Keram- und Steinarbeiterverbandes zu antworten und diesen

114 Marktredwitzer Tagblatt vom 2. März 1912. 115 OVZ vom 6.3.1912. 116 STB vom 4.3.1912. Vgl. auch OVZ vom 6.3.1912.

626 als „Streikbrecherverband“ zu bezeichnen, dessen Mitglieder durch die Wiederaufnahme der Arbeit am 4. März 1912 zu „Verrätern an ihren Arbeitskollegen“ würden: „Wenn die Leitung des betreffenden Verbandes glaubt damit den Streibruch seiner Mitglieder zu rechtfertigen, daß die Aussperrung nur gegen die Mitglieder des sozialdemokratischen Porzellanarbeiterverbandes gerichtet ist, so ist das eben eine recht christliche Auslegung der Tatsachen. Hat die betr. Konferenz in Marktredwitz keine Ahnung, daß auch der Fabrikarbeiterverband, der Steinarbeiterverband und auch noch andere freie Gewerkschaften durch die Aussperrung in Mitleidenschaft gezogen sind? ... Der christliche Keram- und Steinarbeiterverband ist nichts anderes und kann auch gar nichts anderes sein als ein Streikbrecherverband. Die Arbeiterschaft von Selb war sich schon bei Beginn der Aussperrung darüber klar, daß, wenn ein Arbeiter am 4. März die Arbeit aufnimmt, die christlich organisierten Arbeiter zum Verräter an ihren Arbeitskollegen werden. ... Nur so zu, ihr Leiter des angeblich christlichen Verbandes, und bald wird das bißchen Ansehen, das ihr noch von der Arbeiterschaft genossen habt, beim Teufel sein. Wenn der Artikelschreiber von einer schoflen Kampfesweise geschrieben hat, so hat er jedenfalls den Spiegel vor das Gesicht gehalten, und was die Existenzberechtigung anbelangt, so brauchen die freiorganisierten Arbeiter diese nicht abzusprechen. Dieses beweist zur genüge die Leitung des christlichen Verbandes selbst, daß das Unding von einem Arbeiterverband auf die Dauer nicht bestehen kann.“117

Der Streik und die nachfolgende Aussperrung in der Porzellanindustrie hatten insbesondere für die größeren Betriebe der elektrotechnischen Porzellanindustrie in Meuselwitz, Hermsdorf, Margarethenhütte und Selb fühlbare Folgen und führten dort zum fast vollständigen Stillstand der Isolatorenproduktion. Zwar versuchten die Unternehmer durch un- bzw. angelernte Arbeitskräfte die Produktion von Isolatoren aufrecht zu erhalten; dies gelang jedoch nur in äußerst geringem Umfang, da Isolatoren sehr strengen Abnahmebestimmungen unterlagen und ausschließlich von Facharbeitern gefertigt wurden. Die Unterbrechung der Fabrikation von Isolatoren führte damit nicht nur zu einem Engpaß in der deutschen, sondern auch der internationalen elektrotechnischen Industrie, deren Hauptlieferant eben jene deutschen Porzellanfabriken waren, die von der Aussperrung besonders stark betroffen waren.

Das wichtigste Ergebnis der nach vier Wochen am 23. März 1912 erzielten Einigung war für den Porzellanarbeiterverband, daß künftig Arbeiter Mitglieder der sozialdemokratischen Gewerkschaft sein konnten; dies hatte ein Ansteigen der Mitgliederzahl insgesamt - allein in Selb um 400 - zur Folge.118 Dieser Erfolg des Ausstandes von 1912 wurde jedoch mit zwei wesentlichen Rückschlägen erkauft: Durch die Aussperrung wurde die Unterstützungskasse

117 STB vom 6.3.1912. 118 OVZ vom 31.3.1912 und 1.4.1912. Hierzu auch OVZ vom 21.3.1912, wo dieser Zuwachs bereits vorhergesagt wird: „Nach der Aussperrung wird die Organisation der Porzellanarbeiter ihre Truppen zählen und da werden sich viele neue Rekruten der geschulten Truppe der Porzellanarbeiter angeschlossen haben..“

627 des Verbandes so stark in Anspruch genommen, daß bspw. in Selb lediglich 28% des Lohnausfalls an Unterstützung gezahlt werden konnte.119 Des weiteren scheiterte der Versuch, die Unternehmer zu Zugeständnissen bei der Arbeitszeitverkürzung zu bewegen.120 Gerade der Mißerfolg bei der Frage der Arbeitszeitverkürzung veranlaßte den konkurrierenden christlichen Keramarbeiterverband, die Einigung in seiner Verbandszeitung ironisch zu kommentieren: „Es ist ein ziemlich magerer Vergleich, der hier aufgesetzt wurde und der in den reihen der Mitglieder des Porzellanarbeiterverbandes mache Enttäuschung hervorrufen wird. Dieses Gefühl scheint man auch bei der Leitung des Porzellanarbeiterverbandes gehabt zu haben, als man noch die Anfrage an den Schutzverband der Arbeitgeber stellte, ob derselbe bereit wäre, eine Erklärung abzugeben, ob bis zum 1. Januar 1913 die Behandlung der Frage der Einführung des Neunstundentages in der Feinkeramindustrie innerhalb des Schutzvereins in sichere Aussicht gestellt werden kann und daß die Verhandlungen hierüber bis zum 1. Januar 1913 derart gefördert sind, daß die Beantwortung seitens des Schutzvereins zu diesem Zeitpunkt auf Anfrage der Arbeiterorganisation erfolgen kann. Wir möchten den Arbeiter sehen, der aus diesem Satzungetüm herausfinden kann, was damit eigentlich gesagt sein soll. Anscheinend hat dieses Satzgemenge den Zweck, bei den Mitgliedern die Meinung wachzurufen, als ob auf dem Gebiete der Arbeitszeitverkürzung irgend welche später eintretende Erfolge erzielt worden wären.“ 121

Der Streik von 1912 und die anschließende Aussperrung der Porzellanarbeiter fanden ein lebhaftes Echo in der Presse und wurden insbesondere in den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Zeitungen über Wochen ausführlich begleitet und kommentiert, wie hier nur an einigen Beispielen aufgezeigt wird. „Rehau, 9. Februar. Eine solch imposante Versammlung, wie die am Donnerstag Abend, hatten wir hier noch nicht; der Znetralhallensaal sowie die Nebenlokalitäten waren dicht besetzt. Der Vorsitzende des Porzellanarbeiterverbandes, Genosse Wollmann, sprach in fast zweistündiger Rede über die wahren Ursachen der kommenden Aussperrung in der Porzellanindustrie. ... Die Unternehmer wollen erst aussperren, vorher wollen sie nicht unterhandeln, Die Rehauer Arbeiterschaft wird mit dazu beitragen, daß es den Herren ein zweites Mal vergehen wird, mit dem Feuer zu spielen. ... Und wenn sich einige Vorgesetzte in den hiesigen Fabriken in ihrer Knechtseligkeit soweit versteigen, daß sie die Arbeiter gegeneinander ausspielen möchten, dann hat der Verlauf der Versammlung gezeigt, daß diese Arbeitsburschen des Kapitals wenig Erfolg haben werden.“ 122

„Bei der Firma E. und A. Müller wurde am Samstag den Organisierten die schriftliche Kündigung zugestellt, während die Unorganisierten nicht gekündigt wurden. Heute wurde bei dieser Firma sowie in der Porzellanfabrik Schönwald A.G. durch Anschlag der Beschluß des Arbeitgeberverbandes bekannt gegeben, daß die Unorganisierten ab 4. März weiter beschäftigt und für die vorhergegangene Woche mit vollen Wochenlohn entschädigt werden. Mit diesem Anschlag haben die Unternehmer ihr wahres Gesicht gezeigt, indem sie den Kampf gegen die Organisation, den Berliner Verband, proklamiert haben, der ihnen schon lange verhaßt ist und schwer im Magen liegt. In den letzten

119 STA Bamberg K 18, 1 X 128/2a: Statistikbogen für Selb. 120 Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands 1912, 22.Jg., SS.170, 194. Vielmehr gestanden die Unternehmer lediglich zu, sich bis zum 31. Dezember 1912 zu äußern, unter welchen Bedingungen sie der Einführung des Neunstundentages zustimmen würden. 121 Keram- und Steinarbeiter Zeitung 1912, 8.Jg., H.13, S.50. 122 OVZ vom 12.2.1912.

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Jahren regten sich überall infolge der Reichsfinanzreform die Porzellanarbeiter und schlossen sich in großer Anzahl dem Porzellanarbeiterverbande an, um mit dessen Hilfe durch Lohnerhöhung einen Ausgleich für die verteuerten Lebensbedürfnisse zu schaffen. Das ging den Scharfmachern in der Porzellanindustrie wider den Strich. Glaubten sie doch, in der gegenwärtig guten Konjunktur bei niedrigen Löhnen einen Rebbach für sich zu schaffen und sich die Taschen zu füllen. Wie die Arbeiter leben und ob sie infolge ungenügender Ernährung und langer Arbeitszeit frühzeitig der Lungentuberkulose zum Opfer fallen, ist dem Unternehmer gleich, es gibt ja Menschenmaterial genug, weshalb sich also darüber Kopfzerbrechen machen.“ 123

Der Anstieg der Zahl der Arbeitskämpfe in der Porzellanindustrie seit 1909 ist u.a. auf das Bestreben der Gewerkschaften zurückzuführen, die hochkonjunkturell begründete gute Geschäftslage der Unternehmen zu nutzen, um einen angemessenen Anteil der Arbeiterschaft am Sozialprodukt zu erkämpfen, wie es 1910 auf diversen Porzellanarbeiterversammlungen in Oberfranken formuliert wurde.124

Bedingt durch die wirtschaftliche Stagnation der Jahre ab 1913 versuchten die Porzellanindustriellen, den Kompromiß des Jahres 1912 zu ihren Gunsten zu verändern. So wurden z.B. in einigen Betrieben sog. „gelbe“, unternehmerfreundliche Wohlfahrtskassen etabliert, wobei mancherorts, so z.B. in Schönwald und Selb, die Einstellung eines Arbeiters an die Mitgliedschaft zu diesen Kassen gebunden war.125 Gerade im Hinblick auf die sich abzeichnende Rezession mit nur noch siebenstündiger Arbeitszeit täglich sowie anderer Produktionseinschränkungen kennzeichnet dieser Versuch der Disziplinierung der Arbeiterschaft in besonderer Weise den Versuch der Unternehmer, die Arbeiter zum Austritt aus dem Porzellanarbeiterverband zu bewegen. Dem gleichen Ziel dienten die Förderung der nur noch marginal existenten gelben Gewerkschaften126 sowie die Gründung eines Regionalverbandes der nordostbayerischen Porzellanfabrikanten, des Verbandes der Porzellan-Industriellen von Oberfranken und Oberpfalz. Auch Absprachen zwischen den Unternehmen, gekündigten Arbeitern sechs Wochen lang keine Arbeit zu geben und sie damit zur Arbeitssuche an einem anderen Ort zu veranlassen, hatten den einzigen Zweck, den in diesen Fällen Unterstützung zahlenden Porzellanarbeiterverband zu schwächen. An den durch den Arbeitskampf des Jahres 1912 geschaffenen Verhältnissen änderten solche Aktionen jedoch nur wenig. Als Fazit bleibt anzumerken, daß in der Porzellanindustrie zwar das Koaltitionsrecht der Arbeiter durch die Unternehmer anerkannt worden war, daß jedoch die gewerkschaftlichen Erfolge hinsichtlich tarifvertraglicher Regelungen sowie

123 OVZ vom 15.2.1912. 124 Hierzu OVZ vom 10.3.1910. Vgl. auch JÜNGLING, E. 1986: Streiks in Bayern (1889-1914). Arbeitskampf in der Prinzregentenzeit. München. S.17. 125 OVZ vom 15.5.1912 (Selb) und vom 9.11.1912 (Schönwald). 126 Vgl. OVZ vom 29.6.1914.

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Arbeitszeitreduzierungen hinter denen der Granitindustrie weit zurückblieben; der erste Tarifvertrag für die Porzellanindustrie in einer größeren Region wurde erst im Mai 1918 abgeschlossen.127

Oberpfalz Über die miserablen Arbeitsbedingungen in der Oberpfälzer Porzellanindustrie berichtet die Generalversammlung des Porzellanarbeiterverbandes 1896: „In Waldsassen müssen die Maler unter schroffer Behandlung Kaffeeservice für 28 Pfg. herstellen, inkl. Gold und Farbe; die sanitären Verhältnisse sind überaus mangelhaft. Bedürfnisanstalten sind unbekannte Dinge. ... In Krummennaab sind die Verhältnisse die gleichen. Seitdem die Malerei in Betrieb ist ... ist noch nicht abgerechnet, es sind nur Vorschüsse an die Maler gezahlt worden. Den Drehern ergeht es nicht besser, dort wird nur für die Artikel gezahlt, welche in den Ofen kommen, die übrigen bleiben mitunter wochenlang stehen und werden dann erst bezahlt. Maler werden mit 18 Mk. Eingestellt, jedoch bekommen sie diesen Lohn nur 14 Tage, dann gibt es nur noch 15 Mk. ... In Weiden gehören nur die Dreher dem Verbande an, den Malern geht es auf jeden Fall noch zu gut oder der Künstlerstolz läßt es nicht zu, sich mit anderen Kollegen im Verbande zu vereinen.“128

Im Sommer des Jahre 1892 gründeten Arbeiter der PF Bauscher in Weiden eine Zahlstelle des „Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter beiderlei Geschlechts“ und schufen damit eine eigene gewerkschaftliche Interessenvertretung.129 In der stark katholisch geprägten Stadt brachten nur wenige Arbeiter den Mut auf, eine sozialdemokratisch orientierte Gewerkschaft zu gründen. In der Zeit bis 1896 entstanden sechs weitere Zahlstellen in der nördlichen Oberpfalz,130 wobei der Organisationsgrad zunächst sehr niedrig war und bestimmte Berufsgruppen wie z.B. die Maler überhaupt nicht zu organisieren waren. Über die Gründungsversammlung der Zahlstelle des Porzellanarbeiterverbandes in Mitterteich am 3.6.1893, auf der WOLLMANN sprach, wurde von amtlicher Seite berichtet: „In seinem (Wollmanns, d. Verf.) Vortrage, in welchem er nach einigen Ausfällen gegen die Unternehmer und herrschenden Klassen die Beschwerden der Porzellanarbeiter näher erörterte, bezeichnete er als solche zunächst ungenügende Löhne, ungenügende Nahrung, Wohnung und Wärme, zu lange Arbeitszeit etc. ... Es entstand der Eindruck, ... daß diese Verbände der Porzellan- und verwandten Arbeiter politischer Natur mit socialdemokratischen Tendenzen sind, welche um so gefährlicher erscheinen, als sie nach und nach eine einzige große Organisation mit einheitlicher Leitung anstreben.“131

127 Vgl. S.408. 128 APM-DDR P II 778: Protokoll der Generalversammlung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter 1896, S.19. 129 Vgl. hierzu die Berichte zum 30jährigen Gründungsfest der Weidener Zahlstelle im „Weidener Anzeiger“ vom 28.7.1922 und in „Volkswacht für Oberpfalz und Niederbayern“, Nr.176 vom 3.8.1922. 130 1893 erfolgte bspw. die Gründung von Zahlstellen des Porzellanarbeiterverbandes in Waldsassen und Mitterteich. Vgl. JFI 1893, S.99. 131 STA Amberg, Reg. d. Opf. 13883, Nr. 293 vom 12.6.1893.

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In Mitterteich entließ die PF Lindner & Co. im September 1893 - nur drei Monate nach dessen Gründung - sämtliche dem Verband angehörenden Dreher,132 woraufhin die ebenfalls zu den privilegierten Arbeitern gehörenden Maler in einen längeren Solidaritätsstreik traten,133 über dessen Ausgang jedoch nichts bekannt ist.

„Der Amtsbezirk Tirschenreuth war jedenfalls im Jahr 1896mit 73 Mitgliedern der Organisationsschwerpunkt des Porzellanarbeiterverbandes in der Oberpfalz, allerdings erscheint - auch - dort die Mitgliedschaft in zwei untereinander zerstrittene Fraktionen gespalten gewesen zu sein.134 Neben den 1896 vermutlich sieben Porzellanarbeiter-Zahlstellen in der Oberpfalz existierte auch noch der im Jahr 1894 (wieder-)gegründete Regensburger Hafner-Fachverein, der sich später dem Zentralverband der Töpfer in Berlin anschließen sollte;135 eine – eigentlich naheliegende – Verschmelzung der drei verwandten sozialdemokratisch orientierten Töpfer-, Porzellan- und Glasarbeiter-Zentralverbände kam nie zustande.136

Abgesehen von wenigen aussichtslos begonnenen kleineren Streiks sahen die Mitglieder im Porzellanarbeiterverband bis zum Jahre 1910 hauptsächlich eine Unterstützungskasse. Die gewerkschaftlichen Hauptaufgaben wie Agitation, Organisation und Kampf um Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen stießen bei der Arbeiterschaft der nördlichen Oberpfalz auf wenig Interesse. Dies änderte sich - wenn auch nur punktuell - im Jahre 1910 durch den Porzellanarbeiterstreik bei der PF Mannl in Krummennaab, der jedoch für die Gewerkschaft erfolglos endete: „Der im November 1910 ... begonnene sechsmonatige Streik sollte dann allerdings, da Mannl sämtliche 65 Ausständige (von denen 45 im Porzellanarbeiterverband organisiert waren) durch Streikbrecher ersetzen konnte, gleich mit einem Organisationsdesaster enden, d.h. zur Auflösung einer der mitgliederstärksten Porzellanarbeiterzahlstellen der Oberpfalz führen und der Porzellanarbeiterverbandskasse (sic! die Porzellanarbeiterverbandskasse, d. Verf.) knapp 11.000 Mark Streikunterstützung kosten.137

Über das Ende des Streiks berichtet der „Weidener Anzeiger“ am 9.4.1911in dürren Worten: „Krummennaab, 7. April. Der mehr als 20 Wochen dauernde Streik der Porzellanmaler und –dreher der hiesigen Porzellanfabrik ist nunmehr beendet und für die Streikenden resultatlos verlaufen. Der Betrieb konnte die ganze Zeit ohne Störung weitergeführt werden. Von den am Streik beteiligten Arbeitern wurde keiner mehr in dem Betrieb der genannten Firma eingestellt.“138

132 Vgl. FT Nr. 219 vom 18.9.1893. 133 Vgl. FT Nr. 225 vom 25.9.1893 und Nr.250 vom 24.10.1893. 134 Vgl. hierzu den Bericht über die Porzellanarbeiterversammlung vom 27.11.1896 in Tab.147. Weiterhin wurde i.J. 1894 auch von „anarchistischer“ Seite mit Flugblättern bei der Arbeiterschaft der PF Tirschenreuth agitiert (vgl. STA Amberg, Reg. d. Opf 13748, Nr.330 vom 23.7.1894). 135 Hierzu STA Amberg Reg. d. Opf. 9710, Streiknachweis vom 31.5.1906. 136 MÜLLER, G. 1986, S.216. 137 Ebd., S.217. 138 Zit. nach IG Chemie-Papier-Keramik 1992, S.17f. Amberg.

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Das Verhältnis zwischen den freien und christlichen Gewerkschaften charakterisiert ein Artikel des „Oberpfälzer Kuriers“, der sich auf einen anderen Artikel im „Fachgenossen“, dem Verbandsorgan des Glasarbeiterverbandes bezieht. In letzterem wurde dem christlichen Verband der Keram- und Steinarbeiter vorgeworfen, Streikbrecher für die PF Mannl organisiert zu haben und dadurch der Betriebsleitung behilflich gewesen zu sein, die Fabrik von allen unliebsamen Sozialdemokraten zu „säubern“, so daß nunmehr ausschließlich christlich orientierte Arbeiter bei Mannl beschäftigt würden.139

Eine weiterer (unbedeutender, da nur sieben Verbandsmitglieder beteiligt waren) Streik von Porzellanarbeitern bei der PF Wolfrum in Wiesau im Jahre 1911 endete nach zwei Monaten - durch Zuzug von Streikbrechern - ebenfalls mit einer Niederlage der Arbeiter.140 Trotz dieser Mißerfolge konnte der Porzellanarbeiterverband noch im Jahre 1911 - ohne Streik - einige Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen bei folgenden Porzellanfabriken erreichen: PF Plankenhammer: Lohnerhöhungen von 5 – 10%; PF Tirschenreuth: Lohnerhöhung um 5%; PF Gareis & Kühnl Waldsassen: Beteiligung der Beschäftigten an der Tarifkalkulation.141

Im Jahre 1910 gehörte ca. ein Drittel der oberpfälzischen Porzellanarbeiter dem sozialdemokratischen Porzellanarbeiterverband an. Dabei hatte die Gewerkschaft Konkurrenz sowohl von den christlichen Gewerkschaften wie auch aus dem eigenen Lager zu gewärtigen, da der „Verband der Fabrikarbeiter Deutschlands“ als Konkurrent um die Organisation der Ungelernten in der Porzellanindustrie auftrat; hinzu kam der ab 1894 (wieder-) gegründete Regensburger Hafner-Fachverein. Für den Porzellanarbeiterverband war es zudem schwierig, Lokale für Versammlungen und Sitzungen zu bekommen, da viele Wirte ihre Säle trotz Zusage an den Verband kurzfristig lieber an einen katholischen Arbeiterverein als an die „Roten“ vergab. So konnte z.B. das Amberger Gewerkschaftskartell wegen dieser „Saalabtreibereien“ während des ganzen Jahres 1909 keine einzige größere Gewerkschaftsversammlung durchführen.142 Wie der Porzellanarbeiterverband selbst die Situation beurteilte, ist nachfolgendem Auszug aus einem Artikel der (sozialdemokratische orientierten) „Fränkischen Volkstribüne“ zu entnehmen:

139 Vgl. Oberpfälzer Kurier vom 22.12.1910. 140 Vgl. FV Nr.74 vom 28.3.1911; DGB-Archiv Bonn, AKP 831; APM-DDR, P II 778 – 1911, S.56, S.67. 141 Vgl. APM-DDR, P II 778 – 1911, S.56. 142 Vgl. IG Chemie-Papier-Keramik 1992, S.18. Amberg.

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„Sie (die katholische Geistlichkeit, d. Verf.) gründet von Streikbrechern Arbeitervereine, bildet Unterstützungsvereine und aus solchen Vereinen werden dann die christlichen Gewerkschaften. Gehen diese ein, so entstehen wieder die alten Unterstützungsvereine. ... Unter der Agitation der Fabrikarbeiter haben wir auch zu leiden gehabt. Vielfach sind dadurch, daß zwei Verbände am Ort für die Kollegen existierten, Lohnbewegungen verloren gegangen.“ 143

Die aus den katholischen Arbeiterunterstützungs-Vereinen hervorgegangenen christlichen Gewerkschaften und die freien, sozialdemokratisch organisierten Gewerkschaften befanden sich also in einem ständigen Konkurrenzkampf um die Organisierung der Arbeiter in den einzelnen Betrieben. Dabei lehnten die christlichen Gewerkschaften den politischen Klassenkampf ab, sie setzten vielmehr auf eine einvernehmliche Konfliktlösung zwischen Unternehmern und Arbeitern. An Streiks der freien Gewerkschaften beteiligten sich die christlichen Organisationen nicht, in einigen Fällen forderten sie ihre Mitglieder sogar zum Streikbruch auf. Die Konflikte mit den freien Gewerkschaften reichten von „Saalabtreibereien“ durch christliche Vereine und Gewerkschaften, Verweigerung von Versammlungssälen durch Gastwirte über Denunziation freigewerkschaftlicher Aktivitäten bei den Behörden bis hin zum aktiven Streikbruch seitens der christlichen Gewerkschaften. Im Gegenzug agitierten die freien Gewerkschaften besonders scharf gegen Klerus und christliche Gewerkschaften; Denunziation, Hintertreiben von Lohnverhandlungen oder Streikbruch gehörten jedoch nicht zu den Kampfmitteln des freigewerkschaftlichen Porzellanarbeiterverbandes.

Eine existentielle Gefährdung des Porzellanarbeiterverbandes in der Oberpfalz entstand um die Jahreswende 1911/12 durch die Gründung eines „gelben“144 - wirtschaftsfriedlichen - Werkvereins bei der PF Bauscher in Weiden und durch die nachfolgenden Aussperrungen des „Schutzvereins deutscher Porzellanfabriken“. Ende 1911 war bei Bauscher dieser Werkverein als Reaktion auf eine im Sommer des Jahres 1910 gescheiterte Lohnbewegung des dort mit 200 Organisierten dominierenden christlichen Keramarbeiterverbandes145 gegründet worden. Diesem traten 160 der insgesamt 1.100 Beschäftigten sofort bei146 und bis 1914 war der größte Teil der Belegschaft aufgrund materieller Vergünstigungen für die Mitglieder im Werkverein organisiert. Ab dem 24. Februar 1912 sperrten dann die im „Schutzverein deutscher Porzellanfabriken“ organisierten Unternehmer sämtliche dem

143 FV Nr.242 vom 16.10.1911. 144 Die Werkvereine wurden von den Gewerkschaften als „gelbe Werkvereine“ bezeichnet. 145 Vgl. Festschrift „100 Jahre Bauscher Weiden“ 1980, S.95; FV Nr.242 vom 16.10.1911, Nr.264 vom 10.11.1911. 146 Vgl. ebd.

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Porzellanarbeiterverband angehörenden Arbeiter aus,147 um diese zu zwingen, aus dem Verband auszutreten, anderenfalls sie nicht mehr eingestellt würden.148 Diese Aussperrung kostete den Porzellanarbeiterverband insgesamt 480.000 Mark an Unterstützungsgeldern. In Oberfranken waren nach Angaben des Fabrikinspektors von der Aussperrung 1.005, in der Oberpfalz 209 Arbeiter149 betroffen; die Zahl der tatsächlich Ausgesperrten lag jedoch mit rd. 3.700 allein im Bereich des BA Rehau wesentlich höher. In der Oberpfalz beteiligten sich an der Aussperrung die beiden dem Schutzverein angehörenden Porzellanfabriken im Bezirksamtsbezirk Tirschenreuth sowie die PF Bauscher in Weiden. Deren 30 ausgesperrte, dem Porzellanarbeiterverband angehörende Arbeiter fanden Anstellung bei der am Orte neugegründeten, dem Schutzverein nicht beigetretenen PF Seltmann,150 welche die ausgesperrten, jedoch qualifizierten Facharbeiter der alteingesessenen Konkurrenz gerne übernahm. Wegen der mangelnden Geschlossenheit des Unternehmerverbandes endete die Aussperrung bereits nach vier Wochen am 23. März 1912 mit einem Erfolg des Porzellanarbeiterverbandes, der bei den Schlichtungsverhandlungen in Berlin zum ersten Mal von Unternehmerseite als Verhandlungs- und Tarifpartner akzeptiert wurde. Die im Amtsbezirk Tirschenreuth ausgesperrten ca. 180 Mitglieder des Verbandes konnten an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehren,151 die - ohnehin mitgliederstärkste - Tirschenreuther Zahlstelle des Verbandes konnte weiter ausgebaut und eine neue Zahlstelle für die Arbeiter der PF Waldershof konnte gegründet werden. Hingegen endete eine weitere Porzellanarbeiteraussperrung 1913/14 in Plankenhammer mit einer völligen Niederlage des Verbandes und damit verbunden mit dem Verlust der Arbeitsplätze, der Räumung der Werkswohnungen und der Auflösung einer Zahlstelle für 80 Arbeiter. Bei der Plankenhammer Porzellanfabrik waren ab dem 24. November 1913 diejenigen 100 der insgesamt 170 Arbeiter von der Arbeit ausgeschlossen worden, die dem Porzellanarbeiterverband angehörten und sich gegen eine 20 – 50%ige Kürzung ihrer Löhne zur Wehr setzten.152 Angesichts Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit scheiterten die Versuche der Ausgesperrten, Arbeitswillige von der Arbeit abzuhalten,153 zumal die

147 Daß die reichsweiten Streiks und Aussperrungen des Jahres 1912 nicht auf Porzellanfabriken beschränkt blieben, sondern auch in branchenverwandten Betrieben stattfanden, belegt das Beispiel der Steinzeugfabrik Friedrichsfeld. Hierzu: PROBST, Hj. 1993, S.111ff. 148 Hierzu: DGB-Archiv AKP 831 und STA Amberg, Reg. d. Opf. 13755, Nr.146 vom 11.2.1912. 149 Vgl. JFI 1912, S.187. 150 Vgl. STA Amberg, Reg. d. Opf. 13755, Nr.146 vom 11.2.1912. 151 Vgl. STA Amberg, Reg. d. Opf. 13940, Bericht vom 24.3.1912 und FV Nr.101 vom 30.4.1912. 152 Vgl. DGB-Archiv AKP 831 – 1913; FV Nr.279 vom 27.11.1913; STA Amberg, Reg. d. Opf. 13755, Nr.1043 vom 30.11.1913. 153 Vgl. ebd.

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Firmenleitung alle Vermittlungsversuche des zuständigen Fabrikinspektors sowie des Gauleiters des Porzellanarbeiterverbandes, BREDOW, zurückwies154 und der „.... christliche Keramarbeiterverband ... in Zuführung gelernter Arbeiter für die fragliche Fabrik erfolgreich tätig“155 war. Durch diese Maßnahme waren bis März 1914 75 der 100 sozialdemokratisch organisierten Ausgeperrten durch neueingestellte Arbeiter ersetzt worden156 - vor allem mithilfe der von der Betriebsleitung präferierten christlichen Zahlstelle, die in der Aussperrung der freiorganisierten Arbeiter ihre Chance sah, die Konkurrenz des sozialdemokratisch orientierten Porzellanarbeiterverbandes auszuschalten,157 was schließlich auch gelang.

Trotz Aussperrung und Gegenagitation der Unternehmer gelang es dem Porzellanarbeiterverband, die Mitgliederzahlen konstant zu halten, teilweise sogar etwas zu steigern. Ende 1912 stellte der Gau Oberfranken und Oberpfalz mit 4.460 organisierten Arbeitern rd. 28% der Gesamtmitgliedschaft des Porzellanarbeiterverbandes. Nach 1918 setzte sich die freie Gewerkschaft, auch infolge veränderter politischer Verhältnisse, als stärkste Kraft in der Oberpfalz gegen christliche Gewerkschaften und Werkvereine durch

154 Vgl. STA Amberg, Reg. d. Opf. 13940, Bericht vom 18.1.1914. 155 Ebd., Bericht vom 8.2.1914; Vgl. hierzu auch FV Nr.54 vom 5.3.1914. 156 Vgl. STA Amberg, Reg. d. Opf. 13940, Bericht vom 8.3.1914. 157 Vgl. FV Nr.54 vom 5.3.1914.

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Tab.111: Übersicht über Versammlungen der Porzellanarbeiter in der Oberpfalz 1880 – 1912 (soweit zu ermitteln) Ort Datum Referent, Teilnehmer Quelle Hirschau 11.7.1880 Porzellanarbeiterversammlung; Referent J. DOLLMANN vom Gewerkverein Berlin- STA Amberg, Charlottenburg; dieser will die Arbeiter der Reg. d. Opf. Dorfner`schen PF zum Beitritt bewegen, was mißlingt, 14202 „...auch soll der Berliner Gewerkverein weder mit Bericht vom socialdemokratischen Mitteln kämpfen noch socialdemokratische Ziele verfolgen.“ 19.7.1880 Mitterteich 3.6.1893 Referent G. WOLLMANN. „In seinem Vortrage, in welchem er nach einigen Ausfällen gegen die Unternehmer und die herrschenden Klassen die Beschwerden der Porzellanarbeiter näher erörterte, STA Amberg, bezeichnete er als solche zunächst ungenügende Löhne, Reg. d. Opf. ungenügende Nahrung, Wohnung und Wärme, zu lange Arbeitszeit etc. ... Eindruck ..., daß diese verbände der 13883 Porzellan- und verwandten Arbeiter politischer Natur Nr.293 vom mit socialdemokratischen Tendenzen sind, welche um so 12.6.1893 gefährlicher erscheinen, als sie nach und nach eine einzige große Organisation mit einheitlicher Leitung anstreben.“ Regensburg 24.6.1894 Bei einer Hafnerversammlung referierte SCHADE, STA Amberg, „...welcher die Lage der Hafner besprach und zur Reg. d. Opf. Organisation aufforderte. Die Versammlung ... bestand 13748, Bericht aus 36 Mann, worunter sich 16 Hafner befanden.“ vom 2.7.1894 Tirschenreuth 27.11.1896 Porzellanarbeiterversammlung; Referent WOLLMANN; Thema: `Warum müssen wir uns STA Amberg, vereinigen?` „Da der Streit zwischen den Anhängern Reg. d. Opf. des Magdeburger und des Berliner Verbandes sich sehr 14122 lang ausdehnte, schloß der Vorsitzende auf Verlangen Bericht vom um 12 Uhr die polizeilich überwachte Versammlung, welche von etwas mehr als 100 Porzellanarbeitern und 7.12.1896 etwa 10 Arbeiterinnen besucht war.“ Burggrub 28.11.1896 30 Arbeiter der PF Krummenaab; Referent WOLLMANN verzichtet auf seinen Vortrag, nachdem STA Amberg vom überwachenden Polizeikommissär Frauen und Reg. d. Opf. Minderjährige des Saales verwiesen werden; die 14122 Arbeiter beklagen die Mißstände in der PF, was nur eine Bericht vom Woche später zu einer Revision durch den zuständigen Fabrikinspektor führt. 7.12.1896 Weiden 7.10.1901 Einberufer H. GOLLER; 50 Teilnehmer; Referent WOLLMANN zum Thema `Krisis im wirtschaftlichen Leben und in der Berufsorganisation`. „Der erste Teil der Rede ... war zwar vom socialistischen Geiste STA Amberg, durchweht, doch sehr sachlich und gemäßigt gehalten; Kdl 345 der zweite Teil war mehr interner Natur, es scheint in der Berufsorganisation der Porzellanarbeiter Bericht Nr. 5833 Differenzen zu geben, weil sich (der) Redner ... darüber vom 8.10.1901 beklagen, daß der Vorstand in der Fachzeitschrift von Mitgliedern grundlos angegriffen werde.“ Weiden 25.10.1903 Porzellanarbeiterversammlung; Referentin GREIFENBERG aus Berlin; „Die Versammlung war FT Nr.253 außergewöhnlich stark besucht ..., weil es etwas neues Vom 29.10.1903 war, hier eine Frau reden zu hören; auch die Frauen waren zahlreich vertreten, der donnernde Applaus bewies, daß die Rednerin den Anwesenden aus dem Herzen gesprochen hat.“

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Hirschau Mitte Christlicher Keramarbeiterverband unter Führung des Oktober Bezirksleiters SALOMON (Weiden) versucht die 1906 Gründung eines Ortsvereins als Konkurrenz zur sozialdemokratischen Porzellanarbeiter-Zahlstelle in Hirschau; der Versuch wird von den Mitgliedern der FT Nr.242 vom sozialdemokratischen Zahlstelle, die rd. Die Hälfte der 100 Versammlungsteilnehmer stellen, vereitelt; 16.10.1906 Gegenreferent FISCHER (Nürnberg) will den „Christlichen ... zeigen, daß sie in Hirschau nichts zu suchen haben.“ Burggrub 1.9.1907 Porzellanarbeiterversammlung; Referent TAUMANN (Wunsiedel) spricht über Zweck und Nutzen der FT Nr.206 vom Organisation; danach konstituiert sich eine Zahlstelle 4.9.1907 des Porzellanarbeiterverbandes mit 22 Arbeitern der PF Krummenaab als Mitgliedern. Weiden Mitte Bei der Generalversammlung der Porzellanarbeiter- Januar Ortsgruppe des christlichen Keramarbeiterverbandes 1910 werden „...rücksichtslos ... die Mißstände aufgedeckt“; OK Nr.14 vom hierzu zählten Mitgliederschwund und ungeordnete 19.1.1910 Finanzen; Wahl eines neuen Vorstandes und Amtseinführung des neuen Bezirksleiters SCHWARZ, der dem zurückgetretenen SALOMON nachfolgte. Weiden 13.10.1910 Sozialdemokratische Porzellanarbeiterversammlung von ca. 50 Personen, auf welcher der Vorsitzende des OK Nr.233 vom österreichischen Porzellanarbeiterverbandes PALME 14.10.1910 zum Thema `Was uns nottut` referiert. Hirschau 30.10.1910 Christliche Arbeiterversammlung von Porzellan- und Kaolinarbeitern aus Hirschau und Schnaittenbach; in Anwesenheit der beiden Ortsgeistlichen spricht der Gewerkschaftssekretär SCHWARZ über Nutzen und OK Nr.250 vom Bedeutung der christlichen Gewerkschaften; trotz 4.11.1910 Protest eines sozialdemokratischen Redners gegen die Saalabtreiberei in Hirschau werden etliche Arbeiter in den Keramarbeiterverband neu aufgenommen. Tirschenreuth Ende Berichterstattung des Delegierten GEYER bei drei September Zahlstellen-Versammlungen über die Porzellanarbeiter- FV Nr.228 vom Plankenhammer Generalversammlung in Berlin; die Mitglieder billigten 1911 158 29.9.1911 Vohenstrauß die beabsichtigte (jedoch nicht zustande gekommene ) Verschmelzung mit den Töpfer- und Glasarbeiterverbänden. Tirschenreuth 2.3.1912 Porzellanarbeiterversammlung; Referat von FV Nr.55 vom WOLLMANN über die Aussperrungen in der 5.3.1912 Porzellanindustrie Tirschenreuth 11.7.1912 Vier Porzellanarbeiterversammlungen mit der Floß 12.7.1912 Referentin M. GREIFENBERG zum Thema `Die FV Nr.153 vom Weiden 13.7.1912 wirtschaftliche Lage der Porzellanarbeiter und wie kann 3.7.1912 Mitterteich 14.7.1912 dieselbe verbessert werden?` (Vorankündigung) Waldsassen 16.7.1912 Versammlung von 120 Porzellanarbeitern; Referentin FV Nr.168 vom GREIFENBERG spricht über die wirtschaftliche Lage 20.7.1912 der Porzelliner.

158 Vgl. S.595.

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Wegen der überregionalen Bedeutung der Vorgänge bei der PF Bauscher sollen diese im folgenden näher dargestellt werden. Die PF Bauscher hatte als die weitaus bedeutendste Porzellanfabrik der Oberpfalz im Jahre 1910 bereits 1.100 Beschäftigte und unterhielt ein umfassendes System von betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen wie z.B. Werkswohnungen, Betriebskrankenkasse, Werkssparkasse159 sowie Urlaubsgewährung unter bestimmten Voraussetzungen.160 Daß diese betrieblichen Einrichtungen eine direkte Einflußnahme der Betriebsleitung ermöglichten sowie „Wohlverhalten“ der Arbeiter präjudizierten, liegt auf der Hand: „Dies System betrieblicher Wohlfahrtseinrichtungen ... war in seiner Dichte einzigartig in der oberpfälzer Industrie. Es hatte den Zweck, in erster Linie hochqualifizierte Arbeitergruppen wie die Porzellanmaler an den Betrieb zu binden. Wer den betrieb verließ, verlor auch die Ansprüche an die betrieblichen Unterstützungskassen. Das System war aber auch gegen die Sozialdemokratie und besonders gegen die Gewerkschaften gerichtet. Bauscher verstand sich als ein betrieb, der gerade wegen dieser Wohlfahrtseinrichtungen meinte, keine Gewerkschaften dulden zu müssen, die nur Unfrieden in die Belegschaft brächten.“161

Bei der bereits erwähnten, von den christlichen Arbeitern bei Bauscher initiierten Lohnbewegung ab Mai 1910 setzte der christlich orientierte Keramarbeiterverband zunächst auf Verhandlungen mit der Direktion; diese wurden jedoch von letzterer über mehrere Monate verschleppt. In einer von der Direktion am 19.7.1911 einberufenen Versammlung aller christlich organisierten Arbeiter hob die Betriebsleitung in persona Kommerzienrat OTTO zunächst die Vorzüge der Werkssparkasse hervor und stellte danach klar, daß ihrer Ansicht nach weder zu niedrige Löhne gezahlt noch daß es zu lange Arbeitszeiten geben würde und daß die vorgebrachte Kritik an der Lohnentwicklung sowie den Arbeitsbedingungen ungerechtfertigt wäre. Der Verlauf der Versammlung wurde mitstenografiert und veröffentlicht: „Unser Personal spart leider viel weniger als ein anderes in einer Nachbarfabrik. Dort haben 400 Personen ein Kapital von ca. 200.000 Mark erspart, allerdings sparen diese Leute schon länger und vor allem fällt es ihnen nicht ein, ihr Geld zum Fenster hinauszuwerfen und wöchentlich 55 Pfennig für Verbandsbeiträge abzugeben. Diese geben das Geld lieber in die Sparkasse, dann nützt es ihnen etwas. Wenn sie wöchentlich 55 Pfennig in die Sparkasse tun, macht dies im Jahr 28 Mark aus und in 10 Jahren mit 6 % Zinsen über 400 Mark, nur die 55 Pfennig, welche sie jetzt zum Fenster hinauswerfen.. ... Wie wir nachträglich erfahren, hatte ein Teil der Arbeiter sogar 85 Pfennig wöchentlich an den Verband zu leisten, also jedes Jahr 44 Mark und 20 Pfennig!! Bei der Sparkasse angelegt macht das in 10 Jahren 600 Mark. ... Wir haben festgestellt, daß wir keine niedrigeren Löhne

159 Die Gründung der Werkssparkasse der PF Bauscher erfolgte 1907 und verfolgte expressiv verbis den Zweck, die Arbeiter von der „Partei der prinzipiell Unzufriedenen“ abzuhalten [Geschäftsbericht der Werkssparkasse der PF Bauscher von 1907, zit. nach IG Papier-Chemie-Keramik (Hg.) 1992, S.19]. 160 Die Gewährung von Urlaub (ab etwa der Jahrhundertwende) war nach der Betriebszugehörigkeit gestaffelt und setzte „tadellose Führung“ voraus. Der Urlaub für die „.... `verdienten Mitarbeiter` wurde recht unterschiedlich gewährt, zunächst bekamen jeweils 25 Arbeiter pro Jahr einen 8 bis 14-tägigen Urlaub, später stieg die Zahl bis auf 190 im Jahre 1908 an.“ [IG Chemie-Papier-Keramik (Hg.) 1992, S.19]. 161 IG Paier-Chemie-Keramik (Hg.) 1992, S.19.

638 bezahlen, wie die anderen oberpfälzischen Fabriken, sondern entweder die gleichen, oder höhere Löhne. Wem die bei uns bestehenden Löhne und Einrichtungen nicht passen, den ersuchen wir die Fabrik zu verlassen und seine Kündigung bei seinem Abteilungsvorstand bis zum 31. August einzureichen. Wer uns wegen seinem Verhalten nicht paßt, dem werden wir zwischen dem 1. und 30 September kündigen.“162

Die hierin zum Ausdruck gebrachte Haltung der Unternehmensleitung richtete sich direkt gegen den christlichen Keramarbeiterverband, der daraufhin seine Forderungen zunächst zurückzog. Jedoch war die offene Drohung mit Entlassung seitens der PF Bauscher dadurch noch nicht entkräftet, weshalb der Keramarbeiterverband am 21.8.1911 beim Stadtmagistrat Weiden die Verteilung eines Flugblattes auf der Straße zur PF Bauscher beantragte, das sich mit dieser Situation beschäftigte.163 Der Antrag auf Genehmigung wurde mit dem Hinweis bekräftigt, daß „... freigewerkschaftlicherseits beabsichtigt sein soll, die gegenwärtige Situation zur Propaganda für die soziald. (sic) Organisation auszunutzen.“164 Es wurden in der Folge dann auch tatsächlich christlich organisierte Arbeiter entlassen, darunter sämtliche Vertrauensleute sowie Arbeiter, die über ein Jahrzehnt dem Betrieb angehört hatten. Um willfährigen Ersatz für die entlassenen, „aufsässigen“ Arbeiter zu schaffen, wurde versucht, entlassene Soldaten anzuwerben:

„Kgl. Kommando165 erlauben wir uns mitzuteilen, daß zwischen 20. September bis Anfang Oktober 10 - 15 Arbeitsplätze zu besetzen sind. Der Wochenlohn bewegt sich zwischen 15 – 27 einhalb Mark je nach Art der Beschäftigung. Für den Fall sich unter der angehenden Mannschaft Reflektanten166 befinden sollen, erbitten wir gefällig Nachricht, wir werden uns mit den Leuten dann in Verbindung setzen. Sozialdemokraten nehmen wir nicht auf. Unter verbindlichstem Dank für gütige Mühewaltung Hochachtungsvoll Akt.-Gesellschaft Porzellanfabrik Gebr. Bauscher. gez. Otto.“167

Die bereits erwähnte Gründung eines eigenen Werkvereins durch die Direktion der PF Bauscher Ende 1911 bedeutete einen weiteren Schritt der Unternehmensleitung im Kampf gegen die Gewerkschaften. Während dieser Werkverein seinen Mitgliedern einerseits materielle Vergünstigungen bot, auf die in umfangreichen Flugblattaktionen und auf Versammlungen hingewiesen wurde und die durch großzügige Unterstützung seitens der Firmenleitung finanziert wurden, verlangte man auf der anderen Seite von den Arbeitern politische Abstinenz sowie den Verzicht auf die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Dem Protokoll der Aufsichtsratssitzung der PF Bauscher vom 4.12.1911, in der Direktor OTTO

162 StA Weiden, Akt A III 808. 163 Hierzu AB, Anl.79, wo dieses Flugblatt zu finden ist. 164 StA Weiden, Akt A III 808. 165 Die Anwerbungsannonce richtete sich an das 7. Infanterieregiment. 166 Bewerber. 167 FV Nr.232 vom 15.8.1911.

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über die erfolgte Gründung des Werkvereins berichtet und um eine jährliche Unterstützung desselben in Höhe von „einigen tausend Mark“ bittet, ist recht deutlich zu entnehmen, wer der eigentliche Nutznießer des Werkvereins war: „Dieser Bitte entspricht der Aufsichtsrat und spricht Herrn Otto für die Gründung des Werkvereins unternommenen Schritte seine Anerkennung aus.“168

In der gedruckten Werbeschrift für den Werkverein der PF Bauscher vom 3.11.1911 wird das „nichtorganisierte Personal“ zum geschlossenen Beitritt aufgefordert. Vereinszweck lt. Flugblatt sei die Hebung der Mitglieder „in wirtschaftlicher, sozialer und geistiger Hinsicht“ sowie die Pflege des „guten Einvernehmens“ zwischen der Firma und der Arbeiterschaft. Ferner liege es im Eigeninteresse der Arbeiter, „durch treue und fleißige Mitarbeit ... die Unternehmung zur Blüte zu bringen“. Daher lehne man Streiks als „Grundfehler der deutschen Arbeiterbewegung“ ab, wolle vielmehr die „Werkvereinler“ (Mitglieder) dazu anhalten, „durch Sparsamkeit zu Eigentum und Unabhängigkeit“169 zu kommen.

168 StA Weiden, Akt A III 803. 169 Alle: StA Weiden, Akt III 808: Flugblatt des Werkvereins der PF Bauscher von 1911. Bemerkenswert erscheint, daß im Flugblatt sowohl die sozialdemokratischen wie auch die christlichen und Hirsch- Dunckerschen Gewerkschaften einhellig als „Streikgewerkschaften“ bezeichnet werden, deren Ziel alleine der Klassenkampf und deren Zweck alleine der Streik seien.

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Flugblatt für den Werkverein der PF Bauscher (Auszug)170

170 Quelle: StA Weiden, Akt III 808.

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X. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

"Technische Keramik ist nicht erst im Elektronik- und Raumfahrtzeitalter entstanden. Sie hat schon viel früher anderen Technikzweigen auf den Weg geholfen und dabei bedeutende erfinderische Leistungen eingebracht. Hüttentechnik, Chemie und Elektrotechnik sind die bekanntesten Beispiele. Bei anderen technischen Systemen... war technische Keramik von Anfang an dabei." 2

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Gültigkeit des vorstehenden Zitates zu evaluieren. Hierzu wurde nach einer kurzen Einführung in die Industrialisierungsgeschichte die Entwicklung der keramischen Industrie in den Regionen Oberfranken, Oberpfalz und Südthüringen dargestellt, um nachfolgend die Interdependenz von Elektrifizierung und Technischer Keramik herauszuarbeiten. Es erschien notwendig, den Begriff Technische Keramik zu definieren sowie die Produkte und Einsatzbereiche kurz zu erläutern. Technik- und Wirtschaftsgeschichte des Produktsegmentes Technische Keramik wurden eingehend dargestellt, wobei bereits an dieser Stelle die sozialgeschichtliche Relevanz der gefundenen Daten hinterfragt wurde. Ausführlich wurde auf sozialhistorische Aspekte der Arbeits- und Alltagswelt der Porzelliner eingegangen, wobei insbesondere die Entwicklung des Tarifvertragswesens näher beschrieben wurde. Einer kurzen Darstellung der politischen Orientierung der Arbeiter der keramischen Industrie Oberfrankens folgte abschließend ein Abriß der Gewerkschaftsbewegung im nordöstlichen Bayern.

Die Hauptproduktionszentren Technischer Keramik befanden sich in Nordbayern und Thüringen, wo neben geeigneten Rohstoffen auch ein geschultes Arbeiterpotential zur Verfügung stand. Während Technische Keramik zunächst fast ausschließlich als chemisch- technisches Porzellan Verwendung fand, erschlossen sich infolge der rasch voranschreitenden Elektrifizierung neue Produktionsmöglichkeiten. Dabei wurden technische Fortschritte im Produktionsprozeß erst in den 1920er Jahren gemacht und dann vor allem in Großbetrieben eingesetzt. So wurde sukzessive die Aufbereitung der Rohstoffe verbessert, die Herstellung von Niederspannungsporzellan automatisiert und der periodische durch den kontinuierlichen Rundofen ersetzt.

Der Absatz von Elektroporzellan war abhängig vom Stand und dem Fortschritt der Elektrifizierung, wobei Preise und Absatzbedingungen der Hochspannungsisolatoren kartellmäßig von den Vereinigten Hochspannungs-Isolatoren-Werken geregelt wurden. Die

2 Keramikmuseum Westerwald 1997, S.12.

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Niederspannungsporzellan produzierende Industrie organisierte sich im Verband Deutscher Elektrotechnischer Porzellanfabriken. Ende des 19. Jahrhunderts lösten zunehmend Aktiengesellschaften die bis dahin bestehenden Einzelunternehmen ab und wurden zur vorherrschenden Unternehmnsform in der Keramikindustrie.

Mit dem 1858 begonnenen Bau der PF Lorenz Hutschenreuther in Selb entwickelte sich das Zentrum der Porzellanproduktion im Untersuchungsraum. Der ab 1880 rasch steigende Bedarf an Arbeitskräften wurde zur Hälfte aus der einheimischen Bevölkerung gedeckt, die andere Hälfte rekrutierte sich aus Migranten aus Bayern, Böhmen, Sachsen, Thüringen und Schlesien. Dadurch bedingt verschlechterte sich die Wohnsituation ab 1895 in dramatischer Weise, so daß die damaligen Wohnverhältnisse als katastrophal zu bezeichnen sind.

Die staatlichen Regelungsversuche bzgl. sozialer Mißstände versagten im Untersuchungsraum fast vollständig. Die der Ortspolizei und später den Fabrikinspektoren obliegende Aufsicht über die Einhaltung staatlicher Schutzmaßnahmen bzgl. Kinder- und Frauenarbeit wurde nur widerwillig und zögernd wahrgenommen. So wurde die bei vielen Porzellanfabriken durchgeführte Verlängerung der gesetzlich seit 1910 auf 10 Stunden täglich begrenzten Frauenarbeit stillschweigend von den Fabrikinspektorten geduldet. Die zunehmende Beschäftigung weiblicher un- oder angelernter Arbeitskräfte in der Porzellanindustrie erwies sich für die Unternehmer infolge arbeitsteiliger Produktionsabläufe als vorteilhaft, da Frauen aufgrund fehlender Ausbildung und unterstelltem eingeschränktem Leistungsvermögen maximal die Hälfte der Männerlöhne erhielten. So stieg die Zahl der in der Porzellanindustrie beschäftigten Frauen von ca. 30% im Jahre 1890 auf rd. 50% im Jahre 1912. Die 1918 erreichten Verbesserungen der sozialen Verhältnisse (u.a. Abschaffung der Prügelstrafe bei Lehrlingen, Acht-Stunden-Tag) sind wesentlich auf das Erstarken der Gewerkschaften zurückzuführen, die in der Folgezeit starke Mitgliederzuwächse zu verzeichnen hatten.

Staatliche Sozialgesetzgebungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts bedeuteten keine reale Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft, da innerbetriebliche Kranken- und Sterbekassen bereits seit dem 18. Jahrhundert in sächsischen und thüringischen Porzellanmanufakturen existierten und dort weit verbreitet waren; neben diesen traditionellen Kassen entstanden in der Folge auch überbetriebliche unabhängige Kassen wie bspw. 1884 die Freie Eingeschriebene Hilfskasse Vereinigter Porzellanmaler von Selb und Erkersreuth. Unternehmerische Sozialpolitik vollzog sich immer unter der Prämisse der sozialen

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Disziplinierung sowie der Absicht, die Arbeiter auf diese Art an den Betrieb zu binden. So sind Betriebskrankenkassen, Wohnungs- und Sparvereine als Instrumente unternehmerischer Beeinflussung des einzelnen Arbeiters über arbeitsweltliche Zusammenhänge hinaus zu verstehen. Einrichtungen der Arbeiterselbsthilfe scheiterten mit Ausnahme von Krankenunterstützungskassen bis 1900 fast gänzlich. Erst um die Jahrhundertwende konnten Konsum- und Bauvereine gewisse Erfolge verzeichnen.

Obwohl bereits 1870 in Selb und Arzberg Ortsgruppen des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter gegründet worden waren, kann von einer allgemeinen Akzeptanz der sozialdemokratischen Partei bzw. der Gewerkschaften bei den Porzelliner erst ab 1918/19 gesprochen werden. Die während der Gültigkeit des Sozialistengesetzes zur Untätigkeit verurteilten sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Gruppierungen erhielten zwar zunächst durch den reichsweiten Streik bzw. die Aussperrung von 1912 starken Zulauf. Diese Entwicklung wurde jedoch durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen und konnte erst in der Folgezeit fortgesetzt werden. Unzureichende gewerkschaftliche Agitation besonders unter den Frauen sowie die Existenz und Funktion sog. Personalen sind als ursächlich für die späte gewerkschaftliche Orientierung der Porzelliner auszumachen. Personalen als berufsspartenorientierte, innerbetriebliche Vertretungen von Arbeitern einer bestimmten Abteilung oder eines bestimmten Berufszweiges dienten keinerlei politischen Zwecken, sondern waren allenfalls freizeitliche Solidargemeinschaften. Die mehrheitlich von zugewanderten böhmischen, schlesischen, thüringischen und sächsischen Arbeitern geleistete Gewerkschaftsarbeit sowie die Anstellung eines engagierten Gewerkschaftssekretärs in Marktredwitz 1911 führten 1912 zur erstmaligen Wahl eines SPD-Stadtrates in Selb.

Im Gegensatz zur verspäteten politischen Entwicklung adaptierte die Arbeiterschaft Freizeitverhalten und Kulturorganisationen bürgerlicher Schichten recht schnell. Zwischen 1870 und 1890 entstand eine Unzahl von Arbeitervereinen, wobei Turn- und Gesangvereine dominierten. Unverkennbar wurde dabei das Streben nach gesellschaftlicher Akzeptanz und Integration durch Übernahme bürgerlicher Lebensweise deutlich. Daß dies meist nur sehr beschränkt gelang, belegen Bezeichnungen für Arbeiterwohnviertel wie „Maria Kulm“ oder „Zigeunerviertel“ .

Technische Keramik hat einen bedeutenden Beitrag zur Industrialisierung, d.i. Elektrifizierung nicht nur des untersuchten Raumes, sondern weltweit geleistet. Ohne

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Technische Keramik wäre eine Industrialisierung nicht oder jedenfalls nicht so möglich gewesen. Insofern ist sie als Wegbereiter der modernen Gesellschaft zu bezeichnen, welche die jederzeitige Verfügbarkeit von elektrischem Strom als Selbstverständlichkeit betrachtet, dabei außer acht lassend, daß ohne Fernübertragung von Elektrizität, mithin ohne Isolatoren, jedoch auch ohne Schalter, Regler und Sicherungen dies unmöglich wäre. Eine wie wichtige, wenn auch verborgene Rolle Technische Keramik also im täglichen Leben eines jeden Einzelnen spielte und spielt, sollte anhand der vorliegenden Ergebnisse deutlich gemacht werden. Technische Keramik wurde bis dato in ihrer Bedeutung für die Zivilisation weit unterschätzt, jedenfalls nicht genügend gewürdigt. Vorliegende Arbeit sollte auch dazu beitragen, der Technischen Keramik den ihr gebührenden Platz bei der Entwicklung zur modernen Gesellschaft und Zivilisation zu geben. Daß Porzellanarbeiter technische Keramprodukte herstellten und dabei in den meisten Fällen nicht nur unter schlimmsten Wohn- und Lebensverhältnissen ihr Dasein fristeten, sondern auch ihre Gesundheit ruinierten, ist in den vorausgegangenen Ausführungen deutlich geworden.

Ein Vergleich mit der Entwicklung der Keramindustrie eines anderen Raumes wie z.B. Böhmen bleibt einer späteren Untersuchung vorbehalten. Auch wäre es eine lohnenswerte Aufgabe, die Entwicklung der Keramik, insbesondere der Technischen Keramik in den Jahren nach 1920 zu erforschen.

Daß die Entwicklung der Technischen Keramik und ihrer Produkte bei weitem nicht abgeschlossen ist und sich für die Zukunft bedeutende Einsatzmöglichkeiten für Technische Keramik ergeben werden, sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt. So wurde erst vor kurzem in Marktredwitz ein neues Werk zur Produktion von künstlichen Hüftgelenken aus Keramik in Betrieb genommen.3 "Die HL-Keramik ist heute wie die normale Keramik in früheren Zeiten aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Sei es die Raumfahrt, seien es das Fernsehen oder das Telefonieren, sei es der Körperschutz von Polizei und Armee, seien es die künstlichen Hüftgelenke oder die umweltschonenden Katalysatoren: Ohne Keramik wären all diese Dinge nicht oder nur schwer möglich. Und man kann sicher sein, daß die Keramikwerkstoffe noch weitere Bausteine zur Zukunftssicherung beitragen werden." 4

Technische Keramik war Wegbereiter für die moderne Industriegesellschaft und wird weiterhin eine wichtige Rolle als Zukunftswerkstoff spielen.

3 Vgl. Frankenpost vom 8.10.05 und 17.10.05. 4 REH, H. 1998. In: cfi, 75.Jg., H.4, S.70.

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Erklärung

Hiermit versichere ich, daß ich die vorliegende Dissertation

„Die Entstehung und Entwicklung der Produktion von Technischer Keramik, insbesondere elektrotechnischen Porzellan- und Steatitartikeln in Bayern und Thüringen bis in die 1920er Jahre“

selbständig und ohne unerlaubte fremde Hilfe angefertigt und andere als die in der Dissertation angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder nicht veröffentlichten Schriften entnommen sind, habe ich also solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Dissertation hat zuvor keiner anderen Stelle zur Prüfung vorgelegen. Es ist mir bekannt, daß wegen einer falschen Versicherung bereits erfolgte Promotionsleistungen für ungültig erklärt werden und eine bereits verliehene Doktorwürde entzogen wird.

Marktredwitz, den

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