Plenarprotokoll 14/5

Deutscher

Stenographischer Bericht

5. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

I n h a l t :

Tagesordnungspunkt 1: Dr. Uwe-Jens Rössel PDS ...... 216 C Fortsetzung der Aussprachezur Regie- Dr. , Ministerpräsident (Thü- rungserklärung des Bundeskanzlers ...... 197 A ringen)...... 217 C in Verbindung mit , Staatsminister BK ...... 219 C Tagesordnungspunkt 7: Dr. Ilja Seifert PDS...... 220 D Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens F.D.P...... 222 D Rössel, Dr. , weiterer Abge- Dr. Michael Luther CDU/CSU ...... 223 D ordneter und der Fraktion der PDS Sabine Kaspereit SPD...... 225 D Novellierung des Gesetzes über die Fest- CDU/CSU ...... 227 A stellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen (Vermögenszu- Zusatztagesordnungspunkt 2 (in Verbin- ordnungsgesetz) und des Zuordnungser- dung mit Tagesordnungspunkt 1): gänzungsgesetzes (Drucksache 14/17)...... 197 B Antrag der Abgeordneten , Ulla in Verbindung mit Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Zusatztagesordnungspunkt 1: Fraktion der PDS Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Abschaffung des Flughafenverfahrens Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter (§ 18 a AsylVfG) (Drucksache 14/26)...... 228 C und der Fraktion der PDS Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU...... 228 C Ansiedlung einer Airbus-Fertigungs- , Bundesminister BMI ...... 232 B stätte in Mecklenburg-Vorpommern Dr. F.D.P...... 237 B, 248 B, 258 C (Drucksache 14/25) ...... 197 B CDU/CSU ...... 197 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN...... 240 A Dr. Werner Müller, Bundesminister BMWi .... 200 B (Bremen) BÜNDNIS 90/ Paul K. Friedhoff F.D.P...... 202 D DIE GRÜNEN...... 240 D (Leipzig) BÜNDNIS 90/ Petra Pau PDS...... 242 A DIE GRÜNEN ...... 205 C Dr. Herta Däubler-Gmelin, BMJ ...... 243 D Rolf Kutzmutz PDS ...... 208 B Dagmar Wöhrl CDU/CSU ...... 209 D Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU...... 246 A, 249 A Ernst Schwanhold SPD...... 211 B Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ... 248 C Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ (Köln) BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN ...... 213 D GRÜNEN ...... 249 B Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 215 A SPD ...... 250 D II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. CDU/CSU...... 252 C Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ...... 285 B Dr. Michael Naumann, Beauftragter der Iris Gleicke SPD ...... 287 B Bundesregierung BK...... 254 B Ausschußüberweisung...... 288 C Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.. 257 A, 259 A Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 288 D Dr. Evelyn Kenzler PDS...... 259 C Simone Probst, Parl. Staatssekretärin BMU .... 291 B Ausschußüberweisung ...... 260 C Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CSU ...... 291 D Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) CDU/CSU .. 260 C Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/ , Bundesministerin BMBF . 262 C CSU ...... 293 D Jürgen W. Möllemann F.D.P...... 266 A Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN...... 294 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Birgit Homburger F.D.P...... 294 D NEN...... 267 B SPD ...... 295 D Maritta Böttcher PDS...... 269 B Ulrike Mehl SPD ...... 296 B CDU/CSU...... 270 B, 272 B Angela Marquardt PDS ...... 298 C Edelgard Bulmahn SPD ...... 271 D Michael Müller (Düsseldorf) SPD...... 299 D Stephan Hilsberg...... 272 C Tagesordnungspunkt 9 (in Verbindung mit CDU/CSU...... 301 C Tagesordnungspunkt 1): Karl-Heinz Funke, Bundesminister BML...... 304 D Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Siegfried Hornung CDU/CSU ...... 306 A und der Fraktion der PDS eingebrachten Ulrich Heinrich F.D.P...... 307 D Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Regelungen – Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 308 D Wohngeldanpassungsgesetz (Drucksa- che 14/19)...... 274 C Kersten Naumann PDS...... 310 B Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU ...... 274 C Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU.. 311 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN ...... 276 B NEN...... 313 B Franz Müntefering, Bundesminister BMV ...... 276 C Matthias Weisheit SPD...... 314 C (Bayreuth) F.D.P...... 279 C Ulrich Heinrich F.D.P...... 315 A Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 281 A Nächste Sitzung ...... 316 C Dr. Winfried Wolf PDS ...... 282 B Christine Ostrowski PDS...... 283 D Anlage Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU ...... 284 B Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 317 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 197

(A) (C)

5. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Guten Morgen, liebe Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Matthias Wissmann von der CDU/CSU-Fraktion. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: 1. Fortsetzung der Aussprache zurRegierungser- Matthias Wissmann (CDU/CSU): Herr Präsident! klärung des Bundeskanzlers Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat mit seiner Regierungserklärung hohe Anforderungen an die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Phantasie der Mitglieder des Bundestages gestellt, heutige Aussprache bis 18 Uhr dauern. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Ernst Schwanhold [SPD]: Schon ist er über- fordert!) Wir kommen zunächst zum Themenbereich Wirt- schaft und neue Länder. denn viel Konkretes zur Wirtschaftspolitik war nicht zu hören. (B) Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusammengeführt hat die rotgrüne Koalition (D) der den Zusatzpunkt 1 auf: Wille zur Macht. Jetzt sind Sie – wie wir in Ihrer Regie- 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. rungserklärung, Herr Bundeskanzler, gespürt haben – in Uwe-Jens Rössel, Dr. Christa Luft, Maritta Bött- dem Dilemma, was Sie in der Wirtschafts- und Finanz- cher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der politik konzeptionell Richtiges mit der neugewonnenen PDS Macht anfangen sollen. Besonders deutlich wird dieses Dilemma in derPersonalkonstellation. Mittlerweile Novellierung des Gesetzes über die Feststel-kennen wir mindestens fünf, die den Anspruch erheben, lung der Zuordnung von ehemals volkseige-Wirtschaftspolitik für Deutschland zu gestalten: nem Vermögen (Vermögenszuordnungsgesetz – VZOG) und des Zuordnungsergänzungsge- (Zuruf von der SPD: Das wollten Sie doch setzes (ZOEG) auch einmal!) – Drucksache 14/17 – Da ist der Kanzler; da ist sein Adlatus in Gestalt von Minister Hombach; da ist sein Überschatten in Gestalt Überweisungsvorschlag: des Finanzministers und SPD-Chefs ; Rechtsausschuß (federführend) und dann gibt es zwei Persönlichkeiten mit dem Namen Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Müller – den neuen Wirtschaftsminister und die Ehefrau Ausschuß für Wirtschaft und Technologie von Oskar Lafontaine. Haushaltsausschuß ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. , Lachen bei der SPD und beim BÜND- Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS NIS 90/DIE GRÜNEN – Ingrid Matthäus- Maier [SPD]: Macho! Macho!) Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in Mecklenburg-Vorpommern Meine Damen und Herren, zur Zeit bildet sich fol- gender Eindruck heraus: In diesem Fünferkreis ist einer – Drucksache 14/25 – für die harten Fakten der Wirtschafts- und Finanzpolitik Überweisungsvorschlag: zuständig – das ist Oskar Lafontaine –, und drei – der Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder (federfüh- Bundeskanzler, sein Adlatus Hombach und möglicher- rend) weise auch Sie, Herr Müller – sollen diese veraltete Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Wirtschaftspolitik mit modernen Vokabeln möglichst Haushaltsausschuß günstig verkaufen. Mit diesen Inszenierungen Eindruck 198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Matthias Wissmann (A) zu machen , wie es Ihnen im Wahlkampf – das muß man Unübersehbar sind die Alarmsignale, die Ihre Regie- (C) Ihnen zubilligen– geglückt ist, wird Ihnen in der Wirt- rung in die Wirtschafts- und Finanzwelt aussendet. Nur schafts- und Finanzpolitik, wenn sie so falsch bleibt, wie mühsam läßt sich der Grundsatzkonflikt zwischen dem sie angelegt ist, mit Sicherheit nicht über eine ganzeFinanzminister und der Spitze der Deutschen Bundes- Wahlperiode gelingen. bank und der Spitze der Europäischen Zentralbank ver- schleiern. Während für unsere Währungshüter – Gott sei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dank – Geldwertstabilität nach wie vor höchste Be- Die Leitidee Ihrer Wirtschaftspolitik, Herr Bundes- deutung hat, sieht man das am Kabinettstisch wohl kanzler – das wissen Sie, wie wir gespürt habendeutlich –, lockerer. Ich kann nur sagen: Keynes läßt grü- müßte eigentlich sein, so zu tun, als wäre Bewegung in ßen. Auch er ist gefährlich leichtfertig mit der Inflation der Sache, aber im wesentlichen an der bewährten Wirt- umgegangen. Für ihn war sie Korrekturfaktor für die schaftspolitik der früheren Regierung so wenig wieLöhne. Die Arbeitnehmer sollten kräftige nominale möglich zu ändern. Denn gerade die Ergebnisse desLohnerhöhungen bekommen. Über die Inflation wurde letzten Jahres sind offensichtlich gut: 0,7 Prozent Preis- die reale Kaufkraft dann wieder kaputtgemacht. Das steigerungsrate – das ist eine Preisstabilität wie seltennannte Keynes Geldillusion. zuvor –, im Vergleich zum Vorjahr 400 000 Arbeitslose Doch wir wissen heute, daß sich die Menschen nicht weniger – selten hatten wir einen so starken Rückgang täuschen lassen und daß sich auch die Wirtschaftskreis- der Arbeitslosigkeit in nur einem Jahr – und 2,5 bisläufe durch falsche Theorien nicht positiv beeinflussen 3 Prozent reales Wirtschaftswachstum. Die deutsche lassen. Wenn Inflation wieder zum realen Faktor in der Wirtschaft ist hinter den USA und Japan international deutschen Wirtschaftspolitik wird, dann muß jeder Un- die Nummer drei. Beim Export sind wir – mit wiederternehmer und jeder Gewerkschafter seine Vorstellun- steigender Tendenz – sogar die Nummer zwei. gen von zukünftigen Preisen und Löhnen mit einem Eigentlich sollte die neue Regierung dankbar sein,satten Inflationsaufschlag versehen. Löhne und Preise daß sie unter so günstigen Bedingungen starten kann.schaukeln sich dann wieder aneinander auf. Die Inflati- Doch statt einfach und pragmatisch zu regieren, begin- onsangst nährt die Inflation. nen Sie unter der Federführung Oskar Lafontaines, La- Die Hinnahme weichen Geldes als Mittel der Wirt- denhüter aus den 70er Jahren in den Mittelpunkt Ihrerschaftspolitik hat Deutschland in den 70er Jahren in die Politik zu stellen:stärkerer staatlicher Einfluß und Massenarbeitslosigkeit geführt, bei gleichzeitig galop- überall, wo möglich,Umverteilung. Schon tauchen pierender Preisentwicklung. Der Satz von Helmut wieder die alten Theorien auf, die in unserem Land inSchmidt, daß ihm 5 Prozent Inflation lieber seien als den 70er und zu Beginn der 80er Jahre große wirtschaft- 5 Prozent Arbeitslosigkeit, wurde von der Realität bitter (B) liche und soziale Schwierigkeiten bereitet haben. eingeholt. Noch 1973 gab es 270 000 Erwerbslose.(D) Schon zehn Jahre später, am Ende der Ära Schmidt, gab (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ihre waren es – ohne die Herausforderung der Wiedervereinigung, nicht sehr erfolgreich!) ohne die heute vorhandene Verknüpfung der Welt- Wenn man den offiziellen und inoffiziellen Mitglie- märkte – allein in Westdeutschland 2,3 Millionen Er- dern dieser Regierung glauben darf, so hofft Rotgrün in werbslose. der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf das große Geld- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Denken ausgeben. Die verlockende Vorstellung, es müsse nur Sie an die Weltwirtschaftskrise! Das wissen mehr Geld unters Volk kommen und dann würden sich Sie doch ganz genau!) die Probleme des Arbeitsmarkts von selbst lösen, hat sich aber auch schon in der Vergangenheit als In die den 70er Jahren lag die Inflationsrate bei durch- Münchhausen-Geschichte der modernen Wirtschaftspo- schnittlich über 5 Prozent, in der Spitze sogar bei litik erwiesen. Sich auf diese Weise am eigenen Schopf 7 Prozent. Schmidt hatte Inflation und Arbeitslosigkeit aus dem Sumpf zu ziehen ist leider mangels festengleichermaßen erreicht. Grundes immer schon zum Scheitern verurteilt gewesen. Der Streit zwischen Angebots- und Nachfrageorien- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tierung in der Wirtschaftspolitik ist kein reiner Theori- der F.D.P.) enstreit. Die keynesianische Wirtschaftstheorie hat nicht nur in der Praxis versagt. Sie ist auch eine unehrliche Überlegungen, verstaubte Ideen aus der IdeenkisteTheorie, weil sie darauf setzt, daß die Menschen die Ge- von Lord Keynes wiederzubeleben, sind nicht nur Ge- setzmäßigkeiten, die der Wirtschaft zugrunde liegen, genstand von gelehrigen Aufsätzen und von Talk-Show- nicht erkennen. Eine Politik, Herr Bundeskanzler, die Runden der Familie Lafontaine, darauf setzt, die Menschen zu täuschen, darf keine neue (Widerspruch bei der SPD – Dr. Peter Ram- Chance in Deutschland erhalten. sauer [CDU/CSU]: Ist schon richtig so!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sondern sie sind bedauerlicherweise inzwischen auch – Sie hat sich in der Vergangenheit nicht bewährt, und sie in gefährlicher Art – zu realer Politik von Rotgrün ge- wird sich auch in Zukunft nicht bewähren. worden. Wenn Ihr Finanzminister für die gesamte Bundesre- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gierung daran festhält, dann paßt das Wort Genera- NEN]: So schnell sind wir!) tionswechsel auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 199

Matthias Wissmann (A) noch weniger als auf jedes andere Thema. Gegenwärtig Gift für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Gift für(C) müssen alle – nicht nur in Deutschland; schauen Sie sich die Konjunktur! die Wirtschaftspresse in Amerika, in Frankreich, in London an – den Eindruck haben, diese Regierung habe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – zwar neue Gesichter, aber mindestens in der Wirt- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles Pa- schafts- und Finanzpolitik ein völlig veraltetes, unmo- rolen!) dernes Konzept. Meine Damen und Herren, völlig planlos stehen ne- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ben den Steuerreformplänen die neuen Ökosteuern. Mit einer Steuer- und Finanzpolitik zur Schaffung von mehr Meine Damen und Herren, wenn wir zu einer höheren Arbeitsplätzen hat das wenig zu tun. Wir müssen wis- Preissteigerungsrate kommen, dann betrifft das vor al- sen, diese Ökosteuerpläne sind auch höchst unsozial und lem den ganz normalen Bürger, den sogenannten kleinen familienfeindlich. Die Regierung will, daß mit dem Geld Mann, der Monat für Monat mit dem auskommen muß, aus der Ökosteuer die Rentenversicherungsbeiträge ge- was er auf dem Gehaltszettel hat, und das Wenige, was senkt werden. Davon profitiert ja wohl vor allem derje- ihm am Monatsende bleibt, aufs Sparbuch bringt. Fein nige, der ein hohes sozialversicherungspflichtiges Ein- heraus ist nur der, der sein Vermögen in Aktienpaketen kommen hat. Draufzahlen wird die Familie, bei der eine oder Immobilien angelegt hat, größere Wohnung geheizt werden muß, bei der die (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- Waschmaschine ständig läuft, bei der an jedem Morgen ben doch das System geschaffen!) viel Wasser verbraucht werden muß, bei der mittags zu Hause gekocht wird, bei der ein Familienmitglied im denn sie behalten ihren Wert auch dann, wenn das Geld Dienste von Familie und Kindern mit dem Auto unter- an Wert verliert. wegs ist.

Wir halten diese Konzeption für falsch. Auch Ihre Die Wahrheit ist: Ihr Ökosteuerplan ist kein Plan für Steuerkonzeption setzt auf Massenkaufkraft, auf diemehr Ökologie, sondern ein Plan, der gerade Familien Erzeugung einer künstlichen Nachfrage, die die Preise in mit Kindern in erheblichem Maße zur Kasse bitten wird. die Höhe treiben wird. Was nützen ein paar Mark fünf- Deswegen können wir solchen Plänen nicht zustimmen. zig an Steuerersparnis für den Normalbürger, wenn er dann an der Ladentheke höhere Preise zahlt und über (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Energiesteuern in starkem Maße zur Kasse gebeten wird? Dann wird er unter dem Strich nicht mehr, son- Meine Damen und Herren, wie man ökologisch rich- dern weniger Geld übrig haben. tig handeln kann, haben wir in der letzten Wahlperiode (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) an zwei Beispielen bewiesen: Wir haben eineGebühr für Lkws auf deutschen Autobahnen, die eine sinnvolle Die „Süddeutsche Zeitung“, nicht gerade im Ver-ökologische Lenkungsfunktion wahrnimmt, und die dacht, es mit der neuen Regierung schlecht und mit der emissionsbezogene Kfz-Steuer eingeführt. Seitdem neuen Opposition gut zu meinen, hat vor wenigen Tagen sind 500 000 Katalysatoren neu eingebaut worden. Die geschrieben, die Steuerkonzeption der neuen Regierung Luft wird weniger verpestet. Wir haben nichts gegen sei mit Verteilungszielen überladen, sie führe zu einer intelligente Ideen und europäisch abgestimmte ökologi- neuen Komplizierung statt zu einer wirklichen Vereinfa- sche Impulse, chung. Professor Rose von der Universität Heidelberg, einer unserer angesehenen Steuer- und Finanzrechtler, (Hans Martin Bury [SPD]: Aber Sie haben hat gesagt, dieses Steuerkonzept sei in Wahrheit „Raub- keine!) rittertum gegenüber dem Mittelstand“. aber mit Konzeptionen wie einer Schröpfsteuer zu La- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sten der Familien und neuen Verkomplizierungen des Steuerrechts auf Grund höchst unklarer Definitionen in Meine Damen und Herren, wenn es uns gemeinsam bezug auf die Frage, welche Betriebe energieintensiv darum gehen muß, trotz einer um 400 000 geringeren und welche nicht energieintensiv sind, werden wir nicht Zahl von Arbeitslosen weitere Schritte zur Beschäfti- gemeinsame Sache machen. gungssicherung und zur weiteren Reduzierung der Ar- beitslosigkeit zu unternehmen, dann gibt es doch nur ein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wirkliches Grundgesetz: Neun von zehn neuen Arbeits- plätzen kommen aus kleineren und mittleren Betrie- Meine Damen und Herren, wirtschafts- und finanz- ben. Wir haben heute im Westen Deutschlands gegen- politisch sind Sie auf einem mehr als fragwürdigen Weg. über 1982 noch etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätze mehr. Die „Zeit“, gegenüber der neuen Regierung bisher nicht Neun von zehn kommen aus kleinen und mittleren Be- sehr kritisch, sondern höchst freundlich eingestellt, hat trieben. Sie können rechnen, wie Sie wollen, über eines heute ihren Leitartikel zu Ihrer Regierungskonzeption, ist sich die gesamte deutsche Finanz- und Steuerfach-Herr Bundeskanzler, mit dem Satz überschrieben: welt einig, und jeder Bürger, der rechnen kann, kann es nachvollziehen: Ihr Steuerkonzept belastet unter dem Der Fehlstart Strich genau die kleinen und mittleren Betriebe, die neue Schröder wird nie wieder so stark sein wie jetzt. Arbeitsplätze schaffen sollen, wesentlich mehr. Das ist Warum macht er nichts daraus? 200 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Matthias Wissmann (A) Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Ideen von Oskar Absturz oder Wiederaufstieg. Diese Bundesregierung(C) Lafontaine, setzt auf Wiederaufstieg. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und Werner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Müller!) 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salz- gitter] [SPD]: Sehr gut!) wie sie in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt sind, die auf einer falschen Theorie aufbauen und zu falschen Die nationalen und internationalen Wertpapierbörsen praktischen Resultaten führen, folgen, dann erreichenvertrauen der neuen Bundesregierung präzise seit dem Sie in unserem Land nicht weniger Arbeitslosigkeit,Wahltag. nicht mehr Investitionen und nicht neue Wettbewerbsfä- (Beifall bei der SPD – Lachen bei der higkeit, sondern Sie bewirken das Gegenteil. Wir brau- CDU/CSU) chen die weiteremarktwirtschaftliche Erneuerung. Sehr bewußt hat nach der Wahl, ausweislich des Wir brauchen die Aufnahme der Ideen Ludwig Erhards, Vorwortes, Herr Henkel ein Buch mit dem sehr bezeich- die uns, mit neuen Impulsen versehen, als Brücke insnenden Titel „Jetzt oder nie“ präsentiert. 21. Jahrhundert dienen können. Wir brauchen weniger und nicht mehr Staat. Wir brauchen eine wirkliche Ent- (Heiterkeit bei der SPD) lastung aller, der Bürger und der Unternehmen. Am we- Ich wünsche mir sehr, daß sich auch die Wirtschaftsver- nigsten brauchen wir ein so veraltetes Wirtschafts- und bände an diese Devise „Jetzt oder nie“ halten. Finanzkonzept für Deutschland wie Ihres. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Herr Bundeskanzler, ich hätte Ihnen lieber in meiner 90/DIE GRÜNEN) Rede zur Wirtschaftspolitik gesagt: Gut, daß Sie moder- Dazu biete ich den Verbänden eine sachliche, zu- nisieren. kunftsorientierte und vor allem auch redliche Zusam- (Ernst Schwanhold [SPD]: Hätten Sie es mal menarbeit an. Denn ich bin mit den Wirtschaftsverbän- getan! Das war Ihre Aufgabe!) den einig, daß wir dringend einiger Grundsatzreformen bedürfen, zum Beispiel bei den Unternehmenssteuern, Die gesamte Wirtschafts- und Finanzwelt ist sich dar-um ein Steuersystem wie in den westlichen Konkur- über einig, daß Sie in der Sache leider das falsche Kon- renzländern zu bekommen. Diese Bundesregierung wird zept haben. Leider haben Sie auch bei der Auswahl der entsprechend handeln. Sie hat versprochen, was seit Personen höchst fragwürdige Impulse gesetzt. Daß Ih- Jahrzehnten jede Vorgängerregierung hätte tun können: nen Herr Stollmann von der Fahne gegangen ist, zeigt ja schrittweise Herbeiführung der Grenzsteuersätze von nur, daß einer, der moderne Auffassungen vertritt, mit 35 Prozent. (B) Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik nichts zu tun haben (D) will. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Im Gegenzug sollen die Gewinne schrittweise einer breiteren Versteuerung zugeführt werden. Niedrigere Grenzsteuersätze sind vernünftig und richtig, gerade Das Wort hat nun Präsident Wolfgang Thierse: auch um ausländische Investoren in Deutschland wieder der Bundesminister Werner Müller. verstärkt zurückzugewinnen. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Macht doch Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft mal! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: und Technologie: Herr Präsident! Meine Damen und Wir regieren erst seit ein paar Tagen!) Herren! Wirtschaftspolitik ist für mich weit weniger eine Angesichts der vielen, nicht immer ganz redlichen Frage von rechts oder links als vielmehr eine Frage von Kritik bitte ich zu beachten, es gilt jetzt nicht mehr, was falsch oder richtig, von zukunftslos oder zukunftsfähig. viel zu lange galt: Eine Reform wird vorgeschlagen, be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten redet, zerredet, und am Ende bleibt alles beim alten, so des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlecht es auch war. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Ich will eine Wirtschaftspolitik betreiben, die möglichst 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salz- alle von Ihnen unterstützen können und unterstützen gitter] [SPD]: So war das!) werden. Die Wirtschaft darf davon ausgehen, daß diese Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) desregierung grundlegende Reformen nicht nur will, Sofort nach Arbeitsbeginn habe ich denDialog mit sondern sie endlich durchführt, den Wirtschaftsverbänden begonnen. Sie haben mir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS bis zu 30 Seiten lange Ausarbeitungen mit Vorschlägen 90/DIE GRÜNEN) gegeben, was nun alles dringend geändert werden muß. und zwar nicht etwa, um die Wirtschaft und die Gesell- Mein einfaches Fazit nach 14 Tagen lautet: Die Verbän- schaft zu ärgern, sondern um sie in eine sichere Zukunft de sehen die Wirtschaft hart am Abgrund. Sie sagen, zu führen. zuletzt sei die Lage so dramatisch schlecht geworden, daß es nur noch zwei Perspektiven gebe: endgültiger ( [CDU/CSU]: Oh je!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 201

Bundesminister Dr. Werner Müller (A) – Haben Sie Angst vor einer sicheren Zukunft? sammenarbeit mit den Grünen mit sehr viel Zuversicht(C) entgegen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS geordneten der PDS) 90/DIE GRÜNEN) Das gilt auch für die sogenannteÖkosteuer. Wir le- Manche erwarten – vielleicht sogar mit Vorfreude –, daß ben in einer sozialen Marktwirtschaft, die marktgesetz- diese Zusammenarbeit schwierig wird, zum Beispiel auf lich peu à peu an Substanz verliert. Der Faktor Arbeit ist dem Feld der Energiepolitik. Das sehe ich zur Zeit nicht sehr teuer geworden. Der Faktor Kapital steht im inter- so. nationalen Wettbewerb. Diese beiden Faktoren Kapital (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Na und Arbeit sind nicht mehr so stabil in den Prozeß klar!) der sozialen Marktwirtschaft eingebunden, wie es eine sichere Zukunft erfordert. Aber ich will Ihnen die Vorfreude nicht nehmen; sie bleibt im Leben oft das einzige. Tatsächlich besteht aber jeder Produktionsprozeß aus drei Faktoren: Arbeit, Kapital und Natur – Natur in (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Form von Boden, Luft, Wasser oder auch zum Beispiel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Energie. Man kann auch diesen dritten Faktor als Quelle der Staatsfinanzierung benutzen, also zum Beispiel den Lassen Sie mich am BeispielKernenergie erklären, Energieverbrauch besteuern. Dafür trete ich ein, voraus- wie ich mir die Kooperation mit der Wirtschaft vorstelle. gesetzt, diese zusätzliche Steuereinnahme wird voll von Die Wirtschaft forderte das Offenhalten aller Ener- der Belastung der Faktoren Kapital und Arbeit abgezo- gieoptionen, insbesondere der Kernenergieoption, und gen, jetzt vor allem von den Kosten des Faktors Arbeit Teile der Politik schlossen sich dieser Forderung an. im Prozeß. Dann fragte die Politik die Wirtschaft: Was wollt ihr denn konkret dafür tun? Die Antwort der Wirtschaft (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS lautete: jedenfalls auf Jahrzehnte hin kein Kernkraftwerk 90/DIE GRÜNEN) bauen. Ich darf Ihnen versichern: Die Bundesregierung wird Ich will für Forderungen der Wirtschaft, wenn sie bei dieser Reform umsichtig vorgehen. Sie wird bei-stimmig sind, dann gerne den Kopf hinhalten – auch in spielsweise darauf achten, daß keine internationalensehr streitigen Kontroversen –, wenn ich zuvor sicherge- Wettbewerbsnachteile und auch keine unzumutbarenstellt habe, daß die Wirtschaft mich hernach nicht mehr Härten für die Betriebe entstehen. im Regen stehen lassen kann. (B) Bei meinem ersten Gespräch mit Wirtschaftsverbän- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) den hörte ich zur Ökosteuer nur Kritik. Am Ende stand des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das vermeintlich stärkste Argument: Wenn die Öko- steuer wirklich Lenkungswirkung entfaltet, dann zerbrö- Nochmals beispielhaft: Wenn ein Kernkraftwerksbe- selt die Steuerbasis. Dem entgegne ich: Wenn das eines treiber von mir das Durchsetzen einer Laufzeit von 60 ferneren Tages auf Grund der Besteuerung des Natur-Jahren fordert, dann würde ich ihm am liebsten erst verbrauchs eintritt, dann passiert genau das, was bei den einmal die Garantie abnehmen, daß er dieses Kernkraft- Faktoren Arbeit und Kapital in den letzten Jahren zu-werk dann auch zwangsweise 60 Jahre betreibt. Ich nehmend schon passiert ist. weiß, das geht nicht. Aber wir sind uns alle einig: Die Frage wäre vom Tisch. Der fundamentale Unterschied ist: Es muß mit aller Macht verhindert werden, daß sich die Einbindung von Ich möchte also redlichen Klartext. Die Bundesregie- Kapital und Arbeit in das System der sozialen Markt-rung wird nach einem Jahr das Betreiben von Kern- wirtschaft weiter lockert. Denn das wäre eine immer ge- kraftwerken hierzulande per Gesetz entschädigungsfrei fährlicher werdende negative Entkoppelung. Wenn sich in einen vernünftigen Auslaufprozeß überführen, der der Wirtschaftsprozeß aber längerfristig vom zuneh-einigen zentralen Kriterien genügt: menden Naturverbrauch entkoppelt, so ist das eine Erstens. Die deutsche Energieversorgung bleibt vor- sehr positive und sehr wünschenswerte Entkoppelung. ausschauend versorgungssicher und international wett- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS bewerbsfähig. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Zweitens. Die Kapitalkraft der deutschen Energiever- der PDS) sorger bleibt erhalten und wird für eine neue Investiti- Die Bewertung der Natur als eigenständigen Faktoronsoffensive genutzt. bewirkt ein neues Denken mit vielen Chancen für die Drittens. Die Energieversorgung bekommt zuneh- Renaissance der sozialen Marktwirtschaft. mend zukunftsfähige Strukturen. Auch vor diesem Hintergrund ist es kein gesell-Viertens. Die Energieversorger und der Handel mit schaftspolitischer Zufall, daß eine Partei Regierungsver- Energie gewinnen wieder eine breite gesellschaftliche antwortung trägt, die sich als Anwalt der Natur bildete, Akzeptanz. als die wenigen Anwälte der Natur in den anderen Par- teien noch milde belächelt wurden. Ich sehe der Zu- (Beifall bei der SPD) 202 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesminister Dr. Werner Müller (A) Es ist meine ganz feste Absicht, das vorzulegendedenen, die diese Netze lediglich zur Durchleitung ihrer (C) Kernenergiebeendigungsgesetz zu einem besonders gu- Gesprächsminuten nutzen. ten Beispiel der Kooperation von Wirtschaft und Politik (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu machen. Die Nutzungsentgelte müssen stimmen. Hier ist die Re- Das neue Bundesministerium für Wirtschaft und gulierungsbehörde für Post und Telekommunikation am Technologie wird dafür sorgen, daß der Wettbewerb als Ball. – Eine differenzierte Regulierung der Nutzungs- Motor von Innovationen und Investitionen funktionsfä- entgelte will ich für die Zukunft nicht ausschließen. hig bleibt. Hier spielen in meinem Geschäftsbereich auch das Bundeskartellamt und die Regulierungsbehörde Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie zu stär- für Telekommunikation und Post eine weiterhin unver- ken ist ein wichtiges Element meiner Aufgaben. In der zichtbare Rolle. Luft- und Raumfahrt kommt es jetzt darauf an, die Inte- gration in Europa weiter voranzutreiben und die Rah- Innovationen werden darüber hinaus mit unserer For- menbedingungen weiter zu verbessern, auch durch schungs- und Technologiepolitik gezielt gefördert und nachhaltige Förderung. Im Schiffbau gilt es, die interna- vorangetrieben. Die Außenwirtschaftsabteilung meines tionalen Wettbewerbsverzerrungen abzubauen und die Hauses wird sich auch künftig dafür einsetzen, daß die Forschung auszubauen. Märkte weltweit offen bleiben. Das BMWi wird die Au- ßenwirtschaftsförderung weiter modernisieren. Die effi- Industriepolitik heißt für mich vor allem, branchen- ziente Hilfestellung für deutsche Unternehmen auf allen übergreifende Standortbedingungen für die deutsche In- Märkten ist unverzichtbarer Teil unserer Wirtschaftspo- dustrie zu verbessern. Der Technologiepolitik kommt litik. dabei eine besondere Rolle zu. Ich will sie konzeptionell auf Zukunftstechnologien und die Förderung von klei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen und mittleren Unternehmen ausrichten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Daß Arbeitsplätze entstehen, ist das überragende 90/DIE GRÜNEN) Ziel unserer Politik für das Handwerk, den Mittelstand und die Industrie – und das alles namentlich in den neu- In der Außenwirtschafts - und in derHandelspolitik en Bundesländern. Dafür werde ich in den fünf Europäi- werde ich auf eine neue, umfassende multilaterale Ver- schen Räten – für den Binnenmarkt, für Verbraucher, für handlungsrunde unter dem Dach der WTO hinwirken. Energie, für Industrie und für Telekommunikation – ak- Die Werbung für unser Land als Ziel ausländischer Di- tiv eintreten. rektinvestitionen soll verstärkt werden. In der Mittelstandspolitik sind mir folgende Aspekte (B) Meine Damen und Herren, allen Kritikern (D) und besonders wichtig: die verbesserte Finanzierung innova- Zweiflern möchte ich deutlich sagen: Hier steht der tiver Vorhaben mit Risikokapital zum Beispiel durchBundeswirtschaftsminister. Sie werden sich noch freuen Wagnisfonds, ein besseres Klima für Existenzgründer, über das, was alles die Mitarbeiter des Wirtschafts- und auch an Schulen und Hochschulen, das Einrichten ge-Technologieministeriums in den nächsten vier Jahren an zielter Starthilfen und die Bündelung und Konzentration Initiativen entfalten werden – für die Industrie, den der bisher doch sehr verzettelten Mittelstandsförderung. Mittelstand, das Handwerk, für Produzenten und Kon- sumenten, kurzum: für die Wirtschaft und die Menschen (Beifall bei der SPD und dem BÜND- in unserem Lande. Wir werden neue Wege wagen und NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Zukunft gewinnen. Dr. Christa Luft [PDS]) Vielen Dank. Positive Auswirkungen auf die Investitionsbereit- schaft von kleinen und mittleren Unternehmen erwarte (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem ich von einer Zinssenkung bei den ERP-Förderkrediten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Ich habe deshalb entschieden, daß die Zinssätze für neue Abgeordneten der PDS) ERP-Kredite ab sofort um einen halben Prozentpunkt auf 4,25 Prozent bzw. in den neuen Ländern auf 3,75 Prozent zurückgenommen werden. Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Kollege , F.D.P.-Fraktion. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Bei innovativen Vorhaben sind die Konditionen zumsehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen Teil noch günstiger. und Kollegen! Der Bundeskanzler hat in seiner Regie- rungserklärung nach Kräften versucht, der deutschen Im Mittelstand entstehen viele neue Arbeitsplätze im Wirtschaft die Besorgnis zu nehmen, hier insbesondere Bereich der neuen Techniken, der Information und den mittelständischen Unternehmen. Dies ist ihm Kommunikation. Nirgendwo sehen wir das zur Zeit gründlich mißlungen, wie die Reaktionen in der Öffent- deutlicher als bei den privaten Telefondienstleistern. lichkeit zeigen. Den Wettbewerb brauchen wir dort auch in Zukunft. Es darf aber nicht zu einer Schieflage zwischen den Unter- Herr Minister Müller, auch Ihre Bekenntnisse zur Zu- nehmen kommen, die in eigene Netze investieren, und kunft und zum Aufstieg sind schöne Worte. Wir werden Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 203

Paul K. Friedhoff (A) aber konkrete Taten sehen müssen. Das, was wir bislang Die Inflation trifft gerade die Schwächeren in der Be-(C) dazu gehört haben, wird dem, was Sie hier gesagt haben, völkerung. Deshalb ist die Lafontainesche Inflationspo- nicht gerecht. litik zutiefst unsozial. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Für die F.D.P. war der Abschied von der D-Mark nur Von dem, was Sie zurTelekommunikation gesagt unter der Voraussetzung strikter Geldwertstabilität ak- haben, glaube ich nicht, daß es ermutigende Worte für zeptabel. Der Euro muß genauso hart werden wie die D- Unternehmensgründer gerade in diesem Bereich waren, Mark. nämlich in dem Bereich von Dienstleistungen. Sie soll- ten sich noch einmal gut überlegen, was auf diesem Ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- biet in Ihrem Hause offensichtlich angedacht wird. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.) Dafür haben wir Deutschen jahrelang in Europa gewor- ben, und wir haben unsere europäischen Partner über- In vielen kleinen und mittleren Unternehmen gehtzeugen können. Doch jetzt setzt die rotgrüne Bundesre- nämlich schon wenige Tage nach der Amtsübernahme gierung die Stabilität des Euro leichtfertig aufs Spiel. von Rotgrün mehr die Angst um. Wenn ich „in den klei- Wirtschaftspolitische Reformen setzt sie nicht fort, sie nen und mittleren Unternehmen“ sage, dann meine ich dreht vielmehr zurück. Statt dessen will sie lieber die nicht nur die Unternehmer selbst, sondern auch die Be- Geldversorgung politisch manipulieren. Inflation statt schäftigten, denn deren Arbeitsplätze sind von der Wett- Reformen, das ist letztendlich das wirtschaftspolitische bewerbsfähigkeit dieser Betriebe abhängig, und dieund währungspolitische Kredo der rotgrünen Bundesre- scheint nicht gestärkt zu werden. Statt dessen hat dergierung. Deshalb attackiert das Lafontainesche Küchen- Bundeskanzler jede Warnung vor den verheerendenkabinett die Bundesbank in einer Weise, die ohne Bei- Folgen Lafontainescher Wirtschaftspolitik wieder ein- spiel ist. mal in rhetorische Heißluft aufgelöst. Der angebliche (Beifall bei der F.D.P.) Schröder-Aufschwung entpuppt sich schon in den ersten Tagen als ziemlich lahme Ente. Das Problem des Kanz- Deutschland war bisher der politische Garant für die lers ist, daß selbst die begabtesten politischen Darsteller Unabhängigkeit der EZB und die Stabilität des Euro. auf Dauer der harten ökonomischen Realität nicht aus- Soll es nun damit vorbei sein? Meine Damen und Her- weichen können. ren, die deutsche Öffentlichkeit muß jetzt wachsam sein. Wir brauchen eine Protestbewegung gegen die drohende (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- rotgrüne Destabilisierung des Euro. ten der CDU/CSU) (B) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (D) Konkrete wirtschaftspolitische Antworten sind ge- ten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – fragt. Die hören wir aus dem Regierungslager bisher nur Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Über die vom Finanzminister, der die Richtlinienkompetenz Protestbewegung ist am 27. September ent- schnellstens an sich gezogen hat. Wo bleibt das Macht- schieden worden!) wort des Bundeskanzlers, wenn Herr Lafontaine die Un- Zweitens. Nie zuvor ist eine Bundesregierung mit ei- abhängigkeit der Zentralbank in Frage stellt und dennem derart mittelstandsfeindlichenWirtschaftspro- Mittelstand mit seinen Steuerplänen an die Wandgramm angetreten. drückt? (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Ze- ten der CDU/CSU) che für die sogenannte Steuerreform wird natürlich von Sind das die Zeichen der Neuen Mitte? Die rotgrüne den kleinen und mittleren Unternehmen bezahlt werden. Bundesregierung vollzieht gerade einen grundlegenden Die Verteuerung der Energiekosten wird diese Betriebe Kurswechsel der Wirtschaftspolitik, sozusagen einen Pa- belasten. Eine adäquate Kompensation ist nicht in Sicht. radigmenwechsel. Wir stehen vor einem elementarenEs wird zur Hatz auf sogenannte Scheinselbständige ge- Bruch mit den Traditionen der sozialen Marktwirtschaft. blasen, um Löcher in der Rentenversicherung zu stop- Ich will das an drei Punkten festmachen. fen, die die rotgrüne Regierung durch die Rücknahme der Rentenreform selber aufreißt. Aus diesem Grund Erstens. Die Unabhängigkeit der Bundesbank ist vor werden auch die geringfügigen Beschäftigungsverhält- dem Hintergrund von zwei Inflationen in diesem Jahr- nisse drastisch eingeschränkt. So wird der deutschen hundert immer ein Fixpunkt deutscher Nachkriegspolitik Wirtschaft gerade im Kleingewerbe und bei den Dienst- gewesen. Eine stabile Währung ist Grundvoraussetzung leistungen eine unverzichtbare Flexibilitätsreserve ge- für solides Wirtschaftswachstum, für soziale Sicherheit nommen. der Bürgerinnen und Bürger und für mehr Beschäfti- Meine Damen und Herren von der rotgrünen Bundes- gung. Eine laxe Geldpolitik führt hingegen allenfalls zu regierung, so machen Sie Beschäftigungschancen zu- konjunkturellem Strohfeuer und dann geradewegs in die nichte. Sie sind gerade dabei, ein gigantisches Pro- Inflation. gramm zur Förderung der Schwarzarbeit aufzulegen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) ten der CDU/CSU) 204 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Paul K. Friedhoff (A) Wir haben den Kündigungsschutz reformiert und da- Meine Damen und Herren, es gibt keine allgemeine (C) mit vor allem den kleinen Betrieben geholfen. Rotgrün Nachfrageschwäche in Deutschland. Die Probleme auf nimmt die Reform zurück. Wir haben die Lohnfortzah- dem Arbeitsmarkt sind nicht durch zu hohe Zinsen ver- lung im Krankheitsfall reformiert, und damit zu einerursacht. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt hängen mit massiven Kostenentlastung für die deutschen Unterneh- den hohen Kosten für den Faktor Arbeit zusammen und men beigetragen. Rotgrün nimmt die Reform zurück.vor allem damit, daß der Arbeitsmarkt durch Staatsein- Wir haben eine demographische Formel in die Renten- griffe und das Tarifkartell fast zu Tode reguliert worden versicherung eingeführt, um die Lohnzusatzkosten se- ist. riös zu senken und die Renten auf Dauer sicher zu ma- (Widerspruch bei der SPD) chen. Rotgrün nimmt die Reform zurück. Diese Strukturprobleme sind nur durch einen marktwirt- (Zuruf von der F.D.P.: Katastrophe!) schaftlichen Reformkurs für mehrWettbewerbsfähig- keit zu beheben. Damit wird kein Arbeitsloser in Deutschland neue Be- schäftigung finden. Mehr Menschen werden um ihren (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- Arbeitsplatz fürchten müssen. ben doch 29 Jahre lang daran mitgewirkt!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Davon aber will die rotgrüne Bundesregierung nichts ten der CDU/CSU) wissen. Die Folgen für den Arbeitsmarkt werden verhee- rend sein. Drittens: Das Bundeswirtschaftsministerium, meine Unter diesem Vorzeichen kann auch das vieldisku- Damen und Herren, hat seit der Zeit Ludwig Erhardstierte Bündnis für Arbeit nur ein Fehlschlag werden. Es eine zentrale ordnungspolitische Funktion innerhalb der müßte bedeuten: Senkung der Arbeitskosten und Dere- Bundesregierung und darüber hinaus. Das war für diegulierung der Arbeitsmärkte. Die rotgrüne Regierung Gegner der sozialen Marktwirtschaft schon immer ein macht gerade das Gegenteil. Es müßte bedeuten: lohn- Ärgernis. Aus diesem Grund hat der Finanzminister ei- politische Zurückhaltung, um den Produktivitätsfort- nen strategischen Schlag gegen das Ministerium geführt. schritt für Neueinstellungen nutzen zu können. Aber der Wichtige Bereiche werden aus dem Ministerium heraus- neue Finanzminister und die Gewerkschaften verkünden gelöst und in das Finanzministerium übertragen. Damit schon seit Monaten das Ende der Bescheidenheit. Ein wird das marktwirtschaftliche Wächteramt des Wirt-Bündnis für Arbeit müßte bedeuten: Reform der Flä- schaftsministeriums untergraben, und der Weg wird frei chentarife, um den Betrieben mehr Gestaltungsspiel- für Dirigismus und staatliche Ausgabenprogramme. Zu- raum zu geben. Aber davon sind wir weiter entfernt gleich wird eine Art Nebenkanzleramt für Herrn Lafon- denn je. taine geschaffen. (B) Die rotgrüne Koalition hat den Bürgern viel verspro- (D) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und seine chen, vor allem einen spürbaren Abbau der Arbeitslo- Frau!) sigkeit. Mit dieser Reformverweigerung wird der Abbau der Arbeitslosigkeit nicht gelingen. Ich will im Namen meiner Fraktion den Mitarbeitern des Wirtschaftsministeriums danken, die wegen ihrer (Ernst Schwanhold [SPD]: Wer hat eigentlich marktwirtschaftlichen Überzeugung das Haus verlassen von der Halbierung der Arbeitslosigkeit gere- müssen oder ins Abseits gestellt werden. Das gilt insbe- det?) sondere für Herrn Staatssekretär a. D. – so muß ich jetzt Sie verderben es sich mit denen, die Arbeitsplätze schaf- sagen – Klaus Bünger und für Herrn Professor Schatz, fen. Mit denen müssen Sie aber zusammenarbeiten, denn den früheren Vizepräsidenten des Kieler Instituts fürnur, wenn sie die Arbeitsplätze schaffen, können Sie Ih- Weltwirtschaft, die aus dem Ministerium ausscheidenre Versprechen auch erfüllen. müssen, um dem neuen Vulgär-Keynesianismus nicht im Wege zu stehen. (Beifall bei der F.D.P.) Meine Damen und Herren, mit Blick auf die verhee- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – rende Kehrtwende in der deutschen Wirtschaftspolitik Zurufe von der SPD: Oh! – Wilhelm Schmidt wird in diesen Wochen ständig über den neuen Finanz- [Salzgitter] [SPD]: Immer weiter so!) minister gesprochen und geschrieben. Dabei hat Meine Damen und Herren, der keynesianischeDeutschland auch einenneuen Wirtschaftsminister. Staatsinterventionismus wird heute nur noch von weni- Wir haben ihn ja eben hier erlebt. Müller heißt er, mit gen Außenseitern unter den Ökonomen als tragfähiges Vornamen übrigens Werner und nicht etwa Christa. Konzept betrachtet. Keynes hatte seine Theorien im üb- (Zurufe von der SPD: Oh! – Rezzo Schlauch rigen unter dem Eindruck der extremen Deflation Ende [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Platte hat der 20er, Anfang der 30er Jahre verfaßt. Damals sank einen Sprung!) das Preisniveau in Deutschland Jahr für Jahr um durch- Man muß das immer wieder sagen, auch wenn Ihnen das schnittlich 7 Prozent; das Bruttosozialprodukt ging um nicht paßt. Es ehrt Herrn Jost Stollmann, daß er schließ- durchschnittlich 4 Prozent zurück. Die damalige volks- lich doch noch erkannt hat, auf welches Spielchen er wirtschaftliche Situation auf die Gegenwart zu übertra- sich mit Rotgrün eingelassen hätte. gen ist völlig absurd. Die Konjunktur in Europa und den USA ist bisher trotz Asien- und Rußlandkrisen stabil (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und die Geldpolitik alles andere als restriktiv. NEN]: Wie eine Schellackplatte!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 205

Paul K. Friedhoff (A) Er hätte aber gut daran getan, vorher einmal das SPD- beispiellose Gemeinschaftsleistung der Menschen in den (C) Programm wirklich zu lesen. Herr Minister Müller hat es alten und in den neuen Bundesländern. Jetzt brauchen nach eigenem Bekunden gelesen, und er betont gern,die neuen Länder die Freiheit, um ihre Leistungskraft wie gut er sich mit Finanzminister Lafontaine versteht. auch ausspielen zu können. Das rotgrüne Experiment wird diese Freiheit nicht zulassen. Deshalb ist dieses (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Experiment für Deutschland so fatal, für die neuen wie Na bitte!) für die alten Bundesländer, für die Bürger und für die Ich zitiere ihn aus der „Frankfurter Allgemeinen Zei-Unternehmen, für die Rentner und die Sparer und vor tung“ vom Dienstag dieser Woche: „Wir verstehen uns allem für die, die keine Arbeit haben, die Arbeitslosen. prima, lachen auch viel miteinander.“ Ich danke Ihnen. (Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist ja gut!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Wir gönnen es Ihnen ja, Herr Minister, wenn Ihr ten der CDU/CSU) menschliches Harmoniebedürfnis durch den Finanzmi- nister befriedigt wird. Aber haben Sie schon einmal dar- über nachgedacht, daß diese Harmonie vielleicht etwas Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen. mit der völligen Entmachtung des Wirtschaftsministe- riums zu tun haben könnte? Alle Vorhaben des Hauses, so hört man jetzt aus dem Wirtschaftsministerium, sol- Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE len eng mit dem Kanzleramt abgestimmt werden, wobei GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! es keine Konfrontation mit dem Finanzministerium ge- Die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers und ben dürfe. Ist Ihnen wirklich nicht bewußt, Herr Mi-auch Ihre Rede, Herr Bundeswirtschaftsminister Müller, nister Müller, welche klägliche Nebenrolle Ihnen in die- haben deutlich gemacht: Wir haben nicht nur eine neue sem Spiel dann zugestanden wird, daß Sie in die Wirt- Regierung, sondern wir bekommen auch eine neue, mo- schaftsgeschichte der Bundesrepublik als derjenige Mi- derne und vor allen Dingen unideologische Wirtschafts- nister eingehen werden, der für den Abgesang auf diepolitik. große Tradition Ludwig Erhards stehen wird? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der sowie bei Abgeordneten der SPD – Wider- CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS spruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt eine F.D.P., die einen Herrn Rexrodt als Minister gehabt hat!) Ich wünsche Ihnen, Herr Minister Müller, eine glückli- che Hand und viel Erfolg bei der Führung Ihres um- (B) Drohende Gefährdung der Geldwertstabilität, Raub- strukturierten Hauses, in dem – zumindest war das zu le- (D) zug gegen die kleinen und mittleren Betriebe, Wende zu sen – künftig nicht mehr Beethovens Neunte, sondern einer neuen Politik des Staatsinterventionismus: Be-seine Chorphantasie Opus 80 zu hören sein wird, bei der kommen Kanzler und Wirtschaftsminister eigentlichSie sowohl den Taktstock führen, als auch die richtigen nicht mit, was in der Wirtschaftspolitik hier jetzt wirk- Töne anschlagen wollen – bei großem Chor und hof- lich angerichtet wird? Soll das die Politik der Neuenfentlich nicht mit allzu vielen externen Solisten. Also Mitte sein? Oder: Wo ist der Kanzleramtsminister Hom- viel Erfolg bei den konzertierten Aktionen, die Sie vor- bach? Schreibt er gerade an einem neuen Buch über die haben! Angebotspolitik? Ich bin einmal gespannt, was dabei alles noch herauskommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Besonders gespannt darf man ja auch auf die konkre- ten Entscheidungen in der Energiepolitik sein. Im Kern Sie haben wiederholt betont, daß Sie fest auf dem geht es der neuen Regierung offenbar dabei um dreiBoden der sozialen Marktwirtschaft stehen. Ich glaube, Dinge: erstens Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes das ist ein guter Ausgangspunkt. Also machen wir uns mit dem Ziel der Beschränkung des Wettbewerbs, der auf, gemeinsam Neuland zu beschreiten, beginnen wir nun einmal eingetreten ist, zweitens Verteuern voneine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik! Da Sie Energie durch Einführung von Ökosteuern und drittens auch an der Abwicklung der Kernenergie beteiligt sind, schnellstmöglicher Ausstieg aus der Kernenergie. Imhaben wir gleich am Anfang eine große, anspruchsvolle Ergebnis führen diese Maßnahmen zu Mehrbelastungen gemeinsame Aufgabe. für sämtliche Energieverbraucher, für die Industrie, für Während von Ihrem Vorgänger nur der Satz hängen- den Mittelstand und für die privaten Haushalte, mit all bleiben wird, daß die Wirtschaft in der Wirtschaft statt- den negativen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit un- findet, wollen wir als rotgrüne Koalition den Beweis serer Wirtschaft und die Arbeitsplätze in Deutschland. antreten, daß auch Ökologie in der Wirtschaft stattfindet. Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik der Wir brauchen den Aufbruch eines klassischen Indu- rotgrünen Bundesregierung wird gerade denneuen strielandes auf der Basis ökologischer Innovationen. Ländern schweren Schaden zufügen. Denn die neuen Denn nur durch nachhaltiges Wirtschaften werden wir Bundesländer werden ihren wirtschaftlichen Aufbaupro- auf Dauer den gesellschaftlichen Wohlstand sichern zeß nur dann verstetigen können, wenn die Rahmenbe- können, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. dingungen für unternehmerisches Engagement verbes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sert werden. Die bisher geleistete Aufbauarbeit war eine sowie bei Abgeordneten der SPD) 206 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Werner Schulz (Leipzig) (A) Unsere Koalition beginnt ihre Arbeit in einer sehrSie haben doch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit(C) schwierigen weltwirtschaftlichen Situation. Auch wenn versagt, am Ende sogar vor ihr kapituliert. Mit Sozialab- die Krisen in Asien, Rußland, Lateinamerika nicht bau, mit Deregulierung, mit Privatisierung waren diese mehr die Schlagzeilen beherrschen, bewältigt sind sieProbleme eben nicht zu lösen. Von tatsächlicher Wirt- damit noch nicht. Die Weltbörsen scheinen zwar zurschaftspolitik und wirtschaftlicher Rahmensetzung war Normalität überzugehen; die Politik aber kann es nicht. jedenfalls nicht allzuviel zu merken. Absatz und Gewinn vieler deutscher Unternehmen sind Die Massenarbeitslosigkeit und die uneingelösten von den weltwirtschaftlichen Turbulenzen betroffen. Versprechen beim Aufbau Ost waren doch – neben dem Der Export ist ins Stottern geraten und mit ihm die zag- Wunsch nach einem Kanzlerwechsel – die eigentlichen hafte konjunkturelle Entwicklung. Hauptgründe für diese Wahlniederlage. Genau hier, bei Manch einer sieht diese deflationären Tendenzen aus diesen Erwartungen, wollen wir unsere Schwerpunkte Südostasien bereits nach Amerika bzw. Europa über-setzen. Deswegen hat die neue Bundesregierung gleich schwappen. Das scheint mir allerdings übertrieben zuan den Anfang einBündnis für Arbeit und Ausbil- sein. Wir haben in Europa kein sinkendes Preisniveau. dung gesetzt. hat schon gestern die we- Wir haben zwar stellenweise ein zu geringes, aber den- sentlichen Punkte betont: ein Sofortprogramm, das noch klar erkennbares Wachstum und eine hinreichende 100 000 Jugendliche in Arbeit und Ausbildung bringen Ausweitung der Geldmenge. Zudem gibt es im Zuge der wird, Ausbildungsplatzgarantie, neue Spielräume für Zinskonvergenz einen ständigen Prozeß der Zinssen-Arbeitszeitverkürzung und eine Senkung der gesetzli- kung in Europa. Insofern schießen die diesbezüglichen chen Lohnnebenkosten von momentan 42,3 Prozent auf Ideen der letzten Tage über das Ziel hinaus. unter 40 Prozent durch eine ökologische Steuerreform. Wenn auch die Gefahr einer deflationären Entwick- Ich habe ein Zitat von Herrn Peter Repnik vom lung gering ist, treffen uns diese Turbulenzen in einer19. Mai 1995 gefunden: Situation, die von schwacher Binnenkonjunktur und ei- Eine umweltorientierte Strukturreform des Steuer- ner unakzeptabel hohen und verfestigten Arbeitslosig- systems eröffnet für die Unternehmen langfristige keit gekennzeichnet ist. Unsere Antwort auf das ver- Wachstumschancen. schlechterte Weltwirtschaftsklima muß deswegen eine starke, europäisch ausgerichtete Wirtschafts- und Be-Vor Jahren haben Sie es doch noch gewußt! Wieso ist schäftigungspolitik sein. Eine wesentliche Vorausset-dieses Wissen plötzlich verschüttgegangen? zung dafür ist die planmäßige und möglichst störungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freie Einführung eines stabilen Euro. und bei der SPD) Früher wurden den neuen Bundesregierungen die er- (B) Es ist also völlig unvernünftig, wenn Hundt und Henkel (D) sten hundert Tage als Schonzeit angerechnet. Aber diese und Stumpfe und Stihl jetzt Front gegen die Ökosteuer alten Gepflogenheiten scheinen nicht mehr zu gelten. machen. Ich glaube, hier haben wir viel Überzeugungs- Heute hat man eher den Eindruck, daß etliche Kritiker und Aufklärungsarbeit zu leisten. Diese Verbandsver- den Abschlußtermin des Wahlkampfes verpaßt haben. treter reden momentan gegen ihre eigenen Interessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der 90/DIE GRÜNEN und der SPD) PDS) Die Perspektive liegt in derKombination von Ar- Doch mit oder ohne Schonzeit: Diese Regierung schont beit und Umwelt. Wir führen kein neues Abkassier- sich nicht. Oder haben Sie, meine Damen und Herren,oder Umverteilungsinstrument ein. Wir wollen umsteu- die Sie in 16 Jahren mit vier Regierungsbildungen be- ern und nicht so weiterrudern wie Sie in der Wirt- auftragt wurden, schon einmal erlebt, daß eine Regie-schaftspolitik. Das ist der eigentliche Punkt. rung so schnell im Amt war, so zügig ihre Arbeit aufge- nommen hat und so schnell die ersten Schritte in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wege geleitet hat? und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hier wird eine Offensive für neue Märkte, für neue und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU Produkte, für neue Arbeitsplätze eröffnet, wenn Sie so und der F.D.P. – Hans-Peter Repnik [CDU/ wollen: auch für neue Berufsbilder. Deutschland kann CSU]: Und so viel Mist gebaut hat!) und wird und muß ein Testmarkt für Energieeinspar- technologien und regenerative Energien werden. Ich ap- – Ob Ihnen das gefällt, ist eine andere Frage. pelliere hier deutlich an die Wirtschaft: Nehmen Sie die Wir stimmen durchaus mit solchen Meinungen wie Signale ernst und stellen Sie sich darauf ein, daß erfolg- der von Herrn Schleyer, dem Generalsekretär des Zen- reiches Wirtschaften in Zukunft mehr und mehr ökologi- tralverbandes des Deutschen Handwerks, überein, dersches, also nachhaltiges Wirtschaften sein wird. Das sagt: Die Politik darf sich nicht noch weiter vom Zielwird sich für Sie lohnen. entfernen, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weil die alte Koalition dabei völlig versagt hat, ist sie sowie bei Abgeordneten der SPD) doch abgewählt worden. Die Steuerentlastungsgesetze der rotgrünen Regie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung dienen der Verbesserung von Wachstum und Be- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 207

Werner Schulz (Leipzig) (A) schäftigung. Die Investitionskraft der Unternehmen wird habe das trotz der Kardinalfehler in den ersten Jahren(C) gestärkt und die Binnennachfrage belebt. Auch wennder deutschen Einheit immer zu würdigen gewußt – Ihnen das zuwenig erscheint: Es ist eine seriöse Steuer- ganz im Gegensatz zu manchen aus der PDS- entlastung und eben nicht die Petersberger Wundertüte, Opposition, die jetzt Regierungsverantwortung in die Sie ausschütten wollten. Wir haben keinen vollenMecklenburg-Vorpommern übernommen haben und Jackpot geerbt, sondern leider nur die altbekannte Wai- dort vielleicht auf ihre eigenen Schadenshinterlassen- gel-Melodie: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat ...“ schaften stoßen werden. Das ist die Situation. Wir haben eine Steuerreform vor, Wir werden die Aufbauhilfen fortsetzen. Doch damit die der derzeitigen Haushaltslage gerecht wird. können und werden wir uns nicht zufriedengeben. Spä- Abgesehen davon, daß die alte Regierung leider nicht testens seit 1996 stagniert der wirtschaftliche Auf- den Mut hatte, Ostdeutschland als Niedrigsteuergebiet holprozeß Ostdeutschlands. einzustufen, bringt diese Steuerreform vor allen Dingen Das Bruttoinlandsprodukt verharrt bei 56 Prozent, die den neuen Bundesländern klare Vorteile, weil damit ar- Arbeitsproduktivität bei knapp 60 Prozent, und auch der beitsplatzschaffende Investitionen gefördert werden. Kapitalstock wächst nicht mehr schneller als der west- Ich will allerdings nicht verschweigen, sondern kri- deutsche. Gerade die Unterkapitalisierung Ostdeutsch- tisch anmerken, daß wir mit der Streckung von Steuer- lands ist ja ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit. abschreibungsmöglichkeiten bei Baudenkmälern und der Wir werden deswegen den Aufbau Ost ohne Wenn Streichung bei der Altbausanierung Gefahr laufen, einen und Aber fortsetzen. Wir machen aber keine unhaltbaren wichtigen Prozeß zu verlangsamen: den der Stadterneue- Versprechungen. Die neue Bundesregierung wird nicht rung und Wohnungsmodernisierung, was der ohnehinmit der vollen Gießkanne über die Landschaften gehen angeschlagenen ostdeutschen Bauindustrie nicht gerade können und die in den Sand gesetzten Projekte zum zugute kommen wird. Denn wenn derAufbau Ost in Blühen bringen. Doch wenn wir von den neuen Bun- der Vergangenheit sichtbar wurde, dann durch die Er- desländern sprechen, dann sollten wir dafür sorgen, daß neuerung der Städte und Kommunen. sie die modernsten, daß sie die zukunftsfähigsten Bun- Ich komme aus Leipzig, einer Stadt, die offenbardesländer werden. Nur dann macht der Begriff Sinn. mehr Baudenkmäler hat als ganz Nordrhein-Westfalen, Deswegen sind bessere Bedingungen für Investitionen wie ich überraschenderweise aus dem Schleußer-und Innovationen für den Osten von besonderer Bedeu- Ministerium gehört habe. Das sollten wir aber nicht als tung. Wir haben das im Koalitionsvertrag durch ein spe- Zumutung begreifen, sondern als eine Herausforderung, zielles Programm „Zukunft Ost“ unterstrichen. eine Chance. Die deutsche Einheit hat uns die Möglich- Meine Damen und Herren, ich glaube nicht an die keit gegeben, diese Kleinodien zu erhalten. Das kann (B) Mauer in den Köpfen. Wir müssen eher das Brett davor (D) doch nicht nur Herr Dr. Jürgen Schneider kapiert haben. abstreifen. Wir können die mentalen Unterschiede nur Leipzig hat noch immer die größten Gründerzeit-überwinden und produktiv machen, wenn wir aufeinan- quartiere Europas. Hier läuft allerdings ein Wettlaufder zugehen. Deswegen begrüße ich die Ankündigung zwischen Erhalt und Zerfall. Nichts ist so gut, daß esdes Bundeskanzlers, daß das Kabinett regelmäßig in den nicht nachgebessert werden kann. In dieser Hinsichtneuen Ländern tagen wird, daß der Anspruch „Chefsa- müssen wir uns die Steuerreform noch einmal genau an- che“ dahin gehend eingelöst wird und Gestaltungskraft schauen. bekommt, daß der Chef vor Ort sagt, was Sache ist, daß wir uns nicht bei Problembetrachtungen aufhalten, son- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern Problemlösungen anbieten. Wir werden Ihnen da- sowie bei Abgeordneten der SPD, derbei helfen, wir werden Sie dabei unterstützen, daß das CDU/CSU und der PDS – Dr. eine Erfolgstournee wird, daß die Leute erkennen: Hier [CDU/CSU]: Wenigstens einer hat es verstan- ist eine handlungsfähige, eine leistungsfähige Regierung den!) im Amt, die sich um die angestauten Probleme im Osten – Wir haben ein konstruktives Arbeitsverhältnis, daskümmern wird. Ich begrüße das sehr. auch Korrekturen zuläßt, Herr Ramsauer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn wir schon Steuerabschreibungs- und Steuer- und bei der SPD) sparmodelle ausdünnen, dann sollten wir auf zielgenaue- Wir, die Koalitionsfraktionen, haben dazu einen Aus- re Investitionen achten und bei dieser Gelegenheit viel- schuß eingerichtet, der sich um die Angelegenheiten der leicht eine klare Trennung zwischen Steuer- und Förder- neuen Bundesländer kümmern wird. Wir hätten ihn recht im Wohnungsbau schaffen. schon vor acht Jahren gebraucht, Herr Schäuble; wir wä- ren vielleicht an mancher Stelle weiter, wenn wir diesen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Ausschuß gehabt hätten. Denn der Aufbau Ost ist eben 90/DIE GRÜNEN) nicht nur ein Problem von Transferleistungen und Infra- In den vergangenen acht Jahren ist in den neuen Bun- strukturprojekten. Vielmehr ist es auch eine Frage, wie desländern viel erreicht worden. Die Ostdeutschen ha- wir die kulturellen Besonderheiten, wie wir die Lebens- ben auf allen Gebieten beeindruckende Aufbauleistun- erfahrungen, wie wir die Wertevorstellungen in Ost und gen erbracht. Die Bürger Westdeutschlands und auch die West zusammenbringen und wie wir sie produktiv ma- Bundesregierung – ich sage das ganz bewußt: auch die chen. In diesem Sinne ist Wirtschaftspolitik eben auch Bundesregierung – haben das wirksam unterstützt. IchGesellschaftspolitik. 208 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Werner Schulz (Leipzig) (A) Alle Akteure in unserem Land müssen ihre eigenen Zugang zu neuen Technologien“, „effizientere Ver-(C) Interessen zurückstellen, damit die notwendigen Refor- marktung“ und „Hilfe und Unterstützung auf internatio- men gelingen. Das ist so bei der Steuerreform, demnalen Märkten“? Bündnis für Arbeit und Ausbildung, dem Aufbau Ost und der Ökosteuer. Wir werden diese Reformen nur be- All diese Fertigstücke waren auch schon in den ver- kommen, wenn einige bereit sind, auf ihre Maximal-schiedenen Programmen und Erklärungen der alten Re- positionen zu verzichten. Dann werden unter dem Strich gierung enthalten. Das Problem sind doch nicht die alle profitieren. Überschriften, sondern es liegt darin, wie man diese Überschriften ausfüllt. Dazu gibt es bisher noch keine Die neue Bundesregierung ist entschlossen, den wirt- Kritik, weil noch keine Zeit war, sie auszufüllen. schaftlichen Rahmen zu setzen, um die Massener- werbslosigkeit abzubauen, um Investitionen und Inno- (Beifall bei der PDS) vationen in Gang zu bringen. Wenn ich mich recht ent- Dabei hat der Bundeskanzler durchaus recht: Seine sinne, hat auch einmal formuliert, daß Koalition hat kein wohlbestelltes Haus übernommen. die ökologischen Grundlagen des Wirtschaftens als ein Deshalb müßte eine neue Architektur und nicht nur ein Ziel der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung festge-bloßer Anstrich zu erwarten sein. schrieben werden sollten. Es ist uns Bündnisgrünen ge- lungen und es der Wille der rotgrünen Koalition, den Eines wundert mich nicht: Der Bundeskanzler hat ökologischen Strukturwandel zu einer Richtschnur des von der Kreativität und der Innovationsfreude derExi- wirtschaftlichen Handelns der neuen Mehrheit zu ma-stenzgründer und Mittelständler geschwärmt. Gerade chen. Das ist ein wichtiger Paradigmenwechsel, den wir damit jedoch glänzte seine Fraktion in der letzten Wahl- jetzt in die praktische Politik umsetzen. periode nicht. Eher rochen die wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Vorschläge die der SPD, nach noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr Bürokratie und weniger Effizienz. Ich bin der und bei der SPD) Meinung, Sie haben jetzt die große Chance, endlich den Gegenbeweis anzutreten. Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun (Beifall bei der PDS) der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion. Die PDS wird ihre seit Sommer 1997 auf dem Tisch liegenden Vorschläge zum radikalen Umbau der Förder- Rolf Kutzmutz (PDS): Herr Präsident! Sehr verehrte kulisse neu einbringen. Ich freue mich, daß der Bundes- Damen und Herren! Folgt man den Worten des Bundes- wirtschaftsminister das Unwesen im Fördermittelbereich kanzlers, so sind wir von einem „Standort“ jetzt in einen angreifen will. Wirtschaftsförderung muß endlich bei (B) „Bewegungsort“ geraten. Es ist sicher, daß man einendenjenigen ankommen, die sie tatsächlich brauchen: bei (D) solchen Wechsel nur unter der Voraussetzung begrüßen den eigenkapitalschwachen Existenzgründern und den kann, Bewegung findet tatsächlich statt und die Rich-Kleinunternehmern. tung stimmt. Beides ist aber – das will ich hier deutlich sagen – bei der Wirtschaftspolitik bisher noch höchst (Beifall bei der PDS) ungewiß, zumindest wenn man die Probleme der Unter- Sie muß sich endlich allein an dem Kriterium orientie- nehmen und Existenzgründer nicht nur durch eine fiska- ren, das sie gerechtfertigt erscheinen läßt: an der Zahl lische Brille betrachtet. dauerhafter, soziale Sicherheit schaffender Arbeitsplät- Da setzt meine Kritik an der Regierungserklärung an. ze. Es ist alles zu sehr aus der fiskalischen Sicht betrachtet (Beifall bei der PDS) worden. Wenn es dabei bliebe, wäre das schon der An- fang vom Ende des beschworenen wirtschaftspolitischen Herr Kollege Schwanhold, am Montag haben mich 30 Aufbruchs oder Wiederaufstiegs. Der Herr Bundes-Mittelständler aus Thüringen besucht. Sie hatten sich kanzler referierte ausgiebig überSteuerreformen und spontan zusammengefunden und einen Bus gechartert, Lohnnebenkosten. Die dabei vorgestellten Konzepteum denen in Bonn – so drückten sie es aus –, also uns, sind entgegen allen Ankündigungen teils unausgegoren, ihre Existenzängste nahezubringen. Es war eine Menge teils unökologisch, teils unsozial und damit letztlichFrust aus dem Kreis derjenigen, die vom Wort her im auch wirtschaftspolitisch noch fragwürdig. Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stehen, über Zah- lungsmoral, Kammerbürokratie, Auftragsvergabe und (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Wirtschaftskriminalität zu hören. Ich bin sicher, Herr Sie folgen der schon seit Jahren schmerzhaft widerlegten Kollege Schwanhold, daß Ihnen Ihr Referent das Bild Philosophie des Steuerns durch Steuern. genauso geschildert hat; denn er hat nach mir mit Ihnen gesprochen. Wirtschaftspolitik soll wieder gemacht werden, wur- de gesagt. Die Regierungserklärung und die Koalitions- Am Dienstag – der Kanzler beschwor gerade die vereinbarung erlauben bisher aber nur einen Schluß –Neue Mitte – wurde einer der Teilnehmer der Montags- ich verstehe die Aufregung des Kollegen Wissmannrunde aus der „alten Mitte“ buchstäblich ausgeschlossen. überhaupt nicht –: Es ist alter Wein in neuen Schläu-Dem 58jährigen Isolierungsmeister aus Schmiedefeld chen. Herr Kollege Wissmann, was ist denn falsch anam Rennsteig flatterte ein Brief des Amtsgerichts den Überschriften „moderne Mittelstandspolitik“, „we- Meiningen ins Haus: Gesamtvollstreckung über das ei- niger Bürokratie“, „schnellere Innovation“, „besserergene Vermögen. Das ist sein kleines Haus. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 209

Rolf Kutzmutz (A) Seine fünf Beschäftigten arbeiten gerade im Emsland Außer neuen Namen und Amtsbezeichnungen hat aber(C) – das nur zum Thema Mobilität und ökologischer Um- auch Rotgrün hier bisher noch nichts Konkretes ange- bau –, und er hatte ihnen pünktlich den Lohn gezahltboten. Wie wollen Sie Förderpräferenzen, Infrastruktur – Stichwort: Binnennachfrage –, aber der Innungskran- und Innovationsfähigkeit in Ostdeutschland anders si- kenkasse Südostthüringen fehlen mittlerweile 26 000 DM chern, als es in der Kohl-Ära geschah? Denn diese an Sozialabgaben. Der vermeintliche Abgabenhinterzie- Überschriften sind ja schon seit langem sattsam bekannt. her rennt jedoch selbst seit Februar über 22 000 DM und Die PDS wird unter diese Überschriften, wie seit Jahren, seit August/September weiteren 9 000 DM einer Suhler Texte setzen, die Vorschläge zum Handeln beinhalten. Firma hinterher. Für die hatte er als Subunternehmer Wir hoffen, daß Sie sich, meine Damen und Herren Aufträge in der Kyffhäuser-Kaserne in Bad Frankenhau- auf den Koalitionsbänken, auf diesen Wettbewerb im sen, in Sozialwohnungen in Schleusingen und im Frank- Interesse vieler Menschen mit uns einlassen. Nehmen furter Römer ausgeführt. Als er am Dienstag Nachmittag Sie unseren heutigen Antrag zurAirbus-Ansiedlung in in der Suhler Firma erneut anrief, meldet sich dort nur Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise als Angebot noch der Sequester. Nur am Rande sei erwähnt, daß der einer vertrauensbildenden Maßnahme. Es ist schon ein Mann darüber hinaus seit 1994 weitere 70 000 DM an Unding, daß ein designierter Bundeskanzler den Osten Außenständen aus massenlosen Konkursen abschreiben zur Chefsache erklärt und im gleichen Atemzug als mußte. Noch-Ministerpräsident die Chancen eines ostdeutschen Ich meine, es ist wichtig, auf Messen und in Diskus- Fertigungsstandortes verschlechtert, so wie es im Okto- sionen immer wieder auf erfolgreiche Mittelständler zu ber geschah. Man kann zum Kollegen Kohl stehen, wie zeigen. Wir dürfen uns aber nicht vormachen, daß nurman will, aber so etwas wäre beim Altbundeskanzler der erfolgreiche Mittelständler den Mittelständler ver- nicht passiert. körpert. Wir müssen uns auch und gerade um die klei- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. – nen und kleinsten Existenzen kümmern. Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Wir bieten Ihnen von der neuen Koalition die Chance, der SPD) diese Irritation nun auszuräumen. Dazu müssen Sie sich Ich habe diesen makaberen Fall ausgebreitet, weil er nicht einmal bewegen. mittlerweile auch im Westen und nicht nur im Osten, Sollten Sie es aber in der Wirtschaftspolitik ansonsten wie der Bundeskanzler am Dienstag zum Thema Eigen- nicht tun, kapital und Zahlungsmoral vielleicht angenommen hat, symptomatisch ist. In ihm bündeln sich brennende Pro- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja interessant, daß die PDS den Altbundes- (B) bleme, ohne deren Lösung die wirtschaftliche Gesun- (D) dung zu vergessen ist. Sie wurden in der Regierungser- kanzler lobt!) klärung entweder gar nicht oder nur in Halbsätzen ge-so werden wir demokratischen Sozialistinnen und So- streift zialisten Sie in den nächsten Jahren schon auf Trab brin- (Ernst Schwanhold [SPD]: Das wurde aus- gen, damit – um ein Wortspiel Ihres Kanzlers aufzugrei- drücklich in der Regierungserklärung geäu- fen – aus dem „Standort“ tatsächlich ein „Lebensort“ ßert!) mit neuer „Lebensart“ wird. – ich nenne jetzt die Punkte; Sie wissen doch gar nicht, (Beifall bei der PDS) was ich sagen will –: Justizreform gerade im Wirt- schafts- und Vertragsrecht – das können Sie nachlesen –, Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun die das Generalunternehmerunwesen in der öffentlichenKollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU–Fraktion . Auftragsvergabe und Veränderungen zum Beispiel im BGB und Strafrecht, um der grassierenden Zahlungsun- moral wieder Herr zu werden. Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich in meinem Wahlkreis ge- Es reicht nicht aus, eine neue Gründerzeit auszurufen fragt werde, was denn „da oben in Bonn“ mein Aufga- und eine Neue Mitte zu beschwören. Die alte Regierung bengebiet sei, dann habe ich bisher immer sehr gern und hat Rechtssicherheit – den Blutkreislauf des wirtschaft- – das muß ich sagen – mit einem gewissen Stolz gesagt: lichen Organismus – fatal vernachlässigt. Ohne dessen sofortige Operation droht der Kollaps. Sie können gar (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Oppo- nicht so viele neue Existenzen fördern, wie bestehende sition!) sonst zugrunde gehen, abgesehen davon, daß dann auch Ich kümmere mich um die Wirtschaftspolitik. Heute die Lebenserwartung der Neulinge miserabel wäre und könnte man jedoch schnell in den Verdacht kommen, daß Pleiten keine abstrakten statistischen Größen, son- daß man für Messeeröffnungen und Spatenstiche zu- dern konkrete Schicksale sind. Wer „Deutschlands Kraft ständig ist. vertrauen“ will, wie es das Motto der Regierungserklä- rung besagt, der muß überhaupt erst wieder Vertrauen (Ernst Schwanhold [SPD]: Das macht die Re- bei den Menschen in aufgestellte Normen schaffen. gierung, nicht die Opposition!) Dies gilt gerade auch für die neuen Länder: Hier trieb Da ist mit einem einzigartigen Vorgang von jeman- die abgewählte Regierung besonders viel Schindluder. dem das Wirtschaftsministerium ausgehöhlt worden, um 210 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dagmar Wöhrl (A) jemandem seine Machtkompetenz zu erweitern – diehändler sollen den Wertverlust ihres Warenbestandes(C) wichtigste Abteilung mit Grundsatzreferaten ist in das nicht mehr in den Büchern berücksichtigen dürfen! Finanzministerium verlegt worden –, und derjenige, den das betrifft, hält es nicht einmal für wert, bei dieser De- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Unmöglich! batte dabeizusein. Keine Ahnung von der Praxis!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Denn eine Handelsware hat im Jahre 1998 nicht mehr Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Eine Schan- unbedingt den gleichen Wert wie 1997; vielleicht ist sie de! Eine Mißachtung des Parlaments!) nur noch einen Bruchteil wert. Das ist Realität und kein „Abschreibungskunststück“, wie Sie es behaupten. Sie, Nichtsdestoweniger werden wir Wirtschaftspolitiker meine Damen und Herren, besteuern in der Zukunft von der Union es uns nicht nehmen lassen, zukünftigScheingewinne. Auch das muß man ganz klar und deut- Wirtschaftspolitik, wie wir sie verstehen, in ihrer Ge-lich sagen. samtheit zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Herr Minister Müller, Sie sind wirklich nicht zu be- [CDU/CSU]: Scheinheilige be- neiden. – Aber ich sehe, daß es dem Minister nicht mehr steuern Scheingewinne!) wert ist, der Debatte zu folgen. Der stärkste Hammer ist der sprachliche Mißbrauch, (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Allerhand! der mit dem BegriffÖkologie getrieben wird. Dieser Wo ist der! – Ernst Schwanhold [SPD]: Er ist Begriff wird nur zur Gewinnung von zukünftigen Steu- doch da! – Zurufe von der SPD: Da ist er!) ereinnahmen mißbraucht. Das ist ein besonders übler Man hat das Gefühl, daß er in wichtigen wirtschafts-Streich, den man dem Mittelstand spielt. Bei vielen politischen Fragen seine Meinung nicht äußern darf. Sie Handwerksbetrieben machen die Energiekosten schon sind an eine rotgrüne Koalitionsvereinbarung gebunden heute bis zu 11 Prozent ihrer Gesamtkosten aus. Das ist und müssen gegenüber gestandenen Unternehmern alte oftmals mehr als in der energieintensiven Industrie – in Thesen aus den 70er Jahren vertreten. der chemischen Industrie sind es zum Beispiel nur 3,7 Prozent. Das sind dann die Unternehmen, für die es Wie schwer Sie es haben, hat jeder bemerkt, der Ihr Ausnahmeregelungen geben soll. Damit wird die Öko- Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 5. No-steuer zu einer „Handwerks-Sondersteuer“. vember 1998 gelesen hat. Darin sagen Sie unter ande- rem: Bei der Diskussion über Nachfrage- und Angebots- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) politik stehe ich „zwischen Baum und Borke“: Weiter Eine Differenzierung zwischen energieintensiv und antworten Sie auf die Frage, was Sie denn von der Re- nicht energieintensiv ist willkürlich und wird auch nicht (B) form der 620-DM-Jobs halten, da seien Sie „etwas hin- der individuellen Situation der Unternehmen gerecht.(D) und hergerissen“. Zu der Liberalisierung des Energie-Außerdem ist fraglich, ob nicht sogar ein Verstoß gegen marktes – ein Thema, bei dem Sie ja ein Experte seinEU-Richtlinien gegeben ist, weil ein neuer Subventi- sollen –, sagten Sie: „Da habe ich ... zwei Seelen in mei- onstatbestand geschaffen wird – unabhängig davon, daß ner Brust.“ Das sind Aussagen, die zeigen doch, welche ausländische Unternehmen, die energieintensiv arbeiten, Qual es sein muß, in einer rotgrünen Regierung Wirt-zukünftig einen riesengroßen Bogen um unser Deutsch- schaftspolitik machen zu müssen. land machen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Orientie- ordneten der F.D.P.) rungslosigkeit!) Das Motto der Politik der neuen Regierung ist mit Aber die Schizophrenie steckt dabei im System: Da „Mehr Staat, weniger Markt“ treffend umschrieben. Mit wird im Wahlkampf der unternehmerische Mittelstand sozialer Marktwirtschaft hat das – obwohl Sie es immer als Neue Mitte hofiert. Den Selbständigen und Freibe- gerne behaupten – nichts mehr zu tun. ruflern wird eine heile Welt versprochen. Doch was pas- siert, kaum daß die Wahl vorbei ist? Es wird bei denje- (Michael Glos [CDU/CSU]: Leider wahr!) nigen abkassiert, die Arbeitsplätze und Lehrstellen schaffen sollen; es wird der Entwurf einer sogenannten Anstatt Marktkräften freien Raum zu geben – was drin- Steuerreform präsentiert, der eine Mehrbelastung dergend notwendig wäre –, machen Sie weiterhin Ihre Um- Unternehmen in verschiedenen Stufen vorsieht; vertei- verteilungspolitik, wie wir es von Ihnen schon immer lungspolitische Wohltaten werden nahezu ausschließlich gewohnt waren. über die Steuergelder der Unternehmen finanziert; dem (Michael Glos [CDU/CSU]: Genau so ist es!) Mittelstand wird die Liquidität entzogen, die er mo- mentan so dringend braucht; und Investitionen werden Aber es reicht Ihnen ja nicht, daß die neue Regierung erschwert. ihre nachfrageorientierten Experimente in der Steuer- und Abgabenpolitik durchführt; es geht ja sogar so weit, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß der Herr Finanzminister und sein Staatssekretär den Ich nenne nur ein Beispiel: die Streichung derTeil- Tarifparteien ganz offiziell das Motto vorgeben: „Jetzt wertabschreibungen. Das trifft doch gerade unserenmacht in eurer Lohnpolitik einmal ein Ende der Be- mittelständischen Einzelhandel, der es zur Zeit zusam- scheidenheit.“ Das heißt, zu den Fehlentscheidungen bei men mit der Bauwirtschaft am schwersten hat. Einzel- Steuern, Sozialversicherungen und Arbeitsrecht drohen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 211

Dagmar Wöhrl (A) auch noch tarifpolitische Fehlentscheidungen hinzuzu- rung einer neuen Wirtschaftspolitik mitzuwirken. Es ist (C) kommen. Selbstverpflichtung der Bundesregierung, um die Ver- säumnisse von CDU/CSU und F.D.P. aus der Vergan- Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, es ist doch genheit schnellstmöglich zu überwinden. Die Fraktionen blauäugig zu glauben, daß man eine Wirtschaft nur mit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben die Aufga- Konsum ankurbeln könnte. be, dies mit ganzer Kraft zu unterstützen. Ich selber und (Ernst Schwanhold [SPD]: Eine Kneipe wir als SPD-Bundestagsfraktion werden den Dialog mit schon!) der Wirtschaft fortsetzen, so wie wir dies in der Vergan- genheit getan haben. Wer sagt denn den Menschen, daß sie jetzt nur deutsche Produkte kaufen können? Haben wir in unseren Läden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) denn nur deutsche Produkte? Wenn Sie das aber nicht Markt und Wettbewerb sind Grundlage unserer sagen, profitieren viele, viele andere – nicht nur dieWirtschaftsordnung. Dazu steht die Bundesregierung, deutsche Wirtschaft. Die entscheidende Größe für wirt- dazu stehen die sie tragenden Fraktionen. Mit diesem schaftlichen Aufschwung ist Investieren und nicht nur Bekenntnis ist aber nur der Ausgangspunkt für die Auf- Konsumstimulierung. gaben der Wirtschaftspolitik beschrieben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Weiterentwicklung und die Neubelebung von der Aber gerade bei den Investitionsbedingungen wird von sozialen zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft ist der jetzigen Regierung der Rotstift angesetzt. Da ist es die Aufgabe der nächsten Jahre. Die soziale Marktwirt- nur eine Frage der Zeit, bis die Investitionstätigkeit inschaft braucht einen Ordnungsrahmen, um ihre Zielset- unserem Land einbrechen und der Aufschwung am Ar- zungen zu verwirklichen, Wohlstand für alle zu schaf- beitsmarkt ein jähes Ende finden wird. fen. In einer Zeit mit zunehmender weltwirtschaftlicher Verflechtung, steigendem Wettbewerbsdruck und hohen Meine Damen und Herren, der Standort Deutschland Arbeitslosenzahlen heißt dies: Anreize für die Schaffung geht schwierigen Zeiten entgegen. neuer Arbeitsplätze setzen und Rahmenbedingungen zur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit schaffen. Genau mit dieser Zielsetzung tritt die neue Bundesregierung an.

Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat der Die Ausgangslage ist allerdings schwierig. Die alte Kollege Ernst Schwanhold, SPD-Fraktion. Bundesregierung hat in den 16 Jahren eine unverant- wortlich hohe Staatsverschuldung aufgetürmt. Das schränkt die Handlungsspielräume ein. Die Asienkrise, (B) Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine die Krise in Lateinamerika und die Krise in der ehemali- (D) sehr verehrten Damen und Herren! Herr Wirtschafts-gen Sowjetunion dämpfen die Wachstumserwartungen minister Müller, auch ich möchte Ihnen nach Ihrer Rede, der exportorientierten Volkswirtschaften, insbesondere in der Sie Ihre Grundkonzeptionen dargelegt haben, un- die der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben in den sere Unterstützung aus der Fraktion der SPD zusagen.letzten Jahren diese Krisen nachdrücklich unterschätzt Wir halten Ihre Konzeption für eine gute und vertrau-und ignoriert. ensvolle Basis. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Es wird notwendig sein, wieder mit makropolitischen Die neue Regierung hat eine Aufgabe, die von beson- Maßnahmen diesem Übel und diesen Schwierigkeiten zu derer Bedeutung ist: die Schaffung von Arbeitsplätzen. begegnen. Wir brauchen eine Stütze der Volkswirt- Hier hat sie das Erbe, welches die alte Regierung unsschaft. Die Stützen der Volkswirtschaften und der welt- hinterlassen hat, abzuarbeiten. Annähernd 4 Millionenweiten wirtschaftlichen Tätigkeit werden Europa und Arbeitslose sind nach wie vor ein Skandal in dieser Ge- Amerika sein; deshalb ist Kooperation zwischen Europa sellschaft, der beseitigt werden muß. und Amerika in besonderem Maße notwendig. Der neue Wirtschaftsminister wird viel zu tun haben, um diesen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dialog zu beleben und zu gemeinsamen und abge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stimmten Maßnahmen zu kommen. Die Wirtschafts- und Technologiepolitik hat dafür ei- Zum einen geht es darum, im nationalen und im in- ne Schlüsselrolle. Der Bundeskanzler hat die Herausfor- ternationalen Rahmen die Wirtschafts-, Finanz- und derungen an die Wirtschaftspolitik deshalb in das Zen- Geldpolitik besser abzustimmen; sie müssen sich in der trum seiner Regierungserklärung gestellt und hervorge- Zielsetzung gegenseitig verstärken, mehr Arbeitsplätze hoben: Es ist endlich an der Zeit, daß wieder Wirt- zu schaffen. Die Nutzung von Spielräumen, insbesonde- schaftspolitik gemacht wird. Sie ist in den vergangenen re zur Senkung der Realzinsen, ist wichtig, solange die Jahren zu wenig und wenn, dann falsch gemacht wor- Preisstabilität nicht gefährdet wird. Bei denRealzinsen den. gibt es deutliche Spielräume. Diese zu nutzen ist durch- (Beifall bei der SPD) aus ein Ziel, welches auch öffentlich diskutiert werden muß. Die erste Maßnahme ist ausdrücklich begrüßens- Das ist gleichermaßen Aufforderung und Selbstver- wert. pflichtung für die neue Bundesregierung. Es ist Auffor- derung an die Tarifpartner, im Dialog an der Formulie- (Beifall bei der SPD) 212 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Ernst Schwanhold (A) Darüber hinaus brauchen wir eine verstärkte Koordi- Zweitens. Die Schaffung eines neuen Gründerklimas (C) nierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäi- und einer Aufbruchstimmung ist eine weitere vordring- scher Ebene. Nur so kann derEuro ein Erfolg werden, liche Aufgabe. Dies gilt insbesondere für die neuen der den Binnenmarkt vollendet. Schließlich muß eineBundesländer, wobei ich allerdings darauf hinweisen Harmonisierung der Steuersätze in der EU dem unsinni- will, daß auch die Bestandspflege für die Unternehmen gen Steuersenkungswettlauf ein Ende bereiten. von Es besonderer Bedeutung ist, die bei ihrer Etablierung kommt eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik in den Märkten Finanzierungsschwierigkeiten haben. hinzu, die sich auch Projekte vornimmt, zum Beispiel den Ausbau der transeuropäischen Netze. Wie soll ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gentlich sonst die Weiterentwicklung des europäischen Die Selbständigenquote in Deutschland liegt bei Integrationsprozesses vorangetrieben werden? rund 10 Prozent. Es muß das Ziel sein, mit dem interna- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionalen Maßstab Schritt zu halten. Wir brauchen eine Selbständigenquote von 14 bis 15 Prozent. Dies ist eine Im nationalen Rahmen stehen drei Aufgaben im Vor- starke Aufgabe, der wir uns in den nächsten Jahren ver- dergrund: Erstens gilt es, dem Mittelstand neue Zu-pflichtet fühlen. kunftsperspektiven zu eröffnen, (Beifall bei der SPD) (Walter Hirche [F.D.P.]: Und das mit Ihrem Steuerkonzept?) Zur Mobilisierung von Chancenkapital werden wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen verbessern. Wir zweitens brauchen wir eine Offensive für neue Techno- fordern ausdrücklich die Banken und Sparkassen auf, logien, und drittens muß es darum gehen, in der Außen- auch in den Regionen dafür den institutionellen Rahmen wirtschaftspolitik neue Akzente zu setzen. – Herr Kolle- zu bieten und sich neuen Produktideen zu öffnen und ge Hirche, Herr Kollege Rexrodt, ich weiß gar nicht,nicht immer nur die Frage nach der Sicherheit „über die was die Zwischenrufe sollen. In Scharen sind Ihnen die feuchte Wiese“, also im Hinblick auf Grundstücke, zu Mittelständler bei den letzten Wahlen weggelaufen. Das stellen. Die Beurteilung von neuen Produkt- und Ge- taten sie doch nicht wegen der glänzenden Erfolge Ihrer schäftsideen ist wichtige Aufgabe auch des Bankensy- Politik, sondern weil Sie sie vernachlässigt haben. stems; es muß sich dieser Aufgabe verstärkt stellen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Moderne Mittelstandspolitik wird sich am Dialog mit Drittens. Wir brauchen eine Umorientierung der For- den Unternehmen orientieren. Diesen Dialog haben wir schungsförderung auf eine breite, anwendungsorientierte (B) in der vergangenen Periode begonnen, und wir werden Förderung von neuen Technologien. Hierzu gehört ein(D) ihn in dieser Periode fortsetzen. In dieser Legislaturperi- besserer und intelligenterer Transfer von Wissen und ode ist es die Aufgabe der sozialdemokratischen Bun- neuen Technologien von den Hochschulen und For- destagsfraktion, die Neue Mitte, die eine Schlüsselstel- schungseinrichtungen in die mittelständischen Unter- lung in der Gesetzgebungspolitik und in der Regie-nehmen. Es ist geradezu schlimm, daß wir nur rungspolitik hat, zu stärken. Dies unterstütze ich aus-30 Prozent der Grundlagenforschung in Produkte und drücklich. Hierzu gehören die folgenden Schwerpunkte: Geschäftsideen umsetzen. „Mehr, besser und schneller“ Erstens. Die Entlastung des Mittelstandes durch eine lautet die Aufgabeanwendungsorientierter For- Steuerreform und die Verbreiterung der Bemessungs- schungsförderung bei der Umsetzung von Forschungs- grundlage ist bereits angelegt worden. Dabei haben wir ergebnissen in Geschäftsideen und Produkte. sehr genau die einzelnen Instrumente auf ihre Wirksam- Viertens. Mittelstandsfreundliche Antrags- und Ge- keit hin zu überprüfen. Dies ist geschehen und geschieht nehmigungsverfahren sind notwendig. Dies geht nur mit weiterhin. Die mittelständische Wirtschaft ist beschäfti- dem Abbau von Bürokratien und mit der Schaffung ei- gungsintensiver und wird deshalb zu den Profiteuren der nes schlanken Staates. Übrigens läßt dieser schlanke Steuer- und Abgabenreform gehören. Staat auch für viele Selbständige und Freiberufler Betä- (Beifall bei der SPD) tigungsmöglichkeiten für neue Geschäftsideen. Dies wird neue Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft schaffen Die Mittelstandsförderung muß gebündelt werden. und insgesamt zur Entlastung am Arbeitsmarkt beitra- Wenige Programme, nicht 670, dafür aber mit mehr Ef- gen. fizienz – das ist unsere Devise. Konkret bedeutet das wenige Förderbausteine, die kombiniert werden können, Fünftens. Wir brauchen die Sicherung der Qualität um vor allem die Eigenkapitalbasis, die Innovationsfä- von Handwerksleistungen. Der Große Befähigungs- higkeit und die Existenzgründung in der mittelständi-nachweis ist und bleibt Voraussetzung für die Selbstän- schen Wirtschaft zu erleichtern. Zur Stärkung des Mit- digkeit im Handwerk. DerMeisterbrief hat sich be- telstandes wird auch die Steuerreform beitragen. Diewährt. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich einen Senkung auf 43 Prozent für alle gewerblichen Einkünfte Dank an die vielen Handwerksmeisterinnen und -meister ist ein Schritt in die richtige Richtung, über den Sierichten, die sich in der Vergangenheit in besonderem 16 Jahre lang geredet haben, bei dem Sie aber nichts zu- Maße der Ausbildung junger Menschen zugewandt und stande gebracht haben. dabei eine erhebliche Leistung gebracht haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 213

Ernst Schwanhold (A) Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung Die Ausgangslage der deutschen Wirtschaft ist in be- (C) wird auch in Zukunft zu dem Großen Befähigungsnach- zug auf die Substanz der Unternehmen gut. Ehrgeizige weis stehen. Gleichwohl gibt es Probleme beim Genera- Ziele in der deutschen Umweltpolitik haben dafür ge- tionenwechsel in bestehenden Betrieben und bei Exi-sorgt. Mit der ökologischen Steuerreform werden wir stenzgründungen. Deshalb wollen wir eine berufsbe-zusätzliche Anreize für technologische Innovationen gleitende Erlangung des Meisterbriefes in begründeten schaffen. Ausnahmefällen, die allerdings weiter als zum gegen- In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die wärtigen Zeitpunkt gefaßt sein müssen, möglich ma- Bedeutung des Dienstleistungssektors für die Schaf- chen. Der große Befähigungsnachweis bleibt allerdings fung von Arbeitsplätzen hervorheben. Mit der Einrich- die Regel. tung von Dienstleistungsagenturen können wir der be- Ich will auch ein Wort an die Handwerkskammernstehenden Nachfrage ein bezahlbares Angebot gegen- richten, die sich über die in der Industrie entstandenen überstellen. Aus Gründen des Erhalts und der Schaffung Arbeitsplätze im Bereich des Trockenbaus beklagen und von Arbeitsplätzen sollten wir auch mehr Aufmerksam- diese an den Pranger stellen: Es sollten nicht, wie dieses keit auf den Sektor Fremdenverkehr und Tourismus len- zur Zeit geschieht, durch Wettbewerb zwischen Indu-ken. Hier arbeiten etwa 2 Millionen Menschen, die einen strie- und Handelskammern und Handwerkskammernbeachtlichen Teil unseres Sozialproduktes erwirtschaf- Arbeitsplätze vernichtet werden. Die Zugehörigkeit zu ten. einer Kammer kann nicht zur Richtschnur für die Ent- Schließlich benötigen wir in Ergänzung hierzu eine scheidung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze werden.moderne Außenwirtschaftspolitik aus einem Guß. Die Hier ist mehr Toleranz und mehr Miteinander gefordert. Instrumente der deutschen Außenwirtschaftspolitik müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern gebün- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der delt werden. Das schafft mehr Transparenz für die Be- PDS) teiligten und stärkt die Effizienz der eingesetzten Mittel. Hier werden die Außenhandelskammern eine wichtige Der Förderung neuer Technologien muß in der Funktion übernehmen, die es auszubauen gilt. Wir wer- Wirtschaftspolitik eine herausragende Bedeutung zu-den sehr schnell in einen intensiven Dialog mit allen kommen. Unsere Volkswirtschaft ist mit Spitzenpro-Beteiligten treten, um ein zukunftsfähiges Konzept für dukten in den industriellen Leitbranchen des 20. Jahr-eine gebündelte Außenwirtschaftspolitik zu formulieren. hunderts stark geworden: Im Automobilbau, in der che- Unsere Leitlinien dafür sind: besserer Zugang für den mischen Industrie, beim Maschinenbau und bei derMittelstand zu den Zukunftsmärkten, Bündelung der Elektrotechnik standen und stehen wir an der Spitze.Aktivitäten im Außenwirtschaftsbereich und Schaffung (B) Diese Technologien müssen auch mit Blick auf dasder institutionellen Strukturen. (D) 21. Jahrhundert ausgebaut und modernisiert werden, damit wir unsere Stellung in diesen Bereichen halten. Darüber hinaus wird die neue Bundesregierung ihren Wir wollen diese Bereiche um moderne Verkehrstech- Beitrag zur Stärkung der internationalen Kooperation nologien für Schiene und Straße zur Sicherung von um- durch konstruktive Mitarbeit in den internationalen Or- weltgerechter Mobilität im Inland und zur Sicherung der ganisationen leisten. Wir wollen dabei Impulse geben Exportstärke deutscher Unternehmen auf den Welt-für eine Stärkung der Welthandelsorganisation und ihrer märkten ergänzen. Entscheidungskompetenzen, für die Einrichtung eines Frühwarnsystems bei Turbulenzen auf den internationa- Am Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir aberlen Finanz- und Währungsmärkten und zur Entwicklung verstärkt auf die Zukunftstechnologien setzen. Wir wol- verbindlicher Vereinbarungen für eine wirksamere Ban- len die Wachstumspotentiale der Bio- und Gentechnolo- ken- und Börsenaufsicht im internationalen Rahmen. gie ausschöpfen. Sie schaffen zukunftssichere Arbeits- Die Bundestagsfraktion, Herr Minister Müller, wird plätze in Deutschland. Sie bringen einen Innovations-Ihnen dabei verläßlicher Partner und, wo nötig, auch schub bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte und fordernder und selbstbewußter Antrieb sein. tragen zur Lösung des Welternährungsproblems bei. Zu den Zukunftsbranchen gehören auch Güter und Dienst- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten leistungen für den Umweltschutz. Hier geht es um neue des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Werkstoffe, Technologien zur Energieeinsparung, pro- PDS) duktintegrierten Umweltschutz und vieles mehr. Auch die Informations- und Kommunikationstech- Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun die nologie kann einen wesentlichen Beitrag zu Verbesse- Kollegin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen. rungen im Bereich der Umwelt leisten. Umweltschutz und Wachstum auch bei neuen Technologien werden zwei Seiten einer Medaille sein. Wir werden sie zuein- Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE anderführen müssen und dürfen sie nicht als Gegensatz GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen verstehen. Darin drückt sich moderne Wirtschaftspolitik und Herren! Frau Wöhrl, mit großer Verwunderung ha- aus. be ich vorhin zur Kenntnis genommen, daß Sie nunmehr der Meinung sind, wir würden die Ökologie mißbräuch- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich zur Kostensenkung verwenden. Ich möchte Ihnen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dazu sagen, daß wir das Abgabengleichgewicht zwi- 214 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Margareta Wolf (Frankfurt) (A) schen der Belastung des Faktors Arbeit und der Bela- Der Kernmotor der deutschen Wirtschaft – auch das (C) stung des Faktors Umwelt herstellen und dadurch Anrei- hat der Herr Minister gesagt – ist derMittelstand . Er ze schaffen, um in Schlüssel- und Zukunftstechnologien hat die Ausbildungs- und Arbeitsplätze in der Vergan- zu investieren. genheit nicht nur erhalten, sondern auch neue geschaf- fen. Wir werden die Rahmenbedingungen für unseren Darüber hinaus möchte ich Sie, Frau Kollegin Wöhrl, Mittelstand, um den uns ganz Europa beneidet, verbes- daran erinnern, daß Ihre Regierung seit Anfang der 90er sern. Das heißt konkret: Wir werden mit einem Büro- Jahre bis zum 27. September dieses Jahres die Mineral- kratie-TÜV endlich Ernst machen. Wir werden das ölsteuer um über 20 Pfennig erhöht hat, aber mitnichten Wirrwarr von Verordnungen und Gesetzen lichten, das um ökologisch umzusteuern. Sie haben versucht, damit Sie aufgebaut haben. Wir werden die Anzahl der För- Ihre unsolide Haushaltspolitik zu kompensieren, unddertöpfe reduzieren, indem wir sie zusammenfassen. nichts anderes. Wir werden damit die Voraussetzungen für wirtschaftli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, che Aktivität und für Wettbewerbsfähigkeit in diesem bei der SPD und der PDS) Land verbessern. Wir werden dieEigenkapitalsituation der kleinen Verehrter Herr Kollege Wissmann und Herr Kollege Friedhoff, ich habe mich sehr gewundert, wieviel Angst und mittleren Unternehmen verbessern, die sich in den letzten Jahren systematisch zu Lasten von Investitionen, in Ihren Beiträgen heute morgen zum Vorschein kam, Innovationen und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen ver- nur weil eine kluge, kreative, charmante und gutausse- hende Frau, die Ehefrau des Herrn Finanzministers, mit schlechtert hat. Wir werden unseren Beitrag dazu lei- sten, daß im Kontext der Unternehmensteuerreform eine ihm in der Öffentlichkeit auftritt. Vielleicht täte es auch Tarifabsenkung bei der Besteuerung des Gewerbeertrags Ihrer Kreativität gut und würde Ihren Strukturkonserva- tismus etwas zurückdrängen, wenn auch Sie mit Ihren auf 35 Prozent erfolgt und daß bis dahin der Verlust- rücktrag zur Entlastung der kleinen und mittleren Unter- Frauen in der Öffentlichkeit auftreten würden. nehmen erhalten bleibt. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Minister Müller, wir teilen Ihre Position „Jetzt Wir werden im Kontext des Vierten Finanzmarktför- oder nie“. Wir brauchen Reformen in der Wirtschafts- derungsgesetzes endlich die Voraussetzung dafür schaf- politik. Wir freuen uns auf eine gedeihliche Zusammen- fen, daß alle Kapitalanlageformen steuerlich gleichge- arbeit. stellt werden. Wir müssen für die Generation der Erben Anreize schaffen, damit sie endlich in Produktivkapital (B) Moderne Wirtschaftspolitik muß heute – das ist die (D) zentrale Herausforderung – die Voraussetzung dafürund Arbeitsplätze investieren. Nur so werden wir Ge- schaffen, daß die Balance zwischen moderner Wert-meinwohlinteressen und Renditeerwartungen perspekti- schöpfung, sozialer Integration, ökologischer und fi-visch koppeln können. Dafür stehen wir. nanzpolitischer Nachhaltigkeit und politischer Demo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kratie gefunden wird. Wir werden die Rahmenbedin- und bei der SPD) gungen für einen Ausgleich schaffen, damit die Balance zwischen Freiheitswerten, Gleichheitswerten, wirt- Wir werden die Voraussetzung dafür schaffen, daß schaftlicher Leistungsfähigkeit und einer neu definierten Aktienkapital breiter gestreut wird. Wir werden die Vor- Solidarität und Nachhaltigkeit gefunden wird. aussetzung dafür schaffen – dafür steht diese Koalition –, daß der Dialog zwischen Wirtschaft und Wissenschaft Eine der Voraussetzungen für die Herstellung dieser verbessert wird, und zwar nicht nur mit den Herren Balance ist die Demokratisierung von Politik. MeineHenkel, Stihl und Schleyer. Wir werden mit der neuen sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSUGeneration in den Verbänden und mit der Wissenschaft und F.D.P., jeder Wissenschaftler sagt Ihnen heute: Es zu sprechen haben, um zu einer stärkeren Koppelung muß mit dieser Schützengräbenpolitik Schluß sein. Be- zwischen den Zukunftstechnologien und den wirtschaft- enden Sie endlich die ideologische Debatte „Angebotlichen Akteuren zugunsten von mehr Existenzgründun- versus Nachfrage“! Diese Debatte ist von vorgestern,gen, auch aus der Hochschule heraus, und zugunsten verstaubt und hilft nicht weiter. Spätestens Ihre Politik eines humankapitalintensiven Dienstleistungsbereichs zu hat das gezeigt. Wir brauchen eine intelligente Mi-kommen. schung aus Angebot und Nachfrage – Punkt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 90/DIE GRÜNEN und der SPD) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Meine Damen und Herren, wir werden die Rahmen- PDS) bedingungen für Investitionen verstetigen und somit An- Wir brauchen eine Verantwortungsdemokratie. Wir reize für Investitionen schaffen. Wir werden sehr genau brauchen ein Bündnis für Arbeit, wie es der Arbeitsmi- zu prüfen haben, ob die Verfaßtheit derIndustrie- und nister gestern dargestellt hat. Dieses Bündnis ist nichtHandelskammern in Form der Zwangsmitgliedschaft nur ein Instrument und ein Konzept, sondern es ist auch und der Zwangsbeiträge heute noch zeitgemäß ist. Wir der Ausdruck einer neuen politischen Kultur, für diewerden zu prüfen haben, ob es nicht klüger wäre, die diese Koalition steht. IHKen zugunsten von mehr Dienstleistungsorientierung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 215

Margareta Wolf (Frankfurt) (A) umzustrukturieren, um für den Mittelstand eine gutezosen tun, indem wir zum Beispiel die nicht gefahrge-(C) Vertretung zu schaffen und ihn somit zu stärken. neigten Berufe vom Zwang der Meisterprüfung als Vor- aussetzung für Selbständigkeit befreien und sagen, man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN könne den Meister als eine Art Qualitätssiegel machen. sowie bei Abgeordneten der SPD – Ernst Dies könnte, wie ich meine, zum Beispiel für den Beruf Schwanhold [SPD]: Und eine demokratische des Maskenbildners bzw. der Maskenbildnerin gelten, Kontrolle!) der jetzt Bestandteil der Handwerksrolle B ist. Anschließend an das, was Sie, Herr Kollege Schwan- Wir wollen diesen Bereich auf der europäischen Ebe- hold, in Ihrer Rede gesagt haben, möchte ich feststellen: ne zugunsten einer Qualitätssicherung ein wenig dere- Handwerksordnung Wir müssen auch prüfen, ob die gulieren. Wir wollen natürlich nicht, daß das nicht vor- noch zeitgemäß ist, ob sie Gewerbefreiheit – dies ist ein handene Handwerksrecht Spaniens in Europa Referenz- zentraler Grundstein der sozialen Marktwirtschaft – tat- recht wird. Wir wollen mehr Anreize schaffen für Exi- sächlich garantiert, ob sie dienlich ist, Qualitätssiche-stenzgründungen, und zwar gerade im klassischen rung und Gewerberechtsvereinfachung innerhalb vonDienstleistungsbereich rund ums Haus. Sie können das Europa zu fördern, oder ob sie das in ihrer jetzigen Ver- in unserer Koalitionsvereinbarung nachlesen. faßtheit nicht tut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Guido 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Westerwelle [F.D.P.]: Ganz schön geeiert! – Ernst Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu Präsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, ge- einer weiteren Zwischenfrage) statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Hinsken? – Er stellt immer zwei Fragen. Das kennen wir schon.

Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE Präsident Wolfgang Thierse: Bitte. GRÜNEN): Von meinem alten Freund Hinsken gerne. (Heiterkeit bei allen Fraktionen) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Kollegin Wolf, Sie haben ein bißchen herumgeeiert und meine eigentli- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin che Frage nicht beantwortet. Wolf, ich nehme Ihnen ja ab, daß Sie der Meinung sind, (Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle daß man dieMeisterprüfung als Eingangsvorausset- [F.D.P.]) (B) zung dafür, sich selbständig zu machen, nicht mehr (D) braucht. Sie haben diese Linie immer vertreten. HeißtDeckt sich Ihre Meinung – Sie sind ja jetzt Mitglied der das, daß Sie sich bei den Koalitionsverhandlungen dahin Regierungskoalition – auch mit der Meinung des neuen gehend durchgesetzt haben, daß man die Meisterprüfung Wirtschaftsministers Herrn Müller – können Sie dahin als Eingangsvoraussetzung für die Selbständigkeit zu- gehend auch eine Aussage treffen? –, was indirekt be- künftig nicht mehr braucht? Ich kann mir nicht vorstel- deuten würde, daß der große Befähigungsnachweis, die len – da kann ich dem Kollegen Schwanhold überhaupt Meisterprüfung, an der er festhalten möchte, als Ein- nicht folgen –, daß, wenn jemand weiß, daß über Aus- gangsvoraussetzung für den Handwerksberuf in Zukunft nahmetatbestände die Möglichkeit gegeben ist, sichunterlaufen wird. trotzdem selbständig zu machen, davon nicht ausgiebig (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ernst, fra- Gebrauch gemacht wird. ge ihn doch selbst!)

Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Herr Kollege Hinsken, ich er- GRÜNEN): Herr Hinsken, ich bin sicher, daß Herr Mi- warte schon von einem Oppositionspolitiker – zudem nister Müller nicht nur die soziale Marktwirtschaft ver- von einem ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär –, tritt, sondern auch die Koalitionsvereinbarung. Ihre daß er die Koalitionsvereinbarung der neuen Regierung Einlassung beweist nichts anderes, als daß Sie noch im- gelesen hat. Dort können Sie nachlesen, daß wir die mer nicht gelernt haben zuzuhören. Ich habe nicht rum- Voraussetzungen für mehr Selbständigkeit im Handwerk geeiert, verbessern werden, daß wir berufsbegleitend die Mög- lichkeit eröffnen, die Meisterprüfung zu machen. Kolle- (Zuruf von der CDU/CSU: Doch!) ge Schwanhold hat sich mit dem Satz durchgesetzt – das haben Sie soeben schon gehört –: Der große Befähi-sondern Ihnen die Breite des Themas dargestellt. gungsnachweis bleibt erhalten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Zusammengefaßt heißt dies nichts anderes, als daß wir uns im Zuge der Europäisierung des Gewerberechtes Sie benehmen sich heute wieder wie in der Vergan- und im Zuge einer neuen Existenzgründungswelle imgenheit, nämlich so, als sei die Bundesrepublik Handwerk dafür einsetzen werden, den Zugang zumDeutschland eine Insel innerhalb Europas und der große Handwerk zu erleichtern. Sie kennen meine Vorstellung: Befähigungsnachweis der Nachweis, der uns in Europa Wir müssen überlegen, ob wir das nicht so wie die Fran- ökonomisch ausweist. Ich möchte Sie doch bitten, auch 216 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Margareta Wolf (Frankfurt) (A) einmal einen Blick auf die anderen Länder zu werfen. geschrieben. Ich freue mich weiterhin auf (C) Gucken Sie einmal, ob es nicht Flexibilisierungsmög-eine konstruktive und fruchtbare Auseinandersetzung, lichkeiten gibt, die zu mehr Arbeitsplätzen führen! Die- einen Dialog mit Ihnen, meine Damen und Herren von ser große Befähigungsnachweis, über den man anschei- der Opposition. nend nicht reden kann, ist für Sie ja eine Art Bibel. Wir Ich bedanke mich. aber haben darüber geredet. Wir haben eine Koalitions- vereinbarung, die es ermöglicht, die Debatte mit dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Handwerk weiter zu führen. Ich bin mir sicher, daß wir und bei der SPD sowie des Abg. Rolf Kutz- im Ergebnis Erfolg haben werden; das bedeutet: mehr mutz [PDS]) Arbeitsplätze und mehr Innovation im Handwerk.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun und bei der SPD sowie des Abg. Manfred der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion. Müller [Berlin] [PDS]) Noch eine abschließende Bemerkung, Herr Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Herr Präsident! Liebe Hinsken: Die letzte Novelle zur Handwerksordnung, an Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Bundeskanzler, Sie der Sie mitgearbeitet haben – Sie haben das durchaushaben wiederholt erklärt, Ostdeutschland zur Chefsache ordentlich getan –, hat dazu geführt, daß heute die In- machen zu wollen. Das ist fürwahr ein hoher Anspruch. formationselektroniker, die neuen Dienstleister im Be- Die PDS-Fraktion sieht jedoch gerade beim Thema Ost- reich Software/Hardware, Klagen des ZDH am Hals ha- deutschland weiße Flecken, und das sowohl in Ihrer Re- ben, sie müßten die Meisterprüfung als Eingangsvoraus- gierungserklärung als auch in der Koalitionsvereinba- setzung haben. In Norddeutschland gibt es zwei solcher rung. Sie wird deshalb nicht nachlassen, im Interesse der Klagen; hier geht es um Büroinformationselektroniker, Menschen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg Ver- und diese sind meisterpflichtig. änderungen einzufordern, damit das industrielle, soziale 30 Prozent der neuen Jobs entstehen gerade in diesem und kulturelle Gefälle zwischen Ost und West in unse- Bereich. Wenn Sie jetzt den Meistertitel zur Pflichtvor- rem Lande rasch behoben wird. aussetzung für die Selbständigkeit machen wollen, dann (Beifall bei der PDS) zerstören Sie Existenzen, die von Ausgründungen aus den Unis herrühren und natürlich über betriebswirt- Mit der bloßen Umformulierung von „Aufbau Ost“ schaftliche Erfahrungen verfügen. Ich hielte es für irr- aus den Zeiten von Altbundeskanzler Kohl in „Zukunft sinnig, diese jetzt zu einer Nachausbildung und -prüfung Ost“ jetzt wird jedenfalls noch keine neue Politik instal- zu verpflichten, sie meisterpflichtig zu machen, um den liert. Die Koalitionsvereinbarung sieht nämlich weder (B) Meistertitel und damit den Einflußbereich des ZDH zu eine spezielle Wirtschaftsförderung Ost vor, noch gibt es (D) stärken. Bestrebungen zur Klärung von Eigentumsfragen, die es zuhauf gibt, zugunsten der Ostdeutschen. Nicht einmal Herr Hinsken, ich bedanke mich für Ihre Fragen. Sie zu einem Satz für die Sicherung der Ergebnisse der Bo- können sich jetzt wieder hinsetzen. denreform konnte sich Rotgrün durchringen. Das ist an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesichts der politischen und juristischen Brisanz dieses und bei der SPD – Dr. Peter RamsauerProblems sehr enttäuschend. [CDU/CSU]: Sie Oberlehrerin! – Weitere Zu- (Beifall bei der PDS) rufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die – Entschuldigen Sie, wieso bin ich oberlehrermäßig?ostdeutschen Kommunen nicht nur – wie geschehen – Das bin ich überhaupt nicht. de jure, sondern auch de facto zur kommunalen Selbst- (Zuruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer verwaltung zu führen? Wir meinen: Nichts Konkretes [CDU/CSU]) ist bisher bekanntgeworden. Da beißt die Maus wohl keinen Faden ab. Die teilweise stark rückläufige Auf- – Herr Ramsauer, Sie müssen sich noch ein wenig ge- tragslage kleiner und mittlerer Unternehmen resultiert zu dulden. einem hohen Grade aus mangelnder Handlungsfähigkeit Ich möchte abschließend sagen, daß diese neue Bun- der vielerorts finanziell arg angeschlagenen Kommunen. desregierung für eine Modernisierung der WirtschaftDie Folge wiederum sind Negativwirkungen auf den steht. Sie steht für eine Entlastung der Umwelt. Sie wird Arbeitsmarkt, auf Existenzgründungen und die Unter- die Modernisierung und die Entlastung der Umwelt mit- nehmensentwicklung, Stichwort Insolvenz. Sicher muß einander verbinden. Meine Damen und Herren, sehenein ganzes Paket von Maßnahmen geschnürt werden, Sie sich Mercedes-Benz an oder die vielen kleinen und damit Städte und Gemeinden ihrer Funktion als Haupt- mittleren Unternehmen. Dann werden Sie wissen: Eine auftraggeber für den Bau, für Handwerk und Gewerbe Verbindung zwischen Wirtschaft und Umweltschutz be- gerecht werden können. Vordringlich ist für uns eine deutet tatsächlich eine Kostensenkung in der Industrie. Reform der Kommunalfinanzierung, die mit der Steuer- reform korrespondieren muß. Dies ist bislang nicht zu Ich habe gestern ein sehr spannendes Buch gelesen, erkennen. das sich hauptsächlich darauf bezieht, daß Umwelt- schutz eine Kostensenkung nach sich zieht. Das Nach- Für ebenso unerläßlich halten wir, daß die ostdeut- wort in diesem Buch hat der ehemalige Finanzminister schen Kommunen endlich vollständig über die ihnen zu- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 217

Dr. Uwe-Jens Rössel (A) stehenden Vermögenswerte wie Flurstücke, Gebäude, Zustimmung für unseren Antrag und eine baldige Be-(C) Unternehmen und ähnliches verfügen können. Acht Jah- handlung. re nach der staatlichen Einheit waren Ende Oktober Vielen Dank. 1998 noch immer 21,6 Prozent der Anträge der Kom- munen auf Zuordnung dieser Vermögenswerte von den (Beifall bei der PDS) zuständigen Bundesbehörden nicht entschieden worden. Dazu kommen viele Ungereimtheiten und offene Fragen bei der Vermögenszuordnung. Für all das trägt – das Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaats Thü- will ich deutlich sagen – die abgewählte Bundesregie- ringen. rung die Verantwortung. Die Zeit für eine Korrektur ist auch hier überreif. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen): (Beifall bei der PDS) Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Daher hat die PDS-Fraktion den vorliegenden Antrag Damen und Herren! Am vergangenen Freitag sind an- auf Drucksache 14/17 eingebracht. Bei Verwirklichung läßlich des turnusmäßigen Wechsels im Präsidentenamt des Antrags entstünden in Ostdeutschland nachweisbare im Bundesrat lesenswerte Reden über die Zukunft des Impulse für kommunale Handlungsfähigkeit und regio- Föderalismus und eine Neugestaltung des Zusammen- nale Wirtschaftsentwicklung, nachweisbare Impulse für wirkens von Bund und Ländern gehalten worden. Es war den Arbeitsmarkt. für mich außerordentlich erfreulich, wie lückenlos der neue Bundesratspräsident die Initiative der vier süddeut- Wir beantragen: Erstens soll die Zuordnung entspre- schen Länder aufgegriffen hat, auch wenn er sie nicht chender Vermögenswerte an die Kommunen, von weni- erwähnt hat. gen begründeten Ausnahmefällen abgesehen, im we- sentlichen bis zum 31. Dezember 1999 zum Abschluß Bei der gleichen Gelegenheit hat Bundeskanzler gebracht werden. Altfinanzminister Waigel – ich willSchröder dem Bundesrat seine Aufwartung gemacht, das hier sagen, er ist anwesend – wollte das offensicht- sich selbst für seine Amtsführung als Bundesratspräsi- lich erst am Sankt-Nimmerleins-Tag erledigen. dent gelobt und dem Inhalt der Initiative dem Grunde nach ebenfalls zugestimmt. (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Reden Sie doch keinen Unsinn! Nehmen Sie das sofort Wir alle wollen weg vom Beteiligungsföderalismus. Wir wollen zu einer stärkeren Eigenverantwortung der zurück!) Länder und zu einer Neuordnung der Finanzbeziehun- Zweitens soll den ostdeutschen Städten, Gemeinden gen zwischen Bund und Ländern. (B) und Landkreisen das Recht eingeräumt werden, bei den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) zuständigen Bundesbehörden bereits abgelehnte Anträge bis zum 31. Mai nächsten Jahres noch einmal stellen zu Im Geiste dieser Revitalisierung des Föderalismus können. Das ist schon deshalb notwendig, weil nicht je- erlaube ich mir, als Ministerpräsident eines der deut- der Ablehnungsgrund heute noch auffindbar ist. Es ist schen Länder in der Debatte zur Regierungserklärung viel Unordnung in diesen Gremien vorhanden. des Bundeskanzlers hier im Bundestag das Wort zu nehmen. Ich tue das insbesondere als Ministerpräsident Drittens sollen die Städte, Gemeinden und Landkreise eines jungen Landes. Denn noch immer sind die neuen einen angemessenen finanziellen oder naturellen Aus- Länder mehr als die alten auf die volle Unterstützung gleich für teilweise zu ihren Lasten erfolgte Privatisie- der ganzen Bundesrepublik angewiesen. rungen erhalten. Bei der Ausgestaltung dieser Entschä- digungsregelungen haben wir ausdrücklich die Vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- schläge des Bundesrates berücksichtigt. Wir haben keine wie bei Abgeordneten der SPD) Maximalforderungen erhoben, sondern uns auf das Ich tue das im Wissen, daß wir auf Sie, meine Damen Machbare konzentriert. und Herren, auf den Deutschen Bundestag und auf die Wir fordern die neue Bundesregierung darüber hinaus Bundesregierung, angewiesen sind. auf, dafür Sorge zu tragen, daß die kommunalen Spit- In den letzten Monaten war viel vom Aufbau Ost die zenverbände endlich im Verwaltungsrat der BvS vertre- Rede. Der Aufbau Ost solle erste, solle allererste, solle ten sind. absolute Priorität haben. Ich begrüße das ausdrücklich. (Beifall bei der PDS) Ich möchte allerdings hinzufügen, daß der Aufbau Ost diese absolute Priorität bei Bundeskanzler Kohl zu jeder Der Altfinanzminister hatte das abgelehnt und damitZeit und uneingeschränkt hatte. Sachverstand aus dem Verwaltungsrat der Treuhand- nachfolgerin ausdrücklich ausgesperrt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kein westdeutscher Politiker war in den letzten Jahren Es wäre gut, wenn der vorliegende Antrag 14/17 der PDS-Fraktion im Parlament auf eine große Zustimmung häufiger in den neuen Ländern und war über die Situa- stoßen würde. Er konzentriert sich auf das jetzt Notwen- tion in den neuen Ländern besser informiert als er. Mein dige – wir haben die Zeitschiene berücksichtigt –, und er Wunsch ist, daß sich daran auch in Zukunft nichts än- ist machbar. Im Interesse der Herstellung der innerendert, daß der Aufbau Ost Chefsache bleibt. Einheit Deutschlands werben wir daher ausdrücklich um (Beifall bei der CDU/CSU) 218 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen) (A) Ich begrüße die Absicht der neuen Regierung, regel- Der Mittelstand ist für den wirtschaftlichen Aufbau (C) mäßig in den neuen Ländern gemeinsame Kabinettssit- in den jungen Ländern von besonderer, von zentraler zungen mit den Landesregierungen abzuhalten. Ich lade, Bedeutung. Er muß steuerlich entlastet werden. Seine Herr Bundeskanzler Schröder, die Bundesregierung ein, steuerliche Belastung und seine Belastung durch zu hohe zur ersten Sitzung nach Thüringen zu kommen. DannLohnnebenkosten müssen abgebaut werden. Gerade sehen Sie nämlich, was alles möglich ist. In anderendarum frage ich mich angesichts der weitgehend noch Ländern sehen Sie auch, was alles unmöglich ist. nebulösen steuerpolitischen Vorstellungen der Bundes- regierung: Was ist denn eigentlich Ihr Ziel? Ich frage (Heiterkeit bei der CDU/CSU) mich, wie man Lohnnebenkosten senken will, indem Ich sehe in diesem Gedanken der Kabinettssitzungen ei- man Energiesteuern erhöht. Wenn man Quersubventio- ne zeitgerechte Weiterführung der vielen Kanzlerrunden nierung will, soll man das bitte auch klar sagen und „Aufschwung Ost“ und der unzähligen Regionalkonfe- nicht Kostensenkungen vorspiegeln, die nur durch renzen, die die Bundesregierung bisher im Osten abge- Strukturreformen zu haben wären. halten hat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Im übrigen schließe ich mich der Ansicht meines ordneten der F.D.P.) brandenburgischen Kollegen an. Wir Ministerpräsiden- Die geplante Energiesteuererhöhung trifft in besonde- ten der neuen Länder werden in besonderer Weise dar- rer Weise die jungen Länder. Schon der Wegfall des über zu wachen haben, daß die angekündigte Prioritä- Kohlepfennigs hat unsere Situation einseitig ver- tensetzung auch durchgehalten wird. Wer, wenn nichtschlechtert. Wer weiß, wie vieler Anstrengungen es be- wir, die Ministerpräsidenten der neuen Länder, hat dies- darf, ausländische Investoren für die jungen Länder zu bezüglich die Wächterfunktion? Wir werden sie gemein- gewinnen, der muß darauf achten, daß sich unsere Rah- sam wahrnehmen. menbedingungen nicht durch noch höhere Energiepreise weiter verschlechtern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine Damen und Herren, unsere drängendste Sorge der F.D.P.) ist nach wie vor die hoheArbeitslosigkeit, auch wenn wir sichtbare Erfolge haben. Im Oktober ist die Zahl der Im Zweifelsfalle stimme ich Herrn Kollegen Clement Arbeitslosen im Freistaat Thüringen, bezogen auf die zi- zu, wenn er fordert, den gesamten gewerblichen Be- vilen Erwerbspersonen, auf 13,4 Prozent gefallen. Siereich – nicht nur die sogenannten energieintensiven Be- liegt damit um 4,1 Prozent unter der Quote des Oktobers triebe – von zusätzlichen Steuerbelastungen auszuneh- im Vorjahr. Wir haben damit die niedrigste Quote unter men. (B) allen neuen Ländern. (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der F.D.P.) Wir haben sogar das erste alte Land eingeholt. Das freut Wo Clement recht hat, hat er recht, und da muß man ihn uns natürlich insgeheim ganz besonders. unterstützen. Wenn es schon nicht gelingt, alle gewerb- lichen Betriebe – nicht nur die energieintensiven – aus- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wie heißt zunehmen, dann möge man wenigstens alle Betriebe in dieses alte Land?) den neuen Ländern ausnehmen, wenn der Aufbau Ost wirklich Vorrang haben soll. Wer aber mehr Arbeitsplätze schaffen will, der muß die politischen Rahmenbedingungen für eine gute wirt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schaftliche Entwicklung sichern. der F.D.P.) (V o r s i t z : Vizepräsidentin ) In der Regierungserklärung ist die Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf bisherigem Niveau Das Rückgrat dafür bildet der Solidarpakt aus dem Jah- zugesagt worden. Im Entwurf des Bundeshaushalts 1999 re 1993, der uns bis 2004 den wirtschaftlichen Aufbau in der alten Regierungskoalition sind Ausgaben des Bun- den neuen Ländern finanziell sichert. Aber Überlegun- des für die Arbeitsförderung in gleicher Höhe wie in gen, wie es danach weitergehen soll, müssen jetzt ein- diesem Jahr vorgesehen. Damit ist Vorsorge getroffen, setzen. Brüssel hat zugesichert, daß die neuen Länderdaß die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitsmarktpolitik Ziel-1-Gebiet bleiben. Aber die Höhe derFörderung auf hohem Niveau fortführen kann. Hier können wir Sie durch die Europäische Unionab dem Jahr 2000 ist nur auffordern: Bleiben Sie dabei; führen Sie das fort, noch nicht festgestellt. Hier drängt die Zeit. Wir haben was im Haushaltsentwurf der alten Regierung vorgese- November 1998. Es ist nicht mehr lange hin bis zumhen ist. 1. Januar 2000. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Von existentieller Bedeutung für dieostdeutsche der F.D.P.) Landwirtschaft ist der weitere Umgang mit derAgen- da 2000. Die drohende Schlechterstellung der Landwirte Von zentraler Bedeutung für den weiteren wirtschaft- in den neuen Ländern muß abgewendet werden. lichen Aufschwung der neuen Länder ist dieVerbesse- rung der Infrastruktur. Die entsprechenden Aussagen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Koalitionsvereinbarung haben bei uns erhebliche ordneten der SPD, der F.D.P. und der PDS) Unruhe verursacht. Die Regierungserklärung allerdings Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 219

Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel (Thüringen) (A) schweigt zu diesem Thema. Ich gehe folglich davon aus, enden und die innere Einheit auch durch die Rückkehr (C) daß die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit,die in- in die wiedervereinigte deutsche Hauptstadt sichtbar zwischen alle begonnen worden sind und in die erhebli- machen. Aber für mich endet damit nicht die „Bonner che Investitionen geflossen sind, nicht in Frage gestellt Demokratie“, und für mich beginnt damit nicht die und auch nicht einer neuerlichen langwierigen Überprü- „Berliner Republik“. fung unterzogen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Denn die Werte unserer Demokratie und das Grundge- ordneten der SPD und der F.D.P.) setz verändern sich nicht. Beides zieht mit um nach Die von mir geführte Thüringer Koalition ist sich in die- Berlin sem Punkt völlig einig: Autobahnen und ICE-Trassen (Walter Hirche [F.D.P.]: Richtig!) sind Lebensadern, ohne deren Ausbau die Entwicklung in Thüringen und in den neuen Ländern insgesamt auf und wird nicht hier belassen. das nachhaltigste beeinträchtigt würde. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- wie bei Abgeordneten der SPD) Gerade weil ich Weimar, weil ich aber auch Buchen- wald vor Augen habe, möchte ich alles dafür tun, daß Gerade weil gegenwärtig alles von einer Revitalisie- der Freistaat Thüringen ein verläßliches Glied der Bun- rung des deutschen Föderalismus spricht: Das Herzstück desrepublik Deutschland bleibt. der Länderzuständigkeit ist und bleibt dieBildungs- und Kulturpolitik. Wir können nicht am Freitag die Herzlichen Dank. Eigenständigkeit der Länder betonen und am Dienstag (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf den Hinweis verzichten: Bildung und Kultur sind selbstverständlich Ländersache und sollen Ländersache bleiben. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat der Staatsminister Rolf Schwanitz. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: Ganz in diesem Geist hat sich Thüringen dafür einge- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- setzt, daß Weimar Kulturstadt Europas 1999wird – ren! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Vogel, ich zum ersten Mal eine Stadt in den neuen Ländern, zum darf mich im Namen der Bundesregierung für Ihre erstenmal eine Stadt mit nur 60 000 Einwohnern. Diefreundlichen Worte und für die Einladung herzlich be- (B) Vorbereitungen sind weit fortgeschritten. Im Jahr desdanken. Ich bin mir sicher, daß es zwischen der neuen(D) 250. Geburtstages Johann Wolfgang von Goethes, 80Bundesregierung und Ihnen, Ihrer Staatsregierung, aber Jahre nach der Verabschiedung der Weimarer Verfas-auch den anderen Landesregierungen der neuen Länder sung, 50 Jahre nach der Verabschiedung des Grundge- zu einer guten und zügigen Zusammenarbeit kommen setzes und zehn Jahre nach dem Fall der Mauer ladenwird. Herzlichen Dank! wir Europa nach Weimar und nach Thüringen ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unsere Bewerbung war erfolgreich, weil Weimar und Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in Thüringen nicht alleine standen, sondern weil wir vonseiner Regierungserklärung am Dienstag darauf hinge- der Bundesregierung unterstützt wurden. Wir sind dank- wiesen, daß die schonungslose Beurteilung der Lage bar, daß sich der Bund als Gesellschafter an der Wei-Voraussetzung für die Modernisierung unseres Landes mar 1999 GmbH beteiligt und einen finanziellen Beitrag ist. Tatsache ist: Die Ostdeutschen haben gerade in den leistet. Natürlich freue ich mich, wenn der Bundeskanz- letzten Jahren spezielle Erfahrungen mit Dichtung und ler den Anteil des Bundes erhöhen will und etwa bereit Wahrheit in der Politik gemacht. Sie haben deshalb ei- ist, ihn auf die Höhe des Anteils des Freistaats Thürin- nen besonderen Anspruch darauf, daß die Probleme gen zu steigern. beim Namen genannt werden. Die neue Bundesregie- Meine Damen und Herren, die in Weimar ausgear-rung kann und wird daher nicht das Blaue vom Himmel beitete Verfassung war eine der freiheitlichsten Verfas- versprechen. „Blühende Landschaften“ sind diesmal sungen der Welt. Daß die Weimarer Republik dennoch nicht im Angebot. gescheitert ist, lag nicht an Weimar, sondern daran, daß (Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist sehr doppel- es nicht genügend Demokraten gab, die bereit waren, die deutig!) Demokratie gegen Extremisten zu verteidigen. Die Leh- re daraus hat gezogen: „Keine Freiheit Dazu sind die Probleme viel zu vielschichtig. den Feinden der Freiheit“. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- F.D.P.) wie bei Abgeordneten der SPD) Notwendig sind vielmehr Anstrengung, Fleiß und vor Meine Damen und Herren, wir werden mit demUm- allem auch viel Zeit. Deshalb müssen am Anfang Rea- zug nach Berlin die Zeit des Provisoriums in Bonn be- lismus, Ehrlichkeit und Klarheit stehen. Dieser Realis- 220 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Staatsminister Rolf Schwanitz (A) mus wird von den Menschen in den neuen Bundeslän- dies kann nicht von Jahr zu Jahr erneut in Frage gestellt (C) dern erwartet, nicht leere Versprechungen, die in denwerden. letzten Jahren vor allen Dingen gegenüber den Ostdeut- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen gemacht worden sind. Das muß angenommen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden. Das muß diese Bundesregierung mit Handeln untersetzen. Darum wird es gehen. Zu diesem Auftakt gehört zweitens dieaktive Ar- beitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die vor der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wahl von der alten Bundesregierung kurzfristig hochge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fahren wurde, ohne daß sie im Sinne einer Anschlußfi- nanzierung – Herr Ministerpräsident, hier habe ich eine Zweifellos sind wir in den vergangenen acht Jahren etwas andere Auffassung in der Sache – für das Folge- ein gutes Stück vorangekommen. Wer das bestreitenjahr sichergestellt worden wäre. Das werden wir korri- wollte – ich werde dies im Gegensatz zur alten Bundes- gieren. Wir werden das verstetigen. Die aktive Arbeits- regierung niemandem im Haus, egal ob er auf der Oppo- marktpolitik für 1999 wird auf hohem Niveau verstetigt. sitions- oder auf der Regierungsseite sitzt, absprechen –, Dafür haben wir die Voraussetzungen im Etat der Bun- würde weder den erheblichen solidarischen Leistungen desanstalt für Arbeit bereits geschaffen; denn auch hier der Westdeutschen für den Aufbau Ost noch den gewal- muß schnell gehandelt werden, damit im nächsten Jahr tigen Anstrengungen der Menschen in den neuen Bun- Klarheit für Ostdeutschland besteht. desländern gerecht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dennoch gehört es zum Realismus, daß dieneuen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesländer noch für eine beträchtliche Weile auf die Unterstützung und die Solidarität des ganzen Landes Zum Auftakt gehört drittens, die Treuhandnachfolge angewiesen sind. Noch ist kein selbsttragender Auf-im nächsten Jahr nicht einfach auslaufen zu lassen. Die schwung in den neuen Ländern zustande gekommen.Treuhandnachfolge ist keine Dauereinrichtung; ich will Die Wachstumsraten sind in den letzten Jahren in dendas in aller Deutlichkeit sagen. Aber wir wollen eine si- Keller gegangen. Sie sind unter die der alten Bundeslän- chere Begleitung der ehemaligen Treuhandunternehmen der zurückgefallen. Der ökonomische Spalt beginnt sich entsprechend den gesetzlichen Vorgaben auch weiterhin wieder zu öffnen. Noch sind viele Unternehmen in den gewährleisten. neuen Ländern nicht wettbewerbsfähig und auch nicht kapitalstark genug. Noch sind Ost und West von gleich- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Staatsminister, wertigen Lebensbedingungen weit entfernt. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sei- (B) Unser gemeinsames Ziel sollte deshalb sein, denfert? (D) Aufbau Ost auch als eine Chance zu begreifen, um neue Wege zu gehen, die ökonomischen und ökologischen Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: Vorbildcharakter für unser gesamtes Land haben. Gleich. – Maßstab ist der gesetzliche Auftrag, der hier beschlossen worden ist. Wir müssen ökonomische Soli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dität in den Unternehmen erzeugen. Das geht nicht mit Wir werden – wie in der Koalitionsvereinbarung ange- der Stoppuhr in der Hand. – Bitte. kündigt – ein Aufbauprogramm „Zukunft Ost“auf den Weg bringen. Aber wir kündigen Konzepte nicht Dr. Ilja Seifert (PDS): Herr Kollege Schwanitz, wir nur an; wir handeln auch sofort und entschlossen undhaben uns im Wahlkampf ja einige Male getroffen. Bei räumen Stolpersteine aus dem Weg, die die alte Bundes- Ihnen im Vogtland und bei mir in Ostsachsen ist die Ar- regierung hinterlassen hat. So werden wir für die neuen beitslosigkeit gleich groß. Was wollen Sie zur Versteti- Bundesländer innerhalb von zwei Monaten mehr auf den gung des aktiven Arbeitsmarktes in bezug auf die Weg bringen, als die alte Bundesregierung im gesamten Sachleistungen tun? Denn momentan besteht das Pro- letzten Jahr für die neuen Bundesländer auf den Wegblem, daß die 300 Millionen DM, die in diesem Jahr als gebracht hat. Sachleistungen gezahlt wurden, auslaufen. Sie müssen bis Ende dieses Jahres ausgegeben und abgerechnet sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Danach sterben die ABM weg, wenn nur noch die 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Lohnkosten getragen werden. Dazu würde ich gerne et- Ärmel hochkrempeln!) was Konkretes hören; denn danach werde ich aus dem Zu diesem Auftakt gehört erstens dasSofortpro- Wahlkreis gefragt. gramm, mit dem wir einhunderttausend Jugendliche so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: bringen werden. Dabei entfällt ein Schwerpunkt desHerr Abgeordneter, wir sind uns völlig darüber im kla- Programms auf Ostdeutschland; denn die Mittel werden ren, daß das Sachleistungsproblem in den neuen Bun- dort eingesetzt werden, wo die Not am größten ist. Die- desländern ganz besonders drängend ist, vor allen Din- ses Programm wollen wir durch die Fortschreibung der gen weil die alte Bundesregierung 1997 durch ihre mas- Gemeinschaftsinitiative Ost flankieren; denn auch hier sive Streichungskampagne vielen Beschäftigungsgesell- brauchen wir Klarheit, brauchen wir Stetigkeit. Auchschaften die Grundlage entzogen hat. Deswegen muß die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 221

Staatsminister Rolf Schwanitz (A) Verstetigung mit einer Sicherstellung von Sachleistun- neuen Länder, die Sie ausgesessen haben oder zum Teil (C) gen einhergehen. Sie können sicher sein, daß wir unspolitisch nicht wollten und die wir noch bis zum Jahres- dieses Problemes annehmen werden. ende angehen werden. Das ist in der Tat ein klares Si- gnal und ein guter Start der neuen Bundesregierung ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genüber den neuen Ländern. der PDS) Zu diesen Vorhaben gehört viertens ein klares Wort (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS zum Solidarpakt von 1993, das die in den neuen Län- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten dern entstandene Verunsicherung beseitigt. Der Solidar- der PDS) pakt wird das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichen Die Schwerpunkte unserer Politik für Ostdeutschland Aufbaus der neuen Länder bleiben. So ist zum Beispiel werden im Aufbauprogramm „Zukunft Ostdeutschland“ auch der Versuch der alten Bundesregierung, Sonderzu- zusammengeführt. Sie reichen von einer verläßlichen weisungen von 800 Millionen DM aus dem Finanzaus- Fortsetzung der Aufbauhilfen und der Verstärkung von gleich zu streichen, mit dieser neuen Bundesregierung Zielgenauigkeit und Effizienz über den Ausbau der ost- vom Tisch. Solche Strategien werden wir nicht weiter- deutschen Forschungslandschaft, über die Fortentwick- verfolgen. lung der öffentlichen Infrastrukturprogramme bis hin zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Sicherung fairer Rahmenbedingungen für die ostdeut- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sche Landwirtschaft. Im übrigen: Selbstverständlich steht das, was in der gemeinsamen Erklärung zurBo- Zum Auftakt gehört fünftens, die Ende 1998 auslau- denreform vereinbart worden ist, in keiner Weise zur fende Regelung zumInvestitionsvorrang für Ost- Disposition. deutschland weiter zu verlängern. Damit schaffen wir Planungssicherheit, um insbesondere Investitionen in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Wohnungsbau, in den Kommunen nicht länger zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des gefährden. Auch hier ist dringender Handlungsbedarf Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) gegeben. Es muß schnell gehandelt werden. Wir werden das vordringlich bis zum Jahresende leisten. Dabei werden wir sowohl neue Vorschläge unter- breiten als auch Fehler der alten Bundesregierung korri- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gieren. Ich will dafür zwei Beispiele geben: Bei der In diesen vordringlichen Bedarf gehört sechstens: Die Forschungsförderung für die Industrie hatte die alte Befristung der Finanzhilfen für die ostdeutschen Bundesregierung ihre Zusage nicht eingehalten, die Hil- Krankenkassen ist vom Tisch und damit auch der ur- fen auf hohem Niveau fortzusetzen. Die mittelfristige (B) sprünglich von Bayern thematisierte Versuch der Regio- Finanzplanung, die ich vorgefunden habe, sah hier eine(D) nalisierung von Krankenversicherungen. Auch hier ent- deutliche Absenkung nach 1999 vor. Der frühere For- steht Planungssicherheit, übrigens auch für ostdeutsche schungsminister hat es sogar fertiggebracht, das Pro- Unternehmungen, die vor dem Hintergrund der hohen gramm „Forschungskooperation“ nur bis Ende Septem- Lohnnebenkosten arge Befürchtungen vor einer solchen ber dieses Jahres zu finanzieren und es dann ohne Vor- Strategie haben. ankündigung einzustellen. Siebentens: Wir beseitigen die von der Europäischen (Ernst Schwanhold [SPD]: Der wußte, daß er Kommission angedrohte Blockade beimInvestitions- keine Zukunft hat!) zulagengesetz. An dieser Stelle will ich an die jetzige Ich kann die Klagen der ostdeutschen Unternehmen, die Opposition ein Wort richten: Sie haben mit dem Investi- auf Stetigkeit und Verläßlichkeit gehofft haben, sehr gut tionszulagengesetz in den zurückliegenden Wochen und verstehen. Mit uns wird eine solche Politik, die die In- Monaten massivst Wahlkampf gemacht und es als ein teressen der ostdeutschen Unternehmen ignoriert, nicht Herzstück Ihrer Leistungen für die ostdeutschen Länder fortgesetzt werden. und für den Aufbau Ost präsentiert. Dabei hatten Sie be- reits das Schreiben, in dem die EU-Kommission nur eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Teilgenehmigung des Gesetzes vorgesehen hat, bereits 90/DIE GRÜNEN) in der Tasche. Sie haben nicht reagiert. Sie haben die Fristen verstreichen lassen. Wir werden das auf den Weg Die Bedeutung der Modernisierung der Infrastruk- bringen, damit dieses Gesetz EU-konform in Kraft treten tur für Investionen und Arbeitsplätze in Ostdeutschland und vollzogen werden kann. kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Deshalb werden wir einen weiteren Schwerpunkt setzen und zum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beispiel die Verkehrprojekte Deutsche Einheit zügig des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weiterentwickeln. Meine Damen und Herren, das Sofortprogramm ge- gen die Jugendarbeitslosigkeit, die Verstetigung der Ar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beitsmarktpolitik, die Regelung der Treuhandnachfolge- Deswegen wird das Kabinett – so wie angekündigt – alle frage, Klarheit beim Solidarpakt, die Verlängerung beim zwei Monate in Ostdeutschland vor Ort gehen; es wird Investitionsvorrang, Sicherheit für die ostdeutschennicht über die Menschen regieren, Krankenkassen und pünktlicher Start des Investitions- zulagengesetzes, das sind sieben wichtige Punkte für die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 222 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Staatsminister Rolf Schwanitz (A) sondern Probleme mit den Menschen besprechen und Ich fordere Sie auf und biete Ihnen an, über all diese (C) konstruktiv und pragmatisch vorgehen. Das ist unserDinge gemeinsam mit uns konstruktiv zu streiten, unab- Ansatz. hängig davon, ob Sie in der Koalition oder in der Oppo- sition stehen. Diese Ungerechtigkeiten, die teilweise (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch als Verletzungen empfunden werden, im Konsens des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) oder im Streit gemeinsam zu beseitigen, nur dies wird Zur inneren Einheit der Deutschen gehören jedoch uns bei der inneren Einheit weiterführen. nicht nur Zahlen und Fakten, die man in Mark und Pfen- nig ausweisen kann. Zur inneren Einheit gehört auch die wechselseitige Akzeptanz des jeweils anderen; denn die Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Staatsminister, innere Einheit ist nicht dadurch zu erreichen, daß sichachten Sie auf die Zeit, bitte. die Ostdeutschen möglichst vollständig den westdeut- schen Normen und Wertevorstellungen anpassen. Die Einheit in Vielfalt ist unser Ziel. Deshalb zollt die Bun- Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: desregierung den Lebensleistungen und Biographien der Ja. – Die innere Einheit bleibt eine der zentralen innen- Menschen im Osten Achtung und Respekt. Sie berei-politischen Herausforderungen unserer Zeit. Diese inne- chern den Erfahrungsschatz unseres Volkes. re Einheit erfordert die ökonomische Emanzipation des Das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost undOstens. Dies erfordert eine Solidarität im Föderalismus West kann nur gelingen, wenn Trennendes abgebaut und und eine Schwerpunktsetzung in der Bundespolitik. Verletzendes beseitigt wird. Ich will deshalb, daß dieHierfür treten wir ein. Mängel bei derAnerkennung und Rehabilitierung Herzlichen Dank. ehemals politisch Verfolgter in der DDRendlich be- seitigt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. [CDU/CSU]) Sie wissen: Das ist eine lange Herzensangelegenheit Vizepräsidentin Anke Fuchs: Zu einer Kurzinter- vieler hier im Haus und ist in den letzten acht Jahren re- vention – das sind drei Minuten – erteile ich Frau Cor- gelmäßig gescheitert. Jetzt haben wir andere Mehrheits- nelia Pieper das Wort. verhältnisse, jetzt muß es endlich zu einer Verbesserung dieser Situation kommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Cornelia Pieper (F.D.P.): Sehr geehrter Herr (B) (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Staatsminister Schwanhold! Ich habe Ihren Ausführun- Abg. Vera Lengsfeld [CDU/CSU]) gen sehr aufmerksam zugehört. Das gilt aber auch für die Fortsetzung der Aufarbei- (Zuruf von der SPD: Schwanitz!) tung der Geschichte und für die wichtige Tätigkeit der – Schwanitz. Aber von Schwanitz bis Schwanhold ist Behörde für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der Abstand in der Tat nicht weit. – Ich habe Ihre Aus- der ehemaligen DDR, der sogenannten Gauck-Behörde. führungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich stelle mit Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) friedigung fest, daß die SPD im Jahre acht der deutschen Einheit das Thema „Aufbau Ost“ entdeckt hat. Diese Beiträge sind wichtig; denn nicht Verdrängen oder Verklären der Vergangenheit, sondern nur eine offensive (Widerspruch bei der SPD) Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte Was mich gewundert hat, ist, daß Sie, Herr Staatsmi- wird uns die Räume für die Auseinandersetzung und für nister, nicht für blühende Landschaften in den neuen die Wege in die Zukunft öffnen. Bundesländern sprechen. Meine Fraktion und ich gehö- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des ren auch nicht zu denjenigen, die blühende Landschaften BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der versprochen haben, aber wir sollten alle Kraft darauf CDU/CSU) verwenden, daß blühende Landschaften in den neuen Bundesländern entstehen. Das gehört letztendlich auch Ich will ferner, daß die Regelungen über die Aner- kennung von Berufsabschlüssen, über Titel und Ämter zu Ihrer Aufgabe. auf den Prüfstand kommen, damit geklärt wird, inwie- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- weit ostdeutsche Lebensleistungen durch das bisherige ten der CDU/CSU) Recht im vereinigten Deutschland angemessen gewür- digt werden. Schließlich streite ich dafür, das seit der Bundeskanzler Gerhard Schröder hat den Aufbau Ost Einheit gewohnte Vokabular einem kritischen Blick zu zur Chefsache gemacht. Ich hoffe, daß das auch Chefsa- unterwerfen; denn auch ein Begriff wie Transferleistun- che bleibt. Chefsache heißt für mich in erster Linie, sich gen sollte künftig nicht länger überfrachtet und politisch um die Arbeitsplätze der Menschen in den neuen Bun- instrumentalisiert werden. desländern zu kümmern. Die Arbeitslosigkeit ist dort doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ( [SPD]: Das ist die Erblast! PDS) Ihre Hinterlassenschaft!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 223

Cornelia Pieper (A) Sie legen Prioritäten auf den zweiten Arbeitsmarkt. Sie können das gern noch einmal im Protokoll nach- (C) Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine aktiveMittelstands- lesen. Vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. Das ist förderung gerade auch für die neuen Bundesländer, um in Ordnung. Ich glaube, das ist ein ordentlicher Fahr- Arbeitsplätze schaffen zu können. plan, für den wir uns sehen lassen können, insbesondere vor dem Hintergrund der Zeit, die wir seit der Regie- (Beifall bei der F.D.P. – Widerspruch bei der rungsübernahme für diese Dinge zur Verfügung hatten. SPD und der PDS) (Beifall bei der SPD) Es sind keine Illusionen, wie der Bundeskanzler gestern sagte, die Sie sich machen; aber es sind falsche Hoff- Eine weitere Bemerkung zu den blühenden Land- nungen, die Sie sich letztendlich machen, wenn Sieschaften. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre hier schon glauben, mit dem zweiten Arbeitsmarkt die Problemeüber blühende Landschaften gesprochen worden ist. Es lösen zu können. ist nicht die Frage, ob man eine Verbesserung anstrebt, sondern ob man sie den Menschen mit einem Zeithori- Wir brauchen eine aktive Mittelstandspolitik. Da zont von drei bis vier Jahren leichtfertig verspricht und werden Sie mit der Ökosteuerreform nichts erreichen. damit Probleme zudeckt. Das werden wir nicht tun, Sie wissen genau wie ich, daß die Energie- und Strom- meine Damen und Herren. preise in den neuen Bundesländern höher sind als in den alten Bundesländern, die Strompreise um zwei oder drei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Pfennig pro Kilowattstunde höher. Wenn Sie jetzt mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der einer ökologischen Steuerreform hier noch draufsatteln, PDS) dann wird das zarte Pflänzchen „Mittelstand“ in den neuen Bundesländern vernichtet. Das kann man nicht Frau Kollegin Pieper, wir machen uns keine Illusio- nen, daß man in Ostdeutschland das Problem des Ar- wollen, wenn man den Aufbau Ost vorantreiben will. beitsplatzmangels mit dem zweiten Arbeitsmarkt lösen Wir brauchen hier klare Konzepte für Steuersenkun- könnte. Das ist nicht der Punkt. Aber Sie haben als gen. Die F.D.P. hat dazu immer konkrete VorschlägeKoalitionspartner gemeinsam mit Ihrem Banknachbarn gemacht. Das vermisse ich von Ihrer Seite. Wie wollen im letzten Jahr arbeitsmarktpolitische Instrumente zu Sie sonst den Mittelstand weiterhin unterstützen? Da ist wahltaktischen Instrumenten verkommen lassen. Das ist nichts von Ihrer Seite zu erkennen. Hier sind Sie zumdie Hinterlassenschaft, mit der wir umgehen müssen. Handeln aufgefordert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Was den Ausbau der Infrastruktur anbelangt: Wie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und bei stehen Sie zu der Position Ihres Koalitionspartners, der der PDS) immer wieder gefordert hat, Haushaltsmittel für den (B) Wir lassen die Menschen nicht einfach im Regen stehen. (D) Bundesfernstraßenbau zu streichen? In der letzten Le- gislaturperiode waren das immerhin 3 Milliarden DM. Zum Schluß zur Steuersenkungsfrage. Frau Pieper, Investitionen für den Ausbau derInfrastruktur in den wir setzen jetzt die Körperschaftsteuer auf 35 Prozent neuen Bundesländern sind Grundvoraussetzung dafür, fest. daß Investitionen getätigt werden und daß Arbeitsplätze entstehen können. Wie wollen Sie hier einen Schub in- (Walter Hirche [F.D.P.]: Wann denn?) itiieren, damit Arbeitsplätze entstehen, damit Investitio- Das habe ich bei Ihnen in den 16 Jahren nicht erlebt. nen kommen und damit verhindert wird, daß Umge- hungsstraßen und Autobahnen in den neuen Bundeslän- (Beifall bei der SPD) dern nicht gebaut werden? Hier fehlt mir ein klares Be- Damit haben wir eine enorme Senkung der Steuern: Daß kenntnis auch seitens Ihres Koalitionspartners. Ihr Wort man das in vier Jahren machen kann, sollten Sie für sich habe ich wohl gehört; allein, mir fehlt der Glaube. Herr als Ansporn nehmen. Staatsminister, Sie sind hier aufgefordert, sich dazu konkreter zu äußern und zu handeln. Sie sind nicht auf- (Beifall bei der SPD) gefordert, nur zu verkünden, daß Sie als Staatsminister den Aufbau Ost wollen, der dann letztendlich mit der Ökosteuer im Abbruch Ost landet. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun Herrn Dr. Michael Luther, CDU/CSU-Fraktion, das Wort, bitte (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sehr.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Staatsminister Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Schwanitz, möchten Sie antworten? – Bitte sehr. Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aufbau Ost ist jetzt Chefsache – wie man leicht sieht. Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frau Kollegin Pieper, ich habe Ihnen sieben konkrete der SPD – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Punkte genannt, die wir bis zum Jahresende umsetzen Wo ist Schröder?) werden. Das ist schon einmal ein Ansatz. Am Dienstag habe ich die Debatte aufmerksam verfolgt: (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist mehr, als die Auch in der zweistündigen Regierungserklärung war die in sieben Jahren gemacht haben!) Chefsache dem Chef nur fünf Minuten wert. Ich glaube, 224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Michael Luther (A) daß diesem wichtigen Thema – der inneren Einheitals das stetige Maß eine Ebene ansetzen wollen, die(C) Deutschlands – mehr Aufmerksamkeit gebührt hätte. niedriger ist als die des Jahres 1998. Ich glaube, ABM muß auf dem finanziellen Niveau des Jahres 1998 fort- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der gesetzt werden. Darauf haben Sie zu achten. F.D.P.: Wo ist der Chef jetzt?) – Der Chef ist vielleicht trotzdem da; das kann ja sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Heiterkeit bei der F.D.P.) Resümee: Wer von der „Chefsache“ Aufbau Ost neue Ideen erwartet hat, der wurde getäuscht. Herr Schwanitz, Zur Infrastruktur. Dazu steht in der Regierungser-ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie können auf unsere klärung – lassen Sie mich auf ein paar Dinge kurz ein- Unterstützung zählen; denn der Aufbau Ost ist uns Her- gehen –: Infrastruktur, Ausbau des Telefonnetzes,Ver- zensanliegen. Sie werden in dieser Koalition auf unsere kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ – das waren The- Unterstützung angewiesen sein. men in den letzten Jahren. Es ist Gewaltiges erreicht worden, und diese Anstrengungen müssen fortgesetzt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – werden; das ist unstrittig. Etwas anderes steht auch nicht Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Das glaube in der Regierungserklärung; das ist gut so. Ich hoffe nur, ich auch!) daß die angedachte Überarbeitung der Verkehrswege- Das hat Ihre in manchen Phasen sehr mutlose Rede zu pläne vor dem Hintergrund von Bemerkungen, die dadem Thema „Aufbau Ost“ und zu dem Thema „blühen- lauten, weniger sei mehr, nicht im Endeffekt dazu füh- de Landschaften“ zum Ausdruck gebracht. ren wird, daß in den neuen Bundesländern nicht mehr, sondern weniger für die Infrastruktur getan wird. Das Sie sollten sich in der Zukunft bemühen, ein Stück wäre katastrophal. bei der Wahrheit zu bleiben. Ich denke zum Beispiel an das Thema Investitionszulagengesetz. Wir in der Re- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gierungskoalition haben das in der letzten Legislaturpe- In den letzten Jahren waren Modernisierung und Sa- riode als wichtiges und richtiges Mittel, als Anschlußre- nierung zentrale Themen. Ich sage es deutlich: Wer es gelung für das Fördergebietsgesetz auf den Weg ge- sehen will, kann es sehen: Es gibt die blühenden Land- bracht. Es ist gut, daß es dieses Instrument gibt. Ich hof- schaften. fe, daß Sie nicht versuchen, es zu kassieren, sondern es weiterhin anwenden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Und nun das „Neue“ der neuen Bundesregierung: Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollen die Anstrengungen zur Sanierung und Gestaltung Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu an- der Städte fortsetzen. Ich finde, das ist eine tolle Idee.deren Themen machen. (B) Sicherlich haben Sie in der Regierungskoalition lange (D) darüber nachgedacht, bis Sie darauf gekommen sind. Zum Thema Steuerreform: In seiner Regierungserklä- rung hat der Bundeskanzler auf die schwacheEigenka- Zum wirtschaftlichen Aufbau: In Ostdeutschland ent- pitalbasis der Unternehmen in den neuen Bundeslän- steht eine moderne Industrie. Darüber sind sich Experten dern hingewiesen. Er hat – zu Recht – festgestellt, daß einig. Es gab und gibt eine riesige Zahl von neuen Un- die Eigenkapitalbasis gestärkt werden muß. Glauben ternehmen. Das war nur mit Hilfe von FördermittelnSie, daß Ihnen das mit Ihrer Steuerreform gelingt? Un- möglich. Nun möchte die Bundesregierung – man hö-ternehmen brauchen zur Eigenkapitalbildung Gewinne. re! – die Förderpräferenz für die neuen Bundesländer Wenn Sie die Gewinne aber durch Steuern deutlich sichern. Ich finde das gut. Allerdings sei die ironische schmälern, dann kann niemand Eigenkapital bilden. Sie Frage erlaubt: Vor wem wollen Sie die Förderpräferenz brauchen dieses Geld für die vielen Experimente, die Sie sichern? Genauer betrachtet scheint diese Frage auchvorhaben; ich weiß das. Doch was bedeutet das für die nicht unberechtigt zu sein, nämlich wenn man die Viel- eigenkapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bun- zahl von teuren Wahlversprechen und die ungeklärten desländern? Sie werden diese Unternehmen in ganz be- Finanzierungsfragen berücksichtigt. Aufbau Ost kostet sonderer Weise treffen. Geld. Herr Schwanitz, Sie werden darauf zu achten ha- ben, daß dieses Geld im Bundeshaushalt auch zur Ver- Zum Thema Ökosteuer: Einerseits – das ist allen klar fügung steht. – ist das Einkommensniveau der Arbeitnehmer und der Rentner in den neuen Bundesländern besonders niedrig; (Beifall bei der CDU/CSU) andererseits müssen, dem starken wirtschaftlichen Wan- Ich hoffe, daß es Ihnen gelingt. del geschuldet, die Arbeitnehmer in den neuen Bundes- ländern viel flexibler sein und viel mehr pendeln als die Zum Thema zweiter Arbeitsmarkt: Er muß auf hohem Menschen in den alten Bundesländern. Deshalb wird die Niveau bleiben. Ich freue mich, daß Sie die Mittel dafür ökologische Steuerreform die Bürger in den neuen verstetigen wollen. Neu ist der Gedanke allerdings nicht. Bundesländern in besonderem Maße treffen. Bei niedri- Im Gegenteil: Wenn ich die Formulierungen aus der Re- gerem Einkommen nutzt auch niemandem eine Steuerre- gierungserklärung – Herr Schwanitz, in Ihrem Beitrag form, durch die er weniger Steuern bezahlt. Aber höhere haben Sie das wiederholt – ganz genau betrachte, habe Energie- und Benzinsteuern werden die neuen Bundes- ich sogar Sorge. Ich will es einmal auf den Punkt brin- länder treffen, und zwar die einfachen Menschen mit gen. Sie unterstellen für das Jahr 1998 Wahlkampf-kleinem Einkommen. ABM, was – und das wissen Sie alle ganz genau – nicht stimmt. Die Crux der Behauptung ist allerdings, daß Sie (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 225

Dr. Michael Luther (A) Diese Politik schadet den Menschen, sie schadet derIn unserer Fraktion sitzen Vera Lengsfeld, (C) Kaufkraft, und was der Kaufkraft schadet, das schadet und Günter Nooke. Sie haben 1989 bei derfriedlichen natürlich auch dem Mittelstand in den neuen Bundeslän- Revolution in der DDR ihren Kopf hingehalten. dern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zum Thema Strompreis: In den neuen Bundesländern Ludwig Stiegler [SPD]: Was ist mit den ist er besonders hoch, weil die Stromversorgungsbasis in Blockflöten, die da sitzen?) den vergangenen Jahren grundlegend modernisiert wer- Sie haben für die deutsche Einheit gestritten, die wir den mußte. Diese Tatsache ist schon heute für die Un- 1990 erreicht haben. Im Gegenzug hat der damalige Mi- ternehmen in den neuen Bundesländern schwerwiegend. nisterpräsident und heutige Bundeskanzler Gerhard Wir haben das immer festgestellt. Wenn Sie diesen Un- Schröder gemeinsam mit seinem heutigen Finanzmi- ternehmen mit der Ökosteuer nun noch eine zusätzliche nister, Herrn Lafontaine, im Bundesrat gegen die deut- Energiesteuer aufdrücken wollen, dann wird es für sie sche Einigung gestimmt. Das ist geschichtliche Wahr- gefährlich, dann werden sie in ihrem Bestand gefährdet, heit. und dann wird so mancher auch auf Neuinvestitionen verzichten müssen. Lassen Sie mich hier aus der(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – „Volksstimme“ vom 3. November 1998 zitieren: Ludwig Stiegler [SPD]: Einen seltsamen Wahrheitsbegriff haben Sie!) Der Wernigerröder Zylinderkopfhersteller Rauten- bach hat ein Investitionspaket von 40 Mio. DM für Ich bin mir sicher: Wenn damals die SPD Regie- die Produktion eines Motorblocks aus Aluminium rungsverantwortung getragen hätte, hätten wir heute gestoppt. keine deutsche Einheit. „Insbesondere die von der rot-grünen Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung angekündigte Energiepreiserhöhung bedeutet Dann wäre heute die Staatsbürgerschaft der DDR aner- für unser Unternehmen eine dramatisch nicht hin- kannt, und dann könnten wir nur noch auf die doppelte nehmbare Verschlechterung im internationalenStaatsbürgerschaft hoffen. Wettbewerb“, so der Geschäftsführer. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun Das ist keine Folge der Politik der alten Regierung, unsere Kollegin Sabine Kaspereit von der SPD-Fraktion. sondern eine Folge des Hickhacks, der Diskussionen, die (B) in den letzten 14 Tagen in Deutschland durch die heuti- (D) ge Regierungskoalition geführt wurden. Ergebnis ist Sabine Kaspereit (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Verunsicherung bei Investoren, Verunsicherung an einer Kolleginnen und Kollegen! Der Ausgang der Bundes- Stelle, an der es uns gelungen ist, langsam das Vertrauen tagswahl am 27. September muß allen in diesem Hause in die Solidität des wirtschaftlichen Aufbaus in denzu denken geben, den Verlierern ebenso wie den Sie- neuen Bundesländern zu wecken. gern. Das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern macht deutlich, daß Versprechun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gen, die nicht eingehalten werden, eine schwere Hypo- Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist Folge Ihrer thek sind. An dieser Hypothek tragen nicht nur diejeni- Volksverdummung! – Ernst Schwanhold gen, die die Versprechungen abgegeben haben – sie ha- [SPD]: Es ist unverantwortlich, was Sie zu ben ja die Quittung dafür bekommen –, sondern trägt dieser Verunsicherung beitragen!) auch die neue Regierung, die diese Hypothek nun abtra- Sie zerstören diese Vertrauensbasis. gen muß. Auf der neuen Bundesregierung lastet eine enorme Erwartungshaltung. Staatsminister Schwanitz Ich fordere Sie deshalb auf: Verzichten Sie auf diehat mir das Wort aus dem Mund genommen. Im übrigen Ökosteuer für die neuen Bundesländer gänzlich! freue ich mich, daß Regierung und Fraktion hier wirk- lich mit einer Stimme sprechen. Es ist besonders wich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tig, eine ehrliche Politik zu machen und keine falschen ordneten der F.D.P.) Versprechungen. Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich zitiere aus Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundes- kanzler – er ist leider nicht anwesend –: In den vergangenen Jahren ist manches in Ost- deutschland erreicht worden. Dieinfrastrukturellen Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus Voraussetzungen der wurden entscheidend verbessert. Die DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozial- Produktivität stieg von gut 30 auf jetzt 60 Prozent, auch demokraten die friedliche Revolution mitgestaltet die Bruttoeinkommen stiegen von 47 auf jetzt durch- haben, . . . schnittlich 74 Prozent, die Renten verdreifachten sich. Ich halte das für einen dreisten Versuch, die Geschichte In dieser Hinsicht wurde viel geleistet, und wir stellen zu fälschen. nicht in Abrede, daß die alte Bundesregierung ihren Anteil an diesem Erfolg hat. Aber es ist vor allem – das (Beifall bei der CDU/CSU) möchte ich ganz klar sagen – ein Erfolg und ein 226 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Sabine Kaspereit (A) Verdienst der Menschen in den neuen Bundesländern, attraktiv machen. Die Landesregierungen der neuen(C) die mit ihrem Leistungswillen entscheidend dazu beige- Länder leisten auf diesem Gebiet Pionierarbeit. Wir tragen haben. müssen sie dabei vor allem auf dem Feld der Entbüro- kratisierung unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD) PDS – Walter Hirche [F.D.P.]: Es sind immer Es sind doch weniger die Steuern, die bei einer Stand- die politischen Weichenstellungen und die ortentscheidung eine Rolle spielen; vor allen Dingen Menschen!) Genehmigungszeiten, Grundstückspreise, eine kalku- Das schöpferische Potential der Menschen ist ein Pfund, lierbare Förderung und die Qualifikation der Arbeits- mit dem wir wuchern wollen, können und müssen. Die kräfte bestimmen die Entscheidung eines potentiellen Menschen sind der positivste Standortfaktor. Investors, nach Ostdeutschland zu gehen oder wegzu- bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zum Stichwort Qualifikation: Daß die Regierung In unserer Bestandsaufnahme müssen wir aber auch Kohl es zugelassen hat, daß die industrienahe Forschung feststellen, daß die Transformation von einer zentralin einem brutalen Ausmaß kaputtgemacht wurde, gelenkten Staatswirtschaft in eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft in den neuen Ländern noch nicht gelun- (Iris Gleicke [SPD]: Auch das ist leider wahr!) gen ist. Konkret bedeutet das für die wirtschaftliche gehört ebenfalls zu dieser Hypothek, von der ich anfangs Entwicklung in Ostdeutschland im achten Jahr der deut- sprach. schen Einheit, daß die Wirtschaftsleistung je Einwohner erst an die Hälfte des westdeutschen Wertes heran- (Beifall bei der SPD und der PDS) kommt, daß die Industrieproduktion je Einwohner le- diglich ein Drittel der alten Länder erreicht, daß sich die Wir werden erhebliche Anstrengungen machen müssen, ostdeutschen Wachstumsraten deutlich verlangsamt damit Forschung und Entwicklung durch ihre Impulse haben und daß Investitionen vor allen Dingen im kom- wieder zur wirtschaftlichen Gesundung in den neuen munalen Bereich rückläufig sind. Das bedeutet auch,Ländern beitragen können. daß der Kapitalstock je Einwohner weit unter dem- Untrennbar mit der wirtschaftlichen Lage ist die Si- jenigen in den alten Bundesländern liegt, daß die Er-tuation auf demArbeitsmarkt verbunden. Im Januar tragslage bei der Mehrzahl ostdeutscher Betriebe nach werden wir wahrscheinlich erleben, daß die Zahl der wie vor unbefriedigend ist und daß sich die hohen Ge- Arbeitslosen im Osten erneut ansteigt. Dann laufen bühren für Energie und Abwasser als Standortnachteil nämlich die berüchtigten Wahl-ABM aus. Ich höre (B) erweisen. schon jetzt, wie dann die rechte Seite dieses Hauses in(D) Die Integration der neuen Länder in die internationale Häme ausbrechen und Rotgrün die Verantwortung dafür Arbeitsteilung rückt die Wettbewerbsfähigkeit der ost- zuschieben wird. Ich verspreche Ihnen: Diese Häme deutschen Unternehmen und ihrer Produkte und Dienst- wird auf Sie selbst zurückfallen. leistungen in den Mittelpunkt des Interesses. Es kommt (Beifall bei der SPD und der PDS) nun darauf an, sich auf überregionalen und internatio- nalen Märkten zu behaupten. Aber eine Exportquote von Ihre Arbeitsmarktpolitik nach dem Berg-und-Talbahn- 15 Prozent kann nicht befriedigen und ist dafür verant- Prinzip hat unter anderem das Wahlverhalten der Ost- wortlich, daß das Wachstum in den neuen Ländern zu- deutschen entscheidend mitbestimmt; denn die Ostdeut- rückbleibt. schen haben erkannt, welches Spiel die alte Bundesre- gierung mit den Hoffnungen der Menschen getrieben Neben den von mir genannten Schwierigkeiten hathat. die ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor mit zentralen Problemen zu kämpfen. Besonders schwerwiegend ist Hoffnungen setzen Vertrauen voraus. Für uns, meine die dünne Eigenkapitaldecke, die die Unternehmen so- Damen und Herren, ist das Vertrauen der Menschen eine fort in Existenznot bringt, wenn sie kurzfristig weniger Verpflichtung, die wir ernst zu nehmen haben. Die aus Aufträge oder hohe Außenstände haben. enttäuschtem Vertrauen gewachsene Verunsicherung bei der ostdeutschen Bevölkerung mündet in ein sich vertie- (Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!) fendes Mißtrauen in die Politik. Neben der Angleichung Ob neugegründet, privatisiert oder reprivatisiert – dieder Lebensverhältnisse ist die Überwindung dieses Betriebe hatten bisher überhaupt noch keine Chance, ei- Mißtrauens eine der wesentlichen Voraussetzungen auf ne Eigenkapitaldecke zu bilden. dem Weg zur wirklichen Einheit Deutschlands. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Die industrielle Basis ist trotz einiger Leuchttürme zu schmal. Deshalb müssen wir eine offensive und gezielte Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, ge- Ansiedlungspolitik betreiben, die auch für die Zukunft statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten trägt. Natürlich muß letztlich jedes Unternehmen seine Grund? Standortentscheidung selbst treffen. Die Politik kann Standortentscheidungen nur über Rahmenbedingungen beeinflussen, die einen Standort für ein Unternehmen Sabine Kaspereit (SPD): Bitte. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 227

(A) Manfred Grund (CDU/CSU): Frau Kollegin Kaspe- Die Neue Mitte steht für Solidarität, Innovation, Ver- (C) reit, Sie sprachen ABM-Geschenke zur Wahl antwortung und Unternehmerlust, wie Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck (Ludwig Stiegler [SPD]: Versuchte Wahlbe- gebracht hat. Wir wissen, daß diese Neue Mitte in Ost- stechung!) deutschland ein zartes Pflänzchen ist, das erst wachsen und eine Häme an, die vermutlich ausbrechen würde,muß. Förderung von Existenzgründern, Bereitstellung wenn die Zahl der ABM zurückgefahren würde. Würden von – wir nennen es – Chancenkapital, Stärkung der Ei- Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß im Haushaltsentwurf genkapitalbasis, Absatzförderung, Beratung und nicht 1999, den die alte Bundesregierung vorgelegt hat, Mittel zuletzt eine anständige Unternehmerkultur wie die Ein- für den zweiten Arbeitsmarkt in derselben Höhe wie in haltung von Zahlungsfristen sind für dieses Wachsen diesem Jahr eingestellt waren, und Gedeihen unverzichtbar. (Iris Gleicke [SPD]: Für Vierteljahres-ABM!) Der Koalitionsvertrag und die Regierungserklärung des neuen Kanzlers beweisen, daß die neuen Bundeslän- so daß wir ohne weiteres die Zahl der ABM gehaltender bei der jetzigen Koalition gut aufgehoben sind. hätten und auch den finanziellen Spielraum gehabt hät- ten, die Förderung auf demselben Niveau weiterzufüh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren. Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß im Haus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der haltsentwurf für 1998 der Zuschuß für die Bundesanstalt PDS) für Arbeit so großzügig bemessen war, daß Sie ungefähr Erste Projekte sind bereits auf den Weg gebracht: 5 Milliarden DM zur Verfügung haben, um, wie Sie es ja jetzt auch tun, ein Sofortprogramm aufzulegen, ohne Erstens. Die finanzielle Ausstattung der verschiede- eine Mark neu aufnehmen zu müssen. Das ist Ausdruck nen Förderinstrumentarien spricht für sich. der soliden Finanzierung der alten Bundesregierung. Vor diesem Hintergrund hätte das Geld ausgereicht, alles auf Zweitens. Wir stellen die Planungssicherheit bei den demselben Niveau weiterzuführen. Sie können das ohne ostdeutschen Arbeitsbeschaffungen auf eine verläßliche weiteres machen. Sie müssen nur denselben Betrag ein- Grundlage. stellen. Drittens. Unser Sofortprogramm für 100 000 Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) plätze, um die Jugendarbeitslosigkeit wirksam zu be- kämpfen, ist ein Programm, das vor allem in den neuen Ländern Perspektiven für junge Menschen schaffen soll. Sabine Kaspereit (SPD): Herr Grund, ich nehme Ih- (Beifall bei der SPD) re Feststellung zur Kenntnis. Aber Sie wissen genauso (B) wie ich, daß Sie mit Ihrem Vorgehen auf 1999 vorge-Wir können doch nicht tatenlos zusehen, daß Jugendli-(D) griffen haben. Insofern hat sich der Betrag schon ent-che in Null-Bock-Mentalität und Extremismus abdriften, sprechend verringert. weil ihnen mangels Arbeit und Ausbildung keine Lei- stung abgefordert werden kann. Wir können die Jugend- (Beifall bei der SPD – Zurufe von der lichen nicht dafür verantwortlich machen, daß sie nicht CDU/CSU) zur Leistung bereit sind, wenn ihnen die Möglichkeit Wir müssen das Versprechen halten, den wirtschaftli- fehlt, ihren Leistungswillen beweisen zu können. chen Aufbau Ostdeutschlands als gesamtdeutsche Auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gabe höchster Priorität voranzutreiben, um dem Ziel der der PDS) Verwirklichung der deutschen Einheit näherzukommen. Es geht darum, unsere gemeinsame Kraft darauf zu Viertens. Die Sicherung und Neustrukturierung der richten, die soziale und wirtschaftliche Spaltung zwi-Altlastensanierung ist eine wichtige Voraussetzung für schen Ost und West zu überwinden und die solidarische die Neuansiedlung von Unternehmen. Hilfe für Ostdeutschland auf verläßlicher Grundlage konsequent fortzuführen. Dafür hat Gerhard Schröder – Fünftens. Darüber hinaus werden Instrumentarien Strompreise neben einer vernünftigen Wirtschafts- und Steuerpolitik entwickelt, die die in den neuen Ländern – – bereits wichtige Weichen gestellt. die Strompreise sind heute ja schon sehr oft angespro- chen worden – an das Westniveau heranführen sollen; Aus dem Ergebnis des vorläufigen Kassensturzesdenn es ist nicht länger zu verantworten, daß die Bürge- wissen wir erstens, daß die finanzielle Lage keinerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern höhere bedeutenden Spielräume bietet. Wir wissen zweitens,Strompreise als die in den alten Bundesländern zahlen. daß frühere Versäumnisse oder falsche Weichenstellun- gen nicht einfach ungeschehen gemacht werden können. (Beifall bei der SPD und der PDS) Wir wissen drittens: Die ökonomische Leistungsfä-Auch diese Maßnahme erleichtert Investitionen. Durch higkeit ist der Dreh- und Angelpunkt. Wir können uns diese moderne Energiepolitik wird eine zukunftsfähige einen rückläufigen Saldo bei Unternehmensgründungen Energieversorgung sichergestellt, die hilft, die Standort- und einen ansteigenden Saldo bei Insolvenzen volks-nachteile zu beseitigen. wirtschaftlich einfach nicht leisten, weil dies alle ande- ren Anstrengungen in Frage stellen würde. Das ist der Aus all dem, worüber ich gesprochen habe, wird Grund dafür, daß dieNeue Mitte für uns keine leere deutlich, daß Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht ge- Worthülse ist. trennt voneinander betrachtet werden können. 228 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Sabine Kaspereit (A) Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit kann es ei- Wir kommen jetzt zu den Themenbereichen Inneres, (C) gentlich niemanden in Erstaunen versetzen, daß dieRecht und Kultur. Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 2 auf: Krankenkassen in Ostdeutschland ein erhebliches Ein- Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra nahmeproblem haben. Deshalb müssen wir bei den Re- formen auf dem Gebiet der gesetzlichen Krankenversi- Pau, , Heidemarie Lüth, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der PDS cherung sorgfältig darauf achten, daß die Finanzierung in den neuen Ländern gesichert ist. Abschaffung des Flughafenverfahrens (§ 18 a AsylVfG) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der – Drucksache 14/26 – PDS) Überweisungsvorschlag: Auch ist es nicht hinnehmbar, daß es vor allem im Innenausschuß (federführend) Osten eine wachsende Zahl von Arbeitsverhältnissen auf Rechtsausschuß 520-DM-Basis gibt, die in mehrfacher Hinsicht sozial völlig ungesichert sind. Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Dr. Jür- gen Rüttgers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Hier muß dem Mißbrauch Einhalt geboten werden, weil Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! die Allgemeinheit doppelt belastet wird: erst durch Min- Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute dereinnahmen in den Sozialkassen und im nächstenüber die Regierungserklärung und die Koalitionsverein- Schritt durch die Ausgaben für die soziale Sicherung der barung in den Bereichen Inneres und Recht. Wir haben betroffenen Menschen. während des Wahlkampfes vom jetzigen Bundeskanzler des öfteren folgenden Spruch gehört: „Wir wollen nicht Zum Stichwort Landwirtschaft: Wir werden auch in alles anders machen, aber vieles besser.“ diesem Bereich sorgfältig auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe achten müssen, dies vor allem vor dem (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) Hintergrund der Europapolitik. Wer die Aussagen zur Innen- und Rechtspolitik gehört Ich habe nur einige der Probleme der neuen Länder hat, wer nachgelesen hat, was in der Koalitionsvereinba- angesprochen. Aber aus den genannten Beispielen wird rung dazu steht, und wer den verpatzten Start auf sich wohl deutlich, daß wir in dieser Wahlperiode viel zu tun wirken läßt, der ist geneigt, dem Bundeskanzler zu emp- haben werden. Ich freue mich darüber, dies nicht mehr fehlen, den Satz ein klein wenig zu verändern, gleich- nur aus der Oppositionsrolle heraus tun zu müssen. sam nach dem Motto: Wir wollen nicht alles besser ma- (B) chen, aber vieles anders. Das scheint mir der Kern der(D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aussagen zur Innen- und Rechtspolitik zu sein. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der neuen (Beifall bei der CDU/CSU) Opposition, gute Ideen zur Verwirklichung der inneren Folgendes ist bisher zu beobachten: ein verpatzter Einheit Deutschlands haben, so sind Sie herzlich einge- Start, eine mißlungene Steuerreform, Krach mit der laden, konstruktiv mitzuarbeiten, so wie auch wir es in Bundesbank, außenpolitische Fehlleistungen in Polen der Opposition getan haben. und Frankreich, Versprechungen in Milliardenhöhe und ein Innenminister, dessen Positionen und Äußerungen so (Beifall bei der SPD) klar sind wie Druckerschwärze. Da wird gemeldet, der Gute Ideen haben jetzt eine weitaus größere ChanceInnenminister sei für dieFreigabe weicher Drogen. umgesetzt zu werden. Das wird dann sofort dementiert. Eine Freigabe, heißt es, sei zur Zeit nicht denkbar. Aber er sei bereit, seine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bisherige Haltung zu überprüfen. Was denn nun, Herr des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wal- Schily? Ja oder nein? ter Hirche [F.D.P.]: Das wollen wir abwarten! Ich hoffe es!) Da lobt Herr Schily die Arbeit der Gauck-Behörde für die „Festigung der Demokratie und das Zusammenfüh- ren unseres Volkes“ und kündigt zugleich eine aufga- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Weitere Wortmel- benkritische Diskussion über die Behörde an. Was denn dungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor. nun, Herr Schily? Wird die Stasi-Überprüfung einge- Ich schließe die Aussprache. schränkt, oder wird sie fortgeführt, ja oder nein? Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auf den Drucksachen 14/17 und 14/25 an die in der Ta- ordneten der F.D.P.) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung betreffend den Antrag der PDS zum Da wird die PDS im Verfassungsschutzbericht 1997 Vermögenszuordnungsgesetz auf Drucksache 14/17 soll im Kapitel „Linksextremistische Bestrebungen“ aufge- beim Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder führt und beschrieben. Angesichts der Tatsache, daß die liegen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. SPD in Mecklenburg-Vorpommern mit dieser Partei Dann sind die Überweisungen so beschlossen. koaliert, fällt Herrn Schily nur ein, das sei eine etwas Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 229

Dr. Jürgen Rüttgers (A) vertrackte Situation. Sind Sie nun der Verfassungsmi- Deshalb ist es auch falsch, die Strafverfolgung auf den(C) nister, Herr Schily, ja oder nein? kriminellen Drogenhandel zu beschränken. Auch der Besitz von Drogen muß strafbar bleiben. Die Beschaf- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fungskriminalität läßt sich nur dann wirksam bekämp- Da hält Herr Schily laut „Spiegel“ doppelte die fen, wenn nicht nur gegen Drogenhändler, sondern auch Staatsangehörigkeit für gerade einmal hinnehmbar.gegen Drogenbesitzer konsequent strafrechtlich vorge- Wenige Sätze weiter preist er das neu konzipiertegangen wird. Staatsangehörigkeitsrecht als „Reformwerk von histori- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Dimensionen“. Was denn nun, Herr Schily? Hin- nehmbar oder historisch? Ja oder nein? Meine Damen und Herren, genauso unklar wie bei der inneren Sicherheit bleibt die Koalitionsvereinbarung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- bei der Ankündigung, fürgleichgeschlechtliche Paare ordneten der F.D.P.) ein Rechtsinstitut der eingetragenenLebenspartner- So etwas kommt, wenn man sich im Wahlkampf bis schaft zu schaffen. Unklar ist, warum ein solches an die Grenze der Möglichkeiten verbiegt. So etwasRechtsinstitut nur für gleichgeschlechtliche Paare einge- kommt, wenn man in der eigenen Partei keine Mehrheit richtet wird. hat. ( [CDU/CSU]: Aber im- Herr Schily, Sie haben bei Ihrer Amtseinführung ge- merhin wird es nicht zur Pflicht!) sagt, niemand müsse sich Sorge machen, daß es erstmals Notarielle Verträge kann man schon heute schließen. gelungen sei, den scheidenden Innenminister zu klonen. Warum wird so etwas, wenn man schon so denkt, wie Ich kann Sie da wirklich beruhigen. Diese Angst haben Sie es tun, nicht auch für nichteheliche heterosexuelle wir nicht. Klonen hat nämlich etwas mit identisch zuPaare eingerichtet? Wie soll dies eigentlich in der Praxis tun. War klar, so sind Sie unklar. War funktionieren? Soll der Standesbeamte neben dem Hei- die Innen- und Rechtspolitik der alten Regierung ein-ratsbuch auch noch ein Partnerschaftsbuch führen? Wird deutig, so ist sie jetzt mehrdeutig. demnächst auch das Ende solcher Partnerschaften ver- gleichbar einer Ehescheidung registriert? Gelten die (Beifall bei der CDU/CSU) gleichen Folgen wie bei einer Ehescheidung? Wenn Ebenso ist das innenpolitische Rezept der SPD: gleich- nicht: Warum werden Ehepaare, die sich scheiden las- sam „Schily con carne“, aber ohne Fleisch, ohne Grund- sen, anders behandelt? Was bleibt eigentlich noch vom sätze und mit jeder Menge roter Soße. „besonderen Schutz“ von „Ehe und Familie“, den das Grundgesetz garantiert? Das alles ist unklar und unaus- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gegoren. (D) Meine Damen und Herren, da lese ich in der Koaliti- Meine Damen und Herren, nachdem die alte Bundes- onsvereinbarung, Alltagskriminalität solle bürokratie- regierung wichtige Schritte auf dem Weg zu schnelleren arm bestraft werden. Ist das eigentlich ein neuer Begriff Verwaltungs- und Gerichtsverfahren und zu einem für die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten? Dieschlanken Staat durchgesetzt hat, kündigt nun die neue Herausnahme von Bagatelldelikten aus dem Strafrecht Bundesregierung eine umfassende Justizreform an. Wir führt nur zu noch mehr Kriminalität. Das Rechtsbewußt- begrüßen dieses Vorhaben. Die Bundesregierung kann sein nimmt erheblichen Schaden, wenn man diese De- dabei auf erfolgreiche Vorarbeiten aus der vergangenen likte nur deshalb nicht mehr strafrechtlich verfolgt, weil Legislaturperiode zurückgreifen. Verschlankung der Ju- sie massenhaft begangen werden. Die Konsequenzenstizorganisation, Verringerung der Zahl der Gerichts- wären verheerend: Hemmschwellen werden gesenkt,zweige sowie Zusammenführung von Verfahrensord- Rechtsbrecher werden ermutigt, kriminelle Karrierennungen, Entlastung der Justiz durch Förderung der au- werden gefördert – ein eindeutig falsches Signal gerade ßergerichtlichen Streitbeilegung, Reduzierung der Kon- auch angesichts der in den letzten Jahren gestiegenentrolldichte richterlicher Tätigkeiten durch Abschaffung Jugend- und Kinderkriminalität. der zweiten Tatsacheninstanz und Erweiterung des ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- waltungsbehördlichen Beurteilungsspielraums – das al- ordneten der F.D.P.) les sind Vorschläge der Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ aus der letzten Legislaturperiode. Wir Da spricht der Bundeskanzler von der Härte gegensind bereit, an einer solchen Justizreform mitzuarbeiten. das Verbrechen und der Härte gegen seine Ursachen.Das gleiche gilt übrigens für die Überprüfung von Ver- Dann aber muß er auch sagen: Wehret den Anfängen! fahrensabläufen und die Verringerung der Regelungs- Die Anfänge sind die oft geduldeten Verwahrlosungen dichte. in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Verwahrlosungen auf den Plätzen und Straßen unserer Städte durch Dro- Für uns bedeutet Staatsmodernisierung im Kern ei- genszene und Alkoholismusmilieus, durch Vandalismus ne kritische Überprüfung und definitive Rücknahme und Schmierereien. Wir wollen keine Gewöhnung anvieler staatlicher Zuständigkeiten, Aufgaben und Ver- Ordnungswidrigkeiten, an Ladendiebstahl und Drogen- fahren. Es geht um ein neues Verhältnis zwischen ge- konsum. Am Ende steht nämlich eher mehr Kriminalität sellschaftlicher Eigenverantwortung und staatlicher und nicht weniger Kriminalität. Lenkung. Dabei ist das Zukunftsbild für die CDU/CSU- Fraktion eine öffentliche Verwaltung, die deutlich weni- (Beifall bei der CDU/CSU) ger Aufgaben wahrnimmt und sich zugunsten privater 230 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Jürgen Rüttgers (A) Initiativen und Eigenverantwortung zurücknimmt. Wir schaft. Herr Schily, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,(C) wollen einen modernen öffentlichen Dienst. Das bezieht wenn Sie sagen, wir brauchen uns nicht ständig selbst sich nicht nur auf die Effizienz der Abläufe, sondernanzuklagen, daß hier die Menschenrechte mit Füßen ge- auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre treten werden. Da haben Sie recht. berufliche Stellung im öffentlichen Dienst. Aber die Einführung derdoppelten Staatsangehö- Sie haben also grundsätzlich unsere Zustimmung zu rigkeit ist nicht ein Thema wie jedes andere. Anders als dem Ziel. Wir haben aber erhebliche Bedenken, ob nicht im Steuerrecht, anders als im Strafrecht sind die Einfüh- doch, wie so häufig in der Koalitionsvereinbarung und rung der doppelten Staatsbürgerschaft und ein Automa- der Regierungserklärung, nur Überschriften gesetzt wer- tismus bei der Einbürgerung von in Deutschland gebo- den. Ich sage Ihnen: Mit einer besonderen Stabsstellerenen Kindern eben nicht mehr revidierbar. Selbst in beim BMI, beim Bundesminister des Innern, werden Sie problematischen Fällen, wenn ein Bürger ausländischer sich nicht aus der Affäre ziehen können. Wir erwarten Herkunft wiederholt straffällig geworden ist, kann die konkrete Schritte – und das schnell. Die Meßlatte liegt Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht wieder rück- hoch. Die alte Bundesregierung hat von den 600 Behör- gängig gemacht werden. Das verbietet Art. 16 des den des Bundes – man höre und staune – bereits einGrundgesetzes ausdrücklich. Insofern kommt es schon Viertel abgebaut. Der Bund hat heute weniger Personal darauf an, genau zu überlegen, was man da macht. als vor der Wiedervereinigung. Die Bundesverwaltung wurde um 70 000 Stellen reduziert, was einem Einspar- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion läßt sich bei ihrer volumen von 5,4 Milliarden DM alleine im Jahr 1998Politik von drei Zielen leiten. Das ist einmal die Identität, gleichkommt. zweitens die Toleranz und drittens die Integration. Das heißt konkret: Erstens. Wir wollen, daß die Zugangsbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) grenzung für Ausländer, die nach Deutschland kommen wollen, weiter so eng wie möglich gestaltet bleibt. Wenn der ÖTV-Vorsitzende Mai angesichts des Re- gierungswechsels jetzt davon spricht, das sei das Ende (Beifall bei der CDU/CSU) des Konzepts „Schlanker Staat“, dann nährt das unsere Zweifel – ich begrüße den Vorsitzenden des Innenaus- Zweitens. Wir wollen das Mögliche tun, um die in schusses, Herrn Penner; ich freue mich, daß Sie sich hier Deutschland rechtmäßig lebenden Ausländer in unsere vorne so angenehm unterhalten Gesellschaft zu integrieren. Drittens. Wir halten die re- gelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit für falsch. (Dr. Willfried Penner [SPD]: Sie müssen bes- ser reden! Dann höre ich auch zu! – Beifall bei (Beifall bei der CDU/CSU) der SPD) Kurt Biedenkopf, meine Damen und Herren, hat An- (B) (D) – ich muß reden, deshalb finde ich es prima, daß Sie so fang September in der Debatte hier im Bundestag ge- aufmerksam zuhören –, daß Sie Ihre Überschriftensagt, daß eine Politik scheitern muß, die von einer fal- wirklich ernst meinen. Gleiches gilt für die vielen An- schen Sicht der Wirklichkeit ausgeht. kündigungen neuer staatlicher Aktivitäten in der Koali- (Ludwig Stiegler [SPD]: Deswegen sind Sie tionsvereinbarung. Im Kern – davon bin ich fest über- gescheitert! Darum sind Sie abgewählt wor- zeugt – glauben Sie immer noch an den alten Übervater den!) Staat, der lenkt, der regelt und belohnt. Da mag Herr Hombach sich noch so abstrampeln, am Schluß werden Wie ist denn die Wirklichkeit in diesem Bereich? Da doch wieder die alten Etatisten in der SPD gewinnen.wird zum Beispiel behauptet, die doppelte Staatsangehö- Warten Sie ab! Das kommt so. Das sage ich voraus. rigkeit sei international üblich. Wahr aber ist: Mit der Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehö- (Beifall bei der CDU/CSU) rigkeit geht Deutschland einen Sonderweg. All das sagt etwas über Ihr Staatsverständnis aus. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr Das gilt auch – und vielleicht sogar besonders – für wahr!) die angekündigte Reform des Staatsangehörigkeits-Zwei Drittel der europäischen Staaten verlangen als rechts. Nun will ich, meine Damen und Herren, zuerstVoraussetzung für die Einbürgerung die Aufgabe der einmal sagen: Die Ausländer- und die Asylpolitik ist ein bisherigen Staatsangehörigkeit. ganz schwieriges Feld. Ich gebe auch gerne zu, daß die alte Koalition in diesem Bereich unterschiedliche Auf- (Beifall bei der CDU/CSU) fassungen hatte. Die Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist Weltrechts- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Keine Gestal- standard. Selbst die so integrationsfreudigen skandinavi- tungskraft hatte!) schen Länder lehnen sie für Ausländer auf ihrem Terri- torium ab. Auch in Deutschland ist sie, anders als das Aber bei allen unterschiedlichen Auffassungen ist eines behauptet wird, bisher die Ausnahme. Nur 0,72 Prozent wichtig: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land, der im Bundesgebiet lebenden Deutschen haben eine und das soll so bleiben. weitere Staatsangehörigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Da wird behauptet, dasAbstammungsprinzip sei 7,3 Millionen EU-Bürger und Ausländer leben auf Dau- wilhelminisch – so in der Regierungserklärung – und er in Deutschland, und sie sind Teil unserer Gesell-entspreche nicht dem europäischen Standard. Wahr aber Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 231

Dr. Jürgen Rüttgers (A) ist: Von den 43 europäischen Staaten kennt überhauptEs erhöhen sich visumsfreie Reisemöglichkeiten. Vor-(C) nur ein Land, nämlich Irland, das Territorialprinzip inteile bestehen im Steuerrecht, im Gewerberecht, im reiner Form. In abgeschwächter Form findet es sich in Schulrecht, im Familienrecht, im Niederlassungsrecht. weiteren sechs Staaten. Die restlichen 36 Staaten kennen nur das Abstammungsprinzip. Meine Damen und Herren, eine solche Privilegierung – auch der entsprechende Verdacht dazu reicht – kann Nun mag manchem, meine Damen und Herren, diese nicht zur politisch unverzichtbaren Zustimmung der Diskussion abstrakt vorkommen, aber sie ist hochsensi- deutschen Bevölkerung zur Integration der hier lebenden bel. 1997 wurden bundesweit knapp 83 000 Ausländer Ausländer beitragen. Sie wird, so fürchte ich, eher für eingebürgert; von 1991 bis 1997 insgesamt 412 000.zusätzliche lrritationen und Verwerfungen sorgen. Das Rund 56 Prozent – das sind rund 4 Millionen Auslän-Bild einer Zweiklassengesellschaft droht – mit verhäng- der – erfüllen nach den Zahlen des Ausländerzentralre- nisvollen Folgen für Toleranz und Integration. Denn das gisters die zeitliche Einbürgerungsvoraussetzung eines ist offenkundig: Auch nur der Verdacht, daß hier eine mindestens achtjährigen Inlandsaufenthalts. Es wirdbestimmte Bevölkerungsgruppe privilegiert wird, fördert doch wohl niemand, der die Wirklichkeit kennt, be-nicht Toleranz und Aufnahmebereitschaft, sondern be- haupten wollen, sie alle seien in die deutsche Gesell-schädigt sie. Schon deshalb ist eine doppelte Staatsan- schaft integriert. gehörigkeit der falsche Weg. Damit, meine Damen und Herren, stellt sich für mich (Beifall bei der CDU/CSU) die zentrale Frage: Dient die Einführung der regelmäßi- gen doppelten Staatsbürgerschaft der Integration der hier Meine Damen und Herren, wir werden über die wei- lebenden Ausländer? Ich meine, nein. teren Einzelheiten Ihrer Pläne noch diskutieren. Ich biete Ihnen aber eines an: Lassen Sie uns das Thema Integra- (Beifall bei der CDU/CSU) tion nicht auf das Thema Staatsangehörigkeit verengen. Lassen Sie uns eine gemeinsame große Anstrengung von Durch die doppelte Staatsangehörigkeit wird dieInte- Bund, Ländern und Kommunen unternehmen, um dieje- gration ausländischer Mitbürger nicht gefördert, son- nigen zu integrieren, die in Deutschland leben und blei- dern erschwert. Integration heißt, sich mit diesem Land, ben wollen und die noch nicht integriert sind. mit seiner Geschichte, mit seiner Zukunft zu identifizie- ren. Integration heißt, Teil der Gesellschaft zu sein. In- Dann müssen wir aber, meine Damen und Herren, da- tegration heißt, Rechte und Pflichten anzunehmen. Inte- für Sorge tragen, daß es in Deutschland keine Schulklas- gration heißt, die deutsche Sprache zu sprechen. – Denn, sen mehr gibt, in denen mehr als die Hälfte der Kinder meine Damen und Herren, Kommunikation ist wichtig, ausländischer Herkunft ist. Dann müssen wir dafür sor- damit unsere Gesellschaft zusammenhält. – Integration gen, daß mehr Lehrer für einen besseren Sprachunter- (B) heißt, sich mit unserer Gesellschaft und Verfassungs-richt zur Verfügung stehen, wie das etwa in Bayern be-(D) ordnung zu identifizieren. Deshalb, meine Damen und reits durchgesetzt ist. Dann müssen wir dafür sorgen, Herren, kann Integration nicht alleine durch einen Ho- daß nicht 17,6 Prozent der ausländischen Jugendlichen heitsakt, nicht alleine durch die Übergabe des deutschen ohne Hauptschulabschluß bleiben, daß nur 43 Prozent Passes erreicht werden. Die Staatsbürgerschaft steht am der jungen Ausländer eine Lehre machen – gegenüber Ende und nicht am Anfang der Integration. zwei Dritteln der deutschen Jugendlichen. Dann müssen (Beifall bei der CDU/CSU) wir dafür sorgen, daß es in unseren Städten keine Gettos gibt. Die Koalitionsvereinbarung, meine Damen und Her- ren, verwechselt Ursache und Wirkung, und sie enthält Von all dem, meine Damen und Herren, ist in der kein Wort darüber, welche Kriterien für den Nachweis Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung der Integration vorliegen müssen. Der Bundeskanzlernichts zu lesen, kein Wort über das eigentliche Problem will anscheinend das volle Bürgerrecht verleihen, selbst der Integration. Aber hier gibt es die Möglichkeit, kon- wenn keine Integration in unsere Gesellschaft erfolgt ist. kret etwas für die Integration zu tun. Oder wie versteht man den Satz in der Regierungserklä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rung: „Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür ordneten der F.D.P.) seine ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müssen.“? Muß denn wenigstens ein Deutscher inLassen Sie mich abschließend noch zu einem weite- Deutschland Wurzeln haben, oder reicht die halberen Thema kommen, das weit über den Komplex der Loyalität? Soll es in Zukunft viele Deutsche geben, die Integration hinausgeht. Ich meine die Einführung des nur die halbe Loyalität schulden? kommunalen Wahlrechts für hier lebende Auslän- der, unabhängig davon, ob sie aus Ländern der Europäi- Wer zwei Pässe hat, kann, je nach Bedarf, mal so und schen Union kommen oder nicht. Eine Grundgesetzän- mal so optieren. Je nach Gelegenheit kann der deutsche derung in dieser Frage ist mit der CDU/CSU-Fraktion oder der ausländische Paß benutzt werden. In beidennicht zu machen. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht ge- Staaten kann man wählen bzw. gewählt werden. Imhören zusammen, wie es auch das Bundesverfassungsge- Ausland kann der Schutz von zwei Staaten in Anspruch richt gesagt hat. genommen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie sind in der Vergangenheit ange- Dieses Thema geht über die reine Frage des Wahlrechts kommen!) hinaus. Das kommunale Wahlrecht für Angehörige von 232 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Jürgen Rüttgers (A) Staaten außerhalb der Europäischen Union erschwertlege Rüttgers, der offenbar noch nicht den richtigen(C) auch die weitere europäische Einigung. Gleiches, so be- Durchblick gewonnen hat. fürchte ich, gilt auch für die doppelte Staatsbürgerschaft als Regelform. Was werden denn unsere europäischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe Partner sagen, wenn die Gewährung der doppelten von der SPD: Das wird aber schwierig! – Der Staatsangehörigkeit dazu führt, daß mit ihr auch ein ist noch in der Vergangenheit!) Aufenthaltsrecht in ihren Ländern eingeräumt wird? Wie Der weite Bereich der Innenpolitik – das möchte ich wollen Sie eine gemeinsame europäische Flüchtlings-an den Anfang stellen – bedarf in besonderem Maße ei- und Migrationspolitik durchsetzen, wenn Sie vorher na- ner nüchternen, sachlichen Betrachtung und eines behut- tionale Alleingänge veranstalten? Wie wollen Sie vonsamen, jedoch zugleich konsequenten Vorgehens, zumal anderen Ländern einen wirksamen Schutz der Außen-Themen wie Kriminalität oder der rechtliche Status der grenzen der Europäischen Union vor illegalen Einwan- in unserem Land lebenden Mitbürgerinnen und Mitbür- derern und Schleuserbanden verlangen, wenn Sie vorher ger ausländischer Herkunft keine abstrakten Fragen dar- nicht mit ihnen reden? Was Sie vorhaben, erschwert die stellen, sondern Probleme, mit denen die Menschen im europäische Einigung. Alltag unmittelbar konfrontiert sind; es sind Probleme, Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat in die auch in die Gefühlswelt der Menschen hineinwirken. seiner Regierungserklärung einen Satz gesagt, Ich der hoffe sehr, daß wir uns alle in diesem Hause darauf mich – ich sage das ganz offen – hat schaudern lassen. verständigen können, den in unserer Gesellschaft durch- aus vorhandenen Grundkonsens über Fragen der in- (Widerspruch bei der SPD) neren Sicherheit zu bewahren und Vorhaben auf die- sem sensiblen Feld in Zukunft möglichst in großer Ge- Der Satz lautet: meinsamkeit voranzubringen. Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns . . . um so besser trauen können, je mehr wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschen selbst unserer . . . Kraft vertrauen. Es waren in der Vergangenheit immer die gefährli- In der vergangenen Legislaturperiode ist das in gro- chen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, ßem Umfang gelungen. Die Kolleginnen und Kollegen die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben. der Opposition lade ich jedenfalls ausdrücklich ein, sich auch in Fragen der inneren Sicherheit konstruktiv an der Dieser Satz steht im unmittelbaren Kontext zu den Aus- Gestaltung einer neuen Politik zu beteiligen. Auch kon- sagen über die Ausländerpolitik. Was hier ohne europäi- struktive Kritik ist selbstverständlich willkommen. sche Abstimmung als nationaler Alleingang angekündigt (B) wird, ist ein deutscher Sonderweg und vielleicht – des- An erster Stelle unserer Innenpolitik steht derSchutz (D) halb finde ich den Satz so schlimm – wieder eine Kraft- der Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt, Kriminali- meierei, die zu einer gefährlichen Schieflage in Europa tät und Extremismus. Aus den im Grundgesetz ver- führt. bürgten Grundrechten auf Leben, körperliche Unver- sehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit folgt (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) die damit untrennbar verbundene fundamentale Ver- pflichtung des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger Was Sie hier beginnen, ist ein gefährliches Spiel, das mit davor zu schützen, Opfer von Gewalt und anderen Kri- der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zu machen ist. minalitätsformen zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU) ( [CDU/CSU]: Das haben Sie im- mer so gesehen?) Ich erteile das Wort Vizepräsidentin Anke Fuchs: – Das habe ich immer so gesehen, Herr Breuer. dem Bundesinnenminister Otto Schily. Die Menschen haben ein Recht darauf, ihr Leben friedlich und unbehelligt von Kriminalität und Krimina- Otto Schily, Bundesminister des Innern: Sehr ver- litätsfurcht zu führen. Nur ein Staat, der seiner friedens- ehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kol- wahrenden und schützenden Aufgabe nachkommt, wird leginnen und Kollegen! Zu meiner Amtseinführung hat mit der Zustimmung und mit dem aktiven Eintreten sei- mir ein guter Freund ein im Jahre 1795 erschienenesner Bürgerinnen und Bürger für ihn rechnen können. Buch geschenkt, das den Titel trägt: ,,Über die politische Staatskunst“. Der Untertitel lautet: ,,Zur Belehrung und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beruhigung für alle die geschrieben, welche bei der jet- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zigen Kannegießerei über Staatsglückseligkeit, Staats- In seiner Vorlesung zur Rechtsphilosophie im Jahre verfassung, Regierung, Regenten und Untertanen ei- 1824 hat Hegel dazu folgendes gesagt: gentlich nicht wissen, woran sie sind.“ (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist So ist erreicht, daß das Individuum hier die Be- richtig! Das ist wahr!) schützung, den Schutz für die Ausübung seiner Rechte findet, es findet diese beachtet von oben, Meine heutigen Ausführungen sollen dazu beitragen, und so knüpft sich sein partikuläres Interesse an die daß alle wissen können, woran sie sind, auch Herr Kol- Erhaltung des Ganzen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 233

Bundesminister Otto Schily (A) Die Legitimität eines Staates hängt daher – nach denständig neue Gesetze beschließen. Wir setzen vielmehr(C) Worten Hegels – sehr wesentlich davon ab, ob er seiner darauf, die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten Schutzfunktion gerecht wird. Ein Staat, der von seinen entschlossen und konsequent zu nutzen. Bürgerinnen und Bürgern lediglich als überdimensio- (Beifall bei der SPD) nierte Regulierungsbehörde wahrgenommen wird, die zu überhöhten Preisen schlechte Leistungen bietet, wirdJedoch muß auch das materielle Strafrecht im Bereich weder den Verstand, geschweige denn die Herzen seiner der Wirtschafts- und der Umweltkriminalität verschärft Bürgerinnen und Bürger erreichen können. werden, um besorgniserregenden Entwicklungen auf diesem Gebiet entgegenzuwirken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rezzo PDS und des Abg. Dr. Guido Westerwelle Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und [F.D.P.]) des Abg. Manfred Müller [Berlin] [PDS]) Das Gewaltmonopol des Staates, dessen friedenstif- Auch das Waffenrecht werden wir neu regeln. tende Funktion von niemandem in Zweifel gebracht werden darf, erfordert diese Legitimität und hat deshalb Im internationalen Vergleich kann sich Deutschland rühmen, eines der sichersten Länder der Welt zu sein. nicht nur Eingriffsrechte zum Inhalt, sondern auch Handlungspflichten im Sinne eines wirksamen Schutzes (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Dank der Allgemeinheit und des einzelnen. CDU/CSU!) Die entschlossene Bekämpfung der Kriminalität Das verdanken wir nicht zuletzt der guten Arbeit von Ju- auf nationaler, zunehmend aber auch auf internationaler stiz, Staatsanwaltschaft und Polizei. Das ist Grund ge- Ebene muß daher eine Schwerpunktaufgabe der Innen- nug, allen, die in diesen wichtigen Institutionen ihre politik bleiben. Pflicht tun, unsere besondere Anerkennung und unseren (Beifall bei der SPD) Dank auszusprechen. Dabei bieten im internationalen Bereich die bevorste- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hende EU-Präsidentschaft und die bereits bestehende des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Schengen-Präsidentschaft viele Handlungsmöglichkei- PDS) ten, die genutzt werden müssen. Der Slogan „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ ist, In einem demokratischen Rechtsstaat gilt ebensowie ich finde, zu Unrecht verspottet worden. selbstverständlich, daß Kriminalitätsbekämpfung nur auf (Zustimmung bei der CDU/CSU) (B) der Grundlage und im Rahmen rechtsstaatlicher Grund- (D) sätze stattfindet. Im Gegensatz zu totalitären StaatenDie Menschen – und es sind viele –, die in einer kon- setzt der demokratische Rechtsstaat durch Verfassungkreten Notsituation auf die Unterstützung derPolizei und Gesetz seinen Befugnissen Grenzen und garantiert angewiesen waren, wissen den Polizeibeamten als die Kontrolle durch unabhängige Gerichte. Dem liegtFreund und Helfer durchaus zu schätzen. Der neue Vor- die Erkenntnis zugrunde, daß Freiheit und Sicherheitsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinn- sich wechselseitig bedingen. rath, hat in einem Aufsatz für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ mit Recht auf die guten Erfahrungen hin- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) gewiesen, die man mit dem partnerschaftlichen Konzept Wir sollten uns davor hüten, die Gewährleistung der in- des „neighborhood policing“ oder auch mit dem Kon- neren Sicherheit als Einbuße an Freiheit mißzuverste-zept des „problem-oriented policing“, also der problem- hen. orientierten Polizeiarbeit, in der US-amerikanischen Stadt San Diego gemacht hat. Man sollte sich in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten USA die richtigen Vorbilder suchen, meine Damen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herren. Wer Kriminalität erfolgreich bekämpfen will, muß (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sich ein möglichst genaues Bild von der Sicherheitslage 90/DIE GRÜNEN) verschaffen. Dazu reichen nach unserer Überzeugung die bisher verwendeten Datensammlungen, insbesondere Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, daß die Polizeiliche Kriminalstatistik, nicht aus. sich gerade die Polizeigewerkschaften stets uneinge- schränkt für die strikte Einhaltung rechtsstaatlicher (Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) Grundsätze bei der Polizeiarbeit eingesetzt haben. Auch Wir werden statt dessen einen periodischen Sicherheits- das trägt zur Akzeptanz der schwierigen Tätigkeit der bericht erstellen, der auf wissenschaftlich fundierterPolizei in der Bevölkerung in erheblichem Maße bei. Grundlage eine Beurteilung der Kriminalitätsentwick- (Beifall bei der SPD – Erwin Marschewski lung in unserem Lande und der entsprechenden Gefah- [CDU/CSU]: Aber auch für die akustische renpotentiale und damit zugleich eine zielgenauere Be- Überwachung, Herr Schily!) kämpfungsstrategie ermöglicht. Die Polizei ist auf gute Zusammenarbeit mit dem pri- (Beifall bei der SPD) vaten Sicherheitsgewerbe angewiesen. Das private Si- Wir werden Sicherheitsdefizite, soweit sie vorhandencherheitsgewerbe erfüllt wichtige Aufgaben. Wir halten sind, nicht dadurch zu beseitigen versuchen, daß wires aber für geboten, daß die Befugnisse und die not- 234 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesminister Otto Schily (A) wendige Qualifikation im privaten Sicherheitsgewerbe Diese Behauptung wird – das ist für einige vielleicht (C) gesetzlich klar geregelt werden, um keine Grauzoneneine Überraschung – auch durch die Erfahrung in einer entstehen zu lassen. großen Kommune, nämlich in London, bestätigt, über die Yehudi Menuhin berichtet hat: In einem Distrikt von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten London, der bisher zu den Problembezirken hinsichtlich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Jugendkriminalität zählte, ist die Gewaltbereitschaft Ebenso wichtig – wenn nicht sogar wichtiger – wieder Jugendlichen im Vergleich zu anderen Distrikten der entschlossene Einsatz repressiver Mittel gegen aktu- deutlich zurückgegangen, weil es dort ein breites Ange- elle Kriminalität ist die Prävention. Der Grundsatz, daß bot zur musischen Betätigung für Jugendliche gibt. – Vorsorge allemal besser ist als Nachsorge, gilt auch im Das sollte uns zu denken geben. Bereich der Politik der inneren Sicherheit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Damit Erfahrungen auf dem Gebiet der Kriminalprä- Prävention – das ist oft gesagt worden – ist eine vention ge- ausgetauscht und wissenschaftlich aufgearbeitet samtgesellschaftliche Aufgabe. Das heißt konkret, daß werden können, um zu einer Gesamtstrategie zu gelan- alle gesellschaftlichen Kräfte und jeder einzelne an die- gen, werden wir ein „Deutsches Forum für Kriminalprä- ser Aufgabe mitwirken muß: die Länder, der Bund, die vention“ gründen. Kommune, die Polizei, die gemeinnützige Organisation, die Familie, die Schule. Den inneren Frieden wahren und die innere Sicher- heit gewährleisten können wir nur, wenn der innere Zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sammenhalt der Gesellschaft nicht verlorengeht. Dazu Die Sicherheitspartnerschaften verschiedener Aufgaben- gehört auch, daß wir den Bürgerinnen und Bürgern aus- träger auf allen staatlichen Ebenen, auf seiten des Bundes ländischer Herkunft, die schon seit langer Zeit bei uns unter Einbeziehung des Bundesgrenzschutzes, müssenleben und in beträchtlichem Umfang – das sollten wir verstärkt werden. Wir werden nach weiteren Möglichkei- nie vergessen – zum Wohlstand und Gedeihen unseres ten Ausschau halten, um technische und organisatorische Landes beitragen, die volle Integration in unseren Staat Prävention auszubauen und zu verbessern. ermöglichen. Ein besonderes Gewicht hat die soziale Prävention. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Das Beste, was sich diese Regierung vorgenommen hat, GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) ist in dieser Hinsicht das Programm zur Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Jugendliche. Wir werden daher, was längst überfällig ist und was Sie leider über viele Jahre hin nicht geschafft haben, das (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Staatsangehörigkeitsrecht grundlegend reformieren. (D) 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Wie sollen Jugendliche die Regeln einer Gesellschaft GRÜNEN und der F.D.P.) akzeptieren lernen, wenn die Gesellschaft für sie weder eine verläßliche Perspektive in Form von Ausbildungs- Wir bringen damit das Staatsangehörigkeitsrecht auf und Arbeitsplätzen noch genügend Kultur- und Frei-ein modernes europäisches Niveau, das dem aufgeklär- zeiteinrichtungen bereithält? Hier für Abhilfe zu sorgen ten Staats- und Verfassungsverständnis des beginnenden ist jeder Anstrengung wert, wenn wir nicht unsere Zu- neuen Jahrhunderts entspricht. kunft verspielen und die Jugend unserem Staat entfrem- den wollen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist ein Vorhaben von wahrhaft historischen Dimen- sionen. Unsere Gesellschaft beweist sich damit als frei- Ich unterstreiche an dieser Stelle noch einmal, daßheitliche, tolerante und weltoffene Ordnung. nach meinem Verständnis auch die Kultur eines Landes eine zentrale Bedeutung im Sinne von Prävention zur (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Verhinderung von Fehlentwicklungen Jugendlicher hat. GRÜNEN und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie, Herr Rüttgers, haben insofern eine völlig rück- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der wärtsgewandte Sichtweise. PDS) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ich wiederhole bewußt den von mir erwähnten Satz: GRÜNEN und der PDS) Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicher- heit. Ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht kann sein Integrationsziel nur dann erreichen – das lehrt die Erfah- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE rung –, wenn das Entstehen einer doppelten Staatsbür- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- gerschaft hingenommen wird. Das Entstehen einer dop- neten der CDU/CSU und der F.D.P.) pelten Staatsbürgerschaft ist gewiß kein eigenständiges – Ich freue mich, daß dieser Satz auch den Beifall derZiel in dem Sinne, daß wir möglichst viele doppelte Opposition findet. Staatsbürgerschaften herbeiführen wollen. Jedoch darf Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 235

Bundesminister Otto Schily (A) das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft nicht Allgemein werden die Probleme im Zusammenhang(C) länger ein Integrationshindernis sein. mit Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und Migration an Bedeutung zunehmen. Die Zuwanderung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS nach Westeuropa erreichte durch den Zusammenbruch 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der osteuropäischen Staatensysteme und den Krieg auf der F.D.P. und der PDS) dem Balkan quantitative Dimensionen, die seit dem Ich weiß, daß es gegen doppelte StaatsbürgerschaftenZweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesen sind. Insge- durchaus ernstzunehmende Einwände gibt. Wir werden samt verließen nahezu 10 Millionen Menschen in einem uns mit diesen Einwänden in den Ausschußberatungen Zeitraum von fünf Jahren ihre Heimat, von denen etwa gründlich auseinanderzusetzen haben. Die Kritiker soll- 4 Millionen nach Westeuropa kamen. ten jedoch nicht übersehen, daß bereits durch eine große Anzahl von binationalen Ehen doppelte Staatsbürger- Die neue Bundesregierung steht zu ihrer Verpflich- schaften entstehen, ohne daß das zu irgendwelchentung, politisch Verfolgten Zuflucht zu gewähren und Schwierigkeiten geführt hätte. Bürgerkriegsflüchtlingen vorübergehend Schutz zu bie- ten. Wir orientieren unsere Politik auch an den Fakten. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Zu diesen gehört die Tatsache, die leicht einzusehen ist, GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- daß Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten Ziel neten der F.D.P.) von Zuwanderern geworden ist. Daß Sie davor immer Die CSU muß daran erinnert werden, daß sie in einem Ihre Augen verschlossen haben, zeigt Ihre Realitäts- Nachbarstaat, in Polen, durchaus für doppelte Staatsbür- fremdheit. gerschaften eintritt. Ihre Haltung ist daher mit der Logik (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS nicht in Einklang zu bringen. 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Müller [Berlin] [PDS] – Erwin Marschewski 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten [CDU/CSU]: Völliger Unfug!) der PDS) Sicherlich kann Zuwanderung zu nicht unerhebli- Integration kann allerdings nur gelingen, wenn auch chen Belastungen und Konflikten führen. Wir sollten die Zuwanderer zu Integrationsleistungen bereit sind.dabei aber nicht den Blick dafür einbüßen, daß Zuwan- Dazu gehört die Respektierung unserer Verfassungs-derung auch erhebliche positive Auswirkungen hat, in und Rechtsordnung ebenso wie – das halte ich für völlig demographischer, ökonomischer und kultureller Hin- selbstverständlich; ich weiß gar nicht, warum man dar- sicht. über noch ins Grübeln kommt – das Erlernen der deut- (Beifall bei der SPD) (B) schen Sprache. (D) Ich empfehle Ihnen, einmal die Aufsätze von Professor (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Zuruf Werner Weidenfeld nachzulesen, damit auch Sie diese von der CDU/CSU: Vorher oder nachher?) Erkenntnis gewinnen können. Wer sich in einem Land länger aufhalten will, muß sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des auch der Kommunikationsmöglichkeiten versichern. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Erwin (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Schreiben Marschewski [CDU/CSU]: Das weiß doch je- Sie das ins Gesetz!) der! Das ist doch völlig selbstverständlich!) – Es ist eine ganz andere Frage, ob man das ins Gesetz – Ja, Sie wissen das am allerbesten, Herr Marschewski, schreiben muß. Das halte ich allerdings nicht für not-schon aus Ihrer Familiengeschichte. Das stimmt. wendig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Was 90/DIE GRÜNEN – Erwin Marschewski denn?) [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Vielmehr müssen wir die notwendigen Angebote ma- In Europa, insbesondere in Mitteleuropa, haben stets chen. Das ist Integration. Migrationsbewegungen stattgefunden, die in aller Regel (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS zur Belebung und Auffrischung von Kultur und Gesell- 90/DIE GRÜNEN) schaft beigetragen haben. Wenn wir über Fragen der Migration und der Aufnahme von Flüchtlingen spre- Herr Rüttgers, Integration ist übrigens ein Prozeß. Auch chen, sollten wir aber bei nüchterner und realitätsbezo- ein deutsches Kind kommt nicht integriert auf die Welt. gener Betrachtungsweise auch anerkennen, daß Bela- (Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS stungsgrenzen nicht überschritten werden dürfen. 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

Vielmehr wird es dadurch, daß es in Deutschland auf- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Bundesminister wächst, in die Gesellschaft integriert. Schily, darf ich Sie auf folgendes hinweisen: Sie dürfen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zwar als Mitglied der Bundesregierung so lange spre- GRÜNEN und der PDS – Erwin Marschewski chen, wie Sie mögen, gleichwohl war vereinbart, daß die [CDU/CSU]: Ein ganz neuer Gedanke! Zum Zeit auf die Redezeit der Fraktion angerechnet wird. Ich erstenmal höre ich so etwas!) möchte Sie nur darauf hinweisen. 236 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

(A) Otto Schily, Bundesminister des Innern: Ich bitte um ständlichen Pflichten, auf Grund der Erkenntnisse des(C) Nachsicht. Ich werde versuchen, meine Ausführungen Verfassungsschutzes ständig zu überprüfen, ob und in zu kürzen, aber sie enthalten einige Aspekte, die ichwelchem Ausmaß die Beobachtung einer Organisation auch im Interesse der Klarheit, die Herr Rüttgers vonzulässig und notwendig ist. mir eingefordert hat, vortragen muß. Ich bitte um Ver- ständnis. Ich mache jetzt von der Möglichkeit eines Re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gierungsmitglieds, länger zu sprechen, ausnahmsweise PDS) Gebrauch. Ich bitte wirklich um Verständnis, wenn das In der Tat besteht bei der PDS auf Grund aktueller den Ablauf ein wenig belastet. Ich halte es aber für not- Äußerungen aus deren Leitungsbereich ebenso wie auf wendig, daß diese Dinge angesprochen werden. Grund ihrer veränderten Rolle als Fraktion im Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf destag sowie als Mitträger einer Landesregierung Über- von der CDU/CSU: Ihre Fraktion ist be- prüfungsbedarf. Ich gehe selbstverständlich davon aus, rauscht!) daß in die mecklenburg-vorpommersche Landesregie- rung nur Mitglieder aufgenommen werden, die unsere Wer die Zuwanderung grundsätzlich bejaht, mußverfassungsmäßige Ordnung achten und nicht in Frage auch die Zuwanderungssteuerung bejahen. Wir wer- stellen. den die Ausländer- und Flüchtlingspolitik in manchen Einzelfragen überprüfen, neu justieren und flexibler ge- Leider sind Äußerungen aus der Führungsebene der stalten. Ich warne aber vor illusionären Erwartungen, die PDS zwiespältig. Der Parteivorsitzende Bisky fordert im wir nicht erfüllen können, wenn wir nicht die gesetzli- „Neuen Deutschland“ vom 9. November 1998 ein neues chen Steuerungsmöglichkeiten für den Zuzug völlig au- Parteiprogramm und bekräftigt laut „Neues Deutsch- ßer Kraft setzen wollen. land“, alles in der Partei gehöre auf den Prüfstand, von der Programmatik bis zur Parteistruktur. Deutschland hat im europäischen Vergleich eine überproportional große Anzahl von Bürgerkriegsflücht- Andererseits erklärt Frau Pau, so schreibt es die lingen und Asylsuchenden aufgenommen. Wir müssen „Junge Welt“ vom 9. November 1998, die Partei stehe darauf bestehen, daß es in Europa zu einer gerechteren auf dem Boden des Grundgesetzes. Die Systemfrage Lastenverteilung kommt. Die Flüchtlings- und Migrati- wolle die PDS aber nicht fallenlassen. Dazu paßt dann onspolitik muß ohnehin im europäischen Rahmen har- der im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenmini- monisiert werden. Wir werden die österreichischen Be- steriums für 1997 wiedergegebene Ratschlag von Herrn mühungen im Rahmen der österreichischen Präsident- Brie als Leiter der Grundsatzkommission, die PDS müs- schaft unterstützen und ihnen jede Hilfe angedeihen las- se endlich erkennen, welche Chancen für sie im Grund- sen. gesetz lägen. Sie müsse sich dessen Instrumentarium an- (B) eignen und lernen, darauf zu spielen. (D) Ich werde jetzt nur noch einige Stichworte nennen, damit ich die Redezeit nicht zu sehr überziehe. Ich bin Das sind mindestens mißverständliche Bekundungen. auf die Modernisierung der Bundesverwaltung ange- Es ist Sache der PDS, ihre veränderte Rolle im politi- sprochen worden. Ich muß mich auf den Hinweis be-schen Gefüge Deutschlands zu definieren sowie Klarheit schränken, daß das für uns eine vorrangige Aufgabe ist. und Eindeutigkeit zu schaffen. Herr Kollege Rüttgers, Sie haben dazu einige Fragen ge- (Beifall bei der SPD) stellt. Wir werden bei anderer Gelegenheit die Möglich- keit haben, diese zu vertiefen. Ich werde darauf zurück- Ich fordere die PDS ausdrücklich dazu auf, uns un- kommen. mißverständlich zu erklären, ob sie als eine neue demo- kratische Kraft mit all ihren Organisationen und Gremi- Ich halte es für notwendig, daß ich wegen der Aktua- en auf dem Boden des Grundgesetzes steht und die frei- lität noch kurz auf folgende Frage eingehe. heitlich-demokratische Grundordnung ohne Wenn und (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie meinen Aber achten und verteidigen will oder ob sie zumindest die PDS!) in Teilen weiterhin kommunistische Bestrebungen duldet und auf lange Sicht danach trachtet, das System – Richtig. – Der Innenminister ist bekanntermaßen Ver- und das Wesen unserer freiheitlich-demokratischen fassungsminister – Herr Rüttgers hat mit Recht darauf Grundordnung zu verändern. hingewiesen – und hat deshalb dafür zu sorgen, daß die Verfassung und die Verfassungsordnung vorverfas- Deshalb haben Sie, meine Damen und Herren von der sungsfeindlichen extremistischen Bestrebungenge- PDS, es selber in der Hand, ob die Weichen für oder ge- schützt wird. Dieser Verantwortung wird auch die neue gen eine Fortsetzung der Beobachtung gestellt werden. Bundesregierung, der neue Bundesinnenminister gerecht Meine Entscheidung auf Bundesebene werde ich auf werden. Grund des Berichts treffen, den ich vom Bundesamt für Verfassungsschutz angefordert habe, und natürlich im Bestrebungen der genannten Art zu beobachten istEinvernehmen mit meinen Kollegen in den Bundeslän- Aufgabe des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern. dern. Zu den Beobachtungsobjekten gehört unter anderem die PDS. Für einige Aufregung, auch bei Herrn Rüttgers, Der Zeitrahmen läßt es, wie gesagt, nicht zu, auf alle hat meine Ankündigung gesorgt, die Fortsetzung derinnenpolitische Projekte und Vorhaben im Detail einzu- Beobachtung der PDS zu überprüfen. Ich verstehe Ihre gehen. Ich möchte aber zum Schluß betonen, daß uns die Aufgeregtheit nicht. Es gehört zu meinen selbstver-Förderung des Breitensports und des Spitzensports – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 237

Bundesminister Otto Schily (A) das bin ich schon meinem Kollegen Beucher schuldig – von dem wir hoffen, daß wir dort gemeinsam zu Mehr-(C) ein besonderes Anliegen sein wird. heiten hier im Hause gelangen können: Das ist die Mo- dernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der F.D.P.) Für uns hat der Sport einen besonderen Stellenwert; denn er leistet nicht nur einen grundlegenden Beitrag für Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß in der letz- eine aktive, sinnvolle Freizeitgestaltung; vielmehr ist er ten Legislaturperiode zwischen den Koalitionsparteien zugleich ein unverzichtbares Element aktiver Gesund- CDU/CSU und F.D.P. keine Einigung über eine Moder- heitsvorsorge. nisierung des Staatsangehörigkeitsrechts zustande ge- (Beifall bei der SPD – Erwin Marschewski kommen ist. [CDU/CSU]: Mönchengladbach darf nicht ab- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Weil Sie nicht steigen!) mutig genug waren!) Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich den Titel Wir haben jetzt in der Opposition nicht nur die Freiheit, eines im Jahre 1795 erschienenen Buches zitiert. Lassen sondern auch eine Verpflichtung. Wir haben den Auf- Sie mich am Ende meiner Ausführungen einen Satz aus trag unserer Wählerinnen und Wähler, das, was wir ver- Friedrich Schillers „Briefen über die ästhetische Erzie- sprochen haben, auch durchzusetzen. Wir wollen, daß hung des Menschen“ zitieren, die ebenfalls im Jahr 1795 das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert wird und daß es veröffentlicht wurden. Es heißt dort: auf die Höhe unserer Zeit kommt. Deswegen bieten wir Erwartungsvoll sind die Blicke des PhilosophenIhnen gemeinsame Gespräche an. Ich appelliere auch an wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz die Kolleginnen und Kollegen aus der Union, mit denen geheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das großewir in der letzten Legislaturperiode in weiten Bereichen Schicksal der Menschheit verhandelt wird. einig waren, mitzuwirken. Die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts ist eine der wichtigsten ge- Ja, auch unsere Politik ist – wenn auch nur ein klei- sellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. ner – Teil des Schicksals der Menschheit. Viele Erwar- Sie darf unsere Gesellschaft nicht spalten; sie muß sie tungen sind an uns gerichtet. Wir versprechen Ihnen,einen, meine Damen und Herren. diese Erwartungen nach Kräften zu erfüllen. (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS Ich danke Ihnen. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS der SPD) 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Eines macht aus der Sicht der Freien Demokraten – (B) (D) der PDS – Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Herr Kollege Rüttgers, in diesem Punkt haben wir einen Der Schiller war aber nicht in der SPD!) ganz klaren Dissens – keinen Sinn. Sie sagen, Sie wollen keine Gettos. Wenn man keineGettoisierung in den Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich darf nun wieder Städten will, dann sagt man das zu Recht. Aber dann die Einhaltung der Redezeit anmahnen und erteile Herrn man muß vorher die Gettoisierung in den Köpfen der Dr. Westerwelle das Wort. Kinder verhindern! Deswegen sollten diese integriert groß werden. (Walter Hirche [F.D.P.]: Sie meinen, das ist Freiheit und Ordnung?) (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns Die Staatsbürgerschaft ist eines der wesentlichsten Fun- heute morgen mit Fragen der Wirtschaftspolitik ausein- damente. Die Staatsbürgerschaft beschreibt Rechte und andergesetzt. Sie haben zur Kenntnis genommen, daßPflichten. Eine Änderung dieses Fundaments muß los- die Fraktion der Freien Demokraten mit dieser Politik gelöst von parteipolitischen Denkbarrieren möglich sein. nicht einverstanden ist. Aber wir verstehen unsere Rolle Das sage ich in beide Richtungen. in diesem Hause als die einer konstruktiven Opposition. Meine Damen und Herren, wir als F.D.P. rufen dazu Das heißt, wir werden als Opposition nicht eine funda- auf, in diesem Hause über die Parteigrenzen hinweg eine mentale Blockade veranstalten, wir werden nicht ableh- Initiative für eine verbesserteIntegration der in nen um der Ablehnung willen. Wir werden mit Sicher- Deutschland geborenen Kinder zu schaffen. Denn es heit das unterstützen, was auch aus unserer Sicht unter- geht um diese Kinder – nicht darum, daß mehr Auslän- stützenswert ist. der nach Deutschland kommen sollen. Es geht darum, (Beifall bei der F.D.P.) daß die Kinder, die in Deutschland geboren werden und von denen wir wissen, daß sie immer in Deutschland le- Was die Vereinbarungen zur Innen- und Rechtspolitik ben werden, integriert und nicht mit einer ausländischen, angeht, so erlauben wir Liberale uns eine differenzierte mit einer ausgegrenzten Identität groß werden. Bewertung. Wir finden, daß das, was in der Koalitions- vereinbarung festgelegt und in der Regierungserklärung (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- vom Bundeskanzler vorgetragen wurde, sehr wohl Licht ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE und Schatten hat. Ich will mit dem Bereich anfangen, GRÜNEN) 238 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Guido Westerwelle (A) Der Paß ist natürlich nur die eine Seite der Medaille. son die Entscheidung über ihre Staatsangehörigkeit ab- (C) Das weiß doch jeder, der sich mit der Materie beschäf- zuverlangen. tigt. Die Sprache, die Bereitschaft, sich auf die kulturel- (Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig len Eigenheiten einzulassen, und das Bekenntnis zu un- [F.D.P.]) serer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie sie im Grundgesetz steht – das alles gehört selbst-Ich will einen zweiten Bereich herausgreifen, der verständlich dazu. Aber der Paß ist sehr wohl auch eine vom Kollegen Rüttgers – nicht von Herrn Schily – er- Antwort auf die gesellschaftliche Realität. Heute haben wähnt wurde und der ganz zweifelsohne von der Bun- wir eine gesellschaftliche Realität, die das Ergebnis der desjustizministerin noch angesprochen werden wird, Entwicklungen in den 50er und 60er Jahren ist. Sienämlich die Aufwertung der nichtehelichen, der gleich- können den Kindern, die heute in Deutschland geboren geschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Zahl der werden, die deutsch als Muttersprache sprechen undnichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich im frü- die Sprache ihrer Eltern allenfalls mit einem deutschen heren Bundesgebiet zwischen 1972 und 1995 verzehn- Akzent beherrschen, den deutschen Paß nicht verweh- facht. Es gibt längst viele große Städte, in denen die ren. Mehrheit der Menschen nicht mehr in der klassischen Familie, in der klassischen Ehe zusammenlebt, in denen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der es neue Verantwortungsgemeinschaften gibt. Politik be- SPD) ginnt mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wir brauchen jede Möglichkeit, um die Integration vor- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- anzubringen, denn sonst schaffen wir den sozialpoliti- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE schen Sprengstoff in unserer Gesellschaft, der sich GRÜNEN) schon in wenigen Jahren bitterbös rächen wird. Es geht nicht darum, ob wir das gut oder schlecht fin- (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei den. In dieser Frage wird jeder Abgeordnete möglicher- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE weise eine eigene Meinung haben. Aber die Realität GRÜNEN) muß zur Kenntnis genommen werden. Wir sollten diese neuen Verantwortungsgemeinschaften nicht gegen Ehe Allerdings möchte ich Ihnen folgendes sagen, was Ih- und Familie ausspielen. Wir sollten begreifen: Wenn re Vereinbarung angeht. In unserer Fraktion haben wir Menschen in jeder denkbaren Form von Lebensgemein- uns sehr genau mit dem, was Sie – was die doppelteschaft Verantwortung füreinander übernehmen, dann Staatsangehörigkeit angeht – in der Koalitionsvereinba- verdient das die Anerkennung des Staates und rechtfer- rung stehen haben, und dem, was der Bundeskanzler in tigt, daß Diskriminierung aufgehoben wird. seiner Regierungserklärung gesagt – oder besser: nicht (B) (D) gesagt – hat, auseinandergesetzt. Das ist ein spannender (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Unterschied. Wenn man das, was Herr Kollege Rüttgers ten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE gesagt hat, wörtlich nimmt – auch er hat von der dop- GRÜNEN und der PDS) pelten Staatsangehörigkeit als Regelfall gesprochen –, Das gesellschaftliche Bewußtsein hat sich doch ver- dann sehe ich Möglichkeiten der Einigung und Mög- ändert. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften galten lichkeiten zur Brückenbildung. Die doppelte Staatsan- zu meiner Schulzeit noch als studentisches Konkubinat. gehörigkeit als Regelfall – für alle und auf Dauer – ist Heute finden Sie nichteheliche Lebensgemeinschaften – – eben nicht eine Maßnahme der Integration. Deswegen schlagen wir Ihnen vor: Lassen Sie uns in Deutschland (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS nicht eine doppelte Staatsangehörigkeit für alle auf Dau- 90/DIE GRÜNEN]: Ich möchte einmal wis- er einführen; lassen Sie vielmehr die Kinder, die hier sen, wie alt Sie sind!) geboren werden, mit einem deutschen Paß groß werden. Wenn sie volljährig sind, dann müssen sie sich zwischen – Frau Kollegin Beck, ich habe von meiner Schulzeit der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern und der Staatsange- gesprochen. Ich möchte Sie um eines bitten: Machen Sie hörigkeit der Deutschen entscheiden. Das ist ein fairer keinen weiteren Zwischenruf, sonst könnte ich an der Interessensausgleich, der auf Dauer allen Seiten mehrStelle eine ungalante Antwort geben. hilft als die doppelte Staatsangehörigkeit. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde ich Ihnen nie (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- zutrauen! – Zurufe von der SPD und dem ten der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer andererseits schon jetzt ankündigt, eine Moder- – Ihr habt gar nicht gehört, was gesagt wurde. nisierung des Staatsangehörigkeitsrechts notfalls per Verfassungsklage zu bekämpfen, wird dieser Integra- Entscheidend ist – mit allem Ernst und ohne Frotze- tionsaufgabe nicht gerecht. lei –, daß wir feststellen, wie sich heute die gesellschaft- liche Realität und auch die Wert- und Moralvorstellun- Wir werden Änderungsanträge einbringen; wir wer- gen verändert haben und verändern müssen. Das Prinzip den in den Ausschüssen Gelegenheit haben, über diese der Subsidiarität in der katholischen Soziallehre bedeu- Fragen zu reden. Das herrschende Recht würde dasOp- tet, daß man zunächst einmal die Verantwortung bei der tionsmodell, das wir vorschlagen, in keiner Weise ver- Bürgergesellschaft sucht und sich erst anschließend an hindern. Natürlich ist es möglich, einer volljährigen Per- den Staat wendet. Es ist keine Abwertung von Ehe und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 239

Dr. Guido Westerwelle (A) Familie, wenn künftig neue Verantwortungsgemein-„vertrackte Situation“, kann nicht sein, jetzt die PDS aus (C) schaften in Deutschland nicht mehr diskriminiert wer- Gründen politischer Opportunität aus der Beobachtung den. herauszunehmen. (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist der NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Grund, jawohl!) Im übrigen möchte ich auch darauf aufmerksam ma- Sie dürften dann nicht mit dieser Partei in Mecklenburg- chen: Es ist nicht in Ordnung, wenn wir an dieser Stelle Vorpommern koalieren. Das muß die Antwort eines – das halte ich für wichtig – den Eindruck erwecken, daß wirklich freiheitlich denkenden Menschen sein. man das an anderer Stelle vertraglich regeln könnte. Das ist eben nicht möglich. Der Unterschied zwischen den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nichtehelichen und den gleichgeschlechtlichen Lebens- Aber in Wahrheit stecken dahinter System und Methode. gemeinschaften liegt nämlich auf der Hand. Die nicht- Da wird etwas vorbereitet, übrigens ganz ähnlich wie bei ehelichen Lebensgemeinschaften haben die Möglichkeit der Diskussion um die Bundesbank. Da wird ein Stein des Ehevertrages. Für die gleichgeschlechtlichen Le-ins Wasser geworfen, und die Wellen sind wohlkalku- bensgemeinschaften sollte die Möglichkeit des Instituts liert. einer eingetragenen Partnerschaft geschaffen werden. Deswegen möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, was (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem die Vorstandssprecherin der Grünen heute um 12 Uhr BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) über die Agenturen hat laufen lassen. Frau Röstel springt Das ist kein Werteverfall. Wenn in einer gleichge-Herrn Kollegen Schily bei; in dieser Agenturmeldung schlechtlichen Lebensgemeinschaft ein Partner für sei- heißt es, die Grünen-Sprecherin Gunda Röstel habe sich nen tödlich erkrankten Partner Verantwortung über-gegen die weitere Beobachtung der PDS durch den Ver- nimmt und ihn bis zum Schluß pflegt, dann ist das kein fassungsschutz ausgesprochen. Werteverlust, sondern eine Wertegewinn in unserer Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sellschaft. – Sie mögen dabei klatschen, und ich kann verstehen, (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- warum Sie klatschen: weil Sie die PDS längst auch in NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) diesem Hause als Ihre stille Machtreserve einkalkuliert Herr Minister Schily, ich will aber auch noch auf eine haben. Sache zu sprechen kommen, mit der ich mich nicht ein- (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS verstanden erklären kann. Sie haben das Verhältnis von 90/DIE GRÜNEN]: Das brauchen wir doch (B) Sicherheit und Freiheit mit Worten von Hegel be- (D) gar nicht!) schrieben. Wer wollte dem nicht zustimmen? Aber ich glaube, daß Sie sich hier doch einen sehr schlankenDas ist der Grund für die Entwicklung, die Sie mit Herrn Fuß gemacht haben, was die Frage der PDS angeht. Es Schily begonnen haben. ist schon bemerkenswert – dahinter stecken System und Methode –, daß Sie in der Koalitionsvereinbarung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – nur noch davon sprechen, denRechtsextremismus Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit zu machen. Da NEN]: Was soll man denn eine Partei durch heißt es: den Verfassungsschutz beobachten, die hier im Bundestag sitzt?) Die neue Bundesregierung wird die politische Aus- einandersetzung mit und die Bekämpfung von Das ist doch auch der Grund, meine Damen und Her- Rechtsextremismus zu einem Schwerpunkt ma-ren, warum wir hier immer wieder erleben, wie dann chen. auch tatsächlich eine Erosion des Rechtsstaates stattfin- det. Übrigens ist sehr bemerkenswert, daß bei der Frage Das ist sehr wohl ein Unterschied zur früheren Politik der Rechtspolitik ausgerechnet von Ihnen angemahnt der Bundesregierung. Wir haben uns immer als wehr-wird, daß das Bürgerrechtsprofil hochgehalten wird. Das hafte Demokratie verstanden. Extremismus von rechts ist schon arg drollig. Sie sitzen in Nordrhein-Westfalen und von links, meine Damen und Herren, muß in diesem in einer Landesregierung, die de facto das Justizministe- Lande politisch bekämpft werden; beides bedroht Frei- rium abschaffen will. Sie sitzen in Mecklenburg- heit. Vorpommern in einer Landesregierung, die das Justiz- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ministerium abschaffen will. Wir als Liberale sagen: ten der CDU/CSU) Wir brauchen die Unabhängigkeit der Justiz. Justizmi- nisterien sind nicht irgendwelche Anhängsel der Lan- Deswegen ist es kein Zufall, was Sie gesagt haben,desverwaltungen. Wenn Sie eine echte Bürgerrechts- auch wenn Sie heute hier die erste Absetzbewegung ge- und Rechtsstaatspartei wären, dann würden Sie dafür macht haben. Sie haben am Montag in Berlin gesagt, es sorgen, daß das Gewaltenteilungsprinzip an dieser Stelle sei eine „vertrackte Situation“, wenn diePDS wie in nicht durch die Zusammenlegung des Innen- und des Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt Justizressorts kaputtgemacht wird. sei und andererseits vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Aber die Antwort auf dieses Problem, auf diese (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Gestatten Sie eine Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich bin sofort fer- (C) Zwischenfrage? tig. Ich mache nur noch zwei Anmerkungen hierzu. Es kann doch nicht akzeptiert werden, was zwei Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ja, klar. Journalisten dort gehört haben. Sie berichten, daß Poli- zeibeamte von Politikern Ihrer Partei, den Grünen, mit den Worten eingeschüchtert worden sind: Wenn hier Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte schön. nicht gleich etwas passiert, dann haben Sie 1 000 Leute aus der Bonner Beethovenhalle hier. – Dort fand ja be- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEkanntlich der Parteitag der Grünen statt. Herr Appel GRÜNEN): Gehen Sie mit mir in der Auffassung einig, wird mit der Äußerung zitiert: Wenn ihr das nicht laßt, daß ein Justizministerium Teil der Exekutive ist und daß kündigen wir die Koalition in Düsseldorf. – Wer auf das mit Gewaltenteilung überhaupt nichts zu tun hat? diese Art und Weise Strafverfolgung behindert und dar- an mitwirkt, daß gewaltbereite Autonome nicht festge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nommen werden können, der hat nun wirklich jeden An- spruch verloren, in diesem Hohen Hause als Rechts- staatspartei aufzutreten oder sich so darzustellen. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Nein, damit bin ich nicht einverstanden, und zwar aus einem ganz einfa- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) chen Grund: Die Aufgabe des Justizministeriums ist auch eine Aufsicht, mindestens eine Dienstaufsicht, über die Justiz und die entsprechenden weiteren Behörden. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun ist Ihre Rede- Wohin die andere Entwicklung führt, können Sie an dem zeit aber abgelaufen. erkennen, was ich als Bonner Abgeordneter anläßlich der Kundgebungen und Demonstrationen an einemDr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich bedanke mich. Samstag erlebt habe. (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Jetzt kommt das wieder!)

– Entschuldigen Sie, wenn Sie mir eine Zwischenfrage Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat die stellen, dann sind Sie doch zweifelsohne auch an derKollegin Marieluise Beck. Antwort interessiert. Oder haben Sie sie nur rhetorisch gestellt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. (B) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE(D) Der Punkt, über den wir hier reden, ist doch, daß es GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und dort Probleme gegeben hat, weil Kompetenzen mitein- Herren! Integration ist ein Anspruch und eine An- ander in Schwierigkeiten geraten sind. Daraus kann man strengung, zu der es keine Alternative gibt. Dies ist die entnehmen, daß sich so etwas, wenn es realisiert würde, Quintessenz des Memorandums meiner Vorgängerin nicht bewähren kann. Wir erleben nämlich, daß auf der im Amt der Ausländerbeauftragten, Frau Schmalz- einen Seite die Strafverfolgungsbehörden und auf der Jacobsen. Ich möchte an das politische Vermächtnis, in anderen Seite Polizeibeamte stehen. Gleichzeitig erleben dem sich übrigens alle meine Amtsvorgängerinnen und wir, wie eine Vermischung der politischen Aufgaben er- -vorgänger einig waren, anschließen: erleichterte Ein- folgt. Ich will es ganz klar sagen: Ich habe geradezu mit bürgerung, rechtliche Gleichstellung und soziale Inte- Erschrecken zur Kenntnis genommen, was grüne Politi- gration. ker bei dieser Demonstration wörtlich – gemäß den Aus- sagen von Journalisten in Zeitungsberichten – gesagt Diese neue Bundesregierung wird den Reformstau haben. der Ära Kohl in derIntegrationspolitik endlich auflö- sen. Diese neue Bundesregierung hat sich nämlich ent- (Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS schieden, mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht 90/DIE GRÜNEN] nimmt Platz) endlich den Anschluß an die modernen Gesellschaften – Entschuldigen Sie bitte, ich antworte Ihnen noch. des 20. Jahrhunderts zu suchen und auch den Menschen die vollen Bürgerrechte anzubieten, denen sie in den (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- letzten 20 Jahren gezielt vorenthalten wurden. NEN – Volker Beck [Köln] [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja offensicht- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich keine Antwort!) sowie bei Abgeordneten der SPD) – Wer sich in die Gefahr einer Zwischenfrage begibt, „No taxation without representation“ – wir alle ken- der kann darin auch umkommen. nen diesen Kernsatz der amerikanischen Revolution. Dieses Demokratiegebot muß endlich auch in Deutsch- land beim Übergang ins nächste Jahrtausend gelten. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Gleichwohl sind dabei auch die Zeiten ein wenig zu beachten, Herr Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lege. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 241

Marieluise Beck (Bremen) (A) Diese Bundesregierung wird endlich das anerkennen,allerdings neues Denken im Staatsbürgerschaftsrecht er- (C) was die alte Bundesregierung zum Tabu machen wollte: fordert. die Unumkehrbarkeit des Zuwanderungsprozesses der Ich empfehle den Blick über die Grenzen. England letzten Jahrzehnte. und Frankreich haben das moderne Staatsbürgerschafts- (V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- recht. Als Grundlage dient die Hinnahme der doppelten mer) Staatsbürgerschaft. Schauen Sie bitte in diesem Zusam- menhang auch nach Holland. Holland hat im Jahre 1996 Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Oppo- 18 Prozent der türkischen Bevölkerung eingebürgert, sition, es nicht hören wollen: Deutschland ist während der während wir in diesem Zeitraum nur 1,6 Prozent einbür- Zeit, in der Sie Regierungsverantwortung trugen, ein Zu- gern konnten. wanderungsland geworden. Die Entscheidungen in den 50er und 60er Jahren, Menschen hierherzubitten, um bei Einwanderer sind zugleich Auswanderer. Auch dieser uns, aber vor allem auch für uns zu arbeiten, waren eben Satz meiner Vorgängerin ist richtig, denn Zuwanderung keine Entscheidungen auf Zeit. Wir haben nicht Gäste,bedeutet auch, Altes loszulassen und aufzugeben und die sondern neue Bürgerinnen und Bürger angeworben. EsVerfassungsgrundsätze dieses Staates zu akzeptieren. handelt sich jetzt um Menschen, die hier schon seit Jahr- Dieser Satz bedeutet auf der Seite der Mehrheitsbevölke- zehnten leben und hier ihren Lebensmittelpunkt haben,rung, das andere, das Ungewohnte zu akzeptieren und als deren Kinder hier geboren sind, die Deutsch sprechen und Bereicherung anzuerkennen, auch wenn es Konflikte gibt. deren Heimat Deutschland ist. Wer hier auf Dauer lebt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der muß auch dazugehören können. Er braucht alle und bei der SPD) Rechte, um dieses Land mitgestalten zu können. Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Herausforde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung. Sie ist nicht konfliktfrei, aber sie ist eben auch ei- und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Heidi ne Bereicherung und ein Schritt in eine offene und zivile Knake-Werner [PDS]) Gesellschaft. Nichts ist verheerender, als die bestehende Realität Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine kurze Be- nicht zur Kenntnis zu nehmen. Genau das hat die alte merkung. Eine offene Gesellschaft muß auch den Bundesregierung getan, indem sie die neuen Bürgerin- Schutzsuchenden ihre Türe öffnen. Die neue Bundesre- nen und Bürger als Inländer ohne Paß im Gästestatus zu gierung wird sich mit Nachdruck – der Innenminister hat halten versucht hat. Die Botschaft, die dabei herauskam, diesen Punkt schon erklärt – für eine gemeinsame euro- war: Wir wollen euch nicht; wir wollen euch bestenfalls päische Flüchtlings- und Migrationspolitik einsetzen. nur halb. Das ist eine Zurückweisung. Zurückweisung Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische (B) ruft zwangsläufig Abschottung hervor. Wir wollen aber (D) Menschenrechtskonvention müssen dabei unser Maßstab Abschottung weder von der Seite der Mehrheitsbevölke- sein. rung noch von der Seite der zugewanderten Menschen. Wir wollen Integration. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ziel dieser Regierung ist es, die internationalen Stan- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der dards für Flucht und Asyl zur Meßlatte zu machen. Es PDS) wird sehr bald über eine Altfallregelung zu reden sein, die das bedrohliche Hin und Her, die Angst vor Ab- Die erleichterte Einbürgerung bedeutet in der Tat schiebung, das tägliche Gefühl der Unsicherheit für auch die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit. Wir alle wis- diejenigen Menschen beendet, denen der Weg in die sen, wie schwer es ist, den Paß zurückzugeben, nicht nur Heimat versperrt ist. weil dieser Vorgang den emotionalen Abschied von der Heimat bedeutet, sondern weil er auch bedeutet, daß die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Rückkehrmöglichkeit verschlossen ist. Es gibt keinen 90/DIE GRÜNEN) rationalen Grund, diese Hürde aufzubauen. Eine den Bedürfnissen der Menschen entsprechende Es ist infam – Herr Schäuble hat dies leider vor zwei Härtefallregelung muß endlich Perspektiven für die er- Tagen in diesem Hause noch einmal getan –, im Zu-öffnen, die durch die Maschen einer in der Konsequenz sammenhang mit derdoppelten Staatsbürgerschaft manchmal unbarmherzigen Bürokratie gefallen sind, von „Rosinenpickerei“ zu sprechen. Damit, Herr Schäuble – ich sage das auch an die Adresse der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU-Fraktion –, wird ein sehr gefährlicher Weg sowie bei Abgeordneten der SPD) der Diffamierung beschritten. denen aber aus humanitären Gründen das Bleiben hier Die CDU kann nicht das Wort von der Globalisierung ermöglicht werden muß. Dazu gehören auch die vielen immer im Munde führen, wenn sie sich auf der anderen Fälle von Kirchenasyl, hinter denen Gruppen von Bürge- Seite den Realitäten eines modernen Staatsbürger-rinnen und Bürgern stehen, die sich humanitären Grund- schaftsrechts verschließt. Sie fordern einerseits flexi-sätzen verpflichtet fühlen. Dazu gehört auch die Anerken- blere Arbeitsmärkte und auch eine größere grenzüber- nung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund. schreitende Mobilität, andererseits beharren Sie aber auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Blutrecht als Grundlage für die Staatsangehörigkeit. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Globalisierung relativiert die Nationalstaatlichkeit, was Dr. Heidi Knake-Werner [PDS]) 242 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Marieluise Beck (Bremen) (A) Dazu gehört übrigens auch die Überprüfung desbürgerrechtlich orientierte Politik enthält nicht nur An- (C) Flughafenverfahrens, dieses unwürdigen Procedere, das sprüche an Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Schutzsuchende oft in die Verzweiflung treibt. Staat. Sie bedeutet vor allem auch Schutz von Bürgerin- nen und Bürgern vor Begehrlichkeiten des Staates. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Schutz und Unterstützung des Staates brauchen aber PDS) auch Flüchtlinge, die sich bis in die Bundesrepublik durchgeschlagen haben. Die Vereinbarungen der neuen Der Krieg in Bosnien hat über 300000 Menschen zu Koalition auf dem Feld der Flüchtlings- und Asylpoli- uns getrieben. Viele Deutsche waren bereit, diese Men- tik sind unzureichend. Das meinen nicht nur wir. Auch schen aufzunehmen. An dieser Bereitschaft wird die„Pro Asyl“ hat als Flüchtlings- und Menschenrechtsor- neue Bundesregierung mit ihrer Flüchtlings- und Asyl- ganisation die rotgrünen Verabredungen zu Recht heftig politik anknüpfen. kritisiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die SPD will nicht zulassen, daß am sogenannten bei der SPD und der PDS) Asylkompromiß gerüttelt wird. Sie weigert sich, nicht- staatliche Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen. Da- Vizepräsidentin Dr. : Das Wort hat bei wissen Sie doch ganz genau, daß unser Asylrecht jetzt die Abgeordnete Petra Pau. nicht ausreicht, um zum Beispiel Frauen aus Afghani- stan oder Flüchtlingen aus Algerien Schutz zu gewähr- leisten. Petra Pau (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen (Beifall bei der PDS) und Herren! Der Bundeskanzler hat in Anlehnung an mehr Demokratie angemahnt. Es wurde Auch das Asylbewerberleistungsgesetz ist der neuen mit Blick auf die bisherigen Vorgänge von einemKoalition offenbar keine Kritik mehr wert, obwohl schlechtbestellten Haus gesprochen, das Ihnen hinterlas- hiermit – zumindest die Grünen sollten sich daran erin- sen wurde. Bei Letzterem wurde in den Debatten dernern – Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge unter vergangenen zwei Tage vor allen Dingen immer das Fi- das Existenzminimum und oftmals in die Illegalität ge- nanzierungsproblem angesprochen. trieben werden. Wir wollen, daß es so schnell wie mög- lich abgeschafft wird, und werden hier eine entspre- Aber auch in Ihrem Ressort, Herr Innenminister, chende Initiative einbringen. bleibt sehr viel zu bestellen, um das Haus Bundesrepu- blik noch bewohnbarer zu machen. (Beifall bei der PDS) (B) (Beifall bei der PDS) Das betrifft auch die Flughafenregelung. Sie gehört(D) nicht überprüft, Frau Kollegin Beck; sie gehört tatsäch- Gerade auch im Bereich des Inneren brauchen wir einen lich abgeschafft. deutlichen Politikwechsel weg von der staatsfixierten Law-and-order-Politik Ihres Vorgängers (Beifall bei der PDS) (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Hin zur Ich möchte Sie daran erinnern, daß allein in diesem Jahr Stasi! Das ist wahr!) elf Menschen während dieses Flughafenverfahrens ver- sucht haben, sich das Leben zu nehmen. Was muß denn hin zu einer bürgerrechtlich orientierten Politik. noch passieren, um diese entwürdigende Regelung abzu- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten schaffen? Sie haben die Chance, in diesem Bereich et- der SPD) was zu tun. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht. Sie müssen nur noch zustimmen. So richtig es ist, den Umweltverbänden Klagemög- lichkeiten einzuräumen, so richtig es ist, eine Verknüp- (Beifall bei der PDS) fung von Sozial- und Innenpolitik zu fordern, und so Ein Wort an Sie, Herr Innenminister, und auch an die richtig es ist, ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbür- Kolleginnen und Kollegen der Grünen: Die Reform des gern die Staatsbürgerschaft zu ermöglichen, ist festzu- Staatsbürgerschaftsrechts ist zweifellos ein Schritt in stellen: Das alles reicht nicht aus. Es reicht meiner die richtige Richtung, aber ein zu kurzer. Was nämlich Fraktion nicht; aber es reicht auch dem Forum für Men- ist mit den Kindern von Angehörigen der zweiten Gene- schenrechte nicht, wie dessen Dreizehn-Punkte-Katalog, ration, die als Jugendliche eingewandert sind? Was ist der uns in dieser Woche auch hier erreichte, belegt. Ich vor allen Dingen mit den Kindern all der Vietnamesin- vermute, es reicht auch dem einen oder anderen grünen nen und Vietnamesen und der anderen Vertragsarbeite- Kollegen nicht. Oder, Kollege Ströbele, hat sich so viel rinnen und Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR? an Ihren Forderungen verändert, die wir im Wahlkampf Diese Kinder bleiben Ausländerinnen und Ausländer, noch gemeinsam vertreten haben? obwohl sie hier geboren wurden, und müssen die müh- (Beifall bei der PDS) same Einwanderungsprozedur durchlaufen. Deshalb kündige ich Ihnen schon heute Initiativen der Wir begrüßen die Einführung deskommunalen PDS-Fraktion zur Verbesserung des Datenschutzes, zur Wahlrechts für Menschen aus Nicht-EU-Staaten. Wenn Rücknahme der Antiterrorgesetze und zur ErrichtungSie allerdings mehr Demokratie wagen wollen, dann be- höherer Hürden bei der Telefonüberwachung an. Denn antworten Sie mir doch eine Frage: Warum sollen soge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 243

Petra Pau (A) nannte Drittausländer auf kommunaler Ebene zwar über sammenzuführen und die tiefe soziale, geographische(C) den Bau von Schulen mitbestimmen dürfen, nicht aber und gedanklich kulturelle Spaltung zu überwinden und darüber, was dann in diesen Schulen gelehrt wird, weil sich dabei den realen Problemen zu stellen. Ich prophe- das wiederum Ländersache ist? zeie uns allen: Mit dem Umzug nach Berlin werden wir den Problembeladenen in dieser Gesellschaft, dem Zu- (Beifall bei der PDS) sammenkommen und manchmal auch Zusammenprallen Ein weiterer Punkt: Wir fordern nach wie vor die Ein- von Ost und West näherkommen. Insofern verstehe ich führung eines Niederlassungsrechts, das hier lebenden nicht, Herr Innenminister, warum Sie sich diese Pro- Nichtdeutschen unabhängig von ihrer Staatsangehörig- blembeladenen durch eine Bannmeile vom Hals halten keit Bürgerrechte verleiht. Das bezieht sich nicht nur auf wollen. Wir haben seinerzeit nicht für den Umzug ge- das Wahlrecht, sondern schließt auch ein, daß diesestimmt, um dann in dieser Stadt Sondergebiete für Bun- Menschen vor Abschiebung geschützt werden. despolitiker zu schaffen. Da Regieren offensichtlich zuweilen vergeßlich (Beifall bei der PDS) macht: Ich habe vergeblich nach dem Einwanderungsge- Wir wollen vielmehr dorthin, wo Herausforderungen setz gesucht, das die bündnisgrüne Fraktion noch vorund Defizite am meisten zu spüren sind. Wochen so heftig gefordert hat. Ich vermute, daß hier in dieser Frage selbst die F.D.P. aktiver werden wird als (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Deswegen die Fraktionen, die die derzeitige Regierung stützen. habt ihr die Mauer gebaut! Das ist wahr!) Nun zu etwas, was heute schon viele Emotionen her- Ein allerletzter Punkt: Im Zusammenhang mit dem vorgerufen hat. Ich entnahm der Presse und Ihren heuti- Parlaments- und Regierungsumzug hat der Bundes- gen Ausführungen, Herr Innenminister, daß Sie Über- kanzler völlig zu Recht gesagt, daß dies nicht der Aus- prüfungsbedarf haben – und das aus unterschiedlichen stieg aus der historischen Verantwortung sein darf. Des- Gründen, zum Beispiel weil die Überwachung der PDS halb bitte ich schon heute: Lassen Sie sich uns gemein- durch den Verfassungsschutz vertrackt sei, da die PDS sam der Verantwortung für eine würdige Debatte und seit neuestem in Mecklenburg-Vorpommern mitregiert. Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal in der Stadt Ich halte diese Argumentation allerdings für wenig de- Berlin stellen. Das wird kein Berliner Mahnmal. Das mokratisch, unterstellt sie doch, Oppositionsparteienwird das Mahnmal, welches uns nicht nur erinnert, son- dürfe man überwachen, aber bei Regierungsparteiendern uns den Weg tatsächlich erhobenen Hauptes, aber schicke sich das nicht. auch mit der Scham, die wir empfinden müssen und sollen, in die Berliner Republik ebnet. Lassen Sie uns (Beifall bei der PDS – Beifall bei der F.D.P. – gleichzeitig möglichst schnellRegelungen für die (B) Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Leider Zwangsarbeiter finden, denn hier geht es schon längst(D) wahr!) nicht mehr um eine parteipolitische Debatte, sondern Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Sie den Verfassungs- hier zählt jeder Tag für die Betroffenen. schutz schon aus den Fängen der CDU und der politi- schen Wunschvorstellung befreien wollen – ich kenne Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, die Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung, die auf die- der letzte Satz ist jetzt sehr lang geworden. ser Grundlage entstanden sind –, dann haben Sie nicht nur meine Zustimmung. Wenn Sie dieses Instrument al- lerdings endgültig auflösen, dann finden Sie meinen Petra Pau (PDS): Ich bedanke mich. Beifall. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Im übrigen: Herr André Brie ist schon seit längerer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zeit nicht mehr der Chef der Grundsatzkommission. Wenigstens so viel sollten doch Ihre Zuarbeiter aus dem Bereich Verfassungsschutz wissen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin Pau, das war, glaube ich, Ihre erste Rede im Bundestag. (Beifall bei der PDS) Ich gratuliere Ihnen, daß Sie es schon hinter sich haben. Und was das Grundgesetz und die Systemfrage anbe- (Beifall bei der PDS) trifft: Wo steht eigentlich im Grundgesetz, daß Kapital- verwertung tatsächlich über Menschenrechte und Bür- Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Herta gerinteressen geht? Spätestens hier muß sich die Politik Däubler-Gmelin. einmischen, wenn der Markt blind ist. (Beifall bei der PDS) Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie Da haben wir sogar eine gemeinsame Grundlage: In Ih- haben ganz recht, man muß sich ordentlich anziehen, rem und in meinem Parteiprogramm ist der demokrati- wenn man als Bundesministerin der Justiz hier an das sche Sozialismus d i e Zielvorstellung. Rednerpult tritt, Herr Marschewski. (Beifall bei der PDS) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das gilt auch für die Männer!) Noch ein Punkt: Der Bundeskanzler hat in seiner Re- gierungserklärung versprochen, die Gesellschaft zu-Ich bin ganz Ihrer Meinung, das ist völlig in Ordnung. 244 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Lassen Sie mich anfangen, meine Damen und Herren! dem er sagte: „Das Gesetz ist der Freund des Schwa-(C) Vor einigen Tagen haben Journalisten mit Lob für diechen.“ Das hat unser Grundgesetz aufgenommen, das ist jetzige Regierung angemerkt, sie habe es binnen ganzdie Tradition großer Rechtspolitiker von Gustav Heine- weniger Tage geschafft, die „Rechtspolitik aus ihremmann bis Hans-Jochen Vogel. Wir werden diesen Dornröschenschlaf“ zu wecken. Ich glaube, das warGrundsatz wieder durchsetzen. nicht nur eine freundliche Feststellung, sondern das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS auch inhaltlich richtig. In der Rechtspolitik wird es jetzt 90/DIE GRÜNEN) interessanter. Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen, mit Ihnen von der CDU/CSU, auch mit Ihnen, Meine Damen und Herren, unser zweiter Schwer- Herr Rüttgers, ebenso wie mit Ihnen von der F.D.P.-punkt, nämlich dasBündnis gegen Gewalt, hat viel Opposition. Die Unterschiede zwischen Ihnen beidendamit zu tun. Hier geht es darum, Opfern von Krimina- sind heute schon sehr deutlich geworden. Wenn man die lität zu helfen, Opferzeugen und dann auch Zeugen zu dritte Oppositionsfraktion, die PDS, noch hinzunimmt, schützen. Es geht aber auch um den Schutz von Kindern, kann man sagen, verehrte Kolleginnen und KollegenFrauen, Älteren, Behinderten und Minderheiten. von der Koalition: Wir haben eine interessante Weg- strecke vor uns. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Unser dritter Schwerpunkt betrifft die grundlegende GRÜNEN und der PDS) Reform der Justiz, die bisher auch schon versucht wur- de – insofern hat Herr Rüttgers völlig recht –, wobei Das Urteil, Herr Rüttgers, das Sie über die bisherige aber nicht erreicht wurde, für die Zukunft das Erforder- Politik im Rechts- und Innenbereich abgegeben haben, nis der Klarheit, der Zügigkeit, der Effizienz mit Rechts- war bei aller Wertschätzung gegenüber meinem Vor-staatlichkeit und Transparenz zu verbinden. Wir brau- gänger, Herrn Professor Schmidt-Jortzig – Sie wissen, chen das aber, jetzt an der Schwelle zu einer immer grö- daß ich Sie ausgesprochen schätze –, aber nicht ganz so ßeren Integration in die Europäische Union. Ich sage Ih- positiv, wie Sie meinen. Wenn Sie heute Bürgerinnennen: Wir werden das mit Macht vorantreiben. Ich erbitte und Bürger, Richterinnen und Richter und anderehier Ihre Unterstützung. Rechtsanwender fragen, dann sagen die Ihnen halt auch: Diese Politik sei hektisch und ohne klare Linie gewesen. Ihre Unterstützung erbitte ich auch für den vierten Sie stöhnen darüber, daß sie zuviel Gesetze, zuviel un- Schwerpunkt, nämlich die Erweiterung und Verände- klare Gesetze bekommen haben, denen dann die Einzel- rung des Sanktionensystems, und für den fünften, näm- korrektur sehr häufig auf dem Fuß folgte. Sie beklagen lich die Stärkung vonGleichstellung, Teilhabe und dann sehr deutlich, das habe nicht nur die Qualität der Bürgerrechten bei uns im Land und in der Europäi- schen Gemeinschaft. (B) Arbeit behindert, Zeit und Geld gekostet, sondern natür- (D) lich auch die Motivation beeinträchtigt. Schon deshalb (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS müssen wir das ändern. Wir brauchen die Arbeit und die 90/DIE GRÜNEN) Motivation der Richterinnen und Richter zur Durchset- zung unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaats Wir geben als Mehrheit in diesem Haus die Ziele vor. unter den heutigen Bedingungen nötiger denn je. Wir werden aber auch die Wege vorschlagen. Bezüglich dieser Wege bitten wir um eine Diskussion mit Kritik, je (Beifall bei der SPD) sachlicher und je schärfer, desto besser. Wir bitten um Anregungen und Diskussionen, weil wir glauben, daß Ich werde deshalb versuchen, Sie auch hier im Bun- wir auf diesem Wege einen Fehler der Rechtspolitik der destag immer wieder daran zu erinnern, daß wir lieber vergangenen Jahre vermeiden können. Dort wurde im- weniger und bessere Gesetze machen und daß wir – das mer nach dem Konsens, nach dem kleinsten gemeinsa- finde ich sehr gut; vielen Dank auch für die Zustim- men Nenner gesucht. Wir wollen nicht diesen kleinsten mung, lieber Herr von Stetten – Gesetzesinitiativen nicht gemeinsamen Nenner, sondern wir wollen das beste Er- als Einzelkorrekturen immer klein-klein aufeinander gebnis in allen Punkten erreichen. folgen lassen. Das war übrigens der Grund, warum ich es gut gefunden habe, daß der Bundesrat in seiner letz- (Beifall bei der SPD) ten Sitzung die beiden Einzelinitiativen zum Sexual- strafrecht aus dem Lande Bayern zurückgestellt hat. Unsere Regierung ist jetzt 16 Tage im Amt. Bis zum Auch in solchen Fällen nützen Lippenbekenntnisse al- Ablauf der ersten 100 Tage werden wir, werde ich Ihnen lein nicht, wir müssen uns nach unseren GrundsätzenEckpunkte für einige dieser Schwerpunkte vorlegen. Ich richten. freue mich, Herr Westerwelle, daß auch Sie angedeutet haben, daß Sie zusammen mit unserer Koalition dafür (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sorgen wollen, daß wir die Schaffung rechtlicher Mög- 90/DIE GRÜNEN) lichkeiten für homosexuelle Paare, die auf Dauer zu- sammenleben wollen und die sich in Zukunft mit Rech- Die neue Bundesregierung wird im Bereich der ten und Pflichten alsLebenspartnerschaft eintragen Rechtspolitik die politischen Ziele vorgeben. Dafür ha- lassen wollen, durchsetzen. ben wir am 27. September die Mehrheit bekommen. Da- für sind wir verantwortlich. Unsere Schwerpunkte in Ich möchte gerne die wenigen Minuten, die ich heute diesem Bereich sind einmal derSchutz der Schwäche- noch spreche, dazu nutzen, auf einiges einzugehen, was ren durch Recht. Das hat schon Friedrich Schiller – er in den letzten Tagen – wahrscheinlich, weil man die ist heute schon einmal zitiert worden – vorgedacht, in- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 245

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Konzepte nicht so genau kannte – schon im Vorfeld ab- und zwar deshalb nicht, weil man Kommissionen immer (C) wehrend gesagt wurde. ZurJustizreform: Sie ist not- dann einsetzt, wenn man nach langer Zeit möglichst wendig. Ich glaube, das wird kaum mehr bestritten. Ich nichts erreichen will. Wir wollen etwas erreichen. freue mich, daß auch die Justizministerkonferenz des ( [CDU/CSU]: Das haben Sie Bundes und der Länder mit übergroßer Mehrheit gesagt immer gefordert, Frau Kollegin!) hat, wir brauchen sie, und wir sollen sie gemeinsam ma- chen. Das heißt gleichzeitig, meine Damen und Herren: – Nein, verehrter Herr Geis, Sie waren es. Vielleicht le- Gemeinsamkeit in der Rechtspolitik aus Bund und Län- sen Sie das noch einmal nach. Ich glaube, die Amnesie dern ist angesagt, auch bei der Frage der Dreistufigkeit. greift gerade bei Ihnen noch nicht so um sich, als daß Bei ihr geht es uns darum, daß nach der außergerichtli- Sie das nicht korrigieren könnten. chen Streitschlichtung, die wir, glaube ich, auch im Bundestag gemeinsam wollen, die Eingangsgerichte in (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der die Lage versetzt werden, die umfassende rechtliche und SPD) tatsächliche Prüfung vorzunehmen, so daß der Streitfall Lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt nennen; dort so ausführlich gewürdigt werden kann, wie dieich meine die Frage der Gewaltbekämpfung. Die Äch- Bürgerinnen und Bürger das wollen und brauchen.tung der Gewalt als Erziehungsmittel steht ganz oben Wenn uns das gelingt, können wir die zweite Instanzauf unserer Tagesordnung. darauf konzentrieren, konkrete Fehler zu korrigieren. Dann kann die dritte Instanz auf die Wahrung der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Rechtseinheitlichkeit und der Grundsatzrevision kon- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten zentriert werden. Wir möchten das gerne. Wir werden der PDS) selbstverständlich, weil das notwendig ist, großzü-Wir werden dieses Ziel verfolgen, übrigens nicht des- gige Übergangsfristen mit einplanen, aber wir werdenwegen, weil wir allen Eltern, jeder Mutter oder jedem auch weitere bisherige übergangsweise vorgeseheneVater, denen in einer Streßsituation einmal die Hand Schritte der Rechtspflegeentlastung an diesem Ziel aus- ausgerutscht ist, den Staatsanwalt in das Haus schicken richten. wollen oder werden. Das werden wir nicht tun. Aber wir müssen völlig klarmachen, daß Gewalt kein Erzie- Wir können damit eine Menge an Fehlentwicklungen hungsmittel sein kann, daß besonders viele Gewalttäter verbessern. Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, daßals Kinder geschlagen wurden, daß sich das Übel der heute nahezu die Hälfte der erstinstanzlichen UrteileGewalt vererbt und daß wir damit Schluß machen müs- auch dann, wenn sie grob falsch sein sollten, gar nichtsen. Das ist ein Teil der praktischen Prävention, die wir mehr korrigiert werden können. Das ärgert die Bürger. brauchen. (B) Das führt unter anderem auch dazu, daß das Bundesver- (D) fassungsgericht im Einzelfall als Instanzersatz miß- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE braucht wird, und dessen Arbeit, also die Arbeit der Ver- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- fassungsrichterinnen und Verfassungsrichter, brauchen neten der F.D.P.) wir wahrhaftig an anderer Stelle. Wir werden auch den Schutz von Kindern und den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Schutz von geschlagenen Frauen durchsetzen. Hier gilt 90/DIE GRÜNEN) der Grundsatz: Der Schläger geht, und die Geschlagene bleibt, wenn es um die Wohnungszuweisung geht. Was wir in der Tat nicht wollen, meine Damen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herren, ist, kleine Einheiten bei den Gerichten zu zer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der schlagen. Das kommt nicht in Frage. Ich bin der Auffas- PDS) sung: Kleine Einheiten – das zeigen die Untersuchun- gen – sind effizienter als die großen. Wir alle wissen,Gewalt gegen Ältere, Gewalt gegen Behinderte, Gewalt daß die Länder diejenigen sind, die darüber bestimmen, gegen Minderheiten werden wir bekämpfen, und dazu ob es kleinere oder größere Einheiten gibt. Ich will Sie fordern wir auch Sie ausdrücklich auf. deswegen, meine Damen und Herren aus den Reihen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU-Opposition, für den Fall, daß Sie das ernst des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der meinen, nur davor warnen, daß der Vorwurf des Zentra- F.D.P. und der PDS) lismus hier auf Ihre Länder zurückfiele und daß er mit unseren Reformvorstellungen etwa soviel zu tun hat wie Lassen Sie mich dazu noch ein kleines Beispiel bringen: eine Lokomotive mit einem Taschentuch, nämlich gar Kein Mensch versteht, warum eine Vergewaltigung, die nichts. doch noch viel verwerflicher ist, wenn sie an einer Frau begangen wird, die geistig behindert ist, nach unserem (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Norbert Strafrecht geringer bestraft werden soll. Das müssen wir Geis [CDU/CSU]: Wir werden sehen!) ändern. Übrigens, verehrter Herr Geis, eine Kommission (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE werden wir auch nicht einsetzen, GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben Sie doch selber immer wieder gefordert!) Wir haben das schon häufiger angemahnt. Das muß sein. 246 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) Ich werde heute zu der Frage kurzer Freiheitsstrafen, Paß nicht weiter verwehren“ –, das alte Staatsbürger-(C) des Sanktionensystems und etwa zu Fragen der europäi- schaftsrecht und die damit einhergehende Einbürge- schen Justizzusammenarbeit nichts mehr sagen, obwohl rungspraxis habe irgend jemandem etwas verwehrt. auch diese Punkte extrem wichtig und Reformen not- wendig sind. Ich denke, wir werden in den kommenden (Jörg Tauss [SPD]: Wie viele Beispiele wollen vier Jahren eine Menge miteinander zu diskutieren ha- Sie denn?) ben. Wir werden Ihnen zunächst einige Vorschläge vor- Wir beziehen uns ja entscheidend auf die Einbürge- legen, wie das im einzelnen genau aussehen soll. Im üb- rung der Türken in Deutschland. Ich rate Ihnen drin- rigen halten wir es mit Gustav Radbruch, der die Arbeit gend: Gehen Sie einmal der Frage nach, welche Rechte von Rechtspolitikern einmal mit einer Bauhütte vergli- die 50 000 Deutschen, insbesondere die Frauen, in der chen hat. Sie gibt es, wie wir wissen, an Domen und an- Türkei haben. Was haben sie für Erbrechte, was für deren großartigen Bauwerken. Ihre Arbeit hört nie auf; Bürgerrechte, welche Chancen haben sie im Fall des sie haben die spezielle Aufgabe, zu erhalten und zu er- Ablebens des türkischen Ehepartners? – Dann reden wir neuern. Bei uns, in der Bauhütte des Rechts, in dernoch einmal über Integration von Minderheiten in unse- Rechtspolitik, die wir vorhaben, ist Erneuerung ange-rem Lande. sagt. Dazu bitte ich um Ihre Unterstützung. Meine Damen und Herren, die Frau Ausländerbeauf- Herzlichen Dank. tragte hat hier und heute den Begriff der „Unumkehr- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS barkeit der Zuwanderung“ gebraucht. Im Zusammen- 90/DIE GRÜNEN und der PDS) hang damit wurde mit keiner Silbe auf die Rückkehr von Bürgerkriegsflüchtlingen eingegangen; weder in der Koalitionsvereinbarung noch in sonstigen Erklärungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der neuen Regierung findet sich dazu etwas. Wer wie jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann. Sie angesichts von 7,3 Millionen Ausländern in diesem Lande davon spricht, man müsse nun die Tore öffnen, ist, so glaube ich, auf einem falschen Weg, letztlich auf Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Frau Präsiden- dem Weg in eine andere Republik. Sie tun so, als ob der tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bun- Paß nur Integrationsmittel ist. Er kann hilfreich sein, desinnenminister Schily, Ihr Wunsch in Ehren, daß Sie wenn er am Ende des Integrationsprozesses gewährt viele Themen der Innenpolitik im Konsens angehenwird. Aber wenn man so tut, als liege in der Verweige- wollen. Ich möchte für unsere Seite die grundsätzliche rung des Passes der Casus knacktus für mangelnde Inte- Bereitschaft zum Gespräch signalisieren. Aber ich füge gration, dann liegt man mit Sicherheit falsch. (B) hinzu: Wir haben sehr viele Vorbehalte angesichts der (D) diesbezüglichen Koalitionsvereinbarungen und Ihrer er- Meine Damen und Herren, ich will noch ein paar sten Äußerungen in der Öffentlichkeit. Punkte aus der Rechtspolitik aufnehmen; zunächst – Herr Rüttgers hat es bereits erwähnt – zur Leitlinie der Wenn ich an Ihre Erklärung denke, die Sie hier zurKoalitionsvereinbarung, Alltagskriminalität „bürokra- Frage der Überwachung der PDS abgegeben haben,tiearm“ zu bestrafen. Allein die Wortwahl „Alltagskri- dann meine ich: Da werden Sie wohl kaum auf Zustim- minalität“ ist schon bedenklich, ähnlich wie der Begriff mung von uns rechnen können. Dies ist mehr „Bagatelldelikt“. als schwach. Sie argumentieren, es ist vertrackt, daß man jemanden überwacht, der in einem Land Teil einer Re- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das gierungskoalition ist. Es leuchtet mir überhaupt nicht stimmt!) ein, was Sie damit erreichen wollen. Es gab in der Presse Berichte, Sie wollten den Laden- Das gleiche gilt für Ihren Vorschlag, man könne hier dieb dadurch strafen, daß Sie ihm den doppelten Wa- im Parlament Fragen stellen. Sie tun so, als sei die Kon- renwert als Strafe abverlangen. Damit reduzieren Sie die trolle durch ein Verfassungsschutzorgan durch Fragen Abschreckung und schaffen nur Anreize: Wenn Sie sol- im Parlament zu ersetzen – als gäbe es irgendeinenche Wege beschreiten, wird Ladendiebstahl zum Rou- Dummen, der auf irgendwelche Fragen so antwortenlettespiel. Ich glaube, daß Sie ohne die Abschreckung würde, daß er sich mit seinen Antworten selbst in Ver- einer wirklichen Strafe keinen Erfolg haben werden. dacht bringt. Es heißt darüber hinaus, Drogenkonsum und Drogen- (Zuruf von der SPD: Nicht alles verdrehen, besitz werden künftig straffrei gestellt. Damit geben Sie Herr Zeitlmann!) Anreiz zum Konsum. Sie erreichen mitstaatlicher He- roinabgabe nur eines: daß die Abhängigen in ihrer Ich halte dies für einen völlig falschen Ansatz. Sucht gestärkt werden. Auch im Ausland hat man be- wiesen, daß nicht alle Abhängigen in ein kontrolliertes Herr Kollege Westerwelle, einen Hinweis möchte ich Programm einbezogen werden können. Das wird andere Ihnen schon geben: Sie können ja glauben, daß diejeni- Wege der Beschaffung – mit der Folge steigender Kri- gen, die F.D.P. wählten, damit auch die Frage der minalität – öffnen. Staatsangehörigkeit entschieden haben. Aber jeder weiß, es gab auch andere entscheidende Kriterien. Ich Die Kinder- und Jugendkriminalität braucht eine finde es nicht redlich, wenn hier der Eindruck erweckt starke Prävention und eine konsequente Verfolgung. Da- wird – Sie haben formuliert, man dürfe „den deutschen für sind in der Jugendsozialarbeit viele Modellprojekte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 247

Wolfgang Zeitlmann (A) der Prävention notwendig, wie sie z. B. in Bayern an den Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands wird überstrapa-(C) Schulen gemacht werden. ziert. Wir haben Schulklassen mit einem Ausländeranteil von 50 Prozent, zum Teil von 90 Prozent. Ich freue mich, daß Sie die Sicherheitspartnerschaf- ten fördern wollen. Ich halte das für einen richtigen (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was schließen Sie Weg. Aber Sie dürfen nicht darin fortfahren, die Klein- daraus, Herr Zeitlmann?) kriminalität, die immer am Anfang steht, kleinzureden, und Sie dürfen die Abschreckung durch Strafe, ein Ele- All dies wird hier negiert. Sie arbeiten – das sage ich in ment der Prävention, nicht negieren. aller Deutlichkeit – gegen die Bevölkerung und ihre Meinungsbildung. Meine Damen und Herren, ein Wort fehlt in den bis- herigen Akten zur Koalitionsvereinbarung: Mit keinem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wort mehr ist von Ausländerkriminalität die Rede. Dies kann man bedauern. Aber es ist im Sinne der neuen Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall ist mit Bundesregierung logisch. Denn Ihre Pläne zurdoppel- Sicherheit der falsche Ansatz. Damit negiere ich nicht, ten Staatsangehörigkeit haben deutlich gemacht, daß daß es in der Praxis derzeit viele funktionierende Fälle Sie von einer großen Einbürgerungswelle ausgehen, daß der Doppelstaatsangehörigkeit gibt. Sie letztlich Millionen von Menschen – denkt man an (Norbert Geis [CDU/CSU]: 500 000!) die Jugendlichen – die deutsche Staatsbürgerschaft auf- drängen wollen. – Ja, 500 000 mögen es sein. – Wie man dies als Argu- ment für die Einführung der Regeldoppelstaatsangehö- (Lachen bei der SPD) rigkeit bringen kann, ist mir schleierhaft. Was machen Sie in den Fällen – das steht mit keiner Meine Damen und Herren, ein Punkt ist allerdings Silbe in dem Gesetzentwurf –, in denen Eltern diese mehr als bedenklich. In Ihrer Koalitionsvereinbarung Staatsangehörigkeit gar nicht wollen? sagen Sie expressis verbis, Sie wollen den Rechtsextre- (Jörg Tauss [SPD]: Ein bißchen mehr Niveau!) mismus bekämpfen. Mit keiner Silbe sprechen Sie mehr vom Linksextremismus. Sie negieren, daß es eine breite Integrationsleistung der deutschen Bevölkerung gegeben hat und daß zum Inte- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr grieren der Wille der Ausländer gehört, die integriert wahr!) werden sollen. Der wird einfach totgeschwiegen. Im Gegenteil: Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollen die PDS sogar aus der Beobachtung nehmen. (B) Wenn ich auf diesen Willen abstelle, muß ich sagen, daß (Beifall bei Abgeordneten der PDS) (D) Aufenthaltsdauer und Geburtsort nicht der maßgebende Anknüpfungspunkt sind. Die Regelung, die Sie im Bereich der Zuwanderung Der Innenminister hat hier gesagt, daß Sprachkennt- treffen – eine neue Altfallregelung –, steht extrem im nisse der Einzubürgernden selbstverständlich sind, daß Widerspruch zu dem, was wir auf der letzten Innenmini- er aber dagegen ist, das in das Gesetz hineinzuschreiben. sterkonferenz gemeinsam getragen und gemeinsam als Wie wollen Sie dann die Sprachkenntnisse einbeziehen? letzte Altfallregelung festgehalten haben. Hier wird eine Wo ist Ihr Konzept, um die dann entstehenden Loyali- neue zusätzliche Instanz im Asyl- und Flüchtlingswesen tätskonflikte zu lösen? eingeführt: Härtefallregelung. Es läuft letztlich auf die Härtefallkommissionen des Landes NRW hinaus – (Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!) eine weitere Instanz. Das heißt im Ergebnis: eine weitere staatliche Ebene zur Prüfung von Zuwanderung. Sie Wer zwei Pässe hat, hat natürlich zwei Möglichkei- belohnen durch Altfallregelungen letztlich die ganz Raf- ten. finierten, die nach Ablehnung untertauchen. Ich halte (Norbert Geis [CDU/CSU]: Der integriert sich dies für eine komplette Fehlentwicklung. dann nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Er kann wirklich – wie Herr Schäuble gesagt hat – Rosi- nen picken. Es gibt genügend praktische Fälle, die das Meine Damen und Herren, der letzte Punkt betrifft zeigen; es gibt genügend Menschen, die sich darauf be- die eingetragene Lebenspartnerschaft. Ich glaube, rufen. Frau Ministerin, daß das bei weitem kein europäischer Standard ist. Selbst in Frankreich wird derzeit heftig Wie lösen Sie denFamiliennachzug bei Doppel- darüber gestritten. Sie haben ja mitbekommen, daß es staatlern? Jetzt beginnt in der Wissenschaft eine breite dort bisher an einer parlamentarischen Mehrheit für die Diskussion darüber, wie groß die Zuwanderung bei einer eingetragene Lebenspartnerschaft fehlt. Doppelstaatlichkeit von derzeitigen Ausländerfamilien sein wird. Ich kann mir nicht erklären, wie Sie erreichen wollen, daß heterosexuelle Partnerschaften diese neue Institution Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen voraus: Mit nicht nutzen werden. Sie bekommen dann logischerwei- den geplanten Gesetzen wird Deutschland als Zuwande- se zwei Ebenen: eine, wenn Sie so wollen, halbe Ehe rungsland attraktiver. Sie erreichen eine Sogwirkung. und eine Ehe und dazwischen die Verfassung. Dann aber (Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!) gegen Adoption zu sein ist genauso unlogisch. Entweder 248 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Wolfgang Zeitlmann (A) – oder. Deswegen halte ich die gesamte Regelung der Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (C) Lebenspartnerschaft für mehr als bedenklich. Zeitlmann, auch ich komme aus Bayern. Zu meinem größten Bedauern muß ich leider feststellen, daß den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schwächer strukturierten Gebieten Bayerns entgangen zu Meine Damen und Herren, 70 Prozent der in Europa sein scheint, daß das türkische Staatsrecht immer noch Lebenden haben keine solche Regelung. Wieso Sie inin der Türkei abgestimmt wird und nicht in Deutschland. Europa Vorreiter sein und eine europäische RegelungWir sind hier im Deutschen Bundestag, und wir machen einführen wollen und sich dabei auf Standards in Europa hier die deutschen Gesetze und nicht die in der Türkei. berufen, ist mir unerklärlich. Daher verstehe ich nicht, daß Sie ausgerechnet das als Beispiel anführen. Wer wie die Frau Ausländerbeauftragte Beck hier von der Unumkehrbarkeit der Zuwanderung spricht und Zu Ihrem Spruch, die Staatsbürgerschaft stehe am offensichtlich keinen Beauftragten für die Rückführung Ende der Integration, möchte ich anmerken, daß Ihnen der Bosnienflüchtlinge ernennen will, der lädt zu noch da etwas entgangen zu sein scheint. doppelte Die mehr Zuwanderung und zu noch mehr Attraktivität ein. Staatsbürgerschaft kann nur der Anfang der Integra- tion in Deutschland sein, in der Situation, wie wir sie zur (Widerspruch der Abg. Marieluise Beck Zeit vorfinden. Die doppelte Staatsbürgerschaft kann nur [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) eine Brücke zur Integration sein. Diese Brücke brauchen die Menschen. – Dann müssen Sie, Frau Beck, abgewogener formulie- ren. Sie haben hier von der Unumkehrbarkeit der Zu- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Viele wollen nicht wanderung gesprochen, die Sie erreichen wollen. Dies über die Brücke gehen!) ist der falsche Weg. – Es gibt durchaus Menschen, die solche Brücken nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) brauchen. Ich habe nur den deutschen Paß, und mir ge- nügt das auch. Aber es gibt nun einmal Menschen, die Wir sind in der Tat der Meinung, daß Bürgerkriegs- auch andere Gefühle und Bindungen haben, die wir be- flüchtlinge nur auf Zeit hier sein sollen und nach Ende achten müssen. Zum guten Ton der Politik gehört auch ihres Bürgerkriegs eine Rückführung ermöglicht unddie Art und Weise, wie man auf die Gefühle der Men- durchgesetzt werden muß. Mit keiner Silbe ist bisher auf schen eingeht und nicht nur auf irgendwelche statisti- dieses Thema in diesem Hause eingegangen worden.schen Zahlen. Deswegen fürchte ich, daß in der Innen- und Rechts- politik eine andere Republik auf uns zukommt, die wir (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie müssen lo- in der Opposition mit Ihnen mit Sicherheit nicht wollen gisch bleiben!) (B) (D) und auch nicht mittragen werden. Ihren Spruch, Deutschland sei kein Zuwanderungs- Herzlichen Dank! land, verstehe ich nicht. Ich habe bereits im Wahlkampf nicht verstanden, warum Sie sich mit solchen Sachen (Beifall bei der CDU/CSU) aufhalten. Es geht nun einmal um eine Tatsache. Sie müssen sich nur die Zahlen ansehen, um zu erkennen, daß Deutschland längst ein Zuwanderungsland ist. Wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurz- können uns noch einmal fünf Stunden darüber unterhal- intervention erteile ich dem Abgeordneten Westerwelle ten. Das würde uns alle nicht weiterbringen. Wichtig das Wort. aber ist nicht, was Sie sagen, sondern wichtig ist, was de facto stattfindet und wie wir mit diesen Tatsachen um- gehen. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin! Herr Kollege Zeitlmann, Sie haben mich selber ange- Ich komme zu Ihren Bedenken bezüglich der Loyali- sprochen. Ich habe mich noch einmal kurz zu Wort ge- tät. Ich denke, es ist nicht wichtig, loyal zu irgendeinem meldet, weil Sie mir die Empfehlung gegeben haben, ich Land zu sein. Wenn es darauf ankommt, dann steht im möge mich doch einmal über das Staatsangehörigkeits- Vordergrund die Loyalität zu einer Verfassung. Ich kann recht in der Türkei informieren. Ihnen zusichern, daß die Migrantinnen und Migranten, die hier in Deutschland aufwachsen und hier leben, diese Natürlich weiß ich, wie die Rechte der Deutschen und Loyalität längst zeigen und auch vorweisen, nämlich die die Rechte von Ausländern in der Türkei sind. Aber ich Loyalität zu unserer demokratischen Verfassung. bin nicht für die Modernisierung des Staatsangehörig- keitsrechts in Deutschland, um der Türkei einen Gefal- Auf Grund dessen kann es passieren, daß so ein len zu tun, sondern um unserer deutschen Gesellschaft Mensch wie ich heute hier an diesem Mikrofon stehen einen Gefallen zu tun. und reden kann. Anders würde es nämlich gar nicht ge- hen. (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ebenfalls das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Ekin Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Deligöz. Danach können Sie antworten, Herr Zeitlmann. Zeitlmann. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 249

(A) Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Wester- Diskussion um die Kabinettszuschnitte in den Ländern(C) welle, ich möchte Sie nur auf etwas hinweisen: Ich be- bleibt. finde mich hier im deutschen Parlament und fühle mich Wir wollen den Rechtsstaat erneuern und ihm neue auch für die deutschen Mitbürger in der Türkei verant- wortlich. Deswegen will ich auch im Interesse der deut- Kraft geben. Rechtspolitik soll nicht länger rein techno- kratisch begriffen werden. Das Justizministerium soll schen Bevölkerung klar sagen: Solange es ein mit uns wieder deutlich mehr sein als nur das Notariat der Bun- befreundetes Land gibt, das die Minderheitenrechte so traktiert wie die Türkei, glaube ich, daß es in der deut- desregierung. schen Öffentlichkeit schon eine höhere Akzeptanz gäbe, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wenn wir einen Gleichschritt zwischen dem wagen wür- Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da hat er recht!) den, was die Türkei den Deutschen in der Türkei ge- stattet, und dem, was wir gestatten. Es geht nicht darum, lediglich Paragraphen zu verwal- ten, sondern gesellschaftliche Entwicklungen aufzuneh- Ich will damit nicht hinter die jetzige Rechtslage zu- men und rechtlich zu gestalten. rück, aber ich meine: Man kann den Fortschritt in der Einbürgerung in der Vergangenheit nicht negieren; da Wir streben eine neue politische Kultur an, wir wol- gab es Fortschritte. Aber es gab umgekehrt in der Türkei len Beteiligung, Kritik und Einmischung. Wir wollen le- nur relativ wenige Fortschritte für die deutsche Minder- bendige Demokratie und den ernsthaften Dialog mit al- heit. Dies kann man nicht negieren. len gesellschaftlichen Gruppen. Deshalb finden Sie im Koalitionsvertrag mehrere Bündnisangebote in die Ge- Frau Kollegin, Sie hätten mich völlig falsch verstan- sellschaft: für eine zivile Gesellschaft, gegen eine Kultur den, wenn Sie glauben, daß ich gegen eine Einbürgerung der Gewalt, für Integration, gegen Ausgrenzung, für von Ausländern bin. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Demokratie und Toleranz und gegen Extremismus und Wir haben in der Vergangenheit zahlreiche Liberalisie- Gewalt. rungen, beispielsweise bei den Gebühren und den Fri- sten der Einbürgerung, eingeführt. Sie können aber nicht Unsere Dialogfähigkeit werden wir auch bei der an- negieren, daß die doppelte Staatsangehörigkeit letztlich gestrebten Justizreform unter Beweis stellen. Wir wol- Loyalitätskonflikte zur Folge hat. Das ist unbestreitbar, len die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzun- dazu gibt es viele Beispiele. gen für eine bürgernahe und bürgerfreundliche Justiz schaffen. Der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zum Ich habe vor mir das Schreiben eines SchulrektorsRecht soll vereinfacht und die Verfahren sollen transpa- liegen, der davon berichtet, daß ein türkisches Elternpaar renter werden. Wir wollen das mit einer Stärkung der 22 Jahre lang in Deutschland lebt und sich bis heuteEingangsinstanz und einer Schaffung der Dreistufigkeit weigert, irgendein Wort Deutsch zu sprechen, erreichen, ge- die jedoch bei der rechtsstaatlichen Qualität (B) (D) schweige denn zu lernen. Nach Ihren Definitionen der keine Abstriche machen darf. Frist werden Sie diese Menschen einbürgern. Das will ich nicht. Ich will eine Einbürgerung der Integrations- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES willigen, aber nicht der Integrationsunwilligen. 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Die frühzeitige Einbeziehung der Länder und der be- troffenen Berufsverbände in diese Diskussion ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Wir wollen auch die Chance Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ergreifen, eine Wende in der Kriminalpolitik einzuleiten. jetzt der Abgeordnete Volker Beck. Es ist an der Zeit, dem BegriffPrävention endlich Le- ben einzuhauchen. Deshalb bin ich für die Worte des Bundeskanzlers dankbar, der gesagt hat, wir wollen Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht nur hart gegen das Verbrechen, sondern auch hart Herr Zeitlmann, bei dem Wettbewerb um das rück-gegen die Ursachen von Kriminalität sein. Das ist ganz schrittlichste Staatsbürgerschaftsrecht auf dieser Weltentscheidend. bietet diese Koalition und diese Bundesregierung ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fach nicht mit. Wir wollen die Türkei mit auf den Weg und bei der SPD) nach Europa zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Modernität nehmen. Viel zu lange wurden Rechtsstaatlichkeit und effizi- ente Kriminalpolitik polemisch als Gegensatzpaar auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gebaut. Das ist grundfalsch; denn Rechtsstaat, Gerech- sowie bei Abgeordneten der SPD und der tigkeit und ein effizienter Schutz gegen das Verbrechen PDS) gehören zusammen und widersprechen sich nicht. Bei Wir orientieren uns deshalb nicht an deren Rechtsstan- einer rational betriebenen Kriminalpolitik, wie sie auch dards, sondern wollen sie einladen, sich an den unseren der Bundesinnenminister vorgeschlagen hat, und mit ei- zu orientieren. nem Sicherheitsbericht, der uns schlauer macht, wie wir eine solche Politik gestalten können, haben Sie uns auf Die Rechtspolitik hat in den letzten Jahren hier imIhrer Seite. Hause ein Schattendasein gefristet. „Nur nicht auffallen“ war die Devise. Rotgrün gibt dieser Rechtspolitik jetzt Wir werden auch das Projekt derSanktionenrechts- nicht nur ein neues Gesicht, sondern auch ein neuesreform unterstützen, weil wir meinen, daß es hier einen Gewicht. Ich hoffe, daß das nicht ohne Folgen für dieerheblichen Modernisierungsbedarf gibt. Mit Geld- und 250 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Volker Beck (Köln) (A) Freiheitsstrafen werden wir den Ansprüchen an ein mo- CDU/CSU haben deshalb schon vorsorglich den Unter- (C) dernes Strafrecht nicht gerecht. Wir entsozialisieren die gang des Abendlandes ausgerufen. Heute gab es ja auch Täter auf Dauer. Durch Kurzzeitstrafen verlieren sie Ar- einige sehr lustige Beiträge zu dieser Frage. Ich kann Sie beitsplatz und Wohnung auf Dauer. Wir wollen einnur fragen, meine Damen und Herren: Geht's nicht auch Sanktionsrecht, das die Resozialisierung gerade im Be- ein bißchen weniger schrill? reich der kleineren und mittleren Kriminalität stärker (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betont, auch durch den Täter-Opfer-Ausgleich und durch sowie bei Abgeordneten der SPD) die Einführung von gemeinnützigen Arbeiten als neuer Sanktionsform. Darüber werden wir im nächsten Jahr si- Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Wenn wir cherlich auch mit Ihnen von der Opposition streiten. Wie homosexuellen Paare gleiche Rechte und Pflichten ver- man sieht, sind Ihre Reihen auch beim Thema der All- schaffen, dann nehmen wir doch damit niemandem et- tagskriminalität nicht so geschlossen. Herr Scholz hatwas weg. Warum sollte dadurch die Ehe herabgewürdigt unseren Vorschlag zurdoppelten Schadenswieder- oder gar gefährdet werden? Das ist doch blanker Unsinn. gutmachung beim Ladendiebstahl aufgegriffen. Dar- über können Sie mit uns reden. Es geht nicht um Ent- (Beifall der Abg. Dr. Heidi Knake-Werner kriminalisierung; vielmehr geht es um eine vernünftige [PDS]) Ahndung von Vergehen. Es geht darum, daß wir endlich zur Kenntnis nehmen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auch in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften sowie bei Abgeordneten der SPD) wird füreinander Verantwortung übernommen, wird zu- einander gestanden und werden familiäre Leistungen er- Wir wollen die Stellung von Opfern bei Straftatenbracht. Das muß der Staat anerkennen. 62 Prozent der stärken. Die Interessen der Opfer wurden in der Vergan- Bevölkerung tun es ohnehin schon. Dies haben sie in genheit immer nur dann herangezogen, wenn es darum einer Meinungsumfrage zum Ausdruck gebracht. ging, Einschränkungen der Bürgerrechte verdächtiger erscheinen zu lassen. Diese Instrumentalisierung von Zum Schluß will ich Ihnen noch einen interessanten Opferinteressen wird es mit unserer BundesregierungSatz aus dem „Spiegel“ vorlesen, der in den letzten Wo- nicht geben. Wir werden den Opferschutz in vielen Be- chen unsere neue Regierung nicht gerade immer mit Lob reichen ausbauen. Wir werden Schutzkonzepte gegenüberschüttet hat: Gewalt im sozialen Nahraum entwickeln, die Wieder- Die Koalitionsvereinbarungen über doppelte Staats- gutmachung stärken, den Täter-Opfer-Ausgleich aus- bürgerschaft und die Gleichstellung von homo- bauen und die Subjektstellung der Opfer im Strafverfah- sexuellen Lebensgemeinschaften beweisen, daß die ren stärker hervorheben. Regierungspartner den Weg zurück zum Bürger (B) Rotgrün stellt sich den Herausforderungen der Zu- schon eingeschlagen haben. (D) kunft. Wir vergessen aber auch nicht die Verpflichtun- Genauso ist es; genau dort wollen wir hin, zur Bürgerin gen aus der Vergangenheit. Wir werden für die Verbes- und zum Bürger. serung der Rehabilitierung und Entschädigung von Op- fern des Nationalsozialismus sorgen. Wir wollen, daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Diskussion über das Holocaust-Mahnmal im Bun- sowie bei Abgeordneten der SPD) destag geführt wird. Das ist keine Frage der Exekutive. Deshalb ein letzter Satz: All diese Reformprojekte – Hier ist der Ort, wo diese Frage entschieden werden muß und wo man sich der Geschichte stellt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das war jetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon der letzte Satz. sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir ziehen die Lehren aus der Vergangenheit. Der Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kanzler hat in seiner Regierungserklärung wie Sie, Frau – werden unser Land verändern. Es wird offener und Ministerin, die Funktion des Rechts als Schutz für die toleranter werden. Rechtspolitisch ist Rotgrün auf einem Schwächeren betont. Deshalb will die Koalition auch guten Weg, endlich den Anschluß an die europäische Minderheiten besser schützen. Wir werden ein Gesetz Moderne zu finden. gegen Diskriminierung auf den Weg bringen und klar- stellen, daß niemand auf Grund seiner Behinderung, sei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner ethnischen Zuge- und bei der SPD) hörigkeit oder seiner sexuellen Orientierung diskrimi- niert werden darf. Das ist kein deutscher Sonderweg. In vielen Ländern Europas gibt es Gesetze gegenDiskri- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat minierung von Minderheiten. An diesen guten euro- jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy. päischen Standard wollen wir endlich anschließen. Wir werden auchgleichgeschlechtliche Lebensge- Sebastian Edathy (SPD): Frau Präsidentin! Meine meinschaften endlich rechtlich anerkennen. Es wirdDamen und Herren! „Die Bundesregierung wird eine die Möglichkeit der amtlichen Eintragung geschaffen. umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vor- Schwule und lesbische Paare werden vom Staat offiziell nehmen.“ Dieser Satz ist Bestandteil einer Koalitions- und rechtlich anerkannt. Manche Kollegen von dervereinbarung, die fast auf den Tag genau vor vier Jahren Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 251

Sebastian Edathy (A) von den Kollegen Kohl, Waigel und Kinkel unterzeich- Deutschland. Viel zu lange war eine Mehrheit in diesem (C) net wurde. Einer von ihnen sitzt hier. Hause nicht dazu bereit, die Lebenswirklichkeit in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Zu dieser Le- (Zuruf von der CDU/CSU: Zwei!) benswirklichkeit gehört nun einmal, daß es Millionen Zwei sogar? Um so besser; neuerdings in neuervon Mitbürgerinnen und Mitbürgern gibt, die dauerhaft Funktion. in Deutschland leben, ohne die deutscheStaatsangehö- rigkeit zu besitzen. Das sind Menschen, die in Ich habe die Debatte über die RegierungserklärungDeutschland arbeiten, die Steuern und Sozialabgaben des Bundeskanzlers in den vergangenen Tagen sehrzahlen und die Teil unserer Gesellschaft sind. Es muß aufmerksam verfolgt. Gewiß hatte und hat manchesim Interesse aller Demokraten liegen, diese Menschen scharfe Wort, das aus den Reihen der Opposition an die besser als bisher in unser Gemeinwesen zu integrieren. Regierung gerichtet wurde, etwas damit zu tun, daß Sie, meine Damen und Herren, zum Teil Ihre neue Rolle (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch nicht so recht gefunden haben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der PDS und des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Auf Dauer verträgt es unser Land nicht, wenn große Teile der Bevölkerung von wesentlichen Mitteln demo- Ich halte das übrigens für durchaus nachvollziehbar. kratischer Teilhabe ausgeschlossen bleiben und damit Für nicht nachvollziehbar halte ich allerdings, woher gewissermaßen Bürger zweiter Klasse sind. Sie, meine Damen und Herren auf der rechten Seite des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mittelgangs sofern man angesichts Ihrer geschrumpften Reihen noch von einem Mittelgang sprechen kann – – Ich hoffe sehr und habe die große Bitte, daß wir bei der künftigen Debatte über Änderungen im Staatsbür- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gerschaftsrecht – ein Staatsbürgerschaftsrecht, das der Drittelgang!) Wirklichkeit in diesem Lande gerechter werden muß – – Ich höre gerade das Wort Drittelgang. Ich denke, wenn auf eines verzichten, nämlich auf die ideologische Be- Sie so weitermachen, wird es in vier Jahren so sein, daß frachtung des Themas. Sie noch ein wenig enger zusammenrücken dürfen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das rate ich Ih- (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ nen sehr! – Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Da brauchen Auf beiden Seiten!) Sie sich keine Sorgen machen!) Auf jeden Fall; da haben Sie recht, Herr Westerwelle. (B) – Warten wir es ab! (D) Wer die Realität nicht wahrhaben will, tut sich selbst, (Zuruf von der SPD: Die rücken nicht zusam- vor allem aber den Menschen – allen Menschen, die in men!) diesem Land leben – keinen Gefallen. Die schrumpfen, rücken aber nicht zusammen, das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stimmt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Woher Sie die Kühnheit nehmen, einer Regierung, die gerade einmal zwei Wochen im Amt ist, Vorhaltun- Wer nicht sehen will, was ist, begibt sich in einen Zu- gen über angeblich nicht erfüllte Versprechungen zustand der Handlungsunfähigkeit. Jeder, der eine gedeih- machen, kann ich mir nicht erklären. liche gemeinsame Zukunft der Menschen in diesem Land will, tut gut daran, die Dinge so zu sehen, wie sie (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wie lange sind. Es ist nicht eine Frage der Wahrnehmung, sondern sind Sie denn in diesem Parlament?) eine Tatsache, daß es einen unumkehrbaren Zuwande- Wer nämlich in der Zeit der eigenen Regierungsverant- rungsprozeß gegeben hat, und es ist nicht eine Frage der wortung nachweislich nicht dazu in der Lage oder nicht Wahrnehmung, sondern eine Tatsache, daß dieser Zu- willens war, eigene Beschlüsse in die Tat umzusetzen, wanderungsprozeß Folgen hatte und hat – eine davon sollte an dieser Stelle allemal etwas bescheidener auf- steht übrigens heute vor Ihnen. treten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Erwin Marschewski [CDU/ CSU]: Das würde ich an Ihrer Stelle auch tun!) Wenn wir im Koalitionsvertrag nun klare Schritte in Richtung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechtes – Sie sind aber nicht an meiner Stelle. vereinbart haben, dann haben wir das getan, weil die Zeit reif dafür ist, im Interesse des inneren Zusammen- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) haltes dieses Landes endlich auch gesetzgeberisch Die Wählerinnen und Wähler haben sich Schlußfolgerungen am aus der Realität zu ziehen. Es wäre 27. September dieses Jahres für ein Ende des politischen schlicht absurd, wenn wir heute, da die Nachfahren der Stillstandes in unserem Land entschieden. Das gilt auch Einwanderer von einst bereits in dritter und vierter Ge- für die Innenpolitik und insbesondere für die Frage der neration hier heranwachsen, weiter daran festhielten, sie Zukunft des Miteinanders in der Bundesrepublikals Ausländer zu behandeln. Sie sind im Grunde keine 252 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Sebastian Edathy (A) Ausländer, und künftig werden sie es auch formal nicht mit Beifall zu Ihrer ersten Rede schon gratuliert. Auch(C) sein. ich gratuliere Ihnen; das ist hier so Brauch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Mit Ihnen möchte ich auch alle anderen Jungfernred- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ner bitten, ein bißchen auf die Zeit zu achten. Wir sind in dieser Hinsicht ziemlich eingeschränkt. Es gibt da Wir werden die Grundlage dafür schaffen, daß Kinder vorne ein Zeichen, an dem man sehen kann, daß die Zeit ausländischer Eltern mit derGeburt in Deutschland grundsätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, abgelaufen ist. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Auch wenn sie es (Jörg Tauss [SPD]: Unsere Zeit ist nicht ab- nicht wollen!) gelaufen!) unter Bedingungen, die wir im Koalitionsvertrag fest- Ich erteile als nächstem Redner dem Abgeordneten gelegt haben. Das ist ein überaus wichtiger und längstNorbert Lammert das Wort. überfälliger Schritt. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Frau Präsiden- Zugleich wollen wir, daß unter der Voraussetzungtin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neue Bundes- von Unterhaltsfähigkeit und Straflosigkeit einenEin- regierung hat zur Bündelung der kulturpolitischen Kom- bürgerungsanspruch erhält, wer als Ausländerin oder petenzen des Bundes das Amt eines Staatsministers für Ausländer rechtmäßig mindestens seit acht Jahren inkulturelle Angelegenheiten als besonderen Beauftragten Deutschland lebt. Dabei wollen wir bewußt darauf ver- des Bundeskanzlers eingerichtet. zichten, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sehr von der Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft ab- richtig!) hängig zu machen. Er soll laut Regierungserklärung – ich zitiere – Richard von Weizsäcker – ein Herr, auf den Sie möglicherweise hören – hat in seiner Zeit als Bundes- Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kultur- präsident vor sechs Jahren dazu klare Worte gefunden – politik des Bundes sein und sich auf internationaler, ich zitiere ihn –: aber vor allem auf europäischer Ebene als Interes- senvertreter der deutschen Kultur verstehen. Würden wir denen, die es wünschen, den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtern, und (Beifall bei der SPD) sei es neben ihrer bisherigen, dann würden wir ihre Dafür gibt es durchaus beachtliche Argumente. Lebenslage verbessern und unser Zusammenleben fördern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die meisten sind allerdings nicht einmal neu. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Bislang ist diese Ankündigung die einzige konkrete F.D.P. und der PDS) Absicht bzw. Initiative der neuen Bundesregierung in Genau darum geht es: die Lebenslage der Betroffenen zu diesem Bereich geblieben. Damit verbunden ist die seit verbessern und unser gemeinsames Zusammenleben zu Wochen medienwirksam angekündigte dringliche Be- fördern. förderung dieses Beauftragten des Bundeskanzlers zum leibhaftigen Staatsminister, die nur durch eine förmliche Ich muß zum Schluß kommen. Ich habe die herzliche Änderung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Bitte, daß wir in diesem Sinne gemeinsam bei denParlamentarischen Staatssekretäre möglich ist. Daß dies kommenden Beratungen über die Änderung des Staats- der dringlichste Beitrag zur Förderung von Kunst und angehörigkeitsrechts konstruktiv zusammenarbeiten. Kultur in Deutschland sei, glauben wir allerdings nicht. „Die Bundesregierung wird eine umfassende Reform (Beifall bei der CDU/CSU) des Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen.“ Liebe Kol- leginnen und Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., das Ich möchte zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit in ist ein Satz von Ihnen, der vier Jahre alt ist. Es ist jetzt diesem Aufgabenbereich einige wenige orientierende Zeit, ihn mit Leben zu erfüllen. Machen Sie mit, undBemerkungen für meine Fraktion machen. lassen Sie uns die entsprechenden Beschlüsse mit großer Erstens. Wir werden an der beabsichtigten bzw. voll- Mehrheit fassen; denn die Sache, um die es geht, ist viel zogenen Neuordnung der Bundeskompetenzen im Kul- zu wichtig, als daß wir es zulassen dürfen, sie partei-turbereich konstruktiv mitarbeiten. Dies gilt selbstver- politischem Gezänk und der Kleinkariertheit anheim-ständlich in besonderer Weise für den neuen Bundes- fallen zu lassen. tagsausschuß für Kultur und Medien als parlamentari- Vielen Dank. sche Korrespondenz zur veränderten Kompetenzvertei- lung in der Exekutive. (Lebhafter Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der F.D.P. Zweitens. Wir werden nicht zuletzt den kulturpoli- und der PDS) tisch unauflöslichen Zusammenhang zwischen innerer und auswärtiger Kulturpolitik im Auge behalten, und zwar völlig unbeschadet der Ressortzuständigkeiten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Lieber Herr Das eine kann offensichtlich nicht gänzlich losgelöst Kollege Edathy, Sie haben gehört: Das Haus hat Ihnen vom anderen verfolgt werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 253

Dr. Norbert Lammert (A) Drittens. Wir werden jede unnötige Auseinanderset- – was ich persönlich nicht für zwingend halte –, macht(C) zung mit den Ländern über ihre Kulturverantwortung diese Entscheidung nicht leichter, zumal sie das Risiko vermeiden. Eine Konfrontation zwischen Bund undeiner weiteren Vertagung überfälliger Beschlüsse er- Ländern nutzt weder dem Bund noch den Ländern, aber höht. Schon gar nicht glaube ich, daß dies ein Ort sein sie schadet Kunst und Kultur. An dieser Stelle füge ich muß, zu dem man gerne hingeht. Es gibt aber kein über- hinzu: Den Begriff „Kulturhoheit“ verwende ich bewußt zeugendes Argument dafür, vor der Schwierigkeit der und grundsätzlich nicht. Kunst und Kultur sind wederAufgabe zu kapitulieren. Der angemessene Ort für die eine hoheitliche Aufgabe des Staates, noch steht diesem notwendige Entscheidung ist der Deutsche Bundestag. die Hoheit über die Kultur zu. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) der SPD) Sechstens. Die ungewöhnlich lange Amtszeit von Ein Staat, der diesen Anspruch erheben wollte, hätte als Bundeskanzler Kohl war auch eine Zeit ungewöhnlichen Kulturstaat abgedankt. kulturpolitischen Engagements des Bundes. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Viertens. Die kulturelle Präsenz des Bundes in Guido Westerwelle [F.D.P.] – Zurufe von der Bonn wie in Berlin ist eine besondere Herausforderung, SPD: Oh, oh!) der sich Parlament wie Regierung widmen müssen. Das – Wir kommen auf den Sachverhalt zurück. Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat muß in der Hauptstadt noch mehr als an- (Jörg Tauss [SPD]: Ich sage nur Goethe- derswo sichtbar und erlebbar sein. Dem hat die frühere Institute!) Bundesregierung unter Führung von mit Ich sage Ihnen voraus, daß die Vergnüglichkeit beim der Bereitstellung von Kulturfördermitteln für Berlin in Vergleich der einen mit der anderen Zahl von Monat zu Höhe von jährlich mehr als 400 Millionen DM Rech- Monat rapide zurückgehen wird. nung getragen. Ich möchte heute schon darauf hinwei- sen, daß dies mehr ist, als die Regierung Schmidt zuletzt Diese Zeit eines ungewöhnlichen kulturpolitischen für die gesamte Kulturförderung des Bundes im Inland Engagements des Bundes ist trotz vieler herausragender ausgegeben hat, und daß diese Mittel im übrigen allein Einzelbeiträge nicht immer auffällig gewesen; aber die- ein Drittel der gesamten Fördermittel darstellen, die wir ses Engagement war beispielhaft und hat Maßstäbe für im Bereich der Kulturförderung im ganzen Land zurdie Zukunft gesetzt. Dazu gehören in Bonn das Haus der Verfügung haben. Geschichte und die Kunst- und Ausstellungshalle des (B) (D) Deswegen weise ich darauf hin, daß von vornherein Bundes. Dazu gehört in Berlin das Deutsche Historische auch festgehalten werden muß, daß sich die Kulturförde- Museum, nicht zuletzt auch die Neugestaltung der Neu- rung nicht auf diese beiden besonders wichtigen Aufga- en Wache. ben reduzieren läßt. Es gibt in der sogenannten Provinz Insgesamt haben sich die Aufwendungen des Bundes viele herausragende Kulturstätten und Ereignisse vonfür Kunst und Kultur in der Amtszeit von Helmut Kohl nationaler und von internationaler Bedeutung, die unsere verdreifacht. Zur Erhaltung gefährdeter kultureller Sub- Aufmerksamkeit und Unterstützung in einer ähnlichen stanz in den neuen Ländern und zur Modernisierung der Weise verdienen. notwendigen Infrastruktur für kulturelle Bildung sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und allein zwischen 1991 und 1994 über 3 Milliarden DM der SPD) zur Verfügung gestellt worden. Wir werden darauf ach- ten, daß dies so bleibt oder wenigstens nicht die Auffäl- Fünftens. In der Regierungserklärung des Bundes-ligkeit der Inszenierung stärker und die Förderung ge- kanzlers heißt es: ringer wird. Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, son- Jörg Tauss [SPD]: Da sitzt ihr aber im Glas- dern unter Berücksichtigung der breiten öffentli- haus!) chen Debatte hier im Deutschen Bundestag. Diese Entscheidung wird wegen der besonderen, nicht nur Siebtens. Wir werden allen Versuchen und Versu- kulturpolitischen Bedeutung eine der wichtigsten chungen widerstehen und entgegentreten, die Breiten- und zugleich schwierigsten Entscheidungen derkultur und die künstlerische Avantgarde in Literatur, neuen Legislaturperiode in diesem Bereich sein, ge- bildender Kunst, Schauspiel, Tanz und Musik gegenein- rade weil es beachtliche Argumente für wie gegen ander auszuspielen. die bislang vorgestellten Entwürfe gibt, die wir al- (Sabine Kaspereit [SPD]: Ach was! Wer lesamt ernst nehmen müssen. macht das denn?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das eine ist so unverzichtbar wie das andere. Sowohl der SPD) das eine als auch das andere haben Anspruch auf Re- Die Ankündigung des Bundeskanzlers, daß die ge-spekt und Förderung. Dabei sind allerdings die höchst suchte „würdige Lösung ... in ein Gesamtkonzept für die unterschiedlichen Voraussetzungen zu berücksichtigen Gedenkstätten in Deutschland eingebettet“ werden muß bzw. gegebenenfalls zu schaffen, die kulturelle und 254 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Norbert Lammert (A) künstlerische Entwicklung in dem einen wie in dem an- Alle diejenigen, die eine feste Meinung in dieser ernsten (C) deren Bereich erlauben. Angelegenheit hegen, bitte ich, sich mit moralischen Urteilen über jene zurückzuhalten, die unentschieden Achtens. Auch die Medien – die alten wie die neuen oder anderer Überzeugung sind. – sind nicht nur ein wesentlicher Faktor wirtschaftlicher Entwicklung, sondern tragen bewußt oder unbewußt er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heblich zur kulturellen Entwicklung und zur gesell- der F.D.P.) schaftlichen Identität bei. Zur Debatte steht auch nicht das Gedenken an den (Jörg Tauss [SPD]: Sehr richtig!) millionenfachen Mord an Europas Juden, sondern viel- mehr der ästhetische Gestus der Erinnerung an seine Der vor wenigen Tagen verstorbene bedeutende deut-Unbeschreiblichkeit. Eiferndes Insistieren auf eigenen sche Soziologe Niklas Luhmann hat in seinen zahlrei- Positionen ist der Sache nicht angemessen. Es gibt kein chen Studien immer wieder darauf hingewiesen, daßMonopol des Trauerns oder des korrekten Gedenkens. Presse und elektronische Medien lediglich das vermit- Wohl aber gibt es die Pflicht, nie zu vergessen, was teln, was die Gesellschaft als Realität annehme. Damit Furchtbares einmal geschehen ist. müssen wir uns noch mehr als bisher auseinandersetzen: Die Wirklichkeit wird über die Medien wahrgenommen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – einschließlich der Annahme, daß das, was die Medien DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der vermitteln, die Wirklichkeit sei. CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) Abschließend lassen Sie mich sagen: Der Zweck der Die verblendete Machtentfaltung Deutschlands hat Kulturpolitik ist Kultur, nicht Politik. zweimal schweres Unglück über unser Land, über Euro- pa, über die ganze Welt gebracht. Die Hoffnung man- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) cher Künstler und Dichter, der Schauspieler, Regisseure und Komponisten, ein schöpferisches Leben in – mit Dieser Anspruch ist leichter zu formulieren als umzu-Thomas Mann gesprochen – „machtgeschützter Inner- setzen, aber an diesem Anspruch wollen wir uns undlichkeit“ zu führen, wurde mißbraucht, betrogen und als andere messen lassen. vordemokratische Illusion entlarvt. Kein Zweifel, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bedeutende Köpfe deutscher Kultur, daß Philosophen, Künstler und Autoren über Jahrzehnte hinweg an dem folgenschweren Werk der nationalen Selbstblendung ih- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ren Anteil hatten. jetzt der Beauftragte der Bundesregierung für Kunst, Deutsche Politikgeschichte ist immer auch deutsche (B) Kultur und Medien, Michael Naumann. (D) Kulturgeschichte mit all ihren Brüchen und dunklen Epochen. Weil diese Dekulturationsphasen deutscher Dr. Michael Naumann, Beauftragter der Bundesre- Geschichte so eng mit machtbesessenem, politischem gierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien Zentralismus, mit den Herrschaftsträumen von Diktatu- (von der SPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!ren verbunden sind, können die Segnungen unseres Meine Damen und Herren! Herr Lammert, ich freuekulturellen und politischen Föderalismus nicht laut ge- mich, in Ihnen einen Bündnispartner gefunden zu haben. nug gepriesen werden. Ich stehe allerdings auch nicht an, darauf hinzuweisen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ daß ich den Ruf nach einer Debatte, um zu einer Ent- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der scheidung über das Holocaust-Mahnmal zu kommen, PDS) jahrelang vermißt habe. Aber er gehört in der Tat hier- her. Dieser Föderalismus ist das Signum unserer Kulturpoli- tik und wird es selbstverständlich auch unter dieser Re- Der Bundestag hat zum erstenmal in seiner Ge-gierung bleiben. schichte einen Kulturausschuß eingerichtet. Er hat dies getan, weil dem Bund im Laufe der Jahre eine Fülle (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kulturpolitischer Aufgaben zumal im außenpolitischen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und, wenn Sie so wollen, im innereuropäischen Raum Wenn wir unter Kultur nicht mehr, aber auch nicht zugewachsen ist. Ihren Lösungen kann größere parla-weniger verstehen als den Spiegel, den wir uns selbst mentarische Kontrolle und Öffentlichkeit nur gut be-vorhalten, um zu verstehen, wer wir sind, was wir kön- kommen. Meine Mitarbeiter und ich freuen uns auf die nen, wohin wir wollen, so wissen wir auch, daß dieser Zusammenarbeit. Spiegel stumpfe Stellen aufweist. Doch blind ist er Das Parlament ist der repräsentative Souverän. Dar- nicht. um ist es richtig, daß in einer symbolisch so wesentli- Kultur ist niemals das Kraftzentrum sogenannter na- chen Frage wie derjenigen des geplantenHolocaust - tionaler Normalität. Vielmehr ist sie der Name für alle Mahnmals die Abgeordneten des deutschen Volkes das Formen von Zweifel, von kritischer Überwindung des letzte Wort haben. jeweils Normalen, der Name für geistige Innovation, für (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE satirisches Gelächter – auch in diesem Haus –, für intel- GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeord- lektuelle Herausforderungen, aber doch auch für Trost, neten der PDS) für Entspannung und für alle Formen jener bisweilen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 255

Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann (A) diskriminierten Unterhaltung, deren Preis ja nicht auto- Selbstverständnis ist. Berlin braucht, um seine kulturelle (C) matisch Verdummung heißen muß. In einem Satz: Kul- Vielfalt auszuleben, den Umzug nicht. Das ist auch ohne tur ist die schönste Form politischer Freiheit in eineruns möglich. demokratisch verfaßten Gesellschaft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Berlin war stets eine Stadt gleichsam transitorischer der F.D.P. und der PDS) Kultur. Hier trafen und treffen sich die Künstler Ost- Nicht nur wir Sozialdemokraten wissen, daß ein Land und Westeuropas. Hier stellt sich Deutschland dem an seiner Seele Schaden nähme, lebte es wohlbehütet für Ausland vor – und umgekehrt. Wir werden die vertrag- die Mehrung seines Wohlstands allein. Politik ohnelich festgelegte Unterstützung kultureller Einrichtungen Kultur ist unfrei, sprachlos und ohne Sinn. Berlins durch die Gewährung von Bundesmitteln fort- setzen und diese im nächsten Haushaltsjahr verdoppeln. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Berlin ist der Sitz der Stiftung Preußischer Kulturbe- der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) sitz. Sie ist ein Kronjuwel bundesdeutscher Kulturförde- rung. Unter neuer Leitung wird sie die Herausforderung Kultur ist auch kein Standortfaktor, wie es uns dereiner wohl nötigen internen organisatorischen Moderni- neue Sprachgebrauch weismachen will. Vielmehr sind sierung annehmen. es die Künste, die unser Leben aus dem Werktagsland der Notwendigkeit hinausführen können. Das richtige Alle Kulturpolitik handelt direkt oder indirekt vom Leben werden wir jedenfalls nicht auf unseren Konto-Erinnern. Ein Land, das sich täglich neu erfinden will, auszügen entdecken können. Doch niemand wird be-wird sich schnell selbst vergessen. Wir wollen die Vor- haupten, daß es sich in einem Land voller sozialer Pro- stellungen des Deutschen Bundestages zur Pflege von bleme und wirtschaftlicher Ängste unbeschädigt entfal- Gedenkstätten ernst nehmen. Dies umfaßt neben ehema- ten könnte. ligen Konzentrationslagern auch die Pflege der sowjeti- schen Ehrenmale und Soldatenfriedhöfe. Die Bundesregierung hat die mannigfachen Aufgaben ihrer eigenen Kultur- und Medienpolitik im Namen von (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Effektivität und Transparenz gebündelt, nicht um in GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Konkurrenz zur Kulturhoheit der Länder und Kommu- neten der CDU/CSU) nen – das ist inzwischen ein Verfassungsbegriff, HerrDazu hat sich die Bundesrepublik vertraglich verpflich- Lammert; ich teile aber völlig Ihre Meinung, daß dertet. Die Menschen, die dort liegen, wollten nicht in (B) Begriff der Hoheit aus der Barockzeit stammt – zu tre- Deutschland sterben. (D) ten, sondern – im Gegenteil – um sie dort zu stärken, wo es möglich ist. Der Vorwurf einer sanften Kolonialisierung, der dem Westen Deutschlands aus denneuen Ländern entge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS genweht, ist ernst zu nehmen. Mit der gebotenen Zu- 90/DIE GRÜNEN) rückhaltung, aber auch mit dem notwendigen finanziel- Mit Nachdruck werden wir uns für eine Neuorgani- len Aufwand wird die Bundesregierung das kulturpoliti- sation der Kulturförderung Berlins einsetzen. Wir wer- sche Engagement jener Region Deutschlands verstärken, den auch die guten Versprechen der vorherigen Regie- in der über Jahrhunderte hinweg zum Beispiel unser be- rung einlösen, die kulturellen Einrichtungen der Bundes- stes musikalisches Erbe gepflegt wurde und in der sich – stadt Bonn zu fördern in Dankbarkeit für ihre unver-trotz totalitärer Kulturkontrolle – über mehr als 50 Jahre gleichliche Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte hinweg eine widerstandsfähige, kraftvolle Musik, Kunst und Dichtung entwickelten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CDU/CSU und der F.D.P.) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) und in Respekt – das lassen Sie einen Kölner sagen – vor der großen kulturellen Tradition der Region. Weimar mag für manchen ein angestaubter deutscher Goethe-Mythos sein. Aber hinter allem historischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mißbrauch – und den gab es im Dritten Reich – leuchtet doch die Wahrheit auf, daß in diesem Städtchen die Seit mehr als einem Jahr diskutieren wir nun schönste in deutsche Prosa und die leichteste Lyrik ent- Deutschland die Silhouette der zukünftigenBerliner standen. Republik. Noch ist es eine Silhouette, auch von jenen hochgehalten, die gerne die Gefahren eines autoritären (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zentralismus beschwören, weil sie sich so gerne gruseln des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wollen. Für die Kulturpolitik unserer Regierung um- Als europäische Kulturhauptstadt 1999 wollen wir kreist dieser Begriff die Hoffnung auf ein Hauptstadtle- Weimar feiern und verstehen und seine stadtgewordene ben, das bereits heute in seiner Vielfalt von Museen, Literaturgeschichte neu lieben lernen. Theatern, Galerien, Opern, Orchestern, freien Bühnen und einer sehr kreativen Off-Szene ebenso ungewöhn- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lich wie repräsentativ für Deutschlands kulturelles GRÜNEN und der PDS) 256 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann (A) Mit dem Außenminister sind wir uns einig, daß ich Vor uns liegen gesetzgeberische Initiativen von der(C) im Ministerrat für Kultur und Medien der Europäischen die Kultur fördernden Reform des Spenden- und Stif- Union in enger Kooperation mit den Ländern – das ver- tungsrechts bis hin zu einer Regelung der offenen Fra- steht sich von selbst – die deutsche Verhandlungsfüh-gen um die sogenannte Beutekunst. Die Bundesregie- rung übernehmen werde. Wir wollen dort in kulturpoliti- rung plant, eine Stiftung „Künstler und Autoren im Exil“ schen Angelegenheiten mit einer Stimme sprechen – und ins Leben zu rufen. bisweilen auch fechten –, zum Beispiel in den Bereichen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE europäische Filmförderung und Medienpolitik. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Wir wollen bedrängten Autoren, Malern, und Komponi- 90/DIE GRÜNEN) sten, Regisseuren und Schauspielern in Zusammenarbeit Die Bundesregierung weiß, daß die europäische Idee mit Amnesty International und Writers in Prison eine si- nicht in einer gemeinsamen Währung kulminiert, son- chere Bleibe hier für eine Frist von mindestens einem dern in einer besseren Kenntnis unserer vielfältigen na- Jahr ermöglichen. Dies tun wir auch in dankbarer Erin- tionalen Kulturen verwirklicht wird, in einem niemalsnerung an jene Nationen, an der Spitze England, die abgeschlossenen Prozeß. Niederlande, Frankreich und die Vereinigten Staaten, die in diesem Jahrhundert verfolgten deutschen Künst- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lern Asyl gewährten. Dieser Prozeß sollte geprägt sein von Neugier, Toleranz (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE und darin begründeter Friedfertigkeit. GRÜNEN und der PDS sowie des Abg. (Beifall bei der SPD) Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) Meine Damen und Herren, Europa ist keine Utopie Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Ich mehr. Freilich gilt es auch, ganz enorme eurozentralisti- bin während des Wahlkampfs immer wieder nach mei- sche, bürokratische Zumutungen abzuwehren. Die Qua- ner Vision gefragt worden. Ich habe stets geantwortet, lität des deutschen Buch- und Verlagsgewerbes ist ein- daß sich unser Land vor Kulturpolitikern mit Visionen malig auf der Welt. Es muß vor den Anfechtungen einer hüten möge, da jene dazu neigen, sie alsbald verwirkli- entfesselten Marktwirtschaft geschützt werden. chen zu wollen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Heiterkeit bei der SPD) GRÜNEN und der PDS) Nichts entspräche meinem Kulturverständnis weniger Dasselbe gilt nicht nur für die sogenannte Buchindustrie, als die Vorstellung eines Politikers – und säße er im sondern auch für die, die sie tragen, nämlich für dieKanzleramt – mit absolutem Geschmack. Wehe uns, (B) Autorinnen und Autoren dieses Landes. wenn er ihn durchsetzen will! (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Diese Regierung verteidigt im Hinblick auf den Maas- neten der CDU/CSU und der F.D.P.) trichter Vertrag aus kulturellen Gründen – nicht aus Unser aller Aufgabe ist es, auf Bundes- und Landes- kommerziellen Gründen – dengebundenen Laden- ebene sowie auf kommunaler Ebene dem kraftvollen preis. vielfältigen, dem respektlosen frechen, dem dokumentie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten renden, dem bewahrenden, aber auch dem umstürzen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der den, dem phantasievollen und komödiantischen Kultur- PDS) leben Deutschlands den finanziellen und gesetzlichen Schutz zu gewähren, den es benötigt. Von daher ist es übrigens gut, einen ehemaligen Buch- händler als Außenminister an seiner Seite zu wissen, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE wenn er auch gerade irgendwo sitzt und liest. GRÜNEN und der PDS) (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS Diese Koalition hat den kulturpolitischen Auftrag, den 90/DIE GRÜNEN) die Wähler ihr ganz offensichtlich erteilt haben, ange- nommen. Ich wünschte mir, er würde auch von der Op- So wie der Buchhandel, die Bibliotheken und dieposition akzeptiert. Verlage das Nervensystem unseres Geisteslebens bilden, so sind die Medien unsere Augen. Was sie sehen, aber Ich danke Ihnen. auch, was sie nicht sehen, bestimmt fast unmittelbar un- (Anhaltender Beifall bei der SPD, dem BÜND- ser Bewußtsein. Hüten wir uns vor Kommunikations- NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) monopolen!

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Nau- GRÜNEN und der PDS) mann, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zu Die Erhaltung der grundgesetzlich garantiertenKunst-, Ihrer ersten Rede gratulieren; das haben wir faktisch be- Informations- und Meinungsfreiheit sollte unsere Ar- reits getan. beit bestimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall der Abg. Angela Marquardt [PDS]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 257

Vizepräsident Dr. Antje Vollmer (A) Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Cem Özdemir das burtsrecht, das die zweite Generation automatisch be-(C) Wort. kommt, angeht, haben wir einen Kompromiß gefunden. Deswegen bin ich mir sehr sicher, daß die F.D.P. in die- ser Frage zustimmen wird und daß sie sich nicht hinter Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau das Argument flüchten wird, daß die Optionslösung Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir füh- darin nicht enthalten ist. Die Optionslösung, das wissen ren heute eine spannende Debatte zur Innen- Sie, und Kollege Westerwelle, war der Versuch eines Kom- Rechtspolitik. Sie haben viele Ziele, die sich die neuepromisses, der nicht zustande kam, weil die Union nicht Koalition vorgenommen hat, gehört, unter anderem das mitgemacht hat. Ihre ursprüngliche Position war diesel- Ziel, bei der Informationsfreiheit den preußischen Ob- be, wie wir sie haben: Das ist die Einführung des Ge- rigkeitsstaat hinter uns zu lassen und die Demokratie in burtsrechtes, ist die Verkürzung der Fristen. Diese Ko- der Politik nicht darauf zu beschränken, daß man allealition wird das machen. vier Jahre ein Kreuzchen an der richtigen oder an der falschen Stelle macht und im übrigen die Vorturner in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES der Politik aus dem Fernsehsessel verfolgt. Wir wollen 90/DIE GRÜNEN und der SPD) den mündigen Bürger, dessen Meinung auch zwischen Sie können beweisen, ob Sie nur Luftblasen verbreitet den Wahlterminen gefragt ist. Seine Mitwirkung liegthaben oder ob es Ihnen wirklich um die Sache geht. uns sehr am Herzen, und deshalb freue ich mich darüber, Diese Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat daß diese Koalition Volksabstimmungen und Volksbe- eine gute Nachricht für alle Sportfans, eine gute Nach- fragungen in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen richt für alle Fußballfans. Bei uns werden zukünftig die hat. JJs, die Giovannis, die Mullahs und die Mustafas in der Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der deutschen Nationalmannschaft für Deutschland hoffent- Opposition, daß wir in dieser Frage auf Ihre Unterstüt- lich Tore schießen. Wir werden aufhören mit dem Un- zung angewiesen sind, weil das Grundgesetz dafür ge- sinn, daß Kinder, die bei uns geboren sind, nur deshalb, ändert werden muß. Ich hoffe, daß wir dies gemeinsam weil ihre Eltern woanders herkommen, nicht in der deut- tun. Ich glaube nämlich, daß es unser aller Anliegen sein schen Nationalmannschaft spielen, sondern in der hol- muß, die Politikverdrossenheit – das Gefühl vieler Men- ländischen, in der türkischen oder sonstwo. Zukünftig schen in der Bevölkerung, daß man in der Politik nicht werden sie mit unserem Staatsangehörigkeitsrecht in un- mitwirken, nicht mitgestalten kann, daß der Bürger nicht serer Nationalmannschaft spielen. gefragt ist – zu bekämpfen. Ich appelliere an Sie, die (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wissen Sie ei- Grundgesetzänderung zusammen mit uns zu bewerk- gentlich, was Abseits ist?) stelligen, damit wir mehr Elemente direkter Demokratie (B) durchsetzen können. Wir müssen die Bürgermeinung auf Das sollte Sie, wenn Sie Sportsfreunde sind wie wir,(D) allen Ebenen stärker miteinbeziehen. bewegen, daß Sie sich gemeinsam mit uns darüber freu- en. Das kann dem deutschen Fußball nur guttun, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir uns die WM in Erinnerung rufen. Auch deswegen ist sowie bei Abgeordneten der SPD) es überfällig, daß wir das neue Staatsangehörigkeitsrecht Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, der heute bekommen. in der Diskussion eine wichtige Rolle gespielt hat – die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Opposition hat das heftig attackiert –: die Frage des sowie bei Abgeordneten der SPD und der Staatsbürgerschaftsrechtes. Ich möchte, bevor ich PDS) meine Meinung dazu sage, etwas zitieren: Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Argument ein- Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik gehen, das in der Debatte eine wichtige Rolle gespielt Deutschland muß grundlegend novelliert werden. hat. Verschiedentlich wurde von den Kollegen von der Der Grundsatz der Vermeidung doppelter Staatsan- Union die Frage angesprochen, warum denn Kinder, gehörigkeit muß in den Fällen, in denen das Gesetz wenn sie hier geboren sind, automatisch den Paß be- Rechtsansprüche auf Einbürgerung einräumt, auf- kommen sollen, ohne gefragt zu werden. Ich sage Ihnen: gegeben werden. Außerdem muß das Recht aufEs war Absicht, daß wir das gemacht haben. Wir haben Erwerb der Staatsangehörigkeit für hier geborene lange darüber debattiert, ob wir diesen Punkt mit hinein- Ausländer der zweiten und folgenden Generation nehmen wollen. Ich will Ihnen nun das Argument nen- verankert werden. nen. Ich glaube, Sie werden dann verstehen, warum wir das gemacht haben. Sie werden sich fragen, von wem dieses subversive Ge- dankengut stammt. Ich kann es Ihnen sagen: von der Stellen Sie sich einmal den Fall vor, den Sie zitiert F.D.P. haben. Der fundamentalistische Vater sagt: Meine Tochter soll keinen deutschen Paß bekommen, wer (Beifall bei der F.D.P. – Dr. Guido Wester- weiß, auf welche dummen Ideen sie kommt. – Genau welle [F.D.P.]: Bravo!) um diese Fälle geht es uns. Diese Tochter muß den deut- Das ist das F.D.P.-Programm des Jahres 1994. Genauschen Paß bekommen. Wenn sie hier geboren ist, gehört das, was Sie dort gesagt haben, wird diese Koalitionsie zu unserer Gesellschaft dazu – und das vielleicht verwirklichen. In einem Punkt gehen wir nicht einmal so auch im Konflikt mit ihren Eltern. weit, wie Sie es damals gefordert haben. Sie wissen, wir (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES haben uns da nicht durchsetzen können. Was das Ge- 90/DIE GRÜNEN und der SPD) 258 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Cem Özdemir (A) Das Kindeswohl und das Interesse dieser Gesellschaft, Liebe Kolleginnen und Kollegen, was das britische(C) unserer Gesellschaft ist manchmal wichtiger als das In- Oberhaus, die Lords mit den weißen Perücken, sicher- teresse mancher Eltern. lich nicht mit Cannabisnebel umschwebt, beschlossen hat, sollte auch uns recht und billig sein. Das britische Gerade wir als rotgrüne Regierung können deshalbOberhaus hat beschlossen, daß Cannabis dort, wo es da- mit um so mehr Glaubwürdigkeit sagen:Integration ist zu dient, zur Schmerztherapie eingesetzt zu werden, le- keine Einbahnstraße. Zur Integration gehört das, was wir galisiert wird. Ich glaube, auch uns würde ein solcher machen werden: das neue Staatsangehörigkeitsrecht.Beschluß gut zu Gesicht stehen. Weiterhin gehört aber auch dazu, daß dieses Gesetz auch angenommen wird, daß Gebrauch von der Einbürgerung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemacht wird, daß sich die Migrantinnen und Migranten bei der SPD und der PDS) – ich rede vor allem von der zweiten und der dritten Ge- neration – stärker um die deutsche Sprache bemühen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Hier werden wir Angebote machen. Diese Angebotejetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler. müssen aber auch angenommen werden. (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Ich hatte Wir werden aber auch eines klarmachen. Der Kalif mich zu einer Kurzintervention gemeldet!) von Köln, beispielsweise der Herr Kapplan, der nicht nur uns Sorgen macht, sondern auch vielen Muslimen in – Das stimmt. Sie hatten sich vorhin zu einer Kurzinter- dieser Gesellschaft Ängste bereitet, wird nicht mit der vention gemeldet. – Sie kommen danach an die Reihe, Toleranz dieser Regierung rechnen können. Frau Kenzler. – Bitte! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich will ganz kurz darauf erwidern, weil Sie uns in bezug auf die Wahlaus- Wer hier Extremismus und Terrorismus betreibt odersage des Jahres 1994 angesprochen haben. Es gibt auch von deutschem Boden aus fremde Länder, zum Beispiel noch eine Wahlaussage von 1990 und eine von 1987. die Türkei, bedroht, wie das die PKK und andere Orga- Ich kenne sie. Ich empfehle Ihnen die Wahlaussage des nisationen machen, der muß wissen, daß wir die Ein-Jahres 1998. Denn die Abgeordneten der Freien Demo- haltung der Gesetze dieser Republik für alle einfordern kratischen Partei, die hier sitzen, haben diese Wahlaus- werden. Deswegen glaube ich, daß wir mit mehrsage als Geschäftsgrundlage den Wählerinnen und Glaubwürdigkeit auf die Nichtdeutschen werden zuge- Wählern angeboten, die uns gewählt haben. Das sind hen können. etwas mehr als 3 Millionen gewesen. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Darin können Sie ziemlich klar lesen, wie wir das se- 90/DIE GRÜNEN und der SPD) hen, indem wir nämlich sagen: Zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr müssen sich die Jugendlichen end- Lassen Sie mich, weil meine Redezeit fast abgelaufen gültig für eine der beiden Staatsangehörigkeiten ent- ist, zum Schluß noch auf einen Punkt eingehen, der inscheiden. Ich finde, wir sollten uns auf der Grundlage dieser Koalitionsvereinbarung eine wichtige Rolle spielt. der geltenden Programme unterhalten. Wir haben näm- Ich glaube, daß dieser Punkt das Gesicht dieser Republik lich auch, wie wahrscheinlich bei jedem hier – diese nachhaltig verändern wird, und zwar zum Positiven ver- Diskussion gab es auch in der Union; wir erinnern uns ändern wird. Wir müssen auch in derDrogenpolitik der gemeinsamen Gespräche mit den sogenannten jun- dringend einen Paradigmenwechsel hinbekommen. Wir gen Wilden in der letzten Legislaturperiode – – müssen zum Ziel haben, daß die Zahl der Drogentoten (Lachen bei der SPD) abnimmt. Jedes Jahr muß sich der Minister hier hinstel- len können und sagen können: dieses Jahr haben wir– Ich sage „sogenannt“, weil ich persönlich der Meinung weniger Drogentote als letztes Jahr. Das muß das Ziel bin, daß man mit 40 nicht mehr als jung durchgeht. Das der Bundesregierung sein. gilt für alle. Wir gehen davon aus, daß Drogenabhängige kranke (Zuruf des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS Menschen sind. Das sind für uns keine Straftäter. Wir 90/DIE GRÜNEN]) müssen mit diesen Menschen umgehen wie mit kranken Mit 36 auch nicht mehr. Da brauchst du keine Angst zu Menschen. Darum werden wir auch hier die Politik der haben. Regierung ändern. Wir werden das, was Ihre Kommu- nalpolitiker, was viele Polizeipräsidenten seit Jahren ge- Aber noch einmal im Ernst: Ich glaube, das ist genau fordert haben und zum Teil praktizieren, endlich legali- der Punkt: Wir sollten auch sehen, was sich hier getan sieren. Mit uns wird es Gesundheitsräume geben. Wirhat. Das Problem ist: Die doppelte Staatsangehörigkeit werden die Drogenabhängigen von der Straße holen.als Regelfall für alle verlangt eben dann keine bewußte Wir werden dafür sorgen, daß die Beschaffungskrimina- Integrationsentscheidung der Betroffenen. Diese be- lität zurückgeht. Das heißt, das Sicherheitsbedürfnis der wußte Integrationsentscheidung der Betroffenen wollen Bürger wird ernstgenommen. Auf der anderen Seitewir. Wir wollen uns an beide Seiten wenden. Die deut- werden wir dazu beitragen, daß Kriminalität, daß orga- sche Gesellschaft sagt jenen, die hier geboren sind: Ihr nisierte Kriminalität in Form des Drogenhandels massi- gehört dazu. Wir wollen euch integriert sehen. Aber wir ver bekämpft wird. erwarten umgekehrt auch, daß die andere Seite sich mit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 259

Dr. Guido Westerwelle (A) einer bewußten Integrationsentscheidung in unsere Ge- pen es sich handelt. Der größte Teil davon sind Deut-(C) sellschaft begibt. sche, die Aussiedler, die aus Kasachstan, aus Rußland zu uns kommen. Der zweitgrößte Teil entfällt auf binatio- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr.-Ing. nale Ehen. Jede sechste neu geschlossene Ehe in Rainer Jork [CDU/CSU]) Deutschland ist eine binationale. Ich kenne viele in un- seren Reihen, die in einer binationalen Ehe leben und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Özdemir. die mir nach jeder Rede sagen: Herr Özdemir, wir wis- sen selber, daß wir in dieser Frage Quatsch erzählen, der mit der Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun hat. – Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Deshalb sollten wir das etwas niedriger hängen. Ich glaube, die jungen Wilden in der Union sind früh geal- glaube, die Geschichte wird uns recht geben. tert, aber das tut nichts zur Sache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jörg Tauss [SPD]: Wild waren sie nie!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich bestreite nicht, daß es bei der doppelten Staats- bürgerschaft sicherlich ein Vermittlungsproblem in der Gesellschaft gibt. Ich glaube, es ist das größte im ganzen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts. Es gibt Umfra- Abgeordnete Evelyn Kenzler das Wort. gen in der Bevölkerung, die besagen, daß das Geburts- (Unruhe) recht von einem großen Teil der Bevölkerung akzeptiert wird und daß auch die Verkürzung der Fristen von ei- Ich bitte um Ruhe, damit die Kollegin – es ist ihre erste nem sehr großen Teil der Bevölkerung akzeptiert wird. Rede – zu Wort kommen kann. Bei der doppelten Staatsbürgerschaft – das will ich Ihnen gerne zugestehen – haben viele das Gefühl, daß Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Frau Präsidentin! Sehr Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft mehr Rechte geehrte Damen und Herren! Wenn auch weder die Ko- bekommen als ein Deutscher. Das muß man ernst neh- alitionsvereinbarung noch die Regierungserklärung ein men, da muß man argumentieren. Ich glaube aber, man in sich geschlossenes, konsequentes Reformpaket auf kann auch argumentieren. rechtspolitischem Gebiet erkennen lassen, sind zumin- dest jedoch im Vergleich zur vorherigen Wahlperiode Viele glauben oder gehen davon aus, daß ein Doppel- mehrere Projekte, so zum Beispiel im Bereich der Justiz, staatsbürger sich hier bestimmten Dingen entziehender Volksgesetzgebung auf Grundgesetzebene, im Ar- kann. Dem ist aber nicht so. Das muß man in aller Deut- beits- und Mietrecht, erkennbar. Ob es sich hierbei je- (B) lichkeit klarmachen. Wer hier Doppelstaatsbürger ist, ist doch tatsächlich um Reformen handeln wird, ist nicht in (D) vor deutschen Gerichten deutscher Staatsbürger. erster Linie vom Umfang, sondern vielmehr vom Inhalt abhängig. Eine Strafrechtsreform, die die Law-and- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist er auch als order-Politik der Vergangenheit einfach weiterschreibt Ausländer!) und die Rechte von Beschuldigten wie von Verteidigern Er ist hier wehrpflichtig, er ist schulpflichtig, für ihnabbaut, oder eine Justizreform, die einseitig zu Lasten gelten alle Bestimmungen dieser Republik. der Normadressaten geht und das Berufungsrecht stark einschränkt, wird die PDS keinesfalls mittragen. Ich nenne jetzt einmal einen Punkt, der in der Öffent- lichkeit gar nicht diskutiert wird: Er hat deswegen sogar Wir werden die neue Justizministerin mit ihren vor praktische Nachteile. Wenn Sie einmal mit Richternder Wahl und auch heute gemachten Aussagen, daß sie sprechen, werden sie Ihnen sagen: Bisher mußte sich der der Rechtspolitik endlich wieder eine eigenständige deutsche Richter beim Fall eines türkischen Staatsbür- Bedeutung beimessen sowie mittels des Rechts und gers, der sich hier scheiden lassen will, in das türkische auf rechtsförmigem Wege soziale, demokratische und Scheidungsrecht einarbeiten und muß die Ehe diesesrechtsstaatliche Grundsätze mit Leben erfüllen will, sehr Mannes nach türkischem Recht scheiden. Wenn ich tür- genau beim Wort nehmen. kischer Mann wäre und mich scheiden lassen wollte, Ein, wie es Heribert Prantl in der „Süddeutschen würde ich das türkische Scheidungsrecht bevorzugen. Er Zeitung“ unlängst ausdrückte, Versickern der Rechtspo- wird sich aber zukünftig als deutscher Staatsbürgerlitik als ausschließlich rechtsformaler Erfüllungsgehilfin – Gott sei Dank, sage ich und unterstreiche das – nach anderer Politikressorts darf es nicht geben. Die PDS- deutschem Scheidungsrecht scheiden lassen müssen. Es Fraktion wird sich deshalb für eine Demokratisierung gibt also auch durchaus viele Nachteile für Menschendes Straf- und Strafverfahrensrechts, gegen eine weitere mit doppelter Staatsbürgerschaft. Grundrechtsaushöhlung, für deren Ausbau, für eine um- fassende Volksgesetzgebung im Grundgesetz, für eine Für uns gilt: Wer die doppelte Staatsbürgerschaft hat, Reform der Justiz unter Beachtung der vorgenannten wer den deutschen Paß hat, der ist Bürger unseres Lan- Maßstäbe, für mieterfreundlichere Regelungen, aber des und unterliegt unseren Gesetzen. auch – und das nicht an letzter Stelle – für eine unver- Zum Schluß noch ein Satz. Es war die Ausländerbe- zügliche Beendigung der noch immer bestehenden auftragte der vorherigen Regierung, Frau Schmalz-Schlechterstellung der ostdeutschen Bevölkerung auf ei- Jacobsen, die gesagt hat: Wir haben 1,8 Millionen Dop- nigen Rechtsgebieten vehement einsetzen. pelstaatsbürger. Sie hat auch gesagt, um welche Grup- (Beifall bei der PDS) 260 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Evelyn Kenzler (A) Mit einigem Wohlgefallen – nicht mit Genugtuung – Verspielen Sie sie nicht wie die Regierungskoalition vor (C) konnte ich der Regierungserklärung entnehmen, daß au- Ihnen! ßergerichtliche Konfliktregulierungsmodelle, ein drei- Danke. stufiger Gerichtsaufbau und die Umsetzung der Forde- rung nach größerer Verständlichkeit und Überschaubar- (Beifall bei der PDS) keit des Rechts auf den Weg gebracht werden sollen. Das sind Punkte, die ostdeutsche Juristen seit Jahren als positive Erfahrungen ihres Berufslebens in der DDR in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, die Reformdebatte des bundesdeutschen Rechts einbrin- auch Ihnen möchte ich – es gibt viele, bei denen das gen. heute der Fall ist – zu Ihrer ersten Rede gratulieren. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell Herr Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regie-wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/26 an rungserklärung am Dienstag mehrfach bekundet, daß er die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- die innere Einheit Deutschlands voranbringen will. Ohne geschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. jedoch die juristische Benachteiligung der Ostdeutschen Dann ist die Überweisung so beschlossen. vor allem auf den Gebieten des Rentenrechts, des Grundstückseigentums und des Strafrechts zu beseiti- Wir kommen jetzt zum ThemenbereichBildung, gen – das ist längst überfällig –, wird es eine solche Ein- Wissenschaft und Forschung. Ich eröffne die Ausspra- heit auf absehbare Zeit nicht geben. che. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerhard Friedrich. (Beifall bei der PDS)

Vergebens haben auch die Wähler der SPD in den Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): neuen Bundesländern in den vergangenen Wochen, seit Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich der Wahl, auf Aussagen zu mehr Rechtssicherheit von möchte zunächst die Gelegenheit nutzen, Frau Bundes- Grundstückseigentümern und –nutzern, auf zumindest ministerin Bulmahn herzlich zur Berufung ins Bundes- ein Einfrieren der überhöhten Nutzungsentgelte, auf eine kabinett zu gratulieren. Schließung der Versorgungslücken, auf eine Abschaf- fung des unseligen Rentenstrafrechts und auf eine Been- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS digung der politischen Strafverfolgung gewartet. 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der PDS) Frau Kollegin Bulmahn hat sich lange im Bereich von (B) Bildung und Forschung engagiert. Wir wissen, daß uns (D) Wo sind hier die Stimmen der 57 SPD-Abgeordnetenin unseren Auffassungen einiges trennt; wir wissen aber aus den neuen Bundesländern? Wo bleiben die berech- auch, daß es Gemeinsamkeiten gibt. Deshalb haben wir tigten Interessen der ostdeutschen Grundstücksnutzeruns vorgenommen, mit Ihnen, Frau Bundesministerin, und –eigentümer? Wo bleibt das Signal, dem Mißbrauch konstruktiv zusammenzuarbeiten. des Sozialrechts im Rentenbereich ein Ende zu machen und das bewährte Prinzip politischer Wertneutralität auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD) diesem Gebiet einzuhalten? Wo bleibt das Signal der Ich kann Ihnen bei dieser ersten Debatte über unser längst überfälligen Versöhnung auf strafrechtlichem Ge- gemeinsames Thema allerdings nicht nur gratulieren; biet? denn man hat Ihrem Ressort leider einige wichtige Kompetenzen genommen. Ich finde es schon schade, So wie es kein Zeichen gibt, die Benachteiligung im Renten- und Grundstücksrecht zu beenden, so gibt esdaß der Bildungs-, vor allem aber der Forschungsteil des Ministeriums herangezogen wurden, um die Plünderung bisher leider auch keinen Hinweis, etwa zum 50. Jah- des Wirtschaftsministeriums durch den Bundesfinanz- restag der Verabschiedung des Grundgesetzes die nach der Vereinigung in Gang gesetzte politische Strafverfol- minister wieder einigermaßen auszugleichen. gung zu beenden. Hören Sie, meine Damen und Herren Meine Damen und Herren, trotz der jetzt nicht mehr von der SPD-Fraktion, auf die klugen Äußerungen Ihres so weitreichenden Kompetenzen spielt dieses Ministeri- Parteikollegen , daß der Versuch, Geschichte um eine große Rolle bei derSicherung des Wohlstan- durch Gerichte aufarbeiten zu wollen, nicht zum Zieldes in unserem Land. Wenn wir auf die letzten Jahr- führen kann. zehnte zurückschauen, dann können wir feststellen, daß es uns lange Zeit, über Jahrzehnte hinweg, möglich war, (Beifall bei der PDS) für überlegene technische Produkte, die wir auf dem Die PDS wird nicht zusehen, wenn auch nach demWeltmarkt angeboten haben, höhere Preise durchzuset- Regierungswechsel weiterhin vor allem die DDR-zen. Was neu ist: Andere sind technisch besser gewor- Generation mit diffizilen rechtlichen Methoden bestraft den, haben uns eingeholt wird, die ihre überwiegende Lebensleistung in der DDR (Zustimmung des Abg. Jörg Tauss [SPD]) erbracht und die schwere Hypothek des Nationalsozia- lismus abgetragen hat. Sie haben jetzt die Chance, dieser und leider Gottes – Kollege Tauss, darin werden wir uns rechtsstaatswidrigen Entwicklung Einhalt zu gebieten. einig sein – in einigen Spitzentechnologien auch über- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 261

Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (A) holt. Deshalb stehen wir in einem harten Preiswettbe-gelungen; das müssen wir zugeben. Die Kostenexplosi- (C) werb. on im Bereich der sozialen Sicherungssysteme war zu groß. Der Bundesrat hat uns auch nicht gerade geholfen, Die exportierende Industrie hat reagiert, hat hart ra- in diesen Bereichen zu sparen, um Mittel umzuschich- tionalisiert. Leider bedeutet dies nicht nur eine Steige- ten. rung des Umsatzes, sondern auch den Abbau von Perso- nal. Die zu hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land hat (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen W. Möl- hier eine wesentliche Ursache. lemann [F.D.P.]: Das ist wohl wahr!) (Beifall des Abg. [SPD]) Dazu haben Sie also Ihren Beitrag geleistet. Sobald sich die Situation etwas entspannt hatte, hat die alte Bundes- Es gibt deshalb zwei Ansätze, um dieBeschäftigungs- regierung für den Haushalt 1999 einen Entwurf vorge- probleme in unserem Land zu lösen: Wir können weiter legt, nach dem die Mittel um eine halbe Milliarde DM versuchen, Produktionskosten zu senken – auch als Staat aufgestockt werden sollten. müssen wir dazu unseren Beitrag leisten –, oder wir nehmen die Möglichkeit wahr, neue technologische Heute warte ich darauf, zu erfahren, wie die konkre- Vorsprünge zu erringen. ten Pläne der Bundesregierung in diesem Bereich aus- schauen. Ich bin momentan noch ein bißchen verwirrt. (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) Im Wahlprogramm ist angekündigt worden – die Frau Wir – und vor allem der bisherige BundesministerMinisterin hat damals in einer Debatte gesagt: Das steht Rüttgers – haben uns bemüht, im Bereich derInnova- nicht unter Finanzierungsvorbehalt –, daß der gesamte tionen in den letzten Jahren voranzukommen. Wir ha- Bildungs- und Forschungsetat in wenigen Jahren ver- ben knappe staatliche Mittel auf wichtige Zukunftstech- doppelt werden soll. nologien konzentriert. Ich nenne zum Beispiel die In- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) formationstechnologie. Vor allem aber erinnere ich dar- an, daß es Herrn Rüttgers gelungen ist, die Bio- undIm „Spiegel“ habe ich im Juli aber gelesen, daß der Gentechnologie wieder nach Deutschland zu holen. Haushaltsexperte Diller das gar nicht für finanzierbar hält. (Beifall bei der CDU/CSU) (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Was?) Wir haben für mehr Wettbewerb der außeruniversitä- ren Forschungseinrichtungen gesorgt, die Bedingungen Dann habe ich in die Koalitionsvereinbarung geschaut für die Gründung innovativer Unternehmen verbessert, und keine konkrete Festlegung gefunden. Daher war ich ihnen den Zugang zu Risikokapital erleichtert – ein Pro- überrascht – ich wollte schon sagen: Wahlbetrug! –, als (B) blem, das noch nicht abschließend und befriedigend ge- der Herr Bundeskanzler vorgestern angekündigt hat, er(D) löst ist. Wir haben gemeinsam mit den Ländern denwolle die Investitionen in diesen Bereichen verdoppeln. Technologietransfer besser organisiert, weil wir Herr in Tauss, ich hoffe, Sie wissen: Das bedeutet für die Deutschland – das wissen wir alle – Probleme haben, die nächsten fünf Jahre im Schnitt jährlich 3 Milliarden DM durchaus vorhandenen Forschungsergebnisse relativmehr. schnell in neue Produkte umzusetzen, wie das in anderen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Ländern geschieht. Wenn ich irgendwann einmal in einer Zeitung lesen Die Ergebnisse, auf denen Sie aufbauen können, Frau würde, daß Sie irgendwo einsparen, dann würde ich Ih- Ministerin, sind beachtlich. Die Hälfte unserer industri- nen glauben, daß Sie wirklich bereit sind umzuschich- ellen Produktion entfällt inzwischen auf FuE-intensive ten. Aber ich lese immer nur, daß Sie Sparmaßnahmen Industrien. Bei den fortgeschrittenen Technologien wa- zurücknehmen wollen. Mir ist völlig schleierhaft, wie ren wir schon immer besonders stark. Ich habe schon Sie dieses Versprechen erfüllen wollen. Deshalb bitte erwähnt: Defizite gab es vor allem bei den Spitzentech- ich um Verständnis, daß Lob und Anerkennung allein nologien. Nur im Umweltbereich haben wir ausreichen- für die Absichtserklärung, die Sie bisher vorgelegt ha- de Weltmarktanteile. Wir glauben aber, daß wir auch ben, in diesem Bereich nicht möglich sind. hier erfolgreich waren. Die Wachstumsraten im High- Tech-Bereich in Deutschland sind außergewöhnlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stark: Im Jahr 1996 stiegen die Ausfuhren um 13 Prozent. Meine Damen und Herren, ich habe es schon ange- deutet: Wenn man die Koalitionsvereinbarung und das Diese kurze Bilanz belegt, glaube ich, daß Innovation letzte Wahlprogramm der SPD liest, muß man feststel- in Deutschland nicht erst mit dem Datum begann, zulen, daß sie in einer für die SPD neuen Sprache ge- dem die neue Bundesregierung ihr Amt angetreten hat. – schrieben sind. Es ist viel von Leistung die Rede; es ist Frau Ministerin Bulmahn, ich habe Ihre Antrittsrede im viel von Innovation die Rede. Wenn das nicht nur Lip- Ministerium nachgelesen und festgestellt, daß Sie betont penbekenntnisse sind, dann – ich wiederhole das – gibt haben, daß Sie gerade im Bereich der Forschungspolitik es eine Chance, daß wir viele Gemeinsamkeiten haben auf Bewährtem aufbauen können. Auch ich glaube, daß werden. es hier durchaus eine Chance für Gemeinsamkeiten gibt. Ich habe in einem Punkt aber noch Zweifel, nämlich Wir sind auch gemeinsam der Überzeugung, daß es ob es allen in der SPD und vor allem bei den Grünen notwendig ist, die Mittel für Forschung und Bildung gelingt, ihr Mißtrauen gegen bestimmteGroßtechnolo- aufzustocken. Dies ist uns über viele Jahre hinweg nicht gien abzubauen. Ich höre, Sie wollen neue Arbeitsplätze 262 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (A) schaffen. In dem Bereich, in dem ich wohne, ist dieein unionsgeführtes Land genannt – vorschreiben lassen, (C) Kernenergie angesiedelt. Dort wollen Sie offensichtlich wie sie ihre Hochschulen finanzieren. zunächst einmal Arbeitsplätze vernichten, wofür ich Ich habe nur noch für einen letzten Satz Zeit. auch als bisheriger Umweltpolitiker kein Verständnis habe. Beim Transrapid habe ich festgestellt, daß Sie sich Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Friedrich, darf nicht ganz einig waren. Einige von Ihnen haben sich zu ich Sie daran erinnern, daß Sie Ihre Redezeit schon ein dieser neuen Verkehrstechnik offensichtlich nur deshalb Stück überschritten haben? bekannt, weil sie hoffen, daß dieses Projekt an der Fi- nanzierung scheitert. Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): Ja, Alle Warnlampen leuchten auf, wenn ich lese, daßdanke. Ich war ohnehin gerade schon beim Einpacken, Sie das technische Konzept desForschungsreaktors Frau Präsidentin. München II in Frage stellen wollen. Dieses technische Ich darf Ihnen versichern: Diese Bevormundung der Konzept wurde jahrelang diskutiert und vom Wissen-Länder lehnen wir auch in Zukunft schlicht ab. schaftsrat einstimmig gebilligt. Man kann darüber strei- ten, ob es beim Einsatz von niedrig angereichertem Uran Vielen Dank. den gleichen wissenschaftlichen Nutzen gibt. Das kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen wir ein anderes Mal austragen. Dazu reicht heute nicht die Zeit. Jedenfalls ist sicher, daß es, wenn Sie hier ganz neue Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt die technische Konzepte umsetzen wollen, eine jahrelange Bundesministerin Edelgard Bulmahn. neue Planungs- und Genehmigungsphase geben wird. Der Wissenschaftsrat hat uns mitgeteilt, daß wir unsere Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Spitzenstellung in der Materialforschung ohnehin schon und Forschung (von der SPD sowie von Abgeordneten verloren haben. Deshalb legen wir Wert darauf, daß die- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall be- se neue Neutronenquelle – ich als Bayer lege besonde- grüßt): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Her- ren Wert darauf – zum frühestmöglichen Zeitpunkt zur ren und Damen! Bildung und Forschung haben endlich Verfügung steht. wieder die Bedeutung in der Bundesregierung, die ihnen Im Bildungsbereich sind wir vor allem für zwei Sek- zukommt. toren zuständig: die Hochschulpolitik und die berufliche (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter (B) Bildung. Ich sehe, die Zeit reicht gerade noch für einige (D) Anmerkungen zur Hochschulpolitik. Wir haben durch [CDU/CSU]: Sie haben doch noch gar nichts die Novelle zum Hochschulrahmengesetz die Weichen gemacht!) gemeinsam in vielen Bereichen neu gestellt. Wir wollen Deshalb, Herr Friedrich, bedanke ich mich ausdrücklich eine stärkere Profilierung der einzelnen Hochschulen,bei Ihnen für das Angebot einer konstruktiven Zusam- mehr Wettbewerb und eine Verstärkung des menarbeit. Lei- Bildung und Forschung brauchen eine kon- stungsprinzips. Wir haben bei den Diskussionen derstruktive Zusammenarbeit. Bildung und Forschung letzten beiden Jahre festgestellt, daß dies auch bedeutet, brauchen auch verläßliche Rahmenbedingungen. Des- besondere Leistungen im Bereich der Lehre besonders wegen komme ich gerne auf dieses Angebot zurück. zu honorieren. Deshalb möchte ich anmerken, daß wir die Absicht unterstützen, auch das Dienstrecht für das Bildung und Forschung haben deshalb wieder Be- Hochschulpersonal neu zu gestalten. deutung in der Bundesregierung, weil wir wissen, daß Bildung und Forschung das Fundament für die gesell- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) schaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unseres Zu den Studiengebühren kann ich feststellen: Wir in Landes legen. Wenn der Bundeskanzler in seiner Regie- unserer Fraktion wollen keine generelle Einführung von rungserklärung die Verdoppelung der Zukunftsinvesti- Studiengebühren. Dazu fehlen zur Zeit auch alle Vor-tionen in Bildung und Forschung angekündigt hat, dann aussetzungen, zum Beispiel ein Stipendiumwesen, das ist das mehr als ein Symbol. sicherstellt, daß nicht soziale Barrieren den Hochschul- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zugang erschweren. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine andere Frage ist, ob wir den Ländern Vorschrif- Es ist ein Signal. Es ist die Aussage: Bildung und For- ten machen sollten. Wir haben schon rechtliche Zweifel, schung sind die Antwort dieser Bundesregierung auf die ob der Bund den Ländern vorschreiben kann, wie sie Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Der Bund ist eigene Einrichtungen, nämlich Hochschulen, finanzieren nur ein Akteur, das wissen wir. Er braucht Mitspieler in sollen. Herr Bundeskanzler, Sie waren ja Ministerpräsi- den Ländern und in der Wirtschaft, vor allem aber bei dent. Sie hätten sich früher solche Vorschriften verbeten. den Frauen und Männern, die dieses Feld bestellen. Ich habe neulich gelesen, daß auch der frühere bildungs- politische Sprecher der SPD, Herr Glotz, gesagt hat, er Meine Damen und Herren, wir wollen ein Klima des kann sich nicht vorstellen, daß sich große Länder wiegeistigen Aufbruchs in Deutschland schaffen, ein Klima, Bayern oder Nordrhein-Westfalen – er hat also nicht nur in dem Bildung, Wissenschaft und Forschung neue Ent- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 263

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) faltungsmöglichkeiten erhalten, und dabei strukturelle möglichkeiten. Mit dem 100 000-Plätze-Programm pak- (C) Verkrustungen aufbrechen. ken wir es an und reden nicht nur darüber. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten doch alles Phantasien!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stef- fen Kampeter [CDU/CSU]: Wie viele Ausbil- Unser Ziel ist, der jungen Generation wie der Gesell- dungsplätze gibt es auf den Dächern?) schaft insgesamt neue Wege zu aktivem Handeln, zu In- novation und zu Verantwortung zu eröffnen. Wir brauchen mehr betriebliche Ausbildungsplätze für eine wachsende Zahl von Schulabgängern, die besse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten re Berufswahlchancen haben müssen. In einem Bündnis des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der für Arbeit und Ausbildung muß es uns gelingen, ge- PDS) meinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften Wenn sich die Investitionen des Bundes in Forschung die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen der jungen und Bildung in den nächsten fünf Jahren verdoppeln,Generation langfristig zu sichern. Das gilt im übrigen dann brauchen wir eine übergreifende Strategie. Wirauch für die jungen Menschen mit schlechteren Start- werden deshalb einen offenen Dialog mit den Ländern chancen. führen, damit wir in einer gemeinsamen Anstrengung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bildung und Forschung die angestrebte neue Priorität geben können. Ebenso erwarten wir und werden alles Junge Frauen müssen – ich finde, das ist mehr als dafür tun, daß sich die Europäische Union stärker fürüberfällig – endlich den gleichen Zugang zu attraktiven diese Zukunftsaufgaben engagiert. und beschäftigungssichernden Ausbildungsgängen und zu Berufen mit Zukunft erhalten. An dieser Stelle habe ich die dringende Bitte an die Wirtschaft: Investieren Sie noch stärker in Bildung und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausbildung! Erhöhen Sie Ihre Aufwendungen für For- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der schung und Entwicklung! PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das setzt ein Umdenken in unserer Gesellschaft und in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der der Arbeitswelt voraus. Das wollen wir voranbringen, PDS) und dabei schaue ich besonders die Frauen, aber auch die willigen Männer in dieser Runde an. Worum geht es? Deutschland braucht eine neue Bil- dungsreform, die Leistung und Kreativität fördert und Das bewährte duale Ausbildungssystem werden wir (B) Chancengleichheit sichert. Dabei ist Kooperation gefragt durch eine flexiblere Gestaltung von Ausbildung, Aus-(D) und nicht gegenseitige Schuldzuweisungen. Ich bin da- bildungsordnungen und Ausbildungsinhalten fortent- von überzeugt, daß wir eine nationale Debatte über Bil- wickeln. Wir brauchen mehr Betriebsnähe, Effizienz dungsfragen brauchen. Ich biete den Ländern und den und Qualität. Sozialpartnern an, ein zeitlich befristetes Forum „Bil- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sind alles dung“ zu schaffen, das Elemente einer Grundbildung in nur Worthülsen!) einer Wissensgesellschaft identifiziert und zur Siche- rung eines international an der Spitze liegenden Lei- Ein modernes Berufskonzept verbindet Fachkompe- stungsstandards in Bildung und Weiterbildung beiträgt. tenz mit Schlüsselqualifikationen, mit voller Berufsfä- higkeit und breitem Zugang zum Arbeitsmarkt. Darüber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS hinaus sollen Zusatzangebote zur Ausbildung Anreize 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ geben, um Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit CSU]: Das hätte der Rüttgers auch so sagen zu stärken. können!) Im Bündnis für Arbeit und Ausbildung – das ist kein Die junge Generation braucht Perspektiven und Ori- leeres Wort, und wer so darüber schwätzt, diskreditiert entierungen für die Zukunft. Eine gute Bildung undsich selbst; ich will das ganz deutlich sagen – Ausbildung sind dafür die entscheidende Grundlage. Es geht darum, den jungen Menschen wieder Perspektiven (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zu eröffnen und ihnen auch die individuellen Lebens- GRÜNEN und der PDS) chancen zu sichern. Ich werde meinen Teil dazu beitra- gen, daß allen Jugendlichen, die ausgebildet werdenwollen wir auch Vereinbarungen zur Modernisierung wollen, ein qualifizierter Ausbildungsplatz angebotender Weiterbildung und zur Weiterentwicklung des le- wird. benslangen Lernens treffen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eine rechtzeitige Förderung von Weiterbildungsmaß- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nahmen ist die beste Versicherung sowohl für die Ar- PDS – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Keine beitnehmer wie auch für die Unternehmen, um neuen leeren Versprechungen!) Herausforderungen gerecht zu werden. Wissen und Know-how machen heute nicht mehr an den Länder- Junge Menschen dürfen nicht länger auf der Straßegrenzen halt. Deshalb ist es notwendig, daß unsere Un- stehen. Sie brauchen echte Chancen und Entwicklungs- ternehmen, Forschungseinrichtungen und Hochschulen 264 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) mit den besten Partnern in der Welt nicht nur konkurrie- Ich versichere Ihnen, daß die Bundesregierung dazu be- (C) ren, sondern auch kooperieren. reit ist, genauso, hoffe ich, viele Kolleginnen und Kolle- gen. Wir wollen dafür sorgen, daß Deutschland wieder zu einem bevorzugten Standort für ausländische Investitio- Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der nen in Forschung und Entwicklung wird. Hochschulen ist eine schnelle und umfassendeModer- nisierung des Dienstrechts. Wir wollen hiermit Ent- (Zuruf von der CDU/CSU: Steuerreform!) wicklungspotentiale für Kreativität im gesamten Inno- Ein Auslandsaufenthalt – so ist auch meine eigene Le- vationszyklus eröffnen. Barrieren, die wir noch immer benserfahrung – gibt wichtige Impulse für neue Ideenzwischen Forschung und Unternehmen haben, müssen und trägt dazu bei, Verständnis für andere Kulturen zu beseitigt werden. Es muß wieder attraktiv sein, zwischen wecken und um neue Denkansätze kennenzulernen. Da- Wissenschaft und Wirtschaft zu wechseln und den zu gehört auch, daß Ausländer, die in Deutschland stu- Know-how-Transfer zwischen Wissenschaft und Wirt- dieren, und daß Forscher, die hier arbeiten, in Deutsch- schaft „über Köpfe“ zu beflügeln. land willkommen sind. Das größte Kapital der Wissenschaft in unserem Lan- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE de zur Lösung der drängenden Probleme, vor denen wir GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- stehen, ist der wissenschaftliche Nachwuchs. Deutsch- neten der F.D.P.) land kann es sich nicht leisten, auf Begabungsreserven zu verzichten. Chancen und Perspektiven junger Men- Fortschritt entsteht nicht durch das Dahindümpeln im schen dürfen nicht vom Portemonnaie der Eltern abhän- eigenen Hinterhof. gig sein. ( [CDU/CSU]: Alles Platitü- den!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr.-Ing. Dietmar Deshalb müssen Hochschulen und Studiengänge inter- Kansy [CDU/CSU]: Wer will denn das?) nationaler werden. Deshalb müssen Jugendliche, egal ob Studierende oder Auszubildende, die Chance haben, Er- Allein die Leistungsfähigkeit und der Wille des ein- fahrungen im Ausland zu sammeln. zelnen zählen. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Re- form des BAföG. Von den Hochschulen erwarten wir Spitzenleistungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Von Ihnen auch!) Wir werden im kommenden Jahr in einem ersten Schritt die Einschränkungen der 18. BAföG-Novelle zurück- (B) in Lehre und Forschung. Dafür brauchen sie mehr staat- nehmen und die Freibeträge anheben, damit nicht noch (D) liche Mittel. Wir werden deshalb bereits im kommenden mehr Studierende aus der Förderung herausfallen. Jahr in einem ersten Schritt die Ausgaben für den von meinem Amtsvorgänger jahrelang sträflich unterfinan- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt einmal zierten Hochschulbau aufstocken. klar und deutlich! Die haben Sie doch selber mit verabschiedet! Unglaublich!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Wir werden bis Ende 1999 ein zustimmungsfähiges Konzept für eine grundlegende Reform und Verbesse- Aber Geld ist nicht alles. Sie wissen, daß ich das im- rung der Ausbildungsförderung vorlegen. mer wieder gesagt habe. Wir brauchen eine grundlegen- de Strukturreform an unseren Hochschulen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dabei streben wir an, alle ausbildungsbezogenen staatli- PDS) chen Leistungen zu einem einheitlichen und eltern- unabhängigen Ausbildungsgeld für Studierende zusam- Ich denke, daß hier über alle Parteigrenzen hinweg Kon- menzufassen. In diesem Zusammenhang wäre es ein sens besteht. Ein wichtiger Schritt auf dem vor uns lie- völlig falsches Signal, Studiengebühren einzuführen. genden Weg ist die Zuweisung klarer Verantwortlich- keiten. Ich biete den Ländern an, gemeinsam nach We- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gen zu suchen, wie wir Ziele und Verantwortlichkeiten GRÜNEN und der PDS) bei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b des Grundgesetzes klarer definieren können. Es wäre ein er- Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ster Schritt zum Erfolg, wenn von allen Beteiligten – das – ich habe es gesagt – liegt mir besonders am Herzen. gilt auch für Sie, Herr Kampeter – ein Dialog offen, un- Wir werden uns dabei insbesondere für bessere Chancen voreingenommen und mit der Bereitschaft, querzuden- von Frauen in Lehre und Forschung einsetzen. Frühe ken und sich auch von liebgewordenen Gewohnheiten Selbständigkeit und Eigenverantwortung im Wissen- zu trennen, geführt würde. schafts- und Forschungssystem sind dabei unverzicht- bar. Wir wollen Anreiz- und Förderstrukturen schaffen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Steffen so daß neuartige, quer zu den Disziplinen liegende Fra- Kampeter [CDU/CSU]: Da stimme ich Ihnen gestellungen von jungen Forschergruppen aufgegriffen zu!) werden können. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 265

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Das deutsche Forschungssystem hat sich in seinerIch weiß, daß das gerade für die neuen Bundesländer(C) Vielgestaltigkeit bewährt. Wir werden es jedoch weiter- von besonderer Bedeutung ist. Deshalb versichere ich entwickeln und das Aufgabenprofil der Forschungsin- Ihnen: Der Ausbau von Bildung und Forschung in den stitutionen und -organisationen im Dialog mit der Wis- neuen Bundesländern wird ein Schwerpunkt unserer senschaft fortentwickeln und schärfen. Politik sein. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das heißt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE konkret?) GRÜNEN und der PDS) Wissenschaft und Forschung brauchen langfristig ver- Diese Prozesse wollen wir durch bessere Rahmenbedin- läßliche Rahmenbedingungen, um auch in Zukunft neue gungen und eine Entlastung von bürokratischen Vor- Ideen als Basis für Innovation entwickeln zu können.schriften ergänzen. Eigenverantwortung von Wissen- Grundlagenforschung und Vorsorgeforschung sind das schaft und Forschung muß selbstverständlich sein. Wir Fundament, auf dem wir aufbauen. Deshalb gibt es dafür versprechen uns davon mehr Qualität, Transparenz und eine besondere staatliche Verantwortung. Flexibilität. Auch dazu kann ich nur sagen: Wir werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das machen und nicht nur darüber reden. Wir werden gemeinsam mit Wissenschaft und Wirt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS schaft kreative Suchprozesse für neue Forschungsthe- 90/DIE GRÜNEN) men organisieren und ihre Umsetzung in flexiblen und problemorientierten Strukturen ermöglichen. Bei zentralen Schlüsseltechnologien, wie zum Bei- spiel der Bio- und Gentechnik, die wir nutzen und weiter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fördern werden, bei neuen Materialien, bei physikali- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schen und chemischen Technologien, bei Laser- und Als eines der fortgeschrittensten Industrieländer wer- Plasmaforschung oder in der Mikrosystemtechnik soll den wir unsere Verantwortung für globale Entwicklung Deutschland im internationalen Wettbewerb Spitzen- und weltweites nachhaltiges Wachstum ernst nehmen. In positionen einnehmen und diese Spitzenpositionen aus- disziplin- und branchenübergreifenden Leitprojektenbauen. Durch eine Veränderung der Rahmenbedingun- werden wir die Entwicklung von Technologien und die gen in enger Verknüpfung mit der Forschungsförderung organisatorischen Voraussetzungen für Kreislaufwirt-werden wir die breite Anwendung der Informations- und schaft und nachhaltiges Wirtschaften anschieben. Das ist Kommunikationstechnologien unterstützen und voran- im übrigen auch der richtige Weg, um über organisatori- bringen. sche Grenzen hinweg neue Allianzen der Innovation zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bilden. (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir wissen, daß neue Arbeitsplätze überwiegend im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dienstleistungssektor entstehen. Die Leistungsfähigkeit Den Wettbewerb um die besten Ideen werden wir sy- einer modernen Volkswirtschaft hängt entscheidend von stematisch als Instrument in der Forschungsförderungder Qualität ihres Dienstleistungsbereiches und der einsetzen, um Innovationsnetzwerke zu fördern, wieQualität der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruk- zum Beispiel bei Bio-Regio. tur ab. Wenn wir Hochtechnologien weltweit exportie- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was heißt das ren wollen, gehören Dienstleistungen wie Beratung und konkret?) Wartung unter Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien dazu. Deshalb werden wir – Ich habe gerade ein Beispiel genannt. Ich glaube, Sie uns in Ausbildung und Forschung gezielt dafür einset- brauchen ein Hörrohr, Herr Kampeter. Ich werde es Ih- zen, die Leistungsfähigkeit dieses wichtigen Sektors nen bei Gelegenheit übergeben. deutlich zu erhöhen. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eins mit neuer Technologie!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Ich glaube, die neue Technik hilft bei ihm nicht. Da ist Wir werden die Instrumente der Forschungspolitik nichts mit „Chips und Lederhose“; da ist nur die Leder- umfassend dazu nutzen, die drängenden Probleme dieser hose. Gesellschaft zu lösen. Ich möchte erreichen, daß die (Heiterkeit bei der SPD) Menschen sehen, daß Fortschritte in Wissenschaft und Wir werden uns für eine umfassende Zusammenarbeit Forschung ihnen nützen, aller am Innovationsprozeß Beteiligten einsetzen. Dabei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sollen Netzwerke und regionale Schwerpunkte zwi- schen Hochschulen, außeruniversitärer Forschung und daß Bio-Wissenschaften helfen, Krankheiten zu be- Industrie entstehen. Wir werden dabei insbesondere die kämpfen und neue Möglichkeiten der Umweltsanierung kreativen Leistungen vieler kleiner und mittlerer Unter- zu eröffnen, daß neue Technologien Behinderten helfen nehmen unterstützen und sie in ihrer besonderen Rolle und daß Forschungsarbeit dazu beiträgt, innovative und am Arbeitsmarkt fördern. menschengerechte Arbeitskonzepte zu entwickeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bildung, Wissenschaft und Forschung sind die Bau- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) steine menschlicher Zivilisation. Wir bauen auf dem auf, 266 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) was Menschen in Jahrhunderten vor uns erdacht und Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Nein, ich möchte (C) entwickelt haben. Wir wollen nicht stehenbleiben. Des- gern diesen Gedanken zu Ende führen. halb wird diese Bundesregierung Bildung, Wissenschaft (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Forschung Priorität geben – die beste Vorausset- NEN]: Was ist Ihr Gedanke?) zung für den Aufbruch in das nächste Jahrtausend. Sie, Frau Bulmahn, haben hier etwas dargelegt, wor- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE auf ich das Wort „Mogelpackung“ bezogen habe. Ich GRÜNEN und der PDS) benutze dieses Wort, weil die Wortwahl insoweit jeden Tag variiert, als Sie bis vor kurzem gesagt haben, daß die Bundesregierung die Ausgaben für Bildung, Wissen- Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt der schaft und Forschung verdoppeln werde – das steht in Abgeordnete Jürgen Möllemann, F.D.P. Ihrem Wahlprogramm; so hat es der Kanzlerkandidat und jetzige Kanzler immer wieder gesagt –, und Sie jetzt (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt plötzlich anfangen, von den „Zukunftsausgaben“ in die- geht's los! – Zuruf von der SPD: Der ewige sem Bereich zu sprechen. Das wird eine tolle Debatte Student!) werden, wenn Sie uns nachher, weil Sie bei weitem nicht die Verdoppelung erreichen werden, dartun wer- den, daß das, was geschehe, im wesentlichen Bestands- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Frau Präsidentin! sicherung sei und daß es nur da und dort um Zukunftssi- Meine Kolleginnen und Kollegen! Jährlich im Dezem- cherung gehe: Nein, Sie haben den Menschen gesagt – ber – es wird also in Kürze geschehen – wählt eine Jury so haben sie es verstanden –, daß Sie die Ausgaben für der Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jah- Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln wol- res aus. Ich schlage im Blick auf die Diskrepanz zwi-len, das heißt von 15 Milliarden DM auf 30 Milliar- schen dem, was Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Ministe- den DM erhöhen wollen. Kommen Sie uns nicht daher- rin, die gerade hier gesprochen hat, und andere geschlichen im und sagen uns demnächst, wenn es nur ein Wahlkampf gesagt haben, und dem, was in der der Re- Drittel davon geworden ist, das sei Semantik! Das wäre gierungserklärung steht, das Wort „Mogelpackung“ vor. eine Mogelpackung. So nenne ich das. Wir sehen Ihrer Haushaltspolitik mit Interesse entgegen. (Beifall bei der F.D.P. – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Christo ist besser!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich Es besteht – dieser Eindruck ist wohl nicht nur mein heute die „Rheinische Post“ anzuschauen. Da überreicht persönlicher; ich werde darauf gleich noch kommen – doch tatsächlich die Gewerkschaft Erziehung und Wis- (B) vielmehr im Hinblick auf das, was vor den Wahlen über (D) senschaft einem Sozialdemokraten, dem guten Herrn den großen Stellenwert von Bildung, Wissenschaft und Clement, eine rote Laterne. Als er die rote Laterne er- Forschung gesagt worden ist, und im Hinblick auf das, hielt, sah Clement rot und sagte: „Wer aber glaubt, es was konkret in der Regierungserklärung steht, doch eine gibt mehr Geld für die Bildung, der irrt; tut mir leid.“ erhebliche Diskrepanz. Wir werden ja sehen, wie das einmal sein wird. Sie In der Regierungserklärung steht der bemerkenswerte haben schon darauf hingewiesen, daß Bildungspolitik Satz – Frau Bulmahn, Sie sprachen das Thema an –:das Zusammenwirken von Bund und Ländern verlangt. „Diese Regierung hat nichts gegen die HerausbildungSagen Sie uns bitte nicht, Sie verdoppelten die Zuschüs- von Eliten.“ – Toll! Ich dachte, diese Regierung – so hat se nicht, weil die Länder nicht mitmachen wollten. Sie es im Wahlkampf geheißen – hältLeistungseliten für haben jetzt in so vielen Ländern die Mehrheit, daß dies dringend erforderlich und will alles tun, damit sie geför- für Sie keine Ausrede sein kann. dert und gefordert werden. Wie groß ist eigentlich der ideologische Dissens in dieser rotgrünen Koalition, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wenn ein Kanzler hier nur noch halb entschuldigend sa- Dann sagten Sie, Frau Bulmahn, Sie wollten das gen kann: „Diese Regierung hat nichts gegen die Her-Hochschulrahmengesetz modernisieren und in ihm den ausbildung von Eliten.“ Das Schlimme ist, daß dort, wo Ländern verbieten, Studiengebühren einzuführen. Sie agieren, etwa in Nordrhein-Westfalen – gestern hat die dortige Schul- und Hochschulministerin, von der ich (Bundesministerin Edelgard Bulmahn: Habe weiß, daß sie sich der hohen Wertschätzung des dortigen ich nicht gesagt!) Ministerpräsidenten erfreut, ein beredtes Zeugnis davon – Sie haben es immer wieder öffentlich gesagt. – Heute abgelegt – dort, wo konkret im Instrumentarium vonschlage ich die „FAZ“ auf – man ist im hohen Alter ja Schul- und Hochschulpolitikentschieden wird, was auch belesen – man zur Förderung von Eliten tun kann, eben nichts ge- (Lachen und Beifall bei der SPD) schieht. und finde folgende Überschrift: „Semestergebühren in Niedersachsen“. Ist Wissenschaftsminister Oppermann Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Möl- aus Ihrer Partei? Mein Gott, was machen Sie denn als lemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- Sozialdemokraten miteinander? Wollen Sie ihm wirklich neten Hilsberg? per Gesetz das verbieten, was er in seinem Land machen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 267

Jürgen W. Möllemann (A) will? Das sind ja komische Zustände in Ihrer Partei,Einer hat bei jeder bildungspolitischen Debatte gefehlt. (C) Frau Ministerin. Das müssen Sie politisch lösen. Deswegen freue ich mich um so mehr, daß das bei der neuen Bundesregierung anders ist; denn zum erstenmal, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) seitdem ich in diesem Hause zu diesem Thema rede, ist Interessant ist auch, was an Widersprüchen in ande- der Bundeskanzler bei diesem Thema anwesend. ren Bereichen erscheint. Nimmt man die deutsche Pres- (Lachen bei der CDU/CSU – Zurufe von der se, dann staunt man. Was tun heute all diejenigen, die im CDU/CSU: Er ist doch gar nicht da! – Steffen Wahlkampf nicht genug jubeln konnten? Der „Stern“ Kampeter [CDU/CSU]: Er hat sich gesagt: schreibt über Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regie- Wenn der Berninger redet, haue ich ab!) rung: „Chaos“. Das symbolisiert, daß wir diesem Thema ein größeres (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Was steht Gewicht beimessen, als es in der Vergangenheit der Fall über Schalke in der Zeitung?) war. „Die Woche“: „Der Kanzler hat in seiner Regierungser- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES klärung keine Antwort auf die Probleme der Nation ge- 90/DIE GRÜNEN und der SPD) funden.“ Meine Güte, was schreiben diese Leute denn alles! Man ist ganz fassungslos. So geht es weiter quer Auch wenn der Herr Bundeskanzler für einen Mo- durch die gesamte deutsche Presselandschaft, geschrie- ment vor die Tür gegangen ist, kann ich Ihnen doch ver- ben von all den Wahlkampfhelfern, die jetzt sehen, daß sichern, daß es kein Betriebsunfall war, daß Gerhard das, was Sie versprochen haben, eine MogelpackungSchröder in seiner Regierungserklärung dem Thema war, weil Sie es offenbar nun nicht einhalten wollen. Bildung und Forschung ein neues Gewicht zugemessen hat, sondern daß das ein ganz wesentlicher Punkt der Zum Schluß zitiere ich eine ganz unverdächtige Stel- neuen rotgrünen Koalition ist. le. Bei Ihrem Freund , lieber Herr Bundeskanzler, sollte eine Frau Ministerin werden, die (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Soviel Zy- heute folgendes öffentlich feststellt: nismus in der Koalition!) Der Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Regierungs- Das war sie also, Ihre Regierungserklärung, die erklärung gesagt, daß diese Regierung auf Grund der erste eines sozialdemokratischen Kanzlers nachHinterlassenschaft der Ära Kohl sparen müsse. Trotz- 16 langen schwarzen Jahren. Der große Moderni- dem hat er erklärt, daß wir im Bildungsbereich werden sierer, die allseits beliebte Symbolfigur der Neuen investieren müssen. Das ist kein Widerspruch, sondern Mitte, hat gesprochen. Was kam heraus? Viel Wind gehört ursächlich zusammen. Denn wenn wir in der um nichts. Herr Bundeskanzler, Sie haben mich Bundesrepublik nicht die Brücke zur Wissensgesell- (B) sehr enttäuscht. (D) schaft schlagen und dem Bereich Bildung und For- Das sagt Heidi Schüller, frühere Olympiakämpferin, schung kein Geld für Reformen zur Verfügung stellen Ministerkandidatin eines Sozialdemokraten. Ich kannkönnen, dann werden wir auch nicht die Stärke wieder- nur sagen: Dem ist nichts hinzuzufügen. erlangen, die wir brauchen, um die Hinterlassenschaft der Ära Kohl beiseite zu räumen. Das ist der ursächliche (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zusammenhang. Meine Schlußbemerkung: Frau Ministerin, ich gratu- Daß Herr Möllemann eben von Mogelpackungen liere Ihnen zu Ihrem Amt. sprach, hängt wohl damit zusammen, daß er vorher im Gesundheitsausschuß war; da hatte er ja viel mit Pak- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Möl- kungen und mit Mogeln zu tun. lemann, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Das ist mein Schlußsatz. – Ich habe ja das Vergnügen, Sie zu beglei- Es wurde gesagt, daß die Vorhaben der rotgrünen ten. Es kann sein, daß das Wort des Jahres 1999 dasKoalition sehr unkonkret seien. Das sehe ich völlig an- Wort „nachbessern“ sein wird. Dabei werden wir Ihnen ders. Vier Jahre lang hatten wir einen Ankündigungsmi- gerne helfen. nister als Bildungsminister, der Dinge angekündigt hat, nach vorne geprescht ist und dann, statt mit den Ländern (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zu kooperieren, diesen immer die Schuld für seine Un- tätigkeit gegeben hat. Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Debatte ist der Kollege Matthias Berninger, Bündnis sowie bei Abgeordneten der SPD) 90/Die Grünen. Die rotgrüne Koalition wird einen anderen Weg gehen: Wir werden Reformen vorschlagen und uns selbst zeit- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-lich unter Druck setzen, um diese Reformen auch umzu- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In setzen. den vergangenen vier Jahren gab es eine ganze Reihe (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schauen wir von bildungspolitischen Debatten in diesem Bundestag. mal!) 268 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Matthias Berninger (A) In unserer Koalitionsvereinbarung steht, daß dieer die letzten vier Jahre zwischen Wirtschaftsminister(C) BAföG-Reform schon im nächsten Jahr von der Koali- Rexrodt von der F.D.P., der jetzt in Pension ist, und tion auf den Weg gebracht werden soll. Dazu brauchen Bundesbildungs- und -forschungsminister Rüttgers be- wir mehr Geld und den Mut, eine neue Richtung einzu- stand. Wir werden so kooperieren, daß Wirtschafts- und schlagen. Ziel unserer Politik ist, daß alle – unabhängig Bildungspolitiker auch hier gemeinsam Fortschritte er- vom Geldbeutel – den Weg zu den Hochschulen finden zielen können. können und daß das Recht auf Bildung wieder verwirk- Die neue Struktur des Bundesbildungsministeriums licht wird. Schauen Sie sich einmal an, wie der Anteil läßt mich daher nicht wehmütig auf vergangene Zeiten der Studierenden aus Familien mit niedrigem Einkom- zurückblicken. Ich halte es für eine Errungenschaft, daß men an der Gesamtzahl der Studierenden in der Ära die Bereiche Forschung und Bildung zusammengefaßt Kohl zurückgegangen ist und welcher Zusammenhang worden sind. Ich halte es aber auch für zweckdienlich, zwischen dem Wohlstand der Eltern und der Möglich- daß bestimmte Teilbereiche an den Bundeswirtschafts- keit, im Ausland zu studieren, besteht. Sie stellen dann minister abgegeben worden sind. Das ist ein Signal da- fest, daß wir in Deutschland gewaltige Anstrengungen für, daß es Dialog und keine weitere Konfrontation ge- unternehmen müssen, damit tatsächlich jeder junge ben soll. Mensch – und nicht nur die Kinder wohlhabender Eltern – sein Recht, die bestmögliche Ausbildung zu erhalten, Meine Damen und Herren, es wurde gesagt, daß es verwirklichen kann. Dabei wird die Reform des BAföG einen Streit um die Frage gebe, wie man mitEliten um- eine zentrale Rolle spielen. Ich gehe fest davon aus, daß gehe. Herr Möllemann, da irren Sie sich. Darüber gibt es wir – im Gegensatz zu Herrn Rüttgers – einen Vorschlag in der rotgrünen Koalition keinen Streit, sondern wir vorlegen werden, der gemeinsam mit den Ländern erar- wollen, daß alle Menschen im Bildungssystem best- beitet wurde. Wir werden nicht den Fehler machen, die mögliche Leistungen erbringen. Wir fordern das von den Länder ständig vor den Kopf zu stoßen. Professorinnen und Professoren, von den wissenschaftli- chen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und von den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Studierenden. Wir wollen, daß jeder die Chance hat, die- sowie bei Abgeordneten der SPD) se bestmöglichen Leistungen zu erbringen. Ein weiteres Reformvorhaben ist dieReform der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Personalstruktur. So wie es jetzt aussieht, werden die und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Hochschulen mit der Personalstruktur des 19. Jahrhun- PDS) derts den Weg ins 21. Jahrhundert antreten. Das darf nicht geschehen. Der letzte Innenminister hat jede Re- Deswegen teile ich die Einschätzung des Bundeskanz- form in diesem Bereich blockiert. Herr Kanther hattelers völlig, daß dafür die Reform des BAföG Vorausset- (B) überhaupt kein Interesse, in diesem Bereich etwas zuzung ist, damit jeder die Möglichkeit zum Hochschulzu- (D) unternehmen. Ich gehe fest davon aus, daß Herr Schily gang besitzt. vorausschauender ist und daß uns gemeinsam mit den Sie haben ja ausgiebig über rotgrüne Länderregierun- Innenpolitikern eine Reform der Personalstruktur ge- gen geredet. Ich finde es übrigens eine schlechte Metho- lingt, die modernen Hochschulen angemessen ist. de, wenn man sich nur die Beispiele heraussucht, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einem gerade passen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Was machen Sie PDS) denn?) Diese modernen Hochschulen werden sich auch daran Wenn Sie die Hochschullandschaft etwa in Hamburg messen lassen müssen, ob sie den Frauenanteil, der bei betrachten, dann werden Sie wenig Unterschiede zu den Studienanfängerinnen und -anfängern bereits weit Bayern feststellen. über der Hälfte liegt, auch in der Wissenschaft realisie- ren werden. Der wissenschaftliche Nachwuchs soll so (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) gefördert werden, daß der Frauenanteil bei den Hoch- Denn was die Modernisierung der Hochschulen und was schullehrern kräftig steigt. Das gilt für die Lehre und für die Förderung zum Beispiel von neuen Studiengängen die Forschung. Ich freue mich, wenn wir hier gemein- angeht, gibt es zwischen beiden Bundesländern wenig sam einen Schwerpunkt setzen können. Eine Aussage Unterschiede, aber viele Gemeinsamkeiten. von Herrn Kanther paßt hier ganz gut. Er sagte, Statistik sei die beste Medizin gegen politisches Geschwätz. Sie Ich bin der Meinung, daß man die bildungspolitische werden uns an unseren Erfolgen der nächsten vier Jahre Debatte nicht mehr in den ideologischen Gräben der messen können. Das bisher Vorhandene – da bin ichVergangenheit führen sollte, weil sich Bildungspolitike- sehr zuversichtlich – werden wir zum Guten hin verän- rinnen und Bildungspolitiker – Herr Friedrich ist ein dern. gutes Beispiel dafür – in den vergangenen Jahren häufig einig waren, daß mehr getan werden muß. Allerdings In der Forschungspolitik wird es uns darum gehen, sind sie in der aktuellen Tagespolitik öfter vor die Wand den Dialog zwischen Wirtschaft auf der einen Seite und gelaufen. Forschungspolitik auf der anderen Seite zu realisieren und den Wechsel von Wirtschaft in Forschung und von Unser Ziel, das zu erreichen wir uns vorgenommen Forschung in Wirtschaft tatsächlich auf den Weg zuhaben, nämlich die Ausgaben für Bildung und For- bringen, statt in einen Kompetenzstreit zu verfallen, wie schung zu erhöhen und in diesem Bereich Fortschritte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 269

Matthias Berninger (A) zu machen, erreichen wir nicht, wenn wir im Parlament Nachdem die mittlerweile abgewählte Koalition 1994 (C) nach der alten Hackordnung „Opposition – Regierung“ verkündet hatte, Zukunftsinvestitionen in Bildung und Politik machen. Forschung überproportional steigern zu wollen, blieb im Wahlkampf für den Etat 1999 nicht einmal der Aus- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Daran werden gangsbetrag von 1994 erhalten. Vor diesem Hintergrund wir Sie erinnern, Herr Berninger!) begrüßen wir die Ankündigungen der neuen Regierung, daß sich eine Bildungsreform an der Leitidee des Rechts Wir erreichen dieses Ziel nur, wenn wir eine Öffnung auf Bildung, an den Zielen Chancengleichheit und erreichen. Ich finde es gut, daß Herr Friedrich das An- Gleichwertigkeit aller Bildungsgänge orientiert und daß gebot zum Dialog gemacht hat. Ich denke, daß auch Herr Möllemann dazu fähig ist, wenn er sich nicht mit Investitionen in Bildung und Forschung in den nächsten fünf Jahren verdoppelt werden sollen. Zeitungszitaten, sondern mit seiner Rolle als Ausschuß- vorsitzender beschäftigt. Auf diese Weise können wir im Daß bei der konkreten Umsetzung dieser Ziele keine Parlament eine Lobby für Bildungspolitik und für eine Zeit zu verlieren ist, machen nicht nur die 500 000 ar- Bildungsreform bilden. beitslosen Jugendlichen und die zum Ende des Vermitt- lungsjahres übriggebliebenen 36 000 Lehrstellensuchen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den deutlich. Auch Studierende machen sich Sorgen um sowie bei Abgeordneten der SPD) den Fortgang ihres Studiums, weil von der neuen Regie- Aber das allein wird nicht ausreichen. Wir brauchen rung – außer den Plänen zur Erhöhung der Energiesteuer auch die Beteiligung der Studierenden an dieser Bil- und zur Besteuerung der neu definierten geringfügigen dungsreform. Die erste wichtige Reform wird sein, den Beschäftigungsverhältnisse – nicht viel zu hören ist. Studierenden das Angebot zu machen, tatsächlich mitzu- 70 Prozent der Studierenden an westdeutschen und reden. Wir wollen gemeinsam mit der Hochschulrekto- über 55 Prozent an ostdeutschen Hochschulen müssen renkonferenz erreichen, daß diese Reformen voran-für ihren Lebensunterhalt neben dem Studium jobben. kommen. Die HRK hat in sehr offener und, wie ich fin- Das BAföG als Finanzierungsgrundlage für das Studium de, sehr lobenswerter Deutlichkeit im Gegensatz zuhat deutlich an Bedeutung verloren. Wenn in diesem Be- Herrn Möllemann gesagt: Diese Koalitionsvereinbarung reich nicht sehr schnell Abhilfe geschaffen wird, ver- ist ein gutes Angebot und ein guter Start für die bil-schlechtern sich die Zugangschancen zum Hochschul- dungspolitische Debatte. Herr Landfried ist in diesemstudium für Kinder aus Familien mit geringem Ein- Punkt näher an den Realitäten als Herr Möllemann. kommen weiter. Immerhin ist der Anteil, den die Eltern zum Unterhalt ihrer Kinder beisteuern, seit 1991 von (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt doch 23 Prozent auf 53 Prozent gestiegen. Umgekehrt pro- gar nicht!) (B) portional sank der Anteil studierender Kinder aus ein-(D) – Kollege Kampeter sagt jetzt, das stimme nicht. Wirkommensschwachen Familien auf 14 Prozent in den al- können uns nachher darüber unterhalten; ich habe hier ten und 9 Prozent in den neuen Ländern. die Pressemitteilung der HRK vorliegen. Herr Mölle- Aus all diesen Gründen muß möglichst noch in die- mann wird seine Aussage zurücknehmen müssen. sem Jahr für die Rücknahme der Verschlechterungen auf Grund der letzten BAföG-Novellen gesorgt werden, Der entscheidende Punkt ist: Wir werden viel Herz- müssen nicht nur Freibeträge, sondern auch die Bedarfs- blut in diese Bildungsreform investieren. Wir werden sätze erhöht werden. Aber damit ist das Strukturproblem versuchen, diese Bildungsreform gemeinsam mit der nicht gelöst. Wir haben das Versprechen der neuen Bun- Opposition durchzuführen und einen Konsens zu errei- desregierung, noch 1999 eine große BAföG-Reform in chen, um in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen. Mit Gang zu bringen. Über die verschiedenen Modelle wur- dem Stillstand, den es in den vergangenen vier Jahren de ja schon sehr lange diskutiert. Nach dem Regie- gegeben hat, ist jetzt Schluß! rungswechsel gibt es also keinen Grund mehr, den Ich danke Ihnen. Worten nicht endlich auch Taten folgen zu lassen. – Um so mehr freue ich mich über Ihre Mitteilung, Frau Bil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dungsministerin Bulmahn, daß Studierende eine Unter- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der stützung erhalten müssen, von der sie wirklich leben PDS) können. – Die Reform wird daran zu messen sein, wie die soziale Selektion beim Zugang zu Bildungsressour- cen abgebaut wird, bzw. daran, ob der Trend einer ge- Vizepräsidentin Petra Bläss: Als nächste Rednerin schlossenen Gesellschaft an den Hochschulen verstärkt spricht die Abgeordnete Maritta Böttcher, PDS. wird. Zur Negativbilanz der alten Bundesregierung gehört Maritta Böttcher (PDS): Frau Präsidentin! Meine auch das nach wie vor ungelösteLehrstellenproblem . sehr geehrten Damen und Herren! Die bildungspoliti-Die neue Bundesregierung bietet uns vor allem für den sche Bilanz der alten Bundesregierung ist die BilanzOsten zunächst das 100 000-Stellen-Programm an. Die- einer Legislaturperiode, in der vieles versprochen und ses Sofortprogramm hat zwar andere Dimensionen als wenig erreicht wurde. Zukunft wurde hier eher verspielt die Notprogramme der alten Regierung, wird aber eben- als gewonnen. Das ist auch die Aussage meiner bisheri- sowenig ausreichen und enthält bisher leider keine zeit- gen Vorredner. lichen Festlegungen. Allein in den neuen Bundesländern 270 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Maritta Böttcher (A) wurden im Oktober dieses Jahres über 130 000 Arbeits- fahrtforschung, die indirekte Forschungsförderung, die (C) lose unter 25 Jahren gemeldet. In der Bundesrepublikangewandte Energieforschung und die Förderung tech- insgesamt waren 428 000 Menschen dieser Altersgruppe nologieorientierter Unternehmensgründungen verloren. als beschäftigungslos registriert. Dies muß Ihnen bitter aufstoßen. Was haben Sie hinzu- gewonnen? Nichts! Ein weiteres Versprechen der Koalitionsvereinbarung lautet: Alle Jugendlichen, die länger als sechs Monate (Zuruf von der CDU/CSU: Luftnummer!) arbeitslos sind, sollen einen Ausbildungsplatz, einen Ar- beitsplatz oder eine Fördermaßnahme erhalten. Wie all Diese Ausgliederungen sind verhängnisvoll. Denn die Kette zwischen Grundlagenforschung und angewandter diese schönen Programme konkret aussehen werden, Forschung ist zerstört. Damit schadet Rotgrün der For- darüber erfahren wir vorerst wenig. Es bleibt also abzu- warten, wie weit Finanzierungsvorbehalte reichen und schungslandschaft in Deutschland. Das kritisieren wir. ob die Praxis der alten Bundesregierung fortgesetzt (Beifall bei der CDU/CSU) wird, fragwürdige Bildungsmaßnahmen und ebenso fragwürdige Praktika aus dem Staatshaushalt zu finan- Es mag sich merkwürdig anhören, aber es ist fast be- zieren. ruhigend, daß in der Koalitionsvereinbarung zu den Themen Hochschulpolitik, berufliche Bildung und For- Damit staatliche Programme zur Bekämpfung der Ju- schung nicht viel Neues steht. Die Wochenzeitung „Die gendarbeitslosigkeit eben nicht zwischen Beschäfti-Zeit“ bringt Ihren Amtsantritt mit der Überschrift gungstherapie und Wirtschaftssubventionen enden,„Wechsel ohne Veränderung“ auf den Punkt. Sie selbst braucht es ein anderes Instrumentarium. Auch deshalb haben betont, daß Sie auf vielem aufbauen können. Als wurde bereits im Bundestag der vergangenen Legisla- Beispiel nannten Sie die „Leitprojekte“ und die stärkere turperiode an Hand von Gesetzentwürfen der damaligen Wettbewerbsorientierung der Forschungs- und Hoch- Oppositionsfraktionen über dieUmlagefinanzierung schullandschaft. diskutiert. Die rotgrüne Regierungskoalition setzt dem- gegenüber darauf, daß keine Zwangsmaßnahmen nötig (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alles Rütt- sein werden, und will die Ergebnisse des neuen Bünd- gers!) nisses für Arbeit abwarten. Wie lange gewartet werden Die Schlußbilanz der bisherigen Regierung kann soll, ist im Moment noch unklar. sich sehen lassen: Da wir, die Fraktion der PDS, aber der Meinung sind, (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der daß selbst ein Jahr Perspektivlosigkeit für Jugendliche SPD) zuviel ist, und im Wissen darum, daß die gesetzliche Regelung der solidarischen Umlagefinanzierung nicht Bei der Umwelttechnik und den Weltmarktpatenten sind (B) von einem Tag auf den anderen umsetzbar ist, bringen wir Weltspitze; Biotech- und Multimediafirmen boo-(D) wir schon jetzt unseren Gesetzentwurf aus der 13. Le- men. Größere Autonomie und mehr Wettbewerb der gislaturperiode neu ein. Ich bin auf eine umfassende De- Hochschulen, Förderung unterschiedlicher Begabungen batte in diesem Haus sehr gespannt. – das sind angeblich die Elemente Ihrer „neuen Bil- dungsreform“. Diese aber haben wir längst mit der (Beifall bei der PDS) Hochschulnovelle durchgesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich erteile das Wort ordneten der F.D.P.) dem Abgeordneten Thomas Rachel, CDU/CSU. Sie fordern dieInternationalisierung der Hoch- schulen. Mit der Änderung des Ausländerrechts und der Thomas Rachel (CDU/CSU): Sehr geehrte FrauEinführung von Bachelor und Master haben wir die Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wortreich kün- wichtigsten Schritte längst verwirklicht. digt die neue Regierung an, daß „Bildungs- und For- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schungspolitik einen herausragenden Stellenwert be- kommen“ sollen. Wenn es Ihnen, Frau Bulmahn, ge- Nun wollen Sie Erfolge bei derFrauenförderung lingt, diese Leerformel der Koalitionsvereinbarung zuzum Kriterium bei der Finanzzuweisung machen. Ist das konkreter Politik zu machen, dann können Sie in vielen Ihr Beweis für Kreativität? Nein, das ist ein alter Hut. Sachfragen mit der Unterstützung der Bildungs- undEin Blick in § 5 des von uns längst beschlossenen Hoch- Forschungspolitiker der CDU/CSU rechnen. schulrahmengesetzes hätte Sie belehrt, daß bei der Fi- nanzierung der Hochschulen längst – ich zitiere – „auch (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wohl wahr!) die Fortschritte bei der Erfüllung des Gleichstellungs- Schlecht ist allerdings, daß Sie vor Beginn erheblich auftrages zu berücksichtigen sind“. Peinlich, peinlich! Federn lassen mußten. Ihr Haus wurde geplündert. Es ist Sie wollen das Dienstrecht und das BAföG reformie- kein Zukunftsministerium mehr: ren. Namens der Unionsfraktion biete ich Ihnen dazu (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Haben unsere Unterstützung an. Sie das mit Herrn Rüttgers besprochen?) Sie haben vieles angekündigt. Ihre Regierungserklä- Die Medienpolitik wurde an das Bundeskanzleramtrung wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. übertragen. An das Wirtschaftsministerium haben SieBundeskanzler Schröder kündigt eineBildungs - und die wichtigen Zuständigkeiten für Multimedia, die Luft- Qualifizierungsoffensive an. Die Frage aber ist doch, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 271

Thomas Rachel (A) warum die SPD in den von ihr regierten Bundesländern Sehr geehrte Damen und Herren, die größte Schwä-(C) nicht längst damit begonnen hat. che der Koalitionsvereinbarung und der Regierungser- klärung von Schröder liegt im Grundsätzlichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Schröder steht auf dem Schlauch!) Wer hat denn in den vergangenen Jahren, wie Man alle kann ihnen nicht die Spur einer Bildungsidee ent- Schulstudien belegen, das Niveau an unseren Schulennehmen. Am großen Wurf, an einer Vision für eine zu- Schritt für Schritt gesenkt? Etwa Bayern oder Baden-kunftsgerichtete Bildungspolitik fehlt es völlig. Mit viel Württemberg? Nein, jetzt wollen gerade die, die in den Innovationsrhetorik wird Bildung in der Regierungser- Ländern für die Bildungsmisere verantwortlich sind, die klärung auf einen rein ökonomischen Qualifizierungs- Bildungspolitik auf Bundesebene übernehmen. Da wird und Effizienzaspekt reduziert. Kein Wort über die Rolle der Bock zum Gärtner gemacht. von Bildung und Wissenschaft für das geistige Klima in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unserer Gesellschaft. Kein Wort über die Rolle der Gei- stes- und Kulturwissenschaften. Die neue Regierungskoalition verstrickt sich in Wi- Nur zu gern wurde der Union von links vorgeworfen, dersprüche; das fängt früh an. Lauthals fordert die neue sie liefere die Hochschulen der Wirtschaft aus. Und die Bundesregierung, das Verbot von Studiengebühren ge- jetzige Bundesregierung? – Wo versteht sie Bildungs- setzlich zu verankern. Aber ausgerechnet das SPD-politik anders als unter ökonomischen und sozialpoliti- regierte Land Niedersachsen kündigt in diesen Tagen an, schen Aspekten? Sie haben in Ihrer Regierungserklärung Gebühren in Höhe von 100 DM pro Student und Seme- die Punkte, die längst behandelt und umgesetzt wurden, ster einführen zu wollen. Kaum ist die Bundestagswahl aneinandergereiht: Autonomie, Budgetierung, Wettbe- gewonnen, werden die Studenten in Niedersachsen ab- werb, Effizienzsteigerung, Transfer von Wissenschaft zu gezockt. Wirtschaft. Ich hätte von einem Bundeskanzler, der un- sere Gesellschaft zu neuen Ufern führen will, mehr er- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist die Realität! wartet als ein rein technokratisch und ökonomisch ver- Nur abzocken!) kürztes Bildungsverständnis. Sie haben den Bundestagswahlkampf perfide geführt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie haben damals gesagt, die Union wolle im Hoch- ordneten der F.D.P.) schulgesetz Studiengebühren nicht ausschließen. Sie ha- ben den vereinbarten Konsens zum Hochschulrahmen- Wir als Christdemokraten haben ein sehr viel breite- res und in die Zukunft weisendes Verständnis von Bil- (B) gesetz an dieser Formulierung scheitern lassen. Frau (D) Bulmahn, wer im Bund gegen Studiengebühren agiertdung. und als SPD-Landesvorsitzende in Niedersachsen zu- (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir gemerkt!) schaut, wie dort Studiengebühren eingeführt werden, macht sich zutiefst unglaubwürdig. Wenn wir über Bildung reden, dann hat dies auch etwas mit Persönlichkeitsbildung, mit Lebens- und Sinnfragen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mit Werten und Erziehung zu tun. Was hält eigentlich unsere Gesellschaft zusammen? Welchen Beitrag kann Wahr ist, daß Sie bei Hochschulen und Studenten einen Bildung dazu leisten? Welche Rolle können dabei Reli- falschen Schein hervorgerufen haben; das werfen wirgionsunterricht, Wertevermittlung und Geisteswissen- Ihnen vor. Das war und ist ein gigantischer Wahlbetrug. schaften spielen? „Was ist sozialdemokratische Bil- dungspolitik?“ fragt die Wochenzeitung „Die Zeit“ rat- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und los am Ende ihres Artikels. Dieser Satz bringt Ihr Di- der F.D.P.) lemma auf den Punkt. Widersprüche auch im Forschungsbereich! In ihrem (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wahlprogramm fordern die Grünen – ich sehe sie hier NEN]: Sie haben aber auch ein Dilemma!) vor mir –, Kernfusion, bemannte Raumfahrt und Gen- technik zu beenden. Zur Gentechnik vermeidet die Ko- Wir Christdemokraten schlagen eine breite Bildungs- alitionsvereinbarung klare Festlegungen, kein Wort zur debatte in Deutschland vor. Dazu laden wir Sie herzlich Kernfusion und zu bemannter Raumfahrt in der Regie- ein. rungserklärung oder im Beitrag von Frau Bulmahn. Wir Herzlichen Dank. wollen wissen: Wie steht die rotgrüne Regierung zur Fortführung dieser Technologien? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- Die deutsche Mitwirkung an der internationalen Raum- vention erteile ich das Wort der Abgeordneten Edelgard station wird durch multilaterale Verträge garantiert. Herr Bulmahn. Schlauch, wird der grüne Außenminister Fischer diese Verträge einhalten? Wo bleibt das klare Bekenntnis der Edelgard Bulmahn (SPD): Herr Rachel, ich finde, Forschungsministerin? Wir wollen Klarheit! ein politischer Streit in der Sache ist dann richtig, wenn 272 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Edelgard Bulmahn (A) er nützt und wenn er uns voranbringt. Aber politischer dersachsen, in dem Sie SPD-Landesvorsitzende sind und (C) Streit darf nicht so geführt werden, daß er mit Unter-die SPD mit absoluter Mehrheit alleine entscheiden stellungen arbeitet, die nicht der Wahrheit entsprechen. kann, nicht durchsetzen können, sondern die niedersäch- sische SPD Studiengebühren einführt, dann ist das eine (Beifall bei der SPD) politische Schwäche von Ihnen. Auf jeden Fall aber ist Genau das haben Sie in Ihrer Rede getan. Es entspricht es eine Täuschung der Studenten und Studierenden, die nicht den Tatsachen, daß ich zu der Erhebung von Ver- sich auf Ihr Wahlversprechen bei der Bundestagswahl waltungs- und Einschreibungsgebühren in Niedersach- verlassen haben. Das wird hier dokumentiert. sen nichts gesagt hätte. Ich habe hier im Parlament mei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ne Auffassung deutlich zum Ausdruck gebracht: Ich halte die Erhebung von Studiengebühren für falsch. Ich Ihre Jungsozialisten in Niedersachsen haben aufge- habe mich immer dafür eingesetzt – dazu stehe ich nach schrien, weil sie erkannt haben, daß die SPD hier mit wie vor –, daß wir eine bundeseinheitliche Regelung be- gespaltener Zunge spricht. Die „Neue Osnabrücker Zei- kommen, die die Erhebung von Studiengebühren aus- tung“ hat geschrieben: Kaum ist die Bundestagswahl schließt. gewonnen, schon werden die Studenten von der SPD abgezockt. – Das ist die Realität. Wir trauen Ihren Wor- (Beifall bei der SPD) ten nicht, auch wenn Sie sie laut und deutlich formulie- Dafür gibt es zwei Wege: entweder den über dasren. Wir sehen, die Realität im Lande Niedersachsen ist HRG oder den über einen Staatsvertrag. Beides sindeine andere, und das ist scheinheilig. gangbare Wege. Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben, habe ich mich nicht alleine auf das HRG bezo- gen, sondern habe beide Wege als Möglichkeit be- schrieben. Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Stephan Hilsberg, SPD. Ich halte die Erhebung von Verwaltungs- und Ein- schreibungsgebühren in Niedersachsen nicht für den richtigen Weg, für ein falsches Signal. Diese Position Stephan Hilsberg (SPD): Sehr geehrte Frau Präsi- vertrete ich als Landesvorsitzende. Aber als Bundesmi- dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürger, nisterin – das wissen Sie – habe ich nicht das Recht, den die uns am 27. September ihre Stimme gaben, verban- Ländern vorzuschreiben, welche Verwaltungsgebühren den damit die Hoffnung, daß endlich eine neue Regie- sie erheben dürfen. Deswegen möchte ich – das habe ich rung mit einer neuen Politik jene Aufgaben löst, an de- immer gesagt – eine bundesweite Regelung in Koopera- nen Ihre alte Politik gescheitert ist. tion mit den Ländern erreichen, die die Erhebung von (B) (D) Studiengebühren ausschließt. Das ist der Unterschied (Beifall bei der SPD) zwischen uns. Gerade auf dem Feld der Bildungs- und der For- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schungspolitik gibt es eine lange Liste von Versäumnis- sen, Fehlern und nicht gemeisterten Herausforderungen. Ein Staatsvertrag zwischen den Ländern ist ein Weg, der Der größte und der schwerste Fehler war vermutlich die eine bundeseinheitliche Regelung zum Ergebnis hätte. drastische Reduzierung des Bildungs- und For- Er könnte aus meiner Sicht auch vom Bundesland Bay- schungsetats. Herr Möllemann, Herr Rachel und wie Sie ern in keiner Weise abgelehnt werden, weil er überhaupt von der Opposition alle heißen, die Art und Weise des nicht in dessen Rechte und Kompetenzen eingreift. Gebelles, mit dem Sie hier unsere Regierungserklärung Ich bitte Sie daher, Herr Rachel, in den nächsten De- und die Aussprache dazu verfolgen, zeigt doch nur, daß batten und Diskussionen wirklich bei der Wahrheit zu Sie in der Opposition überhaupt noch nicht angekom- bleiben. Das dient einem guten Klima, und es dient der men sind. Zusammenarbeit. (Beifall bei der SPD – Dr.-Ing. Dietmar Kansy (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS [CDU/CSU]: „Gebelle“! Herr Kollege, wir 90/DIE GRÜNEN) sind in einer Parlamentsdebatte! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das muß die Frau Präsidentin rügen!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Zur Antwort auf die Solange Sie Ihre Kritik nicht konstruktiv vortragen, Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Thomas kann sie uns überhaupt nicht gefährlich werden. Ich Rachel, CDU/CSU, das Wort. empfehle Ihnen: Gehen Sie einmal in Klausur, ziehen Sie sich ein bißchen zurück, tragen Sie ein wenig zu Ih- rer eigenen Erneuerung bei. Dann kommen Sie wieder Thomas Rachel (CDU/CSU): Frau Ministerin Bul- her, und dann reden wir erneut. Dann sind Sie ein streit- mahn! Gerne antworte ich auf Ihre Anwürfe, wobei Sie barer Partner für uns. So, wie Sie jetzt auftreten, sind Sie im Protokoll nachlesen können, daß diese haltlos sind. es nicht. Was Sie mit Ihrem Wortbeitrag dokumentiert haben, (Beifall bei der SPD) ist Ihre politische Schwäche. An der versuchen Sie sich vorbeizumogeln. Wenn Sie im Bund lauthals für Ihre Ganz besonders sauer – das muß ich ehrlicherweise Position eintreten, sich aber in Ihrem Bundesland Nie- einmal sagen – ist einem in den letzten Jahren das stän- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 273

Stephan Hilsberg (A) dig wachsende Lehrstellendefizit aufgestoßen. 10 bisund auch Auslandsaufenthalte, Gremientätigkeit und be- (C) 15 Prozent eines Jugendlichenjahrgangs haben über-gründeten Studienfachwechsel wieder in die Förderung haupt keine Lehrstelle und in den neuen Ländern haben einbeziehen. 40 Prozent keine betriebliche Lehrstelle. Das ist eine der (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ich dachte, Sie re- wichtigsten Ursachen dafür, daß wir jetzt diese skanda- den hier zum Bildungsetat!) lös hohe Jugendarbeitslosigkeit , die die Bundesrepu- blik Deutschland früher so nicht kannte, in Höhe von– Sie sind es doch gewesen; in den letzten Jahren Ihrer einer halben Million Jugendlichen unter 25 Jahren ha- Regierungstätigkeit haben Sie doch nie Skrupel gehabt. ben. (Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!) Deshalb ist es richtig und notwendig, daß die neue In einem zweiten Schritt werden wir eine generelle Regierung mit ihrem Programm zur Bekämpfung derReform der Ausbildungsfinanzierung vornehmen. Wir Jugendarbeitslosigkeit, mit ihrem Programm zur soforti- werden uns selbstverständlich auch – dazu ist schon viel gen Schaffung von 100 000 Arbeits- und Ausbildungs- gesagt worden – an die steckengebliebene Hochschulre- plätzen hier einen Schwerpunkt setzt. Als Oppositionform machen. haben wir das immer gefordert. Jetzt setzen wir es um. Das wird nicht einfach sein. Wir werden mit einem von (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Müssen Sie uns organisierten Bündnis für Arbeit und Ausbildung weg, oder warum reden Sie so eilig?) gemeinsam mit den Tarifpartnern und den Ländern die Studiengebühren sind dabei der falsche Weg, da sie kei- Weichen dafür stellen, daß die Betriebe wieder mehr ne einzige der bereits bestehenden Verkrustungen an un- Lehrstellen schaffen können. seren Hochschulen aufbrechen können. Wir wollen das Ich glaube, man braucht nicht nur an Ostdeutschland Hochschulstudium wieder studierbar machen, um so die zu denken, um sich bewußt zu werden, daß dies ange-Einhaltung von Regelstudienzeiten überhaupt zu ermög- sichts der anhaltenden Strukturschwäche in weiten Re- lichen. Wir werden uns selbstverständlich auch an die gionen nicht reichen wird. Deshalb müssen und werden lange brachliegende Dienstrechtsreform machen. Ich wir grundsätzlich neue Wege gehen. Mit der Moderni- vermag zum Beispiel überhaupt nicht einzusehen, war- sierung und Flexibilisierung der dualen Berufsausbil-um es keine Professuren auf Zeit geben soll. Einige dung – Stichwort Basisqualifikation – kann die Ausbil- Länder experimentieren ja bereits sehr erfolgreich damit. dung stärker an den Betrieb herangebracht werden und Ich kann mir auch gut vorstellen, in Zukunft ganz auf so in den Produktionsalltag eingebunden werden. Aber die Habilitation zu verzichten. ohne Fortführung der außerbetrieblichen und der Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nachteiligtenausbildung wird es auch nicht gehen kön- (B) nen. Sollte das alles aber nichts nützen, dann – aber auch Warum sollen wir nicht jungen Doktoranden mit einer(D) nur dann – bleibt uns immer noch unsere gesetzlicheauf fünf oder sechs Jahre befristeten „Assistant“- Handlungsmöglichkeit für einen fairen Leistungsaus-Professur eine Chance geben, sich unabhängig und selb- gleich, die wir dann auch nutzen werden. ständig für die Bewerbung um einen auf Dauer ange- legten Lehrstuhl zu qualifizieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Möchten Sie die Meine Damen und Herren, in den zurückliegenden letzte Seite noch mal frei vortragen?) Jahren hat trotz eines offensiven Neoliberalismus eine Entideologisierung in der Forschungs- und Bildungs- – Herr Möllemann, wenn Sie nicht in der Lage sind,politik stattgefunden. Daran werden wir als Voraus- souverän Zwischenfragen zuzulassen, dann lassen Sie setzung weitreichender Reformen anknüpfen. Nur so mich hier in aller Ruhe ausreden. können wir zu einem Diskurs aller Beteiligten kommen, der notwendig ist, um über alle Probleme vorurteilsfrei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) reden und sie konstruktiv lösen zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Chancen-Zur Forschung ist heute, insbesondere von unserer gleichheit will, der muß Bildungshürden niederreißen. neuen Ministerin, der ich an dieser Stelle alles Gute bei Auch hier ist die Bilanz der alten Bundesregierung mehr ihrem schweren, aber auch schönen Amt wünschen als niederschmetternd. Generationen von Studenten wa- möchte, ren auf BAföG angewiesen, ohne das sie gar nicht hät- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS ten studieren können. Die alte Bundesregierung jedoch 90/DIE GRÜNEN) hat das BAföG als Steinbruch zur Verringerung ihrer Haushaltsdefizite benutzt. Wir haben den Studenten un- schon sehr vieles gesagt worden. Einen ostdeutschen ser Wort gegeben, daß wir diesen verfassungsmäßig ga- Punkt möchte ich hier anfügen. Die industrielle Schwä- rantierten Grundsatz des Rechts auf Bildung wieder in che Ostdeutschlands hängt ja bekanntermaßen auch mit sein Recht einsetzen werden. In einem ersten Schrittdem überhasteten und kopflosen Abbau seiner For- werden wir dabei Ihre Schweinereien der 18. Novelleschungsinfrastruktur im Zuge der deutschen Einheit zu- wieder ausbügeln sammen. Es wird noch lange dauern – möglicherweise werden das quälende Jahre sein –, bis diese Schwäche (Widerspruch bei der CDU/CSU – Ulrich überwunden sein wird. Das kann überhaupt nur gelin- Heinrich [F.D.P.]: Was ist denn das für eine gen, wenn wir neben der anstehenden Konsolidierung Ausdrucksweise, Herr Kollege!) der ostdeutschen Forschungslandschaft – ich nenne hier 274 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Stephan Hilsberg (A) bewußt das Stichwort Helmholtz-Institute – mit einem Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkt 9 auf: (C) langen Atem konsequent nach vorn schauen und vor al- Erste Beratung des von den Abgeordneten Chri- lem auch die Zukunfts- und Forschungsausgaben des ge- stine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Frakti- samten Landes in den Blick nehmen. on der PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ich finde es richtig, daß in letzter Zeit wieder von Eli- zes zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Re- ten gesprochen wird. Man soll das aber nicht polemisch gelungen – Wohngeldanpassungsgesetz (Wo- machen. Auch der Bundeskanzler sagte, daß der Geld- GAG) beutel der Eltern nicht über die Chancen der Kinder be- – Drucksache 14/19 – stimmen darf. Das ist richtig und bleibt wichtig. Wir aus Überweisungsvorschlag: den neuen Bundesländern bringen aber noch eine andere Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Erfahrung mit. Das ist die Erfahrung kultureller Tradi- Rechtsausschuß tionen, die in Familien und Institutionen lebendig ge- blieben sind. Sie haben dazu beigetragen, daß es auch in Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abge- der DDR eine Gegenelite gegeben hat, ohne die dieordnete Dr. Dietmar Kansy, CDU/CSU, das Wort. heutigen Aufbauleistungen in Ostdeutschland gar nicht möglich wären. Mir scheint, daß auch heute Elite, und (CDU/CSU): Frau Präsi- zwar in ganz Deutschland, an diese Bewahrung und Dr.-Ing. Dietmar Kansy dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Da- Vermittlung kultureller Tradition geknüpft ist. Es kommt eben nicht nur darauf an, Chancen im materiel- men und Herren! Die Entscheidung der neuen Koalition, das Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und len Sinne als Unabhängigkeit vom Geldbeutel der Eltern Städtebau und das Bundesministerium für Verkehr zu- zu geben. Es geht vielmehr auch um Chancen im kultu- rellen Sinne als Wissen um die eigene individuelle Wür- sammenzulegen und auch im Deutschen Bundestag nur noch einen gemeinsamen Ausschuß für Verkehr, Bau- de und Freiheit. und Wohnungswesen zu bilden, ist, Herr Minister, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Chance und Gefahr zugleich. Dies sind die entscheidenden Voraussetzungen für Mut, Es ist deswegen eine Chance, weil eine Reihe von Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein und damit für die Problemen, mit denen sich zum Beispiel unsere Städte Leistungsfähigkeit nicht nur des einzelnen, sondern auch und Gemeinden herumschlagen müssen, Wurzeln so- unserer gesamten demokratischen Gesellschaft. wohl in der Baupolitik als auch in der Verkehrspolitik haben. Dazu gehört beispielsweise das Thema Wieder- Mit den notwendigen Reformen in unserem Landbelebung der Innenstädte. Ohne angepaßte Mobilitäts- (B) müssen wir schnell Ernst machen, damit die nachfol-angebote im öffentlichen Nahverkehr und im Indivi-(D) gende Generation spürt, daß wir es ernst mit ihr meinen. dualverkehr führen städtebauliche Maßnahmen nicht zu Wir wollen, daß aus unserer Jugend etwas wird. Das ist einer Verbesserung der Situation. Das gilt auch für die auch eine der Voraussetzungen dafür, daß wiederFactory Outlet Center, die eingedämmt werden müssen, Vertrauen in einer Generation entsteht, die sich – das (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS zeigen die Studentenrevolten der letzten Jahre – bereits 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) als zum Teil beiseite geschoben empfunden hat. Gerade weil wir Deutschlands Kraft vertrauen wollen, müs-weil sie unsere Städte gefährden und Verkehr in der Flä- sen wir uns deshalb dieses Vertrauens als würdig erwei- che produzieren. Sie können künftig nur mit einer besse- sen. ren Abstimmung von Bauplanungsrecht und Verkehrs- politik verhindert werden. Ähnliche Verzahnungen gibt Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. es im nationalen, ja, sogar im internationalen Bereich. Eine moderne Raumordnungspolitik beispielsweise ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS ohne enge Abstimmung mit nationalen und internatio- 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten nalen Verkehrspolitiken nicht machbar. Insofern bietet, der PDS) Herr Minister, die Zusammenlegung neue Chancen. Wir hoffen, daß Sie sie nutzen. Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Hils- Die Zusammenlegung birgt aber auch Gefahren. Wir berg, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen,müssen aufpassen, daß unser neues, vergrößertes Ar- daß zwei Worte, die Sie in Ihrer Rede gebraucht haben, beitsgebiet nicht zu einem „Steinbruch“ wird, in dem nicht unbedingt dem Stil unseres Hauses entsprechen.man scheinbar weniger wichtige Bereiche – vielleicht Ich denke, wir sollten auch in dieser Legislaturperiode weil sie sich nicht in Milliardensummen in den Haus- die Form wahren. haltsplänen niederschlagen – so langsam unter den Tisch fallen läßt. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Ökologisch ausgewogene Investitionen in Bahn, Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich lie- Straße, Wasserstraße sind die eine Sache, sozialer Woh- gen nicht vor. nungsbau, Eigenheimförderung, eine Steuerpolitik mit Augenmaß im frei finanzierten Wohnungsbau sind eine Wir kommen deshalb jetzt zum Themenbereich Ver- andere Sache. Gütertransit, Telematik, Luftverkehrs- kehr, Bauen und Wohnungswesen. sicherheit sind das eine, Baugesetzbuch, Mietrecht, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 275

Dr.-Ing. Dietmar Kansy (A) Wohngeld, Obdachlosigkeit sind das andere. Umwelt- Das nächste Thema ist Ihr Programm, meine Kolle-(C) schutz beim Verkehr und Habitat sind relativ leicht zu- ginnen und Kollegen von den Grünen. Es ist nicht mein sammenzuführen – aber Seeschiffahrt und Städtebau,Job, Krokodilstränen darüber zu vergießen, daß von Ih- Tempolimit und Raumordnung, Berlinumzug und Ver- ren verkehrspolitischen Vorstellungen in der Koalitions- gabewesen? vereinbarung relativ wenig steht. Man könnte sich als Opposition freuen und sagen: Okay, drastische Wende Unsere Palette ist in dieser Legislaturperiode gewal- von Illusion zu Realität, was so eine Wahl alles bewirkt. tig. Wir sollten uns trotz dieser großen Palette gemein- – Ich fürchte aber, es wird anders kommen: Bei dieser sam alle Mühe geben, auch finanziell weniger gut do- Unverbindlichkeit werden Sie sich auf Kosten der Zu- tierte Bereiche – aus beiden ehemaligen Bereichen, Frau kunft unseres Landes kräftig streiten. Das fängt beim Kollegin Mertens – in der neuen Legislaturperiode an- Transrapid an und hört beim Benzinpreis nicht auf. gemessen zu berücksichtigen. Was nun sagt die Bundesregierung darüber, wie sie „Die Eigenheimförderung behält ihren hohen Stel- diese Arbeit angehen will? In der Regierungserklärung lenwert“ – steht in der Koalitionsvereinbarung – „und des Bundeskanzlers war, trotz zweieinviertelstündiger wird weiterentwickelt“. Zunächst beabsichtigen Sie Dauer, kein einziges Wort über Verkehr und nur einaber, dort abzukassieren. Da braucht man nur den Satz über Städtebaupolitik zu hören. Gesetzentwurf zur Steuerreform zu lesen: bereits näcstes Jahr 595 Millionen DM, übernächstes Jahr 1,16 Milliar- (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: den DM weniger für die Eigenheimförderung durch Über was hat der Kerl überhaupt geredet?) Streichung des Vorkostenabzugs. Das hat den „erstaun- Noch nie war eine Regierungserklärung auf diesen Fel- lichen“ Charme, daß gerade der Bestand darunter leiden dern so sprach- und konturenlos, trotz eines zusammen- wird, den die SPD laut ihrer Wahlaussagen fördern will. gelegten Ministeriums. Also: Abkassieren ohne Gegenleistung bei der Eigen- heimförderung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich komme nun mit ein paar Gedanken zu unserem Deswegen haben wir uns einfach Ihre Koalitionsver- seit langem gemeinsamen Anliegen: derStädtebauför- einbarung angeschaut und sie mit einigen Aussagen vor derung. Sie wissen – das können Sie mir nachher vor- der Wahl verglichen. Viel mehr können wir heute, amhalten –, daß wir CDU/CSU-Städtebaupolitiker an der ersten Tag, nicht machen. Fangen wir beimWohngeld Deckelung von 600 Millionen DM schon seit mehreren an: Noch im letzten Sommer haben wir unserem dama- Jahren schwer kauen. Im letzten Jahr hatten Sie eine Er- ligen Finanzminister wenigstens 500 Millionen DM für höhung um 304 Millionen DM in Form von Verpflich- Bund und Länder zusammen abgerungen. Herr Kollege tungsermächtigungen beantragt – Kollege Großmann, (B) Großmann – mein alter Sprecherkollege, herzlichenwenn Sie sich erinnern –, mit dem langfristigen Ziel von (D) Glückwunsch zum Staatssekretär! –, 2 Milliarden DM. Dies ist nach wie vor ein gutes Ziel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Wir warten jetzt mit Interesse auf Ihren Haushaltsent- Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS wurf und wünschen uns sehr, daß aus der roten Null an 90/DIE GRÜNEN]) Erhöhungsmitteln, die bis jetzt in internen Papieren steht, ein bißchen mehr wird. Sie haben sich damals geweigert mit der Begründung: Unter 1,5 Milliarden DM pro Jahr machen wir es nicht. Schaut man – nicht so oft wie der Kollege Mölle- mann, aber ab und zu einmal – in eine Tageszeitung, (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig dann kann man Erstaunliches lesen. Ich nehme zum Bei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) spiel „Die Welt“ vom 10. November 1998. Da kommt Und nun, verehrte Frau Kollegin Mertens, Frau Kol- man aus dem Staunen wirklich nicht heraus, Frau Kolle- legin Eichstädt-Bohlig – ich bin ja jetzt von Frauen um- gin Eichstädt-Bohlig. „Grüne greifen Steuerpläne an“ zingelt, wunderbar, meine stellvertretende Fraktionsvor- steht da. Das haben wir früher schon öfter gelesen. Aber, sitzende umzingelt mich mit –: In der Koalitionsverein- wie gesagt, das ist die Zeitung von vorgestern; das war barung ist zum Wohngeld eine Luftblase. der Tag der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder. Weiter steht da: (Beifall des Abg. Dr. [CDU/CSU]) Unmut regt sich bei den Wohnungsbauexperten der Grünen über die Beschlüsse der Koalitionsverein- In den internen Papieren, die das eine oder andere dann barung zur Immobilienbesteuerung. Die woh- doch an die Oberfläche bringen, ist für das nächste Jahr nungsbaupolitische Sprecherin der Grünen, Fran- für Wohngeld weniger als 200 Millionen DM zusätzlich ziska Eichstädt-Bohlig, kritisiert vor allem vier vorgesehen. Sie streben eine Anpassung offensichtlich Eckpunkte der Koalitionsvereinbarung. . . . relativ spät an. Sie hätten längst mehr und das viel früher haben können. Das sagt heute selbst unsere Kollegin und Nicht einen, gleich vier – das ist ein bißchen viel. Frau Präsidentin des Deutschen Mieterbundes, Anke Fuchs. Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie gehören jetzt einer Re- Wenn wir damals im Sinne unseres Unionsvorschlages gierungsfraktion an, selbst wenn Sie es noch nicht ge- verfahren wären, dann wäre das schon vor einem halben merkt haben sollten. Es ist nicht wichtig, was in der Jahr geschehen. Zeitung steht, sondern was Sie in den nächsten Wochen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und Monaten beschließen werden: bei Sanierungsgebie- ordneten der F.D.P.) ten, bei Baudenkmälern, bei vertikalem Verlustaus- 276 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr.-Ing. Dietmar Kansy (A) gleich, bei der Eigenheimförderung. Alles das sind in Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich erteile jetzt das (C) den nächsten Wochen auch Ihre Beschlüsse, es sei denn, Wort dem Bundesminister für Verkehr, Bau- und Woh- Sie besinnen sich noch eines Besseren. nungswesen, Franz Müntefering. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das bedeutet nicht mehr, sondern weniger Wohnungen, Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr, und nicht mehr Arbeit am Bau, sondern weniger. Bau- und Wohnungswesen (von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt): Frau Wir bleiben bei unserer Forderung: Hände weg von einem der besten Gesetze der letzten Jahre – das übri-Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Legislaturperiode wird in erheblichem Maße vom gens mit Zustimmung der SPD hier im Deutschen Bun- Umzug des Deutschen Bundestages und von Teilen der destag verabschiedet wurde –: dem Eigenheimzulagen- nach Berlin gesetz. Bundesregierung bestimmt sein. Die Zusa- ge gilt: Die Bundesregierung will, wenn der Deutsche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundestag im September nächsten Jahres in Berlin dau- Meine Damen und Herren, ich will mich heute nurerhaft arbeitsfähig ist, in Berlin sein. Bis dahin wird zurückhaltend äußern; aber wenn jemand „Wählerbe-noch viel zu tun sein. Es wird zwei bis drei Jahre ganz trug“ dazu sagen würde, daß Sie im Rahmen des Eigen- besondere Arbeitsbedingungen für Sie und für uns ge- heimzulagengesetzes bei derGenossenschaftsförde- ben. Es wird uns allen eine ganze Menge an Flexibilität rung das völlige Gegenteil von dem machen, was Sieund auch an Mut zur Improvisation abgefordert werden. noch vor wenigen Wochen und Monaten gesagt haben, Ich werde zum 18. November dem Kabinett einen dann wäre das richtig. Bisher hatten Sie den Wegfall der Bericht über den Stand der Dinge vorlegen und deutlich Selbstnutzung als Voraussetzung für die Genossen-machen, was aus meiner Sicht jetzt schnell zu passieren schaftsförderung – O-Ton Großmann – als eine wichtige hat; denn nicht alles ist ausreichend gut vorbereitet. Aufgabe für die kommende Legislaturperiode darge-Aber ich gehe davon aus, es wird klappen, und zwar stellt. Jetzt wollen Sie die Voraussetzungen sogar inspünktlich. Berlin kann die Bundesregierung nächstes Gesetz schreiben, wie man Ihrem Entwurf eines Steuer- Jahr im Sommer, im Herbst erwarten. Bonn darf sich reformgesetzes entnehmen kann. darauf verlassen, daß die Verträge und Vereinbarungen, Meine Damen und Herren, auch in unserem Fachbe- die es gibt, gelten. reich gilt das Wort unseres Vorsitzenden, Wolfgang Schäuble, daß wir nicht Opposition um der Opposition BMBau und BMV sind zum Bundesministerium für willen machen werden. Was vernünftig ist, werden wir Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zusammengelegt. offen diskutieren, gegebenenfalls versuchen zu verbes- Das hat seine Logik. Was uns das Grundgesetz vorgibt, (B) sern. Was wir nicht mittragen werden, werden nämlich wir gleichwertige Lebensbedingungen in allen Lan- (D) knallhart bekämpfen. Auch hier werden wir Sie an dem desteilen anzustreben und auch durchzusetzen, hat etwas messen, was Sie vor der Wahl versprochen haben. mit raumordnerischen Ansätzen und mit der Frage zu tun, wie sich verschiedene Politikbereiche bündeln las- Herr Minister Müntefering, zum Abschluß wünsche sen, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb werden nicht ich Ihnen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Interesse zwei Häuser nebeneinander arbeiten, das alte Bau- und unseres Landes eine glückliche Hand und Gottes Segen das alte Verkehrsministerium. Vielmehr wollen wir sie für Ihre Arbeit. verschmelzen: die Themen, die diese Häuser haben, und Vielen Dank. die Aufgaben, die sich daraus ergeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In diesem Haus wird der größte Investitionsbereich des Bundes sein: im Verkehrs-, im Wohnungsbereich. Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß Chancen ge- vention erteile ich das Wort der Abgeordneten Franziska sucht werden können und genutzt werden müssen, um Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen. die Verteilung der Mittel zu optimieren und sie so einzu- setzen, daß sie eine nachhaltige Städtebau- und Ver- kehrspolitik ermöglichen, aber auch möglichst viele Ar- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Kansy hat mich persönlichbeitsplätze bringen und garantieren. wegen eines Zeitungsartikels in der „Welt“ angespro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS chen. Ich möchte nur klarstellen: Als alter Hase wissen 90/DIE GRÜNEN) Sie, Herr Kansy, doch sehr genau, daß die Fachpolitiker eigentlich couleurübergreifend um die nötigen Finanzen Bundesmittel, die für den Verkehr eingesetzt werden, für ihre Bereiche kämpfen müssen. Das kennen Sie vom lösen pro Mark drei Mark zusätzliche Investitionen aus Wohngeld genauso wie von der Städtebauförderung und anderen Kassen aus. Im Städtebau ist das Verhältnis et- Stadterneuerung. Sie wissen genau, daß wir es nötig ha- wa 1 : 5. Es ist daher ganz wichtig, daß wir die Mittel, ben, rechtzeitig vor den Haushaltsberatungen um diese die wir zur Verfügung haben, so einsetzen, daß mög- Mittel zu kämpfen. In diesem Sinne tragen wir die Din- lichst viele Arbeitsplätze entstehen und gesichert werden ge kollegial, solidarisch aus und ringen um unsere Etats. und daß die kleinen und mittleren Unternehmen davon profitieren. (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ CSU]:Wenn es was bringt, Frau Eichstädt- Der Wohnungs- und der Städtebau und der Verkehrs- Bohlig, wären wir ganz zufrieden!) bereich sind die Bereiche, in denen die standortabhän- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 277

Bundesminister Franz Müntefering (A) gige deutsche Bauindustrie, das deutsche Baugewerbe Es gehört zum Mietrecht, daß die Mieter wissen, sie sind (C) seinen großen Rückhalt hat. Deshalb müssen wir wissen, sicher und haben einklagbare Rechte. Hier werden die welches Pfund wir hier in der Hand haben. Sozialdemokraten so sensibel bleiben, wie sie es immer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gewesen sind. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bestandspolitik ist ein ganz besonders wichtiges Deshalb ist es meine Sache, dieillegale Beschäfti- Thema. Wir müssen neu bauen, wir brauchen zusätzli- gung und das Lohn - und Sozialdumping zu bekämp- che Wohnungen, aber wir brauchen auch dringend neue fen. Es kann nicht so bleiben wie im letzten Jahr, daß es Aktivitäten im Bestand. bei einer relativen Baukonjunktur 30 000 Pleiten im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Baugewerbe gab und 200 000 Bauarbeiter arbeitslos wa- 90/DIE GRÜNEN) ren. Das darf nicht sein. Es kann nicht sein, daß der Bestand absackt; denn wir (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE wissen alle: Die Qualität der Stadt und die Wohnungs- GRÜNEN und der PDS) qualität sind Lebensqualität. Die Menschen machen ihre Beim Thema „Raumordnung und regionale Ent-Erfahrungen mit der Demokratie vor Ort, in ihrer Woh- wicklung“ sind vor allem die besonderen Aufgaben in nung und in ihrem Stadtteil. Ostdeutschland zu erwähnen. DieVerkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ müssen zügig fortgeführt werden. Auch im 21. Jahrhundert, im nächsten Jahrtausend, Hier entscheidet sich das Zusammenwachsen im Alltag wird es so sein, daß die Menschen ein Zuhause, im gu- auf ganz praktische Weise. Es geht um die Fortführung, ten Sinne des Wortes eine Heimat in ihren Städten und möglichst Verstärkung, der KfW-Programme, um in den Dörfern haben wollen. Deshalb bleiben die Stadtent- neuen Ländern Aufgaben im Bereich des Wohnens zuwicklung, der Städtebau, die Stadtförderung und die erfüllen. gemeindliche Entwicklung ein ganz zentrales Anliegen. Wir wollen auch in Zukunft keine Gettos in deutschen Die Aufgaben, die wir in unserem Ministerium bün- Städten haben. deln können, werden uns zusammen mit dem Kanzler in den nächsten Monaten besonders oft in die neuen Län- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der führen; DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der SPD) denn dort zeigt sich, ob es jetzt mit der Gleichwertigkeit Die Mobilität ist eine der entscheidenden Grundla- der Lebensbedingungen ernst wird. gen des Wohlstands in unserem Land. Nur wenn ein Land wie unseres in der Lage ist, Menschen, Güter und (B) Wohnen, meine Damen und Herren, ist mehr als ein Informationen pünktlich, zielgerichtet, preiswert und(D) Dach über dem Kopf zu haben. Von Zille stammt derumweltgerecht an die Orte zu bringen, an die sie müs- Satz: „Man kann den Menschen mit der Wohnung er-sen, kann der Wohlstand gesichert sein. Deshalb wird schlagen wie mit einer Axt“, nämlich dann, wenn siedie Sicherung der Mobilität eine große Aufgabe in die- nicht bezahlbar oder nicht menschenwürdig ist. Deshalb ser Legislaturperiode sein. bleibt das menschenwürdige Wohnen eine große Auf- gabe für die Politik. Dabei steht die Eigenverantwortung 90 Prozent des Individualverkehrs werden mit dem ganz vorn. Auch beim Wohnen gilt: Die Menschen, die Auto abgewickelt. Das bleibt das wichtigste Instrument können, müssen selbst dafür sorgen, daß sie menschen- der Mobilität in diesem Land. würdig und bedarfsgerecht wohnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber nicht alle Einzelpersonen und alle Familien können das. Deshalb gilt: Wir müssen im Eigenheimbe- Wir werden daran arbeiten, daß es sicher ist, noch siche- reich und im Mietwohnungsbereich dafür sorgen, daßrer wird, daß es umweltfreundlich ist und noch umwelt- die Menschen das haben, was zur Menschenwürde ge- freundlicher wird. Aber die entscheidende Frage, die wir hört. Das Wichtigste neben der Arbeit, dem Essen und zu beantworten haben, ist die derFortentwicklung des der Gesundheit ist für die Menschen das Wohnen. Bundesverkehrswegeplans. Dabei geht es nämlich um die Optimierung von Straße, Schiene, Luft und Wasser. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Es geht um die Frage, ob es uns gelingen wird, davon wegzukommen, daß die einzelnen Verkehrsarten neben- Es bleibt die große und zentrale Aufgabe, dafür zu sor- einander betrachtet werden, ob es uns gelingen wird, sie gen, daß es hinreichend viele menschenwürdige Woh- zu bündeln und daraus eine sinnvolle integrierte Ver- nungen gibt, die bezahlbar sind. Das Thema Wohngeld kehrspolitik zu entwickeln. Das ist die zentrale Aufgabe, wird uns sehr schnell erreichen, und wir werden im Jah- die wir in dieser Legislaturperiode zu erfüllen haben. re 1999 erste Schritte gehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert 90/DIE GRÜNEN) Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Natürlich gilt, daß sich die Mieterinnen und Mieter in ganz besonderer Weise auf die Sozialdemokraten verlas- Dabei geht es nicht nur um Hardware, sondern auch um sen können. Verkehrstechnik und Telematik. Da geht es um die Frage, ob wir es schaffen, nicht nur Autos zu exportie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ren; vielmehr geht es auch um die Frage, ob wir Ver- 278 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesminister Franz Müntefering (A) kehrstechnik exportieren können. Das wird eine ganzin Zukunft nur noch dann erteilt werden, wenn zum Bei- (C) wichtige Industrie sein. spiel Menschen mit Behinderungen jederzeit mitfahren können, so daß wir in absehbarer Zeit einen öffentlichen (Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] Nah- und Fernverkehr haben werden, der von allen [F.D.P.]) Menschen – mit oder ohne Behinderung – genutzt wer- Es ist eine ganz wichtige Frage, die nicht nur die Länder den kann? Das gleiche gilt natürlich für die Städte- Europas berührt, sondern weit darüber hinausgeht; denn bauförderung. Schaffen wir es, daß Sie entsprechende natürlich werden die Verkehrsprobleme im wesentlichen Verordnungen herausgeben, die es verbieten, behinder- nur zu lösen sein, wenn wir in Europa einheitliche Vor- tenfeindliche Transportmittel anzuschaffen? kehrungen im Bereich der Verkehrstechnik und der Mo- dernisierung schaffen. Solange es in Europa noch drei Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr, unterschiedliche Schienenbreiten, rund zehn verschiede- Bau- und Wohnungswesen: Ich möchte dazu zwei Dinge ne Signalsysteme und 16 verschiedene Stromarten gibt, sagen, Herr Kollege. Ich weiß erstens nicht, ob ich aku- so lange kommen wir nicht voran. Deshalb müssen hier stisch alles verstanden habe. Zweitens bin ich Westfale. entscheidende Veränderungen zustande kommen. Das sind vorsichtige Menschen, wie Sie wissen. Ehe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sich solche Menschen auf Details festlegen, die sie nicht 90/DIE GRÜNEN) bis in die Feinheiten kennen, warten sie lieber ab und schauen sich das Ganze noch einmal genau an. Ich wer- Die Wasserstraßen in Deutschland sind als Verkehrs- de schon bald dem zuständigen Ausschuß des Deutschen träger nicht ausgelastet. Sie werden in Zukunft eine ganz Bundestages darüber Bericht erstatten, was wir uns in wichtige Funktion haben. Sie sind natürliche Verkehrs- dieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Dann träger. Deshalb müssen wir sie in besonderer Weise nut- werde ich Ihnen auch auf Ihre Frage eine gute und plau- zen. Bisher werden hier nur 6 bis 7 Prozent der Gütersible Antwort geben können. Das möchte ich jetzt nicht transportiert. Das ist zu wenig. versuchen. Das gleiche gilt – vielleicht in noch größerem Maße – (Beifall bei der SPD) für die Schiene. Die Bahnreform wird weitergehen. Wir Die streckenabhängige Gebühr für Lkws muß werden der Bahn helfen, aber die Verantwortlichen bei möglichst über Deutschland hinaus in ganz Europa gel- der DB müssen wissen, daß es sich um ein selbständiges ten. Sie wird deutlich machen, daß die Schiene für den Unternehmen handelt. Sie haben die Verantwortung da- weiten Transport von Gütern ein ganz besonderes Ge- für zu tragen, daß sie eine gute Verkehrspolitik machen, wicht haben wird; denn die, die mit ihren Lkws lange mit und für die Schiene. Dabei werden wir sie unterstüt- unterwegs sind und kreuz und quer durch Deutschland zen. Aber wir werden sie auch herausfordern, damit (B) fahren, werden deutlich mehr als bisher zahlen. Wenn(D) Veränderungen in den nächsten Jahren möglich seinwir diese beiden Aspekte vernünftig miteinander ver- werden. binden, nämlich daß die Schiene mehr für den Transport (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE von Gütern auf langen Strecken genutzt wird und daß GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ die Straße mehr für kurze Strecken genutzt wird, dann CSU und der F.D.P.) haben wir an dieser Stelle, so glaube ich, etwas Wichti- ges erreicht. Wir haben dann erreicht, daß der Transport Wir haben uns vorgenommen, in dieser Legislaturpe- von Gütern von der Sraße auf die Schiene und auf das riode die streckenabhängige Gebühr für Lkws einzu- Wasser verlegt wird. Das sind die beiden entscheiden- führen. Dazu brauchen wir elektronische Erfassungsge- den Wege, die wir gehen müssen. räte. Dazu brauchen wir auch Vorbereitung. Aber es soll in dieser Legislaturperiode dazu kommen, daß für Lkws, Das Ganze wird nur zu erreichen sein, wenn wir uns die in Deutschland fahren, streckenabhängige Gebühren darüber in Europa verständigen. Wie wichtig Europa ist, gezahlt werden müssen. zeigt sich gerade in diesen Tagen bei der Havarie der „Pallas“. Ich will jetzt dazu nicht viel sagen; denn im Moment kommt es darauf an, daß das, was zu retten ist, Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Minister,gerettet wird. Aber wir werden nicht vergessen, darüber gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja dem Bundestag und dem entsprechenden Ausschuß de- Seifert? tailliert, schnell und ausführlich zu berichten: Was dort stattgefunden hat und noch in diesen Stunden stattfindet, muß Konsequenzen haben. Das darf so nicht sein. Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Bitte schön. (Beifall im ganzen Hause – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Wird Herr Steenblock jetzt zurücktreten?) Dr. Ilja Seifert (PDS): Herr Minister, Sie sprachen gerade davon, daß Sie innovative Verkehrstechniken Es hat eine Reihe unglücklicher Umstände gegeben. fördern wollen und sie nicht nur in Deutschland ver-Ich bin gegen alle die angetreten, die vorschnell Vor- wendet werden sollen. Sie sprachen auch davon, daßwürfe gegen Beteiligte erhoben haben. Ich bin gegen zum Beispiel die privatwirtschaftliche Bahn ihre Aufga- Spekulationen. Wir müssen das auf den Kern bringen. be erfüllen soll. Aber wie sieht es aus? Sind Sie bereit, Wir müssen wissen, ob wir in Europa auch in Zukunft den Vorschlag zu unterstützen, daß Betriebserlaubnisse wollen, daß Schiffe, die sich der Schrottreife nähern und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 279

Bundesminister Franz Müntefering (A) die mit Lohn- und Sozialdumping unter fremder Flagge Ich bin sicher, daß die Wählerinnen und Wähler sehr(C) laufen, freie Fahrt auf unseren Meeren haben. Das ist der bald merken werden, daß es sich gelohnt hat, dieser Ko- entscheidende Punkt. alition eine Chance zu geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Lachen bei der F.D.P.) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ) Wir haben spannende Jahre vor uns. Ich bin mir dessen All denen, die jetzt ganz schnell auf die einschlagen, die bewußt; ich bin mir aber auch bewußt, daß wir in dieser zu helfen versuchen, sage ich: Es macht wenig Sinn, die Koalition die Chance haben, etwas zu erreichen, was die Feuerwehr zu beschimpfen. Man muß da anfangen, wo alte Koalition nicht geschafft hat, nämlich in diesem das ganze Dilemma liegt. Land noch einmal das Bewußtsein dafür zu wecken, daß es darum geht, die Lebensqualität zu suchen und zu fin- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert den – in den Städten, beim Wohnen und in allen Fragen Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE der Verkehrspolitik. GRÜNEN]) In diesem Sinne: Glück auf! Wohnungs- und Städtebau, Stadtentwicklung, Raum- ordnung und Verkehrspolitik – das ist alles etwas, was (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS ganz eng mit Umweltentwicklung zu tun hat. Das alles 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten muß ökologisch buchstabiert sein. Wir sind sicher, daß der PDS) das geht. Bei allem, was wir dafür zu tun haben – in der Bau- und in der Verkehrspolitik –, werden wir uns im- Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich erteile jetzt dem mer wieder fragen: Was kann in bezug aufUmwelt- Abgeordneten Horst Friedrich, F.D.P., das Wort. freundlichkeit verbessert werden? Denn die Qualität der Städte und auch die Qualität der Umwelt hängen entscheidend davon ab, was wir in diesen Arbeits- und Horst Friedrich (Bayreuth) (F.D.P.): Frau Präsiden- Politikbereichen in den nächsten Jahren erreichen. Des- tin! Meine Damen und Herren! „Aufbruch und Erneue- halb wird darauf einer unserer Hauptaugenmerke liegen. rung“ steht über der Koalitionsvereinbarung von Rot- grün. Der „Stern“ – normalerweise Rotgrün gegenüber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS sehr aufgeschlossen – 90/DIE GRÜNEN) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS Frau Präsidentin, ich sehe, daß ich seit sieben Minu- 90/DIE GRÜNEN]: Na ja, also Rotgrün ge- ten eine Sieben auf meinem Redezeitdisplay stehen ha- genüber nicht!) be. Ich bedanke mich dafür. (B) titelt: „Aufbruch mit angezogener Bremse“. Recht hat(D) er, der „Stern“. Denn ich muß zugeben, ich habe selten Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Minister, das zwei Stunden lang nichts in einer Regierungserklärung liegt nicht an meiner Großzügigkeit, sondern daran, daß gehört, schon gar nichts zur Verkehrspolitik. die EDV versagt hat. (Widerspruch bei der SPD – Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben doch Ohren!) Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr, Dabei ist das der größte Investitionshaushalt und damit – Bau- und Wohnungswesen: Das muß passiert sein, als daran wollen Sie sich ja messen lassen – mitentschei- ich etwas zur Telematik gesagt habe. dend für die Arbeitsplatzsituation in Deutschland. (Heiterkeit) (Beifall bei der F.D.P.) Es wundert mich allerdings nicht, daß in der Regie- Vizepräsidentin Petra Bläss: Sie haben jetzt noch rungserklärung nichts zur Verkehrspolitik gesagt worden 23 Sekunden. ist. Denn die Aussagen dazu in der Koalitionsvereinba- rung sind eher dürftig. Um Ihnen die gehaltvolle Quali- (Heiterkeit) tät einmal vor Augen zu führen, gestatten Sie mir ein Zitat:

Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr, Die besonderen Anforderungen an Mobilität gerade Bau- und Wohnungswesen: Gut, 23 Sekunden. im ländlichen Raum werden berücksichtigt. ( [Emstek] [CDU/CSU]: Die Donnerwetter! Das haut einen tatsächlich vom Sockel. sind jetzt um!) Der Satz ist so gehaltvoll und qualitäthaft, daß einem dazu nichts mehr einfällt. Das Schlimme ist: Dieser rote Ich bitte den Bundestag und seine Gremien um gute Zu- Faden an tollen Aussagen zieht sich durch die ganze sammenarbeit – konstruktiv und, da wo es nötig ist, kri- Passage der Koalitionsvereinbarung zum Thema Ver- tisch. Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt. Inso- kehr. Da, wo Sie konkret werden, geht es ausschließlich fern habe ich keine Sorge. um die Verteuerung des Straßenverkehrs. (Manfred Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS Reibung bremst aber auch!) 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) 280 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Ich will nur einmal darauf hinweisen, daß wir zum Lassen Sie mich auch noch einige Gedanken zum(C) 1. Juli 1998 die Aufhebung der letzten BeschränkungWohnungsbau anbringen. Herr Müntefering hat in die- innerhalb Europas hatten, nämlich des Kabotagevorbe- sem Bereich eigentlich eine glänzende Ausgangsposition halts. Alles, was Sie national machen, das einseitig zur vorgefunden. Durch die qualifizierte Politik von Irmgard Verteuerung des Straßenverkehrs in Deutschland führt, Schwaetzer bereits in der Zeit von 1990 bis 1994 ist er- führt wahrscheinlich – über einige Umwege – zwar nicht reicht worden, daß man zum damaligen Zeitpunkt sagen zu weniger Straßenverkehr, aber dazu, daß der Straßen- konnte: Statistisch gesehen wird jede Minute in verkehr mit anderen Verkehrszeichen stattfindet und – Deutschland eine Wohnung fertiggestellt. Die Woh- ich gehe einmal davon aus – auch mit anderen Nationa- nungspolitik der von uns getragenen Regierungen war litäten hinter dem Lenkrad. Das sollte man wissen, ins- und ist durch einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt und besondere der Finanzminister; denn jeder nicht mehrdurch sinkende Mieten gekennzeichnet. Wir haben be- unter deutscher Flagge fahrende Lkw kostet ihn, rundreits teilweise Leerstände. Die Eigentumsquote in Ost gerechnet, 100 000 DM pro Jahr. und West ist gestiegen; allerdings reduziert sich die Zu- nahme im Baubereich ausschließlich auf den Einfamili- Eine weitere wichtige Frage für die Bauwirtschaftenhausbereich. Wenn jetzt in der Koalitionsvereinba- und für die Arbeitsplätze ist, wie Sie es weiterhin mitrung und dem daraus abgeleiteten Steuerentlastungsge- der Finanzierung der Infrastruktur halten wollen. Die setz die Immobilienwirtschaft einer der Hauptfinanzierer staunende Öffentlichkeit kann im Vorfeld mitbekommen Ihrer Steuerreform werden soll, weil zum Beispiel die haben, daß es darum ging, Investitionsmittel von dergeplante vollständige Streichung des Vorkostenabzugs, Straße auf die Schiene umzuschichten. Die Frage war: die Einschränkung der Verrechenbarkeit von Einkünften Sind es 2 Milliarden DM, so wie von der SPD verlangt, aus Vermietung und Verpachtung, die Verfünffachung oder sind es 3 Milliarden DM, so wie die Grünen vorge- der Spekulationsfrist für Immobilienverkäufe, die Strei- schlagen haben? Ich gehe einmal davon aus, daß es – auf chung der Werbungskostenpauschale für Einkünfte aus Grund der Qualität der Verhandlungsführung der Grü- Vermietung und Verpachtung sowie die Abschaffung nen in den Koalitionsgesprächen – wohl und eherKürzung verschiedener Möglichkeiten, in besonde- 2 Milliarden DM sein werden. ren Fällen anfallenden erhöhten Herstellungs- und Er- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS haltungsaufwand abzusetzen, sich zu einer Belastungs- 90/DIE GRÜNEN]: War das jetzt ein Kom- summe von rund 3,5 Milliarden DM ausweiten, dann pliment oder Ironie?) belasten Sie in der Gegenfinanzierung mit dieser Summe die Immobilienwirtschaft. Das, zusammen mit der ge- – Verstehen Sie das lieber als Ironie. Ich habe schonplanten Verschärfung der Grunderwerbsteuer und der einmal gesagt: Wer wie Sie, bereits auf dem Bauche lie- Belastung der Rücklagen der Bausparkassen, summiert (B) gend, in den Koalitionsverhandlungen kriecht, der kann sich dann auf 4 Milliarden DM pro Jahr. (D) zumindest physisch nicht mehr umfallen. Es ist zu befürchten, daß sich diese „Liste der Grau- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS samkeiten“ genau zum falschen Zeitpunkt in einer Art 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe überhaupt keinen und Weise auf den Wohnungsmarkt auswirkt, daß hier Bauch! Das weise ich zurück, mit Empörung!) in den nächsten Jahren hausgemachte Probleme auf uns zukommen werden. Die neue Bundesregierung schafft – Dann ziehe ich mich halt wieder auf das Zitat zurück, mit diesem Gesetzentwurf die Voraussetzungen für die lieber Herr Kollege Schmidt, daß Sie bestenfalls aufzukünftige Wohnungsknappheit, vor allem dann, wenn Hühneraugenhöhe verhandelt haben; auch das ist einemit der privaten Vermögensteuer bzw. einer Erhöhung bestimmte körperliche Haltung. der Erbschaftsteuer und mit der Reform des Wohn- raummietrechts noch weitere wohnungspolitische Grau- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS samkeiten folgen. 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe blaue Augen, nicht grüne!) Ich fürchte, Herr Minister Müntefering, Ihre Schluß- bilanz wird erheblich schlechter aussehen als die Eröff- Ich wundere mich allerdings, wie der jetzige Ver-nungsbilanz, die Sie übernehmen durften. kehrsminister das seinen Verkehrsministerkollegen aus den Ländern erklären will, die in einer Verkehrsmini- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sterkonferenz im November 1997 in Hannover festge- ten der CDU/CSU) stellt haben, daß für die Finanzierung des Straßenbau- Die F.D.P. wird Ihre Arbeit außerordentlich kritisch be- titels 4 Milliarden DM fehlen. Diese Verkehrsminister- gleiten. Sie können sicher sein, daß wir keinen Ihrer kollegen haben den Bund aufgefordert, dafür Sorge zu Fehler unbemerkt verstreichen lassen. Ich wünsche Ih- tragen, daß diese 4 Milliarden DM im Straßenbautitelnen allerdings Erfolg zum Wohle von Deutschland und kurzfristig eingestellt werden sollen. Ich nehme an, daß auch Gesundheit; denn ich habe im Geschäftsvertei- diese Forderung der überwiegend von der SPD gestell- lungsplan der Bundesregierung gelesen, daß Sie von ten Verkehrsminister nicht nur so lange Gültigkeit hatte, Herrn Trittin vertreten werden. Da – das muß ich sa- wie CDU/CSU und F.D.P. den Bundesminister für Ver- gen – sind Sie mir immer noch lieber. kehr gestellt haben. Ich werde Sie an dieser Forderung messen. Danke sehr. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 281

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist graue Theorie, solange die Konkurrenten auf diesem(C) der Abgeordnete Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grü- Markt, nämlich Straßenverkehr, Schienenverkehr, Luft- nen. verkehr und Schiffsverkehr, unter höchst ungerechten Bedingungen antreten müssen. Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN): Nach so vielen Liebeserklärungen bin ich sowie bei Abgeordneten der SPD und der fast versucht, zu fragen, wo ich bei diesem Ranking ran- PDS) giere, Kollege Friedrich. Dabei ist es vor allem die Schiene, die bis heute mas- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnensiv benachteiligt wurde. Seit Jahren wurde ein zentraler und Kollegen! Mobilität ist Produkt und Voraussetzung Grundsatz des 1993 im Rahmen der Bahnreform be- des Zusammenlebens in einer freien, vernetzten undschlossenen Allgemeinen Eisenbahngesetzes verletzt, technisierten Welt. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD der da heißt: und Bündnis 90/Die Grünen bringt dies unmißverständ- Bundesregierung und Landesregierungen haben lich zum Ausdruck. Wir werden die Mobilität der Men- darauf hinzuwirken, daß die Wettbewerbsbedin- schen und den Transport der Waren gewährleisten, und gungen der Verkehrsträger angeglichen werden und zwar auch der Menschen, die nicht über ein eigenes daß durch einen lauteren Wettbewerb der Verkehrs- Automobil verfügen – das sind oft alte Menschen, Kin- träger eine volkswirtschaftlich sinnvolle Aufga- der und Jugendliche und Menschen, die sich ein Auto benteilung ermöglicht wird. nicht leisten können oder wollen –, denn Mobilität ist nicht nur „Automobilität“, sondern auchMobilität mit Das heißt, ohne den Abbau bestehender Wettbewerbs- öffentlichen Verkehrsmitteln, die wir ausbauen wol- verzerrungen zu Lasten der Bahn läuft auch die Bahnre- len. form ins Leere. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag (Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heißt das?) sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Bis da- – ich komme darauf noch sehr konkret zu sprechen, Herr hin unstrittig!) Kollege Friedrich – sehr genau festgelegt, was nach dem jahrelangen Versäumnis der Ära Wissmann nun zu ge- Ziel eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems muß es schehen hat. allerdings sein, nicht nur Beweglichkeit zu garantieren, sondern zugleich die mit den notwendigen Transporten Der bisherige Verkehrswegeplan – das weiß jedes verbundenen Aufwendungen – den Verbrauch an Ener- Kind – beruht auf veralteten Prognosen und Kostenab- (B) gie, Rohstoffen und Flächen sowie die damit verbunde- schätzungen. Er wird dem aktuellen Umweltrecht nicht(D) nen Emissionen – schrittweise zu reduzieren. Dies ver- mehr gerecht. Er ist vor allem hoffnungslos unterfinan- langt angesichts der hohen verkehrsbedingten Umwelt- ziert. Deshalb werden wir im Rahmen eines Gesamtkon- und Gesundheitsbelastungen entscheidende neue Maß- zeptes für einen umweltverträglichen und effizienten nahmen. Es verlangt erstens moderne Logistik zur Ver- Verkehr diese Verkehrswegeplanung zügig überarbeiten, meidung unnötiger Transportvorgänge. Herr Ministerdas heißt, rechtlich und finanziell auf eine solide Müntefering hat dies bereits angedeutet. Es verlangtGrundlage stellen. Dazu gehört insbesondere die Aktua- zweitens die intelligente Verknüpfung von Verkehrsträ- lisierung der Daten, die Neufassung der Bewertungs- gern mit dem Ziel der Verlagerung möglichst großermaßstäbe und die Sicherstellung der Finanzierbarkeit Anteile auf die umweltfreundlichen Systeme Bahn und inklusive der Folgekosten. Eine solche Neuerstellung ei- Schiff. Es verlangt drittens eine Effizienzrevolution der nes realistischen Verkehrswegeplanes – nicht eines eingesetzten Technologien vom Dreiliterauto über die Wunschzettels an das Christkind – wird nicht nach dem kombinierten Ladungsterminals bis hin zum verbrauchs- Marktschreierprinzip, also nach dem Motto, wer am armen Leichtbauzug auf der Schiene. Umweltschutz und lautesten schreit, bekommt am meisten, erfolgen, son- moderne Technik gehören zusammen, ganz besonders dern nach nachvollziehbaren Kriterien. Das ist keine im Verkehr. rotgrüne Marotte, sondern der gesetzliche Auftrag. Auch nach Auffassung des Bundesrechnungshofes ist dies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN längst überfällig. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles von dem, sowie bei Abgeordneten der SPD) was gestern und heute in diesem Haus schon diskutiert wurde, wird zu einem schrittweisen Umbau unseres Zum Transrapid. Ich will diesem besonders um- Verkehrssystems in diesem Sinne beitragen, zum Bei- strittenen Thema gar nicht ausweichen. Sie von der frü- spiel die ökologisch-soziale Steuerreform, die Erfor-heren Koalition sind jetzt vielleicht von uns enttäuscht schung und Förderung moderner Energietechnik und die worden, weil sich Ihre Unterstellung, die Grünen seien Entwicklung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. aus dem Prinzip einer verbohrten Technikfeindlichkeit Grundvoraussetzung aber für die Schaffung eines zu-generell gegen die Magnettechnik, als haltlos und abwe- kunftsfähigen Mobilitätsentwurfs ist die Herstellung von gig erwiesen hat. Ich möchte Ihnen sagen, worum es Chancengleichheit im Wettbewerb der Verkehrsträ- ganz nüchtern geht. Es geht in dieser Frage – ger. Das wird die Kernaufgabe der neuen Verkehrspoli- (Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] tik sein; denn alles Reden vom Verkehrsmarkt bleibt [F.D.P.]) 282 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Albert Schmidt (Hitzhofen) (A) – Herr Friedrich, hören Sie einmal zu; cool down, baby gehe davon aus – ich will Ihnen ganz präzise sagen, was (C) – weder um ein Glaubensbekenntnis zu der Streckewir im Koalitionsvertrag vereinbart haben –, Hamburg – Berlin um jeden Preis – dazu war nicht einmal Herr Wissmann bereit –, noch geht es um eine quasi reli- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo steht da denn giöse Ablehnung einer Technologie per se. Die Magnet- etwas Präzises drin?) bahn ist kein Atomkraftwerk, sondern eine Verkehrs- daß sich Bund, Bahn und Industrie gemäß dem, was sie technik. Es geht vielmehr wie bei jeder anderen Ver- selbst vertraglich vereinbart haben, nun zusammenset- kehrsplanung auch um eine nüchterne Wirtschaftlich- zen und gemeinsam überlegen müssen, wie es weiter- keitsberechnung und um eine faire Lastenverteilung geht. Im Klartext heißt das, daß einer von den drei Part- zwischen der öffentlichen Hand, dem Bund und der In- nern 2 bis 3 Milliarden DM auf den Tisch legen muß; dustrie. Sonst macht ja das Wort von der öffentlich- oder die Strecke Hamburg – Berlin wird nicht zu reali- privaten Partnerschaft keinen Sinn. Konkret heißt das sieren sein. für die Strecke Hamburg – Berlin: Gemäß Ziffer 10 des Eckpunktepapiers vom April 1997, das die damalige (Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Oder Bundesregierung, die Deutsche Bahn AG und das Indu- Kosten sparen!) striekonsortium gemeinsam unterschrieben haben, muß dann über dieses Projekt neu entschieden werden, wenn Ich sehe nicht, daß der Bund dies tun wird. In der Koali- die Kosten deutlich steigen. Genau das ist ja offenkun- tionsvereinbarung ist das ausgeschlossen. Ich sehe nicht, dig der Fall, denn für den Fahrweg werden anstatt derdaß die Bahn das tun wird. Ihr Vorstandsvorsitzender damals festgeschriebenen 6,1 Milliarden DM nunmehr hat das in einer öffentlichen Stellungnahme ausge- vom Eisenbahn-Bundesamt Kosten in Höhe von bis zu schlossen. Es bleibt die Industrie. Wenn ich mir die knapp 8 Milliarden DM angenommen, und zwar nichtwirtschaftlichen Probleme von Siemens und Adtranz an- als Schätzwerte, sondern größtenteils auf der Basis von schaue, so erwarte ich zumindest keine Sensationen. Ich Ausschreibungsergebnissen. sehe diesen Gesprächen mit großer Gelassenheit entge- gen. Lassen Sie mich noch klar und eindeutig etwas dazu Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen sagen, wie die Bahnreform zu geschehen hat. Wir ha- Dr. Wolf? ben sehr präzise festgelegt, daß wir die Möglichkeiten zur Senkung von Trassenpreisen nutzen wollen. Es kann nicht sein, daß nur für den Schienenweg, nicht aber für den Straßenverkehr das Prinzip der vollen Deckung der Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIEWegekosten gilt. Ferner wollen wir Maßnahmen zur Si- (B) (D) GRÜNEN): Herrn Dr. Wolf immer gerne. cherung eines fairen und diskriminierungsfreien Wett- bewerbs von Bahnunternehmen auf der Schiene ergrei- fen. Außerdem wollen wir schrittweise die Benachteili- Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Kollege Schmidt, Sie gung der Bahn bei den für Infrastrukturmaßnahmen vor- haben gerade den Transrapid angesprochen und sindgesehenen Investitionen im Bundeshaushalt abbauen. noch dabei, über die – salopp gesagt – wackelpud-Für die Länder ist von entscheidender Bedeutung – das dingartige Stellungnahme zum Transrapid-Projekt imist die Abwehr eines Anschlags der alten Bundesregie- Koalitionsvertrag zu reden. Ich möchte Sie fragen, obrung auf den Schienennahverkehr –, daß wir die Mittel Sie Kenntnis davon haben, daß im Bundesausschrei-für die Regionalisierung bei der Bestellung von Nahver- bungsblatt Nr. 27 vom 2. November 1998 der gesamte kehr auf der Schiene garantieren werden. Das schafft Transport der Überbauten für die MagnetbahnstreckePlanungssicherheit und Spielräume von Angebotsver- Hamburg – Berlin inklusive detaillierter Spezifikationen besserungen von Bremen bis Berchtesgaden. Das ist für ausgeschrieben wird. Dabei wird als Schlußtermin fürjeden Landesverkehrsminister von größter Bedeutung. die Bewerbungen der 27. November 1998 angegeben und der Beginn der Bauarbeiten für Mai nächsten Jahres (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wel- terminiert. Ist Ihnen das bekannt? Kann das vielleicht che Regierung hat denn 13 Milliarden DM da- bedeuten, daß Herr Müntefering gegen die Position der für bereitgestellt?) Grünen diese Ausschreibung lanciert hat? Wir werden uns aber nicht nur um die Trassenpreise im Bereich der Schiene kümmern, sondern auch um die Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIEPreise im Bereich der Straße. Herr Minister Müntefering GRÜNEN): Herr Dr. Wolf, das Bundesausschreibungs- hat es angesprochen, daß die bisherige EU- blatt vom 2. November 1998 habe ich leider nicht gele- Jahresvignette keine Zukunft hat. Sie muß durch eine sen. leistungsbezogene und damit gerechtere elektronische Gebührenerhebung ersetzt werden, die den tatsächlichen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber alles an- Wegekosten näherkommt. Auch dies wird eine Verlage- dere offenbar!) rung des Güterverkehrs auf Schiene und Schiff beför- Ich nehme aber gerne zur Kenntnis, daß Planungsbehör- dern. Gleichzeitig werden damit auch die entsprechen- den immer eine gewisse Zeit brauchen, bis sie die ver- den Impulse aus den traditionellen Transitländern änderten politischen Rahmenbedingungen begreifen. Ich Schweiz und Österreich für eine moderne europäische kenne das auch von anderen Verkehrsprojekten her. Ich Verkehrspolitik aufgegriffen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 283

Albert Schmidt (Hitzhofen) (A) Damit komme ich zu einem heiklen Punkt, den ich Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE(C) nicht ausklammern möchte: Tempolimit. So sehr wir es GRÜNEN): Wir werden das Programm „Soziale Stadt begrüßen, daß Städte und Gemeinden künftig leichterfür bedrohte Stadtteile“ schnell beginnen und mit ausrei- und unbürokratischer Tempo 30 innerorts als Regelge- chenden Mitteln ausstatten. Wir werden dafür sorgen, schwindigkeit ausweisen können, so sehr bedauern wir daß Bauherren mit kleinem Geldbeutel nicht auf Mehr- es, daß es nicht möglich war, uns auf ein Tempolimit für belastungen sitzenbleiben, Autobahnen und Bundesfernstraßen zu einigen. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist eine (Beifall der Abg. Ina Lenke [F.D.P.]) einseitige Bevorzugung und eine Benachteili- gung der Opposition!) Ich will nichts schönreden. Das ist für uns Grüne an die- ser Stelle eine klare Niederlage und mehr als nur einsondern wir werden uns für eine Stärkung des2 - CO Schönheitsfehler. Minderungsprogramms einsetzen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Sie brau- Herr Kollege chen doch nur die eigenen Beschlüsse durch- Vizepräsidentin Petra Bläss: zusetzen!) Schmidt, Ihre Redezeit ist weit überschritten. Das ist um so bedauerlicher, Herr Kollege Friedrich, Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE als es nichts gekostet, aber viel für die Verkehrssicher- GRÜNEN): Frau Präsidentin, ich komme zum allerletz- heit, für die Kraftstoffeinsparung und auch für eine CO - 2 ten Satz. Reduktion beim Verkehr gebracht hätte, die wir gerade in diesem Bereich so dringend brauchen. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Frau Präsi- dentin, das ist unmöglich! Walten Sie Ihres (Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Warum Amtes! Das ist willkürlich!) haben Sie zugestimmt?) Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung über Deshalb halte ich fest: Dieser Aufgabe werden wir uns eine Kollegin, die zwar nicht anwesend ist, die aber eine auf Dauer, liebe Kolleginnen und Kollegen von derErwähnung verdient hat. SPD, stellen müssen, und sei es im Rahmen einer Har- monisierung entsprechender Vorschriften auf europäi- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist scher Ebene. Willkür, was Sie hier machen!) Wir bedauern es sehr, daß die bisherige verkehrspoliti- Es besteht ein enger Zusammenhalt zwischen nach- sche Sprecherin der SPD-Fraktion, die Kollegin Elke haltiger Siedlungsentwicklung und Verkehrsvermei- (B) Ferner, nicht mehr dem Bundestag angehört. (D) dung. Zersiedelung erzeugt Verkehr und Abhängigkeit vom Auto. Integrierte Wohnbaustandorte mit Anbin- dung an den ÖPNV vermeiden Verkehr im Sinne einer Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Stadt der kurzen Wege. Deshalb ist die Zusammenle-Schmidt, Ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen. gung des Bau- und des Verkehrsministeriums eine Chance, die Impulse für eine nachhaltige Siedlungs- und Verkehrspolitik zu stärken. Diese Chance wollen wir Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE nutzen. GRÜNEN): Um so mehr freuen wir uns, daß sie uns als Staatssekretärin mit ihrem ganzen Sachverstand und Für uns Bündnisgrüne stehen die Stärkung Charme der in Zukunft als Partnerin zur Verfügung stehen Innenentwicklung der Städte und die Begrenzung derwird. In diesem Sinne: Auf gute Zusammenarbeit und Zersiedelung in den nächsten Jahren ganz oben auf der auf einen fairen Wettbewerb! politischen Agenda. Die Koalitionsvereinbarungen bie- ten hierfür sehr gute Voraussetzungen. Wohnungsbau- politik ist nicht mehr vorrangig nur Neubaupolitik. Auch Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege dieser Punkt wurde schon angesprochen. Durch die gan- Schmidt, ich muß Ihnen jetzt wirklich das Wort entzie- ze Bandbreite der Instrumente wird zukünftig vor allem hen. auch die Bestandsentwicklung gestärkt: von der Städte- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Wohnbauförderung über die CO2-Minderung bis hin sowie bei Abgeordneten der SPD) zur Bodenpolitik. Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Christine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ostrowski, PDS. sowie bei Abgeordneten der SPD) Christine Ostrowski (PDS): Frau Präsidentin! Mei- ne Damen und Herren! Unser Gesetzentwurf zur Anhe- Herr Kollege Vizepräsidentin Petra Bläss: bung des Wohngeldes ab 1. Januar 1999 wird – da bin Schmidt, ich muß Sie an Ihre Redezeit erinnern. ich mir sicher – eine Sternstunde für den Bundestag be- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Er ist doch deuten. Denn die rechte Seite dieses Hauses hat vier Jah- eine Minute drüber! – Dr.-Ing. Dietmar Kansy re lang das Wohngeld versprochen; die linke Seite hat [CDU/CSU]: Das geht ja nicht!) vier Jahre lang eineWohngeldreform gefordert; die 284 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Christine Ostrowski (A) PDS handelt. Ich stelle also eine für das Hohe Haus sel- Ich komme zurück zur jetzigen Regierung. (C) Die tene Einmütigkeit fest. Die Mieter und MieterinnenKoalitionsvereinbarung ist auf dem Gebiet der Woh- werden es zu danken wissen. nungspolitik dünn. Sie bleibt hinter dem Reformstau in der Wohnungspolitik, der dringend aufgelöst werden (Beifall bei der PDS – Horst Friedrich [Bay- müßte, absolut zurück. Diesbezügliche Kritiken haben reuth] [F.D.P.]: Da warten wir einmal ab!) Sie bereits seitens der Wohnungswirtschaft, des Mieter- Im Ernst: Mieter, Wohnungswirtschaft, Länder und bundes und der Gewerkschaften geerntet. Kommunen sind der verbalen Wohngeldbekenntnisse Auch in puncto Wohngeld findet sich in der Koali- überdrüssig – und zu Recht. Der Kanzler teilte der inter- tionsvereinbarung zwar eine schöne Formulierung; aber essierten Öffentlichkeit mit – ich zitiere –: Die Wohn-so schön sie ist, so unbestimmt ist sie auch. Dabei wis- geldreform steht auf der Agenda einer sozialdemokra- sen Sie ganz genau, daß das Wohngeld seine Entla- tisch geführten Bundesregierung ganz oben. – Entschul- stungsfunktion verloren hat, daß im Westen in den letz- digung, die ganz oben auf der Agenda stehende Wohn- ten Jahren die Höhe der Mieten um 35 Prozent gestiegen geldreform versprach Herr Schröder, als er noch nichtist, daß es im Bereich des Wohngeldes zu einer Nullrun- Kanzler war. Jetzt ist er Kanzler. Nun sucht man aberde kam usw. Ich will jetzt nicht alle Argumente aufzäh- diesen Punkt ganz oben auf der Agenda vergeblich. In len; sie sind zur Genüge ausgetauscht worden. der Regierungserklärung – das wurde schon gesagt – kam das Wohnen, das mehr als nur ein Dach über dem Auch im Osten nützt das Wohngeldüberleitungsge- Kopf ist, nicht vor. setz immer weniger, weil durch die Verteuerung der Mieten nach einer Modernisierung der Wohnungen die Dennoch ist mein Optimismus ungebrochen. In einer Situation für große Bevölkerungsgruppen ausgesprochen Broschüre des Mieterbundes trat die F.D.P. für eine An- problematisch wird. Ich darf darauf hinweisen, daß die hebung des Wohngeldes zum 1. Januar 1999 ein; Herr Höhe der Nebenkosten steigt. Das hat zwar unmittelbar Fischer wollte die Reform am liebsten zum gleichenmit dem Wohngeld nichts zu tun, aber mit der Wohnko- Termin, spätestens aber am 1. Juli 1999; die CDU wollte stenbelastung. Denn der Mieter bzw. die Mieterin muß sie so schnell wie möglich. zahlen, und das Monat für Monat. Wenn Sie den Mietenbericht 1997 anschauen, dann Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kolleginist interessant, daß über die Jahre hinweg die Wohngeld- Ostrowski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- ausgaben und die Zahl der Empfänger von Wohngeld ordneten Dr. Kansy? steigen. Das ist eine Tendenz, die auf den kritischen Zu- stand in der Gesellschaft hinweist. Sie muß vor allem durch den Abbau der Arbeitslosigkeit umgekehrt wer- (B) Christine Ostrowski (PDS): Aber bitte schön, Herr (D) Kansy. den. Was jetzt aber unmittelbar erforderlich ist, ist eine Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Frau Kolle- Erhöhung bzw. eine Anpassung des Wohngeldes, und gin, wie Sie wissen, wird ja das Wohngeld zur Hälftezwar nicht nur im Interesse der Mieterinnen und Mieter vom Bund und zur anderen Hälfte von den Ländern ge- oder etwa der Wohnungswirtschaft, sondern vor allem zahlt. Auch die SPD-regierten Bundesländer hätten inim Interesse des Staates. Denn eine ausreichende Höhe der letzten Legislaturperiode schon initiativ werdendes Wohngeldes stärkt die Binnennachfrage, auf die Sie, können. Aber die Finanzminister waren dagegen.meine Damen und Herren von der Regierung, zu Recht Könnten Sie sich eine Initiative des Landes Mecklen-sehr viel Wert legen. burg-Vorpommern für eine drastische Wohngelderhö- Die Wohngeldreform hätte also zu Ihren ersten In- hung vorstellen? itiativen gehören müssen. Denn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, stehen im Wort. Es nützt alles nichts: Sie hatten die alte Regierung kritisiert, und zwar Christine Ostrowski (PDS): Ich kann mir das sehr hart. Ich zitiere Herrn Großmann aus seiner Rede vom gut vorstellen. Zum einen habe ich bedauert, daß die 7. Mai 1998: SPD in der letzten Wahlperiode über den Bundesrat kei- ne Gesetzesinitiative eingebracht hat. Zum anderen den- Die wohnungspolitische Bilanz dieser Regierung ist ke ich, daß Mecklenburg-Vorpommern – die PDS stellt beschämend . . . neues Mietrecht: Fehlanzeige; ja in Mecklenburg-Vorpommern den Bauminister; wir Städtebauförderung: ein Torso; Fehlsubventionie- sind mit Herrn Holter im Gespräch; das ist vielleicht der rungen im frei finanzierten Mietwohnungsbau: kei- Hintergrund Ihrer Frage – in diesem Bereich aktiv wird. ne Initiativen . . .; sozialer Wohnungsbau: kaputtge- Wie gesagt, ich sehe zwischen allen Fraktionen Einmü- spart . . . ; Wohngeld: Wortbruch. tigkeit. Ich baue natürlich auch auf Ihre Unterstützung. – Fürwahr, recht hatte er. (Beifall bei der PDS – Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wir werden auch Ihre Erfolge Es ist kabarettreif, wenn Ihnen jetzt ausgerechnet die bilanzieren!) F.D.P. putzmunter einen Wortbruch vorwirft. Aber hatte nicht der Kanzler in seiner Regierungserklärung ener- – Sie müssen schon mitziehen. So geht es ja nun nicht. gisch betont, daß die neue Regierung kein Abziehbild Sie hatten ja 1994 eine Unterstützung in dieser Sacheder alten sein wird? Das steht durchaus zu befürchten, versprochen. auch wenn ich jetzt voller Freude gehört habe, daß Mi- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 285

Christine Ostrowski (A) nister Müntefering immerhin für 1999 Aktivitäten ange- falsch. Es ist heute mehr als zutreffend. In der jetzigen(C) kündigt hat. Regierungserklärung kommt Verkehrspolitik überhaupt nicht vor. Ich meine, das ist, was die Wertschätzung die- Die Steuermehreinnahmen in Höhe von 1,2 Milliar- ses Bereiches anbelangt, ein außerordentlich schlechter den DM auf Grund der Streichung der VergünstigungStart für die Verkehrspolitik und den Minister. bei der Eigenheimzulage, die für die Verbesserung des Wohngeldes genutzt werden sollten, scheinen passé zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sein. Ebenfalls vom Tisch ist die auch von den Grünen gewünschte Senkung der Einkommensgrenzen für die Hinzu kommt der Fehlstart von Minister Müntefering und seinem Ministerium. Er bringt einen großen Stab Gewährung der Eigenheimförderung als eine andere Fi- überwiegend fachfremder Gefolgsleute mit, entläßt fast nanzierungsquelle. alle Abteilungsleiter Wir wollen die Miethöchstbeträge in Ost und West (Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört ist das!) sofort um durchschnittlich 20 Prozent anheben und wollen einen pauschalen Inflationsausgleich in Höheund entzieht damit sich und dem Ministerium erheb- von 1 800 DM. Diese überfälligeWohngeldanhebung lichen Fachverstand. in Ost und West ist machbar und finanzierbar. Sie kostet Bund und Länder 1,5 Milliarden DM. Finanzierungs- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS spielräume sehen wir insbesondere für den Fall, daß man 90/DIE GRÜNEN]: Er hat zwölf Abteilungen einmal die steuerlichen Instrumente durchforsten würde, zu acht zusammengelegt!) zum Beispiel im Bereich der Förderung von Luxuswoh- Sein rabiates Vorgehen hat selbst vor parteilosen Fach- nungen, wie der Kanzler sagte. Wo er recht hat, hat erleuten nicht halt gemacht. recht. Wir stimmen ihm zu. Frau Ferner hat vor zwei Jahren Verkehrsminister (V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- Wissmann ungerechtfertigt Personalpolitik nach Guts- mer) herrenart vorgeworfen. Jetzt ist sie Staatssekretärin und Freuen Sie sich also: Wir helfen Ihnen, liebe Regierung, betreibt zusammen mit ihrem Minister einen personal- lieber Herr Minister, Ihre Wahlversprechen zu erfüllen. politischen Kahlschlag, der eine schwere Zukunftshy- pothek darstellt. Dann möchte ich noch eine Bemerkung an die rechte Seite dieses Hauses machen in bezug auf den Slogan (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ „Wir nehmen die Herausforderung an!“ bzw. in bezug DIE GRÜNEN]: Neid, Neid, Neid!) auf die Aussage: Wir sind bereit, die Oppositionsrolle zu Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung übernehmen. Meine Damen und Herren von der (B) nichts zur Verkehrspolitik gesagt. Also halten wir uns an (D) CDU/CSU und der F.D.P., wo sind denn dann Ihre An- die Koalitionsvereinbarung. Für mich waren die Formu- träge? Die hätte ich heute erwartet. Vielleicht müssenlierungen zur Verkehrspolitik zunächst eine Überra- Sie als Opposition noch vieles lernen. Nehmen Sie sich schung. Ich hatte eigentlich erwartet, die Verkehrspolitik ein Beispiel an uns, an der PDS! Lassen Sie der Worte von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus der Opposi- genug gewechselt sein; lassen Sie uns endlich Taten se- tionszeit wiederzufinden, hen! Denken Sie an die Sternstunden, die wir gemein- sam erleben können, und stimmen Sie dann, wenn es (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS darauf ankommt, unserem Gesetzentwurf zu. 90/DIE GRÜNEN]: Die Fahrradfahrer, klar!) Danke. wie zum Beispiel die Streichung aller Mittel für den Straßenbau, dafür Förderung des Fahrradverkehrs als (Beifall bei der PDS – Hannelore Rönsch bundespolitische Aufgabe, generelle Tempolimits, Stop [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Mit Ihnen möchten des Ausbaus von Wasserstraßen, wir keine Sternstunden erleben!) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sehen Sie mal, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wie verblendet Sie waren!) jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer. Stop des Transrapid, Stop für Schienenneubaustrecken usw. Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsi- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS dentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! 90/DIE GRÜNEN]: Da sehen Sie mal, wie Daß der Verkehr als vorletzter Bereich der Regie- wenig Sie zugehört haben!) rungserklärung an dieser Stelle steht, kommt . . .Doch, meine Damen und Herren, nichts davon! Die dra- nicht von ungefähr. Denn so dürftig, wie die Koali- stische Wende um 180 Grad kann ich mir nur damit er- tionsvereinbarungen an der Stelle sind, kann man klären, daß mit Übernahme der Regierungsverantwor- dieses Thema wahrlich nicht besser plazieren. tung die Rückkehr zur Realität unumgänglich wurde. Das war die Aussage, die die damalige SPD- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sprecherin Ferner, die heutige Staatssekretärin, im No- vember 1994 als Einleitung ihrer Rede zur Regierungs- Also halten wir fest: Was Rotgrün bisher vertreten erklärung genutzt hat. Das war damals polemisch undhat, war falsch. Die Kritik an der Politik der bisherigen 286 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Bundesregierung war nach jetzigem Eingeständnis unbe- Meine Damen und Herren, damit können Arbeitsplatz- (C) rechtigt. chancen in der Mobilitätswirtschaft sehr schnell zu- nichte gemacht werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dagegen ist, wie ich glaube, die Aussage zur Mobili- Ich glaube, dennoch bleibt in der Koalitionsvereinba- tät im ländlichen Raum für die Menschen sehr enttäu- rung genug, das Stoff für Kritik und Alternativen bietet. schend. Von den Forderungen der Wahlprogramme ist Ich denke, ein großes Problem wird sich abzeichnen. nichts wiederzufinden. Statt dessen werden die Kosten Die Vorstellungen der Bündnisgrünen finden sich infür Berufspendler, die auf das Auto angewiesen sind, keinem der verkehrspolitischen Kernpunkte wieder.durch die Anhebung des Benzinpreises und durch die Damit ist wohl erhebliches Streitpotential bei der künfti- Einführung einer Entfernungspauschale deutlich erhöht. gen Umsetzung vorprogrammiert. Minister Trittin wartet damit noch nicht einmal, bis der zuständige Bundesmi- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS nister seine Ziele vorgestellt hat. Er macht bereits im 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Benzinprei- Vorfeld deutlich, daß er die Vorgaben der Verkehrspoli- se dreimal so hoch erhöht!) tik diktieren will. Auf der anderen Seite finden wir es ganz erfreulich, In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ daß an der Priorität für denAufbau Ost festgehalten hält er den Einstieg in die Energiebesteuerung für un-wird. Wir werden genau verfolgen, ob die vordringli- ausgewogen, fordert noch höhere Benzinpreise und da- chen Projekte auch zügig realisiert werden. Dies ist für zu eine deutliche Reduzierung der Straßenbauinvestitio- die neuen Bundesländer sehr wichtig; denn nur mit einer nen. Trotz der Priorität für die Schiene erteilt er demguten Verkehrsinfrastruktur kann der wirtschaftliche Schienenfernverkehr eine Absage. Das ist, wie ich glau- Aufschwung gelingen. be, der Rückfall in die bekannte, unrealistische grüne (Beifall bei der CDU/CSU) Ideologie, die nur ein Ziel hat: die Mobilität der Bürger zu behindern und schwere volkswirtschaftliche Schäden Im Wahlprogramm wollten die Grünen der organisa- für unser Land in Kauf zu nehmen. torischen Bahnreform noch eine verkehrspolitische fol- gen lassen. Damit ist quasi eine zweite Bahnreform an- Trittin kündigt damit dem Koalitionspartner diegekündigt worden; das heißt ein Mehr an staatlichem Hauptthese der Koalitionsvereinbarung, die lautet: Einfluß und ein Weniger an Wirtschaftlichkeit. Wir wollen ein Verkehrssystem, das die Mobilität (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS aller Menschen flächendeckend und umweltver- 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Mehr an Wett- träglich gewährleistet . . . Eine leistungsfähige Ver- bewerb!) (B) kehrsinfrastruktur ist für die Wettbewerbsfähigkeit (D) Deutschlands von zentraler Bedeutung. Hier hat sich die SPD zum Glück vernünftiger gezeigt. Die Rückkehr zur Subventionsmentalität früherer Zeiten Er sieht dies, wie er sagt, sehr entspannt. Ich be-würde das Scheitern der Reform bedeuten, die sich jetzt zweifle, daß unsere Bürger, deren Mobilität behindertGott sei Dank auf erfolgreichem Weg befindet. Der in- wird, und die Wirtschaft – insbesondere die Verkehrs- terfraktionelle Konsens in der Bahnreform, Herr Mini- wirtschaft und die Bauindustrie mit ihren Arbeitsplätzen, ster, ist von hohem Wert. Für uns ist er ziel- und ver- die auf Investitionen im Verkehrsbereich angewiesenhaltensabhängig. Wenn wir entschlossen daran festhal- sind –, dies auch so entspannt sehen werden. ten, werden wir Ihre Arbeit unterstützen. Wir werden Bundesminister Müntefering daran zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) messen haben, ob er in der Lage ist, die Attacken von Trittin abzuwehren und eine zukunftsgerechte Verkehrs- Meine Damen und Herren, nach all dem Theater um politik zu gestalten. Verkehrspolitik ist, wie wir mehr- den Transrapid staune ich doch, aber ich freue mich fach festgestellt haben, in der Koalitionsvereinbarungauch über die neue Einsicht zu einem grundsätzlichen Ja eher dürftig abgehandelt worden. Es lohnt sich hierder Koalition zur Strecke Hamburg – Berlin und zur nicht, auf jeden einzelnen Punkt einzugehen und ihn zu Weiterentwicklung und Anwendung der Magnetschwe- kommentieren. betechnik in Deutschland. Das hört sich ganz anders an als das, was wir hier in den leidenschaftlichen Debatten Die Forderung nach flächendeckender und umweltge- immer gehört haben und was uns vorgeworfen worden rechter Mobilität aller Menschen war immer auch unser ist. Anliegen. Wir begrüßen deshalb die Einsicht von SPD und Grünen, daß Verkehrsinvestitionen für nachhaltiges (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt Wachstum unverzichtbar sind. [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nie richtig zugehört, Herr Kollege!) Vorsicht ist aber geboten, wenn die Umsetzung öko- logischer Ziele so einseitig und so deutlich als Vorbe- Von den nun folgenden Taten hängt es ab, ob diese dingung genannt wird. Die Grünen werden jeden lai-Freude anhält. Wir jedenfalls sind zur Kooperation be- chenden Frosch oder jeden Wachtelkönig, ob gesehen, reit. ob gehört oder nur vermutet, vorschieben, um den Aus- Die Verbesserungen des Lärmschutzes im Verkehr bau einer Straße, einer Schienenstrecke oder einer Bin- ist ein Schwerpunktthema für die Legislaturperiode. nenwasserstraße zu verhindern. Damit sind wir einverstanden. Dies kann allerdings nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nur für Bundesverkehrswege gelten; es muß vielmehr Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 287

Dirk Fischer (Hamburg) (A) für alle Verkehrswege gelten. Es bleibt abzuwarten, wie Denn die Chancen dieser Zusammenführung liegen auf (C) sich Länder und Kommunen angesichts der zu erwarten- der Hand. So ist die Verkehrspolitik eng verknüpft mit den erheblichen finanziellen Auswirkungen verhaltenFragen, die die Raumordnung betreffen. Auch die Ent- werden. Aber immerhin: Die Koalition hat im Bundesrat wicklung der Städte und des städtischen Umlandes mit eine Mehrheit. Deswegen werden wir dem Ziel sicher- dem Ziel, eine lebenswerte Umwelt zu erhalten oder lich näherkommen. wieder zu erschaffen, ist ohne die enge Verknüpfung wohnungspolitischer und verkehrspolitischer Aspekte (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] nicht möglich. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Der kombinierte Verkehr wird stiefmütterlich, die Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE Binnenschiffahrt wird nur am Rande behandelt, die See- GRÜNEN] – Peter H. Carstensen [Nordstrand] schiffahrt wird gar nicht erwähnt. Die Aussagen zum [CDU/CSU]: Können Sie die Namen aller Luftverkehr sind erfreulich, weil die Grünen mit ihren Staatssekretäre aufzählen?) Forderungen ganz offensichtlich gescheitert sind. Funktionierende Verkehrssysteme spielen nicht nur in (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS einem zusammenwachsenden Europa eine immer größe- 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben unser Wahlpro- re Rolle. Sie haben entscheidende Bedeutung für den gramm nie gelesen! Sonst könnten Sie das so reibungslosen Austausch von Waren und die zunehmen- nicht sagen!) de Mobilität von Personen. Sie bestimmen auch die Le- Allerdings sind die Aussagen der Koalitionsvereinba-bensqualität in den Ballungsräumen wie auf dem flachen rung überholt, weil die gemeinsame Strategie von Bund Land und den Zustand unserer Umwelt. und Ländern bereits vorhanden ist und gar nicht erst ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaffen werden muß. Daraus erwachsen Zielkonflikte, die von der Ver- Abschließend ein Wort zurVerkehrssicherheit, die kehrspolitik eine sorgfältige Interessenabwägung, sich nicht nur auf größere Spielräume für Fußgänger und gleichzeitig aber auch klare Prioritätensetzungen verlan- Radfahrer beschränken darf. Ich meine, die vergangene gen. Die Verkehrspolitik der Vergangenheit, die allein Bundesregierung hat eine hervorragende Schlußbilanz auf den verkehrlichen Nutzen einer Maßnahme schaute, abgeliefert. ist erkennbar gescheitert. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind Sie vom des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wähler dafür auch belohnt worden!) (B) Deshalb müssen im Verkehrssystem der Zukunft die (D) Das wird die Meßlatte sein. Erfolge wird es nach meiner verschiedenen Verkehrsträger dort zum Zuge kommen, Einschätzung in Zukunft nur durch Kooperation undwo ihre jeweiligen Systemvorteile optimalen Nutzen Förderung des Verständnisses der Verkehrsteilnehmer bringen. Zentrale Voraussetzung für eine neue Politik, geben. Martialischer Dirigismus würde hier völlig in die meine Damen und Herren, ist eineInfrastrukturpla- Irre führen und kontraproduktiv sein. nung, die deutlicher als bisher den Vernetzungs- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Verknüpfungsgedanken der verschiedenen Verkehrsträ- Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS ger in den Vordergrund stellt. 90/DIE GRÜNEN]: Den will doch keiner! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wer will denn das?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Start der Verkehrspolitik dieser neuen Koalition Es gilt, der Lösung der Schnittstellenproblematik ist nach meiner Einschätzung mißlungen. Die Abwand- zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern höchste lung des Kanzlerleitspruches gilt wie auch in anderen Priorität einzuräumen, und es gilt, sinnlose Parallelpla- Bereichen: Wir machen nur wenig anders und gar nichts nungen zu vermeiden. Dies ist nicht nur verkehrspoli- besser. tisch geboten, sondern angesichts der leeren Kassen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch eine zwangsläufige Konsequenz. Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Bundesregie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat rung bei der Überarbeitung desBundesverkehrswege- jetzt die Abgeordnete Iris Gleicke. plans nachdrücklich und, wenn nötig, auch kritisch un- terstützen. Gestatten Sie mir als ostdeutscher, als Thü- ringer Abgeordneter den Hinweis, daß ich mit besonde- Iris Gleicke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr ge- rer Freude den Satz im verkehrspolitischen Teil der Ko- ehrten Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt die alitionsvereinbarung zur Kenntnis genommen habe, wo- Zusammenlegung der bislang getrennten Ministerien für nach an der Priorität für denAufbau Ost festgehalten Bau und Verkehr, und zwar nicht nur deshalb, weil da- wird. Das, meine Damen und Herren, sollte auch der mit ein sichtbares Zeichen für die Verschlankung desthüringische Ministerpräsident zur Kenntnis nehmen. Staates gesetzt worden ist. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Was sagen Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE Sie zu sechs Staatssekretären?) GRÜNEN]) 288 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Iris Gleicke (A) Werte Kolleginnen und Kollegen, zu einem inte-gesamtdeutsche Wohngeldnovelle. Wir brauchen sie für (C) grierten Gesamtverkehrskonzept gehört natürlich der ge- die Mieterinnen und Mieter mit niedrigen Einkommen; samte Instrumentenkasten: von der Fiskalpolitik über die wir brauchen sie vor allen Dingen für die Familien mit Angleichung der europäischen Wettbewerbsbedingun- Kindern. Ich begrüße es sehr, daß der Minister hier an- gen bis hin zu flankierenden ordnungspolitischen Maß- gekündigt hat, daß er sehr bald Klarheit schaffen will. nahmen. In den nächsten Wochen wird im zuständigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Ausschuß Gelegenheit zu einer eingehenden Debatte 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten aller nötigen Elemente einer neuen Verkehrspolitik be- der PDS) stehen. Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie Der Ausschuß wird sich aber auch sehr intensiv mit gern zu einer konstruktiven Arbeit hier im Hause einla- der Wohnungspolitik zu beschäftigen haben, um Ver- den, um Lösungen für die anstehenden Probleme zu fin- säumnisse und Fehlentwicklungen der letzten Jahre den. Eines funktioniert nämlich nicht: Sie haben 16 Jah- möglichst bald zu korrigieren, damit auch hier eine neue re lang regiert; Sie haben im sozialen Wohnungsbau ge- Politik eingeleitet werden kann. kürzt; Sie haben die Städtebauförderung zurückgefah- (Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Fragt ren; Sie haben zehn Jahre lang beim Wohngeld nichts sich nur, wohin!) gemacht. Und wir sollen das jetzt in 14 Tagen alles ge- klärt haben. Das Ganze geht nach dem Motto: „Haltet Einer der wichtigsten Bereiche ist dabei der sozialeden Dieb! Er hat mein Messer im Rücken.“ Das ist kein Wohnungsbau. Wir finden es richtig, daß hierbei auch gutes Miteinander. Lassen Sie uns gemeinsam ordentlich verstärkt auf die Bestandsförderung Einfluß genommen anfangen. werden soll. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Meine Damen und Herren, den Kommunen muß eine Alternative zur Baulandausweisung im städtischen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Umfeld geboten werden. Es sind die überhöhten Preise, GRÜNEN und der PDS) die zu einer fortwährenden Ausdehnung der Speckgürtel führen – mit allen negativen Auswirkungen für die städ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe tischen Zentren. Wir müssen Städten und Gemeinden damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei- die Möglichkeit geben, dieser Entwicklung gegenzu- sung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/19 an die in steuern. der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- In der Städtebauförderung sehen wir einen starken gen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der (B) Motor für die soziale, bauliche, wirtschaftliche und auch Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (D) arbeitsmarktpolitische Entwicklung. Sie hat eine wichti- Wir kommen jetzt zum Themenbereich Umwelt. Ich ge Katalysatorfunktion für private Investitionen. Dieeröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Ab- städtebaulichen Sünden der Vergangenheit, gerade ingeordnete Klaus Lippold. den Großwohnsiedlungen, verlangen ein integriertes Konzept, und deshalb begrüßen wir auch, daß in der Ko- alitionsvereinbarung das Programm „Stadtteile mit be- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): sonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ ver- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- einbart wird. ren! Liebe Kollegen! Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht, daß man zu Beginn der Diskussion noch ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mal herausarbeiten muß, was in der Vergangenheit ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) leistet wurde, daß Bilanz gezogen werden muß vor dem Wir sind froh darüber, daß der Bauminister das KfW- Hintergrund, daß die neue Koalition versucht, alles Programm für die neuen Bundesländer angesprochen schlechtzureden, um sich dann um so besser profilieren hat. Hier wollen wir sicherstellen, daß es fortgeführtzu können. wird und in den Haushaltsberatungen nach Möglichkeit Ich halte fest: Wir haben in bezug auf den Umweltbe- auch finanziell ordentlich ausgestattet wird. reich in den vier Jahren der letzten Legislaturperiode Wir müssen auch unter dem Aspekt der Leerstände in ebenso wie in den letzten 16 Jahren der Regierungszeit den neuen Ländern die Privatisierungsverpflichtungen eine ausgesprochene Erfolgsbilanz vorzuweisen. nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz kritisch unter die Lu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und pe nehmen der F.D.P. – Albert Schmidt [Hitzhofen] (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahlkampf 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten ist vorbei!) der PDS) Daß es sich um eine Erfolgsbilanz handelt, wird nicht und dabei die besonderen ostdeutschen Interessen imnur von uns so gesehen. Das wird auch von den gesell- Wohnungsmarkt berücksichtigen. schaftlichen Gruppen anerkannt, und wird auch im in- ternationalen Bereich so gesehen. Ich kann zum Beleg Zum Schluß möchte ich noch einen kurzen Satz zuauch namhafte Sozialdemokraten zitieren, die in einem einem Thema sagen, das mir am Herzen liegt, nämlich Positionspapier schon 1997 festgehalten haben, daß die zum Wohngeld. Wir brauchen so bald wie möglich eine klassischen Umweltprobleme wie Schadstoffbelastung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 289

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) von Luft und Wasser und insbesondere die Probleme im nicht gerade eine Glanznummer. Und das ist einer Ihrer (C) Abfallbereich gelöst sind. Ich will darauf nur noch ein- führenden Leute! So können wir das nicht angehen: mal hinweisen. So weit sind selbst wir nicht gegangen nicht handeln, zuschauen. In der letzten Legislaturperi- wie Vahrenholt und Clement. ode hätten wir uns damit Vorwürfe über Vorwürfe ein- gefangen! Herr Schmidt, was hätten Sie uns alles gesagt! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich habe gesehen, wie Sie reagiert haben, als Müntefe- Die Wasserqualität der Fließgewässer hat sich in den ring hier vortrug. Das war entlarvend. letzten Jahren hervorragend entwickelt. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜND- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Am besten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe immer gute in Bayern!) Oppositionspolitik gemacht! Jetzt können Sie das alles tun!) Wir haben die Schadstoffbelastung in der Größenord- nung eines zweistelligen Prozentbereiches herunterge- Meine Damen und Herren, die Gesetzgebungsverfah- führt, bei Quecksilber um 90 Prozent, bei Kadmium um ren, die wir in den letzten Jahren durchgesetzt haben – 76 Prozent, bei Kupfer um 85 Prozent, bei Chrom umunter anderem das Umweltauditgesetz, das Ozongesetz, 95 Prozent – um nur einige Positionen zu erwähnen.Gesetze zur Beschleunigung von Genehmigungsverfah- Diese Situation gibt es in keinem Industriestaat der Welt ren, der Erlaß einesBodenschutzgesetzes –, eröffnen und auch nicht in Schwellenländern. Das ist eine Um- neue Instrumente für den Umweltschutz. Das Boden- weltpolitik, deren Erfolge akzeptiert werden. schutzgesetz ist einmalig in dieser Welt. Es gibt kein Vorsorgeinstrument gleicher Art in einem anderen Land. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Ähnliches werden Sie erst leisten müssen. Im Um- weltschutz haben Sie uns bedauerlicherweise blockiert, Vor diesem Hintergrund will ich nur darauf verwei- obgleich wir wirklich sehr gute Initiativen gezeigt sen, daß wir im Gewässerschutz Fortschritte erzielt ha- haben. Wir haben die Idee des Naturschutzes – wegen ben, aber daß wir auch Initiativen zum Schutz der Meere Ihres Widerstandes – nicht in der Form umsetzen kön- vorgelegt haben – Initiativen zum Schutz der Ostsee, In- nen, wie wir dies wollten. Aber wir haben es immerhin itiativen zum Schutz der Nordsee. geschafft, daß dieFauna-Flora-Habitat-Richtlinie Was sehe ich jetzt im Moment? Es gibt ein Frachter- umgesetzt wurde und wir jetzt wenigstens auf dieser Ba- unglück; es gibt die Katastrophe des Frachters „Pallas“ sis weiterarbeiten können. Schade, daß es nicht anders vor Amrum. Was erlebe ich? Wird am nächsten oder am ging. übernächsten Tag gehandelt? Wird innerhalb einer Wo- Sie müssen einfach sehen, daß all das, was wir im (B) che gehandelt? Nichts geschieht; es wird zugeschaut.Landschaftsschutz, was wir im Biotopverbund erreichen (D) Das hätten wir uns in unserer Regierungszeit einmal er- konnten, auf der Basis dessen, was wir vorgeschlagen lauben sollen, so lange nichts zu tun. haben, wesentlich besser hätte realisiert werden können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie wären mit fünfzehn Anfragen über uns hergefallen; Wenn man weitere Flächen für den Naturschutz Sie wären gleichzeitig mit Aktuellen Stunden gekom-braucht, dann braucht man die Akzeptanz der Betroffe- men – das behalten wir uns noch vor – und hätten ge-nen, dann braucht man die Akzeptanz der Landwirte. fragt: Warum tut diese Regierung nichts? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie hatten doch lange genug Zeit für Vorüberlegun- gen. Jetzt kommen Sie nicht und sagen, Sie wären nicht Und dazu braucht man – da hilft Ihr Störfeuer gar im Amt! In Schleswig-Holstein ist Herr Steenblock im nichts – die Ausgleichsabgabe. Wie wollen Sie es denn Amt. Er hat das erst heruntergeredet und hat dann ge-sonst handhaben? Wenn auf anderen Feldern kein ge- merkt, daß die Katastrophe größer ist, als er auf Grund sellschaftlicher Konsens da ist, sagen Sie: Wir verzich- seiner mangelnden Wahrnehmung zunächst wahrhaben ten auf diese Maßnahme. – Unter Kernenergieaspekten wollte. So kann man Umweltpolitik nicht betreiben. kommen wir darauf noch einmal zurück. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In der Frage desBiotopverbundes hingegen wollen Sie die schleichende Enteignung. Aber wir werden nicht Ich sage ganz deutlich: Das ist eine schlechte Einfüh-zulassen, daß die Landwirte unter Ihrer schlechten Poli- rung. tik leiden. Außerdem ist mit solch einer Politik keine (Detlev von Larcher [SPD]: Warum schreien Umweltschutzpolitik erfolgreich zu führen. Sie so?) Man macht Umweltschutz mit den Betroffenen, nicht Herr Trittin kann heute aus verständlichen Gründen Umweltschutz gegen die Betroffenen. nicht hier sein. Ich respektiere das und hoffe, daß er von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – dieser Konferenz gute Erfolge mitbringen wird – worauf Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist wir noch einmal zurückkommen werden. Aber das Haus Ökodiktatur!) insgesamt hätte durchaus reagieren können. Und auch der Kollege Müntefering war mit dem, was er vorhin Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben gebracht hat – leise hat er eine Prüfung in Aussicht ge- mit der geplanten 25prozentigen Reduzierung von CO2 stellt, aber bislang auch nichts in die Wege geleitet –,ein national anspruchsvolles Klimaschutzziel formuliert. 290 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Das ist im Moment in Buenos Aires wieder im Ge- Das muß man sich einmal zu Gemüte führen: Groß- (C) spräch. Die Hälfte der Einsparung haben wir seitdemkraftwerke oder „Laß das sein mit dem Energiekon- schon erreicht. sens“! Meine Damen und Herren, wo ist denn da die Logik? Sie steigen aus, Sie vermehren die2- CO (Lachen bei der SPD) Emissionen, Sie kündigen indirekt schon denEnergie- – Ich wußte doch, daß Sie das bestreiten. Aber Sie kön- konsens auf. nen es nicht; die Zahlen sprechen gegen Sie. Das muß gesagt werden, damit wir sehen, ob Sie in der zweiten Ich habe manchmal, wenn ich das lese, Zweifel. Ich Hälfte dieses Zeitraumes die anderen 50 Prozent, die wir hatte zunächst gedacht, Herr Stollmann macht ein halbes Jahr. Er ist aber vorzeitig abgetreten – der erste Fall, daß noch leisten müssen, erreichen. Wir werden Sie daran einer erst gar nicht angetreten ist. Wenn ich diese Aus- messen, ob es nur schöne Worte gab oder ob es statt schöner Worte Taten gab. einandersetzungen so verfolge, vermute ich, daß der Wirtschafts-Müller das nächste Jahr nicht als Minister Machen wir uns noch eines deutlich. Sie haben fürerleben wird. die Klimakonferenz hervorragende Zeichen gesetzt: Ausstieg aus der Kernenergie (Detlev von Larcher [SPD]: Denken Sie mal an Ihren eigenen Wirtschaftsminister! – Albert (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]: Wie hieß denn Ihr letzter Wirt- und – mit Ihrem neuen Wirtschaftsminister – Einstieg in schaftsminister!) die großen Kohlekraftwerke. Was wollen wir den Ich sage es einmal so: Es ist hanebüchen, was Sie Schwellenländern, was wollen wir den Chinesen, densich leisten. Der Sachverhalt ist doch, daß Werner Mül- Indern sagen, wenn es darum geht, welche Art vonler sagt: Wir wollen aus der Kernenergie aussteigen, Energie sie erzeugen. Sollen wir sagen: „Erzeugt rege- aber bitte nicht ganz schnell und bitte nicht sofort. Dann nerative Energie!“? fügt er laut „Süddeutscher Zeitung“ hinzu, er hege Zwei- (Dr. Barbara Höll [PDS]: Schreien Sie doch fel, ob in absehbarer Zeit auf die Kernkraft ohne jegliche nicht so!) Optionen für eine Weiternutzung in 50 Jahren verzichtet werden könne. Der Wirtschafts-Müller in diesem Lande setzt auf Braunkohlekraftwerke. Also: Zuerst schaffen wir mit den Sozialdemokraten Kernkraftwerke, dann steigen wir mit Rotgrün aus, das (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS Know-how geht verloren, und Herr Müller glaubt, das 90/DIE GRÜNEN]: Garzweiler!) ließe sich in 50 Jahren beliebig ändern, obwohl die (B) (D) – Hören Sie auf, Herr Schmidt, Sie wollen das ja nicht. weltweite Entwicklung ganz anders verlaufen wird, als Sie sich das zusammenträumen. Das kann doch wohl Jedes Kraftwerk emittiert zusätzlich CO2. Das ist der nicht wahr sein! Wo ist da das Konzept? Wo ist da die Sachverhalt, um den es hier geht. Das müssen wir Ihnen Logik? Das trägt von der Denke her doch ganz deutlich um die Ohren hauen. die Handschrift des derzeitigen Kanzlers. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dazu hat die „Süddeutsche Zeitung“ gesagt: Hohle Detlev von Larcher [SPD]: Meine Ohren tun Worte klingen manchmal voller. – Recht hat die „Süd- mir schon jetzt weh!) deutsche Zeitung“ in ihrem Kommentar. Richtig ist das: Das Erstaunliche ist – ich vereinfache jetzt einmal –: hohle Worte, kein Konzept, keine Inhalte. Wir können Auf der einen Seite gibt es den Umwelt-Müller – das ist greifen, was wir wollen: Alles ist falsch. der Kollege, der hier vor mir sitzt –, und der sagt, wir Ich komme zurück zur Klimaschutzpolitik. Ich glau- brauchen eine Energierevolution, wir brauchenregene- be, es ist unbestreitbar, daß Deutschland im internatio- rative Energien, kleine Einheiten. Auf der anderennalen Umweltschutz eine Vorreiterrolle hat. Seite steht in dieser Regierung der Wirtschafts-Müller. Umwelt-Müller sagte: ( [SPD]: Wir werden wei- terreiten!) Das einseitige Setzen auf Großkraftwerke wird kei- ne Lösung sein, ganz gleich ob es sich um Kohle-, – Das werden wir erst einmal sehen. Atom- oder andere Kraftwerke handelt. Ich sage ganz offen: Wir sind da anders als Sie. Der Was lese ich beim Wirtschafts-Müller? Umwelt-Müller hat bei der vorletzten Regierungserklä- rung gesagt, Frau Merkel bekäme keine Schonzeit. Wir Wir können nicht gegen die Kernkraft sein und zu- gehen mit der Regierung fairer um. Ich bin der Mei- gleich auch gegen jeden Bau von Kraftwerken, nung: Die Leute sollen sich erst einarbeiten können, be- sonst verlieren wir den größten Einzelinvestor in vor man sich mit ihnen richtig auseinandersetzt. Diese unserem Land. Form von Unfairneß, die Sie praktiziert haben, werden Dann sagt er ganz klar: Sie bei uns nicht erleben. Wenn der Neubau von konventionellen Kraftwer- Aber wir werden natürlich darauf achten, ob Herr ken nicht akzeptiert wird, wäre ich der erste, derTrittin jetzt mit adäquaten Ergebnissen nach Hause sagt: Laß das sein mit dem Energiekonsens. kommt. Wir werden diese Ergebnisse an dem messen, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 291

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) was Rotgrün zu Oppositionszeiten gesagt hat. Dannwollen sicherstellen, daß die Industrieländer ihre ein-(C) werden wir sehen, ob er bestehen kann. gegangenen Verpflichtungen zur Reduktion der Treib- hausgase vorrangig im eigenen Land umsetzen. Denn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – nur wenn die Industrieländer Maßnahmen bei sich selbst Detlev von Larcher [SPD]: Wir zittern!) in die Wege leiten, sich an ihre Vorgaben halten und Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt Pas- die Vorreiterrolle, die sie beschworen haben, wirk- sagen in Ihrer Koalitionsvereinbarung und auch in der lich ernst nehmen, wird man Länder des Südens – bei Regierungserklärung, von denen man sagen kann: Das uns immer Entwicklungsländer genannt – dazu brin- scheint in die richtige Richtung zu gehen. Das wollengen können, in ihrer eigenen wirtschaftlichen Ent- wir akzeptieren. Sie haben in der Regierungserklärung wicklung zur Reduktion von Treibhausgasen beizutra- von Selbstverpflichtung geredet – etwas, was Sie frü- gen. her total bestritten haben. Damit setzen Sie einen neuen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Akzent. Aber auch hier werden wir sehen, ob Sie dabei und bei der SPD) bleiben. Die Frage ist doch, ob, wenn es auf der einen Seite Selbstverpflichtung gibt, der Einstieg inÖkosteu- Die Klimaverhandlungen sind nur ein Beispiel für die ern auf der anderen Seite noch gerechtfertigt ist. großen Herausforderungen im globalen Umweltschutz. Da gibt es eine Studie, die Herr Schröder in Auftrag (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie waren gegeben hat, nicht wir. Die besagt, daß Ökosteuern zur doch noch nie im Umweltausschuß! – Gegen- Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Das war eine ruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS von Herrn Schröder in Auftrag gegebene Studie. Damit 90/DIE GRÜNEN]: So ein dummes Ge- sollte man sich einmal auseinandersetzen. Wenn er dann schwätz!) in der Regierungserklärung sagt, daß die Zeit nationaler Alleingänge vorbei ist, dann frage ich: Gilt das jetzt auch für diese Form von Ökosteuern? Oder ist das wie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Staatsse- der nur ein nicht ausgeräumter Widerspruch, weil Siekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen nicht vorgedacht haben und in der Kürze der Zeit nicht Lippold? zu Ende gekommen sind?

Wir werden Sie kritisch begleiten, nicht nur in diesen, Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bun- sondern auch in anderen Fragen. Wir werden Sie dortdesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- unterstützen – im Gegensatz zu Ihnen –, wo Deutschland cherheit: Ja, gerne. das braucht, weil der Umweltschutz im Ausland mit (B) Unterstützung der Opposition vorangetrieben werden (D) muß und nicht anders. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Sie haben gerade gesagt, daß Sie die Entwicklungsländer in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Lage versetzen wollen, auf diesem Weg mit uns her- der F.D.P.) vorragend zusammenzuarbeiten. Das setzt Mittel voraus. Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Wir wer- Sie haben in der Vergangenheit immer kritisiert, daß die den Sie hier kritisch begleiten. Das versprechen wir Ih- Quote gesunken ist. Wenn ich die Regierungserklärung nen. lese, kann ich darin nicht finden, daß sie angehoben oder verdoppelt werden soll. Herr Schröder hat lediglich ge- Herzlichen Dank. sagt, der Trend soll gestoppt werden. Heißt das, daß Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – sich mit der erreichten Quote zufriedengeben, und ist Detlev von Larcher [SPD]: Diese undankbaren das eine positive Wertung unserer Arbeit? Wählerinnen und Wähler!)

Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Simonecherheit: Das ist es mit Sicherheit nicht. Ich wollte es Probst. nicht so scharf formulieren. Wir glauben, daß wir strukturell eine andere Energiepolitik bei uns machen und eine Vorreiterrolle spielen müssen, um zu zeigen, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Simone Probst, wie es anders geht, damit es überhaupt möglich wird, desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-das CO -Ziel, wie Sie es sich vorgenommen haben, zu cherheit (vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Beifall 2 erreichen. Ihnen haben alle Institute bescheinigt, daß mit begrüßt): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- Ihrer Wirtschaftspolitik, mit Ihrer Energiepolitik, mit Ih- legen! Herr Lippold hat es angesprochen: Zur Zeit lau- rer Umweltpolitik Ihr hehres Ziel unmöglich erreicht fen die Klimaverhandlungen in Buenos Aires. Um- werden kann, geschweige denn im vorgegebenen Zeit- weltminister Trittin ist dort, um deutlich zu machen, daß raum. wir uns der internationalen Verantwortung bewußt sind und aktiv an der Klimaproblematik mitarbeiten wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Unser Ziel ist, daß die Beschlüsse von Kioto in sehr konkrete Arbeitsprogramme umgesetzt werden. WirIch werde darauf noch eingehen. 292 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Parl. Staatssekretärin Simone Probst

(A) Das Leitbild, das uns in der Umweltpolitik in das Wir stehen zum CO2-Reduktionsziel von 25 Prozent (C) 21. Jahrhundert führt, ist das der Nachhaltigkeit. Herrbis zum Jahre 2005. Dazu sind besonders im Bereich der Kollege Kampeter, Sie wissen genau, daß Nachhaltig- Energieeffizienz erhebliche Anstrengungen notwendig. keit sowohl im Umweltausschuß als auch in allen ande- Deshalb werden neben der Energieeinsparung die Ener- ren Politikbereichen Fuß gefaßt hat. Wir freuen uns,gieeffizienz und die erneuerbaren Energien Vorrang bei Umweltpolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen.uns haben. Dazu gehört das 100 000-Dächer-Programm Deshalb werde ich meine Aufgabe dort sehr ernst neh- zur Förderung der Solarenergie. In der Stromerzeugung men. werden wir Anreize dafür schaffen, daß Kraftwerke mit hohem Wirkungsgrad und der besonders breite Einsatz Die nachhaltige Entwicklung ist sowohl ein Gebot der Kraft-Wärme-Kopplung Fuß fassen werden. der ethischen Verantwortung als auch ein Gebot der Zu- kunftsfähigkeit unseres Landes und unserer Wirtschaft. Zum Klimaschutz gehören besonders Maßnahmen im Denn wenn wir wirtschaftspolitisch vorankommen wol- Verkehr. Deshalb werden wir ein Gesamtkonzept für ei- len, werden wir neue Kriterien an Produkte, Verfahren nen modernen umweltverträglichen Individualverkehr und Dienstleistungen anlegen müssen: ein schonender erarbeiten und mit einer stufenweisen Erhöhung der Mi- Verbrauch von Energie, Rohstoff und Flächen und eine neralölsteuer die Attraktivität verbrauchsarmer Fahrzeu- größtmögliche Nutzung erneuerbarer Ressourcen. Die ge erhöhen. Wir werden ferner Anreize geben, die das Staaten, die es rechtzeitig schaffen, ihre Energie- undUmsteigen auf den öffentlichen Personennahverkehr er- Ressourceneffizienz zu verbessern, werden davon auch leichtern. wirtschaftlich profitieren. Wir glauben, daß uns der Weg, Energieeffizienz voranzutreiben, wirtschaftlich Mit dem Ausstieg aus der Nutzung der Kernener- voranbringen wird. gie werden wir eine grundsätzliche Neuorientierung der Energiewirtschaft einleiten. Herr Lippold, auch Sie wis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen, daß das Ziel, die CO2-Emissionen um 25 Prozent zu und bei der SPD) reduzieren, nur mit einem Ausstieg aus der Nutzung der Strom und Wärme, Wind, Sonne, Erdgas, Biogas,Kernenergie erreicht werden kann und nicht ohne. moderne Verkehrssysteme durch Bus und Bahn, das Dreiliterauto, neue Bau- und Werkstoffe, moderne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerungs- und Mikrosystemtechnik für umweltscho- und bei der SPD – Steffen Kampeter nende Produktionsverfahren, langlebige und reparatur- [CDU/CSU]: Wann kommt denn der Aus- freundliche Produkte, das sind die großen Chancen für stieg?) eine kreative Wirtschaft, und auch nur das wird neue– Bleiben Sie bei der Frage des Ausstiegs ganz ruhig. Arbeitsplätze schaffen. (B) Wir werden ihn zügig in drei Schritten umsetzen. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Im ersten Schritt werden wir das Atomgesetz novel- und bei der SPD) lieren, den Förderzweck streichen und die Atomgesetz- Deshalb hat die Bundesregierung die ökologischenovelle von 1998 rückgängig machen. Im zweiten Modernisierung zum Schwerpunkt ihrer neuen Techno- Schritt werden wir noch in diesem Jahr zu Gesprächen logie- und Industriepolitik gemacht. Das zentrale Anlie- über einen neuen Energiekonsens einladen, um weitere gen unserer Steuer- und Abgabenreform ist es, Beschäf- Voraussetzungen zur Beendigung der Nutzung der tigung zu fördern und umweltbewußtes Handeln zu be- Atomenergie und zur Regelung der Entsorgungsfragen lohnen. Mit einer abgestuften und kalkulierten Belastung möglichst im Konsens festzulegen. Im dritten Schritt des Energieverbrauchs werden wir die Sozialversiche- werden wir im Atomgesetz den Ausstieg durch die Be- rungsbeiträge senken. fristung der Betriebsgenehmigungen entschädigungsfrei regeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Steffen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kampeter [CDU/CSU]: Was heißt denn das sowie bei Abgeordneten der SPD) konkret?) Das Entsorgungskonzept, das Sie der Bevölkerung In der Europäischen Union werden wir eine Initiative angeboten haben, ist gescheitert. Deshalb wird die neue zur Abschaffung der Steuerbefreiung für Kerosin undBundesregierung ein neues Entsorgungskonzept mit ei- Schiffahrtsbrennstoffe und des Herstellerprivilegs star- nem nationalen Entsorgungsplan für radioaktive Abfälle ten. erarbeiten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Unsere Gesamtstrategie der Nachhaltigkeitspolitik – 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sie haben bereits darauf hingewiesen, leider in scharfen Nur mit diesen preislichen Anreizen werden Produktion Tönen – läßt sich nur im Konsens mit allen gesellschaft- und Konsum auf Umweltschutz und Innovation hin ge- lichen Gruppen umsetzen. Ich halte auch die CDU für lenkt, von denen Sie immer geredet haben. Wir werden eine gesellschaftliche Gruppe und bitte in der Auseinan- das umsetzen; denn die Zukunft wird dem produktions- dersetzung um einen anderen Ton. integrierten Umweltschutz gehören. (Widerspruch bei der CDU/CSU – Rezzo (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die und bei der SPD) CDU hat nachhaltig verloren!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 293

Parl. Staatssekretärin Simone Probst (A) Erst wenn wir die Gestaltungskraft von Unternehmen, Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU):(C) wissenschaftlichen Einrichtungen und allen gesell-Doch, der ist schon im Umweltausschuß gewesen, Frau schaftlichen Gruppen ausschöpfen, kann das Prinzip der Lemke, als der Umweltausschuß eingerichtet wurde. Nachhaltigkeit Wirklichkeit werden. Deshalb wollen wir Aber ich war auch gerne in anderen Ausschüssen und dort, wo wir handeln können, dies auch stringent tun. In freue mich immer, wenn ich Sie im Agrarausschuß sehe. den Verwaltungsverfahren werden wir die Rolle der ge- Frau Staatssekretärin, darf ich bitte die Frage stellen, sellschaftlichen Gruppen stärken, den Verbänden ein Klagerecht einräumen an welchem Punkt die Bundesregierung im Zusammen- hang mit der Katastrophe der „Pallas“ schnell gehan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN delt hat? Ich wohne auf einer der davon betroffenen In- und bei der SPD) seln. Wenn ich mich richtig erinnere, ist Herr Steen- block, der ja nun Umweltminister in Schleswig-Holstein und das zersplitterte Umweltrecht in einem Umweltge- ist, das erste Mal vorgestern nacht auf Amrum gewesen. setzbuch zusammenführen und effizienter und bürgernä- Er ist abends gekommen, hat sich im Dunkeln dort in- her gestalten. formiert und ist am nächsten morgen vor Tag und Tau Zur Sicherung der natürlichen und naturnahen Flä-wieder abgefahren. Wann hat die Bundesregierung rea- chen – hier gilt unser Augenmerk ganz besonders dengiert? Das würde mich interessieren. Gebieten in den neuen Ländern – werden wir einen Ge- setzentwurf für einen modernenNatur- und Land- Parl. Staatssekretärin beim Bun- schaftsschutz vorlegen. Unsere Zielgröße ist es, 10 Pro- Simone Probst, desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- zent der Flächen als Vorrangflächen für den Naturschutz und die Landschaftspflege vorzusehen. Das soll danncherheit: Es ist sofort in Zusammenarbeit mit den Län- dern reagiert worden. Sie wissen genau, daß die Hilfe über ein Biotopverbundsystem weiterentwickelt werden. nicht daran gemessen werden kann, ob jemand als Kata- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES strophentourist vor Ort erscheint. Es ist sicherlich immer 90/DIE GRÜNEN und der SPD) gut, sich zu informieren. Aber es ist wichtiger, daß die Hilfe in den Ministerien bereitgestellt wird und daß ins- Nur so können die Tier- und Pflanzenarten geschützt besondere in der nächsten Umweltministerkonferenz werden. Beschlüssse zwischen Bund und Ländern erarbeitet Die Bilder der ölverschmierten Vögel an den Strän- werden. den von Amrum und Föhr alarmieren uns alle. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da hat der und bei der SPD) Steenblock doch total versagt! Der hat sich (B) Das war ein unvorhersehbarer Unfall. Wir haben alle(D) ausgeruht und nichts gemacht!) gehofft, daß so etwas nicht passiert. Es ist auch wichtig, – Wir haben schnell gehandelt. Umweltminister Trittin daß wir daraus lernen, wie Hilfe schneller vor Ort gelei- hat das Thema auf die Tagesordnung der Umweltmini- stet werden kann. sterkonferenz in der nächsten Woche gesetzt. Wir wer- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wie lange den alles daransetzen, daß schnelle Hilfe garantiert wird. brennt denn das Schiff eigentlich schon? Was In der Bodenschutz- und Altlastenverordnung sind ist denn daran unvorhersehbar?) längst nicht alle Probleme gelöst. Deshalb werden wir in den Entwürfen ein Konzept der Entsiegelung und Re- naturierung von Flächen einbeziehen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie möchten noch eine Nachfrage stellen, Herr Carstensen? – Bitte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Sanierung von Altlasten wird im notwendigen Um- Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): fang vorangetrieben werden. Wir werden sicherstellen, Frau Staatssekretärin, ich habe am Montag im Verteidi- daß die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen und gungsministerium angerufen. Sind Sie bereit zur Kennt- vor allem die Entscheidungswege kürzer werden. nis zu nehmen, daß ich folgende Antwort aus dem Ver- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES teidigungsministerium bekommen habe: Wir wissen 90/DIE GRÜNEN) noch nichts Offizielles von dieser Katastrophe. Es hat noch nicht einmal eine Anfrage gegeben. Wir haben nicht einmal Informationen aus Kiel bekommen. Des- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Staatsse- wegen können wir dort keine Hilfe leisten. – Die Kata- kretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen strophe dauert schon mehr als 14 Tage an. Ich wundere Carstensen? mich, daß Sie da von einer schnellen Hilfe sprechen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bun- cherheit: Ja, bitte. desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: cherheit: Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich Der war noch nie im Umweltausschuß!) der Auffassung bin, daß das nicht stimmt. Es ist müßig, 294 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Parl. Staatssekretärin Simone Probst (A) hier die Fragen der Zusammenarbeit von einer Landes- Vorbereitung befindende EU-Wasserrahmenrichtlinie,(C) regierung mit dem Verteidigungsministerium und dem über die wir dort entscheiden müssen. Verkehrsministerium, die hervorragend funktioniert hat, Gerade weil die Europäische Union als politische zu debattieren. Handlungsebene für uns einen so herausragenden Stel- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es geht ja lenwert hat, muß es ein Anliegen sein, daß EG- die auch um das Verkehrsministerium! Wo sollen Richtlinien fristgerecht in nationales Recht umgesetzt wir es sonst debattieren!) werden. Deshalb geht es uns vorrangig um die Umset- zung der sogenannten IVU-Richtlinie, die das Zulas- Ich sage zu, daß wir schnell helfen werden. Ich hoffe auf sungsverfahren für Industrieanlagen regelt, und natürlich Ihre Unterstützung dafür, daß wir hier entsprechende um die Umsetzung der EG-Richtlinie Fauna-Flora- Beschlüsse für eine schnellstmögliche Hilfe verabschie- Habitat. Die neue EG-Biozidrichtlinie werden wir durch den können. Ich bitte auch um die Mitwirkung auf der ein Biozidgesetz umsetzen. Umweltministerkonferenz nächste Woche. Die Umweltprobleme stellen sich heute global – das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist in vielen Bereichen angesprochen worden – und kön- sowie bei Abgeordneten der SPD) nen nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden. Wir werden als Partner in der EU dazu unseren Beitrag leisten, daß die internationalen Verhandlungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erfülle im Umweltbereich vorangebracht werden und zugleich noch die Bitte der Kollegin Kristin Heyne um eine Zwi- auch auf internationale Umweltmindeststandards zum schenfrage. Weitere Zwischenfragen werde ich aber zu Beispiel im Welthandel, bei den Auslandsinvestitionen diesem Redenbeitrag nicht mehr zulassen. Bitte. und insbesondere bei der Exportförderung geachtet wird. Darauf wollen wir hinwirken.

Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Die neue Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, Staatssekretärin, ich möchte Ihnen folgendes zur Kennt- daß Umweltschutz endlich nicht mehr in der Nische nis bringen, da ja hier auch Anmerkungen laut Ge-bleibt, wie es in der letzten Legislaturperiode leider der schäftsordnung erlaubt sind. Fall gewesen ist. Wir werden uns dafür einsetzen, daß Umweltschutz ein ganz selbstverständlicher Anspruch (Zurufe von der CDU/CSU: Frage!) unseres Lebens und unseres Wirtschaftens wird. – Bitte schauen Sie in die Geschäftsordnung. Danach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind bei einer Zwischenfrage auch Anmerkungen er- und bei der SPD) (B) laubt. (D) Es hätte die Schlepperkapazität an der Nordseeküste in dieser Form überhaupt nicht mehr gegeben, wenn wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nicht – obwohl wir noch nicht in der Regierung waren – jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger. dafür gesorgt hätten, daß der damalige regierende Ver- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Birgit, jetzt kehrsminister, also bevor die jetzige Regierung gebildet rück’ das wieder gerade!) wurde, die Verträge für die Schlepperkapazität verlän- gert hätte. Es ist sehr bedauerlich, daß der Schlepper nicht rechtzeitig dasein konnte. Aber wenn in den letzten Birgit Homburger (F.D.P.): Ich gebe mir Mühe wie Wochen jemand dafür gesorgt hat, daß es eine gewisse immer, Kollege Kampeter. Sicherheit an der Nordseeküste gegeben hat, Herr Car- stensen – daran haben wir alle ein Interesse –, dann wa- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe ren wir das; denn es ist nicht der letzte Verkehrsminister gerade gehört, mit welchem Nachdruck sich die neue gewesen. Der hat sich einfach um nichts mehr geküm- Bundesregierung für die Umweltpolitik einsetzt. Nach mert. Wir haben das aus der Opposition heraus veran- diesen Ankündigungen habe ich eigentlich erwartet, daß, laßt. weil die Nachhaltigkeit eine Querschnittsaufgabe dar- stellt, die Besetzung auf der Regierungsbank im Hohen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hause etwas größer wäre. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich stelle fest, daß das Interesse der Ministerinnen und Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Minister dieser neuen Bundesregierung sehr nachhaltig desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-zu wünschen übrigläßt. cherheit: Die Umweltpolitik ist nicht nur eine Aufgabe zwischen Bund und Ländern, sondern auch eine zentrale (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nachhaltiges Desinteresse in der Umweltpolitik!) Aufgabe im Rahmen der Europäischen Union. Deshalb werden wir, wenn wir am 1. Januar 1999 die EU-Kommen wir zum Thema Koalitionsvereinbarung Ratspräsidentschaft übernehmen, diese dazu nutzen,und Regierungserklärung und zu den diversen Äußerun- Umweltpolitik gemeinschaftlich weiter voranzubringen. gen der neu gewählten Regierungsmitglieder. Diese Äu- Dieses gilt für eine gemeinschaftliche Klimaschutzstra- ßerungen zeigen nämlich allesamt die innere Zerrissen- tegie, für den Gewässerschutz und für eine sich in derheit der neuen Regierung. Die Koalitionsvereinbarung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 295

Birgit Homburger (A) beinhaltet offene Widersprüche, aber auch eine Vielzahl Das haben wir auch immer gesagt. Aber Sie können(C) von schwammigen und interpretierbaren Formulierun- nicht jedes Risiko ausschalten. Und genau das machen gen, die das Bild prägen. Zum Beispiel steht in der Ko- Sie mit den Formulierungen in Ihren Erklärungen. alitionsvereinbarung, daß derKohlekompromiß von 1997 umgesetzt werden soll. Das wird von Herrn Trittin, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) unterstützt vom neuen nordrhein-westfälischen Wirt-Wer jedes Risiko ausschalten will, vergibt alle Chancen. schaftsminister Steinbrück, dann aber gleich öffentlich Sie müssen endlich einmal lernen, daß das so nicht geht. in Frage gestellt. Es heißt, man müsse, wenn man Kern- kraftwerke abschalte, der Kohle wieder größere Bedeu- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tung beimessen. Das kollidiert nun in der Tat mit dem CO –Minderungsziel. Oder schauen Sie sich dieKreislaufwirtschaft an. 2 Ich war schon sehr erstaunt, wie mager die Äußerungen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- nach dem, was wir in der letzten Legislaturperiode ge- ten der CDU/CSU) hört haben, zu diesem Thema waren. Da steht der Satz – ich zitiere –: „Zur Abfallvermeidung und Stärkung der Es soll uns einmal einer erklären, wie man so schnell Produktverantwortung sind vor allem ökonomische An- wie möglich Kernkraftwerke abstellen will, wenn man reize notwendig.“ auf der anderen Seite aber überhaupt nicht die Kapazi- täten hat, um die Energieversorgung sicherzustellen. Das (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das haben geht nur mit dem Einsatz von mehr Kohle, das geht nur Sie alles blockiert in den letzten Jahren!) mit der Aktivierung alter Kraftwerke, und das geht nur Erstens. Als wir das Kreislaufwirtschafts- und Ab- mit einem höheren CO2-Ausstoß. Das ist widersprüch- lich bis ins Tezett. fallgesetz auf den Weg gebracht haben, ist das von Ih- nen blockiert worden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zweitens. Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen Zwischen den vollmundigen Ankündigungen einerund Bürger, die unter der Höhe derMüllgebühren äch- ökologischen Erneuerung Deutschlands, wie Sie daszen, was Sie davon halten, wenn Sie an der Stelle von immer zu nennen pflegen, und der mageren Regierungs- zusätzlichen „ökonomischen Anreizen“, also von Ver- erklärung des Kanzlers, überflüssige Umweltschutzvor- teuerungen, reden! Wahrscheinlich ist Ihnen noch gar schriften zu streichen, um damit die Regelungsdichte zu nicht aufgefallen, daß eben auch das eine Lenkung ist. vermindern, liegen nun einmal Welten. Was will diese Oder schauen Sie sich einmal das Thema Duales System neue Koalition eigentlich in der Umweltpolitik, frage ich an! mich. Der Nebel hat sich auch nach der Regierungser- (B) klärung in keiner Weise gelichtet. Alte Kamellen aller- (Detlev von Larcher [SPD]: Warum haben die (D) orts, allerdings ohne Struktur. Weder bei der Bio- und uns bloß gewählt?) Gentechnologie noch in der Abfallwirtschaft ist eine Li- Beim Dualen System haben wir eine Preisstaffelung, die nie zu sehen – auch nicht, wenn es um das Thema In- dem Material entsprechend greift, das heißt, je ökologi- strumente im Umweltbereich geht. scher, desto billiger das Material. Auch das ist eine Len- Schauen Sie sich doch nur einmal die Formulierung – kung über den Preis, die man eingeführt hat. Das be- Formulierungen muß man sagen; man hat dem Thema deutet, daß Lenkung über den Preis längst Realität ist. breiten Raum zugemessen, ohne daß viel drinsteht – zum Thema Bio- und Gentechnologie an. Aus jeder Formulierung spricht das gegenseitige Mißtrauen. Der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, Obersatz, daß man Bio- und Gentechnologie durchaus gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn? einen Stellenwert einräumen müsse, ist wahrscheinlich von der SPD. Die Konditionierungen – die Spiegelstri- Birgit Homburger (F.D.P.): Bitte. che – sind offensichtlich von den Grünen, aber genauso schwammig. So stellt es sich auch dar, wenn man die Debatte zur Regierungserklärung verfolgt. Monika Griefahn (SPD): Frau Kollegin, bei der Art, wie Sie die Problematik der Abfallgebühren angespro- Frau Bulmahn hat uns eben erklärt, sie wolle überchen haben, haben Sie nicht zugegeben, daß die Kalku- Aufklärung Akzeptanz für diese Technologie erreichen. lationen, die gerade durch Ihre Regierung verursacht Auf der anderen Seite hat Herr Trittin in der „Welt am worden sind, zum Beispiel durch den gewaltigen Aus- Sonntag“ vom 8. November 1998 bereits erklärt, bau er der Müllverbrennungsanlagen, dazu geführt haben, wolle das Gentechnikgesetz verschärfen. Das sind Wi- daß die Preise enorm in die Höhe gegangen sind. dersprüche. Es geht nach dem Motto: Fortschritt – ja bitte, aber ohne Risiko. Natürlich muß man mit Technik (Widerspruch bei der F.D.P.) verantwortungsvoll umgehen In den Gebieten, wo das nicht gemacht worden ist und (Detlev von Larcher [SPD]: Ach!) wo eine sinnvolle Planung gemacht worden ist, die auf eine zukünftige Produktion von Gütern, die tatsächlich und Risiken minimieren. in Kreisläufe geführt werden können, ausgerichtet ist, (Christoph Matschie [SPD]: Das machen wir!) sind die Preise noch erträglich. 296 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

(A) Birgit Homburger (F.D.P.): Frau Kollegin Griefahn, zeichen. Es ist schön, daß Ihnen der Satz auch eingefal- (C) ich habe den Eindruck, wir leben in absolut unterschied- len ist. lichen Welten. Wenn Sie sich einmal vor Augen führen, (Beifall bei der SPD ) wie die Situation Anfang der 90er Jahre war, dann wer- den Sie sehen, daß wir damals alle von Müllbergen ge- – Sie haben auch recht. Ich glaube, wir leben in der Tat sprochen haben und daß wir alle nicht mehr gewußt ha- in verschiedenen Welten, und ich freue mich darauf, daß ben, wie wir das Problem bewältigen sollen. Damalswir jetzt über neue Perspektiven der Umweltpolitik sind die Deponien übergelaufen; es waren nicht genü-sprechen können und nicht immer nur Defizite, Ver- gend Müllheizkraftwerke vorhanden. Zu Beginn des In- säumnisse und Stillstand anprangern müssen. krafttretens der Verpackungsverordnung und des Kreis- (Beifall bei der SPD) laufwirtschafts- und Abfallgesetzes bestand wirklich ei- ne Situation, die unhaltbar war. Wir, die SPD und die Bündnisgrünen, werden ge- meinsam mit dieser Bundesregierung beweisen, daß wir Was ist zwischenzeitlich geschehen? Die Müllmen- es besser machen können gen sind drastisch zurückgegangen. Wir haben mit unse- rer Politik, mit der Einführung der Kreislaufwirtschaft, (Ina Lenke [F.D.P.]: Und teurer!) den Bau von zig Müllheizkraftwerken unnötig gemacht und daß mit der Stagnation und sogar dem Rückschritt und damit den Gebührenzahlerinnen und Gebührenzah- der letzten Jahre Schluß ist. Wir wollen eine zukunfts- lern Milliardenbeträge erspart, die auf Grund unsererweisende Umweltpolitik. Frau Homburger, wir diskutie- Politik nicht investiert werden mußten. Das ist die Rea- ren ja heute nicht zum erstenmal darüber. Sie wissen lität. Auch das müssen Sie bitte einmal zur Kenntnisschon, was wir einbringen werden. Ganz so nebulös, wie nehmen. Sie es beschrieben haben, ist es für Sie sicherlich nicht. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Es steht aber ten der CDU/CSU) nicht drin!) Das Fazit der ersten Diskussionsrunde um die um- Wir wollen jedenfalls nicht, daß uns die Europäische weltpolitischen Maßnahmen lautet also: Wenn man sich Union überholt, die Sie nämlich erst durch Mahnungen diese Koalitionsvereinbarung ansieht, dann erkennt man, der Kommission oder durch Urteile des Europäischen daß nichts ausdiskutiert ist. Nur eines ist ganz klar fest- Gerichtshofs auf Trab gebracht hat. gelegt: Der Umweltschutz wird mißbraucht. Wer näm- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich dachte, lich einem Bündel von Steuererhöhungen, die zur Fi- Sie hätten uns auf Trab gebracht!) nanzierung von Wahlversprechen auf ganz anderem Ge- (B) biet eingesetzt werden, das Etikett „ökologisch“ auf-Da gibt es einige Richtlinien, die Sie unzureichend oder (D) klebt, der verspielt den Kredit, den der Umweltschutz- überhaupt nicht umgesetzt haben, weswegen Sie vor gedanke in der Bevölkerung heute genießt. dem Europäischen Gerichtshof standen oder dies zu- mindest angedroht wurde. (Beifall bei der F.D.P.) Wir wollen keine Umwelt- und Energiepolitik, die In drei Jahrzehnten haben alle amtierenden Bundes- unseren Kindern und Enkeln untragbare Risiken über- regierungen durch Gesetze, durch Werbung und Aufklä- läßt. Deshalb steigen wir aus der Atomwirtschaft aus rung zur Bildung eines positiven Umweltbewußtseinsund in die ökologische Steuerreform ein. beigetragen. Das heute in der Bevölkerung verbreitete (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Interesse, ja das Engagement, sogar die Opferbereit- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaft für den Schutz der Umwelt sind ein Ergebnis die- ser Politik und keine Selbstverständlichkeit. Wenn also Wir wollen den Beweis dafür liefern, daß wirksame Ökologie als süßer Verführer benutzt wird, um bittere Umweltpolitik eben nicht den Standort Deutschland ge- Pillen leichter verabreichen zu können, dann schadet das fährdet. Im Gegenteil, wir werden zeigen, daß die Ver- der Akzeptanz von Umweltpolitik schlechthin. Sie ha- knüpfung von Arbeit und Umwelt zum Motor für ein ben in der Umweltpolitik einen glatten Fehlstart hinge- neues, umweltverträgliches Wirtschaften und zu einem legt. Anreiz für neue Technologien und Dienstleistungen wird. Wir wollen neuen Fortschritt konkret machen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was heißt das denn konkret?) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Wir schaffen mit dem Einstieg in dieökologische jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl. Steuerreform – selbst wenn ich dazu sagen muß, daß ich mir persönlich einen mutigeren Start gewünscht hätte – einen Anreiz zu Energieeinsparung und Ressour- Ulrike Mehl (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- censchonung. Dieses Geld nutzen wir nicht zum Stopfen ginnen und Kollegen! Frau Kollegin Homburger, ichvon Haushaltslöchern, sondern zur Senkung der Lohn- finde es lustig, daß Sie eben sagten: Ich glaube, wir le- nebenkosten und damit zur Verschränkung von Arbeit ben in verschiedenen Welten. Das habe ich oft gedacht, und Umwelt. Das ist schon lange überfällig. wenn ich Sie reden hörte, als wir in der Opposition wa- ren. Nun machen wir das einmal mit umgekehrten Vor- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 297

Ulrike Mehl (A) Ich bin der festen Überzeugung, daß sich der Erfolg Erstens. Wir werden gemeinsam mit den unter-(C) dieser Bundesregierung nicht nur an der erfolgreichen schiedlichen gesellschaftlichen Gruppen eine nationale Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen muß.Nachhaltigkeitsstrategie, eine nationale Agenda 21, er- An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend stehen wir arbeiten, in der anspruchsvolle Ziele festgelegt werden, noch vor ganz anderen Herausforderungen. Um diederen Erreichen an Hand von nachvollziehbaren Krite- weltweiten Probleme – Klimaveränderungen, Ozonaus- rien und zeitlichen Vorgaben überprüfbar gemacht wird. dünnung, Wasserverschmutzung, Versauerung von Bö- Dazu werden wir auf die Ergebnisse der Enquete- den und die Probleme des Meeresschutzes – in den Griff Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ zu bekommen, muß es uns schnellstens gelingen – das zurückgreifen und auf ihnen aufbauen. Stichwort ist mehrfach genannt worden –, das Leitbild Zweitens. Wir werden das zersplitterte Umweltrecht der Agenda 21, die nachhaltige Entwicklung, umzuset- in einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Um- zen. Das ist dann auch die beste Wirtschafts- und Be- weltrecht muß zum einen überschaubar und zum ande- schäftigungspolitik. ren für alle Betroffenen auch wirklich verstehbar sein. Wir werden nicht darauf warten, bis uns die Wissen- Das soll aber bitte ohne Zurückfahren der vorhandenen schaft die letzten Beweise für Umweltkatastrophen lie- Standards geschehen – eher im Gegenteil. fert, wie wir das an einigen Beispielen sehen können. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Steffi Klimaschutzpolitik darf nicht zu einem Kuhhandel ver- Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) kommen, bei dem 2 CO-Minderungspotentiale gegen heiße Luft getauscht werden. Herr Kollege Lippold hatte es angesprochen: Wir setzen dabei auch auf freiwillige Selbstverpflichtungen; die ha- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Steffi ben wir nie in Bausch und Bogen verdammt. Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] Wir brauchen eine zwischenstaatliche und nationale [CDU/CSU]: Das ist neu!) Feinabstimmung der Umweltvorsorge. Das beweist auch das katastrophale Unglück der „Pallas“ im Wattenmeer, Wir müssen aber die Standards erhalten. Das ist der das heute schon mehrmals genannt worden ist. Wir wer- Punkt. den dieses Thema in der nächsten Woche im Umwelt- (Ute Kumpf [SPD]: Darum geht es!) ausschuß auf der Tagesordnung haben. Wir müssen dies kontrollieren können. Es reicht nicht, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn alles wenn diejenigen, die sich freiwillig selbst verpflichtet vorbei ist, wachen Sie auf! Warum hat das haben, zwar erklären, daß sie das Ziel erreicht haben, denn so lange herumgedümpelt?) (B) das aber gar nicht kontrollierbar ist. (D) Wir werden uns die Problematik genauestens anse- (Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: hen, und im übrigen traue ich dem Kollegen Carstensen Überprüfbar muß es sein!) zu, daß es ihm tatsächlich ums Thema geht. Auch steht für uns nicht die Schuldfrage im Mittelpunkt; denn dann Hier sollte übrigens nach unserer Auffassung die Bun- müßten Sie, die Sie bisher für diesen Bereich zuständig desregierung mit einem guten Beispiel vorangehen. Ein gewesen sind, mit an den Pranger. wichtiges Instrument ist das Öko-Audit. Auch die öf- fentlichen Verwaltungen können es jetzt anwenden. Ich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir haben meine, daß die Bundesregierung dies auf allen Feldern das Schiff wahrscheinlich auch noch ange- tun sollte, um damit auch eine Vorbildfunktion für Län- steckt!) der und Kommunen wahrzunehmen. Vielmehr wäre es schön, wenn wir klären könnten, wie Drittens. Wir werden uns für eine Vorsorgepolitik wir das gemeinsam umsetzen, was wir seit Jahren for-beim Gewässerschutz stark machen. Wir müssen Ober- dern, nämlich eine europäische Coast guard zu schaffen. flächen- und Grundwasserschutz unter Anwendung der Dabei können Sie uns gern unterstützen. besten verfügbaren Technik EG-weit durchsetzen (Beifall bei der SPD) (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) Die Umweltpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Sie und zum Ökosystemschutz ausbauen. Das Thema steht muß zum integralen Bestandteil aller sozialen, wirt-schon in nächster Zeit im Zusammenhang mit der Was- schaftlichen und politischen Bereiche werden. Dazuser-Rahmenrichtlinie auf der Tagesordnung. Wir werden brauchen wir auch eine Umweltbildungsoffensive, die da die Anregungen des Europäischen Parlaments gerne eine Grundlage für neue Ideen und kreative Lösungen aufgreifen. schafft, aber auch den Spalt zwischen Wissen und Han- Viertens. Auch derBodenschutz muß stärker am deln beseitigt, den wir in der Umweltpolitik immer be- Vorsorgeprinzip ausgerichtet werden. Dazu werden wir klagen. gemeinsam mit den Ländern die Entwürfe der Boden- Um diesen wichtigen Weg hin zu einer nachhaltigen schutz- und Altlastenverordnung überarbeiten und Kon- Wirtschaft einschlagen zu können, bietet der ausgehan- zepte zur Entsiegelung und Renaturierung von Flächen delte Koalitionsvertrag durchaus eine gute Grundlage. einbeziehen. Ich möchte die wichtigsten Punkte in aller Kürze an- Fünftens. Wir werden mit derKreislaufwirtschaft sprechen. Ernst machen – das können wir uns, Frau Kolle- 298 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Ulrike Mehl (A) gin Homburger, dann ja gemeinsam im Ausschuß an-rale Investitionsabkommen integriert werden. Das ist so, (C) schauen –, auf den Aufbau von Stoffkreisläufen in der wie es jetzt vorliegt, noch nicht diskutabel. industriellen Produktion setzen und die ökologische Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) staltung von Produkten fördern. Dieser Bereich ist näm- lich absolut unterentwickelt. Ich komme zum Schluß. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die drängenden Umweltprobleme (Beifall bei der SPD) endlich anpacken und den Umbau zum nachhaltig um- Sechstens. Wir werden dasBundesnaturschutzge- weltverträglichen Wirtschaften einleiten. Das geht na- setz novellieren und die Ziele und Grundsätze neu fas- türlich nicht in drei Wochen, auch nicht in drei Monaten. sen, indem wir einen Vorrang für Naturschutz auf min- Deutschland muß aber endlich die praktische Umset- destens 10 Prozent der Fläche verwirklichen, zung einer Nachhaltigkeitspolitik in der ersten Reihe vollziehen und nicht nur auf dem Papier Versprechun- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Zirka 10 Pro- gen machen. Das werden wir tun. zent!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS um das europäische Biotopverbundsystem Natura 2000 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten voranzubringen, das Verbandsklagerecht für anerkannte der PDS) Naturschutzverbände verankern und den Ausverkauf von Schutzgebieten in den neuen Bundesländern stop- pen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Zuruf von der SPD: Nur die F.D.P. wird nicht unter Naturschutz gestellt!) Angela Marquardt (PDS): Frau Präsidentin! Meine Im übrigen brauchen wir ein neues Konzept für die Si- Damen und Herren! Erfreut habe ich doch zur Kenntnis cherung unseres nationalen Naturerbes. Es muß darüber genommen, wie oft über die Perspektiven von jungen diskutiert werden, in welcher Form das geschehen kann. Menschen in den letzten Tagen gesprochen wurde. Eine bundesweite Stiftung ist sicherlich nicht Wenn die dann allerdings in der Regierungserklärung die schlechteste Lösung, aber das muß noch geklärt werden. Begriffe Natur- und Umweltschutz überhaupt nicht vor- kommen und Kanzler Schröder sagt, ökonomische Lei- Um längerfristig eine flächendeckendumwelt- stungsfähigkeit sei der Anfang von allem, so sind an ihm freundliche Land- und Forstwirtschaft zu verwirkli- langjährige Diskussionen auch unter jungen Leuten chen, wohl spurlos vorbeigegangen. Denn nicht die Ökono- (B) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das haben mie, sondern die natürlichen Grundlagen sind der An-(D) fang von allem. So ist es nicht verwunderlich, daß die wir schon!) Enttäuschung über die fehlende Konsequenz der Um- werden wir gemeinsam mit den Land- und Forstwirten, weltpolitik der neuen Regierung bei den im Umweltbe- Herr Kollege, die gute fachliche Praxis konkretisieren reich Engagierten und den Verbänden nicht zu überhö- und Möglichkeiten eröffnen, ökologische Leistungen zu ren ist. honorieren. Das ist immer unser Ziel gewesen. Dazu (Beifall bei der PDS – Dr. Friedbert Pflüger wollen wir die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und [CDU/CSU]: Bei uns auch nicht!) Küstenschutz und die Chancen der Agenda 2000 nutzen. Den Koalitionsvertrag bezeichnet der BUND zu Recht (Beifall bei der SPD) als Pakt der Halbherzigen. Siebtens. Wir werden auch – das haben wir in den (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) ganzen Diskussionen um das Energiewirtschaftsgesetz immer gefordert – endlicherneuerbare Energien so Natürlich erkennen wir an, daß Sie sich in den Berei- stark fördern, wie es angemessen ist, und die enormen chen des klassischen Natur- und Umweltschutzes und im Potentiale zur Energieeinsparung im Gebäudebereich Umweltrecht neue und teilweise auch ehrgeizige Ziele nutzen, für den Ausbau der Kraft-Wärme-Koppelunggesetzt haben: das Vorhaben, ein ausgedehntes Biotop- sorgen und ein 100 000-Dächer-Solarprogramm in Gang Verbundsystem zu schaffen, oder der Stopp des Ausver- bringen. kaufs von Schutzgebieten in den neuen Bundesländern. (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir werden auch die Marktchancen für regenerative und heimische Energien verbessern. Bei Ihnen stand das Jedoch steht für mich zum Beispiel die Aussage zur Bio- und Gentechnologie im Kontrast zu solchen kon- immer nur auf dem Papier; in der Wirklichkeit ist es nicht umgesetzt worden. Wir werden das jetzt tun. kreten Festlegungen. Die verantwortbaren Innovati- onspotentiale dieser Technologien hervorzuheben und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zugleich den frommen Wunsch nach angemessenem Raum für alternative Verfahren zu äußern, das klingt für Achtens. Wir werden uns international für anspruchs- mich nach einem ganz faulen Kompromiß auf Kosten volle Umweltqualitätsziele und gegen Umweltdumping der Ökologie. einsetzen. Umweltstandards müssen auch in die Politik der WTO, des IWF, der Weltbank und in das Multilate- (Beifall bei der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 299

Angela Marquardt (A) Die ökologischen Gefahren von Feldfreisetzung und von auf billigem Wege im Ausland erfüllen können, um so(C) faktischen Freisetzungen in den Sicherheitsstufen S 1mehr schwindet der Druck, die eigene Art des Wirt- und S 2 nach dem Gentechnikgesetz sind oftmals doku- schaftens und des Lebensstils auch hier in Deutschland mentiert. Der wirkliche Stopp sämtlicher Freisetzungen zu verändern. Wir erwarten, daß Deutschland auf EU- und die Verschärfung des Gentechnikgesetzes wärenEbene auf eine anspruchsvolle Regelung hinwirkt, um hier und EU-weit die richtigen Zielsetzungen gewesen. die selbstgesetzten Reduktionsziele zu erreichen, die Reduzierung aus den flexiblen Instrumenten auf höch- (Beifall bei der PDS) stens 30 Prozent festzuschreiben und in diesem Sinne Lassen Sie mich drei Punkte herausheben: Druck auf die USA auszuüben. Natürlich unterstützen wir Ihre Bemühungen, den Ein persönlicher Satz zum Schluß: Das wäre für mich Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb dieser Legis- das mindeste, um wirklich zu einem Politikwechsel zu laturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich zu kommen – und nicht nur zu einem Regierungswechsel. regeln. Allerdings hätten wir doch schon gerne konkre- Für diesen Politikwechsel möchte ich hier in diesem tere Ausstiegsfristen gehört – in guter Erinnerung an den Hause in den nächsten vier Jahren streiten, egal wie oft einmal gefaßten 10-Jahres-Beschluß der SPD. Auchich persönlich noch in einem Verfassungsschutzbericht vermissen wir Festlegungen zum Abschalten auftauchen von werde. Schrottmeilern, die weit älter als 18 oder 19 Jahre sind, und zur Endlagerfrage. Ebenfalls hörten wir nichts über (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten die Beendigung der Genehmigungsverfahren für die Pi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lotkonditionierungsanlage in Gorleben und den Schacht Konrad. Werden Sie deren Inbetriebnahme verhindern? Wir hoffen, daß es nicht bei Ihren vollmundigen Aus- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Frau stiegsbekundungen bleiben wird. Wir fordern einen zeit- Kollegin Marquardt, ich möchte auch Ihnen im Namen nahen Einstieg in den Ausstieg. des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Ökosteuer. Nehmen wir auch die Was als Königs- neten der F.D.P.) weg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise inklusi- ve der Lösung der Arbeitsmarktprobleme und der Sanie- Ich erteile nun dem Abgeordneten Michael Müller rung der Sozialversicherungssysteme verkauft wird und das Wort. was auch ein dem ökologischen Umbau dienendes In- strument sein könnte, endet leider wie immer unter dem (B) (D) Druck von Industrie und Lobbygruppen als reine Entla- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Frau Präsiden- stungsdiskussion. Kein Wort mehr über die Verwendung tin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, daß die eines Teils der Einnahmen aus höheren Energiepreisen Koalitionsvereinbarung die ökologische Modernisie- für den ökologischen Umbau! Diese Ökosteuer aufrung in das Zentrum der zukünftigen Politik stellt. Das Samtpfoten wird nicht den notwendigen Druck in Rich- wird von der SPD als die richtige Antwort auf die Pro- tung Energieeinsparung, effizientere Energienutzungbleme unserer Zeit angesehen. Ich sage Ihnen: Die öko- und Modernisierung der Produktionsstrukturen entfalten. logische Modernisierung ist in dreierlei Hinsicht von Vor allem aber fehlt diesem Konzept aus Sicht der PDS zentraler Bedeutung: jede soziale Kompensation, wie etwa die Förderung ei- nes flächendeckenden, preiswerten ÖPNV aus den Mit- Erstens. Sie ist die Chance für einen neuenKonsens teln der Benzinpreiserhöhung, was ja möglich wäre. in unserer Gesellschaft. Diesen Konsens gibt es bei- spielsweise in der Frage des Ausstiegs aus der Atom- (Beifall bei der PDS) kraft schon lange. Das muß jetzt auch im Bundestag Als letzter Punkt, ganz aktuell: dieKlimapolitik. Konsens werden, wo er bisher verhindert wurde. Schon im Vorfeld der gerade stattfindenden Konferenz in Buenos Aires hat sich Umweltminister Trittin bewußt (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ in die Kontinuität der Vorgängerregierung gestellt. Al- DIE GRÜNEN) lein die Verabschiedung eines verbindlichen Zeit- und Zweitens. Die ökologische Modernisierung ist die Arbeitsplans hält er nun schon für einen Erfolg. Im Ge- große Chance für die Erneuerung der Gesellschaft und gensatz zu Umweltverbänden und dem umweltpoliti-vor allem für die Weckung der kreativen Kräfte in unse- schen Sprecher der Grünen ist er der Ansicht, daß bis zu rer Gesellschaft. Ökologische Modernisierung heißt 50 Prozent der Reduktion aus den sogenannten flexiblen nämlich, kreativ neue Ansätze zu entwickeln und dabei Instrumenten bestritten werden könnten. auch den Faktor Arbeit zu stärken. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So etwas Drittens. Wir werden auf keinen Fall eine Politik un- nennt man opportunistisch!) terstützen – eine solche haben wir in der Vergangenheit Lassen Sie mich zum Schluß sagen: So sieht für uns leider oft erlebt –, in derArbeit gegen Umwelt ausge- eine konsequente Klimapolitik nicht aus. Wir meinen: Je spielt wird. Im Gegenteil: Es wird ein Kernbereich unse- leichter die Industriestaaten – immerhin Hauptverursa- rer Politik sein, Arbeit und Umwelt zusammenzuführen cher der Klimaveränderungen – ihre nationalen Pflichten und beides als zwei Seiten eines Problems zu betrachten, 300 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Michael Müller (Düsseldorf) (A) nämlich die Umweltzerstörung zu bekämpfen undAus meiner Sicht gibt es drei zentrale Herausforde-(C) gleichzeitig die Arbeitsplatzvernichtung zu stoppen. rungen an die künftige Politik. Das ist erstens die große Krise der Erwerbsarbeit. Wir erleben heute, daß sich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Produktivität einseitig auf die Verdrängung des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Faktors Arbeit richtet, weil die Produktivität weit höher Es geht um die zentrale Frage: Wie sieht eine zu-als die Nachfrage ist. Wenn man das hinnimmt, bedeutet kunftsfähige Wirtschaftsordnung aus? Der Kern derdas, auch die Massenarbeitslosigkeit hinzunehmen. Das ökologischen Modernisierung liegt darin, ein modernes wollen wir nicht. Fortschrittsmodell zu entwickeln, statt beispielsweise in Deshalb ist die Forderung nach einem Bündnis für der Umweltpolitik die öffentliche Verordnungswirt- Arbeit und Umwelt auch die Forderung nach neuen schaft durch eine private Verordnungswirtschaft zu er- Wirtschaftsstrukturen, neuen Zukunftsmärkten, neuen setzen, wie wir dies in den letzten Jahren erlebt haben. Produkten und einer zukunftsfähigen Entwicklung „Ar- Das ist nicht unser Weg. Der Einstieg in die ökologische beit und Umwelt“ bedeutetBeschäftigungspolitik und Steuerreform ist von zentraler Bedeutung, weil damit damit Zukunftspolitik. ökologische Entscheidungen sinnvollerweise direkt in die Wirtschaftsprozesse einbezogen werden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Die zweite wichtige Herausforderung ist: Wir wissen, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) daß quantitatives Wachstum nicht mehr ausreicht, die Ich meine allerdings, daß die ökologische Steuerre- Gesellschaft zusammenzuhalten. Wir haben die letzten form nicht das einzige Instrument sein kann. Sie ist ein Jahrzehnte als Jahrzehnte erlebt, in denen Wachstum die wichtiger Weg. Ich würde sie aber nicht als den Kö-Gesellschaft wie ein Fahrstuhl nach oben gehoben und nigsweg bezeichnen. Ich glaube auch, daß das kaum je- allen mehr Chancen gegeben hat. mand tut. Sie ist vielmehr eine notwendige, aber noch Dieser Mechanismus funktioniert nicht mehr. Die keine hinreichende Bedingung, um die ökologische Mo- Zukunft zu gestalten bedeutet, daß Wachsen und dernisierung in Gang zu bringen. Gerade wer beispiels- Schrumpfen gleichermaßen stattfinden müssen. Der weise die soziale Verträglichkeit ernst nimmt, muß mit Ernstfall für diese neue wirtschaftspolitische Strategie der ökologischen Steuerreform weitere Instrumente ver- wird der Umstieg in der Energiepolitik sein. Wir müs- binden. Auch das werden wir tun. sen ein systematisches Schrumpfen der Atomenergie bei (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS einem gleichzeitigen Wachsen von Effizienztechnologi- 90/DIE GRÜNEN) en und von Solarwirtschaft erreichen. Das heißt, Wach- sen und Schrumpfen gleichzeitig, das ist unsere Strate- (B) Von zentraler Bedeutung ist es also, die beiden gro- gie. (D) ßen Krebsübel unserer Zeit, nämlich die Probleme der Arbeitsplatzvernichtung und der Umweltzerstörung, (Beifall bei der SPD) gemeinsam zu lösen. Deshalb sage ich in Richtung Bun- Im Zusammenhang damit, daß quantitatives Wachs- desregierung: Für die SPD ist es wichtig, in das Bündnis tum nicht mehr ausreicht, ist auch von großer Bedeu- für Arbeit auch die ökologischen Fragen einzubeziehen. tung, daß wir lernen, mitGrenzen umzugehen. Das ist Wir halten es für richtig, einBündnis für Arbeit und für die moderne Zivilisation eine völlig neue Herausfor- Umwelt zu schaffen, um nicht von vornherein in derderung. Ökologie bedeutet auch, sich selbst zurückzu- Gesellschaft neue und falsche Fronten aufzubauen. nehmen, Solidarität nicht nur mit den gegenwärtigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Generationen, sondern auch mit künftigen Generationen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu üben und vor allem zu begreifen, daß die Einführung einer Zukunftsverantwortung in die Gegenwart eine Meiner Meinung nach gleicht die Situation, in derGrundlage für die Stabilität der Ökonomie, für Beschäf- sich die neue Regierung befindet, in etwa einem Such- tigung und für soziale Solidarität sein wird. prozeß. Zu lernen, mit Grenzen umzugehen, das ist die große (Birgit Homburger [F.D.P.]: Das kam zum kulturelle Herausforderung für unsere Gesellschaft. Und Ausdruck!) sie ist vor allem eine ökologische Herausforderung. Wir sind aufgefordert, einen gesellschaftlichen Konsens (Beifall bei der SPD) zu erreichen und neue Wege zu gehen. Denn – ich glau- be, das war der entscheidende Grund für die Wahlnie- Als dritte Herausforderung haben wir es mit den in derlage der alten Regierung – die Menschen wissen, um vielen Bereichen sichtbaren Grenzen des Nationalstaats es mit Erich Kästner zu sagen, daß es auf keinen Fall so zu tun – vor allem in der Steuer-, in der Finanz- und in weiterging, wenn es weitergegangen wäre. Jetzt gibt es der Geldpolitik. Wir müssen wissen, mit welchen Mit- sozusagen eine Suchbewegung dahin gehend, wie wir in teln wir die Globalisierung gestalten können. der Gesellschaft wieder zu mehr Verständigung, zu Aus meiner Sicht ist die Leitidee derNachhaltigkeit mehr Modernisierung und vor allem zu mehr Solidarität die wichtigste Antwort, um das globale Zeitalter zu ge- kommen. Auch eine neue Solidarität ist ein ganz wichti- stalten. Nachhaltigkeit ist ein Weg, der kein globales ger Punkt. Die ökologische Modernisierung kann hier Regime voraussetzt – das auch nicht kommen wird und eine zentrale Rolle spielen. das auch nicht wünschenswert ist –, der aber die große (Beifall bei der SPD) Chance eröffnet, daß überall in der Welt gesellschaftli- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 301

Michael Müller (Düsseldorf) (A) che Gruppen, Städte, Wirtschaftsvereinigungen und Re- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke schön. (C) gierungen mit unterschiedlichen Maßnahmen für dassel- – Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich be Ziel, nämlich das Ziel einer dauerhaften Entwicklung, liegen nicht vor. arbeiten. Wir kommen nun zu dem letzten Themenbereich für Nachhaltigkeit ist die große Chance, in einer Welt,den heutigen Tag, zum Thema Landwirtschaft. die noch keine Regel hat, auf die Gefahr eines entfes- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- selten neuen Weltkapitalismus, der uns in die Krise führt, neue soziale und ökologische Antworten zu geben ordnete Horst Seehofer. und damit Stabilität, Frieden und Demokratie zu sichern. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Es ist eine Zukunftschance!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Horst Seehofer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren! Ich stelle eine gewisse Über- Diese Herausforderung stellt sich in besonderer Wei- raschung fest. Deswegen möchte ich hier mein erstes se an Europa. Max Horkheimer hat in den 60er Jahren Erlebnis, das ich als Gesundheitsminister mit den Zahn- die Frage gestellt: Setzt sich in Europa der Gedanke von ärzten hatte, wiedergeben. Die Zahnärzte waren damals Rationalität, Vernunft und Aufklärung fort? Der Para- auch überrascht und haben mir die Frage gestellt: Haben digmawechsel hin zu einersozial-ökologischen Wirt- Sie schon jemals einen Zahn gezogen? Diese Frage schaftsentwicklung ist die große Chance für Europa.wurde mir nach vier Wochen nie mehr von ihnen ge- Ich halte weder den amerikanischen Weg des Indivi-stellt. dualkapitalismus (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Aber Kartof- feln haben Sie schon gegessen?) noch das asiatische Modell, das zentralistisch von oben dirigiert, für zukunftsfähig. Nun beginne ich mit der Koalitionsvereinbarung der neuen Regierung. Ländliche Räume stärken – Landwirt- Ich sehe vielleicht eine große Chance für Europa, das schaft sichern, so lautet die Zielsetzung von SPD und damit auch ein Vorbild für eine sozial-ökologischeGrünen. Weltinnenpolitik sein kann. Das ist das Modell, das wir wollen. Es ist auch im Sinne von Weizsäcker und wird Wie sieht die Realität aus? In der Regierungserklä- uns voranbringen. rung des neuen Bundeskanzlers kein Wort zu den strukturellen und wirtschaftlichen Problemen der Land- (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS und Forstwirtschaft und ihren in der überwiegenden(D) 90/DIE GRÜNEN) Zahl bäuerlichen Familienbetrieben. Kein Wort in dieser Regierungserklärung zu den wirtschaftlichen, gesell- In den 30er Jahren hat Franklin D. Roosevelt nach der großen Weltwirtschaftskrise gesagt: Außergewöhnlicheschaftlichen und ökologischen Leistungen der Landwirt- schaft. Kein Wort zur Versorgung der Bevölkerung mit Herausforderungen brauchen auch außergewöhnliche Produkten, die in Deutschland höchsten gesundheitli- Antworten. Das ist richtig und gilt auch noch heute. Des- halb wird die entscheidende Frage für uns sein: Sind wir chen Standards und den Verbraucherinteressen entspre- chen. fähig, nicht nur zu reagieren, sondern auch ein sozialöko- logisches Bündnis in unserer Gesellschaft zu erreichen? (Zuruf von der CDU/CSU: Scheint alles Folgende Fragen stellen sich konkret: Wie setzen wir selbstverständlich zu sein!) den Prozeß von Rio fort? Wie füllen wir konkret die In der Regierungserklärung kein Wort zu den weitge- Debatte zur Agenda 21? Und vor allem: Wie mobilisie- hend unentgeltlich erbrachten Leistungen der Bauern für ren wir unsererer Gesellschaft mehrDemokratie und Natur- und Landschaftspflege mehr Mitbestimmung, um neue Wege gehen zu kön- nen? Denn wir wissen, die ökologische Modernisierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wird nur erreichbar sein, wenn mehr Demokratie mög- und auch kein Wort zur Nutzung landwirtschaftlicher lich wird, wenn die Menschen mitziehen, wenn sie se- Rohstoffe für regenerative Energien. hen, daß die Veränderungen gerecht und solidarisch or- ganisiert werden. Das heißt, daß Ökologie nicht ein Ge- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Unglaub- gensatz zur bisherigen sozialstaatlichen Politik dieses lich! Diese Heuchler!) Jahrhunderts ist, sondern eine Fortsetzung und Erweite- Meine Damen und Herren, wenn an der Schwelle rung. Sie ist die große Zukunftschance. Wir werden in zum 21. Jahrhundert in einer Regierungserklärung, die der neuen Regierung im Bündnis zwischen sozialen und Aufbruchstimmung auslösen soll, zu einem der wichtig- ökologischen Reformen diesen Weg solidarisch undsten Wirtschaftszweige unseres Landes, zu den Proble- vertrauensvoll gehen. men der Bauern und zum Agrarstandort Deutschland, so Vielen Dank. gut wie kein Satz verloren ist, dann drückt dies den Stellenwert aus, den diese Regierung den Bauern ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten räumt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 302 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Horst Seehofer (A) Ich kann heute sagen: Bei dieser rotgrünen Regierung Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben heute die(C) haben die Bauern null Stellenwert, diese Regierung hat Möglichkeit, dies hier zurechtzurücken. Mit Recht ha- die Bauern im Kern abgeschrieben. ben sich Union und F.D.P. – ich habe das im Kabinett (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – selbst miterlebt – gegen die vorliegende Fassung der Zurufe von der CDU/CSU: Noch weniger! – Agenda 2000 gestemmt. Denn, meine Damen und Her- Die machen die Bauern kaputt!) ren, die Agenda 2000 bringt auf der einen Seite höhere Kosten und auf der anderen Seite weniger Einkommen Die Ausgestaltung der Agenda 2000 wird sowohl für für die Landwirte. Allein im Marktordnungsbereich die Landwirtschaft als auch für den ländlichen Raummüßte Deutschland rund 1,7 Milliarden DM mehr be- von größter Bedeutung sein. Auch zu diesem Punkt fin- zahlen, würde es bei dieser Fassung bleiben, die deut- det man im Koalitionsvertrag nur diplomatische Poesie schen Nettozahlungen erhöhten sich um rund 1 Milliarde und nichts Konkretes. Die Agenda 2000 hat existentielle DM, und unsere Landwirte hätten gleichzeitig durch- Bedeutung für die Zukunft der deutschen Bauern. In der schnittlich 10 Prozent, im Futterbau sogar deutlich mehr Koalitionsvereinbarung findet man alleine den Satz, daß als 20 Prozent weniger Einkommen und insbesondere man diese Agenda 2000 fristgerecht im ersten Halbjahr auch vermehrte Bürokratie. 1999 umsetzen will. Die eigentlichen inhaltlichen Pro- bleme, nämlich die höheren Agrarkosten, die Einkom- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Unerträg- menseinbußen der Landwirte und die vermehrte Büro- lich!) kratie, die mit dieser Agenda verbunden sind, werdenMeine Damen und Herren, das ist unerträglich. Die Uni- mit keinem Wort erwähnt. on hat vor der Wahl gesagt, das wollen wir nicht, und Wenn ich nun sehe, daß die Agenda 2000 in der Re- wir bleiben auch nach der Wahl dabei. gierungserklärung nicht erwähnt wird, daß in der Koali- (Beifall bei der CDU/CSU) tionsvereinbarung auf eine fristgerechte Umsetzung der Agenda Wert gelegt wird, aber zu den inhaltlichen Pro- Wenn darauf hingewiesen wird, eine solche Ände- blemen der Agenda für die deutschen Bauern und den rung sei wegen der Osterweiterung der Europäischen ländlichen Raum kein Wort verloren wird, dann müssen Union notwendig, sagen wir klar ja zur Osterweiterung. wir von einer Grundzustimmung, Herr Minister, zu den Sie ist eine einmalige historische Chance, eröffnet neue Kommissionsvorschlägen ausgehen, obwohl – daraufwirtschaftliche Perspektiven. Aber, meine Damen und möchte ich hinweisen – eine Sonderagrarministerkonfe- Herren, die Osterweiterung der Europäischen Union darf renz am 28. Mai 1998, an der Sie teilgenommen haben, nicht auf dem Rücken unserer deutschen Landwirte aus- einstimmig, ferner die Ministerpräsidenten aller Bun-getragen werden. desländer ebenfalls einstimmig und schließlich auch der (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (B) Bundesrat noch im Juni dieses Jahres wiederum ein- (D) stimmig die Agenda 2000 abgelehnt haben Birgit Homburger [F.D.P.]) (Michael Glos [CDU/CSU]: Zu Recht!) Hier, Herr Landwirtschaftsminister, wäre es sehr gut gewesen, wenn Sie sich rechtzeitig und nicht erst nach- Die agrarpolitischen Vorschläge in der Agenda 2000 träglich zu Wort gemeldet hätten. wurden zurückgewiesen, und damals haben sowohl die Agrarminister als auch die Ministerpräsidenten wie der Natürlich brauchen wir hier lange Übergangsfristen. Bundesrat festgelegt, daß die Agenda 2000 so überar-Aber von Übergangsfristen ist bei der Osterweiterung beitet werden muß, daß einseitige Belastungen und Be- der Europäischen Union nur bezüglich der gewerblichen nachteiligungen der deutschen Landwirtschaft vermie- Arbeitnehmer die Rede, aber nicht beim Auffangen und den werden sowie die Funktionsfähigkeit der ländlichen beim Abfedern der Probleme in der deutschen Landwirt- Räume erhalten bleibt. schaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Marita Sehn [F.D.P.]) CDU/CSU: Das ist Verrat an den Bauern!) Meine Damen und Herren, wenn man im Juni dieses Es muß dringend nachgebessert werden. Jahres, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl, bei der die- Natürlich, meine Damen und Herren, steht die Agen- se Frage eine wesentliche Rolle gespielt hat, noch ein- da 2000 auch im Zusammenhang mit der wichtigen Fra- hellig die Agenda 2000 in ihrem agrarpolitischen Teil ge der Verhandlungen, die bei derWelthandelsorgani- ablehnt, eine Überarbeitung einfordert und jetzt – dassation zu diesem Gebiet anstehen. Das Ziel derLibera- muß man aus der Regierungserklärung und der Koali- lisierung der Agrarmärkte darf aber nicht bedeuten, tionsvereinbarung schließen – ganz offensichtlich eine daß die deutsche Landwirtschaft von ihren hohen Ver- Grundzustimmung zu den Kommissionsvorschlägen gibt braucher-, Umwelt- und Tierschutzstandards Abstriche und damit nach der Wahl auf den Kurs des Kommissars macht. Deshalb wäre die richtige Reihenfolge, Herr Mi- Fischler einschwenkt, muß man dies als Täuschungsma- nister, daß man nicht zuerst die Agenda 2000 auf euro- növer gegenüber den Wählern einstufen. päischer Ebene verwirklicht und die deutsche Landwirt- schaft in einen weltweiten Preiskampf mit dem Verlust (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – vieler Existenzen treibt, sondern der erste Schritt, meine Zuruf des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]: Damen und Herren, Herr Minister, muß sein, bei diesen Bauernfängerei!) Verhandlungen der Welthandelsorganisation dem euro- Das ist ein Täuschungsmanöver. päischen Niveau entsprechende Gesundheits-, Umwelt- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 303

Horst Seehofer (A) und Sozialstandards durchzusetzen. Das muß der erste Wenn ich daran denke, daß Landwirte an Sonn- und(C) Schritt sein, meine Damen und Herren! Feiertagen arbeiten und hier nicht in den Genuß von Steuervorteilen und Abschreibungsmöglichkeiten kom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- men – wie viele Arbeitnehmer –, dann fällt es mir ordneten der F.D.P.) schwer, zu verstehen, wie von einem Steuerprivileg ge- Wir wollen nicht, daß die Liberalisierung für unsere redet werden kann. Verbraucher in Deutschland bedeutet, daß sie Produkte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- akzeptieren müssen, die sie nicht wollen, Hormonfleisch ordneten der F.D.P.) und Milch von Turbo-Kühen, daß unsere Märkte von solchen Produkten überschwemmt werden. Deshalb Sie von der Regierung belasten auf der einen Seite wollen wir, daß die richtige Reihenfolge eingehaltendie Landwirte überproportional, während auf der ande- wird, daß man sich nicht im Vorfeld dieser Verhandlun- ren Seite die deutschen Bauern von der Entlastung bei gen auf europäischer Ebene den Weltmarktpreisen aus- den Lohnnebenkosten nichts haben. setzt, daß man die deutschen Landwirte nicht diesem ruinösen Wettbewerb aussetzt, und die Standards für die (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Null! Nur Schutzbestimmungen, die ja weltweit vereinbart werden Belastung!) müssen, nicht angleicht. Das hält kein Wirtschaftsbe-Dazu kommt die mittelbare Wirkung der Energiebe- reich aus. steuerung. Wenn man im ländlichen Raum lebt, weiß Ich hätte es sehr gut gefunden, Herr Landwirt-man, was das bedeutet – von der Benzinsteuer bis zur schaftsminister, wenn Sie sich nicht im nachhinein, nach Stromsteuer. den Koalitionsverhandlungen, nach der Regierungser- Wenn ich diese vier Punkte zusammen nehme, die klärung zu Wort gemeldet hätten. Beinahe täglich höre Agenda 2000, der Sie offensichtlich in der vorliegenden ich von Nachbesserungen und davon, daß dieses oderForm zustimmen wollen, weil Sie der Zeitschiene den jenes neu überlegt werden müsse. Vorrang vor dem Inhalt geben, die Steuerreform mit ei- ( [CDU/CSU]: Völlig Undifferen- ner hemmungslosen und massiven Belastung der Land- ziertes hört man da!) wirte und der ländlichen Räume, die Energiebesteue- rung, die Stromsteuer, die ebenfalls wieder eine einseiti- Vielmehr hätten Sie dafür sorgen müssen, daß für diege Belastung der landwirtschaftlichen Existenzen und Landwirtschaft schädliche Vereinbarungen in Ihrer Ko- der landwirtschaftlichen Räume mit sich bringt, und die alition gar nicht erst getroffen werden. Belastungen durch SPD und Grüne im Bereich des Um- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Richtig! Er weltrechts, dann kann ich zu keinem anderen Ergebnis (B) hat sich nicht durchgesetzt!) kommen als zu dem, daß die Bauern zu den Verlierern(D) der neuen Regierungspolitik gehören. Wir brauchen keinen Landwirtschaftsminister, der sich als Reparateur betätigt, sondern jemanden, der von (Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr!) vornherein vermeidet, daß überhaupt Schaden entsteht. Dagegen stemmen wir uns mit aller Macht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist eine existentielle Frage für die deutschen Land- wirte. Sie haben die verdammte Herr Landwirtschaftsminister, wenn ich diese Sach- verhalte der Regierungserklärung gegenüberstelle, in der (Zuruf von der SPD: Na! Na!) vom Aufbruch die Rede ist, dann komme ich zu dem Schluß: Ihre Politik für den ländlichen Raum führt nicht Pflicht und Schuldigkeit – auch wenn wir Europa und zum Aufbruch, sondern zur Stagnation und zum Verfall. die Erweiterung Europas bejahen –, vitale deutsche In- Bei den Steuern gibt es statt Entlastung eine massive teressen und damit auch die Interessen des ländlichen Belastung, und, was die Verwaltungsabläufe betrifft, so Raumes und der deutschen Landwirte in diesen Ver- gibt es nicht Vereinfachung, sondern eine massive, zu- handlungen zu vertreten. sätzliche Bürokratie. Statt Aufbruch Verfall, statt Entla- Es geht ja nicht nur um die Agenda 2000. Dazustung Belastung, statt Vereinfachung Bürokratie. kommt noch, was wir im Bereich derUmweltpolitik von der SPD und den Grünen gehört haben, welche Be- (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer lastungen auf unsere Landwirte – übrigens die Umwelt- [CDU/CSU]) schützer Nummer eins, die größte Umweltbewegung in Dies alles haben die Landwirte auszubaden. der Bundesrepublik Deutschland – Nun kenne ich Sie ja, Herr Funke, als wir miteinander (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wegen BSE zu tun hatten. ordneten der F.D.P.) (Heiterkeit) zukommen sollen. Weiter ist festzuhalten, was Sie im Steuerrecht an Belastungen den Landwirten aufbürden Ich möchte auch gar nicht verschweigen, daß wir da or- wollen. In diesem Zusammenhang möchte ich folgenden dentlich zusammengearbeitet haben. Sie haben eine or- Satz sagen: Ich verstehe manche Kommentare in der Öf- dentliche Chance verdient. Wir werden Sie ganz einfach fentlichkeit überhaupt nicht, wonach es hier um einenan den Zielen messen, die wir heute hier formulieren. Abbau von Steuerprivilegien bei den Landwirten gehe. Wir wollen nicht, daß Sie sich ständig, jeden Tag, mit 304 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Horst Seehofer (A) Agenturmeldungen in der Öffentlichkeit zu Wort mel- schaft und den deutschen Interessen in Europa orientie- (C) den ren. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum (Beifall bei der CDU/CSU) denn nicht?) Aber, Herr Landwirtschaftsminister, Sie stoßen auf und sagen, Sie hätten diesen oder jenen zur Korrektur, den erbitterten Widerstand der CDU und der CSU, wenn zur Nachbesserung aufgefordert. Vielmehr wollen wir, Sie eine Politik zu Lasten der deutschen Bauern, die sich daß Sie das, was für die Landwirte gut ist, von vornher- nach der Regierungserklärung und der Koalitionsverein- ein durchsetzen. barung vermuten läßt, realisieren wollen – auf erbitter- ten Widerstand, das kann ich Ihnen heute ankündigen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sollten nicht immer nur nachbessern und sich dann Ich bin da als jemand, der sechseinhalb Jahre als Mi- möglicherweise feiern lassen mit der Bemerkung, Sienister im Gesundheitsressort überlebt hat, einiges ge- hätten noch Schlimmeres verhindert. wohnt. Nein, Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben die (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS Aufgabe, den Agrarstandort Deutschland in Europa zu 90/DIE GRÜNEN]: Aber viele Bauern haben sichern. gerade nicht überlebt!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Sie dürfen sich darauf einstellen, daß wir mit den Land- macht keiner besser als er!) wirten und mit Ihnen einen ordentlichen Kampf führen Sie haben Ihren Beitrag dazu zu leisten, daß es eine dy- werden. namische, unternehmerische und eigentumsorientierte Herzlichen Dank. bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland auch weiter- hin gibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Ende des Bauernster- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat Herr bens in Deutschland!) Bundesminister Karl-Heinz Funke das Wort. Sie haben alles zu verhindern, damit – neben dem Strukturwandel, der in der bäuerlichen Landwirtschaft (B) Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung, (D) ohnehin stattgefunden hat und auch weiterhin stattfindet Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meine – der Staat diesenStrukturwandel in der Landwirt- sehr verehrten Damen und Herren! Ich nehme zur schaft nicht noch über die Rahmenbedingungen desKenntnis, Herr Kollege Seehofer, daß auch Sie in Ihrem Steuer- und Umweltrechtes verschärft. Das ist Ihre Auf- Hause lediglich „überlebt“ haben. gabe. Daran werden wir Sie messen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Wer lediglich überlebt – das ist ja wohl der Sinn des Be- Wir sind nicht so blauäugig, zu sagen, daß es in Gegen- griffes –, kann nicht davon reden, daß er großartig Auf- wart und Zukunft keinen Strukturwandel gibt. Aber es gaben erfüllt hätte. ist nicht Aufgabe einer Regierung, nicht Aufgabe eines Staates, diesen Strukturwandel in der Landwirtschaft (Beifall bei der SPD) durch eine falsche Steuer- und Umweltpolitik noch zu Ihre Selbstkritik ging da weiter als die Kritik, die ich Ih- verschärfen. nen gegenüber zu üben hätte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- Michael Goldmann [F.D.P.] – Siegfried Hor- Daran werden wir den Landwirtschaftsminister messen. nung [CDU/CSU]: Herr Funke, das war nicht Wenn Sie das erfüllen, Herr Funke, dann werden Sie gut!) unsere Unterstützung haben. – Was gut ist und was schlecht, möchte ich nicht alleine (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie Ihrer Beurteilung überlassen wollen. Da kämen wir sehr werden schon was finden!) schnell ins kurze Gras. Aber bis zur Stunde haben wir noch nicht den Eindruck, (Beifall bei der SPD – Zurufe von der daß Sie das erfüllen. Sie haben viele Ankündigungen, CDU/CSU) gerade im Steuerrecht, in die Welt gesetzt, auf Grund Ich gebe auch zu – bevor Sie sich empören –: Der deren die Annahme berechtigt ist, daß Sie sich ohne die Kollege Seehofer hat viel Richtiges und Neues gesagt. Rückkopplung mit dem Finanzminister, dem Bundes-Nur war das Neue nicht richtig und das Richtige nicht kanzler oder dem Koalitionspartner zu Wort gemeldet neu. haben. Wir bieten Ihnen unsere Unterstützung an, wenn Sie sich an den Interessen der bäuerlichen Landwirt- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 305

Bundesminister Karl-Heinz Funke (A) Es ist doch hochbemerkenswert, daß er beanstandet hat, worden wäre. Das haben Sie nicht gemacht. Sie haben(C) was in Sachen Landwirtschaft alles nicht in der Regie- den GATT-Abschluß zu verantworten. rungserklärung stehe. Wir sind sehr wohl der Auffassung – das sprechen (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Nichts steht da!) wir in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich an –, daß es auch um soziale und ökologische Standards ge- – Herr Kollege Seehofer, ich bin ja nicht neu – zwar hier hen muß. in diesem Parlament, aber ansonsten nicht. Darum tut es gut, sich einfach einmal anzusehen – historisch Bewan- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Stimmen Sie derte interessiert es auch –, was eigentlich in derRegie- jetzt der Agenda zu oder nicht?) rungserklärung des Jahres 1994 zur Landwirtschaft gestanden hat. – Ich komme noch dazu. Warten Sie doch ab, Herr See- hofer. – Sie werden sagen: Das steht in der Koalitions- (Michael Glos [CDU/CSU]: Ist alles erfüllt vereinbarung, wurde aber nicht in der Regierungserklä- worden!) rung angesprochen. Lesen Sie die Regierungserklärung Ihres Kanzlers von 1994. – Mit dem Zwischenruf, Herr Glos, wäre ich vorsichti- ger. (Albert Deß [CDU/CSU]: Lesen Sie die Ko- alitionsvereinbarung von 1994!) Unter der Überschrift „Aufbruch in die Zukunft“ – Sie haben viel von Aufbruch geredet, aber zur Landwirt- Darin steht, Herr Kollege Deß, daß der Kanzler meinte, schaft hätte viel mehr gesagt werden müssen – stand in er müsse nicht all das wiederholen, was in der Koaliti- der Regierungserklärung 1994 des damaligen Bundes- onsvereinbarung stehe und abgemacht sei. Genau das ist kanzlers Helmut Kohl ein einziger Satz zur Landwirt-es. Wir können uns darauf im Grunde in jeder Weise be- schaft – ich zitiere –: ziehen. Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Bild unserer Landschaft prägen. 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Wenn Sie fragen „Wo war der Funke eigentlich?“, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dann warten Sie einmal ab. Ich werde öfter dabeisein, wenn es Ihnen nicht paßt, als wenn es Ihnen paßt, Herr Nicht ein Wort mehr stand dazu, und das unter derSeehofer. Warten Sie in Ruhe ab! Dafür kennen wir uns Überschrift „Aufbruch“! Daß Sie jetzt hier einfordern, auch zu gut. was alles hätte drinstehen müssen, zeugt zumindest da- (B) von, daß Sie die damalige Regierungserklärung nicht (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Mit welcher (D) gelesen haben, Herr Kollege Seehofer. Stärke?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Was das Lebendgewicht anbelangt, Herr Kollege: Ich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kenne Sie nicht, behaupte aber, daß wir ungefähr identi- sche Maße haben und Gewicht einbringen können. Da Liebe Kolleginnen und Kollegen, angenommen, der liegen wir so weit nicht auseinander. Bundeskanzler hätte den Satz „Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Landschaft prägen“ (Beifall bei der Abgeordneten der SPD) so in die Regierungserklärung geschrieben und vorge- tragen, dann hätten Sie, meine Damen und Herren von Zur Agenda will ich Ihnen sagen: Ich höre mit gro- der CDU/CSU, gesagt: Siehst du, die machen die Bau- ßem Erstaunen zum erstenmal, daß Sie offensichtlich ern ausschließlich zu Landschaftsgärtnern. Ökonomieder Auffassung sind, wir sollten die Agenda verschie- zählt nicht mehr. – Diese Kritik wäre im übrigen be-ben. Nur so kann ich das interpretieren. Wir müßten Sie rechtigt gewesen. einmal fragen, was Sie eigentlich damit meinen, wir müßten die Agenda verschieben, wir sollten sie nicht Aber das war die Regierungserklärung des Jahresverabschieden. Meine Damen und Herren, ich bitte zur 1994. Daran gemessen haben wir in der Regierungser- Kenntnis zu nehmen, was die anderen 14 Nationen der klärung dieses Jahres zentrale Probleme der Agrarpolitik Europäischen Union dazu sagen würden, die Agenda zu angesprochen; das will ich Ihnen einmal sagen. verschieben, nicht darüber zu reden. Sie wissen doch ganz genau: Das hängt mit der WTO, mit Osteuropa, mit (Beifall bei der SPD) vielen Dingen zusammen. Wenn wir den Agrarteil der Im übrigen: Sie sprechen vonsozialen und ökologi- Agenda im nächsten halben Jahr nicht voranbringen, schen Standards, die erfüllt werden müssen, insbeson- werden uns andere ins Stammbuch schreiben, was darin dere in Richtung WTO. Einverstanden! Ich glaube, dar- zu stehen hat. Das halte ich im Interesse der gesamten über gibt es im ganzen Hause überhaupt keinen Streit.europäischen Landwirtschaft für nicht verantwortbar. Aber ich wäre sehr froh gewesen, wenn – das zuzugeben (Beifall bei der SPD) fällt mir gar nicht leicht; aber auch die Grünen, auch wir Sozialdemokraten haben davon gesprochen – beimDas habe ich bisher im übrigen auch aus dem Munde GATT-Abkommen des Jahres 1994 schon im Vorfeld von CDU-Politikern gehört. Ich weiß nicht, ob das heute der Verhandlungen und vor allen Dingen beim Abschluß abend revoziert worden ist oder nicht. Das ist der Stand über soziale und ökologische Standards gesprochender Dinge. 306 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Bundesminister Karl-Heinz Funke (A) Meine Damen und Herren, wir müssen einige Dinge Meine Damen und Herren, was die Agenda anbe-(C) verabschieden; der Kollege Weisheit wird Ihnen daslangt, sind wir sehr wohl der Auffassung, daß wir sie er- noch sagen. Wollen Sie denn die Landwirtschaft wirk- stens verabschieden müssen und daß es zweitens – das lich darüber im unklaren lassen, wie die Milchpolitik ab steht auch so in der Koalitionsvereinbarung – noch Än- 31. März 2000 aussieht? Die Bauern wissen schon heute derungsbedarf gibt. Das ist doch unstrittig. Es handelt nicht, woran sie sind, weil Sie versäumt haben, dortsich im übrigen um einen Entwurf. Die bisherige Hal- klare Rahmenbedingungen zu schaffen und zu sagen,tung der Bundesregierung, ständig nein zu sagen, hat wie es ab dem 1. April 2000 weitergehen soll. uns in Brüssel auch im Verhältnis zu den anderen Län- dern der Europäischen Union in eine sehr mißliche Lage (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS gebracht. 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Das wissen Sie doch ganz genau. Die Bauern aus Bay- von der CDU/CSU: Es waren fünf Länder, die ern, aus dem Allgäu waren bei mir, um mir das vorzu- nein gesagt haben!) tragen. Das ist der Sachverhalt. Ich will dazu jetzt nicht mehr sagen, um nicht zukünfti- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ge Verhandlungen zu erschweren. Aber ich könnte sehr schön darüber berichten, was die Agrarminister aus an- deren Ländern dazu sagen, daß die Bundesregierung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, immer nur nein gesagt hat. Das erschwert die Situation gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hor-gewaltig. Sie hätte sich schon im Vorfeld an der Diskus- nung? sion beteiligen sollen. Andere Länder haben längst ihre Vorschläge abgeliefert. Von Deutschland ist offiziell überhaupt nichts vorhanden. Fragen Sie einmal den Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung, Agrarkommissar Fischler, was er dazu sagt! Landwirtschaft und Forsten: Ja, das mache ich gerne – eigentlich. (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das so zu sagen ist nun wirklich nicht in Ordnung und Siegfried Hornung (CDU/CSU): Herr Minister, Sie entspricht auch nicht den tatsächlichen Verhältnissen. waren gestern auf dem Deutschen Raiffeisentag und ha- ben dort ein Grußwort gesprochen. Ich habe aufmerk- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie haben die Hal- sam zugehört und muß sagen, daß Sie dort zu der künf- tung von Borchert doch unterstützt!) tigen Agrarpolitik nichts Konkretes – auch nicht in (B) Richtung Europa – gesagt haben. – Ihnen paßt das alles nicht; das weiß ich. (D) Ich habe die „dlz“ gelesen, der Sie ein fast hervorra- Wir haben in der Agrarministerkonferenz gemeinsam gendes Interview gegeben haben. Davon könnte ichgesagt: So nicht! Es hat aber keiner in der Agrarmi- viele Passagen unterstreichen. Anschließend habe ichnisterkonferenz gesagt: In Bausch und Bogen weg da- aber dem „Ernährungsdienst“ entnommen, daß das, was mit! Nein! Es wäre auch völlig unsinnig, das zu tun, Sie zuvor gesagt hatten, bereits wieder Vergangenheit weil es keinen gibt, der einen Gegenentwurf zur Agenda ist. Ich habe das heute im Internet überprüft. Dort richtet hätte auf den Tisch legen können. Vielmehr ist die sich alles, was im Zusammenhang mit Steuerfragen an- Agenda Grundlage der Diskussion. Dann können wir gekündigt wird, gegen die Landwirtschaft. Meine Frage Produkt für Produkt, Feld für Feld durchdiskutieren und ist: Wer hat recht? Was kommt auf die Bauern zu?Änderungen herbeiführen. Schon ab 1. Januar soll die Pauschalierung in Schritten Im übrigen: Wen kritisieren Sie da eigentlich? Daß es fallen. Ich hätte gern die Antwort darauf. Was ist rich- die Agenda gibt, entspricht einem Beschluß aller natio- tig? nalen Regierungschefs, der Ende 1995 in Madrid gefaßt wurde. Der Kanzler hat doch daran mitgewirkt, den Auftrag gegeben, eine Fortschreibung der Agrarpolitik Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung, unter anderem vor dem Hintergrund beginnender WTO- Landwirtschaft und Forsten: Nun warten Sie mal in Ru- Verhandlungen und des Beitritts der mittel- und osteu- he ab! Dann werden Sie sehr schöne – vielleicht paßt ropäischen Länder zu besorgen. Ihnen das gar nicht – Antworten auf diese Fragen be- kommen. Daß ich in einem Grußwort beim Deutschen (Peter Bleser [CDU/CSU]: Aber nicht so!) Raiffeisenverband nicht in extenso die Agrarpolitik dar- stelle, gebietet schon der Anstand. Dann müßte ich aus Das hat die Kommission erfüllt. Nun müssen wir über einem Grußwort eine anderthalbstündige Rede machen. das, was sie vorgelegt hat, diskutieren und können nicht Das geht doch gar nicht anders. so reden, wie Sie das hier tun. Das ist einfach nicht in Ordnung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber wenn Sie wollen, bin ich jederzeit bereit, auch Einzelheiten zu erläutern. Da habe ich überhaupt keine Sonst müßten Sie den ehemaligen Kanzler kritisieren, Bedenken. daß er diesen Beschluß der Regierungschefs von 1995 mit gefaßt hat. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 307

Bundesminister Karl-Heinz Funke (A) Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Einelei- standortes Deutschland erklären zu wollen, hieße, Eulen (C) stungsstarke und wettbewerbsfähige Land-, Forst-nach Athen zu tragen. Das muß ich Ihnen einmal sagen. und Ernährungswirtschaft ist für uns das Ziel der Agrarpolitik. Ich nenne ausdrücklich auch die Ernäh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rungswirtschaft, weil wir nicht nur den Urproduktions- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der sektor sehen, sondern selbstverständlich die ganze Er- PDS) nährungswirtschaft, Ernährungsindustrie, also ein-Das ist unbestritten in der ganzen Bundesrepublik schließlich des vor- und nachgelagerten Bereiches, der Deutschland. Ich lade sogar die bayerischen Kollegen mit Landwirtschaft verbunden ist. ein, sich einmal dort umzusehen, ganz zu schweigen von Es ist auch für uns ein gesamtgesellschaftliches An- Kollegen aus anderen Ländern. liegen, das Wirtschafts- und Beschäftigungspotential Ich brauche die Stichworte nicht mehr aufzugreifen. des Agrarsektors nicht nur zu erhalten, sondern auszu- Ich denke, daß ich mit den bisher angeführten Stich- bauen, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt derworten genug deutlich gemacht habe. Ich mußte auf Ihre Multifunktionalität der Landwirtschaft; ich glaube, ich Rede, Herr Kollege Seehofer, ein bißchen mehr einge- brauche hier nicht zu erläutern, was wir bis dato ge-hen. Deshalb kann ich hier nicht all das vortragen, was meinsam darunter verstanden haben. ich eigentlich vortragen wollte. Mit anderen Worten: Wir setzen ausdrücklich auf (Peter H. Carstensen [Nordstrand] unternehmerisch denkende und handelnde Landwirte, [CDU/CSU]: Das ist schade!) die sich aber auch der Verantwortung vor der Natur, vor der Umwelt bewußt sind, die sich selbstverständlich– Ja, das werden wir bei entsprechender Gelegenheit, dem technischen Fortschritt stellen, die sich zum Bei-Herr Kollege Carstensen, nachholen. – Wenn Sie hier spiel auch dessen bewußt sind, daß es heute um Tier-ein Bild malen, als ginge es um den Abbruch der ländli- schutz, um artgerechte Haltung geht. Das alles gehörtchen Räume oder ähnliches, dann bitte ich Sie: Schauen dazu. Wenn ich diese Stichworte genannt habe, können Sie sich im Lande um! Landwirtschaft stellt sich – - Sie daraus eigentlich schon folgern, welche Schwer-de auch als wichtiger Faktor im ländlichen Raum – so punkte wir bei der Agenda-Diskussion setzen werden, vielfältig dar, daß man nicht an einigen Stichworten im übrigen auch bei den folgenden Aufbruch WTO- oder Abbruch diskutieren kann, wenn man Verhandlungen, was die schon angesprochenen Stan-sachlich bleiben will. dards anbelangt. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das wissen wir Wir werden, auch was die Finanzierung der gemein- doch jetzt!) samen Agrarpolitik angeht, aktiv mitmachen. Wir wer- (B) den die Ungereimtheiten, die es in der Tat gibt – pau-– Wenn Sie das wußten, dann weiß ich nicht, warum Sie (D) schale Preissenkungen bestimmter Größenordnungendas den Kollegen Seehofer haben vortragen lassen. Ich über gewisse Zeiträume –, zu diskutieren, auch zu korri- beziehe mich ja nur auf seine Stichworte. gieren haben – ich sage das ausdrücklich –, aber sehr unterschiedlich, nach den jeweiligen Produkten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden also eine offensive Diskussion führen. Ich bin überzeugt, daß wir auch mit den anderen Län- Die Behauptung jedenfalls, daß die jetzige Regie- dern entsprechende Resultate erzielen können. Die öster- rungsmehrheit nicht Anwalt landwirtschaftlicher Inter- reichische EU-Präsidentschaft faßt gegenwärtig dieessen sei, ist eine schiere Propagandaformel und nichts Diskussion, die auf europäischer Ebene bisher gelau-anderes. Seien Sie sicher: Die Landwirte draußen im fen ist, zusammen. Sie wird Absichten formulierenLande, die wissen wollen, wie es ab dem 1. April 2000 und Aussichten eröffnen, denen wir uns anzuschließen weitergehen soll, fallen auf solche Propagandaformeln haben. nicht mehr herein. Sie haben genug davon, vor allen Dingen deshalb, weil solche Formeln während Ihrer Re- Wir werden neben Naturschutz, Umweltschutz, Ver- gierungszeit Ersatz für politisches Handeln waren. braucherschutz und Tierschutz eineAgrarumweltpoli- tik betreiben, weil sie in meinen Augen heute dazuge- Vielen Dank. hört. In einigen Ländern macht man es weitestgehend (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schon. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Albert Deß [CDU/CSU]: In Bayern!) – Nein, nicht nur in Bayern. In Bayern macht man viel, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Kollege Heinrich. (Ernst Schwanhold [SPD]: Aber auch man- chen Quatsch!) Herr Kollege Deß – darüber brauchen wir nicht zuUlrich Heinrich (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine streiten –, aber das passiert nicht nur dort, sondern auch lieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja ruhig auf woanders. andere Regierungserklärungen verweisen, aber, Herr Minister Funke, Tatsache ist, daß Bundeskanzler Schrö- Jemandem aus Niedersachsen den Stellenwert derder, der einmal den landwirtschaftlichen Bereich in Nie- Landwirtschaft im Zusammenhang mit dem des Agrar- dersachsen als den zweitwichtigsten Bereich nach der 308 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Ulrich Heinrich (A) Automobilindustrie dargestellt hat, kein Wort über die Hinzu kommen noch die Ankündigungen im Umwelt-(C) Landwirtschaft verloren hat. schutz und im Tierschutz. Wo wollen Sie bei den ein- seitigen Belastungen, die Sie angekündigt haben, denn (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Halt machen? Das muß man sich schon fragen. ten der CDU/CSU) Er hat diesen wichtigen Bereich völlig vernachlässigt. Er Die Richtigkeit meiner Aussage von vor der Wahl, hat nichts über die Osterweiterung im Zusammenhang daß die Landwirte die ersten sein werden, die Opfer mit der Landwirtschaft gesagt, nichts über die Agenda einer rotgrünen Regierung sind, zeigt sich bereits heute, 2000. Er hat nichts über eine WTO-Runde gesagt, die es bei dieser Debatte zur Aussprache der Regierungserklä- in der nächsten Zeit zu bestehen gilt. Er hat auch nichts rung. dazu gesagt, welche Herausforderungen insbesondere (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) auf die deutsche Landwirtschaft zukommen werden, wenn er in 49 Tagen – von heute an gerechnet – die Prä- Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal klar sagen, sidentschaft in der Europäischen Union übernimmt. daß diese Bundesregierung völlig unvorbereitet in die schwierigen Runden der Agenda 2000 geht; dies ist für (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) uns gefährlich. Auch die Aussagen von dem Herrn Mi- Das ist der Punkt. Wir haben heute eine Regierungser- nister gerade waren so vage und so unbedeutend, daß klärung von Bundeskanzler Schröder und nicht eine Re- man von dieser Debatte nichts, aber auch gar nichts mit gierungserklärung von sonst irgend jemandem in dernach Hause nehmen kann. Herr Minister, Sie sind die Vergangenheit zu diskutieren. Exekutive und vertrauen darauf, daß wir im Parlament die Dinge in Ihrem Sinne verändern! Sie, meine Damen (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS und Herren, sind aufgefordert, eine Vorlage aufzulegen, 90/DIE GRÜNEN]: Sonst irgend jemand? die Sie durchsetzen wollen. Sie aber setzen auf uns. Das Wenn das Kohl gehört hätte! Das ist undank- ist ein trauriges Stück, das Sie hier abliefern. bar!) Herzlichen Dank. Ich sage Ihnen: Das, was Sie, Herr Minister Funke, hier abgeliefert haben, vor allem im allerletzten Teil Ih- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rer Rede, in dem Sie dargestellt haben, wie Sie zur Landwirtschaft stehen, stellt genau das Gegenteil von dem dar, was Sie uns hier im Rahmen der Steuerreform Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat schwarz auf weiß vorgelegt haben. jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (B) ten der CDU/CSU) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lie- (D) be Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Es gehört schon ein ganz gehöriges Stück Unverfroren- Herren! Der Kollege Heinrich hat endlich zu seiner heit dazu, Herr Minister, wenn Sie so reden, obwohl Sie richtigen Rolle gefunden, der Opposition. wissen, daß der deutschen Landwirtschaft auf Grund der nationalen Agrarpolitik – nach dem, was heute vorliegt – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehrere Milliarden DM verlorengehen. und bei der SPD) Man muß einmal überlegen, wie so etwas überhaupt Das war das, was er im Agrarausschuß und in den zustande kommt. Natürlich war nicht der Minister daran Wahlkämpfen immer gespielt hat. Herzlichen Glück- beteiligt, sondern diejenigen, die das Steuerkonzept aus- wunsch! gearbeitet haben. Diese haben keine Ahnung von der Landwirtschaft, keine Ahnung von der Existenznot, in Da wir schon vom Zähneziehen gesprochen haben: der sich viele Betriebe befinden. Zusätzlich diese soge- Am Anfang der Legislaturperiode wollten Sie ihnen die nannte Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in einer nicht mehr ziehen, aber am Ende haben es dann die solchen Radikalität anzukündigen, ist schon schamlos! Zahnärzte wohl gemeinsam mit den Wählerinnen und Wählern getan, Herr Ex-Minister Seehofer. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Nach 16 Jahren CDU/CSU-F.D.P.-Regierung ist die Das geht einher mit den beiden Worten „modern“ und Landwirtschaft von völliger staatlicher Abhängigkeit, „sozial“, die wir von Bundeskanzler Schröder in denvon Bürokratie, schlechter Einkommenslage der Mehr- zwei Stunden der Regierungserklärung so häufig gehört zahl der Betriebe, Betriebsaufgaben, Skandalen und ge- haben. sellschaftlicher Isolation geprägt. Das ist das Ergebnis All die flankierenden Maßnahmen, die in der jüngsten von 16 Jahren unter Ihrer Regierung. Vergangenheit steuerlicherseits zusätzlich erweitert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wurden, um den Strukturwandel abzufedern – denn dem und bei der SPD) Strukturwandel kann sich niemand entziehen –, sollen jetzt gestrichen werden, und zwar mit dem Zusatz „mo- Die Scherben sind jetzt aufzukehren. In der Agrarpolitik dern und sozial“. Damit haben wir eine Situation, diegilt es, vieles besser zu machen und einiges zu ändern. sich nicht nur arbeitsplatzvernichtend, sondern auch ab- Die neue Bundesregierung setzt politische Akzente solut unsozial darstellt. und Schwerpunkte, die der gesamtgesellschaftlichen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Rolle der Landwirtschaft wieder neu Rechnung tragen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 309

Ulrike Höfken (A) Das macht sie nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern im Grunde nichts eingebracht und sich am liebsten unter (C) auch in der Person von Landwirtschaftsminiter Funkeden Tisch gesetzt hat. deutlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Bauern bekommen endlich wieder einen Land- Nach unseren Vorstellungen soll die Agenda 2000 die wirtschaftsminister, der auch so aussieht. flächendeckende Landwirtschaft in Europa und in (Heiterkeit – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE Deutschland stützen; sie soll Umwelt-, Natur- und Tier- GRÜNEN und bei der SPD) schutz auf europäischer Ebene mit einbeziehen und die Förderung neu orientieren. Dabei soll auch den ostdeut- Die rotgrüne Bundesregierung trägt darüber hinausschen Betrieben nicht der Boden unter den Füßen weg- der Tatsache Rechnung, daß 85 Prozent der Fläche land- gezogen werden. und forstwirtschaftlich bewirtschaftet werden – Land- wirtschaft als wesentlicher Faktor des Umweltschutzes –; (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) daß die Ernährungsindustrie ein wesentlicher Indu- striezweig – der viertgrößte in Deutschland – und mit Die Planungssicherheit im Bereich derAltschulden der Landwirtschaft ein bedeutender Arbeitgeber, beson- und im Bereich der Pachtverträge soll so ausgestaltet ders im ländlichen Raum, ist; werden, daß die Existenzfähigkeit dieser Betriebe gesi- chert wird. Natürlich gibt es nichtsdestotrotz Korrektur- daß Deutschland weltgrößter Agrarimporteur undbedarf; aber die Einbeziehung des Kriteriums der Be- viertgrößter Agrarexporteur ist und in dieser Situation schäftigungswirksamkeit wird hier zur Gleichberechti- eine erhebliche Verantwortung für die Gestaltung desgung dieser Betriebe und auch zur Sicherung der länd- Welthandels trägt. Weiterhin trägt die rotgrüne Bundes- lichen Räume in Ostdeutschland führen. regierung der Tatsache Rechnung, daß die Massentier- haltung gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel ist; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) daß Verbraucherschutz und die klare Berücksichti- gung von Verbraucherinteressen nicht – wie bisher – ein Ich muß sagen, ich war etwas irritiert von der Rede Wettbewerbshemmnis, sondern eine große Chance am unseres Bundeskanzlers Schröder im Hinblick auf den Markt darstellen; daß die heutige SubventionspolitikAgrarbereich, als er davon gesprochen hat, daß er dann, keine Akzeptanz mehr findet und alle Anstrengungenwenn die Preise auf dem Weltmarkt angeglichen wer- der Politik darauf ausgerichtet werden müssen, denden, für einen fairen Ausgleich sorgen will. Ich glaube, (B) Landwirten endlich die Chancen zur Marktorientierung er hat einen freien Weltmarkt im Sinn gehabt. Aber so-(D) zu eröffnen. lange es diesen nicht gibt, solange sowohl die USA als auch Europa die „Preisbildung“ mit erheblichen Sub- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ventionen massiv beeinflussen, wird man diese Preise sowie bei Abgeordneten der SPD) nicht als Orientierung nehmen können. Wir werden uns Der Koalitionsvertrag spricht im Hinblick auf Ökolo- dafür einsetzen, der globalen Produktion, dem globalen gie und Tierschutz eine klare Sprache. Handel auch globale soziale und ökologische Standards beizugeben und das Menschenrecht auf Ernährung zum Im Gegensatz zur bisherigen Bundesregierung wird Kriterium der Welthandelsvereinbarungen zu machen. die Bedeutung der Landwirtschaft auf dem Arbeits- Nicht nur die Länder der dritten Welt, alle Länder dieser markt gestärkt. Ein Bündnis für Arbeit soll die Land-Welt müssen durch Außenhandelsvereinbarungen in wirtschaft mit einbeziehen. ihrer Agrarproduktion und Lebensmittelversorgung ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schützt und gesichert werden. Die bislang kaum genutzten Möglichkeiten zur regio- In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz ein nalen Verarbeitung und Vermarktung kommen in eine Wort zur Gentechnik verlieren, die schon heute morgen bessere Förderung. Die Märkte sollen aufgebaut werden. ein paar mal mit Bezug auf die Welternährung strapa- Im übrigen sollen auch Nebenerwerbslandwirte eineziert wurde. Technologie ist gut, solange sie ihren Zielen Chance erhalten. tatsächlich gerecht wird. Aber in bezug auf den Bereich der Grünen Gentechnik muß man sagen: Bislang hat sie Nach jahrelangem Nichtstun der alten Bundesregie- alle Befürchtungen bestätigt, die die Kritiker vorge- rung und der Verschleppung der Probleme wird dasbracht haben: Resistenzen erweisen sich als labil. Ern- Problem der Milchpolitik endlich angepackt. Liefer- teausfälle können zur Bedrohung der Welternährung rechte sollen unter besonderer Berücksichtigung derwerden. Gentechnische Organismen können sich un- Probleme der Grünlandstandorte ausgestaltet werden,kontrolliert ausbreiten. Solange diese Risiken nicht ge- und zwar so schnell wie möglich. löst werden können, so lange die Sicherheit der Gen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN technik nicht gewährleistet werden kann, solange wird sowie bei Abgeordneten der SPD) Gentechnik auch ökonomisch ein Flop sein und in ihrer Entwicklung noch ein wenig reifen müssen. Zur Agenda 2000: Herr Seehofer, Ihre Worte in Bor- cherts Ohr – wäre es jetzt nicht bereits zu spät; denn es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war der frühere Minister Borchert, der in diesen Prozeß sowie bei Abgeordneten der SPD) 310 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Ulrike Höfken (A) Der Deutsche Bauernverband ist einem alten Reflex der Agenda 2000, waren sich sogar alle im Bundestag(C) und damit der alten Bundesregierung in die Opposition vertretenen Parteien einig, was ja in diesem Haus eher gefolgt. die Ausnahme ist. Ich sage zur Steuerpolitik der neuen Bundesregie- Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung rung nur folgendes: Es gibt das Angebot, sich in die Be- durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen erwarten wir ratungsprozesse einzuklinken, wie es übrigens auch bei natürlich, daß die Koalitionsparteien nicht hinter ihre der alten Regierung der Fall gewesen ist; ich erinnereAnträge aus der letzten Legislaturperiode zurückgehen. nur an die Petersberger Beschlüsse. Auch hier wird es Wir vertrauen darauf, daß sie jetzt die Chancen für eine eine entsprechende Diskussion geben, und der Ausschuß neue Politik im Interesse der Bauern und der Nahrungs- wird Anhörungen durchführen. Ich verweise diejenigen, mittelkonsumenten nutzen. die jetzt Kritik vorbringen, auf diese Beteiligungsmög- (Beifall bei der PDS) lichkeiten. Eine Vielzahl von Vorhaben aus der Koalitionsver- Auch im Rahmen der Unternehmensteuerreform wird einbarung unterstützen wir nachdrücklich, zum Beispiel es eine Korrektur geben müssen – sie ist von unsererdie Ausdehnung des ökologischen Landbaus und die Fraktion schon angekündigt worden –, Erweiterung des Vertrags-Naturschutzes, die Förderung (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Drei Tage nachwachsender Rohstoffe, das Verbot von antibiotisch nach der Regierungserklärung reden Sie schon wirksamen Futtermittelzusatzstoffen und die Aufnahme von Korrektur?) des Tierschutzes ins Grundgesetz. um nicht zum Beispiel agroindustrielle Betriebe gegen- (Beifall bei der PDS) über bäuerlichen Betrieben besserzustellen. Bei folgenden Formulierungen der Koalitionsverein- Ein letzter Blick zurück – Minister Funke hat bereits barungen ist uns jedoch noch völlig unklar, was zum auf die Regierungserklärung verwiesen –: Die alte Bun- Beispiel gemeint ist mit der Einbeziehung der „ländli- desregierung hat ihre in der Koalitionsvereinbarung von chen Räume und der Landwirtschaft in das Bündnis für 1994 gemachten Versprechungen nicht erfüllt; ich denke Arbeit“, mit einer „befriedigenden Altschuldenregelung“ nur an die Milchpolitik. und mit der „Neuorganisation der agrarsozialen Siche- rung“. (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist eine reine Unterstellung!) Für Irritationen über die Politik der Koalition hat auch in der letzten Woche wieder der neue Agrarmini- Sie wollten hier doch eine Verbesserung herbeiführen; ster, Herr Funke, gesorgt. Die Hoffnung, daß er als Bau- (B) aber nichts ist passiert. er großes Verständnis für die Interessen seiner Berufs- (D) kollegen entwickelt, wurde maßlos enttäuscht. Ich wie- Die rotgrüne Bundesregierung wird eine neue, mo- derhole hier gern noch einmal, was ich schon in der ver- derne Agrarpolitik einleiten, die Landwirtschaft wieder gangenen Woche zu der Absicht,Obergrenzen für in ihrer umfassenden gesellschaftlichen Rolle stärken, Ausgleichszahlungen einzuführen, erklärt habe: Das ist dabei die Interessen der Bauern und Bäuerinnen, genau- eine Provokation. so aber auch die der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen und der Verbraucher und Verbraucherinnen sowie der (Beifall bei der PDS) Umwelt und des Tierschutzes im Blick haben. Und sie Wir unterstützen dazu nachdrücklich die Haltung des wird sich für ein Gelingen der Osterweiterung einsetzen. Deutschen Bauernverbandes. Es ist für uns völlig unver- Vielen Dank. ständlich, wie sich Obergrenzen mit gleichen Wettbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werbsbedingungen für alle Betriebe vereinbaren lassen. und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Wir fragen deshalb den Minister, warum Mehrfamilien- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat betriebe gegenüber Einfamilienbetrieben schlechter ge- jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann. stellt werden sollen. Geharnischter und berechtigter Protest des Bauern- Kersten Naumann (PDS): Frau Präsidentin! Meine verbandes war auch notwendig, um die Regierung zu Damen und Herren! Ich hoffe, daß die Reihenfolge auf veranlassen, ihr unsoziales Vorhaben dersteuerlichen der Tagesordnung keinen Schluß auf die Bedeutung zu- Mehrbelastung der Bauern wenigstens teilweise zu- läßt, die die Bundesregierung dem wichtigen Bereichrückzunehmen. Das jetzige Konzept ist jedoch immer der Agrarpolitik beimißt. noch nicht akzeptabel. (Beifall bei der PDS) Das Kernthema ist für uns das Koalitionsvorhaben. Ich zitiere: Die Erfahrungen aus der letzten Legislaturperiode be- sagen, daß es zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen Die neue Bundesregierung wird die ländlichen und PDS in vielen parlamentarischen Vorhaben eine Räume stärken und die Landwirtschaft auf der weitgehende Übereinstimmung der Positionen gab. In Grundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik mit einigen Grundpositionen, zum Beispiel bei dem Aus- ihren unterschiedlichen Strukturen in Ost und West gleich von Währungsschwankungen und der Ablehnung sichern. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 311

Kersten Naumann (A) Dieser Satz ist eine Spitzenleistung der Formulierungs- denfalls an der Gestaltung des „europäischen Modells(C) kunst. Jeder kann ihn so interpretieren, wie er gernder Landwirtschaft“ aktiv beteiligen. möchte. Aber aussagen tut er leider nichts. Danke schön. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Und selbst die Untersetzung mit dem Satz: „Die Wett- bewerbsfähigkeit der Landwirtschaft . . . ist zu stärken“ Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Frau bringt nicht mehr Klarheit. Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem Parlament. Auf die existentiellen Sorgen der Bauern wird damit Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des Hauses. keine Antwort gegeben. DieAgenda 2000 bedroht mit (Beifall) ihrer Liberalisierungs- und Globalisierungsstrategie, mit ihrem Verdrängungswettbewerb in den kommenden 15 Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Carstensen. Jahren mehr als 250 000 Bauernbetriebe in Deutschland und damit fast eine halbe Million Arbeitsplätze. Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Wir erwarten – gemeinsam mit dem Bauernverband – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- von der Regierung eine klare Antwort zum „europäi-ren! Leeve Herr Minister Funke, an Sie kunn ik dat ja up schen Modell der Landwirtschaft“, zu seiner umwelt-plattdütsch moken, wenn Sie ut Norddütschland komen. schützenden Funktion, zu seinem Beitrag zu gesunder Wi kunnt uns dor ja mehrst beter verston. Aber ut Rück- Ernährung und zur flächendeckenden Landwirtschaft. sich ok darop, dat Sie een Staatssekretär ut Sachsen hebben, un ut Rücksich ok op de Stenographen hier will Die PDS wird sich vor allem für die Sicherung derik dat denn mal op hochdütsch moken. Einkommen der Bauern durch den Absatz ihrer Produkte am Markt und für die Zukunftschancen ihrer Betriebe (Zuruf von der SPD) einsetzen. – Nee, ok nich wegen de Mekelnborger. Ik mok dat schon op hochdütsch, un dann kunnt ji dat ok all ver- (Beifall bei der PDS) ston. In der vergangenen Legislaturperiode wurde die Agrarpolitik mit den Attacken auf dieBodenreform Wir haben durch die bekannten restaurativen Kräfte belastet. Das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: immer mal eine plattdeutsche Debatte. Thema ist auch in Brüssel noch nicht vom Tisch. In ei- ner Annonce der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (B) (D) vom 31. Oktober 1998 wurde inzwischen eine neue Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Ich Front eröffnet. Es geht nicht mehr allein um die Boden- möchte Ihnen, lieber Herr Minister Funke, ganz herzlich reform in Ostdeutschland, sondern, wie zu lesen war, um gratulieren und Ihnen die besten Wünsche übermitteln. alle Enteignungen durch „totalitäre Regime“ in Europa. Sie wären an sich ein idealer grüner Minister. Sie sind Aber in der Koalitionsvereinbarung und in der Regie-hier ohne Mandat, also sozusagen mit Trennung von rungserklärung findet sich dazu kein Wort. Amt und Mandat. Sie werden wahrscheinlich irgend- wann, zumindest nach Ihrem Einstieg, rotieren. Das ist Deutschland wird die Präsidentschaft bei der ab-das Idealste, was man einem grünen Minister bzw. Ab- schließenden Beratung der Agenda 2000 haben. Diegeordneten wünschen kann. Bäuerinnen und Bauern in Ostdeutschland und jetzt auch in Osteuropa haben ein Recht darauf, von der neuen Re- Ich kann mir keinen klassischeren Fehlstart vorstellen gierung zu erfahren, welchen Kurs sie in dieser Frageals den, der jetzt von Ihnen hingelegt worden ist. Ich verfolgen und wie sie die große Verunsicherung beseiti- kann Ihnen aus alter Freundschaft nur empfehlen, lieber gen will. Herr Minister Funke: Sorgen Sie dafür, daß Sie sich gut mit uns, der Opposition stellen. (Beifall bei der PDS) (Lachen bei der SPD) Ich beurteile die Regierungserklärung von Bundes- kanzler Schröder nicht nach der Anzahl der Worte, die Sie werden unseren Beistand beim Abwehren Trittin- er der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum ge-scher Vorstellungen und Lafontainscher Begehrlichkei- widmet hat; denn das Urteil wäre vernichtend. Ich er-ten noch bitter nötig haben. warte aber, daß die Koalitionsfraktionen ihre Positionen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu diesem Thema einer kritischen Prüfung unterziehen. Angesichts von 800 Millionen Hungernden auf dieser Wir bieten Ihnen dabei unsere Hilfe nicht Ihretwegen Erde, deren Zahl ständig wächst, braucht auch an, die sondern weil wir es nicht zulassen wollen und kön- Landwirtschaft zukunftsfähige, ökonomische, ökologi- nen, daß unsere Bauern von der Last rotgrüner Be- sche und soziale Rahmenbedingungen. schlüsse erdrückt werden. (Beifall bei der PDS) Herr Minister Funke, Sie haben sich wochenlang von der Presse und vom Deutschen Bauernverband als Retter Sie sind mit den Schlagworten „Modernisierung“ undder Landwirtschaft in Sachen Steuerreform feiern lassen. „Innovation“ nicht beschrieben. Die PDS wird sich je- Aber der Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes, der 312 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) uns seit einigen Tagen vorliegt, läßt für die Zukunft un- Meine Damen und Herren, einen einzigen, einen(C) serer Landwirtschaft Düsteres erwarten. Sie sind nicht nichtssagenden und kümmerlichen Satz hat der Bundes- müde geworden, den Landwirten in vielen Presseerklä- kanzler in seiner Regierungserklärung für die Bauern rungen Entwarnung im Hinblick auf dieSteuerpläne übrig gehabt. der rotgrünen Bundesregierung zu geben. Sie haben ( [CDU/CSU]: Das ist sehr we- mit den Ihnen eigenen markigen Worten versprochen, nig! – Albert Deß [CDU/CSU]: Wo ist er ohne Wenn und Aber die vereinfachten Regelungen bei überhaupt?) der Umsatzsteuer für die Landwirte zu erhalten. Sie ha- ben versprochen, es gebe keine Änderung der Umsatz- Kein Wort über die Landwirtschaft und den ländlichen steuerpauschalierung, und gesagt, eine Abschaffung des Raum. Das, wie auch die Präsenz der Regierungsmit- § 24 Umsatzsteuergesetz sei politisch geradezu wider- glieder heute abend, zeigt den Stellenwert, den die sinnig. Nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wer- Landwirtschaft bei dieser Regierung einnimmt. Sie, Herr den sämtliche bisherigen Freibeträge und Ermäßigungen Minister Funke, haben darauf hingewiesen, in der letzten gestrichen. Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl hätte (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das lassen Sie sich auch nicht mehr gestanden; ich darf Sie daran erinnern, gefallen!) daß Ihr Kollege Trittin kürzlich einmal gesagt hat, der Schwerpunkt der Umweltpolitik werde sich auf das Faktisch bleibt von Ihren eindeutigen Zusagen, das bis- Lieblingsthema des alten Bundeskanzlers konzentrieren, herige System der Umsatzbesteuerung werde beibehal- nämlich auf die Landwirtschaft. Wenn das schon bis zu ten, nichts bestehen. Die mit der Steuerreform beabsich- Ihnen durchgedrungen ist, sollten Sie hier so etwas nicht tigte Senkung der Lohnnebenkosten geht an den bäuerli- sagen. Wenn auch in der Regierungserklärung von chen Familienbetrieben völlig vorbei. Diese werdenHerrn Schröder nur ein Satz steht – vielmehr im Energiebereich durch die Einführung der Ökosteuer noch zusätzlich belastet. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Wo ist denn die Regierung?) Herr Minister Funke, Sie verweisen stets – auch heute wieder – auf die Zusagen von Herrn Schröder und Herrn als Ministerpräsident von Niedersachsen hat sich Herr Lafontaine, diesen Frontalangriff auf die Landwirtschaft Schröder ja viel ausführlicher geäußert. Er hat sogar ei- zurückzunehmen. Diese beiden Herren haben Ihnen aber nen vollständigen Satz über die Landwirte gebracht, in schon bei den ersten Diskussionsrunden über die Steuer- dem er sagte: Ich teile die Sorgen der Landwirte. Seine reform immer das gleiche gesagt. Ich frage Sie: Ist esSorge ging damals so weit, daß er den niedersächsischen Ihnen eigentlich nicht peinlich, wenn der Bauernverband Agrarhaushalt innerhalb von acht Jahren um fast 50 Pro- an den Finanzminister folgendes Schreiben richten muß? zent zusammengestrichen hat. (B) (D) Ich zitiere: (Widerspruch bei der SPD – Albert Schmidt Vielmehr erklärte er, [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat Herr Borchert gemacht?) – Minister Funke – Seine Umweltministerin, Frau Griefahn, durfte im die Bauern würden nicht zu Steueropfern gemacht. Bundesrat ungestraft Landwirte mit Ladendieben ver- In Gesprächen mit dem neuen Bundeskanzler gleichen. Schröder und Ihnen als neuem Bundesfinanzmini- ster habe er auf die besonderen Produktionsbedin- (Zuruf von der CDU/CSU: Pfui Deubel!) gungen des Agrarbereichs aufmerksam gemacht und dabei Einvernehmen auf ganzer Linie erzielt . . . Mentalität von Ladendieben schreibe ich denjenigen zu, Speziell gab er dabei Garantien für+ die Beibehal- die als Minister die Vetternwirtschaft bis zur Ehegat- tung des vorhandenen Systems der Umsatzbesteue- tenwirtschaft kultivieren, indem sie der eigenen Familie rung sowie für die Besteuerung kleinerer Betriebe Aufträge der Regierung zuschanzen. nach Durchschnittssätzen. Auf dem Bauerntag 1997 in Braunschweig sang Herr Der Bauernverband schreibt weiter: Schröder das Hohelied auf die vielfältigen Leistungen unserer bäuerlichen Landwirtschaft. Die Leute haben Wir haben als Deutscher Bauernverband diese kla- applaudiert. Zur gleichen Stunde lehnte sein Vertreter ren und unmißverständlichen Aussagen ausdrück- im Bundesrat – wie alle rotgrün regierten Bundesländer lich anerkannt. – den finanziellen Ausgleichsanspruch der Bauern für Um so mehr bin ich jetzt betroffen, daß von diesen Naturschutzauflagen ab. Aussagen – der Koalitionsvereinbarungen und des (Peter Bleser [CDU/CSU]: So war es!) Bundeslandwirtschaftsministers – im Gesetzent- wurf zur Steuerreform faktisch nichts mehr übrig- Herr Minister Funke, ich finde, dies ist keine redliche bleibt. Politik. Auch zu diesem Punkt sollten Sie sich äußern. Ich finde, es ist schon peinlich, wenn man so etwas auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Tisch bekommt. Lieber Karl-Heinz Funke, wie treten Sie eigentlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ihren Fischern an der Nordsee und an der Ostsee entge- ordneten der F.D.P. – Ulrich Heinrichgen? Was werden Sie Willi Heimat sagen, wenn Sie ihm [F.D.P.]: Mehr als peinlich!) erklären müssen: Die Steuerbefreiung für Dieseltreib- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 313

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) stoffe in der Schiffahrt wird abgeschafft. Sie werdenalso eine Menge Fragen, die wir jetzt an dieser Stelle(C) nämlich feststellen, daß die größeren Fischereibetriebe stellen könnten, zum Beispiel im Zusammenhang mit ins Ausland gehen und dort tanken werden – zusätzlich AID, CMA oder Holzabsatzfonds. Wir hätten wirklich auch anlanden werden –, wenn sie den Diesel hier zum eine Menge Fragen. Vielleicht könnten Sie darauf ant- alten Preis nicht mehr bekommen. Die kleinen Betriebe worten. werden Ihre Politik auszubaden haben. Herr Funke, ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bin schon gespannt darauf, wie Sie das den Menschen dort erklären wollen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Nun wissen wir nicht ganz genau, was auf uns zu-Frau Kollegin Höfken, der Begriff „Ladendiebe“ stammt kommt. Man kann nur auf die entsprechenden Regie-nicht von mir. Er wurde von Frau Griefahn benutzt, rungsmodelle schauen und sich fragen: Wie haben die Rotgrünen bis jetzt gewirtschaftet? Ich erinnere mich an (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: So ist es!) die sogenannte Wiesensteuer in Schleswig-Holstein, die die jetzt nicht mehr anwesend ist. Sie war eine Stunde inzwischen für rechtswidrig erklärt wurde. hier und ist dann wieder gegangen. Sie können ja einmal (Gert Willner [CDU/CSU]: Verfassungswid- Frau Griefahn fragen, was sie denn unter Ladendieben rig!) und unter der Mentalität von Ladendieben versteht. – Sogar für verfassungswidrig erklärt wurde. – Die Lan- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) desregierung wollte ihren maroden Haushalt durch Ge- Frau Höfken, ich stimme Ihnen zu: Wenn es Unre- bühren für die Durchführung der Agrarreform aufbes- gelmäßigkeiten gibt, dann müssen diese Dinge – unab- sern. Jetzt gibt es entsprechende Regreßforderungen.hängig von der Parteizugehörigkeit – aufgeklärt werden. Auch das ist die Mentalität von Ladendieben – undEs ist offensichtlich in den von Ihnen genannten Fällen nichts anderes. so gewesen, daß die Rechtsstaatlichkeit gegriffen hat. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: So ist es!) (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) Auf der einen Seite wird den Bauern das Geld aus der Das Geld wird den Bauern aus der Tasche gezogen Tasche gezogen. Aber die Mittel, die der Bund im Rah- und die Mittel aus der GA werden nicht gegeben. Wer men der Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung stellt, wie Sie, Herr Minister Funke, und wie Ihr Bundeskanz- werden nicht an die Landwirte weitergegeben. ler die politische Zielsetzung und den Zeitablauf für die Agenda 2000 für richtig hält und unterstützt – das haben (B) (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Sie ja heute in Ihrer Antwort auf die Zwischenfrage des gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken? Kollegen Seehofer und im Rahmen des kleinen Disputs bestätigt –, der muß doch in erster Linie dafür sorgen, daß die Bauern für die Herausforderungen, die auf sie Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): zukommen werden, fitgemacht werden. Aber ausgesprochen gerne. Zu dem Fitmachen gehören drei Dinge: erstensEnt- lastung von Auflagen und Wirtschaftserschwernis- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):sen. Wir brauchen einen Abbau von hausgemachten Wenn ich von Ladendieben und von Geldern höre, die in Wettbewerbsnachteilen. Rotgrün baut neue Nachteile der Landwirtschaft nicht ankommen, werde ich langsam auf und bezahlt sie nicht. unruhig. Ich möchte einmal auf die landwirtschaftliche Sozialversicherung verweisen. Hier mußte doch die baden- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) württembergische Landwirtschaftsministerin, die ja keine Dazu paßt folgender Vergleich, Herr Minister: Aus Grüne ist, Anzeige erstatten und auf Grund von Ver-Agrarumweltprogrammen werden in Schleswig-Holstein quickungen und ungeklärtem, sehr intransparentem Ver- 29 DM je Hektar, in Niedersachsen 42 DM je Hektar – halten – zum Beispiel im Zusammenhang mit den DBV- das ist das Bundesland, das sie gerade so gelobt haben –, Geschäftsstellen – die Staatsanwaltschaft einschalten. in Nordrhein-Westfalen 21 DM je Hektar gezahlt. In (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Frage!) Bayern werden je Hektar 329 DM gezahlt, in Sachsen 407 DM und in Baden-Württemberg 428 DM. Dazu Es gibt eine Unterrichtung der Bundesregierung bei- sollten Sie sich auch einmal äußern. spielsweise zum VDGB-Vermögen. (Zuruf von der SPD: Und in Mecklenburg- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist die Frage?) Vorpommern? Das dürfen Sie nicht verges- Was sagen Sie dazu? Dazu gibt es eine Menge unge- sen!) klärter Fragen. 4,2 Millionen DM wurden zugunsten des – Dat weet ik im Moment nich. Da könnt wi ja mol no- Deutschen Bauernverbandes ausgezahlt. An diese Aus- kieken. zahlung waren doch einmal Bedingungen geknüpft. Weiterhin sind 10,7 Millionen DM aus den Grund-Zweitens. Wir brauchen eineStärkung der Verar- stücksverkäufen auf ungeklärte Weise verschwunden.beitung und Vermarktung. Dazu gehört ehrlicherweise Zumindest im Bericht ist davon nichts enthalten. Es gibt die Kosteneinsparung durch Sturkturbereinigung, Fusion 314 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) und Kapazitätsabbau, insbesondere in der Milch- und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (C) Fleischwirtschaft. Auch das darf man nicht verschwei- jetzt der Kollege Matthias Weisheit. gen. Drittens. Die Mittel insbesondere aus derGemein- Matthias Weisheit (SPD): Frau Präsidentin! Ge- schaftsaufgabe müssen den wirtschaftenden Betrieben schätzte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir für ihre Entwicklung zur Verfügung gestellt werden. zunächst, daß ich dem neuen Bundeslandwirtschaftsmi- nister Karl-Heinz Funke im Namen meiner Fraktion Was erleben wir? 1996 hat das rotgrün regierte Nord- rhein-Westfalen Mittel in Höhe von 13,5 Millionen DM recht herzlich gratuliere. Es hat sich über die Grenzen von Niedersachsen hinaus herumgesprochen: Karl- für die Landwirtschaft nicht ausgegeben. In Schleswig- Heinz Funke, Sie machen Politik mit Augenmaß, suchen Holstein sparte man im gleichen Jahr 11 Millionen DM zu Lasten der Bauern ein und verzichtete dort auf Bun- das Gespräch mit den Menschen im ländlichen Raum, sprechen ihre Sprache, verstehen sie und sind ein Mann desmittel in Höhe von 6,7 Millionen DM. des schnellen Entschlusses. 1997 hat allein Schleswig-Holstein nach einer Um- schichtung, auf Grund deren Bundesmittel in Höhe von Das ist auch notwendig, wenn ich an das denke, was in den letzten 16 Jahren im Bereich der Landwirtschaft 11 Millionen DM zurückgenommen wurden, zusätzlich geschehen ist. Die Beiträge der Kollegen Seehofer, noch Bundesmittel in Höhe von 5,6 Millionen DM nicht ausgegeben. Das sind rund 16,5 Millionen DM, auf die Heinrich und Carstensen waren ein Musterbeispiel da- für, wie schnell man verdrängt, wofür man 16 Jahre lang man verzichtete. Zusammen mit den Eigenmitteln des verantwortlich war. Hier zu beklagen, Herr Kollege Landes sind den Bauern, der Landwirtschaft, dem länd- lichen Raum und auch dem Küstenschutz vorgesehene Heinrich, wie schlecht es der deutschen Landwirtschaft gehe, ist nicht richtig. Das ist doch das Ergebnis der Mittel in Höhe von 28 Millionen DM nicht zur Verfü- Politik der Koalition gewesen, die jetzt endlich zu Recht gung gestellt worden. Bei einer Förderrate, Herr Mi- nister Funke, von zirka 20 bis 25 Prozent mußte derabgelöst worden ist. ländliche Raum allein in diesem Bundesland auf Inve- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS stitionen in die Zukunft in Höhe von 120 Millionen DM 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten verzichten. Machen Sie das einmal einem mittelständi- der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU schen Handwerksbetrieb auf dem Lande in Schleswig- und der F.D.P.) Holstein klar. Statt dessen halten Sie hier große Reden über ein Bündnis für Arbeit. Das wäre Arbeit gewesen, Jetzt zu behaupten, die Bauern seien Opfer der rotgrünen die wir im ländlichen Raum hätten gebrauchen können. Regierung, das ist nun wirklich völlig neben der Sache. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben gemerkt: Es (D) ist kein leichtes Erbe, das Sie antreten. Wir haben zum Beispiel im Milchbereich, der auch Gegenstand der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Agenda 2000 ist, erlebt, daß die vorherige Regierung denken Sie bitte an die Zeit. zwei Jahre lang keinerlei Entscheidung getroffen hat, wie es weitergehen solle. Jetzt müssen wir das machen. Jetzt müssen wir das hinkriegen. Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ich komme zum Schluß. – Unsere Ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar, daß die Bauern Landwirtschaft hat für die Zukunft bessere Rahmenbe- damit rechnen können, daß wir ab April 2000 ein Liefer- dingungen verdient als das, was in den Koalitionsver-recht ohne Kapitalbindung haben. einbarungen festgeschrieben wurde. (Albert Deß [CDU/CSU]: Herr Funke sagt, (Zuruf von der CDU/CSU: Da hat er recht!) das geht nicht!) Voraussetzung für die auch von Ihnen, Herr Funke, ge- – Aber selbstverständlich geht das! – Wir werden das wollte Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer kapitalfreie Lieferrecht bei der Milch bis zum Jahr 2000 Landwirtschaft ist vor allem eineeffiziente Vermark- eingeführt haben. Die Bauern können sich darauf ein- tungsstruktur. Wenn man aber, so wie Sie das tun, hier stellen. Bis jetzt konnten sie sich auf gar nichts einstel- nur die Ökoprodukte vor Augen hat, dann springt man len und mußten Poker spielen und entscheiden, ob sie zu kurz. Wir haben die große Sorge, daß Sie zu kurznun mit hohen Summen eine Quote kaufen oder nicht springen. Ich biete Ihnen noch einmal an, daß wir Ihnen kaufen. Investitionen konnten nicht stattfinden. auch bei den Sprüngen helfen. Wir wollen Ihnen nicht (Beifall bei der SPD) nur bei den Schwierigkeiten helfen, die Sie mit Herrn Trittin und Herrn Lafontaine bekommen werden. Wenn Sie beim Sammeln für das Astronautenkostüm von Frau Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Däubler-Gmelin noch etwas Geld benötigen, wollen wir gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hein- Ihnen auch dabei gerne helfen. rich? Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Matthias Weisheit (SPD): Aber selbstverständlich. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 315

(A) Ulrich Heinrich (F.D.P.): Herr Kollege Weisheit,zum 31. März nächsten Jahres fertiggestellt sein, sonst(C) können Sie mir bitte Ihre Meinung zum Steuerreform- bestimmen Finanzminister oder Regierungschefs über konzept sagen: Wird es unsere Landwirtschaft zusätzlich die Landwirtschaft. belasten oder nicht? (Albert Deß [CDU/CSU]: Es wäre schlimm, wenn das Lafontaine machen würde!) Matthias Weisheit (SPD): Lieber Kollege Heinrich, ich verstehe die Aufgeregtheit in diesem Zusammen- Darüber waren wir uns alle einig und brauchen des- hang überhaupt nicht. Wir haben im letzten Jahr ge-halb gar nicht so hektisch zu tun. Wir müssen die Agrar- meinsam ein Steuerkonzept der damaligen Koalition auf reform gestalten. Dazu müssen natürlich die Vorschläge den Tisch bekommen, das ganz erheblich geändert wer- der Kommission in dem Sinne geändert werden, daß fi- den mußte, bei dem der Bauernverband und andere ge- nanzielle Leistungen zielgenau und mit weniger Büro- nauso Protest gelaufen sind – zum Teil übrigens kratie zu bei den Bäuerinnen und Bauern ankommen und Recht. Wir haben das im Ausschuß gemeinsam ver-den unterschiedlichen Strukturen der Landwirtschaft in nünftig beraten. Ich verspreche Ihnen: Wir werden am der Bundesrepublik Deutschland und in Europa gerecht Schluß der Ausschußberatung ein Steuergesetz haben, werden. das die Landwirtschaft nicht übermäßig belastet. Strukturwandel wird es in der Landwirtschaft – das (Beifall bei der SPD) hat der Kollege Seehofer auch gesagt; manchmal meint man, ein Bauer in Bayern glaube, man könne die Struk- Das sage ich für meine Fraktion zu. Darüber brauchen turen ewig zementieren – immer geben. Er muß aber im wir nicht zu diskutieren. Rahmen der historischen Vorgaben, der geographischen (Albert Deß [CDU/CSU]: Da sind aber die und klimatischen Bedingungen in den einzelnen Regio- Grünen anderer Meinung!) nen stattfinden. Es kann nicht angehen, daß wir der ganzen Bundesrepublik oder ganz Europa eine land- Wir sind – um noch einmal darauf zurückzukom-wirtschaftliche Struktur, die nur aus Großbetrieben mit men –, sehr froh darüber, daß wir diese Quotenregelung, riesigen Schlägen besteht, überstülpen. die den aktiven Milcherzeugern als Klotz am Bein hängt, ab April 2000 durch ein entkapitalisiertes Liefer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS recht ersetzen können. 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ihr wollt doch dahin!) Für uns steht fest, daß sich Bäuerinnen und Bauern, die das Rückgrat des ländlichen Raumes bilden, auf er- – Ihr behauptet immer, wir wollten dorthin. Die Politik kennbare Entwicklungen einstellen können müssen. Das von 26 Jahren F.D.P. in der Landwirtschaft hat mit dazu (B) konnten sie in den letzten Jahren nicht. Das wird sichgeführt, daß wir auf dem jetzigen Weg sind. (D) ändern. Eine Politik, die dies durch Klarheit ermöglicht, dient dem Wohle der Menschen, die im ländlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Raum leben und arbeiten. 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang erwähne ich einige The- Deshalb ist es für uns vorrangig, eine nachhaltige und men, die wir nicht wegdrücken können und zu denen wir funktionsfähige Landwirtschaft flächendeckend zu si- Aussagen brauchen: Das sind die bestehenden WTO-chern, die auch im Non-food-Bereich in zunehmendem Verhandlungen, die von allen in diesem Hause gewollte Umfang zuverlässige Marktchancen erhalten muß. Dazu und beschlossene Osterweiterung – niemand hat dage- gehört eine leistungsfähige Verarbeitung und Vermark- gen gestimmt, alle wollen sie –, tung von Agrarprodukten. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber doch Eine solche Politik sichert und schafft Arbeitsplätze nicht zu Lasten der Bauern!) im ländlichen Raum. Die neue Bundesregierung setzt im das sich ändernde Verbraucherverhalten bezüglich Qua- landwirtschaftlichen und ländlichen Bereich deshalb zu lität und Herstellungsverfahren für Nahrungsmittel so- Recht einen besonderen Schwerpunkt bei der Beschäfti- wie die zunehmende Bedeutung des Umwelt- und Na- gung und bei umweltverträglichem Handeln. turschutzes. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das sind doch Lip- Die Regierungserklärung und die Ausführungen von penbekenntnisse!) Karl-Heinz Funke haben deutlich gemacht: Die neue Bundesregierung sieht im Gegensatz zur Vorgängerre- Unser Ziel ist, die Preisausgleichszahlungen der be- gierung die auf Sie zukommenden Anforderungen. Sie reits 1992 eingeleiteten und jetzt fortzusetzenden Re- wird ihre Politik entsprechend gestalten. form mit sozialen Kriterien zu verbinden. (Beifall bei der SPD) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wohlfeile Worte!) In dieser Beziehung ist für uns die Weiterführung der Es soll in Zukunft die Wirkung bzw. der Beitrag zur 1992 begonnenen Agrarreform richtig. Allerdings muß Förderung der Beschäftigung stärker Berücksichtigung sie anders gestaltet werden. Ich weiß gar nicht, was die- finden. ses Geschrei hier heute sollte. Wir haben in verschiede- nen Podiumsdiskussionen doch immer wieder gemein- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Geht das in sam gesagt: Die Agrarreform muß kommen. – Sie muß Richtung Sozialhilfe?) 316 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998

Matthias Weisheit (A) Vergleichbares streben wir bei der Agrarumweltpolitik vereinbarung hervorgehoben – diese Ausdehnung vor- (C) an. Sie muß auf der Grundlage der Vorschläge der EU- rangig durch eine grundlegende Verbesserung des Ab- Kommission verstärkt und verbessert werden. satzes und der Vermarktung erfolgt. Das gilt übrigens nicht nur für den ökologischen Landbau, sondern für den Wenn der Kollege Hornung gerade das StichwortLandbau insgesamt. Wir haben uns im letzten Jahr ei- „Sozialhilfe“ in den Saal ruft, dann frage ich mich:gentlich schon geeinigt, daß in diesem Bereich etwas ge- Warum sind in Baden-Württemberg und in Bayern die schehen muß. durchschnittlichen Einkommen der Betriebe in den letzten Jahren ständig gesunken und in anderen Regio- Die Vermarktung war bisher ein Stiefkind der Politik. nen gestiegen? Das muß und wird sich ändern. Dies ist zwar kein All- heilmittel, aber ein Beitrag, Landwirtschaft, ländlichen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das Gegen- Raum und Kulturlandschaft zu stabilisieren und für die teil ist der Fall!) Zukunft zu sichern. Das haben Sie doch mitzuverantworten. Daß das so ist, Herzlichen Dank. macht der letzte Agrarbericht deutlich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Damit bin ich gleich beim Kollegen Carstensen. Die 90/DIE GRÜNEN) hohen Ausgaben, die in diesen Ländern getätigt werden, haben trotzdem nicht verhindern können, daß die Ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Auch ich winnsituation genau in diesen Ländern ungeheuer pro- danke. blematisch ist. Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung lie- (Beifall bei der SPD – Albert gen Deß nicht mehr vor. [CDU/CSU]: Weil es eine ganz andere Be- triebsstruktur ist, Herr Kollege Weisheit!) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 13. November 1998, In diesem Zusammenhang unterstützen wir aus-10.30 Uhr ein. drücklich die Absicht der neuen Bundesregierung, den Die Sitzung ist geschlossen. ökologischen Landbau auszudehnen. Erfolgreich wird dies jedoch nur dann sein, wenn – wie in der Koalitions- (Schluß der Sitzung: 19.38 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 317

(A) (C) Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich

Bleser, Peter CDU/CSU 12.11.98 Bohl, Friedrich CDU/CSU 12.11.98 Bulling-Schröter, Eva PDS 12.11.98 Geiger, Michaela CDU/CSU 12.11.98 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 12.11.98 Hartnagel, Anke SPD 12.11.98 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 12.11.98 Kemper, Hans-Peter SPD 12.11.98 Meckel, Markus SPD 12.11.98 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 12.11.98 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 12.11.98 Schütze (Berlin), CDU/CSU 12.11.98 Diethard W. Sebastian, Wilhelm-Josef CDU/CSU 12.11.98 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 12.11.98 DIE GRÜNEN Verheugen, Günter SPD 12.11.98 Vogt (Pforzheim), Ute SPD 12.11.98 Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 12.11.98 DIE GRÜNEN Voß, Sylvia Ingeborg BÜNDNIS 90/ 12.11.98 DIE GRÜNEN (B) Wieczorek-Zeul, SPD 12.11.98 (D) Heidemarie Wiesehügel, Klaus SPD 12.11.98 Zierer, Benno CDU/CSU 12.11.98 * —————— * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentari- schen Versammlung des Europarates