University of Groningen "Die Deutsche Freiheit" Schmidt, Hans Jörg

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University of Groningen University of Groningen "Die deutsche Freiheit" Schmidt, Hans Jörg IMPORTANT NOTE: You are advised to consult the publisher's version (publisher's PDF) if you wish to cite from it. Please check the document version below. Document Version Publisher's PDF, also known as Version of record Publication date: 2007 Link to publication in University of Groningen/UMCG research database Citation for published version (APA): Schmidt, H. J. (2007). "Die deutsche Freiheit": Geschichte eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins. [s.n.]. Copyright Other than for strictly personal use, it is not permitted to download or to forward/distribute the text or part of it without the consent of the author(s) and/or copyright holder(s), unless the work is under an open content license (like Creative Commons). Take-down policy If you believe that this document breaches copyright please contact us providing details, and we will remove access to the work immediately and investigate your claim. Downloaded from the University of Groningen/UMCG research database (Pure): http://www.rug.nl/research/portal. For technical reasons the number of authors shown on this cover page is limited to 10 maximum. Download date: 28-09-2021 4.5 BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 4.5.1 Inaugurierungsversuche der negativen Freiheitstradition durch die Besatzungsmächte im Rahmen einer resignativen Ausgangslage – „Wir erleben die Freiheit nicht mehr“ Mit dem Ende des „Dritten Reichs“ kam es in den westlichen Besatzungszonen beziehungsweise später in der Bundesrepublik zu von den Siegermächten geförderten Inaugurierungsversuchen der kontinentalen Freiheitstradition in ihrer negativen, eher an Locke angelehnten Variante. Vordergründig betrachtet kommt dies einem bewusst her- beigeführten Traditionsbruch gleich, doch lassen sich zahlreiche Kontinuitäten, insbesondere was das Deutungsmuster der „deutschen Freiheit“ anbelangt, be- obachten.2036 Die nationalsozialistische Herrschaft hatte, um auf die schwierigen Voraussetzungen aufmerksam zu machen, trotz der anderslautenden Propaganda – es sei hier nochmals an die Freiheitsrhetorik des Jahres 1935 erinnert2037 – mit unein- geschränkten Freiheitsberaubungsmaßnahmen in Gefängnissen und Konzentrations- lagern,2038 aber gerade auch im Alltagsleben, einen Tiefpunkt in der Geschichte der Freiheit in Deutschland markiert.2039 Mit Re-Education-Maßnahmen wurde für die westlichen Besatzungszonen der Versuch unternommen, ein an die angelsächsische Tradition angenähertes Freiheits- verständnis zu implementieren,2040 worauf große Hoffnungen beruhten.2041 Unter den Besatzungsmächten spielten die Vereinigten Staaten von Amerika eine entscheidende Vorreiterrolle.2042 Wesentlicher Unterschied zur amerikanischen Entwicklung, die als vorbildhaft präsentiert wurde, war allerdings, dass das Grundgesetz nicht wie die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung vorläufiger Kulminations-, sondern erneuter 2036 Vgl. Krieger, Idee, 468. Er spricht in seiner 1957 erschienen Studie zu der Idee der deutschen Freiheit von der Möglichkeit, dass durch die Ruptur fundamentaler Muster, die durch den totalen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft herbeigeführt worden sei, ein neues Konzept der Freiheit adaptieren werden könne, das die deutsche Tradition der Verbindung der Freiheit mit dem autoritativen Staat auflöse. In der neueren Historiographie wird eher die These langanhaltender mentaler Kontinuitäten vertreten. Vgl. z.B. Rupieper, Demokratisierung, 198. 2037 Vgl. oben: Kap. 4.4.1.2, 251-256. 2038 So lautete eine von den Alliierten an Wänden von KZ-Baracken (z.B. in Buchenwald und Sachsen- hausen) vorgefundene Losung: „Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterlande!“ (Zit. nach: Kühnrich, Arbeit, 262). 2039 Vgl. Kocka, Idea, 45. 2040 Vgl. Flitner, Erziehung, 36 f. 2041 Vgl. Bergsdorf, Politik, 136. 2042 Vgl. Sander, Politik, 89-92; ausführlicher zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besat- zungsregimes: Gerhardt, Soziologie. 289 Startpunkt einer freiheitlich-demokratischen Entwicklung war,2043 da es darum ging, vom charismatisch-traditionalen Herrschaftstypus des Nationalsozialismus loszu- kommen und eine neue, rational-legale Ordnung zu erlangen.2044 Ein wesentliches Ziel der paternalistischen Erziehungsmaßnahmen war: Politik sollte fortan als Sicherung der Freiheit begriffen2045 und in Bildungsangeboten, die ihren Fokus auf die junge Generation richteten, vermittelt werden.2046 Im Rahmen der Erneuerung der politischen Kultur mussten die Voraussetzungen der Freiheit erst wieder geschaffen werden.2047 Die Schriften von John Dalberg-Acton, „dem Historiker der Freiheit“, galten als Orientierungshilfe bei der Herausbildung eines freiheitlichen Bewusstseins.2048 Doch nicht nur geistige Bildung stand im Vordergrund, auch Sport wurde als ein edukatives Angebot angesehen, um den Weg zu Freiheit und Kultur zu bahnen.2049 Das erhöhte Körpergefühl, so das Argument solcher Überlegungen, bringe einen verstärkten Freiheitswillen hervor.2050 Gerade die amerikanische Besatzungsmacht versuchte, Deutschland nach dem eigenen Vorbild zu demokratisieren und dem besetzten Land die Möglichkeit zu geben, den Ballast der nationalsozialistischen Vergangenheit mit dem Geist der Freiheit zu tauschen.2051 Bis 1945 herrschten, wie Jürgen Kocka im globalen Vergleich der Freiheits- verständnisse die Ausgangslage nach Kriegsende resümiert, unübersehbare Differenzen zu der anglo-amerikanischen Freiheitstradition vor2052 und auch danach wurde noch lange die Idee der Freiheit für die Katastrophe der Vergangenheit verantwortlich gemacht,2053 was sich aus der Sicht historischer Semantik darin äußert, dass argu- mentative Kontinuitäten die Rupturen überwiegen. Noch bis zum Beginn des „Kalten Krieges“ war das Freiheitskonzept in Deutschland hinter anderen Vorstellungsmustern wie Volk, Nation und Staat zurück geblieben, ebenso wie phasenweise die Konzepte von Klasse, Rasse und nach 1945 auch die Idee des Friedens breiten Platz einge- nommen haben. Die Erziehung zur Freiheit zeigte sich also als ein prekäres Problem vor dem Hintergrund, dass Westdeutschland anders als die Vereinigten Staaten, Frankreich 2043 Vgl. Shotwell, Way, 341-352 2044 Vgl. Gerhardt, Soziologie, 15. 2045 Vgl. Noack, Politik. 2046 Vgl. Echternkamp, Krieg, 133-144; Scheurich, Bindung, 45. 2047 Vgl. Görtemaker, Geschichte, 31-33; Jarausch, Umkehr, 129. 2048 Noack, Politik, 5. 2049 Vgl. Peltzer, Sport. 2050 Vgl. ebd., 25 f. Peltzer weist auch darauf hin, dass die Freiheit des Einzelnen unbefriedigt bleibe, wenn die Freiheit des Volkes wesentlich eingeschränkt ist. „Eine dauernde Unterdrückung des Volkstums durch fremde Mächte ist unvereinbar mit dem Freiheitsgedanken.“ (AaO., 25). 2051 Vgl. Glaser, Kultur, 88; fernerhin: Rupieper, Demokratisierungspolitik. 2052 Vgl. Kocka, Idea, 41. 2053 Vgl. Bultmann, Idee, 283 f. 290 und Großbritannien sich nicht in einem historischen Prozess gewaltsam aus den Fesseln autoritärer Strukturen zu lösen vermochte.2054 Die Re-Education-Politik hatte daher mit einer Fixierung auf Obrigkeitsstaatlichkeit, den Nachwirkungen der Diktatur und den dadurch verworrenen Freiheitsvorstellungen zu kämpfen.2055 Durch Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entflechtung wurde in einem Dreischritt versucht, die Grund- lagen für einen freiheitlichen Neubeginn zu schaffen,2056 obgleich spontaner Freiheits- wille ähnlich zu der Situation nach dem Ersten Weltkrieg bei der infolge der außerordentlichen Belastungen erschöpften Bevölkerung kaum vorhanden war:2057 Das Vertrauen in einen freiheitlichen Staatsaufbau, aber auch der eigenverantwortliche Umgang mit den Kontingenzen eines freiheitlichen Alltags musste erneut erworben werden.2058 Die Ausgangslage in der Bevölkerung war, wie Dolf Sternberger von einem Gespräch mit einer Bauersfrau im Taunus berichtet, resignativ gestimmt. Die Frau habe ihm mit wenig Zuversicht gesagt: „Wir erleben die Freiheit nicht mehr.“2059 Ähnliches bemerkte Martin Niemöller in einem Vortrag, als er feststellte, dass es nach dem verlustreichen Krieg nicht möglich gewesen sei, unbelastet den „Weg der Freiheit“ zu beschreiten, da die Wurzeln der Freiheit vollständig abgeschnitten worden seien und die Mehrheit nach der Befreiung dagestanden wäre „als innerlich unfrei gewordene und immer noch unfrei gebliebene Menschen, als ein innerlich unfrei gewordenes und innerlich unfrei gebliebenes Volk.“2060 Das problematische Verhältnis der Deutschen zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nahm Bernd Tönnies zum Anlass, auf den „Trümmern“ des Krieges einen Beitrag zur politischen Erziehung2061 zu leisten.2062 Zu den Grundlagen des Rechtsstaates, versucht Tönnies zu vermitteln, gehöre „die für die Menschheit so wichtige Frage: Zwang oder Freiheit“.2063 In Staaten, die längere Zeit despotisch regiert worden seien, bilde sich eine Verhärtung des Denkvermögens heraus, die durch bewusst gesteuerte Maßnahmen durchbrochen werden müsse. Tönnies warnt vor dem Hintergrund des Erlebten vor den beiden Irrwegen im Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, die er als „totalitäre oder liberalistische Staatsauffassung“ be- 2054 Vgl. Flitner, Erziehung, 34. 2055 Vgl. Hermand, Wiederaufbau, 89-94. 2056 Vgl. Jarausch, Umkehr, 130 f. 2057 Vgl. Sell, Tragödie, 442. 2058 Vgl. Sternberger, Herrschaft. 2059 Ebd., 63. 2060 Martin Niemöller, Der Weg ins Freie, zit. nach: Altmann/Brüdigam/Opppenheimer (Hgg.), Jahr 1945, 89-101; hier: 93. 2061 Vgl. zur Rolle der Erziehung in der
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