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"Die deutsche Freiheit" Schmidt, Hans Jörg

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Publication date: 2007

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Citation for published version (APA): Schmidt, H. J. (2007). "Die deutsche Freiheit": Geschichte eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins. [s.n.].

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Download date: 28-09-2021 4.5 BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

4.5.1 Inaugurierungsversuche der negativen Freiheitstradition durch die Besatzungsmächte im Rahmen einer resignativen Ausgangslage – „Wir erleben die Freiheit nicht mehr“

Mit dem Ende des „Dritten Reichs“ kam es in den westlichen Besatzungszonen beziehungsweise später in der Bundesrepublik zu von den Siegermächten geförderten Inaugurierungsversuchen der kontinentalen Freiheitstradition in ihrer negativen, eher an Locke angelehnten Variante. Vordergründig betrachtet kommt dies einem bewusst her- beigeführten Traditionsbruch gleich, doch lassen sich zahlreiche Kontinuitäten, insbesondere was das Deutungsmuster der „deutschen Freiheit“ anbelangt, be- obachten.2036 Die nationalsozialistische Herrschaft hatte, um auf die schwierigen Voraussetzungen aufmerksam zu machen, trotz der anderslautenden Propaganda – es sei hier nochmals an die Freiheitsrhetorik des Jahres 1935 erinnert2037 – mit unein- geschränkten Freiheitsberaubungsmaßnahmen in Gefängnissen und Konzentrations- lagern,2038 aber gerade auch im Alltagsleben, einen Tiefpunkt in der Geschichte der Freiheit in Deutschland markiert.2039 Mit Re-Education-Maßnahmen wurde für die westlichen Besatzungszonen der Versuch unternommen, ein an die angelsächsische Tradition angenähertes Freiheits- verständnis zu implementieren,2040 worauf große Hoffnungen beruhten.2041 Unter den Besatzungsmächten spielten die Vereinigten Staaten von Amerika eine entscheidende Vorreiterrolle.2042 Wesentlicher Unterschied zur amerikanischen Entwicklung, die als vorbildhaft präsentiert wurde, war allerdings, dass das Grundgesetz nicht wie die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung vorläufiger Kulminations-, sondern erneuter

2036 Vgl. Krieger, Idee, 468. Er spricht in seiner 1957 erschienen Studie zu der Idee der deutschen Freiheit von der Möglichkeit, dass durch die Ruptur fundamentaler Muster, die durch den totalen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft herbeigeführt worden sei, ein neues Konzept der Freiheit adaptieren werden könne, das die deutsche Tradition der Verbindung der Freiheit mit dem autoritativen Staat auflöse. In der neueren Historiographie wird eher die These langanhaltender mentaler Kontinuitäten vertreten. Vgl. z.B. Rupieper, Demokratisierung, 198. 2037 Vgl. oben: Kap. 4.4.1.2, 251-256. 2038 So lautete eine von den Alliierten an Wänden von KZ-Baracken (z.B. in Buchenwald und Sachsen- hausen) vorgefundene Losung: „Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterlande!“ (Zit. nach: Kühnrich, Arbeit, 262). 2039 Vgl. Kocka, Idea, 45. 2040 Vgl. Flitner, Erziehung, 36 f. 2041 Vgl. Bergsdorf, Politik, 136. 2042 Vgl. Sander, Politik, 89-92; ausführlicher zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besat- zungsregimes: Gerhardt, Soziologie. 289 Startpunkt einer freiheitlich-demokratischen Entwicklung war,2043 da es darum ging, vom charismatisch-traditionalen Herrschaftstypus des Nationalsozialismus loszu- kommen und eine neue, rational-legale Ordnung zu erlangen.2044 Ein wesentliches Ziel der paternalistischen Erziehungsmaßnahmen war: Politik sollte fortan als Sicherung der Freiheit begriffen2045 und in Bildungsangeboten, die ihren Fokus auf die junge Generation richteten, vermittelt werden.2046 Im Rahmen der Erneuerung der politischen Kultur mussten die Voraussetzungen der Freiheit erst wieder geschaffen werden.2047 Die Schriften von John Dalberg-Acton, „dem Historiker der Freiheit“, galten als Orientierungshilfe bei der Herausbildung eines freiheitlichen Bewusstseins.2048 Doch nicht nur geistige Bildung stand im Vordergrund, auch Sport wurde als ein edukatives Angebot angesehen, um den Weg zu Freiheit und Kultur zu bahnen.2049 Das erhöhte Körpergefühl, so das Argument solcher Überlegungen, bringe einen verstärkten Freiheitswillen hervor.2050 Gerade die amerikanische Besatzungsmacht versuchte, Deutschland nach dem eigenen Vorbild zu demokratisieren und dem besetzten Land die Möglichkeit zu geben, den Ballast der nationalsozialistischen Vergangenheit mit dem Geist der Freiheit zu tauschen.2051 Bis 1945 herrschten, wie Jürgen Kocka im globalen Vergleich der Freiheits- verständnisse die Ausgangslage nach Kriegsende resümiert, unübersehbare Differenzen zu der anglo-amerikanischen Freiheitstradition vor2052 und auch danach wurde noch lange die Idee der Freiheit für die Katastrophe der Vergangenheit verantwortlich gemacht,2053 was sich aus der Sicht historischer Semantik darin äußert, dass argu- mentative Kontinuitäten die Rupturen überwiegen. Noch bis zum Beginn des „Kalten Krieges“ war das Freiheitskonzept in Deutschland hinter anderen Vorstellungsmustern wie Volk, Nation und Staat zurück geblieben, ebenso wie phasenweise die Konzepte von Klasse, Rasse und nach 1945 auch die Idee des Friedens breiten Platz einge- nommen haben. Die Erziehung zur Freiheit zeigte sich also als ein prekäres Problem vor dem Hintergrund, dass Westdeutschland anders als die Vereinigten Staaten, Frankreich

2043 Vgl. Shotwell, Way, 341-352 2044 Vgl. Gerhardt, Soziologie, 15. 2045 Vgl. Noack, Politik. 2046 Vgl. Echternkamp, Krieg, 133-144; Scheurich, Bindung, 45. 2047 Vgl. Görtemaker, Geschichte, 31-33; Jarausch, Umkehr, 129. 2048 Noack, Politik, 5. 2049 Vgl. Peltzer, Sport. 2050 Vgl. ebd., 25 f. Peltzer weist auch darauf hin, dass die Freiheit des Einzelnen unbefriedigt bleibe, wenn die Freiheit des Volkes wesentlich eingeschränkt ist. „Eine dauernde Unterdrückung des Volkstums durch fremde Mächte ist unvereinbar mit dem Freiheitsgedanken.“ (AaO., 25). 2051 Vgl. Glaser, Kultur, 88; fernerhin: Rupieper, Demokratisierungspolitik. 2052 Vgl. Kocka, Idea, 41. 2053 Vgl. Bultmann, Idee, 283 f. 290 und Großbritannien sich nicht in einem historischen Prozess gewaltsam aus den Fesseln autoritärer Strukturen zu lösen vermochte.2054 Die Re-Education-Politik hatte daher mit einer Fixierung auf Obrigkeitsstaatlichkeit, den Nachwirkungen der Diktatur und den dadurch verworrenen Freiheitsvorstellungen zu kämpfen.2055 Durch Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entflechtung wurde in einem Dreischritt versucht, die Grund- lagen für einen freiheitlichen Neubeginn zu schaffen,2056 obgleich spontaner Freiheits- wille ähnlich zu der Situation nach dem Ersten Weltkrieg bei der infolge der außerordentlichen Belastungen erschöpften Bevölkerung kaum vorhanden war:2057 Das Vertrauen in einen freiheitlichen Staatsaufbau, aber auch der eigenverantwortliche Umgang mit den Kontingenzen eines freiheitlichen Alltags musste erneut erworben werden.2058 Die Ausgangslage in der Bevölkerung war, wie Dolf Sternberger von einem Gespräch mit einer Bauersfrau im Taunus berichtet, resignativ gestimmt. Die Frau habe ihm mit wenig Zuversicht gesagt: „Wir erleben die Freiheit nicht mehr.“2059 Ähnliches bemerkte Martin Niemöller in einem Vortrag, als er feststellte, dass es nach dem verlustreichen Krieg nicht möglich gewesen sei, unbelastet den „Weg der Freiheit“ zu beschreiten, da die Wurzeln der Freiheit vollständig abgeschnitten worden seien und die Mehrheit nach der Befreiung dagestanden wäre „als innerlich unfrei gewordene und immer noch unfrei gebliebene Menschen, als ein innerlich unfrei gewordenes und innerlich unfrei gebliebenes Volk.“2060 Das problematische Verhältnis der Deutschen zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nahm Bernd Tönnies zum Anlass, auf den „Trümmern“ des Krieges einen Beitrag zur politischen Erziehung2061 zu leisten.2062 Zu den Grundlagen des Rechtsstaates, versucht Tönnies zu vermitteln, gehöre „die für die Menschheit so wichtige Frage: Zwang oder Freiheit“.2063 In Staaten, die längere Zeit despotisch regiert worden seien, bilde sich eine Verhärtung des Denkvermögens heraus, die durch bewusst gesteuerte Maßnahmen durchbrochen werden müsse. Tönnies warnt vor dem Hintergrund des Erlebten vor den beiden Irrwegen im Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, die er als „totalitäre oder liberalistische Staatsauffassung“ be-

2054 Vgl. Flitner, Erziehung, 34. 2055 Vgl. Hermand, Wiederaufbau, 89-94. 2056 Vgl. Jarausch, Umkehr, 130 f. 2057 Vgl. Sell, Tragödie, 442. 2058 Vgl. Sternberger, Herrschaft. 2059 Ebd., 63. 2060 Martin Niemöller, Der Weg ins Freie, zit. nach: Altmann/Brüdigam/Opppenheimer (Hgg.), Jahr 1945, 89-101; hier: 93. 2061 Vgl. zur Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur: Meseth, Geschichte. 2062 Vgl. Tönnies, Rechtsstaat. 2063 Ebd., 69. 291 nennt,2064 und wirbt stattdessen für einen liberalen Mittelweg antindividualistischer Prägung, womit er ein traditionsreiches Deutungsmuster bemüht: „Die liberalen Bestrebungen wollen einen freiheitlichen Ausbau des Gemein- schaftslebens innerhalb der Rechtsordnung. Die liberalen Strömungen setzen sich nicht grundsätzlich in Gegensatz zu dem Ziel des Rechtsstaates. Sie treten gerade in unserer deutschen Geschichte sehr häufig als mit ihm verbündet auf. Dagegen besteht die ‚liberalistische’ Denkweise in einer subjektivistischen Zersplitterung, einer Auflösung der Gemeinschaft in lauter Einzelwillen.“2065

Die totalitäre und liberalistische Auffassung – befindet Tönnies aus der Sicht der übergeordneten Gemeinschaft – arbeiteten beide an der Aufspaltung des Staates, erstere betreibe das Anliegen von oben, letztere von unten her.2066 Als große Zukunftsaufgabe sieht Tönnies die Lösung des Problems der Freiheit, um die Zwecke des Einzelnen mit denen der Gesamtheit in Einklang bringen zu können.2067 Den Beginn eigenständigen demokratischen Handelns in der Nachkriegszeit markiert die Neu- und Wiedergründung der politischen Parteien.2068 Insbesondere christlich geprägte Demokraten bemühten sich anfangs, im Freiheitsdiskurs Akzente zu setzen. Die Kölner Leitsätze der Christdemokraten etwa rufen zur Sammlung des deutschen Volkes auf und entwerfen ein vorläufiges Parteiprogramm, das auf ein „freies Volk“ mit dem „Grundgesetz der Achtung menschlicher Würde“ als Ergebnis der politischen Bemühungen abzielt.2069 Die christliche und gemeinschaftsorientierte Prägung des Entwurfs ist in der zum Teil noch rückwärtsgewandten Semantik und den eingesetzten Argumentationsmustern deutlich zu erkennen, indem der Text bestimmt: „Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe sollen eine neue Volksgemeinschaft beschirmen, die die gottergebene Freiheit des einzelnen und die Ansprüche der Gemeinschaft mit den Forderungen des Gemeinwohls zu verbinden weiß.“2070 Den „falschen kollektivistischen Zielvorstellungen“ wird zugunsten eines „christlichen Sozialismus“ abgesagt.2071 Eine in der langfristigen Perspektivierung weniger erfolgreiche Partei als die CDU war die Radikal-Soziale Freiheitspartei, die am 3. Februar 1946 ein Ziel-Programm zur Überwindung der kriegsbedingten Nöte aufstellte, aber weniger sozialistische Tendenzen aufzuweisen hatte. Bei ihrer Zusammenkunft in Düsseldorf war das

2064 Ebd., 70. 2065 Ebd., 71. 2066 Vgl. ebd. 2067 Vgl. ebd., 75. 2068 Vgl. z.B.: Winkler, Weg, Bd. 2, 122-127. 2069 Kölner Leitsätze (Juni 1945), in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 9-12; hier: 9. 2070 Ebd. 2071 Ebd., 9 f. 292 vorrangige Anliegen eine sofortige Währungsreform, weshalb die Partei für „völlige Gewerbefreiheit und freien Wettbewerb in allen Zweigen der Wirtschaft“ eintrat.2072 Die auf eine große Vergangenheit zurückblickende Zentrumspartei, um auf ein weiteres Forum politischer Willensbildung zu blicken, gründete sich 1945 im katholischen Soest als in der Mitte angesiedeltes „Lager der Volksgemeinschaft“ wieder2073 und knüpfte hiermit formal und semantisch an ihre Parteitradition an. Die obrigkeitsstaatlich geprägte Gemeinschaftsbezogenheit des Zentrums spiegelt sich in dem 1946 in Werl, der Heimatstadt des Zentrumspolitikers Franz von Papen, beschlossenen Kultur-, Wirtschafts- und Sozialprogramm wider. Die freie eigenständige Persönlichkeit erschließe und entfalte sich „zur Vollreife ihrer geistig-leiblichen Anlagen in der Gemeinschaft.“2074 In Anlehnung an organische Ganzheitsvorstellungen, die der christlichen Soziallehre nahe stehen, heißt es im Soester Programm ohne expliziten Bezug auf den Wert der Freiheit: „Die Gemeinschaft existiert nicht anders als in den einzelnen und für sie. Die wechselseitige Zuordnung von Einzelmenschen und Gemeinschaft verpflichtet den einzelnen, der Gemeinschaft zu dienen, weil und soweit dieser Dienst auf das Wohl aller einzelnen hingeordnet und die Vorbedingung für dessen Verwirklichung ist. So hat jeder einzelne für alle Glieder der Gemeinschaft und das Gemeinschafts- ganze einzustehen und die Gemeinschaft als Ganzes für das Wohl aller einzelnen und jedes ihrer Glieder.“2075

Auch die Sozialdemokratie setzte sich in ihren Politischen Leitsätzen vom Mai 1946 mit der Freiheitsproblematik – unter dem Vorzeichen „Freiheit und Sozialismus“ – auseinander.2076 Der Charakter der deutschen Sozialdemokratie besteht den Leitsätzen zufolge „in ihrem kompromißlosen Willen zu Freiheit und Sozialismus.“2077 Nicht ohne Stolz erinnert die Schrift an das stets opferbereite Eintreten der Partei für Demokratie, Frieden und Freiheit, weshalb jeder Rückfall in totalitäres Denken und Handeln abgelehnt wird. Legitimation für ihr eigenes Handeln bezieht die Partei aus „der großen Geschichte ihres Freiheitskampfes“ sowie aus ihren „positiven Leistungen für Staat und Volk, und durch die Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Sachlichkeit ihrer Politik“.2078 Die antitotalitäre Grundausrichtung der politischen Kultur der Nachkriegsgeschichte ist durch die Erfahrungen mit der Vergangenheit der NS-Diktatur vorstrukturiert und kann

2072 Ziel-Programm der Radikal-Sozialen Freiheitspartei. Düsseldorf, 3. Februar 1946, in: Treue (Hg.), Parteiprogramme, 226-231; hier. 227. 2073 Soester Programm von 1945, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 244 f. 2074 Ebd., 252. 2075 Ebd., 252 f. 2076 Vgl. Politische Leitsätze vom Mai 1946. Beschlossen auf dem Parteitag in Hannover am 11. Mai 1946, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 3, 17-23; hier: 20. 2077 Ebd. 2078 Ebd. 293 als wesentliches antithetisches Differenzkriterium zum vorherigen Freiheitsdiskurs ausgemacht werden,2079 wohingegen große Teile an Semantik und Deutungsangeboten auch zu Beginn der Demokratisierung wenig verändert das Dritte Reich überdauert hatten und nun unter veränderten Vorzeichen fortgeschrieben wurden. Die verheerende und zugleich hoffnungsvolle Ausgangslage im zerstörten Nach- kriegsdeutschland schildert Oskar Bauhofer eindrücklich in einem Essay aus dem Jahr 1946, weshalb eine längere Passage, die über die Zukunft des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ reflektiert, daraus wiedergegeben sei: „Es bedurfte der Zerschmetterung des Deutschen Reiches durch fremde Macht, es bedurfte der unendlichen Trümmer, welche heute die deutsche Erde zudecken: – daß die verwirkte deutsche Freiheit wieder erstehen möchte. Die Ruinen Deutsch- lands sind der ungeheure und dennoch nicht zu hohe Preis einer verschacherten, verfallenen und wiedergewonnenen Freiheit. Dem deutschen Volk ist durch das Urteil der Geschichte nicht allein eine Schuld sondergleichen zu Bekenntnis und Begleichung vorgelegt, nicht allein Sühne geboten für Sühnbares und Unsühnbares ohne Maß, – ihm ist es durch den Gang der Geschichte auch auferlegt, inmitten seiner äußersten Demütigung seine Freiheit zu erkennen und zu ergreifen, die wie eine große Begnadung ist. [...] Das Reich mußte untergehen, damit Raum werde für den Menschen, damit Raum werde für die Freiheit, – Raum für die Voraus- setzungen einer neuen und ganz neu zu schaffenden politischen Existenz. Ein Staat wird geboren aus dem Willen freier Menschen. Und allein aus deutscher Freiheit selber wird auch ein neues deutsches Staatswesen hervorwachsen, – oder vielmehr, wir glauben eher: nicht eines, sondern mehrere nebeneinander.“2080

Die föderale Tradition und die Aufteilung in Besatzungszonen, aber auch seine schweizerische Perspektive, sind die Gegebenheiten, die Bauhofers Zukunftsentwurf konturieren. Interessant ist seine Strategie der Kontinuitätsherstellung, die er an das Deutungsmuster „deutsche Freiheit“ anknüpft, um mittels dessen historischer Situierung – also indem er vor und nach dem „Dritten Reich“ eine Phase „deutscher Freiheit“ ansetzt – den Nationalsozialismus entwicklungsgeschichtlich zu kontextualisieren. Für die Positionsbestimmungen der Nachkriegswirtschaft, die sich entscheidend auf die gesellschaftliche Verfasstheit auswirkten, sind die theoretischen Orientierungen von Alfred Müller-Armack von großer Bedeutung.2081 Freiheit und die Gestaltung der wirtschaftlichen Ordnung bedingen sich in seinem Konzept gegenseitig. Bereits gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ging er den Problemen der Wirtschaftspolitik in einer vergleichenden Untersuchung zu Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft nach und befasste sich in einem gleichnamigen Buch mit dem Übergang von der Kriegswirtschaft

2079 Bergem, Vergangenheitsprägung, 50-52. 2080 Bauhofer, Schicksal, 198 f. 2081 Vgl. für einen Überblick zur wirtschaftlichen Entwicklung nach 1945: Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte; Prollius, Wirtschaftsgeschichte. 294 zur Marktwirtschaft und den damit verbundenen Herausforderungen.2082 Der Ökonom setzt sich für die marktwirtschaftliche Option in der wirtschaftspolitischen Diskussion ein, die, wie er bedauert, „fast in der ganzen Welt immer zugunsten des Kollektivismus“ entschieden werde,2083 obwohl es in kollektivistischen Systemen stets zu einer Häufung ökonomisch begründeter Zwangsmaßnahmen komme, die in ihrer inneren Logik „zu erheblichen Einschränkungen der persönlichen Freiheit über das durch das Gemeinwohl gebotene Maß hinaus führt“.2084 Eingriffe in die geistige Freiheit seien von hier aus nicht fernliegend.2085 „Das geringe Verständnis, welches heute in Deutschland – leider aber auch in vielen Teilen der übrigen Welt – der marktwirtschaftlichen Organisationsform begegnet, läßt“, so Müller-Armack, „bedenklich auf das Fehlen eines ursprünglichen Freiheitsbedürfnisses schließen.“2086 Er konstatiert mit diesem Verweis die Tendenz der Deutschen, selbst innerhalb der liberalen Parteien, ein System der Unfreiheit zu befürworten.2087 „Der unheimliche Hang der Deutschen, allzu bereitwillig in jeder angeblichen Notzeit auf eine freiheitliche Ordnung zu verzichten,“ warnt Müller-Armack, der in seiner Argumentation einen nationalhabituellen Subordinations- charakter der Deutschen betont, „ist längst noch nicht überwunden und wird es auch in Zukunft nicht werden, sofern nicht schon die reale Ordnung der Dinge den Machtmißbrauch ausschließt.“2088 An der Gestaltung der „Ordnung der Dinge“ arbeitete der Ökonom, nachdem er dem Ruf Ludwig Erhards in das Wirtschaftsministerium folgte, als dessen engster Berater in entscheidender Weise mit, weswegen er auch als geistiger Vater der Sozialen Marktwirtschaft gilt. Die nach dem Zweiten Weltkrieg sich neu konstituierenden Parteien und ihre Exponenten gingen wiederholt – über die Beschränkung auf liberale Gruppierungen hinaus – in ihrer Programmatik, die zu beträchtlichen Teilen aus der Freiheits- beschneidung im totalitären System des Nationalsozialismus gespeist ist, explizit auf die Bedeutung der Freiheit für das Entstehen einer Demokratie ein.2089 , Vorsitzender der CDU in der britischen Besatzungszone trat programmatisch in

2082 Vgl. Müller-Armack, Wirtschaftslenkung. 2083 Ebd., 60. 2084 Ebd., 63. 2085 Vgl. ebd., 68. 2086 Ebd., 70. 2087 Explizit verweist Müller-Armack in diesem Zusammenhang auf F. A. von Hayeks Buch Der Weg zur Knechtschaft (Vgl. Hayek, Weg.) 2088 Müller-Armack, Wirtschaftslenkung, 71. 2089 Vgl. Jarausch/Jones, Liberalism, 20 f. 295 zahlreichen Reden für eine freiheitliche Demokratie auf christlicher Grundlage ein,2090 mit welcher er seine Mitbürger auf den Weg zur politischen Freiheit führen wollte.2091 Er betonte einerseits zwar den Vorrang der Person „dem Dasein und dem Range nach vor dem Staat. An ihrer Würde, Freiheit und Selbständigkeit findet die Macht des Staates sowohl ihre Grenze als ihre Orientierung“,2092 andererseits räumte er dem Staat aber doch eine weit reichende Funktion zur Umsetzung persönlicher Freiheit ein. Diesen an sich negativen Freiheitsbegriff, der den Vorrang und die Allmacht des Staates vor der Würde und der Freiheit des Einzelnen aus christlichem Naturrecht heraus ablehnt,2093 verteidigt Adenauer zugleich gegen Angriffe, die ihm Libertinismus nachsagen möchten. Der CDU-Politiker schränkt seine Aussagen zur Freiheit der Person mit einem Aufruf zur pflichtgemäßen Erfüllung der an das Individuum gestellten Verantwortung für die Gesamtheit ein. „Freiheit der Person ist“ in den Augen Adenauers „nicht Schrankenlosigkeit und Willkür, sie verpflichtet jeden, beim Gebrauche seiner Freiheit immer eingedenk zu sein der Verantwortung, die jeder einzelne für seine Mitmenschen und für das ganze Volk trägt.“2094 In dieser Sichtweise ist das Individuum an das übergeordnete Ganze gebunden, wie sich auch in wirtschaftlicher Perspektivierung die christlich-naturrechtliche Auffassung von der Freiheit und Würde der Einzelperson bemerkbar macht, da diese „eine die wirtschaftliche und die politische Freiheit gefährdende Zusammenballung wirtschaftlicher Macht an einzelnen Stellen“, gerade auch auf dem Erfahrungshintergrund der nationalsozialistischen Zeit, verbiete.2095 Bereits im August 1945 kursierte ein Flugblatt des „Büros Dr. Schumacher“ mit der Überschrift Die Sozialdemokratie ruft: Für ein neues besseres Deutschland!2096 Darin wurde vom parteipolitischen Hauptkontrahenten der sich sammelnden Christ- demokraten beschworen, dass „der erste Tag politischer Freiheit“ heraufdämmere.2097 Die Sozialdemokratie, die im Verlauf ihres Bestehens seit 1863 zahlreichen

2090 Vgl. z.B. die Rede Adenauers in der Aula der Kölner Universität vom 24.03. 1946 (Konrad Adenauer, Freiheitliche Demokratie auf christlicher Grundlage, zit. nach: Recker [Hg.], Reden, Bd. 4, 68-106). Vgl. hierzu: Schwarz, Aufstieg, 513-516. 2091 Vgl. hierzu die Rede Adenauers nach der Abstimmung über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat, die anlässlich seines Todes im Bulletin der Bundesregierung erneut abgedruckt wurde: Konrad Adenauer, Auf dem Weg zur politischen Freiheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 41 vom 20.04. 1967, 341. 2092 Konrad Adenauer, Freiheitliche Demokratie auf christlicher Grundlage, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 68-106; hier: 75. 2093 Vgl. ebd., 74. 2094 Ebd., 75. 2095 Ebd., 80 f. 2096 Vgl. Schumacher, Reden, 251-255. 2097 Ebd., 252. 296 Repressionen ausgesetzt war,2098 erhob den Anspruch, als einzige Partei die Probe vor dem Richtstuhl der Geschichte bestanden zu haben, und forderte angesichts dieser Prädikatierung dazu auf, ihr das Vertrauen für den Neuaufbau zu geben.2099 Der demokratische Sozialismus, den die SPD vertrat, wollte sich zugleich als freiheitlicher Sozialismus verstanden wissen.2100 Auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD in Hannover erörterte Kurt Schumacher2101 die Ziele und Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie2102 und betonte, dass die Deutschen „als Freie verantwortlich sein“2103 wollen. In einem Abschnitt mit der Überschrift „Ein hungerndes Volk ist kein Sicherheitsfaktor“ wirft er den Siegermächten eine gewisse „Sicherheitskrankheit“ vor: „Wenn in der Vergangenheit diese Sicherheitskrankheit vom Westen schon schlimme Folgen gezeigt hat, wie soll es erst werden, wenn dieselbe Krankheit vom Osten und Westen auf uns eindringt? In der Hauptsache sind wir uns einig. Wir wollen unbeirrt festhalten an der Idee der Freiheit und der Völker- verständigung, aber wir wollen auch der Welt sagen, daß wir glauben, daß bei den Maßnahmen, die jetzt gegenüber Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht ergriffen worden sind und ergriffen werden, ein bißchen zuviel von der Gefahr der Wiedererstarkung des deutschen Revanchismus und des deutschen Kriegspotentials gesprochen wird.“2104

Schumacher schließt in seinem Denken an die Tradition an, die von einer spezifisch kontinentalen, zugleich antiamerikanischen Begriffsperzeption ausgeht und in deren Vorstellung Deutschland eine Mittelposition einnimmt. „Unsere deutschen Auffas- sungen von Sozialismus, Freiheit und Demokratie“, gibt sich der Vorsitzende der Sozialdemokratie vom Wert seiner Position überzeugt, „werden nicht überall in der Welt geteilt, wenn auch sonst überall in Europa. Aber man soll uns keine falschen Gegensätze einreden.“2105 Mit der Hinwendung zu Europa als Raum der Freiheit schließt er seine Ausführungen ab. Für ihn ist nur der „ein wahrer Patriot, der durch die Freiheit seines engeren Vaterlandes hindurch das große Vaterland will, das das Vaterland von unser aller Vaterländern ist, der Vaterländer der Sieger und der Vater-

2098 Vgl. Faulenbach, Einleitung, 11-13. 2099 Vgl. zu Schumachers Sammlungsbemühungen 1945: Scholz, , bes. 102-116. 2100 Vgl. Sarcinelli, Staatsverständnis, 41-43. 2101 Vgl. zu Schumachers führender Rolle im Aufbau der westdeutschen Sozialdemokratie: Albrecht, Einleitung, 89-199 [Das politische Wirken des Parteiführers Kurt Schumacher 1945 bis 1952]. Sowie die umfangreiche Dokumentensammlung: Schumacher, Reden. 2102 Vgl. Scholz, Kurt Schumacher, 146-151. 2103 Kurt Schumacher, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 107-150; hier: 109 f. 2104 Ebd., 120. 2105 Kurt Schumacher, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 107-150; hier: 149. 297 länder der Besiegten dieses Krieges, und das da heißt: Europa!“2106 Der Parteitag in der Leine-Stadt war richtungsweisend für die weitere Entwicklung der SPD.2107 Einen Impuls, den Schumacher der in der Frage von Einheit oder Freiheit2108 hin und her gerissenen Sozialdemokratie zu Beginn des Parteitages von Hannover mit auf den Weg gab, war die Vorrangstellung der Freiheit. In einer Gedenkrede an die Opfer des Nationalsozialismus forderte er die Genossen in diesem Sinn auf: „Laßt uns an die Arbeit gehen mit dem Ideal im Herzen, für das sie starben und für das wir leben: Freiheit!“2109 Die Erklärung der deutschen Sozialdemokratie, die zwölf Tage nach dem Parteitag von Hannover, am 18. Mai 1945, mit der Signatur Hans Vogels veröffentlicht wurde,2110 schloss damit, dass alle, die „guten Willens und von freiheitlichem Geist und demokratischen Idealen erfüllt sind,“ aufgefordert wurden, „für Frieden, Freiheit, Recht und Sozialismus“ einzutreten.2111 Die Frühphase der Entwicklung zeigt die doppelte Vergangenheitsprägung des vor allem im parteipolitischen Rahmen geführten Freiheitsdiskurses: einerseits die Ab- setzung gegenüber der Folie der diktatorischen Vergangenheit, andererseits aber zugleich auch das Bemühen um ein Anknüpfen an bestehende Traditionen, wie etwa im Rückgriff auf das Reservoir, das das Deutungsmuster „deutsche Freiheit“ in semantischer Hinsicht zur Herausbildung als Eigenentwicklung wahrgenommener Traditionsbildung zur Verfügung stellte.

4.5.2 Erklärungsansätze für die nationalsozialistische Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Freiheitproblematik – „die Neigung des Deutschen, dem Staat metaphysischen Rang einzuräumen und um des Staates oder der ‚Gemeinschaft’ willen sich selbst als Individuum aufzugeben“

Eine falsche Auffassung des Verhältnisses von Staat und Individuum wurde in vielen Fällen als Erklärungsansatz für die diktatorische Vergangenheit herangezogen.2112

2106 Ebd., 148. 2107 Vgl. Klotzbach, Weg, 78-81. 2108 Vgl. hierzu insgesamt: Kaden, Einheit; und die „methodisch-didaktisch aufbereitete[n] Materialien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 40. Jahrestag der Gründung der SPD: Einheit oder Freiheit? 2109 Protokoll der Verhandlungen des Parteitages, 7. 2110 Vgl. zu der Erklärung: Kaden, Einheit, 99 f. 2111 Erklärung der deutschen Sozialdemokratie, in: Sozialistische Mitteilungen. News for German Socialists in England 73/74 (April/Mai 1945), 1-3. 2112 Vgl. hierzu z.B. erneut die Rede Adenauers in der Aula der Kölner Universität vom 24.03. 1946 (Konrad Adenauer, Freiheitliche Demokratie auf christlicher Grundlage, zit. nach: Recker [Hg.], Reden, Bd. 4, 68-106). 298 Bereits 1938/39 zeichnete Rudolf Olden,2113 der nach dem Reichtagsbrand 1933 ins Exil gehen musste, da ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, die Geschichte der Freiheit in Deutschland2114 nach. Die aus einer von Olden in London gehaltenen Vorlesungsreihe zur Entwicklung des deutschen Liberalismus 1807-1933 hervor- gegangene Schrift sollte dazu dienen, „eine kurze und präzise Antwort auf die [...] von Engländern so oft gestellte Frage zu geben, die zweifellos auch anderen Deutschen gestellte wurde, die die Gastfreundschaft dieses Landes genossen: ‚Wie war so etwas möglich?’“2115 Oldens Überlegungen wurden erst zehn Jahre nach ihrer Entstehung veröffentlicht. Obwohl er angesichts der Diktatursituation in Deutschland anmerkt, dass die Freiheit von den Nationalsozialisten besiegt worden sei, erkennt er auf der anderen Seite zugleich, beweise dies noch nicht, „daß die Liebe zur Freiheit nicht mehr im deutschen Volke vorhanden ist. Im Gegenteil, es scheint, daß die liberale Idee oder der Glaube in letzter Zeit neue Kraft erlangt hat durch Hitlers Tyrannei, daß sie lebendiger ist als vor Jahren, wo noch eine gewisse Rede- und Pressefreiheit in Deutschland bestand und man sich für ein objektives Urteil einsetzen konnte. Aber die sozialen und politischen Einrichtungen, die in ihrer Gesamtheit den Freiheitsbegriff ausmachten, sind ausgelöscht worden. Dies war erforderlich, um den Weg für den ‚Führergedanken’ des ‚totalitären Staates’ durch Pressekontrolle, Unterordnung der Richter unter die Verwaltung und Hervorkehrung des Rassenprinzips vorzubereiten. [...] Es steht außer Zweifel, daß die Freiheit in Deutschland ausgelöscht ist. Ich kenne eine Kritik, die sich gegen den Titel meines Buches richten wird und die nichts mit der gegenwärtigen Regierung in Deutschland zu tun hat. Sie besagt, daß es keine Geschichte der Freiheit in Deutschland geben kann, das es dort niemals eine Freiheit gab.“2116

Weiterhin befindet Olden im Resümee seiner Geschichte der Freiheit in Deutschland, dass die These vom Festhalten am preußischen Autokratismus und das Scheitern des Freiheitskampfes eine Antwort auf die Frage bieten könne, warum die Deutschen ihre Freiheit nicht besser verteidigt hätten. Dazu greift er auf etliche Begründungsansätze zurück, die von einer historischen Sonderentwicklung – vor allem getragen vom Preußentum – ausgehen: „Sie hatten sie [i.e. die Freiheit] niemals durch Kampf erworben. Jene preußische Autokratie, aus der das neue Deutsche Reich nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches hervorging, ist weder besiegt, noch zerstört worden. Sie

2113 Rudolf Olden, der 1940 einen Lehrstuhl in den Vereinigten Staaten antreten sollte, wurde auf dem Weg dorthin Opfer der Nazis. Ein Torpedoangriff auf das Schiff, mit dem er in die USA reiste, kostete ihm und seiner Frau auf dem Atlantik das Leben (vgl. Olden, Geschichte, Vorsatzblatt). 2114 Vgl. ebd. Gilbert Murray berichtet im Vorwort, dass die Geschichte der Freiheit in Deutschland, die bis an das Jahr 1933 heranreicht, ursprünglich in der Absicht geschrieben sei, Ausländern die deutsche Geschichte zu erklären. Es sei „eine rein deutsche Stimme, die aus dem alten Deutschland ruft, aus einer Zeit, als Freiheit, obwohl unterdrückt, noch sprechen durfte und die Menschen nicht durch den Kampf und die Verwirrung zweier Weltkriege gemartert und verführt wurden.“ (Murray, Vorwort, 7). 2115 Olden, Geschichte, 8. 2116 Ebd., 11 f. 299 verbündete sich stets mit jeder neuen Strömung – mit der liberalen Philosophie, mit dem Verlangen nach nationaler Einheit, mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kaufleute und Industriellen, mit den Sozialdemokraten und zuletzt mit Hitler und seiner Parteidiktatur. Zu Beginn der Geschichte des Liberalismus in Deutschland waren die Ideen der Freiheit und nationalen Einheit untrennbar miteinander ver- knüpft. Der autokratische Preußengeist, der diese Einheit schützte, wurde gehegt, sogar bewundert und geachtet. Sollten die Deutschen indessen noch einmal bei Gelegenheit darauf kommen, auch die Freiheit zu schätzen, dann werden sie gut daran tun, aus ihrem nationalen Leben auch die letzten Spuren jener alten und zähen Macht zu tilgen. Wie friedlich und maßvoll sich die alte Militärautokratie preußischer Junker auch geben mag, sie wird doch stets gleich gefährlich bleiben. Reicht ihr die Nation den kleinen Finger, so greift sie stets nach der ganzen Hand. Ein Land ist nur dann frei, wenn die gesamte Staatsgewalt und jeder Waffenträger nur dem Volkswillen dient. Es genügt nicht, wie wir sahen, den Kopf abzuschneiden, denn er wächst nach. Die Kräfte, die die Tyrannei ausmachen, müssen herausgenommen und einzeln zerstört werden, so daß sie nie wieder ein Ganzes bilden können. Dies ist der schwerste Kampf, zu dem jemals das deutsche Volk innerhalb seiner eigenen Grenzen aufgerufen wurde. Wenn aber dieser Kampf überstanden ist, und die Freiheit erst gewonnen, dann wird es diese Freiheit lieben, an ihr festhalten und sie verteidigen. Denn nur das schätzt man wofür man gekämpft und gelitten hat und was man sich kraft eigenen Rechts erwarb.“2117

Einen anders gelagerten Versuch, die Entstehung des Terrors in Deutschland zu erklären,2118 unternimmt Felix Schottländer im August 1945, indem er das Verhältnis von Zwang und Freiheit, das auch Bernd Tönnies in seiner oben erwähnten Studie als Explanans heranzog,2119 untersucht. Die Arbeit fügt sich in die Anstrengungen ein, sozialpsychologische Erklärungsmuster für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus fruchtbar zu machen.2120 Der Freiheitsanspruch des Einzelnen sei, lautet die Argumentation, in der Moderne als Kontrapunkt dem älteren Anspruch der Gemeinschaft entgegengetreten: „Von den beiden stärksten Trieben, die den Menschen als soziales Wesen erfüllen, dem Trieb nach Freiheit und dem Trieb nach Sicherheit, ist also der letztere der ältere, der ursprünglichere, dem sich der Freiheitstrieb erst später gegenüberstellt.“2121 Je größer nun in historischen Situationen die Bedrohungsperzeption werde, umso stärker verschiebe sich das Verhältnis von Einzelmensch und Gemeinschaft in Richtung des Kollektivs. Gefahr von außen bedeute daher den Rückfall in ältere Formen des Gemeinschaftslebens, was Schottländer zu der Überlegung führt, im Terror der Hitler- Diktatur eine direkte Folge der Angst, welche wiederum nach Sicherheit streben lässt,

2117 Ebd., 143 f. 2118 Vgl. zu weiteren Erklärungsversuchen (Jaspers, Meinecke und Mann) auch: Winkler, Weg, Bd. 2, 110-115. 2119 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.1, 291 f. 2120 Die wohl bekannteste Veröffentlichungen in diesem Bereich sind die von Theodor Adorno und Kollegen 1950 vorgelegten Studien über die autoritäre Persönlichkeit. Vgl. Adorno/Frenkel-Brunswik/ Levinson/Nevitt Stanford, Studies; fernerhin: Fromm, Furcht; Veit, Flucht; ders., Soziologie. Zur historischen Verortung des Erklärungsmodells „Autoritärer Charakter“: Parge, Holocaust. 2121 Schottländer, Zwang, 7. 300 zu erkennen.2122 Angst ist für ihn eine wichtige Erklärungsvariable, die für den Durchbruch des Nationalsozialismus von entscheidender Bedeutung gewesen sei, denn, analysiert Schottländer die Ursachen für den Zulauf zum Nationalsozialismus, mögen „die Mächte, denen der Schutz der Freiheit anvertraut war, in Deutschland noch so brüchig und unzuverlässig gewesen sein, es wäre trotz allem nicht zu der verhängnisvollen ‚Machtergreifung’ von 1933 gekommen, wenn nicht ein auslösender Faktor den Umsturz begünstigt hätte: die Angst.“2123 In der Periode der äußersten Zu- spitzung aller politischen Gegensätze, der Straßenkämpfe und Arbeitslosigkeit, habe sich in Deutschland der Ruf nach einem starken Mann erhoben: „Er wird erklärlich aus einer zur Selbstaufgabe gewachsenen Angst und bedeutet, daß ein Volk in diesem starken Mann einen Führer und allmächtigen Vater sucht, der es aus seiner Gefahr erlösen soll. Ungefähr der Hälfte des Volkes erschien Hitler als dieser Mächtige, seine Glücksverheißung als der einzige Ausweg, der übrigbleibt.“2124 Besonders in der deut- schen Geschichte bestehe, so Schottländers Resümee, das von einem historisch- mentalitären Sonderweg ausgeht und auf die Komplementarität des Freiheitsbegriffs hinweist, eine tragische Spannung zwischen Bindung und Freiheit. Auch der Katholik Adolf Süsterhenn verweist auf die stetige Bedingtheit des Freiheitsdiskurses durch komplementäre Begriffe und erblickt vor dem Hintergrund dieser Beobachtung im Mangel von Freiheit und Recht „vom Geistigen her gesehen die schlimmste Tortur“ des auf persönlichkeitsverachtenden Ideen beruhenden Nationalsozialismus.2125 Einzig der Freiheit, gibt er seiner Überzeugung Ausdruck, gehöre das Recht. Unter der Political Party Publication License No. US-E-1, die 1947 für die Christlich-Soziale Union ausgestellt wurde, veröffentlichte Thomas Aich eine zu Schottländers Untersuchung verwandte Studie zur Psychologie des Kollektivismus, die sich in klassisch liberaler Weise kritisch mit dem Phänomen des Massenmenschen und des Massenwahns auseinandersetzt und in diesem Zusammenhang auf die bereits von Tocqueville beklagte Wirkung der öffentlichen Meinung als Totschlagargument ein- geht.2126 Damit folgt Aich einer in der unmittelbaren Nachkriegsauseinandersetzung mit den Grundlagen des Totalitarismus zu verzeichnenden Tendenz, den National- sozialismus als Phänomen der Massengesellschaft – und somit als die Moderne

2122 Vgl. ebd., 20. 2123 Ebd., 33. 2124 Ebd., 34. 2125 Adolf Süsterhenn, Freiheit und Recht, Aufsatz im Rheinischen Merkur Nr. 9 vom 12.04. 1946; zit. nach: Buchner (Hg.), Nachkriegsdeutschland, 165-169; hier: 165. 2126 Vgl. Aich, Massenmensch, 58. 301 antizipierende antimodernistische Bewegung – zu erklären.2127 Der Autor bemerkt, dass die Deutschen während des Nationalsozialismus „Ferien vom Ich“ genommen hätten und ihnen dadurch die Bindung an den kollektiven Staat zur Fessel geworden sei.2128 Aich konstatiert zu Beginn der Studie psychologisierend, – womit er einen Kritikpunkt vorwegnimmt, der knapp zwei Jahrzehnte später zu einem Generationenkonflikt herangereift sein sollte – „das Übel des Nationalsozialismus [sei] nicht innerlich überwunden“, sondern „nur verdrängt“ worden.2129 Zur Spezifik der national- sozialistischen Lehrgrundlage äußert er sich in Anbetracht des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv sowie der sich daraus ergebenden Freiheitsproblematik, indem er auf nationalhabituelle Erklärungsansätze – wie etwa auf den Hang zur Staatsmetaphysik – zurückgreift, folgendermaßen: „Im Übrigen gab es zwischen Staat und Individuum schon deshalb nichts zu vereinbaren, weil nach nationalsozialistischer Doktrin der einzelne nichts, die Volksgemeinschaft alles war, Rechtsgarantien im Sinne bestimmter Grundrechte wie überhaupt die Abgrenzung einer Individualsphäre wurden als ‚typisch liberalistische Entartungserscheinung’ verworfen. Wieder wußte der National- sozialismus eine spezifisch deutsche Eigenheit seinen Zielen dienstbar zu machen. Wir meinen die Neigung des Deutschen, dem Staat metaphysischen Rang einzu- räumen und um des Staates oder der ‚Gemeinschaft’ willen sich selbst als Indivi- duum aufzugeben. Mit der individuellen Freiheit war nunmehr auch dem Privatleben die Grundlage entzogen, lückenlos sah sich der einzelne der Willkür der staatstragenden Schicht ausgeliefert. Unter geschickter Ausnutzung der Unzu- friedenheit der Massen mit dem liberalen Staat war der Schein erweckt worden, als ob – im Gegensatz zu früheren Systemen – das Volk höher stehe als der Staat. Tatsächlich aber lief die neue Staatstheorie auf die Vernichtung jedes Volks- einflusses auf die staatlichen Entscheidungen hinaus.“2130

Walter Dirks, Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, leistete ebenfalls einen „Beitrag zur deutschen Selbsterkenntnis“, indem er über die Frage nach dem Umgang mit der Schuldfrage2131 einen Weg zur Freiheit eröffnen wollte.2132 „Reue“, befindet der ehemalige Redakteur der Frankfurter Zeitung angesichts der katastrophalen moralischen Folgen der Kriegsniederlage, sei das „gewichtigste Stück Realpolitik, das es in Deutschland zur Zeit geben kann.“2133 Trotzdem sind seine Zukunftshoffnungen, die gleich denjenigen Aichs oder der Mitscherlichs2134 auf psychologischen Erklärungs- ansätzen beruhen, positiv: „Wenn Deutschland sich selbst erkennt, wird es nicht nur frei

2127 Vgl. Schildt, Konservatismus, 217 f. 2128 Aich, Massenmensch, 14. 2129 Ebd., 6. 2130 Ebd., 118. 2131 Vgl. hierzu: Hermand, Wiederaufbau, 42-52. 2132 Vgl. Walter Dirks, Der Weg zur Freiheit. Ein Beitrag zur deutschen Selbsterkenntnis, in: ders., Republik, 165-190. 2133 Ebd., 170. 2134 Vgl. Mitscherlich/Mitscherlich, Unfähigkeit. 302 werden, zunächst geistig und dann deshalb auch politisch frei, es wird auch glücklich werden.“2135 Eine etwas trübere Aussicht zeichnet Helmut Unkelbach, der die „charakterliche Spezialisierung des deutschen Volkes“ als hinderlich für einen freiheitlichen Neuaufbauprozess erachtet.2136 Die „‚deutsche Gründlichkeit’ in Orga- nisation“ und der „deutsche Idealismus“ trügen Tendenzen der Selbstaufopferung und das Streben nach der totalen Verwirklichung in sich.2137 Hinzu trete oftmals eine einseitige fachliche Spezialisierung,2138 weshalb eine Veränderung des National- charakters lediglich auf dem Weg umfassender Erziehung zu erwarten stehe.2139 Die immer wieder anzutreffende Hilfskonstruktion eines nationalen Habitus, die häufig zur Erklärung einer besonderen Ausprägung der historischen Dynamik herangezogen wird, ist ein exponiertes Mittel sozialpsychologischer Überlegungen, die aufgrund der Übertragung ihrer Argumentation vom Individuum auf die größere Gesamtheit notwendigerweise mit einem Mentalitätsbild arbeiten, das individuelle kognitive Prozesse und Verhaltensweisen auf Großgruppen projiziert. Die diagnostische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – und darin ist vor allem der Mehrwert der methodisch sicherlich zweifelhaften Studien zu sehen – forderte dazu heraus, das Freiheitsverständnis in historischer und gegenwartskritischer Perspektive zu überprüfen und nach einer angemessenen Praxis – was vor allem auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik geschah – zu fragen.

4.5.3 Freiheitliche Aufbaubestrebungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft – „Abwerfung aller Schlacken des Obrigkeitsstaates“

Das Ahlener Wirtschaftsprogramm, das im August 1947 von der Christlich- Demokratischen Union der britischen Besatzungszone angenommen wurde, betont den engen Zusammenhang zwischen Tätigkeit und Freiheit der Person auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. In einem Passus verweist es darauf, dass die Wirtschaft gleichzeitig der Entfaltung der schaffenden Kräfte des Menschen und der Gemeinschaft zu dienen habe, wobei die Persönlichkeit der Ausgangspunkt bleiben müsse: „Die Gestaltung der Wirtschaft darf dem einzelnen nicht die Freiheit seiner Person nehmen.

2135 Walter Dirks, Der Weg zur Freiheit. Ein Beitrag zur deutschen Selbsterkenntnis, in: ders., Republik, 165-190; hier: 190. 2136 Vgl. Unkelbach, Staatsgestaltung, bes. 15-52. 2137 Vgl. ebd., 24; 26. 2138 Vgl. ebd., 30-35. 2139 Vgl. ebd., 36-39. 303 Daher ist notwendig: Stärkung der wirtschaftlichen Stellung und Freiheit des einzelnen, Verhinderung der Zusammenballung wirtschaftlicher Kräfte in der Hand von Einzel- personen, von Gesellschaften, privaten oder öffentlichen Organisationen, durch die wirtschaftliche Freiheit gefährdet werden könnte.“2140 Kurt Schumacher, der Hauptprotagonist der unmittelbaren Nachkriegs- Sozialdemokratie, sieht auf dem Nürnberger Parteitag seiner Partei,2141 nachdem die Freiheit durch das Ende des Nationalsozialismus erlangt sei, die vordringlichste Aufgabe nun darin, zur sozialen Gerechtigkeit fortzuschreiten.2142 In seiner Rede vom 29. Juni 1947 beklagt der schwer kriegsversehrte Schumacher, Deutschland kranke an der verhinderten sozialen und politischen Revolution des Jahres 1945.2143 Das Verhält- nis zwischen Frankreich und Deutschland ist für ihn aufgrund geschichtlicher Erfahrung ein „lebendiger Gradmesser für das Leben der Ideen der Freiheit und der Mensch- lichkeit“ in Europa.2144 Im Gegensatz zu diesem nach Westen orientierten Gradmesser der Freiheit befindet Schumacher über die Verhältnisse im Osten: „Die Kommunisten sprechen von nationaler Freiheit, und die nationale Freiheit, die die kommunistische SED bringt, das ist die deutsche Freiheit, so viel Reparationen zu zahlen, wie Russland beansprucht, und auf seine Kriegsgefangenen zu verzichten, sie zu opfern und die Idee der Freiheit mit dem Willen von Deutschland in Deutschland abschlachten zu lassen.“2145 Die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System beeinflusste den bundesrepublikanischen Freiheitsdiskurs nachhaltig. So wirkte sich die kommunistische Machtübernahme in Prag im Februar 1948 auf die Memorialfeiern der Revolution von 1848 aus.2146 In der Verbindung von Revolutions- und Gegenwartsdeutung stand das bereits im Liberalismus des 19. Jahrhunderts vorherrschende Spannungsverhältnis von Einheit und Freiheit im Zentrum des Gedenkens,2147 in dessen Rahmen im Frühjahr 1948 in der gesamten Bundes- republik Säkularfeiern anlässlich der hundertsten Wiederkehr der Märzereignisse

2140 Das Ahlener Wirtschaftsprogramm, Februar 1947, zit. nach: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 576- 582; hier: 577. 2141 Vgl. die Parteitagsdokumentation: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 29. Juni bis 2. Juli 1947 in Nürnberg. 2142 Vgl. Kurt Schumacher, Von der Freiheit zur sozialen Gerechtigkeit, in: ders., Reden und Schriften, 111-138. 2143 Vgl. ebd., 113. 2144 Ebd., 114. 2145 Ebd., 134. 2146 Vgl. Wollstein, Gedenken, 336-342. 2147 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 45 f. 304 stattfanden.2148 Mit Zustimmung der amerikanischen Militärregierung gab der Magistrat von Groß-Berlin dem Historiker Friedrich Meinecke den Auftrag, eine Betrachtung zu diesem Ereignis auszuarbeiten.2149 Der Autor, der sich bereits gegen Ende des Ersten Weltkrieges in den Diskurs um die „deutsche Freiheit“ eingeschaltet hatte, sah einen wesentlichen Scheideweg in der deutschen Geschichte in der „natürliche[n] Aufgabe“ Deutschlands im 19. Jahrhundert, „den bisherigen Obrigkeitsstaat umzuwandeln in den Gemeinschaftsstaat, das heißt, das monarchisch-autoritäre Prinzip, womöglich durch friedliche Reform, so zu erweichen, daß es zu einer lebendigen und wirksamen Teilnahme aller Volksschichten an den Entscheidungen des Staatslebens kam.“2150 Die „Abwerfung aller Schlacken des Obrigkeitsstaates – das Dritte Reich war ja nur ein Afterdorn desselben“, expliziert Meinecke, um damit die Besonderheit der historischen Entwicklung zu markieren, müsse nun die vorrangige Aufgabe sein, um, wie er organische Semantik bemüht, „eine gesunde und lebensfähige Demokratie aufzubauen.“2151 Dies sei jedoch insofern schwierig, da dem deutschen Volk eine nationalhabituell begründete „Obödienzgesinnung“ anhafte und diejenigen, die 1848 aus ihr ausgebrochen seien, sich in Uneinigkeit bei der Akzentuierung der Werte Einheit, Macht und Freiheit befunden hätten.2152 Die Revolution von 1848 habe zukünftige kriegerische Möglichkeiten in sich geborgen, die jedoch intern durch den Einsatz von Machtmitteln gebändigt werden konnten. „Aber gebändigt wurden damit nicht nur die kriegsschwangeren Einheits- und Machttriebe,“ konstatiert Meinecke, „sondern auch die Freiheitstriebe des deutschen Volkes, das Verlangen, ein Volks- und Gemeinschaftsstaat zu werden. Wiederum ein ganz tragischer und gerade heute er- schütternder Zusammenhang.“2153 Auf die Zeitsituation von 1948 bezogen wünscht sich der Festredner, dass es „den durch Unglück reif Gewordenen endlich gelingen“ möge, „das Ziel ihrer reinen und edlen Sehnsucht zu erreichen – die nationale Einheit im demokratischen Gemeinschaftsstaate.“2154 Das Anknüpfen an die Ereignisse von 1848 stellte für das am Beginn eines demokratischen Konsolidierungsprozesses befindliche Westdeutschland ein Reservoir an eigenständiger freiheitlich demokratischer Tradition bereit, auf das man sich im historischen Rückblick und in Betonung der freiheitlichen

2148 Vgl. in die Erinnerungsanstrengungen vergleichender Ost-West-Perspektive: Roth, Erbe. Im Über- blick mit der wichtigsten Forschungsliteratur: Siemann, Streit. 2149 Vgl. Meinecke, 1848. 2150 Ebd., 8 f. 2151 Ebd., 12. 2152 Ebd., 17. 2153 Ebd., 27. 2154 Ebd., 29. 305 Systemalternative gegenüber der sowjetischen Besatzungszone berufen konnte.2155 Meinecke bleibt mit seinen Ausführungen der organisch geprägten, gemeinschafts- zentrierten Freiheitsvorstellung verhaftet, was insbesondere durch seine Argumentation mit dem so genannten „Gemeinschaftsstaat“, der dem Naumannschen Volksstaats- gedanken verpflichtet ist, belegt werden kann. Das Jubiläumsdatum wurde von ihm zum Anlass genommen, um Kontinuität zum Ausdruck zu bringen und durch Rückbindung eine rekursiv ausgerichtete Tradition herzustellen, die den Nationalsozialismus zu einem hiervon losgelösten Einzelereignis erklärt. deutete die Ereignisse von 1848 mit einer Veröffentlichung über die „gescheiterte Revolution“,2156 in der er herausstellte, dass die Generation von 1848 die Ergebnisse des Westfälischen Friedens, die so genannte „Teutsche Libertät“, nicht mehr präsent gehabt habe; sie sei lediglich noch in Geschichtsbüchern zu finden gewesen. „Man las es mit einem leichten Ingrimm“, versetzt er sich in die Situation, „und war dessen sicher, es jetzt durch die deutsche Freiheit ersetzen zu können, Volksfreiheit statt Fürstenlibertät.“2157 Die Umsetzung der „deutsche Freiheit“ ist, folgt man seiner These, zwar zunächst gescheitert, aber mit der 1848 begründeten Grundrechtstradition2158 hat ein wesentliches Erbe2159 überdauert. Zeitlebens sollte sich Heuss mit dem freiheitlichen Vermächtnis von 1848 auseinandersetzen und aus seinen Überlegungen Konsequenzen für das politische Tagesgeschäft ableiten.2160 Mit seiner Beurteilung der Langzeit- wirkungen der 48er- Revolution versuchte er zugleich das Deutungsmuster „deutsche Freiheit“ über den Hinweis auf eine deutsche Grundrechtstradition für die Demo- kratisierung des neu zu konstituierenden Staates fruchtbar zu machen. Der Wert der Freiheit spielte in der innenpolitischen Auseinandersetzung der neu- konstituierten Parteienlandschaft eine wichtige Rolle. Kurt Schumacher zieh in einem Referat auf dem Düsseldorfer SPD-Parteitag im Spätsommer 19482161 die christ-

2155 Vgl. Roth, Erbe, 212-216. Claudia Roth weist darauf hin, dass während Ernst Reuter am 18. März 1948 im Westen vor dem Reichstag den Ruf der Freiheit erklingen ließ, im Ostsektor Berlins der Zweite Volkskongress die nationale Einheit forderte (aaO., 216). Vgl. auch: Schubert, Abschied, 254-256. 2156 Vgl. Heuss, 1848. 2157 Ebd., 17. 2158 Vgl. ebd., 143-159. 2159 Vgl. ebd., 220-247; bes. 243-246. 2160 Vgl. zu Heuss’ Umgang mit 1848 allgemein: Kruip, Versuch, bes. 197-202. Sie unterscheidet vier Hauptstränge: 1. familiärer und regionaler Bezug; 2. historische Darstellung; 3. politische Konsequenzen; 4. ethische Folgerungen (aaO., 191). 2161 Vgl. zum Hergang des Parteitags: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 11. bis 14. September 1948 in Düsseldorf. 306 demokratische Partei, wozu er auf altbekannten Sprachgebrauch zurückgreift, sie sei die stärkste Hypothek der deutschen Innenpolitik im Kampf um die Freiheit.2162 „Die spezielle Abart des Begriffes der persönlichen Freiheit, mit dem sie arbeitet,“ wirft Schumacher der CDU vor, „existiert nicht und ist eine wenig zeitgemäße Lehre von dem isolierten und atomisierten Individuum. Mit der Heiligsprechung auch der robustesten persönlichen Interessen auf Kosten der Allgemeinheit kann man nicht operieren, denn sie geht an den realen Erscheinungen des komplizierten gesellschaftlichen Lebens vorbei. Der Exzess des Individualismus ist das Gegenteil von Freiheit. Die vernunftlose, nicht über den Tag hinausschauende Willkür ist eine Gefahr für die Freiheit.“2163

Mit den Düsseldorfer Leitsätzen belegt der Wirtschaftsausschuss der CDU in der britischen Besatzungszone, dass Schumachers Befürchtungen größtenteils von partei- politischer Polemik und einsetzender Wahlkampfrhetorik getragen sind.2164 Die Wirt- schaft bildete das Stabilitätsfundament, auf dem die Union in der auf sie zukommenden Regierungsverantwortung aufbauen konnte.2165 Auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik vertrat sie keinesfalls eine schrankenlose Freiheit der Marktteilnehmer, vielmehr kristallisierte sich die soziale Marktwirtschaft als präferiertes Zukunftsmodell heraus.2166 Mit der in den Leitsätzen programmatisch dargelegten Wirtschaftsform wird der „sogenannten ‚freien Marktwirtschaft’ liberalistischer Prägung“ zugleich eine Absage erteilt,2167 denn ein „Rückfall in die ‚freie Wirtschaft’“ müsse unbedingt vermieden werden.2168 In der Diskussion um die geeignete Wirtschafsform ist eine merkliche Tendenz vorhanden, an das „akapitalistische“, genossenschaftliche Gedankengut, das eine organische Wesenseinheit zwischen Individuum und Gemeinschaft konstituieren möchte, anzuknüpfen.2169 Diese Richtung vertritt „einen Begriff der Freiheit, die gleich Gebundenheit ist“.2170 Selbst Sozialisierungsmaßnahmen fanden seitens einzelner Unionsvertreter Zuspruch,2171 wie auch die Frage des Verhältnisses von Freiheit und

2162 Vgl. Schumacher, Reden, 588-619. Vgl. zu Schumacher als Parteivorsitzender: Grebing, Kurt Schumacher. Zur konzeptionellen Auseinandersetzung zwischen Schumacher und Adenauer, die im Wahlkampf von 1949 kulminierte: Koch, Konrad Adenauer, 220-227. 2163 Schumacher, aaO., 599. 2164 Vgl. zu Schumachers Haltung gegenüber der Marktwirtschaft: Merseburger, Kurt Schumacher, 383- 410. 2165 Vgl. Sontheimer, Adenauer-Ära, 97-114. 2166 Vgl. Bösch, Macht, 19-21. 2167 Düsseldorfer Leitsätze. Wirtschaftsausschuß der CDU in der britischen Besatzungszone (15.07. 1949), in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 27-29; hier: 27. 2168 Ebd. 2169 Vgl. , Zum Problem der Sozialisierung und zum Genossenschaftsgedanken, in: ders., Personalismus, 20-56; hier: 20 f. Zu dem ersten hessischen Ministerpräsidenten vgl. Mülhausen, Karl Geiler. 2170 Karl Geiler, aaO., 21. 2171 Vgl. zum Verhalten der neugegründeten Parteien, Hermand, Wiederaufbau, 30-36; bes. 35 f. 307 Sozialismus von liberalen Parteigängern diskutiert wurde.2172 Die Frage nach der richtigen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik prägte den Bundestagswahlkampf im Sommer 1949.2173

4.5.4 Berlin während der Blockade – „Symbol der Freiheitsliebe der Menschen“

Berlin entwickelte sich Ende der 40er-Jahre zum Kristallisationspunkt der systemübergreifenden Auseinandersetzung, die in wesentlicher Hinsicht auch um Werte kreiste. Die Stadt wurde vielfach „als Symbol der Freiheit, als Leuchtturm der Hoffnung“2174 wahrgenommen. Für den Sozialdemokraten war Berlin gar „Bollwerk der Freiheit“2175. Der „Vorposten der Freiheit“2176 galt als „lebendige Wirklichkeit des deutschen Willens“ und „Segen der Freiheit“2177. Die Stadt war also im doppelten Sinne des Wortes Topos der Freiheit.2178 „Bald nach dem Krieg“, so der ehemalige Regierende Bürgermeister und spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Antrittsrede vor dem Deutschen , „wurde die Stadt unter notvollem Druck von außen zum Symbol der Freiheitsliebe der Menschen.“2179 Es wurde zur Tradition, dass der erste öffentliche Termin des Bundespräsidenten außerhalb Bonns dem Besuch Berlins galt. So sah Carl Carstens bei seinem Antrittsbesuch in der geteilten Stadt in Berlin „ein Zeichen der Freiheit und des Willens, diese Freiheit und die Grundwerte unserer demokratischen Staatsordnung zu behaupten.“2180 Die im

2172 Vgl. hierzu z.B. Solms, Freiheit. 2173 Vgl. Morsey, Bundesrepublik, 21. 2174 Franz Josef Strauß, Die Rückkehr Deutschlands zu Gleichberechtigung und Freiheit, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 267-301; hier: 273. Vgl. auch Helmut Kohls Rede anlässlich des Jahresessens der Berliner Pressekonferenz am 12. Dezember 1983: Berlin als Symbol der Freiheit, in: Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung (Hg.), Bundeskanzler Helmut Kohl, 297-306. 2175 Herbert Weichmann, Berlin „Bollwerk der Freiheit“ (1978), in: ders., Gesellschaft, 101-104; hier: 101. 2176 So Bundeskanzler im Interview mit der Berliner Morgenpost: Berlin als Brücke zwischen Ost und West, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 24 vom 07.03. 1967, 191 f.; hier: 191. 2177 , Des Segens der Freiheit bewußt bleiben. Berlin ist lebendige Wirklichkeit des deutschen Willens, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 116 vom 26.06. 1954, 1043. 2178 Vgl. zu dem nahezu in Vergessenheit geratenen Zusammenhang von Topik und Politik: Hennis, Politik, 89-115. 2179 Richard von Weizsäcker, Antrittsrede bei der Vereidigung im Deutschen Bundestag (1. Juli 1984), in: ders., Reden, Bd. 1, 15-34; hier: 22. Vgl. auch Philipp Jenninger, Berlin – Symbol der Freiheit (1986), in: ders. Gedanken, 115-120. 2180 Der Bundespräsident in Berlin, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 90 vom 24.07. 1979, 845 f.; hier: 845. 308 Westteil der Stadt ansässigen Zeitungen und Verlagshäuser verstanden sich größtenteils dem Kampf für die Freiheit zugewandt.2181 Während der Blockade des in vier Sektoren aufgeteilten Berlins – der westliche Teil der Stadt verstand sich infolge seiner exponierten Lage als „Insel der Freiheit“2182 – durch die sowjetische Besatzungsmacht, die am 23. Juni 1948 begann und sich fast über ein ganzes Jahr erstreckte, kam es zu Massenmanifestationen im Namen der Freiheit, wie beispielsweise am Tag nach Beginn der Blockade, als sich Ernst Reuter, der Regierende Bürgermeister Berlins, vor über 80.000 Menschen zu der Lage der Stadt äußerte.2183 Reuter, dessen Leben unter dem Vorzeichen der Freiheit stand,2184 wehrte sich dagegen, ein Arrangement mit den Realitäten einzugehen – auch mit der Herrschaft Hitlers, bemüht er historische Parallelen, hätten sich die Deutschen zu vorschnell abgefunden: „Am Ende lag Deutschland in Trümmern. Wir waren nicht nur unsere Freiheit los, wir waren auch für eine Generation zurückgeworfen, zu einem Bettlerdasein verurteilt. Heute geht es im Grunde um genau dasselbe. Auch heute kann Deutschland nur leben, wenn es lernt, für seine Freiheit, für sein Recht und für seine Selbstbehauptung zu kämpfen und nicht sein Erstgeburtsrecht zu verkaufen“2185.

Immer wieder betonte Reuter in Anspielung auf besondere Charaktereigenschaften seiner Stadtbewohner, dass in Berlin ein starkes, mutiges, seines eigenen Wesens bewusstes Volk lebe, das seinen Willen zur Freiheit allem Gerede zum Trotz bekunde und danach strebe, frei zu sein.2186 Am 9. September 1948 versammelten sich anlässlich einer Kundgebung mehr als 300.000 Berliner vor dem Reichstag, um die Völker der Welt auf die Lage der von den Sowjets bis auf den Luftweg abgeriegelten Stadt aufmerksam zu machen.2187 Nachdem die Autobahn Berlin-Helmstedt, die Eisenbahnverbindungen und der Binnenschiffsverkehr blockiert waren, starteten durchschnittlich alle 90 Sekunden

2181 So forderte z.B. Der Abend in einer Annonce auf: „Kämpft für die Freiheit!“ Der Tagesspiegel bezeichnete sich als „Stimme für die Freiheit“. Vgl. hierzu die Werbeseiten in einem Collocquium- Sonderheft aus dem Jahr 1948 (Hess, Kampf). Das später entstandene Verlagshochhaus des Axel- Springer-Verlages ist ein weiteres Zeugnis für das medial vermittelte Eintreten für den Wert der Freiheit. 2182 Buber-Neumann, Freiheit, 272; Herbert Weichmann, Berlin „Bollwerk der Freiheit“ (1978), in: ders., Gesellschaft, 101-104; hier: 103. 2183 Vgl. hierzu: Barclay, Stadt, 239 f. 2184 Vgl. hierzu die biographischen Interpretationen seines Wirkens als „Ein Leben für Freiheit und Sozialismus“ (Reuter, Leben), „Ein Leben für die Freiheit“ bzw. “Ein Leben für Freiheit“ (Brandt/Löwenthal, Ernst Reuter; Harpprecht, Ernst Reuter) und als „Ein Leben für Freiheit und Menschlichkeit“ (Oschilewski/Rohde/Scholz, Ernst Reuter). 2185 Ernst Reuter: Auszüge aus Reden zur Blockade Berlins (24.07. 1948), zit. nach: Mussulin (Hg.), Proklamationen, 158. 2186 Vgl. ebd. 2187 Vgl. Wetzel, Ernst Reuter, 142-144. 309 Transportmaschinen zu insgesamt 277.728 Flügen, um das Überleben der Westberliner Bevölkerung zu sichern.2188 Die Einwohnerschaft Westdeutschlands war dazu aufgefordert „um der Freiheit willen“ mit einer symbolischen Handlung für die Hunger und Not leidenden Menschen in Berlin, die lediglich durch Flugzeuge vor allem des Typs B 29 auf dem Weg einer Luftbrücke versorgt werden konnten, ihre Anteilnahme zu zeigen.2189 Das „Notopfer Berlin“, eine Zwei-Pfennig-Zusatzbriefmarke, stellte die „Solidarität der Freiheit“ unter Beweis.2190 Das Stadtoberhaupt, das in der nur noch im Westteil Berlins stattfindenden Wahl vom 5. Dezember 64 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte,2191 wandte sich nach der Beendigung der Blockade am 12. Mai 1949 erneut an die Bürger und warnte vor allzu großem Überschwang; Reuter wies darauf hin, dass die Freiheit durch großen Einsatz erstritten und erhalten werden müsse. „Aber die Freiheit“, mahnt er seine Bürger, „wird uns nicht geschenkt vom Himmel, die Freiheit wird erobert im hartnäckigen, nicht ablassenden Kampfe von Menschen, die erkannt haben, worauf es ankommt.“2192 Auch in den Folgejahren blieb Berlin eine für die Lage der Freiheit und für den um sie geführten Diskurs symbolhafte Stadt.

4.5.5 Das Grundgesetz und die Konstitutionalisierung einer freiheitlich demokratischen Grundordnung – „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“

Mit dem Grundgesetz entstand im Jahr 1949 die Verfassung eines liberalen, am Ideal des Pluralismus orientierten Staates, das mit seinem unveräußerlichen Grundrechtsteil einen dem einfachen Zugriff qua Mehrheit tagespolitischen Erwägungen enthobenen

2188 Vgl. Als die Berliner ihr Licht auf dem Fahrrad erstrampelten..., in: Die Welt Nr. 144 vom 23.06. 1973, 8; Görtemaker, Geschichte, 40-43. 2189 Vgl. Mende, Freiheit, 85. 2190 Vgl. rückblickend zum Notopfer Berlin aus Anlass der Verlängerung im Jahr 1955: Die Abgabe „Notopfer Berlin“ ab 1955, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 245 vom 30.12. 1954, 2267 f. 2191 Vgl. Wetzel, Ernst Reuter, 144. 2192 Ernst Reuter: Auszüge aus Reden zur Blockade Berlins (12.05. 1949), zit. nach: Mussulin (Hg.), Proklamationen, 158. Ähnlich ermahnt Reuter die Zuhörer am 23. Juni 1953 bei einer Trauerfeier für die zehn Tage zuvor „in dem großen Freiheitskampf unseres Volkes“ umgekommenen, für die Freiheit zu kämpfen: „Nicht als Geschenk des Himmels wird diese Gabe der Freiheit zu uns kommen, sondern unter unendlichen Mühen, Opfern und Nöten.“ (Reuter, Rede, 24; 25). 310 Wertekanon zur Verfügung stellt.2193 Mit der Aufnahme der Beratungen war die Entscheidung für die Freiheit in ihrer pluralistischen Ausprägung gefallen.2194 Bereits im Frühjahr 1948 hatten sich die Westmächte auf der Londoner Konferenz darauf verständigt, in den von ihnen besetzt gehaltenen Gebieten eine gemeinsame Regierung einzurichten. Drei Wegmarken sind in diesem Prozess hervorzuheben:2195 Zunächst mussten sich die Alliierten untereinander verständigen, bevor in einem zweiten Schritt Vertreter der Länderregierung und der Besatzungsmächte unter- und miteinander in Verhandlung traten. Institutionalisiert wurden die Resultate der Konsultationen letztlich in den konkreten Grundgesetzberatungen auf Schloss Herrenchiemsee und im Parla- mentarischen Rat. Mit der Debatte um die Fortexistenz des Deutschen Reiches und der Frage danach, wie der zu bildende westdeutsche Teilstaat als Grundlage einer späteren deutschen Einheit ausgestaltet werden könne, wurde auf Herrenchiemsee eine intensive Auseinandersetzung geführt.2196 Der Parlamentarische Rat setzte sich infolgedessen mit der Erarbeitung einer Verfassungspräambel zum Ziel, diese solle in ihrem Schlusssatz zum Ausdruck bringen, dass das deutsche Volk dazu aufgefordert bleibt, die bestehende nationale Einheit und die zu schaffende Freiheit neu zu begründen.2197 Ein die Verhandlungen – auch aufgrund der gemeinsamen Diktaturerfahrung – prägender Konsens herrschte in der Anschauung, dass vorstaatliche, individuelle Freiheitsrechte in dem zu erarbeitenden Verfassungsdokument verankert werden sollten.2198 In der Präambel des Grundgesetzes, um dessen Prägekraft für das künftige plurale Freiheitsverständnis der Bundesrepublik anzusprechen, wird der Freiheitsbegriff in seiner nationalen, überindividuellen Komponente betont, wohingegen die Grundrechte selbst vorrangig den individuellen Freiheitsrechten Platz einräumen.2199 Die Judikatur des 1951 durch gesetzlichen Erlass als Schutzinstanz für das Grundgesetz eingerichteten Verfassungsgerichtes lässt ein bimodales Freiheitsverständnis erkennen,2200 da sich die „Hüter der Verfassung“ in ihren Urteilen nicht auf eine bloß negative oder positive

2193 Görtemaker, Geschichte, 44-75. Vgl. für den Text: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1949), in: Blanke (Hg.), Verfassungen, 277-336. 2194 Vgl. für diese These: Lange, Grundgesetz, bes. 108. 2195 Vgl. Niclauß, Weg, 110-136; bes. 110 f. Vgl. für die Stationen zum Grundgesetz auch: Birke, Bundesrepublik, 11-16. 2196 Vgl. Mende, Freiheit, 83 f. 2197 Vgl. zur Zielsetzung des Parlamentarischen Rates: Werner, Einleitung, XXIX f. 2198 Vgl. Otto, Staatsverständnis, 69-75. 2199 Vgl. für die verschiedenen Entwurfsstadien und den endgültigen Text des Grundgesetzes: Der Parlamentarische Rat, Bd. 7. Vgl. zu den Freiheitsrechten: Weber-Fas, Verfassung, 235-243. 2200 Vgl. zu der Interpretation seitens des BVerfG: Grabitz, Freiheit, 209-256; hier: 235. 311 Belegung des Freiheitsbegriffes eingelassen, sondern Freiheit als „offenes Prinzip“ interpretiert haben.2201 Der Sozialdemokrat Georg August Zinn erinnerte im Parlamentarischen Rat an die großen Vorbilder des Grundgesetzes, die er in der Erklärung der Menschenrechte sowie der Bill of Rights von Virginia sah und als gelungene Vermengung positiver und negativer Freiheitstraditionen beurteilte.2202 Beabsichtigt seien „gar nicht Grundrechte im weiten Sinne, sondern eng umrissene Menschenrechte, die ursprünglich aus dem Versuch des Individuums entstanden sind, sich gegen die Übergriffe der staatlichen Allmacht zu wehren. Diese Menschenrechte waren nur einseitig eine Reaktion auf die staatliche Willkür. Dann entwickelte sich die Erkenntnis, daß der Mensch nicht nur ein Individuum, sondern ein Gemeinschafts- wesen ist.“2203

Auch Theodor Heuss, der Gründungsvorsitzende der FDP, vertritt im Zusammenhang mit der Diskussion um Artikel 2 des Grundgesetzes einen gemäßigt positiven Staats- und Freiheitsbegriff,2204 der davon ausgeht, dass die staatliche Ordnung in wesentlichem Maß zum Schutz der menschlichen Freiheit einzusetzen ist.2205 „Der Staat ist nicht bloß böse,“ erklärt Heuss in Ablehnung einer rein negativen Begriffsperzeption, „sondern er ist der Domestizierer des Menschen, der Befrieder.“2206 Ein weiteres Ratsmitglied spricht auf dem Erfahrungshintergrund des Umganges der Nationalsozialisten mit der Freiheit der Persönlichkeit davon, die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ sei „das Gegenstück zum Roboter-System im totalitären Staat, wo es keine Persönlichkeit mehr gibt, sondern nur noch Werkzeuge der Staatsmaschine“.2207 Selbst die Auseinandersetzung um die Bundesflagge stand – auch infolge ihrer historischen Herkunft aus der Studentenbewegung – in enger Verbindung zur Freiheitsthematik. Sie sollte ausdrücklich nicht mit den Farben von Weimar, sondern mit „den Farben der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung“ versehen sein.2208 Theodor Heuss wies aufgrund der verschärften Konkurrenzsituation mit der Ostzone in markigen Worten

2201 Vgl. ebd., 243. 2202 Vgl. zu Zinn: Wunder, Georg August Zinn. 2203 Georg August Zinn auf der 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 23. September 1948, zit. nach: Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I, 69. 2204 Vgl. zum Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates insgesamt: Otto, Staatsverständnis. 2205 Vgl. zur Rolle von Heuss bei der Wiederbegründung der Demokratie: Bracher, Theodor Heuss. 2206 Theodor Heuss auf der 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 23. September 1948, zit. nach: Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I, 71. 2207 So in der 23. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, zit. nach: Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/II, 607. 2208 So der Fraktionsvorsitzende der SPD, Carlo Schmidt, in der 11. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, zit. nach: Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I, 300. Vgl. zum Flaggenwechsel und Flaggenstreit: Reichel, Schwarz, 15-31. 312 darauf hin, dass die Bundesrepublik „trotz der ganzen Sauerei im Osten die gleiche Flagge haben“ müsse.2209 Carlo Schmid2210 kam in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat auf die nationalen Aspekte der „deutschen Freiheit“ zu sprechen, indem er das Deutungsmuster – ähnlich zu Meinecke und Heuss unter Auslassung der nationalsozialistischen Herrschaft – reaktiviert: „Das Gefüge der Deutschen Republik, die Demokratie also,“ erklärt der SPD-Vertreter, „ist vor jeder Besetzung schon durch die national- sozialistische Zwingherrschaft zerstört worden, deren erstes Opfer – vor vielen anderen Opfern, die noch kamen – die Freiheit der Deutschen war.“2211 Die negativen Er- fahrungen der Deutschen mit der durch den Nationalsozialismus pervertierten Freiheitsidee wirkten sich prägend auf die Ausgestaltung der neuen freiheitlich demo- kratischen Grundordnung aus, in der Freiheit und Einheit in ihrer Verwobenheit zum Postulat des Grundgesetzes erhoben wurden, wie dies insbesondere die Präambel zeigt.2212 Gustav W. Heinemann erinnerte bei der Eröffnung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte rückblickend daran, dass die Verfassungsväter des Parlamentarischen Rates geschichtlichen Sinn bewiesen hätten, indem sie reichhaltig sowohl aus der Tradition der Weimarer Verfassung von 19192213 wie auch aus der Paulskirchenverfassung von 1849 schöpften,2214 um den Traum von einer freiheitlich demokratischen und rechtstaatlichen Sozialordnung zu verwirk- lichen.2215 Ein detaillierter Blick auf das Grundgesetz verdeutlicht, dass Freiheit in ihm ein exponiertes Verfassungsprinzip ist, das eine facettenreiche Ausgestaltung erhalten hat;2216 zugleich ist Freiheit keine Besonderheit des Verfassungsrechts, sondern einer

2209 So Theodor Heuss in der 11. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, zit. nach: Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I, 302. Vgl. zu Heuss’ Haltung in der Flaggenfrage: Scholz/Süskind, Bundespräsidenten, 111 f. 2210 Vgl. zur Biographie: Weber, Carlo Schmid. 2211 Carlo Schmid, Was der Parlamentarische Rat schafft, ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 151-158; hier: 154. 2212 Vgl. Münch, Freiheit. 2213 Vgl. zur Entwicklung von der Weimarer Reichsverfassung zum Bonner Grundgesetz: Fromme, Reichsverfassung. 2214 Vgl. zur Vorstellung, das Grundgesetz sei die Verwirklichung der Ideen von 1848: Lutum-Lenger, Leben, 92 f. 2215 Vgl. Die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, in: Heinemann, Reden, 40. Vgl. auch Kraume, Grundrechte, 208. 2216 Vgl. Grabitz, Freiheit, 235-256; hier: 235. Bundestagsvizepräsident Richard Stüklen eröffnete die Bundesversammlung zum 30. Jubiläum der Verfassunggebung mit einer Rede, in der er bemerkte: „Niemand vermag zu bestreiten, daß unsere Verfassung nicht nur vom Anspruch her, sondern in ihrer lebendigen Wirklichkeit eine Verfassung der Freiheit ist, eine Verfassung der Freiheit, die keinen Vergleich mit den freiheitlichsten Verfassungsordnungen der Geschichte und der Gegenwart, welche man auch immer nehmen will, zu scheuen braucht.“ (Richard Stücklen, 7. Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland, in: Carstens, Zusammenleben, 17-20; hier: 17 f.). 313 der Zentralbegriffe, wenn nicht gar der Zentralbegriff des Rechts überhaupt.2217 Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes verbürgt die Freiheit des Individuums mit dem Satz: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“2218 Dieses Grundrecht, das die allgemeine Handlungsfreiheit im Rahmen der Gesetze konstituiert,2219 ist durch Artikel 19 Absatz 2 in seinem Wesensgehalt geschützt und somit unveräußerlich. Ein wichtiges Schutzrecht bei Gefährdung oder Verletzung der Willensfreiheit – im Gegensatz zur in Artikel 2 Absatz 1 gewährleisteten Handlungsfreiheit – ist Artikel 1 Absatz 1, der die Unantastbarkeit der Würde des Menschen gewährleistet.2220 Artikel 2 Absatz 2 schützt die physische Freiheit, „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“,2221 und bekundet: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“2222 Einen herausgehobenen Bestandteil des Grundrechtskatalogs macht die Glaubens- und Gewissensfreiheit aus, die in Artikel 42223 fixiert ist, und die Bekenntnis-2224, Kultus-2225 und religiöse Vereinigungsfreiheit2226 umfasst.2227 Außerdem ist durch die

2217 Vgl. Leisner, Freiheit, 103. Leisner weist darauf hin, dass der Zentralbegriff Freiheit nicht zugleich notwendigerweise identisch mit dem obersten Rechtsprinzip sein müsse. Das deutsche Verfassungsrecht kenne jedoch keine „Institution Freiheit“, sondern nur kumulative Freiheitsrechte (aaO., 110). 2218 Art. 2. Abs. 1 GG. 2219 Vgl. BVerfG 6, 37. 2220 Vgl. Löw, Menschenwürde, 46. 2221 Art. 2. Abs. 2 Satz 1 GG. 2222 Art. 2. Abs. 2 Satz 2 f. GG. 2223 „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Ausübung wird gewährleistet.“ (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Art. 140 des GG verweist fernerhin auf Art. 136 der Weimarer Reichsverfassung, der noch heute gilt und bestimmt: „Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur insoweit das Recht nach der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert.“ (Art. 136 Abs. 3 WRV). 2224 Im Zusammenhang mit der Bekenntnisfreiheit sind einige Regelungen explizit im GG genannt, da sie sich nicht direkt aus Art. 4 ableiten lassen. Dies ist das Recht, die weltanschauliche Überzeugung ungehindert zu verbreiten (Art. 5 Abs. 1 GG), das Recht der Eltern, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen (Art. 6 Abs. 2 sowie Art. 7 Abs. 2 GG) und die Regelung, dass kein Lehrer gegen seinen Willen dazu verpflichtet werden darf, Religionsunterricht zu erteilen, was von Art. 7 Abs. 3 Satz 3 ausgeführt wird. 2225 Vgl. hierzu Art. 4 Abs. 2 GG: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“, der von Art. 136 Abs. 4 WRV präzisiert wird: „Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden.“ (Art. 136 Abs. 4 WRV). 2226 Hierzu bestimmt ebenfalls die Weimarer Reichsverfassung in Art. 137 Abs. 2 f. eingehender: „Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluß von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebietes unterliegt keinen Beschränkungen. Jede Religions- gesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“ 2227 Vgl. Löw, Menschenwürde, 50-53. 314 Berufung auf die Gewissensfreiheit mit Artikel 4 Absatz 32228 das Recht auf Wehrdienstverweigerung statuiert. Die freie Meinungsäußerung und die Informations- freiheit wird von Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 gewährleistet, der jedem das Recht einräumt, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“2229 Besondere Erwähnung erfährt die – von den Nationalsozialisten mit Füßen getretene – Pressefrei- heit mit Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, wodurch der Presse eine institutionelle Eigenständigkeit zugesprochen wird und deren besondere Bedeutung für die Meinungs- bildung innerhalb der Demokratie hervorgehoben ist. Artikel 8 GG verleiht das Recht, eine Versammlung zu veranstalten, eine Versammlung zu leiten und das Recht, an einer Versammlung teilzunehmen.2230 Im weiteren Zusammenhang mit diesem Recht steht Artikel 9 GG, der in Absatz 1 bestimmt: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu gründen.“2231 Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnis sind durch Artikel 10 der bundesrepublikanischen Verfassung verbürgt. Die Frage nach Einzel- oder Gemeinschaftseigentum bewegte die Gemüter in der Gründungsphase der Republik heftig:2232 Eine wesentliche Grundlage der Freiheit ist das Recht auf Eigentum,2233 das Artikel 14 der Verfassung gewährt. Weitere Freiheiten sind der Schutz von Ehe und Familie durch Artikel 6 GG, die Freizügigkeit,2234 die es allen Deutschen gestattet, sich frei im Bundesgebiet zu bewegen, sowie die Freiheit der Berufswahl und -ausübung, die in Artikel 12 des Grundgesetzes gesichert ist. Auch Artikel 13, der mit einzeln aufgelisteten Fällen, die das Recht verwirken, die Unver- letzlichkeit der Wohnung gewährleistet, ist ein bedeutendes Freiheitsrecht, das zur Ausgestaltung der freiheitlich demokratischen Grundordnung beiträgt. Die Bestim- mungen des Grundgesetztes, wie sie insbesondere Artikel 20 und 21 bieten, haben einen

2228 „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ (Art. 4 Abs. 3 GG). 2229 Art. 5 Abs. 1 GG. 2230 Vgl. Löw, Menschenwürde, 58. 2231 Art. 9 Abs. 1 GG. Beschränkungen dieser Regelung werden durch Abs. 2 expliziert, denn „Vereinigungen, deren Zweck oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“ (Art. 9 Abs. 2 GG). 2232 Vgl. z.B. die wirtschaftswissenschaftliche Abwägung beider Prinzipien von Woldemar Koch (ders., Kommunismus). 2233 Vgl. Leisner, Eigentum, bes. 8-10; Zeltner, Eigentum, 64. Art. 14 und 15 GG verbürgen das Recht auf Eigentum, dem durch Art. 14 Abs. 2 f. eine soziale Verpflichtung beigegeben wird. Zudem stellt Art. 15 eine Ermächtigung an den Gesetzgeber dar, Sozialisierungen vorzunehmen: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemein- wirtschaft überführt werden.“ (Art. 15 GG). 2234 Vgl. Art. 11 Abs. 1 und 2. Letzterer Absatz bestimmt die Voraussetzungen, die Einschränkungen ermöglichen. 315 bewahrenden Freiheitsbegriff als Hintergrund, weil sie auf die historische Erfahrung des Nationalsozialismus reflektieren und eine sittliche Herrschaftsfunktion des Staates formulieren.2235 Das Bundesverfassungsgericht hat die durch das Grundgesetz gegebene Grundordnung in seiner Judikatur als eine Ordnung bestimmt, „die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.“2236 Die Verfassunggebung knüpfte in ent- scheidender Weise an die naturrechtliche Grundlage der Menschen- und Bürgerrechte an, indem auf deren naturrechtlichen, vorstaatlichen Charakter verwiesen wurde.2237 Sie ist gekennzeichnet durch „die Achtung vor den im GG konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungs- mäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“2238

Die Vielgestaltigkeit des Freiheitsbegriffs, der lediglich durch einen grundrechtlich verbürgten Minimalkodex fixiert ist, bildet die konstitutive Grundlage der pluralen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik.2239 Auch wurde – abgesehen von dieser nach innen gerichteten gesellschaftskonstitutiven Wirkung – Freiheit mit der einsetzenden Westorientierung der Bundesrepublik zur zentralen Kategorie im systemkomparativen und -kompetetiven gesellschafts- und geschichtspolitischen Diskurs.2240

4.5.6 Die Konsolidierung des Parteiensystems und der Einsatz des Deutungsmusters in der antikommunistischen Argumentation – „daß die Worte Demokratie und Freiheit nicht bloß Worte, sondern lebensgestaltende Werte sind“

Die Schatten der Vergangenheit wirkten sich auf die programmatischen Äußerungen der Parteien – und deren Verortung innerhalb des Rahmens eines positiven beziehungs- weise negativen Freiheitskonzeptes – in der Gründungsphase der Bundesrepublik

2235 Vgl. Noack, Freiheitsbegriffe, 95. 2236 BVerfG 2, 12. 2237 Vgl. Maier, Zukunft, 273 f.; Maier/Oberreuter, Herkunft, 169. 2238 BVerfG 2, 12. 2239 Vgl. Sontheimer, Idee, 8. 2240 Vgl. Wolfrum, Geschichte, 85. 316 aus.2241 So wendet sich ein Manifest der Freien Demokratischen Partei aus dem Jahr 1949 aufgrund der historischen Erfahrung gegen jegliche neuaufblühenden diktatorischen und totalitären Kollektivbestrebungen: „Die FDP bekämpft die dem Materialismus entsprungenen Irrlehren des Klassen- und Rassenkampfes, die nicht den einzelnen als Persönlichkeit werten, sondern ihn als Kollektivwesen nach äußeren Merkmalen und Gruppenzugehörigkeiten beurteilen und verurteilen.“2242 Ausgehend von der britischen Besatzungszone verfolgte die FDP eine antisozialistische Gesellschaftspolitik.2243 Mit Konrad Adenauer, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Köln und Mitbe- gründer der CDU, und Theodor Heuss, der Wesentliches zur Gründung einer liberalen Sammlungsbewegung beitrug, sind zwei prägende Repräsentanten der Gründungsära der Bundesrepublik benannt.2244 Der frisch gewählte Bundespräsident Theodor Heuss, „ein gebildeter Liberaler und zurückhaltender homme de lettres“,2245 dankte nach seiner Wahl am 12. September 1949 der Bundesversammlung2246 in einer kurzen Rede für das ihm entgegengebrachte Vertrauen.2247 Das Geläut der Glocken aller Bonner Kirchen kündete den Stadtbewohnern, dass die Wahl des Bundespräsidenten zum Abschluss gekommen war.2248 Heuss erinnerte in der Ansprache an seine familiengeschichtliche Anbindung an die deutsche Freiheitsbewegung, aus der er für sein Amt die Überzeugung entnahm, „daß die Worte Demokratie und Freiheit nicht bloß Worte, sondern lebensgestaltende Werte sind“.2249 Hierin liegt ebenfalls der Kern seines von Jugendjahren an gewachsenen liberalen Demokratieverständnisses.2250 Seine Amtszeit nutzte der universal ausgerichtete Liberale2251 dazu, um die aus seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewonnene Überzeugung zu

2241 Vgl. z.B. für die FDP: Mommsen, Freiheit, 39. 2242 Die Freie Demokratische Partei. Aus dem Manifest vom Juni 1949, zit. nach: Freund (Hg.), Liberalismus, 271-276; hier: 272. 2243 Rütten, Liberalismus, 69-71. 2244 Vgl. Sontheimer, Adenauer-Ära, 13 f. 2245 Sebastian Haffner, Theodor Heuss (18.09. 1949), in: ders., Schreiben, 216-220; hier: 216. 2246 Vgl. zur Institution der Bundesversammlung: Kessel, Einführung. Zu ihrer konkreten Gestalt: 1. Bundesversammlung (12. September 1949), in: Deutscher Bundestag (Hg.), Bundesversammlungen, 80- 99. 2247 Vgl. Im Bundeshaus (1949), in: Heuss, Reden, 105-110. 2248 Vgl. Franken (Hg.), Repräsentanten, 25; Winter, Bundespräsidenten, 25 f. 2249 Im Bundeshaus (1949), in: Heuss, Reden, 105. Auch in seiner Ansprache auf dem Bonner Markplatz bildet der Rückbezug auf 1848 einen wesentlichen Legitimationsgrund für sein Eintreten für Einheit und Freiheit. (Auf dem Marktplatz zu Bonn, in: Heuss, Reden, 110-112; hier: 110 f.). Zugleich war sich Heuss zeitlebens der Tatsache bewusst, dass die „Geschichte der deutschen Freiheitskämpfe [...] eine Geschichte der Niederlagen gewesen“ ist. (Die deutsche Nationalidee im Wandel der Geschichte [1946], in: Heuss, Reden, 57-80; hier: 66). 2250 Vgl. Hamm-Brücher, Symbolfiguren, 421. 2251 Vgl. Glaser, Kultur, 241. 317 multiplizieren, dass die individuelle Existenz und Leistung des Menschen das konstitu- tive Movens der Geschichte ist.2252 Heuss vermochte hierbei seine Bildung als symboli- sches Kapital einzusetzen2253 und dadurch prägend auf die politische Kultur der Bundesrepublik einzuwirken,2254 insoweit er mit seiner Amtsführung die Grundlagen für das präsidiale Selbstverständnis seiner Nachfolger legte.2255 Konrad Adenauer, der zweite maßgebliche Protagonist der jungen Republik, konnte die Wahl zum ersten Bundestag mit 31 Prozent knapp für die Unionsparteien ent- scheiden.2256 Durch die starke Personalisierung seines außenpolitisch geprägten Regierungshandelns legte er den Grundstein für eine kanzlerdemokratische Regierungsweise.2257 In seiner Regierungserklärung,2258 die er am 20. September 1949 abgab, befand er, dass obgleich Deutschland in zwei Teile zerrissen und das deutsche Volk noch nicht frei sei, es sich „doch einer wenigstens relativen staatlichen Freiheit“ erfreue.2259 Der einzige Weg zur Freiheit könne ein stufenweiser sein, weshalb Adenauer im Einvernehmen mit der Alliierten Kommission gedachte, die Freiheiten und Zuständigkeiten der Deutschen Stück für Stück zu erweitern.2260 Die Freie Demokratische Partei, Adenauers Koalitionspartner und Heuss’ politische Heimat, bekannte sich 1950 zu einem „geläuterten Liberalismus“ und verwahrte sich gleichzeitig „gegen jeden Versuch, diesen mit gewissen ‚liberalistischen’ Fehlent- wicklungen zu belasten“.2261 Als verwerflich – womit auf das semantische Potenzial des Freiheitsbegriffs und auf dessen komplementäre Interpretation verwiesen wird – müsse erachtet werden, „in oberflächlicher Ausdeutung des Begriffes ‚Freiheit’ zu behaupten, der ‚freie Demokrat’ kenne keine Bindungen.“2262 Die Leitsätze liberaler Politik legen darum dar, dass schrankenloser Individualismus unsittlich sei. „Es gibt,“ wie die Gegenthese hierzu formuliert ist, „keine sittliche Freiheit ohne freiwillige Bindung. Die freie Persönlichkeit und die sittliche Gemeinschaft be- dingen einander. Das Individuum wird erst zur freien Persönlichkeit durch seine

2252 Vgl. Rensing, Geschichte, 28-30 2253 Vgl. Hertfelder, Kapital. 2254 Vgl. Rudolf, Stück, 11-14. 2255 Vgl. Wengst, Prägung. 2256 Vgl. Schwarz, Aufstieg, 614-616. 2257 Vgl. Niclauß, Kanzlerdemokratie, 58-65. Zu den damit grundgelegten Konturen der Kanzler- demokratie: ebd., 67-100. 2258 Vgl. zur Analyse der Regierungserklärungen von Adenauer: Meier, Konrad Adenauer. Zum zeitgeschichtlichen Quellenwert von Regierungserklärungen: Korte, Regierungserklärung, bes. 17. Zur „Rede des Kanzlers“ insgesamt: Stüwe, Rede. 2259 Konrad Adenauer, Regierungserklärung vom 20.09. 1949, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungserklärungen, 35-47; hier: 35. 2260 Vgl. ebd., 46. 2261 Leitsätze zur Kulturpolitik. Beschlossen auf dem Bundesparteitag in Düsseldorf am 29. und 30. April 1950, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 295-307; hier: 297. 2262 Ebd., 298. 318 freiwillige Bindung an objektive Werte, die in den Grundsätzen und Forderungen, Leitbildern und Idealen von Gemeinschaften wirksam werden. Maßstab für die Freiheit der Persönlichkeit ist ihre Bewährung in den sittlichen Gemeinschaften, insbesondere der Ehe und der Familie, des Volkes und der Völkerfamilie.“2263

Der deutsche Liberalismus knüpft mit diesen Aussagen an die Tradition an, die Wertge- bundenheit und Gemeinschaftszentrierung als notwendige Voraussetzung des Zusammenlebens anerkennt, was erklärlich macht, dass viele der in diesem Zusammen- hang genannten Argumente und Semantisierungen aus der Weimarer Zeit stammen: Der „‚Entseelung des Daseins’ zugunsten einer nur äußerlichen Zivilisation“ möchte die FDP noch zu Beginn der 50er-Jahre entgegenwirken, indem sie mit ihrem „geläuterten Liberalismus“ den „einseitigen Intellektualismus“ bekämpft.2264 In einem auf Ganzheit ausgerichteten Ansatz findet Berücksichtigung, dass „zum Wesen des Menschen neben den Fähigkeiten des Verstandes auch die Kräfte der Seele (Gefühl, Gemüt) gehören und diesen daher auch der ihnen gebührende Einfluß auf die geistig-sittliche Entwicklung zu sichern ist.“2265 Nicht nur im parteipolitischen Spektrum, wie das Vorangegangene eindrücklich belegt, war die Beschäftigung mit der Freiheitsproblematik infolge der sich ver- schärfenden Antagonismen zwischen östlichem und westlichem Einflussbereich akut geworden, auch Künstler und Intellektuelle warben tatkräftig für das Ideal der Freiheit. Im Juni 1950 trat in Berlin erstmals der Internationale Kongress für Kulturelle Freiheit zusammen, um, wie die Eigenwahrnehmung es wollte, angesichts der gespannten welt- politischen Situation kurz nach der Berliner Luftbrücke eine Manifestation der Freiheit abzuhalten.2266 Den Teilnehmern war es ein Anliegen, „Kampfbereitschaft zu demonstrieren und die Menschen wissen zu lassen, welches hohe Gut die Freiheit ist.“2267 Circa 120 Vertretern des Geisteslebens besuchten Ende Juni 1950 die Tagung, die „als Demonstration westlicher Solidarität mit dem Vorposten Berlin“ galt.2268 An der Grenze zwischen den Systemen sollte gegen die „Unterdrückung der Freiheit des Geistes“ mobil gemacht werden,2269 so dass am Ende des Kongresses ein aufgrund des Einmarsches nordkoreanischer Truppen in den südlichen Landesteil umso aktueller gewordenes Manifest über die intellektuelle Freiheit verabschiedet wurde,2270 das der

2263 Ebd. 2264 Ebd. 2265 Ebd. 2266 Vgl. Görtemaker, Geschichte, 255-260. 2267 Buber-Neumann, Freiheit, 272. 2268 Koestler, Gut und Böse, 238. 2269 Schmid, Erinnerungen, 59. 2270 Vgl. Lahrem, Freunde, 61-64. 319 Schriftsteller Arthur Koestler ausgearbeitet hatte. Im Anschluss an die Verlesung des Manifests rief der Autor des kommunismuskritischen Romans Sonnenfinsternis2271 den etwa 15.000 Anwesenden emphatisch zu: „Freunde, die Freiheit hat die Offensive ergriffen!“2272 Infolge dieses Impulses fanden sich in zahlreichen Ländern „Freunde der Freiheit“ zusammen, die das auf dem Kongress verabschiedete Manifest unterzeichneten und in ihren Heimatländern bekannt machten.2273 Über die propa- gandistische Verwendung des Freiheitsbegriffs, dessen inhaltliche Füllung wenig konkret blieb, wurde trotz der angesammelten Schar hochreputierter Kulturschaffender nicht diskutiert, was im Gegenzug die These stützt, das sich der Systemantagonismus unmittelbar auf die Freiheitsperzeption auswirkte. Im Kulturbetrieb löste die Wiederwahl des DDR-Nationalschriftstellers Johannes R. Becher im Jahr 1950 zum gleichberechtigten Präsident des P.E.N.-Zentrums heftige Polemiken aus. Bechers nachfolgender Ausschluss – erneut ein Hinweis auf den instrumentellen Charakter des Diskurses – fand im Namen der Freiheit statt. Zahlreiche Autoren mahnten eindeutige Entscheidungen an.2274 Theodor Plivier zum Beispiel erinnerte in seiner durch die Vorfälle um Becher veranlassten Austrittsrede unter Berufung auf den Schutz der Freiheit des Denkens und Handelns daran, dass Becher die Teilnehmer des Kongresses für kulturelle Freiheit, zu dem auch zahlreiche P.E.N.- Mitglieder angereist waren, als „Spitzel, Kriegsverbrecher, Handlanger der Kriegs- hetzer, Bande internationaler Hochstapler, literarisch getarnte Gangster, antibolschewis- tisches Gesindel“ verleumdet hatte und forderte seinen Ausschluss aus der Dichter- vereinigung.2275 Am Beginn der 50er-Jahre kam es auch andernorts zum Einsatz des Freiheitsbegriffs im antikommunistischen Kampf. So wurde beispielsweise im Jahr 1950 der personelle Kontinuitätslinien in die nationalsozialistische Zeit aufweisende Volksbund für Frieden und Freiheit gegründet.2276 Die weiterhin schwierige Situation Berlins und die fort- schreitende Blockbildung waren Auslöser für eine Vielzahl antikommunistischer Aktionsbündnisse, Werbefeldzüge und Propagandaschriften.

2271 Vgl. Koestler, Sonnenfinsternis. 2272 Ebd., 64. 2273 Vgl. z.B. Kongreß für Kulturelle Freiheit (Hg.), Zeichen, 3. 2274 Vgl. den Titel der vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen herausgegebenen Broschüre: Die Freiheit fordert klare Entscheidungen (Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen [Hg.], Freiheit). 2275 Theodor Plivier, „Ich trete aus dem PEN-Zentrum aus“, in: Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Freiheit, 19-21; hier: 20. 2276 Vgl. zum Volksbund für Frieden und Freiheit (VFF): Friedel, Volksbund. Er weist auf den Hauptinitiator Eberhard Taubert hin, der bereits im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gegen Kommunisten vorging (aaO., 15-41). 320 Im September 1950 etwa erschien erstmals Das Extra Blatt, eine, wie es in der Eigenbezeichnung heißt, „sensationelle Schriftenfolge“ für den Preis von 20 Pfennigen als Probeexemplar.2277 Mit der vierten Ausgabe, die Anfang November zu kaufen war, kam das in Stuttgart verlegte Blatt, das offen revanchistische und rechtsextremistische Inhalte enthielt, unter dem Titel Deutsche Freiheit. Unabhängige Zeitung für deutsche Zukunft heraus.2278 Bereits mit der vierten Probeausgabe unter geändertem Namen musste das Erscheinen wieder eingestellt werden. Hatte das Extra Blatt bereits in anti- bolschewistischer Stoßrichtung über Themen wie „Hitler war Stalins Marionette“, „Bormann, der Judas des Dritten Reiches“,2279 „Das Geheimnis der russischen Spionage“,2280 „Werwölfe der Wirtschaft“2281 oder „Wir nehmen einmal an: Die Russen kommen...!“2282 berichtet, so fuhr die lediglich im Namen geänderte Zeitung in gleichem Fahrwasser fort. Die Leser wurden dazu aufgefordert, an den Alexander- Bergenreuth-Verlag in Stuttgart zu melden, „wo kommunistische Terrorgruppen gegen Verkäufer des Extra-Blatt vorgehen“, um für die „Freiheit der deutschen Presse“ eintreten zu können.2283 Ziel der Deutschen Freiheit war es, „das deutsche Volk und die Welt über die Gefahren des Bolschewismus aufzuklären und dem deutschen Volk wieder den Glauben an seine Freiheit und damit an seine Lebenskraft zurück- zugeben.“2284 Neben der antibolschewistischen Ausrichtung wollte das Organ einer Selbstbeschreibung zufolge „wachsam und energisch die Interessen des deutschen Volkes und seiner Zukunft vertreten und in offener Aussprache auch mit den Besatzungsmächten die Lage klären“2285. „Deutsche Freiheit“ wurde, wie das konkrete Beispiel der genannten Zeitschrift nahe legt, in den 50er-Jahren als antithetisches Deutungsmuster gegenüber der sowjetischen Einflusszone positioniert und galt zusätzlich als Legitimierungsgrundlage einzelner im rechten Spektrum anzusiedelnder Aktionsbündnisse, die sich ebenso von den westlichen Besatzungsmächten absetzen wollten, indem sie an den Sprachgebrauch des Nationalsozialismus anknüpften. Konkreten Anlass zur Auseinandersetzung mit den Vorgängen in der unter kommunistischem Einfluss stehenden DDR boten die dort abgehaltenen pseudo-

2277 Das Extra Blatt Nr. 1, September 1950. 2278 Vgl. Deutsche Freiheit. Unabhängige Zeitung Nr. 4, Erste November-Ausgabe 1950. 2279 Beide Titel in der ersten Nummer des Extra-Blatts, das in zwei verschiedenen Auflagen, die sich durch die genannten Titel unterschieden, erschien. Vgl. Extra Blatt Nr. 1, September 1950, 1-3. 2280 Extra Blatt Nr. 3, Zweite Oktober-Ausgabe 1950, 1-3. 2281 Extra Blatt Nr. 2, Erste Oktober-Ausgabe 1950, 1 f. 2282 Extra Blatt Nr. 1, September 1950, 4. 2283 Extra Blatt Nr. 3, Zweite Oktober-Ausgabe 1950, 4. 2284 Deutsche Freiheit. Unabhängige Zeitung Nr. 4, Erste November-Ausgabe 1950, 1. 2285 Ebd. 321 demokratischen Abstimmungen. Die Wahlen, die am 15. Oktober 1950 in der DDR vorgenommen wurden, forderten in allen politischen Lagern im Westen Deutschlands heftige Kritik heraus. verlas daraufhin als Vorsitzender des Gesamt- deutschen Ausschusses2286 im Namen der Fraktionen des Bundestages einen Appell an die Demokratien, der die Unterdrückungen der Freiheit in der DDR und den „Wahl- betrug vom 15. Okt. 1950“ anprangerte, um „den Glauben des deutschen Volkes an die Geltung von Recht und Freiheit in der Welt zu stärken.“2287 Zu den rhetorischen Äußerungen im Kampf um die Freiheit traten zuweilen symbolhafte Manifestationen des Freiheitswillens hinzu. So auch am 24. Oktober, dem Tag der Vereinten Nationen und dem Tag der Freiheit,2288 als sich eine illustere Schar von Festrednern vor dem Schöneberger Rathaus versammelte, um im Beisein von etwa einer halben Million Menschen eine Gusseisenglocke ihrer Bestimmung als lautstarke Künderin der Freiheit zu übergeben,2289 wodurch der Transfer der amerikanischen Freiheitstradition symbolkräftig besiegelt werden sollte. In einer beispiellosen Spendensammlungsaktion hatten amerikanische Staatsbürger zuvor Geld zusammen- getragen, um eine Kopie der amerikanischen Liberty Bell gießen zu lassen. In vielerlei Hinsicht wies die Aktion sakralen Charakter auf: Jeder Spender unterzeichnete einen Freiheitsschwur, der in einem Schrein im Schöneberger Rathaus als Zeichen der transatlantischen Verbundenheit aufbewahrt werden sollte; außerdem schworen sich die Unterzeichner mit einem Glaubensbekenntnis auf die Freiheit ein. „Ich glaube, daß allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde“, lautete ein zentraler Satz des Bekenntnisses zur Freiheit.2290 Die beträchtliche Anzahl von 16 Millionen Freiheitsbekundungen und 1,3 Millionen US-Dollar konnten zusammengetragen werden, was aufgrund der hohen Spendenbereitschaft zu einem Überschuss führte, der dem Aufbau von Radio Free Europe zugute kam. Getreu dem historischen Vorbild wurde die Glocke in Großbritannien gegossen und durchquerte in einem „Kreuzzug für die Freiheit“ unzählige Städte in den Vereinigten Staaten bevor sie ihren Weg – statt nach Philadelphia – in das geteilte Berlin antrat. Lucius D. Clay hielt die Festrede, in der er beteuerte, der Schall der Glocke solle allen Unterdrückern eine Warnung sein. Auch sprachen Maxwell Taylor, der amerikanische Stadtkommandant von Berlin, der

2286 Vgl. zu dieser Funktion Wehners: Scholz, Herbert Wehner, 81. 2287 Appell des Bundestages an die Demokratien, in: Männer und Frauen der Sowjetzone!, 9-11; hier: 10. 2288 Vgl. die Pressemeldung des Magistrats zum 24. Oktober 1950: Magistrat von Groß-Berlin Presseamt, Freiheit war ihr erst Geläute, in: Der Senat von Berlin (Hg.), Jahr, o.S. 2289 Vgl. für das nachfolgende: Geppert, Freiheitsglocke, bes. 239-245. 2290 Der Senat von Berlin (Hg.), Jahr, o.S. 322 US-High-Commissioner McCloy und der Regierende Bürgermeister Reuter zu der versammelten Menschenmenge.2291 2.000 Sender übertrugen die Schwingungen der Glocke ebenso wie die Ansprachen, die auf dem Berliner Rudolph-Wilde-Platz gehalten wurden, in alle Welt. Das Geläut entwickelte sich zum unverwechselbaren Erkennungszeichen des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS). Als manifestes Zeichen des Freiheitswillens läutete die Glocke von nun ab täglich und zeichnete späterhin nationale Gedenktage wie den 17. Juni mit dem „Klang der Freiheit“ aus. Freiheitsfreunde erwählten die Glocke zu ihrem Erkennungszeichen. So gab die Vereinigung der Opfer des Sozialismus die Zeitschrift Die Freiheitsglocke heraus2292 oder die Vereinigung „Freunde der Freiheit“ schrieb 1951 einen Aufsatzwettbewerb im Zeichen der Glocke aus.2293 Mitte der 50er-Jahre ebbte jedoch das Verständnis für die Symbolik ab. Zum zehnjährigen Jubiläum gedachte das Berliner Abgeordnetenhaus noch in einer Sitzung der Übergabe der Glocke.2294 Mit dem heraufkommenden Zeitalter der Entspannung, und bedingt durch die historische Dynamik, die einen Wandel des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ hervorrief, geriet das Verständnis für solche Freiheitssymbolik wie die Glocke selbst nahezu ganz in Vergessenheit, doch am 2. Oktober 1990 sollte sie reaktiviert werden, um kurz vor Mitternacht die deutsche Einheit einzuläuten. Bis dahin war es jedoch noch ein langer Weg, der von zahlreichen Kundgebungen zugunsten der Freiheit, deren Wahrnehmung sich stets wandelte, gesäumt war. Mit der Forderung nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit trat etwa am 19. November 1950 vor den Essener Kongress, der an den Begründungsversuch einer christlich-demokratischen Bewegung im Jahr 1920 erinnerte.2295 Außer der moralischen und geistigen Stärke der freien Welt, äußert sich der Mitbegründer der CDU über die Attraktivität wirtschaftlicher Prosperität im Systemvergleich, bedürfe es auch der materiellen Kraft, um den Kommunismus zu überwinden.2296 Deutschland werde das Ziel, in Freiheit wieder zusammenwachsen, nur dann erreichen, wenn „die Bundes- republik staatspolitisch und sozial zu einem stabilen Bollwerk gegen den

2291 Vgl. die zum ersten Jahrestag erschienene Dokumentation der Reden: Der Senat von Berlin (Hg.), Jahr. 2292 Vgl. Die Freiheitsglocke. 2293 Geppert, Freiheitsglocke, 244 f. 2294 Vgl. Zehn Jahre Freiheitsglocke, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 202 vom 26.10. 1960, 1943. 2295 Vgl. Jakob Kaiser, Freiheit und soziale Gerechtigkeit in einem wiedervereinigten Deutschland. Essener Kongreß, 19. November 1950, in: ders., Brücke, 497-505. 2296 Vgl. ebd., 501. 323 Kommunismus“ gemacht werde.2297 Die christlich-demokratische Arbeiterschaft, versichert Kaiser, „wird die Gewähr dafür übernehmen, daß das geeinte Deutschland ein Land der Freiheit, der sozialen Sicherheit und eines unerschütterlichen Friedenswillens wird.“2298 Die im östlichen Teil Berlins stattfindenden Weltjugendfestspiele, die – wie Walter Ulbricht betonte – als eine „gigantische Manifestation des Friedenswillens“ angelegt waren,2299 gaben im Jahr 1951 einen weiteren konkreten Anlass für antikommunistische Werbefeldzüge. Das in Hersfeld angesiedelte Komitee zur Entlarvung der kommunis- tischen Weltjugendfestspiele gab zu diesem Anlass verschiedene Flugschriften und Broschüren heraus, die die „Wahrheit“ über die Weltjugendfestspiele herausstellen wollten und – unter antikommunistischer Instrumentalisierung des systemlegiti- matorisch eingesetzten Freiheitsbegriffs – darauf hinwiesen, dass ohne Mut zur Freiheit keine Zukunft bestehe.2300 Die Jugend habe, ist in Anspielung auf die NS- Vergangenheit zu erfahren – in der Geschichte „stets auf Seiten der Freiheit gestanden – bis die modernen Diktaturen, durch den Großeinsatz aller technischen Mittel auf dem Gebiete der Propaganda, sie in ihre Netze fingen.“2301 In Nachbetrachtung der Ereignisse in Berlin rechnete das mittlerweile in seinem Namen um die Aufgabe der „Förderung echter Weltjugendgemeinschaft“ erweiterte Komitee mit dem „Ablauf der Potemkinschen Spiele“ ab.2302 „Die Freiheit ist stärker!“, waren die Initiatoren über- zeugt.2303 Eine Gegenveranstaltung zu den Weltjugendfestspielen mobilisierte am 4. August 1952 in Braunschweig etwa 4.000 Vertreter, die von 32 Jugendorganisationen aus der gesamten Bundesrepublik kamen.2304 Norbert Hammacher und Wolfgang Mischnick waren die Hauptredner der Zusammenkunft, die mit einem Fackelzug durch die niedersächsische Stadt endete. Ein Flugblatt, das zu diesem Anlass aufrief, eröffnete mit dem Satz: „Wir lieben die Freiheit mehr als das Leben!“2305 Unter diesem „Panier“

2297 Ebd., 504. 2298 Ebd., 505. 2299 Ulbricht, Weltfestspiele, 3. 2300 Vgl. Titel und Untertitel von: Komitee zur Entlarvung der kommunistischen Weltjugendfestspiele (Hg.), Wahrheit. 2301 Ebd., 12. 2302 Komitee zur Entlarvung der kommunistischen Weltjugendfestspiele und zur Förderung echter Weltjugendgemeinschaft (Hg.), Freiheit. 2303 So der Titel der Schrift (vgl. die vorige Anm.). 2304 Vgl. Komitee zur Entlarvung der kommunistischen Weltjugendfestspiele und zur Förderung echter Weltjugendgemeinschaft (Hg.), Freiheit, 20-22. 2305 Zit. nach: Ebd., 21. 324 wollte das Komitee antreten, um „ein Bekenntnis abzulegen für Freiheit und Menschenwürde und gegen jede Form von Versklavung“.2306 Selbst der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) sah sich als „eine sozialistische Studentenorganisation mit einer gesamtdeutschen demokratischen Legitimation“ vor dem Hintergrund der „mit einem ungeheuren Propaganda-Aufwand [...] in Berlin vor sich gehenden ‚Weltjugendfestspiele’“ dazu aufgerufen, alle „freiheitlich gesinnten Studenten in der Ostzone moralisch und faktisch zu unterstützen“.2307 Ernst Tillich und waren unter den Referenten der SPD- nahen Organisation, die auf der ersten Osterkonferenz des SDS im August-Bebel- Institut in Berlin-Wannsee vortrugen. Sie wollten zu der Lösung der Probleme beitragen, von der „Bestand und Ausbau unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung abhängen wird.“2308 Professor Walther Braune von der Freien Universität Berlin setzte sich in seinem Vortrag mit dem Thema Freiheit als Aufgabe auseinander.2309 Unzählige Menschen, bemerkte er, seien zu einer letzten Hingabe an die Freiheit der bürgerlichen Epoche nicht bereit, weil sie von ihr keine Lösung von Angst vor dem sinnlosen Leben erwarteten; ausschließlich der Sozialismus als Träger des Neuen könne „dem Men- schen, dessen Freiheit nach Lebenssinn sucht und die sich in Verzweiflung gegen sich selbst richtet, Erfüllung geben, und er kann so allein dem von Angst gelösten Menschen wieder den Mut geben zu politischer Selbstbestimmung.“2310 Empirische Belege zeigen, dass der Bezugspunkt „Freiheit“ außerhalb der rhetorischen Bekenntnisse, die in ihrer gesellschaftspolitischen Motiviertheit allesamt auf die systemantagonistisch bedingten Legitimitätsbedürfnisse der jungen Republik ausgerichtet waren, im Gegensatz zu althergebrachten Vorstellungsmustern wie „Deutschland“, „Volk“ und „Heimat“ noch nicht besonders fest in der Lebenswelt der bundesrepublikanischen Bevölkerung verankert war. Lediglich 6 Prozent einer Auswahl „junger Männer“ gaben bei einer Erhebung im Jahr 1952 an, sie seien bereit, ihr Leben für die persönliche und menschliche Freiheit einzusetzen. Für Deutschland, das Volk und die Heimat waren es hingegen 25 Prozent.2311 Aufgrund der schwachen Verwurzelung der Freiheit in der Werteskala der Bevölkerung bedurfte es der

2306 Zit. nach: Ebd. 2307 So der erste Vorsitzende des SDS, John van Nes Ziegler, Zum Geleit, in: Bundesvorstand des SDS (Hg.), Freiheit, 1. 2308 Ebd. Vgl. zu Nes Zieglers an der Atlantikcharta orientiertem Freiheitsbegriff (Freiheit von Furcht, Zwang und Not): Albrecht, Studentenbund, 134. 2309 Vgl. Walther Braune, Freiheit als Aufgabe, in: Bundesvorstand des SDS (Hg.), Freiheit, 28-30. Vgl. zum Tagungshergang: Albrecht, Studentenbund, 133-136. 2310 Walther Braune, aaO., 30. 2311 Vgl. Jahrbuch, Bd. 1, 123. 325 politischen Bildung zur weiteren Durchsetzung freiheitlich demokratischer Überzeugungen. Bundeskanzler Konrad Adenauer erkannte den volksbildnerischen Nachholbedarf, weshalb er beispielsweise vor Studenten der Frankfurter Universität geschichts- philosophische Grundsatzbetrachtungen zum Thema Verständigung, Frieden und Freiheit zum Zweck der politischen Staatsbürgerbildung vortrug.2312 Den Studenten spricht Adenauer in diesem Zusammenhang die multiplikative Rolle zu, in „der vordersten Linie im Kampf um die Freiheit“ zu stehen.2313 Eine große Gefahr – und damit kommt Adenauer auf die Kontingenzen freiheitlicher Gesellschaften zu sprechen – für die Menschheit und damit auch für das deutsche Volk stelle die Vermassung dar. „Absperrung der Persönlichkeit bringt Vermassung, Vermassung bringt Verlust der persönlichen Freiheit, bringt Verlust der politischen Freiheit und die Diktatur“, lautet die Kaskade, die Adenauer als nahezu unabänderlich erachtete.2314 Die drohende Nivellierung und Uniformierung des Menschen sei besonders in Deutschland aufgrund seiner nationalhabituellen Veranlagung wahrscheinlich. So gibt der Bundeskanzler der Überzeugung Ausdruck, „daß der Nationalsozialismus in Deutschland nicht möglich gewesen wäre, wenn nicht eine gewisse Anfälligkeit breiter Volksschichten, auf die eigene Persönlichkeit zu verzichten, vorhanden gewesen wäre.“2315 Die Frage nach der wehrhaft-militärischen Verteidigung der Freiheit, die – gleichwohl nicht in direkter Weise – mit dem Grad der ideellen Verankerung des Wertes innerhalb des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft korreliert, löste heftige Kontroversen in der jungen Bundesrepublik aus.2316 benannte innerhalb einer Bundestagsdebatte, die am 7. Februar 1952 die Frage der Wieder- bewaffnung und die Beurteilung der Westverträge auf der Tagesordnung hatte, den Grundsatz, dass die Freiheit nur verteidigt werden könne von freien Völkern und von freien Menschen.2317 Dieser Grundsatz sei keinesfalls erfüllt, wenn lediglich auf militärtechnischer Ebene die Diskriminierungen der Deutschen ausgeschaltet seien.

2312 Vgl. Konrad Adenauer, „Verständigung, Frieden und Freiheit“. Ansprache in der Frankfurter Universität (30.06. 1952), in: ders., Reden, 254-259. 2313 Konrad Adenauer, In der vordersten Linie im Kampf um die Freiheit. Unser Anspruch auf die Wiedervereinigung Deutschlands wird seine Erfüllung finden, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 133 vom 21.07. 1954, 1197 f. (Die Rede vor Studenten der Technischen Universität Berlin greift weite Teile der Kölner Ansprache wieder auf). 2314 Konrad Adenauer, „Verständigung, Frieden und Freiheit“. Ansprache in der Frankfurter Universität (30.06.1952), in: ders., Reden, 254-259; hier: 257. 2315 Ebd. 2316 Vgl. Sontheimer, Adenauer-Ära, 196-199. 2317 Vgl. Erich Ollenhauer, Gleiches Recht und gleiche Chancen, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 240-266; hier: 256. 326 Das CSU-Bundestagsmitglied Franz Josef Strauß wies in derselben Debatte auf die inhaltliche Ambiguität der Begriffe Frieden und Freiheit hin,2318 womit er eine Grund- voraussetzung eines semantischen Deutungsmusters, eben die mangelnde definitorische Schärfe und das dadurch gegebene Instrumentalisierungspotenzial, benennt und zwischen Wortgestalt und semantischer Füllung des Wortkörpers unterscheidet. Trotz dieser Einsicht hält er für seine Person an der normativen Vorgabe einer einzigen, „wirklichen“ Freiheit der Persönlichkeit fest. „Es hängt nicht von den Buchstaben ab, es hängt nicht von den Worten ab, die über die Lippen kommen, es hängt von der inneren Gesinnung ab,“ erklärt Strauß, „ob jemand mit dem Worte Frieden auch wirklich Frieden meint oder nur eine gute Tarnbezeichnung für die Kriegsvorbereitung, ob er mit dem Worte Freiheit das persönliche Recht des Einzelmenschen auf Freiheit der Meinung und Unver- letzlichkeit der Person meint oder ob er dieses Wort mißbraucht für die Willkür des Kollektivs, den Menschen zum Sklaven zu machen.“2319

Strauß war einer der prononciertesten bundesrepublikanischen Vertreter des Freiheits- begriffs, was ihn zum Verfechter der Wiederbewaffnung machte.2320 Schon früh war er sich der Bedeutung der Freiheit als legitimatorischer Grundlage westlicher Politik bewusst und trat für deren Verwirklichung innerhalb eines christlichen Weltbildes ein, worauf der Einsatz von personalistischen und antikollektivistischen Argumentations- figuren hindeutet.2321 Alfred Andersch lieferte mit der Veröffentlichung seines autobiographisch gefärbten Berichts Kirschen der Freiheit andererseits, um eine zu Beginn der 50er-Jahre gesamtgesellschaftlich verpönte Freiheitskonzeption zu erwähnen, Anlass für Kritik an einem extrem individualistischen Begriffsverständnis.2322 Die Kontroverse,2323 die den vergangenheitsgeprägten Charakter der Diskursformation offen legt, entzündete sich daran, dass Andersch seine Desertion aus der Wehrmacht als einen „einzigen Augenblick der Freiheit“2324 beschrieb,2325 womit der Freiheitsdiskurs durch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Bericht an die Wiederbewaffnungsdebatte angeknüpft wurde.2326 Sartres existenzialistisches Freiheitskonzept bildet die

2318 Vgl. zum 7. Februar aus der Sicht von Strauß: ders., Erinnerungen, 159-164; zur Redesituation insgesamt: Ferdinand (Hg.), Reden, 95 f. 2319 Franz Josef Strauß, Die Rückkehr Deutschlands zu Gleichberechtigung und Freiheit, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 267-301; hier: 289. 2320 Vgl. Zierer, Franz Josef Strauß, 198-212. 2321 Vgl. zu Strauß auch unten: v.a. Kap. 4.5.20, 431 und Kap. 4.5.23, 449-451. 2322 Vgl. zur Einordnung des Berichts in den Werkzusammenhang: Heidelberger-Leonard, Alfred Andersch, 55-75; Lamping, Meinung, 182-186. 2323 Vgl. den Sammelband von Winfried Stephan: Ders. (Hg.), Kirschen. 2324 Andersch, Kirschen, 84. 2325 Vgl. Brenner, Kirschen, 68 2326 Vgl. Peitsch, Generals-Memoiren. 327 theoretische Grundlage der Kirschen der Freiheit,2327 da Andersch Freiheit dort als voraussetzungsloses Herausfallen aus der Geschichtlichkeit darstellt.2328 Der Autor übersiedelte infolge massiver Drohungen gegen seine Person später in die Schweiz.2329 Seine individualistischen Freiheitsvorstellungen wurden von einer breiten Bevölke- rungsmehrheit als illusorisch abgetan. Traditionellere, vor allem christlich geprägte Sichtweisen hatten dahingegen wesentlich höhere Erfolgsaussichten in der nach geistiger und moralischer Orientierung suchenden Nachkriegsbevölkerung.2330 Der 1885 in Verona geborene Theologe Romano Guardini ergriff die Gelegenheit der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, um dem Anliegen nach ideeller Gegenwartsschau nachzukommen, indem er wider Erwarten nicht über Frieden, sondern über den Wert der Freiheit sprach, für den er anknüpfend an sein Beiträge zur „Deutung des Daseins“ innerhalb der personalen Beziehung eine „Freiheit der Gemein- schaft“2331 von einer „Freiheit der Einsamkeit“ unterschied.2332 Vor dem Hintergrund der Frage von Krieg und Frieden, die durch den Kalten Krieg bedingt ist, sieht Guardini in der Freiheit die Grundvoraussetzung für das Verständnis des Anderen. „Denn frei sein“ führt der katholische Theologe aus, „heißt über die eigene so vielfältig gebundene Individualität hinaus gehen zu können auf die des anderen zu; verstehen, wie er in seinen Anschauungen existiert.“2333 Die christliche Perspektive deckt sich in wesent- lichen Teilen mit eher kollektivistischen, auf einen positiven Freiheitsbegriff ausge- richteten Deutungsmustern und findet in der Kategorie der Person, nicht des Individuums, einen Ansatzpunkt, der nach Vermittlung zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft sucht.

2327 Vgl. Koberstein, Gott; Jendricke, Alfred Andersch, 62-64. 2328 Vgl. Bühlmann, Faszination, 44-46. 2329 Vgl. Jendricke, Alfred Andersch, 77. 2330 Vgl. für die Suche nach „geistiger Führung“ bei den Schriftstellern der Nachkriegszeit: Wende- Hohenberger, Anfang. 2331 Guardini, Freiheit, 46-48. 2332 Ebd., 48-50. 2333 Guardini, Friede, 62. 328 4.5.7 Die Anfänge der wehrhaften Demokratie und die Ausrichtung des Deutungsmusters auf eine nationalstaatliche Perspektive – „die Bahn freizubekommen für eine Entwicklung der freien Menschen und freien Staatsbürger und der Freiheit der Nation“

Das Komplementärpaar Einheit und Freiheit, das lange Strecken der geschichtlichen Entwicklung im Zentrum des gesellschaftspolitischen Diskurses stand, wuchs in viel- fach abgewandelter Variation auch zu einem zentralen Problemcluster der deutschen Nachkriegsgeschichte heran. So trat die Sozialdemokratie in ihrem am 28. Juli 1952 von Kurt Schumacher unterzeichneten Aktionsprogramm „für die deutsche Einheit in Freiheit und Frieden“2334 als Nahziel ein. Der „Klassenkampf von oben“, wird auf das auf soziale Kohäsion ausgerichtete Agieren der Sozialdemokratie verwiesen, zerstöre „heute in Deutschland alle Ansätze zu einer wirklichen Gemeinschaftsbildung“.2335 Nur wenn diese Entwicklung und mit ihr die Macht des Großbesitzes gebrochen werde, sei „die Bahn freizubekommen für eine Entwicklung der freien Menschen und freien Staatsbürger und der Freiheit der Nation.“2336 Die Verbindung der kognitiv stark wert- geladenen Vorstellung der deutschen Teilung mit anderen Wertzielen, wie demjenigen der Freiheit, ist eine geschickte Dissonanzreduktion.2337 Die später übliche Reihenfolge, die sich in der gängigeren Formel von „Einheit in Frieden und Freiheit“2338 nieder- schlug, hat sich zu Beginn der 50er-Jahre noch nicht als rhetorisch feststehende Wendung herausgebildet. Das innenpolitische Ziel des sozialdemokratischen Aktions- programms ist die freiheitliche Republik, die die grundrechtlich verbürgten Freiheiten garantiert. „Es wird jedoch keine Freiheit geben,“ geriert sich das Programm kämpferisch und integriert somit erste Ansätze einer wehrhaften Demokratie, „die Frei- heit zu vernichten. Dafür ist es die Pflicht des Staatsbürgers, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu verteidigen.“2339

2334 [SPD] Aktionsprogramm, 1952/54, zit. nach: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 622-665; hier: 624. 2335 Ebd. 2336 Ebd. 2337 Vgl. Schmidtchen, Manipulation, 38 f. 2338 So weiter unten im Aktionsprogramm als Ziel und Aufgabe der Sozialdemokratie formuliert ([SPD] Aktionsprogramm, 1952/54, zit. nach: Mommsen [Hg.], Parteiprogramme, 622-665; hier: 627). Auch das Wahlprogramm der FDP vom Juni 1953 kennt diese Wendung (in: aaO., 693). Explizit darauf zu verzichten scheint die Deutsche Partei. Sie bekennt sich lediglich dazu, dass „das oberste Ziel [...] aller Deutschen die friedliche Wiederherstellung der Einheit unseres Vaterlandes“ sei (zit. nach: aaO., 708). 2339 [SPD] Aktionsprogramm, 1952/54, aaO., 638. 329 Auf dem Dortmunder Parteitag2340 der SPD wurde Erich Ollenhauer als Nachfolger des verstorbenen Kurt Schumacher gewählt.2341 Laut dem Sozialdemokratischen Pressedienst erhob Ollenhauer mit seiner Rede „eine einzige schwere Anklage gegen die Leute innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen, die davon ausgehen, man könne die Situation der Bundesrepublik mit der irgendeines anderes [sic] Landes des europäischen Westens gleichsetzen oder nur annähernd vergleichen.“2342 Von einem freiheitlichen Sozialismus wird – ausgehend von der Wahrnehmung eines deutschen Sonderwegs – eingefordert, dass durch ihn alle Kräfte ausgeschaltet werden, „die in der Vergangenheit Deutschland und die Welt ins Unglück gestürzt haben“.2343 Ein wesent- liches Ziel der Nachkriegssozialdemokratie ist daher „die rücksichtslose Bekämpfung aller totalitären, die menschliche und politische Freiheit bedrohenden Bewegungen, die mit dem Sturz des Dritten Reiches von der Bildfläche ja nicht verschwunden und oft unter anderen Namen latent vorhanden sind.“2344 Da das deutsche Volk von allen europäischen Völkern am stärksten dem Bolschewismus ausgesetzt sei, falle auf dessen Staatsgebiet „die große Entscheidung über Freiheit oder Untergang der westlichen Kultur.“2345 Erneut avanciert in dieser Perzeption Deutschland, diesmal in Gestalt der Bundesrepublik, zum entscheidenden Verteidiger der Kulturgemeinschaft – allerdings aufgrund der neuen weltpolitischen Situation mit verstärkt antiöstlicher Stoßrichtung. Auf dem Gebiet der politischen Kultur bildeten sich somit erste wehrhafte demokratische Ansätze heraus, die durch die Bekanntgabe des Verbots der Sozialis- tischen Reichspartei (SRP) durch das Bundesverfassungsgericht juridisch bestärkt wurden.2346 Die laut Urteil vom 23. Oktober 1952 verfassungswidrige Partei schloss in ihrer Programmatik an nationalsozialistisches Gedankengut an.2347 So bekannte sie sich in ihrem Aktionsprogramm aus dem Jahr 1949 dazu, ein „Zusammenschluss freier Deutscher, die aus innerster Verantwortung die Wiederherstellung von Ehre, Recht und Ordnung in Deutschland fordern“, zu sein.2348 Die Parteimitglieder verpflichteten sich „vor der Geschichte ihres Volkes und vor seiner Zukunft, sich mit ganzer Kraft selbstlos

2340 Vgl. Vorstand der SPD (Hg.), Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 24. bis 28. September 1952 in Dortmund. 2341 Vgl. Sozialdemokratischer Pressedienst, P/VII/222 vom 25.09. 1952, 1. Vgl. zum Wechsel Schumacher – Ollenhauer: Bouvier, Erich Ollenhauer, 192-194. 2342 Sozialdemokratischer Pressedienst, aaO., 2. 2343 Ebd., 3. 2344 Ebd. 2345 Ebd., 4. 2346 Vgl. BVerfG 2, 1 (SRP-Urteil). 2347 Vgl. zur Programmatik der SRP: Lösche, Geschichte, 160. 2348 Aktionsprogramm der Sozialistischen Reichspartei, 1949, in: Treue (Hg.), Parteiprogramme, 315-320; hier: 315. 330 für die Verwirklichung der Grundsätze der Gemeinschaft einzusetzen“,2349 wozu die „Freiheit und Unabhängigkeit Deutschlands nach innen und nach außen“ eingefordert wurde.2350 Alle Gesetze, Verordnungen und Verfügungen, die Sonderrechte begründen, widersprechen in der Auffassung der SRP „dem sozialistischen Grundsatz der gleichen Pflichten, des gleichen Rechts und der gleichen Freiheit für alle Deutschen“.2351 Der „Grundsatz der sittlichen Bindung und Einordnung des einzelnen in die Gemeinschaft“ ist Ausdruck eines rückwärtsgewandten „Volkssozialismus“, der mit einem positiven Freiheitsverständnis asymmetrischer Prägung argumentiert, und dessen Wiederauf- blühen mit dem Urteil des Verfassungsgerichts ein Riegel vorgeschoben werden sollte.2352 Zu diesen ersten Schritten freiheitlich demokratischer Praxis gesellten sich edukative Ansätze, die die Bedeutung der Freiheit für den Konsolidierungsprozess der jungen Demokratie hervorhoben. Rudolf Zorn, Bayerischer Staatsminister für Finanzen, setzte sich deshalb in einer 1952 erschienenen Schrift mit dem Problem der Freiheit auseinander. In diachroner Betrachtung2353 skizziert er den historischen Bedeutungswandel des Freiheitsbegriffs, indem er die Antagonismen kollektivistischer und individualistischer Freiheitsverständnisse hervorhebt. Die Geschichte Europas setzt er – wie auch schon zuvor Benedetto Croce2354 – gleich mit der Geschichte des Kampfes für die Freiheit des Menschen.2355 Explizit zielt die Studie, wie dem Vorwort von Günter Olzog zu entnehmen ist, auf „die politische Bildung unseres Volkes [...] als eine leider sehr spät erkannte Notwendigkeit“ ab. Solche autochthonen Maßnahmen der Er- ziehung zur Freiheit schließen an die Anliegen der Re-Education-Politik2356 an und markieren eine neue, bewusst auf das semantische Potenzial reflektierende Stufe im Umgang mit dem Deutungsmuster Freiheit. Vor dem Hintergrund der Ambiguität des „schillernden“ Bergriffs konstatiert Zorn als aporetische Ausgangslage, „daß sich ein solcher Begriff nicht eindeutig festlegen läßt, daß er also ein Problem ist und ein

2349 Ebd. 2350 Ebd. 2351 Ebd., 316. 2352 Ebd., 316 f. 2353 Einmal mehr ist die Erfahrung des Totalitären Auslöser für die Beschäftigung mit der Freiheit: „Aus dem geschichtlichen Erlebnis der letzten Jahrzehnte ist zumindest deutlich geworden, was Freiheit ist, wie und wodurch sie ausgelöscht wurde.“ (Zorn, Problem, 21). 2354 Vgl. hierzu oben: Kap. 3, 48. 2355 „Was Europa, was das Abendland geworden ist, das dankt es der Wertung der Persönlichkeit, das dankt es der Freiheit. Bei uns im Abendland wurde die Freiheit geboren und entwickelt. Sie ist die Blüte europäischen Geistes und der Motor der europäischen Politik.“ (Zorn, Problem, 20). 2356 Interessanterweise impliziert der Ausdruck Re-Education eine Rückkehr zu einem bereits erlangten Kenntnisstand. 331 Problem bleibt, und wie jedes echte Problem im Grunde unlösbar ist.“2357 Als Maßstab für sein Untersuchungsgebiet, „das besetzte Westdeutschland der letzten Jahre [...], wo zwar die Souveränität von fremden Mächten ausgeübt wurde und trotzdem der einzelne Bürger weitgehende Freiheitsrechte besaß“,2358 nimmt Zorn die Freiheit des Individuums. Vor dem Hintergrund des ständig akuten Spannungsverhältnisses von Individuum und Gesellschaft sieht er drei wesentliche Punkte, in denen im „Massen- und Versorgungsstaat [...] die bürgerliche Freiheit ohne Zweifel ständigen Gefahren und Bedrohungen ausgesetzt“2359 sei: erstens die Vermassung der Gesellschaft, zweitens der durch die Technisierung der Lebensverhältnisse hervorgerufene Gesinnungswandel, der die Freiheit in der Wertehierarchie herabsetze und drittens die Gefahren eines zu geringen Lebensstandards breiter Massen, der gerade in Zeiten von Krisen und Un- sicherheit in den allgemeinen Lebensverhältnissen problematisch werden könne.2360 Zorn greift in der stark von kulturkritischen Invektiven geprägten Argumentation Muster freiheitlichen Denkens auf und warnt vor der Erscheinung eines Konformis- mus’, der durch „einen gewissen Gesinnungsterror“2361 und durch die politische Propaganda künstlich eine Einheitsgesinnung züchte. In Fixierung auf ein altständisches Gesellschaftsmodell mit sozialstratifikatorischer Wirkung bedauert er, dass die Vermassung die gesellschaftliche Gliederung im Staat beseitigt habe, weshalb sich nun überall der Staat in die entstandenen Lücken schieben müsse, um die Ordnung der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Die dadurch zunehmende Ausdehnung der Staats- gewalt ziehe eine Einschränkung der Freiheit mit sich, was Zorn dazu veranlasst, in einer nicht mehr zu übersehenden Machtzusammenballung in Händen der Staats-, Partei- und Verbandsbürokratie eine wesentliche Bedrohung der Freiheit zu erkennen.2362 Mit einem der romantischen Organik entlehnten Bild konstatiert er: „Expansion der Staatsgewalt, Verbürokratisierung und Konformismus unserer Gesell- schaft, drohen zusammenwirkend gleich wuchernden Schlinggewächsen alles

2357 Zorn, Problem, 5. In die topische Tradition, die bereits Montesquieu aufgriff, ordnet sich Zorn ein, indem er ausführt, „daß jedes Zeitalter und jedes Land mit der Freiheit andere Vorstellungen verbindet. Ja, es gibt wohl keinen Begriff in der politischen Geschichte, der abhängiger von Raum und Zeit wäre als der der Freiheit.“ (AaO., 17). 2358 Ebd., 6. Weiter führt Zorn deshalb in Durchbrechung der im totalitären Deutschland angestrebten Symbiose von Individuum und Gemeinschaft aus: „Die Freiheit des Einzelmenschen hängt also durchaus nicht von der Freiheit des Staates ab.“ (Ebd.). 2359 Ebd., 7. 2360 Vgl. ebd., 7-17. 2361 Ebd., 9. 2362 Vgl. zum Zusammenhang von Freiheit und Bürokratie allgemein: Delikostopoulos, Freiheit. 332 organische Leben, alle freiheitlichen Regungen zu erdrücken.“2363 Gleichgültigkeit, schwindendes Rechts- und Verantwortungsgefühl, zunehmendes Gruppendenken, befremdlich unwirtschaftliche Denkweisen verbunden mit der Ablehnung der Wettbe- werbswirtschaft, gibt er eine umfassende Liste negativer Entwicklungen, seien Anzeichen für einen Affront gegen die Freiheit. Als hierzu entgegenwirkende Voraus- setzungen der Freiheit2364 sieht Zorn vier Punkte an: erstens die Unabhängigkeit von vernunftloser Willkür, zweitens die Freiheit der Meinungsäußerung, drittens „die Möglichkeit, an der Gesetzgebung und Verwaltung des Staatswesens mitzuarbeiten und die Staatsgewalt zu kontrollieren“2365 und viertens die Beschränkung der Staatsgewalt, die gewährleistet, dass die Privatsphäre anerkannt wird. Neben diese vor allem auf die Bildungspraxis ausgerichteten Schriften tritt vereinzelt die metatheoretische Reflexion über die besondere historische Bedingtheit des Freiheits- verständnisses der beginnenden 50er-Jahre. So vertritt Erwin Hölzle im Jahr 1953 die These, dass der Absolutismus als besonders einschneidender Bruch2366 mit der alten Freiheitstradition angesehen werden muss. Hernach habe eine Hinwendung zur „deutschen modernen Freiheit“2367 stattgefunden, weshalb die Neuzeit, in der das römische Recht die altgermanische Freiheitsidee zunehmend überlagert habe, die ent- scheidende Epoche für die Geschichte der „deutschen modernen Freiheit“ sei.2368 Doch habe die Idee, „daß gegen die Fürstengewalt und auch gegen die Feudalherrschaft ein älteres Gemeinrecht des ganzen Volkes stehe, [...] der modernen Freiheit die Wege bahnen helfen.“2369 Dass von hier aus die These einer untergründigen Kontinuität2370 einer „deutschen Freiheit“ aufgestellt wird, die sich vor allem in kulturellen Errungenschaften äußert, ist umso verständlicher, wenn man Hölzles Hinweise auf den deutschen Anteil „an Humanismus, Reformation, Bauernkrieg und Libertät, an Staatsrecht und Historie des

2363 Zorn, Problem, 11. Andererseits betont Zorn aber auch – was seinem organischen Denken widerspricht –, dass Organisationsbegeisterung allzu leicht in Unfreiheit und Totalitarismus ende. Der technisierte Mensch schätze die Organisation höher, als deren Freiheit, die immer gewisse anarchische Tendenzen in sich berge (aaO., 12). 2364 Vgl. ebd., 21 f. 2365 Ebd., 22. 2366 Vgl. Hölzle, Bruch, bes. 169. 2367 Vgl. den Titel von Hölzles 1953 gehaltenem Vortrag Bruch und Kontinuität im Werden der deutschen modernen Freiheit (ebd., 159). 2368 Ebd., 165. 2369 Ebd., 167. 2370 Vgl. ebd., 177. In explizit antirevolutionärer Einstellung: „Dieses Bewußtsein der freiheitlichen Kontinuität ist nun sicherlich nicht unbeeinflußt von dem Schrecken vor der Revolution, die dem Liberalismus – übrigens nicht nur in Deutschland – seit jenem Terror, der in der Französischen Revolution so abschreckend aufgestanden war, anhaftete.“ 333 16. bis 18. Jahrhunderts“2371 berücksichtigt. Mit Blick auf die „deutsche moderne Freiheit“ bemerkt Hölzle, dass über den Brüchen in der freiheitlichen Entwicklung, die auch die anderen Nationen Europas gekannt hätten, nicht die Kontinuität eines Freiheitsgeistes, eines Wollens zur Freiheit übersehen werden dürfe, welches trotz äußeren Drucks und innerer Zersplitterung immer wieder durchgebrochen sei.2372 Explizit verweist er auf die konservativen Staatsrechtler, „voran die großen Meister der geschichtlichen Volksfreiheit, Hermann Conring und Justus Möser“,2373 die die Idee einer altgermanischen Freiheit2374 bereits vor Montesquieu entwickelt hätten. Die von ihnen vertretene Idee des Volkstums habe eine große Auswirkung auf die Romantiker gehabt.2375 Einer älteren, damit zugleich als ehrwürdiger ausgezeichneten germanischen Freiheitsauffassung schreibt Hölzle die Initiativfunktion im Prozess der Herausbildung der „modernen deutschen Freiheit“ zu. Die Wendung „Stadtluft macht frei“ kommt in diesem Zusammenhang gerne als Hinweis auf die Keimzelle eines bürgerschaftlichen Freiheitsverständnisses, das einem ständischen Denkmuster verhaftet ist, zur An- wendung.2376 Insgesamt ist der Sprachgebrauch einer „deutschen Freiheit“ im ersten Nachkriegsjahrzehnt durch den sinnstiftenden Rekurs auf historische Errungenschaften gekennzeichnet, die auf einen kollektiven Freiheitsbegriff, der auf phylogenetischem Denken beruht, zurückgeht. Theodor Litt, der wohl bekannteste Theoretiker freiheitlichen Denkens in der unmittelbaren Nachkriegszeit,2377 hielt am 12. Juni 1953 anlässlich der Semesterfeier der Hochschule für Politik einen Vortrag mit dem Titel Die Freiheit des Menschen und der Staat,2378 und ging damit auf die von Hölzle aufgeworfene Thematik ein, wobei er sich zum Verhältnis von Individuum und Staat als Grundkonstellation der Freiheits- problematik und deren gesamtgesellschaftliche Bedingtheit äußerte. Allenthalben entfalte sich „das, was wir ‚Freiheit’ nennen, nicht im luftleeren Raum, sondern auf Grund und unter der Voraussetzung von Lebensbedingungen, die das Subjekt zwar zu modifizieren so gut befähigt wie berufen ist, die es aber nicht zu beseitigen vermag.“2379 Litt setzte sich in seiner Beschäftigung mit dem Freiheitsbegriff vehement gegen die

2371 Ebd., 168. 2372 Vgl. ebd., 177. 2373 Ebd., 168. 2374 Vgl. für dieses Deutungsmuster oben: Kap. 4.1.10, 135 f. 2375 Vgl. Sell, Tragödie, 51 f. 2376 Vgl. zu Geschichte und Herkunft dieser Wendung: Strahm, Stadtluft. 2377 Vgl. zu Litts freiheitsbasiertem Erziehungskonzept: Sander, Politik, 123-125. 2378 Litt, Freiheit. 2379 Ebd., 21. 334 Vorstellung eines Wettbewerbs zwischen Freiheit und Notwendigkeit ein,2380 worin seine antikommunistische Ausrichtung zum Vorschein kommt. Vielmehr hielt er Freiheit für den entscheidenden Wert in der „politischen Selbsterziehung des deutschen Volkes“,2381 was ihm heftige Kritik vor allem seitens der DDR einbrachte, seinem Ansehen als Vordenker einer bundesrepublikanischen Idee der Freiheit, der vehement gegen das sozialistische Freiheitskonzept eintrat, jedoch keinesfalls schadete.2382

4.5.8 Der 17. Juni 1953 als Auftakt einer freiheitsbezogenen Memorialkultur – „deutsche Menschen, deren Glaube an das Recht auf Freiheit, an ihr Recht auf ihre Freiheit mit dem Tode bezahlt wurde“

Aktualität erlangten die Gedanken eines deutschen Sozialisten zur Zwangswirtschaft und deren Folgen für die persönliche Freiheit im Sommer 1953, denn wie eine Vorabanalyse der Ereignisse um den 17. Juni liest sich die Darstellung von W. G. Marwitz zu Freiheit und Sozialismus.2383 „Je größer die wirtschaftliche Unausgeglichenheiten und die Warenknappheit werden, die die Zwangswirtschaft hervorruft,“ ging Marwitz mit der DDR-Führung hart ins Gericht und forderte ein rigides Vorgehen gegen abweichende Meinungen, „desto stärker werden naturgemäß die Kräfte, die das zwangswirtschaftliche Gefüge belasten. Seine Erhaltung bedingt daher die weitere Stärkung der Staatsmacht und weitere Eingriffe in die Rechte des Individuums.“2384 Der 17. Juni 1953 wurde in der westlichen Wahrnehmung häufig als Zeugnis für den Freiheitsdrang der Ostdeutschen erachtet,2385 insofern das wiedervereinigte Deutschland „eine Bastion der Freiheit“ werden sollte.2386 Vor allem die westlichen Medien2387 sahen in den Ereignissen einen nachholenden Aufstand für die Freiheit und die westlichen Ideen,2388 auch weil die „gewaltige Demonstration für die Freiheit“ einmalig in der

2380 Vgl. Litt, Mensch, 136 f. 2381 Litt, Selbsterziehung. 2382 Vgl. zur Kritik an Litts Freiheitsauffassung aus DDR-Sicht unten: Kap. 4.6.5, 513 f. 2383 Marwitz, Freiheit. 2384 Ebd., 26. 2385 Vgl. zur Beurteilung des 17. Juni in der Bundesrepublik, Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert, Revolution, 383-500. 2386 Jakob Kaiser, Wiedervereintes Deutschland – eine Bastion der Freiheit. Der Aufstand vom 17. Juni ist ein Appell an die gesamte freie Welt, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 127 vom 09.07. 1953, 1073 f. 2387 Vgl. für eine mediengeschichtliche Analyse der Erinnerungsarbeit zum 17. Juni im Fernsehen: Brockmann, Erinnerungsarbeit. 2388 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 79 f. 335 modernen Geschichte gewesen sei. In ihr habe sich eindeutig zu erkennen gegeben, wie aus dem Umkreis der freiheitspropagandistisch wirksamen Organisation Rettet die Freiheit e.V. zu vernehmen ist,2389 „daß die Menschen in Mitteldeutschland die Freiheit wollten.“2390 Der „Aufstand in der Sowjetzone“ habe, wie das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung die Rezeption der Geschehnisse darstellt, dem deutschen Volk die Bewunderung der Welt eingebracht, „da hier ein den Deutschen nicht zugemuteter Freiheitswille aufgelodert war und sich erneut gegen ein Regime totalitärer Unterdrückung auflehnte“.2391 Beim Gedächtnis an die Opfer verwiesen führende Staatsmänner auf deren bedingungslosen Einsatz für die Freiheit und versuchten mit der emotionalen Berufung auf die Gewalttaten des SED-Regimes, eine Neuorientierung innerhalb des politischen Diskurses – insbesondere mithilfe des Deutungsmusters der Freiheit – zu erreichen. Bundespräsident Theodor Heuss, der sich aufgrund seiner familiären und regionalen Herkunft dem Kampf für die Freiheit verpflichtet sah,2392 gedachte am 21. Juni gemeinsam mit den Abgeordneten des Bundestages an „deutsche Menschen, deren Glaube an das Recht auf Freiheit, an ihr Recht auf ihre Freiheit mit dem Tode bezahlt wurde.“2393 Nicht um sozialpolitischen Leistungsvergleich zweier unterschiedlicher Systeme ist Heuss aus Anlass der Ereignisse zumute, wie er rhetorisch geschickt in Vermengung positiver und negativer Begriffsauslegung beteuert: „Um die Freiheit geht es! Um die Freiheit des Menschen, um die Freiheit der Menschen. Freiheit des Menschen, in seinem politischen, in seinem religiös-kirchlichen Bekenntnis, daß er von Angst und Bedrängnis befreit den Sinn seines Lebens selber suchen und zu erfüllen trachten könne. Freiheit der Menschen zu ihrer gemäßen, zu der ihnen gemäßen Gestaltung der öffentlichen Regelung ihres Gemeinschaftslebens.“2394 Im gesamten Bundesgebiet fanden unzählige Gedenkveranstaltungen und Solidaritätsbekundungen statt. Jakob Kaiser,2395 damaliger Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen und „extremer Vertreter der Brückenbauer-Fraktion“,2396 schon von Amts wegen mit der

2389 Vgl. zu Rettet die Freiheit e.V. unten: Kap. 4.5.11. 2390 Werner W. Haiden, Das Volk stand auf, in: meldungen – berichte – kommentare vom 15.06. 1960, 21-24; hier: 20. 2391 Vgl. Für Freiheit und Gerechtigkeit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 109 vom 15.06. 1957, 999 f.; hier: 999. 2392 Vgl. In Memoriam (1945), in: Heuss, Reden, 51-56, hier: 55. Heuss nennt das Stichwort „Rastatt“ und berichtet: „Wir haben im Schwäbischen so etwas wie eine Tradition, ja, sie ist für manche idyllisch geworden; sie knüpft an das Jahr 1848 an.“ (Ebd.). 2393 Heuss, Rede, 19. 2394 Ebd., 20. 2395 Vgl. Conze/Kosthorst/Nebgen, Jakob Kaiser. Politiker; dies., Jakob Kaiser, Bundesminister. 336 Problematik beschäftigt, und Ernst Reuter bestritten zwei Tage nach der nationalen Gedächtnisstunde im Bundestag eine Kundgebung vor Ort in Berlin. Auf ihr nahmen sie ebenfalls Stellung zu den Vorkommnissen und erwiesen den Umgekommenen die letzte Ehre. Der Regierende Bürgermeister von Berlin erkannte in den tragischen Ereignissen „den großen Freiheitskampf unseres Volkes.“2397 Gleichzeitig erfüllte ihn mit Stolz, dass das deutsche Volk am 17. Juni Position bezogen habe, um abschließend der Jugend mahnend mit auf den Weg zu geben, „daß es nur ein Gut für den Menschen gibt, das er braucht, wenn er nicht zugrunde gehen will: Die Freiheit, als Mensch atmen und leben zu können und sein Haupt als Gottesgeschöpf zum Himmel zu erheben. Nicht als Geschenk des Himmels wird diese Gabe der Freiheit zu uns kommen, sondern unter unendlichen Mühen, Opfern und Nöten.“2398 Der Rekurs auf den 17. Juni als Ausdruck einer „nachholenden Freiheitsbewegung“ wird mit dem Vorstellungszusammenhang einer historischen Sondersituation Deutschlands korreliert, woraus die Forderung zur Rückkehr auf den „Normalweg“ erwächst. Als unbedingtes Zukunftsziel und „großen Tag der nationalen Erhebung“ definiert Reuter in seiner Rede die komplementäre Wiedererlangung der „deutschen Freiheit und Einheit“, von der die Frage von Krieg und Frieden abhänge: „Wir Deutschen verlangen nichts anders als jedes andere Volk dieser Erde, unser Recht, unsere Freiheit, unsere Einheit. [...] Denn ohne deutsche Einheit und ohne deutsche Freiheit kein Friede in der Welt!“2399 Die Freiheitsglocke auf dem Turm des Schöneberger Rathauses, „die zu einem Symbol für unser Berlin, die zu einem Symbol für die ganze freie Welt geworden ist“,2400 wurde zum Abschluss der Kundgebung geläutet. Am 3. Juli erklärte der Bundestag bis auf die Ausnahme der KPD einmütig den Aufstand zum Anlass dazu, fortan mit einem Tag der deutschen Einheit an die Geschehnisse zu erinnern.2401 Um die Erinnerung an den 17. Juni wach zu halten und in einem gewissen Rahmen zu institutionalisieren, kursierten zeitweilig sogar Pläne zur Errichtung einer Erinnerungsstätte. Im September 1953 erteilte Ernst Reuter den

2396 Sebastian Haffner, Jakob Kaiser (04.01. 1948), in: ders., Schreiben, 167-170; hier: 168. Vgl. hierzu auch: Hacke, Jakob Kaiser, 56-59. 2397 Reuter, Rede, 24. 2398 Ebd., 25. 2399 Ebd. 2400 Ebd. Vgl. zur Freiheitsglocke auch: Wolfrum, Geschichtspolitik, 173 f., der diesen Brauch als Beleg für die Vermengung profaner und sakraler Elemente deutet. In der Gesamtschau ist für die Anfangsphase der Erinnerung an den 17. Juni ein Ausgangspotenzial für die Schaffung einer freiheitsbasierten Zivilreligiosität in der Bundesrepublik gegeben. Allerdings trägt dies nur bis ungefähr Mitte der 60er- Jahre. So konstatiert Helmut Thielicke bei seiner Gedenkansprache vor dem Bundestag im Jahr 1962, man sehe die Bedeutung des Tages nicht, „wenn wir das Thema dieses Tages von den Auspuffgasen vergiften lassen, die unsere Fahrten ins Grüne begleiten“ (ders., Rede, 97). 2401 Vgl. Mählert, Einleitung, 26. 337 Auftrag, eine Gedenkstätte zu konzipieren. Ein 40 Meter hoher Turm und eine monumentale Ehrenhalle, die als Symbol für Freiheit respektive Unfreiheit nach Westen hin geöffnet beziehungsweise nach Osten geschlossen sein sollte, waren im Ge- spräch.2402 Der antikommunistisch ausgerichtete Volksbund für Frieden und Freiheit plante ein noch überdimensionierteres Mahnmahl, das aus einem etwa 80 Meter hohen Turm und einem weit über die Grenzen hinweg sichtbaren ewigen Freiheitsfeuer bestehen sollte. Trotz beträchtlicher Finanzunterstützung vor allem seitens amerika- nischer Stifter, die auf einen in beinahe 200 US-amerikanischen Zeitschriften geschalteten Spendenaufruf reagierten, stieß dieser Plan auf strikte Ablehnung im Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen.2403 Politiker und in großem Umfang auch engagierte Bürger beteiligten sich mit vielfältigen Vorschlägen an der Diskussion um die angemessene Form der Erinnerung. Von der Einrichtung autofreier Gedenktage, die auf die Zeit des Wirtschaftswunders referieren, bis hin zu einer monatlichen gesamt- deutschen Viertelstunde an allen Schulen erstreckten sich die vorgebrachten Ideen.2404 In Erinnerung an den 17. Juni 1953 hielten in den nachfolgenden Jahren exponierte Vertreter des bundesrepublikanischen Geisteslebens zahlreiche Ansprachen,2405 wo- durch eine Gedenktradition initiiert wurde.2406 Die Bezeichnung des Tages als „Tag der deutschen Einheit“ war von Herbert Wehner geprägt worden.2407 Am 17. Juni fand von nun ab jährlich im Plenum des Parlaments eine zentrale Gedenkveranstaltung statt, die sich durch Reden namhafter Historiker, Theologen, Rechtswissenschaftler, Philosophen und Erziehungswissenschaftler zu einem wesentlichen Beitrag der öffentlichkeits- wirksamen Formung eines bundesrepublikanischen Geschichtsbildes entwickelte.2408 Das Freiheits-Pathos eines Arndt, Fichte, Körner oder Schiller wirkte in diesen An- sprachen in gedämpfter Weise nach, sodass sich der Tag der deutschen Einheit zum Gedächtnisort formieren konnte,2409 in dessen Kontext die Aufständischen des 17. Junis zur Stabilisierung des eigenen Wertekanons zu „Fackelträger[n] der Freiheit“ erhoben

2402 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 111. 2403 Vgl. ebd., 111 f. 2404 Vgl. ebd., 112-115. 2405 Vgl. die Reden für die Jahre 1954-1963 (Franz Böhm, Gerhard Ritter, , Theodor Litt, Hans Seidel, Werner Conze, Ulrich Mann, Hans Wenke, Helmut Thielicke, Hans Peters), die nach der gesetzlichen Einführung des Einheitstages im Jahr 1963 gemeinsam in einer von der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Kuratorium Unteilbares Deutschland verantworteten Publikation versammelt wurden. (Hupka [Hg.], 17. Juni, 27-112). 2406 Vgl. Reichel, Schwarz, 56-64. 2407 Vgl. Sütterlin, Tag, 28. 2408 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 185 f. 2409 Vgl. König, Gedenk- und Festtage, 74-77. 338 wurden, weshalb man auch im Gegenzug sinnfällig mit Fackelmärschen und Feuern an deren Einsatz erinnerte.2410 Der Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Hans Oberländer,2411 erklärte bei einer der ersten auf die Ereignisse von 1953 zurück- blickenden Kundgebungen am Vorabend des 17. Juni 1954,2412 dass sich immer stärker erweise, dass die Freiheit des Abendlandes durch die Sowjets gefährdet sei. Als Alternative, die sich aus dieser antagonistischen Situation ergebe, verbleibe daher nur, den Anderen die Freiheit zu bringen oder das Joch auf sich zu nehmen.2413 Das An- liegen des 17. Junis sollte sich, so Jakob Kaiser, nicht in reiner Erinnerung erschöpfen, sondern prospektiv auf die Wiedervereinigung ausgerichtet sein,2414 was in einer Beur- teilung Franz Thediecks darin gipfelte, dass er die für die Gestalt des Freiheitsdiskurses entscheidende Frage nach „Kollektiv oder Gemeinschaft – Zwang oder Freiheit?“ im Zusammenhang mit den am 17. Juni vertretenen Forderungen nach Wiedervereinigung zur Diskussion stellte.2415 Im Jahr 1955 trat der Historiker Gerhard Ritter am Einheitsgedenktag vor die Ver- treter von Legislative und Exekutive, um mit Einheits- und Freiheitsrhetorik beladen daran zu erinnern, dass „die Rettung und Sicherung der Freiheit [...] nicht ohne Opfer zu haben“ ist.2416 Ritter greift in seiner Rede auf das Vorstellungsgut einer spezifisch deutschen Freiheit zurück, die antiwestliche, modernitätsskeptische und demokratie- kritische Ressentiments erneuert: „Damit komme ich [i.e. Gerhard Ritter] auf eine der besten und wertvollsten Überlieferung deutscher Geschichte zu sprechen, die uns keinesfalls verloren gehen darf im Eifer, ein modernes demokratisches Volk im Sinne der westlichen Welt zu werden. Es gibt eine eigene, dem Westen gegenüber selbständige Entwicklung deutscher Freiheitsideale, die wir darum nicht vergessen sollten, weil sie unersetz- bare politische Einsichten und sittliche Antriebe enthielt.“2417

Kant, Humboldt und Freiherr vom Stein, listet Ritter eine Genealogie positiver Bezugspersonen zwecks historischer Legitimierung auf, stünden in dieser Tradition.

2410 Vgl. Fackelträger der Freiheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 110 vom 16.06. 1954, 983. 2411 Vgl. zu Oberländer: Mathias Behr, Rainer Oberfelder, in: Kempf/Merz (Hg.), Kanzler, 515-521 2412 Vgl. Kampf für die Freiheit. Recht auf Heimat und Recht auf die Rückkehr in die Heimat, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 111 vom 19.06. 1954, 998. 2413 Vgl. Die Bundesrepublik gedenkt des 17. Juni, in: FAZ Nr. 128 vom 18.06. 1954, 4. 2414 Jakob Kaiser, Neue Aktivität für die Wiedervereinigung. Der Sinn des 17. Juni kann sich nicht nur in bloßer Erinnerung erschöpfen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 110 vom 16.06. 1954, 981. 2415 Franz Thedieck, Kollektiv oder Gemeinschaft? – Zwang oder Freiheit? Wie soll das wiedervereinigte Deutschland aussehen? – Grundlage müssen die Menschenrechte sein, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 142 vom 03.08. 1954, 1273 f. 2416 Ritter, Rede, 43. 2417 Ebd., 43 f. 339 Dem älteren deutschen Liberalismus, dessen Gründungshelfer sie gewesen seien, hätten sie ihr Staatsverständnis als Hinterlassenschaft aufgetragen und dafür gesorgt, womit Ritter auf eine positive Staatstradition zu sprechen kommt, dass in Deutschland der Staat mehr als ein Schutzdach des Privategoismus der einzelnen Staatsbürger sei. Auch Freiheit, schließt sich das analoge Argument hierzu an, sei daher noch etwas anderes und besseres als das Recht, ungestört seinem Privatinteresse nachgehen zu können. Der Staat ist in seinem Verständnis, das direkt mit einem positiven Freiheitskonzept interferiert – unter Gebrauch eines ganzen Arsenals semantischer Deutungsmuster – „politische Volksgemeinschaft, die sich als sittliche Gemeinschaft freier Volksgenossen zu bewähren hat; die Freiheit ist freiwillige Hingabe zum Dienst an solcher Gemein- schaft, in der allein sich der Mensch als sittliches Wesen vollendet und damit erst zur Persönlichkeit im höheren Sinne reift.“2418 Ritter misst – und damit zeigt er die Bemühung, historische Kontinuität und Legitimität zu schaffen sowie gleichzeitig eine „Reinigung“ vertrauter Begriffe von ungewünschten Inhalten vorzunehmen – den genannten Werten Bestand über die Hitlerzeit hinaus zu.2419 Der Redner fände es, wie er vor allzu großen Neuanfangsversuchen warnend bekennt, „schrecklich, wenn in der berechtigten Abwehr totalitärer Staatsformen, überspannter Staatsansprüche an den einzelnen, nun die gute alte deutsche Tradition verloren ginge: daß es nicht nur eine Last, sondern eine Ehre ist, für das Vaterland Opfer zu bringen.“2420 Ritter stimmt dem sonderwegskonstitutiven Deutungsmuster „deutsche Freiheit“ entsprechend ein in die Kritik an einem rein antiinterventionistisch ausgerichteten, ökonomisch motivierten Liberalismus und fordert positive Staatseingriffe: „Die Väter des deutschen Liberalismus wollten keinen deutschen Staat, der eine bloße Aktiengesellschaft zur Sicherung des inneren Friedens und wirtschaftlicher Wohlfahrt wäre; sie wollten ihn nicht möglichst schwach, damit er den Privat- interessen der einzelnen möglichst wenig im Wege stünde, sondern sie wollten ihn stark machen durch Mobilisierung aller Kräfte, durch freiwillige Mitwirkung und Mitverantwortung aller Staatsbürger an der Politik und Verwaltung. Diese Männer wußten aber auch, warum Deutschland seine Freiheit und Einheit erst erkämpfen und schützen mußte, weil es in beiden, in seiner Freiheit und seiner Einheit, stärker bedroht war als irgendein anderes der großen Kulturvölker Europas. Ist das heute etwa anders?“2421

Empirische Erhebungen weisen in die von Ritter dargestellte Richtung, denn das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelte bei einer Umfrage im Februar 1955, dass 67

2418 Ebd., 44. 2419 Vgl. zum „Volksgenossen“ als systemfunktionaler Persönlichkeitstypus des Nationalsozialismus: Dengel, Untertan, 65-81. 2420 Ritter, Rede, 44. 2421 Ebd. 340 Prozent der Befragten der Meinung waren, im Westen herrsche Freiheit, im Osten dagegen Unfreiheit vor.2422 Einheit wurde laut einer anderen Befragung, die knapp ein Vierteljahr später entstand, stärker als Zielvorstellung vertreten als Freiheit.2423 Freiheitsfeuer und Fackelzüge waren Mitte der 50er-Jahre im grenznahen Bereich2424 und in Berlin2425 häufig anzutreffende Erinnerungsrituale, die – so Hans Oberländer, seines Zeichens Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigt bei der Entzündung eines Freiheitsfeuers in Bonn – als Symbole der Freiheit leuchten sollten. Im Volksmund wurde anlässlich der vielen Gedenkveranstaltungen gar von der „brennenden Grenze“ gesprochen. Freiheitsläufe und Wanderungen bildeten gemeinsam mit den Freiheitsfeuern bis in die 60er-Jahre hinein die zentralen Erinnerungsformen und knüpften in ihrer Ausgestaltung an die Völkerschlachtfeiern an, die nach dem Sieg gegen Napoleon reichsweit jeweils am 18. oder 19. Oktober stattfanden.2426 Das ganze Repertoire des Gedenkens kam zum Einsatz: Straßen wurden in Erinnerung an die Geschehnisse des 17. Juni umbenannt; Bonner Bürger schmückten die Rheinbrücken- auffahrt mit den Flaggen ihrer Stadt, Berlins, der Bundesrepublik und der „deutschen Gebiete jenseits der Zonengrenze“ und tauften sie feierlich auf den Namen „Berliner Freiheit“.2427 Die Straße des 17. Juni in West-Berlin ist ein weiteres bekanntes Beispiel für die dinglich gebundene Memorialisierung des Aufstandes. Auch 1956, „drei Jahre danach“, erinnerten noch zahlreiche Flaggen, Mahnfeuer und Gedenkreden an den 17. Juni, dessen historischer Sinn – in systemkompetetiver Eigenlegitimationsabsicht – darin gesehen wurde, „daß hier einem Regime, das behauptet, eine Arbeiterregierung zu sein, diesen Anspruch aber nur zu Ausbeutung der Arbeiter benutzt, eine vernichtende moralische und politische Niederlage bereitet wurde.“2428 Gerhard Schröder erkannte, um nur eine der vielen Stimmen, die zu der Konturierung des Gedenkens im kollektiven Gedächtnis beitrugen, zu Wort kommen zu lassen, in den Geschehnissen in Ostberlin den „Ausbruch eines grausam unterdrückten Freiheitswillens“.2429

2422 Vgl. Jahrbuch, Bd. 1, 332. 2423 Vgl. Jahrbuch, Bd. 2, 315. 2424 Vgl. Die Bundesrepublik gedenkt des 17. Juni, in: FAZ Nr. 128 vom 18.06. 1954, 4. 2425 Vgl. z.B. Mahnfeuern an den Grenzen Berlins, in: Die Welt Nr. 138 vom 17./18.06. 1959, 1. Vgl. auch: Kränze für die Opfer des 17. Juni. Berlin am „Tag der Deutschen Einheit“, in: FAZ Nr. 139 vom 18.06. 1956, 3. 2426 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 165-168. 2427 Die Bundesrepublik gedenkt des 17. Juni, in: FAZ Nr. 128 vom 18.06. 1954, 4. 2428 Drei Jahre danach, in: Die Zeit Nr. 24 vom 14. Juni 1956, 3. Vgl. auch: Eisenhower spricht den Deutschen Mut zu, in: FAZ Nr. 139 vom 18.06. 1956, 1. 2429 Gerhard Schröder, Der 17. Juni, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 109 vom 16.06. 1956, 1069. 341 4.5.9 Freiheit als Systemkomparativum und dessen Vereinnahmung im nationalkonservativen Diskurs – Ob „der Mensch frei oder Sklave des Kollektivs sein soll“

Nicht nur der 17. Juni gab Anlass zu Freiheitsbekundungen, denn in Festakten nahmen zahlreiche berufene – und, wie sich aufgrund der Reaktionen herausstellte, auch weniger berufene – Redner im Jahr 1955 die Gelegenheit wahr, an den 150. Todestag Friedrich Schillers zu erinnern. Thomas Mann, Johannes R. Becher, Carl Jacob Burckhardt oder Fritz von Unruh sprachen während der verschiedensten Zusammen- künfte, in denen es zur Rückbesinnung auf nationalkulturelles Gemeinschaftsgut kam.2430 Nicht zuletzt deswegen billigte Bundespräsident Theodor Heuss auf dem Festakt der Schiller-Gesellschaft in Stuttgart dem vielfach als „Freiheitsdichter“ gerühmten Schiller eine „den Volksgeist konstituierende Kraft“ zu.2431 Ein anderer Politiker, Carlo Schmid, wurde auf der gesamtdeutschen Schiller-Feier des Kuratoriums unteilbares Deutschland2432 im Berliner Sportpalast vom Publikum mittels penetranten Beifalls dazu aufgefordert, seine über die Maßen lange Rede zu beenden.2433 Die Zuhörerschaft, die größtenteils aus Vertriebenen bestand, tat mit tosendem Beifall ihren Unmut kund und skandierte in Anlehnung an ein Zitat aus Schillers Wallenstein, das Schmid eingangs seiner etwa einstündigen Rede erwähnt hatte, „Zeige selbst Freiheit!“. Erst als der Festredner nach der Abhandlung von Punk C Ziffer III des Manuskripts erbost das Pult verlassen hatte, legte sich der Lärm der ungeduldigen Besucher. Der Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Universität hatte bereits zuvor für Unmut gesorgt, als er ankündigte, dem Thema nur gerecht werden zu können, wenn er reichlich eine Stunde zur Verfügung haben würde. Jakob Kaiser, Minister für Gesamtdeutsche Fragen,2434 sagte seine Teilnahme ab, als er von Schmids Forderung erfuhr. Die Begründung hierfür war, dass einem Bundesminister mehr Redezeit einge- räumt werden müsse als einem einfachen Abgeordneten. Der Rückbezug auf das kulturelle Erbe ist ein wesentliches Element für das Deutungsmuster einer „deutschen Freiheit“, das häufig anlässlich bestimmter Festtage zum Einsatz kam, um generellere politische Überlegungen kundzutun. Insbesondere um das soeben angesprochene

2430 Vgl. Reichel, Schwarz, 60. 2431 Vgl. „Fest-Akte“, in: Der Spiegel Nr. 21 vom 18. Mai 1955, 34 f. 2432 Vgl. hierzu z.B.: Winkler, Weg, Bd. 2, 159. Ausführlich hierzu: Kreuz, Kuratorium. Dokumente zur Gründung: Volksbewegung „Unteilbares Deutschland“ konstituiert. Für die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit – Kuratorium umfaßt 128 Männer und Frauen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 110 vom 16.06. 1954, 984-986. 2433 Vgl. „Fest-Akte“, in: Der Spiegel Nr. 21 vom 18. Mai 1955, 34 f. 2434 Vgl. Conze/Kosthorst/Nebgen, Jakob Kaiser. Bundesminister. 342 kulturelle Erbe entbrannte angesichts gesamtdeutscher Dichtergedenktage ein heftiger Streit, der über die genuin innenpolitische Dimension auf den Systemvergleich beider deutschen Staaten hinausgriff.2435 Die stilisierte Konfrontation zwischen Sozialismus und Freiheit fand aber nicht nur systemübergreifend statt, sondern bildete ebenso einen beständigen Diskussionspunkt innerhalb der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie, der Schmid angehörte. Einen Weg in die Freiheit durch die sozialistische Gestaltung von Staat und Gesellschaft vertrat Schmids Parteikollege Willi Eichler2436 in einer Parteitagsrede, die er seinen sozialdemokratischen Genossen auf einer Versammlung in Berlin vorgetragen hatte.2437 Sinn, Wert und Organisation der Freiheit werden von ihm mit dem Hinweis, dass die Verwirklichung der Freiheit ungleich schwieriger sei als deren reine Postulierung,2438 aus sozialistischer Sicht erläutert.2439 Freiheit, die dem „Chefideologen der SPD“ Chancengleichheit der Ausgangsposition bedeutet, ist für ihn unablässig an den Wert der Gerechtigkeit gekoppelt.2440 Auf die Relativität der Freiheit im Zusammenspiel mit anderen Werten wies er bereits in einem Aufsatz des Jahres 1938 hin.2441 Noch immer ist – wie bereits in der Schrift aus der NS-Zeit – der selbstverantwortliche und mitbestimmende Mensch das Ideal, das sich gegen den Totalitarismus abhebt.2442 Andererseits betont Eichler, dessen Freiheitsverständnis eine asymmetrische Note eignet, im Rekurs auf das Denkmodell der Notwendigkeit, dass nicht bloßes Objekt zu sein, nicht heiße, dass es keine Unterordnung geben dürfe: „Betriebszwecke, wirtschaftspolitische, gesellschaftliche und kulturelle Zwecke bedingen eine Ein- und Unterordnung. Aber sie muß als notwendig, als sachlich verständlich begriffen werden können: Wer solche Einordnung verlangt, muß sich seinerseits einordnen in die Zwecke der Gemeinschaft, zu deren Erfüllung mit einem kulturellen Inhalt wir alle beitragen sollten.“2443 Durch den expliziten Hinweis auf die „Erfüllung mit einem kulturellen Inhalt“ gibt Eichler zu erkennen, dass er in der Reflexion des Freiheitsbegriffs dessen semantisches Potenzial herausstellt und dafür wirbt, den Begriff mit sozialistischen Inhalten zu verbinden, die eine Kulturgemeinschaft begründen sollen. Erich Fromms

2435 Vgl. zu Johannes R. Bechers Interpretation des „Freiheitsdichters“ unten: v.a. Kap. 4.6.2, 494 f . und Kap. 4.6.5, 510-512 f. 2436 Zur Person Eichlers vgl. Lompe/Neumann, . 2437 Vgl. Eichler, Weg. 2438 Vgl. ebd., 26. 2439 Vgl. zu Eichlers programmatischer Arbeit: Soell, Intellektuelle, 215-221. 2440 Vgl. Lompe/Neumann, Willi Eichler, 18 f. 2441 Vgl. Willi Eichler, Freiheitlicher Sozialismus, in: Lompe/Neumann (Hgg.), Beiträge, 125-129. 2442 Vgl. Eichler, Weg, 27. 2443 Ebd. 343 Werk Die Furcht vor der Freiheit,2444 weitere psychologische Untersuchungen und die Erkenntnisse der Meinungsforschung bestätigen ihm in gegenwartsdiagnostischer Ab- sicht, „daß die Menschen eine Furcht vor der Freiheit entwickelt haben und viel mehr auf Sicherheit, Ordnung, Stabilität und Ruhe aus sind.“2445 Diesen kultur- pessimistischen, „gespenstischen Reigen“ dürfe der Sozialist nicht als „unentrinnbares Schicksal“ akzeptieren,2446 sondere es gelte, gegen die Furcht zu kämpfen. Wichtige Mittel in diesem Kampf um die Freiheit seien die Wissenschaften der Soziologie, der Psychologie, der Nationalökonomie und viele andere mehr. Resümierend bekennt der Sozialdemokrat Eichler: „Freiheit selber läßt sich nicht organisieren. Wir können aber einer freiheitlichen Entwicklung den Weg ebnen, wir können ein Klima schaffen, in dem das Freiheitsgefühl sich wieder schöpferisch betätigen kann.“2447 Für den Weg- bereiter des Godesberger Programms ist die „Befreiung der Arbeitenden“ die „Magna Charta“ auf dem Weg zur Freiheit.2448 „Die ‚Reservearmee’ der Arbeitslosen“, so das Hauptanliegen sozialdemokratischer Politik, „muß durch Maßnahmen der Vollbe- schäftigung endgültig demobilisiert werden.“2449 Das Problem der Freiheit wurde in der Programmatik der Sozialdemokratie noch bis zum Godesberger Programm, dessen – vor allem auch das Freiheitsverständnis der Sozialdemokratie veränderndes – Gedankengut die Rede Eichlers bereits atmet, weitestgehend einseitig aus ökonomischer Sicht betrachtet.2450 Erst mit der von einer neuen Politikergeneration angestrebten Totalrevision der sozialdemokratischen Programmatik kam es zu einem Abrücken vom historisch-materialistischen Freiheitsbegriff des Erfurter und Gothaer Programms.2451 Die sicherlich nicht sozialistisch zu nennende Deutsche Partei, um von der in die Mitte rückenden Sozialdemokratie auf den rechten Rand des politischen Spektrums überzuwechseln, gab sich am 5. November 1955 in Bielefeld Grundsätze und Richtlinien für ihre Politik.2452 Sie vertrat den Anspruch, von Niedersachsen ausgehend ein protestantisch-konservatives Sammelbecken zu etablieren. Mit der Forderung nach der „Einheit Deutschlands in Freiheit und Sicherheit“ unterscheidet sie sich in ihren

2444 Fromm, Furcht. 2445 Eichler, Weg, 27. 2446 Ebd., 28. 2447 Ebd., 28 f. 2448 Ebd., 29. Vgl. für den „Weg zum Godesberger Programm“ auch: Miller, Grundwerte, 28-30. 2449 Eichler, Weg, 29. 2450 Vgl. Miller, Problem, 291-299; hier: 295 2451 Vgl. Hildebrand, Mensch, 60 f. 2452 Vgl. zur DP: Lösche, Geschichte, 158-160. 344 Forderungen nicht maßgeblich von anderen Parteiprogrammatiken,2453 die herausge- hobene Betonung des Aspekts der Sicherheit ist allerdings eher ungewöhnlich. Außenpolitisch tritt die DP für die Wiederherstellung der „deutschen Freiheit“ ein und widersetzt sich damit allen Versuchen, „die die Einheit Deutschlands auf Kosten der deutschen Freiheit und auf Kosten der deutschen Sicherheit herzustellen bestrebt sind.“2454 Im innenpolitischen Denken der Partei sind die semantischen Deutungsmuster ähnlich: „Für die Neuordnung aller sozialen Leistungen als Kernproblem der deutschen Innenpolitik stehen die Grundsätze jener konservativen Politik der Erhaltung der Freiheit, des Rechts und der Würde der Einzelpersönlichkeit vor dem Ideal der Sicherheit.“2455 Dies sei ein legitimer Anspruch in der Massengesellschaft. Auf der Bielefelder Versammlung wurden Zwanzig Thesen einer freiheitlich-konservativen Politik verabschiedet, die ausgehend von „der großen geistigen und machtpolitischen Auseinandersetzung unserer Zeit“, die Frage behandeln, ob „der Mensch frei oder Sklave des Kollektivs sein soll“ und mit der aporetischen Erkenntnis schließen: „Der Mensch ist frei oder er ist es nicht.“2456 Der Grundzug der von der DP vertretenen freiheitlich konservativen Politik ist „die Verteidigung der persönlichen Freiheit im persönlichen und öffentlichen Bereich“2457 – also einmal mehr der zwischen Individuum und Kollektiv angesiedelte Personalismus. Die „freiwillige Anerkennung der Autorität des Staatswillens“ ist ein Element der in den Thesen vertretenen Demokratie- vorstellung,2458 deren Menschenbild von den unmittelbaren Erfahrungen des „Dritten Reichs“ geprägt ist. Das persönliche Freiheitsbewusstsein, legt das Programm mit Blick auf die Vergangenheitsprägung der konservativ-klerikalen Politik der DP fest, sei aus dem Erlebnis des Zusammenbruchs und der Niederlage erneut hervorgegangen. Das „Vertrauen des schlichten Staatsbürgers in die Gerechtigkeit der Obrigkeit“, ist in ebenso vergangenheitsgeprägter organischer Semantik zu lesen, sei „die Grundlage eines gesunden Staats- und Gemeinschaftsbewusstseins.“2459 Nur gestützt durch das Vertrauen der Bürger erachtet die DP es für möglich, eine politische Gemeinschaft zu erhalten, „welche die Kraft aufbringt, die Freiheiten im Innern und nach außen zu

2453 Vgl. Grundsätze und Richtlinien der Deutschen Partei. Bielefeld, 05.11. 1955, in: Treue (Hg.), Parteiprogramme, 320-330; hier: 320. 2454 Ebd. 2455 Ebd., 327. 2456 Zwanzig Thesen einer freiheitlich konservativen Politik. Beschlossen auf dem Bundesparteitag in Bielefeld am 05.11. 1955, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 393-396; hier: 396. 2457 Ebd., 393. 2458 Vgl. Ebd. 2459 Ebd., 394. 345 verteidigen.“2460 Im Kampf gegen „das Gleichmachende in der heutigen Massen- demokratie“ und das gesellschaftliche Mittelmaß sieht sich die Partei geeint.2461 „Deutsche Freiheit“ wurde Mitte der 50er-Jahre somit erneut – diesmal von den wiedererstarkten nationalkonservativen Kräften – als Deutungsmuster innerhalb des politischen Diskurses aufgegriffen. Einer der maßgeblichen Protagonisten dieser Bewegung, der ehemalige Mitstreiter und spätere Widersacher Hitlers, Otto Strasser, votierte zehn Jahre nach der Teilung Deutschlands für eine Volksabstimmung über die Wiedervereinigung. In einem Manifest, das auf den 22. November 1955 datiert, forderte der aus Kanada nach Westdeutschland zurückgekehrte Bruder Gregor Strassers dazu auf, die „Provisorien von Bonn und Pankow“ aufzulösen und auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung in einen neutralen gesamtdeutschen Staat zu über- führen.2462 Am 17. Juni 1956 folgte die von gewalttätigen Auseinandersetzungen be- gleitete Gründung der Strasserschen Partei, der „Deutsch-Sozialen Union“,2463 die sich als „Garant der deutschen Freiheitsbewegung“ gerierte.2464 Als Sprachrohr für seine rechtsextremistische Politik rief Strasser wenig später die Deutsche Freiheit ins Leben, eine Zeitung die seit dem 1. Oktober 1956 zunächst halbmonatlich, ab 1. Januar 1958 wöchentlich erschien. Sie wurde in München verlegt und verfolgte als ihr Anliegen „die Unabhängigkeit des deutschen Volkes“.2465 Ihr besonderes Augenmerk galt, wie der Nebentitel auswies, – in unverkennbarer, bewusst durch die Wortlautgleichheit heraufbeschworener Nähe zum Gedankengut des Nationalsozialismus – Fragen der nationalen und sozialen Politik. Lediglich die „Verfälschung des Sozialismus durch Adolf Hitlers imperialistische Politik“ wird, allerdings nur in einem einzelnen Beitrag, als differenzstiftendes Merkmal zum ohne Umschweife benannten Vorbild des rechtsradikalen Organs angeführt.2466 Weiterhin vertrat Strasser mit seiner Partei die Ideen einer konservativen Revolution, eines ständisch geordneten Staates und eines Mittelweges zwischen „Amerikanismus

2460 Ebd. 2461 Ebd. 2462 Volksabstimmung über Wiedervereinigung, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 1 vom 01.10. 1956, 1. 2463 Vgl. Die Deutsch-Soziale Union, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 2 vom 15.10. 1956, 2464 Weg und Ziel: Unser Bekenntnis zu Deutschlands Erneuerung, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 13 vom 01.07. 1957, 4-6; hier: 6. 2465 Zum Geleit, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 1 vom 01.10. 1956, 1. 2466 Eine Partei tritt an. Das Echo von Miltenberg. Erster Teil, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 1 vom 01.10. 1956, 8. 346 und Bolschewismus.“2467 Der Strasser-Partei nahe stehende, militante Organisationen, wie Nie vergessene Heimat und Bund für Deutschlands Erneuerung, wurden Mitte Oktober 1956 in Berlin verboten.2468 Mittels des parteinahen Mediums, das für seinen Verleger laut Eigenaussage „das wichtigste Mittel zur Erziehung der Kameraden“ darstellte,2469 sollte – und darin wird das außenpolitisch dominierte, mit der NS- Ideologie übereinstimmende Freiheitsverständnis erkenntlich – die „Freiheit des deut- schen Volkes vertreten“ werden.2470 Die Besonderheit der bundesrepublikanischen Situation fanden Herausgeber und Mitarbeiter der Neuerscheinung im – vermeintlich von außen aufgezwungenen – abweichenden Umgang der Deutschen Nation mit der Freiheit im Rahmen des internationalen Kontextes: „Überall sonst auf der Erde ist die Freiheit höchste Forderung politisch reifer oder reifender Nationen. Nur die Deutschen haben sich einreden lassen, daß Freiheit ihnen weder bekömmlich noch kleidsam ist. Willig haben sie, von der Niederlage betäubt, das Argument geschluckt, daß Freiheit für jedes andere Volk der Erde ein Ideal, für die Deutschen aber schädlich und ungesund ist. So blieb Deutschland eine nationale Ruine.“2471 In Rekurs auf Artikel 1 des Grundgesetztes vertreten die Zeitungsmacher die These, dass es über die individuellen Menschenrechte hinausgehende Menschenrechte der Völker gebe, zu denen die Redaktion „die politische Freiheit, das Recht auf nationale Einheit und einen Friedens- vertrag“ zählt.2472 Allen freiheitlich Gesinnten wollte die Zeitung ein Forum bieten, das in einer Vielzahl von Beiträgen Gelegenheit dazu einräumte, die Mißstände der Parteien- Demokratie anzuprangern.2473 Als Gegenmodell propagierte die Deutsche Freiheit eine Stände-Demokratie.2474 Das Geleitwort der Erstausgabe rief zu Einheitsbestrebungen „alle jene Deutschen auf, die, in den verschiedensten Lagern stehend, mit unserer Freiheit an das Schicksal von Frau und Kind und an das Urteil der Geschichte

2467 Die Parolen der Strasser-Partei, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 13 vom 01.07. 1957, 1 f. 2468 Vgl. Zum Berliner Verbot, in: Deutsche Freiheit. Zeitung für nationale und soziale Politik Nr. 2 vom 15.10. 1956, 6. 2469 Weg und Ziel: Unser Bekenntnis zu Deutschlands Erneuerung, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 13 vom 01.07. 1957, 4-6; hier: 4. 2470 Zum Geleit, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 1 vom 01.10. 1956, 1. 2471 Ebd. 2472 Zum Geleit, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 1 vom 01.10. 1956, 1. 2473 Vgl. Mißstände der Parteien-Demokratie, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 4 vom 15.11. 1956, 3. 2474 Vgl. Parteien-Demokratie oder Stände-Demokratie, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 21 vom 08.07. 1958, 4. 347 denken.“2475 In einem Grußwort zur Erstausgabe wies der Präsident der Europäischen Volksbewegung, Frédèric Becker aus Straßburg, darauf hin, dass der Verzicht auf die „deutsche Freiheit“ zwangsläufig in die Armut führen müsse, insofern sei der Wille nach „deutscher Freiheit“, der im Kopf der neuen Zeitung zum Ausdruck komme, in jeder Hinsicht gerechtfertigt.2476 Der Straßburger Ordinarius sieht „in der Ehe zwischen der französischen Marianne und dem deutschen Siegfried das Heil Frankreichs und Deutschlands“,2477 gleichwohl schrieben zahlreiche Artikel in antiwestlicher Manier gegen England, Frankreich und Amerika an2478 und forderten die Überwindung des materiellen Weltbildes,2479 denn eine überzogene Freiheit des Individuums störe das harmonische Zusammenleben großer nationaler Gemeinschaften.2480 Auf der anderen Seite wurde die Vermassung als „Todesgefahr“ bezeichnet.2481 Im ideologischen Spektrum des Blattes finden sich – nahezu parallel zum Deutungsmuster einer „deutschen Freiheit“ – organisches Ordnungsdenken,2482 Antiliberalismus und Anti- marxismus gekoppelt an ein Bewusstsein von der Besonderheit der deutschen Ge- schichte.2483 Trotz intensiver Abonnentenreklame unter anderem mit der Losung „Werben für die Deutsche Freiheit heißt kämpfen für die Freiheit Deutschlands!“2484 war die Zeitung kein sonderlich erfolgreiches Unternehmen:2485 Zu Strassers 60. Geburtstag bot der Verlag ein halb- oder ganzjähriges Sonderabonnement der Zeitung als Geschenkidee feil.2486 Ein Pressefonds war ein weiterer erfolgloser Versuch zur Rettung der

2475 Zum Geleit, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 1 vom 01.10. 1956, 1. 2476 Vgl. Ein Gruß aus Frankreich, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 1 vom 01.10. 1956, 5. 2477 Ebd. 2478 Vgl. z.B. Die Schuld des Westens, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 2 vom 15.01. 1957, 4. 2479 Vgl. z.B. Wilhelm Schulte, Die neue Schule. Die Freiheit des Andersdenkenden, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 3 vom 01.02. 1957, 3. 2480 Vgl. Viktor Keller, Die Freiheit des Individuums und der Staat, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 16 vom 15.08. 1957, 3. 2481 Vgl. Die Todesgefahr der Vermassung, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 19 Erste Oktoberausgabe 1959, 5. 2482 Vgl. Friedrich Dreger, Organisches Denken und neue Ordnung, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 18 vom 15.09. 1957, 3. 2483 Vgl. „Ein Zeitalter geht zu Ende“, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 14 vom 15. Juli 1957, 5. 2484 Vgl. z.B. in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 15 vom 01.08. 1957, 7. 2485 Vgl. auch: Otto Strasser, An alle Freunde und Leser!, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 20 vom 15.10. 1957, 3. 2486 Vgl. Geburtstags-Abonnements, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 16 vom 01.08. 1957, 2. 348 Zeitung.2487 Die Deutsche Freiheit stellte trotz zahlreicher Bemühungen im Jahr 1960 ihr Erscheinen ein. In den 50er-Jahren war, wie das Beispiel der Strasserschen Zeitung ex negativo zeigt, der Nachholbedarf an politischer Bildung enorm. Um den von ihm als wichtigen Punkt ausgemachten Konnex von innerer Freiheit der Gesinnung und äußerer Freiheit des politischen Lebens argumentativ zu unterstützen, gab Friedrich Oetinger Materialien für die Erziehung zur politischen Freiheit an Schulen und Hochschulen heraus. Seine Motivation, die aus einer offensichtlichen emotionalen Abnutzung des Freiheitsbegriffs hervorging und ihn zur Veröffentlichung einer edukativen Schrift veranlasste, war, dass es offenbar darauf ankomme, „daß wir eine neue Konzeption der Freiheit gewinnen, die verpflichtender ist und stärker zu erregen vermag als die verblaßten Begriffe, die sich gestern an dieses Wort knüpften.“2488 In einem Kapitel der pädagogischen Abhandlung räsoniert Oetinger über „deutsche Freiheitsträume“.2489 Zwei Denkgewohnheiten seien charakteristisch für den Umgang mit Freiheit in Deutschland: „Die eine besteht darin, Freiheit vorwiegend als eine Sache der Innerlichkeit zu betrachten, die andere darin, die Idee der politischen Freiheit vorwiegend an außenpolitische Vorstellungen anzu- lehnen.“2490 Beide Überlieferungen, so die gestellte Aufgabe, gelte es schonend zu überwinden. Eine weitere Bedrohung der Freiheit ist in den Augen Oetingers der Kollektivismus, der deshalb zur Bedrohung ausgewachsen sei, weil der Einzelne in den Planungen der „Ostideologie“ keine Rolle mehr spiele, denn „[i]m Rahmen eines solchen Dogmas ist für die Freiheit der Person kein Platz [...] Das Kollektiv sammelt die menschlichen Einheiten zusammen; je größer die Masse, um so geballter die Energie- ladung, die von oben gesteuert werden kann.“2491 Statt der metaphysischen Freiheits- begriffe gelte es, in demokratiepraktischer Absicht „einen erlebten und erlebbaren Freiheitsbegriff“ zu schaffen.2492 Mit der Aufgabe, eine freiheitliche Praxis zu ermöglichen, waren in der jungen Bundesrepublik vor allem die Parteien maßgeblich betraut. Für die Freie Volkspartei, um eine kleinere Partei zu nennen, erwuchs etwa aus dem „Recht auf Freiheit [...] die Pflicht zur Wahrung der Freiheit“ mittels allgemeiner Wehrpflicht.2493 Der Sozialismus

2487 Vgl. An die Leser der Deutschen Freiheit!, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 24, Zweite Dezemberausgabe 1959, 5. 2488 Oetinger, Freiheit, 7. 2489 Vgl. ebd., 25-27. 2490 Ebd., 25. 2491 Vgl. ebd., 67. 2492 Ebd., 71. 2493 Leitsätze der Freien Volkspartei von 1956 (21.04. 1956), in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 418-420; hier: 419. 349 ende, wird in antisozialistischer Grundhaltung beteuert, wie die Geschichte lehre, in der Unfreiheit, und führe zur totalen Abhängigkeit vom Staat. Einen solchen Weg möchte die Freie Volkspartei nicht mittragen, vielmehr erblickt die FVP „im wahrhaft sozialen Fortschritt das Mittel, die Freiheit zu fördern“,2494 da allein der freie und zum Leben aus eigener Kraft befähigte Staatsbürger „den Glauben an das Leben der Staatsgemein- schaft“ rechtfertigen könne.2495 Die Frage danach, welche Gestalt der Staat in naher Zukunft annehmen sollte, – einige Vorschläge, vor allem aus dem nationalkonservativen Bereich konnten im Verlauf der Untersuchung schon vorgestellt werden – schob sich Mitte der 50er-Jahre immer drängender in das öffentliche Bewusstsein.2496 Das Bundesverfassungsgericht mit Sitz in Karlsruhe verhängte im weiteren Rahmen dieser Frage am 17. August 1956 ein Parteienverbot über die Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).2497 Mit massiver Unterstützung der SED strahlte trotz des Gerichtsurteils der Deutsche Freiheitssender 904 vom Gebiet der DDR weiterhin Werbesendungen für die KPD aus, was deren materielle Förderung durch die DDR belegt.2498 Das Programm des Senders wetterte massiv gegen das „Schandurteil der Adenauer-Justiz“. Bei den ersten Bundestagswahlen im Jahr 1949 hatte die KPD immerhin 5,7 Prozent der Stimmen errungen und hatte 15 Abgeordneten in das Parlament entsenden können.2499 Bei der zweiten Wahl war sie am Einzug ins Parlament gescheitert, was längerfristig zur Radikalisierung ihrer Positionen beitrug.2500 Die sozialistische Revolution und der Sturz der „Adenauer-Herrschaft“ waren die Ziele, die sie propagierte. In der Urteilsbe- gründung, die die Verfassungswidrigkeit der KPD erläutert, verlautbarte das Verfassungsgericht, dass „die Diktatur des Proletariats [...] mit der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes unvereinbar“ ist.2501 Diese Entscheidung

2494 Ebd. 2495 Ebd., 420. 2496 Vgl. Brill, Grundordnung, 19. Brill weist darauf hin, dass diese Frage insbesondere für die Angehörigen der öffentlichen Verwaltung „in besonderer Weise schicksalsbestimmend ist.“ (AaO., 19). 2497 Vgl. für die Prozessanträge der Bundesregierung: Die KPD ist verfassungswidrig. Die Anträge des Prozeßvertreters der Bundesregierung und das Eröffnungsplädoyer in dem Verfahren vor dem Bundes- verfassungsgericht, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 224 vom 30.11. 1954, 2064-2066; für das Urteil (BVerfG 5, 85): Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956, zit. nach: Denninger (Hg.), Grundordnung, Erster Teil, 119-154. Vgl. zur Partei: Lösche, Geschichte, 168-173. Eine Gesamtdokumentation der Verhandlungen vor dem BVerfG bieten: Pfeiffer/Strickert (Hgg.), Dokumentarwerk. 2498 Verbotene KPD im Äther, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 200 vom 23.10. 1956, 1904 f. 2499 Vgl. Die Bundestagswahlen 1949 und 1953, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 129 vom 11.07. 1953, 1093 f. 2500 Vgl. hierfür: Dokumente der KPD 1945-1956. 2501 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956, zit. nach: Denninger (Hg.), Grundordnung, Erster Teil, 119-154, hier: 134. 350 hatte Auswirkungen auf die öffentliche Vertretbarkeit des sozialistischen Freiheits- begriffs, da die Anschauung von einem Reich der Freiheit als Endziel der Geschichte eng an die Diktatur des Proletariats gebunden ist.2502 Weiterhin bemerkten die Richter, das Grundgesetz knüpfe, indem die von ihm geschaffene Staatsordnung eine „freiheit- liche Demokratie“ sei, „an die Tradition des ‚liberalen Rechtsstaats’ an, wie er sich im 19. Jahrhundert allmählich herausgebildet hat und wie er in Deutschland schließlich in der Weimarer Verfassung verwirklicht worden ist.“2503 Im Urteil wird die aus einer utopischen Zukunft hergeleitete Determination des geschichtlichen Endziels als freiheits- und gemeinschaftsgefährdend angesehen. „Freiheit der Mitbestimmung ist nur möglich,“ urteilen die Richter unter Hinweis auf die formalen Voraussetzungen der Demokratie, „wenn die Gemeinschaftsentscheidungen – praktisch Mehrheits- entscheidungen – inhaltlich jedem das größtmögliche Maß an Freiheit lassen“.2504 Die Verfassungshüter verteidigen mit ihrem Urteil ein ausgeglichenes Verhältnis von Bürger und Staat. Das Recht auf Freiheit und Gleichbehandlung durch den Staat schließe jede wirkliche Unterdrückung des Bürgers durch den Staat aus, weil alle staatlichen Entscheidungen den Eigenwert der Person achten und die Spannungen zwischen Person und Gemeinschaft im Rahmen des auch dem Einzelnen Zumutbaren ausgleichen solle, war der Urteilsbegründung zu entnehmen.2505 Fortan spielte die KPD, trotz gegenteiliger Befürchtungen, sie könnte im Untergrund weiterarbeiten, keine bedeutende Rolle innerhalb der politischen Landschaft der Bundesrepublik mehr. In der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie wurde auch von anderer Seite auf die grundgesetzlich verbürgte Freiheit der Menschen hingewiesen. Der Philosophieprofessor und Ordensgeistliche Bochenski warf die von vielen Zeitgenossen gestellte – und wie oben ausgeführt, vom Verfassungsgericht negativ beschiedene – Frage auf, „ob die kommunistische Ideologie mit der Anerkennung der Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 verträglich ist.“2506 Er bescheidet negativ: Der Kommunismus verweigere dem Einzelmenschen die Wertautonomie, denn nicht allen Menschen komme dort die grundsätzliche Freiheit zu, vielmehr werde sie den Zugehörigen der antagonistischen Klasse abgesprochen. Die kommunistische Ideologie vertrete, führt Bochenski zu deren asymmetrischer Freiheitsdoktrin aus, „die freiwillige

2502 Vgl. zu den Grundlagen des sozialistischen Freiheitsverständnisses unten: Kap. 4.6.1. 2503 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956, zit. nach: Denninger (Hg.), Grund- ordnung, Erster Teil, 132. 2504 Ebd., 132 f. 2505 Ebd., 133. 2506 Bochenski, Ideologie, 7. 351 Unterordnung des Menschen unter die Gesetze der kollektivistischen Gemeinschaft in einer mythischen Zukunft“.2507 Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts – und aufgrund der gesamtgesellschaftlich dominanten antikommunistischen Auffassungen – war die Bandbreite des Deutungsmusters Freiheit im öffentlichen Diskurs um die kommunis- tische Interpretation der Freiheitsidee, die eine umfassende Alternative zum demokratisch-parlamentarischen System der Bundesrepublik bieten wollte, einge- schränkt worden.

4.5.10 Parteiprogrammatische Neubewertung des Freiheitsbegriffs und einsetzende Fortschrittskritik – „Surrogatformen der individuellen Freiheit“

Komplementär zu ersten greifbaren Resultaten einer wehrhaften Verteidigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes durch Judikatur und Gesellschaft fand Freiheit als Wertzielvorstellung Ende der 50er-Jahre zunehmend Eingang in die Parteiprogrammatik. Der Gesamtdeutsche Block/Block der Heimat- vertriebenen und Entrechteten (GB/BHE), den die Besatzungsmächten zunächst nicht zuließen, weshalb er erst 1950 nach der Aufhebung des Lizensierungsvorbehalts gegründet werden konnte, beteiligte sich 1951 erstmals auf bundespolitischer Ebene.2508 Seit 1945, ist in den Leitsätzen von 1957 zu lesen,2509 ringe das deutsche Volk vor dem Hintergrund der Aufteilung in zwei Machtblöcke um seine nationale Einheit, seine innere und äußere Freiheit und eine gerechte soziale Ordnung.2510 Das Bekenntnis zur Freiheit der Nation bedeute – hier wird unterschwellig auf den Vorstellungs- zusammenhang so genannter äußerer „Reichsfeinde“ angespielt – ein klares Votum für ihren Schutz gegen äußere Bedrohung. Die konservative Gruppierung vertritt in ihrer semantischen Ausrichtung auf einen positiven Freiheitsbegriff, der mit einer Über- ordnung der Gemeinschaft einhergeht, eine verantwortungsbewusste Politik der Freiheit gegenüber dem „Volksganzen“. Die FDP, anders als der Block der Heimatvertriebenen, gilt schon infolge ihres Namens als politische Fürsprecherin der Freiheit, was den Bundesvorsitzenden der Partei, ,2511 in einer Rede auf dem VIII. Bundesparteitag der FDP 1957

2507 Ebd., 73. 2508 Vgl. Lösche, Geschichte, 166-168. 2509 Vgl. zum BHE Ende der 50er-Jahre: Neumann, Block, 168-228. 2510 Vgl. Leitsätze von 1957, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 428-448; bes. 446. 2511 Vgl. zum Wirken Maiers in der genannten Zeit: Matz, Reinhold Maier, 435-477. 352 in Berlin dazu veranlasste, die Delegierten eindrücklich an die „Überlegenheit des freiheitlichen Prinzips“ zu erinnern.2512 Jedoch, geht Maier auf die Sondersituation des geteilten Deutschland ein, könne dies nicht am deutschen Staat bewiesen werden, da er noch nicht bestehe. Lediglich im Sektor der Wirtschaft sei es bereits möglich, dem nachzukommen: „Es ist festzustellen: Nach 1945 hat das deutsche Volk in einem freien Wirtschaftssystem die Leistungen der Diktatur weit und sichtbar übertroffen. Das freie Wirtschaftsprinzip hat seine klare Überlegenheit bewiesen.“2513 Maier verwehrt sich infolge des positiv zugunsten der freien Marktwirtschaft ausfallenden Systemvergleichs gegen sozialistische Experimente und fordert den Abbau der Staatstätigkeit, um die Nation im „Reich aller Deutschen“ in Freiheit und Einheit verwirklicht sehen zu können.2514 Auf dem Parteitag in der „Reichshauptstadt“, den Maier mit seiner Rede eröffnete, verabschiedete die FDP das Berliner Programm, das zu zehn Thesen komprimiert war,2515 und worin die Sicherung der Freiheit des Menschen zu verantwortlichem Handeln auf allen Lebensgebieten die Kernaussage bildete.2516 Freiheit bedeutet in dieser Deutungsvariante „frei zu sein von Zwang, Not und Furcht, bedeutet das Recht zur ungehinderten Entfaltung der Persönlichkeit und zur verantwortungsvollen, auf eigenem Urteil beruhenden Bestimmung unseres Schicksals.“2517 Zugleich wird kritisch vor überdehntem Individualismus gewarnt, da wahre Freiheit nie Schrankenlosigkeit sein könne: „Sie findet ihre Grenze in der Freiheit des Nächsten, der selbst- verständlichen Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft und in der Bindung an die Sittengesetze.“2518 Die FDP möchte verhindern, so ihr programmatischer Anspruch, dass die Freiheit als gestaltendes Element aus dem Dasein der Menschen verschwindet, die schöpferischen Kräfte verkümmern und die Gesellschaft nach lebensfremden Regeln politischer Heilslehren ausgerichtet werde. Sie betont angesichts dieser Tendenzen explizit, dass sie sich als die einzige Partei sieht, die auf allen Lebensgebieten freiheitliche Ordnungen wolle und verweist auf die damit verbundenen Konsequenzen für die Verantwortung des Einzelnen: „Freiheit ist anspruchsvoll. Es ist einfacher, Befehlen anderer zu folgen, als sich selbst zu entscheiden. Es ist bequemer, die Verantwortung anderen zu überlassen, als selbst Verantwortung zu übernehmen. Der

2512 Reinhold Maier, Das wollen wir, in: Mischnick (Hg.), Verantwortung, 573-595; hier: 576. 2513 Ebd. 2514 Ebd., 592-595. 2515 Bundesparteileitung der FDP (Hg.), Berliner Programm. 2516 Vgl. ebd., 3. 2517 Ebd., 6. 2518 Ebd. 353 demokratische Staat hat jedoch nur Bestand, wenn der Staatsbürger seine Freiheitsrechte nutzt und sich auf Grund eigenen Urteils selbst entscheidet.“2519 Daher sieht sich die FDP in ihrer Selbstbeschreibung als die politische Heimat aller Deutschen, die sich zur Freiheit des einzelnen Menschen und zur Freiheit ihres Volkes bekennen. Die CSU benennt – dem Trend programmatischer Neuorientierung gegen Ende der 50er-Jahre folgend – in ihrem Grundsatzprogramm von 1957 christlich-soziale Vor- stellungen einer Gesellschaftsordnung in einer „durch fortschreitende Technisierung, Industrialisierung und Vermassung“ gekennzeichneten Zeit.2520 Die Partei erklärt – semantisch analog zur marxistischen Theorie – das „liberale Zeitalter des Individu- alismus mit seinen hochkapitalistischen Erscheinungsformen“ für überwunden, schließlich habe – und damit wird dann doch die ideologische Frontstellung der Christsozialen zum Marxismus deutlich – auch der historische Materialismus sich als Irrweg erwiesen und sei als Theorie überlebt. Hieraus leitete die CSU die Folgerung ab, dass die „dem persönlichkeitsfeindlichen Kollektiv und einem alles auflösenden Zeit- geist preisgegebene Gesellschaft“ einer neuen, auf den Geboten Gottes gegründeten Gesellschaftsordnung bedürfe.2521 In der Perspektive der Christsozialen verbürgen allein diese Grundzüge, indem eine Vermittlung angestrebt wird, „das richtige Verhältnis zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Bindung, zwischen Individuum und Gemeinschaft.“2522 Ludwig Erhard, Bundeswirtschaftsminister für die Union, der von vielen Beobachtern als personifiziertes Wirtschaftswunder ausgemacht wurde,2523 forderte 1957 auf dem 7. Bundesparteitag seiner Partei mit der berühmt gewordenen Wendung „Wohlstand für alle“.2524 Der Kabinettsangehörige sprach über die Korrelation der freiheitlichen Gesellschaftsordnung und menschlichen Freiheit mit individualistischen oder kollektivistischen Wirtschaftsauffassungen. „Alles, was wir zu veranstalten ver- mögen, um den einzelnen Menschen zur Selbstbesinnung zu bewegen,“ befindet Erhard, „ist geeignet, ihn dem verderblichen Einfluß des Kollektivs zu entreißen; ein denkender Mensch wird solchem Seelenfang widerstehen.“2525 Unter großem Beifall der

2519 Ebd., 3. 2520 Grundsatzprogramm 1957. Beschlossen am 1. Juni 1957 in München, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 219-225; hier: 220. 2521 Ebd. 2522 Ebd. 2523 Vgl. Morsey, Bundesrepublik, 94. 2524 Vgl. Rede von Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 108-118; Görtemaker, Geschichte, 172-174. Vgl. zum Hamburger Parteitag: Kleinmann, Geschichte, 166-169. 2525 Rede von Bundeswirtschaftsminister Prof. Dr. Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 108-118; hier: 114 f. 354 Delegierten gab er seiner positiven Zukunftserwartung für Deutschland Ausdruck: „Ein Volk, das das Gift kollektivistischen Ungeistes auszuschwitzen stark genug ist, eröffnet sich damit nicht nur den Weg zu geistiger Freiheit und Unabhängigkeit, sondern auch zu Wohlstand und Sicherheit.“2526 In der Zeit des Wirtschaftswunders erhoben sich allerdings nach und nach kritische Stimmen, die nach der sozialen Kohäsion unter Bedingungen des industriellen Fort- schritts fragten.2527 Statt demokratisierendem Luxus nachzustreben, klagte beispiels- weise Bundesinnenminister Gerhard Schröder während einer Freisprechungsfeier Opfer für die Allgemeinheit ein.2528 Modernisierungsfolgen wurden zunehmend als belastend für das Zusammenspiel des sozialen Ganzen mit der Freiheit der einzelnen Person wahrgenommen.2529 „Das Land der großen Mitte“, wie Hermann Glaser die goldenen Jahre des Wirtschaftswunders bezeichnet, hatte sich anscheinend übersättigt,2530 woraufhin sich erstmals in größerem Rahmen Kritik an der Sozialstaatlichkeit moderner Gesellschaften erhob.2531 In diesem Kontext tat sich die Deutsche Partei hervor, die als freiheitliche und konservative Kraft in den Bundestagswahlkampf des Jahres 1957 mit dem Anliegen eintrat, sich für Freiheit und Sicherheit nach innen und nach außen einzusetzen. Beide Werte erachtete die DP als durch die Teilungssituation bedroht, weshalb sie insbesondere der Verteidigung der Freiheit des deutschen Volkes gegenüber der „Gewaltherrschaft in Mitteldeutschland“ große Beachtung schenkte2532 und in ihren zwanzig Thesen die Gefährdungslage für die Freiheit formulierte.2533 Die DP befand, indem sie auf die Gefahren einer ausufernden Sozialstaatstätigkeit hinwies, dass „weder im vollendeten Wohlfahrtsstaat noch im durchgebildeten Versorgungsstaat“ 2534 die persönliche Freiheit gedeihen könne, denn gerade die Gewährleistung sozialer Sicher- heit dürfe den Antrieb zu eigener Vorsorge nicht schwächen.

2526 Ebd., 115. 2527 Vgl. z.B.: Heinz Lossen, Ist der Wohlstand eine Gefahr? Das Problem des Lebensstandards wirtschaftspolitisch, psychologisch und ethisch, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 134 vom 22.07. 1955, 1133 f. Vgl. aus nationalkonservativer Sicht: Quo vadis Wirtschaftswunder?, in: Deutsche Freiheit. Zeitschrift für nationale und soziale Politik Nr. 14 vom 15.07. 1957, 6. 2528 Gerhard Schröder, Gefahren für die Freiheit unseres Volkes, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 216 vom 16.11. 1956, 2065 f.; 2068. 2529 Vgl. den Aufsatz von Freyer mit dem Titel „Das Soziale Ganze und die Freiheit der einzelnen unter Bedingungen des industriellen Zeitalters“ (ders., Freiheit). 2530 Vgl. hierzu: Glaser, Kultur, 251-316. 2531 Vgl. Greiffenhagen, Freiheit, 57-60 zur konservativen Kritik an der dem Sozialstaat zugrundeliegenden Idee von Gleichheit. 2532 Vgl. Programm zur Bundestagswahl 1957. Verkündet auf dem Bundesparteitag in Hamburg am 28. Mai 1957, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 406-410; hier: 407. 2533 Vgl. zur DP auch oben: Kap. 4.5.9, 344-346. 2534 Zwanzig Thesen einer freiheitlich konservativen Politik. Beschlossen auf dem Bundesparteitag in Bielefeld am 05.11. 1955, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 393-396; hier: 394. 355 Die Gleichung der „Fortschritt des industriellen Systems ist der Fortschritt der Freiheit des Menschen“ geriet, was mit dem Beispiel der DP-Kritik an der Sozial- leistungen veranschaulicht werden sollte, ins Wanken,2535 denn die Akzeptanz liberaler Grundrechte beruhte auf einer der Prosperitätsphase entstammenden sozialstaatlichen Gesetzgebung, die sich auf das grundgesetzlich verankerte Sozialstaatsprinzip berufen konnte.2536 Das System der gegenwärtigen Gesellschaft entwickele „Surrogatformen der individuellen Freiheit“, lautete ein neu aufkommender Kritikpunkt,2537 weil unter Bedingungen des Versorgungsstaates die Gefahr besonders groß sei, dass sich der Mensch mit den „Surrogatformen“ zufrieden gebe. Angesichts der massenge- sellschaftlich standardisierten Wahlfreiheit des Konsums werden solche Bedenken vereinzelt in Anlehnung an Hegels Sprachgebrauch als eine zu überwindende „Freiheit in der Form der ‚Beliebigkeit’“ gedeutet.2538 Gefahren für den erreichten Stand der Freiheit, die dem technisch-zivilisatorischen Fortschritt geschuldet seien, wurden in der Öffentlichkeit thematisiert, wodurch sich komplementär das Bedürfnis nach Sicherheit zu einer wesentlichen Zielvorstellungen der politischen und sozialen Wertsysteme entwickelte.2539 Als freiheitsbedrohend erwiesen sich der technische Fortschritt und die fortschreitende Automatisierung von Arbeitsabläufen,2540 was sich auf die Interpretation der Interferenz von subjektiven Freiheitsrechten mit der objektiven Grundrechtsordnung auswirkte.2541 Ende der 50er-Jahre sieht Wilhelm Luther die für ihn auf kultureller Gemeinschaft basierende Idee der Freiheit im globalen Zusammenhang von vielen Faktoren gefährdet, weshalb er zu dem Eindruck gelangt, die Lage für Deutschland sei ernst, aber noch nicht ausweglos: „Die für die bisherige abendländische Kultur und Geschichte tragende Idee der menschlichen Freiheit wird von zwei Seiten her lebensgefährlich bedroht, am gefährlichsten vom kommunistischen Osten, wo Totalitarismus, Kollektivismus und Mechanisierung des Menschen ihre denkbar schärfste Ausprägung gefunden haben, andererseits aber auch von dem Massenmenschen der USA, der den nivellierenden und entpersönlichenden Tendenzen der amerikanischen Technik und Wirtschaft zu erliegen droht.“2542

2535 Freyer, Freiheit, 9. 2536 Carl Friedrich von Weizsäcker spricht beispielsweise von einer „ungewöhnlich begünstigten Lage“ (Weizsäcker, Zumutungen, 54). 2537 Freyer, Freiheit, 29. 2538 Ebd., 30. 2539 Vgl. Sauermann, Freiheit, 121. 2540 Vgl. Ulrich Sonnemann, Der überflüssige Mensch. Automation und Freiheit, in: ders., Land, 176-183. 2541 Vgl. Grabitz, Freiheit, 208-235; bes. 209-216. Hier geht Grabitz anhand der Bereiche der allgemeinen Handlungsfreiheit, der Meinungsfreiheit und der Berufsfreiheit der Frage nach, wie der negative und der positive Freiheitsbegriff in der Judikatur des Bundesverfassungsgericht gewichtet wird. Er konstatiert, dass das Bundesverfassungsgericht die Prämissen seiner Judikatur nicht offen ausspreche. 2542 Luther, Wesen, 54. 356 Diese Aussage erinnert an die Vorstellungen, die während des Ersten Weltkrieges kursierten und die Idee eines deutschen Mittel- oder Sonderwegs vorhielten. Vertreter der oftmals mit dem Argument kultureller Dekadenz hantierenden These konstruieren eine nationalhistorische Individualität der deutschen Gesamtstaatsentwicklung, wie Bernd Faulenbach zu den Argumentationsstrategien dieser Richtung feststellt, die oftmals die gemeinsamen Züge der europäischen Verfassungsgeschichte außer Acht lassen.2543 Dass Luther dieser Richtung nahe steht – gleichwohl er sie auf den euro- päischen Kontinent ausweitet –, verrät vor allem seine Semantik:2544 „Gegenüber der unheimlichen Geschlossenheit und Missionskraft des östlichen Kollektivismus und der immer bedrohlicher werdenden Expansion des seiner europäischen Tradition untreu geworden amerikanischen Massenmenschentums haben wir Europäer nur die Wahl, die auch bei uns entartete Idee der Freiheit in lebendiger Wiederanknüpfung an die antike Traditionen zu erneuern und ihr durch sinnvolle Umgestaltung und Weiterführung die Schlagkraft zu geben, deren sie bedarf, um uns gegen die aus Ost und West drohenden Gefahren immun zu machen.“2545

Der Marburger Pädagoge erinnert mit nationalhabitueller Begründung zudem an die historischen Erblasten, mit denen die Erziehung zur Freiheit zu kämpfen hat. In diesem Sinn merkt er an, dass die Deutschen „noch immer unter dem autoritären Klima früherer Zeiten“ litten.2546 Der alte Stil mit rücksichtsloser Herrschsucht nach unten und unterwürfiger Ergebenheit nach oben sei leider noch nicht überwunden, weshalb Luther konstatiert: „Solange wir nicht mit dieser eingefleischten obrigkeitsstaatlichen Tradition innerlich fertig werden, ist die politische Freiheit trotz aller institutioneller Sicherungen ständig bedroht.“2547 In einer freiheitlichen, sozialverantwortlichen Erziehung sieht er die auf Ausgleich angelegte Hoffnung begründet, „daß es auch den kommenden Generationen unseres Volkes vergönnt sein wird, in persönlicher Freiheit zu leben und der Gemeinschaft zu dienen.“2548 Gesamtdeutsche Jahrestage und Jubiläen wurden häufig dazu verwendet, um zu erklären, „wie die Sehnsucht nach Einheit und Freiheit die Deutschen im ganzen Vaterlande damals wie heute“ erfülle.2549 In einer Rede vor dem Hamburger Parteitag der CDU des Jahres 1957 betont Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier den freiheitlichen Grundgedanken, der durch Ludwig „Erhard seit zwölf Jahren unablässig

2543 Vgl. Faulenbach, Ideologie, 287. Vgl. insgesamt, Grebing, Sonderweg. 2544 Vgl. zu der Frage nach einem semantischen Sonderweg: Bollenbeck, Bildung, 20-30. 2545 Luther, Wesen, 55. 2546 Vgl. ebd., 104. 2547 Ebd. 2548 Ebd., 106. 2549 Ostdeutsche Forschungsstelle in Nordrhein-Westfalen (Hg.), Freiherr vom Stein, 3. 357 und mit größter Entschiedenheit zum Segen des deutschen Volkes verfochten“2550 worden sei: „Dieser Gedanke ist die Freiheit und Verantwortung des einzelnen im Bereich einer mündigen, ihrer sozialen Funktion sich bewußten, vom Staat nicht gegängelten Wirtschaft. Das Gesetz der Freiheit, das unsere Außenpolitik bestimmt hat, trägt auch unsere Wirtschaftspolitik.“2551 Der Schwerpunkt des Freiheitsdiskurses, wie mit diesem Zitat verdeutlicht werden sollte, verlagerte sich zunehmend von der innen- politischen Diskussion auf die wirtschaftliche und außenpolitische Debatte. Vom Menschen, der im Zentrum seiner auf Eigenverantwortung basierenden Überlegungen angesiedelt ist, verlangt Gerstenmeier, dass er so unabhängig als möglich auf eigenen Füßen stehe, denn nur insoweit strebe er nach Freiheit, sowie aus diesem Vorstellungs- zusammenhang heraus „Todfeindschaft“ zwischen den Christlichen Demokraten und dem kollektivistischen Trend des modernen Massenstaates bestehe.2552 Im Entwurf für ein Grundsatzprogramm, den der Vorstand der SPD im Jahr 1958 als Diskussionsgrundlage für eine programmatische Neuorientierung herausgab, sind die vorläufigen Ergebnisse einer 34-köpfigen Programmkommission dokumentiert, die sich zur Aufgabe gestellt hatte, ein Bild der Zeit zu zeichnen.2553 Einzelne Abschnitte der Vorlage beschäftigen sich mit Themen wie „Kapitalismus und Kommunismus – und die Freiheit“ oder „Freiheit und Bindung“.2554 Der Auseinandersetzung um die Freiheit, so die These des erstgenannten Abschnitts, komme eine entscheidende Rolle im Kampf für die Durchsetzung der Demokratie zu. Freilich müsse Demokratie, wie kritisch gegenüber der parlamentarischen Regierungsform angemerkt wird, „mehr sein als eine Apparatur, mit der man Menschen leichter beherrschen kann als durch Terror, indem man die Fiktion der Freiheit offen hält.“2555 Das Verhältnis von Freiheit und Bindung, das in einem anderen Abschnitt behandelt wird, ist insbesondere auf die Wirtschaftspolitik bezogen. „Wer von Freiheit nicht nur sprechen, sondern ihr in der Wirtschaft von heute Chancen geben will“, lautet der Rat des Programmentwurfs, „muß alle freien Gegenkräfte stärken, um die Großmacht in der Wirtschaft zurück- zudrängen.“2556

2550 [CDU] Rede D. Dr. Gerstenmaier, Auszug, 1957, zit. nach: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 598- 605; hier: 599. 2551 Ebd. 2552 Ebd., 604 f. 2553 Vgl. Entwurf für ein Grundsatzprogramm (1958), in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 3, 171-209; hier: 171-174. 2554 Ebd., 180-182; 191-193. 2555 Ebd., 181. 2556 Ebd., 191. 358 Nicht nur die großen Parteien entdeckten den Freiheitsbegriff für ihre politischen Zwecke, sondern es bedienten sich teilweise auch kleinere Gruppierungen wie die rechtsradikale Deutsche Reichspartei in ihrem Programm von 1958 einer anti- individualistischen, auf einer positiven Begriffsperzeption beruhenden Argumentati- on.2557 Das deutsche Volk, ist dort in rückwärtsgewandtem Sprachgebrauch über dessen Vorrangstellung vor dem Individuum formuliert, könne sich nur als festgefügte Gemeinschaft behaupten: „Dienst an der Gemeinschaft und Selbstzucht in der Volks- gemeinschaft sollen unser Zusammenleben beherrschen. Ansprüche des einzelnen und Macht der Gruppen sind dort zu beschränken, wo sie das Ganze gefährden. Der Wert des einzelnen ergibt sich aus seiner Haltung und Leistung in der Gemeinschaft. Diese sind das Maß für die Rangordnung im Volk.“2558 Die Würde des Menschen, die hierarchisch der Gesamtheit untergeordnet ist, wird als an die Würde des Staates gebunden erachtet, so dass das Individuum im größeren Ganzen aufgeht. Konse- quenterweise ist daher in dem Programm der Splittergruppe nur von der außen- politischen Freiheit Deutschlands die Rede, die in einer Sonderstellung zwischen den Machtblöcken zum Ausdruck kommen soll:2559 „Umgeben von Staaten, deren oberstes Prinzip die selbstverständliche Wahrung ihrer eigenen nationalen Belange ist, muß das deutsche Volk seinen Platz in der Gemeinschaft der Völker haben, die ihre politische Unabhängigkeit von Ost und West erstreben, weil sie die Freiheit lieben wie wir.“2560 Die atavistische „Wiederherstellung des Deutschen Reichs in seinen geschichtlichen Grenzen“ war das vorrangige außenpolitische Ziel der marginalen DRP.2561 Der hier mit einigen Beispielen skizzierten Parteiprogrammatik kommt Ende der 50er-Jahre sicherlich, trotz ihrer Präsenz im öffentlichen Raum und der Intensität der Neu- orientierungsversuche, eine weniger wirkmächtige Multiplikationswirkung zu als den breitenwirksamen Meinungsbekundungen und Massenveranstaltungen anlässlich von Gedenktagen. 1958, fünf Jahre nach den gewaltsamen Vorkommnissen in der DDR, sprach der bayerische Ministerpräsident Hans Seidel zum Gedächtnis an den 17. Juni und setzte sich vor diesem Hintergrund mit den unterschiedlichen Freiheitsverständnissen in West und Ost auseinander. Seidel warnte vor der Gefahr, dass sich für den oberflächlichen Betrachter der Zeit die Freiheitsideale beider Lager so sehr glichen, dass es eines

2557 Vgl. zu Ideologie, Programmatik und Propaganda der Partei: Sowinski, Reichspartei, 211-341. 2558 Programm von 1958, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 471-481; hier: 473. 2559 Vgl. zu den außenpolitischen Vorstellungen der Partei: Sowinski, Reichspartei, 258-270. 2560 Programm von 1958, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 471-481; hier: 472. 2561 Ebd. 359 wachsamen und misstrauischen Verstandes bedürfe, um nicht diesem Schein zu erliegen.2562 Gerade die jüngere Generation – hiermit reiht er sich ein in einen generationellen Deutungsansatz, der seit Ende der 50er-Jahre vertreten wurde – verliere trotz des nationalhabituell stark verankerten metaphysischen Bedürfnisses immer mehr den Glauben an die Freiheit. „Es konnte nicht ausbleiben,“ befindet Seidel, „daß eine deutsche Generation, die zwei Weltkriege – wie sie glaubte: um die Freiheit – verlor, die alle Phasen und Spielarten der möglichen Freiheiten ausgekostet und durchlitten hatte (die individuelle Freiheit der Liberalen, die staatsbürgerliche der Demokraten und die kollektive zweier totaler Sozialismen), daß diese Generation, enttäuscht, erschüttert und angefochten, in die Knie sank und die gequälte Gewissensfrage stammelte, ob die Freiheit noch zu jenen höchsten Werten gehöre, die man, ohne sich zu besinnen, mit allen Mitteln verteidigen dürfe und müsse. Wir beugen uns in Respekt vor dieser Frage, die sich aus einem immer noch metaphysisch denkenden und einem im Grunde immer noch gläubigen Volke erhebt. Aber der Staatsmann und sittlich bewußte Politiker ginge fehl, wenn er auf den Antworten der einzelnen allein seine Entschlüsse aufbauen wollte. Denn der Verzicht auf die eigene Freiheit ist das Vorrecht des einzelnen, nicht aber des für eine Gemeinschaft mit anderen Verantwortliche.“2563

Die Vorstellung einer generationell bedingten Wertschätzung von Freiheit, die der Generation, die den Krieg nicht mehr aus eigener Erfahrung kennt, ein schwächer aus- geprägtes Freiheitserleben zuspricht, findet sich in zahlreichen Aussagen und deutet darauf hin, dass die monolithische Geschlossenheit, die von einem für die gesamte Gemeinschaft verbindlichen Freiheitsbegriff ausgeht, sich auch in den Aussagen verant- wortlicher Politiker auszudifferenzieren beginnt. Aus amerikanischer Perspektive gab der ehemalige Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland, James B. Conant, seine persönlichen Eindrücke zum Verhältnis Deutschlands zur Freiheit kund.2564 In einer Vorlesungsreihe an der Harvard-Universität würdigt er Beginn Januar 1958 den Entwicklungsstand der Freiheit aus seiner lang- jährigen Erfahrung im Umgang mit Menschen und Institutionen in Deutschland. Als „Erzieher“ habe er ein besonderes Interesse an der deutschen Geschichte der letzten fünfzig Jahre,2565 was ihn mit gewisser Zufriedenheit zum bundesrepublikanischen Um- gang mit Geschichte anmerken lässt: „Heute ist der Geist des freien Deutschland der Geist eines Volkes, das der nationalsozialistischen Vergangenheit den Rücken gewandt hat.“2566 Beeindruckt ist Conant von den Ergebnissen der Bundestagswahlen 1953 und 1957, die er als die „überzeugendsten Beweise der festen Haltung des freien

2562 Vgl. Seidel, Rede, 60. 2563 Ebd., 61 f. 2564 Vgl. Conant, Deutschland. 2565 Ebd., 10. 2566 Ebd., 18. 360 Deutschland gegenüber seiner Vergangenheit“ interpretiert.2567 Seine Ausführungen stützen sich auf den Konsolidierungsgrad der Demokratie und die von ihm unerwartete, relative Konzentration der Stimmen auf CDU und SPD, die anerkennend als „Wahl- wunder“ bezeichnet wurde.2568 Vermehrt ergriffen Intellektuelle Partei im bundesrepublikanischen Freiheitsdiskurs und überließen die Definitionsgewalt über den umstrittenen Wert und seine Korrelate nicht länger nur ausschließlich den Politikern. Der Philosoph Karl Jaspers etwa äußerte sich im Zusammenhang mit der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buch- handels 1958 zu der Problematik um Wahrheit, Freiheit und Friede und bemerkte, dass der Friede sowohl der einzelnen Menschen als auch des einzelnen Staates allein durch Freiheit erreicht werden könne. Unter dem interessierten Zuhören Hannah Arendts, der Laudatorin Jaspers,2569 versuchte dieser, auf die Frage „Was aber ist Freiheit?“ eine differenzierte Antwort zu geben, indem er auf Kant rekurrierend die drei miteinander verwobenen Ebenen des Freiheitsbegriffs unterscheidet und auf das semantische Potenzial des Begriffs verweist: „Äußere Freiheit eines Staates und innere Freiheit durch seine Regierungsart haben Bestand durch die existentielle Freiheit der einzelnen Menschen. Daher die Vieldeutigkeit im Worte ‚Freiheit’: Äußere politische Freiheit kann auch ein despotischer Staat haben. Eine freie demokratische Verfassung kann auch ein Volk innerlich unfreier Menschen haben. Freiheit beginnt als Freiheit des einzelnen, gewinnt gemeinschaftliche Gestalt in der republikanischen Regierungsart, be- hauptet sich gegen Unterdrückung durch fremde Staaten. Im Ganzen dieser drei Momente ist Freiheit wirklich.“2570

Zur zeitgenössischen Situation der politischen Freiheit im Osten und Westen Deutschlands bemerkt der seit 1948 in Basel lehrende Philosoph: „Wir sind dieselben Deutschen im Westen wie im Osten. Unsere politische Freiheit ist nicht unser Ver- dienst, die Unfreiheit im Osten ist nicht Schuld der Deutschen dort. Uns hier ist die Freiheit vom Sieger geschenkt, den Deutschen dort die totale Herrschaft auf- oktroyiert.“2571 Mit seinen Gedanken zu Freiheit und Wiedervereinigung sollte Jaspers in den folgenden Jahren noch für Gesprächsstoff und kontroverse Diskussionen sorgen,2572 was auch dadurch bedingt war, dass sich seine zunächst eher kulturkritischen

2567 Ebd., 21. 2568 Vgl. Recker, Wahlen, 298. 2569 Vgl. für die Laudatio: Arendt, Humanitas. 2570 Jaspers, Wahrheit, 207 f. 2571 Ebd., 214. 2572 Vgl. hierzu unten: Kap. 3.5.13. 361 Äußerungen zusehends auf das Feld der Politikkritik verlagerten und dadurch Ent- gegnungen seitens der Kritisierten provozierten.2573

4.5.11 Parteipolitisch organisierter Freiheitslobbyismus – „Rettet die Freiheit e.V.“

Kampf dem Atomtod, Macht das Tor auf,2574 Volksbund für Frieden und Freiheit, Ausschuss für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands, Kuratorium unteilbares Deutschland und Rettet die Freiheit e.V. – um nur einige der Mitte bis Ende der 50er- Jahre entstandenen Initiativen zu nennen – waren mit großem Aufwand ins Leben gerufen worden, um verschiedenartige Ziele im Umkreis der Problemstellung Einheit und Freiheit mit der nötigen gesellschaftlichen Massenbasis zu bestärken.2575 Oftmals bildeten parteipolitische Erwägungen den organisatorischen Impuls. So zeigte die erfolgreiche Bewegung Kampf dem Atomtod beispielsweise große Nähe zur SPD und zu den Gewerkschaften. Insofern kann sie als wichtiger Anstoß für die Gründung einer so genannten „Anti-Anti-Atomtod-Bewegung“ der in Vereinsform organisierten „Freiheits-Retter“ gesehen werden.2576 Am 20. Februar 1959 kam es im großen Saal der Industrie- und Handelskammer Köln auf einem Kongress zur Gründung der Initiative Rettet die Freiheit e.V.2577 Das Motto der Vereinigung stammte von Salvador de Madariaga, dem Präsidenten der Liberalen Weltunion.2578 Im Einladungsschreiben baten die Initiatoren um Mithilfe und legten ihr Anliegen, das aus der Wahrnehmung einer Freiheitsbedrohung hervorging, dar: „Die Sorge um die Freiheit Berlins ist die sichtbare Sorge um die Freiheit Deutsch- lands, um die Freiheit überhaupt.“2579 Der Aufruf richtete sich an „alle politisch ein- sichtigen und verantwortungsbereiten Persönlichkeiten“, an Multiplikatoren aus Gesellschaft, Kultur und Politik, die „durch ihr beispielhaftes Handeln unsere Mitbürger auf die inneren und äußeren Gefahren für die freiheitliche Staats- und Lebensordnung

2573 Vgl. Beyme, Zeitkritik. 2574 Vgl. den gleichnamigen Appell des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 222 vom 02.12. 1958, 2207. 2575 Vgl. den Überblick zu diesen Bewegungen: „Freiheit e.V.“, in: Der Spiegel Nr. 6 vom 04.02. 1959, 15 f.; Görtemaker, Geschichte, 189-193. 2576 „Freiheit e.V.“, in: Der Spiegel Nr. 6 vom 04.02. 1959, 15. 2577 Vgl. die vom Vorstand von „Rettet die Freiheit e.V.“ herausgegebene Dokumentation des Gründungs- kongresses (dies. [Hg.], Freiheit). 2578 Vgl. das Interview des ersten Vorsitzenden Barzel mit dem NDR: Die Ziele des Vereins „Rettet die Freiheit“, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 36 vom 24.02. 1959, 335. 2579 Anlage, Einladungsschreiben zum Gründungskongreß des Komitees „Rettet die Freiheit“, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 89. 362 aufmerksam“2580 machen sollten, denn – so die Zielsetzung, die auf die Prägung der kollektiven Mentalität abzielte – die Freiheit müsse als Sinn der menschlichen Existenz öffentlich bekannt und zum eigentlichen Beweggrund der Politik gemacht werden.2581 Im Vorfeld der Gründung berichtete Der Spiegel gewohnt kritisch und mutmaßte, aufgrund der beteiligten „Geburtshelfer, Förderer und Gründer“ sei bereits vorher klar, welche Freiheit gerettet werden solle, doch leider wird das dem Verein zugeschrieben Freiheitsverständnis im Artikel nicht näher expliziert.2582 Der Vizepräsident des Komitees, Frank Thies, betonte – entgegen der Mutmaßung, Rettet die Freiheit sei ein konservativer Zirkel – den überparteilichen Charakter der Organisation und der von ihr vertretenen Idee. Das gleichzeitige Mitglied des Kuratoriums Unteilbares Deutschland berichtet auf die Gründung von Rettet die Freiheit e.V. zurückblickend, es seien „alle Deutschen, die den Begriff ‚Freiheit’ richtig verstanden“ hätten, zur Mitwirkung eingeladen gewesen.2583 Federführend agierte als Vorsitzender des Arbeitsausschusses Rettet die Freiheit.2584 Den Gründungsaufruf unterzeichneten zahlreiche namhafte Vertreter des öffentlichen Lebens wie zum Beispiel die Professoren Max Hildebert Boehm, Emil Dovifat, Hans Herzfeld, Paul Martini, Edwin Redslob, Michael Schmaus, Pascal Jordan, Theodor Litt, Gerhard Möbius und Bolko von Richthofen. Sozialdemokratie, Gewerk- schaften und auch Freie Demokraten distanzierten sich, obgleich sie um Mitarbeit gebeten worden waren, von dem Verein. Mit Ludwig Erhard, Hermann Lindrath, Hans- Joachim von Merkatz, Gerhard Schröder und Franz-Josef Strauß lud eine ganze Riege Politiker mit zur Gründungsversammlung ein, weitere Personen aus Verwaltung, Publizistik, katholischer Kirche und Militär schlossen sich an. Grußadressen erreichten das Komitee unter anderem von Bundeskanzler Adenauer, Hermann Josef Abs, Josef Kardinal Frings, Otto Hahn, Hans Globke, Heinrich Lübke, Günter Olzog und Wilhelm Röpke.2585 Ausländische Organisationen bekundeten eben- falls reges Interesse und entsandten Vertreter nach Köln.2586 Auch der „Rennomier-Sozi

2580 Ebd. 2581 Ebd., 90. 2582 Vgl. „Freiheit e.V.“, in: Der Spiegel Nr. 6 vom 04.02. 1959, 15. 2583 Frank Thies, An der Aufgabe festhalten, in: meldungen – berichte – kommentare vom 15.06. 1960, 3- 6; hier: 3. 2584 Manfred Agethen weist auf die antikommunistische Ausrichtung Barzels hin: ders., Rainer Barzel, 176. 2585 Vgl. Anlage, Begrüßungsadressen, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 92 f. 2586 Vor Ort vertreten waren mit Abgesandten die „Freedoms Foundation“ at Valley Forge, USA; „Mouvement Société Libre“, Paris; „Niederländisches Nationalkomitee gegen das Konzentrations- lagersystem“, Amstelveen-Amsterdam. Vgl. Anlage, Begrüßungsadressen, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 93. 363 der NATO“, wie Der Spiegel den Generalsekretär des atlantischen Verteidigungs- bündnisses, Paul-Henri Spaak, titulierte, nahm an der Versammlung teil. Das Hamburger Nachrichtenmagazin kommentierte – sozusagen in Verteidigung einer „bundesrepublikanischen Freiheit“ –, es müsse „einem Ausländer am leichtesten fallen, einen Verein zu fördern, dessen Name allein beweist, daß nun auch der letzte Rest einer staatstragenden Idee auf dem politischen Jahrmarkt der Bonner Republik verhökert wird“.2587 In dieser Aussage klingt zweifelsohne eine Reminiszenz an den Gedanken einer nationalstaatlich gebundenen Freiheit nach, da insbesondere die Verteidigung der „staatstragenden Idee“, womit die Freiheit gemeint ist, gegenüber dem Ausland die Annahme einer argumentatorischen Kontinuität erlaubt. Ausdrücklich verteidigte sich der Vorstand des eingetragenen Vereins gegen die Anschuldigung, seine Existenz sei der „McCarthy-Hysterie“ und dem ihr zugrunde liegenden Antikommunismus geschuldet. Positive und negative Motivationen, die sich in der Programmatik auffinden lassen, deuten jedoch auf verwandte Grund- überzeugungen. Über die Atmosphäre, in der das Komitee tagte, ist zu erfahren: „Der Ablehnung des lebensfeindlichen marxistisch-leninistischen Dogmas, der Absage an Rassen- und Klassenhass stand die Bejahung der nicht relativierbaren Werte Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber.“2588 Rainer Barzel, der den Verein mitbegründete, warnt in seinem Referat zu „Sinn und Aufgabe“ des Komitees vor mangelnder Wachsamkeit „gegenüber den wirklichen Gefahren für die Freiheit der Nation und des einzelnen.“2589 Barzel behandelt im weiteren Verlauf seines Vortrages vorrangig die nationale Komponente der Freiheit. „Nur wenn die Freiheit für alle Deutschen die Elle ist, mit der wir Vorschläge zur Einheit unseres Volkes messen,“ ist sich der CDU-Mann sicher, „werden wir unserem Volk Menschenwürde, Frieden und eine lebenswerte staatliche Einheit bringen.“2590 Der Kommunismus, gibt Barzel die systemunterstützende Funktion des Freiheits-Vereins für die bundesrepublikanische Gesellschaftsordnung zu erkennen, hingegen sei angetreten, um die Freiheit zu vernichten. Zwar sei die äußere Sicherheit des Volkes bei der Bundeswehr in guten Händen, errichtet der Initiator der Bewegung ein Gefährdungsszenario, doch müsse der Widerstandswille und die Wach- samkeit des ganzen Volkes ergänzend hinzutreten.2591

2587 „Freiheit e.V.“, in: Der Spiegel Nr. 6 vom 04.02. 1959, 16. 2588 Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, Vorwort (o. S.). 2589 Rainer Barzel, Sinn und Aufgabe, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 7-9; hier: 8. 2590 Ebd. 2591 Vgl. ebd., 8 f. 364 Theodor Litt, der sich für die Propagierung der systemkompetetiven Freiheitsidee besonders vehement einsetzte, gibt dem Vorhaben mit seinem Beitrag, der den Titel Das Wesen der Freiheit in unserer Welt trägt, einen philosophischen Rahmen.2592 Dass ein Philosoph um seine Meinung gefragt wird, gereicht ihm zum alleinigen Beweis der Freiheitlichkeit der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung. Die Abwehr des Kommunismus, fügt er in Bezug auf seinen Beitrag zur Konferenz an, dürfe auf keinen Fall „die Abwehr der kommunistischen Theorie versäumen“.2593 Litt weist ausdrücklich auf die vielfältigen Auslegungsvarianten des Wortkörpers „Freiheit“, und somit auf sein umfassendes semantisches Potenzial, hin: „Man denkt an verschiedenes, indem man dasselbe Wort ‚Freiheit’ auf den Lippen führt.“2594 Der Professor positioniert sich gegen die Auffassung vieler seiner Hochschulkollegen, die behaupteten, der Unterschied zwischen Ost und West sei nicht, „wie unser westlicher Dünkel sich vormache, ein solcher von Freiheit und Unfreiheit. Nein: der Unterschied sei der von zwei ver- schiedenen Konzeptionen des Freiheitsbegriffes, von denen keine vor der anderen etwas voraushabe.“2595 Litt weist darauf hin, dass Freiheit im Osten „durch eine kanonisierte Denkweise von vornherein in einer jede Diskussion ausschließenden Endgültigkeit“ festliegt.2596 Immer wieder erinnerte er, wie auch in einer Gedenkrede zum 17. Juni 1957, an diejenigen Deutschen, die für die Freiheit ihr Leben gelassen haben, „weil sie ein Leben in Knechtschaft nicht mehr ertragen konnten.“2597 In seinem Referat fasst er die Argumentation präzise zusammen – „Kurz und bündig: in der Behandlung des Themas ‚Freiheit’ herrscht bei uns eine Freiheit, von der dort drüben nicht ein Schatten zu finden ist.“2598 Im Pluralismus, der durch das Vorhandensein einer Opposition gekennzeichnet ist, erkennt Litt den Systemunterschied, weshalb ihm die Demokratie „diejenige Staatsform [ist], in der die Opposition nicht als ein notwendiges Übel ertragen, sondern als ein um der Freiheit willen notwendiges Bauglied in das Gesamt- gefüge einbezogen wird.“2599 Doch auch selbstkritische Töne mischen sich in die Argumentation Litts, der sich gegen den laxen Umgang seiner Mitbürger mit der Freiheit ausspricht:

2592 Vgl. Theodor Litt, Das Wesen der Freiheit in unserer Welt, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 10-22. 2593 Ebd., 11. 2594 Ebd., 13. 2595 Ebd., 14. 2596 Ebd., 15 f. 2597 Den in der Zone Ausharrenden helfen, in: FAZ Nr. 138 vom 18.06. 1957, 1. 2598 Theodor Litt, Das Wesen der Freiheit in unserer Welt, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 16. 2599 Ebd., 20. 365 „Wenn wir westlichen Deutschen die Freiheit wirklich aus tiefster Seele liebten, dann würden wir nicht mit so unerschütterlicher Seelenruhe die Aussprüche derer hinnehmen, die uns einreden möchten – entweder: daß es bei uns überhaupt keine Freiheit gebe, oder: daß es sie zwar gebe, sie aber nicht ernstlich bedroht sei. Wo bleibt die Empörung, die solche Behauptungen hervorrufen müßten, wenn man allenthalben mit der Besorgtheit über das köstliche Gut der Freiheit wachte, die die Stunde ihrer schwersten Bedrohung fordert.“2600

Otto Stolz referierte ebenfalls über die aktuelle Bedrohung der Freiheit. „Die Tatsache und der Wert der Freiheit werden relativiert!“, konstatierte er mit Emphase,2601 wenn er den Osten im Visier hat, dem er die Unterwanderung des freiheitlichen Gedankengutes vorwirft. Seit 1949 laufe – damit kommt Stolz auf den systemlegitimatorischen Charakter des universalistischen Deutungsmusterns „Frieden“ zu sprechen, das noch weit indifferenter benutzt werden kann als das der „Freiheit“ – der organisierte Versuch der Massenbeeinflussung mit Hilfe zahlreicher gesteuerter Tarnorganisationen unter der Parole „Frieden“. „Denn Frieden“, erkennt Stolz die propagandistischen Bemühungen im Osten an, „ist schließlich das, was alle Menschen wollen.“2602 Der Präsident des Atlantischen Rates, Paul Henry Spaak, fasste die Ideen, die der Verteidigung der Freiheit gegenüber dem Kommunismus zugrunde liegen, in Absetzung gegenüber dem Kommunismus aus internationaler Perspektive zusammen. Das zentrale Anliegen sei die Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit, die die Beziehungen der Menschen untereinander und zum Staat bestimme: „Gegen dieses Prinzip wendet sich der Kommunismus. Diese Regeln versucht er, durch andere zu ersetzen, und Sie wissen, daß die von ihm verfochtenen Grundsätze von den unseren gänzlich abweichen und erzwungen sind. Hier liegt der eigentliche Schauplatz des Kampfes, den der Kommunismus gegen die freie Welt begonnen hat.“2603 In der Diskussion der Beiträge spiegelt sich ein ähnliches Bild wider. Gustav Josef Jansen weist auf die Doppelnatur des Menschen hin, da dieser „weder nur Individuum, noch lediglich Gemeinschaftswesen“ sei;2604 vielmehr stehe er in einer „gebundenen Freiheit“.2605 Der Diskutant verspürt darüber hinaus eine Zeitströmung, die die Gefahr berge, „daß die Sucht nach Sicherheit über die Freiheitsliebe siegt.“2606 Der Primat der Sicherheit ist eine Konstante innerhalb der politischen Kultur, die sich in argumenta-

2600 Ebd., 22. 2601 Otto Stolz, Die aktuelle Bedrohung der Freiheit, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 23-31; hier: 23. 2602 Ebd., 28. 2603 Paul Henry Spaak, Die Verteidigung der Freiheit, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 32-51; hier: 39. 2604 Gustav Josef Jansen, Diskussion, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 64. 2605 Ebd., 65. 2606 Ebd. 366 torischer Kontinuität vom Kaiserreich bis weit über die 50er-Jahre hinaus erstreckt.2607 Freiheit bleibt im Denken der Kongressteilnehmer fest mit den Kategorien der Ordnung und Einordnung verbunden, so formuliert etwa ein Diskussionsteilnehmer zu dieser komplementären Komponente innerhalb des Freiheitsdiskurses äußerst pointiert: „Eine Ordnung ohne Freiheit ist Sklaverei, eine Freiheit ohne Ordnung Chaos. Nur wer frei ist, kann sich einordnen, das Unfreie hat keine Wahl.“2608 Das Anliegen Paul Wilhelm Wengers, die europäische Note der Freiheits- bemühungen stärker zu akzentuieren und die Aktion „Rettet die Freiheit Europas“ zu nennen,2609 stieß auf keine Beachtung in dem von Rainer Barzel vorgeschlagenen und von der Mehrheit der Teilnehmer akzeptierten Redaktionskomitee, das eine gemeinsame Abschlusserklärung ausarbeitete.2610 Die Ablehnung geschah mit der Begründung, dass mit „Rettet die Freiheit“ bereits ein Name zu verlieren sei,2611 da die Wirkung des Schlagwortes insbesondere als Mittel der Propaganda eingesetzt werden sollte.2612 Als Resultat der Versammlung kam es zur Bestellung eines vierzigköpfigen ständigen Ausschusses, der mit der Aufgabe beauftragt wurde, den Kongress in Jahresfrist zu wiederholen und bis dahin eine Geschäftsordnung und ein Arbeitsprogramm zu er- stellen.2613 Die abschließende Erklärung des Komitees Rettet die Freiheit gibt eine Bestands- aufnahme, die davon ausgeht, dass „seit einem Menschenalter [...] der sowjetische Imperialismus die Freiheit der Völker“ bedroht.2614 Vor diesem Hintergrund wird festgestellt: „Die Freiheit zu wahren ist Aufgabe jedes einzelnen. Der Staat kann die Freiheit nur schützen, wenn er vom Freiheitswillen aller getragen ist.“2615 Mit der Erklärung liegt ein klares Bekenntnis „zur Freiheit als dem zentralen Wert der Demo- kratie und zur Verantwortlichkeit jedes einzelnen für die Freiheit seines Volkes“ vor. Das Komitee ruft dazu auf, „die geistige Auseinandersetzung mit allen Gegnern der Freiheit entschlossen anzunehmen, die freiheitliche Gesinnung des Volkes zu vertiefen, mit den Mitteln, die der Art der geistigen, politischen und militärischen Bedrohung entsprechen, unsere freiheitliche Grundordnung zu verteidigen.“2616

2607 Mai, Verteidigungskrieg, 583. 2608 Günther Scholz, Diskussion, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 75. 2609 Paul Wilhelm Wenger, Diskussion, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 71. 2610 Rainer Barzel, Diskussion, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 72. 2611 Vgl. Konstituierung, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 87. 2612 Vgl. Frank Thies, An der Aufgabe festhalten, in: meldungen – berichte – kommentare vom 15.06. 1960, 3-6; hier: 6. 2613 Vgl. Konstituierung, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 87. 2614 Erklärung des Komitees „Rettet die Freiheit“, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 88. 2615 Ebd. 2616 Ebd. 367 Professor Joseph Lortz warnte in der Aussprache davor, dass der Ansatz der Tagung kein Strohfeuer bleiben dürfe.2617 Einzelne regionale Arbeitsgruppen machten sich sogleich daran, die „Verschwörung gegen die Freiheit“ aufzudecken, wie zwei Rotbücher der Münchner Arbeitsgruppe „Kommunistische Infiltration und Machtkampftechnik“ belegen.2618 Das erste beschäftigte sich unter dem Gesichtspunkt „wie sie die Freiheit verloren“ mit dem „Schicksal der vom Kommunismus unterjochten ostmitteleuropäischen Völker“.2619 Für die Bereiche „Presse, Rundfunk, Verlagswesen, Gewerkschaften, Bundeswehr, ‚Friedensbewegung’ und Atomtod-Kampagne, Sektor ‚Kultur’, Parteien, Jugendorganisationen“ stellte das zweite Rotbuch Material zusammen, das die „kommunistische Unterwanderung der Bundesrepublik“ beweisen und die Bedrohung der Freiheit aufzeigen sollte.2620 Angesichts der Bedrohungslage sei, werden die Leser in der Einleitung aufgefordert, „jeder Bürger unseres Gemeinwesens aufgerufen [...], der Gefahr entgegenzuwirken, gleichgültig welcher parteipolitischen, weltanschaulichen oder konfessionellen Richtung er anhängt“,2621 denn die kommunis- tische Infiltration verliere an Gefährlichkeit, sobald sie öffentlich entlarvt werden könne; sie gleiche „einem Polypen mit zahllosen Fangarmen, der, aus der Dunkelheit seines Schlupfwinkels ans Tageslicht gezogen, seine Lebenskraft einbüßt.“2622 Die seitens des Vereins befürchteten Klagewellen im Zusammenhang mit dem Rotbuch Verschwörung gegen die Freiheit – Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik blieben aus.2623 Lediglich Jesco von Puttkamer, der Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts, erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen verleumderische Aussagen. Eine Gruppe von 10 Professoren der Universität Münster drohte mit einer Klage, setzte die Drohung jedoch nicht um. In der DDR, dem Hauptangriffspunkt von Rettet die Freiheit e. V., wurde das Vorgehen des Vereins mit Argusaugen beobachtet. Dieter Fricke, der Direktor des Historischen Instituts der Schiller-Universität Jena, interpretierte das allmähliche Abflauen der Vereinsaktivitäten gar als „Krise des Antikommunismus in West- deutschland“2624 und setzte im Kampf um die Deutungshoheit über den Freiheitsbegriff

2617 Vgl. Joseph Lortz, Diskussion, in: Rettet die Freiheit e.V. (Hg.), Freiheit, 82. 2618 So wurden in einer 453 Personen umfassenden Liste beispielsweise Olga Tschechowa, Karl Orff und Luis Trenker genannt. Vgl. hierzu die Kritik von Fricke, Verein, 17 f. 2619 Münchner Arbeitsgruppe (Hg.), Verschwörung, 2. 2620 Ebd., 2; 7 f. 2621 Ebd., 8. 2622 Ebd. 2623 Vgl. hierzu den zweimal monatlich erscheinenden Informationsdienst von Rettet die Freiheit: meldungen – berichte – kommentare vom 15.06. 1960, 1 f. 2624 Fricke, Verein. 368 die Aktivitäten der „Prätorianer-Garde des Bonner Kriegsministers“ mit denjenigen des Reichslügenverbands, dem Verband gegen die Sozialdemokratie und der Antibolsche- wistischen Liga und – unter Berufung auf eine Äußerung Walther Ulbrichts – mit der Gestapo gleich.2625 Im März 1960 fand der Folgekongress von Rettet die Freiheit e.V. in Frankfurt am Main statt. Er war wesentlich weniger frequentiert, was Fricke davon sprechen lässt, es sei lediglich noch „die zweite oder dritte Garnitur vertreten“ gewesen.2626 Ende April kamen Presseberichte auf, wonach der Zusammenschluss sich finanziell übernommen habe und kurz vor dem Bankrott stehe. Nur durch eine großzügige Finanzspritze der Württemberger Metallwarenfabrik konnte dieser vorläufig abgewendet werden. Zu- nehmend distanzierten sich führende Initiatoren wie Verteidigungsminister Franz Josef Strauß von der Organisation und der in Bonn erstellte Informationsdienst meldungen – berichte – kommentare stellte im Juni 1960 nach nur einmaliger Ausgabe sein Erscheinen ein. Rettet die Freiheit e.V. blieb eine – gleichwohl über die funktionalen Mechanismen semantischer Deutungsmuster aussagekräftige – Episode im anti- kommunistisch motivierten und parteipolitisch instrumentalisierten Kampf um die inhaltlich-instrumentelle Besetzung des Freiheitsbegriffs.

4.5.12 Reaktionen der Intellektuellen auf die Ritualisierung des Freiheitsdiskurses in der Bevölkerung – „Ekel an der Freiheit“

Die Abkehr zahlreicher Intellektueller vom Konsensmodell einer einheitlichen bundesrepublikanischen Gesellschaft lässt sich insbesondere anhand der Diskussion um den Begriff der Freiheit erhärten. Einen Ekel an der Freiheit, konstatierte Dolf Sternberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, könne gar in breiten Bevölkerungsschichten angetroffen werden.2627 Diese Bemerkung macht der Publizist und Politikwissenschaftler im Zusammenhang mit Karl Barths Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik. Anders als im Kirchenkampf klinge Karl Barths Stimme gegenüber einer Diktatur versöhnlich. Nicht ungerügt lässt er infolgedessen Barths Kritik an der Sattheit der Bundesrepublik, die einer Kritik an der Freiheit gleichkomme. „Es ist beinahe“, befindet Sternberger über den Theologen Barth,

2625 Ebd., 17 f. 2626 Ebd., 18. 2627 Vgl. Dolf Sternberger, Ekel an der Freiheit?, in: FAZ Nr. 14 vom 17.01. 1959, 1. 369 „als ob ihm und seinen Freunden bei uns im Lande die Bedrängnis und die Verfolgung bequemer und jedenfalls willkommener erschienen als die Freiheit und die Sicher- heit.“2628 Sternberger fragt in Richtung Barth, ob es nicht besser wäre, „gerade in der Freiheit wach zu bleiben und hier die Sattheit zu verhindern, anstatt sich zu ekeln?“2629 Keine Bedenken im Umgang mit der Freiheit hatte hingegen Ludwig Erhard. Der Bundeswirtschaftsminister eröffnete 1959 die 13. Industriemesse in Hannover. In seiner Ansprache betonte er, dass die Freiheit unteilbar sei.2630 „Ich [i.e. Ludwig Erhard] bin bereit, alles zu tun, um in diesem Europa jeden Tag die Freiheit neu anzufachen“, erklärte das Regierungsmitglied der Union am 26. April, dem Eröffnungssonntag der Leistungsschau.2631 Erhard wies darauf hin, dass wer Freiheit und ein großes geeintes Europa wolle, sich nicht vor strukturellen Veränderungen verschließen dürfe. Es müsse vielmehr zu einem umfassenden Schwur für eine freiheitlich demokratische Ordnung kommen. In der Freiheit sah Erhard ein unteilbares Ganzes, das sowohl im Bereich des Politischen wie auch auf dem Gebiet des Wirtschaftlichen absolute Vorrangstellung genieße und tatkräftig umzusetzen sei. Diese Aussagen gewannen umso mehr an Gewicht, als sich unter den 10.000 Gästen der Eröffnungsveranstaltung eine starke sowjetische Delegation befand, an deren Spitze der Regierungsvertreter Maksarjew stand. Die besondere Bedeutung Berlins als Symbol der Freiheit hob einmal mehr das Berliner Abgeordnetenhaus an dem Wochenende, an dem auch die Industriemesse stattfand, hervor, als es der ersten freien Stadtverordnetenwahl gedachte, die sich zum 150. Mal jährte. Sowohl der Bundestags- als auch der Bundesratspräsident überbrachte Glückwünsche. Eugen Gerstenmaier sagte als Vertreter der Legislative, dass Berlin die Aufgabe zukäme, das Schicksal der ganzen Nation sinnfällig für die Welt darzustellen. Die Stadt sei „mit ihren geistigen, kulturellen und auch mit ihrer preußischen und gesamtdeutschen Tradition unauflöslich mit Deutschland verbunden.“2632 Der Bremer Bürgermeister und Bundesratspräsident Kaisen erklärte in seiner Grußadresse: „Deutschland ist da, wo die Freiheit liegt.“2633 Damit spielte er auf die berühmte Frage

2628 Ebd. 2629 Ebd. 2630 Die Industriemesse in Hannover wurde von Erhard bereits zu früherem Zeitpunkt als Leistungsschau einer freien Wirtschaftsordnung begriffen: Vgl. hierzu: ders., Nichts schafft so sehr Vertrauen wie die Freiheit. Freier Leistungswettbewerb ist die einzige Wirtschaftsordnung, die uns erlösen kann, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 78 vom 27.04. 1954, 683 f. 2631 Erhard in Hannover: Die Freiheit ist unteilbar, in: Die Welt Nr. 97 vom 27.04. 1959, 1. 2632 „Zukunft ohne Berlin nicht denkbar“. Feier des Abgeordnetenhauses mit Gerstenmaier und Kaisen, in: Die Welt Nr. 97 vom 27.04. 1959, 3. 2633 Ebd. 370 aus den Xenien an, und gab der Hoffnung Ausdruck, Berlin werde eines Tages „als Hauptstadt in einem geeinten freien Deutschland weiterleben.“2634 Ein solches Ziel sei nur zu erreichen im Bund mit den Mächten der Zukunft. Diese sind für ihn „die demokratisch gesinnten Mächte und nicht die totalitären Machtgebilde.“2635 Sowohl Sternberger wie auch Erhard, Gerstenmeier und Kaisen – die Liste könnte nahezu beliebig mit zeitgenössischen Politikern aus dem bürgerlichen Lager verlängert werden – positionierten sich in ihrer Funktion als Repräsentanten der Bundesrepublik gegenüber dem sowjetischen Einflussbereich, indem sie einen verfassungspatriotisch gefärbten Freiheitsbegriff vertraten. Die Aktion Soziale Marktwirtschaft, der unter anderem Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Carl Joachim Friedrich angehörten – um weitere Protagonisten im systemantagonistischen Legitimationswettstreit qua Begrifflichkeiten zu benennen –, bemühte sich um die Verbreitung der auf dem Wert der Freiheit basierenden, sozial abgefederten Wirtschaftsordnung. Auf der 13. Tagung der Initiative wurde in verschiedenen Vorträgen in Fortführung einer früheren Fragestellung nach der Kohäsion der westlichen Wertegemeinschaft Ausschau gehalten.2636 Franz Böhmer hielt im Rahmen der Gesamtveranstaltung unter der normativen Leitfrage „Was muß die freie Welt tun?“ einen Vortrag über Vier Säulen der Freiheit.2637 Die vier Säulen der Freiheit seines Ansatzes sind die rechtsstaatliche, die demokratisch-politische, die bürgerlich-zivilrechtliche und die mit letzterer verwobene marktwirtschaftliche.2638 Böhmer konstatiert aus der Sicht des Jahres 1959, dass „in den letzten vierzig Jahren die Sache der Freiheit ihren größten politischen Rückschlag seit den Zeiten des frühen Mittelalters erlebt hat.“2639 Erschreckend findet er, dass dies auch in der zeitge- nössischen ideologischen Auseinandersetzung der Fall ist. In dem „gewaltigen Ideenkampf“ komme es auf gemeinsames Handeln in der Außenpolitik an, die lediglich Instrument innerhalb der Auseinandersetzung sein könne. Ohnehin sei Freiheit auch im innenpolitischen Alltag der Demokratie, gibt er in organischer Metaphorik zu bedenken, kein „einzelliges, sondern ein zusammengesetztes Gebilde.“2640 Die „Waffe“ im – in rhetorischer Hinsicht unerbittlich geführten – „Kampf“ gegen den kommunistischen

2634 Ebd. 2635 Ebd. 2636 Vgl. hierzu z.B. Karl Raimund Popper, der politische Freiheit und Pluralismus als tragende Ideen bestimmt, an die der Westen „glaubt“ (ders., Westen, bes. 242; 248). 2637 Vgl. Böhmer, Säulen. 2638 Vgl. ebd., 46. 2639 Ebd., 40. 2640 Ebd., 43. 371 Machtblock, in dem Böhmer zufolge mit verzehnfachter Hingabe und Willensstärke gedient werden sollte, „ist die Pflege der vier Freiheiten.“2641 Auch den Trägern realer Waffen wurde in Form der staatsbürgerlichen Ausbildung der Wert der Freiheit näher gebracht. So schreibt Hellmut Kämpf in einem Beitrag des für die Erziehung zur Inneren Führung bei der Bundeswehr herausgegebenen Handbuchs Schicksalsfragen der Gegenwart über die „Möglichkeiten wirklicher Freiheit“ Ende der 50er-Jahre: „Soll ein Schutzherr“ – in Kämpfs Zusammenhang ist die Bundeswehr gemeint – „im voraus die Freiheit des Schutzbefohlenen garantieren können, so muß ihm eine Fülle an Macht zugestanden sein, die es ihm auch erlauben würde, auf das mitwirkende Raten und Helfen seiner Schutzbefohlenen zu verzichten.“2642 Es habe sich im Verlauf der historischen Entwicklung ein Wandel des Freiheitsverständnisses abgezeichnet: „Aus Freiheit als dem Ertrag von Wagnis“ sei, rekurriert Kämpf auf den zeitgenössischen Diskurs, eine „Freiheit als vorausgarantierter Sonderraum von ‚Rechten’“ geworden.2643 Im Bereich des Politischen, resümiert der an der Technischen Hochschule Stuttgart lehrende Kämpf mit Verweis auf sein kompetetives Politik- und Freiheitsverständnis, „d. i. im Raume der Macht[,] wird Freiheit nur bestehen und erhalten werden können, wenn sie gegründet ist auf freiwilligen, von Hoffnung und Glauben getragenen Dienst.“2644 Ende der 50er-Jahre setzten sich die Sozialdemokraten, was bereits weiter oben in der Darstellung anhand der dazu vorbereitenden Arbeiten angedeutet wurde, erstmals umfassend mit dem Wert der Freiheit auseinander. Dennoch sprach sich Erich Ollenhauer Mitte November 1959 auf dem Parteitag der SPD in Bad Godesberg, der den programmatischen Umbruch innerhalb der Sozialdemokratie mit der Annahme eines neuen Parteiprogramms zu einem vorläufigen Ende brachte,2645 trotz der eingreifenden Änderungen in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen, gleichzeitig für ein Anknüpfen an die Tradition der Arbeiterbewegung aus.2646 Der Parteitag bildete den nach außen hin sichtbaren Abschluss eines Prozesses program- matischer Selbstrevision und Erneuerung.2647 Den Auftakt hierzu bildeten die Vorstandswahlen des Stuttgarter Parteitags von 1958, in denen ein Drittel der

2641 Ebd., 58. 2642 Kämpf, Herrschaft, 230. 2643 Ebd., 230 f. 2644 Ebd., 231. 2645 Vgl. zur Erarbeitung des Grundsatzprogramms: Klotzbach, Weg, 433-454; Potthoff/Miller, Geschichte, 208-215. 2646 Vgl. für den außerordentlichen Parteitag vom 13.-15. November 1959: Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hg.), Protokoll. 2647 Vgl. Sarcinelli, Staatsverständnis, 37. 372 Kandidaten erstmalig gewählt worden war. Politiker wie Willy Brandt und befanden sich unter den neuen Präsiden, die gemeinsam mit Herbert Wehner eine programmatische Umorientierung und Öffnung der Partei verfolgten.2648 Der außerordentliche Programm-Parteitag von Bad Godesberg markiert daher auch den Wandel der SPD von einer ehemals marxistischen Arbeiterpartei hin zu einer weltanschaulich pluralistischer ausgerichteten Volkspartei.2649 Zeitgleich zum außer- ordentlichen Parteitag fand in der Godesberger Stadthalle eine Ausstellung von programmatischen Dokumenten des demokratischen Sozialismus statt.2650 Durch die programmatische Aufnahme des nicht mehr rein ökonomisch definierten Grundwertes der Freiheit, dem sich Solidarität und Gerechtigkeit als gleichberechtigte Wertziele zur Seite gesellten, ist ein wichtiger Schritt in der Erneuerung der Sozialdemokratie markiert.2651 Die politische Konkurrenz des bürgerlichen Lagers stempelte die programmatische Wende des Jahres 1959 als „von Wehner erzwungene Phase sozial- demokratischer Mitte und Bürgerlichkeit“ und als wahltaktisches Manöver ab.2652 Tatsächlich aber sprach die SPD fortan auch bürgerliche Wählerschichten an. Ein sozialistischer, klassengebundener Freiheitsbegriff klingt in den Aussagen des Parteivorsitzenden Ollenhauer noch nach, insofern er in einem demokratischen Sozialismus die solidarische Freiheit mit der Gleichheit der Chancen verbunden wissen wollte:2653 „In dieser Anerkennung der weiter wirkenden Werte und Kräfte einer großen Tradition liegt auch das Bekenntnis zur Arbeiterschaft als der Vorkämpferin der Freiheit und der Kerntruppe der Freiheitsbewegung unserer modernen Zeit. Die von uns erstrebte neue gesellschaftliche Ordnung wird weit über die Arbeits- gemeinschaft hinaus allen ein Leben in Sicherheit und Freiheit ermöglichen, die heute in Unsicherheit und in Furcht vor der Zukunft leben.“2654

In kritischer Stoßrichtung gegen die Bundesregierung spricht sich Ollenhauer weiterhin für die Freiheit und Würde des Menschen als Bekenntnisgrundlage der Demokratie aus: „Das Bekenntnis zur Freiheit und zur Würde des Menschen erfordert das Bekenntnis zur Demokratie. Das sollte nicht nur ein unumstößlicher Grundsatz für uns Sozialdemokraten sein. Wir haben es vielleicht am wenigsten nötig, diesen inneren Zusammenhang zu betonen. Aber wenn ich sehe, wie die sogenannte freie Welt heute in totalitären Lagern sogenannte Verbündete sucht und Gesellschafts- kundgebungen mit dem Außenminister von Franco-Spanien veranstaltet, und wenn ich im Rundfunk höre, daß der Außenminister Spaniens Berlin mit dem im Bürgerkrieg umkämpften Städten der republikanischen Verteidiger des demo-

2648 Vgl. Leugers-Scherzberg, Herbert Wehner, 47; Sänger, Beitrag. 2649 Vgl. Miller, Grundwerte, 29. 2650 Vgl. Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hg.), Protokoll, 2. 2651 Vgl. Kocka, Idea, 45; Zimmermann, Grundwert, 81 f. 2652 Strauß, Gebote, 26. 2653 Vgl. Fenske, Denken, 558. 2654 Erich Ollenhauer, Das neue Grundsatzprogramm der SPD, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 422. 373 kratischen Spaniens vergleicht, dann frage ich mich: Wie kann die freie Welt den Kampf um die Freiheit gewinnen, wenn diese nicht verbunden ist mit einem unerschütterlichen und uneingeschränkten Bekenntnis zur Demokratie?“2655

Auf dem vom 13. bis zum 15. November stattfindenden außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg gelangte das heftig diskutierte Grundsatzprogramm mit einer großen Mehrheit von 324 zu 16 Stimmen zur Annahme.2656 Es hebt mit einer nahezu dichterisch gestalteten Erklärung an. Im vorletzten Absatz dieses „Programm-Poems“ wird noch der von Marx und Engels ererbten, hoffnungsgeladenen Freiheitsvorstellung des Sozialismus Rechnung getragen. Dort heißt es: „Nur durch eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft öffnet der Mensch den Weg in die Freiheit“,2657 doch die Eingliederung des Einzelnen in das Kollektiv eines zentral gelenkten Staates ist nicht mehr vorrangiges Ziel der Sozialdemokraten.2658 Die totalitäre Bedrohung, die der Freiheit erwachsen kann, ist nicht nur in der zweiten Zeilengruppe, sondern auch im Haupttext berücksichtigt.2659 Außer dieser historischen Folie, vor der der Freiheits- begriff sich im kritischen Rekurs auf den Nationalsozialismus ex negativo abzeichnet, wirkt sich außerdem die mit dem Programm verbundene Wende von der Partei der Arbeiter zur Partei des Volkes auf die Freiheitsvorstellung der Sozialdemokraten aus. Sie erstreben, wie der erste Satz im Grundwerteabschnitt bestimmt, „eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten und als dienendes Glied der Gemeinschaft verantwortlich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Menschheit mitwirken kann.“2660 Die SPD nimmt mit ihrem erneuerten Programm für sich in Anspruch, „die Partei der Freiheit des Geistes“ zu sein,2661 wodurch sich zahlreiche Intellektuelle aus dem linksliberalen Spektrum angesprochen fühlten. Die von der Sozialdemokratie mit dem Godesberger Programm unterstützte staatliche Ordnung ruht auf der Verwirklichung der Grundrechte; sie „sollen nicht nur die Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat sichern, sie sollen als gemeinschaftsbildende Rechte

2655 Ebd., 426. 2656 Vgl. für eine linguistische Interpretation des Programms: Hermanns, Tautologien. Er erkennt in Freiheit das „Fahnenwort des Godesberger Programms“ (aaO., 95) und sieht in ihm ein „deontisches Grundwort“ sowie das „summum bonum der SPD des Jahres 1959“ (aaO., 100). 2657 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg 1959, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 350-370; hier: 351. Vgl. für den Hergang des gesamten Parteitags auch: Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hg.), Protokoll. 2658 Vgl. Moser, Rechtskraft, 29 f. 2659 Vgl. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem außerordentlichen Parteitag in Bad Godesberg 1959, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 350-370; hier: 352. 2660 Ebd., 351. 2661 Ebd. 374 den Staat mitbegründen.“2662 Letztendlich verzichtet das Dokument aber auf eine explizite Definition des Freiheitsbegriffs.2663 Andere Positionen vertrat der politische Hauptwidersacher der SPD, die CDU, in Person ihres Bundeskanzlers. Konrad Adenauer verstand zeitlebens den Kommunismus als Gegenstück zur Freiheit2664 und war davon überzeugt, dass sich die Freiheit stärker erweise als die Sklaverei.2665 Durch seine Bereitschaft, die DDR unter Bedingungen anzuerkennen, räumte der erste Kanzler und Außenminister der Bundesrepublik im Begriffsgeflecht von Einheit und Freiheit der Freiheit das Prä ein.2666 Der ihm 1955 auf dem Posten des Außenministers nachgefolgte di Trimezzo2667 gibt – ganz der konservativen Freiheitsauffassung, die mit Komplementärbegrifflich- keiten aufwartet, verhaftet – zu bedenken,2668 dass es Freiheit nur geben kann, „wenn die Menschen freiwillig das Korrelat der sittlichen Bindung in dem Staat anerkennen, in dem sie leben“.2669 So liegt es in dieser Linie, wenn die Union in ihren Karlsruher Entschließungen in organischer Vorstellung zu bedenken gibt, „eine gesunde Struktur der Gesellschaft“ sei „eine wesentliche Grundlage freiheitlicher politischer Ord- nung.“2670 Weiterhin blieb der 17. Juni der zentrale Tag für Freiheitsbekundungen, doch verblasste die Wirkkraft des symbolischen Datums zusehends. , der seit Anfang 1960 Bundesvorsitzender der FDP war,2671 sprach zu Beginn des neuen Jahrzehnts von einem Gedenktag, der ursprünglich als Mahnung für die Wiedererlangung der deutschen Einheit in Freiheit eingerichtet, aber „mehr und mehr ein bezahlter Feiertag zu einem Ausflug ins Grüne“ geworden sei.2672 Laute Lustbar- keiten mit Tanz und Sommerfesten stellten zunehmend die Erinnerung an die tragischen

2662 Ebd., 353 f. 2663 Vgl. Hermanns, Tautologien, 97 f. Hermanns erklärt dies mit dem Negationscharakter der Freiheit. 2664 Vgl. Konrad Adenauer, Der Bundeskanzler warnt. Die Freiheit in der ganzen Welt bedroht – Die Sowjetzone ein großes Gefängnis. Keine Konzessionen vor der Gipfelkonferenz – Klare Fragen an Chruschtschew notwendig, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 31 vom 16.02. 1960, 297 f.; hier 297. 2665 Vgl. Die Freiheit ist stärker als die Sklaverei. Erklärung des Bundeskanzlers vor dem Bundestag, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 227 vom 03.12. 1955, 1925 f. 2666 Vgl. Morsey, Bundesrepublik, 66; Koch, Konrad Adenauer, 356-362. 2667 Vgl. zu Brentano: Brunck, Heinrich von Brentano. 2668 Vgl. zur Übernahme des Ministeramtes von Adenauer im Jahr 1955: Kosthorst, Brentano, 30-44; Koch, Konrad Adenauer, 268-273. 2669 Heinrich von Brentano, In einer völlig gewandelten Welt. Deutschlands außenpolitischer Weg – Warnung vor falschen Kompromissen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 11 vom 26.01. 1960, 145-149; hier: 148. 2670 Bundesparteitag in Karlsruhe 26.-29. April 1960. Die Entschließungen, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 141-146; hier: 144. 2671 Vgl. zu Mendes Werdegang als FDP-Vorsitzender: Jansen, Erich Mende, 135-141. 2672 Mende, Freiheit, 273. 375 Ereignisse und ihre Opfer in den Hintergrund.2673 Dieser Entwicklung gegenzusteuern, verschrieb sich ebenfalls Bundesminister Lemmer für Gesamtdeutsche Fragen,2674 der am 15. Juni 1960 daran erinnerte, dass sieben Jahre nach dem Aufstand, der vorübergehend mehr als 30.000 Inhaftierungen nach sich zog, noch immer 110 Gefangene in Haftanstalten der DDR einsäßen.2675 Daher habe der bevorstehende Jahrestag die Menschen im freien Teil der geteilten Heimat daran zu erinnern, dass ihre eigene Freiheit noch so lange gefährdet sei, wie sie in der DDR den Landsleuten vorenthalten werde. Lemmer bezeichnete es als ein Verhängnis, „diesen inneren Zusammenhang zwischen unserem und dem Schicksal der anderen zu vergessen und [...] gedankenlos den Genuß eines durch einen Gedenktag verlängerten Wochenendes hinzugeben, und dies womöglich in dem kurzsichtigen Wahn, es werde immer so bequem weitergehen.“2676 Die Rede des Bundesministers kulminierte in der deutschlandpolitisch motivierten Aussage, die Freiheit sei unteilbar – lediglich die Freizeit, könnte angefügt werden, vermochte diese Einheit der Freiheit zu bedrohen. Genau dieses Argumentes bemühte damals die kritische Presse: „Einheit in Freizeit“ lautete daher auch der spöttische Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel zu den bevorstehenden Einheitsfeierlichkeiten. Weil im Jahr 1960 der Feiertag zwischen dem Fronleichnamsfest und dem Wochenende lag, sei allerorten lange verhandelt worden, um „Freiheit und Freizeit in Einheit herzustellen“.2677 Luftkurorte und Weindörfer waren gemäß dem „Einheit-in-Urlaub-Rezept“2678, wie der Beitrag berichtet, die beliebtesten Redestätten der Politprominenz. Obwohl hunderte von Kundgebungen stattfanden,2679 war angesichts dieser Entwicklungen zu verzeichnen, dass sich die Symbolkraft des Gedenktages mit zunehmendem zeitlichem Abstand von den Ereig- nissen abgenutzt hatte.2680 Trotzdem leuchteten 1960 – mittlerweile wohl zu einem großen Teil auch schon aus Gewohnheit – die Fackeln am Hohen Meißner nahe der Zonengrenze, wo die Jugend das Bild bestimmte.2681 Neben dem Rednerpult, berichtet der Korrespondent der Welt über die revisionistischen politischen Anliegen der Demonstranten, „standen die Fahnen

2673 Vgl. ebd., 273. 2674 Vgl. zu Lemmer: Tilman Meyer, , in: Kempf/Merz (Hgg.), Kanzler, 424-428. 2675 Vgl. Noch 110 Beteiligte am Juni-Aufstand im Zuchthaus, in: Die Welt Nr. 139 vom 16./17.06. 1960, 1. 2676 Ebd. 2677 Einheit in Freizeit, in: Der Spiegel Nr. 25 vom 15. Juni 1960, 13 f.; hier: 13. 2678 Ebd., 14. 2679 Vgl. Hunderte von Kundgebungen zum „Tag der deutschen Einheit“, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 110 vom 15.06. 1960, 1082. 2680 Vgl. König, Gedenk- und Festtage, 77-88. 2681 Vgl. Hans-Jürgen Usko, Die Jugend bestimmte das Bild, in: Die Welt Nr. 140 vom 18.06. 1960, 1; 4. 376 aus allen Regionen des alten Reiches.“2682 Der Bundespräsident betonte in seiner Rede im Hessischen Zonenrandgebiet unweit Eschwege, den Studenten läge in der Be- kundung ihres Willens zur Wiedervereinigung zwar nicht mehr an der romantischen Schwärmerei einer Jugend, die einst zur Wartburg gepilgert sei, dennoch stünden sie mit ihrem Anliegen den Studenten nicht nach, die 1817 die nationale Einheit Deutschlands erstrebt hätten.2683 Es sei, so Heinrich Lübke, auf die Dauer nicht mög- lich, einem Volk seine Freiheit vorzuenthalten, weshalb Berlin weiterhin Mittelpunkt der Hoffnung und des Willens zur Freiheit bleiben müsse. Letztendlich werde der Freiheitsdrang den Sieg über den Kommunismus hinwegtragen, ist sich auch Ernst Lemmer, der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, in einer Gedenkansprache sicher.2684 Der Bestand der bundesrepublikanischen Demokratie schien auch zu Beginn der 60er-Jahre noch stark gefährdet, wurde jedoch durch den materiellen Wohlstand abgefedert.2685 Die Lebenserwartung der Republik werde, wie Winfried Martini in Anspielung auf die kommunistische Herrschaft im Osten erklärte, einzig durch die „rote ‚Wahrheit’“ geschmälert, weshalb Freiheit lediglich auf Abruf bestehe.2686 Der Bolschewismus, gibt er ein zeitgenössisches Argument wieder, habe in den letzten vierzehn Jahren unfassbares geleistet und sich zum zweitgrößten Industriestaat der Welt emporgearbeitet. Vorsicht sei deshalb geboten, denn in seinen Augen wäre es „tödlich, die Gläubigkeit, die Gesinnungsfestigkeit und die Unbestechlichkeit des Bolschewismus zu unterschätzen“, und damit einen allzu leichtfertigen Umgang mit der aufgetragenen Verantwortung zu pflegen.2687 Außerdem verringere der Rückgang des Freiheits- bedürfnisses innerhalb der jüngeren DDR-Bewohner „auf die Konsumfreiheit und eine gewisse Freiheit der Privatsphäre“ die Chancen auf die Überwindung der Trennung.2688 Das Abflauen der anfänglichen Einheits- und Freiheitsbekundungen innerhalb des ersten Jahrzehnts der Bundesrepublik, das mit der Wohlstandssteigerung innerhalb der Bevölkerung korreliert, bereitete den Weg dazu, den hierdurch teilentleerten Freiheits- diskurs für antikommunistische Propaganda zu instrumentalisieren.

2682 Bernd Nellessen, Fackeln leuchten an der Zonengrenze, in: Die Welt Nr. 140 vom 18.06. 1960, 1; 4. 2683 Vgl. Heinrich Lübke, „Gebt uns endlich das Recht der Selbstbestimmung“, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 111 vom 21.06. 1960, 1093-1095. 2684 Vgl. Freiheitsdrang erringt den Sieg über den Kommunismus, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 110 vom 15.06. 1960, 1081 f. 2685 Vgl. Schildt, Wohlstand, 24-36. 2686 So der Titel einer Studie Martinis: (ders., Freiheit). 2687 Martini, Freiheit, 37. 2688 Ebd., 325. 377 4.5.13 Karl Jaspers’ Versuch, das Junktim zwischen Einheit und Freiheit zu lösen – „Nur die Freiheit – darauf kommt es an“

Zu Beginn der 60er-Jahre versuchten intellektuelle Vordenker, den gesamtdeutschen Freiheitsdiskurs neu zu beleben und dahingehend zu modifizieren, dass sie ihn von der Forderung nach staatlicher Einheit abkoppeln wollten. Zu den Protagonisten dieser Bewegung zählten Alexander Rüstow und Karl Jaspers. Einen kompetetiven Freiheits- begriff, der in Konkurrenz zum sowjetischen Einflussbereich formuliert ist, vertritt der Nationalökonom Rüstow in seiner so genannten Berner Rede vom Juli 1960.2689 Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bern beschäftigte sich der in Heidelberg lehrende Volkswirtschaftler mit der Frage, ob den Menschenrechten nicht auch Menschenpflichten zur Seite gestellt werden müssten. In seinem Gedanken- gang kommt er auf den „zentralen Begriff der Freiheit“ zu sprechen, für den er es ablehnt, sich auf subtile Untersuchungen oder metaphysische Spekulationen zu dessen Definition einzulassen, ohnehin seien sie nur ein Ausweichen „vor den brennenden konkreten Problemen der Situation. Ich [i. e. Alexander Rüstow] pflege demgegenüber mit absichtlicher Schroffheit zu sagen: Für unsere Zwecke der heutigen Situation genügt als Definition der Freiheit vollkommen: Freiheit ist das, was die jenseits des Eisernen Vorhangs nicht haben und was wir diesseits des Eisernen Vorhangs, bei allen Unvoll- kommenheiten im einzelnen, haben.“2690 Angesichts der Situation der tödlichen Bedrohung des Zentrums allen Naturrechts, der Freiheit, genüge die traditionelle Formulierung als Recht nicht mehr: „Was wir hier brauchen, das ist eine Freiheitspflicht, eine Pflicht zur Freiheit, die jeden Menschen verpflichtet, seine eigene Freiheit zu wahren, und die solidarischerweise jeden Menschen verpflichtet, jedem anderen Menschen, der seine Freiheit verloren hat, nach Kräften zur Wiedererlangung dieser verlorenen Freiheit zu verhelfen. Denn das wissen wir ja nun, daß diese Dinge rein individuell gar keine praktische Bedeutung haben, das isolierte Individuum kann weder seine Freiheit wahren, noch seine Freiheit wiedergewinnen, sondern beide Probleme sind im höchsten Maße soziale Probleme. Freiheit läßt sich überhaupt nur sozial durch eine freiheitliche Staats- und Gesellschaftsordnung realisieren. Sowohl die Behauptung der noch vorhandenen Freiheit als auch die Wiedererringung ver- lorener Freiheit kann nur in großen überindividuellen sozialen staatlichen Verbänden geschehen.“2691

Die naturrechtliche Pflicht des Westens sei – und damit gibt er die Fixierung des politischen Diskurses auf die staatliche Einheit preis –

2689 Vgl. Menschenrechte oder Menschenpflichten?, in: Rüstow, Rede, 296-313. 2690 Ebd., 306 f. 2691 Ebd., 307 f. 378 „gegenüber der Zone, gegenüber unseren Brüdern und Schwestern, die dort von der totalitären Tyrannei unterdrückt sind, nicht Wiedervereinigung, wie es immer mit einem veralteten chauvinistischen Begriff heißt, der sehr irreführt, sondern Befreiung. Was die dann mit ihrer Freiheit anfangen, das ist ihre Sache. Und wir müßten sogar bereit sein, uns zu einem Verzicht auf die Wiedervereinigung zu ver- pflichten, wenn dadurch die Freiheit gerettet werden könnte.“2692

Bereits drei Jahre zuvor wies Rüstow in einer Rede vor der Aktionsgemeinschaft soziale Marktwirtschaft, die die Frage aufwarf, ob der Westen eine tragende Idee habe, darauf hin – indem er den instrumentellen Charakter der Freiheit als semantisches Deutungs- muster in Stellung bringt, dass das bloße Ideal der Freiheit nur ein Rahmenbegriff sein könne, der mit konkretem Inhalt gefüllt werden müsse:2693 „Ich [i. e. Alexander Rüstow] habe mit Absicht nicht gesagt, daß die Idee des Westens die Idee der Freiheit sei, weil Freiheit ein negativer und zunächst leerer Begriff ist. Es kommt dann sofort die Frage: Freiheit wozu?, und je nachdem, wie man den Rahmenbegriff der Freiheit füllt, bedeutet er etwas ganz Verschiedenes. Meine Meinung ist eben, daß dieser Rahmenbegriff der Freiheit mit dem Inhalt der Menschlichkeit gefüllt werden muß [...]; denn zum Menschsein, zur Entfaltung der Menschlichkeit gehört eben die Freiheit.“2694

Rüstows Denken, das keinen rein negativen Freiheitsbegriff konstituiert, sondern in der positiven Begriffsauslegung ein allgemeinmenschliches Spezifikum sieht, deckt sich bis in Einzelheiten mit den Gedanken seines Heidelberger Kollegen Karl Jaspers. In einem Fernsehinterview das am 10. August 1960 vom Norddeutschen Rundfunk in der Reihe „Aus erster Hand“ ausgestrahlt wurde,2695 verstärkte Karl Jaspers seine bereits zuvor vor allem in dem Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen geäußerten und von Rüstow geteilten Thesen zur Wiedervereinigung.2696 Er vertrat vehement das Primat der Freiheit vor der Einheit.2697 „Nur die Freiheit – darauf kommt es an. Wiedervereinigung ist demgegenüber gleichgültig“, erklärte Jaspers in dem Gespräch mit Thilo Koch.2698 In historischem Rückblick sieht der Philosoph bereits in der Bismarckschen Reichsgründung die Profilierung der Einheitsidee zu Gunsten der politischen Freiheit angelegt, die zuvor erfolglos von den 48ern vertreten worden sei. Der Gedanke der Wiedervereinigung beruhe darauf, dass man den Bismarckstaat wiederherstellen wolle, weswegen dieses Vorhaben schon alleine daher ein Atavismus

2692 Ebd., 308. 2693 Vgl. Hat der Westen eine Idee?, in: Rüstow, Rede, 165-189. 2694 Ebd., 168. 2695 Vgl. für den Interviewtext: „Nur die Freiheit – Allein darauf kommt es an“, in: FAZ Nr. 191 vom 17.08. 1960, 9. 2696 Vgl. Jaspers, Atombombe. Vgl. zur Debatte hierum auch: Rathgeb, Nation, 90 f. 2697 Vgl. Jaspers stellt die Freiheit in den Vordergrund, in: FAZ Nr. 186 vom 11.08. 1960, 3. Vgl. zu Jaspers Position: Kadereit, 267-276 2698 Vgl. Jaspers, Freiheit, 107-114; hier: 111. Das Interview mit Jaspers ist erstmals abgedruckt in der FAZ vom 17.08. 1960, 9. 379 sei und von Realitätsignoranz zeuge. Seinem Gesprächspartner Thilo Koch teilte Jaspers auf ausdrückliche Nachfrage mit, es habe „keinen Sinn mehr, deutsche Einheit zu propagieren, sondern es hat nur einen Sinn, daß man für unsere Landsleute wünscht, sie sollen frei sein!“2699 Dem Interviewer machte die empörte Öffentlichkeit daraufhin den Vorwurf, er habe die Thesen unwidersprochen, „freundlich lächelnd angehört“.2700 Das Presseecho auf Jaspers Aussagen, die bereits im März aufgezeichnet wurden, aber erst Monate später zur Ausstrahlung gelangten, war immens. Rudolf Augstein ging im Spiegel unter dem Pseudonym Jens Daniel harsch gegen den „Atomphilosophen“ vor und rückte Jaspers in die faschistische Ecke, da dieser sich einer unmenschlichen Sprache bediene.2701 Dem „Bodenlosen“ widmete das Nachrichtenmagazin am 31. August 1960 sogar eine Titelgeschichte.2702 Der Kern der dortigen Argumentation dreht sich um den von Jaspers vertretenen Bismarckstaats-Vergleich. Die Behauptung, „die Wiedervereinigung liefe, würde sie bewerkstelligt, auf die Wiederherstellung des Bismarck-Staates hinaus“, sei politisch, historisch und staatsrechtlich unhaltbar.2703 Eine bundesweite Diskussion kam in Gang, die sich kritisch mit dem Verhältnis von Einheit und Freiheit auseinander setzte. Insbesondere die Parteien und um die Wieder- herstellung der Einheit bemühte gesellschaftliche Gruppen erhoben heftigen Wider- spruch gegen die Aussagen des Philosophen.2704 Das Kuratorium Unteilbares Deutschland, dessen Ansicht vorrangig darauf beruhte, Freiheit müsse durch Macht gesichert werden, zitierte Jaspers zu einem Gespräch nach Berlin, um seine Ideen zu widerlegen.2705 Leserbriefzuschriften verunglimpften das Auftreten des „Fachgelehrten außerhalb seines Gebietes“ und bezeichneten Jaspers unter anderem, wie Herrmann Ehlers dies tat, als „Primadonna in Herrenkleidung“.2706 Ein besorgter Leser aus Münster stellte sogar die deutschlandpolitische Gewissensfrage: „Sind wir bereit, die Freiheit der unter dem bolschewistischen Regime lebenden Deutschen mit dem Preis des Verzichts auf die Wiedervereinigung zu bezahlen?“2707 Die „Gemeinschaft des Volkes“ und das „Deutschtum“ – zwei herausgehobene Argumentationsfiguren

2699 Ebd., 111. 2700 Thilo Koch, Der Streit um Jaspers, in: Die Zeit Nr. 34 vom 19.08. 1960, 1. 2701 Vgl. Jens Daniel [i.e. Rudolf Augstein], Da tritt der Philosoph herein, in: Der Spiegel Nr. 34 vom 17.08. 1960, 12. 2702 Vgl. Karl Jaspers: Der Bodenlose, in: Der Spiegel Nr. 36 vom 31.08. 1960, 44-53. Titel: „Grenzdenker Jaspers“. 2703 Ebd., 53. 2704 Vgl. Jaspers stößt bei den Parteien auf heftigen Widerspruch, in: FAZ Nr. 187 vom 12.08. 1960, 1; 4. 2705 Vgl. Thilo Koch, Der Streit um Jaspers, in: Die Zeit Nr. 34 vom 19.08. 1960, 1. 2706 Briefe, in: Der Spiegel Nr. 38 vom 14.09.1960, 5 f.; hier: 5 (Werner Buhlmann; ). Vgl. auch Der Spiegel Nr. 40 vom 28.09. 1960, 20: dort fasst der Leser Hermann Bullinger die Vorwürfe an Jaspers als unsachliche „argumenta ad hominem“ zusammen. 2707 Aus den Briefen an die Redaktion, in: Die Welt Nr. 197 vom 24.08. 1960, 11. 380 innerhalb des Begriffsgeflechts „deutsche Freiheit“ – würden von Jaspers verraten.2708 Bedachtsamere Stimmen sahen in der durch Jaspers initiierten Diskussion die Chance, „falsche Denkansätze der Politiker“ zu hinterfragen,2709 was dazu führte, dass der Provisoriumscharakter der Bundesrepublik in Frage geriet.2710 Aber auch kamen vereinzelt Stimmen auf, die in der Freiheit das höchste Lebensprinzip sahen, da sie der Religion, dem Staat und der Wirtschaft übergeordnet sei.2711 Der bisher ausschließlich von Seiten der DDR als „Bonns Staatsphilosoph“ gescholtene Jaspers,2712 der 1959 noch mit einer Kandidatur zum Bundespräsidentenamt in Verbindung gebracht wurde, vertrat gegenüber dem seinerzeit vorherrschenden Leitbild der nationalen Einheit das Leitbild einer Freiheit des bundesrepublikanischen Teilstaates, was ihm heftige Kritik eintrug.2713 In einer Notiz zu den eher spontan vorgetragenen Äußerungen des Interviews expliziert Jaspers, dass er Ähnliches bereits zuvor geäußert habe und sich mit seiner Meinung nicht auf verlorenem Posten befinde.2714 Jaspers ergriff die infolge der kontroversen Debatte vorhandene Publizität, um seine Überlegungen in den Monaten August und September mittels mehrerer Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit darzulegen. Diese Artikelserie wiederum nahm er als Grundstock einer unter dem Titel Freiheit und Wiedervereinigung erschienenen, umfangreicheren Darstellung.2715 In der Einleitung zu der Artikelsammlung bemerkt er, die Welt sei nach zwei Prinzipien gespalten: „das der totalen Herrschaft und das der politischen Freiheit.“2716 Nur die politische Freiheit sichere „auf die Dauer auch die persönliche Freiheit.“2717 „Das totalitäre Herrschaftssystem des Kommunismus ver- wirft“, so Jaspers in der Folge, „die politische Freiheit bedingungslos.“2718 Gift für die Freiheit sei vor allen Dingen „die Politik der Gemütlichkeit“.2719 Laut einer Erhebung vom August 1960 waren 18 Prozent der befragten Personen bereit auf die Wiedervereinigung zu verzichten, wenn „die Deutschen in der Ostzone

2708 Vgl. den Leserbrief: Die Gemeinschaft des Volkes, in: FAZ Nr. 203 vom 31.08. 1960, 6. 2709 Leserbriefe, in: Die Zeit, Nr. 42 vom 14.10. 1960, 26. 2710 Vgl. Aus Briefen an die Redaktion, in: Die Welt Nr. 193 vom 19.08. 1960, 5. Vgl. auch Aus Briefen an die Redaktion in: Die Welt Nr. 197 vom 24.08. 1960, 11. 2711 Vgl. den Leserbrief: Der Religion übergeordnet, in: FAZ Nr. 203 vom 31.08. 1960, 6. 2712 Scheler/Steininger, Karl Jaspers. Die Autoren kritisieren die „Preisgabe der Nation zur Rettung der imperialistischen Freiheit“ (aaO, 292). In anderen Worten sprechen sie von der „Preisgabe der Freiheit des Volkes“ (aaO., 294). Vgl. zur Auseinandersetzung der DDR-Philosophie mit Jaspers: Kapferer, Feindbild, 276-285. 2713 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 229. 2714 Vgl. Jaspers, Freiheit, 114. 2715 Vgl. ebd. 2716 Jaspers, Einleitung, in: ders., Freiheit, 11-15; hier: 11. 2717 Jaspers, Grundgedanken zur Wiedervereinigung und Freiheit, in: ders., Freiheit, 16-30; hier: 24. 2718 Jaspers, Die gegenwärtige Lage und ihre Möglichkeiten, in: ders., Freiheit, 31-38; hier: 31. 2719 Jaspers, Demokratische Erziehung, in: ders., Freiheit, 96-106; hier: 102. 381 ihre Freiheit zurückbekommen“.2720 Allerdings muss in Rechnung gestellt werden, dass das Institut für Demoskopie in Allensbach mit suggestiven Fragen in der Form „In der Ostzone haben die Menschen ja weniger Freiheit als bei uns“ operierte2721 und dass es, wie der öffentliche Umgang mit Jaspers zeigt, nicht opportun war, sich gegen die Wiedervereinigungsdoktrin zu stellen. Der bereits zuvor erwähnte Heidelberger Nationalökonom Alexander Rüstow, dessen Auffassungen sich mit denjenigen Jaspers überschneiden,2722 unternahm einen Versuch, um die Diskussion zu objektivieren. Auch er forderte, unter Umständen zugunsten der Freiheit auf die Einheit zu verzichten, weil die unberechtigte Überordnung und Verabsolutierung der Wiedervereinigungsforderung „ein Rückfall in den chauvinis- tischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts“ sei.2723 Die von Jaspers aufgeworfene Fragestellung führte auch im parteipolitischen Spektrum zu heftigen Diskussionen. Am 28. November 1960 trat der Christdemokrat Eugen Gerstenmaier mit der Frage „Freiheit – Wozu?“2724 vor den Kulturkongress der CDU/CSU in Gelsenkirchen.2725 Die Verteidigung der – mit dem Vortragstitel implizierten, positiv aufgefassten – Freiheit gegenüber der „Drohung aus dem Osten“ ist in den Augen des Bundestagspräsidenten wie er eingekleidet in eine rhetorische Frage zu bedenken gibt, eine „unabweisbare moralische wie kulturelle Pflicht“.2726 Auch wenn die jüngere Generation oftmals den Ernst des Anliegens verkenne, müsse für „die energische Sicherung der Freiheit“ eingetreten werden.2727 Freiheit als „Urelement“ der Kultur sei durch die „mechanisierende Massengesellschaft“ bedroht.2728 Der Wert wird von Gerstenmaier als „die Ermächtigung zum individuellen Wagnis des Lebens, zum großen Abenteuer der eigenen Lebensgestaltung“ verstanden. „Daß der Mensch dazu frei ist,“ lautet seine Überzeugung, „und daß er darum nicht von totalitären Staatsgewalten in Schablonen gepreßt, gedanklich genormt und ‚im Dienste der Gesell-

2720 Jahrbuch, Bd. 3, 486. 2721 Ebd., 490. 2722 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels. 2723 Alexander Rüstow, Zum Streit um das Jaspers-Interview, in: FAZ Nr. 194 vom 20.08. 1960, 12. 2724 Eugen Gerstenmaier, Freiheit – Wozu? Rede auf dem Kulturkongreß der CDU/CSU in Gelsenkirchen 28. November 1960, in: ders., Reden, 163-189. 2725 Vgl. zur Tätigkeit Gerstenmaiers als Bundestagspräsident von 1954-1969: Sauer, Eugen Gerstenmaier, 36-39. Zum Amt: Schick (Hg.), Bundestagspräsidenten. 2726 Eugen Gerstenmaier, Freiheit – Wozu? Rede auf dem Kulturkongreß der CDU/CSU in Gelsenkirchen 28. November 1960, in: ders., Reden, 163-189; hier 166. 2727 Ebd. 2728 Ebd., 168. 382 schaft’ verplant werden dürfe – dies ist der Motor der freien Welt gegen die kommunistische Diktatur.“2729 Auch müsse der Einsicht in die historische Notwendigkeit standgehalten werden, indem es – hier setzt sich Gerstenmaier konfrontativ mit der materialistischen Geschichtsbetrachtung auseinander – in einer freien Welt nur freie Einsichten in die historische Notwendigkeit und den Geschichtsverlauf geben dürfe: „Das heißt für uns Deutsche zum Beispiel praktisch und konkret, daß es uns nicht verstattet ist, vor dem Kampf um die Welt, der zwischen Weiß und Rot im Gange ist, die Augen zu schließen und uns in ein neutrales Wunschland abzumelden, sondern hier und jetzt, an der Frontlinie der beiden Welten, mit unserem Berlin und unseren 53 Millionen hüben und 17 Millionen drüben, schlicht, aber unentwegt standzuhalten.“2730 Mit dieser manichäis- tisch anmutenden Dichotomisierung der Welt in zwei Lager rekurriert Gerstenmaier mit antikommunistischem Einschlag auf die Besonderheit der deutschen Teilungssituation und die damit verbundene Verpflichtung, eine herausgehobene Stellung im System- kampf einzunehmen. Mit den Überlegungen von Jaspers und der dadurch ausgelösten Diskussion ist ein Wendepunkt im Freiheitsdiskurs markiert, da er und ähnlich denkende Vertreter des öffentlichen Lebens die Loslösung der Freiheit von der Einheit – einem beständig wiederkehrenden und auf Komplementarität der Zielsetzung ausgerichteten Grundmuster des Diskurses um die „deutsche Freiheit“ – ansprachen und somit ein öffentliches Umdenken fördern wollten, das sich ebenso in der erlahmenden Begeisterung für die zu jährlichen Ritualen herabgeminderten Einheitsbekundungen ausdrückte.

4.5.14 Kritik an freiheitsdegenerierenden Wirkungen von Fortschritt, Technik und Massengesellschaft – „daß das Freiheitsbewußtsein des modernen Menschen nachgelassen, ja einen Schock davongetragen hat.“

Zu den weit verbreiteten Meinungen zu Beginn der 60er-Jahre gehörte, abgesehen von den deutschlandpolitisch geprägten Freiheitsüberlegungen, „daß das Freiheitsbewusst- sein des modernen Menschen nachgelassen, ja einen Schock davon getragen hat. Viele gefallen sich sogar in der düsteren Prophezeiung, der moderne Mensch beginne, seinen Willen zur Freiheit aufzugeben, an Stelle der Freiheit trete immer deutlicher das

2729 Ebd., 170. 2730 Ebd., 172. 383 Bedürfnis nach Sicherheit, selbst um den Preis der Freiheit.“2731 Die Entwicklung der Freiheit schien im technischen Zeitalter nach zwei Seiten hin offen. Hiermit verbunden tauchte die Frage nach den Kosten und Nutzen von Freiheit auf,2732 da der Technik sowohl freiheitseinschränkende als auch -ausweitende Potenziale zugesprochen wurden.2733 Durch die zunehmend sekundär vermittelte Erfahrung entstehe, so die Argumentation fortschritts- und modernekritischer Kräfte, die Gefahr der Resi- gnation.2734 Politik- und Bürokratiekritik seitens der konservativen Staatsrechtslehre, die die Legislative und Exekutive für negative Tendenzen zu einem großen Teil mitverantwortlich macht, schließen sich hieran an.2735 Die Politik drohe, wie der Verfassungsrechtler Gerhard Leibholz deren Totalisierung befürchtet, in alle Lebensbereiche auszugreifen.2736 Die Macht der Beamten und die zunehmende Büro- kratisierung wirke sich, kritisiert sein Kollege Ernst Forsthoff,2737 negativ auf die freiheitliche Entwicklung aus.2738 Darüber hinaus werde die Autonomie der Gesellschaft durch den Anspruch des Staates, das Wohl seiner Bürger positiv zu fördern, verletzt.2739 Forsthoffs Denken, das von einem negativen Staatsverständnis ausgeht, trägt offen antiparlamentarische Züge.2740 Auch Karl Raimund Popper warnt eindringlich davor, dass wenn „es uns nicht gelingt, die Armut zur Seltenheit zu machen, dann kann es uns leicht passieren, daß wir unsere Freiheit an die Bürokratie des Wohlfahrtsstaates verlieren.“2741 Auch die Massenmedien wurden als Beeinflussungsfaktoren im politischen Prozess kulturkritisch beäugt.2742 Dennoch betrachtete Erich Mende in seiner Biographie die Spanne vom Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte im Jahr 1949 bis zur Bundestagswahl von 1961 – trotz der seitens konservativer Zeitgeistkritiker signalisierten Bedenken – im rückschauenden Überblick als Epoche der neuen Freiheit.2743 Mende sah im während dieser Zeit gewachsenen Liberalismus „die geistige Antithese und Gegenbewegung gegen alle Erscheinungsformen des Kollektivismus und gegen die durch die modernen

2731 Mende, Freiheit, 68. 2732 Vgl. z.B. aus US-amerikanischer Sicht: Wallich, Freiheit, bes. 7-83. 2733 Vgl. Freyer, Idee, bes. 55. 2734 Vgl. ebd., 63 f. 2735 Vgl. Leibholz, Bedrohung, 77. 2736 Vgl. ebd. 2737 Vgl. zu Forsthoff auch oben: Kap. 4.4.1.1, 244. 2738 Vgl. Forsthoff, Bedrohung. 2739 Vgl. ebd., 104 f. 2740 Vgl. zu Forsthoffs „autoritärer Parlamentarismuskritik vor dem Hintergrund der Industriegesellschaft: Durner, Antiparlamentarismus, 129 f. 2741 Popper, Westen, 248. 2742 Vgl. Hofstätter, Bedrohung. Instruktiv zur Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit vom Ende des 2. Weltkriegs bis ins Jahr 1973: Hodenberg, Konsens. 2743 Vgl. Mende, Freiheit, 68. 384 Massenbeeinflussungsmittel sich entwickelnde Gefahr geistiger Gleichmacherei.“2744 Seine Partei, die FDP, zog mit dem Aufruf „Ein freies Volk braucht freie Demokraten“ in den Wahlkampf des Jahres 19612745 und forderte außerdem in semantischer Kontinuität organischer Staatsbetrachtung, dass ein „gesundes Volk“ eine „gesunde Mitte“ brauche.2746 Das Wahlergebnis der Freien Demokraten war ein Anteil an den Zweitstimmen von 9,5 Prozent und die erneute Beteiligung an der unionsgeführten Bundesregierung. Liberale Politik habe, beurteilt Mende das bisher in der Regierungsverantwortung Geleistete, „den gefährlichen Marsch in kollektivistische Abgründe gebremst und eine Umkehr eingeleitet.“2747 Im Bundestagswahlkampf spielte die Berufung auf das Deutungsmuster Freiheit eine prominente Rolle. Das Argument einer anziehenden Wirkung des Europas der Vaterländer veranlasste die Gesamtdeutsche Partei in ihrem Manifest zur Bundestagswahl von der ungebrochenen Attraktivität der Freiheit zu sprechen: „Im Kampf zwischen der Freiheit und der Unfreiheit soll dieses Europa der Vaterländer nicht durch seine wirtschaftliche Kraft oder seine militärische Macht wirken, sondern durch seine beispielhafte freiheitliche Gesellschaftsordnung überzeugen. Dazu muß das deutsche Volk durch eine neue freiheitliche Wirtschafts- und Lebensordnung bei- tragen.“2748 In der Regierungserklärung vom 29. November 1961 erinnerte Bundeswirtschafts- minister Erhard in Stellvertretung Konrad Adenauers2749 an den „Freiheitskampf in Ungarn“, der als Beweis dafür gelte, dass „die Begriffe Freiheit und Selbständigkeit eine lebendige Bedeutung besitzen.“2750 Adenauer hatte, wie bereits anklang, die Bundestagswahl für die Union entscheiden können.2751 Eindeutig spricht sich der alte und neue Kanzler für eine verstärkte Westbindung unter dem Führungsanspruch der Vereinigten Staaten aus. Es bedürfe, ließ er über Erhard verlauten, bei allen Völkern, die das Ideal der Freiheit zur Grundlage ihrer Politik und ihres individuellen Lebens

2744 Erich Mende, „Die FDP in der Verantwortung“, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 367-373; hier: 368. 2745 Vgl. Ein freies Volk braucht Freie Demokraten. Aufruf zur Bundestagswahl 1961, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 360-367. Vgl. zum Wahlkampf der FDP. Michel, Bundestagswahlkämpfe, 79- 93. 2746 Ein freies Volk braucht Freie Demokraten, aaO., 360. 2747 Erich Mende, „Die FDP in der Verantwortung“, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 367-373; hier: 373. 2748 Manifest zur Bundestagswahl 1961, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 453-461; hier: 454. 2749 Vgl. zum Vorlauf der Regierungserklärung: Koerfer, Kampf, 176-184. 2750 Konrad Adenauer, Regierungserklärung vom 29.10. 1957, zit. nach: Stüwe, (Hg.), Regierungserklärungen, 65-79; hier: 74. 2751 Vgl. für das amtliche Ergebnis der Wahl zum 4. Deutschen Bundestag: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 194 vom 14.10. 1961, 1829-1832. 385 gemacht hätten, „eines großen Maßes an Selbstbeschränkung des nationalen Egoismus, einer tiefen Einsicht in die Notwendigkeit einer einheitlichen westlichen Politik und des Willens zu großen Opfern.“2752 Mit seiner neu gebildeten Regierung trat er für „eine Politik des Schutzes der Selbständigkeit aller die Freiheit liebenden Völker“2753 ein. Vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU legte Ludwig Erhard sein eigenes, ebenso christlich geprägtes Verständnis von Freiheit und Verantwortung dar.2754 In Blick auf die Verantwortung vor Gott und den Menschen bemerkt der ordoliberale Vater des Wirtschaftswunders dazu, dass viele Menschen Verantwortung als lästiges Korrelat der Freiheit verstünden – womit er sich auf der Seite eines komplementären Begriffsverständnisses verortet:2755 „Freiheit darf also nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung, ohne Wurzel. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf vielmehr der Ordnung.“2756 Erhard gibt daher zu bedenken, dass es eigentlich sinnvoller sei, über den Aspekt der Ordnung zu sprechen, weil Freiheit ohne Ordnung ins Chaotische abzugleiten drohe, wie umgekehrt Ordnung leicht in Zwang ersticken könne. „Freiheit schmeckt süß, und Verantwortung“, so der Redner bildhaft über die Schwierigkeiten responsiver Freiheitsvorstellungen, „hat in dem Bewußtsein vieler Menschen einen etwas bitteren Beigeschmack.“2757 Die deutsche Geschichte habe gezeigt, dass der Wert der Freiheit unteilbar ist, denn der „einzelne irrt sich,“ – spielt Erhard auf den kollektiven Aspekt relational gedachter Freiheit an – „wenn er glaubt, er könne sich seine Freiheit erhalten, wenn um ihn herum der Sinn für den Wert der Freiheit verloren geht, sei es in der Nation, oder sei es in den engeren oder weiteren gesellschaftlichen Bindungen, in denen er lebt.“2758 Ein konkretes Beispiel für die ausgewogene Umsetzung beider Prinzipien hat Erhard mit der Novelle des Kartell- gesetzes parat.2759 Dass die Freiheit unteilbar ist, betonte ebenfalls der 3. Wirtschaftstag der CDU/CSU in Form von Thesen, die bei einer Zusammenkunft in Frankfurt am Main beraten wurden.2760 Freie Initiative und persönlicher Leistungswillen werden auch von diesem Gremium zum Motor des wirtschaftlichen Fortschritts erklärt. Dem ökonomischen

2752 Konrad Adenauer, Regierungserklärung vom 29.10. 1957, zit. nach: Stüwe, (Hg.), Regierungs- erklärungen, 65-79; hier: 74. 2753 Ebd., 78. 2754 Vgl. Ludwig Erhard, Freiheit und Verantwortung, in: ders., Gedanken, 676-683. 2755 Vgl. zu Erhards ordoliberaler Ideenwelt: Mierzejewski, Ludwig Erhard, 53-73. 2756 Ludwig Erhard, Freiheit und Verantwortung, in: ders., Gedanken, 676-683; hier: 677. 2757 Ebd., 677. 2758 Ebd. 2759 Vgl. Ebd., 681. 2760 Vgl. Thesen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik (04.08. 1961), in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 156-165; hier: 158. 386 Argument kam stets systemlegitimatorische Bedeutung zu. Hans Wenke steigt in einer Rede 1961 in die Auseinadersetzung zwischen Ost und West um den Wert der Freiheit ein. Oft würden die einfachsten Sachverhalte im täglichen Gefecht um die Freiheit durcheinandergebracht – führt Wenke aus, indem er auf das semantische Potenzial des Deutungsmusters abzielt – „weil der kommunistische Staat, der diese Freiheiten nicht will, doch keineswegs auf das Wort Freiheit verzichtet. Die materialistische Geschichtsauffassung setzt [...] die Freiheit mit der Notwendigkeit gleich. Die Geschichte – so lautet das Dogma – folgt Naturgesetzen; wer sie kennt und nach ihnen handelt, ist frei. Aber jener Staat lenkt sein Augenmerk nicht nur auf die Endstation der Entwicklung; er leitet aus dieser Gesetzlichkeit, die über die Rechte und Regungen der Indivi- dualitäten hinweggeht, seine politische Praxis in der Gegenwart ab. Mit der Erkenntnis der Notwendigkeit, die er als Freiheit bezeichnet, zertrümmert er die private Freiheitssphäre.“2761

Zu Beginn der 60er-Jahre bestand parallel zu der nach innen gerichteten Kritik am angemessenen Umgang mit den Modernisierungsfolgen eine nach außen gerichtete Legitimationsaufgabe, die unter Berufung auf eben jene kritisierten politökonomischen Errungenschaften der Modernisierung geführt wurde, was eine ambivalente Wahr- nehmung des Freiheitsbegriffs mit sich brachte. In der kontrastiven Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Freiheitsbegriff bildete sich jedenfalls, wie Wenkes Gedanken- gang belegt, zunehmend ein Eigenbewusstsein von individueller Freiheit aus, das weniger durch freiwillige Reflexionsleistungen als durch den antagonistischen Wettbe- werb um das bessere System ausgelöst wurde.

4.5.15 Durch den Mauerbau ausgelöste systemantagonistische Profilierung des Deutungsmusters – „Eine Mauer zu errichten / unsre Freiheit zu vernichten, / das wollten und das wagten sie“

In den Morgenstunden des 13. August 1961 errichteten Bauarbeiter auf Befehl der SED- Parteileitung eine Mauer mitten durch Berlin. Westliche Beobachter sahen das Bauwerk als manifesten Ausdruck der Unfreiheit im Osten Deutschlands an. „Eine Mauer zu errichten / unsre Freiheit zu vernichten, / das wollten und das wagten sie“, dichtete Jutta Oels in Reaktion auf die Errichtung der Sperranlage.2762 Im Gefolge der Grenzab- riegelung kam es zu verstärkter Solidarität mit den Deutschen in der DDR, woraufhin den Landsleuten insbesondere im Brennpunkt Berlin erhöhte Aufmerksamkeit zuteil

2761 Wenke, Rede, 95. 2762 Vgl. Jutta Oels, Mahnung, in: Kuratorium Unteilbares Deutschland (Hg.), Texte, 40 f.; hier: 40. 387 wurde. Die Möglichkeit „mit den Füßen abzustimmen“, die bis zum 13. August 1961 bestand, war nun verwehrt. Den Deutschen im Osten „ist die Freiheit nicht geschenkt worden, und sie konnten sie auch nicht erringen. [...] Sie ringen auf ihre Weise mit der Freiheit, und dabei möchten wir ihnen helfen“, war eine von vielen mitfühlenden Stimmen.2763 Zahlreiche Flüchtlinge, die bis zu diesem Zeitpunkt eine Flucht in den Westen unternommen hatten, hatten Schwierigkeiten mit der „rauen Luft der Freiheit“ in der Bundesrepublik. Auf dieses Akkulturierungsproblem ging das Bundes- ministerium für Gesamtdeutsche Fragen mit einer gleichnamigen Broschüre ein,2764 für deren Text Eugen Stamm verantwortlich zeichnete. In direkter Ansprache wendet sich die Informationsschrift an die Flüchtlinge, um ihnen sofort allzu große Hoffnungen auf die neu gewonnene Freiheit auszureden: „Solltest du dich vor deiner Flucht in Illusionen gewiegt haben, solltest du gehofft haben, lange gehegte Wünsche würden nun mit einem Schlage Wirklichkeit, so hast du sie sicher schon in den ersten Tagen nach deiner Flucht deutlich gespürt: Die raue Luft der Freiheit. Du wirst es noch merken oder hast es bereits gemerkt, wie außer der Lagerordnung und den zahlreichen Meldewegen, dem Schlange- stehen und den Formularen, in der ersehnten Freiheit so manches und so vieles nicht einheitlich geregelt oder geplant ist.“2765

Trotz dieser Anfangsschwierigkeiten, auf die die Broschüre antizipatorisch eingeht, gelang die Integration der Flüchtlinge in die westdeutsche Gesellschaft aufgrund der Prosperitätsphase relativ problemlos. Der Mauerbau wirkte sich auf die Memorialfeiern für die Juni-Erhebung aus. Sie erinnerten an den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, bei dem die Arbeiter die schwarz-rot-goldene Fahne als „Fanal der Freiheit auf dem Brandenburger Tor aufpflanzten“.2766 Der Bundespräsident sprach auf dem Hohentwiel, der Bundeskanzler in Berlin2767 und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß erkannte in seiner An- sprache zum 17. Juni in der Mauer die manifeste Widerlegung der kommunistischen Ideologie.2768 Schon fast traditionsgemäß wurde – allerdings erstmals „nach der Errichtung der grausamen Mauer“ – im Rahmen einer parlamentarischen Feierstunde eine Gedenkansprache vor dem Bundestag gehalten.2769 Der Theologieprofessor Helmut Thielicke weist darin auf den unterschiedlichen Zustand der Freiheit in Ost und West

2763 Büro für Gesamtberliner Fragen, Jugend, 1. 2764 Vgl. Presse- und Informationsstelle des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.), Luft. 2765 Ebd., 3. 2766 Thielicke, Rede, 103. 2767 Vgl. Kundgebungen zum Tag der deutschen Einheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 107 vom 14.06. 1962, 930. 2768 Vgl. Franz-Josef Strauß, Der 17. Juni 1953, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 109 vom 16.06. 1962, 941 f. 2769 Thielicke, Rede, 97. 388 hin, der sich bis ins letzte Detail auf das Leben der Bürger auswirke. Kritisch äußert er sich, womit er die Kritik der Vorjahre aufgreift, über die zunehmende Nutzung des Gedenktages als Möglichkeit zur Fahrt ins Grüne. Die Chance der Freiheit, die er als Idee des Westens darstellt, dürfe nicht leichtfertig vertan, sondern müsse tatkräftig ergriffen werden. Deshalb fragt er kritisch, indem er auf die legitimierende Funktion des Freiheitsdiskurses hindeutet: „Wer von uns aber singt dieses Hallelujah für die Idee der Freiheit, die doch unser einzig wirkliche Aktiv-Legitimation gegenüber dem Osten sein soll?“2770 Auf dem Hintergrund der Krise des westlichen Freiheitsbewusstseins versucht der Redner angesichts einer von ihm konstatierten lähmenden Wirkung wirtschaftlichen Wohlstands die Bedeutung des Freiheitsbegriffs für den Systemvergleich in antagonis- tischer Gegenüberstellung hervorzuheben: „Wer im Osten seine Freiheit wider das System setzt, riskiert sein Leben; wer bei uns seine Freiheit zertritt, bezahlt allenfalls mit seiner Bequemlichkeit und gibt dafür jenes erbärmliche Behagen her, das alle die suchen, die keine Scherereien haben wollen, die nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes handeln und nur konformistisch mitmachen. Selbst wenn wir im Wohlfahrtsstaat Brillen und Zahn- pasta und wer weiß was alles umsonst bekämen, die Freiheit kriegen wir ganz bestimmt nicht umsonst, die wird immer etwas kosten, die wird immer ihren Ein- satz verlangen.“2771

Kein freiheitlicher Rechtsstaat könne durch Verfassung und Gesetz den rechten Ge- brauch der Freiheit vorschreiben, dies sei dann ebenfalls Tyrannei. Lediglich könne er die Chance zur Freiheit zur Verfügung stellen, aber müsse es dann darauf ankommen lassen, ob diese Chance ergriffen oder ob sie verspielt werde: „Und weil uns unser Staat diese Freiheit gibt,“ fordert Thielicke seine Zuhörer auf, „darum sollten wir ihn ehren. Darum sollten wir ihn um seiner Vorläufigkeit, um seinem Interims-Charakters willen nicht verachten und nicht jener Blasiertheit frönen, die einfach zu dumm ist, um zu sehen, daß dieses Staatswesen der

2770 Ebd., 99. Kultur- und vermassungskritisch fährt Thielicke wenig später fort: „Und geistert nicht genau an dieser Stelle die Krise unseres westlichen Freiheitsbewußtseins? Kann Freiheit überhaupt noch eine zündende Idee sein, wenn die junge Generation auf Schritt und Tritt bemerkt, daß Freiheit weithin verstanden wird als Möglichkeit, sich einen bestimmten Lebensstandard leisten und nach Belieben kon- sumieren zu können? Daß Freiheit innerhalb mancher Bezirke unserer Presse nicht selten als Recht in Anspruch genommen wird, in die Intimbezirke einzubrechen, die Schlafzimmergeschichten sehr banaler Geschöpfe breit auszuwälzen und auf den Titelblättern der Illustrierten fragwürdige Leitbilder in die unbewußte Bildschicht einzustrahlen? Es ist keine Kleinigkeit, daß uns ausgerechnet wieder Chrustschow auf den Mund schlagen kann, wenn er angesichts einer Striptease-Szene in einem Film-Atelier sagen kann: Das ist eure Freiheit; die gibt es in der Tat bei uns nicht. Vielleicht ist die Möglichkeit zu gewissen Entgleisungen dieser Art tatsächlich der Preis, den wir für eine staatlich nicht reglementierte Freiheit bezahlen müssen. Vielleicht – ganz sicher ist es mir nicht. Nur sollten die Leute, die ihre Auflagen durch diesen Gebrauch der Freiheit erhöhen, sich klar darüber sein, daß sie damit Schlimmeres als moralische Anstößigkeiten zum Zuge kommen lassen: daß sie nämlich den Glauben an eine Freiheit zersetzen, die doch auf dem Panier des Westens stehen sollte. Wer der Jugend vorwirft, sie könne sich für unsere Freiheitsideale nicht begeistern, der sollte sich zunächst einmal selber fragen, ob er nicht ein miserabler Anwalt dieser Freiheit ist und er nicht vor denen in Scham vergehen müßte, die unter Lebensgefahr, durch Abwasserkanäle und über Drahtverhaue hinweg, die Welt einer Freiheit suchen, die in unseren Händen zu verfaulen droht.“ (AaO., 99 f.). 2771 Ebd., 101. 389 Bundesrepublik in all seiner Unvollkommenheit stellvertretend für Deutschland dasteht, und daß wir zeichenhaft in ihm darzustellen suchen, daß der Mensch nicht für den Staat, sondern daß der Staat für den Menschen da ist.“2772

Infolge seiner Überlegungen plädierte Thielicke, für eine Wandlung im Freiheitsbewusstsein der Bevölkerung einzutreten, um die von der freiheitlich demokratischen Ordnung gebotenen Chancen nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Für die „Partei aller freiheitlich gesinnten Deutschen“, wie der Geschäftsführende Vorsitzende der CDU, Josef-Hermann Dufhues, seine politische Heimat nannte,2773 vertrat Gerhard Schröder in einer Rede die Grundlinien der deutschen Außenpolitik,2774 wobei er aufzeigt, dass die deutschlandpolitische Entwicklung den außenpolitischen Freiheitsdiskurs prägte. Unter relativierender Berufung auf den Satz des Primats der Außenpolitik erläutert Schröder die Grundlinien in einem Vortrag auf der 10. Tagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU in Wiesbaden.2775 Mit Frieden, Freiheit und Ordnung möchte er dazu aufrufen, „drei hohen und unverrückbaren Zielen“ nachzukommen, die er in ihrer Verwobenheit in einer sukzessiven Reihung darstellt: „Ohne Frieden ist Ordnung nicht möglich. [...] Freiheit ohne Ordnung ist Anarchie. [...] Ordnung ohne Freiheit ist Diktatur. [...] Frieden ohne Freiheit ist ein Zustand, in dem nur Unterdrücker und Knechte gedeihen“.2776 Die Orientierung der Außenpolitik an der westlichen Wertewelt, für die Schröder eintrat, stieß auf geteilte Resonanz. So hinterfragte etwa der Wirtschaftswissenschaftler Karl Schiller in einer Broschüre des Internationalen Studenten-Arbeitskreises, dessen Mitglied unter anderen der Industriellensohn Arend Oetker war, das dieser Über- zeugung übergeordnete Deutungsmuster „‚Westliche’ Freiheit“.2777 Der Ökonom scheint, dieser Eindruck könnte aufgrund seiner Aussagen entstehen, des bundes- republikanischen Freiheitsdiskurses und insbesondere der ideologischen Verein- nahmung des Begriffs müde: „Das Thema ‚Freiheit’ kann einem schließlich so zerredet erscheinen, daß man den Entschluß faßt, nach Berlin zu gehen, um dort – in der praktischen Arbeit für die gefährdete Freiheit – jenes kostbare Gut gleichsam wieder sichtbar zu machen.“2778 Trotz einzelner Freiheiten, Schiller nennt Erlaubnis- und

2772 Ebd. 2773 Rede des Geschäftsführenden Vorsitzenden der CDU Josef-Hermann Dufhues: „Die Parteiorganisation mit Leben erfüllen!“, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 180-190; hier: 183. 2774 Vgl. zu Schröder als Außenminister: Oppelland, Gerhard Schröder, 79-84. 2775 Vgl. Gerhard Schröder: Grundlinien der deutschen Außenpolitik. Referat auf der 10. Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU vom 4. bis 6. Oktober 1962 in Wiesbaden, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 2, 198-212; hier: 198. 2776 Ebd., 201. 2777 Schiller, Freiheit. 2778 Ebd. 390 Urlaubsscheine sowie kleine Diskussionszirkel, fehle es im Osten insgesamt an Freiheit. Freiheit im westlichen Sinn, die er der erstgenannten kontrastiert, ist für Schiller „ein Gut, das dem einzelnen von seinem Standpunkt aus in fast unbeschränktem Umfang zur Verfügung steht.“2779 All jenen „westdeutschen Nonkonformisten“, die Kritik an der bundesrepublikanischen Freiheit übten, sähen zu einseitig: „Sie behaupten, unsere Freiheit sei nur Scheinfreiheit, sie sei manipuliert durch gesellschaftliche Mächte, durch die Wirtschaft, durch die Suggestion der Massen- medien oder auch durch Trägheit der Konventionen. In Wirklichkeit ist dieser Zu- stand hier nur darauf zurückzuführen, daß einige Teilfreiheiten im Übermaß genutzt und mißbraucht werden. Andere Bereiche unserer Freiheit mögen unge- nutzt sein, aber sie sind parat und gehören uns.“2780

Schiller, der einen maßvollen Ausgleich einzelner Teilfreiheiten befürwortet – womit er zugleich an die Tradition der Unterscheidung zwischen konkreter Umsetzung von plural gedachten Freiheiten und der Idee einer Gesamtfreiheit anknüpft –, warnt im Sprach- gebrauch des Konsumzeitalters davor, die für demokratische Prozesse entscheidende Auseinandersetzung um die Freiheit als Wertziel zu meiden, denn dann drohe „eine gehegte, gepflegte und schließlich gepäppelte Freiheit, eine Freiheit, die sich ständig unter einer Klima-Anlage befindet. Aber Freiheit in air-condition wird auf die Dauer steril. Sie bedarf des frischen Luftzugs, auch des Gegenwindes. Freiheit und demo- kratische Auseinandersetzung hängen damit aufs engste zusammen.“2781

4.5.16 Freiheit als ordnungspolitischer Maßstab neokonservativer Erziehungspolitik – „Wir wissen, daß Freiheit nicht identisch ist mit Bindungslosigkeit“

Bereits seit 1959 war in Berlin, Hessen, Bremen und Niedersachsen der 17. Juni den besonderen Beschränkungen eines so genannten stillen Feiertags, an dem Unter- haltungsveranstaltungen strikt verboten waren, unterworfen,2782 was als Reaktion darauf zu verstehen ist, dass der Gedenktag, statt wie gewünscht in politische Kundgebungen einzumünden, zu einem freizeitgesellschaftlichen Massenausflug ohne tieferes Anliegen abzugleiten drohte. Von Nordrhein-Westfalen ausgehend wurde nun nach einer bundeseinheitlichen Regelung gesucht. Mit einem Vorstoß zur Vereinheitlichung wies Landesinnenminister Dufhues darauf hin, dass es nicht Sinn des Gedenktages zum 17.

2779 Ebd. 2780 Ebd. 2781 Ebd. 2782 Vgl. 17. Juni soll stiller Feiertag sein, in: Die Welt Nr. 88 vom 17.04. 1959, 1. 391 Juni sein könne, darin nur einen zusätzlichen bezahlten Feier- und Erholungstag zu sehen, obgleich er andererseits mit heftigen Protesten der Vergnügungsindustrie bei der Entscheidung, einen „stillen Feiertag“ einzuführen, rechnete. Anlässlich der zehn- jährigen Wiederkehr der Erhebung vom 17. Juni machte Bundespräsidenten Heinrich Lübke2783 in einer Proklamation den Vorschlag, dieses Datum zum nationalen Gedenktag zu erheben.2784 Am 11. Juni 1963 legte der Bundestag den Tag der Deut- schen Einheit gesetzlich fest,2785 der zum „stillen Feiertag“ und „Symbol unseres Ringens um die Einheit in Frieden und Freiheit“ erklärt wurde.2786 Das Kuratorium Unteilbares Deutschland forderte alle Vereine und Verbände auf, ihre Mitglieder dazu anzuhalten, am Einheitstag Berlin und die Grenzgebiete zu besuchen. „Fahrten sollen ausschließlich zu diesem Zweck und nicht zum Vergnügen unternommen werden“, bestimmt das Kuratorium in einer Erklärung.2787 In Schulfeiern, an denen Elternbeiräte und Lehrerschaft teilnehmen sollten, müsse, gemahnt Heinrich Lübke, – was im Um- kehrschluss auf die verblasste Erinnerung an den Tag im kollektiven Gedächtnis schließen lässt – die junge Generation mit Ursprung und Sinn der Volkserhebung vertraut gemacht werden, um diesen Tag als „ganz persönlichen Auftrag“ empfinden zu können.2788 Am Feiertag selbst sprach der Bundespräsident, um dem von ihm eingeforderten jugendbildnerischen Anliegen nachzukommen, im Lichthof der Münchner Universität vor Studenten der bayrischen Landeshauptstadt, wo er mit seinen Worten an die enge Verzahnung von Studentenschaft und Freiheitsbewegung erinnerte, die sich nicht nur in den Farben Schwarz-Rot-Gold zeige. Er erklärte den Zuhörern, dass wer Freiheit in Anspruch nehmen wolle, sich zunächst einmal in ihr zu bewähren habe.2789 Ein besonderes Anliegen war ihm, „daß das Wort vom ‚Unteilbaren Deutsch- land’ als Forderung in den Herzen der Bevölkerung lebendig bleibt.“2790 Die deutsche Teilung bildet infolgedessen das Zentralthema in Lübkes Reden.2791 Neuerelich brannten in diesem Jahr in Erinnerung an den „Jahrestag des mittel- deutschen Volksaufstandes“ Freiheitsfeuer, wie ein Bericht des Wochenmagazins Die

2783 Vgl. Morsey, Heinrich Lübke, zu dessen Zeit in der Villa Hammerschmidt bes. 254-579; auch: Scholz/Süskind, Bundespräsidenten, 176-193. 2784 Lübke, Gedenktag. 2785 Vgl. Sinn und Bedeutung des Tages der Deutschen Einheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 101 vom 11.06. 1963, 891. 2786 Lübke, Gedenktag, 16. 2787 Sinn und Bedeutung des Tages der Deutschen Einheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 101 vom 11.06. 1963, 891. 2788 Lübke, Gedenktag, 16. 2789 Lübke, Ansprache, 134. 2790 Ebd., 135. 2791 Vgl. Rensing, Geschichte, 78-93. Rensing erblickt in der deutschen Frage das „ceterum censeo“ der Lübkeschen Präsidentschaft (aaO., 78). 392 Zeit auf die zahlreichen Besucher der Gedenkveranstaltungen hinwies. Allein in Berlin fanden sich über 100.000 Menschen zusammen. Kinderaugen hätten im Fackelschein geglänzt, doch werden die Fackeln immer stärker als „Fackeln der Ohnmacht“ perzipiert.2792 Karussells drehten sich aufgrund des bundesweit neu eingeführten „stillen Feiertags“ ohne Musik. Gartenpartys wurden Punkt zwölf Uhr ins Hausinnere verlegt. Der Hinweis auf die Wirkungslosigkeit von so „ehrenwerten“ Veranstaltungen wie Kinderdemonstrationen, Fackelzügen und Verdammungsurteilen gegen Ulbricht und Mitleidsbekundungen für dessen Opfer, die zu hilflosen Ritualen erstatten, bildete den resignativ gestimmten Tenor der Presseberichterstattung.2793 Aus anderem Anlass bemerkte Bundespräsident Lübke zu dem für ihn „unteilbaren“ Zusammenhang von Freiheit und Einheit,2794 man könne nicht für die Freiheit in Deutschland eintreten, ohne zugleich für die Freiheit des unterdrückten Teils der Bevölkerung zu wirken: „Man kann nicht das totalitäre Unwesen im Westen Deutsch- lands ablehnen, ohne sich darum zu bemühen, es auch in den östlichen und mittleren Teilen unseres Vaterlandes abzuschaffen. Mit einem Wort: Freiheit und Einheit sind in dem geteilten Deutschland unauflöslich miteinander verbunden. Hundert- und tausend- fach hat das deutsche Volk bewiesen, daß es bereit ist, für Freiheit und Einheit Opfer zu bringen.“2795 Der aufgrund des schwierigen Konsensfindungsprozesses vor der Amtseinführung als Adenauers „Ersatzmann“2796 titulierte Bundespräsident bekennt sich zu einem positiven, gemeinschaftsorientierten und pflichtgebundenen Freiheits- verständnis, wenn er im Rekurs auf wesentliche Elemente des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ erklärt: „Wir wissen, daß Freiheit nicht identisch ist mit Bindungslosigkeit. Die Freiheit, um die es uns geht, darf nicht negativ verstanden werden. Freiheit gibt kein Recht auf Befreiung von den Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, der Familie und dem Staat. Nicht eine ‚Freiheit wovon’, sondern eine ‚Freiheit wozu’ ist dem Menschen aufgegeben. Freiheit wird dort ausgeübt, wo man sich aus eigenem Antrieb für die Pflicht, für das Opfer und die Leistung entscheidet.“2797

Heinrich Lübke überträgt „dieses positive Verständnis von Freiheit“ auf den politischen Bereich und sieht es deswegen als Pflicht an, „gegen Not, Elend und Unterdrückung anzukämpfen, wo immer sie ihr Haupt erheben.“2798 Aufgrund Lübkes Schwierigkeiten

2792 K.H., Fackeln der Ohnmacht, in: Die Zeit Nr. 25 vom 21.06. 1963, 1. 2793 Ebd. 2794 Vgl. Lübke, Aufgabe, 43. In der von Lübke verantworteten, nach Themen zusammengestellten Sammlung von Redeauszügen wird auf den genannten Zusammenhang durch eine Überschrift verwiesen. 2795 Ebd. 2796 Vgl. Morsey, Heinrich Lübke, 254-259. 2797 Lübke, Aufgabe, 125. 2798 Ebd., 126. 393 im Umgang mit der öffentlichen Rede hielt sich die Wirksamkeit seiner Worte im Vergleich zu seinem Amtsvorgänger Heuss jedoch in relativen Grenzen.2799 An die historisch gewachsene Verantwortung der Sozialdemokratie, die infolge ihrer langjährigen Abstinenz von der Regierungsverantwortung weniger prägend auf den Freiheitsdiskurs einzuwirken vermochte, erinnerte am 30. Jahrestag der Ermächtigungsgesetze mit einem Vortrag, den er am 23. März 1963 in Berlin hielt, und in dem er dazu aufforderte, mit dem geschichtlichen Abstand der Freiheit ausgestattet, deren „Flamme am brennen zu erhalten.“2800 Arndt bemerkt, dass es keinen Sieg der Freiheit geben könne, wenn das Verlangen – wie er ähnlich zur Bildlichkeit Helmut Thielickes2801 ausdrückt – nach einer „sterilisierten Freiheit, einem chemisch gereinigten Krankenhaus der Freiheit, eine Freiheit, die nichts wagt“, überwiegt.2802 Zu den „Zeugen, die unter den Foltern des Unrechts und um der Freiheit willen ihr Leben allzu früh lassen mußten“, zählt der Gedenkredner auch Kurt Schumacher. „Er hat uns gelehrt,“ befindet Arndt in antitechnizistisch-organischer Metaphorik, „unseren Staat zu lieben, einen Volksstaat, der keine bloße Nutzenveranstaltung ist, kein mechanischer Apparat zur Vermeidung des Lebensrisiko, kein Instrument, sondern der als eine fortdauernde Gemeinschaft, die über uns hinausweist, als ein sozialer Staat der Freiheitlichkeit wachsen und von uns erfüllt werden soll.“2803

Die transatlantische Ausrichtung der Regierungen Adenauer am „freiheitlichen Westen“ trug zur Stärkung westlicher Freiheitstraditionen bei,2804 die nicht zuletzt auch durch das Band des Kalten Krieges und der wirtschaftlichen Prosperität der USA stetig an Attraktivität gewannen. Bereits 1949 erkannte Sebastian Haffner2805 das zukunfts- prägende Geschick Adenauers, das durch dessen Weichenstellungen langfristige Aus- wirkungen haben sollte. Dieser alte Herr von dreiundsiebzig Jahren, vermutete Haffner, werde die Zukunft Europas für die nächsten fünfzig Jahre beeinflussen.2806 Vierzehn Jahre nach Haffners Prognose, 1963, musste Adenauer unfreiwillig einer jüngeren Politikergeneration Platz machen.2807 Seine grundlegenden politischen Weichen- stellungen wirkten jedoch nachhaltig.

2799 Vgl. Morsey, Heinrich Lübke, 386-391; ähnlich: Winter, Bundespräsidenten, 78 f. 2800 Adolf Arndt, Unsere geschichtliche Verantwortung für die Freiheit, in: ders., Geist, 176-196; hier: 177. 2801 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.15, 389 f. 2802 Adolf Arndt, Unsere geschichtliche Verantwortung für die Freiheit, in: ders., Geist, 176-196; hier: 193. 2803 Ebd., 194. 2804 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 348. 2805 Vgl. zu Haffner: Becker, Patriot. 2806 Vgl. Sebastian Haffner, Dr. Konrad Adenauer (21.08. 1949), in: ders., Schreiben, 205-210; hier: 209 f. 2807 Vgl. zu Adenauers letzten fünf Regierungsjahren: Poppinga, Mut; zum Sturz Adenauers auch: Schwarz, Staatsmann, 826-831; zum Verhältnis von Adenauer zu Erhard: Westrick, Adenauer. 394 „Der eine Teil darf sich der Freiheit erfreuen, der andere lebt in von außen aufgezwungener Unfreiheit“, merkte Ludwig Erhard, der Nachfolger Konrad Adenauers im Rahmen seiner Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963 an,2808 die übrigens bereits die zweite war, die er vortrug.2809 Der vielgelobte Vater des Wirtschaftswunders und „Volkskanzler“2810 sah im Staat, wie er ausführte, „kein von der Gemeinschaft eines Volkes losgelöstes, abstraktes Gebilde“,2811 da er gewiss mehr sei als die Addition seiner Staatsbürger. Mit dem Übergang zur formierten Gesellschaft wollte Erhard das Ende der Nachkriegszeit einläuten,2812 doch erreichte dieses programmatische Anliegen nicht die erhoffte Wirkung,2813 wenngleich sich das bundesrepublikanische System stabilisiert hatte. Die freiheitlich demokratische Grundordnung, die in einer liberal-demokratischen Verfassung, dem deutschen Grundgesetz, verankert wurde, entwickelte sich zum Garanten für Stabilität, wie anhand einzelner Beispiele aus der politischen Praxis der Bundesrepublik zuvor verdeutlicht werden konnte.2814 In der Debatte um die von Kritikern oftmals despektierlich in der Formel „fdGo“ abgekürzte Grundge- setzbegrifflichkeit stand vor allem der systemantagonistische Vergleich gegenüber der DDR sowie die polemische Verwendung als Kampfbegriff gegen Feinde der Demo- kratie im Vordergrund.2815 Günter Dürig erinnert in dem von ihm verfassten Abschnitt des Grundgesetzkommentars Maunz – Dürig Mitte der 60er-Jahre erneut an die Inhaltsbestimmung der freiheitlich demokratischen Grundordnung „vom Gegensatz totalitärer Systeme her“.2816 Auch der „Blick ‚zurück’“ und „nach ‚drüben’“ wird von Dürig – in synchroner und diachroner Perspektivierung – in das Gedächtnis gerufen, um zu einer inhaltlichen Begriffsbestimmung zu gelangen.2817 Mit der Entwicklung der Industriegesellschaft bildete sich eine Wohlfahrts- gesellschaft heraus, die, wie Hauptkritikpunkte daran lauteten, eine passive Konsumentenhaltung und eine abnehmende Gestaltungskraft in Bezug auf die freiheit-

2808 Ludwig Erhard, Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungserklärungen, 98-121; hier: 99. Vgl. zum Amtswechsel von Adenauer zu Erhard: Hentschel, Ludwig Erhard, 417-425. Zur Analyse der Erklärung: Switek, Ludwig Erhard; zur Außeinandersetzung um das Kanzleramt zwischen Adenauer und Erhard: Koerfer, Kampf. 2809 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.14, 385. 2810 Vgl. Görtemaker, Geschichte, 392-395. 2811 Ludwig Erhard, Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungs- erklärungen, 98-121; hier: 100. 2812 Vgl. Switek, Ludwig Erhard, 125-128. 2813 Vgl. Bösch, Macht, 27. 2814 Vgl. Leibholz, Grundordnung. 2815 Vgl. Denninger, Einleitung, 489. 2816 Maunz – Dürig, Grundgesetz, Art. 18, Randnummern 46-57; hier: Randnr. 48. 2817 Ebd., Randnr. 50. 395 lichen Bürgerrechte begünstigte.2818 Freiheit in der Bundesrepublik wurde nach wie vor explizit als Gegenmodell zur DDR präsentiert, wobei hier insbesondere an die systemantagonistisch ausgerichtete Wahlparole „Freiheit statt Sozialismus“ der CDU/ CSU zu denken wäre, die für kontroverse Auseinandersetzungen und Diskussionen sowie für einen Kampf um politische Begriffe sorgte.2819 In dieser Sichtweise kam der DDR ein hoher Stellenwert als negativer Vergleichsmaßstab zu, um beide Gesell- schaften kontrastiv gegeneinanderstellen und die Bundesrepublik als modellhaft charakterisieren zu können.2820 Freiheit erschöpfte sich in der zeitgenössischen Perzeption vielfach in der Vor- stellung von uneingeschränkter Konsumfreiheit, die der Gefahr unterlag, die Relation von Rahmenbedingungen der Freiheit und Freiheit selbst zu verkehren. In einer prospektiven Schau beschäftigte sich Arnold Gehlen2821 angesichts dieser Beobachtung mit der persönlichen Freiheit von morgen.2822 Es werde sich, wie er etwas unpräzise formulierte, in Zukunft bei wissenschaftlichen Prognosen herausstellen, „daß das Indivi- duum an einigen Stellen neue Freiheitsgrade gewinnt, während es an anderen vermutlich zunehmenden Einschnürungen unterliegen und sich kollektivieren dürfte.“2823 Ein großes Problem sah Gehlen in der Entscheidung, „die unser Volk bewußt oder unbewußt mit dem Vorrang der Sicherheit getroffen hat“.2824 In den 60er-Jahren kam es, um die Entwicklung des Deutungsmusters zu pointieren, zu der althergebrachten Interpretation, dass liberale Toleranz oft lediglich eine ver- steckte Art von Unterdrückung darstelle.2825 Armin Mohler tat sich in dieser Bewegung mit seiner zeitdiagnostischen Veröffentlichung über die Angst der Deutschen besonders hervor, in der er bemerkte, dass der totalitäre Typus nicht nur in Stiefeln auftrete, da jede Epoche ihren eigenen Stil des Totalitären habe,2826 und in antiintellektueller

2818 Vgl. Albert, Ideal, 47; Maier, Zukunft, 275. 2819 Vgl. hierzu unten: v.a. Kap. 4.5.20. Vgl. auch die von Iring Fetscher und Horst E. Richter 1976 herausgegebene Aufsatzsammlung zum Kampf um politische Begriffe, in der sich Horst E. Richter und Ulrich Wickert kritisch mit dem Wahlkampfslogan der CDU auseinandersetzen (Richter, Einführung; Wickert, Angst). Eine ähnliche Vorstellung von der Wahl zwischen Sozialismus auf der einen Seite und Freiheit und Demokratie auf der anderen Seite vertritt wie viele Zeitgenossen Ludwig von Mises (ders., Gefahren, 224). Helmut Kohl spricht von einer „hysterische[n] Reaktion“ auf den Slogan (ders., Erinnerungen 1930-1982, 407). 2820 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 34 f. 2821 Vgl. zu Werk und Person: Thies, Gehlen. 2822 Vgl. Arnold Gehlen, Unsere persönliche Freiheit – morgen, in: ders., Einblicke, 79-87. 2823 Ebd., 79. Vgl. auch den 1972 erschienen Aufsatz Gehlens mit dem Titel Freiheit heute..., der die prognostizierten Tendenzen bestätigt (ders., Freiheit heute..., in: ders., Einblicke, 365-373. 2824 Arnold Gehlen, Unsere persönliche Freiheit – morgen, aaO., 79. Vgl. zu Gehlens Freiheitsauffassungen, die ebenso wie diejenigen Hermann Lübbes eine „‚Deutsche Freiheit’“ konstituierten: Hilger, Neokonservatismus, 197-201. 2825 Vgl. Bredow, Situation, 269. 2826 Vgl. Mohler, Angst, 28. 396 Formulierung befand, dass der 1945 gestürzte Totalitarismus zwar unter Berufung auf die Gemeinschaft das Prinzip der Ordnung und Bindung überzogen habe, die „radikale Intelligentsia von heute [...] nun ihrerseits unter Berufung auf das Individuum das Prinzip der Freiheit“ überziehe.2827 Der Ruf nach Freiheit trat, wie Gehlen und Mohler als Vertreter konservativer Positionen urteilten, gesamtgesellschaftlich hinter den Ruf nach Sicherheit zurück, da er weniger als Anspruch auf die Bewahrung der individuellen Freiheitsrechte formuliert wurde, denn als Anspruch auf die durch technischen Fortschritt ermöglichten Leistungen des Staates.2828 Eine positive Staatsgesinnung, die dem Staat eine starke Vertrauenshaltung entgegenbringt und ihn gegenüber dem Individuum als prinzipiell überlegen betrachtet, tritt, wie auch im genannten Fall, im Verlauf der deutschen Freiheitsgeschichte immer wieder in den Vordergrund.2829 Zur Regression der Freiheit kommt es in hochkomplexen Gesellschaften auch durch das kompensatorische Re- kurrieren auf Organisation durch Experten.2830 Mit dem Risiko der Freiheit beschäftigte sich Mitte der 60er-Jahre und vertrat hierbei den klassisch liberalen Ansatz, den er gegenüber den beiden Groß- parteien positionierte,2831 wobei er bei ihnen eine Entideologisierung beobachtete.2832 Die „Zersetzung“ des Landes, betont Dehler in organischem Bildgut, sei allein deshalb verhindert worden, „weil die Liberalität wie ein Hormon die Lebensvorgänge unserer Gemeinschaft steuert.“2833 In Dehlers Freiheitsverständnis ist die Freiheit „das Gegen- teil von Willkür; sie ist die Freiheit in der Verantwortung des einzelnen für sich und damit zwangsläufig für die Gesamtheit.“2834 Dehler kommt vor dem Hintergrund dieses Freiheitsverständnisses zu der von nationalhabituellen Vorstellungsmustern geprägten Aussage, „der Wille der deutschen Menschen zur Freiheit, zur Eigenverantwortung, zur Übernahme des Risikos ist geringer entwickelt als bei den Skandinaviern, den Eng- ländern, den Amerikanern, in denen immer noch der Pioniergeist nachwirkt, der sich auf persönliche Leistung und freie Haltung gründet.“2835 Für den ordoliberalen Dehler ist

2827 Ebd., 30 2828 Vgl. Maier, Zukunft, 269. 2829 Vgl. Greiffenhagen, Freiheit, 25 f. 2830 Vgl. Horkheimer, Bedrohungen, 17. 2831 Vgl. zu Dehlers Parteikarriere bei den Liberalen: Wengst, Thomas Dehler, 147-151. 2832 Thomas Dehler, Das Risiko der Freiheit, in: ders., Reden, 23-34; hier: 24. 2833 Ebd. 2834 Ebd., 25. 2835 Ebd., 26. 397 die Freiheit nicht mehr in Ordnung, „wenn die Ordnung nicht mehr Ergebnis der Freiheit ist.“2836 Auch Kurt Georg Kiesinger sah in der Freiheit ein erstrebenswertes Gut. In einer Ansprache zum 1. Mai 1967 ergriff der seit 1. Dezember 1966 im Amt befindliche Kanzler der Großen Koalition2837 in Berlin die Gelegenheit, um auf drei Aspekte des Freiheitsbegriffs hinzuweisen, die er aus seiner Sicht für entscheidend erachtet. Mit Blick auf die Unfreiheit jenseits der Mauer bemerkt der Amtsnachfolger Ludwig Erhards, ein Volk dürfe sich nicht frei nennen, „dessen Menschen die geistige, politische und soziale Freiheit nicht verwirklichen.“2838 In der Auseinandersetzung um das späterhin zu einem kollektiven Zuordnungs- kriterium geistiger Positionierung gewordene Jahr 19682839 verwiesen Gegner der Studentenbewegung auf die totalitäre Bedrohung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und setzten das Deutungsmuster Freiheit, das bis dahin vornehmlich zum nach außen gerichteten Systemvergleich und zur Abwehr kommunistischer Ideologie eingesetzt worden war, erneut in abwehrender Absicht, diesmal zur argumentatorischen Überwindung innenpolitischer Widerstände, ein.2840 Der Bundesminister für Familie und Jugend, , klagte angesichts der sichtbaren Probleme der Jugend in Staat und Gesellschaft mehr Rücksicht auf die jüngere Generation ein und forderte mit Re- kurs auf eine romantischem Denken entstammende Figur, die den gespaltenen Zustand der Moderne beklagt: „Wir wollen die Freiheit und Gerechtigkeit; aber wir wollen auch, daß Ordnung sei. Daß beides eine untrennbare Einheit darstellt, ist uns in der gespal- tenen Welt entglitten.“2841 Die Gegner des Jahrzehnts der „Kulturrevolution“2842 setzten in ihrem Ansatz auf „den Neubau einer Erziehungstheorie und -praxis auf der Grundlage einer fundierten Anthropologie politischer Freiheit“, die sich vor allem

2836 Ebd., 28. 2837 Vgl. zu Kiesinger biographisch: Grabert, Kurt Georg Kiesinger; Rundel, Kurt Georg Kiesinger; zu seinem Wirken während der Großen Koalition v.a.: Bange, Ost- und Deutschlandpolitik; Kleinmann, Partei; Metzler, Reformprojekte; Morsey, Große Koalition. 2838 Kurt Georg Kiesinger, Freiheit ist das höchste Gut, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 46 vom 03.05. 1967, 385 f.; hier: 385. 2839 Vgl. z.B.: Görtemaker, Geschichte, 485-491; Kraushaar, 1968. 2840 Vgl. z.B. Schmitt Glaeser, Begriff. Er vertritt die These, die inhaltliche Bestimmung der freiheitlich demokratischen Grundordnung sei der Inbegriff aller Gegensätze zum totalitären System. Eugen Gerstenmaier spricht davon, die Vorrangstellung der Politik könne kategorisch nur in einem totalen Staat aufrecht erhalten werden: ders., Der Primat der Politik, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 9 vom 27.01. 1967, 65-67; Heinrich Lübke, Bundespräsident dankt der Regierung der Großen Koalition (1969 ein Jahr harter Bewährungsproben für Volk und Staat. Demokratie totalitären Systemen überlegen), in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 3 vom 10.01. 1969, 25. 2841 Bruno Heck, Probleme der Jugend in Staat und Gesellschaft, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 71 vom 06.06. 1968, 603-605; hier: 604. 2842 Vgl. für eine einschlägige Darstellung des so genannten roten Jahrzehnts: Koenen, Jahrzehnt. 398 gegen eine despektierlich als „Emanzipationsmetaphysik“ bezeichnete Position richtete, die auf einer autonomeren, den Ansprüchen des Individuums angenäherten Freiheits- vorstellung beruhte.2843 Die Diskussion um die Notstandsverfassung2844 und die sich daran festmachenden Proteste führten zu nachhaltigen Veränderungen – sowohl im Freiheitsdiskurs wie auch längerfristig im kollektiven Gedächtnis.2845 Die Tradition, in Kategorien einer autochthonen politischen Ideenlandschaft deutscher Prägung zu sprechen, ging Ende der 60er-Jahre zusehends in westlichen Ordnungsvorstellungen auf.2846 In Reaktion auf die 68er-Bewegung,2847 die sich als antiautoritär verstand,2848 gründete sich der bürgerlich-liberale Bund Freiheit der Wissenschaft,2849 dessen Arbeit von seinen Mitgliedern als freiheitliche Widerstandstat „gegen die negativen Aus- wirkungen der Kulturrevolution im Bereich der Universitäten“ verstanden wurde.2850 Mit Polemik und Namenslisten wurde, ähnlich wie knapp zehn Jahre zuvor vom Verein Rettet die Freiheit e.V., vor einer kommunistischen Unterwanderung gewarnt. Späterhin richtet sich die Kritik vor allem gegen die Friedensbewegung und die daraus hervorgehende Partei der Grünen. Die 1968 als 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes verabschiedete Notstandsverfassung war, um auf konkrete historisch-politische Ereignisse Bezug zu nehmen, Kristallisationspunkt der Kritik.2851 Ihre Befürworter verstanden sie als not- wendige Einschränkung der Überdehnung der Freiheit und als Garant für Stabilität und Sicherheit, ihre Gegner befürchteten das Gegenteilige, weil sie in ihr eine Freiheitsbeschneidungsmaßnahme par excellence und die Möglichkeit zur Unter- wanderung des Grundgesetzes sahen. Die Frage, die in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung im Zentrum steht, ist die Balance zwischen den Werten Freiheit und Sicherheit und kann wegen der grundlegenden Veränderungen innerhalb der kontextualisierenden wirtschaftlichen, sozialen und internationalen Rahmenbe-

2843 Hornung, Freiheit, 116; 125-131. Mit ähnlicher Argumentation, die „Freiheit statt Emanzipationszwang“ einfordert: Lübbe, Freiheit statt Emanzipationszwang. Vgl. zu Lübbes Auseinandersetzung mit 1968: Hilger, Neokonservatismus, 150-166. 2844 Vgl. zur Notstandsgesetzgebung: Oberreuther, Notstand, 181-273. 2845 Vgl. Ellwein, Krisen, 11-21. 2846 Vgl. Kroll, Alternative, 18. Anselm Doering-Manteuffel spricht von Westernisierung, ders., dass, 314-316. Verbreiteter ist die Vorstellung einer Amerikanisierung: z.B. Ritter, Deutschland, 114-116. 2847 Vgl. Krohn, Studentenbewegung. 2848 Vgl. Kraushaar, 1968, 34. 2849 Vgl. Kinzel, Bund, bes. 114-119. Eine wichtige Keimzelle des Bundes war die „Notgemeinschaft für eine freie Universität“. Vgl. Hermand, Kultur, 627 f. 2850 Kinzel, aaO., 120. Kinzel ist selbst Mitglied des BFW. 2851 Vgl. 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24.06. 1968 (BGBl. I, 709). 399 dingungen als ein Problem erachtet werden, mit dem moderne Gesellschaften unausweichlich konfrontiert sind.2852 Kritiker der Notstandsgesetzgebung stellten die Frage, ob die freiheitlich demokratische Grundordnung andere Ausgestaltungsformen des politischen Systems als die bisher eingeschlagene zulassen könne. Peter von Oertzen trat in diesem Kontext eine Diskussion los, die erkunden wollte, ob das Rätesystem mit der vom Grundgesetz gege- benen Ordnung konform gehe.2853 Kurt Georg Kiesinger,2854 der als Kanzler der Großen Koalition den „Ideen vom Ganzen“ nicht abgeneigt war,2855 machte als Vertreter der bewährten politischen Ordnung unumwunden deutlich, dass das höchste Ziel der politischen Bemühungen im Rahmen dieser Ordnung die Freiheit bleiben müsse, „eine Freiheit, die dem einzelnen und allen die höchstmögliche Erntfaltung der individuellen Kräfte, der Fülle der menschlichen Existenz gestattet.“2856 Unter Rekurs auf Romano Guardini erkennt er darin den „Maßstab, an dem eine Zeit – und ich [i.e. Kurt Georg Kiesinger] füge hinzu – eine staatliche und gesellschaftliche Ordnung allein gerecht gemessen werden kann.“2857 Gewendet an die junge Generation spricht der Bundeskanzler vom Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, das durch Oertzens räterepublikanischen Ordnungsvorschlag wieder diskussionsfähig geworden war. Es sei möglich, dass die Jugend „heute tatsächlich diesen Zwang der Notwendigkeit in der modernen technischen Welt“ stärker als die ältere Generation erlebe.2858 Zum Inter- ferenzzusammenhang zwischen außen- und innenpolitischem Aspekt der Freiheit äußert sich Kiesinger vor dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, indem er den bisher eingeschlagenen Weg, der auf eine westlich geprägte Freiheitsallianz abzielt, als vorbildhaft und einzig gangbaren zur Erlangung einer dem Deutungsmuster „deutsche Freiheit“ angemessenen Entwicklung skizziert: „Freiheit bedeutet natürlich auch, daß ein Volk seine Ordnung sich selbst geben kann. [...] Auch darum ringen wir und haben in den letzten zwei Jahrzehnten gerungen, daß das deutsche Volk hier in der Bundesrepublik ein freies Volk bleibt. Zu diesem Zweck sind wir in das große Bündnis mit einer großen Zahl westlicher, freiheitlich verfasster Länder eingetreten, und wir werden an diesem Bündnis fest- halten, solange es notwendig ist, um diese unsere Freiheit gegen außen zu schützen.“2859

2852 Vgl. zur Balance von Freiheit und Sicherheit im Grundgesetz: Glaeßner, Sicherheit, 77-93. 2853 Vgl. Oertzen, Grundordnung. 2854 Kroegel, Kiesinger, bes. 13-17. 2855 Vgl. den Titel der 1964 erschienenen Aufsatzsammlung „Ideen vom Ganzen“: Kiesinger, Ideen. 2856 Kurt Georg Kiesinger, Rede vor der Vollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelstages (29.02. 1968), in: ders., Reden, 69-77; hier: 76. 2857 Ebd., 77. 2858 Kurt Georg Kiesinger, Ansprache vor dem Zentralverband des Deutschen Handwerks und der Stiftung für Begabtenförderung im Handwerk (28.06. 1968), in: ders., Reden, 197-205; hier: 201. 2859 Ebd., 204. 400 Die gesellschaftlichen Erneuerungs- und Veränderungsbewegungen, die sich nicht nur in Systemkritik kanalisierten, sondern auch nach konstruktiven Lösungsmöglichkeiten innerhalb des bestehenden parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems suchten, fanden im Wechsel der parteipolitischen Koalitionspräferenz der FDP ihren Ausdruck.2860 „Opas FDP ist tot“, war die Aufschrift, die vor der Parteitagshalle in Freiburg 1968 zu lesen war und auf einen Wendepunkt in der Geschichte der Freien Demokraten hindeutet.2861 Am 28. September 1969 verkündete Willy Brandt noch am Wahlabend, dass er als Kanzlerkandidat seiner Partei in Gespräche mit der FDP über eine Koalition eintreten wolle.2862 Im Vorfeld der Wahl war noch von allen Parteien vermieden worden, eine Koalitionspräferenz festzulegen.2863 Auch die Sozialdemokratie versuchte mit ihren Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren auf die gewandelten Zeitverhältnisse einzugehen und innovative Zukunftsoptionen zu eröffnen.2864 Innerhalb einer kurzen Skizze der Lage in Deutsch- land kommt die auf dem Nürnberger Bundesparteitag 1968 beschlossene Programm- schrift auf die Teilungssituation zu sprechen.2865 Für die Sozialdemokraten ist „Sozialis- mus untrennbar mit der Freiheit jedes einzelnen Bürgers und der Respektierung seiner Rechte verbunden.“2866 In klarem Gegensatz zu dieser Überzeugung stehe die Situation in der DDR. „In der DDR“, betont das Programmdokument, „unterliegt die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit dagegen selbst im Vergleich zu anderen kommunis- tischen Staaten in besonders starkem Maße autoritären Einschränkungen und totalitärem Zwang.“2867 Die Zukunft der Gesellschaft hängt, wie in einem anderen Abschnitt – der im Gegensatz zu früheren Bekundungen der Sozialdemokratie einen systemver- ändernden Impetus vermissen lässt – zu lesen ist, von dem Ausmaß der Verwirklichung von Freiheit im Rahmen des gegebenen demokratischen Rechtstaates ab: „Da nur in Freiheit die Selbstverwirklichung des Menschen möglich ist, ist die Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates, den Freiheitsraum des einzelnen gegenüber der staatlichen Macht und den gesellschaftlichen Kräften zu sichern; denn Technisierung führt zu Bürokratisierung, zur Gefahr der Verplanung des Menschen. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verlangen, daß jedermann recht-

2860 Vgl. zur Erneuerung der FDP z.B.: Görtemaker, Geschichte, 470-474. 2861 Rauhaus, Koalition, 228. 2862 Vgl. Schöllgen, Willy Brandt, 160-166; Wildermuth, FDP, 194. 2863 Vgl. Recker, Wahlen, 308 f. 2864 Sozialdemokratische Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren. Beschlossen auf dem Parteitag in Nürnberg am 21. März 1968, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 9, 155-188. 2865 Vgl. zur Programmdiskussion des Nürnberger Parteitags: Schönhoven, Wendejahre, 648-653. 2866 Sozialdemokratische Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren. Beschlossen auf dem Parteitag in Nürnberg am 21. März 1968, in: Flechtheim (Hg.), Dokumente, Bd. 9, 155-188; hier: 159. 2867 Ebd. 401 zeitig davon informiert wird, was auf ihn zukommt. Dafür hat die Gemeinschaft zu sorgen.“2868

Indem dem Staat die alleinige soziale Absicherung der Freiheits- und Grundrechtsgarantien zugewiesen wurde, erhielt er ein Steuerungsmonopol hierauf. Freiheit als Argumentationsmuster musste sich nicht nur innerhalb des politischen Diskurses, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich vermehrt mit anderen Denkfiguren messen lassen. So etablierte sich zu Beginn der 70er-Jahre die Friedens- forschung als neuer Wissenschaftszweig,2869 worin ein wertzielgebundener Perspek- tivenwandel zu sehen ist, der mit Amtsantritt der sozialliberalen Koalition vorgenommen wurde. Willy Brandt, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1971, hatte dieses Vorhaben in seiner Regierungserklärung2870 zwei Jahre zuvor angestoßen,2871 was zum Resultat hatte, dass Freiheit als Handlungsziel in der gesellschaftspolitischen Diskussion zunehmend durch Frieden ersetzt wurde. Frieden, nicht Freiheit entwickelte sich zur Norm der Brandtschen Innen- und Außenpolitik.2872 In der Villa Hammer- schmidt, dem Bonner Amtssitz des Bundespräsidenten fand, – dadurch wird der offizielle Charakter des Wertzielwandels unterstrichen – die Gründungsversammlung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. statt. Beträcht- liche Mittel, etwas mehr als vier Millionen D-Mark, stellte das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft an Fördergeldern für die ersten beiden Jahre der Gesellschaft bereit.2873 Die 70er-Jahre kennzeichneten sich, abgesehen von dieser durch den Regierungswechsel bedingten Abkehr vom Deutungsmuster Freiheit, zudem durch die von breiten Bevölkerungsschichten erfahrenen Sicherheitsdefizite, die einen langan- haltenden Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein hervorriefen.2874 Der Rechtsstaat geriet infolge terroristischer Übergriffe in eine Krisensituation,2875 die den Juristen zu Reflexionen über das zunehmende Eindringen des Staates in den bisher der individuellen Lebensgestaltung vorbehaltenen Freiheitsraum veranlassten. Benda, der

2868 Ebd., 167. 2869 Vgl. insgesamt die im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung abgedruckten Quellen. Für die Gründung der deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V.: Aufgabe und Bedeutung der Friedensforschung, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 148 vom 29.10. 1970, 1561 f. 2870 Vgl. Stüwe, Rede, 301 f. 2871 Vgl. zur Regierungserklärung Brandts: Vorrink/Walther, Willy Brandt. 2872 Vgl. Niedhart, Frieden, 183 f. 2873 Vgl. zur Organisation: Dieter Fichtner, Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 163 vom 25.11. 1970, 1732 f. 2874 Vgl. Bredwo, Situation, 270. 2875 Vgl. Benda, Rechtsstaat. 402 sich mit seinen Aussagen in die Tradition des Anti-Individualismus und Anti- Ökonomismus stellt, betont aber zugleich zu den Auswirkungen negativer Freiheits- vorstellungen: „Individuelle Freiheit wird nicht nur durch den Staat oder durch gesell- schaftliche Krisen bedroht, sondern auch dann gefährdet, wenn sie ohne jede Rücksicht auf das Allgemeinwohl nur individualistisch verstanden wird. Es ist nicht möglich, den liberalen Nachtwächterstaat und das zu umfassender Daseinsfürsorge bereite Gemein- wesen zugleich zu haben.“2876 Der Rechtsstaat könne nicht zu den Vorstellungen des vorigen Jahrhunderts zurückkehren. Geschürt wurde die Krisenwahrnehmung durch die Gewaltexzesse des Terrorismus, die Ölpreiskrise und die stets vor Augen geführten Destruktionspotentiale der modernen Massenvernichtungswaffen. Über den Verlauf von mehreren Jahren kam es zur Regression liberaler Orientierungen, gleichwie Spontaneität und Gründungsgeist in den Hintergrund der institutionellen Sicherheitsgewährung traten und dadurch die Idee der Freiheit vorrangig auf das Blickfeld politischer und materieller Freiheiten eingeengt wurde. Freiheit schien im „Technischen Zeitalter“ bedroht und nur durch positive Staatseingriffe umsetzbar.2877 Die Einübung in die aktiv-tätige Freiheit kam infolge der Selbstverständlichkeit der mit der Freiheit verbundenen Anrechte abhanden, so dass sich die von Erich Fromm konstatierte Furcht vor der Freiheit2878 erneut zum Problem herauskristallisieren konnte. Infolgedessen entstand ein Eskapismus vor der Eigenver- antwortung zu dem eine Ritualisierung in der Ausübung freiheitlicher Grundrechte hinzutrat. Diese kurz umrissenen gesamtgesellschaftlichen Tendenzen wirkten sich auf die konzeptionelle Arbeit der Parteien aus. Willy Brandt sprach auf dem Parteitag der SPD in Saarbrücken davon, die lange versäumte Aufgabe anzugehen und die soziale Demokratie zu verwirklichen, um die durch die Beteiligung an der Großen Koalition eröffneten programmatische Perspektiven umzusetzen.2879 Brandt merkte an, dass Frei- heit bisher eine Frage des Rechts gewesen sei und auch zum Zeitpunkt seiner Rede am 13. Mai 1970 noch in hohem Maße eine Frage des Rechts darstelle. Die alleinige Gewährung von Rechtssicherheit gilt dem SPD-Politiker jedoch angesichts der als verändert wahrgenommenen Verhältnisse nicht mehr als ausreichend: „Ich [i.e. Willy Brandt] meine, wir sollten uns und andere daran erinnern, daß es – abgesehen von dem, was Thomas Mann die verächtliche Haltung der deutschen Intellektuellen gegenüber der Realität genannt hat – ein ernster Irrtum der deut-

2876 Ebd., 27. 2877 Vgl. König, Freiheit. 2878 Vgl. Fromm, Furcht. 2879 Vgl. Schönhoven, Wendejahre, 643-666. 403 schen Liberalen gewesen ist, daß sie die Errichtung eines relativ freien Rechtstaates für genug hielten. Gewiß, Freiheit war lange und ist auch heute noch in hohem Maße eine Frage des Rechts. Aber inzwischen ist es eben nicht nur eine sozialdemokratische Einsicht, daß zur Nutzung der Freiheit auch Chancen- gleichheit in der Bildung gehört, daß zur Freiheit auch soziale Gerechtigkeit und ökonomischer Ausgleich gehören. Die konservativen Kräfte haben diese Probleme zumeist geleugnet; die Liberalen haben sie zu oft übersehen.“2880

Die Tendenz zur Ausweitung der Staatstätigkeit, die im sozialliberalen Projekt ihren Ausdruck fand, spricht aus Brandts Aussagen, die die Sicherung der individuellen Freiheit an den Staat delegieren und von daher einen positiven Freiheitsbegriff als Grundlage haben.

4.5.17 Aufbauversuch eines freiheitsbasierten Geschichtsbildes im Rahmen der Sozialliberalen Koalition – „gesellschaftlich erfüllte Freiheiten und Rechte“

Als „Vorbote“ der sozialliberalen Koalition übernahm Gustav W. Heinemann am 1. Juli 1969 mit dem abgeleisteten Eid die Verantwortung des Bundespräsidentenamtes,2881 nachdem er am 5. März von der Bundesversammlung in der Berliner Ostpreußenhalle im dritten Durchgang zum Nachfolger Heinrich Lübkes gewählt worden war.2882 Heinemann zog nach dem vorzeitigen Rücktritt seines Amtsvorgängers in die Villa Hammerschmidt ein.2883 Der vormalige Bundesinnen- und justizminister,2884 der für beide großen Volksparteien im Kabinett saß, sah in seinem Präsidentenamt die Möglichkeit angelegt, sich in den „Dienst der Freiheit“ zu stellen,2885 weswegen er sein Amt vergleichsweise parteiisch ausübte.2886 Dem Bundespräsidenten war es vor dem

2880 Willy Brandt, Wir wollen Ernst machen mit der Verwirklichung der sozialen Demokratie, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 585-613; hier: 587 f. 2881 Vgl. Görtemaker, Geschichte, 491-496; Winkler, Weg, Bd. 2, 268-271; zur Charakteristik des Amtes und zum Selbstverständnis seiner Amtsinhaber: Scholz/Süskind, Bundespräsidenten, bes. 14-89; 93-381; zum seismographischen Charakter von Bundespräsidentenwahlen: Baring, Machtwechsel, 27-29; zur Wahl Heinemanns als Vorbote der Regierungsbildung von 1969: bes. 121 f.; zur Zusammensetzung der Bundesversammlung: 5. Bundesversammlung (5. März 1969), in: Deutscher Bundestag (Hg.), Bundesversammlungen, 178-202. 2882 Vgl. Bundespräsident Dr. Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 29 vom 07.03. 1969, 245 f. 2883 Vgl. Birke, Bundesrepublik, 34; Brandt, Erinnerungen, 265 spricht von einem „Erdbeben“, das von der Neuwahl des Bundespräsidenten ausgelöst worden sei. 2884 Vgl. Scholz/Süskind, Bundespräsidenten, 209-218; 230-232. 2885 Vgl. die Ansprache beim Besuch in Baden-Württemberg im Landtag in Stuttgart (03.11. 1969), in: Heinemann, Reden, 23-29, die den Titel Vom Dienst der Freiheit trägt. 2886 Vgl. hierzu: Jochum, Worte, 46. 404 Hintergrund seiner Tätigkeit in der Bekennenden Kirche2887 ein persönliches Anliegen, für „die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte“2888 eine zentrale Erinnerungsstätte zu schaffen.2889 Dieser Wunsch, der von jahrelanger Lobbyarbeit und zahlreichen geschichtspolitisch ausgerichteten Ansprachen begleitet worden war,2890 erfüllte sich im Jahr 1974 mit der Einweihung der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte.2891 Heinemanns Wahl fiel nicht zuletzt deswegen auf Rastatt, weil dort Blut für die Freiheit geflossen war.2892 Keinesfalls sollte eine „stumme Heldengalerie, ein Walhalla deutscher Freiheit“ errichtet werden.2893 Zur inhaltlichen Konzeption der Erinnerungsstätte führte der Bundespräsident mit dem Hinweis auf das breitgefächerte Potenzial des Deutungs- musters aus: „Schweigende Verehrung wird nicht erwartet. Freiheit ist im Laufe der Geschichte auch mißbraucht oder nur als Deckmantel für selbstsüchtige Interessen bestimmter Gruppen benutzt worden. Es ist zu fragen, wem und wie vielen, ob nur einzelnen oder allen Freiheit zugedacht war, und es ist auch zu berücksichtigen, um welche Freiheit es sich jeweils handelte. Nichts soll eingeebnet oder festgeschrieben werden.“2894

Auch sollten keinesfalls die Freiheitsbewegungen, die zweifelsohne auch Unzulänglichkeiten, Missgriffe und Selbstsüchteleien aufzuweisen hätten, idealisiert werden.2895 Dies war ein Aspekt, den Bundesinnenminister Werner Maihofer2896 in

2887 Auf diese prägende Zeit für Heinemanns Freiheitsverständnis weist sein Amtsnachfolger bei seiner Rede zum Tode von im Deutschen Bundestag am 12. Juli 1976 hin. Vgl. den Text in: Scheel, Recht, 139-153. Vgl. hierzu auch: Riemenschneider, Gott. 2888 So der Titel seiner Ansprache aus Anlass der Eröffnung der Erinnerungsstätte in Rastatt (26.07. 1974), in: Heinemann, Reden, 36-44. 2889 Vgl. Jäckel, Erinnerungsstätte. 2890 Besonders hervorzuheben ist die Fernsehansprache zum hundertjährigen Jubiläum der Reichsgründung 1971 (100. Jahrestag der Reichsgründung), die heftige Kontroversen auslöste (vgl. zu dieser Rede: Charpiot, Textanalyse). Auch die bei der Schaffermahlzeit in Bremen (Geschichtsbewußtsein und Tradition in Deutschland) ein Jahr zuvor gehaltene Rede und die Ansprache Einheit und Freiheit in unserer Geschichte, die den 325. Jahrestag des Westfälischen Friedens erinnert, zeugen von Heinemanns Eintreten für die Idee der Freiheit (vgl. Heinemann, Reden, 45-51; 30-35; 66-68). Vgl. hierzu: Heinemann: Die Einheit hat nicht nur Vorteile, in: Die Welt Nr. 25 vom 12.06. 1973, 2. Vgl. auch Wolfrum, Geschichtspolitik, 259-266; 279-281; 283-285 und Schubert, Abschied, 254 f. Schubert betont, dass die Daten 1848 und 1871 sich unter dem Einfluss Heinemanns immer stärker zu Chiffren von Freiheit und Einheit entwickelt hätten. 2891 Vgl. die Kataloge der Erinnerungsstätte aus den Jahren 1984 und 2002 Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte; Einigkeit und Recht und Freiheit. Die erste in Rastatt gezeigte Ausstellung zu den Freiheitsbewegungen bestand ironischerweise zu einem großen Teil aus der zuvor im Berliner Reichstag gezeigten Ausstellung 1871 – Fragen an die deutsche Geschichte. Vgl. Jäckel, Erinnerungsstätte, 16. Auch bemerkenswert scheint, dass freiheitlichen Bewegungen in der Bundesrepublik – außer der allerdings vom Gesamtkonzept ausgelagerten Erinnerung an Heinemann als Initiator – in der Neukonzeption der Ausstellung von 2002 wenig Beachtung geschenkt wird. Vgl. auch: Kahlenberg, Unentbehrlichkeit, bes. 92 f. 2892 Vgl. Jäckel, Erinnerungsstätte, 14 f. 2893 Die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, in: Heinemann, Reden, 41. 2894 Ebd. 2895 Vgl. ebd., 42. 405 seiner Begrüßungsansprache ebenfalls hervorhob, als er an das persönliche Scheitern „der großen Vorkämpfer unseres freiheitlichen Staates“ erinnerte.2897 Angesichts des Wettbewerbs mit dem anderen deutschen Staat – darin kommt die systemlegitimatorische Komponente des Erinnerungsstättenprojektes zum Vorschein – „um die bessere Ordnung der öffentlichen Dinge, der Freiheit und der Gerechtigkeit“, müsse die Frage geklärt werden, „wer sich mit Recht auf die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte berufen kann, und wer ihre Ziele besser verwirklicht hat oder verwirklichen wird.“2898 Nicht nur durch die Etablierung der Erinnerungsstätte, sondern auch in zahlreichen Reden setzte sich Heinemann für eine historiographische Neubewertung der Ereignisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein.2899 Die Deutungshoheit über die Revolution von 1848/49 blieb bis dahin jahrelang der DDR überlassen, die diese zeitig ihrem Staatskult einverleibt hatte. Der kompetetive Systemvergleich wurde nun über das Gebiet der Sozialpolitik hinausreichend2900 auch auf das Feld der Geschichtspolitik ausgeweitet.2901 Heinemann stellte sich in seiner Rede zum 325. Jubiläum des Westfälischen Friedens auf den Standpunkt, Einheit sei kein eigenständiger Wert, weshalb Freiheit nicht um der Einheit willen preisgegeben werden dürfe.2902 Der Wettbewerb der Freiheit müsse aufgenommen und als Auftrag angenommen werden, was zur Folge hatte, dass die Idee von einem Wettbewerb der Freiheit nicht überall auf Verständnis stieß.2903 Wolf Schneider bezichtigte den Bundes- präsidenten, er versuche zuweilen seine Vorhaben mit „einer Art protestantischer Quälsucht auszuloten“.2904 Außerdem impliziere ein Wettbewerb der Freiheit, dass die Konkurrenten ein Quantum Freiheit mitbringen müssten, das mit dem anderen in Wettbewerb treten könne, woraufhin der Kommentator ungläubig fragt, „Bonn und Ost- Berlin hätten also um die Palme der Freiheit erst zu ringen, ehe der Bundespräsident sein Urteil fällen kann?“2905 Den Staatsbürgern sollte ein freiheitsbasiertes Geschichtsbild unterstützend zur Seite gestellt werden, insofern Heinemann es an der Zeit fand, „daß ein freiheitlich-

2896 Vgl. zu Maihofer: Steffen Kailitz, Werner Maihofer, in: Kempf/Merz (Hgg.), Kanzler, 462-465. 2897 Werner Maihofer, Ansprache des Bundesinnenministers, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 78 vom 28.07. 1974, 779 f.; hier: 780. 2898 Die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, in: Heinemann, Reden, 43. 2899 Vgl. Rensing, Geschichte, 116-119. 2900 Vgl. hierzu z.B. die Aufstellung in einer Handreichung für Lehrkräfte unter dem Punkt Systemvergleich, wo in Form einer Tabelle der Frage „Wie fest ist das soziale Netz?“ vergleichend nachgegangen wird (Mögenburg, Revolution, 72 f.). 2901 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 276 f. 2902 Vgl. Einheit und Freiheit in unserer Geschichte, in: Heinemann, Reden, 66-68. 2903 Vgl. Heinemann: Die Einheit hat nicht nur Vorteile, in: Die Welt Nr. 251 vom 26.10. 1973, 2. 2904 Wolf Schneider, Der Bundespräsident und die Freiheit, in: Die Welt Nr. 251 vom 26.10. 1973, 4. 2905 Ebd. 406 demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt“.2906 Vor allem auch im Gustav-Heinemann-Preis für die Schuljugend zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen sollte diesem volksbildnerischen Anliegen nachgekommen und zur Beschäftigung der jüngeren Generation mit den deutschen Freiheitsbewegungen angeregt werden.2907 Heinemann strebte ausgehend von der positiven Bewertung der demokratischen Bundesrepublik den Versuch einer Neube- wertung der freiheitlichen Vergangenheit an und wollte hierzu an das gemeinschafts- bildende Potenzial des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ anknüpfen, was auf ein eher positives Begriffsverständnis hindeutet. Bewusst suchte er nach kontinuitäts- stiftenden historischen Vorbildern, mit deren Hilfe die von ihm als Traditionsbruch empfundene Zeit des Nationalsozialismus überbrückt werden konnte.2908 Walter Scheel befand in seiner Traueransprache auf seinen Amtsvorgänger, dass in Heinemanns persönlicher Rangskala der Wert der Freiheit an oberster Stelle stand.2909 Der aus geschichtspolitischen Absichten initiierte Freiheitsdiskurs war neben seiner geschichtsgenerativen, auf die Konstituierung eines kollektiven Gedächtnisbestandes abzielenden Wirkung auch als ein abwehrendes Mittel gegen die im Zusammenhang mit der Studentenbewegung wieder aufgekommenen marxistischen und linksradikalen Gruppierungen sowie gegen die extremistische Rechte intendiert.2910 Auf einer Groß- kundgebung des Bundes der Vertriebenen forderte Alfred Dregger am 27. Februar 1971 in Bonn mit Ausrichtung gegen sozialistisches Gedankengut „Freiheit für ganz Deutschland“. Seine Rede, die die gesamteuropäische Dimension einbezog, wandte sich „gegen eine falsche Ostpolitik“ der seit 17 Monaten amtierenden sozialliberalen Koalition2911 und erhob den Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür zum Kriterium einer freiheitlichen Ordnung. Nichts dürfe „als Opfergabe auf den theoretischen Altar der Gemeinsamkeit“ mit den Kommunisten gelegt werden.2912 Zu unterschiedlich seien die Entwürfe, um Konvergenzen herzustellen. „Freiheit und Diktatur, soziale Marktwirtschaft und Staatswirtschaft, gesicherte Individualsphäre und kollektiver Zwang stehen wie Feuer und Wasser zueinander und lassen sich nicht auf

2906 Geschichtsbewußtsein und Tradition in Deutschland, in: Heinemann, Reden, 34. 2907 Vgl. Weichmann, Gustav-Heinemann-Preis. 2908 Vgl. Rensing, Geschichte, 119. 2909 Vgl. Rede zum Tode von Gustav Heinemann im Deutschen Bundestag am 12. Juli 1976, in: Scheel, Recht, 146. 2910 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 282 f. 2911 Alfred Dregger, Freiheit für ganz Deutschland und ganz Europa – gegen eine falsche Ostpolitik, in: ders., Freiheit, 71-80. 2912 Ebd., 73. 407 eine gemeinsame mittlere Linie bringen“,2913 bescheidet Dregger im antagonistischen Systemvergleich. Am 9. März 1972 bemerkte er während einer Debatte des Hessischen Landtages, dabei ganz in der konservativen Interpretationslinie der Freiheit stehend, das elementare Bedürfnis der Menschen nach Recht und Ordnung werde vielfach gering geschätzt, als spießbürgerlich abgewertet oder gar als undemokratisch kritisiert.2914 Der CDU-Abgeordnete Dregger, der während seiner ganzen politischen Karriere im Sozialismus einen eklatanten Widerspruch zur Freiheit sah,2915 „möchte dem Begriff Recht und Ordnung den Begriff Freiheit hinzufügen, da es tatsächlich in links- und rechtsfaschistischen Staaten eine Ordnung gibt, die unerträglich, ja unmenschlich ist. Ohne Recht und Ordnung ist Freiheit nicht möglich.“2916 Ministerpräsident Osswald warnte den Oppositionsvertreter Dregger davor, eine „Hexenjagd“ gegen Feinde der freiheitlich demokratischen Grundordnung anzuzetteln.2917 In der Bevölkerung war die Freiheit als Wertziel, wie empirische Untersuchungen ausweisen, nicht ganz so fest verankert wie in Dreggers Vorstellungen. 1972 hielten es 36 Prozent der Teilnehmer an einer repräsentativen Umfrage für sehr wichtig, „daß der Staat die Freiheit seiner Bürger so wenig wie möglich einschränkt.“ Der höchste Wert kam mit 76 Prozent aber der Aussage zu, „daß der Frieden erhalten bleibt“.2918 Frieden war im Wertediskurs Anfang der 70er-Jahre, wie die Tendenz bereits oben dargestellt wurde, vor die Freiheit getreten; er wurde mit der sozialliberalen Zeitspanne – ähnlich wie es zuvor von den unionsgeführten Regierungen mit der Freiheit geschah – „zu einem säkularen Heils-Begriff“ stilisiert.2919 Die Begriffsverschiebung, um näher auf diese für den Wandel des Freiheitsbegriffs wichtige Entwicklungstendenz zu sprechen zu kommen, spiegelte sich insbesondere in dem programmatischen Wandel der Liberalen hin zum Sozialliberalismus. Freiheit blieb nach wie vor der für das Selbstverständnis der freidemokratischen Partei konstitutive Wert,2920 wurde jedoch positiver als bisher ausgelegt. Die FDP, die sich in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten schwer damit tat, sich selbst als liberale Partei zu

2913 Ebd. 2914 Vgl. Alfred Dregger in der Debatte des Hessischen Landtages vom 09.03. 1972, in: Denninger (Hg.), Grundordnung, Zweiter Teil, 592-615; hier: 596. 2915 So z.B. auch noch späterhin im Zusammenhang mit der staatlichen Einheit 1990: Einheit und Freiheit. Wahlrede zum 18. März 1990, in: Dregger, Einigkeit, 185-199; hier: 191. 2916 Alfred Dregger in der Debatte des Hessischen Landtages vom 09.03. 1972, in: Denninger (Hg.), Grundordnung, Zweiter Teil, 596. 2917 Vgl. Ministerpräsident Osswald in der Debatte des Hessischen Landtages vom 09.03. 1972, in: Denninger (Hg.), Grundordnung, Zweiter Teil, 592-615; hier: 600. 2918 Jahrbuch, Bd. 5, 1968-1973, 132. 2919 Schacht, Freiheit, 75. 2920 Vgl. Noack, Freiheitsbegriffe, 105. 408 bezeichnen,2921 benannte in ihren Freiburger Thesen2922 neue Grundsätze liberalen Denkens,2923 obgleich angemerkt werden muss, dass die Thesen nicht mit den her- kömmlichen Grundsatzprogrammen der großen Parteien identisch sind,2924 da in den Thesen lediglich Stellung zur Gesellschaftspolitik bezogen wird.2925 Wie schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und infolge der revolutionären Nachkriegsereignisse nach Beendigung des Ersten Weltkriegs gingen die Freidemokraten nun auf einen sozialeren Liberalismus zu, der sich in den Jahren der Opposition gegen die Große Koalition anbahnte und vor allem in den Anfangsjahren der sozialliberalen Regierung manifestierte.2926 Erste konzeptionelle Vorbereitungen zu dem Kurswechsel waren mit der Gründung der Friedrich-Naumann-Stiftung und der Parteizeitschrift liberal2927 getroffen worden. In der konzeptionellen Forderung nach sozial erfüllter Freiheit kam es zur Modifikation des individualistischen Freiheitsbegriffs der Aufklärung,2928 wodurch ein nachholendes Wiederanknüpfen an den Sozialliberalismus Friedrich Naumanns einsetzte.2929 Dem Freiburger Parteitag kommt in diesem Erneuerungsprozess symbolische Bedeutung zu,2930 da der Programmparteitag in der südbadischen Stadt und der ein Jahr zuvor in Bonn abgehaltene Parteitag das Mitte-Links-Bündnis seitens der FDP programmatisch absicherten.2931 Infolge der Überlegung, dass Bürgerrechte nach einer gewissen Umverteilung verlangen, um Lebenschancen zu gewähren, wird in der Einleitung der Freiburger Thesen die Sozialpolitik direkt mit den Bürgerrechten in Verbindung gesetzt.2932 Vor allem in der „Einleitung zu einer liberalen Gesellschaftspolitik“ finden sich Ausführungen zur Freiheit, in denen explizit auf Friedrich Naumann als Vorläufer sozialliberaler Programmatik verwiesen wird. Der dieser Tradition entstammende Begriff des Individuums als eines zugleich autonomen und gesellschaftlichen Wesens soll eine Wiederbelebung erfahren, so dass dem Staat die Aufgabe zukommt, dem sozialen Individuum, „gesellschaftlich erfüllte Freiheiten und Rechte“ zu gewährleisten,

2921 Vgl. Vorländer, Tradition, 108. Erst 1976 übernahm die FDP die Selbstbezeichnung „Die Liberalen“ (aaO., 109); Vgl. zu der „kosmetischen Imagepflege“ auch Søe/Vorländer, Kampf 177. 2922 Vgl. zum Text: Bundesvorstand, Thesen; zur Erläuterung: Flach/Maihofer/Scheel, Thesen. 2923 Vgl. zur Programmatik in Hinblick auf Freiheit und Nation: Dittberner, FDP, 336-341. 2924 Vgl. Zimmermann, Grundwert, 85. 2925 Vgl. Bundesvorstand, Thesen. 2926 Vgl. Trautmann, Einleitung, 13 f. 2927 Vgl. ebd., 13; Vorländer, Liberalismus der F.D.P., 200. Vgl. zum Entstehungsprozess beider Einrichtungen: Dittberner, FDP, 225-230. 2928 Vgl. Vorländer, Liberalismus der F.D.P., 191. 2929 Vgl. Vorländer, Liberalismus, 26. 2930 Vgl. Søe/Vorländer, Kampf, 176. 2931 Zur Entstehung der Freiburger Thesen: Vorländer, Liberalismus der F.D.P., 209-212; hier: 209. Vgl. auch Hausmann, Freiburger Thesen. 2932 Vgl. Dahrendorf, Chancen, 131. 409 um ihm dadurch die soziale Chance anzubieten, in einem „freiheitlichen Sozialstaat“ leben zu können. „Freiheit“, bestimmt der Programmtext der Freiburger Thesen, „bedeutet für den modernen Liberalismus, wie er bei John Stuart Mill in England und bei Friedrich Naumann in Deutschland erstmals in Gedanken gefasst ist, nicht länger die Freiheit eines aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staate entgegengesetzten auto- nomen Individuums, sondern die Freiheit jenes autonomen und sozialen Individu- ums, wie es als immer zugleich einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt.“2933

Eigentum, so die erste These, „ist Mittel zum Zwecke der Wahrung und Mehrung menschlicher Freiheit, nicht Selbstzweck“.2934 Es wird programmatisch der „Vorrang der Person vor der Institution“ begründet. Die erste These spricht sich fernerhin aus für „die Behauptung der Menschenwürde und der Selbstbestimmung des einzelnen in Staat und Recht, in Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber einer Zerstörung der Person durch die Fremdbestimmung und durch den Anpassungsdruck der politischen und sozialen Institutionen [...] Oberste Ziele liberaler Gesellschafts- politik sind daher die Erhaltung und Entfaltung der Individualität persönlichen Daseins und der Pluralität menschlichen Zusammenlebens.“2935

Die Zielvorstellung, der in einem vernunftgeleiteten Fortschrittsprozess nachgestrebt werden soll, ist die der Aufklärung2936 entlehnte Idee der „Befreiung der Person aus Unmündigkeit und Abhängigkeit“.2937 Die erste Voraussetzung der Förderung einer sol- chen Emanzipation des Menschen und damit der auf die Evolution der Menschheit gerichteten liberalen Gesellschaftspolitik für die Errichtung einer freien und offenen Gesellschaft seien geistige Freiheit und die Prinzipien der Toleranz und der Konkurrenz, weshalb – darin wird die antisozialistische Prägung des Programms evident – Fortschritt durch Vernunft und nicht durch Klassenkampf verwirklicht werden solle. Kenn- zeichnend für den Liberalismus sei „sein durch Erfahrung erhärtetes Mißtrauen gegen jede, und sei es auch nur für eine ‚Zeit des Übergangs’ in das am Ende verheißene ‚Reich der Freiheit’, dem einzelnen Menschen und ganzen Gesellschaften nach einer einheitlichen politischen Ideologie auferlegte oder gar aufgezwungene Sinngebung persönlichen Daseins und menschlichen Zusammenlebens.“2938 Nur eine auf geistiger Freiheit und den liberalen Prinzipien der Toleranz und der Konkurrenz begründete Gesellschaft vermöge jenen permanenten Prozess der Selbststeuerung und Selbst-

2933 Bundesvorstand, Thesen, 6. 2934 Ebd., 18. 2935 Ebd., 8. Individualität des Einzelmenschen und Pluralität der Gesellschaft werden innerhalb der ersten These dreimal explizit genannt. Sie können als Schlüsselwerte der Thesenreihe angesehen werden. 2936 Explizit wird Kants Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit” angeführt (ebd., 9). 2937 Ebd., 2. Es wird fernerhin von „Aufklärung des Unwissens und Abbau von Vorurteilen“, „Beseitigung von Bevormundung und Aufhebung von Unselbständigkeit“ gesprochen (aaO., 10). 2938 Ebd., 9. 410 erneuerung in Gang zu bringen und zu halten, der aus der Dialektik und Dynamik der Freiheit hervorgehe. In gewisser Weise hinkten die im Kern auf soziale Abfederung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung angelegten Thesen den Realitäten hinterher.2939 Die nur sechs Jahre später verabschiedeten Kieler Thesen 772940 präludierten die Verdrängung der Gesellschaftspolitik durch die Wirtschaftspolitik2941 im Sinne einer einsetzenden wirtschaftsliberalen Wende der Partei, die auf den erneuten Koalitionswechsel hinführte.2942 In Hinblick auf das zu untersuchende Deutungsmuster ist auf die Ambivalenz hinzuweisen, mit der einerseits zwar eine Annäherung an individuelle Freiheitsvorstellungen negativer Ausprägungsform verbunden war, andererseits aber in der Betonung der sozialen Komponente ein positives Freiheitsverständnis vorherrschte, womit der Anschluss an den Mittelweg des Naumannschen Ideals betrieben wurde, dem infolge der veränderten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen jedoch nur kurzfristig nachgestrebt werden konnte.

4.5.18 Konservative Demokratiekritik im Namen der Freiheit – „Mehr Demokratie – Weniger Freiheit?“

Willy Brandt, der über das Amt des regierenden Bürgermeisters und seine Tätigkeit als Außenminister und Vizekanzler der Großen Koalition im Jahr 1969 Bundeskanzler wurde, überstand 1972 ein Misstrauensvotum das von der CDU/CSU-Fraktion gegen ihn gestellt worden war.2943 Vorgezogene Neuwahlen, in denen Brandt auf den Kanzler- bonus bauen konnte,2944 brachten den Sieg der SPD und die Wiederwahl zum Regierungschef. In der Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 sprach er sich für die Mitbestimmung aus, weil sie zur Substanz des Demokratisierungsprozesses der Gesell- schaft gehöre. „In ihr erkennen wir die Voraussetzung für jene Reformen“, betont Brandt, „die in ihrer Summe den freiheitlichen Sozialstaat möglich machen.“2945 Einen Gegensatz zwischen der freiheitlich demokratischen Grundordnung und dem berechtig- ten Interesse der Menschen nach Sicherheit, ist der Regierungserklärung fernerhin zu

2939 Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 412. 2940 Vgl. hierzu: Obereuther/Kranenpohl/Olzog/Liese, Parteien, 147 f. 2941 Vgl. Søe/Vorländer, Kampf, 176. 2942 Vgl. Trautmann, Einleitung, 14. 2943 Vgl. Schöllgen, Willy Brandt, 181 f. 2944 Vgl. zum Kanzlerbonus: Wilke/Reinemann, Kanzlerkandidaten, 101 f. 2945 Willy Brandt, Regierungserklärung vom 18. Januar 1973, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungserklärungen, 181-198; hier: 194. 411 entnehmen, dürfe nicht entstehen, da Demokratie und innere Sicherheit zusammengehörten.2946 Brandt verstand seine Partei als „die Partei der Freiheit“.2947 Ausdrücklich erwähnte er in einer Ansprache zum 100. Geburtstag des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Otto Wels, dass nicht alles und jedes auf die so genannte Klassenfrage reduziert werden könne,2948 wodurch ein entscheidender Hinweis gegeben ist auf das Abrücken von einem rein sozialistischen Freiheitsverständnis, wie es erstmals im Godesberger Programm zum Ausdruck kam. Brandt nähert sich ausdrücklich einem bürgerlichen Freiheitsbegriff an, den noch Karl Kautsky mit Sarkasmus bedeckt hatte.2949 Später bemerkte der SPD-Vorsitzende gar, die Summe seiner politischen Erfahrung sammele sich im „komplexen Wert der Freiheit“ – und fuhr nach einem Gedankenstrich fort, indem er Elementen eines positiven und eines negativen Freiheitskonzeptes anführte – „von Not und Furcht und Gewissenszwang, zur eigenverantwortlichen wie gemeinschaftlichen Erfahrungen dessen, was das Leben sichert und schön machen kann.“2950 Helmut Schelsky fragte im Januar 1973 vor dem Hintergrund der Diskussion um mehr Bürgerbeteiligung, die in der von Willy Brandt geprägten Formel „Mehr Demokratie wagen“2951 ihren Ausdruck fand,2952 regierungskritisch nach, ob der Realisierung von mehr Demokratie tatsächlich der Vorrang vor der Umsetzung von mehr Freiheit eingeräumt werden dürfe.2953 Der Kollektividentität von Beherrschten und Herrschenden, die die Demokratie ausmache und durch vermittelnde Instanzen gewähr- leistet sei, stellt Schelsky in Ablehnung solcher Positionen die „Aufteilung der

2946 Vgl. ebd., 195. 2947 Willy Brandt, Rede anläßlich des 100. Geburtstages des früheren SPD-Vorsitzenden Wels (15.09. 1973), zit. nach: Brandt, Ausgabe, Bd. 5, 103-112; hier: 103; vgl. auch die Wiederholung der These acht Jahre später: ders., Rede im Reinickendorfer Rathaus in Berlin anläßlich des 35. Jahrestages der Urabstimmung der Sozialdemokraten in den Berliner Westsektoren (04.04. 1981), zit. nach: Brandt, Ausgabe, Bd. 5, 336-348, hier: 338: „Die Sozialdemokratie ist die Partei der Freiheit, sie ist es gewesen, und sie hat es in kritischer Stunde bewiesen; sie wird es wieder zeigen. Sie hat gekämpft, wo die Masse der ‚Bürgerlichen’ nur erschrocken zuschaute. Deren nachfolgende Generation ist dann der Parole gefolgt, die Freiheit müsse vor den Sozialisten bewahrt werden“. Im selben Jahr bekennt Brandt allerdings in Berufung auf Karl Kautsky: „Sozialdemokratie ist Frieden“: ders., Rede anläßlich des 100- jährigen Bestehens des Verlags J.H.W. Diez Nachf. in Bonn (03.11. 1981), zit. nach: ders., Ausgabe, Bd. 5, 363-372; hier: 363; 364. 2948 Vgl. Willy Brandt, Rede anläßlich des 100. Geburtstages des früheren SPD-Vorsitzenden Wels (15.09. 1973), zit. nach: Brandt, Ausgabe, 104. 2949 Vgl. z.B. Willy Brandt, Rede anläßlich des 75. Todestages Bebels in Berlin (28.01. 1988), in: ders., Ausgabe, Bd. 5, 452-456; hier: 453. 2950 Vgl. z.B. ebd., 455. 2951 Bei dem Ausspruch „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ handelt es um ein Zitat aus Willy Brandts Regierungserklärung im Jahr 1969. Vgl. zur Wirkung der Formulierung: Elm, Demokratie; Vorrink/ Walther, Willy Brandt, 188 f. 2952 Vgl. Görtemaker, Geschichte, 501-506. 2953 Vgl. Schelsky, Systemüberwindung. 412 Herrschaftsgewalt auf verhältnismäßig selbständige Institutionen“2954 entgegen. In der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik sieht er den Versuch, die beiden konfligierenden Ziele miteinander zu harmonisieren. Schelsky ist dazu geneigt, der Freiheit das Prä einzuräumen, da er befürchtet, dass sich andernfalls eine totalitäre Demokratie herausbilden könnte.2955 In seiner sprachlich-logischen Beweisführung geht er von einem Nullsummenspiel zwischen Demokratie und Freiheit aus: „Wenn dann aber in dieser prinzipiellen Grundordnung von den Herrschenden der Vorrang ‚Mehr Demokratie’ programmatisch verkündet wird, dann ist damit ebenso verschwiegen und uneingestanden die Hinnahme von ‚Weniger Freiheit’ verbunden.“2956 In der Übersteigerung demokratischer Tendenzen sieht er – in Anlehnung an Aristoteles – einen totalitären Zug, der an der zunehmenden Polarisierung innerhalb des politischen Spektrums abzulesen sei.2957 „Eine ‚Totalisierung’ der Politik braucht sich nicht nur in einer Ein-Partei zu bezeugen,“ erklärt er in einem Buch, das sich mit der Gefahr einer „Systemüberwindung“ beschäftigt, „sie kann sich auch in Form eines ‚pluralis- tischen’ Totalitarismus, einer Totalisierung zweier polarer Blöcke, zunächst durchsetzen. Wann diese Konfliktpolarisierung totalistischer Art dann in den offenen Bürgerkrieg und in völlige Unterdrückung des ‚anderen Lagers’ umschlägt, ist eine Frage der politischen Chance des sicheren Übergewichts; sie kann bewußt verzögert werden, bis die Konflikttendenz der Polarisierung eindeutige Übermacht- situationen schafft. In dieser Retardierungsphase der im Trend totalitären Politisierung befindet sich nach meinem [i.e. H. Schelsky] Urteil jetzt die Bundes- republik. Festzuhalten ist aus dieser Analyse, daß die Tendenz ‚Mehr Demokratie’ im Sinne der höheren Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Willens- bildung bezahlt werden muß mit den Tendenzen: ‚mehr Konflikte’, ‚weniger Rationalität’, ‚mehr Herrschaftsansprüche’, ‚weniger Sachlichkeit’, vor allem aber mit der durchgehenden Politisierung in Richtung auf zentralistisch-totalitäre Machtdurchsetzung.“2958

Nicht die an der Empirie gescheiterte Prognose, vielmehr die hinter den Ausführungen liegenden Denkmuster rechtfertigen die Widergabe der längeren Argumentation im Untersuchungszusammenhang. Schelskys Meinung, die er in zahlreiche publizistischen Beiträgen verbreitete, löste heftigen Widerspruch aus. In einem zweiseitigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerte sich Schelsky rechtfertigend zu dem „Grundsatzkonflikt der ‚Polarisierung’ in der Bundes- republik Deutschland“.2959 Die Aufspaltung – ein wesentliches Negativargument im

2954 Ebd., 50. 2955 Vgl. Lenk, Konservatismus, 197-204 2956 Schelsky, Systemüberwindung, 50. 2957 Als Beispiel führt Schelsky die Protagonisten der beiden großen politischen Lager, Brandt und Strauß, an. 2958 Schelsky, Systemüberwindung, 55. 2959 Vgl. Helmut Schelsky, Mehr Demokratie oder mehr Freiheit? Der Grundsatzkonflikt der „Polarisierung“ in der Bundesrepublik Deutschland, in: FAZ Nr. 17 vom 20.01. 1973, 7 f. 413 semantischen Diskurs um die „deutsche Freiheit“ – stehe erst am Anfang. Der konservative Autor beklagt die Politisierung der Öffentlichkeit, die in ihrem Ergebnis zu Irrationalisierung und einer totalen Politik führe.2960 So erachtet Schelsky in seinem parteikritischen Rundumschlag die zunehmende Auslagerung der Politik in Bürgerinitiativen als problematisch und spricht den drei im Bundestag vertretenen Parteien eine Grundsatzschwäche zu, wobei er vor allem die von ihnen, insbesondere seitens der SPD, betriebenen Demokratisierungsbemühungen ablehnt. Die Partei zeige einen „Hang zum Totalitarismus“.2961 Freiheit lässt sich in den Augen Schelskys also nicht durch weitere Demokratisierung, sondern nur durch Neutralisierung der Gewalten herstellen, um sie, wie bereits Karl Raimund Popper normativ festgestellt habe, durch „‚gute’ Institutionen“ zu vermitteln.2962 Christian Graf von Krockow weist in einer Reaktion auf Schelskys Ausführungen darauf hin, dass Gewaltenteilung und Demokratie kein Gegensatz zueinander seien und es töricht wäre, in ideengeschichtlicher Betrachtungsweise Montesquieu gegen Rousseau ausspielen zu wollen – zumal es bekanntlich verschiedene Demokratie- verständnisse gebe.2963 Die von Schelsky aufgestellte Rechnung „Mehr Demokratie – Weniger Freiheit?“ geht für den Grafen nicht auf, da Schelsky einen unlauteren Gegensatz zwischen Demokratie und Gewaltenteilung konstruiere2964 und mittlerweile die strikte Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft ohnehin zur „defensiven Fiktion“ verkommen sei.2965 Das elitäre Demokratieverständnis Schelskys, das Demo- kratie als Kampf gegen die Freiheit ansieht, findet Parallelen in Carl Schmitts zu Zeiten der Weimarer Republik geäußerter Kritik an der Demokratie und am Parlamentaris- mus.2966 Damit steht Schelsky implizit in der Tradition einer konservativ-elitären Demokratiekritik, die von der eng mit dem Deutungsmuster „deutsche Freiheit“

2960 Ebd., 7. 2961 Ebd., 8. 2962 Ebd. 2963 Vgl. Christian Graf von Krockow, Mehr Demokratie – Weniger Freiheit? Viel geschmäht und oft mißverstanden: der Begriff Demokratisierung, in: Die Zeit Nr. 9 vom 23.02. 1973, 3. Krockow unterscheidet das rousseauistisch-französische von dem anglo-amerikanischen Demokratieverständnis. Gerade im Sinne des letzteren sei Gewaltenteilung ein Fundament der Demokratie und demokratischer Freiheitswahrung. Vgl. zu Krockows Interpretation des Freiheitsbegriffs bei Rousseau auch Krockow, Herrschaft, 76-109; bes. 87-90, wo er ausführt, dass der Versuch die Identität von absoluter Gemeinschaft und absoluter Freiheit herzustellen, das wesentliche Element des rousseauistischen Freiheitsver- ständnisses ist. Zu Locke: aaO., 50-75. 2964 Christian Graf von Krockow, aaO., in: Die Zeit Nr. 9 vom 23.02. 1973, 3. Vgl. Krockow im Rückblick über die Debatte der 70er-Jahre: ders., Niedergang, 169-171. 2965 Christian Graf von Krockow, aaO., in: Die Zeit Nr. 9 vom 23.02. 1973, 3. 2966 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur „deutschen Freiheit“, die im Ersten Weltkrieg als Reaktion auf Wilsons 14 Punkte angestellt wurden und ähnlich antidemokratisch argumentieren, oben: Kap. 4.2.5. 414 verbundenen Vorstellung eines spezifisch deutschen Wegs jenseits des Parlamentarismus geprägt ist.2967 Eine aktuelle Information der SPD vom Juni 1976, die für den demokratischen Sozialismus und für mehr gelebte Freiheit durch mehr Demokratie wirbt, spielt direkt auf die von Schelsky ausgelöste Diskussion an, in der die Partei die Hauptzielscheibe der Kritik abgab.2968 Reaktionäre Ideologen, wie z.B. Schelsky, der gegen die Losung von „Mehr Demokratie wagen“ eintrete, bekundet das Informationsheft, seien deshalb gegen ein Mehr an Demokratie, weil es ein Weniger an Freiheit bringe, allerdings vergäßen sie hinzuzufügen: „ein Weniger an Freiheit für die wenigen, auf Kosten der Mehrheit zu herrschen. Die große Mehrheit der politisch mündigen Bürger aber weiß: Nur Demokratie, das heißt Kontrolle der Herrschenden durch die Mehrheit und ihre Abgeordneten, kann für die große Mehrheit des Volkes Freiheit von Zwang und Ungerechtigkeit schrittweise verwirklichen.“2969 Die Sozialdemokratie präsentierte sich hiermit als vehemente Verteidigerin der freiheitlich demokratischen Grundordnung, die von konservativen Intellektuellen mit antidemokratischen Äußerungen zugunsten einer asymmetrischen Freiheitsvorstellung in Frage gestellt wurde.

4.5.19 Kritik an der fortschreitenden Ritualisierung des Freiheitsgedenkens – „Das freie Deutschland ist müde geworden“

„Das freie Deutschland ist müde geworden“, titelte die Welt im Vorfeld des Tages der deutschen Einheit im Jahr 1973 und gibt damit einen Hinweis auf die Ritualisierung des Erinnerns.2970 Der nationale Gedenktag an die Ereignisse des 17. Juni erhalte immer weniger Zuspruch und seine ursprüngliche Bedeutung als „Opfertag“ werde beständig ausgehöhlt.2971 So seien 1962 noch etwa 150.000 Personen in Berlin zusammen- gekommen, doch habe die Anzahl in den Folgejahren rapide abgenommen. Eine Umfrage aus dem Jahr 1965 ergab, dass trotz des staatlichen Feiertages mehr als 14 Prozent der Einwohner der Bundesrepublik nicht mehr um dessen Anlass und Inhalt

2967 Auch Krockow weist auf die Nähe zu Schmittschem Denken hin. Vgl. Christian Graf von Krockow, Mehr Demokratie – Weniger Freiheit? Viel geschmäht und oft mißverstanden: der Begriff Demo- kratisierung, in: Die Zeit Nr. 9 vom 23.02. 1973, 3. 2968 Vgl. Grundwertekommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Freiheit, 5. 2969 Ebd. 2970 17. Juni 1973: Der Zwang dauert fort, aber das freie Deutschland ist müde geworden, in: Die Welt Nr. 138 vom 16.06. 1973, 6. 2971 Vgl. Friedhelm Kemna, Ein Gedenktag, der der Anpassung zum Opfer fiel, in: Die Welt Nr. 138 vom 16.06. 1973, 6. 415 wüssten, sieben Jahre später gaben bereits 28 Prozent der Befragten einer repräsenta- tiven Erhebung an, sie verstünden den Sinn des Feiertages nicht mehr. Auch regte sich Widerspruch gegen die Ausrichtung des 17. Juni auf den Einheitsgedanken, der die Idee einer „deutschen Freiheit“ in den Hintergrund dränge. Otto Maetzke kritisierte eine daraus abgeleitete „Unfähigkeit, zu feiern“.2972 In einem Kommentar in der FAZ bemerkt er zum Tag der deutschen Einheit: „Aber es wurde jedenfalls die deutsche Einheit, nicht die deutsche Freiheit gefeiert, und zu selten haben Bürger – auch mundfertige Intellektuelle – danach gefragt, ob sich nicht vielleicht statt dessen ein Markierungsdatum zur Feier deutscher Freiheit finden lasse.“2973 Sollte jedoch der 8. Mai als Tag der Befreiung wie im Osten Deutschlands gefeiert werden, dann wären, wie der Kommentator in Anspielung auf die Perzeption eines besonderen Umgangs der Deutschen mit der Freiheit befindet, „die Deutschen vielleicht tatsächlich unfähig, die Freiheit wie anderswo zu feiern“.2974 Der Tag des 8. Mais, der an das Kriegsende erinnerte und vor allem von der DDR als Tag der Befreiung vereinnahmt wurde, blieb wie die Bewertung des Kriegsendes insgesamt,2975 in der BRD der 70er-Jahre heftig umstritten.2976 Insbesondere konservative Politiker setzten Freiheit als abwehrendes Argument ein, um den Marxisten die „Vision der Freiheit“ entgegenzustellen, wie der CDU- Landesvorsitzende und baden-württembergische Ministerpräsident auf dem Parteitag der Christdemokraten, der am 22. Juni 1973 in Reutlingen stattfand, bekannte.2977 Er fragte in Richtung seiner Parteikollegen, warum es der CDU nicht gelingen sollte, ihre „Visionen der Freiheit den Bürgern und vor allem der Jugend zu vermitteln“.2978 Auch Lothar Späth, der Vorsitzende der Stuttgarter Landtagsfraktion, betonte den unverbrüchlichen Vorrang der Freiheit. Beide versicherten einmütig, sie wollten ihr vorbildhaftes Bundesland Baden-Württemberg, das aufgrund der Vehemenz, mit der dort der Freiheitsgedanke in historischer Perspektive vertreten worden sei, als „Hort der Freiheit und Stammland der Liberalität“ erhalten.2979 Auf Bundesebene zeigte sich ein ähnliches Bild in der Auseinandersetzung der beiden großen Parteien, da die CDU die eng mit der Person Willy Brandts verbundene Annäherungs-, Entspannungs- und Friedenspolitik gegenüber Osteuropa als anti-

2972 Vgl. Ernst-Otto Maetzke, Die Unfähigkeit, zu feiern, in: FAZ Nr. 138 vom 16.06. 1973, 1. 2973 Ebd. 2974 Ebd. 2975 Vgl. zum Umgang mit dem 8. Mai in der Bundesrepublik: Reichel, Schwarz, 76-88. 2976 Vgl. Hurrelbrink, 8. Mai 1945, 133-171. 2977 Vgl. Landesparteitag der CDU in Baden-Württemberg, in: Die Welt Nr. 144 vom 23.06. 1973, 5. 2978 Ebd. 2979 Vgl. ebd. 416 freiheitlich auffasste und dieser ihr auf dem Wert der Freiheit beruhendes Deutungsmuster entgegenstellte. Nach Brandts halbfreiwilligem Rücktritt am 6. Mai 1974 ergriff die CDU die Gelegenheit, um mit der vom Wertziel Frieden geprägten, und von der Union als antagonistisch zu ihrer freiheitlichen Politik angesehenen Ostpolitik abzurechnen.2980 Die Union begründet ihr Vorgehen damit, dass es um die Zukunft des Landes und „letztlich um die Freiheit Westeuropas“ gehe.2981 Helmut Schmidt, der aufgrund der Guillaume-Affäre den Vorsitz am Kabinettstisch von Brandt über- nahm,2982 stellte in der Regierungserklärung vom 17. Mai vor dem Deutschen Bundes- tag zum Status der Bundesrepublik fest: „Unser Volk lebt in sozialer Sicherheit, und unser Volk lebt in Freiheit.“2983 Der zweite Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition tendierte zu einem positiven Begriff der Freiheit, da sie in seinen Aussagen häufig als durch den Staat vermittelte Leistung erscheint.2984 Im Zusammenhang mit dem „einzigen Feiertag, der Deutschland gilt“, wurde neben der Komponente des Gedenkens an die staatliche Einheit auch nach dem Gedenken an den Kampf für Freiheit und Recht gefragt2985 – wie dies schon Otto Maetzke in der FAZ tat, was auf den Versuch vor allem konservativer Intellektueller hindeutet, eine deutsche Freiheitsgedenktradition zu initiieren. Herbert Kremp stellte in einem Meinungsbeitrag in der Welt die Frage „wann eigentlich hatten die Deutschen eines Freiheitskampfes zu gedenken gehabt?“2986 Er sieht wenig Erinnerungswürdiges, das Anknüpfungs- und Orientierungspunkte für eine neu zu schaffende Freiheitstradition erkennen ließe. „Jeder“, stellt er resigniert fest, „kennt die wenigen Beispiele aus der nationalsozialistischen Zeit, aber weder das Gedächtnis der Freiheitskriege noch das der Paulskirchenzeit und ihrer Bewegungen noch das Gedenken an den 20. Juli 1944 überlebten kraftvoll bis in die Gegenwart. Merkwürdig gestaltlos, ohne Konturen, fast haltlos verliert sich die deutsche Geschichte in die Vergangenheit – in der fernen Vergangenheit gesicherter, weniger umstritten erscheinend als später beim Gang in Neuzeit und Moderne. Es fehlen die Tage an denen sich jedes Kind orientieren kann, nichts scheint angeeignet, allzu vieles entfremdet.“2987

Kremp registriert diese Entwicklung mit Besorgnis, da – wie er in geschichts- theoretischer Reflexion bedauert – Geschichte keine Einwegflasche sei, sondern sie irgendwann einmal wieder zurückkehre und er sich daher – damit auf das Theorem

2980 Vgl. Merseburger, Willy Brandt, 657-738. 2981 Vorwort, in: Huyn, Frieden, 2. 2982 Görtemaker, Geschichte, 573-578; Carr, Helmut Schmidt, 91-113. Vgl. aus Brandts Sicht: ders., Erinnerungen, 315-341. Zum Hergang der Guillaume-Affäre: Ramge, Polit-Skandale, 109-134. 2983 Helmut Schmidt, Regierungserklärung vom 17.05. 1974, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungserklärungen, 201-216; hier: 216. 2984 Vgl. Zimmermann, Grundwert, 87. 2985 Herbert Kremp, Die Mauern stehen sprachlos und kalt ..., in: Die Welt Nr. 138 vom 16.06. 1974, 4. 2986 Ebd. 2987 Ebd. 417 eines historischen Sonderstatus’ der deutschen Nation anspielend – besorgt fragt, ob Deutschland es im Kreis der anderen Nationalstaaten aushalten könne, „deren Völker umstellt sind von den Symbolen der glorreichen Siege und glorreichen Niederlagen“.2988 Eine eindeutige Entscheidung zugunsten der Freiheit forderte ebenfalls Bundes- innenminister Hans Dietrich Genscher in einem Referat vor dem Verbandstag des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken ein. Dort präsentierte er den Genossen- schaftsgedanken – ein Hauptelement im Vorstellungszusammenhang „deutsche Frei- heit“ – in Nachfolge Schulze-Delitzschs als „wirksame freiheitliche Alternative zu allen Bestrebungen um wirtschaftliche und politische und damit schließlich auch staatsbürgerliche Gleichmacherei.“2989 Hans Maier beschied mit Blick auf die DDR in vergleichbarer Thetik, dass Freiheit zwar ohne Chancengleichheit nicht mehr bestehen könne, dass aber „Gleichheit, wenn sie zum obersten Gesetz der Politik gemacht und ohne Rücksicht auf Traditionen und persönliche Rechte vorangetrieben wird, leicht in einen gefährlichen Totalitarismus umschlägt.“2990 Die in der Auseinadersetzung mit dem sozialliberalen Regierungshandeln gewonnene Erkenntnis der oppositionellen Union war diejenige, stärker den Wert der Freiheit zu ihren Gunsten zu konturieren und sich in der Wahlkampfauseinandersetzung mit der Regierung, die ebenfalls die Freiheitsrhetorik gebrauchte, aber ihrerseits stärker von der Zielvorstellung des Friedens komplementiert wurde, als Partei der Freiheit zu positionieren.

4.5.20 Die Grundwertediskusssion im Vorfeld der Bundestagswahlen von 1976 – „Wahl-Krampf um ein Wort“

Mitte der 70er-Jahre kam es zu einer Diskussion um die Grundwerte innerhalb der Gesellschaft, die anhand der Werte Freiheit, Gleichheit und Solidarität nachvollzogen werden kann.2991 Sie stießen bei allen im Bundestag vertretenen Parteien auf

2988 Ebd. 2989 Hans Dietrich Genscher, Entscheidung für die Freiheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 138 vom 26.10. 1973, 1369-1374; hier: 1369. 2990 Maier, Zukunft, 279. 2991 Vgl. für den Hergang der Debatte: Bäuerle, Stellung, bes. 19. Eine Dokumentation der wichtigsten Einlassungen seitens der drei Bundestags-Parteien und der Kirchen: Gorschenek (Hg.), Grundwerte. Gesine Schwan kritisiert die Diskussion um Grundwerte in der Politik als „illusionär, folgenlos, irreführend, abträglich, gefährlich, naiv und einiges mehr“ (dies., Grundwerte, 66). Zum „Beitrag des Bürgers zur Diskussion über die Grundwerte“: Walter Scheel, dass., in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 13 vom 15.02. 1977, 117-123. Scheel betont: „am freiesten ist der Bürger, der seine Fähigkeiten im freiwilligen Dienst an der Gemeinschaft verwirklicht. Freiheit 418 Anerkennung und strategische Beachtung. Aufgrund der Realisierungsreihenfolge und Gewichtung der einzelnen Werte lässt sich ein Bild der Parteienlandschaft und des programmatischen Umgangs der Parteien mit der Freiheit gewinnen.2992 Die Grund- wertediskussion wurde maßgeblich von der katholischen Kirche initiiert, die die Position vertrat, dass die „Isolierung des einzelnen und die Kollektivierung der menschlichen Gemeinschaft [...] für egoistische oder politische Zwecke nützlich sein“ mögen, aber beide die Chancen des menschlichen Glücks zerstörten,2993 weil Würde und Freiheit der menschlichen Person aus Sicht der katholischen Kirche „nur in der menschlichen Gemeinschaft verwirklicht werden“ können.2994 Ausgangspunkte der Diskussion waren der Streit um den Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches und die Reform des Ehe- und Familienrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch.2995 Innerhalb der Sozialdemokratie kam es angestoßen durch die Aktualisierung des Godesberger Programms im Orientierungsrahmen ’85 wiederholt zu Überlegungen zur Gestalt des Freiheitsbegriffs im Rahmen eines freiheitlichen Sozialismus.2996 Die einsetzende Diskussion steht im Zusammenhang mit der fortschrittsoptimistischen Vorstellung, mehr Freiheit könne durch Planung erlangt werden,2997 wobei Sozialpolitik als Instrument der steuernden Freiheitssicherung verstanden wurde.2998 Der freiheitliche Sozialist, gibt der Orientierungsrahmen zu bedenken, der kein Kollektivist sei, da er mit der Forderung nach Freiheit nicht lediglich seine privaten Interessen verwirklichen wolle, befinde sich in einer wesentlich anderen Situation als der Individualist – eine Position, die an antiindividualistische Einstellungen früherer Zeiten erinnert, sich gleichzeitig aber auf die Tradition eines „Dritten Weges“ stützt. Einen ähnlichen Mittelweg zwischen Individuum und Kollektiv vertritt auch Heiner Flohr in Hinblick auf die Formulierung eines freiheitlichen Sozialismus: „Man könnte freiheitliche

und Dienen, Recht und Bindung streben in einer Demokratie jederzeit zu einem immer wieder gefährdeten Gleichgewicht, das täglich neu bestimmt und errungen werden muß. In anderen Staatsformen liegen die Dinge einfacher: Dort ist man Herr oder Diener. In einer Demokratie ist jeder Herr und Diener, ist jeder der Staat und der erste Diener des Staates.“ (AaO., 117). 2992 Vgl. hierzu: Zimmermann, Grundwert, der einen Überblick gibt über die Positionen der drei damals im Parlament vertretenen Fraktionen. 2993 Ein Wort der deutschen Bischöfe zu Orientierungsfragen unserer Gesellschaft (07.05. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 133-145; hier: 137. 2994 Ebd. 2995 Vgl. für die Beiträge der katholischen Kirche v.a. Bäuerle, Stellung; Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 242-272; 278-292. Für Äußerungen der evangelischen Kirche: dass., 272-278; 292 f. 2996 Vgl. zu dem Begriff „freiheitlich demokratischer Sozialismus“ die zahlreichen Arbeiten von Gerhard Weisser (Bank/Glöckner [Bearb.], Auswahl). Zur Diskussion, die dem Orientierungsrahmen vorabging: Küpper, SPD. Vgl. für die Interpretation und Beschreibung des Grundwertes Freiheit seitens der SPD in den Dimensionen liberale, materielle, immaterielle, demokratische und wirtschaftliche Freiheit: Schlei/ Wagner, Freiheit, 28-54. 2997 Vgl. Jochimsen/Schmidt, Freiheit. 2998 Vgl. Ehrenberg/Fuchs, Sozialstaat, 19-45. 419 Gesinnung“, erläutert Flohr zur negativen Abgrenzung gegenüber dem Selbstver- ständnis eines freiheitlichen Sozialisten, „als unbedingte Ablehnung aller Autorität verstehen wollen. Wer dafür plädiert, sollte aber wissen, daß eine so verstandene Freiheit in einem sehr geringen, vielleicht erschreckend geringem Maße realisierbar ist.“2999 Der Staat ist für freiheitliche Sozialisten angesichts komplexer Gesellschaften – in klarer Negation klassisch liberalen Gedankenguts und in Befürwortung eines positiven Freiheitskonzepts – ein bedeutender „Freiheitsgarant und -produzent“3000. Durch diese Überlegung gelangt Flohr zu der Aussage, dass der durch Friedrich Engels hervorgehobene Konnex von Freiheit und Notwendigkeit aufgrund der Einsicht in die empirisch-analytische Realisierbarkeit noch immer aktuell sei.3001 Die Sozialdemokratische Partei erklärte, wie oben ausführlich dargestellt,3002 seit dem Godesberger Programm von 1959 Freiheit zu einem ihrer politischen Ziele.3003 Im Programmtext hieß es in der Kombination individueller und kollektivistischer Argu- mentation mit sozialistischer Freiheitsrhetorik in Form einer Zukunftsvision: „Die Sozialisten erstreben eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten und als dienendes Glied der Gemeinschaft verantwortlich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Menschheit mitwirken kann.“3004 Freiheit wird seitdem in der Programmatik der Sozialdemokratie neben die Grundwerte Gerechtigkeit und Solidarität gestellt, doch kam es im Laufe der Zeit allmählich zu einer Veränderung im Verhältnis von Staat und Sozialdemokratie, das sich auch auf den Freiheitsbegriff auswirkte.3005 Die Partei rekurrierte nicht mehr auf die Idee der Sozialisierung, sondern suchte – trotz des rhetorischen Bekenntnisses zum freiheitlichen Sozialismus – vermehrt den Anschluss an die demokratisch-liberale Freiheitstradition.3006 Freiheit ist im Orientierungsrahmen ’85, der eine Aktualisierung

2999 Flohr, Überlegungen, 133 f. 3000 Ebd., 136. 3001 Vgl. ebd., 144. 3002 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.12, 372-375. 3003 Vgl. Miller, Problem, 298 f. Miller betont, dass mit dem 1959 verabschiedeten Grundsatzprogramm erstmals die Freiheiten des Einzelnen, wenngleich diese moralisch mit der Gemeinschaft verbunden werden, als Ansatzpunkt Berücksichtigung finden. Außerdem werde die bis zu diesem Zeitpunkt vor- herrschende strukturell-ökonomische Freiheitsinterpretation abgeschwächt. Vgl. auch Rapp, Freiheit, 215-218. 3004 Entwurf für ein Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in: Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hg.), Protokoll, 9-30; hier: 13. Noch im Orientierungsrahmen von 1975 wird auf diese Vorstellung Bezug genommen und die teleologische Ausrichtung näher expliziert: „Die Idee des Sozialismus umfaßt das Ziel einer neuen besseren Gesellschaftsordnung und den Weg dorthin. Die konkrete Gestaltung von Ziel und Weg muß unter gesellschaftlichen Bedingungen, die sich unaufhörlich verändern, stets aufs neue bestimmt werden: ‚Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe’.“ (Oertzen/Ehmke/Ehrenberg [Hgg.], Orientierungsrahmen, 6). 3005 Vgl. Lederer, Freiheit, 191. 3006 Vgl. Sarcinelli, Staatsauffassung, 55 f. 420 der Godesberger Aussagen vornimmt, definiert als „das Freisein von entwürdigenden Abhängigkeiten und die Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit in den Grenzen, die durch die Forderungen der Gerechtigkeit und Solidarität gezogen werden, frei zu entfalten.“3007 Auf dem Mannheimer Parteitag am 14. November 1975 wurde der Orientierungsrahmen für die Jahre 1975 bis 19853008 als das zweite Nachkriegs- grundsatzprogramm der SPD verabschiedet.3009 Es richtet sich explizit gegen die Freiheitsverständnisse des Liberalismus,3010 Konservatismus,3011 Kommunismus,3012 Faschismus3013 und so genannter antiautoritärer Romantiker,3014 die allesamt als Irrtümer klassifiziert werden. Die negative Absetzung gegenüber den fünf antagonis- tischen Freiheitskonzepten ersetzt eine weiter gehende Definition des Freiheitsbegriff Vielmehr unternimmt der sozialdemokratische Programmtext den Versuch, Freiheit in der situativen Praxis zu verorten und angesichts der Erfahrungen mit den totalitären Bewegungen auf den „notwendigen Zusammenhang der drei Grundwerte und ihre Gleichrangigkeit“3015 zu verweisen. Diese praxisorientierte Freiheitsauffassung, die auf einer anthropologisch begründeten Transzendierung kollektiver und individualer Wesensmerkmale beruht, zeigt sich in der Formulierung einer als praktisch gekenn- zeichneten Politik, die die Aufgabe hat, „solche politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen, die jedem die reale Möglichkeit geben, als freie und gleichberechtigte Person an den Gestaltungsaufgaben in allen Bereichen des

3007 Oertzen/Ehmke/Ehrenberg (Hgg.), Orientierungsrahmen, 6. 3008 Vgl. ebd. 3009 Vgl. zur Theoriediskussion in der SPD, die zu diesem Programm führte: Görtemaker, Geschichte, 519-525. 3010 „Es ist der Irrtum des Liberalismus, Freiheit und Gerechtigkeit könnten in einer Gesellschaft krasser Ungleichheit und des Kampfes aller gegen alle ohne eine die ganze Gesellschaft umfassende menschliche Solidarität geschaffen werden.“ (Oertzen/Ehmke/Ehrenberg [Hgg.], Orientierungsrahmen, 7). 3011 „Es ist der Irrtum des Konservatismus, es könne zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Machtlosen, Wissenden und unmündigen wirkliche Solidarität geben und man könne die rechtlich- politische Freiheit für alle bewahren, wenn man die ökonomische, soziale und kulturelle Freiheit einer Minderheit vorbehält.“ (Ebd.). 3012 „Es ist der Irrtum der kommunistischen marxistischen-leninistischen Bewegung, es gäbe Gleichbe- rechtigung ohne Freiheit und man könne Solidarität erzwingen.“ (Ebd.). 3013 „Es ist der Irrtum des Faschismus, man könne eine solidarische Volksgemeinschaft auf der Grundlage prinzipieller Ungleichheit der Menschen und ohne Freiheit der einzelnen errichten.“ (Ebd.). 3014 „Es ist der Irrtum der antiautoritären Romantiker, eine freiheitliche und gerechte Ordnung sei ohne bewußte und verbindliche Anerkennung gesellschaftlicher Pflichten und solidarischer Zusammenge- hörigkeit möglich und nur das notwendige Ergebnis uneingeschränkter individueller Freiheit.“ (Ebd.). Diese Formulierungen sorgte aufgrund der schweren Definierbarkeit der angesprochenen Gruppe für rege Diskussion. 3015 Ebd., 6 f. 421 mitmenschlichen Lebens teilzuhaben.“3016 Es handelt sich um ein situativ bedingtes Freiheitskonzept, das aus sozialem Agieren in der Gemeinschaft entsteht: „Freiheit ereignet sich als tätige Teilnahme an politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen. Freiheit wird gelebte Freiheit im Alltag! Diese Freiheit aber ist nur denkbar und erlebbar in der Gemeinsamkeit mit den Mitmenschen. Sie ist nicht etwas, was der eine vom anderen fordern kann, sondern was alle sich gegen- seitig zugestehen müssen. In diesem Verständnis von Freiheit spiegelt sich wider, was der Mensch ist: unverwechselbare Person und zugleich Mitmensch in sozialer Gemeinschaft. “3017

Dem Gedankenmodell des dritten Weges entsprechend wird der „Demokratische Sozialismus“ von der Grundwertekommission der SPD „jenseits von Individualismus und Kollektivismus“3018 verortet. Für die Sozialdemokratie gehört Freiheit also unabdingbar zu den Grundwerten.3019 Die traditionsreiche ökonomistische Betrachtung der Gesellschaft gibt Anlass zu Kritik an den bestehenden Verhältnissen – indem zugleich auf den Charakter der Freiheit als herrschaftslegitimatorisches Deutungsmuster hingewiesen wird –, da der Verwirklich- ung der Freiheit mit einer in demokratischen Prinzipien organisierten Gesellschaft der Widerstand derer entgegenstehe, „die – auf dem Hintergrund ihres Besitzes, der wiederum Verfügungsmacht und politischen Einfluß sicherstellt, wie auch auf dem Hintergrund ihres sozialen Status, der ihnen gesellschaftliche Bedeutung verschafft – mannigfache Privilegien genießen konnten und noch können. Sie verteidigen ihre traditionellen Vorrechte mit dem Hinweis auf die angebliche Bedrohung ihrer Freiheit. Seit es den Befreiungskampf der vielen gegen die wenigen Herren gibt, führen die Herren ihren Abwehrkampf im Namen der Freiheit, ihrer Freiheit.“3020

Eindeutig ist hiermit die Ambiguität des Freiheitsbegriffes angesprochen, für dessen Klärung zugunsten des freiheitlichen Sozialismus in einem Freiheitskampf, der schon über hundert Jahre andauere, gestritten werden müsse. Die SPD sieht ihre Aufgabe in diesem Freiheitskampf darin, die Menschen aus politischer Bevormundung und un- würdigen gesellschaftlichen Abhängigkeiten zu befreien. Als Verdienste und gleichzeitige Forderungen werden daher der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften folgende Zielvorstellungen zur Realisierung aufgetragen: 1. Mehr Freiheit durch mehr freie Zeit, 2. Mehr Freiheit durch bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, 3. Mehr Freiheit durch mehr soziale Sicherheit, 4. Mehr Freiheit durch mehr Demokratie

3016 Vgl. die „Argumentationshilfe für die Auseinandersetzung mit dem Schlagwort ‚Freiheit oder/statt Sozialismus“: Grundwertekommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Freiheit, 1- 7; hier: 3. 3017 Ebd., 3. 3018 Ebd. 3019 Vgl. Miller, Grundwerte, 16. 3020 Grundwertekommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Freiheit, 3. 422 (Freiheit durch politische Demokratie, Bildungsdemokratie, Wirtschaftsdemokratie und Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche), 5. Mehr Freiheit und Menschen- würde für die Frau.3021 In einem Artikel für die Wochenzeitung des DGB wehrt sich Helmut Schmidt gegen die Vorstellung, „soziale Sicherheit gehe auf Kosten der Freiheit“;3022 vielmehr ist der Bundeskanzler von den gesamtgesellschaftlichen Wirkungen einer positiven Freiheitsauffassung überzeugt: „Soziale Sicherheit schafft Freiheit für die Menschen.“3023 „Von Freiheit verstehen wir mehr“, war die aus der Programmatik eines freiheitlich- demokratisch aufgefassten Sozialismus abgeleitete Losung, mit der die Sozial- demokraten in den Wahlkampf des Jahres 1976 zogen3024 und sich gegen den CDU- Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ positionierten. Die Sozialdemokraten kritisierten, dass die Union mit der geistigen Trennung von Freiheit und Gleichheit operiere, die sozialdemokratische Partei hingegen lasse sich nicht „abbringen von dem Weg zur Freiheitsbewegung“.3025 Empirisches Material lässt die nachhaltige Wirkung der Freiheitsdiskussion plausibel erscheinen. Im Februar 1973 bevorzugten 42 Prozent eines Untersuchungssamples Freiheit vor Gerechtigkeit, im März 1976 waren es bereits 49.3026 Nahezu als gleich erachtet wurde die Leistung der drei im Bundestag vertretenen Parteien bei der Freiheitssicherung des Einzelnen.3027 Die Wähler der Christdemokraten machten, wie Wahlanalysen ausweisen, ihre Wahlentscheidung in höherem Maß davon abhängig, durch ihre Stimmabgabe die persönliche Freiheit gesichert zu wissen.3028 Willy Brandt schöpfte in einer Rede vor der Evangelischen Akademie Tutzing aus den programmatischen Quellen seiner Partei und betonte das kollektivistische Element der Freiheit: „Denn nur aus der Gemeinschaftlichkeit,“ gibt er sich von den sozialen Voraussetzungen individueller Freiheit überzeugt, „kann auch echte Freiheit für die vielen einzelnen erwachsen.“3029 In Anspielung auf die von der CSU als Wahlkamp-

3021 Vgl. ebd., 4-6. 3022 Helmut Schmidt, Freiheit durch soziale Sicherheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 49 vom 30.04. 1976, 461 f.; hier: 461. 3023 Ebd. Ähnlich argumentierte Schmidt auf der Maikundgebung des DGB in München: ders., Freiheit und sozialer Fortschritt, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 52 vom 13.05. 1976, 485-488. 3024 Vgl. die programmatische Äußerung „Von der Freiheit verstehen wir mehr“, in: Politik Nr. 11 vom Juni 1976. 3025 Grundwertekommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Freiheit, 7. 3026 Vgl. Jahrbuch, Bd. 6, 74. 3027 Vgl. ebd., 121. Die Daten wurden im Oktober 1975 erhoben („Die Freiheit des einzelnen sichern – Gut macht das die SPD 38 %; CDU/CSU 40 %; FDP 40 %“). 3028 Vgl. Jahrbuch, Bd. 7, 128. „Ich wollte, daß die persönliche Freiheit aufrechterhalten bleibt, daß der Staat nicht immer mehr reglementiert: CDU/CSU 45 %; SPD 31 %; FDP 37 %“. 3029 Willy Brandt, Rede auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing (07.03. 1976), zit. nach: ders., Ausgabe, Bd. 5, 190-200; hier: 192. 423 fslogan in den Raum gestellte Entscheidung „Freiheit oder Sozialismus“3030 betont Brandt, dass diese „Gespensterformel“ der Demagogie entstamme, weshalb sich der SPD-Vorsitzende mit einer süffisanten Frage an das gegnerische Lager wendet: „Warum sollte die ‚Freiheit’ plötzlich von denen gepachtet sein, die sich historisch eher im Lager der überkommenen Autorität, des obrigkeitshörigen Ordnungsstaates befanden?“3031 Brandt verweist auf die Grundwertediskussion seiner Partei und möchte sich, da er Freiheit als durch die Idee des demokratischen Sozialismus verwirklicht erachtet, keinen Freiheitsbegriff diktieren lassen. Neben dem Parteivorsitzenden äußerte sich auch der sozialdemokratische Bundes- kanzler Helmut Schmidt über das Freiheitsverständnis seiner Partei. Auf Einladung der Katholischen Akademie Hamburg nahm er unter dem Titel Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft Stellung zu Grundwertefragen3032 und betonte am Verfassungstag des Jahres 1976 die Notwendigkeit der Grundwerte, die er definitorisch strikt von den Grundrechten getrennt wissen möchte.3033 Schmidt trägt das Bedenken vor, dass eine Außenlenkung in Form von Zwang und Reglementierung eintritt, wenn „die im einzelnen Menschen vorausgesetzten sittlichen Kräfte zur Regulierung seiner Freiheit fortfallen, wenn die ‚inneren Regulierungskräfte’ der Gesellschaft ausbleiben“.3034 Aufgabe des Staates könne es folglich nur sein, einen staatsfreien Bereich für seine Bürger zu sichern,3035 weswegen um der Aufrechterhaltung der Freiheit willen der Staat Schmidt zufolge ein unabschätzbares Risiko eingeht.3036 In der Diskussion seines Referats betont der Kanzler der sozialliberalen Koalition die Konsequenzen eines situativen Freiheitsbegriffs – der konzeptionell zwischen einem positiven und negativen Verständnis vermittelt –, weil es zur Verwirklichung der frei- heitlichen Grundrechte „der Freiheit für den Menschen, nicht nur der Freiheit von oder vor staatlicher Gewalt, auch der Freiheit von Not, auch der Freiheit von Angst“

3030 Mit dieser Losung zog die CSU in den Wahlkampf 1976. Die christdemokratische Schwesterpartei benutzte die etwas abgeschwächte Variante „Freiheit statt Sozialismus“. Vgl. zum „Wahl-Krampf um ein Wort“ auch die gleichnamige Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Nr. 40 vom 27.09. 1976 (Die neue Freiheit heißt Motorrad), 30-36. Kritisch aus Sicht der Sozialdemokratie: Grundwerte- kommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Freiheit, 1 f.; zum Schlagwort- charakter: Platzdasch, Freiheit. 3031 Willy Brandt, Rede auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing (07.03. 1976), zit. nach: ders., Ausgabe, Bd. 5, 190-200. 3032 Vgl. Helmut Schmidt, Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft (23.05. 1976), zit. nach: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 13-28 (Diskussion mit Franz Böckle, Hans Buchheim und Hans Heigert: 28-51). Zu Schmidts Grundwerteverständnis insgesamt: Rupps, Helmut Schmidt, 172-176. 3033 Ebd., 15-19. 3034 Ebd., 16. 3035 Vgl. ebd., 18. 3036 Vgl. ebd., 20 f. 424 bedürfe.3037 Die Anstrengungen des Staates in die Richtung des sozialen Ausgleichs und der sozialen Sicherheit geschehe, um Freiheit von Not zu geben. Hinter der Idee einer fürsorglichen Zuteilung von Freiheit steckt die sozialistische Überzeugung, dieses Mittel werde in gewisser Weise paternalistisch dazu eingesetzt, um die Menschen „zu befreien zu eigenverantwortlichem Handeln, zur Selbstverwirklichung der Person.“3038 Eine der „kardinalen Aufgaben“ des Sozialstaates ist für Schmidt – um dessen These zu bündeln – darum die Freiheit von materieller Not.3039 erinnert in seinem programmatischen Buch Ende oder Wende3040 mit vergleichbarer Argumentation daran, dass – wie das Godesberger Programm bereits besage – Freiheit und Gerechtigkeit einander bedingten. Freiheit, die nur mit ihrem Komplement Gerechtigkeit betrachtet werden könne, bestehe vorrangig dort, wo es Alternativen und Wahlmöglichkeiten gebe. Epplers Freiheitsverständnis ist zweistufig: „Freiheit von etwas ist das notwendige Vorspiel zur Freiheit zu etwas.“3041 Klassenkämpferischen Freiheitsvorstellungen Lenins oder Trotzkis, die eine Phase der Unfreiheit der Verwirklichung von Freiheit voranstellen, erteilt Eppler – obgleich er beiden nicht abspricht, in ihrer historischen Situation aufrichtig für die Freiheit eingetreten zu sein – eine klare Absage. In Anlehnung an die spannungsgeladene Wertetrias von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sieht Eppler letzteren Wert in der bundesrepublikanischen Gegenwart des Jahres 1976 ins Hintertreffen geraten und gibt damit die Ausrichtung seiner Partei als sozialdemokratische zu erkennen.3042 Die zweite große Volkspartei, die CDU, beteiligte sich mindestens ebenso rege wie die SPD am Freiheitsdiskurs, gleichwie Freiheit auch in der CDU-Programmatik gemeinsam mit Gerechtigkeit und Solidarität eine populäre Position einnahm. Die abweichende Gewichtung der Werte markiert die Position der Union,3043 die bereits auf den Düsseldorfer und Hamburger Parteitagen 1971 beziehungsweise 1973 über grund- sätzliche Aspekte ihres Werteverständnisses beriet. Die genannten, vorbereitenden Beratungen wiesen den Weg zum Grundsatzprogramm von 1978,3044 in dessen Präambel die „Freiheit des einzelnen, der sich der Gemeinschaft verpflichtet weiß“, als

3037 Helmut Schmidt, Diskussion mit Franz Böckle, Hans Buchheim und Hans Heigert (23.05. 1976), zit. nach: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 28-51; hier: 29. 3038 Ebd., 29 f. Buchheim kritisiert diesen Ansatz, da er nicht vom Zustand eines genuin freien Menschen ausgeht, sondern diesen erst zu emanzipieren suche (aaO., 36). 3039 Vgl. ebd., 40. 3040 Vgl. Eppler, Ende, bes. 57-63. 3041 Ebd., 58. 3042 Vgl. ebd., 62 f. 3043 Vgl. Noack, Freiheitsbegriffe, 107. 3044 Vgl. hierzu die Dokumentation: CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hg.), Weg; Bösch, Macht, 37-42. 425 eine exponierte Zielsetzung christdemokratischer Politik benannt ist.3045 Unter der Generalsekretärschaft Kurt Biedenkopfs gab es sogar eine Abteilung beim Partei- vorstand der CDU, die sich mit politischer Semantik und der Ausarbeitung des Freiheitsbegriffes – hierin wird der politische Stellenwert, der dem Deutungsmuster zur Gewinnung von Wählern zugeschrieben wurde, erkenntlich – beschäftigte.3046 Das CDU-Konzept basiert im Wesentlichen auf dem Element der „Freiheit für etwas“ und gebraucht damit ebenfalls ein positives Freiheitsverständnis.3047 Eine nahezu transzendentale Betrachtungsweise des Wertes findet sich im Entwurf der CDU für ein Grundsatzprogramm. Dort heißt es nachdem auf die gegenseitige Bedingtheit von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit3048 hingewiesen worden ist, dass Freiheit, die antikollektivistisch aufgefasst wird,3049 zugleich Gabe und Aufgabe sei: „Ursprung der Freiheit“, verzeichnet das Dokument, „ist weder der Mensch noch die Gesellschaft. Die Freiheit beruht auf einer Wirklichkeit, welche die mensch- liche Welt überschreitet. Wer dies verkennt, ist in Gefahr, sich selbst oder die Gesellschaft absolut zu setzten. Er wird versuchen, seine begrenzte Einsicht durchzusetzen, weil er sie mit der ganzen Wahrheit verwechselt. Dabei kann er Freiheit weder erhalten noch gewähren. Freiheit ist nur möglich, wenn wir die eigenen Grenzen erkennen und jeden Mitmenschen als einmalige und unverfügbare Person achten. Wenn die Welt auch nicht von Menschenhand vollendbar ist, so ist Fortschritt dennoch möglich. Verantwortete Freiheit befähigt uns, Fatalismus zu überwinden und die Lebensumstände nicht als unveränderlich hinzunehmen. Sie gibt uns die Zuversicht, es lohne die Mühe, ständig an der Verbesserung der Verhältnisse zu arbeiten. Verantwortete Freiheit gründet auf der Hoffnung, daß die Wahrheit sich in der Geschichte entfaltet.“3050

Kritik an diesem angeblich überhöhten Freiheitsverständnis wurde besonders aus christlicher Perspektive geäußert, denn bei der programmatischen Abhandlung der Frei- heitsidee – so der deutlichste Kritikpunkt – fehlt eine explizite Erwähnung Gottes.

3045 Berliner Programm. In der Form der zweiten Fassung vom 18. Bundesparteitag, 25.-27.01. 1971, Düsseldorf mit der Ergänzung vom 22. Bundesparteitag, 18.-20.11. 1973, Hamburg, in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 47-87; hier: 47. 3046 Vgl. Grundwertekommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Freiheit, 1. 3047 Laurien, Freiheit, 209. 3048 weist in einem Beitrag im Rheinischen Merkur darauf hin, dass sowohl SPD (bereits seit dem Godesberger Programm mit dem der Begriff des Grundwertes in die Diskussion eingeführt worden sei) als auch CDU Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit zu ihren Grundwerten zählten. Bernhard Vogel, Politik muss die Grundwerte sichern. Grundgesetz und Vertrauenskrise, in: Rheinischer Merkur Nr. 35 vom 02.09. 1977, 10. 3049 Vgl. zur anti-kollektivistischen Ausrichtung des Freiheitsbegriffs im Entwurf folgende Passage: „Der freie Bürger soll wählen und entscheiden, teilnehmen und mitverantworten können. Er darf nicht von bürokratischer Anonymität und technischem Zwang beherrscht sein. Je mehr er sein Leben verantwortlich gestaltet, desto besser ist er davor geschützt, zum bloßen Empfänger zugeteilter Lebensläufe und damit zum Opfer kollektiver Systeme zu werden. Der Mensch ist nicht für die Gesellschaft da, sondern die Gesellschaft für den Menschen. Aufgabe der Politik ist es, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, daß der Mensch sich frei entfalten kann. Zufrieden wird der Mensch nicht, wenn die Gesellschaft ihn bevormundet, sondern wenn er sich in seiner Freiheit bewähren kann.“ (Entwurf für ein Grundsatzprogramm, in: FR vom 01.06. 1976, zit. nach: Neumann [Hg.], Freiheit, 103 f; hier: 104). 3050 Ebd. 426 Darüber hinaus bemängelten Kritiker, dass die im Grundwerteentwurf vertretene Position gegen die Verankerung der Freiheit in der Würde der Person argumentiere, weil sich die soziale Bindung der Freiheit an die Gleichheit verbiete und dies außerdem der Sichtweise des Artikels 2 des Grundgesetzes widerspreche. Die Freiheit des anderen sei erst dann einer Begrenzung zu unterwerfen, wenn sie die Rechte anderer beschränke – und nicht, wie der Entwurf besage, eine genuine Begrenzung der eigenen Freiheit. Friedrich Graf von Westphalen, einer der exponiertesten Vertreter der christlichen Kritik am Freiheitsbegriff der Union, fühlte sich dadurch erschüttert, „daß diese Sicht Grundsatzprogramm der CDU werden soll. Denn sie ist im Denk- ansatz totalitär mißverständlich. Unterstrichen wird dieser Vorwurf noch, wenn man eine weitere Aussage zur Kenntnis nimmt: ‚verantwortete Freiheit gründet auf der Hoffnung, daß die Wahrheit (!) sich in der Geschichte entfaltet.’ Darin offenbart sich eine auf die Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie zielende Ideologie in Reinkultur. Denn wer die ‚Wahrheit’ – wohlgemerkt: ‚in der Ge- schichte’ – zum Zielpunkt personaler Freiheit macht, der pervertiert das christlich, abendländische Menschenbild: Gott als ‚Grund und Sinn des Seins’ (und der Wahrheit) wird so menschlicher Geschichte als angeblicher Ausdruck der ‚Frei- heit’ verfügbar gestellt.“3051

In die parteiinterne Kontroverse griff Bernhard Vogel mit seinen Überlegungen zur Bedingung und Begrenzung der Freiheit ein, in denen er parallel zum Text des Grundsatzprogramms einen von der Gewissensfreiheit ausgehenden Bezug der Freiheit zur Transzendenz herstellt. In den Augen Vogels beruht Freiheit „auf einer Wirk- lichkeit, welche die menschliche Welt überschreitet; Freiheit läßt sich schlüssig nicht innerhalb des Positivismus begründen. Aus dieser Einsicht ergibt sich dann konkret die Forderung an Staat und Politik, Menschsein nicht schrumpfen zu lassen auf Zwecke und Funktionen, vielmehr die Sinnfrage in der konkreten Politik offen zu halten“.3052 , der seit 1973 als Generalsekretär der CDU wesentlichen Anteil an der programmatischen Neuorientierung der Union hatte, sieht Freiheit als Basiswert ebenfalls grundlegend an das christliche Menschenbild gekoppelt, unterscheidet allerdings statt zwischen der herkömmlichen Klassifikation positiver und negativer Freiheit eine aktive und passive Komponente, zu der er die soziale Dimension hinzu- fügt. „Da der Sinn der Freiheit nur insoweit erfüllt ist, als sie als gemeinsame Freiheit

3051 Friedrich Graf von Westphalen, Auf brüchigen Fundamenten. Der Programmentwurf verfehlt das christliche Menschenbild, in: Rheinischer Merkur Nr. 35 vom 02.09. 1977, 4. 3052 Bernhard Vogel, Politik muß die Grundwerte sichern. Grundgesetz und Vertrauenskrise, in: Rheinischer Merkur Nr. 35 vom 02.09. 1977, 10. Mit wörtlicher Übernahme aus dem Entwurf des Grundsatzprogramms. Vogel sieht die Position der CDU zwischen kollektivistischen und individualistischen Sichtweisen, indem er darauf hinweist, dass der Mensch kraft seiner sozialen Natur auf Gemeinschaft angewiesen sei und verkümmere, wenn er sich isoliere oder im Kollektiv verliere. 427 verwirklicht wird, sind alle Freiheitsrechte sozialpflichtig“,3053 ist Biedenkopf letztendlich von einem positiven Freiheitsbegriff überzeugt, denn die CDU wolle – und dies klingt sehr angenähert an sozialdemokratische Positionen – die gleiche Freiheit aller verwirklichen.3054 Eine Traditionslinie im Freiheitsdiskurs während der deutschen Teilung bildet der Anspruch, in der Bundesrepublik eine „freiheitliche Alternative zum Sozialismus“3055 zu sehen, was in anderem Zusammenhang anhand der Rhetorik um die exponierte Lage Berlins exemplarisch aufgezeigt werden konnte.3056 Diese antagonistische Sichtweise vertrat insbesondere die CDU.3057 Kurt Biedenkopf konstatiert in seinem Rechenschaftsbericht auf dem Parteitag 1976 eine schleichende Bedrohung der Freiheit,3058 insofern die schrittweise vorgenommene Einschränkung der persönlichen Freiheit für die scheinbare Gegenleistung größerer Sicherheit dazu führen könne, dass eine freiheitliche Gesellschaft eines Tages ihre Kraft verloren habe, sich diesem Erosionsprozess zu widersetzen. Biedenkopf verwahrt sich gegenüber Kritikern, indem er auf die unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, damit auf das semantische Potenzial des Freiheitsbegriffs verweist und selbstverständlich den Anspruch erhebt, seine Partei vertrete das einzig wahre Begriffsverständnis: „Natürlich muß für denjenigen, ‚Freiheit statt Sozialismus’ oder ‚Freiheit oder Sozialismus’ eine Lügenalternative sein, der zunächst den Begriff Freiheit so uminterpretiert, daß er mit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung vereinbar ist, vereinbar im Sinn der Einbringung eines neuen Bewußtseins in diesen Begriff, eines Bewußtseins, das festgelegt ist auf eine bestimmte Philosophie, auf eine bestimmte Weltanschauung, die für sich das Prädikat der objektiven Richtigkeit in Anspruch nimmt und deshalb jede andersartige Meinung nicht als Äußerung von Freiheit, sondern als geistige Verirrung abtut.“3059

Mit der geschichtlichen Erfahrung der Nachkriegszeit, reflektiert Biedenkopf den demokratischen Konsolidierungsprozess der Bundesrepublik, entwickelte sich das Frei- heitsbewusstsein zur existenziellen Glückserfahrung, die die Kostbarkeit des Wertes im Systemvergleich nochmals steigert. „Das deutsche Volk hatte“, legt der CDU-Generalsekretär in seinem Bericht zur Rechenschaft, „trotz allen Elends des Zusammenbruchs, der Vernichtung, der Vertreibung und des Zurückgeworfenwerdens auf nur einen Teil Deutschlands – historisch gesehen – im freien Teil Deutschlands das Glück, aus dieser Zerstörung

3053 Biedenkopf, Freiheit, 29. 3054 Vgl. ebd., 29. 3055 Kurt Biedenkopf, Rede vor dem Bundesparteitag in Hannover 1976, in: FR vom 04.06. 1976, zit. nach: Neumann (Hg.), Freiheit, 109-111; hier: 109. 3056 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.4. 3057 Biedenkopf spricht mehrfach von der Rolle der CDU als Anwalt der Freiheit. 3058 Vgl. zu Biedenkopfs Freiheitsverständnis: ders., Fortschritt, 155-159. 3059 Kurt Biedenkopf, Rede vor dem Bundesparteitag in Hannover 1976, in: FR vom 04.06. 1976, zit. nach: Neumann (Hg.), Freiheit, 109-111; hier: 110. 428 eine neue Ordnung, die von Frauen und Männern gestaltet wurde, die aus der Verantwortung und aus der Erfahrung der Vergangenheit gelernt hatten, eine Ordnung, die deshalb fest verankert war in dem Bewußtsein von der Kostbarkeit der Freiheit.“3060

Helmut Kohl, ein wichtiger Akteur im Freiheitsdiskurs, der die Konturierung des Deutungsmusters ebenso wie seine Verankerung im kollektiven Gedächtnis weiter vorantreiben wollte, sah im Grundgesetz „die Verfassung der Freiheit.“3061 In einem Vortrag vor der Katholischen Akademie Hamburg benannte er am 13. Juni 1976 „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ als „Grundlagen und Auftrag“ seines politischen Handelns3062 und betonte, „Politik aus dem ‚C’ heraus“ gestalten zu wollen.3063 Zugleich wandte er sich, vor dem Hintergrund der Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen, die die CDU als Grundlage der freiheitlichen Ordnung anerkannte, abwehrend gegen „die Gefahren eines schrankenlosen Liberalismus oder die Schrecken einer Diktatur“.3064 Von diesem Standpunkt aus kündigt Kohl „den entschlossenen Kampf gegen Ideologien mit Totalitäts- oder Perfektionsanspruch“ an,3065 so dass er entgegen der Forderung nach mehr Gleichheit – die in historischer Perspektive sicherlich, wie der CDU-Politiker anmerkt, berechtigt gewesen sei – dieser Idee den unbedingten Geltungsanspruch für die Gegenwart abspricht, da sie „heute nur allzu oft ihr freiheitsfeindliches Gesicht“ zeige3066 und den Menschen um sein Recht auf Indivi- dualität bringe.3067 In der Diskussion seines Vortrags bekennt sich Kohl zu einer evolutionären Weiterentwicklung der Werte und lehnt aus konservativer Überzeugung heraus jeden revolutionären Ansatz ab – anders noch: er sieht ein Problem für die Freiheit heraufkommen, sofern sich die Wertrangfolge zugunsten der Gleichheit ändern sollte.3068 Kohl verortet den Freiheitsbegriff der CDU im Kontinuum von Individuum und Gemeinschaft in einer auf der Menschenwürde gegründeten, an die Ideen des Perso- nalismus anknüpfenden Mittelposition: „Für die CDU ist Freiheit weder eine kollektive noch eine individualistische Kategorie: Wir verstehen Freiheit weder als eine

3060 Ebd., 110 f. 3061 Helmut Kohl, Das Grundgesetz – Verfassung der Freiheit (Rede in der Frankfurter Paulskirche) (23.05. 1974), in: ders., Kurs, 68-77. 3062 Helmut Kohl, Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit. Grundlagen und Auftrag unserer Politik (13.06. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 52-64 (Diskussion mit Kurt Becker, Kurt Sontheimer, Hermann Wallraff: 65-87). 3063 Ebd., 52. 3064 Ebd., 54. 3065 Ebd., 60. 3066 Ebd., 63. 3067 Vgl. für diesen Topos konservativen Denkens: Grebing, Positionen, 299-301. 3068 Vgl. Helmut Kohl, Diskussion mit Kurt Becker, Kurt Sontheimer, Hermann Wallraff (13.06. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 65-87; hier: 76. 429 gesellschaftliche Leistung noch als Ausdruck individualistischer Emanzipation. Für uns gründet Freiheit in der Würde des Menschen als Person, in seinem Recht, sein Leben nach seinem Entwurf zu leben.“3069 Auch in die Formulierungen der Parteiprogrammatik fanden diese Positionen innerhalb der Grundwertediskussion ihren Eingang. Die Mannheimer Erklärung fixiert folgende Formulierung: „Die Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bedin- gen und begrenzen einander. Politisches Handeln, das der Würde des Menschen verpflichtet ist, muß stets an allen Grundwerten gemessen werden.“3070 Aus der Mannheimer Erklärung ging das Grundsatzprogramm der CDU hervor, das 1978 auf dem 26. Bundesparteitag in Ludwigshafen verabschiedet wurde,3071 und den auf die Wertediskussion referierenden Titel Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit trägt.3072 Auf der Basis des Menschenbildes, das davon ausgeht, dass der Mensch frei ist, wird der Wert der Freiheit in sieben Punkten nähergehend expliziert,3073 wobei die Gemein- schaftsbindung der Freiheit besonders hervorgehoben ist. Fernerhin differenziert das Grundsatzprogramm zwischen Abhängigkeit und Bindung und führt aus, dass es Bindungen gibt, „in denen Freiheit sich erst entfaltet.“3074 Die Grundwerte dienen nicht nur einer Parteiprogrammatik, sondern sind vielmehr als universelle Orientierungs- maßstäbe für Mensch und Gemeinwesen gedacht,3075 auch weil das Verhältnis der Werte zueinander nicht fixiert sei, sondern ständig neu austariert werden müsse. Hanna- Renate Laurien betont in einem Aufsatz, der den Freiheitsbegriff ihrer Partei darlegt, dass „ohne Bindungsbereitschaft und Bindungsfähigkeit, ohne Wertorientierung [...] aus der freiheitlichen Pluralität nur noch Beliebigkeit“ werde und Freiheit in konzentrierten Egoismus umschlage.3076 Die CDU konnte mit ihrer Freiheitsauffassung an lange anhaltende Denkgewohnheiten (um nur einige Komponenten des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ zu nennen: an die Komplementaritätsthese; an die antithetische Abgrenzung gegenüber andersartigen, nicht dem nationalen Habitus entsprechenden Vorstellungen; an die personalistische Vermittlung zwischen Kollektiv und Individuum oder an die Furcht vor einer unorganisierten Beliebigkeit) anknüpfen.

3069 Helmut Kohl, Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit. Grundlagen und Auftrag unserer Politik (13.06. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 52-64; hier: 56. 3070 Unsere Politik für Deutschland – Mannheimer Erklärung – 23. Bundesparteitag, 23.-25. Juni 1975, Mannheim, in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 89-120. 3071 Vgl. zur linguistischen Interpretation des Programms: Hermanns, Leistung. 3072 Grundsatzprogramm „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit“. 26. Bundesparteitag, 23.-25. Oktober 1978, Ludwigshafen, in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 123-167. 3073 Vgl. ebd., 125 f. 3074 Ebd., 125. 3075 Vgl. ebd., 129. 3076 Laurien, Freiheit, 209. 430 Franz Josef Strauß beteiligte sich als Vorsitzender der bayrischen Schwesterpartei CSU ebenfalls an der Auseinandersetzung um die Grundwerte.3077 Auch er betont, dass es seiner Ansicht nach keine bindungslose Freiheit geben kann, da für ihn Freiheit, wie er in einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) versichert, „in erster Linie ein personales und nicht ein kollektives Ereignis – wie uns der linke und der rechte Kollektivismus weismachen wollen“ – sei.3078 Mit seinen Aussagen beruft er sich auf das christlich-humanistische Traditionsreservoir und knüpft ebenfalls an die Vor- stellungen des Personalismus, der zwischen Individualismus und Kollektivismus ange- siedelt ist, an. Auch der ideell und personell eng mit der Union verbundene Ring Christlich- Demokratischer Studenten (RCDS) vollzog die Diskussion um die Werte Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die von den Parteien angestoßen wurde, nach.3079 Die Präambel des 1976 verabschiedeten Plädoyer[s] für eine offene und solidarische Gesellschaft nimmt in seiner Präambel auch auf das Freiheitsverständnis der Studentenvereinigung Bezug.3080 Vor dem Hintergrund der Industriegesellschaft sei die Freiheit zahlreichen Einschränkungen ausgesetzt, ist die Ausgangslage markiert, wes- halb nur in speziellen gesellschaftlichen Konkretisierungen die Frage gelöst werden könne, in welchem Umfang Freiheitsräume Einzelner eingeschränkt werden müssten und dürften, um sie für eine größere Zahl von Menschen zu gewährleisten. „Selbstver- wirklichung setzt Freiheit voraus“, ist die Botschaft, die vom RCDS in seinen Überlegungen über den Menschen als Individual- und Sozialwesen ausgegeben wird,3081 was darauf verweist, dass auch die christlich-demokratische Studentenschaft einen Mittelweg verfolgt: „Der Mensch strebt nach individueller Selbstverwirklichung ist aber auch auf die Gemeinschaft angewiesen. Er findet jedoch seine Identität nicht allein in der Gesellschaft. Der RCDS lehnt übersteigerten Individualismus ebenso ab wie sozialistischen Kollektivismus.“3082 Bundesinnenminister Werner Maihofer von der FDP schaltete sich – um die Positionen der im Parlament vertretenen Parteien nach den Ausführungen zum Freiheitsverständnis von SPD und CDU/CSU zu komplettieren – in die Grundwerte- debatte ein, indem er sich in einem Vortrag vor der Katholischen Akademie in Hamburg

3077 Vgl. für einen kurzen biographischen Abriss zu Strauß: Siebenmorgen, Franz Josef Strauß. 3078 Franz Josef Strauß, Angriff auf Eigentum und Familie ungebrochen. KNA-Interview (16.09. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 232-234; hier: 233. 3079 Vgl. zur Einbindung der Sonderorganisation RCDS in die CDU: Kleinmann, Geschichte, 477 f. 3080 Vgl. zum RCDS: Weberling, Freiheit. 3081 Plädoyer für eine offene und solidarische Gesellschaft, in: Weberling, Freiheit, 281-283; hier: 282. 3082 Ebd. 431 mit den Wertaussagen der beiden großen Volksparteien auseinander setzte. Er fasst die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen SPD, Union und seiner Partei aus liberaler Sicht3083 pointiert in einer Wertehierarchie zusammen.3084 Maihofer, der sich in seiner Amtsführung selbst als „Freiheitsminister“ verstand,3085 soll daher in einem längeren Zitat zu Wort kommen, das Konsens und Differenz „der liberalen, der sozialen wie der christlichen Demokraten über dieselben obersten Grundwerte“ verdeutlicht.3086 Der Minister geht in seiner „Relativitätstheorie der Grundwerte“3087 – in etwas abgewandelter Form – von den Werten der Liberalität, Egalität und Solidarität, die der französischen Revolution entstammen, aus und sieht in der Durchsetzung der Grundwerte „für alle Bürger des demokratischen Staates und Glieder der pluralistischen Gesellschaft“ die Aufgabe der „geistigen Nachfolger der demokratischen Revolution“,3088 die indes noch immer andauere. Maihofer rekapituliert die partei- programmatischen Standpunkte zum Wert der Freiheit unter Bezug auf wesentliche Dokumente äußerst differenziert und konfrontiert sie mit der programmatischen Sicht seiner Partei, wobei er Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervorhebt: „Zu Recht erklärt es darum der ‚Orientierungsrahmen’ der SPD für den ‚Irrtum des Konservatismus’, man könne die politische Freiheit in Recht und Staat bewahren, ‚wenn man die ökonomische, soziale und kulturelle Freiheit einer Minderheit vor- behält’. Und zutreffend erklärt es auch für den ‚Irrtum des Liberalismus’, allerdings nicht des heutigen, sondern eines gestrigen: ‚Freiheit und Gerechtigkeit könnten in einer Gesellschaft krasser Ungleichheit und des Kampfes aller gegen alle ohne eine die ganze Gesellschaft umfassende menschliche Solidarität geschaffen und bewahrt werden.’ Hierin stimmen soziale und wohl auch aus der christlichen Soziallehre her- kommende christliche Demokraten mit liberalen Demokraten von heute seit Friedrich Naumann grundsätzlich überein. Für sie alle gilt, daß die drei Grundwerte in einem ‚notwendigen Zusammenhang’ zueinander stehen, wie es im ‚Orientierungsrahmen’ der sozialen Demokraten heißt. Daß sie einander also ‚bedingen und begrenzen’ und deshalb ‚Politisches Handeln, das der Würde des Menschen verpflichtet ist, stets an allen Grundwerten gemessen werden muß’, wie die ‚Mannheimer Erklärung’ der christlichen Demokraten sagt. Weshalb keiner der Grundwerte ‚ohne die anderen seinen Sinn erfüllt’, wie es jetzt im ‚Grundsatz- programm’ der CDU von 1976 heißt. Bei aller Übereinstimmung bis hierhin, scheiden sich doch nach beiden Seiten hin die Geister bei der Frage, wie denn nun das Rangverhältnis und die Vorrang- stellung der drei Grundwerte aus der jeweiligen politischen Perspektive der sozialen, der christlichen und der liberalen Demokraten begriffen wird.

3083 Vgl. für einen weiteren Versuch: Schiller, Freiheit. 3084 Vgl. Werner Maihofer, Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft (20.06. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 88-102. 3085 Werner Maihofer, Diskussion mit Josef Isensee, Walter Kerber und Bern Nellessen (20.06. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 102-129; hier: 108. 3086 Werner Maihofer, Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft (20.06. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 88-102: hier: 89. 3087 Ebd., 91. 3088 Ebd., 90. 432 Hierzu lautet die Antwort im ‚Orientierungsrahmen’ der SPD: ‚Gleich- rangigkeit’ der drei Grundwerte, was jeden Vorrang eines der drei Werte, jede Priorität also im Konflikt ausschließt. Hierzu lautet die nicht minder erstaunliche Antwort in der ‚Mannheimer Erklärung’ der CDU: Dieses Verhältnis der Grund- werte ist ‚stetigem Wandel unterworfen. Neue Bedingungen und Notwendigkeiten führen zu veränderten Prioritäten und Dringlichkeiten in der Verwirklichung der Grundrechte’ (müßte wohl Grundwerte heißen). Das heißt in der politischen Perspektive eines solchen Wertrelativismus nicht weniger und nicht mehr, als daß der Vorrang zwischen diesen Grundwerten je nach geschichtlicher Lage bald bei der Freiheit, bald bei der Gerechtigkeit, bald bei der Solidarität liegen könnte, wozu dann zur Begründung auf ‚Zeiten der Krise’, also auf einen Ausnahme- zustand verwiesen wird, der, so wird gesagt, ‚ein anderes Gleichgewicht von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität’ erfordere, als ‚Zeiten anhaltender unge- störter Entwicklung.’“3089

Die These von der Relativität der Werte, die die CDU vertritt, schätzt Maihofer aus liberaler Sicht noch gefährlicher ein als das von der SPD propagierte Primat von Gerechtigkeit oder Solidarität. Aus dieser Einsicht in die unterschiedliche Hierarchi- sierung der Wertetrias leitet er Konsequenzen für die Positionierung seiner eigenen Partei ab: „Dieser Behauptung der ständigen Gleichrangigkeit der Grundwerte in der Sicht sozialer Demokraten wie der Behauptung der wechselnden Verschiedenrangigkeit dieser Grundwerte in der Sicht christlicher Demokraten stellen wir liberalen Demo- kraten eine Auffassung entgegen, die diese Grundwerte nicht als ein Neben- einander in jeder politischen Situation gleich oder je nach politischer Situation in ihrem Vorrang wechselnder Handlungsziel begreift, sondern als Gesamtzusammen- hang unter dem alles umgreifenden Vorrang der Freiheit nach dem obersten liberalen Prinzip: Im Zweifel für die Freiheit!“3090

Zur Austragung der Zielkonflikte und der Durchsetzung der richtigen Prioritäten im Konfliktfall ist Maihofer zufolge – damit erweist er sich als Vertreter einer positiven Begriffsperzeption – ein starker Staat nötig.3091 Befragt zu der „Gretchenfrage nach der Freiheit“ gibt er in der Diskussion seines Vortrages zu bedenken: „Wir haben in der Tat heute [...] ein anderes Freiheitsverständnis als unsere Altväter“, weshalb er sich als „moderner Liberaler“ gegen eine formale Interpretation des Wertes wenden müsse.3092 Der Innenminister äußert in Anlehnung an die Klassifizierung der Freiheit in ein positives und ein negatives Begriffsverständnis, seine Partei glaube, „daß diese Freiheit, um die alten Kategorien einmal aufzunehmen, nicht nur eine Frage ist, Freiheit wovon – nämlich von Abhängigkeit, von Verknechtung, von Ausbeutung, was auch immer –,

3089 Ebd., 90 f. 3090 Ebd., 92. Vgl. zum Wortlaut der von Maihofer genannten Programme für die SPD: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente; für die CDU: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme. 3091 Vgl. Werner Maihofer, Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft, aaO., 97. 3092 Werner Maihofer, Diskussion mit Josef Isensee, Walter Kerber und Bern Nellessen (20.06. 1976), in: Gorschenek (Hg.), Grundwerte, 102-129; hier: 104. 433 sondern auch immer etwas ist, das mit Freiheit wozu umschrieben werden kann“.3093 Die FDP vertritt hiermit, um die Charakteristik des freidemokratischen Begriffs- verständnisses Mitte der 70er-Jahre zu pointieren, sowohl eine negative als auch eine positive Freiheitsauffassung und weicht damit bewusst vom klassischen Liberalismus ab. Auch die Liberalen nahmen genauso wie Union und Sozialdemokratie – wodurch ein weiterer Beweis für das nahezu unbegrenzte, stets qualitativ positiv besetzte semantische Potenzial des Deutungsmusters „Freiheit“ gegeben ist – für sich in Anspruch, die „Partei der Freiheit“ zu sein. Die FDP ging mit dem Slogan „Freiheit – Fortschritt – Leistung“3094 und der von Maihofer in seinem Vortrag erwähnten Losung „Im Zweifel für die Freiheit“3095 in den Wahlkampf.3096 Die Fixierung des Bundestagswahlkampfes 1976 auf den Begriff der Freiheit drängte sachpolitische Debatten in den Hintergrund, was sich in einem bisher ungekannten Mitteleinsatz für Wahlwerbematerialien niederschlug.3097 Der Spiegel erheiterte sich in einer Titel-Geschichte über den „Wahl-Krampf um ein Wort“.3098 Obgleich den Wahlbürgern „vor all dem Freiheitsgetöse“ der Kopf brumme, sähen sich dennoch – wird der Überdruss an semantischen Deutungsangeboten des Freiheitsbegriffs artikuliert – alle „neudeutschen Freiheitskämpfer [...] unversehens dazu gezwungen, Erläuterungen darüber abzugeben, was sie unter Freiheit verstehen.“3099 Die wahlkampftaktisch ge- prägte ideologische Auseinandersetzung um den Wert der Freiheit konnte, was ein Manko des aus distinktionsstrategischen Gründen inszenierten Diskurses gewesen ist, nicht in eine nachhaltige gesamtgesellschaftliche Wertediskussion überführt werden. Sie verebbte nach der Bestätigung der sozialliberalen Regierungskoalition durch das Elektorat,3100 da Freiheit von der durch die semantischen Spitzfindigkeiten der Parteien überstrapazierten Öffentlichkeit als inhaltsentleerter Begriff wahrgenommen wurde, und sich insofern seine Verwendung als Deutungsmuster gegen die von allen Partein intendierte Sache, die demokratische Gestaltung der freiheitlichen Grundordnung, richtete.3101

3093 Ebd. 3094 Noack, Freiheitsbegriffe, 92. 3095 Die neue Freiheit heißt Motorrad, in: Der Spiegel Nr. 40 vom 27.09. 1976, 30. 3096 Vgl. zur FDP-Kampagne 1976: 142-154. 3097 Vgl. zu den Wahlkampfbudgets der beiden Volksparteien: Hetterich, Adenauer, 234-236. 3098 Wahl-Krampf um ein Wort, in: Der Spiegel Nr. 40 vom 27.09. 1976, 30-36 (Die neue Freiheit heißt Motorrad). 3099 Die neue Freiheit heißt Motorrad, in: Der Spiegel Nr. 40 vom 27.09. 1976, 31. 3100 Vgl. das endgültige Wahlergebnis in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 112 vom 22.10. 1976, 1099-1102. 3101 Vgl. Wickert, Freiheit, 78-81. 434 4.5.21 Die Bedrohung der freiheitlich demokratichen Grundordnung durch den Terrorismus – „furchtbare Grimasse der Freiheit“

Die Bedrohung der Freiheit durch Gewalt ist Mitte der 70er-Jahre wesentlicher Auslöser, um erneut über die Bedeutung von Freiheit für die bundesrepublikanische Gesellschaftsordnung zu reflektieren. Die durch terroristische Attacken geförderten Auseinandersetzung mit der vom Grundgesetz an drei Stellen3102 erwähnten „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ ist aus diesem Anlass sehr häufig mit dem Nachdenken über deren antitotalitären Impetus verbunden,3103 da in entgegengesetzter Perspektiv- ierung die Befürchtung bestand, der Terror könne Auftakt zu totalitären Strukturver- änderungen sein. Für Gerhard Leibholz, der sich mit seinen Aussagen in dem genannten Kontext befindet, liegt es in der Logik eines totalen Staates, dass er die Grundlagen der liberalen Demokratie beseitigt: „In einem totalen Staat“, führt er aus, „kann es schon rein begrifflich Rechte des Individuums auf Leben und Freiheit nicht geben. Der einzelne muß seine Selb- ständigkeit und Eigenberechtigung verlieren und zwangsläufig zu einem Werk- zeug, einem Instrument der staatlichen Führung, zu einem Rade in einer großen Maschine werden. [...] Auch in einer liberalen Demokratie ist Freiheit nicht identisch mit Bindungslosigkeit, wie das ein substanzloser Relativismus und Nihilismus wahrhaben will, der mit der Hilfe einer mißverstandenen Freiheit erst die Freiheit selbst – und damit die ‚freiheitlich demokratische Grundordnung’ – ad absurdum führen und dann vernichten zu können glaubt. Freiheit ist auch im Bereiche des Politischen nicht identisch mit Willkür oder Belieben. Auch innerhalb der liberalen Demokratie setzt Freiheit Bindung voraus, nämlich die Bindung an ihre existenziellen Grundlagen, die diese erst politisch funktionsfähig macht.“3104

Den Bundestag beschäftigten in einer Sitzung vom 15. November 1974 ähnliche Fragestellungen. Werner Maihofer forderte zu einer „sorgfältigen Abwägung zwischen größtmöglicher Freiheit des Bürgers zur Selbstentfaltung und der zum Schutze eben dieser freiheitlichen Ordnung notwendigen Sicherung“ auf.3105 Dass der Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit die Gemüter bewegte, wird auch am großen öffentlichen Interesse deutlich, das am sicherheitspolitischen Forum der CDU in Kiel über 1.200 Personen teilnehmen ließ.3106 Sicherheit und Freiheit, so Helmut Kohl in seiner Eröffnungsansprache, die die Einstellung der Bevölkerung Mitte bis Ende der 70er-

3102 Dies ist Art. 18 GG über die Verwirkung der Grundrechte; Art. 21 über die Verfassungswidrigkeit von Parteien und Art. 91 über die Abwehr drohender Gefahren in einem Staatsnotstand. 3103 Vgl. z.B. Wickert, Freiheit, 35-41. 3104 Gerhard Leibholz, Freiheitlich demokratische Grundordnung und das Bonner Grundgesetz, in: Denninger (Hg.) Grundordnung, Erster Teil, 82-94; hier 91. 3105 So der FDP-Abgeordnete Werner Maihofer, in der Debatte vom 15.11. 1974, die sich mit der Änderung des Beamtenrechtsrahmengesetzes, des deutschen Richtergesetzes und des Gesetzes über die Rechtsstellung der Soldaten sowie mit der Änderung dienstrechtlicher Vorschriften befasste, zit. nach: Denninger, Grundordnung, Zweiter Teil, 567. 3106 Vgl. Geissler (Hg.), Sicherheit. 435 Jahre reflektiert, seien wie Diskussionserfahrungen und Umfrageergebnisse dies belegten, „zentrale Pole des Willens, ja der Sehnsucht der Bürger unseres Landes.“3107 Walter Scheel, der vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 15. Mai 1974,3108 Bundesvorsitzender der FDP sowie Außenminister und stellvertretender Bundeskanzler im Kabinett Brandt war,3109 zeigte wie alle Bundespräsidenten eine besondere Wertschätzung gegenüber dem Wert der Freiheit.3110 Mit diesem Bemühen setzt Scheel einen bewussten Kontrapunkt, der sich gegen die von der französischen Philosophin Jeanne Hersch konstatierte „Unfähigkeit Freiheit zu ertragen“ wendet und das zunehmende Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung antizipiert.3111 Alexander Schwan beklagt eine ähnliche Zeittendenz, den Wert der Freiheit abzuschwächen, indem er feststellt, dass Freiheit im Gegensatz zu der Nachkriegszeit nicht mehr als Gegenpol zu Frieden gesehen wird, sondern beide Werte sich in der öffentlichen Wahrnehmung gegenseitig bedingen.3112 Anhand der Titel der für eine breitere Leserschaft konzipierten Redensammlungen des Bundespräsidenten lässt sich Scheels freiheitliches Anliegen nachvollziehen. So erschien etwa zur Hälfte seiner Amtszeit ein Werk mit dem Titel Vom Recht des Anderen. Gedanken zur Freiheit,3113 das mit dem vorangestellten Satz auf ein über einen reinen Individualismus hinausgehendes Freiheitsverständnis hindeutet. Der Verlag macht im Vorwort der Publikation darauf aufmerksam, dass in den abgedruckten Reden des unorthodoxen Scheel die geistigen Grundlagen seiner Politik anzutreffen seien.3114 In etlichen Ansprachen wirkte der Amtsnachfolger Gustav Heinemanns darauf hin, dass sich die Bundesbürger in ihrer Gesamtheit „stärker als in den vergangenen Jahren als freiheitlichen Staat begreifen und betätigen.“3115 Die Freiheit des Einzelnen sieht er nur in der Gemeinschaft des demokratischen Rechtstaates umsetzbar, da sowohl die Freiheit des Einzelnen als auch die Ansprüche der Gruppen im Interesse der Gemeinschaft ihre Grenzen finden müssten.3116 Im Ausland war Scheel bereits in seiner

3107 Helmut Kohl, Sicherheit für unsere Freiheit, in: Geissler (Hg.), Sicherheit, 13 f. 3108 Vgl. zur 6. Bundesversammlung: Deutscher Bundestag (Hg.), Bundesversammlungen, 206-227. 3109 Vgl. zu Scheels Weg in die Villa Hammerschmidt: Scholz/Süskind, Bundespräsidenten, 251-289. 3110 Vgl. hierfür eine Auswahl an Veröffentlichungstiteln, bei denen es sich zumeist um Reden- oder Aufsatzsammlungen handelt: „Vom Recht des Andern. Gedanken zur Freiheit“; „Die Zukunft der Freiheit“ (Scheel, Recht; ders. Zukunft); „Vom Geist der Freiheit“; „Zusammenleben in Freiheit“ (Carstens, Geist; ders., Zusammenleben); Weizsäcker „In der Freiheit bestehen“ (Weizsäcker, Freiheit). 3111 Hersch, Freiheit. 3112 Vgl. Schwan, Wahrheit, 276-285. 3113 Scheel, Recht. 3114 Vgl. ebd., 7-10; hier: 8 3115 Einladung zur Besinnung [Weihnachtsansprache 1974], in: Scheel, Reden, Bd. 1, 134-139, hier: 139. 3116 Vgl. Freiheit ist materielle Opfer Wert [Rede zur Eröffnung der 46. IAA (11. 09. 1975)], in Scheel, Reden, Bd. 2, 33-43; hier: 37 f. 436 Amtszeit als Außenminister zum „Mr. Bundesrepublik“ erklärt worden.3117 Nun, in seinem neuen Amt, ging es ihm um die unumstößliche Verankerung eines demo- kratischen Geschichtsbilds im kollektiven Gedächtnis auf der Basis der Idee der Freiheit,3118 wie er es am 22. September 1976 vor dem Historikertag formulierte.3119 In diesem Rahmen erinnerte er daran, dass es der Jugend nur dann gelingen werde, „den Sinn dieses freiheitlichen deutschen Staates“ zu verstehen, „wenn sie die deutsche Geschichte kennt.“3120 Die „Zukunft der Freiheit“ lag dem Liberalen besonders am Herzen,3121 da er sie in Zeiten terroristischer Bedrohung durch Feinde der Zivilisation angegriffen sah.3122 Zu den Terroristen, denen er eine bewusst missbräuchliche Verwendung des Freiheitsbegriffs vorwirft, befindet er mit einem Hinweis auf die semantische Ambivalenz des damit verbundenen Deutungsmusters: „Sie haben alle Werte einer 2000jährigen Kultur auf den Müll gekippt. Sie sind frei von ihnen. Aber was für eine furchtbare Grimasse der Freiheit schaut uns da an? Das ist die Freiheit der Bosheit, die Freiheit der Zerstörung.“3123 Als Aufforderung, dem „furchtbar verzerrten Gesicht der Freiheit, mit dem uns der Terrorismus anstarrt“ zu begegnen, stellt Scheel die selbstreflexive Aufgabe, „unser Bild der Freiheit vor Entstellung zu bewahren. Uns schaudert vor dem Gesicht des Terrorismus. Aber wir sollten öfter in den Spiegel sehen.“3124 Die „Kunst der Freiheit“, so Scheel in einer Rede an dem für die Freiheits- bewegung historisch und symbolisch bedeutsamen Ort der Paulskirche, müsse beständig neu erlernt werden, woraus er die Folgerung ableitet, es sei ein Irrtum zu glauben, weil die Verfassung Freiheit zugestehe, wäre bereits der richtige Umgang mit ihr vorhanden.3125 Die daraus hervorgehende Gefahr, dass den jungen Menschen der Wert

3117 Hamm-Brücher, Symbolfiguren, 435. 3118 Vgl. zu Scheels Demokratieauffassung anhand seiner präsidialen Reden: Rensing, Geschichte, 184- 187. 3119 Der Titel der Ansprache lautete „Das demokratische Geschichtsbild“, in: Scheel, Recht, 11-26. 3120 „Das demokratische Geschichtsbild“, zit. nach: Scheel, Recht, 25 f. 3121 So der Titel der populären Redensammlung für die zweite Hälfte seiner Amtszeit (Scheel, Zukunft). Vgl. auch Scheels Vermächtnis an seinen Amtsnachfolger Karl Carstens: Die Zukunft in Freiheit gewinnen (Ansprache anläßlich der Vereidigung von Bundespräsident Carstens [1. Juli 1979]), in: Scheel, Reden, Bd. 5, 341-351. 3122 Vgl. Wir bitten um Vergebung. Ansprache beim Staatsakt für Dr. Hanns Martin Schleyer in Stuttgart am 25. Oktober 1977, in: Scheel, Zukunft, 13-25; auch in: Scheel, Reden, Bd. 4, 100-111. So fasst der Verlag Scheels Freiheitsauffassung im Angesicht des Terrorismus im Vorwort der 1979 erschienenen Redensammlung zusammen: „Die Freiheit wird zunächst durch den gedankenlosen Umgang mit der Freiheit bedroht. Walter Scheel erkennt im Terrorismus die furchtbare Grimasse der Freiheit, die keine Grenze des Gewissens mehr kennt und so notwendig sich selbst und die Freiheit anderer zerstören muß.“ (Scheel, Zukunft, 7). Vgl. auch: Winter, Bundespräsidenten, 132 f.; Ferdinand (Hg.), Reden, 423. 3123 Wir bitten um Vergebung. Ansprache beim Staatsakt für Dr. Hanns Martin Schleyer in Stuttgart am 25. Oktober 1977, in: Scheel, Zukunft, 17. 3124 Ebd., 25. 3125 Vgl. Die Freiheit der Kunst und die Kunst der Freiheit. Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes in der Frankfurter Paulskirche am 23. Juni 1977, in: Scheel, Zukunft, 27-35. 437 der Freiheit nicht mehr begreifbar werde, sieht Scheel vor allem im Versagen von Gesellschaft, Politikern, Bildungssystem und Medien begründet.3126 Auch bedauert der Bundespräsident, womit er sich in die Tradition ökonomistischer Kritik am wirtschafts- liberalen Konzept einreiht, dass Freiheit weitgehend ein ökonomischer Begriff gewor- den sei und immer weniger als „Raum verantwortlicher, sittlicher Entscheidungen“ verstanden werde.3127 Hans-Dietrich Genscher, der vormalige Bundesinnenminister, der als Außenminister Amtsnachfolger des ersten Kanzlers der Sozialliberalen Koalition geworden war,3128 konstatierte mit Verweis auf die erbrachten sozialen Leistungen und angesichts der legitimatorischen Herausforderungen, denen das bundesrepublikanische System infolge der terroristischen Gefährdung ausgesetzt war, dass vom deutschen Staat mittlerweile die „freiheitlichste Ordnung“ gewährleistet werde, „die wir je in unserer Geschichte hatten“.3129 Mit der Autorität seines Altbundespräsidentenamtes ausgestattet, schaltete sich Gustav Heinemann im Jahr 1976 in die Diskussion um die freiheitlich demokratische Grundordnung des Grundgesetzes ein, indem er die Meinung vertrat, mit den Grundwerten Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität, die auch die program- matische Diskussion der Parteien zu dieser Zeit prägten, seien Bereiche angesprochen, die das öffentliche Leben durchdringen müssten.3130 Gleichzeitig warnte er vor dem Versuch, den Staat „wieder einmal als das hohe, über uns schwebende Etwas“ verstehen zu wollen,3131 das einzig zur Abwehr der terroristischen Gefahr eingesetzt werden könne. Der „bindungslosen Emanzipationspädagogik“,3132 die gedanklich dem Terrorismus nahe stehe, wollte Hermann Boventer, Vorsitzender der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands, das Lernziel Freiheit entgegenstellen.3133 Wie viele andere

3126 Vgl. Zur geistigen Integration der Bundeswehr. Ansprache auf der 22. Kommandeurstagung der Bundeswehr in Saarbrücken am 5. April 1978, in: Scheel, Zukunft, 185-206; hier: 194 f. 3127 Müssen wir unser Denken ändern? Ansprache zum 16. Weltkongress für Philosophie in Düsseldorf am 27. August 1978, in: Scheel, Zukunft, 37-53; hier. 47. Vgl. auch: Verantwortung der freien Presse im demokratischen Staat (Ansprache bei der 250-Jahr-Feier des „Hanauer Anzeigers“ [27.09.1975]), in: Scheel, Reden, Bd. 2, 44-48; hier 46: „In der Demokratie ist es eine ständige Versuchung, von der Freiheit statt für die Freiheit zu leben. Freiheit als Konsumware, das bedeutet, das einmalige Gut politischer und geistiger Freiheit in kleinen und kleinsten Münzen zu verbrauchen, die kleinen Freiheiten auszukosten, um die großen aber, die stets nach Verantwortung und Einsatz verlangen, einen Bogen zu machen.“ 3128 Vgl. zum Amtswechsel: Genscher, Erinnerungen, 207-217. 3129 Erklärung des Bundesministers des Auswärtigen vor dem Bundestag am 15. Mai 1975, in: Genscher, Außenpolitik, 65-71; hier: 70. 3130 Vgl. Heinemann, Freimütige Kritik und demokratischer Rechtsstaat, in: Denninger (Hg.), Grundordnung, Erster Teil, 61-64; hier: 64. 3131 Ebd. 3132 Vgl. Boventer, Lernziel, 12. 3133 Ebd., 3. 438 bemerkt er, dass das Freiheitsbewusstsein der Bevölkerung, das in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten besonders ausgeprägt gewesen sei, sich merklich abgeschwächt habe. Nicht ohne Genugtuung befindet Boventer, der mit einem auf dem National- habitus aufruhenden Stereotyp abrechnen möchte, die Deutschen hätten „in erstaunlich kurzer Zeit den Umgang mit der Freiheit erlernt und damit allen Unkenrufen getrotzt, sie seien ein zur Freiheit unfähiges Volk.“3134 Doch die Entwicklung der äußeren und inneren Freiheit hätten nicht miteinander Schritt gehalten, da insbesondere letztere „notleidend geworden“ sei.3135 „Die Freiheit des einzelnen“, bemerkt Boventer die Formation des auf positive Freiheit ausgerichteten Diskurses reflektierend, „ist unter Ideologieverdacht geraten und wird als ‚bürgerlich’ diffamiert.“3136 Der Mitbegründer von Rettet die Freiheit e.V. beklagt mit dem rückblickenden Verweis auf die gescheiterte Freiheits-Initiative,3137 dass die Warnungen derjenigen, „die den satten Bürgern ihr ‚Rettet die Freiheit!’ zuriefen“, trotz Mauerbau und Todesstreifen unerhört geblieben seien,3138 woraus er die Forderung ableitet, verantwortete Freiheit dürfe sich als geistiger Zentralbegriff der bundesrepublikanischen Lebensordnung nicht von einem utopischen Freiheitsbegriff verdrängen lassen.3139 Der Bundestagswahlkampf von 1976 – es sei nochmals auf die in seinem Vorfeld ausgetragene und oben ausführlich referierte Grundwertediskussion verwiesen –, in dem die CDU mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ punkten, aber nicht den erhofften Sieg erringen konnte,3140 stand unter dem Vorzeichen des Terrorismus und der sich verschlechternden Situation auf dem Arbeitsmarkt. Die positiven Freiheitsvor- stellungen, mit denen die CDU in den Wahlkampf zog, erwuchsen wesentlich aus der Ablehnung anderer Freiheitsinterpretationen.3141 In ihrem Wahlprogramm bekannten sich CDU und CSU dazu, dass sie „das Glück der Menschen, nicht die Zwangsbeglückung durch den Staat“ vertreten wollen,3142 da die Freiheit des Menschen immer mehr durch bürokratische Bevormundung eingeengt werde. Auf diesem Hintergrund sah sich die Union gegenüber der Gemeinschaft verpflichtet und trat, um zwei Schlagworte ihres Wahlkampfes – die ihre Positionierung innerhalb des Deutungs- angebotes einer „deutschen Freiheit“ erkenntlich werden lassen – zu zitieren, „Aus

3134 Ebd., 15. 3135 Ebd. 3136 Ebd. 3137 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.11. 3138 Boventer, Lernziel, 16. 3139 Vgl. ebd., 18. 3140 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.20. 3141 Vgl. Noack, Freiheitsbegriff, 97. 3142 CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hg.), Wahlprogramm, 4. 439 Liebe zu Deutschland“ ein „Für die Freiheit, die wir lieben. Für die Sicherheit, die wir brauchen. Für die Zukunft, die wir wollen.“3143 Die christdemokratische Opposition vermochte den angestrebten Regierungswechsel jedoch nicht herbeizuführen. Im Dezember 1976 gab Helmut Schmidt nach dem erneut erfolgreichen Abschluss der Koalitionsverhandlungen mit der FDP dem Deutschen Bundestag die Grundlagen der zweiten Amtsperiode der sozialliberalen Koalition bekannt.3144 In einer generellen Darlegung des Gesellschaftsverständnisses der Regierung sprach Schmidt auch über die Bedeutung der Freiheit – und löste sich zugleich von monolithischen Denkgewohn- heiten: „Die Pluralität von Weltanschauungen, von Werten, von Leitbildern, von Lebensstilen ist Voraussetzung für individuelle Freiheit. Unsere Demokratie braucht beides: mehr Solidarität und mehr Liberalität. Der Wunsch nach individu- eller Freiheit und die Orientierung am Allgemeinwohl sind keine Gegensätze. Nur wenn es mehr reale Freiheit gibt für die Millionen und Millionen von Menschen, nur dann hat auch die Freiheit des einzelnen Aussicht auf Bestand. Es sprechen in der Tat viele Hinweise dafür, daß immer mehr Menschen persönliche Freiheit, soziale Sicherheit und politische Verantwortung nicht länger als widersprüchlich empfinden, sondern dies alles zusammen als das Ideal persönlicher Selbstver- wirklichung empfinden.“3145

Die Vorstellung eines zwischen Individualität und Kollektivität angesiedelten Mittel- weges prägt die Aussagen, obgleich angemerkt werden muss, dass explizit der Pluralismus als zugrundeliegendes Referenzsystem genannt ist – hiermit ist ein Wandel des Freiheitsverständnisse der Sozialdemokratie (weg von einer rein sozialistischen Begriffsperzeption) indiziert –, in dessen Rahmen die SPD mit den durch das Grundge- setz gegebenen Mitteln für ihre Überzeugungen eintreten will. Das Anliegen, in Willy Brandts Worten: mehr Demokratie zu wagen, also die demokratische Auseinander- setzung um eine plurale Gesellschaftsordnung in das Zentrum des politischen Diskurses zu stellen, wurde von den gewaltsamen Systemveränderungsversuche terroristischer Gruppierungen unterminiert. Die Bedrohungslage durch den Terrorismus in den späten 70er-Jahren muss von daher als Hintergrund für die Diskussion um die Freiheit gesehen werden. Mit zahlreichen Entführungen und Attentaten hatte im Jahr 1977 mit einer ganzen Reihe von Aktionen der Terror nochmals an Intensität zugenommen3146 und die wehr-

3143 Vgl. den Titel des Wahlprogramms von 1976: CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hg.), Wahlprogramm. 3144 Vgl. u.a. zu Schmidts zweiter großen Regierungserklärung im Jahr 1976: Schmitt, Helmut Schmidt. 3145 Helmut Schmidt, Regierungserklärung vom 16. Dezember 1976, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungserklärungen, 217-246; hier: 238. 3146 Vgl. für einen kurzen Abriss zum Herbst 1977: Ellwein, Krisen, 21-29; Winkler, Weg, Bd. 2, 344- 347. 440 hafte Demokratie zu angemessenen Reaktionen herausgefordert.3147 Der SPD- Bundestagsabgeordnete und Schriftsteller Dieter Lattmann fragte in einem Artikel der Frankfurter Rundschau nach der momentanen Beliebtheit der Freiheit und gibt die aus seiner Sicht ernüchternde Antwort, die die durch Terrorattacken eingeschüchterte öffentliche Meinung pointiert widerspiegelt: „Ich [i.e. D. Lattmann] fürchte, wenn man in der Bundesrepublik gegenwärtig diese Frage sehr vielen Menschen in Form der so unwahren wie suggestiven Alternative ‚Wollt ihr Freiheit oder Ordnung?’ stellte, würde eine große Mehrzahl die Ordnung wählen – eine wie vage Vorstellung von öffentlicher Ungestörtheit, Staatsautorität und privater Sicherheit damit auch immer verbunden sei. Die Antwort, meine ich, hätte vor acht Jahren anders gelautet und vor zwanzig Jahren wohl ähnlicher dem heute zu erwartenden Resultat.“3148

Den „verbalen Tumult um die Freiheit“ führte er auf die konkrete Gefahr sowie auf die dadurch induzierte hohe Emotionalisierung der Bevölkerung zurück.3149 Für Lattmann korreliert die Anzahl der Nennungen der freiheitlich demokratischen Grundordnung mit der wahrgenommenen Gefahr ihrer Einschränkung. In der Diskussion um den so genannten Radikalenerlass kam Hans Schueler zu ähnlichen Ansichten, die den Deutschen ein unfreiheitliches Zeugnis und den aus historischer Erfahrung gespeisten Hang zusprechen, in Bedrohungssituationen auf die Freiheit zu verzichten und zu einer autoritären Staatsordnung zu tendieren: „Und doch gibt es Indizien dafür, daß die Deutschen sich mit der Verheißung der Freiheit und ihrem Risiko nicht abgefunden haben, daß sie sich im Innersten noch immer davor ängstigen. Um es in die Frage Alfred Grossers zu kleiden: ‚Huldigen nicht manche Bürger der Bundesrepublik dem Staat mehr als dem Recht und er- leben die freiheitlich-demokratische Grundordnung (nur) als eine Abwandlung der staatlichen Ordnung, die ihren Vätern oder ihnen selbst, im Kaiserreich oder gar im totalen Staat, den täglichen Frieden sicherte?’“3150

Mit der in Frageform verpackten These, die von einem nationalhabituellen Eigenweg ausgeht, der sich auf ein historisch erworbenes, mangelndes Freiheitsverständnis auswirkt, war eine Problematik angesprochen, die sich zur beständigen Begleiterin der bundesrepublikanischen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ent- wickelte. Der in Herbst 1977 ermordete Hanns Martin Schleyer hatte – wie ein postum im Rheinischen Merkur veröffentlichter Artikel mit einer Zusammenstellung wesentlicher Kernaussagen Schleyers belegt – wegen der Gefährdung des freien Zusammenlebens

3147 Vgl. zur streitbaren/wehrhaften/abwehrbereiten Demokratie: Glaeßner, Sicherheit, 183-193. 3148 Dieter Lattmann, Freiheit in der Bundesrepublik, in: FR Nr. 197 vom 04.09. 1976, (Zeit und Bild) III. 3149 Ebd. 3150 Hans Schueler, Politische Freiheit und innerer Friede. Zur Praxis des Radikalenerlasses in der Bundesrepublik, in: Die Zeit Nr. 43 vom 17.10. 1975, 1. 441 und des auch von Hans Schueler konstatierten Mangels an Wertschätzung der Freiheit die wichtigste Aufgabe darin gesehen, „die Bürger der Bundesrepublik über den wahren Wert und die existenzielle Bedeutung eines Gutes aufzuklären, das sie besitzen, aber zu gering schätzen: eben die personale Freiheit im Sinn der abendländischen Geistesüberlieferung. Sie sollten durch diese Werterkenntnis dazu gewonnen werden, ihren Freiheitsbesitz nicht nur zu verteidigen, sondern gleichsam mit diesem Pfund zu wuchern und ihre Lebensordnung mehr und mehr freiheitskonform zu gestalten.“3151

Schleyer erkannte in der Unternehmerschaft „die Avantgarde im Kampf um die Rettung der bedrohten Freiheit“,3152 was nichts an der Tatsache ändern konnte, dass der Arbeit- geberpräsident seinen Einsatz für die unternehmerische Freiheit, wie sein Lebenswerk in öffentlichen Trauerveranstaltungen gewürdigt wurde, mit dem Leben bezahlen musste.3153 Die Entführung des Passagierflugzeuges Landshut nach Mogadischu und die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten sind der Hintergrund der Bundestagsrede des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der am 20. Oktober 1977 vor die Abgeordneten trat, um diesen Rechenschaft über die Ereignisse der vorhergehenden Wochen abzulegen.3154 Bereits am 17. Juni hatte er in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag für sein Maßnahmenbündel gegen den Terrorismus geworben und die Verunglimpfung dieser als totalitär bezeichneten Beschlüsse, die von Links- intellektuellen mit den Karlsbader Beschlüssen parallelisiert wurden, zurückge- wiesen.3155 Sein tatkräftiges Krisenmanagement, das den Bedürfnissen der Bevölkerung nach moralischer Orientierung und politischer Führung entgegenkam, brachte Schmidt hohes Ansehen ein.3156 Der Bundeskanzler schildert den Sondereinsatz der Spezial- einheit GSG 9 in der somalischen Hauptstadt als einen Einsatz für jene Werte, „auf denen Gemeinschaft beruht und auf die unser Staat gegründet ist. Die befreiende Tat in Somalia entspringt den bewußt erlebten Grundwerten der Freiheit und der Solidarität. Es wurde hier ein Beispiel für die Bedeutung unserer Grundwerte gegeben. Es wurde Orientierung gegeben. Es ist falsch, nur danach zu trachten, was ein einzelner oder eine Gruppe von der Gemeinschaft, von der Gesellschaft oder vom Staat empfangen oder sich verschaffen könnte. Es ist

3151 Der Unternehmer als Garant der Freiheit. Aus Hanns-Martin Schleyers Schrift „Das soziale Modell“, in: Rheinischer Merkur Nr. 43 vom 28.10. 1977, 15. 3152 Ebd. 3153 Vgl. zum staatlichen Gedenken an Schleyer: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 105 vom 21.10. 1977 und Nr. 107 vom 26.10. 1977. 3154 Vgl. zu Schmidts Umgang mit dem Terrorismus: Carr, Helmut Schmidt, 145-155; Rupps, Schmidt, 235-253. 3155 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 306. Vgl. zum Verhältnis von Intellektuellen und Terrorismus aus Schmidts Sicht: ders., Weggefährten, 91-119. 3156 Vgl. Niclauß, Kanzlerdemokratie, 193-195. 442 vielmehr notwendig, daß wir alle uns fragen, was wir der Gemeinschaft zu geben haben und wie wir ihr dienen können.“3157

Das Vorgehen gegen den Terrorismus entwickelte sich aufgrund der damit einhergehenden Einschränkung liberaler Freiheitsrechte zu einer umstrittenen Verteidi- gung des demokratischen Verfassungsstaates. In seiner Weihnachtsansprache nahm Bundespräsident Walter Scheel ebenfalls Bezug auf die terroristischen Gewaltverbrechen. Er sprach über Demokratische Tugenden und Spielregeln3158 und fragte rhetorisch danach, ob die schrankenlose Ausnutzung der Freiheit innerhalb einer freiheitlichen Grundordnung zu einer Ordnung führen könne, in der sich der Mensch geborgen fühle.3159 Scheel vertritt mit seiner Ansprache einen nicht an der Gesellschaft, sondern an der Gemeinschaft als Leitprinzip ausgerichteten Freiheitsbegriff,3160 den er durch Rundfunk und Fernsehen verlautbaren ließ: „Die Freiheit wird erst dann zur Freiheit, wenn sie sich ihrer Grenzen selber setzt. [...] Erst innerhalb der von uns selbst gesetzten Grenzen der Freiheit werden wir die Geborgenheit finden, die wir brauchen, damit die ‚fröhlichen Gesichter’ in unserem Lande wieder zahlreicher werden.“3161 Freiheit ohne Form hingegen, geht er auf diffusen Befürchtungen in der Bevölkerung ein, sei Anarchie – und damit abzulehnen.3162 Der Bundespräsident erklärte die soziale Komponente politischer Frei- heit zu einer Erkenntnis, die sich mittlerweile in den Programmen aller demokratischen Parteien niedergeschlagen habe.3163 In der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus stärkte sich die Kontur der freiheitlich demokratischen Grundordnung, obgleich sich Kritik an der Rigidität der Gegenmaßnahmen und der zum Teil freiheitliche Rechte beschneidenden Gesetzgebung erhob, die aber im Rahmen eines zunehmend pluralis- tisch aufgefassten demokratischen Diskurses verhandelt werden konnten.

3157 Helmut Schmidt, Kampf dem Terrorismus, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 676-689; hier: 680 f. 3158 Demokratische Tugenden und Spielregeln (Weihnachtsansprache 1977), in: Scheel, Reden, Bd. 4, 129-134. 3159 Vgl. ebd., 130. 3160 Vgl. ebd., 131. 3161 Ebd., 134. 3162 Vgl. Freiheit ohne Form ist Anarchie (Ansprache bei der Ordensverleihung anläßlich des Verfassungstages [22.05. 1979]), in Scheel, Reden, Bd. 5, 308-311; hier: 308. 3163 Vgl. Freiheit und Solidarität (Ansprache beim Eiswetten-Fest in Bremen [20.01. 1979]), in: Scheel, Reden, Bd. 5, 193-200, hier: 197. Vgl. hierzu auch oben: v.a. Kap. 4.5.20. 443 4.5.22 Von der Planbarkeitseuphorie zur Konstatierung der Grenzen des Wachstums – „die Wahrung der Freiheit des einzelnen und die Planung der wirtschaftlichen Entwicklung“

Eine gewisse Planbarkeitseuphorie, die aufgrund des technologischen und wissen- schaftlichen Fortschritts in den 70er-Jahren um sich griff, wirkte sich auch auf die Freiheitsvorstellungen aus,3164 denn, so das Hauptanliegen dieser Richtung: die Zukunft sollte umfassend politisch vorhergeplant werden.3165 Bereits ab Mitte der 70er-Jahre kam es nach den ersten enttäuschenden Implementierungserfahrungen wieder zum Umdenken.3166 Die Sozialdemokratie vor allem in der Person Karl Schillers hielt mithin noch am längsten an der Globalsteuerungsthese fest. In einer freiheitlichen Demokratie führe staatliches Handeln ohne planerische Tätigkeit letztlich zu Unfreiheit für die Bürger, ist Bundesjustizminister überzeugt.3167 Dass die Planbarkeit der Zukunft auch von der Frage abhängt, ob gleichfalls mit den Grenzen des Wachstums auch Grenzen der Freiheit erreicht werden, ist eine Beobachtung, die in der durch wirtschaftliche Krisenerscheinungen gedämpften Stimmung der bundesrepublik- anischen Gesellschaft aufkommt. Fortschrittskritische Kräfte und die Ökologiebe- wegung machten sich ihrerseits die Hoffnung, dass die neue Freiheit, die es als Konsequenz aus der Situation zu schaffen gelte, eine andere sein müsse, die nicht mehr länger auf dem von beiden deutschen Systemen verfochtenen „Wachstumsfetischismus“ beruhe.3168 Diese Einschätzung wird durch die Argumentation gestützt, dass die alte Willkür im Umgang mit der Natur und dem Menschen an den Rand einer Katastrophe geführt habe. Die düsteren Zukunftsaussichten, ist verschiedentlich in Referenz auf das Bewusstsein eines besonderen Nationalcharakters angemerkt worden, entsprächen einer Tendenz innerhalb der deutschen Bevölkerung.3169 Um solchen Unsicherheiten vorzubeugen und Orientierungsmaßstäbe anbieten zu können, solle Freiheit geplant werden, wie in Anlehnung an die Ideen der Globalsteuerung gefordert wird.3170 Klaus von Dohnány bekundete etwa,3171 Freiheit sei „im Sinne unserer Gesellschaft des

3164 Vgl. zum Plandiskurs in der Zeit der von 1963 bis 1973: Ruck, Sommer. 3165 Vgl. für eine soziologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen: Klages, Planungspolitik. Zur Idee der Planung der Zukunft: Nützenadel, Stunde, 328-336. 3166 Vgl. Nützenadel, aaO., 344-352; Ruck, Planungsdiskurse. 3167 Vgl. Gerhard Jahn, Planende Demokratie und Grundgesetz, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 25 vom 17.02. 1971, 274 f. 3168 Strasser, Zukunft, 84 f. 3169 Vgl. Schmidtchen, Manipulation, 34. 3170 Vgl. Dohnány, Wirtschaft. 3171 Vgl. zu Dohnány: Günter C. Behrmann, Klaus von Dohnanyi, in: Kempf/Merz (Hgg.), Kanzler, 203- 206. 444 wirtschaftlichen Fortschritts [...] eine menschliche Schöpfung und daher unlösbar verbunden mit dem Prozess der planvollen Veränderung unserer Umwelt.“3172 In der Wirtschaftspolitik Karl Schillers sei, so der Sozialdemokrat Dohnány, der auf die auf Vermittelung abzielende Wirkung der Globalsteuerung anspielt, „die Wahrung der Freiheit des einzelnen und die Planung der wirtschaftlichen Entwicklung eine fruchtbare Symbiose eingegangen.“3173 Planung und Freiheit werden in diesem Denken nicht als Gegensätze angesehen, denn „[n]icht weil wir bereits zuviel Planung hätten,“ befindet Johano Strasser fortschrittskritisch, „ist unsere Freiheit bedroht, sondern weil eine plan- und sinnlose Profit- und Konsumjagd zu einer fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, einer immer bedrohlicheren Ansammlung ungeheurer Macht in wenigen Händen und einer wachsenden Gefährdung der Humanität führt.“3174 Die Schlussfolgerungen, die gezogen werden, um die Sicherung der Freiheit und Demokratie sowie den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen gewährleisten zu können, sind umfangreiche Eingriffe in die Unternehmensfreiheit.3175 Von den Sozial- demokraten wird Freiheit im Rahmen ihrer Parteitradition als sozial bedingte, gesellschaftliche Kategorie angesehen, weshalb die SPD in den späten 70er-Jahren ein Junktim propagiert, das von der gleichzeitigen Ausweitung individueller Rechte bei damit einhergehenden staatlichen Interventionen ausgeht.3176 Die Frage der deutschen Einheit trat in den Hintergrund des mit anderen Problemlagen (Terrorismus, wirtschaftliche Krise) konfrontierten öffentlichen Bewusst- seins. Alfred Dregger nahm daher die „deutsche Wirklichkeit des Jahres 1978“ zum Anlass einer „Freiheitskundgebung“, mit der er dieser Tendenz entgegenwirken wollte. Vor den Zuhörern in Philippsthal/Werra, die er an die Ereignisse des 17. Juni 1953 erinnerte, klagte er unweit der innerdeutschen Grenze „Freiheit für das geeinte deutsche Vaterland“ ein.3177 Einigkeit und Recht und Freiheit, müssten wieder „Lied und Erlebnis aller Deutschen“ sein.3178 Das Datum 1978 war insofern ein besonderes, da sich der 17. Juni zum 25. Mal jährte – ein Anlass für Walter Scheel, im Plenarsaal des Bundestages zu den Abgeordneten zu sprechen. In seiner mit vielen Fragezeichen versehenen Rede

3172 Dohnány, Wirtschaft, 7. 3173 Ebd., 8. 3174 Strasser, Zukunft, 102 f. 3175 Vgl. ebd., 105. 3176 Vgl. Noack, Freiheitsbegriffe, 103. 3177 Alfred Dregger, Freiheit für das geeinte deutsche Vaterland (17.06. 1978), in: ders., Freiheit, 81-87. 3178 Vgl. ebd., 87. 445 konstatierte der Bundespräsident ernüchtert, dass der Freiheitswille bislang noch nicht gesiegt habe.3179 Im selben Jahr hielt Carl Friedrich von Weizsäcker anlässlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises ein Plädoyer für die Freiheit, die durch die Gefahren des Terrorismus in den Hintergrund der öffentlichen Diskussion getreten sei, mit dem er dafür warb, am Recht als Maßstab für die Verteidigung der Freiheit festzuhalten, anstatt sich den Ängsten der Bevölkerung zu ergeben. Seine Mitbürger drohten, wie er befürchtete, in die Falle des Terrors zu treten, weswegen der christlich geprägte Weizsäcker seine Landsleute zum vernunftgemäßen Gebrauch der Freiheit auffordert, weil dies die beste Form sei, um sie zu verteidigen. Weizsäckers Rede wurde auf Be- treiben Walter Scheels, der sie vor Ort gehört hatte, mit einem einleitenden Vorwort versehen an alle Schulen der Republik versandt, was auf heftige Kritik der Kultus- minister der Länder stieß.3180 Ein auf ähnlichen Grundlagen beruhendes Freiheitsverständnis vertrat Karl Carstens. Er, der 1979 am 30. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes von der siebten Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt wurde, was auf eine erneute Wende im geistespolitischen Klima der Bundesrepublik vorauswies,3181 hielt zeitlebens ein christlich geprägtes, konservatives Freiheitsverständnis vor,3182 das vom Gehor- samsbegriff ausging.3183 In einem Interview in der Sendereihe „Das Gespräch“ des Westdeutschen Rundfunks bemerkte Carstens nach dem Verständnis verschiedener Begriffe gefragt: „Aber wenn ich von freiheitlichem Rechtsstaat und von Freiheit als meiner Grundvorstellung spreche, dann bedeutet dies für mich nicht schrankenlose Freiheit, sondern ich sehe als Gegenstück der Freiheit Pflichten an. [...] Und nach meiner Auffassung gehört zu dem von mir vertretenen Freiheitsbegriff auch Gerechtig- keit und Brüderlichkeit oder sozialstaatliches Verhalten“.3184 Das Eintreten für die

3179 Vgl. Walter Scheel, zur 25.Wiederkehr des 17. Juni 1953, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 66 vom 20.07. 1978, 625-629; hier: 625. 3180 Vgl. Hamm-Brücher, Symbolfiguren, 436. 3181 Vgl. Professor Dr. Karl Carstens zum Bundespräsidenten gewählt, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 69 vom 25.05. 1979, 641-644. Vgl. auch das Bulletin Nr. 85 vom 03.07. 1979, das die Ansprachen zur Amtseinführung dokumentiert. Zu Carstens Biographie: Scholz/Süskind, Bundespräsidenten, 291-327. Vgl. zur Zusammensetzung der 7. Bundesversammlung, die erstmals am Verfassungstag (23. Mai) stattfand: Deutscher Bundestag (Hg.), Bundesversammlungen, 230-252. 3182 Seine Erinnerungen enden mit Ausführungen zur religiösen Dimension des Freiheitsbegriffs. Vgl. Carstens, Erinnerungen, 824-827. 3183 Vgl. z.B.: Gesetzesgehorsam in der freiheitlichen Demokratie (06.05. 1987), in: Carstens, Geist, 52- 58, in der sich Carstens auf Plato beruft. Oder sein Erfahrungsbericht Politische Führung. Erfahrungen im Dienst der Bundesregierung (Carstens, Führung). 3184 Grundwerte und Orientierungspunkte in der parlamentarischen Demokratie, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 115 vom 31.10. 1980, 973-981; hier: 979. 446 deutsche Nation bildete einen weiteren, keinesfalls aus dem Rahmen des von Carstens reaktivierten Deutungsmusters einer „deutschen Freiheit“ fallenden Schwerpunkt in dessen Präsidentschaft.3185 Beim Festakt der Evangelischen Kirche in Deutschland zum 500. Geburtstag des Reformators Martin Luther ergriff das Staatsoberhaupt die Gelegenheit, seine Sympathie mit dem christlichen Freiheitsverständnis Lutherischer Prägung zu bekunden.3186 Nachgerade Schreckliches, befindet Carstens voller Empörung, geschehe in diesen Tagen mit dem Begriff der Freiheit, denn weder im ethischen noch im christlichen Sinn könne sie mit „Ungebundenheit, Willkür oder Selbstsucht gleichgesetzt werden“.3187 Dieser – auch was den darin geborgenen Freiheitsbegriff anbelangt – negativen Tendenz wollte Carstens mit seiner Präsident- schaft entgegentreten. Wie der Klappentext zu einer Redensammlung aussagt, hat die „pessimistische Weltsicht [...] nach Ansicht von Carstens ihren Grund nicht zuletzt in der negativen Definition des Freiheitsbegriffs der Französischen Revolution von 1789, nach der man ‚alles tun kann, was keinem anderen schadet’.“3188 Die deutsche Demokratie kranke, so Carstens’ These, offensichtlich an einem falschen Freiheits- verständnis vieler ihrer Bürger.3189 Aufgrund dieser Diagnose animiert er dazu, die Bemühungen um ein richtiges Freiheitsverständnis zu verstärken „und insbesondere der jungen Generation dieses Freiheitsverständnis zu vermitteln [...]. Freiheit bedeutet nicht, daß wir uns bedenkenlos ausleben können, sondern der Freiheit des Menschen ent- spricht seine Verantwortung, entsprechen seine sittlichen Pflichten, vor allem die Pflicht, die verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetze zu befolgen.“3190 Während seiner Amtszeit vertrat der spätberufene Politiker Carstens3191 einen Mittel- weg, der propagierte, „soviel individuellen Freiraum für den Bürger wie irgend möglich bei soviel staatlicher Ordnung wie nötig“ 3192 zu gewährleisten. Angesichts der

3185 Vgl. Winter, Bundespräsidenten, 159-161. 3186 Vgl. Carstens, Freiheit und Verantwortung des Christenmenschen. Rede bei einem Festakt der Evangelischen Kirche in Deutschland zum 500. Geburtstag von Martin Luther in Worms (30.10. 1983), in: ders., Reden, 141-149. 3187 Ebd., 146. 3188 Klappentext zu Carstens, Geist. 3189 Vgl. Die Zukunft der Demokratie (08.04. 1989), in: Carstens, Geist, 73-92; hier: 82. Carstens beklagt in seiner auf dem Hambacher Schloss gehaltenen Rede den Zeitgeist der 60er und 70er-Jahre als Ursache hierfür. „Unter dem Einfluß einer philosophischen Denkrichtung wurde in den sechziger und siebziger Jahren die Forderung nach Emanzipation, nach möglichst weitgehender Beseitigung aller Bindungen, vor allem jeder Form von Herrschaft, erhoben. Damit einher ging die Negierung vieler tradierter Werte und Tugenden wie Fleiß, Pflichterfüllung, Opferbereitschaft, Zuverlässigkeit, Wahrhaftigkeit, Treue und Tapferkeit. Die freiheitlich demokratische Grundordnung unserer Verfassung wurde als ‚FdGO’ verächtlich gemacht.“ (AaO., 82). 3190 Ebd., 84. 3191 Vgl. Wiedemeyer, Karl Carstens, 18-22. 3192 Carstens, Liberalitas bavarica (Ansprache beim Besuch des Freistaates Bayern [30.10. 1979]), in: Carstens, Reden, Bd. 1, 68-71; hier: 69. 447 ökonomischen Situation erinnerte Carstens die Auslandsdeutschen über die Deutsche Welle in einer Weihnachtsansprache daran, dass Freiheit und Wohlstand immer wieder neu zu erwerben und erarbeiten sind.3193 Das Denken, dass der Geschichtsprozess einen stetigen Fortschritt3194 in der Erlangung der Freiheit darstellt, bündelt der Staats- und Völkerrechtler Carstens in der Anfang der 80er-Jahre getätigten Aussage die „Bürger unseres Landes genießen Freiheiten wie nie zuvor in der Geschichte.“3195 Andererseits drohe Gefahr, so der wie seine Amtsvorgänger stets um die Jugend besorgte Bundespräsident, da die jüngere Generation nicht mehr auf den persönlich erlebten Erfahrungshorizont der nationalsozialistischen Diktatur zurückgreifen könne, sondern in einem freiheitlichen System aufgewachsen sei – „Sie nimmt die Freiheit als etwas Selbstverständliches und ist mißtrauisch gegenüber allem, was sie als Beeinträchtigung der Freiheit ansieht.“3196 Der Wert der Freiheit war, was die Beobachtung von Carstens empirisch stützt, auch in Umfragen im Rückzug begriffen.3197 In Hinblick auf die Jugend empfiehlt der oberste Staatsrepräsentant, „daß wir die Vorzüge und Möglichkeiten in wirklicher Freiheit und in einem gesicherten Frieden wieder stärker bewußt machen“,3198 wobei er sich der althergebrachten Unterscheidung einer „wahren“ und „falschen“ Freiheitsauffassung bedient.3199 Insgesamt ist fest- zustellen, dass Carstens im Vergleich mit seinen Amtsvorgängern weniger stringent den Versuch unternahm, die deutsche Geschichte im Sinne einer Freiheitsgeschichte zu interpretieren.3200 Als überzeugter Europäer betont er allerdings, dass das, wofür Europa

3193 Vgl. Freiheit und Wohlstand müssen immer wieder neu errungen werden (Weihnachtsansprache an die Deutschen im Ausland [24. Dezember 1980]), in: Carstens, Reden, Bd. 2; 122-124. 3194 Die Denkform „Fortschritt“ findet sich in zahlreichen Reden des Bundespräsidenten. 3195 Unser Ziel bleibt die Einheit (Ansprache vor dem Ostasiatischen Verein [20.02. 1981]), in: Carstens, Reden, Bd. 2, 145-151; hier: 147. Eine von ihm vertretene Traditionsreihe, die in das Grundgesetz von 1949 einfließe, nennt er in einem Vortrag im Jahr 1981. Carstens sieht die Tradition von Freiheit und Recht „in unserer Literatur und Philosophie, in der Humanität und im Idealismus der deutschen Klassik, in der Toleranz, wie sie im 18. Jahrhundert aufstrahlt, in den Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts, in der Weimarer Verfassung, im 20. Juli 1944“. (Über unser Verhältnis zum Staat [Ansprache beim St. Martin Freundschaftsmahl in Düsseldorf (12.11. 1981)], in: Carstens, Reden, Bd. 3, 166-174; hier: 172). In Jahreszahlen nennt Carstens eine „durchgehende geschichtliche Linie von 1832 über 1848, 1918/19, 1948/49 bis heute – von Hambach über Frankfurt, Weimar, Bonn bis heute. Es ist eine Linie der Demokratie und der Freiheit.“ (Die Demokratie schützen. Rede beim Festakt anläßlich der 150. Wiederkehr des Hambacher Festes im Schloß [27.05. 1982], in: Carstens, Reden, Bd. 3, 386-394; hier: 391). 3196 Verfassungsschutz auch im freiheitlichen Rechtsstaat (Ansprache beim Besuch des Bundesamtes für Verfassungsschutz [8. Mai 1981]), in: Carstens, Reden, Bd. 2, 199-202; hier: 200. 3197 Vgl. Jahrbuch, Bd. 8, 224. 3198 Frieden und Freiheit müssen verteidigt werden (Ansprache vor Offizieren und Unteroffizieren der Marine [12.05. 1981]), in: Carstens, Reden, Bd. 2, 203-208; hier: 205. 3199 Vgl. oben: Kap. 2, 43. 3200 Vgl. Rensing, Geschichte, 203. 448 stehe, im tiefsten Sinne mit dem Wort Freiheit umschrieben werden könne.3201 Um den Wandel deutlich zu machen, den der Freiheitsbegriff in der öffentlichen Wahrnehmung in den 70er-Jahren durchgemacht hat, kann resümierend auf die beiden in diesem Kapitel benannten komplementären Schlagworte des Diskurses verwiesen werden, die einen Abschied von der Planung hin zur Ordnung verzeichnen.

4.5.23 Pluralisierung statt angestrebter geistig moralischer Wende – „Gebote der Freiheit“

Die 80er-Jahre führten den Umschwung im geistigen Klima der Bundesrepublik fort, was sich auch entscheidend auf die Freiheitsperzeption auswirkte. Die Freien Demokraten zogen in den Wahlkampf des Jahres 1980 mit der programmatischen Überzeugung, dass jeder dazu aufgefordert ist, in Staat und Gesellschaft seine Pflicht zu tun. „Nach liberaler Auffassung“, bekundet das auf dem Bundesparteitag am 7. Juni beschlossene Wahlprogramm, „ist Freiheit kein Erlaubnisschein für schrankenloses Tun- oder Lassendürfen, vielmehr verlangt Freiheit die freiwillige Bindung an die Rechte und das Wohl des anderen.“3202 Franz Josef Strauß konstatierte in einer 1980 erschienenen Veröffentlichung mit dem Titel Gebote der Freiheit, es habe noch „nie in der deutschen Geschichte [...] für die Bürger in allen Schichten und Ständen unseres Volkes soviel Wohlstand, soviel Frei- heit, soviel soziale Sicherheit, soviel Recht gegeben wie in der Bundesrepublik Deutschland.“3203 Die Veröffentlichung stand in Zusammenhang mit seiner Bewerbung um das Kanzleramt.3204 Für den Kandidaten der Union ist die Vorrangrolle der Freiheit gegenüber einem „linksmanipulierten Bewußtsein“3205 unbedingt zu verteidigen, was Strauß, wie er betont, entschieden für den Mut zur Freiheit, das Nein zum Kollektivis- mus und das Ja zur selbstverantwortlichen Lebensführung eintreten lässt.3206 Der CSU- Vorsitzende, den Kritiker als „streitlustigen, polternden, großspurigen, hemdsärmligen,

3201 Vgl. Carstens, Ansprache vor dem Schweizerischen Bundesrat im Bundeshaus in Bern (16.08. 1982), in: ders., Reden, 20-26; hier: 23. 3202 Wahlprogramm der Freien Demokratischen Partei für die Bundestagswahl am 5. Oktober, in: Beerfeltz/Däubler/Osswald/Volkmann (Red.), Programm, 12-85; hier: 13. 3203 Strauß, Gebote, 9. 3204 Vgl. hierzu: Krieger, Franz-Josef Strauß, 188-191. 3205 Strauß, Gebote, 29-33. 3206 Vgl. ebd., 39-41. 449 angeblich pathologisch machtbesessenen Oberbayern“ beschrieben,3207 bezog zeitlebens eine dezidierte Position in „der Auseinadersetzung zwischen der Ordnung der Freiheit und dem kommunistischen Zwangssystem“ – zugunsten ersterer Option.3208 Er verfügte, wie Richard von Weizsäcker seiner gedachte, über einen „unbeugsamen Freiheits- willen“.3209 Das von Strauß vertretene Politikverständnis ist, um seine beiden Wurzeln zu be- nennen, ein aus dem Christentum gespeistes, genuin freiheitliches, was erklärlich macht, weshalb Strauß’ Festhalten an den „Geboten der Freiheit“, sein Gelöbnis auf den „Dreiklang der Freiheit“, konfessorischen Charakter annimmt: „Die Erhaltung der Freiheit dort, wo sie gegeben, die Sicherung der Freiheit dort, wo sie gefährdet, die Wiedergewinnung der Freiheit dort, wo sie verloren ist – in diesem Dreiklang liegen an erster Stelle Auftrag und Herausforderung der Politik, wie ich sie verstehe und in verschiedenen Positionen seit mehr als drei Jahrzehnten in konkrete Wirklichkeit umzusetzen suche.“3210 Strauß, der in ideologischer Positioniertheit hervorhebt, dass mit Marx die Unfreiheit ihren Ausgang genommen habe, spricht sich zwar gegen eine „Robinson-Freiheit“ aus, differenziert allerdings genau zwischen Freiheit und Kollektivismus, die sich wie Feuer mit Wasser vertrügen:3211 „Deshalb auch ist die Frage, wo es kollektivistische und totalitäre Gedankengänge und Verhaltensweisen gibt und gab, ebenso von geschichtlichem Interesse wie von aktuellem politischem Interesse. Kollektivistische Erscheinungsformen haben Marxismus und Kommunismus. Kollekti- vistische Erscheinungsformen haben auch Faschismus und Nationalsozialismus.“3212 Trotz dieser scharfen Abgrenzung gegenüber Kollektivvorstellungen erkennt Strauß, dass die Freiheit des Menschen „in einem Spannungsverhältnis zum geordneten Gemeinwesen“ steht,3213 was sich auf sein Staatsverständnis auswirkt, denn nur ein starker Staat, erklärt der CSU-Vorsitzende, könne ein freiheitlicher Staat sein.3214 Dadurch ist ein positives Freiheitsverständnis impliziert, zumal für Strauß offensichtlich ist, dass Politik Ordnung in Gemeinschaft zur Voraussetzung hat. Ordnung definiert Strauß als „rechte Stellung der Menschen und Dinge in Raum und Zeit“3215 und räumt

3207 Paul Pucher, Der Pfälzer und der Bayer. Über die Gegenspieler Helmut Kohl und Franz Josef Strauß, in: Der Spiegel Nr. 35 vom 26.08. 1985, 64. 3208 Strauß, 1914, 41. 3209 Richard von Weizsäcker, Gedenkworte, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 124 vom 05.10.1988, 1129. 3210 Strauß, Gebote, 13. 3211 Ebd., 19-28; Zit.: 23. 3212 Ebd., 19. 3213 Ebd., 23. 3214 Vgl. ebd., 112-145 (Kap. IV: Nur ein starker Staat ist ein freiheitlicher Staat). 3215 Ebd., 113. 450 in seinem Ordnungsbild vom Menschen und vom Staat der Freiheit die oberste Stelle ein, von der aus sich die Maßstäbe des Handelns ableiten lassen. Freiheit ist Strauß auch auf dem Gebiet der Wirtschaftsordnung oberstes Gebot3216 und Sozialpolitik kommt zum Einsatz als „freiheitliche Ordnungspolitik“.3217 Der bayerische Ministerpräsident wendet sich zudem – hier befindet er sich in Gesellschaft konservativer Demokratie- kritiker, Helmut Schelsky kann als bekanntestes Beispiel gelten – gegen das inflationäre Schlagwort der Demokratisierung,3218 das von Willy Brandt, dem „Messias des neuen sozialistischen Zeitalters, damals in seiner ersten Regierungserklärung“ verkündet worden sei.3219 In globaler Perspektive erblickt Strauß im historisch gewachsenen, politisch enger zusammenzuschließenden Europa den „Kontinent der Freiheit“,3220 der sich im „welt- politische[n] Dreiklang: Sicherheit – Frieden – Freiheit“3221 zu positionieren habe. Mit seinem Bekenntnis zur westlichen Wertewelt tritt der Ministerpräsident Bayerns für ein Europa ein, „das der Toleranz, der Menschenwürde, der persönlichen Freiheit und Verantwortung, nicht aber der kollektivistischen Vermassung, sozialistischen Einebnung, technokratischen Verplanung oder bürokratischen Bevormundung ver- pflichtet ist“.3222 Im Prozess der europäischen Einheit, den Strauß als geschichtlichen Auftrag seiner Generation begreift, soll Freiheit als einigender Kern fungieren, denn Freiheit ist für ihn „Jahrhundertauftrag“.3223 Eine diametral entgegengesetzte Sichtweise vertritt Hermann Gautier, der sich in seiner Eigenschaft als stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei aus marxistischem Blickwinkel in die publizistisch angefachten Auseinander- setzungen um das Stichwort „Freiheit statt Sozialismus“ einbringt.3224 In einem Ge- spräch erläuterte er Grundfragen der marxistischen Freiheitsvorstellung und bekannte sich zu der vielkritisierten Einheit von Freiheit und Sozialismus.3225 Seit dem Wahl- kampf von 1976 sei, wie der Fragensteller Hans Adamo das Stichwort liefert, die erwähnte Losung „ein zentrales Motto imperialistischer Freiheitsdemagogie“.3226 Franz

3216 Vgl. ebd., 173-202 (Kap. VI: Wirtschaftsordnung der Freiheit). 3217 Vgl. ebd., 203-226 (Kap. VII: Sozialpolitik als freiheitliche Ordnungspolitik). 3218 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.18. 3219 Strauß, Gebote, 123. Vgl. auch den Abschnitt „Die ‚schillernde Demokratisierung’“ (aaO., 123-128). 3220 Ebd., 255-280. 3221 Ebd., 281-315. 3222 Ebd., 256. 3223 Ebd., 315. 3224 Vgl. z.B. Roderich Reifenrath, Scharfe Auseinandersetzung mit CDU-Slogan, in: FR Nr. 117 vom 01.06. 1976, 5. 3225 Vgl. Gautier, Arbeiterbewegung, 182-184. 3226 Ebd., 146. 451 Josef Strauß habe sie gar zur „Jahrhundertfrage“ erhoben.3227 Diese Argumentation wende sich, betont Gautier in seiner ideologisch motivierten Antwort, gegen die „wirkliche Freiheit“.3228 Zwar bestreitet der KPD-Vize den Vorwurf des Kollektivismus, bemerkt allerdings die Aussichtslosigkeit, alleine für „die Verbesserung und Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ eintreten zu können,3229 was ihn einem klassengebundenen Freiheitsbegriff anhängen lässt, da Entwicklung nur in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zustande komme: „Robinsons Insel“ – gibt sich Gautier mit einer verblüffenden Übereinstimmung zu Strauß’ Sprachgebrauch überzeugt – „ist eine romantische Idylle, aber kein Modell für die gesellschaftliche Entwicklung.“3230 Die den Klassenkampfüberlegungen der KPD fern stehende Schwesterpartei der CSU, die CDU, ist Anfang der 80er-Jahre, wie es ihr um einen Aufbruch bedachtes Programm aus dem Jahr 1981 ausweist, nicht nur „Partei der Freiheit“, sondern auch „Partei des Friedens“.3231 Rüstungskontrolle und Abrüstung nehmen neben Friedens- sicherung und Entwicklungspolitik breiten Raum in der Programmatik ein, gleichwie sich die Orientierung auf ökologische Bewahrung der Natur abzeichnet. „Die Erhaltung der natürlichen Grundlagen des Lebens“, bestimmt der Hamburger Parteitag die schöpfungsbewahrende Aufgabe der Christdemokraten, „ist ein Stück verantworteter Freiheit“.3232 Damit war der erste Schritt der Partei hin zur Idee der „Verantwortung für die Schöpfung“3233 vorgezeichnet, die programmatisches Thema des 37. Bundes- parteitages in Bremen werden sollte.3234 Im öffentlichen Gedenken, das sich bisher als guter Gradmesser gesellschaftlicher Tendenzen erwiesen hat, lassen sich Spuren dieser Entwicklung, die längerfristig zu einer Pluralisierung des Parteienspektrums – und auch zur Ausweitung des Spektrums der im öffentlichen Diskurs vertretenen Freiheitskonzepte – führte, auffinden. Mit einem Festakt begingen Honoratioren am 27. Mai 1982 die 150. Wiederkehr des Hambacher Festes. Als Anliegen der demokratischen Parteien und zu erfüllendes Vermächtnis von 1832 sah Bundespräsident Carstens, der eine Ansprache an die

3227 Vgl. hierzu den vorangehenden Absatz. 3228 Gautier, Arbeiterbewegung, 147. 3229 Ebd., 153. 3230 Ebd. 3231 Mit der Jugend – Unser Land braucht einen neuen Anfang. 30. Bundesparteitag, 2.-5. November 1981, Hamburg, in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 171-200; hier: 174. 3232 Ebd., 185. 3233 Vgl. zum Schöpfungsbegriff in der CDU-Programmatik: Ballnuß, Begriffsbesetzung, 68 f. 3234 Unsere Verantwortung für die Schöpfung, 37. Bundesparteitag, 11.-13. September 1989, Bremen, in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 289-318. 452 Festgäste hielt, den – seinem Freiheitsverständnis entsprechend konservierenden, antirevolutionären, auf klare Ordnungsvorstellungen basierenden – Schutz der er- reichten Freiheit. Das Hambacher Fest ist ihm in retrospektiver Betrachtung ein wesentlicher Markstein im Kampf der Deutschen für die Freiheit, der sich nun aufgrund der geänderten Zeitverhältnisse in anderer – nahezu umgekehrter – Gestalt präsentiere. „Während damals der die Freiheit Begehrende, der Liberale, der Demokrat, sich gegen die herrschende Ordnung wenden und sie bekämpfen mußte,“ erklärt das Staatsoberhaupt, „ist der freiheitlich Denkende heute aufgerufen, die Freiheit zu schützen und zu bewahren. Als die Freiheit verfolgt und unterdrückt wurde – wie 1832 oder 1848 –, konnte der Liberale ein Revolutionär sein. Heute, in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, ist derjenige, der die Revolution fordert, notwendigerweise ein Kämpfer gegen die Freiheit. Gegen diese Revolutionäre aber muß die Freiheit verteidigt werden.“3235

Die Begleitumstände der Gedenkfeiern ließen nach dem Vermächtnis des freiheitlichen Erbes fragen und gaben Anstoß zu gegenwartsaktuellen Diskussionen um den Umgang mit Freiheit. Bernhard Vogel, der CDU-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, erlaubte es unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen lediglich wenigen Vertreter der Landes- prominenz den Jahrestag vor Ort zu begehen. Per Kabinettsbeschluss war sogar der Volkspartei SPD und deren Vertretern, wie auch der interessierten Bevölkerung der Zugang zum Schloss untersagt; sie mussten sich mit einer Kundgebung auf dem Neustädter Marktplatz begnügen. Mit folkloristischen Einlagen wie einem Kostümum- zug gedachte man der demokratischen Tradition.3236 Am 23. Mai, dem Verfassungstag, sprach Altbundespräsident Walter Scheel als Präsident der Europa-Union Deutschland in Hambach und erinnerte daran, dass die eigene Freiheit nicht mit der Unfreiheit anderer Völker erkauft werden dürfe. Kritik regte sich vor allem aus dem linken Spektrum daran, dass „die Radikalen von einst nun ausgerechnet von denen gefeiert werden, die heute strikt auf dem Radikalenerlass beharren“.3237 Der Bundesminister für Innerdeutsche Beziehungen, Franke, zog zum Tag der deutschen Einheit eine Verbindungslinie der nationalen Freiheitstradition ausgehend vom Hambacher Fest zum 17. Juni 1953.3238

3235 Die Demokratie schützen. Rede beim Festakt anläßlich der 150. Wiederkehr des Hambacher Festes im Schloß (27. Mai 1982), in: Carstens, Reden, Bd. 3, 391 f. 3236 Vgl. Scheel: Das Hambacher Fest ein Datum demokratischer Tradition, in: FAZ Nr. 118 vom 24.05. 1982, 5. 3237 Deutscher Mai, in: Der Spiegel Nr. 21 vom 24.05. 1982, 118 f.; hier: 118. 3238 , Zum Tag der deutschen Einheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 61 vom 17.06. 1982, 529. 453 Auch die Umweltbewegung entdeckte die freiheitliche Tradition der Jahre 1832 und 1848 mit der Begründung für sich,3239 nicht zuletzt durch den Kampf der Hambacher Rebellen bestehe in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern die Freiheit, gegen das anzukämpfen, was Menschen und Umwelt bedrohe.3240 Im Pfälzer Wald sollte ein Zeichen gegen Tannensterben, Giftgas und Atombewaffnung gesetzt werden, weshalb die 1980 als Bundespartei in Karlsruhe gegründeten Grünen3241 nach Hambach einluden, um „Bäume zu pflanzen und am Schloß ‚Symbole’ niederzulegen“.3242 Es handelte sich bei den Symbolen um einen Hiroshima-Gedenkstein, eine Kupferplatte mit dem Wahrzeichen der DDR-Friedensbewegung Schwerter zur Pflugscharen und eine Nachbildung des DanzigeU 6ROLGDUQRVü-Mahnmals. Ob das in der historischen Freiheitsbewegung des Vormärz identitätsstiftend eingesetzte Pflanzen so genannter Freiheitsbäume bei dieser Aktion Pate stand, ist nicht belegt; der Charakter der Veranstaltung der Grünen als explizite Symbolhandlung legt dies jedoch durchaus nahe. Die Alternativfeier verstand sich jedenfalls als gewaltfreier Widerstand gegen die Rüstungspolitik in Ost und West, wie ein Bundesvorstandsmitglied der Umweltpartei bekundete.3243 Aus Protest über die Weigerung DKP-naher Teile der Friedens- bewegung, einen Redner der polnischen Gewerkschaftsbewegung über das Thema Freiheit sprechen zu lassen, blieben die Grünen und weitere Anhänger der pazifistischen Bewegung einer für Pfingsten 1982 angesetzten Friedensfeier in der Nähe von Neustadt an der Weinstraße fern. Freiheit wurde, um die gewiss unterschiedlich motivierten Absichten des CSU- Vorsitzenden, des KPD-Vizes und der Ökologiebewegung, die in diesem Kapitel zur Sprache kamen, analytisch zu betrachten, sowohl in ihrer historischen Dimension als auch in ihrem Eigenwert für die Legitimation bestimmter Ziele eingesetzt, was die verschiedensten Gruppen die historische Tradition der liberalen Freiheitsbewegung und das mit ihr verwobene semantische Deutungspotenzial für sich in Anspruch nehmen ließ. Die Tendenz, Freiheit als strukturierendes Modell, sozusagen als Matrix politischen Handelns einzusetzen, verstärkte sich nicht zuletzt durch den Übergang der Regierungsverantwortung an die Union unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls.

3239 Vgl. für die Ursprünge der Bunten und Grünen Bewegung in den 80er-Jahren: Hermand, Kultur, 566- 588. 3240 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 334. 3241 Vgl. Oberreuter/Kranenpohl/Olzog/Liese, Parteien, 190 f. 3242 Deutscher Mai, in: Der Spiegel Nr. 21 vom 24.05. 1982, 118 f.; hier: 119. 3243 Vgl. Scheel: Das Hambacher Fest ein Datum demokratischer Tradition, in: FAZ Nr. 118 vom 24.05. 1982, 5. 454 4.5.24 Stärkung der Eigenverantwortlichkeit durch die christlich-liberale Koalition bei gleichzeitiger Verlagerung des Freiheitsdiskurses auf die Außenpolitik – „mehr Freiheit und nicht mehr Staat“

Helmut Kohl trat im Oktober 1982 das Amt als Bundeskanzler einer CDU/CSU-FDP Regierung an, wie er in der Regierungserklärung vom 13. Oktober versicherte, um „dem Bürger mehr Freiheit und nicht mehr Staat zu bringen“3244 und auf dem Gebiet der Gesellschaftspolitik das ambitionierte Programm einer geistig moralischen Wende umzusetzen.3245 Der noch bis in die 70er-Jahre konsensfähige Vorwurf des Marktver- sagens wurde im gesellschaftlichen Diskurs durch den des Staatsversagens abgelöst, was sich auch auf das mehrheitlich vertretene Freiheitsverständnis übertrug.3246 Helmut Kohl, der durch ein konstruktives Misstrauensvotum zur Nachfolge Helmut Schmidts gelangte,3247 vertrat die Meinung, nur wo Freiheit herrsche, sei sozialer Fortschritt mög- lich.3248 Eigenverantwortlichkeit sollte stärker als bisher betont werden, weshalb der CDU-Kanzler die vornehmste Pflicht freier Bürger darin sah, „keine Anstrengung zu unterlassen, um die Freiheit zu verteidigen und anderen die Hoffnung auf Freiheit zu erhalten.“3249 In seiner ersten Regierungserklärung hatte Kohl Neuwahlen angekündigt, die nach der Auflösung des 9. Deutschen Bundestages am 6. März 1983 stattfanden und die kurz zuvor gebildete Koalition aus Union und FDP bestätigten.3250 Kohl formulierte in seiner neuerlichen Regierungserklärung sieben Leitgedanken, von denen an erster Stelle „[p]ersönliche Freiheit und sinnerfüllte Arbeit, Wohlstand für alle und soziale Sicherheit“ stand.3251 Die bereits von Konrad Adenauer vorgenommene Ausrichtung auf ein westliches „Bündnis für Freiheit und Frieden“ behielt Kohl in Nachfolge seines politischen Vorbildes bei,3252 ebenso wie der aus der Pfalz stammende Generalist3253

3244 Helmut Kohl, Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungs- erklärungen, 271-288; hier: 283. Vgl. hierzu: Kohl, Erinnerungen 1982-1990, 49-54. Zur Bewertung der großen Regierungserklärungen Kohls: Dettling/Geske, Helmut Kohl; Struwe, Rede, 316-337. 3245 Vgl. zur Ideologie der so genannten Wende: Elm, Wende; Hermand, Kultur, 613-633. 3246 Vgl. Koslowski, Freiheit, 2-4. 3247 Vgl. hierzu die Erklärung Helmut Schmidts vor dem Bundestag, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 87 vom 20.09. 1982, 793-798. Zur Wahl Helmut Kohls am 1. Oktober: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 90 vom 05.10. 1982. 3248 Vgl. Helmut Kohl, Nur wo Freiheit herrscht, ist sozialer Fortschritt möglich, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 100 vom 03.08. 1988, 917-919. 3249 Helmut Kohl, Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungs- erklärungen, 271-288; hier: 288. 3250 Vgl. Auflösung des 9. Deutschen Bundestages: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 3 vom 10.01. 1983, 17 f.; Zur Wahl des 10. Deutschen Bundestages: dass., Nr. 24 vom 07.03. 1983, 213; Zur Bildung und Ernennung der Bundesregierung: dass. Nr. 33 vom 31.03. 1983. 3251 Helmut Kohl, Regierungserklärung vom 4. Mai 1983, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungserklärungen, 289-311; hier: 290. 3252 Ebd., 290. 455 Freiheit ähnlich zu Adenauer als Wert auffasste, der der menschlichen Natur entspringt und von daher an persönliche Verantwortung und Leistung gekoppelt ist.3254 Für ihn ist Freiheitssicherung zugleich Friedenspolitik,3255 was sich auch darin äußert, dass der neugewählte Kanzler vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, derer sich Kohl in zahlreichen geschichtspolitisch geprägten Einlassungen bemächtigte, auf Freiheit und Verständigung setzte.3256 Der Koalitionspartner FDP bekräftigte mit einem Liberalen Manifest, das deutlich wirtschaftsliberalere Prägungen aufzuweisen hatte als die Freiburger Thesen, die dort getroffenen Aussagen zum Verständnis der Einzelperson, indem er darauf pochte, die einzelne Person dürfe nicht nur als Individuum gesehen werden, sondern müsse in ihrer gesamten sozialen Identität wahrgenommen werden.3257 Mit dem Programm, das dem Text zufolge Resultat einer „Zeit des Strukturwandels“ ist, geben die Liberalen – in semantischer Kontinuität zu älteren Aussagen über die Freiheit – zu bedenken: „Es gibt keine Freiheit ohne Bindung. Persönliche Freiheit und soziale Verantwortung sind untrennbar.“3258 Für die FDP steht – wie der Bundesparteitag 1983 die Prioritäten- setzung liberaler Politik, die sich während der Grundwertedebatte der 70er-Jahre herauskristallisiert hatte, nochmals bekräftigte – in der Abwägung der Grundwerte Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit „die größtmögliche Freiheit jedes einzelnen an erster Stelle.“3259 Freiheit wurde von den Liberalen als Zukunftschance im gesellschaft- lichen Umbruch begriffen.3260 Eine der Grundfragen der Deutschlandpolitik, die mit Helmut Kohls Amtsantritt einen konfrontativeren, den Systemantagonismus stärker betonenden Charakter bei gleichzeitiger sachpolitischer Kontinuität erlangte,3261 war nach wie vor das spannungs- geladene Verhältnis von Einheit und Freiheit. In einem Vortrag in Washington erklärte der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, zu dieser Linie:3262

3253 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 2, 403. 3254 Vgl. Zimmermann, Grundwert, 87. 3255 Vgl. Helmut Kohl, Die Bedeutung der neuen Medien für Freiheit und Meinungsvielfalt, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 100 vom 30.09. 1983, 926-925; hier: 926. 3256 Vgl. Helmut Kohl, Impulse für die Stabilisierung von Frieden und Sicherheit, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 144 vom 25.11. 1986, 1201-1204; hier: 1202. 3257 Vgl. Liberales Manifest, 5. 3258 Ebd., 6. 3259 Wahlaussage zur Bundestagswahl 1983, in: Beerfeltz/Däubler/Osswald/Volkmann (Red.), Programm, 191-213; hier: 191. 3260 Vgl. Oberreuter/Kranenpohl/Olzog/Liese, Parteien, 149 f. 3261 Vgl. Schöllgen, Außenpolitik, 166 f.; zur Frage der Kontinuität: Pfetsch, Außenpolitik, 237-243. 3262 Vgl. zur politischen Biographie: Karl-Rudolf Korte, Heinrich Windelen, in: Kempf/Merz (Hgg.), Kanzler, 752-755. 456 „Wenn auch die Größen Freiheit und Einheit unvergleichbar sind und die Freiheit Vorrang haben muß, es bleibt doch [...] ein Rest von Unbehagen, von schlechtem Gewissen, ja, ich möchte fast sagen, von Schuldgefühl; denn wir dürfen ja nicht vergessen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland mit der Freiheit zugleich die Sonnenseite des deutschen Nachkriegsschicksals erleben.“3263

Am 17. Juni sprach der ehemalige Innenminister Gerhard Schröder vor dem Parlament in Erinnerung an den Aufstand in der DDR, dessen Wirkung er mit dem Unabhängig- keitstag der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Sturm auf die Bastille verglich. Obgleich der Tag im Gegensatz zu den nationalen Erinnerungstagen der USA und Frankreichs im historischen Rückblick nicht von Erfolg gekrönt gewesen sei, sah Schröder in ihm „ein Symbol der Freiheit und der nationalen Einheit in Freiheit.“3264 Auch Innenstaatssekretär Carl-Dieter Spranger plädierte für die Erhaltung des demokratischen Lebens in Freiheit, da darin trotz des Bekenntnisses zu humanem Fortschritt die konservative Aufgabe der Union bestehe und nur ein starker Staat aus- reichend Freiheit und Sicherheit gewährleisten könne.3265 Wiederholt nahm Helmut Kohl als Inhaber der Richtlinienkompetenz die Berichte zur Lage der Nation zum Anlass, um auf die Freiheit als Kern der deutschen Frage zu verweisen.3266 Die Einheit der Nation müsse sich heute wie vor vierzig Jahren, bemerkt er im Lagebericht des Jahres 1985 zur aus seiner Sicht unveränderten Aufgabenstellung, „zuallererst in der Freiheit ihrer Menschen erfüllen.“3267 Maßstab für die Deutschland- politik der Bundesregierung ist für den Bundeskanzler, „Nation und Freiheit zu verbinden“.3268 Insofern gelte die Entscheidung für Freiheit und Demokratie als Auftrag für ganz Deutschland und Europa,3269 womit Kohl auf die Fortführung der Westbindung setzt und infolgedessen betont, dass die Bundesrepublik „im Innern wie nach außen auf der Seite der Freiheit“ stehe.3270 Eine etwas andere Nuance vertrat der innerparteiliche Kritiker Kohls, Richard von Weizsäcker, der in seinem qua Auftrag parteineutralen Amt als Bundespräsident wiederholt darauf hinwies, dass die deutsche Frage im Spannungsfeld von Einheit und Freiheit angesiedelt sei, anders aber als im Jahr 1848

3263 Heinrich Windelen, Grundfragen der Deutschlandpolitik der Bundesregierung, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 15 vom 08.02. 1984, 133-137; hier: 134. 3264 Zum Gedenken an den 17. Juni 1953, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 72 vom 20.06. 1984, 637-639; hier: 638. 3265 Carl-Dieter Spranger, Sicherung der Freiheit und Erhaltung des Rechtstaates, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 123 vom 19.10. 1984, 1093-109; hier: 1093. Seine Argumentation, ein zweites Mal dürfe die Demokratie in Deutschland nicht untergehen, entnimmt Spranger dem „berühmten Buch ‚Die Verfassung der Freiheit’“ von „Friedrich Adolf [sic!] von Hayek“ (aaO., 1093). 3266 Vgl. zu Kohls Umgang mit den Berichten: ders., Erinnerungen 1982-1990, 168-172. 3267 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.), 40 Jahre, 5. 3268 Ebd., 11. 3269 Ebd., 23. 3270 Ebd., 29. 457 stehe die Frage der Freiheit im Mittelpunkt, weshalb Weizsäcker befindet, dass ein „Fortschritt in Richtung auf Einheit um den Preis von Freiheit [...] ein Rückschritt“ sei.3271 Die langjährige Westbindung Deutschlands fand ihren Ausdruck in dem Besuch des Amerikanischen Präsidenten im Mai 1985. Reagan reiste nach Deutschland, da sich zu diesem Zeitpunkt das Ende des Zweiten Weltkrieges zum vierzigsten Mal jährte.3272 Richard von Weizsäcker sprach dem Präsidenten der Vereinigten Staaten im Rückblick auf 40 Jahre Nachkriegsgeschichte den Dank der Deutschen aus: Als „Verteidiger der Freiheit“ seien die USA ein „Feind der Nationalsozialisten“ gewesen, als „Freund der Freiheit“ sei Amerika der „Freund des demokratischen Deutschland“ geworden.3273 Der Regierungswechsel und die damit propagierte Wende wirkte sich, wenn auch nicht umgehend, so doch über die stetige Wiederholung bestimmter konservativer Positionen, bei denen das Deutungsmuster „Freiheit“ eine wichtige Rolle spielte, auf den öffent- lichen Freiheitsdiskurs aus, da Freiheit einerseits wieder stärker im Zusammenhang mit der deutschen Teilung thematisiert, andererseits in Nachfolge des Amerikanischen Bündnispartners zum obersten Wert des politischen Handelns erklärt wurde.

4.5.25 Zunehmendes Abrücken von der nationalen Einheit – „Der Kern der deutschen Frage ist die Freiheit“

Zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, den der Amerikanische Präsident zum Anlass seines Besuches genommen hatte, hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages eine vielbeachtete Rede zur Erinnerung an den 8. Mai,3274 in der er diesen bislang ambivalent beurteilten Tag eindeutig als Tag der Befreiung interpretierte.3275 Im Rahmen seiner Rede, die innerhalb kürzester Zeit in einer Auflage von über einer Million Exemplaren Verbreitung fand,3276 forderte er dazu auf, die Freiheit zu ehren,3277 wie auch der im

3271 Richard von Weizsäcker, 21. Deutscher Evangelischer Kirchentag in Düsseldorf (08.06. 1985), in: ders., Reden, Bd. 1, 320-336; hier: 332. 3272 Vgl. Staatsbesuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 49 vom 07.05. 1985. 3273 Richard von Weizsäcker, Ansprache bei einem Abendessen zu Ehren von Präsident Ronals Reagan auf Schloß Augustusburg in Brühl (05.05. 1985), in: ders., Reden, Bd. 1, 265-272; hier: 266. 3274 Eberhard Jäkel weist in einer Auswahlausgabe von Weizsäckers Reden darauf hin, dass die Ansprache in 20 Sprachen übersetzt vorliege (Weizsäcker, Leidenschaft, 39). Vgl. zum Umfeld des 8. Mai 1985: König, Gedenk- und Feiertage, 55-72. Vgl. zur Rede auch: Völklein, Weizsäckers, 391-394. 3275 Vgl. Richard von Weizsäcker, Zeiten, 317-323. 3276 Vgl. Glaser, Kultur, 35. 458 Freiheitsdiskurs engagierte ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin anlässlich einer Vielzahl von Gelegenheiten die Bedeutung dieses Wertes für ein funktionierendes Gemeinwesen hervorhob.3278 Gerade Staatsbesuche nutzte er dazu, um an den „Grundgedanke[n] von der Unverletzbarkeit der Menschenwürde, von Freiheit und Recht“ zu erinnern.3279 Er tat dies, wie er sich über seine öffentlichkeitswirksamen Auslandsaufenthalte reflektierend bewusst wurde, weil die Zahl der Staaten in anderen Teilen der Welt, die eine vergleichbare Idee der Freiheit und Demokratie hätten, nicht groß sei.3280 Trotz dieser Situation gab er sich von der Stärke der Freiheit gegenüber der Tyrannei überzeugt.3281 In einem Einleitungsessay zu dem Werk Deutschland – Porträt einer Nation befasste sich der Bundespräsident mit der nationalidentitären Frage „Was ist eigentlich: deutsch?“3282 Weizsäcker, der in einem Geschichtsabriss die Revolution von 1789 und die Freiheitskriege als markante Entwicklungsstufen benennt, beschäftigt sich im Wesentlichen mit der „deutschen Frage“, berücksichtigt aber parallel dazu die seiner Meinung nach damit interferierende Freiheitsproblematik. „Mit der Französischen Revolution“, so der 1920 in Stuttgart geborene Weizsäcker,3283 „wurde Nation zu einem Begriff, der Freiheit meinte und forderte“,3284 was ihn auf die deutsche Situation be- zogen davon sprechen lässt, dass mit dem nationalkonstitutiven Scheitern der Revolution von 1848/49 auch die Freiheitsforderungen gescheitert seien und der Kampf um eine freiheitliche Verfassung zunächst habe pausieren müssen, woraufhin das Ringen um die Ziele staatliche Einheit und Freiheit zu einem für die deutsche historische Entwicklung prägenden Spannungsverhältnis geworden sei. „Auch heute“, formuliert Weizsäcker aus der Sicht des Jahres 1986, „bewegt sich die deutsche Frage

3277 Vgl. Richard von Weizsäcker, Der 8. Mai 1945 – Vierzig Jahre danach, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 747-765; hier: 747. Vgl. auch: Richard von Weizsäcker, Ansprache bei einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages (08.05. 1985), in: ders., Reden, Bd. 1, 279-295; hier: 295. 3278 Häufig geschieht dies in Zusammenhang mit dem Verweis auf das symbolträchtige Berlin. Vgl. z.B. Von Berlin geprägt, in: 750 Jahre Berlin – Anmerkungen – Erinnerungen – Betrachtungen (Berlin 1987), in: Weizsäcker, Reden, Bd. 3, 483-486; hier: 486. „Berlin ist der Ort, in dem jedermann versteht, worum es in der Zukunft Europas geht: um Freiheit und um friedliche Entspannung.“ 3279 Vgl. z.B. den Staatsbesuch des Königs und der Königin von Spanien vom 24.-28. Februar 1986. Ansprache bei einem Abendessen zu Ehren von König Juan Carlos I. und Königin Sofia (24.02. 1986), in: Weizsäcker, Reden, Bd. 2, 217-222; hier: 221. 3280 Vgl. Besuch des Europäischen Parlaments in Straßburg, in: Weizsäcker, Reden, Bd. 2, 109-125; hier: 119. 3281 So Weizsäcker bei seinem Staatsbesuch im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland vom 1. bis 6. Juli 1987 in Bezug auf den 2. Weltkrieg. Vgl. Ansprache vor beiden Häusern des Parlaments im House of Parliament (02.07. 1986), in: Weizsäcker, Reden, Bd. 3, 19-28; hier: 20. 3282 Was ist eigentlich: deutsch?, in: Weizsäcker, Reden, Bd. 2, 395-412. Vgl. zu Weizsäckers Bemühungen um die Frage der deutschen Identität: Winter, Bundespräsidenten, 197-200. 3283 Vgl. zur Biographie des Diplomatensohns Richard von Weizsäcker: Scholz/Süskind, Bundespräsidenten, 329-381. 3284 Was ist eigentlich: deutsch?, in: Weizsäcker, Reden, Bd. 2, 398. 459 im Spannungsfeld von Einheit und Freiheit. Aber es ist anders als damals. Der Kern der deutschen Frage ist die Freiheit. Ein Fortschritt in der deutschen Frage um den Preis der Freiheit wäre ein Rückschritt.“3285 Diese Wendung hatte er bereits zuvor als sein deutschlandpolitisches Credo geprägt; außerdem konnte er mit der Favorisierung der Freiheit vor der staatlichen Einheit an die Diskussion zu Beginn der 60er-Jahre anknüpfen.3286 Auch während der nationalsozialistischen Herrschaft, stellte der oberste Repräsentant der Bundesrepublik bei dem Besuch einer griechischen Gedenkstätte fest, sei aufgrund des Widerstandes die Freiheit nicht untergegangen.3287 „Sie wird auch in Zukunft leben, solange es Menschen gibt, die für ihre Ideale den höchsten Preis einzusetzen bereit sind, nämlich ihr eigenes Leben“,3288 zeigt sich Weizsäcker zuversichtlich, da Freiheit für ihn ein zentraler, aus der Geschichte nicht wegzudenkender Wert ist, den es um den Preis des eigenen Lebens verantwortlich zu verteidigen gilt.3289 Dadurch ganz in der Tradition seiner Amtsvorgänger stehend, ist Weizsäcker an der Vermittlung des Wertes an die Jugend gelegen, weil sie eine wichtige Aufgabe sei und mit der erschwerenden Tatsache umzugehen habe, dass die Jugendlichen in größerer Freiheit und in größerem Wohlstand lebten als je zuvor. Der Diplomatensohn gemahnt an den responsiven Charakter des Freiheitsbegriffs, insofern er der Meinung ist, dass „Freiheit ein kostbares Gut ist, für das man etwas einsetzen muss, wenn sie erhalten bleiben soll. Freiheit bietet nicht nur Rechte gegen andere, sondern auch Verantwortung gegenüber anderen und gegenüber sich selbst.“3290 Weizsäcker bezeichnet es als zweifelhaft, ob die Verfassung einen allgemeingültigen Freiheitsbegriff habe, auf den bei dieser Aufgabe rekurriert werden könne.3291 Der Bundespräsident zweifelt auch deshalb an der verfassungs- rechtlichen Fixierbarkeit des Wertes, weil Freiheit für ihn mehr als ein empirischer Gedanke ist und er in ihr ein Strukturprinzip der politischen Ordnung erkennt.3292 Mit Lothar Späth nahm ein ausgewiesener Vor- und Querdenker innerhalb der Reihen der Union den Weg der Bundesrepublik in die Informationsgesellschaft zum

3285 Ebd., 410 f. 3286 Vgl. zu der v.a. von Karl Jaspers und Alexander Rüstow angestoßenen Debatte, oben: Kap. 4.5.13. 3287 Weizsäcker besuchte vom 23. bis 27. Juni die Griechische Republik. Vgl. Ansprache an der Gedenkstätte Kaessariani (24.06. 1987), in Weizsäcker, Reden, Bd. 3, 406-408; hier: 408. 3288 Ebd. 3289 Vgl. Eröffnung der Ostsee-Akademie. Ansprache im Pommern-Zentrum in Lübeck-Travemünde (05.09. 1988), in Weizsäcker, Reden, Bd. 5, 26-30; hier: 29 f. 3290 Richard von Weizsäcker, Ansprache vor dem American Jewish Committee in New York (04.06. 1989), in: ders., Reden, Bd. 5, 256-268; hier: 260. 3291 Vgl. Richard von Weizsäcker, Ansprache bei der Verleihung des [Romano Guardini-]Preises an den Bundespräsidenten in der Katholischen Akademie in Bayern in München (06.11. 1987), in: ders., Reden, Bd. 4, 139-151; hier: 141. 3292 Vgl. ebd., 142. 460 Anlass, Gedanken zum zukünftigen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft anzustellen, die sich von Weizsäckers Gedanken insoweit absetzen, dass er dem Grundgesetzt zuspricht, ein bestimmtes Freiheitsverständnis zu fixieren.3293 Für die von ihm in Form eines Buches prognostizierte Wende in die Zukunft forderte er nicht nur wirtschaftliches, sondern auch politisches und vor allem geistiges Abschiednehmen von liebgewonnenen Positionen.3294 Der baden-württembergische Ministerpräsident be- mühte sich um Mehrdimensionalität der Betrachtung,3295 indem er sich bewusst gegen die „großen Vereinfacher“ und Ideologen verwahrt, denn sie, befindet Späth, „schätzen die individuellen Kräfte des Menschen gering, ja sie fürchten sie. Wir scheinen zwar gegenwärtig weniger ideologiebedroht, als dies nach den bedenklichen Ansätzen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zu befürchten war. Aber wir wissen andererseits mit dem erstarkten Selbst- und Freiheitsbewußtsein unserer Bürger, das sich in kritischen Fragen nach Zielen und Werten unserer zivilisatorischen Entwicklung niederschlägt, weniger anzufangen, als es im Sinne einer integrierenden und vorwärtsweisenden Gesellschaftspolitik wünschenswert wäre. Dies mag mit einem Mangel an Phantasie, mit übermäßiger Gewöhnung an Sicherheitsdenken und mit dem Scheuklappeneffekt der Alltagsroutine zusammenhängen.“3296

Die stecken gebliebene Aufklärung, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ungelöst hinterlassen habe, will Späth mit einer Wende in die Zukunft auf dem Weg in die Informationsgesellschaft vollendet wissen.3297 „Die Bürger“, konstatiert er, „empfinden deutlich das starke Wertgefälle zwischen beruflicher und sozialer Abhängigkeit und den Freiheitsräumen, die sich der einzelne selbst beimisst. Sie suchen nach Ausgleichsmöglichkeiten und finden sie vor allem in der Freizeit.“3298 Hiermit wiederholte Lothar Späth die Kritik, die schon Jahre zuvor im Zusammenhang mit dem Gedenktag für die deutsche Einheit am Verhalten freiheitsmüder Bürger geübt wurde. Im Grundgesetz sieht Späth eine vermittelnde Lösungsvorgabe ausgegeben, die die Relation von Einzelnem und Gesamtheit in einem spezifischen Freiheitskonzept regelt.3299 Die Grundgesetzväter hätten bestimmt, „daß formale, sich nur in Abwehrrechten gegenüber dem Staat erschöpfende Freiheit gleichwohl menschenunwürdige Verhältnisse schaffen kann, wenn es an materieller und sozialer Sicherheit mangelt; daß andererseits die gesellschaftliche Ordnung nicht zu einem kollektivistischen Gebilde entarten darf, welches im Menschen nur noch ein Objekt überpersonaler Bestimmungsfaktoren erblickt. Das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und Gemeinschafts- verantwortung soll also nach dem Willen des Grundgesetzes auf ‚mittlerer Ebene’,

3293 Vgl. zur Kultivierung dieses Images: Graw/Lessenthin, Lothar Späth. 3294 Vgl. Späth, Wende. 3295 Vgl. ebd., 14. 3296 Ebd., 45 f. 3297 Vgl. ebd., 144 f. 3298 Ebd., 145. 3299 Vgl. ebd., 167. 461 zwischen den Extremen isolierter Ungebundenheit und kollektivistischer Bevormundung, aufgelöst werden.“3300

Späth vertritt mit dieser Einstellung keinesfalls einen negativen Freiheitsbegriff, wie ihm vielfach von Kritikern vorgeworfen wurde, sondern folgt der Vorgabe einer zwischen Gesamtheit und Individuum vermittelnden Tradition, um die Besonderheit der deutschen historischen Entwicklung zu skizzieren. Der Geschichts- und Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Herm unternahm Mitte der 80er-Jahre unter dem an Max von Schenkendorfs Gedicht angelehnten Titel Freiheit, die ich meine den Versuch, eine „Deutsche Geschichte“ in Form einer Briefsammlung zu verfassen, um sich dadurch von der hergebrachten Historiographie zu lösen.3301 Dem Amerikaner „Mr George Shultz aus Abilene/Kansas, USA“, soll in „einer neuen, un- orthodoxen Art historischen Erzählens“ die Freiheitlichkeit der deutschen Geschichte – dies ist das zentrale Deutungsmuster, das Herms Darstellung konturiert – nahegebracht werden.3302 Der Klappentext benennt die wichtigste Erkenntnis des Buches in der Tatsache, dass die deutsche Geschichte besser sei als ihr Ruf, und teilt dem Kaufinteressent außerdem über diese mit: „freiheitliche Traditionen sind in ihr viel stärker ausgeprägt als gemeinhin angenommen.“3303 In einem der Briefe wird – um einen Eindruck der Anlage des Buches, die auf die Konstitution eines historischen Sonderwegs abzielt, zu geben – „George Shultz [...] mit der seltsamen Logik der deutschen Geschichte bekannt gemacht, lernt die Deutschen als geborene Republikaner kennen und blickt dem ersten Habsburger ins Auge.“3304 Neue Ansätze, allerdings im Bereich der Politik, verfolgten die Grünen, die sich, wie oben erwähnt, schon im Zusammenhang mit der Memorialisierung des Hambacher Fests als gesellschaftliche Initiative präsentierten, die in der Tradition der Freiheits- bewegung steht. In ihrem Wahlprogrammentwurf Demokratie und Recht,3305 der auf die Bundestagswahl 1987 ausgerichtet war, sind die historisch verbindenden Elemente der Freiheitsbewegungen – respektive in grüner Semantik: Bürgerinitiativen – mit der Umweltpartei festgehalten.3306 Erst zweimal, nämlich in der bürgerlichen Revolution von 1848 und mit der Gründung der Weimarer Republik, sei der letztendlich gescheiterte Versuch unternommen worden, in Deutschland eine demokratische

3300 Ebd. 3301 Vgl. Herm, Freiheit. Das Buch erschien erstmals 1986. 3302 Ebd., 2. 3303 Ebd., Klappentext. 3304 Ebd., 157 (sechster Brief). 3305 Vgl. zur Programmatik der Grünen: Wisenthal, Programme, in: Raschke, Die Grünen, 95-130. 3306 Vgl. Die Grünen – Bundesvorstand (Hg.), Wahlprogrammentwurf, Vorbemerkungen. 462 Gesellschaftsordnung mit bürgerlichen Freiheitsrechten zu errichten. Mit dem Grundgesetz hätten die Väter und Mütter desselben die Chance eröffnet, an diese freiheitlich demokratische Tradition anzuknüpfen.3307 Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte, bestimmt der Programmentwurf in Konkretisierung der zuvor gezogenen historischen Parallelen, werden von den Grünen rigoros abgelehnt, denn innerhalb des demokratischen Spektrums sehen sie sich „in der Tradition der Gegenwehr gegen diese Ausweitung der Staatsgewalt, gegen Überwachung und Bevormundung und unterstützen die radikaldemokratischen Forderungen der Bürgerrechtsbewegung nach Selbstbestimmung der Bürger und den Kampf für Freiheitsrechte.“3308 Der Wahlprogrammentwurf versichert, die Parteimitglieder seien davon überzeugt, „daß individuelle und kollektive Freiheitsrechte täglich neu erkämpft werden müssen.“3309 Hans Jonas empfing 1987 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, woraufhin er nicht – wie zu den Preisverleihungen ansonsten üblich – über den Frieden sprach, sondern über Technik, Freiheit und Pflicht. Jonas setzte sich mit den wesentlich von den Grünen initiierten, von dem Problem der Technikfolgenabschätzung geprägten Debatten um Nukleartechnik, Ökologie, Bioethik und Gentechnologie auseinander. Der Philosoph sieht – und greift somit eine wichtige Komponente konservativer Freiheits- deutung auf – die Freiheit des Menschen als Gattungseigenschaft darin gegründet, dass sein Leib organisch ausgestattet ist.3310 Der Freiheit müsse, um mit der angemessen Technik umzugehen, die zwischenmenschliche Pflicht zu freiwilliger Begrenzung eingeschrieben sein. „Sie ist unser aller Pflicht“, betont Jonas, „denn wir alle sind Mittäter an den Taten und Nutznießer an den Gewinnen der kollektiven Macht.“3311 Da technologische Macht kollektiv und nicht individuell daherkomme, will Jonas ihr mit einem gleichgearteten Freiheitsbegriff, also einer positiven Ausdeutung, begegnen. Die Option, dass die Menschen ein „verwöhnte[s] Jetztinteresse“ zugunsten einer „selbstlose[n] Fernsicht“ aufgeben, sieht er aufgrund der mehrheitsdemokratischen Regierungsform als unwahrscheinlich und daher problematisch für den Fortbestand der Freiheit an. Jonas evoziert das Tocquevillsche „Gespenst der Tyrannei“, um von der

3307 Ebd., 1. 3308 Ebd. 3309 Ebd. 3310 Jonas, Technik, 70. 3311 Ebd. 463 Wirksamkeit demokratischer Prozesse enttäuscht zu bemerken, „daß in Extrem- situationen kein Raum bleibt für die Entscheidungsprozesse der Demokratie“.3312

4.5.26 Die Renaissance des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ zum 40-jährigen Gründungsjubiläum der Bundesrepublik – „neue deutsche Freiheit“

# Die Regierungskoalition konnte 1987 trotz geringfügiger Verluste der Unionsparteien fortgesetzt werden, da die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten ihr bisher zweitschlechtestes Ergebnis der Bundestagswahlgeschichte zu verbuchen hatte. Erneut nutze Helmut Kohl die Regierungserklärung, um seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die zu Beginn seiner Amtszeit noch als geistig-moralische Wende firmierten, in leicht modifizierter Weise darzulegen. „Unser Leitbild“, bekundete der CDU-Parteivorsitzende und wiedergewählte Bundeskanzler, „ist eine Gesellschaft, in der sich der einzelne frei entfalten kann – auch und gerade in der Verantwortung für den Nächsten. Daraus ergeben sich zentrale Ziele unserer politischen Arbeit: Erstens. Wir wollen das Werte- bewusstsein schärfen, insbesondere den Sinn für den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. Das für uns gültige Wertesystem, wesentlich durch Christentum und Aufklärung geprägt, gründet auf der Einzigartigkeit jedes Menschen, auf der Achtung vor dem Leben, der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit. Wie bedeutsam diese Werte bleiben zeigt uns die aktuelle Diskussion über Ethik der Forschung und Schutz des Lebens. Auch die Wahrung des inneren Friedens ist im Kern eine Frage der Freiheit und ihres verantwortungs- vollen Gebrauchs.“3313

In der Treue zu Berlin sieht Kohl die Grundbedingung dafür, das Bewusstsein für die Einheit der Nation aufrecht zu erhalten. Der weltpolitische Standort wird von ihm in der freien Welt gesehen, denn, so Kohl in Aufnahme einer wiedervereinigungsrhetorischen Formel: „die Freiheit ist der Kern der deutschen Frage.“3314 Den Besuch Erich Honeckers im Jahr 1987 nahm der Bundeskanzler zum Anlass,3315 eindringlich auf die Staatszielbestimmung der Grundgesetzpräambel aufmerksam zu machen.3316 So wies er immer wieder mit Vehemenz darauf hin, dass das gesamte deutsche Volk dazu aufgefordert sei, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschland zu vollenden, was – zufolge seiner politischen Westorientierung – nur auf Basis der Werte-

3312 Ebd., 75. 3313 Helmut Kohl, Regierungserklärung vom 18.03. 1987, zit. nach: Stüwe (Hg.), Regierungserklärungen, 312-339; hier: 313. 3314 Ebd. Vgl. zu dieser Aussage auch das vorangehende Kapitel. 3315 Vgl. hierzu: Pötzl, Honecker, 252-271; Völklein, Honecker, 325-331. 3316 Vgl. zum Besuch Honeckers z.B.: Görtemaker, Geschichte, 713-715; Winkler, Weg, Bd. 2, 454-460. 464 und Sicherheitsgemeinschaft der Atlantischen Allianz geschehen könne.3317 Unterstützt wurde sein Anliegen vom liberalen Koalitionspartner. Die FDP, die sich aufgrund einer wirtschaftsliberaleren Politik wieder mehr dem Pol eines negativen Freiheitskonzepts angenähert hatte, beschloss auf ihrem Bundes- parteitag die Wiesbadener Erklärung, in der sie versuchte, Bilanzen und Perspektiven liberaler Politik nachzuspüren. Absicht der Erklärung war es nach der Bestätigung der neuerlichen Koalition mit der CDU in der Wahl vom 25. Januar 1987, eine Programm- diskussion zu initiieren, um darzustellen, dass in der Informationsgesellschaft in einem Mehr an individueller Freiheit die große Zukunftschance verborgen liege.3318 Der liberale Freiheitsbegriff, der zur Umsetzung dieser Aufgabe eingebracht werde, wird als umfassend beschrieben; „Liberale wenden sich gegen die Spaltung des Freiheits- begriffs“, heißt es lapidar.3319 Dass sich mit Individualität, die mit einem negativen Freiheitskonzept einhergeht, Geschäfte machen lassen, dass dieses Denkmuster also in der Alltagswirklichkeit der Westdeutschen am Ende der 80er-Jahre fest verankert war und sich gegen konkurrierende Gleichheitsvorstellungen durchgesetzt hatte, beweist eine Anzeige von Mercedes-Benz für die Fahrzeugbaureihe 200-300 CE, die mit dem Slogan „Individuali- tät statt Egalität“ wirbt.3320 Auch hat das Umweltbewusstsein als verkaufsförderndes Argument neben Wirtschaftlichkeit, Leistung und Dynamik Eingang in die Werbewelt gefunden. Den gleichberechtigten Zugang zur Freiheit forderte – entgegengesetzt zur Argumentation der auf Exklusivität abzielenden Reklame – der DGB auf einem internationalen Zukunftskongress, der vom 27. bis 29. Oktober 1988 stattfand. Gastredner Wolfgang Huber machte in kulturkritischer Manier einen „‚neue Indivi- dualismus’“ für den „Verfall der sozialen Kultur“ verantwortlich.3321 Auch wenn der Theologieprofessor „nicht an einen dumpfen und unbedachten Anti-Individualismus“ anknüpfen möchte, wie er ausdrücklich Abstand hiervon nimmt, kann er der deutschen Gewerkschaftsbewegung „keineswegs empfehlen sich diesen Individualismus ungeprüft und unverwandelt zu eigen zu machen.“3322

3317 Vgl. Kohl, Einheit, 4; 6. 3318 Wiesbadener Erklärung (Bundesparteitag Wiesbaden 07./08.10.1988), in: Beerfeltz/Däubler/Osswald/ Volkmann (Red.), Programm, 718-736; hier: 719. 3319 Ebd. 3320 Anzeige von Mercedes-Benz Personenwagen, in: Die Zeit Nr. 19 vom 05.05.1989, 6. 3321 Vgl. Huber, Solidarität, 16-18. Huber bezieht sich in seinen Aussagen negativ auf Helmut Schelsky (aaO., 29 f.). 3322 Ebd., 18. 465 Das 40-jährige Gründungsjubiläum der Bundesrepublik, das im Mai 1989 begangen wurde,3323 gab Raum für etliche Betrachtungen über die Situation der Republik und ihrer Bürger. Es wurden „selbstgerechte, nachdenkliche und boshafte“ Schlüsse gezogen, die Hermann Rudolph zu der Vermutung veranlassten, „daß es die eigene Nachkriegsgeschichte inzwischen gut bei den Deutschen hat,“3324 da sie „in eine Art Heimatmuseum, in dem wir uns alle irgendwie zu Hause fühlen“ transponiert worden sei. Die nur noch in rhetorischer Absicht aufrecht erhaltene Formel von der Wieder- vereinigungspolitik habe sich als „Lebenslüge der Bundesrepublik“ erwiesen, da diese als Staat nicht Vorgriff auf das ganze, nur eben im Moment umständehalber nicht realisierte Deutschland sei, sondern an den gegebenen Realitäten vorbeisehe.3325 Im Kontext der Jubiläumsfeierlichkeiten wurde die Frage nach der Identität der Bundes- republik aufgeworfen,3326 die sich unter anderem an der Frage entzündete, welcher Tag dazu verwendet werden sollte, um den „Geburtstag“ der Bonner Republik zu feiern. Gemeinsam mit dem Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen veranstaltete der Regierende Bürgermeister von Berlin im Mai 1989 einen Kongress unter dem Motto Von Weimar nach Bonn – Freiheit und Einheit als Aufgabe, der in Erinnerung an vierzig Jahre Bundesrepublik stattfand.3327 Rita Süssmuth fragte in ihrem Grußwort die Kongressteilnehmer, ob man sich überhaupt noch daran erinnere, wem die Freiheit zu verdanken sei und was Freiheit und Freiheitsbündnisse in den letzten 40 Jahren bewirkt hätten.3328 „Für mich“, bekannte die Bundestagspräsidentin in einer persönlich gefärbten Überlegung, „ist eine der wichtigsten und ermutigendsten Erfahrungen in diesen 40 Jahren, daß der Freiheitsdrang im Menschen weder nach 40 Jahren noch nach 70 Jahren zu unterdrücken ist und daß sich die Idee der Freiheit in ihm mächtiger ausgebreitet, als jene wahrhaben wollen, die gerade in der Freiheit des Menschen das Gefährlichste sehen.“3329 Auch für Dorothee Wilms,3330 Bundesministerin für innerdeutsche Be-

3323 Vgl. z.B. den Staatsakt in der Beethovenhalle Bonn am 24. Mai: Vierzig Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 51 vom 25.05. 1989, 445-456. Eine Zusammenfassung der Feierlichkeiten: Horst Waffenschmidt, Rückblick und Bilanz 40 Jahre Bundesrepublik, in: dass., Nr. 9 vom 19.01. 1990, 67 f. 3324 Hermann Rudolph, Ein Staat ist angekommen, in: SZ Nr. 114 vom 20./21.05. 1989, SZ am Wochenende (Feuilleton-Beilage), o.S. 3325 Vgl. ebd. 3326 Vgl. Theodor Graf Finck von Finckenstein, Feiern – aber was?, in: Die Zeit Nr. 20 vom 12.05. 1989, 88. 3327 Vgl. Helwig/Spittmann-Rühle (Hgg.), Weimar. Vgl. zum Deutungsmuster Bonn ist nicht Weimar: Platzdasch, Bonn. 3328 Vgl. Süssmuths Erinnerungen an das Republikjubiläum: dies., Erfahrungen, 71 f. 3329 Rita Süssmut, Grußwort, in: Helwig/Spittmann-Rühle (Hgg.), Weimar, 3-5; hier: 3. 3330 Vgl. zur politischen Biographie: Markus Gloe, Dorothee Wilms, in: Kempf/Merz (Hgg.), Kanzler, 748-752. 466 ziehungen, stellt die Freiheit das grundlegende Ordnungsprinzip Westeuropas dar,3331 weshalb sie davon überzeugt ist, dass nur die politische und gesellschaftliche Veränderung des bürokratisch-planwirtschaftlichen Systems in Richtung auf mehr Freiheit des Individuums die deutsche Frage im gesamteuropäischen Kontext lösen könne.3332 Der „alten deutschen Freiheit“ stehe,3333 konstatierte Hans Maier, nach dem 40 Jahre langen Weg der Bundesrepublik zu einer selbstbewussten Demokratie nun die „neue deutsche Freiheit“ gegenüber.3334 „Es geht die Sage, Deutschland sei ein Land der Unfreiheit, Terra oboedientiae, Land des Gehorsams“, leitet er einen Festvortrag ein, der die historische Entwicklung der Bundesrepublik als einen glücklichen Sonderfall darstellt.3335 Die Wahrnehmung eines unfreiheitlichen Nationalhabitus sei auch der Blickwinkel der westlichen Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, die Deutschland keinesfalls als Land der Freiheit angesehen hätten. Erstaunlicherweise habe sich diese Einschätzung auch in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik als Geschichtsdeutungsmodell über das Ende des Krieges hinaus im kollektiven Gedächtnis festgesetzt. Dass die Freiheit aus den Wäldern Germaniens stamme, knüpft Maier an ein Deutungsmuster, das im Rahmen der Idee einer „deutschen Freiheit“ Verwendung zur Stiftung pseudohistorischer Legitimation findet, sei seit Montesquieu ein Gemein- platz.3336 „Freiheit wurde nicht nur bewundert, weil sie Freiheit, sondern auch weil sie für die Stabilität des Ganzen nützlich war“,3337 verweist Maier auf den kollektiven Aspekt des von ihm ausgemachten Freiheitsbegriff, der der positiven Betrachtungsweise zuzurechen ist. In der Präambel des Grundgesetzes erblickte der Festredner den Anspruch auf die „alte deutsche Freiheit“ – also auf die Verwirklichung der nationalen Einheit – aufrecht erhalten, weil die Bundesrepublik als Rechtssubjekt die Freiheitschancen derer wahre, die am Verfassungswerk von 1949 nicht partizipieren konnten. Der genossenschaftliche und föderale Traditionsbestand der Selbstregierung – eine Argumentationsfigur, derer sich bereits Heinrich von Treitschke bediente3338 –, der laut Maier an eine organische

3331 Vgl. Dorothee Wilms, Die deutsche Frage – Freiheit und Einheit als Aufgabe, in: Helwig/Spittmann- Rühle (Hgg.), Weimar, 6-15; hier: 12. 3332 Vgl. ebd. 13. 3333 Vgl. zum Begriff in der Forschung: Bosl, Freiheit. 3334 Vgl. Hans Maier, Die alte und die neue deutsche Freiheit, in: FAZ Nr. 115 vom 20.05. 1989 (Bilder und Zeiten). 3335 Ebd. 3336 Vgl. zu diesem Topos auch oben: Kap. 4.1.10, 135 f. 3337 Hans Maier, Die alte und die neue deutsche Freiheit, in: FAZ Nr. 115 vom 20.05. 1989 (Bilder und Zeiten). 3338 Vgl. zu Treitschke oben: Kap. 4.1.10, 138-141. 467 bürgerliche Gemeindeform des 19. Jahrhunderts hätte anknüpfen können, sei durch den modernen Obrigkeits- und Verwaltungsstaat verdrängt worden. Das Individuum habe sich im Lauf der Zeit aus den genossenschaftlichen Bindungen herausgelöst wie auch politische Ohnmacht und Praxisferne ihren Anteil zu der Entwicklung der kritisierten negativen Freiheitsauffassung beigetragen hätten. Zwar sei mit der Weimarer Verfassung versucht worden, den Traum von der Volksherrschaft zu realisieren, doch ist Maier zufolge dieses Vorhaben an einem wirklichkeitsfremden, dem deutschen Nationalcharakter unangemessenen Demokratiebegriff gescheitert. Relativismus und Unverständnis für das parlamentarische Fair play zählt Maier in seinem Vortrag, den er im Reichstag hielt, zu den Ursachen für das Scheitern Weimars. Die Entscheidung zugunsten repräsentativer Demokratie und Parteienstaat ist für ihn ein Resultat der Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“, entspringt also nur bedingt der historischen Kontinuität und ist in wesentlichen Teilen Produkt der Reaktion auf eine davon abgehobene Ausnahmesituation. Die vielversprechenden Ansätze, die genossen- schaftliche Tradition beispielsweise in der Nachfolge von Otto Gierke aufzugreifen,3339 seien hingegen schon in der Weimarer Republik erfolglos geblieben. Auf eine spezifische deutsche Eigenheit, die sich – entsprechend der argumentatorischen Gesamt- tendenz des Vortrags – von den westlichen Demokratien abhebt, verweist Maier, wenn er in Bezug auf wehrhafte Demokratie, Parteiendemokratie und Kanzlerdemokratie feststellt, „daß das Grundgesetz in den genannten Punkten das kontinentale Verständnis von Demokratie im allgemeinen und die Rousseausche Theorie des Volkswillens im besonderen verändert hat. Doch diese Wendung war mehr als nur eine Augen- blicksreaktion auf jüngste politische Katastrophen. Sie entsprang dem Willen, in der Ausgestaltung der demokratischen Ordnung stärker an Traditionen unserer Geschichte anzuknüpfen.“3340

Die Idee eines traditionsgesättigten Sonderweges in Sachen Freiheit legt Maier nahe, indem er aufzuzeigen versucht, dass sich „im scheinbar Neuen Altes und Ältestes entdecken“ lässt und dazu sogar, um auf eine besonders antiquierte Argumentations- figur hinzuweisen, auf den Germanen-Mythos zurückgreift.3341 Nicht nur im Parlament wie in Maiers Fall, auch andernorts gedachte man den Anfängen der Bundesrepublik. So wurde in Erinnerung an den vierzigsten Jahrestag der Verfassungsgebung linkerhand des Haupteingangs der Frankfurter Paulskirche eine von Edwin Müller gestaltete Gedenktafel enthüllt, die an Heinrich von Gagern, den ersten

3339 Vgl. zu Gierke oben: Kap. 4.1.10, 135-137. 3340 Hans Maier, Die alte und die neue deutsche Freiheit, in: FAZ Nr. 115 vom 20.05. 1989 (Bilder und Zeiten). 3341 Ebd. 468 Präsidenten der Nationalversammlung, erinnerte. Die Deutschen Burschenschaften finanzierten die Platte, die den 1880 gestorbenen von Gagern in einer alten Tradition als „Vorkämpfer für deutsche Freiheit in Einheit“ darstellt.3342 Häufiger wird zu diesem Zeitpunkt in Verbindung mit der Paulskirche von „demokratischer Freiheit“ gesprochen und ein gewandeltes Freiheitsverständnis zum Ausdruck gebracht, das sich bewusst von dem in nationalkonservative Kreise abgedrifteten Deutungsmuster einer „deutschen Freiheit“ distanziert. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, George Herbert Walker Bush, ließ es sich nicht nehmen, auf Einladung Helmut Kohls Ende Mai 1989 nach Deutsch- land zu reisen und an den Jubiläumsfeierlichkeiten teilzunehmen,3343 was insofern von Bedeutung war, als dass die transatlantische Partnerschaft, die schon von Konrad Adenauer als wichtiger Baustein für eine freiheitliche Zukunft Deutschlands angesehen worden war, hierdurch bestätigt wurde. In einer Ansprache in der Rheingoldhalle in Mainz dankte der ehemalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident dem Gast aus Übersee für die durch seine Nation an der deutschen Demokratie geleistete Aufbau- hilfe3344 und stellte die deutsch-amerikanische Freundschaft als „Fundament des Friedens und der Freiheit“ heraus.3345 Ein vereinigtes Europa könne, so der Bundes- kanzler, nur in Freiheit und in enger Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika entstehen, was die Bemühungen Kohls um Freiheit und Einheit Deutschlands zugleich in eine gesamteuropäischen Perspektive rückte. Er sieht gerade auf dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Geschichte3346 – eine beliebte Argumentations- figur des Historikers Kohl – die „Chancen [...], ein Europa der Freiheit zu ver- wirklichen.“3347 Die Einschätzung, welche die Befürchtungen des transatlantischen Bündnispartners zerstreuen sollte, dass sich zu „Wiedervereinigungsphantastereien“ nur derjenige hinreißen lasse, der mit politischer Blindheit geschlagen sei, übermittelte Richard von

3342 Vgl. für die Denkmäler an der Außenseite der Paulskirche: Hils-Brockhoff/Hock, Paulskirche, 83-92. Für eine Abbildung der Gagern-Tafel: aaO., 85. 3343 Vgl. Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 54 vom 02.06. 1989, 477-488. 3344 Vgl. Helmut Kohl, Fundament des Friedens und der Freiheit. Ansprache anläßlich des Besuches des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, George H. W. Bush, in der Rheingoldhalle in Mainz am 31.05. 1989, in: ders., Bilanzen, 72-76. 3345 Ebd., 76. 3346 Vgl. Helmut Kohl, Erfahrungen aus der Geschichte als Chance für mehr Freiheit und Frieden in Europa. Begrüßungsansprache anläßlich eines Empfanges zu Ehren der Teilnehmer des Historiker- kongresses am 22. August 1989 im Berliner Reichstagsgebäude, in: ders., Bilanzen, 144-148. 3347 Helmut Kohl, Fundament des Friedens und der Freiheit. Ansprache anläßlich des Besuches des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, George H. W. Bush, in der Rheingoldhalle in Mainz am 31. Mai 1989, in: ders., Bilanzen, 72-76; hier: 76. 469 Weizsäcker den US-Offiziellen während seines Amerikabesuchs im Juni 1989.3348 In seinen um Beschwichtigung bemühten Aussagen, die in Deutschland den Osten des Westens sahen, berief er sich auf den altgedienten US-Diplomaten George F. Kennan. Der Spiegel berichtete über den Besuch in Washington, von Weizsäcker habe unermüdlich versichert, „man solle sich in Washington nicht dem Irrglauben hingeben, die DDR-Bevölkerung werde in die offenen Arme des Westens laufen, wenn sich wegen Glasnost und Perestroika dazu die Gelegenheit biete. Wohl aber wollten die Ostdeutschen mehr Freiheit und materiell besser leben.“3349 Der Bundespräsident schlug deshalb vor, die föderale Tradition Deutschlands wieder stärker in den Mittelpunkt einer zukünftigen Wiedervereinigungsdiskussion zu stellen. Einen andersgearteten Vorstoß unternahm eine rot-grüne Bürgerinitiative, um den Tag der deutschen Einheit zugunsten eines „blockübergreifenden“ „deutsch-deutschen Nationalfeiertages“ abzuschaffen.3350 Der 17. Juni, der infolge zurückgehender politischer Bindekraft bereits mehrmals zuvor zur Debatte stand, sollte durch den 18. März ersetzt werden, um an diesem Tag der im Jahr 1848 umgekommenen 183 Märzgefallenen zu gedenken. Die von dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister Berlins, Heinrich Albertz, Peter Brand, dem Sohn von Altkanzler Willy Brandt sowie General a.D. Gert Bastian und dem Grünenpolitiker Hans Christian Ströbele getragene Initiative berief sich auf die freiheitliche Tradition der am 18. März 1848 von der Obrigkeit besiegten Arbeiter und Bürger. In einem von ihnen unterzeichneten Appell heißt es über die Aufständischen: „Sie hatten für demokratische Rechte demonstriert und vor allem Presse- und Versammlungsfreiheit gefordert.“3351 Der neu zu schaffende politischer Feiertag solle „nicht an obrigkeitsstaatliche Akte, sondern an demokratische und freiheitliche Traditionen des Volkes erinnern.“3352 Dieses Anliegen stoße auch auf positives Echo in der Bürgerrechtsbewegung der DDR und biete darüber hinaus die Möglichkeit, den deutsch-deutschen Gedenktag in eine gesamteuropäische Bewegung zu überführen, doch blieb der Vorschlag wenig unbeachtet. Im Rahmen der „Geburtstagsfeierlichkeiten“ der Bundesrepublik reaktivierte ins- besondere das konservative politische Spektrum das Deutungsmusters „deutsche Freiheit“, um dadurch die als gelungen perzipierte Entwicklung der Bundesrepublik mit dem Verweis auf deren Besonderheit im internationalen Vergleich zu verknüpfen und

3348 Vgl. „Osten des Westens“, in: Der Spiegel Nr. 24 vom 12.06. 1989, 24 f.; hier: 24. 3349 Ebd. 3350 17. Juni, in: Der Spiegel Nr. 24 vom 12. Juni 1989, 28 f.; hier: 28. 3351 Appell zit. nach: Ebd., 29. 3352 Ebd., 28. 470 um die Besonderheit, die letztendlich auf ein der deutschen Nation eigenes Freiheits- verständnis, das als genuin positives kategorisiert werden kann, zurückgeführt wurde, zu rechtfertigen. Gleichzeitig ist allerdings auch eine Pluralisierung des Freiheits- diskurses zu bemerken, da alternative Deutungsangebote bereit standen, die stärker einer europäischen oder transatlantischen Perspektivierung Rechnung trugen.

4.5.27 Der Abschied von der Wiedervereinigungsidee – „auf größere Freiheit der Deutschen im anderen Teil Deutschlands hinzuwirken“

Am 17. Juni 1989, an dem nach wie vor der Opfer des SED-Regimes gedacht wurde, gab der SPD-Politiker Erhard Eppler im Rahmen der traditionellen Erinnerungsfeier im Deutschen Bundestag einer weit verbreiteten Meinung Ausdruck, als er zugunsten von Frieden und Freiheit Abstand nahm von den Einheitsbestrebungen.3353 Mit den beiden Begriffen hatte er die legitimatorischen Grundlagen der Bundesrepublik und der DDR angesprochen, wobei Freiheit sich während des Ost-West-Konflikts zum sinnbildlichen Kriterium des Systemantagonismus, hauptsächlich in einer abwehrenden, antitotalitären Ausrichtung entwickelt hatte.3354 Schon seit einiger Zeit gab es kontroverse Auseinandersetzungen darum, ob das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes noch angebracht sei.3355 So bekannte sich beispielsweise der Historiker Wolfgang J. Mommsen auf einem Symposion der Friedrich-Naumann-Stiftung dazu, dass er froh wäre, „wenn wir uns auf eine Deutschlandpolitik beschränken würden, deren erklärtes Ziel es ist, auf größere Freiheit der Deutschen im anderen Teil Deutschlands hinzuwirken.“3356 Hiermit knüpfte er an die schon damals strittigen Ideen Karl Jaspers’ aus den 60er-Jahren an.3357 Erhard Epplers Rede vor dem Bundestag3358 wurde als befreiender „Schlußstrich unter die erbitterten Streitigkeiten aus den ersten Jahrzehnten der Bonner Republik“ interpretiert.3359 Trotz der Gegebenheit, dass eine informelle Absprache zwischen den beiden großen Parteien bestand, im Wechsel einen Redner für den Tag der deutschen

3353 Vgl. die Auszüge aus der Gedenkrede Erhard Epplers zum 17. Juni: Angstvisionen bei den Freunden, in: SZ Nr. 137 vom 19.06. 1989, 6. Kompletter Abdruck der Ansprache in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 64 vom 20.07. 1989, 566-571. 3354 Wolfrum, Geschichtspolitik, 354. 3355 Vgl. hierzu z.B. die Podiumsdiskussion zum 1. Rastatter Tag des Liberalismus am 18. November 1988 (Öffentliche Podiumsdiskussion). 3356 Ebd., 115. 3357 Vgl. hierzu oben: Kap. 4.5.13. 3358 Vgl. hierzu: Winkler, Weg, Bd. 2, 484 f. 3359 Gunter Hormann, Eine Deutschstunde nach der anderen, in: Die Zeit Nr. 26 vom 23.06. 1989, 4. 471 Einheit zu benennen, war im Vorfeld des Gedenktages der Vorschlag der Sozialdemokraten, den evangelischen Politiker Eppler zur Feierstunde sprechen zu lassen, auf Kritik gestoßen.3360 Insbesondere die Beteiligung Epplers am Dialog zwischen SPD und SED bot Anlass für Bedenken, was zu einer angespannten Atmosphäre im Kontext des Feiertages beitrug, nach der Rede jedoch ins Gegenteil umschlug, da etwa der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl und der FDP-Chef Otto Graf Lambsdorf Eppler nach seinen Ausführungen ausdrücklich beglückwünschten. Alfred Dregger, der zuvor der Ansprache des SPD-Abgeordneten mit Misstrauen begegnet war, nannte Eppler nun sogar einen Patrioten.3361 Eppler erinnerte in seiner Rede an die Ängste der Nachbarn vor dem alten Groß- Deutschland, das er ausdrücklich von der neuen Bundesrepublik absetzte: „Wenn wir von Wiedervereinigung sprechen, dann hören unsere Nachbarn vor allem das ‚Wieder’. Alles, so hören viele, soll wieder so werden wie in den 74 Jahren, in denen es einen deutschen Nationalstaat gab [...] Wir müssen deutlich machen, daß wir nicht Vergangenes restaurieren, sondern Neues schaffen wollen, und zwar gemeinsam mit unseren Nachbarn.“3362 Freiheit hatte mit Epplers im gesamten Spektrum der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft wohlwollend akzeptierten Äußerungen zum 17. Juni 1989 deutsch- landpolitisch der Einheit endgültig den Rang abgelaufen. So stellte Rita Süssmuth,3363 die Präsidentin des Bundestages, beim Sparkassenforum ’89 in einer Rede die unisono gewünschte Freiheit auf den Prüfstand.3364 Das Kreditinstitut hatte ihr, wie sie anmerkte, das Thema angetragen. Mit ihrem Vortrag verwehrt sie sich – um historische Kontinuität herzustellen, in semantischer Kontinuität – dagegen, Freiheit in reine Beliebigkeit ausufern zu lassen. Aus dem Jubiläumsjahr 1989 zieht die CDU-Politikerin den Schluss, dass eine Betrachtung der Freiheit in Deutschland nicht erst mit dem Jahr 1945 einsetzen dürfe. „Insofern“, bemerkt sie, „darf nicht übersehen werden, daß in der deutschen Geschichte schon lange vor 1945 die Idee der Freiheit und ihre praktische Verwirklichung einen festen Platz haben.“3365 Süssmuth stellt sich mit ihrer These in die Reihe derjenigen, die eine genuin deutsche Freiheit gegenüber dem westlichen

3360 Vgl. Zähneknirschend wird die Union Eppler akzeptieren, in: FAZ Nr. 115 vom 20.05. 1989, 3. 3361 Vgl. Gedenkrede Epplers zum 17. Juni im Bundestag „Vom Begriff Wiedervereinigung Abstand nehmen“, in: SZ Nr. 137 vom 19.06. 1989, 2. 3362 Vgl. Angstvisionen bei den Freunden, in: SZ Nr. 137 vom 19.06. 1989, 6. 3363 Vgl. zur politischen Biographie: Irene Gerlach, Rita Süssmuth, geb. Kickuth, in: Kempf/Merz (Hgg.), Kanzler, 703-706. 3364 Vgl. Rita Süssmuth, Freiheit auf dem Prüfstand. Rede der Bundestagspräsidentin beim „Sparkassenforum ’89“ in Krefeld am 15. September 1989, in: dies., Zeit, 177-191. 3365 Ebd., 179. 472 Wertekreis abgrenzen wollen. Das Vorhandensein einer Freiheitstradition vor 1945 „steht der nach 1950 unter manchen Angehörigen der Siegermächte verbreiteten Auffassung entgegen, Deutschland sei kein Land der Freiheit, sondern vielmehr ein Land des Gehorsams. Damals wurde mitunter die Auffassung vertreten, die Deutschen hätten in ihrer Vergangenheit zu Freiheit, Verfassungsstaat und Grundrechten kein Verhältnis – eine Ansicht, die zuweilen sogar von den Deutschen selbst geteilt wurde.“3366 Die Entwicklung der bundesrepublikanischen Demokratie gilt ihr als Beleg für ein freiheitlich gesinntes Deutschland und als Gegenargument gegen die These, die das Vorhandensein unfreiheitlicher Tendenzen in der deutschen Geschichte behauptet. Mit einem Verweis auf Hans Maiers Vortrag zur so genannten alten und neuen deutschen Freiheit, dem ihre Argumentation teilweise wortgetreu entlehnt ist, erinnert die Bundesfamilienministerin an „die Tradition der genossenschaftlichen Freiheits- bewegung“3367 und gibt stolz kund, dass es in Deutschland zu keiner Zeit ein Staats- wesen gegeben habe, in dem in ähnlich hohem Maße individuelle Freiheit zugestanden und zugemutet worden sei. Des Weiteren beäugt Rita Süssmuth das im 18. Jahrhundert entwickelte Konzept der individuellen Freiheit eher kritisch, da es „oft nicht als Freiheit zum, sondern als Freiheit vom Staat verstanden“ – also als negatives Freiheitskonzept umgesetzt – worden sei.3368 Die Sozialpolitikerin hingegen vertritt eine positive, auf die Gesamtheit bezogene Freiheitsvorstellung und verweist hierzu auf das personalistische Menschenbild des Grundgesetzes, das in der Interpretation der Verfassungshüter „nicht das eines isolierten souveränen Individuums, sondern das einer gemeinschafts- bezogenen Person ist.“3369

4.5.28 Die unverhoffte Wiedervereinigung – „im Geist der Freiheit wieder zusammenfinden“

Einen Tag vor der überraschenden Öffnung der Mauer am 9. November 1989 erstattete Helmut Kohl vor dem Bundestag Bericht über die Lage der Nation im geteilten Deutschland3370 und erkannte in der freien Selbstbestimmung für alle Deutschen das

3366 Ebd., 179 f. 3367 Ebd., 180. 3368 Ebd., 181 f. 3369 Ebd., 185. 3370 Vgl. Helmut Kohl, Aufbruch zu Freiheit und Selbstbestimmung. Die Deutschland- und Europapolitik im Blick auf den Zerfall der Diktaturen des Ostblocks. Bericht zur Lage der Nation im Geteilten 473 „Herzstück“ der Deutschlandpolitik. „Die Ausstrahlungskraft der Freiheit, die Anziehungskraft der rechtstaatlichen Demokratie und der elementare Wunsch der Völker nach Selbstbestimmung“ versichert der Unionsvorsitzende, „erzeugen eine historisch zu nennende Dynamik, die sich heute in ganz Europa Bahn bricht.“3371 Die Zeit arbeite für – und nicht gegen – die Sache der Freiheit, weshalb es keinen Grund dafür gebe, nicht an den freiheitlichen Zielen der Deutschlandpolitik festzuhalten. In seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, auf der Václav Havel mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hatte Kohl schon zuvor darauf hingewiesen, dass sich die Idee der Freiheit und Individualität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa mehr und mehr durchsetze.3372 Die Reaktionen auf die Maueröffnung am 9. November waren unterschiedlich, unter anderem wurde der Tag als „Akt der Selbstbefreiung“ eingeschätzt.3373 Richard von Weizsäckers Freiheitsverständnis ist, ähnlich zu demjenigen seines Amtsvorgänger Carstens, ein christlich geprägtes,3374 weshalb der ehemalige Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages3375 gerne der Bitte nachkam, im Rahmen eines Abendmahl-Gottesdienstes zu den in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin versammelten Menschen über das Thema „In der Freiheit bestehen“ zu sprechen.3376 Seine Rede, die er drei Tage nach der Öffnung der Mauer am 12. November 1989 hielt, schickte er einige Worte aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater voraus3377 und leitete daraus ab, es sei nun an der Zeit, Ernst mit der Freiheit zu machen.3378 Weizsäcker warnte jedoch vor einem selbstbezogenen Missbrauch der Freiheit und forderte dazu auf, dankbar zu sein, „daß wir in der Freiheit, die wir haben, verantwortlich gebraucht werden. Indem wir einander dienen, erfüllen wir unser Leben

Deutschland, 8. November 1989, in: ders., Bilanzen, 231-250. Vgl. zum Mauerfall: Hertle, Mauerfall; ders., Fall, 163-240. 3371 Helmut Kohl, Aufbruch zu Freiheit und Selbstbestimmung, aaO., 236. 3372 Helmut Kohl, Bekenntnis zu den Werten von Freiheit und Menschenrechten, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 106 vom 17.10. 1989, 913-916: hier: 913. 3373 Der 9. November war ein Akt der Selbstbefreiung. Gespräch mit Dr. Wolfgang Herger, Berlin, 05.03.1992, in: Hertle, Fall, 336-352 3374 Vgl. zum evangelischen Christen Weizsäcker: Filmer/Schwan, Richard von Weizsäcker, 91-126 (Kap. VIII). 3375 Vgl. zu dieser Tätigkeit: Weizsäcker, Zeiten, 159-166. 3376 In der Freiheit bestehen, in: Weizsäcker, Reden, 121-124. 3377 Weizsäcker zitierte Gal. 5, 13: „So bestehet nun in der Freiheit, zu der Christus befreit hat, und lasset Euch nicht wieder in ein knechtiges Joch einfangen. Ihr seid zur Freiheit berufen. Allein sehet zu, daß Ihr die Freiheit nicht mißbraucht, Euch selbst zu lieben. Sondern durch die Liebe diene einer dem anderen.“ 3378 Vgl. In der Freiheit bestehen, in: Weizsäcker, Reden, 123. Als Einzelforderungen zählt Weizsäcker auf: „Freiheit zur Wahrheit in den Medien“; „Freiheit der Institutionen“; „Freiheit zu geheimen Wahlen“; „Freiheit zum eigenen Engagement im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich“; „Freiheit in der Bildung“ (ebd.). 474 in der Freiheit.“3379 Auch späterhin mahnte er zum verantwortlichen Umgang mit der erstrittenen Freiheit.3380 Mit dem Zehn-Punkte-Plan,3381 den Helmut Kohl unter größter Geheimhaltung ausgearbeitet hatte,3382 trat er am 28. November 1989 vor den Bundestag. Zur Be- gründung seiner „Offensive“3383 wies er mit Stolz darauf hin, dass die Deutschen in der DDR mit ihrem „friedlichen Eintreten für Freiheit, für Menschenrechte und Selbstbestimmung vor aller Welt ein Beispiel ihres Mutes und ihrer Freiheitsliebe gegeben haben“.3384 Kohl folgt damit einem Interpretationsmuster, das den Weg in die Wiedervereinigung als Freiheitsbewegung darstellt.3385 Fernerhin zeigte sich der Bundeskanzler „beeindruckt vom lebendigen und vom ungebrochenen Freiheitswillen, der die Menschen in Leipzig und in vielen anderen Städten bewegt“3386 und sieht dies zugleich als Signal für die internationalen Partner, das ihnen zeigen soll, dass die Deutschen, die „im Geist der Freiheit wieder zusammenfinden [,..] niemals eine Bedrohung sein“3387 werden. Der CDU-Vorsitzende setzt den Weg seiner Amtsvorgänger fort, indem er die Einbindung seiner Politik in die Gemeinschaft freiheitlicher Demokratien ausbaute, womit die deutsche Frage auf dem Weg zur Einheit in die europäische Verantwortung überführt wurde.3388 Nach langwieriger Beratung beschloss die Sozialdemokratische Partei am 20. Dezember 1989 auf einem Parteitag ihr neues Grundsatzprogramm,3389 in dessen Formulierungen vor allem die Fortschritts-, Friedens- und Ökologiediskussion der 80er- Jahre ihren Niederschlag fand.3390 Um näher an den Ereignissen zu sein, wurde der ursprünglich in Bremen lokalisierte Kongress kurzfristig nach Berlin verlegt. Kritisch geht die SPD mit den Errungenschaften der Moderne ins Gericht, denn die bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit hätten „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mehr

3379 Ebd., 124. 3380 Vgl. Richard von Weizsäcker, Die erstrittene Freiheit verantwortlich gebrauchen, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 143 vom 15.12. 1989, 1213-1216. 3381 Vgl. z.B.: Görtemaker, Geschichte, 736-738. 3382 Vgl. Kohl, Deutschlands Einheit, 157-211. 3383 Vgl. Kohl, Erinnerungen 1982-1990, 988-1019. 3384 Helmut Kohl, Ein Zehn-Punkte-Programm, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 771-787; hier: 771. 3385 Vgl. zu dem Interpretationsmuster im Spannungsverhältnis der deutschen Geschichte von Einheit und Freiheit: Wolfrum, Geschichte, 78-85. 3386 Helmut Kohl, Ein Zehn-Punkte-Programm, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 771-787; hier: 771. 3387 Ebd., 772. 3388 Vgl. Helmut Kohl, Die deutsche Frage und die europäische Verantwortung, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 9 vom 19.01. 1990, 61-66. 3389 Vgl. Vorstand der SPD (Hg.), Protokoll vom Programm-Parteitag. Vgl. zur linguistisch-semantischen Gestalt: Ballnuß, Begriffsbesetzung. 3390 Vgl. Lederer, Freiheit, 192. 475 beschworen als verwirklicht.“3391 Das Grundsatzprogramm hebt die wechselseitige Bedingtheit von Sozial- und Freiheitsrechten hervor, was sich im Eintreten für „eine solidarische Gesellschaft mit gleicher Freiheit für alle Menschen“ niederschlägt.3392 Nur wer sich sozial ausreichend gesichert wisse, heißt es im Abschnitt über „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Grundwerte des Demokratischen Sozialismus“, könne seine Chance zur Freiheit nutzen.3393 Bereits am 25. Februar 1990 kam es zur neuerlichen Verabschiedung eines Grundsatzprogramms – diesmal der gesamtdeutschen SPD –, das in einigen Aspekten andere Akzentuierungen setzt, aber auf der Grundlage des Berliner Programms beruht.3394 Explizit wurde den Erfahrungen aus dem realexistierenden Sozialismus mit seinem „System der Entmündigung und Unfreiheit“ Rechnung getragen,3395 was allerdings nichts daran änderte, dass sich Freiheit unter den maßgebenden Grund- prinzipien wiederfand. Die Gesellschaft – hierin kommt das positive Freiheitskonzept der Sozialdemokratie zum Vorschein – im Sinn „eines gesicherten, von Existenzangst, Not und Bedrückung entlasteten Handlungsfeldes“ erhält die Aufgabe angetragen, „durch vernunftgeleitetes Handeln gemeinsam Freiheit zu schaffen.“3396 Gesell- schaftlicher Pluralismus wird nun – Resultat einer langfristigen Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt beim sozialistischen Gesellschaftsverständnis nahm – als Chance begriffen.3397 Carl Friedrich von Weizsäcker sprach im März 1990 in Sankt Nikolai in Leipzig über den Gang zur Freiheit. 1989 ist für den Philosophen und Kernphysiker von Weizsäcker im historischen Rückblick ein unvergessliches Jahr, da in ihm sechs Völker des öst- lichen Europas den Weg zur Freiheit gegangen sind.3398 Der Bruder des Bundes- präsidenten erkennt, dass in der momentanen Situation dieser Völker die nationale Komponente der Freiheit die vorrangige Rolle spiele.3399 Der Parteitag der CDU – um die programmatische Reaktion der Union auf die Vereinigung zu betrachten –, der in den beiden Tagen vor der staatlichen Wiedervereinigung stattfand, hob freudevoll die Rolle der Partei auf dem Gebiet der

3391 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Programmparteitag in Berlin 1989, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 372-445; hier: 374. 3392 Ebd., 374. 3393 Vgl. ebd., 379. Vgl. zur Wertetrias auch: Ballnuß, 48-52. 3394 Vgl. Pothoff/Miller, Geschichte, 319-323. 3395 Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Parteitag in Leipzig 1990, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 448-490; hier: 448. 3396 Ebd., 454. 3397 Vgl. ebd., 459. 3398 Vgl. Weizsäcker, Gang, 9. 3399 Vgl. ebd., 22. Vgl. zu den Brüdern Weizsäcker: Völklein, Weizäckers, 211-405. 476 Deutschlandpolitik heraus. Die CDU habe, heftet sich die Partei nun ans Revers, immer an dem „Ziel eines freien und geeinten Deutschlands in einem freien und geeinten Europa festgehalten“.3400 Die Verwirklichung der Freiheit bedürfe der sozialen Gerechtigkeit und der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung, womit eine positive Staatstätigkeit als Grundlage der Freiheit verbunden ist, denn „[die] soziale Sicherung soll die Risiken absichern, die der einzelne allein nicht bewältigen kann.“3401 Anlässlich des Staatsaktes zum Vollzug der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990 sprach Richard von Weizsäcker zum Themenbereich Einheit und Freiheit, wobei er Bezug nahm auf die Präambel der deutschen Verfassung von 1949, die die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands als Staatsziel bestimmte.3402 Das Staatsoberhaupt erinnerte daran, dass die Hoffnung auf Freiheit und auf Überwindung der Teilung in Europa, in Deutschland und zumal in Berlin in der Nachkriegszeit nie untergegangen sei;3403 dass die Einheit nach sechzig Jahren bitterer Unterdrückung erfolgt sei, habe sie nur erstaunlicher und glaubwürdiger gemacht. Der Bundespräsident resümiert: „Demo- kraten hatten sich zusammengefunden mit dem Ziel der Freiheit und der Solidarität, beides in einem ein Auftrag für uns alle.“3404 In der bevorstehenden Verantwortung der Freiheit werde sich zeigen, ob die Menschen ethisch und damit am Ende auch biologisch überlebensfähig seien.3405 In der Nacht des 2. Oktobers hatte ab 23.55 Uhr die Freiheitsglocke im Turm des Schöneberger Rathauses die staatliche Wiedervereinigung eingeläutet,3406 Punkt Mitternacht war die staatliche Einheit rechtskräftig hergestellt,3407 aber die Frage nach der Gestalt der Freiheit blieb auch weiterhin bestehen.

3400 Manifest zur Vereinigung der Christlich Demokratischen Union Deutschlands: „Ja zu Deutschland – Ja zur Zukunft“, 1. Parteitag, 1.-2. Oktober 1990, Hamburg, in: Hintze (Hg.), CDU-Parteiprogramme, 321-348; hier: 321. 3401 Ebd., 323. 3402 Vgl. Richard von Weizsäcker, Einheit und Freiheit, zit. nach: Recker (Hg.), Reden, Bd. 4, 788-806; hier: 788. 3403 Vgl. ebd., 791. 3404 Ebd., 793. 3405 Vgl. ebd., 805. 3406 Vgl. Geppert, Freiheitsglocke, 250. 3407 Vgl. für den Hergang des Staatsaktes am 3. Oktober: Das Deutsche Volk hat in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 118 vom 05.10. 1990, 1225-1248. 477