APuZAus Politik und Zeitgeschichte 61. Jahrgang · 46–47/2011 · 14. November 2011

Ende des Atomzeitalters?

Ortwin Renn Wissen und Moral – Stadien der Risikowahrnehmung

Joachim Radkau Eine kurze Geschichte der Antiatomkraftbewegung

Severin Fischer Das „Modell Deutschland“ und die europäische Energiepolitik

Martin Keilhacker · Hardo Bruhns „“: Wohin führt der Weg?

Konrad Kleinknecht Abkehr vom Klimaschutz?

M. Bürger · M. Buck · G. Pohlner · J. Starflinger Fukushima – Gefahr gebannt? Lernen aus der Katastrophe

Rafaela Hillerbrand Von Risikoabschätzungen zum „guten Leben“

Philipp Gassert Popularität der Apokalypse: Zur Nuklearangst seit 1945 Editorial Vor einem Jahr beschloss die Bundesregierung, die Laufzeit der deutschen Kernkraftwerke zu verlängern. Unter lautstar- kem Protest der Opposition machte sie damit den Atomaus- stieg rückgängig, den Rot-Grün neun Jahre zuvor mit der In- dustrie ausgehandelt hatte. Heute erscheint dieser Beschluss wie aus einer anderen Zeit. Denn seither hat sich die Lage drama- tisch verändert: Das Reaktorunglück im japanischen Fukushi- ma im März 2011 führte zu einer Neubewertung der Risiken der Kernenergiegewinnung, und nach einem dreimonatigen Mora- torium folgte – für viele überraschend eilig – der erneute, so- gar noch beschleunigte Ausstieg. 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen.

Die Entscheidung fußt auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens, und sie stellt einen Sieg dar für die vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit Ende der 1960er Jahre gegen Atomkraft engagiert haben. Doch ist das „Atomzeitalter“ damit wirklich beendet? Andere EU-Länder, darunter direkte Nachbarn wie Frankreich oder Polen, sind weit davon entfernt, dem deutschen Beispiel zu folgen. Und Deutschland wird möglicherweise selbst eine Zeit lang auf Stromimporte aus ausländischen Kernkraft- werken angewiesen sein.

Zugleich stellen sich weitere Fragen hinsichtlich der „Energie- wende“. Den vormals in Kernkraftwerken erzeugten Strom gilt es aus anderen Quellen zu ersetzen, ohne dabei den Klimaschutz und die notwendige Reduzierung der Treibhausgasemissionen aus dem Blick zu verlieren. Zwar gibt es Studien, die den erneuer- baren Energien das Potenzial bescheinigen, die Lücke zu schlie- ßen, aber nach derzeitigem Ausbaustand ist ungewiss, ob dies binnen zehn Jahren geschehen kann – zumindest unter Beibehal- tung unseres jetzigen, energieintensiven Produktions- und Le- bensstils. Im Alleingang ist die „Energiewende“ nicht zu schaf- fen. Soll sie gelingen, bedarf es – mindestens auf europäischer Ebene – buchstäblich einer deutlich stärkeren Vernetzung.

Johannes Piepenbrink Ortwin Renn andere Großtechniken in Deutschland und anderen westlichen Ländern vergegenwärtigt. Im Folgenden soll daher die Kern­energie­ Wissen und Moral – debatte rekonstruiert und in den größeren Zu- sammenhang der Auseinandersetzungen um Stadien der Risiko- großtechnische Risiken eingebettet werden. Dabei geht es weniger um einen historischen Abriss als vielmehr um den Versuch, die Ge- wahrnehmung nese und den Verlauf eines Diskurses zu be- Essay schreiben und soziologisch zu deuten. Zäsur von 1986 ie Ereignisse in Fukushima haben in DDeutschland zu einer deutlichen Zäsur Moderne Großtechnologien wie die Nutzung in der Bewertung von großtechnischen Risi- der Kernkraft genossen bis in die 1970er Jah- ken geführt: Alle poli- re starken öffentlichen Rückhalt, und die Ortwin Renn tischen Parteien, die im Vertreter der technischen Elite hatten maß- Dr. rer. pol., Dr. sc. h. c., Bundestag vertreten geblichen Einfluss auf die Politik. ❙2 Die Risi- geb. 1951; Professor für Umwelt- sind, nahezu alle re- koabschätzungen der Experten lieferten aus- und Techniksoziologie am Insti- levanten gesellschaft- reichenden Rückhalt dafür, dass die intuitive tut für Sozialwissenschaften der lichen Gruppen sowie Wahrnehmung andauernder Bedrohungen, Universität Stuttgart, Seiden- die Mehrheit der Be- die in vielen Risikowahrnehmungsstudien straße 36, 70174 Stuttgart. völkerung haben sich zum Ausdruck kamen, ❙3 als ungerechtfer- ortwin.renn@ auf einen Ausstieg aus tigt erschien. Trotz einer großen Anzahl von sowi.uni-stuttgart.de der Kernenergienut- Bewegungen gegen die höchst unpopuläre http://ortwin.gingedas.net zung in Deutschland Kernenergie, trotz andauerndem Protest ge- geeinigt. Dabei sind gen den Bau neuer chemischer Fabriken oder die Risiken der Kernenergie in Deutschland die Erweiterungen von Flughäfen, trotz Al- nach Fukushima nicht anders zu bewerten als ternativbewegungen, die überall in Europa vorher. Die Ethikkommission schreibt dazu: und den USA aufkamen, waren die Vertreter „Die Risiken der Kernenergie haben sich mit der Technikeliten in der Lage, konservative, Fukushima nicht verändert, wohl aber die liberale und sozialdemokratische Parteien in Risikowahrnehmung. Mehr Menschen als allen westlichen Ländern von ihren Ideen und früher ist bewusst geworden, dass die Risi- Plänen zu überzeugen. In Deutschland wur- ken eines großen Unfalls nicht nur hypothe- den Kernkraftwerke gebaut und in Betrieb tisch vorhanden sind, sondern dass sich sol- genommen, in der Schweiz liefen alle Volks- che Unfälle auch konkret ereignen können. entscheide bis 1986 darauf hinaus, Kern- Somit hat sich die Wahrnehmung eines rele- kraftwerke in Betrieb zu behalten. In Schwe- vanten Teils der Gesellschaft an die Realität den bestimmte 1980 ein Volksentscheid, die der Risiken angepasst.“ ❙1 bestehenden Kernkraftwerke in begrenztem Rahmen bis zu einer vorbestimmten Laufzeit Angesichts der unveränderten Risikolage im Betrieb zu halten. ist es verwunderlich, dass die Politik so rasch und so gleichförmig auf die Ereignisse in Fu- Dieses Bild änderte sich dramatisch nach kushima reagiert hat. Allerdings ist die Kern- den drei Katastrophen von 1986: der Explo- kraft in Deutschland schon seit Jahrzehnten umstritten. Dass allerdings die schwarz-gel- ❙1 Ethikkommission der Bundesregierung, Zukünf- be Koalition umgehend ihre Politik auf den tige Energieversorgung, Berlin 2011. Kopf stellte und sich an die Spitze der Befür- ❙2 Die folgenden Ausführungen sind zum Teil mei- worter eines schnellen Ausstiegs setzte, hat nem Aufsatz entnommen: Ortwin Renn, Abschied viele überrascht. von der „Risiko-Gesellschaft“?, in: Jens Aderhold/ Olaf Kranz (Hrsg.), Intention und Funktion. Pro- blem der Vermittlung psychischer und sozialer Sys- Die massive Reaktion in Deutschland ist nur teme, Wiesbaden 2007, S. 230–251. verständlich, wenn man sich die Entwicklung ❙3 Vgl. Ortwin Renn, Risikowahrnehmung der Kern- des politischen Diskurses um Kernenergie und energie, Frankfurt/M. 1984.

APuZ 46–47/2011 3 sion der US-Raumfähre „Challenger“ (Janu- Das Imperium schlägt zurück: ar), dem Reaktorunglück im Kernkraftwerk Tschernobyl (April) und dem Großbrand in Die Rache der technischen Elite einem Chemiewerk in Schweizerhalle bei Ba- sel (November). ❙4 Unterstützer von Groß- Im ersten Jahrzehnt nach den Ereignissen von technologien gerieten nunmehr in die Defen- 1986 wurde die technische Risikoelite in eine sive, während die Skeptiker damit begannen, Verteidigungshaltung gedrängt. Doch nach ein neues Denken über Risiken in Politik und 1996 drehte sich der Wind von neuem. Die in Gesellschaft zu verankern. Jetzt wurden die der Nach-Tschernobyl-Zeit verschmähte Lo- Experten nicht nur für mangelnde Moralität, gik der Experten wurde rehabilitiert, als be- sondern darüber hinaus auch für mangelnde kannt wurde, dass die Katastrophen von 1986 Rationalität ihres Fachwissens zur Verant- so katastrophal, wie zu Anfang befürchtet, wortung gezogen. Nahezu alle europäischen gar nicht waren. Der Rhein hatte sich von dem Länder bis auf Frankreich setzten die Ent- Unfall in Schweizerhalle sehr viel schneller wicklung der Kernenergie aus. In Deutsch- erholt, als selbst die Optimisten es zu prog- land wurde nach langen und erbitterten nostizieren gewagt hätten. Die „Challenger“- Auseinandersetzungen das Projekt zur Wie- Katastrophe blieb bis auf ein weiteres Ereig- deraufbereitung von Nuklearabfällen aufge- nis die Ausnahme bei der Erkundung des geben. Später entschied die neue Regierung Weltraums. Gemäß dem Urteil der meisten unter Gerhard Schröder, aus der Kernenergie Toxikologen und Strahlenforscher hatte sogar ganz auszusteigen. der große Reaktorunfall von Tschernobyl we- sentlich weniger Opfer hervorgerufen, als es Die Kernkraft war aber nicht die einzige in der Öffentlichkeit dargestellt worden war. Technologie, die nach gründlicher Infrage- stellung durch Gegenexperten und Bürger- Von daher entpuppten sich nach Ansicht initiativen in Misskredit geriet. Es gab eine der Experten die scheinbar apokalyptischen überbordende Stimmung der Ablehnung ge- Ereignisse des Jahres 1986 lediglich als eine gen die chemische Industrie, Wiederaufberei- Episode in der Folge von tragischen, aber tungsanlagen von Abfällen, Straßenbauplä- letztlich unvermeidbaren Vorfällen – wie nen, Flughafenerweiterungen und schließlich Dammbrüche, Hurrikane, Fluten, Erdbe- auch der Inbetriebnahme erster Labors und ben und anderem. War damit das Ende der Produktionsanlagen zur Anwendung von „Risikogesellschaft“ eingeläutet? In der Tat Gentechnik. ❙5 Die magischen Begriffe der kehrten viele Experten zum alten Stil zu- späten 1980er Jahre waren „Dezentralisati- rück. Risikoabschätzung und -bewertung on“, „verbrauchernahe Versorgung“, „erneu- sollten sich wieder an der Produktformel von erbare Energien“, „ökologische Landwirt- Wahrscheinlichkeit und Ausmaß orientie- schaft“, „Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel“ ren und als Grundlage der staatlichen Risi- und „technische Entwicklung auf Grundlage kobewertung dienen. Vor allem kritisierten sanfter Technologien“. Diese neue Sichtwei- Risikoanalytiker die Regulierungsbehörden se von Risiko fand ihren Niederschlag auch und mit ihnen die Politik, sie würde ihre Ent- in der Durchsetzung härterer Sicherheits- scheidungen statt auf Basis der harten, wis- kriterien und der strengen Anwendung des senschaftlichen Daten auf Basis der in der ­Vorsorgeprinzips. ❙6 Regel verzerrten Risikowahrnehmungen der betroffenen Menschen treffen. Denn dadurch würden mehr Menschen in Gefahr gebracht 4 ❙ Vgl. ders., Risk Governance. Coping with Uncer- als bei nüchterner Abwägung der Risiken. ❙7 tainty in a Complex World, London 2008, S. 53 ff. ❙5 Vgl. Lennart Sjöberg et al., Risk Perception in Commemoration of Chernobyl: A Cross-Natio- Am Ende des Jahres 1990 schien das Pendel nal Study, Rhizikon: Risk Research Report No. 33, zurück zu schwingen zu einer neuen Ära, in Stockholm 2000. ❙6 Vgl. Peter Sand, The Precautionary Principle: A European Perspective, in: Human and Ecological ❙7 Vgl. Frank B. Cross, Facts and Values in Risk As- Risk Assessment, 6 (2000) 3, S. 445–458; Ortwin sessment, in: Reliability Engineering and Systems Renn et al. (eds.), Precautionary Risk Appraisal and Safety, (1998) 59, S. 27–45; David Okrent, Risk Per- Management. An Orientation for Meeting the Pre- ception and Risk Management: On Knowledge, Re- cautionary Principle in the European Union, Bremen source Allocation and Equity, in: Reliability Engi- 2009. neering and Systems Safety, (1998) 59, S. 17–25.

4 APuZ 46–47/2011 der Experten wieder das Zepter in der Risi- anderen Ereignissen oder Folgen im Vorder- koabschätzung und -bewertung in der Hand grund. So hat die Hypothekenkrise ab Früh- trugen. Zur gleichen Zeit warnten jedoch viele jahr 2007 auch die Finanzprodukte betroffen, Analytiker aus den Sozialwissenschaften da- deren Buchwerte sich auf andere, durchaus in vor, dass die Missachtung öffentlicher Wahr- sich solide finanzierte Schuldverschreibun- nehmung ihren Preis fordern würde. ❙8 Man gen bezogen. In der finanzwissenschaftlichen würde diejenigen von der Politik entfremden, Betrachtung wurde schon früh erkannt, dass die sich als aktive Staatsbürger um politische solche systemischen Ereignisse nicht alleine Steuerungsfragen kümmern wollten. Zudem in der Ökonomie auftreten können, sondern würde mit einer einseitigen Abstützung auf auch in anderen gesellschaftlichen Systemen. Expertenurteile auch der potenzielle Beitrag Allgemein wurde auf die besondere Verletz- unterschätzt, den die Öffentlichkeit bei der lichkeit hoch vernetzter Systeme hingewie- Entscheidungsfindung im Risikomanage- sen, in denen der Zusammenbruch einzelner ment liefern könne. Die vielen Bürgerprotes- Systemkomponenten in der Art des Domi- te, die sich in den Folgejahren entwickelten, noeffekts auch andere Teile des Systems und legen Zeugnis davon ab, dass die Entschei- schließlich gar das ganze System erfassen dungsträger zwar stärker auf Expertenurteile kann. ❙11 zurückgriffen, die breite Öffentlichkeit aber weiterhin dem eher postmodernen Gedan- Systemische Risiken beschreiben Zustän- ken an eine Pluralität von Wahrheiten und de, bei denen sich die eine Bedrohung durch dem Egalitätsprinzip von Rechtfertigungen die Verknüpfung von Risikopotenzialen aus ­anhing. unterschiedlichen Einflusssphären (Technik, Wirtschaft, Lebensstil) und ihren funktiona- len Abhängigkeiten ergibt. Die Entwicklun- Nach der Jahrtausendwende gen der Globalisierung vergrößern das Po- tenzial systemischer Risiken. Insbesondere Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends lassen sich folgende Einflussfaktoren auffüh- veränderte sich die Debatte über Risiken ren, welche die Verwundbarkeit vergrößern: ein weiteres Mal: das Augenmerk richtete sich zunehmend in Richtung auf soziale Ri- • die Geschwindigkeit der Verstädterung siken, insbesondere Terrorismus, Sabotage, (voraussichtlich werden nach 2020 zwei Mobbing, Depression, Selbstmord und ande- Drittel der Weltbevölkerung in Städten re schwer zu fassende Gründe für menschli- ­l e b e n ) ; ❙12 ches Leid. ❙9 Zu einem dramatischen Wandel • die unzureichende Infrastruktur, um der im Denken über Risiken kam es aber erst mit Verstädterung gerecht zu werden; ❙13 dem Aufkommen eines neuen Risikotyps, der mit dem Begriff „systemisches Risiko“ • die Kopplung voneinander unabhängiger verbunden wurde. ❙10 Risikoquellen (Wechselwirkung von Na- turkatastrophen mit chemischen, techno- Seinen Ursprung hat dieser Begriff in den logischen, durch Lebensstil bedingten und Finanzwissenschaften. Zunächst werden da- sozialen Risiken); ❙14 mit recht allgemein Risiken bezeichnet, die ein Finanzsystem oder die Ökonomie ins- gesamt und nicht nur spezifische Markt- ❙11 Vgl. George G. Kaufman/Kenneth E. Scott, What teilnehmer betreffen. Gleichzeitig steht bei is Systemic Risk, and Do Bank Regulators Retard systemischen Risiken die nicht intendierte or Contribute to it?, in: The Independent Review, 7 Verknüpfung von Ereignissen mit anschei- (2003) 3, S. 371–391. ❙12 Vgl. Brigit G. Jones/Walter A. Kandel, Population nend damit nicht funktional verbundenen Growth, Urbanization, Disaster Risk and Vulnera- bility in Metropolitan Areas: A Conceptual Frame- ❙8 Vgl. Sheila Jasanoff, The Songlines of Risk, in: En- work, in: Aaron Kreimer/Michael Munasinghe (eds.), vironmental Values, 8 (1999) 2, S. 135–152. Environmental Management and Urban Vulnerabili- ❙9 Vgl. OECD, Emerging Systemic Risks. Final Re- ty. Discussion Paper No. 168, The World Bank, Wa- port to the OECD Futures Project, Paris 2003. shington, D. C. 1992. ❙10 Vgl. Ortwin Renn/Florian Keil, Was ist das Syste- ❙13 Vgl. OECD (Anm. 9), S. 44 ff. mische an systemischen Risiken?, in: GAIA Ecologi- ❙14 Vgl. Ortwin Renn, Three Decades of Risk Re- cal Perspectives for Science and Society, 18 (2009) 2, search: Accomplishments and New Challenges, in: S. 97 ff. Journal of Risk Research, 1 (1997) 1, S. 49–71.

APuZ 46–47/2011 5 • die Zunahme der Mobilität und kulturelle Hochtechnologieland wie Japan naheliegen- Entwurzelung (und dadurch auch Verlust de Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehal- traditioneller Managementfähigkeiten); ❙15 ten und im Verlauf der Katastrophenbewäl- tigung zahlreiche Fehler gemacht wurden, • die Verstärkung und Intensivierung sozia- unterstreicht den Eindruck, dass die moder- ler Konflikte; nen Institutionen des Risikomanagements • die mangelnde Pufferkapazität bei Krisen die Gefahren nicht mehr beherrschen, von und zu geringe Anpassungsmöglichkeiten deren Beherrschbarkeit sie ausgegangen sind. an veränderte Bedingungen. ❙16 Bei hoher Komplexität und enger Kopplung der technologischen Entwicklungen bleibt, Angesichts dieser neuen Herausforderungen so die Analyse des Soziologen Charles Per- befassten sich Wissenschaft und Politik zu- row, ein geplantes und geordnetes Manage- nehmend mit systemischen Risiken. Denn ment Makulatur. ❙19 diese bedingen Nebenwirkungen über die be- trachteten Systemgrenzen hinaus, wodurch Dazu kommt noch, dass komplexe und eng eine ganze Folge sekundärer und tertiärer gekoppelte technische Systeme besondere Auswirkungen ins Blickfeld geraten. ❙17 Der hohe Anforderungen an Bedienung und Steu- Soziologe Ulrich Beck spricht in diesem Zu- erung stellen. Bei jeder Fehlermeldung können sammenhang von „entgrenzten“ Risiken. ❙18 mehrere Probleme vorliegen: Die Signalanlage Dabei tritt erneut eine Wechselwirkung zwi- kan n einen Defekt haben, die Sensoren kön nen schen physischen Gefahren und deren sozi- etwas Falsches melden, die Störung kann von aler Verarbeitung zu Tage. Die oft gewalt- einer Komponente ausgehen, die nur indirekt tätigen Demonstrationen gegen das globale mit dem angeblich ausgefallenen Teilsystem in Auftreten von Organisationen oder Institu- Verbindung steht, oder das Signal sagt genau tionen öffnen die Kluft zwischen denen, die das aus, was es anzeigt. Diese Mehrdeutigkeit daran glauben, von einer Risikoübernah- ist gepaart mit der Dringlichkeit, schnell und me zu profitieren, und jenen, die sich diesen effektiv zu handeln. Zwar werden technische Risiken hilflos ausgesetzt fühlen und durch Systeme heute so ausgelegt, dass unabhängi- die fortschreitende Globalisierung von Risi- ge und redundant angelegte Überprüfungen ken den Boden unter den Füßen zu verlieren sensibler Anlageteile vorgenommen werden glauben. Auf dem Spiel stehen dabei nicht nur und der Zeitdruck durch automatisch einset- Gesundheit und Leben, sondern auch soziale zende Überbrückungsroutinen abgemildert Werte wie Identität, Gerechtigkeit und kul- wird. Dennoch überfordert die Komplexität turelle Kohäsion. häufig die Reaktionsmöglichkeiten der Ope- rateure, auch wenn diese konzentriert und ge- Vor dieser Folie der systemischen Risi- wissenhaft arbeiten. Nicht der Mensch ver- ken müssen auch die Ereignisse von Fuku- sagt also in einem solchen Falle, sondern die shima interpretiert werden. Dass in einem Schnittstelle Mensch-Maschine ist nicht für die Fähigkeiten und Grenzen menschlicher Steuerung ausgelegt. ❙15 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesre- gierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), World in Transition: Strategies for Managing Global Hochtechnologie ist nur noch durch Im- Environmental Risks, Berlin 2000. provisation steuerbar. Dieser Eindruck der ❙16 Vgl. International Federation of the Red Cross mangelnden Beherrschbarkeit hat viel dazu and Red Crescent Societies, World Disasters Report beigetragen, dass die Menschen das Vertrau- 2000, Geneva 2000. en in die Problemlösungskapazität der Risi- ❙17 Zu den sekundären und tertiären Auswirkungen komanager verloren haben. Mit dem Entzug durch „social amplification“ vgl. Jeanne X. Kasper- son et al., The Social Amplification of Risk: Asses- des Vertrauens in die technische Elite er- sing Fifteen Years of Research and Theory, in: Nick scheint Kernenergie nicht mehr akzeptabel Pidgeon/Roger E. Kasperson/Paul Slovic (eds.), zu sein. Vergleichende Analysen zur Kern- The Social Amplification of Risk, Cambridge 2003, energie, etwa zwischen Frankreich und den S. 13–46. USA, weisen deutlich darauf hin, dass ein ❙18 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Entzug von Vertrauen in die technische Eli- Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986; Jo- anne Linnerooth-Bayer/Ragnar E. Löfstedt/Gunnar Sjöstedt (eds.), Transboundary Risk Management, ❙19 Vgl. Charles Perrow, Normal Accidents. Living London 2001. with High Risk Technologies, New York 1984.

6 APuZ 46–47/2011 te einer der wichtigsten Erklärungsfaktoren Joachim Radkau für den Akzeptanzverlust gegenüber dieser Technologie darstellt. ❙20 Eine kurze Geschichte Schlussbetrachtung der deutschen Anti- Das bewusste Eingehen von Risiken im Be- reich der Technologie ist für moderne indus- atomkraftbewegung trielle Gesellschaften unvermeidlich. Risiken fallen aber nicht vom Himmel. Risiken ein- ie Anfänge der bundesdeutschen An- zugehen, sie zu begrenzen oder auch aktiv zu Dti-AKW-Bewegung reichen heute über suchen, ist Ergebnis menschlicher Entschei- 40 Jahre zurück. Der Höhepunkt des Atom- dungen. In riskanten Situationen müssen die konflikts fällt in die zur Verfügung stehenden Auswahlmöglich- späten 1970er Jahre. In Joachim Radkau keiten gegeneinander abgewogen werden. der Folgezeit sah es oft Dr. phil., geb. 1943; Professor Die ausgewählte Option muss dabei mora- so aus, als sei die Pro- em. für Neuere Geschichte an lisch begründet werden, wobei Sachwissen testbewegung bereits der Universität Bielefeld; Bult- integraler Bestandteil dieser Abwägung sein ein Phänomen der Ver- kamp 16, 33611 Bielefeld. muss. Expertenwissen und moralische Ur- gangenheit; wider Er- joachim.radkau@ teilskraft sind beide notwendige Bedingun- warten sprang sie aber uni-bielefeld.de gen für ein akzeptables Risikomanagement. auch auf ­jüngere Ge- Gerade daran hat es bei der Einführung der nerationen über und flammte bei Gelegenheit Kernenergie gefehlt. immer neu auf. Nach den Reaktorkatastro- phen von Tschernobyl am 26. April 1986 und Ein solcher Prozess der Abwägung benö- von Fukushima am 11. März 2011 – in beiden tigt einen strukturellen Rahmen, in dem sich Fällen war es zuvor um die Kernenergie äu- Gestaltungsdiskurse institutionell entfalten ßerlich schon relativ still geworden – war die können. Die wichtigen Entscheidungen über alte Protestszenerie schlagartig wieder da, und Risiken können weder in einer Expertokra- jedes Mal zeigte sich, dass die Kritik an der tie gefunden werden, noch durch eine Politik, Kernkraft weit über den inneren Zirkel der die sich im Bemühen um Akzeptanz vorausei- Gegner hinausreichte. Viele Anti-AKW-Strei- lend der Bevölkerung anbiedert. Was benötigt ter glaubten sich lange auf verlorenem Posten; wird, sind gesellschaftliche Netzwerke, in de- aber wie es heute aussieht, haben sie gesiegt. nen Experten, Entscheidungsträger in Wirt- schaft und Gesellschaft sowie von Risiken be- troffene Bürgerinnen und Bürger gemeinsam Fragen aus der Distanz die Aufgabe der Risikoabwägung vornehmen. Wie dies im Einzelnen organisiert werden Die Antiatomkraftbewegung ist längst nicht kann, soll hier nicht ausgeführt werden. Es so gut erforscht, wie man in Anbetracht ih- gibt bereits heute Ansätze, diese Art von Dis- rer historischen Tragweite und faszinieren- kursen zu führen. Aber wir brauchen weitaus den Neuartigkeit erwarten könnte. Zentrale mehr derartige Versuche und Bemühungen, Fragen stellen sich erst aus einer gewissen um die Lücke zwischen Wissen und Moral in Distanz: aus der zeitlichen Ferne; aus dem der Bewältigung von Risiken in der moder- Vergleich mit anderen Ländern und aus dem nen, globalisierten Welt zu schließen und ihre Gesamtüberblick über die ganze Vielfalt der verlorene Einheit wiederzugewinnen. Umweltbewegung. Was war an dieser Pro- testbewegung typisch deutsch, was findet sich auch in anderen Ländern, und wie er- ❙20 Vgl. Paul Slovic et al., Nuclear Power and the Pu- klärt sich eine etwaige bundesdeutsche Be- blic. A Comparative Study of Risk Perception in the sonderheit? Wie ist es angesichts der Vielfalt United States and France, in: Ortwin Renn/Bernd der Umweltprobleme zu erklären, dass sich Rohrmann (eds.), Cross-Cultural Risk Perception: A der Protest immer wieder auf die Kernkraft Survey of Research Results, Dordrecht–Boston 2000, S. 55–102. konzentrierte? Gibt der historische Verlauf Aufschlüsse darüber, wieweit dieser Protest rationale Wurzeln hatte oder eher irratio-

APuZ 46–47/2011 7 nalen Ängsten und ideologischen Voreinge- Längst in Vergessenheit geraten ist heute nommenheiten entsprang? Liegt der wahre auch das Faktum, dass die ersten europäischen Ursprung bei der Studentenrevolte von 1968? Großdemonstrationen gegen geplante Kern- Oder noch weiter zurück bei dem Protest kraftwerke – dort freilich erfolglos – 1971 in gegen die atomare Bewaffnung der Bundes- Frankreich stattfanden und in französischen wehr? Wieweit resultierte der Elan der Antia- Traditionen der action directe standen: die tomkraftbewegung aus bestimmten Feindbil- Bauplatzbesetzung am 12. April 1971 im el- dern, wie stand es mit der Gewaltbereitschaft? sässischen Fessenheim und kurz darauf eine Gab es in dieser Bewegung unterschiedliche noch weit größere Massendemonstration am Phasen und Lernprozesse – und auch Prozes- Reaktorbauplatz von Bugey an der Rhône. se des Vergessens? Auf welche Weise gelangte Am 28. Dezember 1971 trafen sich in Straß- der Anti-AKW-Protest über den Tellerrand burg Vertreter von etwa 50 Antikernkraftin- einer selbstbezogenen Szene hinaus? Öffne- itiativen aus verschiedenen Ländern; eine an- te er die Augen für ein breites Spektrum von tinukleare Internationale war im Entstehen. Umweltgefahren, oder erzeugte er eher eine Noch immer kamen dabei wichtige Anstö- Monomanie, die ihn von anderen Umweltini- ße aus den USA. David Brower (1912–2000), tiativen isolierte? Auf viele dieser Fragen gibt eine charismatische Gestalt der amerika- es auf dem derzeitigen Forschungsstand nur nischen Bewegung zum Schutz der Wild- vorläufige Antworten. ❙1 Der Historiker stößt nis, gründete 1969 mit Friends of the Earth auf Probleme des Quellenzugangs; von den die erste internationale Umweltorganisation. zugänglichen Dokumenten her ist das In- Fern der bisherigen Wildnis-Romantik kon- nenleben vieler Anti-AKW-Initiativen nicht zentrierte sich diese auf den Kampf gegen die leicht zu durchschauen. Kerntechnik.

Brower gab die berühmt gewordene Paro- Prähistorie: Von Bodega Bay le think globally – act locally aus. Es ist eine bis Würgassen scheinbar paradoxe Parole, die längst nicht für alle Aktionsfelder des Umweltschutzes Selbst in den USA geriet später nahezu in taugte; beim Kampf gegen die Kernkraft da- Vergessenheit, dass die Antiatomkraftbe- gegen ergab sie Sinn. Denn da kam es ganz wegung amerikanischen Ursprungs war. In entscheidend auf Wissen an, und da besaßen den USA kulminierte der Konflikt bereits in die amerikanischen Kernkraftkritiker einen den 1960er Jahren. Dort gab es einen direk- Informationsvorsprung; ohne diesen droh- ten Übergang von der Protestbewegung ge- ten anderswo Anti-AKW-Initiativen in ei- gen Atomwaffentests zu den Protesten gegen nem Hinterwäldlertum stecken zu bleiben. zivile Kernkraftwerke. Die erste erfolgreiche Auf amerikanische Informationen gestützt, Anti-AKW-Initiative der Welt begann 1958 verfasste Holger Strohm, der Gründer der in Kalifornien und richtete sich gegen das bundesdeutschen Sektion der Friends of the Kernkraftprojekt an der Bodega Bay nörd- Earth, das erste umfangreiche deutschspra- lich von San Francisco. Am Anfang stand die chige Kompendium von Anti-AKW-Argu- Sorge um die Schönheit dieser Bucht; aber menten, das in seinen späteren, stets erweiter- dann brachte ein Insider die Widerständler ten Auflagen Bibelformat erlangte. Lokalen auf die dortige Erdbebengefahr, und dieses Protest hatte es in der Bundesrepublik schon Argument erwies sich als durchschlagend. gegen den Bau der ersten kleinen Versuchs- Diese längst vergessene Geschichte gibt gera- reaktoren in den späten 1950er Jahren gege- de nach Fukushima zu denken: Anders als in ben; dieser war jedoch von der überregiona- Japan, wo man glaubte, im erdbebensicheren len Presse nicht ernst genommen worden. Mit Bauen Weltspitze zu sein, übte in Kaliforni- dem neuen Argumenten-Arsenal erreichte en das Erdbeben von 1906, das einen Groß- der Protest nun eine breitere Öffentlichkeit. teil von San Francisco zerstört hatte, nach wie vor abschreckende Wirkung aus. Den Übergang von der Prähistorie zum Hauptstrom der Antiatomkraftbewegung markiert in der Bundesrepublik der Protest ❙1 Auf Belege soll hier aus Platzgründen verzichtet werden. Für umfangreiche Quellen- und Literatur- gegen das seit 1968 im Bau befindliche Kern- angaben sei verwiesen auf Joachim Radkau, Die Ära kraftwerk Würgassen an der Oberweser. Die- der Ökologie – Eine Weltgeschichte, München 2011. ser verfügte bereits über Insiderinformati-

8 APuZ 46–47/2011 onen, die von dem Chemie-Ordinarius und Bürgerinitiative (Oberrheinisches Aktions- SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Bechert komitee gegen Umweltgefährdung durch stammten, der von 1962 bis 1965 den Bundes- Kernkraftwerke) den Bauplatz des geplanten tagsausschuss für Atomenergie geleitet hatte. Kernkraftwerks : Damit wurde erstmals Materielle und ideelle Unterstützung erhiel- die Schwelle zur illegalen Aktion überschrit- ten die Aktivisten vom Arzt und Naturhei- ten; und in diesem Fall führte der Widerstand ler Max-Otto Bruker, der dem konservativen am Ende zum Erfolg. Es waren Bauern und Weltbund zum Schutze des Lebens vorstand. Winzer aus der Region – Beobachtern fiel der Am 12. Juli 1968 veröffentlichte Bruker in der große Anteil der Frauen auf – sowie Studenten linksstehenden „Deutschen Volkszeitung“ der nahe gelegenen Universität Freiburg, die (Düsseldorf) einen Brandartikel „Der Not- sich auf dem Bauplatz sammelten: eine in der stand der Demokratie – aufgezeigt am Kern- bundesdeutschen Protestgeschichte bis dahin kraftwerk Würgassen“: Es war ein Fanfaren- ungewohnte Allianz. Ein Kuriosum besteht stoß gegen die zivile Kerntechnik, wie es ihn aus späterer Sicht darin, dass auch ein loka- bis dahin in der deutschen Presselandschaft ler Jägerverein den Widerstand unterstütz- nicht gegeben hatte. Am Fall Würgassen – so te. Die Bauern fanden ihr Vorbild nicht so Bruker – ließen „sich wie an einem Schulbei- sehr in den linken Studenten, sondern mehr spiel die Methoden ablesen, wie durch Nach- in den Aktionen ihrer elsässischen Stammes- richtensperre, bewusste systematische Fehlin- verwandten auf der anderen Seite des Rheins, formationen, Verbreitung unwahrer Angaben die damals gerade erfolgreich gegen den Bau und diktatorische Maßnahmen das Prinzip eines Bleichemiewerks kämpften. der Demokratie zur Farce gemacht“ werde. Vor allem als zwei Tage nach der Besetzung Der Kampf gegen das Würgassen-Projekt 650 Polizisten mit Wasserwerfern den Bau- wurde jedoch noch nicht im Stil der 68er mit platz stürmten, obwohl sich die Besetzer ge- Happenings und Massendemonstrationen, waltlos verhielten, rückte der Protest in die sondern vorwiegend mit juristischen Mit- Hauptschlagzeilen, und allenthalben wog- teln geführt; die Leitung der Bürgerinitiative te den Widerständlern eine Welle spontaner lag bei dem Karlshafener Rechtsanwalt Horst Sympathie entgegen. Am 23. Februar ström- Möller. Er bewirkte zwar keinen Baustopp ten am gleichen Ort an die 28 000 Atomkraft- – erst nach der Inbetriebnahme desavouier- gegner zusammen, teilweise aus Frankreich te sich dieser Siedewasserreaktor durch seine und aus der Schweiz, besetzten das Baugelän- häufigen Pannen –, aber erreichte immerhin de nach einem Handgemenge mit der Polizei 1972 das „Würgassen-Urteil“ des Bundes- erneut und gründeten dort das erste deutsche verwaltungsgerichts. Dieses legte das den bis Anti-AKW-Camp. Sie erzielten einen promp- dahin doppelgesichtigen Paragraphen 1 des ten Teilerfolg: Am 21. März 1975 hob das Atomgesetzes von 1959, der die Förderung Verwaltungsgericht Freiburg die Teilerrich- der Kerntechnik und Gewährleistung der Si- tungsgenehmigung auf und bewirkte einen cherheit gleichrangig nebeneinanderstellte, vorläufigen Baustopp. Das gleiche Gericht nunmehr im Sinne eines Vorranges der Si- verfügte am 14. März 1977, dass das geplan- cherheit aus. Damit war für künftige Kern- te Kernkraftwerk nur bei Ummantelung mit kraftgegner ein gewichtiges juristisches Po- einem „Berstschutz“ errichtet werden dürfte, tenzial geschaffen, das freilich erst durch den der auch dann, wenn bei einem Störfall alle „Kampf ums Recht“ zu aktivieren war. Die anderen Sicherheitsvorkehrungen versagten, Gerichte wurden ein wichtiger, wiewohl von das Entweichen radioaktiver Substanzen in den Medien wenig beachteter Nebenschau- die Umwelt verhinderte. Das war ein mutiger platz des Atomkonflikts. Das gilt auch für Vorstoß der Freiburger Richter, dem andere den Kampf um das geplante Kernkraftwerk Amtskollegen vorerst nicht folgten. Da der Wyhl am Oberrhein, mit dem die Kontrover- Berstschutz die Anlage ganz erheblich ver- se schlagartig eskalierte. teuert hätte, verlor das Energieunternehmen das Interesse an dem Projekt.

Von Wyhl bis Nicht ohne Pikanterie ist die Frage, wie die Richter auf die Berstschutz-Auflage kamen. Am 18. Februar 1975 besetzten mehre hun- Diese besaß eine in der Öffentlichkeit kaum dert Mitglieder einer seit 1972 bestehenden bekannte Vorgeschichte. Der Chemiekonzern

APuZ 46–47/2011 9 BASF hatte ab 1967 ein firmeneigenes Kern- daher die Assoziation des Atoms mit der kraftwerk bei Ludwigshafen projektiert, also Bombe eben doch kein purer Aberglaube sei. in unmittelbarer Nähe eines städtischen Bal- Um die Genese der Anti-AKW-Bewegung zu lungsraumes. Das überkreuzte sich mit Plä- verstehen und gerade auch ihre Rationalität nen der Rheinisch-Westfälischen Elektrizi- zu begreifen, muss man auch diesen Wissen- tätswerk AG (RWE), die nicht weit davon, bei stransfer beachten und darf die Bürgerbewe- Biblis, den damals größten Kernkraftwerks- gungen nicht nur als soziale Phänomene ins komplex der Welt plante. Heinrich Man- Visier nehmen. del, der kommende „Atompapst“ des RWE, machte das Bundesforschungsministerium Der Gedanke an den „Super-GAU“, die darauf aufmerksam, dass man in den USA über den (angeblich) beherrschbaren „größ- dahin gelangt sei, Kernkraftwerke nicht in ten anzunehmenden Unfall“ noch hinausge- Großstadtnähe zu errichten. Zunächst wurde hende Katastrophe, gab dem Protest gegen dem BASF-Projekt ein Berstschutz zur Auf- die Kernkraft eine neue Radikalität. Jetzt lage gemacht, dann legte Forschungsminister konnte er ähnliche Emotionen aufrühren wie Hans Leussink ein gänzliches Veto ein. Die zuvor der Protest gegen die Atomwaffen. In BASF-Spitze schäumte über die „barbarische dieser Situation machte auch die studentische Brutalität des RWE“. Leussink prägte in die- Linke mobil, die mit dem Ende des Vietnam- sem Zusammenhang den Begriff des „Rest- krieges und der neuen Ostpolitik ursprüng- risikos“, das durch die bisherigen Sicher- liche Zielobjekte verloren hatte. Diejenigen heitsvorkehrungen nicht abgedeckt sei. Die 68er, die ihr Handeln theoretisch begründen Freiburger Richter argumentierten logisch, wollten und nicht einfach mitmachten, wenn dass den Bauern am Oberrhein das gleiche irgendwo gegen irgendwas demonstriert Recht auf Schutz zustände wie den Städtern wurde, taten sich allerdings mit der Wende des Großraums Mannheim-Ludwigshafen. gegen die Kernkraft nicht leicht. Denn im So gesehen, stand kein anderer als der „Atom- Neomarxismus jener Zeit war noch folgende papst“ am Anfang des Anti-AKW-Protests: Denkfigur verbreitet: Der gesellschaftliche eine Ironie der Geschichte, von der die Öf- Fortschritt wird durch den Fortschritt der fentlichkeit nichts ahnte! Produktivkräfte vorangetrieben und dieser beruht auf fortschreitender Verwissenschaft- Dem Drama um das Ludwighafen-Projekt lichung; daher sind fortan die Intellektuellen war 1966 ein Drama in den USA vorausgegan- die revolutionäre Avantgarde, und aus dem gen, das einer der Beteiligten, David Okrent – gleichen Grund steht die Kerntechnik als die damals Mitglied des Advisory Committee on „wissenschaftlichste“ Technik an der Spitze Reactor Safeguards – später als „Revolution“ des Fortschritts. Rudi Dutschke, die Ikone in der Beurteilung der Sicherheit von Leicht- der Studentenbewegung, hatte den Philoso- wasserreaktoren charakterisierte: Versuche phen Ernst Bloch geschätzt, dessen Schwär- hatten Zweifel daran erweckt, ob bei einem merei für die Segnungen des „friedlichen „Durchgehen“ des Reaktors auf die für die- Atoms“ selbst die Propaganda der Atom- sen Fall installierte Notkühlung Verlass ist. lobby übertroffen hatte und der den „laten- Mit Hinweis darauf wurde das Kernkraft- ten Maschinensturm des Spätkapitals“ dafür projekt Ravenswood in der Nähe von New anklagte, dass er diese famose Kraftquel- York gestoppt. Dies markierte eine Zäsur in le nicht energisch genug forciere. Noch im der Geschichte der Kernenergie, deren Fern- März 1977 seufzte Dutschke in seinem Tage- wirkung gar nicht überschätzt werden kann. buch: „die ganze Atom- und Massenmobili- Bis dahin hatten es gerade viele „progressive“ sierung in B(rokdorf) und I(tzehoe) bereitet Intellektuelle für einfältig gehalten, die zivi- mir theore(tische) und politische Schwierig- le Atomkraft mit der Atombombe zu asso- keiten ‚Old Surehand II‘ mit und für die Kin- ziieren, und die Einsicht für aufgeklärt und der zu lesen ist leichter.“ fortschrittlich geglaubt, dass das „friedliche Atom“ mit seiner gebremsten Kettenreakti- Kein Zweifel: Das Engagement vieler 68er on geradezu eine Gegenwelt zur Bombe sei. gegen die Kernkraft entsprang keiner pani- Fortan sickerte jedoch mehr und mehr die schen Angst, sondern vollzog sich in nicht Sorge durch, dass auf die Abbremsung der wenigen Fällen über mühsame Lernprozes- Kettenreaktion durch die „Moderatoren“ in se, getrieben von dem Wunsch, endlich den Kernkraftwerken kein absoluter Verlass und Kontakt zur „Basis“, zu den breiten Massen

10 APuZ 46–47/2011 zu finden, den man um 1968 vergeblich ge- Wyhl kam eine Gemeinsamkeit mit vielen sucht hatte. Dabei waren DKP-nahe Grup- Bauern der Region zustande, und mehr noch pen durch ihre Verbindungen zur DDR als dort wurde der Kampf gegen das Atom- blockiert; denn dort war und blieb die Kern- projekt im abgelegenen Wendland zugleich technik für Kritiker tabu. Am hemmungslo- ein Kampf für die Erhaltung einer noch re- sesten konnten maoistische K-Gruppen ihren lativ urwüchsigen Landschaft. Im Wendland Radikalismus gegen die Atomkraft austoben; wurde die Anti-AKW-Bewegung, der es zu- denn Kernkraftwerke wurden in der Regel nächst lediglich um technische Sicherheit ge- in abgelegenen bäuerlichen Gebieten errich- gangen war, zu einer „Umweltbewegung“ tet, wo sie das Landleben störten; und das im vollen Sinne. Die „Freie Republik Wend- Kampfbündnis mit den Bauern besaß einen land“, wo man im Wald mit „alternativen“ maoistischen Zug. Aber unter bundesdeut- Lebensformen experimentierte, wurde zur schen Verhältnissen bestand es doch vorwie- grünen ­Legende. gend in der Phantasie. Bauern blockierten zwar Zufahrtsstraßen mit Treckern, wurden jedoch durch förmliche Schlachten mit Poli- Wendezeiten: Verbindung von zeieinheiten, wie sie sich vor allem 1977 bei Antiatomkraft- und Friedensbewegung den Bauplätzen von und Grohnde abspielten, nur abgeschreckt. Aber auch auf anderen Ebenen spielte sich Entscheidendes ab: Als den großen Wende- Das Bündnis von Wyhl, als Studenten und punkt im Atomkonflikt kann man das inter- Winzer zusammen aushielten, wurde zur ro- nationale Gorleben-Symposium in Hannover mantischen Erinnerung, die von einer ganzen Ende März 1979 ansehen, das zeitlich mit dem Flut von Literatur beschworen wurde; aber Störfall von Harrisburg und der bis dahin durch die Gewalttätigkeit der K-Gruppen größten Anti-AKW-Demonstration zusam- drohte die breite Allianz zu zerfallen. Die menfiel. Das Symposium brachte eine neue bürgerkriegsartigen Kampfszenen am Bau- Qualität in die Kontroverse; man gelangte zaun von Kernkraftwerken faszinierten zwar über einen stereotypen Schlagabtausch mit die Medien, erweckten jedoch nicht die Sym- immer gleichen Argumenten hinaus, und die pathie der Gerichte; dort blieb der Protest ge- Front der Kernenergiebefürworter begann zu gen Brokdorf und Grohnde ohne Erfolg. Ob- zerbröckeln. Am Ende zog der niedersächsi- wohl die Brutalität mancher Polizeieinheiten sche Ministerpräsident Albrecht das Gorle- selbst bei friedlichen Kernkraftgegnern zeit- ben-Projekt in seiner ursprünglichen Dimen- weise eine wilde Wut hervorrief, setzte sich sion gar als „politisch nicht durchsetzbar“ doch immer wieder – ob offen oder unaus- zurück. Der Projektleiter stöhnte auf, das sei gesprochen – der Grundsatz der Gewaltfrei- das „Cannae“ der deutschen Atomwirtschaft. heit durch. Wie sich mehr und mehr zeigte, In der Energiewirtschaft dagegen kursierte standen die Kernkraftgegner eben doch nicht später das Bonmot, im Grunde müsse man auf verlorenem Posten. Das Horrorszenario den Gegnern dankbar sein, da man durch sie eines verzweifelten Kampfes um das nack- vor der größten Fehlinvestition der Geschich- te Leben gegenüber einem erbarmungslo- te bewahrt worden sei. Das Symposium hatte sen „Atomstaat“ – so der Titel eines Bestsel- unter Vorsitz von Carl Friedrich von Weizsä- lers von Robert Jungk (1977) – erwies sich als cker getagt, der – aus der Atomphysik kom- ähnlich theatralische Phantasie wie zehn Jah- mend – als höchste geistige Autorität der ato- re davor der Kampf gegen eine vermeintliche maren community galt. Aber selbst er ging „Refaschisierung“ der Bundesrepublik durch auf Distanz zur Kerntechnik, vor allem mit den „Nazi Kiesinger“ mittels der Notstands- Blick auf das Terrorismusrisiko. gesetze. Zur Wendezeit wurden die Tage von Har- Zum historischen Höhepunkt der deut- r i sbu r g u n d H a n nove r auch d a du rch , d a s s a m schen Antiatomkraftbewegung wurde der 29. März 1979 die Bundestags-Enquête „Zu- Widerstand gegen das Gorleben-Projekt, künftige Kernenergiepolitik“ unter Vorsitz den Plan der damals größten Wiederaufar- des jungen SPD-Abgeordneten Reinhard beitungsanlage der Welt. Unter der Parole Ueberhorst, der bei einer Demonstration in „Gorleben soll leben“ setzten sich die An- Brokdorf verletzt worden war, ihre Arbeit hänger der Gewaltfreiheit durch; wie bei aufnahm. Mit dieser Kommission gelangte

APuZ 46–47/2011 11 der bis dahin überwiegend außerparlamen- Weit mehr als in den USA wurde die zi- tarisch ausgetragene Atomkonflikt auf die vile Kerntechnik in der Bundesrepublik parlamentarische Ebene. In einer zunächst bis dahin als ein von den atomaren Waf- heillos verfahren erscheinenden Kon­flikt­ fen abgekoppeltes Thema wahrgenommen. situa­tion erzielte Ueberhorst einen „histori- Aber über die Urananreicherungsanlagen, schen Kompromiss“: Am Ende stimmten die über das Plutonium und über das techni- Kontrahenten darin überein, dass mehrere sche Know-how hängen beide Technologien energiepolitische Optionen mit und ohne eben doch zusammen. Eine große Protest- Kernenergie möglich seien und ein extre- bewegung richtete sich gegen die an Stel- mes Katastrophenrisiko nicht durch Hin- le von Gorleben bei Wackersdorf geplante weis auf die angeblich minimale Eintritts- Wiederaufarbeitungsanlage. Diese wurde wahrscheinlichkeit bagatellisiert werden – vermutlich zu Unrecht – mit der Nach- dürfe. Zwar hatte der Kommissionsbericht rüstung in Verbindung gebracht. Doch seit damals kaum unmittelbare Folgen, aber aus Mitte der 1980er Jahre vollzog sich mit dem heutiger Sicht erscheint er als Markstein ei- Ende des Kalten Krieges ein atmosphäri- ner Entwicklung, in der sich die Politiker in scher Wandel, und die Verbindung von An- Energiefragen nicht mehr wie zuvor als blo- tiatomkraftprotest und Friedensbewegung ße Vollzieher vermeintlicher Sachzwänge verlor an Bedeutung, obwohl die nukleare verstanden. Proliferationsgefahr weltweit fortbestand. Seit dem Herbst 1981 beherrschte ohne- Vom Anfang bis heute ist deutlich zu er- hin der Waldsterben-Alarm die Szenerie kennen, dass sich die Dauerhaftigkeit und der Umweltsorgen, wodurch sich die Kritik der Erfolg der deutschen Antiatomkraftbe- auf Kohlekraftwerke konzentrierte und die wegung nicht nur aus inneren Strukturen des Kernkraftwerke – bei denen es in jenen Jah- Protests erklären, sondern auch aus Wechsel- ren ohnehin kaum neue Projekte gab – aus wirkungen zwischen Bürgerprotest, Medien, der Schusslinie gerieten. Politik, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft. Diese Dynamik verbindet die bundesdeut- sche mit der amerikanischen Umweltbewe- Von Tschernobyl bis Fukushima gung. Zugleich erkennt man den Unterschied zu Ländern wie Frankreich und Japan, wo es Erst infolge der Reaktorkatastrophe in der zwar an Protest aus der Bevölkerung nicht Ukraine am 26. April 1986 grassierte zum fehlte, sich eine dynamische Wechselwirkung ersten Mal in weiten Teilen der deutschen Be- zwischen den genannten Akteuren und In- völkerung eine existenzielle Angst vor der stanzen aber weit weniger entwickelte. Der Atomkraft. Seit dem 12. Dezember 1985 gab Protest gegen die Atomkraft wurde das ent- es in Hessen mit Joschka Fischer erstmals ei- scheidende Bindeglied zwischen der 68er- nen grünen (Umwelt-)Minister. Er kam zwar Studentenrevolte und der Umweltbewegung; nicht aus der Anti-AKW-Bewegung und ver- ohne sie wäre auch der Erfolg der Partei der fügte damals, wie er selbst später bekannte, Grünen nicht zu erklären. Dass in der Bun- über keine ökologische Kompetenz, aber er desrepublik die international stärkste Antia- veranlasste immerhin die unverzügliche Pu- tomkraftbewegung und ebenfalls die stärkste blikation genauer Daten über den in seiner grüne Partei entstanden, steht offenkundig in Region gemessenen Anstieg der Radioakti- einem kausalen Zusammenhang. vität. Und andere Bundesländer zogen nach: ein Unterschied zu Frankreich, wo man sich In der Protestbewegung der 1970er Jah- – fortan der Standardspott – einbilden konn- re sind bereits sämtliche Motive vorhanden, te, an der deutsch-französischen Grenze höre welche die Kritik an der Kernkraft bis heute die Radioaktivität auf. In der Bundesrepu- bestimmen; nur ein neues kam um 1980 dazu blik wurde die Ablehnung der Kerntechnik und wurde für einige Jahre zum Leitmotiv: schlagartig zur Mehrheitsmeinung, selbst die Verbindung zwischen ziviler und mili- unter Ingenieuren: Ein Vorgang, der sich tärischer Atomtechnik. Damals beherrschte nicht nur aus den Demonstrationen erklärt, der Widerstand gegen die „Nachrüstung“ die sondern auch daraus, dass die Risiken der Protestszenerie; vor allem im Zeichen dieser Kerntechnik real waren und es gerade auch neuen Friedensbewegung formierten sich die in Fachkreisen stets latente Skepsis gegeben Grünen. hatte.

12 APuZ 46–47/2011 Die primär für den Kampf gegen wald- Obwohl die Grünen damals – auch dies ist schädigende Emissionen gegründete Green- ein Unterschied zu der Situation nach Fuku- peace-Abspaltung Robin Wood gab die Pa- shima! – in ihrer Zerstrittenheit die Gunst der role aus: „Kümmern wir uns also um den Stunde insgesamt nur wenig zu nutzen wuss- ‚toten Hund‘ Atomenergie nur so viel wie ten und 1990 wegen ihrer Querschüsse gegen nötig und sowenig wie möglich und widmen die deutsche Vereinigung sogar ein vorüber- wir uns vor allem der Aufgabe, neuen Ener- gehendes Fiasko erlitten, das damals viele für gieversorgungsstrukturen zum Durchbruch das Ende der Partei hielten, schritt die För- zu verhelfen.“ Aber das Potenzial der erneu- derung der erneuerbaren Energien kontinu- erbaren Energien war zur Zeit von Tscherno- ierlich voran. Auch wenn sich diese bis zum byl noch viel unsicherer als 25 Jahre darauf Unglück in Japan schon zu einem ökonomi- zur Zeit von Fukushima; deren Durchset- schen Gewicht entwickelt hatten, war bis in zung erforderte technische Kompetenz, ge- die jüngste Zeit nicht sicher, ob die Kernener- duldige Entwicklungsarbeit und Koope- gie wirklich ein „toter Hund“ war; daher be- ration mit Energieversorgern. Ein Zurück stand weiterhin ein Protestpotenzial gegen zur Kohle war zumindest als Langzeitper- sie. In seinen Zielen war der Protest von den spektive nicht akzeptabel; denn gerade im Handlungsmöglichkeiten einer Zeit beein- Tschernobyl-Jahr 1986 ertönte auch der ers- flusst, in der keine neuen Kernkraftwerke in te schrille Klima-Alarm, der eine globale Er- Auftrag gegeben wurden: So konzentrierte wärmung als Folge des wachsenden Kohlen- er sich auf die Transporte der abgebrann- dioxydgehalts der Atmosphäre prophezeite. ten Brennelemente zu dem (provisorischen?) Am 11. August 1986 brachte „Der Spiegel“ Endlager. seinen berühmt-berüchtigten Titel, auf dem der Kölner Dom zur Hälfte unter Wasser Dieser Schwerpunkt ließ sich jedoch nicht steht. Kein Wunder, dass es nach Tscherno- nur taktisch begründen. Vielmehr war die byl zu einer sofortigen großen Energiewen- letztliche Unlösbarkeit des Endlagerprob- de nicht kam. lems mit Blick auf die Jahrtausende fortdau- ernde Strahlungsintensität des „Atommülls“ Und doch waren die Langzeitwirkungen von Anfang an das peinlichste Dilemma der erheblich; in welchem Maße, erkennt man Kernenergie gewesen, das auch – wie mitt- erst mit der zeitlichen Distanz. Das erste lerweile klargestellt worden war – durch die Opfer wurde der „Schnelle Brüter“ in Kal- Wiederaufarbeitung nicht wesentlich gemin- kar, der schon während der Bauphase sei- dert wurde. Selbst Robert Gerwin, in der nen Rückhalt weithin verloren hatte. Dessen Folge ein führender Propagandist der Atom- Stilllegung, kaum dass er betriebsbereit war, kraft, hatte 1963, als das stillgelegte Salzberg- erregte nur noch geringes Aufsehen; und werk Asse zum nuklearen Endlager auserse- doch ging der Kernenergie damit endgültig hen wurde, gewarnt, es gehöre „schon einige das Charisma der erneuerbaren Energie ver- Unverfrorenheit dazu, seinen Nachfahren loren, das von Anfang an ihre Hauptattrak- eine Last aufzubürden, an der diese noch tion ausgemacht hatte. Fortan wurde es in nach zehn Generationen zu tragen haben“ (er der Bundesrepublik zur offiziellen Sprach- plädierte damals für die sowjetische Idee, den regelung, zwar lasse man die Kernkraft- Atommüll in den Weltraum zu schießen). Die werke vorerst weiter laufen, betrachte die Erkenntnis, dass es sich bei Asse um einen Atomkraft jedoch als „Übergangsenergie“; Gelegenheitskauf und mitnichten um eine ob das lediglich eine Ausrede war, um erst sichere Endlagerstätte handelte, wurde zum einmal Zeit zu gewinnen, blieb undurchsich- Gemeingut der Öffentlichkeit. tig. Auch die Entwicklung des anderen „Zu- kunftsreaktors“, des Hochtemperaturreak- Es hatte seine Logik, dass das Dilemma der tors, der wegen seiner potenziell erheblich Endlagerung in einem dicht besiedelten Land höheren inhärenten Sicherheit selbst vielen wie der Bundesrepublik aufreizender wirkte Kritikern der Leichtwasserreaktoren noch als in Riesenreichen wie Russland oder den lange als Geheimtipp gegolten hatte, wurde USA. Die Geschichte der deutschen Anti­ von der Industrie ohne großes Aufsehen ab- atomkraftbewegung während der vergange- gebrochen. Alternativen gab es fortan nicht nen beiden Jahrzehnte ist bislang nicht einmal mehr inner-, sondern nur noch außerhalb im Ansatz geschrieben. Die Verjüngungspro- der Kerntechnik. zesse, die sich dort vollzogen haben – nicht

APuZ 46–47/2011 13 ohne Spannungen zu den „alten Kämpfern“, anlagen einen zivilen Sinn zu geben und dort von denen manche die Mütter-Initiativen manche Rüstungskosten zu verstecken; für nach Tschernobyl als „Becquerel-Bewegung“ eine Nicht-Atommacht wie die Bundesrepu- titulierten – sind ein Thema für künftige His- blik entfiel dieses Motiv. In einem dicht be- toriker. Sie sind umso bemerkenswerter, als siedelten Land gab es weit mehr Grund als in die Kerntechnik – die in den 1970er Jahren den USA, sich um das nukleare „Restrisiko“ als Zielscheibe für Protestler nahezu konkur- zu sorgen. Beides traf zwar auch für ein Land renzlos dastand – bei den Umweltaktivisten wie Japan zu; aber im Unterschied zu diesem mittlerweile mit einem breiten Spektrum an- verfügte die Bundesrepublik über reichlich derer Ziele konkurrierte. Wer nunmehr ge- Kohle. Ausgerechnet RWE, der größte deut- gen die Atomkraft protestierte, hatte eine sche Energieproduzent, war bis in die spä- bewusste Wahl getroffen. Von daher wäre es ten 1960er Jahre zum Ärger des Bonner For- nicht angemessen, den späteren Protest, auch schungsministeriums die stärkste Bremskraft wenn er in der Literatur und Mythenbildung der Kernenergieentwicklung: Es hatte gerade weniger eindrucksvoll wirkt als Wyhl und gewaltige Braunkohlefelder erschlossen und Gorleben, lediglich als Nachklapp zur Pro- erblickte in der Atomkraft lediglich eine läs- testbewegung der 1970er Jahre zu werten. tige Konkurrenz.

Gerade in den Jahren ab 1967, als der kom- Vorläufige Bilanz merzielle Durchbruch der Kernkraft erfolg- te, kam heraus, dass auf die Notkühlung im Friedrich Münzinger, ein alterfahrener Kraft- Falle eines Falles doch kein sicherer Verlass werksbauer der AEG, der in den 1950er Jah- war. Als jedoch Milliarden investiert waren, ren das erste deutsche Standardwerk über konnte oder wollte man nicht mehr zurück. den Reaktorbau verfasste, stellte bereits 1960 Es hatte seine Logik, wenn die Sorge um das fest: „Viele unserer Landsleute stehen, wie „Restrisiko“, die unter den Experten nicht ihre Reaktion auf die Erstellung einiger ato- mehr im Klartext artikuliert werden durfte, marer Forschungsinstitute zeigte, nuklearen von nun an in die Öffentlichkeit übersprang. Anlagen argwöhnischer gegenüber als bei- Dabei lässt sich international eine gewisse spielsweise die Amerikaner.“ Anders als man Sonderstellung des deutschen Sprachraums erwarten könnte, kanzelte er jedoch diese erkennen, denn auch in Österreich und der Einstellung keineswegs als „deutsche Hys- Schweiz beherrschten die Kritiker der Kern- terie“ ab, sondern hielt sie für ganz vernünf- kraft in den späten 1970er Jahren zunehmend tig; als „Atomkraftpsychose“ bezeichnete er die öffentliche Meinung und stoppten den dagegen die überdrehte Begeisterung ande- Ausbau dieser Energietechnik. Das ist umso rer Länder für das „friedliche Atom“, das mit bemerkenswerter, als viele Naturschützer in Verheißungen verknüpft werde, die „durch den Alpenländern der Atomkraft ursprüng- Sachkenntnis nicht getrübte Flunkereien“ sei- lich wohlgesonnen waren, da diese ihnen als en. Dass die Deutschen skeptischer seien, war Argument gegen Wasserkraftprojekte diente, für ihn ein Zeichen dafür, dass hierzulande in die schöne Alpentäler zu verschandeln droh- Fragen der Technik die Ingenieure und nicht ten. die Spekulanten den Ton angäben. In der Tat erkennt man in der Geschichte des deutschen Bei den Alpenbewohnern ist zwar ein be- Ingenieurwesens eine gewisse Tradition der sonderer Hang zur Nostalgie, aber kaum je Bedächtigkeit, welche die technische „Ent- zur Hysterie beobachtet worden. Witzeleien wicklung“ mehr im Sinne von Evolution als über eine angebliche German Angst, seit Jahr- von forciertem development verstand. zehnten der Standard-Kalauer in spöttischen Kommentaren zur Antiatomkraftbewegung, Somit lässt sich die deutsche Skepsis ge- sind historisch ignorant. Beim Aufstieg die- genüber der Atomkraft rational begründen. ser Protestbewegung in den 1970er Jahren Dass die Kerntechnik mit erheblichen Risi- stand keine Reaktorkatastrophe vor Augen; ken verbunden ist, war dem, der es wissen am Anfang standen Informationen, keine wollte, von Anfang an bekannt. Die Atom- panische Angst. Es war auch keine Sensati- mächte brauchten das „friedliche Atom“, um onsmache der Massenmedien, die – wie spä- den mit immensen Kosten zu militärischen ter oft behauptet wurde – den ersten Anstoß Zwecken errichteten Spaltstoffproduktions- gegeben hätte; diese sprangen in aller Regel

14 APuZ 46–47/2011 erst nach der Bauplatzbesetzung von Wyhl Severin Fischer auf das Thema an. Medienmoden sind zeit- gebunden; die Anti-AKW-Bewegung dage- gen verblüffte immer wieder durch ihre Zäh- Außenseiter oder lebigkeit. Ebensowenig wie aus Panikmache der Medien lässt sie sich insgesamt gesehen Spitzenreiter? Das von bestimmten Gruppeninteressen, Ideolo- gien, Diskursen herleiten. „Modell Deutschland“ Im Vergleich zu den USA, wo hinter dem Kampf gegen die Kernkraft Autoritäten wie und die europäische David Brower und Barry Commoner stan- den, fällt in der bundesdeutschen Bewegung überdies der Mangel an charismatischen Füh- Energiepolitik rungsfiguren auf. Stattdessen kann man da- rüber betroffen sein, wie viele Pioniere des eutschland steht nach mehreren Jahr- Protests, die wesentliche Anstöße gaben, in Dzehnten intensiver Debatten über die der Folge wieder in Vergessenheit gerieten: Rolle der Atomenergie vor der Befriedung ob Günther Schwab, Karl Bechert, Holger eines gesellschaftli- Strohm, Jens Scheer, Manfred Wüstenha- chen Konflikts, der Severin Fischer gen, Herbert Gruhl oder auch jener Tübinger die politische Ausei- Dipl.-Pol., geb. 1983; Gast- Lehrer Hartmut Gründler, der zu den Initia- nandersetzung in der wissenschaftler in der For- toren des vom Bundesforschungsministerium Bundesrepublik über schungsgruppe EU-Integration organisierten „Bürgerdialogs Kernenergie“ Generationen hinweg der Stiftung Wissenschaft und gehörte und sich am Buß- und Bettag 1977 geprägt hat. Mit Be- Politik (SWP), Ludwigkirch- auf den Stufen der Hamburger Petrikirche ginn der ersten Pro- platz 3–4, 10719 Berlin. aus Protest selbst verbrannte. Robert Jungk testmärsche in Wyhl, [email protected] stellte sich erst auf dem Höhepunkt der Pro- Brokdorf oder Wa- testbewegung an deren Spitze. Mit Max We- ckersdorf hat sich die „Atomdebatte“ von bers Theorie des „charismatischen Führers“ einer energiepolitischen oder energiewirt- lässt sich die Antiatomkraftbewegung eben- schaftlichen Technologieentscheidung hin zu so wenig erklären wie mit Ronald Ingleharts einer politischen Gewissensfrage gewandelt. Konstrukt des angeblichen postmodern- Vor diesem Hintergrund erscheint es umso postmateriellen Wertewandels wie der darauf erstaunlicher, dass die Entscheidungen zur fußenden Theorie der „neuen sozialen Bewe- „Energiewende“ und der endgültige deut- gungen“, die durch Bürokratisierungstrends sche Atomausstieg zum Jahr 2022 als Folge und durch die Partei der Grünen längst wi- des Reaktorunfalls von Fukushima von ei- derlegt wurde. ner Koalitionsregierung aus CDU, CSU und FDP besiegelt wurden – drei Parteien, die we- All diese Theorien werden nur durch be- nige Monate zuvor noch eine Verlängerung stimmte Momentaufnahmen plausibel, über- der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke zeugen jedoch nicht mehr, sobald man diesen beschlossen hatten. Zwar unterscheidet sich Protest in einem größeren zeitlichen Bo- der erneute Atomausstieg in seiner Wirkung gen betrachtet. Liest man sich durch die Li- kaum von dem Beschluss der rot-grünen Re- teraturflut hindurch, welche die Kritik an gierung unter Gerhard Schröder aus dem der Kernkraft im Laufe der Jahrzehnte her- Jahr 2000. Er gewinnt jedoch durch die nun- vorbrachte, geht es nicht zu weit, von einer mehr parteiübergreifende Zustimmung einen neuen Aufklärung zu reden, die an blinden Grad an Legitimation und Glaubwürdigkeit, Flecken des Fortschrittsdenkens der alten der dem vermeintlichen „Konsens“ mit der Aufklärung ansetzte. Man versteht die An- Energiewirtschaft elf Jahre zuvor fehlte. Da- tiatomkraftbewegung nicht, wenn man sie her erscheint es unwahrscheinlich, dass sich in abstrakte Modelle zu zwängen sucht, son- eine der etablierten politischen Parteien im dern nur dann, wenn man sich mit dem be- Verlauf der kommenden zehn Jahre für eine schäftigt, um das es ihr geht. wiederholte Verlängerung der Laufzeiten der wenigen noch am Netz verbliebenen Kraft- werke einsetzen wird. Deutschland dürfte

APuZ 46–47/2011 15 damit im Jahr 2023 unter den zehn größten schutz gemeinsam zu ermöglichen. Durch Volkswirtschaften der Welt die einzige sein, diese Festlegungen werden nicht nur ener- die freiwillig auf die Nutzung der Atomener- gie- und klimapolitische Entwicklungspfa- gie verzichtet. Nachdem mit der Energiewen- de vorgezeichnet. Die quantitativen Zielset- de nun die Entscheidung zur Transformation zungen dienen auch als industriepolitische des Energiesystems getroffen wurde, wird es Wegmarken und werden teilweise durch po- in den kommenden Jahren um die Gestaltung litische Steuerungsinstrumente unterlegt. So der Rahmenbedingungen für diesen Prozess dient etwa das Erneuerbare-Energien-Gesetz gehen. (EEG) einer besseren Integration alternativer Technologien in den Energiemarkt und er- möglicht die Schaffung weiterer Arbeitsplät- „Modell Deutschland“: ze in diesem Bereich in Deutschland. Auch Ausstieg und Einstieg die Klimaschutz- und Effizienzvorgaben stellen ein Signal an Branchen dar, die in effi- Die energiepolitische Debatte in Deutsch- ziente und saubere Technologien investieren land auf das Für und Wider der Kernener- wollen. Somit wurde ein energiepolitischer gie zu beschränken, würde der Komplexität Veränderungsprozess für die Bundesrepublik des Themas nicht gerecht werden. Im Stra- formuliert, der nicht nur einen Ausstieg aus tegiepapier der Bundesregierung zur Ener- der Atomkraft, sondern auch einen Einstieg giewende vom Juni 2011 wurden neben dem in ein neues Energiesystem festlegt: das „Mo- Laufzeitende der 18 Atomkraftwerke auch dell Deutschland“. drei andere Zielsetzungen aus dem Energie- konzept 2010 bestätigt. ❙1 Dazu gehören ers- Die Erfolgschancen dieses Modells lassen tens die Klimaschutzziele, die eine Redu- sich anhand unterschiedlichster Kriterien zierung der Treibhausgasemissionen von bemessen und werden durch eine Reihe von 40 Prozent bis 2020, 50 Prozent bis 2030 und Faktoren beeinflusst. Entscheidend für eine 80–95 Prozent bis 2050 gegenüber dem Jahr erfolgreiche Transformation des Energie- 1990 vorsehen. Zweitens sollen die erneuer- systems sind dabei nicht nur die Gestaltung baren Energien als Anteil am Bruttoendener- energiepolitischer Steuerungsmechanismen, gieverbrauch 18 Prozent im Jahr 2020 errei- sondern ebenso die Rahmenbedingungen, chen und auf 30 Prozent im Jahr 2030 sowie innerhalb derer sich ein solcher Prozess voll- schließlich 60 Prozent im Jahr 2050 gesteigert zieht. Für Deutschland gehört dazu seit eini- werden. Als dritten Schwerpunkt formulier- gen Jahren seine politische und energiewirt- te die Bundesregierung in ihrem Energiekon- schaftliche Integration in die Europäische zept auch für die Energieeffizienz Zielwerte, Union (EU). Dabei ist einerseits entschei- die auf eine Verringerung des Primärenergie- dend, wie die europarechtlichen Regelungen verbrauchs um 20 Prozent bis zum Jahr 2020 ausgestaltet sind und inwieweit diese eine und 50 Prozent bis zum Jahr 2050 gegenüber Veränderung des Energiesystems zulassen, dem Jahr 2008 zielen. ermöglichen oder unterstützen. Andererseits stellt sich die Frage, wie Nachbarstaaten und Während die Klimaschutzziele eigenstän- andere EU-Mitgliedstaaten ihre Energiepoli- dige umweltpolitische Zielsetzungen darstel- tik ausrichten und welche Wechselwirkungen len, sind die Vorgaben zu den erneuerbaren dies mit der deutschen Energiepolitik haben Energien und der Energieeffizienz Voraus- könnte. setzungen, um Atomausstieg und Klima- Ob das Modell eines kernenergiefreien und klimaverträglichen Wirtschaftssystems letzt- ❙1 Vgl. Bundesregierung, Der Weg zur Energie der Zukunft – sicher bezahlbar und umweltfreundlich. lich erfolgreich ist, bemisst sich jedoch nicht Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Energie- nur an seinen umweltpolitischen Errungen- wende, 6. 6. 2011, online: www.bmu.de/energiewende/ schaften. Auch soziale und makroökonomi- d o c / ​4 7 4 6 5 .php (22. 9. 2011); Bundesministerium für sche Faktoren müssen dafür herangezogen Wirtschaft und Technologie/Bundesministerium für werden. Genauso zählt auch die Attrakti- Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Ener- vität des Modells für andere Staaten zu den giekonzept für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung, 28. 9. 2010, online: Erfolgsbedingungen. Dies gilt insbesondere www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/ für die Übernahme von umwelt- und klima- energiekonzept_bundesregierung.pdf (26. 9. 2011). politischen Normen. Sollte sich das deutsche

16 APuZ 46–47/2011 Modell als erfolgreich erweisen, wäre zu er- Welt (G8), das die Kernenergie selbst nicht warten, dass zunächst entsprechende Nach- nutzt. Das positive Bild des kernenergiefrei- ahmungseffekte in der EU auftreten, die sich en Industriestaats wird jedoch durch die Tat- wiederum positiv auf die Veränderung eu- sache getrübt, dass Italien im Jahr 2008 etwa ropapolitischer Rahmenbedingungen aus- elf Prozent des im Land verbrauchten Stroms wirken könnten. Erst wenn die Spielregeln aus dem Ausland importierten musste – in gesamteuropäisch entscheidend verändert erster Linie aus Frankreich. werden, kann sich ein neues Wirtschaftssys- tem in einem integrierten Europa auch dauer- Großbritannien fühlt sich seit einigen Jah- haft etablieren. ren wie kaum ein anderes Land in Europa dem Klimaschutz verpflichtet und hat sich

Der vorliegende Beitrag soll als Einstieg in vorgenommen, die CO2-Emissionen bis zum die Debatte über Erfolgschancen des „Mo- Jahr 2025 gegenüber 1990 um die Hälfte zu dells Deutschland“ und die notwendigen eu- senken. Dafür setzt das Vereinigte König- ropapolitischen Implikationen einer Umge- reich auf einen Mix aus Kernenergie, erneu- staltung des Energiesystems dienen. Dabei erbaren Energien und fossilen Brennstoffen soll der Frage nachgegangen werden, welche unter Anwendung der Kohlenstoffabschei- europapolitischen Steuerungsinstrumente dung und -speicherung (CCS). Eine Reihe für einen Erfolg des energiepolitischen „Mo- alter Atomkraftwerke soll in den nächsten dells Deutschland“ entscheidend sein könn- zehn Jahren durch leistungsfähigere und si- ten. Zunächst sollen jedoch die energiepoliti- cherere Neubauten ersetzt werden. schen Entwicklungspfade in einigen anderen EU-Ländern knapp dargestellt werden. Die vier Beispiele zeigen, dass es in den 27 EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche nationale Strategien gibt. Die 135 derzeit in Was machen die Nachbarn? der EU betriebenen Atomkraftreaktoren be- finden sich in 14 Staaten. Dies bedeutet im Mit 58 Atomreaktoren stellt Frankreich mehr Umkehrschluss, dass 13 EU-Länder bislang als ein Drittel aller Kernkraftwerke in der auf die Nutzung der Kernenergie verzich- EU und erzeugt damit über 75 Prozent sei- ten. Von diesen hegen lediglich Polen und nes Stroms. Durch die Ergänzung mit Was- Litauen Ambitionen, dies zu ändern. Doch serkraft und Erdgas kann Frankreich heute auch die Liste der „Aussteiger“ ist kurz. Ne- eine Stromversorgung vorweisen, die beinahe ben Deutschland gibt es nur in Belgien einen ohne klimaschädliche Emissionen auskommt gültigen Ausstiegsbeschluss, der sich noch und im europäischen Kostenvergleich weit über Jahrzehnte hinauszögern dürfte. Hin- unter dem Durchschnitt liegt. Unter Staats- zu kommt, dass es sich bei der Mehrheit der präsident Nicolas Sarkozy wird das Land atomenergiefreien Staaten um kleinere EU- auch in Zukunft sein Nuklearprogramm Mitglieder handelt, die zudem häufig auf fortsetzen. Stromimporte angewiesen sind.

Polen dagegen ist wie kein anderer EU-Mit- gliedstaat abhängig von Stein- und Braun- Rolle der europäischen Energiepolitik kohle. Rund 95 Prozent der Elektrizität wer- den durch die Verbrennung dieser Rohstoffe In wenigen Politikfeldern hat sich in den ver- erzeugt. Die Anforderungen der Klimapoli- gangenen Jahren eine ähnliche „Europäisie- tik sowie die steigenden Kosten des Kohle- rung“ vollzogen wie in der Energiepolitik. ❙2 bergbaus erfordern allerdings auch dort die Dies mag vor dem Hintergrund der darge- Einleitung eines energiepolitischen Trans- stellten Unterschiede gerade in der Bewer- formationsprozesses. Die Hoffnung liegt tung der Kernenergie überraschen, scheint dabei weniger in den erneuerbaren Ener- die Debatte über die Nutzung der Atomkraft gien, als in den vermuteten riesigen Schie- doch gerade in Deutschland eine zentrale fergasvorkommen sowie im Bau von zwei ­Atomkraftwerken. ❙2 Vgl. Severin Fischer, Auf dem Weg zur gemeinsa- men Energiepolitik. Strategien, Instrumente und Po- Italien ist derzeit das einzige Land unter litikgestaltung in der Europäischen Union, Baden- den acht führenden Industrienationen der Baden 2011.

APuZ 46–47/2011 17 Abbildung: Haltung der EU-Mitgliedstaaten zur Atomenergie

EU-Mitgliedstaaten mit Bulgarien, Frankreich, Finnland, Atomkraftwerken und mit Großbritannien, Niederlande, Plänen für Neubauten Rumänien, Schweden, Slowakei Tschechische Republik, Ungarn

EU-Mitgliedstaaten mit Atomkraftwerken und ohne Slowenien, Spanien Plänen für Neubauten

Litauen, Belgien, Einsteiger/Aussteiger Polen Deutschland

EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Estland, Griechenland, ohne Atomkraftwerke Irland, Italien, Lettland, und ohne Pläne für Luxemburg, Malta, Österreich, Neubauten Portugal, Zypern

Quelle: Eigene Darstellung.

energiepolitische Grundsatzentscheidung zu S. F.] berühren (…) nicht das Recht eines Mit- berühren. Die Europäisierungstendenzen in gliedstaats, die Bedingungen für die Nutzung der Energiepolitik finden sich vorrangig in seiner Energieressourcen, seine Wahl zwi- den Bereichen der Marktorganisation und der schen verschiedenen Energiequellen und die klimaverträglichen Umgestaltung des Ener- allgemeine Struktur seiner Energieversor- giesystems. So können die Entwicklung ei- gung zu bestimmen.“ ❙3 Während also Richt- nes funktionierenden Energiebinnenmarkts, linien und Verordnungen für den Handel mit die Auflösung von Monopolen, der Verbrau- Strom oder den Schutz der Umwelt im Rah- cherschutz, die Festlegung von Energieef- men der EU-Gesetzgebung verabschiedet fizienznormen oder die gemeinsamen Ziel- werden können, bleibt die Entscheidung über setzungen für Klimaschutz und erneuerbare die Nutzung einzelner Energiequellen oder Energien als Errungenschaften der europäi- Energietechnologien in der Hand der Mit- schen Institutionen in der Energiepolitik ge- gliedstaaten. Auch zukünftig ist nicht zu er- sehen werden. Mit der Vertragsreform von warten, dass die nationalen Regierungen an Lissabon wurde die faktische Existenz einer dieser Stelle einen Eingriff aus Brüssel zulas- gemeinsamen Energiepolitik erstmals auch sen werden. primärrechtlich verankert. Mit dem neuen Vertragstext besitzt die EU nun die explizite Doch nicht nur auf vertraglicher Ebene, Kompetenz und den Auftrag zur Gestaltung sondern auch mit Blick auf die strategischen europäischer Energiepolitik. Ziele folgt Europa zunehmend einem ge- meinsamen Weg. So soll etwa der gemeinsa- Gleichzeitig wurden jedoch auch die Gren- me Energiebinnenmarkt bis zum Jahr 2014 zen der EU-Energiepolitik in den Verträgen festgehalten. So heißt es im Artikel 194 Ab- ❙3 Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Eu- satz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der ropäische Union und des Vertrags über die Arbeits- Europäischen Union (AEUV): „Diese Maß- weisen der Europäischen Union, Amtsblatt der Euro- nahmen [der gemeinsamen Energiepolitik, päischen Union, 2010/C 83/01, 30. 3. 2010, S. 134 f.

18 APuZ 46–47/2011 vollendet sein. Dies würde den Fluss von Erfolgsbedingungen der deutschen Strom und Gas ohne rechtliche Hindernisse ermöglichen und den grenzüberschreitenden Energiepolitik in Europa Handel stärken. Gleichzeitig haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU bereits Nukleare Sicherheit. Die Nutzung der Atom- im Jahr 2007 auf gemeinsame Ziele für die energie ist unter den EU-Mitgliedstaaten umweltverträgliche Umgestaltung der Ener- stark umstritten, wie die einzelnen Län- giepolitik geeinigt. So will die EU bis zum derbeispiele gezeigt haben. Zudem existiert Jahr 2020 ihre Treibhausgasemissionen um auf europäischer Ebene weder eine gemein- 20 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 re- schaftsrechtliche Zuständigkeit noch ein Re- duzieren. Der Anteil erneuerbarer Energien gulierungsregime, mit dem der Betrieb von soll sich auf 20 Prozent erhöhen und der Ener- Kernkraftwerken gesteuert werden könn- gieverbrauch ebenfalls um 20 Prozent gesenkt te. Ein europaweiter Atomausstieg erscheint werden („20-20-20-Ziele“). Um diese Zielset- trotz der Ereignisse in Fukushima damit auf zungen zu erreichen, wurde in den vergange- absehbare Zeit unrealistisch. Daraus ergibt nen Jahren eine Reihe von Steuerungsinstru- sich die Notwendigkeit, Maßnahmen in an- menten auf EU-Ebene installiert, die diesen deren Bereichen zu ergreifen, um die deut- Transformationsprozess ermöglichen sowie sche Entscheidung in die Europapolitik zu gleiche Bedingungen in allen Mitgliedstaaten übersetzen. und für alle Marktteilnehmer schaffen sollen. Dazu gehört wiederum die Gesetzgebung auf Wenn also, wie dargestellt, keine Mög- dem Energiebinnenmarkt, die diskriminie- lichkeit zur Kontrolle der Ursache eines rendes Verhalten gegenüber neuen Anbietern Problems besteht, muss die politische Ant- verbietet, den Netzzugang reguliert und eine wort im präventiven Umgang mit den mög- weitgehende Trennung von Stromerzeugung lichen Folgen liegen. Dies bedeutet in der und Netzbetrieb garantiert. Zur Erfüllung Praxis die Festlegung von gemeinsamen Si- der gemeinsamen Klimaschutzziele wur- cherheitsnormen, um das nukleare Risiko, de das EU-Emissionshandelssystem instal- das von den 143 Reaktoren in der EU aus- liert, mit dem die Emissionen im Bereich der geht, stetig zu reduzieren. Auch wenn die Stromerzeugung und der Industrie begrenzt Entscheidung über die Nutzung verschiede- werden sollen. Schließlich wurde auch das ner Energietechnologien national getroffen gemeinsame Ziel für die erneuerbaren Ener- wird, so bleibt die EU aufgrund ihrer räum- gien auf EU-Ebene in Form nationaler Ziel- lichen Zusammengehörigkeit doch eine Ri- setzungen übersetzt. sikogemeinschaft. Diese Tatsache sollte sich auch im gemeinsamen Management von Ri- Soll die „Energiewende“ gelingen, ist für siken widerspiegeln. Bislang hat die Festle- Deutschland die Mitgestaltung der europäi- gung einheitlicher Sicherheitsnormen für schen Energiepolitik von wachsender Bedeu- kerntechnische Anlagen in der EU noch kei- tung. Will man gleichzeitig Atomausstieg, ne Erfolge gebracht. Dies könnte sich nun Klimaschutz und den Ausbau erneuerbarer nach dem Unfall von Fukushima ändern. Energien erreichen, ohne dabei seine wirt- In einem ersten Schritt haben sich die EU- schaftliche Leistungsfähigkeit aufs Spiel zu Mitgliedstaaten in Folge der Havarie in Ja- setzen, stellt dies eine Herausforderung dar, pan auf die Durchführung von „Stresstests“ die nicht alleine im nationalen Rahmen ge- an allen Kernkraftwerken in der EU geei- löst werden kann. Insbesondere dann nicht, nigt. In einem zweiten Schritt wurde die Eu- wenn das „Modell Deutschland“ sich erst ropäische Kommission von den Staats- und durch die Nachahmung in anderen Staaten Regierungschefs aufgefordert, eine neue der Welt dauerhaft legitimiert. Während vie- Richtlinie zur Sicherheit nuklearer Anlagen le Stellschrauben in der deutschen Politik be- vorzulegen. Beide Schritte könnten sich für reits angepasst wurden, liegt eine zentrale den zukünftigen Umgang mit der Kernener- Aufgabe nun darin, deutsche Zielsetzungen gie als wichtig erweisen und die Kosten für konsequent in die weitere Entwicklung eu- den Betrieb von Kernkraftwerken näher an ropäischer Politik einzubinden und hierfür eine Internalisierung des Risikos rücken, vo- Bündnispartner zu gewinnen. Diese Not- rausgesetzt, die Ergebnisse der „Stresstests“ wendigkeit soll im Folgenden anhand von und der Rechtsetzungsprozess der Richt- drei Beispielen verdeutlicht werden. linie haben praktische Auswirkungen.­

APuZ 46–47/2011 19 Um auch künftig eine bessere Regulierung die Entwicklung der erneuerbaren Energien in der Sicherheit von kerntechnischen Anlagen Europa. Während Deutschland unter den ge- zu gewährleisten, erscheint es zudem erfor- gebenen Voraussetzungen das vereinbarte Ziel derlich, den Euratom-Vertrag zu reformieren. problemlos erreichen wird, lässt die Entwick- Der Euratom-Vertrag aus den 1950er Jahren lung in rund der Hälfte aller EU-Mitglied- regelt bis heute alle Fragen rund um den Be- staaten zu wünschen übrig. Zu dieser Gruppe trieb von kerntechnischen Anlagen in der EU. zählen unter anderem Länder wie Frankreich, Nicht nur die Zielsetzungen, sondern auch Großbritannien oder Österreich. die Entscheidungs- und Beteiligungsprozesse im Rahmen dieses Vertrags befinden sich je- Die unterschiedlichen Fortschritte im Be- doch bis heute auf einem Stand, der Mitte des reich der erneuerbaren Energien sind in vergangenen Jahrhunderts adäquat erschien, erster Linie eine Folge des Beharrens auf den heutigen Gegebenheiten aber nicht mehr nationalen Förderinstrumenten in umwelt- entspricht. Eine Mitbestimmung des Europä- politisch vergleichsweise erfolgreichen Staa- ischen Parlaments sowie die Einführung von ten wie Deutschland und dem mangelnden Mehrheitsentscheidungen sollten elementare Willen zur Europäisierung der Erneuerba- Bestandteile einer Vertragsreform darstellen. re-Energien-Politik. Diese Haltung erscheint Die Unterstützung dieses Reformvorhabens aus dreifacher Hinsicht problematisch für durch eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten, eine erfolgreiche Umsetzung des „Modells nämlich derjenigen, die keine Atomkraftwer- Deutschland“: ke betreiben, darf als wahrscheinlich gelten. • Erstens erfordert auch die Erneuerbare- Erneuerbare-Energien-Politik. Die erneu- Energien-Politik zunehmend Effizienz erbaren Energien haben den deutschen Strom- beim Einsatz von Mitteln. Während es in markt in den vergangenen Jahren erheblich einem ersten Schritt wichtig ist, neue Tech- verändert. Die Analysen für das erste Halb- nologien überhaupt in den Markt zu brin- jahr 2011 zeigen, dass bereits über 20 Produ- gen, muss sich die Entwicklung dieser An- zent des in Deutschland verbrauchten Stroms wendungen im weiteren Verlauf immer aus Wasser, Wind, Sonne oder Biomasse ge- stärker an der Standortwahl und am effi- wonnen wurde. Vor rund zehn Jahren lag zienten Einsatz der Anlagen orientieren. dieser Wert noch im einstelligen Bereich. Der Einhergehend mit der technischen Ent- deutschen Politik ist es durch die Einfüh- wicklung können so die Kosten für jede rung des EEG gelungen, nicht nur den An- produzierte Kilowattstunde stetig gesenkt teil erneuerbarer Energien am Energiever- werden. Dies bedeutet einen zunehmen- brauch deutlich zu erhöhen, sondern auch den Ausbau von Solarenergie in südlichen einen neuen Industriezweig anzusiedeln, in Regionen und von Windenergie an dafür dem Arbeitsplätze und neue Absatzmärkte günstig gelegenen Standorten in ganz Eu- für Zulieferbetriebe anderer Industriezwei- ropa. Nur durch eine europaweite Vernet- ge entstanden sind. Dieser Erfolg „ökologi- zung kann langfristig ein kostengünstiges scher Industriepolitik“ ist jedoch auch mit und effizientes Energiesystem entwickelt Kosten verbunden. Rund 12 Milliarden Euro werden, das vorrangig auf erneuerbaren wurden im Jahr 2010 von den Stromkunden Energien basiert. an die Anlagenbetreiber alternativer Energie- • Zweitens versperrt eine nationalstaat- quellen umgelegt. lich fokussierte Förderpolitik den Blick auf Absatzmärkte für deutsche Produkte Die Erneuerbare-Energien-Politik in Europa und Technologien im gemeinsamen Wirt- ist bislang hingegen unterentwickelt. So hatten schaftsraum der EU. Eine sanfte Auflö- sich die EU-Mitgliedstaaten zwar auf ein ge- sung nationalstaatlicher Förderpolitik zu- meinsames Ziel von 20 Prozent erneuerbare gunsten europäischer Förderinstrumente Energien am Endenergieverbrauch bis 2020 ge- würde neue Perspektiven für Unternehmen einigt und dieses Ziel auch auf nationale Werte aus diesem Bereich bieten, die im deut- für jeden Mitgliedstaat aufgeteilt. Eine Umset- schen Markt in einigen Bereichen bereits zung erfolgt aber allein durch nationale Maß- erschöpft sind. nahmen. Die Folge ist eine Konzentration auf nationalstaatliche Fördersysteme. Dieses Sys- • Drittens hat die Erfahrung der vergange- temdefizit zeigt sich bereits heute mit Blick auf nen Jahrzehnte gezeigt, dass erst durch die

20 APuZ 46–47/2011 Integration erneuerbarer Energien in die europaweite Handel mit Zertifikaten garan- Märkte eine Dynamik ausgelöst werden tiert zwar, dass die Gesamtmenge der Emissi- kann, die wiederum neue Investoren an- onen den zuvor festgelegten politischen Vor- lockt und somit resistente Marktstruktu- gaben entspricht. Innerhalb des Systems ist es ren aufweichen kann. Somit könnten die jedoch nicht möglich vorherzusagen, in wel- Spielregeln in den Märkten verändert wer- chen Mitgliedstaaten die Emissionen anfallen. den, zu denen die erneuerbaren Energien Zusätzliche Emissionseinsparungen in einem bislang noch keinen Zugang hatten. Land können so zu einer Erhöhung der Quo- te in einem anderen Land führen. Was bedeu- Ohne die Erfolge nationaler Förderinstru- tet das für die deutsche Energiewende? mente hätten die erneuerbaren Energien in Europa bislang nicht Fuß fassen können. Die Bundesregierung hat in ihren Be- Dennoch birgt das Ausblenden europäischer schlüssen vom Juni 2011 das bereits zuvor ge- Lösungsmodelle auch Gefahren. Deutsch- fasste Ziel einer Reduzierung der Treibhaus- land könnte sich hier isolieren, wenn es die gasemissionen in Deutschland um 40 Prozent anderen Mitgliedstaaten nicht mitnimmt. bis zum Jahr 2020 wiederholt. Aufgrund der Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten bie- Wirkungen des europäischen Emissionshan- ten sich dabei auch neue Entwicklungspers- delssystems ist es für die deutsche Politik je- pektiven und Wege aus der Krise. Ein euro- doch kaum möglich, die Einhaltung dieser päisches Förderinstrument für erneuerbare Zielsetzung auch zu gewährleisten. Selbst Energien könnte eine solche Chance beinhal- wenn sie zusätzliche Maßnahmen auf natio- ten. Langfristig kann so auch eine Verdrän- naler Ebene ergreifen würde, hätten diese zur gung der Kernenergie aus dem europäischen Folge, dass die damit erzielte Einsparung in Strommarkt erfolgen. einem anderen EU-Mitgliedstaat durch einen Emissionszuwachs ausgeglichen wird. Sol- Klimaschutz. Die Klimapolitik spielt in len die Klimaschutzziele Deutschlands also Deutschland seit Jahren eine zunehmend ernst genommen werden, muss der Blick auf wichtige Rolle. Gerne wird dabei auf die Er- die Gestaltung der europäischen Klimapoli- folge Deutschlands beim Klimaschutz ver- tik geworfen ­werden. wiesen. So wird die Bundesrepublik nicht nur ihr Kyoto-Ziel erreichen, sondern hat von al- Innerhalb der EU hatten sich die Staats- len EU-Staaten in den vergangenen zwei Jahr- und Regierungschefs bereits im Jahr 2007 zehnten die meisten Emissionen eingespart. darauf geeinigt, die CO2-Emissionen Euro- Gerne wird dabei jedoch verschwiegen, dass pas bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent zu re- ein Großteil dieser Bilanz auf die Abwick- duzieren. Diese Zielsetzung wurde im Ver- lung der DDR-Industrie und eine zunehmen- lauf des Jahres 2008 im Zuge der Reform de Deindustrialisierung im Zuge von Glo- des Emissionshandelssystems in die Gesetz- balisierungsprozessen zurückzuführen ist. gebung überführt. Durch die einsetzende Bereinigt man die Bilanzen um diese spezi- Wirtschaftskrise und die damit verbunde- fischen Effekte, wird der bislang geringe Ein- nen Rückgänge im Energieverbrauch und bei fluss umweltpolitischer Maßnahmen auf die der Produktion wurde jedoch bereits im Jahr

Entwicklung der CO2-Emissionen deutlich. 2009 eine Reduktion der Treibhausgasemis- sionen um rund 17 Prozent gegenüber dem Mit der Einführung des EU-Emissions- Basisjahr 1990 erreicht. Eine Steuerungswir- handelssystems im Jahr 2005 wurden die kli- kung des 20-Prozent-Ziels für das Jahr 2020 mapolitischen Steuerungsmechanismen weit- ist damit kaum mehr zu erwarten. Dies spie- gehend auf die EU-Ebene transferiert. Alle gelt sich auch im Preis für CO2-Zertifika- Emissionen aus Stromerzeugung und Indus- te wider, der derzeit bei etwa zehn Euro pro trie fallen unter dieses Regime. Die konstan- Tonne und damit weit unter dem prognosti- te Reduzierung des Angebots an verfügbaren zierten Niveau liegt. Zertifikaten steuert innerhalb des Handels- systems die Emissionsmenge. Am Markt Soll das deutsche Klimaziel für das Jahr 2020 bildet sich so ein Preis für den Ausstoß von aufrechterhalten werden, ohne dass es gleich- Treibhausgasen. Dieser Preis erscheint auch zeitig zu einem Zuwachs der Emissionen in als wichtiger Anreiz für Investitionen in ef- anderen EU-Mitgliedstaaten kommt, müss- fiziente und erneuerbare Technologien. Der te die deutsche Politik auf eine Erhöhung des

APuZ 46–47/2011 21 europaweiten Reduktionsziels auf eine Mar- Hardo Bruhns · Martin Keilhacker ke von 30 Prozent drängen. Dies würde nicht nur konsequent mit Blick auf die Umsetzung der nationalen Klimapolitik erscheinen, es ­„Energiewende“: würde auch die Erfolgschancen für das deut- sche Modell in der Energiepolitik verbessern. Wohin führt Durch einen steigenden CO2-Preis könnten sich die Anreize für Investitionen in effizien- te und erneuerbare Energietechnologien ver- der Weg? stärken, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Dies wiederum könnte eine n Deutschland und Westeuropa wird seit Transformation analog zum deutschen Ent- IJahrzehnten eine gesicherte und bezahlba- wicklungspfad auch in anderen Mitgliedstaa- re Energieversorgung als selbstverständ­licher ten der EU attraktiver machen. Standard betrachtet. Nun gilt es, zur Ab- Hardo Bruhns schwächung des Kli- Prof. Dr. rer. nat., geb. 1945; „Energiewende“ europäisch denken mawandels die Emis- Physiker, ehemaliger Referats­ sionen von Kohlen- leiter und Berater in der Generaldirektion Forschung der Die Umgestaltung des deutschen Energie- stoffdioxid (CO2) so systems erscheint aus heutiger Perspektive weit wie möglich zu re- EU-Kommission; stellvertreten- als Mammutprojekt. Die Gleichzeitigkeit des duzieren. Für die dafür der Vorsitzender des Arbeits- Ausstiegs aus der Atomenergie, des Einstiegs ­erforderliche „Ener- kreises Energie der Deutschen in das Zeitalter der erneuerbaren Energien giewende“ muss ge- Physikalischen Gesellschaft; sowie die Beachtung der Klimaschutzvorga- fragt werden, ob der ­Meliesallee 5, 40597 Düsseldorf. ben stellt die Politik vor komplexe Heraus- in Deutschland einge- [email protected] forderungen. Häufig geht dabei jedoch der s c h l a g e n e We g z u m Z i e l Blick über den Tellerrand verloren. Dies gilt führen kann und ob Martin Keilhacker insbesondere für die Frage, unter welchen er hinreichend zweck- Prof. Dr.-Ing., geb. 1934; Bedingungen ein solcher Entwicklungspfad mäßig verfolgt wird. ­Physiker, ehemaliger Direktor umweltpolitisch und wirtschaftlich erfolg- Nicht hinterfragt wer- des JET Joint Undertaking in reich sein kann. Dabei erscheint die bereits den muss die Notwen- Culham/UK; Vorsitzender des existente Integration Deutschlands in ein eu- digkeit einer Energie- Arbeitskreises Energie der ropäisches Energiesystem ebenso wichtig, wende selbst. Das Ziel Deutschen Physikalischen wie die Tatsache, dass nicht alleine die nati- muss sein, die Verwen- Gesellschaft; Kapellengarten- onalstaatliche Regelungsebene für die erfolg- dung fossiler Brenn- straße 11, 81247 München. martin.keilhacker@ reiche Umsetzung des „Modells Deutsch- stoffe ohne CO2-Ab- land“ relevant ist. So kann weder ein Schutz scheidung weitestge- softdesign.de vor den Risiken nuklearer Unfälle noch eine hend zu vermeiden. Bekämpfung des Klimawandels ohne die Ko- ordination in Europa erreicht werden. So- Bei der Energiewende strebt Deutschland gar die Umgestaltung der Energiewirtschaft eine Vorreiterrolle an mit dem Ziel, bis 2020

hin zu mehr erneuerbaren Energien erfor- eine Reduzierung der CO2-Freisetzung um dert aus Effizienz- und Kostengründen eine 40 Prozent und bis 2050 sogar um mindestens stärkere Beachtung europaweiter Potenzi- 80 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 zu errei- ale. Durch eine aktive Rolle bei der Gestal- chen. Dafür sind enorme Anstrengungen er- tung europäischer Energie- und Klimapolitik forderlich. Sie werden von der Politik höchst und die Übersetzung nationaler Strategien in unterschiedlich gefördert, vielfach weitab vom die Europapolitik können die Erfolgschancen Pfad marktwirtschaftlicher Tugend durch se- für das „Modell Deutschland“ erhöht wer- lektive direkte oder verdeckte Subvention und den. Auch wenn Entscheidungsprozesse in Begünstigung bestimmter – und nicht immer der europäischen Politik oft komplex, müh- der am besten geeigneten – Technologien. sam und schwerfällig erscheinen, kann natio- nale Politik im 21. Jahrhundert kaum ohne sie Dieser Artikel gibt ausschließlich die Meinung der Autoren und nicht die Auffassungen der Europäischen ­auskommen. Kommission, des JET Joint Undertaking, der Deut- schen Physikalischen Gesellschaft oder einer anderen Organisation wieder.

22 APuZ 46–47/2011 Klimaschutz ergibt nur als weltweites Un- stehen mechanische Energie in Industrie und terfangen Sinn. 2005 wurde in Europa der Transport (37 Prozent) sowie Raumwärme

CO2-Emissionsrechtehandel für Stromer- und Warmwasser (35 Prozent) an den ersten zeugung und gewisse Industrien eingeführt, Stellen. Bei den privaten Haushalten macht bei dem die Berechtigung für den Ausstoß je- die Wärmebereitstellung sogar fast 90 Prozent

der Tonne CO2 erworben werden muss und des Endenergieverbrauchs aus. Beleuchtung, eine Gesamtobergrenze definiert wird. Da- wegen des Glühlampenverbots viel diskutiert,

mit erzeugen CO2-Emissionen Kosten, die benötigt gerade einmal knapp drei Prozent. bei Übergang auf emissionsfreie (oder -arme) Technologien nicht anfallen, und erworbene Damit müssen Verbesserungen der Um- Zertifikate können gehandelt werden. Ob- wandlungseffizienz in Kraftwerken, Raffi- wohl im Kyoto-Protokoll verankert, hat sich nerien und Antriebsaggregaten sowie we- dieses marktwirtschaftliche System leider bis- sentlich wirksamere Wärmeisolierung von lang keineswegs weltweit durchgesetzt. Über- Gebäuden im Vordergrund der Energiespar- dies müssten Maßnahmen wie das deutsche bemühungen stehen. In vielen Bereichen hat Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) darauf sich die Energieeffizienz über die vergange- abgestimmt werden. Für die mit teurer Wind- nen Jahrzehnte bereits erheblich verbessert,

und Solarförderung geschaffenen CO2-frei- allerdings wirken Komfort- und Leistungs- en Strommengen sollten in gleichem Umfang ansprüche Einsparungen entgegen. Es muss Zertifikate aus dem Markt genommen wer- also ein Umdenken bewirkt werden, wenn den, was aber bisher nicht geschehen ist. ❙1 So tatsächlich deutliche Einsparungen erreicht ändert der deutsche Ausbau von Wind- und werden sollen – der Energiepreis wird das Solarenergie bisher viel zu wenig am Volumen wesentliche Stimulans dafür sein. der gesamten Verschmutzungsrechte und der

damit verbundenen CO2-Emissionen. Bei der Wärmedämmung zeigt sich, dass Verbesserungen bei Neubauten gut zu erzielen sind, wenngleich durchaus mögliche Ziele von Energiebedarf und Sparpotenzial 40 bis 60 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr (kWh/m2a) und weniger noch viel zu Der deutsche Anteil am Weltprimärenergie- selten erreicht werden. Ein Großteil der Alt- verbrauch liegt bei 3,5 Prozent und beträgt bauten kann aber kaum bzw. nur mit großem rund 4000 Terawattstunden (TWh). Deutsch- finanziellen Aufwand und auch Einbußen bei land (mit etwa 1,2 Prozent der Weltbevöl- Wohnqualität und Fassadenoptik auf Niedrig- kerung) hat gegenwärtig einen jährlichen energiestandards saniert werden. Für Heizun- Pro-Kopf-Verbrauch von gut vier Tonnen gen ist besonders bei gut gedämmtem Wohn- Öläquivalent (toe). Das ist etwa die Hälfte raum Einsparpotenzial vorhanden. Gerade des Pro-Kopf-Verbrauchs der Spitzengruppe bei für Einzelhäuser typischen Anlagegrößen (unter anderem Kuwait, Vereinigte Arabische könnten statt Brennwertkesseln oder Kraft- Emirate, USA, Kanada), aber deutlich mehr Wärme-Kopplung (KWK) noch vorteilhafter als das Doppelte des Weltdurchschnitts, der Wärmepumpen eingesetzt werden. ❙2 unter zwei toe pro Kopf liegt. Der oft prognostizierten Senkung des Strom- Etwa 35 Prozent der benötigten Primär- verbrauchs (2010 lag er in Deutschland brutto energie gehen in unserem Energieversor- bei 606 TWh) steht eine Flut neuer elektrischer gungssystem verloren. Verluste bei der Strom- Anwendungen entgegen (Elektrifizierung na- erzeugung sind daran wesentlich beteiligt. Bei hezu aller Funktionen im Haushalt, im Han- der Nutzung der verbleibenden Endenergie del und in der Industrie, Informations- und Kommunikationstechnologien, Elektrofahr- ❙1 Dadurch sind die Zertifikate sehr preiswert gewor- zeuge). Auch liefern Wind- und Wasserkraft den, was die kostengünstigsten CO2-Einsparungs- wie auch Photovoltaik von vornherein Energie maßnahmen, nämlich die Optimierung konventi- in Form von Strom, der sich damit zunehmend oneller Kraftwerke und Industrieprozesse, wenig interessant macht, wohingegen die kostenträchtigsten 2 CO2-Einsparungsmaßnahmen durch das EEG be- ❙ Vgl. Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG), sonders attraktiv sind. Erst im Zeitraum von 2013 bis Elektrizität: Schlüssel zu einem nachhaltigen und kli- 2020 soll das Zertifikatvolumen stärker – aber wohl maverträglichen Energiesystem, Bad Honnef 2010, immer noch nicht ausreichend – angepasst ­werden. S. 73 ff.

APuZ 46–47/2011 23 auch für Anwendungen anbietet, die heute mit verstärken: Um den Wegfall der Kernkraft fossilen Brennstoffen arbeiten. So könnten (Stromanteil 2010: 22,5 Prozent) zu kompen- sich auf Dauer zum Beispiel elektrische Spei- sieren, müssen zusätzliche Kohle- und Gas- cherheizungen wieder durchsetzen, die mit kraftwerke gebaut werden. ❙7 Dass die Bun-

CO2-frei erzeugter Elektrizität unter Klima- desregierung sogar plant, den Neubau von schutzaspekten jeder Erdgasheizung vorzu- Gas- und Kohlekraftwerken aus dem Öko- ziehen wären. Insgesamt wäre die Politik gut fonds zu subventionieren, ist kein gutes Zei- beraten, sich auf die Fortsetzung von Steige- chen für den Klimaschutz. rungen beim Stromverbrauch und einen Brut- tostrombedarf im Jahr 2050 von mindestens Kohle – insbesondere auch Braunkohle – 700 TWh einzustellen. ❙3 wird aus Kostengründen eine große Rolle spielen (ihr Anteil könnte bis zum Jahr 2020 Wie viel Primärenergie kann in Deutschland von 43 Prozent auf 47 Prozent anwachsen ❙8). tatsächlich eingespart werden? In den meisten Erdgas GuD-Kraftwerke (Gas- und Dampf- Szenarien wird von 20 Prozent bis 45 Prozent Kraftwerke) sind wegen ihres schnellen Last- über die nächsten 40 Jahre ausgegangen. ❙4 Das wechselverhaltens besonders geeignet, die wird beachtliche Anstrengungen erfordern. fluktuierende Stromerzeugung aus Wind und

Deswegen sollte so effizient und kostengüns- Sonne auszugleichen – und ihr CO2-Ausstoß tig wie möglich vorgegangen werden. ist nur etwa halb so groß wie bei Braunkohle oder sogar günstiger, auch weil sie Wirkungs- grade bis zu 60 Prozent erreichen, Kohlekraft- Stromerzeugung werke dagegen maximal 45 Prozent. Diese aus fossilen Energieträgern Werte gelten allerdings nur für den Grund- lastbetrieb. Bei der hauptsächlich geforderten

Zur Deckung unseres Energieverbrauchs tra- Regellast muss man für den CO 2-Ausstoß mit gen derzeit noch mit 78 Prozent fossile Ener- ungünstigeren Werten rechnen. gieträger bei. ❙5 Erneuerbare Energiesysteme liefern mittlerweile rund zehn Prozent ❙6 – Für die Klimaziele ist unumgänglich, in hauptsächlich mit konventionellen biogenen den Kohle- und Gaskraftwerken (und in an- Brennstoffen, sowie, besonders für die Strom- deren großen Industrieanlagen wie Stahl-,

erzeugung, Wasser- und zunehmend Wind- Zement- und Chemiewerken) das CO2 ab- kraft, dazu ein wenig Solarstrom. Durch die zuscheiden und im Untergrund zu speichern fluktuierende Einspeisung aus Wind und (Carbon Capture and Storage, CCS). Dieses Sonne entstehen neuartige Probleme: back- Verfahren hat aber einen erheblichen Preis:

up-Leistung aus anderen Kraftwerken muss Der zusätzliche Energieaufwand für CO2- für wind- bzw. sonnenschwache Zeiten die Abscheidung, Kompression und Transport Versorgungssicherheit garantieren. reduziert den Kraftwerkswirkungsgrad um acht bis 14 Prozentpunkte, ❙9 bzw. steigert den Auch unsere derzeitige Stromversorgung Brennstoffverbrauch um 20 bis 35 Prozent. ❙10 wird von fossilen Kraftwerken dominiert Ein Hauptziel der Forschung ist deshalb, die- (2010: 56 Prozent) und dies wird sich noch sen Wirkungsgradverlust zu minimieren.

❙3 Vgl. zum Beispiel Studien des Verbands der Elek- Das abgeschiedene CO2 soll in nach oben trotechnik Elektronik Informationstechnik (2008) dichten geologischen Formationen, zum Bei- und der DPG (2010). spiel sogenannten Aquiferen, gespeichert ❙4 Vgl. Fraunhofer-Institut für System- und Innova- tionsforschung, Energietechnologien 2050 – Schwer- punkte für Forschung und Entwicklung, Karlsruhe ❙7 Vgl. Stephan Kohler, Chef der Deutschen Energie- 2010; „Leitstudie 2010“ im Auftrag des Bundesmi- agentur (dena), spricht in diesem Zusammenhang von nisteriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- einem Bedarf von bis zu 12 000 Megawatt. cherheit, Berlin, Dezember 2010; EWI/Prognos-Stu- ❙8 Laut Rheinisch-westfälischem Institut für Wirt- die, Die Entwicklung der Energiemärkte bis zum Jahr schaftsforschung (RWI). 2030 (Energiereport IV), im Auftrag des Bundesmi- ❙9 Entsprechend wird zum Beispiel der Wirkungs- nisteriums für Wirtschaft und Arbeit, Berlin 2005. grad eines modernen GuD-Kraftwerks mit CCS von ❙5 Alle Energieangaben, soweit nicht anders erwähnt, 60 Prozent auf unter 50 Prozent sinken, das heißt, die nach AG Energiebilanzen, Stand: Sommer 2011. mit Hilfe modernster Hochtechnologie erzielten Ver- ❙6 Der Anteil der erneuerbaren Energien an der besserungen gehen wieder verloren. Stromerzeugung liegt bei 17 Prozent. ❙10 Vgl. DPG-Studie (Anm. 2), S. 9.

24 APuZ 46–47/2011 werden. Deren Speicherkapazität wird in Vermutlich könnten sie gerade einmal ein Deutschland allerdings nur auf 30 bis 80 Jah- Prozent des heutigen PKW-Kraftstoffver- 14 re des jetzigen CO2-Anfalls in Kraftwerken brauchs durch Strom ersetzen. ❙ Damit aber geschätzt. ❙11 Die Sicherheit und langfristige Elektrofahrzeuge einen Beitrag zum Klima-

Wirksamkeit dieser Speicherung muss noch schutz liefern können, muss der Strom CO2- wesentlich umfänglicher untersucht wer- frei erzeugt werden. Bislang ist in Deutsch- den, ❙12 da ohne deren Nachweis die Zustim- land eine elektrische Kilowattstunde noch

mung der Politik und vor allem der Bevölke- mit 565 Gramm CO2 belastet und bis auf rung wohl nicht zu gewinnen ist. ❙13 Insgesamt weiteres bleiben sparsame Diesel- und Hyb- könnte CCS allenfalls für eine Übergangs- ridfahrzeuge wesentlich vorteilhafter für die phase von einigen Jahrzehnten hilfreich sein; Klimabilanz als Elektroautos. für eine Dauerlösung müssten andere Spei- chermöglichkeiten entwickelt werden. De- Bei der Wärmeerzeugung interessiert vor al- zentral (das heißt bei Gebäudeheizung, klei- lem der energetisch große Bereich der Gebäu- nen KWK-Anlagen, Verkehr) kann CCS nicht deheizung. Hier ist es für die Erzielung von eingesetzt werden. Darum sollte hier mit ho- 22 Grad Celsius Raumtemperatur wenig sinn- her Priorität auf nichtfossile Alternativen wie voll, Erdgas bei vielen Hundert Grad zu ver- etwa die Wärmepumpe gesetzt werden. brennen. Stattdessen können bei ausreichender Isolierung und mit geeigneten, das heißt groß- Ein beliebtes Streitthema ist „Peak Oil“ flächigen Heizkörpern (Fußbodenheizung) bzw. die Reichweite fossiler Ressourcen. Für mittels Wärmepumpen 65 bis 75 Prozent der die Energiewende sind solche Diskussionen Energie aus der Umgebung (Erdreich oder müßig, denn auch wenn CCS in Industrie und Luft) gewonnen werden, so dass nur der Rest Großkraftwerken eine zeitlich begrenzte Rolle als elektrisch bereitzustellende Energie anfällt. spielen kann, erfordert der Klimaschutz länger- Wärmepumpen sind für den Klimaschutz der fristig eine möglichst umfassende Abkehr von KWK oder Brennwertkesseln schon dann klar fossilen Brennstoffen, unabhängig von deren überlegen, wenn etwa drei Viertel des Stroms

mehr oder weniger knappen ­Verfügbarkeit. aus erneuerbaren oder anderen CO2-armen Quellen erzeugt werden. ❙15 Derzeit werden aber Wärmepumpen sowohl bei Steuern und Stromerzeugung Abgaben als auch bei der Förderung massiv aus erneuerbaren Energieträgern gegenüber KWK benachteiligt. ❙16

Langfristig werden erneuerbare Energien hof- Biomasse. Sie wird nicht nur aus dem An- fentlich die von ihnen erwartete Rolle spielen bau in der Forst- und Landwirtschaft gewon- und den Großteil unserer Energieversorgung nen, sondern fällt auch als Reststoff bzw. als abdecken. Die Versorgung mit Treibstoff, organischer Abfall an. Obwohl fast die Hälfte Wärme bzw. Strom stellt dabei unterschied- der Gesamtfläche landwirtschaftlich genutzt liche Anforderungen. Beim Verkehr kommt wird, ist Deutschland ein Nettoimporteur nur die Umstellung der Verbrennungsmoto- für Agrargüter und Lebensmittel. Weltweit ren von fossilen auf biogene Treibstoffe oder könnte Biomasse um das Jahr 2050 einen we- die Einführung von Brennstoffzellen bzw. sentlichen Teil des (Primär-)Energiebedarfs Elektroantrieb in Frage. Bis 2020 sollen nach abdecken. ❙17 Für Deutschland werden derzeit Wunsch der Bundesregierung eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen fahren. ❙14 Wie viele Elektrofahrzeuge Zweit- oder Dritt- wagen sein werden, bleibt abzuwarten. Heute gibt ❙11 Vgl. ebd., S. 52 ff. es 55,5 Millionen zugelassene Fahrzeuge, davon 12 ❙ Erfahrungen mit der Speicherung von CO2 in 46,6 Millionen PKW mit einer Fahrleistung von rund Aquiferen wurden unter anderem bei norwegischen 15 000 Kilometer pro Jahr und Person, die bei Elek­ Gasfeldern (zum Beispiel Sleipner) gewonnen, wobei tro­autos bei etwa der Hälfte liegen könnte. sich zeigt, dass bisher nur ein geringer Teil der nomi- ❙15 Vgl. DPG-Studie (Anm. 2), S. 144 ff. nellen Reservoirvolumina ohne Probleme nutzbar ist. ❙16 Vgl. Gerhard Luther, Anforderungen an einen ❙13 Wie steinig dieser Weg ist, zeigt der Gesetzge- Wärmepumpentarif, in: HLH, 62 (2011) 9, S. 120–125. 17 bungsprozess zur unterirdischen CO2-Speicherung, ❙ 30 bis 70 Prozent. Vgl. Verband der Chemischen der am 23. September 2011 durch das Veto der betrof- Industrie, Biomasse – Rohstoff für die chemische In- fenen Bundesländer im Bundesrat vorläufig gestoppt dustrie, Frankfurt/M. 2007. Siehe auch online: www. worden ist. iea.org/​papers/2011/biofuels_insights​ .pdf (28. 9. 2011).

APuZ 46–47/2011 25 Zahlen zwischen nur fünf Prozent und acht vielfach betriebene (weil durch das EEG gut Prozent genannt, ❙18 Biomasse wird nur als geförderte) Ausbau in küstenfernen Schwach- Import eine größere Rolle spielen. windregionen ist wenig sinnvoll.

Energieerzeugung aus Biomasse wirft Fra- Das große Problem der Windenergie (und gen nach Nachhaltigkeit und Konkurrenz noch mehr der Photovoltaik) liegt in den zur Lebensmittelproduktion auf; dies gilt starken Fluktuationen der Leistungsverfüg- auch für die Länder, aus denen Biomasse im- barkeit: Es müssen große, schnell regelbare portiert wird. Für eine nachhaltige Biomas- Reservekapazitäten vorgehalten werden, die sestrategie ist deshalb die vermehrte und ver- dann aber nur zeitlich begrenzt und damit in- besserte Nutzung von Reststoffen wichtig: effektiv und teuer eingesetzt werden. Bei der Von neuen Aufschluss- und Verarbeitungs- Windkraft sind Reservekraftwerke für min- verfahren der „2. Generation“ wird hier destens 90 Prozent, bei der Photovoltaik so- eine wesentliche Erweiterung des Potenzials gar für mindestens 97 Prozent der nominalen ­e r w a r t e t . Leistung erforderlich. ❙22

Geothermie. Erdwärme aus oberflächen- Solare Energieerzeugung. Solarenergie soll- nahen Bohrungen eignet sich hervorragend te zweckmäßigerweise dort gewonnen wer- für Niedrigtemperaturheizung. Heißere, den, wo die Sonne scheint, also im Süden, das heißt in der Regel tiefere Schichten kön- wo der Jahresgang solarer Stromerzeugung nen für die Stromerzeugung genutzt werden: zudem wesentlich ausgeglichener ist. Über- Weltweit werden bereits über zehn Giga- dies kann die dort vorwiegend direkte Strah- watt (GW) Stromleistung erzeugt. Geother- lung fokussiert werden, was bei Photovoltaik mie ist attraktiv, da Leistung ohne Fluktua- Vorteile bringt, aber vor allem solarthermi- tionen rund um das Jahr Tag und Nacht zur sche Kraftwerke ermöglicht, die Sonnenwär- Verfügung steht. Die Risiken sind gering und me über einen Dampfkreislauf in Strom wan- sollten sich wie die Kosten durch verbesserte deln. Dabei kann Wärme gespeichert werden, Explorations- und Bohrverfahren noch deut- sodass die Stromerzeugung in die Nachtstun- lich verringern lassen. den ausgedehnt werden kann – und wenn einmal die Sonne nicht scheint, kann zum Windkraft. Windenergie liefert den größten Beispiel mit Biomasse zugefeuert werden. und am schnellsten wachsenden Beitrag zum Solarstrom aus südlichen Regionen Europas erneuerbaren Stromangebot. In Deutschland oder Nordafrikas wäre wesentlich günstiger trug sie 2010 mit sechs Prozent zur Stromer- als der deutsche. Er erfordert ein geeignetes zeugung bei, ❙19 was aber nur 16 Prozent ❙20 der Stromnetz, das aber ohnehin notwendig wer- nominalen installierten Kapazität entsprach. den wird. Für den weiteren Ausbau setzt die Bundesre- gierung deshalb hauptsächlich auf Offshore- Anlagen in der Nord- und Ostsee, die einen Problem der Stromspeicherung mindestens doppelt so hohen Nutzungs- grad erwarten lassen. Hier sollen bis 2030 Energiespeicherung von fossilen oder Bio­ eine Nominalleistung von 25 GW und bis brenn­stoffen ist üblicherweise ohne Schwie- 2050 von rund 40 GW (und eine ähnlich gro- rigkeiten möglich – ein Problem stellt sich ße Onshore-Leistung) installiert sein. ❙21 Der nur beim Strom. Batterien und Kondensato- ren bieten keine wesentlichen Großspeicher- möglichkeiten. Pumpspeicherwasserkraft- ❙18 Vgl. Martin Kaltschmitt/Volker Lenz/­Daniela werke und Druckluftspeicher (mit deutlich Thrän, Zur energetischen Nutzung von Biomasse in Deutschland, in: Lifis online, 25. 4. 2008, ­online: http://​ höheren Verlusten) haben derzeit nur Kurz- leibniz-institut.de/archiv/kaltschmitt_​25_04_08.pdf zeitspeicherkapazität. Ob es gelingen kann, (2 8 . 9. 2 011). für den deutschen (und europäischen) Lang- ❙19 Ende 2010 waren laut Bundesverband Windener- zeitspeicherbedarf in Norwegen ausreichend gie 21 561 Onshore-Windenergieanlagen mit einer nominalen installierten Leistung von 27 088 Mega- watt im Einsatz. ❙22 Vgl. DPG-Studie (Anm. 2), S. 110 ff. Die dena be- ❙20 Dieser Wert schwankte in den vergangenen zehn ziffert den Beitrag der Photovoltaik zur gesicherten Jahren zwischen 14 Prozent und 20 Prozent. Leistung in ihrer Kurzanalyse der Kraftwerks- und ❙21 Vgl. „Leitstudie 2010“ (Anm. 4). Netzplanung (2008) sogar auf nur ein Prozent.

26 APuZ 46–47/2011 (Pump-)Speicherkraftwerke zu bauen, ist zen, etwa bei der Übertragung küstennah- angesichts der bereits jetzt weitgehenden er Windenergie nach Süddeutschland. Der Nutzung des nach derzeitigen Bestimmun- Netzausbau muss in europäischem Maßstab gen möglichen Potenzials und von zu er- erfolgen, denn nur dann ist es möglich, durch wartenden Bürgerprotesten nicht leicht zu Nutzung der optimalen Erzeugungsregio- ­beantworten. nen zu deutlich kostengünstigerem Wind- und Sonnenstrom zu kommen als es bei ei- Aus Wind und Sonne gewonnene über- ner auf Deutschland begrenzten Strategie je schüssige elektrische Energie kann mit Elek- möglich sein wird. Ohnehin verlangt der eu- trolyse zur Herstellung von speicherbarem ropäische Energiebinnenmarkt in Zukunft Wasserstoff (bzw. anschließend Methan ❙23) einen echten, nicht durch (verdeckte) Subven- genutzt werden. In das Erdgasnetz einge- tionen verzerrten Preiswettbewerb, dem An- speist, kann damit Wärme erzeugt wer- lagen in wind- und sonnenschwachen Regio- den. ❙24 Allerdings ist diese Möglichkeit zu nen nicht werden standhalten können. Auch teuer, solange auf Grund des EEG die hohen wird ein solches Netz ermöglichen, dass nur Wind- und noch viel höheren Photovoltaik- europaweit und nicht in jedem Land einzeln stromkosten anfallen. Dieser Weg ist aber eine vollständige Reserveleistung für dort ohnehin keine echte Stromspeicherung, denn wind- und sonnenschwache Zeiten vorgehal- die Rückverwandlung in Strom in Gaskraft- ten werden muss. werken ist wegen hoher Verluste wenig sinn- voll. Vielleicht kann bei Nutzung in mobilen Technisch erfordert Stromtransport über Brennstoffzellen eine günstigere Rechnung große Strecken eine Hochspannungs-Gleich- im Vergleich zu Diesel- oder Benzinantrie- strom-Übertragung (HGÜ) mit zum Beispiel ben aufgemacht werden. 600 Kilovolt (kV), die in vielen Regionen der Welt bereits seit langem erfolgreich eingesetzt Batterien von Elektroautos werden gern als wird. Dieses Netz muss das Rückgrat für ei- zukünftig im Netz relevante Stromspeicher nen europäischen Netzausbau werden, dessen dargestellt. De facto dürfte ihr Einfluss zu- Kosten die EU-Kommission auf 200 Milliar- mindest in den nächsten zwei bis drei Jahr- den Euro veranschlagt. ❙25 Bei Freileitungen zehnten eher bescheiden sein; von den 20 bis werden die Masten für HGÜ beträchtlich hö- 25 Gigawattstunden (GWh) Kapazität der her sein als für die bisherigen 240/380-kV- für 2020 geplanten eine Million E-Fahrzeu- Überlandleitungen. Ob die Bevölkerung das ge dürfte in der Praxis nur ein Bruchteil als akzeptieren oder wesentlich teurere Erdkabel Lastspeicher nutzbar sein, wenn der Fahr- erzwingen wird, ist offen. betrieb im Vordergrund stehen soll. Damit werden diese teuren Batterien kaum mehr als Bisher wird die Stromerzeugung an den zehn bis 20 Prozent der schon heute verfüg- Bedarf angepasst. Mit wachsenden Anteilen baren Pumpspeicherkapazität von 50 GWh an schlecht vorausberechenbarem, fluktuie- bringen. rendem Strom wird künftig die Stromnach- frage an die aktuellen Erzeugungsmög- lichkeiten angepasst werden müssen. Ein Energietransport – intelligentes Netz wird elektrische Verbrau- europäisches Stromnetz gefragt cher an- und abschalten. Mit sogenannten Smart Meters, die eine flexible Tarifgestal- Auch beim Energietransport konzentrieren tung in Abhängigkeit von Stromangebot sich die Probleme auf den Strom. Das heu- und -nachfrage ermöglichen, wird eine Ent- tige Netz stößt bereits jetzt an seine Gren- wicklung beginnen, die letztlich zu vom Stromversorger weitgehend fernsteuerbaren ❙23 Für die Entwicklung eines entsprechenden Ver- Geräten in Industrie, Handel und privaten fahrens verlieh die deutsche Gaswirtschaft 2010 ih- Haushalten führen soll. Das wirft viele Fra- ren Preis für Innovation und Klimaschutz. gen auf – nicht zuletzt nach persönlichem 24 ❙ Der über Erdgas gedeckte Energieverbrauch ist Datenschutz. etwa doppelt so groß wie der Stromverbrauch. Eine Umwandlung von einigen -zig Prozent der Strom- erzeugung in Wasserstoff lässt sich also leicht durch ❙25 Vgl. etwa Oettinger: Netzausbau treibt Strom- Speicherung bzw. Reduzierung des Imports von Erd- preise, 9. 2. 2011, online: www.zeit.de/news-022011/9/ gas auffangen. iptc-bdt-20110209-26-28616662xml (11. 10. 2011).

APuZ 46–47/2011 27 Energiewende: ja, aber effizient der notwendigen Größenordnung realisierbar und wirtschaftlich sein werden, ist noch unklar. Deshalb muss Stromaustausch mit ande- Der Klimaschutz macht eine Energiewende ren EU-Ländern und angrenzenden Regio- unerlässlich, und sie muss mit Einsparung, nen eine zunehmend wichtige Rolle spielen, Effizienzsteigerung und Vermeidung fossiler denn nur so können Wind-, Sonnen- und an-

Brennstoffe auf die Reduzierung von CO2- derer Strom in den zweckmäßigen Regionen Freisetzung zielen. Knappere Öl- und Gas- erzeugt werden, nur so lassen sich Fluktuati- vorräte bedeuten noch lange nicht, dass die onen optimal ausgleichen und nur so die teu- klimanotwendige Eindämmung von Öl-, Gas- re Regel- und Reserveleistung minimieren. und Kohleverbrennung von selbst rechtzeitig Nach den Szenarien der Bundesregierung für und in ausreichendem Maß erfolgen würde. 2050 soll der Nettostromimport interessan- Fossile Energieträger dürfen nur akzeptabel terweise in der Größenordnung des Beitrags

bleiben, wenn es gelingt, den Eintrag von CO2 der bisherigen Kernkraft liegen. Vernünfti- in die Atmosphäre zu vermeiden, das heißt gerweise aber sollte der Stromaustausch noch CCS wirtschaftlich und sicher einzusetzen. wesentlich stärker forciert werden, um die wirtschaftlich günstigsten Bedingungen für Welche Rolle Kernspaltung international die Erzeugung erneuerbaren Stroms mög- langfristig spielen wird, kann heute noch nicht lichst umfassend nutzen zu können. Der eu- abgeschätzt werden. Auf Fragen nach Sicher- ropaweite Netzausbau mit HGÜ ist damit heit vor Katastrophen und, für die Öffentlich- für Deutschland extrem wichtig, wichtiger keit kaum weniger wichtig, nach zuverlässi- als der Aufbau wenig wirtschaftlicher heimi- ger Entsorgung müssen Antworten gefunden scher erneuerbarer Energieerzeugung. Eine werden, die der Politik und Gesellschaft dau- mit Blick auf Europa gestaltete Strategie für erhafte Entscheidungen in Abwägung mit die deutsche Energieversorgung würde auch Risiken anderer Optionen der Energiever- stärker in die Nachbarländer und vielleicht sorgung ermöglichen. Wünschenswert wäre, auch in andere Weltregionen wirken. dass die Kernfusion in der zweiten Hälfte die-

ses Jahrhunderts einen wichtigen CO2-frei- Die heimischen Anstrengungen sollten en Beitrag zur Stromversorgung leistet. Aus sich vorrangig darauf konzentrieren, unse- grundsätzlichen physikalischen Gegebenhei- ren Energiebedarf zu senken, beispielswei- ten heraus sind hier keine nuklearen Kata- se die Wärmedämmung bei Gebäuden und strophen denkbar und auch die Abfallfrage ist die Reduzierung von Treibstoffverbrauch im wesentlich günstiger zu beantworten. Verkehr voranzutreiben und die erforderli- che Akzeptanz in der Bevölkerung herbei- So sicher die Energiewende kommen muss, zuführen. Sodann sollte die Energie- und so offen sind noch viele Fragen, insbesonde- Stromerzeugung aus zuverlässig verfügbaren re die nach dem zukünftigen Strommix. Klar Quellen verstärkt werden. Wind- und Was- ist, dass erneuerbare Energien in Zukunft ei- serkraft wie auch Photovoltaik liefern un- nen wesentlich größeren Anteil der Energie- mittelbar Strom, womit elektrische Energie versorgung bereitstellen werden. Derzeit läuft noch mehr an Bedeutung gewinnen wird. die Entwicklung bis 2050 darauf hinaus, ❙26 na- Da aber Wind und Sonne uns nur nach Lust tional mit 80 GW Wind und 65 GW Photo- und Laune helfen und die Anlagen sehr teu- voltaik extreme Überkapazitäten aufzubau- er sind, wird die Frage nach gesicherter Ver- en, damit bei Schwachwind und Wolken die fügbarkeit ebenso vordringlich wie die nach Stromversorgung noch einigermaßen möglich den Kosten. Zuverlässig liefern Biomasse und ist. Bei Starkwind und Sonne wird dann aber Geothermie rund um die Uhr und das ganze viel zu viel Leistung in das Netz gedrückt, Jahr hindurch Strom: Es werden keine teuren die sich schon beim heutigen Ausbaustand Reserve-Kraftwerke benötigt. Das mit der gelegentlich nur unter Zuzahlung „verkau- Photovoltaik vergleichbare geothermische fen“ lässt. Ob Stromspeicher, einschließlich Stromerzeugungspotenzial in Deutschland des Konzepts, den überschüssigen Strom zur sollte deshalb entsprechend genutzt werden. Elektrolyse von Wasserstoff zu verwenden, in Es ist offensichtlich, dass fossile Energieer- ❙26 Vgl. „Leitstudie 2010“ (Anm. 4). zeugung noch für lange Zeit eine große Rolle

28 APuZ 46–47/2011 spielen wird. Deshalb ist es wichtig, die Fra- Konrad Kleinknecht ge nach den Möglichkeiten der CO2-Speiche- rung zu beantworten. Obwohl teuer, könn- te sie ein wirtschaftlich gangbarer Weg sein, wenn sich Emissionshandel und Energiewen- Abkehr vom de international durchsetzen – ein weiteres Argument für eine europaorientierte deut- sche Energiepolitik. Da CCS nach jetziger Klimaschutz? Kenntnis allenfalls nur in großen Kraftwer- ken und Industrieanlagen eingesetzt werden er überstürzte Ausstieg aus der ­Nutzung kann, sollte der dezentrale Einsatz fossiler Dder Kernenergie hat schwerwiegende Brennstoffe – insbesondere für Wohnraum- Folgen: Deutschland wird massiv Strom aus heizung – möglichst reduziert werden, also den Kernreaktoren der etwa der Einsatz von Wärmepumpen statt de- Nachbarländer Frank- Konrad Kleinknecht zentraler KWK verstärkt gefördert werden. reich, Tschechien und Dr. rer. nat., geb. 1940; Profes- der Schweiz impor- sor für Physik an der Johannes Zusammenfassend lassen sich die beiden tieren und viele Koh- Gutenberg-Universität Mainz, eingangs aufgeworfenen Fragen beantwor- le- und Gaskraftwer- Staudingerweg 7, 55128 Mainz. ten. Erstens: Ja, die Energiewende ist nicht ke bauen müssen. Die konrad.kleinknecht@ nur notwendig, sondern möglich. Allerdings Emissionen des Treib- uni-mainz.de wird sie bei noch weiterem Ausbau fossiler hausgases Kohlendi-

Energieerzeugung (auch in Zusammenhang oxid (CO2) werden ansteigen, und die Kli- mit dem Ausstieg aus der Kernenergie bis maziele der Regierung können nicht erreicht 2022) verlangsamt. werden. Der Anstieg der Strompreise durch die Einspeisung der erneuerbaren Energien

Zweitens: Die mit dem EEG und anderer und den Zwang zum Kauf von CO2-Zertifi- Unterstützung in Deutschland verfolgte Be- katen wird Deutschland als Standort für die vorzugung heimischer dezentraler Stromer- energieintensiven Industriezweige benachtei- zeugung ist vielfach wenig zweckmäßig, da ligen und viele Arbeitsplätze gefährden. teuer, voraussichtlich nicht bestandsfähig in einem liberalisierten europäischen Strom- Die deutsche Stromversorgung ruhte im markt und wenig effizient für den Klima- Jahr 2010 auf zwei Säulen: der Kernenergie schutz. Viel wichtiger und wesentlich kosten- und der Verbrennung von Kohle und Erdgas. günstiger wäre es, den ohnehin notwendigen Hinzu kamen ein kleiner Anteil von zeitlich transeuropäischen Netzausbau massiv zu konstanter Energie aus Laufwasserkraftwer- forcieren, um nationalen Reserveleistungs- ken und Biomasseverbrennung sowie zeitlich aufwand zu reduzieren und wesentlich ef- variable Anteile aus Windkraft und Photo- fektivere erneuerbare Stromerzeugung in ge- voltaik (Abbildung 1). Der Ausbau der erneu- eigneteren EU- und angrenzenden Regionen erbaren Energiequellen war erklärtes Ziel der für Deutschland nutzbar zu machen und dort Regierung, und die im September 2010 von vielleicht auch großvolumige Stromspeiche- ihr beschlossene Laufzeitverlängerung der rung zu ermöglichen. Kernreaktoren gab den Energieversorgern die Möglichkeit, mit ihren Gewinnen Wind- Insgesamt ist ein gemeinsames europäisches kraftanlagen auf hoher See in großem Um- Vorgehen von größter Bedeutung, nicht zuletzt fang zu finanzieren. Das Ziel, bis zum Jahr auch dafür, eine Energiewende in den anderen 2020 einen Anteil von 30 Prozent am Strom- großen Industrienationen der Welt zu bewir- bedarf durch erneuerbare Quellen bereitzu- ken. Denn für das Klima zählt nur die globale stellen und gleichzeitig die CO2-Emissionen 27 Verminderung der CO2-Emissionen. ❙ zu verringern, hätte damit erreicht werden können („Szenario A“ in Abbildung 3).

27 ❙ Zu den Auswirkungen des Ausstiegs aus der Am 11. März 2011 bebten an der Ostküste Kernkraft auf die Erreichbarkeit der deutschen Kli- der japanischen Insel Honshu die Erde und maschutzziele siehe den nachfolgenden Beitrag von Konrad Kleinknecht. der Meeresboden. Das Beben der Stärke 9 und der darauf folgende Tsunami verursachten eine Havarie in den unmittelbar an der Küs-

APuZ 46–47/2011 29 Abbildung 1: Quellen der Stromerzeugung in Deutschland (2010, in Prozent)

3,6 1,9 5,4 22,4 Kernenergie 6,0 Braunkohle

3,1 Steinkohle Erdgas 1,4 Öl

Wasser 13,8 Wind

23,7 Biomasse

Photovoltaik

Andere 18,7

Quelle: Eigene Darstellung.

te gelegenen Kernkraftwerken von Fukushi- te die Sicherheit der Reaktoren überprüfen, ma. Das Erdbeben führte zur kontrollierten und eine ad hoc von der Kanzlerin eingesetz- Abschaltung der Wärmeerzeugung in allen te Ethikkommission sollte über den Ausstieg Reaktoren. Die Nachzerfallswärme wurde aus der Kernenergie beraten. zunächst durch die anspringenden Notkühl- systeme abgeführt. 46 Minuten später traf eine Allerdings erklärte der Vorsitzende dieser 14 Meter hohe Welle auf die Küste, überspülte Kommission, Klaus Töpfer, schon vor dem die zu niedrigen Schutzmauern und zerstör- Beginn der Beratungen, das Ergebnis solle te Dieselgeneratoren und Kühlwasserpum- der Ausstieg aus der Nutzung der Kernener- pen. Durch den Ausfall der Kühlung schmol- gie sein. Die Kommission hat diese Empfeh- zen einige Brennstäbe im Inneren von drei der lung in ihrem Bericht auch ausgesprochen. sechs Druckbehälter. Der größte Teil des ra- Erstaunlich ist dabei, dass sie einerseits for- dioaktiven Inventars blieb in den Sicherheits- dert, der Zeitrahmen für den Ausstieg müsse behältern, ein kleiner Teil wurde freigesetzt. so bemessen sein, dass eine alternative Strom- erzeugung aufgebaut werden kann, aber an- In Deutschland hat sich durch den Unfall dererseits dafür einen engen Zeitrahmen von in Japan sachlich nichts verändert. Die Sicher- zehn Jahren empfiehlt. An keiner Stelle des heit unserer Kernkraftwerke ist gleich geblie- Berichtes wird der Versuch unternommen, ben, Tsunamis kommen nicht vor, Erdbe- für diese kühne Forderung eine konkrete ben sind tausendmal schwächer als in Japan, quantitative Begründung zu geben. Für die und gegen Flugzeugentführer helfen Passa- Umstellung unserer gesamten Stromversor- gierkontrollen und Vernebelungstrategien. gung und damit unserer Wirtschaft ist das Trotz der unveränderten Sicherheitslage in ein unrealistisch kurzer Zeitraum, der weni- Deutschland empfand die Bundeskanzlerin ger auf rationalen Überlegungen als auf dem die Katastrophe in Japan als „Einschnitt für Prinzip Hoffnung beruht. die Welt und mich persönlich“. Sie habe eine neue Bewertung vorgenommen. Kernener- Die Regierung und der Bundestag ha- gieunfälle seien nicht sicher beherrschbar. ben diesen Zeitrahmen übernommen, ohne Sie entschied, die sieben ältesten Kernreakto- die Folgen genau zu übersehen. Unter Zeit- ren durch ein Moratorium sofort abzuschal- druck konnte im Parlament und seinen Aus- ten. Die Reaktorsicherheitskommission soll- schüssen keine breite öffentliche Diskussion

30 APuZ 46–47/2011 geführt werden, wie es bei einer so wichti- Abbildung 2: Windkarte von Deutschland gen Entscheidung angebracht gewesen wäre. Es fehlt eine belastbare empirische Begrün- dung, um die Fragen nach der Versorgungs- sicherheit, der Finanzierbarkeit, den Auswir- kungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Verträglichkeit angemessen behandeln zu können. Im Gegensatz zu dem Ausstiegsplan der Regierung Schröder, der mit der Industrie abgestimmt war und von dieser als realisierbar eingeschätzt wurde, ist dieses Gesetz ohne Anhörung der Industrie und gegen sie beschlossen worden. Dadurch müssen die vier überregionalen Energiever- sorger große Vermögensverluste hinnehmen, die ihre Fähigkeit schwächen, in den Aufbau der erneuerbaren Energien und der benötig- ten fossilen Kraftwerke zu investieren.

Wie schnell können wir erneuerbare Energiequellen erschließen?

Gegenwärtig liefern Wasserkraft, Wind, Bio- masse und Photovoltaik zusammen rund 17 Prozent unseres Strombedarfs, allerdings zu unregelmäßigen, vom Wetter abhängi- gen Zeiten. Die zu jeder Sekunde von der In- dustrie, Dienstleistern und den Privatkun- den benötigte sichere Grundlast wird etwa je Quelle: Universität München. zur Hälfte von Braunkohle- und Kernkraft- werken bereitgestellt. Der Beitrag der erneu- lage wurde 2010 der Windpark Alpha Ventus erbaren Energiequellen hat sich seit 1990 um nach vierjähriger Bauzeit fertig gestellt. Dort 13 Prozent auf gegenwärtig 16,4 Prozent er- stehen zwölf 150 Meter hohe Türme, die je- höht. Darunter tragen die Windkraft mit weils fünf Megawatt Spitzenleistung liefern 6 Prozent und die Biomasse mit 5,4 Prozent können. Die Investitionskosten beliefen sich den größten Anteil bei, während die Photovol- auf 250 Millionen Euro, die jährliche Energie- taik nur 1,9 Prozent und die Wasserkraftwer- einspeisung beträgt 250 Millionen Kilowatt- ke unverändert 3,1 Prozent beisteuern. Der stunden (KWh) bzw. 0,25 Terawattstunden Anstieg wurde durch Investitionen in Milliar- (TWh). Die Bundesregierung hat 20 Plätze in denhöhe und verdeckte Subventionen über ga- der Nord- und Ostsee für solche Windparks rantierte Einspeisevergütungen nach dem Er- genehmigt, weitere 30 Standorte sind geplant. neuerbare-Energien-Gesetz (EEG) erreicht, Um bis 2020 die Einspeisung der Windener- die von 2,2 Milliarden Euro im Jahr 2002 auf gie auf 80 Milliarden KWh zu verdoppeln, 12,7 Milliarden im Jahr 2009 anstiegen. müssen nach dem Plan des Bundesumweltmi- nisters insgesamt 2000 Turbinen im offenen Wenn die Geschwindigkeit des Ausbaus er- Meer installiert werden. Dies sind 160 Wind- neuerbarer Energiequellen gegenüber den ver- parks der Größe von Alpha Ventus. Es ist gangenen Jahrzehnten verdoppelt wird, so ist zweifelhaft, ob dieses riesige Projekt in zehn eine weitere Steigerung in den nächsten zehn Jahren zu verwirklichen ist. Falls es gelingen Jahren auf 25 oder 30 Prozent denkbar. Der sollte, liefern die Windparks soviel elektrische Zuwachs wird vorwiegend durch den Aus- Energie wie acht große Kohlekraftwerke zum bau der Windkraft auf der offenen Nord- und Investitionspreis von 40 Kohlekraftwerken. Ostsee (offshore) erreicht werden. Im Bin- Für die technische Umsetzung, die bürokrati- nenland gibt es nicht mehr genügend wind- sche Genehmigung und den Aufbau der See- reiche Standorte (Abbildung 2). Als Pilotan- kabel zur Küste und der Hochspannungslei-

APuZ 46–47/2011 31 tungen von der Küste ins Binnenland werden ten Energiemenge ablesen: Die Summe der nach Abschätzungen der Deutschen Energie- Energiemengen aus Wasser, Wind, Biomasse agentur (dena) mindestens zehn Jahre Zeit be- und Photovoltaik stieg von 87 TWh im Jahr nötigt. Auch die Finanzierung der großen In- 2007 lediglich auf 102,3 TWh im Jahr 2010, vestitionssumme ist schwierig, da die großen das heißt von 14,1 Prozent auf 17 Prozent des Stromversorger durch den Ausstiegsbeschluss Strombedarfs. Nur wenn sich der Trend des Verluste hinnehmen müssen. Ausbaus der erneuerbaren Energiequellen in den nächsten zehn Jahren verstärkt fortsetzt, Der Beitrag der Photovoltaik liegt trotz der kann die Marke von 30 Prozent der Stromer- enormen Subventionen durch die Einspeis­ zeugung bis 2020 erreicht werden. ungsgebühr des EEG im Jahr 2010 nur bei knapp zwei Prozent des Strombedarfs. Die auf 20 Jahre garantierten Einspeisevergütungen Hochspannungsleitungen für die bis 2010 installierten Photovoltaikan- und Speicherseen lagen addieren sich auf 85,4 Milliarden Euro, ❙1 die über den Strompreis finanziert werden. Wenn die Leistung der an der Nordseeküste Die Ökobilanz der gegenwärtig eingebauten oder auf offener See installierten Windkraft- Solarpaneele aus dicken Siliziumschichten werke in Norddeutschland nicht abgenom- leidet darunter, dass das Silizium unter gro- men werden kann, muss sie nach Skandinavi- ßem Elektrizitätsbedarf aus Quarzsand er- en exportiert werden, gegen Abnahmegebühr schmolzen und anschließend in chemischen freilich. Für den Transport nach Süden fehlt Verfahren zu hochreinem Solarsilizium um- es an Hochspannungsleitungen. Nach Be- gewandelt werden muss. Der Energieaufwand rechnungen der dena ist der Bau von 3600 Ki- der Paneele ist so hoch, dass die Rückgewin- lometern solcher Höchstspannungsleitungen nung der Energie im sonnenarmen Deutsch- von Nord nach Süd notwendig. Die gegen- land jeweils drei bis fünf Jahre Betrieb erfor- wärtig geplanten Vorhaben werden von di- dert. Günstiger wäre die Verwendung von versen Bürgerinitiativen bekämpft und von Dünnschichtzellen aus Silizium, die Dünn- Verwaltungsgerichten um Jahre verzögert. schichttechnologie des CIGS-Materials oder Elektrischer Strom kann im nötigen Umfang die Cadmium-Tellur-Photovoltaik. Die deut- nur in Pumpspeicherkraftwerken gespeichert schen Firmen haben diese alternativen Tech- werden. Der Neubau von Staudämmen ist niken nicht genügend weiterentwickelt, so- heute in Deutschland nur noch in wenigen dass die Kosten ihrer Module hoch geblieben Fällen möglich, weil er dem Naturschutz zu- sind und die asiatische Konkurrenz im deut- wider läuft. Alternative Speichermöglichkei- schen Markt dominiert. Das EEG dient so ten wie Batterien oder andere chemische Ver- dem Aufbau der Solarindustrie in Asien. fahren bieten keine genügend große Kapazität für die benötigte Menge an elektrischer Ener- Sowohl die Windkraft wie die Photovolta- gie. Der Fortschritt in diesen Techniken war ik liefern Strom nur für günstige Zeitperio- in den letzten 20 Jahren nicht groß genug. den. Die volle Leistung erreichen Windkraft- werke an Land durchschnittlich während vier Im Gegensatz zu der Schweiz oder Öster- Stunden und im Meer während zehn Stunden reich verfügt Deutschland aber nur in den am Tag, die Photovoltaik während zweiein- Mittelgebirgen über die nötigen Höhenunter- halb Stunden am Tag. Die konstant benötigte schiede für solche Speicher. In Sachsen und Grundlast an Strom für Industrie und Haus- im Schwarzwald liegen die leistungsfähigs- halte wird zurzeit je zur Hälfte von Braun- ten Anlagen, aber ihre Kapazität reicht bei kohle und Kernkraft getragen. Diesen Bedarf weitem nicht aus, um den Speicherbedarf zu können die erneuerbaren Energiequellen für decken. Gegenwärtig haben alle Pumpspei- die nächsten 20 Jahre nicht zuverlässig lie- cherkraftwerke im Süden eine Kapazität von fern. Wie langsam ihr Ausbau verläuft, kann 30 Millionen Kilowattstunden. Die Energie, man an der Entwicklung der eingespeis- die die 21 585 Windkraftwerke an der Nord- und Ostseeküste in acht Stunden erzeugen, ist zehnmal größer. Der Ausbau der Speicher ❙1 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminis- terium für Wirtschaft und Technologie, Zur Novelle im Süden hätte also höchste Priorität. Aller- des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, Brief an Minis- dings stößt das einzige Großprojekt für sol- ter Brüderle, 2. 5. 2011, S. 2. che Speicher, die Erweiterung des Schluch-

32 APuZ 46–47/2011 seekraftwerks bei Atdorf auf Widerstand und neue fossile K ra ft werke zu bauen. Die der- der Anwohner. In den nächsten zehn Jahren zeit im Bau befindlichen elf Kohlekraftwer- wird in Deutschland also höchstens ein neues ke und die weiteren elf geplanten liegen aller- Pumpspeicherwerk gebaut werden. dings hauptsächlich im Norden und Westen. Um höchste Wirkungsgrade zu erzielen, sind Deshalb muss für jedes Wind- oder Solar- die Hochleistungskessel für 600 Grad Celsi- kraftwerk ein fossiles Tandem-Kraftwerk ge- us Dampftemperatur und 280-fachen Atmo- baut werden, das als Reserve für den Still- sphärendruck ausgelegt, sie bestehen aus einer stand der erneuerbaren Energiequelle dient. neu entwickelten Stahlsorte. Bei drei der neun Besonders geeignet als schnell aktivierbare im Bau befindlichen Kraftwerke haben sich Stromquellen sind Gas- oder GuD-Kraft- bei diesen neuen Kesseln undichte Stellen in werke (Gas- und Dampf­kraft­werke). den Schweißnähten gebildet, die Nachbesse- rungen oder einen kompletten Austausch des Kessels erfordern und eine Verzögerung von Ersatz für die ein bis zwei Jahren ­verursachen. ausfallenden Kraftwerke? In Bayern sind im Augenblick nur Pläne für Die erneuerbaren Energiequellen werden im Gaskraftwerke mit russischem Gas bekannt. Jahre 2020 zwischen 25 und 35 Prozent unseres Der Einsatz von Flüssiggas aus Katar ist noch Strombedarfs abdecken, zu unterschiedlichen nicht möglich, da kein deutscher Hafen zum Tages- und Jahreszeiten. Alle realistischen Gasterminal ausgebaut worden ist. Die Koh- Prognosen ergeben solche Resultate. Wie sol- le für Kraftwerke im Süden muss beispiels- len in den nächsten zehn Jahren die restlichen weise aus Australien über den Rhein oder das 70 Prozent unseres Strombedarfs gedeckt wer- Schwarze Meer und die Donau transportiert den? Da die Kernkraftwerke vom Netz gehen, werden. Die Versorgung Süddeutschlands ist müssen mehr als 20 Kohle- und Gaskraftwer- mittelfristig ungesichert. ke gebaut werden, besonders im Süden.

Da sowohl der Ausbau der Hochspannungs- Ist Klimaschutz noch möglich? trassen von Nord nach Süd als auch der Bau neuer Pumpspeicherkraftwerke im Süden Hauptverursacher des anthropogenen Treib-

durch Bürgerinitiativen verzögert wird, ist es hauseffektes ist CO2, das bei der Verbrennung nicht sicher, ob der beabsichtigte Ausbau der von Kohle, Öl oder Erdgas entsteht. Jährlich Windkraft im Norden dem Süden des Landes entweichen weltweit 33 Milliarden Tonnen

helfen kann. Es zeigt sich eine regionale Asym- CO2 in die Atmosphäre, die so zum Endla- metrie: Die leistungsfähigen Industriestandor- ger für dieses Treibhausgas wird. Die welt- te in den Ländern Bayern, Baden-Württemberg weiten Emissionen nehmen auch nach dem und Hessen, die bisher mehr als 50 Prozent ih- Abschluss des Kyoto-Protokolls von 1997 rer elektrischen Energie aus Kernkraftwerken unvermindert zu, weil die größten Emitten- bezogen, können die Grundlast ihrer Strom- ten China, USA und Indien dem Protokoll versorgung nur zum kleinen Teil aus erneuer- nicht beigetreten sind und auch die übrigen baren Energiequellen ersetzen. Windkraft im Schwellenländer ihre Energieversorgung Süden ist wesentlich weniger ertragreich als an vorwiegend auf der Basis von Kohlekraft- der Küste oder auf dem Meer, weil die Leis- werken ausbauen. Entsprechend stieg auch

tung solcher Anlagen mit der dritten Potenz die CO2-Konzentration in der Atmosphäre der mittleren Windgeschwindigkeit abnimmt. auf den gegenwärtigen Wert von 395 ppmv Steht eine Windkraftanlage also in einem Ge- (parts-per-million by volume, Volumenantei- biet, in dem die mittlere Windgeschwindigkeit le pro eine Million Luftmoleküle). Deutsch- halb so groß ist wie an der Küste, dann ent- land ist für etwa drei Prozent der Emissionen spricht ihre Leistung nur einem Achtel einer verantwortlich. Die größten Beiträge kom- gleichwertigen Anlage in Küstennähe. men aus China und den USA, die jährlich sie-

ben bzw. sechs Milliarden Tonnen CO2 emit- Die südlichen Länder sind also nach der Ab- tieren. Eine Lösung des Klimaproblems wird schaltung ihrer Kernkraftwerke darauf ange- nur gelingen, wenn diese beiden Großmächte wiesen, auf importierten Strom aus Tschechi- ihre Emissionen merklich reduzieren. Dafür en, Frankreich und der Schweiz auszuweichen gab es aber bei der jüngsten Klimakonferenz

APuZ 46–47/2011 33 der Vereinten Nationen 2010 in Cancún kei- senkt werden. Die bessere Wärmedämmung ne Anzeichen. bei Neubauten und die energetische Alt- bausanierung von rund 200 000 Wohnungen Die Europäische Union (EU) hat sich trotz- pro Jahr reduzieren den Ausstoß allerdings

dem das Ziel gesetzt, den CO2-Ausstoß bis noch nicht genug. Bei gleichbleibender Rate zum Jahr 2020 gegenüber 1990 um 20 Prozent dauert die Renovierung des Bestandes länger zu senken. Deutschland muss dafür am stärks- als 100 Jahre. Beim Verkehr werden die Ver- ten reduzieren, weil es im Vergleich zu allen brauchsbegrenzungen durch die EU zu einer anderen europäischen Ländern am meisten langsamen Effizienzsteigerung führen. Elek-

CO2 produziert. Auch wenn man die Emis- troautos tragen jedoch nur dann zur Emis- sionen auf die Zahl der Einwohner bezieht, sionsminderung bei, wenn der Strom zum liegt Deutschland in Europa an der Spitze. Die Aufladen der Fahrbatterien aus Kernkraft- Bundesregierung plante daher im Herbst 2010, werken oder erneuerbaren Energiequellen den Ausstoß bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent kommt. Klimapolitisches Ziel muss es sein, zu senken („Plan BMU“ in Abbildung 3). neben diesen Maßnahmen zur Energieein- sparung und Effizienzsteigerung die Emissi- In Deutschland sind Braunkohle- und on von Treibhausgasen bei der Stromerzeu- Steinkohlekraftwerke mit mehr als 300 Mil- gung abzusenken. lionen Tonnen jährlich etwa für ein Drittel

der CO2-Emissionen verantwortlich. Zusam- Seit 1990 haben die CO2-Emissionen in men mit den Erdgaskraftwerken liefern sie Deutschland abgenommen, wobei der Rück- mehr als die Hälfte unseres Stroms (Abbil- gang zur Hälfte auf dem Niedergang der In- dung 1). Weitere große Mengen an Kohlendi- dustrie in den östlichen Bundesländern beruht. oxid kommen aus den Wohnungsheizungen Lässt man den Anteil der vereinigungsbe- und aus dem Verkehr (jeweils über zehn Pro- dingten Reduktionen in den Jahren 1990 und zent). Beide Anteile können schrittweise ge- 1991 weg, sanken in den Jahren von 1992 bis

Abbildung 3: Jährliche CO2-Emissionen in Deutschland (in Millionen Tonnen)

Abnahme der CO2-Emissionen von 1990 bis 2004 nach Daten des Bundeswirtschaftsministeriums (Punkte, blau gestrichelte Linie); weitere Entwicklung nach drei Szenarien: „Plan BMU“ (rot gestrichelte Linie rechts) = an- gestrebte Emissionsabnahme laut Plan des Bundesumweltministeriums; „Szenario A“ (untere blaue Linie) = zu erwartende Emissionsabnahme nach dem AKW-Laufzeitverlängerungsbeschluss Herbst 2010; „Szenario B“: zu erwartende Emissionsentwicklung nach Ausstiegsbeschluss Sommer 2011. Quelle: Eigene Darstellung.

34 APuZ 46–47/2011 2004 die CO2-Emissionen zwar gleichmä- um 30 Prozent. Schließlich müssen die ver-

ßig, aber jährlich nur noch um 0,6 Prozent. mehrten CO2-Rückstände, etwa 400 Millio- Das kann auf die zunehmende Einspeisung nen Tonnen pro Jahr, sicher und dauerhaft in von Windstrom zurückgeführt werden, un- der Erde „endgelagert“ werden. ter Beibehaltung des Anteils der Kernenergie. Eine größere Abnahme gab es auch durch die Eine hinreichend große Speicherkapazität Finanzkrise und die folgende Rezession der bieten sogenannte Salzwasseraquifere. Sol- Wirtschaft 2008/2009 (Abbildung­ 3). che porösen Schichten, die Wasser führen, finden sich zum Beispiel in Norddeutschland Die Bundesregierung wollte schon im „Na- in einer Tiefe von 1000 Metern. Dort müss- tionalen Klimaschutzprogramm“ vom Ok- te eine große technische Infrastruktur auf- tober 2000 den CO2-Ausstoß bis zum Jahr gebaut werden, um täglich eine Million Ton-

2005 um 25 Prozent vermindern. Diese Mar- nen CO2-Abfall von den Kraftwerken zu den ke wurde jedoch nicht erreicht („Plan rot- Lagerstätten zu transportieren, unter 70-fa- grün“ in Abbildung 3). Im Herbst 2010 plante chem Atmosphärendruck einzupressen und der Bundesumweltminister eine Minderung für Tausende von Jahren sicher zu speichern. der Emissionen auf 610 Millionen Tonnen im Die Endlagerung birgt jedoch Risiken. Denn

Jahr 2020. Seit dem Ausstieg aus der CO2- es ist unklar, ob die Milliarden Tonnen CO2 freien Kernenergie sind all diese Ziele hin- mit der Zeit nicht doch in die Atmosphä- fällig. Trotz optimaler Förderung werden die re diffundieren können. Der Bundestag hat erneuerbaren Energiequellen bis zum Jahr im Juni 2011 ein Gesetz verabschiedet, das

2020 nur etwa 30 Prozent unseres Strombe- die Einlagerung von flüssigem CO2 in tiefen darfs decken können. Deshalb sind wir dann Schichten ermöglicht. Allerdings enthält das für die verbleibenden 70 Prozent auf die fossi- Gesetz eine Veto-Klausel für die betroffenen len Verbrennungskraftwerke und den Strom­ Bundesländer, und zwei dieser Länder haben import aus unseren Nachbarländern ange- schon beschlossen, die Endlagerung nicht zu- wiesen. Außerdem müssen fossile Kraftwerke zulassen. Am 23. September 2011 lehnte der als Reservekapazität für die zeitlich variable Bundesrat das Gesetz ab. Das CCS-Verfah- Stromeinspeisung der Wind- und Solaranla- ren wird deshalb für das Erreichen der Kli- gen bereitgehalten werden. maziele bis 2020 keinen Beitrag leisten.

Der nötige Neubau von Kohle- und Gas- Für die mittelfristige Entwicklung in kraftwerken bedingt eine Steigerung des Deutschland bis zum Jahr 2020 bleibt nach

CO2-Ausstoßes. Die geplanten 22 neuen dem Beschluss, aus der Kernenergie auszu- Kohlekraftwerke mit etwa 20 Gigawatt Leis- steigen, von den in den vergangenen Jahren tung emittieren jährlich 90 Millionen Tonnen diskutierten Alternativen nur noch das „Sze- Kohlendioxid. Da es die Versorgungssicher- nario B“ in Abbildung 3 übrig: heit nicht gestattet, alte, ineffiziente Kohle- kraftwerke abzuschalten, steigen die jährli- • Der Ausbau der erneuerbaren Energien chen deutschen CO -Emissionen durch die 2 wird weiter gefördert. Sie erreichen bis 2020 Neuanlagen entsprechend. Das verletzt die einen Anteil von 30 Prozent an der Strom- deutschen Klimaschutzziele innerhalb der erzeugung. Die Kernkraftwerke werden EU und des Kyoto-Protokolls. nach und nach abgeschaltet. Die entstehen- de Versorgungslücke wird zum kleineren Deshalb wird versucht, das erzeugte CO 2 Teil durch den Zuwachs der erneuerbaren chemisch abzuscheiden und in unterirdi- Energiequellen und zum überwiegenden sche Endlager zu bringen, statt es in die At- Teil durch den Neubau fossiler Kohle- und mosphäre zu entlassen (CCS: Carbon Dioxi- Gaskraftwerke und den Stromimport aus de Capture and Storage). Alle diese Prozesse Frankreich, Tschechien und der Schweiz haben den Nachteil, dass für die Abschei- gedeckt. dung des Kohlendioxids und die anschlie- ßende Verdichtung vor dem Transport etwa • Die Energiekonzerne planen als kosten- ein Viertel des vom Brennstoff erzeugten günstigste Art der Stromerzeugung 22 Stroms verbraucht wird. Dadurch reduziert neue Braunkohle- und Steinkohlekraft- sich der effektive Wirkungsgrad des Kraft- werke mit einer Gesamtleistung von etwa werks, und der Brennstoffeinsatz erhöht sich 20 Gigawatt für die Grundlast.

APuZ 46–47/2011 35 • Zum kurzfristigen Ausgleich von zeitlich Manfred Bürger · Michael Buck · schwankenden Stromquellen werden effi- ziente GuD-Kraftwerke gebaut. Die Hälf- Georg Pohlner · Jörg Starflinger te der benötigten Gasmenge wird aus Russ- land geliefert. Russische Gaslieferanten beteiligen sich an deutschen Energieunter- Fukushima: Gefahr nehmen. • Der Anteil fossiler Kraftwerke an der Strom- gebannt? Lernen erzeugung steigt auf etwa 70 Prozent. • Die fossilen Kraftwerke in Deutschland aus der Katastrophe werden durch die CO2-Emissionszertifi- kate innerhalb der EU mit rund neun Mil- liarden Euro im Jahr belastet, während in as Erdbeben und der Tsunami vom Frankreich die Industrie keine solche Be- D11. März 2011 haben in Japan unvorstell- lastung übernehmen muss. bare Zerstörungen, den Tod von wohl mehr als 20 000 Menschen • Der Strompreis in Deutschland steigt weiter; und die Verwüstung Manfred Bürger relativ zu Frankreich ist er zur Zeit (Steuern ganzer Städte hervor- Diplomphysiker, geb. 1946; eingerechnet) schon um 70 Prozent höher. gerufen. Das Haupt- Leiter der Abteilung Reaktorsi- thema in Deutschland cherheit, Systeme und Umwelt war jedoch der Reak- (RSU) am Institut für Kern- Vom „Vorreiter“ zum Nachzügler torunfall in Fukushi- energetik (IKE) der Universität ma. Das Ringen um Stuttgart, Pfaffenwaldring 31, Die Bundesregierung betrachtete sich bisher die Kernschmelze und 70569 Stuttgart. als Vorreiter der Klimapolitik. Nun wird sie die Freisetzung von manfred.buerger@ von der Realität eingeholt: Durch die Ener- Radioaktivität be- ike.uni-stuttgart.de

giewende werden die CO2-Emissionen in schäftigte die deutsche zehn Jahren voraussichtlich um 90 Millionen Öffentlichkeit, aktu- Michael Buck Tonnen pro Jahr höher sein als heute. Dieser alisierte Ängste und Dr.-Ing., geb. 1963; wissenschaft- Anstieg kann durch die Klimaschutzmaß- führte schließlich zur licher Mitarbeiter am IKE (s. o.). nahmen in anderen Sektoren höchstens zu ei- ­Rücknahme der Lauf- michael.buck@ nem Drittel kompensiert werden. Deutsch- zeitverlängerung für ike.uni-stuttgart.de land steigert seine Emissionen und bleibt der Kernkraft­werke und Georg Pohlner größte CO2-Emittent Europas, sowohl nach zur sofortigen Still- dem absoluten Betrag wie nach den Emissi- legung von ­Anlagen Diplomphysiker, geb. 1963; onen pro Einwohner. Die Klimaziele inner- in Deutschland. Die wissenschaftlicher Mitarbeiter halb der EU sind so nicht erreichbar. ­Naturkatastrophe ver- am IKE (s. o.). blasste demgegenüber georg.pohlner@ Deutschland reiht sich damit als Nach- in der ­Wahrnehmung. ike.uni-stuttgart.de zügler in die Liste der Länder ein, die kei- ne verbindlichen Ziele zur Reduktion der Wie kommt es zu Jörg Starflinger Treibhausgase akzeptieren und keinem Fol- dieser unterschiedli- Dr.-Ing., geb. 1966; Professor geabkommen zum Kyoto-Protokoll ab 2013 chen Wahrnehmung? für Kerntechnik und Reaktorsi- beitreten werden: China, USA, Russland, In- Kann die Naturkata- cherheit, Direktor des IKE (s. o.). dien, Japan und Kanada. strophe nur schick- joerg.starflinger@ salhaft hingenommen ike.uni-stuttgart.de Nicht nur das Klimaproblem, sondern vie- werden, während der le andere Fragen werden durch die deutsche Reaktorunfall Anlass gibt, Alternativen zu Energiewende neu aufgeworfen und sind un- bedenken? In Deutschland sind Erdbeben gelöst: Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, und Tsunami keine realen Bedrohungen, was Auswirkungen auf Wirtschaft und soziale wohl auch ein Grund ist, weshalb die Reak- Gerechtigkeit. Sie harren einer realitätsnahen torkatastrophe stärker wahrgenommen wur- Antwort. de. Dabei war der Bezug zu Diskussionen um Risiken der Technik und Alternativen ­gegeben.

36 APuZ 46–47/2011 Sicherheitskonzept und lastung zutage. Das Abblasen von Dampf (venting) und damit auch von Wasserstoff er- Krisenmanagement in Fukushima folgte, bedingt durch die Bauweise, ins Ge- bäudedach. Dort bildete der Wasserstoff mit Auf den Unfallablauf in Fukushima wird hier der Luft zündfähige Gemische, deren Explo- nicht näher eingegangen, wesentliche Aus- sion den Dachbereich zerstörte. Grundsätz- sagen sind schon publiziert. ❙1 Das zentrale lich ist über einen höheren Kamin mit eige- Problem war die Kühlung des Reaktorkerns ner Filterung ein gesichertes venting direkt nach Stromausfall als Folge des Erdbebens ins Freie zu gewährleisten. Auch die Lage der und der Ausfall der Notkühlsysteme infolge Brennelementbecken im wenig geschützten des Tsunamis. Zwar wurde die Kettenreak- oberen Gebäudeteil außerhalb des contain- tion abgeschaltet, durch den Zerfall der ent- ments stellte sich als Schwachstelle heraus. standenen radioaktiven Stoffe tritt aber noch So wurden die Becken durch die Explosionen über längere Zeit eine erhebliche Wärmefrei- freigelegt, mit dem großen Risiko, dass ein setzung auf. Bei Ausfall der Kühlsysteme Versagen der Kühlung und eine Aufheizung führt dies zum Ausdampfen des Kühlwas- der Brennelemente dort zur direkten Freiset- sers, schließlich zum Aufheizen und Schmel- zung großer Mengen an Radioaktivität in die zen des Kernmaterials. Durch die Oxidation Umgebung führt. der den uranhaltigen Brennstoff umschlie- ßenden Hüllrohre in Wasserdampf entsteht Beim Krisenmanagement erwies sich eine dabei ab etwa 1200 °C Wasserstoff. Die Auf- unzureichende messtechnische Erfassung des heizung wird durch die chemische Reakti- Anlagenzustandes während des Unfallab- on verstärkt, ab etwa 1800 °C treten erste laufs als Problem. Viele Maßnahmen erschie- Schmelzvorgänge auf, und ab etwa 2700 °C nen wenig begründet. Dies wirft Fragen nach schmilzt schließlich der ganze Kern. Ohne einer speziellen messtechnischen Auslegung Kühlung führt dieser Ablauf zum schrittwei- für solche schweren Unfälle auf. Grund- sen Versagen der Barrieren gegen die Freiset- sätzlich hat Kühlung bei derartigen Störfäl- zung radioaktiven Materials, also der Brenn- len absolute Priorität. ❙2 Die Unsicherheiten stabhüllen, des Reaktordruckbehälters, des über den Anlagenzustand beeinträchtigten Sicherheitsbehälters (containment) und letzt- jedoch strategische Abwägungen, die vom lich des Reaktorgebäudes selbst. Im Folgen- Kraftwerksbetreiber TEPCO (Tokyo Elec- den werden nur die hauptsächlichen im Un- tric Power Company) auch nicht kommuni- fallablauf zu Tage getretenen Schwachstellen ziert wurden. So blieb unklar, welche Opti- ­zusammengefasst. onen zur Verfügung standen. Nach Stunden ohne Kühlung musste von Ausdampfen und Das vollständige Versagen der Notstrom- erheblicher Aufheizung ausgegangen wer- und Notkühlungssysteme durch den Tsu- den, erst recht nach den Wasserstoffexplosi- nami stellt einen Ausfall mehrfacher Syste- onen. Ein Einspeisen von Wasser in die hei- me durch eine gemeinsame Fehlerursache ßen Kerne, mit starker Dampfentwicklung dar (common mode failure). Dies ist bei der und Druckaufbau als Folge, kann nur alter- Konstruktion derartiger Anlagen grundsätz- nierend mit venting funktionieren, was zu- lich zu vermeiden. Dazu wäre in Fukushima nehmend mit radioaktiven Emissionen ver- Daiichi eine gesicherte Unterbringung der bunden ist. Wenn allerdings die Chancen Notstromdiesel und Notkühlpumpen gegen einer Kühlung, mit dem Hauptziel der Rück- Überflutung durch Tsunamis notwendig ge- haltung des radioaktiven Materials, immer wesen. Ein weiterer Konstruktionsfehler trat kleiner werden und Lecks auftreten, dann ist im Verlauf des Unglücks bei der Druckent- eine Fortsetzung massiven Flutens zu hinter- fragen, das dann gerade die Freisetzung von ❙1 Vgl. Bernhard Kuczera, Das schwere Tohoku- radioaktivem Material bewirkt. Maßnahmen Seebeben in Japan und die Auswirkungen auf das der Einschließung müssten dann in den Vor- Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, in: atw, 56 dergrund treten. (2011) 4–5, S. 234–241; Ludger Mohrbach, Unter- schiede im gestaffelten Sicherheitskonzept: Ver- gleich Fukushima Daiichi mit deutschen Anlagen, ❙2 Vgl. Manfred Bürger/Michael Buck/Günter in: ebd. S. 242–249; Bernhard Kuczera et al., Fuku- Lohnert (guest eds.), Core melt accidents in LWRs – shima auch in Deutschland?, in: Spektrum der Wis- State of the Art of „Coolability of Porous Debris“, senschaft, (2011) 8, S. 76–83. Nuclear Engineering and Design, 236 (2006).

APuZ 46–47/2011 37 Folgen des Unfalls nur Pfade für die Freisetzungen, die sich da- her auf die nähere Umgebung konzentrier- und Sanierungsmaßnahmen ten. Die gesundheitlichen Auswirkungen der freigesetzten radioaktiven Stoffe sind noch Ein weiteres Unfallmanagement ist noch schwerer zu beurteilen. Als Unfallfolgen sind über längere Zeit erforderlich. So bleibt die aber auch die Belastungen aus der Evakuie- Kühlung von Kernmaterial eine andauern- rung von mehr als 100 000 Menschen zu be- de Aufgabe. Auch nach einem Jahr könnte trachten sowie die Unsicherheiten mit den noch Schmelzen auftreten, allerdings reicht fortbestehenden Gefährdungen. Maßnahmen dann ein stark reduzierter Wasserzustrom. entsprechend den hier aufgeführten sind auch Dies hängt aber auch von der Konfiguration Gegenstand einer „Roadmap“ von TEPCO. ❙3 der Schmelze ab. Große geschmolzene Antei- Die darin angegebenen Ziele und Wege gehen le werden aber zunehmend unwahrscheinli- in die richtige Richtung. Sie zeigen gleichzei- cher, so dass Risiken daraus abnehmen. Eine tig den langen und aufwendigen Weg an. weitere Verlagerung der Schmelze durch Be- ton- und Boden-Erosion sowie weitere Frei- setzungen von Radioaktivität durch einen Lehren für Sicherheitskonzepte teilweise geschmolzenen Zustand sind aber nicht auszuschließen. Fortgesetztes massives Welche Lehren sind für Deutschland und Eu- Fluten kann kontraproduktiv sein. ropa zu ziehen? In einer eilig herbeigeführ- ten Entscheidung beschloss die Bundesregie- Um eine weitere Verbreitung radioakti- rung kurz nach der Katastrophe in Japan ein ven Materials zu verhindern, ist letztlich die dreimonatiges Moratorium, und setzte die gesamte Anlage durch stabile Umhüllun- wenige Monate zuvor beschlossenen Lauf- gen einzuschließen. In der Umgebung müs- zeitverlängerung für Kernkraftwerke aus. sen Dämme und im Erdreich tiefe Mauern Die älteren Anlagen wurden vorläufig stillge- errichtet werden. Auch sind verbesserte Si- legt. Zugleich sollte durch einen „Stresstest“ cherheitsmaßnahmen zum Schutz gegen neu- deutscher Kernkraftwerke eine Basis für end- erliche Erdbeben und Tsunamis zu treffen. gültige Entscheidungen geschaffen werden. Erhebliche Belastungen in der Anlage selbst Beim „Stresstest“ sollte eine anlagenspezifi- und einer weiten Umgebung resultieren be- sche Sicherheitsüberprüfung darüber durch- reits aus dem bisherigen Austrag radioaktiver geführt werden, ob Sicherheit aufgrund neu- Stoffe. Hierzu bedarf es intensiver, großräu- er Annahmen neu definiert werden muss. miger Untersuchungen, wobei besonders lo- kale Spitzenbelastungen zu erfassen sind. Welche Fragen ergeben sich also aus Fuku- Regelmäßige Gesundheitschecks sind erfor- shima? Offensichtlich handelt es sich nicht derlich, zudem gilt es, im Bereich der Anlage um bisher unerkannte Gefährdungen. Die und (abhängig von Messungen) in einer wei- Besonderheit einer Tsunami-Situation ist für ten Umgebung Dekontaminationsmaßnah- Deutschland praktisch nicht gegeben. Festzu- men einzuleiten. In den Anlagen steht das in stellen sind also allenfalls Defizite durch eine großen Mengen angefallene, radioaktiv belas- Nichtbeachtung von vorher bereits erkenn- tete Wasser im Vordergrund. Im Hinblick auf baren Risiken. Dann beinhaltet die Fragestel- Wiederansiedlungen sind großflächige und lung für Deutschland und Europa eine Kritik tiefe Abtragungen des Erdreichs voraussicht- an bisherigen Sicherheitsanalysen. Es reicht lich unvermeidlich. aber nicht aus, für jahrzehntelang Bearbei- tetes in kurzer Frist neue Einschätzungen zu Eine Einschätzung aller Folgen des Unfalls fordern. Das Funktionieren der Sicherheits- ist nach wie vor schwierig. Im Vergleich zur forschung und des Sicherheitssystems selbst Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 ist ist dann zu überprüfen. Es drängt sich somit nach vorliegenden Informationen viel weni- der Eindruck auf, dass der „Stresstest“ vor al- ger radioaktives Material freigesetzt worden, vor allem weil es in Fukushima keine unkon- ❙3 trollierte nukleare Kettenreaktion („nukle- Vgl. Current Status of „Roadmap towards Restora- tion from the Accident at Fukushima Daiichi Nuclear are Exkursion“) und keinen Graphitbrand Power Station, TEPCO“ (Revised edition), 17. 8. 2011, gab wie in Tschernobyl. Die Wasserstoff-Ex- online: www.tepco.co.jp/en/press/corp-com/release/ plosionen öffneten dagegen hauptsächlich betu11_e/images/​110817e3.pdf (29. 9. 2011).

38 APuZ 46–47/2011 lem der Argumentation für den politisch ge- dersetzung über Ziele und Wege gibt es keine wollten Ausstieg dienen sollte. Sicherheit. Formale Definitionen und Festle- gungen helfen nur begrenzt. Natürlich ist die Letztendlich wurde als hauptsächliches Fixierung und Einhaltung von Regeln wich- Kriterium für die Abschaltung einzelner tig, um eine Kultur zu erreichen, in der Ver- Kraftwerke die Absicherung gegen Flug- lässlichkeit und Beachtung des gemeinsam zeugabstürze herangezogen. Tatsächlich Festgelegten hohe Werte sind. Andererseits handelt es sich hier um äußere Ereignisse, die darf ein solches System auch nicht erstarren, am ehesten ein Außerkraftsetzen auch von sondern bedarf hinsichtlich der aufgestellten geschützten Notstromsystemen verursachen Regeln und ihrer Basis der ständigen Über- könnten. Durch Explosionen und großräu- prüfung. mige Brände könnten auch längere Zeit Zu- gänge versperrt sein. Weitere Betrachtungen Der US-amerikanische Risikoforscher Theo­ solcher „Restrisiko“-Szenarien scheinen ge- fanis Theofanous skizziert ein entsprechendes boten, schon im Hinblick auf die noch lau- Verhältnis von Wissenschaft, Ingenieurwesen fenden Reaktoren in Deutschland und die und Management als Basis von Sicherheits- Perspektiven in Europa. kultur. Vereinfachend weist er der Wissen- schaft das Hinterfragen, dem Ingenieurwesen das praktische Anpacken und dem Manage- Anforderungen ment bzw. der Politik eine steuernde und aus- an eine Sicherheitskultur gleichende Rolle zu. Erst aus dem Zusammen- wirken aller drei könne sich Sicherheitskultur Fukushima konfrontiert uns direkt mit der herausbilden. Ein offensichtliches Versagen Frage nach einer funktionierenden Sicher- liegt demzufolge vor, wenn bloße Anpas- heitskultur. Eine solche erfordert einen sung herrscht, aber auch, wenn die Funktio- ständigen Prozess der Analyse von Sicher- nen auseinanderfallen, wenn Zerstrittenheit heitsfragen und der Erarbeitung eines Sicher- dominiert. In beiden Fällen kann es vorkom- heitsstandards, wobei auch der Prozess selbst men, dass Korrekturen sich nur durch Kata- und seine Mängel und Ausblendungen zu re- strophen oder Alarmismus ergeben, sei er be- flektieren sind. Wenn Kritik an den mangel- rechtigt oder nicht. haften Notfallkonzepten in Fukushima bzw. an deren mangelhafter Auslegung erst jetzt Theofanous führt Beispiele aus der Raum- zutage tritt, muss ein Versagen der internatio- fahrt (etwa der Absturz der „Challenger“ nalen Sicherheitskultur konstatiert ­werden. 1986) ebenso wie aus der Kerntechnik an, in denen die Sicherheitskultur eklatant versag- Das Problem von Risikobetrachtungen te. In allen Fällen sei es entscheidend um ein und Sicherheitsanalysen bei Kernreaktoren Wahrnehmungsvermögen für kritische De- liegt in der Komplexität der Prozesse, phy- fizite gegangen. Sicherheitskultur sei daher sikalisch wie technisch. Dazu kommt, dass auch als eine Kultur des Verstehens der Na- Unfallabläufe wie in Fukushima nur anhand tur, der Technik und von gesellschaftlichen von Modellen untersucht werden können so- Prozessen zu interpretieren. Daher wendet wie in Experimenten in kleinem Maßstab er sich gegen Versuche, eine funktionierende und meist mit Simulationsmaterialien. Wie Sicherheitskultur an quantitativen Maßstä- sind damit aber abgesicherte Erkenntnisse ben zu messen. Defizite seien nur in der le- zu gewinnen? Die Qualität der Urteile zu Si- bendigen Auseinandersetzung zu bemerken. cherheitsfragen basiert auf einer kulturellen Theofanous sieht ein zunehmendes Ausein- Qualität, die nur über Zusammenarbeit und anderfallen, eine Isolierung der Herangehens- Auseinandersetzung entstehen kann. ❙4 Ohne weisen, wodurch die schwierige Bestimmung gemeinsames Bemühen und ohne Auseinan- notwendiger Detailklärung im Verhältnis zur Orientierung an Relevanz (fitting for purpose) beeinträchtigt werde. Dies wieder- 4 ❙ Vgl. Theofanis G. Theofanous, Risk, Severe Ac- um resultiere in verselbstständigten Rechen- cidents and Thermohydraulics, in: Proceedings codes und Empirismus sowie einer blinden of the International Topical Meeting on Nuclear Thermal-Hydraulics, 10th International Topical Gläubigkeit gegenüber errechneten Resulta- Meeting on Nuclear Reactor Thermal Hydraulics ten zulasten wirklichen Verständnisses: „Ex- (NURETH-10), Seoul, October 5–9, 2003. perts go away but codes stay.“ Tatsächlich ist

APuZ 46–47/2011 39 festzustellen, dass die bloße Anwendung von soziale Verwerfungen verursachen, Gentech- Rechencodes den Versuch des Verstehens zu- nik könnte zu einer bedrohlichen Evoluti- nehmend ersetzt. on von Schädlingen und Krankheitserregern führen. Ähnliche Risiken bestehen schon bei Auch den generellen kritischen Aussagen der konventionellen Lebensmittelproduktion und Schlüssen von Theofanous bezüglich des aufgrund des Einsatzes chemischer Mittel. Zustands unserer Sicherheitskultur schließen Die Gefährdungen in diesen Fällen sind eher wir uns an. Eigene Erfahrungen stützen die schleichender Art, nicht durch einen einzel- Kritik an einem unzureichenden Zusammen- nen Unfall bedingt. In Fukushima gab es al- wirken der Beteiligten im Sinne eines produk- lerdings auch keine direkten Todesfälle durch tiven Spannungsverhältnisses. Dies betrifft Radioaktivität – auch hier sind ebenfalls eher die Realitätsferne mancher wissenschaftli- längerfristig auftretende Schäden zu erwar- cher Arbeiten, aber auch eine fehlende Bereit- ten, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist. schaft bei Herstellern, Betreibern und Poli- tik, Kritik und Vorschläge anzunehmen und Die verschiedenen Risiken sollen hier nicht im Zusammenwirken konsequent zu bearbei- gegeneinander abgewogen werden. Es geht ten. Ebenso zutreffend ist die Kritik an wis- vielmehr zunächst um die Erkenntnis, dass es senschaftlichen Arbeitsweisen, die Resultate übergreifend notwendig ist, sich mit komple- von Simulationsrechnungen über den eigent- xen Zusammenhängen zu beschäftigen, wo- lichen Klärungsprozess stellen, international bei sich ähnliche Fragestellungen wie zur Si- jedoch immer stärker dominieren. Vor die- cherheitskultur in der Kerntechnik ergeben. sem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, Ein Verstehen der wesentlichen Einflüsse und dass ein rechtzeitiges und nachdrückliches Zusammenhänge ist essenziell und muss die Hinterfragen auch im Fall des Kraftwerks Basis für Abwägungen in einem Prozess der von Fukushima offenbar nicht stattfand. Auseinandersetzung bilden. Es geht letztlich um Entscheidungen, bei denen Gefahren ei- Die Notwendigkeit, sich um eine Verbes- nem Gewünschten gegenüberstehen, also serung der Sicherheitskultur zu kümmern, keine Eindeutigkeit besteht. Die Alternativen bleibt auch nach dem Entschluss zum Atom- sind in solchen Prozessen zu erarbeiten. ausstieg bestehen. Bei Restlaufzeiten von rund zehn Jahren wäre es fahrlässig, Mängel Die Entscheidungen bezüglich der Kern- nicht zu beheben. Die Herausforderung, die energie zeigen, dass es hier auch um Abwä- Standards hoch zu halten, ist mit der Aus- gungen zwischen Alternativen der Energie- stiegsperspektive eher größer geworden. An- versorgung geht, nicht nur um Fragen einer gesichts des Weiterbetriebs und sogar Neu- Sicherheitskultur in der Kerntechnik. Neben baus von Anlagen im europäischen Umfeld Fragen der Sicherheit spielen unterschiedli- bleibt es zudem notwendig, Entwicklungen che Erfahrungen und Auffassungen zu Le- in anderen Ländern zu beurteilen und ge- benszielen und Lebensweisen eine große gebenenfalls zu beeinflussen. Gibt Deutsch- Rolle. Die kulturelle Dimension in den Ab- land seine Beteiligung an der internationalen wägungs- und Entscheidungsprozessen wird Sicherheitskultur und an ihrer Ausgestaltung im Gefolge von Fukushima deutlich. Dabei auf, resultieren daraus unabsehbare Risiken. kollidieren scheinbar rationale, jedoch auch Eine weitere Beteiligung setzt die Fortset- auf technische Sichtweisen begrenzte Ver- zung der eigenen know-how-Entwicklung arbeitungen mit gefühlsbestimmten Reak- voraus. tionen, die aber auch Argumente aus Erfah- rungen und anderen Lebensorientierungen einbringen können. Wie sind dabei sinnvol- Sicherheitskultur, Expertentum und le Wege der Konsensbildung zu finden oder Demokratie: Wie wird entschieden? ­faire Entscheidungen zu treffen? Wie ist blo- ße Konfrontation in produktive Lösungssu- Risiken von vergleichbaren oder sogar grö- che zu überführen? ßeren Ausmaßen, die angesichts der Komple- xität der Prozesse und Zusammenhänge nur Die Konfliktlage ist wie folgt: Einerseits schwer einzuschätzen sind, existieren auch in sind weit verbreitete Ängste auszumachen, anderen Bereichen. So können Klimaverän- die von Seiten der Technik-Experten in der derungen kaum absehbare Zerstörungen und Regel dem Verdikt der Irrationalität ausge-

40 APuZ 46–47/2011 setzt sind. Umgekehrt wird den Experten senschaftlich-technische Prüfung der Mög- begrenzte Wahrnehmung vorgeworfen, ver- lichkeiten. Beide Seiten müssen sich öffnen. bunden mit dem Vorwurf der Interessen- Gestaltungsfähigkeit bedarf allerdings des Orientierung. Beide Sichtweisen sind teil- politischen Primats, das es in der Auseinan- weise richtig, in ihren Ausblendungen und dersetzung selbst wieder zu erringen gilt. Konsequenzen aber nicht weiterführend. Ängste haben sich angesichts von technik- Wie aber ist angesichts der Komplexität der bedingten Katastrophen vielfach bewahrhei- Fragen Entscheidungskompetenz zu gewin- tet, ihnen liegen Erfahrungen mit falschen Si- nen? Selbstverständlich darf die Komplexi- cherheitsversprechungen und mit Problemen tät der Probleme kein Argument dafür sein, technischer Verheißungen zugrunde. Ande- letztlich nur Experten entscheiden zu lassen. rerseits sind die Vorzüge technischer Ent- Dann verkommt Demokratie zu bloßer Ak- wicklung und auch fachlich begrenzter Rati- klamation. Sowohl die Komplexität unserer onalität nicht von der Hand zu weisen. hoch technisierten Gesellschaft als auch de- ren Sachzwänge produzieren zwar eine zu- Die Auseinandersetzung weist eine grund- nehmende Bedeutung von Fachleuten, aber sätzliche Dimension auf. Die Rationalitäts- dem Experten eines Fachgebiets entzieht sich ansprüche von Aufklärung und der mit ihr oft der Sinn fürs Ganze. Dies jedoch betrifft beförderten Wissenschaft haben sich heute keineswegs nur Vertreter des wissenschaft- weitgehend auf innerwissenschaftliche For- lich-technischen Bereichs. derungen begrenzt, die Rationalität des Gan- zen kaum noch hinterfragend. Technische Umso mehr müssen Transparenz und Ent- Entwicklung hat sich im Kontext kapitalisti- wicklung von Entscheidungsfähigkeit ein- scher Dynamik verselbstständigt und von ge- gefordert werden. Es gilt, eine bewuss- sellschaftlichen Zielen abgelöst. Sie gehorcht te Öffentlichkeit zu bilden, eine Kultur der oftmals nur noch den Anforderungen eigener Auseinandersetzung, welche Expertenurtei- Entwicklung und blindem ökonomischem le einfordert und einschließt. Darin enthalten Wachstum. Dass letzteres und die gesamte ist die Forderung an Experten, sich so einzu- durch das Kapital getriebene Dynamik selbst bringen, dass die entscheidenden Gesichts- irrationale Züge aufweisen, wird deutlich in punkte und Fragestellungen verständlich he- Überschussproduktion als Krisenursache, in rausgearbeitet werden und so zur Grundlage Finanzkrisen als Resultat überschüssiger Fi- für Entscheidungen in einem demokratischen nanzmittel, die zu Spekulationsgeschäften Prozess werden können. Alternativen mit treiben und auf der anderen Seite als Kon- Für und Wider müssen so aufbereitet wer- sequenz in Form von Staatsverschuldungen den, dass Entscheidungsfähigkeit für alle ent- wieder Sparzwänge hervorrufen. Das gene- steht, dass der Bezug zu Alltagsfragen und relle Versprechen der Lösung von Problemen zum „großen Ganzen“ deutlich wird. Verein- durch Technik, Innovation und Großprojek- fachungen sind hierzu notwendig, nicht jedes te sowie dadurch angetriebenes Wachstum Detail ist wichtig. Vielmehr sind die wesent- hat seine Unschuld verloren. lichen Bedeutungen und Unterscheidungen sichtbar zu machen, wie bei der Sicherheits- Daraus ergibt sich auch eine ethische Di- kultur zur Kerntechnik auch. mension. Die Handlungsreichweite moder- ner Technik brachte den Philosophen Hans Exemplarisch können Fragen des Exper- Jonas (1903–1993) dazu, über Kant hinaus das tentums und der Beziehung zum demokra- Prinzip der Verantwortung zu postulieren, tischen Prozess bei „Stuttgart 21“ betrach- das auf eine Verantwortung für die Zukunft tet werden. In der Schlichtungsveranstaltung abzielt und Forderungen nach Nachhaltig- um den Streit um den Stuttgarter Bahn­hofs­ keit begründet. Wie bei der Sicherheitskul- umbau ging es letztlich um eine Rückga- tur scheinen erweiterte Postulate und Be- be von Entscheidungskompetenz an die Öf- stimmungen, hier einer Ethik, aber kaum fentlichkeit. Auch hier sollte ein „Stresstest“ weiterzuhelfen. Es ist eine gesellschaftliche durch Experten eigentlich eine verbesserte Auseinandersetzung um Ziele und Alternati- Entscheidungsgrundlage schaffen. Das Re- ven zu führen. Dabei wird beides gebraucht: sultat wurde dann aber zum Urteilsspruch die allgemeine Bestimmung von Orientie- uminterpretiert und ein als besser dargebo- rungen (Wie wollen wir leben?) und die wis- tener Alternativvorschlag derselben Exper-

APuZ 46–47/2011 41 ten dagegen unter Verweis auf weit zurück- Rafaela Hillerbrand liegende Beurteilungen nicht beachtet. Von Risikoabschätzun- Konsequenzen der Energiewende gen zum „guten Leben“ Nach dem Beschluss zur Energiewende in Deutschland, abgestützt durch die flankie- – oder umgekehrt? rend zum Reaktor-„Stresstest“ eingesetz- te Ethikkommission, stehen höchst komple- xe Gestaltungswege und Entscheidungen an. oderne Techniken bestimmen heu- Einerseits verweist das Unglück in Fuku- Mte unseren Alltag und sichern nicht shima darauf, dass die Lösung der globalen nur unseren Wohlstand, sondern auch ­unser Energieprobleme über den Ausbau der Kern- ­Überleben als Gat- energie sicherheitstechnisch problematisch tung „Mensch“. Auch Rafaela Hillerbrand wäre. Um in die Größenordnung relevan- in Zukunft macht ins- Dr. phil., Dr. rer. nat., geb. 1976; ter Beiträge zum gesamten Energiebedarf zu besondere eine stei- Juniorprofessorin für Philoso- kommen, also in eine bezüglich der Klimap- gende Weltbevölke- phie an der RWTH Aachen und roblematik entscheidende Dimension, wären rung technologischen Leiterin der interdisziplinären Tausende neuer Reaktoren weltweit notwen- Fortschritt unabding- Arbeitsgruppe Ethics for Energy dig, was auch ökonomisch kaum gangbar er- bar. Nur so können in Technology (EET) am Human scheint. Andererseits sind Wege allein über den ­Industrieländern Technology Centre, Theater- regenerative Energien, insbesondere Wind Lebensstandard, Le- platz 14, 52062 Aachen. und Sonne, schwer vorstellbar, außer über benserwartung und rafaela.hillerbrand@ politisch schwierige Großprojekte im Bereich Gesundheit erhal- rwth-aachen.de der Solarenergie in Wüstenregionen. Räum- ten und in Schwel- liche und zeitliche Schwankungen erfordern len- und Entwicklungsländern vergleichba- Speicherung und Netzausgleich in großem re Standards erreicht werden. So unstrittig es Maßstab. Bedarfsorientierte Modelle der lo- ist, dass Technik zur Lösung vieler Probleme kalen Nutzung („Energieautonomie“) er- in der Vergangenheit beigetragen hat und in scheinen daher nur begrenzt einsatzfähig, am Zukunft beitragen wird, ist ebenso unstrit- ehesten noch im Sinne des allerdings wichti- tig, dass Technik nicht nur Segen bringt. Alle gen Ziels der Einsparung. Es kommt darauf Techniken sind nicht nur mit Nutzen und an, die Schwierigkeiten und Wege realistisch Chancen verknüpft, sondern auch mit Risi- zu beschreiben, um fundierte Entscheidungs- ken. Der Unfall in den Kernreaktoren von prozesse zu ermöglichen. Fukushima oder die prognostizierte Erder- wärmung als Folge der Verbrennung fossiler Fraglich bleibt, inwieweit Wege überhaupt Rohstoffe zeigen dies überdeutlich und ha- gangbar sind, die nicht auf Einschränkungen ben dazu geführt, dass insbesondere in der des Produktionswachstums zielen, trotz Stei- deutschen Öffentlichkeit das Risiko einiger gerung von Energieeffizienz und Energiespa- technologischer Entwicklungen eher hoch, ren. Ob eine solche Wachstumsbegrenzung der mit ihnen verbundene Nutzen dagegen Askese-Forderungen bedeutet oder sogar eher niedrig eingeschätzt wird. ❙1 eher eine qualitativ bessere Lebensweise ein- leiten könnte, bedarf einer separaten Diskus- Aber es ist nicht allein das hohe Gefähr- sion. Ob der Beschluss zum Ausstieg aus der dungspotenzial, das der Akzeptanz bestimm- Kerntechnik Übergänge eher fördert, da er ter Techniken entgegensteht; erschwerend sie erfordert, oder angesichts der absehbaren kommt hinzu, dass der Einzelne hier kaum Probleme und Konflikte eher blockiert und Einfluss auf eine Entscheidung hat und sich Katastrophen-Tendenzen befördert (etwa auf die Risikoabwägung von Staat und Recht durch soziale Brüche), hängt auch von der verlassen muss. Die Risiken vieler Techniken Entwicklung einer öffentlichen Kultur poli- etwa im Bereich der Stromerzeugung tragen tischer Auseinandersetzung ab. ❙1 Die Nanotechnologie stellt eine der wenigen Aus- nahmen dar, bei der Fachleute die Risiken höher ein- schätzen als die breite Bevölkerung.

42 APuZ 46–47/2011 allerdings nicht allein diejenigen, die deren bei dem die Vor- und Nachteile verschiede- Nutzung zustimmen und von deren Chan- ner Energieträger gegeneinander abgewo- cen profitieren, sondern die gesamte Gesell- gen werden müssen. Was wiegt schwerer: Die schaft – heute wie in Zukunft. Sicherheit der jetzt Lebenden, die durch ei- nen Unfall in einem Kernkraftwerk bedroht Dabei ist die Risikoeinschätzung von In- wird, oder die Lebensgrundlage für zukünf- dividuen sehr unterschiedlich, sie reicht von tige Generationen, die durch eine globale Er- risikoavers bis zu hochgradig riskant. Der wärmung auf dem Spiel steht? Dabei bedeutet Eine geht einer risikoreichen Sportart nach, die Entscheidung gegen eine bestimmte Form der Andere nicht. Bei großtechnischen Anla- der Energieumwandlung – unter den (derzeit gen kann individuelles Risikoverhalten aber realistischen) Annahmen, dass keine wesent- nicht berücksichtigt werden; der Einzelne liche Steigerung der Energieeffizienz sowie muss sich auf die politischen Entscheidungs- keine wesentlich Änderung in der Energie- träger verlassen, dass diese in seinem Inte- nutzung (etwa starker Rückgang des Energie- resse die Abwägung von potenziellem Scha- verbrauchs) zu erwarten sind – immer einen den und Nutzen nach gewissen objektiven Einstieg in eine vermehrte Nutzung ande- Kriterien vorgenommen haben. Aber kann es rer Energieformen. Die Risikoanalyse einer denn überhaupt eine objektive Risikobewer- einzelnen Technik bleibt damit immer un- tung geben? Die Auslagerung des politischen vollständig; sinnvoll sind nur Risikoanaly- Diskurses auf Expertendebatten gerade dort, sen ganzer Energieszenarien. Die Risiken der wo es um durch Technik geschaffene Risiken Energieversorgung sind hier insbesondere geht, scheint dies zumindest nahezulegen. ❙2 auch gegen die Risiken der Nichtversorgung abzuwägen. Ein Zusammenbruch der Strom- Aber wer sind denn angesichts komplexer netze hat gravierende Auswirkungen in den technischer Entscheidungssituationen über- Großstädten hochentwickelter Länder (In- haupt die relevanten Experten? Nicht zuletzt tensivstationen in Krankenhäusern, Aufzüge die Besetzung der Ethikkommission für si- in Hochhäusern, Verkehrsampeln und vieles chere Energieversorgung, die nach den Un- mehr); in ländlichen oder weniger entwickel- fällen in Fukushima ins Leben gerufen wur- ten Regionen wiegt ein Ausfall der Stromver- de, warf diese Frage auf. Und wo bleiben die sorgung dagegen weniger schwer. individuellen Risikopräferenzen und die de- mokratische Beteiligung des Individuums bei Was genau ist dabei überhaupt unter dem all diesen Entscheidungen? Diesen Fragen Begriff „Risiko“ zu verstehen? Während in soll im Folgenden am Beispiel der Energie- der Umgangssprache Risiko sowohl syno- versorgung nachgegangen werden. nym für einen bestimmten Schaden (etwa in „Rauchen stellt ein Risiko dar“) oder für des- sen Wahrscheinlichkeit („Rauchen erhöht das Risiko als vielschichtiger Risiko an Krebs zu erkranken“) steht, um- interdisziplinärer Begriff fasst der Risikobegriff in der Fachliteratur immer beides, Schaden wie seine Eintritts- Auch wenn die unerwünschten Risiken bei wahrscheinlichkeit. In der einfachsten De- der Nutzung der Kernenergie oder bei der finition wird Risiko als gemittelter Schaden Verbrennung fossiler Energieträger offen- bestimmt, das heißt als Produkt aus Schaden sichtlicher und unter Umständen gravieren- mal Eintrittswahrscheinlichkeit. der sind als bei anderen Energietechniken, so sind auch regenerative Energiequellen nicht Diese Wahrscheinlichkeiten lassen sich völlig frei von Risiken. Den nicht-brennba- oftmals in gewissen Grenzen im Rahmen ren Brennstoff gibt es schlicht nicht. Die De- der technisch-naturwissenschaftlichen Dis- batte um eine sichere Energieversorgung ist ziplinen abschätzen. Was aber für wen und deshalb in erster Linie ein Risikodiskurs, warum einen Schaden darstellt, können die Natur- und Technikwissenschaften alleine nicht beantworten. So ist eine globale Erd- ❙2 Die Einbeziehung der Exekutive in technik- und erwärmung um zwei Grad Celsius nicht per umweltrechtliche Fragen, die wiederum externe Be- rater heranzieht, wird diskutiert in: Liv Jaeckel, Ri- se moralisch problematisch, zumindest nicht siko-Signaturen im Recht, in: Juristen Zeitung, 66 in einer anthropozentrischen Ethik. Erst be- (2011) 3, S. 116–124. stimmte Auswirkungen auf die Lebensum-

APuZ 46–47/2011 43 stände jetziger und zukünftiger Generatio- Ethische wie politisch-gesellschaftliche nen machen sie zu einem ethischen und damit Über­legungen von vornherein in die Risiko- politischen Problem. Klimamodelle liefern analyse einzubeziehen, erfordert einen grund- zwar beispielsweise Informationen über die legenden Paradigmenwechsel gegenüber der erwartete Zunahme tropischer Zyklone und gegenwärtig üblichen Praxis. Heute werden anderer extremer Wetterereignisse; die Frage zunächst durch die Natur-, Technik- und So- aber, warum derartige Ereignisse ethisch re- zialwissenschaften wie die Ökonomie die Fol- levant sind und im heutigen politischen Dis- gen technischer Eingriffe abgeschätzt, und erst kurs berücksichtigt werden müssen, weist in einem zweiten Schritt wird die ethische Be- aus den Naturwissenschaften hinaus in den wertung, sei es durch spezielle Ethikkom­mis­ Bereich der Ethik. sio­nen oder durch politische Entscheidungsträ- ger, nachgeschaltet. Das hat unter Umständen Der Begriff des Schadens setzt immer negative Konsequenzen. So wird derzeit etwa Werturteile voraus, Risikodiskurs und Risi- sehr viel Geld und Energie darauf verwendet, koabschätzungen finden damit niemals allein die wissenschaftlichen Klimamodelle zu ver- auf dem Feld der rein deskriptiven Wissen- bessern. Nur ist mit einer genaueren Prognose schaften statt, sondern im interdisziplinä- der globalen Mitteltemperatur im Jahre 2100 ren Bereich, in dem insbesondere normative für die politisch-ethische Debatte noch nicht Setzungen von Bedeutung sind. Bereits die allzu viel gewonnen; relevant ist im Rahmen Frage (und nicht erst die Lösung) nach einer eines anthropozentrischen Ansatzes vielmehr, nachhaltigen Energieversorgung ist damit in- wie sich die globale Erwärmung auf die Be- terdisziplinär formuliert und kann entspre- troffenen auswirkt. Um dies abzuschätzen, chend – wie viele der drängenden Probleme bedarf es allerdings in erster Linie nicht bes- des 21. Jahrhunderts – auch nur im interdiszi- serer Klimamodelle, sondern besserer (wohl- plinären Diskurs beantwortet werden. fahrtsökonomischer) Impaktmodelle. ❙5 Was genau in derartigen Impaktmodellen model- So hat sich der wissenschaftliche Risiko- liert werden soll, kann jedoch nur nach gewis- diskurs in den vergangenen Jahrzehnten von sen normativen Entscheidungen beantwortet der ursprünglichen Fixierung auf technisch- werden. Hier kann Technikkommunikation naturwissenschaftliche Fragen emanzipiert. ❙3 nicht darauf reduziert werden, einseitig die Insbesondere seit den bahnbrechenden Ar- breite Bevölkerung über Chancen und Risi- beiten von Daniel Kahnemann und Amos ken lediglich zu informieren, denn was Chan- Twersky zur sogenannten Prospect Theory cen und Risiken darstellt, ergibt sich erst aus oder Neuen Erwartungstheorie, die 2002 mit den individuellen und kollektiven Wünschen dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet und Ängsten in einer Gesellschaft. wurde und die Abweichung realer Akteure bei Risikoentscheidungen vom idealen Nut- zenmaximierer beschreibt, werden vermehrt Jenseits von Naturwissenschaft auch sozialwissenschaftliche und psychologi- und Technik sche Erkenntnisse über den Umgang mit Ri- siken rezipiert. ❙4 Jedoch wird der grundsätz- Wenn individuelles Risikoempfinden aber lichen Wertbeladenheit des Risikobegriffes derart unterschiedlich ist, wie kann vermie- durch die Einbeziehung anderer empirisch- den werden, dass Risikoanalysen beliebig deskriptiver Disziplinen wie den Sozialwis- werden – schließlich müssen im Fall umwelt- senschaften nicht Rechnung getragen. politischer Maßgaben sowohl risikoscheue als auch risikofreudige Einzelpersonen mit der je- weiligen Entscheidung leben. Die normativen ❙3 Vgl. Sabine Roeser et al. (eds.), Handbook of Risk Theory. Epistemology, Decision Theory, Ethics and Wissenschaften können hier eine Grammatik Social Implications of Risk, Springer 2011. für den gesellschaftspolitischen Diskurs, etwa ❙4 Vgl. Amos Tversky/Daniel Kahneman, Judgment für den über eine nachhaltige Energieversor- under Uncertainty. Heuristics and Biases, in: Science, gung, liefern. Diese Grammatik ist intersub- 185 (1974), S. 1124–1131. Neben den ökonomischen Arbeiten zu Risiko sind auch die soziologischen Un- tersuchungen Ulrich Becks zur „Risikogesellschaft“ ❙5 Vgl. z. B. Nicholas Stern, The Economics of Clima- zu erwähnen und die Forschung innerhalb der Psy- te Change. The Stern Review, Cambridge 2007; Wil- chologie, die insbesondere angestoßen wurde durch liam Nordhaus, A Question of Balance. Weighting Paul Slovic, The Perception of Risk, London 2000. the Options on Global Warming Policies, Yale 2008.

44 APuZ 46–47/2011 jektiv vermittelbar, schränkt individuelle Ri- auf gewisse Gerechtigkeits- und Fairnessas- sikoentscheidungen ein, ermöglicht jedoch pekte, sondern muss sich auch Fragen nach der die Äußerung und Berücksichtigung indivi- Natur von Risiko und Unsicherheit ­stellen. dueller Aspekte im demokratischen Diskurs.

Eine wesentliche Aufgabe einer solchen Metrik der Gerechtigkeit: Grammatik besteht darin, Rahmenbedin- Alternative Wohlstandsindikatoren gungen des gesellschaftlichen Diskurses ab- zustecken, der als ethischer Diskurs gewis- Da Risiken in der Energieversorgung nicht sen Regeln der Unparteilichkeit zu genügen völlig vermieden werden können, geht es hat. Für Energietechniken, deren negative hier letztlich um die Frage, welches Risiko Folgen global wirksam und zum Teil nach- für wen tragbar ist, oder vielmehr: Welches folgende Generationen treffen werden, er- Risiko muss von wem getragen werden? In- fordert dies Rahmenbedingungen, welche wieweit müssen die Anwohner um ein Kern- die Behandlung inter- wie intragenerationel- kraftwerk ein größeres Risiko tragen als alle ler Gerechtigkeitsaspekte gewährleisten. Die Anderen, die ebenfalls von der Stromerzeu- Bedürfnisse der zukünftig Lebenden müssen gung durch dieses Kraftwerk profitieren? In- sinnvoll gegenüber den jetzt Lebenden etwa wieweit dürfen wir heute durch Verbrennung hier in Deutschland, aber ebenso gegenüber fossiler Brennstoffe und der damit einher- denen in weniger entwickelten Teilen der gehenden Erderwärmung zukünftigen Ge- Welt abgewogen werden. nerationen Lebensraum und Lebensqualität nehmen? Die Frage, die hier schlussendlich Weiterhin muss der ethische Diskurs si- dahinter steht ist die, welche Verteilung von cherstellen, dass alle auch über das Gleiche Risiken und Chancen gerecht ist. reden. Dies erscheint zunächst als Selbstver­ ständlichkeit, ist aber bei Risikodiskursen Bevor wir uns aber sinnvoll darüber ver- nicht unbedingt einfach zu gewährleisten. So ständigen können, welche Verteilung fair oder ist oft zu beobachten, dass etwa die Befür- gerecht ist, muss klar sein, was eigentlich ver- worter der Kernenergie auf die niedrige Ein- teilt werden soll. Auch wenn es bei einer nach- trittswahrscheinlichkeit eines Störfalls oder haltigen Energieversorgung um die Allokati- Unfalls fokussieren, während die Gegner on von Energie geht, so steht diese hier nicht hingegen ausschließlich über das hohe Scha- im Zentrum. Auch um die gerechte Vertei- densausmaß reden. Jedoch umfasst Risiko lung von Strom oder anderen Energiedienst- immer beides, Schaden wie Unsicherheit da- leistungen geht es nicht. Wie in der durch den rüber, ob er eintritt. Eine Aufgabe des ethi- Brundtlandreport ❙7 angestoßenen Debatte um schen Diskurses besteht somit darin, beide Nachhaltigkeit geht es bei der Verteilungsfra- Sichtweisen zu berücksichtigen und sowohl ge um intrinsisch wertvolle Güter und damit den Schaden als auch die Unsicherheit dessel- letztendlich um menschliches Wohlbefinden ben (gegebenenfalls quantifiziert in Form von oder zumindest die Voraussetzungen dafür. Wahrscheinlichkeit) in den Blick zu nehmen. Dies mag über die oben genannte Produkt- Auch wenn in den meisten Bewertungen formel, durch unterschiedliche Gewichtung verschiedener Energieszenarien Schaden und von Schaden und Eintrittswahrscheinlichkeit Nutzen ausschließlich in monetären Einhei- oder durch Einbeziehung weiterer Informati- ten, gewöhnlich über das Bruttoinlandspro- onen über die Wahrscheinlichkeitsverteilung dukt (BIP), erfasst werden, sind weder Dollar (und nicht allein über ihren Mittelwert) ge- noch Euro geeignete Einheiten, um mensch- schehen. ❙6 Wichtig ist hierbei zu beachten, dass liches Wohlbefinden zu messen. So geriet auf somit völlig unabhängig von dem Schadens- der volkswirtschaftlichen Ebene in den ver- begriff die Definition von Risiko bereits eine gangenen Jahren das BIP als Indikator für Wertung beinhaltet. Damit beschränkt sich den Wohlstand von Nationalstaaten vermehrt die Grammatik des Diskurses, den eine ethi- in die Kritik. Heute werden alternative Wohl- sche Diskussion zu entwerfen hat, nicht nur standsindikatoren diskutiert, die neben öko- nomischen Aspekten auch andere Dimen- ❙6 Vgl. Stan Kaplan/B. John Garrick, On The Quan- titative Definition of Risk, in: Risk Analysis 1 (1981) ❙7 Vgl. World Commission on Environment and De- 1, S. 11–27. velopment, Our Common Future, Oxford 1987.

APuZ 46–47/2011 45 sionen des menschlichen Lebens erfassen. oder weniger einfach die Windräder abbauen. Derartige Dimensionen können zum Beispiel Für das Wasserkraftwerk Belo Monte in Brasi- Freizeit sein, Zufriedenheit in der Stille der lien, das den Rio Xingu zu einem Stausee von Kontemplation, Freude, am Leben Anderer der Größe des Bodensees wandelt, wird dies teilhaben zu dürfen, und viele andere mehr. schon schwieriger. Bei einem Lager für hoch- radioaktive Abfälle ist diese Handlungsoption, Der schönste Name, den ein solcher Wohl- das einfache Beseitigen der Gefahr, selbst wenn standsindikator bekam, ist sicherlich der des eine Transmutation der langlebigen Radionu- Landes Bhutan, das seit einigen Jahren den klide (deren Umwandlung in kürzer radioak- Gross National Happiness Index aufstellt. tiv strahlende Isotope) in naher Zukunft groß- Die Vereinten Nationen geben seit nunmehr technisch realisiert wird, nicht möglich, was zehn Jahren den Human Development In- eine Einschränkung nicht nur für uns, sondern dex (HDI) als Wohlstandsindikator für den auch für zukünftige Generationen bedeutet. Vergleich verschiedener Länder heraus. Der Eben diesen Verlust an Freiheit gilt es in einer HDI ergänzt das BIP um Lebenserwartung ethischen Bewertung ebenso zu berücksichti- und Bildungsrate. Zwar ist der HDI zur Be- gen wie den tatsächlich realisierten materiellen wertung der Energieversorgung noch zu all- Wohlstand, Gesundheit oder Bildung. gemein, er fußt jedoch auf Ideen des Ökono- mie-Nobelpreisträgers Amartya Sen, die sich Sen zufolge sind es also capabilities, die hierfür gut eignen. ❙8 Die Metrik der Gerech- gerecht zu verteilen sind. Wie und für was tigkeit, also das, was verteilt werden soll, bil- dann der Einzelne diese Fähigkeiten nutzt, den Sen zufolge sogenannte capabilities bzw. ist Sache des Individuums, nicht eines gesell- Fähigkeiten, ein glückliches Leben zu führen. schaftlichen Energiediskurses. Dieser steckt Diese lassen sich ganz grob mit den grund- lediglich den Rahmen ab, innerhalb dessen legenden Voraussetzungen identifizieren, sich das Individuum bewegt. Anders als die die erfüllt sein müssen, damit jemand über- gängigen sozialwissenschaftlichen Ansätze, haupt die Konzeption eines nach individuel- die auf die Interessen und Handlungen der len Maßstäben glücklichen Lebens ausbilden direkt betroffenen Personen fokussieren, bie- kann. Was wären solche Voraussetzungen? tet Sens Ansatz zudem den Vorteil, Aspekte Die Vereinten Nationen nennen in ihrem Hu- der intergenerationellen Gerechtigkeit besser man Development Report Bildung, materiel- berücksichtigen zu können. Da die Interessen len Wohlstand sowie Gesundheit. der zukünftigen Generationen schlicht nicht bekannt sind, sind interessenbasierte Ansät- Was Sens Ansatz nun gerade für die Bewer- ze immer zugunsten der jetzt Lebenden ver- tung der verschiedenen Energieoptionen in- zerrt. Der Fähigkeitsansatz Sens ist hier be- teressant macht (und vom HDI nicht erfasst scheidener und fokussiert lediglich auf die wird), ist, dass er verschiedene Energieszena- grundlegenden Voraussetzungen, die erfüllt rien nicht allein danach bewertet, wie sie sich sein müssen, um eine individuelle Konzepti- zu einem bestimmten Zeitpunkt auf sämtli- on eines guten Lebens ausbilden zu können. che hier aufgelistete Aspekte menschlichen Ein Aspekt, der neben dem Verlust an Hand- Lebens auswirken. Vielmehr müssen weite- lungsoptionen im öffentlichen Diskurs gerne re noch bestehende alternative Handlungs- übersehen wird, ist etwa die Bedeutung einer optionen berücksichtigt werden, das heißt sicheren Energieversorgung für die zukünfti- Energieszenarien, in denen materieller Wohl- ge Gesundheitsversorgung. Es darf nicht ver- stand, Gesundheit und Bildung anders ausge- gessen werden, dass in der einen oder anderen staltet und verteilt sind. Form ein ethisches Desiderat besteht, Ener- gie, insbesondere elektrische, billig und da- Ei n e i n fa che s Be i spiel m a g d ie s verde ut l ichen : mit für alle verfügbar anzubieten. ❙9 Jede Technik birgt Gefahren. Sollten wir in na- her Zukunft feststellen, dass die Windener- ❙9 So berücksichtigen auch die Nachhaltigkeitsin- gie unabwägbare Risiken darstellt, dann kön- dikatoren der International Atomic Energy Agency nen wir oder nachfolgende Generationen mehr (IAEA) – Energy Indicators for Sustainable Develop- ment (EISD) – den Aspekt der Bezahlbarkeit der Ener- gieversorgung. Vgl. IAEA, Energy Indicators for Sus- ❙8 Vgl. Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen. tainable Development: Guidelines and Methodologies, Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Markt- Wien 2005, online: www-pub.iaea.org/MTCD/publi- wirtschaft, München 2001. cations/PDF/Pub1222_web.pdf (28. 9. 2011).

46 APuZ 46–47/2011 Gerechtigkeit als offenes Verfahren denen Fähigkeiten auf eine kardinale Grö- ße und damit auf eine Aussage wie Ja oder Ein wichtiges Ziel des ethischen Diskurses ist Nein zu einem bestimmten Energieszenario es, die Metrik der Gerechtigkeit festzulegen abgebildet werden. Erst der öffentliche Dis- und damit den öffentlichen Diskurs dahinge- kurs vermag somit die Frage zu beantworten, hend zu ergänzen, dass alle als relevant erach- ob ein Energieszenario ohne Kernenergie ge- teten Aspekte menschlichen Wohlbefindens genüber einem mit Kernenergie zu bevorzu- Berücksichtigung finden, unabhängig davon, gen ist. ob sie heute oder in 100 Jahren lebende Men- schen betreffen. Der Fähigkeitsansatz Sens Da sich demokratische Entscheidungen zu bietet eine mögliche diskursive Grammatik, Energiefragen meist im Rahmen von Natio- um die Grenzen des politisch-gesellschaftli- nalstaaten abspielen, kann dies dazu führen, chen Diskurses abzustecken. ❙10 dass einige Länder bestimmte Risikoaspekte höher werten als ihre Nachbarländer und im Nun scheint die Erweiterung des Exper- nationalen Alleingang aus der Kernenergie tenkreises bezüglich des Risikodiskurses – aussteigen. Eine solche Entscheidung kann neben natur- und technikwissenschaftlicher somit auch dann durchaus rational sein, wenn Expertise gilt es auch normative Sachkennt- das individuelle Gefahrenrisiko dadurch nis zu berücksichtigen – zunächst kaum noch nicht abnimmt, weil die Nachbarländer wei- Raum für die Berücksichtigung individueller terhin Kernenergie nutzen und Strahlenwol- Risikopräferenzen zu lassen. Jedoch bedeutet ken an Staatsgrenzen nicht halt machen. die zentrale Rolle von Experten bei Risiko- diskursen nicht notwendig eine „Experten- diktatur“. Ein Vorteil von Sens capabilities- Partizipation ist mehr als Ansatz ist gerade, dass er durch das Maß der Technikkommunikation Gerechtigkeit einen Balanceakt meistert, der die Diversität menschlicher Lebensentwürfe Die großen technischen Katastrophen des berücksichtigt ohne in einen ethischen Sub- vergangenen Jahrhunderts haben gezeigt, dass jektivismus abzugleiten. Der Expertendis- technische Risiken oftmals nur durch mehr kurs gibt hier zwar (in Grenzen) vor, was ge- Technik in den Griff zu bekommen sind. Die recht zu verteilen ist (nämlich die erwähnten, „autonome“ Technik avancierte Ende des grundlegenden Fähigkeiten). In Sens An- 20. Jahrhunderts zum Schlagwort, das tech- satz lässt dieser Expertendiskurs aber wich- nische Notwendigkeit suggeriert. Technik tige Entscheidungen offen: Wie die verschie- ist indes mehr als angewandte Naturwissen- denen Dimensionen menschlichen Lebens zu schaft; technische Notwendigkeiten sind nie- gewichten sind, obliegt nicht der Entschei- mals naturgesetzlich. Die Notwendigkeit zur dung von Experten, sondern einem demokra- technischen Umgestaltung der Natur ergibt tischen Entscheidungsverfahren. sich immer in Kombination aus dem Mach- baren mit dem Gewünschten. Individuelle Um die Frage nach Gerechtigkeit beant- oder, im Fall von Großtechniken, kollekti- worten zu können, gilt es also zum Beispiel ve gesellschaftliche Präferenzen müssen von zu eruieren, ob Sicherheit oder Gesundheit vornherein in die Technikgestaltung einbe- schwerer wiegt, wie viel Wohlstand einen ge- zogen werden. Wirklich partizipative Tech- wissen Verlust an Freiheit aufwiegt und ande- nikgestaltung ist unerlässlich für technischen res mehr. Erst durch diese Gewichtung kann Fortschritt, und sie unterscheidet sich grund- der multidimensionale Raum der verschie- legend von einer Technikkommunikation, in der Technikakzeptanz oftmals lediglich als ❙10 Eine Frage, die damit noch nicht beantwor- Standortvorteil in einer rein ökonomischen 11 tet ist und die den Rahmen dieses Beitrags spren- Bewertung gesehen wird. ❙ gen würde, ist die nach der institutionellen Umsetzung und genauen Gestaltung dieser Parti- zipation. Der Bericht der Ethikkommission für si- ❙11 Vgl. etwa den Abschlussbericht an das Bundes- chere Energieversorgung liefert dafür Ansatz­ ministerium für Bildung und Forschung zum The- punkte, online: www.bundesregierung.de/Content/ ma „Technikakzeptanz und Nachfragemuster als DE/__Anlagen/​2011/​05/​2011-05-30-abschlussbe- Standortvorteil“, Dezember 2002, online: www. richt-ethikkommission,property=publicationFile. bmbf.de/pubRD/Akzeptanz_Nachfrage_Stand- pdf (28. 9. 2011). ort.pdf (28. 9. 2011).

APuZ 46–47/2011 47 Es geht weniger darum, durch Experten – Philipp Gassert seien sie nun aus den Natur- und Technik- wissenschaften oder aus den normativen Dis- ziplinen – die Bevölkerung über „objektive“ Popularität der Apoka- Risiken und Chancen aufzuklären, als dar- um, einen Raum für eine transparente Kom- lypse: Zur Nuklear- munikation zu schaffen, in der überhaupt erst Chancen und Risiken im gleichberechtigten angst seit 1945 Gespräch eruiert werden. Neben einer Öff- nung des Expertendiskurses setzt dies auch die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger chon die Beobachter des ersten erfolgrei- voraus, sich jenseits von Klischees und Vor- Schen Kernwaffentests in Alamogordo in urteilen in vollem Umfang über Potenziale der Wüste von New Mexico am 16. Juli 1945 und Gefahren der Nutzung wie der Nichtnut- fassten ihre Eindrücke zung einer Technik zu informieren. Ein stär- in Superlative: „Es war Philipp Gassert kerer Fokus auf das, was menschliches Wohl- wie ein Sonnenauf- Dr. phil., geb. 1965; Profes- ergehen ausmacht, kann der ökonomischen gang, wie die Welt ihn sor für die Geschichte des Engführung des Begriffs ebenso entgegen- nie zuvor gesehen hat- europäisch-transatlantischen wirken wie der Verkürzung des Schlagworts te, eine große grüne, an Kulturraumes an der Univer- „Nachhaltigkeit“ auf den Erhalt natürlicher Kraft alles überstrah- sität Augsburg, Universitäts­ Ressourcen. lende Sonne.“ Wäh- straße 10, 86159 Augsburg. rend die einen den nu- philipp.gassert@ Die Debatte um alternative Wohlstands­ klearen Lichtblitz mit phil.uni-augsburg.de indikatoren, die heute nicht mehr allein in dem biblischen Schöp- Fachjournalen geführt wird, sondern in vie- fungsakt verglichen, sahen andere „eine War- len Ländern durch die Exekutive angesto- nung vor dem Jüngsten Tag“. Die an der Spit- ßen wurde, ❙12 mag als Rahmen für transpa- ze des Manhattan-Projekts stehenden Phy- rente Kommunikation gesehen werden, der siker wurden als „Geburtshelfer eines neuen allerdings noch durch eine stärkere Bürger- Zeitalters“ gefeiert. Atomenergie schien „die beteiligung zu füllen ist. Das 21. Jahrhundert Verwirklichung der Träume aller Zeitalter in gilt es als Chance zu begreifen, sich wieder Reichweite des Menschen“ zu bringen. ❙1 auf die Notwendigkeit von Technik für das gute menschliche Leben zu besinnen. Nur Rief „die Bombe“ auch bald Skepsis hervor wenn eine Reflexion über Letzteres stattfin- und weckte soziale Ängste vor Vernichtung det, kann Technik als Gesamtheit der Maß- und Tod, so wurden im Kontrast hierzu lange nahmen, Einrichtungen und Verfahren dazu Zeit kaum Zweifel an den megalomanen Vi- dienen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse sionen eines mit ziviler Nuklearkraft betrie- zu nutzen, um zu einer – im wirklichen Sin- benen modernen Garten Eden laut. Bis in die ne – nachhaltigen Umgestaltung unserer Le- 1970er Jahre priesen auch Kritiker der ato- benswelt beizutragen. maren Hochrüstung das „friedliche Atom“. Als 18 führende deutsche Kernforscher 1957 ❙12 Auf Initiative der französischen Regierung wurde mit dem „Göttinger Manifest“ gegen Pläne eine Kommission unter anderem mit dem Ziel gegrün- zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr det, sozialen Fortschritt jenseits des BIP messbar zu protestierten, betonten sie gleichzeitig, es machen. Vgl. Joseph E. Stiglitz/Amartya Sen/Jean-Paul sei äußerst wichtig, „die friedliche Verwen- Fitoussi, Report by the Commission on the Measure- dung der Atomenergie mit allen Mitteln zu ment of Economic Performance and Social Progress, fördern.“ ❙2 September 2009, online: www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/ documents/rapport_anglais.pdf (28. 9. 2011). Mit ähn- licher Zielsetzung hat der Deutsche Bundestag 2010 ❙1 Zitate nach: William L. Laurence, Dämmerung die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, über Punkt Null. Die Geschichte der Atombombe, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaf- München–Leipzig 1948; Robert Jungk, Heller als ten und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozia- tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher, len Marktwirtschaft“ eingesetzt. Vgl. online: www. Stuttgart 1956, S. 207. bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/gremien/​ ❙2 Vgl. Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der deut- enquete/wachstum/index.jsp (6. 10. 2011). schen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alter- nativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nu- klearen Kontroverse, Reinbek 1983, S. 96 f.

48 APuZ 46–47/2011 Kernkraftwerke haben im Vergleich zu zen an den Zweiten Weltkrieg verknüpft. Sie ist Atombombenexplosionen in der Kulturge- integraler Bestandteil der Auseinandersetzung schichte nur wenige Spuren hinterlassen. Der mit dem Nationalsozialismus und dadurch in düsteren Nuklearsatire „Dr. Strangelove or: einen identitätsstiftenden Diskurs integriert. How I Learned to Stop Worrying and Love In Debatten über Nuklearrüstung liefen, oft the Bomb“ von Stanley Kubrick (1964) fehlt auch ohne explizite Nennung, Bilder von Hi- das zivile Pendant, jedenfalls was Quali- roshima und Dresden mit ab. Daher ist „die tät und Wirkung betrifft. Dieses Ungleich- Bombe“ in ihrem emotionalen Potenzial nicht gewicht dauert an, trotz der Unfälle in den zu schlagen, auch wenn das „friedliche Atom“ Kernkraftwerken von Windscale (1957), Har- für die Bevölkerung mit höheren Risiken ver- risburg (1979), Tschernobyl (1986) und jüngst knüpft ist. Auch schienen nukleare „Angstma- Fukushima (2011). Hollywood nahm sich seit cher“ den außen- und sicherheitspolitischen den späten 1970er Jahren gelegentlich der Ge- Konsens der Bundesrepublik aufzukündigen. ❙5 fahren der zivilen Nutzung der Kernenergie an. Doch neben der visuellen Gewalt zeit- Ein dritter Grund für die unterschiedliche gleich produzierter militärnuklearer disaster Resonanz ziviler und militärischer nuklearer movies wirken „The China Syndrome“ (1979) Katastrophenszenarien liegt in der „Drama- und „Silkwood“ (1983) zahm. Auch Japan, turgie der Furcht.“ Diese ist jeweils eine an- mit seiner hoch entwickelten nuklearen Po- dere. Ein ziviler Störfall kündigt sich schlei- pulärkultur hat mit „Träume“ (1990) nur ei- chend, nachgerade heimlich und ohne das nen signifikanten Film hervorgebracht, der explosive Donnergrollen der dramatisch auf- einen zivilen Störfall visualisiert. Das durch steigenden Atompilze an. In unserer auf vi- Atombomben auferweckte Urzeitmonster suelle Codes getrimmten Kultur bietet selbst „Godzilla“ darf dagegen in inzwischen 28 ein Super-GAU wie Tschernobyl nur be- Filmen Angst und Schrecken verbreiten. schränkte Möglichkeiten der theatralischen Inszenierung. In Atomkonflikten stehen sich Warum ist das so? Ich kann darüber nur spe- klar definierte Lager gegenüber, die persona- kulieren, weil es an historischen Forschungen lisiert werden können. Das Drama-Potenzial noch fehlt: Ein Grund dürfte in dem lokalen der Atomkraftwerke bleibt dahinter deutlich Zuschnitt der Anti-AKW-Bewegung liegen. zurück. Auch ist bisher niemand auf die Idee Erst mit dem GAU von Tschernobyl wur- gekommen, ein Kernkraftwerk zu einer fikti- den zivilnukleare Angstszenarien von brei- onalen Waffe umzufunktionieren. teren literarischen Strömungen aufgegriffen (mit „Störfall“ von Christa Wolf, „Die Wol- Ein vierter Gr u nd l ie g t i n dem du rch d ie Ku l- ke“ von Gudrun Pausewang und „Die Rät- turgeschichte und ihre Traditionen gesteckten tin“ von Günter Grass), obwohl die politische Rahmen. Apokalyptische Szenarien gehören Debatte über „Die Angst des Bürgers vor dem zum gesunkenen Kulturgut westlicher Gesell- Atom“ seit Mitte der 1970er Jahre breite Kreise schaften. Sie sind selbst unter nicht bibelfes- zog. ❙3 Diese Diskrepanz weist auf unterschied- ten Zeitgenossen jederzeit kulturell abrufbar. liche gesellschaftliche Wahrnehmungen militä- Nur ein Atomkrieg bietet das Szenario einer rischer und zivilnuklearer Gefährdungen hin. massenhaften Vernichtung menschlichen Le- Letztere haben, ungeachtet der dagegen gerich- bens mit entsprechender postapokalyptischer teten Proteste, eine gewisse Alltagsnormalität. Katharsis. Nukleare Weltuntergänge eröffnen weite Felder für utopische Zukunftsentwürfe, Ein zweiter Grund dürfte im gesellschaft- während imaginierte Störfälle in Kernkraft- lichen Kontext und in der Erinnerungskultur werken an die Komplexität der gegenwärtigen liegen, die vor allem im Kalten Krieg Ängste Probleme erinnern, mit schwierigen Abwä- aufgrund von internationalen Konflikten kul- gungsfragen und geordneten politischen Pro- turell höher bewertete als solche aufgrund von zessen. Auch katastrophalste Reaktorunfälle Alltagsrisiken. ❙4 Die Debatte über Nuklear- waffen war stets mit kollektiven Reminiszen- ❙5 Vgl. die Beiträge von Holger Löttel und Judith Michel in: Patrick Bormann et al. (Hrsg.), Angst in den internationalen Beziehungen, Bonn 2010; Eck- ❙3 Wolfgang Barthel et al., Der Unsichtbare Tod. Die art Conze, Modernitätsskepsis und die Utopie der Angst des Bürgers vorm Atom, Hamburg 1979. Sicherheit. NATO-Nachrüstung und Friedensbewe- ❙4 Vgl. Bernd Greiner et al. (Hrsg.), Angst im Kalten gung in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Zeit- Krieg, Hamburg 2009. historische Forschungen, (2010) 7, S. 220–239.

APuZ 46–47/2011 49 (siehe Fukushima) scheinen nicht das Poten­ umfassende Kulturgeschichte der Nuklear­ zial zur fiktionalen Apokalypse zu haben. angst etwas deutlich macht, dann, wie gängig der Rückgriff auf altbekannte Begriffe war. So Dieser Beitrag ist ein Versuch, Schneisen in eröffnen viele, auch drastische Inszenierun- die Kulturgeschichte der deutschen Nuklear­ gen des „nuklearen Todes“ der Menschheit am angst in ihrer internationalen Verflechtung Ende ein Hintertürchen zum Überleben und zu schlagen. Er konzentriert sich auf kultu- tragen so, wenn auch unbewusst, neutestamen- relle Produktion im engeren Sinne, auf Ro- tarische Spuren chiliastischer Heilserwartun- mane, Gedichte, die bildenden Künste, Mu- gen weiter. Hier werden uralte Erzählungen sik und Film. Die hier manifest werdenden vom postapokalyptischen Überleben weniger Beschreibungen des „atomaren Todes“ grei- „Gerechter“ in moderne, säkularisierte Bilder fen, gerade in ihren populären Formen, zen- gefasst. ❙7 Auch wurden bestimmte Muster der trale gesellschaftliche Problemstellungen auf. Kernenergie-Rezeption schon frühzeitig durch Sie sind für eine Politik- und Sozialgeschich- Science-Fiction-Romane wie H. G. Wells’ „The te der beiden deutschen Staaten essenziell. World Set Free“ (1914) angelegt. ❙8 Das gilt besonders für die in diesen Quellen kommunizierten Ängste, die stets als Chiff- Bestimmte „apokalyptische“ Wahrneh- re für die Beschäftigung mit der Zukunft die- mungsmuster „der Bombe“ waren daher als nen. Sie spiegeln gesellschaftliche Befindlich- kulturelle Standards bereits etabliert, als es keiten wider, wirken aber auch als Antrieb in 1945 zu den ersten nuklearen Explosionen kam. politischen Entscheidungssituationen. Dennoch konstatierten zeitgenössische Beob- achter wie Anders eine „Apokalypse-Blind- heit“ der Menschen, eine „Unfähigkeit zur Unwille zur Angst? Die frühen Jahre Angst“. ❙9 Das lässt sich relativ leicht erklären: Wie viele technische Innovationen wurde „die Die verstörende Gewalt der ersten nuklearen Bombe“ in bekannte Schemata integriert. Sie Explosionen im Sommer 1945 hat tiefe Spuren erschien als noch verheerendere Waffe, die in in der Kulturgeschichte hinterlassen. Daher das Narrativ einer kontinuierlichen Steigerung haben Hiroshima und Nagasaki rückblickend moderner Kriege passte. Sie wurde „konventi- Deutungen nahe gelegt, wonach sich mit dem onell“, im Sinne der „Feuerstürme“ des Zwei- Abwurf der ersten Atombomben eine weltge- ten Weltkrieges, gedeutet; Hiroshima erschien schichtliche Wende vollzog. Schon 1947 legte „nur“ als Höhepunkt des Luftkrieges. ❙10 der Schriftsteller Max Frisch in seiner Farce „Die Chinesische Mauer“ einem der Protago- Ängste richteten sich in den 1940er Jah- nisten das Wort in den Mund: „Zum ersten ren nicht auf die unsichtbaren Gefahren „des Mal (…) (und darum, meine Herren, hilft uns Atoms“, sondern waren allgemeine Kriegs- keine historische Routine mehr!) stehen wir und Zukunftsängste: Angst vor Inflation, Ar- vor der Wahl, ob es die Menschheit geben soll beitslosigkeit und dem Kommunismus. Nu- oder nicht. Die Sintflut ist herstellbar.“ kleare Explosionen wurden in grell bunten Bildern ästhetisiert, Aufnahmen atomarer Tatsächlich gab es aber historische Referenz- Explosionen zu einem positiv besetzten Sym- punkte zur Verständigung über „die Bombe“. bol „politischer Macht und technischen Fort- Geht man kulturelle Manifestationen des nu- schritts“ ikonisiert. ❙11 Indes wurden in Eu- klearen Todes durch, so verfestigt sich rasch der Eindruck, dass die Forderung des „Philo- 7 sophen des Atomzeitalters“, Günther Anders, ❙ Vgl. Mick Broderick, Surviving Armageddon. die Vermessung des Daseins „unter dem Zei- Beyond the Imagination of Disaster, in: Science Fic- tion Studies, (1993) 20, S. 362–382. chen der Bombe“ bedürfe neuer Formen des ❙8 Vgl. Spencer R. Weart, Nuclear Fear. A History of Nachdenkens, die Menschheit nicht sonderlich Images, Cambridge/MA 1988, S. 24. beeindruckt hat. ❙6 Im Gegenteil: Wenn eine ❙9 G. Anders (Anm. 6), S. 276 ff. ❙10 Vgl. Dietmar Süss, Tod aus der Luft. Kriegsgesell- schaft und Luftkrieg in Deutschland und England, ❙6 Vgl. Günther Anders, Über die Bombe und die München 2011, S. 534. Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, in: ders., ❙11 Gerhard Paul, „Mushroom Clouds“. Bilder des Die Antiquiertheit des Menschen, Band I: Über die atomaren Holocaust, in: ders. (Hrsg.), Das Jahrhun- Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revoluti- dert der Bilder. Band I: 1900 bis 1949, Bonn 2009, on, München 1956, S. 233–353. S. 723–729, hier: S. 725.

50 APuZ 46–47/2011 ropa und in den USA frühzeitig Warnungen Vorfall inspiriert: Ein atomarer Test weckt ein geäußert, wenn zum Beispiel Aldous Huxley in der Tiefsee verborgenes urzeitliches Mons- in „Ape and Essence“ (1948) ein düsteres Bild ter, das kein Stacheldraht und kein Kampfflug- der degenerierenden Wirkungen der Radioak- zeug aufhalten kann. ❙15 In Hollywood wur- tivität auf das menschliche Erbgut zeichnet. den Mutanten endemisch. Angefangen mit „Them!“ (1954, deutsch „Formicula“, 1960) Die atomic culture trieb in den USA skur- entkamen in weiteren B-Movies nicht nur rile Blüten. Aber auch in Deutschland wur- Ameisen, sondern auch Spinnen („Tarantula“, de „die Bombe“ verharmlost und trivialisiert. 1955), Schnecken („The Monster that Challen- Von den Atomtests ging ein faszinierendes, ged the World“, 1957), Grashüpfer („Begin- aber oberflächliches Grauen aus. Die Tests auf ning of the End“, 1957) und Krabben („Attack dem Bikini-Atoll riefen naive Technikbegeis- of the Crab Monsters“, 1957) der von der Wis- terung und groteske Verharmlosungen her- senschaft geöffneten Büchse der Pandora. ❙16 vor, einschließlich des bekannten Terminus- Transfers in die weibliche Bademode. „Wir Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des leben im Dauerzustand der Katastrophe, und Zweiten Weltkrieges, der atomaren Planspiele wenn wir uns auch vor der dunklen Wolke der NATO und der gesellschaftlichen Proteste fürchten“, so kommentierte der Schriftsteller über die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, Friedrich Sieburg 1954 etwas kopfschüttelnd wirkten diese phantastischen Inszenierungen die Situation: Die „Furcht [ist] doch auch mit auf das gebildete deutsche Publikum leicht lä- einem heimlichen Vergnügen vermischt.“ ❙12 cherlich. Indes: Trotz traditioneller Abwehr- haltung gegenüber der US-Populärkultur dürften diese Filme auch hierzulande ein Pub- Glückliche Drachen likum gefesselt haben, zumal sie im öffentlich- und atomare Monster rechtlichen Fernsehen regelmäßig wiederholt wurden. Kann man diesen Filmen auch Ver- Mitte der 1950er Jahre verdichteten sich die harmlosung und Eskapismus zum Vorwurf bis dahin selten thematisierten Gefahren der machen (wie zum Beispiel Susan Sontag dies Radioaktivität zu gesellschaftlichen Ängs- tat), so zeigt doch ihr massenhaftes Auftreten, ten. Wichtiger Auslöser war ein Unglücksfall was den Mainstream bewegte. ❙17 bei der Erprobung der ersten einsatzfähigen Wasserstoffbomben 1954 auf dem Bikini- Atoll, wodurch die Mitglieder eines japani- Physiker-Dramen schen Fischerbootes, „Glücklicher Drache und Hiroshima-Gedenken Nr. 5“, verstrahlt worden waren. Einer der Fischer starb bald nach der Rückkehr. ❙13 Nun Die Jahre bis nach der Kubakrise (1962) sind war „die Bombe“ zur unmittelbaren Bedro- für die Kulturgeschichte der Atomangst ein hung von Zivilisten im Hier und Jetzt gewor- fruchtbares Jahrzehnt. Für die zweite Hälf- den (nicht erst in einem hypothetischen Nuk- te der 1950er Jahre sind Dutzende von litera- learkrieg). Es begann der Aufstieg der nuclear rischen, lyrischen und auch philosophischen fiction. Die Menschheit hatte das griffige Ex- Thematisierungen des nuklearen Tods über- empel, das die Gefährdungen „des Atoms“ liefert. Die Palette reicht von Wolfgang Wey- existenziell erfahrbar machte. ❙14 rauchs preisgekröntem Hörspiel „Die japani- schen Fischer“ (1955) bis zu den Dichtungen Das Schicksal des „Glücklichen Drachen“ von Marie-Luise Kaschnitz, Stefan Hermlin zog in der Populärkultur weite Kreise. Der und Anna Seghers. ❙18 Populäre Bestseller wie erste Godzilla-Film wurde noch 1954 in Japan uraufgeführt. Er ist direkt von dem Bikini- ❙15 Details nach www.mechagodzilla.de (5. 10. 2011). ❙16 Ausführliche Übersicht bei Thomas Koebner ❙12 Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang. (Hrsg.), Filmgenres: Science Fiction, Stuttgart 2003. Selbstgespräche auf Bundesebene [1954], Neudruck ❙17 Vgl. Susan Sontag, Die Katastrophenphantasie, in: Frankfurt/M. 2010, S. 74. dies., Kunst und Antikunst, Reinbek 1968, S. 232– ❙13 Vgl. Ralph E. Lapp, Die Reise des glücklichen 250; für die Gegenposition vgl. Kaspar Maase, Was Drachen. Eine moderne Odyssee, Düsseldorf 1958. macht Populärkultur politisch?, Wiesbaden 2010. ❙14 Vgl. Ilona Stölken-Fitschen, Atombombe und ❙18 Vgl. Walter Jens (Hrsg.), Leben im Atomzeitalter. Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre Schriftsteller und Dichter zum Thema unserer Zeit, aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995, S. 95. Gräfelfing 1987.

APuZ 46–47/2011 51 die des „Atom-Journalisten“ Robert Jungk Der ignorierte Nukleartod beschworen am Beispiel J. Robert Oppenhei- mers den faustischen Pakt. Physikerdramen und seine Wiederkehr kamen groß in Mode und elaborierten den Zwiespalt von Technik und Ethik. ❙19 Ein paradoxes Resultat der „Kampf dem Atomtod“-Bewegung war die klare Aufspal- Populärwissenschaftliche Arbeiten ­fanden tung der Atomenergie in eine „gute“ zivile Va- einen breiten Markt. Vielleicht, weil im riante, und eine in Deutschland von der Bevöl- deutschen Fall historische Ängste und Er- kerung mehrheitlich abgelehnte militärische innerungen durch die Gefahr des Atom- Nutzung. ❙23 Atompsychose und Atomeupho- kriegs angesprochen wurden, spielte sich rie koexistierten fast übergangslos, wenn etwa die Ausein­andersetzung mit dem Atomtod das „Godesberger Programm“ der SPD von in weniger fiktionalen Genres ab (im au- 1959 in seiner Präambel konstatierte, „dass der genscheinlichen Kontrast zu Japan, das mit Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und Deutschland die Luftkriegserfahrung teilte). sich jetzt vor den Folgen fürchtet“, aber zu- In den „Angstsemantiken“ (Holger Nehring) gleich der Hoffnung Ausdruck gab, „dass der der Friedensbewegung wurde auf „reale“ Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben er- Fiktionen zurückgegriffen, die in der Pres- leichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand se in Wort und Bild leicht zugänglich waren, für alle schaffen kann, wenn er seine täglich drohten doch in NATO-Manövern mit im- wachsende Macht über die Naturkräfte nur mer höheren Einsätzen an Nuklearwaffen für friedliche Zwecke einsetzt“. Millionen deutscher Opfer. ❙20 Hier wurde die Fiktion von der imaginierten Realität zum Zwar kamen auch in den 1960er Jahren Teil überholt. noch filmische und literarische Zeugnisse auf den Markt, die sich mit Nuklearkriegen aus- Mit der „Kampf dem Atomtod“-Kampag- einandersetzten oder an die Verantwortung ne wurzelte sich nun auch „Hiroshima“ als der Wissenschaft appellierten, in ihrer Mehr- zentraler Referenzpunkt der deutschen Nu- heit aber hörten die Menschen für anderthalb klearangst ein. „Nie wieder Hiroshima“ war Jahrzehnte auf, sich um „die Bombe“ zu sor- das wichtigste Schlagwort der deutschen gen. Sie mochten sie vielleicht nicht gerade Friedensbewegung, es entstand eine umfang- lieben, wie Stanley Kubrick pointiert behaup- reiche Hiroshima-Lyrik, ❙21 der ostdeutsche tete, doch mit der Unterzeichnung des Atom- Maler Werner Tübke schuf einen Furcht ein- teststoppabkommens 1963 waren Atomängs- flößenden Zyklus „Hiroshima I-III“, und der te evozierende Pilzwolken weitgehend passé. ebenfalls in der DDR tätige Armin Münch Der nukleare Tod stand am Rande. Aktivis- zeichnete „Little Man“ und „Fat Boy“, die ten der Studenten- und Friedensbewegung Hiroshima- und Nagasaki-Bomben. ❙22 Da- konzentrierten sich auf Probleme wie den Al- bei wurde Hiroshima bewusst auch mit gerien- und den Vietnam-Krieg, die Dekolo- den deutschen Erfahrungen des Luftkriegs nisierung und die Nord-Süd-Problematik. gleichgesetzt, zugleich aber auch die völlige Andersartigkeit der langfristigen Wirkungen Auf breiter Front kehrte die Atomangst der Radioaktivität thematisiert. „Radioak- mit dem Ende der Fortschrittsgläubigkeit tiv“ wurde zum Angstbegriff. zu Beginn der 1970er Jahre zurück. ❙24 Nun stand zum ersten Mal das „friedliche Atom“ ❙19 Vgl. I. Stölken-Fitschen (Anm. 14), S. 220. im Zentrum der Kontroversen, nachdem der 20 ❙ Vgl. Holger Nehring, Angst, Gewalterfahrun- Durchbruch zur kommerziellen Nutzung gen und das Ende des Pazifismus. Die britischen der Kernenergie in Deutschland Ende der und westdeutschen Proteste gegen Atomwaffen, 1957–1964, in: B. Greiner (Anm. 5), S. 436–464, hier: 1960er Jahre erfolgt war. Was lokal (etwa in S. 441. ❙21 Vgl. Raimund Kurscheid, Kampf dem Atomtod. ❙23 Vgl. Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deut- Schriftsteller im Kampf gegen eine deutsche Atom- schen und die Angst. Die westdeutsche Opposition bewaffnung, Köln 1981. gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus ❙22 Vgl. Ulrich Krökel, „Bombe und Kultur“. Künst- Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland, Ham- lerische Reflexionen über die Atombombe von Hiro- burg 2001, S. 267–318. shima bis Cernobyl, in: Michael Salewski, Das nu- ❙24 Vgl. K a i F. Hü nemörder, Die Fr ü hgesch ichte der glo - kleare Jahrhundert. Eine Zwischenbilanz, Stuttgart balen Umweltkrise und die Formierung der deutschen 1998, S. 188–216. Umweltpolitik 1959–1973, Stuttgart 2004, S. 154 ff.

52 APuZ 46–47/2011 Karlsruhe) schon Mitte der 1960er Jahre mit Apokalypsen in der Friedensbewegung vereinzelten Protesten begann, sollte in Gor- leben und Wackersdorf, und vor allem auch Erst mit dem NATO-Doppelbeschluss 1979 in Wyhl bald nationale symbolische Signifi- fanden nukleare Apokalypsen wieder weitere kanz erhalten. ❙25 Der Anti-AKW-Protest hat Verbreitung in der Populärkultur. Amerika- vor allem kleinere Kunstformen inspiriert. In nische Punk-Rock-Bands widmeten der Neu- der Folk- und Liedermachszene kamen zahl- tronenbombe eigene Stücke, Kurt Vonnegut reiche Protestsongs zu Ehren, oft wurden alte malte sich in „Deadeye Dick“ (1982) ihre Fol- Volkslieder mit neuen Protestinhalten ge- gen aus. In Großbritannien ging eine Welle füllt oder auch völlig umgedeutet (wie zum postapokalyptischer nuklearer Visionen der Beispiel die „Wacht am Rhein“). „In Mue- politischen Debatte voraus. Und in Deutsch- ders Stübele“ vergleicht Walter Moßmann die land wurde der Song „Das weiche Wasser Angst vor dem Verlust der Heimat ans „große bricht den Stein“ mit der eingängigen Eröff- Geld“ mit einem Krieg im eigenen Land. Be- nungszeile „Europa hatte zweimal Krieg/ kannt geworden sind auch die Lieder gegen der dritte wird der letzte sein“ zu einem der den Schnellen Brüter in , etwa Frank Schlager der Friedensbewegung. Baiers „Lied vom Bauern Maas“. ❙26 Nukleare Angstszenarien waren in der po- Die Anti-AKW-Songs folgten dem Mus- pulären Musik der Jahre auf dem Höhepunkt ter „David gegen Goliath“. Angstszenarien der Nachrüstungsdebatte 1982/1983 so ubi- wurden hier aber nicht entworfen, um das quitär, dass es eigener Untersuchungen be- Publikum mit Schaudergeschichten zu un- darf. ❙27 In der Bundesrepublik und der DDR terhalten. Sie sollten Mut einflößen, um sich hatte der nuclear pop bzw. nuclear rock sei- gegen die Übermacht des Staates und Kapi- ne goldene Ära. Nicht allein die bekannten talinteressen zu wehren. Die Songs dienten Interpreten wie Herbert Grönemeyer, Udo dem eminent praktischen Zweck, die Protest- Lindenberg („Wozu sind Kriege da“, 1981), ler bei Platzbesetzungen und Demonstratio- Peter Maffay und Konstantin Wecker, oder nen im Angesicht der Polizei durch Singen zu die Bands der Neuen Deutschen Welle be- stärken. Hier war ein Verständnis von Angst schworen Weltuntergänge. Dass der „nuk- nicht als einer lähmenden, sondern rationa- leare Holocaust“ (wie das Szenario nun ger- len Kraft verbreitet, wie es später auch für die ne apostrophiert wurde) kommerziell „lief“, Friedensbewegung typisch wurde. zeigt Boney M. Die Diskogruppe ersang sich mit „We kill the World“ (1981) sozialkriti- Im Vergleich zu anderen sozialen Bewegun- sche Glaubwürdigkeit. Die Schlagersänge- gen der 1970er Jahre haben die Anti-AKW- rin Nicole reüssierte 1982 mit „Ein bißchen Proteste weniger kulturelle Spuren hinterlas- Frieden“. Das Nuklearthema degradierte zur sen. Zivile Atomängste wurden entweder aus europäischen Modeerscheinung, wenn der Hollywood importiert, wie in dem kurz vor größte Strandschlager der 1980er Jahre, „Va- dem Unfall in Harrisburg angelaufenen Film mos a la playa“, über die nukleare Verseu- „The China Syndrome“ (1979) oder dann, chung der Meere sinniert. ❙28 nach Tschernobyl, von ökopessimistischen Autorinnen wie Gudrun Pausewang breiten- Filme und Romane folgten. Die bekann- wirksam in literarische Bilder gefasst. Nicht testen Beispiele sind das amerikanische TV- zu vergessen ist auch die ironische Brechung Drama „The Day After“, das den nuklearen der Ängste, etwa in der Zeichentrickserie Weltuntergang am Beispiel einer mittwestli- „The Simpsons“ (seit 1989). Das Science-Fic- tion-Genre hat der zivilnukleare Tod dage- ❙27 Vgl. Philipp Baur, Nukleare Untergangszenarien gen nur marginal beschäftigt. Die dramatur- in Kunst und Kultur, in: Christoph Becker-Schaum gischen Potenziale des „unsichtbaren Todes“, et al. (Hrsg.), Die Nuklearkrise: Der NATO-Doppel- der von einem „ganz normalen“ Kernkraft- beschluss und die Friedensbewegung der 1980er Jah- werk ausgeht, waren offensichtlich begrenzt. re, Paderborn 2012 (i. E.). ❙28 Vgl. Sebastian Peters, Ein Lied mehr zur Lage der Nation. Politische Inhalte in deutschsprachigen Pop- ❙25 Zur Antiatomkraftbewegung siehe auch den Bei- songs, Berlin 2010; Philipp Gassert, Die Vermark- trag von Joachim Radkau in dieser Ausgabe. tung des Zeitgeists. Nicoles „Ein bißchen Frieden“ ❙26 Vgl. Thomas Rotschild, Liedermacher. 23 Port- (1982) als akustisches und visuelles Dokument, in: räts, Frankfurt/M. 1980, S. 147. Zeithistorische Forschungen, (2012) 2 (i. E.).

APuZ 46–47/2011 53 chen Kleinstadt drastisch inszeniert, und der Bundesebene ein Moratorium der nuklearen britische Zeichentrickfilm „When the Wind Ausbaupläne erreichen konnte bzw. mit der Blows“ (beide 1983). jüngsten Wende sogar den „Atomausstieg“, hat trotz seiner auch im internationalen Ver- Im Unterschied zu den monströsen oder gleich bemerkenswerten politischen Erfolge galaktischen, meist postapokalyptischen kaum den Atomkriegsphantasien vergleich- Utopien der 1950er Jahre bilden die Szenarien bare populär- und hochkulturelle Fiktionen der 1980er Jahre sowohl in ihren filmischen der Angst hervor gebracht. als auch in ihren literarischen Formen (mit Anton-Andreas Guhas „Ende. Tagebuch aus Es fehlen also für die zivile Seite, trotz der dem Dritten Weltkrieg“, 1983, als markantes signifikanten Ausnahme der Protestlieder, Beispiel) nicht die Welt nach dem nuklearen die Weiterungen in fast allen der hier unter- Armageddon ab, sondern schildern den Un- suchten Bereiche kultureller Produktion. Da- tergang selbst. Der deutsche Bestseller „Die gegen ist die Kulturgeschichte Europas und letzten Kinder von Schewenborn“, wartet mit Nordamerikas, vom vorübergehenden Rück- plastischen Details aus der Ereigniskette ei- gang der Atom­angst in den 1960er Jahren ein- nes Atomkriegs auf. Wie in „The Day After“ mal abgesehen, voll von postapokalyptischen wird die Vogelperspektive vermieden. Anders und katastrophischen Fiktionalisierungen ei- als der amerikanische Film, der die Möglich- nes nuklearen militärischen Schlagabtauschs, keit menschlichen Überlebens andeutet, geht der häufig mit einer weitgehenden Vernich- bei Pausewang mit den „letzten Kindern“ die tung menschlichen Lebens endet. Weltgeschichte zu Ende. Eine Ausnahme in dieser relativen kultur- Bei der Thematisierung von Nuklearängs- geschichtlichen Nicht-Thematisierung der ten stechen die Unterschiede zu den 1950er Gefahren der zivilen Nutzung der Kernener- Jahren hervor. „Angst“ konnte in einer sich gie stellt die nukleare Havarie von Tscher- individualisierenden, demokratisierten Ge- nobyl dar (und vielleicht künftig auch die sellschaft als positiv besetzter Topos sowohl von Fukushima). Aber auch hier handelt es in der Anti-AKW- als auch Friedensbewe- sich meist um dokumentarische Romane und gung Geltung beanspruchen. ❙29 Während An- nicht um fantastische Fiktionen. Tscherno- hänger der „Kampf dem Atomtod“-Kampa- byl hat (wie jüngst Fukushima) eine intensi- gne sich gegen Zuschreibungen wehrten, sie ve publizistische Auseinandersetzung über schürten pure Emotionalität, wurde Angst die „Angst der Deutschen“ bewirkt. Es half nun als handlungsanleitender, rationaler Im- gesellschaftliche Ängste zu fokussieren, zu- puls gefeiert. Angesichts der Wahrscheinlich- mal hier das Entweichen von Radioaktivität keit des Atomkrieges sei „nicht die Angst, keine Fiktion blieb, sondern die Wirklich- sondern die Angstfreiheit irrational“, vertei- keit herausforderte (beschrieben von ­Christa digte der Philosoph Ernst Tugendhat die frie- Wolf). densbewegte Emotionalität. ❙30 Es ist ein wenig verwunderlich, dass atoma- re Reaktoren, die in der unmittelbaren Nach- Resümee barschaft vieler Künstler, Schriftsteller und Intellektueller standen (und stehen), als Pro- Ein Überblick über die Kulturgeschichte der jektionsfläche albtraumhafter Nuklearfikti- deutschen Nuklearangst hinterlässt ein Pa- onen offenbar unbrauchbar sind. Aufgrund radox, das der näheren geschichtswissen- der von weiten Kreisen gefürchteten Realität schaftlichen Aufklärung bedarf. Der friedli- der Bedrohung schien es fiktiver Nachhilfen che Anti-AKW-Protest, der in Wyhl, Kalkar nicht zu bedürfen. Im Umkehrschluss ließe und Wackersdorf erfolgreich agierte und auf sich aber auch spekulieren, ob militärnukle- are Untergangsszenarien vielleicht häufiger ❙29 Vgl. Susanne Schregel, Konjunktur der Angst. sind, weil sie einen hypothetischen Ernstfall „Politik der Subjektivität“ und „neue Friedens- betreffen, der außerhalb unserer tatsächlich bewegung“, 1979–1983, in: B. Greiner (Anm. 4), vorstellbaren Realität liegt. S. 495–520. ❙30 Ernst Tugendhat, Nachdenken über die Atom- kriegsgefahr und warum man sie nicht sieht, Berlin 1986, S. 37.

54 APuZ 46–47/2011 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung „APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86 53113 Bonn Aus Politik und Zeitgeschichte Redaktion Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail über die neuen Ausgaben. Dr. Hans-Georg Golz Dr. Asiye Öztürk Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell Johannes Piepenbrink (verantwortlich für diese Ausgabe) Anne Seibring (Volontärin) Telefon: (02 28) 9 95 15-0 www.bpb.de/apuz [email protected] Redaktionsschluss dieses Heftes: 4. November 2011

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Ortwin Renn 3–7 Wissen und Moral – Stadien der Risikowahrnehmung Die Ereignisse von Tschernobyl und Fukushima haben die Risikowahrnehmung der Kernenergie in Deutschland stark beeinflusst. Der Beitrag verfolgt die Wahr- nehmung des Risikos von Großtechnologien von 1986 bis heute.

Joachim Radkau 7–15 Eine kurze Geschichte der deutschen Antiatomkraftbewegung Die Anfänge der Anti-AKW-Bewegung reichen über 40 Jahre zurück. Nach dem Höhepunkt des Konflikts in den späten 1970er Jahren glaubten sich viele Anti- AKW-Streiter auf verlorenem Posten; aber wie es aussieht, haben sie gesiegt.

Severin Fischer 15–22 Das „Modell Deutschland“ und die europäische Energiepolitik Es gilt, die „Energiewende“ europäisch zu denken. Soll das „Modell Deutschland“ Schule machen und die Transformation des Energiesystems gelingen, ist die Mitge- staltung der EU-Energiepolitik für die Bundesrepublik von größter Bedeutung.

Hardo Bruhns · Martin Keilhacker 22–29 „Energiewende“: Wohin führt der Weg? Die „Energiewende“ ist nicht nur notwendig, sondern möglich. Allerdings wird sie durch den Ausbau fossiler Energieerzeugung verlangsamt. Insbesondere beim Netzausbau ist ein gemeinsames europäisches Vorgehen von größter Bedeutung.

Konrad Kleinknecht 29–36 Abkehr vom Klimaschutz? Die erneuerbaren Energiequellen können 2020 nur etwa 30 Prozent unseres Strom- bedarfs decken. Für die verbleibenden 70 Prozent sind wir auf unsere Kohle- und Gaskraftwerke und die Kernkraftwerke der Nachbarn angewiesen.

Manfred Bürger · Michael Buck · Georg Pohlner · Jörg Starflinger 36–42 Fukushima: Gefahr gebannt? Lernen aus der Katastrophe Der Unfall in Fukushima konfrontiert uns direkt mit der Frage nach unserer eige- nen Sicherheitskultur. Diese ständig zu verbessern, bleibt auch nach dem Entschluss zum Atomausstieg eine Notwendigkeit. Eilige „Stresstests“ reichen nicht aus.

Rafaela Hillerbrand 42–48 Von Risikoabschätzungen zum „guten Leben“ – oder umgekehrt? Die Debatte um eine sichere Energieversorgung ist in erster Linie ein Risikodis- kurs. Es bedarf sowohl einer ethischen Bewertung, die künftige Generationen ein- bezieht, als auch einer Besinnung darauf, was wir unter „gutem Leben“ verstehen.

Philipp Gassert 48–54 Popularität der Apokalypse: Zur Nuklearangst seit 1945 Die Angst vor „der Bombe“ hat in Romanen, Filmen und in der Musik breiten kul- turellen Niederschlag gefunden. Die Gefahren der zivilen Nutzung der Kernenergie wurden dagegen vergleichsweise wenig thematisiert. Sie taugen nicht zum Drama.