Ende Des Atomzeitalters?
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APuZAus Politik und Zeitgeschichte 61. Jahrgang · 46–47/2011 · 14. November 2011 Ende des Atomzeitalters? Ortwin Renn Wissen und Moral – Stadien der Risikowahrnehmung Joachim Radkau Eine kurze Geschichte der Antiatomkraftbewegung Severin Fischer Das „Modell Deutschland“ und die europäische Energiepolitik Martin Keilhacker · Hardo Bruhns „Energiewende“: Wohin führt der Weg? Konrad Kleinknecht Abkehr vom Klimaschutz? M. Bürger · M. Buck · G. Pohlner · J. Starflinger Fukushima – Gefahr gebannt? Lernen aus der Katastrophe Rafaela Hillerbrand Von Risikoabschätzungen zum „guten Leben“ Philipp Gassert Popularität der Apokalypse: Zur Nuklearangst seit 1945 Editorial Vor einem Jahr beschloss die Bundesregierung, die Laufzeit der deutschen Kernkraftwerke zu verlängern. Unter lautstar- kem Protest der Opposition machte sie damit den Atomaus- stieg rückgängig, den Rot-Grün neun Jahre zuvor mit der In- dustrie ausgehandelt hatte. Heute erscheint dieser Beschluss wie aus einer anderen Zeit. Denn seither hat sich die Lage drama- tisch verändert: Das Reaktorunglück im japanischen Fukushi- ma im März 2011 führte zu einer Neubewertung der Risiken der Kernenergiegewinnung, und nach einem dreimonatigen Mora- torium folgte – für viele überraschend eilig – der erneute, so- gar noch beschleunigte Ausstieg. 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen. Die Entscheidung fußt auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens, und sie stellt einen Sieg dar für die vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit Ende der 1960er Jahre gegen Atomkraft engagiert haben. Doch ist das „Atomzeitalter“ damit wirklich beendet? Andere EU-Länder, darunter direkte Nachbarn wie Frankreich oder Polen, sind weit davon entfernt, dem deutschen Beispiel zu folgen. Und Deutschland wird möglicherweise selbst eine Zeit lang auf Stromimporte aus ausländischen Kernkraft- werken angewiesen sein. Zugleich stellen sich weitere Fragen hinsichtlich der „Energie- wende“. Den vormals in Kernkraftwerken erzeugten Strom gilt es aus anderen Quellen zu ersetzen, ohne dabei den Klimaschutz und die notwendige Reduzierung der Treibhausgasemissionen aus dem Blick zu verlieren. Zwar gibt es Studien, die den erneuer- baren Energien das Potenzial bescheinigen, die Lücke zu schlie- ßen, aber nach derzeitigem Ausbaustand ist ungewiss, ob dies binnen zehn Jahren geschehen kann – zumindest unter Beibehal- tung unseres jetzigen, energieintensiven Produktions- und Le- bensstils. Im Alleingang ist die „Energiewende“ nicht zu schaf- fen. Soll sie gelingen, bedarf es – mindestens auf europäischer Ebene – buchstäblich einer deutlich stärkeren Vernetzung. Johannes Piepenbrink Ortwin Renn andere Großtechniken in Deutschland und anderen westlichen Ländern vergegenwärtigt. Im Folgenden soll daher die Kern energie- Wissen und Moral – debatte rekonstruiert und in den größeren Zu- sammenhang der Auseinandersetzungen um Stadien der Risiko- großtechnische Risiken eingebettet werden. Dabei geht es weniger um einen historischen Abriss als vielmehr um den Versuch, die Ge- wahrnehmung nese und den Verlauf eines Diskurses zu be- Essay schreiben und soziologisch zu deuten. Zäsur von 1986 ie Ereignisse in Fukushima haben in DDeutschland zu einer deutlichen Zäsur Moderne Großtechnologien wie die Nutzung in der Bewertung von großtechnischen Risi- der Kernkraft genossen bis in die 1970er Jah- ken geführt: Alle poli- re starken öffentlichen Rückhalt, und die Ortwin Renn tischen Parteien, die im Vertreter der technischen Elite hatten maß- Dr. rer. pol., Dr. sc. h. c., Bundestag vertreten geblichen Einfluss auf die Politik. ❙2 Die Risi- geb. 1951; Professor für Umwelt- sind, nahezu alle re- koabschätzungen der Experten lieferten aus- und Techniksoziologie am Insti- levanten gesellschaft- reichenden Rückhalt dafür, dass die intuitive tut für Sozialwissenschaften der lichen Gruppen sowie Wahrnehmung andauernder Bedrohungen, Universität Stuttgart, Seiden- die Mehrheit der Be- die in vielen Risikowahrnehmungsstudien straße 36, 70174 Stuttgart. völkerung haben sich zum Ausdruck kamen, ❙3 als ungerechtfer- ortwin.renn@ auf einen Ausstieg aus tigt erschien. Trotz einer großen Anzahl von sowi.uni-stuttgart.de der Kernenergienut- Bewegungen gegen die höchst unpopuläre http://ortwin.gingedas.net zung in Deutschland Kernenergie, trotz andauerndem Protest ge- geeinigt. Dabei sind gen den Bau neuer chemischer Fabriken oder die Risiken der Kernenergie in Deutschland die Erweiterungen von Flughäfen, trotz Al- nach Fukushima nicht anders zu bewerten als ternativbewegungen, die überall in Europa vorher. Die Ethikkommission schreibt dazu: und den USA aufkamen, waren die Vertreter „Die Risiken der Kernenergie haben sich mit der Technikeliten in der Lage, konservative, Fukushima nicht verändert, wohl aber die liberale und sozialdemokratische Parteien in Risikowahrnehmung. Mehr Menschen als allen westlichen Ländern von ihren Ideen und früher ist bewusst geworden, dass die Risi- Plänen zu überzeugen. In Deutschland wur- ken eines großen Unfalls nicht nur hypothe- den Kernkraftwerke gebaut und in Betrieb tisch vorhanden sind, sondern dass sich sol- genommen, in der Schweiz liefen alle Volks- che Unfälle auch konkret ereignen können. entscheide bis 1986 darauf hinaus, Kern- Somit hat sich die Wahrnehmung eines rele- kraftwerke in Betrieb zu behalten. In Schwe- vanten Teils der Gesellschaft an die Realität den bestimmte 1980 ein Volksentscheid, die der Risiken angepasst.“ ❙1 bestehenden Kernkraftwerke in begrenztem Rahmen bis zu einer vorbestimmten Laufzeit Angesichts der unveränderten Risikolage im Betrieb zu halten. ist es verwunderlich, dass die Politik so rasch und so gleichförmig auf die Ereignisse in Fu- Dieses Bild änderte sich dramatisch nach kushima reagiert hat. Allerdings ist die Kern- den drei Katastrophen von 1986: der Explo- kraft in Deutschland schon seit Jahrzehnten umstritten. Dass allerdings die schwarz-gel- ❙1 Ethikkommission der Bundesregierung, Zukünf- be Koalition umgehend ihre Politik auf den tige Energieversorgung, Berlin 2011. Kopf stellte und sich an die Spitze der Befür- ❙2 Die folgenden Ausführungen sind zum Teil mei- worter eines schnellen Ausstiegs setzte, hat nem Aufsatz entnommen: Ortwin Renn, Abschied viele überrascht. von der „Risiko-Gesellschaft“?, in: Jens Aderhold/ Olaf Kranz (Hrsg.), Intention und Funktion. Pro- blem der Vermittlung psychischer und sozialer Sys- Die massive Reaktion in Deutschland ist nur teme, Wiesbaden 2007, S. 230–251. verständlich, wenn man sich die Entwicklung ❙3 Vgl. Ortwin Renn, Risikowahrnehmung der Kern- des politischen Diskurses um Kernenergie und energie, Frankfurt/M. 1984. APuZ 46–47/2011 3 sion der US-Raumfähre „Challenger“ (Janu- Das Imperium schlägt zurück: ar), dem Reaktorunglück im Kernkraftwerk Tschernobyl (April) und dem Großbrand in Die Rache der technischen Elite einem Chemiewerk in Schweizerhalle bei Ba- sel (November). ❙4 Unterstützer von Groß- Im ersten Jahrzehnt nach den Ereignissen von technologien gerieten nunmehr in die Defen- 1986 wurde die technische Risikoelite in eine sive, während die Skeptiker damit begannen, Verteidigungshaltung gedrängt. Doch nach ein neues Denken über Risiken in Politik und 1996 drehte sich der Wind von neuem. Die in Gesellschaft zu verankern. Jetzt wurden die der Nach-Tschernobyl-Zeit verschmähte Lo- Experten nicht nur für mangelnde Moralität, gik der Experten wurde rehabilitiert, als be- sondern darüber hinaus auch für mangelnde kannt wurde, dass die Katastrophen von 1986 Rationalität ihres Fachwissens zur Verant- so katastrophal, wie zu Anfang befürchtet, wortung gezogen. Nahezu alle europäischen gar nicht waren. Der Rhein hatte sich von dem Länder bis auf Frankreich setzten die Ent- Unfall in Schweizerhalle sehr viel schneller wicklung der Kernenergie aus. In Deutsch- erholt, als selbst die Optimisten es zu prog- land wurde nach langen und erbitterten nostizieren gewagt hätten. Die „Challenger“- Auseinandersetzungen das Projekt zur Wie- Katastrophe blieb bis auf ein weiteres Ereig- deraufbereitung von Nuklearabfällen aufge- nis die Ausnahme bei der Erkundung des geben. Später entschied die neue Regierung Weltraums. Gemäß dem Urteil der meisten unter Gerhard Schröder, aus der Kernenergie Toxikologen und Strahlenforscher hatte sogar ganz auszusteigen. der große Reaktorunfall von Tschernobyl we- sentlich weniger Opfer hervorgerufen, als es Die Kernkraft war aber nicht die einzige in der Öffentlichkeit dargestellt worden war. Technologie, die nach gründlicher Infrage- stellung durch Gegenexperten und Bürger- Von daher entpuppten sich nach Ansicht initiativen in Misskredit geriet. Es gab eine der Experten die scheinbar apokalyptischen überbordende Stimmung der Ablehnung ge- Ereignisse des Jahres 1986 lediglich als eine gen die chemische Industrie, Wiederaufberei- Episode in der Folge von tragischen, aber tungsanlagen von Abfällen, Straßenbauplä- letztlich unvermeidbaren Vorfällen – wie nen, Flughafenerweiterungen und schließlich Dammbrüche, Hurrikane, Fluten, Erdbe- auch der Inbetriebnahme erster Labors und ben und anderem. War damit das Ende der Produktionsanlagen zur Anwendung von „Risikogesellschaft“ eingeläutet? In der Tat Gentechnik. ❙5 Die magischen Begriffe der kehrten viele Experten zum alten Stil zu- späten 1980er Jahre waren „Dezentralisati- rück. Risikoabschätzung und -bewertung on“, „verbrauchernahe Versorgung“, „erneu- sollten sich wieder an der Produktformel von erbare Energien“, „ökologische Landwirt- Wahrscheinlichkeit und Ausmaß orientie- schaft“, „Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel“ ren und als Grundlage der staatlichen