Leseprobe

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© Appenzeller Verlag www.appenzellerverlag.ch Christine Doerfel Thomas Specker Markus Stromer

Die Autorin und die Autoren sind Mitglieder der Arbeits­ gemeinschaft Landschaft und Geschichte CH (AGLG)

Appenzeller Verlag

 Kastanienernte im Tessin 1906: Vor allem Frauen und Kinder be- sorgten im Sommer die anfallende Arbeit, während die Männer als Saisonarbeiter auswärts tätig ­waren.

heute nur noch auf Servicestellen in Hotels ihre besonderen Gebräuche. In diesen Tessiner und in der Autobahnraststätte von Piotta. Gemeinden ist der Anteil der Einheimischen Nicht nur Tessiner suchten Arbeit in ande- stark gesunken. Den auswärtigen Einfluss ren Regionen, es verschlug auch immer wieder kann man auch in der Landschaft beobach- Menschen von der Nordseite des Gotthards in ten. die Leventina. Sie kamen zum Arbeiten und Wetterte bereits Guido Calgari (1905– blieben für immer, wie es die Namen von In- 1969), Publizist und leidenschaftlicher Tessi- nerschweizer Geschlechter auf den Grabstei- ner, gegen Häuser und Villen im nordischen nen der Friedhöfe zeigen. Die Zuzüger arbeite- Stil, der «gegen die Linie der Landschaft ver- ten in den Fabriken im Tal, später im Touris- stösst», erlässt heute der Kanton Tessin Krite- musbereich. Sie waren Unternehmer (z. B. rien zur Beurteilung schützenswerter Bauten Glasfabrik Siegwart in ) oder Pensio- und Landschaften und ahndet illegale Um- nierte. All diese Menschen waren und sind je- bauten von Rustici (landwirtschaftliche Nutz- doch nicht in Bergbauernbetrieben und in der gebäude) mit Bussen. Trotzdem gehe es nicht Alpwirtschaft tätig. Nirgends in der Schweiz darum, die Rustici dem Verfall preiszugeben, ist der Bevölkerungsrückstand deshalb so auch nicht um deren museale Erhaltung, son- drastisch wie in einzelnen Tessiner Gebirgstä- dern um eine angepasste Sanierung, lautet Unterhalb der letzten Engstelle des Tessintals öffnet sich Treppe zwischen Faidàl und Perso- lern. Wir können diesen demografischen Wan- das Credo. Ställe, Heuschober und Käsekeller die Ebene der unteren Leventina. Erster Weinbau und nico, die zur Brücke über den Riale di Nèdro führt. del an der Vernachlässigung und schliesslich werden gerne in Ferienhäuser umgebaut. erste Industrieflächen prägen die Landschaft der Tal- der Aufgabe von bisherigem Kulturland im Ge- Wenn man zu Fuss unterwegs ist, erkennt man ebene. Auf teilweise kühnen Wegen wandern wir hoch lände erkennen: Kastanienselven und Alpwei- Fremdkörper rasch und wir können selber ur- über dem Tal nach Süden. den verbuschen, Nutzgebäude, ja ganze alpine teilen, ob es sich dabei um eine Verschande- Siedlungen verfallen. lung der Landschaft oder um «einfühlsame Während die abgelegenen Berggebiete ver- Übersetzung alpinen Nomadentums in mo- einsamen, fürchten andere Tessiner Regionen derne Mobilität» (Rahel Hartmann, im Hei- um die «Italianità», um ihre besondere süd- matschutz 1/99) handelt. schweizerische Kultur und Sprache sowie um

74 GIORNICO–BIASCA 75 Giornico Faidàl Personico Pasquerio Biasca 1200 m 1 1000 2 800 4 600 3

400 5 200 6

0 km 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 7 11 8

Länge der Etappe Übernachtungsmöglichkeiten 9 12,5 km Biasca: Einige kleine Hotels und Pensionen gerade beim Bahn- 10 Wanderzeiten hof, weitere südlich vom Zentrum. 13 Giornico– Personico 5 Std. 30 Min. Osteria del Porte, jenseits des unterhalb 14 Personico–Biasca 1 Std. 30 Min. der Steinbrüche 12 15 : 16 Ristorante Eden 17 Öffentlicher Verkehr Ristorante Giardinetto Bus: –Cornone, Posta, Hotel Stazione Lavorgo, Giornico Wirtschaften Öffentlicher Verkehr Personico: Bushaltestellen: Giornico Richtung Gotthard Grotto Val Ambra am Weg zum Kraftwerk ­weiter oben als Richtung Biasca. Bodio bei Ristorante Camoscio, Ristorante Personico Über Brücken und Treppenwege von Monti zu Monti der Tessinbrücke. In . In Biasca von der Biasca: ­Brennobrücke etwas Richtung Gotthard. Verschiedene Osterien und Bars im Zentrum und nahe Immer auf dem Wanderweg verlassen wir markiert. Bei einer Lichtung auf zirka 700 Me- beim Bahnhof Tourismus-Infos ­Giornico über die alte Brücke und gelangen ter mit einem fast neu gebauten Maiensäss mit www.leventinaturismo.ch Einkaufsmöglichkeiten nach wenigen Metern zur Kirche San Nicolao Ziegeldach (6) muss man darauf achten, den www.biascaturismo.ch Bodio: (1). Von der Kirche aus unterqueren wir die oberen Weg zu nehmen. Die nächste Wander- www.ticino-tourism.ch Coop Supermercato Bahnlinie und nach der kleinen Bachbrücke die wegmarkierung folgt erst nach gut 100 Me- Personico: Sehenswürdigkeiten Lebensmittelladen bei der Brücke im Zentrum Autobahn. tern. Biasca: Der steile Aufstieg bis zu den ersten Monti Beim Maiensäss Magianengo (7) führt die Kirche SS. Pietro e Paolo mit Fresken. «Catto» (3) ist nicht zu verfehlen. Von hier ist unauffällige Wanderwegmarkierung oberhalb ein kurzer Abstecher auf dem Wanderweg zur der untersten Häuser durch. Nach dem Bach mittelalterlichen Sperrmauer (4) möglich. steigt der Weg wieder stärker an. Nach der Brücke über die Cramosina (5) Auf halbem Weg bis Faidàl sollte man in nehmen wir weiter den Wanderweg, der hier einer scharfen Rechtskurve mit einer undeut- zunächst einen steilen Anstieg macht. Weiter lichen Wanderwegmarkierung auf einem gros- südlich ist der Wanderweg nicht immer gut sen Stein (8) aufwärts gehen, da man sonst in

76 GIORNICO–BIASCA GIORNICO–BIASCA 77 16 17 Erste Weinberge 19 21 20 Auf unserm Weg aus Giornico hinaus durchqueren wir 18 die «Campagna» des Ortes, also das Gebiet der Acker- felder beidseits des Fòuda. Heute werden vor allem Wein- berge gepflegt. Eine klare Trennung von Siedlungs- und Landwirtschaftsgebiet gibt es nicht, denn wichtige alte Siedlungskerne wie das Kastell und die beiden Kirchen San Michele und San Nicolao verteilen sich auf die Hügel einer kleinen Lichtung vor einem verschlos- Wir folgen der als Wanderweg markierten westlich des Ticino. senen Tor steht. Wir erreichen mit Faidàl (9) Strasse nach Südosten. Vorbei an der Wegka- Besonders sehenswert ist die im frühen 12. Jahrhun- den höchsten Punkt der Etappe. pelle und den Resten der Glasfabrik (16) errei- dert gebaute Kirche San Nicolao (1), eine der bedeutends- Bis wenig oberhalb von Personico verlassen chen wir das Kraftwerk (17). ten romanischen Kirchen des Tessins. Sie ist ein Meister- wir den markierten Wanderweg nicht mehr. Das Kraftwerksareal umgehen wir auf der werk der Baukunst mit Granitstein. Nach einem längeren Abstieg auf dem alten Teerstrasse. Gleich nach der Brücke biegen wir Die Fòuda überqueren wir auf einer Steinbogenbrücke, Weg folgt eine grössere Strecke auf dem als auf den linken (nordöstlichen) Uferdamm. welche nach dem Stil des Mauerwerks aus dem späten Fahrstrasse ausgebauten Weg. Dann biegen Kurz vor dem Gittersteg über den Ticino 19. Jahrhundert stammt. In die Brüstung wurde ein Stein wir nahe der Wegkapelle – immer noch auf kann die Etappe abgekürzt werden: dem Wan- der Vorgängerin mit der Jahrzahl «1759» eingebaut. dem markierten Wanderweg und vor dem Sei- derweg nach links (Osten) bis zur Hauptstrasse Im Gegensatz zu vielen Teilen der Leventina verfügte tenbach – wieder auf den alten Weg ein, der in und Bushaltestelle folgen. Giornico über eine grosse, hochwassersichere und gut Serpentinen abwärts führt (12). Bei der Einmündung des Brenno unterque- besonnte Fläche mit reichlich Ackerland. An ihrem süd- Nachdem wir den Seitenbach mit einer na- ren wir auf dem Wanderweg die Autobahn und westlichen Rand liegen die Grotti von Giornico (2) ein türlichen Felsenfurt überquert haben, errei- die NEAT. Dann verlassen wir aber den Wan- wichtiger Teil der Wirtschaftsinfrastruktur der Talstufe chen wir über eine kurze Steintreppe die ge­ derweg und biegen gleich rechts (nach Wes- (vgl. S. 88–90). Im steilen Talhang auf der Nordostseite Links: Die Kirche San Nicolao in teerte Fahrstrasse. Dieser folgen wir noch zirka ten) ab und folgen immer dem Brenno. Der oberhalb des Ortes zeichnet sich deutlich die Selven- und Giornico, Südfassade. 30 Meter abwärts und verlassen schräg links Weg (18) ist zunächst gewöhnlicher Flurweg, Laubwaldstufe ab, darüber die Maiensässe, gefolgt vom Rechts: Mauer, die zugleich den den Wanderweg, denn nur wenig unterhalb dann nach einer weiteren Strassenunterfüh- höher gelegenen dunklen Nadelwald und den Alpen. Weg begrenzt und einen Rebberg der Teerstrasse verläuft parallel ein alter Weg rung Wiesenweg. Wir unterqueren die alte Diese Gebiete gehören zur selbständigen Gemeinde stützt. (13). Wir folgen diesem, überqueren einmal Gotthardbahn, dann die moderne Brennobrü- die Teerstrasse und erreichen kurz vor dem cke und erreichen über eine Eisentreppe die Waldrand wieder den Wanderweg. Bei der alte Brennobrücke von 1813 (19) und wieder Anlage mit dem imposanten alten Monolith- den Wanderweg. Nach der Brücke und zirka brunnen (15) geht es auf dem Wanderweg 140 Meter auf der Hauptstrasse Richtung Bi- links bis zur Hauptstrasse. asca empfiehlt es sich, den Wanderweg nach Wer die Etappe abkürzen will, bleibt nach rechts (Süden) wieder zu verlassen, nach zirka der Steintreppe auf dem Wanderweg und folgt 30 Metern gleich wieder nach links in das alte dem Wegweiser Richtung Bodio zur Postauto- Strässchen (20) (Via Case Sulgoni) einzubie- haltestelle, welche gleich jenseits der Brücke gen und diesem zu folgen. Wir queren die Via liegt. Parallela und erreichen geradeaus das Orts- zentrum (21).

78 GIORNICO–BIASCA GIORNICO–BIASCA 79 cke sehen. Auf ihr überquert der Oberwasserkanal des Biascina-Kraftwerks von 1911 (11) die Schlucht. Wir befinden uns nun auf einer der von Fluss und Gletschern geschaffenen Talschultern. Sie wird nach Sü- den allmählich breiter und flacher und auch die Lich- tungen und Kastanienselven um die Maiensässe wach- sen. Oft können wir schon früh erkennen, dass wir uns einer Monti-Siedlung nähern: Der Wald wird lichter, es gibt mehr und grössere Kastanienbäume. Die kleinen Lichtungen sollten uns nicht täuschen: Noch in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts wären wir hier in einer offenen Selvenlandschaft gewandert. Viele Lichtungen sind bereits gänzlich zugewachsen. Daher können wir immer wieder im Wald Gebäuderuinen sehen. Der allmählich zuwachsende Wald besteht vor allem aus Birken, den immer neu ausschlagenden Kastanien und sehr vielen Rottannen (Fichten), welche eigentlich Der Wegaufstieg mit einer Kurve, . Das Gemeindegebiet von Giornico selber zur höheren Waldstufe gehören. So gehen wir öfters auf die sorgfältig mit breiten, gepfläs- dehnt sich auf unserer Talseite bis ins Alptal «Val Cramo- einer kuriosen Mischung von Kastanien, Kastanienscha- terten Stufen angelegt ist. sino» aus. Der steile Anstieg bis Catto und Monda (3) len und Tannzapfen. Nicht alle Tannen sind jung; einige Links: Mächtiger Kastanien- bildete also die zentrale Erschliessung dieser wichtigen mächtige Exemplare lassen uns erkennen, dass den Tan- baum mit hohlem Stamm beim Gebiete. Er wurde aufwendig mit vielen Treppenstufen, nen schon immer ein gewisser Platz im Wald gelassen «Caslasc».

Pflästerungen und in den Felsen geschlagenen Tritten wurde, denn sie lieferten schnell wachsendes, langes Rechts: Die ganze Lichtung angelegt und unterhalten. Am Ende des Steilaufstiegs Bauholz. Im sonnigen Gegenhang liegen die Siedlungs- «Magianengo» ist durch eine bis steht, wie so oft, eine Wegkapelle. stufen deutlich höher; dort sehen wir über uns noch zwei Meter hohe Mauer umfasst Wahrscheinlich bildete dieser Weg einst auch eine Va- grosse Dauersiedlungen. und der Länge nach mit einer zweistufigen Terrassierung ge- riante des Gotthardweges. Auf der Höhe von Catto treffen In dieser offenen Selvenlandschaft wurde jeweils um trennt. Zwischen den beiden Ter- wir nämlich auf einen älteren Wegverlauf von Chironico die Maiensässe die Fläche der «Campi» mit Zäunen und rassenmauern verläuft der Weg. her, der bei «Caslasc» (4) von einer mächtigen Trocken- mauer gesperrt wird – ein deutlicher Hinweis auf einen im Mittelalter wichtigen Weg. Die Sperrmauer wird in der Überlieferung als «langobardisch» bezeichnet; viel wahrscheinlicher ist aber eine hochmittelalterliche Da- tierung. Bis oberhalb von Personico werden wir uns meistens auf dieser Wegverbindung bewegen. Bei Catto verzweigt der Weg ins Val Cramosino, wo die Alpen liegen; zwischen Catto und Monda überqueren wir die tiefe Schlucht der Cramosina auf einer Bogenbrücke (5). Sie ist undatiert, stammt wohl aus der Zeit vor 1800. Unten in der Schlucht können wir eine weitere Bogenbrü-

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