156. Neujahrsblatt, 2016 Herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen

ANDREAS KNEUBÜHLER ARNE ENGELI BETTINA DYTTRICH CHRISTIAN HUBER ESTHER MEIER HARRY ROSENBAUM HEINRICH ZWICKY IRIS BLUM JOHANNES HUBER KASPAR SURBER MARCEL ELSENER

MARINA WIDMER MAX LEMMENMEIER MICHAEL WALTHER PATRICK ZILTENER PIUS FREY RALPH HUG REA BRÄNDLE RENÉ HORNUNG RICHARD BUTZ RUEDI TOBLER WOLFI STEIGER 156. Neujahrsblatt Herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen

Aufbruch Neue Soziale Bewegungen in der Ostschweiz

Rückblicke 2015

Archäologie – Denkmalpflege – Jahresberichte Vereine

St. Gallen 2016 Folgende Institutionen haben die Herstellung des 156. Neujahrsblattes des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen (2016) grosszügig unterstützt:

Impressum

© 2016, Historischer Verein des Kantons St. Gallen

Konzept Hauptteil (Neue Soziale Bewegungen): Marina Widmer, Leiterin Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz, St. Gallen Lektorat/Redaktion Gesamtblatt: Prof. Dr. Johannes Huber, St. Gallen Lektorat/Redaktion Hauptteil (Neue Soziale Bewegungen): Marina Widmer, Jolanda Schärli Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind die Autorinnen und die Autoren verantwortlich.

Auflage: 1 000 Exemplare Satz, Druck und Lithos: Toggenburger Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Auslieferung, Bezugsstelle: Toggenburger Verlag, CH-9103 Schwellbrunn, www.toggenburgerverlag.ch ISBN: 978-3-908166-76-4 ISSN 0257-6198 Inhalt

Neue Soziale Bewegungen 7 Marina Widmer: Einleitung

10 Johannes Huber: 68 bewegt die Welt, die Schweiz – und St. Gallen

14 Max Lemmenmeier: «Es ist unsere moralische Pflicht, für die Entrechteten und Unterdrückten einzustehen.» Zur Tätigkeit der Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen (Ostschweiz), 1963–2009

22 Ralph Hug: 68 in St. Gallen: Die «Aktion Rotes Herz» und ihre Folgen

27 Johannes Huber: «Aktion Rotes Herz» + 46 Jahre. Beteiligte, Quellen und Darstellungen im Diskurs

44 Richard Butz: Kaeser, Weil, «Kaktus», Comics, «Comedia», Druckerei Baumgardt (Schwalbenverlag). Progressiver Buchhandel und eine «linke» Druckerei in St. Gallen

47 Pius Frey: «Rote Steine» und autonome Kreise in den 1970er-Jahren in St. Gallen

51 Harry Rosenbaum: Operation «Roter Gallus». Von der unheiligen Allianz zwischen Militär und Justiz im Kalten Krieg

57 Arne Engeli: Das Evangelische Tagungszentrum Schloss Wartensee als Impulsgeber, Begegnungs- und Vernetzungsort

66 Ruedi Tobler: Arbeit am Rande – mit Blick über den Tellerrand hinaus Friedensbewegte in der Ostschweiz

74 Esther Meier: «Wer A-tomkraft sagt, muss auch B-drohung sagen!» Die Anti-AKW-Bewegung in der Ostschweiz

79 René Hornung: Homosexuelle Arbeitsgruppe St. Gallen, HASG Politik, Partys und Coming-out-Hilfe

84 Harry Rosenbaum: Reformbewegung für den Strafvollzug und das Heimwesen

85 Rea Brändle: Das Wunder und die Ochsentour Circus Pic-o-Pello/Südumfahrung

92 Wolfi Steiger: Das autonome Jugendzentrum an der Gartenstrasse

95 Iris Blum: Gezähmte Natur und wilde Kultur: Das Ökozentrum des WWF in Stein (AR)

99 Andreas Kneubühler: «Posthalle», «Bündnerhof», «Engel» und dazwischen ein bisschen «Volkshaus»

103 Ralph Hug: Die Anti-Spekulations-Bewegung der frühen 1980er-Jahre

106 Patrick Ziltener: «Teil einer breiten internationalen Überlebensbewegung». Entstehung und Entwicklung der Grünen in St. Gallen, 1983–1989

120 Pius Frey: Die St. Galler Anti-Apartheid-Bewegung 124 Christian Huber: Solidarität statt Abwehr. Das Asylkomitee und der CaBi Antirassismus-Treff in St. Gallen im Zeichen der Flüchtlingshilfe

131 Wolfi Steiger: Alternativ und unabhängig: die «GraZ»

134 Kaspar Surber: «Wir fischen uns ein Geschenk» Die Hechtbesetzung 1988/1989

138 Michael Walther: Neuchlen-Anschwilen und «40 Waffenplätze sind genug» – eine Bewegung kämpft mit vielfältigen Mitteln gegen einen Waffenplatz

145 Arne Engeli: Der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – eine ökumenische Aufbruchbewegung

150 Bettina Dyttrich: Vernetzt bis nach Belgien Die Wiler Jugendkultur und die Remise

152 Heinrich Zwicky: Soziale Bewegungen und Mobilisierungsereignisse im Linthgebiet, 1970–2000

155 Marcel Elsener: Revolutionäre Zellen im Seehofquartier. Soziale Bewegungen in Rorschach in den 1970er- und 1980er-Jahren

159 Soziale Bewegungen: Gruppen und Projekte von den 1970er-Jahren bis heute

161 Autorinnen- und Autorenspiegel

Kantonsarchäologie St. Gallen Martin Peter Schindler: Jahresbericht 2015 163

Kantonale Denkmalpflege St. Gallen Michael Niedermann: Jahresbericht 2015 177 Fokus Aussenraumgestaltung: Ein Gespräch mit den St. Galler Landschaftsarchitekten Tobias Pauli und Susanna Stricker 182

Jahresberichte 2015 der regionalen Geschichtsvereine Peter Müller: Kulturhistorischer Verein der Region Rorschach 189 Werner Kuster: Verein für die Geschichte des Rheintals 190 Paul-Josef Hangartner: Museumsgesellschaft Altstätten 192 Susanne Keller-Giger: Historisch-heimatkundliche Vereinigung der Region Werdenberg (HHVW) 194 Mathias Bugg: Historischer Verein Sarganserland 197 Heinrich Speich: Geschichtsfreunde vom Linthgebiet 200 Ernst Grob: Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde (TVH) 203 Hans Vollmar: Kunst- und Museumsfreunde Wil und Umgebung 206 Alois Ebneter/Urs Schärli: MUSA Museen SG 210 Markus Frick: Genealogisch-Heraldische Gesellschaft Ostschweiz 212 Marina Widmer: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz 214

Daniel Studer: Historischer Verein des Kantons St. Gallen 216

Verzeichnis bisheriger Neujahrsblätter 219 Aufbruch Neue Soziale Bewegungen in der Ostschweiz

Andreas Kneubühler Arne Engeli Bettina Dyttrich Christian Huber Esther Meier Harry Rosenbaum Heinrich Zwicky Iris Blum Johannes Huber Kaspar Surber Marcel Elsener Marina Widmer Max Lemmenmeier Michael Walther Patrick Ziltener Pius Frey Ralph Hug Rea Brändle René Hornung Richard Butz Ruedi Tobler Wolfi Steiger

156. Neujahrsblatt, 2016 Herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen

Einleitung

Marina Widmer

Weit ab von den grossen Zentren, aber am Weltgeschehen on, die in Europa die politischen und gesellschaftlichen teilhabend, sind auch in der Ostschweiz meist junge Men- Verhältnisse nachhaltig verändert hat. Oder denken wir schen Teil des internationalen Aufbruches, der bereits in an die Arbeiter-, die frühe Frauenbewegung, an die anar- den 1960er-Jahren seinen Anfang nimmt. Der wirtschaft- chistischen Gruppen oder auch an Friedensbewegungen, liche Aufschwung gelingt in dieser Zeit mit Hilfe der vie- die bereits im 19. Jahrhundert entstanden sind und die für len Gastarbeiter und -arbeiterinnen, und die an sich arme eine andere, gerechtere Welt gekämpft haben. Als Neue Schweiz beginnt sich in ein reiches Land zu verwandeln. Soziale Bewegungen gelten die Bewegungen ab 1968, die Die gesellschaftlichen Formen und die politischen Ver- in unterschiedlichen organisatorischen Formen, ausser- hältnisse indes bleiben starr. Der Kalte Krieg ist bis zum halb von etablierten politischen Parteien, themenspezi- Ende der 1980er-Jahre allgegenwärtig und prägt die poli- fisch und unkonventionell mit symbolischen und konkre- tischen Auseinandersetzungen international, national bis ten Aktionen in die politischen und gesellschaftlichen in die lokalen Begebenheiten. Erst mit dem Zusammen- Diskurse eingegriffen haben. Die Neuen Sozialen Bewe- bruch der realsozialistischen Länder verschwindet er von gungen stellen die gesellschaftlichen Verhältnisse grund- einem Tag auf den anderen. sätzlich in Frage.

Weltweit ist ab Mitte der 1960er-Jahre ein Aufbruch ge- Der Aufbruch wird in den 1960er-Jahren zuerst kulturell gen festgefahrene Verhältnisse zu spüren. Die Erfahrung wahrgenommen. Er führt vorerst zu Diskussionen, später des Zweiten Weltkriegs führt dazu, dass die Idee des Völ- zu Protesten, Demonstrationen, Aktionen, zur Politisie- kerbundes wieder aufgegriffen wird. Für den Frieden und rung des Alltags und dem Bruch mit den bürgerlich- um individuell Menschen zu schützen, wird 1945 die kulturellen Werten. Eine bessere und gerechtere Welt UNO gegründet und drei Jahre später die Menschen- wird eingefordert. Hanspeter Hädener erinnert sich, dass rechtserklärung verabschiedet. Weltweit entstehen in den die gesellschaftlichen Veränderungen ab Mitte der 1960er- Kolonien Befreiungsbewegungen. In vielen Ländern füh- Jahre auch in St. Gallen zu spüren waren. 1965/1966 treten ren sie indes zum Krieg, weil die westlichen Länder nicht die Rock-Band Jimmy and the Rackets, die Beat-Band bereit sind, die Kolonien aufzugeben. Es gibt Diktaturen, Casey Jones and the Governors und die Sauterelles mit ungerechte und festgefügte politische Verhältnisse. Statt Toni Vescoli in St. Gallen im Schützengarten und ein Jahr Frieden gibt es Kriege, und die Einhaltung der Men- später die Rock-Band Pink Floyd in der Coca-Cola-Halle schenechte kommt nur langsam voran. Es ist eine Welt, in Abtwil auf. Das Publikum erscheint damals noch in in der sich junge und junggebliebene Menschen nicht Krawatten, aber die Musik reisst alle mit. Die informelle wiedererkennen. Die Widersprüche veranlassen sie, sich Gruppe um Hanspeter Hädener schaut sich Filme von eine andere Welt zu wünschen, sich einzumischen und Fellini, Pasolini, Antonioni, aber auch von Schweizer sich für Veränderungen einzusetzen. Gesellschaftskriti- Filmschaffenden wie Godard und Tanner an. Sie diskutie- sche Theorien wie der Marxismus und die kritische Theo- ren in der Gruppe über Theater, zum Beispiel über das rie erleben darum ab den 1960er-Jahren eine Hochkon- Werk «Publikumsbeschimpfung» von Peter Handke. Sie junktur. treffen sich jeweils am Freitag- und am Samstagabend im «City» oder «Iris». An sich sind soziale Bewegungen nichts Neues. Gesell- schaftliche Aufbrüche gehören zur Geschichte. Zuweilen entstanden Revolutionen wie die Französische Revoluti- Die sozialen Bewegungen in der Ostschweiz

Auf dem Hintergrund weltweiter Ereignisse entsteht die 1968er-Bewegung, die in verschiedenen Ländern ihre

1 Im Interview mit Hanspeter Hädener, 25.10.2010. Hanspeter Ausprägung fand; der Beitrag von Johannes Huber be- Hädener gründet mit anderen zusammen anfangs der 1970er- leuchtet schwerpunktmässig Ereignisse, die 1968 Schlag- Jahre die Progressive Organisation St. Gallen, eine Sektion der zeilen gemacht haben. Bereits in die erste Hälfte der Progressiven Organisation Schweiz, POCH. 1960er- Jahre fällt die Gründung der Liga für Menschen-

7 rechte Ostschweiz, die, als eine Sektion der Ligue suisse Artikel einen Überblick zu den Aktivitäten zum Thema des droits de l'Homme, sich zum Ziel setzt, die Men- Frieden und zeigt dabei, wie das Thema in unterschiedli- schenrechte einzufordern, dazu der Beitrag von Max chen Zusammenhängen, Gruppen und Bewegungen auf- Lemmenmeier. Mit 1968 wird neben der Kritik an der genommen worden ist. kapitalistischen Wirtschaft auch die soziale bürgerliche Ordnung in Frage gestellt, die als autoritär empfunden Die Anti-AKW-Bewegung, die gegen den Machbarkeits- wird. In der Folge entstehen viele Initiativen für eine wahn antritt, gilt als eine der typischen Neuen Sozialen anti-autoritäre Erziehung. Die Antwort auf die als verlo- Bewegungen. Esther Meier zeigt sie am Beispiel der Ost- gen empfundene Doppelmoral sind freiere sexuelle Bezie- schweiz. Ein Beispiel, wie mit neuen Aktionsformen ge- hungen und der offenere Umgang damit. Der Skandal an gen Strassenbauprojekte protestiert wird, beschreibt Rea der Kantonsschule St. Gallen mit dem darauf folgenden Brändle mit dem Widerstand gegen das Strassenbaupro- Protest «Aktion Rotes Herz», der schweizweit zur Kennt- jekt Südumfahrung in St. Gallen. nis genommen wird, zeigt deutlich, wie weit auseinander die Moralvorstellungen klaffen. Ralph Hug hat die Ereig- 1980 löst eine neue Generation die so genannten Jugend- nisse aufgearbeitet und Johannes Huber hat die Folgen unruhen aus, die, wie in Zürich, Berlin oder Amsterdam, dieses Skandals anhand der damals Betroffenen und der autonome Zentren und Freiräume ausserhalb der staatli- Aktivisten bis heute verfolgt. Schlägt 1969/1970 die «Ak- chen Strukturen fordern. Allein der Titel des Filmes «Züri tion Rotes Herz» hohe Wellen, indem sie ein nationales brennt» zeigt die Intensität des neuen Aufbruchs, der Echo hervorruft, so tut dies anfangs der 1970er-Jahre die auch in St. Gallen zu spüren ist. Die politische Ordnung, Zeitung Roter Gallus. Der Konflikt wird sogar in Über- unterteilt in links und rechts, ist noch immer omniprä- see, in New York, wahrgenommen. Das im Roten Gallus sent. Dies zeigt anschaulich der Beitrag von Wolfi Steiger abgedruckte Borchert-Zitat «Dann gibt’s nur eins: Sag zum «Autonomen Jugendzentrum AJZ» in St. Gallen. Nein!» führt zur Anklage wegen Aufruf zu militärischem Wie es einen Zugang zu kritischer Literatur braucht, sind Ungehorsam. Harry Rosenbaum zeichnet den Konflikt soziale Bewegungen ohne Treffpunkte nicht vorstellbar. nach. Andreas Kneubühler wirft in seinem Beitrag einen Blick auf die Genossenschaftsbeizen, die im Zug der 1980er- Gesellschaftliche Veränderungen geschehen nicht im luft- Bewegung aufgebaut werden. Im gleichen Zeitraum ent- leeren Raum. Über den Zugang zu kritischer Literatur in stehen viele kulturelle Projekte auch in St. Gallen. So der Stadt St. Gallen und die Möglichkeit, Alternatives zu wird beispielsweise die Grabenhalle erstritten. Junge, an drucken, berichtet Richard Butz. Der gesellschaftliche Filmen Interessierte bauen das Kino K59, heute Kinok, Aufbruch dauert noch bis weit in die 1970er-Jahre hinein. auf. In den Regionen entstehen alternative Gastbetriebe Neben den Protesten gegen Überwachung werden neue wie das Rössli in Mogelsberg, das Landhaus in Rehetobel, Lebens- und Arbeitsformen ausprobiert, dazu der Beitrag die Löwen Arena in Sommeri. Einen Einblick in diese zur mobilen Kommune Rote Steine von Pius Frey. Die Szene gibt Iris Blum mit dem Beitrag zur «Rose Stein», Infragestellung der gängigen Moralvorstellungen erleich- die neben dem Gastbetrieb auch ein Ökozentrum ist. In tert es auch, sich gegen die Diskriminierung gleichge- seinem Beitrag über die Entstehung der «Grünen» in schlechtlicher Beziehungen einzusetzen. René Hornung St. Gallen zeigt Patrick Ziltener symbolische und politi- erinnert an dieses Engagement. Der Aufbruch und die sche Aktionen inner- und ausserhalb des Parlaments wie Dynamik der sozialen Bewegungen sind ebenfalls in auch das nicht nur grüne Lebensgefühl in den 1980er- kirchlichen Kreisen spürbar. Gleichzeitig wird die Wir- Jahren. Die Hausbesetzungen gegen die Wohnungsnot kungsweise der sozialen Bewegungen jenseits ihrer Or- und Spekulation in den 1980er-Jahren ist Thema im Bei- ganisationsformen sichtbar, wie sie auf bestehende Struk- trag von Ralph Hug. Mit dem Beitrag von Pius Frey zur turen wirken und diese in Bewegung versetzen. Arne En- Anti-Apartheid-Bewegung in St. Gallen ab 1985 wird eine geli schreibt darüber in seinem Artikel über die Bildungs- Solidaritätsbewegung porträtiert. Mit der innenpoliti- stätte Wartensee, die nach dem Zweiten Weltkrieg schen Solidarität befasst sich der Artikel von Christian gegründet worden ist. Diese nimmt ab den 1970er-Jahren Huber zur Asylbewegung, die Mitte der 1980er-Jahre be- viele Themen der sozialen Bewegungen an ihren Tagun- ginnt. gen auf. Ein weiterer Aufbruch erfolgt innerhalb der Kir- chen 1987 mit der «Ökumenischen Bewegung für Gerech- Zum alternativen Zeitungsprojekt «Grabenzeitung» tigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung». Die 1988–1993, das politische und Tabu-Themen aufgreift, Friedensbewegung gehört strenggenommen nicht zu den schreibt Wolfi Steiger. Eine spektakuläre Aktion findet Neuen Sozialen Bewegungen, denn sie hat bereits eine mit der Besetzung des Hotels Hecht mitten im Stadtzen- längere historische Tradition. Neue und militantere Akti- trum 1988/1989 in St. Gallen statt, die Fortschritte in der onsformen gehen indes auf den Einfluss der Neuen Sozi- Drogenpolitik auslöste, wie der Beitrag von Kaspar Sur- alen Bewegungen zurück. Ruedi Tobler gibt in seinem ber zeigt. Eine breite Bewegung löst der Widerstand ge-

8 gen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen anfangs der über Wil durchs Tösstal zog. Am Schluss des Hauptteiles 1990er-Jahre aus. In dieser Bewegung kommen die ver- ist ergänzend eine Liste angefügt mit Projekten, Gruppen schiedensten Formen des Widerstands zum Ausdruck: und Bewegungen, die aktiv waren und es zum Teil noch von der gewaltfreien Opposition mit Camps und Aktio- sind. nen bis zu dem im Verein organisierten Widerstand, der mit dem Mittel der Initiative gegen den Waffenplatz Nicht Thema dieses Neujahrsblattes ist die Neue Frauen- Neuchlen-Anschwilen kämpft. Gemeinsam organisieren bewegung, da bereits im Jahr 2005 ein Neujahrsblatt dazu sie Demonstrationen, Sommeruniversitäten und eine ei- erschien. Ebenfalls nicht präsent sind in diesem Neujahrs- gene Zeitung. Der soziale Aufbruch ist bis in die Regio- blatt die Bewegungen und Organisationen der Migranten nen spürbar, dazu die Beiträge von Marcel Elsener für die und Migrantinnen; deren Geschichten müssten in einem Stadt Rorschach der 1970er-Jahre und Bettina Dyttrich weiteren Blatt dargestellt werden. zum Aufbruch in Wil in den 1980er- und 1990er-Jahren. Heinrich Zwicky gibt einen Überblick der vielfältigen Be- wegungen im Linthgebiet ab den 1970er-Jahren.

Während in der Soziologie fast in Echtzeit zu den sozialen Bewegungen geforscht und debattiert wurde, blieb in der Schweiz die historische Forschung in diesem Bereich merkwürdigerweise lange stumm. Die Neuen Sozialen Bewegungen sind erst in letzter Zeit in den Fokus der hie- sigen historischen Forschung gelangt. Dieses Neujahrs- blatt trägt zur Geschichte der Neuen Sozialen Bewegun- gen bei.

Zur Auswahl der Themen

Ausgehend von Gruppen und Projekten, die zu den sozi- alen Bewegungen oder deren Weiterentwicklung gezählt werden können, hat das Archiv für Frauen-, Geschlech- ter- und Sozialgeschichte, ausgehend von einer Liste, His- torikerinnen und Historiker, ehemalige Aktivisten und Aktivistinnen, Journalisten und Journalistinnen, Auto- rinnen und Autoren um Beiträge angefragt. Ausschlagge- bend waren die Zeit und das Interesse, am Thema und an dieser Publikation mitzuarbeiten. Es sind also nicht nur Historiker und Historikerinnen, die hier geforscht haben. Auch ehemalige Aktivisten schauen mit einem Abstand von mehreren Jahrzehnten auf die damalige Zeit zurück. Während der Erarbeitung dieses Neujahrsblattes ist eini- ges untergegangen und anderes leider nicht zustande ge- kommen. So fehlen doch einige Beiträge zu wichtigen Formen des Aufbruchs. Namentlich erwähnen möchte ich da die Dritte-Welt-Laden-Bewegung (heute: Claro- Laden), die Entstehung linker Parteien im Zuge der 1968er-Bewegung, wie z.B. der POCH, der 1980 gegrün- dete Genossenschaftsladen (heute: Stadtladen) in St. Gal- len, die Zentralamerikagruppe St. Gallen, die Komitees gegen Überwachung und Schnüffelstaat, im Kulturbe- reich die alternativen Kinos und regionalen Kleintheater wie das Chössitheater in Lichtensteig und das fabbriggli in Buchs. Nicht unerwähnt lassen möchte ich den Hin- weis von Anton Heer, als Beispiel einer kleinerer Aktion, der vom Projekt Tzigane berichtet, bei der eine Gruppe mit Ross und Wagen 1978 gegen AKWs vom Thurgau

9 68 bewegt die Welt, die Schweiz – und St. Gallen

Johannes Huber

Viele der Neuen Sozialen Bewegungen, wie sie in diesem Vietnamkrieg (1955–1975), in dem die Vereinigten Staaten Neujahrsblatt mikro-historisch mit Blick auf die Ost- zu einem aggressiven Akteur geworden waren. US-Präsi- schweiz vorgestellt werden, haben eine oder sogar ihre dent Lyndon B. Johnson (1908–1973) liess ab 1965 den Wurzel in den Ereignissen des Jahrs 1968. Obgleich ein kommunistischen Norden bombardieren. Das brutale bestimmtes Jahr der 68er-Bewegung, eines im Übrigen Vorgehen einer Supermacht gegen den asiatischen Agrar- weitgefächerten geschichtlichen Komplexes, Prägung und staat führte in den USA zu heftigen Protesten. Hinzu kam Bezeichnung verliehen hat, liegen die Ursachen dieser in hier die nach wie vor ungelöste Rassenfrage. Sie erreichte vielen Teilen der Welt wahrgenommenen Form des Pro- am 4. April 1968 mit der Ermordung des Bürgerrechtlers testes zeitlich breiter gestreut. Als Modernisierungskrise und Theologen Martin Luther King (1929-1968) einen begann die Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg. In neuen Höhepunkt der Gewalt. Mord und Totschlag aus den 1950er-Jahren legte sie an Dynamik zu. 1968 häuften politischen Gründen sowie Gewalt und Aggression dran- sich die Brüche und Widersprüche in Politik und Gesell- gen als extreme Muster einer vermeintlichen Problemlö- schaft. Die Folge davon waren Reaktionen in unterschied- sung auch nach Europa vor. lichster Form. Westdeutschlands Jugend glitt bei einer unverarbeiteten Die Massierung weltgeschichtlicher Ereignisse wirkte Vergangenheit (Nazi-Zeit) und dem unreflektierten Rausch sich 1968 eskalierend aus, was zu teils heftigen Protesten der Aufbau- und Wohlstandsgesellschaft (Wirtschaftswun- vor allem in der westlichen Welt führte. Träger der Re- der) in einen spannungsgeladenen Generationenkonflikt. volte waren zumeist jüngere Menschen, oftmals Studen- Der Übergang vom faschistisch-militärisch geprägten Ob- ten und Studentinnen. Viele von ihnen ordneten sich rigkeitsstaat zu einer freiheitlich-demokratischen Gesell- selbst dem linken Spektrum zu. Auch die bürgerlich ge- prägte Aussensicht der Elterngeneration verortete die Bewegung politisch auf dieser Seite. Viele der in der eu- ropäischen Bewegung praktizierten Protestformen fan- den ihr Vorbild in den USA. Dort waren Bürgerrechtsbe- wegungen (Civil Rights Movements) schon seit Jahren aktiv und spielten gesellschaftlich eine wichtige Rolle. In vielen Ländern, in denen es zu Protesten kam – die Be- wegung war zwar transnational, aber nie weltumspan- nend –, waren dafür wirtschaftliche und gesellschaftliche Fehlentwicklungen mitverantwortlich. Eine anhaltende Tabuisierung tagesaktueller Fragen, darunter die Verwei- gerung einer Aufarbeitung jüngster geschichtlicher Er- eignisse (1939–1945), verstärkte den Gärungsprozess. Im spezifischen Staatenblick ist es wichtig, jeweils allgemei- ne von speziellen Ursachen zu unterscheiden. Vor allem Am 28. August 1963 erreichte in den USA die Bürgerrechtsbewe- Letztere bewirkten, dass 68 auch in der Provinz als ein gung der Afroamerikaner ihren Höhepunkt. Rund 250 000 Men- gesellschaftsveränderndes Ereignis Eingang fand und schen versammelten sich in Washington D. C. vor dem Lincoln wahrgenommen wurde. Memorial und hörten Martin Luther Kings Rede «I Have a Dream» («Ich habe einen Traum»). Die Rede richtete sich gegen die Rassen- Manche der Konflikte, auf die 1968 im Besonderen Bezug diskriminierung und sprach sich für ein neues Amerika aus. King genommen wurde, sind aus dem Kalten Krieg (West-Ost- wurde 1964 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. 1968 verübte in Konflikt) hervorgegangen. Nach der Kubanischen Revo- Memphis (USA) ein mehrfach vorbestrafter Rassist einen tödlichen lution (1959) war das Schlüsselereignis in den USA der Anschlag auf den Bürgerrechtler. Quelle: www, public viewing.

10 Vor westlichen Reportern erschiesst 1968 der südvietnamesi- sche General und Polizeichef von Saigon, Nguy n Ngo. c Loan (1931–1998), den Vietcong-Angehörigen Nguy n Va˘ n Lém. Seitdem die Amerikaner im Vietnamkonflikt eine aktive Rolle übernommen hatten, prägten Exzesse der Gewalt wie dieser zunehmend das Bild von der Supermacht. Vor allem im Westen ernteten die Vereinigten Staaten ob ihrer Mitverantwortung für die Menschenrechtsverletzungen massive Kritik. Der Viet- namkrieg gilt als eine der wesentlichen Ursachen der 68er- Bewegung. Quelle: www, public viewing. schaftsentwicklung war nach 1945 nicht bruchlos geglückt. der Bewegung die alternative Lebensform suchten (z.B. Die gescheiterte Entnazifizierung begann, das Klima zu 1967–1969 die «Kommune I in Berlin»), radikalisierten vergiften. Die Demokratisierung der Bildung mischte die sich andere Teile (dazu gehörten in der BRD auch die spä- universitäre Elite auf und brachte Kommiliton(inn)en ein- teren Gründermitglieder der terroristischen «Rote Armee ander näher. Die Überbelegung der Hochschulen, aber Fraktion» [RAF]). auch ungezwungenere universitäre Modelle (z. B. die Freie Universität Berlin), führten zu ersten Protestaktionen. Die Die Neue Linke dachte viel über Marx nach. Soziologen Zeit der demütigen Dankbarkeit war vorbei, die kritischen und Gesellschaftstheoretiker hatten Konjunktur. An die Nachfragen aus der jüngeren Generation hatten begonnen, Stelle der gesellschaftlichen Mechanismen von Beherr- die Forderung nach einer ultimativen, radikalen Enttabui- schung und Unterdrückung sollte eine vernünftige Ge- sierung wurde lauter. sellschaft mündiger Bürger treten. Aktiv setzte sich die Bewegung auch mit gesellschaftspolitischen Themen oder Die imperialistische Attitüde der US-Armee in Vietnam zerstörte in der Bundesrepublik bei vielen das Bild und Vorbild der einstigen Befreier vom Nationalsozialismus und der Retter West-Berlins 1948 (Berlin-Blockade) und 1961 (Bau der Berliner Mauer). Ho Chi Minh-Rufe galten als Protestbekundung gegen Amerika und gleichzeitig als Sympathieerklärung für den Opferstaat des Erzkapitalis- mus. Mao Tse-tung (1893–1976) und Che Guevara (1928– 1967) wurden zu politischen Leitgestirnen. Während man mit dem Finger (zu Recht) auf die USA zeigte, verschlos- sen Aktivisten gegenüber den charismatischen Führern der sozialistischen Revolutionen in der Dritten Welt oft unkritisch die Augen.

Das bundesdeutsche Wirtschaftswunder, eine ignorante Konsumgesellschaft und die antikommunistisch geprägte Westorientierung der konservativen Politik von Kanzler Konrad Adenauer (1876–1967) wurden zu Zielscheiben der 68er. Die bürgerliche Familie war nach Auffassung ei- niger 68er Ursache des Faschismus. Kaufhäuser, Symbole des Kapitalismus, gingen in Flammen auf. Während Teile

Eines der zahlreichen und markanten Gesichter von 68: Rudi Dutschke (1940–1979), Wortführer der Bewegung in West-Berlin und Westdeutschland, Feindbild der Springer- Presse und personalisierter Bürgerschreck. 1968 schoss ein Hilfsarbeiter auf Dutschke und fügte ihm schwere Kopf- verletzungen zu. Dutschke verstarb an den Spätfolgen dieses Attentats. Quelle: www, public viewing. Fragen der Moral auseinander. Dabei entlarvten die Akti- gung in Betracht kommen, etwas gemeinsam war, dann visten teils auf provokativ-antiautoritäre, teils aber auch das Anliegen, gegen die Verletzung von Menschenrechten auf spielerische Weise (z.B. Fritz Teufel [1943–2010]) die und der Menschenwürde anzutreten. Gerade unter jun- Doppelbödigkeit einer spiessbürgerlichen, Moral predi- gen Menschen lösten insbesondere auch Bilder nackter genden Gesellschaft, die als so genanntes «Establishment» Gewalt einen Aufschrei des Entsetzens aus, was spezifisch neben bisherigen Feindbildern ihren Platz erhielt. im Westen zu antikapitalistischen Reflexen führte.

Vor allem während der Grossen Koalition (1966–1969) Proteste, namentlich solche gegen Menschenrechtsverlet- von CDU/CSU und SPD, deren Kanzler Kurt Georg Kie- zungen, sind so alt wie die Menschheit selbst. Auch eine singer (1904–1988) ein ehemaliges NSDAP-Mitglied war, transnationale Gleichzeitigkeit von Revolten oder Tumul- wurde der Konflikt im Rahmen der APO (Ausserparla- ten ist in der Geschichte keine unbekannte Erscheinung. mentarische Opposition) verstärkt auf die Strasse getra- Ungewöhnlich waren zwar die Formen der 68er-Proteste, gen. Dies führte 1968 in zahlreichen Städten der Bundes- jedoch auch sie nicht völlig neu. Selbst die Tatsache, dass republik zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. mehrheitlich junge Menschen das Bild der protestieren- den Strasse prägten, war kein Novum. Und doch sind die In Westdeutschland und noch stärker in Frankreich wur- Bilder und Gesichter von 68 unverkennbar, gleichsam zu de für die Regierung die Lage insofern heikel, als sich mit Ikonen des politischen, gesellschaftlichen und individuel- den Studierenden auch Teile der Arbeiter solidarisierten len Aufbruchs geworden. Die Bewegung hat Gesellschaft und deren Protestformen übernahmen (z.B. Streik). und Politik der westlichen Welt verändert.

Hinter dem Eisernen Vorhang war die Haltung zu Revolte Die Bewegung wurde auch in der Schweiz wahr- und auf- und Verweigerung einerseits weniger stark ausgeprägt, an- genommen und führte 1968 ebenfalls zu Protesten. Diese derseits nicht zugelassen. Dass die Truppen des Warschau- wurden unter dem zusammenfassenden Begriff «Jugend- er Pakts ab dem 20./21. August 1968 die unter dem Titel unruhen» bekannt. Sie eskalierten im so genannten Glo- Prager Frühling gekeimten Reformen in der Tschechoslo- bus-Krawall, benannt nach dem Provisorium des Globus- wakei brutal mit Panzern niederwalzten, hatte die Ursache Gebäudes (Einkaufsgeschäft), das die Jugendlichen für im Machttrieb des sowjetischen Hegemons. Im Kern ging ihre Zwecke nutzen wollten (Jugendzentrum). Obschon es aber auch bei der Absicht, einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen, um Freiheit, und in allen Staaten des so genannten Ostblocks um die Aufarbei- tung einer schwierigen Vergangenheit (Stalinismus). Wenn allen Konflikten, die als Ursachen der 68er-Bewe-

Panzer des Warschauer Pakts 1968 auf dem Prager Wenzelsplatz flower + power. 68 entsprach einem neuen Gefühl. Farben und (Václavské námeˇstí). Die Hoffnung auf einen «Sozialismus mit Musik spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Bildmontage aus der menschlichem Antlitz» wurde in der Tschechoslowakei durch diese Zeit ihres bekannten Albums «The Beatles», 1968, zeigt die Köpfe Militärintervention unter Führung der Sowjetunion brutal zerschla- der gleichnamigen britischen Formation in einem Blumenmeer. gen. Das Eingreifen kommunistischer Staaten gegen eine Manifes- Legendär und prägend für die Epoche war auch das Open-Air- tation für die Freiheit wurde auch von den linken 68ern als Schlag Festival in Woodstock (USA), das 1969 stattfand. The Beatles und ins Gesicht empfunden; denn viele Szenenaktive wünschten keinen Woodstock stehen stellvertretend für einen neuen Lebensstil, Sozialismus nach sowjetischem Zuschnitt oder Verhältnisse wie den in der freien Welt Millionen von Jugendlichen übernahmen. hinter dem Eisernen Vorhang. Quelle: www, public viewing. Quelle: www, public viewing.

12 die meisten politischen Forderungen der Protestierenden Globus-Krawall in Zürich. Fotografie 29. oder 30. Juni 1968. Demons- nicht erfüllt wurden, waren die Folgen der Jugendunru- trierende vor dem Globus-Provisorium auf der Limmatbrücke zwi- hen von 1968 beträchtlich. Sie wirkten auf die Mentalität schen Hauptbahnhof und Zentral. Am Gebäude sind so genannte und die Kultur ein. Sponti-Sprüche aus der Aktivistenszene zu lesen, beispielsweise «Stone free! meint Hotcha!» (in Anspielung auf das «Knüppel frei» Schliesslich erreichte 68 die sanktgallische Ostschweiz, der Ordnungskräfte; «Hotcha!» war der Name einer Untergrundzei- wo sich mit leichter Verspätung eine Bewegung bildete tung). Vor dem Globus-Gebäude gehen in Hemd und Krawatte mit und sich Szenen entwickelten. Ihre Aktionsformen waren Knüppeln bewehrte Polizisten gegen die Demonstranten vor; diese zwar nicht so spektakulär wie der Globus-Krawall in Zü- werden mit Wasser aus Feuerwehrschläuchen abgespritzt. Quelle: rich oder die Besetzung der Universität Sorbonne in © Schweizerisches Sozialarchiv Zürich (Sozarch_F_Na-0001–165). («mai 68») durch Studierende. Auch zu Gewalt kam es in St. Gallen nicht. Die Ermordung des Berliner Demonst- ranten Benno Ohnesorg (1940–1967) durch Kopfschuss anlässlich der Unruhen im Zusammenhang mit dem Be- such des Schahs von Persien erschütterte die Ostschweiz jedoch ebenso wie andere Teile der Welt. So blieb es im Osten der Schweiz bei vielen Revolten im Kleinen.

Und im Herbst des Jahrs schien mit 68 plötzlich Schluss zu sein. Das Experiment verstummte jedoch nicht, son- dern dauerte fort – auch in provinziellen Zentren wie St. Gallen, behütet von einzelnen Aktivisten und Aktivis- tinnen. Nachhaltige Formen einer pluralistischen Öff- nung gingen von ihm aus. Von ihnen berichtet, 48 Jahre später, das vorliegende Neujahrsblatt 2016.

Mit leichter zeitlicher Verspätung erreichte 68 auch St. Gallen (1969 / 1970). Die von Schülern und einer Schülerin der Kantonsschule St. Gallen lancierte «Aktion Rotes Herz» rüttelte kräftig an der bür- gerlichen Moralvorstellung. Legende/Originaltext zur Illustration: «Der ausgeschlossene Schüler Marcel A. verlas am Freitag vor der Kantonsschule eine öffentliche Erklärung und sammelte Unterschrif- ten (Mitte, vorn mit Zigarette). Die Kantonsschüler reagierten ge- mischt. Neben Beifall gab es auch Schneebälle.» Als Zeichen des Pro- tests haben einige Schüler einen Knopf angesteckt. Die Aufnahme entstand am 9. Januar 1970. Rechts neben Marcel A. steht Matthias Federer, einer der Initiatoren der «Aktion Rotes Herz». Quelle: Schweizer Illustrierte, 59. Jg. (1970), Nr. 3 (12. Januar 1970), S. 9.

13 «Es ist unsere moralische Pflicht, für die Entrechteten und Unterdrückten einzustehen.»

Zur Tätigkeit der Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen (Ostschweiz), 1963–2009

Max Lemmenmeier

Als Reaktion auf die barbarischen Geschehnisse des Zwei- Gründung der Sektion St. Gallen und erste ten Weltkrieges verkündete die Generalversammlung der Aktionen zur Förderung der Menschenrechte Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Paris die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» (UN-Men- Die Gründung einer Sektion in St. Gallen stand in enger schenrechtscharta). 30 Artikel umschrieben die grund- Beziehung zu den internationalen Bestrebungen, sie war legenden Rechte, die jedem Menschen zustehen, «ohne aber auch Teil einer in den 1960er-Jahren im Rahmen irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, des Wirtschaftsaufschwungs einsetzenden Aufbruchstim- Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger mung, welche ausgehend von den USA die Bürgerrechte Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermö- stärken und die gesellschaftlichen Verhältnisse auf der gen, Geburt oder sonstigem Stand».1 Die Erarbeitung der Grundlage von Freiheit und Gleichheit verändern wollte.3 Menschenrechtskonvention hatte die 1946 gemäss Art. 68 Treibende Kraft war der 35-jährige Walter Herter, der nach der UN-Charta geschaffene UN-Menschenrechtskom- einer PTT-Beamtenlehre eine längere Ausbildungszeit in mission übernommen, deren Aufgabe es fortan auch war, Frankreich und England absolviert hatte und dort mit den für die Sicherung der unveräusserlichen Rechte jedes Menschenrechtsideen in Kontakt gekommen war. Auf sei- Menschen zu sorgen. ne Veranlassung fand am 22. November 1963, dem Tag, an dem der amerikanische Präsident John F. Kennedy ermor- Unterstützt wurde die UN-Kommission von Beginn weg det wurde, die Gründungsversammlung statt. durch internationale Nichtregierungsorganisationen, de- ren Anfänge in Frankreich ins Jahr 1898 zurückreichen. Die im Restaurant Stadtbären an der Davidstrasse in Die daraus hervorgegangene Internationale Liga für Men- St. Gallen verabschiedeten Statuten sahen den Zweck des schenrechte war bei der UNO mit beratender Stimme Vereins «in der Förderung und Verteidigung der Men- akkreditiert und unterhielt als politisch und konfessionell schenrechte». Dieser Zweck sollte durch «direkte Inter- neutrale Vereinigung Büros in Paris und New York. Der vention zu Gunsten von Verfolgten, durch Appelle an die Liga gehörten Unterorganisationen in den verschiedenen öffentliche einungM und durch Vorträge und Veranstal- Ländern an, so z. B. in Deutschland, Österreich und der tungen» erreicht werden. Als Sektionsgebiet definierte der Schweiz. Die Schweizer Liga für Menschenrechte mit Sitz Verein die Kantone St. Gallen, Appenzell, Graubünden in Genf veranstaltete regelmässig Jahreskongresse, an de- und Thurgau. Zur Deckung der Unkosten wurde ein Mit- nen die verschiedenen Schweizer Sektionen Informatio- gliederbeitrag von 5 Franken erhoben.4 nen austauschten und die gemeinsamen Ziele diskutier- ten.2 Die St. Galler Sektion war zwar Mitglied der Schweizer Liga und damit auch der internationalen Ligen, sie beton- te aber ausdrücklich ihre Selbständigkeit. Als Hauptauf- gabe sah Walter Herter als erster Präsident zunächst die 1 UNO-Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948. Bekanntmachung der Menschenrechte, sei es durch Gra- 2 Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz tisabgabe des Textes der UN-Konvention, sei es durch (AFGO), AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Korrespondenz. Zeitungsartikel, Vorträge oder Material für die Schulen. 3 St. Galler Geschichte 2003, Bd. 8: Die Zeit des Kantons 1945–2000, Politisch stand für die Sektion der Einsatz für die Ratifi- St. Gallen 2003, S. 88–93. 4 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen. Tätigkeits- zierung der Europäischen Menschenrechtskonvention bericht 1963–1973, St. Gallen 1973, S. 2. – St. Galler Tagblatt, durch die Schweiz im Vordergrund. Diese vom 1949 ge- 12. Dezember 1983: Einsatz für die Menschenrechte. gründeten Europarat erarbeitete Vereinbarung trat 1953

14 gelungen war, den Beitritt zur Konvention durchzubrin- gen. Aber erst 1972 folgte nach der Einführung des Frau- enstimmrechts die Unterzeichnung der Konvention und schliesslich 1974 die Ratifizierung. Damit wurde, wie der Bundesrat in einem Bericht 2013 feststellte, eine Entwick- lung eingeleitet, die den «Schweizer Rechtsstaat und den Schutz der Individualrechte und Grundfreiheiten der Menschen in der Schweiz» nachhaltig gestärkt habe.6

Im Einsatz zur Verteidigung der Menschenrechte 1963–1969

Sitz der Sektion war die Wohnadresse des Präsidenten an der Wolfgangstrasse in St. Gallen. Von dort aus entwickel- te der 1963 als Sekretär der Kreispostdirektion Flawil tätige Walter Herter eine rege Aktivität zugunsten der Verfolg- ten. Beinahe die gesamte Freizeit opferte Herter, dreifacher Familienvater und Mitglied im Kantonalvorstand des Pfadfinderbundes, für die rganisationO von öffentlichen Veranstaltungen und die Abfassung von Zeitungsartikeln, vor allem aber für eine umfangreiche Korrespondenz mit Privaten, Organisationen und staatlichen Behörden.7 Zwi- Im «Stadt-Bären», St. Gallen, versammelte sich am 22. November schen 1963 und 1973 wurden an 35 Zeitungen rund 220 1963 ein kleines Komitee zur Gründung der Liga für Menschen- Einsendungen gerichtet und 1960 Schreiben in verschiede- rechte, Sektion St. Gallen. Quelle: Stadtarchiv St. Gallen. nen Sprachen verfasst.8 Zugleich konnte die Mitglieder- zahl von 16 (1964) auf 71 im Jahr 1969 gesteigert werden.9

Unter dem Eindruck der Ereignisse des Zweiten Weltkrie- nach der Ratifizierung durch zehn Staaten in Kraft und ges wandte sich die Liga in den 1960er-Jahren wiederholt war damit die erste völkerrechtlich verbindliche Men- gegen die Verjährung der Naziverbrechen und den Anti- schenrechtskonvention. Dem Europarat trat die Schweiz semitismus, den Walter Herter als «die schlimmste Äusse- erst 1963 bei, nachdem sich die Bedenken gegenüber einer rung des Rassenhasses» bezeichnete.10 Die Liga sah es als Gefährdung der Neutralität gelegt hatten. Eine gleichzei- ihre Pflicht, sich bei den Behörden der Bundesrepublik tige Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechts- Deutschland für die Ahndung der grauenhaften Verbre- konvention lehnte der Bundesrat aber ausdrücklich ab, da chen des Nationalsozialismus einzusetzen, und zusam- das fehlende Frauenstimm- und wahlrecht und die religi- men mit vielen anderen Organisationen gelang es, die ösen Ausnahmeartikel (Jesuiten- und Klosterverbot) ge- Nichtverjährung von Verbrechen gegen die Menschlich- gen die Konvention verstiessen. keit durchzusetzen.11

Um die Unterzeichnung der «Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten» zu fördern, organisierte die Liga im Mai 1965 an der Han- delshochschule St. Gallen zusammen mit der Studenten- 5 Liga für Menschenrechte , Korrespondenz (wie Anm. 2). – 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen (wie Anm. 4), S. 2. schaft und der Europa-Union eine Diskussionsveranstal- 6 Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und ihre tung mit einem Vertreter des Europarates. Im folgenden Bedeutung für die Schweiz. Eine Einführung für junge Leute. Jahr reichte der sozialdemokratische Nationalrat Matthias Hg. v. EDA, Bern 2015, S. 21. Eggenberger (1905–1975) ein Postulat ein, das den Beitritt 7 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Artikel Volksfreund 1968. der Schweiz zur Konvention forderte. Diese Bestrebun- 8 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen gen im Parlament unterstützte die St. Galler Sektion 1968 (wie Anm. 4), S. 19. nach einem Besuch in Strassburg mit einer breit begrün- 9 AFGO.148, Liga für Menschenrechte Korrespondenz, Mitgliederlisten. deten öffentlichen Stellungnahme an das Eidgenössische 10 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen 5 Politische Departement. Erfreut stellte die Liga ein Jahr (wie Anm. 4), S. 6. später fest, dass es im Nationalrat gegen «den leiden- 11 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen schaftlichen Widerstand vorwiegend reaktionärer Kräfte» (wie Anm. 4), S. 8.

15 gonnene Ausrottung des jüdischen Volkes fortsetzen». Als anfangs Juni 1967 der militärische Konflikt an allen Fron- ten losbrach, veranstaltete die St. Galler Liga zusammen mit dem «Aktionskomitee für Israel» eine Kundgebung für das «Lebensrecht einer kleinen Nation».13 An der Ver- sammlung im Schützengarten, an der u. a. Stadtpräsident Emil Anderegg (1903–1967) und HSG-Professor Georg Thürer sprachen, nahmen annähernd 1500 Personen teil und die Kollekte erbrachte mehr als 10 000 Franken.14 Der grosse Erfolg der Veranstaltung, die auch zur Vermittlung von 400 Blutspendern führte, erfüllte die erst drei Jahre tätige Sektion mit grosser Genugtuung. Walter Herter, geb. 1928, Gründer und langjähriger Präsident bzw. Ehrenpräsident der Liga für Menschenrechte, Sektion Im Verlaufe der Sechzigerjahre gab es weltweit kaum ei- St. Gallen (Ostschweiz). Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- nen grösseren Konflikt, in dem sich die Liga nicht enga- und Sozialgeschichte Ostschweiz, AFGO.148, Liga für Menschen- gierte. Ausgehend vom überzeugten Kampf gegen den rechte, Pressearbeit. Rassenhass intervenierte Walter Herter mehrmals bei der südafrikanischen Regierung (1963, 1964, 1966) gegen die Apartheidpolitik und protestierte gegen willkürliche Ver- haftungen, Internierungen und Folter. Auch bei den ame- Die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit sollten als rikanischen Behörden wehrte man sich gegen die Über- Mahnung dienen. Deshalb organisierte die Liga Vorträge griffe von Polizisten gegen Schwarze und die wiederholten bei Jugendorganisationen und setzte sich kritisch mit der Freisprüche von weissen Rassisten, die im Staat Alabama schweizerischen Flüchtlingspolitik während des Zweiten Morde an Schwarzen begangen hatten. Als im April 1968 Weltkrieges auseinander. Auf Antrag der St. Galler Sektion Martin Luther King ermordet wurde, organisierte die wurden 1968 Flüchtlingspfarrer Paul Vogt (1900–1984), Liga zusammen mit dem kirchlichen Friedensbund eine der Historiker Georg Thürer (1908–2000) und General- Gedenkstunde im Kirchgemeindehaus Grossacker und konsul Carl Lutz (1895–1975) für ihre mutige Verteidigung übermittelte die Kollekte von 300 Franken zusammen mit der Menschlichkeit zu Ehrenmitgliedern der Schweizeri- einem Kondolenzschreiben der Witwe Coretta King in schen Liga für Menschenrechte ernannt. Als ein Jahr spä- Atlanta.15 ter der selbstlose Einsatz von Polizeihauptmann Paul Grü- ninger (1891–1972) für die jüdischen Flüchtlinge bekannt Nicht nur um den Schutz rassisch verfolgter Minderhei- wurde, verlieh ihm die Sektion St. Gallen die Ehrenmit- ten, sondern um den Schutz ganzer Völker ging es der gliedschaft. Die dadurch ausgelöste Publizität führte ein Sektion in ihrem Einsatz für Tibet und Biafra. 1965 pro- Jahr später zu einer moralischen Rehabilitierung Grünin- testierte Walter Herter bei der Botschaft der Volksrepub- gers durch die St. Galler Kantonsregierung. Für Walter lik China gegen Folter und Deportation in Tibet. Als die Herter war es der Liga damit gelungen, «begangenes Un- systematische Zerstörung tibetischer Kulturgüter durch recht» wieder gut zu machen.12 die Roten Garden offenkundig wurde, richtete eine von der St. Galler Vereinigung organisierte Veranstaltung im In ihrem Einsatz gegen den Antisemitismus engagierte März 1968 einen Appell an die Internationale Liga für sich die Liga ganz selbstverständlich für Israel. Für Walter Menschenrechte in New York, die ihrerseits bei der UNO Herter wollte Ägypten, das «verschiedenen Nazi-Verbre- für die Einhaltung der Menschenrechte in Tibet vorstellig chern Unterschlupf» gewährt hatte, «die von Hitler be- wurde. Gleichzeitig organisierte man einen Anlass in Fla- wil zugunsten der Tibeter in der Schweiz. Die Kollekte von mehr als 1000 Franken kam der Unterstützung der tibetischen Kultur zugute.16

12 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen Im gleichen Zeitraum rückte der Völkermord im westafri- (wie Anm. 4), S. 17–18. kanischen Biafra in den Blickpunkt der Weltöffentlich- 13 Die Volksstimme, 63. Jg., Nr. 135 (13. Juni 1967), Inserat. keit. Als Präsident der Sektion wandte sich Walter Herter 14 St. Galler Tagblatt, Nr. 274, 14. Juni 1967, Abendblatt, an die Internationale Liga für Menschrechte in New York, S. 17. 15 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen um den Völkermord an den Ibos zu verhindern. Ähnliche (wie Anm. 4), S. 5. Schreiben richtete er an die Regierungen der USA und von 16 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen Grossbritannien, aber ohne Erfolg. Im September fand in (wie Anm. 4), S. 12. St. Gallen eine öffentliche Veranstaltung zugunsten von

16 Biafra statt. Dank der Kollekte konnte die Hilfsorganisa- «Mitenand-Initiative», welche das Zusammenleben von tion «Terre des hommes» innerhalb von acht Tagen 800 Zugewanderten und Einheimischen verbessern wollte, biafranische Waisenkinder nach Gabun evakuieren.17 und 1982 einen solchen an den Aufbau eines St. Galler Frauenhauses.21 Wie in Tibet und Biafra ging es der Sektion auch in vie- len anderen Staaten um den Kampf gegen die religiöse Zur politischen Aktivität gehörte es auch, dass die Liga, Intoleranz. Appelle zugunsten der Religionsfreiheit rich- der eine wachsende Zahl von Mitgliedern angehörte, in tete die Sektion an das Regime Diem in Südvietnam den nationalen, kantonalen und kommunalen Wahlen seit (1963), an die chinesische Regierung (1965, 1966) und an 1972 Empfehlungen für jene Kandidatinnen und Kandi- das Regime von General Franco in Spanien (1964, 1965). daten abgab, die der Sektion angehörten. So unterstützte Ob Buddhisten, Protestanten oder Russisch-Orthodoxe, sie bei den Wahlen in den Grossen Rat Dr. iur. Heidi S­ eiler für die Liga war es unabdingbar, dass der Toleranzgedan- ke überall auf der Welt eines gesetzlichen Schutzes be- durfte.18

Die Gründung der Sektion und ihre Arbeit in den ersten Jahren waren von grossem Elan und von einem unermüd- lichen Einsatz des Präsidenten geprägt. Der konkrete Er- folg der Veranstaltungen und der vielen Schreiben erwies sich oft als bescheiden. Aber für Walter Herter war in der kleinen Denkschrift von 1973 klar, dass man nicht passiv zusehen dürfe, wenn andere Menschen misshandelt wür- den. Für ihn war es moralische Pflicht, «für die Entrechte- ten und Unterdrückten einzustehen». Er war überzeugt, dass die Konfrontation des Unterdrückers «mit dem Welt- gewissen» ihre Wirkung nicht verfehle und er wünschte sich, dass für die Menschenrechte noch viel mehr getan werde.19

Verstärktes regionalpolitisches Engagement und steigende Mitgliederzahlen 1970–1982

Die Aktivitäten der Sektion waren zunächst in erster Linie auf die internationale Politik ausgerichtet. Wenn sie die Innenpolitik betrafen, so ging es vor allem um die schwei- zerische Flüchtlingspolitik während des Zweiten Welt- kriegs und die Ehrung jener Personen, welche «Gewissen und Menschenrecht vor der Staatsraison den Vorrang» gegeben hatten. Engagement gegen die so genannte Schwarzenbachinitiative, die 1970 zur Abstimmung kam und den Ausländerbestand 1970 änderte sich diese Position. Als die so genannte in der Schweiz auf zehn Prozent beschränken wollte. Sie wurde Schwarzenbachinitiative zur Abstimmung gelangte, die im Kanton St. Gallen und in der Schweiz knapp abgelehnt. eine Begrenzung der Ausländerbevölkerung auf zehn Quelle: AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Pressearbeit. Prozent verlangte, nahm die Liga für Menschenrechte in- tensiv am Abstimmungskampf teil. Für sie war die Be- schränkung der ausländischen Bevölkerung mit «der hu- manitären Tradition unseres Landes unvereinbar». Wie hätten sich mit dieser willkürlichen Begrenzung noch 17 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen (wie Anm. 4), Flüchtlinge aufnehmen lassen? Die Liga verfasste Zei- S. 13. tungsartikel, schaltete Inserate und erliess Aufrufe. Mit 18 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen (wie Anm. 4), S. 11. diesem Engagement, das als Kampf gegen Intoleranz und 19 10 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen (wie Anm. 4), Fremdenhass verstanden wurde, trug die Liga zur knap- S. 19. 20 pen Ablehnung der Initiative im Juni 1970 bei. Folge- 20 St. Galler Geschichte 2003, Bd. 8 (wie Anm. 3), S. 95. richtig beschloss der Verein 1978 einen Beitrag für die 21 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, HV 1982, Pressemitteilung.

17 (FDP) und Ernst Staehelin (FDP). Vier Jahre später waren Eheschliessung mit seiner in Schwerin (Deutsche Demo- es quer durch die Parteien Dr. iur. Heidi Seiler (FDP), kratische Republik) lebenden Braut schilderte. Die Braut- Prof. Dr. Rolf Albonico (LdU), Stadtrat Heinz Christen leute hatten am 17. Dezember 1976 auf der schweizeri- (SP), Prof. Ernst Staehelin (FDP) und Theo Bernhards- schen Botschaft das Eheversprechen abgegeben, der Rat grütter (CVP). Als es 1980 zu einer Kampfwahl um das von Schwerin verweigerte aber mit dem Hinweis, dass eine Amt des Stadtammanns in St. Gallen kam, schrieb die Liga Heirat mit einem Schweizer nicht in Frage komme, die an ihre Mitglieder: «Heinz Christen ist der Mann der notwendige Wohnsitzbestätigung. Menschenrechte, Heinz Christen ist unser Mann. Sagen Sie es weiter!»22 Die Brautleute stellten darauf in Schwerin ein formloses Heiratsgesuch und informierten das Eidgenössische Poli- Zur innenpolitischen Ausrichtung gehörte auch der Ein- tische Departement. Sollte es zu keinem positiven Ent- satz der St. Galler Sektion für die Chile-Flüchtlinge und scheid kommen, sollte die Liga mit Hinweis auf die Ver- die Beteiligung an der «Flüchtlingsfreiplatzaktion» 1974. letzung der Menschenrechte zusätzlichen moralischen Dieses Engagement führte mitten im Kalten Krieg zu Druck auf die DDR-Behörden ausüben. Vier Tage nach massiven Angriffen aus politisch rechten Kreisen. Als die Erhalt der Unterlagen versprach Walter Herter, «im Rah- Foltermethoden der argentinischen Militärdiktatur ange- men unserer Möglichkeiten» zu intervenieren. prangert wurden, verteufelte ein Leserbrief die Liga als «Schrittmacher des Kommunismus». Gegen jede Art von Mitte Februar erhielt die Liga die Mitteilung, dass das Diffamierung setzte sich Walter Herter konsequent zur Heiratsgesuch abgelehnt worden sei, da der Verdacht be- Wehr und verlangte in den Medien eine Richtigstel- stehe, dass der Schweizer einer Fluchthilfeorganisation lung.23 angehöre. Nachdem Christoph Ernst der Liga in einem Schreiben vom 2. März versichert hatte, keiner Flucht- In der internationalen Politik setzte sich die Sektion nach hilfeorganisation anzugehören, richtete Walter Herter am 1970 zunehmend für die politischen Gefangenen und ge- gen die Folter ein. Ein Vorstoss beim Internationalen Ko- mitee des Roten Kreuzes in Genf für die Schaffung einer Konvention zum Schutze der politischen Gefangenen blieb zwar ohne Erfolg, aber in der Folge intervenierte die Sektion in Spanien, Griechenland, Brasilien, der Tsche- choslowakei, Chile, Portugal, Südvietnam und der Sow- jetunion zugunsten von politischen Gefangenen und Op- positionellen. Dazu gehörte die Unterstützung von Dom Helder Camara, der sich als Bischof trotz Polizeiterrors für die Unterdrückten einsetzte, und des Atomphysikers Andrei Sacharow und des von ihm gegründeten Komitees für Menschenrechte. 1973 beteiligte sich die Sektion aus- serdem an dem von «Amnesty International» ausgerufe- nen Kampfjahr gegen die Folter.24

Neben den vielen öffentlichen Verlautbarungen und Pro- testen bei Regierungen kümmerte sich Walter Herter äusserst gewissenhaft und mit grossem Aufwand um Bei- standsgesuche von Einzelpersonen, vorab im Zusammen- hang mit der administrativen Versorgung durch die Kan- tone. Anfragen um Hilfe konnten aber auch ganz andere Punkte betreffen. So erhielt Herter Ende Januar 1977 einen Brief des 23-jährigen Kaufmanns Christoph Ernst aus Herisau, der ihm seine Schwierigkeiten bei der geplanten

22 AFGO.148, Liga für Menschenrechte: Flugblätter, Fotos u. a. – StaatsASt. Gallen, SG ZDA 2/2.02–0102). Schreiben der Liga an die Botschaft der Deutschen Demokratischen 23 Ostschweizer AZ, 8. Mai 1989, Die Menschenrechte. Republik 1977 in Sachen Christoph Ernst und Anke Jörn. 24 10 Jahre Liga für Menschenrechte (wie Anm. 4), S. 14–16. Quelle: AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Korrespondenz.

18 4. März 1977 an die Botschaft der Deutschen Demokrati- ­Fridolin Trüb, die erste Frau im Bundesgericht, Frau schen Republik in Bern ein Schreiben. Darin verwies er Dr. Margrit Bigler-Eggenberger, der Hochschullehrer auf Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschen- Dr. Rolf Albonico und der Horner Pfarrer Paul Rutishau- rechte, der heiratsfähigen Männern und Frauen die Ehe- ser, der um 1975 die deutschschweizerische Anti-Apart- schliessung «ohne Beschränkung durch Rasse, Staatsbür- heid-Bewegung initiiert hatte.27 Dank dieser Organisati- gerschaft oder Religion» garantiert. Zugleich drückte er on verfasste die Sektion im Jahr 1978 21 Schreiben wegen die Überzeugung aus, «dass die Regierung der DDR be- Verstössen gegen die Menschenrechte an Russland, die reit ist, den genannten Artikel zu respektieren und den Tschechoslowakei, Argentinien, Brasilien, Chile, Nicara- dazu im Widerspruch stehenden Entscheid des Rates von gua, Uruguay und Israel,28 wie der Jahresbericht feststellte Schwerin berichtigen wird». Zum Schluss bat die Liga die meist mit geringem Erfolg, aber getragen vom «uner- DDR-Botschaft, das Gesuch an die Regierung weiterzu- schütterlichen Mut», «als kleiner Goliath gegen alle Fein- leiten und bald in der Angelegenheit zu antworten. de der Rechte und Würde des Menschen anzutreten».29

Die DDR-Botschaft bestätigte kurze Zeit später telefo- So aktiv der Vorstand arbeitete, so sehr vermisste die Prä- nisch den Eingang des Schreibens. Inzwischen stellten die sidentin 1978 «die aktive Mithilfe aus dem Kreise der Brautleute ein zweites Gesuch und die DDR-Behörden Mitglieder», und sie wünschte sich auch eine regere Teil- versprachen, die Angelegenheit weiter zu behandeln. nahme an den Veranstaltungen. Es war deshalb auch nicht Nach Rücksprache mit Christoph Ernst sandte Walter verwunderlich, dass die Sektion in erhebliche Schwierig- Herter Ende Mai ein «Nachfassschreiben» an die DDR- keiten geriet, als Silvia Steinmüller-Risch 1981 tödlich Botschaft und Ende Juni ein weiteres an den Rat von verunglückte. Erneut liess sich «für diese anspruchsvolle Schwerin. Aufgabe» kein Nachfolger finden; über die weitere Ent- wicklung des Vereins war man im Vorstand unsicher. Ei- Die Schreiben hatten zusammen mit den diplomatischen nen Zusammenschluss mit den in der Schweiz seit 1971 Aktivitäten des Bundes schliesslich Erfolg. Im Oktober rasch wachsenden «Amnesty International»-Gruppen 1977 fand die Hochzeit in der DDR statt und im Januar lehnte man ab. «Ein Einschlafen lassen oder die Auflö- 1978 konnte Anke Ernst in die Schweiz ausreisen. Erst sung» der Sektion zog man ebenfalls nicht in Betracht, «da drei Jahre später, nach einer Rückfrage, bedankte sie sich wir als grösste Sektion in der Schweiz und als einzige bei Walter Herter für all seine «Bemühungen an unserem, deutschsprachige Sektion von Bedeutung den Bestand der für mich immer noch unfassbar geglückten Heirats- und Schweizer Liga in Frage stellen würden».30 So übernahm Ausreisegesuch». Für Herter war es «eine Genugtuung, schliesslich an der Hauptversammlung von 1982 ein Tri- wenn unser Einsatz für die Menschenrechte zu einem Er- umvirat aus Dr. Hans R. Brunner, Prof. Dr. Kurt Bigler folg beitragen kann». Oft genug sei man ohnmächtig, «so und Altdirektor Anton Dreier ad interim die Leitung.31 dass man mutlos werden könnte».25

Nach 14 Jahren seines tatkräftigen Einsatzes erklärte Wal- Organisatorische Schwierigkeiten, Mitglieder- ter Herter auf die Hauptversammlung vom Mai 1977 sei- schwund und Auflösung 1983–2009 nen Rücktritt. Da aber noch eine Nachfolge fehlte, war er bereit, das Präsidentenamt vorläufig ad interim weiterzu- Am 10. Dezember 1983 feierte die Sektion St. Gallen ihr führen. Ein Jahr später übernahm Silvia Steinmüller-Risch zwanzigjähriges Bestehen. An diesem Anlass begrüsste die (1914–1981) aus Waltensburg (GR), Witwe eines deutschen neue Präsidentin Eva Schucan im Katharinensaal zahlrei- Flüchtlings, die Aufgabe, während Walter Herter für seine che Gäste. Neben dem Präsidenten der Schweizer Liga Verdienste zum Ehrenpräsidenten ernannt wurde.26 Der neu konstituierte und erweiterte Vorstand organisierte 1978 die Feier zum 30. Jahrestag der UNO-Menschen- rechtserklärung. Der flächendeckende Versand von Unter- 25 AFGO.148, Liga für Menschenrechte: Flugblätter, Pressemitteilun- lagen zur Vereinstätigkeit führte in der Stadt St. Gallen gen. zum Beitritt von 31 neuen Mitgliedern. Mit 158 erreichte 26 AFGO.148, Liga für Menschenrechte: In memoriam Silvia Steinmül- die Mitgliederzahl ihren Höchststand und das Vereinsver- ler-Risch. mögen stieg dank Spenden auf über 9000 Franken. 27 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Protokolle. – St. Galler Tag- blatt, 5. Juni 2010. Im Vorstand und im zusätzlich bestehenden Arbeitsaus- 28 AFGO.148, Liga für Menschenrechte: Jahresbericht der Präsidentin 1978. schuss wirkten namhafte Persönlichkeiten aus der Kirche, 29 AFGO.148, Liga für Menschenrechte: Jahresbericht der Präsidentin aus anderen Organisationen und aus der Politik mit, 1978. so die Juristin Dr. Heidi Seiler, der Seminarlehrer Prof. 30 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Protokolle (Januar 1982). Kurt Bigler, der Friedensaktivist und Kantonsschullehrer 31 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Pressemitteilung HV 1982.

19 überbrachte der Sozialdemokrat Florian Schlegel (1935– als 200 Folteropfer. Finanziell engagierte sich die St. Gal- 1993) den Dank der Kantonsregierung. Walter Herter zog ler Sektion mehrmals für die Stiftung, so 1992 zusammen als Ehrenpräsident ein Fazit der bisherigen Tätigkeit. Er mit der Schweizerischen Liga für Menschenrechte im betonte, dass Positives erreicht worden sei, indem die Rahmen eines «Fonds für Folteropfer» mit 20 000 Fran- Menschenrechte nun allgemein als wertvolles Gut be- ken und 1994 zusammen mit dem Eidgenössischen De- trachtet werden. Auch wenn eine gewisse Ernüchterung partement des Äusseren mit 10 000 Franken.35 Als der Lei- eingetreten sei, man dürfe nicht zusehen, «wenn andere ter der TIHV selbst angeklagt wurde, weil er Berichte Menschen misshandelt werden». Man könne auch durch über die Folter in der Türkei veröffentlicht hatte, setzte Schweigen schuldig werden. Wie der Berichterstatter im sich Walter Herter beim Eidgenössischen Departement St. Galler Tagblatt bemerkte, lagen an diesem Abend Re- des Äusseren für ihn ein.36 signation und Hoffnung nahe beieinander: Resignation nach der Tonbildschau über die Verfolgungen in El Salva- Bei den Veranstaltungen arbeitete das Komitee regelmäs- dor, Freude und Hoffnung bei den Darbietungen der sig mit anderen Organisationen zusammen, insbesondere Folklore-Gruppen aus Tibet und der Türkei.32 mit «Amnesty International», die seit 1971 Sektionen in der Schweiz besass und in Menschenrechtsfragen zur füh- Die gut besuchte Feier konnte nicht darüber hinwegtäu- renden Organisation aufrückte. So beging die Sektion schen, dass die Sektion zunehmend in organisatorische St. Gallen 1990 den «Tag der Menschenrechte» zusammen Schwierigkeiten geriet. An den Hauptversammlungen mit der «amnesty international-Gruppe der Hochschule nahmen ab Mitte der 1980er-Jahre meist weniger als 10 St. Gallen». Im Zentrum standen die Eröffnung einer Personen teil. Als Eva Schucan 1987 Jahren als Präsidentin Ausstellung zu den Menschenrechten im Foyer des neuen zurücktrat, konnte das Amt nicht mehr besetzt werden. Bibliotheksgebäudes und ein Vortrag von Alfred A. Häs- Walter Herter übernahm das Präsidium ad interim. Zwei ler zum Thema Rassismus.37 Noch weiter wurde der Kreis Jahre später beschloss die Hauptversammlung mit einer der beteiligten Organisationen 1993, als der Tag der Men- Statutenänderung die Umwandlung des Vereins in ein schenrechte zusammen mit der «ACAT» («Aktion der Komitee, um flexibler arbeiten zu können. Die Leitung Christen zur Abschaffung der Folter»), «Amnesty Interna- des Komitees übernahm Walter Herter, der 1990 als lang- tional», der «Friedensgruppe St. Gallen der Ökumeni- jähriger Dienstchef der Kreispostdirektion St. Gallen mit schen Kommission der Arbeitsgemeinschaft christlicher 62 Jahren in Pension ging, um sich «ganz den Mensch- Kirchen» und der «Schweizerischen Flüchtlingshilfe» mit rechtsbelangen zu widmen».33 Vorträgen, Standaktionen und einem Fackelzug durchge- führt wurde.38 In ihrer Tätigkeit konzentrierte sich die Liga weiterhin auf die Durchführung von Veranstaltungen zur Information Im April 1995 übergab Walter Herter, der mehr als 30 Jah- über die Menschenrechtslage in anderen Ländern, auf die re lang die Arbeit der Sektion entscheidend getragen hat- publizistische Tätigkeit in den Medien und auf direkte te, das Präsidium an die Journalistin und Rechtsberaterin Interventionen zugunsten von Verfolgten und Folterop- der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Irene von Hartz. fern, vorab in Südamerika, Südafrika und der Türkei.34 Bevor Herter in die Westschweiz zog, würdigten die Liga Nachhaltig unterstützte die Sektion die türkische Stiftung SG/TG/AR und der Verein «Cabi Antirassismus-Treff- für Menschenrechte (TIHV), welche seit 1990 Rehabili- punkt» seine Verdienste für die Menschenrechte an einer tationszentren für Folteropfer in Izmir, Ankara, Istanbul «Farewell-Party» am 11. Mai 1996. Nochmals liess man die und Adana aufbaute. 1991 behandelten die Zentren mehr wichtigsten Stationen seines Wirkens Revue passieren und insbesondere wurde sein Einsatz «für die Grundrech- te, gegen Rassismus und Folter sowohl in der Schweiz wie im Ausland» dargestellt.39

32 St. Galler Tagblatt, 12. Dezember 1983: Einsatz für die Die neue Präsidentin traf keine einfache Situation an. Die Menschenrechte. 33 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Pressearbeit, Mitgliederzahl der einzigen deutschschweizerischen Sekti- Schreiben vom 10. Februar 1992. on war auf rund 70 gesunken, bis auf drei «alle passiv», wie 34 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Pressearbeit, sie selbst im Bericht über die Jahre 1996–1998 festhielt. 25 Jahre Liga für Menschenrechte Sektion St. Gallen. Auch das Vereinsvermögen war erheblich geschrumpft. 35 Ostschweizer AZ, 10. Dezember 1992: Hilfe für Folteropfer. Am Tag der Menschenrechte 1995 verzichtete die Liga auf 36 St. Galler Tagblatt, 12. Dezember 1997. eine eigene Veranstaltung und verwies auf die Aktivitäten 37 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Pressearbeit, Schreiben 1990. von «Amnesty International» und anderen Gruppen. Zu- 38 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Pressearbeit. gleich hob die Präsidentin in einem Schreiben an die Mit- 39 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Flugblätter. – glieder hervor, den Blick mehr auf die «innerschweizeri- Die Ostschweiz, 17. Mai 1996. schen Belange» zu richten. Nach dem Kampf gegen die

20 Einladung zur Abschiedsveranstaltung für den langjährigen Flugblatt für die Veranstaltung zum «Tag der Menschenrechte» Präsidenten und Ehrenpräsidenten der Liga für Menschenrechte, 1997. Seit den 1980er-Jahren engagierte sich die Liga sehr stark Walter Herter, im «CaBi Antirassismus-Treffpunkt» St. Gallen 1996. für die türkische Stiftung für Menschenrechte und ihre Rehabili- Quelle: AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Flugblätter. tationszentren für Folteropfer. Quelle: AFGO.148, Liga für Men- schenrechte, Flugblätter.

«Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht» (Dezember menarbeit mit «CaBi Antirassismus-Treff» zu Fragen von 1994) und dem Engagement für die Annahme des Antiras- alltäglichem Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Asylmiss- sismusgesetzes (Volksabstimmung 1994) wollte man das stand und Abbau von Rechtsstaatlichkeit im Asylwesen Augenmerk auf «das Zusammenleben von Menschen ver- weiter. Dann überwies die Präsidentin, die zugleich als schiedener Nationalitäten in der Schweiz richten».40 Beraterin die wöchentliche «Anlaufstelle für Asylsuchen- de/Migranten» betreute, auf Wunsch von Walter Herter Entsprechend dieser Ankündigung und auf dem Hinter- den noch übriggebliebenen Kontobetrag von rund 2000 grund der verschärften Asyldebatte spielte von nun an der Franken an das TIHV (Torture Rehabilitation Center) in Einsatz für Migrantinnen und Asylbewerber eine wichti- der Türkei. Die Akten wurden dem Archiv für Frauen-, ge Rolle, wobei eine enge Zusammenarbeit mit «CaBi Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz überge- Antirassismus-Treff» und anderen Organisationen einge- ben.42 gangen wurde. Zugleich setzte man sich zusammen mit «Amnesty International» am «Tag der Menschenrechte» intensiv für den Schutz von türkischen Menschrechts- aktivisten und die Betreuung türkischer Folteropfer ein. Die Tätigkeit beschränkte sich – wie auch 2001 bei der 40 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Schreiben Dezember 1995. 41 AFGO.148, Liga für Menschenrechte, Schreiben vom Dezem- Unterstützung der kurdischen Kulturwoche oder 2002 ber 2001. – St. Galler Tagblatt, 15. April 2002: «Wichtig, bei der Mahnwache für einen Frieden in Palästina – auf Zeichen zu setzen». das Mitmachen in Komitees zusammen mit anderen 42 E-Mails von Irene von Hartz vom 14. und 22. Januar 2016, Organisationen.41 Bis 2009 ging diese Form der Zusam- deponiert im AFGO.

21 68 in St. Gallen: Die «Aktion Rotes Herz» und ihre Folgen

Ralph Hug

Die Rebellion der 68er-Generation gegen überholte Mo- Kellenbergers Überreaktion war der Angst geschuldet, ralvorstellungen und für neue Lebensformen wurde in auch am Gymnasium könnte sich der autoritätskritische St. Gallen im Januar 1970 in einem Konflikt an der Kan- Geist der 68er-Bewegung ausbreiten. So meinte er, die tonsschule virulent. Sie wurde unter dem Titel «Aktion Sache müsse «ausbrennen, bevor der Brand weiterbrennt. Rotes Herz» bekannt und bescherte der Stadt nationale Sonst ist die Schulgemeinschaft gefährdet. Das ist keine Schlagzeilen. Das Ereignis, an dem sich der Fall entzün- neue Moral, sondern Piraterie des Stärkeren».2 Die anti- dete, mutet aus heutiger Sicht banal an, bot aber damals autoritäre Bewegung hatte sich seit einiger Zeit auch in lokalpolitischen Sprengstoff. Ein Schüler und eine Schü- St. Gallen manifestiert. An der Hochschule HSG traten lerin der Klasse 6ga, beide nach damaligem Recht noch anfangs 1969 erstmals Studenten mit marxistischen Paro- minderjährig, pflegten eine enge eziehung.B Dann kam es len in Erscheinung.3 Am 11. Dezember 1969 kam es zu zu Problemen, weil sich die Schülerin in einen neu in die einer Anti-Vietnamkrieg-Demo. Und an der Kanti hatten Klasse gekommenen Schüler verliebte und mit ihm ein kritische Schülerzeitungen wie «Acid» eine zunehmende intimes Verhältnis einging. Als die Familie der Schülerin Politisierung der Jugend angezeigt. Der Rektor reagierte und der ex-Freund von anonymen Anrufen belästigt wur- auf diese Publikationen im Frühjahr 1969 mit einem Ver- den, orientierte der neue Freund einen Lehrer der Klasse, bot und erlaubte nur noch eine Wandzeitung. Dagegen der zugleich Abteilungsvorstand war. Dieser brachte die wehrten sich einige Schüler, teils dieselben wie später bei Angelegenheit in die Klassenkonferenz, zu der auch der der «Aktion Rotes Herz», mit einem Protestflugblatt. Im Rektor beigezogen wurde. Die Klassenlehrer stellten fast Titel trug es das Faust-Zitat «Du glaubst zu schieben, und einstimmig der Rektoratskommission den Antrag, den du wirst geschoben».4 ex-Freund mit dem Ultimatum zu bestrafen und die bei- den anderen von der Schule zu weisen. Die harten Sanktionen der freisinnigen Kanti-Leitung ge- gen das Liebespaar und den ex-Freund beschwörten das Rektor Paulfritz Kellenberger fürchtete um die Moral am Gespenst der Rebellion erst recht herauf, das sie hätten Gymnasium und forderte die Eltern des Paars «dringend» bannen wollen. Neun Schülerinnen und Schüler streuten auf, ihre Kinder von der Schule zu nehmen.1 Dieses so am 5. Januar 1970 ein Flugblatt und brachten damit den genannte «consilium abeundi» kam faktisch einem Aus- schulinternen Konflikt um die Schülerliebe an die Öf- schluss, der disziplinarisch grösstmöglichen Sanktion, fentlichkeit. Unter dem Titel «Aktion Rotes Herz» protes- gleich. Weiter stellte er dem ex-Freund ein Ultimatum. tierten sie mit vollem Namen gegen die «autoritäre An- massung» und die «puritanische Vorgehensweise» der Schulleitung. Sie forderten diese auf, sich an einem Teach- In in der Aula der Diskussion über die «herrschende Mo- ral» zu stellen. Es gebe auch für die Schüler eine Intim- sphäre, in die sich die Schule nicht einzumischen habe. 1 Baumann, Daniel/Noger, Arno: Die Kantonsschule am Burg- Alle Schüler wurden aufgefordert, zum Zeichen des Pro- graben St. Gallen 1856–2006, St. Gallen 2006, S. 93. 2 StaatsASG, A507/02.08: Protokoll der Klassenlehrerkonferenz tests einen weissen Knopf mit einem roten Herzen zu tra- 5 vom 9. Dezember 1969. gen. 3 Mayer, Marcel: 1968 in St. Gallen, in: Kempe, Heike: Die «andere Provinz». Kulturelle Auf- und Ausbrüche im Bodenseeraum Der Rektor reagierte auf diese Herausforderung mit dem seit den 1960er Jahren, Konstanz und München, S. 96 ff. – Verbot des Teach-Ins und mit einem Schreiben an alle El- Strehle, Res: «68, aber lieb», in: Das Magazin, Nr. 12/22, 2008, tern, in dem er sein Vorgehen – allerdings in vagen Wor- S. 16. 4 Nach Angaben von Matthias Federer, Interview vom ten – zu rechtfertigen suchte. Er warf dem Schülerpaar 23. Dezember 2015, Protokoll beim Autor. «Verlogenheit» und «sittliche Haltlosigkeit» vor, da sie 5 Mayer: 1968 (wie Anm. 3), S. 103. – Baumann/Noger: ihre Eltern angelogen hätten. Die Strafen begründete er Kantonsschule (wie Anm. 1), S. 94. mit dem «Schutz aller Anständigen» und der Erhaltung

22 Original des Flugblattes «Aktion Rotes Herz», Dezember 1969 / Januar 1970 (publiziert 5. Januar 1970). Der Text entstand im Kreis der Aktivisten, die schmückende Rahmung durch Matthias Federer. Quelle: Archiv Matthias Federer, Zürich. Solidaritäts-Telegramm 1970 von Zürcher Organisatio- nen an die Schülerinnen und Schüler der Kantonsschule St. Gallen. Quelle: AFGO, Vorlass Matthias Federer.

24 einer «gesunden Moral» an der Schule. Zudem belegte er litischen Konflikt verwandelt, zu dessen Dynamik die acht Unterzeichnende des Flugblatts mit einem Ultima- Aktionen in der Öffentlichkeit und ihr iederschlagN in tum. Gegen Matthias Federer, den die Schulleitung als den Medien wesentlich beitrugen. Die Affäre warf ein Rädelsführer ansah, wurde das «consilium abeundi» aus- Schlaglicht auf die aufkeimende Szene der «Neuen Lin- gesprochen, also der faktische Ausschluss aus der Schule. ken» in St. Gallen. 1969 war an der HSG die «Progressive Alle neun mussten sich vor dem Rektorat einzeln recht- Aktion» entstanden, die auch Lehrlinge und Mittelschü- fertigen.6 Doch da war der Skandal schon nicht mehr auf- ler anzog. Ihr Epizentrum befand sich in einer Altliegen- zuhalten. schaft an der Schwertgasse 3, wo man sich zur politischen Debatte über Marcuse und andere neomarxistische Theo- In den Schweizer Medien machte sofort eine Romeo retiker traf.12 Zudem besass St. Gallen mit dem Club «Af- und Julia-Geschichte die Runde: Ein junges Liebespaar ricana» einen über die Stadt hinaus strahlenden, stark wird von einem moralinsauren Rektor von der Schule frequentierten Treffpunkt der Hippie-Bewegung, die das geschmissen, so das Storydesign. Das Boulevardblatt bürgerliche Lebensmodell radikal in Frage stellte.13 Als «Blick» titelte gross auf der Frontseite: «Vertrauen wurde Folge wuchs im lokalen Bürgertum die Sorge vor Unru- schlecht belohnt: Schülerpaar flog nach Liebesbeichte hen und politisch motivierter Randale. Der St. Galler vom Gymnasium».7 Sogar die deutsche «Bild-Zeitung» Stadtrat bewilligte im April 1969 einen Kredit, mit dem berichtete über den Fall.8 In fast allen Artikeln kam die die Polizei mit mobilen Absperrgittern, Kameras, Ton- Schulleitung schlecht weg. So stellte sich die linkslibe- bandgeräten und Tränengaswerfern gegen drohende De- rale «National-Zeitung» hinter die Jugendlichen und monstrationen aufgerüstet wurde.14 Die politische Polizei warf dem Rektor eine überkommene Moral vor.9 Die fichierte minutiös alle Personen, die ihr als linksstehend Solidaritätsbekundungen für das Maturandenpaar und damit als verdächtig erschienen. waren zahlreich. Sie reichten von Adolf Muschg bis zu linken HSG-Studenten. Diese verteilten stellver- Matthias Federer aus Rorschacherberg war die treibende tretend Flugblätter an der Kanti, «weil damals alle Kraft der «Aktion Rotes Herz». Er sagt rückblickend: Angst vor dem damaligen Hauptlehrer und späteren «Wir waren damals zwar aufmüpfige, aber doch ziemlich Reformpädagogen Rolf Dubs hatten».10 brave Schüler und wollten diskutieren, nicht randalie- ren.»15 Den schulischen Autoritäten erschienen die Flug- Aufgrund von Rekursen der Eltern befasste sich blattaktion und die darin geäusserte Kritik jedoch als Akt auch der St. Galler Erziehungsrat mit der Affäre. In des Ungehorsams und der Herausforderung. Der mediale seinem Untersuchungsbericht lastete er dem neu- Druck versetzte die städtische Öffentlichkeit zusätzlich in en Freund der Schülerin sexuelle Angebereien eine Art Ausnahmezustand. Eine von den aktiven Schü- und Haschischkonsum an, erachtete aber die lern organisierte Veranstaltung im «Ekkehard» war über- Sanktionen von Rektor Kellenberger als zu hart. laufen und zeigte das grosse Interesse an der Affäre. Die Er hob am 28. Januar 1970 die Wegweisung der Schulleitung machte schwere Zeiten durch. Unbekannte Maturandin auf, bestätigte aber jene ihres sprayten an die Kanti-Fassade den Satz «Hier lehrt Paul Freundes. Beide Betroffenen hatten die Kanti Heuchler, der einzige Rektor, der keusch in die Ehe ging». zu diesem Zeitpunkt schon verlassen. Weiter Der derart ins Visier Geratene musste kurzfristig aus ge- wandelte er die acht Ultimaten sowie das «consilium abeundi» gegen Federer in Zu- sammenhang mit dem Flugblatt in Verweise um. Laut der Disziplinarordnung waren Verweise die mildeste Form der Bestrafung, sie rangierten noch vor der Strafaufgabe. 6 Baumann/Noger: Kantonsschule (wie Anm. 1), S. 95. Der Rektor empfand diese Entscheide als 7 Blick, 7. Januar 1970, Frontseite. «Rückenschuss gegenüber den Kräften an 8 Bild, 8. Januar 1970. 9 National-Zeitung, 11. Januar 1970. 11 der Schulfront». 10 So die Erinnerung von Strehle: 68 (wie Anm. 3), S. 16. Dagegen meint Federer, man habe das Flugblatt schlicht In jenen turbulenten Wochen Anfang aus Zeitgründen nicht selber verteilen können. Angst 1970 war die Kantonsschule zu einem sei nicht im Spiel gewesen, da man ja mit vollem Namen politischen Brennpunkt geworden, al- unterzeichnet habe. Vgl. dazu auch Anm. 4. lerdings weniger wegen der sexuellen 11 Baumann/Noger: Kantonsschule (wie Anm. 1), S. 97. 12 Strehle: 68 (wie Anm. 3), S. 20. Revolution als wegen einer auch in der 13 Bachmann, Miriam: 68 und die Folgen in St. Gallen, Provinz erwachenden antiautoritären Maturaarbeit ISME, St. Gallen 2011, S. 13. Bewegung. Ein anfänglich pädagogi- 14 Mayer: 1968 (wie Anm. 2), S. 97. sches Problem hatte sich in einen po- 15 Federer: Interview (wie Anm. 4).

25 sundheitlichen Gründen seinen Dienst aussetzen.16 Und sinns. Dies zeigt auch das Jubiläumsbuch, das zum 150jäh- der Abteilungsleiter, der das Beziehungsproblem in die rigen Bestehen der Kantonsschule am Burggraben im Jahr Schulleitung getragen hatte, legte ein Jahr später verbit- 2006 erschien. Darin glaubten die Autoren immer noch, tert seine Funktion nieder.17 die jugendlichen Akteure rund um die «Aktion Rotes Herz» als Lügner und Aufwiegler diffamieren zu müssen.19 Die «Aktion Rotes Herz» führte an der Kanti zur Bildung Die geschichtliche Bedeutung der «Chiffre 1968» bleibt progressiver Schülergruppen, etwa der Gruppe «Basis» unbegriffen. Der Historiker Jakob Tanner erwähnt in sei- im Mai 1970. An Diskussionsanlässen suchten sie das ge- ner neuen «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» sellschaftskritische Gedankengut der 68er zu verbreiten. die beiden St. Galler Affären «Aktion Rotes Herz» und Um dies zu verhindern, setzte die Schulleitung eine «Roter Gallus» als Paradebeispiele für die Protestenergien, «Kommission Krisen-Management» ein, die den linken die sich damals überall in der Schweiz entluden. 1968 sei Strömungen durch organisierte Gegengruppen Einhalt ein politisches Kick-Off-Ereignis gewesen, das gerade in gebieten sollte. Auch führte sie Elternabende noch wäh- Randregionen vieles in Bewegung gesetzt habe.20 Tatsäch- rend der Probezeit ein, in denen der Schularzt über «Das lich hat St. Gallen für einmal Geschichte geschrieben. Geschlechtliche als Gabe und Aufgabe in christlicher Aber anders, als es sich die Lokalpatrioten wünschten. Sicht» sowie ein Theologe zum Thema «Pubertätsschwie- rigkeiten (Autorität), Glaubenskrisen, Sex, Hilfe der Re- ligion für die menschliche Entwicklung» referierten.18

Die «Aktion Rotes Herz» und die anschliessende Affäre um den «Roten Gallus» sowie die Demos und Flugblatt­ aktionen zeigten auf, dass die 68er-Bewegung verspätet 16 Gemäss Angaben von Matthias Federer. auch in St. Gallen Fuss gefasst hatte. Sie rüttelte an der 17 Baumann/Noger: Kantonsschule (wie Anm. 1), Legitimität der bürgerlichen Ordnung und provozierte S. 93 und 221 (Anm. 192). 18 Baumann/Noger: Kantonsschule (wie Anm. 1), dadurch allerlei Repressionsmassnahmen. Die damaligen S. 99. – Bachmann: 68 (wie Anm. 13), S. 19 Angriffe auf Behörden, Autoritäten und Institutionen 19 Baumann/Noger: Kantonsschule (wie Anm. 1), S. 97. bilden noch heute, mehr als 45 Jahre später, eine schwä- 20 Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahr- rende Wunde im Selbstverständnis des städtischen Frei- hundert, München 2015, S. 386.

26 «Aktion Rotes Herz» + 46 Jahre. Beteiligte, Quellen und Darstellungen im Diskurs

Johannes Huber

Fast ein halbes Jahrhundert nach den von Ralph Hug ge- an den Fragen von Conzett/Reichert materiell nichts ge- schilderten Ereignissen geht dieser Beitrag den damals ändert. Die erläuternden Fussnotenkommentare stam- betroffenen und beteiligten Menschen nach. Ihnen soll, men von Johannes Huber, St. Gallen.2 sofern dies noch möglich ist, eine Stimme gegeben wer- den (oral history). Ferner macht der Beitrag in der Ab- Abkürzungen: sicht der Quellensicherung mit erschwert oder gar nicht Etc.: «Etcetera» (Name der Schülerzeitung) zugänglichen Dokumenten vertraut. Dies alles soll die MF: Matthias Federer Voraussetzung schaffen für einen distanzierteren, weni- ger emotionalen und dafür sachlicheren Umgang mit Etc.: Was war das Ziel der Aktion? den Vorgängen an der Kantonsschule St. Gallen im Janu- MF:  Es sollte vor allem ein Ausdruck des Widerstan- ar 1970. des gegen den Rausschmiss der zwei Klassenka- meraden sein, der von der Schulleitung beschlos- sen wurde. So war es ein Aufbegehren gegen die Diskurs I autoritäre Haltung der Schulleitung. Interview in der Schülerzeitung «Etcetera» der Kantonsschule Heerbrugg 2016 Etc.: In welcher Position standen Sie zur Aktion? MF:  Man hat mich ja als Rädelsführer bezeichnet. So Das nachfolgende, hier integral wiedergegebene Interview wurde ich in der ersten Verfügung der Schullei- mit Matthias Federer, Zürich, machten am 10. Januar tung auch mit der strengsten Strafe von allen neun 2016 Ylber Conzett (Klasse 4LaNbPb) und Jenny Reichert Unterzeichnenden bestraft. Ich war ein Sprecher (Klasse 3NaPa) von der Kantonsschule Heerbrugg für die der «Aktion Rotes Herz»; wir waren neun Leute, Schülerzeitung «Etcetera». Anlass für das Interview bot zum Teil aus meiner Klasse, und haben das Flug- das Stichwort «Herz», der für die erste Ausgabe der Schü- blatt auch namentlich unterzeichnet. lerzeitung gewählte thematische Aufhänger. Zum Thema «Aktion Rotes Herz» fand das Jungredaktionsteam auf- Etc.: Waren da nur Schüler dabei oder haben sich auch grund eines Hinweises von Lehrer Prof. Benedikt Weis- Lehrer beteiligt? senrieder, Kantonsschule Heerbrugg. An Matthias Fede- MF:  Es waren nur Schüler. Es gab zwar Lehrer, die uns rer gelangte es, weil dieser 1969/1970 bei der Aktion, die zu verstehen gaben, dass sie mit dem Gebaren der inhaltlich zum Thema des lattesB passe, «sehr nahe am Schulleitung nicht einverstanden waren. Ein ein- Geschehen war», so Conzett. Das Interview erschien im ziger hat sich in der Öffentlichkeit exponiert, April 2016 in der ersten Ausgabe von «Etcetera».1 Für die ohne sich aber mit unserer Aktion zu solidarisie- erneute Publikation im vorliegenden Neujahrsblatt präzi- ren. Theodor Bätscher, ein mit kleinem Pensum sierte Matthias Federer zwei der Antworten (betreffend als Hebräischlehrer an der Kanti verpflichteter Theodor ätscherB und Gustav Tobler). Hingegen wurde Theologe, war bereit, als Diskussionspartner am Gespräch über Sexualmoral an unserer Veranstal- tung im «Schützengarten» teilzunehmen.

Etc.: Also wurde die «Aktion Rotes Herz» mehrheitlich von Schülern getragen? 1 Interview etcetera-Federer. MF: Sie wurde nur von Schülern getragen. 2 Der Autor dankt folgenden Personen bestens für zweckdien- liche Informationen: Ylber Conzett, Kantonsschule Heerbrugg, Dr. Matthias Feder, Zürich. – Matthias Federer, Zürich, hat Etc.: Waren denn viele Schüler ausser den neun Unter- den Wortlaut des Interviews autorisiert (entsprechende Mit- zeichnenden beteiligt, war also der Rückhalt in der teilung an Ylber Conzett und Johannes Huber). Schülergemeinschaft gross?

27 Auszug aus dem St. Galler Tagblatt vom 13. Januar 1970. Die Schulleitung boy- kottierte die Informationsveranstaltung der «Aktion Rotes Herz», Bankdirektor Tobler forderte mit grosser Geste die Anwesen- den zum Verlassen des Saals auf, doch die Leute blieben, unter ihnen auch der frei- sinnige Erziehungsdirektor und Regierungs- rat Willy Herrmann. Quelle: Staatsarchiv St. Gallen A 507/02.08.

28 MF:  So wie ich es erlebt habe, gab es einen ziemlich heute nicht mehr vertreten würde, aber wenn ich grossen Rückhalt. Wir haben dazu aufgefordert, an meine Zeit während der «Aktion Rotes Herz» einen Protestknopf3 zu tragen, wobei diesen dann zurückblicke, finde ich eigentlich nichts, wovon auch anzustecken schon einiges an Mut brauchte. ich den Eindruck habe, dass ich persönlich oder Es hat dann auch von Seiten der Lehrer entspre- wir als «Aktion Rotes Herz» etwas falsch gemacht chende Reaktionen ausgelöst, und dennoch haben hätten. Es gab auch eine Sprayerei an der Kanti- einige diesen Knopf getragen. Wir haben auch fassade, an der geschrieben stand: «Hier lehrt Paul Veranstaltungen durchgeführt, eine davon im Heuchler, der einzige Rektor, der keusch in die «Ekkehard»-Saal in St. Gallen. Der Saal war ram- Ehe ging.» Diese Sprayerei war aber nicht von uns, melvoll. Der Direktor der Bankgesellschaft (heute wir distanzierten uns dann auch davon. Wir such- UBS), Gustav Tobler,4 forderte die Anwesenden ten die Diskussion und Auseinandersetzung, um zwar mit einer heroischen Geste dazu auf, doch unserer Empörung Ausdruck zu verleihen. Das wieder nach Hause zu gehen, aber es sind ihm nur Rektorat hat leider darauf mir gegenüber einfach ein Dutzend Leute gefolgt. Die Plätze waren denn mit dem Rausschmiss, dem so genannten Consi- auch nullkommaplötzlich wieder besetzt, weil gar lium Abeundi, reagiert und den anderen acht Un- nicht alle Leute im Saal Platz hatten. Das zeigt, terzeichnenden das Ultimatum verpasst. Die Stra- dass wir doch einigen Rückhalt hatten. fen wurden später widerrufen von der Rekurs- instanz, das heisst dem Erziehungsrat. Stattdessen Etc.: Hat diese Aktion Folgen gehabt, hat sich etwas ge- wurde ein Verweis ausgesprochen. Der Verweis ändert? war im damaligen Sanktionskatalog der Diszipli- MF:  Es hat sich klimatisch etwas geändert. Ich habe narordnung die mildeste Strafe. Er stand noch vor erst kürzlich mit einer Bekannten von damals ge- der Strafaufgabe. Wenn ein Lehrer sagte: «Also Sie sprochen, die ein wenig jünger war und zu der da hinten, seien Sie mal still», dann war das bereits Zeit in die Schule ging. Sie sagte, für sie sei mit ein Verweis. Das Nächste wäre dann die Strafauf- der «Aktion Rotes Herz» die 68er-Bewegung nach gabe gewesen, und danach kommt der Rest. St. Gallen gekommen, was man heute eigentlich nicht mehr weiss. Die Aktion hat ja ein grosses Etc.: Danke, dass Sie das erklärt haben mit dem Verweis, Echo in der Schweiz gefunden, was uns auch den heute ist das ja ganz anders. Rücken stärkte. Der Erziehungsrat distanzierte MF:  Ja, genau, um den Rektor nicht völlig ins Abseits sich dann vom Rektorat – der Rektor stand mit zu stellen, hat man uns noch eine symbolische abgesägten Hosen da und musste Krankheitsur- Strafe gegeben. Ich denke, wir sind auch gut vor- laub machen. Vor der «Aktion Rotes Herz» gab es gegangen, es war so, dass wir auch unsere Eltern bereits ein gutes halbes Jahr zuvor, im Frühling informierten. Meine Eltern waren alles andere als 1969, eine Auseinandersetzung wegen einer Schü- erfreut, als sie von der Aktion erfuhren, aber sie lerzeitung. Es wurde eine veröffentlicht namens haben mich dann unterstützt, weil sie gesehen ha- «Acid»,5 eine sozusagen anarchistische, antiauto- ritäre Zeitung. Darauf haben liberale, eher bür- gerlich denkende Kantischüler eine Klasse über 3 Damals beliebte Form der Protestbezeugung, indem man sich zur mir eine andere Zeitung herausgegeben. Diese nonverbalen Sichtbarmachung seines eigenen Protests in Bezug 6 hiess «Bumerang», wenn ich mich recht erinnere. auf einen Sachverhalt sowie aus Solidarität einen Knopf ansteckte. Nach der Publikation dieser Zeitungen verbot Federer berichtet von einer solchen Aktion im Jahr 1967, als es das Rektorat jegliche Schülerzeitungen; dies war eine Obstschwemme gab. Seine Klasse, die damalige 4ga der dann der Beginn einer ersten Flugblattaktion, an Kantonsschule St. Gallen, lancierte darauf eine Protestknop-Aktion der auch ich beteiligt war. Da hatten wir auch und propagierte so den Konsum von Äpfeln. Die Knöpfe hatten Kontakt mit dem Rektorat, es gab eine gewisse die Form von bunten Äpfeln. Die Aktion fand auch in der Presse Beachtung. Mobilisierung der Schüler und später wurde im 4 Gustav Tobler (geb. 1922). Absolvent der Kantonsschule St. Gallen. Untersuchungsbericht des Erziehungsrates auch Dr. iur., Rechtsanwalt. 1960–1971 Direktor und Leiter der Schwei- Bezug darauf genommen und festgestellt, dass zerischen Bankgesellschaft SBG St. Gallen, 1971–1983 Mitglied der durch sein Verhalten im Jahr 1969 der Rektor das Generaldirektion der SBG in Zürich. Nahm in einem Leserbrief Vertrauen der Schüler verloren habe. in der Neuen Zürcher Zeitung NZZ vom 13. Februar 1970 (S. b27) Stellung gegen den Beschluss des Sanktgallischen Erziehungsrats (Strafminderung), aber auch gegen die Aktion und «jugendliche Etc.:  Wenn Sie zurückblicken, denken Sie, es gab etwas, Agitatoren», «und solche gibt es an der Kantonsschule St. Gallen». das Sie anders hätten machen sollen? 5 Vgl. dazu Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 90, MF:  Ich war später noch lange politisch aktiv und habe ferner S. 22 dieses Neujahrsblattes. dabei sicherlich auch Sachen vertreten, die ich so 6 Vgl. dazu Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 90.

29 ben, dass es auch darum geht, ob ich jetzt an dieser spruch ergibt, werden wir unsere Kinder holen Schule noch die Matura machen kann. Wir haben und schauen, wer die Wahrheit sagt.» Meine El- auch alle Eltern der Unterzeichnenden zusam- tern haben dann berichtet, dass die Motivation mengerufen. Das Rektorat hat sie eingeladen, aber der Schulleitung bereits zu Beginn dieser Ausspra- in getrennten Veranstaltungen, an einem Abend che in den Keller sank. Die Situation, dass die El- fünf und am anderen vier. Wir haben die Eltern tern uns hätten holen können, ist dann auch nie dazu gebracht, dass sie gesagt haben, sie liessen eingetroffen, die Schulleitung hat erkannt, dass sie sich nicht spalten, sie kämen alle miteinander. auf verlorenem Posten stand. Nur ein Vater, ein Parteikollege des Rektors, hat bei dieser Aktion nicht mitgemacht, sondern ist Etc.: Und wie war die Reaktion in der Bevölkerung? einen Sonderzug gefahren. Das war aber wahr- MF:  Das ist für mich schwer zu beurteilen. Lustig war scheinlich auch der Loyalität für seinen Parteige- die Reaktion in der Presse. Die St. Galler Presse nossen der Freisinnigen geschuldet. Die anderen wollte das Ganze zuerst verschweigen. Die «Ar- Eltern haben dann an der Zusammenkunft, die beiterzeitung» (AZ), also das Parteiblatt der SP, wir mit ihnen organisiert haben, gesagt, sie gingen «Die Ostschweiz» der CVP und das «St. Galler alle gemeinsam. Wir haben die Eltern dann über Tagblatt» der Freisinnigen haben nichts darüber alles aufgeklärt und auch der Öffentlichkeit ge- berichtet. Aber Helmut Hubacher,7 der später genüber waren wir sehr transparent und offen. SP-Parteipräsident wurde, er war in der Zentral- Während die acht Eltern die Schulleitung trafen, redaktion der AZ in , er hat dieses Thema warteten wir im Restaurant Corso neben der Kan- dann aufgegriffen, ebenso wie der «Blick» und das ti. Die Eltern haben zu Beginn der Besprechung Schweizer Radio in der Sendung «Rendez-vous». mit der Schulleitung gesagt: «Wir sind von unse- Dann wurde St. Gallen natürlich zum Gespött ren Kindern über alles orientiert. Wenn sich zu der übrigen Schweiz. dem, was die Schulleitung sagen wird, ein Wider- Etc.: Und die Aktion hat sich gelohnt? MF:  Es war eine gute Erfahrung. Ich bin am Schluss

7 Helmut Hubacher (geb. 1926). Schweizer Politiker (SP). 1963–1972 rehabilitiert aus dieser Sache herausgekommen. Chefredaktor der «Basler Arbeiterzeitung». 1963–1997 Nationalrat. Es war spannend für mich und ich bin auch der 1975–1990 Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Meinung, dass wir uns für eine gute Sache einge- In seinen Büchern setzt sich Hubacher kritisch mit der Schweizer setzt haben. Man kann sich das heute gar nicht Politlandschaft auseinander. mehr vorstellen, oder? 8 Fiche: Karteikarte, Registerkarte. Bis 1990 wurden in der Schweiz (Bund, Kantone) zum Zweck des Staatsschutzes (so lautete die offi- Etc.: zielle Begründung) systematisch Informationen / Daten v. a. zu Per- Nein, nicht wirklich. sonen und Institutionen gesammelt und in Karteien angelegt. Ende MF:  Was auch lustig war: Es wurden ja auch die 8 der 1980er-Jahre wurde diese Aktion bekannt. Sie löste den so Fichen erstellt, in welchen die Staatsschützer die genannten Fichenskandal aus (auch «Fichenaffäre» genannt), der «Aktion Rotes Herz» kommentiert und aufge- die Schweiz stark bewegt hat. Davon abgeleitet ist der Begriff schrieben haben. Auch eine Veranstaltung wird «Fichenstaat» in der Bedeutung von «Schnüffelstaat» (schnüffeln: erwähnt, die im damaligen «Schützengarten» heimlich bestimmte Informationen beschaffen). stattgefunden hat. Dorthin kam ein deutscher 9 Martin Dannecker (geb. 1942). Deutscher Sexualwissenschaftler 9 und Sachbuchautor mit Themenschwerpunkt Homosexualität. Student aus Berlin, Martin Dannecker. Er war 10 Ausserordentlicher Professor an der Johann Wolfgang Goethe- damals Mitglied des SDS. Das ist die Gruppie- Universität in Frankfurt a. M. rung, zu der auch Rudi Dutschke11 gehörte. Mit 10 SDS. Sozialistischer Deutscher Studentenbund. Politischer Studen- ihm und den Studenten der HSG hatten wir die- tenverband in Westdeutschland und West-Berlin, der von 1946 bis se Veranstaltung organisiert. Da sagte Danne- 1970 bestand. Anfangs der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- cker: «Schafft eins, zwei, drei, schafft viele Sexu- lands SPD nahestehend, wurde er nach der erzwungenen Trennung von der Mutterpartei zum Sammelbecken der Neuen Linken und alskandale an der Kantonsschule.» Das wurde spielte eine bedeutende Rolle in der Studentenbewegung der von einem Staatsschützer so aufgeschrieben. Der 1960er-Jahre. Satz war eine Anlehnung an den damals bekann- 11 Rudi Dutschke. Alfred Willi Rudi Dutschke (1940–1979). Deutscher ten Spruch von Che Guevara12 «Schafft eins, zwei, marxistischer Soziologe und politischer Aktivist. Wortführer der drei, schafft viele Vietnams13.» Und so hat sich der westdeutschen und West-Berliner Studentenbewegung der 1960er- Staatsschützer gefragt, ob sich Martin Dannecker Jahre. Verstorben an den Spätfolgen eines Attentats, bei dem er 1968 schwere Hirnverletzungen davongetragen hatte. durch diese Aussage vielleicht strafbar gemacht 12 Che Guevara. Ernesto Rafael Guevara de la Serna, genannt Che hat. Mit diesem Anliegen ist er dann, wie aus den Guevara oder einfach Che (1928–1967), marxistischer Revolutionär, Fichen hervorgeht, wahrscheinlich zur Staatsan- Guerillaführer, Arzt und Autor. waltschaft gegangen und hat dort die Auskunft

30 bekommen, dass man vorläufig nichts machen Diskurs II könne. Aber falls sich wieder so ein Fall an der Betroffene und Beteiligte – Kantonsschule ergeben sollte und die Betroffenen 1970 und ihr weiterer Weg sich dabei auf Dannecker berufen würden, dann könnte eingeschritten werden. Verstehen Sie? Die «Auslöser» der «Aktion Rotes Herz»15 Verstehen Sie, was das heisst? MA. 1951–1998. 1969 Schüler an der Kantonsschule St. Gallen. Hat 1969 den Abteilungsvorstand der Etc.: Ja, ich verstehe. Kantonsschule St. Gallen, Albert Schweizer, ins MF:  Falls wieder ein 19-jähriger Junge und ein 19-jähri- Vertrauen gezogen und damit indirekt die «Akti- ges Mädchen der Kantonsschule miteinander on Rotes Herz» ins Rollen gebracht. Nach der schlafen und ertappt und sagen würden, sie hätten Wegweisung von der Kantonsschule St. Gallen das gemacht, weil das Martin Dannecker gesagt schloss MA die Mittelschulausbildung an einem habe … Das ist doch lächerlich … Wie auch im- Gymnasium in Baden ab. Studium der Ethnolo- mer, von dort her, denke ich, hat sich die Aktion gie an der Universität Fribourg. Tätigkeit für eine gelohnt. – Was ich aber etwas beschämend finde Hilfsorganisation, die sich mit Flüchtlingsfragen für die heutige Kantonsschule, ist, dass in der Ju- beschäftigte. Brachte mehrere Jahre in Peschawar biläumsschrift von 200614 abschätzig und teilweise (Pakistan) zu. Danach Wohnsitz in Fribourg. Ver- falsch über die «Aktion Rotes Herz» geschrieben heiratet, Vater zweier Töchter. MA verstarb infol- wird, wahrscheinlich, um auch heute noch die un- ge eines Autounfalls. Bis zu seinem Tod blieb MA sägliche Reaktion des Rektorates schönzureden. mit JW freundschaftlich verbunden. (Vgl. dazu auch den Boxentext S. 43). AR. 1951–2013. Aus Wil SG stammend. 1969 Schüler an der Kantonsschule St. Gallen. Während der Etc.:  Und Sie empfehlen Schülern, wenn sie so ein Anliegen Aktion verhielt sich AR weitgehend passiv. Ver- haben, ihre Meinung auch wie damals zu äussern? mutlich befand er sich persönlich in einer Krise, MF:  Ja, ich mache eine Parallele: Zufälligerweise habe und auch das ausgesprochene Ultimatum dürfte ich heute über die Edelweisshemd-Geschichte ihm zu schaffen gemacht haben. AR schloss die aus Gossau ZH gelesen. Wissen Sie Bescheid? Kantonsschule St. Gallen ab. Laut einem Inter- Haben Sie etwas aufgeschnappt? view mit dem Tages-Anzeiger von 2011 zum The- ma «Plötzlich Chef» hatte AR die Funktion eines Etc.: Ja, habe ich. Laufbahnberaters. AR starb infolge einer Krank- MF:  Ich habe das Gefühl, die haben etwas Ähnliches ge- heit. macht wie wir beim «Roten Herz». Sie haben sich JW. Jahrgang 1950. Aus Widnau SG stammend. 1969 aufgelehnt gegen die Bevormundung, gegen Denk- Schülerin an der Kantonsschule St. Gallen. Nach verbote. Die «Aktion Rotes Herz» ist sicher von der Wegweisung von der Kantonsschule St. Gal- Links gekommen und ich glaube auch nicht, dass len schloss JW die Mittelschulausbildung an ei- die Edelweiss-Hemden nur von Rechts kommen. nem Gymnasium in Basel ab. Ab 1971 Beschäfti- Ich habe gedacht, die haben recht gehandelt. Und gung mit Akupunktur, einer damals in der die Reaktion der Lehrerin, die ich nicht im Detail Schweiz noch weitgehend unbekannten Heilme- kenne, die aber allem Anschein nach nicht erfun- thode. In München Besuch der Heilpraktiker- den ist – so wie sie rapportiert wird, das ist einfach ein heutiger Betonkopf, oder? Und wenn man ge- gen Betonköpfe, gegen Denkverbote, repressives Meinungsklima und Tabus aufbegehrt: Da bin ich 13 Vietnamkrieg. Wurde von ca. 1955 bis 1975 in und um Vietnam immer noch der Meinung, dass das richtig ist. geführt. Weil er an den Indochinakrieg (1946–1954) anschloss und sich auf ganz Indochina erstreckte, wird er auch Zweiter Indochinakrieg genannt. Wegen der direkt und indirekt beteiligten Etc.: Und die «Aktion Rotes Herz» – hat sich die in Ihrem Supermächte gilt er als Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg. Mit späteren Leben nicht mehr ausgewirkt? der Einnahme Saigons durch den Vietcong (Nationale Front für MF:  Ja doch, sie hat sich insofern ausgewirkt, als sie die Befreiung Südvietnams) verloren die Vereinigten Staaten von für mich eine Erfahrung war, durch die ich ge- Amerika (USA) diesen Krieg. Wie jeder andere Krieg der Welt- merkt habe: Ich kann etwas bewegen. Es kommt geschichte blieb auch dieser Konflikt als besonders brutale auf mich an. Wenn ich den Mund aufmache, hat Auseinandersetzung mit vielen zivilen Opfern in Erinnerung. 14 Vgl. dazu Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 92–98. das ein Echo. Also ist es für mich eine sehr posi- 15 Auf ein Ausschreiben der Namen der «Auslöser» der «Aktion Rotes tive Erfahrung gewesen. Herz» wird aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verzichtet. Die Initialen stimmen, Vorname vor Nachname. Etc.: Herr Federer, vielen Dank für das Gespräch.

31 fachschule, Assistenz bei Prof. Stefan Palos. Assis- Die Unterzeichnenden des Flugblattes der «Aktion Rotes tenz bei Dr. med. Roll im Therapiezentrum Herz» vom 5. Januar 1970 16 Lindau und anschliessende Selbständigkeit in ei- gener Praxis, davon zehn Jahre in den USA. Mut- Die nachfolgend aufgeführten Personen haben das erste ter dreier Kinder. JW: «Für M. und mich hatten Flugblatt der «Aktion Rotes Herz» (5. Januar 1970) mit die Ereignisse grosse Auswirkungen auf das Le- ihrem vollen Namen gezeichnet. 2016 wurden sie um ben. Sie haben uns bestärkt, nach einem eigenen (freiwillige) Angaben zu folgenden Punkten gebeten: Lebensentwurf zu suchen und den Freiraum zu nutzen, der durch die Ereignisse von 1970 ent- stand, in denen wir von den etablierten Autori- Code: A Warum standen Sie 1970 mit ihrem Namen täten verstossen wurden. Wir teilten beide eine zur «Aktion Rotes Herz»? Antwort in einem gewisse Nonchalence, was die gemeinhin aner- Satz. kannten Werte der Gesellschaft anging und ha- B Ausbildung nach Abschluss Kantonsschule ben einfach alles hinterfragt. Dann das, was Sinn St. Gallen (nur wichtigste Station/en). machte, integriert. Der Schock hat uns in eine C Beruflicher Werdegang, Stellung völlig veränderte Landschaft transponiert, die (nur wichtigste Station/en). nicht übervoll war an Imperativen, Erfolg zu ha- D Wissen Sie, ob über Sie eine polizeiliche ben und Karriere zu machen. Vielmehr uns sozu- Akte (Fiche) geführt wurde? sagen die Erlaubnis gab, selber herauszufinden, E Erfuhren Sie wegen der «Aktion Rotes Herz» was von innen heraus stimmig war. Wir haben berufliche Nachteile? auch beide an eher exponierten Orten gearbeitet, F Beruf / berufliche Stellung Ihres Vaters / Ihrer M. im asiatischen Raum, ich mit Mexico-India- Mutter 1970. nern. Die Ereignisse haben das Auge für Ausser- G Ihr heutiger Wohnort. gewöhnliches geschärft: M war sehr musikalisch und ich war und bin Zeit meines Lebens viel mit Künstlern zusammen. Dass M. und ich die Kon- Alfred Brülisauer. Jahrgang 1950. Aus St. Gallen stam- stellation schufen, respektive uns in ihr fanden, mend. Code: A «Ich fand den Beschluss der die nicht nur persönlich mit der Zeit Sinn mach- Schulleitung, zwei fast volljährige junge Leute te, sondern auch Kreise zog und politisch wurde, aus der Schule auszuschliessen, bzw. sie unter erlebe ich nach 46 Jahren als erfreulich. Die Soli- Druck zu setzen, die Schule selber zu verlassen, darität unserer Schulkameraden in der «Aktion bloss weil sie miteinander eine intime Beziehung Rotes Herz», der Mut zu Widerstand und die Be- pflegten, skandalös.» – B Dipl. Ing. Agr. ETH, anspruchung der Grundrechte haben da ihren Doktorat in angewandter Botanik, Vancouver / Anfang genommen – nicht als Unterricht aus ei- Canada. – C Leiter Abteilung Natur- und Land- nem staubigen Buch, sondern konkret und real schaftsschutz, Baudepartement, später Volks- vom Alltag bestimmt.» wirtschaftsdepartement Kanton St. Gallen. – D «Vermutlich wurde eine geführt.» – E «Nein.» – F JW war mit MA bis zu dessen Tod freundschaft- Finanzchef bei den Städtischen Verkehrsbetrie- lich verbunden. ben St. Gallen (VBSG), Hausfrau. – G Witten- bach.

Matthias Federer. Jahrgang 1951.17 Aus Rorschacherberg 16 In der nachfolgenden Zusammenstellung werden die Unter- stammend. 1970 Schüler an der Kantonsschule zeichnenden des Flugblatts «Aktion Rotes Herz» vom 5. Januar St. Gallen. Initiant der «Aktion Rotes Herz», Mit- 1970 mit vollem Namen angeführt, da diese Namen bereits wirkender bei weiteren (früheren) Aktionen. publiziert wurden. Vgl. dazu Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 94. – Ich danke allen ehemaligen Unterzeichnern des Flug- Nach den heftigen Reaktionen von Rektor Kel- blattes für ihre wertvolle Unterstützung. lenberger geschlossen, sah dieser in Federer so 17 Jüngerer Bruder von Jakob Federer, der als Hauptakteur im «Fall F.» etwas wie den «Rudi Dutschke der Kantonsschu- an der Kantonsschule Sargans den Erziehungsrat des Kantons le» (JH), der die Schulleitung herausfordern und St. Gallen 1970/1971 beschäftigt hat (vgl. dazu Anm. 20). Jakob ihre Autorität untergraben wollte; Kellenberger Federer ist rund fünf Jahre älter als Matthias Federer und befand nahm darum die Aktion sehr persönlich. Code: A sich zur Zeit der «Aktion Rotes Herz» im Studium an der Univer- sität Zürich. Jakob Federer unterstützte seinen Bruder während der «Es war für mich damals klar, mit dem eigenen Aktion. Dass gerade sie als «infizierte» 68er die tragende Rolle in Namen zu meiner Meinung zu stehen. Wir woll- den zwei sanktgallischen «Kantonsschul-Fällen» spielten, sehen sie ten ja eine Diskussion führen, für einen freieren als Zufall. Umgang mit der Sexualität einstehen und die da-

32 mals herrschende Ansicht zurückweisen, dass die Felix Kaelin. Jahrgang 1952. Aus Rorschach stammend. Hierarchien die Lebensentwürfe der Jungen vor- 1970 Schüler an der Kantonsschule St. Gallen. schreiben und Abweichungen sanktionieren dür- Code: keine Antwort erhalten. fen.» – B Studium der Psychologie, Psychopatho- logie und Pädagogik an der Universität Zürich. Bruno Oesch. Jahrgang 1951. Aus Rorschacherberg stam- – C Jugendhausleiter, Schulpsychologe, eigene mend. 1970 Schüler an der Kantonsschule St. Gal- psychotherapeutische Praxis für Kinder und Er- len. Code: A «Ich habe mich aus damaliger Sicht wachsene in Zürich (Dr. phil., Kinder- und Ju- daran gestossen, ja habe es als geradezu schreien- gendpsychologe FSP, Zürich). – D Es wurde eine de Ungerechtigkeit empfunden, dass die Kan- geführt (vgl. dazu auch S. 38 f.). – E «Nein, hätte tonsschule als öffentlich-rechtliche Körperschaft aber wohl solche erfahren, wäre nicht vorgängig des Kantons ohne erkennbare rechtliche Grund- zu meiner Anstellung als Jugendhausleiter in Ad- lage und ohne überzeugenden Nachweis eines liswil (ZH) das Spitzelarchiv von Major Ernst überwiegenden öffentlichen Interesses sich in das Cincera aufgeflogen.» – F Gelernter Kaufmann selbstbestimmte, zugegeben damals eher unkon- und Verwalter einer landwirtschaftlichen Genos- ventionelle Privatleben eines jungen Paares nicht senschaft, Hausfrau und Teilzeitmitarbeitende in nur eingemischt hat, sondern dessen Entscheid der landwirtschaftlichen Genossenschaft. – G über die gemeinsame Zukunft auch noch diszip- Zürich. linarisch sanktioniert hat.» – B Studium an der HSG mit Abschluss in Staatswissenschaften und Beat Fritsche. Jahrgang 1950. Aus Gossau SG stammend. Wirtschaftsrecht, Aufbaustudium an der Univer- 1970 Schüler an der Kantonsschule St. Gallen. sität Konstanz in Politikwissenschaft. – C Juristi- Code: A «Mit anderen jungen Leuten konnte ich scher Mitarbeiter der Stadt St. Gallen, Sekretär / 1970 nicht verstehen – und wollte auch nicht ak- Stabschef der Direktion Schule und Sport der zeptieren –, dass eine Schule auf das mutmasslich Stadt St. Gallen. – D «Ich weiss es nicht, bin aber intime Verhältnis von zwei Schülern einer Matu- davon überzeugt.» – E «Ich hatte keine erkennba- raklasse etwas überfordert und hilflos einzig mit ren beruflichen Nachteile.» – F Diplomkauf- dem ‹Consilium abeundi› und damit faktisch mit mann in der Stellung eines Prokuristen, Haus- einem Schulausschluss reagierte.» – B Studium frau. – G Abtwil. der Rechte an der Universität Zürich, Lizentiat, Anwaltspatent des Kantons Luzern. – C Juristi- Silvio Roduner. Jahrgang 1950. Aus St. Gallen stammend. scher Mitarbeiter Baudepartement Kanton 1970 Schüler an der Kantonsschule St. Gallen. St. Gallen, Sekretär Baudirektion Kanton Appen- Code: A «Ich glaube, dass die Empörung über die zell A.Rh., Gerichtsschreiber Verwaltungsrekurs- Scheinheiligkeit des Rektors und des Prorektors kommission des Kantons St. Gallen, Jugendan- (der zugleich unser Lateinlehrer war) ein wichti- walt in Wil, Leiter Jugendanwaltschaft St. Gallen, ges Motiv war.» – B 1970–1974 Theologiestudi- Leitender Jugendanwalt Jugendanwaltschaft um, Universität Zürich. Spezialisierung auf Er- Winterthur und a. o. Jugendstaatsanwalt Kanton wachsenenbildung. 1988–2011 Weiterbildungen Zürich. – D «Ich verlangte schriftlich Einsicht in als Managementberater. Ab Herbstsemester 2014 meine Fiche. Ich wurde orientiert, dass keine sol- Masterstudium Theologie Universität Zürich che bestehe.» – E «Nein.» – F Lebensmittelins- (Vorbereitung zum Pfarrer). – C Nach dem pektor des Kantons St. Gallen, Hausfrau. – G Theologie-Studium verschiedene Tätigkeiten in St. Gallen. verschiedenen Ländern im Bereich der Erwachse- nenbildung, Personalführung und Strategieent- Kornelius Hug. Jahrgang 1951. Aus Rorschacherberg stam- wicklung im Auftrag von öffentlichen Organisa- mend. 1970 Schüler an der Kantonsschule St. Gal- tionen resp. von Firmen der Privatwirtschaft. – D len. Code: A «Das Verhalten der Schulleitung, «Nein. Möglicherweise wegen meiner Militär- Wegweisung zweier Schüler als Folge sexuellen dienstverweigerung.» – E «Nein.» – F Feuerwehr- Kontakts, war für mich absolut inakzeptabel und unteroffizier (der städtischen Feuerwehr), Haus- rief nach einer Reaktion ‹à la mode du temps› – frau. – G St. Gallen. schliesslich lagen die 68 nicht weit zurück.» – B Psychiatriepfleger. – C Ab 1990 selbständig als IT- Doris Raschle. 1952–2004. Aus Gossau stammend. 1970 Fachmann, Schwerpunkt Schulung und Pro- Schülerin an der Kantonsschule St. Gallen. Einzi- grammierung. – D «Keine Ahnung.» – E «Nein.» ge Frau unter den Unterzeichnenden des Flug- – F Redaktor Ostschweizer Tagblatt in Rorschach, blattes. Im persönlich gestimmten Nachruf mit Hausfrau. – G Tschappina GR. dem Titel «Botschafterin des Glücksvogels» cha-

33 rakterisiert Josef Osterwalder die charismatische selbstverständlich ihren Platz. Aus heutiger Sicht Doris Raschle, die als Mimin viele Menschen be- würde man von einem aufrechten Vertreter der glückte und infolge einer Hirnblutung «mitten «alten Schule» sprechen: humanistisch gebildet, aus einer Fülle von Ideen, Träumen und Projek- hochintelligent, fleissig, aber auch konform und ten» herausgerissen wurde.18 wertkonservativ – womit Paulfritz Kellenberger in einer Zeit aufschäumender sozialrevolutionärer Christian Sutter. Jahrgang 1952. Aus Rorschach stam- Begehren eine breite Angriffsfläche bot und für mend. 1970 Schüler an der Kantonsschule St. Gal- einige zur Zielscheibe werden musste. len. Code: A «Die Einmischung der Lehrkräfte in die Intimsphäre von Schülern empfand ich als Es ist anzunehmen, dass nach Kellenbergers Auf- überheblich, scheinheilig und anmassend.» – B fassung die «Aktion Rotes Herz» erstens einen Sonderkurs am Lehrerseminar Rorschach, HPS gröberen Störfaktor bildete, durch den der Ruf Zürich. – C Lehrer (u. a. Kleinklassen), Teilpen- einer ordentlichen Schule, wie Kellenberger sich sum Schulleitung. – D «Es wurde eine geführt.» eine solche vorstellte, Schaden nehmen musste; – E Erschwerte Aufnahme in den Sonderkurs. – F dem galt es repressiv vorzubeugen (Zitat Kellen- Arzt, Praxishilfe. – G St. Gallen. berger: «ein Exempel statuieren»). Zweitens, so kann man aus den Quellen schliessen, stellte für Rektor Kellenberger, Prorektor Schweizer Kellenberger die «Aktion Rotes Herz» eine linke Paulfritz Kellenberger (1923–2006).19 Dr. phil., Lehrer für Provokation dar, die, möglicherweise kontami- Geschichte und Französisch. Gehörte während 37 nierend und sich dabei unkontrolliert ausbrei- Jahren, von 1951 bis 1988, dem Lehrkörper der tend, eine Reaktion, ein schnelles Ein- und ein Kantonsschule St. Gallen an, wovon 20 Jahre hartes Durchgreifen erforderte (Zitat Kellenber- (1963–1983) als Rektor. Soweit sie aus Nachrufen ger: «Ausbrennen» bevor der Brand weiter brennt. erschlossen werden kann, verdeutlicht Kellenber- Sonst ist die Schulgemeinschaft gefährdet»). Ent- gers untadelige Biographie einen pflichtbewussten sprechend unbesonnen war «KB’s» Reaktion. Die Schulleiter, der an sich und an seine Umgebung Unverhältnismässigkeit, mit der der Aktion und hohe Massstäbe legte. In seinem strengen, von ihren Initiatoren in kommunikativ-verbaler und freisinniger Staatsauffassung und autoritär-militä- disziplinarisch-pädagogischer Hinsicht entgegnet rischem Geist geprägten Profil (in Kellenbergers wurde (was sich dann der Öffentlichkeit auch so Vokabular existierten Begriffe wie «Schulfront») darstellen musste), wurde mehrheitlich als Über- hatten eine enge Auslegung von Ordnung, deren reaktion wahrgenommen (und von der «katho- Prinzipien Klarheit und Überschaubarkeit waren, lisch-konservativen» Presse an die Adresse ihrer und ein zeitgeprägtes, vom Kalten Krieg eng be- «freisinnigen Gegnerschaft» entsprechend ge- grenztes, schematisches rechts-links-Denken wie nüsslich ausgeschlachtet). Doch weder befohlen noch mit viel Willen liessen sich die unterschied- lichen Moralvorstellungen überbrücken. Zwar blieb der Rektor in diesem ersten ernsten sankt- 18 Tagblatt, 13. Juli 2004. gallischen Ereignis einer 68er-Konfrontation un- 19 Noger: Nekrolog Paulfritz Kellenberger, S. 15–17, hier: beugsam sich und seinen eigenen Prinzipien weit- S. 16: «Dass dies [Reformen im sanktgallischen Bildungswesen] teilweise in einem von Unruhe geprägten sozialen Umfeld gehend treu. Menschlich war er aber überfordert, (68er-Jahre, Aktion Rotes Herz etc.) stattfand, unterstreicht die und dass ihn weder der Erziehungsrat noch der grosse Herausforderung, welche die Leitung dieser Schule Erziehungsdirektor stützten, empfand er als bit- darstellte.» – Widmer: [Nekrolog] Paulfritz Kellenberger, S. 147 f., tere Niederlage und Enttäuschung. Feststeht, hier: S. 146: «[…] und die Nachwehen der 68er-Jahre forderten dass in der Geschichte der Kantonsschule St. Gal- im Zusammenhang mit der «Aktion rotes Herz», einer Schüler- len Paulfritz Kellenbergers Name verbunden affäre mit nationaler Ausstrahlung, schnelles und entschiedenes Handeln». – Zur Biographie vgl. ferner: Kellenberger: Kantons- bleibt mit der «Aktion Rotes Herz». schule St. Gallen, v. a. S. 90. 20 Das Thema der 68er und ihres Einflusses auf sanktgallische Mittel- Die «Aktion Rotes Herz» war zu einem Präzedenzfall für schulen ist wissenschaftlich nicht erschöpfend untersucht. Einen ähnliche Auseinandersetzungen seither mit Begehren wesentlichen Baustein in Form der bislang einzigen monographi- der 68er geworden. Dass anderswo an sanktgallischen schen Darstellung eines sanktgallischen Einzelfalls liefert Holenstein: Mittelschulen, zumal in dem kurze Zeit später aufbre- «Fall F.». Im Übrigen zeigt der «Fall F.», wie Führungspersonen an chenden «Fall F.» an der Kantonsschule Sargans, anfangs einer Landmittelschule – in diesem Fall Rektor Dr. André Schwizer an der Kantonsschule Sargans – mit einer vergleichbaren Heraus- zurückhaltender reagiert wurde, dürfte mit den Erfah- forderung (auch noch) umgegangen sind. Folgen hatte man aller- rungen rund um die «Aktion Rotes Herz» zu tun gehabt dings auch in Sargans zu tragen. haben.20

34 Titelseite (Ausschnitt) des «Blick» (Tageszeitung) vom 7. Januar 1970. St. Gallen rückt in den schweize- rischen Fokus, «der Fall» an der Kantonsschule St. Gallen wird zum gesellschaftlichen Politikum. Quelle: StaatsASt. Gallen, Akten «Aktion Rotes Herz».

Albert Schweizer (1908–1987). Dr. phil., Lehrer für Alte fen gegen die «Aktion Rotes Herz» zurücknahm). Sprachen. Gehörte dem Lehrkörper der Kantons- Im Nekrolog für Albert Schweizer, mit dem ihn schule St. Gallen von 1939 bis 1973 an. 1960–1971 die Kantonsschule St. Gallen verabschiedete und Vorstand des Obergymnasiums. Er, der von MA würdigte, verlautet begreiflicherweise nichts zur ins Vertrauen gezogen worden war, brachte die «Aktion Rotes Herz».21 Angelegenheit in die Klassenlehrerkonferenz und beantragte der Rektoratskommission, den Aus- Irrelevant für das Thema, aber selbstredend für schlechten schluss des Liebespaares, setzte sich aber gegen Journalismus: Das Boulevard-Blatt «BILD» missbrauchte andere Stimmen dafür ein, dass der Ex-Freund 1970 anlässlich der Reportage über die «Aktion Rotes «nur» mit der zweithöchsten Strafe, dem Ultima- Herz» Schweizers Namen, indem «BILD»-Reporter Hol- tum, sanktioniert würde. V. a. in der durch das ger Heck unter dem Titel «Liebespaar von der Schule ge- Flugblatt befeuerten Moraldiskussion inner- und worfen» den Fall kurzerhand ins Albert-Schweitzer-Gym- ausserhalb der Schule geriet Schweizer ins Schuss- nasium in St. Gallen verlegte. feld. Seine Aussage gegenüber den Akteuren der «Aktion Rotes Herz» fand Niederschlag in Schwei- zer Tagesblättern (z. B. im Tages-Anzeiger): «Dis- Diskurs III kussion über die herrschende Moral fordert ihr? Ausgewählte Quellen Herrschende Moral – es gibt keine herrschende oder nichtherrschende Moral. Es gibt nur eine Nachfolgende Quellen stellen eine Auswahl dar. Es han- Moral, und alles andere ist Unmoral!» Diese ex- delt sich um Dokumente, die entweder noch nie oder tensiv geschwungene Moral-Keule führte Schwei- aber in anderer Form publiziert wurden resp. die in öf- zer zunehmend in eine Isolation. Ganz offensicht- fentlichen Archiven oder Bibliotheken nur schwer auf- lich litt Schweizer unter der Kampagne rund um findbar resp. zugänglich sind, die sich in Privatbesitz oder die «Aktion Rotes Herz». Irgendwie doch väter- aber in geschlossenen und nicht zugänglichen Spezial- lich wirkend, liess es Schweizers biografischer Ab- stand zu den Aktionisten dann aber doch nicht zu, deren Bedürfnisse auch wirklich verstehen zu kön- nen resp. zu wollen. 1971 trat Schweizer von sei- nem Amt als Abteilungsvorstand zurück, laut 21 Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 92 f., 221. – Kellenber- Baumann «sichtlich gebrochen» (wohl auch we- ger: Kantonsschule St. Gallen, S. 94. – Tages-Anzeiger, Freitag, gen der Haltung des Erziehungsrates, der die Stra- 9. Januar 1970.

35 archiven befinden. Dieses Kapitel der Arbeit dient somit Das erste Flugblatt der «Aktion Rotes Herz» geht weit über explizit der Quellensicherung und Erweiterung der Be- eine gewöhnliche Solidaritätsbekundung hinaus, etwa ei- legbasis.22 nen Brief an eine massregelnde Stelle wegen einer himmel- schreienden Ungerechtigkeit. Der Inhalt des Textes ist be- Quelle 1 stimmt und unmissverständlich. Er stellt eine Mischung Flugblatt «Aktion Rotes Herz» (Abb. S. 23) dar aus Information und Forderung (aus der Sicht der Flugblatt «Aktion Rotes Herz», 5. Januar 1970.23 Zwar Aktivisten handelte es sich beim eingeforderten Recht auf blieb dieses nicht das einzige schriftliche Manifest der Intimsphäre nicht um eine Anmassung, sondern um eine gleichnamigen Solidaritätskundgebung, es war jedoch das Selbstverständlichkeit, um ein Menschenrecht), aus Em- erste und wohl markanteste aller Flugblätter jener Tage. pörung, Protest, dem Verlangen nach einem sofortigen Nachdem die beteiligten Schüler Informationen von allen Abstellen des Missstands und dem Aufruf zu Widerstand Beteiligten (auch von Abteilungsvorstand Schweizer) ein- durch angedrohte weitere Schritte der Aktion (man könn- geholt und sich mit ihrem Physiklehrer beraten hatten, te es als Strategie der ostentativen Beharrlichkeit bezeich- wurde das Flugblatt nach Entwürfen von Brülisauer, Fe- nen). Zu letzterer gehörte, dass die Sympathisanten der derer und Raschle am 4. Januar aufgesetzt und gestaltet. Aktion zu deren Unterstützung aufgefordert wurden, in- Die Schüler hatten erst während der Weihnachtsferien dem sie einen bei den Unterzeichnenden des Flugblattes vom Ausschluss des Liebespaares erfahren. Das Blatt soll- erhältlichen Protestknopf tragen, auf jedes Klausurblatt te nach den unterrichtsfreien Tagen am Montag, 5. Januar ein Herz zeichnen resp. an die Wandtafel das Herz, das 1970, in ausreichender Zahl vorliegen, damit es an die Zeichen der Aktion, malen sollten. Leute verteilt werden konnte. Im Offsetverfahren ge- druckt hat das Flugblatt Röbi Baumgardt (1951–2015), Die Professionalität dieses Auftritts (dem ein mediales und zwar in einer Auflage von etwas mehr als 1000 Exem- Echo sicher sein musste), die Messerschärfe des Wortlauts, plaren. In Baumgardts Druckerei an der Unterstrasse 37, die Vielzahl der im Text genannten spielerischen Protest- St. Gallen, entstanden Ende der 1960er- und zu Beginn formen sowie der Umstand, dass sich eine Schülerin und der 1970er-Jahre verschiedene Underground-Publikatio- acht Schüler mit ihrem vollen Namen zur Aktion bekann- nen, so auch die Zeitung «Roter Gallus» – und eben das ten, erstaunen. Vorgehensweisen wie die geschilderten, die Flugblatt des roten Herzen.24 je nach Standpunkt und Betrachtung zwischen sprühen- der Kreativität und unverschämter Perfidie oszillierten, werden in ähnlicher Form beispielsweise auch im «Kleinen Roten Schülerbuch» vorgeschlagen. Dieses war 1969 in dä- nischer Fassung herausgekommen und lag möglicherweise schon im gleichen Jahr auch in deutscher Übersetzung 22 Die intensivere Auseinandersetzung mit der «Aktion Rotes Herz» zeigt, dass sich viele Unterlagen in Privatbesitz befinden, also (oder Teilübersetzung) vor. Seit seinem Erscheinen war das schwer zugänglich sind. Vgl. auch Mayer: 1968 in St. Gallen, S. 108, Schülerbuch umstritten, so auch in der Schweiz, wo das Anm. 36 ff., der verschiedene private Unterlagen auswertet. behördlicherseits als «jugendgefährdend» eingestufte Werk 23 Abgebildet ist das Original und damit gleichzeitig die Vorlage, zeitweise mit einem Einfuhrverbot belegt und verboten nach der die etwas kleineren Reproduktionen für den Handver- war.25 Dass es an der Kantonsschule St. Gallen die «Aktion kehr entstanden sind. Privatbesitz Matthias Federer, Zürich. Rotes Herz» inspiriert und stimuliert hat, verneint hinge- Das gedruckte Exemplar des Flugblattes ist verschiedentlich gen Matthias Federer auf Nachfrage. Die genannten Pro- publiziert worden, am prominentesten in Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 94. testformen lagen damals auch einfach in der Luft. 24 Vgl. dazu Steiger: Baumgardt. 25 Andersen/Søren/Jensen: schülerbuch. Das dem Autor dieses Bei- Einen eindeutigeren Hinweis auf eine Einbettung der trags vorliegende Exemplar des Schülerbuchs stammt aus der «Aktion Rotes Herz» in einen grossmassstäblichen Kon- 2. Auflage (in Deutsch) vom April 1970 (deutsche Bearbeitung von text bietet hingegen das im Flugblatt auf den 8. Januar Peter Jacobi und Lutz Maier), Verlag neue Kritik, Frankfurt a. M. 1970 angekündigte «Teach-in» ([bes. an Hochschulen] Die dänische Originalausgabe erschien 1969 unter dem Titel «Den lille røde bog for skoleelever» im Hans Reitzels forlag, Kopen- [demonstrative] Zusammenkunft zu einer politischen hagen. Jacobi/Maier übertrugen ins Deutsche nach der dritten Diskussion, bei der bestimmte Missstände o. Ä. aufge- Auflage in Dänisch, die ebenfalls 1969 erschienen war. – Zur Re- deckt werden sollen [Definition nach Duden]). Dieses zeption der Werks in der Schweiz und dem dadurch ausgelösten «Teach-in» sollte in der Aula der Kantonsschule in Form Skandal vgl. Ritzer: Kalter Krieg, S. 393–398. – Stocker: Schülerbuch. einer «offenen Diskussion» zwischen der Schülerschaft – Zu Sargans, wo das Büchlein im Schuljahr 1970/1971 als Klassen- und der Schulleitung «über die herrschende Moral» statt- lektüre im Einsatz stand – mit skandalträchtiger Wirkung: Holen- stein: «Fall F.» – Hinweise zur Kantonsschule St. Gallen: Kellenberger: finden, wurde dann aber ins Kongresshaus Schützengar- Kantonsschule St. Gallen, S. 62: «Gleichzeitig wurde die Lehrer- ten verlegt. Allein schon der Begriff «Teach-in» erinnert schaft in Abständen über die rasch aufschiessende ideologische an entsprechende Protestformen der 68er-Aktivisten der Schülerliteratur – wie das Rote Schülerbüchlein – orientiert.» transnationalen Szene.

36 Die Rückmeldung von Adolf ­Muschg stellt die prominenteste zum Fall an der Kantonsschule St. Gallen vom Jahreswechsel 1969/1970 dar. Sie macht die Be- deutung der damaligen Ereignisse noch in einer anderen Dimension sichtbar. ­Quelle: StaatsASt. Gallen, Akten «Aktion Rotes Herz».

Quelle 2: fand auf Vorschlag von Dr. Wittwer mit Zustimmung ei- Offener Brief von Adolf Muschg an eine Schülerin und einen nerseits der Eltern von JW, anderseits von JW selbst statt, Schüler und zwar am 16. Januar 1970, eine gute Woche bevor JW Zur nationalen Resonanz, die die «Aktion Rotes Herz» volljährig wurde. Mit gleicher Zustimmung wurde das fand, zählt der abgedruckte Beitrag «Offener Brief an eine Gutachten auch dem Rektorat der Kantonsschule St. Gal- Schülerin und einen Schüler der Klasse 6G, Kantonsschu- len zugänglich gemacht. Da sich das Gutachten nicht un- le St. Gallen» des Germanisten Adolf Muschg (geb. 1934). ter den Akten des Staatsarchivs St. Gallen befindet, scheint Er wurde im ZW-Sonntags-Journal, Nr. 3 (17./18. Januar man weder von der Schule noch vom Erziehungsrat des 1970), veröffentlicht.26 Im selben Jahr (1970) wurde Adolf Kantons St. Gallen aus Gebrauch von der Möglichkeit die- Muschg ausserordentlicher Professor für deutsche Spra- ser Akteneinsicht gemacht zu haben. Kurze Auslassungen che und Literatur an der ETH Zürich. sind entsprechend bezeichnet ([…]).27

Quelle 3: Psychiatrisches Gutachten betreffend JW Psychiatrisches Gutachten von Dr. med. David Kirchgra- 26 Muschg: Offener Brief. ber (1926–2015), Direktor der Kantonalen Psychiatrischen 27 Der Autor dankt JW bestens für die Zustimmung zur Veröffent- lichung des Psychiatrischen Gutachtens. Die Betroffene hat das Klinik Herisau, gerichtet an Dr. med. W. S. Wittwer, Arzt Gutachten Anfang 2016 im Zusammenhang mit der Recherche für Allgemeine Medizin FMH, Au (SG). Das Gutachten, zur «Aktion Rotes Herz» in Herisau, wo es noch immer lagert, ausgestellt mit Datum vom 9. Februar 1970, betrifft die bestellt und damit erstmals zur Kenntnis genommen. Im Text des Kantonsschülerin JW, geb. 1950, Widnau. Der Untersuch Gutachtens ist JW. zu J., MA. zu M. reduziert.

37 «Wunschgemäss habe ich […] die Patientin consiliarisch JH] Schulbildung zu wehren, wenn sie den Mut habe, an untersucht. Ich hatte auch die Gelegenheit, mit ihrer Mut- die Kantonsschule zurückzukehren und das Geschwätz der ter zu sprechen und mich eingehend über die Anamnese Umwelt zu ertragen. Sie zeigte effektiv Zuversicht und und die Schulsituation zu informieren. Am 19. Januar kon- meinte, sobald sie volljährig geworden sei, wolle sie selber sultierte mich noch der Freund, […]. Beide Elternpaare handeln. […] J. hat nach meiner Kenntnis der Sache nicht und die zwei jungen Leute haben mich gegenüber den be- schulisch versagt und den Schulbetrieb nicht gestört. Hät- teiligten Instanzen vom Arztgeheimnis befreit, sodass ich te der ins Vertrauen gezogene Lehrer die heikle Angelegen- jederzeit Stellung nehmen könnte. Bisher haben aber weder heit als freundschaftlicher, persönlicher und verschwiege- die Kantonsschule noch der Erziehungsrat nachgefragt. ner Berater in direkten Gesprächen mit den Beteiligten zu Das Untersuchungsergebnis kann ich folgendermassen re- erledigen gesucht, so wäre vermutlich alles anders gekom- sümieren: J. ist ein normal begabtes und entwickeltes, leb- men. Sicher haben die Schüler Fehler gemacht und der Af- haftes, gemütsmässig beeindruckbares und noch ein wenig färe unnötige Publizität verliehen. Den Hauptfehler beging unsicheres, hingegen keinesfalls haltschwaches oder ver- indessen die Schulleitung mit ihrem moralisierenden, die dorbenes Mädchen. Ich fand keine Anzeichen einer unna- Tatsachen und die Proportionen verkennenden Auftreten. türlichen Triebhaftigkeit oder einer ungesunden Abenteu- Es ist seltsam, wie wenig all die psychologische und paeda- erlust. Das Mädchen erlebte seine erotischen und sexuellen gogische Aufklärungsarbeit der letzten Jahrzehnte und die Verwicklungen, welche vonseiten der Schule übertrieben Begegnung mit der täglichen Wirklichkeit im konkreten wurden, durchaus natürlich und selbstkritisch und geriet Fall genützt haben. Bemühend finde ich es auch, wenn infolge der vorübergehend doppelten Bindung an zwei Ka- noch immer Christentum und Sexualität in eine Beziehung meraden in eine latente Verzweiflung. Es wandte sich an gebracht werden, welche es gar nicht gibt und welche von die Mutter, die nach meiner Ansicht vorerst positiv und einer erschreckenden Unkenntnis der seelischen und sozi- überlegen reagierte und erst durch die eigenartige Haltung alen Realität des Menschen zeugt. Bezeichnend scheint mir der Schule irritiert und unsicher wurde. Sie hat das Mäd- auch, dass nach den Aussagen der Betroffenen teilweise die- chen auch erfreulich sachlich aufgeklärt, sodass es mit sei- selben Erzieher, die geschlechtliche Kontakte zwischen ver- nen Konflikten jetzt fertig werden dürfte. Man sieht an liebten Jugendlichen wie unmenschliche Excesse brand- diesem Fall freilich einmal mehr, dass selbst eine geschickte marken, sich empören gegen den Protest der Jungen ange- und jeder Prüderie abholde sexuelle Aufklärung nicht vor sichts der Unmenschlichkeit des Krieges in Asien. Nun ist Schwierigkeiten schützt, wenn die Konstellation ungünstig freilich eine Analyse dieses Verhaltens von leitenden Per- ist. Die Beziehung zum ersten Freund war wohl eher scheu sönlichkeiten ohne Einfluss auf den weiteren Ablauf. Eine und romantisch, diejenige zu M. leidenschaftlicher, ‹er- offene iskussionD an der Schule wäre aber ohnehin vonnö- wachsener›. Die Tatsache, dass es eine kurze Zeit sowohl ten, selbst mit dem Risiko, dass unter den Schülern habi- auf ihrer Seite wie bei M. zu einer Desorientierung kam, ist tuelle Störer in Erscheinung träten. Eine von echter Auto- nicht verwunderlich und ebensowenig pathologisch als rität geführte und demokratisch-tolerante kleine Gemein- ‹unsauber› zu nennen, und was dergleichen, von unrealisti- schaft sollte derlei verarbeiten können. Da ich häufig mit schen Erziehern verwendete Qualifikationen sind. Gerade Jugendlichen zu tun habe, interessieren mich diese Fragen die innere Auseinandersetzung mit ihrem Problem und der selbstverständlich stark. […]» Wunsch, sich von einem als Vertrauensperson eingeschätz- ten Paedagogen beraten zu lassen, zeigen uns, wie die Bei- Quelle 4: den um Klarheit rangen. Man sieht in diesem Alter nach Fiche Matthias Federer, enthaltend Informationen betreffend meiner Erfahrung viel mehr oberflächliche Bindungen als die Vorgänge 1969 / 1970 an der Kantonsschule St. Gallen und derartige Versuche, zu einer festen und zugleich freien Matthias Federer Zweisamkeit zu gelangen. Die Persönlichkeit des jungen Bei dieser Quelle handelt es sich um einen Auszug aus der Mannes ist allerdings labiler, und ich verstehe die Skepsis Fiche (vgl. zum Begriff Anm. 8) betreffend «die Vorgänge der Eltern ihm gegenüber. Aber auch er machte nicht den an der Kantonsschule St. Gallen» und den «Hauptverant- Eindruck eines verwahrlosten Jünglings, der eine Schulkol- wortlichen» Matthias Federer. Die umfangreiche, schliess- legin wie ‹Freiwild› behandelt, um einen offiziell gefallenen lich zehn A4-Seiten umfassende Aktennotiz, bestehend Ausdruck zu zitieren. Die lange und vertiefte Aussprache aus drei Teilen, wurde ab Januar 1970 von verschiedenen mit dem Mädchen ergab keine Gründe, welche einen Aus- Ermittlern («Rapportierenden») der «Abteilung Spezial- schluss rechtfertigen würden. Ich empfahl J., sich für ihr dienst» und «Fahndungsdienst» zu Handen des Polizei- Recht auf die unterbrochene [ununterbrochene?, Anm. kommandos des Kantons St. Gallen, z. K. Schweizerische Bundesanwaltschaft in Bern, angelegt. Abgebildet ist Blatt III jenes Teils, in dem es um die «Aktionen» an der Schule 28 Der Autor dankt Matthias Federer, Zürich, bestens für die Gelegen- geht. Konkret schildert der Bericht das «Teach-in» vom 15. heit zur Einsichtnahme in die Fiche sowie für die Erlaubnis, sie aus- Januar 1970 im Kongresshaus Schützengarten und weitere zugsweise veröffentlichen zu dürfen. Vorkommnisse rund um die «Aktion Rotes Herz».28

38 Sicht auf das für damalige ostschweizerische Ver- hältnisse ungewöhnliche Ereignis lange ausblieb, nahm dieses in der Vorstellung einiger Züge eines Mythos an.30

Eine recht breite Darstellung der Ereignisse rund um die «Aktion Rotes Herz», eigentlich überhaupt die erste, stammt 1981 von Paulfritz Kellenberger selbst. Kellenberger war damals noch immer Rektor der Kantonsschule St. Gallen. Bekanntlich fiel die «Aktion Ro- tes Herz» zehn Jahre vorher ebenfalls in seine Zeit als Schulleiter. Folglich gilt Kellenber- ger in der Angelegenheit als Partei und so- mit als befangen, was ihn, zumal auch aus zeitlicher Distanz heraus, nicht zwangs- läufig von einer ausgewogenen Darstel- lung der Vorfälle entbunden hätte; im- merhin war Kellenberger ausgebildeter Historiker.

Noch 1968 habe man versucht, berichtet Kellenberger, die Schülerschaft mehr in die Verantwortung einzubinden (wohl auch, um dadurch sich anbahnenden möglichen Die kapitale Fiche (Polizeiakte) Matthias Federer umfasst Entwicklungen frühzeitig vorzubeugen). Die Schritte der rund 10 Blatt. Darin sind u. a. die Ereignisse vom Frühjahr Schulleitung, wozu 1969 auch die Erlaubnis zu einer 1970 minutiös zusammengestellt. Abgedeckt sind die Namen Wandzeitung zählte, waren aber wohl doch etwas zu zag- von Spitzelnden und Denunzierenden. Reproduktion der Kopie haft, zu wenig glaubwürdig, zu gängelnd und von oben einer Originalseite. Quelle: Archiv Matthias Federer, Zürich. angeordnet gewesen; zumindest mochte dies der Wahr- nehmung einer sensibilisierten Schülerschaft entsprochen haben. Der Schulleitung und auch der Rektoratskommis- sion war in der ganzen Angelegenheit die Klarstellung der Machtverhältnisse wichtig. Da brach 1969 zuerst der Fall Diskurs IV der «ohne Wissen der Schulinstanzen» herausgegebenen Bisherige Darstellungen der «Aktion Rotes Herz» «ätzenden» Zeitung «Acid» über diese herein. Kurzerhand kritisch beleuchtet (Beispiele) verbot der Rektor (nach der Zeitung «Bumerang» [1969; vgl. auch S. 22, 29, 40]) auch «Acid», «um nicht durch ein In den grossen Werken zur Schweizer Geschichte nimmt mildes Gewährenlassen zu weiteren, ähnlichen Publika­ die «Aktion Rotes Herz» einen bescheidenen Platz ein. Jüngst hat ihr der Historiker Jakob Tanner (auf 679 Seiten) gerade mal zwei Zeilen gewidmet, mit dem (zumindest von den Beiträgen Baumann und Rosenbaum nicht bestä- 29 Tanner: Geschichte der Schweiz, S. 386. – Vgl. auch Baumann: tigten) Hinweis, dass im Sommer 1970 die alternative 68 und die Folgen (S. 16 ein kurzer Hinweis auf die «Aktion Rotes Zeitschrift «Roter Gallus» aus der «Aktion Rotes Herz» Herz», allerdings mit falscher Jahresangabe), ferner Rosenbaum hervorgegangen sei.29 Weit mehr Platz wurde der Aktion (seinen Beitrag in diesem Neujahrsblatt). – Der Autor dankt Beatrice in sanktgallischen Abhandlungen und Beiträgen zugestan- Akeret, Bibliothek Kantons-schule am Burggraben, St. Gallen, bestens für zweckdienliche Informationen und Dienstleistungen. den. Immerhin hat die «Aktion Rotes Herz» schweizweit 30 Vgl. dazu Fässler: Spitzel-Chauffeur, S. 79: «[…], in der Aktion Rotes Wellen geworfen. In der Ostschweiz bildete sie einen der Herz erreichte die Bewegung an der Kantonsschule St. Gallen einen Ausgangspunkte vertiefter kritischer politischer und ge- ersten Höhepunkt. Auch die Gegenseite begann sich zu organisie- sellschaftlicher Reflexion. Da eine beglaubigte, neutrale ren…»

39 tionen anzuregen».31 Auch die 1969 vom Rektorat auf- Gegenseite. Der unsachliche Ton, in dem Kellenberger in grund einer in der Schülerschaft positiv verlaufenen Ab- den Fall einleitet (und in dem er dann fortfährt), zeugt von stimmung zugelassene Schülerzeitung «GO» glitt Num- einer nachwirkenden oder anhaltenden persönlichen Ver- mer für Nummer mehr in antiwestliche und antikapitalis- letzung und ist als solches weniger geeignet für eine (zu tische Agitation ab. Anfang Januar (3.) 1970 zog dies eine erwartende ausgewogene) geschichtliche Darstellung. Kel- Rüge des Rektorats an die Schülerschaft nach sich. Die lenberger schreibt: «Ein mit viel Wohlwollen aus einer aus- Unzufriedenheit und die revolutionäre Energie in Teilen serkantonalen Schule aufgenommener Schüler, der auch derselben, die es gab, wenn sie auch nicht von jedermann in St. Gallen bald disziplinarische Schwierigkeiten bereite- wahrgenommen wurde, suchten nun schnell nach einer te und gern etwas Don Juan spielte, liierte sich intim mit nächsten Gelegenheit der Manifestation. Ende 1969 war einer Klassenkameradin; in das Verhältnis wurde zeitweise der Fall des bestraften Liebespaars bekannt geworden. Er ein zweiter Schüler der Klasse hineingezogen. […] Die bot Anlass zu einer Solidaritätskundgebung, die unter Rektoratskommission entschied in diesem Sinn [Bestra- dem Titel «Aktion Rotes Herz» am Montag, 5. Januar fung der zwei Schüler und der Schülerin mit dem Ultima- 1970, mit einem Flugblatt an die Öffentlichkeit trat. Be- tum, Wegweisung von zwei von ihnen], wobei für sie nicht kanntlich überschlugen sich damit die Ereignisse. die intimen Beziehungen den Ausschlag gaben, sondern die provokative Haltung und der damit verbundene Eine Analyse der von Kellenberger entwickelten Darstel- schlechte Einfluss auf andere Schüler.» Bereits aus damali- lung zeigt, dass seine Schilderung der Ereignisse diesen ger Sicht stellte das Ereignis nicht mehr als eine Bagatelle nicht gerechter wird als eine isoliert abgehörte Stimme der dar und war masslos aufgebauscht (abgesehen davon war die Schülerin beinahe 20 Jahre alt; nach damaligem Recht war die Volljährigkeit mit dem vollendeten 20. Altersjahr 31 Vgl. zum Thema Schülerzeitungen an der Kantonsschule St. Gallen erreicht). Spätestens 1981 hätte der Fall als solcher relati- Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 90–92. Die Schülerschaft trug viert und in ein auch für die der Schule Verwiesenen ge- am 25. April 1969 dem Rektorat die Bitte vor, die Erlaubnis zur rechteres Licht gerückt werden müssen (vor allem auch Schaffung einer Wandzeitung zu erteilen. Das Rektorat gestattete darum, weil die 1969/1970 gefassten Beschlüsse gegen die dies am 1. Mai «im Interesse eines Gespräches über Schulfragen». Schülerin gerichtet und somit frauenfeindlich waren). All Auch in dieser Hinsicht war der Bedürfnisstau evident, kursierte an der Schule doch bereits am 2. Mai die (moderate) Schülerzeitung dies wird noch zehn Jahre nach den besagten Ereignissen «Bumerang». Der Rektor liess das Blatt per sofort verbieten, da für ignoriert, indem es Kellenberger einerseits an Selbstkritik, ihn die Lage unübersichtlich zu werden drohte. Schon am 3. Mai anderseits an für einen Historiker zu erwartender differen- ging beim Rektorat die Bewilligung für das (progressive) Blatt «Acid» zierter Wahrnehmung und Darstellung fehlen lässt.32 ein, das Kellenberger ebenfalls verbot. Exemplare der genannten Blätter in StaatsASG, A 507/06.13, ferner Exemplare der Schülerzei- Seinen kurzen Beitrag für die Sankt-Galler Geschichte tung «GO» in der Bibliothek/im Archiv der Kantonsschule am Burg- graben (Nr. 1 [1969], 2 [1969], 6 [1970], 7 [1970], 8 [1970], alle un- 2003 stellt Max Lemmenmeier unter den Titel «Neue Leit- ter Signatur 05) sowie vereinzelt in weiteren Akten der «Aktion bilder zeichnen sich ab» und führt ihn ein mit dem Hin- Rotes Herz» (StaatsASG). Die Schülerzeitung der Kantonsschule weis auf den «Wandel der kulturellen Orientierungen», St. Gallen namens «La Purge» ist mit vier Nummern 1971–1974, der sich 1970 in der «Aktion Rotes Herz» an der Kantons- ebenfalls unter der Signatur 05 in der Bibliothek / im Archiv der schule St. Gallen verdeutlicht habe. Als Auslöser des Kon- Kantonsschule am Burggraben, nachgewiesen. – Der Autor dankt flikts stehen für Lemmenmeier die unterschiedlichen Beatrice Akeret, Kantonsschule am Burggraben, und Marcel Müller, Moralvorstellungen der Schulleitung und der Unterzeich- Staatsarchiv St. Gallen, bestens für zweckdienliche Informationen. 32 Kellenberger: Kantonsschule St. Gallen, S. 60–62. Laut Endnoten nenden des Flugblattes vom Januar 1970 im Vordergrund, an Quellen verwendet: Korrespondenz Rektor an Erziehungsde- des Weiteren die Kritik an einer unehrlichen, in Doppel- partement, Akten Erziehungsrat. moral verfangenen Gesellschaft (mit Hinweis auf den da- 33 Mit diesem Zitat von Rektor Kellenberger titelte der BLICK seine mals in einem Kino der Kantonshauptstadt ausgestrahlten Ausgabe vom 7. Januar 1970. In einem Radiointerview, das Kellen- Film «Die Porno-Gräfin»). Eine Form von Doppelmoral berger am 6. Januar 1970 Fredi Weber gab, sagte er (in Mundart, bildete auch das sprachliche Material, dessen sich die für die Darstellung hier ins Hochdeutsche transkribiert): «Nun, es sind nicht die intimen Beziehungen von diesen Schülern gewesen, Schulleitung während des Konflikts bediente. Wohl ge- die uns zum Einschreiten veranlasst haben – solche Beziehungen dacht zur Herstellung klarer Verhältnisse, evozierten ein- hat es auch in der Vergangenheit dann und wann gegeben –, zelne Begriffe und Formulierungen befremdliche Vorstel- sondern es sind die Auswüchse, die weder mit Moral noch neuer lungen («Unsere Schule darf kein Freudenhaus sein»,33 «der Moral zu tun haben, sondern, ganz einfach, dass durch das an- Schutz aller Anständigen» sei ein ernstes Gebot, es gelte steckende Beispiel die Gefahr einfach da ist, dass die Schule «ein Klima zu erhalten, das man moralisch als gesund be- zu einer Art Freudenhaus wird, und da darf die Schulleitung nie dazu Ja sagen.» Vgl. dazu StaatsASG, A 507/02.08.02 zeichnen kann», «die überwiegende Zahl unserer Schüle- 34 Lemmenmeier: Leitbilder. Laut Endnoten an Quellen verwendet: rinnen und Schüler ist auch gesund», Schüler und Schüle- verschiedene Zeitungsformate wie «Der Volksfreund», «Die Ost- rinnen sollen nicht «sexuelles Freiwild» werden, usw.). schweiz», «St. Galler Tagblatt», ferner Kellenberger: Kantonsschule. Eine semantische Analyse des Flugblattes der «Aktion

40 Rotes Herz» lässt jedoch schnell erkennen, dass dieses auch Quellen und Darstellungen (Auswahl) eine eigenständige provokative Stossrichtung aufwies, der Auslöser also einen tieferen, grundsätzlichen Konflikt of- Andersen/Søren/Jensen: schülerbuch. Andersen, Bo Dan/ fenlegte (bei Lemmenmeier als «Autoritätsverhältnisse» Søren, Hansen/Jensen, Jesper: Das kleine rote angedeutet).34 schülerbuch. Deutsche Bearbeitung Peter Jacobi und Lutz Maier, Frankfurt a. M. ²1970. Die Darstellung der «Aktion Rotes Herz» durch Daniel Baumann/Rüesch: Rotes Herz. Baumann, Sarah/Rüesch, Baumann, 2006, geht unter einem reisserischen Ansatz- Barbara: Die Auswirkungen der 68er Bewegung punkt aus von «arttypischen» Schlagzeilen und Textbei- auf die Schweizer Medien und auf St. Gallen, er- trägen in den beiden Boulevard-Blättern «BLICK» und arbeitet an der Aktion «Rotes Herz», Maturaarbeit «BILD» und kommentiert deren Informationen in einer (Kantonsschule am Burggraben, St. Gallen), ein- ähnlich saloppen Sprache. Der einigermassen ausgewo- gereicht 2003 (Betreuer: Roman Looser). genen Fallschilderung folgt als Idee, dass die Presse, allen Baumann: Kaleidoskop 1856–2006. Baumann, Daniel: Blättern die «National-Zeitung» voran, einer inszenier- Kaleidoskop 1856–2006, in: Die Kantonsschule ten Love-Story aufgesessen sei («wurde der Schweizer am Burggraben St. Gallen 1856–2006. Ihre Ge- Presselandschaft eine überwältigende Liebesgeschichte schichte in Text und Bild, auf Papier und DVD aufgetischt»), sich diese Presse also habe instrumenta- unter Mitarbeit von Josef Keller und Denise Man- lisieren lassen (gemeint: für die Ziele einer agitatorisch ser dargestellt von Daniel Baumann und Arno auftretenden «Aktion Rotes Herz»). Die Presse hätte Noger. Beilage zum 150. Programm der Kantons- dann in der (unbescholtenen) Kantonsschule St. Gallen schule am Burggraben St. Gallen, St. Gallen 2006, einen Prügelknaben ausgemacht, auf den man nun für S. 39–141. allerlei Versäumtes ungehemmt und unreflektiert ein- Dettwiler/Hämmerle: Vertrauen wurde schlecht belohnt. dreschen konnte. Dettwiler, Suzanne/Hämmerle, Hansjörg: Ver- trauen wurde schlecht belohnt: Schülerpaar flog Das Ganze habe sich schliesslich als Missverständnis her- nach Liebesbeichte vom Gymnasium!, in: Blick. ausgestellt, da die Presse nur ein flüchtiges Aussenbild Unabhängige Schweizer Tageszeitung, 12. Jg. haben konnte, jedoch keine Kenntnis der inneren, wirk- (1970), Nr. 4 (7. Januar 1970), Frontseite (S. 1). lichen Zusammenhänge. Diese habe dann, so Baumann, die Schülerzeitung der Kantonsschule «GO» (Nr. 5) im Januar 1970 an den Tag gebracht.35 Schliesslich seien im Schüler MA. [ausgeschriebener Name initialisiert; JH], in 35 Die Nummer 5 der Schülerzeitung «GO», von der sich im StaatsASG der gezielten Vertuschung der Wahrheit durch die Draht- ein Exemplar in den Akten zur «Aktion Rotes Herz» erhalten hat, erschien unter dem Datum vom 8. Januar 1970. Der Inhalt thema- zieher der Aktion sowie in diesen selbst die eigentlichen tisiert die «wahren Gründe» für den Ausschluss von MA und JW, Probleme ausgemacht worden, was die Massnahmen der wobei vor allem charakterliches Fehlverhalten der beiden genannt Schulleitung nachträglich in einem ganz anderen Licht wird (Unehrlichkeit, «sexuelle Befriedigung losgelöst vom nötigen erscheinen liess. Auch die Solidarischen der Aktion selbst Gefühl»). Das Blatt deklariert seine Darstellung selbst als «objektive sollen gezielt getäuscht worden sein von einigen derjeni- Beurteilung der Sachlage an die Schüler». Die verarbeiteten Infor- gen, die das Flugblatt unterschrieben hatten. Baumann mationen stammten direkt von Prorektor Schweizer, nachdem der militärdienstlich abwesende Rektor Kellenberger die Informationen schliesst: «Im Nachhinein muss aber festgestellt werden, an die Schülerschaft zuvor gesperrt hätte, so Schweizer. Die Zei- dass einige von ihnen [der Unterzeichnenden des Flug- tungsnummer ist auf S. 4 zwar mit «Die Redaktion» unterzeichnet. blattes; Anm. JH] – der Zweck heiligt die Mittel! – sich Stellenweise bedient der Text aber die 1. Person Singular ( «Es soll dabei nicht ganz astreiner Methoden bedient und die mir nun niemand sagen…»). Die Absicht von «GO Nr. 5» ist recht Schülerschaft unter Verschweigen des tatsächlichen Sach- durchsichtig: Rehabilitierung der Schulleitung, Spaltung der Gruppe verhalts bewusst gegen die Schulleitung aufgewiegelt hat- «Aktion Rotes Herz», Diffamierung der Rädelsführer Federer und ten. Diese selbst machte sicherlich den Fehler, dass sie, Brülisauer. Das nach Textangaben zwischen 22 und 2 Uhr verfasste Blatt scheint die Nachtarbeit eines Einzelnen gewesen zu sein. wohl nicht zuletzt um die Privatsphäre der Beteiligten zu 36 Baumann: Kaleidoskop 1856–2006, S. 92–98. Laut Endnoten an schützen, zu wenig klar informiert hatte. Auch mag sie am Quellen verwendet: verschiedene Zeitungsformate wie «BLICK», Ende froh darüber gewesen sein, dass die genauere Unter- «BILD», «Die Ostschweiz», «Die Tat», «GO» (Schülerzeitung), Nr. 5 suchung des Falles so viel belastendes Material gegen M. (8. Januar 1970), «National-Zeitung», «Weltwoche», Unterlagen des zutage gefördert hatte.» Schon allein diese Aussage enthält Erziehungsrats. – Weitgehend auf einer Auswertung des Beitrags in sich doch Ungereimtheiten und Widersprüche, die – Baumann beruht, was die «Aktion» als Einzelereignis selbst betrifft, Mayer: 1968 in St. Gallen, S. 102–105, der den Fall um wertvolle auch an den übrigen Dokumenten gemessen – nur schwer Ergänzungen weitet (S. 104 f.) und ihn einbettet in eine knappe aufgelöst werden können. Hingegen lässt sich mit Sicher- Darstellung der damals allgemein als bekannt geltenden prüden heit sagen, dass die «Aktion Rotes Herz» nie und nimmer Sanktgaller Gesellschaft um 1970. Grundlagen hierzu: Lemmen- ein Missverständnis gewesen ist.36 meier: Konsumgesellschaft, S. 52 f.

41 Fässler: Spitzel-Chauffeur. Fässler, Hans: Vom Spitzel- Noger: Nekrolog Paulfritz Kellenberger. Noger, Arno: Chauffeur zum PUK-Mitglied. Wie Ernst Rüesch Nekrolog Paulfritz Kellenberger. S. 15–17. junge Spitzel zum Einsatzort fuhr, in: Schnüffel- Ritzer: Kalter Krieg. Ritzer, Nadine: Der Kalte Krieg in staat Schweiz. Hundert Jahre sind genug, hg. vom den Schweizer Schulen. Eine kulturgeschichtliche Komitee Schluss mit dem Schnüffelstaat (mit ver- Analyse, Bern 2015. schiedenen Beiträgen), Zürich 1990, S. 79–84. Romeo und Julia, in: der schweizerische Beobachter, 44. Holenstein: «Fall F.». Holenstein, Dieter: Der «Fall F.» – Jg. (1970), Nr. 12 (30. Juni 1970), S. 18, 20, 22, 24. Pädagogischer Richtungskonflikt mit medialem Saner: Aufstand mit Herz. Saner, Gerhard: Aufstand mit Echo, in: 50 Jahre Kantonsschule Sargans 1963– Herz. Mittelschul-Affäre in St. Gallen, in: ZW- 2013, Sargans 2013, S. 149–163. Sonntags-Journal, Nr. 3 (17./18. Januar 1970), S. Interview etcetera-Federer. Die «Aktion Rotes Herz» an 24 f. der Kantonsschule St. Gallen. Interview von Ylber St. Gallen. Liebestragödie oder Skandal? St. Gallen. Lie- Conzett von der Redaktion der Schülerzeitung et- bestragödie oder Skandal? Auch Schüler haben cetera der Kantonsschule Heerbrugg mit Matthias Freiheiten, in: Schweizer Illustrierte, 59. Jg. (1970), Federer, Zürich, in: etcetera – Die Schülerzeitung Nr. 3 (12. Januar 1970), S. 8–11. der Kantonsschule Heerbrugg 1_2016 (1/2016), S. StaatsASG (Staatsarchiv St. Gallen), A 160/11006a, A 18–22. 507/02.08.02, A 071/01.19.3-23, A 071/01.19.3-24, Kellenberger: Kantonsschule St. Gallen. Kellenberger, A 071/01.19.3-06, A 507/06.13 (Schülerzeitungen, Paulfritz: Die Kantonsschule St. Gallen 1956–1981. ab 1969), A 507/06.14, A 507/02.08, l-V (Haupt- Zur 125-Jahr-Feier 1981. Beilage zum 125. Pro- dossier). Die rund 50 cm messende Sammlung gramm der Kantonsschule St. Gallen für 1981/82, von Dokumenten zum Fall «Aktion Rotes Herz» St. Gallen 1981. umfasst Korrespondenz resp. Zuschriften aller Lemmenmeier: Konsumgesellschaft. Lemmenmeier, Max: Art, Protokolle, Rekurseingaben, Stellungnah- Konsumgesellschaft und politische Stabilität, in: men, Beschlüsse des Erziehungsrats, gedruckte Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 8 (Die Zeit des Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, weiteres. Kantons 1945–2000), St. Gallen 2003, S. 9–82. Steiger: Baumgardt. Steiger, Wolfgang: Röbi Baumgardt Lemmenmeier: Leitbilder. Lemmenmeier, Max: «Aktion druckte für die Szene, in: Saiten. Ostschweizer Rotes Herz»: Neue Leitbilder zeichnen sich ab. Kulturmagazin, Nr. 248, September 2015, S. 59. Boxentext, in: Lemmenmeier: Konsumgesell- Stocker: Schülerbuch. Stocker, Annette: «Das kleine rote schaft, S. 55. Schülerbuch» und was eine Schweizer Buchhänd- Mayer: 1968 in St. Gallen. Mayer, Marcel: 1968 in St. Gal- lerin dazu meint, in: Schweizer Schule, 57. Jg. len. Gesellschaftskritik zwischen Planungseupho- (1970), Heft 18, S. 653–655. rie und Überfremdungsangst, in: Kempe, Heike Tanner: Geschichte der Schweiz. Tanner, Jakob: Geschich- (Hg.): Die «andere» Provinz. Kulturelle Auf- und te der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015 Ausbrüche im Bodenseeraum seit den 1960er-Jah- (Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, hg. ren, München 2014, S. 89–108 (Kleine Schriften- von Ulrich Herbert). reihe des Stadtarchivs Konstanz, hg. von Jürgen Widmer: [Nekrolog] Paulfritz Kellenberger. Widmer, Klöckler, Bd. 13). Nicole: [Nekrolog] Paulfritz Kellenberger Muschg: Offener Brief. Muschg, Adolf: Offener Brief an (15.10.1923–21.8.2006), in: Das St. Galler Jahr eine Schülerin und einen Schüler der Klasse 6G, 2008. St. Gallen von Jahr zu Jahr, hg. von Thomas Kantonsschule St. Gallen, in: Saner: Aufstand mit Eckhart, Michael Rek und Urs Schläfli, St. Gallen Herz, S. 24. 2008, S. 147 f.

42 Geschichtsklitterung 2006 lungsfalle war es praktisch dasselbe wie bei A.» oder «Dieser Fall stellt ein Präjudiz dar. Wir werden aufgrund der Behandlung Matthias Federer dieses Falles gewogen werden. Es gehören alle 3 weg, denn das Wohl des Ganzen geht vor, so bedauerlich es für das Einzel- Die Geschichtsschreibung der schicksal sein kann.») Kantonsschule St. Gallen zur Erst in Reaktion auf den öffentlichen Druck hat die Schul- «Aktion Rotes Herz» umfasst leitung die Verteidigungsstrategie aufgebaut, dass die angeb- zwei Beiträge. 25 Jahren nach lich besonders verwerfliche Art der Beziehungen («sexuelles Paulfritz Kellenberger (vgl. S. Freiwild», «Freudenhaus», «sittliche Haltlosigkeit» – Baumann 39) hat Daniel Baumann 2006 wertet diese Ausdrücke als «in letzter Konsequenz doch wohl zum Jubiläum eine Darstellung zu zurückhaltende Äusserungen des Rektors» [sic!]) der Grund zu den Vorkommnissen von für die Strafen gewesen sei. Es handelt sich dabei um eine Be- 1970 verfasst. Doch während hauptung, die schon von Beginn an nicht zur Verhängung des sich für Kellenbergers unkriti- Ultimatums – der zweithöchsten Strafe – gegen den auch laut sche Geschichtsschreibung mil- Lehrerschaft unbescholtenen AR passen konnte. Und übrigens dernde Umstände finden las- auch nicht zu Baumanns eigener Feststellung, die Schulleitung sen (aufgrund seiner persönli- möge «am Ende froh darüber gewesen sein, dass die genauere chen Betroffenheit und der zeitlichen Nähe), so ist das bei Bau- Untersuchung so viel belastendes Material gegen M. zutage mann kaum mehr möglich. Eine von Baumanns Hauptquellen, gefördert hatte.» deren Wertungen er sich 35 Jahre später zu eigen macht, ist die Daniel Baumann hätte also nur die Quellen konsultieren Schülerzeitung «Go» Nr. 5. Dabei handelt es sich um eine zwei- müssen, um zu einer sachgerechteren Darstellung zu gelangen. felhafte Publikation, die in nächtlichen Stunden entstanden ist Warum er es vorzog, sich auf eine zweifelhafte und parteiische und zu der niemand mit seinem Namen stand. Ihre Aussagen Quelle zu verlassen und eine namentlich identifizierbare Person sind nicht nur durch die sehr sorgfältige Arbeit einer erzie- noch 35 Jahre später ungerechtfertigt der Lüge zu bezichtigen, hungsrätlichen Kommission zurechtgerückt worden. Vielmehr bleibt sein Geheimnis. war der darin enthaltene Vorwurf der Lüge ad personam von B, Aus Baumanns Sicht war der Sturm im Wasserglas vorbei, den Baumann indirekt namentlich nennt, bereits beim Erschei- sobald die Störenfriede abgezogen waren. Auch damit steht nen von «Go» Nr. 5 am 8. Januar 1970 widerlegt: «Nachträg- Baumann im Widerspruch zur Quellenlage: Der Entscheid der lich hat sich herausgestellt, dass B (Name in der Quelle ausge- vorgesetzten Behörde, die ausgesprochenen Strafen weitge- schrieben) seine Kameraden genau informiert hat», heisst es im hend aufzuheben, war für die Schulleitung ein Schock und eine Protokoll der Rektoratskonferenz vom 6. Januar 1970. Verunsicherung. Dies kommt beispielsweise in Kellenbergers Der zweite Vorwurf an die Aktivisten, den Baumann von Schreiben vom 16. Februar 1970 an den Erziehungsdirektor «Go» übernimmt, sie hätten fälschlicherweise behauptet, die zum Ausdruck. Darin nimmt er auf die an der Pressekonferenz Tatsache von intimen Beziehungen sei für die Schulleitung der vertretene Auffassung des Erziehungsrates Bezug, dass intime Hauptgrund für die Strafen gewesen, wäre durch eine Zuhilfe- Beziehungen für sich allein nicht Grund zur Bestrafung durch nahme der damals im Kantonsschularchiv reichlich vorhande- die Schulleitung bilden können: «Diese Feststellung ist in einer nen Quellen (sie lagern heute im Staatsarchiv St. Gallen) leicht Grosszahl von Zeitungen verbreitet und wohl als eine recht zu widerlegen gewesen. Baumanns «abschliessende» Interpre- weittragende Freiheitsdoktrin aufgefasst worden. Wir würden tation, in welcher er ebenfalls «Go» Nr. 5 folgt, dass es der es sehr begrüssen, wenn Sie uns gegenüber noch etwas schär- Schulleitung nicht um die Sanktionierung intimer Beziehungen fer präzisieren könnten, welche Pflichten der Schule auf diesem gegangen sei, sondern dass der Grossteil der Schweizer Öffent- Gebiet noch obliegen und welche Sanktionsmöglichkeiten [sic! lichkeit einer agitatorisch auftretenden Gruppe auf den Leim Anm. MF] noch bestehen.» kroch, welche mit «nicht ganz astreinen Methoden» «die Schü- Kellenberger war in seiner Kantonsschulgeschichte von lerschaft unter Verschweigen des tatsächlichen Sachverhaltes 1981 ehrlicher und sprach von einer Verbitterung der Lehrer- bewusst gegen die Schulleitung aufgewiegelt» hätte, steht im schaft über die Haltung der Erziehungsdirektion, die noch Jah- Widerspruch zu den Quellen, die jedem Historiker und jeder re nachgewirkt habe. Bei Baumann kann man darüber nichts Historikerin zugänglich sind. Bereits die Voten an der Klassen- mehr erfahren. Spuren verwischt – Scharte ausgewetzt. lehrerkonferenz vom 9. Dezember 1969, die die Anträge auf Anmerkung: Kurz vor Drucklegung hat sich herausgestellt, Ausschluss und Ultimatum formulierte, zeigen, dass es der Leh- dass Baumanns Kapitel in Aufbau, Aussage, ausgewählten rerschaft sehr wohl um die Tatsache der intimen Beziehungen Zitaten und Formulierungen ein Plagiat eines «Beobachter»- ging (z. B. «War es bei R 1 Mal oder mehrmals? Im Wiederho- Artikels vom 30.6.1970 ist!

43 Kaeser, Weil, «Kaktus», Comics, «Comedia», Druckerei Baumgardt (Schwalbenverlag).

Progressiver Buchhandel und eine «linke» Druckerei in St. Gallen

Richard Butz

Buchhandels-Umfeld: Stichjahr 1968 Wer um 1968 in den St. Galler Buchhandlungen Literatur über Feminismus, Ökologie, gesellschaftliche Verände- Dominierend in St. Gallen sind zu dieser Zeit zwei bür- rungen, linke Theorien und Politik, Gegenkultur oder die gerlich orientierte Grossbuchhandlungen. Auf der einen damals aufkommende Alternativbewegung sucht, findet Seite steht die traditionsreiche, liberale und eher evange- in den St. Galler Buchhandlungen kaum ein entsprechen- lisch orientierte Fehr’sche Buchhandlung (samt Buchver- des Angebot und muss nach Zürich in die Buchhandlun- lag) in der Schmiedgasse. Ihre Anfänge gehen zurück auf gen «Pinkus» und «Paranoia City» ausweichen oder sich das Jahr 1780. Ihr örtlich fast gegenüber, an der Webergas- an die Versandbuchhandlung «Buch 2000» wenden. se, befindet sich seit 1968 die sich richtungsmässig als of- fen deklarierende Buchhandlung Rösslitor. Diese gehört der stramm katholisch orientierten Genossenschaft Leo- Ab 1969: Kaeser, Weil, «Kaktus» buchhandlung. Sie betreibt seit 1920 im «Blauen Haus» und Schwalbenverlag am Gallusplatz die auf katholische Theologie, religiöse Erbauungsliteratur und Devotionalen spezialisierte Leo- In den Räumen der späteren Ribaux-Buchhandlung buchhandlung mit gleichnamigem Verlag.1 Nur eine Ne- beginnt 1969 das erste Experiment einer alternativen benrolle spielt die 1866 gegründete evangelische Vadian Buchhandlung. Der aus Zürich kommende Buchhändler Buchhandlung an der Katharinengasse. Eher offen, be- Hans-Peter Kaeser übernimmt die ehemalige Buchhand- sonders für ökologische und «grüne» Literatur, zeigt sich lung Weinhold und eröffnet zusätzlich am Spisertor einen die seit 1974 bestehende Ribaux-Buchhandlung mit ange- Taschenbuchladen. Er führt und zeigt im Schaufenster schlossenem Antiquariat an der Bahnhofstrasse. Ihr Besit- zum Beispiel auch den von der Bundespolizei verbotenen zer, Louis Ribaux (1930–2015), ist eine schweizweit geach- Schülerbestseller «Das kleine rote Schülerbuch». Darauf- tete Buchhändlerpersönlichkeit, politisiert als überzeug- hin sollen grosse Bestellungen von der Bibliothek der ter Umweltfreisinniger im St. Galler Stadt- und Kantons- Hochschule St. Gallen (HSG) ausgeblieben sein und nach parlament und setzt sich für kulturelle Anliegen ein. gut drei Jahren verkauft Kaeser seine beiden Läden.2 Drei weitere Jahre lang ist St. Gallen gänzlich ohne alternative oder linke Buchhandlung, bis Anjuska Weil, Sekretärin der lokalen Sektion der PdA, einen Reise- und Bücherla- den eröffnet. Das Angebot ist allerdings beschränkt und umfasst vor allem Literatur aus der DDR, Osteuropa- 1 Dank den von ihrem Verlag herausgebrachten, in hohen Auflagen Reisebücher, Schallplatten und Kunsthandwerk aus der vertriebenen und viel Geld einbringenden Spruch-Quellenbänd- chen» gewinnen die Genossenschaft Leo-Buchhandlung und die Sowjetunion. Einen weiteren Schritt wagt wiederum gut Rösslitor-Buchhandlung den Konkurrenzkampf. Die Fehr’sche Buch- drei Jahre später Edith Butz-Affentranger, die in der Leo- handlung geht nach einem langwierigen Niedergang, beginnend im buchhandlung ihr Metier gelernt hatte. Nach Jahren in Jahre 1975 mit der Umwandlung in eine AG, 2005 schliesslich ein. London und im westafrikanischen Sierra Leone lebt sie Die Leobuchhandlung wird im gleichen Jahr in die Rösslitor-Buch- jetzt wieder in St. Gallen. Ihr schwebt eine feministische, handlung eingegliedert, welche heute (Stand Ende 2015) der Orell ökologische, esoterische und politisch klar links ausge- Füssli Thalia AG gehört. 2 Diese Information gemäss Fagetti, Andreas: «Wir haben alle Kinder- richtete Kleinbuchhandlung vor. Schnell wird an der Lö- krankheiten durchgemacht», in: Dyttrich, Bettina/Wuhrer, Pit: Wirt- wengasse eine kleine Lokalität mit zwei Räumen und zwei schaft zum Glück, Zürich 2012, S. 187. Anmerkung: Dieser Beitrag Schaufenstern gefunden. Als erste Helferin stösst die erwähnt den «Kaktus» nicht. hauptberuflich in St. Gallen tätige Kindergärtnerin Mar-

44 lies Brägger dazu. Mit «Kaktus» ist ein passender Name gefunden, denn als ein Stachel in der von vielen als rück- ständig empfundenen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Situation in der Stadt St. Gallen und darüber hinaus soll die kleine Buchhandlung wirken. Diese Stoss- richtung manifestiert sich im schön gemalten Schild, das über der Ladentür angebracht ist und später spurlos ver- schwinden wird. Die Rösslitor-Buchhandlung reagiert prompt auf die kleine Konkurrenz und richtet eine ähn- lich sortierte Abteilung ein. Für die beiden «Kaktus»- Frauen, zu denen in der Folge weitere stossen, sind die Schwerpunkte gesetzt. Im Vordergrund steht der Femi- nismus. So entwickelt sich Verena Stefans 1975 erschiene- nes autobiografisches Romandebüt «Häutungen»,3 das als erster literarischer Text der «Neuen Frauenbewegung» gilt, schnell zu einem Best- und Longseller. Anregungen für das ökologische Sortiment finden sich in den «Alter- nativ-Katalogen»,4 den Schweizer Gegenstücken zu den in der Gegenkultur weit verbreiteten amerikanischen «Whole-Earth»-Katalogen5. Zu einem weiteren Longsel- ler wird der nach den Mondphasen ausgerichtete und bis heute erscheinende «Aussaatkalender». Inspiriert von der im esoterischen Bereich zur Legende gewordenen Wiener Buchhandlung 777 erweitert sich dieses Angebot, zu dem schliesslich auch astrologische Bücher und Tarotkarten gehören. Als Gegenleistung für wertvolle Buchtipps wer- den dem 777-Begründer Philip Schiffmann6 zollfrei Pen- del und andere Geräte aus dem Verlag RSG in St. Gallen7 Edith Butz vor der Buchhandlung Kaktus, St. Gallen, ca. 1977. Foto- vermittelt. Im Zusammenhang mit den Tarotkarten be- grafin: Doris Feremutsch, Biel. Quelle: Privatarchiv Edith Butz-Affen- richtet Marlies Brägger vom Diebstahl einer teuren und tranger, Wil. prunkvoll ausgestatteten Tarot-Ausgabe samt Karten des schweizerisch-jenischen Künstlers Walter Wegmüller, die dann nach einer Diebstahlmeldung mit freundlicher 8 Rückgabe-Bitte kommentarlos wieder aufgetaucht sei. 3 1. Auflage München 975,1 seither mehrere Auflagen. Wiederholt entwendet wird auch eine in Deutschland 4 Drei Katalogbände, hg. in verschiedenen Ausgaben von verbotene und in Schweden publizierte Textsammlung 1975–1978 von einem sich als «Dezentrale» bezeichnenden der deutschen Terrorbewegung RAF.9 Das politische Sor- Kollektiv in Köniz BE und Porrentruy JU. timent ist breit gefächert und umfasst links-theoretische 5 Erstmals hg. 1968 und in unregelmässigen Abständen letztmals 1998 vom heutigen Befürworter der Kernenergie Schriften, Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg (1936– und «grünen» Gentechniker, dem 1938 in Rockford (Illinois) 1939) und gesellschaftliche Fragen, Belletristik linker Au- geborenen Stewart Brand. toren und Autorinnen, Erlebnisberichte wie derjenige des 6 Philip Schiffmann (1926–2013), genannt «Philip der Liebliche», Exterroristen Bomi Baumann «Wie alles anfing»,10 Pamph- Mitbegründer, Mentor und Autor der Astrologie-Zeitschrift lete und Zeitschriften, unter ihnen auch die lokal erschei- «Sternwelten» sowie Erfinder (1972) des «Combin-Horoskops». nenden «Steinschleuder» oder «Gasseblatt».11 Regelmässig Die Buchhandlung 777, gegründet 1976 an der Grünanger- gasse, existiert noch, befindet sich heute aber an der Domgasse finden auch politische, zum Teil brisante Mitteilungen mit (Stand 2016). unbekannten Absendern ihren Weg in die Buchhandlung, 7 Verlag und Shop, betrieben vom «Verband für Radiästhesie so auch einmal über einen Anschlag auf einen Freileitungs- und Geobiologie Schweiz» am Bahnhofplatz 8a in St. Gallen. mast im Kanton Graubünden. Die kleine Buchhandlung 8 Gespräch im Dezember 2015. Anmerkung: Marlies Brägger, entwickelt sich zu einem eigentlichen Treffpunkt und ei- heute Marlies Butz-Brägger. ner Informationsdrehscheibe für Anhängerinnen der 9 Texte der RAF, hg. von der RAF-Sektion BRD, Stuttgart, «Neuen Frauenbewegung», nach neuen und alternativen Verlag Bo Cavefors, Lund (Schweden) 1977. 10 Baumann, Bomi: Wie alles anfing, München 1975 und Berlin 2007. Lebensformen Suchende, politisch links Bewegte, mit der 11 «Steinschleuder»: Felix Kälin und andere (Hrsg.): Steinschleuder, kulturellen Situation in St. Gallen Unzufriedene und für 1977–1977, St. Gallen und Wald AR. – «Gasseblatt»: «Gasseblatt – Mitwirkende in der aufkeimenden Jugendbewegung. «Oft Stadtziitig für Züri, Basel und St. Gallen», ab 1976 unregelmässig kamen Leute einfach nur für eine Tasse Tee oder ein Ge- erschienen.

45 spräch vorbei, andere, um über ihre Anliegen zu diskutie- verkaufen. Die neuen Betreiber geben aber bald auf,14 und ren oder um ein Flugblatt vorbeizubringen», erinnert sich es dauert wiederum gut drei Jahre, bis mit der Buchhand- Marlies Butz-Brägger. Gleichzeitig stellt sie klar: «Wir ver- lung «Comedia» an der Katharinengasse ein neues Kapitel suchten, für alle offen zu sein, ohne uns vereinnahmen zu aufgeschlagen wird. In den Zwischenjahren füllt einzig der lassen.»12 Fast alles, was im «Kaktus» an lokalen Plakaten, Comicladen von Beat Fatzer15 an der Engelgasse in beschei- Flugblättern und Zeitschriften zu sehen ist, kommt aus denem Ausmass die entstandene Lücke. der Druckerei Baumgardt und dem ihr angeschlossenen Schwalbenverlag. Das Familienunternehmen steht zu die- ser Zeit in der vierten Generation. Robert Baumgardt, ein Ab 1982 bis heute: «Comedia» – begeisterter Motorradfahrer, kreuzt regelmässig im dama- Eine Erfolgsgeschichte ligen Kreis an der Katharinen- und Goliathgasse auf. Er druckt Zeitschriften wie «Roter Gallus», «Rotes Herz», Schon bald nach dem Geschäftsbeginn wird die «Come- «Gasseblatt», «Gasseblues» oder «Schleppscheisse», Polit- dia» zu einer Genossenschaft. Daran habe sich bis heute und Kulturplakate, diverse Fanzines und Broschüren der nichts geändert, betont Pius Frey, der seit Beginn Mitglied «Roten Hilfe» und der Hausbesetzerszene. Produkte aus der kollektiv geführten Buchhandlung ist. Und seit Fatzers seiner Druckerei finden nach Basel, Zürich, Genf und so- Comicladen in der «Comedia» aufgegangen ist, bilden gar bis nach Berlin-Kreuzberg.13 Die Druckerei Baumgardt Comics ein wichtiges Standbein des Unternehmens. «An- besteht bis 2015, für den «Kaktus» kommt nach bereits gut fangs wurden wir deswegen belächelt. Aber heute sind sie zweieinhalb Jahren das vorzeitige Ende. Trotz des guten fast überall im Sortiment», sagt Pius Frey.16 Offenheit Zuspruchs und viel Anerkennung, auch von Seiten einer prägt das Angebot der «Comedia». Als Beispiel verweist wachsenden Zahl von Verlagen und ihren Reisevertretern, Frey auf das breit gefächerte belletristische Angebot, das mögen die Betreiberinnen den Schritt zu einem die finan- Jugendliteratur und Kriminalromane miteinschliesst. Was zielle Zukunft sichernden Ausbau der Buchhandlung aus diese Buchhandlung aber auszeichnet, sind ihre Speziali- persönlichen Gründen nicht unternehmen. Sie haben bis täten. Zu ihnen gehören vor allem Sachbücher über und dahin praktisch ohne Lohn gearbeitet und entschliessen Belletristik aus Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinameri- sich nicht ohne grosses Bedauern, die Buchhandlung zu ka, Politliteratur und eine grosse Tonträgerabteilung mit Weltmusik, die auch ausserhalb von St. Gallen Beachtung erfährt. Regelmässig tritt die Buchhandlung auch mit Le- sungen und Buchvernissagen in Erscheinung. «Etwas we- niger oft als früher, weil hier inzwischen andere Kulturver- 12 Wie Anm. 8. mittler vermehrt aktiv sind», sagt Frey. Die «Comedia», 13 Robert Baumgardt (1961–2015). Zur Geschichte der Druckerei: anfänglich von bürgerlicher Seite mit Misstrauen betrach- Frey, Pius: «Gustav, Gustav, Gustav, Robert», in: Saiten, Heft 10, tet, ist heute anerkannt und beliefert auch Bibliotheken, St. Gallen, 2008, S. 21 und 23. – Steiger, Wolfgang: Röbi Baum- Schulen und Institutionen. Mit berechtigtem Stolz weist gardt druckte für die Szene, in: Saiten, Heft 9, St. Gallen 2015. – Pius Frey darauf hin, dass die Genossenschaft finanziell Anmerkung: Nach dem Tode von Robert Baumgardt wurden Druckerei und Verlag eingestellt. gesund ist und die meist vier bis fünf in Teilzeit arbeiten- 14 Der Weiterbestand in einer Parterrelokalität am Unteren Graben den Teammitglieder einen fairen Lohn erhalten. «Nicht in St. Gallen ist nicht dokumentiert. zuletzt dank der Comics verjüngt sich unser Publikum 15 Beat Fatzer ist heute (Stand 2016) als selbstständiger Antiquar laufend», sagt Pius Frey, und: «Wer sie liest und sammelt, in Zug tätig. kennt uns und berücksichtigt dann vielleicht unsere Buch- 16 Alle Pius Frey-Zitate: Gespräch im Dezember 2015. Weitere handlung, wenn er oder sie ein Buch braucht.» In den vier- Hintergrundinformation gemäss Anm. 2, S. 187–191. 17 Zwei Beispiele: Seit 2005 existiert am Gallusplatz die von Leonie zig Jahren, die dieser Bericht abdeckt, hat sich die St. Gal- Schwendimann und Mitarbeiterinnen geführte Buchhandlung ler Buchhandelsszene stark verändert. Dank der «Come- zur Rose. In Appenzell führt Carol Forster seit 1992 den Bücher- dia» und anderer Kleinbuchhandlungen in der Region ist laden Appenzell. sie nicht ganz verödet.17

46 «Rote Steine» und autonome Kreise in den 1970er-Jahren in St. Gallen

Pius Frey

Ein wichtiger Ort für Versammlungen und Zusammen- gasse: das «Goliath», das Jugendhaus und das «Africana». künfte war die Schwertgasse 3 im nördlichen Zentrum Hier ging das Leben ab und es bestand eine vibrierende St. Gallens. Hier wurde diskutiert, gestritten, geliebt, Sub- Mischung aus Hippies, Zugedröhnten, jungen Arbeiterin- kultur gepflegt, neuer Sound reingezogen und dazwischen nen und Arbeitern, Musikfans und der Rockertruppe Karl Marx und Rosa Luxemburg studiert. Viele der in den Outlaws. Unter ihnen befanden sich auch einige politisch genannten Gruppen aktiven Frauen und Männer verlies- Denkende und Engagierte. Auch das gab es! Der kürzlich sen bald St. Gallen. Sie zogen nach Zürich, Basel, Berlin. verstorbene Drucker Robert Baumgardt bewegte sich in Die einen verabschiedeten sich von der Politik, andere wa- diesen Kreisen.2 Mitte der 1970er-Jahre veränderte sich Ei- ren auch an ihrem neuen Zuhause politisch oder kulturell aktiv. Die Schwertgasse blieb auch nach der Anfangszeit auch während der 1970er-Jahre ein besonderer Ort. Die Schwertgasse diente politischen und subkulturellen Wohn- gemeinschaften, war ein Rückzugsort, eine kreative Insel, das Teestübli und noch mehr. Auch in die 1970er-Jahre fiel die Gründung der POSG, der Progressiven Organisation St. Gallen. Dabei handelte es sich um ein Kind von hier lebenden, aber auch nach Basel ausgewanderten, oder von Basel eingewanderten Menschen. Vielfältige Aktivitäten wurden entwickelt: politische, agitatorische und kulturel- le. Dabei ist auf das erste Schweizer Konzert (1972) der legendären Berliner Agit-Rock-Band Ton Steine Scherben hinzuweisen.1 Keine Zeitungen, ausser der Ostschweizer AZ, berichteten davon. Plakate aufzuhängen war damals praktisch nicht möglich. Entweder wurden sie gleich wie- der abgerissen; Geschäfte und Restaurants weigerten sich, so was aufzuhängen. So besammelten sich zum Konzert im Saal des ersten Stockes des damaligen Volkshauses (heute Restaurant Toscana und UNIA-Sekretariat) wenige Leute, aber inklusive der zivilen Herren von der Polizei. Sie alle bestaunten Rio Reiser mit seiner Truppe. Die Band lebte dann noch einige Tage in der Stadt bei politisch gleichge- sinnten Menschen. Unter anderem war auch Claudia Roth dabei, damals Managerin von Ton Steine Scherben. Heute ist sie eine wichtige Politikerin bei den deutschen Grünen.

Ab und zu gab es ein Konzert in der Stadt, und das erste OpenAir fand unter dem Namen Sitter-In unter der Gang- Plakat der Berliner Agit-Rock-Band Ton Steine Scherben, gelibrücke statt. Scharf beobachtet von Polizei und Staats- im Rest. Volkshaus St. Gallen, 1972. Quelle: Privatarchiv Pius Frey. schutz.

Ausgehmöglichkeiten gab es wenige. Die «Spanische 1 Plakat der Agit-Rock-Band Berlin. Ton Steine Scherben. Sonntag, Weinhalle» war einer der wenigen Orte, wo sich von Lehr- 25. Juni 1972. Restaurant Volkshaus St. Gallen. lingen bis zu Intellektuellen alles einfand. Und dann war 2 Über den Schwalbenverlag: Frey, Pius: Von der Firma Gustav da natürlich «der Kreis», gleich in der Nähe der Schwert- Baumgardt zum Schwalbenverlag, in: Saiten 2008/10.

47 Plakat «The Moscht Club», Fotocollage. Quelle: Privatarchiv Pius Frey. niges rasant, es wurde härter. Repression und ein hartes union, genauer gesagt in der heutigen Ukraine bestehende Vorgehen gegen die Szene waren an der Tagesordnung. Machno-Bewegung. Das war eine während der Russischen Besonders zu spüren hatten dies Mann und Frau von der Revolution wirkende eigenständige autonome Volksbewe- so genannten Gasse. Dazu kam, dass es noch keine Aus- gung4. Wichtig war auch der italienische Autor Nino Ba- gehkultur gab. Praktisch alle Lokale waren vor 24 Uhr ge- lestrini mit seinem Roman der Fiatkämpfe «Wir wollen schlossen. Man traf sich privat und eben auch an der Alles». Ein wichtiges Motto für die «Roten Steine» und die Schwertgasse wieder, und unter anderem in einem alten, «Mobile Kommune». Und dann war da natürlich der baufälligen Bauernhaus im Riethüsli. ­Antipsychiater David Cooper mit seinem beeindrucken- den Werk «Von der Notwendigkeit der Freiheit». Andere Die Menschen, die in der Riethüsli-WG wohnten und ­Namen mit grossem Einfluss waren unter anderen der ita- wirkten, die wegen der Arbeit oder dem Studium auch in lienische Theoretiker Toni Negri, die afro-amerikanische anderen Städten, wie Basel oder Zürich, lebten und teil- Freiheitskämpferin Angela Davis, der französische Philo- weise auch dort politisiert wurden, bildeten eine neue soph Michel Foucault5 oder der afrikanische Antikolonia- politische, autonome Bewegung für die die so genannte list Amilcar Cabral. Gasse ein wichtiges Feld war. Eine rege Zusammenarbeit entstand mit der ursprünglich aus Zürich stammenden Die «Mobile Kommune» beinhaltete kollektives Leben, Gruppe «Rote Steine», die sich nach einem Berliner Polit- mit neuen und autonomen Arbeitsformen. Ein Bestand- Theater so nannte. Gemeinsam wurde dann 1977 die Lie- teil dabei waren die Lederwerkstätten. Auch in St. Gallen. genschaft an der Wattstrasse im Riethüsli gekauft und als Da wurden Lederklamotten geschneidert und repariert Teil der «Mobilen Kommune» erklärt. «Mobile Kommu- und kleine Info-Shops betrieben, da wurden Flugblätter, ne» hiess Austausch, Teilnahme an Aktionen3 in der gan- Fanzines und politische Schriften aufgelegt. Dazu verdien- zen Schweiz, in Deutschland, Frankreich und Italien. Ein te man auch Geld durch gemeinsames Arbeiten auf dem reger Kontakt entwickelte sich zu einer Berliner Gruppe Bau. Es gab eine Gerüstbau- und eine Fassadengruppe. mit ähnlichen Ideen und Lebens- wie Arbeitsmodellen: Die Kommune an der Waldemarstrasse 33. Besonders wichtig, und vom Staatsschutz akribisch beob- achtet, war das Städtedreieck Zürich-Basel-St. Gallen. In Viele damals erschienene Schriften und Theorien wurden St. Gallen gab es noch weitere Wohngemeinschaften, die gelesen und diskutiert. Besonders Einfluss auf die «Roten zur «Mobilen Kommune» gehörten. So teilweise diejenige Steine» hatte die zwischen 1917 und 1922 in der Sowjet- an der St. Georgenstrasse und die an der schon erwähnten Schwertgasse. Dort zog die autonome Frauengruppe der «Roten Steine» ein, die «Rote Zora». Und dort entstand der legendäre «Most-Club».6 Er bestand, heftig und stark be- 3 Hier sei besonders die Teilnahme an verschiedenen Anti AKW- hindert und schikaniert durch staatliche Organe, nur für Demos, z. B. in Gösgen oder in Malville (Frankreich), erwähnt. kurze Zeit. Der «Most-Club» war ein illegaler Laden, in 4 Arschinoff, Peter A.: Geschichte der Machno-Bewegung, 1923. 5 Verschieden Schriften erschienen in den Verlagen Suhrkamp dem es nur Most zu trinken gab und indem die gerade aus und Merve. Themen waren insbesondere die radikale Auseinander- dem Nichts gekommene Punk- und Reggae-Musik golde- setzung mit Psychiatrie, Gefängnis und Heimen. ne Zeiten erlebte. Der «Most-Club», ein Kind von Frauen 6 Plakat «The Moscht Club». Kopierte Fotocollage in A3-Format. und Männern der «Roten Steine» und der «Roten Zora»,

48 Gasseblatt 7, 1978. Inhaltlich befasst sich diese Nummer mit der Anti- Gasseblatt 9, 1978. Inhaltlich befasst sich diese Nummer mit den Gefäng- AKW-Bewegung, mit Berichten zur «Mobilen Kommune» der «Roten nissen und der Repression in der Ostschweiz, sowie einige Artikel mit der Steine», zu militanten Bewegungen und gegen Gewalt an Frauen. aufkommenden Punk-Musik. Titelseite: Gustav Doré (zu Dantes Inferno).

Gasseblatt 5, 1977. Inhaltlich befasst sich diese Nummer in einem mehr- Gasseblatt 6, 1977. Inhaltlich befasst sich diese Nummer mit Artikeln seitigen Interview mit den Hells Angels , dem Frauengefäng- zu Kommunen und der Anti-AKW-Bewegung sowie mit Geschichten nis Hindelbank, der Überwachung generell und in einem Artikel mit der zu den historischen Amazonen. Das etwas mystische Titelblatt bezieht St. Galler Szene. Das Titelblatt zeigt die Hells Angels Switzerland auf Aus- sich auf das Tarot-Kartenlegen.Bezogen werden konnte das Gasse- fahrt. blatt in St. Gallen in BRO-Records, in der Buchhandlung Kaktus und Quelle: Privatarchiv Pius Frey. in der «Klamotte» in der ein Frauenkollektiv einen Kleiderladen führte. war ein wichtiger Ort für die Agitation und ein Ausgangs- erschien neunmal zwischen 1976 und 1978. Ein Mix aus punkt für Aktionen. Es fanden Sitzungen statt, Flugblätter Kommunenpropaganda, Musikfanzine (u. a. mit einem zu aktuellen Themen wurden kreiert und man rückte aus, grossen Interview mit der Reggae-Legende Peter Tosh und um gemeinsam Flugblätter und Schriften unter die Leute verschiedenen Punk-Bands), Texten zum Anti-AKW- zu bringen.7 Daneben entstand eine aktive «Knastgruppe», Kampf, zu psychedelischen Einflüssen, zur Auseinander- wo auch einige Studentinnen und Studenten in Sozialar- setzung mit militanten Bewegungen, Repression und beit mitmachten. Man kümmerte sich um Menschen im Knast. Rockerstatements, Infos zu internationalen und Knast und war gegen die herrschende Repression. Man radikalen Frauenbewegungen und einiges mehr. Die Ge- stand ein für die Meinungsfreiheit und für den Antikolo- staltung war handgemacht, im eigentlichen Fanzine-Stil. nialismus, war gegen den Rassismus und gegen das Elend Es machten einige Leute mit, die später bekannte Künst- in den Besserungsanstalten für Jugendliche. lerinnen und Künstler oder Kulturschaffende wurden. In der Spätphase der «Roten Steine» hiess dann das Organ Es entstand die Broschüre «Holidays im Güller-Jail oder: «Gasseblues».9 Wie verhalten wir uns gegenüber der Justiz und der Poli- zei». Es wurde eine grosse Demonstration organisiert für Die Roten Steine und die mit ihr zusammenhängenden die damals gequälten schwulen Freunde und für die bei autonomen Gruppen waren ein wichtiger Teil in der auf- einer Drogenrazzia verhafteten Männer und Frauen.8 Erst- kommenden Bewegung, die 1980 in den Kampf für auto- mals trat die Polizei in Kampfmontur auf – übrigens bei nome Jugendzentren (AJZ) mündete. Auch hier in St. Gal- einer sehr friedlichen Demo – und verhielt sich sehr ner- len. Das AJZ war in einer ehemaligen Schreinerei, dort, vös. Die Presse berichtete fast ausschliesslich parteiisch wo heute die Raiffeisenbank steht (Bleicheli). Doch dieses und hinterfragte nicht. Diese «Knastdemo» kann als ein Projekt wurde zum Teil von der so genannten Gasse zer- gutes Beispiel der Arbeit der «Roten Steine» bezeichnet stört. Alkohol und harte Drogen trugen einiges dazu bei. werden. Ihre Arbeit, ihr Leben war auf die Gasse ausge- Einen Einfluss hatten die autonomen Bewegungen auf richtet und es kam an diese Demo denn auch die Gasse: die Hausbesetzungs-Szene. Der Kampf für das Recht, in Subkultur, Drögeler, Alkis, aber auch Lehrlinge, Arbeite- leerstehendem Wohnraum zu leben, eigenständig und kol- rinnen und Arbeiter, Rocker und politisch Orientierte. lektiv. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Teile der autonomen St. Galler-Szene an einer der militantesten Das Auftreten der «Roten Steine» war für viele brave, nor- Hausbesetzungen der Schweiz, der Hegibach-Besetzung in male Linke provokativ. Praktisch alle kamen in Lederja- Zürich, teilnahmen. Und dafür bitter büssten. Sie wurden, cken, einige mit grossen Motorrädern. Berühmt-berüch- weil sie nicht in Zürich lebten, als zugereiste Profi-Agita- tigt waren die legendären Feste in einem Dachstock an der torinnen und -Agitatoren bestraft. St. Georgenstrasse und im Riethüsli. Musik und kulturel- le Aspekte waren wichtig. Living-Theater aus den USA, Rückblickend und als Abschluss ist zu sagen: Es gibt viele «Taxi» (Campari Soda!) aus Zürich, Punk-Musik und da- Geschichten zu den 1970ern in St. Gallen in Bezug auf die zwischen auch Jazz. Für viele unverständlich, für andere autonomen Bewegungen. Tatsächlich passierte und ver- – auch Unpolitische – ein Ort zum Abtauchen. Dazu kam änderte sich in kurzer Zeit unheimlich viel. Menschlich, oft auch das Problem mit illegalen Substanzen und Alko- kulturell, politisch. Es entstand eine neue, mutige, mili- hol. Eine autonome politische Bewegung, die im Kern tante Frauenbewegung, ein kritischer Umgang mit Re­ grundsätzlich zum ganzen Leben ihre Ideen hatte und pression und Überwachung, wie der damalige Kampf ge- eine eigene Militanz hatte und doch oft von Menschen am gen die entstehenden Überwachungskameras zeigt. Heute Rande der Gesellschaft nur als Fluchtpunkt aufgesucht wäre Vieles undenkbar. Die sich entwickelnde Älplersze- wurde. Zorn und freies Leben, kollektiver Wahnsinn und ne, wie auch Ideen und Praxis für kollektives und selbst- offensives Auftreten. Keine stundenlangen Ideologiedis- bestimmtes Arbeiten, wurden von den autonomen Bewe- kussionen, dafür stundenlange interne Auseinanderset- gungen beeinflusst. Wichtig waren die eben entstehenden zungen. Wie organisieren wir unser kollektives Leben, was Freiräume und Kulturplätze wie auch der Kampf um die verstehen wir unter dem Begriff Gasse, wie soll das Ver- Umverteilung von Kulturgeldern, und der Beginn einer – hältnis zwischen Frau und Mann sein. Es ging um «Wir zumindest teilweisen – neuen Drogenpolitik. wollen Alles!»

Der Einfluss von autonomen und militanten Bewegungen aus Italien und Deutschland war nicht zu unterschätzen; 7 Z. B. das «Gasseblatt», Beispiele S. 49. doch von strikter Parteidisziplin hielt man nicht viel. Ein 8 Flugblatt zur Demo vom 5. November 1977: wichtiges Medium, das anfänglich in grossen Auflagen auf «Wir schauen nicht länger zu!», ferner Artikel im der Gasse verkauft wurde und übrigens meist in St. Gallen «Gasseblatt», Nr. 9, S. 11 (1/78). produziert und gedruckt wurde, war das «Gasseblatt». Es 9 «Gasseblues», Zeitschrift, Nr. 10 f. (1978–1979).

50 Operation «Roter Gallus». Von der unheiligen Allianz zwischen Militär und Justiz im Kalten Krieg

Harry Rosenbaum

Gallus – agitatorisch eingefärbt als «Roter Gallus» und in Zum Auftakt Niklaus Meienberg der Gestalt einer revolutionären Untergrund-Zeitung – löste vor 40 Jahren ein absurdes politisches Gerichtsver- 1970 mietet die oppositionelle «Basis-Gruppe» – ein lose fahren aus. Es dauerte drei Jahre und beschäftigte alle organisierter Haufen – in St. Gallen in der damals herun- Instanzen. Streitpunkt war ein Zitat aus einer Kurzge- tergekommenen Liegenschaft Schwertgasse 3 (heute in- schichte des weltberühmten deutschen Dichters und Na- stand gestellt und mit Büros belegt) die Wohnung im zi-Opfers Wolfgang Borchert (1921–1947), das die Unter- vierten Stock. Hier treffen sich die bunt zusammengewür- grund-Zeitung publiziert hatte. «Dann gibt’s nur eins: felten Gruppen «Sozialistische Arbeiter, Lehrlinge, Schü- Sag Nein!» Borchert meinte damit die Überbringung des ler und Studenten», «Sozialistische Hochschulgruppe» «Gestellungsbefehls», des Aufgebots zum Militärdienst und «Kritisches Seminar» zu Diskussions- und politi- in der Deutschen Wehrmacht. – Forderte dieses Zitat schen Schulungsveranstaltungen (z. B. «das Kapital von Schweizer Wehrmänner zur Dienstverweigerung auf Marx lesen und verstehen»). oder nicht? Das Bundesgericht meinte letztinstanzlich: Ja! Im Frühjahr 1970 wird beschlossen, eine Agitations-Zei- tung herauszugeben, die von einem Redaktionskollektiv Und so hat alles begonnen: Mit ziemlicher Verspätung betreut werden soll. Als Themen werden unter anderem erreichten die Nachwehen des Zürcher Globuskrawalls der Vietnamkrieg, der Imperialismus, das Rechtsbürger- (29. Juni 1968) auch St. Gallen, wo sich an der HSG und tum und das gesellschaftliche Establishment behandelt. In an der Kantonsschule allmählich eine Bonsai-68er-Bewe- der ersten Nummer, die als «Eigendruck» im Juni 1970 gung etablierte. Ihren ersten Auftritt hatte sie Mitte 1969 erscheint, heisst es im Editorial: «In Anbetracht der einsei- vor einem St. Galler Kino, wo die Vietnam-Glorie «Green tigen und tendenziösen Berichterstattung der St. Galler Berets» mit John Wayne in einer der Hauptrollen gezeigt Tagespresse – eine löbliche Ausnahme macht seit neuester wurde. Bei den Protesten wurde von der angerückten Po- Zeit das sozialdemokratische Organ AZ – ist die Heraus- lizei Hydrantenwasser in die Menge gespritzt. Dabei ging gabe des Roten Gallus ein Selbsthilfeakt oppositioneller eine Schaufensterscheibe des Lichtspieltheaters zu Bruch. Gruppen.» Im «Roten Gallus» Nr. 1 gab es ein Interview Deftiger kam es dann im September 1969 in Arbon, wo mit Georges Séguy zu lesen, dem Chef der damals grössten die Vietnamkriegs-Gegner abrupt an einem Stacheldraht- französischen Gewerkschaft, der kommunistischen C.G.T. verhau, hinter dem bewaffnete Schweizer Soldaten Auf- (Confédération Générale des Travailleurs). Die «Weltwo- stellung genommen hatten, gestoppt wurden. Grund für che» hatte es ursprünglich bestellt, jedoch nicht gedruckt, den martialischen Auftritt: der Besuch des 1968 abgetre- weil es als zu wenig informativ eingeschätzt wurde. Das tenen Oberkommandierenden in Vietnam, US-Vier-Ster- Gespräch mit dem roten Gewerkschaftsboss führte der da- ne-General William Westmoreland. Der Haudegen im malige Frankreich-Korrespondent des Wochenblatts, Ni- Dienst der Freien Welt war von der Schweizerischen Of- klaus Meienberg. Im «Roten Gallus» erschien sein Name fiziersgesellschaft eingeladen worden. Anlässlich einer aber nicht, obwohl er auch noch einen zweiten Beitrag Luftschutzübung durfte der Veteran, der für Atombom- beisteuerte. Unter dem Pseudonym «Urs-Fürchtegott Bit- ben-Einsätze in Vietnam plädierte, auf einer Ehrentri- terschwanz» verfasste die journalistische Saftwurzel eine bühne, die man eigens für ihn errichtet hatte, das Abbren- Glosse über «Kirchliches»: «Wie wir eben kurz vor Redak- nen und Stürmen einiger alter Häuser mitverfolgen. tionsschluss vernehmen, begibt sich seine Eminenz Dr. Mehrere Demonstranten wurden derweil von der Thur- honoris causa Josephus Hasler, Landesbischof von St. Gal- gauer Kantonspolizei in Gewahrsam genommen und erst len, gewesener Feldprediger der Schweizer Armee, Spezia- Stunden nach der Abreise Westmorelands aus Arbon wie- list für Ischias und Jassen (der Volksmund nennt ihn der freigelassen. Schälle-n-under), auf eine längere Vergnügungsreise nach

51 Südamerika, um den Zustand der dortigen Christenheit zu prüfen. Schälle-n-under hat auch Afrika-Erfahrung, in welchem Kontinent er vor einigen Jahren die kompeten- ten Entwicklungshelfer durch entsetzliche Ahnungslosig- keit entsetzte.» Weiter waren in dieser Nummer Artikel über die Studentenpolitik an der HSG, Lehrlinge, Disco- Girls und über den unheimlichen Patrioten Major Cince- ra zu finden. Cincera war ein selbsternannter Aufklärer gegen Links, der mit seinen Vorträgen in unzähligen Schu- len der deutschen Schweiz die rechtspatriotische Erzie- hung unterstützte.

Protokoll der Grundsatzdiskussion vom 13. Februar 1971: Die An- wesenden einigen sich darauf, dass der «Rote Gallus» das Publika- tionsorgan von drei Gruppen ist, nämlich von «Basis», «Nova» und «ACID», zum anderen zeigen sich darin die Bestrebungen, sich konkreter zu organisieren. Quelle: AFGO.198, «Roter Gallus».

ins unheilige Gegenteil verkehrte. Zudem bestand – zu- mindest symbolisch – eine gewisse Verwandtschaft des Stadtheiligen mit der APO (Ausserparlamentarische Op- position). Schliesslich vertrat Gallus ja auch neue Ideen und bekämpfte damit die Mächtigen seiner Zeit. Ihn mo- tivierte das Christentum (Karl Marx war noch nicht ge- boren). Seine Gegner fand er bei der alemannischen Oberschicht, der Vorläuferin der Bourgeoisie. Aber was soll's.

Titelblatt des «Roten Gallus», Juni 1970. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (AFGO), Ein Dozent geht zur Polizei AFGO.198, «Roter Gallus». 1970, im Gründungsjahr des «Roten Gallus», fielen im April US-Truppen in Kambodscha ein, um die Nach- schubwege Nordvietnams nach Südvietnam abzuschnei- Das Cover des ersten «Roten Gallus» war natürlich rot. den. Die Beatles trennten sich im gleichen Monat. Im Der Namensgeber des Untergrund-Blattes erschien auf Mai erschossen Nationalgardisten vier unbewaffnete Stu- der Titelseite als spindeldürrer Revoluzzer. Anstatt der Bi- denten während einer Demonstration gegen den Viet- bel trug er die Werke von Karl Marx unter dem Arm und namkrieg an der Kent State University im amerikanischen hatte eine Kalaschnikow umgehängt. Obwohl in stram- Bundesstaat Maine. Im September starb Jimi Hendrix an mer politischer Mission unterwegs, wurden ihm der Hei- den Folgen seines Alkohol- und Drogenkonsums. Im De- ligenschein und die Mönchstonsur belassen. Die St. Gal- zember schlug dann die Justiz gegen den «Roten Gallus» ler Untergrund-Zeitung evaluierte mehrere Namen. «Ro- zu. Dabei half die Denunziation des Dozenten K. am ter Gallus» hatte den grössten Provokations-Effekt, weil Lehrerseminar Rorschach. Er ging zur Polizei und gab die Zeitung eine Identifikationsfigur des Establishments Folgendes zu Protokoll: «Ca. im Juni des laufenden Jahres

52 wurde ich im Seminar erstmals auf die Zeitschrift Roter dienstgegner», Arthur Villard (1917-1995), sowie diverse Gallus aufmerksam. Es handelte sich um die Nummer 1. linke Studenten und Lehrer. Der Text im «Roten Gallus», Ein Seminarist war im Besitz von ca. 8-10 solcher Exem- den Voigt und Walder ins Visier nehmen, ist untertitelt plare. Ich kaufte ihm zwei Stück à Fr. 1.- ab. Ich wollte «frei nach W. Borchert». «Diese Aufforderung zur Militär- wissen, welcher Art Lektüre dies war. Ich muss sagen, dass dienstverweigerung soll mit dem beiliegenden Heft an die ich über den Inhalt, noch mehr eigentlich über den Um- jungen Leute in St. Gallen verkauft werden, und es wird stand, dass diese Zeitschrift im Seminar auftauchte, rich- bei der Gewerbepolizei um das Hausiererpatent zum Ver- tig erschrocken war. Die Tatsache jedoch, dass es sich nur trieb nachgesucht», lässt Voigt seinen Kollegen in Bern um wenige Exemplare handelte, erschien mir die Sache wissen. «Ich habe der Gewerbepolizei mitgeteilt, dass ein nicht alarmierend zu machen. Beim fraglichen Schüler solches Patent zum freien Verkauf auf der Strasse gegen handelte es sich nach meinem Dafürhalten um einen eher Entgelt vorläufig nicht erteilt werden kann, bis abgeklärt naiven Typ. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass sich die- ist, ob der Inhalt des Roten Gallus Strafbestimmungen ser das mit der Zeitschrift verbreitete Gedankengut zu verletzt. Der Artikel Sag Nein verstösst m. E. gegen Art. Eigen machen würde. Allerdings habe ich mich mit dem 276 StGB, welcher mit Gefängnis bestraft, wer öffent- Schüler über die Zeitschrift etc. nie unterhalten. Ich ken- lich… zur Dienstverweigerung auffordert.» Voigt bittet ne seine Einstellung zu derselben also nicht. Später tauch- um baldige Mitteilung, ob er eine Strafuntersuchung te dann der Rote Gallus Nr. 2 auf, d. h. der Schüler kam durchführen soll und ob diese allenfalls seinem Amt über- zu mir und bot mir diesen an. Ich kaufte wieder zwei Ex- tragen würde. Eine Kopie des Schreibens geht auch an die emplare zu je Fr. 1.–. Ich glaube, dass auch er diesmal wie- Militärjustiz. Adressat ist der Oberauditor (Chefankläger) der 8 bis 10 Stück vertrieb. Ich habe mir bereits vorge- der Schweizer Armee. nommen, beim erneuten Auftauchen dieser Zeitschrift Vorkehrungen zu treffen. Welcher Art diese sein werden, Am 29. Dezember 1970 bekommt dann Voigt von höchs- bin ich mir jedoch noch nicht schlüssig. Den Namen des ter Stelle grünes Licht für seine Operation gegen den fraglichen Schülers gebe ich vorerst nicht preis. Man «Roten Gallus». Das Eidgenössische Justiz- und Polizeide- möge dies nicht falsch verstehen. Es hat den Grund einzig partement (EJPD) erteilt die «Ermächtigung zur Strafver- in der Tatsache, dass ich das Vertrauensverhältnis Lehrer/ folgung» und überträgt diese und die Beurteilung den Schüler nicht stören möchte. Mir ist diese Zeitschrift äus- Strafbehörden des Kantons St. Gallen. In dem Schreiben, serst unsympathisch. Mein Interesse an dieser hatte rein das vom damaligen Vorsteher des EJPD, Bundesrat Lud- informativen Charakter, weil ich Mitglied des ‹Ausschus- wig von Moos (CVP), unterzeichnet ist, heisst es: «Die ses schweiz. Offiziere für psychologische Kriegsführung› Bundesanwaltschaft ist der Auffassung, dass mit dem in- bin.» – Das reicht, mag sich der Chef des St. Galler Un- kriminierten Satz des Roten Gallus der Tatbestand von tersuchungsrichteramtes (URA), Heinz Voigt, gedacht Art. 276 Ziff. 1 Abs. 1 StGB erfüllt wurde. Es war dem haben, nachdem er von Seminarlehrer K. ein Exemplar Verfasser nicht darum zu tun, die Meinung des Dichters der zweiten Nummer des «Roten Gallus» erhielt. Nun ist Borchert über den Krieg in dem fraglichen Artikel darzu- Zeit zum Einschreiten, bevor die ganze Junglehrerschaft legen. Hätte er tatsächlich das gewollt, so hätte er keinen links gedrillt ist. Voigt hat bereits von der St. Galler Ge- frei nach Borchert verfassten Text publiziert, der gegen- werbepolizei ein Exemplar des «Roten Gallus» bekom- über dem Original vom Titel weg nicht nur gekürzt, son- men, das von den Herausgebern für die Erteilung der dern mit Abänderungen auf die politischen und ander- Strassenverkaufs-Bewilligung eingereicht worden war. weitig weltanschaulichen Konzeptionen der Herausgeber des Roten Gallus zugeschnitten ist.» Der Tarif ist damit Voigt reicht es an die Bundesanwaltschaft weiter, weil sie erklärt. Jetzt geht’s Schlag auf Schlag. Vier Detektive rü- für den Straftatbestand zuständig ist, den der Untersu- cken am 8. Januar 1971 an die Schwertgasse 3 aus und chungsrichter nach der Lektüre einklagen will. Voigt durchsuchen die von der Basisgruppe gemietete Woh- schreibt am 25. November 1971 an Bundesanwalt Hans nung. Später am Tag suchen sie die Webergasse 21 auf und Walder über seine Entdeckung im «Roten Gallus»: «Ein filzen die Boutique «Yestermorn». An der Schwertgasse Gedicht: Dann gibt’s nur eins: Sag Nein, mit einem Pan- werden laut Hausdurchsuchungsprotokoll 150 ungefalzte zerwagen mit dem Schweizerkreuz illustriert, fordert zur Exemplare des «Roten Gallus» beschlagnahmt. In der Dienstverweigerung auf mit den Worten: Du, Mann auf Hippie-Boutique hingegen sind die acht bis zehn geliefer- dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kom- ten Zeitungen bereits alle verkauft. Das 19jährige Basis- men und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt’s mitglied R. wohnt im Haus Schwertgasse 3 und wird zur nur eins: Sag Nein!» Walder, der oberste Ankläger, hat den polizeilichen Befragung gleich auf die Hauptwache mit- Ruf eines «McCarthy der Schweiz», weil er alles Defätis- genommen. Wie aus dem Einvernahmeprotokoll ersicht- tische (oder was er dafür hält) mit grosser fanatischer lich ist, wird immer wieder gefragt, wer im «Roten Gal- Energie verfolgt. Unter anderem den Berner SP-National- lus» schreibt und wer Mitglied der Basisgruppe ist. Man rat und Präsidenten der «Internationalen der Kriegs- will Namen und Adressen. R. verweist auf S. Dieser stehe

53 Titelblatt und die Seite im «Roten Gallus», die Stein des Anstosses waren. «Roter Gallus» ca. August 1970. Quelle: AFGO.198, «Roter Gallus».

im Impressum als verantwortlicher Redaktor. Die Polizei wahr!» Weiter wird in der Sondernummer die Hausdurch- will auch wissen, wie viele Exemplare wo gedruckt wor- suchung und Beschlagnahmung der Untergrund-Zeitung den sind, und wer sie wo verkauft hat. Rund 700 Stück als «Schikane gegen eine politisch aktive und gesellschafts- seien gedruckt und für einen Franken pro Exemplar ver- kritische Gruppe» qualifiziert. Dies sei der «vorläufige Hö- kauft worden, sagt R. Bis auf die 150 Exemplare seien alle hepunkt des Voigt’schen Kreuzzuges gegen die oppositio- abgesetzt worden. Abschliessend wird R. in dem Einver- nelle Jugend», heisst es weiter. «Wir fordern deshalb den nahmeprotokoll mit der Bemerkung zitiert, dass jetzt in Rücktritt von UR Voigt und seinen Berner Kollegen oder der Konsequenz alle Bücher Borcherts eingezogen werden die Beschlagnahmung sämtlicher Borchert-Ausgaben.» In müssten, wenn schon der «Rote Gallus» wegen eines Zi- einem Kästchen steht in der Sonderausgabe der Unter- tats des Dichters beschlagnahmt worden sei. grund-Zeitung über Borchert: «Er hatte Krieg, schwere Verwundung und Gefängnis wegen defätistischer Äusse- rungen hinter sich, als er 1945 fieberkrank vor den Trüm- «Gestellungsbefehl», nicht Marschbefehl mern seiner Vaterstadt Hamburg stand. Sein aufsehener- regendes Drama «Draussen vor der Tür» war keine künst- In einer Sondernummer des «Roten Gallus» vom 9. Januar lerische Offenbarung, aber ein erschütterndes Dokument, 1971, die bei den Untersuchungsakten liegt, heisst es zu der Notschrei seiner Jugend, die um ihr Lebensrecht be- Beschlagnahmung und Einvernahme von R. durch die trogen worden war. Aus: Geschichte der Deutschen Lite- Polizei: Dem Basismitglied sei gesagt worden, wenn es die ratur. Offizielles Kantilehrbuch.» Bis Februar 1971 hat Personalien der Mitglieder der Basisgruppe nicht bekannt Voigt in der Causa «Roter Gallus» drei Angeschuldigte: gebe, könnte die Polizei einfach mit einer Anzahl Beam- den Redaktor S., den HSG-Studenten R. von der Basis- ter eine Basissitzung besetzen und alle Personalien auf- gruppe und den freien Journalisten L., der als Berater für nehmen. Handschriftlicher Vermerk von UR Voigt: «Un- die Untergrund-Zeitung wirkt. Alle drei übernehmen

54 Verantwortung. Voigt unterstellt ihnen, dass sie mit dem rer demokratischen Gesetze als faschistoide Schikane und Borchert-Artikel, den ein gezeichneter Panzer mit Schwei- als Diktatur zu bezeichnen, ist eine bösartige Unterschie- zerkreuz ziert, bewusst zur Militärdienst-Verweigerung in bung, auf die niemand hereinfällt, der denken und ver- der Schweizer Armee auffordern würden. Die drei bestrei- gleichen kann.» Für Voigt ist alles im Sinne seiner Ankla- ten vehement. Der Borchert-Text, wenn auch leicht abge- ge stimmig: Der Borchert-Artikel sei mit einem Panzer ändert, wende sich an alle Soldaten der Welt und rufe mit Schweizer Kreuz garniert und der inkriminierte Ap- dazu auf, den Kriegsdienst, nicht den Militärdienst, zu pell stehe unmittelbar vor einem anderen Artikel, der die verweigern. Zudem sei in dem Text absichtlich der Begriff schweizerischen Militärgerichte verunglimpfe und das «Gestellungsbefehl» belassen worden, den Borchert ver- Zerbrechen eines Gewehres sowie das deutsche Dienst- wendet habe, um die Internationalität zu markieren. In verweigererzeichen zeige. «Der unbefangene Leser wird der Schweiz heisse das Marschbefehl. Den Begriff «Ge- daher den fraglichen Satz als das verstehen, was dieser be- stellungsbefehl» kenne man hierzulande nicht. Wenn zweckt: Aufforderung zum militärischen Ungehorsam», man explizit Schweizer Wehrmänner zur Dienstverweige- meint der URA-Chef und bezichtigt dann die Angeklag- rung hätte auffordern wollen, dann hätte man Marschbe- ten, eine halbe Million Schweizer Soldaten aufs Schwers- fehl geschrieben. Zum Schweizer Kreuz auf dem Panzer te zu beleidigen, die Werte des Landes skrupellos zu un- sagen die Angeschuldigten, dass nicht die Landeszugehö- tergraben und im Solde Moskaus zu stehen. Als Verteidi- rigkeit des Panzers gemeint sei, sondern seine Herkunft. ger tritt der damalige Basler SP-Nationalrat Andreas Ger- Die Schweiz sei ja für den Waffenexport, vor allem von wig auf. Er plädiert dafür, dass Art. 276 sehr eingeschränkt Schützenpanzern aus dem Hause Bührle, bestens be- angewendet werden soll, weil die Strafnorm in der Volks- kannt. abstimmung von 1938 nur angesichts der Kriegsdrohung aus Hitler-Deutschland angenommen worden sei. Inzwi- schen aber habe das Schweizer Volk mehrfach zum Aus- «Aufforderung zum militärischen druck gebracht, dass es im Spannungsfeld Presse- und Ungehorsam» Meinungsäusserungsfreiheit einerseits und Staatsschutz anderseits den Freiheitsrechten den Vorrang einräume. Am 16. November 1971 kommt es vor dem Bezirksgericht Dies entspreche durchaus der schweizerischen Staatsauf- St. Gallen zum ersten Prozess gegen den «Roten Gallus». fassung. Weiter sagt der Verteidiger der drei Angeklagten, Aufforderung zur Verletzung militärischer Dienstpflich- dass die Aufforderung zur Dienstverweigerung mit «einer ten nach Art. 276 Ziff. 1 StGB, lautet die Anklage. UR gewissen Dringlichkeit» erfolgen müsse. Dieser Ansicht Voigt schreibt in der Anklageschrift: «Da nicht alle Mit- sei auch das Bundesgericht. Im vorliegenden Fall sei diese glieder der Basisgruppe, die den eingeklagten Sag-Nein- Dringlichkeit aber überhaupt nicht gegeben, zumal ja Artikel in gemeinsamer schöpferischer Arbeit geschrieben auch von einem in der Schweiz gänzlich unbekannten haben, ermittelt werden konnten – wer war bloss Zuhö- «Gestellungsbefehl» die Rede sei und nicht vom hierzu- rer, Gast oder gelegentlicher Mitläufer – ist es gegeben, lande üblichen Marschbefehl. die drei erwachsenen Angeschuldigten zur Rechenschaft zu ziehen. Sollten die Angeschuldigten auch die Durchfuhrung der Strafuntersuchung gegen die zur Zeit Freispruch vor dem Bezirksgericht der Tat noch Jugendlichen R., F. und L. verlangen, so wäre ein zusätzliches Verfahren nach Abschluss des pen- Die Verteidigung holte beim heute emeritierten Germa- denten Verfahrens zu empfehlen.» Voigt gibt dann ziem- nistikprofessor und Schriftsteller Adolf Muschg ein Gut- lich schnell zu erkennen, dass er einen politischen Prozess achten ein. «Sollten Texte wie die hier inkriminierten der fuhren und eine Gesinnung bestrafen will. «Jeder klare gerichtlichen Sanktion verfallen, so wäre der faktischen Kopf weiss zu unterscheiden zwischen den Armeen der Zensur literarischer Erzeugnisse, die kontroverse The- Diktaturstaaten, die zum Angriff, zur Unterjochung und men behandeln, keine Grenze mehr gesetzt», schreibt Niederhaltung des Volkes unterhalten werden und der Muschg. «Es wäre möglich, schwierige und inhaltlich Schweizer Milizarmee, die nur zur Selbstverteidigung unbequeme Texte auf eine schlichte Moral zu reduzieren dient», deklamiert er. «Wenn wir nicht unsere eigene Ar- und auf diesem Niveau einen Konflikt mit dem Gesetz mee gehabt hätten, wären unsere Männer von Hitler als zu konstruieren. Auf diese Weise würde ein grosser – ich Kanonenfutter in seiner Wehrmacht verwendet worden. stehe nicht an zu sagen: der gewichtigste – Teil der zeit- Die Gesetzesbestimmungen des Schweizerischen Strafge- genössischen Literatur gerichtlich verfolgbar.» Das Be- setzbuches, welche vom Volk mit Abstimmung angenom- zirksgericht spricht die drei Angeklagten frei und macht men wurden, sind anzuwenden. Wir haben in unserer in der Begrundung des Richterspruchs Voigt schwere Demokratie Gedankenfreiheit. Wer aber, wie die Ange- Vorwürfe bezüglich seines Vorgehens. Der UR habe er- schuldigten, zur Gesetzesverletzung auffordert, muss staunlicherweise unterlassen, die ihm mit Namen be- nach dem Gesetz bestraft werden. Die Anwendung unse- kannten möglichen Verfasser des inkriminierten Textes

55 (R., F. und L.) in die Untersuchung miteinzubeziehen. teilt – erscheint, sagt Bundesanwalt Walder: «Gerade bei «Solange nicht geklärt ist, ob diesen Personen oder ein- Publikationen, die einen Straftatbestand erfüllen, können zelnen von ihnen die Verfasserschaft nachgewiesen wer- wir es aber nicht dulden, dass ein Urteil mit einer unseres den kann, darf der verantwortliche Redaktor nicht zur Erachtens unrichtigen Begründung zum Präjudiz wird, Rechenschaft gezogen werden», heisst es im Urteil. Zu das man uns nachher entgegenhält. Da habt ihr nichts den beiden Nebenangeklagten meint das Bezirksgericht, unternommen; nun können wir das gleiche straflos auch dass sie nur um andere zu schützen Mitverantwortung tun. Der Fall des Roten Gallus scheint mir so zu liegen, übernommen hätten, was im Zusammenhang mit dem dass eine Verurteilung hätte stattfinden müssen.» eingeklagten Tatbestand nicht relevant sei. Und weiter heisst es in der erstinstanzlichen Urteilsbegründung: «Völlig unverständlich ist es, wenn der Untersuchungs- «Der Spiegel» wundert sich richter den Entscheid darüber, ob auch gegen die noch minderjährigen Verdächtigen ein Verfahren zu eröffnen Bei vielen Medien und einer Reihe demokratisch gesinn- sei, den heutigen Angeklagten überlassen will. Er möch- ter Menschen hat die gerichtliche Verfolgung der St. Gal- te damit Leuten, die seiner Meinung nach einzig auf die ler Untergrund-Zeitung, die zwischen 1970 und 1972 er- Zerstörung der bestehenden Gesellschaftsordnung und schien, schale Gefühle hinterlassen. So berichtete im Ja- der ordnungserhaltenden Institutionen aus sind, Kom- nuar 1971 die amerikanische Nachrichtenagentur UPI in petenzen übertragen, die gemäss gesetzlicher Regelung ihrem Europadienst über die Beschlagnahmung des «Ro- allein in seinen Pflichtenkreis gehören. Das kann wohl ten Gallus» und zitierte die Herausgeber, dass jetzt kon- kaum angehen.» sequenterweise in der Schweiz alle Borchert-Ausgaben konfisziert werden müssten. Der «Beobachter» schrieb im Januar 1973: «Dass der verantwortliche Untersuchungs- Berufung beim Bundesgericht richter einiges zusammenkonstruieren musste, um seine Anklage überhaupt zustande zu bringen, sei hier nicht So wollen sich Voigt und Walder von einem teilweise mit erörtert. […] Vielmehr geht es darum, dass im Prozess Laien besetzten Provinzgericht natürlich nicht abkanzeln gegen den Roten Gallus ein Satz eines namhaften Dich- lassen. Die Bundesanwaltschaft erhebt nun selbst Beru- ters eingeklagt war, und es geht um das grundsätzliche fung gegen das Urteil. Sie wird am 20. November 1972 Recht des Schweizers, auch pazifistische oder militärkriti- vom Kantonsgericht abgewiesen. Ab jetzt geht es nur sche Äusserungen vorbringen zu dürfen, ohne Gefahr zu noch auf Teufel komm raus weiter. Die Bundesanwalt- laufen, deswegen verurteilt zu werden.» Das deutsche schaft führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» staunte nicht schlecht dem Antrag, die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, über die Gesinnungsjustiz in der Schweiz. In einem Re- damit diese den verantwortlichen Verfasser und dessen port über die helvetische Alpenrepublik mit dem sinnigen Gehilfen ermittle. Der Kassationshof des Bundesgerichtes Titel «Euer Friede ist faul und erlogen, wenn…» schrieb heisst die Nichtigkeitsbeschwerde gut und meint in der er am 2. August 1971: «Walders vorgesetzte Behörde fand Begründung, dass das Wort «Gestellungsbefehl» in der das Dichterzitat in Verbindung mit einer Zeichnung, auf Schweiz sehr wohl als «Marschbefehl» verstanden würde welcher Schweizer Panzer und zerbrochene Gewehre zu und deshalb als Aufforderung zur Dienstverweigerung sehen waren, eine feige Art, Agitation zu betreiben. Sie tauglich sei. Es weist den Fall zur Neubeurteilung ans selbst betrieb aufgrund denunziantischer Dossiers tapfer Kantonsgericht zurück. Das Kantonsgericht findet nun, die fristlose Entlassung zweier Post-Mädchen in Biel, weil dass S. seiner Redaktionspflicht ziemlich oberflächlich sie wegen angeblicher Sympathien für die junge Linke ge- nachgekommen sei und seinen Namen «aus Sympathie fährlich und nicht vertrauenswürdig seien.» und ideologischer Solidarität leichthin für ein fremdes Machwerk hingegeben hat». Er wird am 24. Oktober 1973 Nach dem Bundesgerichtsentscheid vom März 1974 gab wegen Aufforderung und Verleitung zur Verletzung mili- Dekan Felix Ludwig im Sonntagsgottesdienst von der tärischer Dienstpflichten zu einer Woche Gefängnis ver- Kanzel der evangelischen Kirche in Weinfelden seinen urteilt, bedingt auf zwei Jahre. Die beiden Nebenange- Verzicht auf die Predigt bekannt. Er habe Jesaja 2, Verse 4 klagten werden freigesprochen. Der Kassationshof des und 5, zitieren wollen. Bei der Verlesung dieser Bibelzita- Bundesgerichtes weist am 12. März 1974 die Nichtigkeits- te müsse er aber nun befürchten, von der Bundesanwalt- beschwerde von S. ab. Schlichte Begründung: Wenn der schaft wegen Aufforderung zur Dienstverweigerung be- Verfasser des inkriminierten Textes nicht bekannt gege- langt zu werden. «Es ist gefährlich, Pfarrer zu sein», sagt ben würde, hafte eben der Nachmann an dessen Stelle für Ludwig anstelle der Predigt seiner Gemeinde. die Tat und das Verschulden. In einem Interview mit der Zürcher Studentenzeitung «Konzept», das im Januar 1973 Dieser Beitrag erschien bereits im Typotron-Heft 30, 2012. – bevor das Bundesgericht über den «Roten Gallus» ur-

56 Das Evangelische Tagungszentrum Schloss Wartensee als Impulsgeber, Begegnungs- und Vernetzungsort

Arne Engeli

Das Gewissen schärfen de.2 Themen der Tagungsarbeit in den nächsten 13 Jahren waren solche der Berufswelt (u. a. alljährlich ein Bauern- 1954 gründeten engagierte Zeitgenossen aus dem Helfer- kurs von acht Wochen Dauer), soziale Fragen, Friedens- kreis für Männerarbeit der evangelischen Kirchen, Region und Menschenrechtsfragen (z. B. zur Apartheid in Süd- Kanton St. Gallen, nach dem Vorbild von Boldern (Heim- afrika), die lokale und weltweite Ökumene oder die Mit- stätte im Kanton Zürich, gegründet 1948) und von deut- arbeit der Laien in der Kirche. Treffen von Kirchenvorste- schen evangelischen Akademien wie Bad Boll den Verein herschaften fanden statt, und, in Zusammenarbeit mit Ostschweizerische Evangelische Heimstätte. Es ging da- Bad Boll, jährlich ein schweizerisch-deutsches Arbeitneh- mals um die Frage, wie nach dem Schrecken des 2. Welt- mertreffen. 1971, auf den Zeitpunkt der Pensionierung krieges «der moderne Mensch für seinen Gottesdienst im von Olgiati, wurden zu dessen Nachfolgern der Schrei- Alltag auszurüsten und sein Gewissen zu schärfen sei», bende als Leiter und Pfarrer Paul Rutishauser3 als teilzeit- um eine Theologie der «Zuwendung zur Welt».1 Auf der licher theologischer Mitarbeiter gewählt. Beide stammten Suche nach einem geeigneten Ort für die Heimstätte, wie aus dem Thurgau und blieben 20 ahreJ lang, bis 1991, im sich damals die reformierten Tagungszentren in der Amt. Später konnte das Team erweitert werden mit Teil- Schweiz nannten, stiess der Verein auf das 700 Jahre alte zeitpensen für Theresa Engeli-Müller (1976–1993), Pfarrer Schloss Wartensee am Rorschacherberg, das, damals noch Wolfgang Ochsner (1974–1980) bzw. Pfarrer Reinhard in katholischer Hand, sanierungsbedürftig und deshalb Schläpfer (1981–1990) und Gilberto Zappatini (1986– vom Missionsverein der Franziskanerinnen für 165 000 1990) auf schliesslich insgesamt 250 Stellenprozente. Das Franken zum Kauf angeboten wurde. Die beiden Kanto- neue Wartensee-Team, dem auch die hauswirtschaftliche nalkirchen St. Gallen und Appenzell beteiligten sich mit Betriebsleiterin Ruth Stadelmann angehörte (1958–1987), Darlehen an der Sanierung, erstere übernahm auch die konnte die von Olgiati angefangene Arbeit weiterführen, Besoldung des Leiters. Mit je zwei Mitgliedern im Vor- vertiefen und verbreitern. Schliesslich konnten pro Jahr stand des Vereins Wartensee sicherten sie sich ein Mit- 60 eigene Tagungen durchgeführt werden mit bis zu 2900 spracherecht. Teilnehmenden (und bis zu 150 Gastgruppen mit rund 4000 Teilnehmenden). Für viele wurde Schloss Wartensee in den folgenden vier Jahrzehnten zu einer geistigen Heimat, und der alljährli- che Wartensee-Tag an Auffahrt (mit Programm für Er- Schwerpunkte der Tagungsarbeit 1971–1991 wachsene und Kinder, Begegnungen, Vereinsversamm- lung) zu einer Art Familientreffen mit mehreren Hundert Die von den Wartensee-Studienleitern organisierten Ver- Besuchenden. Das Tagungszentrum genoss über die Ost- anstaltungen lassen sich in drei Bereiche unterteilen: 1. schweiz hinaus den Ruf eines Ortes der offenen Debatten, Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Visionen sowie der Erfahrung, wie und was Kirche sein könnte.

1 Bericht Boldern!, Nr. 107, Mai 1998. 50 Jahre Boldern. Prof. Eugen Nichttheologen als Heimstätteleiter Brunner mit seiner Theologie der Zuwendung zur Welt war Bolderns erster Präsident, Pädagoge Hans J. Rinderknecht erster Leiter. 2 Lebenslauf und Nachruf (u. a. von Arne Engeli und Fridolin Trüb), in: Am 22. Juni 1958 wurde die Heimstätte eröffnet. Der erste Erinnerung an Rodolfo Olgiati-Schneider, geboren den 30.6.1905, Heimstätteleiter war Dr. h. c. Rodolfo Olgiati. Er war be- gestorben den 31.Mai 1986. kannt geworden als mutiger und umsichtiger Leiter der 3 Paul Rutishauser, geb. 1935, Theologe, Leiter des Theologischen Kinderhilfe des Roten Kreuzes und der Schweizer Spen- Seminars in Abetifi/Ghana (1962–1970).

57 Das Ehepaar Olgiati-Schneider. Rodolfo Olgiati war der erste Leiter Diskussionen im Speisesaal des Tagungszentrums Schloss Wartensee des Tagungszentrums Wartensee. Aus Bulletin des Protestantisch- in den 1960er-Jahren. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli. kirchlichen Hilfsvereins des Kantons St. Gallen, 1971, S. 3. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

der Schöpfung (ab 1986 so benannt), 2. Arbeit mit Schick- salsgruppen und Familien, 3. Spiritualität und Persönlich- keitsentwicklung. Die Wochenendtagungen und Semina- rien wurden jeweils zusammen mit externen Interessier- ten vorbereitet und durchgeführt. Ziel war es, gesell- schaftliche Fragestellungen frühzeitig aufzugreifen und alternative Lösungen zu diskutieren und bekannt zu ma- chen, Gleichgesinnte zu stärken, den Dialog mit Anders- denkenden zu fördern und Basisgruppen zu vernetzen.4

Thema Gerechtigkeit

Einige Beispiele von Tagungen: 1976 wurde die Mitbe- stimmungsinitiative der Gewerkschaften zur Diskussion gestellt, im folgenden Jahr, nach dem Chiasso-Skandal, das Bankgeheimnis der Schweiz, mit Nationalbankprä- sident Leo Schürmann und Ruedi Strahm als Referen- ten. Während einiger Jahre suchte Wartensee zusammen mit Fremdarbeitern und mit der zweiten Generation von Einwanderern nach Wegen zu deren besseren Integration. Bestbesuchte Anlässe waren lange Zeit Drittwelt-Wo- chenenden, z. B. mit kritischen Fragen zur Grünen Revo- lution. Eine hochkarätige Arbeitsgruppe entwarf 1976– 1978 in Wartensee einen Verhaltenskodex für Privatinves- toren in Entwicklungsländern.5 Nach einer Tagung mit

4 Richtlinien zur Tätigkeit der Heimstätte Wartensee, erlassen 1977 vom Vorstand; vgl. dazu Wartensee Nachrichten Nr. 70, Mai 1977. 5 Gespräche Kirche/Wirtschaft im Entwicklungskonflikt. Hrsg. Institut für Sozialethik SEK, Aug. 1979. Teilnehmer waren: Dr. E. Mächler, Del. Verwaltungsrat Holderbank; Dr. J. Waldvogel, Direktor Ciba- Geigy; Dr. B. Walker, Unternehmensberater, Kirchenrat; H. Herzog, Pfarramt Mission und Oekumene; Dr. G. Berweger, Swissaid; Jahresversammlung des Vereins am Wartensee-Tag im Schlosshof H. Eugster, Erklärung von Bern; A. Engeli und Paul Rutishauser. in den 1970er-Jahren. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

58 Wichtig an Tagungen sind auch Begegnungen und Gespräche in den Pausen. Wartensee, 1979. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

alleinerziehenden Müttern wurden die Kirchen aufgefor- Thema Bewahrung der Schöpfung dert, sich beim Kanton für die Alimentenbevorschussung einzusetzen. St. Gallen führte diese 1979 als einer der ers- Nach Veröffentlichung des ersten Berichtes des Club of ten Kantone ein. Rome 1972 zu den Grenzen des Wachstums nahm War- tensee während vieler Jahre Fragen zum Thema Umwelt und Lebensstil auf. Eine Aktion, die daraus entstand, Thema Frieden hiess «Ohne Auto mobil». Es folgten Wochenendtagun- gen zur Verantwortung der Konsumentinnen und Konsu- Als Folge der Stationierung von Atomraketen in Europa menten, 1980 wurde im Anschluss an eine solche mit anfangs der 1980er-Jahre wurde das Thema Frieden auch Hans A. Pestalozzi der Migros-Frühling gegründet. Ein in der Schweiz virulent. Nach der Wehrschau in Frauen- anderes Thema war der biologische Landbau. feld, wo es 1982 zu Zusammenstössen der Polizei mit Frie- densaktivistinnen und Friedensaktivisten gekommen war, rief Wartensee höhere Offiziere (darunter Korpskomman- Schicksalsgruppen und Familien dant Feldmann) sowie Vertreterinnen und Vertreter von Kirchen und von Friedensorganisationen zu einer Ar- Schicksalsgruppen und Familien hatten einen festen Platz beitsgruppe zusammen, mit dem Ziel, Vorurteile abzu- im Programm. Für sie wurde Schloss Wartensee wirklich zu bauen und gegenseitigen Respekt zu schaffen. Nach der einer Heimstätte, wo tragende Gemeinschaft und Solidari- Ablehnung eines Zivildienstes 1977, um den auch in War- tät erfahren, wo Belastendes abgelegt und ein Neuanfang tensee gerungen wurde, kamen Beratungstage für Militär- gewagt werden konnten. Speziell für Kinder und Jugendli- dienstverweigerer und ihre Angehörigen ins Programm. che waren die Tage auf Schloss Wartensee paradiesisch Dreimal wurde für freiwillige Mitarbeitende in Gemein- schön, sie kamen gerne immer wieder, Jahr für Jahr. den und Gruppen ein längerer Ausbildungskurs in Frie- densarbeit angeboten. Interessant waren sodann vier Stu- Einige Beispiele: Drei Wochenendtagungen im Jahr wa- dienreisen mit jeweils rund 20 Teilnehmenden zu den ren für geistig behinderte Kinder und Jugendliche reser- Kirchen in der DDR, die dritte während der brisanten viert, die das Schloss wie keine andere Gruppe jauchzend Tage der sanften Wende im Oktober 1989 in Leipzig und in Beschlag nahmen. Aus dieser Arbeit entstanden Eltern- Dresden. vereinigungen und der Religionsunterricht für geistig Be-

59 Familienwoche auf Schloss Wartensee, ohne Jahr. Kooperationsspiele mit Jugendlichen. Wartensee-Tag 1982. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

hinderte in verschiedenen Kirchgemeinden. Beliebt waren Meditationstage, Schreibwerkstätten. Das Bedürfnis nach die Wochenenden für Witwen (daraus entstanden Selbst- solchen Einkehrtagen wuchs im Laufe der Jahre, denn wer hilfegruppen), für Geschiedene und Alleinerziehende, verankert ist, weiss sich geborgen und kann sich dann auf aber auch die Wochen für ältere Menschen. Es folgten die Veränderungsprozesse einlassen. Der Kraftort Schloss gut besuchten Familienwochen im Sommer und (während Wartensee war ein idealer Rahmen dafür. Interesse fanden der Betriebsferien) die Weihnachtstage in der Grossfamilie auch Kurse in Gesprächsführung. Mit der Arbeitsstelle mit bis zu 80 Teilnehmenden. Mit Kindern, Eltern und für kirchliche Erwachsenenbildung wurden ein Theolo- Lehrpersonen wurden auch einige Veranstaltungen zum giekurs und (im Modulsystem) Kurse für Behördenmit- Thema Schule gestaltet, z. B. «Den Kindern das Wort ge- glieder aufgebaut. Auch Erfahrungen zu «Kirche mit Kin- ben» oder zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern. dern» wurden ausgetauscht.

Spiritualität und Persönlichkeitsentwicklung Schweizer Jugendakademie

Angeboten wurden hier gemeinsames Gestalten von Fest- In den Jahren 1972 bis 1986 hatten Kurse der Schweizer tagen wie Ostern und Pfingsten, Wartensee-Sonntage mit Jugendakademie für junge Erwachsene (zuerst sechswö- Kindern zu Solidarität und Spiritualität (z. B. zum Heili- chige, dann zweiwöchige) Gastrecht auf Wartensee. Der gen Martin oder zu Friedensstiftern). Zum Jahrespro- Schreibende hatte diese Institution 1964, inspiriert von gramm gehörten sodann Paarseminare, Fastenwochen, den dänischen Folkehöjskoler, zusammen mit Fritz War- tenweiler gegründet und seither mit einem wechselnden Team geleitet, zu dem auch Theresa Engeli gehörte. Es ging in diesen Kursen um politische,6 persönliche und 6 Engeli, Arne: Politische Bildung in der Schweiz, Frauenfeld 1972. kulturelle Bildung. Für jedes Thema standen zwei Wochen

60 Eine Kursgruppe der Schweizer Jugendakademie auf Schloss Wartensee, 1972. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

zur Verfügung. Die Teilnehmenden beschafften sich zu besorgt über den Kurs von Wartensee und die nicht kirch- aktuellen Themen selber die wichtigsten Informationen, lich verankerte Jugendakademie und führte darüber mit diskutierten in Gruppen und mit auswärtigen Experten Leiterteam und Vorstand zwei klärende Gespräche. Später ihre Ergebnisse, erarbeiteten sich ihren Standpunkt und kamen die Vorwürfe aus Kreisen der rechtsbürgerlichen erprobten Formen der Umsetzung ihrer Erkenntnisse. Es Organisation «Kirche wohin?», einem Kind des Kalten war eine Win-Win-Situation: Junge Menschen lernten Krieges. Eine Intervention erfolgte auch aus dem Erzie- Wartensee kennen, die Heimstätte hatte über mehrere hungsdepartement, danach mussten die Gesprächsfüh- Wochen zahlende Gäste und die Jugendakademie einen rungskurse eingestellt werden, die Wartensee für einzelne schönen, festen Ort. Klassen des Lehrerseminars Rorschach durchführen konn- te und die eine gute Resonanz gefunden hatten.8 1983 bil- dete sich eine Gruppe «Wartensee für alle», die einige Jah- Spannungsfelder re (erfolglos) versuchte, innerhalb des Vereins über neue Verträge die Verantwortlichen stärker an die Kandare zu In der Öffentlichkeit gefiel die Tagungsarbeit in Warten- nehmen und ihren Freiraum einzuschränken. see nicht allen. Noch vor der Aufnahme der Tagungsar- beit im umgebauten Schloss wurden im Visitationsbe- Die Auseinandersetzungen belasteten lange Zeit auch die richt der St. Galler Kantonalkirche 1972 die Befürchtung Vorstandssitzungen, nach dem Engagement des Teams für eines «Linksdralls» und einer «Beschäftigung mit partei- die «Mitbestimmungsinitiative» und vor allem immer ideologischen Problemen» laut.7

1973, an einer Tagung zum Thema «Privatinvestitionen im Apartheidstaat Südafrika», wurde auch die Firma Wild in 7 Quo vadis. Visitationsbericht der St. Galler Kirche 1972. Heerbrugg kritisch (und kontradiktorisch) unter die Lupe 8 Wie der damalige Erziehungsschef Regierungsrat Ernst Rüesch das genommen. In der Folge zahlte die Kirchgemeinde Heer- Wirken des Leiters des Tagungszentrums Wartensee einschätzte, brugg ihren finanziellen Jahresbeitrag an den Verein War- zeigt folgende Begebenheit: Als dieser bei ihm vorsprach, um für tensee nicht mehr. Ebenso verfuhr die Kirchgemeinde die Kurse der Schweizer Jugendakademie in Wartensee vom Kanton eine finanzielle Unterstützung zu erhalten, bekam er den Bescheid: Flawil, allerdings aus anderen Gründen. Der dort amtie- «Erstens hat der Kanton dafür kein Geld, und wenn er noch solches rende Pfarrer Gerhard Blocher warf den beiden Leitern in hätte, würde ich mich dafür einsetzen, dass Ihre Kurse keines Wartensee vor, nicht den wahren christlichen Glauben zu erhalten. Mit ihren Themen kritisieren Sie unser Land, statt den vertreten. Die Kirchenvorsteherschaft St. Gallen C war jungen Leuten zu zeigen, worauf sie stolz sein können.»

61 wieder wegen der Friedensarbeit. Die Mehrheit im Vor- der Wartensee in den Anfangsjahren als Vereinspräsident stand aber gab uns Rückendeckung. In einer Erklärung und nachher bis 1983 als Vorstandsmitglied gedient hatte am Wartensee-Tag 1975 stellte sich der Vorstand klar hin- und der die Arbeitgeber dazu gebracht hatte, die erste ter die Leitung: «Alle Stimmen haben Gelegenheit, zu Schloss-Renovation zu finanzieren. Jetzt war in ihren Au- Wort zu kommen. Die Erwartung, dass die Heimstätte gen Wartensee «in die Hände» eines Linken geraten, der ein Ort der Begegnung sei, wird erfüllt.» An einer grund- sich überdies 1976 für die SP in den St. Galler Kantonsrat sätzlichen Aussprache im Vorstand im Januar 1977 wur- wählen liess. Wartensee war für sie damit nicht mehr ein den die verschiedenen Spannungsfelder hinter den Kon- «neutraler» Ort, sondern hatte einen «Linksdrall» bekom- flikten analysiert. men.

In den kirchlichen Tagungszentren, aber nicht nur dort, Ein weiteres Spannungsfeld eröffnete sich damit, dass in wurde in den 1970er-Jahren von den Kirchen ein deut- der Gesellschaft (ausgelöst durch die 68er-Bewegung) licheres soziales und politisches Engagement gefordert. und auch in Wartensee vermehrt eine soziologische und Prof. Arthur Rich, Sozialethiker an der Universität Zü- politologische Analyse der aktuellen Probleme vorgenom- rich, war z. B. eine der treibenden Kräfte für die Mitbe- men wurde. Anzustreben war nicht nur die Veränderung stimmungsinitiative der Arbeitnehmer (und vertrat dies (biblisch: Umkehr) des Einzelnen, sondern der Gesell- auch an einer Tagung in Wartensee).9 Im Kanton St. Gal- schaft und ihrer Strukturen. Man sprach von struktureller len waren die Verhältnisse bisher meist klar: wer als Ka- Gewalt.10 In der Erwachsenenbildung wurden neue For- tholik politisierte, gehörte der CVP an, als Reformierter men des Lernens und des Dialogs praktiziert, wie Grup- der FdP. Es war ein freisinniger Politiker, Dr. Simon Frick, pendynamik oder gruppenzentriertes Arbeiten.11 Einer- seits verunsicherte das, anderseits ermöglichte es aber auch intensiveres Mitwirken. Team und Vorstand waren sich nach dieser Aussprache darin einig, was Wartensee vorzuleben hat: konziliares Zusammenwirken, interdiszi- plinäre Zusammenarbeit, gegenseitiges Respektieren.

Friedensfragen auf Wartensee beunruhigen

Trotz dieser Klärung kam es im Vorstand nach Tagungen zum Thema Frieden immer wieder zu Auseinandersetzun- gen, so nach einer Wochenendtagung im Herbst 1979 zu «Waffen – Schutz oder Bedrohung? Zum Studienpro- gramm des Ökumenischen Rates der Kirchen über Mili- tarismus und Wettrüsten». In der Presse stand nachher zu lesen: «Tagungsteilnehmer fordern Friedensarbeit. Appell an die Kirchenleitungen». Gefordert wurde in einer Reso- lution, dass die Kirchen die Bestrebungen zur Errichtung eines schweizerischen Friedensforschungsinstitutes und die Initiative für einen echten Zivildienst auf der Grund- lage des Tatbeweises unterstützen und gegen Militarisie- Probe für ein Strassentheater zur «Mitbestimmungsinitiative» rungstendenzen im Erziehungsbereich Stellung beziehen der Gewerkschaften. Kurs der Schweizer Jugendakademie, sollen.12 Schloss Wartensee, 1976. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli. Nun war erneut «Feuer im Dach». An einer ausserordent- lichen Vorstandssitzung stritt man sich darüber, ob die Teilnehmenden einer Tagung, wie geschehen, öffentlich Stellung nehmen dürfen, oder ob Wartensee sich in poli- 9 Das Thema Mitbestimmung wurde schon 1958 bei der Eröff- tischen Fragen strikt neutral zu verhalten habe. «Nicht nung der Heimstätte von Pfr. Felix Tschudi vorgeschlagen. der Verlauf einer Tagung, sondern was nach ihr folgt, 10 Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- macht Stunk», so ein Vorstandsmitglied. Der St. Galler und Konfliktforschung, Hamburg 1975. 11 Einzelne aus dem Leiterteam bildeten sich weiter in Kursen Kirchenratspräsident und der Vereinspräsident erwarte- der Themenzentrierten Interaktion/TZI. ten von den Beauftragten einer Volkskirche politische 12 Ostschweizer AZ, 21. Januar 1980. Die Forderung wurde von Unabhängigkeit und Neutralität. Die beiden Vertreter des 100 Tagungsteilnehmern erhoben. Appenzeller Kirchenrates hingegen stärkten dem Team

62 den Rücken: «Wo keine Spannungen sind, fliesst auch nötigt, verhärtete Fronten durchbrechen zu helfen, Kon- kein Strom». Sie unterstützten mit anderen Vorstandsmit- flikte auszulösen und auszuhalten, das Risiko auf uns zu gliedern die von der Heimstätteleitung gezeigte Offenheit nehmen, als gefährliche Unterwanderer verdächtigt und für alle Meinungen, die auch Stellungnahmen ermög- verleumdet zu werden.»14 licht, im Rahmen der vom Vorstand erlassenen Richtlini- en. Rückhalt Hilfreich war nach all dem «Gschtürm» auch Walter J. Hollenwegers biblisches Spiel «Die Jüngermesse», das Rückhalt gab dem Team die kollegiale und inhaltliche Zu- Vorstand und Team gemeinsam als ein Zeichen der Ver- sammenarbeit im schweizerischen Leiterkreis und in der söhnung am Wartenseetag 1982 vor vielen Hundert Besu- Ökumenischen Vereinigung der Akademien und Laien- chenden aufführten. «Die ersten Jünger Jesu waren keine zentren in Europa, gerade auch in Friedensfragen. Sie war Gemeinschaft der Gleichgesinnten, sondern eine Ge- wichtig für den Austausch, für Visionen, für das Weiter- meinschaft der Gegensätze (z. B. der Gegensatz zwischen entwickeln von Ideen. Theresa Engeli arbeitete während Widerstandskämpfern und Kollaborateuren der römi- Jahren im europäischen Exekutivkomitee dieser Vereini- schen Kolonialmacht). Sie waren sich auch in wichtigen gung mit. Und auch die gut besuchten Mitgliederver- theologischen Fragen uneinig. Trotzdem feierte Jesus das sammlungen des Vereins Wartensee bestätigten den Kurs letzte Mahl mit diesen Jüngern, ohne dass sie sich vorher immer wieder aufs Neue und ermutigten, dran zu bleiben. einig werden mussten.»13 «Ich schaue oft nur das Programm an und bin froh, dass ihr da seid», so eine der vielen Rückmeldungen. Der Ar- Die Leitung von Wartensee war mit Kritik aus einem Teil beitskreis Kirche und Gesellschaft, der sich monatlich in der Gesellschaft nicht allein. Auch andere Heimstätten wurden attackiert, vor allem Boldern. Die dortige Leite- rin, Marga Bührig, entgegnete auf den Vorwurf der sub- 13 Hollenweger, Walter J.: Die Jüngermesse. Ein Abendmahl für versiven Arbeit: «Ja, unsere Arbeit ist unterwandert vom Chor, Instrumente, Zelebranten und Darsteller, München 1983. Evangelium her, das uns keine Ruhe lässt, sondern uns 14 Boldern (wie Anm. 1) Bericht Nr. 21, Oktober 1972.

Prospekte des Tagungszentrums Wartensee, 1977, 1988, 1989. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

63 Wartensee versammelte, begleitete das Team über viele 4. Ziel ist, die Bereitschaft zum Engagement zu wecken, Jahre. Und nicht zuletzt war die gute Zusammenarbeit un- sich an der Gestaltung unserer Zukunft aktiv zu be- ter den Studienleitern eine grosse Stütze. teiligen. Gewiss, viel an Veränderung ist in unserer oft erstarrten Gesellschaft nicht möglich. Aber Zei- chen zu setzen ist möglich. Standortbestimmung kirchlicher Erwachsenenbildung Heisse Eisen kein Tagungsthema mehr? Unter dem Titel «Bleibt dran!» nahm die Heimstättelei- tung 1981, nach zehn Jahren Tätigkeit auf Wartensee also, 1986 stellte Peter Baumgartner, Redaktor des Tages-An- eine Standortbestimmung kirchlicher Erwachsenenbil- zeigers, in einem Interview mit der Heimstätteleitung dung vor.15 «Es liegt im Auftrag der Heimstätten begrün- die Frage, ob Wartensee seine Aufgabe des Aufzeigens det, dass ihre Arbeit umstritten bleibt.» Vier neuralgische von gesellschaftspolitischen Spannungsfeldern, als Aus- Punkte wurden aufgeführt: löser von Impulsen verloren habe. Es sei stiller gewor- den.17 Die Antwort war: Ja, auch Wartensee spürte Mitte 1. W ir greifen auf, was umstritten ist, wo Widersprüche, der 1980er-Jahre den gesellschaftlichen Wandel. Die Ungerechtigkeiten sichtbar werden, wo jemand unter Drittwelt-Tagungen etwa waren früher von doppelt so die Räder zu kommen droht. vielen Teilnehmern besucht. Inzwischen haben viele er- fahren müssen, dass sich die Mächtigen immun gegen 2. Wir beleuchten, was vor Augen liegt, aus der Perspek- Argumente zeigen, dass nur die Macht der Interessen tive des Reiches Gottes. Die Realität dieser Welt wird zähle. Es gehe nun darum, eine Alternativgesellschaft relativiert, rückt an vorletzte Stelle. Was wirklich aufzubauen, in der andere Werte gelten würden. Es gel- zählt, ist die Realität Gottes und seine Verheissung: te, all jene zu stärken, die eine Veränderung anstreben. «Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde – Wichtig sei, ihnen Rückhalt und Ermutigung zu geben, und er wird jede Träne abwischen von ihren Augen.»16 damit sie sich wehren und etwas durchsetzen können. Die Arbeit von Wartensee könne man als Zusammen- 3. Es gilt, den Konflikt sichtbar zu machen, die Betrof- wirken von Meditation und Aktion beschreiben. Als fenen zu Worte kommen zu lassen. Angepasste, Re- Heimstätteleiter engagiere er sich in Arbeitsgruppen, volutionäre und Vermittler sollen lernen, aufeinander kirchlichen Kommissionen und in der Synode der Kan- zu hören, den Konflikt zu akzeptieren und auch aus- tonalkirche,18 um dort an Lösungen mitzuarbeiten und zutragen. Ein Beispiel mag das aufzeigen: Am Ende Vorschläge einzubringen. der Wochenendtagung «Ausländerpolitik – wohin?» bekannte ein italienischer Arbeiter, er sei jetzt seit 20 Jahren hier, aber noch nie habe er sich als Ausländer Kirchenrätliche Anerkennung zum Abschied so akzeptiert gefühlt mit dem, was er zu sagen hatte. des Teams Engeli/Rutishauser Der ebenfalls anwesende Zentralpräsident der Natio- nalen Aktion, Nationalrat Dr. James Schwarzenbach, In der Beantwortung einer Wartensee gegenüber kriti- schrieb in seiner Parteizeitung, man habe noch nie so schen Interpellation19 stellte sich der St. Galler Kirchenrat offen miteinander reden können. – Es war nicht eine in der Synode vom 24. Juni 1991 voll und ganz hinter die billige Versöhnung, die sachlichen Gegensätze waren Arbeit von Wartensee. «Die Heimstättenarbeit soll sich nicht zu vereinen, aber der Gegner wurde als Person nicht an dem orientieren, was in den Kirchgemeinden mit seinen Gefühlen geachtet. ohnehin schon geschieht. Sie darf und soll sich jenen Pro- blemen widmen können, welche aus gesellschaftlichen, politischen oder ideologischen Gründen gerne aus der christlichen Verantwortung der Einzelnen verdrängt wer- 15 «Offene Kirche», Nr. 8, Oktober 1981. 16 Offenbarung, 21, 1 + 4. den, aber dennoch einen Bestandteil der Glaubensverant- 17 Wartensee Nachrichten Nr. 108, November 1986. Ein Interview wortung bilden. Selbst wenn für einzelne die auf Warten- zum gleichen Thema von Hanspeter Strebel mit Arne Engeli im see verhandelten Themen nicht ihre Themen sind, berech- St. Galler Tagblatt, 30. Dezember 1986. tigt sie dies nicht dazu, anderen das Recht zu bestreiten, 18 Der Autor war 1983–1987 Mitglied im Präsidium der Schweize- eben diese Themen zu ihren Themen zu machen oder sie rischen Evangelischen Synode und 1982–2006 Mitglied und zu die Kirche nicht betreffende Themen zu erklären. -Po 1998/2000 Präsident der St. Galler Evangelischen Synode. Dort Initiant und viele Jahre Leiter der Synodalgruppe für eine litisch betrachtet steht unser Demokratieverständnis auf Offene Kirche. dem Prüfstand. Vom Glauben her aber steht unsere Fä- 19 Interpellation Siegerist, Walenstadt. Antwort des Kirchenrates, higkeit auf dem Spiel, eine andere als nur die eigene Glau- verfasst von Kirchenratspräsident Pfr. Luciano Kuster. bensüberzeugung gelten zu lassen.»

64 Abschied des Wartensee-Teams nach 20 Jahren, v. l. n. r. Paul Rutis- hauser, Arne Engeli, Theresa Engeli, 1991.Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

Das Schloss wird an die Pflege einer Dialogkultur wäre Kantonalkirche abgetreten auch weiterhin nötig

1984 ersuchte der Verein Wartensee die Kantonalkirche Nicht nur Wartensee, die meisten kirchlichen Tagungs- St. Gallen um eine stärkere finanzielle Unterstützung seiner zentren in der Schweiz gerieten in den 1990er-Jahren in Bildungsarbeit. Der Finanzchef des Kirchenrates, Natio- eine Krise und wurden privatisiert. Ein Grund waren fi- nalrat Georges Näf, signalisierte Bereitschaft, die Liegen- nanzielle Probleme im Hotelbetrieb. Ein anderer Grund schaft samt Darlehensschulden und Unterhaltspflicht zu war der gesellschaftliche Wandel: Rückzug vieler in die übernehmen. Ein Gebrauchsleihevertrag für 25 Jahre wur- Privatsphäre, Ausbau der beruflichen Weiterbildung, an- de ausgehandelt und von der Synode beschlossen. Er trat dere Formen der Konfliktaustragung. Und einiges liegt an 1985 in Kraft. Die so im Verein freiwerdenden Mittel konn- den Kirchen selbst sowie in ihrer Schwerpunktsetzung. ten für den Ausbau der Bildungsarbeit genutzt werden. 1966 hatte der Zürcher Pfarrer Hans Heinrich Brunner noch die Vision, dass die kirchlichen Tagungszentren, Dem Verein Wartensee wird gekündigt nach einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat, an Bedeutung zunehmen würden, weil sie nicht den 1993 setzte die Kantonalkirche St. Gallen die neue Heim- Stempel innerkirchlicher Institutionen tragen, sondern stätteleitung und den Verein überraschend unter massi- ein Forum sind, in dem sich unterschiedliche Partner tref- ven Druck und verlangte die Kündigung des Vertrages fen20. Das hat sich nicht erfüllt. Hans-Peter Dür, ehemals (der noch bis 2010 gültig gewesen wäre) als Gegenleistung Leiter der Heimstätte Rügel, brach im Jahr 2000 noch- zur nötig gewordenen Gesamtrestaurierung des Schlosses, mals eine Lanze für eine Evangelische Akademie Schweiz: die noch von der Synode bewilligt werden musste. Der «Wir brauchen Orte, an denen unsere Gesellschaft über Verein stimmte mit knapper Mehrheit zu, noch im Glau- ihre Grundwerte streitet und den Konsens übt, wo man ben, in Wartensee weiter arbeiten zu können. Nach Ab- einander zuhört, mit Respekt debattiert, anders hinaus- schluss des Umbaus, der zwölf Millionen Franken kostete, geht, als man gekommen ist. Die Pflege einer speziellen setzte der Kirchenrat die «Scheidung» durch, entliess den Dialogkultur könnte zum zentralen Markenzeichen des Verein nach 35-jähriger fruchtbarer Zusammenarbeit und diakonischen Handelns der Kirche werden.21 – Auch das nötigte ihn später, auch den Namen «Wartensee» nicht war in den Wind gesprochen. mehr zu führen (dieser nannte sich ab 2004 bis zur Auf- lösung 2012 «Forum Solidarität und Spiritualität Ost- schweiz/SOSOS»). Schloss Wartensee wurde nun von der Kirche als Seminarhotel ohne eigenes Programm geführt und schliesslich 2012 verkauft. Die kirchliche Erwachse- 20 Brunner, Hans Heinrich: Kirche ohne Illusionen. Experimen- nenbildung wurde jetzt ganz von der Arbeitsstelle der teller Report aus der Zeit nach dem 7. Juli 1983, o. O. 1968. Kantonalkirche organisiert. 21 NZZ, 9. Juni 2000.

65 Arbeit am Rande – mit Blick über den Tellerrand hinaus

Friedensbewegte in der Ostschweiz

Ruedi Tobler

Die Lage der Ostschweiz am Rande der Schweiz prägt den Charakter der Friedensarbeit, denn in der Regel werden Entscheidungen dazu auf gesamtschweizerischer Ebene gefällt – soweit sich dies nicht ohnehin auf internationaler Ebene abspielt. Die in diesem Neujahrsblatt beschriebe- nen sozialen Bewegungen leisten alle einen Beitrag zum Frieden,1 so dass ich mich auf eine Art Auslegeordnung beschränken muss. Und ich verzichte aus Platz- und Zeit- gründen auf eine Darstellung des künstlerisch-kulturellen Bereichs.

Mit Wehrschauen die Jugend gewinnen

Der Aufbruch der 68er hat das Selbstvertrauen führender Militärs tiefgreifend erschüttert. Sie fühlten sich einer de- mokratischen Auseinandersetzung nicht mehr gewach- sen, weshalb sie mit einer verdeckten Strategie die Lehr- Menschenteppich an der Frauenfelder Wehrschau 1982. personen und über sie die Jugend zu gewinnen suchten. Foto aus dem Archiv des SFR, abgedruckt in: Hoffen heisst Handeln. Zeugnis davon legt der Geheimbericht «Jugend und Lan- Friedensarbeit in der Schweiz seit 1945–50 Jahre Schweizerischer desverteidigung» ab, der 1979 unter Federführung der Friedensrat (hg. von Katharina Rengel), S. 151. Quelle: Privatarchiv Zentralstelle für Gesamtverteidigung erarbeitet worden Arne Engeli. ist. Vier Alternativzeitschriften haben den Bericht damals öffentlich gemacht.2 Mit einer systematischen Propagan- dakampagne, einer Serie von Wehr- und Waffenschauen, sollten die Herzen der Jugend zurückgewonnen werden. Menschenteppich gegen Waffenschau W'81 Den Auftakt machte eine grosse Wehrvorführung in Zü- Die Zeitschrift «Armada International» organisierte im rich mit Panzern, die durch die Bahnhofstrasse rollten Sommer 1981 in Winterthur die «Internationale Ausstel- und Bomben, die ins Zürcher Seebecken abgeworfen lung für Simulation, Ausbildung, Logistik, Unterhalt wurden. Mit direkten Aktionen versuchten Aktivisten, und Spezialfahrzeuge – W'81», zu der nur geladene Gäs- die Show zu stören. Die Erfahrung machte Mut zu grös- te Zutritt hatten. Verschiedene Friedensorganisationen seren Aktionen. riefen zum Protest auf und Ueli Wildberger vom IFOR (International Fellowship of Reconciliation; vgl. auch unten) organisierte einen Menschenteppich vor dem Eingang, so dass Besucher nur über die am Boden liegen- den Menschen hinweg in die Ausstellung gelangen konn- ten. Diese konnte zwar nicht verhindert werden, aber 1 Soziale Bewegungen haben nicht zwangsläufig eine friedliche Gesellschaft zum Ziel. Sie können auch nationalistisch, militaris- zahlreiche Besucher liessen sich abschrecken und der tisch, rassistisch etc. ausgerichtet sein. öffentliche Unmut war so gross, dass es (zumindest in 2 Lehrer, vorwärts marsch! Militärs greifen nach der Schule, der gleichen Art und Grösse) keine Wiederholung gege- Zürich 1979. ben hat.

66 Gewaltfreie Aktion Soldatenfriedhof an der Frauenfelder Waffenschau. Tagesanzeiger 23. August 1982. Quelle: AFGO.090, Dossier Wehrschau 1982.

Vielfältiger Widerstand in Frauenfeld Friedensorganisationen in der Ostschweiz Im August 1982 erfolgte in Frauenfeld eine indirekte Fort- setzung mit einer grossen Waffenschau (F'82) der Schwei- Fridolin Trüb – Anlaufstelle für den Frieden in der zerischen Offiziersgesellschaft (SOG). Sie betonte, ihre Ostschweiz Show sei nicht kommerziell wie die W'81. Aber auf dem Fridolin Trüb (Jahrgang 1919) ist das friedenspolitische Waffenplatz Frauenfeld konnten jene Ausstellungsteile «Urgestein» in St. Gallen.5 Sein Elternhaus war ein religi- gezeigt werden, für die es in Winterthur keine Bewilli- ös-soziales Pfarrhaus und sein Vater war Mitglied der gung gegeben hatte, etwa der Leopard II-Panzer, den die Gruppe «Antimilitaristische Pfarrer». Das habe seine Ein- Armee daraufhin beschafft hat. uchA hier wurde ein Men- stellung zur Friedensarbeit geprägt. 1945 leistete er seinen schenteppich organisiert, aber wegen der verschiedenen ersten Freiwilligeneinsatz mit dem Internationalen Zivil- Zugänge war eine effiziente Blockade nicht möglich. Hin- dienst (SCI) in St. Stephan im Simmental. Im Frühjahr gegen gelang es einer kleinen Gruppe von Aktivisten, mit 1946 nahm er ein Jahr Urlaub von seinem Beruf als Zeich- einem Transparent auf das Ausstellungsgelände zu gelan- nungslehrer in Basel und leistete Zivildiensteinsätze im gen und so den Protest sichtbar zu machen.3 kriegsversehrten Europa, in den Niederlanden, Frank- reich, Deutschland und Österreich. Bei einem dieser Ein- Aus gleichem Anlass organisierten die Frauen für den sätze hat er seine spätere Frau Elisabeth kennen gelernt. Frieden unter der Leitung von Ursula Brunner ein Frau- Sie nahmen in St. Gallen Wohnsitz. Von 1948 bis 1952 war encamp.4 Daraufhin wurde sie aus der FDP ausgeschlos- Trüb Präsident des Schweizer Zweigs des SCI. Er hat sich sen. Für diese Partei war sie 1972 als erste Frau in den für den Frieden in all seinen Facetten eingesetzt. Er war Thurgauer rossenG Rat gewählt worden. National und Initiant der Friedenswoche in St. Gallen, und es gab wohl international bekannt geworden ist die Pfarrfrau Ursula keine friedenspolitische Initiative, für die er nicht Unter- Brunner (Jahrgang 1925) als Bananenfrau (vgl. dazu wei- ter unten). Für jenes Engagement ist sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden. 3 Menschenteppich gegen Waffenschau, in: Tobler, R./Dullnig, Besetzung in Neuchlen und Volksinitiative gegen W./Bauer, T.: Waffenausfuhr und Waffenhandel 1973–1983: Waffenplätze Vom Skandal zum Dauerbrenner, in: Waffenplatz Schweiz. Von den Erfahrungen in Winterthur und Frauenfeld pro- Beiträge zur schweizerischen Rüstungsindustrie und Waffenaus- fitieren konnte der Widerstand gegen den Waffenplatz fuhr; herausgegeben vom Tagungssekretariat «Für das Leben produzieren», Bern 1983. Neuchlen-Anschwilen Ende der 1980er-Jahre. Es kam 4 Brunner, Ursula u. a.: Friedfertig und widerständig. Frauen für zur Besetzung des Baugeländes sowie zur Lancierung der den Frieden Schweiz, Frauenfeld 2006. Volksinitiative «40 Waffenplätze sind genug» (vgl. den Bei- 5 Trüb, Fridolin: Dem Frieden entgegen. 30 Geschichten und eine trag von Michael Walther). halbe, mit einem Begleittext von Michael Walther, St. Gallen 2009.

67 «Rüstung ist keine Sicherheit». Postkarte, hg. (in der Zwischenkriegszeit) von der Jugendgemeischaft «Nie wieder Krieg», Gartenhofstr. 7, Zürich 4. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli. schriften gesammelt oder sich im Regionalkomitee enga- giert hätte. Und immer wieder hat er auch einen künst- lerischen Beitrag mit Aquarellen geleistet. In den 1970er- Jahren beteiligte er sich an der von Willi Kobe ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe, die ein Konzept für eine ge- waltfreie Alternative zur militärischen Verteidigung der Schweiz ausarbeitete.6

Beratungsstelle für Zivildienst und Militärverweigerung (bzm St. Gallen) Während Jahrzehnten hat Fridolin Trüb ohne formelle Strukturen jene Männer beraten, die Probleme mit dem Militärdienst hatten. Im Laufe der 1970er-Jahre über- nahm zunehmend sein Sohn Hansueli diese Aufgabe.7 Die massiv steigende Zahl der Beratungen auf über 130 pro Jahr bewog Hansueli Trüb, zusammen mit anderen 1991 die Beratungsstelle für Militärverweigerer St. Gallen BMV zu gründen, die er auch präsidierte. 1996 konnte der Namen erweitert werden in Beratungsstelle für Zivil- dienst und Militärverweigerung (bzm St. Gallen). Nun gab es zwar endlich einen Zivildienst für Militärverweige- rer, aber für die Zulassung mussten sie eine Gewissens- prüfung absolvieren, so dass die Zahl der Beratungen vor- läufig nicht abnahm. Im Gegenteil. Zeitweise waren bis zu sechs freiwillige Berater tätig. Erst 2009 wurde die Ge- wissensprüfung abgeschafft und der Tatbeweis, d. h. die Bereitschaft, den Zivildienst von anderthalbfacher Dauer zu leisten, genügte. Darum konnte an der Jahresversamm- «Primula». Zeichnung von Heinz Stieger, vermutlich aus dem lung 2009 die Auflösung der Beratungsstelle beschlossen Nebelspalter, o. J. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli. werden.

Forum für Friedenserziehung Der Deutschschweizer Zweig des Internationalen Versöh- lange Bestand hatten. Im Oktober 1980 trafen sich Inter- nungsbundes (IFOR) hatte in den 1980er-Jahren sein essentinnen für eine neue Gruppe in der Ostschweiz zu Sekretariat in Frauenfeld bei Ursula Brunner, die als «Ba- einer Tagung auf Schloss Wartensee. In einem Verzeichnis nanenfrau» weit über die Schweiz hinaus bekannt gewor- von 1986 sind in der Ostschweiz Gruppen in Frauenfeld, den ist. Schon damals lag ein Schwergewicht der Tätigkeit Schaffhausen, St. Gallen, Rorschach, Wil und Winterthur auf Trainings in Gewaltfreiheit. 1994 änderte man den aufgeführt.8 Die Jahresversammlung der «Frauen für den Namen in «Forum für Friedenserziehung» ab. In dieser Frieden Schweiz» 1989 fand am 19./20. August auf Schloss Zeit verlegte das Forum sein Sekretariat nach St. Gallen Wartensee statt. Sie stand ganz im Zeichen der bevorste- an die Magnihalden. Im Laufe der Zeit wurde ein Team henden Abstimmung über die «Armee-Abschaffungsini- von Trainerinnen und Trainern aufgebaut, darunter Jona- tiative».9 than Sisson und Angela Tsering. Neben seiner Tätigkeit für das Forum für Friedenserziehung war Ueli Wildber- ger Beauftragter für die Dekade zur Überwindung der Gewalt (2001–2010) der Evangelisch-reformierten Kir- chen St. Gallen und beider Appenzell. Mit der Pensionie- 6 Bisig, Maja u. a.: Soziale Verteidigung. Eine gewaltfreie Alternative rung von Ueli Wildberger wurde das Sekretariat in St. Gal- zur militärischen Verteidigung der Schweiz, Zürich 1976. len aufgegeben und mit jenem der französischen Schweiz 7 Breu, Michael: Fridolin und Hansueli Trüb – zwei Generationen in Biel vereinigt, wieder unter dem Namen IFOR. Friedensarbeit, in: Rengel, Katharina (Hg.): Hoffen heisst Handeln – Friedensarbeit in der Schweiz seit 1945, Zürich 1995. 8 Forum für praxisbezogene Friedensforschung (Hg.): Frauen für den Frieden Handbuch Frieden Schweiz, Basel 1986. Die Bewegung «Frauen für den Frieden in der Schweiz» 9 Jegher, Stella/Rengel, Katharina: «Eine Friedensfrau bleibst entstand Ende der 1970er-Jahre mit einer zunehmenden du dein Leben lang...». Frauen für den Frieden: Geschichte Zahl von Regional- und Ortsgruppen, die teilweise nicht und Engagement, Basel 1991.

69 Bananenfrauen in Frauenfeld: hartnäckig und unverfroren Aufgerüttelt durch den Film «Bananera Libertad» von Pe- ter von Gunten begannen ab 1973 Frauen in Frauenfeld den Bananenhandel zu thematisieren. Ihr hartnäckiges Dranbleiben am Thema hat eine unglaubliche Dynamik entwickelt und wurde zur Initialzündung der Bewegung für fairen Handel in der Schweiz. Auch die Gründung der «Gebana» geht darauf zurück.10 Zur Schlüsselfigur wurde Ursula Brunner.

Anti Apartheid-Bewegung unter Ostschweizer Leitung Als sich 1974 die Anti Apartheid-Bewegung auf gesamt- schweizerischer Ebene organisierte, wurde Pfarrer Paul Rutishauser zum Präsidenten gewählt. Lange Zeit war der Ostschweizer für die breite Öffentlichkeit die Stim- me der Solidaritätsbewegung für die Überwindung der Rassentrennung im südlichen Afrika. Sein Nachfolger wurde Nationalrat Paul Rechsteiner. In St. Gallen hat es eine sehr aktive Regionalgruppe gegeben (vgl. den Bei- trag von Pius Frey). Mit seinen Recherchen hat Hans Fässler die Thematik auf die schweizerische Beteiligung an der Sklaverei ausgeweitet11 und mit der Kampagne zur Umbenennung des Agassiz- in Rentyhorn auf Schweizer Beteiligung an der pseudowissenschaftlichen Begrün- dung von Rassentheorien aufmerksam gemacht (www. louverture.ch). Mit einer weiteren Dimension befasst sich die aus Rheineck stammende und an der Universität Fribourg tätige Francesca Falk, nämlich dem Kolonialis- Flugblatt der Friedensdemonstration gegen Atomwaffen in der Markt- mus ohne Kolonien.12 gasse St. Gallen 1983. Quelle: AFGO.149, Friedenswoche 1983.

«Fridesziit am See» In der Karwoche 1982 und wieder an Pfingsten jenes Jah- degard Goss-Mayr. Den Abschluss bildete ein Friedens- res rief eine ökumenische Gruppe in Rorschach (Arne weg in der Silvesternacht mit Halt in den Kapellen von Engeli, Verena Breuer, Christina Gentina, Pfr. Georg Schloss Wartensee und St. Annaschloss. Schmucki, Pfr. Günter Schnöring, u. a.) zum Schweigen für den Frieden beim Jakobsbrunnen auf. Gegen 100 Leu- Die Schweigekreise wurden bis 1989 auf dem Marktplatz te versammelten sich. Es war die Zeit der Nachrüstung: weitergeführt, 1987 verbunden mit einem Aufruf gegen In Westeuropa sollten im folgenden Jahr auf 108 Ab- die Asylgesetzrevison, 1988 gegen die Kündigung von 16 schussvorrichtungen Pershing II-Raketen und Marsch- Mietern in Rorschacherberg, 1989 gegen den Kahlschlag flugkörper stationiert werden, weil die UdSSR SS-20 Ra- eines Wäldchens, was zur Gründung eines Naturschutz- keten an die Westgrenze verlegt hatte. Die Angst vor ei- vereines führte. Am 1. September 1989 lud die «Fridesziit nem Atomkrieg in Europa ging um, Aufrufe zur «EntRüs- am See» zum Gedenken an den Beginn des 2. Weltkrieges tung» wurden unterzeichnet. Im Advent traf man sich vor 50 Jahren ein mit alt Bundesrichter Harald Huber als wöchentlich mit anschliessendem Gespräch zu einem Redner und der Zeitzeugin Gerda Rodel als Rednerin. Thema oder zur Begegnung mit einem Gast, z. B. mit Hil- Die Schweigekreise wurden in den folgenden Jahren ab- gelöst durch die Rorschacher Bettagstagungen zu Gerech- tigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, vorberei- tet durch die gleiche ökumenische Gruppe. 10 Brunner, Ursula: Bananenfrauen, Frauenfeld 1999. 11 Fässler, Hans: Reise in Schwarz-Weiss: Schweizer Ortster- mine in Sachen Sklaverei, Zürich 2005. «Gemeinden Gemeinsam Ostschweiz» 12 Purtschert, P./Lüthi, B./Falk, F. (Hg.): Postkoloniale Als Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens wurde im De- Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne zember 1992 in Bern die Bewegung «Gemeinden Gemein- Kolonien, Bielefeld 2012. sam Schweiz» gegründet. An der Vorbereitung massgeb-

70 lich beteiligt und im Vorstand als Vizepräsident aktiv war schweiz sind nicht viele übrig geblieben. Welche Bedeu- der damalige Präsident des Schweizerischen Friedensra- tung Schloss Wartensee für die Friedensthemen hatte, tes, Arne Engeli (weitere Angaben zu ihm im Autoren- und wie es zum Niedergang und Verkauf kam, beschreibt verzeichnis). Das von ihm gegründete Regionalkomitee der Beitrag von Arne Engeli. Schon 2007 war das Heim Bodensee-Rhein mit der Partnerstadt Sombor in der Voj- in Neukirch an der Thur verkauft worden, das einen vodina/Serbien war unter seiner Projektleitung das aktivs- Schwerpunkt in der Mädchen- und Frauenbildung ge- te der insgesamt 15 Komitees und bestand 20 Jahre lang habt hatte. Seit den 1950er-Jahren betrieb das «Schweize- bis 2013. Das Regionalkomitee Appenzell AR mit der rische Arbeiterhilfswerk» (SAH, heute «Solidar Suisse») Partnerstadt Zupanja/Kroatien schloss sich nach einigen das Haus Lindenbühl in Trogen als Ferien- und Bildungs- Jahren dem Komitee Bodensee-Rhein an.13 haus für Menschen aus ärmeren Schichten, organisierte Ferienlager für Kinder aus Belgien und Luxemburg und war Zufluchtsort für Flüchtlinge, vor allem aus Chile und Bildungsarbeit für den Frieden Bolivien. Das Haus wurde an eine Genossenschaft abge- treten. In den 1980er-Jahren machte der WWF in Stein AR Fritz Wartenweiler – Pionier der Volksbildung aus dem «Haus zur Rose» ein Ökozentrum, das er nach Nicht nur aus Ostschweizer Perspektive ist bei der Bil- knapp zehn Jahren aufgegeben hat (vgl. dazu den Beitrag dungsarbeit zuallererst der Thurgauer Fritz Wartenweiler von Iris Blum). Und der «Fernblick» in Teufen, er hat die- anzuführen. Er hat den Gedanken der Volkshochschule in ses Jahr noch «Meditieren für eine friedliche Welt – MfW» die Schweiz und unermüdlich unter die Leute gebracht, zum Programm, schliesst aber Ende Jahr. war am Aufbau von Bildungsstätten beteiligt, in der Ost- schweiz mit den Jungmännerkursen auf dem Hof Algisser Noch aktiv in der Kursarbeit ist unter der Leitung von in Frauenfeld, die er geleitet hat, später im «Sonneblick» Elisabeth Tröndle das «Sunnehuus» in Wildhaus, das zu- Walzenhausen. Eng verbunden war er auch mit dem Heim vor von der Stiftung WEG (Werkstatt zur Entfaltung und Neukirch an der Thur. 1936 entstand auf dem Herzberg ob Gestaltung) für Kurse und Weiterbildungen genutzt wor- Aarau das erste Volksbildungsheim nach dänischem Vor- den ist. Die Kartause Ittingen beherbergt das Kunstmuse- bild.14 Er hat viele Schriften verfasst, gerade auch zu Frie- um Thurgau und veranstaltet kulturelle Spezialveranstal- densthemen. Während des Spanischen Bürgerkriegs betei- tungen. Bildet die seit 1997 bestehende «Offene Kirche ligte er sich als Präsident am Aufbau einer Kinderhilfe. Zu in St. Gallen» einen gewissen Ersatz für die Evangelischen seinem 80. Geburtstag 1969 schrieb Bruno Muralt, der Tagungszentren? Und fasst man den Begriff der Region Leiter der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale: etwas weiter, so sind unbedingt die Friedensräume in «Wartenweiler hat Bildung immer auch als Verpflichtung Lindau zu erwähnen, die von «Pax Christi» mit einem verstanden. Wer mehr wusste und konnte, der war nicht vielfältigen Programm betrieben werden. nur toleranter, sondern konnte auch der Gemeinschaft besser dienen, mit Aussicht auf mehr Erfolg mithelfen, Friedenswoche St. Gallen eine im besten Sinne menschliche Welt zu schaffen und Nicht in Konkurrenz zur Arbeit der Tagungszentren, son- dabei auch persönlich ein erfülltes Leben zu führen.» dern viel mehr als Ergänzung dazu rief eine Gruppe mit Fridolin Trüb als treibender Kraft 1982 die «Friedens- 1964 gründete Arne Engeli zusammen mit Fritz Warten- woche St. Gallen» ins Leben. Die Inspiration kam von der weiler und anderen die Schweizer Jugendakademie, die in Berner Friedenswoche, die von Gertrud Kurz mit dem den folgenden 20 Jahren in verschiedenen Tagungszent- «Christlichen Friedensdienst cfd» ins Leben gerufen wor- ren, so auch im Schloss Wartensee und im Heim Neu- den war. Sie hat sich unter wechselnder Leitung bis heute kirch, sechswöchige Kurse durchführte mit Themen zur erhalten. Jeweils im Dezember wird mit mehreren Veran- politischen, persönlichen und kulturellen Bildung unter staltungen in einem losen Zusammenschluss verschiede- dem Motto «zusammen leben und zusammen lernen» ner Organisationen über Friedens- und Versöhnungs- (weitere Details im Beitrag über Wartensee). In den möglichkeiten informiert.15 1980er-Jahren waren auch Studienreisen im Programm, so nach Dänemark und Sizilien. Diese Organisation be- nannte sich später in «Schweizer Bildungswerkstatt» um. 1999 wurde sie aufgelöst.

Das Sterben der Bildungszentren 13 Engeli, Arne: Gemeinden Gemeinsam – 20 Jahre Partnerschafts- Noch in den 1970er-Jahren gab es eine blühende Land- brücke Bodensee/Rhein-Sombor, Rorschach 2012. schaft von Tagungs- und Bildungszentren. Getragen wur- 14 Wir bangen um das Ganze. Gedenkschrift für Fritz Wartenweiler den sie vor allem von Kirchen und Gewerkschaften, aber 1889–1989, Asp bei Aarau 1989. auch von der Volksbildungsbewegung. Auch in der Ost- 15 www.frieden-ostschweiz.ch.

71 Grenzüberschreitende Friedensarbeit bis 1983 bereitwillig aufgenommen. Ab 1984 nahm die Zahl der Flüchtlinge aus Sri Lanka deutlich zu. Eine So- Tradition der Solidaritätsarbeit mit Flüchtlingen lidaritäts- und Unterstützungsbewegung hat sich in der Bedingt durch ihre Grenznähe ist in der Ostschweiz schon Schweiz jedoch kaum gebildet. in den 1930er-Jahren mit der Machtergreifung der Natio- nalsozialisten die Flüchtlingsarbeit besonders akut gewor- Danach hat der Wind gedreht in der Schweizer Flücht- den. Und mit der zunehmenden Abschottung der Grenze lingspolitik. Was sich nach dem Militärputsch in Chile wurde die Hilfe für die Flüchtlinge immer schwieriger und angekündigt hatte, ist seit dem Ende der 1980er-Jahre auch für die Fluchthelfer gefährlicher. Aber dies hat auch traurige Realität geworden: das Feindbild Flüchtling als eine Tradition der Solidarität mit den Flüchtlingen begrün- Richtschnur für die offizielle Asyl(verhinderungs)politik, det.16 Die Entwicklung seit den 1980er-Jahren beschreibt gehörig befeuert von der Dauerkampagne der SVP. Christian Huber im Beitrag «Solidarität statt Abwehr». Internationaler Ökumenischer Bodensee-Kirchentag Ab November 1956 beherbergte der 1933 gegründete «Son- Den Internationalen Ökumenischen Bodensee-Kirchen- neblick» in Walzenhausen – der schon in den 1930er- und tag gibt es seit 1984. Alle zwei Jahre treffen sich seither 40er-Jahren Flüchtlingszentrum war – eine Gruppe von jeweils mehrere Tausend Menschen. Ziel des Kirchentages ungarischen Flüchtlingen, allerdings nicht für sehr lange ist es, frischen Wind und Bewegung in kirchliche Ge- Zeit. Schon im April 1957 konnte ihn die letzte Familie meinschaften zu bringen. Der Bodensee wird dann zu ei- wieder verlassen. Die Flüchtlinge aus Ungarn waren in ner Brücke der Begegnung über die Landesgrenzen hin- der Schweiz sehr willkommen. Hingegen hat es vehemen- aus, eine Chance, die Regio Bodensee als Lebensraum ten Widerstand ausgelöst, dass sich der «Sonneblick» ab wahrzunehmen. Das Programm ist vielfältig und bunt. Es kommendem Jahr als kantonales Durchgangszentrum für werden verschiedenste Themen zu Gesellschaft und Poli- Asylsuchende zur Verfügung stellt. tik, zu Religion und Kirche in Vorträgen, Workshops und Podien bearbeitet. Dazu kommen Konzerte, kulturelle In den 1960er-Jahren öffnete der Bundesrat die Grenzen Veranstaltungen, ein Markt der Möglichkeiten, Gottes- für die Aufnahme von tibetischen Flüchtlingen. Zur dienste sowie ein Kinder- und Jugendprogramm. Träger Organisation ihrer Unterbringung wurde der «Verein für des Bodensee-Kirchentages ist ein Kreis engagierter Per- tibetische Heimstätten in der Schweiz» gegründet, der sonen rund um den See, dem von 1996 bis 2006 Arne Wohnmöglichkeiten organisierte mit einem deutlichen Engeli, Rorschach, als Schweizer Vertreter angehörte, da- Schwerpunkt im östlichen Landesteil. Dank dem Engage- von insgesamt vier Jahre als Kirchentagspräsident und bis ment der Brüder Henri und Jacques Kuhn wurde Rikon 2014 als Initiant und Mitglied der besonders aktiven Ar- zum eigentlichen Tibeterzentrum in der Schweiz.17 Auch beitsgruppe «Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen wurde eine Gruppe Schöpfung». Gastgeber sind die Kirchgemeinden am Aus- von Jugendlichen aufgenommen. tragungsort.18

Weitgehend in Vergessenheit geraten sind die Boat peop- Wiederbelebung der Ostermärsche mit Unterbrüchen le und weitere Flüchtlinge aus Indochina, die ab Mitte der Mit den Auseinandersetzungen um die so genannte Nach- 1970er-Jahre in die Schweiz kamen. Rund 10 000 wurden rüstung zu Beginn der 1980er-Jahre entstand das Bedürf- nis, gemeinsam über die Landesgrenzen hinweg in der Bodenseeregion dagegen zu manifestieren und für den Frieden einzustehen. Dafür bot sich die Tradition der Os- 16 Krummenacher, Jörg: Flüchtiges Glück – Die Flüchtlinge im Grenz- termärsche gegen Atomwaffen geradezu an, mit dem «Ra- kanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2005. deln für den Frieden» in Lindau 1984 als «Vorläuferin». 17 Lindegger-Stauffer, Peter: Das klösterliche Tibet-Institut in Rikon/ Auf Initiative des Schweizerischen Friedensrates konnte Zürich, in: Asiatische Studien, Zeitschrift der Schweizerischen Asien- eine länderübergreifende Vorbereitungsgruppe gebildet gesellschaft, Heft 1–4, 1971. 18 Der erste Kirchentag fand 1984 in Lindau statt, auf Schweizer Seite werden. Das Ziel war es, die drei Länder im Turnus zu erstmals 1992 in Romanshorn, 1996 in Rorschach, 1998 und 2016 berücksichtigen. Das war nicht immer leicht, musste in Konstanz und Kreuzlingen, 2006 und 2014 in St. Gallen. 2010 in doch für jeden Ort eine lokale Gruppe gefunden werden. Radolfzell hiess das Motto «Die Frucht der Gerechtigkeit wird Friede 1995 gab es einen ersten Unterbruch bis 2000, und bereits sein!» 2004 bildete Rorschach einen unfreiwilligen Schluss- 19 Appenzeller Vorderland: 2010; Arbon: 1990; Arbon nach Fried- punkt.19 Es brauchte ein halbes Jahrzehnt und ein neues richshafen: 2012; Bregenz: 1988, 1992, 2002 und 2015; Konstanz: Konzept, bis ab 2009 die neue Tradition der «Internatio- 1989, 2003; Konstanz nach Kreuzlingen: 2013; Lindau: 1991, 2001, 2014; Romanshorn: 2015; Rorschach: 1994, 2004, 2011; nalen Bodensee-Friedenswege» begründet werden konn- 20 St. Galler Rheintal: 2009; Überlingen: 1993, 2000. te. 2016 beteiligten sich über 800 Personen zum Thema: 20 www.bodensee-friedensweg.org. «Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten».

72 Flugblätter zum Internationalen Bodensee-Ostermarsch 1990 und 1991. Aufgerufen haben folgende Organisationen: Aktionsgruppe zur Rettung von Neuchlen-Anschwilen, ARNA; Asylgruppe SH, AG für Rüstungskontrolle und für ein Waffenausfuhrverbot ARW; Asyl- D.A.CH.-Bodensee; Asyl-Komitee St. Gallen; Beratungsstelle für Militärverweigerer, Neuhausen; Centre Sanitaire Suisse; 3. Weltla- den St. Gallen; Forum Oberaargau, Langenthal; Frauen ins Parla- ment FIP Thurgau; Genossenschaft Restaurant Löwen , Sommeri; Gewaltfreie Opposition Neuchlen-Anschwilen GONA; Grünes Bündnis, Kanton St. Gallen; GSoA St. Gallen und Schweiz; Inter- nationaler Versöhnungsbund, Deutschschweizer Zweig, IFOR; Kommunist. Partei der Arbeit der Türkei, TKEP; Kommunist. Partei Kurdistans KKP; Kurdischer Arbeiterverein St. Gallen; Kurdisch-Türkisch-Schweizerische Kulturföderation Kutüsch; Liga für Menschrechte St. Gallen; Oek. Kommission SG/A für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung GFS; Ostermarschkomitee Zürich; Palästina-Libanon-Gruppe St. Gallen; Politische Frauengruppe St. Gallen; Schweizerischer Friedensrat; JungsozialistInnen; SP des Kantons St. Gallen; VEGS Weinfelden; WWF Jugendgruppe, Frauenfeld; Service Civil International, SCI; AKW-GegnerInnen, St. Gallen; PSR/IPPNW, Sekt. Ostschweiz; Anti-Apartheid-Bewegung St. Gallen und Schweiz; Bresche, Zürich; Grüne Lis- te MUT, St. Gallen; Religiös-Sozialistische Vereinigung der Deutschschweiz; Schweiz. Komitee Int. Bodensee- Ostermarsch; Solidaritätsforum SchweizerInnen/TürkInnen/KurdInnen, St. Gallen; Grüne Partei Thurgau; SP Thurgau; Thurgauer Forum; Verein Ausländer-Schweizer, St. Gallen; Vereinigung der KriegsdienstgegnerInnen VDK; VPOD GR; Winterthurer Opposition.

73 «Wer A-tomkraft sagt, muss auch B-drohung sagen!»1

Die Anti-AKW-Bewegung in der Ostschweiz

Esther Meier

Ein Kernkraftwerk im Rheintal? schmelze des Forschungsreaktors im waadtländischen Fast hätte auch der Kanton St. Gallen den «Schritt ins Lucens 1969 erschütterte die mehrheitlich positive Grund- Atomzeitalter»2 getan, als die Nordostschweizerische Kraft- haltung der Bevölkerung zur zivilen Kernkraftnutzung werke AG (NOK) 1966 beim Eidgenössischen Verkehrs- kaum. Die Anti-Atomwaffen-Bewegung der 1950er- und und Energiewirtschaftsdepartement eine Standortbewilli- 1960er-Jahre kann in ihrer friedlichen Protestkultur (Os- gung für ein Kernkraftwerk (KKW)3 in der Rheintaler termärsche) zwar durchaus als Vorläuferin der späteren Gemeinde Rüthi beantragte.4 Als Prestigeprojekt des da- Anti-AKW-Bewegung betrachtet werden, argumentierte maligen Regierungsrates und «Vater des Autobahnbaus», jedoch noch ganz im Rahmen des vorherrschenden Fort- Simon Frick (FDP), stand das KKW Rüthi parabelhaft für schrittsparadigmas und trat ausdrücklich für die zivile die vorherrschende Planungseuphorie der Nachkriegszeit. Verwendung der Kernenergie ein.6 Die Debatte im Vor- Von Anfang an als Projektvariante zu Beznau II ausgelegt, feld der Atominitiativen von 1958 und 1962 entwickelte entschied sich die NOK im Dezember 1967 aus Kosten- sich deshalb noch vornehmlich entlang der Diskursfelder gründen vorerst gegen den St. Galler Standort.5 Trotzdem des Kalten Krieges, der christlich-humanitären Tradition blieb Rüthi als potentieller KKW-Standort im Rennen der Schweiz sowie des Topos der «wehrhaften Schweiz» – und bestimmte bis in die frühen 1990er-Jahre den Ost- Letzteres als Synthese der Geistigen Landesverteidigung schweizer Kernkraftdiskurs mit. und der Technikeuphorie der Nachkriegszeit. Als einzige argumentative Verbindung zwischen der Anti-Atombom- ben- und der späteren Anti-AKW-Bewegung ist das Ein- Keine Atomwaffen für die Schweiz! treten für das direktdemokratische Selbstbestimmungs- recht auch in Atomfragen anzuführen.7 Wie in der restlichen Schweiz, formierte sich auch in der Ostschweiz vor 1970 keine Opposition gegen die «friedli- Auch die personelle Kontinuität zwischen den beiden Be- che» Nutzung der Kernenergie. Selbst die partielle Kern- wegungen war gering. Paul Steiner und Fridolin Trüb be- stätigen mit ihrem Engagement sowohl bei den «St. Galler Freunden der Schweizerischen Bewegung gegen die ato- mare Aufrüstung» als auch später im Verein «AKW Rüthi 1 Bannerspruch an der Demonstration am 24. Mai 1986, in: Nein», beziehungsweise «AKW-GegnerInnen St. Gallen», Pressearchiv St. Gallen, Dossier Nr. 2011 Rüthi Nein. als Ausnahmen die Regel.8 2 StaatsASt. Gallen, ARR B 2. 3 Die von der Anti AKW-Bewegung geprägten Begriffe «Atomkraftwerk» (AKW) und «Atomkraft» werden nachfolgend nur im Zusammenhang derselben verwendet. Vorarlberg wehrt sich 4 StaatsASt. Gallen, ARR B 2. 5 StaatsASt. Gallen, ARR B 2. Im März 1972 präsentierte der Club of Rome anlässlich 6 Kupper, Patrick: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft, des «St. Gallen Symposiums» an der Hochschule St. Gal- Zürich 2003, S. 107–114. len (HSG) die Studie «Die Grenzen des Wachstums», wel- 7 Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (AFGO), AFGO.090, F. Trüb. che aus einer kritischen Haltung heraus den Umweltdis- 9 8 AFGO.090, F. Trüb. kurs der nachfolgenden Jahre entscheidend prägte. 9 Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 401.

74 Aufruf zum Ostermarsch. Flugblatt der «Arbeitsgemeinschaft Die Anti-AKW-Bewegung verband Herrschafts- und Wachstums- der Jugend gegen atomare Aufrüstung», 1962. Quelle: Archiv kritik. Inserat, undatiert. Quelle: AFGO.040, Archiv PFG/OFRA. für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz, AFGO.090, Vorlass Fridolin Trüb.

Nur zwei Monate später ersuchte die NOK die St. Galler Ein weiterer, unerwarteter Rückschlag für das Projekt Regierung um Zustimmung für eine Leistungssteigerung Rüthi folgte Mitte 1973, als die Eidgenössische Natur- des Reaktors in Rüthi.10 Zwischenzeitlich waren die Kern- und Heimatschutzkommission (ENHK) das KKW Rüthi kraftwerke Beznau I (1969), Beznau II (1971) und Mühle- aufgrund der möglichen Beeinträchtigung eines Schutz- berg (1972) ohne nennenswerte Proteste ans Netz gegan- objektes von nationaler Bedeutung (Alpsteingebiet) dem gen.11 Bundesrat zur Ablehnung empfahl.15 Diese erstmalige Kritik der ENHK an einem KKW-Projekt widerspiegelt Gegen das Projekt Rüthi regte sich ab dem Sommer 1972 die veränderte Einstellung der Naturschutzorganisatio- erstmals organisierter Widerstand, und zwar aus dem Ös- nen zur Kernkraft, die sich ab 1969 infolge der Gewässer- terreichischen Bundesland Vorarlberg. Die konservative schutz-Debatte abzuzeichnen begann. Landesregierung und eine Reihe von Verbänden12 interve- nierten sowohl bei der St. Galler Regierung als auch direkt beim Bundesrat. Hauptkritikpunkte waren die befürchte- ten Immissionen und die für den Fremdenverkehr starke 10 StaatsASt. Gallen, ARR B 2. Beeinträchtigung des Landschaftsbildes durch den vorgese- 11 Kupper (wie Anm. 6), S. 107. henen Kühlturm.13 Inzwischen hatte sich auch lokaler Wi- 12 1972: Verkehrsverband Vorarlberger Oberland; Aktion Österreich- derstand formiert, beispielsweise in Form des «Aktionsko- Europa Vorarlberger Heimatbund; Weltbund zum Schutz des mitee Gesunder Lebensraum Rheintal» oder der Resolution Lebens, Landesverband Vorarlberg. 1974: Vorarlberger Gemeinde- verband; Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Vorarlberg; der Bürgerversammlung in Oberriet (1973) gegen das KKW Österreichischer Gewerkschaftsbund. Rüthi, das dem Umweltschutzgedanken widerspreche, 13 StaatsASt. Gallen, A 160/06209. «weil eine radioaktive Verseuchung, sei sie nun akut oder 14 StaatsASt. Gallen, A 263/30. schleichend, nicht rückgängig gemacht»14 werden könne. 15 StaatsASt. Gallen, A 263/30.

75 Modell des AKW Rüthi. Photomontage, ca. 1972. Quelle: StaatsASt. Gallen, A160/6209 I.

Zweigleisig unterwegs (LdU) oder Hans Schmid (SP) eine stärkere parlamen- tarische Prägung erhielt.18 Der 1977 ins Leben gerufene Fast zeitgleich wurden 1974 zwei kantonale Gesetzesiniti- Verein «Atomkraftwerkgegner St. Gallen» (später: «AKW- ativen lanciert, die «Kantonale Initiative gegen den un- GegnerInnen St. Gallen») positionierte sich als vergleichs- verantwortlichen Atomkraftwerkbau» der Progressiven weise loser Zusammenschluss von Personen der Ökolo- Organisationen St. Gallen (POSG) und das «Initiativbe- giebewegung, dem links-feministischen Umfeld sowie aus- gehren für eine massvolle Energiepolitik», dessen über- schliesslich thematisch Aktiven.19 Dessen geringe organisa- parteiliches Aktionskomitee sich grösstenteils aus Mit- torische Stabilität ging einher mit einer hohen «Mobilisie- gliedern des Landesrings der Unabhängigen (LdU), «Ab- rungskonjunktur», welche stark von der Themenaktualität weichlern» der grossen Parteien sowie Vertretern von Na- und den Kapazitäten der Mitglieder abhängig war. Gemäss turschutzverbänden zusammensetzte.16 Beide Komitees den ehemaligen Aktivisten Patrick Ziltener und Thomas bekannten sich in der Öffentlichkeit nicht grundsätzlich Schwager relativierte sich dieses Handicap jedoch durch gegen den Bau von Kernkraftwerken, sondern nur, wie es die hohe personelle Vernetzung mit anderen Basisbewe- die POSG formulierte, gegen «deren überstürzten und gungen, wie beispielsweise dem «M[igros]-Frühling» so- unkoordinierten Bau im jetzigen Zeitpunkt».17 Der Wan- wie Alternativparteien wie der OFRA/PFG oder der 1983 del vom Widerstand gegen ein spezifisches KKW, in die- gegründeten Grünen Alternativen St. Gallen (GRAS).20 sem Fall Rüthi, zum öffentlichen Bekenntnis gegen die Kernenergie per se vollzog sich erst in der zweiten Hälfte Der Bezugsrahmen der «AKW-GegnerInnen St. Gallen» der 1970er-Jahre. war seit ihrer Gründung transnational ausgerichtet, denn «die Gefährdung durch Atomanlagen macht vor keiner Diese zwei Initiativen verweisen bereits auf die zwei Epi- Grenze halt. Deshalb darf man sich im Kampf dagegen zentren der Ostschweizer Widerstandsbewegung gegen die nicht auf die nationalen Grenzen verlassen».21 Die Teilnah- Atomkraft: Aus dem Komitee der Energieinitiative for- me an Kundgebungen gegen die Stationierung von Atom- mierte sich 1975 der Verein «AKW Rüthi Nein» (ARN), raketen in Mutlangen (BRD), an den Protesten gegen Kai- der durch Exponenten wie die Nationalräte Franz Jaeger seraugst und Gösgen oder gegen die geplante Wieder- aufbereitungsanlage in Wackersdorf (BRD) in den frühen 1980er-Jahren waren massgebend für die Mobilisierung,

16 Beide Begehren kamen nicht zur Abstimmung, da sie Identitätsbildung und transeuropäische Vernetzung der der Grosse Rat des Kantons St. Gallen auf Antrag der Ökologiebewegung. Zwar unterstützte man, trotz Skepsis Regierung für rechtswidrig erklärte; vgl. Pressearchiv gegenüber den parlamentarischen Instrumenten, nationale St. Gallen, Dossier Nr. 2011, Rüthi Nein. und kantonale Anti-Atominitiativen; der Hauptfokus blieb 17 Pressearchiv St. Gallen, Dossier Nr. 2011, Rüthi Nein. jedoch auf ausserparlamentarische Aktionen gerichtet.22 18 StaatsASt. Gallen, W116. 19 Gespräch mit Herta Lendenmann, November 2015. 20 Gespräche mit Thomas Schwager und Patrick Ziltener, Insofern blieben die Berührungspunkte zwischen dem November 2015. Verein ARN und den AKW-Gegnerinnen und -gegnern 21 Unterlagen Patrick Ziltener. gering, auch weil sich nicht alle Vertreterinnen und Ver- 22 AFGO.045/275. treter des ARN grundsätzlich gegen die Atomenergie po-

76 sitionierten. «Aber man traf sich in Gösgen», wie Richard zwischen basisdemokratischer Bewegung und politischem Faust, ehemaliger Präsident der AKW-Gegnerinnen und Establishment entbrannte insbesondere auch an der SP, -gegner St. Gallen, resümiert.23 welche bis in die 1980er-Jahre in der Atomfrage gespalten war. Am Parteitag der SP St. Gallen sprachen sich die De- legierten mehrheitlich für die Unterstützung der Initiati- Opponiert – fichiert ve «Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke» aus, während die St. Galler SP-Nationalräte im Parlament dagegen ge- Sowohl die AKW-Gegnerinnen und -gegner als auch – in stimmt hatten.26 geringerem Ausmass – der Verein ARN gerieten aufgrund ihrer Aktivitäten ins Visier des Staatsschutzes, der die Ak- Der GAU wird Realität tionen fichierte. Gut einen Monat nachdem das Schweizer Stimmvolk die «Der Grund für unsere Fichierung war allerdings weniger «Atomschutz-Initiative» nur knapp verworfen hatte, er- das Engagement gegen die Kernkraft, als vielmehr ein von eignete sich im März 1979 im amerikanischen KKW Three der bürgerlichen Norm abweichender Lebenswandel. Mile Island (Harrisburg) eine partielle Kernschmelze. Die Zum Beispiel das Wohnen in Kommunen oder Ostkon- Hollywood-Produktionen «Das China-Syndrom» (1979) takte», erinnert sich Herta Lendenmann.24 und «Silkwood» (1983), welche die Aufdeckung von ver- tuschten Unfällen in Kernkraftwerken thematisierten, vi- Ob es nun der unverhältnismässige Polizeieinsatz gegen sualisierten publikumswirksam die Gefahren der zivilen AKW-Gegner in Bad Ragaz im Juni 1986 war, die wieder- Kernenergienutzung.27 holten Ungültigkeitserklärungen von kantonalen und städtischen Anti-Atominitiativen oder das NOK-Verwal- tungsratsmandat des St. Galler Regierungsrats Willi Gei- ger (FDP): Durch das Vorgehen der politischen Behörden 23 Gespräch mit Richard Faust, Oktober 2015. 24 Gespräch mit Herta Lendenmann, November 2015, schien sich die düstere Vision eines autokratischen «Atom- und Richard Faust, Oktober 2015. 25 staates» (Jungk) zu bewahrheiten. Die Debatte um die 25 Jungk, Robert: Der Atomstaat, München 1977. Kernenergie vollzog sich massgeblich im Spannungsfeld 26 Pressearchiv St. Gallen, Dossier Nr. 4001 Atomenergie. von Demokratie und Überwachungsstaat. Der Konflikt 27 Spiegel, 36. Jg. (1984), Nr. 14 (2. April), S. 245–251.

Auch der Verein ARN geriet zusammen mit der POCH ins Visier des Staatsschutzes. Flugblatt, Vorder- und Rückseite, 1975. Quelle: StaatsASt. Gallen, A160/06208.

77 Am 26. April 1986 trat im sowjetischen Kernkraftwerk in Tschernobyl dann «der grosse Unfall [ein], der sich laut Atomindustrie nicht ereignen kann»28 und vor dem die AKW-Gegnerinnen und -gegner schon jahrelang gewarnt hatten. Der Super-GAU (grösster anzunehmender Unfall) in der Sowjetunion «reaktivierte» die Anti-AKW-Bewe- gung und mobilisierte darüber hinaus breitere Bevöl- kerungsschichten. Tschernobyl strahlte, im wörtlichsten Sinne, bis in den Alltag der Ostschweizerinnen und Ost- schweizer aus: In der Bevölkerung herrschte Verunsiche- rung; die Behörden versuchten zu beschwichtigen. Als die AKW-Gegnerinnen und -gegner an einem Marktstand unverstrahltes Gemüse (Karotten) anboten, wurde die Aktion innert einer Viertelstunde von der Polizei been- det.29 Knapp 1500 Personen nahmen am 24. Mai an der «Protestkundgebung gegen Tschernobyl» teil und forder- ten den vollständigen Atom-Ausstieg der Schweiz. An der ersten Vollversammlung des reaktivierten Vereins «AKW- GegnerInnen St. Gallen» fanden sich am 12. Juni rund 70 Personen in der Grabenhalle ein.30 Der unmittelbare Mobilisierungseffekt verpuffte zwar bald, jedoch hatte die Kernenergie nachhaltig an Akzeptanz in der Bevölkerung verloren.

«Es gibt keine friedliche Radioaktivität. Radioaktivität «Unsere (Radio-)Aktivität ist unsere Stärke»31 ist immer ein Krieg gegen das Leben.» Flugblatt, 1986. Quelle: AFGO.045/275, Dokumentation Politik. Zusammen mit Naturschutzvereinen, Linksparteien und dem LdU lancierten die «AKW-GegnerInnen St. Gallen» im Sommer 1986 die städtische Initiative «Zukunft ohne Medienresonanz nachträglich zur Aktion.33 Im Dezember Atomstrom», die wiederum als rechtswidrig zurückgewie- 1986 besetzten 18 St. Galler AKW-Gegnerinnen und -geg- sen wurde und erst nach einem Bundesgerichtsentscheid ner, angemeldet unter dem Namen «St. Galler Energiefo- 1993 zur Abstimmung kam. Der Hauptfokus der Bewe- rum», eine Nacht lang den Besucherpavillon des Kern- gung lag aber weiterhin in ausserparlamentarischen, fried- kraftwerks Gösgen, bevor die Protestaktion am frühen lichen Protestformen, welche die Sensibilisierung und In- Morgen von der Solothurner Polizei aufgelöst wurde.34 formierung der Bevölkerung zum Ziel hatten. Zu den aufsehenerregendsten zählte die nächtliche Aktion in Hemberg, dem Wohnort des atomfreundlichen National- Schluss damit! rates Georg Nef (FDP). Da dieser öffentlich verkündet hatte, er wäre bereit, den angeblich ungefährlichen Atom- Mit der Moratoriumsinitiative wurde 1990 erstmals eine müll in seinem Garten zu lagern, brachten die AKW-Geg- Atominitiative an der Urne angenommen und setzte dem nerinnen und -gegner fingierte Plakate der NAGRA an: weiteren Bau von Kernkraftwerken in der Schweiz ein «Ihr Nationalrat und Gemeindeammann Georg Nef hat vorläufiges Ende. Im Abstimmungskampf lieferte auch sich freundlicherweise zur Endlagerung der radioaktiven das KKW Rüthi zum letzten Mal die lokale Bedrohungs- Abfälle in seinem Garten zur Verfügung gestellt.»32 An- kulisse, obwohl die Projektierungsarbeiten bereits 1980, fänglich anonym, bekannte man sich aufgrund der grossen im Vorfeld der damaligen Regierungsratswahlen, einge- stellt worden waren.35 Da die gleichzeitig vorgelegte Aus- stiegsinitiative keine Mehrheit fand, verschob sich der 28 AFGO.045/275. Fokus der Anti-AKW-Bewegung von den geplanten zu 29 Gespräch mit Hansueli Stettler, November 2015. den bestehenden Kernkraftwerken. Nach 1991 verlor ei- 30 AFGO.404, PFG/OFRA. nerseits die Atomfrage – auch infolge der obsolet gewor- 31 AFGO.045/275. 32 Pressearchiv St. Gallen, Dossier Nr. 2011, Rüthi Nein. denen Drohkulisse eines «heissen», atomaren Krieges – an 33 AFGO.045/275. gesellschaftlicher Relevanz. Andererseits hatte sich die 34 AFGO.045/275. Anti-AKW-Bewegung teilweise in die 1987 gegründete 35 StaatsASt. Gallen, W116. Grüne Partei Schweiz integriert und in ihr organisiert.

78 Homosexuelle Arbeitsgruppe St.Gallen, HASG

Politik, Partys und Coming-out-Hilfe

René Hornung

Schwule und Lesben schlossen sich in den frühen 1970er- Abonnement. Er sei nicht bereit, ein Mitteilungsblatt für Jahren nicht zum ersten Mal zusammen. In der Schweiz Homosexuelle zu unterstützen. Und es gab umgehend gab es bereits seit den 1940er-Jahren den «Kreis» und spä- Streit mit dem Rektorat, das keine schwule Studenten- ter dessen Nachfolgeorganisation SOH, die «Schweizeri- gruppe dulden wollte, schon gar keine, die sich HASG sche Organisation der Homophilen» (sie nannte sich spä- nannte; die Verwechslungsgefahr mit der offiziellen -Ab ter «Schweizerische Organisation der Homosexuellen»). kürzung HSG sei zu gross. Gefordert wurde vom Rek- Doch den von der 68er-Generation beeinflussten Schwu- torat auch, dass in den Statuten ausdrücklich der Schutz len war diese SOH zu bürgerlich, zu anpasserisch. Da ka- von Minderjährigen festgehalten werde. Man werde – men die Stonewall-Aufstände von New York (1969) und so die Hochschulleitung – «nicht zögern, einzugreifen, der Film von Rosa von Praunheim «Nicht der Homose- falls die Tätigkeit Ihres Vereins zu begründeten Klagen xuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» ausserhalb des akademischen Bereiches Anlass geben gerade recht. Beides war auch in der Provinz Anstoss für würde bzw. sich für die Hochschule nachteilig erweisen eine neue Schwulenbewegung: Praunheims Film lief 1971 würde». an der Berlinale, 1973 spät nachts am Fernsehen. Am Schluss wird darin zur Gründung von neuen Gruppen Die HASG blieb aber ihrem Namen treu, und immer aufgerufen, zur Emanzipation, aber auch zum Kampf ge- mehr HA-Gruppen der Deutschschweiz vernetzten sich gen gesellschaftliche Zwänge. Rasch sprang der Funke in in der Dachorganisation HACH. Aus dem studentischen die Schweiz über: Ein knappes Jahr nach der «Homosexu- Umfeld löste man sich bald, die Grundsatzpapiere von ellen Arbeitsgruppe Zürich» (HAZ) entstand 1973 die damals kamen aber weiterhin im Jargon der 1968er-Bewe- St. Galler HASG.1 gung daher. «Ausgehend von den Erfahrungen einer zum Teil falschen linken studentischen Hochschulpolitik, Hier waren es schwule Studenten, die die Initiative ergrif- die ihren wesentlichsten Aspekt – die Politisierung und fen. Allerdings trauten sie sich nicht, öffentlich aufzutre- Kontaktaufnahme mit der Basis, das Eingehen auf die Be- ten. Res Strehle, bis vor kurzem Chefredaktor des «Tages- dürfnisse der Betroffenen – leider allzu oft aus den Augen Anzeigers», spielte den Geburtshelfer: «Ich gründete die verliert, ist unseres Erachtens folgender Weg zur Organi- Homosexuelle Arbeitsgruppe mit, weil kein Schwuler sich sierung und Aktivierung von Homosexuellen einzuschla- im damaligen St. Gallen öffentlich hätte outen können. gen: Konfrontation der zum grössten Teil unpolitischen, Das brachte mir eine Denunziation an der Wandzeitung wenn nicht sogar reaktionären, Homosexuellen mit ihrer der HSG und viele männliche Verehrer ein», schrieb er in Situation und ihren Verhaltensweisen, die aus der gesell- einem persönlichen Rückblick auf die 68er-Bewegung.2 schaftlichen Unterdrückung resultieren.» Es brauche Treffpunkte und Freiräume. Und weiter: «An den Gren- In der Studentenzeitung «Prisma» an der Hochschule zen dieser Freiräume wird es immer zu Auseinanderset- St. Gallen wurde zum Mitmachen in der neuen Gruppe aufgerufen. Man sei offen für alle, Männer und Frauen, egal ob homo- oder heterosexuell, hiess es dort. Das Hochschulklima war damals von einer Reformdiskussion 1 Die Chronologie und die folgenden Zitate stützen sich auf geprägt. Die 68er-Bewegung forderte auch in St. Gallen Originaldokumente, die im Schwulenarchiv Schweiz aufbewahrt werden. Das Schwulenarchiv ist Teil des Schweizerischen Sozial- die studentische Mitbestimmung. Das Klima, hier eine archivs, Zürich. Verwendet wurden insbesondere die Dossiers Schwulengruppe zu etablieren, war günstig. Umgehend Ar 36.76 und Ar 36.138. Ein Teil der Materialien ist auch auf gab es auch Proteste. Regierungsrat Willi Geiger, früher www.schwulengeschichte.ch aufgearbeitet. Rektor der HSG, kündigte sein persönliches «Prisma»- 2 Strehle, Res: «68, aber lieb», in: Das Magazin, Nr. 2008/12.

79 zungen kommen, woraus folgt: diese Auseinandersetzun- gen sind als Emanzipation der diskriminierten Gruppe, der Schwulen, zu führen.»3

Die Stadtpolizei interessiert sich für die HASG

Die HASG-Gründung löste nicht nur im Umfeld der Hochschule Irritationen aus. Die Post hatte Bedenken, dass die Zuteilung eines Postfachs das «sittliche Empfin- den» stören könnte. Schwierig war auch die Lokalsuche. Vom Studentenseelsorger erhielt die Gruppe ablehnenden Bescheid. Danach traf sie sich einige Male im Restaurant «Alt St. Gallen». Die Polizei – informiert aus Zeitungsbe- richten, die die HASG vorstellten – erkundigte sich bei der Wirtin nach der Gruppe. Als die HASG davon erfuhr, protestierte sie und Stadtpolizeikommandant Samuel Gugger antwortete: «Es ist unter anderem Aufgabe der Po- lizei, sich im Zusammenhang mit der vorbeugenden Ver- brechensbekämpfung über kriminalsoziologisch bedeutsa- me Gruppen zu informieren. Zu diesen Gruppen gehören an sich auch solche, deren Ursprung Perversionen sind. Wie auch Ihnen bekannt sein dürfte, können geschlecht- liche Verirrungen (im Sinne von Abweichungen von einer biologischen Norm) kriminogene Faktoren sein. Daher unser allgemeines Interesse an einer organisierten Gruppe Homosexueller.» Bei der Wirtin habe man interveniert, weil das Gastwirtschaftsgesetz zur Aufrechterhaltung von Ordnung und guter Sitte verpflichte.4

Ein knappes Jahr nach ihrer Gründung zeigte die HASG Tagung im Bildungszentrum Wartensee, 1975. Praunheims Film in St. Gallen und mobilisierte damit Quelle: Alle Abbildungen Privatarchiv RH. neue Leute – so viele, dass drei Arbeitsgruppen gebildet wurden: Selbsterfahrung, Öffentlichkeitsarbeit und Kul- tur. Alle drei Wochen traf man sich zur Plenumssitzung. Während sich ein Teil der meist jungen Männer in der Selbsterfahrungsgruppe mit ihrem Coming-out und ihrer Vier Jahre nach der Gründung, 1977, war die HASG be- Situation im Beruf auseinandersetzte, entstanden aus der sonders aktiv. So intervenierte der spätere Gastronom der Vernetzung mit den Gruppen in anderen Städten immer «Letzten Latern», Urs Tremp (1952–2014), zusammen mit wieder neue Flugblätter und Aufklärungsbroschüren. seinem damaligen Partner zum Beispiel beim Schweizer Man traf sich meist in Privaträumen, aber auch in Sit- Fernsehen mit der Aufforderung, den vorerst nur von der zungszimmern verschiedener Restaurants. Aus dem Kon- ARD ausgestrahlten Film «Die Konsequenz» von Alexan- takt mit kirchlichen Institutionen ergaben sich öffentlich der Ziegler ebenfalls ins Programm aufzunehmen. Indem ausgeschriebene Treffen im Schloss Wartensee, dem da- das Schweizer Fernsehen sich bisher geweigert hat, bevor- maligen Tagungszentrum der evangelischen Kantonalkir- munde es die Zuschauer. Protestiert wurde 1977 auch che. Politisch setzten sich die Schwulengruppen vor allem gegen eine Folge der Krimiserie «Der Alte», in welcher es für die Abschaffung der polizeilichen Karteien ein. Dieser unter anderem um einen kriminellen Homosexuellen Kampf war 1979 mit der Vernichtung der Zürcher Kartei ging. Das Schweizer Fernsehen organisierte dann im April von Erfolg gekrönt. 1978 eine «Telearena» – eine Diskussionssendung mit Theaterstücken dazwischen – zum Thema Homosexuali- tät. In den Reihen der mitdiskutierenden Schwulen tru- gen noch einige eine Maske. Eine politische Forderung 3 Schwulenarchiv Schweiz: Umdrucker-Manuskript, jener Jahre war auch die Neuregelung des Schutzalters, anonym und nicht datiert. Wie Anm. 1. das damals für hetero- und homosexuelle Kontakte noch 4 Original im Schwulenarchiv Schweiz. Wie Anm. 1. unterschiedlich angesetzt war.

80 Mit Obelix vors Bundesgericht Legendäre Partys

Zur bekanntesten Aktion der HASG wurde der Versuch, Nicht nur Politik, auch Partys waren wichtig. Im Herbst das Aufklärungsmagazin «anderschume» auf der Strasse 1977 entstand auf Initiative von Urs Tremp im «Alterna- zu verteilen. Auf dem Titelbild prangte Obelix mit einem tivzentrum» jeweils freitags ein regelmässiger Disco- zu einem Penis umgezeichneten Hinkelstein auf dem Rü- Abend. Er nannte sich in Anlehnung an das Zürcher Vor- cken. Die städtische Gewerbepolizei lehnte im Herbst bild «Zabi» und fand in einem heute abgebrochenen Ge- 1977 ein Gesuch für einen Stand ab, an dem das Magazin werberaum im Haldenhof statt. Über diese Partyabende mit dem «unsittlichen» Titelbild hätte verteilt werden sol- versuchte man, Schwulen das Coming-out zu erleichtern len. Der Stadtrat machte im Rekursentscheid zwar durch- und sie zu einem Engagement zu bewegen. Man wollte aus schwulenfreundliche Überlegungen, nahm dann aber den «Newcomers» aber «ausdrücklich nicht mehr die bis- doch seine Behörde in Schutz. Schliesslich landete der herige 68er-Politik aufoktroyieren», wie es in den Jahres- Fall im März 1979 vor dem Bundesgericht in Lausanne – zielen der HASG für 1977 hiess. Im «Zabi» traf sich je- auch hier ohne Erfolg für die HASG. Das Gericht hielt weils eine bunt gemischte Gesellschaft. In dieser unge- zwar fest, dass die Diskriminierung von Homosexuellen zwungenen Atmosphäre einer Tanznacht war es für viele noch bestehe und die homosexuellen Organisationen des- leichter, sich zu outen, als im eher engen Korsett einer halb zu Recht Aufklärungsarbeit trieben. Allerdings woll- Schwulengruppe, wo jeweils alle Augen auf den oder die te das Gericht es den örtlichen Behörden überlassen, was Neuen gerichtet waren. sie als «unsittlich» bezeichnen.

Im Alternativzentrum ZABI gab es ab 1977 jeden Freitagabend Titelblatt des Aufklärungsmagazins «anderschume», 1977. eine Disco. Abgebildet ist ein diesbezügliches Flugblatt von 1978.

81 topher-Day-Demonstrationen dabei und kümmerte sich auch weiterhin um Schwule, die in ihrem Umfeld diskri- miniert wurden. Viele der Erstkontakte entstanden am Rand der Partys.

Ganz so offen für alle, wie es im Gründungsaufruf hiess, war die HASG allerdings nicht. In den späten 1970er- Jahren war nur eine einzige Lesbe Mitglied des Vereins. Zwar gab es verschiedene persönliche Bekanntschaften zwischen Schwulen und Lesben, doch die HASG blieb ein Männerverein.

Das zehnjährige Jubiläum feierte die HASG 1983 mit dem «Schwulen Sprungbrett», ebenfalls in der Grabenhalle. Dem «St. Galler Tagblatt» gaben einige Mitglieder im Ge- spräch zwar Auskunft über ihre Situation, aber mit Na- men traten sie nicht auf. Homosexuelle würden immer noch als «abartig» gelten, obwohl sich in den letzten zehn Jahren vieles verbessert habe. Die HASG – so wird im Zeitungstext festgehalten – verlange von ihren Mitglie- dern, dass sie «Energie zeigen, sich für die Emanzipation 10 Jahre HASG, Homosexuelle Arbeitsgruppe. zu engagieren», man müsse also eine Schwelle bereits überschritten haben.5

Bis Mitte der 1990er-Jahre organisierte die HASG mindes- tens einmal jährlich eine schwule Grabenhallen-Party. Diese zog jeweils ein breites Publikum an und galt selbst in Zürich als Geheimtipp. Die Discos führten allerdings Aus diesen Abenden heraus formierte sich eine Gruppe regelmässig zu Lärmklagen. Um 0.30 Uhr müsse der Mu- junger Männer, von denen mehrere in kreativen Berufen sikbetrieb deshalb eingestellt werden, so stand es zum Bei- arbeiteten. Sie organisierten später die legendär geworde- spiel auf der Bewilligung fürs «Schwule Sommerfest» von nen Partys in der Grabenhalle. Die Schwulen gehörten zu 1988. Prompt legte die HASG dagegen Rekurs ein und den ersten Nutzern der Halle, die damals tagsüber noch argumentierte, der nicht-kommerzielle Betrieb in der Gra- als Turnhalle diente und wo für jeden Partyabend ein benhalle sei grundsätzlich gefährdet, wenn solche Aufla- schützender Linoleumboden ausgerollt und die Turnge- gen durchgesetzt würden. räte speziell gesichert werden mussten. Geboten wurde mehr als Musik; jedesmal gab es auch eine Performance. Die Gruppe von HASG-Mitgliedern tingelte mit teils Die Arbeitsgruppe schläft ein schrillen Auftritten auch durch alternative Festivals in der halben Schweiz. Spass und Engagement lagen immer Während immer weniger Treffen der Arbeitsgruppe statt- nahe beieinander. Man war immer auch an den Chris- fanden und die HASG zu einer blossen Postfachadresse verkam, verlagerten sich die Aktivitäten durch einzelne Mitglieder in den Kulturbereich. Ab den späten 1980er- Jahren wurden in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Kino Xenix und dem St. Galler Kinok mehrere Male 5 St. Galler Tagblatt, 8. April 1983. schwul-lesbische Filmreihen gezeigt.

82 Flugblätter zu Festen in der Grabenhalle 1989 und 1991.

In der Zwischenzeit hatte sich das Klima zugunsten der argumentierte die Universitätsleitung mit der Verwechs- Lesben und Schwulen verbessert. Als 1992 die St. Galler lungsgefahr: «HSGay» unterscheide sich zu wenig von Stadtpolizei mehrmals Überfälle von Jugendbanden im HSG. – Die Gruppe heisst heute «Unigay» und stellt sich Stadtpark gemeldet bekam, wandte sich der zuständige mit witzigen, selbstgemachten Videos vor.7 Die HASG Untersuchungsrichter Ronald Pedergnana via öffentlichen gab später ihr Postfach auf – und verschwand damit von Aufruf auch an die Schwulen selbst, sie sollten sich unbe- der Bildfläche. Heute gibt es neben «Unigay» eine Regio- dingt bei der Polizei melden. Das Flugblatt war mit einem nalgruppe Ostschweiz von «Network», der Organisation Auszug aus einem Comic von Ralf König illustriert.6 für lesbische und schwule Führungskräfte. Verschiedene Jugendgruppen haben sich in den letzten Jahren gegrün- Aber selbst Jahre nach der vermeintlich breiten Akzeptanz det, aber auch wieder aufgelöst. gab es noch Vorbehalte: Ende der 1990er-Jahre kam es noch einmal zu einem Namensstreit an der inzwischen in

«Universität St. Gallen HSG» umbenannten Hochschule. 6 Untersuchungsrichter E. Ronald Pedergnana, Aufruf Als sich dort eine neue studentische Schwulengruppe zu- vom 4. November 1992, in: Archiv Pressebüro St. Gallen, sammenfand, wollte sie sich «HSGay» nennen und be- Dossier 1173. kam es prompt wieder mit dem Rektorat zu tun. Erneut 7 www.unigay.ch

83 Reformbewegung für den Strafvollzug und das Heimwesen

Harry Rosenbaum

1969 gründete der Ordinarius für Privat- und Handels- In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre beschwerten sich recht an der HSG, Eduard Naegeli, die Arbeitsgruppe für Insassen der Arbeitserziehungsanstalt Kreckelhof in He- Strafreform, die bis Ende der 1970er-Jahre wirkte und für risau über Ausbeutung und harte Körperstrafen in der Reformen im schweizerischen Strafvollzug und Heimwe- Anstalt, die von der Gemeinde geführt wurde. Leute aus sen arbeitete. Die Gruppe baute ein Freiwilligenteam von der Heimkampagne griffen das Thema auf. Die Insassen Betreuerinnen und Betreuern für Inhaftierte in den Straf- mussten beispielsweise ohne Entschädigung die Keh- anstalten auf. Naegelis Ansatz war die Abschaffung der richtabfuhr im Ausserrhoder Hauptort besorgen. Bei den Vergeltungsstrafen und die Etablierung der Resozialisie- geringsten Verstössen gegen die Hausordnung wurden sie rung in den Haft- und Jungenderziehungsanstalten. In vom Leiter der Anstalt verprügelt. Es kam vor, dass er die den progressiven Gruppen, die in der Schwertgasse 3 ver- Renitenten in eine Arrestzelle sperrte und dort zur Diszi- kehrten, gab es auch Leute, die in der Strafreform enga- plinierung von aussen mit Tränengas behandelte. Es dau- giert waren. erte Jahre, bis der Anstaltsleiter vom Kantonsgericht zur Rechenschaft gezogen worden ist. Er wurde zu einer mil- Heimkampagnen den Gefängnisstrafe von einer Woche, bedingt, verur- Das Schweizer Anstaltswesen und seine rüden Erzie- teilt. hungsmethoden mit Prügelstrafen, Einzelhaft, Essensent- zug und Kahlschnitt der Haare gerieten schon in den Ein umfassenderer Artikel ist zu diesem Thema ist in Ar- frühen 1970er-Jahren in den Fokus der herrschafts- und beit und wird später in einer anderen Publikation erschei- institutionskritischen 68er-Bewegung. Aus Kreisen der nen. Reformpädagogik entstand die Heimkampagne, die teil- weise mit spektakularen Aktionen auf sich aufmerksam machte. Die Zürcher Heimkampagne verhalf im Septem- ber 1971 insgesamt 17 jungen Männern zur Flucht aus der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon. Diese Massenflucht ge- riet zum Medienereignis und stellte samt gerichtlichem Nachspiel wegen Haus- und Landfriedensbruch den Hohepunkt der Heimkampagne in der Schweiz dar. Die Gruppe für Strafreform in St. Gallen pflegte Kontakte zur Heimkampagne, suchte aber das Gespräch mit den für die Anstalten zuständigen Behörden und bekam schliesslich auch Zugang zu diesen. Es wurden Betreuungsteams ge- bildet sowie private Vormund- und Beistandsschaften in die Anstalten vermittelt.

84 Das Wunder und die Ochsentour

Circus Pic-o-Pello/Südumfahrung

Rea Brändle

In sehr seltenen Momenten funktioniert der politische Das Projekt lag durchaus im Trend. Für Zürich etwa war Kampf nach andern Regeln. Fast könnte man von Magie in den 1960er-Jahren ein Autobahn-Ypsilon ins Stadtzen- sprechen: Wenn mit einem Freiluftzirkus eine Autobahn trum vorgesehen. Fürs Jahr 2000 hatte die Schweiz laut verhindert und ein totgeweihtes Quartier gerettet werden dem St. Galler Hochschulprofessor Francesco Kneschau- kann. Vorläufig zumindest, denn auf derartige Höhenflü- rek mit einer Bevölkerung von zehn Millionen Menschen ge folgen meist zähe Auseinandersetzungen oder, um es zu rechnen. mit Brecht zu sagen, die Mühen der Ebene.1 Bereits hatte die Stadt damit begonnen, sukzessive ein gu- tes Dutzend sanierungsbedürftiger Häuser im Damm- Relikt aus Zeiten der Wachstumseuphorie quartier zu erwerben, einzelne zu überrissenen Preisen, wie sich nachträglich herausstellte. Es werde nur noch das Wann genau die grossspurige Planung der St. Galler Au- Allernötigste repariert, hiess es, irgendwann würden sie tobahn entstanden ist, lässt sich im Detail nicht rekons- alle abgerissen. Dies trotz der unterirdisch geplanten truieren. Manche sagen, dass ihre Anfänge in die 1930er- Strassenführung, weil man den Tunnel aus ökonomischen Jahre oder noch weiter zurückreichen, andere sagen, sol- Gründen im Tagbau erstellen wollte. Auch daran schien ches Denken müsse ein Produkt der Hochkonjunktur sich niemand zu stören. sein, jener Zeit der vollmundigen Gesamtkonzepte – und vermutlich haben sie Recht. 1966 wurde ein Generalver- kehrsplan veröffentlicht und im folgenden Jahr vom Paris-Montmartre, St. Gallen-Klosterquartier Stadtparlament genehmigt, ohne dass sich nennenswerter Protest artikuliert hätte. Im Rückblick scheint das un- Bewegung kam erst auf, als eins der Häuser tatsächlich glaublich: Eine Autobahnschneise sollte durch die läng- dran glauben musste. Nun sahen die benachbarten Res- lich-schmale Stadt gezogen werden, flankiert von zwei taurantbetreiber – vom «Drahtseilbähnli» und «Splügen» Umfahrungsachsen zwischen Winkeln und Neudorf, bis zum «Fancincani» – ihre Existenz gefährdet, die zahl- dazu mehrere Anschlüssen und Expressstrassen als Quer- reichen Künstler am Mühlensteg bangten um ihre Ate- verbindungen. Eine dieser Achsen, die ursprüngliche liers, die langjährige Mieterschaft der angrenzenden Lie- Nordtangente mit dem Rosenbergtunnel, wurde als A1 genschaften um ihre günstigen Wohnungen. Weit über weiterverfolgt und 1987 eröffnet. Die Zwillingsversion den Damm hinaus wurde eine Gentrifizierung befürchtet sollte als sogenannte Südumfahrung hauptsächlich den (was damals Modernisierung genannt wurde). Langjäh- Verkehr aus dem Appenzellerland abfangen und war auf rige Mieter mussten damit rechnen, von Wohlhabenden ebenfalls vier Spuren sowie einen Tunnel von der David- verdrängt zu werden, und da kam der junge Pic wie ge- strasse bis hinters Kloster geplant. Wie leichtfertig damals rufen. Er war vertraut mit den Verhältnissen in der Alt- mit Grössenordnungen umgegangen wurde, zeigt die Pro- stadt, aufgewachsen in einer Künstlerfamilie an der gnose im Generalverkehrsplan, wonach die städtische Be- Spisergasse, hatte das Lehrerseminar besucht, an der Kel- völkerung in absehbarer Zeit auf 136 000 Personen wach- lerbühne mit seinen Clownerien debütiert und sich bei sen werde. Jacques Lecoq in Paris zum Schauspieler-Artisten ausge- bildet. Auf dem Montparnasse hatte er erstmals engagier- tes Strassentheater gesehen und sich dermassen begeis- tert, dass er in St. Gallen auch so etwas machen wollte, als er 1974 zurückkehrte und in eines der Ateliers am Müh- 1 Mein Text stützt sich im Wesentlichen auf die folgende Dossiers: Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1062 (Picopello-Plätzli) und lesteg einzog. Bei einem ersten Gespräch mit der Gewer- Nr. 1169 (Südumfahrung, Gallusplatz, Damm). – StadtASt. Gallen, bepolizei wurde ihm nahegelegt, das Areal zwischen den Politische Gemeinde, 616/431 XVII sowie PA,X, 97,17 und PA,X, Kaufhäusern Neumarkt drei und vier zu bespielen. Doch 121,1 (Nachlässe Schreiber und Hädener). Pic hatte einen andern Schauplatz vor Augen, von den

85 Fenstern des Atelierhauses aus: das gegenüberliegende Grundstück, eine namenlose Baulücke, die als Parkplatz benutzt wurde.

Die Nachbarschaft reagierte sehr positiv auf das Zir- kusprojekt, viele boten Hilfe an, auch Zugang zu ihren Steckdosen. Gagen konnte der junge Clown keine zahlen. Was an Geld fehlte, musste mit Spürsinn wettgemacht werden. Davon besass Pic schier unerschöpfliche Portio- nen.2 Für sein Zirkusorchester etwa engagierte er den jun- gen Töbi Tobler (lange bevor dieser die «Appenzeller Space Shöttle» gründete). In Rorschach traf er sich mit dem Seminaristen Mädi Eugster (dem späteren Initianten des Circus-Theater Rigolo) und engagierte ihn, samt der jüngeren Schwester Susi, als Trampolinspringer. Ein stadt- bekannter Schwinger, Erich Ledergerber aus der gleich- namigen Weinhandlung, liess sich als Kraftmensch ver- pflichten. Marianne Fuchs bewarb sich mit ihrem Ballett. Der Künstler Kurt Wolf machte auf den Messerwerfer Albinowitsch aufmerksam und wurde dessen Assistent. Der Bildhauer Max Oertli empfahl sich als Dompteur mit einem Elefanten, den er aus fünfzig Brocki-Pelzmänteln fabrizierte. Die Splügenwirtin stellte sich als Nummern- girl zur Verfügung. So kam allmählich ein klassisches Repertoire zusammen, samt Schlangenbeschwörerinnen, Jongleur, Feuerschluckerin und Kunstradfahrer. Nicht zu vergessen die Tierschau, wie sie jeder Zirkus mit sich führt; sie war in einem Schopf an der Wallstrasse einquar- tiert. Statt Bestien gab es einen Geissbock und zahlreiche Insekten zu besichtigen.

Fünfzig Mitwirkende fanden sich fürs Programm, Laien allesamt, mit zwei Ausnahmen. Die eine war Pic selbst. Einen weiteren Profi holte er aus dem Aargau: «Weil es zu gefährlich gewesen wäre, auf gut Glück ein Hochseil über die Manege zu spannen.» Der Sachverständige war Heinz Meier alias Pello, ein Freund aus der Lecoq-Schule, der für Pic lange über das St. Galler Experiment hinaus zu ei- nem Compagnon werden sollte.

Scharnierstelle von Kunst und Politik

Ein ganzes Jahr dauerten die Vorbereitungen. Am 14. Juni 1975 war Premiere, die siebenhundert Plätze waren aus- verkauft. Von einem der umliegenden Dächer preschte der Dirigent an einer Seilrolle hinunter ans Orchester- pult, Zirkusmusik eröffnete die Vorstellung, und bald waren die Gebäude reihum ins Geschehen einbezogen.

2 Zum Folgenden: Brändle, Rea: «Picobello» Zirkussommer, in: Zürcher Tages-Anzeiger, 18. Juni 1975, sowie Gespräch mit Pic, Fotografien der Darbietungen des Circus Pic-o-Pello. Quelle: Ar- 4. Januar 2015. chiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte, AFGO.106.

86 Plakat für den Circus Pic-o-Pello, 1975. Quelle: AFGO.106.

Dächer dienten als Bühne für die Kasperlifiguren, die o-Pello zum Stadtgespräch, das blieb so, trotz längerer Hansueli Trüeb als seine Marotten bezeichnete. Hoch Schlechtwetterphase. über den Köpfen des Publikums balancierte Pello über das Seil und verschwand in einem Fenster. Am 4. Juli, einem Freitag, fand die letzte Vorstellung statt. Ein paar Tage zuvor hatte sich eine «Aktion zur Rettung Als es allmählich einzudunkeln begann, kamen die Lich- des von Verfall und Zerstörung bedrohten Quartiers» for- tergirlanden zur Geltung, auf den Zinnen, an Fenstersim- miert und zu einer Kundgebung aufs Zirkusareal eingela- sen und Balkongeländern. Scheinwerfer projizierten die den, zur Einweihung des Picobelloplätzli.3 Max Oertli Artisten an die Hausfassaden. Solche Lichtspiele und die enthüllte seine selbst gemachte Strassentafel; er war mit Regie vor allem bewirkten, dass die heruntergekomme- nen Häuser als Kulissen in Erscheinung traten, ja, weit mehr: Sie wurden vom Publikum als Teile eines lebendi- gen Quartiers wahrgenommen, als eines, das unbedingt 3 Von den diversen Schreibweisen hat sich «Pic-o-Pello» durch- erhaltenswert war. In diesem Sinn wurde der Zirkus Pic- gesetzt und wird im Folgenden verwendet.

87 seinem Elefanten gekommen, das Zirkusorchester spielte, Vertauschte Begriffe, kulturelle Aktionen der Verein stellte sich vor. 450 Personen waren ihm innert dreier Tage beigetreten. Sie wollten laut Statuten eine Weil die schlechte Stimmung gegen die Südumfahrung Überbauung bekämpfen und sich für die Sanierung der nicht mehr zu übersehen war, wurde der Verein Pic-o- umliegenden Häuser einsetzen und sich wehren «gegen Pello in die Offene Planung miteinbezogen, zu einem den Bau einer Südkerntangente, die das bestehende Quar- Runden Tisch, wie das heute genannt würde. Vertreten tierbild zerstört». war das gesamte politische Spektrum – von der rechten Republikanischen Bewegung bis zur Partei der Arbeit –, Bereits hatte ein Beitrag des Schweizer Fernsehens auf den dazu zahlreiche Architekten und Ingenieure sowie ver- Zusammenhang zwischen Zirkus und Quartierkampf schiedene Interessensverbände wie TCS, Cityvereinigung aufmerksam gemacht, was «Die Ostschweiz» scharf kriti- und Heimatschutz. Dabei ging es nicht ums Grundsätzli- sierte; auch das «St. Galler Tagblatt» hielt fest, dass «Zir- che, erörtert wurden bloss Varianten: wie lange der Tun- kus und Aktion zwei verschiedene Interessengruppen dar- nel werden sollte und wieviel davon im Tagbau zu erstel- stellen».4 Die siebenhundert Personen an der Kundge- len sei. Das favorisierte Projekt, die Kurztunnelvariante, bung sahen dies anders. hiess nicht mehr Südumfahrung, sondern Umfahrung Gallusplatz. Am 13. März 1979 wurden 280 000 Franken als Projektierungskredit bewilligt. Um über den Stand der Kurzes Intermezzo zur Kulturpolitik Dinge informieren zu können, wurden 9000 Franken in eine Ausstellung mit Prospekt investiert; das war fast so Keinen Rappen öffentliches Geld hatte der Zirkus bean- viel wie die 10000 Franken, die jährlich für die Förderung sprucht. Im Gegenteil, er musste der Stadtverwaltung eine des künstlerischen Schaffens ausgegeben wurden. Pauschale für die entgangenen Parkplatzgebühren bezah- len. Auch konnte der Polizeichef sich erst kurzfristig dazu Da auch diesem Projekt zunehmender Widerstand er- entschliessen, die lärmige St. Georgenstrasse während den wuchs – ausgelöst von der «Aktion Südumfahrung Nein» Vorstellungen sperren zu lassen. Als daraufhin einige –, zog es der sozialdemokratische Stadtpräsident Heinz Stadträte um Freikarten ersuchten, wurde ihnen freund- Christen vor, die weitere Planung aufs Eis zu legen; erst lich beschieden, selbiges sei nicht Usus; einzig wer für 150 nach Eröffnung des Rosenbergtunnels (1987) sollte die Franken eine Wettergarantie unterzeichnet hatte, wurde Verkehrssituation neu beurteilt werden. mit Gratiseintritten beschenkt.5 So lange mochten nicht alle warten. Ende 1983 wurde die Die Förderpolitik änderte sich nur langsam. Unglaublich, «Initiative zum Schutz des Klosterbezirks» eingereicht. wenn man sich die nächste St. Galler Aktion von Pic-o- Treibende Kraft, auch in den nachfolgenden Parlaments- Pello vergegenwärtigt. 1979 kam sie zustande, mit dem debatten, war Erich Ziltener von der CVP, der spätere Ziel, den Abriss der alten Frauenbadi auf Dreilinden zu Bauchef im Stadtrat. Er setzte sich für eine unterirdische verhindern. Weil diesmal alles schnell gehen musste, hat- Lösung ein. Auf 720 Metern sollte ein Tunnel gebohrt te man vorwiegend Profis engagiert, ein Minus von 47 000 werden. Dies hätte rund 45 Millionen gekostet und wurde Franken budgetiert und deshalb zahlreiche Finanzie- deshalb vom Parlament zugunsten eines günstigeren Ge- rungsgesuche verschickt. Von der Stadt St. Gallen erhielt genvorschlags bald nicht mehr weiterverfolgt. Der Begriff der Zirkus 3000 Franken plus eine 7000-fränkige Defizit- «Südumfahrung» wurde bewusst vermieden, stattdessen garantie. Aus Bern kam der Bescheid, das Bundesamt für für und wider einen autofreien Gallusplatz gestritten. Da- Kultur werde 1000 Franken zahlen, Bundesrat Hürli- mit waren die Koalitionen noch unübersichtlicher gewor- mann persönlich hatte den Brief unterzeichnet.6 den. So wollte die Anwohnergruppe Gallusplatz zwar den Durchgangsverkehr ebenfalls loshaben, sträubte sich aber gegen eine Tunnellösung. Sie erhielt Unterstützung von sechs weiteren Quartiervereinen, diversen Umweltorgani- sationen und Interessensvertretern vom VCS bis zum Mieterinnen- und Mieterverband. Sie hatten gegen we- sentlich finanzstärkere Kreise anzutreten und griffen -da bei auf die bereits geleistete Vorarbeit zurück. So nannten 4 Die Ostschweiz, 8. Juli 1975. – St. Galler Tagblatt, 7. Juli 1975. sie sich konsequent «Südumfahrung Nein» und kämpften 5 StadtASt. Gallen, 616/431 XVII: Margrith Brunner an den Stadtrat, erneut mit kulturellen Mitteln. Mit einem Video etwa, 10. Juni 1975. das mit einem Budget von 3851 Franken hergestellt und 6 Wie Anm. 5, Bundesrat Hürlimann an den Zirkus, 20. Juni, 1979. Zum Dreilindenprojekt vgl. auch: Archiv für Frauen-, Geschlech- am 15. September 1986 im KinoK 59 erstmals vorgeführt ter- und Sozialgeschichte Ostschweiz, AFGO.106, Vorlass Margit wurde. Zuvor schon muss es künstlerische Manifestatio- Niedermaier. nen gegeben haben, wie aus einer Bemerkung von Erich

88 Vier Postkarten der Aktion Südumfahrung NEIN. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz, Archiv Soziale Bewegungen.

89 Flugblatt zum 20-jährigen Jubiläum des Circus Pic-o-Pello, 1995. Quelle: AFGO.106.

90 Ziltener zu schliessen ist. Man könne der wachsen- Kopfsteinpflaster, oder: den Mobilität im Klosterbezirk nicht «mit niveau- nachhaltige Veränderungen losen Cartoons und schlechtem Kabarett», son- dern nur mit einer wirksamen Massnahme begeg- Seit 2006 steht erneut ein Autobahn-Ausbau zur Diskus- nen, liess er sich am 12. Juni 1984 in den Lokal- sion, die so genannte Südspange, respektive eine Südum- zeitungen zitieren. Seine schnittigen Sätze fahrung light. Zudem ist eine dritte Röhre für den Rosen- wurden von den Befürwortern der Südumfah- bergtunnel in Planung. Dass die verkehrspolitische Aus- rung gern benutzt, auch als er sich als Bauchef einandersetzung sich dennoch ein Stück weit entkrampft im Stadtrat zunehmend skeptisch gegen einen hat, hängt zum einen mit den Kosten zusammen. Die er- Tunnel äusserte. forderlichen anderthalb Milliarden Franken aus der Bun- deskasse sind gegenwärtig illusorisch. Zum andern ist ein Rückblickend mag erstaunen, wie vehement Umdenken eingeleitet worden mit dem «Reglement für im Werbematerial der Tunnelbefürworter ge- eine nachhaltige Verkehrsentwicklung», das im März 2010 gen künstlerische Aktionen polemisiert wur- vom Volk gutgeheissen wurde. Es ist als «ein klares Be- de. Als fürchteten sie eine neuerliche Wucht, kenntnis zur verstärkten Förderung des öffentlichen Ver- wie Pic und Pello sie ausgelöst hatten. Die kehrs sowie des Fuss- und Veloverkehrs»7 zu werten. Dazu Ängste waren unbegründet, denn die Zeiten gehört die bauliche Aufwertung des Klosterviertels. Eine hatten sich geändert und mit ihnen die Art neue Kopfsteinpflasterung schliesst die früheren Autoko- der Auseinandersetzung: Politischer Kampf lonnen aus. war zu einem zähen Hickhack geworden. Und wer nach längerer Zeit wieder mal zum Pic-o-Pello- Plätzli kommt, wundert sich, wie gründlich reihum sämt- Beidseits vereinnahmte Kathedrale liche Liegenschaften saniert worden sind. Nach den Um- bauten hätten die Mieten sich verdreifacht, sie seien aber Mit der Eröffnung des Rosenbergtunnels immer noch vergleichsweise günstig, ist zu erfahren. Die am 1. Juli 1987 kam es im Klosterquartier Künstlergemeinschaft am Mühlensteg hat sich aufgelöst, zu einer leichten Verkehrsberuhigung. Hauptmieterin im Atelierhaus ist heute die freie Theater- Die Autokolonnen verlagerten sich in truppe «Parfin de siècle». andere Zonen, speziell die Leonhards- brücke und der Obere Graben wurden Pic wohnt immer noch ganz in der Nähe. jetzt zum Nadelöhr. Für und wider eine Südumfahrung hingegen liessen neue Verkehrszählungen keine ein- 7 http://www.stadt.sg.ch/home/mobilitaet-verkehr/verkehrspolitik.html, deutigen Schlüsse zu. Auch die ver- abgerufen am 22. Dezember 2015. suchsweise Sperrung des Klosterplatzes wurde, was ihre Wirkung betraf, von beiden Parteien zu den jeweils eigenen Gunsten interpretiert. Niemand hat- te etwas gegen einen autofreien Gallusplatz einzuwenden; gestritten wurde über die flankierenden Massnahmen.

Selbst als 1992 an der Kathedrale alarmierende Wirkun- gen der Autoabgase festgestellt wurden, gingen die Schlussfolgerungen diametral auseinander. Die bröckeln- den Fassaden zeigten, wie dringend der Tunnel sei, argu- mentierten die Anhänger der Südumfahrung, während auf der Gegnerseite darauf hingewiesen wurde, dass auch bei unterirdischer Strassenführung die Abgase via Entlüf- tungskamine wieder an die Oberfläche kämen. Über ei- nen Ausbau des öffentlichen Verkehrs und die Forcierung von Velowegen hingegen wurde kaum diskutiert. Am 26. September 1993 konnte über den Gegenvorschlag der be- reits seit zehn Jahren pendenten Initiative abgestimmt werden. Er wurde mit einem Neinstimmenanteil von 63 Prozent verworfen. Damit war die Südumfahrung für län- gere Zeit vom Tisch.

91 Das autonome Jugendzentrum an der Gartenstrasse

Wolfi Steiger

Im Spätsommer und Herbst 1980 nahmen immer mehr Hanspeter Spörri berichtet von einer unglaublichen Kas- Leute an den regelmässig in St. Gallen stattfindenden VVs kade von Sitzungen: «An der ersten wurde beschlossen, (Vollversammlungen) teil. So meldete das Deutschschwei- die Sache zu ignorieren. An der zweiten fand man, das zer Alternativmagazin «Tell» am 15. August: «Gegen 100 ‹Tagblatt› müsse die Sache mindestens ‹beobachten›. An Leute treffen sich seit 3 Wochen regelmässig, um ihre Situ- der dritten wurde ich zum Beobachter ernannt. An der ation zu diskutieren: Isolation, Kaputtsanierung unseres vierten fanden die Kollegen, ich sei – weil zu links – für Lebensraumes, allgegenwärtiger Konsumzwang. Für Auto- diese Aufgabe nicht geeignet. An der fünften entdeckten bahnen, Parkgaragen und sonstige profitträchtige Unter- sie, dass ich – weil links – die besten Kontakte habe. An nehmungen wird alles getan, während elementare Lebens- der sechsten beauftragten sie mich mit der Berichterstat- bedingungen bewusst zerstört werden. Wir wehren uns tung, weil es sich das ‹Tagblatt› als ‹führende Zeitung› gegen Angriffe auf unser Leben.» nicht leisten könne, solche Entwicklungen zu verschlafen. An der siebten schränkten sie den Auftrag ein, ich dürfe lediglich berichten, wenn es zu Ausschreitungen komme. Eine Chronologie An der achten redeten sie mir ins Gewissen, ich müsse ‹nüchtern und sachlich› die Ereignisse schildern, ohne Das Kulturmagazin «Saiten» befasste sich zwei Jahrzehn- Sympathien erkennen zu lassen. Die ‹führende Zeitung› te später, im Februar 2000, mit dem «nachhaltigen Re- dürfe nicht ‹Öl ins Feuer giessen›». volutiönli». Zum Anlass der Prozesse nach der Besetzung des ehemaligen Restaurants von 1999 stellte «Saiten» die Verkettung mit der Hechtbesetzung 1988 Der Beginn der Bewegung und dem Geist der 1980er-Bewegung her. Ausführlich wird beim Beitrag zur 1980er-Bewegung die damalige Ein Höhepunkt im Kampf gegen die Vernichtung von Stimmung im bürgerlichen Lager dargestellt. Unter der billigem Wohnraum durch Abriss und Luxussanierungen Überschrift «Ein ehemaliger Lokaljournalist erinnert war das Gassenfest vom 4. Oktober 1980 im Linsebühl. sich» erfährt die Öffentlichkeit von Hanspeter Spörri, Hunderte von Leuten aus dem Quartier und dem «links- was in den Tagen vor dem 18. Juli 1980 in der Tagblatt- alternativen Kuchen» trafen sich zum Fest und zogen um redaktion vorging. Für Aufregung hatte ein Flugblatt Mitternacht in einer unbewilligten Demonstration durch gesorgt, auf dem es hiess: «…an alle, die solidarisch sind die Innenstadt, um der Sorge um die drohende Zerschla- mit der Bewegung der Unzufriedenen, die es in Güllen gung von Wohn- und Nachbarschaftsnetzen Nachdruck ankotzt, macht aus dem Staat Gurkensalat». Illustriert zu verleihen. war der Aufruf für eine Versammlung im Stadtpark mit einer Gurkenraffel, auf der das Rutenbündel aus dem Im Dezember spitzte sich dann die Lage dramatisch zu. St. Galler Wappen in Scheibchen geschnitten wurde. Ein bereits reservierter Saal war einen Tag vor dem seit Die St. Galler Bewegungszeitung mit dem sinnigen Titel längerem auf den 20. Dezember vorbereiteten Fest plötz- «Schleppscheisse» ging einmal klärend auf das Missver- lich nicht mehr zu haben. Das Gerücht ging um, die Po- ständnis in Wortkonstruktionen wie «Güllner-Bewe- lizei habe den Saalbesitzer zum Rückzug genötigt. Beim gung» und «GüllerInnen» als Synonym für die autono- darauf stattfindenden friedlichen ugZ durch die Stadt men AktivistInnen ein: «In ihren schubladen heissen wir wurden 35 Leute mit Polizeihunden eingekesselt, in zwei ‹st. güller bewegung›, aber für uns sind sie die güller.» Einsatzwagen verfrachtet und zur Einvernahme auf den Das sarkastische «Güllen» nahm im Wortschatz der Polizeiposten gebracht. Bewegung Bezug einerseits zum Flüssigexkrementedün- ger in der Landwirtschaft und andererseits zum literari- Nach dieser so genannten Polarnacht lagen die Nerven schen Ort aus Friedrich Dürrenmatts «Besuch der alten ziemlich blank. Und als dann am 5. Januar 1981 das Res- Dame». taurant Posthalle, der Szenentreff der Bewegung, tatsäch-

92 lich unter Polizeischutz abgerissen wurde, war bei den Stadtbehörden und bis in die bürgerlichen Parteien hin- ein klar, dass etwas geschehen musste.

Der 13. März 1981

Basisdemokratische Vollversammlungen forderten als Er- satz für die Posthalle einen Ort für nichtkommerzielle Kultur, selbstverwaltet und ohne Hierarchie. Und da in Zürich gerade die grossen Strassenkämpfe um das «AJZ» tobten, nannte man das Kulturprojekt in St. Gallen auch so. Der Trägerverein «Autonomes Jugendzentrum» ist zur Vermittlung entstanden. Er vereinte illustre Namen aus der Politik. Im Vorstand fanden sich Eugen David (CVP), Ira Stamm von der FDP und andere. Dieser Verein mie- tete von der Stadt für 100 Franken im Monat die alte Schreinerei an der Gartenstrasse und gab sie an die Bewe- gung weiter.

Am 13. März 1981 begann die phantastische und doch brutal-reale Geschichte der autonomen Republik Gar- ten. Der Vertragsbeginn war auf dieses Datum festgelegt. Stadtschreiber Bergmann überbrachte persönlich um 17 Uhr die Schlüssel zur Abbruchliegenschaft an die Gar- tenstrasse 15, einer alten Schreinerei. Heute ragt an dieser Stelle ein Raiffeisenbüroturm in die Höhe. Am milden Frühlingsnachmittag auf der sonnenbeschienenen Ter- rasse hatte Bergmann seine liebe Mühe, in der Gruppe Autonomer die richtigen Adressaten zu finden. Eine lan- ge Reihe heute mit grösster Selbstverständlichkeit funk- tionierender Institutionen dürfte sich auf ein Nährwür- zelchen, das an diesem aussergewöhnlichen Tag saugt, Flugblatt für ein Fest im AJZ in St. Gallen, 1981. Quelle: Archiv berufen: Grabenhalle, Kinok, Engel, Unterkunft für Ob- für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (AFGO), dachlose, Suchthilfe, Gassenküche – die Liste ist sicher Archiv Soziale Bewegungen. nicht vollständig.

Es war Freitag, der 13., und Vollmond. An diesem unver- wegungsakteurinnen und -akteure schon damals im Ge- gesslichen, föhnigen Abend, der alles Volk auf die Strasse spür, dass beim Polizeiminister die Fäden zum Überwa- trieb, ging der Einzug der Bewegung in das gut geeignete chungsstaat zusammenliefen. Und wirklich erlebten die Haus unbeachtet einer grossen Öffentlichkeit vor sich. An etwa zwanzig Bewegten «den Landesvater in Äkschen, allen Ecken und Enden war etwas los in der Stadt. Die jeden Satz mit eindrucksvoll gefächerten Fingern nach- Eröffnungsparty wurde auf Samstag verschoben und nach formend wie der Klassenbeste im St. Galler Gymnasium einer ersten Vollversammlung im ehemaligen Maschinen- beim Rezitieren von Rilke, und zu lauter falschen Bewe- saal begaben sich die meisten in die Stadt, um die Neuig- gungen lauter falsche Töne, Rhetorik direkt aus dem keit bekannt zu machen. Im Restaurant Katharinenhof Lehrbuch mit dem ebenso rührenden wie genierlichen wurde der Sänger Bo Katzmann, der damals noch mit Ehrgeiz des sich begabt fühlenden Amateurs – ein Desas- einfacher Band durch die Alternativbeizen tingelte, von ter an Glaubwürdigkeit» (wie es treffend ein Kritiker in aufgeregten, aber höflichen Autonomen um das Mikro- der Zeitschrift «Das Magazin» einmal formulierte). Mit fon für eine Durchsage gebeten. Das Tollste jedoch, ein Hurrarufen, Pfiffen und Gejohle zeigten sich die jugend- richtiges Geburtstagsgeschenk für die Bewegung, war der lichen Dissidenten von der Estrade herunter, wohin sie Auftritt von Bundespräsident Kurt Furgler, der an diesem sich am Ordnungsdienst vorbei geschlichen hatten. Abend im Schützengarten ein Referat über Sicherheitspo- litik hielt. Zwar platzte der Fichenskandal erst ein Jahr- Das einzige Organ der Bewegung war die Vollversamm- zehnt später, aber irgendwie hatten das die sensiblen Be- lung, hier wurden alle Beschlüsse gefasst und bildeten sich

93 die vielen verschiedenen Arbeitsgruppen. So tat sich so- stadt-Rockern in selbsternannter Mission. Am Ende die- fort eine Nähgruppe zusammen, die den Fahnen mit der ses einmaligen Sommers 1981 wurde die alte Schreinerei Aufschrift «Autonome Republik Garten» büezte, der an der Gartenstrasse 15 nach einem Brandanschlag unter dann aus dem Dachfenster auf die Gartenstrasse hinaus Aufsicht der Feuerwehr «warm abgebrochen». Die Akti- gehängt wurde. Es gab Gruppen, die verschiedene Räume vistinnen und Aktivisten gaben jedoch nicht auf. Mit einrichteten, andere organisierten Veranstaltungen und einer mobilen Aktionshalle gingen sie im darauffolgen- Feste. Hedonismus, Arbeitsgruppen und Hausbesetzun- den Herbst auf die Suche nach geeigneten Räumen in der gen bestimmten für die nächsten Monate die Inhalte. Stadt. Die Veranstaltungsreihe mündete im November in den ersten Auftritt einer Rockband, der «Schroeder Zu schlechter Letzt bekam das «AJZ» Probleme mit ge- Roadshow», in der Turnhalle des ehemaligen Graben- walttätigen Eindringlingen und Gewaltexzessen von Vor- schulhauses.

Titelblatt der Grabenzeitung, 1991. Quelle: AFGO, AFGO-Zeitschriften, Grabenzeitung.

94 Gezähmte Natur und wilde Kultur: Das Ökozentrum des WWF in Stein (AR)

Iris Blum

Das Kurs- und Ferienzentrum Thelema mit dem Gast- kleinen Ställen sowie die Erreichbarkeit mit öffentlichen haus Rose, idyllisch gelegen im kleinen Dorf Stein in Ap- Verkehrsmitteln und dem Gasthaus mit Hotelbetrieb die penzell Ausserrhoden, musste seine Türen 1979 schliessen. ideale Stätte für ein Weiterbildungszentrum zu sein. Zu- Skandalisierende Presseberichte über angebliche sexuelle künftig sollten hier Kurse, Exkursionen, Tagungen und Orgien und Satansmessen, ein Jahre dauernder Gerichts- Jugendlager durchgeführt werden «zur Vertiefung des na- prozess, fortwährende Personalprobleme im Gastbetrieb turwissenschaftlichen, speziell des ökologischen Wissens und finanzielle ürdenH führten dazu, dass sowohl Einzel- und des Umweltbewusstseins [...]».5 So wurde am 13. Juni gäste wie Gruppen immer mehr ausblieben. Annemarie 1981 in Stein nach den Erziehungs-Zentren in Zofingen, Aeschbach (1926–2008), die Mäzenin der «Abtei Thele- Yverdon und im Aletschwald ein weiteres Ausbildungs- ma», wurde gezwungen, neue Mieter zu suchen. Sie pries und Informationszentrum des WWF eingeweiht und mit die verlassene Liegenschaft mit folgenden Worten an: einer legendären Oekorevue eröffnet.

«Haus Thelema: Wohnhaus, Offizielle Klima-Wet- «Wir wünschen uns, dass unser Oekozentrum bald terstation der Schweiz[erischen] Meteorologischen zu einer Drehscheibe des kulturellen Lebens, des Anstalt. Kleine Therapie, Sauna (Schlenzbäder etc.), Umwelt- und Naturschutzes wird, zu einem Begeg- Oekumenische Kapelle, Alchemistisches Labor. nungszentrum für alle, die der fortschreitenden Zer- Neubau-Dépendence: Erdgeschoss 8 Einerzimmer, störung unseres Lebensraumes nicht tatenlos zuse- Obergeschoss Museum-Konzertraum, Unterge- hen wollen.»6 schoss Hausdruckerei, mech[anisch]-biologische Kläranlage.»1

Erste Gespräche mit dem Interesse zeigenden Leiter S. Ritter von SSR-Reisen (Schweizerischer Studentenreise- dienst) scheiterten zwar, aber dieser brachte den Namen Roland Wiederkehr ins Spiel, einer der Direktoren des WWF Schweiz. Der World Wildlife Fund war rund zwan- zig Jahre früher, am 11. September 1961, im Auftrag von Jägern, Ornithologen, Adligen und Geschäftsleuten als Stiftung unter Schweizerischem Recht durch einen Juris- ten in Zürich registriert worden.2 Dieser Rechtsanwalt, Hans Hüssy, hatte den Journalisten Wiederkehr 1968 ins WWF-Boot geholt. Der junge, durch die Studentenpro- Eröffnung des neuen Ökozentrums im ehemaligen Gasthof Rose teste politisierte Wiederkehr forderte den grössten Um- in Stein, 13./14. Juni 1981. Quelle: Kantonsbibliothek Appenzell weltverband der Schweiz hartnäckig zu konkretem Han- Ausserrhoden (KBAR): CMO-26-C-02-0002, Ökozentrum Stein. deln auf. Wiederkehr und sein Team machten die Schwei- zer Sektion in den Augen vieler Mitglieder des internatio- nalen Stiftungsrates zu einer «radikalen Organisation» mit «Aktivistenrolle». Stein des Anstosses war die Ausweitung 1 KBAR, CMO-26-C-1: Vorbereitung zur Eröffnung. der Tätigkeiten des WWF Schweiz auf den «weiten Be- 2 Schwarzenbach, Alexis: WWF. Die Biografie, München 2011, S. 11. reich der Umwelt»,3 die sich beispielsweise im Widerstand 3 Schwarzenbach: WWF (wie Anm. 2), S. 137. 4 KBAR, CMO-26-C-01: Standortanforderungen des Ostschweizer gegen die Atomenergie manifestierte. Wiederkehr schien Ökozentrums. Stein im Appenzellerland, «der Standort im Voralpenge- 5 KBAR, CMO-26-C-01: Aufgaben des Ostschweizer Ökozentrums. 4 biet», mit dem Biotop und den ungedüngten Magerwie- 6 KBAR, CMO-26-C-22: Tätigkeitsbericht Ökozentrum «Rose», sen, einem Bienenhaus, einer Getreidemühle und zwei Stein/AR 1988/1989.

95 Parallel zum Aufstieg des WWF zu einer der weltweit be- Who?» der Ostschweiz, darunter auch Namen von Künst- deutendsten Umweltorganisationen gediehen in den lerinnen und Künstlern, die erst später national und in- 1980er-Jahren die kulturellen Bemühungen des Ost- ternational berühmt wurden: die «Appenzeller Space schweizer Ökozentrums in Stein mit seinem vielfältigen Schöttl» etwa, Paul Giger, Peter Liechti (1951–2014), Peter Kursangebot. Die kluge Verbindung von ökologischen Roth, Dodo Deer, Helen Meier. Aber auch die Raumins- Anliegen und dem Angebot an kulturellen Veranstaltun- tallationen von Nesa Gschwend machten von sich reden. gen war eines der Erfolgsgeheimnisse des Zentrums. Mit An der zweiten Sommerunivers(al)ität, unter dem Motto der Gründung des Kulturvereins rosa nostra am 25. Feb- «Steinzeichen» vom 1. bis zum 10. August 1986, nahmen ruar 1985 und der Herausgabe des «RoseBlatt» seit 1986 mehr als zweitausend Besucherinnen und Besucher teil. – zusätzlich zum «Ostschweizer Umweltbulletin – wurde Der unerwartete Grosserfolg, insbesondere die Auffüh- das Angebot weiter ausgebaut: «Theaterstücke, Konzerte, rung von Kurt Schwitters «Der Zusammenstoss» (1928) Cabarets, Filme, Ausstellungen» – «für ein noch grösseres mit zehn ausverkauften Vorstellungen, fünf ebenfalls aus- Publikum»,7 «Zeitgeist und Schöngeist, Liebliches und verkauften Verlängerungen und mit über fünfzig Mitwir- Stacheliges, Kritisches und Unterhaltendes»,8 «Streichel- kenden wurde weit über Appenzell Ausserrhoden hinaus musik und Streitquartett».9 wahrgenommen und schweizweit in der Medienland- schaft besprochen. Das Musiktheater des Dadaisten Schwitters, das die Reaktion der Menschen auf den bevor- stehenden Zusammenstoss mit einem grünen Planeten zum Thema hat, war im ahrJ der Atomreaktorkatastrophe in Tschernobyl und des Chemieunfalls in Schweizerhalle «ein Höhenflug, wie er nicht alle Jahre wiederholbar ist». Dies hielten die Verantwortlichen der Sommerunivers(al) ität im Jahr 1989 in ihrem Jahresbericht fest.10

Im Herbst 1981 fand bereits der erste Kurs – «Einführung in die Ökologie» – unter der Leitung des Biologen Claude Martin, des Geschäftsführers des WWF Schweiz, statt. Weitere Kurse, etwa über biologischen Gartenbau, das Anlegen und Pflegen von Hecken oder Wildpflanzen Zelt- und Kuppelaufbau für die Aufführung des Stücks folgten. Im Jahrzehnt von 1980 bis 1990, der Blütezeit des «Zusammenstoss», Sommerunivers(al)ität, 1.–10. August 1986. WWF in Stein, «wandelte sich der WWF von einer Spen- Quelle: KBAR: CMO-26-39-0002, Ökozentrum Stein. denorganisation für den Schutz gefährdeter Arten zu ei- ner Umweltschutzorganisation, die sich die Erhaltung der Biodiversität, die nachhaltige Nutzung natürlicher Res- Das engagierte Team schaffte es immer wieder, national sourcen und die Eindämmung der Umweltverschmut- und international bekannte Namen wie etwa den Kaba- zung zum Ziel setzte».11 Der WWF Schweiz hatte im Ver- rettisten Emil Steinberger, die Publizistin Martha Em- gleich zu anderen nationalen Sektionen, den «National menegger, die Schriftstellerin und Künstlerin Erica Appeals», schon früh Umweltschutzpolitik betrieben und Pedretti oder die Musikerinnen Irène Schweizer und Co sich auch unter dem Einfluss von Wiederkehr 1973 der Streiff für Auftritte in Stein zu gewinnen. Die Programme Anti-Atom-Bewegung angeschlossen. Die «Wende der der Sommerunivers(al)itäten lesen sich wie ein «Who‘s 1970er-Jahre» etwa mit dem europäischen Jahr der Natur (1970), der Schaffung des Bundesamtes für Umwelt (1971), der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome (1972) oder der Erdölkrise (1973) hatten die Zweifel 7 KBAR, CMO-26-C-22: Unterlagen zur Hauptversammlung am Fortschrittsparadigma verstärkt, das ökologische Be- 28. Mai 1989. 8 KBAR, CMO-26-C-22: Tätigkeitsbericht Ökozentrum wusstsein breiter Bevölkerungskreise geschärft und eine «Rose», Stein/AR 1988/1989. Nachfrage nach Aufklärung und Information geschaf- 12 9 KBAR, CMO-26-C-26: Kulturverein rosa nostra. fen. Vor diesem gesellschaftspolitischen Hintergrund fiel 10 KBAR, CMO-26-C-22: Unterlagen zur Hauptversammlung das Kursangebot in Stein auf fruchtbaren Boden. 28. Mai 1989. 11 http://www.hls-dhs-dss.ch, Stichwort WWF, Abfrage vom Bald nach der Eröffnung des Ökozentrums Stein wurde 23. Dezember 2013. ein Förderverein initiiert, der das Zentrum in der Bevöl- 12 Walter, François: Bedrohliche und bedrohte Natur. Umwelt- geschichte der Schweiz seit 1800, Zürich 1996, S. 184. kerung abstützen und einen finanziellen Zustupf leisten 13 13 KBAR, CMO-26-C-22: Zukunft Ökozentrum «Rose», Stein/AR, sollte. Erster Präsident des Vereins wurde der Ingenieur 28. Mai 1989. Hans-Peter Grünenfelder, genannt Hape, der bereits bei

96 Das Ensemble für das Musik- theater «Zusammenstoss» von Kurt Schwitters, 1986. Quelle: KBAR: CMO-26-C-26-0001, Ökozentrum Stein.

der Gründung des WWF St. Gallen/Appenzell 1976 dabei trums hin und sinnierte, dass hier einmal alte Land- gewesen war.14 Grünenfelder wiederum ist die Schlüsselfi- rassen weiden könnten. Er war begeistert und ver- gur für die 1982 ins Leben gerufene Stiftung Pro Specie pflichtete mich, auch alte Obstsorten ins ‹Sorti- Rara (PSR). Diese wurde finanziell und ideell – wie schon ment› aufzunehmen. Ich schlug ein, und er überwies die WWF-Sektion St. Gallen/Appenzell und das Ökozen- die ersten 10 000 Franken.»15 trum Stein – vom Herisauer Industriellen Berthold Suh- ner (1910–1988) unterstützt. Hape Grünenfelder dazu:

«Als ich das von ihm [Berthold Suhner] mitfinan- 14 http://www.wwf-sga.ch/, Abfrage vom 29. November 2013. zierte Öko-Zentrum in Stein AR zeigte, fragte er 15 Stiftung Pro Specie Rara (Hg.): Tschüpperli, Stiefelgeiss und andere mich, was es denn jetzt noch zu tun gäbe. Ich wies Raritäten. 20 Jahre Einsatz für die Erhaltung der Rassenvielfalt in auf den landwirtschaftlichen Umschwung des Zen- der Schweiz, St. Gallen 2002, S. 4.

97 Zentrale Figur im Ökozentrum Stein war viele Jahre lang über die Aktivitäten des WWF auf dem Gelände war vor der erste Leiter des Zentrums, der Lehrer und Erwachse- allem Hermann Metzger (1919–1990), der Gründer des nenbildner Christian Bleiker (1956–1996), von 1983 bis Vereins «Psychosophische Gesellschaft» und der «Abtei 1986 auch Co-Präsident des WWF St. Gallen/Appenzell.16 Thelema». So notierte Annemarie Aeschbach 1982 in ihr Nachdem sich die strikte Trennung zwischen Restaurati- Tagebuch: onsbetrieb und Ökozentrum als unmöglich erwiesen hat- te, wurde 1983 als Trägerschaft des Gastbetriebes die Ge- «Fahre nach Stein. Mir ist weh. nossenschaft «Rose» gegründet. Bleiker machte im selben P. [Peter Mano alias Hermann Metzger] scheint fast Jahr das Wirtepatent und kochte bis zu seinem Weggang am Ende zu sein – Enttäuschung, Verbitterung, 1988 selber. Ein Jahr später endete jedoch auch die gesam- Weh – weil alles, was er erschaffen und während Jah- te WWF-Zeit in Stein: Annemarie Aeschbach und der ren gehegt und gepflegt hat, nun der Zerstörung WWF konnten sich über die Abtretung des Geländes im anheim fällt, – aus Unachtsamkeit, Dummheit, Baurecht, über die durch die polyvalente Nutzung ver- Gleichgültigkeit, ‹Besser-wissen-wollen›, etc. der ursachte Platznot und über den Umbau und die Erneue- Leute des WWF, die ja gerade all dies, was wir seit rung der «Rose» nach ökologischen und baubiologischen Jahren getan – Umweltschutz, Naturschutz, Hei- Gesichtspunkten nicht einigen.17 Die «Rose» schloss auf matschutz, Energiesparen etc. – auf ihr Banner ge- Ende 1989 ihre Tore wieder und die WWF- und Pro Spe- schrieben haben, es aber nicht tun.»18 zie Rara-Vertreter und -Vertreterinnen zogen weg. Gleichwohl kam es zumindest mit Annemarie Aeschbach Viele der von der «Abtei Thelema» und vom WWF ver- nach dem Ausscheiden des WWF nicht zu einem Bruch. tretenen Ideale hatten in den acht erfolgreichen Jahren Noch Jahre nach dem Wegzug blieben Annemarie Aesch- übereingestimmt, aber der Alltag zwischen den beiden bach und die Leiter der Zentren und verschiedene Mitar- Gemeinschaften in Stein war nicht einfach. Annemarie beitende, die ehemaligen Wirtinnen und die Kulturschaf- Aeschbach fotografierte immer wieder den Umschwung fenden, mit Weihnachts- und Geburtstagskarten in herz- des Geländes und bat die Verantwortlichen, mehr «Ord- licher Verbundenheit.19 nung» einzuhalten. Die jungen Ökofreaks versprachen jeweils, sich im folgenden Jahr zu bessern. Unglücklich (Gekürzte Fassung eines Textes, der in vollständiger Län- ge im Herbst 2016 erscheinen wird in: Blum, Iris: Mächtig geheim. Einblicke in die Psychosophische Gesellschaft 1945–2009, Limmat Verlag Zürich 2016.) 16 WWF-Sektion St. Gallen/Appenzell (Hg.): 20 Jahre für Umwelt und Natur, St. Gallen 1996, S. 18. 17 KBAR, CMO-26-C-27: Umnutzungskonzept 1988. Quellen 18 KBAR, CMO-31-C-1b: Tagebuch Eintrag 28. April 1982. Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden KBAR: CMO-26 19 KBAR, CMO-26-C-09 bis CMO-26-C-18: Korrespondenzen. Ökozentrum Stein, CMO-31 Annemarie Aeschbach.

98 «Posthalle», «Bündnerhof», «Engel» und ­dazwischen ein bisschen «Volkshaus»

Andreas Kneubühler

Es war der erste Versuch, in St. Gallen eine selbstverwal- Zweiter Versuch: «Bündnerhof» tete Beiz zu führen – und das Ende kam schnell: An ei- nem Montag im Januar 1981 mussten um 17 Uhr die Der nächste Anlauf für eine Genossenschaftsbeiz, wie es Schlüssel für die Posthalle an der Langgasse übergeben sie in Winterthur mit dem «Widder» oder in Stäfa mit werden. Sofort danach begannen unter Polizeischutz die dem «Rössli» gab, startete am 8. Juli 1982 – mitten im Abbrucharbeiten. Die Behörden befürchteten eine Be- St. Galler Stadtzentrum. Offiziell war es allerdings kein setzung der Liegenschaft durch die «St. Güller Bewe- Kollektiv, das den «Bündnerhof» an der Bleichestrasse 7 gung», die bereits in Flugblättern angekündigt worden übernahm: Hanspeter Hohl hatte sich der Vermieterin war. Zuvor hatte zwei Jahre lang ein vierköpfiges Kollek- mit seinem Patent als neuer Wirt vorgestellt. Die Trickse- tiv die ehemalige Arbeiter- und Quartierbeiz betrieben. rei geschah nicht ohne Grund: Als die Frau erfuhr, dass in Es gab keinen Konsumzwang, wechselnde Köche boten ihrem Lokal Linke selbstverwaltet wirteten, wollte sie den günstige Tagesgerichte an. Die Posthalle war jeweils dreijährigen Vertrag nicht mehr verlängern. «Aus politi- abends geöffnet. Zur Einrichtung gehörte – unvermeid- schen und ideologischen Gründen», wie die «Ostschwei- lich für eine Kollektiv-Beiz – eine Info-Wand, gespickt zer Arbeiterzeitung» (OAZ) am 11. März 19854 festhielt. mit Aufrufen und Ankündigungen. Es wurden auch Vorträge und Konzerte veranstaltet. So trat etwa am 16. Am 22. Juni 1985 musste der «Bündnerhof», trotz seines August 1980 die Zürcher Punkband «Mother’s Ruin»1 Rufs, ein «skandalloser Spunten» zu sein5, nach drei Jah- auf. ren bereits wieder aufgegeben werden. Die Beiz hatte sich aber in der kurzen Zeit bereits als wichtige Alternative zur In einem St. Gallen, in dem sich die Spekulation fast traditionellen Gastroszene etablieren können. Nicht zu- ungehindert austobte und es nach der Schliessung di- letzt wurden dort auch Arbeitsplätze geschaffen: Im Blei- verser Jugendtreffpunkte zunehmend an Freiräumen cheliquartier fand am Schluss ein Kollektiv mit zehn Leu- fehlte, war die Posthalle schnell zu einem Zufluchtsort ten zumindest teilweise ein Auskommen. Auch wenn da- für linke Bewegte geworden. «Ein bald zubetoniertes mals nur Monatslöhne zwischen 800 und 1000 Franken Güllen wird immer mehr eine paranoide Olmabrat- ausbezahlt werden konnten. wurst», hiess es in einem Flugblatt2 aus dem Umfeld der Posthalle. Der Beginn der Abbrucharbeiten konnte da- Im «Bündnerhof» verkehrten bereits nach kurzer Zeit mals nicht verhindert werden. Die Wut darüber entlud Stammgäste aus allen Schichten. Es gab vegetarische Me- sich in der Nacht darauf doch noch: Es gab Sprayereien, nüs und es herrschte kein Konsumzwang. Das Lokal war und die Glastüre des Baudepartements wurde einge- aber mehr als nur eine Alternative zu den «modernen schlagen. Schnellfress-Spunten».6 Es wurde zu einem sozialen Treff- punkt. So startete dort am 10. Januar 1984 die so genann- Allerdings war von Anfang an klar gewesen, dass an der te «Frauenbeiz», zu Beginn noch unter dem Namen Langgasse nur eine Zwischennutzung möglich sein wür- de. Das Kollektiv hatte 1978 eine Liegenschaft bezogen, die bereits zum Abbruch vorgesehen war. Die Langgasse- 1 Homepage: www.swisspunk.ch. Kreuzung sollte für den Splügenanschluss zur Stadtauto- 2 Flugblatt, Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1029. bahn verbreitert werden. Neben der Posthalle fielen 3 Artikel im St. Galler Tagblatt vom 10. Januar 1981, Archiv Presse- damals an gleicher Stelle noch andere Häuser dem um- büro St. Gallen, Dossier Nr. 1029. strittenen Strassenbauprojekt zum Opfer. «Splügen ha- 4 Artikel in der Ostschweizer Arbeiterzeitung OAZ vom 11. März 1985, Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1123. ben kurze Beine» oder «Billige Wohnräume gegen ver- 5 Artikel in der Ostschweizer Arbeiterzeitung OAZ vom 11. März 3 dammte Autobahnen» stand denn auch auf Transparen- 1985, Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1123. ten, die kurz vor dem Abbruch an der Posthalle zu sehen 6 Artikel im St. Galler Tagblatt vom 10. Juli 1982, Archiv Pressebüro waren. St. Gallen, Dossier Nr. 1123.

99 Flugblatt für eine Disco im Restaurant Bündnerhof St.Gallen. Veranstaltung zum Thema Zivilschutz, 1983, im Restaurant Das St. Galler Alternativ-Restaurant bestand 1982–1985. Bündnerhof. Quelle: AFGO.040, Flugblätter. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (AFGO), AFGO.040, Flugblätter.

«Katz». Ab dann war das Restaurant jeweils am Dienstag Kampf: Dem Teil des Kollektivs, der weitermachen wollte, ab 18 Uhr für Männer gesperrt. Die Initiantinnen gaben wurde von der Stadt Unterstützung bei der Suche nach ei- damals an, mit dem Angebot Frauen ansprechen zu wol- nem neuen Lokal zugesichert. Schliesslich bot sich dafür len, die nicht bereits in Frauengruppen organisiert seien, das Restaurant Engel an der Engelgasse 22 an, direkt neben «sondern im Alltag wenig Kontaktmöglichkeiten haben dem so genannten «Bermuda-Dreieck». Praktischerweise und mit ihren Problemen oft alleine sind».7 gehörte die Liegenschaft der Stadt. Dies vereinfachte zu- mindest den Start – die Probleme folgten dann später.

Der Durchbruch: «Schwarzer Engel» In einem Artikel in der «Ostschweizer Arbeiterzeitung» (OAZ) stellte Hanspeter Hohl am 2. Dezember 1985 – Einer der grossen Verdienste des «Bündnerhofs» war es, kurz vor der Eröffnung des renovierten «Schwarzen En- den Stadtbehörden zu zeigen, dass ein solches Angebot gels» – fest, dass in St. Gallen mit dem Ende des «Bünd- viele Vorteile bot – nicht zuletzt wegen der sozialen Funk- nerhofs» eine spürbare Lücke entstanden war. Die Szene tion der Beiz. Für eine Fortsetzung brauchte es deshalb sei am Auseinanderfallen, stellte er fest. Und: «Ich glaube, zwar einiges an Überzeugungsarbeit – aber keinen grossen wir haben eine richtige Kommunikationsaufgabe; es ist an der Zeit, dass wieder etwas aufgeht, wo die Leute aus der Szene sich zwanglos treffen können.»8

7 Artikel des Pressebüros St. Gallen vom 6. Januar 1984, Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1123. Im Januar 1986 konnte diese Lücke geschlossen werden. 8 Artikel in der Ostschweizer Arbeiterzeitung OAZ vom 2. Dezem- Der nach kurzer Umbauzeit eröffnete «Schwarze Engel» ber 1985, Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1123. wurde zur ersten Genossenschafts-Beiz in St. Gallen, die

100 sich halten konnte – und die immer noch besteht. Es ist Damit dieses Kunststück gelang, brauchte es allerdings eine nicht zu unterschätzende Leistung, dass es dem nebst dem Engagement der jeweiligen Mitglieder des Kol- «Engel»-Kollektiv in all den Jahren immer wieder gelang, lektivs auch einige weitsichtige Entscheide: Der wichtigs- sich zu erneuern. Unter den Gästen fanden mehrere Ge- te war wohl der Kauf der Liegenschaft durch die Genos- nerationenwechsel statt, doch der Betrieb lief weiter – an- senschaft «Wohnen und Arbeiten im Engel» am 2. August scheinend ohne Bruch. 1994. Damit war der «Engel» der Spekulation entzogen und der Fortbestand als selbstverwaltete Beiz definitiv ge- sichert. Dies gelang keinen Augenblick zu früh: Die Stadt hatte das Gebäude bereits auf die Verkaufsliste für städti- sche Liegenschaften genommen.

Zuvor hatte es um das Jahr 1990 ernsthafte finanzielle Probleme gegeben. Das «Engel»-Kollektiv hätte jeweils neben der normalen Miete von monatlich 1915 Franken auch noch eine Umsatzmiete zahlen sollen. So stand es jedenfalls im Vertrag. Doch diesen Teil der Miete – noch- mals rund 600 Franken pro Monat – war das Kollektiv der Stadt stillschweigend schuldig geblieben. Drei Jahre lang blieb dies folgenlos, dann wollte die Liegenschafts- verwaltung der Stadt das Geld plötzlich doch noch ein- treiben. Es drohte eine Betreibung.

Nachdem das Kollektiv in einem Flugblatt mit dem Titel «Wieso es den Engel bald nicht mehr geben könnte» Alarm geschlagen hatte, folgte eine Protestkundgebung. Aber auch die Gäste wehrten sich. Sie vermuteten den Versuch «einer politische Säuberung» und befürchteten vor allem auch «Begehrlichkeiten von Spekulanten». In einem offenen Brief an die Stadt mit 200 Unterschriften wurde verlangt, dass der «Engel» künftig nur noch zum symbolischen Preis von einem Franken vermietet werden solle. Weiter hiess es an die Adresse von allfälligen Inter- essenten: «Wir Gäste und Gästinnen des Restaurant En- gel wissen nicht, wo Sie Ihre Cüpli trinken, wo Sie Ihre Restaurant «Schwarzer Engel» in St. Gallen ca. 1997. Pizzen essen, Ihre Wan-Tan-Soup schlürfen oder Ihre Quelle: Kulturmagazin Saiten, Februar 1997. Möven picken, aber wir vermuten, dass Sie dies gern dort tun würden, wo derzeit der Engel noch steht.»9

Letztlich liessen sich die Probleme lösen: Der «Engel» zahl- te einen Teil der Schulden, die Stadt räumte Versäumnisse ein. Beispielsweise hatte es die Liegenschaftenverwaltung unterlassen, eine Wohnung in der gleichen Liegenschaft, in der sich der «Engel» befand, trotz grassierender Woh- nungsnot zur Miete auszuschreiben – und damit die eige- nen Einnahmen geschmälert.

Mit dem Kauf der Liegenschaft im Sommer 1994 durch die Genossenschaft und dem folgenden Umbau erhielt der «Schwarze Engel» seine heutige Gestalt. Zeitweise be- wies das Kollektiv neben dem Beizenbetrieb viel Engage- ment: Etwa mit der Organisation des Flugmeetings «Schräge Vögel», das von 1995 an sechsmal auf Drei Wei-

Restaurant «Schwarzer Engel» in St. Gallen ca. 1997. Quelle: Kulturmagazin Saiten, Februar 1997. 9 Flugblatt, Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1123.

101 ern beim Mannenweiher stattfand. Ab 2004 gab es dann Space Schöttl» bereits wieder schliessen musste, war ein das Duell der Seifenkisten, das «Heldenrennen» in der Streit mit der Verpächterin, der «Genossenschaft Lämm- Mülenenschlucht. lisbrunn», und deren Präsidenten, dem Gewerkschafts- sekretär Toni Falk. Bereits wenige Monate nach dem Start Im Januar 2016 war es 30 Jahre her, seit sieben Mitglieder hatte Falk dem Volkshaus-Kollektiv wegen unterschiedli- des «Bündnerhof»-Kollektivs im «Schwarzen Engel» zu cher Ansichten über die Nutzung von Sitzungszimmern wirten begannen. Seither hat sich zwar der Stellenwert des mitgeteilt, dass der Vertrag nach 1994 nicht mehr verlän- Lokals verändert. Nach wie vor werden dort aber Initiati- gert werde. ven für neue Kulturorte ausgeheckt oder Pläne für den Widerstand – etwa gegen das Polizeireglement – ge- Daran änderten auch diverse Solidaritätsaktionen nichts. schmiedet. Nur gibt es inzwischen auch noch andere Der Versuch von rund 80 Unterstützerinnen und Un- Treffpunkte und andere Szenen, die die Stadt bewegen. terstützern des «Volkshauses», in die «Genossenschaft Eines der vielen Zeichen der sich verändernden Bedürf- Lämmlisbrunn» einzutreten, um so das Verdikt abzuwen- nisse: Im Jahr 2000 wurde die vom «Bünderhof» über- den, scheiterte. Ihre Anträge auf eine Aufnahme wurden nommene «Frauenbeiz» nach 16 Jahren eingestellt. durchwegs abgelehnt. An seinem Entscheid hielt Falk auch dann noch fest, als Mitte Mai 1993 ein Vermittlungs- versuch mit Vertretern der nationalen Gewerkschaftsspit- Zwischendurch: Das «Volkshaus» zen stattfand: SGB-Präsident Walter Renschler, die SMUV-Präsidentin Christiane Brunner und der GBI- Einige Jahre lang gab es in St. Gallen parallel zum «Schwar- Zentralpräsident Vasco Pedrina waren vergebens nach zen Engel» einen weiteren Treffpunkt für die links-alter- St. Gallen gereist. «Christiane, Vasco und Walter rettet native Bewegung: Das «Volkshaus» an der Lämmlisbrun- das Volkshaus», stand auf einem Transparent, das eine nenstrasse. Die zuvor bereits im «Engel» engagierte Bar- Gruppe von Gästen damals vor dem Schlichtungsversuch bara Ochnser gehörte zu einem Kollektiv, das von 1990 an präsentierte.10 das Lokal für vier Jahre pachten konnte. Das Kollektiv um Barbara Ochsner zog danach weiter an Der Grund, weshalb das Volkshaus am 19. Februar 1994 die Hintere Poststrasse 16. Nach der Eröffnung bis zum nach einer Schluss-Metzgete «Jetzt schlachten wir die Mai 2005 führte dort ein Kollektiv ein Lokal, das aber Sau» und einem Konzert der Formation «Appenzeller nicht mehr die Ausstrahlung des «Volkshauses» erreichte. Es schloss im Mai 2005, unter anderem, weil sich nie- mand mehr fand, der zum Genossenschaftslohn von 3500 10 Originalfoto, Archiv Pressebüro St. Gallen, Dossier Nr. 1030. Franken arbeiten konnte oder wollte.

102 Die Anti-Spekulations-Bewegung der frühen 1980er-Jahre

Ralph Hug

Anders als andere Städte machte St. Gallen in den 1970er- ren die Weichen bereits auf Richtung Abbruch gestellt. Jahren nur eine moderate Entwicklung durch. Der städ- Der Gemeinderat winkte diesen Plan im September 1980 tebauliche Nachholbedarf, verbunden mit einer liberalen gegen den Widerstand der SP durch, die auf die negativen Bodenordnung, führte in den frühen 1980er-Jahren zu sozialen Folgen hinwies. Laut dem besagten Graubuch ge- einer Spekulationswelle und zu einer Verknappung des hörten die Liegenschaften unter anderem dem St. Galler Angebots vor allem im Bereich von günstigen Wohnun- Architekten Walter Steinemann, der später als Politiker gen. Immobilienhändler fanden in der noch zahlreich der Autopartei bekannt wurde.3 Der Vorwurf an die Besit- vorhandenen Altbausubstanz ein lukratives Betätigungs- zer lautete, sie hätten die Liegenschaften gezielt verlottern feld für den schnellen Gewinn. Das von der Sozialdemo- lassen. Das Neubauprojekt «Konkordiahof» mit deutlich kratischen Partei der Stadt St. Gallen herausgegebene höheren Mieten realisierte schliesslich die Basler Patria- Graubuch «Wohnen und Spekulation» machte 1983 diese Versicherung im Jahr 1983. Machenschaften erstmals umfassend publik. Die 38seitige Broschüre listet zahlreiche einschlägige Immobilienge- Gab es im Fall Linsebühl Protestversammlungen vor Ort, schäfte auf und führte so das Ausmass der Spekulation vor so kam es im Fall «Bleicheli» im Frühjahr 1981 zu Haus- Augen, die sich in der Stadt ausgebreitet hatte.1 besetzungen. Anlass war ein Aufwertungsprojekt des Tex- tilindustriellen Christian Fischbacher, dem ein Deal mit Allerdings war die Wohnungsnot in St. Gallen schon vor- dem Textilkonzern C&A zugrunde lag. Dem vorgesehe- her aktuell. Die «Güller Bewegung» – die St. Galler Vari- nen Geschäftskomplex sollten sechs Altliegenschaften an ante der Jugendbewegung – protestierte seit 1980 lautstark der Vadian-/Frongartenstrasse weichen – ein weiterer gegen den Abriss von Altliegenschaften. Aus diesem Um- Schritt zur Umwandlung der zentral gelegenen Vadian- feld entstand der «Verein zur Erhaltung von billigem strasse in eine City-Shoppingmeile. Dass dabei kaum Wohnraum», der sich den Protest gegen den Verlust von neue Wohnungen entstanden, provozierte den Wider- günstigen Unterkünften auf die Fahne schrieb.2 Die Akti- stand von Betroffenen erst recht. Die Hausbesetzer traten vistinnen und Aktivisten rekrutierten sich aus der autono- im April 1981, wenige Tage nach der gemeinderätlichen men Bewegung, der linken Szene sowie aus kritisch einge- Genehmigung, unter dem Namen «Aktion läbigs Bleiche- stellten Sozialtätigen. Ein erster Konflikt entzündete sich li» auf und machten ihrer Wut auf Transparenten Luft 1980 im Linsebühl-Quartier. Das ehemalige Vergnügungs- («Jeder Stein eines abgerissenen Hauses wird ab sofort zu- viertel der Stadt bot seit je einkommensschwächeren Tei- rückgeschmissen!»).4 Der Verein zur Erhaltung von billi- len der Bevölkerung Platz zum Leben. Ein Totalsanie- gem Wohnraum forderte eine sanfte Sanierung der Lie- rungsprojekt von rund 50 Altwohnungen im Geviert Lin- genschaften und warf dem Stadtrat vor, er leiste der Ent- sebühl-/Konkordia-/Schwalben-/Singenbergstrasse drohte völkerung der Innenstadt Vorschub.5 Die Besetzung hatte das soziale Gleichgewicht aus den Angeln zu heben. Die ein politisches Nachspiel, indem Sympathisanten eine Mietenden erfuhren von den Abrissabsichten durch die Solidaritätserklärung mit den Besetzern veröffentlichten. gestellten Visiere. Mit einem neuen Gestaltungsplan wa- Darunter befanden sich auch Lehrer und Personen im Staatsdienst. Der freisinnige Erziehungschef Ernst Rüesch leitete gegen sie ein Disziplinarverfahren ein, das mit ei- nem schriftlichen Verweis endete. 1 Wohnen und Spekulation, hg. von der Sozialdemokratischen Partei der Stadt St. Gallen, April/Mai 1983. Das Graubuch «Wohnen und Spekulation» diente der 2 Flugblätter und Stellungnahmen des Vereins im Archiv Pressebüro SP auch als Kampagnenmittel für ihre kantonale Wohn- St. Gallen, Dossier Nr. 1092. 3 Wohnen und Spekulation (wie Anm. 1), S. 26. schutzinitiative. Das Volksbegehren forderte eine Bewilli- 4 Wohnen und Spekulation (wie Anm. 1), S. 28. gungspflicht für den Umbau und Abbruch von Wohnun- 5 Flugblatt, undatiert (April 1981), Archiv Pressebüro St. Gallen, gen in Gemeinden ohne ausreichendes Wohnungsangebot. Dossier 1092. So sollte der Verlust von günstigen Wohnungen gestoppt

103 Flugblatt zur Häuserräumung an der Fron- gartenstrasse 4 in St. Gallen, 1983. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte, AFGO.040, ­Flugblätter.

indem Bodenerwerb nur noch zum Eigengebrauch oder zur Erstellung preisgünstiger Wohnungen möglich sein sollte.

Der wohl grösste Spekulationsfall in der Stadt St. Gallen datiert jedoch nicht aus den 1980er-Jahren, son- dern er ereignete sich ein Jahrzehnt früher. Es ging um die Überbauung des Gebiets Oberhofstetten. Laut dem erwähnten Graubuch der SP, in dem die Affäre minutiös darge- stellt ist, sollen im Oktober 1971 zwei Geschäftsleute – der Verleger werden. In der Abstimmung vom 19. Juni 1983 lehnten die eines Gratisanzeigers sowie ein Versicherungsagent – Stimmberechtigten die Initiative mit 29 820 gegen 18 356 durch einen Landkauf in zwei Tagen 1,6 Millionen Fran- Stimmen ab. Die Städte St. Gallen und Rorschach hinge- ken verdient haben.6 Der Deal wurde wenig später ruch- gen nahmen sie an, was die Virulenz des Themas im städ- bar und führte dazu, dass der Stadtrat eine Volksabstim- tischen Umfeld aufzeigte. Auch national bewegten Spe- mung über die umstrittene Erschliessungsstrasse nach kulation und Wohnungsnot die Gemüter. So wurde im Oberhofstetten aus Angst, die Vorlage könnte durchfal- Mai 1983 in Bern die «Stadt-und-Land-Initiative gegen len, wieder absagte. Eine gemeinderätliche Untersu- die Bodenspekulation» eingereicht. Diese forderte eine chungskommission arbeitete die Vorgänge später auf. In grundlegende Bodenreform in der Schweiz und wollte ihrem Bericht bedauerte sie zwar, dass solche Gewinne Spekulationen mit Grundstücken dadurch verhindern, aus Bodenverkäufen möglich seien, zog aber ansonsten keine Konsequenzen aus der Affäre.

Die Lokalmedien würdigten 1983 das Graubuch der SP entgegen seiner Brisanz nur beschränkt. Dies aus offen- 6 Wohnen und Spekulation (wie Anm. 1), S. 6. 7 Die Stellungnahmen der CVP, in: Ostschweiz vom 1. Juni 1983. kundig politischen Gründen. Ein CVP-Politiker warf der 8 Die Gesprächsprotokolle mit den Spekulanten sind erhalten SP vor, sie wolle mit ihrem «üblen Pamphlet» nur ihre geblieben. Vgl. Archiv Pressebüro St. Gallen, Ordner «Spekulation Nationalratswahlen finanzieren. Das Buch zu kaufen, Immobilienmarkt». lohne sich überhaupt nicht.7 Hingegen erregte die Bro-

104 schüre in Immobilienkreisen grösstes Aufsehen. Eine gan- Das Thema «Spekulation und Wohnungsnot» blieb auch ze Branche drohte in Misskredit zu geraten. Die Darstel- nach 1983 auf der politischen Agenda. Auch die Anti-Spe- lung der Fälle beruhte auf ausgiebigen Recherchen des kulations-Bewegung – mehr ein situativer Zusammen- Journalisten André Gunz, Redaktor des SP-Blatts «Ost- schluss von Aktivistinnen und Aktivisten mit fliessenden schweizer AZ».8 Über seine Erfahrungen berichtete er in Grenzen als eine Bewegung im eigentlichen Sinne – einem eigenen Kapitel («Ein Journalist auf den Spuren tauchte fallweise wieder auf und sorgte mit teils spektaku- der Spekulation»). Das äusserst farbige Sittenbild der lären Aktionen wie der Besetzung des leerstehenden Ho- Szene zeigt Immobilienhändler, die sich als Liebhaber tels «Hecht» am Marktplatz im Jahr 1988 für Aufsehen. von Altliegenschaften und Wohltäter aufspielen und al- Der Protest gegen das Laissez-faire in der Wohnpolitik lerhand Ausreden für ihre anrüchigen Geschäfte parat flammte mit kurzzeitigen Hausbesetzungen auch in den haben. Bloss ein Spekulant wollte keiner sein. Die Re- 1990er-Jahren immer wieder auf und blieb somit eine so- cherchen brachten übrigens auch zutage, dass sogar ein ziale Konstante in der Stadtentwicklung. städtischer Grundbuchverwalter nach seiner Pensionie- rung ins Geschäft eingestiegen war. Offenbar aber mit wenig Erfolg.9 9 Wie Anm. 8, S. 13.

Hausbesetzung an der Scheffelstrasse in St. Gallen, 1987. Quelle: AFGO.146, Fotografien.

Hausbesetzung an der Davidstrasse in St. Gallen, 1987. Quelle: AFGO.146, Fotografien.

105 «Teil einer breiten internationalen Überlebensbewegung»

Entstehung und Entwicklung der Grünen in St. Gallen, 1983–1989

Patrick Ziltener

In St. Gallen entstand in den 1970er-Jahren wie in ande- und eine Nähe zu Mitbestimmungs- und Gleichberechti- ren Städten Westeuropas ein Milieu von politischen und gungskonzepten» sowie eine «wesentlich höhere Protest- apolitischen Menschen, die die traditionellen Politikfor- bereitschaft» (Fend/Prester 1985: 384). Diese Jugendlichen men und Interessenvermittlungsmechanismen der Nach- hatten auch einen unterschiedlichen persönlichen Le- kriegszeit als nicht nur ungenügend in der Bewältigung bensentwurf: Junge Frauen wie Männer lehnten die her- der Probleme der Gegenwart, sondern in ihrer Wirkungs- kömmliche Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ab weise als geradezu wegbereitend für die Entwicklung und und präferierten stattdessen ein partnerschaftliches Mo- weitere Steigerung von Gefahrenpotential, die Zerstö- dell. Fordistische Produktionsmethoden und zentralisier- rung der natürlichen Umwelt und die stetige Verschlech- te Infrastruktur wurden wie militärisch geprägte Organi- terung der Lebensqualität wahrnahmen. Diese Milieus sationsformen und die traditionell patriarchalische Klein- mit ihrer grossen Heterogenität, wechselnden Bewe- familie als «krank» empfunden. Ebenso auf Ablehnung gungskonjunkturen und häufigen Veränderungen von stiessen traditionell hierarchische und hochformalisierte Organisationsformen und -strukturen, einer «amöben- Organisationsformen in der Politik. haften Veränderlichkeit» (Roth 1983: 311), stellten grosse Herausforderungen für die etablierten Politikformen dar. Thematisiert wurden die «Folgeprobleme des Wachstum- Die neue Unübersichtlichkeit erreicht St. Gallen sprozesses», wozu Kriesi (et al. 1981: 610) alle Probleme im Zusammenhang mit dem Ausbau des Verkehrs- und Die Besetzung des AKW-Geländes Kaiseraugst 1975 gilt als Energiesystems und der übrigen Infrastruktur und die da- das Gründungsereignis der neuen Umweltbewegung in mit zusammenhängende Zerstörung der Umwelt und der der Schweiz. Damit wurden auch hierzulande «neue For- Wohnqualität zählt. Dazu kamen die hohen Risiken neu- men der Opposition wie Besetzungen, Demonstrationen er Grosstechnologien sowie die globale Bedrohungslage und direkte Aktionen … wichtige Instrumente des politi- durch atomare, biologische und chemische Aufrüstung. schen Kampfes» (Skenderovic 2012). Der ausserhalb der traditionellen Konkordanz stehende Landesring der Un- Es gibt nur wenige soziologische Untersuchungen dieses abhängigen (LdU) nahm sich schon Anfang der 1970er- Milieus. Fend/Prester1 untersuchten in der ersten Hälfte Jahre mit elektoralem Erfolg einiger Umweltthemen an. der 1980er-Jahre deutsche Jugendliche mit Parteipräferen- Der LdU stellte aber in keinerlei Hinsicht eine Alternative zen für die Grünen. Sie fanden, dass sich diese «durch zu den herkömmlichen Parteien dar, da seine grossen Anti- grösseren Pessimismus über die zukünftige gesellschaftli- Establishment-Momente in den 1980er-Jahren schon lan- che Entwicklung und durch grössere Skepsis gegenüber ge Vergangenheit waren. Die SP war die Systempartei des der Verwirklichung von Gerechtigkeit und Leistungsprin- sozialstaatlich modifizierten Kapitalismus der Nachkriegs- zip in der Gesellschaft» auszeichneten, weiter durch eine zeit, und die neue Kritik am energieintensiven fordisti- «stärkere Ablehnung rechter politischer Vorstellungen schen Wachstumsmodell und seiner «Motorisierung für alle» stiess bei der grossen Mehrheit der SP-Parteimitglie- der auf Unverständnis, an der Basis sogar oft auf aggressive Ablehnung.2 Der jüngere Intellektuellen-Flügel der SP 1 Fend/Prester, 1985, Forschungsgruppe «Entwicklung im Jugend- alter» der Universität Konstanz. hingegen kam teilweise aus diesem Milieu oder stand ihm 2 Am Grünen Fest 1984: «Die Sozialdemokratie hat ausgespielt.» mit grosser Sympathie gegenüber. Als erste politische GRAS Grüne Alternative St. Gallen, 1984: Materialien Wochenende Gruppierung des neuen Typs in St. Gallen mit organisato- 13./14.Oktober 1984, unveröff., S. 45. rischer Konstanz darf die Politische Frauengruppe (PFG)

106 gelten, die 1980 gegründet wurde (Widmer 2005: 16 f.), als Die Gründung der Grünen in St. Gallen 1983 erste in der Schweiz mit einer Frauenliste an Gemeinde- ratswahlen teilnahm und in vieler Hinsicht Organisations- 1983 war auch in St. Gallen das Jahr der Lancierung einer und Protestformen mit der grün-alternativen Bewegung «Partei neuen Typs», wobei bei den rund 200 Beteiligten3 teilte. dieser auf Initiative von Albert Nufer4 und anderen am 28. Mai zustande gekommenen Sitzung5 wohl keine Ei- Bereits in den 1970er-Jahren entstanden grüne, alternati- nigkeit darüber bestand, ob es sich wirklich um die Grün- ve Gruppen und Wahl-Listen verschiedenenorts in der dung einer Partei handelte. In der von «Rudolf Häuser- Schweiz (Rebeaud 1987). 1979 wurde mit Daniel Brélaz mann, Marbach» unterzeichneten «Grundsatzerklärung» im Kanton Waadt der erste grüne Nationalrat gewählt. findet sich der egriffB nicht selbstredend, ebenso wenig in Dies fand in den Ostschweizer Zeitungen jedoch keine den «Statuten des Stamms der Grünen St. Galler». In grosse Resonanz, auch nicht die Gründung einer Grünen Letzteren ist zwar eine institutionelle Struktur vorgese- Partei im Kanton Zürich und deren Erfolge in Gemein- hen, und zwar in Form von lokalen «Stämmen» und einer dewahlen (vgl. Schaffner Hg. 2003). Es waren vielmehr «Stamm-Hauptversammlung», wie auch die Funktionen die 1980 aus der Friedens-, Anti-Atomkraft- und Umwelt- eines Präsidenten, eines Kassiers, eine Aktuars und von schutzbewegung hervorgegangenen «Grünen» in der Revisoren. Hauptorgan waren jedoch die «Stämme», wo- BRD und ihr Einzug in den Deutschen Bundestag 1983, bei speziell festgelegt wurde, dass der «Stamm St. Gallen» was weit herum als historische Zäsur wahrgenommen in «überregionalen Angelegenheiten» «der Vollversamm- wurde. Von da an flossen staatlich geförderte Grünen- lung aller Stämme untersteht» (Art. 3a). Vorgesehen war, Programmatik und Propagandamaterial in bedeutenden dass sich ein Stamm mindestens einmal pro Monat trifft Mengen auch über die Grenze in die Schweiz, was auch und «in regionalen Angelegenheiten» entscheidet. Ihm deshalb einen besonderen Stellenwert hatte, weil in der unterstehen die Arbeitsgruppen und der Presserat, wobei Schweiz aufgrund der chronisch finanzknappen Lage der er nur beschlussfähig ist, wenn mindestens 13 Personen grünen Neuparteien der Ausstoss eigener Materialien ver- anwesend sind. Als Zweck (Art. 2) wird aufgeführt: «Die gleichsweise bescheiden war. Grünen St. Galler bezwecken die ökologischen, sozialen und kulturellen Ideale und Interessen aller Lebewesen zu fördern und politisch zu vertreten. Unsere Aufgabe ist es, unsere Mutter-Erde, für uns und die kommenden Gene- rationen, zu pflegen, zu nutzen und zu bewahren.»

Auf einer Adressliste, datiert vom 25. August 1983, werden sechs Gruppen in der Ostschweiz unter dem Titel «Grüne St. Galler und Appenzeller» in alphabetischer Reihenfolge mit ihren jeweiligen Treffpunkten (und Kontaktperso- nen) aufgeführt: Grüne Appenzeller, Herisau (Rest. Altes Schäfli); rüneG Appenzeller, Teufen (Rest. Waldegg); Grüne Rheintaler (Rest. Oberes Bad, Marbach); Grüne St. Galler (Rest. Freihof, später Span. Weinhalle); Grüne

3 Quelle: GRAS Grüne Alternative St. Gallen, 1984: Materialien Wochenende 13./14.Oktober 1984, S. 41. Dort heisst es: «Bald einmal zeigten sich Meinungsverschiedenheiten, da die meisten völlig unvorbereitet angereist waren und ein gemeinsamer Grundkonsens fehlte. Interessant ist, dass sich beiden Haupt- kontrahenden [sic!], ‹bürgerliche Grüne› einerseits, Autonome aus der Stadt St. Gallen andererseits, heute ganz (Autonome) oder teilweise (Bürgerliche) zurückgezogen haben.» 4 Albert Nufer, geb. 1942 in Schönengrund AR, war und ist ein in St. Gallen bekannter Nonkonformist, der ohne festen Job und Wohnsitz in Armut lebte und sich als Strassenwischer oder Land- und Gelegenheitsarbeiter durchschlug (Ruckstuhl 2009). Er sass als Vertreter der Grünen im Gemeinde- und Kantonsrat, nahm St. Galler Grüne mit einem Plakat der deutschen Grünen: Einsitz in der städtischen Baukommission und im OLMA-Delegier- «Akkordarbeit, Rationalisierung, Entlassungen», ca. 1985. tenrat. 2006 wechselte er zur Grünliberalen Partei (GLP). Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte 5 Flugblatt «Grüne St. Gallen. DIE GRÜNEN KOMMEN». Gründungs- Ostschweiz, AFGO.195. versammlung, 28. Mai 1983, AFGO.195.

107 Toggenburger (Rest. Rössli Mogelsberg); Grüne Wer- denberger (Rest. Rössli, Werdenberg).

Beteiligte erinnern sich nicht daran, dass die Statuten von grosser Prägekraft für die politischen Prozesse gewesen waren, die im grünen Bewegungs-Milieu in den Jahren bis 1990 stattfanden. Wichtiger waren im Vor-Internet-Zeitalter persönliche Kontakte und Kommunikationsnetze, und alle Prozesse enthielten spontane und situationsabhängige Momente. Zu- stande kam etwas, wenn und weil sich genug Inter- essierte fanden, die im Verlauf eines Verständi- gungsprozesses einen offenen, zeitlich begrenzten Konsens über Zweck und Form der Aktion erreich- ten. Damit unterschieden sich die Grünen von An- fang an von leninistisch inspirierten Gruppierun- gen der Neuen Linken, denen man – bei aller Kooperationsbereitschaft in Sachfragen – gerade deshalb ein anhaltendes Misstrauen entgegen- brachte.

Identität und Selbstdarstellung

Schon Galtung (1985: 79) tat sich schwer, die (frühen) Grünen einzuordnen. Ideologisch klas- sifizierte er sie als weder der liberal/konservativ/ kapitalistischen noch der marxistisch/sozialisti- schen Traditionen zugehörig, sondern eher der anarchistischen Tradition, und genauer: dem gewaltfreien Teil jener Tradition. Und tatsäch- lich, auch bei den St. Galler Grünen lassen sich solche Einflüsse nachweisen: «Ziel soll eine Volksbewegung mit einem parlamentarischen Flugblatt «Grüne St. Gallen. DIE GRÜNEN KOMMEN», Gründungs- Arm sein, der … sich nicht wie bisher üblich früher oder versammlung, 28. Mai 1983. Quelle: AFGO.195. später selbständig macht. Denn ‹jede politische Macht, gleichviel welchen Ursprungs und welcher Form, entwi- ckelt sich zwangsläufig zum Despotismus hin› (Bakun- in).»6 6 Flugblatt «GRAS in den Gemeinderat am 2. Sept. 1984», AFGO.195. Aktivismus in einem breiten Themenspektrum und Be- 7 GRAS Grüne Alternative St. Gallen, 1984: Materialien Wochen- teiligung an Wahlen, ohne Partei «im üblichen Sinn» wer- ende 13./14.Oktober 1984, unveröffentlicht (S. 41–43, unter den zu wollen, charakterisierte die Tätigkeit der Grünen. Geschichtliches), AFGO.195. Man «fühlte sich» als «Teil einer breiten internationalen 8 Genannt, zitiert oder integral abgedruckt wurden u. a. Karl Marx, Ueberlebensbewegung»7. Das Fehlen eines «ausgearbeite- Jesus Christus, Robert Jungk, Erich Fromm, Fritjof Capra, Mohandas Karamchand Gandhi, Rudolf Bahro, Petra Kelly, Rudi Dutschke, ten Programms» wurde nicht als hinderlich wahrgenom- Daniel Cohn-Bendit, Erhard Eppler, Hans A. Pestalozzi (vgl. GRAS men, wichtig war den Grünen «in erster Linie eine oft nur Grüne Alternative St. Gallen, 1984: Materialien Wochenende vage Grundübereinstimmung», wobei man sich gerne auf 13./14.Oktober 1984, unveröff. S. 42.) Diskutiert wurde etwa: bestimmte Autoren bezog.8 Robert Jungk (1978) «Wie könnte eine «alternative Partei» aus- sehen?», Kelly/Leinen (Hg., 1982) «Prinzip Leben. Ökopax – die Viel Aufmerksamkeit erhielt die Diskussion, die Galtung neue Kraft», Jutta Ditfurth (1984) «Radikal und phantasievoll gesell- schaftliche Gegenmacht organisieren!», oder «Rote Politik, grüne (1985: 175 f.) als für die grüne Bewegung jener Zeit typisch Politik, bunte Politik» (POCH 1983), «Nicht links – nicht rechts? über bezeichnete, das «wie anfangen?»: Ist Gesellschaftsver- die Zukunft der Grünen» (Hamburg 1983: VSA) und natürlich das änderung möglich durch alternative Lebensweisen, indi- utopische bolo'bolo (Hans Widmer alias pm, 1983). viduell von unten her, oder setzt der Erfolg solcher Mik-

108 aggressive Kommunikation und die Vermeidung von Stereotypen aller Art, insbesondere traditionell ge- schlechtsspezifisches Verhalten. Einflussreich war das Format der «Zukunftswerkstätten», wie sie vom österrei- chischen Zukunftsforscher und Publizisten Robert Jungk (1913–1994) und anderen entwickelt worden waren. In diesen wurden von ad hoc-Gruppen zu bestimmten, von ihnen selber gewählten Problemkreisen die Gegenwart kritisiert, mögliche Lösungen erfunden und diese Kon- zepte dann auf ihre Durchsetzbarkeit geprüft (Jungk/ Müllert 1981). Dies wurde vorzugsweise an Wochenend- Retraiten praktiziert.

Schon in der Kampagne zu den Nationalratswahlen 1983 traten die Grünen mit dem mehrdeutigen GRAS-Kozept an: GRAS steht eindeutig definiert als Abkürzung für «Grüne Alternative St. Gallen», steht aber auch für das biologische Gras, das als grafisches Kennzeichen ver- wendet wurde,9 das wiederum auch die Bedeutung von Marihuana haben kann. Die Legalisierung des Canna- bis-Konsums war dann auch eine Forderung der grün- alternativen Bewegung, und Albert Nufer war schon da- mals ein bekennender und öffentlich Gras rauchender Aktivist der Grünen. Er selber nannte sich und seine Mitstreiter oft «Gräsli». «Gras» stand aber auch für das in der Alternativbewegung wichtige Konzept der «Gras- wurzelrevolution». Weiter inspirierte der Begriff zu fol- genden (handschriftlich zum vierseitigen Wahlpro- gramm10 hinzugefügten) Aussagen: «Lieber Gras wählen als ins Gras beissen» und «lasset uns wuchern – Gras in den Nationalrat!»

Die Journalistin Irene Jaeggi charakterisierte den Politik- Modus der St. Galler Grünen jener Zeit einmal so: «Der offensichtlich frische Wind bei den Stadtgrünen ist gera- de das: Widersprüche nicht bereinigen, Offenlassen wich- Flugblatt und Fotografie zur Aktion «Arche Noah» auf dem tiger Frage wie Fraktionsbeitritt des neuen Kantonsrates, Gallus-Platz St. Gallen, 14. Januar 1984. Quelle: AFGO.195. Ulk oder Ernst in der Regierungsratswahl, GRAS-grün oder bürgerlich-grün. Noch besteht kein Bedürfnis die Zwangsjacke der Einheitlichkeit und Einstimmigkeit ro-Veränderungen einen gesellschaftlichen Umbau der durch Abstimmungen durchzusetzen, grundsätzlich Pro- Makro-Ebene voraus? Die für die grüne Bewegung typi- grammatisches kann zugunsten der Machbarkeit lokaler sche, in allen Varianten immer wieder diskutierte Ant- direkter Aktionen vorläufig noch im Hintergrund blei- wort war und ist das «Sowohl als Auch». Eine neue ben.»11 Lebensweise wurde verknüpft mit einem neuen Politik- modus – wobei nicht einmal der Begriff «politisch» für die zu gestaltende Praxis unwidersprochen blieb. Traditi- onelle Politiker und Vereinsmeier wurden etwa so verach- tet wie die «Philister» im 19. Jahrhundert in den deut- 9 Grüne Alternative St. Gallen, GRAS, 1983: Flugblatt zu den schen Universitätsstädten. Politische Praxis sollte nicht Nationalratswahlen 1983 «Wählt am 22./23. Oktober die echten erst im organisatorischen Ergebnis zu «Befreiung» füh- Grünen in den Nationalrat: Grüne Alternative St. Gallen GRAS», AFGO.195. ren, sondern Teil des Befreiungsprozesses sein und das 10 Grüne Alternative St. Gallen, GRAS, 1983: Programmpunkte Ziel einer freien Assoziation freier Menschen in einer zu den Nationalratswahlen, AFGO.195. Bewegung von Freundinnen und Freunden vorwegneh- 11 «Wahlulk mit einem Schuss Moralin», in: Tell, Nr. 4, Februar 1984, men. Besonders Wert gelegt wurde auf offene, nicht- S. 6 f.

109 Themen und Aktionen, lokal und international nen. Die GRAS war stark geprägt von der internationalen Friedensbewegung. Die jüngeren Aktivisten waren politi- Typischerweise warb das vermutlich erste Flugblatt der siert worden in einer Zeit der grossen Friedensdemonstra- Grünen St. Galler für «EIN KLARES NEIN ZUR KVA», tionen in Westeuropa (und durch die Repression an Schu- also der geplanten Kehrichtverbrennungsanlage, und die len gegen deren Teilnehmer) gegen den so genannten NA- Argumente waren geprägt von einem tiefen Misstrauen TO-Doppelbeschluss von 1979, auf dessen Grundlage ab gegenüber den Behörden. 1983 in der BRD die Pershing 2 stationiert wurde; einige verweigerten den Militärdienst, zu einer Zeit, als es noch Anfang der 1980er-Jahre fanden Wissenschaftler Anzei- keinen zivilen Ersatzdienst gab. Im Bewusstsein, dass ers- chen dafür, dass Schwefeldioxid aus der Öl- und Kohle- tens «nur wenige Kilometer nördlich des Bodensees … tak- verbrennung als «saurer Regen» niederschlägt, die Bäume tische Atomwaffen» liegen, zweitens «Atomraketen Atom- schädigt und die Waldböden versauert. Ein Titelblatt des magneten sind» und drittens «Neutralität nicht vor Radio- Spiegel «Der Wald stirbt» von 1981 lancierte die Debatte aktivität schützt», beteiligten sich die St. Galler Grünen um das «Waldsterben». Mit einem grossen Transparent an grenzüberschreitenden Fahrrad-Demonstrationen mit «Der Wald stirbt leise, wir schlagen Alarm» zogen die «zahlreichen, bunten, im Wind flatternden Transparenten» Grünen an drei Samstagen im Winter 1983/1984 «mit an Kundgebungen in Bregenz und Lindau für die Schaf- grossem Lärm» durch die Altstadt, wobei sie immer wie- fung von atomwaffenfreien Zonen, den Abzug aller Atom- der Station machten, «um die ‹Notstandsgesetze der pro- waffen aus dem Bodenseeraum und die Gewährleistung visorischen Notstandsregierung des Kantons St. Gallen› eines rein zivilen Militärersatzdienstes. Einige St. Galler zu verlesen». Diese Art von Provokation wurde auch von Grüne beteiligten sich an den Aktionen zivilen Ungehor- anderen grünen Gruppen in anderen Städten angewen- sams in Mutlangen in Form von Sitzblockaden zum Zu- det. Die «Notstandsgesetze» sahen u. a. vor, «dass ab so- gang zur NATO-Atomwaffenbasis.12 Andere reisten mehr- fort die Autoabgase ins Wageninnere abzuleiten seien». fach in die bayrische Oberpfalz, um an Widerstandsaktio- Das Thema Luftverschmutzung war eine Konstante in nen gegen die geplante nukleare Wiederaufarbeitungs- den politischen Aktivitäten der 1980er-Jahre, mit einem anlage Wackersdorf teilzunehmen. Junge Aktivisten aus Kulminationspunkt in Form der grossen «atemlos»-De- St. Gallen beteiligten sich auch an der Bewegung gegen das monstration vom 14. Februar 1987. geplante Donaukraftwerk im niederösterreichischen Hain- burg, wo es nach der Erteilung der Bewilligung durch den Die GRAS nahm jeweils auch an der 1. Mai-Demonstra- damaligen Umweltlandesrat Ernest Brezovksy (SPÖ) für tion der Linken teil und war auch im entsprechenden Ko- den Bau des Kraftwerks ab November 1984 unter winterli- mitee vertreten. Am 1. Mai 1984 demonstrierte man «zu- chen Bedingungen zu Besetzungen kam. Besonders in Er- sammen mit der unorganisierten Linken, der PFG/OFRA innerung blieb dem späteren grünen Kantonsrat Thomas und den Alternativbetrieben auf der Strasse. Die SP feier- Schwager (Jahrgang 1964) «die breite Unterstützung durch te – im Saal.» die Wiener Bevölkerung»: «Sie besuchte an den Wochen- enden die Besetzerinnen und Besetzer, die bei nächtlichen Ein Thema von grösster Brisanz, das die grüne Bewegung Temperaturen von bis zu minus 20 Grad in mit Stroh aus- schweizweit mehr als einmal spaltete, war das Verhältnis gekleideten Zelten ausharrten. Den jungen Menschen – zur Schweizer Armee. Diese war noch in den 1980er-Jahren klar erkennbar an ihrer winterharten bunten Bekleidung ein zentrales Identitätsmerkmal der Schweiz. Ein Grossteil – wurden in den Trams und auf den Strassen Wiens auf- der männlichen Elite von Wirtschaft und Politik der dama- munternd auf die Schulter geklopft.»13 ligen Schweiz nahm in der Milizarmee Offiziersränge ein, und dies prägte politische und gesellschaftliche Verhaltens- Eine Erfahrung, die Schwager bis heute geprägt hat, und formen. Die grüne Bewegung stand immer im Spannungs- die er folgendermassen resümiert: «Widerstand gegen ein verhältnis, einerseits für umweltschützerische Anliegen unsinniges Projekt kann nur Erfolg haben, wenn er von Bündnispartner aus dieser Elite zu benötigen, anderseits einer Mehrheit der Menschen getragen wird. Dies gelingt die Armee selber umwelt- und friedenspolitisch zu regulie- nur mit gewaltfreien Mitteln.» ren, ohne ihre pazifistische Grundorientierung zu verleug- In St. Gallen fand auf Anregung der Grünen am 14. Janu- ar 1984 die Standaktion «Arche Noah» auf dem Gallus- platz statt, aus deren Anlass sich verschiedene politisch- alternative Gruppierungen inklusive der biologische Pro- 12 Aufruf Solidarität mit Mutlangen, 1984. Vgl. die Photographien von Pflaum, Thomas: Ziviler Widerstand, Mutlangen 1983–1987, dukte anbietende Genossenschaftsladen mit ihren Anlie- in: Boström, Jörg, 1989: Dokument und Erfindung. Fotografien gen vorstellten: «Die heutige Welt ist bedroht durch aus der Bundesrepublik Deutschland 1945 bis heute, Mannheim. Umwelt-Katastrophen und nuklearen Holocaust. Bei vie- 13 Interview 20. Dezember 2015. len Leuten greift die «No-futur» [sic!] Stimmung (Zu-

110 Fotografie, Flugblatt und Button zur Aktion «Jeder Mensch ist Ausländer», 15. März 1986. Quelle: AFGO.195.

111 kunftsangst) um sich. Die Resignation hemmt eine fort- Gedächtnis ein. Der Umgang der Behörden mit diesen «Er- schrittliche Entwicklung. Wie vor der Sintflut steht auch eignissen», wie sie oft verharmlosend bezeichnet wurden, heute die Menschheit vor einem Wendepunkt.» und ihren Langzeitfolgen vertiefte das Misstrauen in brei- ten Bevölkerungskreisen gegenüber der Qualität der Auf- Noch im gleichen Jahr, am 3. Dezember 1984, wurden im sichts- und Kontrolltätigkeiten des Staates jener Zeit. indischen Pestizid-Werk des US-Chemiekonzerns Union Carbide Corporation UCC mehrere Tonnen Giftstoffe in Trotz des Bemühens um unkonventionelle Aktionsformen die Atmosphäre abgegeben, die Tausende von Menschen in (oder gerade deshalb?) gelang es den Grünen nur einzelfall- der Umgebung töteten. Das eigentliche annus horribilis je- weise, Medieninteresse für die ausserparlamentarische nes Jahrzehnts aber war 1986, als sich am 28. April «eine Aktivitäten zu wecken. Vieles «wurde von der Presse des Havarie» (TASS) im Atomkraftwerk Tschernobyl in der Bürgertums … totgeschwiegen», wobei man der Ostschweiz Ukraine ereignete. «Das war der GAU, vor dem wir ge- «des Pinochet-Bewunderers Edgar Oehler» eine «besonders warnt haben», so die Reaktion, doch es war nicht der unrühmliche Rolle» zuschrieb.15 Mit der Organisation eines Moment der selbstzufriedenen Rechthaberei der AKW- «Grünen Symposiums» vom 22. Oktober bis 12. November Gegner, vielmehr wurde fieberhaft – im Zeitalter vor der 1985 bezweckte die GRAS, eine breitere Öffentlichkeit für digitalen Vernetzung! – nach Informationen über die Ka- die grünen Themen zu schaffen. Zur Eröffnung sprach der tastrophe und die zu erwartenden Auswirkungen für das Publizist Hans A. Pestalozzi (1929–2004), ehemals persön- Leben hier gesucht. «Die aussergewöhnliche Wetterlage licher Sekretär von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler führte zu einem radioaktiven Ausfall auf weite Gebiete, wo- und Leiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (GDI), der bei auch das Tessin und der Bodenseeraum besonders be- sich in den 1970er-Jahren zum prominenten Wachstums- troffen waren», wurde später festgestellt.14 Am 1. November und Konsumkritiker entwickelt hatte und damals weitge- brannte dann in Schweizerhalle bei Basel eine Lagerhalle hend autark bei Wattwil lebte, über «Die Widersprüche in des Chemiekonzerns Sandoz, in der sich 1350 Tonnen Che- unserer Gesellschaft». Es folgten Veranstaltungen zu den mikalien befanden (Bachmann et al. 1986, Forter 2010). Themen Frieden – Dritte Welt, Feminismus, Gewerkschaf- Mit allgemeinem Sirenenalarm wurde in der Grossregion ten und alternative Politik, Oppositionsbewegungen in Ost Basel eine mehrstündige Ausgangssperre verhängt. Ver- und West – letztere mit einem DDR-Dissidenten aus der seuchtes Löschwasser floss in den Rhein, wo es über Hun- unabhängigen Friedensbewegung. Für das Thema Grüne derte von Flusskilometern hinweg ein allgemeines Fisch- Wirtschaftspolitik wurde ein Gründungsmitglied der deut- sterben und die Auslöschung von Mikroorganismen aus- schen Grünen und Mitglied des Bundestags, Eckhard löste. Die eigentlich harmlose rote Färbung des Flusses Stratmann, eingeladen (wofür damals noch die Beantra- brannte sich als apokalyptisches Zeichen in das kollektive gung einer Rede-Genehmigung bei der Kantonspolizei notwendig war) und der Kontakt zur HSG gesucht. An der Diskussionsveranstaltung nahmen die Assistenten von HSG-Professor Ota Sik (1919–2004) teil, der 1968 im Pra- ger Frühling massgeblich an der Diskussion über einen dritten Weg zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft beteiligt gewesen war. Seine Assistenten, René Höltschi und Christian Rockstroh, hat- ten gerade das didaktisch aufbereitete Buch Bausteine für Alternativen (1985) veröffentlicht, dass sich an ein breiteres Publik wandte. So kam es am 8. November 1985 zu einer «Diskussion eines alternativen Wirtschaftsmodells» im Hotel Ekkehard zu den Grundlagen einer ökologischen und demokratischen Wirtschaft und den Chancen der Ent- wicklung von Selbstverwaltung und «Mitarbeitergesell- schaften», die transkribiert in den Materialien zum «Grü- Grüne St. Gallerinnen und St. Galler an der Friedensdemonstration nen Symposium» (GRAS 1986) veröffentlicht wurde. Die vom 5. November 1983 in Bern. AFGO.195. Materialien bieten wie keine andere Publikation jener Zeit einen Ein- und Überblick zu den Themen, die die Men- schen im beschriebenen Milieu Mitte der 1980er-Jahre an- und umtrieben. 14 Quelle: Zivilschutz = Protection civile = Protezione civile, Bd. 35 (1988), Heft 10, S. 38. 15 GRAS Grüne Alternative St. Gallen, 1984: Materialien Wochen- Neben Demonstrationen und symbolischen Aktionen ende 13./14.Oktober 1984, unveröffentlicht (S. 41–43 unter wurde das Fest zur politischen Aktionsform entwickelt. Geschichtliches), AFGO.195. Die grün-alternative Bewegung hatte einen ausgeprägten

112 Anti-Vereinskultur-Reflex, Politik durfte nie langweilig langfristig durchsetzen würde. Militärköpfe, Banker und sein, sondern musste (!) spontane, befreiende und lustvol- AKW-Befürworter waren dagegen sowas von spiessig und le Elemente beinhalten. Damit trugen die Grünen zu einer ewig gestrig …».17 Erweiterung des Politik-Begriffes bei, der in den 1990er- Jahren weitherum gesellschaftlich akzeptabel wurde. Das sechsstündige Grüne-Fest vom Juni 1984 in der Graben- Wahlkampagnen und parlamentarische Arbeit halle (St. Gallen), an dem Musiker, Schriftsteller, Redner und das Basler Cabaret «Sauce Claire» auftraten, galt den Die St. Galler Grünen verstanden sich als Alternative zu Grünen als «Höhepunkt der bisherigen Tätigkeit».16 Ge- den herkömmlichen Parteien, als Anti-Parteien-Partei. festet wurde aber auch an allen Retraite-Wochenenden, Sie wollten «eine Neubewertung der gängigen Politik, des nach langen Sitzungen und auch einfach so etwa monat- Parlamentarismus»: «Wirkliche Veränderungen sind nur lich. Musik war nicht einfach Unterhaltung, sondern be- auf dem ausserparlamentarischen Weg möglich». «Nach deutungsgeladen, zumal die frühen 1980er-Jahre «die ziemlich kontroversen Diskussionen über den Sinn und grosse Zeit der politisch engagierten deutschsprachigen Unsinn des helvetischen Parlamentarismus» kamen die Rockmusik» waren, wie sich Heinz Gabathuler (Jahrgang Grünen «zur Einsicht, eine Vertretung [im Parlament] … 1967) erinnert: «Musiker wie BAP, Grönemeyer, Linden- wäre sinnvoll»19. berg, Ina Deter, usw., aber auch die Österreicher Danzer und Hirsch, waren unter uns Kantischülern ungemein po- Die Grünen St. Galler hatten an ihrer Gründungsver- pulär. Und sie traten an Friedensdemos auf; ihre Texte wa- sammlung noch angekündigt, an den Nationalratswahlen ren rebellisch und irgendwie grün-alternativ. Gerade die 1983 noch nicht, dafür aber an den Kantonsratswahlen Tatsache, dass auch politisch eher bürgerlich eingestellte 1984 teilzunehmen.20 Bei den Nationalratswahlen 1983 er- Mitschüler ebenso auf diese Musik abfuhren, bestärkte zielte die GRAS-Liste kantonsweit 41 558 Parteistimmen mich darin, dass meine Sicht auf Gesellschaft und Politik (und damit «erstaunliche 3.3%», so die AZ vom 21. No- von den herkömmlichen Autoritäten in Schule, Staat und vember 1984), das war zwar weniger als die CVP von allen Wirtschaft abgelehnt wurde, sich aber im Einklang mit Stimmen allein in Wil erreichte, aber ein Achtungserfolg, dem Mainstream der Jugendkultur befand und sich somit vor allem im Vergleich mit der damals erstmals im Kan- ton St. Gallen angetretenen SVP, die deutlich schlechter abschloss.21

Der St. Galler Nachrichtendienst überprüfte zuhanden der Bundesanwaltschaft die Kandidaten dieser ersten GRAS-Liste.22 Für einzelne Kandidaten wurde festgehal- ten: «durch seine alternative Einstellung aufgefallen», ein Ehepaar praktiziere «heute einen mehr oder weniger alter- nativen Lebensstil». Auch für suspekt hielt man, dass

16 GRAS Grüne Alternative St. Gallen, 1984: Materialien Wochenende 13./14.Oktober 1984, unveröffentlicht (S. 41 f.), darin auch der Text einer Rede an diesem Grünen Fest mit dem Titel «1984» (S. 44–45). 17 Interview 20. Dezember 2015. 18 Grüne Alternative St. Gallen GRAS, Flugblatt zum 1. Mai «Im Namen des Volkes' oder auch nicht», AFGO.195. 19 Broschüre «GRAS Grüne Alternative St. Gallen im Grossen Rat 1984», Januar 1985, AFGO.195. 20 So die von Rudolf Häusermann unterzeichnete «Grundsatzerklä- rung» vom 28. Mai 1983. 21 Quelle: St. Galler Tagblatt, 24. Oktober 1983. 22 Quellen: Bericht des St. Galler Nachrichtendienstes «Nationalrats- wahlen 1983/Kandidatenstimmen der Liste 6 GRAS (0)300.8/925» vom 10. November 1983, eingegangen bei der Bundesanwaltschaft am 16. November 1983. Individualfiche Richard Faust. Peter Huber, der damalige Chef der Bundespolizei, zu den Beweggründen: «In dieser Zeit kamen Bewegungen auf, die man nicht einordnen konnte. Deshalb beobachtete man sie. So war die Zeit damals. Grünes Fest in der Grabenhalle, St. Gallen, Juni 1984. Das kann man heute vielleicht nicht mehr verstehen.» (in NZZ Ge- Quelle: AFGO.195. schichte, 2015/3 [Oktober], S. 53).

113 mehrere Kandidaten die gleiche Wohnadresse in Hor- «Gras», mit Halbheiten komme man der drohenden Ka- chental bei Mörschwil hatten. Überprüft wurden die ge- tastrophen nicht bei.» (Ostschweizer AZ, 21. November genwärtigen und früheren Erwerbstätigkeiten aller Kan- 1983) didaten (Kandidat XY «belastet die Arbeitslosenkasse») sowie die militärische Einteilung der Männer. Einzeln Die Person Albert Nufer polarisierte auch innerhalb der aufgeführt wurde die Beteiligung an Aktionen gegen Grünen. Eine Bereinigung der Differenzen im Sinne einer Atomkraftwerke, gegen das in einer Volksabstimmung ge- Zentralisierung der Bewegung widersprach jedoch ihrem scheiterte Projekt einer Schweizerischen Bundessicher- Selbstverständnis, und «die Stimmung blieb versöhnlich. heitspolizei (Busipo) oder das Verteilen von Dollarnoten- ‹Gras› sei auch grün, wurde allgemein festgestellt, und bei attrappen mit dem Gesicht von Bundesrat Friedrich an- den kommenden Kantonsratswahlen könne ja, da bezirks- lässlich eines Vortrages an der HSG. Der Nachrichten- weise gewählt wird, jede Regionalgruppe mit dem eige- dienst kam zum Schluss, «dass es sich bei den Kandidaten nen, ihr zusagenden Programm vor die Wählerinnen und der GRAS in St. Gallen praktisch ausnahmslos um Perso- Wähler treten». (ebd.) nen handelt, die sich im heutigen Gesellschaftssystem nicht zurechtfinden und teilweise auch schon straffällig Die junge GRAS forderte die bisherige Praxis der Wahl- geworden sind». Politisch wurden die Kandidaten als «fast empfehlungen des einflussreichen städtischen Natur- alle mit Linksdrall, aber nicht extrem-links» eingestuft. schutzvereines (NVS) heraus, die darin bestand, die je- Dahinter stand, so ein Betroffener, ein «skandalöses De- weils «grünsten» Kandidaten der etablierten Parteien offi- mokratieverständnis» des damaligen Nachrichtendiens- ziell zu unterstützen. Der NVS nahm jetzt zur Kenntnis, tes, das zu einem tendenziösen Konstrukt geführt habe: das mit den «Grünen St. Gallern» «eine neue politische «Weil einige Kandidaten im Weiler Horchental in drei Kraft in unserem Parteienspektrum» entstanden war, die verschiedenen Häusern wohnten, wurde eine teilweise «Fragen des Umweltschutzes Priorität einräumen und kriminelle, sozialschmarotzende Wohngemeinschaft mit diesbezüglich konsequente Forderungen erheben» (Ost- Linksdrall konstruiert. Dies entsprach in keiner Weise schweiz, 19. Januar 1984). Die Kantonsratswahlen von 1984 den Rückmeldungen, die wir damals von Behörden und brachten das Ende der seit 1972 geltenden absoluten CVP- andern Parteien erhielten, die diese neue grüne Bewegung Mehrheit, v. a. aufgrund der Sitzgewinne des mit der EVP gut einordnen konnten und uns Sympathie oder mindes- verbundenen LdU, aber auch dank des erstmaligen grü- tens Achtung entgegenbrachten.»23 nen Mandats im Bezirk St. Gallen. Gewählt wurde Stefan Chiozza, der damit das erste grüne Parlaments-Mandat im Andere Kandidaten führen spätere «beruflich sehr unge- Kanton St. Gallen besetzte. mütlichen Situationen» auf diese Fiche zurück, v. a. wenn sie sich erfolglos auf Lehrerstellen oder Vertretungen (z. B. Der Einzug in den Kantonsrat wurde wie bei den Grünen als Lehrkräfte) im Kanton St. Gallen bewarben.24 üblich von einer symbolischen Aktion begleitet: «Ein bär- tiger Neptun überreichte dem ‹höchsten› St. Galler [dem Im Hinblick auf die kurz danach stattfindenden Kantons- Grossratspräsidenten] ein Glas klares Quellwasser, eine ratswahlen (28./29.Januar 1984) wurde die Zusammenar- leichtgeschürzte Aurora, die Fee der Lüfte, überbrachte beit mit anderen grünen Gruppen im Kanton gesucht. ein Glas mit Luft aus Weistannen, jenem Dorf, wo die Dabei traten Positions- und Stil-Differenzen zu Tage, wie Luft noch am ‹saubersten› ist. Der Erdgeist, Zwerg Gülp, auch in anderen Kantonen: «Während die gemässigten überreichte ein Tännchen in unverseuchter Erde …». Grünen argwöhnen, die radikalen «Gras»-Töne würden der grünen Bewegung schaden, argumentiert man bei der Die SP-Fraktion gewährte Chiozza auf seine Anfrage hin Gastrecht, und er konnte Einsitz in die Landwirtschafts- kommission und in die Kommission zum Geschäft betref- fend die Umfahrung von Wattwil nehmen. Die parlamen- 23 Mitteilung an den Autor, 9. November 2015. tarische Arbeit der Grünen auf Kantonsebene 1984–1988 24 «Es war auffällig: ich kam meist in die engere Wahl und erhielt im letzten Moment eine Absage. Ich führe dies darauf zurück, dass konzentrierte sich auf die «urgrünen» Themen Verkehrs- seinerzeit vermutlich parallel zu dem Einholen von Referenzen auch politik, Energiepolitik (Atomausstieg), Umwelterziehung, Informationen beim Staatsschutz eingeholt worden sind. Auch eine Wohngifte (Formaldehyd, Asbest, etc.) und Biolandbau. bereits zugesagte halbjährige Stellvertretung als Primarlehrer wurde Chiozzas Engagement in der Landwirtschaftskommision im letzten Moment wieder annulliert. Auf meine verwunderte Nach- galt der Förderung des Bio-Landbaus an Landwirtschaft- frage wurde mir sehr ausweichend geantwortet! Erst nach hart- lichen Schulen sowie der «Herabsetzung der Schadstoffbe- näckigem Insistieren wurde mir beschieden, dass eine Person wie 25 ich nicht in jenes Lehrerzimmer passe…» (Mitteilung eines GRAS- lastung von Nahrungsmitteln und Umwelt». Manch ein Kandidaten an den Autor, 11. Oktober 2015). Bauernvertreter im Kanton wunderte sich über diese 25 Broschüre «GRAS Grüne Alternative St. Gallen im Grossen Rat Stadt-Grünen und versuchte sie darüber belehren, dass es 1984», Januar 1985, AFGO.195. einfach keine Nachfrage nach Bio-Früchten gab, weil die

114 ein Mandat, verpasste aber den Einzug ins Rorschacher Parlament. Eine enge Zusammenarbeit der Politischen Frauengruppe (PFG) im Grossen Gemeinderat der Stadt St. Gallen wurde aufgrund der inhaltlichen und organisa- torischen Nähe erwartet und kam auch so zustande. Das GRAS-Communiqué betonte, dass nun «auch im Ge- meinderat St. Gallen endlich die Grüne Alternative und damit ein Teil der europäischen Grünen Bewegung ver- treten ist», es gehe angesichts der Kräfteverhältnisse um «das Anregen von Diskussionen und das Geben von Denkanstössen» (Tagblatt, 8. September 1984). Der zu er- wartende neue politische Stil und einmal mehr die Person Albert Nufer31 führten dazu, dass der Gemeinderat der Stadt St. Gallen die Gemeinderatsordnung noch vor dem Einzug der GRAS änderte: Die für Interpellationen nöti- ge Unterschriftenzahl wurde von einer auf fünf erhöht, Einzug der Grünen Alternative St. Gallen GRAS in den Grossen Rat, und ein später als «Lex Nufer» bezeichneter Kleiderartikel Mai 1984. Quelle: AFGO.195. (Geschäftsreglement Art. 21) verabschiedet.

Auf den Krawattenzwang reagierte die GRAS mit einer Konsumenten nur perfekt aussehende Produkte wollten.26 symbolischen Aktion am Tag ihres des ersten Einsitzes im Die Warnung vor dem «Wald- und abzusehenden Boden- neuen Parlament: Von der Zuschauer-Tribüne herunter sterben» provozierte die Bauern im Rat zu heftigen Reak- wurden über-dimensionierte «Krawatten»-Transparente tionen, ebenso die Forderung nach «einem grundsätzli- entrollt mit den Texten «GRAS», «Juhui da sind wir wie- chen Umdenken in der Landwirtschaft».27 Im Allgemei- der», «Es geht voran», «Kleider machen Gemeinderäte – nen war die Reaktion auf die neue Kraft im Kantonsrat Politik macht die Wirtschaft» und «Gute Nacht». Die aber aggressives Desinteresse der anderen. Chiozza berich- Ostschweiz (19. Januar 1985) fand das «schlicht und ein- tet über ostentatives Zeitunglesen im bürgerlichen Block fach läppisch», während der Anzeiger (24. Januar 1985) während seiner Voten und über somatische Probleme als Folge der ungeschminkten Ablehnung seiner Ideen seitens der grossen Mehrheit des Parlaments.28 26 Gespräch mit Stefan Chiozza, St. Gallen, 22. August 2015. 27 Broschüre «GRAS Grüne Alternative St. Gallen im Grossen Rat Die Grünen St. Galler nahmen auch die nächste Gelegen- 1984», Januar 1985, AFGO.195. heit für eine provozierende Kandidatur wahr. Sie stellten 28 Gespräch mit Stefan Chiozza, St. Gallen, 22. August 2015. 1984 zwei in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Kan- nach seinen ersten Eindrücken gefragt, sagte Chiozza: «Es ist mir didaten auf für die Regierungsratswahlen 1984, nämlich vorgekommen, als ob es einen Einheitstyp bürgerlicher Parlamenta- Ilona Takács und Jürg Menzi, und reagierten damit auf rier gäbe, der den grauen Männern in ‹Momo› von Michael Ende die bürgerlich-sozialdemokratische Einheitsliste, die die gleicht. Einheitliche Kleidung, einheitliches Benehmen haben für Veränderungen in den Kantonsratswahlen nicht reflek- mich dokumentiert, dass Veränderung mit diesen Leuten schwierig ist. Sie waren steif, starr, statisch. Ich kann mir nicht vorstellen, tierte (der Opposition wäre nach etablierten Formeln neu dass dieses Parlament die grundlegenden Probleme der heutigen ein Regierungsrats-Sitz zugestanden), sondern einfach Zeit lösen kann oder auch nur angehen will.» Zur Frage nach seiner das bisherige Konkordanz-Modell weiterführte. Die etab- Rolle im Parlament: «In der Wahl der Stilmittel fühle ich mich als lierte Politlandschaft (inklusive die grüne Gruppierung Hofnarr, der versucht, mit Humor und viel Phantasie den Regieren- im Rheintal) regierte auf diesen Tabubruch mit Ableh- den das zu sagen, was sich andere nicht unbedingt getrauen. Bei nung, nur die Ostschweizer AZ sprach den jungen Kan- Sachgeschäften sehe ich mich als Mitglied der Opposition, die in erster Linie im SP-LdU-Lager zu finden ist.», in: GRAS Grüne Alter- didaten der GRAS ein «Kompliment für ihren politischen native St. Gallen, 1984: Materialien Wochenende 13./14.Oktober Mut und ihre Initiative» aus, aufgrund dessen es «nicht zu 1984, unveröffentlicht (S. 48). einem toten Rennen mit stets den gleichen Kandidaten» 29 Roger G. Sutter, «Kompliment für die GRAS», in: Ostschweizer AZ, komme.29 24. Februar 1984. Vgl. auch «Wahlulk mit einem Schuss Moralin», in: Tell, Nr. 4, Februar 1984. St. Gallen hat einen eigenen Wahlzyklus, der die Gemein- 30 Flugblatt «GRAS in den Gemeinderat am 2. Sept. 1984», AFGO.195. deratswahlen ins gleiche Jahr legt wie die kantonalen 31 Die Rundschau (RS) des Schweizer Fernsehens strahlte am 19. Mai Wahlen – ein vorgegebener rascher Takt, dem sich auch 1987 ein Porträt Albert Nufers aus («St. Gallen: Porträt neuer un- 30 neue politische Gruppierungen nicht entziehen können. konventioneller Gemeinderat der Grün-Alternativen (GRAS) Albert Die GRAS erreichte im September in der Stadt St. Gallen Nufer», Bundesarchiv, Signatur J2.225#2009/142#475#1*).

115 diese Aktion als «Paukenschlag» «der unorthodoxen sche System stellte aber auch traditionelle direktdemokra- Gruppe» bezeichnete und das verteilte GRAS-Flugblatt tische Instrumente zur Verfügung, die von den neuen Ak- zitierte: «Unsere Krawatten sind hoffnungsvoll grün ge- teuren für ihre politischen Ziele angewandt wurden. So färbt, entsprechen nicht ganz dem üblichen Standart fanden allein im Energie- und Verkehrssektor zwischen [sic!], dafür sprechen sie für sich! Warum nicht diese 1977 und 2003 neunzehn Eidgenössische Abstimmungen männlichen Kult-Symbole in Kommunikationsflächen aufgrund von Volksinitiativen statt, die im Durchschnitt umfunktionieren – den Anfang haben wir gemacht! Uns 38.5% Ja-Stimmen erzielten (Skenderovic 2012). In zwei werden weder ‹Würde›-Artikel noch die Hetze gegen das Fällen fanden sich (auf Bundesebene) Mehrheiten für grü- Rotationsprinzip daran hindern, den frischen Wind auch ne Anliegen, nämlich beim AKW-Moratorium (1990) und in das Waaghaus zu bringen. Trotz Ämterfilz und Tabu- bei der Alpeninitiative (1994). Es ist nicht übertrieben zu Themen: Grüne Zeit in St. Gallen!»32 behaupten, dass in den späten 1970er- und in den 1980er- Jahren das eingeleitet wurde, was 2011, nach einem weite- In einer ersten Bilanz kam die AG «Parlament» der GRAS ren katastrophalen AKW-Unfall, als «Energiewende» par- zum Schluss: «Gesamthaft gesehen beurteilen wir die par- lamentarische Mehrheiten fand. Die offene Ablehnung lamentarische Arbeit als sehr beschränkt von Nutzen; im einer ungezügelt motorisiert-mobilisierten Lebensweise Parlament selbst gibt es eine etablierte Blockade-Mehr- provozierte auch Gegenreaktionen. Die vielleicht aufse- heit, die das Geschehen im (Würge-)Griff hat – mehr als henerregendste unter ihnen war die 1985 gegründete Au- vielleicht Denkanstösse vermitteln, tabuisierte Themen in topartei (AP)34 mit ihrem Publikationsorgan Tacho, die als die Diskussion zu bringen, den schlafenden Rat aufrüt- explizit anti-grüne Kraft von 1987 bis 1999 im Nationalrat teln oder zumindest seine Ruhe zu stören ist vorderhand vertreten war. Im Kanton St. Gallen wurde 1991 mit Pia nicht drin!»33 Hollenstein35 zum ersten Mal eine grüne Nationalrätin ge- wählt – sozusagen im dritten Anlauf nach 1983 und 1987. Im Nationalrat bildete sich eine Grüne Fraktion mit vier- Schluss zehn Mitgliedern. Als erste Fraktion im Bundesparlament stellte sie eine Frauenmehrheit. Die Grünen etablierten Was hat die grüne Bewegung der 1980er-Jahre bewirkt? Es sich in den 1990er-Jahren als politische Kraft auf nationa- lassen sich Linien zurückverfolgen, die in der heutigen ler Ebene – durch das erstmalige Ergreifen eines Referen- Politik wirksam sind, Vieles hat zu einem nachhaltigen dums, nämlich gegen das Projekt der Neuen Eisenbahn- politisch-kulturellen Wandel beigetragen, der die Schweiz Alpentransversalen (NEAT), in Weiterführung ihrer Er- verändert hat. Zwischenzeitlich eingetretene politische fahrungen mit überdimensionierten Infrastrukturprojek- Brüche machen anderes heute nur noch aus dem histo- ten und ihren nur wenig abgesicherten positiven Effekten. risch-zeitspezifischen Kontext versteh- und nachvollzieh- Ähnlich motiviert war die Ablehnung des vom Bundesrat bar. Zunächst brachte die grüne Bewegung der 1980er- vorgeschlagenen Beitritts zum Europäischen Wirtschafts- Jahre neue Protest- und Aktionsformen in die schweizeri- raum (EWR), eine Erweiterung des Binnenmarkt-Projekts sche Politik ein und trug so zum politischen Wandel bei. auf die EFTA-Staaten. Auch hier setzte sich bei den Grü- Vieles davon, was in den 1980er-Jahren im Allgemeinen nen die grundsätzliche Kritik am grenzüberschreitenden legal, aber oft ungehörig und provokativ war, gehört in- Wachstums- und Mobilisierungswahn durch, und zwar in zwischen zum normalen Repertoire der Politik im ganzen Form einer Nein-Parole zum EWR-Beitritt der Schweiz.36 Spektrum von links bis rechts. Das schweizerische politi- Damit trugen sie, vielleicht als Zünglein an der Waage, zur Absage an die von der mit Ausnahme der SVP gesamten politischen Elite des Landes getragene Liberalisierungs- und Integrationspolitik bei. 32 Flugblatt «Neu im Grossen Gemeinderat: GRAS Grüne Alternative St. Gallen», Aktion Einzug Januar 1985, AFGO.195. Grundlegend hat sich das Umfeld schweizerischer Politik 33 Broschüre «GRAS Grüne Alternative St. Gallen im Grossen Rat durch die Reformen Gorbatschows und dann den Zusam- 1984», Januar 1985, AFGO.195. 34 Im Bundesarchiv gibt es ein Video DRS-aktuell «SG: Ausgang menbruch der realsozialistischen Systeme in Mittel- und der Grossrats-Wahlen/Sieger: Grüne Partei und Autopartei» Osteuropa verändert. Die auf die Geistige Landesverteidi- 05. September 1988 (J2.225#2000/22#3517#1*). gung und den Antikommunismus zurückgehende autori- 35 Vgl. www.piahollenstein.ch/ täre politische Geisteshaltung, die das demokratische po- 36 Vgl. NZZ, EWR-Nein von 1992-Europapolitik – Treibstoff der Konser- litische System der Schweiz überformte und aushöhlte, vativen: «Generelle Skepsis gegenüber Wachstum und offenen erodierte rasch und ist in ihrer damaligen Massenwirksam- Märkten ist ... ein Wesensmerkmal der Grünen. Noch 1992 stand die GPS denn auch beim EWR im Nein-Lager – damals übrigens mit keit heute kaum noch nachzuvollziehen. Zwei innenpoli- der überzeugten EWR-Gegnerin (und heutigen grünliberalen Stän- tische Ereignisse in jenen Jahren beschleunigten diesen derätin) Verena Diener als Präsidentin.» Auch in den anderen EFTA- Prozess massgeblich, die Abstimmung über die Abschaf- Staaten waren die Grünen gegen den EU-Beitritt. fung der Schweizer Armee und die parlamentarische Un-

116 tersuchungskommission, die die nachrichtendienstliche Hartmann, Hans R.: Die 28 kantonalen Nachrichten- Erfassung («Fichierung») von Hunderttausenden von Lin- dienste, in: Komitee Schluss mit dem Schnüffel- ken, Grünen, Umweltschützern und Ausländern als po- staat (Hg.). Schnüffelstaat Schweiz. Hundert Jah- tenzielle Staatsfeinde aufdeckte. Beides stellte einen Tabu- re sind genug, Zürich 1990. Bruch dar, legte teilweise antidemokratisches und anti- Höltschi, René/Rockstroh, Christian: Bausteine für Alter- pluralistisches Verhalten führender Kreise offen und trug nativen. Ota Siks Dritter Weg in ein Wirtschafts- dazu bei, politischen Dissens öffentlich und demokratisch system der Nachmoderne, Grüsch 1985. akzeptabel und nachvollziehbar zu machen. Der Fichen- Jungk, Robert/Müllert, Norbert: Zukunftswerkstätten, Skandal bestätigte, was auch in der grün-alternativen Be- Hamburg 1981. wegung befürchtet, ausserhalb ihr aber oft als «Verschwö- Ladner, Andreas/Brändle, Michael: Switzerland: the Green rungstheorie» abgetan wurde, nämlich dass auch in St. Gal- Party, alternative and liberal Greens, in: Green len die politischen Aktivisten jener Zeit überwacht, ausge- Parties in Transition, Burlington 2008, S. 109–128. späht und nachrichtendienstlich erfasst wurden. Bislang Müller-Rommel, Ferdinand: Grüne Parteien in Westeuro- ist nicht geklärt, ob auch die St. Galler Grünen in den pa. Entwicklungsphasen und Erfolgsbedingungen, 1980er-Jahren von Spitzeln des Staatsschutzes infiltriert Opladen 1993. waren. In Vielem haben sich die Herausforderungen und Parkin, Sarah: Switzerland, in: Green Parties. An Interna- Rahmenbedingungen für grüne Politik in der Schweiz und tional Guide, London 1989. international verändert. Mit ihrer Etablierung als politi- Progressive Organisationen, POCH: Wer sind wir? Was scher Kraft auch in St. Gallen haben die Grünen dazu lokal wollen wir?, o. O. 1983. und grenzüberschreitend beigetragen. Rebeaud, Laurent: Die Grünen in der Schweiz, Zürich 1987. Roth, Roland: Gesellschaftstheoretische Konzepte zur Darstellungen Analyse neuer sozialer Bewegungen, in: Politische Vierteljahresschrift, 1983/3, S. 311–328. Bachmann, Guido/Burri, Peter/Maissen, Toya (Hg.): Das Ruckstuhl, Liana: Albert Nufer: Original? Paradiesvogel? Ereignis. Chemiekatastrophe am Rhein, Basel 1986. Pensionär, St. Gallen 2009. Bader, Gabriela, et al.: Geschichte der Grünen in der Schaffner, Hans Beat (Hg.): Grün bewegt: 20 Interviews Schweiz, Bern 2014 (www.gruene.ch). nach 20 Jahren Grüne Partei der Schweiz, Zürich Baer, Matthias/Seitz, Werner (Hg.): Die Grünen in der 2003. Schweiz. Ihre Politik, Ihre Geschichte, Ihre Basis, Skenderovic, Damir: Ökologische Bewegung, in: Histori- Zürich 2008. sches Lexikon der Schweiz, Bern 2012 (www.hls- Brassel-Moser, Ruedi: Grüne Parteien, in: Historisches dhs-dss.ch). Lexikon der Schweiz, Bern 2015 (www.hls-dhs- Widmer, Marina: Die Neue Frauenbewegung bewegte die dss.ch). Gesellschaft, in: Neue Frauenbewegung, 145. Neu- Degen, Georges: Der grüne Bogen – ein politisches Pro- jahrsblatt, hg. vom Historischen Verein des Kan- jekt zur Sammlung der Kräfte des Dissensprozes- tons St. Gallen, St. Gallen 2005. ses, in: Materialien zum «Grünen Symposium», Ziltener, Patrick: Die neuen sozialen Bewegungen in der St. Gallen 1986, S. 45–49. Theorie Jürgen Habermas' – Instrumente der Fend, Helmut/Prester, Hans-Georg: Wie wird man Grün- praktisch-emanzipativen Vernunft?, Seminararbeit wähler? Sozialer Wandel und Sozialisation von Universität Basel 1988 (unveröffentlicht). Parteipräferenzen, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 1985/2, S. 373–390. Forter, Martin: Falsches Spiel. Die Umweltsünden der Basler Chemie vor und nach «Schweizerhalle», Zürich 2010. Galtung, Johan: The Green Movement: A Socio-historical Exploration (1985), in: Ders.: Europe in the Ma- king, New York 1989 (auch: www.transcend.org/ galtung/papers/The%20Green%20Movement- A%20Socio-Historical%20Exploration.pdf). Grüne Alternative St. Gallen, GRAS: Materialien zum «Grünen Symposium», St. Gallen 1986. Guggenberger, Bernd: Krise der repräsentativen Demo- kratie?, in: Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1978.

117 Unter den Namen Interkommission organisiert die Progressive Organisation St. Gallen anfangs der 1970er-Jahre zusammen mit den italienischen und spanischen Kommunisten, den Sozialisten und der italienischen Gewerkschaftsgruppe Demonstrationen in St. Gallen. 1971 rufen sie zur Demonstration für die Freiheit von Angela Davis auf. Angela Davis ist eine US-amerikanische Bürgerrechtlerin, die sich für die Rechte von politischen Gefange- nen einsetzt. 1970 wird sie selber inhaftiert. Ihr droht die Todes- strafe. Am 4. Juni 1972 kommt sie frei, nachdem sich eine weltweite Bewegung für sie eingesetzt hat. Fotograf: Raniero Fratini. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialge- schichte, AFGO.228. 1. Mai-Demonstration 1972 in St. Gallen mit vielen Forderungen zur ­Besserstellung der Gastarbeiter und -arbeiterinnen. Fotograf: Raniero Fratini. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte, AFGO.228. Die St. Galler Anti-Apartheid-Bewegung

Pius Frey

In den 1980er-Jahren rückte die Auseinandersetzung mit Es wurde versucht, die lästigen Anti-Apartheid-Aktionen dem Apartheidstaat Südafrika immer mehr ins Bewusst- zu verhindern. Doch das gelang nicht. Immer grösseren sein vieler Menschen. Dadurch entstanden weltweit Anti- Kreisen wurde bewusst, dass die Rolle der Schweiz in Süd- Apartheid-Bewegungen. Mitte der 1980er-Jahre entwi- afrika sehr zwielichtig war. Auch engagierte Politikerin- ckelte sich auch in St. Gallen eine aktive Anti-Apartheid- nen und Politiker begannen sich mit der Sache zu befas- Bewegung (AAB). Beginn und Auslöser war u. a. die viel- sen. Sie wurden parlamentarisch aktiv oder beteiligten beachtete und gut besuchte Veranstaltungsreihe Befreiung sich an verschiedenen Aktionen. für Südafrika der Bildungsgemeinschaft St. Gallen im No- vember und Dezember 1985 in der Grabenhalle. Mit Vor- Im Oktober 1986 fand in der Grabenhalle eine grosse trägen, Filmen und Musik zeigten die Veranstalter, wie in Kunstausstellung gegen die Apartheid statt und im No- Südafrika die Apartheid entstanden ist und was sie an- vember besuchte die im Pariser Exil lebende ANC-Ver- richtet. Dazu gab es eine eindrückliche Plakatserie des treterin Dulcie September2 St. Gallen. Die AAB organi- Künstlers Alex Hanimann. Das Echo war gross. Es gab sierte mit ihr eine Pressekonferenz und eine kleine Akti- auch Gegner der Ausstellung (und vor allem der Graben- on. Dabei verlangte die AAB die Umbenennung der halle), die von einer nicht zu akzeptierenden politischen Krügerstrasse in Mandelastrasse. Und schrieb sie gleich Nutzung der Grabenhalle sprachen. Die AAB begann mit richtig an. Vor einiger Zeit wurde diese Strasse dann tat- ihrer Arbeit. Weltweit wurden Aufrufe zum Boykott süd- sächlich umbenannt. Sie heisst jetzt «Dürrenmattstras- afrikanischer Produkte und von Firmen und Banken,1 die se». An der Pressekonferenz im damaligen Restaurant Geschäfte mit Südafrika machten, lanciert. So war es Helvetia nahmen ausser Dulcie September AAB-Vertre- selbstverständlich, dass im März 1986 vor dem damaligen ter und -vertreterinnen, Gewerkschafterinnen und Ge- Bankverein – heute UBS – beim Rösslitor Kundgebungen werkschafter, der heutige Ständerat Paul Rechsteiner, der und Mahnwachen stattfanden. «Auch an euren Kontos damalige Stadtpräsident Heinz Christen und Regie- klebt das Blut Südafrikas! Boykottiert die Grossbanken!», rungsrat Hans Rohrer teil und riefen zu Sanktionen ge- stand auf einem Transparent. Mit Flugblättern, spontaner gen Südafrika auf. Musik, Performances, Gesprächen und der blossen Prä- senz wurde die Idee des Boykotts unter die Passanten ge- 1986 reichte Gemeinderat Thomas Wepf eine Interpellati- bracht. Die Beteiligung war gross. Polizei und Banken- on ein, die sich dafür einsetzte, dass sich die Stadt St. Gal- kreise beobachteten die Aktivitäten intensiv. Dabei wurde len an den Sanktionen beteiligt. die damalige Verkehrsüberwachungskamera beim Bro- derbrunnen gesetzeswidrig zur Überwachung der Aktio- Die AAB wirkte aktiv und kreativ weiter. Die Mahnwa- nen eingesetzt – obwohl laut Volksmehr 1985 solche Ka- chen auf dem Rösslitorplatz vor der UBS wurden weiter- meras ausschliesslich zur Überwachung des Verkehrs vor- geführt. Oder man rief die Passanten vor dem Neumarkt gesehen gewesen wären. Damals gab es noch ein «Komi- zum Boykott südafrikanischer Produkte auf, weil Gross- tee gegen mehr Überwachung» und alles wurde zu einem verteiler und andere Händler Früchte,3 frisch oder in Politikum. Büchsen, aus Südafrika verkauften. An solchen Aktionen4 beteiligten sich kirchliche und entwicklungspolitische Kreise wie auch Menschen mit politischer Linksorientie- rung. Ein wirklich gemischtes Grüppchen kam da zusam- men. Da waren intensive Diskussionen programmiert. Ein 1 Madörin, Mascha: Helfer der Apartheid oder «Verlässliche grosser Schock war die brutale Ermordung von Dulcie Freunde», 2008. September in Paris am 29. März 1988. Es war die Arbeit 2 Vgl. Lemmenmeier, Max, in: St. Galler Geschichte 2003, eines Auftragskillers. Darauf kam es auch in St. Gallen zu Bd. 8, S. 242. 3 Bacia, Jürgen/Leidig, Dorothée: «Kauft keine Früchte aus verschiedenen Aktionen. Viel Emotionen löste ein Farb- Südafrika!», Frankfurt a.M. 2008. beutel-Anschlag auf das UBS-Gebäude aus. Es kam zu ei- 4 Anti Apartheid Nachrichten, 1988/10. Mit Jahresbericht ner wahren Flut von Pressekommentaren und Leserbrie- AAB St. Gallen. fen. So holte der rechtsbürgerliche Politiker Peter Weigelt

120 zu einem Rundumschlag aus. Er verschwieg aber völlig den Grund der Aktion. Kein Wort zum Mord an Dulcie September, kein Wort zu den Schweizer Banken, die die Apartheid massiv stützten.5 Dieser Leser- brief löste eine sehr intensive und enga- gierte öffentliche Diskussion aus. Apart- heid war nun ein Thema. Bald tauchten Hunderte von echten Schweizer Bankno- ten auf, bei denen ein Aufruf gegen das Apartheid Regime aufgedruckt war. Im Juni 1988 fand eine eigentliche Boykott- woche statt mit Aktionen, kulturellen Veranstaltungen, Vorträgen, Dokumen- tationsfilmen und Lesungen. Viele fühlten sich angesprochen. Die Veran- staltungen waren gut besucht. Im dar- auffolgenden Jahr machte die AAB eine vielbeachtete Klein-Demo vor dem Geschäftssitz der Firma Marim- pex in Rapperswil. Diese Firma konn- te unbehelligt von der Schweiz aus ihre Erdölgeschäfte tätigen. Damit umging sie den internationalen Boy- kott gegen Südafrika. Die AAB be- teiligte sich auch an den 1. Mai-Ver- anstaltungen. Südafrikanische Red- nerinnen hielten kämpferische Re- den. 1989 intensivierte die jetzt breit abgestützte St. Galler AAB ihre Arbeit. Monatelang fanden jeden Donnerstag beim Rösslitor Banken-Piketts statt.6 Den Ban- ken, den apartheidfreundlichen Politikerinnen und Politikern,7 wie auch südafrikanischen Agen- ten8 wurden diese Piketts immer lästiger. Sie dachten Flugblatt mit dem Aufruf zum wohl, alles würde einfach wieder einschlafen. Alte und Banken-Pikett, St. Gallen 1989. Junge beteiligten sich. Drittwelt-Engagierte und Kirchen- Quelle: AFGO, Archiv Soziale Bewe- leute, wie auch Linke und Unpolitische beteiligten sich an gungen, Anti-Apartheid-Bewegung. den Piketts. Nun sollten diese Aktionen verhindert wer- den, die Gewerbepolizei wollte sie verbieten. Die AAB wehrte sich. Das Ganze kam vor das damalige Bezirksge- richt und dort hielt der damalige SP-Politiker und Anti- Apartheid-Aktivist Hans Fässler eine Rede. Tatsächlich musste dann die Gewerbepolizei ihre Nichtbewilligung 5 Kreis, Georg: Die Schweiz und Südafrika 1948–1994, Schluss- wieder zurückziehen. Doch die Apartheid-Befürworter bericht des im Auftrag des Bundesrates durchgeführten NFP 42+, blieben nicht untätig. So gab es bei einem Pikett einen Bern 2005. brutalen Überfall, welcher zu Verletzten führte. Und bei 6 Auch hier machten verschiedenste Menschen mit. Politische, Unpo- einer Liegestuhlaktion vor dem damaligen Reisebüro litische, kirchlich Engagierte, u. a. der verstorbene, früher in Rhode- Hausmann, im Kantonalbankgebäude an der Vadianstras- sien (Zimbabwe) wirkende Immensee-Missionar Joe Rutishauser und der ehemalige AAB-Präsident, Pfarrer Paul Rutishauser aus Horn. se, welche sich gegen Reisen nach Südafrika richtete, ver- 7 Besonders Politikerinnen und Politiker aus dem rechtsbürgerlichen suchten stadtbekannte Rechtsradikale Radau zu machen. Lager setzten sich äusserst engagiert für das Apartheid-Regime ein. Das beherzte Eingreifen verschiedener Menschen verhin- 8 Es gehörte dazu, dass in der Schweiz Agenten des südafrikanischen derte jedoch Schlimmeres. Regimes Aktionen gegen die Apartheid observierten.

121 Lied zum Skandieren an den Anti-Apartheid- Demonstrationen in St. Gallen, o. J. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (AFGO), Archiv Soziale Bewegungen, Anti-Apartheitsbewegung.

Auch eine der grössten Demonstrationen, die St. Gallen bei der Eternit-Tochter Everite. Es war darum nahelie- je erlebt hat, richtete sich gegen die Apartheid und gegen gend, dass eines Morgens vor den Werktoren der damali- Rassismus. Es war eine bunte und kreative Demo mit ei- gen Wild Leitz in Heerbrugg eine Zeitschrift zu den Vor- nem sehr gemischten Publikum, das die Innenstadt beleb- kommnissen in Südafrika verteilt wurde. Dabei machten te. auch aktive Gewerkschafter aus dem Rheintal mit. Für einige Aktivistinnen und Aktivisten endete die Aktion auf Mit dem Aufdecken der Fichen-Berge, die die politische dem Polizeiposten. Polizei, aber auch der Nachrichtendienst der Kantons- polizei St. Gallen, angehäuft hatten, wurde klar, wie die Im Zusammenhang mit der AAB St. Gallen gab es ver- Bewegung gegen die absolut nicht zu rechtfertigende schiedene kulturelle Höhepunkte. Unter anderem ein Apartheid überwacht und eben fichiert worden war. Konzert mit Abdullah Ibrahim in der vollbesetzten katho- Schon lange war das Engagement von Schweizer Indus- lischen Kirche St. Fiden. Irene Schweizer und der südaf- triekonzernen in Südafrika bekannt. Auch Ostschweizer rikanische Schlagzeuger Louis Moholo spielten im Waag- Firmen9 waren involviert. In Südafrika kam es zu Streiks haus. In der Grabenhalle traten Mahlathini & Mahotel- la Queens, der Dubpoet Mzwakhe Mbuli, Philip Tabane & Malombo und der Dance Hall Star Macka B auf. Dazu

9 Firmen aus dem damaligen Schmidheiny-Konzern. gab es Lesungen, Theater, Filme und einige besondere 10 Jahresbericht Verein AfriKaribik vom 23. Dezember 1989. Konzerte; viele mit Künstlerinnen und Künstlern aus dem 10 11 Comedia Buchhandlung. Buch- und Musikliste Südliches südlichen Afrika. Dabei spielte der neu entstandene Ver- Afrika, November 1989. ein AfriKaribik eine nicht unwesentliche Rolle.11

122 Weltweit wurde der Druck gegen die Apartheid immer Apartheidstaat Südafrika. 1994 fanden dann die ersten grösser und die Bewegung immer stärker. Als der Film Cry freien Wahlen in Südafrika statt. Die Ergebnisse sind be- Freedom im Kino Corso lief, wurden die Flugblätter den kannt. Verteilenden förmlich aus den Händen gerissen; das Spen- denkonto bekam danach ein beachtliches Volumen. Damit ging eine intensive und abwechslungsreiche, fast zehn Jahre dauernde Zeit von Engagement und Aktion zu 1990 wurde Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen. Ende. Die St. Galler AAB löste sich auf. Andere Gruppen Doch das Apartheid-Regime klammerte sich immer noch und Bewegungen entstanden, welche sich gegen Rassis- an die Macht. Umso wichtiger waren in dieser Zeit eine mus, Ausgrenzung und Rassenwahn engagieren. Vielzahl von Aktionen und Veranstaltungen. Die offizielle Schweizer Politik verteidigte immer noch zäh die schmut- 12 zigen Geschäfte und finanzielle Unterstützung eines ster- 12 Wie Anm. 5. benden Regimes. Damalige Politikerinnen und Politiker 13 Besonders engagiert für die Apartheid waren die Herren Blocher betätigten sich immer noch als Wanderprediger13 für den und Schlüer von der SVP und Senn von der damaligen SBG.

Informationsflugblatt der Anti-Apartheid-Bewegung zur Eternit- Tochter Everite LTD (Stefan Schmidheini) in Südafrika 1989, die bewaffnete Betriebssicherheitsdienste hat und die Armee auf das Firmengelände lässt. AFGO, Archiv Soziale Bewegungen, Anti-Apartheitsbewegung.

123 Solidarität statt Abwehr

Das Asylkomitee und der CaBi Antirassismus-Treff in St. Gallen im Zeichen der Flüchtlingshilfe

Christian Huber

Am 27. Februar 1986 erhielten die Medien in der Region und Zaire (der heutigen Demokratischen Republik St. Gallen ein Pressekommuniqué zugeschickt, das die Kongo) ganz zuoberst auf der innenpolitischen Agenda Gründung des «Komitees für eine solidarische Asylpoli- der eidgenössischen Räte.3 Das ursprünglich liberale tik» in der Stadt St. Gallen bekanntgab.1 Rund sieben Asylgesetz veränderte sich innerhalb weniger Jahre zu Jahre später bildeten gleichenorts Frauen und Männer einer Gesetzgebung, die die Attraktivität der Schweiz verschiedener Herkunft den Antirassismus-Treffpunkt als Aufnahmeland von Flüchtlingen stark verringerte.4 CaBi (Café-Bibliothek) als Treffpunkt für politischen Die offizielle Asylpolitik zwischen der Einführung des und persönlichen Austausch.2 Die beiden Ostschweizer Gesetzes im Jahr 1981 bis Ende der 1990er-Jahre kann in Organisationen stehen stellvertretend für den zivilgesell- fünf Schritten zusammengefasst werden: Die Senkung schaftlichen Widerstand gegen die zunehmend repres- der Anzahl Asylverfahren und -anerkennungen, die Be- sive Asyl- und Migrationspolitik der Schweiz in den schleunigung der Asylverfahren, die Erzwingung der 1980er-Jahren und gegen die steigende Gewalt gegen zwangsmässigen Rückschaffung abgewiesener Asylsu- Asylsuchende in den 1990er-Jahren. Wie die Geschichte chender, die Verschlechterung der Existenzgrundlagen der beiden Bewegungen zeigt, entstanden in der Ost- und die Nichteingliederung von Asylsuchenden in die schweiz ausserhalb des politisch-institutionalisierten Gesellschaft.5 Diese verschärfte Asylpolitik, aber auch Rahmens Solidaritätsbewegungen mit Flüchtlingen und die Erkenntnis, dass selbst Flüchtlinge mit hinreichen- Opposition gegen die geplanten Asylrechtsverschärfun- den Asylgründen abgewiesen und zunehmend durch gen. mediale Hetzkampagnen stigmatisiert wurden, waren die Hauptursachen für die schweizweite Aufbruchsstim- mung innerhalb der Asylbewegung. Mit viel Enthusias- Der Widerstand einer «anderen Schweiz» mus und der Überzeugung, dass man mit vereinten formiert sich Kräften gegen die politischen Verschärfungen antreten könnte, wurden zu jener Zeit in der Schweiz zahlreiche Als 1986 das nationale Parlament bereits die zweite ver- Organisationen im Asyl- und Migrationsbereich ge- schärfende Revision des erst 1981 in Kraft getretenen gründet.6 Auch in der Ostschweiz blieb diese Entwick- Asylgesetzes beriet, stand das Asylthema aufgrund der lung nicht folgenlos: Das aus verschiedenen Gruppie- stark zunehmenden Asylgesuche aus der Türkei, Chile rungen, Institutionen und Einzelpersonen mit kirchli- chem, humanitärem oder auch friedenspolitischem Hin- tergrund breit abgestützte Asylkomitee St. Gallen wurde im Februar 1986 ins Leben gerufen. Ziel war, «mit Öf- fentlichkeitsarbeit Rassismus und fremdenfeindlichen 1 Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Tendenzen entgegenzutreten […] und sich unter ande- Ostschweiz (AFGO), 090, Vorlass Fridolin Trüb. 2 AFGO.104, CaBi. rem auf ein allfälliges Referendum gegen die Asylgesetz- 7 3 Piguet, Etienne: Einwanderungsland Schweiz, Bern 2006, S. 96. revision vorzubereiten». «Wir waren eine lose Organisa- 4 Solidaritätsnetz Ostschweiz, et al. [Hg.]: «Das hier … ist mein tion ohne starre Mitgliedschaft, welche sich sowohl ge- ganzes Leben.» Abgewiesene Asylsuchende mit Nothilfe in der gen die politischen Verschärfungen wehren wollte als Schweiz: 13 Porträts und Gespräche, Zürich 2012, S. 226 f. auch Hilfe für Flüchtlinge anbot», fasst Mitgründer 5 Lanz, Anni/Züfle, Manfred: Die Fremdmacher. Widerstand gegen Christian Crottogini zusammen. Dazu traf man sich zu die Schweizerische Asyl- und Migrationspolitik, Zürich 2006, S. 58 f. regelmässigen Sitzungen im St. Galler Restaurant Stadt- 6 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 48–50. bären und später im eigenen Lokal an der St. Jakob- 7 AFGO.090, Vorlass Fridolin Trüb. Strasse, an denen immer zwischen zehn und zwanzig 8 Gespräch mit Christian Crottogini, Februar 2016. Mitglieder teilnahmen.8

124 Bereits am 4./5. April 1987 sollte es zum ersten Mal zu einer nationalen Abstimmung über die Asylpolitik kommen. Im Januar 1987 wurde dazu im «Stadtbären» das Abstim- mungskomitee gegründet.12 Es galt, «die Mitverantwor- tung der Schweiz an den weltweiten Flüchtlingsursachen aufzuzeigen, den Kampf anzusagen an die Abschreckungs- politik gegen Flüchtlinge und Ausländer und der Frem- denfeindlichkeit aktiv entgegenzutreten».13 Um eine mög- lichst starke einheitliche Stimme zu bekommen, wurde eine intensive Zusammenarbeit mit verschiedenen re- gionalen Organisationen gesucht. Zu diesen gehörten beispielsweise die Kantonalkirchliche Kommission für Flüchtlingsfragen, die Ostschweizer Sektion der Liga für Menschrechte und die linken Parteien. Aber auch mit na- tionalen Aktionen wie der Bewegung für eine offene, de- mokratische und solidarische Schweiz (BODS) oder der Asylkoordination Schweiz (AKS) wurden Aktivitäten ge- plant. Der Schwerpunkt des Asylkomitees lag auf einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit, welche durch Kundgebun- gen, Flugblätter, Lesungen, öffentliche Briefe, Filmabende im ehemaligen K-59 und Solidaritätsanlässe mit Flüchtlin- gen möglichst viele Menschen über die Situation der Asyl- suchenden und die Missstände in der schweizerischen Asylpolitik aufklären sollte.14 Wie in der ganzen Schweiz fand am 17. März 1987 ein «Banquet républicain»15 im gros- sen Ekkehard-Saal statt, an welchem gegen 200 engagierte Leute aus verschiedenen Lagern zusammen mit Flüchtlin- Aufruf zum Chile-Fest in der St. Galler Grabenhalle. Flugblatt gen zum Abendessen mit nachfolgender Diskussion und des Asylkomitees, 1987. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- Musik eingeladen wurden.16 Die Ostschweizer Arbeiterzei- und Sozialgeschichte Ostschweiz, AFGO.120, Asylkomitee. tung AZ schrieb von einer «ausgezeichneten Stimmung» im Saal, verbreitet durch «die offenen Herzen der anwe- senden Menschen» und die kritischen asylpolitischen Stel- Mit Referendum und öffentlichen Aktivitäten lungnahmen des damaligen SP-Stadtammanns Heinz gegen die Verschärfungen im Asylbereich Christen, der kantonalen SP-Präsidentin Kathrin Hilber und des SP-Nationalrats Paul Rechsteiner.17 Gemeinhin Als in den folgenden Monaten klar wurde, dass neben dem war das Asylkomitee vorwiegend mit kurdischen Organi- Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung (ANAG) sationen in Kontakt und sorgte dafür, dass an öffentlichen auch das Asylgesetz im Parlament Gegenstand von ver- Auftritten Geld für medizinisches Material für die Kon- schärfenden Revisionen würde, trat das St. Galler Asylko- fliktgebiete gesammelt werden konnte.18 Zudem bestand mitee im Sommer 1986 mit verschiedenen Aktionen in die Offensive. Zusammen mit unterschiedlichen regionalen Gruppierungen und linken Parteien wurden hauptsäch- lich in der Stadt St. Gallen erste öffentliche Solidaritäts- 9 AFGO.120, Asylkomitee. abende mit Flüchtlingen durchgeführt.9 Das Hauptaugen- 10 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 52. 11 AFGO.120, Asylkomitee. merk lag zu Beginn jedoch eindeutig auf der Unterschrif- 12 AFGO.120, Asylkomitee. tensammlung für das nationale Referendum gegen die 13 AFGO.120, Asylkomitee. Asylgesetzrevision, welches nach einem zwischenzeitlichen 14 AFGO.120, Asylkomitee. Notaufruf der Asylkoordination Schweiz (AKS) – einer 15 Der Begriff «Banquet républicain» bzw. «republikanisches Bankett» losen Organisation aus Vertreterinnen und Vertretern der geht auf das Ancien Régime zurück, als Intellektuelle das Versamm- asylpolitischen Basisgruppen und der regionalen Asylko- lungs- und Redeverbot unterwanderten, indem sie sich bei Speis mitees – am 26. September 1986 doch noch fristgerecht und Trank zu politischen Gesprächen trafen. Das gemeinsame Mahl und die Tischreden wurden zum Symbol der Freiheit, der Gleichheit 10 eingereicht werden konnte. Von den 60 177 gültigen Un- und der Brüderlichkeit. terschriften stammten fast 10% aus den Kantonen St. Gal- 16 AFGO.090, Vorlass Fridolin Trüb. len und Appenzell, was in den Protokollen des Asylkomi- 17 Ostschweizer Arbeiterzeitung, 83. Jg. (1987), Nr. 54 (19. März), S. 1. tees nicht ohne Stolz festgehalten wurde.11 18 Gespräch mit Christian Crottogini, Februar 2016.

125 eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Asylkomi- wurde mit 33% Ja-Stimmenanteil wuchtig abgelehnt.23 So- tee und dem Chile-Verein St. Gallen, einer kleinen Grup- mit musste das Komitee nach der Abstimmung neue pe von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für die Ver- Wege und Aufgaben suchen. Da schweizweit die Zahlen besserung der sozialen Stellung chilenischer Asylsuchen- der Asylgesuche anstiegen, was vor allem auf die gewalt- der in der Schweiz einsetzte.19 Nach dem Putsch Augusto samen Konflikte in Sri Lanka und in der Türkei zurück- Pinochets gegen den demokratisch gewählten sozialisti- zuführen war, bestand fortan «die Hauptaufgabe darin, schen Präsidenten Salvador Allende im Jahre 1973 hatte den direkten Kontakt mit den Flüchtlingen zu suchen».24 der Bundesrat ursprünglich nur 200 Menschen aus Chile Ähnlich der Freiplatzaktion25 in Zürich wurden auch in Schutz in der Schweiz gewähren wollen. Erst durch den St. Gallen Strukturen zur Kontaktaufnahme mit den massiven öffentlichen Druck und eine Welle der Solidari- Flüchtlingen aufgebaut. Nach Einführung des «Verfah- tät mit den chilenischen Flüchtlingen in der Schweizer rens 88» im Januar 1988, das mithilfe einer «Grenztorlö- Bevölkerung rückte der Bundesrat später von seiner ur- sung» die Flüchtlinge zwingen sollte, ihre Gesuche an sprünglich restriktiven Politik ab und bewilligte gegen einem der 26 eigens dafür vorgesehenen Grenzübergänge 2000 Opfern der faschistischen Junta in Chile die Auf- zu stellen, half das Asylkomitee den Asylsuchenden beim nahme in die Schweiz.20 Grenztor Österreich-Schweiz beim legalen Grenzüber- tritt.26 «Wir holten Kurdinnen und Kurden am Bahnhof Besondere Aufmerksamkeit im Vorfeld der Abstimmung Bregenz ab und halfen ihnen, die Asylanträge in St. Mar- erregte im März 1987 die vom Asylkomitee initiierte Aus- grethen zu stellen», erwähnt die ehemalige Aktivistin Do- stellung in der ehemaligen «Möbel Oase» im Heiligkreuz rothee Meyer.27 Wer ohne Begleitung war, wurde zurück- (St. Gallen), an welcher 22 Künstlerinnen und Künstler geschafft.28 Ebenfalls war die Kontaktaufnahme mit der aus dem Raum St. Gallen mit selbstgestalteten Plakaten Fremdenpolizei, aber auch mit Bewohnerinnen, Bewoh- gegen die Verschärfung des Asyl- und Ausländergesetzes nern und Betreibenden von Asyldurchgangszentren in der protestierten und sich so «für eine humane und offene gesamten Ostschweiz ein Hauptziel des Asylkomitees.29 Schweiz» einsetzten.21 Der Erfolg der Plakat-Aktion zeigte Die Besuche der Durchgangsheime Kirlenhof in Altstät- sich nicht nur an der gut besuchten Ausstellung. Die Pla- ten oder Neckermühle in Brunnadern dienten einerseits kate wurden im Anschluss an 14 weiteren Orten in der als Kontrollmassnahme, anderseits als Beweismittel zur ganzen Schweiz ausgestellt.22 Kritik am Umgang der Behörden mit den Flüchtlingen.30 Eine Petition, die der Staatskanzlei St. Gallen im Septem- ber 1988 überreicht wurde, forderte die Behörden und den Wie weiter nach der Abstimmung? Kantonsrat auf, ihre Verantwortung bei der Betreuung der Flüchtlinge wahrzunehmen und eine Arbeitsstelle zur Das vielfältige und aktive Engagement des Asylkomitees Begleitung der Asylbewerbenden im Asylverfahren zu und zahlreicher vergleichbarer Aktionen in der ganzen schaffen.31 Schweiz konnte den erwünschten Stimmungswechsel in der Bevölkerung nicht bewirken. Die Meinungen waren Neben der wichtigen sozialen Arbeit mit Flüchtlingen be- längst gemacht. Das Referendum gegen die Verschärfung anspruchte auch die politische Arbeit weiterhin die Kräfte des Asylkomitees. Die Zusammenarbeit mit der Asylkoor- dination Schweiz wurde intensiviert und zu überregiona- len Asylverbänden in Konstanz oder Kreuzlingen Kontakt 19 AFGO.120, Asylkomitee. 20 Schoch, Jürg: Chile-Flüchtlinge und die CIA, in: Journal21, gesucht. Ebenso dienten Informations- und Solidaritäts- 05. September 2013. Online abrufbar: www.Journal21.ch. anlässe im «Ekkehard» weiterhin dazu, den Kontakt zwi- 21 Pressetext der beteiligten Künstlerinnen und Künstler, in: schen Flüchtlingen und der restlichen Bevölkerung auf- AFGO.120, Asylkomitee. rechtzuerhalten und das Bewusstsein der Öffentlichkeit 22 AFGO.120, Asylkomitee. für die Situation der Asylsuchenden zu schärfen. In der 23 Piguet: Einwanderungsland (wie Anm. 3), S. 173. Grabenhalle organisierte das Komitee zudem Feste mit 24 AFGO.120, Asylkomitee. 25 Im Rahmen der Hilfsaktion «Freiplatz» wurden während des Zwei- Musik für die Asylsuchenden und die lokale Bevölke- 32 ten Weltkriegs viele Flüchtlinge von Mitarbeitenden der Aktion rung. privat untergebracht und betreut. Auch in den 1970er- und 1980er- Jahren lebte die Idee der Freiplatzaktion wieder auf. 26 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 60. Weitere Verschärfungen und zunehmende 27 Gespräch mit Dorothee Meyer und Ruedi Oestreicher, Februar 2016. Gewalt gegen Asylsuchende 28 AFGO.120, Asylkomitee. 29 AFGO.120, Asylkomitee. 30 AFGO.120, Asylkomitee. Auf die Krisen in der Türkei und in Sri Lanka folgten 31 AFGO.090, Vorlass Fridolin Trüb. Kriege im Libanon und in Jugoslawien, was die Menschen 32 AFGO.090, Vorlass Fridolin Trüb. weiterhin zur Flucht zwang und die Asylgesuche in der

126 Mit klarer Aussage und entsprechender Frakturschrift Diese Gesetzesrevision geht ins Auge. Künstlerplakat «Tannenberg». Künstlerplakat von Fausto Tisato, 1987. von Josef Felix Müller, 1987. Quelle: Plakatsammlung Quelle: Plakatsammlung Christian Crottogini. Christian Crottogini.

Künstlerplakat von Hansjörg Bachmann, 1987. Künstlerplakat von Peter Kamm, 1987. Quelle: Plakatsammlung Christian Crottogini. Quelle: Plakatsammlung Christian Crottogini.

127 Schweiz weiter stark ansteigen liess. Die Behörden wur- 14. April 1990 zusammen mit gleichgesinnten Aktivistin- den damit zunehmend vor Unterbringungsprobleme ge- nen und Aktivisten aus Deutschland und Österreich.38 stellt.33 Die Reaktion der Schweizer Politik blieb nicht aus: «In St. Gallen, wie auch in der gesamten Schweiz kamen Bereits 1990 trat über einen dringlichen Bundesbeschluss neue Themen auf. Einerseits leitete die zunehmende die dritte Revision des Asylgesetzes in Kraft, welche im Fremdenfeindlichkeit die Antirassismus-Bewegung ein. Wesentlichen zum Nichteintretens-Entscheid (NEE) – Anderseits verlagerten sich in der Stadt die politischen wodurch die sofortige Ausweisung möglich gemacht wur- Inhalte von der Asyl- zur Drogenproblematik», erklärt de – und bei negativem Asylentscheid zu einem dreimo- Ruedi Oestreicher, ein ehemaliges Mitglied des Asylko- natigen Arbeitsverbot führte.34 Anders als noch vier Jahre mitees.39 Einige Personen aus dem Asylkomitee begannen zuvor konnte sich die Asylbewegung diesmal nicht zu ei- in St. Gallen zusammen mit der Stiftung «Hilfe für Dro- nem Referendum durchringen. Ein Grund dafür lag in genabhängige» das «Bienenhüsli» aufzubauen, eine Art der neugeschaffenen unabhängigen ekurskommission,R Vorläufer der Gassenküche.40 Ebenfalls erschwerten Mei- welche Teil der Revision war. Auch die SP Schweiz und nungsverschiedenheiten zwischen dem Asylkomitee und die Schweizerische Flüchtlingshilfe unterstützten den Personen aus der Kurdenorganisation die Zusammenar- Bundesbeschluss.35 beit.41

Zu Beginn der 1990er-Jahre schlug in vielen Teilen der Bekräftigt wurde der Wandel im Widerstand gegen die Bevölkerung die Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen Migrationspolitik, als sich am 13. März 1992 in der Schweiz in brutale Gewalt gegen Asylunterkünfte und Asylsu- 29 Organisationen gegen den Fremdenhass zusammen- chende um. Von 1990 bis 1992 reihte sich ein fremden- schlossen und das «Forum gegen Rassismus» gründeten.42 feindliches Attentat an das andere.36 Durch diese gewalt- Fast genau ein Jahr später entstand in St. Gallen am 9. tätigen Übergriffe, die hemmungslose öffentliche Frem- März 1993 mit dem Verein Café-Bibliothek CaBi ein neu- denfeindlichkeit und die rigorose Wegweisungspraxis er Antirassismus-Treffpunkt.43 klagten viele Aktivistinnen und Aktivisten in den ver- schiedenen Asylkomitees über Gefühle von Ohnmacht und Frust. Hinzu kam, dass sich aufgrund der veränder- Der CaBi Antirassismus-Treffpunkt als ten Weltordnung nach 1989 viele Solidaritätsbewegungen zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge und in einer Krise befanden und die Kapazitäten, Druck aus- Migrantinnen und Migranten zuüben, schlichtweg erschöpft waren. Gleichzeitig bekam der Rechtspopulismus starken Aufwind.37 Weil der Asyl- und Fremdenfeindlichkeits-Thematik so- wie auch der Frage nach dem kantonalen Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer weder bei Der Widerstand im Wandel der kantonalen SP noch bei den Grünen eine wesentliche Bedeutung zukam, nahm mit dem CaBi Antirassismus- Auch innerhalb des St. Galler Asylkomitees ging das Treffpunkt eine neue progressive Stimme in der Ost- Engagement zu Beginn der 1990er-Jahre zurück. Die letz- schweiz die Arbeit auf.44 Personen aus dem Asylkomitee, ten Sitzungsprotokolle erwähnen den Ostermarsch am der Politischen Frauengruppe (PFG) und eine Gruppe von Migrantinnen und Migranten und Einheimischen wollten mit dem Betrieb eines selbstverwalteten, interna- 33 Piguet: Einwanderungsland (wie Anm. 3), S. 98 f. tionalen Antirassismus-Treffpunktes einerseits einen aus- 34 Solidaritätsnetz Ostschweiz (wie Anm. 4), S. 226 f. serparlamentarischen Anlaufpunkt für Migrantinnen 35 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 82. und Migranten schaffen, anderseits mit verschiedenen 36 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 79–81. Aktionen auf die weiteren Verschärfungen im nationalen 37 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 87. Asyl- und Ausländerrecht aufmerksam machen.49 Ein La- 38 AFGO.120, Asylkomitee. denlokal des ehemaligen Kinderkinos im St. Galler Lin- 39 Gespräch mit Dorothee Meyer und Ruedi Oestreicher, Februar 2016. 40 Gespräch mit Dorothee Meyer und Ruedi Oestreicher, Februar 2016. sebühlquartier diente dabei als Ort für regelmässige Sit- 41 Gespräch mit Christian Crottogini, Februar 2016. zungen und Anlässe mit Migrantinnen und Migranten 42 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 88. aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Getragen wur- 43 AFGO.104, CaBi. de die Organisation von einer Betriebsgruppe, welche die 44 Gespräch mit Bea Weder und Marina Widmer, März 2016. verschiedenen Aktivitäten diskutierte und darüber ent- 45 AFGO.104, CaBi. schied, wie der Raum für alle offen gehalten werden 46 AFGO.104, CaBi. 47 AFGO.104, CaBi. konnte. Die Finanzierung wurde über die Mitgliederbei- 48 Gerber, Brigitta: Die antirassistische Bewegung in der Schweiz. träge, aus dem Gewinn von Festanlässen, dem Erlös aus Organisationen, Netzwerke und Aktionen, Zürich 2003, S. 295. der Volksküche, Spenden und nicht zuletzt über die Ar- 49 Gespräch mit Bea Weder und Marina Widmer, März 2016. beit eines CaBi-Coiffeurs gedeckt.

128 Eröffnungsfest des CaBi (Café-Bibliothek) Antirassismus-Treffpunkts am 26. Juni 1993. Quelle: AFGO.104, CaBi-Antirassismus-Treffpunkt/Plakate.

Mit der anfänglich täglichen Betriebszeit von 17–20 Uhr, nen und Initianten des Antirassismus-Treffpunkts regel- den wöchentlich stattfindenden Deutschkursen, dem mässig über die Zustände und Vorkommnisse in den re- Aufbau einer vielsprachigen Bibliothek und der freitägli- gionalen Asylzentren und solidarisierten sich bei frem- chen Volksküche ab 1996 wurde der CaBi Antirassismus- denfeindlichen Vorfällen mit den Asylbewerbenden.53 Treffpunkt schnell zu einem Ort des politischen Aus- tauschs. Charakteristisch war die offene Zusammenarbeit Seit der Eröffnung wurden Menschen bei Problemen mit mit Migrantinnen und Migranten und Flüchtlingen, wel- Rassismus und Diskriminierung im Alltag oder durch che durch den Treffpunkt eine geeignete Plattform erhiel- Behörden, aber auch bei Fragen im Asylverfahren, ehren- ten, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Mit amtlich begleitet, unterstützt und beraten. Es wurden regelmässigen öffentlichen Veranstaltungen informierten Briefe geschrieben, Eingaben gemacht, Gespräche mit Leute aus verschiedenen Ländern im Zyklus «Kennst du den amtlichen Stellen gesucht, etc. Während vier Jahren mein Land jenseits der Schlagzeilen?» über die politische (1999–2003) erhielt die CaBi-Anlaufstelle gegen Rassis- Situation in ihrer Herkunftsregion und setzten diese in mus für ihre Arbeit Unterstützung durch Bundesgelder.54 Bezug zu ihren persönlichen Geschichten.50 «Der CaBi Dieser Aufgabenbereich wurde in den folgenden Jahren Antirassismus-Treff bot durch seine basisdemokratischen Strukturen und seine zentrale Lage in der Stadt ein nie- derschwelliges Angebot, welches sich an den Bedürfnissen der Migrantinnen und Migranten orientierte. Dadurch 50 AFGO.104, CaBi. konnte vielen von ihnen eine Stimme gegeben werden», 51 Gespräch mit Bea Weder und Marina Widmer, März 2016. 52 Gespräch mit Bea Weder und Marina Widmer, März 2016. erklärt Bea Weder, Mitinitiantin des CaBi Antirassismus- 53 Gespräch mit Bea Weder und Marina Widmer, März 2016. 51 Treffpunkts. Sehr viele Leute gingen im Lokal ein und 54 St. Galler Tagblatt, 173. Jg. (2011), Nr. 262 (9. November), aus, denen für eine Zeit lang der CaBi-Treffpunkt eine Art S. 33. Der jährliche Unterstützungsbeitrag des Bundes betrug Zuhause war.52 Ebenfalls informierten sich die Initiantin- 10 000 Franken.

129 weiterhin ehrenamtlich fortgeführt. Dabei erwies sich vor Bis heute prägend allem die Niederschwelligkeit des Antirassismus-Treff- punktes von Vorteil, weil an den verschiedenen Anlässen Das Hauptanliegen des CaBi Antirassismus-Treffpunktes im CaBi um Rat gefragt werden konnte und kann. lag seit seiner Gründung im Einsatz gegen den Rassismus und auf der solidarischen Unterstützung von Migrantin- nen und Migranten in allen Lebenslagen. Dies in einer Mit Kampagnen gegen weitere Verschärfungen Zeit, in welcher sich besonders die Lage der Asylbewer- im Asyl- und Ausländerrecht benden weiter verschärfte; sei es durch überbordende öf- fentliche Unterstellungen und Vorurteile, welche die aus- Neben der persönlichen Arbeit mit Migrantinnen und ländische Bevölkerung im Allgemeinen als Drogendealer Migranten, insbesondere Flüchtlingen, nahm der CaBi oder Kriminelle diffamierten, oder durch die 1995 in Kraft Antirassismus-Treffpunkt auch in der Koordination von getretenen Zwangsmassnahmen gegen abgewiesene Asyl- öffentlichen Kampagnen und Kundgebungen gegen die suchende. Während die SVP im Verlaufe der 1990er-Jahre nationale Asyl- und Ausländerpolitik eine wichtige Posi- schweizweit ihren kometenhaften Aufstieg feierte, drohten tion ein. Alle Referendums- und Abstimmungskomitees die solidarischen Stimmen der Asylbewegungen in der zu- in der Ostschweiz liefen unter der Federführung des nehmend xenophoben Grundstimmung unterzugehen.59 CaBi Antirassismus-Treffpunktes zusammen.55 Wie be- reits das St. Galler Asylkomitee, war man sowohl regional Bleibt zum Schluss die Frage, was die beiden asylpoliti- als auch national vernetzt mit unterschiedlichen Organi- schen Bewegungen politisch bewirken konnten. Eine sationen und Personen aus der Asyl- und Antirassismus- Antwort darauf liefert nicht zuletzt der Blick auf die na- Bewegung. Mit Flugblättern, Demonstrationen, Ausstel- tionale Praxis in Asyl- und Ausländerfragen: Auch in den lungen, Mahnwachen oder Filmtagen wollten die Initi- letzten 15 Jahren wurde die Situation durch gesetzliche antinnen und Initianten «gegen aussen präsent sein und Anpassungen weiter verschärft.60 Trotz alledem zeigen so- eine anti-nationalistische und anti-rassistische Solidarität wohl das Asylkomitee als auch der CaBi Antirassismus- zeigen».56 Nicht selten bezogen sie dabei auch zur euro- Treff, dass die ab Mitte der 1980er-Jahre entstandene So- päischen Migrations- und Militärpolitik Stellung.57 Feste lidaritätsbewegung mit Migrantinnen und Migranten in der Grabenhalle dienten dazu, den Antirassismus- trotz ihres Agierens als Minderheit einen wichtigen Bei- Treffpunkt bekannter zu machen, neue Kontakte zu trag leistete, um zum einen Missstände aufzudecken und knüpfen und die finanzielle Basis durch die Anwerbung Druck auf die Behörden und Entscheidungsträger auszu- von neuen Mitgliedern zu verbessern.58 Der CaBi Anti- üben, zum anderen um den Flüchtlingen eine Hilfe zu rassismus-Treffpunkt führte somit in vielerlei Hinsicht sein und die einheimische Bevölkerung über die «wahren die Ziele und Absichten des St. Galler Asylkomitees wei- Tatsachen» zu informieren.61 Dass der CaBi-Treff bis heu- ter und bezog dabei über die Asylfrage hinaus weitere te als lebendiges Integrationsprojekt existiert, in dem ak- Menschen mit ein. tive Personen und Besucherinnen und Besucher aktuelle politische Entwicklungen, gesellschaftliche Fragen und Aspekte der Integration thematisieren, zeigt, wie zeitge- mäss die Diskussion um Würde und Solidarität im Um- gang mit der ausländischen Bevölkerung, insbesondere 55 Gespräch mit Bea Weder und Marina Widmer, März 2016. mit Asylsuchenden, geblieben ist. In den 2000er-Jahren 56 AFGO.104, CaBi. sind zudem neue Bewegungen und Projekte im Asylbe- 57 AFGO.104, CaBi 58 AFGO.104, CaBi. reich entstanden, so das «Solidaritätsnetz Ostschweiz», 59 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 93. die «Beobachtungsstelle Ostschweiz», das «Solidaritäts- 60 Lanz/Züfle: Fremdmacher (wie Anm. 5), S. 139. haus» und vor wenigen Jahren die «Gruppe Zunder» und 61 AFGO.104 CaBi. die Veranstaltung «Nachtasyl».

130 Alternativ und unabhängig: die «GraZ»

Wolfi Steiger

Von 1988 bis 1994 erschien in St. Gallen zweimonatlich In den insgesamt 52 Ausgaben erschienen Artikel zu den das alternative Presseerzeugnis «Grabenzeitung», kurz Themen: Kollektives Arbeiten, günstiger Wohnraum, «GraZ» genannt. Im Impressum der ersten Nummer sind Stadtplanung, Verkehrspolitik, Repression in Knast und die Namen von sieben Redaktionsmitgliedern aufgeführt, Psychiatrie, internationale Solidarität, Asyl, Schwulen- offensichtlich Pseudonyme, und eine Postfachadresse. Emanzipation, Aids, Volkszählungsboykott, Kampf um Die Druckerei des neuen Blattes war der «Schwalbenver- das Frauenhaus, sexuelle Ausbeutung, Vergewaltigung. lag» an der Unterstrasse, eine Einzelnummer kostete 3, das Inhaltlich spiegelten sich in der «GraZ» die Geschlechter- Jahresabo 15 Franken. verhältnisse des Redaktionskollektivs, das zu mehr als der Hälfte aus Frauen bestand. Aktuelle Initiativen, zu deren Das Editorial auf der Frontseite war «An die LeserInnen» Sprachrohr die Grabenzeitung wurde, waren die Beset- gerichtet (alle Personenbezeichnungen sind mit weib- zung des Hotels Hecht am Marktplatz und der Wider- licher Endung und Binnen-I geschrieben): «Wir von der stand gegen den Waffenplatz Neucheln/Anschwilen. Redaktion fühlen uns als kulturpolitisch Interessierte und Engagierte von den bürgerlichen Medien ausgeschlos- sen.» Es gehe darum, mit einem unabhängigen Blatt den Leuten im Umfeld der Grabenhalle eine Möglichkeit zu geben, Infos auszutauschen. Das Projekt «Grabenzei- tung» begann mit einem Schwerpunkt zum Erhalt von erschwinglichem Wohnraum unter dem Titel «Häuser- kampf in Güllen-Town». Ihre Existenzberechtigung be- zog die Grabenzeitung zwar hauptsächlich aus dem Pro- grammservice für die Grabenhalle und das Programmki- no K59, Vorgänger des heutigen Kinok in der Lokremise, aber den MacherInnen war der Teil des Blattes mit den politischen Themen ein grosses Anliegen.

Die Grabenhalle in der Anfangszeit Mitte der 1980er-Jahre, noch ohne den Anbau. Quelle: Redaktion Kulturmagazin Saiten. Mehrere Male wechselte die «GraZ» das Format. Waren gang zum Frauentag vom 8. März 1989 ist ein solches es anfangs gefaltete A2-Bögen, so verkleinerte sich später Highlight. Das zweifarbige Titelblatt wurde von einer das Heft. Durch die Anschaffung einer Kleinoffsetma- Künstlerin in Linol geschnitten. Es ist ein Aufruf an die schine war es möglich, die Produktionskosten zu senken. Frauen: Schöpft eure Träume aus – Stürmt die Welt. Auf Die Titelseite enthielt jeweils rot als zweite Farbe. In den 16 Seiten wurden kulturelle und politische Themen be- späten 1980er-Jahren kostete ein Computer noch gegen handelt und mit einem gestalterisch ausgefeilten Layout 6000 Franken, ein solcher war für das non Profit-Projekt in Form gebracht. Ein Artikel dieser Ausgabe ist beson- «GraZ» jenseits der finanziellen Möglichkeiten. Die Her- ders lesenswert, er handelt von den Anmassungen des stellung der Zeitung war nur dank grossen idealistischen Leiters des Amtes für Kultur des Kantons St. Gallen, Dr. Einsatzes der Beteiligten möglich, denn Geld war keines Walter Lendi, gegenüber dem Verein Kino K59, weil sich da. Deshalb kam das Entgegenkommen des Inhabers einer dieser mit den BesetzerInnen des Hotels Hecht solidari- Typografiefirma, seine Textverarbeitungsmaschinen kos- siert hatte. Lendi drohte mit dem Entzug der Fördergel- tenlos benützen zu dürfen, sehr gelegen. der.

Die Artikel in der «GraZ» waren durchwegs nicht mit Am 2. April 1993, einem Freitag, feierte die «GraZ» in der Autorennamen gekennzeichnet, was nicht alle LeserIn- Grabenhalle mit «Volxküche», orientalischer Musik und nen goutierten. In einer in der Nr. 11 abgedruckten Zu- der Rap-Band «Primitive Lyrics» aus Zürich das 5-jährige schrift kritisierte ein Leser den Schreibstil und empfahl, Bestehen. Die Gründe für das Ende des Zeitungs-Projek- es würde «die Kommunikation und Auseinandersetzung tes ein Jahr später sind vielfältig: Nach dem Untergang wirklich fördern», wenn die Autoren bekannt wären. Ein der bipolaren Weltordnung war die politische Orien- einziges Mal kam die Redaktion der «GraZ» nicht darum tierung komplizierter geworden; die Mitglieder des Her- herum, vom Prinzip der Anonymität abzurücken – näm- ausgeberkollektivs waren jetzt in den Dreissigern und lich als Sergio starb. Das Herausgeberkollektiv widmete überdachten nochmals ihre Lebensentwürfe. Haupt- ihm das Titelblatt der GraZ im September/Oktober 1989. punkt aber war sicher der Umstand, dass die «GraZ» die Sergio war der Typograf des Projektes. Er starb in einem MacherInnen zu sehr forderte, sie waren permanent un- öffentlichen WC an einer Überdosis Heroin. Das war ein ter Druck und schafften es trotzdem nie, das Zeitungs- furchtbarer Schock für das «GraZ»-HerausgeberInnen- projekt zumindest kostendeckend zu produzieren, was kollektiv. zermürbend wirkte. Aber vorgespurt hatte die Graben- zeitung: 1995 erschien das Kulturmagazin «Saiten» zum Zu ihren besten Zeiten regte die Grabenzeitung die Mit- ersten Mal. Saiten füllte die Lücke mit dem Veranstal- arbeitenden textlich und auch grafisch zu kreativen tungskalender, die die Grabenzeitung hinterliess und war Höchstleistungen an. Die Nummer 7 im zweiten Jahr- inhaltlich auf ein breiteres Publikum ausgerichtet.

132 Titelblätter der Grabenzeitung von September/Oktober 1989, Oktober 1990, Dezember 1990 und Juli/August 1993. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz (AFGO), AFGO-Zeitschriften, Grabenzeitung.

133 «Wir fischen uns ein Geschenk» Die Hechtbesetzung 1988/1989

Kaspar Surber

Die Besetzung des Hotels Hecht am St. Galler Marktplatz Zertrümmert wurden an diesem frühen Donnerstagmor- an Weihnachten 1988 wurde zum Kristallisationspunkt gen nicht nur Fensterscheiben, in Scherben lag auch der für eine neue städtische Sozial- und Kulturpolitik. kurze Traum von einem vielseitig genutzten Hotel mitten in der St. Galler Innenstadt. Spricht man mit den Betei- Die polizeiliche Räumung trug den Namen «Proper». Das ligten auf allen Seiten, gewinnt man heute den Eindruck, heisst «ordentlich» und «sauber», und bestimmt kommt die nur fünf Tage dauernde «Hecht»-Besetzung sei erst manchem bei diesem Wort zuerst das gleichnamige Putz- gestern zu Ende gegangen. Sie wurde zum Kristallisati- mittel in den Sinn. Mehr als hundert Beamte von Stadt- onspunkt für eine neue Sozial- und Kulturpolitik. und Kantonspolizei waren am 29. Dezember 1988 um 04.40 Uhr im Einsatz, um das Hotel Hecht am St. Galler Marktplatz zu stürmen. Sie bildeten gemäss den Polizei- Für Freiräume akten einen äusseren Ring (zur Umleitung des Verkehrs), einen inneren Ring (zum Abfangen von Flüchtigen), «Plötzlich war da Platz!» So erinnert sich der Besetzer an dann stiessen zwei «Kampfdetachemente» und ein «Befra- seinen ersten Eindruck, als er sich am Weihnachtssonntag gungsdetachement» ins Hotel vor. Im Einsatzprotokoll mit anderen zusammen im Hotel wiederfand. Seinen Na- heisst es dazu: «Besetzer verhielten sich mit einer Ausnah- men will er bis heute nicht in diesem Text lesen: «Das me anständig und korrekt.» Spannende an der Sache war gerade, dass sie keine Autor- schaft hatte. Und es gab auch später keine Tendenzen, Peter Schorer, als Polizeivorsteher der politische Verant- dass sich jemand an die Spitze setzte. Es gab nicht Herrn wortliche, schaute sich den Einsatz vom gegenüberliegen- oder Frau Hecht.» Unterschiedliche Gruppen seien zu- den Café Merkur aus an. Er erinnert sich: «Rein technisch sammengekommen, längst nicht alle Beteiligten hätten war es ein interessantes Schauspiel. Damit es bei einem sich gekannt. Einige hätten über politische Erfahrung solchen Einsatz nicht zu gewalttätigen Ausschreitungen verfügt, andere ein kulturelles Unbehagen verspürt. Vor- mit verletzten Personen kommt, muss er wenn immer gängig traf man sich in der Grabenhalle, auf der Einla- möglich mit einer massiven Überlegenheit seitens der Po- dung hiess es vielversprechend: «Wir fischen uns selber lizei ausgeführt werden. Ebenso wichtig ist der Überra- ein Geschenk!» Ein Bild zeigte die Heiligen Drei Könige schungseffekt.» Einer der Besetzer, der sich in jener Nacht versammelt um die Krippe, statt des Christuskinds lag ein im «Hecht» aufhielt, schildert den Einsatz von der ande- Fisch darin. Der Eintritt ins leerstehende Hotel war durch ren Seite: «Die Räumung war völlig übertrieben. Sie wirk- einen Lieferanteneingang rasch geschafft, als Einbruchs- te wie ein filmreifer Antiterroreinsatz, es fehlten nur die werkzeug genügte ein Geissfuss. Blendgranaten. Die Polizei kletterte auf den Balkon, um in den 1. Stock einzudringen. Im Erdgeschoss schlug sie Drinnen präsentiert sich das Hotel wie bei der Schlies- mit Feuerwehräxten die ganze Schaufensterfront ein, um sung. Die Besetzerinnen und Besetzer – in den Flugblät- hineinzuhechten. Dabei stand die Türe offen. Die Polizei tern und Kommuniqués sprechen sie von sich konsequent hätte auch einfach reinmarschieren und sagen können: als BenutzterInnen – öffneten das Restaurant erneut und «So, liebe Leute, das wars.» hissten auf dem Eckturm die schwarze Flagge der Anar- chisten als Zeichen der Herrschaftslosigkeit. Die Nach- Ein erhalten gebliebenes Flugblatt stellte nach der Räu- richt von der Besetzung sprach sich wie ein Lauffeuer in mung eine «Quizfrage»: «Das Hechtgebäude hat insge- der Stadt herum. Bald tummelten sich zweihundert Leute samt 135 Fenster. Während des Aufenthalts einer bestimm- im «Hecht». «Seit dem Abend des 25. Dezember 1988 ist ten Interessengruppe in zwei Stockwerken wurde eine (1) der Hecht wieder offen für alle, die kurz einen Kaffee trin- Fensterscheibe beschädigt. Wegen der Räumung der ken wollen, essen oder übernachten – oder auch einfach Stadtpolizei wurden vierzehn (14) Fenster zertrümmert. einmal hineinschauen möchten, welche Möglichkeiten Also lautet die Frage: Wie viele Fenster sind noch ganz?» sich in diesen Räumen bieten», hiess es auf einem Flug-

134 sich im sozialen Umgang miteinander durchaus revoluti- onär angefühlt: «Für kurze Zeit war das Konkurrenzden- ken ausgehebelt, die das Kulturschaffen häufig bestimmt.»

Gegen Spekulation

Am «Hecht» prangte während der Besetzung ein Transpa- rent mit dem Konterfrei des Immobilien-Unternehmers Viktor Kleinert, der mit Messer und Gabel ein Haus ver- zehrt. Die Kleinert Geschäftshäuser AG besass die «Hecht»-Liegenschaft gemeinsam mit der Cinesca AG von Franz Anton Brüni, der die dazugehörigen Scala-Ki- nosäle betrieb. Kleinert hatte das Hotel im April 1987 vom vormaligen Besitzer übernommen, weil dieser nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel für eine Sanierung verfügte. Ein Baugesuch für den Umbau liess seither auf sich warten. Die Kritik an der Spekulation bildete den eigentlichen Anlass für die «Hecht»-Besetzung. Seit den 1970er-Jahren herrschte in St. Gallen eine Wohnungsnot, Das besetzte Hotel Hecht über die Jahreswende 1988/1989, die Stadt verfügte über die zweittiefste Leerwohnungszif- St. Gallen. Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und fer der Schweiz. Die Spekulation mit Altbauten und da- Sozialgeschichte Ostschweiz (AFGO), AFGO.146, Grabenzeitung- mit auch mit preisgünstigen Wohnungen erreichte zu Archiv, Fotograf unbekannt. Beginn der 1980er-Jahre einen Höhepunkt (vgl. dazu den Beitrag «Die Anti-Spekulationsbewegung der frühen 1980er-Jahre» von Ralph Hug). Um billigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, wurde die alternative Wohnbau- blatt. Darauf folgte eine Liste, wer alles in der Stadt ein genossenschaft «Wogeno» gegründet. Bedürfnis nach mehr Raum hatte: «Flüchtlinge hausen in Luftschutzbunkern ohne Tageslicht. GassenköchInnen Die Grabenzeitung, die interventionistische Publikation kochen in ausrangierten Bauwagen. FixerInnen haben des gleichnamigen Konzertlokals, beschrieb in ihrer Aus- noch immer keinen Raum. Musikgruppen üben in mie- gabe vom März 1988 das Gefühl der Ohnmacht, das mit sen teuren Kellern. Theatergruppen, KünstlerInnen sind der Wohnungsnot verbunden war: «Leider ist das, was wir auf der Jagd nach Proberäumen. Politisch arbeitende wollen, und das, was wir haben, nicht ganz dasselbe. Was Gruppen treten sich in engen Zimmern auf die Füsse. wir ganz bestimmt nicht haben, ist Wohnraum, der unse- Werkstätten müssen in Privaträumen geführt werden.» ren Ansprüchen genügen würde, und der eine elementare Voraussetzung für unsere Selbstverwirklichung wäre. Zu Der «Hecht» war das bekannteste Hotel von St. Gallen, gross ist die Kontrolle der Finanzgesellschaften, die Bau- am Olma-Umzug winkten hier früher die Bundesräte lobby und der Staat über den Wohnraum ausüben, und vom Balkon. Die Besetzung dieses Gebäudes mitten in zu einseitig sind die Besitzverhältnisse verteilt, als dass wir der Stadt war entsprechend eine Provokation. Dennoch die Möglichkeit hätten, in der Wohnpolitik mitzuent- stiess sie in der Bevölkerung auch auf Wohlwollen. Der scheiden.» Soziologe Thomas Greusing, der zwischen Besetzenden und Behörden vermittelte, erinnert sich, dass sich viele In einer Chronologie listet die Zeitung die Protestaktionen Leute über das leerstehende Hotel ärgerten, wie auch über gegen die Spekulation auf. Häufig wurde mit Transparen- die Baulücke des alten Stadttheaters, die seit Jahren dane- ten auf «Spekulationsobjekte» aufmerksam gemacht, es ben klaffte. «Die Bürger, die vorbeikamen, meinten zu kam aber auch schon im Vorfeld der «Hecht»-Besetzung zu den Besetzern: Eigentlich habt ihr Recht.» Aus dem Zu- kurzen Besetzungen. Die grösste war im Jahr zuvor an sammentreffen unterschiedlicher Gruppen habe sich eine Weihnachten eine Sauvage in einer Villa an der Scheffel- Fusionsenergie ergeben, es habe eine Aufbruchstimmung strasse 1 im St. Galler Museumsquartier. Die Chronologie geherrscht. «Die Stimmung war nicht verbissen, eher zeigt, dass die Besetzung des «Hechts» nicht im luftleeren spielerisch», erinnert sich auch der bereits erwähnte Be- Raum erfolgte. Sie stand vielmehr in einer langen Kette der setzer. Das weitere Vorgehen wurde jeweils gemeinsam an Kritik an der St. Galler Wohnungsnot. Und sie war auch Vollversammlungen bestimmt. Die Kreativität, die sich keine rein lokale Angelegenheit, sondern erfolgte vielmehr entwickelte, sei erstaunlich gewesen. Die Stimmung habe in einem nationalen Echoraum. Die Grabenzeitung listete

135 ten. Nach dem Ablauf der Frist sendete der Lokal- sender Radio Aktuell, das die Besetzung gewisser- massen live begleitete, in den Mittagsinforma- tionen ein überraschendes Interview mit Viktor Kleinert. Er sei als Eigentümer bereit, das Hotel bis zu den Renovationsarbeiten in Gebrauchslei- he abzugeben, sofern die Stadt St. Gallen die Ver- antwortung für die Liegenschaft übernehme. Das Angebot war zustande gekommen, weil sich Thomas Greusing als Präsident der «Wogeno» bei der Kleinert AG nach einer Zwischennut- zung erkundigt hatte. Eine erste Begehung mit der städtischen Feuerpolizei verlief positiv.

Der Countdown

Was in den nächsten vierzig Stunden passierte, darüber gehen die Einschätzungen bis heute auseinander. Thomas Greusing bot den Beset- zerinnen und Besetzern an, die Wohnbauge- nossenschaft könnte Träger einer Zwischen- nutzung sein. «Die Vollversammlung war da- mit einverstanden. Als Genossenschaft waren wir ideologisch toleriert. Alle wussten: Je- mand muss jetzt einfach den Mut haben und den Kopf hinhalten.» Die Verhandlungen, zuerst mit der Kleinert AG, später mit dem Stadtrat, beschreibt Greusing als «wohlwol- lend». Die Stadt habe sich aber unter star- kem Druck gefühlt: «In der Schweiz ver- handelte noch nie eine Stadtregierung während einer Besetzung über deren legale Fortsetzung.» Der Besetzer ergänzt: «Die Delegation hatte keine Vollmachten: Die Flugblatt der Hecht-Besetzerinnen und -Besetzer in Ergebnisse mussten stets wieder von der Vollversammlung St. Gallen, 1989. Quelle: AFGO.040, PFG/OFRA Archiv. abgesegnet werden.» Im Nachhinein, so sein Eindruck, hätten sich die Gespräche als «Scheinverhandlungen» he- rausgestellt: «Die Stadt brauchte einfach Zeit, um den Einsatz zur Räumung vorzubereiten.» Aktionen aus anderen Städten gegen die städtische Woh- nungsnot auf, zum Beispiel in Bern oder in Winterthur. Polizeivorsteher Schorer erinnert sich, dass er wegen der Das Transparent von Viktor Kleinert war denn auch nicht Besetzung den Skiurlaub mit der Familie abbrach und in St. Gallen gemalt worden, sondern es stammte von ei- nach St. Gallen reiste. Auf der Heimfahrt habe er seinem nem Protest gegen dessen Geschäftstätigkeit in Biel. Sohn erklärt, was ein Ultimatum bedeute. «Mein Sohn verglich die Situation darauf mit einem Lehrer, der trotz Ausgerechnet Kleinert war es, der der Besetzung eine un- Androhung eine Strafaufgabe nicht einfordert. Diese erwartete Wendung verschaffte: Bereits am 25. Dezember Kindersicht war für mich einleuchtend: Wird einem Ul- hatte Kinobesitzer Brüni eine Klage wegen Hausfriedens- timatum nicht Folge geleistet, muss man die damit ver- bruch eingereicht. Gemäss Polizeijournal erkundigte er bundene Drohung wahrmachen. Sonst verliert man die sich schon am nächsten Tag, ob er dieses «Puff» noch den Glaubwürdigkeit.» Man habe die Verhandlungen «sehr ganzen Tag dulden müsse. Am 26. Dezember reichte auch ernst» gemeint, beteuert Schorer. «Dass man zugleich die die Kleinert AG eine Strafanzeige ein. Die Stadtpolizei Polizei vorsorglich für die Räumung zusammenzog, war teilte darauf den Besetzerinnen und Besetzern mit, dass zur Vorbereitung einer möglichen Räumung unabding- sie die Liegenschaft bis am nächsten Mittag räumen müss- bar.»

136 Die Akten und Medienberichte lassen den Eindruck ent- ten. Ebenso wurde die Schaffung eines Treffpunkts für -Fi stehen, dass die Behörden und die Besetzenden in diesen xerinnen und Fixer in Aussicht gestellt. Auf dem Woh- vierzig Stunden aneinander vorbeiredeten. Der Stadtrat nungsmarkt wollte man leerstehende Liegenschaften ver- forderte ein Ende der Besetzung, damit bis zum 7. Januar hindern und damit die Spekulation eindämmen. gemeinsam mit den jungen Leuten künftige Nutzungen abgeklärt werden könnten. Argumentiert wurde mit einer Die Grabenzeitung zog im Artikel «Alles in Butter?» ein hohen Brandgefahr. Die Besetzerinnen und Besetzer woll- Jahr später eine zwiespältige Bilanz: Die Gassenküche war ten in den ersten beiden Stockwerken des Hotels bleiben noch immer auf der Suche nach einem Standort, die Dro- und bis Mitte Januar die Trägerschaft für eine Zwischen- genabhängigen hatten im «Bienenhüsli» am Unteren Gra- nutzung konkretisieren. Nachdem bereits zwei Aufforde- ben einen ersten, allerdings prekären Treffpunkt gefun- rungen verstrichen waren, das Gebäude zu verlassen, stell- den. Tendenzen, die Wohsituation zu verbessern, seien te der Stadtrat ein Ultimatum auf den 28. Februar um nicht abzustreiten – doch noch immer sei es «brutal Mitternacht: Die Besetzerinnen und Besetzer sollten bis schwierig», eine preisgünstige Wohnung zu finden. Für dahin bestätigen, den Hecht am nächsten Mittag zu ver- den damaligen Stadtrat Peter Schorer steht die «Hecht»- lassen. Gestützt wurde das Ultimatum durch ein Begeh- Besetzung aus heutiger Sicht am Anfang der neuen Dro- ren auf unverzügliche Räumung durch die Cinesca AG genpolitik, mit der gegen viele Widerstände unter ande- und die Kleinert AG. rem die staatliche Heroinabgabe durchgesetzt wurde. «Die Besetzung hat das Problembewusstsein verstärkt. Es Um Mitternacht erschien eine siebköpfige Besetzungs- war entscheidend, den Drogenkonsum als Problem zu ak- Delegation im Rathaus und verlangte eine schriftliche zeptieren, das es zu bearbeiten galt, statt ihn bloss zu be- Zusicherung, dass sie bei einem Verlassen des Gebäudes kämpfen. Nur so wurden neue Lösungen möglich.» später zurückkehren könnten. Der Stadtrat legte eine sol- che vor, allerdings mit einigen Eventualitäten verknüpft. Dass die Besetzerinnen und Besetzer mit ihrer Kritik Er verlangte weiterhin eine Bestätigung, dass die Beset- durchaus richtig lagen, zeigt die weitere Geschichte. Das zenden aus dem Hecht ausziehen. Diese hingegen wollten Imperium von Viktor Kleinert, das sich bis nach Kanada den Vorschlag zuerst an einer Vollversammlung disku- erstreckte, ging 1992 während der Schweizer Immobilien- tieren. «Man hatte Angst, dass es später einfach heissen krise Konkurs. Kinobesitzer Franz Anton Brüni kaufte könnte, das Hotel sei für solche Zwecke ungeeignet», den «Hecht» aus der Konkursmasse. Ein Umbau mit Bü- schrieb die Ostschweizer Arbeiterzeitung AZ. Nach dem ros und Restaurants setzte dem jahrelangen Ärgernis am Treffen erklärte der Stadtrat die Verhandlungen als ge- St. Galler Marktplatz ein Ende. Nur wenige Jahre später scheitert und erteilte der Polizei den Befehl zur Räumung. hätten sich die Standortentwickler über ein Kulturhotel Für die Delegation wirkten die Gespräche nicht abge- mitten in der Stadt bestimmt die Hände gerieben. schlossen. Thomas Greusing ging zuerst ins «Hecht», um über den Stand der Verhandlung zu berichten, und dann Auch der damalige Besetzer beurteilt die Auseinanderset- nach Hause. Erst am Morgen erfuhr er von der Räumung. zung um den «Hecht» als folgenreich: «Die Stadt ist kul- «Die Stadt hat sich damit eine grosse Chance vergeben.» turpolitisch ganz schön in die Gänge gekommen. Sie hat Als Wertung der Ereignisse drängt sich auf, dass sich die beispielsweise die Ateliers in der Reithalle eingebaut. Da- Immobilienbesitzer und die Stadt nach anfänglicher Irri- mit wurden letztlich aber auch viele frei geäusserte Be- tation offensichtlich zu einer gemeinsamen Strategie zu- dürfnisse kanalisiert.» Die «Hecht»-Besetzung bleibt für sammengefunden hatten. ihn das lokale Symbol einer Öffnung, die kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 überall in der Luft lag. Ein Geist, der sich im Übrigen auch im juristischen Um- Das Fortleben gang mit den Besetzenden zeigte: Die Verfahren wurden allesamt eingestellt, weil man keine so genannten Draht- Nach dem Ende der Besetzung hagelte es politische Kritik. zieher fand. Von links hiess es, der Stadtrat habe übertrieben reagiert, von rechts lautete der Vorwurf, er sei den illegalen Beset- zerinnen und Besetzern zu weit entgegengekommen. Zu Quellen einer Protestkundgebung nach der Räumung erschienen Für die Recherche wurden im Archiv für Frauen-, Geschlech- fünfhundert Teilnehmende. Im Parlament wurden mehre- ter- und Sozialgeschichte Ostschweiz die Bestände AFGO.040, re Interpellationen eingereicht. Der Stadtrat versprach in AFGO.190 sowie im St. Galler Stadtarchiv im Privatarchiv seiner Antwort den Umbau der Reithalle zu Ateliers und Sabin Schreiber die Bestände PA X, 97,1 bis PA X, 97,8 be- Proberäumen für Künstlerinnen und Musiker. In der So- nutzt. Die Gespräche mit Peter Schorer, Thomas Greusing zialpolitik sollte die in einem Bauwagen untergebrachte sowie dem zitierten Besetzer wurden zwischen Januar und Gassenküche einen festen Standort mit Tagesbetrieb erhal- April 2016 geführt.

137 Neuchlen-Anschwilen und «40 Waffenplätze sind genug» – eine Bewegung kämpft mit vielfältigen Mitteln gegen einen Waffenplatz

Michael Walther

I Chronologie der Bewegung – ein Abriss Einzelne Bürgerinnen und Bürger waren bereits gegen den Waffenplatz. Der Mut und Wille, zu später Stunde Die Vorgeschichte des Widerstands gegen den Waffen- einen Widerstand zu organisieren, kamen einer Schülerin platz Neuchlen-Anschwilen geht einher mit dem Natio- und einem Schüler zu. nalstrassenbau und einem Landschacher: 1957 genehmig- ten die Eidgenössischen Räte das Nationalstrassennetz. Am 2. Oktober 1989 beschloss der Nationalrat mit 132:15 Die Kaserne auf der Kreuzbleiche St. Gallen, der Waffen- Stimmen den ersten Kredit von 34 Millionen Franken platz im Breitfeld und die Schiessplätze im Sittertobel zum Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen.4 Die zweite und würden tangiert sein. 1972 kaufte der Kanton Grundstü- dritte Tranche von 49,5 Millionen wurde am 19./20. Juni cke in Anschwilen, die er 1976 mit dem EMD tauschte, 1990 mit 128:59 Stimmen gesprochen.5 was die Gemeindebehörden erst nach dem Grundbuch- eintrag erfuhren.1 Die Gründung der «Aktionsgruppe zur Rettung von Neuchlen-Anschwilen» (Arna) erfolgte am 27. Oktober Die St. Galler Kaserne wurde 1980 wegen des Baus des 1989. Am 26. Dezember wurde ein 24-stündiges Mahn- Autobahnanschlusses Kreuzbleiche abgerissen. Später feuer entzündet – bei rund 600 Teilnehmenden. Am 3. zeigte sich, dass der Platz für die Autobahn nicht ge- März 1990 kam die erste «Schräge Zeitung» oder «SchräZ», braucht wurde.2 das Vereinsorgan, heraus und erschien bis Sommer 1993 15 Mal. Am 17. März 1990 fand in St. Gallen die erste Den Anfang des Widerstands gegen den Waffenplatz be- Grosskundgebung mit 1400 Personen und Nationalrat schreibt Hansueli Trüb wie folgt: «Frühling 1989. Eine Hansjörg Braunschweig als Redner statt. Am 20. März junge Frau der Juso Gossau ruft mich an. Bundesrat Vil- verlor ein erster Bauer durch eine Gant seinen Hof. Am liger werde demnächst die Verträge mit den vom Waffen- 26. März errichtete die Antiwaffenplatzbewegung im platz betroffenen Gemeinden unterzeichnen. Ob ich das Wissholz das erste Camp.6 Projekt erklären könne. Als Kantonsrat wisse ich sicher Bescheid. Wir treffen uns in Anschwilen. S. hat noch ei- Baubeginn war am 5. April um sieben. Die LKWs der Bau- nen Freund mitgebracht, der fotografiert. Sie sind sich firma und ein Trax wurden blockiert. Es gab erste Verzei- rasch einig, dass Kaspar Villiger nicht auf lauter Zustim- gungen wegen Nötigung. Tags darauf wurde ein Zaun mung stossen dürfe. Am 8. Mai 1989 trifft der ‹Chef errichtet. Die ersten Verzeigungen wegen Hausfriedens- EMD› nach Vertragsunterzeichnung beim Verlassen des bruchs erfolgten. Am 17. April legten 400 Aktivistinnen Restaurants Ochsen Gossau auf etwa acht protestierende und Aktivisten die Bauarbeiten den ganzen Tag lang lahm. junge Leute.»3 In der Nacht des 22. April legten Rechtsextreme nahe des Camps Feuer. Am 24. April gab es einen «Zischtigsclub» zum Widerstand. Das Thema war national geworden.7 1 Butz, Richard/Trüb, Hansueli/Weishaupt, Peter (Hg.): Feuer in Neuchlen – Widerstand gegen Waffenplätze, Zürich 1992, Am 26. April beschlossen 550 Personen an einer Vollver- S. 187. sammlung die Lancierung der Waffenplatzinitiative. Am 2 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 187. 4. Mai schoss die Polizei mit Gummischrot gegen Aktivis- 3 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 10 f. tinnen und Aktivisten. Eine Frau wurde verletzt und mit 4 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 188. 8 5 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 191. der Ambulanz abtransportiert. 6 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 188. 7 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 189. Am Pfingstmontag, 4. Juni, fanden eine Kundgebung mit 8 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 189. mehreren Nationalräten und ein ökumenischer Gottes-

138 II Gona, Arna und ABD – Isga als Opposition gegen die Opposition

Gegen den Waffenplatz formierte sich zunächst die Gona – Gewaltfreie Opposition Neuchlen-Anschwilen. Sie bil- dete den Widerstand vor Ort. Ihre Entscheide fielen ba- sisdemokratisch per Vollversammlung. Wer da war, be- stimmte mit. Geld für Essen oder Aktionen wurde ge- spendet. Die Arna (Aktionsgruppe zur Rettung von Neuchlen-Anschwilen) besass eine Vereinsstruktur mit Vorstand und Copräsidium. Der Verein bezweckte die Verhinderung des Waffenplatzes und trug die erwähnte Volksinitiative.

Die Unterschiede zwischen der Gona und der Arna wur- den gepflegt. Man hielt es als nicht förderlich für den Er- Widerstand in Neuchlen-Anschwilen, 1990/1991. folg der Initiative, wenn beide zu sehr verknüpft waren. Alle Fotos vom Fotografen Gaston Isoz. Quelle: Privat- Trotzdem arbeiteten viele, die beim Widerstand mitwirk- archiv Gaston Isoz. ten, auch für die Volksinitiative. Zahlreiche Arna-Mit- glieder waren aber beim Widerstand vor Ort nicht direkt involviert. Die Gona war jünger, die Arna bürgerlicher. dienst mit Konfirmation und Taufe statt. Am 23. Juni pil- Die Bewegung wurde stark von der GSoA, der SP und gerten 3000 Demonstrierende vom Bahnhof Gossau aufs den Grünen unterstützt, aber auch von Personen, die Gelände des geplanten Waffenplatzes, das mit 2000 be- sonst nicht politisch aktiv waren. Einzelne Bürgerliche – malten Leintüchern markiert worden war.9 etwa ein Jäger aus einer umliegenden Gemeinde – oder Exponenten bürgerlicher Parteien unterstützten die Die Volksinitiative wurde am 26. Juni lanciert. Am 6. Juli Gona. Die Aktion Baustopp und Denkpause (ABD) wie- waren die beiden ersten Anlagen – «Sprenggarten» und derum unterstützte die Ziele der Arna, betonte aber durch Hindernisbahn – fertiggebaut. Während des Sommers die eigene Organisation, dass nicht nur Linke gegen den sammelten Dutzende Aktivistinnen und Aktivisten Waffenplatz kämpften. schweizweit Unterschriften per Velosternfahrt. Die Volks- initiative «40 Waffenplätze sind genug» wurde am 14. De- zember mit 117 989 gültigen Unterschriften eingereicht.10

Am 1. Februar 1991 fand am Bezirksgericht Gossau der «Pilotprozess» gegen zwölf Aktivistinnen und Aktivisten statt. Am 25. Februar standen die ersten Rekruten im «Sprenggarten». Am 7. April gab die «Arna» den Kauf ei- nes weiteren Hofs (14 Hektaren) beim Waffenplatz durch das EMD bekannt. Am 4. Juni beschloss der Nationalrat mit 87 zu 71 Stimmen einen Kredit von 3,9 Millionen Franken zur Umzäunung der Baustelle für den Kasernen- bau. Der Wiederbaubeginn erfolgte unangekündigt am 3. September um fünf Uhr. Der Bau wurde von rund 50 Protectas-Leuten mit Hunden bewacht. Es kam zu hals- brecherischen Manövern gegen die Aktivistinnen und Aktivisten. Am 19. Dezember gaben diese den Verzicht auf Protestaktionen bekannt. Sie forderten den Abzug der Protectas und den Verzicht auf den Kasernenbau bis nach Widerstand in Neuchlen-Anschwilen, 1990/1991. der Abstimmung.11

Am 29. Januar 1992 empfahl der Nationalrat die Volksin- 9 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 190 f. itiative «40 Waffenplätze sind genug» mit 55 zu 111 Stim- 10 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 191. men zur Ablehnung. Bundesrat Villiger verordnete einen 11 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 192 ff. Baustopp bis nach der Abstimmung im September 1993.12 12 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 194.

139 Widerstand in Neuchlen-Anschwilen, 1990/1991.

Mit der Isga, die mit «Interessengruppe für sinnvolle und stand, Utopie, Friedenspolitik und Ökologie und 1991 glaubwürdige militärische Ausbildungsanlagen in der Friedenserziehung, Effizienz linker Politik und Rassismus Ostschweiz» den längsten, euphemistischen Namen trug, aufgearbeitet. hatte die Arna am 1. März 1990 eine Opposition gegen die Opposition auf den Plan gerufen. Organisiert und gelei- Zum Angebot zählten auch Schreibwerkstätten. Am 11. tet wurde die Isga vom späteren Nationalrat und PR-Un- August 1990 spielte der Schauspieler Walter Küng eine ternehmer Peter Weigelt. dramatisierte Fassung von Franz Kafkas «Der Bau».15 Die Sommerunis boten Grosszelt, Camping und Verpflegung Die Gona unterhielt bis Ende 1991 mehrere Camps, die auf dem Land einer Bauernfamilie. Bei einem Gesamtauf- infolge Repression seitens der Behörden immer weiter wand von 6657 Franken machte die Sommeruni 1990 vom Bauplatz entfernt aufgebaut werden mussten. Meh- noch 1331 Franken Gewinn.16 rere Bauernfamilien unterstützten die Gona. Eine wandte sich sogar direkt gegen das EMD, von dem sie durch die In «Widerstand als Gesamtkunstwerk» schrieb Richard Pacht abhängig war.13 Butz: «Sonntag, 17. Juni 1990: Vierzehn Schriftstellerin- nen und Schriftsteller trugen Texte gegen den Waffenplatz Trotz loser, informeller Organisation wies die Gona eine vor. Unter den Auswärtigen befanden sich Jürgmeier, Eri- ideologische Klammer auf: den gewaltfreien Widerstand. ca Brühlmann-Jecklin und Niklaus Meienberg. Aus Stadt Die Linie war mit dem Internationalen Versöhnungs- und Region kamen Eveline Hasler, Helen Meier, Theres bund erarbeitet und geübt worden, sodass die Grenzen Roth-Hunkeler oder Christine Fischer. Botschaften und des gewaltfreien Widerstands nie überschritten wurden.14 Texte trafen ein von Otto F. Walter, Kurt Marti, August E. Hohler und, und …».17

III Sommeruniversitäten, «Kultur Am 30. Juni 1991 lasen gemeinsam Peter Bichsel und Adolf gegen Waffenplätze» Muschg. Franz Hohler war schon am 22. Mai vor Ort. Sil- vio Blatter las am 16. September 1990 im «Sprenggarten».18 Die Aktivitäten von Arna und Gona reichten über Blo- ckadeaktionen, Kundgebungen und Volksinitiative hin- Mit den regelmässigen Mittwochsveranstaltungen erhielt aus. 1990 und 1991 wurde jeweils eine zehntägige Som- «Kultur gegen Waffenplätze» ein Label. Vor Ort waren meruni durchgeführt. Mit je über zwei Dutzend Referie- Aernschd Born, Space Shuttle, Spindle, Rams, Walter renden und Workshops wurden 1990 die Themen Wider- Lietha, Linard Bardill, Vera Kaa oder Paul Giger, Peter Waters, Roman Signer. Die Liste ist keinesfalls vollstän- dig. Ein beträchtlicher Teil Schweizer Kulturschaffender 13 Erinnerungen, Zusammenfassung und Bewertung Michael gab sich in Neuchlen-Anschwilen ein Stelldichein gegen Walther, 2015. Waffenplätze.19 14 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 28 f. 15 Arna/Gona/Walther, W. (Hg.): Doku Sommeruni, Widerstand im ­Gesamtblick, St. Gallen 1990, S. 85. IV Repression, Protectas 16 Arna/Gona/Walther: Doku Sommeruni (wie Anm. 15), S. 94. 17 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 49. 18 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. S. 193 f. In «Feuer in Neuchlen» machen Ralph Hug und Erich 19 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 52 ff. Keller Repression auf drei Ebenen aus: rechtsextreme 20 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 65. Schlägertrupps, Propaganda, eskalierende Polizeigewalt.20

140 Widerstand in Neuchlen- Anschwilen, 1990/1991.

In der Nacht des 1. Juni 1990 überfiel ein Dutzend uni- Sogar von der Polizei waren Aktivistinnen und Aktivisten formähnlich Gekleidete mit Schlagstöcken, Ketten, Mes- getreten und geschlagen worden. Ein Mann wurde aus sern und Petarden das Camp, zerstörten Zelte und steck- einer Blockadegruppe gerissen und mit dem Kopf gegen ten das Infozelt in Brand. Es gab zwei Verletzte. Als der eine Holzbeige gestossen. Anderen wurden Brillen zer- Widerstand in Neuchlen begann, hätten sich «Rechts- schlagen oder Prellungen zugefügt. Im Mai 1990 setzte die extreme wieder verstärkt bemerkbar gemacht».21 Polizei erstmals in der Ostschweiz «Skunk-Öl» der Gift- klasse 4 sowie Gummischrot ein.27 Bereits am 7. April 1990 – dem dritten Widerstandstag – drohte eine «Nationale Bürgerwehr», im Camp «aufzu- Als das EMD die Bewachungsfirma Protectas einsetzte, räumen». Hansueli Trüb bedrohte man, «an einem trüben kommentierte Waffenplatz-Projektleiter Hans-Ulrich Ort ein Feuerchen zu machen». Das Infozelt beim Bauge- Solenthaler, dass es in Neuchlen «keinen Pudel wie die lände wurde auch am 14. und 15. April angezündet.22 Securitas, sondern einen Wachhund à la Protectas» brau- che. Die Aggression durch die Protectas eskalierte rasch. Den «Propagandakampf um Neuchlen» leiteten Peter Ein Mann musste nach einem Schlag in den Unterleib in Weigelt und die «Isga». Weigelt führte das Sekretariat der Spitalpflege verbracht werden. Zwei der Besetzenden rechten «Aktion für freie Meinungsbildung», das «Trumpf- wurden mit Jeeps und Hunden durchs Gelände gejagt. Buur»-Inserate publizierte, und übernahm bereits Kam- Ein Aktivist wurde von sieben Protectas-Männern ver- pagnen im Auftrag rechtskonservativer Kreise um Chris- prügelt. Einer Frau erlitt von einem der Wachhunde Biss- toph Blocher.23 wunden.28

Er erhielt vom Militär diverse Aufträge, wie Bundesrat Vil- «Die Auslagerung des staatlichen Gewaltmonopols an liger im Nationalrat bekanntgab, und intervenierte zudem Private, die es gewohnt sind, an der Grenze zur Legalität bei den Medien. Im Mai 1990 wandte sich der bürgerliche zu operieren, ist einer der bedenklichsten Aspekte der Ostschweizer Presseverein gegen «massive, höchst bedenkli- ganzen Waffenplatzauseinandersetzung», so Hug/Keller.29 che Druckversuche» der Waffenplatzbefürworter. Das «St. Gal­ ler Tagblatt» lehnte ein «Isga»-Inserat ab, in dem Weigelt der Ein Protectas-Mitarbeiter fuhr ein Auto mit der fiktiven Zeitung «manipulierenden Journalismus» vorwarf.24 Auch Kantonsbezeichnung GH. «Die Übergriffe der Schutz- beim Fernsehen beschwerte sich Weigelt. In einem Leser- truppe (Tätlichkeiten, Körperverletzung, Drohung, Num- brief rückte er die TV-Redaktorinnen und Redaktoren in die Reihen der Waffenplatzgegnerinnen und -gegner.25 21 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 66 f. In den Faltprospekten mit einer Auflage bis 70 000 Stück 22 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 67. wurde Hansueli Trüb als «Rädelsführer» bezeichnet, den 23 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 68 f. es hart zu bestrafen gelte. SP-Nationalrat Paul Rechstei- 24 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 69 f. 25 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 72. ner wurde als «Brandstifter» tituliert, der Jugendliche zu 26 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 73 f. illegalen Aktionen anstifte. An einer «Arna»-Veranstal- 27 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 74 f. tung in Gossau trug ein Polizist an der Uniform einen 28 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 76. Isga-Ansteckknopf.26 29 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 76.

141 te die Plafonierung der Zahl der Waffenplätze auf 40 sowie militärische Anlagen, die bisher im Umwelt-, Raumpla- nungs- und Baupolizeibereich zahllose Ausnahmen kann- ten, bei Bau und Betrieb den zivilen gleichzustellen. Ge- fordert wurde auch der Rückbau in Neuchlen-Anschwilen, falls die Initiative angenommen würde.33

Diese aufschiebende sowie allenfalls präjudizierende Wir- kung war bei einigen, aber nicht allen Rechtsgutachtern umstritten.34

Widerstand in Neuchlen-Anschwilen, 1990/1991. Die Waffenplatzgegner argumentierten mit dem nicht ge- gebenen Bedarf eines neuen Waffenplatzes und dem be- reits sehr grossen Bestand an Militäranlagen. Die Befür- mernschildfälschung) wurden angezeigt, hatten aber kei- worter legten den neuen Waffenplatz als Ersatz für verlo- ne nennenswerten gerichtlichen Untersuchungen zur Fol- ren gegangene oder veraltete Anlagen aus. Immer wieder ge.»30 wurden die «armen Rekruten» und «lecken Duschen» der alten Herisauer Kaserne beklagt. Die Herisauer Gewerbe- Hingegen wurden 250 Waffenplatzgegnerinnen und -geg- treibenden befürchteten einen Nachfragerückgang durch ner wegen Hausfriedensbruchs, Nötigung und Sachbeschä- den Waffenplatzneubau. Diejenigen von Gossau verspra- digung angeklagt. Es gab U-Haft bis zu vier Tagen.31 Am chen sich eine Zunahme. 1. Februar 1991 wurden zehn «Gona»-Mitglieder zu Bussen zwischen 50 und 280 plus 430 bis 530 Franken Verfahrens- Die «Arna» versuchte, sich von einer grundsätzlichen Ar- kosten verurteilt. Der Bezirksammann hatte Bussen bis meekritik abzugrenzen und an die «Rothenthurm-Initia- 1000 Franken und in zwei Fällen bedingte Gefängnisstra- tive» anzulehnen, die mit Umwelt-, nicht mit militärkri- fen verlangt und das EMD aufgefordert, den Aktivistinnen tischen Argumenten gewonnen worden war. und Aktivisten 341 654.45 Franken für Mehrkosten zu über- wälzen.32 Schliesslich wurden alle 250 Aktivistinnen und Die «Arna» konnte sich nur einen reduzierten Weltfor- Aktivisten zu rechtskräftigen Bussen verurteilt. Einschliess- mat-Plakataushang leisten. Um Geld zu sparen, wurden lich Verfahrenskosten gingen auf dem Bezirksamt Gossau rund eine Million Abstimmungszeitungen hauptsächlich Bussen im sechsstelligen Bereich ein. Urteile und Bussen von Freiwilligen verteilt, die durchs ganze Land reisten – waren mitverantwortlich, dass die Opposition in die Knie eine logistische Grosstat. Die «Arna» wertete eine Anzahl gezwungen wurde. Immerhin attestierte der CVP-Richter ökologischer und armeekritischer Volksinitiativen aus den meisten Angeklagten edle Handlungsmotive. und liess die Zeitungen dort verteilen, wo weder eine An- nahme (BS, JU, teilweise BL) noch eine krasse Ablehnung der Initiative (Landkantone) zu erwarten war.35 V Initiativtext und Vereinstätigkeit – die «Arna» als KMU Die «Arna» zählte 1993 rund 10 000 Mitglieder, Sympathi- sierende und regelmässig Spendende. Die «SchräZ» in Die Volksinitiative «40 Waffenplätze sind genug – Um- derselben Auflage wurde von Hand etikettiert und post- weltschutz auch beim Militär» aus der Feder des St. Gal- fertig sortiert.36 ler Parlamentariers und Anwalts Paul Rechsteiner verlang- 1991 wies die «Arna» im ganzen Land 16 Regionalgruppen auf.37 Sie besass zahlreiche Arbeitsgruppen, beispielsweise zu den Bereichen Finanzierung, Veranstaltungen, Mate- 30 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 76 f. 38 31 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 193. rial oder Presse/Medien. Das Büro an der Oberen Bü- 32 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 79 ff. schenstrasse in St. Gallen war Schaltzentrale und Mate- 33 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 165. rialdepot und glich permanent einem Ameisenhaufen. 34 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). Drei Personen waren teilzeitangestellt.39 Das Budget für 35 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). den Abstimmungskampf lag bei 1 079 700 Franken Aus- 36 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). gaben und 947 000 Franken Einnahmen.40 Damit war die 37 Arna/Gona/Walther: Doku Sommeruni (wie Anm. 15), S. 54. 38 SchräZ, Nr. 91/9, St. Gallen 1990, S. 12. «Arna» ein KMU. Die Kampagne ermöglichte allein das 39 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). Know-how zahlreicher Berufsleute und ungezählter Frei- 40 SchräZ, Nr. 92/11, St. Gallen 1990, S. 5. williger. Ein Finanzchef etwa sorgte all die Jahre dafür, 41 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). dass das Unterfangen kein Debakel wurde.41

142 VI Nachdenken über «Bewegung»

Durch die Waffenplatzbewegung wurden viele junge Menschen nachhaltig politisiert. Mehrere ergriffen einen Beruf in einer NGO. «Gona» und «Arna» waren auch ein Ort der Sozialisierung. Viele Beteiligte fanden ein bis heute tragendes Netzwerk oder bis heute gültige Freund- schaften. Mehrere Verbindungen führten zu «Neuchlen- Kindern». Eine Generation jüngere Menschen erzählt heute, dass sie in Neuchlen als Kleinkinder mit ihren Ak- tivisteneltern «hinsitzen durfte». Widerstand in Neuchlen-Anschwilen, 1990/1991. Im Einklang mit Bewegungstheorien zeigt der Wider- stand von Neuchlen-Anschwilen, dass das Sozialgefüge plus die gemeinsame Überzeugung zu einem Einsatz mo- Im Zug dieses Tauwetters ist der Erfolg der Neuchlen- tivieren, der sich weder materiell noch profilierungsmäs- Bewegung zu verstehen. sig auszahlt.42 Zwei ebenso unerwarete Ereignisse stellten der Kampagne In «Feuer in Neuchlen» wurde das Lebensgefühl wie folgt «40 Waffenplätze sind genug» das Bein: dass die Abstim- beschrieben: «Es war eine grosse Party. Wir hatten rund- mung über die Waffenplatzinitiative durch den Bundesrat um ein besseres Leben anzubieten, und damit überzeug- vom September 1992 auf den Juni 1993 verschoben und ten wir. Die Sonntagmorgen, an denen man im Subaru- mit der F/A-18-Initiative der GSoA zusammengelegt wur- Bus durch die Landschaft fuhr, um in Plasticcontainern de, die ebenfalls rasend schnell zustandegekommen war; frisches Wasser zu holen, waren schön. Die Wochenenden und dass 1992 mit dem Jugoslawienkrieg ein Bürgerkrieg mit der Open-air-Szenerie vor dem Zaun, noch bevor die in unerwarteter Nähe begann. erste Schallplatte von Lenny Kravitz herauskam, waren schön. Aber der Anlass, aus dem wir uns trafen, war tra- Nun wurde von der PR-Maschinerie von Peter Weigelt gisch, und die 2534 Ereignisse der Ohnmacht, die wir er- und der «Isga», die die Propaganda gegen «Arna» und lebten, waren es auch.»43 «Gona» gesteuert hatte, die Waffenplatz- und F/A-18- Initiative vermischt. Weigelt designte das Plakat gegen Die Bewegung wäre nach der Verschärfung der Repressi- F/A-18-Initiative, das einen Schirm über der Schweiz zeig- on durch Polizei, Protectas und Justiz zusammengebro- te und suggerierte, dass die Auseinandersetzung in Ex-­ chen, wenn sie sich nicht auf die institutionalisierte Jugoslawien auch die Schweiz betreffen könnte, was neue Form der Volksinitiative hätte konzentrieren können. Kampfflugzeuge erfordere. Das Beispiel der unbeirrten jungen und älteren Men- schen in Neuchlen lösten die Sympathiewelle aus, die Am 6. Juni 1993 schnitt die Volksinitiative «40 Waffen- genügend viele Menschen zur Unterstützung bewogen, plätze sind genug – Umweltschutz auch beim Militär» mit dass die «Arna» so weit erfolgreich wurde, wie das eben 45 Prozent Ja- zu 55 Prozent Nein-Stimmen und einer geschah.44 Niederlage in allen Kantonen nur unwesentlich besser ab als die F/A-18-Initiative der GSoA mit 43 Prozent Ja- zu 53 Prozent Nein-Stimmen.45 VII Nachdenken über die Zeit Die Bewegung gegen den Waffenplatz Neuchlen-An- Das Zahlenverhältnis im Nationalrat für die erste Finan- schwilen fand in der Tauwetterphase zwischen Kaltem zierungstranche des neuen Waffenplatzes bedeutet, dass Krieg und Srebrenica statt. Seitdem kennen wir den Durch- diese Abstimmung noch im Kalten Krieg wurzelte. Die marsch der SVP und die Bewirtschaftung des Asylthemas, folgenden Abstimmungen zeigten, wie sehr dies nachher wie das von Peter Weigelt und der «Isga» am Versuchska- erodierte. Als die zwei Jusomitglieder im Frühjahr 1989 ninchen Neuchlen-Anschwilen rhetorisch und visuell vor- auf Hansueli Trüb zugingen, konnten zwei Ereignisse bereitet worden war. nicht vorausgesehen werden: dass die Initiative «Schweiz ohne Armee» der GSoA am 26. November 1989 ein Drit- 42 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). tel Befürworter fand; und dass im Herbst 1989 das Ceau- 43 Walther, Michael: «Sag mir, wo die Basis ist», in: Butz/Trüb/ cescu-Regime zusammenbrach und hernach die Mauer Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 19. fiel. udemZ wurde die Schweiz 1989 mit dem Fichenskan- 44 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). dal als Schnüffelstaat geoutet. 45 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13).

143 Gleichwohl handelte es sich bei der Waffenplatzoppositi- ten Rand der FDP. Sein Geschäftsmodell war die Mi- on um die grösste und letzte grosse schweizerische Bewe- schung aus Antistaatsrhetorik und permanenten staatli- gung in der Tradition der 68er, der 80-er Krawalle, der chen PR-Aufträgen an seine Mediapolis. Anti-AKW- und der Rothenthurmbewegung. Paul Rech- steiner bezeichnet die Aktion gegen den Waffenplatz Hans-Ulrich Solenthaler wurde aufgrund seiner strikten Neuchlen-Anschwilen als «eine der grössten Volksbewe- Arbeit als Waffenplatz-Projektleiter bis zum Ende seiner gungen, die die Ostschweiz je gesehen hat», die Versamm- Berufslaufbahn zum Kommandanten der Territorialregi- lung zum Beschluss der Waffenplatzinitiative als «eine der on IV befördert. grössten Versammlungen, die St. Gallen je erlebt hat» und den «Pilotprozess» als «einen der spektakulärsten politi- Pia Hollenstein definiert ihre Wahl in den Nationalrat 1995 schen Prozesse der Ostschweiz».46 als Folge der Popularisierung grüner Anliegen durch Neuchlen-Anschwilen – ein Ergebnis des Tauwetters, das mit dem Rechtsrutsch bei den Wahlen 2015 zu Ende ging.50 VIII Nach der Abstimmung

Die «Arna» blieb nach der Abstimmung mit dem prog- IX Filme, Hymne nostizierten sechsstelligen Finanzloch zurück, das mit ei- nem einzigen Spendenaufruf gestopft wurde, was viel Die Antiwaffenplatzbewegung brachte zwei Filme hervor. über die Verbundenheit der Mitglieder und Sympathisie- «Neuchlen-Anschwilen – Widerstand gegen den Waffen- renden mit der «Arna» aussagt.47 platzbau» setzt mit der Gant vom 20. März 1990 ein. Die ersten Szenen zeigen, wie die Aktivistinnen und Aktivis- Kaserne und Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen waren ten am Mittag des 5. April Rasenziegel auf die Wiese zu- 1997 für knapp 100 Millionen Franken fertiggebaut. In rücklegen – einige Dutzend Hände gegen einen gelben den folgenden Jahren wurden Leerbestände bekannt.48 Bagger. Die restlichen Bilder belegen die Verhärtung des Widerstands: Aktive, die von Polizisten teils aus dem Ge- Das inhaltliche Erbe übergab die «Arna» der Arbeitsge- lände geworfen werden, den Gummischroteinsatz, das meinschaft Militär und Ökologie Amö, die von einem Auftauchen der Ambulanz und die Rückkehr zum Kalten Kampagnemitglied weitergeführt und dem Schweizeri- Krieg durch das Abtreten des Machtmonopols an die Pro- schen Friedensrat angegliedert wurde. Die Amö fungierte tectas.51 als Ansprechpartner der Armee, die die Gleichstellung im Umweltbereich mit zivilen Anlagen auch ohne Abstim- «Männer kriegen Waffenplätze», eine solide Recherche mungssieg vollzogen hatte – und mitunter ökologischer über die Umweltsünden der Armee, wurde auch an den als der Papst auftrat (Neuchlen-Anschwilen als Froschbio- betreffenden Orten gedreht. Dies unter der Regie des da- top).49 mals 21-jährigen Urs Höltschi, der danach die «Amö» lei- tete.52 Die Neuchlen-Bewegung beförderte einige Karrieren. Pe- ter Weigelt schaffte durch die Profilierung 1995 die Nati- Die «Arna»/Waffenplatzopposition brachte mehrere Bü- onalratswahl und politisierte am denkbar äussersten rech- cher hervor – neben «Feuer in Neuchlen» einen Fotoband Gaston Isoz',53 ausgezeichnet von «Beste Bücher des Jah- res».54 46 Mail, 21. Dezember 2015. 47 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). Die Hymne der Antiwaffenplatzbewegung von Thomas 48 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). Rhyner lautete: «Ihr Herre a dä Rissbrett, Ihr Herre in 49 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). Grüe und Grau/Ihr hend do öppis vor, wani mein, wüssed 50 Erinnerungen Michael Walther (wie Anm. 13). – ihr genau/es Land wönd Ihr zerstöre, wo Ihr verteidige Mitteilung von Pia Hollenstein 7. November 2015. 51 Gona: Neuchlen-Anschwilen – Widerstand gegen den Waffenplatz- wönd/es söll Beton, Lärm, Vercher dötthi, wo jetz no bau, St. Gallen 1990. – https://www.youtube.com/ Pflanze stönd/Glaubed jo nöd, dass Eu dä Weg freistoht/ watch?v=q6I8grVO45M. – https://www.youtube.com/ glaubed jo nöd, dass da so einfach goht.»55 watch?v=gFA4kr92jUI. 52 Männer kriegen Waffenplätze, Volksinitiative «40 Waffenplätze sind genug – Umweltschutz auch beim Militär» – eine Dokumen- tation zum Film, St. Gallen 1992. 53 Isoz, Gaston: Wir bleiben, bis ihr geht, Fotodokumentation, Trogen 1992. 54 SchräZ, Nr. 93/15, St. Gallen 1990, S. 14. 55 Butz/Trüb/Weishaupt: Feuer in Neuchlen (wie Anm. 1), S. 52 f.

144 Der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – eine ökumenische Aufbruchbewegung

Arne Engeli

Die Bewegung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung aktive Beobachter anderer Kirchen.)4 Der Bund für GFS der Schöpfung (im Folgenden kurz GFS genannt) hat be- wurde dort als ein Leitgedanke der biblischen Botschaft sonders in der Ostschweiz nachhaltige Spuren hinterlas- und damit der Kirchen ausgearbeitet: «Wir glauben und sen, die noch heute spürbar sind. Ihren Anfang genom- gehen davon aus, dass die Botschaft von Gottes Bund die men hatte sie an der Vollversammlung des Ökumenischen Basis für eine ‹Widerstandsbewegung gegen den Fatalis- Rates der Kirchen/ÖRK 1983 in Vancouver. Die Triade GFS1 ist das Ergebnis der dort geführten Auseinanderset- zungen. Delegierte der DDR-Kirchen schlugen angesichts der Bedrohung des Weltfriedens durch die Stationierung der atombewaffneten Raketen auf beiden Seiten des Eiser- nen Vorhanges ein Friedenskonzil vor. Die Kirchen aus dem Süden der Welt mit anderen existentiellen Sorgen, zuvorderst den Hunger, befördert durch einen ungerech- ten Welthandel, pochten darauf, dass die Herstellung von Gerechtigkeit eine Voraussetzung für Frieden sei, weshalb das G vor dem F genannt werden müsse.2 Andere, vor al- lem aus den Kirchen des Ostens, prangerten die Respekt- losigkeit gegenüber der Natur an und forderten Initiativen zur Bewahrung der Schöpfung (Integrity of Creation). Die Delegierten einigten sich darauf, einen «konziliaren Pro- zess gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung» einzuleiten. Ein erstes Ergebnis noch an der Versammlung war die feierliche Ver- pflichtung der Delegierten aus den USA gegenüber den Delegierten aus Zentralamerika, sich gegen jegliche mili- tärische Einmischung der USA in diesen Ländern zu stem- men. An der Versammlung war auch von einem «Bund für GFS» die Rede, in Anlehnung an die biblische Botschaft Die berühmten drei Worte: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung (z. B. in Gottes Bund mit Noah),3 dass sich Gott mit den der Schöpfung. Grafik von Jacques Schedler, aus: Kirchenbote des Menschen verbünde in ihrem Einsatz für diese Werte. Kantons Thurgau, ca. 1989. Quelle: Privatarchiv Arne Engeli.

Schweizerische Evangelische Synode (eine NGO) 1 Triade bezeichnet eine Gruppe von drei aufeinander und kirchliche Tagungszentren bezogenen Elementen, die zusammen eine Einheit bilden. 2 Auch die Bibel nennt Frieden eine Frucht der Gerechtigkeit. Der Funke von Vancouver sprang im folgenden Jahr (No- Jes. 32,17. vember 1984) auf die Schweiz über an der 4. Versammlung 3 1 Mose 9, 8–17. der Schweizerischen Evangelischen Synode SES in Olten. 4 Eine erste Zusammenkunft der Initiativgruppe für eine Schweize- rische Evangelische Synode fand im Pfarrhaus in Rheineck statt. (Die SES, aus einer Initiative von St. Gallern hervorge- Pfr. Michael Dähler hatte seine Kollegen Peter Blickensdorfer, gangen, war eine Reformbewegung der Evangelischen Urs Meier, Christoph Möhl, Josef Osterwalder, dann Arne Engeli, Kirchen in der Schweiz, der Delegierte von Kantonalkir- Bruno Walker und Esther Müller-Wenk eingeladen. In der Folge chen, kirchlichen Werken und NGO's angehörten, sowie wurde am 31. Oktober 1981 in Bern der Verein SES gegründet.

145 mus ist›. Gottes neuen Bund bezeugen heisst, sich für eine zentren weiter konkretisiert.8 Eindrücklich war am Auf- gerechte Verteilung der Güter in dieser Welt, für die Er- fahrtstag 1985 im Schlosshof von Wartensee eine Bundes- haltung des Friedens einsetzen und im Respekt vor allem erneuerungsfeier: Nach dem Schuldbekenntnis, dass der Geschaffenen leben. Der konziliare Prozess für GFS ge- Bund oft gebrochen worden sei, und der Erinnerung an winnt Leben durch den Einsatz von Gruppen und Bewe- Gottes Verheissung wurden jene in die Mitte gerufen, die gungen, auch zusammen mit Menschen, die sich nicht ihr Engagement als Friedensdienst verstehen. Mit farbi- zur Kirche zählen.»5 gen Bändern begannen sie ein Netz zu knüpfen. Nachher traten jene in die Mitte, die sich für Gerechtigkeit und In den folgenden Sessionen der SES wurde dieser Bund Menschenrechte einsetzen, und dann alle Engagierten für für GFS konkretisiert mit Aussagen über «Christliches die Erhaltung der Schöpfung. Schliesslich knüpften auch Friedenshandeln» und «Verantwortung der Kirchen für jene, die sich nach einem neuen Himmel und einer neuen die Erhaltung der Schöpfung»6 und «Christsein in einem Erde sehnen, und die Kinder am Netz weiter, bis es wie reichen Land».7 Diese Themen und die Idee einer Bundes- ein Regenbogen aufgezogen werden konnte.9 erneuerungsfeier wurden von den kirchlichen Tagungs- Eine Vernetzungstagung mit verschiedenen Gruppierun- gen der Ostschweiz fand im Januar 1987 im Evangelischen 5 Schweizerische Evangelische Synode, Heft 2, Bund für GFS, Tagungszentrum Schloss Wartensee statt (siehe Textbox). 1985 Basel. Die Teilnehmenden gaben gemeinsam in einem Offenen 6 Synode November 1985 in La Chaux-de-Fonds. Brief ihrer Bestürzung Ausdruck, dass 30 Tamilen ausge- 7 Synode Mai 1986 in St. Gallen. schafft werden sollten und kritisierten «die wachsende 8 Einzelne Tagungsthemen sind in diesem Neujahrsblatt unter Härte der gegenwärtigen Asylpolitik, die Geist und Buch- «Das Evangelische Tagungszentrum Schloss Wartensee» zu finden. 10 9 Bericht in der Zeitschrift «Leben und Glauben», August 1985. staben des gültigen Asylgesetzes verrät». Wartensee wur- 10 Bericht über die Tagung und den Offenen Brief in: Die Ostschweiz, de für viele Menschen und Gruppen, die sich an den Leit- Appenzeller Zeitung und Der Rheintaler, alle 20. Januar 1987. linien GFS orientieren wollten, zu einem wichtigen Ort – Ostschweizer AZ, 27. Januar 1987. des Gesprächs.

Zum Ostschweizerischen Bundesnetz GFS wurden folgende Gruppen eingetragen (Ergebnis der Wartenseetagung vom Januar 1987)

Gerechtigkeit Frieden, Menschenrechte Bewahrung der Schöpfung

– Anti-Apartheid-Bewegung SG – Bodensee-Kirchentag – AG Kirche und Umwelt/ÖKU – Liga für Menschenrechte SG – Bewegung für eine offene, demo- – Verkehrsclub VCS SG/Appenzell – Zentralamerika-Komitee SG kratische und solidarische Schweiz – Ohne Auto mobil – Gruppe Solidarität FL (BODS) – Naturschutzbund SG/AR – Bananen-Aktion Frauenfeld/SG – Komitee solidarischer Asylpolitik – Naturschutzver ein St. Gallen – Erklärung von Bern SG – Beratung für Asylsuchende – WaldLeben St. Gallen – Vereinigung für Entwicklung, – Amnesty International – Biologischer Landbau SG Gerechtigkeit und Solidarität – Inter nationaler Versöhnungsbund – Konsumenten AG zur Förderung Weinfelden (VEGS) – Friedenswoche St. Gallen tierfreundlicher, umweltgerechter – Dritte-Welt-Läden Ostschweiz – «Fridesziit am See» Nutzung von Haustieren (KAG SG) – Fastenopfer – Frauen für den Frieden – Ökozentrum WWF Stein AR – Brot für Brüder – Weltgebetstag der Frauen – Mission+Ökumene SG/TG/AR – Forum Frau und Kirche – Arbeitskreis Kirche+Gesellschaft – Weltgebetstag für die Einheit – Evangelische Frauenhilfe SG – Protestantischer Volksbund SG/TG/AR

Arbeitsstellen Evangelisch-reformierte Kirche SG, Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen SG/Appenzell Heimstätten/Bildungshäuser: Wartensee, Kartause Ittingen, Haus Neukirch, Fernblick, Zentrum WEG

146 Carl Friedrich von Weizsäcker ruft zum Friedenskonzil auf

Öffentliche Breitenwirkung erhielt das Anliegen des «konziliaren Prozesses» 1985 auf dem Deutschen Evange- lischen Kirchentag in Düsseldorf durch den Aufruf des bekannten Physikers und Kulturphilosophen Carl Fried- rich von Weizsäcker, um der Gefährdung des Überlebens willen ein gesamtchristliches Friedenskonzil einzuberu- fen. In der Folge luden die Konferenz Europäischer Kir- chen/KEK und der Rat Europäischer Bischofskonferen- zen11 die europäischen Kirchen und die verschiedenen kirchlichen Gruppierungen und NGOs für Pfingsten 1989 zur 1. Europäischen Ökumenischen Versammlung nach Basel ein, Thema: «Frieden in Gerechtigkeit».

Zur Vorbereitung des konziliaren Prozesses für GFS mit Blick auf die angekündigte Basler Versammlung fand 1987 in Kyoto/Japan eine zweiwöchige Konsultation statt, an der der Autor als einer der sieben europäischen Delegier- ten teilnehmen konnte. Alle kamen zurück mit der Bereit- schaft, sich mit ihrer ganzen Kraft an diesem Prozess zu beteiligen. Dieser Prozess wird Ohren, Augen, Herzen und Hände öffnen gegenüber der Not in der Welt. Er wird in den Kirchen zu Auseinandersetzungen und zu neuen Einsichten führen, zu Parteinahme, Zusammenarbeit und engagiertem Handeln. Als Vertreter der kirchlichen Ta- gungszentren der Schweiz nahm der Schreibende Einsitz in das neu gegründete schweizerische ökumenische Komi- tee GFS.12 – Ebenfalls vor der Basler Versammlung fand im April in Dresden die 3. konziliare ökumenische Ver- sammlung der DDR-Kirchen statt, welche sich nachträg- lich als ein wichtiges Element bei der sanften Wende vom Oktober 1989 erwies. Der Autor nahm dort als Beobach- ter der Konferenz Europäischer Kirchen teil. «Mitgeschöpflich leben» bringt zum Ausdruck, dass der Mensch nicht ein herrschaftliches, sondern ein partnerschaftliches, Erste Europäische Ökumenische geschwisterliches Verhältnis zur ganzen Schöpfung finden muss. Versammlung 1989 in Basel Die Ökumenische Kommission liess dazu dieses Plakat gestal- ten und später Postkarten für die Kirchengemeinden drucken. Erstmals in der Geschichte der vergangenen tausend Jah- Quelle: Privatarchiv Arne Engeli. re kam an Pfingsten 1989 in Basel eine repräsentative ge- samtchristliche Versammlung zusammen. In der Ab- schlusserklärung «Frieden in Gerechtigkeit» forderten die Teilnehmer im «europäischen Haus» Konfliktlösungen durch Dialog, den Einsatz für eine neue Weltwirtschafts- ordnung und einen Lebensstil, der der Umwelt so wenig 11 Sekretär dieses Rates der Bischofskonferenzen war der St. Galler 13 Schaden wie möglich zufügt. Bischofsvikar Ivo Fürer. 12 Aus dem Kanton St. Gallen wirkte auch die Theologin Ina Nach der Basler Versammlung beschäftigte sich im Okto- Praetorius mit. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Christ- ber 1989 eine Aussprachesynode der Evangelisch-refor- licher Kirchen wählte Madeleine Strub, bisher Präsidentin der Schweizerischen Evangelischen Synode, zur Vorsitzenden. mierten Kirche St. Gallen in Wildhaus mit den Ergebnis- 13 Europäische Ökumenische Versammlung Basel 1989. sen von Basel. Unter dem Titel «Verpflichtung der Kirche Das Dokument. Hg. vom Rat der Europäischen Bischofs- zum Handeln» wurden in neun Themenbereichen Emp- konferenzen, St. Gallen. fehlungen für Kirche, Gesellschaft und Politik erarbeitet.14 14 Bericht der Synodalkommission über die 3. Aussprachesynode

147 Ökumenische GFS-Kommission In den ersten Monaten wurde die Gelegenheit wahrge- St. Gallen/Appenzell nommen, zum Entwurf des GFS-Dokumentes der Basler Versammlung Stellung zu nehmen. An Pfingsten 1989 Noch vor der Basler Versammlung beschloss die Arbeits- wurde mit 40 Interessierten die Ökumenische Versamm- gemeinschaft Christlicher Kirchen St. Gallen/Appenzell lung in Basel besucht. Man konnte in der MUBA-Halle (ACK) 1988 auf Vorschlag des Autors, eine Kommission das Hin und Her zwischen den Basisgruppen im Parterre mit der Förderung des konziliaren Prozesses für GFS in und den Delegierten im 1. Stock beobachten. C. F. von Kirchen und Gesellschaft zu beauftragen. Als Präsidentin Weizsäcker hielt auf dem Münsterplatz seine aufrüttelnde wurde Kirchenrätin Doris Lienhard, Rehetobel, gewählt, Rede «Die Zeit drängt». als Vizepräsident Domkustos Paul Strassmann, St. Gallen, und als Geschäftsführer mit einer 10%-Anstellung der Einige Jahre lang fanden jeweils im Werdenberg, im Tog- Schreibende. Weitere Mitglieder aus Kirchen und Gesell- genburg und in Rorschach regionale Bettagstreffen statt, schaft nahmen Einsitz. Der Kommission stand ein Bud- welche ein grösseres Publikum für die Anliegen des kon- get von 10 000 Franken zur Verfügung. ziliaren Prozesses für GFS sensibilisieren konnten. Für die Gemeindearbeit wurden Materialien in einem Über- Als erstes empfahl die Kommission den Kirchgemeinden raschungskoffer zusammengestellt. Ein «Schatzkästlein» für 1989 das Jahresthema «Mitgeschöpflich leben». Diese diente der Aufbewahrung von eingegangenen Verpflich- Vokabel brachte zum Ausdruck, dass der Mensch nicht ein herrschaftliches, sondern ein partnerschaftliches, ge- schwisterliches Verhältnis zur ganzen Schöpfung finden muss, entsprechend auch der Vorschlag, von Mitwelt statt von Umwelt zu sprechen.15 Von einem Künstler wurden im Auftrag der Kommission ein Plakat und eine Karte gestaltet, welche diese Gedanken bildhaft zum Ausdruck brachten.

Die GFS-Kommission entfaltete ein breit gefächertes Angebot:

Am 7. Januar 1989 folgten über 200 Personen der Einla- dung zum ersten Jahresauftakt ins Evangelische Kirchge- meindehaus St. Mangen in St. Gallen, der dem Thema Frieden gewidmet war.16 Als Rednerin wurde, mit dem Einverständnis der Kirchenleitungen, die grüne Zürcher Nationalrätin Monika Stocker, Gründungsmitglied der Frauen für den Frieden, eingeladen. Eine Woche vor dem Anlass traf unerwartet ein Expressbrief mit einem extra angefertigten ökumenischen Briefkopf ein, worin Kir- chenratspräsident Luciano Kuster und Bischof Otmar Mäder ihre vorher vereinbarte Teilnahme absagten (sie waren um ein Begrüssungs- und Segenswort gebeten wor- den) mit der Begründung, «man hätte denken können, wir würden durch unsere Anwesenheit die Ansichten der Referen- tin unterstützen». Was war geschehen? Monika Stocker hatte in der Dezembersession des Nationalrates der Initi- ative der GSoA zur Abschaffung der Armee zugestimmt (was aber in ihrer Rede kein Thema war).17

15 Der Schweizer Theologe Fritz Blanke hatte schon 1969 zum «mitgeschöpflich leben» aufgerufen. 16 Wartensee-Nachrichten Nr. 122, Mai 1990. Toggenburger Bettag in Ebnat-Kappel 1991. 17 Brief und Referat finden sich im Privatarchiv Engeli. Quelle: Privatarchiv Andreas Schwendener.

148 tungen. Einladungen von Pfarrkapiteln und Konfirman- denklassen folgten. Lokal entstanden die Friedenswoche St. Gallen (Koordinator: Fridolin Trüb) und die «Frideszi- it am See» (Koordination: Arne Engeli). Erstere ist noch heute aktiv. Auch der Internationale Bodensee Oster- marsch (1986–2004) nahm das Thema GFS auf, seit 2011 unter dem Label Internationaler Bodensee-Friedensweg.18

Guten Zuspruch erhielten auch überregionale Veranstal- tungen der Kommission. Im März 1991 wurden mit dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung im über- vollen Schützengartensaal in St. Gallen Auswege aus der Golfkrise gesucht.19 Im folgenden Jahr, vor der Abstim- mung über den Beitritt der Schweiz zum Internationalen Währungsfonds, diskutierte dazu Nationalrat Prof. Dr. Franz Jaeger mit Pfarrerin Vreni Schneider Biber, Koope- Zum GFS-Jahresauftakt 1996 in St. Gallen, mit Marga Bührig ration Evangelische Kirchen und Missionen. Ende 1992 als Referentin. Quelle: Privatarchiv Andreas Schwendener. waren Vertreterinnen der Antikriegsbewegung aus Bel- grad, Zagreb, Sarajewo und Skopje eingeladen, von ihrem Engagement gegen den Krieg im ehemaligen Jugoslawien nische Kommission GFS in unserer Region ist immer zu berichten. Dies löste im Publikum heftige gegenseitige noch tätig. Jedes Jahr veranstaltet sie weiterhin den Jah- Anschuldigungen zwischen Kroatinnen, Serbinnen und resauftakt zu einem aktuellen Thema (nächstes Jahr zum Bosnierinnen aus. Im Nachgang wurden dann diese Kon- dreissigsten Mal), allerdings nicht mehr mit dem gleichen flikte in mehreren Gesprächsrunden aufgearbeitet, u. a. Publikumszuspruch wie früher. Dazu folgt ein Anlass zur auch mit der Schriftstellerin Dragica Rajčić. In der Kom- Schöpfungsbewahrung jeweils am 1. September, mit Vor- mission wurden zuhanden von ACK und Kirchenleitun- schlägen der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Kirche gen auch öffentliche Stellungnahmen ausgearbeitet, so zu und Umwelt/ÖKU an die Kirchgemeinden, entspre- Zivildienst, Bodenrecht und Alimentenbevorschussung. chend zu handeln.21 Sie ist auch in der Vorbereitung des alle zwei Jahre stattfindenden Internationalen Ökumeni- schen Bodensee-Kirchentages engagiert. Dort ist die Ar- Eine neue kirchliche Zugehörigkeit geschaffen beitsgruppe GFS wohl die aktivste, sie besteht seit zwei Jahrzehnten, seit 1996 der Kirchentag in Rorschach 1995 zog die GFS-Kommission St. Gallen/Appenzell eine durchgeführt worden ist. Der Schreibende hatte damals erste Bilanz zu ihrer bisherigen 7-jährigen Tätigkeit. Es mit seiner Frau Theresa Engeli die Leitung des Kirchen- wurde festgestellt, dass der konziliare Prozess GFS einen tages inne. Für ihr langjähriges Engagement hat die Kom- echten Aufbruch auslösen und für zahlreiche Christen mission GFS 2015 von der Schweizerischen Arbeitsge- mit unterschiedlichen Gottesbildern und Kirchenerfah- meinschaft Christlicher Kirchen das Öcumenica-Label rungen eine neue kirchliche Zugehörigkeit schaffen konn- erhalten. te. Wer sich bisher in randständigen Gruppen für diese Anliegen eingesetzt habe, könne sich jetzt in die ökume- nische Gemeinschaft aufgenommen sehen. In der Öffent- lichkeit sei ein stärkeres Bewusstwerden des inneren Zu- sammenhangs von GFS und den Schicksalsfragen der 18 Eine Liste der Bodensee-Ostermärsche und -Friedenswege Menschheit erreicht worden. Die Kommission GFS sei unter: www.bodensee-friedensweg.org. ein Gefäss aktiver ökumenischer Zusammenarbeit und 19 Pressebericht Schweizerische Bodensee-Zeitung, 6. März 1991. Am 26. Januar 1991 fand in Bern auf dem Bundesplatz eine des gemeinsamen Zeugnisses der Kirchen in unserer Re- gesamtschweizerische Kundgebung gegen den Golfkrieg statt. gion geworden und sei in der Lage, schnell und flexibel Arne Engeli war einer der Redner. Seine Rede ist nachzulesen in Betroffenheiten aufzugreifen.20 der Ostschweizer AZ vom 29. Januar 1991. 20 Privatarchiv Arne Engeli. 21 Homepage der Ökumenischen Kommission GFS: Welche Spuren sind heute noch sichtbar? http://www.ack-asg.ch/gfs.htm. Die von der Schweizerischen Evangelischen Synode gegründete Ökumenische Arbeitsge- meinschaft Kirche und Umwelt/ÖKU verlieh 2015 den Grünen Das Schweizerische Komitee GFS gibt es schon lange Güggel an die katholischen Kirchgemeinden Arbon, Ermatingen, nicht mehr. In den Kirchen hört und spürt man heute Güttingen, Sirnach und Romanshorn für gutes kirchliches Um- wenig vom konziliaren Prozess für GFS. Aber die ökume- weltmanagement.

149 Vernetzt bis nach Belgien Die Wiler Jugendkultur und die Remise

Bettina Dyttrich

Gut dokumentiert sind Wils «wilde Zeiten» – so hiess vor sich Jugendliche zur Interessengruppe «Schublade Wil» fünfzehn Jahren eine Ausstellung über die Wiler Jugend- zusammengeschlossen, Discos im Pfarreizentrum organi- kultur der Achtzigerjahre, die zur Gründung des Kultur- siert und ein eigenes Lokal gefordert. Zwischen 1980 und lokals Remise führte. Weniger bekannt ist die Zeit da- 1985 veranstaltete der Verein «Pankraz» vier Openairs in nach, die Neunzigerjahre, als die Remise eine grosse über- der Wiler Altstadt. Im Frühling 1985 gründeten dann Kul- regionale Ausstrahlung entwickelte. turschaffende und -interessierte den Verein «Kulturlöwe», der offensiv für ein ulturzentrumK kämpfte. Die maleri- «Wir waren immer mindestens zu fünft», erzählt Beatrice sche alte Löwenbräu-Brauerei am Bleicheplatz wäre nach Bürgler. «Wir füllten ein Auto, manchmal sogar einen Ansicht der «Kulturlöwen» perfekt dafür gewesen – doch Kleinbus, und jemand verpflichtete sich, nüchtern zu blei- das Wiler Stadtparlament liess sie 1986 abreissen. Als Ant- ben.» Damals, Ende der Neunzigerjahre, war Bürgler wort besetzten Aktivistinnen und Aktivisten 1988 die Stal- knapp zwanzig, in der Ausbildung zur Primarlehrerin und lungen daneben, doch auch hier klappte es nicht. Im glei- lebte in Schwyz, fast hundert Kilometer von Wil entfernt. chen Jahr entdeckte Renato Müller, Musiker der Wiler Trotzdem war die Remise ein beliebtes Lokal in ihrem Be- Band «Die Müllers», die Remise, die den SBB gehörte kanntenkreis. «Die Bands in der Remise, melodischer und an ein Baugeschäft vermietet war. Hier hatten die Hardcore, das war genau unsere Musik.» «Fuego», die «Kulturlöwen» endlich Erfolg: Sie konnten die Stadt Wil Band ihrer Freunde und Freundinnen, trat einmal in der überzeugen, die Remise zu mieten und dem Verein zur Remise als Vorband der US-Hardcoreband «Boysetsfire» Verfügung zu stellen. auf. Selbst spielte Bürgler auch in einer Band – «die schaff- te es allerdings nie über den Talkessel von Schwyz hinaus».

Obwohl lange noch nicht alle einen Internetanschluss hatten, war die Hardcoreszene in der Schweiz und darü- ber hinaus gut vernetzt. Flyer zirkulierten per Post, und sogar in Dörfern wie Schwyz wurden Magazine herausge- geben, so genannte Fanzines, selbst kopiert und zusam- mengebastelt. Darin erfuhr Beatrice Bürgler, wo ihre Lieblingsbands spielten. «Ich fühlte mich immer wohl in der Remise, auch wenn ich kaum Leute kannte», sagt sie. «Man wurde willkommen geheissen, die Stimmung war nie aggressiv.»

Nicht nur aus der Innerschweiz, Graubünden und Zü- Remise Wil 1997. Fotograf unbekannt. rich, sondern auch aus Deutschland, Österreich und Quelle: Stadtarchiv Wil, Fotoarchiv FA03224. Frankreich kamen die Remisebesuchenden Ende der Neunzigerjahre. «Sogar belgische Autos habe ich gese- Jan Guldimann wuchs in Wil auf und lernte Offsetdru- hen», sagt Jan Guldimann. Zusammen mit Programmge- cker. 1992, mit siebzehn Jahren, begann er sich in der Re- stalter Rouven Hörler prägte er die Remise für mehr als mise zu engagieren – als DJ, an der Bar, beim Unterhalt ein Jahrzehnt. Wie kam das kleine Wiler Kulturzentrum der Technik. «Die anderen waren alle zehn bis fünfzehn zu dieser internationalen Ausstrahlung? Jahre älter als ich.» Mit achtzehn wurde er in die Betriebs- gruppe des «Vereins Kulturlöwe» gewählt, weitere Freunde Als Konzert- und Kulturort eröffnet worden war die Re- folgten. In den letzten Jahren war es ruhiger um die Grün- mise Anfang 1990 – nach einem langen Kampf der Wiler dergeneration des Vereins geworden. «Ein Generationen- Jugend für ein eigenes Kulturzentrum. Schon 1973 hatten wechsel zeichnete sich ab, eine erste Ära schien zu Ende.»

150 Mit seinem Kollegen Rouven Hörler, der viele Kontakte zu Hardcorebands hatte, begann Jan Guldimann Konzerte zu organisieren. Schon das erste mit der US-Band «Snap- case» war 1996 ein grosser Erfolg. «Den Älteren war unse- re Musik fremd. Aber sie liessen uns machen.» Anfang 1998 schlugen die bisherigen «Kulturlöwen» den Jungen schliesslich vor, die Remise ganz zu übernehmen. Diese fühlten sich geehrt, aber auch verpflichtet: «Wir dachten, es kann ja nicht sein, dass dieser Ort schliesst oder ein rein kommerzielles Lokal wird. So kamen wir mit zwanzig zu einem eigenen Club – und plötzlich spielten unsere Pos- terhelden Sick Of It All, Pennywise und Refused in Wil!»

Sie kamen gerade zur richtigen Zeit: Nach den Anfängen in den frühen Achtzigern kam in den Neunzigerjahren eine zweite Welle von US-amerikanisch geprägtem Punk und Hardcore auf. Die Subkultur wuchs, doch nur weni- ge Kulturzentren buchten diese Bands. Und so war der Auftritt in der Remise für viele das einzige Konzert in der Laut, schweisstreibend und nah am Publikum: Ein Hardcore- Schweiz. «In Bandkreisen sprach sich das herum, wir wur- konzert mit der Band «Bane» – 2009, also bereits im «Gare de den zu einer festen Adresse.» Und die Schweizer Fans wa- Lion», aber noch von der alten Crew um Jan Guldimann und ren treu. «Einmal spielte eine Band aus Ponte Tresa und Rouven Hörler organisiert, Wil 2009. Fotograf: Dad Rabbit, brachte das halbe Dorf mit. Sehr viele in der Szene mach- Rolf Fassbind. Quelle: Privatarchiv Kulturverein Remise Wil. ten selber Musik.»

Die neue, junge Betriebsgruppe beschränkte sich jedoch tisch. Aber explizit politische Anlässe organisierte die Re- nicht auf diesen einen Stil. Zwei weitere Standbeine ent- mise nicht. Das war zum Beispiel in Schwyz anders. Bea- wickelten sich: einerseits Hiphop-Konzerte, anderseits trice Bürglers Freundeskreis gründete dort in einer ehe- Rock-n-Roll- und Surfpartys, organisiert mit dem St. Gal- maligen Lagerhalle das Kulturzentrum «Himmel». Sie ler Geschäft «Klang und Kleid». Offizieller Start in die engagierten sich gegen Rechtsextremismus und vernetz- neue Zeit war ein Auftritt der erfolgreichen Westschwei- ten sich mit der entstehenden Antiglobalisierungsbewe- zer Hiphopper Sens Unik im Sommer 1998. «Wir wollten gung. Musikalisch wurde der «Himmel» allerdings keine auch einen optischen Neuanfang machen», erzählt Jan Konkurrenz zur Remise: Die Schwyzerinnen und Schwy- Guldimann. «Darum haben wir die Wände neu bemalt zer zahlten aus Prinzip keine Gagen, nur Spesen. – blau mit Flammen, nach dem Vorbild meines Lieb- lingspullovers. Aber am Konzert war die Farbe noch nicht Andere Veranstaltungsorte, die mit der Zeit entstanden, trocken, und wir wurden von Leuten überrannt, die Sei- wie der «Sedel» in Luzern und das «Abart» in Zürich, zo- tentüren aufgebrochen – der Abend lief völlig aus dem gen hingegen einen Teil des Remisepublikums ab. Mit der Ruder. Schon nach dem ersten Anlass mussten wir reno- Zeit wurden auch die anderen Mitglieder der Betriebs- vieren.» gruppe immer jünger – denn kaum jemand konnte das intensive Engagement so gut mit der Erwerbsarbeit ver- Reich wurde in der Remise niemand. Für Arbeiten an der einbaren wie Hörler und Guldimann. Bar, an der Kasse, in der Technik oder in der Reinigung gab es einen kleinen Stundenlohn, und wer die Verantwor- 2008 entschieden sich die beiden, die Verantwortung ab- tung für ein Wochenende übernahm, wurde mit symboli- zugeben. «Es war Zeit für einen Wechsel. Die Punk- und schen 100 bis 200 Franken entschädigt. Hörler und Gul- Hardcorewelle war auch nicht mehr so intensiv.» Jüngere dimann konnten sich das fast ehrenamtliche Engagement Kulturinteressierte vom Verein «Sound Sofa» waren auf zu später Stunde leisten, weil sie gleichzeitig in St. Gallen der Suche nach einem Ort. Sie führen die Remise heute kommerzielle Anlässe organisierten und in der Licht- und als «Gare de Lion» weiter. Im Abschiedsjahr ehrte die Tontechnik arbeiteten. «Aber in der Remise sollte es nie Stadt Wil Guldimann und Hörler mit einem Anerken- ums Geld gehen. Das war uns ganz wichtig. Was wir ein- nungspreis. «Dreizehn Jahre lang war die Remise der Mit- nahmen, steckten wir in den Ausbau des Lokals.» telpunkt meines Lebens», sagt Jan Guldimann. «Vor allem in den ersten vier Jahren gab es wirklich gar nichts dane- Viele der Hardcore- und Punkbands, die in der Remise ben. Das wird sicher als eine der intensivsten Zeiten mei- auftraten, verstanden sich als links und gesellschaftskri- nes Lebens in Erinnerung bleiben.»

151 Soziale Bewegungen und Mobilisierungs- ereignisse im Linthgebiet, 1970–2000

Heinrich Zwicky

Soziale Bewegungen und Basisaktivierung Soziale Bewegungen in der Schweiz zwischen 1970 und 1990 Mit der Etablierung der Sozialgeschichte in den histori- schen Wissenschaften verstärkte sich das Interesse für die Im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogramms «kleinen Leute», für gesellschaftliche Entwicklungen, die (NFP 6: Entscheidungsprozesse in der Schweizer Demo- nicht in den Kreisen der Eliten entstanden, sondern im kratie) ist Ende der 1970er-Jahre eine systematische Gegenteil in Opposition und Absetzung dazu. In diesem Sammlung von Basisaktivierungen in der Schweiz durch- Kontext werden Soziale Bewegungen zu einem «zentralen geführt worden, die es erlaubt, die zentralen Themen zu Motor» der Geschichte. Das historische Lexikon definiert bestimmen, die die politische Basis zwischen 1945 und «soziale Bewegungen» als «Netzwerke von Gruppen und 1978 «bewegt» haben.3 Dabei zeigt sich einerseits, dass die Personen, die durch kollektive Aktionen gegen herrschen- Zahl der Basisaktivierungen nach 1968 stark angestiegen de Zustände antreten mit der Absicht, einen sozialen ist und um 1975 einen Höhepunkt erreicht hat. Zwischen Wandel herbeizuführen».1 1975 und 1978 stieg die Zahl der Basisaktivierungen nicht mehr weiter an, verharrte aber im Vergleich mit der Zeit Genauere sozialwissenschaftliche Analysen haben schon vor 1968 auf einem vergleichsweise hohen Niveau.4 bald gezeigt, dass der Erfolg und die Kontinuität von So- zialen Bewegungen insbesondere organisatorische Res- Eine zusammenfassende Analyse der sozialen Bewegun- sourcen voraussetzen und dass Mobilisierungen immer gen nach Zeitperioden zeigt, dass zwischen 1968 und 1974 auch mit spezifischen Ereignissen und (inadäquaten) Re- der Kampf um herrschaftsfreie Räume für Jugendliche aktionen von politischen Eliten verknüpft sind.2 In die- sowie die Auseinandersetzungen mit Ereignissen im Aus- sem Sinne sind soziale Bewegungen immer auch als Folge land (Vietnam, Tschechoslowakei) in der ganzen Schweiz von «Aktivierungsereignissen» zu sehen, die aufgrund von eine zentrale Rolle spielten.5 Zwischen 1975 und 1978 wur- organisatorischen Ressourcen und Strategien zu einer de die Umwelt zum Hauptthema6. Eine Zusatzerhebung kontinuierlichen sozialen Bewegung verbunden werden für die Periode 1979 bis 1989 zeigt, dass auch da Umwelt- können. fragen dominierten und je nach Jahr zwischen 29% und 49% aller Basisaktivierungen ausmachten. Dies hat we- sentlich damit zu tun, dass sich in dieser Zeit neue um- weltpolitische Organisationen wie der WWF oder der VCS etablierten.7

Bewegungen und Ereignisse im Linthgebiet 1 Ziegler, Manuela: Soziale Bewegungen, Historisches Lexikon der Schweiz. Jugendliche aus dem Linthgebiet hatten in den 1970er- und 2 Vgl. dazu insbesondere Oberschall, Anthony: Social Conflict and Social Movements. Prentice Hall: Englewood Cliffs, bzw. Tilly, 1980er-Jahren vielfältige Kontakte zu den Jugendbewegun- Charles: From Mobilization to Revolution. Reading: Addison-Wesley. gen in Zürich, die für gesellschaftliche Veränderungen und 3 Kriesi, Hanspeter, et al.: Politische Aktivierung in der Schweiz, für mehr Freiräume für Jugendliche eintraten. Und auch 1945–1978, Diessenhofen 1981, sowie Lévy, René/Duvanel, die Behörden blickten nach Zürich und überlegten sich, Laurent: Politik von unten. Bürgerprotest in der Nachkriegszeit, wie Jugendproteste zu verhindern seien und wie Jugendan- Basel 1984. liegen in der Region besser berücksichtigt werden könnten. 4 Lévy/Duvanel: Politik (wie Anm. 3), S. 34. Jugendliche und fortschrittliche Eltern setzten sich in enger 5 Lévy/Duvanel: Politik (wie Anm. 3), S. 166–209. 6 Lévy/Duvanel: Politik (wie Anm. 3), S. 229–254. Zusammenarbeit mit den Behörden dafür ein, dass eine 7 Zwicky, Heinrich: Umwelt als Aktivierungsgrund. Bericht gemeinsame Jugendkommission von Rapperswil und Jona Nr. 12 des NFP 25 «Stadt und Verkehr», 1993. gegründet wurde (1985), eine Kontaktstelle Jugendarbeit

152 aufgebaut und anschliessend ein Jugendcafé an zentraler Neue Seeüberquerungen, die ersatzlose Sperrung des Lage am Seequai eingerichtet wurde. In einer Resolution Damms oder gar seine Sprengung wurden diskutiert. vom 20. August 1987 begrüsste eine gemeinsame Veranstal- Mehrere Gruppierungen setzten sich mit unterschiedli- tung der sozialdemokratischen Parteien von Rapperswil chen Varianten der Untertunnelung von Rapperswil-Jona und Jona die Bereitstellung von Räumlichkeiten für ein ein mit dem Ziel einer Reduktion des Durchgangsver- Jugendcafé und forderte zusätzliche Räumlichkeiten für die kehrs.9 Die Volksabstimmung zeigte dann aber, dass sich Jugendkultur, die dann anfangs der 1990er-Jahre mit dem eine «Gegenbewegung» zum behördlichen Tunnelprojekt Zentrum für aktuelle Kultur ZAK beim Bahnhof Jona auch durchzusetzen und Lösungen auf Jahrzehnte hinaus zu realisiert werden konnten.8 blockieren vermochte; diese setzte sich vor allem aus Be- hördenkritikern und ökologischer Fundamentalopposi- Auch im Linthgebiet entwickelte sich in den 1980er-Jah- tion gegen Umfahrungsprojekte zusammen. ren eine durch ihre Vielfalt unübersichtliche Umweltbe- wegung, die sich mit den problematischen Auswirkungen Auch in den ländlichen Regionen des Linthgebietes (v. a. von Wohlstand, Infrastruktur und Verkehr auseinander- im Gebiet des ehemaligen Bezirks Gaster) bildete die setzte. Umwelt in den 1970er-Jahren Anlass zur politischen Ba- sismobilisierung. So registriert ein Inventar von Aktivie- In Zentrum von Rapperswil ging es dabei insbesondere rungsereignissen in der Schweiz im Zeitraum 1945–1978 um eine «autofreie Altstadt», also die Befreiung der Alt- am 13. April 1972 eine Petition mit 25 500 Unterschriften stadt von Verkehr und Parkplätzen. Diese Forderung, die zur Freihaltung des Höhenzugs Regelstein-Speer10. Und ab 1975 immer wieder bei den Behörden deponiert wurde die gleiche Quelle erfasste am 26. Juli 1973 ebenfalls eine und immer wieder in Konflikt mit Forderungen des Ge- Petition mit 7400 Unterschriften gegen die drohende Ab- werbes nach mehr Parkplätzen in Rapperswil geriet, führ- sturzgefahr am Walensee im Zusammenhang mit einem te schliesslich dazu, dass seit Mitte der 1990er-Jahre so- Strassenbauprojekt.11 wohl der zentrale Hauptplatz als auch der gesamte See- quai seit der Eröffnung des unterirdischen Parkhauses Die Frage des Zusammenschlusses der beiden grössten Fischmarktplatz 1996 keine oberirdischen Parkplätze Gemeinden des Linthgebietes, Rapperswil und Jona, be- mehr aufweisen. gann Ende der 1990er-Jahre die Agglomeration immer stärker zu beschäftigen.12 Schon 1971 wurde eine Prüfung Aber auch in den Quartieren verstärkte sich der Wider- der Gemeindefusion an einer Bürgerversammlung bean- stand gegen die «Verkehrslawine» und führte beispielswei- tragt. Die Kontakte und Absprachen zwischen den beiden se Mitte der 1980er-Jahre in der zunehmend als Umfah- Grossgemeinden im Linthgebiet intensivierten sich in der rung des Zentrums genutzten Kreuzstrasse zur Durchset- Periode 1985 bis 1995 deutlich. Die ursprünglich konfessi- zung von Verkehrsbeschränkungen (Schwellen, später er- onell getrennten Schulen wurden erst 1983 zusammenge- gänzt durch den Erlass eines «Zubringerdienstes»). Später führt, dabei aber gleichzeitig (zumindest für die Primar- traten in verschiedenen anderen Quartieren der Agglome- schule) in zwei eigenständige Korporationen «Primar- ration Rapperswil-Jona Quartierbewegungen zur Ver- schule Rapperswil» und «Primarschule Jona» aufgeteilt. kehrsreduktion und insbesondere in den 1990er-Jahren Die Behörden legten dann erst 1999 ein Fusionsprojekt mit Forderungen zur Einrichtung von Tempo 30-Zonen vor, welches in Jona eine Oppositionsbewegung auslöste, an die Öffentlichkeit. der es gelang, eine Mehrheit der Jonerinnen und Joner zur Ablehnung des Fusionsprojektes zu bewegen. Haupt- Die Umweltbewegung im Linthgebiet wurde wesentlich gründe bildeten dabei einerseits tiefverwurzelte und ge- durch die Gründung des VCS Ostschweiz im Jahre 1980 zielt wiederbelebte historische «Untertanenaversionen» bzw. einer Regionalgruppe See und Gaster sowie durch gegen die «hohen Herren» aus Rapperswil, anderseits Be- die sich aus dem LDU entwickelnden neuen Sektionen der Grünen Partei der Schweiz gestärkt, die – zusammen mit der SP – dann 1991 das Referendum gegen die neue Umfahrungsstrasse T8/A8 ergriffen; dieses wurde dann 8 Die Linth, Montag, 24. August 1987. aber in der Volksabstimmung abgelehnt. Im Rahmen ei- 9 Hornung, René: Das Kreuz mit dem Verkehr. Seedamm, Bahn- nes anschliessenden Rekursverfahrens konnte immerhin hofplatz und Stadtzentrum im Stau. Bringt der Stadttunnel die eine gewisse Reduktion der Umfahrung (Streichung des Lösung?, in: Beilage zu Hochparterre 2011/4. Aathal-Viaduktes in Neuhaus) erreicht werden. 10 Tschopp, Alois: Datenhandbuch über Politische Aktivierungs- ereignisse in der Schweiz, 1945–1978. Interdisziplinäre Konflikt- forschungsstelle der Universität Zürich, S. 231. In Rapperswil-Jona bewegte vor allem die Frage nach 11 Tschopp: Datenhandbuch (wie Anm. 10), S. 261. Massnahmen gegen den Durchgangsverkehr durch das 12 Stadtrat Rapperswil-Jona: Wir bauten eine neue Stadt. Vereinigung «Nadelöhr» Seedamm die Bevölkerung immer wieder. Rapperswil-Jona. Bilanz nach drei Jahren, März 2010.

153 fürchtungen, dass sich die finanzielle Situation der wirt- Stiftung «Usthi»,15 die ein Kinderdorf in Indien aufgebaut schaftlich prosperierenden Agglomerationsgemeinde hat und von den Korporationen in der Agglomeration Jona durch eine Fusion verschlechtern würde.13 Erst in Rapperswil-Jona, aber auch vom Kanton St. Gallen, im- einer zweiten Volksabstimmung, mittels einer Volksiniti- mer wieder mit namhaften Beträgen unterstützt wurde, ative verlangt, gelang es dann 2003, die Fusion der beiden zum andern die Arbeitsgruppe «Dritte Welt», in der seit Kommunen zur Stadt Rapperswil-Jona zu bewirken. den späten 1980er-Jahren globale Ungerechtigkeiten the- matisiert und insbesondere fairere Handelsbedingungen Aus der besonderen Lage des Linthgebietes «ennet dem mit Entwicklungsländern gefordert werden. Ein Claro- Ricken» lässt sich auch eine – zumindest latente – soziale Laden in der Rapperswiler Altstadt dokumentiert diese Bewegung zur Loslösung vom Kanton St. Gallen feststel- Bewegung noch heute. In den 1980er- und 1990er-Jahren len. Diese «Protobewegung», die immer wieder mit Remi- kam es vor diesem Hintergrund auch immer wieder zu niszenzen an die kurze Phase eines Kantons Linth (1798– Vorstössen an Gemeindeversammlungen mit dem Ziel, 1803) genährt wird, konkretisiert sich immer dann, wenn einen bestimmten Prozentsatz des Gemeindebudgets für in der Bevölkerung der Eindruck entsteht, durch den Entwicklungsprojekte einzusetzen. Kanton St. Gallen stiefmütterlich behandelt zu werden. Exemplarisch genannt sei die Auseinandersetzung um den Standort der kantonalen Mittelschule für Schülerin- Schlussbetrachtungen nen und Schüler aus dem Linthgebiet und . In den 1970er-Jahren wurde im Rahmen einer weiteren Unser Blick auf Basismobilisierungen im Linthgebiet zwi- Dezentralisierung des ursprünglich auf St. Gallen be- schen 1970 und 2000 macht deutlich, dass im schweizeri- schränkten Mittelschulangebots der Standort Wattwil für schen politischen System mit seinen vielfältigen Formen Schülerinnen und Schüler aus dem Toggenburg und dem der Bürgerpartizipation und seiner föderalistischen Struk- Linthgebiet bestimmt. In der Zwischenzeit wird die Schu- tur soziale Bewegungen eng mit institutionalisierten po- le mehrheitlich von Jugendlichen aus dem Linthgebiet litischen Prozessen verknüpft sind. Bewegungen, denen es besucht. Bis heute gibt es Bestrebungen, diesen Standor- gelingt, eine grössere Zahl von Bürgerinnen und Bürgern tentscheid rückgängig zu machen. zu mobilisieren, sind häufig geprägt von etablierten poli- tischen Organisationen wie Parteien und Verbänden, de- Die Frauenbewegung hat nach der Einführung des Frau- ren Anliegen in der institutionalisierten Politik (noch) enstimmrechts zunächst die etablierten Organisationen nicht mehrheitsfähig sind. Im Linthgebiet als geographi- wie die Sozialdemokratische Partei, die wichtigste Oppo- scher Randregion im Kanton St. Gallen kommt hinzu, sitionspartei im Linthgebiet, geprägt und 1984 in Schme- dass die Ausrichtung breiter Bevölkerungskreise auf die rikon, 1985 in Jona und 1986 in Rapperswil zur Übernah- Grossagglomeration Zürich eine breite Mobilisierung in me der Parteipräsidien durch Frauen geführt. Anfang der «St. Gallischen Fragen» erschwert. Mobilisierungspoten- 1990er-Jahre bildete sich, unter anderem mobilisiert tiale beispielsweise bei Jugendlichen wandern so zumin- durch den am 14. Juni 1991 schweizweit durchgeführten dest teilweise in den Kanton Zürich ab. Und spezifische Frauenstreiktag, eine Gruppe, die ein «Frauencafé» ein- regionale Themen wie etwa die Verkehrsmisere im Raum richtete, an dem sich Frauen mit aktuellen politischen Rapperswil-Jona vermögen die Bürgerinnen und Bürger Themen und eitgenössischerz kritischer Literatur ausein- nur kurzfristig zu mobilisieren und scheitern schliesslich andersetzen konnten.14 daran, dass sich die längerfristigen Ziele der Beteiligten als zu unterschiedlich erweisen. Im urbanen Zentrum des Linthgebiets entwickelte sich bereits in den 1970er-Jahren Bestrebungen zur internati- onalen Solidarität, die zum einen eine Auseinanderset- zung mit den Problemen in der Dritten Welt förderten, zum andern auch von lokalen und kantonalen Instan- zen eine Beteiligung an diesen Bestrebungen forderten, obwohl die Entwicklungshilfe grundsätzlich eine Bun- desaufgabe darstellt. Zu nennen ist hier zum einen die

13 Stadtrat Rapperswil-Jona: Stadt (wie Anm. 12), S. 15. 14 SP Rapperswil-Jona: Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Sozialdemokratischen Partei Rapperswil-Jona, S. 29. 15 Kaiser, Ernst: Ein Pilot aus Jona als privater Entwicklungshelfer, in: St. Galler Linthgebiet, Jahrbuch, 1980, Rapperswil, S. 71–73.

154 Revolutionäre Zellen im Seehofquartier. Soziale Bewegungen in Rorschach in den 1970er- und 1980er-Jahren

Marcel Elsener

Man möchte meinen, dass der Aufbruch von 1968 und die günstigen Wohnungen für Auswärtige eine gewisse Anzie- nachfolgenden sozialen Bewegungen im Arbeiter- und hungskraft versprüht haben. «Rorschach war freier, wil- Hafenstädtchen Rorschach auf fruchtbaren Boden sties- der, letztlich angenehmer als andere Ostschweizer Orte», sen. Immerhin war der Ort Schauplatz zweier landesweit sagt Paulo Codoni, der von St. Gallen an den See zog – beachteter Streiks gewesen: 1905 mit dem als «Giesserei- und in jene Rorschacher Wohngemeinschaft, die im See- Krawall» in die Geschichte eingegangenen Streik der hof-Quartier am Ostrand des Stadtzentrums von etwa Giesser, gegen den Soldaten aufgeboten wurden, und 1974 bis 1976 die überregional bekannte «Volksküche» 1946 mit dem fast einmonatigen Streik von 1300 Arbeite- betrieb. rinnen und Arbeitern der Feldmühle, dem bis dahin grössten Streik der Schweizer Industriegeschichte. Auch Vor den Seehof-Aktivisten gibt es nur vereinzelte 68er- Ende der 1960er-Jahre produzierten in Rorschach bedeu- Nachwehen in der Region am See. Eine wichtige Anlauf- tende Fabriken wie Feldmühle, Aluminium, Roco, Frisco, stelle war das erste Jugendlokal, das die Gemeinde Ror- Cellux oder Starrag. Den Tausenden von Arbeitsplätzen schacherberg ab Herbst 1971 im neuen Zivilschutzgebäu- entsprach ein traditionell hoher Ausländeranteil von ei- de eröffnete: Im «Kijana» fanden Lehrlinge und Kantons- nem Drittel der Einwohnerschaft und mit über 100 Bei- schüler einen Freiraum, wo «man hinging, wenn man auf zen eine rekordverdächtige Restaurantdichte. der Suche war, auch nach neuen politischen Ideen», wie sich ein Besucher erinnert. Eigentliche Bewegungen habe Um 1970 ist Rorschach mit rund 12 000 Einwohnerinnen es nicht gegeben, erinnert sich der Rorschacher Bauern- und Einwohnern und einer nach wie vor boomenden In- sohn Christoph Bürkler, der 1972 (als Gymnasiast in Alt- dustrie eine lebhafte Kleinstadt, was sich beispielsweise dorf) den Wehrdienst verweigerte und sich von Friedens- auch an der Zahl von drei (!) Kinos zeigte. In einigen aktivisten wie Fridolin Trüb und Ruedi Tobler inspirieren Sportarten können Vereine oder Einzelsportler an der na- liess. Doch habe es in jener Zeit «eine aktivistische Stim- tionalen Spitze mithalten, etwa im Handball, Wasserball mung» gegeben, etwa beim Flugblattverteilen und wilden oder Gewichtheben; ein Rorschacher erklärt dem Schwei- Plakatieren für die Waffenausfuhrinitiative. In der Klein- zer Fernsehpublikum die Mondlandung und den Welt- stadt seien die soziale Kontrolle und der «Druck in den raum (Bruno Stanek), und ein anderer macht als Rennfah- angepassten Elternhäusern» gross gewesen, «die Leute rer und später Ausbrecherkönig Furore (Walter Stürm). hegten Argwohn gegenüber Linken und gingen auf Dis- Die Stadt ist Publikationsort der einzigen Satirezeitschrift tanz», sagt Bürkler. «Aus meiner Sekklasse war niemand im Land (Nebelspalter) und wird in einem bekannten Lied bei Aktionen dabei.» Warum regionale Fabriken, «sogar Mani Matters besungen – allerdings als Endstation in «Ir solche, die wie die Starrag oder die FFA für die Rüstungs- Ysebahn». Kein Durchschnittskaff, sondern eins mit auf- industrie arbeiteten», von Protesten verschont blieben, rührerischem Potenzial, möchte man meinen. kann sich der spätere Theologiestudent nur so erklären. Auch die Klavierfabrik Sabel kam ungeschoren davon, Doch die Spurensuche nach revolutionären Funken ist obwohl sie mit der im Juni 1974 bestreikten Pianofabrik schwierig. Viel war nicht los in Sachen soziale Bewegun- Burger & Jacobi in Biel verbunden war. gen. Und die wenigen Einheimischen, die sich später in St. Gallen, Zürich oder Basel in kommunistischen oder Nicht die laut Bürkler «kleine, strenge und angepasste» autonomen Gruppierungen engagierten, gingen früh örtliche SP, sondern einzelne Gewerkschafter und italieni- weg. «Rorschach war ein Kaff, aus dem man nach der sche Vereinigungen wie die «Colonie libere italiani» waren Schule möglichst schnell fort wollte», sagt etwa der Mar- zusammen mit Autonomen für kämpferische 1. Mai-De- xist und bekannte Anti-AKW-Aktivist Roland «Bömi» monstrationen in der Hafenstadt verantwortlich. So kam Baumgartner. Jedoch muss die kleine Stadt mit ihren es am 1. Mai 1973 abseits der offiziellen Gewerkschaftsfeier,

155 temperamentvolles, aber eindeutig unpoliti- sches Fest über die Bühne ging. Einige sich zurückziehende Besucher schüttelten vor den roten Fahnen, die dem Casino ein unge- wohntes Cachet verliehen, den Kopf und meinten: ‹Hier findet die Revolution be- stimmt nicht statt.› Immerhin ist es den Or- ganisatoren gelungen, so einen Teil der Fremdarbeiter sowie zahlreiche Jugendliche zu mobilisieren.» Und der Lokaljournalist zog daraus sein eigenwilliges Fazit, das auf einige Umtriebe schliessen lässt: «Es ist heu- te nicht mehr ganz einfach, sich auf Anhieb bei den verschiedenen linken oder sich links nennenden Gruppen zurechtzufinden. Mit dem Berichterstatter glaubten wohl manche Rorschacher, eine Aktion der Progressiven vor sich zu haben. In der Folge wurden sie von ‹richtigen Progressiven› darüber belehrt, dass ‹Klassenkampf› und ‹Poch› zwei Welten seien und dass die Progressiven niemals zu ungesetzlichen Aufforderungen griffen, die die eigenen Leute nur ärgerten und letztlich der Sache des politischen Gegners dienten.»

Ob «links oder sich links nennend» – auch in den Folgejahren sind die 1. Mai-Kundge- bungen auf Rorschachs Strassen hitziger als in anderen Kleinstädten. 1975 wird vor dem ABM zum «Bonzenverbrennen» eine Puppe angezündet, und auf den Transparenten heisst es unter anderem «Trotz Kurzarbeit vollen Lohn», «Notre Candidat» mit Marx- Konterfei oder infolge einer empörenden Entlassungswelle in der Region «Entlassen wir die Unternehmer!»

Verbrennung eines «Bonzen» in Rorschach, 1. Mai 1975. Ihr Hauptquartier haben die sporadischen Quelle: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Rorschacher Protestbewegungen im er- Ostschweiz (AFGO). wähnten Seehof-Areal. Dort ist rund um das einst nobelste, aber über die Jahrzehnte heruntergekommene (Molkenkur-)Hotel die im City-Restaurant mit einem volkstümlich ausgerich- der Stadt – der Seehof mit 100 Zimmern (längst zu Woh- teten Unterhaltungsprogramm stattfand, zu einer Mani- nungen umgebaut), 40 seeseitigen Balkonen und grossem festation neuer linker Kräfte. In der Berichterstattung des Innenhof – zwischen östlicher Hauptstrasse und Eisen- Ostschweizer Tagblatts hört sich das folgendermassen an: bahnlinie eines der urbansten Quartiere der Ostschweiz «Zahlreiche gepfeffert formulierte Anschläge taten den entstanden. Im und neben dem Riesenbau findet sich ein Rorschachern kund, dass sie für einmal eine besondere unübersichtliches Gewusel von Wohnungen, Werkstät- Maifeier erleben sollten. Viele Interessierte versammelten ten, Beizen, Läden, Lagerräumen und Ställen (für Hüh- sich denn auch um 18 Uhr im Raume Coop-Center/Mi- ner und Kaninchen), das auch nichtbürgerlichen Lebens- gros. Überraschenderweise verschwanden aber die anfäng- modellen entgegenkommt; Altmetall- und Lumpen- lich rund zwei Dutzend, später gegen 100, meist jugendli- sammler, Pferdemetzgerei, Coiffeur, Trödlerladen, Anti- chen Fahnen- und Spruchbandträger raschestens in unbe- quariat, dazu Arbeiterbeizen wie die «Traube», die bereits lebte Quartiere, um dann schliesslich im Casino zu lan- im Giesserstreik 1905 eine wichtige Rolle spielte. Allein den, wo bereits ein von anderer Seite organisiertes, schon das Seehof-Restaurant zieht Leute von weither an

156 Die Arbeiterbeiz im Seehofquartier Rorschach, o. J. Aufnahme: Josef Elsener. Quelle: Privatarchiv Otmar Elsener, Rorschach.

mit Live-Musik und einer regionalen Berühmtheit im kommt es im Seehofquartier sogar zu einer Hausbeset- Service: George/Georgette Waldner alias Gypsy ist nicht zung. Eine Petition mit 731 Unterschriften fordert im alten nur zur Fasnachtszeit ein Transvestit. Haus Buchstrasse 6 die Einrichtung eines Jugendzent- rums, doch die Stadtregierung zögert; sie will in ihrer Lie- Was den einen quicklebendiger Wohn- und Lebensraum, genschaft «kein autonomes Zentrum, das von Jugendli- ist den andern «Slum» und «Schandfleck». Die Stadtpla- chen geleitet wird, die selbst in einer Kommune leben». In nung hat das Quartier seit den 1950er-Jahren dem Zerfall der Folge wird das Haus wiederholt von Jugendlichen be- preisgegeben, weil sie dort ein gigantisches Strassenpro- setzt – und prompt polizeilich geräumt, was die Wut wie- jekt mit Brücke über die Bahn vorsieht. Das wird vom derum anstachelt. Legendär das Transparent, das am Ge- Stimmvolk allerdings bereits 1959 und in zwei weiteren bäude hing: «Wir waren hier, da kam die Schmier, wir Anläufen 1976 und 1977 verworfen. Den Widerstand hat geben nicht auf, wir haben noch Schnauf.» Erst Jahre spä- eine «Aktionsgruppe für ein wohnliches Rorschach» ge- ter sollte, «dank der Vorarbeit der Arbeitsgemeinschaft Ju- schärft, die nach Jahrzehnten unliebsamer Erfahrungen gend und Freizeit», wie es heisst, ein Jugendtreffpunkt er- mit einer ökonomisch kalkulierten Abbruch- und Neu- öffnet werden – der «Rägeboge», Ende 1976 in der erwähn- bauwelle ein Gegensignal setzt. Ein Leitsatz der Gruppe, ten Zivilschutzanlage in Rorschacherberg, ab 1980 dann in der auch anderswo gegen die «Konsumgesellschaft» ins der «Casa Bianca» am Rand der Feldmühle in Rorschach. Feld geführt wird: «In einer Gesellschaft sollte die Wirt- schaft für den Menschen Diener sein, nie aber darf der Kein Jugendzentrum mit Häuserbesetzung, sondern eine Mensch zum Diener der Wirtschaft werden.» – legal eingemietete – Wohngemeinschaft in der ehema- ligen «Traube» macht Mitte der 1970er-Jahre auf dem Überrissene Verkehrsprojekte, aber keine Freiräume für die Seehof-Areal Furore: Mit einer «Volksküche», wahlweise Jugend, das verursacht weiteren Ärger: Im Winter 1973/1974 mit x geschrieben (Volxküche), öffnen die Bewohnerin-

157 nen und Bewohner jeweils an Wochenenden ihre WG Ab 1976 werden nach weiterem Zerfall und Bränden nach und offerieren nebst Risotto, Eintöpfen oder Suppen po- und nach fast alle Gebäude des Seehof-Areals abgebro- litische Diskussionen und linke Dokumentarfilme wie chen, 1979 auch der frühere Hotelbau selber. Hernach «Salz der Erde». Als Vereinsclub ohne Eintritts- und Ge- blieb nur das jahrzehntelange «Providurium» eines Park- tränkepreise und damit ohne Polizeistunde geführt, funk- platzes. Und das Verdienst jener Aktionsgruppe, die für tioniert die «Volksküche» ähnlich wie der spätere Cabi den Erhalt gekämpft hatte, wie es der Historiker Louis Antirassismus-Treff im St. Galler Linsebüel. Manchmal Specker im Rorschacher Neujahrsblatt 1980 formulierte: veranstalten und kochen auch Gäste, wie ein älterer kom- «Was soll für die Gestaltung unserer Städte künftig aus- munistischer Kondukteur aus Romanshorn, der mit sei- schlaggebend sein, die kurzfristige Meinung reiner Wirt- nen Knöpfli begeistert. «Wir machten, worauf wir Lust schaftlichkeit oder die Wohn- und Lebensbedürfnisse der hatten und was uns an politischen Themen aus dem mU - Menschen?». Ein solch lebendiges und politisch aufwüh- feld der Autonomengruppe Klassenkampf interessierte», lendes Quartier sollte das Hafenstädtchen nie mehr ha- erinnern sich die WG-Mitglieder Bea Hadorn, damals in ben, mit Ausnahme vielleicht des Neuquartiers mit seinen der Lehre als Detailmonteurin bei Saurer in Arbon, und Arbeiterhäuschen der Feldmühle, das Mitte der 1980er- Paulo Codoni, damals Büroangestellter bei einer Versi- Jahre buntes WG-Leben ausstrahlte. Der grösste Arbeit- cherung. «Meist kamen 10, 15 Leute, manchmal mehr, geber der Region war da bereits verschwunden, und in der meist aus der weiteren Region, aus dem Oberthurgau Stadt, die Hunderte Arbeitsplätze und Tausende Einwoh- oder dem Unterrheintal, eher wenig aus Rorschach.» nerinnen und Einwohner verlor, wurde es für soziale Be- wegungen nicht einfacher. Im Gegenteil: Wie sich Chris- Die WG und ihre «Volksküche» sind über zwei Jahre an- toph Bürklers Bruder Max, langjähriger SP-Gemeinderat, steckende Anlaufstelle und agitatorisches Zentrum: So erinnert, war man in jener Agonie «schon froh, wenn man werden dort mit einfachsten Mitteln (wie Alkoholdru- erreichte, dass der Werkhof einen Saurer-Lastwagen statt cker) auch jene Flugblätter gedruckt, die Codoni und Kol- jenen eines anderen Herstellers kaufte». Immerhin gab es legen morgens früh vor Arbeitsbeginn vor dem Saurer- subkulturelle Aufbrüche – namentlich durch das jährliche Gebäude und anderen Fabriken verteilen – arbeitskämpfe- «Uferlos-Festival» und die Kulturwerkstatt «Das Haus», rische Aufrufe, angelehnt an italienische Operationen wie wo eine WG in der früheren Schlosserei im Erdgeschoss «Lotta Continua». Oder es geht mit dem Soldatenkomitee ihres Altstadthauses eine Kulturwerkstatt betrieb. An je- gegen Ostschweizer Armeemanöver und mit Anti-AKW- ner «Haus»-Bar wurde auch politisiert, aber eine «Volks- Aktivisten gegen Kaiseraugst. Rote Fahnen vor dem Fens- küche» gab es nie mehr. Die Alternativkultur hingegen ter (etwa am 1. August) und sporadische Transparente er- fand mit ersten Konzerten schon ab 1988 im «Hafenbuf- regen den Unmut bürgerlicher Rorschacher. Ganz abgese- fet», später im «Mariaberg» und in jüngster Zeit im «Trep- hen vom anrüchigen Umfeld, wie Bea Hadorn schmun- penhaus» stets neue Lokale. zelt: «Wegen des Sexshops im Parterre und den roten Vorhängen kamen immer wieder Leute vorbei, die mein- ten, wir seien ein Puff.» Einmal legten Unbekannte und Gegner der «Kommune der roten Sieche» ein Feuer, das zum Glück ohne schwerwiegende Folgen blieb.

Jedoch waren die zugezogenen Politfreaks vom Seehof in der eher unpolitischen, aber freigeistigen Rorschacher Szene keineswegs isoliert: So verkehrten sie in den ein- schlägigen Musikbeizen wie «Happy-end», «Muschel» (im Seerestaurant), «Hafenkneipe» oder «Idyll» (das in den 1950er-Jahren als Schwulentreff galt und 1977 angeblich die erste Ostschweizer Beiz mit «Sex Pistols» in der Juke- box war) – und gern auch im «Kiffer- und Schmuser-Kel- lerclub Fluffy» an der Hauptstrasse, wie Codoni berichtet. Ebenso wenig schlossen sich Politik und Fussball aus: Mit Teamnamen wie «FC Molotov» oder «FC Bakunin» nah- men regionale Linksautonome an Grümpelturnieren teil. Und erst recht verbündete man sich mit linken Italienern und Spaniern in der Hafenstadt: Das grosse Freudenfest nach dem Tod von Diktator Franco am 20. November 1975 ging nach dem spanischen Clublokal «El Cid» in der «Volksküche» weiter.

158 Soziale Bewegungen: Gruppen und Projekte von den 1970er-Jahren bis heute

In der nachfolgenden Zusammenstellung sind Initiativen, IG «Stadt ohne Willkür», 2005 Gruppen und Projekte aufgeführt, die im vorliegenden Komitee gegen mehr Überwachung, 1989 Neujahrsblatt über die sozialen Bewegungen keinen eige- Libertäre Aktion Ostschweiz, 2007 nen Beitrag erhalten haben; die Zusammenstellung ist als Schweizerische Gesellschaft für ein soziales ergänzende Übersicht gedacht. Sie ist thematisch geglie- Gesundheitswesen, Sekt. St. Gallen, 1979–1988 dert, abschnittweise alphabetisch geordnet. Sozial- und Umweltforum, 2004–2014 Volkszählungs-Boykott, 1990/1991 Von einigen dieser Initiativen, Gruppen und Projekte gibt Was wie Anarchie es im Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialge- schichte Ostschweiz, St. Gallen, Archive oder Einzeldos- siers. Die jeweils angeführten Jahresangaben beziehen Internationale Solidarität sich auf die Zeiträume, aus denen zu den einzelnen Akti- vitäten Dokumente im Archiv vorhanden sind. AFRI KA RIBIK, 1989–1991 Casa Latinoamericana, 2002–2013 Freundschaftskreis Schweiz-Kurdistan 1999–2003, Asyl, Antirassismus heute «swiss kurdish alliance fsk» Gruppe Olivenzweig, Israel-Palästina-Dialog «Sofa», Schweiz ohne Faschismus Rheintal, 1996 St. Gallen, 2003–2007 Abstimmungskomitees zu den Asylverschärfungen, Interkommission, ein Zusammenschluss der 1990er-Jahre spanischen, italienischen und schweizerischen Aktion Zunder Kommunisten und Sozialisten Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Zentralamerika Gruppe St. Gallen, 1982–2012 Ostschweiz/Deutsche Schweiz, ab 2008 Forum gegen Rassismus St. Gallen/Appenzell, 1994 Nachtasyl, 2013–2016 Kultur Solidaritätshaus Solidaritätsnetz Ostschweiz, ab 2004 Förderverein OAZ, 1989–1993 Verein «Gerechtigkeit für Paul Grüninger», 1991–2007 IG-Chole, 1988–1990 Kinok Kugl, Kultur am Gleis, 2004 Frieden, Menschenrechte Kultur an der Zeughausgasse, Kaffee Zer'em, 1990 Leserzeitung, Lesergruppe St. Gallen 1976/1977 Amnesty International, Lokalgruppe St. Gallen Palace, 2007 Ärzte gegen Atomkrieg, Sektion Ostschweiz, 1986 rab-bar Trogen, 2007 Beratungsstelle für Militärdienstverweigerer, 1991–2008 Radio Raga, 1994–1996 Demokratische Juristen Ostschweiz Rümpeltum, 2003 GSOA Regionalgruppe St. Gallen, 1989/1990 Teufen, Kultur Baradies, ab 2003 Theatergruppe colori, 1996 Verein «Herrmann jetzt», 1995, 1997 Gesellschaftskritik aktiv-unzufrieden, 2005–2008 Migration Anti-neoliberales Bündnis, 2008 Anti-WEF-Bündnis, 2007–2009 African Club, 1990er-Jahre Demokratisches Manifest 1976 Aktionskomitee «Mitenand» für die Kantone Globalance, 2001–2006 Appenzell und St. Gallen, 1981

159 Alpini, Sezione San Gallo, 1960/1962–2012 Sozial-, Wohn- und Baupolitik Amigas, Interkulturelle Frauengruppe, 1995 Associazione Marchigiani Emigrati in Svizzera, AMES/ Aktion Theaterplatz AMIS, Sezione St. Gallen, 1978–2009 Junkie-Bund, 1989–1992 Associazione Volontari Italiani del Sangue, Sezione Komitee gegen die Krise, 1993 «Eleonora Ganz», St. Gallen, 1966–2004 (Freiwilliger Mieter-Laden St. Gallen, Ende 1970er-Jahre Italienischer Blutspende-Verein, Sektion «Eleonora Verein «Hausen und Wohnen», 1992 Ganz», St. Gallen) Verein für eine menschenwürdige aktive Drogenpolitik Casa Latinoamericana, 2002–2013 MAD, 1992–1996 Comitato Scuola Familia San Gallo, 1975–2004 Verein Zigaukel, Wagenburg, 2007 Democratici di sinistra, 2006 Fachteam für Süd-Ost-Europafragen Internationaler Quartiertreffpunkt Mosaik Umwelt Irakischer Kulturverein, 2008 Kurdischer Arbeiter- und Kulturverein, AG Ringelberg, 1987, 1988 heute Kurdisches Gesellschaftszentrum Aktion Splügenanschluss Nein Kurdischer Schulfamilienverein Arbeitsgruppe Ringelberg, 1988 Lateinamerikanisches Filmvestival, 2013 Genossenschaftsladen Metzgergasse, heute Stadtladen Movimento Solidarietà e Progresso della Svizzera Katharinengasse, ab 1980 Orientale e del Liechtenstein, 2009 Stadt ohne Auto, STAU, 1992 Nuba Verein, 2012–2015 Strom ohne Atom Somalischer Integrationsverein der Ostschweiz, 2007 Verein Ausländer-Schweizer, 1990 und 1995

160 Autorinnen- und Autorenspiegel

Iris Blum, geb. 1966, freischaffende Autorin und Archiva- Pius Frey, geb. 1954, in St. Gallen aufgewachsen. Lehre in rin in Zürich, in Teilzeit Sammlungskuratorin im Basel. Seit damals aktiv in verschiedenen kulturel- Historischen Museum Burg Zug. Im Herbst 2016 len, politischen und gewerkschaftlichen Bewe- erscheint von ihr im Limmat Verlag das Werk gungen. Mitbegründer der Genossenschaft Buch- Mächtig geheim. Einblicke in die Psychosophische handlung Comedia. Dort bis heute tätig. Gesellschaft 1945–2009. René Hornung, geb. 1948, ist freier Journalist im Presse- Rea Brändle, geb. 1953, lebt als Autorin in Zürich. Sie ist büro St. Gallen und Produzent bei Hochparterre, im oberen Toggenburg aufgewachsen, studierte der Zeitschrift für Architektur und Design. Germanistik in Zürich und Berlin. Nach dem Li- Christian Huber, geb. 1989, aufgewachsen in St. Gallen, zentiat arbeitete sie als Redaktorin und Kultur- Studium der Geschichte und Geografie in Bern. journalistin. Ihre Beziehung zur Stadt St. Gallen Aktuell arbeitet er an seiner Masterarbeit zum rührt von der Kantonsschulzeit her. Letzte Veröf- Thema Asylbewegung in der Schweiz. fentlichung Wattwil im Jahr null nach Heberlein, Johannes Huber, geb. 1962, arbeitet in St. Gallen als Buch- in: Heberlein 1835–2015. 2016 erscheint die stark autor und Projektleiter. Historiker, Kunsthistori- erweiterte Neuausgabe ihres Werks Johannes Selu- ker, Germanist. Redaktor des Neujahrsblatts des ner. Findling. Historischen Vereins des Kantons St. Gallen (bis Richard Butz, geb. 1943, ursprünglich Buchhändler, seit 2018). Lehrbeauftragter an der Kantonsschule Sar- 1977 freischaffender Journalist und Kulturaktivist; gans. Buchautor, u. a. Publikationen wie Mein St. Gal- Ralph Hug, geb. 1954, freier Journalist in St. Gallen mit len, 1991; «Von Wagnissen. Utopisten, Visionäre, Schwerpunkt Politik und Gewerkschaften. Autor Gottsucher, Aussenseiter und Pioniere zwischen Wa- mehrerer Bücher zum Thema Schweizer im Spani- lensee und Bodensee im 20. Jahrhundert», Witten- schen Bürgerkrieg. bach 2008/2013. Andreas Kneubühler, geb. 1963, Journalist in St. Gallen, Bettina Dyttrich, geb. 1979, in Wil aufgewachsen, lebt in schreibt über Politik und kulturelle Themen, seit St. Gallen. Ist Redaktorin der Wochenzeitung 2014 bei der Schweizerischen Depeschenagentur WOZ. 2015 ist ihr Werk mit dem Titel Gemeinsam sda. auf dem Acker. Solidarische Landwirtschaft in der Max Lemmenmeier, geb. 1951, Historiker und Autor von u. Schweiz erschienen. a. St. Galler Geschichte 2003, Bde. 5–8: Die Zeit des Marcel Elsener, geb. 1964, aufgewachsen in Rorschach, lebt Kantons 1798–2000, St. Gallen 2003; «Der Krieg ist in St. Gallen, Studium der Philosophie und Jour- also jetzt wirklich da»: Die Stadt St. Gallen im Som- nalistik in Fribourg, seit 1989 als Journalist/Redak- mer 1914. Der Beginn des Ersten Weltkrieges im regi- tor tätig, u. a. für die Tageszeitungen Die Ost- onalen Kontext, in: 154. Neujahrsblatt des Histori- schweiz und St. Galler Tagblatt, New Yorker Staats- schen Vereins des Kantons St. Gallen, St. Gallen Zeitung, Kulturmagazin Saiten, Wochenzeitung 2014, S. 28–57; Die SP St. Gallen und die Gewerk- WOZ. Buchbeiträge u. a. für Stadtporträt St. Gal- schaften: Der Streit um die politische Ausrichtung len , Stahlbergers Mäder, Espenmoos, Heute und da- 1985–1995, in: Einig – aber nicht einheitlich. 125 Jah- nach (CH-Postpunk). re Sozialdemokratische Partei der Schweiz, Zürich Arne Engeli, geb. 1936, Primarlehrer, 1971 Abschluss des 2013. Studiums in Politikwissenschaft, Soziologie und Esther Meier, geb. 1989, studiert Geschichte und Kunst- Geschichte an der Universität Konstanz. 1964 geschichte im Masterlehrgang an der Universität Mitbegründer und Leiter der Schweizer Jugend- Bern. Sie ist im Toggenburg aufgewachsen und ak- akademie, 1964–1968 Mitglied des Gemeindepar- tiv bei den Jungen Grünen St. Gallen und Schweiz. laments Frauenfeld, 1968–1971 des thurgauischen Harry Rosenbaum, geb. 1951, freier Journalist, lebt und ar- Grossen Rates (SP-Fraktion). beitet in St. Gallen.

161 Wolfgang Steiger, geb. 1953, lebt und arbeitet auf einem Kleinbauernhof in Schwellbrunn, betreibt in Fla- wil ein Steinbildhaueratelier, verfasst Artikel für Zeitschriften und nimmt aktiv am Kulturbetrieb teil. Kaspar Surber, geb. 1980. Er hat Geschichte und Publizis- tik in Zürich studiert und schreibt als Journalist für die Wochenzeitung WOZ. Ruedi Tobler, geb. 1947, pensionierter Redaktor vpod bil- dungspolitik, lebt seit 30 Jahren in Lachen-Walzen- hausen, Friedens- und Menschenrechtsaktivist seit 1963, Präsident des Schweizerischen Friedens- rates, Mitglied Vorbereitungsgruppe für den Bo- densee-Friedensweg und der Projektgruppe für den Appenzeller Friedensweg (von Walzenhausen nach Heiden). Michael Walther, geb. 1964, ist Journalist und Autor in Fla- wil. Er wirkte am Widerstand gegen den Waffen- platz Neuchlen-Anschwilen vor Ort mit, war ei- ner der Organisatoren von Kultur gegen Waffen- plätze, Initiant der Sommerunis und während des Abstimmungskampfs einer der Kampagnenver- antwortlichen. Marina Widmer, geb. 1956, Soziologin, Mitherausgeberin und Autorin diverser Publikationen, Leiterin des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialge- schichte Ostschweiz. Patrick Ziltener, geb. 1967, aufgewachsen in St. Gallen, wo er die Primar-, Sekundar- und Kantonsschule be- suchte. Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und Geschichte in Basel, Berlin (Freie Universität) und Zürich. Heute Titularprofessor an der Uni- versität Zürich und freischaffender Wirtschafts- und Sozialforscher. Heinrich Zwicky, geb. 1953, Soziologe, Mitautor einer Studie über Aktivierungsereignisse in der Schweiz im Zeitraum 1945–1978, als Vertreter der SP von 1984 bis 1994 Stadtrat in Rapperswil, von 1996– 2012 Mitglied des Erziehungsrats des Kantons St. Gallen.

162 Kantonsarchäologie St. Gallen Jahresbericht 2015

Dr. Martin Peter Schindler, Leiter Kantonsarchäologie, St. Gallen

Fundbericht

St. Gallen, Altstadt

Unter Leitung von lic. phil. Thomas Stehrenberger wur- de von Frühling bis Sommer in der nördlichen Altstadt ein grösseres Fernwärmeprojekt begleitet. In dessen Pla- nung war die Kantonsarchäologie trotz klarer Vereinba- rungen nicht einbezogen worden. Am Unteren Graben konnte erstmals die spätmittelalterliche Kontermauer (Grabengegenmauer) dokumentiert werden. Sie verläuft zwischen den Häusern Unterer Graben 1 und 13 ungefähr strassenparallel unter der bestehenden Fahrbahn. Ihre Unterkante liegt etwa 4 m unter dem heutigen Niveau, St. Gallen, Neugasse 40–43. Trotz Leitungsgewirr haben ihre Stärke beträgt dort rund 2.5 m. Die nördliche Alt- sich archäologische Reste erhalten. Foto KASG. stadt wurde im 15. Jahrhundert in den Befestigungsgürtel der Stadt einbezogen. Die Errichtung der Kontermauer konnte erstmals naturwissenschaftlich (14C) zwischen Nach Abschluss des städtischen Glasfaserprojektes 2014 1446 und 1624 datiert werden. An der Metzgergasse kam wurden in den Hinterlauben und in der Neugasse die ein weiterer Stadtmauerbefund zum Vorschein. Er zeigt, Gas- und Wasserleitungen erneuert. Im Anschluss daran dass die Nordfassaden der Häuser Metzgergasse 30 und folgten neue Leitungsgräben für die Fernwärmeerschlies- Unterer Graben 20 auf der alten Stadtmauer liegen, die- sung. Gleichzeitig sollten ältere EW-Leitungen in der se jedoch über die Hausfassaden hinaus reicht. Im Innen- Neugasse ersetzt und Vorarbeiten für die Oberflächen- hofbereich der Kirchgasse (ehemaliges Friedhofareal neugestaltung im Frühjahr 2016 durchgeführt werden. St. Mangen) stammen die Befunde von kleineren, wohl Von Mai bis Dezember wurden rund 424 Laufmeter Lei- gewerblich genutzten Bauten des 19. Jahrhunderts. tungsgräben begleitet. Im Einfahrtsbereich zu den Hin- terlauben kamen häufig Schädel- und Hornzapfenfrag- mente zum Vorschein. Damit lässt sich das Gerberhand- werk in der ehemaligen «Ledergerwengass» nun auch archäologisch belegen. Während der Baubegleitung konn- ten zahlreiche Mauerbefunde von Vorgängerbauten der aktuellen Bebauung freigelegt und dokumentiert werden, so vom «Schenkenhof» (später «Freihof») und «zur Waa- ge». Dazu zeigten sich an mehreren Stellen bauliche Res- te der alten Wasserversorgung (Sandsteinkanäle).

Im Rahmen des städtischen Glasfaserprojektes in der Spi- sergasse, der Brühlgasse, der Kugelgasse und der Löwen- gasse wurden die Aushubarbeiten (322 Laufmeter Leitungs- gräben) von Februar bis Mai begleitet. Hier haben die Bautätigkeiten der letzten 150 Jahre viel archäologisches Kulturgut zerstört. In der Spisergasse konnten mittelalter- liche Schichtreste und wenige Befunde dokumentiert wer- St. Gallen, Unterer Graben 1. Blick auf die Abbruchkrone den. Die untersten Schichten über dem geologischen der Kontermauer. Foto KASG. Horizont datieren ins beginnende 11. Jahrhundert. Damals

163 wurde das nördlich und nordöstlich an den Klosterbezirk ten in St. Gallen in der Zeit vor 1000 entstehen. Darin angrenzende Gebiet allmählich städtebaulich erschlossen. eingeschlossen sind die einzigartigen Kapitelle aus dem Im Januar 2016 starteten in der Spisergasse die Arbeiten an Gozbertmünster, die erst 2013 nach St. Gallen zurückge- neuen Gas-/Wasser- und EW-Leitungen. langten weiteren Fundstücke aus den Grabungen in der Kathedrale 1963–1967 und der 2009 entdeckte Sarkophag Grundsätzlich war die Zusammenarbeit mit Behörden, vom Klosterhof. Dies soll ein erster Schritt sein, das rei- Stadtwerken und beteiligten Baufirmen (Implenia, Celle- che archäologische Erbe von Kloster und Stadt St. Gallen re, Hagmann und Morant) positiv. In Bezug auf die Pla- bekannt und für die Forschung nutzbar zu machen. Das nung einzelner Projekte wie etwa der Fernwärmeerschlies- druckfertige Manuskript ist auf Frühjahr 2017 geplant. sung der Altstadt besteht aus Sicht der Kantonsarchäolo- gie allerdings noch Optimierungsbedarf. Zudem schie- Für die angenehme Zusammenarbeit sei Dr. Cornel Dora, nen verschiedene Projekte nicht immer vollständig durch- Silvio Frigg MAS IS und Dr. h. c. Peter Jezler bestens ge- dacht und genügend ausgereift, was die archäologische dankt. Baubegleitung und deren Planung erschwerte.

Grabs, Städtli Werdenberg St. Gallen, Lapidarium Ilona Müller MA erstellte den Schlussbericht zu den Aus- Das Lapidarium (Steinmuseum) der Stiftsbibliothek be- grabungen 2014 im Städtli. Dafür wurden noch zahlrei- herbergt eine einmalige Sammlung von karolingerzeitli- che 14C-Proben datiert und die Bearbeitung von Mikro- chen Kapitellen und Werkstücken des Gozbertmünsters morphologieproben in Auftrag gegeben. (9. Jahrhundert), aus der Otmarskrypta (10. Jahrhundert) und dem gotischen Chor der Kathedrale. Sie bilden einen bedeutenden Teil der materiellen Überlieferung des Grabs, Schloss Werdenberg UNESCO-Weltkulturerbes. Das Lapidarium wird in Zu- kunft von der Stiftsbibliothek vertieft für die Vermittlung Im November 2014 fanden Arbeiter in der «Schlossküche» der Klosterkultur genutzt werden. Deshalb werden die des Turms beim Öffnen einer vermauerten Fensternische Steine im Auftrag der Kantonsarchäologie dokumentiert folgende Objekte: ein Paar Schuhe, ein eisernes Dreibein, und ihr Zustand abgeklärt. Die Projektleitung hat Dr. zwei Holzgefässe aus Linde und Ahorn (?), eine halbe Holz- Guido Faccani, Zürich, inne. Er arbeitet mit Olivier Feihl kelle aus Ahorn sowie neun Tierknochen von Schaf/Ziege, (ARCHEOTECH SA, Epalinges), Christoph Holenstein Huhn und Rind. Das Schuhpaar wurde von Dr. Marquita (Steinmetz, St. Gallen), Dr. David Imper (Geologe, und Serge Volken, Gentle Craft, Lausanne, als verbrauch- Mels), Elisabeth und Michel Muttner (Atelier Muttner, te, geflickte Damenschuhe der Grösse 38–39 in wendege- Le Landeron) und Rolf Rosenberg (Fotograf, Zürich) zu- nähter Machart im Mühleberg-Stil bestimmt. Die Schuhe sammen. Fotografien, 3D-Scans und restauratorische Un- datieren um 1500–1525, dazu passt das 14C-Datum der tersuchungen sollen entscheiden helfen, was mit den Holzkelle. Mauer und Fenster gehören zur ersten Baupha- wertvollen steinernen Zeugen geschehen soll. Die erste se des Turms (vor/um 1228), wobei das Fenster wohl bereits Etappe ist bereits angelaufen. Ein Lotteriefondsbeitrag si- sehr früh (1228 ?) von aussen zugesetzt wurde. Im frühen 16. chert die zweite Etappe und die Vermittlung der Ergeb- Jahrhundert wurde es auch innen zugemauert. Die Funde nisse. Aus der Arbeit soll ein Katalog der Steinmetzarbei- werden 2016 im Schloss Werdenberg ausgestellt.

St. Gallen, Lapidarium. Kapitell aus dem Gozbertmünster Grabs, Werdenberg, Funde aus dem vermauerten Fenster im Turm. (erste Hälfte 9. Jahrhundert). Foto: Rolf Rosenberg/KASG. Foto KASG.

164 Wartau, Obere Höhle Procha Burg. Beengte Verhältnisse bei Sargans, Schloss. Blick auf den Schlosshof in Umgestaltung. der Erkundung durch Thomas Stehrenberger. Foto KASG. Foto KASG.

Wartau, Procha Burg, Obere Höhle eckige Balkenlager dokumentiert werden. Vermutlich stammen sie von einem Laubengang, der vom Bergfried 2014 stellten Thomas Stehrenberger und Roman Meyer direkt zur Ringmauer führte. In einer Sondage wurde in in der Höhle illegale Grabungsaktivitäten fest und bar- 80 cm Tiefe eine Feuerstelle entdeckt. Darunter lagen gen Knochenmaterial. Bereits in den 1970er- und 1980er- zwei Kulturschichten über dem anstehenden Fels. Sie zei- Jahren waren die Skelettreste von angeblich mindestens gen, dass die Benutzungsniveaus einst wesentlich tiefer la- 33 Personen von Privatpersonen unsachgemäss geborgen gen und man den Schlosshof mit der Zeit auffüllte. Dies worden. Eine 14C-Analyse datiert ein Individuum ins bestätigten auch Sondagen entlang der Ringmauer, in de- 4. Jahrtausend v. Chr. Dies veranlasste die Kantonsar- nen sich grössere verstürzte Mauerstücke fanden, die chäologie, die Fundstelle von Yvo Weidmann (Geoidee, wohl von der 1459 ebenfalls eingestürzten Ringmauer Zürich) neu vermessen und ein geologisches Gutachten stammen. (Andreas Baumeler, Zürich) zur Höhle erstellen zu las- sen. In der Erstpublikation 2004 wird die Höhle als Be- Für die gute Zusammenarbeit sei «Schlossvogt» Heinz stattungsort interpretiert. Dies ist kritisch zu überprü- Lutz, Dipl. Arch. FH/SWB Peter Rüegger (Kantonale fen, fehlt doch der Nachweis regulär bestatteter Personen. Denkmalpflege) und dem Baugeschäft Toldo AG bestens Die Knochen waren mehrheitlich zwischen Versturz gedankt. bzw. Felsblöcken eingeklemmt und stammten teilweise aus dem Deckenbereich. Bei der Oberen Höhle handelt es sich nicht um eine Karsthöhle, sondern um einen Sargans, Malerva, Römischer Gutshof Porenhohlraum, entstanden durch einen grösseren Berg- bzw. Felssturz. Die Fundlage der Knochen und der Höh- Der vom 1. bis ins 4. Jahrhundert genutzte Gutshof ist lentyp werfen neue Fragen auf, die durch eine Neu- eine auch forschungsgeschichtlich bedeutende Fundstel- bearbeitung der Knochenfunde geklärt werden sollen. le. 1865 führte Paul Immler hier die erste wissenschaftli- Im Rahmen eines Nationalfondsprojektes der Universi- che Ausgrabung im Kanton durch und legte dabei das Ba- tät Bern sind neben 14C-Datierungen der restlichen In- degebäude auf Parzelle 2292 frei. Die Grabungen in den dividuen auch DNA- und Isotopenuntersuchungen ge- 1920er-, 1930er- und den späten 1960er-Jahren liessen ei- plant. nen grossen römischen Gutshof erkennen, dessen genaue Ausdehnung aber bis heute nicht definiert werden kann. Die Anlage ist die grösste im Kanton St. Gallen. 1968/1969 Sargans, Schlosshof wurde ein Teil mit einem Schutzbau versehen.

Sanierung und Neugestaltung des Hofes samt Werklei- Im Februar wurden private Verkaufs- und Bauabsichten tungen erforderten eine Baubegleitung (Leitung Roman auf der Parzelle 2292 (5500 m2) bekannt. Diese sowie zwei Meyer) von November 2014 bis Februar 2015. Dabei kam weitere grosse Parzellen (1276 und 369; Eigentum politi- die mächtige Südostmauer des um 1459 bei einem Erdbe- sche Gemeinde) wurden deshalb im März/April geophy- ben eingestürzten Palas zum Vorschein. Im Innern lag ein sikalisch durch Christian Hübner, GGH Solutions in Steinplattenboden aus Melser Schiefer, darauf befanden Geosciences GmbH, Freiburg i. Br., prospektiert. Bagger- sich die Reste eines Kachelofens aus dem 15. Jahrhundert. schlitze im April und Mai auf Parzelle 2292 erbrachten Im Fels, auf dem der Bergfried steht, konnten sechs recht- zwei römische Gebäude: ein kleineres (7 x 7 m) sowie

165 SG2 SG7 Bade- SG1 gebäude SG9 SG3 SG2 JK SI SG7 SG4 Leitung Bade- Leitung SG1 gebäude SG9 SG3 SG6 SG5 JK SI SG4 Leitung Leitung N SG6 SG5 SG11 0 m 50 m

SG2 N SG7 SG11 Flächengrabung, 50-60 cm Schichtmächtigkeit Römische Mauerzüge Bade- Flächengrabung, ca. 25 cm Schichtmächtigkeit Geoprospektion: zu erwartende Mauerbefunde SG1 gebäude Fläche ohne Schichterhaltung,0 m nur Baubegleitung50 m Moderne Störungen/Leitungen SG9 SG3 JK SI Sondiergräben SG1 - SG11 JK/SI Jauchekasten/Silo SG4 Flächengrabung,Leitung 50-60 cm Schichtmächtigkeit Römische Mauerzüge Leitung Flächengrabung, ca. 25 cm Schichtmächtigkeit Geoprospektion: zu erwartende Mauerbefunde SG6 FlächeSG5 ohne Schichterhaltung, nur Baubegleitung Moderne Störungen/Leitungen Sondiergräben SG1 - SG11 JK/SI Jauchekasten/Silo N SG11 Sargans, Malerva. Übersicht über die Resultate

0 m 50 m der Geoprospektion und der nachfolgenden Baggersondagen. Plan C. Hübner/KASG.

Flächengrabung, 50-60 cm Schichtmächtigkeit Römische Mauerzüge Flächengrabung, ca. 25 cm Schichtmächtigkeit Geoprospektion: zu erwartende Mauerbefunde Fläche ohne Schichterhaltung, nur Baubegleitung Moderne Störungen/Leitungen Sondiergräben SG1 - SG11 JK/SI Jauchekasten/Silo ein grösseres (15 x 15 m). Zudem zeigen sich römische rung 1388 wurde er allmählich einsedimentiert, blieb aber Schichten auf fast dem ganzen Areal unter 1–1.5 m mäch- stellenweise noch bis ins 20. Jahrhundert sichtbar. Im tigen Kolluviumschichten. Unter den römischen Schich- Bereich des im Februar abgebrochenen Staadhauses kam ten wurden weitere organische Straten entdeckt. Im be- ein älterer Vorgängerbau zum Vorschein. Die Südfassade stehenden Stall konnte das römische Bad (1865 freigelegt) des wohl im 17. Jahrhundert errichteten Baus stand direkt noch teilweise gut erhalten wiederentdeckt werden. An- auf der Kontermauer. Beim (Um)Bau um 1800 scheinen dere Teile waren bei Baumassnahmen (Silos, Güllenkäs- grössere Teile übernommen worden zu sein. Unerwartet ten) unbeobachtet zerstört worden. Die gute Erhaltung erschien eine rund 20 cm mächtige, römische Fund- lässt eine Konservierung des Badegebäudes als sehr wün- schicht, die über weite Teile der fast 6000 m2 grossen Bau- schenswert erscheinen. grube in rund 5 m Tiefe lag. Diese wurde maschinell frei- gelegt und partiell von Hand ausgegraben, wobei u. a. 45 mehrheitlich spätantike Münzen geborgen wurden. Weesen, Staad Die Fundschicht ist im Zusammenhang mit dem nur rund 50 m entfernten spätrömischen Kastell zu sehen. Der Start der grossen Überbauung erforderte von April Am 3. Juli fand der «Tag der offenen Grabung» statt, den bis November Ausgrabungen (Leitung lic. phil. Valentin rund 50 Personen besuchten. Homberger, Co-Leitung Roman Meyer) im Bereich der 1388 zerstörten Stadt. Nördlich der Grabung von 2013 Für die gute Zusammenarbeit sei Nicole Hefti (Rutishau- wurde die Stadtbefestigung untersucht. Der Stadtgraben ser Bau AG) und Roman Marty (Kamm AG) bestens ge- war rund 3 m tief und 10–12 m breit. Die nördliche Gra- dankt. benwand war mit einer Kontermauer verkleidet, die auf rund 40 m Länge freigelegt wurde. Dabei liessen sich sie- ben durch Baufugen getrennte Mauerabschnitte (Baulo- se?) beobachten. An mehreren Stellen zeigte die Front der Kontermauer Versinterungen durch Hangwasser; ein 8 m langer Abschnitt war wegen Wasserdruck komplett er- neuert worden. Die Geschichte der Weesner Stadtbefes- tigung zeigt sich derzeit wie folgt: Im späteren 13. Jahr- hundert war die Stadt mit Mauer und einfachem Erdgraben umwehrt. Nördlich davon wurden grosse Mengen an Abfall deponiert. Um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verkleidete man die Nordwand des Stadtgrabens mit einer Kontermauer. Mindestens einmal wurde der Graben ausgeräumt und Weesen, Staad. Blick auf die Kontermauer und die Reste die Sohle um rund 30 cm abgesenkt. Nach der Zerstö- des Staadhauses. Foto KASG.

166 Rapperswil-Jona, Technikum horizont und darunter eingetiefte Strukturen festgestellt. Im Norden verlief in römischer Zeit auf der gesamten Um Erosions- und Akkumulationsprozesse im Palisaden- Länge ein Bach, der nach und nach durch Schutt verfüllt bereich am Rand der frühbronzezeitlichen Siedlung über- worden war. Darauf waren drei Töpferöfen angelegt wor- wachen zu können, wurden im Juni insgesamt 20 Erosi- den, deren Produktion wohl ins 2. Jahrhundert datiert. onsmarker angebracht. Aus dem Umfeld stammt das Fragment einer Formschüs- sel zur Produktion von Schüsseln der Form Drag. 37, wel- che einen bislang unter der helvetischen Sigillata unbe- Rapperswil-Jona, Feldbach Ost kannten Eierstab trägt. Im Süden wurden die Reste des 2008 angeschnittenen Steingebäudes und weitere früh- Um die Siedlungsausdehnung zu dokumentieren, wurden bis hochmittelalterliche Grubenhäuser freigelegt. im Juli Sondierungen vorgenommen. In keiner der 54 Kernbohrungen lag ein Hinweis auf Kulturschicht vor. Für die angenehme Zusammenarbeit sei den Bauherren Die Pfähle des Pfahlfeldes stehen teilweise 30 cm hoch Oskar und Sebastian Schulthess sowie Christian Stähli frei. Um längerfristig quantifizierbare Informationen und Yvan Brändli (Architekturbüro Ziegler+Partner) bes- über Erosions- und Akkumulationsvorgänge zu erhalten, tens gedankt. wurden 12 Erosionsmarker installiert.

Rapperswil-Jona, Kempraten, Zürcherstrasse 131 Rapperswil-Jona SG, Seegubel Ein Neubauprojekt am Zürichsee, ausserhalb des bekann- Im August wurden 101 Kernbohrungen durchgeführt ten Perimeters des römischen Kempraten, veranlasste die und damit die Siedlungsbereiche mit erhaltener Kultur- Kantonsarchäologie im Januar, die geologischen Son- schicht eingegrenzt, wo sie ungeschützt offen am See- dagen zu begleiten. Dabei wurden zwei römische Kalk- grund liegt. Weiter wurden Erosionsmarker angebracht. öfen angeschnitten. Die Geomagnetikmessung (Chr. Alle Tauchaktionen wurden von der Abteilung Unter- Hübner, GGH Solutions in Geosciences GmbH, Freiburg wasserarchäologie des Amts für Städtebau der Stadt Zü- i. Br.) zeigte drei nebeneinander liegende Öfen. Die Aus- rich ausgeführt. grabungen auf rund 1100 m2 (Leitung Hannes Flück und Sarah Lo Russo BA; Oberleitung Regula Ackermann) starteten im Juni. Die ursprünglich bis September geplan- Rapperswil-Jona, Kempraten, Zürcherstrasse 108/110 te Ausgrabung musste wegen der Entdeckung eines Mi- thräums bis in den Februar 2016 verlängert werden. Die durch ein Bauprojekt ausgelöste Grabung (1100 m2) von September bis Dezember (Leitung Dr. des. Hannes Die drei Kalköfen folgten demselben Bauschema: Der Flück; Oberleitung dipl. phil. Regula Ackermann) Ofenschacht (Durchmesser 3 m) wurde in den anstehen- schliesst nördlich an die 2008 erfolgte Teilausgrabung von den, leicht ansteigenden Molassefels geschrotet und ver- Parzelle 1076 an. Von dieser ist ein über die Parzellengren- jüngte sich gegen unten auf 2 m. Die ebenfalls aus dem ze hinwegziehender Steinbau bekannt. Die moderne Be- Fels gearbeitete Ofenbank diente als Auflager für die Char- bauung hatte den Befund teilweise stark gestört. Wie ge. Das Brennholz lag auf zwei Steinstürzen in Feuerkam- 2008 wurden nur noch ein fundführender Reduktions- mer und Einfeuerungsöffnung (Schnauze). Auch die zu den Schnauzen führenden Küchen waren aus dem Fels ge- schrotet. Sie öffneten sich zum See hin, sodass der Trans- port von Rohmaterial, Brennholz und Kalk vom und zum See einfach war. Als letzte Charge wurden folgende Kalk- steintypen gebrannt: Meilener Kalk (in Stäfa direkt am See anstehend), Quintner Kalk vom westlichen Walensee- ende und Hombrechtikoner Wetterkalk (Hinterland von Kempraten). Die Öfen waren wohl um 100 n. Chr. ange- legt worden und dürften teilweise gleichzeitig betrieben worden sein. Nach ihrer Auflassung wurden sie gezielt ver- füllt. Ihr Betrieb könnte mit dem Übergang von der Holz- zur Steinbauphase in Kempraten um 120 n. Chr. zusam- menhängen. Die manufakturartige Anlage der Öfen Rapperswil-Jona, Kempraten, Zürcherstrasse 108/110. (Gesamtvolumen rund 66 m3) dürfte dem Eigengebrauch Überblick über die Ausgrabung. Foto KASG. und dem Handel mit gebranntem Kalk gedient haben.

167 Mithras. In der Südwestecke des ebenfalls dreischiffigen Vorraums lag ein verstürztes Geschirrdepot. Bislang nicht gefasst sind Kultgruben oder eine Umfriedung. Das Mi- thräum fiel gegen Ende des 4. Jahrhundert einem Brand zum Opfer. Davon zeugen sowohl Brandschuttschichten als auch Brandspuren an den Objekten. Auffallend sind viele Reibschüsseln, Teller und Becher (auch aus Lavez). Deutliche Hinweise auf Kult sind zahlreiche Münzfunde, Kristalle, Tonkügelchen sowie viele Geflügelknochen und Ebereckzähne.

Der Ausgrabung kommt besondere Bedeutung zu, da es sich beim neu entdeckten Mithräum erst um das dritte derartige Heiligtum in der Schweiz handelt. Das ausser- Rapperswil-Jona, Kempraten, Zürcherstrasse 131: Übersicht gewöhnliche Gebäude wurde deshalb sorgfältig freigelegt über den mittleren und östlichen Kalkofen mit vorgelagerter und dokumentiert, um nicht nur die Gebäudereste selbst Küche. Die Öfen waren in den Fels gehauen. Foto KASG. festzuhalten, sondern auch um an möglichst viele Infor- mationen zur Ausübung des Mithras-Kultes zu gelangen. Dazu wurde mit zahlreichen Fachleuten (Prof. Dr. Chris- ta Ebnöther, Dr. Markus Peter, Dr. François Wiblé; IPNA Universität Basel) Kontakt aufgenommen und vor Ort Befunde und Funde diskutiert.

Der Fund zeigt, dass in der Römersiedlung Kempraten noch mit manchen aussergewöhnlichen Entdeckungen zu rechnen ist. Die Ausgrabung weckte ein grosses Publi- kums- und Medieninteresse. Deshalb fanden am 27. Au- gust und am 14. November «Tage der offenen Grabung» statt. Dazu konnten über 500 Personen begrüsst werden. Ende August eröffnete Regierungsrat Martin Klöti die sensationelle Nachricht von der Entdeckung eines Mi- thräums dem Publikum vor Ort. Am 14. November be- Rapperswil-Jona, Kempraten, Zürcherstrasse 131. Grosser Publi- grüsste Katrin Meier, Leiterin Amt für Kultur, die Besu- kumsandrang bei der Führung am 14. November. Foto KASG. cher und dankte der Bauherrschaft für ihr Entgegenkom- men. Gegen 300 weitere Personen kamen zu zusätzlichen Führungen.

Eine Exkursion auf den Ballenberg am 22. August zum Bauherr Emmanuel Séquin und Architekt Peter Parisi sei dortigen Kalkofen in Aktion brachte einen lebendigen für die angenehme Zusammenarbeit und für das grosse Einblick in das Gewerbe und den persönlichen Kontakt Verständnis und Interesse gedankt. mit den zuständigen Handwerkern. Der Gegenbesuch von Walter Trauffer auf der Ausgrabung war sehr span- nend und lehrreich. Rapperswil-Jona, Kempraten, Meienbergstrasse 6

Unmittelbar westlich der Öfen trat überraschend ein Der geplante Ersatzneubau liegt in direkter Nachbar- 8 × 10 m grosses Mithräum zutage. Es wurde erst nach der schaft zum Forum, im hinteren Gebäudebereich sowie im Auflassung der Öfen errichtet. Der Kultbau zeigt den ty- Hinterhofareal der entlang der Hauptstrasse zu rekon- pischen dreischiffigen Kultraum mit den seitlichen Podi- struierenden römischen Bebauung. Im März wurde der en (ca. 2 m breit) mit vorgeblendeten Steinmauern. Die Garten mit Georadar prospektiert (Chr. Hübner, GGH Aussenwände bestanden aus vermörtelten Sockelmauern, Solutions in Geosciences GmbH, Freiburg i. Br.). In vier darauf sass wohl ein Holzaufbau mit Schindeldach. Im Baggersondagen (Mai bis Juni) traten die antiken Befun- Mittelgang lagen zahlreiche Fragmente des Kultbildes, de dicht unter der Grasnarbe und mit einer Schichtmäch- welches wohl den leicht überlebensgrossen Mithras dar- tigkeit von 0.7–1 m auf. Von Steinbauten zeugen Mauern stellte. Hier fanden sich auch mehrere, unterschiedlich und Geröllfundamente sowie zugehörige (Mörtel-)Bö- grosse Altäre mit Weihungen für den unbesiegbaren den, welche zu wenigstens einem grossen Gebäude gehör-

168 ten. Zudem wurde mindestens eine vorangehende Holz- Gemeinden St. Gallen, Häggenschwil, Mörschwil, Stein- bauphase festgestellt. In der nördlichsten Sondage fand ach, Untereggen, Rorschach, Rheineck, St. Margrethen, man ein geostetes Körpergrab eines Kindes. Es gehört Altstätten, Oberriet, Rüthi, Grabs, Buchs, Wartau, Sar- wohl zum bekannten frühmittelalterlichen Gräberfeld. gans, Pfäfers, Walenstadt, Rapperswil-Jona, Wildhaus-Alt Die Ausgrabungsarbeiten sind für das Frühjahr 2016 ge- St. Johann, Wattwil, Lichtensteig, Lütisburg, Wil, Goss- plant, und der dafür notwendige Lotteriefonds-Kredit au, Andwil und Gaiserwald. wurde bereits vom Kantonsrat genehmigt.

Für die gute Zusammenarbeit sei Esther Hirzel und Ar- Neues Planungs- und Baugesetz chitekt Gilbert Chapuis bestens gedankt. Das neue Planungs- und Baugesetz PBG wurde seit 2010 erarbeitet. Die Kantonsarchäologie konnte dabei ihre An- Rapperswil-Jona, Rathausstrasse liegen zu einem grossen Teil einbringen. Der vorliegende Gesetzesentwurf weist zahlreiche Verbesserungen auf, so Die Leitungssanierungen und die neue Oberflächenge- die gesetzliche Verankerung der Archäologie, einen zeit- staltung wurden von Mai bis August auf beinahe der ge- gemässen Archäologie- und Denkmalbegriff (die gültige samten Länge der Rathausstrasse (an der Stelle des 1830 Verordnung stammt aus dem Jahr 1933), einen wirksame- verfüllten Stadtgrabens) durch die Kantonsarchäologie ren Schutz des archäologischen Kulturerbes und die Ver- begleitet. Bei Hausanschlüssen bot sich der Blick auf die besserung der Rechtssicherheit für Grundeigentümerin- Stadtmauer, welche in der nördlichen Häuserfront ver- nen und Grundeigentümer. Die vorberatende Kom- läuft. Die Sohle des Stadtgrabens wurde punktuell bei tie- mission des Kantonsrates behandelt das von der Regie- feren Eingriffen erreicht. rung genehmigte PBG im Winter 2015/2016. 2016 kommt es zur Beratung in den Kantonsrat.

Illegale Aktivitäten Richtplan Im Dezember 2014 stiess die Kantonsarchäologie bei ei- ner Internet-Auktionsplattform auf das Angebot einer Der kantonale Richtplan 2014 wurde am 14. August 2015 Goldmünze von 1738 aus der Umgebung von St. Gallen. vom Bundesrat genehmigt. Damit wurden rund 550 ar- Diese wurde ausserkantonal verkauft. In Zusammenar- chäologische Fundstellen, denen besondere Bedeutung beit mit Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei konnte zukommt, als schützenswert festgelegt. Das Ziel ist es, der Verkäufer ermittelt und bestraft werden. Die im Lauf die Fundstellen zu schützen und zu erhalten oder – falls des Verfahrens beschlagnahmten 18 Münzen und 6 Me- dies nicht möglich ist – die Substanz durch die Kan- daillen des späten 16. bis frühen 19. Jahrhundert wurden tonsarchäologie dokumentieren zu lassen. Der Richt- der Kantonsarchäologie St. Gallen sowie dem Amt für Ar- plan hält dazu Regeln fest. Somit ist der Einbezug der chäologie des Kantons Thurgau zugeführt. Die verkaufte Kantonsarchäologie bei ausgewiesenen archäologischen Goldmünze ist noch Gegenstand einer Strafuntersu- Fundstellen behördenverbindlich. Dies gilt insbesondere chung. auch für die Sankt-Galler Altstadt, da die Stadt St. Gal- len noch keine Schutzinstrumente für archäologische Zudem sind gegen weitere Verkäufer Verfahren wegen il- Fundstellen kennt. Das Inventar zeigt aber auch Priva- legalen Handels mit archäologischen Objekten eingeleitet ten, Planern, Bauherren und Investoren die wesentlichen worden. Rahmenbedingungen.

Grundsätzlich gilt, dass die Suche nach archäologischen Gegenständen unter Verwendung von Metalldetektoren Managementplan Stiftsbezirk rechtlich heikel ist. Die Zerstörung von archäologischen Fundstellen, die Behändigung von Funden («Fundunter- An der Erarbeitung dieses wichtigen Dokuments beteilig- schlagung») und der illegale Handel mit archäologischen te sich auch die Kantonsarchäologie. In zahlreichen Sit- Objekten sind Offizialdelikte. zungen (Leitung: Dr. Cornel Dora, Dr. Andreas Kränzle und Dr. Christopher Rühle) wurden verschiedene Aspek- te erarbeitet und diskutiert. Für die Kantonsarchäologie Vermischtes zentral sind die Bestrebungen zum verbesserten Schutz von archäologischen Denkmälern, Funden und Doku- Weitere Fundmeldungen, Sondierungen, Bauüberwa- mentationen. Die Ergebnisse sollen 2016 der Öffentlich- chungen, Augenscheine und Besprechungen betrafen die keit vorgestellt werden.

169 Auswertungsprojekte Kempraten, Oberriet, auch in Kempraten hergestellt wurden. Untersuchungen Vättis/Oberriet und Weesen zur Funktion der Brennhilfen und Ofenbestandteile ge- ben weitere Erkenntnisse über die Sigillata-Töpferei und Kempraten, Seewiese die Brenntechnik vor Ort.

Lic. phil. Pirmin Koch schloss die Auswertung weiterer Fundgruppen (Lavez, Glas, Keramik, Ziegel) ab. Die Ent- Kempraten, Fluh zifferung und Übersetzung der Fluchtafeln bleibt eine Herausforderung. Ein erster Schritt zu Erforschung und Das seit 2014 laufende Dissertationsprojekt von Nadja Bekanntmachung ist die Publikation der Tafel in tabula Melko MA bearbeitet fünf römische Töpferöfen inner- ansata-Form im Kongressband «Ductus II, Lesen und halb des Forschungsprojekts «Limites Inter Provincias» Schreiben in den gallischen und germanischen Provin- der Universität Zürich. Bis heute wurde ein Grossteil der zen». Für ein breiteres Publikum wurde sie im Pfalzbrief zahlreichen Keramikfragmente in die Datenbank der 2015/2 veröffentlicht. Die gelochte Fluchtafel wurde am Kantonsarchäologie aufgenommen. Intensive Arbeiten Schweizerischen Epigraphikertreffen vom 16. Januar in führten zur Erstellung eines vorläufigen Produktions- Bern zusammen mit lic. phil. Sebastian Geisseler (Univer- spektrums der Töpferwerkstätten in der Fluh. Die Fund- sität Bern) vorgestellt und diskutiert. Die Posterpräsenta- menge und der Kontext einer Werkstatt eigneten sich tion der interdisziplinären Resultate an der Jahreskonfe- zudem zur Untersuchung von Arbeitsabläufen und Lern- renz der «European Association of Archaeologists» 2014 prozessen, die einen lokalen oder überregionalen «Stil» stiess auf so grosses Interesse, dass sie im Kongressband prägen können. Hier sei dem Kollegium und den Schü- veröffentlicht werden darf. lern der Keramikschule Landshut (insbesondere Rektorin Annette Ody, Keramikmeisterin Susanne Wiedemann- Die beiden Kalköfen in der Seewiese wurden von Regula Pflugk und Keramikmeister Jakob Wiener) gedankt, die Ackermann und Pirmin Koch in einer breiten Studie un- sich für interdisziplinäre Diskussionen und verschiedene tersucht und in der Zeitschrift «Minaria Helvetica» Experimente zur Verfügung stellten. 35/2015 (erscheint 2016) publiziert. Der Vergleich mit wei- teren römischen Kalköfen, insbesondere den neuentdeck- Am 5.–6. Juni nahm Nadja Melko am Workshop «Mobi- ten Öfen an der Zürcherstrasse 131, sowie Überlegungen lities and Pottery Production. Archaeological and Anth- zur Verwendung und zum Betrieb der Öfen zeigen, dass ropological Perspectives» am Institut für Altertumswis- mit dem in Kempraten produzierten Branntkalk wohl senschaften der Universität Bern teil. Hier diskutierte sie auch gehandelt wurde. ihre ethnoarchäologische Methode zur Keramikbetrach- tung. Die Ergebnisse wurden als Posterbeitrag und Vor- trag unter dem Titel «form follows fingers – archaeologi- Kempraten, Nuxo cal typologies and the perspective of the producer» vom 2.–5. September an der Konferenz der «European Associ- Lukas Schärer MA hat das 2014 begonnene Auswertungs- ation of Archaeologists» in Glasgow vorgestellt. projekt der drei Kempratener Töpfereien Fluhstrasse 8/10, Friedhofareal St. Ursula und Nuxo fortgesetzt. Zur Bil- dung einer chemischen Referenzgruppe für Herkunfts- nachweise wurden bereits 2014 geochemische Analysen an über hundert Scherben durchgeführt. In Ergänzung dazu erfolgten 2015 am IPNA (Universität Basel) petrographi- sche Untersuchungen an Keramikfragmenten aus den drei Betrieben. Dadurch lassen sich ergänzende Informa- tionen zu den verwendeten Tonen sowie den Herstel- lungsprozessen gewinnen. Das druckfertige Manuskript sollte Anfang 2016 vorliegen.

Die vorläufigen Ergebnisse von Regula Ackermann und Pirmin Koch zur Terra Sigillata-Produktion in der Nuxo konnten mit mikromorphologischen Analysen durch Christine Pümpin und Sarah Lo Russo (beide IPNA, Ba- Auswertungsprojekt Fluh. Kulturspezifische Körperhaltung und Ges- sel) ergänzt und diskutiert werden. Zusätzliche XRF- tik führen zur Ausprägung eines bestimmten Formenschatzes: Kera- Messungen durch Dr. Markus Helfert (Universität Frank- mikmeister Jakob Wiener erläutert einzelne Töpfergesten bei der furt) an glatten Terra Sigillata-Gefässen zeigen, dass solche Reproduktion einer typischen Kempratener Schüssel. Foto N. Melko.

170 Auswertungsprojekt Weesen. Valentin Homberger erläutert Auswertungsprojekt Oberriet. Monika Oberhänsli bei der am Sommermedienanlass der Presse seine Arbeit. Foto KASG. Inventarisierung urgeschichtlicher Keramik. Foto KASG.

Oberriet Vättis/Oberriet

Im Juni wurde unter der Leitung von dipl. phil. Fabio Dipl. phil. Erwin Rigert schloss im März die Aufarbei- Wegmüller in Zusammenarbeit mit Studierenden der tung der archäologischen Befunde und der Fundgeschich- Universitäten Basel und Bern eine Prospektionskampag- te ab. Für Keramik, Glas und Lavez liegt ein druckferti- ne auf den Alpen des Kamor durchgeführt. 15 Sondagen ges Manuskript von Dr. Verena Hasenbach vor, der Text wurden in verschiedenen Höhlen und Abris angelegt und zu den Metallfunden soll im Frühjahr 2016 folgen. Dank grosse Gebiete prospektiert. Abgesehen von neuzeitlichen lic. phil. Rahel Ackermann, Leiterin des Inventars der Mauerresten entdeckte man keine archäologischen Struk- Fundmünzen der Schweiz IFS, konnte lic. phil. Yves turen. Den Alpgenossenschaften, den Sennen und allen Mühlemann als neuer Fundmünzenbearbeiter engagiert weiteren Beteiligten sei für ihr freundliches Entgegen- werden. Der Katalog von 2 460 römischen Münzen wur- kommen und ihr Interesse herzlich gedankt, ebenso Spal- de von ihm weitgehend bereinigt. lo Kolb aus Widnau für seine tatkräftige und kompeten- te Unterstützung. Weesen Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wis- senschaftlichen Forschung genehmigte im März das Pro- Das Auswertungsprojekt der Ausgrabungen 2006–2008 jekt «An interdisciplinary study of the faunal remains from (Leitung lic. phil. Valentin Homberger) wurde weiter vo- Abri Unterkobel (Oberriet SG) – Reconstruction of the rangetrieben. Die Befundauswertung ist abgeschlossen, prehistoric economy, faunal changes, environmental histo- ebenso das Keramikfundkapitel. Parallel starteten die ers- ry and human impact within a rock-shelter site in Eastern ten Vorarbeiten für die spätere Drucklegung, so etwa die Switzerland». Damit stehen der Auswertung zusätzlich grafische ufbereitungA von Plänen. Die Fertigstellung der 386 008 Franken zur Verfügung. Der Start des dreijährigen Publikation zu den Ausgrabungen in Weesen ist für 2016 Forschungsprojektes, das in enger Zusammenarbeit mit geplant. Prof. Dr. Jörg Schibler vom IPNA (Universität Basel) durchgeführt wird, erfolgte im September. Christine Zür- cher MSc wird eine Dissertation über die Grosstierreste Funde und Dokumentation verfassen, Dr. Simone Häberle bearbeitet die Kleintierreste Kathedrale St. Gallen 1963–1967 und Nigel Thew MA die Molluskenfauna. 2015 waren die Blicke auf die gerichtlichen Auseinander- Ausserdem wurde die Bestimmung der lithischen Rohma- setzungen um die Dokumentation der Ausgrabungen terialien durch Dr. Jehanne Affolter abgeschlossen und 1966 und 1973/1974 im Basler Münster zwischen dem die Holzkohlenbestimmung (Dr. Angela Schlumbaum) Kanton Basel-Stadt und Prof. Dr. Hans Rudolf Sennhau- sowie die Bearbeitung der urgeschichtlichen Keramik ser bzw. der «Stiftung für Forschung in Spätantike und (Monika Oberhänsli MA) begonnen. Die archäobotani- Mittelalter ‒ HR. Sennhauser» gerichtet. Der Kanton be- schen Analysen (Dr. Örni Akeret) und Untersuchungen antragte beim Bezirksgerichtspräsidium Zurzach die vor- zur Geoarchäologie (David Brönnimann MSc) wurden sorgliche Hinterlegung der Dokumentation bei der weitergeführt. Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern bis zur Klä-

171 rung der Rechtslage. Am 15. Oktober 2014 entsprach der gung vom BAK nicht anerkannt. Dabei handelte es sich Bezirksgerichtspräsident diesem Gesuch. Im Januar 2015 um 1 624.90 Franken für Kopien der Merkurstatuette von wurde die komplette Dokumentation von Bad Zurzach Ziegelbrücke (Gem. Schänis). Die bisher einzige römi- nach Bern überführt. Die Stiftung zog den Fall ans Ober- sche Götterstatuette aus St. Galler Boden wurde 1875 gericht des Kantons Aargau weiter. Dieses bestätigte in- beim Eisenbahnbau in Ziegelbrücke gefunden und kam dessen am 13. Mai den Entscheid des Bezirksgerichtsprä- als Leihgabe des Historischen Vereins des Kantons St. Gal- sidenten vollumfänglich. Am 12. Juni bestätigte die Stif- len ins Museum des Landes Glarus (Freulerpalast Näfels). tung den Eigentumsanspruch des Kantons Basel-Stadt. Die 2014 erstellten Kopien hatten den Zweck, das für den Die Dokumentation konnte damit nach Basel überführt Kanton St. Gallen wichtige Fundstück zu dokumentie- werden. ren, zu sichern und es auch für die Vermittlung einzuset- zen. Eine ausführlichere Begründung, weshalb die Kosten Die Analyse des für Öffentlichkeit und Forschung glück- nicht übernommen wurden, steht noch aus. lich ausgegangenen Basler Falls hat das Amt für Kultur des Kantons St. Gallen darin bestätigt, an der 2013 einge- Bei der Programmvereinbarung 2016–2020 konnten die reichten Klage gegen Prof. Dr. Hans Rudolf Sennhauser Abgabetermine im Jahr 2020 leicht nach hinten verscho- bzw. seine Stiftung festzuhalten. Der Prozess wird im ben werden. Die Programmvereinbarung wurde am 12. Frühjahr 2016 erwartet. Januar 2016 von der Regierung genehmigt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die 2016 entstandenen Unstimmigkeiten legen und die gewohnte freundliche Zusammenarbeit Der Bund und Archäologie/Denkmalpflege wieder einkehrt. Die Bundesgelder sind eine unentbehr- liche Unterstützung für die Bemühungen zur Sicherung Das Ende der Programmperiode 2012–2015 führte zu Tur- des archäologischen Erbes. bulenzen im bereits gut eingespielten Ablauf. Bereits auf Ende April hätten die Bewilligungen für die restlichen BAK-Mittel vorliegen sollen. Dies zeigte einmal mehr die Museum Schwierigkeit, im kurzfristigen Archäologie-Geschäft Mit- tel für künftige Projekte «auf Vorrat» zu reservieren. Dank Kuratorin Dr. Sarah Leib arbeitete an der Ergänzung der einer Verlängerung bis Ende Mai konnten insgesamt noch 2014 eröffneten Dauerausstellung «Faszination Archäolo- 426 550 Franken Bundesgelder bewilligt werden. Die Ent- gie – Schätze aus St. Galler Boden» im Historischen und deckung des Mithräums Ende August in Kempraten be- Völkerkundemuseum St. Gallen (HVMSG). In einer ers- deutete für die Kantonsarchäologie Mehraufwendungen ten Etappe sollen eine grosse Magnettafel im Museums- von rund 100 000 Franken für das Jahr 2015. Dies hätte pädagogik-Raum sowie fünf Hands-on-Stationen (mit einem Bundesbeitrag von rund 25 000 Franken entspro- Objekten zum Anfassen und Mitmachen) und fünf Le- chen. Leider war das Geld nicht verfügbar, da ein Nachtrag bensbilder (Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, Römisch, zu den Bewilligungen nicht mehr möglich war. Deshalb Frühmittelalter) im Chronologie-Raum die bestehende musste der Kanton die Kosten selber tragen. Ausstellung vervollständigen. Hierzu wird mit dem Ateli- er bunterhund, Zürich (Anita Dettwiler und Daniel Pe- Neben diesen Schwierigkeiten kamen erhebliche Nach- lagatti), zusammengearbeitet. Die neuen Stationen wer- forderungen des BAK bei der Berichterstattung und den den dem Publikum im Frühjahr 2016 präsentiert. Bewilligungen hinzu. Erstmals wurde auch eine Bewilli- Das Fenster der Kantonsarchäologie wurde vier Mal ge- wechselt: Ilona Müller zeigte am 28. März «Werdenberg – Archäologie im Leitungsgraben» mit Funden aus den Ausgrabungen 2014. Am 3. Juni sprach Martin P. Schind- ler zu «Blick hinter die Kulissen – Die Kantonsarchäolo- gie an der Rorschacherstrasse 23» mit u. a. Verpackungs- Trouvaillen aus hundert Jahren. Am 27. September präsentierte lic. phil. Ursula Steinhauser «Frühmittelal- terliche Grabfunde aus dem Kanton St. Gallen» mit Ori- ginalfunden aus Rorschach (1869) und Rapperswil-Jona, Kreuzstrasse 2013. Am 18. November sprach Martin P. Schindler zu «Kalkbrennöfen und Mithräum – Neuent- deckungen in Kempraten» und stellte dabei die frisch von der Ausgrabung stammenden Mithras-Altäre vor. Das Kopien der Merkurstatuette von Schänis. Foto KASG. Fenster zu den bronzezeitlichen Grab- und Siedlungsfun-

172 Die Ergebnisse des Workshops «Spielzeug oder Göttergabe» Rege Diskussionen über das Leben im Frühmittelalter mit der vom 28. März lassen sich sehen! Foto HVMSG. Alamannengruppe «Adalar». Foto HVMSG. den von Tübach und Goldach war dank der Initiative von Urs Schärli von Januar bis März im Ortsmuseum Flawil zu sehen.

Die Schulkoffer zu den Themen Steinzeit, Römerzeit, Mittelalter wurde auch 2015 rege ausgeliehen. Ebenso zo- gen die Archäologie-Führungen für Schulklassen an. Ins- gesamt wurden 86 Archäologie-Anlässe, Führungen und Workshops angeboten. Eine Zusammenstellung der von Kuratorin Sarah Leib und Museumspädagogin Dr. Jolan- da Schärli durchgeführten Angebote sind dem Jahresbe- richt 2015 des HVMSG zu entnehmen. Museumsnacht 2015: Verkleidungsstation in der Ausstellung An der Museumsnacht am 6./7. September betreuten Jo- «Römer, Alamannen, Christen – Frühmittelalter am Bodensee». nathan Mösli, Fredi Kuster und Martin P. Schindler eine Foto HVMSG. Publikums-Backwerkstatt. Auf einfachen Steinmühlen konnte Korn gemahlen, mit Wasser und Salz zu einem Teig verarbeitet und dieser dann auf dem Holzkohlefeuer des Kantons Thurgau, der Landesarchäologie Fürstentum gebacken werden. Sarah Leib veranstaltete Führungen in Liechtenstein, der Kantonsarchäologie St. Gallen, der der Sonderausstellung «Römer, Alamannen, Christen» Kreisarchäologie Konstanz, dem vorarlberg museum und und bot dazu eine gut besuchte Verkleidungsstation an. der Denkmalpflege im Regierungsbezirk Freiburg. Die Leihgaben stammen von 17 verschiedenen Museen und Immer noch ungenügend ist die Leistung der neuen Hei- archäologischen Diensten aus der Schweiz, Deutschland, zung in der kalten Jahreszeit. Zudem bereitete die hohe Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein. Dazu er- Luftfeuchtigkeit in diesem Sommer Sorgen, da die Vitri- schien ein reich bebilderter Ausstellungskatalog. nen mit heiklen Metallfunden auch übermässig Feuchtig- keit aufnahmen. Dank Beratung von Restaurierungsab- Die Kantonsarchäologie beteiligt sich seit 2007 an diesem teilung HVMSG und Walter Frei, Aadorf, konnten durch internationalen Projekt. Dieses Jahr konnte die Ausstel- das Abkleben der Vitrinen und ein neues Trockenmittel lung auch in St. Gallen gezeigt werden. Thema war das erste positive Resultate erzielt werden. Frühmittelalter vom 3. bis 8. Jahrhundert, eine bewegte Zeit voller gravierender Umwälzungen. Die eindrucksvol- Das Highlight war die Wanderausstellung «Römer, Ala- len Objekte wie Schwerter, Schmuck, Goldkreuze oder mannen, Christen – Frühmittelalter am Bodensee», wel- kostbare Münzen stammen von Fundstellen rund um den che vom 23. Mai 2015 bis zum 17. Januar 2016 gezeigt wur- Bodensee. Reich bebilderte Schautafeln und Faksimiles, de. Sie ist das Produkt einer intensiven internationalen Gebäudemodelle und Kleiderpuppen vermittelten Infor- Zusammenarbeit zwischen dem Archäologischen Landes- mationen. Ergänzt wurde die Ausstellung mit einer museum Baden-Württemberg, dem Amt für Archäologie St. Galler Vitrine (Grabfunde Maugwil), Hands-on-Stati-

173 onen für Jung und Alt sowie einem reichen Begleitpro- chäologie-Ausstellung im HVMSG. Am 21. April prä- gramm. An Workshops wurde angeboten: 28. März: sentierte Fabio Wegmüller die Fundstelle Oberriet Un- «Spielzeug oder Göttergabe», Tierrasseln aus Ton töpfern, terkobel und das laufende Prospektionsprojekt anlässlich mit Sarah Leib und Jolanda Schärli; 28. Juni: «Runen – der Korporationsversammlung der Alp Unterkamor in das Schriftsystem der Germanen» mit Vanessa Oberhuber Altstätten. Am 11. Juni informierte Martin P. Schindler und Susanne Oberholzer; 22. August: «Die Römer und im Grundkurs für KGS-Spezialisten (GK KGS Spez) in ihre Sandalen» mit Sarah Leib und Jolanda Schärli. Dazu Rheineck über Aufgaben und Ziele der Kantonsarchäo- kamen Führungen und Vorträge. An der Vernissage und logie. Am 23. Juni und 26. August führte Sarah Leib am traditionellen Familienwochenende vom 8. November Kantonsarchäologie und Amt für Kultur durch die Son- war zudem die Alamannengruppe «Adalar» zu Besuch derausstellung «Römer, Alamannen, Christen». Am 6. und führte das frühmittelalterliche Leben plastisch vor. August führte die Kantonsarchäologie in Zusammenar- Den römischen «Gegenpart» bot der römische Centurio beit mit der Staatskanzlei (Sabrina Rohner) einen Som- Yves Rüttimann am 24. Mai. mermedienanlass an der Rorschacherstrasse 23 durch. Den Anlass besuchten sechs Medienschaffende aus dem Sarah Leib plante auch bereits die neue Sonderausstel- ganzen Kanton. Sie konnten das ganze Haus besichtigen, lung. 2016 feiert die Kantonsarchäologie ihr 50-jähriges und verschiedene Mitarbeitende berichteten anhand von Bestehen. Die Ausstellung «Etwas gefunden – 50 Jahre Funden und Bildern über ihre Arbeit. An der Tagung Kantonsarchäologie St. Gallen» soll dazu vom 30. Sep- «Tuotilo: Archäologie eines frühmittelalterlichen Künst- tember 2016 bis 31. März 2017 Hintergrundinformationen lers» in St. Gallen sprach Martin P. Schindler am 27. Au- bieten. Ein reiches Begleitprogramm ist geplant. gust zu «Neues zur St. Galler Archäologie des 9. und 10. Jahrhunderts». Am 13. September machte die Kantonsar- chäologie Station im Stadtmuseum Rapperswil-Jona. An- Öffentlichkeitsarbeit lässlich der Europäischen Tage des Denkmals zum Thema «Austausch – Einfluss» führte sie in enger Zusammenar- Am 30. Januar sprach Fabio Wegmüller über «Neues zur beit mit Museumsleiter lic. phil. Mark Wüst einen ar- Urgeschichte im St. Galler Rheintal: Der Abri Unterko- chäologischen Bestimmungstag durch und präsentierte bel in Oberriet» am Fachgespräch zur archäologischen die Resultate der Auswertungsarbeiten zu den römischen Feldforschung in Westösterreich und den angrenzenden Töpfereien in Kempraten. Der Anlass fand guten Zu- Regionen in Bregenz. Am 7. Februar hielten er und Tho- spruch und brachte der Kantonsarchäologie neue Fund- mas Stehrenberger am Höhlenforschungskolloquium punkte rund um Rapperswil-Jona. Am 17. September re- «Archäologie und Höhlenforschung» der Schweizeri- ferierte Martin P. Schindler am Kongress «Colomban et schen Gesellschaft für Höhlenforschung SGH zwei Vor- son influence. Moines et monastères du haut Moyen Age träge zum Abri Unterkobel und zu Höhlen im Kanton en Europe» in Luxeuil zu «Le monastère de Saint-Gall St. Gallen. Am 16. April führte Martin P. Schindler Teil- précarolingien». Am 18. September führte Regula Stein- nehmende des Symposiums «Preserving Archaeological hauser Denkmalpflege und Kantonsarchäologie Solo- Remains in Situ» (Kreuzlingen 12.-18. April) im Stiftsbe- thurn durch die Archäologieausstellung im HVMSG. zirk. Am 19. April erläuterte er dem Fachverein Prähisto- Der traditionelle Denkmalpflege- und Archäologieaus- rische Archäologie der Universität Zürich die neue Ar- flug mit Regierungsrat Martin Klöti führte am 24. Sep- tember ins Sarganserland, wobei man u. a. den römischen Gutshof und das Schloss Sargans besuchte. Am 30. Ok- tober sprach Valentin Homberger an der SAM-Tagung in Chur zu «Ein 600-jähriges Flickwerk. Untersuchungen an der mittelalterlichen Stadtbefestigung von Alt- Weesen». Am 5. November stellte Pirmin Koch die Aus- wertungsarbeiten Seewiese mit einem Vortrag bei der Ge- sellschaft «Pro Iuliomago» in Schaffhausen vor. An der ARS-Jahresversammlung in Studen BE am 7. November sprachen Pirmin Koch und Mitautorinnen zu «Feiern in einem heiligen Hain: der gallorömische Tempelbezirk von Kempraten» sowie Hannes Flück zu «Rot-weiss- schwarz – Römische Kalkbrennerei in Kempraten». Am 21. November hielt Martin P. Schindler an der General- Bestimmungstag im Stadtmuseum Rapperswil-Jona am Europä- versammlung der Toggenburger Vereinigung für Heimat- ischen Tag des Denkmals. Regula Ackermann und Hannes Flück kunde im «Ochsen» Sidwald die Laudatio zur Arbeit bestimmen mitgebrachte Fundstücke. Foto KASG. «Eine Burg gesucht – ein Kloster gefunden» von Kathari-

174 na Meier von Lütisburg. Am 6. Dezember referierte er im mern könnte. Dieses wäre sehr willkommen! Die gelun- HVMSG als Rahmenveranstaltung zur Ausstellung «Rö- gene Arbeit von Katharina Meier ist eine ausgezeichnete mer, Alamannen, Christen» zu «Alles Gallus – oder was? Grundlage für eine weitere Bearbeitung der Fundstelle. Die Ostschweiz im Frühmittelalter». Denn das grosse Ziel der Ausgräber ist bislang immer noch nicht erreicht: eine Publikation der Grabungser- Eine besondere Zusammenarbeit entwickelte sich im gebnisse. Das erste Fenster der Kantonsarchäologie 2016 Herbst zwischen dem Verkehrsverein Rapperswil-Jona im Historischen und Völkerkundemuseum ist dem The- VVRJ und der Kantonsarchäologie. Unter dem Titel «Ar- ma Pfanneregg gewidmet. chäologie der Römerzeit live!» wurden am 30. Oktober, 20. November und 27. November Führungen auf den lau- fenden Ausgrabungen Zürcherstrasse 108/110 und 131 an- Umzug geboten (rund 50 Besucher). Organisation und Einfüh- rung übernahmen der VVRJ und Christopher Ammann, In der zweiten Märzwoche zog die Kantonale Denkmal- auf der Ausgrabung führten Sarah Lo Russo, Hannes pflege in die Hauptpost. Nach kleineren Unterhaltsarbei- Flück und Regula Ackermann. ten (Böden, Malerarbeiten, Beleuchtung, neue Ausstat- tung Pausenraum und Labor) wurden am 8. April auch die Arbeitsplätze der «Aussenstelle» Kirchhoferhaus ge- Publikationen zügelt. Nun sind endlich wieder alle Mitarbeitenden an einem Ort konzentriert! Dies erleichtert Abläufe und Ein umfassendes Publikationsverzeichnis findet sich un- Kommunikation erheblich. Am 4. Dezember (Barbara- ter www.archaeologie.sg.ch. Tag) fand eine kleine Einweihungsfeier statt. Alex Hör- ler (Hochbauamt), den beteiligten Handwerkern und Weitere, oben noch nicht erwähnte Publikationen sind: der Umzugsfirma Sprenger AG sei für die gute Arbeit Der Artikel von Ilona Müller zur Fundstelle Heidenländ- bestens gedankt! Im März erfolgte auch der Umzug li (Gem. Rorschacherberg) im Jahrbuch Archäologie des Fundlagers im Keller des Kirchhoferhauses ins Lager Schweiz. Letzistrasse.

Mit den Kelchbeigaben in Priestergräbern im Kanton In einer Retraite am 12./13. Mai beschäftigte sich die Equi- St. Gallen befasste sich Regula Steinhauser im Ausstel- pe der Kantonsarchäologie mit der Organisation und der lungskatalog «Reflets de Venise» des Vitromusée Romont. Aufgabenverteilung nach dem Zusammenzug. Die Resul- tate sollen bis 2016 realisiert sein. Regula Steinhauser, Hansjörg Frommelt und Martin P. Schindler stellten im «Werdenberger Jahrbuch» 2016 und Die Ablösung der alten Computerinfrastruktur durch im «Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürsten- den «Arbeitsplatz der Zukunft APZ» erfolgte im April tum Liechtenstein» 114 (2015) eingehend die frühe Sied- und brachte viel Unruhe, Wartezeiten und einen grossen lungsgeschichte des Alpenrheintals dar. Arbeitsaufwand für die Mitarbeitenden mit sich. Beson- ders die Abnahme der einzelnen Programme belastete ein- Der Artikel «Eine Burg gesucht – ein Kloster gefunden. zelne Mitarbeitende übermässig. Grabungsgeschichte Pfanneregg, Wattwil, 1946–1957» von Katharina Meier im «Toggenburger Jahrbuch» 2016. Dank des Entgegenkommens der «Toggenburger Verei- nigung für Heimatkunde» konnte die vollständige Se- mesterarbeit (Universität Zürich) von Katharina Meier in 70 Exemplaren gedruckt und in Region und Kanton verteilt werden. Die gut und spannend geschriebene Arbeit beleuchtet anschaulich die ersten Jahre der «Tog- genburger Vereinigung für Heimatkunde», als die Aus- grabungen auf Pfanneregg ein Hauptprojekt waren. Ka- tharina Meier geht darin den einzelnen Protagonisten vertieft nach und beleuchtet ihre Beziehungen unterein- ander. Sie zeichnet auch den Verlauf der Ausgrabung nach und setzt sich kritisch mit der Grabungsdokumen- tation auseinander. Mehrmals kommt sie zum Schluss, dass noch weiteres Material (Dokumentation und Fun- Der Umzug vom Kirchhoferhaus zur Kantonsarchäologie de) dieser Ausgrabungen irgendwo unentdeckt schlum- erfolgte für heikle Objekte zu Fuss! Foto KASG.

175 Personelles

Seit Jahren war im Aufgaben- und Finanzplan (AFP) eine neue 100%-Stelle für die Kantonsarchäologie angemeldet. Der Bedarf konnte eindrücklich durch die Zusammen- stellung von Projektmitarbeitenden von 2011 bis 2015 be- legt werden: Es waren jährlich mindestens zusätzliche sie- ben Vollzeitstellen nötig, um die Ausgrabungs- und Auswertungsarbeiten ausführen zu können. Die neue Stelle hätte der Koordination der zahlreichen Ausgrabun- gen gedient und damit Konstanz in den Betrieb gebracht sowie Know-how und Wissen gesichert. Weesen. Grabungstechnikerprüfung von Roman Meyer. Grabungsleiter Valentin Homberger und Prüfungsexperte Die Finanzkommission lehnte alle neu beantragten Stel- Matthias Schnyder in Diskussion. Foto KASG. len ab. Die Regierung stellte daraufhin dem Kantonsrat den Antrag, dennoch eine ganze Stelle für Kantonsar- chäologie und Denkmalpflege (je 50%-Stelle) im Budget Dr. Beat Eberschweiler und PD Dr. Thomas Reitmaier sei zu belassen. In der Session am 1. Dezember setzten sich für ihren Einsatz bestens gedankt. Meinrad Gschwend für die SP-Grüne-Fraktion und Re- gierungsrat Martin Klöti (FDP) nachdrücklich für die 2015 leisteten acht Zivildienstleistende ihren Einsatz: Ke- Stelle ein. Beide betonten, dass der Bauboom anhalte und vin Hofer aus St. Gallen (6. Oktober 2014–20. April 2015), deshalb Denkmalpflege und Archäologie besonders gefor- Jozo Colic von Berneck (5. Januar–13. Februar), Lino dert seien. Martin Klöti bat den Rat eindringlich: «Bitte, Rohner von Gais (16. Februar–12. Juni), Elias Yaacoub lassen Sie uns arbeiten!» Der Kantonsrat hatte kein Ge- von Gossau (20. April–31. Juli), Tobias Haefelin von Rü- hör: Der ursprüngliche Antrag wurde mit 70:28 Stim- thi (3. August 2015–22. Januar 2016), Marwin Hilden- men, der reduzierte Antrag der Regierung mit 72:30 Stim- brand von Wilen bei Wil (29. Juni–2. Oktober), Raphael men deutlich abgelehnt. Damit können zwar kurzfristig Sidler von St. Gallen (7. September–2. Oktober) und Pe- Kosten gespart werden, die dringlichen Aufgaben von ter Wild von St. Gallen (28. September 2015–17. April Kantonsarchäologie und Denkmalpflege sind damit aber 2016). Der Einsatz dieser «Zivis» war tadellos. Das Jahr nicht aus der Welt geschafft. 2016 ist bereits ausgebucht.

Erwin Rigert verliess Ende März die Kantonsarchäologie Archäologische Praktika absolvierten Janine Heinrich von nach rund 15 Jahren Mitarbeit. Sein Name ist mit den Schänis (6.–17. Juli) und Dean Conzett von Stein AR Ausgrabungen und Baubegleitungen in der südlichen Alt- (28. Mai–31. Juli). Schnuppertage verbrachten Michael stadt St. Gallen eng verbunden. Erwin Rigert inventari- Schwizer von Schwellbrunn, Orlando Afonso von Wolf- sierte zuerst die Fundstellen im Rheintal, Werdenberg, halden und Finn Bogdan von St. Gallen. Sarganserland und See/Gaster. Ihm ist auch die Wieder- entdeckung der Fundorte der Münzschätze von Oberriet Am 29. Mai starb Werner Stöckli in Moudon. Er war und Vättis zu verdanken. Wir wünschen Erwin in seinem 1965–1967 örtlicher Grabungsleiter in der Kathedrale neuen Wirkungsbereich alles Gute! St. Gallen gewesen. 1971 gründete er das Büro Stöckli, später atelier d’archéologie médiévale (aam) in Moudon. In der Folge konnte Regula Ackermann 70% fix ange- Das aam führte die Ausgrabungen 1998 im Kleinen Klos- stellt werden. Sie steht seit rund zehn Jahren im Dienst terhof und 1999/2000 auf Burg Gams im Auftrag der der Kantonsarchäologie, bisher mit 20% Fixanstellung Kantonsarchäologie durch. und 50% Projektarbeit. Regula hat sich dank ihrer Aus- wertungsarbeit (Fluhstrasse 6–10) zur «Madame Kempra- Am 6. August starb dipl. Ing. ETH Hans Spiess-Ochsner, ten» entwickelt. Mit der ihr eigenen Energie und Tat- ein Förderer der Archäologie im römischen Kempraten. Bei kraft hat sie die Oberleitung der Ausgrabungen in der Überbauung Römerwiese (1991) ermöglichte er Ausgra- Kempraten übernommen. Dank ihr funktionierten Or- bung und Sichtbarmachung der Ruinen, wobei er auf eine ganisation und Betreuung der Grossgrabungen und Wohneinheit verzichtete. 1997, bei der Ausgrabung des Fo- Sondierungen reibungslos. rums, ebnete er den Weg zur Errichtung des archäologi- schen Parks Meienbergstrasse. Anlässlich der Vernissage des Roman Meyer hat dieses Jahr die Grabungstechnikerprü- Auswertungsbandes von Regula Ackermann 2013 war Hans fung absolviert und erfolgreich bestanden. Herzliche Gra- Spiess noch zugegen. Seine Verdienste wurden von Regie- tulation! Den persönlichen Experten Matthias Schnyder, rungsrat Martin Klöti eingehend gewürdigt.

176 Kantonale Denkmalpflege St. Gallen Jahresbericht 2015

Michael Niedermann

Oasen

Es fällt nicht schwer, sich eine Oase vorzustellen. Sofort rungen und andere geschickte Massnahmen führen er- denken wir an Palmen, Wasserstellen, üppiges Grün und staunlich rasch zu mehr Verantwortungsbewusstsein der kühlenden Schatten unter brennender Sonne. Die Oase Verkehrsteilnehmer und damit zu mehr Qualität. Zahl- im wortwörtlichen Sinn ist aber auch mit dem Begriff der reiche Industrie- und Gewerbezonen könnten ebenfalls Wüste verbunden. Wenn wir in unseren Siedlungsgebie- ohne übertriebene Eingriffe menschenfreundlicher gestal- ten im übertragenen Sinn von «Oasen» sprechen, gehen tet werden. Das Bedürfnis nach «Oasen» steigt, je mehr wir davon aus, dass diese von einer Art «Wüste» umgeben «Wüsten» wir produzieren. sind. Sind unsere Siedlungsräume von Menschen geschaf- fene «Wüsten»? Weshalb produzieren wir solch unwirt- liche Gebiete, in denen das Bedürfnis nach «Oasen» auf- kommt? Sind historische Ortsbilder «Oasen»?

Diesen Fragen möchten wir an den «Europäischen Tagen des Denkmals» im September 2016 und in unserem Schwerpunktthema nachgehen. Im vorliegenden Jahres- bericht lassen wir deshalb ein Team von Landschaftsarchi- tekten zu Wort kommen. Das Interview geht Fragen der Landschaftsplanung, aber auch der Gestaltung von Sied- lungsräumen nach. Wir meinen, eine Oase müsse nicht zwingend grün sein. Vielmehr geht es um das Wohlbefin- den in privaten, halbprivaten und öffentlichen Räumen. Und dafür sind neben den Pflanzen auch zahlreiche wei- tere Faktoren bestimmend. Letztlich geht es darum, un- sere Umgebung nicht als Restflächen der bebauten Um- welt zu betrachten, sondern als bewusst gestaltete, von Bauten und Anlagen begrenzte Aussenräume – bepflanzt oder anderweitig ausgestattet.

Strassenräume zählen wir im Allgemeinen zu den unge- Gut eingepasste Neubauten im zweiten Glied des nationalen liebten Aussenräumen. Gerade deshalb verdienen sie mehr Ortsbildes; die markante Dreiergruppe direkt am Platz muss Aufmerksamkeit und Gestaltung. Begrünte Mittelstreifen, jedoch als authentisch historische Substanz stehen bleiben. angrenzende Vorgartenzonen, weniger technische Markie- Foto: Kantonale Denkmalpflege.

177 Finanzielles

Im Laufe des Jahres 2015 konnten wichtige Vorhaben be- Eschenbach St. Gallenkappel, kath. Pfarrkirche gleitet und abgeschlossen werden. Dabei konnten an 145 St. Laurentius und Gallus: Teilrestau- Objekte Beiträge in der Gesamtsumme von 1 870 000 rierung Altäre und Deckenmalerei Franken verfügt werden. Davon entfallen ca. 970 000 Gibel, Kapelle Maria zum Schnee: Franken zulasten des Staatshaushaltes und ca. 900 000 Fassadenrenovation Franken auf den Lotteriefonds. Zusätzlich konnten Beiträ- Dorfstrasse 13, Custorhaus: ge des Bundes in der Höhe von 1 046 130 Franken zugesi- Fassadenrenovation chert werden. Diese Beitragssummen konnten aufgrund Flawil Burgau 1618: Aussenrenovation von Beteiligungen der Standortgemeinden und der Kon- Gossau Schloss Oberberg: Fenster-Teilersatz fessionsteile etwa verdoppelt werden. Söldnerhaus Bahnhof Aufnahmegebäude: Innenrenovation Hochstrasse 4, Schulhaus Haldenbüel: Gesamtrenovation Grabs Sporgasse 4: Aussenrenovation Grabserberg, Rappenloch 2303: Umbau und Renovation Abgeschlossene Restaurierungen 2015 Kaltbrunn Dorfstrasse 5, Gemeindehaus: Fassadenrenovation Kirchberg Hinterdorfstrasse 14a: Umbau Altstätten Forstkapelle: Renovation Gähwil, Hulfteggstrasse 18: Rorschacher-Strasse 41: Fensterersatz Fassadenrenovation Webergasse 11: Fassadenrenovation Buomberg 2116: Innenrenovation Lüchingen, Oberstall 1: Aussenrenovation Buomberg 2123: Fassaden-Teilrenovation Unterstein-Gätziberg 2: Umbau und Lichtensteig Grabenstrasse 23: Fassadenrenovation Gesamtrenovation Hauptgasse 12, Rathaus: Fensterersatz Warmesberg 11: Gesamtrenovation Dachgeschoss Amden Ebnet 647: Umbau und Erweiterung Hauptgasse 34: Sanierung Stützmauer Gadmen 682: Fensterersatz Löwengasse 8: Aussenrenovation Taholter 754: Umbau und Gesamt- Löwengasse 27: Gesamtrenovation restaurierung Lütisburg Tufertschwil, Kapelle St. Bartholomäus: Andwil Bachweg 5: Renovation und Neubau Aussenrenovation Postplatz 9, Hirschen: Aussenrenovation Marbach Schloss Weinstein: Aussenrenovation Bad Ragaz Sarganserstrasse 5: Fassadenrenovation Mosnang Kath. Pfarrkirche St. Georg: Balgach Steigstrasse 1, Restaurant Rössli: Dachrenovation Süd Innenrenovation Neckertal St. Peterzell, Dorf 19: Teilrenovation Steigstrasse 6, Altes Pfarrhaus: Nesslau Ennetbühl, evang. Kirche: Fassadenrenovation Fassadenrenovation Schloss Heerbrugg, Pavillon: Ennetbühl, Gasthaus Krone: Sicherungs- und Restaurierungsarbeiten Fassadenrenovation Berneck Husenstrasse 7: Gesamtrenovation Krummenau, Alter Hirschen: Bütschwil- Ganterschwil, evang. Kirche: Restaurie- Fassadenrenovation und Umbau Ganterschwil rung Eingangsbereich und Turmuhr Neu St. Johann, ehem. Kloster: Degersheim Kloster Magdenau: Restaurierung Restaurierung Renaissance-Buffet Emblem-Zyklus Niederhufen-Bühl 293: Restaurierung Taastrasse 11, Fabrikareal Grauer: und Umbau Dachrenovation Ijentaler Bach: Restaurierung Beinstampfe Ebnat-Kappel Wintersberg 2389: Teilrenovation Nieder- Dorf 6: Aussenrenovation und Anbau Atelier helfenschwil Kobesenmühle: Innenrenovation Eichberg Evang. Kirche: Instandstellung Oberbüren Dorf 4, Grosses Haus: Renovation Saal Kirchenmauer 1. Etappe

178 Oberriet Staatsstrasse 174, Rothus: Teilrenovation Walenstadt Kath. Pfarrkirche St. Luzius und Florin: und Fensterersatz Revision Kirchturmuhranlage Pfäfers Vättnerberg, Lerchnes Heuschober: Kapelle St. Wolfgang: Turmrenovation Dacheindeckung Wartau Azmoos, Walserberg 16, Althaus Lanaberg: Rapperswil- Rapperswil, Heilig Hüsli: Teilrenovation Aussenrenovation Jona Rapperswil, Curtiplatz 1, Unteres Curti- Wattwil Kloster Maria der Engel: Renovation haus: Fassaden-Teilrenovation Pförtnerhaus und Pächterhaus Rapperswil, Hintergasse 29: Bunt, Weierhus 1869: Innenrenovation Gesamtrenovation Krinau, Feldmoos 60: Fassadenrenovation Rapperswil, Kluggasse 4: Grüenholz 309: Umbau Restaurierung Haustüre Weesen Kath. Heiligkreuzkirche auf dem Bühl: Rapperswil, Kluggasse 19: Mauerentfeuchtung Gesamtrenovation Wil Grabenstrasse 2: Aussenrenovation Kempraten, Zürcherstrasse 131, Kirchgasse 5: Aussenrenovation Zum Tiefen Graben: Renovation Fassaden Konstanzerstrasse 25: Dachrenovation und Gartenpavillons Konstanzerstrasse 52: Aussenrenovation Kempraten, Zürcherstrasse 177, Seegubel: Marktgasse 58, Rathaus: Aussenrenovation Fassadenrenovation und neue Treppenanlage Marktgasse 46: Gesamtrenovation Wurmsbach, Kloster Mariazell: Restaurierung Tonhallestrasse 13: Aussenrenovation Glockenturm Wildhaus- Kath. Pfarrkirche St. Bartholomäus: Rebstein Tannerstrasse 15, Altersheim Geserhus: Alt St. Johann Innenrestaurierung Restaurierung Balustrade und Fassade Unterwasser, Enetthur 811: Dachsanierung Rorschacher- Hofstrasse 120, St. Annaschloss: Not- Hurliberg 538: Fassadenrestaurierung berg sicherung der Gipsdecke Rüthi Leuestrasse 4: Umbau St. Margrethen Altes Kirchli: Renovation Dach und Turm St. Gallen Verschiedene Restaurierungen in Zusammenarbeit mit der städtischen Denkmalpflege Das Entlastungsprogramm 2013 des Kantons hat per 2016 Sargans Städtchenstrasse 83: Fensterrenovation eine Kürzung der Beiträge aus dem Staatshaushalt in der Sennwald Alte Hammerschmiede: Restaurierung Höhe von rund zwei Dritteln des letztjährigen Betrages Schleifsteingetriebe beschlossen. Neu werden wir aus diesem Budget lediglich Sevelen Histengasse 60: Fensterrenovation noch knapp 400 000 Franken vergeben können. Thal Heidlerstrasse 7, Villa Stauffacher: Gesamtrenovation Schloss Greifenstein: Brunnenanlagen Rechtliches Untereggen Spielbüelstrasse 10, kath. Pfarrhaus: Aussenrenovation Unser Team hat sich 2015 neben dem Schwerpunktthema Uzwil Henau, kath. Pfarrkirche St. Sebastian: «Dachlandschaften» erneut intensiv mit organisatori- Aussenrenovation schen und rechtlichen Fragen beschäftigt. Die vom Parla- Niederuzwil, Christkönigkirche: ment beschlossene Entflechtung der Zuständigkeiten für Innenreinigung die Verantwortung und Pflege lokaler und kantonaler/ Vilters-Wangs Wangs, Alter Kirchweg, Bildstöckli hl. nationaler Kulturobjekte wird in finanzieller Hinsicht Katharina: Restaurierung nun vollzogen. Die neue Beitragsverordnung trat am 1. Ja- Wangs, Fontnaix 49: Renovation mit nuar 2016 in Kraft. In diesem Jahr ist die Verabschiedung Fensterersatz des neuen Planungs- und Baugesetzes geplant. Der Kan- Waldkirch Heldstrasse 5a: Renovation tonalen Denkmalpflege soll damit eine klarere Zuständig- Bernhardzell, kath. Pfarrhaus: Fassaden- keit in Fragen des Schutzes von kantonalen und natio- renovation nalen Kulturobjekten zukommen. Daneben sieht sich Hauptwil, Höfli 363: Fassadenrestaurierung unsere Fachstelle als kantonales Kompetenzzentrum für Fragen der Denkmalpflege und unterstützt die Gemein- den fachlich in ihrer neuen Aufgabe zum Schutz lokaler Objekte und Ortsbilder.

179 Das Team der Denkmalpflege 2015: vorne Michael Niedermann, Regula M. Graf-Keller, Moritz Flury-Rova, Oliver Tschirky; hinten Peter Rüegger, Markus Fischer, Irene Hochreutener, Ornella Galante, Carolin Krumm, Menga Frei. Foto: Kantonale Denkmalpflege.

Personelles in diesem Jahr die Zivildienstleistenden: Silvio Rutishau- ser, Joas Läubli, Manuel Züllig, Dominik Hungerbühler Nach wie vor werden unsere Grundleistungen mit 410 und Markus Blumer. Stellenprozenten abgedeckt. Diese verteilen sich auf Mi- chael Niedermann, dipl. Architekt FH SWB (Leitung), Unsere Fachstelle betreut mit diesem Pensum jährlich Dr. phil. Moritz Flury-Rova, Kunsthistoriker (stellvertre- über 500 Objektberatungen. Das Spektrum umfasst dabei tende Leitung, wissenschaftliche Grundlagen), Irene einzelne Stellungnahmen zu Kleinstvorhaben bis hin zu Hochreutener, lic. phil. Kunsthistorikerin (Bauberatung), intensiven, mehrmonatigen Baubegleitungen mit Bei- Regula M. Graf-Keller, dipl. Architektin FH (Baubera- tragsverfahren. tung), Peter Rüegger, dipl. Architekt FH SWB (Baubera- tung), Menga Frei (Bibliothek und Dokumentation), Oliver Orest Tschirky, lic. phil. und lic. rer. publ. (Rechts- Organisatorisches grundlagen, zusammen mit der Kantonsarchäologie) und Ornella Galante (Administration, Rechnungsführung, Im März des vergangenen Jahres haben wir uns von den zusammen mit der Kantonsarchäologie). Im Rahmen alten Büros und vom Haus an der Rorschacher-Strasse 23 eines siebenjährigen Lotteriefondsprojektes arbeitet die verabschiedet. Zeitgleich mit dem Provisorium der Kan- Kunsthistorikerin Dr. Carolin Krumm in unserem Team tons- und der Stadtbibliothek wurden für uns in der an einem Kunstdenkmälerband über die Region Werden- Hauptpost neue Räume eingerichtet. Wir verfügen nun berg. Markus Fischer überprüfte im Rahmen eines Lot- über sehr attraktive Arbeitsplätze und konnten unsere ei- teriefonds-Projektes die Ortsbilder von kantonaler Be- gene Bibliothek überschaubarer gestalten. Im Zusam- deutung, deren Erfassung durch das Büro ISOS mehr als menhang mit dem Umzug haben wir unser gesamtes Ar- 15 Jahre zurückliegt. Eine wertvolle Stütze waren uns auch chiv neu nach Gemeinden geordnet. Für das Team waren

180 der Umzug und die zusätzliche Mehrarbeit infolge der schiedenen Dächern der Altstadt. Auch diese gelungene Umstrukturierung der Bauberatung eine grosse Bela- Neuausrichtung der «Europäischen Tage des Denkmals» stung. Dank der einmaligen Kollegialität und dem über- werden wir weiterverfolgen. durchschnittlichen Verantwortungsbewusstsein aller Mit- arbeitenden haben wir das gut überstanden. Ausblick

Öffentlichkeitsarbeit Das Beitragswesen hat seit dem Jahresbeginn eine neue rechtliche Grundlage erhalten (Beitragsverordnung). Sie Vor einem Jahr haben wir unseren ersten, neu gestalteten ist Teil der Umsetzung des Entlastungsprogrammes 2013 Jahresbericht vorgestellt. Mit ihm haben wir den Weg der und des parlamentarischen Beschlusses zur Entflechtung jährlichen Berichterstattung eingeschlagen und meinen, der Zuständigkeiten und Kompetenzen von Kanton und damit aktueller dokumentieren zu können. Ebenfalls Gemeinden für den Bereich der Denkmalpflege. Lokal widmen wir uns jedes Jahr einem Schwerpunktthema, eingestufte Schutzobjekte erhalten danach vom Kanton welches soweit möglich in Korrespondenz zum Thema keine Unterstützung mehr. Da die heutigen Inventare der «Europäischen Tage des Denkmals» steht. Gleichzei- und Schutzverordnungen noch keine formelle Einstufung tig haben wir durch eine entsprechende Anpassung der der Kulturobjekte in die Kategorien lokal, kantonal und Gestaltung nun sehr einfach die Möglichkeit, wichtige national kennen, muss diese Einschätzung in nächster Renovationen laufend im Lose-Blatt-System respektive Zeit erfolgen – bei entsprechenden Gesuchen umgehend. digital zu dokumentieren. Das Echo auf den ersten in die- Unsere Fachstelle wird durch diese neue Aufgabe zusätz- ser Form präsentierten Jahresbericht war hervorragend. lich gefordert. Wir bleiben dran. Das Jahresthema «Oasen» werden wir auch dieses Jahr Ein wichtiger Jahresanlass sind für uns die «Europäischen wieder mit einem Fotowettbewerb und einem attraktiven Tage des Denkmals». Im Jahr 2015 standen sie unter dem Anlass unter dem Titel «Stadtoasen» begehen. Führungen, Motto «Austausch – Einfluss». Wir sind darauf mit ver- Referate und Rahmenveranstaltungen sollen der Bevölke- schiedenen Führungen und Anlässen im Kanton einge- rung das Thema näherbringen. gangen. Ein grosser Erfolg war der Vorabend-Anlass un- ter unserem Jahresthema «Dachlandschaften». Unter dem Titel «Über den Dächern» versammelten sich weit mehr als hundert Interessierte im Dachgeschoss des St. Galler Rathauses und verfolgten bei einer herrlichen Rundsicht und einem Glas Wein spannende Fachreferate. Danach folgten unterhaltsame Abendveranstaltungen auf ver-

Blick auf die Dächer der Stadt von der Dachterrasse des Rathauses am Tag des Denkmals. Foto: Dominic Rechsteiner.

Der Zugang zu unseren neuen Büros in der Hauptpost, im Hintergrund eine Beton-Fotocollage von Katalin Déer. Foto: Katalin Déer, St. Gallen.

181 Fokus: Aussenraumgestaltung

Ein Gespräch mit den St. Galler Landschaftsarchitekten Tobias Pauli und Susanna Stricker, geführt von Michael Niedermann und Moritz Flury-Rova, kantonale Denkmalpflege.

Das Jahr 2016 ist ein «Gartenjahr». Die Kampagne «Gar- Ein weiteres Thema sind Umnutzungen von Gewerbe- tenjahr 2016 – Raum für Begegnungen» setzt sich für den und Fabrikliegenschaften in Wohnüberbauungen. Durch Erhalt und die Entwicklung von Freiräumen und Gärten das Aufgreifen ihrer früheren Bestimmung oder indem ein und macht auf ihre zentrale Bedeutung für eine qua- einzelne Gebäude erhalten bleiben, bieten diese oft ein- litätsvolle Verdichtung aufmerksam. Es ist dies auch für zigartige gestalterische Möglichkeiten. die Denkmalpflege ein Anlass, sich vertiefter nicht nur mit der Pflege historischer Gärten und Parkanlagen, son- Die Herausforderung für die Landschaftsarchitektur be- dern auch mit der Gestaltung des Aussenraumes grund- steht darin, sätzlich auseinanderzusetzen. – bei Verkleinerung von erhaltenswerten Aussenräu- men die wichtigsten Charakteristika zu erkennen Sowohl Schutzobjekte wie Ortsbildschutzgebiete werden und zu schützen bzw. zu transformieren; von der direkten Umgebung in ihrer Wirkung beeinflusst. – bei Umnutzungen neue Aussenräume mit unver- Eine sorgfältige Gestaltung des Aussenraumes ist deshalb wechselbarer Identität zu schaffen. auch ein denkmalpflegerisches Anliegen. Leider werden Landschaftsarchitekten bei solchen Planungen immer noch zu selten beigezogen und das Feld den Tiefbauäm- tern und den Richtlinien der Strassenpolizei überlassen. Um hier einen Anstoss zu mehr Sensibilisierung zu leis- ten, hat die kantonale Denkmalpflege die Landschafts- architekten Tobias Pauli und Susanna Stricker zu einem Gespräch eingeladen.

Michael Niedermann / Moritz Flury-Rova: Ausserhalb un- serer Siedlungsräume besteht eine «Zersiedelungsgefahr». Dieser Tendenz wird durch das Raumplanungsgesetz ein Rie- gel geschoben. Dadurch stehen wiederum die Ortskerne un- ter einem starken Verdichtungs- oder «Besiedelungsdruck». Freiräume werden entweder verbaut oder möbliert. Wie wird Ihre Arbeit von dieser Entwicklung tangiert? Rorschach, Neugestaltung Aussenraum der Wohn- und Gewerbe- überbauung Löwengarten, Visualisierung des Löwengartenplatzes Susanna Stricker und Tobias Pauli: Die innerstädtische oder mit der ehemaliger Abfüllerei, Umnutzung zu einem Restaurant. innerörtliche Verdichtung ist absolut sinnvoll, sie hat je- Architektur: Bollhalder/Eberle Architektur St. Gallen; Landschaftsar- doch gerade für den Aussenraum entsprechende Auswir- chitektur: Pauli/Stricker Landschaftsarchitekten, St. Gallen. kungen, sind es doch oft unternutzte oder unbebaute Visualisierung: Bollhalder/Eberle Architektur St. Gallen. Grundstücke, die unter diesem Aspekt neu überbaut wer- den. Dies sind z. B. grosse Villengrundstücke mit teilwei- se altem Baumbestand, die weitere Gebäude gemäss der Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sind auf genossen- rechtsgültigen Bauordnung zulassen. Dies schränkt die schaftlicher Basis so genannte Gartensiedlungen entstanden. Aussenräume entsprechend ein. Oft wird Verdichten mit Diese stehen durch das grosszügige Verhältnis von Aussen- zu maximaler Ausnützung gleichgesetzt. Die Bausubstanzen Wohnfläche ebenfalls unter einem Verdichtungsdruck. Wie sollten aber im Einklang bzw. im Verhältnis zum Aussen- kann der besondere Charakter solcher Bebauungskonzepte raum stehen. trotzdem erhalten bleiben?

182 Das Bedürfnis nach mehr Fläche pro Einheit führt dazu, Aussenräume greifen oft über Grenzverläufe hinaus und tan- dass die relativ kleinmassstäblichen Grundrisse der Gar- gieren unter Umständen mehrere Eigentümer. Wie gehen Sie tensiedlungen entsprechend der Nachfrage erweitert wer- mit dieser Schwierigkeit um? den. Dies betrifft Einfamilien- und Reihenhäuser sowie Geschosswohnungen in gleichem Masse. Ein gelungenes Diese Schwierigkeit ist allgegenwärtig, da selten über Par- Beispiel einer Wohnraum-Erweiterung ist das so genann- zellen mit unterschiedlichen Eigentümern hinweg ge- te «Birchermüesli-Quartier» (Siedlung Stadtrain) in Win- plant werden kann. Gründe dafür sind unter anderem si- terthur. Hier wurde bei den Kreuzreihenhäusern zusätz- cher auch die Thematik, dass Grenzen und damit auch liches Gebäudevolumen durch einen Anbau geschaffen, Grundstückgrenzen Sicherheit bieten und identitätsstif- der gleichzeitig als Parzellentrennung fungiert und damit tend sind, was Versuche, diese zu überwinden, oft schei- getrennte Bereiche ermöglicht. Für das eine Haus ent- tern lässt. Gerade bei EFH-Siedlungen oder bei städ- steht ein Garten vor dem Anbau und für das dahinterlie- tischen Vorgärten – wo diese überhaupt noch bestehen gende ein Hof. Der Freiraum wird zwar zugunsten des – ist es offensichtlich, dass die unterschiedlichen uffasA - Wohnraumes reduziert, gleichzeitig entsteht aber auch sungen über die Gestaltung an den Parzellengrenzen auf- mehr Privatsphäre. Die Struktur dieser Quartiersbebau- einandertreffen. Damit übergeordnete Planungen entste- ung – die bestehende wie die Erweiterung – lässt eine klar hen, sind die Behörden, Baugenossenschaften oder auch ablesbare und sehr wohltuende Einheitlichkeit erkennen. Investoren gefragt, welche diesem Aspekt mit dafür geeig- Zudem entstehen durch unterschiedliche Details in der neten Planungsinstrumenten (z. B. Richtkonzept oder Architektur und in den Gärten Lebendigkeit und diffe- Masterplan) entsprechend steuern können. Ein hervorra- renzierte Stimmungen. gendes Beispiel ist das Berner Brünnengut, gestaltet von den Landschaftsarchitekten David Bosshard (Bern) und Andreas Tremp (Zürich). Die 2010 eröffnete grosszügige Parkanlage mit Quartiertreff, Pflanzgarten und Sportplatz liegt zwischen grossen Wohnüberbauungen. Sie kam zu- stande, indem die 30 Grundeigentümer der angrenzenden Wohnsiedlungen sich bereits 1966 (!) zu einer Umle- gungsgemeinschaft zusammengeschlossen hatten und das Land für den Park im Sinn einer Mehrwertabschöpfung unentgeltlich abtraten.

Dieses Thema betrifft nicht nur die Wohn-, sondern auch Gewerbe- und Industriezonen. Beispiel einer übergeord- neten Herangehensweise ist der Masterplan im Auftrag des Stadtplanungsamtes für das Gewerbe- und Industrie- gebiet Piccardstrasse im Westen der Stadt St. Gallen. Hier wurden Leitlinien für einen parzellenübergreifenden Aus- senraum erarbeitet, die Kriterien und Gestaltungsele- mente definieren, um die räumlichen und ökologischen Qualitäten zu fördern und diese in Einklang mit den nut- zungsbedingten Anforderungen zu bringen. Die Anwen- dung von Leitlinien soll ausserdem dazu beitragen, dass eine gewisse Einheitlichkeit im Sinne einer Adressbildung im Areal entsteht.

Ein weiteres positives Beispiel ist die Aufwertung des In- nenhofes Gallusstrasse / Wallstrasse / Auf dem Damm in St. Gallen. Als Besitzerin der umgebenden Liegenschaften hat die Stadt St. Gallen eine Studie für die Aufwertung des gesamten Innenhofes in Auftrag gegeben, um den Anwoh- Winterthur, Siedlung Stadtrain («Birchermüesli-Quartier»). Architek- nern einen gemeinsam nutzbaren Aussenraum zur Verfü- tur: Adolf Kellermüller, 1928–1943; Umbau: Knapkiewicz+Fickert, gung zu stellen. Zürich, 2009. Fotos: Aufnahme um 1930 nach der Fertigstellung der ersten Etappe (Winterthurer Bibliotheken, Sammlung Winter­ Für die Landschaftsarchitektur ergeben sich daraus neue thur) und aktuelle Aufnahme (Pauli/Stricker Landschaftsarchitek­ten, Möglichkeiten, welche bis anhin selten zu ihrem Pflich- St. Gallen). tenheft gehörten:

183 – beratende Tätigkeiten bei Bauverwaltungen, Raum- Worin unterscheidet sich die Aussenraumplanung in histo- planern und Entwicklern; rischen Ortsbildern von jener in einem Neubauquartier? – frühe konzeptionelle Mitarbeit bei parzellenüber- Wie eigenständig darf die Aussenraumgestaltung im (histo- greifenden Entwicklungsvorhaben. rischen) Kontext hervortreten und welche Bezüge/Kriterien nehmen Sie auf?

Historische Ortsbilder bieten die Chance, thematisch auf das Bestehende einzugehen und gestalterisch darauf zu re- agieren. Die «Freiheit» einer Gestaltung hängt ganz indi- viduell von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Am Beispiel der Baugenossenschaft 1904 mit der Siedlung Hagenbuch kann eine mögliche Interpretation aufgezeigt werden. In Anlehnung an die Holzlattenzäune der Umgebung der um 1940 erbauten Wohnhäuser wurde das Thema der Umfrie- dungen als zentrales Element in die Neugestaltung des Innenhofes aufgegriffen. Diese zeigen sich nun als ellip- senförmige Umfriedungen für die Pflanzgärten, als Tiefga- ragenaufgänge und als Velounterstände. Anlass, diesen Innenhof neu zu gestalten, war eine Erweiterung der Tief- garage.

St.Gallen, Aufwertung des gemeinsam nutzbaren Innenhofs Gallusstrasse/Wallstrasse/Auf dem Damm. Landschaftsarchitektur: Pauli/Stricker Landschaftsarchitekten, St.Gallen. Fotos: Pauli/ Stricker Landschaftsarchitekten, St.Gallen.

184 Pfäfers, Neugestaltung der Torkelgärten im Areal der Klinik St.Pir- minsberg, ein ehemaliger Nutzgarten wird zum Aufenthaltsort, ein diskreter Mauerdurchbruch verschafft Zugang. Landschaftsarchitek- tur: Pauli/Stricker Landschaftsarchitekten, St.Gallen. Fotos: Pauli/ Stricker Landschaftsarchitekten, St.Gallen.

Im Aussenraum der Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers wur- den die so genannten Torkelgärten neu gestaltet. Mit dieser «Auffrischung» wurde aus der ehemaligen Terrassen-Nutz- anlage des Klosterbetriebes eine differenzierte Gartenanlage mit vorzüglichen Verweilqualitäten geschaffen.

Neubauquartiere orientieren sich hingegen an dem sie umgebenden städtebaulichen, landschaftlichen und nut- zungsdefinierten Kontext und sollten damit eine eigen- ständige Identität erhalten.

Als Landschaftsarchitekten arbeiten wir im Dialog mit konkreten Situationen. Die Aussenraumgestaltung ver- folgt diverse Ziele: – Sie kommentiert und ergänzt vorhandene Strukturen mit aktuellen Mitteln. – Historisch unterschiedlich Gewachsenes verwischt sie nicht, sondern bindet es ein in ein neues, vielgestaltiges Ensemble.

Aussenräume nehmen tendenziell gerne einen «Event-Cha- St.Gallen, Erweiterung/Neubau Einstellhalle und Neugestaltung rakter» an. Das heisst, sie werden zunehmend bestimmten Innenhof Wohnsiedlung Hagenbuch. Links Luftaufnahme und Plan, Nutzungen zugeordnet und entsprechend ausgerüstet. Wie ge- oben Zustand 1995 und 2015. Architektur: Felix Sigrist Architek- hen Sie mit dieser Tendenz um? ten AG, St.Gallen; Landschaftsarchitektur: Pauli/Stricker Land- schaftsarchitekten, St.Gallen. Fotos: Pauli/Stricker Landschafts- Der Wert des privaten und öffentlichen Aussenraumes architekten, St.Gallen. und das Bedürfnis nach «Natur» haben in den letzten

185 Jahrzehnten stark zugenommen, was sich in vielerlei Hin- von allergrösster Bedeutung, sie sind das Gefäss der Öf- sicht zeigt, unter anderem in urbanen Bereichen mit dem fentlichkeit und müssen geschützt werden, unter anderem Nutzungsdruck auf die öffentlichen Plätze, Einrich- vor kleinmassstäblichen Privatnutzungen. tungen und Angebote, im Anbau von Aussenräumen für Wohnungen, in der Zunahme von Aussenbestuhlungen bei Restaurants und allgemein im Freizeitverhalten, das Ein Garten ist ein lebendiger Kosmos. Er ist ohne unser Da- vermehrt im Aussenraum oder in der Landschaft stattfin- zutun einem ständigen Wandel unterzogen. Wie gehen Sie als det. Da dieser Druck stetig zunimmt und sich die verblei- Planer mit diesem Phänomen um? benden, oft kleinen Flächen reduzieren, werden die noch nicht definierten Bereiche spezifischen Nutzungen zuge- Nach Realisierung eines Gartens oder generell einer Aus- ordnet, um damit den Bedürfnissen zu entsprechen. senraumgestaltung beginnt das «Wachsen». Somit ist die Stimmung der Neugestaltung, wie sie als Vision geplant Eine «Allmend», wie beispielsweise die Kreuzbleiche in wurde, erst nach vielen Jahren zu erleben. Um diesen Pro- St. Gallen, hat wenige klar zugewiesene Nutzungsvorga- zess zu beschleunigen, werden vermehrt grosse Gehölze ben – sie hat jedoch auch eine entsprechende Grösse, die gepflanzt, um damit das gewünschte Raumgefühl zumin- dies möglich macht und damit Freiheiten offen lässt, was dest ansatzweise zu erhalten. Eine andere Herangehens- ein konfliktloses Nebeneinander ermöglicht. Wir können weise wurde im Oerliker Park, Zürich Nord, angewendet. beobachten, dass es oft zuerst Einwanderer aus südlichen Um das Volumen der Baumkörper bereits zu Beginn sicht- Ländern sind, die diese Räume mit Leben füllen. Ein wei- bar zu machen, wurde ein enges Raster (4 x 4 m) von un- teres Beispiel ist der Zürcher Sechseläutenplatz – ein of- terschiedlichen Gehölzen gepflanzt. Dieses wird mit der fener, grosszügiger, nicht nutzungsdefinierter Platz, der Zeit Lücken aufweisen, da sich die Bedingungen u. a. be- jedoch sehr oft durch die unterschiedlichsten Veranstal- züglich Lichteinfall etc. verändern werden, wodurch sich tungen belegt wird. Vorteile einer Nutzungszuweisung der Eindruck des strengen Baumrasters auflösen wird. ergeben sich z. B. bei Wohnsiedlungen, wenn das «Ab- standsgrün» den jeweilig gewünschten Nutzungen zuge- wiesen wird oder der ökologischen Aufwertung dient. Es ist aber sowohl gestalterisch wie auch für die Nutzung von Vorteil, wenn eine «Überinstrumentalisierung» und «Design-Orgie» vermieden werden kann, um dem Frei- raum seine «Freiheit» zu erhalten.

Aus Sicht der Landschaftsarchitektur sollen der öffent- liche und der private Aussenraum in Balance gehalten werden: Der öffentliche Raum hatte schon immer Event- Charakter, nur hiess der früher z. B. Promenadenallee, Marktplatz, Volksplatz, Campo etc. Diese Räume sind

Zürich Nord, Oerliker Park. Landschaftsarchitektur: Zulauf, Seippel, Schweingruber, Baden. Die Pflanzung eines engen Baumrasters mit jungen Bäumen zeigt das Wachstum und die raumbildende Wir- St.Gallen, Kreuzbleiche, eine offene Wiese ohne Nutzungs- kung im Laufe der Zeit. Aufnahmen 2001 und 2013. Fotos Pauli/ zuweisung. Foto St.Galler Tagblatt, Reto Martin. Stricker Landschaftsarchitekten, St.Gallen, und Grün Stadt Zürich.

186 einzelnen Stadtquartieren oder in Genossenschaftssied- lungen ist hingegen auch die Tendenz zu beobachten, dass sich Kleingewerbe wieder ansiedelt und eine Nachfrage dazu besteht. Nicht zuletzt wohl auch, weil in diesen ur- banen Wohnsituationen das Leben ohne eigenes Auto wieder zunimmt. Eine solche Durchmischung entspricht denn auch der ursprünglichen Nutzungsstruktur eines Stadt- oder Ortskerns. Sie trägt viel zur Lebendigkeit des sozialen Zusammenseins bei.

Für die Landschaftsarchitektur heisst dies: – Nutzungskollisionen durch klare Strukturen ent- schärfen, Potenziale erkennen und fördern; – Gemeinschaftsflächen möglichst viel Raum und eine hohe Wertigkeit geben.

In kleineren Ortsbildern sind öffentliche Aussenräume in al- Zürich, Hunzikerareal. Foto: Pauli/Stricker Landschaftsarchitekten, ler Regel überlagert mit Verkehrsflächen. Wie kann dieses Ne- St.Gallen. beneinander zu einem Miteinander komponiert werden?

Eine Strassenraumgestaltung, die neben der Funktionali- tät für die Verkehrsführung den Fokus auch auf Aufent- haltsqualitäten setzt – also von Beginn weg interdiszi- plinäre Projektierungen und entsprechende Budgetie- rungen vorsieht –, kann je nach Situation einiges an aus- senräumlichen Qualitäten erreichen. Das Bedürfnis nach Begegnungsorten, der Aufhebung von trennenden Ver- kehrsachsen und partieller Verkehrsberuhigung auch in «Strassendörfern» ist nachvollziehbar, aber nicht einfach, da Plätze und deren Raumgefühle primär durch die sie umgebenden Gebäudefassaden definiert werden – also «gewachsen» sind.

St.Gallen, «Voisinage» im Linsebühlquartier, Strasse als Begegnungsraum mit handgemaltem «Zebrastreifen». Foto: Anita Sonnabend, St.Gallen/basarbizarr.ch.

Aussenräume sind neben ihrer Form auch stark geprägt von den Funktionen und Nutzungen in den angrenzenden Ge- bäuden. Wir stellen fest, dass es immer schwieriger wird, klei- nere Gewerbe neben Wohnbereichen anzusiedeln. Welches sind aus Ihrer Sicht die tragenden Infrastrukturen in einem Quartier?

Tragende Infrastrukturen sind öffentliche Nutzungen wie Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Gemeindehäuser, Kir- chen etc., aber auch öffentlich zugängliche Parkanlagen, Plätze und Strassenräume, die Aufenthaltsqualitäten bie- St.Gallen, Gallusplatz. Das eingeschränkte Verkehrsregime er- ten. Der öffentliche Raum bildet das Verbindungsele- möglicht den vollkommenen Verzicht auf Strassenmarkierungen. ment, das die gewachsenen Strukturen zusammenhält. In Foto: Chromorange Monika Wirth/Alamy Stock Photo.

187 Gärten und Parkanlagen werden in unseren Siedlungsräu- Bebauung wird die Wirkung natürlicher oder gut gestal- men als «Oasen» empfunden. Wie kommt es dazu? teter Naturräume zunehmend als Oase empfunden. Um die Singularität der Oasen aufzuheben und dem Natur- «Oase» bezeichnet im Altgriechischen einen «bewohnten raum mehr Gewicht zu verleihen, stellt sich die Auf- Ort oder eine Anpflanzung» – einen Vegetationsfleck in gabe, die Oasen zu vernetzen und «Flussoasen» zu erhal- der Wüste bzw. eine grüne Insel im Sandmeer. So gese- ten. Die wohl bekannteste Flussoase ist der Nil. Die hen hat eine Oase einen Ausnahmecharakter und unter- Funktion von Flussoasen in der Stadt können Baumrei- scheidet sich klar von der umgebenden Landschaft. Eine hen und Alleen übernehmen, welche klimatisch und berühmte und ungemein wichtige Oase in einer Stadt ist ökologisch sinnvolle und visuell erlebbare Vegetations- der Central Park in New York. Mit der zunehmenden räume schaffen.

Oase im Oman. Foto: Hendrik Dacquin / flickr.com. New York, Central Park. Foto: geo.de.

Eine potenzielle Stadtoase: Fotomontage des Oberen Grabens, St.Gallen, ohne die geplante Tiefgarage. Fotomontage: Markus Tofalo, St.Gallen.

188 Kulturhistorischer Verein der Region Rorschach Jahresbericht 2015

Peter Müller, Vorstandsmitglied

Der Vorstand des KHV traf sich 2015 zu acht Sitzungen. hat sich auch der Entscheid, die 15 Fotogeschichten auf Im Zentrum stand dabei das Magazin-Projekt mit histo- ganz verschiedene Autoren und Autorinnen zu verteilen – rischen «Fotogeschichten» aus Rorschach, Rorschacher- dadurch wird das Magazin spannender und lebendiger. berg und Goldach. Die Planung und Realisierung dieses Die Auflage betrug 1000 Exemplare, die Mitglieder des Magazins (Umfang 48 Seiten) war anspruchsvoll, zumal KHV erhielten ein Exemplar gratis, im Verkauf kostet das es sich um ein Pilotprojekt handelte. Mit Enthusiasmus, Magazin 15 Franken (zu beziehen beim KHV oder bei Pragmatismus und gutem Teamwork liess sich die Aufga- «Tourismus Rorschach»). Die zweite Ausgabe des Maga- be aber lösen. Vernissage war am 20. November in Ror- zins «Heft» – so nennen wir die Publikation – ist für No- schach, die bisherigen Rückmeldungen sind grösstenteils vember 2016 geplant. positiv bis begeistert. «Alte Fotografien faszinieren. Sie öffnen Fenster in die Vergangenheit: unterhaltsame und Die Hauptversammlung 2015 fand am 7. Mai im Lesesaal spannende, merkwürdige und tiefgründige», heisst es im der Bibliothek Rorschach-Rorschacherberg statt. Für den Vorwort. Die Rückmeldungen bestätigen das. Bewährt obligaten Vortrag konnte Andrea Christen (Pädagogische Fachhochschule Rorschach) gewonnen werden. Sie refe- rierte über das Jubiläum «150 Jahre Lehrerbildung in Ror- schach».

Als Veranstaltungen waren für 2015 zwei weitere «Trep- penhaus-Gespräche» mit Louis Specker, dem «Grand Old Man» der Rorschacher Regionalgeschichte, geplant: lo- ckere Unterhaltungen über alte Gebäude in Rorschach und ihre Geschichte. Aus verschiedenen Gründen konn- te 2015 nur ein Anlass durchgeführt werden (21.5.). Der zweite ist für den 21. Januar 2016 geplant. Und natürlich wurde auch 2015 www.rorschachergeschichten.ch mit weiteren Inhalten ergänzt.

Titelseite der ersten Nummer des Magazins «Heft», herausgegeben im Jahr 2015. Die zweite Nummer ist bereits in Arbeit. Sie erscheint im November 2016. Quelle: KHV.

189 Verein für die Geschichte des Rheintals Jahresbericht 2015

Werner Kuster, Vorstandsmitglied

Auch im Jahr 2015 bildeten die Rechtsquellen des Rhein- Hauptstück in der Edition. Es beinhaltet einen interes- tals das Hauptprojekt des Vereins für die Geschichte des santen Vertrag der Höfe Altstätten, Marbach, Berneck, Rheintals und sozusagen den Auftakt für den Schluss- Oberriet und Balgach mit den Herren von Lindau über spurt dieses langjährigen Unternehmens. Nachdem be- die «Schollberger Schifffahrt» und orientiert über wirt- reits im Dezember 2014 die Ablieferung der ersten fünf- schaftliche und mentale Konflikte zwischen den Lindau- zig Editionsstücke für den Satz erfolgt war, wurden 2015 ern und den Rheintalern.2 die übrigen Transkriptionen fertiggestellt bzw. bestehen- de Transkriptionen mit noch fehlenden Angaben er- gänzt.

Letzte Archivrecherchen

Die Schlussarbeiten waren mit verschiedenen Archiv- recherchen verbunden. Zu den regional besuchten Archi- ven gehörten das Stadt- und Museumsarchiv Altstätten, die Ortsgemeindearchive Marbach, Thal und Oberriet, das Archiv der Äusseren Rhode Eichberg sowie das Ge- meindearchiv Wolfhalden, zu den überregionalen das Stiftsarchiv St. Gallen sowie die Staatsarchive St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden, Zürich und Luzern, zu den aus- ländischen das Vorarlberger Landesarchiv in Bregenz und das Stadtarchiv Lindau. Einblick in das Verhörprotokoll der zwei Frauen, die 1644 vor Dabei ging es auch darum, bisher verschollene oder nicht dem Hochgericht in Altstätten als Hexen verurteilt wurden gefundene Originale von wichtigen Quellen aufzuspüren, (StadtA Altstätten, XG-Bücher A, Gerichtsbuch 1631–1649). Foto: Werner Kuster. die bis anhin nur in Kopie oder als Entwurf vorhanden waren. Diese Suche war teilweise erfolgreich, teilweise aber auch nicht; erfreuliche Entdeckungen und vergeb- liche, langwierige Recherchen gehören eben zum Alltag des Historikers. Zu Letzterem zählte beispielsweise der Besuch des Stadtarchivs Lindau, wo die erste originale Überlieferung der «Schollberger Schifffahrt» vermutet werden konnte. Dieser Begriff bezeichnete den Transport von Waren aus Lindau Richtung Schollberg nördlich von Sargans, der von Oberrheintaler Gemeinden organisiert wurde. Der Transport führte zu Wasser früher wohl bis nach Feldkirch und später bis zum Monstein, wo die Wa- ren auf Fuhrwerke umgeladen wurden.1 Im Stadtarchiv Lindau stiessen wir auf einige Akten zur «Schollberger Schifffahrt», aber nicht auf das Original zu einem Ent- wurf oder einer Kopie von zirka 1611, die uns aus dem Ge- meindearchiv Berneck bekannt war. Dieses Dokument Landvogteirechnung des Rheintals 1796–1797 erfuhr damit eine Aufwertung und erscheint nun als (StASG, AA 1 A 12–3b). Foto: Werner Kuster.

190 Interessante Quelleneditionen und Information der Öffentlichkeit Ablieferung zum Satz Selbstverständlich wurden im Jahr 2015 noch zahlreiche Die Öffentlichkeitsarbeit wurde Mitte 2014 wegen der weitere Quellen transkribiert, die bisher weitgehend Konzentration auf die Transkriptions- und Abschlussar- unbekannte Einblicke in die Geschichte des Rheintals er- beiten im Wesentlichen eingestellt. Immerhin erfolgte im öffnen. Dazu gehören beispielsweise zwei Landvogtei- Rahmen eines Familienforschungskurses der Museums- rechnungen, welche aufschlussreiche Erkenntnisse zum gesellschaft Altstätten durch den Autor dieses Artikels im Verwaltungsalltag vermitteln, oder erstmalige Editionen November ein Vortrag über den Quellenbestand im von Hochgerichtsfällen. Die vollständige Transkription Rheintal, der zahlreiche Erkenntnisse aus der Rechtsquel- eines Hexenprozesses gegen Magdalena Hutter und ihre lenarbeit beinhaltete. Enkelin Barbara Neff samt den umfangreichen Verhören aus dem Jahr 1644 führt offensichtlich vor Augen, dass die

«Geständnisse» das Resultat von Suggestivfragen und Fol- 1 Zur Schollberger Schifffahrt vgl. Kuster Werner: Die Rechts- terungen waren. quellen des Rheintals, in: 153. Neujahrsblatt 2013, hg. vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 2013, Schliesslich konnten bis anfangs September alle 327 S. 59–61. Hauptstücke abgeliefert werden. Da eine Nummer meh- 2 Gemeindearchiv Berneck, U 1611-1. rere Stücke umfassen kann, beträgt die Gesamtzahl gegen 400. Die Editionstexte umfassen rund 1400 Druckseiten; dazu kommen noch die Einleitung und die Register im Umfang von nochmals etwa 300 Seiten. Die Rechtsquel- len des Rheintals gehören damit zu den umfangreichsten der regionalen Rechtsquelleneditionen. Dies hat wesent- lich mit einer in diesem Ausmass unerwarteten und in Re- lation zu anderen Landvogteien hohen Dichte von aussa- gekräftigen und interessanten Quellen zu tun, was u. a. auf die zwei gut erschlossenen Stadtarchive von Altstätten und Rheineck zurückzuführen ist.

Entwurf der Einleitung und Registerarbeit

Im September wurde mit der Einleitung und der Regis- terarbeit begonnen. Die Einleitung umfasst u. a. einen längeren geschichtlichen Überblick, der hauptsächlich rechtshistorischer Natur ist und vorwiegend auf den wich- tigsten Editionsstücken basiert. Er wird damit die chrono- logisch edierten Stücke in thematischen Kontexten zu- sammenführen und die aktuellste Rechtsgeschichte des Rheintals bilden – die selbstverständlich auch für andere Bereiche der Historiographie von grossem Nutzen ist.

Die aufwändige Registerarbeit umfasst das Sachregister/ Glossar, das Personenregister und das Ortsregister, wobei die Registerdaten mit den Registerdatenbanken der Rechtsquellenstiftung erfasst werden. Diese Forschungs- daten stehen auch nach Abschluss der Registerarbeiten für eine weitere Verwendung zur Verfügung. Begonnen wurde mit dem schwierigsten Teil, dem Sachregister/ Glossar. Hier gilt es, die wichtigsten Stichworte oder For- meln herauszufiltern sowie mit Hilfe des Schweizerischen Idiotikons und anderer Wörterbücher die spätmittelalter- lichen und frühneuzeitlichen Begriffe in die heutige Spra- che zu übersetzen. Diese Arbeit wird vor allem auch inte- ressierten Laien den Zugang zu den Texten ermöglichen.

191 Museumsgesellschaft Altstätten Jahresbericht 2015

Paul-Josef Hangartner, Altstätten

Verschiedene Anlässe bereicherten das Museumsjahr 2015. Für die zukünftige Ausrichtung des Museums wurden wichtige Entscheide gefällt. Leider mussten wir unerwar- tet von unserem ehemaligen Custos Peter J. Schaps Ab- schied nehmen.

Am 1. Januar fand im Göttersaal die Neujahrsbegrüssung der Stadt Altstätten statt, welche gut besucht war und mit dem «Tessiner Chor St. Gallen» musikalisch bereichert wurde.

Am 12. April eröffneten wir die Saison mit dem Film «Die Rheinholzer» von Kuno Bont.

Am 13. Mai verstarb unerwartet Peter J. Schaps. Er war von 1986 bis 2005 Custos des Museums und Vorstands- mitglied der Museumsgesellschaft Altstätten und einer der ersten Museumsleiter eines Regionalmuseums, der in den 1990er-Jahren die Inventarisierung mit einem Com- puterprogramm einführte. Anlässlich der Mitgliederver- sammlung am 21. Mai wurden die Verdienste von Peter Schaps und sein ausserordentliches Engagement für das Museum gewürdigt.

Im Anschluss an die Mitgliederversammlung hielt Dr. phil. Philipp Lenz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftsbibliothek St. Gallen, einen interessanten Vortrag über die Bedeutung und Geschichte der Sammlung der mittelalterlichen Handschriften der Stiftsbibliothek.

Der Jahresausflug führte uns am 12. September in die In- nerschweiz. Am Morgen besuchten wir Morgarten, wo zwei versierte Führer uns über Fakten und Mythen der Schlacht am Morgarten sehr lebhaft informierten. Am Nachmittag erfuhren wir viel Interessantes über wichtige Gebäude in der Altstadt von Zug.

Am 20. September fand die erste öffentliche Stadtführung für Kinder statt. Sie entdeckten Gässchen und Häuser der Altstadt, die eine spannende Vergangenheit haben, im Alltag aber oft unbeachtet bleiben.

Stadtführung für Kinder.

192 Interessierte Teilnehmer beim Ahnenforschungskurs

Das Göttersaalkonzert vom 8. November wurde dieses Erstmals ein Kurator für das Museum Jahr vom Jugendorchester der Musikschule Oberrheintal gestaltet. Ein bunt gemischtes Publikum lauschte unter Der Vorstand der Museumsgesellschaft beschäftigte sich dem antiken Götterhimmel den modernen Klängen. intensiv mit der Weiterentwicklung des Museums. Das Museum Prestegg soll ein regionales Zentrum für Ge- schichte und Kultur werden. In einem vierjährigen Pro- Kurs «Ahnenforschung» jekt werden die notwendigen Grundlagen dazu erarbeitet. In der Person des Museologen lic. phil. Marcel Zünd Im November haben wir einen Kurs zum Thema «Ahnen- konnten wir seit dem 1. September einen Fachmann an- forschung» ausgeschrieben. Mehr als 30 Interessierte lies- stellen, der die Inventarisierung vervollständigen, ein sen sich durch sechs ausgewiesene Referenten in die Sammlungs- und Ausstellungskonzept erarbeiten und mit Materie einführen. Die Genealogisch-Heraldische Gesell- Wechselausstellungen auch neu präsentieren wird. schaft Ostschweiz leitete den Kurs mit grossem Einsatz. Die Rückmeldungen waren sehr positiv. Der Vorstand nahm die Planung der Erweiterung des Museums im Nordflügel wieder auf und diskutierte ver- schiedene Nutzungsmöglichkeiten der Räumlichkeiten im Erdgeschoss.

193 Historisch-Heimatkundliche Vereinigung der Region Werdenberg (HHVW) Jahresbericht 2014/2015

Susanne Keller-Giger, Präsidentin der HHVW

Die Historisch-Heimatkundliche Vereinigung der Region Im Anschluss an die Mitgliederversammlung referierte Werdenberg legte im vergangenen Jahr bei ihren Aktivi- Thomas Gnägi, der seit Oktober 2014 amtierende Leiter täten den Fokus auf zwei Schwerpunkte: «Zukunftsorien- der Museen Werdenberg, über das Konzept des neuen tierung und öffentlicher Auftritt» sowie «Vernetzung und Museums im Schloss. Die Architektur des Schlosses steht Kooperation». Konkret wurde ein Grundkonzept zur In- im Mittelpunkt der neuen Ausstellung. Mauern werden ventarisierung der Werdenberger Sammlungen erarbeitet zur «Leinwand» für Schattenspiele, Hörspiele entführen und eine neue, zeitgemässe Homepage erstellt. Das ge- in das Leben früherer Zeiten. Besonders interessierten die meinsame Jahrbuchprojekt mit dem Historischen Verein Ausführungen und Bilder zum Rückbau der Burgküche für das Fürstentum Liechtenstein fand mit der Präsenta- in ihren ursprünglichen Zustand. tion der beiden Bände seinen krönenden Abschluss. Zu weiteren Partnerorganisationen konnten die Beziehungen vertieft werden. Werdenberger Jahrbuch

Am 4. Dezember 2015 konnten die beiden Jahrbücher des Mitgliederversammlung 2015 Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (Bd. 114) und der 29. Band des Werdenberger Jahrbuchs Am 23. April 2015 fand im Restaurant Hotel Buchserhof gemeinsam im «fabriggli» in Buchs der Öffentlichkeit die Mitgliederversammlung der HHVW statt. Es standen vorgestellt werden. Die Inhalte beider Bücher waren dem Erneuerungswahlen an. Alle Bisherigen, Ursula Bernet, Schwerpunktthema «Nachbarschaft am Alpenrhein» ge- Michael Berger, Susanne Keller-Giger, Judith Kessler, widmet. Eine fast dreijährige gemeinsame Erarbeitung Reto Neurauter, Bea Papadopoulos Hatzisaak und Roger ging der Publikation voran. Exemplarische Themen wer- Urfer wurden wiedergewählt. Hanna Rauber wurde neu den aus jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln darge- als Verantwortliche für die Sammlungen und das Kultur- stellt, historische Gemeinsamkeiten wie Sonderentwick- archiv in den Vorstand aufgenommen. Da im vergange- lungen der beiden Nachbarn beidseits des Rheins auf- nen Jahr trotz zwei Rücktritten nur ein Vorstandsmitglied gezeigt. ersetzt wurde, ist das Gremium nun wieder vollständig.

Kulturarchiv/Werdenberger Sammlungen

Im vergangenen Jahr wurde in Zusammenarbeit mit Fachpersonen aus der Region ein Grundkonzept zum Umgang mit den umfangreichen und vielfältigen Samm- lungen der HHVW und der Stiftung Regionalmuseum Schlangenhaus erarbeitet. Ziel des Konzepts ist es, Lage- rung, Inventarisierung und Zugänglichkeit der Samm- lungen zu optimieren und zu professionalisieren. Konkret sollen Archivalien wie Nachlässe, Dokumente und das Vereinsarchiv künftig als Deposita im Ortsarchiv in Grabs gelagert werden. Bücher zum Werdenberg bekommen ei- nen Platz in der Bibliothek der Interstaatlichen Tech- Hanna Rauber mit dem Grabser Urbar von 1463 vor dem Umzug nischen Hochschule (NTB) in Buchs und sind dort unter ins Ortsarchiv Grabs. Foto: Reto Neurauter. dem Schlagwort «Werdenberger Bibliothek» zu finden.

194 «Nachbarschaft am Alpenrhein» – Stolze Präsentation der Jahrbücher zum gemein- samen Schwerpunktthema: Susanne Keller- Giger, Präsidentin HHVW, Redaktorin WJB, Hans Jakob Reich, Redaktionsleiter WJB, Klaus Bieder- mann, Redaktionsleiter Jahrbuch HVFL, Hans- jakob Gabathuler, Redaktor WJB, Guido Wolfin- ger, Präsident HVFL. Foto: Armando Bianco.

Die Bücher können in Zukunft auch über den Biblio- tos, im Veranstaltungsarchiv zu finden. In HHVW in der thekenverbund NEBIS im Internet abgerufen werden. Im Presse werden weiterhin Zeitungsberichte zu Aktivitäten Sommer 2015 konnten die ersten 200 Bücher der NTB- der HHVW aufgeschaltet. Bibliothek übergeben werden.

Am 20. Oktober wurde mit der Übergabe von Archivali- Anlässe und Exkursionen en der HHVW ins Grabser Ortsarchiv begonnen. Als Ers- tes kehrte das Grabser Urbar aus dem Jahr 1463 in seine Die Stickerei im Werdenberg – Zeitzeugen berichten aus ih- Ursprungsgemeinde zurück. Es galt lange Jahre als ver- rem Leben. Am 20. Januar 2015 berichteten der ehemalige schollen, bevor es in den Besitz der HHVW kam (mehr Stickereizeichner und Sohn eines Stickers Hans Schlegel dazu auf http://www.hhvw.ch/kategorie/presse). aus Fontnas, der Sticker Alfred Heeb aus Werdenberg und die Stickerin Monica Bollhalder aus Unterwasser sowie Seit dem 14. Dezember 2015 befindet sich der Nachlass der «Stickergoof» Käti Bär-Vetsch aus Altdorf (mit Grab- des Grenzwachtbeamten Leonhard Grässli, geb. in Grabs, ser Wurzeln) von ihren Erfahrungen und von den Höhen geordnet und fachgerecht inventarisiert wieder im Kultu- und Tiefen des Stickerlebens in der Ostschweiz. Der His- rarchiv Werdenberg. Der in 96 Dossiers aufgeteilte Nach- toriker und Redaktor Heini Schwendener leitete die of- lass wurde vom Historiker Michael Schaer Rodenkirch fene Gesprächsrunde. Über 70 Besucher liessen sich von aus Beringen erschlossen, archivtauglich verpackt und auf den lebensnahen Berichten der vier Zeitzeugen begei- 41 Seiten dokumentiert. Interessierten steht damit ein stern. Zuvor hatten sie die Möglichkeit, im Grabser Stick- überaus interessantes Findmittel zur Verfügung. lokal der Stickerin Monica Bollhalder bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Der gelungene Anlass war eine Gemeinschaftsveranstaltung der HHVW und des Ver- Homepage HHVW – www.hhvw.ch kehrsvereins Grabs, der für die Betreuung des Sticklokals verantwortlich ist. Im Frühjahr 2015 konnte die neu gestaltete Homepage der HHVW aufgeschaltet werden. Der Verein Grabser Mühlbach lud an den Mülbach. Die Mitglieder des Vereins Grabser Mühlbach luden die Die meisten Rubriken blieben gleich. Publikationen der HHVW-Mitglieder am 27. Mai 2015 zu einer Spezialfüh- HHVW (Werdenberger Jahrbücher, Begleitpublikati- rung durch drei Anlagen am Mülbach ein. Im Zentrum onen, Namenbücher der Flurnamen der Werdenberger stand die Messerschmitte Roth, welche die HHVW im Gemeinden) können wie bisher direkt über den Shop be- Jahr zuvor dem Verein Grabser Mühlbach als Dauerleih- zogen werden. Neu sind unter der Rubrik Aktuelles/Veran- gabe übergeben hatte. Mit viel Herzblut und Sachwissen staltungen nicht mehr nur die Veranstaltungstermine und wurde uns das Handwerk des Messerschmieds, des Werk- -orte angegeben; der Interessierte findet in einer PDF im zeugschmieds und des Müllers vorgeführt. Die anschlies- Anhang auch das detaillierte Programm dazu. Nach Ab- sende Präsentation des Films «Ein Messer wird geschmie- schluss der Veranstaltung ist der Termin, ergänzt mit Fo- det» war eine optimale Ergänzung zu den Ausführungen.

195 Das Dokument war 1965 in der Messerschmitte Roth auf- sprüngen unseres Trinkwassers nach. Sie konnten dabei genommen worden. Der Film, ebenso wie die Bilder zum einiges Wissenswertes zur Wasserversorgung Werden- spektakulären Umzug der Messerschmitte von Buchs berg Nord erfahren. Die Gruppe startete mit einer Be- nach Grabs, den Andreas Eggenberger nochmals aufleben sichtigung des Wasserreservoirs Höhi. Nach einer kurzen liess, beeindruckten sehr. Busfahrt folgte der Abstieg zum Albrechtsbrunnen, einem architektonischen Juwel und Naturspektakel. Die Herzlichen Dank den Mitgliedern des Vereins Grabser Wanderung endete beim Wasserreservoir Grist, einer Mühlbach für dieses Geschenk an die Mitglieder der unscheinbaren «Scheune», in deren Innerem hochmo- HHVW. derne Wasserreinigungsanlagen verborgen sind. Zufrie- den und erfüllt von all den Eindrücken des Tages genos- Brunnenstuben am Grabserberg. Den Hintergrund für die sen die Teilnehmer anschliessend den wohlverdienten HHVW-Exkursion vom 5. September 2015 bildete das «Zmittag» aus dem Rucksack mit Blick über die weite Schwerpunktthema des Werdenberger Jahrbuchs 2015 Rheintalebene. «Trink-, Tränke- und Löschwasser». Unter fachkundiger Leitung des Grabser Brunnenmeisters Paul Gantenbein und von Andreas Stupp spürten die Exkursionsteilneh- Der Vorstand dankt allen, die die HHVW in irgendeiner mer auf einer abwechslungsreichen Tagestour den Ur- Weise aktiv und ideell unterstützen.

Brunnenstube Albrechtsbrunnen, HHVW-Exkursion «Brunnenstuben am Grabserberg» vom 5. September 2015. Foto: Ursula Bernet.

196 Historischer Verein Sarganserland Jahresbericht 2015

Mathias Bugg, Präsident

Geschichte – früher, heute und morgen Unsere Vereinsarbeit mit Veranstaltungen und insbeson- dere mit dem Betrieb des Museums Sarganserland macht Die seit letztem Jahr besonders akute Flüchtlingskrise Heimat deutlich und stellt diese in Kontrast zu Fremdem, macht es deutlich: Heimat ist ein wichtiger Begriff. Mil- zu Auswärtigem. Und sie lässt uns so vielleicht Fragen be- lionen von Menschen sind auf der Flucht, verlassen ihre antworten, deren Lösung für das Morgen wir im Moment Heimat, weil sie ein besseres Leben suchen, weil sie sich noch nicht kennen. neue Perspektiven versprechen, vor allem aber, weil sie an Leib und Leben bedroht sind. Wie gehen wir damit um? Nehmen wir alle Flüchtlinge auf? Geben wir ihnen bei Gedenken und Gedenkjahre uns eine neue Heimat? Helfen wir ihrer Heimat, sich wie- der zu stabilisieren, damit die Emigranten zurückkehren Das erwähnte 19. Jahrhundert war für das Sarganserland können? Verteidigen wir unsere Heimat – oder teilen wir und seine acht Gemeinden in noch anderem Zusammen- Heimat mit anderen? Die Fragen sind nicht nur poli- hang schwierig: Nach dem Ende des Ancien Régime, nach tischer Natur, sondern haben viel auch mit unserer eige- dem eigenen «Kanton Sargans» und der Helvetischen Re- nen Vergangenheit zu tun. Nämlich: Die Schweiz des 19. publik, sprachen sich die Sarganserländer 1803 für die Zu- Jahrhunderts war ein Auswanderungsland, viele suchten gehörigkeit zum neuen Kanton St. Gallen aus. Sie wurden in Amerika oder anderswo eine neue Zukunft. Und schon allerdings enttäuscht: Das junge Staatswesen setzte die früher, in der Alten Eidgenossenschaft, war die Reisläufe- neue Demokratie nur langsam durch und eine Verfas- rei für fast jede Familie Teil des Erwerbs. In diesem Sinne: sungsreform 1813 verbitterte die Bürger. Der so genannte

Zum 1250-Jahr-Jubiläum von Bischof Tellos Testament: Zwischen Sargans, Mels und Flums entsteht ein Jubiläumsweg mit geschichtlichen Tafeln. Foto: HVS.

197 Markttreiben wie vor 750 Jah- ren auf der Kirchentreppe: Der 4. Sarganser Mittelalter- tag gibt Einblicke in früheres Leben. Foto: HVS.

«Gallati-Handel», Verfassungskampf und Trennungsbe- wegung von 1814/1815, führten zur politischen Krise. Auf das Thema blicktemit Einbezug der grossen Zusammen- hänge der Toggenburger Historiker Bruno Wickli anläss- lich der HV vom 24. April 2015 zurück – eine spannende Zeitreise! Nicht nur 200, sondern gar 1250 Jahre zurück reichte der Grund der Feierlichkeiten im September 2015: Im be- kannten «Testament» des Churer Bischofs Tello aus dem Jahr 765 werden Sargans, Mels und Flums erstmals er- wähnt, als Senegaune, Maile und Fluminis. Unter Mithil- fe des Historischen Vereins Sarganserland entstanden im Namen der drei Gemeinden verschiedene Projekte – nicht Kinder und Erwachsene im Sarganser Schlossturm: von ungefähr gab man dem Fest den Titel «Zusammen- Auseinandersetzung mit Gegenständen, hier mit Holzspielzeug. wachsen – zusammen wachsen». Zunächst wurde ein «Ju- Quelle: Foto HVS. biläumsweg» von Sargans über Mels nach Flums angelegt, den Text- und Bildtafeln von Schulklassen bereichern und der sicher die nächsten Jahr(zehnt)e überdauern wird. An drei Wochenenden fanden Veranstaltungen zu Brauch- tum und Handwerk sowie Spiel und Spass statt. Und ein grosses Jubiläumstheater mit dem Titel «Füür und Flam- mä» von Romy Forlin mit beachtlicher Mitwirkung von Laienschauspielern und den vier Musikgesellschaften aus Sargans, Mels und Flums rundete das Gedenken ab. Für die Identität und das Bewusstmachen der eigenen Ge- schichte hat die 1250-Jahr-Feier Wichtiges geleistet.

In Zeiten von CNC-Fräsen ein Unikum und spannend für Alt und Jung: Auf der so genannten Wippdrehbank wurden schon im Mittelalter kunstfertige Möbelteile hergestellt. Quelle: Foto HVS.

198 Das Mittelalter war auch far- benfroh: Gewänder inklusive Ritter … Foto: HVS.

33. Saison im «Museum Sarganserland» – 4. Sarganser Mittelaltertag 446 127 Besucherinnen und Besucher Alle zwei Jahre verwandelt sich der Kirchplatz des Städt- 2016 kann das Museum im Sarganser Schlossturm den chens Sargans: Mittelalterliches Treiben ist angesagt. 50. Geburtstag feiern. Anfangs nannte sich die Ausstel- Nach dem Motto «klein, aber fein» sind vor allem einhei- lung «Heimatmuseum Sarganserland», 1983 wurde sie neu mische Darstellerinnen und Darsteller bemüht, ein mög- und modern gestaltet und tritt seither als «Museum Sar- lichst authentisches Markttreiben aus der Gründungszeit ganserland» auf. Mit dem Stand von 446 127 Besuchenden des Städtchens, um 1260, darzustellen. Das hob auch den von 1983 bis 2015 ist das Schloss zum markanten kulturel- 4. Sarganser Mittelaltertag am 30. Mai 2015 von anderen len und touristischen Brennpunkt im Sarganserland ge- Anlässen des gleichen Themas ab – mehr als 1000 Besu- worden. Im vergangenen Jahr fanden wieder besonders cherinnen und Besucher wurden als «gemeines Volk, eh- für Kinder und Familien mehrere Veranstaltungen statt: renwerte Leut, Frouwen und Mannen, Wiber, Knächt Zwei Clowninnen, Flumina und Chocolotta, führten am und Mägt» begrüsst. Mittelalterliche Speisen waren zu 8. April 2015 Kinder in humorvoller und etwas anderer probieren, Musik erklang, Gaukler boten ihr Spiel, Mär- Art über die sechs Stockwerke des Turms. Der internatio- chenerzähler und Spielleute sowie viele Handwerker be- nale Museumstag vom 17. Mai 2015 wurde in bewährter lebten die Szenerie. Erweitert wurde der Tag mit einem Manier durch Museumspädagogin Claudia Schmid ge- Spiel: die durchreisende Fürstäbtissin Adelheid von Schä- staltet. Spiele aus dem Mittelalter, als im Schlossturm ja nis erlebte mit ihrem Tross einen Radbruch auf dem tatsächlich gewohnt wurde, begeisterten die jungen Be- Kirchplatz und musste deshalb eine Pause in Sargans ein- sucherinnen und Besucher: Windrad, Murmeln und legen … Ein eindrücklicher, Geschichte darstellender Brettspiele mit Nüssen für einmal anstatt Game-Boy, Tag. Der Historische Verein Sarganserland als Mitorgani- Computerspiel oder Handy … Eine dritte Veranstaltung sator (neben dem neu gegründeten Verein Historia Sane- am 19. August 2016 mit Ritter Gerald (Luck) von Ame- gauns) konnte zeigen, wie Leben vor 750 Jahren hätte aus- ningen, mit Schwert, Kettenhemd und Rüstung, fand als sehen können – und weshalb man bei aller Idylle doch 2. Ritternachmittag grossen Anklang. Das «Museum Sar- froh ist, sich in der Gegenwart zu bewegen … ganserland» ist weiterhin mit der Pflege seiner Objekte und mit vielen Anfragen seiner Besucherinnen und Besu- cher beschäftigt.

199 Geschichtsfreunde vom Linthgebiet Jahresbericht 2015

Heinrich Speich, Präsident

Man liebt sie und man hasst sie. Feste zu feiern heisst, sich ten, Motive und Effekte des Feierns aufschlüsselte und etwas Speziellem bewusst zu sein. Familien-, Vereins-, unter dem Titel «Fest – Festspiel – Festival» prägnant prä- Staats- und Kirchenfeste haben so manches gemein. Ihre sentierte. Bedeutung und Wahrnehmung hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Wir feiern heute andere Feste als früher und Den letzten Vortrag des Jahresprogramms hielt Guido wir feiern anders. Scherrer, Regens des Bistums St. Gallen. Er beschäftigte sich mit den «Festtagen im Kirchenjahr», dem liturgi- Diesem Wandel in der gesellschaftlichen Konstante hatte schen Kalender des Bistums St. Gallen. Seine Ausfüh- sich unser Jahresprogramm 2015 verschrieben. Wir stellen rungen umfassten zwei Hauptaspekte der kirchlichen die Frage, welche Feste gefeiert wurden und welche Be- Jahreseinteilung: die Osterzeit und damit das Paschamy- deutung sie für die Menschen hatten, welche sozialen sterium als bestimmendes und datierendes Element des Mechanismen spielten und welche Auswirkungen die Kirchenjahres einerseits und die Heiligen mit ihren Fest- Festkultur auf den Alltag hatte. Daran konnten wir insbe- daten anderseits. Er untersuchte den St. Galler Festkalen- sondere beobachten, wie Feste das Leben der Menschen der auf seine Besonderheiten hin und wies auf Selige und gliederten sowie konfessionelle, politische und soziale Zu- Heilige hin, die nur in St. Gallen verehrt werden. ordnungen erlaubten.

Dazu setzten wir uns in Vortragsreihe, Lesekurs und Ex- Lesekurs «Feste feiern» kursion mit den unterschiedlichen Formen und Motiven des Themas «Feste feiern» auseinander. Wir konnten die Im fünfteiligen Lesekurs standen Texte des 15. bis 19. Jahr- Feste als inter-disziplinäres Forschungsthema wahrneh- hunderts zur Festkultur unserer Region im Zentrum. Der men und näherten uns der Materie im Rahmen der drei Auftakt erfolgte durch die Lektüre von Auszügen aus der Vorträge mit Methodik und Wissen eines Musikwissen- Chronik des Fridolin Bäldi. Diese recht unbekannte schafters, eines Ethnologen und eines Theologen. In den Chronik ist in Abschrift in einer Sammelhandschrift aus fünf Teilen des Lesekurses wurden wie gewohnt Paläogra- dem Kloster Pfäfers erhalten und berichtet annalistisch phie, Text- und Bildinterpretation und Einbettung der aus der Zeit zwischen 1482 und 1528.1 Bäldi war Land- Quellen aus mehreren Jahrhunderten geübt. schreiber in Glarus und Hauptmann in mehreren Feld- zügen. Für die Lektüre standen die Schilderungen der Fasnacht und der traditionellen Fasnachtsbesuche bei be- Vorträge freundeten Länderorten und Städten im Vordergrund. Die Fasnacht bildete bereits damals eine Zeit der Mög- Den ersten Vortrag hielt Cembalist und Musikwissen- lichkeiten zur Auslotung von Grenzen. Diese befristete schaftler Martin Zimmermann. Sein Vortrag stand unter und kontrollierte Art von Ausgelassenheit und organisier- dem Titel «Singet dem Herrn ein neues Lied». Musik von ter Fröhlichkeit diente der Verortung ständischer Gren- Heinrich Schütz mit «starckem Gethön unnd zur Pracht» zen und als Ventil für «gesellschaftlichen Überdruck». zum Reformationsfest 1617. In anschaulicher Weise zeigte Martin Zimmermann, was festliche Musik zur Barockzeit ausmachte und mit welchen Motiven und Klangeffekten der Komponist Heinrich Schütz (1585–1672) seine Musik erklingen liess.

Einen theoretischen Unterbau zum Jahresprogramm lie- ferte Prof. Dr. Walter Leimgruber (Basel) im Rahmen sei- nes Vortrags, der aus ethnologischer Warte die Konstan-

200 Der zweite Lesekursabend war einem «Fest des Schre- ckens» gewidmet. Am 6. April 1489 wurde der ehemalige Söldnerführer und Bürgermeister Zürichs vor den Augen einer grossen Zuschauerschar hingerichtet. Der Text im so genannten Höngger Bericht zu 1489 beschreibt Verhaf- tung, Folterung und Hinrichtung Hans Waldmanns. Die StiASG, Cod. Fab. XXVI, fol. 290v, Z. 23–30: «[…] Im 28. Jar in der Referentin Dr. Klara Hübner (Akademische Rätin und wuchen vor Liechtmess / zugent die von Schwanden und vill uss Dozentin an der Schlesischen Universität Opava/CZ) beden teleren uf Ki / rezen an die fassnacht und vill von Glariss bettete die Textlektüre in die soziologischen Überle- gan Näfelss. / Am montag nach unsser Frauen tag zu der Liecht- mess zu / gent Glaruss und Näfelss in Linthal an die Fassnacht.» gungen von Michel Foucault ein, der das frühneuzeitliche System von «Überwachen und Strafen» beschrieben hat- te.2 Foucault wies dabei jeder der auftretenden Personen, also dem Angeschuldigten als Täter und Verurteiltem, aber auch dem Richter, dem Henker und dem Publikum feste Rollen in der Rechtsfindung zu. Die Strafe diente dabei nicht als persönliche Sühne, sondern als ritualisier- te Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung und als sichtbares Zeichen dafür, dass das (staatliche) System Wahrheit finden und symbolisch durch den Vollzug der Urteile Gerechtigkeit (wieder-)herstellen könne. Dazu diente auch die öffentliche Hinrichtung, die in mancher Hinsicht Festcharakter hatte: Umzug, Ansprachen, Hin- richtung und die Wirkung auf Publikum und Gemein- schaft.

Der dritte Lesekurs setzte sich mit der Festkultur des 19. Jahrhunderts auseinander. Nach einer kurzen Einfüh- rung in die Befindlichkeiten im jungen Schweizerischen Bundesstaat nach 1848/1874 wurde exemplarisch an den Bundesfeierlichkeiten vom August 1891 gezeigt, welche Bestandteile staatlich organisierte Feste beinhalteten: Das reichte von der Publikation ganzer Reihen an Ge- schichtswerken zur Bundesgründung 1291 über Medail- len, Bilder, Erinnerungsobjekte bis zu den ephemeren Bestandteilen Toasts an Banketten, Umzügen, Festspie- len oder Festansprachen. Im Zentrum der Leseaktivität stand die Festpredigt von Monsignore Johann Baptist Marthy, des päpstlichen Kaplans der Schweizergarde und Geheimkämmerers von Papst Leo XIII. Marthy hielt seine Rede an einem Wendepunkt der eidgenössischen Geschichte und Festkultur: Die Feierlichkeiten 1891 markierten einen Aufbruch nach dem konfessionellen Armbrustschützen am Freischiessen 1504 in Zürich, in: Gerold Kulturkampf in der Schweiz. Das Bundesjubiläum in Edlibach, Zürcher Chronik, Bl. 341 (1506), ZBZ Ms A 77, fol. 341r. Schwyz diente als erste Geste der Versöhnung. Vor die-

201 sem Hintergrund hielt Marthy in der Schwyzer Haupt- deutsch-eidgenössischen Raum verteilt.6 Darin werden kirche am 1. August 1891 seine Predigt, in der er es als pro- Disziplinen, z. B. armbrost uffrecht mit fryem schwebendem minenter Katholik verstand, die aktuellen konfessionellen arm auf 305 werck schuoch Distanz, Vorschriften und Spannungen anzusprechen, ohne zu provozieren.3 Er er- Preisgelder ausführlich benannt. Die Preisgelder wurden mahnte die Schweizer, «das Walten Gottes, das die Väter durch eine grosse Lotterie, den «Glückshafen», finanziert. dankbar ehrten, als Vorbild und Mahnung für die Söh- ne» zu nehmen. Damit nahm auch er direkten Bezug auf Geschichtsbild und Stereotype des ausgehenden Mittel- Exkursion alters. Er beschrieb in der Folge die zentralen Bestand- teile der Schweizer Eigenart und ihres Staatswesens in Am Sonntag, dem 3. Mai 2015, fand die Jahresexkursion Rückblick und Vorschau: die Freiheiten, Tugenden, Reli- der Geschichtsfreunde vom Linthgebiet statt. Sie führte giosität, das Festhalten an den Bünden, der gemeinsame dieses Jahr nach Glarus an die Landsgemeinde. Dabei Kampf gegen äussere und innere Feinde sowie den standen der ritualisierte Umgang mit Politik, die Insze- «freundeidgenössischen Brudersinn». nierung von Politik, Gesellschaft und der Festcharakter mit der Stadt als integrativer Kulisse im Zentrum. Der vierte Lesekurs beschäftigte sich wieder mit einem politischen Fest, diesmal auch mit dem obrigkeitlichen Umgang mit den zu erwartenden Schwierigkeiten. Dazu wurden einige «Fahrtsmandate» der Glarner Räte unter- sucht. Die Näfelser Fahrt bildete seit dem frühen 15. Jahr- hundert das Zentrum offizieller Memoria im Land Gla- rus. Dabei wurde der Toten der Schlacht bei Näfels gedacht. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts entzündeten sich ernsthafte Konflikte, die dazu führten, dass den Reformierten ab 1655 der Besuch untersagt wurde. Die Näfelser Fahrt wurde damit zur Staatsfeier von Katho- lisch-Glarus und blieb dies bis zur Aufhebung der kon- fessionellen Landesteilung 1837. Von da an bildete die Näfelser Fahrt nebst der Landsgemeinde in Glarus einen Staatsfeiertag, der bis heute über ein jährliches «Fahrts- Kein Fest ohne Teilnehmer: Der Zaunplatz in Glarus mandat» geregelt wird. Das «Gesetz betreffend die Feier mit dem vorbereiteten Landsgemeinde-Ring. der Näfelser Fahrt» vom 25. Mai 1835 ist bis heute gültig. Die Teilnehmer des Lesekurses waren mit der Schrift des Landschreibers Christian Streiff aus dem frühen 18. Jahr- hunderts recht gefordert. Es wurde das Fahrtsmandat 1 Die Chronik des Fridolin Bäldi (1488–1529), Abschrift des von ca. 1687 analysiert.4 Hier wurden Gebote und Ver- 17. Jahrhunderts, im Stiftsarchiv St. Gallen, Cod. Fab. XXVI, bote früherer Mandate wiederholt, so beispielsweise die fol. 282r–294r. Edition H.G. Mayer, in: Zeitschrift für Schweize- Anweisung, dass aus jedem Haushalt die «ehrbareste» rische Kirchengeschichte 1/1907, S. 43–51; S. 112–127. Person an der Fahrt teilzunehmen hätte und dass man an 2 Faksimile der älteren Fassung, in: Der Höngger Bericht. Hans Waldmann, Bürgermeister, Feldherr und Staatsmann, hg. v. der Fahrt laufen (gehen) und nicht reiten solle. Peter Vogelsang, Erlenbach 1989, nach StaAZ X 225 (Redaktion ca. 1530–1560). Siehe dazu: Foucault, Michel: Überwachen und Den Abschluss der Lesekursreihe machten zwei Texte zu Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 92008. «Eidgenössischen Schützenfesten». In einer allgemeinen 3 Festpredigt, gehalten zu Schwyz in der St. Martinskirche von Einführung in die «nationalen» Grossfeste des 19. Jahr- Herrn J. Marthy (Kaplan der Päpstl. Schweizergarde in Rom), hunderts wurde das Eidgenössische in Zürich von 1859 am 1. August 1891, in: Die Festtage von Schwyz und Bern August 1891. Jubiläumsfeier des Bundes der Eidgenossen von 1291 näher betrachtet und spezifische Elemente der Erinne- und der Gründung der Stadt Bern 1191. Erinnerungsblätter in rungskultur betrachtet: Gedenkmünzen, Gedichte, Bil- Wort und Bild, Bern 1891, S. 15–20. der und Erinnerungsbücher für die Teilnehmer. Danach 4 Christian Streiff, Lands- und Pundsbuch 1748, Landesbibliothek wurde ein Blick in die Geschäftstätigkeit der Zürcher Re- Glarus, Ms LB GL N 57, pag. 1031–1032; ediert in: Die Rechts- gierung unternommen, um mittels eines handschrift- quellen des Kantons Glarus III, bearb. v. Fritz Stucki, Nr. 36A, lichen Regierungsratsbeschlusses die offizielle Wahrneh- S. 1105–1106. 5 StaAZ, MM 2.143 RRB 1859/0041: Gesuch des Organisations- mung und Förderung durch kantonale Mittel und Militär komit. für das eidg. Schützenfest um Verabreichung v. Ehren- 5 darzulegen. Als zweite Quelle lasen die Teilnehmer die gaben, Einberufung e. Comp. Scharfschützen. Einladung zum Freischiessen von 1504 nach Zürich. Die- 6 Zentralbibliothek Zürich, Ms. A 2, zwischen S. 52 und 53 se Einladung wurde als Druckschrift im gesamten süd- «Einladung zum Freischiessen von 1504 in Zürich».

202 Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde (TVH) Jahresbericht 2015

Ernst Grob, Obmann

Am 3. März bat Frau Katharina Meier, Studentin der Mit- erwartete uns noch ein Besuch des Toggenburger Muse- telalterarchäologie, um ergänzende Informationen für ums, wo ergänzende Erklärungen zu den dort ausgestell- ihre Semesterarbeit nach Protokollen unserer Vereini- ten Fundstücken der Neutoggenburg den Ausflug ab- gung aus der Gründungszeit bis etwa 1960. Vollständig schlossen. vorhanden, konnten diese Protokollbücher, ihrem Wunsch entsprechend, ausgeliehen werden. Diese Anfra- Am 7. Juni mussten wir die Trauerbotschaft vom Hin- ge sollte sich für unsere Vereinigung zu einem Glücksfall schied unseres Ehrenmitglieds, Josef Hagmann, Mos­ entwickeln. nang, hinnehmen. Josef trat unserer Vereinigung im Gründungsjahr als 13. Mitglied bei, diente von 1961 bis Bereits Mitte Mai legte Katharina Meier ihre praxisbe- 2000 über 39 Jahre begeistert im Vorstand und führte sie zogene Semesterarbeit unter dem Titel «Eine Burg ge- ab 1985 für sechs Jahre als umsichtiger Obmann. 1993 sucht – ein Kloster gefunden» vor. Die Geschichte der gründete und baute er die Chronikstube Mosnang auf, Grabung durch unsere Vereinigung auf der Pfanneregg, die er erst vor zwei Jahren an Josef Müller weitergab. ob Uelisbach bei Wattwil gelegen, in den Jahren 1946 bis 1957 wird darin an Hand der damals erstellten Grabungs- protokolle, des an verschiedenen Orten gelagerten Fund- materials und Fotografien zum ersten Mal vollständig aufgearbeitet. Unabhängig voneinander waren der Ob- mann und unser Schriftleiter, Dr. Hans Büchler, der ein- helligen Meinung, diese wertvolle Arbeit müsste als Do- kument der einheimischen Regionalgeschichte in den umliegenden Bibliotheken, Archiven und Museen ein- fach zugänglich gemacht werden. Wir beschlossen im Einverständnis mit der Autorin, zu diesem Zweck den Druck einer Kleinauflage ihrer Arbeit von 70 Exem- plaren.

Bei aufklarendem Himmel startete am 16. Mai in Lich- tensteig ein Wandergrüppchen zur Frühlings-Exkursion Richtung Ruine Neutoggenburg. Auf der Wasserfluh- Anlass Neutoggenburg, 16. Mai 2015. Die Teilnehmenden vor Passhöhe schlossen sich weitere Mitglieder an, um sich dem Gemäuer der Ruine Neutoggenburg. Foto: Ernst Grob. oben, auf dem Ruinengelände, mit im Voraus Aufgestie- genen zu insgesamt 15 Teilnehmenden zu vereinigen. Die zum Teil seltene Flora, die Landschaftsgeschichte, die ehemaligen gräflichen Hausherren von Toggenburg und ökologische Eingriffe im Wald zur Mehrung der Arten- vielfalt waren Themen, die unterwegs an geeigneten Stellen besprochen wurden. In nordwestlicher Richtung grüsste in der Ferne der Kirchturm der Iddaburg, Stand- ort der ehemaligen Alttoggenburg; er erinnerte an un- seren letztjährigen Besuch dort und an die Sage der Hei- ligen Idda von Toggenburg. Wieder im «Städtli» zurück,

203 Anlass Bazenheid, 4. Juli 2015. Manuel Marti, der junge Schmied, Anlass Nesslau, Ijental, 5. September 2015. Einer der Projekt- zeigt sein altes Handwerk am Amboss. Foto: Anton Heer. bearbeiter, René Güttinger (links) informiert über die Abhängig- keit von Insekten von ihren Futterpflanzen. Foto: Leo Rüthemann.

Zum 25-jährigen Museums-Jubiläum folgten am 4. Juli raussetzung des Projektes. Eine angepasste Alp-Bewirt- 12 Mitglieder der Einladung zum Besuch der Schmiede schaftung zum Schutz der wertvollen Moorlandschaft, von Ruprecht Meier selig nach Bazenheid. Die umfang- eine abgestimmte forstliche Pflege der ergwälderB zum reiche Sammlung von verschiedensten Werkzeugen frü- Wohl der vielfältigen Fauna und Flora und als Erfolgs- herer handwerklicher Berufe aus Meiers Schmiede liess kontrolle ein Monitoring der Massnahmen zur Unterstüt- alte Zunft- und Gesellen-Traditionen wieder aufleben. zung der ökologischen Werte wurden auf dem Rundgang Eine Demonstration der klassischen Schmiedekunst an ausführlich an entsprechenden Beispielen in der Land- Esse und Amboss durch Manuel Marti führte uns die Ele- schaft erklärt. ganz der warmen Formgebung am Beispiel eines Hufei- sens vor Augen und liess uns eines der ältesten Hand- Im Oktober, traditionell dem Monat von Buch-Neu- werke der Menschheit erleben. erscheinungen, wurde am Fünfzehnten im Haus des Tog- genburger- und Appenzeller-Verlags, am neuen Standort Robert Forrer, a. Stadtammann von Lichtensteig und letz- in Schwellbrunn, das Toggenburger Jahrbuch 2016 vor- ter Zeitzeuge der Gründung unserer Vereinigung, ist am gestellt. Am Zwanzigsten, im Wattwiler Gemeindehaus, 17. August verstorben. Er hat sich in all seinen Amtsjah- folgte die Monographie der Firma Heberlein AG. Letzte- ren unermüdlich im Kulturgüterschutz und in der Denk- re zeigt die Industrialisierung der Gemeinde während der malpflege für den Erhalt historischer Werte eingesetzt. vergangenen 180 Jahre am Beispiel des Textilspezialisten Selbst im Ruhestand hat er mit seinen Fachkenntnissen im Auf- und Niedergang. als Archivar bis ins hohe Alter viele Protokoll- und Be- richte-Sammlungen in der Region neu und zweckmässig An der Hauptversammlung vom 21. November im Land- geordnet. Seine grossen Verdienste wurden mit der Er- gasthof «Ochsen», Sidwald / Neu St. Johann, beleuchtete nennung zum Ehrenmitglied unserer Vereinigung gewür- Stefan Sonderegger in seinem Vortrag «Ländliche Gesell- digt. Durch die spontane, grosszügige Zuwendung der schaft der Ostschweiz im Spätmittelalter» die aktuelle For- Trauerspenden an unsere Vereinigung sind wir der Trau- schung und die entsprechenden historischen Quellen. erfamilie in tiefster Dankbarkeit verbunden. Das uner- Martin Schindler würdigte anschliessend aus archäolo- wartete Legat wurde, ganz im Sinne des Verstorbenen, für gischer Sicht die Arbeit von Katharina Meyer über die ehe- den Druck der Grabungsgeschichte «Eine Burg gesucht – maligen Grabungen auf der Pfanneregg bei Wattwil und ein Kloster gefunden» verwendet. zeigte an diesem Beispiel die moderne Aufarbeitung einer bekannten Fundstelle zur möglichst realen Einordnung Das Lebensraumprojekt «Ijental – Blässlaui», das wir am ihres geschichtlichen Stellenwertes. 5. September auf unserer Herbstwanderung oberhalb Nesslau kennen lernen durften, konnte 25 Mitglieder und Die Jahresrechnung 2015 wurde mit einem Gewinn prä- Gäste zur Teilnahme überzeugen. Die unmittelbare Nähe sentiert. Unsere Mitgliederliste verminderte sich leider um des geologischen Kreidekalk-Alpenrandes, der hier der 7 auf neu 378 Eingeschriebene. Alle Anwesenden wurden voralpinen Molasse aufliegt, mit seinem speziellen Arten- aufgerufen, in ihrem Umfeld aktiv Gäste zu unseren Ver- reichtum von Fauna und Flora bildet die natürliche Vo- anstaltungen einzuladen, um ihnen damit den kleinen

204 Anlass HV, Neu St. Johann, 21. November 2015. Pro memoria, Josef Hagmann (links) und Robert Forrer, 2009, anlässlich ihrer Ehrung für 65 Jahre Mitgliedschaft. Foto: Adrien Vögtlin.

Schritt zur Mitgliedschaft leicht zu machen. Der Jahres- Mindestbeitrag wurde für 2016 auf Fr. 7.– belassen. Chris- telle Wick, Wattwil, Kuratorin des «Toggenburger Muse- ums Lichtensteig», wurde als Vertreterin des Museums einstimmig in unseren Vorstand gewählt.

Das Ackerhus in Ebnat-Kappel ist aus der Renovation in der Rekordzeit von weniger als einem Jahr in neuer Pracht erstanden. Bereits wurden auch die Melchior Grob- und die Looser-Hausorgeln im neu erstellten Saalanbau restau- riert. Am Samstag, dem 28. November, wurden beide Or- geln anlässlich der festlichen Wiedereröffnung durch Wolfgang Sieber und Heidi Bollhalder meisterlich vorge- führt.

Die Toggenburger Medienlandschaft wird ab dem 1. Janu- ar 2016 ärmer: Die ehemaligen «Toggenburger Nachrich- ten» aus Ebnat-Kappel und der «Alttoggenburger» aus Bazenheid werden im «Toggenburger Tagblatt» zusam- mengeführt zu «einer einzigen, starken Regionalzeitung» – so der Wortlaut einer Ankündigung vom 22. Oktober 2015.

205 Kunst- und Museumsfreunde Wil und Umgebung Jahresbericht 2015

Hans Vollmar, Präsident

Mitgliederwerbung Die Kinder der Primarschulklassen Egli/Arn und Harder/ Heilig des Alleeschulhauses Wil haben zusammen mit Stu- Wollen historische oder kulturell aktive Vereine mittel- dierenden der Interkantonalen Hochschule für Heilpäda- fristig überleben, muss die Werbung neuer Mitglieder eine gogik Zürich in der Tonhalle Wil das Tanzwerk 2015 unter hohe Priorität haben. dem Motto «Mensch – Recht Kind zu sein» erarbeitet. Auf Gesuch hin haben wir diese aufwändige, sehr sinnvolle Auch im vergangenen Jahr haben wir leider wieder viele und wunderschöne Arbeit mit Fr. 1000.– unterstützt. treue Mitglieder durch Tod, aus Altersgründen oder we- gen Wegzug verloren. Betrüblich sind die Austritte von jüngeren berufstätigen Mitgliedern mit der Begründung, IG Kultur Wil zu wenig Zeit für unsere Aktivitäten zu finden. Dabei wird verkannt, dass wir auch auf die Beiträge von «pas- In Wil wurde die «Interessengemeinschaft Kultur Wil» siven» Mitgliedern besonders angewiesen sind, wenn wir («IG Kultur Wil») gegründet. Der Vorstand der Kunst- die Unterstützung des Stadtmuseums Wil und weiterer und Museumsfreunde Wil und Umgebung hat den Bei- kultureller Aktivitäten in der Region Wil weiterführen tritt zum neuen Verein «IG Kultur Wil» befürwortet, da wollen. wir grundsätzlich und statutengemäss gerne Bemühungen zur weiteren Förderung und Belebung kultureller Aktivi- Wir konnten den Aderlass von 18 Mitgliedern mit grossen täten in Wil und Umgebung unterstützen. Allerdings Anstrengungen und gezielten Aktionen mit total 31 Neu- fokussiert die «IG Kultur Wil» auf Grund der heutigen eintritten mehr als kompensieren. Mit 476 Mitgliedern ist Mitgliederzusammensetzung zurzeit primär auf die Bereit- unsere Vereinigung immer noch stark, aber weit entfernt stellung von Räumlichkeiten, mobiler Infrastruktur und von den rund 800 Mitgliedern in den besten Jahren. Dienstleistungen, namentlich der öffentlichen Hand, wel- che zu günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt wer- den sollen. Vorstand

Zwei langjährige und sehr verdiente Mitglieder mussten Zusammenarbeit mit der Volks- wir aus dem Vorstand verabschieden: Benno Ruckstuhl hochschule Wil (VHS) wurde zum Ehrenpräsidenten und Käthy Marfurt zum Ehrenmitglied ernannt, beide haben unsere Vereinigung Die Antworten in der Mitgliederbefragung vom April 2014 über viele Jahre mit ihrer Vorstandsarbeit getragen und zeigten ein sehr grosses Interesse an geschichtlichen und wesentlich geprägt; vielen Dank! Als Ersatz wurden zwei kunsthistorischen Themen. Für solche Vorträge suchten neue Vorstandsmitglieder gewählt: Dr. phil. Patrick Ber- wir die Zusammenarbeit mit der VHS Wil, dies, um sie ei- nold, Lehrer an der Kantonsschule Wil, und der junge nerseits nicht zu konkurrieren, anderseits um solche Refe- Michael Lindenmann, BA in Geschichte und Germanis- rate auch einem weiteren Publikum offen zu halten. tik. Dr. med. Alex Dillinger ist der neue Vizepräsident. Aus mehreren Zusammenarbeitsmöglichkeiten haben wir uns versuchsweise für folgende Lösung entschieden: wir Unterstützungsbeiträge schlagen dem Leiter der VHS Wil, Daniel Schönenberger, uns interessierende Themen vor und machen unsere Mit- Auch 2015 durften wir das Stadtmuseum Wil für die neue glieder auf alle Angebote der VHS mit (kunst)historischen Wechselausstellung mit Fr. 3000.– unterstützen. Inhalten speziell aufmerksam. Zusätzlich übernehmen wir

206 das Honorar für ein Referat, unsere Mitglieder können im Auf Grund des Erfolges plant das Staatsarchiv St. Gallen in Gegenzug diesen Anlass kostenlos besuchen. Gerne lassen Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen gleiche Vor- wir uns überraschen, ob diese Lösung zu einem besseren träge in anderen Regionen des Kantons. Besuch solcher Angebote bei der VHS Wil führt. Zudem entlastet uns dieses Vorgehen von administrativen Umtrie- ben für die Anmeldungen und die Teilnahmegebühren. Kulturfahrten 2015

Für viele unserer Mitglieder sind die beiden Exkursion an Spezialführungen im Stadtmuseum einem Samstag und an einem Donnerstag Höhepunkte des Vereinsjahres: Besuch kultureller Spitzenleistungen Als direkte Folge der Mitgliederbefragung 2014 haben wir verbunden mit kulinarischen Genüssen und freundschaft- je zwei Spezialführungen von Museumsleiter Werner lichen Begegnungen. Warth für unsere Mitglieder zu den Ausstellungen «Textil in Wil» und «Schriftliches von A bis Z» im Stadtmuseum Neu waren beide Kulturfahrten ganztägig. Ganztagsreisen Wil angeboten. Diese Spezialführungen fanden eine er- geben uns mehr Möglichkeiten in der Programmgestal- freulich grosse und sehr interessierte Teilnehmerschar und tung, auch bei Fahrten in die nähere Umgebung. Ausser- sind auch in Zukunft Teil unseres Programmes. dem sind die Kosten (besonders auch für den Bus) bei ei- ner ganz- oder halbtägigen Exkursion praktisch gleich hoch.

Kulturfahrt nach Obermarchtal und Riedlingen an der Donau

Die Erwartungen der Kunst- und Museumsfreundinnen und -freunde aus Wil und Umgebung an die grosse Kul- turfahrt am 6. Juni 2015 zur ehemaligen Prämonstratenser- abtei Obermarchtal und zum benachbarten Donaustädt- chen Riedlingen waren hoch, das beweist die grosse Teilnehmerzahl von 58 Mitgliedern und Gästen. Sie wur- den mehr als erfüllt. Wir durften für die Organisation das reiche Beziehungsnetz von Winfried Assfalg und seine umfassenden Kenntnisse für den Besuch der Stadt Ried- lingen an der Donau und von Obermarchtal nutzen.

Ehemalige Prämonstratenserabtei Obermarchtal – eine formvollendete Klosteranlage Das erste Vorgängerkloster St. Peter in «Marhctala» wurde im Jahre 776 von den Gründergrafen zur Sicherung des Fortbestandes an das Kloster St. Gallen übertragen. 1802 wurde das Prämonstratenserstift St. Peter und Paul säku- larisiert und war bis 1973 Verwaltungszentrale des Hauses Wiler Geschichte im Staatsarchiv St. Gallen Thurn undTaxis für seine oberschwäbischen Besitzungen. 1973 kaufte die Diözese Rottenburg-Stuttgart Kirche und Die Kunst- und Museumsfreunde Wil und Umgebung or- «Schloss» und richtete hier ein Seminarhotel und die ganisierten auf Einladung des Staatsarchivs St.Gallen ei- «Katholische Akademie für Lehrerfortbildung» ein. nen öffentlichen Anlass. In ihrer Präsentation «Ein kurzer Gang durch Raum und Zeit: Wiler Geschichte im Staats- Obermarchtal ist die einzige in sich geschlossene, vollen- archiv St. Gallen» stellte Claudia Klinkmann, wissen- dete und komplett erhaltene barocke Klosteranlage Ober- schaftliche Archivarin im Staatsarchiv St. Gallen, interes- schwabens. Akademieleiter und Doktor der Physik und sante schriftliche Dokumente und anschauliche Bilder aus Theologie ertholdB Suchan führte uns ins Münster, «eines dem Staatsarchiv vor, welche einen Bezug zur Geschichte der besten Beispiele des deutschen Frühbarocks, reinster von Wil und Umgebung haben. Der Vortrag hat den rund Typ des Vorarlberger Münsterschemas», «ein Meisterwerk 30 Teilnehmern ausserdem Hinweise und Anregungen für der Ausgewogenheit». Geschickt verband Dr. Suchan ge- eigene Recherchen im Archiv gegeben. schichtliche und kunsthistorische Fakten im Klosterkom-

207 Ehemalige Prämonstratenserabtei Obermarchtal, heute Pfarrkirche, Seminarhotel und Akademie sowie private Mittelschule. plex mit theologischen und konfessionellen Hintergrün- Ostschweizer Industriegeschichte den. Obermarchtal liegt hart an der ehemaligen Grenze und Wasserschloss Hagenwil des katholischen Vorderösterreich zum reformierten Württemberg. Mit barocker Pracht und Kirchenmusik Die Kulturfahrt im Herbst führt traditionell in die nähere setzten auch die Prämonstratenser zur Zeit der Gegen- Umgebung, erstmals wurde diese ganztägig durchgeführt. reformation bewusst auf sinnliches Erleben in der Kirche Am 24. September 2015 standen für einmal nicht allein als Gegensatz zum nüchterneren evangelisch geprägten prächtige Bauten im Vordergrund, sondern zwei industri- Gottesdienst. elle Denkmäler in unserer Gegend.

Wir besichtigten die sonst nicht zugängliche alte Sakris- Textilmuseum Sorntal tei mit den grossartigen, geschnitzten Paramentenschrän- Die Textilindustrie brachte im 19. Jahrhundert Arbeit und ken und Priesterkästchen sowie den Kapitelsaal mit einem Wohlstand in die Ostschweiz, bei ihrem Niedergang nach ausserordentlich figurenreichen Kapitelgestühl und zum dem Ersten Weltkrieg aber auch Not und Armut. Das we- Abschluss das Sommerrefektorium, ein Rokoko-Spiegel- nig bekannte Textilmuseum im nahen Sorntal (Gemeinde saal nach Entwürfen von Baumeister Johann Caspar Bag- Niederbüren) ist ein Museum von nationaler Bedeutung. nato (1696–1757). In dieser «Erlebnisstätte textilen Entstehens» erfuhren wir anschaulich das Werden von Stoffen auf historischen Ma- Riedlingen mit prominentem Stadtführer schinen vom Baumwollballen über die Spinn- und Web- Nach dem vorzüglichen Mittagessen im besten Gasthaus maschine bis zum gestickten Tuch. Der Besuch dieser der Region, dem «Löwen» in Wilfingen, ging die Fahrt «Museumsfabrik» mit einer sehr umfassenden Maschinen- nach Riedlingen an der Donau. Winfried Assfalg, Ehren- und Textiliensammlung war eine sinnvolle Ergänzung zur bürger der Stadt und Kulturpreisträger des Landes Baden- vergangenen Ausstellung «Textil in Wil» im Stadtmuseum. Württemberg, zeigte uns sein geliebtes Riedlingen mit den schönen Fachwerkhäusern. Gegründet wurde Riedlingen Wasserschloss Hagenwil durch die Grafen von Veringen um das Jahr 1250. Fünfzig Zum Mittagessen fuhren wir ins nahe Wasserschloss Ha- Jahre später wurde es an das Haus Habsburg verkauft und genwil und liessen uns zuerst vom Eigentümer durch die gehörte bis zum Jahre 1805 als eine von fünf Donaustädten Räume des Schlosses führen. Er schilderte uns eindrück- zum habsburgischen Vorderösterreich. Winfried Assfalg lich die Geschichte des Schlosses und die grossen An- verstand es, witzig den Bogen von der geschichtlichen Ver- strengungen und Kosten für dessen Erhalt und Erneue- gangenheit in die Gegenwart zu spannen; mit einem so en- rung. Es wurde anfangs des 13. Jahrhunderts erbaut, gagierten Betreuer macht eine Stadtbesichtigung Spass. erstmals erwähnt werden die Herren von Hagenwil eben- falls in dieser Zeit. Rudolf von Hagenwil soll einen Gross- Die Fahrt an der Abendsonne über den Bodensee mit der teil seines Besitzes dem Kloster St. Gallen geschenkt ha- Fähre Meersburg-Konstanz rundete einen Tag mit schö- ben. Am 17. Januar 1684 kaufte Abt Gallus Alt die nen Erlebnissen und freundschaftlichen Begegnungen ab. Herrschaft Hagenwil zurück und liess die Burg in eine Sommerresidenz für die Äbte und Mönche ausbauen. Nach Aufhebung des Klosters erwarb 1806 der damalige Verwalter, Benedikt Angehrn, das Schloss, heute ist es in siebter Generation im Besitz der Familie.

208 Kunst- und Museumsfreunde Wil vor der imposanten PM1 in Bischofszell.

Johann Nepomuk Wirz à Rudenz, der letzte Fürstabt Pankraz Vorster und Karl von Müller-Friedberg, erster Landammann des Kantons St.Gallen.

Historische Papiermaschine PM1 in Bischofszell Referat von Vorstandsmitglied und Stadtarchivar Werner Reichlich Wasser am Zusammenfluss von Sitter und Thur Warth: «Der Treueste der Treuen» – Baron Johann Nepo- in Bischofszell war die Basis für die Ansiedlung vieler In- muk Wirz à Rudenz, geboren 24. April 1766, gestorben dustriebetriebe. Die 1928 gebaute Papiermaschine PM1 5. November 1841. Johann Nepomuk Wirz à Rudenz war war eine damals sehr leistungsfähige Maschine, auf wel- der letzte Reichsvogt der Fürstabtei St. Gallen in Wil, cher sich eine ganze Produktpalette von Karton bis Krepp- Schwiegersohn des vormaligen Reichsvogtes Josef Pan- papier herstellen liess, was eine enorme Angebotsflexibili- kraz Grüebler, dadurch Erbe des nach ihm benannten Ba- tät ermöglichte. Nur von einem einzigen Elektromotor rockpalais «Rudenzburg» vor den Toren der Stadt sowie angetrieben, wurde die ganze Maschine über ein ausgeklü- 1810 Käufer der ehemals äbtischen Hofliegenschaften. Er geltes System von Ledertransmissionsriemen in Bewegung setzte sich zusammen mit anderen Wilern unermüdlich versetzt. für die Wiederherstellung des Klosters St. Gallen ein, wo- für er vom Kanton mit unglaublich hohen Geldstrafen Ausklang auf Klein-Rigi gebüsst wurde. Sein Wirken war bisher nur Wenigen be- Den Nachmittag beschlossen die Kunst- und Museums- kannt, weshalb sich die Aufarbeitung seiner Geschichte freunde gemütlich bei einem Erfrischungstrunk auf Klein- zu seinem 250. Geburtstag geradezu aufdrängt. Rigi oberhalb Kradolf mit herrlichem Rundblick über das Thurtal bis zum Alpstein. «Kultur beginnt im Herzen jedes einzelnen.»

(Johann Nepomuk Nestroy, 1801–1862, österreichischer Mitgliederversammlung Dramatiker, Schauspieler und Bühnenautor)

Wie üblich wurde das Vereinsjahr durch die nunmehr 39. Hauptversammlung vom 16. November 2015 im Für- stensaal des Hofs zu Wil abgeschlossen. Vermutlich ka- men viele Mitglieder zur HV wegen dem anschliessenden

209 MUSA Museen SG Jahresbericht 2015

Alois Ebneter und Urs Schärli, Co-Präsidenten

Mit dem Besuch im Stadtmuseum Rapperswil startete Die fünf Vorstandssitzungen befassten sich im Wesentli- MUSA Museen SG ins vierte Verbandsjahr. Museumslei- chen mit den gleichen Themen wie in den Vorjahren. Die ter Mark Wüst verstand es ausgezeichnet, den Gästen die Erneuerung der Leistungsvereinbarung mit dem Kan- Herausforderungen seines Museumsbetriebs anschaulich ton St. Gallen für die Periode 2015–2017 gestaltete sich rei- aufzuzeigen. Seine Ausführungen zeigten ausserdem, wie bungslos. auch die Museumslandschaft in Rapperswil-Jona Verän- derungen und politischen Diskussionen ausgesetzt ist. An einer Klausurtagung im Hotel Wolfensberg, Degers- Die anschliessende Gelegenheit zum Erfahrungsaustauch heim, befasste sich der Vorstand zusammen mit externen beim Apéro wurde rege genutzt. Personen mit dem bisher Erreichten und der weiteren Entwicklung des Verbandes. Dabei brachten Heinz Rein- Anlässlich der Hauptversammlung in Werdenberg bot hart, Präsident der Museumsgesellschaft Thurgau, Laeti- sich die Chance, das Schloss zu besuchen, bevor die neu zia Christoffel als Geschäftsführerin von Museum Grau- gestalteten Ausstellungen fertig gestellt waren – ein unge- bünden und Ursula Badrutt Schoch als Vertreterin der wöhnliches Erlebnis. Die Hauptversammlung wählte Sil- Kulturförderung des Kantons St. Gallen ihre Aussensicht ke Schlör Schlickeiser, MA, Kuratorin des Ortsmuseums auf unsere Tätigkeit ein. Nicht nur unsere eigenen Erfah- Rothus Oberriet, in den Verbandsvorstand. rungen, sondern auch diejenigen der Gäste zeigten deut- lich, dass die ursprünglich angenommene Aufbauphase von drei Jahren für den Verband wesentlich zu optimis- tisch veranschlagt worden war. Es wird weiterhin viel Ge- duld und Überzeugungsarbeit brauchen, um mehr Reso- nanz auf die Aktivitäten des Vorstandes zu erhalten, und dies ganz unabhängig von den verschiedenen musealen Themenbereichen.

Der Vorstand wird deshalb den eingeschlagenen Weg wei- tergehen, die aufgegleisten Projekte weiterverfolgen und unser Beratungsangebot – das bisher unverständlicher- weise praktisch nicht beansprucht wurde – immer wieder in Erinnerung rufen. Dabei soll auch die aktive Kontakt- pflege zu Mitgliedern und Aussenstehenden weiterge- führt werden. Eine dieser Formen der Kontaktpflege, die jeweils eintägigen «Museums-Besuchstouren», hat sich bisher sehr bewährt.

Beispiel eines Inventarblatt-Prints aus «collectr» (Ojektblatt 10030, Ortsmuseum Flawil). Quelle: MUSA Museen SG.

210 Besuch von MUSA Museen SG in Burgau mit den Teilneh- merinnen und Teilnehmern der Tagung ARMS (Arbeits- gemeinschaft Regionalmuseen der Schweiz). Foto: Urs Schärli.

Zur Kontaktpflege gehörten nebst dem Anlass in Rappers- genhaus Werdenberg, die Erlebniswelt Toggenburg und wil auch das Ortsmuseum Flawil werden in diesem Frühling fol- gen, weitere Gespräche sind im Gang. • die jährliche Besprechung mit dem Amt für Kultur des Kantons St. Gallen, insbesondere auch der Informati- Bedeutend ernüchternder zeigt sich die Situation bei der onsaustausch über die anstehenden Beitragsgesuche aus Inventarisierungslösung «collectr». Eine Umfrage bei un- der kantonalen Museumswelt; seren Mitgliedern hat keine eindeutige Situation aufge- • die Teilnahme an der Jubiläumsveranstaltung zum zeigt, warum vom Angebot zur Lösung für das meistge- 10-Jahr-Jubiläum des Landwirtschaftsmuseum Ruggis- nannte Bedürfnis der kleineren und mittleren Museen berg; nicht häufiger ebrauchG gemacht wird. Das Angebot • die Einladung zur Ausstellungseröffnung der Ortsge- deckt die Grundanforderungen an eine Inventarisierungs- meinde Thal im lokalen Museum; lösung bestens ab. Wir bieten die sehr einfache, aber effi- • der Workshop «Textil» der Ämter für Kultur der Kan- ziente Lösung nicht nur an, sondern wir finanzierten sie tone St. Gallen, Appenzell AR und Thurgau; bisher auch! Die Lösung hat durchaus das Potenzial, auch • der Netzwerkanlass KKLick in Lichtensteig; für die Inventarisierung von Sammlungen in nichtmuse- • der Austauschanlass im September im Ortsmuseum alen Institutionen genutzt zu werden. Aber es ist klar, dass Flawil über Alltagsthemen aus der Museumsarbeit; damit eben auch Arbeit verbunden ist, wozu dann offen- • die «Museums-Besuchstour» vom 11. Dezember im Sar- sichtlich Arbeitskräfte und/oder finanzielle Mittel fehlen. ganserland. Viele Entscheidungsträger sehen oft nur Risiken, jedoch nicht die Chancen. Andere wiederum sind nicht bereit, MUSA Museen SG war ausserdem Gastgeber des jährli- vom Papier oder von selbstentwickelten Programmen ab- chen Treffens der Arbeitsgemeinschaft der Regionalmu- zulassen. Einwände bezüglich Programm- und Daten- seen der Schweiz ARMS im Oktober im Lindengut Flawil. sicherheit sind einfach und beliebt, um Veränderungen fernzuhalten. Dabei geht leider die zukunftsträchtige Erfreulich ist die sich abzeichnende Zunahme von Anbie- Perspektive einer möglichen museumsübergreifenden tern von Abenteuer im Museum. Das Historische und Datennutzung und Objektpräsentation völlig vergessen! Völkerkundemuseum St. Gallen ist seit letztem Herbst MUSA Museen SG erhofft sich in diesem Bereich für die dabei, das Seifenmuseum St. Gallen, Schloss und Schlan- Zukunft mehr Resonanz.

211 Genealogisch-Heraldische Gesellschaft Ostschweiz Jahresbericht 2014/2015

Markus Frick, Präsident

Die GHGO kann einmal mehr auf ein attraktives und schung – Identifikation von Motiven und Vorstellungen vielseitiges Vereinsjahr zurückblicken. Interessante Refe- junger Erwachsener» berichtet werden. Der Verfasser renten und Themen beeinflussten die Anzahl teilneh- stellte dabei seine grundlegenden Erkenntnisse vor. Eben- mender Mitglieder sehr positiv. so konnte berichtet werden, dass das Projekt «Ahnenlis- ten über 6 Generationen» abgeschlossen werden konnte. Abschliessend fand an diesem 22. November 2014 auch Grand Tour der Mönche noch das Thema «Archivierung der Forschungsergeb- Stiftsarchivar Peter Erhart entführte am 25. Oktober 2014 nisse» Platz zum Wissensaustausch. anhand der Ausstellung im Kulturraum am Klosterplatz in die benediktinische Reisekultur und ermöglichte einen Blick auf die Motivation, die Routen und die Ziele reisen- Auf dass ihr Name nicht beschmutzt werde … der Mönche. Dorothee Guggenheimer vom Stadtarchiv St. Gallen in- formierte am 17. Januar 2015 über «Konkursiten und ihre Familien in der Stadt St. Gallen in der Frühen Neuzeit» Hauptversammlung 2014 und entführte dabei in eine Zeit, als St. Gallen noch der- Nach einer speditiv abgewickelten HV konnte über eine art klein war, dass man sich kannte, circa 90 % der Trans- durch Gabriel Bischof an der Fachhochschule St. Gallen aktionen nicht mit Bargeld beglichen wurden und Kre- erarbeitete Bachelor Thesis mit dem Titel «Ahnenfor- dite ebenfalls schon zu Überschuldungen führten.

Die Stadtführung durch Konstanz schloss auch das ehemalige Dominikaner- kloster (heute Inselhotel) ein, in dessen halbrundem Anbau Jan Hus vorübergehend ein- gekerkert war. Foto: GHGO.

212 Die Notensteiner – von der Handelsgesellschaft zur Privatbank Am 21. Februar 2015 berichtete Rolf E. Kellenberg, Archi- var in Arbon und Autor des gleichnamigen Buches (Die Notensteiner – Von der Handelsgesellschaft zur Privat- bank), nicht nur über die erstmalige Erwähnung der Gesellschaft zum Notenstein im Jahre 1437. Der Zusam- menschluss von St. Galler Kaufleuten, die Geschichte, die Beteiligten, die betroffenen Häuser und der Übergang zur Notenstein Privatbank und dann zur Bank Wegelin wa- ren einige inhaltliche Schwerpunkte.

St. Gallen ist auch eine Fotostadt Unter dem Titel «Photographische Quellen» begeisterte Thomas Ryser vom Stadtarchiv am 21. März 2015 für die Werte, die in photographischen Quellen stecken. Gleich- zeitig sensibilisierte er betreffend die Gefahren von Fehl- interpretationen. Ein Ausblick hinsichtlich der Digita- lisierung entsprechender Sammlungen im Fundus des Stadtarchivs stiess auf offene Ohren der Zuhörerschaft. Im Ausstellungssaal des Stadtarchivs konnten nach dem Vortrag Beispiele in Augenschein genommen werden. IT-Nutzung durch Ahnenforscher Foto: GHGO. Am 12. April 2015 traf sich Heinz Riedener mit etlichen GHGO-Mitgliedern, um sich im Rahmen eines Work- shops der Thematik des EDV-Einsatzes bei der Familien- Konzil Konstanz geschichtsforschung anzunehmen. Von der Datensiche- Das 600-Jahr-Jubiläum führte die Mitglieder der GHGO rung über den Datenaustausch bis zur Nutzung von am 30. Mai 2015 nach Konstanz, um auf den Spuren der Ahnenforscher-Software fanden die Fragen der Work- Geschichte des Konzils von 1414 bis 1418 Wissenswertes shop-Teilnehmer Raum zur Beantwortung. über die damals 6000 Einwohner zählende Stadt zu erfah- ren.

Revolution im Toggenburg Aktuelle Berichterstattung zu den Anlässen im Jahres- Anlässlich des letzten Vortragsanlasses vom 18. April 2015 programm der GHGO sind im Blog auf der Website faszinierte Pascal Sidler unter dem Titel «Schwarzröcke, http://www.ghgo.ch/ fortlaufend aktualisiert verfügbar. Jakobiner, Patrioten – Revolution, Kontinuität und Wi- derstand im konfessionell gemischten Toggenburg (1795– Zu den Anlässen der Genealogisch-Heraldischen Gesell- 1803)». Der Referent hätte wohl noch Stoff für etliche schaft Ostschweiz (GHGO) sind auch Gäste anderer Stunden gehabt – und das Interesse war geweckt! Organisationen willkommen!

213 Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz Jahresbericht 2015

Marina Widmer, Leitung Archiv

Im Jahr 2015 hat das Archiv für Frauen-, Geschlechter- haus war auf unsere Anfrage bereit, die Ausstellung zu zei- und Sozialgeschichte den Anerkennungspreis der Stadt gen. Unsere Arbeitsgruppe erweiterte sich, Monika Jagfeld St. Gallen erhalten. kam dazu und wir gaben uns den Namen «IG Kunst und Kultur in Internierungslagern». Zur Ausstellung stellten wir ein umfangreiches Begleitprogramm zusammen. Geschichtsvermittlung In der zweiten Hälfte des Jahres stand mit zunehmender Im Rahmen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hat Intensität die Ausstellung und das Begleitprogramm «Ri- das Archiv im Jahr 2015 in Zusammenarbeit mit dem cordi e Stima, Fotografie und Oral-History zur italie- Schweizerischen Friedensrat eine Vortragsreihe unter dem nischen Emigration nach dem 2. Weltkrieg in die Schweiz» Titel «Gegen Giftgas und Krieg – Frauen zur Zeit des im Vordergrund, die am 4. März 2016 eröffnet wurde. Das 1. Weltkrieges für Frieden und soziale Gerechtigkeit» or- Archiv hat zusammen mit italienischen Organisationen ganisiert. Vorgestellt wurden folgende Frauen: Catharina den Verein «Ricordi e Stima» gegründet. Sturzenegger, Bertha von Suttner, Clara Ragaz-Nadig, Gertrud Woker und Käthe Kollwitz. Donationen, Erfassung von Archivalien, 2014 und 2015 arbeitete das Archiv für die Realisierung Nutzung des Archivs, Homepage des Neujahrsblattes zum Thema «Soziale Bewegungen im Kanton St. Gallen», das im Frühling 2016 erscheint. Viele Das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialge- Autorinnen und Autoren wurden angefragt und die The- schichte Ostschweiz hat im Jahr 2015 wiederum verschie- men besprochen. Im November organisierte das Archiv in dene Vereinsarchive und Vorlässe erhalten: Archiv Casa Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Johannes Huber die Ta- Latinoamericana; Archiv Hechtbesetzung; Archiv Roter gung «Soziale Bewegungen», an der Referierende zu fol- Gallus; Archiv Alpini St. Gallen; Archiv Comitato Scuola genden Themen sprachen: Pius Frey zu «Rote Steine und Famiglia; Archiv CVP-Frauen Untertoggenburg, Wil- Autonome Kreise in den 1970er-Jahren», Prof. Dr. Patrick Untertoggenburg 1993–2011; Comunità, Zeitschrift der Ziltener «Zur Genealogie der Grünen in St. Gallen 1983– Missione Cattolica Ostschweiz 1975–2014; Vorlass von 1989» und Michael Walther zu «Widerstand gegen den Marianne Degginger; Vorlass Sophia Keller Giròn; Vor- Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen 1990/1991». Im De- lass Patrick Ziltener Grüne/Gras 1983–1989; Nachliefe- zember begann das Archiv mit der «Reihe Soziale Bewe- rungen folgender Archive: Katholischer Frauenbund, gungen», während des ganzen Jahres 2016 findet im Ar- Mütter in Not, Sozial- und Umweltforum, Zentralameri- chiv monatlich jeweils an einem Montagabend ein Referat kagruppe St. Gallen, Frauenbibliothek Wyborada, SVKT, zu diesem Themenbereich statt. Hauswirtschaft beider Appenzell, CaBi Antirassismus- Treffpunkt, Nachlieferung folgender Vorlässe: Alexa Lind- Anfang Jahr setzte sich eine Arbeitsgruppe des Archivs mit ner, Dossiers zu einzelnen Frauen, Bücher, Fotografien Arne Engeli und Marina Schütz für das Kinok zusammen (Scans) und Zeitschriften zur Geschlechter- und Sozialge- mit dem Ziel, anlässlich des Holocaust-Gedenktages 2016 schichte sowie Plakate, Filme und Kuriosa. eine Ausstellung mit Aquarellen und Zeichnungen aus der Sammlung Kasser in St. Gallen zu zeigen. Elsbeth Kasser Jolanda Cécile Schärli, Esther Vorburger-Bossart und ging als Krankenschwester ins Internierungslager nach Barletta Haselbach arbeiteten in der Erschliessungsgrup- Gurs im Süden Frankreichs, um den Internierten zu hel- pe. Die bibliografische Datenbank zur Frauen- und Ge- fen. Aus Dankbarkeit schenkten ihr viele Künstler, die in schlechtergeschichte Ostschweiz mit heute 2135 Datensät- Gurs interniert waren, ihre Bilder. Das Museum im Lager- zen wie auch die Frauendatenbank mit 1443 Datensätzen

214 Junge Italienerinnen im Ausgang, darunter Gisella Mori (ganz links), Maria Azzato (Mitte) und Natalina Mori (zweite von rechts). Fotografie, St. Gallen 1954. Die Aufnahme war auch an der Ausstellung «Ricordi e Stima – Fotografie und Oralhistory zur italienischen Emigration nach dem 2. Weltkrieg in die Schweiz» zu sehen.

und den dazugehörigen Frauendossiers sind weitergeführt Führungen im Archiv, Vorträge zum Archiv worden, ebenso die im Jahr 2014 neu entstandene audio- visuelle Datenbank. Das Archiv wurde von Forschenden, 2016 interessierten sich Bundesverwaltungsrichterinnen, Studierenden, Maturandinnen, Journalistinnen und Jour- eine private Frauengruppe, eine kleine Delegation des nalisten sowie Ausstellungsmachenden für ihre Recher- Katholischen Frauenbundes und zwei Studentinnengrup- chen und Materialien benützt. Homepage: Unter dem Ti- pen für eine Führung durchs Archiv. tel Porträts können die im Archiv-Newsletter erschienenen Kurzporträts in einer längeren Textversion angeklickt werden. Praktikantin, Mitarbeitende

Erneut konnte das Archiv auf die Mitarbeit von verschie- Bibliothek denen Personen zählen.

Die Fachbibliothek zur Frauen-, Geschlechter- und So- zialgeschichte wurde erweitert, Alexa Lindner nahm mit Vorstand und ehrenamtliche Arbeit Hilfe von Margrit Bötschi und Cécile Federer zahlreiche Bücher und Broschüren auf. Heute hat die Bibliothek ei- Andrea Breu, Erika Eichholzer, Monika Geisser, Chris- nen Bestand von 2564 Titeln. tina Genova, Barletta Haselbach, Brigitta Langenauer, Alexa Lindner Margadant, Mireille Loher (bis März 2016), Sandra Meier, Jolanda Schärli, Esther Vorburger- Archiv-Newsletter Bossart und Marina Widmer.

In jedem Newsletter erscheint ein neues Frauenporträt. Im Insgesamt haben Vorstandsmitglieder, Mitarbeitende und 2015 sind Béatrice Steinmann-Galli (1907–1993) und Ma- die Leitung des Archivs 1197.5 Stunden ehrenamtlich ge- rianne Ehrmann-Brentano (1755–1795) vorgestellt worden. leistet.

215 Historischer Verein des Kantons St. Gallen Jahresbericht 2015

Dr. Daniel Studer, Präsident

Vorstand und Vereinsleben • 16. Oktober, Land in städtischer Hand. Sommersitze rei- cher Stadtsanktgaller im fürstäbtischen Territorium. Prof. Auch 2015 hielt der Vorstand wie üblich drei Sitzungen Dr. Stefan Sonderegger, Arnold Flammer dipl. Arch. ab. Ein Teamausschuss des Historischen und Völkerkun- ETH, Dr. Dorothee Guggenheimer, St. Gallen (Städ- demuseums St. Gallen traf sich zur Besprechung des neu- tische Gallusfeier im Pfalzkeller); en Kurses des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen • 21. Oktober, 1814/15: Eine letzte Chance für die Wiederher- (HVSG). Am 18. März fand im Raum für Literatur in der stellung des Klosters St. Gallen? lic. phil. Lorenz Hollen- St. Galler Hauptpost die Mitgliederversammlung mit stein, St. Gallen*; rund 70 Anwesenden statt. Im Zentrum standen der • 28. Oktober, Die Irokesen – «Römer der Wildnis» (ge- Rücktritt von Präsident Dr. Cornel Dora und die Wahl meinsam mit IXber Lateinischer Kulturmonat). Harry von Dr. Daniel Studer, Direktor des Historischen und Schüler M.A., Freiburg i. Br.* ; Völkerkundemuseums St. Gallen, zu seinem Nachfolger. • 4. November, Der römische Senat: Zur Frage nach Macht Am 13. November nahmen Personen des Vorstandes und und Ohnmacht von Parlamenten. Prof. Dr. Beat Näf und aus verschiedenen historisch tätigen Institutionen im MA Nikolas Hächler, Zürich*; Kanton St. Gallen zum Dank für die ehrenamtlich gelei- • 7. November, Wissenschaftliche Tagung des HVSG stete Arbeit am traditionellen Martini-Mahl im Restau- 2015: Soziale Bewegungen in der Ostschweiz nach 1945. rant Marktplatz in St. Gallen teil. Prof. Dr. Johannes Huber, lic. phil. Marina Widmer, St. Gallen; • 18. November, Zwischen Bund und Krieg. Die Eidgenos- Programm senschaft als Idee und politische Realität in der Umbruchs- zeit des 15. Jahrhunderts. PD Dr. Regula Schmid, Bern*; Mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Dr. Daniel • 25. November, Supranationale Herrschaft in Europa nach Studer nach der Hauptversammlung fanden die Anlässe 1945. Die Erfindung und Entwicklung der Europäischen des HVSG fortan nicht mehr im Raum für Literatur in Gemeinschaften. Prof. Dr. Bardo Fassbender, St. Gallen*; der Hauptpost statt, sondern im Vortragsaal des Histo- • 2. Dezember, Fastnacht der Hölle. Ein kulturwissenschaft- rischen und Völkerkundemuseums. 2015 wurde die ange- licher Blick auf die Industrialisierung des Ersten Welt- kündigte Kürzung der kantonalen Subvention von 30 000 krieges. Ingo Weidig M. A., Friedrichshafen*; Franken auf 15 000 Franken umgesetzt. Deshalb führte • 9. Dezember, Die Politik des schweizerischen Finanz- der HVSG seine Vorträge im Wintersemester teilweise platzes im 20. Jahrhundert. Prof. Dr. Jakob Tanner, Zü- wiederum im Rahmen der öffentlichen Vorlesungsreihe rich*. der Universität St. Gallen durch. * Die markierten Anlässe waren Teil der Vorlesungsreihe Das Jahresprogramm 2015 umfasste die folgenden Veran- der Universität St. Gallen, die zusammen mit dem Histo- staltungen: rischen Verein des Kantons St. Gallen zum Thema «Ge- • 18. März, Mitgliederversammlung mit Präsentation des sellschaft und Institutionen in historischer Perspektive» Neujahrsblatts 2015: Erfolg und Krise der Schweizer Sticke- durchgeführt wurde. rei-Industrie (1865–1929), Prof. Dr. Johannes Huber, St. Gallen; • 27. Mai, Erster Weltkrieg. Drei Ausstellungen. Führungen Wissenschaftliche Tagung mit den Kuratorinnen lic. phil. Monika Mähr und Dr. Isabella Studer-Geisser im HVMSG, St. Gallen; Die Wissenschaftliche Tagung zum Thema «Soziale Bewe- • 26. August, Römer, Alamannen, Christen – Frühmittelal- gungen in der Ostschweiz» wurde gemeinsam vom Histo- ter am Bodensee. Führung in der Archäologie-Wander- rischen Verein des Kantons St. Gallen und vom Archiv für ausstellung mit Kuratorin Dr. Sarah Leib, St. Gallen; Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz

216 organisiert. Sie fand am 7. November unter der Leitung den Kühnen 1476. Ein weiterer Reise-Höhepunkt war der von Prof. Dr. Johannes Huber im Historischen und Völ- Besuch des Château de Pierrefonds bei Compiègne. Einst kerkundemuseum St. Gallen statt. Eine Einführung von einer der mächtigsten Feudalsitze des Mittelalters, wurde lic. phil. Marina Widmer sowie drei Referate von Pius es unter Richelieu 1617 zerstört und im 19. Jahrhundert Frey, Patrick Ziltener und Michael Walther gaben Ein- für Kaiser III. (reg. 1852–1870) rekonstruiert. blick ins Neujahrsblatt 2016 mit dem Titel «Soziale Bewe- gungen in der Ostschweiz». Nicht nur weltweit und in grossen Städten, sondern auch lokal und in den Regionen Publikationen sind soziale Bewegungen entstanden. Die Tagung sollte die Erinnerung an die Neuen Sozialen Bewegungen wach- Im Anschluss an die Hauptversammlung vom 18. März rufen, die nach 1968 im Kanton St. Gallen aktiv waren. 2015 stellte Redaktor Prof. Dr. Johannes Huber das 155. Neujahrsblatt 2015 mit dem Titel «Erfolg und Krise der Schweizer Stickereiindustrie in globaler Perspektive Reisen und Exkursionen (1865–1929)» vor. In der Mitte des 19. Jahrhunderts noch relativ unbedeutend, entwickelte sich nach dem Amerika- Reise 12.–18. April 2015: Champagne und Picardie – Verdun, nischen Bürgerkrieg die Ostschweiz zum weltweit wich- Reims und Amiens tigsten Produktionsgebiet und St. Gallen zum bedeu- Vom 12. bis 18. April 2015 reisten 20 Mitglieder des Histo- tendsten Handelsplatz für Stickereien. Die beiden rischen Vereins unter der bewährten Leitung von Markus Wirtschaftshistoriker Caspar Meili und Eric Häusler le- Kaiser nach Nordfrankreich. Anlass zur Reise gab das Ge- gen im Neujahrsblatt 2015 dar, warum die Schweizer Sti- denken an den Ersten Weltkrieg, als die Regionen Cham- ckereiindustrie zunächst so erfolgreich war und warum sie pagne und Picardie Schauplätze blutigster Kämpfe waren. danach fast vollständig zusammenbrach. Besucht wurden auf den Anhöhen über Verdun die Forts de Vaux und Douaumont sowie das beeindruckende Os- suaire (Beinhaus) für 130 000 unbekannte Gefallene, im Forschung: Die Siedlungsnamen und weiteren Verlauf das Museum «Historial de la Grande Flurnamen des Kantons St. Gallen Guerre» in Péronne sowie die Gedächtnisstätte des Waf- fenstillstands 1918 im Wald von Compiègne. Träger des Projekts «Die Siedlungsnamen des Kantons St. Gallen» (2009–2015) war der Historische Verein des Die Champagne und die Picardie bieten aber auch einen Kantons St. Gallen, unterstützt von den regionalen Ge- einzigartigen Reichtum an Kulturdenkmälern, besonders schichtsvereinen und weiteren Organisationen. Finan- aus dem Mittelalter. Alle Entwicklungsphasen der Gotik ziert wurde die Forschungsarbeit vor allem durch den sind hier erlebbar, von ihrer frühen Zeit mit den Kathe- Kanton St. Gallen und den Schweizerischen National- dralen von Noyon, Laon und Soissons, den Höhepunk- fonds. Im September 2015 wurde der Abschluss des Pro- ten in Reims, Amiens und Metz bis zur Spätgotik in Toul jektes nach 6-jähriger Arbeit bekannt gegeben. Somit sind und in der Kirche von Saint-Nicolas-de-Port bei Nancy, die 11 000 Siedlungsnamen im Kanton St. Gallen nun errichtet zum Dank für den Lothringer Sieg gegen Karl vollständig dokumentiert und für alle auf der Datenbank der Schweizer Namenbücher (www.ortsnamen.ch) öf- fentlich zugänglich.

An die bisherige Forschungsarbeit über die Siedlungsna- men schliesst fast lückenlos das Projekt «Die Flurnamen des Kantons St. Gallen» an, das auf sechs Jahre angelegt ist (2015–2020). Ziel der Erforschung ist es, bis 2020 alle rund 55 000 Flurnamen im Kanton St. Gallen historisch zu dokumentieren und ebenfalls auf der Online-Daten- bank www.ortsnamen.ch zu erfassen, damit sie für alle einseh- und recherchierbar sind.

Finanzielles

Markus Kaiser mit der Reisegruppe des HVSG vor Aus der Jahresrechnung 2015 wird ersichtlich, dass der der Kathedrale Notre-Dame de Noyon in Oise, Picardie. Historische Verein für 2015 einen kleinen Verlust aus- Foto: Ernst Grob, Lichtensteig. weisen muss. Der grösste Ausgabenposten liegt bei der Er-

217 stellung des Neujahrsblattes. Der Betrag der einbezahlten Vorstand Mitgliederbeiträge ist von enormer Bedeutung, denn da- mit können wir einen grossen Teil unserer Aufgaben (ge- Präsident: Dr. Cornel Dora, Winterthur mäss Statuten) erfüllen. Ein grosser Dank geht an unsere (bis März 2015) Mitglieder und Gönner. Dr. Daniel Studer, St. Gallen (ab März 2015) Das Amt für Kultur des Kantons St. Gallen überwies uns Vizepräsident: Ernst Grob, Brunnadern den gekürzten Jahresbeitrag von 15 000 Franken. Zusätz- Kassier: René Stäheli, Lichtensteig liche Einsparungen werden laufend geprüft und wir- Aktuarin: lic. phil. Monika Mähr, St. Gallen kungsvoll umgesetzt. Ein gutes Beispiel ist unsere Vor- Programm: Prof. Dr. Max Lemmenmeier, St. Gallen tragsreihe. Die Vorträge führen wir erfolgreich zusammen Redaktor mit der Universität St. Gallen durch, neu in den Räumen Neujahrsblatt: Prof. Dr. Johannes Huber, St. Gallen des HVM. Diese Massnahme hat bereits eine positive Reisen: Markus Kaiser, St. Gallen Auswirkung auf unsere Jahresrechnung. Beisitzer: lic. phil. Stefan Gemperli, St. Gallen Prof. Dr. Lukas Gschwend, Jona lic. phil. Christine Häfliger, Wil Mitgliederwesen lic. phil. Susanne Keller, Buchs lic. phil. Werner Kuster, Altstätten Der Historische Verein zählte Ende 2015 512 Mitglieder lic. phil. Peter Müller, St. Gallen (Vorjahr 519). 2015 waren 11 Austritte, 14 Verstorbene und 18 Neumitglieder zu verzeichnen, was einer Abnahme von Konferenz der historisch tätigen Kollektivmitglieder 7 Mitgliedern entspricht. – Kulturhistorischer Verein Region Rorschach Ich bitte alle Mitglieder, neue Mitglieder für den Histo- – Museumsgesellschaft Altstätten rischen Verein zu werben. Zur Mitgliedschaft anmelden – Verein für Geschichte des Rheintals kann man sich an der Kasse des Historischen und Völker- – Historisch-heimatkundliche kundemuseums St. Gallen sowie per E-Mail oder mit dem Vereinigung Werdenberg Anmeldeformular zur Mitgliedschaft auf der Homepage – H istorischer Verein Sarganserland www.hvsg.ch unter Verein/Mitgliedschaft. – Geschichtsfreunde vom Linthgebiet – Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde Dank – K unst- und Museumsfreunde Wil – Förderverein Schloss Oberberg Ganz herzlich danke ich allen, die den Historischen Ver- – G enealogisch-heraldische Gesellschaft ein im vergangenen Jahr in irgendeiner Form unterstützt Ostschweiz haben. Ein spezieller Dank gilt auch allen Mitgliedern für – Ar chiv für Frauen- und Geschlechter- ihre Treue und dem Kanton St. Gallen für seinen finanzi- geschichte Ostschweiz ellen Beitrag. – MUSA, Museen SG Dr. Daniel Studer, Präsident St. Gallen, 31. Dezember 2015 Administration Reisen und Exkursionen Gertrud Luterbach, St. Gallen

Ehrenmitglieder Revisoren Fridolin Eisenring, Lichtensteig Michael Tschudi, Pfäffikon SZ Prof. Dr. Otto Clavadetscher, Trogen† ernannt 1984 Helen Thurnheer, St. Gallen ernannt 1993 Vereinsadresse Historischer Verein des Walter Zellweger, St. Gallen ernannt 1993 Kantons St. Gallen Prof. Dr. Peter Wegelin, Teufen† ernannt 1999 c/o Historisches und PD Dr. Ernst Ziegler, St. Gallen ernannt 1999 Völkerkundemuseum Dr. Irmgard Grüninger, St. Gallen ernannt 2002 Museumstrasse 50 Dr. h.c. Ernst Rüesch, St. Gallen† ernannt 2006 CH-9000 St. Gallen Dr. Marcel Mayer, St. Gallen ernannt 2012 www.hvsg.ch [email protected]

218 Verzeichnis bisheriger Neujahrsblätter

Vom Historischen Verein des Kantons St.Gallen sind folgende, 1882 Karl Eduard Mayer: Antistes Scherrer und seine Vor­ meistens mit Abbildungen, Tafeln, Plänen oder Illustrationen fahren, ein St.Gallisches Predigergeschlecht aus vergange­ versehene Neujahrsblätter herausgegeben worden und durch alle nen Tagen. Buchhandlungen zu beziehen, sofern sie nicht vergriffen sind. 1883 Hermann Wartmann: Das Kloster Pfäfers. 1884 Ernst Götzinger: Die Stadt-St.Gallische Herrschaft 1861 Hermann Wartmann: Aus der Urzeit des Schweizer­ Bürglen im Thurgau. landes. 1885 August Hardegger: Die Frauen zu St.Katharina in 1862 Hermann Wartmann: Die Schweiz unter den Römern. St.Gallen. 1863 Hermann Wartmann: Das Kloster St.Gallen I. 1886 Emil Arbenz: Aus dem Briefwechsel Vadians. 1864 Hermann Wartmann: Das Kloster St.Gallen II. 1887 Ernst Götzinger: Die Familie Zollikofer. 1865 Hermann Wartmann: Die Grafen von Toggenburg. 1888 Hermann Wartmann: Die Grafen von Werdenberg (Hei­ 1866 Ernst Götzinger: Zwei St.Gallische Minnesänger, ligenberg und Sargans). I. Ulrich von Singenberg, der Truchsess, II. Konrad von 1889 Ernst Götzinger: Der arme Mann im Toggenburg. Landegg, der Schenk. 1890 Ernst Götzinger: Statthalter Bernold von Walenstadt, 1867 Hermann Wartmann: Das alte St.Gallen. der Barde von Riva. 1868 Ernst Götzinger: Der Feldnonnen bei St.Leonhard, 1891 August Hardegger: Mariaberg bei Rorschach. Zur Reformationsgeschichte der Stadt St.Gallen. 1892 Johannes Dierauer: Rapperswil und sein Übergang an 1869 Johannes Schelling: St.Gallen vor hundert Jahren, Mit­ die Eidgenossenschaft. teilungen über Stadt St.Gallische Verhältnisse und denk­ 1893 August Hardegger: Die Cistercienserinnen zu Mag­ würdige Männer des vorigen Jahrhunderts. genau. 1870 Johannes Dierauer: Die Entstehung des Kantons 1894 Placid Bütler: Abt Berchtold von Falkenstein (1244– St.Gallen. 1272) 1871 Johann Jakob Arbenz: Jakob Laurenz Custer, helveti­ 1895 Emil Arbenz: Joachim Vadian beim Übergang vom Hu­ scher Finanzminister, Kantons- und Erziehungsrat und manismus zum Kirchenstreite. Wohltäter des Rheintals. 1896 August Hardegger: St.Johann im Thurtal. 1872 Johann Joseph Fäh: Erlebnisse eines St.Gallischen Frei­ 1897 Johannes Dierauer: Ernst Götzinger, Ein Lebens- willigen der Loire-Armee im Winter 1870. bild. 1873 Ernst Götzinger: Joachim von Watt als Geschichts­ 1898 Karl Nef: Ferdinand Fürchtegott Huber, ein Lebens­ schreiber, Von anfang, gelegenheit, regiment und hand­ bild. lung der weiterkannten frommen statt zu Sant Gallen. 1899 Johannes Dierauer: Die Stadt St.Gallen im Jahr 1798. 1874 Gerold Meyer von Knonau: P. lIdefons von Arx, der 1900 Johannes Dierauer: Die Stadt St.Gallen im Jahr 1799· Geschichtsschreiber des Kantons St.Gallen, Ein Lebens­ 1901 Alfred Tobler: Erlebnisse eines Appenzellers in neapo­ bild aus der Zeit der Umwälzung. litanischen Diensten (1854–1859). 1875 Johannes Dierauer: Das Toggenburg unter äbtischer 1902 Johannes Dierauer: Der Kanton St.Gallen in der Rege­ Herrschaft. nerationszeit (1831–1840). 1876 Johannes Dierauer: St.Gallens Antheil an den Burgun­ 1903 Alois Scheiwiler: Abt Ulrich Rösch, der zweite Gründer­ derkriegen. des Klosters St.Gallen (1463–1491). 1877 Johannes Dierauer: Der Kanton St.Gallen in der Medi­ 1904 Hermann Wartmann: Eine kaufmännische Gesandt­ ationszeit. schaft nach Paris. (1552–1553), nach einem Tagebuch. 1878 Johannes Dierauer: Der Kanton St.Gallen in der Res­ 1905 Emil Arbenz: Joachim Vadian im Kirchenstreite (1523– taurationszeit. 1531). 1879 Heinrich Bendel: Aus alten und neuen Zeiten, Cultur­ 1906 Traugott Schiess: Drei St.Galler Reisläufer aus der ers­ geschichtliche Skizzen. ten Hälfte des XVI. Jahrhunderts. 1880 Karl Eduard Mayer: Peter Scheitlin, der «Professor» zu 1907 Gottlieb Felder: Die Burgen der Kantone St.Gallen St.Gallen, ein Lebensbild aus der ersten Hälfte dieses Jahr­ und Appenzell, Erster Teil. hunderts. 1908 August Hardegger: Mariazell zu Wurmbach. 1881 Johannes Dierauer: Die St.Gallischen Obervögte auf 1909 Salomon Schlatter: Unsere Heimstätte, wie sie waren Rosenberg bei Bernegg. und wurden, eine baugeschichtliche Skizze.

219 1910 Emil Arbenz: Joachim Vadians Wirksamkeit von der Verhältnisse in den st.gallischen Stiftslanden und im Tog­ Schlacht bei Kappel bis zu seinem Tode (1531–1551), nach genburg beim Ausgange des Mittelalters. den Briefen dargestellt. 1935 Paul Boesch: Die Toggenburger Scheiben, ein Beitrag 1911 Gottlieb Felder: Die Burgen der Kantone St.Gallen zur Kulturgeschichte des Toggenburgs im 16. bis 18. Jahr­ und Appenzell, Zweiter Teil. hundert. 1912 Gustav Jenny: Arnold Halder (1812–1888), Ein Erinne­ 1936 Oskar Fässler: Hermann Wartmann (1835–1929), Erster rungsblatt zur hundertsten Wiederkehr seines Geburts­ Teil: Jugend- und Studienjahre (1835–1859). jahres. 1937 Hermann Escher: Hermann Wartmann (1835–1929), 1913 Johannes Dierauer: Die Toggenburgische Moralische Zweiter Teil: Die Mannesjahre. Gesellschaft, ein Kulturbild aus der zweiten Hälfte des 1938 Joseph Müller: Die Stellung des Kapitels Uznach zu den XVIII. Jahrhunderts. kirchenpolitischen Fragen der Jahre 1830–1833, Mit einer 1914 Gustav Jenny: Maler Emil Rittmeyer (1820–1904). einleitenden Skizze: Die Bemühungen der St.Galler Katho­ 1915 Oskar Frei: Johann Jakob Rütlinger von Wildhaus (1790­– liken um die kirchliche Neuordnung in den Jahren 1798– 1856), sein Leben, seine Dichtungen und Schriften. 1830. 1916 Placid Bütler: Die Freiherrn von Enne auf Grimmen­ 1939 Paul Martin: St.Galler Fahnenbuch, Ein Beitrag zur stein. Schweizer Fahnengeschichte. 1917 Gustav Jenny: Hektor Zollikofer (1799–1853), Ein verges­ 1940 Hans Richard von Fels: Landammann Hermann v. Fels sener St.Galler Dichter. und seine Zeit, Lebensbild eines st.gallischen Staatsman­ 1918 Johannes Dierauer: Bernhard Simon, Architekt (1816– nes. 1900), ein Lebensbild. 1941 Johannes Seitz: Geschichte des hochfürstlichen freiwelt­ 1919 Robert Schedler: Die Freiherrn von Sax zu Hohensax. lichen adeligen Reichsstifs Schänis (Gaster). 1920 Jean Geel: Statthalter Baptist Gallati von Sargans (1771– 1942 Gottlieb Felder: Die Burgen der Kantone St.Gallen ­1844). und Appenzell, Dritter Teil: Bericht über die Bemühungen 1921 Johann Fässler: Johannes Dierauer, ein Lebensbild. um deren Erhaltung und weiterer Erforschung. 1922 Placid Bütler: Altstätten. 1943 Paul Diebolder: Wilhelm von Montfort – Feldkirch, 1923 Traugott Schiess: Pfarrer Johann Jakob Bernet. Abt von St.Gallen (1281–1301), Eine Charaktergestalt des 1924 Traugott Schiess: Georg Leonhard Hartmann (1764–­ ausklingenden 13. Jahrhunderts. 1828). 1944 Heinrich Edelmann: Lichtensteig, Geschichte des tog­ 1925 Johannes Egli: Die Glasgemälde des Historischen genburgischen Städtchens. Museums­ in St.Gallen, Erster Teil: Die von der Stadt 1945 Dora Fanny Rittmeyer: Der Kirchenschatz des einsti­ St.Gallen und ihren Bürgergeschlechtern gestifteten gen Klosters Pfäfers und die Kirchenschätze im Sarganser­ Scheiben. land. 1926 Oskar Fässler: Die st.gallische Presse, Zeitungen, Zeit­ 1946 Eric Arthur Steiger: Salomon Schlatter (1858–1922). schriften und einige andere Periodica, Erster Teil: Bis zur 1947 Die Gemeindewappen des Kantons St.Gallen, bearbeitet Mitte des 19. Jahrhunderts. von der Gemeindewappenkommission des Kantons 1927 Johannes Egli: Die Glasgemälde des Historischen Mu­ St.Gallen, gez. von Willy Baus. seums in St.Gallen, Zweiter Teil: Die vom Kloster St.Gal­ 1948 Jakob Boesch: Carl Heinrich Geschwend (1736–1809), len, von Bewohnern der st.gallischen Landschaft und des ein Lebensbild. Landes Appenzell gestifteten Scheiben, Glasgemälde ver­ 1949 Paul Boesch: Die Wiler Glasmaler und ihr Werk. schiedener Herkunft. 1950 Albert Bodmer und Adolph Näf: Die Glattburg an der 1928 Oskar Fässler: Die st.gallische Presse, Zeitungen, Zeit­ Thur. schriften und einige andere Periodica, Zweiter Teil: Von 1951 Georg Caspar Scherer: Die Stadtbibliothek St.Gallen der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die achtziger Jahre. (Vadiana), Erster Teil: Geschichte der öffentlichen Biblio­ 1929 Adolf Fäh: Die Stiftsbibliothek St.Gallen, Der Bau und thek der Stadt St.Gallen (1551–1801), hrsg. von Hans Fehr­ seine Schätze. lin. 1930 Dora Fanny Rittmeyer: Zur Geschichte des Gold­ 1952 Hans Reihnhard: Der St.Galler Klosterplan, mit Beiträ­ schmiedehandwerks in der Stadt St.Gallen. gen von Dietrich Schwarz, Johannes Duft und Hans 1931 Dora Fanny Rittmeyer: Die Goldschmiedewerke der Bessler. Kathedrale in St.Gallen. 1953 Ferdinand Elsener: Der Hof Benken, ein Beitrag zur 1932 Wilhelm Ehrenzeller: Gallus Jakob Baumgartner und Verfassungsgeschichte der st.gallischen Dorfgemeinde. die st.gallische Verfassungsrevision von 1830/1831. 1954 Peter Bührer: Die auswärtige Politik der alten Stadt­ 1933 Wilhelm Ehrenzeller: Gallus Jakob Baumgarnter und republik St.Gallen (1291–1798). der Kanton St.Gallen in den ersten Jahren der Regenera­ 1955 Paul Staerkle: Fidel von Thurn im Lichte seines Fami­ tionszeit (1831–1833). lienarchives (1629–1719). 1934 Thomas Holenstein: Recht, Gericht und wirtschaftliche 1956 Paul Boesch: Die alte Glasmalerei in St.Gallen.

220 1957 Boris Iwan Polasek: Johann Georg Müller, ein Schwei­ Toggenburg als Geschichtsquelle, mit Beiträgen von Kas­ zer Architekt, Dichter und Maler (1822–1849). par Geiger, Marianne Hofer, Ulrich im Hof, Karl 1958 Franz Perret: Aus der Frühzeit der Abtei Pfäfers, ein Pestalozzi und Claudia Wiesmann, hrsg. von Peter Kulturbild aus dem Ende des ersten Jahrtausends. Wegelin. 1959 Ernst Gerhard Rüsch: Das Charakterbild des Gallus 1979 Silvio Bucher: Die Pest in der Ostschweiz. im Wandel der Zeit. 1980 St.Gallische Ortsnamenforschung 2: Die Erfor­ 1960 Ernst Ehrenzeller: Der Historische Verein des Kan­tons schung der Orts- und Flurnamen in den Bezirken Werden­ St.Gallen 1859–1959. Mit einem Publikationsverzeichnis­ berg, Sargans und Obertoggenburg, mit Beiträgen von von Hans Fehrlin. Hans Stricker, Valentin Vincenz, Gerold Hilty 1961 Walter Müller: Freie und leibeigene St.Galler Gottes­ und Bernhard Hertenstein, hrsg. von Bernhard Her­ hausleute vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahr­ tenstein. hunderts. 1981 Ernst Ehrenzeller: Stadt-st.gallisches Kulturerleben im Ernst Kind: Der Geschichtsfreund vor hundert Jahren ehemaligen Katharinenkloster 1598–1978. und heute, Festvortrag zur Jahrhundertfeier des Histori­ 1982 Ernst Gerhard Rüsch: Christian Fribolt, Gesandter schen Vereins am 31. Oktober 1960 in St.Gallen (gekürzte und Hauptmann im Dienste der Stadt St.Gallen zur Zeit Fassung). der Reformation. 1962 Albert Bodmer: Die Gesellschaft zum Notenstein und 1983 Peter Osterwalder: Sankt Gallen in der Dichtung, Gal­ das Kaufmännische Directorium, ein Beitrag zur Sozial­ lusdichtungen und Gallusverse vom Mittelalter bis zur und Wirtschaftsgeschichte der alten Stadtrepublik St.Gal­ Neuzeit. len. 1984 Jeannette und Otto Clavadetscher: Die ältesten 1963 Dora Fanny Rittmeyer: Die Goldschmiede und die Kir­ St.Galler Siegel als Geschichtsquellen. chenschätze in der Stadt Wil. Lorenz Hollenstein und Walter P. Liesching: Die 1964 Ernst Ehrenzeller: Die evangelische Synode des Kan­ Siegel der Benediktinerabtei Pfäfers. tons St.Gallen von 1803 bis 1922. 1985 Werner Vogler: Ländliche Wirtschaft und Volkskultur, 1965 Johannes Duft: Sankt Otmar in Kult und Kunst, Erster Georg Leonhard Hartmanns Beschreibung der st.galli­ Teil: Der Kult. schen Alten Landschaft (1817/1823). 1966 Johannes Duft: Sankt Otmar in Kult und Kunst, Zwei­ 1986 Louis Specker: Der stadtsanktgallische Handwerksgesel­ ter Teil: Die Kunst. lenverein 1841 bis 1865, ein Kapitel aus der Zeit der gros­- 1967 Wiebke Schaich-Klose: D. Hieronymus Schürpf, der sen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche. Wittenberger Reformationsjurist aus St.Gallen (1481–­ 1987 Alois Stadler: Die Beschreibung des Kantons St.Gallen 1554). in den Neujahrsblättern des Wissenschaftlichen Vereins 1968 St.Gallische Ortsnamenforschung, mit Beiträgen von 1828–1836. Stefan Sonderegger, Gerold Hilty, Eugen Nyffen­ 1988 Marianne Degginger: Zur Geschichte der Hebammen egger und Alexander Tanner. im alten St.Gallen. 1969 Eberhard Url: Das mittelalterliche Geschichtswerk «Ca­ 1989 Georg Thürer: Eidgenössische Erinnerungen. sus sancti Galli», eine Bestandesaufnahme. 1990 Rudolf Hanhart, Marcel Mayer, Roland Wäspe und 1970 André Meyer: August Hardegger, Architekt und Kunst­ Ernst Ziegler: Die Malerei in der Stadt St.Gallen von schriftsteller (1858–1927). 1650 bis 1750. 1971 Die Landammänner des Kantons St.Gallen, Erster Teil: 1991 Ernst Ehrenzeller, Paulfritz Kellenberger, Wer- 1815–1891. ner Vogler und Peter Wegelin: St.Gallen und die Eid­ 1972 Johannes Duft: Notker der Arzt, Klostermedizin und genossenschaft. Mönchsarzt im frühmittelalterlichen St.Gallen. 1992 Otto P. Clavadetscher: Kontinuität und Wandel im 1973 Die Landammänner des Kantons St.Gallen, Zweiter Teil: Recht und in den Lebensverhältnissen (nach St.Galler 1891–1972. Quellen des 14. Jahrhunderts). 1974 Ernst Ziegler: Andreas Renatus Högger (1808–1854), 1993 Louis Specker: Die grosse Heimsuchung, Das Hunger­ eine biographische Skizze, mit einem Anhang von Ru­ jahr 1816/17 in der Ostschweiz, erster Teil. dolf Hanhart. 1994 Peter Wegelin: Stadtrepublik und Weltgeschichte, Wer­ner 1975 Hans-Martin Habicht: Rickentunnel-Streik und Ror­ Näf (1894–1959) und sein Werk. schacher Krawall, St.Gallische Fremdarbeiterprobleme 1995 Louis Specker: Die grosse Heimsuchung, Das Hunger­ vor dem Ersten Weltkrieg. jahr 1816/1817 in der Ostschweiz, Zweiter Teil. 1976 Gerda Barth: Annus Christi 1957, Die Rorschacher Mo­ 1996 Marcel Mayer: Das erste Jahrzehnt von «Gross-St.Gal­ natsschrift – die erste deutschsprachige Zeitung. len», Stadtgeschichte 1918–1929. 1977 Johannes Duft: Die Gallus-Kapelle zu St.Gallen und ihr 1997 Alois Senti: Die Geschichte einer Erzähllandschaft, von Bildzyklus. den Erzählerinnen und Erzählern, Sammlern und Schrei­ 1978 Ulrich Bräker: Die Tagebücher des Armen Mannes im bern der Sagen aus dem Sarganserland.

221 1998 Bernhard Wartmann: Zur Geschichte der Helveti­schen 2013 Peter Erhart, Lukas Gschwend, Werner Kuster, Revolution in Stadt und Landschaft St.Gallen, unter Mit­ Sibylle Malamund, Hans Jakob Reich, Martin Salz­ wirkung von Ursula Hasler und Maria Hufenus, be­ mann, Stefan Sonderegger, Pascale Sutter, Ernst arbeitet von Marcel Mayer und Ernst Ziegler. Ziegler: Die Rechtsquellen des Kantons St.Gallen. 1999 Stephan Ziegler: «Alles getreülich und ohne gefährde», 2014 Lukas Aebersold, Hans Fässler, Etienne Gentil, Die­ Die Eidbücher der Stadt St.Gallen von 1511, 1657, 1740 ter Holenstein, Johannes Huber, Max Lemmenmeier, und 1757. Marcel Müller, Peter Müller, Christine Odermatt, 2000 Alois Niederstätter: Stift und Stadt St.Gallen zwischen Isabella Studer-Geisser, Janine Thum Nietlispach, Österreich, der Eidgenossenschaft und dem Reich. Heidi Witzig: 1914–1918/1919 Die Ostschweiz und der 2001 Karl Heinz Burmeister: Geschichte der Juden im Kan­ Grosse Krieg. ton St.Gallen bis zum Jahre 1918. 2015 Eric Häusler, Caspar Meili: Swiss Embroidery, Erfolg 2002 Nelly Schlegel-Ganz, Louis Specker, Josef Weiss, und Krise der Schweizer Stickerei-Industrie 1865–1929. Renate Bieg, Roland Thommen: Beiträge zur ost­ schweizerischen Schulgeschichte. 2003 Ernst Ziegler: Zur Geschichte von Stift und Stadt St.Gallen – ein historisches Potpourri. 2004 Michael Walther: Mediengeschichte des Kantons St.Gallen – Eine quantitative Erhebung. 2005 Doris Brodbeck, Myrjam Cabernard, Sandra Meier, Sabine Schreiber, Esther Vorburger-Bossart, Ma- rina Widmer, Heidi Witzig: Neue Frauenbewegung.­ 2006 Anton Heer: Rorschach – St.Gallen – Winterthur. Zwi­ schen 170-jähriger Eisenbahngeschichte und Zukunft. 2007 Martin Peter Schindler, Regula Ackermann, Irene Ebneter, Erwin Rigert, Regula Steinhauser-Zim­ mermann: Bagger, Scherben und Skelette, Neu­es zur Archäologie im Kanton St.Gallen 2008 Stefan Sonderegger: Weit weg und doch nah dran Louis Specker: Biedermeier Hierzulande. 2009 150 Jahre Historischer Verein des Kantons St.Gallen, Rückblick – Analyse – Perspektiven. 2010 Moritz Flury-Rova, Pierre D. Hatz, Irene Hoch- reutener, Regula M. Keller, Oliver Orest Tschirky: Denkmalpflege im Kantons St.Gallen, Erfahrungen, Er­ folge, Herausforderungen. 2011 Karl Schmuki, Peter Erhart, Walter Felix Jungi, Bruno Hammer, Gitta Hassler, Marcel Mayer, Cle­ mens Müller, Urs Leo Gantenbein, Rudolf Gamper, Dorothee Guggenheimer, Rezia Krauer, Stefan Sonderegger, Andreas Alther, Gabriel Huber, Jolanda Cécile Schärli, Manuel Kaiser, Esther Vor­ burger-Bossart, Anna Schneider, Regula Zürcher, Martin Jäger, Markus Poltera, Werner Deuel, Esther Pardo: Zeit für Medizin! Einblicke in die St.Gal­ ler Medizingeschichte. 2012 Jasma Marion Dare, Irene Ebneter, Erwin Rigert, Martin Peter Schindler, Regula Steinhauser-Zim­ mermann, Viera Trancik Petitpierre, Oliver Orest Tschirky, Serge und Marquita Volken: Von Gallus bis zu Glasfaser. Archäologie in Stiftsbezirk und Altstadt St.Gallen.

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