Gesamtheft 84

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Gesamtheft 84 In diesem Heft Editorial Essay HERMANN KLENNER Über Marxens Religions- und Rechtskritik 5 Gesellschaft – Analysen & Alternativen PROGRAMMATISCHE PRINZIPIEN DER LINKEN PLATTFORM IN DER UNGARISCHEN SOZIALISTISCHEN PARTEI 11 TAMÁS KRAUSZ Aufstieg und Niedergang der Selbstverwaltung in Ungarn 26 ULRICH BUSCH Wirtschaftskriminalität im Transformationsprozeß 39 Die Linke im 20. Jahrhundert KARL-HEINZ GRÄFE Kominform – die Konferenzen 1947 und 1948 51 GERD KAISER Kurzen Prozeß machen! Hermann Field in den Fängen der polnischen Geheimpolizei 61 ALEXANDER TINSCHMIDT Die Außenpolitik der Regierung Imre Nagy. Ziele – Chancen – Grenzen 69 Standorte EVA STURM, EBERHARD SCHMIDT Ein Kommentar zur Programmatik der PDS oder das Problem der Diskursunfähigkeit 81 Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau 89 Bücher & Zeitschriften Stalins Briefe an Molotow 1925-1936. Hrsg. von Lars T. Lih, Oleg Naumow und Oleg Chlewnjuk. Mit einem Vorwort von Robert C. Tucker, Berlin 1996 (ULRICH MÄHLERT)92 Hanna Behrend/Isolde Neubert-Köpsel/Stefan Lieske: Rückblick aus dem Jahr 2000 – Was haben Gesellschaftsutopien uns gebracht? Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft. Schriftenreihe hrsg. von Hanna Behrend, Bd. 4, trafo verlag dr. wolfgang weist Berlin 1997 (URSULA HERRMANN)94 An unsere Autorinnen und Autoren Impressum 96 Editorial Als sich die Redaktion entschloß, die Prinzipiendeklaration der Linken Plattform in der Ungarischen Sozialistischen Partei zu ver- öffentlichen, konnte niemand wissen, wie gut dieses programmati- sche Papier schließlich in die gegenwärtige politisch-emotionale Landschaft passen würde. Denn inzwischen ist in deutschen Lan- den nach fast zweijähriger Ruhe wieder das Vorwahlkampffieber ausgebrochen. Die Parteien machen mobil. Und wie es sich für ein »Volk von Dichtern und Denkern« gehört, geschieht dies zunächst vor allem durch Denken und Dichten – ein in Vorschlag gebrach- tes Reformprojekt jagt das nächste Sofortprogramm, um tagtäglich von neuen Positionspapieren wieder in Frage gestellt zu werden. Dieses Gewerkele ist natürlich alles andere als überraschend und schon gar nicht neu, neu ist vielmehr, daß ausgerechnet die PDS versucht, inmitten dieses programmatischen Wirbels mit »Positionen zur Wirtschaftspolitik« Aufmerksamkeit zu erlangen und Eindruck zu hinterlassen. Endlich möchte man aufatmen, endlich werden wichtige, schon seit längerem bekannte programmatische Aussagen zu einer zukunftsfähigen Ökonomie und zu einer für ihre Umsetzung geeig- neten Wirtschaftspolitik aufeinander bezogen und in einen schlüs- sigen Gesamtzusammenhang gestellt. Neben schillernden – weil ausbaufähigen – Visionen von einer »zukunftsfähigen Ökonomie«, von einer »Vollbeschäftigung neuer Art« oder sehr interessanten Überlegungen zu einer verstärkten Regionalisierung von Wirt- schaftsabläufen stehen freilich auch recht hausbacken wirkende Vorschläge für eine erneuerte Entwicklungspolitik, die trotz der sicherlich berechtigten Forderung nach selbstbestimmten Entwick- lungsfreiräumen für die Länder des Südens (die des Ostens werden – warum auch immer – konsequent aus diesem Zusammenhang ausgeblendet) nicht die ausgetretenen Pfade des altbekannten entwicklungspolitischen Paternalismus verlassen. Kaum voran- gekommen zu sein scheint die PDS zudem bei ihrer kritischen Auseinandersetzung mit kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen. Da ist verharmlosend von der erforderlichen »Zurückdrängung der Dominanz des Profitprinzips« statt offen von einer dazu notwendigen Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsform die Rede – oder was soll die geheimnisvolle Andeutung einer unumgänglichen »grundlegenden Gesellschaftsreform« anderes meinen? Statt einer notwendigen grundsätzlichen Kritik allgegen- wärtiger Wachstumsfiktionen wird lasch nach der »Präzisierung der Kriterien des Wachstums« gerufen. Statt der notwendigen Suffizienzrevolution wird einer neuerlichen »Effizienzrevolution« das Wort geredet – als ob auf diesem Wege die systemimmanenten Defekte der kapitalistischen Produktionsweise beseitigt werden könnten. Dabei ist doch die gesamte Technikgeschichte der markt- wirtschaftlichen Moderne eine einzige Abfolge von Effizienzrevolu- tionen, die zwar die Schranken der jeweiligen kapitalistischen Betriebsweise aufzuheben und hinauszuschieben vermochten, die aber die naturgesetzte Grenze dieses expansiven Wirtschaftssy- stems nicht überwinden konnten. Sicher, eine solche Kritik erscheint angesichts der in allen Parteien grassierenden Ratlosigkeit gegenüber der Mehrzahl die- ser fundamentalen Fragen ziemlich hart, aber sie muß sein, wenn es weiter voran gehen soll. Sicher ist auch, daß die positiven, vor allem aus dem lobenswerten Bemühen um einen systematischen, in sich konsistenten Ansatz herrührenden Aspekte bei weitem überwiegen. Damit hat die PDS zwar vom Hauptfeld zur Spitzen- gruppe aufgeschlossen, die Spitze selbst jedoch noch keineswegs übernommen. Auch weil in diesem Positionspapier viel von »Nachhaltigkeit« bzw. »Zukunftsfähigkeit« geschrieben wird, bleibt nur zu hoffen, daß die wirtschaftspolitischen Positionen der PDS nachhaltige Wirkungen im bevorstehenden Wahlkampf zu entfalten vermögen. Hoffentlich bleibt ihnen jenes Schicksal erspart, daß anderen »großen Alternativentwürfen« – wie z.B. dem Konzept der GRÜNEN für eine »ökologisch-solidarische Weltwirtschaft« – zuteilwurde. Als nämlich die GRÜNEN dieses immer wieder lesenswerte Grundlagenpapier für den Bundestagswahlkampf 1990 fertiggestellt hatten, wurde es vor der ersten, wieder gesamt- deutschen Wahl von einer Woge konservativer Deutschtümelei an den äußersten Rand der politischen Aufmerksamkeit gespült. Eine geschickt angeheizte »Schicksalsdebatte« um den Wirtschafts- standort »D« könnte 1998 leicht dieselbe Funktion erfüllen. ARNDT HOPFMANN 5 UTOPIE kreativ, H. 84 (Oktober 1997), S. 5-10 HERMANN KLENNER Über Marxens Religions- und Rechtskritik Karl Marx, ein Deutscher jüdischer Herkunft, entstammte mütter- licher- wie väterlicherseits Geschlechtern von Rabbinern. Darunter berühmten. Er war ein studierter, sein Vater, im katholischen Trier zum Protestantismus konvertiert, ein praktizierender Jurist. Marx wußte also, wovon er sprach, wenn er über Religion und Recht redete. In der auf mehr als einhundert Doppelbände konzipierten Gesamtausgabe seiner und seines unter Pietisten aufgewachsenen Freundes Friedrich Engels Werke handeln tausende Passagen von Religion und Recht, darunter auch umfangreiche.l Marx hat seinen Kommunismus nicht aus Religion und nicht aus Recht oder Gerechtigkeit begründet. Andere haben das vor und nach ihm getan. Gerrard Winstanley zum Beispiel, der im engli- schen 17. Jahrhundert sein Law of Freedom mit vielen Bibelzitaten begründete, nicht etwa bloß aus Apostelgeschichte, Kapitel 4, Vers Hermann Klenner – Jg. 1926, 32 – illis erant omnia communia, ihnen gehörten alle Dinge Prof. Dr., Rechtsphilosoph, Berlin. Autor u.a. von: gemeinsam –, sondern auch aus der hebräischen Bibel, dem Dieb- Marxismus und Menschen- stahlsverbot (2 Moses 20,15) etwa, denn seiner Meinung nach war rechte, Berlin 1982; Vom alles Privateigentum gestohlenes Gemeineigentum.2 Oder Jacques Recht der Natur zur Natur Roux, jener Priester, der im französischen 18. Jahrhundert die Frei- des Rechts, Berlin 1984; heit als einen leeren Wahn bezeichnete, solange eine Menschen- Deutsche Rechtsphilosophie klasse die andere aushungern könne.3 Oder Wilhelm Weitling, der im 19. Jahrhundert, im deutschen 19. Jahrhundert die Abschaffung des Privateigentums Berlin 1991. ebenso wie die Gütergemeinschaft mit Lukas-Evangelium 14, 33 (Nachschrift eines frei 4 und einem Dutzend weiterer Bibelzitate begründete. (Um Persön- gehaltenen Vortrages auf liches einzuflechten: Beim bedeutendsten Weitling-Forscher, dem dem 27. Deutschen Evan- Hallenser Theologieprofessor Ernst Barnikol, habe ich als Jurastu- gelischen Kirchentag am dent ein Seminar belegt; mit dem bedeutendsten Roux-Forscher, 20. Juni 1997 in Leipzig.) dem Leipziger Geschichtsprofessor Walter Markov, war ich als Akademiemitglied verbunden; die erste deutschsprachige Ausgabe 1 Vgl. bereits Marxens Religionsaufsatz beim Abitur von Werken Winstanleys ist in der DDR und in der BRD von mir vom (vermutlich) 10. August ediert worden). 1835 zum Thema: »Die Nicht aus diesen oder vergleichbaren Quellen hat Marx seine Vereinigung der Gläubigen Kommunismus-Konzeption oder seine Kirchen-Kritik geschöpft. mit Christo nach Johannis Weder Neid auf die Reichtümer der Reichen noch Mitleid mit 15, 1-14, in ihrem Grund der Armut der Armen waren seine Triebkraft. Nicht Emotionalität und Wesen, in ihrer unbe- sondern Rationalität trieb ihn schon in jungen Jahren voran. Zeit- dingten Notwendigkeit und in ihren Wirkungen darge- lebens war er gepeinigt vom Hochmut seiner Intelligenz. Was die stellt«, in: Marx/Engels: Religion betrifft, stand er auf den Schultern der antiken und der Gesamtausgabe (MEGA), nachmittelalterichen Aufklärer. Epikur, Hobbes, Spinoza, Rous- Erste Abteilung, Bd. 1, seau, Kant, Hegel, Feuerbach – das waren insoweit seine haupt- Berlin 1975, S. 449-452; KLENNER Über Marx 6 vgl. auch Marx/Engels: sächlichen Lehrmeister. Nicht Religion und schon gar nicht die Über Religion, Berlin 1958, Religiösen waren seine Widerpartner. Allerdings war für ihn nicht sowie den Sachregisterband der Mensch ein Geschöpf Gottes, sondern Gott ein Geschöpf des zu Marx/Engels, Werke Menschen. Unter dessen bisherigen Lebensbedingungen ein not- (MEW), Berlin 1989, Stich- worte: Christentum, Gott, wendiges Geschöpf. Religion war ihm ein Widerschein der wirkli- Religion, Theologie, Kirche chen
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    Hugo Jensch, www.geschichte-pirna.de 1 Rede für Siegfried Rädel Gehalten am 13.3.1993 in der „Tanne“ zu Pirna anlässlich seines 100. Geburtstages Jene, die mit Siegfried Rädel lebten, arbeiteten, kämpften, leben meist nicht mehr. Jüngere von damals, die sei Wirken noch unmittelbar verspürten, sind heute mindestens 80 Jahre alt. Inzwischen veränderten sich Bedingungen gesellschaftlichen Lebens und Kämpfens entscheidend. Siegfried Rädel aber bleibt für die Pirnaer wie für die deutsche Arbeiterbewegung eine markante Gestalt. Die Arbeiterbewegung erlebte die größte und bitterste Niederlage ihrer Geschichte – und es waren nicht nur ihre Widersacher, die sie ihr zufügten. Diese präsentieren sich heute aber als die Sieger der Geschichte. Sie gehen einher mit der zur Schau getragenen Gewissheit, Marx, den Sozialismus, all die Inhalte einer Gesellschaft der Gleichheit, sozialen Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit und Solidarität hätten sich als pure Utopie erwiesen und überlebt. Pauschalbegriffe wie Diktatur, Unrechtsregime, stalinistische Verbrechen werden dem Versuch aufgeprägt, eine gesellschaftliche Alternative zu jenem System zu wagen, das in diesem Jahrhundert unserem und anderen Völkern die zwei größten Kriege der Menschheit und den barbarischen Faschismus aufzwang. Dem entspricht der Versuch, Vergangenheit und emanzipatorische Tradition der Arbeiterbewegung, des Sozialismus in die ewige Vergessenheit zu verbannen, und in der Erinnerung der Menschen nur Repression, Misswirtschaft, Städteverfall und dergleichen zu belassen. Das geht einher mit der Auslöschung von Namen. In der Wende kam dem Kunstseidenwerk sein Name abhanden. Der Pädagogische Rat der Schule in Gottleuba trennte sich in vorauseilendem Gehorsam von Siegfried Rädel, in Dohna verschwand per 1.1.1993 die Siegfried-Rädel-Straße. Wie nähert man sich in solcher Zeit einem wie Siegfried Rädel? Bewahrt wird doch nur, was als von Wert erkannt wird.
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