Rudolf Kass Ner an Marie Von Thurn Und Taxis Briefe (1902–1933) Und Dokumente Teil II: 1907–19331
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Rudolf Kass ner an Marie von Thurn und Taxis Briefe (1902–1933) und Dokumente Teil II: 1907–19331 Mitgeteilt und kommentiert von Klaus E. Bohnenkamp Am 26. Januar 1907 tritt Rudolf Kass ner seine große Reise nach Nordafrika an.1 Ob er mit dem Schiff von Genua über Marseille oder gleich von Marseille übersetzt, wissen wir nicht. Jedenfalls trifft er kurz vor dem 1. Februar 1907 in Algier ein und steigt im »Hôtel de la Regence« an der Place de Gouvernement 3 ab.2 Von dort hatte er Gerty von Hof manns thal am 1. Februar berichtet: »Über- fahrt schlecht, Wetter hier auch schlecht. So fängt es aber bei mir an, d.h. ich fange immer von Anfang an.«3 Und ganz ähnlich hatte Lili Schalk unter demsel- ben Datum lesen können: »Überfahrt mäßig, Schiff erbärmlich, Wetter häßlich. Bleibe einige Tage hier.« 50. Von Algier nach Wien GRAND HOTEL DE LA RÉGENCE Alger, le 5/2 1907.4 BRUGGEMANN & FLUMM <Dienstag> ALGER Gnädigste Fürstin! Nun ich kann Ihnen noch von sehr wenig afrikanischen Dingen er- zählen, wenig von der Sonne, den Farben. Ich friere nämlich und zwar *1 Teil I mit den Briefen und Dokumenten vom Frühjahr 1902 bis zum 21. Januar 1907 in: HJb 22, 2014, S. 91–204 (künftig zit. als Kassner – Taxis. Teil I); zur Edition und zu den Standorten ungedruckter Briefe s. Teil I, S. 110–113. 1 Zu den Stationen der Reise s. KSW VII, S. 675. Zu den Siglen und Abkürzungen inner- halb dieser Edition s.u. S. 252. 2 Über die möglichen Schiffsrouten informiert Karl Baedeker, Das Mittelmeer. Hafen- plätze und Seewege. Leipzig 1909, S. 120f. u. 130f.; zum »verschieden beurteilten« Hotel ebd., S. 227. 3 BW Kass ner, S. 96. 4 LHW. Ein Briefbogen, Hotelpapier mit gedrucktem Briefkopf, vier beschriebene Seiten. Dass sich Marie Taxis in Wien aufhält, geht aus Hof manns thals Bitte vom 4. Februar 1907 hervor, sie am Samstag, dem 9. Februar, besuchen zu dürfen. Rudolf Kassner an Marie von Thurn und Taxis Teil I1 51 auf durchaus europäische Art. Statt abends durchs arabische Viertel zu schlendern, wie ich mir’s in Wien gedacht habe, dränge ich mich zu dem einzigen functionierenden Camin des Hotels und unterhalte mich mit den mit-leidenden Engländern über die Kälte. Nun aber tröste ich mich damit, dass alle meine Reisen bisher irgendwie so angefangen haben und dass eine große Reise dementsprechend besonders schlecht anfangen darf. Ich glaube, dass das schlechte Wetter noch solange anhalten wird, bis ich mich verkühlt habe, dann wird es gut werden und ich werde nach Biskra können, das augenblicklich infolge der Schneeverwehungen im Atlas unerreichbar ist. Doch das ist eine ganz private Meteorologie, aus Verzweiflung und Unwissenheit geboren und durchaus unverbindlich. Algier, der Araber hier, ist sehr durch den Franzosen verdorben5 und gibt nur einen sehr undeutlichen Eindruck vom Orient. Mit Tanger6 gar nicht zu vergleichen. Ich bin bisher jeden Tag auf den arabischen Fried- hof weit draußen gegangen,7 denn dort allein kommt der Franzose nicht hin. Es ist ein erhabener Anblick, auf der Allee, die hinführt, die Frauen mit den Kindern schaarenweise hingehen und zurückkehren zu sehen, ein ewig fließender Strom, der die Stätte des Todes mit Leben unterhält. Die Todten zu beklagen ist der Frau hier eine ebenso große Pflicht wie die Kinder zu gebären, vielmehr beides und nichts anderes bildet den ganzen Inhalt ihres Lebens. Ich lese jetzt viel im Koran; es scheint wohl das Buch zu sein, das man absolut nicht in einer Übersetzung lesen dürfte. Ich nehme an, dass alles, was wir als unlogisch, Fanatismus, Tautologie empfinden, an das Ohr des gläubigen Muselman als Musik dringt. »Gott gab euch das Ge- setz, damit ihr mich fürchtet« – über diesen wahrhaft erhabenen Unsinn denke ich hier täglich nach – wahrscheinlich hat Gott den Moslems das Gesetz wirklich nur darum gegeben, damit sie ihn fürchten.8 5 1830 hatten die Franzosen den ›Seeräuberstaat‹ Algerien erobert, mussten allerdings ihre Herrschaft in den folgenden Jahrzehnten immer wieder unter erheblichen Verlusten ver- teidigen. Sie hatten das Gebiet als neue ›Provinz‹ in ›Departements‹ unterteilt und auf diese Weise zu einem integralen Bestandteil des Mutterlandes gemacht, auf dessen Bedürfnisse die gesamte französische Kolonialpolitik ausgerichtet war (vgl. Baedeker, Das Mittelmeer [wie Anm. 2], S. 231f. ). 6 Tanger hatte Kass ner bei seinem ersten Aufenthalt auf nordafrikanischem Boden im Mai 1905 besucht (vgl. Kass ner – Taxis. Teil I, S. 174, mit Anm. 352). 7 Der »Cimetière musulman«, »der reichste mohammedanische Friedhof Algiers«, mit einer Anzahl prächtiger Gräber, gilt als »die einzige Sehenswürdigkeit« des südöstlichen Vor- orts Belcourt (Baedeker, Das Mittelmeer [wie Anm. 2], S. 242). 8 An Elsa Bruckmann schreibt Kassner am 14. Februar 1907 aus Biskra: »[…] ich lese täg- 52 Klaus E. Bohnenkamp Wie gesagt, gehe ich in ca 3 Tagen nach Biskra, vielleicht sagen mir dorthin (poste restante) einige Zeilen, wie es Ihnen u. den Ihren geht. Biskra, Algérie (Afrika) wird wohl genügen. Einstweilen alles Schöne Ihnen u. den Ihren von Ihrem aufrichtigen Rudolf Kass ner »Durch miserables Wetter« wird ihm, wie er André Gide rückblickend am 8. März 1907 klagt, der Aufenthalt in Algier überhaupt »verdorben«: »Ich konn- te Blidah nicht sehen«, das der »Baedeker« als »eine der angenehmsten Provinz- städte Algeriens« preist, »anmutig am Nordfuß des Tellatlas« gelegen, »und«, so Kass ner weiter, »an Bougie war gar nicht zu denken«, jene »durch mehrere Forts geschützte stille Hafenstadt«, die sich »durch üppige Fruchtbarkeit und prachtvollen Baumwuchs« auszeichnet, besonders »im Frühjahr, wenn die Gär- ten in frischem Grün prangen und ein Blütenteppich von Bougain villeen alle Terrassen und Abhänge überzieht«.9 In diesem Sinn fügt Kass ner hinzu: »Wahr- scheinlich hätte ich einen Monat später reisen sollen, doch solche Sachen soll man nicht sagen.«10 Vorderhand gehen von Biskra am 10. Februar Grüße an Gerty von Hof manns- thal11 und Houston Stewart Chamberlain, mit der Ankündigung, dort »4 Wo- chen« bleiben zu wollen. In deren Verlauf unternimmt er, versehen mit Ratschlä- gen und Empfehlungen des erprobten Nordafrika-Kenners Gide und zeitweilig begleitet von dessen Freund Athman, einem »dort berühmten Poeten«,12 eine lich im Koran, dessen Größe direct in dem Wunder liegt, dass er, ein an u. für sich schlechtes Buch, so auf ein großes, leidenschaftliches Volk wie die Araber wirken konnte. Er war ein ungeheuerer Staatsstreich, der seine Berechtigung nur in seinem Erfolg finden konnte u. fand. Kein weltbewegendes Buch ist eigentlich weniger räthselhaft, er musste sich also darum von vornherein für einzig erklären, für das Buch. Lesen heißt für jeden Muselmann den Koran lesen« (Hugo von Hof manns thal, Rudolf Kass ner und Rainer Maria Rilke im Briefwechsel mit Elsa und Hugo Bruckmann. 1893–1941. Hg. und kommentiert von Klaus E. Bohnen- kamp. Göttingen 2014 [künftig zit. als: Bruckmann-Briefwechsel], S. 428f.). Wahrscheinlich las Kass ner die weitverbreitete, von Max Henning (1861–1927) besorgte Ausgabe, die 1901 bei Philipp Reclam jun. in Leipzig erschienen war. 9 Baedeker, Das Mittelmeer (wie Anm. 2), S. 272–273. 10 Klaus E. Bohnenkamp/Claude Foucart, Rudolf Kass ners Briefe an André Gide, in: JbDSG 30, 1986, S. 83–127 (künftig zit. als: Kass ner – Gide), hier S. 121. 11 Vgl. BW Kass ner, S. 96. 12 Vgl. KSW VII, S. 230 u. 686f.; Kass ner – Gide, S. 121f. (8. März 1907), mit der Bemer- kung, Athman »mache noch weiter täglich ein – zwei Gedichte […]. Ich habe ihn sehr gerne, obwohl er ein bischen Komödiant geworden ist, vielleicht gerade darum!« Rilke bezieht sich drei Jahre später auf diese Zusammenhänge, wenn er Gide Ende November 1910 aus Algier bittet: »[…] je crois qu’il serait pour moi d’un de très grande utilíté d’avoir quand même pour Biskra (où je compte d’aller vers le milieu de la semaine prochaine) un petit mot à Athman ou à celui des ses amis (j’ai oublié le nom) qui accompagnait Kassner à Touggourt« (Rainer Maria Rilke, André Gide, Correspondance 1909–1926. Introduction et Commentaires par Renée Lang. Paris 1952, S. 47f.). »Athman«, ein um 1879 geborener Araber, der Gide seit 1893/94 während sei- ner Reisen und Aufenthalte in Algerien begleitet hatte, ist Vorbild für die Figur des Moktir in Rudolf Kassner an Marie von Thurn und Taxis Teil I1 53 »unvergeßliche«13 siebentägige »Tour in die Sahara« – »ich glaube, ich mußte die Sahara sehen«, hatte er Houston Stewart Chamberlain am 10. Februar 1907 be- kannt. Er besucht Tuggurt (Touggourt)14 »in der wahren gelben Sandwüste, wo Mittags über der weißen, kranken Stadt im unerschöpflichen Blau des Himmels Heuschrecken wie lange, dünne rothe Vögel schwärmen«;15 fährt in einem »Sand- car mit den breiten Rädern aus Eisen« nach Temacin,16 jenem »Oasenstädtchen« südlich von Biskra mit der 15 km entfernten »Zaouïa von Tamelhat, einem der einflußreichsten Klöster der Sahara«,17 das er, den missverständlichen Ausdruck ›Kloster‹ aus dem »Baedeker« meidend (›Zaouïa‹ bezeichnet ein muslimisch reli- giöses Bauwerk), als »zugleich Burg, Festung, Grabdenkmal« umschreiben wird, und wo ihn – der Schlossherr ist »auf der Fahrt nach Mekka begriffen« – dessen Gides »L’Immoraliste« und gehört auch wegen seiner dichterischen Ambitionen zum Gide’schen Freundeskreis (vgl. Christoph W. Abdelmu min Clairmont, Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller im Maghreb. Naters 1999, S. 8–11). In der Gide-Literatur gewöhnlich »Athman« oder »Athman ben Salah« (»Ben Sala«) genannt (so in: André Gide, Gesammelte Werke I: Auto- biographisches. Bd. 1. Hg. von Hans Hinterhäuser, Peter Schnyder und Raimund Theis. Stutt- gart 1989, S. 575), wird er vereinzelt als »Bourbackar, Athman (v. 1879–v. 1950)« registriert (in: Ders., Journal II. 1926–1950. Hg. von Martine Sagaert. Paris 1997, S. 1534f.), unter welchem Familiennamen ihn Gide in seinem Tagebuch einführt (vgl. Ders., Journal I. Hg. von Éric Marty und Martine Sagaert. Paris 1996, S. 187). Eine wichtige Quelle zu Athmans Leben ist Gides Brief an Rilke vom 29.