AM 17. Juli 2010 Hearing

Über den Umgang mit der NS-Zeit: Bürger und Experten im Dialog

Dokumentation e er r Erinn ungsort E nfüungi h in am 17. Juli 2010

Dr. Wolfgang Schuster, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart E inladung zum Dialog Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster

Impressum Mit der vorliegenden Schrift dokumentieren wir die Bei- men. Die formulierten Fragen und Anregungen der träge der Referentinnen und Referenten bei einem öf- Bürgerinnen und Bürger wurden während des Hea- fentlichen Hearing zur künftigen Gestaltung des Stadt- rings diskutiert. Nach der Anhörung hat sich eine Ar- Herausgeberin Hausanschrift quartiers am Stuttgarter Karlsplatz. Die Anhörung fand beitsgruppe konstituiert; dort werden die Anregungen Landeshauptstadt Stuttgart Landeshauptstadt Stuttgart im Sommer 2010 unter reger Beteiligung der Bürger- weiterbehandelt. Auch die Ergebnisse einer Straßenum- Marktplatz 1 schaft im Stuttgarter Rathaus statt. frage fließen in die weiteren Überlegungen ein. Das In- Konzeption 70173 Stuttgart ternet wird als Forum des Austausches genutzt. Landeshauptstadt Stuttgart Telefon: (0711) 216-0 Die Debatte um die künftige Gestalt des Stadtquartiers Kulturamt Fax: (0711) 216-4773 ist seitdem weitergegangen und noch nicht abgeschlos- Der Gemeinderat der Landeshauptstadt Stuttgart hat Planungsstab Stadtmuseum E-Mail: [email protected] sen. Es gibt noch keine definitiven Planungen. nach dem Hearing einen Beirat einberufen. Seine Mit- Dr. Anja Dauschek glieder sind Experten aus Stuttgart und Vertreter der Postanschrift Der mögliche Abriss des ehemaligen „Hotel Silber“ in bürgerschaftlichen Initiativen. Der Dialog soll, unter Be- in Zusammenarbeit mit Landeshauptstadt Stuttgart der Dorotheenstraße 10 hat die grundsätzliche Frage teiligung der Bürgerschaft, weitergehen. Die Dokumen- Sabine Haack und Veronika Brugger, 70161 Stuttgart aufgeworfen, wie wir in Stuttgart mit Erinnerungsor- tation versteht sich als eine Grundlage für die weitere Büro für Kultur und Konzept, Potsdam ten umgehen wollen und sollen. Das im Krieg stark Diskussion. zerstörte Gebäude befindet sich im Besitz des Landes Redaktion Weitere Informationen Baden-Württemberg und wird von drei Ministerien als Ich danke allen, die sich bei dem Thema engagieren Büro für Kultur und Konzept, Potsdam Audiodokumentation des Hearings: Büroraum genutzt. Von 1936 bis 1945 war das Haus und hoffe, dass wir gemeinsam eine Lösung finden, ein www.stuttgart.de/item/show/402994 Sitz der nationalsozialistischen Geheimen Staatspolizei. neues und attraktives Stadtquartier am Karlsplatz zu Gestaltungskonzept und Layout In den Zellen im Keller wurden Menschen gefoltert und gründen und zugleich unserer Verantwortung aus der Stephanie Kreber, Stuttgart Filmbeiträge auch erhängt. Durch die Kriegszerstörung und spätere Vergangenheit und gegenüber den heutigen und den Straßenumfrage zu Erinnerungsorten in Stuttgart Umbauten sind die Zellen nicht mehr vorhanden. Doch künftigen Generationen gerecht zu werden. Bildnachweis Interview mit OB Dr. Wolfgang Schuster der Ort bleibt ein historisch wichtiger Ort für Stuttgart. s. letzte Seite Interview mit Prof. Micha Brumlik An dem Hearing haben rund 300 Bürgerinnen und Bür- www.youtube.com/user/stuttgartlhs ger teilgenommen. Eine Auswahl ihrer Beiträge ist in © Landeshauptstadt Stuttgart unserer Dokumentation ebenfalls enthalten, denn die Beteiligung der Bürgerschaft war uns von Beginn an ein Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Diese Dokumentation ist erhältlich an wichtiges Anliegen. elektronische Datenbanken sowie sonstige Verviel- der Infothek im Rathaus und online unter fältigungen nur mit schriftlicher Genehmigung der www.stuttgart.de/hearing verfügbar. Bereits im Vorfeld der Anhörung bestand die Möglich- Landeshauptstadt Stuttgart. keit, mittels Dialogkarten an der Diskussion teilzuneh- Dr. Wolfgang Schuster, Oberbürgermeister

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Prof. Micha Brumlik war Mentor des Hearings und Mo- Inhalt derator der Podiumsdiskussion

6 Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster 46 Positionen zur Dorotheenstraße 10 Zur Einführung in Stuttgart Geleitwort „Wie wollen wir uns erinnern?” ➜ Jürgen Schulz-Lorch A cht Stunden konzentriertes Interesse: Rund 300 Teil- 10 Prof. Micha Brumlik Ergebnisse der restauratorischen Untersuchung nehmer fanden den Weg in den Rathaussaal Impulsvortrag ➜ Prof. Roland Ostertag Orte und Dinge der Erinnerung Vorstellung der Recherchen

14 Podiumsdiskussion: Perspektiven zum Umgang 54 Wünsche und Konzepte für Stuttgart: mit der Geschichte des Nationalsozialismus Beiträge der Initiativen

Beiträge von ➜ Alexander Schell und Jörg Titze ➜ Prof. Dr. Astrid Messerschmidt Stadtjugendring Stuttgart ➜ Prof. Dr. Alfons Kenkmann Politisch-historische Jugendbildung in Stuttgart ➜ Prof. Dr. Volkhard Knigge ➜ Jupp Klegraf ➜ Prof. Dr. Peter Steinbach Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber ➜ Prof. Dr. Wolfram Pyta Ziele und Konzept eines NS-Dokumentations- zentrums für Stuttgart Konrad Pflug ➜ Sieghard Kelle 23 Landeszentrale für politische Bildung Stuttgarter Jugendhaus gGmbH, Das Gedenkstättenkonzept des Landes Das Projekt „lernort gedenkstätte“ Baden-Württemberg ➜ Dr. Michael Kienzle Stiftung Geissstraße 7 29 Der Umgang mit Erinnerung: Wege stadtgeschichtlicher Erinnerung Erfahrungen aus anderen Städten ➜ Holger Viereck Anne-Frank-Realschule Stuttgart-Möhringen Beiträge von Was brauchen Schulen, um das Thema ➜ Dr. Thomas Brehm angemessen bearbeiten zu können? Ehemaliges Reichsparteitagsgelände Nürnberg ➜ Prof. Wolfgang Lorch 74 Abschlussdiskussion Architektur für die Erinnerung – Beispiele aus Frankfurt/M., , , 80 Stimmen aus dem Publikum Diskussionsfreudiges Publikum: Hinzert (Luxemburg) Die Veranstaltung verstand sich ➜ Dr. Thomas Lutz 84 Pressestimmen auch als Einladung zum Dialog Topographie des Terrors Berlin ➜ Dr. Linde Apel 90 Anhang Die engagierten Vorträge der Referenten machten es nicht immer Deportationsort Hannoverscher Bahnhof, Übersicht der Gedenkstätten in Stuttgart ganz leicht, die Zeitdisziplin einzuhalten Literatur

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➜ Wir unterstützen nach Kräften die verschiedenen ➜ Die Stauffenberg-Gedenkstätte ist zwar klein, aber jüdischen Gemeinden in Stuttgart hinterlässt bei den Besuchern einen nachhaltigen Eindruck ➜ Aus Anlass des 100. Geburtstags von Dr. Hirsch wurde 1985 die Otto-Hirsch-Medaille gestiftet, die ➜ Stuttgart pflegt seit Jahrzehnten eine Städtefreund- E in Thema, das bewegt: seither jährlich vergeben wird schaft mit Shavei Zion. Überhaupt weisen die Pro­ Der große Ratssaal war gut gefüllt jekte, die im Rahmen unserer Städtepartnerschaf­ ➜ Es gibt die jüdischen Kulturwochen ten entstanden sind, immer auch in die Zukunft: So unterstützen wir in unseren Partnerstädten Brünn, Wie wollen wir uns erinnern? ➜ Über 20 Jahre lang lief ein Besuchsprogramm, das Lodz und Samara Generationen­häuser, um einer- E inführung von Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster viele ehemalige jüdische Einwohner wieder nach seits den ehemaligen Zwangsarbeitern zu helfen – Stuttgart gebracht hat zum anderen aber auch das Miteinander von Alt und Jung zu fördern ➜ Es gibt am Killesberg ein Denkmal für die Opfer der Wie wollen wir uns erinnern? Wir wissen, dass dort schenrechts- und Demokratieerziehung sind ständige Schoa – dort, wo sich das Sammellager für die drei Der konzeptionelle Ansatz wies immer schon in beide drüben am Karlsplatz, in der Dorotheenstraße 10 der Aufgaben – und die Geschichte des Nationalsozialis- großen Deportationen von 1941 und 1942 befand Richtungen: Einerseits wurden Gedenkorte geschaffen, ehemalige Sitz der war. Wir wissen, dass dort mus zwingt uns dazu, uns damit immer wieder ausei- um der Opfer zu gedenken, als Orte der Reflexion und Unschuldige inhaftiert, gefoltert, ermordet wurden. nander zu setzen. ➜ Eine große Ausstellungsserie Anfang der achtziger des Nachdenkens. Andererseits ging es stets auch dar- Über diese und andere historische Tatsachen aus dem Jahre thematisierte die NS-Geschichte in Stuttgart um, konkrete Hilfe und Wiedergutmachung zu leisten. Dritten Reich dürfen wir nicht hinwegsehen. Die Frage ist jedoch: Wie gehen wir mit diesem Teil unserer Ge- Orte des Erinnerns und des Lernens ➜ Zahlreiche Namen von Straßen und Plätzen erin- Eine zentrale Lehre aus der Vergangenheit ist sicherlich schichte um? nern an jüdische Persönlichkeiten, die Stuttgart das Selbstverständnis Stuttgarts als offene, tolerante Wie wollen wir uns erinnern? Bürgerinnen und Bürger, mitgeprägt haben und internationale Stadt, in der es ein Miteinander Für die Stadt, das Land, und auch für den Partner Initiativen und Experten sind heute eingeladen, darü- von Menschen aus 170 Nationen, ein Miteinander der Breuninger war immer klar, dass der Neubau eine ber zu diskutieren, welcher Rahmen für die nachhalti- ➜ Ein großes „Zeichen der Erinnerung“ steht am Generationen und der sozialen Schichten gibt. Dazu Gedenkstätte enthalten muss – verbunden mit einem ge Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus Nord­bahnhof: 2006 ermöglicht durch das großar- gehört auch, dass wir keine Menschen ausgrenzen, Informationszentrum. Schon der Architektenwettbe- in Stuttgart in Zukunft notwendig und angemessen tige pri­vate Engagement von Stuttgarterinnen und wegen ihrer Nationalität, ihres Glaubens oder ihrer werb schreibt das vor. Aber auf welche Weise soll die ist – auch mit Blick auf die Opfer. Es geht heute nicht Stuttgartern mit städtischer Unterstützung sexuellen Orientierung. Erinnerung an diese Zeit vermittelt werden? Darüber nur um den Ort Dorotheenstraße 10: Es geht auch wollen wir auf diesem Hearing reden. Dieser Frage darum, An­re­gungen dafür zu bekommen, wie wir in ➜ Ein zukunftsweisendes Projekt ist der Aufbau eines messen Gemeinderat und Stadtverwaltung der Stadt Zukunft mit Fragen gesamtstädtischer Erinnerung um- jüdischen Dokumentationszentrums. Dabei arbeiten Stuttgart einen hohen Stellenwert bei. Wir müssen uns gehen. Wir stehen dabei am Anfang eines Prozesses. die Israelitische Religionsgemeinschaft und das erinnern, weil wir uns unserer Verantwortung für un- Die Stadt ist weder Eigentümerin noch Bauherrin des Stadt­archiv zusammen sere Geschichte stellen. Projekts am Karlsplatz. Wir haben zwar das Planungs- recht – aber noch wichtiger ist, über den heutigen Tag ➜ Und es gibt die Aktion „Stolpersteine“ des Kölner hinaus ein Forum des Austauschs zu bieten, die ver- Künstlers Demnig. 170 Stolpersteine finden sich in- Der Ort Dorotheenstraße 10 – schiedenen Stimmen und Intentionen zusammenzu- zwischen auf den Gehwegen unserer Stadt und darüber hinaus führen und zu guten Ergebnissen zu kommen. ➜ Es ist selbstverständlich, dass auch im neuen Stadt- Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den nach- Wir haben bereits eine ganze Reihe von Erinnerungs- historischen Museum die Vergangenheit im Natio- folgenden Generationen zu vermitteln, dass Demo- orten und Gedenkveranstaltungen in Stuttgart. Einige nalsozialismus ein wichtiges Thema sein wird kratie, Freiheitlichkeit, Rechtstaatlichkeit und Toleranz davon hat die Stadt initiiert, andere gehen auf das nicht selbstverständlich gegeben sind. Sie müssen im- Engagement aus der Bürgerschaft zurück. Einige der Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster: „Wir erhof- mer wieder neu gesichert und gestaltet werden. Men- wichtigsten möchte ich erwähnen: fen uns Anregungen“

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Ziele des Hearings

➜ Wir wollen heute den aktuellen Stand der For- Orte der Mahnung und der Erinnerung: In Stuttgart schung mit Blicken auf die wissenschaftliche Aufar- gibt es bereits zahlreiche Gedenkorte, die auf unter- beitung und die Vermittlung kennen lernen schiedliche Weise die Konfrontation mit den Verbre- chen des Nationalsozialismus in die Gegenwart tragen. ➜ Wir wollen die Erfahrungen aus anderen Städten Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist ein nutzen und erhoffen uns Anregungen, auch für eine fortlaufender Prozess, eine gesellschaftliche Aufgabe, bessere Vernetzung untereinander, in der Koopera- für die es keinen Schlussstrich geben kann. Eine voll- tion mit dem Land und mit den Schulen ständige Auflistung der Stuttgarter Gedenkorte findet sich im Anhang ➜ Wir erhoffen uns Anregungen, wie eine nachhalti- ge Vermittlung des Themas an kommende Gene- rationen aussehen könnte. Das ist hier in Stuttgart besonders wichtig: Rund die Hälfte aller Schüle- rinnen und Schüler haben einen Migrationshinter- grund. Umso wichtiger ist die Frage, wie wir die Lehren aus der Geschichte des Dritten Reiches auch ihnen nahe bringen können

➜ Wir wollen erfahren, welche Erwartungen an die Funktion und Gestaltung eines in der Dorotheen­ straße vom Land zu errichtenden Erinnerungsortes gestellt werden

Ich freue mich über das große Interesse am heutigen Tag und an dieser wichtigen Aufgabe!

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Orte und Dinge der Erinnerung I mpulsvortrag

Zukunft gerichteten Vermittlung mit Blick auf die Täter ter Flugzeugbesatzungen. Unvollständige Dokumente analytisch zu trennen. Und auch angesichts sozialer berichten von etwa 150 ermordeten politischen Geg- und räumlicher Verhältnisse, in denen ja Täter und Op- nern sowie nach Stuttgart deportierten Männern und fer zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren, verbietet Frauen aus Frankreich und der Tschechoslowakei. Zwei sich diese Trennung. knappe Bemerkungen zu „authentischen“ Orten der Mentor des Hearings: Prof. Micha Brumlik Erinnerung:

Zum „Authentischen“ eines Ortes Zunächst: Städte sind, anders als etwa ein Land oder eine Region, überschaubare dichte Lebensformen. Sie Dafür steht in Stuttgart das sogenannte Hotel Silber, weisen enge biografische Kontinuitäten auf. Personen, Orte und Dinge der Erinnerung dessen geplanter Abriss oder Umkonzeptionierung die die hier als Täter oder als Opfer gehandelt oder gelit- I mpulsvortrag Debatte derzeit bewegt. Der vorzüglichen „Geschichte ten haben, sind auch nach Jahrzehnten mit ihrer Über- Stuttgarts während der NS-Zeit“ aus der Feder Roland lieferung und ihren Ansprüchen auf Respekt zugegen. Müllers entnehme ich folgendes Zitat: „Die Gestapo- Immer weniger Zeitzeugen können Auskunft geben, Stuttgart steht derzeit in einem Prozess, der durch das Vergangenheit zugewandten Solidarität gefunden. Im Leitstelle stellte am 10. Januar 1944 Juden, deren Ehe aber es gibt familiäre oder freundschaftliche Bande, die spannungsreiche Verhältnis bürgerschaftlichen Enga- Gegensatz dazu meint der zentrale Imperativ einer Er- mit einem nichtjüdischen Gatten infolge Tod oder dazu führen, eine wirklich offene Auseinandersetzung gements hier und einer auch den Zwängen des Mach- ziehung nach Auschwitz, dass sich derlei nicht wieder- Scheidung nicht mehr bestand, ins Hotel Silber. Man zu unterdrücken. Darum berührt die Erschließung einer baren ausgesetzten Kulturpolitik gekennzeichnet ist. holen darf – also ein in die Zukunft gerichtetes Postu- eröffnete ihnen ihre Verhaftung und die Deportation kommunalen Gedenklandschaft – anders als etwa bei Wie stets, wenn es um die Ausgestaltung des öffentli- lat. Ein näherer Blick zeigt, dass es bei der erinnernden nach Theresienstadt. Die Betroffenen mussten unter KZ-Gedenkstätten, die sich oft abseits größerer Städte chen Raumes geht, prallen unterschiedliche Interessen Solidarität mit den Opfern einzig und allein um diese Aufsicht packen und wurden anschließend in der Hos- befinden – das Lebensgefühl der Bürgerinnen und Bür- mit großer Wucht aufeinander: Geschichtspolitische geht. Es gilt, fern aller weitergehenden politischen pitalstraße versammelt. Dorthin brachte die Gestapo ger ungleich stärker. und ökonomische Interessen, aber auch das am Steu- Absichten, ihnen ihre Würde wiederzugeben und sie Juden aus dem ganzen Land, die sie am Vormittag eraufkommen und an der Schaffung von Arbeitsplät- in einem gewissen Sinne wieder in die Gemeinschaft verhaftet und mit fahrplanmäßigen Zügen unter Be- Selbstverständlich ist auch ein authentischer Ort mit zen orientierte Eigeninteresse der Körperschaft Stadt. zurückzuholen, aus der sie durch Diskriminierung und wachung nach Stuttgart überstellt hatte. Von den De- seiner grauenvollen oder eben guten Aura ein soziales Solche Auseinandersetzungen können angesichts des Ermordung ausgeschlossen worden sind. Das Pro- portierten dieses Transports, der 35 oder 36 Personen Konstrukt – allerdings ein soziales Konstrukt eigener Leidens im Holocaust gar nicht anders als leidenschaft- gramm der Stolpersteine genügt diesem Anspruch ex- umfasste, starben zwei in Theresienstadt und drei in Art. Denn den authentischen Ort markiert ein bezeug- lich geführt werden; sie sind Ausdruck demokratischer akt. Ganz anders die ebenso unverzichtbare Erziehung Auschwitz.“ ter und dokumentierter Vergangenheitsbezug; er hat Normalität, und wer sich daran beteiligt, hat dafür je- nach Auschwitz: Sie hat sich – anders als die erinnern- eine mehr oder minder öffentliche Tradition. Mensch- des Recht. de Solidarität – grundsätzlich den Tätern zuzuwenden, Der bürokratisch geregelte Aussonderungswahn der liches Geschichtsbewusstsein lässt sich durch authen- ihren Lebensläufen, ihrer Verantwortung sowie den Stuttgarter Aufsichtsbehörden sollte indes kein Ende tische Orte eben doch in anderer Weise ansprechen Der Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialis- politischen, ökonomischen und sozialen Umständen, nehmen. Im Februar 1945 war der Krieg längst verlo- als durch Konstruktionen, Replika oder Rekonstruktio- mus, seiner Täter und seiner Opfer, folgt meiner Über- die ihre Untaten ermöglicht oder ihnen Vorschub ge- ren; die Rote Armee hatte im Osten längst die deut- nen. Denn es gibt ein tief sitzendes Bewusstsein davon, zeugung nach zwei Imperativen, die ich den Arbeiten leistet zu haben. schen Grenzen überschritten und rückte auf Berlin, die dass die Vergangenheit bei all der Künstlichkeit ihrer zweier deutsch-jüdischer Philosophen entnehme: Wal- westlichen Alliierten rückten von der Rheingrenze vor. jeweiligen Darstellung eine uns alle tief beeinflussen- ter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor den National- Die besondere Schwierigkeit einer Erziehung nach Doch noch am 11. Februar 1945 wurde eine letzte De- de Wirklichkeit ist. Authentische Orte bedürfen daher sozialisten durch Suizid aus dem Leben schied, sprach Auschwitz besteht natürlich darin, dass sie immer auch portation Stuttgarter Juden verfügt: 57 Personen soll- bei der Einrichtung eines Gedenkortes einer besonders in seinen geschichtsphilosophischen Thesen von einer eine Erziehung über Auschwitz sein muss. Sie muss ten nach Theresienstadt verschleppt werden. Einigen skrupulösen Beachtung. Hinweise, dass eine neu ge- „Hoffnung, die einzig und allein um der Hoffnungslo- sich also auch damit befassen, wie Auschwitz-Birkenau gelang es unterzutauchen. Zwei starben. Die Bilanz: staltete museale Landschaft viel besser für die Vermitt- sen willen“ gegeben sei. Theodor W. Adorno dagegen in den Jahren 1942 und folgende mit seinen Todesfa- Der Nationalsozialismus hatte ein Viertel der jüdischen lung geeignet sei, treffen in dieser Frage nicht zu. postulierte eine „Erziehung nach Auschwitz“. briken funktioniert hat. Heute drohen andere Formen Bürger – etwas mehr als 1000 – das Leben gekostet. der Unterdrückung. Eine Erziehung nach Auschwitz ist 400 Stuttgarter Bürger wurden vor allem in Grafeneck In Frankfurt am Main etwa sind die Überreste der mit- Für die Forderung Walter Benjamins hat der Theo­ daher mit ganz besonderen Vermittlungs- und Aktu- im Rahmen der sogenannten B4-Aktion ermordet. telalterlichen Judengasse in einer vermeintlichen Pa- loge Helmut Peukert den treffenden Ausdruck einer alisierungsfragen konfrontiert. Es ist unmöglich, er- Mehr als 700 Fremdarbeiter und Kriegsgefangene tentlösung, die allen Interessen genügen sollte, in das „anam­netischen“, das heißt, einer erinnernden, der innernde Solidarität mit den Opfern von einer in die kamen um, sowie mehr als 1000 Angehörige alliier- Parterre eines städtischen Verwaltungsgebäudes ein-

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und aufgemauert worden. Das hat den Zauber, die wollten Übernahme staatsbürgerlicher Verantwortung – Versuch, sich Rechenschaft darüber abzulegen, war- Aura dieser Überreste vollständig zerstört. Die jetzt nur und damit letztlich auch der politischen und morali- um es für ihn, den vertriebenen deutschen Juden, an noch aseptische Wirkung tötet jede historische Einbil- schen Hypotheken mündet. der Tragödie der Stadt Stuttgart nichts zu verstehen dungskraft ab. In diesem Fall wäre es wirklich sinnvol- gab. In der Erzählung trifft der Ich-Erzähler, der als as- ler gewesen, wie das einige vorgeschlagen haben, die Was heranwachsenden Staatsbürgern als Zumutung similierter Jude die intensive Freundschaft mit einem Überreste einfach wieder zuzuschütten. erscheinen mag, erweist sich auf der anderen Seite nichtjüdischen Jungen pflegte, der offensichtlich Klaus als Verpflichtung der deutschen Gesellschaft sowie von Stauffenberg nachempfunden ist, in den USA – ihrer schulischen und außerschulischen Bildungsinsti- seinem Exil – einen Mann aus Württemberg und fragt Gute Staatsbürger brauchen tutionen: Uns allen obliegt die politische und mora- ihn, was denn nun heute mit Stuttgart sei. Der ant- gute Geschichtsbildung lische Pflicht, den künftigen mündigen Bürgern jene wortet: „Mehr als zur Hälfte zerstört.“ – „Und das alte Kenntnisse und Perspektiven zu vermitteln, die sie zu Gymnasium?“ – „Ein Schutthaufen.“ – „Und das Pa- Ende Januar publizierte die „Zeit“ die Ergebnisse einer einer erfolgreichen Ausübung ihrer staatsbürgerlichen lais Hohenfels?“ – „Ebenfalls ein Schutthaufen.“ Ich Umfrage, die unter sogenannten „Deutschtürken“ ver- Rechte und Pflichten benötigen. In Deutschland erfor- lachte und lachte. „Was gibt es da zu lachen?“ fragte anstaltet wurde und speziell deren zeitgeschichtlichen dert dies eine nicht unerhebliche, aufwändige, zeitge- der Mann aus Württemberg befremdet. „Lassen wir´s“, Kenntnisse des Nationalsozialismus, der Judenverfol- schichtliche Bildung. sagte ich. „Aber das ist kein Spaß! Ich begreife nicht, gung und des Holocaust erhob. Das Ergebnis klingt was daran lustig sein soll.“ „Lassen wir´s“, wiederholte erstmal beunruhigend: Beinahe 68 Prozent gaben an, „ Es ist eine politische und moralische Pflicht, den künf- ich. „Das ist nichts Lustiges.“ Was hätte ich ihm sonst wenig oder nichts über den Holocaust zu wissen, mehr tigen Bürgern umfassende zeitgeschichtliche Bildung „Was gibt es da zu lachen?“ sagen sollen? Wie hätte ich erklären sollen, warum ich als die Hälfte stimmte einer Aussage zu, wonach sich zu vermitteln.“ lachte, wenn ich es doch selbst nicht begriff. Soweit die Deutschen weniger mit der Judenverfolgung und Es gibt nicht übermäßig viel erzählende Literatur, in der Fred Uhlman. mehr mit Israels Politik gegenüber den Palästinensern schen Geschichte zurückzuweisen – tatsächlich wäre die Stadt Stuttgart selbst ein zentrales Thema ist. Zu befassen solle und immerhin 43 Prozent meinten, dass es ja dann nicht ihre Geschichte. Versteht man unter den wenigen Büchern dieser Art – eigentlich würde Es ist die Verantwortung von uns allen, den heute die intensive Befassung der Deutschen mit der Juden- „Nation“ jedoch die durch Einwanderung beglaubigte ich mir wünschen dass alle Schülerinnen und Schü- heranwachsenden künftigen Staatsbürgerinnen und verfolgung eher ein von außen aufgezwungenes Zei- und gewollte Zugehörigkeit von Immigranten zu einer ler in den 7. und 8. Klassen dieses schmale Büchlein Staatsbürgern die deutsche Geschichte und den Na- chen von Schwäche sei. politischen Zukunfts- und Verantwortungsgemein- lesen sollten – zählt Fred Uhlmans erstmals 1971 auf tionalsozialismus – die Geschichte der Opfer und der schaft, so ist die Zurückweisung von Kenntnissen der Englisch und 1977 auf Deutsch erschienene Novelle Täter – so zu vermitteln, dass sie ihnen nicht als eine So verstörend diese Zahlen auf den ersten Blick wirken jüngeren deutschen Geschichte unbegründet. „Der wiedergefundene Freund“. Die Erzählung eines Anhäufung von Veraltetem und Sinnlosem erscheint, mögen, so nichtssagend sind sie freilich, da eine Kontroll­- vertriebenen assimilierten deutschen Juden ist nicht auf das man allenfalls aggressiv oder wie der Ich-Er- gruppe, die repräsentativ für die ganze deutsche Be- Denn: Das zentrale Prinzip der deutschen Verfassung, nur eine Liebeserklärung an Stuttgart und die Land- zähler in Fred Uhlmans Geschichte mit der hilflosen völkerung stand, nicht überprüft wurde. Und dennoch die in Artikel 1 des Grundgesetzes besonders hervor- schaft Schwaben, sondern sie zeigt auch den subtilen Übersprunghandlung des Lachens reagieren kann. wirft die Untersuchung die Frage auf, ob und in wel- gehobene und maßgebliche „Würde des Menschen“, chem Ausmaß Immigranten und ihre Nachfahren, de- ist und war ja vor allem eine Reaktion auf die millio- ren persönliche Wurzeln mit der deutschen Geschichte nenfache mörderische und entwürdigende Politik des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts zu tun NS-Staates. Zeitgeschichte und zentrales Verfassungs- Prof. Dr. Micha Brumlik war Mentor der Veranstaltung. haben, sich mit diesem Kapitel deutscher Geschichte prinzip stehen somit in einem Entsprechungsverhält- Mit diesem Vortrag eröffnete er das Hearing. befassen und dann auch identifizieren sollen. nis. Den Sinn des Verfassungsgrundsatzes und damit der politisch-rechtlichen Ordnung der Bundesrepublik *1947 in Davos, Schweiz. Lebt heute in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Pädagogik und Philosophie war er wissen- Stellt dieser Umstand für die staatsbürgerliche, die kann also nur voll erfassen, wer diesen Abschnitt der schaftlicher Assistent der Pädagogik in Göttingen und Mainz, danach Assistenzprofessor in Hamburg. Von 1981 bis 2000 lehrte politische, die normative Integration in die deutsche deutschen Geschichte kennt. Mit Blick keineswegs nur er Erziehungswissenschaft an der Universität . Seit 2000 ist er Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissen- Gesellschaft ein Problem dar? Sofern man – wie es der auf Immigranten stellt sich dann die Frage, ob sie ihre schaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit dem Schwerpunkt „Theorie der Erziehung und Bildung“. klassische Nationalismus tat – „Nation“ als Herkunfts- Zugehörigkeit zur deutschen Nation lediglich als einen Daneben leitete er von Oktober 2000 bis 2005 als Direktor das Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur und Abstammungsgemeinschaft versteht, haben Im- Zufall, für dessen politische und moralische Folgen sie Geschichte und Wirkung des Holocaust, in Frankfurt/Main. migranten oder deren Nachfahren jedes Recht, eine bedauerlicherweise mit haften müssen, ansehen – oder genauere Kenntnis oder Identifikation mit der deut- als eine bewusst getroffene Wahl, die endlich in der ge- Forschungsschwerpunkte: Pädagogik, Ethik, Theorie und Empirie moralischer Sozialisation sowie Religionsphilosophie.

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ich denjenigen begegne, die versuchen, sich mit der dungsprozessen geht es aus meiner Sicht weniger um In- Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Nach- tegration, sondern eher um die Auseinandersetzung mit wirkungen auseinanderzusetzen. Also ob ich ihnen so den jeweiligen Perspektiven auf eine geteilte Geschichte. begegne, dass ich von ihrem grundsätzlichen Interesse Hinsichtlich der jüngeren Leute, die drei oder vier Gene- ausgehe und keine Abwehr unterstelle. rationen nach 1945 geboren sind, stellen sich immer auch die Fragen nach aktuellen Bezügen, so problema- Migranten haben hierzulande häufig erlebt, dass ihnen tisch diese auch oft sind. Sie müssen diskutiert werden, gesagt wird: Ihr seid ja keine Herkunftsdeutschen, ihr um Grenzen der Aktualisierung zu erkennen und Zu- Prof. Micha Brumlik, Mentor des Hearings, moderierte habt damit gar nichts zu tun. Meine Erfahrungen mit sammenhänge zwischen Gestern und Heute zu reflek- die Runde ausgewiesener Experten: Prof. Dr. Astrid multikulturellen Studierendengruppen und in der au- tieren. Welche Ereignisse nach 1945 und nach 1990 Messerschmidt betrachtet das Thema aus dem Blickwin- ßerschulischen Bildung belegen, dass im Grunde alle sind kollektiv relevant für die Auseinandersetzung mit kel der Pädagogik jungen Leute sich für diese Geschichte interessieren, dem Nationalsozialismus? Dabei kommt es auch zu un- allerdings in verschiedenen Bezügen und vor verschie- angemessenen Vergleichen, die zu diskutieren sind, um Perspektiven zum Umgang denen Hintergründen. Angesichts der Realität unserer herauszufinden, wie sich Gewalt- und Kriegserfahrun- mit der Geschichte des Nationalsozialismus Migrationsgesellschaft können wir nicht mehr davon gen heute von dem Zusammenhang des NS unterschei- Was sind die wichtigen Entwicklungen? Was müssen wir für die Zukunft bedenken? ausgehen, dass der Nationalsozialismus etwas ist, mit den. Ich denke, pädagogische Arbeit hat es immer auch dem speziell nur diejenigen Deutschen etwas zu tun ha- mit Grenzgängen zu tun, mit riskanten, merkwürdigen, ben, deren Eltern und Großeltern auch Deutsche sind. fragwürdigen Geschichtsbildern und kann nicht davon Aus ihren unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachrich­ diesen Fragen hier brauchen. Frau Messerschmidt, Sie Sondern es gibt sehr viele Geschichtsbeziehungen, auch ausgehen, dass es die eine wahrhaftige, gesichert Leh- tungen beleuchteten die Teilnehmer einer hochkarätig arbeiten zugleich in den Themenbereichen interkultu- solche, mit denen ich vielleicht zunächst mal gar nicht ­re gibt, an der sich alle orientieren. Eher hat die Bil- besetzten Podiumsdiskussion den Stand der Forschung. relle Pädagogik und dem Forschungsschwerpunkt zeit- rechne. In einer Gesellschaft von Menschen, die aus dungsarbeit für Reflexion zu sorgen und sollte Gelegen- Der Mentor des Hearings, Prof. Micha Brumlik, führte geschichtliche Bildungsprozesse und Erinnerungskultur. Osteuropa gekommen sind, die aus dem südlichen Teil heiten schaffen, an denen Zeitgeschichte aus aktuellen durch das Gespräch, aus dem wir hier die wichtigsten Wie geht das zusammen? von Europa gekommen sind, habe ich von deren – auch Erfahrungen heraus betrachtet werden kann. Ein Ge- Passagen als Statements der Redner dokumentieren. familiären – Geschichtsbeziehungen vielleicht gar keine schichtsort, der zugleich als Bildungs- und Gedenkort Astrid Messerschmidt: In einer Einwanderungsgesell- Vorstellung. Es begegnen mir Geschichten von Partisa- gestaltet wird, bietet solche Gelegenheiten. Beiträge von schaft bedeutet Interkulturelle Pädagogik im Grunde, nen, von Verfolgten und Geflohenen. Diese Geschich- pädagogisch auf die gesellschaftliche Situation einzu- ten sind häufig nicht sichtbar, weil im Zusammenhang ➜ Prof. Dr. Astrid Messerschmidt, gehen, mit der wir es zu tun haben – von der Einwan- mit der NS-Geschichte aus der herkunftsdeutschen Per- „Eine historische Auszeit Universitäten und Darmstadt derungsstadt Stuttgart wurde ja schon berichtet. Inter- spektive eher Beziehungen zu Nachkommen von Tätern als Aufmerker in der Jetztzeit“ ➜ Prof. Dr. Alfons Kenkmann, Universität Leipzig kulturalität und Migration sind ein Teil der Normalität und von Zuschauern repräsentiert werden. Auch die ➜ Prof. Dr. Volkhard Knigge, dieses Landes; das gilt ganz besonders für die Stadt, in jüdischen Geschichtsbeziehungen sind in dieser domi- Prof. Dr. Alfons Kenkmann Gedenkstätte Buchenwald und Universität Jena der wir uns hier befinden. Die Aufgabe ist für mich klar: nanten Sichtweise oft verschwunden. In einer multikul- ➜ Prof. Dr. Peter Steinbach, Universität Zeitgeschichtliche Bildung muss in dieser Migrationsge- turellen Gruppe, in ei­ner Schulklasse, die die Einwande- Micha Brumlik: Alfons Kenkmann lehrt an der Univer­ ➜ Prof. Dr. Wolfram Pyta, Universität Stuttgart sellschaft verankert sein. Eigentlich sind wir schon lan- rungsgesellschaft abbildet, oder in einer Studiengruppe sität Leipzig und beschäftigt sich mit Oral History, mit ge eine Einwanderungsgesellschaft, allerdings realisie- kommen vielfältige Beziehungen zur Zeitgeschichte vor der Geschichte der Jugend sowie der Polizei- und Ver- ren wir das erst seit kürzerer Zeit. So kommt auch erst und bilden die Komplexität der historischen Erfahrun- waltungsgeschichte. Alfons Kenkmann, Sie sind Ge- „Zeitgeschichte aus aktuellen nach und nach in unserem Bewusstsein an, dass zeit- gen und aktuellen Anknüpfungspunkte ab. schichtsdidaktiker, aber Sie waren auch mal Praktiker geschichtliches Lernen und Lernprozesse im Umgang der Geschichtsvermittlung an einem authentischen Ort, Erfahrungen heraus betrachten“ mit der Geschichte des Nationalsozialismus eben auch Ich gehe davon aus, dass der Nationalsozialismus ange- der Villa ten Hompel in Münster. Mit dem, was in die- Prof. Dr. Astrid Messerschmidt migrationsgesellschaftliche Bildungsprozesse sind. Es ist sichts seines globalen Ausmaßes dazu geführt hat, dass sem Zusammenhang als Authentizität gilt, sind Sie bes- schon angeklungen, dass damit auch Fragen verbunden heute ganz vielfältige, auch biografische Beziehungen zu tens vertraut … Micha Brumlik: Ich begrüße zunächst Astrid Messer- sind: Welches Geschichtsbewusstsein haben verschie- dieser Geschichte bestehen, die nicht nur für diejenigen, schmidt. Sie erforscht zeitgeschichtliche Bildungspro- dene Bevölkerungsgruppen in diesem Land? Ich denke, die eine deutsche Familiengeschichte haben, relevant Alfons Kenkmann: Mit einem authentischen Ort ist na- zesse und Erinnerungskultur – eine Expertin, die wir zu dass aus pädagogischer Sicht vieles davon abhängt, wie sind. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. In Bil- türlich auch schnell der Sinn nach der Aura des ehema-

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ligen Ortes verbunden. Dazu will ich ganz kurz von der Nachgeschichte dann historisch kommentiert werden, ist, weil er als Stiftungsdirektor Leiter der Gedenkstätte Villa ten Hompel erzählen: Als Beispiel dafür, wie inszeniert werden, also mit den klassischen musealen Buchenwald ist. Eine Auszeit nehmen, einen Unterbre- schwie­rig es ist, die Aura des alten Ortes hinüberzuret- Mitteln des Ausstellungsmachers. cher in der Gegenwart: Vor dem Hintergrund wäre es ten. Oder wie kontraproduktiv diese Aura auch sein jetzt interessant nachzufragen, wie viele der Leute, die kann, wenn man sich mit diesem Ort auseinandersetzt. Und über diese historische Auszeit haben wir dann ei- für die Klassik nach Weimar kommen, den Abstecher nen Aufmerker in der Jetztzeit. Das müsste dann ent- nach Buchenwald machen. Ich will Sie aber etwas an- Sieht man vom Kölner EL-DE-Haus ab, ist die Villa ten sprechend pädagogisch aufbereitet werden, immer in deres fragen. Als eine der zentralen, ausgestalteten Ge- Hompel in Münster durchaus vergleichbar mit dem Ort, enger Rückkopplung zur Wissenschaft. Das heißt, es denkstätten für die NS-Zeit und ihre Verbrechen hat es über den wir hier sprechen, der Dorotheenstraße 10 in werden die Ergebnisse der historischen Forschung zu ja nun Buchenwald sowohl mit der Erinnerung an Täter Stuttgart: Sitz des Polizeipräsidiums während des Drit- diesen Lernorten, die zuvor unterschiedliche Nutzer als auch an Opfer zu tun. Können Sie uns etwas dazu ten Reichs, dann der Staatspolizeileitstelle und später hatten, aufgegriffen. Man bleibt in Kontakt mit dem sagen, ob es da unterschiedlicher Darstellungsweisen des Innenministeriums, ein Verwaltungsort also. In der methodischen Repertoire, was man hat. Und diese Ver- bedarf? Villa ten Hompel in Münster saß die Ordnungspolizei für bindung – hier also das Eintauchen in eine historische die gesamte Region Westfalen und darüber hinaus. Und Auszeit im ehemaligen Hotel Silber – könnte dann von Volkhard Knigge: Es ist vielleicht nicht ganz verkehrt in dann war es nachher ein Ort für Wiedergutmachung für großem Ertrag sein, wenn der Transfer zu einer Grund- einer solchen Diskussion vorauszuschicken, dass Ge- politisch, rassisch und religiös Verfolgte. Hier hat man einstellung des Individuums gelänge. Diese Grundein- denkstätten auch einen touristischen Mehrwert abwer- also die Opfer- und Täterperspektive sehr direkt zusam- stellung wäre die einer humanen Autonomie – mit dem fen. Für Weimar heißt das: Wenn 600 000 Menschen men. Ziel, dass man sich in gesellschaftlichen Umbruchzeiten im Jahr Buchenwald besuchen, dann bleiben viele der der Handlungsoptionen des Einzelnen bewusst werden erwachsenen Einzelbesucher in der Regel eine Nacht Praxiserfahrungen: Die Villa ten Hompel in Münster, Jetzt hat man diesen authentischen Ort, aber was ist kann. Also eigentlich den Schritt vom sich wegducken- länger. Denn sie möchten sich auch mit der Klassik, mit die Prof. Dr. Alfons Kenkmann zu einer Gedenkstätte dieser Ort, was macht diesen Ort aus? Es ist erstmal den Zuschauer in konfliktlösenden Momenten zum Goethe beschäftigen. Umgekehrt ist das nicht immer machte, war in der Zeit des Nationalsozialismus eine eine großindustrielle Villa. Der Erbauer ten Hompel war agie­r­enden Hinschauer zu werden. So einen Schritt der Fall. Wenn wir von Buchenwald sprechen, dann Polizeidienststelle Reichstagsabgeordneter während des Dritten Reichs, kann man vielleicht nicht „erlernen“, aber eine ange- sprechen wir nicht nur über ein Konzentrationslager. sollte damals auch Reichswirtschaftsminister werden messene pädagogische Aufbereitung kann helfen, da- Wir sprechen zugleich über Weimar, über den Dop- Opfern machen. Es geht darum, wie man Menschen ver- unter Bauer. Sie haben dort, in dieser Villa, ein Raucher- für zu sensibilisieren. pelort Weimar-Buchenwald, denn Buchenwald ist seit anlasst, menschenfeindlich zu denken und zu handeln. zimmer, es gibt einen großen Garten und so weiter. In 1937/38 ein Stadtteil von Weimar. Weimar ist janusköp- Opfer und Täter fallen nicht vom Himmel. Wer Opfer diesem Gebäude saß dann die Polizei. Und nachher die Und – da bin ich mit Ihnen, Frau Messerschmidt, völlig fig und in dieser Janusköpfigkeit auch ein Tatort, ein Tä- wirklich würdigen will, kommt an der Frage nach den Wiedergutmachungsbehörde, das heißt, man hat den einig: Diese Möglichkeiten des Einzelnen durchzuspie- terort. „… mitten im deutschen Volk“ hat Jean Améry Voraussetzungen und Ursachen, kommt an der kon- Auftrag, diese Aura zu brechen. len, das ist nicht nur eine deutsche Angelegenheit oder festgestellt, haben die nationalsozialistischen Verbre- kreten Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht Sache der autochthonen deutschen Mitglieder unserer chen stattgefunden. Deshalb findet man auch im Zen- vorbei. Der nationalsozialistische Zivilisationsbruch lässt Wenn wir jetzt hier die Debatte um die Dorotheen­ Gesellschaft, sondern es ist die Aufgabe eines jeden trum Weimars massive Spuren der Verbrechen, seiner sich als weltanschaulich-rassistisch begründete absolute straße 10 haben, um das Hotel Silber, da ist es um diese Mitglieds unserer Gesellschaft, sich in diesen Hand- Organisation und der Akteure. Da gibt es das Gauforum, Aufkündigung der Grundsolidarität mit dem Menschen Aura zum einen ja nicht so weit her; hier gibt es kei- lungsoptionen zu stärken und fit zu machen für den ei- die Ghettohäuser für die jüdischen Weimarer oder die als Mensch verstehen. Ein solcher Befund zwingt die ne Aura wie die einer Industriellenvilla. Wir haben aber genen Weg in die aktive Mitgestaltung von Demokratie. ehemalige Gestapoleitstelle im Marstall, heute Haupt- Warum-Fragen geradezu auf. gleichwohl die Chance zu entscheiden: Wie geht man staatsarchiv. An wichtigen Orten befinden sich Gedenk- jetzt mit so einem Lernort um? Ich denke, diese ehe- oder Informationstafeln, in ehemaligen Gestapozellen Die Beschwörung historisch entkernter Pietät hat mit malige Gestapoleitstelle bietet eine große Chance für „Historisches Lernen braucht eine Ausstellung. Ein historischer Stadtführer erschließt moderner Gedenkstättenarbeit nichts zu tun. Es reicht den späteren Besucher dieses riesengroßen Komple- das nationalsozialistische Weimar – und wird gekauft. nicht, Geschichte auf leere Weise zu anthropologisieren: Anhaltspunkte in Raum und Zeit“ xes, der ja hier gebaut werden soll, eine „historische Der Mensch war immer schon schlecht, er lernt sowie- Auszeit“ zu nehmen. Gestatten Sie mir einfach diesen Prof. Dr. Volkhard Knigge Gedenkstättenarbeit als präventive historisch-politische, so nichts aus der Geschichte. Fragen wir deshalb auch ungewöhnlichen Begriff: Man nehme eine historische historisch-ethische Bildung, als kritische Selbstreflexion, nach den politischen, sozialen, kulturellen Ursachen Auszeit in einem Komplex der Postmoderne, um noch Micha Brumlik: Ich begrüße Volkhard Knigge, der Ge- kann sich nicht darauf beschränken, Opfer zu benennen und Mitteln, mit denen menschenfeindliches Denken mal innehalten zu können, innezuwohnen. Und dazu schichte in Medien und Öffentlichkeit der Friedrich- und zu würdigen. Es geht auch zentral um die Frage, und Handeln legitimiert und beigebracht wird, fragen muss die Geschichte des Hotels Silber in seiner Vor- und Schiller-Universität in Jena lehrt und vor allem bekannt warum und auf welche Weise Menschen Menschen zu wir nach der Rolle und Funktion von Bildung und Recht

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in solchen Prozessen, nach den Rollen von Medien oder den Quellen auch dort, wo sie besonders verstören oder „Zeitgeschichte muss ein Stachel Ökonomie. Gedenkstättenarbeit zielt in diesem Sinne schmerzen. in unserem Fleisch sein“ auf die Ermöglichung der Ausbildung kritischen, reflek- tierten Geschichtsbewusstseins, das handfeste Orientie- Diese Auseinandersetzung endet nicht mit dem Jahr Prof. Dr. Peter Steinbach rung für Gegenwart und Zukunft gibt. 1945. Sie schließt die Geschichte der Auseinanderset- zung mit den NS-Verbrechen nach 1945 in Deutschland Micha Brumlik: Peter Steinbach ist Professor für Ge- ein: Ausreden, Apologien, Verleugnungen, die Verwei- schichte in Mannheim, aber als einer der Gründer der gerung, Verbrechen als Verbrechen anzuerkennen, Op- Gedenkstätte Deutscher Widerstand auch in Berlin ver- fer anzuerkennen und zu entschädigen, aber auch den ortet und beschäftigt. Er ist Mitglied des Stiftungsrates Wandel hin zu einer selbstkritischen Aufarbeitung. und Vorsitzender des Internationalen Beirates der dor- tigen Topografie des Terrors. Herr Steinbach, Sie haben Wer sich damit beschäftigt, muss sich zwangsläufig als Gründungsdirektor des Museums für den deutschen auch mit der Zerstörung von baulichen Zeugnissen, Widerstand vielleicht Leute zum Sprechen und in Erin- baulichen Dokumenten des Nationalsozialismus be- nerung gebracht, die vielleicht keine „ganz normalen“ schäftigen. Wie lange hat es gedauert, diesen Zeugnis- Leute gewesen sind. Darum würde ich Sie auch bitten, sen – und oft waren es nur noch kärgliche, überform- etwas zu der Frage der Darstellung der Täter zu sagen. te Reste – Denkmalswert zuzusprechen und sie unter Denkmalschutz zu stellen. Dachau, weitestgehend Peter Steinbach: In Ihrer Eingangsüberlegung haben Sie abgerissen. Flossenbürg abgerissen bzw. städtisch um- diesen herausfordernden Satz gesagt, dass „Täter und Konfrontation mit der Geschichte: Die Beschäftigung und überbaut. Auch die Gestapoleitstelle in Weimar ist Opfer zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren“. Das mit der Vergangenheit kann provokative Wirkung erst seit den 1990er Jahren ein Gedenk- und Lernort. Opfer, das ist eigentlich für uns der Andere, unser Ge- haben, meint Prof. Dr. Peter Steinbach genüber. Auch durch Erinnerung können wir ihn nicht Angesichts dieser Tilgung von Spuren kommt dem heu- wieder in unsere Gemeinschaft zurückholen, denn er ist stabilisieren? Wir vermuten, dass die Beschäftigung mit te noch Erhaltenen – und sei es auch nur partiell er- tot. Die Kernfrage unserer Beschäftigung mit dem Wi- der Zeitgeschichte bei der Festigung von Empathie und halten – großer Wert zu. Zum einen, weil der andere derstand richtet sich eigentlich an uns selbst, als Über- Sensibilität ganz wichtig ist. Umgang mit diesen Zeugnissen heute den Bruch zum lebende oder als Nachlebende sollten wir uns die Frage Damals und auch zum Beschweigen und Verleugnen stellen: Welches Potenzial haben wir? Wenn wir uns mit Welche Bedeutung spielt bei einer zeitgeschichtlichen danach erweist. Zum anderen, weil diese Zeugnisse Brü- den Opfern beschäftigen, müssen wir uns bewusst ma- Konfrontation der Ort, hier etwa das „Hotel Silber“? Als cken zum Damals sind, die die Auseinandersetzung kon- chen, dass wir es dabei immer mit tief verletzten und ich den Begriff zuerst hörte, stellte ich mir ein imposan- Der Geschichte nahe: Prof. Dr. Volkhard Knigge leitet kretisieren und erleichtern. Historisches Lernen braucht nicht selten mit gebrochenen Menschen zu tun haben, tes Gebäude vor, so wie das Berliner Schloss oder die die Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar – ein Tat-Ort, Anhaltspunkte in Raum und Zeit. Das Bewusstsein, hier mit zerstörten Existenzen, gebrochenen Lebensläufen. Prinz-Albrecht-Straße vor der Sprengung. Mir ist dann aber auch ein Ort des Gedenkens an die Opfer ist es geschehen, macht Lernprozesse in Gedenkstät- Kein Bereich der Geschichte macht überdies so deutlich klar geworden: So, wie sich der Ort heute präsentiert, ten, an den authentischen Ort so intensiv. Hier ist man wie die Widerstandsgeschichte, dass der Riss zwischen ist er eigentlich ein Zeichen für die Gleichgültigkeit und Natürlich behandelt man in diesem Kontext Täterge- der Geschichte näher als in jedem noch so guten Schul- Opfer und Täter häufig mitten durch den Menschen die Bewusstlosigkeit in den 70er- und 80er-Jahren. Das schichte anders als Opfergeschichte. Es geht nicht um buch. Orte wie das ehemalige Hotel Silber enthalten ein geht, wie Havel einmal gesagt hat. unterscheidet auch diesen Ort etwa von der Gedenk- Empathie für Täter, erst recht nicht um exkulpierende enormes Potential für die Ausbildung demokratischen, stätte Deutscher Widerstand als einem wirklich authen- Identifikation nach dem Motto, die Zeiten waren so, da menschenrechtlichen Bewusstseins. Ihre historisch-pä- Und damit sind wir bei der großen Chance, die die Be- tischen Sterbeort zentraler Persönlichkeiten des 20. Juli. konnte der Einzelne nicht anders. Solche Ausreden ha- dagogische Erschließung stärkt demokratische Kultur. schäftigung mit Zeitgeschichte bietet. Jeder Zeithistori- Deshalb bezweifle ich, ob man solch einen so lange aus ben die Nachkriegszeit breit geprägt und sie sind auch Entwicklung und Festigung der Demokratie in der Bun- ker, der sich mit der Geschichte der NS-Zeit oder mit dem Bewusstsein einer Stadt und ihrer Bewohner ver- heute noch oder wieder zu hören. Es geht um Begreifen. desrepublik haben sich nicht zuletzt durch die kritische anderen menschenverachtenden Systemen beschäftigt, drängten Ort wieder in die historische und politische Von Lebensläufen und Prägungen, von Interessen und Auseinandersetzung mit der ihnen vorausgehenden entwickelt ein Gespür dafür, wie dünn das Eis, der Firnis Aufmerksamkeit zurückholen kann. Welche Interessen Motiven und so weiter. Dazu bedarf es einer gewissen Menschenfeindlichkeit genährt. An solchen Orten wird der Zivilisation ist. Und auf uns, angepasste, nicht selten stehen aber hinter diesem Versuch, ist zu fragen. Das analytischen Kälte, eines genauen Hinsehens und einer greifbar, warum es sich lohnt, es anders zu machen als gefällige Wesen ist oft kein Verlass. Was also gebe ich sind ganz sicher zivilgesellschaftliche Interessen – viel- entsprechend tiefenscharfen Auseinandersetzung mit Damals. weiter, habe ich zu fragen, wie kann ich diesen Firnis leicht zugleich aber auch ganz anders geartete Neben-

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gedanken, die die Auseinandersetzung über einen Ort Zeitgeschichte muss eine Herausforderung, ein Stachel ein Drei-Säulen-Modell, wir haben zum einen dort die schule in , die dortige Kollegin macht das benutzen, um ganz andere Ziele und Zwecke zu errei- in unserem Fleisch sein. Die Beschäftigung mit ihr muss Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen; die juris- auch mit großem Elan. Sowohl was die Fachwissenschaft chen, zum Beispiel bauliche Veränderungen zu verhin- wehtun, denn wir haben alle einen guten Teil des zer- tische Aufarbeitung der NS-Verbrechen geht ja weiter. anbelangt als auch die pädagogisch-didaktische Beglei- dern oder Planungen zu komplizieren. Ich kann in der störerischen Potenzials in uns, das die Nationalsozi- Sie endet ja nicht mit einem Schlussstrich, sondern wir tung befinden wir uns hier im deutschen Südwesten in Auseinandersetzung um historische Orte nur warnen alisten ausgenutzt haben. Die Geschichte der NS-Zeit hatten 2008 im Dezember 50 Jahre Bestehen der Zen- einer deutschlandweit mehr als komfortablen Lage. vor Unehrlichkeit in der Bezeichnung von Motiven. ist menschliche Geschichte. Menschen sind wir auch. tralen Stelle als Lieu de mémoire. An keinem anderen „Nicht von dem, was wir im anderen verachten, ist uns Ort lässt sich so prägnant ablesen, wie die bundesdeut- Es soll demnächst eine große Landesausstellung zum Dass Stuttgart für die zeitgeschichtliche Forschung eine selbst ganz fremd“, sagte Bonhoeffer. Deshalb lassen sche Gesellschaft nach anfänglichem Zögern doch ein Thema Widerstand im deutschen Südwesten geben, die erhebliche Bedeutung hat, wird deutlich in dem Begriff Sie mich Adorno zitieren, der hat nicht nur über Erzie- Bekenntnis dazu abgelegt hat, dass die Täter in der ei- vom Haus der Geschichte verantwortet wird. Die Kolle- Stuttgarts als „Stadt der Auslandsdeutschen“. Die so hung nach Auschwitz gesprochen, sondern er hat ge- genen Gesellschaft zu suchen sind. ginnen und Kollegen vom Haus der Geschichte schen- angesprochene Integrations- und Immigrationsproble- sagt: „Auschwitz war nicht, Auschwitz ist“. Ich denke, ken dem Thema Nationalsozialismus in ihrer Daueraus- matik springt mich förmlich an, ebenso wie die Erinne- das ist ein Imperativ, an dem man wachsen kann – dem Ich bin ja „nur“ der Direktor der Forschungsstelle, einer stellung, in diversen Wechselausstellungen und in der rung an die Deportation der mehr als 7000 badischen man sich stellen muss. kleinen Einrichtung der Universität Stuttgart, die ver- geplanten Landesausstellung viel Sachverstand und und Pfälzer Juden, deren abschließende Vermögensver- sucht, mit den dort verwahrten Akten und aber auch Auf­merksamkeit. Insgesamt meine ich mir als Fachwis- wertung mit dem Hotel Silber zusammenhängt. mit anderen Akten unter anderem die Geschichte der senschaftler das Urteil erlauben zu können, dass wir hier „Wissenschaftliche Aufarbeitung der Aufarbeitung der NS-Verbrechen und der Auseinan- im Großraum Stuttgart, in Baden-Württemberg – nicht Nehmen Sie auch in den Blick, was bisher an zeitge- dersetzung mit dem Nationalsozialismus historisch zu zuletzt was die Täterforschung anbelangt – eine einzig- Fragen an die deutsche Geschichte“ schichtlicher Forschung genannt worden ist. Herr Brum- dokumentieren. Kürzlich erschien in der Schriftenrei- artige Forschungslandschaft haben, die sich durchaus lik hat bereits die Arbeit von Herrn Müller genannt, dazu Prof. Dr. Wolfram Pyta he unserer Einrichtung die Studie von Frau Dr. Annet- international sehen lassen kann. gehört die Dokumentation des vor wenigen Wochen te Weinke, die belegt, dass nach anfänglichem Zögern verstorbenen Sauer, dem wir die erste Dokumentation Micha Brumlik: Wolfram Pyta ist der Stuttgarter in und auch politischem Gegenwind seit den 60er-Jahren über die südwestdeutschen Juden verdanken. Ich den- unserer Runde, Geschichtsprofessor an der Universität zunehmend eine ungeschminkte und auch – Herr Stein- ke an Waldemar Besson, den wir anfangs vielleicht gar Stuttgart. Im zurückliegenden Jahr ist er mit dem Landes­ bach hat darauf hingewiesen – durchaus pochende und nicht verstanden haben, als er Geschichte und Politik ­forschungspreis für Grundlagenforschung aus­gezeich­ bohrende Anfrage an die eigene Geschichte und Identi- zusammenführte. Ich denke an Eberhard Jäckel und an net worden, und er ist Direktor der Forschungsstelle tät gestellt worden ist. Golo Mann, die an der Stuttgarter Universität lehrten Ludwigsburg zur NS-Geschichte. Ja, Zeitgeschichte muss und zeitgeschichtliche Konfrontationen riskierten. wehtun, sie ist auch ein Stachel, aber Zeitgeschichte ist Als dritten Akteur gibt es in Ludwigsburg das Bundes­ uns eben auch überliefert durch historische Orte in der archiv, Außenstelle Ludwigsburg. Das heißt, die eigent- Schließlich: Lassen Sie uns über die Geschichte also Stadt. Aber nicht zuletzt eben auch durch Akten, die lichen Akten, die die Juristen nicht mehr benötigen, sind auch nachdenken, indem wir unseren Umgang mit der man zum Sprechen bringen kann. Herr Pyta, als Direktor in der Obhut des Bundesarchivs. Wir haben dort einen Zeitgeschichte reflektieren. Dann rücken ganz neue Ak- der Forschungsstelle Ludwigsburg zur NS-Geschichte in Deutschland einzigartigen Ort, an dem juristische teure in unseren Blick. Es kommt nicht darauf an, dass und damit als jemand, der über ein enormes histori- Er­mittlung, historische Forschung und professionelle wir mit der Erinnerung ein sanftes Ruhekissen gestalten, sches Material verfügt, möchte ich Sie fragen, wie Sie Aufbereitung der Akten ermöglicht wird. Wie man sondern darauf, dass wir uns die provokative Wirkung diesen Fundus für die zeitgeschichtliche Bildung in überhaupt sagen kann, dass die wissenschaftliche Er­ der Zeitgeschichte bewusst machen. Stuttgart und Württemberg erschließen. Ist das etwas, forschung sowohl des Widerstandes als auch der Täter was junge Leute, Studenten oder auch Schülerinnen in keinem deutschen Bundesland so intensiv von der Als Orte der Auseinandersetzung könnte ich mir in und Schüler unter Umständen eigenständig nutzen Geschichtswissenschaft betrieben wird wie hier an den Stuttgart vieles vorstellen. Das Stadtmuseum wird neu könnten, um sich selbst mit der Geschichte vertraut zu baden-württembergischen Universitäten. Dort gibt es entstehen. Es gibt zeitgeschichtliche Rundgänge, wir machen? einen vom Kultusministerium finanzierten Lehrer, der haben 180 Stolpersteine, die ja keine Grabsteine sind, Studenten und auch Schüler durch diese Orte führt. In sondern die sagen sollen: An dieser Stelle lebte ein Wolfram Pyta: Ich muss Sie insofern enttäuschen, als ich Ludwigsburg ist es also möglich, mit den Originaldo- Prof. Dr. Wolfram Pyta (rechts im Bild) ist Direktor der Mensch, er wurde plötzlich aus seinem Leben, aus un- nicht der Herr über die Akten bin; das ist die Zentra- kumenten, die die juristische Ermittlung widerspiegeln Forschungsstelle Ludwigsburg und steht für die histori- serer Mitte, herausgerissen. Zeitgeschichte ist nur sinn- le Stelle. Aber ich darf die Konstruktion Ludwigsburg, pädagogisch-didaktisch hochwertige Erziehungsarbeit sche Dokumen­tation der Auseinandersetzung mit dem voll, wenn wir sie respektieren als eine Frage an uns. vor den Toren von Stuttgart gelegen, erläutern: Es ist zu leisten. Wir haben ja auch eine Pädagogische Hoch- Nationalsozialismus

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Hearing AM 17. Juli 2010 Prof. Dr. Astrid Messerschmidt

*1965. Seit 2009 Professorin für Interkulturelle Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, zuvor war sie Vertre- tungsprofessorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Flensburg. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Erinn erungsorte Darmstadt, in der Erwachsenen- und politischen Bildung tätig. Autorin; u.a. Beiträge zum pädagogischen Umgang mit Rassismus und Antisemitismus, Bildung in der Migrationsgesellschaft. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Zeitgeschichtliche Bildungsprozesse und Erinnerungskultur, Pädagogik und Erwachsenenbildung in der Einwanderungsgesellschaft. in Stuttgart

Prof. Dr. Peter Steinbach

*1948. Er ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim und leitete die dortige Forschungsstelle Das Gedenkstättenkonzept Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten. Er ist seit 1983 wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Zudem Mitglied in wissenschaftlichen Gremien, Vorsitzender des Internationalen Beirats der des Landes Baden-Württemberg Stiftung Topographie des Terrors in Berlin und des Dokumentationszentrums Zwangsarbeit im NS-System in Berlin-Schöneweide. Forschungsschwerpunkte: NS-Gewaltverbrechen in der öffentlichen Diskussion, Widerstandsgeschichte und die vergleichende Diktaturforschung.

Alfons Kenkmann

*1957. Seit 2003 Professor für Geschichtsdidaktik an der Universität Leipzig. Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten. Zuvor von 1998 bis 2003 wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer des Geschichtsortes Villa ten Hompel in Münster und zu- gleich Lehrbeauftragter an den Universitäten Dortmund und Münster. Drei Jahre lang arbeitete er als Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Münster. Forschungsschwerpunkte u.a.: Didaktik der Geschichte, Polizei- und Verwaltungsgeschichte, Oral History, Methodologie

Prof. Dr. Volkhard Knigge

*1954. Seit 1994 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Seit 2002 Honorarprofessor, seit 2008 ordentlicher Professor am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena für das Fachgebiet „Geschichte in Medien und Öffentlichkeit“. Unter anderem Mitglied der Sachverständigenkommission beim Kulturstaatsminister für die Gedenkstätten- förderkonzeption des Bundes. Studium der Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaft in Oldenburg und Paris. Arbeitsschwerpunkt und zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Geschichte, Geschichtsdidaktik, Kunst und Gedenkstätten.

Prof. Dr. Wolfram Pyta

*1960. Seit 1999 Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart und seit 2001 Direktor der „Forschungsstelle Ludwigsburg“ zur NS-Verbrechensgeschichte. Studium in Bonn und Köln. Lehrerfahrungen sam- melte er auch an den Universitäten Tübingen und Bonn. 2009 erhielt er den Landesforschungspreis für Grundlagenforschung des Landes Baden-Württemberg für seine Forschungen zu Hindenburg. Forschungsaktivitäten u.a.: Weimarer Republik, Holo- caust-Forschung, Literatur und Geschichte. In methodischer Hinsicht zielen die Forschungsschwerpunkte darauf ab, Politik- und Kulturgeschichte systematisch zu verbinden.

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Ansporn. Denn am Anfang standen die Bürger. Und Wir verstehen uns dabei als Partnerin der Gedenkstät- die allermeisten Gedenkstätten im Land verstehen sich ten und als Dienstleisterin. Wir unterhalten keine eigene bis heute als „Bürgerprojekte“. Im besten Sinne, so wie Gedenkstätte und können so eine interessenfreie Mo- es die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 derations- und Clearing-Rolle wahrnehmen. Der Land- Konrad Pflug, und 2008 formuliert: „Lokal, regional, dezentral und tag beschloss im Dezember 1995, die Gedenkstätten Abteilungsleiter Landeszentrale für politische Bildung ehrenamtlich“. regelmäßig über die Landeszentrale zu fördern. Diese Entscheidungen fielen, einvernehmlich zwischen den Sie, die Bürgerinnen und Bürger, schufen mit ihrem En- demokratischen Fraktionen des Landtags (also ohne gagement landesweit eine spezifische, in der Fachwelt NPD). Die Gedenkstätten sehen darin ihrerseits einen Das Gedenkstättenkonzept des anerkannte Erinnerungs- und Gedenkkultur. Professor ihrem Anliegen entsprechenden Beitrag zur politischen Landes Baden-Württemberg Peter Steinbach bezeichnet sie in ihrer thematischen Kultur des Landes. Konrad Pflug Breite und ihrer bürgerschaftlichen Verfasstheit als sin- gulär in Deutschland. Aleida Assmann (Universität Kon- Das hier vorzustellende Konzept ist daher keine staatli- stanz) bewertete diese Struktur als „Demokratisierung che oder gar regierungsamtliche Vorgabe, sondern das „Die Praxis der Gedenkstätten ist seit den 1980er Jahren Beide Formulierungen konstatieren den hohen Wert der Erinnerung durch Ehrenamtlichkeit“. Dabei ist aber Ergebnis eines ständigen Diskurses zwischen den Ge- ein anerkannter Sektor der Kulturpolitik.“ Diese Fest- der Gedenkstätten für die Würdigung der Opfer, die auch klar, dass die Leistungsfähigkeit der Ehrenamtli- denkstätten untereinander, der Landesarbeitsgemein- stellung trifft Jan Philipp Reemtsma in einem jüngst er- Erinnerung an eine verbrecherische Vergangenheit, die chen begrenzt ist und künftig der professionellen Un- schaft der Gedenkstätten und der Landeszentrale. Das schienen Beitrag zur „Zukunft der Erinnerung“. Mahnung für die Zukunft wie auch den Respekt vor den terstützung bedarf. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Land hat dieses Konzept anerkannt und in mehreren Bürgern, die die Gedenkstätten geschaffen haben und Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen hat dazu parlamentarischen Vorgängen von Anfang an bestätigt, „Gedenk- und Erinnerungsstätten sind Teil unserer po- betreiben. Diese kommen – und das ist grundlegend bereits 2008/09 „Zukunftsüberlegungen“ angestellt. zuletzt im Sommer 2009 auf eine parlamentarische An- litischen Kultur. Sie erinnern an Unterdrückung, an wichtig – aus allen gesellschaftlichen, religiösen und frage der SPD-Fraktion hin (und mittlerweile einstim- Verfolgung und Ermordung von Menschen unter der weltanschaulichen Lagern. Das deckt sich wiederum mit Die Demokratisierung besteht in der Unabhängigkeit mig in der Landeskonzeption „Kultur 2020“ vom Juli Herrschaft des Nationalsozialismus, aber auch an Wi- dem Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung, der Träger als Vereine, den unterschiedlichen Perspekti- 2010, K.P.). Singularität bedeutet aber nicht Isolation. derstand und Verweigerung. […] Die Erinnerung mahnt überparteilich und überkonfessionell zu arbeiten. ven und methodischen bzw. pädagogischen Zugängen Zu den allermeisten Personen und Institutionen, die zur Wahrung der Menschenwürde, zu Freiheit, Demo- und Zielen, also einer tatsächlichen Pluralität. Durch ihre heute Beiträge leisten – und auch zu zahlreichen ande- kratie und Zivilcourage. Sie ist Teil unserer demokrati- Anzahl (rund 60) als auch in ihrer thematischen Breite ren – unterhalten wir gute fachliche und auch kollegiale schen Traditionsbildung“. So steht es in der Konzeption Die Entwicklung der Gedenkstättenlandschaft bewirken die Gedenkstätten eine historische wie ge- Kontakte. „Kultur 2020“ für Baden-Württemberg. in Baden-Württemberg sellschaftliche „Schichtenerschließung“, ein nach Aleida Assmann prinzipiell wie methodisch unverzichtbares Ele- Aus der Wahrnehmung der hiesigen Gedenkstätten ment der Erinnerungskultur. Die örtliche wie inhaltliche Zielsetzungen und Arbeitsfelder sind zwei wichtige Ereignisse zu erwähnen: Vielfalt garantiert eine offene und lebendige, von Bür- gerinnen und Bürgern unmittelbar gestaltete Szene, die Das Land, die Landeszentrale und die Gedenkstätten ➜ die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsä- stets in Bewegung ist und sich flexibel neuen Erkennt- stimmen überein, dass sie cker zum 8. Mai 1985, in der er zu einem offenen nissen oder pädagogischen Anforderungen stellen kann. und ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit auf- ➜ das Gedenken und Erinnern an die Leiden der Opfer forderte 1996 waren es 17 Gedenkstätten, heute zählen wir der Verfolgung während der nationalsozialistischen insgesamt rund 60. Davon wurden zwei erst kürzlich Gewaltherrschaft und die Erinnerung an den Wider- ➜ Ministerpräsident Erwin Teufel am Volkstrauertag eröffnet, an den KZ-Außenlagern Hailfingen-Tailfingen stand gegen das NS-Regime in Baden-Württemberg 1993 in der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg in und am Flughafen Stuttgart; zwei weitere sind in Vor- sachlich fundiert und in angemessener Form gestal- auch vor Angehörigen der Lagergemeinschaft bereitung. Die Gedenkstätten haben sich 1994 in der ten und aufrecht erhalten wollen Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und -in- Beide legitimierten damit öffentlich die oft angezwei- itiativen in Baden-Württemberg (LAGG) zusammenge- ➜ das Gespräch zwischen Zeitzeugen und Nachleben- G edenkstätte Dokumentationszentrum KZ Oberer Kuh- felten und angefeindeten Aktivitäten der Gedenkstät- schlossen. Ihre Betreuung liegt auf ausdrücklichen Be- den über ihre Erfahrungen aus Geschichte und Poli- berg Ulm. Eingangsbereich im ehemaligen Fort heute. teninitiativen vor Ort, gaben ihnen Aufschwung und schluss hin bei der Landeszentrale für politische Bildung. tik ermöglichen wollen

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➜ gegen Rassismus, Extremismus und Antisemitismus ➜ Alliierte Kriegsgefangene / Displaced Persons Das Land anerkennt die Leistungen der vielen engagier- eintreten und die Begegnung und den Dialog über ten Bürgerinnen und Bürger. Wir, Gedenkstätten und Grenzen hinweg fördern wollen ➜ der Widerstand Landeszentrale, versuchen in partnerschaftlicher Ko- operation mit Ihnen wie mit den Kolleginnen und Kolle- ➜ ebenso die Verständigung und Versöhnung mit den ➜ und die Gedenkstätten im Ausland mit direktem Be- gen im In- und Ausland der historischen Verpflichtung Völkern, die unter dem Nationalsozialismus gelitten zug zu Baden-Württemberg (am Internierungslager gerecht zu werden, die ein ehemaliger KZ-Gefangener haben Verankert an den jeweiligen Orten: „Die meisten Ge- Gurs in den Pyrenäen für die Juden aus Baden, im in Bisingen formulierte: „Mut zur Erinnerung und Mut denkstätten im Land verstehen sich als Bürgerprojekte.“ Bikernieki-Wäldchen bei Riga in Lettland für die Ju- zur Verantwortung.“ Gedenkstätten erinnern an die Opfer der NS-Herrschaft den aus Württemberg, das Kinderheim Izieu östlich oder an den Widerstand. Sie befinden sich in der Regel von Lyon für jüdische Kinder aus Baden und das im an authentischen historischen Orten oder haben be- ➜ einem differenzierten gedenkstättenpädagogischen Elsaß und das „Centre européen du résistant dépor- Die Übersicht zeigt: Es gibt keine weißen Flecken auf stimmte Tat- und Verfolgungskomplexe beziehungsweise Angebot té (CERD) am ehemaligen Konzentrationslager Natz- der Gedenkstätten-Landkarte in Baden-Württemberg. Formen des Widerstands zum Gegenstand. Wichtig ist weiler-Struthof in den Vogesen, dem Stammlager 200 000 Menschen besuchen jährlich die insgesamt Orte des Gedenkens und des Erinnerns in Baden-Württemberg dabei die Rückbindung des Ortes an den unmittelbaren ➜ dem ehrenamtlichen Engagement der Bürgerinnen unserer örtlichen ehemaligen Konzentrationslager 60 Gedenkstätten Lebensraum der Besucher. Sie finden bauliche oder an- und Bürger, die diese Stätten geschaffen haben 1944/45) dere Relikte vor, zusätzlich gibt es museal aufbereitete Darstellungen, methodisch-didaktische Unterrichtsunter- ➜ der kontinuierlichen Förderung durch das Land, die lagen und die Betreuung durch kundige Mitarbeiterinnen Landkreise und Kommunen Gestaltungsprinzipien und Förderung Riga, Lettland und Mitarbeiter. Dieses Angebot erfolgt verlässlich, regel- durch das Land mäßig und auf Dauer. Wenn diese Voraussetzungen vor- Ausgangspunkte für das Gedenken und Erinnern waren liegen, sprechen wir von einer„arbeitenden Gedenkstätte“. und sind stets die Orte und die Opfer der dort begange- Wie fördern wir also? Folgendes bieten wir an: Werbach-Wenkheim nen Verbrechen. Obwohl es auf dem Gebiet des Landes Hemsbach Walldürn Die Besucherzahl im Land liegt jährlich bei über 200 000 – vielleicht mit Ausnahme von Grafeneck – keinen der ➜ Beratung und Koordination bei der Planung Mannheim- Buchen Sandhofen Hirschberg-Leutershausen Personen. 2008 waren davon 40,5 Prozent Schüler und weit über das Land hinaus berüchtigten Verbrechensor- und Gestaltung Mosbach-Neckarelz Adelsheim-Sennfeld Jugendliche. Im Rahmen der Bildungspläne des Lan- te gab (dafür stand lange stellvertretend Dachau), sind es Heidelberg Neckarzimmern Creglingen Bad-Friedrichshall-Kochendorf Sinsheim-Steinsfurt Rot am See-Brettheim des Baden-Württemberg werden die Gedenkstätten doch Orte, die buchstäblich „vor der Haustüre“ liegen. ➜ Beratung bei der Entwicklung pädagogischer Forchtenberg Wallhausen-Michelbach Obersulm-Affaltrach Braunsbach zunehmend von allen Schularten für qualifizierte Un- Konzepte Eppingen Schwäbisch Hall Brackenheim Weinsberg Crailsheim terrichtsformen genutzt. Dazu dienen auch Angebote Dies sind: Karlsruhe Freudental Wackershofen Hessental Bühlerzell-Gantenwald zur Lehrerfortbildung. Gedenkstätten sehen sich heute ➜ Beratung bei der Beantragung von Drittmitteln Vaihingen/Enz Bopfingen-Oberdorf Ludwigsburg ergänzend zu ihrer Kernaufgabe auch als Träger des lo- ➜ „Frühe“ Konzentrationslager 1933 bis 1935 und der Eröffnung weiterer Förderwege Königsbronn Göppingen-Jebenhausen kalen und regionalen Kulturangebots, naturgemäß mit -Strasbourg Leonberg Stuttgart Filderstadt/Le.-Echterdingen Natzweiler- spezifischem Charakter. Zur Umsetzung bilden sie zu- ➜ Politische Verfolgung ➜ die finanzielle Förderung zur Sicherung der pädago- Tübingen Struthof Rottenburg-Baisingen Hailfingen-Tailfingen Horb-Rexingen Ulm nehmend regionale Arbeitsgemeinschaften. gischen und wissenschaftlichen Arbeits­fähigkeit Gomadingen- Horb-Nordstetten Hechingen Haigerloch Grafeneck ➜ „Euthanasie“ und Medizin Blaustein-Herrlingen Dazu kommen einige Sonderbereiche. Das Haus der Haslach im Kinzigtal Bisingen Münsingen-Buttenhausen Strukturen ➜ Rassismus – Sinti und Roma Geschichte hat seinerseits verschiedene Erinnerungs- Schömberg-Schörzingen Laupheim und Gedenkstätten geschaffen. Ferner fördert das Sozi- Albstadt-Lautlingen Breisach Bad Buchau Die Gedenkstättenarbeit in Baden-Württemberg beruht ➜ Jüdisches Leben und Holocaust: Ehemalige Synago- alministerium die Erinnerung und das Gedenken an den Sulzburg Königsfeld im Schwarzwald auf fünf Säulen: gen und jüdische Einrichtungen sowie die Erinne- Völkermord an den Sinti und Roma und das Mahnmal Überlingen Gailingen rung an die Deportationen aus Baden, Württemberg Die grauen Busse, das an die Krankenmorde im Rahmen -Tiengen -Weißenau

➜ den historischen, authentischen Orten und Hohenzollern der NS-„Euthanasie“ erinnert. Es ist kein Widerspruch, Öhningen-Wangen dass auch andere beteiligt sind; sondern wir verfolgen Gurs, Südfrankreich ➜ deren gründlicher geschichtswissenschaftlicher ➜ „Späte“ Konzentrationslager 1944 bis 1945: dies gemeinsam im Kontakt und in Absprache mitein- Aufarbeitung Außenlager der KZ Natzweiler-Struthof ander.

© Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Illustration: Lucia Winckler

26 27 e EP T er ENKONZ Erinn ungsort GENSTÄTTDE K in Stuttgart

Was wäre mit Blick auf die el, das auch für Yad Vashem zuständig ist. Ich fand und Dorotheenstraße zu tun? finde dieses Prinzip beim Umgang mit den Ungeheu- Hearing AM 17. Juli 2010 erlichkeiten der NS-Verbrechen stets richtungsweisend Lassen Sie mich nun auf dem Hintergrund des Gesagten und hilfreich. einen vielleicht hilfreichen Ratschlag für diesen Gedenk­ Erinn erungsorte ort geben: Was bedeutet das im Hinblick auf unsere Fragestellung? Befund und Zustand sind zu klären: die sach- und Ort- Das Gebäude an der Dorotheenstraße hatte seit sei- geschichte muss gründlich aufgearbeitet und dokumen- in Stuttgart nem Bau mehrere Identitäten und Erscheinungsformen. tiert werden. Daraus ist zu entwickeln, wie Ort, Bau- Eindeutig ist es ein verbürgter historischer Ort, ein in lichkeit und Geschichte in einem „Ort der Information“ seiner Lage unveränderter Ort, ein durch staatliche Ver- zusammengefasst werden können. Dieser Ort muss brechen während der NS-Zeit stigmatisierter Ort. Seine dann um differenzierte gedenkstättenpädagogische Der Umgang mit Erinnerung – Authentizität erschließt sich aber nicht ohne Weiteres: Angebote ergänzt werden. Es ist zwar ein „Original“, das aber teilweise zerstört, Erfahrungen aus anderen Städten umgebaut und übermalt wurde. Dadurch ist es weniger Sind diese Aufgaben und Überlegungen zufriedenstel- ein primäres Zeugnis wie etwa eine gut erhaltene alte lend gelöst, bekommen die Erinnerung und das Geden- Handschrift, sondern eher eine Art mehrfach überlager- ken einen Ort, so wie die historisch-politische Schul-, tes Palimpsest. Jugend- und Erwachsenbildung einen Lernort. Diese Aufgabe muss nun angegangen werden. Das wird ein Wie soll man nun damit umgehen? „Der Holocaust, bisschen Zeit kosten, viel Nachdenken aber auch Nach- (hier als Synonym für alle NS-Verbrechen verwendet, denklichkeit erfordern. K.P.), ist ein geschichtliches Ereignis. Es soll daher mit den gleichen Mitteln analysiert werden wie andere his- torische Themen auch.“ Das ist kein Satz von mir, son- Weiterführende Informationen: dern von Michael Jaron, dem Verantwortlichen für den www.gedenkstaetten-bw.de Geschichtsunterricht im Erziehungsministerium von Isra- www.lpb-bw.de

Konrad Pflug A bteilungsleiter Landeszentrale für politische Bildung

*1946, Leiter der Abteilung „Demokratisches Engagement“ der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg. In dieser Funktion ist er vornehmlich für den Fachbereich Gedenkstättenarbeit zuständig.

Der Fachbereich „Gedenkstättenarbeit“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg hat eine beratende, koor- dinierende und fördernde Funktion. Er arbeitet eng mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätten- initiativen in Baden-Württemberg (LAGG) zusammen. Sie bündelt die zumeist ehrenamtliche Arbeit der rund 60 Gedenkstätten im Land. Die Landeszentrale für politische Bildung unterhält selbst keine Gedenk- oder Erinnerungsstätte.

Die Besucherzahl der Gedenkstätten des Landes liegt jährlich bei über 200 000 Personen. 2008 waren davon 40,5 Prozent Schü- ler und Jugendliche. Im Rahmen der Bildungspläne werden die Gedenkstätten zunehmend für qualifizierte Unterrichtsformen genutzt.

28 29 e E er SBERI CHT Erinn ungsort ERFA ungHR in Stuttgart

Um die Einhaltung der Leitlinien zu gewährleisten, wur- mentationszentrum mit seinen Ausstellungen und de eine verwaltungsinterne Koordinierungsgruppe ein- mit seiner pädagogischen Arbeit im Studienforum. Die gerichtet, in der die einschlägigen Dienststellen und Re- wich­tigsten Elemente dieses Angebots sind: ferate vertreten sind. Hier werden Einzelfragen diskutiert, Dr. Thomas Brehm, etwa zur Errichtung eines Biergartens oder dem Standort ➜ Rundgänge übers Gelände mit der unmittelbaren Leiter des Kunst- und Kulturpädagogischen von Mobilfunkmasten. Es wird aber vor allem das Gelän- Erfahrbarkeit des Orts, der Architektur und der In- Zentrums der Museen in Nürnberg de konzeptionell weiterentwickelt. Die Koordinierungs- szenierungselemente der NS-Propaganda gruppe ist beratend tätig, die Entscheidungen liegen bei den betreffenden Dienststellen bzw. bei der politischen ➜ Themengespräche, die die Daueraussstellung mit Das ehemalige Reichsparteitagsgelände Ebene. Die Koordinierungsgruppe ist bestrebt, für die unterschiedlichen Schwerpunkten vertiefen Dr. Thomas Brehm jeweils unterschiedlichen Interessen konsensuale Lösun- gen zu finden. Nur in seltenen Fällen wird abgestimmt. Gerade wegen ihres „nur“ beratenden Charakters hat sie nach meinem Eindruck in der Vorklärung einen ho- In sehr komprimierter Form möchte ich Ihnen zeigen, gung stand im Vordergrund, sondern eine Art Basisarbeit hen Wert und versachlicht manche Diskussionen. wie sich der Umgang Nürnbergs mit den baulichen für die notwendige, offene Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaften auf dem ehemaligen Reichspartei- Vergangenheit im Blick auf die Zukunft und im Blick auf das Kommen wir noch zur didaktischen Erschließung des tagsgelände entwickelt hat, welche Grundsätze hierfür neue Selbstverständnis der Stadt. Dies alles mündete 2001 Geländes. Wesentliche Elemente sind: erarbeitet wurden und wie das Gelände als historisch- in das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände. politischer Lernort erschlossen wird. Das Reichspartei- ➜ Das Geländeinformationssystem, das in der tagsgelände steht auf außergewöhnliche Weise für die 2004 verabschiedete der Nürnberger Stadtrat einstim­ Koordinierungsgruppe erarbeitet wurde Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit: Es ist mig Leitlinien zum Umgang mit dem ehemaligen Reichs- ein großes Naherholungsgebiet in den Randbezirken parteitagsgelände – die erste offizielle Stellungnahme ➜ Rundgänge übers Gelände, die seit mehr als 20 Jah­- der Stadt – und zugleich ein besonderer Lernort. der Stadt. Deren wesentliche Punkte sind: ren von „Geschichte für Alle e.V“ angeboten werden

Über Jahrzehnte war das Verhältnis der Stadt zu diesem ➜ Erhaltung der baulichen Reste. ➜ Das Dokumentationszentrum Reichsparteitags­ Gelände ein Nicht-Verhältnis, das durch pragmatische Das bedeutet: keine Rekonstruktionen gelände mit seinem Studienforum Nutzungen geprägt war. Man wollte durch Nichtbeach- tung das NS-Stigma vergessen machen. Erst vierzig Jah- ➜ Erschließung des historischen Lernorts Im Bild rechts sehen Sie eine von 23 Stationen des re nach Kriegsende 1985 gab es eine erste provisorische Geländeinformationssystems. Es informiert über die Ausstellung „Faszination und Gewalt“ – und von da an ➜ Ausbau des Dokumentationszentrums gegenwärtige Nutzung, die Funktion im Rahmen des regelmäßige Begehungen von „Geschichte für alle e.V.“ NS-Parteitagsgeländes und über den Ort vor dem Um- über das Gelände und auch die ersten Publikationen ➜ Temporäre künstlerische „Kontrapunkte“, die neue bau durch die Nationalsozialisten. Diese Stationen sind über das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Zugänge zur Vergangenheit und zum Umgang mit überall auf dem Gelände verteilt und sollen auch den- dieser Vergangenheit eröffnen sollen jenigen, die sich dort zufällig aufhalten – zum Beispiel Die mentale Verfassung in der Stadt änderte sich durch zum Grillen am Wochenende – die Möglichkeit geben, Er­eignisse, die zunächst unmittelbar nichts mit dem Ge- ➜ Förderung der Infrastruktur für die individuelle sich zu informieren über den Ort, an dem sie ihrem Grill- lände zu tun hatten. Durch Dani Karavans Installation Frei­zeitnutzung als eines angemessenen und er- vergnügen nachgehen. vor dem Germanischen Nationalmuseum, den „Way of wünschten Umgangs mit dem Gelände: Dort wo Human Rights“ 1993, die Stiftung des Nürnberger Men- früher Menschen in Reih‘ und Glied paradierten und schenrechtspreises 1995 und die Stiftung „Nürnberg – menschliche Baukörper bildeten, ist die individuelle Studienforum und Dokumentationszentrum Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ 2000 bekam Freizeitnutzung mit Grillplätzen, Sport und ähnli- die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit eine andere, chem auch ein angemessener Umgang mit diesem Wichtigster Bezugspunkt, oder wie es in den Leitlinien I nformation am authentischen Ort: Die Zeppelintribüne positive Ausrichtung. Nicht mehr Vergangenheitsbewälti- Ort der Täter heißt „Nukleus“ für alle Erschließungen ist das Doku­- wurde einst für 70 000 Besucher gebaut

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➜ Studientage, die sich intensiv z.B. mit Propaganda ➜ Das Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg orga­ Die Zusammenführung unterschiedlicher Partner mit oder Rechtsextremismus beschäftigen nisiert u.a. internationale Tagungen zum Thema unterschiedlichen Schwerpunkten und auch unter- Menschenrechte schiedlichen Zielgruppen unter Federführung des Doku- ➜ Filmdiskussionen, die immer auch medienpädagogi- mentationszentrums erweist sich in mehrerer Hinsicht sche Elemente aufweisen ➜ Der Verein Nürnberger Menschenrechtszentrum als vorteilhaft. Ein kontinuierlicher Erfahrungsaustausch wid­met sich ebenfalls auf vielfältige Weise dem The- sensibilisiert für die Ansprüche und Erwartungen der ➜ Und schließlich ein vielfältiges Vortrags- und Film- ma Menschenrechte Besucher. Absprachen der Angebote und Einhaltung programm mit Wissenschaftlern und Zeitzeugen gemeinsamer Qualitätsstandards kommen den Besu- ➜ Der Kreisjugendring Nürnberg-Stadt hat ein Pro- chern des Studienforums ebenso zu gute wie den ver- An diesem Ort geht es vor allem um Gespräche und gramm entwickelt, das sich u.a. mit Gruppendyna- schiedenen Einrichtungen. um Versuche, Dinge zu verstehen in der Hoffnung, ein mik und Widerstand auseinandersetzt wenig klüger aus der Vergangenheit zu werden. ➜ Und für das KPZ als zentraler museumspädago­ Weiterführende Informationen: Die Partner im Studienforum sind: gischer Dienst schließlich ist das Dokumentations- zentrum natürlich auch ein besonders wichtiger Ar- www.reichsparteitagsgelaende.de ➜ Der Verein “Geschichte für Alle“, ein ursprünglich beitsort Unter anderem mit den Leitlinien zum Gelände, einem von Studenten gegründeter alternativer Geschichts- Diskussionspapier des Oberbürgermeisters und den verein, der inzwischen auch über die Nürnberger Stationen des Geländeinforationssystems Tourismuszentrale vermittelt wird www.museen.nuernberg.de/dokuzentrum ➜ Die Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus ist die Das ehemalige Reichsparteitaggelände in Nürnberg ist Allgemeine Informationen und das Programm des Akademie des Erzbistums Bamberg heute auch ein Naherholungsgebiet. Die Nutzung als Studienforums Freizeitgelände ist ausdrücklicher Bestandteil der von E in Schnappschuss aus dem Studientag Rechtsextre- der Stadt beschlossenen Leitlinien. mismus des KPZ. Hier wird einerseits informiert und zugleich werden auch Hilfestellungen erarbeitet für Strategien gegen rechtsextremistische Propaganda zum Beispiel an oder vor Schulen.

Dr. Thomas Brehm L eiter des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg

*1957, Studium der Fächer Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das Lehramt am Gymnasium, Promotion in Neuester Ge- schichte. Berufliche Stationen: Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bergbau- und Industriemuseum Ostbayern; 1991 bis 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, Projektleiter verschiedener Ausstellungen.

Das Kunst- und Kulturpädagogische Zentrum der Museen in Nürnberg (KPZ) Als zentraler museumspädagogischer Dienst arbeitet das KPZ derzeit für 12 Museen und Ausstellungsorte. Es bietet ein breit- gefächertes Angebot für Gruppen jeden Alters und Interessenhintergrunds. 1968 gegründet wird das KPZ getragen von der Stiftung Germanisches Nationalmuseum und der Stadt Nürnberg. 2009 betreute es in rund 4 000 Veranstaltungen ca. 70 000 Besucherinnen und Besucher.

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Die Spolien, die Steine, die man noch zuordnen kann, sie bilden die Mitte des Platzes, das Zentrum des Platzes. Man geht heran, nicht die zwangsvorgeführten Schul- klassen, sondern kommt zufällig an einem Ort mitten in Prof. Wolfgang Lorch, der Stadt vorbei. Für den Passanten muss dieser Ort so- Architekt (Büro Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch) fort lesbar sein. Es wird lesbar, über eine Logik, die sich und Professor an der Universität Darmstadt sofort vermittelt, ohne einen Geschichtslehrpfad dar- aus zu machen. Das funktioniert über die Anzahl und gleichzeitig die Vereinzelung der Namen, die diesem Ort „Die Steine zum Sprechen bringen“ eingeschrieben sind – und so diesen Ort, diese Steine Die Gestaltung von Erinnerungsorten an vier Beispielen zum Sprechen bringen, dort am Börneplatz in Frankfurt. Wolfgang Lorch

Zum Beispiel: Bahnhof Berlin-Grunewald „Gleis 17“ Von der ehemaligen Synagoge ist nichts mehr übrig – Aus der Sicht des Architekten ist der Umgang mit dann das „Museum Judengasse“ sowie, weitere Jahre nur noch diese Steine, die heute die Mitte des Bör- Erinnerungsorten das Arbeiten mit der vierten Dimen- später, der Erinnerungsort, über den ich hier spreche. Der Bahnhof Berlin-Grunewald ist ein wirklicher Un-Ort, neplatzes in Frankfurt bilden sion. Dabei arbeiten Architekten normalerweise in drei Man muss die Diskussion auch immer aus der Zeit her- ein Tatort. Auf dem ehemaligen Reichsbahngelände Dimensionen, und als gesicherte Erkenntnis gilt: Steine aus betrachten. Wir sind mittlerweile auf einem anderen starteten die Deportationszüge; seit 1942 waren fast sprechen nicht. Doch genau darum geht es, wenn ein Stand der Debatte als noch Anfang der 90er Jahre. nur noch die Vernichtungslager das Fahrtziel. Die Bahn Erinnerungsort zu gestalten ist: Es geht darum, genau hat sich mit ihrer Verantwortung lange schwer getan. diese Steine zum Sprechen zubringen. Was ist geblieben von der Synagoge, die natürlich nicht Der damalige schwäbische Bahnchef Heinz Dürr hat das mit dem Neubau der Stadtwerke, sondern 1938 zerstört – zusammen mit Ignaz Bubis – mit dem Mahnmal „Gleis Micha Brumlik hat es gesagt, und ich kann dem nur bei- worden ist? Wir haben uns dagegen gewandt, dass al- 17“ geändert. Das war eigentlich eine unter vier Augen pflichten: Authentische Orte sind das wesentliche. Ich les in Museen verschwindet; die Mitte des Börneplatzes verabredete Aktion, dem ein Wettbewerb folgte. Kei- werde an vier Beispielen zeigen, dass es keine künstlichen als eine Art komprimierte Judengasse. Ein Gedenkort: ne große öffentliche Diskussion ging voraus; die beiden Orte braucht, dass man – aus Sicht des Architekten – kei- Ja, ein Pfad, der lesbar ist, eine raue Ecke der Stadt. Der haben das direkt in die Hand genommen. Dabei ist die ne Musealisierung, keine Überinterpretation leisten muss. Börneplatz liegt nicht in der besten Gegend von Frank- Auseinandersetzung über diese Themen eigentlich ge- Man findet immer Architekten, Gestalter, die auch so et- furt, dort hinter dem Dom. nau so wichtig wie das Projekt selbst. was bauen – aber man muss es hinterher leben können. „Gleis 17” in Berlin: Von diesem Bahnhof in Berlin-Gru- In einem Netz von Erinnerungen, das eine Stadt auch ist, G eschichtsretusche: Zum Zeitpunkt der Aufnahme stand Einem Ort versuchen wir, jeweils eine unmissverständ- newald fuhren die Deportationszüge in die Konzentra- sind authentische Orte wichtig und notwendig. dort, wo das Wäldchen zu sehen ist (Bildmitte) noch die liche Information einzuschreiben. Dabei setzen wir uns tionslager ab alte Dresdner Synagoge mit den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft aus- einander. An diesem Gleis, an diesem transitorischen Wir wollten das Gegenteil – und hier ebenfalls auch die Zum Beispiel: Der Börneplatz in Frankfurt/Main Ort war es der Fahrplan, nach dem die Deportationen Menschen erreichen, die nicht gezielt zur Gedenkstätte stattfanden. 150 Transporte – streng nach Fahrplan. gehen. Von der Synagoge am Börneplatz in Frankfurt am Main Wir wollten mit dieser Gestaltung die Schwelle zeigen, – zwischenzeitlich hieß er Dominikanerplatz – ist nichts die Berlin von den Todeslagern trennt – einfach, indem mehr übrig. An ihrer Stelle steht jetzt das Verwaltungs- wir die Logik des Fahrplanes an diesem Gleis darstellen. Zum Beispiel: Die Synagoge in Dresden gebäude der Frankfurter Stadtwerke. Ignaz Bubis, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, saß damals in der Der Ort wurde der Bahn abgetrotzt. Das war erstmal Die Synagoge in Dresden ist kein Erinnerungsort. Es war Jury für die Architektenausschreibung – und hatte nichts einfach mit Heinz Dürr an der Spitze, aber es war natür- der erste Neubau einer Synagoge in den Neuen Bun- dagegen. Der Neubau hat das ehemalige Gebäude voll- lich nicht einfach, aus einem funktionierenden Bahnge- desländern, natürlich ein Neuanfang für die dortige jü- kommen überformt. Die Baupläne haben damals eine lände einen Ort herauszulösen. Denn keinesfalls wollten dische Gemeinde. Für diesen Entwurf ist der Ansatz die bundesweite Debatte ausgelöst – und am Ende stand wir den Erinnerungsort vom realen Leben abtrennen. doppelte Zerstörung von Dresden. Sie begann durch die

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Wäldchen zu sehen. Ich habe recherchiert: Diese Foto Eine Bemerkung zum Hotel Silber wurde 1937 aufgenommen – ein Jahr vor ihrer Zerstö- rung war die Synagoge schon aus dem Bild heraus re- Es gibt diese Tür des Hotel Silber, die noch erhalten ist. tuschiert worden. Es gab also Orte, die man nicht mehr Ich frage mich, ob man das Hotel Silber an ein Stadt- in der Stadt haben wollte. Orte werden nicht nur durch museum oder ein Haus der Geschichte delegieren kann ihre kommerziellen Zusammenhänge, ihre kulturellen – oder ob es nicht besser ist, dass es Teil dieser Stadt Kontexte geprägt, sondern auch durch die kollektive Er- bleibt, als authentisches Haus auch Teil des Stadtkon- innerung. Diese gemeinsame Erinnerung ist sehr wichtig zeptes. Gedenkstätten sind Stolpersteine, es dauert oft in einer Stadt. In Dresden wurde sie gezielt ausgelöscht. sehr lange bis zu ihrer Realisierung – und der Weg dort- hin, die Diskussion ist ebenso wichtig wie das Ergeb- nis. Es kann keine Frage sein, ob es stehen bleibt oder Zum Beispiel: SS-Sonderlager Hinzert ob man es abreißt: Bei den guten Architekten, die für dieses Areal zuständig sind, müsste es die Möglichkeit Diesen Ort fand lange Zeit niemand notwendig: 60 Jah- geben, es in den Neubau zu integrieren, als sichtbaren re lang war das eine Wiese. Hier hat sich von 1939 bis Bestandteil und als Zeitschicht. 1945 das SS-Sonderlager Hinzert befunden; zunächst ein „Polizeihaft- und Erziehungslager“, seit 1940 ein KZ, Weiterführende Informationen: das als „Wiedereindeutschungs-“, „Schutzhaft-“ und www.ffmhist.de/ffm33-45/portal01/portal01. „Arbeitserziehungslager“ betrieben wurde, in dem vor php?ziel=t_hm_gedenkstaetteboerneplatz allem politische Gefangene einsaßen und in das dann www.gleis-17.de auch verschleppte Gefangene aus Frankreich und den www.das-neue-dresden.de/synagoge.html Benelux-Staaten gebracht wurden. Der gewaltsame www.ns-dokuzentrum-rlp-hinzert.de Tod von 321 Menschen ist verbürgt, vermutlich waren www.wandel-hoefer-lorch.de G eschichtsvermittlung funktioniert auch im Vorüber- es mehr. E ine Idylle in der Nähe von Luxemburg: Der Ort, an dem gehen: „Für den Passanten muss der Ort sofort lesbar sich während der NS-Zeit das SS-Sonderlager Hinzert sein“, sagt der Architekt, der viel Erfahrung mit Projek- Ehemalige Häftlinge haben sich an diesem Ort, an dem befunden hat, war lange vergessen. Erst eine private ten zur Erinnerungskultur hat einmal das Lager war, jedes Jahr versammelt und sie Initiative hat die Existenz dieses KZ der Erinnerung haben einen privaten Förderverein gegründet. Es stellt zurück gegeben Dresdner selbst mit der Zerstörung der Synagoge in ih- sich die Frage: Warum soll man 60 Jahre nach den Er- rer Stadt im November 1938 – und endete 1945 mit der eignissen dort noch etwas machen? Die schlichte Ant- Zerstörung der Stadt durch die Bomben der Allierten. wort: Die mündliche Überlieferung ist nach zwei Gene- rationen versiegt. Dann entstand dieser Ort. Es ist kein Die alte Hauptsynagoge war ein Bau von Gottfried Gedenkort, sondern ein Dokumentationszentrum und Prof. Wolfgang Lorch Semper, nicht weniger bedeutend als die Frauenkirche. zugleich ein Stolperstein, der das Innen-Außen themati- Architekt Die Frauenkirche ist weit mehr als ein Gotteshaus: Sie ist siert: Er sagt, dass man nicht nach innen verlagern kann, *1960, Architekturstudium TU Darmstadt und ETSA Barcelona. 2001 Professor HFT Stuttgart. Seit 2003 Professor für Entwerfen ein nationales Aufbausymbol für das wiedererstehende was in die öffentliche Wahrnehmung gehört. Dresden – worauf die Dresdner natürlich zu Recht sehr und Baukonstruktion TU Darmstadt. Partner des Büros Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch.

stolz sind. Dort gibt es eine ungebrochene Kontinuität. Es gab ein historisches Foto; das Lager selbst existiert Büro Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch: Projekte zur Erinnerungskultur (Auswahl) Die Semper-Synagoge wurde nicht rekonstruiert; das nicht mehr. Der Blick aus dem Dokumentationszent- Das mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Architekturbüro hat im seines Bestehens zahlreiche Projekte zur Erinnerungs- wurde nie in Erwägung gezogen. rum heraus überlagert die heutige Landschaft mit dem kultur gestaltet und realisiert. International bekannt wurden sie mit ihrem Entwurf zur neuen Dresdner Synagoge, die 2002 historischen Bild – und dadurch wird es lesbar. Die Ge- Dieses Plakat (siehe Seite 34) ist zu sehen, wenn man schichte ist diesem Ort, diesem Raum eingeschrieben. den World Architecture Award für das beste Gebäude Europas gewann. Weitere Projekte waren u.a.: Jüdische Gedenkstätte Bör- durch die Stadt spaziert: Dresden, so schön wie es ein- Dabei nimmt sich das Gebäude vollkommen zurück und neplatz, Frankfurt/Main (1996); Gleis 17, Bahnhof Berlin-Grunewald (1998); „Und keiner hat Kaddisch gesagt“ – Ausstellungs- mal war, in bester Fraktur geschrieben. Oben ist ein wirkt eigentlich als Teil der Landschaft. architektur für das Jüdische Museum Frankfurt; Besucherzentrum Ravensbrück (2007); Dokumentationshaus Hinzert (2007).

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schwer beschädigt. Die Gebäude, die vom RSHA ge- Anschließend haben wiederum bürgerschaftliche Initi- nutzt wurden, sind – soweit nach Ruinen vorhanden ativen gefordert, dass an diesem Ort etwas passieren waren – alle bis spätestens Mitte der fünfziger Jahre müsse, das eine Art „Aktives Museum“ beinhalten solle. „tiefenttrümmert“ worden, wie der Fachbegriff für die Am 8. Mai 1985 etwa hat eine von der Bürgerinitiative Dr. Thomas Lutz leitet das Gedenkstättenreferat der vollkommene Gleichmachung mit dem Boden lautet. „Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“ Topographie des Terrors, Berlin Der Martin-Gropius-Bau, Prinz-Albrecht-Straße 7, wur- organisierte symbolische Grabung stattgefunden. de nicht abgebrochen, sondern blieb erhalten, zunächst als Ruine. Ein weiterer Grund für das Vergessen war der Eine neue Etappe begann 1987. Damals lief im mitt- Verlauf der Grenze zwischen den Bezirken Berlin-Mitte lerweile renovierten Martin-Gropius-Bau die große Berlin – Topografie des Terrors und Berlin-Kreuzberg genau entlang der Prinz-Albrecht- Geschichtsausstellung zum Stadtjubiläum 750 Jahre Die Zentrale des NS-Regimes in der Mitte der Hauptstadt Straße. Berlin-Mitte gehörte zur sowjetischen Besat- Berlin. Als Ergänzung hierzu wurde eine erste kleine zungszone und später zur Hauptstadt der DDR, wäh- Ausstellung über das Gelände und das Reichssicher- rend der Rest in der amerikanischen Besatzungszone, heitshauptamt unter Leitung von Prof. Dr. Reinhard Rü- also in Westberlin lag. Nach dem Mauerbau war klar: rup von Frank Dingel, Thomas Friedrich und Klaus Das Reichssicherheitshauptamt – tet haben, wenn auch nicht alle zur gleichen Zeit. Es gab Dieses Gelände war an den Rand der westlichen Welt erarbeitet. Hierzu wurde eine Ausstellungsbaracke über kurzer Abriss der Geschichte für ihre Unterbringung insgesamt 30 Außenstellen. Der gerückt und geriet in Vergessenheit. Man hat bis in die den wiederentdeckten Kellern einer Kantine der Polizei Dienstsitz von Heinrich Himmler, der sowohl Reichfüh- späten achtziger Jahre hier Bauschutt abgeladen, ihn und SS am südöstlichen Ende des Gropius-Baus errich- Das Gebäude an der Prinz-Albrecht-Straße 8 ist gut rer SS als auch Chef der Polizei war, lag jedoch im zwei- sortiert und für Neubauten nutzbar gemacht. tet. Das große öffentliche Interesse, das sich sowohl in drei Jahrzehnte vor der Zeit des Nationalsozialismus ten Stock des Gebäudes in der Prinz-Albrecht-Straße 8. heftigen kulturpolitischen Diskussionen spiegelte als gebaut worden, ursprünglich, um dort den Anbau für Darüber hinaus war dieses Gebäude immer die Postad- Wiederentdeckt wurde das Gelände Ende der Siebziger auch in der enormen Zahl von etwa 100 000 Besuchern, eine Kunstgewerbeschule unterzubringen. In den Dach- resse für alle Abteilungen des RSHA. Jahre. Dies spielte sich typisch für die Entwicklung von die von Anfang an jährlich auf das Gelände gekommen schrägen gab es große Fenster für die Maler, im Keller Gedenkstätten für NS-Opfer in (West-)Deutschland ab: sind, haben dann dazu geführt, dass der Berliner Senat waren unter anderem Räume für Bildhauer, die Hörsäle Neben dem Ort, an dem die Täter gearbeitet haben, Erst muss eine gesellschaftliche Forderung entwickelt ein Gutachten in Auftrag gegeben hat, das von Prof. befanden sich im Erdgeschoß. Weil es in der Nähe des gab es noch das Hausgefängnis, untergebracht dort, werden, das Gelände in seiner historischen Funktion Rürup und anderen erarbeitet worden ist. Es war die alten Regierungsviertels in der Wilhelmstraße lag und wo früher die Bildhauer ausgebildet wurden. Es war für kenntlich zu machen, darauf folgt eine staatliche Re- Grundlage für die Entscheidung des Landes Berlin und weil es Anfang der Dreißiger mehr oder weniger un- die Gestapo wichtig, ein eigenes Gefängnis zu haben: aktion. Weil die gesellschaftlichen Gruppen allein nicht später auch des Bundes, der sich zu 50 Prozent an einer genutzt blieb, interessierten sich die Nationalsozialisten Nur so konnte sie vollständig unabhängig von Justiz und über die finanziellen Mittel verfügen, eine Gedenkstät- neu zu gründenden Stiftung beteiligte, einen Bauwett- gleich nach der Machtübernahme für das Gebäude. anderen Institutionen über diese Gefangenen entschei- te einzurichten und zu betreiben, geht es nicht ohne bewerb für ein internationales Dokumentationszentrum den. Man hat die großen Räume für diesen Zweck noch ein Engagement der öffentlichen Hand, die sich darüber zur Geschichte von Polizei und SS auszuschreiben. Als erstes zog im Frühjahr 1933 das Preußische Gehei- einmal unterteilt, um Einzelzellen einrichten zu können. hinaus auch zu ihrer aus der Geschichte gewachsenen me Staatspolizeiamt ein, ein Jahr später übernahm es Vermutlich sind 12 000 Menschen durch dieses Hausge- Verpflichtung bekennt. Interessant ist, dass hier – wie Heinrich Himmler, der mit der Reichsführung SS und fängnis gegangen, vor allem deutsche politische Gegner auch an vielen anderen Orten – die gesellschaftliche dem Sicherheitsdienst (SD) aus München nach Berlin des NS-Regimes. In der Regel waren sie nur ein paar Forderung nicht von Historikern, sondern zuerst von gezogen war. Für den SD nutzte er auch gleich das da- Tage zu Verhören im Hausgefängnis und sind dann an einem Architekten, der Liga für Menschenrechte, dem neben liegende Gebäude, ursprünglich ein Hotel, sowie andere Haftorte gebracht worden. Arbeitskreis verfolgter Sozialdemokraten (AVS) und an- das namensgebende Prinz-Albrecht-Palais an der Ecke deren vorgebracht wurde. Zunächst, so die Forderung, Wilhelm- und Kochstraße. Mit Beginn des Zweiten sollte an diesem Ort ein Denkmal oder eine Gedenkstät- Weltkriegs sind diese verschiedenen Institutionen – die Vergessen bis Ende der 70er Jahre te für die Opfer des NS-Regimes errichtet werden. Tat- Polizei und die Parteiinstitutionen – zum Reichssicher- sächlich wurde in Berlin 1983 ein Denkmal-Wettbewerb heitshauptamt (RSHA) vereint worden. Das Gebäude ist nach der Befreiung am Ende des Zwei- für alle NS-Opfer auf dem Gelände vom Berliner Senat ten Weltkriegs lange vergessen gewesen. Das lag zum ausgeschrieben. Dieser erste Versuch ist gescheitert. Für diese schnell wachsende Behörde reichte bald der einen an der großen Zerstörung im Zentrum . Ge- Lassen Sie mich die lange Geschichte kurz bewerten: I nitiative der Zivilgesellschaft: Symbolische Grabung Platz nicht mehr. Wir schätzen, dass insgesamt etwa rade die schöneren Gebäude, etwa das Prinz-Albrecht- Ich glaube, weil es noch zu früh war, über die Täter in einer Bürgerinitiative am 8. Mai 1985 auf dem lange 7000 Menschen im Reichssicherheitshauptamt gearbei- Palais, waren vor allem durch die Bombenangriffe sehr Deutschland wirklich intensiv zu sprechen. vergessenen Gelände

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Auch wenn es immer wieder Probleme mit dem Bau das Besondere an diesem Ort – und wie kann man Genau 65 Jahre nach dem Ende des nationalsozialisti- gab, auf die ich hier im Detail nicht eingehen kann, so dessen Besonderheit mit anderen Gedenk- und Do- schen Regimes wurde das Dokumentationszentrum der hat die nachhaltige Betonung der Zivilgesellschaft hier kumentationsorten in der Umgebung in Verbindung Topographie des Terrors eröffnet: Hier, in der Mitte einen Erinnerungsort einzurichten, am Ende dank der bringen? Berlins, hatten die Verbrechen des Nationalsozialismus staatlichen Förderung von Bau und Unterhalt der Stif- ihr Hauptquartier tung zum Erfolg geführt: Am 6. Mai 2010 konnte end- ➜ Eine andere Erfahrung ist, dass auch 65 Jahre nach lich der Institutsneubau eröffnet werden. dem Ende des Nationalsozialismus sich noch zahlrei- che und sehr verschiedene Informationen und Quel- Das Gelände ist heute stark überformt. Es gibt nur noch „Die Beschäftigung mit konkreten Ereignissen weckt len zur Ortsgeschichte finden lassen – wenn man wenige Überreste von den historischen Bauten. Der mo- Geschichtsbewusstsein“ wirklich intensiv anfängt zu suchen und ein Vertrau- derne Neubau von Ursula Willms und die Grauwacke, en in die Nachhaltigkeit der Arbeit der Institution die der Landschaftsarchitekt Prof. Heinz W. Hallmann für der auf die Wiederholungsgefahr hinweist. Er sagte im besteht die Abdeckung weiterer Geländebereiche gewählt hat, Zusammenhang mit dem Auschwitz-Prozess: Die Auf- geben dem Terrain eine neue Anmutung. Das heißt: Wir gabe von uns Deutschen sei es, „[…] die Mechanismen ➜ Zuletzt: Wie geht man vor? Man braucht ein gutes machen die Erfahrung, dass der Besuch dieses Geländes [zu] erkennen, die die Menschen so machen, dass sie Konzept – und einen Plan für die Umsetzung. Unser in aller Regel mit einer Motivation verbunden ist. Man solcher Taten fähig werden, [man] muss ihnen selbst Stiftungskonstrukt zum Beispiel schafft die Verbin- will sich mit dem Thema auseinandersetzen, wenn man diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trach- dung zwischen der öffentlichen Hand, die die Finan- zur Topographie des Terrors geht. Das Gelände erklärt ten, dass sie abermals so werden, indem man ein allge- zierung sichern muss auf der einen Seite und allen sich nicht von selbst. Eine ausgefeilte und umfassende meines Bewusstsein jener Mechanismen erweckt.“ Mitspielern der Zivilgesellschaft. Eine organisatori- Ausstellungs- und Bildungsarbeit ist notwendig, um die sche Maßnahme – und der Garant für ganzheitliches Geschichte zu lehren. Gerade bei einer Besucherschaft, Unsere Erfahrungen mit den Besuchern – nicht nur den Handeln die sich immer mehr differenziert, wird dieser Bereich in jungen, auch den älteren – ist, dass Erschrecken über Zukunft wichtiger werden und muss auch besser aus- die Nähe von Demokratie und Täterschaft; die Frage, gestattet sein. warum Menschen in der Lage sind, anderen Menschen Weiterführende Informationen: diese Brutalität anzutun. Dieser Gedanke verstört – und www.topographie.de er bietet immer wieder Anknüpfungspunkte für unsere www.gedenkstaettenforum.de Erfahrungen in Berlin – Überlegungen für Stuttgart Bildungsarbeit. Die Beschäftigung mit konkreten histo- rischen Gegebenheiten ist geeignet, ein Geschichtsbe- Es gibt Erfahrungen aus der Entstehung der Stiftung wusstsein zu wecken, das sich auch kritisch-reflexiv mit Topographie des Terrors in Berlin, die vielleicht auch für Aktualisierungen auseinandersetzen kann. Dr. Thomas Lutz Stuttgart Geltung haben können. L eiter des Gedenkstättenreferats der Stiftung Topographie des Terrors Einige eher organisatorisch-methodische Überlegungen

Dazu gehört zunächst: Die Auseinandersetzung mit für Stuttgart: *1957, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft. Vorsitzender des internationalen Beirats der Stiftung Brandenburgische NS-Geschichte beginnt bei der Verfolgung der verschie- Gedenkstätten, des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt; Beratungstätigkeiten für Gedenkstät- denen Gruppen der Opfer und deren gesellschaftliche ➜ Auch das Gebäude der Gestapo-Zentrale in Stuttgart ten und die öffentliche Hand. Arbeitsschwerpunkt: Knüpfung eines Netzwerkes der Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland. Anerkennung heute. Nach der Ideologie der Täter gab hat sich vielfältig verändert: Darum ist die Klärung es sehr unterschiedliche Opfergruppen, die in der Praxis notwendig, welchen Stellenwert der überformte his- Gründungsmitglied im Vorstand des IC MEMO (International Council of Memorial Museums for Victims of State Crimes im ICOM). durchaus auf verschiedene Art und Weise verfolgt wur- torische Ort in der Bildungs- und Ausstellungsarbeit Berlin – Topographie des Terrors den, abhängig zudem von der Entwicklung der Diktatur, hat. Wie kann über die Topographie die Geschichte Mit über 500 000 Besuchern im Jahr gehört die Stiftung Topographie des Terrors zu den meist besuchten Erinnerungsorten in insbesondere während des Zweiten Weltkriegs. erklärt werden? Berlin. An diesem „Ort der Täter“ befanden sich während des „Dritten Reichs” die Zentralen der Geheimen Staatspolizei, der SS

Neben dem Gedenken an die Opfer wird die Ausein- ➜ Mir erscheint es hilfreich – und das ist die Erfahrung und des Reichssicherheitshauptamts. Seit 1987 informiert die Stiftung über die wichtigsten Einrichtungen des nationalsozialis- andersetzung mit den Tätern in Zukunft eine große vieler Gedenkstätten – nicht einen Ort zu haben, der tischen Verfolgungs- und Terrorapparats. Die Dauerausstellung macht die europäische Dimension der NS-Schreckensherrschaft Bedeutung haben. Ich zitiere dazu Theodor W. Adorno, alles umfasst, sondern eher zu überlegen, was ist sichtbar. Im Mai 2010 wurde das neue Dokumentationszentrum eröffnet.

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Diskussion über einen angemessenen Umgang mit die- andersetzung um den Umgang mit diesem historischen sem historisch belasteten Gelände in der Stadt anregen Ort in der Stadt zwar einen großen Schritt weiter, aber wollte. Denn zu diesem Zeitpunkt sah die Planung für noch nicht beendet. Die Diskussion wurde maßgeblich die neue HafenCity vor, auf dem Gelände des ehema- von einem Runden Tisch geprägt, den die Kulturbehör- Dr. Linde Apel, Leiterin des Oral-History-Archivs ligen Deportationsbahnhofes Wohnungen und eine de eingerichtet hat. Dort kamen unterschiedliche Inter- „Werkstatt der Erinnerung“ in der Forschungsstelle Schule zu errichten. Man vermutete, dass eben keine essengruppen zusammen, die sich bis heute kontinuier- für Zeitgeschichte in Hamburg baulichen Relikte mehr vorhanden sind. lich austauschen.

Es gab die unterschiedlichsten Ideen, wie dieser Platz Hamburg – Deportationsort Hannoverscher Bahnhof Der Prozess bestimmt den Erfolg gestaltet werden könnte – von einem China Garden L inde Apel hin zum Jüdischen Museum bis zu einer Holocaust- Bereits seit 2000 gab es Planungen für den „Lohse-Park“ Forschungsstelle. Das Hamburger Auschwitz-Komitee gleich nebenan – einem Grünstreifen, der als Stadtteil- wollte das Gelände einfach so belassen wie es war, park eine ganze Reihe von Funktionen erfüllen sollte. gewissermaßen als Wunde in der Stadt. Die Debatten Heute war schon die Rede von den „aus dem Gedächt- glanzviertel, die HafenCity. In der Stadt war zumindest Ein kleinerer Bereich war bereits für das Gedenken an des Runden Tisches führten schließlich zu Forderungen nis gefallenen Orten“. Ich möchte darüber berichten, bei historisch Interessierten bekannt, dass sich mitten die Deportationen vorgesehen. Mit der Errichtung der nach einer Konservierung des Geländes. wie ein solcher Ort wieder zurückgekehrt ist ins Ge- in der neuen HafenCity der Deportationsbahnhof be- zunächst auf Deutsch, dann auch auf Englisch beschrif- dächtnis der Stadt; wie sich jedenfalls einzelne Aspekte funden hat. Damals – 2004 – war noch nicht klar, ob es teten Gedenktafel und der gärtnerischen Regulierung E ine unscheinbare Bahnsteigkante, aber der einzige der Ortsgeschichte wieder aneignen ließen. historische oder bauliche Relikte gibt. des Platzes – es wurde der restliche Wildwuchs entfernt, bisher bekannte bauliche Rest des Hamburger Deporta- Rasen ausgesät, eine Bank aufgestellt – war die Ausein- tionsbahnhofes (Aufnahme aus dem September 2007) Warum die Erinnerung an einen Bahnhof, der in seiner Dieser Hannoversche Bahnhof war bis in die 90er Jah- mehr als 100jährigen Existenz gerade mal fünf Jahre als re hinein weitgehend vergessen. Die letzten baulichen Deportationsbahnhof diente, gerade jetzt wieder neu Überreste sind 1981 gesprengt worden. Es gab bis 2005 entdeckt wurde und als Gedenkort umgesetzt wird; in- ein einziges Erinnerungszeichen für diesen Deportati- wieweit das mit dem seit Jahren beklagten Sterben der onsbahnhof; eine Tafel, die seit 1993 an die Deportati- letzten Überlebenden des Holocaust einher geht; was on der Hamburger Juden erinnert. Die Deportation der das Thema mit den aktuellen Bedürfnissen der heute Roma und Sinti wird dort nicht erwähnt. Damit ist diese Lebenden zu tun hat: Darüber wäre viel zu sagen. Ich Tafel ein relativ typisches Gedenkzeichen für die 90er beschränke mich darauf, den Prozess zu skizzieren – von Jahre: Die Gründe für die nicht nur in Hamburg prak- den Anfangsdebatten bis hin zur Einigung, ein Doku- tizierte Ausgrenzung der Opfergruppe der Sinti und mentationszentrum und einen Gedenkort für die Ham- Roma sind zwar heute nicht mehr so recht nachzuvoll- burger Juden, Roma und Sinti zu realisieren. ziehen, aber diese Ausgrenzung bestimmte das Opfer- Gedenken über einen relativ langen Zeitraum.

Die Rückkehr aus dem Vergessen Das im November 2004 vorgelegte Gutachten der For- schungsstelle führte dazu, dass im Februar 2005 zum Im Sommer 2004 wurde die Forschungsstelle für Zeit­ 60. Jahrestag der letzten Deportation aus Hamburg geschichte – mein Kollege Frank Bajohr und ich – um ein auf dem damals noch recht verwahrlost aussehenden Gutachten über die Geschichte des ehemaligen „Han- Lohse-Platz, dem Vorplatz des ehemaligen Bahnhofs, noverschen Bahnhofs“ in Hamburg gebeten. Die Be- auf Initiative der Kulturbehörde eine Gedenktafel ein- hörde für Stadtentwicklung und Umweltschutz und die geweiht wurde. Der dort vorhandene Wildwuchs wurde Kulturbehörde hatten die Initiative dafür ergriffen, weil entfernt, um Platz für diese erste Gedenktafel zu schaf- in Hamburg größere städtebauliche Planungen für ein fen. Bei der Eröffnung kündigte die Kultursenatorin eine neues Stadtviertel anstanden: Hamburgs neues Hoch- Ausstellung über die Deportationen an, mit der sie die

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Dann konnte die Forschungsstelle mit Hilfe der Bun- Dazu gehört vor allem die Einsicht, dass sich stadtpla- desanstalt für Materialprüfung und nach Aussagen von nerische und international neue urbane Bauvorhaben Überlebenden doch noch ein bauliches Relikt nach- heute besser vermarkten lassen, wenn die dunklen Sei- weisen: Eine Bahnsteigkante, die aus der Zeit vor 1945 ten der Geschichte nicht überbaut werden, sondern der stammt. Diese Bahnsteigkante steht mittlerweile unter Nachweis erbracht wird, dass die „richtigen“ Lehren aus Denkmalschutz. Der Fund wurde ebenfalls öffentlich der Geschichte gezogen wurden. „History sells“: Davon diskutiert, die Ergebnisse der Gutachten öffentlich vor- kann Berlin ein Lied singen, aber eine angemessene Be- gestellt: Mit diesem Bahnsteig-Rest können wir nun die wältigung der Geschichte „sells“ eben auch. authentische Stelle zeigen, von der die Deportationszü- ge abgefahren sind. Die Stadtentwicklungsgesellschaft und die privaten In- vestoren der HafenCity GmbH haben das erkannt – und sich deshalb für einen öffentlichen Planungsdialog und Ein modifizierter Masterplan einen Austausch eingesetzt und den Prozess immer wieder angestoßen, wenn er zu stocken drohte. Natür- 2008 berief die Kulturbehörde eine Steuerungsgruppe lich braucht es kompetente engagierte Menschen, die ein: Hier stellten externe und Hamburger Sachverstän- nicht lockerlassen, damit man gemeinsam zu konstruk- A uszug aus dem Masterplan der HafenCity: Der Lohse- dige Empfehlungen für den Umgang mit dem Gelän- tiven Ergebnissen kommt. Das war in Hamburg der Fall. park und der Gedenkort am ehemaligen Hannoversche de vor. Auch diese Empfehlungen wurden in einem Ob das ein historischer Glücksfall war oder ob die ziel- Bahnhof ist nun integrierter Bestandteil der Planungen 1955: Sprengung des Hannoverschen Bahnhofs für alle offenen Werkstattgespräch kommuniziert. Das orientierte öffentliche Debatte typisch ist für die erste – die Konfrontation mit der Geschichte gehört zum Ergebnis: Im Oktober 2008 wurde der Masterplan für Dekade des zweiten Jahrtausends, das müssen andere modifizierten Konzept die HafenCity modifiziert. Dort wurde festgelegt, dass beurteilen. Ich würde Stuttgart wünschen, dass es hier in einem mehrstufigen Verfahren ein Gedenkort ein- auch zu einer guten Einigung kommt. gerichtet werden soll, der sowohl die baulichen Relikte des Bahnhofs einbezieht als auch auf den Lohseplatz, Weiterführende Informationen: den Vorplatz des Bahnhofs, verweist. Eine Sichtachse www.hannoverscher-bahnhof.hamburg.de soll beide Orte verbinden. Und schließlich ist eine Dau- erausstellung über das Deportationsgeschehen geplant, die über Opfer und Täter informiert – und über jene, die tatenlos zugeschaut haben. 2009 gab es zunächst eine temporäre Ausstellung, die Grundlage für die Dauerprä- Dr. Linde Apel sentation werden soll. 2013 sollen die Planungen umge- setzt werden. Ein Gestaltungswettbewerb für den Loh- wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Oral-History-Archivs „Werkstatt der Erinnerung“ separk, der den Gedenkort integrieren soll, hat bereits in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg stattgefunden – die Gestaltung des Gedenkortes selbst *1963, Studium der Politischen Wissenschaften an der FU Berlin. 2001 Dissertation: Jüdische Häftlinge im Frauen-Konzentrati- kann aus planungstechnischen Gründen allerdings erst onslager Ravensbrück 1939–1945. Kuratorin der Ausstellung „In den Tod geschickt. Die Deportationen von Juden, Roma und 2017 realisiert werden; dafür wird es dann einen eige- nen Wettbewerb geben. Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945“ (2009)

Hamburg – Deportationsort Hannoverscher Bahnhof In diesem Prozess – an dessen Ende die HafenCity GmbH Zwischen 1940 und 1945 verließen 20 Deportationszüge die Stadt Hamburg. Mit ihnen wurden 7692 Juden, Roma und Sinti aus auch auf viel Geld verzichtet – hat es naturgemäß viele Hamburg und Norddeutschland in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert. Mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Emotionen gegeben; es wurde heftig diskutiert. Den- Der Lohseplatz im März 2005: Noch war alles voller noch konnte in relativ kurzer Zeit ein Ergebnis stehen, bauliche Relikte des lange vergessenen Deportationsbahnhofs liegen im neuen Stadtviertel HafenCity. 2004 begann ein Prozess, Wildwuchs; die Gedenktafel ist der erste Hinweis auf mit dem alle zufrieden sind. Wie konnte das gelingen? der historische Recherchen und öffentliche Debatten miteinander verband. Dies führte dazu, dass städtebauliche Planungen die Deportationen an diesem Ort modifiziert wurden und ein würdiger Gedenkort mit einer Dauerausstellung und ein Freiraum-Denkmal realisiert werden sollen.

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Hearing AM 17. Juli 2010

Erinn erungsorte Jürgen Schulz-Lorch, Restaurator in Stuttgart Ergebnisse der restauratorischen Untersuchung Positionen zur Dorotheenstraße 10 Jürgen Schulz-Lorch

Ich befinde mich in der komfortablen Situation, da ich haben. Auch die Außenansichten zeigen, dass es sich wertungsfrei erzählen kann, was wir gefunden haben. nicht um ein homogenes Gebäude handelt, sondern Ich bin hier sozusagen der Praktiker in der Runde. Das dass sich hier sehr viele verschiedene Epochen nieder- Finanzministerium Baden-Württemberg hat mich gebe- schlagen, dass Teile abgerissen, verändert und natürlich ten, eine Untersuchung vorwiegend im Kellergeschoss auch wieder neu aufgebaut wurden. Nichtsdestotrotz der Dorotheenstraße 10 vorzunehmen. Obwohl dieses ist es die Hoffnung des Restaurators, dass man dennoch Gebäude nicht unter Denkmalschutz steht, wurde es im Inneren entsprechende Befunde aufzeigen kann. Die mit derselben restauratorischen Methodik untersucht, Befunde sollten vorwiegend im Keller erhoben werden, wie sie auch an anderen historischen Gebäuden ange- in dem sich die ehemaligen Arrestzellen befunden ha- wendet wird. ben. Auch das Schiesskino hat sich in diesem Bereich befunden. Normalerweise werden Keller nicht so stark Man sieht auf der Zeittafel, dass sich sehr starke Ver- überarbeitet, dass sich dort extreme Veränderungen er- änderungen innerhalb der Nutzung des Gebäudes und gäben. natürlich auch durch den Zweiten Weltkrieg ergeben

Veränderungen in den Planungsunterlagen

Der erste Punkt, den man sich ansieht, sind die Verän- derungen in den Planungsunterlagen, die im Original relativ vollständig sind. Wir haben zwei Pläne aus den 40er Jahren und aktuelle Pläne. Im Plan aus den 40er Jahren sieht man Wände, die im neuen Plan nicht ver- zeichnet sind. Das heißt, die Planungsunterlagen mach- ten schon klar, dass sich sehr starke Veränderungen er- geben hatten und dass sehr viele Bereiche auch entfernt worden sind. Andererseits sind neue Wände hinzuge- kommen. Diese Veränderungen ziehen sich durch das ganze Gebäude; es gab zum Beispiel unterschiedliche F ür die Untersuchung wurde die Mauer Schicht für Stockwerkshöhen – ein Beleg dafür, dass es doch erheb- Schicht abgetragen liche Veränderungen gab.

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Faktische Veränderungen dieser Zeit. Im Kellergeschoss ist jedoch auch schon er- Dies heißt jedoch nicht, dass wir Restauratoren nichts heblich in die Substanz eingegriffen worden. Hier sieht finden. Wir sind sehr neugierig und haben viele Befund- Nichtsdestotrotz hoffen die Restauratoren immer, dass man kein „Hotel Silber“ und auch kein Gebäude aus stellen angelegt und so haben wir die historische Decke Pläne manchmal lügen und trotzdem Einiges der his- dem 19. Jahrhundert, sondern Baumaßnahmen, die gefunden, wie sie tatsächlich zur Zeit der Gestapo exis- torischen Substanz noch erhalten ist. Dies ist nicht un- in den Jahren 1982 bis 1985 vorgenommen wurden, tiert hat. Man sieht noch, wo die ursprünglichen Wän- gewöhnlich und deshalb muss man vor Ort sehen, was als das Untergeschoss zum Archiv umgebaut wurde. de standen. Diese hat man entfernt, jedoch nicht die sich tatsächlich verändert hat. Die Kellertür, ein authen- Für den Umbau zum Archiv hat man etwas gegen die Deckenkonstruktion, diese wurde mit Rigips abgedeckt. tisches Teil, hat sich ja tatsächlich erhalten mit Kratzspu- Feuchtigkeit getan, die bei alten Gebäuden häufig aus Dies gilt ebenso für das gesamte untere Stockwerk: ren, mit Inschriften und gibt somit eindrucksvoll Zeugnis der Wand nach Innen dringt. Man hat eine Vorschalung Die Decke, die nun aus Beton- und Stahlteilen besteht, vorgenommen, um zu vermeiden, dass die Wände an- ist noch weitestgehend erhalten. Ich habe auch noch gegriffen werden. Dadurch sieht man nicht mehr die Abwasserkanäle und weitere Befunde aus dieser Zeit „ Im Keller sieht man kein Hotel Silber und auch kein originale Wandfläche, sondern eine Vormauerung. Die- gefunden, aber diese sind so gestaltet, dass ich davon Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, sondern das Ergeb- se Maßnahme zieht sich über die gesamte Länge des nichts die Nutzung Betreffendes ablesen kann. nis des Umbaus in den 80er Jahren“, sagt der Restau- Gebäudes hinweg. rator. Nur wenige Befunde verweisen auf die Nutzung Auf einen Befund bin ich besonders stolz: Es ist der einzi- während der NS-Zeit ge Befund, der mir die ehemalige Wandgestaltung zeigt, Mauern durchbrechen, wie sie während der Nutzung in der Gestapo-Zeit exis- Prozentsatz noch von der Zeit vor 1945 übrig ist, dies ist um zum Original zu gelangen… tiert hat. Hinter einer Vormauerung habe ich etwa fünf nicht mit Sicherheit zu sagen. Quadratzentimeter von der historischen Wandgestal- Die Restauratoren machen Treppen in die Geschichte, tung gefunden. Es handelt sich um einen relativ dünnen Eine umfassende Umbauphase ist sicher nur für die um an Befunde zu kommen. Die neue Generation baut Kalkputz, der besenwurfartig aufgetragen wurde und 80er Jahre erhalten geblieben: Der Westteil wurde immer auf die alte auf, es entstehen dadurch Schichten mit einer grauen Kalktünche bemalt wurde. Es ist jedoch weitestgehend zerstört, das Dachgeschoss ist neu auf- und diese tragen wir an relevanten Punkten ab. Diese wirklich der einzige Befund, den ich gefunden habe. gebaut worden, die Fassaden sind zur Hälfte entfernt Schichten werden abgetragen, bis man an die Schicht und neu aufgebaut worden. Das Kellergeschoss ist im kommt, die einen interessiert. Hier haben mich natürlich Vergleich noch relativ gut erhalten – bis auf diese re- vor allem diese acht Jahre interessiert, in denen dieses Fazit levanten Befunde in den Zellen. Ich sehe dort also nur Gebäude von der Gestapo genutzt wurde. Jedoch ist den Abdruck an den Decken, die zeigen, wo die Wän- es nicht so einfach, Befunde an einem Gebäude zu er- Ich kann nicht ausschließen, dass sich noch andere de gestanden haben. Auch beim Schiesskino haben wir heben, das 1844 erbaut wurde und da eine Schicht zu solcher Stellen im Gebäude befinden, da ich nicht das an den tragenden Wänden, die noch stehen geblieben finden, die acht (oder – wenn man die Nutzung als Poli- ganze Gebäude untersucht habe. Jedoch sieht man ge- sind, Untersuchungen angestellt und haben festgestellt, zeipräsidium mitzählt – 17) Jahre Bestand hatte. nerell, dass in den 80er Jahren viele Befunde verloren dass fast im ganzen Gebäude der historische Putz ziem- gegangen sind. Es sind einige wenige Befunde aus der lich gründlich entfernt wurde und relativ stark wieder Hier mussten wir Mauern durchbrechen, um zum Origi- NS-Zeit erhalten geblieben, jedoch ist das Gebäude in neu verputzt wurde: Es war eine umfassende Grundsa- nal zu gelangen. Die Vermauerung haben wir systema- der Zeit von der Erbauung bis heute mehrfach umge- nierung. So ist eine durchgehende Schicht als Beleg der tisch an vielen Stellen durchbrochen, weil klar werden baut worden. Ich möchte jetzt nicht eruieren, welcher Gestapo-Zeit leider nicht erhalten. sollte, wie mit dem ganzen Keller umgegangen wurde. Was man nun dahinter sieht, ist eine nackte Wandflä- che mit keilförmigen Beschädigungen. Dies zeigt, dass in den 80er Jahren der ganze Verputz entfernt wurde, Jürgen Schulz-Lorch der auf den Außenwänden lag – und nur an den Außen- R estaurator wänden können Befunde erwartet werden, die für den Zellentrakt sprechen. Man hat somit sämtliche Wand- *1960 in . Ausbildung zum Restaurator in Stuttgart. 1996 Übernahme des Restaurierungsateliers Lorch. Seit 1996 Spiegel verschiedener Epochen: Das Gebäude Dorotheen­ oberflächen entfernt, dadurch findet man im ganzen freiberufliche Tätigkeit als Restaurator. Arbeitsschwerpunkte sind Untersuchungen, Erstellen von Konzepten, Restaurierung und straße 10 wurde vielfach verändert und umgebaut Gebäude keinen historischen Putz mehr. Konservierung von historischem Kulturgut.

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tet. Seit Jahren beschäftige ich mich aus stadtgeschicht- lichen, städtebaulichen und architektonischen Gründen mit dem Hotel Silber. Dies wurde verstärkt durch die Bauabsichten von Breuninger und vor allem durch die Prof. Roland Ostertag, Architekt Behauptung der Stadtverwaltung, das alte Hotel Silber gebe es nicht mehr, „es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört … es ist ein Neubau nach 1945“ (zitiert nach Zeitungsartikeln aus den Jahren 2008/2009). Beides entspricht in keiner Weise den Fakten. Vorstellung der Recherchen zur Geschichte des Hotel Silber Prof. Roland Ostertag Das Gebäude kam glimpflich davon Bis 1919 betrieb Heinrich Silber sein Hotel und baute Die Beschäftigung mit dem Thema half meinem Ge- das ehemalige Gasthaus dafür um. Danach zog hier Wir möchten uns bedanken, dass diese Anhörung statt- ➜ Mehrmalige Versuche für den Erhalt in den 70er/80er dächtnis auf die Sprünge. Eine Tante, geborene Breu- zunächst die Oberpostdirektion ein findet, die unsere Initiative schon lange forderte. Mir ist Jahren durch den ehemaligen Stadtrat Eugen Eberle ninger, Beschäftigte bei Breuninger, wohnte in Sozial­ die Aufgabe zugefallen, Prosa zu sprechen und über wohnungen der Firma Breuninger im Kanonenweg, relativ glimpflich davon. Zudem residierte die Gestapo meine Recherchen der vergangenen Jahre zu berichten ➜ Ein Artikel der Stuttgarter Zeitung vom 8.11.1978 heute Haussmannstraße. 1944 bis 1947 begleiteten wir bis wenige Tage vor der Übergabe Stuttgarts durch den – und ich beziehe mich dabei auf Unterlagen des Stadt- titelt: „Wird das einstige ‚Silber’ abgerissen?“– Zitat sie häufig von und nach Hause. Dabei machten wir im- NS-OB Strölin am 22. April 1945 an die Franzosen in archivs, des Baurechtsamtes, des Landesarchivs, des aus dem Artikel: „Nicht zuletzt auch deshalb, weil die mer einen großen Bogen um das Hotel Silber. Wir, die diesem Gebäude und verrichtete weiterhin ihr grausiges Landesmedienzentrums und anderer Archive. Es geht ‚Gestapo’ in dem Haus einer ihrer berüchtigten Fol- Stuttgarter, wussten, dass in diesem Haus Schlimmes Handwerk. Sie folterte und ermordete noch am 13. Ap- um die Frage, ob das Hotel Silber – Sitz der Gestapo- terkeller unterhielt, plädiert Landespolizeipräsident Dr. geschah, man hörte die Schreie der Gefolterten mitten ril 1945 mehrere Menschen. Damit diese Schergen das Leitstelle Württemberg-Hohenzollern; Mittelpunkt des Stümper für Abriss und Neubau … Die großen Gänge in der Stadt. Gebäude dafür benutzen konnten, musste es ja noch Terrornetzwerks der Gestapo im Südwesten; Inbegriff und hohen Räume erlauben keine optimale Nutzung. bestehen. der NS-Schreckensherrschaft in Stuttgart – zugunsten Bei einem Neubau in gleicher Höhe könnten fünf an- Selbst bei den schwersten Angriffen im September 1944 ökonomischer Interessen abgerissen werden soll, oder stelle der bisherigen vier Geschosse gebaut werden.“ kamen Breuninger, das Waisenhaus und das Hotel Silber Dieses beschädigte Gebäude hatte ich auch in Erinne- ob es zugunsten des Gedächtnis, der Geschichte und rung. Im Landesmedienzentrum und an anderen Orten auch der Zukunft der Stadt erhalten bleiben soll. ➜ 1979 fordern die Jusos den Erhalt des Gebäudes fand ich dann genügend Belege, dass die wenig beschä- digte größere östliche Hälfte des Gebäudes bereits im Hier geht es nicht um konventionellen Denkmalschutz: ➜ Titel der Stuttgarter Nachrichten vom 9.9.1991: „Der Herbst 1945 von der nun städtischen Polizei benutzt Andere Städte haben ihre Gestapo-Zentralen schon Tod im ‚Hotel Silber’: Wolfgang Höper las vor der wurde, mit Personal in Kontinuität der NS-Zeit. Dafür längst aus stadt-, kultur- und zeitgeschichtlichen Grün- Dorotheenstraße 10 die ‚Todesfuge’ von Paul Celan. gibt es noch Zeitzeugen. den unter Denkmalschutz gestellt und nicht aus rein äs- ‚Der Tod ist ein Meister aus Deutschland’“ thetischen Gründen. ➜ Seit 1988 erinnert lediglich eine Gedenktafel im Ein- Dokumente zum Nachkriegszustand gang an die grauenhafte Geschichte des Hauses Kurzer Abriss der Auseinandersetzungen Aus der Fülle von Dokumenten stelle ich hier eine Aus- ➜ November 1997 und Mai 1999 Schreiben von Ro- wahl vor, wie die Nachbesitzer, also die Stadt bis 1976 Das Hotel Silber rückte nicht erst durch die Bauabsich- land Ostertag an die Stadtverwaltung zum Erhalt und das Land ab 1976 mit dem Hotel Silber umgegan- ten 2008 in den Mittelpunkt des Interesses. Seit 1970 des Gebäudes. Beide Schreiben blieben bis heute gen sind: fanden in den vergangenen Jahrzehnten mindestens ohne Antwort acht Versuche statt, im Hotel Silber eine Gedenkstätte N ach dem Bombenkrieg: Das Gebäude ist beschädigt, ➜ Im amtlichen Lageplan von 1946/47 werden das einzurichten. Ein kleiner Blick in die Geschichte der Aus- Diese Forderungen und Bitten eine Gedenkstätte einzu- aber es steht noch. Ab Herbst 1945 nutzte es bis in die Waisenhaus, das Hotel Silber und die Karlstraße 5 einandersetzungen: richten wurden nicht beachtet, nicht einmal beantwor- 80er Jahre die städtische Polizei und 7 als einziges Gebäude zwischen Markthalle,

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Marktplatz und Holzstrasse als „unbeschädigt, leicht Dabei wurden die Gestapo-Spuren weiter reduziert. 3. Die Nachkriegszeit bis heute ist nicht spurlos an dem und mittelschwerbeschädigt sowie wiederherge- Der Textteil des Baugesuchs belegt, dass damals Gebäude vorübergegangen. Die Erfahrung der wirk- stellt“ ausgewiesen. Alle anderen Gebäude als noch die Marmortreppen und Holzfenster des Ho- lichen Geschichte, ihrer realen Spuren und Hinterlas- „schwer- und total beschädigt“ tels mindestens teilweise vorhanden waren. senschaften ist durch nichts zu ersetzen. Soll diese wichtige, äußerst unerfreuliche und schmerzliche ➜ Aus den Plänen von 1947/1948 und diversen Fotos Zwischengeschichte des Ortes als Bauschutt auf den ist ersichtlich, dass das Hotel Silber relativ wenig Fazit der Recherchen Müll gekippt werden? Dieses hinter den Spuren zu- beschädigt die Kriegszerstörungen überstand. Der tage tretende Geschichtsbewusstsein dieser Zeit ist Keller, der Ostteil und das Haupttreppenhaus voll- 1. Das Gebäude ist kein Neubau, es ist in der Grund- ebenso bedeutsam wie das aus den NS-Jahren. In ständig, der Westteil teilweise substanz, materiell-physisch, konstruktiv, in großen diesem Sinne ist das Gebäude authentisch. Teilen das Originalgebäude, der Ort des Schreckens. ➜ Die Baumaßnahmen am Hotel Silber wurden von Sicher wurde in den 65 Jahren seit 1945 von den 4. Stuttgart ist arm an „begehbarem Gedächtnis“. Bei den Nachbesitzern in zwei Phasen durchgeführt: Nachbesitzern, Stadt und Land, leider manches ver- einem Abriss würde das Gedächtnis noch ärmer „Die Stadt als Lesebuch der Geschichte:“ Prof. Roland ändert, jedoch wurde die Grundsubstanz nicht an- werden. Wir dürfen der Stadt ihre Aufgabe als Le- Ostertag plädiert für den Erhalt des Gebäudes und Phase 1, 1947–1950, getastet. Alles spricht für den Erhalt des Hotel Silber sebuch der Geschichte und ihren Orten nicht ihre setzt sich nachdrücklich dafür ein Besitzer und Auftraggeber Stadt: als Gedenkstätte und NS-Dokumentationszentrum. Erzählfähigkeit als „Texte“ vergegenständlichter Ge- schichte rauben. Der neue Besitzer und Auftraggeber, die Stadt Stutt- 2. Über den Begriff „Authentizität“ wurde seit dem Sie, Herr Oberbürgermeister, Damen und Herren Stadt- gart, reichte das Baugesuch im April 1947 für den 19. Jahrhundert ausführlich diskutiert, ob nur der 5. Wir haben keine Blutspritzer, Fleischerhaken oder räte, das Land, das Landesparlament müssen diese tref- Westteil ein. Für den noch bestehenden, seit 1945 Originalzustand oder auch die Spuren des Umgangs Stricke der noch neun Tage vor der Besetzung fen und verantworten. Sie nimmt Ihnen niemand ab. Ich benutzten Ostteil – als „bestehender Gebäudeteil“ der Zeiten mit dem jeweiligen Patienten Teil der Au- Stuttgarts in den Kellern Erhängten gefunden. Die bitte Sie, sich im Interesse unserer Stadt, unseres Landes, bezeichnet – musste kein Baugesuch eingereicht thentizität sind. Die Wissenschaften sind sich einig, Entscheidung ob das Hotel Silber zugunsten ökono- deren Bürgerinnen und Bürger für den Erhalt des Hotel werden. dass Spuren, Eingriffe und ihre sichtbaren Folgen der mischer Interessen abgerissen oder zugunsten des Silber und die Einrichtung einer Gedenkstätte und eines Geschichte ebenso wertvolle, manchmal sogar wert- Gedächtnis, der Geschichte, der Zukunft der Stadt NS-Dokumentationszentrums einzusetzen. Wir wollen Besonders unsensibel, rücksichts- und geschichtslos vollere Elemente von Authentizität sind als originale erhalten wird, ist keine materielle, sondern eine zu- nichts anderes und nicht mehr als die Stadt Köln und erscheint mir der Kantineneinbau im Untergeschoss. Bestandteile. Narben erzählen mehr als glatte Haut. tiefst moralisch-politische Entscheidung. andere Städte seit 30 Jahren schon eingerichtet haben. Man richtete einen Speiseraum an Stelle der bis da- hin noch vorhandenen Verwahrzellen ein. An Stelle des „Schiesskinos“ der Gestapo wurde die Küche eingebaut.

Im Zuge dieser Baumaßnahmen wurde das Zerstö- rungswerk fortgesetzt, das die Luftangriffe nicht vollendet hatten. Gut sichtbar sind die Stellen, wo die ehemaligen Gitter vor den Räumen waren, in de- nen Kurt Schumacher, Eugen Bolz und viele andere Inhaftierte verhört wurden. Die unterschiedliche Far- be der Natursteine beweist deren Einbau und Aus- Prof. Roland Ostertag wechslung im Zuge der „Fassadenbefreiung“. A rchitekt

*1931, Studium der Architektur an der TH Stuttgart. Freiberuflich tätig seit 1957. Kooperation mit Rolf Gutbrod und Frei Otto. Phase 2, 1982–1983, Auftraggeber Land: 1970 bis 1998 Ordinarius für Gebäudelehre und Entwerfen an der TU Braunschweig. Mitglied im Kuratorium der Internationalen

Die Baumaßnahmen des Landes betrafen den In- A ktuelle Ansicht des Gebäudes: Nutzer ist das baden- Bauausstellung Emscher von 1995 bis 2000. 1993 bis 1996 Präsident der Bundesarchitektenkammer. Gastprofessur an der TU nen-/Dachausbau und den Rückbau der Kantine. württembergische Innenministerium Wien. Zahlreiche Preise, Auszeichnungen und Veröffentlichungen. Zahlreiche ehrenamtliche Tätigkeiten.

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Hearing AM 17. Juli 2010

Erinn erungsorte Jörg Titze und Alexander Schell, in Stuttgart Stadtjugendring Stuttgart Politisch-historische Jugendbildung in Stuttgart Wünsche und Konzepte für Jörg Titze und Alexander Schell Stuttgart: Beiträge der Initiativen Der Stadtjugendring Stuttgart ist 1945 mit Unterstüt- in Stuttgart geführt. Früher wurde dieses Angebot mit zung der Alliierten unter anderem deshalb gegründet Zeitzeugen durchgeführt, doch diese Zeitzeugen sind worden, um die demokratische Erziehung von Jugend- mittlerweile leider verstorben. Im Herbst 1999 gründe- lichen voranzutreiben und demokratische Strukturen te der SJR daher einen Arbeitskreis, der sich kontinu- in unserer Gesellschaft aufzubauen und zu verfestigen. ierlich mit der Weiterentwicklung der Stadtrundfahrten Unser Ziel ist es deshalb, Jugendliche in diesem de- und Stadtrundgänge beschäftigt und das Angebot si- mokratischen Denken zu erziehen. Dazu gehörte und cherstellt. Die Mitglieder dieses Arbeitskreises arbeiten gehört die Auseinandersetzung mit der nationalsozia- ehrenamtlich. listischen Vergangenheit – unbedingt. Diese Arbeit be- gann schon recht früh, nämlich Anfang der 50er Jahre mit der Geschwister-Scholl-Gedenkfeier im Landtags- In Stuttgart fehlt ein authentischer Lernort saal im Jahr 1953 oder der Fahrt der Jugendverbände zum Auschwitz-Prozess nach Frankfurt 1964. In der Wir haben dabei das Angebot der alternativen Stadt- Auseinandersetzung mit dem Thema Widerstand und rundfahrten und Stadtrundgänge permanent erweitert. Verfolgung, mit regelmäßigen Fahrten der Stuttgarter „Auf den Spuren des Dritten Reiches“, „Jüdisches Leben Jugendverbände nach Auschwitz und Birkenau ab 1965 in der Stadt“ und „Der Haken am Kreuz“, der sich mit und in der Zusammenarbeit mit dem Auschwitz-Komi- der Geschichte der Kirchen im Dritten Reich beschäf- tee folgte die Entwicklung der Alternativen Stadtrund- tigt, oder auch unser Stadtspiel in Stuttgart-Vaihingen fahrten „Auf den Spuren des Dritten Reichs“. – das sind nur einige Beispiele unserer Angebotspalette. Ganz neu ist ein interaktiver Stadtrundgang „Stuttgart Der Stadtjugendring (SJR) hat im Jahre 1980 die so ge- mal anders“. Hierbei können sechs Innenstadtstationen nannten alternativen Stadtrundfahrten eingeführt, was als Audiodatei über das Internet abgerufen werden und allerdings nicht überall auf reine Freude stieß. Kritisiert die Nutzer können sich dann unterwegs anhören, was wurde immer wieder die Rolle der Zeitzeugen. Der damals passiert ist. Jörg Titze ist von Anfang an bei die- Stadtjugendring hielt jedoch an dieser Konzeption fest. sen Stadtrundgängen dabei: Das Hotel Silber spielt seit Diese Stadtrundfahrten werden seither zusammen mit 1980 immer eine außerordentliche Rolle. der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ver- anstaltet. Etwa 20 000 Jugendliche wurden bisher mit Durch unsere Rundgänge und Rundfahrten vernetzen diesen Angeboten erreicht und an unterschiedliche wir verschiedene historische Orte miteinander und Orte des Nationalsozialismus und des Widerstandes schaffen es dadurch, diesen Orten ein Gesicht zu ge-

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ben. Was uns jedoch fehlt, ist ein außerschulischer Lern- solcher Effekt bei einem Neubau durch architektonische an dem gearbeitet, geforscht und erlebt werden kann, ort für Jugendliche, an dem die Eindrücke nachwirken Mittel erzeugt werden kann, ist fraglich. Durch einen wird einen vielfach höheren Bildungseffekt haben als können und an dem das Gehörte und Gesehene nach- Abriss wird dieser Aha-Effekt jedenfalls erstmal verloren die bloße Erzählung im Unterricht oder das Betrachten träglich weiterverarbeitet werden kann. Wenn es sich gehen, dieser müsste dann wieder neu geschaffen wer- eines Mahnmals. dabei um einen authentischen Ort handelt, wie es das den. Vielleicht kann dies gelingen, aber eine Garantie Hotel Silber ist, hat dies einen positiven Einfluss auf die dafür gibt es nicht. Arbeitsweise der Jugendlichen vor Ort. Diesen Ort gibt Die Haltung des Stadtjugendrings es in Stuttgart bisher nicht. Wenn biografische Bezüge entweder durch den immer zum Hotel Silber größer werdenden zeitlichen Abstand oder durch die Tatsache, dass viele Jugendliche einen Migrationshinter- Von Beginn an beteiligt sich der Stadtjugendring Stutt- Der lokale Bezug weckt Interesse grund haben, verloren gehen, werden lokale und örtli- gart e.V. (SJR) an der Initiative Gedenkort Hotel Silber. che Bezüge umso wichtiger. Zeitzeugen, die eindrück- Durch den zeitlichen Abstand zur NS-Zeit und die Tat- Eine kleine Umfrage des Stadtjugendrings hat gezeigt, lich erzählen können, gibt es kaum noch; daher werden sache, dass immer mehr Jugendliche mit Migrationshin- dass auch interessierte Jugendliche, die ein gutes ge- Orte, die erzählen können, wichtiger den je. tergrund mit der Geschichte konfrontiert werden, müs- schichtliches Wissen mitbringen, nichts über die Lokal- sen neue Wege der Vermittlung gefunden werden. Das geschichte von Stuttgart wissen. Dieses Wissen wird Hotel Silber bietet auch durch seine jetzige Bausubstanz Was wisst ihr über die Geschichte der NS-Zeit ihnen nirgends vermittelt. Lasst uns das Hotel Silber erhalten viele Möglichkeiten für die politisch- historische Bildung. hier in Stuttgart? Nicht so viel … Seit 30 Jahren bietet der SJR alternative Stadtrundgän- Bei dieser Unwissenheit setzen wir mit unserem An- Es waren zwar nicht mehr meine Großeltern, die da- ge und Stadtrundfahrten, zunächst mit Zeitzeugen, die Habt ihr in der Schule darüber nichts gemacht? gebot an. Denn wir merken immer wieder: Dieser Lo- von berichten können, und es ist vielleicht nicht die Ge- mittlerweile verstorben sind. 1999 gründete der SJR Über Stuttgart nicht, nein – eher allgemein. kalbezug ist für die Jugendlichen ein Türöffner. Wir schichte des Herkunftslandes meiner Großeltern oder daher einen Arbeitskreis, der diese Stadtrundfahrten beobachten auch: Die allgemeine Vermittlung über die Eltern oder sogar die Geschichte meiner Nation, aber weiter entwickelt. ( Aus einer SJR-Straßenumfrage unter Jugend­ Lehrbücher der NS-Geschichte erzeugt bei Schülern ei- es ist die Geschichte meiner Stadt, in der ich lebe und lichen) nen Überdruss. Doch über den Lokalbezug können wir in der ich groß werde. Diesen Effekt sollte man nicht weiteres vertiefendes Interesse wecken. Auch bis dahin unterschätzen. Es ist genau dieser Lokalbezug, der die Weiterführende Informationen: völlig uninteressierte Jugendliche werden über die Ver- Geschichte auch in Zukunft vermittelbar macht. www.sjr-stuttgart.de mittlung dessen, was direkt vor ihrer Haustür gesche- hen ist, aufgerüttelt. Die Haltung des Stadtjugendrings Stuttgart ist da ganz eindeutig: Lasst uns das Hotel Silber erhalten. Jörg Titze, Alexander Schell Hotel Silber: Authentischer Ort mit Aha-Effekt Lasst uns als Stuttgarter aus diesem Gebäude einen Ort Stadtjugendring Stuttgart machen, der die ganze Stadt und speziell diesen Stadt-

Das Hotel Silber spielt dafür eine zentrale Rolle. Dies bezirk am Karlsplatz aufwertet – und lasst uns etwas Jörg Titze ist Diakon und Jugendreferent. Seit 1981 in der verbandlichen Jugendarbeit in Stuttgart tätig. Gesamtleiter der können wir durch die jahrzehntelangen Erfahrungen daraus machen, was die politisch-historische Jugendbil- Evangelischen Jugend Stuttgart und 1. Vorsitzender des Stadtjugendrings. Mitglied im Jugendhilfeausschuss der Stadt Stuttgart. mit unseren Angeboten feststellen. Es kommt beim Ho- dung hier in unserer Stadt auf ein neues, höheres Ni- tel Silber sehr oft zu einem „Aha-Effekt“. Dieser Effekt veau bringt. ist selbst jetzt spürbar, obwohl man bisher nur davor Alexander Schell ist seit 2008 Referent für Jugendpolitik und politisch-historische Jugendbildung und Leiter des Arbeitskreises stehen kann. Die Station „Hotel Silber“ ruft einen weit- Wir wollen keine reine Gedenkstätte: Wir wollen einen „Antifaschistische Stadtrundgänge und Stadtrundfahrten“ im SJR Stuttgart. aus größeren Effekt bei den Jugendlichen hervor als Lernort, wir wollen eine Bildungsstätte für Jugendliche, Stadtjugendring Stuttgart beispielsweise das „künstlich“ erschaffene Mahnmal in der sie sich die Geschichte selbst erarbeiten können. Der Stadtjugendring Stuttgart e.V., SJR, ist der Dachverband von Jugendverbänden, Jugendgruppen und Jugendinitiativen in für die Opfer des Nationalsozialismus. Das Hotel Silber Dies ist die beste Art zu lernen. Es zeigt sich an allen macht da einen Riesenunterschied: Es erzeugt bei den Gedenkstätten: Jugendliche reagieren an authentischen Stuttgart und vertritt Anliegen und Interessen junger Menschen in dieser Stadt. Im Stadtjugendring spiegelt sich die Vielfalt der Jugendlichen eine historische Vorstellungskraft. Darum Orten ganz anders als bei der rein theoretischen Ver- organisierten Jugendverbandsarbeit mit den unterschiedlichsten Wertorientierungen wider. Derzeit umfasst der SJR über 50 geht es uns. Und das Hotel Silber schafft das. Ob ein mittlung im Geschichtsunterricht. Ein authentischer Ort, Mitgliedsorganisationen mit mehr als 100 000 Jugendlichen.

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zelnen hinter diesen Begriffen verbirgt. Wir haben ein Denkmalschutz steht es allerdings nicht. Im Ensemble Dokument des Staatsarchivs in Ludwigsburg gefunden, mit dem Waisenhaus gegenüber repräsentiert es ein das den Geschäftsverteilungsplan der Gestapo-Leitstel- respektables Stück des alten Stuttgart und seines his- le Stuttgart darstellt. torischen Stadtkerns. Das Gebäude liegt im historischen Jupp Klegraf, Zentrum, es ist somit gut zu erreichen – ein wichtiges Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber Man sieht auf diesem Plan deutlich, welches Täter- Argument. potential hinter den Mauern dieses Gebäudes seinen menschenverachtenden Dienst tat. Stand ist der 1. April 1944. Trotz Krieg waren hier noch ungefähr 270 Men- Unser Programm Ziele und Konzept eines schen im Einsatz, davon 88 Angehörige der SS. Die Zahl NS-Dokumentationszentrums für Stuttgart der Mitarbeiter innerhalb der Referate und Dienststellen Geschichte, Raum, Fläche sowie Lage des Gebäudes Jupp Klegraf spiegeln die politisch-ideologische Gewichtung wieder. am Karlsplatz bieten optimale Voraussetzungen, um die unterschiedlichsten Aufgabenbereiche und Tätig­ Im Referat 4-4 wurde die Berliner Rassenpolitik umge- keitsfelder zu einer progressiven und nachhaltigen Wir freuen uns, dass die Stadt das Thema „Erinnerungs- Anders als in manchen vergleichbaren deutschen Städten setzt. In Dienststelle 4-4b wurde die Deportation der historischen Aufarbeitung zu nutzen und vor Ort zu orte in Stuttgart“ aufgreift und in der Öffentlichkeit dis- fehlt in Stuttgart ein Zentrum, das sich eingehend und Stuttgarter und Württemberger Juden geplant und vernetzen. kutiert. Ich spreche hier als Vertreter der Initiative Lern- umfassend mit der Geschichte der NS-Zeit befasst und vorbereitet, hier wurde ihre materielle Ausbeutung und und Gedenkort Hotel Silber. Sie vereint 22 Initiativen, seine Lehren für die Zukunft daraus zieht. Stuttgart hat physische Vernichtung organisiert und abgeschlossen. Stockwerk für Stockwerk haben wir einen Flächenplan Vereine, Verbände, Aktionskreise und Arbeitsgruppen. die Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte nicht zuletzt Dieses Referat war 1944 schon deutlich geschrumpft, entwickelt. Unser Vorschlag: Die meisten davon haben ihre Wurzeln in unserer Stadt. auch Ehrenamtlichen überlassen. Ehrenamtliche Arbeit da es in Stuttgart nur noch wenige Juden gab. Es gab Das Hotel Silber ist ja auch unser Thema: Unser Ziel ist ist gut – und hier wurde so vieles an den Tag gebracht. am 1.4.1943 noch 369 jüdische Einwohner – und diese ➜ Untergeschoss: Dem Keller und seinen möglicherwei- der Erhalt des ganzen historischen Gebäudes Dorothe- Doch für diese Unzeit des sogenannten „Dritten Reiches“ Zahl hat sich natürlich weiter verringert. Außerdem hat- se noch vorhandenen Spuren von vor und nach dem enstraße 10. sind hier in der Landeshauptstadt Stuttgart und dem te die Gestapo den perfiden Plan, der jüdischen Restbe- Krieg kommt eine besondere Bedeutung zu ehemaligen NS-Gau „Württemberg-Hohenzollern“ viele völkerung Aufgaben aufzutragen, die eigentlich zu den Fragen noch nicht beantwortet. Für etliche Opfergrup- Dienstaufgaben der Behörde gehörten. ➜ Das Erdgeschoss als leicht zugänglicher Eingangsbe- Argumente für den Erhalt des Hotel Silber pen ist das Unrecht, was ihnen angetan wurde, nicht ein- reich bietet den Raum für erste Informationen mit mal in Ansätzen dokumentiert und beschrieben. Dies gilt Im Hotel Silber wurden Homosexuelle verhört und ge- Überblickscharakter. Hier wird das Hotel Silber in Dieses Gebäude eignet sich wie kein anderes dazu, ein im Besonderen für die Opfergruppen der Homosexuellen, quält (Plan 4-5a). Hier überwachte die Gestapo die gro- seinen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang Zentrum des Lernens, der Begegnung, der Information der Sinti und Roma, der politisch und religiös Verfolgten, ße Zahl an Zwangsarbeiter und koordinierte ihre Einsät- gestellt – Hier ließen sich Ausstellungen organisieren sowie der Forschung und Dokumentation einzurichten, der nach Nazi-Ideologie als „asozial, krank, behindert“ ze (Plan 4 1-c1 + 4 1c2). Stuttgarter BürgerInnen wurden und die ganze Stuttgarter NS-Szenerie darstellen welches der Landeshauptstadt und seiner Geschichte ge- Eingestuften und der vielen Tausend Fremdarbeiter. wegen minimalster Delikte denunziert und dann in die recht wird. Wir haben in der öffentlichen Diskussion sehr Räume dieses Gebäudes einbefohlen, eingeschüchtert, ➜ Das 1. Obergeschoss konzentriert sich ganz auf den viel Unterstützung erfahren. Obwohl wir eigentlich mehr Lernen – Forschen – Dokumentieren – miteinander ins misshandelt; nicht selten landeten sie vor Gericht (Plan Schwerpunkt Stuttgart. Hier geht es um Täter und sporadisch als systematisch gesammelt haben, gaben uns Gespräch kommen – Gedenken – Erinnern: Wo ließe sich 4 1b). In der Endphase der NS-Diktatur verstand sich die Opfer, Einzelne und Gruppen, den Widerstand, die 3135 Bürgerinnen und Bürger bis heute ihre Unterschrift dies besser und umfassender schaffen als im Hotel Silber Gestapo ja als selbsternannte Gerichtsinstanz. Hier im , die Kirchen, die Partei, ihre Gliede- für den Erhalt des Hotel Silber. Viele Prominente haben mit seinen räumlichen Möglichkeiten, seiner Lage in der Hotel Silber wurde abgeurteilt und am Ende des Krieges rungen und ihre Machenschaften hier in Stuttgart unsere Plakataktion materiell und ideell unterstützt. Innenstadt und seiner eigenen Geschichte. Und es ist für sogar hingerichtet. Opfer und Täter gleichermaßen ein authentischer Ort. ➜ Das 2. Obergeschoss betont die überregionalen Zu- Es haben uns auch Briefe von Stuttgarter Emigranten sammenhänge des Nazi-Gaus „Württemberg-Ho- erreicht, die uns ermutigen. So schreibt Thomas Näge- Stadthistorische Aspekte henzollern“, thematisiert also die landesweiten Akti- le, der Sohn des bekannten Stuttgarter Malers Reinhold Die Gestapo-Leitstelle Stuttgart vitäten dieser Institutionen im Dritten Reich Nägele: „Mögen Gewissen und Ehrfurcht vor den vielen Das Hotel Silber ist eines der letzten größeren Gebäude Entrechteten, die hier misshandelt und ins Verderben ge- Man kennt den Begriff Gestapo oder den Begriff Hotel im Stadtbild, das zu größeren Teilen den Bombenkrieg ➜ Das 3. Obergeschoss dient der pädagogischen Arbeit. schickt wurden, die Entscheidung bestimmen.“ Silber, nur weiß man oft nicht mehr, was sich im Ein- überdauert hat; seine Substanz ist erhaltenswert, unter Dort beschäftigen sich Schulen und Gruppen außer-

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halb ihrer normalen Lernumgebung mit stadtbezoge- gemäßen Auseinandersetzung mit dem Thema Hotel Zusammenfassend noch einmal die wichtigstenFlächenlayou Argu-t NS-Dokumentationszentrum für Stuttgart nen oder landesweiten Themen aus der Zeit des Nati- Silber machen auch die Anträge der diversen Parteien mente für den Erhalt des Hotel Silber:

onalsozialismus bis zu den Auswirkungen von heute im Rathaus und im Landtag deutlich. Gegenüber dem Forschung - Ver Ideologie waltung - Ber Stand der Diskussion vor zwei Jahren hat sich da vieles ➜ In Stuttgart ist noch viel an historischerPropaganda Arbeit über atung Technik und Wissenschaft Dachgeschoss ➜ Das Dachgeschoss bietet schließlich Raum für For- bewegt und geändert – nicht zuletzt auch durch unser die Zeit des Nationalsozialismus zu leisten Forschung - Verwaltung - Beratung Arisierung und Profiteure Veranstalt Med ungen - Sem schung, Verwaltung und Beratung Zutun. Firmen und ihre Rolle iathek und F ilmv inar orführunge - A Verbindungslinien Berlin - Stuttgart rbeitsräume ➜ Das Hotel Silber ist der Ort, wo sich fürEinzel Täterereignisse wie Op- 3. Obergeschoss Behörden und Institutionen auf La Pädagigische Arbeit Konzentriert auf ein einziges Gebäude und gebündelt un- fer, für die Zeit und ihre Umstände, ein Zentrum der Poizeiapparat in Württemberg Organisationsstruktur / Referate ter einem Dach liefern solche inhaltlich-funktionalen Ver- Aufarbeitung derJüdische unseligen Bevölkerung Nazigeschichte einrichten Sinti und Roma Einzelpersonen ndeseben netzungen optimale Ergebnisse und Synergien. Im Hotel lässt Regimegegner Widerstandsgruppen e 2. Obergeschoss verbotene Jugendgruppen Einzelportraits Opfer Dauerausstellung überregional Gestapogrupp in Stutt Silber kann man sich nach unserer Konzeption ohne Zeit- Wohnsitzlose Einzelereignisse en Homosexuelle gart aufwand informieren und kompetente Ansprechpartner ➜ Das Hotel SilberZwa istngsa rbei einesterInnen der wenigen historischen Widerstand 1. Obergeschoss sowie geeignete Dokumente finden: Es soll eine Begeg- Gebäude, welchesChronis ch den Kranke, Behinderte Bombenkrieg überstanden Dauerausstellung Schwerpunkt Stuttgart Religionsgemeinschaften Offenes Archiv Verknüpfte Orte Räumlliche und zeitliche Kont nungsstätte sein; ein Lernort, ein Forschungszentrum mit hat, es ist ein dasSip penStadtbildhaft prägendesKünstlerische Zeugnis Arbeit ersten Geschichte des Gebäudes vielen Aufgaben und Möglichkeiten. Ranges inuit Verknüpfte Orte: äten Erdgeschoss Innenministerium, Der Ort Altes Waisenhaus, Wechselausstellungen Landgericht ➜ Im Gebäude an der DorotheenstraßePoizei gefängnisse lässt sich er- Verbindung zum dezentralen Gedenkstätten­ gänzend zur NS-Geschichte der LandeshauptstadtGedenkstätten in Württemberg Gedenkkultur konzept des Landes auch die von Württemberg-Hohenzollern umfassend,

Ged ganzheitlich und zentral darstellen enk ort Mit der Forderung nach Einrichtung eines solchen Zen- trums in der Landeshauptstadt stellt unser Programm ➜ Das Hotel Silber ist ein authentischer Ort, dessen Wert Untergeschoss Archiv Gedenkort keineswegs das Baden-Württembergische Konzept der für unsere Zeit durch keine Ersatzlösung kompensiert Archiv dezentralen Gedenkstätten infrage. Wir sehen aber die werden kann Notwendigkeit, in Ergänzung dazu im Hotel Silber einen Lern- und Gedenkort einzurichten, welcher der NS-Zeit Der Entwurf der Initiative: Sie schlägt für die Dorotheen­ des Landes, des früheren Nazi-Gaues Württemberg- Weiterführende Informationen: straße 10 ein Dokumentationszentrum vor, mit Platz für Hohenzollern, einen nachhaltigen und angemessenen www.hotel-silber.de Ausstellungen, Forschung und pädagogische Arbeit Ort der Erinnerung und des Gedenkens einräumt. Es war schließlich im Hotel Silber, wo die Gestapo ihren unmenschlichen Geschäften nicht nur für die Stadt Stuttgart sondern für den gesamten „Gau Württem- berg-Hohenzollern“ nachging.

Aufgeklärte Authentizität

Das Gebäude in der Dorotheenstraße 10 hat einen hohen Grad an Authentizität, das gilt auch für seine Nachkriegs- geschichte – bis hin zur heutigen Veranstaltung. Auch der Josef „Jupp“ Klegraf Umgang mit all dem, was erhalten geblieben oder ent- „Gute Gründe für den Erhalt des Gebäudes”: Jupp Kle- I nitiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber fernt und neu konzipiert wurde, ist „authentisch“. graf von der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber Wir haben gute Gründe, die für den Erhalt des Gebäu- erläutert die Vorstellungen für die Einrichtung eines *1938, Akademischer Oberrat (Linguistik, Anglistik) im Ruhestand. Bis 1993 Bezirksvorsteher in Stuttgart Nord (B90/DIE GRÜNEN) des sprechen. Die Notwendigkeit einer sach- und zeit- Dokumentationszentrums in der Dorotheenstraße 10 – Vorstandsmitglied im Verein Zeichen der Erinnerung e.V., ehrenamtlich u.a. bei der Aktion Stolpersteine aktiv.

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Gegenwärtige Themen politischer Bildung, die in der „Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Judenver- schulischen, aber auch in der offenen Jugendarbeit be- folgung zusammen mit Jugendlichen liegt mir persön- sonderer Aufmerksamkeit bedürfen, wie Erziehung zu lich am Herzen, da ich es als wichtig erachte, Menschen aktivem Demokratieverständnis, das Eintreten gegen früh über die Gefahren des Rechtsextremismus und Sieghard Kelle, Extremismus und Antisemitismus, Rassismus und Frem- dessen Ideologien aufzuklären. Als einen besonders Geschäftsführer der Stuttgarter Jugendhaus gGmbH denfeindlichkeit finden dabei Beachtung. wichtigen Teil empfinde ich dabei den Bezug zur Ge- genwart, zum Beispiel Ausländerfeindlichkeit, Gewalt, und das Aufzeigen der Mitbestimmungsmöglichkeiten Das pädagogische Konzept und Vorzüge einer Demokratie. Mein Interesse an der Das Projekt „lernort gedenkstätte“ Geschichte allgemein und der Arbeit mit Kindern und Sieghard Kelle Das pädagogische Konzept hierzu wurde zusammen mit Jugendlichen war schon immer groß und dies nun mit Fachkräften aus Wissenschaft und Forschung verschie- dieser Freiwilligenarbeit verbinden zu können, ist für dener Disziplinen – Geschichts- und Politikwissenschaft, mich eine wunderbare Sache …“ Soziologie und Pädagogik – und mit Fachdidaktikern der Vor 58 Jahren öffnete das erste Jugendhaus in Stuttgart Die heutigen Aufgaben der Jugendhausgesellschaft Vermittlungsarbeit von Gedenkstätten und anderen au- seine Türen. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass ßerschulischen Bildungseinrichtungen entwickelt. Kon- Kooperationen der Jugendhausgesellschaft im kriegszerstörten Stuttgart dringend ein Ort der Be- Doch springen wir in die Gegenwart. Der Frage, welche kret handelt es sich hierbei um Prof. Dr. Kurt Möller von gegnung für Jugendliche benötigt wurde, nicht zuletzt Aufgaben sich die Jugendhausgesellschaft zur Erinne- der Hochschule , um Gottfried Kößler vom Fritz Nun zu unserem Ansatz, sich mit anderen Fachleuten, auch um die noch immer vorhandenen nationalsozia- rung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozia- Bauer Institut Frankfurt, dem Institut für interdisziplinäre die sich mit dem Thema beschäftigen, auszutauschen listischen Tendenzen unter Jugendlichen zu überwin- lismus heute stellen muss, um den Anforderungen des Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Biele- und die inhaltliche Arbeit gemeinsam weiterzuentwi- den. Die Jugendarbeit allein unter staatliche Aufsicht zu aktuellen erinnerungspolitischen Diskurses wie der histo- feld und ProVal, der Gesellschaft für sozialwissenschaft- ckeln: stellen, lehnte die damalige amerikanische Militärver- risch-politischen Bildungsarbeit gerecht zu werden, be- liche Analyse, Beratung und Evaluation. waltung ab und unterstützte mit ihrem German Youth gegnen wir mit unserem Projekt „lernort gedenkstätte“. Im Oktober 2008 haben wir zusammen mit der Landes- Activity Programm die Gründung des Stuttgarter Ju- Mit „lernort gedenkstätte“ realisieren wir für Jugend- Unser Konzept konzentriert sich auf den pädagogischen zentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in gendhausvereins. liche Angebote der historisch-politischen Bildung zum Prozess, auf die Entwicklung der lernenden Gruppe und Stuttgart den ersten landesweiten Fachtag zum Thema Nationalsozialismus. Dabei liegt der Schwerpunkt zu- ihre Beziehungen zum Thema. Ein Ziel dabei ist: Wir er- „Zeitgenössische Bildungskonzepte zu Nationalsozialis- 1953 startete die Re-Education mit dem Auftrag der nächst auf der Ausgrenzungs- und Vernichtungspo- innern uns dessen was gewesen ist und wir gedenken mus und Holocaust“ durchgeführt. Bildungskonzepte „Umerziehung der deutschen Jugend“. Das Ziel: „De- litik gegenüber der jüdischen Bevölkerung, aber auch der Opfer. über den Nationalsozialismus bewegen sich heute im mokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung“. gegenüber anderen Gruppen, die nicht dem Ideal der Dreieck von Erinnerungsarbeit, Generationenbeziehun- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugend- Volksgemeinschaft entsprachen oder sich gegen den Unsere Führung zur Deportation der Juden aus Stutt- gen und der veränderten Zusammensetzung von Ju- häusern stellten sich dieser großen und schwierigen NS-Staat stellten. gart hat im Zeitraum Ende 2007 bis Mai 2010 insgesamt gendgruppen und Schulklassen. Auf dem Fachtag wur- Herausforderung und unterstützten in den folgenden 88mal stattgefunden. Insgesamt haben 1 675 Jugendli- den dazu innovative Ansätze der pädagogischen Arbeit Jahren die Auseinandersetzung mit den nationalsozia- Unser Ziel ist es che im Alter vom 14 bis 17 Jahren teilgenommen. Davon mit Jugendlichen an außerschulischen Einrichtungen listischen Massenverbrechen und die Aufarbeitung der – und dies finden wir sehr bemerkenswert – hatten 68 vorgestellt und diskutiert. Die Dokumentation dieses Vergangenheit. Die möglichen Aufgabenstellungen und ➜ sachliche Aufklärung über den Nationalsozialismus Prozent einen Migrationshintergrund. Aktuell können Fachtages steht zur Verfügung. Herangehensweisen waren dabei nicht immer die glei- und den Holocaust zu leisten wir noch bis Ende Juli die Anne-Frank-Ausstellung des chen, jede Zeit erforderte ihre eigenen Programme und Anne Frank Zentrums Berlin in der kleinen Schalterhalle Von der historisch-politischen Bildung wird gefordert, Maßnahmen. ➜ den Teilnehmenden hierbei entdeckendes Lernen des Hauptbahnhofes zeigen. 900 jugendliche Besucher eine enge Verbindung zwischen Geschichte und Ge- zu ermöglichen werden dort von 30 Begleitern, die ebenfalls Jugendli- genwart herzustellen. Unser Anspruch im Programm Die Jugendhäuser dieser Stadt haben sich im Laufe der che sind, durch diese Ausstellung geführt. von „lernort gedenkstätte“ ist es, den Zusammenhang Zeit zu Orten der Begegnung, der Freizeitgestaltung, ➜ ihre Eigeninitiative und Selbstständigkeit zu fördern zwischen der Gegenwart, die unsere Jugendlichen er- der Kultur und verschiedener Kulturen und zu Lernorten Ich habe Ihnen ein Statement mitgebracht von einer fahren und der regionalen Geschichte des Nationalso- der außerschulischen Bildung für Kinder und Jugendli- ➜ aktuelle Bezüge zwischen Vergangenheit und unserer jugendlichen Mitarbeiterinnen, deren Vater in zialismus herzustellen. Ziel dabei ist, durch Bildung die che, der politischen Jugendbildung, entwickelt. Gegenwart herzustellen einer Diktatur aufgewachsen ist: Demokratiekompetenz zu fördern.

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Dabei erleben wir viele Vergangenheitsbezüge, sehr Wünsche an die neue Gedenkstätte in unserer Haltung und unserem Verständnis zum The- verschiedene Erzählungen über das 20. Jahrhundert ma wieder und sind für uns richtungweisend. und ganz unterschiedliche Zugänge zur Geschichte des Als Teil des Gesamtkonzeptes können und möchten wir Nationalsozialismus. Jugendliche mit Migrationshinter­ einen pädagogischen Beitrag zur Gestaltung eines Erin- Sie besagen: „… dass die Beschäftigung mit dem Holo- grund bringen ihre Geschichte und die historischen nerungs- und Lernortes leisten, der zu einem besseren caust kein Selbstzweck ist. Wir wollen mit unseren Ak- Konflikte ihrer Herkunftsländer mit, die in ihren Familien Verständnis der Ursachen, Zusammenhänge und Folgen tivitäten heute keine lähmende Betroffenheit erzeugen wirken und weitererzählt wurden und werden. der NS-Gewaltherrschaft führt. oder ganz bestimmte Einsichten oder Gefühle erzwin- gen. Wir wollen Angebote zum Nachdenken und zur Zugänge zur Geschichte des Nationalsozialismus zu ent- Um pädagogische Konzepte für die Arbeit mit Biogra- Auseinandersetzung machen. Die Auseinandersetzung wickeln, heißt für uns in der außerschulischen Pädago- phien und Begebenheiten aus der NS-Zeit entwickeln kann die eigene Meinung und das eigene Handeln in gik nicht nur Fakten zu vermitteln, sondern sich vor al- und umsetzen zu können, brauchen wir als Grundlage der heutigen Zeit beeinflussen und dies besonders bei lem mit der Wirkung der Geschichte auf die Menschen eine professionelle historische und wissenschaftliche Jugendlichen …” heute zu beschäftigen. Das ist für uns eine wesentliche Recherche. Diese können wir pädagogisch operationa- Aufgabe in unserem Projekt „lernort gedenkstätte“. lisieren und somit einen gelingenden Transfer ins Jetzt Weiterführende Informationen: realisieren. Unsere Ziele finden sich in der politischen www.jugendhaus.net Bildung wieder, nicht in der Forschung über den Nati- www.lernort-gedenkstaette.de onalsozialismus. Wir beziehen seit Jahren authentische Orte und Relikte in unser bestehendes Programm zur Die Dokumentation des Fachtages „Zeitgenössische Bil- NS-Geschichte ein. Dadurch haben wir Erfahrung mit dungskonzepte zu Nationalsozialismus und Holocaust“ dem pädagogischen Bezug, Bedeutung und Wirksam- ist bei der Stuttgarter Jugendhaus gGmbH erhältlich keit authentischer Relikte.

Eine künftige Ausstellung zur Stuttgarter NS-Geschichte soll aus unserer Sicht Relikte und Beweisstücke konser- vieren und sie in Relation mit der Gegenwart bringen. Zudem sollte die Ausstellung auch ohne pädagogische Direkte Begegnung mit der Geschichte: Fast 90mal Begleitung für Einzelpersonen funktionieren und zu haben die Führungen für Jugendliche bereits stattge- normalen Öffnungszeiten begehbar sein. funden

Als Vorraussetzung für ein pädagogisches Programm braucht es aus unserer Sicht adäquate und lernfreund- Sieghard Kelle liche Räumlichkeiten, in denen pädagogische Arbeit G eschäftsführer der Jugendhausgesellschaft gGmbH möglich ist. Aus diesem Grunde finden wir es wichtig, die Partner, die Beiträge zum pädagogischen Konzept „lernort gedenkstätte“ – Ein Projekt der Stuttgarter Jugendhaus gGmbH leisten, an der Raumplanung von Beginn an zu betei- Durch zeitgemäße Bildungskonzepte zu Nationalsozialismus und Shoah, verknüpft mit Methoden der außerschulischen politi- ligen. Eine zeitgemäße und nachhaltige Ausstellung der Erinnerungsorte in Stuttgart kann mit Bildungs- schen Bildung, fördert das präventiv-pädagogische Projekt für Jugendliche an vielfältigen Lernorten Wissenserwerb über den partnern gelingen, deren grundsätzliche Zielsetzun- Nationalsozialismus. gen sich mit deren der Ausstellung decken, wobei die Ziele sind die Wissensvermittlung über Nationalsozialismus und Holocaust, Deutung historischer und aktueller Situationen, Sensi- Profile der unterschiedlichen Bildungsträger erhalten bilisierung für Diskriminierung, Ausgrenzung etc. und für die Verantwortung des Erhalts der demokratischen Gesellschaft. bleiben sollten. Die Stuttgarter Jugendhaus gGmbH ist Träger von 41 Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie Personalträger

Das Ziel der pädagogischen Arbeit: Sachliche Aufklä- Die Arbeitsgrundsätze des Anne Frank Hauses Berlin, für 22 Abenteuerspielplätze und Jugendfarmen. Sie stellt sich als freier Träger der offenen Kinder- und Jugendarbeit den aktuel- rung und Erziehung zu Demokratieverständnis die ich zu Abschluss zitieren möchte, spiegeln sich auch len Herausforderungen in der Landeshauptstadt Stuttgart.

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figur ihres Antisemitismus machen. Die Nachlässigkeit ger Riga, Izbica, Auschwitz, Buchenwald oder ins Ghet- gegenüber der Geschichte rächt sich, das wurde uns am to Theresienstadt deportiert. Nur wenige Menschen Juden Süß klar. Wir haben es geschafft, einen Platz nach überlebten die Deportationen oder die anschließende ihm im Stadtzentrum zu benennen, Ignaz Bubis hat ihn Lagerhaft. Dr. Michael Kienzle, eingeweiht. Der Platz ist jedoch bis heute leider ein Hin- geschäftsführender Vorstand der Stiftung Geißstraße 7 terhof geblieben.

Diesem Blatt folgten zahlreiche weitere, die an ausge- grenzte Menschen und Ereignisse erinnerten und die Wege stadtgeschichtlicher Erinnerungen Topografie der Erinnerung der Landeshauptstadt ergän- Dr. Michael Kienzle zen. So haben wir den Hitler-Attentäter Johann Georg Elser, den Widerständler Paul Hahn, den Waldorfschul- Mäzen Emil Molt, den vertriebenen Schauspieldirek- tor Fritz Wisten, die große Fotografin Gerda Taro, die Nach meiner Erinnerung ist es das erste Mal, dass hier Unterstützung und kümmerten uns um die Unterbrin- Frauenrechtlerin Clara Zetkin oder den kämpferischen im Rathaus eine qualifizierte Debatte über die Folgen gung von Menschen mit Wohnproblemen. Unser Ansatz Fritz Bauer in die lokalen Bezüge zurückgestellt, in die und Konsequenzen unserer Stadtgeschichte im Dritten war aber in erster Linie ein interkultureller: Wir wollten sie gehören und aus denen sie schändlicher Weise ver- Reich geführt wird. Welche Lehren auch immer wir aus das emotionale Klima der Stadt verändern, durch Ver- trieben wurden. Aber auch die Biografie des ebenfalls dem Hearing ziehen werden: Dieses intensive Gespräch anstaltungen, Projekte und Kooperationen. Und das tun aus Stuttgart stammenden KZ-Folterers Wilhelm Boger ist schon mal ein großer Fortschritt, den ich dankbar wir nun seit 16 Jahren. hat uns interessiert. Wir haben die Stuttgarter Schulen begrüße. flächendeckend mit Denkblättern zur Zwangsarbeit in Stuttgart und zur Deportation der Stuttgarter Juden Lassen Sie mich am Beispiel der Stiftung Geißstraße 7 Das „richtige Gedenken“ versorgt, als der Entschädigungsfonds für Zwangsarbei- über das Gehen steiniger Wege der Erinnerung nach- ter diskutiert wurde. Heute ein Schmuckstück in der Innenstadt: Das restau- denken. Die Stiftung kam zustande nach einem Brand- In der Tat war es unsere Aufgabe, am „richtigen Ge- rierte Haus, Sitz der Stiftung Geißstraße 7 anschlag am 16. März 1994 auf das Haus Geißstraße 7. denken“ zu arbeiten. Wir erprobten, wie man Mitge- Es war die schwerste Brandkatastrophe in Stuttgart seit fühl, Trauer, Betroffenheit richtig ausdrückt und welche Das Projekt „Zeichen der Erinnerung“ Sechzig Jahre nach der ersten Deportation am 1. De- dem Zweiten Weltkrieg. Es starben sieben Menschen, Formen dabei erlaubt und effektiv sind. Diese Fragen zember 1941 haben wir ein Denkblatt herausgebracht. sechzehn erlitten Verletzungen. Das Haus Geißstraße haben wir an mehreren Projekten erarbeitet, sie aber Der Innere Nordbahnhof in Stuttgart war in den Jahren Aus der Tatsache heraus, dass das Gelände im Zusam- 7 war vorrangig von Flüchtlingen und Menschen nicht- letztlich nicht beantworten können, weil es das „richti- 1941 bis 1945 Ausgangspunkt von Deportationen. Von menhang mit Stuttgart 21 überbaut werden sollte, deutscher Herkunft bewohnt und überbelegt. ge“ Gedenken nicht geben kann. Aber einige nützliche hier aus wurden mehr als 2 000 Juden aus Stuttgart entstand dann die Initiative, die Gleise als Erinnerungs- Hinweise lassen sich aus der Praxis doch ableiten, über und Umgebung in die Sammel- und Konzentrationsla- stätte zu bewahren, ein „Zeichen der Erinnerung“ zu Der spontane Entschluss einer Handvoll besorgter Bürger die ich gerne berichten will. setzen. Wir sperrten den Ort durch eine Flatterbandak- war der: Diese Gleichgültigkeit, mit der eine Stuttgarter tion als Tatort weiträumig ab. Wir schrieben zusammen Firma ihre Häuser verpachtete; die Gleichgültigkeit, mit Zum dreihundertsten Geburtstag Joseph Süß Oppen- mit dem Infoladen Nordbahnhof einen internationalen der das gesamte Areal von Nachtschwärmern zugeparkt heimers im Jahr 1998 erarbeitete die Stiftung mit Stu- Studentenwettbewerb für eine Gedenkstätte aus. Nach war, so dass für die Rettungskräfte kein Durchkommen dierenden der Universität Stuttgart einen Einblatt-Druck einem Workshop mit über 50 Studierenden und deren war; und die Gleichgültigkeit, mit der man nach dem zum Andenken an den in Stuttgart umgebrachten ge- Professoren aus Deutschland, Italien und der Schweiz Brand sich anschickte, dasselbe Geschäft weiter zu nialischen Finanzreformer. Diese Drucke entstanden prämierte eine prominent besetzte Jury im Mai 2002 betreiben – diese geballte Gleichgültigkeit wollten wir bewusst in dieser Form, denn solche Drucke wurden den Entwurf der Architekten Christine und Ole Saß. Der durch ein Projekt der Empathie-Erzeugung erschüttern. bei seiner Hinrichtung den schaulustigen Stuttgartern Gemeinderat hat die Realisierung der Gedenkstätte am Es gelang uns, eine Stiftung zu gründen, der die Stutt- massenhaft verkauft. Kaum jemand hat sich seither in Inneren Nordbahnhof einmütig gebilligt, er hat das Bau- garter Hofbräu AG das Unglückshaus übertrug. Wir Stuttgart an diesen Justizmord erinnert, vielleicht konn- Brandanschlag im März 1994: Vor allem Nichtdeutsche grundstück und die Hälfte der Baukosten bereitgestellt. bauten das Haus wieder auf, organisierten Mittel und ten ihn die Nazis auch deshalb zur historischen Haupt- lebten in dem überbelegten Gebäude Im Sommer 2006 konnte „Zeichen der Erinnerung“ er-

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öffnet werden, nachdem sich ein neu gegründeter Ver- den Hof des Instituts für Auslandsbeziehungen weiter Erinnerung aber braucht zeitgemäße Mittel und Medi- ein mit großer Energie um die restliche Finanzierung führen zum Justizgebäude in der Urbanstraße, der ehe- en, die auch den nächsten Generationen den Weg zur und die bauliche Realisierung gekümmert hatte. Die mals zentralen Hinrichtungsstätte, zum Polizeigefängnis stadtgeschichtlichen Erinnerung ermöglichen sollen. Stiftung hat mit Studierenden Informationen zur Ge- Büchsenschmiere in der Büchsenstraße 37, auf das beim denkstätte, zur Geschichte der Deportationen und die Neubau des Hospitalhofs deutlicher als seither hinge- biographischen Daten von Opfern und Tätern aufbe- wiesen werden sollte, zum Finanzministerium, in dem Weiterführende Informationen: reitet und die Homepage zeichen-der-erinnerung.org jüdischer Besitz verschachert wurde, zum sogenannten www.geissstrasse.de ins Netz gestellt. Judenladen in der Seestraße, dem zentralen Ort insze- www.zeichen-der-erinnerung.org nierter Demütigung, zur Sammelstelle Killesberg und Aus dieser Arbeit heraus entstand dann 2003 das E mpathie fördern, Wissen vermitteln: „Gedenkorte sind zu den Deportationsgleisen am Zeichen der Erinnerung Projekt „Zug nach Theresienstadt“. Jugendräte, Stu- nur dann Hilfsmittel der Erinnerung, wenn sie belebt beim Nordbahnhof. dierende, Musiker, Fotografen, Filmemacher des SWR, und zum Sprechen gebracht werden“, sagt Dr. Michael Journalisten, Historiker und eine ganze Theatertruppe Kienzle Gedenkorte sprechen nicht. Sie sind nur dann Hilfs- begleiteten die beiden Zeitzeugen und Überlebenden, mittel der Erinnerung, wenn sie belebt und zum Spre- Inge Auerbacher aus New York und Garry Fabian aus Aus diesem Grund brauchen wir vor allem außerschuli- chen gebracht werden, wenn sie interpretiert werden. Australien auf einer Zugfahrt von Stuttgart nach The- sche Projekte und geeignete Orte, an denen junge Leu- Nur dann können sie zeigen, wie wirkmächtig einst resienstadt. Das war gewiss ein gewagtes Projekt – das te Empathie mit Geschichte und Gesellschaft entwickeln Geschichte war, können sie helfen, die Grundfrage zu sollte es auch sein! Erzählungen über die unvorstellba- können und die sie in ihre Lebenswirklichkeit einbinden beantworten, wie Ausgrenzung, Faschismus, Rassismus ren Kindheitserlebnisse der Vergangenheit wechselten können. Sie müssen historische Zusammenhänge lernen und Kriegsbereitschaft in die Köpfe der Menschen kam sich ab mit der Freude am Leben und Reisen. Ein SWR- und verstehen. Sie müssen vor allem die empathische und noch immer kommt. Film von Joachim Auch und ein mit Zeichnungen und und polyperspektivische Haltung zu Tätern und Opfern Fotos versehener Band hat die Arbeit an diesem Projekt erlernen. Das aber vollzieht sich nach meinen Erfahrun- Wie der Ort Dorotheenstraße 10 künftig aussehen wird, ergänzt. gen zunehmend weniger anlässlich offizieller Feiern ist für mich keine Glaubensfrage. Unabdingbar ist aber, oder bei Gedenktagen zu Ehren der Opfer oder in der dass an diesem Ort unverzüglich Empathie und Wis- Schule. sen ermöglicht und gefördert werden. Empathie und Die heutige Auseinandersetzung mit dem Wissen wurden und werden durch antiquarisches und Projekt „Zug nach Theresienstadt”, 2003: Künstler, Nationalsozialismus Deshalb sollten die Schuld und die Schande des Nati- formales Gedenken geradezu konterkariert. Künftige Historiker, Studierende und ein SWR-Team begleiteten onalsozialismus in Stuttgart nicht allein in einem zu zwei Holocaust-Überlebende auf ihrer Fahrt. Abbildung Die Schrecken des Faschismus waren für meine Gene- diesem Zweck rekonstruierten Gebäude abgeladen aus dem Buch, das die Reise dokumentiert ration noch immer nahe, schon weil sie durch einige werden. Die ganze Breite des Alltagslebens in der Dik- Lehrer, Familienangehörige oder politische Figuren wie tatur, das Netz der Entrechtung und Unterdrückung Eichmann, Globke oder Kiesinger verkörpert wurden. muss anschaulich und in seiner Wirkung nachvollziehbar Nationalsozialismus und Mitläufertum hatten für uns gemacht werden. Das Projekt Zeitgeschichte der Stadt Name, Anschrift und Gesicht und konnten identifiziert Stuttgart hat da in den achtziger Jahren durchaus schon und angeprangert werden. Das wurde mir und vielen einen guten Grund gelegt. Die Omnipräsenz nationalso- meiner Generation zur biografischen Pflicht und Le- zialistischer Herrschaft, die persönlichen Verstrickungen Dr. Michael Kienzle bensaufgabe. Die Jugendlichen heute haben zum Ge- der Bürger in ihr, die Möglichkeiten des Widerstands schichtsunterricht, den die Lehrer unserer Generation oder die Lust der Unterwerfung müssen sinnlich erfahr- ist Literaturwissenschaftler und geschäftsführender Vorstand der gemeinnützigen Stiftung Geißstraße 7 erteilen, zunächst so ein Verhältnis wie etwa zur römi- bar gemacht werden. Die Stiftung Geißstraße 7 gründete sich 1994 in Folge der Brandkatastrophe im Haus Geißstraße 7, bei der sieben Menschen schen Geschichte; oft können sie unser moralisches En- das Leben verloren. Die Stiftung arbeitet seitdem durch Veranstaltungen, Projekte, Publikationen oder Studienreisen am empa- gagement gegen Krieg und Mord nicht nachvollziehen, Die Stiftung hat gute Erfahrungen mit Stadtspazier- wir überfordern sie oft, und das beantworten sie mit gängen zu unterschiedlichen Themen gemacht. Diese thischen Vermögen der Stadtgesellschaft. Sie konzipierte und bereitete den Gedenkort „Zeichen der Erinnerung“ im Stuttgarter Desinteresse oder Coolness, was ja nichts anderes als Wege des umfassenden Gedenkens könnten in der Nordbahnhof vor. Durch ihre Reihe „Denkblätter“ erinnert die Stiftung an bedeutende Figuren der Stadtgeschichte, um sie in das Abwehr ist. Gestapozentrale Hotel Silber beginnen, könnten durch öffentliche Bewusstsein zurückzuholen. Die Stiftung bemüht sich besonders um zeitgemäße Formen der Erinnerung.

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schweigt oder sich zu wenig gegen Angriffe auf Teile des Unterrichts – auch des Geschichtsunterrichts. Menschlichkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zur Dabei schreiben die Bildungspläne nicht mehr im Ein- Wehr setzt. zelnen vor, welche Inhalte chronologisch nacheinander durchgenommen werden müssen. Sie legen vielmehr Holger Viereck, Gerade in den Schulen sind lokale Bezüge zu den Tä- fest, welche Kompetenzen bzw. Fähigkeiten durch den Anne-Frank-Realschule Stuttgart-Möhringen tern und zum Widerstand sehr wichtig. Die Geschichte Unterricht bei den Schülerinnen und Schülern geför- der Verfolgung, Ausgrenzung und Misshandlung hat dert und entwickelt werden sollen. Es wird also nicht nicht nur weit weg in Berlin, Grafeneck, Hadamar oder mehr der Schwerpunkt auf das gelegt, was im Unter- Auschwitz stattgefunden, sondern bei uns direkt in der richt durchgenommen werden muss, sondern vielmehr Was brauchen Schulen, um das Nachbarschaft und eben auch in der Dorotheenstraße. auf das geschaut, was durch den Unterricht und die Thema angemessen bearbeiten zu können? Damit Schüler dies alles lernen können, haben sich die konkrete Arbeit erreicht werden soll. Deshalb wird me- Holger Viereck Bildungspläne und damit die Schule insgesamt in den thodisches Arbeiten gefordert, bei dem selber Machen, letzten Jahren verändert. Daraus ergeben sich Erwar- selber Entdecken, selber Forschen, also Eigeninitiative tungen an außerschulische Lernorte, auch an eine Ge- und Selbstständigkeit betont werden. Ich freue mich, dass ich heute über die Perspektive der eingesperrt. Es waren Kommunisten, Sozialdemokra- denkstätte wie das Hotel Silber. Schule sprechen kann: Es sind ja wahrscheinlich vor ten, Gewerkschafter, Christen, Pazifisten. Viele von Die Nachhaltigkeit des Lernens rückt in den Fokus der allem Schulklassen, die Erinnerungsorte und Gedenk- ihnen in Parteien und Verbänden organisiert, manche Betrachtung. Damit ist für das Lernen nicht mehr nur stätten besuchen, und so wird es auch in Zukunft im aber einfach Menschen, die ihre humanistischen Wer- Wie sieht Schule heute aus – das Ergebnis einer Arbeit wichtig, sondern auch der ehemaligen Hotel Silber sein. te und ihre Vorstellung von demokratisch-zivilisiertem, welche Aufgaben und Ziele hat sie? Weg, die Recherche, die eigene methodische Herange- gesellschaftlichem Miteinander nach der Machtüber- hensweise und die von den Schülern/innen selbst ent- Das ist mir sehr wichtig, denn ich finde es unbefriedi- tragung an die Nationalsozialisten nicht aufgeben Seit Mitte der 90er Jahre haben sich die Bildungs- wickelten Ziele. Der alte Schülerdreikampf „auswendig gend, dass viele unserer Schüler nicht (mehr) wissen, wollten. pläne der Schulen in Baden-Württemberg erheblich lernen, in der Klassenarbeit niederschreiben und dann wer die Menschen waren, die in der Dorotheenstraße verändert. Heute gibt es viel mehr Raum für eigene schnell wieder vergessen“ beschreibt das Lernen von verhört und in den Gestapo-Kellern gefoltert wurden: An diese Menschen sollten wir uns erinnern, diesen Schwerpunkte der Schulen. Also können die Schulen gestern und hat mit den heutigen Bildungsplänen Kurt Schumacher, Else Himmelheber, Lilo Hermann, Men­schen und ihren Aktivitäten sollte mehr Aufmerk- auch mehr regionalgeschichtliche Ansätze und eigene nichts mehr zu tun. Gertrud und Hans Müller, Friedrich und Hermann samkeit geschenkt werden. Gedenkstätten und Erin- Themen im Jahresablauf bearbeiten. Darin liegt eine Schlotterbeck, Gertrud Lutz, Eugen Bolz oder Lina und nerungsorte können diese Aufgabe mit übernehmen, große Chance, gerade für außerschulische Lernorte, Seinen Niederschlag finden diese neueren Forderun- Alfred Haag sind sicher den meisten, auch erwachse- so dass sich die Erinnerungskultur erweitert und in un- die mit relativ wenig zeitlichem Aufwand besucht wer- gen an den Unterricht in nahezu allen Bereichen der nen Stuttgarter Bürgerinnen und Bürgern, unbekannt. serem kulturellen Gedächtnis eine bisher noch weitge- den können. Museen, Archive, Gedenkstätten sollten Schule. Dazu gehören die verpflichtenden Projekte in Dies trifft leider zu, obwohl sie doch, wie viele andere, hend verschlossene Tür aufgestoßen wird. sich dieser Möglichkeit bewusst sein und ihre Angebo- Haupt- und Realschulen, die projektorientierten Semi- für das „gute oder aufrechte Deutschland“ während te entsprechend gestalten. narkurse in den Gymnasien oder verschiedene Arten der Zeit der NS-Herrschaft stehen könnten. Sie stehen Andererseits müssen auch die Täter stärker in den Blick von Präsentationen. Ergänzt werden solche Anforde- für ein Deutschland, das im Jahr 1933 nicht geschlos- gerückt werden. Die Nationalsozialisten in Stuttgart Seit 2004 wird besonders großer Wert auf die Ent- rungsprofile durch spezielle Schulprogramme wie „Das sen nach rechts gerückt ist und nicht einheitlich erge- waren, genauso wie in anderen Städten des Reiches, wicklung von Kompetenzen bei den Schülerinnen und Lernen lernen“. Diese Veränderungen fließen natürlich ben die NSDAP gewählt hat. Ein Deutschland, in dem keine geborenen Verbrecher oder Monster. Sie sind Schülern gelegt. Der Schwerpunkt hat sich vom Erler- auch in projektbezogene Abschlussprüfungen ein. Da- im ersten Jahr über 100 000 Menschen in den frühen auch nicht über Nacht zu dem geworden, was sie nen von abfragbarem Wissen durch frontal dargebote- mit wird in allen weiterführenden Schulen „Fachwis- KZs oder „Schutzhaftlagern“ eingesperrt waren. später wurden. Sie waren Beamte, Karrieristen, Par- nen Unterricht hin zur Erarbeitung von Erkenntnissen sen im weiteren Sinne“ geprüft. Dazu gehören metho- teigenossen und Menschen, die ihren eigenen Vorteil und Zusammenhängen verschoben. dische, fachliche, personale und soziale Kompetenzen. Hier in Württemberg wurden sie, nachdem viele von suchten; sie führten Befehle aus, setzten Erlasse um ihnen im Hotel Silber verhört und misshandelt worden und verrichteten Schreibtischarbeit. Jugendliche sollen Gegenwartsbezug, Multiperspektivität, Sozial- und All­ Nur Museen, Gedenkstätten, Erinnerungsorte oder Ar- waren, auf den Hohen Asperg, oder in die KZs auf dem lernen, dass es nicht nur die wenigen Hitlers, Himmlers tagsgeschichte stehen heute im Vordergrund. Erfah- chive, die als Lern- und Studienorte Projekte anbieten Heuberg bei Stetten am Kalten Markt, dem Oberen und Heydrichs waren, die das NS-System ermöglicht rungen machen, Einstellungen und Haltungen entwi- und solche Kompetenzen fördern und fordern, werden Kuhberg in Ulm oder im Welzheimer Wald verschleppt. haben. Sie sollen lernen können, dass sich Unrecht ckeln, eigene Fähigkeiten entfalten und Handlungsal- auch in Zukunft noch mit großem Gewinn von Klassen Frauen wurden im KZ Gotteszell in Schwäbisch Gmünd nur ereignen kann, wenn die Masse der Menschen ternativen diskutieren und erlernen bestimmen große und ihren Lehrern besucht.

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Welche positiven Erfahrungen von Gedenk- Viele von diesen Methoden werden schon in Gedenk- Modulen, Opfer und Täter, die Geschichte des Hau- stättenarbeit habe ich bisher mit Schülern und stätten und Dokumentationszentren – auch hier in ses, der Gestapo, der Deportation und der Euthana- Studenten gemacht? Stuttgart – eingesetzt und angewandt sie näher kennen gelernt, erarbeitet und erforscht werden kann. Dazu wären verschiedene Formen der Besuchte man Dachau oder andere KZs, so war es immer Zusammenarbeit mit dem Hauptstaatsarchiv, dem sehr beeindruckend und ergreifend, wenn ein ehemali- G eschichte zum Anfassen: Auch das Arbeiten mit Origi- Wie könnte eine neue Gedenkstätte in Stuttgart Stuttgarter Stadtarchiv oder den Stolpersteininitiati- ger Häftling Schülern aus seinen Erfahrungen berichten naltexten gehört dazu aus Sicht der Schulen aussehen – was wünschen ven in Stuttgart von großem Nutzen konnte. Erlebte und erzählte Geschichte in Zeitzeugen- wir uns? aussagen, das was wir „Oral History“ nennen, ist bei sie bei einer Führung gehört und gesehen haben z.B. ➜ Möglichkeiten der Quellenarbeit in Form des Studi- jedem Thema beeindruckend. Im vorliegenden Fall trifft mit Kohlestiften nieder. Sie drücken so auch ihre Ge- Eine reine Darbietung der beiden Kellerräume mit eini- ums von Filmen, Fotos, Zeitungen, Plakaten, Erlassen, das ganz besonders zu. fühle und Gedanken aus gen, wenn auch beeindruckenden, Text- und Bildtafeln oder Gesetzen wären angebracht und der Originaltüren aus dem Stadtarchiv kann nicht Wer von den heute hier Anwesenden einmal Hans ➜ Kommunikative Formen: Es werden Interviews ge- das Konzept für den neuen Erinnerungsort sein. Wie ➜ Lebensläufe und Motive von Opfern und Tätern Gasparitsch (von der jugendlichen Widerstandsgruppe führt. Hierbei können z.B. Zeitzeugen befragt wer- immer die Gedenkstätte schließlich aussieht: Wenn sie müssten herausgearbeitet oder nachgelesen werden „Gruppe G“ aus Stuttgart) vor einer Schulklasse erlebt den. Zudem sind Interviews mit Bewohnern einer die Möglichkeit bietet, dass Schüler arbeiten können, können hat, der weiß, wovon ich spreche. Diese Art der Oral Stadt möglich dass sie Selbständigkeit zeigen und Kompetenzen ent- History ist aber leider schon fast selber Geschichte, da wickeln können, dann werden wir einen Arbeits- und ➜ Verbindungen und Transfers zwischen Geschichte die Betroffenen mittlerweile oft verstorben oder sehr alt ➜ Musikalische Bearbeitungen: Von Schülern selbst Lern­ort haben, der Zukunft hat. Nur „Schauen und und Gegenwart müssten hergestellt werden. sind. geschriebene Texte über Gefühle, die sie bei Besich- Zei­gen“ hätte es vermutlich sehr schwer, Interesse zu tigungen gewonnen haben, werden mit Musik ver- wecken. Allerdings bedarf es, um einen solchen außerschuli- Gedenkstätten arbeiten deshalb oft mit beeindrucken- tont schen Lern- und Forschungsort zu etablieren, ähnlich den Medieninstallationen, in denen Berichte vorgele- Also sind Einrichtungen und Angebote gefordert, die wie das ja nun vom Gemeinderat angedacht und ange- sen werden oder Videos von Erzählungen ehemaliger ➜ Arbeiten mit Comics und Bildergeschichten: Das Le- Schüler tatsächlich forschen und entdecken lassen, die stoßen wurde, eines Gesamtkonzepts für die Stuttgarter Häftlingen eingearbeitet sind. Es gibt aber auch neue, sen oder auch selber Schreiben und Zeichnen von Handlungsorientierung ermöglichen und all dem, was Gedenkstätten und Erinnerungsorte und damit für die handlungsorientierte Wege, die ein anderes, ganzheitli- Comic-Geschichten steht hier im Mittelpunkt. Im vom Bildungsplan gefordert wird, auch entsprechen. Erinnerungskultur unserer Stadt insgesamt. ches, auch emotionales und affektives Lernen ermögli- Anne-Frank-Haus in Amsterdam und auch in der chen. Einige dieser Methoden, die sich als Ergänzung zu Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz hat Ergänzend zu den ehemaligen Zellen müssten in der Führungen und Medieninstallationen eignen, seien hier man mit solch ungewöhnlichen Medien schon Er- Dorotheenstraße weitere Dinge hinzutreten: Weiterführende Informationen: stellvertretend genannt: fahrungen gesammelt www.annefrank-realschule.de ➜ Seminar- und Unterrichtsräume, Räume für Forschung ➜ Theaterpädagogische Ansätze: Es gibt die Möglich- ➜ Klassische Quellenarbeit: Entdeckende und erfor- und Recherche, in denen in Form von thematischen keit, Standbilder zu stellen. Dabei werden Situatio- schende Arbeit mit Archivgut oder Texten auf Ge- nen der Schutzlosigkeit oder Geborgenheit darge- denktafeln und -steinen aus verschiedenen Zeiten stellt oder Raumerfahrungen ermöglicht wie z.B. am Killesberg oder an der Martinskirche im Stuttgarter Norden sind denkbar Holger Viereck ➜ Arbeit mit Texten: Es können Zeitungsartikel verfasst, A nne-Frank-Realschule, Stuttgart-Möhringen Plakate erstellt, Gedichte geschrieben werden. Man ➜ Kreative Arbeit mit Plastiken und Denkmälern: Schü- kann auch Informationen in neue Formen umarbei- ler entwerfen eigene Denkmäler oder pflegen schon Nach dem Studium (ev. Theologie, Pädagogik, Geschichte, Politik) in Heidelberg, Tübingen und Ludwigsburg wurde Holger Vier- ten lassen. Gefühle können zusammen mit den Fak- vorhandene Gedenktafeln und -plätze eck 1994 Realschullehrer in Stuttgart. Dort engagiert er sich seit 15 Jahren mit Projekten und der Organisation von Fortbildungen ten aus einer Führung in Gedichten formuliert und in der Stadt- und Regionalgeschichte. Seit 1997 ist er Ausbildungslehrer und, nach einem dreijährigen Auslandsaufenthalt in dabei eigene Empfindungen ausgedrückt werden ➜ (Kurz-)Filme drehen: Schüler können an Erinnerungs- orten mit einer Kamera Filme drehen. Diese verbin- den USA, seit 2006 Akademischer Mitarbeiter im Fach Geschichte der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Schwerpunkte ➜ Künstlerische Umsetzungen: Es werden Bilder ge- den Gegenwärtiges mit Historischem und bringen seiner Arbeit sind die Geschichte des Nationalsozialismus, sowie die Methodik und Didaktik für das Lernen an außerschulischen zeichnet oder gemalt. Dabei malen Schüler das, was dabei die Perspektiven der Jugendlichen zur Sprache. Lernorten.

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Hearing AM 17. Juli 2010 Erinn erungsorte in Stuttgart E xperten im Gespräch mit Bürgern: Dr. Thomas Brehm, Prof. Dr. Volkhard Knigge, Prof. Dr. Astrid Messer- schmidt, Prof. Micha Brumlik, Prof. Dr. Wolfgang Pyta, Diskussion/Stimmen und Kommentare Jupp Klegraf, Konrad Pflug, Holger Viereck, Jürgen Schulz-Lorch, Prof. Roland Ostertag (von links)

Im Dialog: Fragen, Beiträge, Anregungen A uszüge aus der offenen Diskussion

Harald Stingele, Koordinator des Stolpersteinpro- E. B., Mitglied der Initiative Gedenkort Hotel Silber jektes in Stuttgart mit einer Frage an Prof. Knigge: mit einer Frage an den Gedenkstättenreferenten des Macht es einen Unterschied, ob ich sagen kann: In Landes, Konrad Pflug: Gibt es einen Ort in Baden-Würt- diesem Haus hier geschah … – oder ob ich sage: Hier temberg, an dem die historischen Zusammenhänge stand einmal ein Haus? zentral dargestellt und erfahrbar sind?

Antwort Prof. Volkhard Knigge: Antwort Konrad Pflug: Es macht natürlich einen großen Unterschied, wenn ich So einen Ort gibt es nicht. Die Frage ist aber: Könnte über etwas Verschwundenes rede. [ … ] In aller Regel ein solcher Ort mehr leisten als den Hinweis, dass es waren Gedenkorte, um die es öffentliche Auseinander- noch zahlreiche weitere Orte gibt? Wir haben dazu ei- setzungen gab, im Zustand des Aus-dem-Gedächtnis- nen Band herausgegeben, in dem alle Gedenkstätten gefallen-Seins. Aber das kann kein Grund sein, sie nicht vorgestellt werden – mit Hinweisen auf die Anfahrt, auf ins Gedächtnis zurück zu holen. Dafür braucht man Kontaktpersonen. Jeder Bürger aus Baden-Württem- dann gute pädagogische und didaktische Gründe. [ … ] berg, mit Ausnahme des Allgäu, hat höchstens 30 Ki- lometer bis zur nächsten Gedenkstätte zurückzulegen. Allein im Großraum Stuttgart gibt es zehn bis fünfzehn Janka Kluge, Mitglied VVN und der Initiative Erinnerungsorte. Gedenkort Hotel Silber Ich möchte einen Hinweis geben: In der Landesarbeits- gemeinschaft „Gedenkstätten“ gab es eine Diskussi- Diskussionsbeitrag von Fritz Endemann on, in der die Befürchtung laut wurde, wenn es eine Stellen wir uns einen Augenblick vor, Stuttgart wäre Gedenkstätte Hotel Silber gebe, werde den anderen nicht zerstört worden – wir wären die Nazis losgewor- Gedenkstätten Geld weggenommen. Das ist in keins- den ohne Krieg und Zerstörung. [ … ] Dann hätten ter Weise unsere Intention. Es ist vielmehr Aufgabe des wir in der Innenstadt drei Erinnerungsorte an Naziter- Landes, alle Gedenkstätten mit genügend Geld für ihre ror und Verfolgung. Das wären: Das Polizeipräsidium Arbeit auszustatten. am Hospitalhof, die Hinrichtungsstätte beim heutigen

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Landgericht, und dann natürlich die Dorotheenstr. 10. Eigentümer des Gebäudes und die Bürgerinitiative, al- zentralen Ort in der Landeshauptstadt, der die Zusam- Was ist aus diesen Orten geworden? Am Hospitalhof ist les zu tun, um das Hotel Silber als authentischen Ort menhänge erklärt und auch die Tätergeschichte erzählt. so gut wie nichts zu sehen. Den Gedenkort Urbanstraße für die Dokumentation des NS-Terrors einzurichten. Mit [ … ] beim Landgericht, ehemals „Justizpalast“, habe ich vor freundlichem Gruß, Prof. Dr. Andreas Nachama.“[ … ] etwa zwanzig Jahren zusammen mit anderen angeregt. Es war schwierig hinzubekommen, und das Ergebnis ist Ich weiß, dass der Bebauungsplan am Karlsplatz ge- Ort des Schreckens nicht sehr eindrucksvoll. [ … ] Und aus der Gedenkstätte ändert werden muss. Es geht darum, ob das Gebäude Landgericht wird wahrscheinlich nicht mehr viel werden. abgerissen wird oder ob es stehen bleibt. Vielleicht er- Diskussionsbeitrag von Caroline Hatje innern Sie sich, wenn Sie dieses Thema beraten oder Meine Großmutter kam in Auschwitz um, nachdem sie Umso mehr möchte ich den Gemeinderat auffordern: beschließen, an die Worte von Andreas Nachama. sich im September 1941 im Hotel Silber melden musste Machen Sie es besser als die Justizverwaltung! Nutzen und von dort aus ihre Reise angetreten hat. Ich könnte Sie die Chance, dieses Gebäude [Dorotheenstraße 10] Diskussionsbeitrag von Ralf Bogen, Mitglied des noch drei unsäglich traurige Postkarten beitragen, die dem gewünschten Zweck zuzuführen. Schwul-Lesbischen Zentrums Weißenburg und sie unserer Familie auf ihrer Reise nach Auschwitz ge- der Initiative Gedenkort Hotel Silber schrieben hat; die letzte aus Plauen: „Bitte reicht schnell Diskussionsbeitrag von Heinz Wienand, Uns wurde im Landtag auf eine Frage der Grünen be- ein Gesuch ein, denn das hat mir die Frau gesagt.“ So- Mitglied der Initiative Gedenkort Hotel Silber stätigt, was wir schon immer wussten: Dass das Land viel nur zur Unsäglichkeit und Infamie der Täter. Ich Die Initiative hat vor einigen Monaten einen Brief von noch gar nichts gemacht hat für eine systematische würde diese Postkarten und auch die Erinnerungen und Prof. Dr. Andreas Nachama aus Berlin bekommen, dem Aufarbeitung des NS-Unrechts an homosexuellen Men- auch die Todesanzeige – ausgestellt in Auschwitz um Direktor der Stiftung Topographie des Terrors. Ich zitiere schen, geschweige denn, dass es in einer Gedenkstätte 12 Uhr mittags; Todesursache: Sepsis bei Phlegmone – I ntensive Auseinandersetzung: Bis zum Schluss war das daraus – und appelliere an Kopf und Herz der Mitglieder in Baden-Württemberg dargestellt wird. Das ist für uns gerne einem adäquaten Zentrum zur Verfügung stellen. Publikum konzentriert dabei des Stuttgarter Gemeinderats: „Nichts ist so aussage- natürlich nicht hinnehmbar. [ … ] Mein Anliegen ist es, Sie, Herr Prof. Steinbach haben gesagt, es solle wehtun. kräftig wie die authentischen Orte des Geschehens. Ob 65 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus endlich ein Ich kann nur sagen: Ein Abriss würde sehr wehtun. [ … ] kam zurück. Auf meiner väterliche Seite der Dorfjuden Jahrhunderte altes Schloss oder Gestapozentrale, die Dokumentationszentrum in Baden-Württemberg zu ha- gab es einen Urgroßvater und eine Großmutter, die im Monumente mögen unspektakulär sein, doch die Aura ben, das die Verbrechen gegen ausnahmslos alle Opfer- Ich kann nur anregen einzugestehen, dass wir Bedarf KZ umkamen. Mein Vater kam Gott sei Dank wieder des authentischen Ortes verstärkt jede Dokumentation gruppen aufarbeitet – ich spreche nicht nur für Schwu- haben, Erinnerung aufzuarbeiten, dass wir Bedarf ha- zurück nach viereinhalb Jahren KZ. genau um jene entscheidenden Impressionen, die die le, sondern auch für die sogenannten „Asozialen“, also ben, unsere Zukunft zu bearbeiten; Bedarf an Integra- Nachhaltigkeit einer Auseinandersetzung mit der NS- etwa Wohnungslose und andere. Es ist gut, dezentrale tionsmöglichkeiten [ … ], Bedarf, unsere Jugendlichen [ … ] Es ist erfreulich, dass es im ganzen Land Gedenk- Zeit benötigt. Ich appelliere eindringlich an Stadt, Land, Gedenkstätten zu haben. Aber es braucht auch einen einzubinden. [ … ] Wir brauchen Mut, für ein solches stätten gibt. Zuletzt war ich auf der Eröffnung der Zentrum Platz zu machen. Gedenkstätte in Hailfingen-Tailfingen. Es ist beeindru- ckend, was hier zustande gebracht wurde nach vielen Jahren des Schweigens. Es gibt viele Gedenkstätten für Diskussionsbeitrag von Harald Stingele Opfer; aber was fehlt ist eine Stätte, wo die Täter be- und Fredy Kahn nannt werden. [ … ] Ich finde, wir haben eine Chance, Harald Stingele: Ich möchte meinen Sitznachbarn vor- das zu ändern. Es wäre schlecht für Stuttgart und die stellen, Fredy Kahn aus Tübingen. Sein Großvater wurde ganze Umgebung – ich glaube, auch für viele Juden ermordet, seine Eltern beide nach Theresienstadt de- und Verfolgte im Ausland – wenn man diese Chance portiert. Die Deportation wurde im Hotel Silber geplant verstreichen ließe. und organisiert. Von ihm wollen wir hören, wie er als Angehöriger diese Debatte sieht. Diskussionsbeitrag von Heinz Hummler Ich bin der Sohn eines Mannes, der im Hotel Silber ver- Fredy Kahn: Seit über 300 Jahren lebt meine jüdische hört und später vom Volksgerichtshof verurteilt und Familie hier im Land. Die mütterliche Seite waren Stutt- hingerichtet wurde. [ … ] Was mich heute am meisten Heinz Wienand ist Mitglied der Initiative, die sich für „Unsäglich traurig“ waren die Postkarten, die Caroline Hatje garter Bürger; mein Großvater wurde in Theresienstadt bedrückt hat war, dass es bis in die 60er Jahre gedauert den Erhalt des Gebäudes Dorotheenstraße 10 einsetzt als letzte Lebenszeichen von ihrer Großmutter erhielt ermordet, meine Mutter wurde ebenfalls deportiert. Sie hat, bevor man hier in dieser Stadt mit der Aufarbei-

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tung begonnen hat. Ich habe erlebt, wie meine Mutter damals die blutige Wäsche meines Vaters aus dem Ge- „Welche Bedeutung hat das in Steinwurfweite jetzt fängnis mitgebracht hat … Und später habe ich erlebt, entstehende Stadtmuseum für den Erinnerungsort dass die Institutionen immer gedrängt werden mussten. Gestapo-Zentrale?“ [ … ] Das war auch mit der Inschrift an der Justizan- stalt so. Die Konsequenz muss sein: Man muss endlich „Welche Mittel hat die Stadt, sofern sie aus Verant- ernsthaft mit der Aufarbeitung der Nazivergangenheit wortung für die historische Bedeutung des Hotel Sil- so beginnen [ … ], dass wir den jungen Menschen eine ber und für das Gedächtnis der Stadt das Gebäude Aufarbeitung insbesondere im Hinblick auf die Täter ge- erhalten will, ihren politischen Willen durchzusetzen, ben können. auch gegen den Wunsch der Bauherren?“

Diskussionsbeitrag von Prof. Dr. Wolf Ritscher „Systematische Aufarbeitung und dauerhafte Dar- Ich bin Professor an der Hochschule Esslingen und stellung des NS-Unrechts an homosexuellen Men- mache seit vielen Jahren gedenkstättenpädagogische schen – wie lange noch Fehlanzeige in Stuttgart und Projekte. Ich kann nur unterstützen, was hier gesagt in ganz Ba-Wü?“ worden ist: Jugendliche und junge Erwachsene brau- chen historische Orte, an denen sie erfahrungs- und „Bedeuten der Fund von wenigen originalen Spuren projektorientiert lernen und arbeiten können. Aus eige- der Gestapo-Verbrechen, dass bei Umbau und Spu- nem Lernen und aus eigenen Erfahrungen entwickeln renbeseitigung 1982-85 das Hotel Silber als weniger sich dann die Lernprozesse, die wir uns alle wünschen. geeigneter Gedenk- und Lernort gewertet wird?“ Das Hotel Silber sollte nicht nur ein Lernort, sondern auch ein Gedenkort sein. Das sage ich auch aus eige- „Stuttgart braucht ein NS-Dokumentationszentrum ner Familienbiografie heraus: Meine Großtante Käthe in angemessener Größe!“ Loewenthal, eine damals in Stuttgart sehr bekannte Malerin, ist mit dem zweiten Transport im April 1942 „Stuttgart braucht einen lebendigen Ort, an dem nach Izbica deportiert und dort wahrscheinlich ermor- mensch sich an die NS-Geschichte annähern kann. det worden. Ich finde, das Hotel Silber sollte als der Ort Deshalb: Erhalt der Dorotheenstr. 10“ erhalten werden, wo diese Deportationen geplant und organisiert worden sind – als Gedenkort und als Lernort. „Gibt es schon ein Tätermuseum über die Polizei- und Verwaltungsverbrechen in (Baden-) Württemberg?“

„Ich bin sehr betroffen über die Darstellungen, wie die Familien gelitten haben“, sagte Oberbürgermeis- ter Wolfgang Schuster in seinem Schlusswort. Es gelte Die Dialogkarten standen interessierten Bürgerinnen mehr denn je, den Fokus stärker auf die Täter zu lenken. und Bürgern bereits im Vorfeld des Hearings zur Der lokale Bezug sei wesentlich, um Interesse und Be- Verfügung, und auch während der Veranstaltung troffenheit zu wecken. „Auch wenn keine Spuren mehr konnten Vorschläge, Wünsche und Diskussionsbei- zu finden sind, bleibt es ein Ort des Schreckens, das träge auf den Karten eingebracht werden. Diese ist der Unterschied zwischen Ort und Gebäude“, gab Fragen und Anregungen fließen – wie alle während Schuster zu bedenken. des Hearings formulierten Beiträge – in den weite- ren Prozess mit ein

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Stuttgart“. Meinungen wurden geäußert, Fragen ge- Die wichtigsten Themen aus Sicht der Bürger stellt. Angesichts der dichten Programmfolge und des regen Andrangs konnte nicht jeder zu Wort kommen Unterschiedliche Perspektiven fanden sich in den Wort- und den eigenen Beitrag zur Diskussion stellen – ins- meldungen, Debattenbeiträgen und schriftlich for­ gesamt 16 Teilnehmer aus dem Publikum stellten ihre mu­lierten Anregungen und Wünsche. Vor allem eines Fragen und führten ihre Debattenbeiträge aus. wurde dabei deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich eine Fortsetzung des Dialogs und eine Dennoch geht keine Meinung, kein Anliegen verloren: Beteiligung am weiteren Entscheidungsprozess: „Bitte A ktives Publikum: Die Pausen waren eine gute Gelegen- Es gab verschiedene Wege, seine Anliegen zu artiku- Fortsetzung“ steht auf einem der von den Teilnehmern heit zum Meinungsaustausch und zum Weiterdiskutie- lieren – sogar bereits im Vorfeld der Veranstaltung. So ausgefüllten Bewertungsbögen, der damit stellvertre- ren. Viele nutzten auch die Chance, mit den angereisten waren die Anmeldekarten zugleich ein Angebot zum tend für viele steht. Referenten ins Gespräch zu kommen Dialog. Dort formulierte Fragen – anonym oder mit Namensnennung – flossen in die Veranstaltung mit Im Folgenden sind beispielhaft die wichtigsten Argu- ein; und auch während des Hearings lagen überall auf mente zu den am häufigsten genannten Themenfeldern den Plätzen die Dialogkarten aus. Die 40 ausgefüllten genannt. So bewerten die Teilnehmer das Hearing Karten werden auch im weiteren Prozess als wichtige Quelle für die Standpunkte interessierter Bürger und ➜ Bürgerbeteiligung/ Entscheidungsfindung Ini­tiativen genutzt. Eine Anhörung soll möglichst umfassend den verschie- Publikum noch umfassender einbeziehen können. Und Die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die denen Positionen Raum geben, so auch am 17. Juli 2010 sicher hatte sich mancher noch mehr Rede-Beiträge Auf einem Stimmungsbarometer bewerteten die Teil- einen Bewertungsbogen ausgefüllt hatte, sprach sich im Stuttgarter Rathaus. Mit dem Hearing begann das gewünscht. Deshalb wird das Gespräch auf verschie- nehmerinnen und Teilnehmer die laufende Veranstal- dafür aus, die öffentliche Diskussion um Erinnerungs- von der Stadt initiierte Nachdenken über die Erinne- dene Weisen fortgesetzt. Ein im Rathaus angesiedelter tung. Diese Momentaufnahme zur Hälfte des Hearings orte in Stuttgart fortzusetzen, damit – so ein Teilneh- rungskultur in Stuttgart. Und es verstand sich als Auf- Arbeitskreis unter der Federführung des Stadtarchiv- ergab: Die große Mehrheit war mit dem Verlauf zufrie- mer – „das Gehörte, Gesprochene, Gedachte Konse- takt für einen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern Leiters und der Leiterin des Planungsstabes für das neue den. Und am Ende der Veranstaltung gab es schließ- quenzen haben wird“. Viele forderten einen Prozess der der Stadt über ein Thema, das die Menschen bewegt. Stadtmuseum – verstärkt um weitere Experten – wird lich die Möglichkeit, auf Bewertungsbögen fehlende Entscheidungsfindung einzuleiten, der auch die Bürger Aus den Rückmeldungen der teilnehmenden Bürgerin- den weiteren Prozess auch im Dialog mit den Bürgern Themen zu benennen („Das fehlte mir“) und „Vor- einbezieht. nen und Bürger war herauszulesen: Das Thema, aber organisieren. In die Beratungen des neu eingesetzten schläge für den weiteren Prozess“ zu formulieren. Ins- auch der Austausch darüber ist ihnen ein dringliches Arbeitskreises werden die Anregungen, Wünsche und gesamt 34 anonym ausgefüllte Fragebögen wurden Das Projekt solle auch „als pädagogische Aufgabe be- Anliegen. Fragen aus dem Hearing einfließen. abgegeben. griffen werden“, indem weitere Stuttgarterinnen und

Das Hearing war eine Einladung, gemeinsam über die Sieben Stunden lang wurde intensiv geredet; die Bei- 40 ausgefüllte Dialogkarten, 34 abgegebene Bewer- künftige Ausrichtung der Erinnerungskultur in Stuttgart träge der Referentinnen und Referenten beleuchteten tungsbögen, 16 vor dem Plenum vorgebrachte Wort- nachzudenken – und darüber, wie sich die Lehren aus Aspekte der Geschichtsvermittlung, der Demokratieer- beiträge: Von den insgesamt etwa 300 Besuchern des der Geschichte an die nachwachsenden Generationen ziehung in einer Einwanderungsgesellschaft, der Erinne- Hearings im Stuttgarter Rathaus steuerten also gut 90 vermitteln und weitergeben lassen. Dabei wurde sehr rung an Täter und Opfer – und es ging sehr konkret um Personen und damit fast ein Drittel aller Teilnehmer ihre schnell klar: Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist die Ideen und Konzepte, die aus der Stuttgarter Bürger- persönliche Stimme bei. identitätsstiftend für die Stadt und ihre Bewohner – und schaft heraus für den Umgang mit Erinnerungsorten in ihre Vermittlung eine bleibende Aufgabe, die untrenn- Stuttgart und im besonderen das Gebäude Dorotheen- Ein Umschlagplatz von Meinungen und Argumenten bar mit der Gestaltung von Lern- und Erinnerungsorten straße 10 formuliert wurden. waren die Vorräume des Rathaussaals, wo die am The- verbunden ist. ma arbeitenden Initiativen ihre Stände aufgebaut hat- „Angehört“ wurden nicht nur die insgesamt 18 gelade- ten. Die vom Podium postulierten Thesen wurden hier Mit dem Hearing gelang ein differenzierter Meinungs- nen Experten sowie Interessenvertreter der Stuttgarter weiter besprochen; und die Pausen nutzten viele zum austausch, der dennoch nicht erschöpfend sein konnte. Zivilgesellschaft: Auch die Beiträge aus dem Publikum direkten Gespräch mit den angereisten Historikern, Di- Kein Beitrag geht verloren: Über 90 Meinungsäußerun- Aus Sicht mancher Teilnehmer hätte die Diskussion das waren Bestandteil des Hearings „Erinnerungsorte in daktik-Fachleuten und Gedenkstättenexperten. gen kamen aus dem Publikum

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Stuttgarter einbezogen werden. Daneben solle „über Ein Teilnehmer nahm das Land und Ministerpräsident Eine Mehrheit der Anwesenden sprach sich dabei für parteipolitische und Wirtschaftsinteressen hinweg“ ein Stefan Mappus in den Fokus, der keinen Handlungsbe- den Erhalt des Gebäudes aus, sowohl in den Wortbei- „Runder Tisch“ mit Vertreterinnen und Vertretern der darf für eine zentrale Gedenkstätte sehe, weil „dieses trägen als auch auf den Bewertungsbögen. Dort steht Politik, der Bürgerinnen und Bürger sowie museum- Thema seit langem im universitären Bereich aufbereitet zum Beispiel: „Das Hotel Silber hat bis heute überlebt, serfahrenen Leuten ins Leben gerufen werden. Einige werde.“ Das sei jedoch nicht ausreichend. Ein anderer ein authentischer Ort, an dem die Gestapo Menschen forderten, auch das Land müsse einbezogen werden. Es Diskussionsbeitrag verwies auf die fehlende „systema- gequält, gefoltert und verurteilt hat. Es wäre verwerf- Bürgerinitiativen aus Stuttgart informierten an ihren wurde zudem vorgeschlagen, das Hearing einmal jähr- tische Aufarbeitung und dauerhafte Darstellung des lich, wenn dieses lebendige Zeugnis aus der NS-Zeit Ständen und erläuterten ihre Argumente lich mit den Ergebnissen der Runden Tische fortzuset- NS-Unrechts an homosexuellen Menschen“ in Stuttgart zerstört werden würde.“ Heinz Wienand argumentierte: zen. und Baden-Württemberg. „Nichts ist so aussagekräftig wie die authentischen Orte ➜ Berichte über den „Schreckensort“ des Geschehens“ und sprach damit für viele Anwesen- Eine Forderung nach einem Bürgerentscheid über die ➜ Vermittlung an die folgenden Generationen de. Auf einem der Auswertungsbögen formulierte ein Die Beiträge auf den Seiten 76-78 zeigen: Es gibt auch Zukunft des Hotel Silber wurde schriftlich geäußert. Teilnehmer knapp: „Erhalten, renovieren, zur perma- eine große persönliche Betroffenheit unter den Bürge- In der Diskussion nahmen manche Teilnehmer die Argu- nenten Erinnerung ausbauen.“ Die Dorotheenstraße 10 rinnen und Bürgern. Einige meldeten sich in der Diskus- Eine andere Anregung wurde unmittelbar umgesetzt: mente der Referenten auf und forderten – wie auch auf habe für alle Stuttgarter als Erinnerungsort Bedeutung, sion zu Wort, die vor allem Zeugnis geben wollten von Möglichst zeitnah solle eine Dokumentation öffentlich einigen Dialogkarten – einen Ausbau der Jugendarbeit. so eine grundsätzliche Erklärung, denn „bald wird es den Geschehnissen in der ehemaligen Gestapozentrale. zugänglich sein. Schon zwei Tage nach der Veranstal- Prof. Dr. Wolf Ritscher war sich in seinem Wortbeitrag keine Zeugen aus der Opfer- und Tätergeneration mehr Sie konnten berichten, was ihren Verwandten dort pas- tung wurden die Audio-Aufzeichnungen der gesamten sicher: „Jugendliche und junge Erwachsene brauchen geben. Mit dem Hotel Silber sind in Stuttgart noch viele siert ist. Diese Beiträge berührten – und bereicherten Veranstaltung ins Internet gestellt und sind nach wie vor historische Orte.“ Heinz Hummler pflichtete ihm bei und lebendige Erinnerungen verbunden [ … ].“ das Hearing um authentische Berichte aus dem erlebten über die Website der Stadt Stuttgart abrufbar. unterstrich die Notwendigkeit historischer Orte, damit Schrecken, der auch in Stuttgart während der NS-Zeit wir „unseren Kindern und Jugendlichen eine wirkliche Obwohl die Stadt Stuttgart nicht Bauherrin am Karls- für viele Menschen zum Alltag gehörte. ➜ Der Umgang mit Erinnerung in Stuttgart Aufarbeitung der Geschichte – insbesondere im Hinblick platz ist, sondern das Land Baden-Württemberg zu- auf die Täter geben können.“ sammen mit den Privatinvestoren der Firma Breun- Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer äußerten Kritik inger, sehen viele Bürger die Landeshauptstadt in der Lob und Kritik am politischen Umgang mit der Geschichte des Nati- Andere kritisierten, es fehle insgesamt eine didaktische Verantwortung: Der Gemeinderat stehe in der Pflicht, onalsozialismus in Stuttgart. Ein Teilnehmer kritisierte: und methodische Konzeption zur Koordination und eine Entscheidung zu finden, äußerte ein Teilnehmer. Über drei Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer „Es gibt im Kulturbereich keine Stelle zur Förderung und Vermittlung der Gedenkorte für Jugendliche. „Eine Ein anderer forderte, einmal eine öffentliche Gemein- beurteilten das Hearing als „gut“ bzw. „sehr gut“. 20 Unterstützung bei geschichtlichem Hintergrund.“ Bildungskooperation von Schulen, Volkshochschulen, deratssitzung zu diesem Thema abzuhalten. In seinem Prozent hat es „teils/teils“ gefallen. Nur eine Person gab Initiativen, Bibliotheken usw. könnte die Arbeit mit Ju- Wortbeitrag appellierte ein weiterer an den Gemein- dem Hearing die Note „weniger gut“. Auch die Aus- Mit der Einsetzung des Arbeitskreises im Rathaus im gendlichen bereichern“, schrieb ein weiterer Teilnehmer. derat und forderte stellvertretend für manche andere: wahl der Referenten und Referentinnen und die Struktur Herbst 2010 ist hier bereits ein wichtiger Schritt getan. „Nutzen Sie die Chance, dieses Gebäude einem guten der Veranstaltung bewertete die große Mehrheit als gut ➜ G edenkort Hotel Silber Zweck zuzuführen.“ gelungen. Die meisten fühlten sich gut informiert. Viele argumentierten wie Caroline Hatje, die auch in bewegenden Worten von der eigenen familiären Einen breiten Konsens gibt es zur zentralen Frage, was ➜ F ragen zu den Aufgaben des künftigen Doch es gab auch Kritik: Zugleich empfanden einige Geschichte berichtete (siehe Beitrag S. 77). Sie stellte die konkrete Zukunft des Gebäudes in der Dorotheen- Stadtmuseums den intensiven, konzentrierten und zeitaufwändigen fest, dass „wir einen Bedarf haben, unsere Erinnerung straße 10 betrifft: Den meisten ist vor allem wichtig, Tag als zu lang, das Programm als zu umfangreich. Viele aufzuarbeiten; Bedarf haben, unsere Zukunft zu bear- dass eine Gedenkstätte im Hotel Silber an den histori- Die Palette der Fragen war breit – es wurde bspw. ge- hätten sich mehr Raum für Diskussionen mit dem Pub- beiten“. In einem Bewertungsbogen heißt es: „Vieles schen Ort erinnern soll. fragt: „Welche Bedeutung hat das [ … ] entstehende likum gewünscht; manchen fehlte „Zeitdisziplin“. Und ist verdrängt und verschwiegen worden in unserer Ge- Stadtmuseum für den Erinnerungsort Gestapo-Zentra- eine Teilnehmerin vermisste „eine Decke“: Tatsächlich schichte und sollte weiter aufgearbeitet werden.“ Die Einige erhoben ihre Stimme für die Errichtung eines Do- le.“; „Wie wird in Stuttgart an Orte jüdischen Lebens fand das Hearing an einem ungewöhnlich kühlen Juli- Kritik an fehlender historischer Aufklärung und die kumentationszentrums. Andere plädierten eher für die erinnert?“; „Gibt es schon ein Tätermuseum über die Samstag statt. Anzahl der gestellten Fragen belegen das Geschichts- die Pluralität unterschiedlicher Gedenkorte. So fordert Polizei- und Verwaltungsverbrechen in Baden-Würt- bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger und zeigen: ein Teilnehmer ausdrücklich eine kleine Gedenkstätte temberg?“; „Gibt es in Stuttgart ‚Stille Helden’ – Men- Das Hearing hatte auch als Informationsveranstaltung an der Dorotheenstraße 10 und zugleich: „Keine Zen- schen, die unter persönlichem Risiko bedrohten Men- Die Dokumentation des Hearings im Internet: einen wichtigen Stellenwert. tralisierung des Erinnerns dort“. schen während der NS-Diktatur geholfen haben?“ usw. www.stuttgart.de/item/show/402994

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einen Architektenwettbewerb, in dem es um die Gestal- Schuster (CDU) etwa hat nie einen Zweifel daran gelas- tung der Gedenkstätte geht“, sagt Wolfgang Schuster. sen, in dem Neubau einen „Gedenkort“ einzurichten. [ … ] Eine Anhörung von Fachleuten ist geplant, ein Gestal- Die Sozialdemokraten im Gemeinderat und im Landtag tungswettbewerb für den Gedenkort wird ausgelobt. Das Thema und damit auch das Hearing wurden aus- fordern von den Bauherrn der neuen Ministerien, dem Im neuen Stadtmuseum im Wilhelmspalais, das momen- führlich in den Medien diskutiert. Im Bild: TV-Interview Land und dem Haus Breuninger, 2000 Quadratmeter tan allerdings wegen der Sparpolitik finanziell auf Eis mit OB Dr. Wolfgang Schuster in einer Veranstaltungs- für ein NS-Forschungszentrum vorzusehen. Das Land gelegt ist, soll es eine ausführliche Abteilung zur Herr- pause hat inoffiziell bereits abgewinkt. Die Grünen wiederum schaft der Nationalsozialisten in Stuttgart geben. Das verlangen von der Stadt, rasch einen „konzeptionel- baden-württembergische „Haus der Geschichte“ hat Pressestimmen len Arbeitskreis“ einzuberufen – die Landeshauptstadt in seiner Dauerausstellung die Entstehung und die Fol- brauche eine „Topographie des Gedenkens“, schließlich gen der NS-Herrschaft in Württemberg und Baden gut gebe es hier nicht allein das Hotel Silber, sondern eine dokumentiert. Außerdem verfügt das Land, auch dank ganze Reihe von Orten, an denen man die Schreckens- zahlreicher geschichtsbewusster Bürgerinitiativen, über herrschaft der Nationalsozialisten quasi ablesen könne. mehr als 200 dezentrale Gedenkorte, die an die Verbre- Auszüge aus Medienberichten zum Hearing. Diese Aus- Landtag und die Landesregierung heißt es dazu: „Der [ … ] chen der Nationalsozialisten erinnern [ … ] schnitte repräsentieren nicht die sehr umfangreiche De- von Stadt und Land angekündigte Gestaltungswett- batte um das „Hotel Silber“. bewerb für eine Gedenkstätte muss aus unserer Sicht Cannstatter Zeitung, 1.4.2010 Stuttgarter Zeitung, 19.5.2010 dazu genutzt werden, dort zusätzlich zu dem bisher Anhörung geplant – NS-Vergangenheit des Hotels Die Gestapo-Zentrale wird zum Gedenkort als unzureichend kritisierten Gedenkort Hotel Silber ein Silber beschäftigt Experten I Vorberichte NS-Dokumentationszentrum für Baden und Württem- [ … ] Seit gestern ist es offiziell: Am Samstag, 17. Juli, berg einzuplanen.“ Es solle ein „offener und lebendiger [ … ] Große Hoffnung setzt die Initiative auf eine Exper- laden Stadt und Land zu einem Hearing in Sachen Hotel Stuttgarter Nachrichten, 23.3.2010 Ort des Erinnerns, des Lernens und der Information über ten-Anhörung, die die Stadt noch vor der kommunal- Silber ein. Fachleute aus dem In- und Ausland, aber auch CDU wünscht sachliche Debatte über Hotel Silber die NS-Geschichte im Südwesten entstehen“. [ … ] politischen Sommerpause veranstalten will. Dabei soll die Initiative Gedenkort werden dabei zu Wort kom- unter anderem geklärt werden, welcher authentische men. Das Ziel dieser Anhörung ist, ein Konzept für den [ … ] Die CDU will die geschichtliche Aufarbeitung der Stuttgarter Zeitung, 30.3.2010 bauliche Bestand aus der NS-Zeit übrig ist und was man künftigen Gedenk- und Lernort an der Stelle der ehema­ nationalsozialistischen Herrschaft bei einer zentralen Viel Streit, wenig Gemeinsamkeiten mit einer Gedenkstätte in der Dorotheenstraße errei- ligen Gestapo-Zentrale zu erarbeiten. Fest steht auch: Veranstaltung thematisieren lassen. Dabei sollen Fach- chen will. Ostertag und seine Mitstreiter gehen davon Das Haus der Geschichte wird der Träger dieser neu zu leute aufzeigen, wie es um die historische Authentizität [ … ] Was Roland Ostertag gefällt, das ist die Tatsa- aus, dass sie daran mitwirken können. Die Veranstal- schaffenden Einrichtung sein; museumspädagogi­sches des heutigen Gebäudes bestellt ist. Außerdem sollen die che, dass OB Wolfgang Schuster und die Ratsfraktionen tung soll dazu dienen, Kriterien für den Gestaltungs- Fachpersonal und ein Wissenschaftler werden zum Forschungsergebnisse aller relevanten Einrichtungen in jetzt übereingekommen sind, noch vor der kommunal­ wettbewerb der Gedenkstätte abzuleiten, erklärt Ober- Stammpersonal gehören. Die laufenden Kosten, die Stuttgart einfließen. Die CDU möchte damit klären, ob politischen Sommerpause eine Anhörung zum Themen­ bürgermeister Wolfgang Schuster. [ … ] noch nicht beziffert sind, trägt das Land. [ … ] es in Stuttgart ein Defizit bei der „Erinnerungskultur“ in komplex Hotel Silber zu veranstalten. Ostertag und seine Nazi-Fragen gibt. Man wolle die Debatte wieder auf eine Mitstreiter gehen fest davon aus, dass sie an dieser An- Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.5.2010 Stuttgarter Nachrichten, 19.5.2010 rationale Grundlage stellen, erklärte Stadtrat Jürgen hörung mitwirken können. „Unser erklärtes Ziel ist es, Gedenkzimmerchen oder Architekt will jetzt größeren Gedenkort Sauer. [ … ] dass das Gebäude erhalten bleibt und nicht der Neu- Dokumentationszentrum? ordnung am Karlsplatz zum Opfer fällt“, so sagt er un- [ … ] Breuninger-Chef Willem van Agtmael unterstrich, Stuttgarter Zeitung, 25.3.2010 missverständlich. Und er fordert, dass nicht die Stadt, [ … ] Zwar haben sich die Stuttgarter Kommunalpoli- dass ein Ort der Information wichtig sei, „dieser aber SPD fordert Zentrum für NS-Forschung sondern eine „neutrale Stelle“ diese fundierte Veran- tiker nach 1945 wenig Mühe gegeben, aus den Über- keine Frage der Quantität, sondern der Qualität ist“. Der staltung ausrichtet. bleibseln der bombenzerstörten Stadt noch etwas zu Erhalt des gesamten Gebäudes komme für Breuninger Die SPD-Fraktion im Landtag hat sich jetzt den Forde- Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, wie vielfältig retten; fast hätten sie sogar die Jugendstil-Markthalle aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage. „Die Pla- rungen der Ratsfraktion und des Kreisverbandes nach und schwer einschätzbar das politische Stimmengewirr abreißen lassen und das Neue Schloss nicht wieder auf- nungen nehmen eine gute Entwicklung“, begrüßte er einem NS-Dokumentationszentrum im künftigen Ge- um das Hotel Silber tatsächlich ist. Die Stoßrichtung des gebaut. Doch der Vorwurf, mit dem Abriss des Hotels indirekt die Vorstellungen des Architekten. bäudekomplex an der Dorotheenstraße beim Karlsplatz Oberbürgermeisters ist eindeutig: „Aus den Ergebnis- werde nun unliebsame Geschichte entsorgt, scheint vie- Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann (CDU) kün- ausgesprochen. In einem Antrag der Fraktion an den sen des Hearings wollen wir die Kriterien ableiten für len einigermaßen absurd: Oberbürgermeister Wolfgang digte für den 17. Juli einen internationalen Kongress

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zum Thema im Rathaus an. „Danach wird der Gemein- Cannstatter Zeitung, 17.7.2010 Im Rathaus setzte sich die Initiative Lern- und Gedenkort der Ort des Schreckens.“ Ostertag plädierte deshalb für derat mit Maßgaben an die Bauherren herantreten, wie Debatte über die NS-Geschichte der Stadt Hotel Silber erneut nachdrücklich für einen vollständi- den Erhalt des einstigen Hotel Silber [ … ] ein angemessener Gedenkort aussehen kann“, sagte sie. gen Erhalt des Gebäudes ein. „Dieser Ort eignet sich Offenbar wollen auch die Grünen diese Veranstal- Das Da-Vinci-Projekt am Karlsplatz hat in der Landes- wie kein anderer für ein Informations- und Lernzent- Stuttgarter Zeitung, 19.7.2010 tung abwarten. „In der Dorotheenstraße 10 sollte ein hauptstadt eine lebhafte Diskussion um den Umgang rum“, so Jörg Klegraf von der Bürgerinitiative, zu der 22 Kommentar: Respektvoll Gedenk­ort umgesetzt werden, die Erforschung der NS- mit der NS-Zeit ausgelöst. Im Rathaus findet heute Organisationen gehören. Klegraf skizzierte im Großen Verbrechen muss nicht unbedingt dort geschehen“, so eine Anhörung zur Stadtgeschichte statt. Es geht um Sitzungssaal vor 300 Zuhörern ein Konzept für ein NS- Es geht offenbar doch noch. So verschieden die Posi- Stadtrat Michael Kienzle. „Erinnerungsorte in Stuttgart“. Die Veranstaltung soll Dokumentationszentrum in Stuttgart: Es könnte unter tionen über den Umgang mit der einstigen Gestapo- Grundlagen liefern für einen Gestaltungswettbewerb anderem Neues über die Gewalt gegen Homosexuelle, zentrale in der Dorotheenstraße sind, so sachlich ist der Stuttgarter Zeitung, 14.7.2010 der künftigen Gedenkstätte. [ … ] Es geht um „Orte Sinti und Roma sowie gegen Behinderte ans Tageslicht Ton gewesen, in dem sich die Bürger und Volksvertreter Die Geschichte der Stadt auf dem Prüfstand und Dinge der Erinnerung“, um internationale Perspek- bringen. „Die Geschichte dieser Opfergruppen ist bisher darüber im Rathaus ausgetauscht haben. Zuletzt lief in tiven des Umgangs mit der Geschichte des Nationalso- kaum aufgeklärt.“ Oberbürgermeister Wolfgang Schus- der öffentlichen Wahrnehmung alles auf Konfrontation [ … ] Am kommenden Samstag wird die seit Monaten zialismus, um das Gedenkstättenkonzept Baden-Würt- ter sagte angesichts des Bauvorhabens am Karlsplatz: und kaum etwas auf Kooperation hinaus: [ … ] zeitweise heftig geführte Debatte ihren vorläufigen tembergs, um Erfahrungen aus anderen Städten und „Wir sind hier weder Eigentümer noch Bauherr. Aber die Umso wichtiger ist jene breit angelegte Debatte in der Höhepunkt erreichen. Oberbürgermeister Wolfgang natürlich auch um die Zukunft des „Hotel Silber“. [ … ] Stadt hat Planungsrecht. Das Hearing markiert einen Stadtgesellschaft über einen Gedenkort beim Karlsplatz, Schuster und das beim städtischen Kulturamt angesie- Grundlagen dafür werden beim öffentlichen Hearing Anfang der gemeinsamen öffentlichen Debatten.“ [ … ] die am Samstag im Rathaus geführt wurde. Es gehört delte Projektteam für das neue Stadtmuseum im Wil- erarbeitet: Was brauchen Stuttgarter Schulen, um das Zuletzt war im Streit um das Hotel Silber mehrfach vom zum Verdienst der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel helmspalais laden zu einem öffentlichen Hearing ein. Thema angemessen bearbeiten zu können? Was sind Gegensatz von wirtschaftlichen Interessen auf der einen Silber, dass dieses Thema angesichts der Bauvorhaben Unter dem Oberthema „Erinnerungsorte in Stuttgart“ die wichtigen Entwicklungen? Was muss für die Zukunft und dem verantwortungsvollen Umgang mit der Stadt- des Landes und der Firma Breuninger auf der politi- soll das Hearing die Antworten auf folgende Fragen bedacht werden? Aber auch Kritiker des Abrisses wer- geschichte auf der anderen Seite die Rede gewesen. schen Agenda nach oben gerückt ist. [ … ] bringen: „Wie erinnern wir uns an die Opfer, aber auch den ihre Position zur Authentizität des Ortes darlegen Dies widerspreche jedoch ihrer Erfahrung, sagte Linde Wenn nun die Stadt sich bei einem hochkarätig be- an die Täter der NS-Diktatur? Was müssen unsere Kin- und ihr Konzept eines NS-Dokumentationszentrums für Apel, die in Hamburg in der Forschungsstelle für Zeit- setzten Hearing von Wissenschaftlern beraten und von der wissen über die Jahre von 1933 bis 1945 in Stutt- Stuttgart vorstellen. Auch interessierte Bürger können geschichte arbeitet. „Neue urbane Bauvorhaben lassen ihren Bürgern ins Gewissen reden lässt, ist ein Ziel fest- gart? Welche Orte halten unsere Erinnerung an die sich in die Diskussion einbringen. [ … ] sich besser vermarkten, wenn man die dunklen Seiten gesteckt: Egal wie die Baukörper am Karlsplatz künftig NS-­Diktatur wach? Welche Bildungsangebote erwartet der Geschichte nicht verbaut“, sagte die Wissenschaft- genau aussehen werden – ein würdiger Gedenkort mit man an einem Erinnerungsort?“ [ … ] lerin und Kuratorin. [ … ] einem überzeugenden Konzept muss ein Teil des En- II Veranstaltungsbesprechungen sembles sein. Stefan Behnisch, dessen Büro den Wett- Das Ergebnis des Hearings am Samstag soll die Grund- „In der Kulturpolitik besteht immer ein Spannungsver- bewerb für die Neuordnung des Karlsplatzes gewann, lage liefern für einen Gestaltungswettbewerb zur Ge- Stuttgarter Zeitung, 19.7.2010 hältnis zwischen bürgerschaftlichem Engagement und hat seinen Siegerentwurf inzwischen in diesem Sinn denkstätte, der demnächst ausgeschrieben wird. Was Stuttgart aus seinen Narben lernen will den Zwängen des Machbaren“, sagte in diesem Zusam- überarbeitet. Am Samstag wird im Rathaus hoher Sachverstand er- menhang Micha Brumlik, der die Veranstaltung im Rat- Die Bürgerinitiative hat mit ihrem Engagement viel er- wartet: Experten der NS-Geschichte aus Nürnberg, [ … ] Mehrere Experten und Bürger sprachen sich da- haus leitete. „Wichtig ist ein authentischer Ort, der das reicht – ihr Wunsch nach einem großen Dokumenta- Frankfurt, Berlin und Hamburg werden ihre örtlichen für aus, den „authentischen Ort“ zu erhalten und ein menschliche Geschichtsbewusstsein anspricht“, argu- tionszentrum zur NS-Geschichte im Hotel Silber wird Projekte präsentieren. Geladen ist unter anderem auch Dokumentationszentrum einzurichten. Ministerpräsent mentierte der Erziehungswissenschaftler und langjähri- sich wohl nicht erfüllen. Dem steht die Mehrheit im Volkhard Knigge, der Leiter der KZ-Gedenkstätte in Stefan Mappus (CDU) lehnt eine Forschungsstätte hin- ge Leiter des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt. Doch wie Gemeinderat gegenüber, die einen Abriss befürwortet. Buchenwald. Der Restaurator Jürgen Schulz-Lorch wird gegen ab – im Stuttgarter Gemeinderat befürwortet authentisch ist das Gebäude in der Dorotheenstraße in Und auch Stefan Mappus lehnt eine Forschungsstelle ab. die Ergebnisse seiner Untersuchungen im einstigen eine Mehrheit den Abbruch des Gebäudes, mahnt zu- seinem Bezug zum Dritten Reich? Auch darüber wurde Ge­stapo-Keller an der Dorotheenstraße vorstellen. Als gleich aber einen angemessenen Gedenkort an. „Die im Rathaus diskutiert: Ein Restaurator, der im Auftrag Gegenposition wird der Stuttgarter Architekt Roland Auseinandersetzung mit den Tätern ist enorm wichtig“, des Landes nach Spuren von den einstigen Arrestzel- Stuttgarter Nachrichten, 19.7.2010 Ostertag seine Recherchen über den Umgang von Stadt so Thomas Lutz, der Gedenkstättenreferent der Stiftung len geforscht hatte, fand nur noch minimale Hinweise. „Ohne Täterorte kein Opfergedenken“ und Land mit dem Hotel Silber von 1945 an darlegen. Topographie des Terrors in Berlin. Seine Erfahrung mit Im Zuge von Sanierungen sei das Kellergeschoss stark Auch Jupp Klegraf erhält als Sprecher der Initiative Ge- den Besuchern zeige: „Das Erschrecken über die Nähe verändert worden. Der Architekt Roland Ostertag ver- [ … ] Geballter Sachverstand, rege Bürgerbeteiligung, denkort Hotel Silber die Gelegenheit, die kritische Sicht von Demokratie und der Brutalität der Täter verstört. wies demgegenüber auf die vergleichsweise geringen leidenschaftliche Appelle: Die Anhörung zur einstigen der Abrissgegner zu erläutern. Dieser Umstand bietet viele Ansatzpunkte.“ [ … ] Kriegsschäden am Bau. „Dieser ist kein Neubau, es ist Gestapo-Zentrale am Samstag endete mit widersprüch-

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lichen Empfehlungen der Experten. Im Publikum forder- Fahndung ohne Ergebnis. „Schon die Planungsunterla- III Nachlese [ … ] Der Grünen-Chef Werner Wölfle indessen sitzt ten die meisten den Erhalt des Hotel Silber, das einem gen machen klar, dass viele Bereiche verändert wurden“, in der Zwickmühle: Einerseits möchte er nicht als Inves- Einkaufs- und Bürokomplex weichen soll. schilderte der Restaurator Jürgen Schulz-Lorch, dass Stuttgarter Zeitung, 22.9.2010 torenschreck erscheinen, andererseits gibt es in seinen Nach sieben Stunden Vorträgen stand vielen der 300 eine Tür die einzige authentische Spur vom Zellentrakt Neue Sicht auf das Hotel Silber eigenen Reihen einige, die den Abriss des Hotels Silber Teilnehmer die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. im Hotel Silber ist. Beim Umbau des Kellergeschosses in strikt ablehnen. So oder so – der Karlsplatz wird für alle Eine klare Aussage, wie es mit dem Hotel Silber in der den 80er Jahren zum Archiv sei der Wandverputz ent- [ … ] Die städtebauliche Neuordnung am Karlsplatz ist Beteiligten zur Nagelprobe: Sind in Stuttgart knifflige Dorotheenstraße 10 weitergehen soll, konnten die Be- fernt worden. Im gesamten Keller habe er keinen histo- am Dienstag in ihre entscheidende Phase getreten. Der Bauprojekte noch durchsetzbar oder gibt es einen Still- fürworter einer Gedenk- und Erinnerungsstätte in der rischen Putz gefunden, der Zeugnis aus der Gestapo- Ausschuss für Umwelt und Technik des Gemeinderates stand? einstigen Zentrale der Geheimen Staatspolizei vom An- Zeit ablegen könnte. hat mit großer Mehrheit den sogenannten Aufstellungs- hörungsmarathon nicht mit nach Hause nehmen. [ … ] beschluss für den baurechtlich notwendigen Bebau- Taugen Vergleiche? Beispiele aus anderen Städten zei- ungsplan gefasst. Die Stadträte von Grünen, CDU, SPD, Position der Stadtverwaltung. Stuttgart besitze bereits gen, dass der Umgang mit den NS-Sachzeugnissen Freien Wählern und FDP votierten dafür, jetzt in das von zahlreiche Gedenk- und Erinnerungsstätten, unterstrich ähnlich kontrovers verläuft wie in Stuttgart. „Über der Gemeindeordnung vorgeschriebene Verfahren ein- OB Wolfgang Schuster. Dennoch wollten Rathausspitze Jahrzehnte war das Verhältnis der Stadt zu dem Gelän- zusteigen – Hannes Rockenbauch, der Fraktionschef der und Gemeinderat ausführlich über das Hotel Silber dis- de ein Nicht-Verhältnis“, sagte Thomas Brehm, Leiter SÖS/Linken, stimmte dagegen. [ … ] kutieren. „Wir wollen die Erfahrung anderer Städte nut- der städtischen Koordinationsgruppe des Nürnberger Der von Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) zen“, begründete er die Einladung angesehener Histori- Reichsparteitagsgeländes. Erst 2001 habe die Stadt ein einberufene Arbeitskreis, der über die historische Be- ker. Zugleich betonte Schuster den begrenzten Einfluss Dokumentationszentrum beschlossen. Seit 2004 formu­ sonderheit des einstigen Gestapogefängnisses Hotel der Stadt: „Wir sind weder Eigentümer noch Bauherr, lierten Leitlinien den Erhalt der baulichen Reste und die Silber an der Dorotheenstraße beraten soll, tritt am wir haben nur das Planungsrecht beim Quartier.“ Erschließung als Lernort. „Ich frage mich, ob man das 7. Oktober erstmals zusammen. [ … ] Hotel Silber mit einer Tür an das geplante Stadtmuseum Unterschiedliche Expertenmeinungen. Für Konrad Pflug, delegieren kann“, wandte Architekt Wolfgang Lorch Stuttgarter Zeitung, 22.9.2010 Gedenkstättenreferent der Landeszentrale für politische ein, der die Frankfurter Erinnerungsstätte Judengasse Kommentar: Nagelprobe Bildung, ist das Hotel zwar ein verbürgter historischer gestaltete. Seine Antwort: „Diese guten Architekten, Großansicht Ort. „Seine Authentizität erschließt sich aber nicht ohne die das Quartier am Karlsplatz bauen, schaffen es doch, weiteres, weil es mehrfach umgebaut und verändert das Hotel Silber in das Projekt zu integrieren.“ „Inter- Gleich in seiner ersten Sitzung nach den Sommerferien wurde.“ Menschliches Geschichtsbewusstsein lasse sich nationale Bauvorhaben lassen sich besser vermarkten, hat der Technikausschuss des Gemeinderats am Diens- durch authentische Orte besser ansprechen als durch wenn man dunkle Kapitel nicht verschweigt“, so Lin- tag kräftig Überstunden machen müssen. Der Grund: Replikationen in neu gestalteten Museumslandschaften, de Apel von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte hinter verschlossenen Türen erfolgte der Startschuss meinte Micha Brumlik. „Das Hotel Silber ist deshalb zu in Hamburg. In der Hansestadt sei der Masterplan für für das schwierige Verfahren, mit dem in den nächsten erhalten“, forderte der Geschichtsprofessor der Frank- die neue Hafencity extra geändert worden, um einen Monaten ein neuer Bebauungsplan für das Quartier am furter Goethe-Universität. „Ohne Täterorte gibt es kein brachliegenden Deportationsbahnhof als Gedenkstätte Karlsplatz aufgestellt werden soll. [ … ] kritisches Opfergedenken“, argumentierte Volkhard erhalten zu können. In Sachen Karlsplatz ist eines jedenfalls sicher: so leicht, Die Veranstaltung im Rathaus wurde vom Publikum auf- Knigge von der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. wie sich die Investoren des Landes und des Hauses merksam verfolgt – und auch in den regionalen Medien „So wie sich der Ort heute präsentiert, ist er ein Ort der Das Fazit. „Auf den Stuttgarter Gemeinderat kommt eine Breuninger die Erlangung des Baurechts vorgestellt ha- Gleichgültigkeit der 70er und 80er Jahre“, entgegne- sehr schwere Entscheidung zu“, so Historiker Brumlik. ben, wird es ihnen die Mehrheit im Gemeinderat nicht te der Mannheimer Professor Peter Steinbach. Er habe „Es geht nicht darum, dass nichts geschieht, sondern machen. Die in der Tat sehr hohe Baumasse muss etwas Zweifel, ob man diesen Ort zurückholen könne, so das welche Ziele wir mit einer Gedenkstätte verfolgen“, reduziert und wenigstens ein Teil der Fassade des eins- Stiftungsmitglied der Berliner Gedenkstätte Topographie meinte OB Schuster im Schlusswort. Auch ohne auf- tigen Hotels Silber erhalten bleiben. Gelingt dies plane- des Terrors: „Als Ort der Auseinandersetzung bedarf es findbare Spuren des Terrors bleibe das Hotel Silber ein risch nicht, wird der neue Bebauungsplan, der bis Mitte nicht zwangsläufig des Erhalts eines Gebäudes.“ – „Die Ort des Schreckens. Die Anhörung habe eine Fülle an In- kommenden Jahres rechtsgültig sein muss, unweiger- ehemalige Gestapo-Zentrale bietet die Chance, im ge- formationen gebracht. Sein Vorschlag: „Sommerpause lich auf der Strecke bleiben. Um dies zu verhindern, wä- planten Neubaukomplex eine historische Auszeit zu neh- nutzen, um nachzudenken – und danach einen erwei- ren die Investoren klug beraten, sich jetzt kompromiss- men“, ergänzte der Leipziger Professor Alfons Kenkmann. terten Arbeitskreis einrichten.“ bereit zu zeigen. [ … ]

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Hearing AM 17. Juli 2010 Erinn erungsorte Die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“ in Stuttgart am Stuttgarter Nordbahnhof

Orte, Mahn- und Gedenkmale in Stuttgart Anhang: E ine Zusammenstellung des Stadtarchivs Stuttgart Gedenkorte in Stuttgart Stauffenberg-Erinnerungsstätte Killesberg, Gedenkstein Deportation Veröffentlichungen des Stadtarchivs Die vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg Träger: Stadt Stuttgart, Einweihung: 24. Juni 1962, betreute Stauffenberg-Erinnerungsstätte im Alten Obelisk, Text: „Zum Gedenken an die mehr als 2000 Schloss widmet sich dem Gedenken an die in Stuttgart jüdischen Mitbürger, die während der Jahre des Stuttgart aufgewachsenen Brüder Berthold und Claus Schenk Unheils 1941 und 1942 von hier aus ihren Leidensweg Graf von Stauffenberg. Eine Dauerausstellung stellt das in die Konzentrationslager und in den Tod antraten. – Leben der Brüder und ihren Weg in den Widerstand Errichtet von der Stadt Stuttgart.“, Künstler: Albrecht dar. Angeboten werden Führungen für alle weiterfüh- von Hauff renden Schulformen. Ebenso stehen museumspäda- gogische Handreichungen für Lehrerinnen und Lehrer Pragfriedhof, Israelitischer Teil: Mahnmal für die mit methodisch-didaktische Hilfestellungen, Arbeits- Opfer der Schoa aus Württemberg blättern sowie weiteren Materialien und Hinweisen zur Einweihung: 9. November 1947, Initiative: Israelitische Verfügung. Kultusvereinigung, Beschluss Herbst 1946, Denkmal Kontakt: Dr. Christopher Dowe, Tel. 0711 / 212 39 73 aus Steinen der zerstörten Synagoge und der zerstör- Altes Schloss, Stauffenberg-Platz, 70173 Stuttgart ten Friedhofskapelle, Text: „Die Juden Württembergs zum ewigen Gedenken an ihre 2498 ermordeten Brü- Mahnmal beim Alten Schloss der und Schwestern 1933–1945“, Entwurf: K. Löffler, Träger: Stadt Stuttgart, Einweihung: 8. November 1970. Ausführung: W. Schönfeld (Stuttgart) Drei Granitquader, Bodenplatte mit Text von Ernst Bloch: „1933 bis 1945. Verfemt, verstoßen, gemartert, Synagoge Hospitalstraße 36, 1952/1989 erschlagen, erhängt, vergast – Millionen Opfer der na- Die neue Synagoge entstand 1952 als eine der ersten tionalsozialistischen Gewaltherrschaft beschwören dich. Synagogenneubauten nach der Schoa. Architekt: Ernst Niemals wieder!“, Künstler: Elmar Daucher Guggenheimer, der 1938 am Zwangsabriss der ausge- brannten Synagoge mitwirken musste Bolz-Denkmal am Königsbau Auftrag: Landeskreditbank Baden-Württemberg, Bronzeskulptur: „Brennender Dornbusch“ Einweihung: 15. März 1993 (60. Jahrestag der Abwahl Einweihung: 22. Juni 1989, Geschenk der IRGW, Bolz’ als Staatspräsident; stattdessen wurde NSDAP- Bodenplatte mit Text: „Er sah./ Da. Der Dorn brennt/ Gauleiter Wilhelm Murr eingesetzt), Wandrelief, Künst- im Feuer. Doch der Dorn ist/nicht verzehrt./ 2. Buch ler: Alfred Hrdlicka Moses 3,2“, Idee und Künstler: Roda Reilinger

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Synagoge Bad Cannstatt, König-Karl-Straße 51 verwaltung 1941 in der ehemaligen Gaststätte Zum mus Menschen aus dem In- und Ausland Opfer von Gedenkstätte für Rupert Mayer Träger: Stadt Stuttgart, Einweihung: 14. Juli 1961, Kriegsberg einen sog. Judenladen ein. Vom 7. April Terror und Gewalt. Ohne Gerichtsurteil wurden hier in der Domkirche St. Eberhard Künstler: Herbert Gebauer, Granitstein, Text: „Hier an durften die jüdischen Bürgerinnen und Bürger ihre am 13. April 1945 durch die Geheime Staatspolizei vier In der rechten Seitenkapelle wurde zum 50. Todestag stand die von der Israelitischen Gemeinde Cannstatts mit einem „J“ gestempelten Lebensmittelkarten mit Personen erhängt, die in diesem Gebäude inhaftiert des Jesuitenpaters Rupert Mayer (1876–1945), 1987 in im Jahre 1876 erbaute Synagoge. Sie wurde in der Ausnahme von Fleisch und Milch nur in diesem Ge- waren. Wir gedenken der Opfer des Unrechts mit dem München seliggesprochen, das von Karlheinz Oswald Nacht vom 9. zum 10. November 1938 in der Zeit einer schäft einlösen. Am 5. Mai richtete auch die Fleischer­ Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat.“ geschaffene Bronzeporträt aufgestellt. Rupert Mayer gottlosen Gewaltherrschaft zerstört. Zum Gedächtnis innung in dem Gebäude einen Sonderladen für Juden wurde in St. Eberhard getauft und feierte 1899 hier an unsere Mitbürger jüdischen Glaubens, zur Mah- ein. Stadtverwaltung und Einzelhandel, die vor Ort in Urbanstraße 18: Justizgebäude seine Primiz (erste Messe eines neugeweihten Priesters). nung, nie wieder den Ungeist des Hasses und der Ver- eigener Initiative handelten, waren sich der Zumutung Träger: Land Baden-Württemberg, Einweihung: 13. Als Seelsorger und Prediger wirkte Pater Ruper Mayer folgung aufkommen zu lassen, hat die Stadt Stuttgart bewusst, im ganzen Stadtgebiet nur einen einzigen, Juni 1994, Text: „Den Opfern der Justiz im National- SJ vor allem in München und stellte sich dem natio- diesen Stein gesetzt.“ zudem schlecht bestückten Laden zuzulassen. Nach- sozialismus zum Gedenken. Hunderte wurden hier im nalsozialistischen Regime entgegen. Das führte 1937 dem Juden seit September 1941 als Kennzeichen einen Innenhof hingerichtet. Den Lebenden zur Mahnung.“ erstmals zu Verhaftung und Redeverbot. 1939 wurde Denkmal für Leopold Marx, gelben Stern tragen mussten und ihnen die Benutzung er im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert Bad Cannstatt Wilhelmsplatz von Straßenbahnen verboten war, mussten die betrof- Silberburgstraße 187: Landesbischof Wurm und 1940 bis Kriegsende ins Kloster Ettal verbannt. Träger: Pro-Alt Cannstatt, das Denkmal für Leopold fenen Menschen aus dem ganzen Stadtgebiet zu Fuß Einweihung: 24. Oktober 2004 nach einem Gottes- Am 1. November 1945 starb Rupert Mayer während Marx wurde auf Anregung der Cannstatter Stolperstei- in die Seestraße gehen – nicht selten vergeblich. Im dienst in der Stiftskirche, Bürgerschaftliche Initiative der Eucharistiefeier ne-Initiative 2008 saniert und zeitgemäß umgestaltet Jahr 1944 wurde das Haus zerstört. Der Sonderladen Hansjörg Kammerer, Spender der Tafel: Dr. Gottfried wurde in die Hospitalstraße verlegt.“ Lindner, Text: „In diesem Haus wohnte von 1929 bis Gräberfelder, Grabstätten Foyer Jugendamt, Wilhelmstraße 10 1943 Landesbischof Theophil Wurm (1868–1953). Hauptfriedhof, Gräberfeld „Euthanasie“-Opfer, Einweihung: Juni 2000, Skulptur „Aktenordnung“, Büchsenstraße 37: Polizeipräsidium, Gegen seine Amtsenthebung und seinen Hausar- Ehrenfeld für 271 Opfer des NS-Krankenmords (sog. Finanzierung überwiegend aus Spenden der Mitarbei- Polizeigefängnis rest während der Herrschaft des Nationalsozialismus Euthanasie), Feierstunde am 12. November 1962, In terinnen und Mitarbeiter, Künstler: Wolfram Isele Träger: Stadt Stuttgart, Einweihung: 16. Dezember demonstrierten hier im Oktober 1934 bis zu 7000 den Jahren 1940 bis 1942 sind dem Friedhofsamt rund 1994 (Jahrestag des sog. Ausschwitz-Erlasses Himm- Menschen.“, Gestaltung: Markus Wolf 380 Urnen aus den Tötungsanstalten der Mordaktion Gedenkstein für Lilo Herrmann, Campus Stadtmitte lers zur Deportation der Sinti und Roma), Initiative: übersandt worden. Bei etwa 100 Toten konnten An- Träger: Studierende, Text: „Lilo Herrmann, Studentin Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Zeichen der Erinnerung / Stuttgart Nordbahnhof gehörige ermittelt und die Urnen übergeben werden. der TH Stuttgart, 1938 von den Nazis ermordet.“ Baden- Württemberg, Text: „Im Gebäude des Stutt- Initiative: Stiftung Geißstraße 7, von 1941 bis 1945 Die übrigen 271 Urnen wurden in einem Gräberfeld garter Dominikanerklosters und späteren städtischen wurden auch aus Stuttgart Tausende Menschen bestattet. Die Namen stehen auf 34 Muschelkalkqua- Gedenktafel „Kriegsgefangenenlager Gaisburg“ Hospitals war seit 1895 das Polizeigefängnis unterge- jüdischen Glaubens, Sinti und Roma und anderer der geschrieben. 1940–1943, 2002 bracht. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden hier Opfergruppen in die Konzentrationslager Riga, The- Ulmer Straße (gegenüber Haltestelle Brendle), Ein- viele Menschen gequält und gedemütigt. Im Gedenken resienstadt, Izbica und Auschwitz deportiert. Wenige Hauptfriedhof, Gräberfeld Zwangsarbeiter weihung: 16. September 2002, Finanzierung: Stadt an die Sinti und Roma, Mitbürgerinnen und Mitbürger, überlebten. Der Ort des Ausgangs des grauenhaften Grabstätte Schlotterbeck, Friedhof Untertürkheim, Stuttgart, Text der Tafel: „Kriegsgefangenenlager / die dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer Geschehens der Deportationszüge, die Gleise, Rampe, 1949, Text: „Sie haben einen guten Kampf gekämpft. 1940 –1943, Vierhundert Meter nördlich von hier fielen. Zum Gedenken an die jüdischen Mitbürgerinnen Prellböcke sind im Inneren Nordbahnhof noch vorhan- Sie haben den Lauf vollendet. Sie haben den Glau- stand im Zweiten Weltkrieg das städtische Kriegsge- und Mitbürger, die entrechtet, deportiert und ermor- den. Sie wurden nach dem 1. Preis eines Architekten- ben gehalten.“ Um einen großen Stein mit dem fangenenlager Gaisburg. In der Nacht von 14. auf det wurden. Im Gedenken an alle, die aus politischen Wettbewerbs als Zeichen der Erinnerung als Ort des Namen Schlotterbeck sind zehn kleine Gedenkplat- 15. April 1943 fanden in diesem Lager 434 französi- und religiösen Gründen verfolgt wurden.“ Gedenkens 2005/2006 erhalten und zu einer eindring- ten gruppiert mit den Namen der Opfer: Gotthilf sche, sowjetische, belgische und deutsche Männer lichen und zurückhaltenden Gedenkstätte gestaltet. Schlotterbeck, Marie Schlotterbeck, Gertrud Lutz geb. bei einem Bombenangriff den Tod. Vergessen wir sie Dorotheenstraße 10: Staatspolizeileitstelle Der gemeinnützige Verein Zeichen der Erinnerung e.V. Schlotterbeck, Erich Heinser, Else Himmelheber, Emil nicht!“, Gestaltung: Kurt Weidemann Tafel im inneren Eingangsbereich, angebracht 1988, wurde 2004 mit der Aufgabe der Planung, Realisierung Gärttner, Sofie Klenk geb. Wimmer, Emmi Seitz geb. Text: „1874 –1919 Hotel Silber, 1920 –1928 General- und Pflege dieser Gedenkstätte gegründet. Er betrach- Ramin, Hermann Seitz. Familie Schlotterbeck und Hinweistafel Stuttgarter „Judenladen“ direktion der Posten und Telegraphen, 1928 –1937 tet dies als öffentliche Aufgabe. Es ist ein Zeichen der Freunde wurden am 30. November 1944 in Dachau Seestraße 39, Einweihung: 25. April 2007, Initiative: Polizeipräsidium, 1937–1945 Geheime Staatspolizei, Hoffnung auf eine Welt ohne Gewalt, ohne Rassismus, „wegen Vorbereitung zum Hochverrat“ hingerichtet; Stolpersteine Stuttgart-Nord, Text: „Auf Vorschlag der 1949 –1983 Polizeidienststelle. In diesem Gebäude ohne Fremdenfeindlichkeit, ein Zeichen der Zuversicht, Hermann Schlotterbeck wurde beim Fluchtversuch in Wirtschaftsgruppe Einzelhandel richtete die Stadt- wurden während der Herrschaft des Nationalsozialis- der Toleranz. die Schweiz erschossen.

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VeröffentlichungenOrte und Dinge der desErinnerung Stadtarchivs Stuttgart I mpulsvortrag

Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stuttgart, die sich Roland Müller (Bearb.): Krankenmord im National- vollständig oder in wesentlichen Abschnitten mit NS- sozialismus. Grafeneck und die „Euthanasie“ in Geschichte beschäftigen bzw. deren Nachwirkungen Südwestdeutschland. Eine Tagung der Bibliothek für in der unmittelbaren Nachkriegszeit oder unmittelbare Zeitgeschichte, der Gedenkstätte Grafeneck und des Vorgeschichte thematisieren (einschließlich Sonderver- Stadtarchivs Stuttgart am 26. Januar 2000. Band 87, öffentlichungen): Stuttgart 2001, ISBN 3-89850-971-0

Ulrich M. Bausch: Die Kulturpolitik der US- Roland Müller u.a. (Bearb.): „Reichskristallnacht“ – amerikanischen Information Control Division in der Pogrom im November 1938 in Stuttgart. Ein Württemberg-Baden von 1945 bis 1949. Zwischen Quellen- und Arbeitsbuch für den Geschichtsunterricht. militärischem Funktionalismus und schwäbischem 50 S., Stuttgart 2008 Obrigkeitsdenken, Band 55, Stuttgart 1992, ISBN 3-89850-936-2 Ulrich Müller: Fremde in der Nachkriegszeit. Dis- placed persons – Zwangsverschleppte Personen – in Susanne Dietrich / Julia Schulze Wessel: Zwischen Stuttgart und Württemberg-Baden 1945-1951, Band Selbst­organisation und Stigmatisierung: die 49, Stuttgart 1990, ISBN 3-89850-930-3 Lebenswirklichkeit jüdischer Displaced Persons und die neue Gestalt des Antisemitismus in der Stefanie Plarre: Die Kochenhofsiedlung. Das Gegen- deutschen Nachkriegsgesellschaft, Band 75, modell zur Weißenhof­siedlung. Paul Schmitthen- Stuttgart 1998, ISBN 3-89850-954-0 ners Siedlungsprojekt in Stuttgart 1927 bis 1933. Band 88, Stuttgart 2001, ISBN 3-89850-972-9 Andreas Gestrich u.a.: Aufwiegler, Rebellen, sau- bere Buben. Alltag in Botnang. Geschichte eines Fritz Richert: Karl Adler, Musiker – Verfolgter – Bildnachweise Stutt­-garter Stadtteils, Band 63, Stuttgart 1994. Zweite Helfer. Ein Lebensbild, Band 46, Stuttgart 1990, ISBN Auflage: 2000, ISBN 3-89850-9 3-89850-927-3 alle Fotos und Veranstaltungsfotos: © die arge lola Joachim Hahn: Friedhöfe in Stuttgart: Band 2, Paul Sauer: In stürmischer Zeit. Lebensbild des Hoppenlaufriedhof – Israelitischer Teil, Band 40, Menschen und Politikers Reinhold Maier (1889– außer: Landeszentrale für politische Bildung Baden- Stuttgart 1988, ISBN 3-89850-921-4 1971), Band 44, Stuttgart 1989, ISBN 3-89850-925-7 Württemberg (S. 24 / S.27), Stadt Nürnberg, Presse- amt, Fotografin: Christine Dierenbach (S. 31 unten / Joachim Hahn: Friedhöfe in Stuttgart: Band 3, Prag- Manfred Schmid: Herrmann Fechenbach, Alice S. 32 / S. 33) Büro Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch friedhof – Israelitischer Teil, Band 57, Stuttgart 1992, Haarburger – zwei jüdische Künstler in Stuttgart. (S. 34 unten/S. 35 unten), Stadt Frankfurt, Fotograf: ISBN 3-89850-938-9 24 S., Stuttgart 1991 Peter Seidel (S. 35 oben), Norbert Miguletz (S. 37), Zeitungsfoto vom 8. Mai 1985/Quelle: Stiftung Topo- Joachim Hahn: Friedhöfe in Stuttgart: Band 4, Fred Uhlmann: Erinnerungen eines Stuttgarter graphie des Terrors (S. 39), Stiftung Topographie des Steigfriedhof Bad Cannstatt, Israelitischer Teil, Juden. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Terrors (S. 41), Linde Apel (S. 43) Quelle: Staatsarchiv Band 60, Stuttgart 1996, ISBN 3-89850-940-0 Schmid, Band 56, Stuttgart 1992, ISBN 3-89850-937-0 Hamburg, Plankammer (S. 44 oben), Andreas Ehres- mann (S. 44 unten), Auszug aus dem Masterplan, Edgar Lersch, Heinz H. Poker, Paul Sauer (Hrsg.): HafenCity Hamburg GmbH (S. 45), Jürgen Schulz-Lorch Stuttgart in den ersten Nachkriegsjahren, Band 66, (S. 47), Ernst Lorch (S. 48), Quelle: Initiative Gedenkort Stuttgart 1995, ISBN 3-89850-945-1 „Hotel Silber“ (Abbildungen S. 51 / S. 52 / S. 61) Stadt- jugendring (S. 57), lernort geschichte (S. 65) / Quelle: Lore Miedaner: Die Stuttgarter Mütterschule 1916 Stuttgarter Zeitung (S. 67 links unten), Quelle: Stiftung bis 1945, Band 33, Stuttgart 1981, ISBN 3-89850-915-x Eine Zusammenstellung des Stadtarchivs Stuttgart Geißstr. 7 (S. 67 / S. 69), Anne-Frank-Realschule (S. 72)

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