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Luise RINSER

BIOGRAPHIE

12-1 Luise Rinser : ein Leben in Widersprüchen / José Sánchez de Murillo. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 2011. - 464, [16] S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 978-3-10-071311-7 : EUR 22.95 [#2053]

Es gehört zu den freundlichen Annahmen oder Hoffnungen in der Geschich- te der Menschheit, daß sich geistig gebildete und kulturell aktive Persönlich- keiten in einer Diktatur anders verhalten würden als die „breite Masse“. Von wenigen herausragenden Beispielen abgesehen, ist dies leider nicht der Fall. Vielmehr offenbart gerade auch die Geschichte der Schriftsteller1 im Dritten Reich auf exemplarische Weise ein erschreckendes Ausmaß an Übereinstimmung, Willfährigkeit, Anpassungsbereitschaft, Opportunismus und Gleichgültigkeit gegenüber dem NS-Regime und dem Schicksal seiner Opfer - wie es für den überwiegenden Teil der deutschen Gesellschaft jener Jahre typisch war. Diese allgemeingültige Aussage trifft auch auf Luise Rin- ser (1911 - 2002) zu. Allerdings hat sich diese Autorin in besonderer Weise nach 1945 darum bemüht, ihr Verhalten und ihr publizistisches Engagement während der NS-Diktatur zu idealisieren. Jeder Versuch, sie mit der unan- genehmen historischen Wahrheit zu konfrontieren, versuchte Rinser zu Lebzeiten mit wüsten Beschimpfungen und der Androhung juristischer Kla- gen zu unterdrücken. Es war daher erst nach ihrem Tod möglich, eine Bio- graphie zu veröffentlichen, die sich bemüht, mit den Unwahrheiten und Le- genden aufzuräumen. Die aufgrund der dürftigen Quellenlage schwierige Aufgabe, Dichtung und Wahrheit im Leben Luise Rinsers sauber voneinander zu trennen, hat der Spanier José Sánchez de Murillo auf die 2006 ausgesprochene Bitte des S.-Fischer-Verlags, dem Hausverlag der Autorin seit ihrer ersten Buchveröf- fentlichung, übernommen. Unterstützt wurde er von Christoph Rinser, dem 1940 aus der ersten Ehe von Luise Rinser mit Horst Günther Schnell stam-

1 Aber auch für bildende Künstler gibt es eindrucksvolle Beispiele, allen voran Hit- lers Lieblingsbildhauer: Arno Breker : der Künstler und die Macht ; die Biographie / Jürgen Trimborn. - 1. Aufl. - Berlin : Aufbau, 2011. - 712 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 978-3-351-02728-5 : EUR 29.95 [#2420]. - Rez.: IFB 10-4 http://ifb.bsz- bw.de/bsz335067131rez-1.pdf menden Sohn, der auch den charakterisierenden Untertitel für die Lebens- geschichte seiner Mutter angeregt hat. Sánchez de Murillo war seit 1995 mit der Autorin befreundet, hat sie geschätzt, zuletzt auch lieben gelernt. Diese Nähe hat den Vorzug, daß seine Biographie dem selbst gesetzten Ziel ge- recht wird, „die historische Wahrheit schonungslos, aber respektvoll darzu- legen“ (S. 422). Andererseits verleitet die Doppelrolle als Freund und Bio- graph Sánchez de Murillo bisweilen dazu, Luise Rinser eben doch scho- nender zu betrachten als sie es verdient. Hinzu kommt, daß Sánchez de Murillo Philosoph und selbst Dichter ist, aber kein Historiker, woraus sich mehrere Faktenfehler und falsche Deutungen von historischen Zusammen- hängen ergeben. Am Wert des Buches ändern diese Schwächen allerdings nichts. Denn zu den bisherigen Mosaiksteinen, die ein wenig schmeichel- haftes Bild der deutschen Intellektuellen im 20. Jahrhundert ergeben, ist ein weiterer wichtiger Mosaikstein hinzugekommen. Und das „Häuten der Zwie- bel“ ist bestimmt noch lange nicht beendet. Sánchez de Murillo hat erstmals die Frühschriften der Lehrerin Luise Rinser und ihren überlieferten Briefwechsel mit den Eltern, mit dem eng befreunde- ten Pädagogen Franz Seitz, mit den Verlegern Peter Suhrkamp (1891 - 1959) und Gottfried Bermann Fischer (1897 - 1995), mit den Schriftstellern Hermann Hesse und Ernst Jünger ausgewertet. In Verbindung mit den in- zwischen nachgewiesenen Veröffentlichungen Luise Rinsers in der Zeit- schrift Herdfeuer2 in den Jahren 1934 und 1936 ergibt sich daraus ein prä- zises Bild ihrer politischen Einstellung und ihres Verhaltens während der NS-Diktatur. Leider hat Sánchez de Murillo es versäumt, im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde die Personalakte der Reichsschrifttumskammer von Lui- se Rinser-Schnell aus dem Bestand des ehemaligen Berlin Document Cen- ter auszuwerten, aus der er weitere Informationen über die bevorzugte Stel- lung der angeblich regimekritischen und verfolgten Jungautorin erhalten hät- te. Doch auch ohne diese Quelle sind die „Widersprüche“, die das zweite Kapitel - nach dem ersten, wenig spektakulären zur Kindheit und Jugend in Zeiten des Umbruchs 1910 - 1929 (S. 13 - 72) - unter der Überschrift Im Chaos der Nazizeit 1930 - 1945 (S. 75 - 217) ans Licht der Öffentlichkeit bringt, bestürzend genug. Der Biograph muß immer wieder die historischen Fakten gegen die „epische Selbstdarstellung“ (S. 422) anführen, die uns Luise Rinser im ersten Teil ihrer Autobiographie Den Wolf umarmen (1981) angeboten hat. Als Jung- lehrerin war sie Teil des NS-Erziehungssystems und hat dieses öffentliche Amt im Sinne der NS-Ideologie ausgeübt. Sie war, wie es Sánchez de Muril- lo auf den Punkt bringt, nach der Teilnahme an einem Lager des Freiwilli- gen Arbeitsdienstes im März 1933 eine „engagierte Nazi-Pädagogin“ (S. 96) und „Hitlerverehrerin“ (S. 97). Auch Franz Seitz, ihr damals engster Freund, stand dem neuen Regime nicht kritisch gegenüber, sondern schloß sich der SA und der NSDAP an. Viel gravierender als diese 1933 in großen Teilen der Bevölkerung verbreitete euphorische Begeisterung ist eine Denunziation

2 Herdfeuer : Zeitschrift der Deutschen Hausbücherei. - Hamburg. - 1.1926 - 16.1941[?]. - Lt. ZDB [2012-01-08] gibt es in keiner Bibliothek eine komplette Fol- ge, und manche Jahrgänge sind überhaupt nicht vorhanden. [KS] Luise Rinsers beim zuständigen Schulrat: Sie richtete sich gegen ihren ei- genen Schulleiter an der Volksschule Forst, Karl Würzburger, der als getauf- ter Jude zu den nun vom Berufsverbot bedrohten Menschen gehörte. Das entsprechende Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, mit dem alle „Nichtarier“ von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wurden, wurde übrigens am 7. April 1933 erlassen und nicht erst 1934, wie von Sánchez de Murillo fälschlicherweise datiert (S. 102). Die Denunziation Rin- sers führte zur Entlassung Würzburgers, der an den Folgen dieser Demüti- gung starb - „eines natürlichen Todes“, wie Rinser in ihrer Autobiographie feststellt, ohne auf die Hintergründe oder gar ihre eigene unrühmliche Rolle in der Geschichte näher einzugehen, zudem noch mit dem von Sánchez de Murillo zu Recht empört wahrgenommen Subtext, daß Würzburger „nur“ entlassen und nicht ermordet wurde (S. 102). Auch die Rolle, die Luise Rinser im Bund Deutscher Mädel (BDM) gespielt hat, ist in ihrer Autobiographie falsch dargestellt worden. Denn im Frühjahr 1934 - nicht nach den von der NSDAP gewonnenen Reichstagswahlen vom 5. März, die bereits 1933 stattfanden, wie bei Sánchez de Murillo fälschli- cherweise zu lesen ist (S. 104) - erhält die Junglehrerin vom zuständigen Oberstadtschulrat in München den Auftrag, als Vermittlerin zwischen der Schule und den Jugendorganisationen der NSDAP zu fungieren. Die Ziel- setzung ist klar: Die deutsche Jugend, Jungen in der HJ, Mädchen im BDM, sollen auf den NS-Staat und seine Ideologie hin erzogen werden. Dazu ist es allerdings erforderlich, auch die jungen Lehrerinnen auf den Nationalso- zialismus einzuschwören. Kurze Zeit später nahm Luise Rinser als Ausbil- derin an einem BDM-Führerlager in Oberbayern teil. Der Bericht, den sie über den Ablauf und die Inhalte dieser „Führerschulung“ verfaßte, wurde im ersten Heft des Jahrgangs 1934 der Zeitschrift Herdfeuer veröffentlicht. Sánchez de Murillo druckt ihn mit wenigen Kürzungen ab (S. 109 - 113) und belegt damit die Übereinstimmung Luise Rinsers mit dem politischen Geist der Zeit. Bei dem noch im gleichen Jahr abgelegten Staatsexamen kann die Junglehrerin bei der Interpretation der Märchen der Brüder Grimm „in völki- scher Hinsicht“ und bei der Darstellung Hitlers als „großen Erzieher“ des deutschen Volkes ihre Nähe zum NS-Staat weiter unter Beweis stellen. Dar- in ist zunächst nicht Ehrenrühriges zu sehen: Fragen dieser Art mußten in der damaligen Zeit ausnahmslos alle Berufsgruppen beantworten und ab- lehnende oder ausweichende Antworten konnten zu einem Berufsverbot führen. Problematisch wird es immer dann, wenn - wie bei Luise Rinser ge- schehen - im Nachhinein das eigene Verhalten nicht selbstkritisch aufgear- beitet, sondern in eine regimekritische Position „uminterpretiert“ wird. Denn in ihrer Autobiographie hat die Examenskandidatin die Frage zu Hitler an- geblich überhaupt nicht beantwortet – mit der genauso erfundenen wohlwol- lenden Unterstützung durch einen Ministerialrat im bayerischen Unter- richtsministerium. Tatsache ist, daß Luise Rinser das Examen als Viertbeste von 103 Kandidaten abschloß - mit Sicherheit aufgrund ihrer politisch kor- rekten Antworten. Dazu paßt das Gedicht Junge Generation, das ebenfalls 1934 im Herd- feuer veröffentlicht wurde und von Sánchez de Murillo in voller Länge ab- gedruckt wird (S. 116 - 117). Es offenbart eine „Führer“-gläubige, dem deut- schen Blut und Boden ergebene Anhängerin des NS-Staates. Die zweite Gedichtveröffentlichung im Juni 1936 in der Zeitschrift“, das Gedicht Spätes Jahr, läßt sich hingegen schon nicht mehr eindeutig politisch interpretieren, atmet vielmehr schon etwas vom Geist Hermann Hesses, mit dem Luise Rinser 1935 eine Korrespondenz aufgenommen hatte, die bis 1950 andau- erte. Auch einen Brief, den die inzwischen in Nickelheim (Bezirksamt Ro- senheim) tätige Lehrerin am 22. August 1937 an Emil Nolde schreibt, belegt erste Risse im bisherigen Idealbild des NS-Staates. Nolde, der bereits 1926 (nicht schon 1920, wie von Sánchez de Murillo fälschlicherweise behauptet, S. 141) der NSDAP beigetreten war, gehörte zu den prominenten Opfern der Ausstellung „Entartete Kunst“: nicht weniger als 1052 seiner Werke wurden verboten und beschlagnahmt. In ihrem Brief spendete Luise Rinser dem ausgegrenzten Nationalsozialisten Nolde Trost, immerhin. Ein weiterer wichtiger Korrespondenzpartner und fördernder Freund wurde Peter Suhr- kamp, dem man alles andere als eine Nähe zum NS-Regime attestieren kann. Der damalige Inhaber des S.-Fischer-Verlags hat 1938 Luise Rinsers Erzählung Die Lilie für die Neue Rundschau angenommen und damit den Grundstein für die literarische Karriere gelegt. Nach ihrer Eheschließung mit Horst Günther Schnell am 22. Mai 1939 muß- te Luise Rinser den Gesetzen der Zeit folgend den Schuldienst verlassen: Lehrerinnen war eine Heirat untersagt und es durfte im öffentlichen Dienst keine Doppelverdiener geben. Um nun allerdings ihre Legende von der re- gimekritischen Frau im NS-Staat zu festigen, wird in der Autobiographie ein Abgang aus politischem Protest inszeniert, die vom bayerischen Staat ge- zahlte Abfindung jedoch verschwiegen. Genauso fiktiv ist die Datierung ih- res Schreibbeginns: der 1. September 1939, glaubwürdig hingegen die Selbsteinschätzung Luise Rinsers an gleicher Stelle, sie habe geschrieben, „um mich zu retten, nicht um Schriftstellerin zu werden“ (zitiert nach Sánchez de Murillo, S. 152). Die intellektuell unterforderte Ehe- und Haus- frau, die mit ihrem Mann zuerst in Braunschweig, später in Rostock lebt, be- ginnt - vermutlich auf Empfehlung Suhrkamps - Ernst Jüngers Marmorklip- pen (1939) und Das abenteuerliche Herz“ 1938) zu lesen und nimmt eine intensive, teilweise recht intime Korrespondenz mit dem geistig und männ- lich schillernden Autor (1895 - 1998) auf. Da die einflußreiche, staatlich diri- gierte Filmbranche permanent auf der Suche nach guten Drehbuchautoren ist, erhält Luise Rinser 1941 die Möglichkeit zur Teilnahme an Fortbildungs- seminaren in Berlin. Dort kam sie u.a. mit dem Regisseur Karl Ritter (1888 - 1977) und dem Schriftsteller Felix Lützkendorf (1906 - 1990) zusammen, die beide als überzeugte Nationalsozialisten wichtige Rollen in der Filmbranche des NS-Staates spielten. In ihrer 40 Jahre später veröffentlichten Autobiographie nehmen die Lügen nun massiv zu. Denn angeblich wußte Luise Rinser nicht, von wem sie da in Berlin gefördert wurde. Dabei verdankte sie den engen Kontakten in die Filmabteilung des Propagandaministeriums und zur Ufa eine Reihe von Pri- vilegien in den Jahren 1942 und 1943: Sonderzuteilungen von Papier für ihre schriftstellerischen Arbeiten; Sonderzuteilungen von Petroleum, um auch am Abend und in der Nacht bei Licht arbeiten zu können; einen Fern- sprecher. All dies geht aus der Personalakte Luise Rinsers aus dem ehema- ligen Berlin Document Center hervor: Luise Rinsers Anträge wurden stets zuvorkommend und zügig von der Reichsschrifttumskammer bearbeitet - allen Versorgungsengpässen zum Trotz. Ohne politische Protektion wäre dies während des Krieges nicht möglich gewesen. In Den Wolf umarmen liest sich das aber so: „Arm, arbeitslos, hungrig, einsam, schutzlos, von der Gestapo überwacht, und dennoch nicht unglücklich, denn ich hatte mich selbst wiedergefunden“ (zitiert nach Sánchez de Murillo, S. 187) Doch damit nicht genug. Aus einer Affäre in Berlin geht Luise Rinsers zweiter Sohn Ste- phan hervor. Die Tatsache der außerehelichen Zeugung und der leibliche Vater wurden von der Mutter verschwiegen. Selbst das Erscheinen ihres ersten Buches, Die gläsernen Ringe, im Mai 1941 im S.-Fischer-Verlag brachte Luise Rinser in ihrer autobiographischen Selbstdarstellung mit der Geburt von Christoph und nicht von Stephan Rinser in Verbindung. Ihr erstes Buch mußte die Autorin übrigens nicht der Reichsschrifttums- kammer zur Druckgenehmigung vorlegen, wie Sánchez de Murillo fälschli- cherweise behauptet (S. 163). Luise Rinser mußte lediglich - wie alle ande- ren Schriftsteller - vor der Veröffentlichung die Mitgliedschaft in der Reichs- schrifttumskammer erwerben, die ohne Probleme erfolgte. Auch eine Vor- zensur ihrer weiteren Veröffentlichungen ist nicht nachweisbar - weder durch Hanns Johst, den Präsidenten der Berliner RSK mit Wohnsitz im fer- nen Oberallmannshausen am Starnberger See, noch durch die Schrifttums- abteilung des Propagandaministeriums. Bei einer ehemaligen Lehrerin im bayerischen Staatsdienst und BDM-Führerin, einem Mitglied der NS- Frauenschaft (seit 1.1.1936) und Mitglied des NS-Lehrerbundes (seit 1.5.1939), deren politische Überzeugung außer Frage stand, wäre dies auch ungewöhnlich gewesen. Es ist bedauerlich, daß der S.-Fischer-Verlag seinen Autor nicht auf einschlägige Veröffentlichungen zum Thema im eige- nen Hause hingewiesen hat, durch deren Kenntnisnahme solche Faktenfeh- ler hätten vermieden werden können. Tatsache ist, daß Luise Rinser schließlich doch noch in einen Konflikt mit der Staatsmacht geriet - allerdings eher unbeabsichtigt und trotz der Schwe- re der Anklage ohne Konsequenzen. Das siebenstündige Verhör, die an- schließende Verhaftung und die Internierung im Frauen-Untersuchungs- gefängnis Traunstein von Oktober 1944 bis Januar 1945 gingen auf eine Denunziation zurück. Lisl Grünfelder, die sich wegen der Sorge um ihren bei der Wehrmacht dienenden Ehemann an ihre ehemalige Mitschülerin ge- wendet hatte, war von Luise Rinser empfohlen worden, er solle sich abset- zen, heimkommen und untertauchen, denn der Krieg sei ohnehin bald verlo- ren. Die noch am 28. März 1945 erhobene Anklage des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof auf „Wehrkraftzersetzung“ konnte Luise Rinser wie- derum nur mit Protektion von höchster Stelle überleben. Es kam weder zu einem Prozeß noch zu einem Urteil. Doch davon ist bei ihr später nichts mehr zu lesen. Vielmehr nutzt die Schriftstellerin die Inhaftierung dazu, um sich als politisches Opfer des NS-Regimes eine günstige Ausgangsposition für den Neuanfang nach dem 8. Mai 1945 zu verschaffen. Es ist die Ge- burtsstunde zahlreicher Legenden und Mythen, wie man Luise Rinser noch zugute halten kann. Das ändert allerdings nichts an der zutreffenden Wer- tung von Sánchez de Murillo, daß es sich bei der vermeintlichen Autobio- graphie Den Wolf umarmen um „eine Fälschung“ handelt (S. 214). Ohne die „Legende von der zierlichen und zugleich starken Frau, die sich dem Drang der Männerwelt nach Macht, Krieg und Herrschaft mutig entgegen- stellt“ (S. 214 - 215), hätte Luise Rinser in der Bundesrepublik Deutschland niemals als Vorbild für eine politisch und moralisch integre Schriftstellerin und Frau dienen können. Nach diesem „Herzstück“ der Biografie, das auch eine Art „Dunkelkammer“ ist, geht Sánchez de Murillo in drei Kapiteln auf das weitere Leben Luise Rinsers ein. Der Literarische Durchbruch im zerstörten Deutschland 1945 - 1959 (S. 221 - 285) konnte der jungen Autorin deshalb so gut gelingen, weil für den „Wiederaufbau“ des Kulturlebens in den vier Besatzungszonen hän- deringend Persönlichkeiten gesucht wurden, die als politisch unbelastet gal- ten. Mit ihrem 1946 im Kurt-Desch-Verlag erschienenen Gefängnistage- buch, das allerdings nur die Zeit vom 22. Oktober bis 21. Dezember 1944 behandelt, also nicht die Umstände ihrer Haftentlassung, verfügte Luise Rinser über ein ausgezeichnetes Empfehlungsschreiben für den Beginn ih- rer Nachkriegskarriere. Und in der Auseinandersetzung zwischen den wäh- rend der NS-Diktatur in Deutschland verbliebenen Schriftstellern und Tho- mas Mann als Repräsentant der Exilliteratur schlug sich Luise Rinser 1947 mit einem Aufsatz gegen den emigrierten Literatur-Nobelpreisträger auf die Seite derjenigen, die in den Westzonen wieder die Meinungsführerschaft übernommen hatten. Die von Johannes R. Becher eröffnete Option, als Schriftstellerin in der Sowjetischen Besatzungszone mit besonderer Förde- rung durch die Mächtigen neu zu beginnen, schlug Luise Rinser hingegen aus. In München, wo die Autorin ab 1948 lebte, fand sie neue Förderer und Freunde: Erich Kästner ermöglichte ihr als Feuilletonchef der Neuen Zei- tung eine freie Mitarbeiter mit Aufsätzen und Rezensionen; der Desch- Verlag veröffentlichte neben dem Gefängnistagebuch auch ihren Erzähl- band Erste Liebe (1946) und eine von Luise Rinser herausgegebene Sammlung der Schriften Pestalozzis (1947); sie hielt Vorträge in einem Um- schulungslager für ehemalige SS-Angehörige in Ludwigsburg zum Thema Hitler in uns selbst? Versuch einer psychologischen Analyse des Menschen in der Gegenwart; sie wird Mitbegründerin der Lessing-Gesellschaft zur Förderung der Toleranz und engagiert sich in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Ab 1948 ist Luise Rinser wieder Autorin des S.- Fischer-Verlags. Sie blieb es auch dann, als sich Peter Suhrkamp und Gott- fried Bermann Fischer 1950 im Streit trennten. Als Vermittler für die Autorin trat dabei Fritz Landshoff (1901 - 1988) auf, der nach seiner Rückkehr aus dem niederländischen beziehungsweise amerikanischen Exil aufgrund sei- ner Teilhabe am S.-Fischer-Verlag und seiner engen Beziehungen zum neuen Verlag Kiepenheuer & Witsch3 kurzzeitig zu einer Schlüsselfigur im

3 Der Verleger Joseph Caspar Witsch versuchte wiederholt, Luise Rinser für posi- tive Rezensionen von Büchern seines Verlags zu gewinnen, wie man aus der im folgenden Band ausgewerteten Verlagskorrespondenz (im Stadtarchiv Köln) ent- westdeutschen Literaturbetrieb wurde - und für zwei Jahre zum Geliebten Luise Rinsers. 1952 lernte die inzwischen etablierte und erfolgreiche Schriftstellerin den Komponisten (1895 - 1982) kennen. Verlassen hatte sie inzwi- schen ihren zweiten Ehemann, der Schriftsteller Klaus Herrmann, den sie in einem Briefwechsel mit Hermann Hesse aus dem Frühjahr 1946 noch als rühmlichen Beweis für die Nicht-Nazifizierung aller Deutschen anführte, in ihrer Autobiographie Den Wolf umarmen dann aber als „Edelkommunist, [...] Päderast [...,] Pazifist, und dies so nachdrücklich, dass er, um nicht Sol- dat werden zu müssen, sich selbst verstümmelte“ (zitiert nach Sánchez de Murillo, S. 192), denunzierte. Doch auch die 1954 mit dem 16 Jahre älteren Orff geschlossene dritte Ehe ging rasch in die Brüche. Der 1959 erfolgten Scheidung ging ein Rosenkrieg voraus, bei dem die Anwälte des Komponi- sten die Beziehung Luise Rinsers zu dem Benediktiner Johannes Maria Hoeck als Beweis der Untreue zu werten versuchten. Die Schriftstellerin war dem Abt des Klosters Ettal im Dezember 1955 begegnet - der Beginn einer langen, vom Konflikt zwischen Zölibat und Liebesverlangen geprägten Freundschaft. Literarisch verarbeitet wird diese bemerkenswerte Liaison in den beiden Romanen Abenteuer der Tugend (1957) und Die vollkomme- ne Freude (1961). 1960 verließ Luise Rinser Deutschland und zog nach Rom. Ab 1964 lebte sie in ihrem neu erbauten Haus in Rocca di Papa in den Albaner Bergen. Das nun beginnende Kapitel der Biographie hat Sánchez de Murillo mit Die Pein der Heimatlosigkeit 1959 - 1994 (S. 289 - 391) überschrieben. Äußerlich betrachtet handelt es sich um eine sehr er- folgreiche Zeit. Luise Rinser wird eine geschätzte Persönlichkeit des öffent- lichen Lebens. Sie unterhielt einen engen persönlichen Kontakt zu dem Theologen (1904 - 1984),4 der zusammen mit Hoeck ein „kleri- nehmen kann: Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch : Joseph Caspar Witsch und die Etablierung des Verlags (1948 - 1959) / Birgit Boge. - Wiesbaden : Har- rassowitz, 2009. - XIV, 554 S. ; 25 cm. - (Buchwissenschaftliche Beiträge ; 78). - Zugl.: Aachen, Techn. Hochsch., Habil.-Schr., 2003 u.d.T.: Boge, Birgit: Der Köl- ner Verleger Joseph Caspar Witsch und die Literatur in der westdeutschen Nach- kriegsära (1948 - 1959). - ISBN 978-3-447-06001-1 : EUR 68.00 [#0744]. - Rez.: IFB 11-1 http://ifb.bsz-bw.de/bsz310466318rez-1.pdf - Auf S. 66, Anm. 35 geht es um ein Buch von Wilhelm Speyer und auf S. 330, Anm. 17 in demselben Brief von Witsch an Rinser vom 20.6.1952 auch noch um ein solches von Herbert Frank: „Ich möchte gerne noch eine gute Besprechung haben über das wirklich glänzen- de Buch von Wilhelm Speyer ‚Andrai und der Fisch’ … und über Herbert Frank ‚Der Stumme’ …“. Ob sie diese Gefälligkeitsrezensionen geschrieben hat, geht aus dem Band nicht hervor. Dagegen weigerte sie sich, eine Rezension über Alix du Frênes Roman Der blinde Spiegel, des „ihrer Ansicht nach törichten und ober- flächlichen Buchs“ zu verfassen (S. 115 und Anm. 322 und 323). [KS] 4 „Was Rahner anbelangt, hat der Autor auch keine weiteren Quellen als unser- eins, da die Briefe Rahners selbst nicht zur Verfügung stehen. Sie hätten zurück- gegeben werden sollen, wie es Rahner umgekehrt gemacht hat, und wären dann im Rahner-Archiv. So furchtbar interessant ist das aber nicht, wenn man die Rin- serschen Briefe liest und die Gegenstücke vermutet. Rinser hat sich immer um eine theologische Erhöhung ihres Schaffens durch Rahner bemüht, was diesen kales Liebesdreieck“ bildet, wie es Sánchez de Murillo beschreibt (S. 293 - 317). Sie hat Gespräche im Bonner Kanzleramt mit , dessen Geist und „Herzenshöflichkeit“ sie schätzt und für den sie sich bis 1974 in Wahlkämpfen engagiert. Sie unternimmt Auslandsreisen nach Polen, Irland, in die Sowjetunion, die USA, Bolivien, Indonesien, Spanien und im März 1979 in die neue islamische Republik . 1984 nominieren die Grünen Luise Rinser als Gegenkandidatin gegen den von der CDU vorgeschlage- nen Richard von Weizsäcker für das Amt des Bundespräsidenten. Im Okto- ber 1993 führt sie einen geistespolitischen Dialog mit dem Dalai Lama. Sie festigt mit Bruder Feuer (1975), Mirjam (1987) und Abaelards Liebe (1991) ihren Ruf als eine der herausragenden Schriftstellerinnen ihrer Zeit und mit mehreren politischen Veröffentlichungen ihr Image als Kämpferin für die Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft ebenso wie als Pazifi- stin. Diese positive Bilanz trübt allerdings eine Reihe von „Widersprüchen“. Be- reits 1972 wurde Luise Rinser im Kontext der Verunglimpfung aller Linken und vermeintlichen Sympathisanten der RAF in der konservativen Presse (Die Welt, Quick) mit ihren Gedichten aus der NS-Zeit konfrontiert, wobei sie ihre Autorschaft leugnete. Das wiederholte sich in den 1980er Jahren mehrmals - bei der Auseinandersetzung mit dem Politologen Bernd Söse- mann sogar vor laufenden Kameras im deutschen Fernsehen. 1980 reiste Luise Rinser erstmals nach Nordkorea und wurde rasch zu einer glühenden Anhängerin des Diktators Kim Il-sung (1912 - 1994), dessen „Modell für die künftige Entwicklung der Menschheit“ (Sánchez de Murillo, S. 352) sie in ihrem Nordkoreanischen Reisetagebuch (1981) ein mehr als fragwürdi- ges Denkmal setzt. Von einer zweiten Diktatur, der DDR, ließ sie sich gleich dreimal auszeichnen: 1985 mit der Johannes-Bobrowski-Medaille und 1987 mit dem Heinrich-Heine-Preis und dem Heinrich-Mann-Preis, beide vom staatlichen Kulturministerium verliehen. Der Tod von Luise Rinsers zweitem Sohn Stephan im November 1994, der das Problem der ungeklärten Vater- schaft in Alkohol zu ertränken versucht hatte, hinterließ die Narbe einer bis zuletzt aufrecht erhaltenen Lebenslüge. In diesem Kontext hält Sánchez de Murillo eine der wahrsten Erkenntnisse seiner Biographie fest: „Es ist die Zerrissenheit, die sie aushöhlt. Das Schicksal vieler Personen des öffentli- chen Lebens: wenn die Quantität schwindet, bleibt die Leere zurück.“ (S. 385) In ihrem tiefsten Inneren hat dies Luise Rinser auch selbst erkannt: „Immer war ich die Durchreisende, die nie irgendwo ankommt“, hieß es be- reits 1967 in ihrem Tagebuch Baustelle (zitiert nach Sánchez de Murillo, S. 329). Das letzte Kapitel ist dem Rückzug ins Schweigen 1995 - 2002 (S. 395 - 416) gewidmet. Das letzte Tagebuch, Kunst des Schattenspiels 1994 - 1997“ (1997), erscheint und der letzte Prosatext, Bruder Hund (1999). Die letzte Autorenlesung findet im Oktober 1998 in Wessobrunn statt, wo ihr Sohn Stephan beerdigt worden ist. Sánchez de Murillo wird die letzte Liebe. aber nur zu einem allgemeinen Aufsatz über den christlichen Dichter für eine Rin- ser-Festschrift bewegt hat.“ (Freundliche Mitteilung von Prof. Albert Raffelt vom 09-01.2012). [KS] Doch selbst ihm erzählt Luise Rinser nichts von ihren Lebenslügen, so daß er sich als Ergebnis seiner eigenen Recherchen nach dem Tod der Autorin fragen muß: „Wie kann ein Mensch alt werden, ohne sich selbst wirklich zu erfahren? Nur von sich wegrennen unter schönen, manchmal sogar wichti- gen Vorwänden? Doch so leben die meisten Menschen“ (S. 405). Das klingt nur scheinbar versöhnlich. In seinem Nachwort (S. 417 - 424) attestiert er Luise Rinser, daß sie „sich selbst in entscheidenden Punkten vom Irrtum ausgenommen“ hat (S. 419). Die Widersprüche und Zerrissenheiten ihrer literarischen Gestalten waren ihre eigenen. Das hat sie mit vielen Menschen ihrer Generation gemeinsam, auch mit sehr vielen Intellektuellen, die in die NS-Diktatur stärker verstrickt waren als sie nach 1945 zugeben wollten. Da- zu stellt Sánchez de Murillo fest: „Nach Fehlern hat jeder Mensch das Recht, wieder neu zu beginnen. Die Fehltritte gehören zum Weg - daher die Pflicht, dazu zu stehen“ (S. 423). Wohl wahr. Aber weder Luise Rinser noch andere Persönlichkeiten aus dem deutschen Kulturleben waren nach 1945 bereit, ihre „Fehltritte“ aus den vorangegangenen zwölf Jahren offen einzu- gestehen. Insofern wurden die „Lebenslügen“, die Sánchez de Murillo auch für Luise Rinser nachweist, zum bleiernen Fundament der bundesdeut- schen Geschichte und belasten die Seele unserer Gesellschaft noch bis zur Gegenwart. Jan-Pieter Barbian

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