MASARYKOVA UNIVERZITA Filozofická fakulta Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

MAGISTERSKÁ DIPLOMOVÁ PRÁCE

Brno 2014 Bc. Natália Sládková

Masarykova univerzita Filozofická fakulta

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Německý jazyk a literatura

Bc. Natália Sládková

Auf den Spuren von Luise Rinser: Selbst-Spiegelungen in ausgewählten Werken ihrer frühen Schaffensperiode. Vom Autobiographischen zum Fiktionalen.

Magisterská diplomová práce

Vedoucí práce: prof. PhDr. Jiří Munzar, CSc.

2014

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig verfasst und nur die im Literaturverzeichnis angegebenen Quellen verwendet habe.

Unterschrift

An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Betreuer PhDr. Jiří Munzar, CSc. für seine fachkundigen Ratschläge und wertvollen Empfehlungen herzlich bedanken.

Innig bin ich auch meinen Eltern für ihre jahrelange Unterstützung dankbar.

Inhalt

1. Einleitung...... 7 1.1. Forschungsinteresse der Arbeit ...... 7 1.2. Ziel und Fragestellungen der Arbeit...... 8 1.3. Aufbau der Darstellung ...... 8 2. Luise Rinser...... 10 2.1. Von einem in der chaotischen Zeit geborenen und aufgewachsenen Kind zu einer der bedeutendsten Autorinnen Deutschlands...... 10 2.2. Rinsers Lebenserfahrungen als Inspiration ihrer Werke ...... 14 3. Vom Autobiographischen zum Fiktionalen...... 15 3.1. Das Autobiographische allgemein...... 16 3.2. Das Autobiographische bei Rinser ...... 17 3.2.1. „Thema des selektiven Erinnerns“ ...... 18 3.2.2. Ambivalente Wahrheit...... 19 4. Erzählungen Die gläsernen Ringe und Jan Lobel aus Warschau ...... 19 4.1 Biographische und historische Aspekte...... 19 4.2. Die gläsernen Ringe ...... 20 4.2.1. Inhaltsangabe...... 21 4.2.2. Textinterpretation ...... 21 4.3. Jan Lobel aus Warschau ...... 28 4.3.1. Inhaltsangabe...... 29 4.3.2. Textinterpretation ...... 29 4.4. Vergleich der Erzählungen ...... 35 5. NinaRomane...... 36 5.1. Zur Entstehung der NinaRomane...... 37 5.2. Mitte des Lebens ...... 39 5.2.1. Inhalt und Struktur des Romans ...... 40 5.3. Abenteuer der Tugend ...... 40 5.3.1. Inhaltliche und formale Analyse...... 41 5.4. Interpretation der NinaRomane...... 42 5.4.1. Existenzielle Widersprüche ...... 51 5.4.1.1. Sinn und Unsinn ...... 51

5.4.1.2. Leben und Tod...... 52 5.4.1.3. Mann und Frau...... 53 5.4.2. Die Persönlichkeit Ninas ...... 54 5.5. Nina kontra die Autorin...... 58 5.6. Vergleich der Romanfiguren mit realen Personen ...... 62 6. Zusammenfassung ...... 65 7. Literaturverzeichnis...... 67 7.1. Primärliteratur...... 67 7.2. Sekundärliteratur ...... 67

1. Einleitung

Luise Rinser ist eine vielgelesene und vieldiskutierte, in der Kritik sowohl für Trivialität, als auch für NaziVergangenheit, Autorin. Der Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki sagte einmal für Frankfurter Allgemeine , dass niemand ihn zwingen werde, diesen furchtbaren Kitsch noch einmal zu lesen. 1 Er hält ihre Werke einfach für einen Schund. Außerdem verurteilte die Autorin der deutsche Schriftsteller Michael Kleeberg in einem im Spiegel erschienenen Artikel, dass sie ihre Lebensgeschichte fälschte.2 Sie wurde also von mehreren Kritikern nicht ernst genommen und als Frauen und Erbauungsschriftstellerin hingestellt. Trotzdem ist festzuhalten, dass ihre Selbstinszenierung in den Medien zum Verwirrspiel beitrug, als ihr gutes Freund José Sánchez de Murillo geschrieben hat, dass sie in der Nazizeit ebenso verstrickt wie viele andere war. 3 Er warf ein neues Licht auf ihr Leben mit seinem Buch Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen , worin er bestätigt, dass die Schriftstellerin ihre Vergangenheit im Dritten Reich verschwieg. Zugleich zeichnet er an, dass eine entsprechende Neubewertung nicht nur auf die Ansicht von Rinsers Werk, sondern auch der Autorin selbst zu erwarten ist.

1.1. Forschungsinteresse der Arbeit

Bei meiner Untersuchung gehe ich aus der Tatsache heraus, dass Luise Rinser ihre eigene Lebensgeschichte manipulierte, was mich zu einer eingehenden Beschäftigung mit der Autorin veranlasste. Ich werde auf den Ansätzen der Autoren wie Kleeberg und Murillo aufbauen. Weil sich die Hauptthematik in Rinsers früher Schaffensperiode an ihre eigene Erkenntnisse anlehnt, wird der Schwerpunkt meiner Arbeit auf der Analyse ihrer frühen Werken liegen. Die vorliegende Magisterarbeit beschäftigt sich mit der Problematik der Bespiegelungen der Schriftstellerin in ihren frühen Werken. Für mich ist es Herausforderung,

1 Vgl. REICHREINICKI, Marcel: Was spricht gegen Luise Rinser. In: Frankfurter Allgemeine, 2009. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 01.02.2014). 2 Vgl. KLEEBERG, Michael: Luise Rinsers Vergesslichkeit. Wie sich die prominente Nachkriegsautorin zur Widerständlerin stilisierte. In: Der Spiegel, 2/2011. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 05.02.2014). 3 Vgl. DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 10. 7 ihre Werkstatt mit ihrem qualvollen Leben zu konfrontieren. Als der konkrete Gegenstand der Arbeit gilt damit eindeutig die Autorin selbst.

1.2. Ziel und Fragestellungen der Arbeit

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, wichtige Stellung der Autorin und ihrer Autobiographien sowie ihrer fiktionalen Werken in der deutschen Literaturgeschichte zu bestätigen und zu zeigen, wie bedeutsam das literarische Schaffen der Schriftstellerin ist. Ich versuche auch, einzelne Ambivalenzen ans Licht zu bringen und sie ihrem Leben nach zu definieren. Dabei gehe ich aus zwei interessanten Thesen. Zum einen: Es ist schwer, die Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung zu bestimmen. Zum anderen: Luise Rinser spiegelt sich in ihren frühen Werken mehr als sie selbst gedacht hat. Ich habe sie durch weitere Fragen noch mehr verstärkt: Soll Luise Rinser als glaubhafte Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts wahrgenommen werden? Hat sie bewusst in ihrer Autobiographien gelogen? Ist es möglich, dass ihre einigen Aussagen nur falsch interpretiert werden können? Wie widerspiegelt sich ihre Widersprüchlichkeit in ihren Romanen? Inwieweit geht es um ihre persönliche Bekenntnisse? In der Arbeit werde ich versuchen die Antworten auf meine Fragen zu geben. Im Weiteren wird auch betrachtet, ob die Bezeichnung der Autorin als Erbauungsschriftstellerin zutreffend ist. Es stellt sich schließlich die Frage, ob Rinsers Selbstinszenierung ein wichtiger Baustein für ihren Erfolg war oder eher mit ihren Werken den Nerv der Zeit traf.

1.3. Aufbau der Darstellung

Um eine theoretische Grundlage für eine entsprechende Analyse von Rinsers frühen Werken zu schaffen, ist es zunächst erforderlich die Biographie der Autorin zu berühren, was im ersten Teil meiner Darstellung geschieht. Nachdem der Ansatz verfolgt wird, dass Rinser in ihrem Werk ihr eigenes Leben und Lebenserfahrungen widerspiegle, geht ein weiteres Teil auf die literarische Schöpfung der Autorin ein, um ihre Persönlichkeit in einen literarischen Kontext zu setzen. Zu Beginn werden die wichtigsten Meilensteine von Rinsers Leben geschrieben. Ich versuche sie durch mehrfache Optik vorzustellen, d. h. ausgehend von vielen im Literaturverzeichnis angeführten Zeitungsartikeln, Rezensionen und Handlungen. Das

8

Wichtigste von ihnen stellt die neueste umfassende Biographie Rinsers dar, die von ihrem Freund José Sánchez de Murillo zum ihrer 100. Geburtstag geschrieben wurde. Auf den ersten Blick scheint das biographische Teil meiner Arbeit umfangreich zu sein, auf den zweiten Blick scheint mir es ganz plausibel, um ihr literarisches Schaffen nahezubringen. Im Mittelpunkt des Einleitungskapitels stehen so ihre Lebenserfahrungen und Weltanschauungen, die im Weiteren bedeutend werden. In dem Hauptteil der Arbeit orientiere ich mich auf ihre zwei Erzählungen Die gläsernen Ringe und Jan Lobel aus Warschau und auf ihre NinaRomane Mitte des Lebens und Abenteuer der Tugend . Folgende Textanalyse ist in mehrere Kapitel gegliedert, wo ich dem Leser die wichtige Informationen und Merkwürdigkeiten der erwähnten Werke zu vermitteln versuche, um seine Aufmerksamkeit bei der Lektüre ganz genau zu richten und um sein Interesse für Verständnis von Rinsers früher Schaffensphase zu erwecken. Dabei wird die eigene Betrachtung des Werkes erfolgen, die durch die Erkenntnisse aus der primären, aber auch sekundären Literatur sowie Internetquellen ergänzt wird. Bezüglich meines Literaturverständnisses behandle ich zentrale Themen wie die Zerrissenheit der Autorin, die existenziellen Widersprüche, Freiheit oder Kernfragen des Glaubens. Meine Arbeit soll zeigen, dass es möglich ist, direkt aus dem Werk Rinsers ihre eigenen Lebenserfahrungen zu beobachten und durch viele Andeutungen von Ambivalenz zum Kern ihres Denkens zu gelangen. Im letzten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse meiner Untersuchungen zusammengefasst.

9

2. Luise Rinser

„In ihrem langen Leben hat Luise Rinser (1911 bis 2002) viel von sich reden gemacht, nicht nur als Schriftstellerin, sondern vor allem als – durchaus umstrittene – öffentliche Person. Sie verfügte über die Fähigkeit zur Selbstinszenierung, konnte aber gleichzeitig in einem elementaren Sinn Lebenshilfe leisten. Ihr Weg war voller Ambivalenzen – das macht sie interessant.“ 4

Als eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der deutschen Gegenwartsliteratur gab Luise Rinser ein widersprüchliches Bild in die Öffentlichkeit. Viele Leser wurden weniger über ihr literarisches Schaffen als vielmehr über ihre zerrissene Persönlichkeit fasziniert sowie irritiert. Obwohl die vielgelesene Autorin ihrer Zeit zahlreiche Preise erhielt, verliefen ihre vielen Bücher im Laufe der Zeit im Sande. Was von dieser Autorin nicht nur der Nachkriegszeit blieb, scheint ihr trügerisches Selbstbild zu sein. Sie wurde als Ikone der Menschlichkeit und Integrationsfigur präsentiert, zu derer Prioritäten Moral und Streben nach Höherem gehörten. Das folgende Zitat macht es deutlich:

„Du fragst mich gegen des ‚Geistes’ u. hast Angst, ich könnte ganz unmenschlich werden –. Meine Liebe ‚Kleine’ – das werd ich nicht – un menschl. nicht, aber, was wir alle werden sollen: über menschlich, d. heißt: So hoch muß man kommen, dass man in vollkommener Ruhe u. Überlegenheit auf das Treiben der Welt herunterschauen kann –.“5

Trotzdem entschied sie sich die Welt anzulügen. Alle waren verblüfft, als sie erfuhren, dass sie ihre eigene Lebensgeschichte verfälschte.

2.1. Von einem in der chaotischen Zeit geborenen und aufgewachsenen Kind zu einer der bedeutendsten Autorinnen Deutschlands

Es war kurz vor dem Krieg, als Luise Rinser das Licht der Welt erblickte. Am 30. April 1911 wurde sie als Tochter des Lehrers und Organisten Josef und der Hausfrau Aloisia Rinsers geboren. Sie waren Bayern und deutsche Patrioten. Sie gaben ihrem einzigen Kind

4 HURTH, Elisabeth: Vorbild oder Ärgernis? Luise Rinser in den Ambivalenzen ihres Lebens. In: Herder Korrespondenz – Monatshefte für Gesellschaft und Religion, 52011. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 01.02.2014). 5 Luise Rinser hat in den Jahren 192944 an ihre Freundin, Luise Müller, geschrieben. Von dieser Korrespondenz kommt auch das erwähnte Zitat. Nach: RINSER, Christoph: War Luise Rinser eine Nationalsozialistin? Anmerkungen zu einem problematischen Sachverhalt. S. 14. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 28.02.2014). 10 den Namen Aloysia, wurde aber Luise genannt. 6 Ihr Geburtsort heißt Pitzling, ein Stadtteil von in Oberbayern. Ein paar Jahre nach ihrer Geburt zog die Familie wegen der Arbeit nach Etting, wo Luise in einem streng katholischen Elternhaus aufgewachsen war. Ihre Eltern waren Katholiken von Geburt und aus Überzeugung. Sie erzogen sie demgemäß. Aber in keinem Fall kann man die Beziehung zwischen Luise und ihren Eltern als ideal kennzeichnen. Ihre Kindheit verbrachte sie in vielen bayerischen Dörfern und in die Ferien fuhr sie nach Wessobrunn, wo ihre Tante Fanny und ihr Onkel Franz lebten. Sie gaben ihr etwas, was sie zu Hause nicht hatte, und zwar die Freiheit. Sie spielten eine wichtige Rolle in ihrer Kindheit, weil sie dem Mädchen ermöglichten, die Welt kennen zu lernen.

„Wessobrunn ist die Wiege und Schule ihrer Dichtung. Hier lernt Luise Rinser die Stille vernehmen – die Reinheit des Wassers, die Botschaft der Lüfte, das Reich der Gerüche. Träume als Wirklichkeit, Wunder als Tatsachen. Das Göttliche und das Böse. Die Erhabenheit des Schönen. Die Gemeinheit der Menschen. Die Macht des Todes. Und die Kraft des Lebens.“ 7

Es lässt sich konstatieren, dass Wessobrunn der jungen Schriftstellerin viel Weisheit gab und erste Kontakte mit Mystik übermittelte. Der Onkel Franz Hörtensteiner war nämlich als Pfarrer des Wessobrunner Klosters tätig. Im Wesentlichen war es eben er, der bei ihrer ersten Schritten mit dem katholischen Glauben stand. Luise Rinser liebte Freiheit über alles. Sie bedeutete für sie „den Gipfel der Existenz.“ 8 In ihrer Autobiographie erinnert sie sich an einen Augenblick aus ihrer Kindheit, der diese Tatsache bezeugt:

„Meine Spiegelwirklichkeit ist jene der Ideen und jene meiner Arbeit. Ich lebe in der Doppelwirklichkeit.“ 9

Sie spricht über gewisse „Spiegelwirklichkeit“ als ob sie durch eine offene Tür gehen konnte. Damit meint sie, dass jeder durch seine eigene UrIdee im Leben begleitet wird. Bei Luise Rinser präsentiert sich diese Idee als der Weg. 10 Meine Hypothese dazu wäre es, dass eben dieser Weg für ihr eigenes Leben bestimmend wurde und die Beziehung zu Lebensbegleitern die Richtung ihrem Leben und zugleich ihrem Werk angegeben hatte.

6 Vgl. DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 20. 7 Ebd. S. 38. 8 Ebd. S. 21. 9 Ebd. 10 Ebd. S. 22. 11

Als dreizehnjährige kam Luise nach München, um Volksschullehrerin zu werden. Sie interessierte sich für Physik und Musikinstrumente. Künstlerisch begabtes Mädchen spielte Geige und las viel die Bücher von größten Philosophen und Schriftstellern der Welt wie die von Nietzsche, Kant, Kierkegaard sowie die von Kafka, Goethe und Schiller. Sie begann ihre Gedanken und Erfahrungen schriftlich zu verarbeiten und so entstanden ihre ersten Schriften. Sie lernte auch den Reformpädagogen Franz Seitz kennen, der sie auf ihrem Entwicklungsweg zur Schriftstellerin sehr beeinflusste. Nach dem Studium der Psychologie und Pädagogik musste sich Luise nur mit Aushilfsstellen in verschiedenen kleinen Dörfern wie Oberau oder Ohlstadt begnügen, aber später bekam sie feste Anstellung als Lehrerin und hatte großen Erfolg bei Schülern. In der Nazizeit war sie von HitlerJugend begeistert. Sie hat sogar ein Lobgedicht auf Hitler geschrieben. Dieses Fasziniertsein von der NaziIdeologie verursachte, dass sie um eine Karriere als engagierte NaziPädagogin bemühte. Sie arbeitete als Ausbilderin beim BDM (Bund Deutscher Mädel).11 Trotzdem muss man festhalten, dass sie weder formal noch in ihrer Geisteshaltung eine Nationalsozialistin war. 12 Im Jahr 1939 heiratete sie jungen Pianisten und Dirigenten Horst Günther Schnell. In dieser Zeit begann sie mit dem Schreiben des ersten Bandes ihrer Autobiographie Den Wolf umarmen und veröffentlichte ihr erstes Buch Die gläsernen Ringe . Die Ehe mit dem untreuen Komponisten dauerte nicht lang. Nach der Scheidung wurde Horst an die russische Front geschickt und in der Zeit des Zweiten Weltkrieges fiel er. Aus der Ehe stammen zwei Söhne Christoph und Stephan, die jedoch Halbbrüder sind. Der später geborene Stephan entstammt nämlich einem außerehelichen Verhältnis, was fatale Folgen für sein Leben hatte. Luise Rinsers zweiter Ehemann Klaus Herrmann war ihr kommunistischer Schriftstellerkollege. Wegen seiner angeblichen Homosexualität war oftmals ihre Lebensgemeinschaft als Scheinehe gekennzeichnet. 13 Sie wurde ebenfalls geschieden. Obwohl Luise Rinser am geistigen Aufbau des Deutschlands mitgewirkt hatte, wurde sie im Oktober 1944 als Denunziantin, d.h. Feindin des Dritten Reichs, festgenommen und in Haft in Traunstein gehalten, wo sie Gefängnistagebuch geschrieben hat. Nach der Gefängniszeit schrieb sie Rezensionen für in München und befasste sich mit

11 Vgl. ebd. S. 104. 12 Vgl. RINSER, Christoph: War Luise Rinser eine Nationalsozialistin? Anmerkungen zu einem problematischen Sachverhalt. S. 12. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 28.02.2014). 13 Vgl. KLEEBERG, Michael: Luise Rinsers Vergesslichkeit. Wie sich die prominente Nachkriegsautorin zur Widerständlerin stilisierte. In: Der Spiegel, 2/2011. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 05.04.2014). 12 dem zweiten Teil ihrer Autobiographie, die unter dem Titel Saturn auf der Sonne erschien. Neben vielen anderen während des Krieges geschriebenen Werken wurde auch die hochgeschätzte Erzählung Jan Lobel aus Warschau veröffentlicht. Die Auseinandersetzungen ihres Lebens versuchte die Autorin in ihrem erfolgreichsten Roman Mitte des Lebens zu verarbeiten. Drittens heiratete sie den Komponisten und nach sieben Jahren gemeinsames Lebens trennten sie sich wieder. Literarisch schuf die Autorin immer mehr. Vor allem Romane Daniela und Abenteuer der Tugend verdienen Erwähnung. Das Angebot des Stipendiums für die Villa Massimo ermöglichte ihr ein neues Leben in Rom zu beginnen. In dieser Zeit befreundete sie sich mit den zwei „Kirchenmännern,“14 den Benediktinerabt Johannes Maria Hoeck und den Theologen , die auf sie sehr großen Einfluss hatten. Seit 60er Jahren lebte sie in einem Haus in Rocca di Papa bei Rom. Es wurden u. a. die Erzählung Geh fort, wenn du kannst und die Romane Die vollkommene Freude , Ich bin Tobias , Abaelards Liebe und Mirjam publiziert, in den sich die Schriftstellerin mit kirchlichen Themen auseinandergesetzt hat. Nachdem sie sich mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Deutschlands kennenlernte, engagierte sie sich auch politisch. Sie hat viele Reisen unternommen, wie z. B. in die USA oder Sowjetunion. Außerdem bereiste sie auch Indonesien, China und Korea, wo sie sich mit dem südkoreanischen Komponisten und mit dem Präsidenten vom Nordkorea Kim Ilsung befreundete. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sie Freiheit und Demokratie hochschätzte. Aus diesen Reisen entstammen vor allem Bücher Der verwundete Drache , Kriegsspielzeug oder Nordkoreanische Reisetagebuch . Zunächst wurden weitere Tagebücher veröffentlicht: Winterfrühling , Im Dunkeln singen , Wir Heimatlosen . Der Titel des letzten Tagebuches lautet Kunst des Schattenspiels . Als ihr Sohn Stephan schwer erkrankte, reiste sie nach Indien, um mit Dalai Lama sprechen zu können. Nach Stephans Tod suchte sie der Philosoph und Dichter José Sánchez de Murillo 1995 in Italien auf, mit dem sie etwas anderes als nur Philosophie und Dichtung verband. Murillo schreibt:

„[…] in Deutschland, ihrer natürlichen Heimat, fühlte sie sich fremd. Und ich war sowohl in Deutschland, meiner geistigen Heimat, ein Fremder, wie auch in meiner natürlichen: Spanien. Wir sind Exilmenschen, daheim nur unterwegs. Was uns am tiefsten eine, sei unsere Heimatlosigkeit, meinten wir.“ 15

14 Vgl. DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 304. 15 Ebd. S. 396. 13

Sie wurden durch „die Erfahrung des UnZuhause“16 verknüpft. Durch viele Gespräche befreundeten sie sich eng. Als ihr letztes Werk gilt das Buch Bruder Hund vom Jahr 1999, die von Murillo als die Krönung ihres Werkes betrachtet wurde. 17 Am 17. März 2002 ist sie in einem Seniorenstift in Unterhaching bei München gestorben.

2.2. Rinsers Lebenserfahrungen als Inspiration ihrer Werke

Luise Rinser hat über dreißig Bücher geschrieben, die in vielen Sprachen übersetzt wurden. Beim Schreiben ließ sich von ihrer eigenen Lebenserfahrungen und Weltanschauungen zu inspirieren, egal ob um ihre frühe oder spätere Schaffensphase geht. Während sie den ersten Werken die Impulse von ihrer düsteren Kindheit verlieh und dabei als die kritische Katholikin eine atheistische Phase erlebte, hat sie sich in ihrer künstlerischen Reife mehr mit religiöser Thematik und Frauenbewegung beschäftigt.

„Die Dynamik von Rinsers Werk zielte von Anfang an auf eine Umkehr des Denkens. Bereits in ihrem ersten Buch Die gläsernen Ringe (1941) brach eine ursprüngliche Seinserfahrung durch, die einen neuen Horizont öffnete. In der frischen Dichtung der angehenden Schriftstellerin erschien ein Menschen und Weltbild, welches das im Abendland spätestens seit Aristoteles vorherrschende in Frage stellte, doch nicht um es abzulehnen, sondern um es fruchtbar zu ergänzen.“ 18

Der Leser ist also mit der Lebenswirklichkeit Luise Rinsers konfrontiert. Außer der Erfahrungen von Kindheit und Kriegsverbrechen ist ihr Leben an manche Beziehungen mit Männern reich. Eine wichtige Rolle spielen besonders der Führer und der Diktator Kim Ilsung, die ihr künstlerisches Schaffen sehr beeinflussten. Bestimmende Wirkung hatte darauf auch „klerikales Liebesdreieck“, 19 der sich zwischen sie, dem Abt A. M. und Karl Rahner entwickelte. Sogar die Tatsache, dass Luise Rinser als Lehrerin ausgebildet war, spiegelt sich in ihrem Sprachstil. Man kann ihre Schreibweise mit dem Begriff „Lebenshilfe“20 kennzeichnen, weil sie als Ratgeberin schreibt. Dies ermöglicht ihr eine Nähe zu den Lesern herzustellen.

16 Ebd. 17 Vgl. ebd. S. 410. 18 Ebd. S. 421. 19 Ebd. S. 293. 20 STOCK, Julia Trumpold: Verantwortung durch Erinnerung: Luise Rinsers autobiographisches Schreiben als Medium für die Nähe zu den Lesern. Dissertation, 2012. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 18.04.2014). 14

3. Vom Autobiographischen zum Fiktionalen

„Zwischen zwei extremen Behauptungen liegt die Wahrheit. Die eine Behauptung lautet: alles Erzählen hat einen selbstbiographischen Kern, die andere: den Gesetzen literarischer Fiktionalität unterliegt wie jede andere Erzählgattung auch die Autobiographie.“ 21

Die erste Aussage stützt sich darauf, dass der Autor die literarische Fiktion aufgrund seiner Gedanken, Gefühle, einfach gesagt seine Weltanschauung berücksichtigend, schreibt. Sie bezieht sich zugleich auf die Tendenz des Autors, das Erlebte, das Erfahrene zu vermitteln, obwohl die Lebensgeschichte des Autors nicht autobiographisch, sondern romanhaft zu behandeln ist. Die Gattungsbezeichnung autobiographischer Roman oder mehrmals einfach Roman stellt oft eindeutig eine Autobiographie dar. Es kann sich auch um eine Autobiographie handeln, wenn unter der Bezeichnung historischer oder psychologischer Roman erfolgen wird. Das wirkliche Leben des Autors wird durch die fiktionalen Figuren, durch die Psychologie des Protagonisten geschildert – beispielsweise der psychologische Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, der die Entwicklung eines Jugendlichen beschreibt. 22 Wenn sich Roman zur Realität nur nähert, wie z.B. der Briefroman Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe, bleibt er trotz der autobiographischen Zügen fiktionaler Text. Die Autobiographie ist auf Erinnerungsarbeit des Autors gegründet, wobei die Erinnerungen „die größte Hilfe und zugleich die größte Störung beim Schreiben“ 23 sind. Sie können also deutlich und genau, aber doch falsch sein. Dies bestätigt die zweite Aussage des einleitenden Zitats. Es ist also schwer zu bestimmen, wo die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung liegen. Deswegen hat die Arbeit außer anderem die Untersuchung der Frage nach der Funktion des Autobiographischen bei Rinser zum Ziel. Um sie zu bestätigen, sollen zuerst die wichtigen Gesichtspunkte des autobiographischen Schreibens allgemein behandelt werden und zunächst die autobiographischen Schriften der Autorin aufgrund der Biographie von José Sánchez de Murillo analysiert werden. Daran anschließend wird zur Analyse der fiktionalen Werke ihrer frühen Schaffensperiode übergegangen.

21 HINCK, Walter: Selbstannäherungen. Autobiographien im 20. Jahrhundert von Elias Canetti bis Marcel Reich-Ranicki. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag, 2004, S. 7. 22 DE BRUYN, Günter: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1996, S. 23. 23 Ebd. S. 37. 15

3.1. Das Autobiographische allgemein

Die Autobiographie gilt als literarische Ausdrucksform, in der persönliche Erlebnisse eines Autors chronologisch angelegt werden. Sie beruht auf Erinnerungen und wird meist in der 1. Person aufgebaut. Die Form der Icherzählung garantiert dem Leser die subjektive Darstellung des Autobiographen. Dagegen steht das objektive Schildern der Erlebnisse, in dem der Verfasser einer Autobiographie sich selbst zum Objekt macht. Der Schreibprozess solcher Form der Autobiographie scheint anspruchsvoller zu sein. Der Autor kämpft mit bestimmter Distanz, die er einhalten muss, um seine Lebensgeschichte „maskiert, wie wenn ein Dritter sie schriebe“,24 aufzubauen. Dabei verwendet er die 3. Person. Er kann auch die ErForm mit der IchForm wechseln.

„Die meisten Autobiographien sind jedoch ‚von innen’ motiviert, bedurften keines äußeren Anstoßes.“ 25

Sie entstehen anhand der Sehnsucht des Autors, sein eigenes Leben zu bilanzieren. Oftmals dienen sie als Hilfsmittel zur Überwindung seiner eigenen psychischen Krisen. Mit der Blüte des Genres der Autobiographie werden zahlreiche Schwierigkeiten in Frage gestellt. Eines der größten Probleme besteht darin, dass sie verzerrte Angaben beinhalten kann, obwohl sie auf den ersten Blick nicht fiktional erscheint. Andernfalls können einige wichtige Informationen oder Ereignisse aus verschiedenen Gründen ausgelassen werden. Ob bewusst oder unbewusst die Autobiographen solche Erinnerungen nicht erwähnen, ist die nächste Frage. Als eine der berühmtesten Autobiographien der deutschen Literatur gilt sicher die von Johann Wolfgang von Goethe. Er verbindet in seinem Werk Dichtung und Wahrheit das Ich und die Welt, denn erscheint das dichterische Schaffen hier als Lebensvollzug.26

„Der Mensch kennt nur sich selbst, in sofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.“ 27

Wenn man die Autobiographie schreibt, geht es immer um persönliche Bekenntnisse bzw. um die subjektive Darstellung des eigenen Lebens. Denn die Rückblicke werden behandelt, muss die Welt nach seinen Eigenheiten und seinem Gedächtnis gestaltet werden.

24 Ebd. S. 45. 25 KUCZYNSKI, Jürgen: Probleme (… Erfahrungen im Umgang mit dem eigenen Ich und Ansichten über die Kunst der Erinnerung) der Autobiographie. Berlin: AufbauVerlag, 1983, S. 54. 26 Vgl. ebd. S. 82. 27 Ebd. 16

3.2. Das Autobiographische bei Rinser

Luise Rinsers autobiographisches Werk besteht aus zwei Teilen. Es geht um die Bände Den Wolf umarmen (1981) und Saturn auf der Sonne (1994). Der erste Band umfasst ihre Kindheit und Schuljahren, womit er den Leser bis ins Jahr 1950 führt. Er setzt mit dem zweiten Teil bis in die schreibende Gegenwart der Schriftstellerin fort, d.h. bis ins Jahr 1994. Mit diesen autobiographischen Schriften hat ihr gelungen, „epische Selbstdarstellung“ 28 zu konstruieren. José Sánchez de Murillo, ihr Biograph, spricht in seinem Werk von 2011 über einen literarischen Charakter ihrer Autobiographie. Er erhellt die Rolle der Autorin in der NaziZeit und enthüllt so „eine tiefe Kluft zwischen den Fakten und ihren Berichten.“ 29 In dem von OnlineZeitung Die Welt geschriebenen Artikel wurde bestätigt, dass sie ihre eigene Lebensgeschichte aus politischen Gründen verfälschte.30 Vielleicht soll die starke Bezeichnung der Verfälschung ihres Lebensweges, der in vielen Medien festgesetzt war, durch ein milderer Ausdruck der Verschönung ersetzt werden. Die Autorin stellt viele Erlebnisse in ihrer Autobiographie anders, aber es ist nicht sicher, ob sie bewusst einige Details ihres Lebens verheimlichen wollte. „Oft sind es die wichtigsten Ereignisse, die das Gedächtnis zu erinnern sich weigert.“ 31 Es scheint zunächst plausibel anzunehmen, dass einerseits die Autorin das Bewusstsein der Verstrickung in dem nationalsozialistischen Regime als Schuld wahrgenommen hat und dass sie andererseits die Vergangenheit nur besser zeigen wollte. Außerdem hat sie auch andere bedeutende autobiographische Werke geschrieben, wie ihre Tagebücher jedenfalls sind. Das erste veröffentlichte von ihnen ist Gefängnistagebuch , das im Frauengefängnis in Traunstein geschrieben wurde. Im Vergleich zu Rinsers zweiteiliger Autobiographie gibt dieses Tagebuch ein wahrhaftes Zeugnis vom historischen Geschehen. Dadurch ermöglicht sie dem Leser, sich an den Schrecken der Nazizeit teilzunehmen.

28 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 422. 29 Ebd. S. 214. 30 Vgl. STARK, Florian: Luise Rinser fälschte ihre Lebensgeschichte. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 15.03.2014). 31 KUCZYNSKI, Jürgen: Probleme (… Erfahrungen im Umgang mit dem eigenen Ich und Ansichten über die Kunst der Erinnerung) der Autobiographie. Berlin: AufbauVerlag, 1983, S. 43. 17

3.2.1. „Thema des selektiven Erinnerns“32

Tatsache ist: Nicht alles, was in Rinsers autobiographischen Schriften geschrieben ist, entspricht der Wirklichkeit, sondern nur einer Vorstellung von Wirklichkeit. Laut Murillo hat die Schriftstellerin das Geschehen dichterisch uminterpretiert. Es lässt sich also um keine historische Autobiographie bei Rinser zu sprechen, weil ihr Leben so beschrieb, wie sie es gerne gesehen hätte und weil sie eine Person beschrieb, die sie gerne gewesen wäre. 33 Außerdem hat die Schriftstellerin ihre Selbstdarstellung um einige wesentliche Fakten verkürzt, wie z. B. um Hitlerverehrung oder Scheidung. Warum sie sich aber solche Erinnerungen verbergen entschied, bleibt immer ein Geheimnis. Man könnte nur annehmen, dass sie unangenehm für sie waren und dass sie nur automatisch handelte, als sie ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es entstehen nämlich im Leben solche Situationen, an die man ungern zurückerinnert. In einem Fall ist das Vergessen ganz normal und unwillkürlich. Im Gegensatz dazu kann das Vergessen solcher Erfahrungen zur Verformung der Wirklichkeit führen. Die Auswirkungen des selektiven Erinnerns werden dann als Fehlleistungen empfunden.

„Will man beim Schreiben wahrhaftig sein, sind Überraschungen mit sich selbst immer möglich. Auf die oft verschönenden oder verfälschten Erinnerungen allein kann man sich nicht verlassen, man muss sie zu erweitern oder auch zu erwecken versuchen; denn schlafende Erinnerung gibt es auch. Nie darf man gegen sie das Misstrauen verlieren, muss sie, wenn möglich, überprüfen und korrigieren. Widersprüche, die sich nicht auflösen wollen, sollte man nicht vertuschen, sondern stehen lassen, mit einem Erklärungsversuch vielleicht.“ 34

Wie José Sánchez de Murillo in seiner RinserBiographie verdeutlicht, schuf die Autorin eine „Legende“.35 Sie versuchte mit ihrer epischen Selbstinterpretation ihr eigenes Leben in eine höhere Form zu stellen und es so die ungelösten Probleme ihres Lebens fertig zu werden. Nicht zuletzt verarbeitete sie es für die Leser. In Hinsicht auf den literarischen Charakter ihrer zweiteiligen Autobiographie steht nicht die Autorin, sondern eben das Werk im Vordergrund.

32 STOCK, Julia Trumpold: Verantwortung durch Erinnerung: Luise Rinsers autobiographisches Schreiben als Medium für die Nähe zu den Lesern. Dissertation, 2012, S. 7. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 02.04.2014). 33 Vgl. ebd. S. 188 f. 34 DE BRUYN, Günter: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1996, S. 42. 35 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 214. 18

3.2.2. Ambivalente Wahrheit

„Das Schwierige an der Wahrheit ist, dass es viele gibt, weil jeder die seine hat.“ 36

Mit diesem Zitat lässt sich belegen, wie kompliziert die Echtheitsfrage sein kann. Bei Luise Rinser ist jene Frage nach der autobiographischen Wahrheit besonders wichtig. Ihre Selbstdarstellung unterliegt der Subjektivität und ist zeitbezogen. Das bedeutet, dass der Geist der Zeit eine wesentliche Rolle bei ihrer Spiegelung des Selbst spielt. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen der Darstellung des Vergangenen wie sie ihrem Geist erscheint und wie sie sich jetzt in ihrem Geist spiegelt. Nicht zuletzt wollte man wissen, wie sich die Vergangenheit in der Vergangenheit in ihrem Geist gespiegelt hat. 37 Im Moment der Verarbeitung der früher geschriebenen Fakten, wenn Luise Rinser sich selbst korrigiert, entsteht einen Konflikt zwischen den Wahrheiten. Die Autorin reagiert widersprüchlich und die Wahrheit wird dann mehrdeutig. In diesem Zusammenhang darf man dem erläutenden Zitat dieses Kapitels widersprechen, dass es nicht viele Wahrheiten gibt, sondern nur eine, sog. „ambivalente Wahrheit“.38 Schließlich muss man im Fall von Luise Rinser konstatieren, dass ihr eigenes Leben als ein großes einziges Werk wirkt.

4. Erzählungen Die gläsernen Ringe und Jan Lobel aus Warschau 4.1. Biographische und historische Aspekte

Luise Rinser erreichte mit ihrem Erstlingswerk Die gläsernen Ringe 39 großen Erfolg. Es bedeutete für sie eine finanzielle Beruhigung in der Zeit ihrer zweiten Schwangerschaft und zugleich half ihr in der Öffentlichkeit zu steigern. Es war ein literarisches und zugleich ein politisches Ereignis, weil das Buch in der Zeit vom Nationalsozialismus geförderter Literaturdichtung, sog. BlutundBodenLiteratur, zugelassen wurde, obwohl es den Krieg nicht thematisiert. 40 Das HitlerRegime lässt sich nur aus wenigen Passagen des Buches

36 DE BRUYN, Günter: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1996, S. 33. 37 Vgl. KUCZYNSKI, Jürgen: Probleme (… Erfahrungen im Umgang mit dem eigenen Ich und Ansichten über die Kunst der Erinnerung) der Autobiographie. Berlin: AufbauVerlag, 1983, S. 43 f. 38 KLEEBERG, Michael: Luise Rinsers Vergesslichkeit. Wie sich die prominente Nachkriegsautorin zur Widerständlerin stilisierte. In: Der Spiegel, 2/2011. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 05.04.2014). 39 Im Text wird nach – RINSER, Luise: Die gläsernen Ringe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1996. – unter der Bezeichnung DGR zitiert. 40 Vgl. DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 164 f. 19 spüren, und zwar am Anfang und am Ende. Beispielsweise kann man auf der ersten Seite lesen:

„[…] und die Mutter sagte: ‚Sieh unsere Soldaten! Wie tapfer sie marschieren.‘ […] Das Kind, das allein in seinem Zimmer lag und schlafen sollte, spürte das Fieber und das Ungewisse in der Luft. Es ängstigte sich vor dem, was es nicht kannte und was die Großen den ‚Krieg‘ nannten.“ (DGR, S. 5)

Das Autobiographische auf der Erzählung stellt vor allem die düstere Kindheitsgeschichte vor. Der Entwicklungsweg der Autorin ist jedoch geheim dargestellt, aber man kann dies für einen ersten Einblick in das Leben der Autorin finden. Man kann zum Beispiel betrachten, dass sie die Geisteserfahrung in Wessobrunn, im Ort ihrer Kindheit, gewann, oder auch wie kompliziert die Beziehung mit ihrer Mutter war. Im Vergleich dazu hat die Erzählung Jan Lobel aus Warschau keine autobiographischen Züge. Mit dieser Geschichte hat es aber der Autorin gelungen, u. a. die Freundschaft mit Hermann Hesse zu vertiefen. 41

4.2. Die gläsernen Ringe

Mit der Geschichte Die gläsernen Ringe , erschien 1941, debütierte Luise Rinser als Erzählerin. Die Kindheitserzählung voller Melancholie wurde im Dritten Reich geschrieben und von den Nazis als antifaschistisches Buch verboten. Dieses Verbot wurde mit der Papierknappheit, die zwischen 1942 und 1945 herrschte, zusammengehangen und bei allen Schriftstellern kontrolliert. 42 Zum zentralen Thema wird das Wiedergeben der Kindheitserinnerungen. Die Autorin schildert die Entwicklung eines kleinen Mädchens und beschreibt alles, was es auf dem Weg zur Reife beeinflusst hat – Träume, Ängste, die Kinderseele, die Welt der Erwachsenen, das Leiden, die Natur. Im Grunde dreht sich alles um das ungenannt bleibende Mädchen, das ein kompliziertes Verhältnis mit seinen Eltern hat. Als Leitmotiv gilt die Suche nach der Autorin selbst durch die Erlebnisse. Damit ist ein autobiographischer Impuls offensichtlich. Das Buch hat bei den Lesern einen großen Erfolg gefunden. Den Beweis dafür hat auch die begeisterte Zustimmung des Schriftstellers Hermann Hesse erbracht:

41 Vgl. ebd. S. 238. 42 Vgl. ebd. S. 165. 20

„Ich bin durch ihre Geschichte wie durch einen Garten gegangen, jedem Bilde dankbar, mit jedem einverstanden […]“ 43

4.2.1. Inhaltsangabe

Die Erzählung Die gläsernen Ringe ist über den Werdegang des heranwachsenden Mädchens und schildert die Kindheitsgeschichte von seinem 5. bis zu seinem 16. Lebensjahr. Sie beginnt damit, dass das fünfjährige Mädchen den Durchmarsch von Soldaten durch die Straße erlebt. Unmittelbar darauf muss das Kind nur mit seiner Mutter nach Sankt Georgen abfahren, weil sein Vater an die Front fortgezogen war. In Sankt Georgen befinden sich zwei bedeutende Orte seiner Kindheit, und zwar das große Kloster und sein Garten. Die ruhigen Jahre seiner Kindheit werden gestört, als der Vater aus dem Krieg heimkommt und die Familie wieder nach Hause zieht. Das Mädchen leidet, weil es in der Familie fast kein Verständnis findet, außer der Beziehung mit seinem Großvater. Als er stirbt, wird es auf ein Mädchenpensionat geschickt. Das unter dem Zwang der Schule leidende Mädchen erlebt nur kurz dauernde Freundschaften und fühlt sich immer mehr einsam. Den Sinn sieht es in der Natur. Es nimmt ihre Zwiespältigkeit wahr, spürt das Schöne und das Geheime. Auf einer Seite steht die Ruhe und Klarheit des Gesetzes, auf der anderen Seite die Unordnung und Wildheit des Natürlichen. Am Ende der Erzählung stehen zwei Ferienbesuche in St. Georgen. Durch den letzten Aufenthalt wird klar, dass die Kindheit des Mädchens vorbei ist.

4.2.2. Textinterpretation

Hier beginnt nun die Interpretation des Erzähltextes, die das eigene Textverständnis zu deuten versucht. Mit entsprechenden Fragestellungen wird Interpretationsinteresse entwickelt: Welche Rolle spielt das Erlebnis in der Erzählung? Inwieweit macht die Autorin ihr eigenes Ich zum Gegenstand der eigenen Betrachtung und Selbstdarstellung? In welchen Gegebenheiten lässt sich ein Spannungsbogen Realität – Fiktion erkennen? Worin spiegelt sich die Zwiespältigkeit der Autorin durch die IchErzählerin? Welcher Art ist die Störung und in welcher Weise wird erkennbar, dass das Mädchen dadurch unglücklich ist? Was könnte eigentlich der Titel der Erzählung bedeuten?

43 Ebd., S. 166. 21

Die Gläsernen Ringe erfüllen die Kriterien eines narrativen literarischen Textes kürzeren Umfangs. Es geht tatsächlich um chronologisch gebaute Erzählung ohne unnötige Verzierungen, die sich in zwölf Kapitel gliedert. Schon von dem Ersten bis zum Letzten wird die Aufmerksamkeit auf das Heranwachsen des ungenannt bleibenden Mädchens gerichtet. Das Buch beginnt mit folgendem Satz:

„Ich war ein Kind von fünf Jahren und wohnte in einer stillen Stadt, und meine Kindheit war noch stiller als diese Stadt.“ (DGR, S. 5)

Von Anfang an ist die Stille der Wörter zu spüren. Die Autorin verwendet nicht komplizierte und leicht verständliche Ausdrucksweise, die als „Sprache des Schweigens“44 gekennzeichnet wird. Dieses Sprechen von besonderem Gewicht ist in vielen Sätzen der Erzählung offensichtlich. Die Autorin schildert also die Kindheitsgeschichte aus der Perspektive einer sich erinnernden IchErzählerin, obwohl sie noch im ersten Abschnitt die dritte Person verwendet:

„Das Kind, das allein in seinem Zimmer lag […]“ (DGR, S. 5)

Sie schreibt die Ereignisse als Rückblende, d.h. als dreißigjährige Frau verarbeitet sie ihre eigene Kindheit. Die Erzählung hat dadurch einen autobiographischen Ton. Mit der verwendeten IchForm zieht sie immer mehr in sich zurück. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass sich die Autorin mit der IchErzählerin nicht identifizieren lässt. Obwohl die Erzählerin beim Schreiben die Vorbilder aus der Wirklichkeit benutzt, bleiben die Personen und auch Ereignisse fiktional. So bildet sie ein Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion. Interessant sind auch die Orte und die Zeit des Geschehens. Die stille Stadt befindet sich plötzlich in großem Lärm – im Kriegszustand. Das fünfjährige Mädchen gerät mittendrin im Ersten Weltkrieg und hat Angst davor. Sie sieht die Soldaten durch die Straße marschieren. Nachdem der Vater an die Front muss, sind die Mutter mit ihr gezwungen, durch das Schrecken dieser Zeit die Kleinstadt zu verlassen. Sie fahren nach Sankt Georgen, wo der Großonkel Felix und die Tante Karoline leben. Die Dämmerung, die auf dem Kloster anbricht, macht diesen Ort noch unnahbarer für Krieg. Hier herrscht nur Frieden, den „der alte Herr im schwarzen Talar des Geistlichen“ (DGR, S. 6), der Großonkel Felix, repräsentiert.

44 LUISE RINSERSTIFTUNG: Vom Ursprung der Dichtung. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 13.02.2014). 22

In Sankt Georgen befinden sich das Kloster und der Garten, die eine bedeutende Rolle für das Mädchen in seinem Werdegang spielen. Der Garten erscheint ihm als ein Traum mit all seiner Zauberkraft.

„Das Unbeschreibliche, Unerklärbare, jener ergreifende Hauch, den alle Stätten der Welt besitzen, an denen jahrhundertelang um den Geist der Reinheit und des Friedens gekämpft und gebetet wurde.“ (DGR, S. 6 f.)

Zur Erhaltung des guten Zustands des Gartens trägt die Tante Karoline bei. Sie pflegt immer lächelnd diesen Garten und dabei ganz unmerklich erzieht sie das kleine Mädchen, das die Zeit in ihrer Nähe gern verbringt. Eines Tages bleibt das Kind allein im Haus. Es bewegt sich schwärmerisch in großen Räumlichkeiten. Mit Neugier entdeckt es die Geheimnisse der Gänge und zwar Gemälde der Heiligen und Bücher. Viele Bücher.

„Das Wunderbarste in dem Raum war der Geruch nach Alter, Schweinsleder, Staub und vergilbtem Pergament, ein ehrwürdiger verheißungsvoller Geruch, der sich mir unverlierbar einprägte und der, wo ich ihn jemals später wiederfand, ernsthafte Sehnsucht nach Stille, Abgeschiedenheit und Weisheit in mir weckte.“ (DGR, S. 11)

Der sichtbare Ausdruck von Kindheit steckt nicht nur in der Freude aus dem Erobern und in der Neugier, sondern auch in einer großen Menge von Spielarten, wie z.B. im Tanz oder Wortspiel. Bedeutend für das Werk wird „das Oberflächenspiel“ (DGR, S. 55). Es geht um das kindliche Spiel des neugierigen Mädchens, als es kleine Steine ins Wasser schleudert, um die Stille des Wassers zu stören. Damit bildet es die gläsernen Ringe über die Oberfläche des Wasserspiegels, nach denen sogar diese Geschichte genannt wurde. Dieses Spiel mit den gläsernen Ringen kehrt später in seinen Träumen wieder. Es lässt sich dadurch bestätigen, dass es sich um sehr wichtiges Erlebnis handelt. Im Mittelpunkt des wesentlichen Kapitels Die Lilie stehen das MutterTochter Verhältnis und damit verbundene Emotionen. Das Kapitel behandelt ein Fest der Kirche, das Fronleichnamsfest, dessen Vorbereitung zur entscheidenden Störung führt. Bei dieser Prozession ist ein religiöser Brauch, die Blumen als Geschenke für Gott zu geben. Denn soll das Kind zum ersten Mal daran teilnehmen, wandelt es mit seiner Mutter durch den Garten, um die schönste Blume zu finden. Die Mutter ist sehr wählerisch, nichts ist ihr genug gut.

23

Sie meint, dass die Blume das Kind schmücken sollte sowie das Kind die Mutter schmückt. 45

„ ‚Willst du sie?‘ fragte meine Mutter; ich rief rasch entschlossen ja und schaute zu, wie die Schere das grüne saftige Fleisch zwischen ihre blinkenden kalten Messer nahm. Aber noch ehe der Stengel durchschnitten war, schrie ich: ‚Nein, nicht!‘ Doch schon sah ich ihn sinken und fallen. […] Da erschien mir das Bild meiner Mutter, wie sie, erfreut darüber, das Schönste für mich gefunden zu haben, die Lilie abschnitt. Eine Empfindung dankbarer Liebe flog durch mich und schien mich endgültig an meine Blume zu binden.“ (DGR, S. 20 ff.)

Darüber hinaus lässt sich leicht zeigen, dass sich das Kind mit der Lilie identifiziert. Die Schere symbolisiert hier ein Instrument des Todes, das die Mutter in den Händen hielt. Sie entscheidet nicht nur über die Blume sondern auch über den Lebensweg ihres Kindes. Der Augenblick des Abschneidens der Blume scheint störend, fatal in dem Leben der Erzählerin zu sein. Seitdem ist sie unglücklich. Sie leidet gleich wie die Lilie. Dieses Leiden steigert sich, als sie bei der Feierlichkeit des Umzuges in die Kirche tritt. Zur Verwunderung trägt außer ihr kein anderes Kind Blumen. Sie hat das Gefühl des Außenseiters, weil gleichaltrige Kinder lediglich über sie spotten. Die Lilie stellt somit schwer zu tragende Last dar. Deshalb bemüht sie sich die Blume wegzuschmeißen, um in die Gruppe eingliedern zu können. Aber sie hat keine nötige Kraft dazu. Sie denkt sowohl an die Lilie selbst wie auch an die mütterliche Liebe. Sie kämpft gegen solche Hemmungen, bis sie in der Hand etwas Totes hält, das sie fallen lässt. 46

„Ich kam zu mir. Lust, Qual und Bosheit fielen von mir ab. Ich war ernüchtert und begriff nicht mehr, was ich getan hatte.“ (DGR, S. 27)

Der Wunsch des leidenden Mädchens nach seiner Ablösung führt also zur Zerstörung der Lilie. Damit ruiniert es das Mutterbild und ebenso sich selbst. So viel Trauer lässt sich in den Sätzen der Erzählung spüren, dass der Lesefreund mitleiden muss sowie das Mädchen den Schmerz der Lilie mitfühlt. Die Anteilnahme entspringt einem tiefen Einklang von Mensch und Natur, die durch die Lilie repräsentiert wird. In der Erzählung spielt nicht nur die Natur eine wichtige Rolle, sondern auch der Traum. Das folgende Zitat spricht über die Verbindung des Mädchens mit der Natur durch einen von den Träumen:

45 Vgl. RÜSENBERG, Irmgard: Beispiegelungen des Selbst: Luise Rinsers Die gläsernen Ringe. S. 15. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 16.02.2014.) 46 Vgl. ebd. S. 16. 24

„ […] fremdes Wesen lag in der Luft. Um mich zu feien, schloss ich die Augen, und also blind schritt ich tiefer und tiefer in das Unbekannte hinein. Aber da nun meine Augen keine Gefahr zu sehen vermochten, lauerten meine Ohren um so schärfer auf jeden Laut. […] Nun hörte ich nicht mehr ein Geräusch, sondern einen Ton wie von einer Bratsche. Es war der Ton der Stille.“ (DGR, S. 49)

Das Gleichgewicht von Mensch und Natur wird plötzlich verloren und das Kind bekommt Angst vor dem Geheimen der Wildnis. Es hat ein zwiespältiges Gefühl. Im Weiteren wird die Aufmerksamkeit der Zwiespältigkeit gewidmet. In dem Kapitel Der fremde Knabe lässt sich die Dualität von Klarheit und Wildheit der Welt betrachten. Das klare Element wird durch die Welt eines kleinen Mädchens namens Therese und durch die IchErzählerin selbst repräsentiert und der wilde Bestandteil wird durch einen Jungen dargestellt. Auf einer Seite stehen also Ordnung des Gesetzes und auf der anderen Seite die Freiheiten des Waldes. Auf einem Spaziergang begegnet das Mädchen dem fremden Knaben, der zu einer Welt gehört, die es nicht kennt und die es nicht kennen darf. Er öffnet die Tür in diese neue Welt, die gefährlich erscheint. Er lernt das Kind zaubern. Die Erzählerin ist dagegen, weil sie es verboten hat. Zugleich sehnt sie sich nach der Freiheit, nach der wilden Welt des Waldes, wo kein Gesetz der Menschen herrscht. Sie protestiert gegen die typische Kinderwelt mit all ihren Spielzeugen.

„Ich sagte: ‚Puppen sind dumm. Ich spiele nicht mit solchen Sachen.‘ […] Ich griff nach der Puppe und drückte ihr die beiden Glasaugen ein. Ich weiß, dass ich nicht zerstören, sondern Therese zeigen wollte, dass ihr Spielzeug ein hohles, totes, wertloses Ding sei, das ich verachtete und das auch sie verschmähen sollte.“(DGR, S. 33)

Mit 8 Jahren trennt sie sich immer mehr von dieser Welt. Eines Tages versucht sie zu zaubern, um sich zur Welt der Wildheit anzunähern. Sie schließt die Freundschaft mit „einem scheuen Waldtier ähnlich“ (DGR, S. 55) aussehenden Mädchen, das den Namen Franziska trägt. Seine Seltsamkeit steckt in enger Verbindung mit der Natur. Es verkörpert das Geheime und Schwermütige des Waldes, in dem sie zusammenspielen. Die Erzählerin wird durch diese Freundschaft belastet, weil sie von Franziska die Stille und Ordnung des Waldes verletzen lernt. Sie fühlt sich völlig zerknirscht, weil sie ihrer Schuld bewusst ist. Zum ersten Mal geht sie zur Beichte, um ihre schwarze Seele von Sünden reinzuwaschen. Damit endet ein kurzes Kapitel ihrer Kindheit und mit der Begegnung des schönen Bauernmädchens Vicki beginnt ein neues. Vicki lebt in der Harmonie mit der Natur, aber im Vergleich zu Franziska gehört sie zum Hof.

25

„Sie belehrte und erzog mich; sie zeigte mir die andere Hälfte des Lebens, jene, wo das Tätige und Tüchtige, das sichtlich Zweckvolle, Offene, Gesicherte herrschte, eine hellere Hälfte als jene, die ich kannte, die voll von Ahnung, Geheimnis, Tränen und Zauber war. Ich glaubte, einen endgültigen Schlussstrich unter meine verträumte, verschleierte Vergangenheit gemacht zu haben. Mit allen Kräften ergriff ich die angebotene Gegenwart.“ (DGR, S. 73)

Man kann diese Situation begreifen als einen großen Schritt von der Kindheit zur Erwachsenheit. Das Mädchen tritt in die Welt der Erwachsenen durch die Erfahrungen hinein. Das scheinbare Glück hat aber keine Dauer. Es muss mit der Mutter die Stadt verlassen. Sie kehren heim, weil der Vater aus der Gefangenschaft nach Hause geht.

„Es schien mir unmöglich, hier zu leben. Da erinnerte ich mich meiner Fähigkeit zu zaubern.“ (DGR, S. 78)

Dieses Zitat verdeutlicht die Sehnsucht des heranwachsenden Mädchens danach, in seine Kindheit zurückzukehren. Die Stadt wird vom Krieg furchtbar verändert und heftiges Heimweh befällt das Mädchen. Es erinnert an Sankt Georgen, an das Kloster und sein Garten, die es als Orte seiner Kindheit wahrnimmt. Die Augen bleiben ihm nur für Weinen. Es bemüht sich darum, mit seinem Vater zu identifizieren, aber das kindliche Leiden lässt sich natürlich nicht mit dem Leiden des Kriegsgefangenen gleichsetzen.

„Ich fühlte mit ihm, ich ahnte, dass er an einem ähnlichen Leiden erkrankt sei wie ich selbst: auch er fand das Haus verwandelt, eingeschrumpft, verkrüppelt; vielleicht sah er auch mich und die Mutter wie hässliche kleine Spukgestalten. Ein brennendes Mitleid mit dem Vater, dem Fremdling, ergriff mich. Ich […] wollte ihm sagen, dass ich ihn verstehe, […] aber er ging an mir vorüber und bemerkte mich nicht. […] Für uns blieb er ein stiller kühler Gast, ein Schatten“ (DGR, S. 80 f.)

Die Wörter voller Trauer, die man aus diesem Zitat registrieren kann, geben der Geschichte einen melancholischen Ton bei. Die Figur des Vaters steht also, auch nach der Rückkehr in die Familie, nicht zur Verfügung. Immer mehr wächst die Auflehnung nicht nur gegen den Vater, sondern vielmehr gegen die Mutter. Das Mädchen leidet an Mangel von Liebe. Es fehlt ihm die familiäre Liebe sowie die Freunde. Keine von seinen Freundschaften dauert nämlich lang. Damit empfindet das Mädchen Schmerz und Qual. Durch den ganzen Text lässt sich so „eine besondere Aura der Einsamkeit“ 47 spüren. „Ihre relative Ungebundenheit wird dabei textimmanent mit einem ‚Gesetz des Wandels‘ verknüpft […].“48 Die These bezieht sich auf die Grundkonzeption der Erzählung, deren Schwerpunkt auf die Metamorphose liegt. Sie tut

47 Ebd. S. 13. 48 Ebd. 26 sich an mehreren Ebenen. Das Kind wird zu einem Erwachsenen entwickelt; der Schauplatz wird von einem Ort an eine andere gelegt; nicht zuletzt geht es um einen Wandel der Ansichten im Verlauf der Kinderjahre. In die Szene wird noch die Figur des Großvaters gesetzt, die als einzige Person auftritt, bei der die Protagonistin das erwünschte Verständnis findet. Ebenso wie mit den vorherigen Freundschaften doch auch mit dieser liebevollen Beziehung wird sehr schnell Schluss gemacht. Der Großvater stirbt und das Leiden der Protagonistin geht weiter. Nur ist es zunehmend unverträglich. Sie wird in ein Mädchenpensionat geschickt. Hier muss sie nach dem Gesetz der Ordnung leben, was zu ihrer Zerrissenheit von Trauer und Sehnsucht nach der Freiheit führt. Bis der Lehrerin gelingt es, in ihr das glückliche Gefühl und Interesse für das Wissen zu erwecken:

„ ‚Was wir sind, ist nichts; was wir suchen, ist alles.‘ […] Sie griff in mein Herz; sie gab meiner Sehnsucht das Wort; […]“ (DGR, S. 103 f.)

In der Schule findet das träumerische Mädchen eine neue Freundin Cornelia. Es erzählt ihr von seinem Großvater und dem Zauberstein, der ihm der Großvater vor dem Tod geschenkt hat. Dieser Stein stellt einen Götzen dar, der als Symbol des Buddhismus gilt. Es herrscht gegenseitiges Vertrauen zwischen den Freundinnen, dessen Beweis auch folgendes Zitat ist. Das Mädchen spricht zu Cornelia: „Du bist die einzige, die nicht gähnen wird, wenn ich ihr erzähle, was ich träume.“ (DGR, S. 108) Sie bilden sogar ein imaginäres Land, das von ihnen Erinna genannt und wie „eine Göttin des Waldes“ (DGR, S. 123) geziert wird. Sie öffnet ihnen ein Raum, wo sie zusammen träumen können. Sie diskutieren unter anderem über Gott. Cornelia spricht ein Zitat aus dem Hyperion von Hölderlin:

„ ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt; ein Bettler, wenn er nachdenkt, und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da wie ein missratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß…“ (DGR, S. 109)

Nach und nach nähert sich die Kinderzeit der Protagonistin zum Ende. Sie ist der Meinung, dass nur Kinder träumen und dass sie „kein Kind mehr ist, weil sie schon viel zuviel weiß.“(Vgl. DGR, S. 113). Sie polemisiert mit einem Fremden über Kindheit und Erwachsenheit sowie über die Grenzen dazwischen. Sie wünscht älter zu sein, weil sie ebenso im Alter die Erwachsenheit sieht. Sie denkt blind, dass der Erwachsene machen kann, was er will. Sie meint, dass er unter keine Gesetze steht und einfach dass er frei ist. Dagegen spricht der Fremde, dass das Alter daran nichts ändert und dass man nie so ist, wie man sein will, und dass man nie das bekommt, was man sich wünscht. (Vgl. DGR, S. 131)

27

Die Protagonistin stellt fest, dass ihr Weg entschieden war – durch die Apathie von liebenden Menschen an ihrem Heranwachsen und dadurch, dass man als Kind nicht recht weiß, was man tut. Sie beginnt bewusstzuwerden, dass diese Tatsachen das Schicksal des Menschen beeinflussen. Als sie sich nach den Jahren an die Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, wird der Abschied von Kindsein unabwendbar. Sie wandelt wieder durch den Klostergarten und trübt das stille Wasser mit einem kleinen Stein. Damit hat sie das magische Spiel wieder entfesselt. Als Erwachsene sieht sie auf dem Spiegel „nicht das wirre dunkle Leiden der Kreatur, sondern das scharfe klare Gesetz des Geistes“ (DGR, S. 160), das für die Bestimmung ihres Lebens ausschlaggebend werden kann.

4.3. Jan Lobel aus Warschau

Die Erzählung Jan Lobel aus Warschau 49 wurde erst 1948 im Zusammenhang mit der unmittelbaren Nachkriegszeit geschrieben und in der Neuen Rundschau veröffentlicht.50 Sie gehört zu dem Besten, was Luise Rinser geschrieben hat. Mit den Worten des deutschen Schriftstellers Carl Zuckmayers:

„Die stärkste Prosadichtung, die ich überhaupt seit Kriegsende aus Deutschland in die Hand bekam.“ (JLaW, Buchumschlag)

Das Buch handelt von einem Juden, der als Flüchtling in einer Gärtnerei versteckt wird. Seinetwegen entstehen viele Probleme zwischen Menschen im Haus, denn er bringt sie in höchste Gefahr. Dem Leser werden die Judenproblematik und die Not der Menschen in der Zeit des Übergangs nahegelegt. Damit hat der Autorin gelungen, ein tabuisierendes Thema des Holocausts für die Öffentlichkeit zu eröffnen. „Die ShoaGeschichte [sic]“ 51 vertiefte sogar die Freundschaft mit Hermann Hesse, mit dem die Schriftstellerin derzeit in Briefwechsel gestanden ist. Noch heute wird sie als ein Meisterwerk der deutschen Nachkriegsliteratur angesehen, vor allem wegen Rinsers gewaltiger Darstellungskraft.

49 Als Abkürzung für – RINSER, Luise: Jan Lobel aus Warschau. Erzählung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1981. – wird „JLaW“ benutzt. 50 Vgl. DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 238. 51 KUSCHEL, KarlJosef: Mystik und Politik: Wandlungen einer Schriftstellerin. Zum 100. Geburtstag von Luise Rinser. S. 4. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 01.04.2014). 28

4.3.1. Inhaltsangabe

Luise Rinser schildert in ihrem Buch Jan Lobel aus Warschau die tragische Geschichte, die sich am Ende des Zweiten Weltkrieges abspielt. Wie bereits der Titel andeutet, steht im Zentrum der Handlung die Figur Jan Lobel, der aus Warschau kommt. Es geht um einen Juden, der auf der Flucht aus einem Konzentrationslager ist. In armem Zustand hilft ihm Frau Olenski. Sie versteckt ihn in ihrem Haus, wo er Liebe zu ihrer Tochter Julia findet. Über dieses Geheimnis erfährt eine Malerin, die zugleich diese Geschichte erzählt. In Frau Olenskis Gärtnerei, wo sie arbeitet, bringt die Anwesenheit des polnischen Juden Spannung. Die Menschen reagieren empörend. Als Herr Olenski aus dem Krieg wieder nach Hause zurückkommt, merkte Jan Hass in den Augen des alten Deutschen. Er fühlt sich heimatlos. Deshalb geht er weg, dort, wo viele andere Juden sind. Nach Palästina. Aber seine Suche nach der Heimat endet mit dem Tod.

4.3.2. Textinterpretation

Im Folgenden wird die Interpretationshypothese des Erzähltextes formuliert. Die nachstehenden Fragestellungen liefern ein Grundgerüst der eigenen Textinterpretation: Welche Rolle spielt der Traum in der Erzählung? Welches Weltbild wird aus der literarischen Darstellung ableitbar? Kann die Komplikation, die in der erzählten Handlung eröffnet wird, mit einem Erlebnis der Autorin identifizierbar sein? Welcher Art ist die Störung und wie wird sie beseitigt? Warum ist es eigentlich zu den Komplikationshandlungen gekommen? Woran lässt sich die Spannung zwischen den Menschen erkennen?

Bevor die Erzählung Jan Lobel aus Warschau veröffentlicht wurde, war die Schriftstellerin in Gefängnis. Diese Tatsache, dass sie sich selbst in Gefangenschaft befand und so das ganze Leid des Zweiten Weltkrieges unmittelbar selbst erfahren musste, kann eine bedeutende Rolle beim Verständnis des Werkes spielen. Ihre Erinnerungen spiegeln sich in den Beschreibungen der Gefühle der Dorfbewohner sowie in ihrem Leben voller Angst und Verwirrtheit. Im Grunde handelt es sich um eine klassische Novelle, die aus kleinen Abschnitten besteht und „dem toten Freunde Frederick H. Fernbrook“ (JLaW, S. 5) gewidmet ist. Es ist in einem Leseakt lesbar, also nicht zu lang und in Vergangenheitsform geschrieben. Erzählt wird die Geschichte aus der IchPerspektive. Die namenlose Erzählerin ist mit einer Nebenfigur der

29

Erzählung identisch, d.h. sie tritt in die Handlung ein. Es geht um die Malerin, die am Anfang des Buches die Arbeit beim Bürgermeister des Dorfes sucht. Der schickt sie in die Gärtnerei, die Frau Olenski besitzt, um dort in dem Garten zu helfen. Die Malerin beginnt dort zu arbeiten, weil Herr Olenski kriegsbedingt abwesend ist und deswegen braucht die Familie Olenski eine nützliche Gehilfe. Sie haben schon einen Mitarbeiter, „den verdrossenen Burschen mit den traurigen Tieraugen“ (JLaW, S. 13), der Franz heißt. Den Garten pflegen außer ihm und Frau Olenski noch ihre Tochter Julia und ihr Sohn Thomas, der – wie man in der Einleitung des Buches erfährt – aus dem vom Krieg zerstörten Internat nach Hause kommt. Im Frühling vermietet Frau Olenski der Malerin ein Zimmer in ihrem Haus. Sie lernt Frau Olenskis Schwiegermutter kennen, „eine halbgelähmte, eisgraue Frau mit schweren Tränensäcken unter den verschleierten Eulenaugen“ (JLaW, S. 14). Eines Nachts tritt ein unerwarteter Gast ins Leben der Familie Olenski ein.

„Und dann kam jene Nacht, die alles im Haus veränderte. Es war Vollmond, eine helle, vom fauchenden Wind zerwühlte Nacht. […] Auf der Straße hinter der Gärtnerei bewegte sich ein Zug von Menschen. Sie schoben sich in unordentlichen Viererreihen langsam und mühsam vorwärts wie eine Herde von erschöpften Tieren. […] Plötzlich fiel ein Schuß, ein zweiter, dritter. Ein wildes Scharfschießen begann und war gleich wieder zu Ende.“ (JLaW, S. 15 f.)

In dieser Nacht transportiert der Zug die jüdischen Häftlinge, um in einem Konzentrationslager untergebracht zu werden. Plötzlich hört man Schüsse durch den nahegelegten Wald hallen. Es gelingt nämlich einem der Gefangenen, aus dem Zug zu entfliehen. Es geht um den verhungerten und verstörten Juden, dem die Frau Olenski hilft.

„Endlich kam Frau Olenski zurück, mit ihr ein großer, magerer Mann, an sie gelehnt wie ein dünner, abgeknickter Baum. Sie ging langsam mit ihm, Schritt für Schritt, als müsste sie ihn wie eine Holzfigur vor sich herschieben.“ (JLaW, S. 16 f.)

Die Autorin setzt den Mann mit einem abgeknickten Baum und mit einer Holzfigur gleich. Damit geht sie spielerisch mit jeweiliger Situation um. Sie braucht keine komplizierten Konstruktionen, um gefühlvolle Atmosphäre des Erzähltextes zu schaffen und um die traurige Hitlerzeit dem Leser anzunähern. Durch die Augen der Malerin erfährt der Leser über das ganze Geschehen, an dem sie beteiligt ist. Hiermit gelingt es der Autorin, ein Identitätsgefühl mit der Erzählerin beim Leser zu wecken. Mit der Darstellung des entsetzlichen Ereignisses der Kriegszeit, des Antisemitismus, wird die Vergangenheit konfrontiert. Es scheint als plausibel anzunehmen, dass die Autorin

30 selbst mit ihr fertig zu werden versucht. Sie thematisiert das Judenproblem, wobei der Schwerpunkt der Flüchtlingsgeschichte in der Menschlichkeit liegt. Die Ideale der Humanität repräsentiert eben Frau Olenski, die dem polnischen Juden eine Zuflucht gibt. Sie versteckt ihn geheim in ihrem Haus, wo so viel Stille wie bei der Arbeit im Garten herrscht.

„Oft war es so still während der Arbeit, dass wir die Wellen an den Strand schlagen hörten. […] Das Haus war nun voller Menschen, aber man hörte sie kaum. […] Sie sprachen nichts und aßen, als wäre jeder ganz für sich allein.“ (JLaW, S. 14 f.)

Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen. Zum einen geschieht alles in den letzten Wochen des zweiten Weltkrieges und kurz danach. Das bedeutet, dass die Menschen von Trauer und Schrecken der Zeit schweigsam sind. Sie haben keine Lust mehr sich zu unterhalten, als ob sie es schon verlernt hätten. Zum anderen benehmen sie sich nüchtern, weil sie mit der Zeit ein Geheimnis haben. Sie verstecken den Juden und wollen ihn nicht verraten. Sie haben Angst vor schwerer Strafe. Zu solchen Menschen gehört außer anderen die Frau Olenski selbst.

„Ihre Stimme war freundlich, aber ihre schmalen Augen sahen an mir vorbei, als wäre sie allein auf der Welt.“ (JLaW, S. 11)

Die Einzige, die sich die Stille zu unterbrechen bemüht, ist die schöne Julia. Sie singt Lieder, die „das ganze Haus von einer schwer erklärbaren Unruhe befallen“ (JLaW, S. 15). Es liegt nahe, zu vermuten, dass jedes außergewöhnliche Stören die Befürchtung von der Entdeckung des Juden in den Bewohnern des Hauses erweckt.

„An diesem Abend sang Julia lauter und länger als sonst, brach aber plötzlich mitten in einem Lied ab, und das Haus versank unvermittelt tief in der Stille.“ (JLaW, S. 21)

Als Erste erfährt Frau Olenskis Geheimnis bereits ihre Tochter Julia. Die Gärtnersfrau möchte die Anderen von der Belastung des Geheimnisses schonen, aber Julia geht in das Zimmer, in dem ihre Mutter den Juden versteckt. Sie will ihr Geheimnis nicht nur für sie haben, deshalb kommt sie eines Abends in das Zimmer der Erzählerin, um ihr darüber zu sprechen. Sie redet „unaufhaltsam, manchmal so leise, dass die Erzählerin sie kaum mehr hören könnte, hartnäckig besessen von dem Bedürfnis, sich ihr verständlich zu machen und sich selber zu verstehen“(Vgl. JLaW, S. 21). Sie beschreibt ihr das Gespräch mit dem verletzten Juden, den sie mit einem „Vogel mit einem langen Hals und einem Schnabel“(JLaW, S. 22) vergleicht. Man könnte anhand des Buches behaupten, dass Julia es für nötig hält, sich mit dem Juden auseinanderzusetzen. Das folgende Zitat kann dies verdeutlichen.

31

„Da hab ich […] gefragt, was er sich denn dabei denkt, einfach uns allen den Tod an den Hals zu locken. Und da, da hat er gelächelt. Nichts als gelächelt. […] Er hat gesagt: Ich kenne Sie. Jeden Abend haben Sie gesungen. Den ganzen Tag habe ich gewartet auf Ihr Singen. Ihre Stimme ist die einer wilden Taube.“(JLaW, S. 22 f.)

Aus den Parallelen „Vogel“ und „Taube“ wird deutlich, dass zwischen Jan und Julia eine heftige Liebesbeziehung entwickelt. Es wird vermutet, dass beide Symbole die Seelen der Protagonisten verkörpern. Jan wird wie ein Vogel in einem Käfig eingesperrt, d. h. in dem Zimmer des Olenskis Hauses versteckt. Der lange Hals und der Schnabel des Vogels kann dabei das Verhungern bedeuten. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Autorin mit dem Sinnbild des Vogels die eingeschränkte Freiheit in Jans Leben und in seiner Seele zeigen will. Bei Julia geht es um Vergleich zur Taube. Möglicherweise ist sie hier ein Symbol für unschuldige Liebe und jungfräuliche Kopflosigkeit. In der christlichen Symbolik gilt die Taube auch als Sinnbild des heiligen Geistes. 52 Zunächst kommt in der wilden Taube ihre Stimme zum Ausdruck und fungiert als Kennzeichen für Friedenfertigkeit.

„Als ich ihn damals sah, da unten im Garten, da hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl. […] Gibt es das, dass man etwas tun muss, was man nicht will?“(JLaW, S. 24 f.)

Das Gefühl, dass man etwas nicht beeinflussen kann und dass sich etwas ohne menschliches Zutun ereignet, benennt die Erzählerin Schicksal. Sie muss einfach die Dinge laufen lassen, wie sie wollen. Darüber hinaus ergibt sich, dass ihrer Meinung nach eine höhere Macht ihr Leben verwickelt. Julia bekennt dabei, dass sie bei allen Umständen bei ihm stehen wird. Sie fühlt sich „wie in einem grauen, triefenden Fischnetz gefangen“ (JLaW, S. 29). Nicht nur sie ist unerträglich müde. Alle sehnen sich nach dem Kriegsende. Eines Tages noch bevor der Krieg vorbei werde, geschieht etwas Unerwartetes. Auf den Straßen herrscht Lärm, weil Kampftruppen durch die Stadt marschieren. Die Gärtnerin bekommt Angst vor Plünderer. Um ihn zu überwinden, lächelt sie und macht sie keine schwarzen Gedanken. In diesem Moment zeigt sich die unbewusste Seite des Menschen, als Julia instinktiv handelt. Die Autorin schreibt, dass Julia „einen Schatten wie ein Wolf warf“ (JLaW, S. 30). Der Wolf symbolisiert das Wilde, was man oft verdrängt. Der Schatten bedeutet dabei das Spiegelbild der Seele. Auch in Olenskis Tochter entbrennen solche innere Kämpfe mit dem Trieb. Konkret im Text stellt das Symbol des Wolfes eine Gefahr dar, dass das Mädchen sich selbst zum Feind des Volkes machen kann, weil sie dem Juden hilft. Sie rudert ihn über den See. Darüber erfährt Franz, der auch in Julia verliebt ist. Die Autorin

52 Vgl. HERLOßSOHN, Carl: Damen Conversations Lexikon. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 12.03.2014). 32 beschreibt die Situation mit den Worten: „Er rührte sich nicht und saß da wie ein Nachtmahr.“ (JLaW, S. 32) Seine Liebe zu Julia bleibt unerfüllt.

„Am ersten Mai hängten wir die weiße Fahne heraus, […] war der Krieg für uns vorüber.“ (JLaW, S. 38)

Als der Krieg vorbei ist, will Julia den Juden von seinem Unterschlupf holen, aber er ist schon nicht dort. Er kommt wieder nach einer Zeit zur Familie Olenski als Gast zurück. Die Anwesenheit des jungen Polen in der Gärtnerei wird nicht lange geheimgehalten. Die Bewohner des Dorfes hegen viele Vorurteile gegen ihn als den Juden. Zu solchen gehört auch Franz, der ihn niemals gern hatte. Trotzdem schließt er Freundschaften mit dem jungen Thomas sowie mit Frau Olenskis Schwiegermutter. Von Gesprächen mit ihnen erfährt der Leser mehr über ihm. Beispielsweise, dass er eine Frau hatte, die in einem Konzentrationslager gestorben war. Oder dass er Gedichte und Geschichten gern schreibt. Die Gärtnersfrau sagt zu ihm: „Jan, es ist doch alles vorbei. Sie sind ein freier Mann, Jan.“ (JLaW, S. 49). Ist aber Jan ein freier Mann? Einerseits ist der Krieg schon fort, andererseits gibt es immer Vorurteile gegen die jüdische Bevölkerung. Er sieht ihre Judenverachtenden Mienen, er hört ihre zutiefst entwürdigenden Wörter, er spürt, dass er ohne Heimat ist.

„Der Alte rief zornig: ‚Du willst vom Hasen das Fell auch noch fressen, ja?‘ Ich erwartete, dass Jan lachen würde über dieses Bild, aber er rief erregt, so wie ich ihn nie zuvor gehört hatte: ‚Warum sitzen Sie da und quälen mich Tag für Tag?‘ ‚Dummkopf‘, rief die Alte. ‚Kein Sommer dauert länger als bis zum Herbst. Steck du nur deinen Kopf in den Sand.‘ “ (JLaW, S. 57 f.)

Einfach gesagt, sind die Menschen auch nach dem Krieg noch immer gegen den Juden. Julia will es nicht heranlassen, dass die Menschen ihn wegen seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Volk so schlecht behandeln. Sie sagt immer entschuldigend, dass er nur „nervös nach all dem Erlebten ist“ (Vgl. JLaW, S. 59). Nach und nach wachsen aber in ihren Augen Befürchtungen, während in Jan Hass gegen die Deutschen an Intensität gewinnt. Betrachtet man das Ganze wie in allen Einzelheiten genauer, sind die Reaktionen der Deutschen also mannigfaltig. Einige hassen ihn, andere beweisen ihm doch Zuneigung. Daran anschließend lässt sich der Zwiespalt in antisemitischen Motiven und in der Humanität und Menschlichkeit sehen. Auf der Seite des christlichen Humanismus steht außer Julia und der Frau des Hauses auch Thomas, der den Juden zu verstehen versucht und ihn nicht verlieren will. Alle drei werden deswegen eine Zielscheibe des Spottes der Dorfbewohner. Das folgende Zitat kann dies konkretisieren.

33

„Die Burschen im Ort lauern mir jedes Mal auf. Sie wollen uns die Fenster einwerfen. Sie haben schon mit Dreck nach mir geworfen. Heut haben sie einen Hund auf mich gehetzt. ‚Fass die…‘, nein, ich kann’s nicht sagen, was sie geschrien haben. Er hat mir den Rock zerrissen. Die ganze Straße hat gelacht. Ich bin gelaufen und gelaufen. Ich muß fort.“ (JLaW, S. 68)

Das Beispiel illustriert das unangenehme Erlebnis Julias. Trotzdem dass sie keine Jüdin ist, wird sie von der deutschen Bevölkerung verurteilt. Sogar bekommt die Familie ein Brief ohne Namensnennung, dass sie das Dorf verlassen sollen. Kurz darauf kommt Herr Olenski heim. Der erzählte Text erweist die patriarchalische Gesellschaft, d.h. die Figur des Herrn Olenskis stellt die Autorität bzw. das Haupt der ganzen Familie dar. Er ist nicht begeistert, als er den Juden in seinem Garten, in seinem Haus sieht. Er verletzt ihn mit seinen feindlichen Wörtern. Jan bemerkt es schnell und geht fort. Die Großmutter reagiert darauf mit den Wörtern: „So einer kommt und geht.“(JLaW, S. 83). Ganz ruhig und würdevoll konstatiert sie sein Fortgang, als ob sie eine Prophetin wäre. Julia und Thomas vermissen ihn sehr. Die Erzählerin bemüht sich die traurige Julia mit einer Parabel zu belustigen:

„Einmal habe ich eine Katze gehabt, und sie war eines Abends verschwunden. Ich hab sie gesucht und gesucht, aber ich habe es von Anfang an gewusst, dass ich sie nicht mehr finden würde. Ich hab sie gefunden, aber sie war tot.“ (JLaW, S. 82)

An diesem Gleichnis lässt sich bereits zeigen, dass sich Julia mit der Tatsache, dass sie den Juden nicht mehr sehen wird, ausgleichen soll. Manchmal ist es einfach besser: wenn man die Sachen nimmt, wie sie sind; wenn man sich ins Leben der anderen nicht einmischt, um sein Schicksal ändern zu versuchen; wenn man den Mut verliert, um die Wahrheit zu wissen oder einfach sie lediglich nicht hören will. In einigen Fällen erscheint sinnvollerweise die traurige Wahrheit nicht zu sagen als jemandem dadurch das Leiden zu verursachen. Die Erzählerin gibt dem Mädchen damit „ein starkes Gefühl der Erleichterung“ (JLaW, S. 82). Denn die Erzählerin verliert den Mut bei der Familie Olenski zu bleiben, geht auch fort. Nach einem Jahr kommt sie zurück, um die Familie zu besuchen. Von Julia, die „noch schöner geworden war, aber derer Augen tiefe Schatten haben“ (Vgl. JLaW, S. 87), erfährt die Malerin über den Tod des armen Juden. Anhand des Briefes wird es bestätigt.

„[…] Jan Lobel aus Warschau im August bei dem Versuch, sich illegal nach Palästina einzuschiffen, ertrunken ist.“ (JLaW, S. 88)

Seine Suche nach der Heimat ist begraben. Niemand kann ihn jetzt verjagen. Allerdings, jeder Mensch will irgendwohin gehören, eine Gewissheit haben. Jeder sehnt sich nach dem Gefühl der Sicherheit und er findet es mit seinem Umkommen.

34

Im Abschluss des Buches wird die ursprüngliche Intention der Autorin gezeigt, dass die Juden auch nur Menschen sind und dass sie gleiches Behandeln wie die anderen verdienen. Jeder Mensch soll seine Heimat irgendwohin haben.

„[…] ich weine über alle Heimatlosen.“ (JLaW, S. 88 f.)

Die Brillanz des zärtlichen Werkes steckt in der meisterhaften Verarbeitung des tabuisierenden Themas dahinter. Das Schicksal des jüdischen Flüchtlings stellt die Autorin mit leisen Tönen dar. Der Leser erlebt die Geschichte ruhig, ohne hochtrabende Verzierungen. Er spürt ihre Ruhe und zugleich ihre großartige Aussagekraft.

4.4. Vergleich der Erzählungen

Obwohl zwischen den beiden Erzählungen ein Abstand von sieben Jahren ist, ähneln sie einander. Im Folgenden sollen aber nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch einige Unterschiede behandelt werden. Erstens muss man auf Struktur hinweisen. Es handelt sich um Bücher des kürzeren Umfangs, die in die frühe Schaffensphase Rinsers gehören. Man kann sehen, dass die erste der Erzählungen in zwölf Kapitel gegliedert ist, während die später geschriebene Erzählung ohne Gliederung bleibt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass beide aus der Ich Perspektive geschildert sind, wobei auch in beiden Fällen eine namenlose Erzählerin vortritt. Während im ersten Buch stellt sie zugleich die Hauptgestalt, figuriert die IchErzählerin in der Geschichte Jan Lobel aus Warschau nur als die Nebenprotagonistin. Zweitens wird die Aufmerksamkeit auf die Sprache gerichtet. Die Autorin benutzt keine komplizierten Sätze. Sogar hat sie der deutsche Schriftsteller als „gärtnerische Sprache“ 53 gekennzeichnet. Darunter wird jene Sprache verstanden, die als ein Spaziergang durch den Garten wirkt. Ihre Sprache ist also hiermit „ruhig“ und leicht verständlich. In diesem Zusammenhang muss man konstatieren, dass die Dichterin viele Symbole in beiden Werken verwendete. Es erscheint neben dem angeführten Symbol des Gartens auch viele andere, die in einer engen Zusammenhang mit Natur stehen. Beispielsweise geht es um die Symbole: Baum, Lilie, Stein, Vogel oder Taube. Außerdem spielen auch der Traum und das Erlebnis sehr große Rolle.

53 HOMANN, Ursula: Wer war Luise Rinser? [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 04.04.2014). 35

Was das Thema der Erzählungen betrifft, beide verarbeiten mehr oder weniger Kriegserfahrungen der Autorin. Im ersten Buch erwähnt sie den Krieg an verschieden Stellen, wobei sie den ersten Weltkrieg berührt. Trotzdem kann man den Krieg in keinem Fall für Thema der ersten Erzählung halten. Als Gegenstand dieser Darstellung gelten hingegen eindeutig die Kindheitserinnerungen. Im Vergleich dazu dient die Flüchtlingsgeschichte, die den Krieg thematisiert. In diesem Fall handelt es sich um den zweiten Weltkrieg und auch die Nachkriegszeit, als sich die Juden heimatlos fühlten. Im Vordergrund dieser Erzählung steht also die Judenproblematik.

5. Nina-Romane

Das vorliegende Kapitel wird dem doppelten Entwicklungsroman unter dem Titel Nina 54 gewidmet. Er besteht eigentlich aus zwei selbstständigen Werken Mitte des Lebens und Abenteuer der Tugend , die zusammen aufgrund der gemeinsamen Hauptfigur Nina eine Einheit bilden. Sie legen nicht gleichmäßig zwei Etappen des Lebens dar, sondern schildern den Entwicklungsweg der Titelgestalt, wobei die Aufmerksamkeit auf die innere Änderung der Protagonistin gerichtet ist. NinaRomane sind auf einem Perspektivwechsel gegründet. Während der erste Roman aus den drei Darstellungsperspektiven, d.h. aus Briefen, Gesprächen und Tagebuchsaufzeichnungen besteht, bildet ausschließlich Ninas Briefwechsel mit einem Freund das Grundgerüst des zweiten Teils. Die Autorin Luise Rinser hat sich mit solchen Themen auseinandergesetzt, wie das Verhältnis von Frau und Mann oder „die Orientierungslosigkeit der Frauen in der Nachkriegszeit.“ 55 Der erste Teil von diesem Band stellt das im 1950 veröffentlichte Buch Mitte des Lebens dar, das als Meisterwerk der Nachkriegsliteratur gilt. Im Vergleich dazu erzielte die Autorin mit dem um sieben Jahre später geschriebenen zweiten NinaRoman Abenteuer der Tugend keinen Welterfolg. Er wurde nämlich ausschließlich von Briefen Ninas an verschiedene Personen hergestellt, was aber nicht ermöglicht, den Standpunkt der Schriftstellerin auch aus der anderen Seite der Darstellung zu entnehmen. Nach der Lektüre bekommt man so in die Lage, dass er noch ein Buch wünscht, die umgekehrt von Briefen der

54 Ich zitiere im Folgenden nach – RINSER, Luise: Nina. Zwei Romane. Stuttgart: Evangelische Buchgemeinde, 1957. Als Abkürzung dafür wird „N“ benutzt. 55 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 260. 36

Adressaten bestanden würde. Dies hat seinen Grund darin, dass der Folgeroman wegen seiner komplizierten Darstellungsweise zu ihren weniggelesenen Werken gehört.

5.1. Zur Entstehung der Nina-Romane

José Sánchez de Murillo schreibt in seiner Biographie, dass die Schriftstellerin keinen konventionellen Roman sondern etwas ganz Neues schaffen wollte, und zwar einen zerrissenen Roman, der den Zeitgeist widerspiegelt.56 Doch stieß sie auf verschiedene Probleme dabei. Erstens schrieb sie in der chaotischen Zeit Nachkriegsdeutschlands, als die Städte vom Krieg zerstört wurden. Zweitens hatte sie damals schon zwei Söhne, um die sie sich allein kümmerte. Deswegen musste sie die Buchrezensionen für die Neue Zeitung in München schreiben, um das Geld zu verdienen. Dann erst nach der Arbeit konnte sie an ihrem Meisterwerk arbeiten. Drittens erschwerten eben die Söhne ihre Arbeit darauf. In ihrem zweiten Teil der Autobiographie Saturn auf der Sonne schrieb sie:

„[…] das uralte Problem der Brüder, von denen der eine das unverdiente Privileg hatte, eben der Erstgeborene, der Ältere zu sein, während der Zweitgeborene sich als unterprivilegiert fühlte, auch wenn es faktisch nicht stimmte.“ 57

Ihr Biograph Murillo führt in seinem Buch an, dass es doch stimmt und dass Luise Rinser es noch immer nicht sehen konnte oder sogar wollte. Der jüngere Stephan fühlte sich abgelehnt, weil die Mutter augenfällig zu seinem Bruder Christoph mehr aufschaute und keinen Mut hatte, ihm von seinem Vater zu erzählen. 58 Nicht zuletzt ist sie noch in Schwierigkeiten geraten, als sie mit einem verheirateten Mann kurze Liebesaffäre hatte. Er war nämlich mit ihrem Verleger Peter Suhrkamp befreundet, deshalb musste sie einen anderen Verleger finden. Schließlich schickte sie das Manuskript an den Fischer Verlag und in 1950 erscheint es unter dem Titel Mitte des Lebens . Der Roman wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Beispielsweise regte seine französische Ausgabe die Autorin an, in Paris länger zu bleiben. Diese Entscheidung hatte einen bedeutenden Einfluss auf ihr Spätwerk. Zwischen zwei NinaRomanen gibt es eine Zeitspanne von sieben Jahren. Dazwischen schrieb sie viel mehr als nur ein Buch. Sie veröffentlichte u. a. Romane Daniela (1953) und

56 Vgl. ebd. S. 248. 57 Ebd. S. 259. 58 „Wer sein Vater ist, wird vermutlich für immer verborgen bleiben.“ Luise Rinser wollte nicht dem Biographen die Identität des Mannes preisgeben, um einen vielleicht bekannten Braunschweiger Chirurgen zu schützen. Vgl. ebd. S. 162. 37

Der Sündenbock (1954). In dieser Zeit lebte Luise Rinser in der dritten Ehe mit dem Komponisten Carl Orff. Nach den Worten von Murillo heiratete sie „das Genie und seine phantastische Welt.“59

„Die Geschichte meiner Ehe mit Carl Orff begann mit einer Lüge und erstrickte in einem Dornengestrüpp von Lügen. […] Er log, ohne zu wissen, dass er log. Er bildete sich dies oder jenes ein, und dann war es eben so. Oft waren seine Lügen einfach Scherze, lustige, aber so suggestiv vorgebracht, dass man ihm das Unglaubliche glatt abnahm. Ich fiel häufig darauf herein, bis er teuflisch lachte.“ 60

Die Schriftstellerin sieht den Grund des fortgesetzten Truges im Dasein des Komponisten. Sein Verhalten mutet sie seinem Künstlerleben zu. In dem Zusammenhang mit Nina Romanen stellt er einen Menschen dar, der „in der Mitte“ 61 steht, d.h. er lebt wie ein Gott, obwohl er nur ein Mensch ist. Er ist intelligent, trotzdem macht er Fehler, wie die Lügen eindeutig sind. Die Autorin entfernt sich von ihm immer mehr und fühlt sich einsam. Das Gefühl der Beruhigung findet sie im Schreiben.

„Ihre ganze Literatur ist Flucht vor der Urwelt, in deren Mitte Orff lebt.“ 62

Mit der Urwelt ist im vorherigen Zitat Orffs Welt gemeint, die an Mangel des Guten leidet. Es handelt sich tatsächlich um die von der Kindheit geprägte Welt, die mit der Rinsers Welt sehr ähnlich ist. Beide wurden nämlich streng katholisch erzogen. Bei Orff herrschte die Dämonenwelt des strengen Katholizismus, der durch teuflischen Gott repräsentiert wurde. Man denkt damit Urmächte, die der Mensch erleidet, aber nicht kennt,63 was lässt sich in Form von Lügen sehen. Die Autorin verarbeitet die problematische Ehe mit dem musikalischen Genie in dem zweiten NinaTeil Abenteuer der Tugend vom Jahr 1957. Sie spricht hier über die Komplexität der Künstlernatur, wobei es wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass nicht nur Carl Orff musikalisch begabt war, sondern auch ihr erster Mann Horst Günther Schnell berühmter Musiker war, der als Pianist und Dirigent im Beruf gestanden war. Als Zufluchtsort von der Orff’schen Welt diente der Autorin die Kirche. Aus diesem Milieu kommt Dr. Hoeck, Abt von Ettal, in den war sie verliebt. In dem zweiten Roman finden sich auch die Briefe, die durch A.M. gekennzeichnet sind. Murillo führt an, dass die

59 Ebd. S. 270. 60 Ebd. S. 264 ff. 61 Ebd. S. 268. 62 Ebd. S. 269. 63 Vgl. ebd. 38

Initialen „Mein Abt“ 64 bedeuten. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Autorin dadurch die reale Person des Abtes von Ettal bezeichnete. Wie sehr die vorher beschriebene Zusammenhänge behandelt Luise Rinser in ihrem Werk, wird weiter in Betracht gezogen.

5.2. Mitte des Lebens

Der erste NinaRoman aus dem Jahr 1950 wurde unter dem Titel Mitte des Lebens zum Weltbestseller, in dem Luise Rinser aus der Sicht der alleinstehenden, selbstständigen Frau das Bild einer scheinheiligen und selbstgefälligen Gesellschaft zeichnet. 65 Sie beschäftigt sich mit wesentlichen Fragen des Daseins wie die Suche nach dem Lebenssinn oder das Verhältnis FrauMann. Damit deutet sie auf die Dualität des Menschen bzw. das Weibliche und das Männliche. Diese existenziellen Widersprüche spiegeln ihre eigenen ungelösten Lebensprobleme ab, vor allem ihre Liebesbeziehungen. „Der Roman verdichtet die spannungsreiche Lebensgeschichte der Autorin“,66 wobei sie sich mit der Hauptprotagonistin Nina identifizieren lässt. Sie schildert Ninas Lebensweg in der chaotischen Zeit Nachkriegsdeutschlands, also die Geschichte solcher Zerrissenheit sowohl der Hauptfigur Nina als auch der Autorin selbst. Berücksichtigt man diesen Aspekt, so wird es deutlich, dass es um den autobiographisch gefärbten Roman geht. Die Autorin befasst sich mit dem zentralen Motiv der Widersprüchlichkeit, das sich nicht nur in der Dualität von Mann und Frau, sondern auch in den Gegensätzen von Leben und Geist sowie von Liebe und Verzicht entwickelt. Durch die kontrastive Darstellung der Schwestern sowie durch die Gegensätzlichkeit der Protagonistin selbst ermöglicht sie vielen Leserinnen mit ihr emotional gleichzusetzen und ihre Motive und Ideale in das eigene Ich zu übernehmen. Damit gelingt es der Autorin, die Frage der Emanzipation zu eröffnen und das Buch zu den ersten feministischen Werken zählen zu können. Mit anderen Worten: Luise Rinser machte mit ihrem Meisterwerk den literarischen Durchbruch im zerstörten Deutschland.

64 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 273. 65 Vgl. CZOIK, Dr. Peter: Luise Rinser. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 08.04.2014). 66 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 250. 39

5.2.1. Inhalt und Struktur des Romans

Der zerrissene Roman schildert den Weg der werdenden Schriftstellerin Nina Buschmann. Seine Bravur liegt in dem gelungenen formalen Aufbau, derer Komplexität die einfache Handlung gegenübersteht. Er wird teils in Brief und teils in Tagebuchform abgefasst. Die Autorin arbeitet also mit mehreren Perspektiven der Darstellung, was ihr einen größeren Raum für das Beschreiben des weiblichen Wesens bringt. Sie gibt Einblick in Ninas Leben über Gespräche mit der IchErzählerin, über alte Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die aus dem Jahr 1929 stammen und die von Ninas langjährigem Freund Dr. Stein hinterlassen werden. Daraus lässt sich entschließen, dass der Roman in der Zeitspanne von 21 Jahren ist. Das Gerüst des Romans bildet dabei das hintergelassene Tagebuch des Arztes Stein, das der Darstellung des unerbittlichen Schicksals der Protagonistin dient. Sie versucht trotz aller Hindernisse, die ihr das Leben in der verwickelten Zeit in den Weg legt, ihr Ziel zu erreichen. Sie gewinnt Freiheit, womit sich ein Raum zur Selbstverwirklichung erschließt. Der Inhalt des Romans gründet sich auf der fortschreitenden Annäherung der Schwester Nina und Margret, die das hintergelassene Tagebuch des Arztes Stein zusammen lesen. Dr. Stein liebt Nina sein Leben lang und dokumentiert ihr Leben. Aufgrund der Tagebuchaufzeichnungen erfährt man sowohl über ihre langjährige Beziehung als auch über das Leben und die Persönlichkeit Ninas. Die Geschichte voller Kompromisslosigkeit wird in der IchForm erzählt. Die Sprache wirkt unstrukturiert, als ob die Schriftstellerin die jeweiligen Abschnitten einfach drauflos schriebe. Sie springt von einem Jahr ins andere und dazu zwischen der Gegenwart und dem Inhalt der Tagebuchaufzeichnungen. Der Fakt, dass sie den Roman mit solcher Art und Weise geschrieben hat, lässt sich damit erklären, dass sie mit dem Manuskript unzufrieden war und es ständig überarbeitete. 67 Nicht nur die Sprache erweckt einen chaotischen Eindruck, sondern auch die Verflechtung der jeweiligen Perspektiven.

5.3. Abenteuer der Tugend

Luise Rinsers zweiter NinaRoman von 1957 erschien unter dem Titel Abenteuer der Tugend . Er wurde nicht zum Bestseller als der erste NinaRoman, sondern wegen seiner

67 Vgl. ebd. 40 anspruchsvollen Darstellungsform scharf kritisiert. Es scheint, als ob die Autorin nur deshalb schriebe, um Geld zu verdienen. 68 Die Autorin knüpft mit dem Hauptfigur Nina Buschmann an erfolgreiche Mitte des Lebens frei an. Das Buch weicht im Inhalt sowie in der Form von der früheren NinaRoman ab. Es besteht ausschließlich aus Ninas Briefen, was die Schriftstellerin in dem Schildern von Banalitäten beträchtlich beschränkt. Aus den Briefen, die von Nina an verschiedene Adressaten verfasst wurden, geht die Geschichte Ninas hervor. Das Verhältnis von Frau und Mann in der Ehe gilt als zentrales Thema des Buches. Es berührt komplizierte Fragen wie die Suche nach dem Lebenssinn, die Komplexität der Künstlernatur oder die göttliche Ordnung.

5.3.1. Inhaltliche und formale Analyse

Der Briefroman umfasst inhaltlich sowie strukturell nicht nur Ninas Entwicklungsgeschichte, sondern auch die komplizierte Beziehung Ninas zu Maurice. Die Briefe erfassen einen Zeitraum von sechs Jahren, von 1950 bis 1956. Mithilfe dieser außergewöhnlichen Darstellungsform gelingt es der Autorin, direkt zu sprechen. Am Anfang des Buches tritt die Hauptfigur in den Stand der Ehe. Sie gibt die Freiheit auf und lebt nur für den Opernsänger namens Maurice. Die anfängliche Leidenschaft verwandelt sich in den Alltag der Ehe und damit verbundene Problemen, die die allmähliche Entfremdung der beiden verursachen. Nina sucht den Ausweg von der von Zweifel und Auflehnung belasteten Ehe in einem Briefwechsel mit ihrem Freund. Er hilft ihr die Klarheit über ihr Leben, über Glauben und Erkenntnis finden. Im Vergleich zum ersten Teil des NinaBands spielt der Roman nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern in den 50er Jahren und ist in drei Teilen gegliedert. Sie spielen aber keine wesentliche Rolle in der inhaltlichen Darstellung des Buches. Die Hauptprotagonistin ist hier schon als eine wache Frau geschildert, deren geistige Entwicklung auf Moral und Religion gerichtet wird. Sie sehnt sich nach Glück, wobei sie zum keinen weiblichen Opfer für einen Mann stilisieren will. Bei der Suche nach dem Lebenssinn findet sie den Rückweg zu Gott. An dieser Stelle ist treffend darauf hinzuweisen, dass Abenteuer der Tugend zu Rinsers religiöser Phase gezählt werden soll.

68 Vgl. BAUREITHEL, Ulrike: Luise Rinser: Das Abenteuer der Tugend. In: Der Tagesspiegel, Kultur, 2001. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 10.4.2014). 41

5.4. Interpretation der Nina-Romane

Um die Untersuchung genau verstehen zu können, inwiefern die Spiegelung der Autorin reicht, muss man einen wichtigen Gesichtspunkt von Murillo einführen:

„Nina ist die Autorin – echter als ihr selbst bewusst ist.“ 69

Von dieser These ausgehend wird klar, dass der ganze Roman eine Fiktion ist, die auf der Identifikation mit der Protagonistin gegründet ist. Die Ähnlichkeiten mit der Autorin verwirren oftmals den Leser und so verursachen, dass sie immer etwas „Verschwiegenes spüren.“70 Was bleibt ist die Annahme, dass sie eher unbewusst in Nina ein Bild von sich selbst erschaffen hat. Insoweit lässt sich aber Rinsers Bild mit Ninas gleichsetzen? Die folgende Interpretation hat die Untersuchung jenes Problems zum Ziel. Sie soll durch die nachstehenden Fragestellungen noch mehr verstärkt werden: Worin liegt die Zerrissenheit der Hauptprotagonistin und was bringt sie weiter? Wie verändert sich ihre Persönlichkeit im Laufe der Untersuchung? Was haben viele Anklänge an Rinser für einen Sinn? Welche Vorbilder für die fiktionalen Figuren lassen sich aus den Werken wiedererkennen? Was steckt eigentlich hinter den Titeln der einzelnen Romanen? Wie verändert sich Rinsers Bild nach der Lektüre? Soll die Autorin aufgrund der Werke zu den Erbauungsschriftstellerinnen gezählt werden?

Mitte des Lebens beginnt mit der Aussage der IchErzählerin:

„Schwestern wissen voneinander entweder alles oder gar nichts. Ich wusste von meiner Schwester Nina bis vor kurzem nichts. […] Wir hatten fast nichts gemeinsam als Vater und Mutter.“ (N, S. 7 ff.)

Aus der Perspektive der Erzählerin erfährt der Leser von der Hauptfigur Nina. Trotz der Tatsache, dass die beiden Figuren die Schwestern sind, befinden sie sich in keiner engen Beziehung. Margret erinnert an rebellische Jugendjahre ihrer Schwester, als ihr Nina auf ihren Brautschleier bei der Hochzeit spuckte (Vgl. N, S. 7). Es herrschte eine bestimmte Distanz zwischen den Schwestern, die bis dahin ausmundete, dass sie eine lange Zeit nicht gesehen haben. Ganz unvermutet kreuzen sich ihre Wege in einer Bar in Badenweiler. Es lässt sich

69 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 251. 70 Ebd. 42 immer wieder sehen, dass der Kontakt zwischen beiden lange unterbrochen war. Deshalb geht jede mit ihrer eigenen Weg weiter. Nur ein paar Monate danach lädt Nina ihre ältere Schwester zu sich nach München ein, um mit ihr etwas zu besprechen. Margret erfährt über Ninas Gedanken nach London abzureisen. Sie bemerkt, dass „ihr Gesicht älter war als damals in der Bar“ (N, S. 13). Es ist offensichtlich, dass Nina schon lange nicht gut schläft, dass sie etwas innerlich anhaltend beunruhigt und dass sie von Alkohol wahrscheinlich süchtig ist. Sie hat damit vielleicht deshalb begonnen, weil sie ihr Leiden noch niemandem anvertrauen konnte. Denn sie braucht sich von der seelischen Last zu befreien, sagt der Schwester:

„Und wenn ich nicht mehr kommen sollte […] dann soll man wissen, dass es nichts Böses war, was mich wegtrieb. Es ist nur dies: ich will jemand nicht weiter stören. Und solang ich hier bin…“ (N, S. 16)

Die Abreise nach London hielt sie also für Befreiung von schwerer Last. Wenn der Leser später aus dem Text erfährt, stammt Ninas Last aus der Liebe zu einem verheirateten Mann. Über das ganze tragische Schicksal der Protagonistin erfährt die Erzählerin von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, die sie zusammen mit ergänzenden Kommentaren Ninas zu lesen beginnen. Damit gelingt es der Erzählerin, in das Leben ihrer Schwester einzublicken und ihr anzunähern und die geplante Abreise mindestens aufzuschieben. Das Tagebuch wird ganz zufällig von Nina entdeckt. Sie bemerkt, dass auf einem Paket die Adresse des schon derzeit verstorbenen Absenders steht.

„Nina sprang von der Kiste. Sie war ganz weiß geworden oder vielmehr grau wie Asche. […] Er ist doch tot. […] Das ist doch seine Schrift. […] Es war die Schrift, die sie nicht leiden konnte.“ (N, S. 16 f.)

Denn sie schrieb mit ihm von 1929 bis zu 1947, also genug lang darauf, seine Schrift zu erkennen. Fakt, dass sie die Schrift nie leiden konnte, spricht darüber, dass sich sie mit ihm emotionale Erinnerungen verbindet. Das Paket wurde von ihrem langjährigen Freund Dr. Stein geschickt. Wie ist es aber möglich, dass das Paket erst nach dem Tod des Mannes abgesendet wurde? Dies verdeutlicht der Bericht von der Nacht vom 7. zum 8. September 1947, den Dr. Stein selbst geschrieben hat. Er stellt eine Form seines Abschieds von Nina. Es steht darin, dass er an Krebs leidet und stirbt. Dieser Brief zusammen mit anderen gesammelten, die Nina betrifft, wurde erst nach seinem Tod von seiner Schwester Helena an sie geschickt. Er wollte sie damit hemmen, ihm in seiner Entscheidung widersprechen zu können. Denn sie hat eine unheimliche Gabe: sie drängt andre Menschen in Entscheidungen

43

(Vgl. N, S. 83). Mit dem folgenden Zitat aus dem Brief kann man belegen, dass Steins Entscheidung für ihn schwer war.

„Sofern es eine Möglichkeit gibt, nach dem Sterben eine Lebensschuld abzutragen, werde ich sie abtragen. Meine Lebensschuld ist es, den Entscheidungen aus dem Wege gegangen zu sein. Ich frage mich jetzt, ob es Feigheit war. Ich glaube es nicht. Es war vielleicht Schwäche. Aber wie kann ein Mensch sich zu Entscheidungen zwingen, wenn sein Bewusstsein ihn unaufhörlich zur Vorsicht mahnt, ihn alle Für und Wider jeder Tat unendliche Male abzuwägen heißt, ihn so der naiven Stoßkraft beraubend und der Melancholie des Wissens überliefernd? Selbst im Angesicht des Todes weiß ich keine Antwort auf diese Frage.“ (N, S. 29)

Darüber lässt sich auch begreifen, dass er die Schuld spürte, die in seiner Unfähigkeit des Sichentscheidens dahintersteckt. Er war nur ein Mensch, der zu schwach war, die Beziehung mit Nina zu beenden. Nach seinen geschriebenen Worten fasste er „den ersten wirklichen Entschluss seines Lebens“ (N, S. 29), als er Nina über seine unheilbare Krankheit zur rechten Zeit nicht informierte. Dieser letzte Brief von allen an sie geschickten Berichten endet mit folgendem schwermütigen Gedanken: „Wie schwer ist es zu sterben, wenn man nicht gelebt hat“ (N, S. 29). Danach steht nur die immer traurig klingende, in diesem Fall noch verdoppelt geschriebene Schlussformel „Leb wohl, leb wohl.“(N, S. 29). Das Tagebuch schildert einerseits die unerfüllte Liebe des Arztes zu Nina und andererseits die zerrissene Persönlichkeit Ninas. Aus vielen Aufzeichnungen ist es offensichtlich, dass Nina großen Einfluss auf Dr. Stein hatte.

„[…] aber plötzlich legte sich ihre Hand auf meinen Arm […] Es war, als berührte mich das Leben selbst. In dieser Berührung schmolz meine Qual dahin und ließ Raum für eine vage, eine süße Hoffnung.“ (N, S. 62)

Dr. Stein war um fast 20 Jahre älter als Nina, die ihn ins Leben auferwecken konnte. Er hat geschrieben, dass ihn ein fröhlicher Hauch von Jugend streifte (Vgl. N, S. 91). Tatsächlich sah er in Nina den Sinn seines Lebens und wollte sie eines Tages heiraten. Doch lehnte sie ihn andauernd ab. Die Vergeblichkeit seiner Bemühungen schwächte ihn bis zu seinem Tod.

„Ich wartete. […] Nie vorher in meinem Leben habe ich gewusst, wie viele Nuancen des Wartens es gibt. […] in jedem Zustand des Schwankens zwischen glücklicher Ungeduld und tiefer, aber süßer Niedergeschlagenheit, den man wohl Sehnsucht nennen kann. […] Dieser Gedanke […] vergiftete mich, er höhlte mich aus, ich wurde krank davon, unfähig zur Arbeit. […] in eine tiefe Müdigkeit fiel, die mich fast gleichgültig machte. […] Das Ende meiner Empfindung würde, das fühlte ich mit aller Schärfe, das Ende meines Lebens bedeuten. […] lieferte ich mich der höllischen Marter der letzten Phase des Wartens aus: der wahnwitzigen Rastlosigkeit, dem unbarmherzigen und ratlosen Gejagtsein, dem hitzigen Fieber.“ (N, S. 69 f.)

44

Dr. Stein litt, weil er in Nina sein Leben lang leidenschaftlich verliebt war. Er wollte keine andere, nur sie. Er wusste, dass sie ihn nicht liebt. Es wirkte nur verwirrend, dass sie ihn zum Glauben an Hoffnung anregte. Deshalb war er unfähig, auf sein Ziel zu verzichten. Der Verwirklichung seines Wunsches, Nina zu heiraten, widerspricht jedoch die Persönlichkeit Ninas. Ninas Suche nach dem Lebenssinn und ihr Freiheitsdrang ordnet sie zu ganz anderer Welt ein, als zu welcher Dr. Stein gehört. Während er ein konventionelles Leben führt, braucht Nina „Hitze und Unruhe und Wechsel, sie ist von jener Art, die viel riskieren muss“ (N, S. 60). Nicht nur die Welt des Arztes, sondern auch die Welt ihrer Schwester wird mit ihrem unsteten Leben konfrontiert. Margret scheint glücklich verheiratet zu sein. Sie führt ein geordnetes Leben, erst als sie von Ninas unruhigem Leben erfährt. Die gegenseitigen Gespräche setzen ihr einen Floh ins Ohr. Sie beginnt zu verzweifeln, ob ihr geordnetes Leben ihr das Glück bringt. Sie setzt Nina mit einem Schiff gleich, das etwas mitgenommen ist vom Sturm, aber mit einem Schiff auf hoher See und vor dem Wind liegend, und jeder, der den Blick dafür hat, würde darauf wetten, dass es da ankommt, wohin es will, oder vielleicht irgendwo anders, an einer fremden Küste eines fremden Kontinents, in dem es sein Glück macht (Vgl. N, S. 81). Margret bewundert sie und spricht zugleich, dass sie den Mut nie dazu aufgebracht hätte. Beide werden sich durch die Gespräche näherkommen. Ninas Freiheit wird gebrochen, als sie einen sportlichmännlichen Mann namens Percy Hall heiratet. Wie sie sagt, verwirklicht sich diese Ehe fast gegen ihren Willen (Vgl. N, S. 204). Sie ist nämlich im Roman bis in dieser Zeit als jene Frau geschildert, derer Lebensziel die Freiheit ist.

„[…] ich immer diese Art von Freude fühle, wenn mich irgendein Bekannter oder auch ein Freund verlässt oder auch, wenn jemand stirbt. Ich bin für den Abschied gemacht, glaube ich, für den Abschied und für die Vereinfachung, wenn du verstehst, wie ich das meine. Ich liebe ja auch kahle Zimmer und Bahnhofswartesäle und alles, was einen nicht hält.“ (N, S. 125)

Trotzdem dass Nina die Freiheit außer allem liebt, entschied sie sich, in die Ehe zu treten und damit dem Mann nachzugeben. Damit wird die Entwicklung der emanzipierten Frau gebrochen. Die Tatsache, dass Nina von einem anderen Mann schwanger ist, bringt Percy dennoch nicht ab, Nina zu heiraten. Sie verspricht ihm, eine gute Ehefrau zu werden und macht dafür alles, was sie kann. Obwohl Percy nur Abneigung zum Kind empfindet, haftet Nina der Ehe an, die sie „für einen Vertrag hält, den sie nicht brechen konnte“ (Vgl. N, S. 241). Sie betrachtet die Ehe mit ihm lediglich als eine Aufgabe. Als sie zweitens schwanger

45 ist – diesmal schon von Percy – versucht sie um einen Selbstmord. Zum Glück werden sie und ihr Kind von Dr. Stein gerettet und Nina sich entschließt, Percy zu verlassen. Ihre Verbindung zeigt sich als „unfruchtbarer Kampf“ (Vgl. N, S. 267) und lässt sich mit folgenden Worten zusammenfassen: Es sei ein Unrecht vitaler und geistiger Natur, einen Menschen, dessen Wesen ins Größere dränge, mit einem Partner zu verkoppeln, der ihm diese Entwicklung abschneide (Vgl. N, S. 267). Zuerst ist Nina von den Tagebuchaufzeichnungen nicht tief beeindruckt, aber nach und nach fasziniert sie vor allem das Schildern ihrer Persönlichkeit durch die Augen des Arztes immer mehr. Sie wird bewusst, dass er eine bestimmende Wirkung auf sie hatte.

„Ich sollte Stein dankbar sein. Gerade weil er etwas anderes aus mir machen wollte als ich bin, und gerade weil ich immerzu im Widerstand lag gegen ihn, darum lernte ich begreifen, wie ich eigentlich war. […] Damals, als ich jung war, war ich ziemlich verwirrt.“ (N, S. 63)

Charakteristisch für die Protagonistin ist ihre Zerrissenheit. Sie streunt nur durch das Leben und trotzdem dass sie Kinder hat, kommt es ihr vor, als ob sie nirgendwohin gehöre. Sie kann sich aber nicht vorstellen, anders zu leben.

„Einmal versuchte ich’s, Ehe und Kind und das alles, aber ich war nicht glücklich, und es endete ja auch schlecht. Und damals mit Stein, da hat sich mir noch mehr geboten als Familienidylle.“ (N, S. 56)

Die Nähe des Arztes machte sie aber unfrei. Deshalb lehnte sie ihn ab. Dr. Stein konnte sich damit nicht versöhnen. Er war immer bereit, wenn sie eine Hilfe brauchte. Er hat ihr geholfen, als sie Menschen über die Grenze zu bringen wollte, dann als sie erstens sowie zweitens schwanger wurde oder als sie um den Selbstmord versuchte. Bis im Angesicht des nahen Todes stellt er fest, dass er sein Leben verpasste, als sich er emotional lediglich auf eine Frau fixierte, die ihn eigentlich nicht wollte; dass er im Grunde nicht lebte und dass sich er nur an eine der Möglichkeiten klammerte, die als einzige von allen möglichen Weisen seines Daseins nahm.

„Ich selbst war es, der sich vor einer Bindung scheute. Sehnsucht und Furcht lagen viele Jahre lang im heftigsten Widerstreit. Es bedurfte meiner schweren und unheilbaren Krankheit, es bedurfte der Gewissheit meines nahen Todes, um mich zu erlösen von diesem schmählich marternden Konflikt. Da ich vor zehn Jahren mich nicht kannte, wie ich heute mich kenne, war es mir freilich nicht möglich zu wissen, dass mein wilder Ausbruch nicht Nina, sondern mir selber galt und dass mein Kampf um Nina nicht eigentlich der Kampf um diese eine besondere Frau war, sondern der Kampf um Erkenntnis und Entwicklung meines Wesens in einer besonderen Richtung,

46

wie denn überhaupt die Wahl der oder jener Frau nicht der oder jener Frau nur gilt, sondern vielmehr dieser oder jener Möglichkeit des eigenen Wesens.“ (N, S. 271 f.)

Schließlich bestätigte er doch, dass er ohne Nina nicht leben konnte. Er richtete sich nach seinem Gefühl, das gegen den Verstand gestanden war. Ihre Intelligenz und Selbstbewusstsein beeindruckten ihn soviel, dass er ihr sein ganzes Leben widmete. Außer ihm auch Margret bewunderte Ninas „vollgelebtes Leben“ (N, S. 107). Der Effekt der Bewunderung setzt sich damit durch das ganze Buch fort. Das Ziel des Romans Mitte des Lebens ist auf gewisse Art und Weise bemerkenswert. Luise Rinser beschäftigt sich hier mit der Problematik der menschlichen Existenz. Sie behandelt das Verhältnis FrauMann, wobei sie aus der Dualität des Menschen ausgeht. Darüber hinaus lässt sich leicht beweisen, warum solcher Titel dem Roman gestellt wurde. Die Autorin wollte damit „nicht die chronologische Lebensmitte erörtern, sondern eine andere Mitte: die Einheit von Mann und Frau, die Zelle, aus der das Leben geboren wird.“ 71 Warum aber könnte der Titel nicht mehrdeutig sein? Auf den ersten Blick erscheinen die angeführten Argumente stichhaltig. Bei näherer Betrachtung jedoch zeigt sich, dass nicht nur die Einheit von Frau und Mann unter dem Titel gemeint werden soll, sondern auch die Lebensmitte, die bei der Suche nach dem Lebenssinn bestimmend ist. Diese Lebensmitte hängt mit der Zufriedenheit zusammen und ist mit einer Veränderung eng verbunden. Die psychische Veränderung erlebt auch die Protagonistin. Daran anschließend wird zur Untersuchung des zweiten NinaRomans übergegangen. Insbesondere hinsichtlich der vorherigen Argumente stellt sich die Frage, was unter dem Titel des zweiten Teils Abenteuer der Tugend gemeint ist. In diesem Fall charakterisiert der Titel ganz genau die eigentliche Handlung des Buches. Es geht um die Abenteuer der Hauptprotagonistin Nina, die über die erstrebenswert geltende Eigenschaft verfügt. Damit ist die Tugend gemeint, d.h. Treue, Tapferkeit, Pflichtbewusstsein. Mit anderen Worten:

„Tugend, das ist eine fromme alte Jungfer mit einem Innenleben, ebenso reinlich, kühl und ungemütlich wie ihr Zimmer. Tugend, das ist das gleiche wie Selbstzufriedenheit.“ (N, S. 417)

Die Autorin setzt Tugend mit einem Mädchen gleich, die noch ohne schlechte Lebenserfahrung lebt. Es ist zunächst rein, ohne Berührung des Bösen und versucht nur das Gute zu verwirklichen. Es lässt sich sagen, dass Ninas „Abenteuer der Tugend“ in der Zeit ihrer Anreise nach London beginnt.

71 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 250. 47

Am Anfang des Buches erfährt der Leser über den geheimnisvollen Mann, seinetwegen ist Nina am Ende des ersten Romans abgereist. Es geht um verheirateten Mann namens Maurice, der von seiner Frau Alice fliehen will. Er ist nämlich in Nina verliebt. Seine Künstlernatur aber widerspricht dem freisinnigen Charakter der Protagonistin. Luise Rinser konfrontiert damit Ninas Welt der Freiheit mit dem unfreien Leben des Künstlers bzw. die Klarheit der Ordnung mit dem Chaos der Unordnung.

„M. übertreibt leicht, er hat ein Temperament, dass kein Maß kennt und das jeder Klarheit zuwider ist. Man muss das Auf und Ab seiner Stimmungen kennen, um zu wissen, wo die Übertreibung anfängt. Er ist ein Mann der äußern und innern Unordnung. […] M. ist ein großer Künstler und auch ein großartiger Mann. Aber er ist auch ein chaotischer Mann, er ist unberechenbar, er ist schwach, und er lebt das dem Erfolg verfallene Leben eines Schauspielers. Es ist ein unfreies Leben, das meinem Wesen so ganz und gar zuwider läuft.“ (N, S. 317 ff.)

Maurice stellt die chaotische Welt des Künstlers dar, die voller Intrigen ist. Sein Leben äußert sich im Spielen. Er ist ehrgeiziger Opernsänger, dessen Natur hochkompliziert erscheint. Als er singt, hat eine Maske, die ihm ermöglicht, sich auf dem Schauplatz auszugeben. Er liebt die Zuschauer und sobald legt er seine Maske ab, verliert er die Helle. Er fällt der Begabung zum Opfer. Schon von Kindheit an leidet er an Schwermut. Er ist „wie ein Maulwurf in der Erde; er ist blind für alles Licht“ (N, S. 336). Jede Kritik kann ihn tief verstimmen. Er verzweifelt an seiner Begabung, wird immer pessimistisch. Als einziger Ausweg, die ihn befreien kann, scheint Nina zu sein. Das gelte aber für sie, ihr Leben dem seinen anpassen müssen und ganz und gar vergessen, wer sie ist. Einfach gesagt, müsste sie für ihn aufopfern. Sie ist verwirrt. Auf der einen Seite steht ihre Sehnsucht nach der Freiheit und Ordnung und auf der anderen Seite die Lebensaufgabe der Frau, derer Prinzip in der Opferbereitschaft liegt. Schließlich heiratet sie ihn, wie sie sagt aus Liebe, weil er sie braucht (Vgl. N, S. 342). Sie hält diese Ehe für eine Aufgabe, um zur Ordnung in der Welt beizutragen. Ninas vorbildliche Haltung gebührt Bewunderung.

„Ich wach früh auf. Aber Maurice schläft noch, denn er schläft nachts sehr schlecht. Ich darf nicht aufstehen, sonst wacht er auf. So liege ich denn da und denke und warte, bis Maurice aufsteht. Am Morgen ist er, nach einer Nacht voll von schlechten Träumen, ganz zerschlagen und er braucht mich zur Erheiterung.“ (N, S. 370)

An diesem Beispiel kann bereits gezeigt werden, dass Ninas Liebe zu Maurice bewundernswert ist. Sie lebt ganz und gar für ihn. Sie nimmt ihre Lebensaufgabe ganz ernst wahr, aber keinesfalls lässt sich sagen, dass sie sich als ein „Opferlamm“ (N, S. 349) fühlt. Sie füllt ihre Aufgabe, weil sie es muss, um einen höheren Ziel erreichen zu können. Nina

48 begleitet den Ehemann auf seinen Reisen zu Zuschauern. Sie bleibt bei ihm, als ihr Kind stirbt. Sogar wird sie schwanger, um seine psychische Lage zu verbessern. Jedoch ist Nina zu erschöpft, um das Kind zur Welt zu bringen. Es stirbt auch und Maurice wird immer mehr an schwermütige Gedanken verfallen. Er wird dazu von Alkohol süchtig. Das alles verursacht seinen Niedergang, obwohl sich Nina um ihn ständig kümmert. Dennoch ihr gibt die Kraft aus.

„[…] ich bin ausgelöscht, ich finde mich nicht mehr. Ich war früher nie eben das, was man ein heiteres, glückliches Geschöpf hätte nennen können, aber ich war immerhin ich, das heißt, ich habe das Glück gekannt, das darin liegt, sich selbst zu fühlen, sich seiner selbst und eines gewissen Werts lebhaft bewusst zu sein; auch besaß ich, als Folge dieses Gefühl, die Gabe der Hoffnung. Jetzt aber bin ich nicht mehr ich. […] Ich lebe im Leeren.“(N, S. 470)

Nina konstatiert, dass diese Ehe, die sie um der Ordnung willen geschlossen hat, nicht ihre Ordnung ist (Vgl. ebd.). Sie entbehrt das Glück und Selbstzufriedenheit. In der Ehe mit dem schwermütigen und von Alkohol süchtigen Künstler verliert sie die Ordnung und das Helle des Lebens. Das Gefühl, dass ihr nicht gelingt, ihren Maurice seinem Schicksal zu entziehen, verursacht eine Wandlung in ihrer Persönlichkeit. Ihre Tugend wird gebrochen. Als sie ihre Kraft zu verlassen beginnt, hört sie auf, an Gott zu glauben. Sie kommt zur Überzeugung, dass Gott gegen sie ist. Sie ist unfähig mehr, das Gute zu verwirklichen und verzweifelt. Das ganze Abenteuer der Tugend scheitert damit. Nina ist voller Lebensüberdruss und sehnt nur nach der Veränderung, die sie nach und nach in der Gnade des Glaubens findet. Die Autorin konfrontiert nicht nur Ninas Weltanschauung mit Maurices Lebensauffassung, sondern auch Ninas Welt mit der Welt ihrer Schwester. Diese Gegenüberstellung fängt schon im ersten NinaRoman an und setzt im zweiten fort, als schon beide Schwestern in der Ehe leben. Sie beschreibt Margrets Lage als aussichtslos. Ihr Leben scheint leer, unerfüllt zu sein, weil sie weder Kinder noch Beruf hat. Nina sieht im solchen „Dahinleben“ (N, S. 394) keinen Sinn. Sie möchte ihre Schwester von Einsamkeit befreien, deswegen hat sie Tendenzen, ihr Ratschläge zu geben.

„Ach, Margret, verzeih, wenn ich rede wie ein Pfarrer oder eine fromme alte Tante. Aber glaub mir: es geht einfach darum, dass wir unser Leben auf etwas beziehen, was außerhalb unsrer Wünsche liegt. […] Wir beide können nichts Großes tun, wie können das Kleine aber in höchster Intensität tun und es ins Große heben.“ (N, S. 452)

Mit dem oben genannten Beispiel lässt sich belegen, dass NinaRomane zur Erbauungsliteratur gehören sollen. Nina ist hier als Ratgeberin geschildert. Sie wirkt, als ob

49 sie alles wüsste. Dabei hebt sie hervor, dass es nicht so wichtig ist, etwas zu finden, vielmehr wesentlich ist es, wenn man mindestens sucht. Zusammenfassend kann man festhalten, dass jedes Leben ein Ziel braucht und nur hiermit bekommt es einen Sinn. Die Autorin vermittelt durch die Hauptfigur eine Lebenshilfe für ihre Leserinnen und mit der religiösen Thematik hat sie Einfluss auf ihre Weltanschauung. Sowohl Ratschläge als auch religiöse Auseinandersetzung spielt eine entscheidende Rolle bei der Einordnung der Autorin zur Erbauungsschriftstellerinnen. Der Schwerpunkt der weiteren Untersuchung liegt also auf Ninas Korrespondenz an einen Freund, der im Buch unter Initialen A. M. vorkommt. Ihre Freundschaft bedeutet für sie das einzige Gewisse, Beständige in ihrem Leben (Vgl. N, S. 340). Der Frater A. M. hat ihr viele Bücher geschickt, die sie liest, beispielsweise die Biographie der großen Theresa von Avila, dank derer wirft sie einen Einblick in die Mystik. Außerdem liest Psalmen, was auch das nachstehende Zitat bestätigt.

„Er fragte: Was liest du? Ich sagte: Psalmen. Warum liest du? fragte er. Weil sie schön sind, antwortete ich. Das ist nicht wahr, sagte er, du liest ja nicht, du betest.“ (N, S. 521)

Nina führt auch eine Auseinadersetzung mit Herrn C., der sie zum Katholizismus verlocken versucht. „Dieser regierende General der Kirche“ (N, S. 524) wartet darauf, dass Nina selbst in die Religion flüchten werde, bis sie Unglück treffen würde. Sie glaubt aber nicht, dass Gott solche unfaire Methode benutzt (Vgl. N, S. 446). Sie hält einfach für falsch, zu Kreuze zu kriechen und sie meint, dass „die Religion kein Hüttchen ist, in das man flüchtet, wenn es draußen regnet“ (N, S. 436). Die Tatsache, dass Nina endlich zu Gott bekehrt wird, lässt sich in keinem Fall dem Herrn C. zuschreiben. Viel mehr leistete der Freund A. M. einen Beitrag zu ihrer Rückkehr zum Katholizismus, der als Religion ihrer Kindheit gekennzeichnet werden kann. Am Ende des Romanbandes wird deutlich, dass Nina nur die einzige mögliche Verzicht gelten lässt, und zwar solche Entsagung, die für Gott verwirklicht werden kann. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Autorin die Liebe zu dem Menschen auf die gleiche Position wie die Liebe zu Gott stellt.

50

5.4.1. Existenzielle Widersprüche

Soll die Kernfrage beantwortet werden, die am Anfang dieser Interpretation gestellt wurde, muss man eben die innere Zerrissenheit der Heldin berücksichtigen. Sie lässt sich durch die Gegensätze bezeichnen, die den Menschen betreffen. Bereits diese existenziellen Widersprüche bringen Nina in ihrer Persönlichkeitsentwicklung weiter. Sie helfen ihr den Seelenfrieden zu erreichen und damit eindeutig den Weg zu Gott zu finden. Sie begleiten die Protagonistin durch beide NinaRomane und haben eine Form von Konflikten. Während im ersten Teil die Konfliktsituation zwischen dem weiblichen und männlichen Wesen im Vordergrund steht, konzentriert sich der zweite Teil auf die Krise zwischen Frau und Mann in der Ehe. Außerdem beschäftigt sich die Autorin mit den Grundwidersprüchen wie Leben – Tod oder Sinn – Unsinn. Es wird angenommen, dass Ninas Schicksal und damit auch ihre Liebesbeziehungen als ursprünglich ausweglos erscheinen. Sie selbst stellt sich zahlreiche Fragen, auf die sie nicht antworten kann, ohne dass sie die Klarheit in beiden Seiten des Widerspruchs gefunden habe. So entsteht ihr widersprüchliches Denken. Es lässt sich in keinem Fall als Störung oder Fehler betrachten, weil es zur gewünschten Erfolg führt. Diese besondere Arbeit mit dem Verstand ermöglicht der Heldin immer neue Erkenntnisse zu gewinnen, damit wieder alles neu nachzudenken und den richtigen Ausweg aushandeln zu können. Darüber hinaus lässt sich leicht beweisen, dass Ninas Widersprüchlichkeit für ihre Weiterentwicklung notwendig ist.

5.4.1.1. Sinn und Unsinn

Wie sich schon der Titel des zweiten Bandes andeutet, erlebt die Heldin des Romans ein Abenteuer der Tugend, d.h. eine Suche nach dem Guten. Von dieser Tatsache ausgehend werden der Sinn und Unsinn des Lebens viel behandelt. Die Hauptprotagonistin vermutet, dass es eine Antwort darauf gibt, worin der Lebenssinn besteht. Nach den Worten eines Propheten stellt sie infrage, ob nur jener das Leben gewinnt, der es verliert (Vgl. N, S. 336). Sie versucht danach, den Lebenssinn in der Hingabe für einen anderen Menschen zu finden. Nach und nach stellt sie fest, dass es unmöglich ist, von Opfer keine Rede sein könne, wenn man liebt (Vgl. N, S. 540). Offensichtlich gibt der Lebenssinn nicht in den Dingen der Welt. Es scheint allerdings, dass er auch nicht in der Aufopferung für jemanden liegt. Auch die Heldin sieht keinen Sinn

51 darin und allmählich kommt sie zum Erkenntnis, dass nur bedingungslose Hingabe an Gott sinnvoll ist.

„Gott ist die Großmut selbst: er gibt, indem er nimmt, und er nimmt nur, was nicht zu besitzen größeres Glück gewährleistet. Sie sehen, ich habe begriffen.“ (N, S. 542)

Nina betont, dass des Lebens Sinn eben nur in dem Opfer für Gott zu finden ist. Nur das erscheint als zufrieden stellende Antwort darauf, weil Gott Ursprung allen Lebens bedeutet.

5.4.1.2. Leben und Tod

Die Begriffe Leben und Tod gelten als unvereinbare Gegensätze, weil sie sich im Grunde diametral widersprechen. Die Autorin steht sie in einem scharfen Gegensatz zueinander, was in beiden Werken viel zu spüren ist. Als Nina selbst im Angesicht des Todes steht, lässt sich betrachten, dass sie das Sterben für sehr wichtig hält, weil man es nur einmal erleben kann. Sie ist der Meinung, dass es großartig sein muss. Sie stellt den Tod wie „das Grenzenlose“ (N, S. 39) vor. Damit wird gemeint, dass das Leben immer Grenzen in allem hat und der Tod dem Wesen die Freiheit ermöglicht. Darunter wird Ninas Sehnsucht nach der Freiheit verstanden.

„Der Tod ist das Interessanteste im Leben. […] Es ist nicht gut, wenn man sich das Leben nimmt, weil man sich aufgibt und weil man verzweifelt ist. […] Mann sollte es vielleicht nur dann tun, wenn man grenzenlos glücklich ist. Leise und nachdenklich fügte sie hinzu: Aber das ist eigentlich genauso feige wie das andre.“ (N, S. 35)

Bereits der Tod inspiriert Nina zu schreiben. Sie möchte nämlich Schriftstellerin werden. Eigentlich die Betrachtung des Sterbens ihrer Tante fasziniert sie insofern, dass sie schreiben beginnt. Für sie sind nämlich „Leben und Tod gleicherweise erregende Sensationen“ (N, S. 146). Der Leser stellt fest, dass Nina ohne Hindernisse und ohne Leiden nicht leben kann. Sie ist der Meinung, dass man voll gelebtes Leben wie sie führen sollte. Sie meint, das man lebt, wenn das Leben ihn verzehrt bzw. wenn sich ihn intensiv fühlt. Im Vordergrund steht also die Intensität, mit der man lebt. Dazu betont sie, dass „der, der glüht, wird in allem, was er tut, ‚leben‘“ (N, S. 400). Außerdem hebt sie das Wissen hervor.

„Ich lernte wie besessen. Nun, nachdem der Tod mich nicht hatte haben wollen, wollte ich ihn auch nicht mehr, und ich schlug mich auf die Seite des Lebens. Aber leben, das hieß damals für mich: wissen, furchtbar viel wissen und denken und alles durchdringen.“ (N, S. 43 f.)

52

5.4.1.3. Mann und Frau

In diesem Kapitel der Untersuchung wird der dominierende Widerspruch von Mann und Frau analysiert. Die Frage nach der Stellung von Mann und Frau sowie nach dem Wesen und Aufgabe der Frau in der Gesellschaft behandelt Luise Rinser mit großer Aufmerksamkeit. Der Mensch ist eine Einheit von Leib und Geistseele. Entweder ist er Mann oder Frau. Es ist offenkundig, dass sie körperlich unterscheiden, was ihr ganzes Leben in charakteristischer Weise bestimmt. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Während der Körper des Mannes so stark ausgerichtet ist, dass er geeigneter für einige Tätigkeiten ist, besitzt die Frau eine besondere Pflegebereitschaft. Damit hängen eng ihre Einfühlungsgabe und vor allem ihre Anpassungsfähigkeit zusammen. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass vom Mann Leistung, d.h. Aktivität und Erfolg, erwartet wird, während die Frau nichts leisten muss. Solche Ansichten wurden früher als Vorgabe gesehen. Der Schwerpunkt des weiblichen Daseins lag offensichtlich auf der Aufgabe, sich zu heiraten und Kinder zu bekommen. Die Gesellschaft teilte also dem Mann und der Frau die geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster zu. Diese Rollenbilder für Mann und Frau bestimmten, wie sie verhalten sollten. Die Autorin bemüht sich jene traditionelle Sicht mit der emanzipierten Frauengestalt zu stören. Sie bietet der Gesellschaft eine andere Ansicht auf das weibliche Wesen an. Sie spricht über die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft, was auch folgendes Zitat bestätigt:

„[…] wenn eine Frau begonnen hat, etwas zu tun, dann gibt es keinen andern Maßstab für das, was sie tut, als den, der an jede Leistung gelegt wird, ob sie von einem Mann oder einer Frau kommt.“ (N, S. 96)

Nina ist der Auffassung, dass wenn die Frau gleiche Möglichkeiten wie der Mann hat, dann soll sie auch gleich bewertet werden. Dies zeigt auch, dass sie hochintelligent und emanzipiert ist. Sie protestiert also gegen die traditionellen Auffassungen über die Geschlechter. Neben der Beziehung der Frau zum Mann lässt sich zugleich das veränderte Frauenbild in dem Zusammenhang mit Mutterschaft betrachten. Es scheint so, als ob die Protagonistin sich zwischen der Verantwortung für ihre Kinder oder für ihren an Schwermütigkeit leidenden Ehemann entscheiden habe. Es gibt nämlich nur eine einzige Kraft, die nicht teilbar ist. Man kann sie nur für eine Sache einsetzen. Berücksichtigt man diesen Aspekt und den Gesichtspunkt der tradierten weiblichen Opferbereitschaft, dann wird es deutlich, dass sie für den Mann entschließt. Trotzdem sie ihre Kinder liebt, lebt sie mit

53 ihrem Ehemann ohne sie. Das hat seinen Grund in Maurices durch Krankheit belasteten Künstlerleben. Die Schriftstellerin schildert also auch aus der weiblichen Sicht das Verhältnis der Frau und Mann in der Ehe. „Dass einer des andern Last trage“, (N, S. 435 f.) sagt Nina, um zu betonen, dass keine Ehe leicht ist. Das betrifft vor allem die Frau, die die untergeordnete Stellung in der Ehe hat. Sie muss ihre Wünsche und Bedürfnisse ableugnen, um die ihres Ehemannes erfüllen zu können. Umso schwieriger ist es für die Frau in der Ehe, wenn sie mit dem Künstler verheiratet ist. Nina ist davon überzeugt, dass einfach die Künstlerehe und Familie nicht zusammen funktionieren können. Fakt, dass sie sich in der Ehe einsam fühlt, deutet auf ihre Sehnsucht nach der Freiheit und der Entwicklung. Den Leserinnen wird demzufolge gezeigt, dass sie sich ihre Interessen nicht ausschließlich auf die Familie und den Ehemann richten sollten.

5.4.2. Die Persönlichkeit Ninas

Im Folgenden wird näher auf die Untersuchung der Hauptprotagonistin Nina eingegangen. Beide NinaRomane stellen den Entwicklungsweg der weiblichen Figur dar, wobei die Konzentration auf ihre einzigartige Persönlichkeit gelenkt wird. Als ihr charakteristisches Merkmal gilt eindeutig die Zerrissenheit. Als Nina noch jung war, starrte sie von Kühnheit und Mut. Sie war voller „Neugier auf Erfahrung, auf Leiden, auf den Tod“ (N, S. 228). Sie glaubte an Schicksal, was ihr eine Art der Sicherheit gab.

„[…] die meisten Menschen haben kein Schicksal. Daran sind sie selber schuld, sie wollen keins, sie nehmen lieber hundert kleine Stöße hin als einen einzigen großen Stoß. Aber die großen Stöße tragen einen vorwärts, die kleinen drängen einen nach und nach in den Dreck, aber das tut nicht weh, das Abgleiten ist bequem. […] man soll es sich immer eingestehen, wenn man auf einem Weg nicht mehr weiterkommt.“ (N, S. 105)

Auch wenn der Schicksal nicht gut erscheint, soll der Mensch ihn im Stillen annehmen. Und wenn man auf dem Weg der Irreführung geraten ist, soll man den Fehler anerkennen und von Anfang an beginnen. Nina lebt nach dieser Regel, was lässt sich bei der ersten Scheidung betrachten. Sie erkennt ihren Irrtum an, als sie die Ehe mit Percy auflöst. Durch den ganzen Romanband lässt sich Ninas Anspruch nach Freiheit spüren. Sie meint damit vor allem die Freiheit von Menschen zu halten. Sie hat ein „Durchgangsgefühl“ (N, S. 180). Sie sehnt danach, die Menschen kennenzulernen und dabei neue Erkenntnisse zu

54 sammeln, ohne dass sie an jemanden durch starke emotionale Verbindungen gekettet werde. Sie möchte dem Leben einen höheren Sinn geben, deswegen bemüht sie sich ihre Persönlichkeit ständig zu entwickeln.

„Ich fühle mich in der Situation eines Kindes, das einen großen, starken Baum, den es mit den Armen nicht umspannen kann, zu schütteln versucht, weil es im Laub noch einen Apfel vermutet.“ (N, S. 388)

Nicht nur Ninas Freiheitsdrang, sondern auch den Anspruch nach der Humanität lässt sich aus dem Text erkennen. Zusammen mit Dr. Stein hilft sie den Flüchtlingen über die Grenze durchgehen. Infolge der Mithilfe zum Hochverrat wird sie eingesperrt und nach dem Kriegsende entlassen. Wegen ihrer unbesiegbaren Lust nach dem voll gelebten Leben findet sie Anerkennung in den Augen des Arztes Stein sowie in den Augen ihrer Schwester Margret. Nicht zuletzt bewundert Nina den Leser, der die allmähliche Veränderung in Ninas Persönlichkeit betrachtet. Vor allem die Leserinnen lassen sich dabei mit ihr leicht identifizieren. Es wird angenommen, dass es Luise Rinser gelungen ist, mit Nina ein Frauenbild zu schaffen.

„[…] Nina Buschmann ist eine moderne Frau, Musterbeispiel einer emanzipierten Frau. Sie verdient für sich und ihre Kinder selbst, braucht keinen Mann, denkt klar wie ein Mann und packt das Leben an wie – ach, ich weiß nicht.“(N, S. 205)

Nina ist die Frau mit kräftigem Willen, der ihr ermöglicht, klare Entscheidungen zu machen. Sie fordert immer das Äußerste von sich und dies verlangt sie auch von den anderen. Sie wird zu dem Prototyp der emanzipierten Frau, die die Ansicht vertritt, dass die Frau immer frei sein muss, obgleich sie eine Ehefrau ist. Sie glaubt an die Ehe eher nicht, aber schließlich verhindert sie sie nicht. Sie wirkt als eine verwirrte Kreatur. Sie heiratet zweimal, wobei Nina erstens sowie zweitens die Ehe nur als Aufgabe betrachtet. Im ersten Roman verspricht die Ehe Percy, weil er sie trotz ihrer Schwangerschaft mit einem anderen Mann heiraten will. Im zweiten Roman geht die Ehe von keinem Mitleid erregenden Zustand aus, sondern von einer Resignation, als Nina den schwermütigen Geliebten Maurice heiratet, um ihn vor der Selbstzerstörung zu retten.

„[…] ich habe von Kindheit an jede Aufgabe angenommen, die sich mir gestellt hat. Ich bin Schwierigkeiten kaum je ausgewichen, ich habe sogar eine tiefe Befriedigung darin gefunden, das Schwierigste zu tun, dasjenige, was meine Kräfte zum Äußersten anspannen musste.“ (N, S. 326)

55

Das oben genannte Zitat verdeutlicht eine der Ursachen, warum Nina in die Ehe wieder tritt. Im Laufe der Zeit stellt sie fest, dass es auch solche Aufgaben gibt, die nur als Versuchungen gelten. Damit stellt sie infrage ihr Status quo, als sie bestätigt, dass es nicht wahr ist, dass man jede Aufgabe annehmen muss, die man gestellt bekommt (Vgl. N, S. 456). Sie beginnt zu zweifeln, ob sie jedoch zu schwierige Aufgabe an sich nicht genommen hat, als sie sich entschied, mit schwermütigem Maurice zu leben. Bis nach seinem Tod kommt sie zur Erkenntnis, dass es nicht wichtig ist, zu gewinnen. Vielmehr wichtiger ist es zu überstehen.

„Niemals leistet man das Vollkommene. Immer ist es Stückwerk, und immer bleibt der brennende Schmerz des NichtGenug.“ (N, S. 541)

Dabei ist es bedeutungsvoll zu bemerken, dass Nina „unfähig zu Halbheiten“ (N, S. 493) ist. Sie stellt jene Frau dar, die mit Vollgas durchs Leben geht. Sie gibt alle ihre Bemühungen, um das festgestellte Ziel zu erreichen. Trotzdem dass sie in der Ehe schon todmüde ist, macht sie alles Mögliche, um ihre Aufgabe der Verheirateten zu erfüllen. Sie will nicht versagen. Fakt, dass sie schon doch mal die unglückliche Ehe erlebt hat, bringt ihr Befürchtungen. Je größere Angst hat sie, desto mehr wünscht sie diese Ehe nicht zum Scheitern zu bringen. Zugleich wie den Freiheitsdrang versucht sie den Wunsch nach der Ordnung zu erfüllen. Sie spricht, dass es eine Ordnung geben muss, der man sich zu fügen hat und dass die Ehe wohl ein Teil und Ausdruck dieser Ordnung ist (Vgl. N, S. 308). Deshalb lehnt sie anfänglich die Heirat mit Maurice ab, der schon eine Frau und Kinder hat. Sie will nämlich nicht zur Unordnung in der Welt beitragen. Die nachstehende Aussage von Nina erklärt ihre komplizierte Beziehung zu Maurice:

„Ich war wie ein Schaf, das angepflockt ist. Der Strick, der es hält, ist so lang, dass dem Schaf die Täuschung der vollkommenen Freiheit sehr lange bleibt. Das törichte Tier bewegt sich rund um den Pflock, einmal und wieder und immer wieder, im guten Glauben, frei in die Wiese hineinzulaufen, und dabei wickelt sich der Strick um den Pflock, und immer kürzer wird er, und immer kleiner wird der Kreis, der ihm erlaubt ist, und das Schaf merkt es noch immer nicht, aber schließlich ist der Strick völlig um den Pflock gewickelt, und das Schaf steht da und ist gefangen, fast erwürgt und zitternd. Wer aber hat das Schaf angepflockt? Kein Schaf tut das selbst.“ (N, S. 348)

Es geht um das Gleichnis vom angepflockten Schaf, das Nina repräsentiert. Die ursprüngliche Leidenschaft, die sie am Anfang der Beziehung empfindet, stellt eine Illusion der Freiheit her. Die liebesvolle Beziehung zwischen beiden Verliebten bewirkt, dass sie sich immer mehr mit ihm emotional verbunden fühlt und dass sie unfähig ist, ihn zu verlassen. Sie verliert damit auch bestimmte Freiheit.

56

„Ich habe dieses mein Schicksal niemals als unwürdig empfunden, niemals als ‚Opfer‘ und nicht einmal immer als schwierig. Gewiss, jedermann weiß das: es war kein bequemes Leben, doch es war wirkliches Leben, intensivstes Leben in jedem Augenblick, es hat mich nicht überfördert, wie Sie glauben, aber es hat mich zur höchsten Anspannung herausgefordert, und das war gut so.“ (N, S. 535)

Das Zitat bestätigt Ninas Glauben an Schicksal und Ordnung. Die Tatsache, dass über alles schon vorher bestimmt wurde, hält sie für richtig. Sie meint, dass alles so gut ist, wie es ist. Außerdem ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich Nina als kein Opfer fühlt. Sie lässt nicht der einzige Ausdruck Opfer gelten und spricht, dass kein menschlicher Verzicht tatsächlich den Namen Opfer verdient. Nina gibt doch ihr eigenes Leben auf, um ein anderes zu erfüllen. Sie stellt sich so unbewusst in die weibliche Opferrolle. Das hat seinen Grund in den Verhaltensweisen, die von Generation zu Generation entwickelt wurden. Dieses Verhalten behinderte das weibliche Wesen zu entwickeln. Doch versucht Nina ihre Persönlichkeit zu stärken. Trotz dem Gefühl, dass sie nirgendwohin gehört, sieht sie kein Ausweg mehr darin, sich für einen Mann zu opfern.

„[…] ich habe niemals das Gefühl in mir genährt, dass ich in meiner Ehe mich ‚opfere‘. Ich mag dieses Wort nicht. Es scheint mir eine Lüge oder doch eine Ungenauigkeit der geistigen Erfahrung zu enthalten. Entweder man liebt, und dann ist jeglicher Verzicht im Grunde und in Wahrheit nichts als eine Liebestat, die unser eignes Glück erhöht. Oder aber man liebt nicht, dann ist das ‚Opfer‘ ohne Wert und Sinn, eine taube Nuss, eine Kerze ohne Docht, ein Brunnen ohne Wasser.“ (N, S. 540)

In dem zweiten Roman wird die Aufmerksamkeit vor allem auf die Glaubenentwicklung Ninas gerichtet. Sie gehört zum bedeutenden Teil ihrer Persönlichkeitsbildung, weil die Wurzeln des Glaubens schon in ihrer früheren Kindheit greifen. Nina erlebt einen Konflikt mit den ursprünglichen Lebensentwürfen, als sie wieder zur Weg des Glaubens zu übertreten versucht. Sie betet aus Liebe zu Gott, aber will nicht zu Katholiken eingeordnet werden. Als Kind war sie nämlich streng katholisch erzogen, das bedeutet, dass sie sehr nah zu Gott war. Es scheint plausibel zu vermuten, dass eben ihre frühe Hingabe zu Gott für ihre Abkehr von der Kirche verantwortlich ist und auch die Tatsache, dass Gott zu ihr sehr streng wie ihr Vater war. Ihrer Meinung nach hat sie Gott über Gebühr geprüft und hat damit seine Absicht verfehlt, von ihr eine bessere Frau zu schaffen (Vgl. N, S. 465). Nina konfrontiert ihre eigene Weltanschauung mit der katholischen Weltordnung. Ninas Weltordnung wird durch folgende wesentliche Aspekte dargestellt: Einfluss der Mystik, die göttliche Welt und ihre übernatürliche Wirkung auf sie, und nicht zuletzt damit

57 verbundener Grundsatz der Gnade. Durch zahlreiche Bücher erfährt Nina über andere Religionen und Philosophien, die ihr moralisch sehr beeinflussen. Trotzdem ist sie der Meinung, dass man nicht die einzelne Weisheiten aus der Religion nehmen kann, sondern muss die Religion als die Gesamtheit von ihrer allen Wahrheiten aufnehmen, sonst hat man überhaupt nichts davon. Nina beschreibt ihr mystisches Erlebnis folgend:

„In großer Angst und Verwirrung verließ ich die Kirche. Draußen atmete ich auf. Ich glaubte entkommen zu sein, entkommen in die Natur, wieder geborgen in ihr. Die Sonne schien, die roten Kastanien blühten, die Amseln sangen, die Erde duftete feucht, ich sah, hörte, roch, fühlte alles, und ich musste erkennen, dass ich es doch nicht mehr fühlte. Alles war da, wie es immer dagewesen war, doch ich war nicht mehr, die ich vorher gewesen war. Ich gehörte nicht mehr dazu. […] Ich, die seit Jahren nicht mehr kniete, ich warf mich hin, ich überlieferte mich, ich war bezwungen.“ (N, S. 491 f.)

Dieser plötzlich vernommene Anruf zur völligen Hingabe an Gott bedeutet für Nina wichtige Veränderung in ihrer Glaubenentwicklung. Nach dieser Erfahrung ist sie davon überzeugt, dass die katholische Welt außerhalb der Natur steht. Aufgrund dieses Erkenntnisses nähert sie sich zu Gott. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass Gott als Ausdruck seiner Liebe die Gnade benutzt, ohne die man das Gute nicht tun kann. Damit lässt sich konstatieren, dass die göttliche Gnade als Hilfe von außen zum Menschen kommt. Nach dem tödlichen Autounfall ihres Ehemannes empfindet Nina eine bestimmte Erleichterung. Dies bestätigt die große Erschöpfung ihres weiblichen Wesens. Schließlich kommt sie zur Überzeugung, dass sie bereit ist, sich einem höheren Zweck hinzugeben. Sie verwirklicht Opfer für keinen Menschen mehr, nur für Gott. Damit zeigt es sich, dass die ersehnte Ordnung der Welt nur durch Gott geschafft werden kann.

5.5. Nina kontra die Autorin

Ninas Bild entspricht besonders die Phantasie der Autorin. Sie imaginiert das Erlebte und mit solcher Art und Weise bemüht sie sich das Ersehnte anzutasten. Deshalb lässt sich nicht bestätigen, dass Nina ganz und gar die Autorin ist. Diese Annahme beruht hauptsächlich auf der Aussage der Autorin, dass ihre Leser sie mit Nina identifizieren, ohne Rücksicht auf ihre literarische Erfindung. 72 Gegen diese Behauptung kann man jedoch aufgrund der Lektüre einwenden. Im Folgenden sollen daher Ähnlichkeiten aber auch einige Unterschiede in der Betrachtung der Romanengestalt sowie der Autorin selbst auf den Punkt gebracht werden.

72 Vgl. DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 251. 58

Das Gemeinsame lässt sich schon in den Erinnerungen an Kindheit der beiden betrachten. Nina sowie die Autorin erlebten eine düstere Kindheit, die eine wichtige Rolle in ihrer Weiterentwicklung spielte. Beide verknüpfen vor allem mit dem Mutterbild unschöne Erinnerungen. In Mitte des Lebens steht, dass Ninas Mutter intelligent, aber kalt und ohne Feinfühligkeit ist (Vgl. N, S. 36). Nina fühlte sich unangenehm bei ihrer Mutter, was auch folgendes Zitat beschreibt:

„Die Atmosphäre von N.’s Elternhaus ist erstickend. Man geht dort auf Zehenspitzen und wagt nichts anzufassen. Man hat das Gefühl, selbst die knapp aber gerecht zubemessene Atemluft dort sei steril und unterstehe der Gewalt dieser ordnungstüchtigen Frau.“ (N, S. 36)

Zwischen ihnen herrschte also ebenso keine ideale Beziehung wie zwischen der Autorin und ihrer Mutter, die in ständiger Spannung lebten. Die Schriftstellerin selbst sagte anmerkungsweise: „Aber: wenn diese Frau nicht meine Mutter gewesen wäre, so wäre das für beide ein Segen gewesen.“ 73 Luises Mutter war großzügige, energische und gefühlvolle Frau. Sie half jemandem, wer in einer Notlage geriet, ihre Tochter ausgenommen. Die Mutter suchte nur nach Fehlern bei ihr,74 also die Abneigung wird für ihre Entwicklung bestimmend. Was die Väter der beiden betrifft, auch in diesem Zusammenhang kann man eine Ähnlichkeit sehen. Ihre Väter prägten sich in strenge katholische Erziehung aus. Sogar sieht Nina seinen Vater als Gott an. Sie gibt ihm die Schuld daran, dass er sie „unkindlich, frühreif, widerspenstig“ (Vgl. N, S. 465) gemacht. Sie spricht auch über seine Strenge bis Härte, als sie Schläge bekommen hatte.

„Wie hilflos war der Vater allen Schwierigkeiten gegenüber. Wenn er nicht mehr aus noch ein wusste, ließ er seinen Zorn an mir aus, gleichviel, ob ich oder irgendeine Lebensschwierigkeit diesen Zorn erregt hatte. Finstere Jahre.“ (N, S. 333)

Während die Heldin erinnert an ihren Vater nur mit Grauen, kann man in dem Verhältnis der Autorin zu ihrem Vater auch etwas Positives zu sehen. Beispielsweise ist es bekannt, dass ihr Vater sie durch die Musik zur Höhe leitete.75 Er inspirierte sie ebenfalls zum Lehrerberuf. Die ganze Tragödie ihrer Kindheit lässt sich alles in allem im Verhältnis Mutter – Kind begreifen, weil ihre Mutter eifersüchtig auf sie zu sein scheint. Das eigentliche Problem liegt in der großen Ähnlichkeit der Autorin zu ihrem Vater, was verursacht, dass sie ihre eigene Existenz bedrücken musste. „Ich durfte kein eigenes Leben haben, ich war an meine Eltern gekettet

73 Ebd. S. 28. 74 Vgl. ebd. S. 27. 75 Vgl. ebd. S. 48. 59 wie ein Galeerensklave mit Kette und Kugel an die Beine der Mitsträflinge.“ 76 Zusammenfassend kann man konstatieren, dass die Kindheitsgeschichte der Autorin sowie der Hauptfrauengestalt der NinaRomane an Mangel der Liebe leidet. Daraus geht hervor, dass sich Luise Rinser bei der Darstellung dieser weiblichen Figur von ihrer eigenen Lebensgeschichte mindestens inspirieren ließ. Beide haben auch zwei Kinder, die ohne Vater erzogen waren. Ein der wichtigsten Gründe ist es, dass sowohl der wirkliche Rinsers Sohn Stephan als auch der Sohn der fiktiven Figurgestalt seinen Vater nicht kennten. Sie verbrachten viel Zeit im Internat, weil Nina sowie die Autorin in Schwierigkeiten geraten waren. In bestimmter Zeit mussten beide selbst Geld verdienen, um die Kinder zu versichern. Anders gesagt schien die Arbeit derzeit wichtiger als Kinder. Andermal bevorzugten sie das Verhältnis mit einem Mann. An dieser Stelle muss man betonen, dass in beiden Fällen um einen Künstler geht und keines von Kinder von ihm ist. Hier ist eine weitere bedeutende Parallele zu sehen. Der Unterschied lässt sich im genauen Grund betrachten, warum die Kinder ins Internat geschickt wurden. Dabei kann man den Umgang mit Differenz zwischen Erlebten und Ersehnten erfahren. Während die Kinder von Luise Rinser in bestimmter Zeit mit dem Stiefvater lebten, blieben Ninas Kinder vor dieser Ehe bewahrt. Die Wirklichkeit war, dass die Künstlerehe die Aggressivität des jüngeren Stephans verursachte, weil er voll von Eifersucht auf den Stiefvater Carl Orff war.77 Nun scheint es so zu sein, dass die Autorin mit dem Erlebten im ihren Werk fertig werden wollte. Deshalb gibt die Romanfigur ihre Kinder noch vor der geplanten Ehe mit dem Künstler auf. Obwohl Nina ihre Kinder liebt, werden sie von ihr getrennt. Sie ist der Meinung, dass es so sein muss, um Missverständnissen vorzubeugen. Es erscheint, als ob die Figur schon wüsste, was es passieren konnte. Die Heldin war auch während des Krieges im Gefängnis wie die Autorin selbst. Sogar geht es gleichfalls um die Haftanstalt von Traunstein. Darüber hinaus lässt sich leicht beweisen, dass der Roman autobiographische Züge hat. Nicht nur die Gefangenschaft, sondern auch die Tatsache, dass Nina wie eine zweite Luise Rinser wirkt, bezeugt der autobiographische Eindruck des Werkes. Es scheint zunächst plausibel anzunehmen, dass die Schriftstellerin durch Ninas Bild viel über sich selbst eher unbewusst schreibt, um ihr eigenes Leben zu bewerten. Wie Nina spricht: „Jeder ist so, wie er schreibt. Du kannst nicht trennen.“ (N, S. 95 f.).

76 Ebd. S. 30. 77 Vgl. ebd. S. 259. 60

Auch die Tatsache, dass NinaRomane den Weg der werdenden Schriftstellerin darstellen, weist auffallende Übereinstimmungen mit Luise Rinser auf. In Mitte des Lebens befindet sich eine Geschichte von Nina, die nach ihren Wörtern ausschließlich auf die Handlung gearbeitet ist (Vgl. N, S. 118 f.), was sie für ganz unwichtig hält. Es ist offensichtlich, dass das Schreiben für sie eine bestimmte Art und Weise der Befreiung von sich selbst bedeutet. Berücksichtigt man diesen Aspekt, dann wird es deutlich, dass die Autorin ein Körnchen Wirklichkeit in Nina als Schriftstellerin hineingesetzt hat. Dies soll nun an folgendem Zitat deutlich gemacht werden:

„[…] alles ist verworren und unordentlich, ohne irgendeine Logik, improvisiert das Ganze, und da reißt man nun ein Stück heraus und baut es auf nach einem sauberen kleinen Plan, den es in Wirklichkeit nicht gibt und der lächerlich erscheint vor der Verworrenheit des Lebens. Alles nur gestellte Photographien. Meine Geschichte auch. […] Ich schreibe alle meine Geschichten dreimal und viermal. Ich dreh, den Stoff durch die Mühle, bis er sich selbst nicht mehr erkennt.“ (N, S. 119)

Darüber hinaus lässt sich leicht beweisen, dass ihr Schreibprozess ist identisch. Nina schafft mit gleichem Stil wie die Autorin, d. h. unstrukturiert, weil sie alles mehrmals überarbeiten muss. Aufgrund solcher Verarbeitungen ist es schwer, die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung zu bestätigen. Deshalb konnte sich die Autorin erlauben zu behaupten, dass Nina ganz und gar nicht sie ist. Beispielsweise ist Nina als eine solche NegativFigur dargestellt, die in einer Bar Whisky saufend den Geliebten erwartet, und noch schlimmer, ihre Kinder aus erster Ehe einfach ins Internat steckt und nach England geht, dem Geliebten entfliehend… Wie die Autorin selbst spricht, hatte sie damals noch nie Whisky getrunken. 78 Bei näherer Betrachtung hingegen zeigt sich, dass die Autorin viel von sich in die fiktive Figur gesetzt hatte, wie es schon vorher analysiert geworden ist. Trotzdem ist festzuhalten, dass sie es in manchen Fällen nicht bewusst getan hat. Wohlgemerkt dient Nina dem Identifizieren nicht nur mit der Autorin, sondern auch mit den Lesern. Vor allem sie glauben, dass man das nicht erfinden kann, nur das erlebt haben muss. 79

78 Vgl. ebd. S. 251. 79 Vgl. ebd. 61

5.6. Vergleich der Romanfiguren mit realen Personen

Für viele Gestalten in beiden NinaRomanen findet man Vorlagen im realen Leben der Autorin. Es gibt so die Parallelen nicht nur zwischen der Hauptfrauengestalt und der Autorin, sondern auch zwischen den anderen Protagonisten und den wirklichen Personen. Dabei muss man einführen, dass die Autorin keine eindeutigen Vorbilder gibt. Diese Behauptung bedarf einer näheren Analyse. Als erstes wird untersucht, inwiefern sich die Übereinstimmung zwischen Dr. Stein und Franz Seitz in Betracht ziehen lässt. Als nächstes wird die Parallele zwischen dem fiktiven Maurice und realen Fritz Landshoff analysiert, um festzustellen, inwieweit diese Figur mit Rinsers Leben übereinstimmt. Es soll auch beleuchtet werden, wer sich hinter den Initialen A. M. verbirgt. Weiterhin wird erläutert, ob auch die anderen Romangestalten etwas Reales von dem Leben der Autorin in sich selbst haben. In erstem NinaRoman tritt die Figur des Arztes Stein auf, der in Nina unglücklich verliebt ist. Die Fatalität liegt auf der Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung zwischen beiden. Durch den gegenseitigen Briefwechsel entwickelt sich eine enge Freundschaft, die sich bei ihm, nicht aber bei Nina in Liebe verwandelt. Für einen der Gründe lässt sich halten, dass Dr. Stein nämlich um 20 Jahre älter als Nina ist, für die nur „der väterliche Freund“ 80 bedeutet. Hinter dieser Figur verbirgt sich der knapp dreiundzwanzig Jahre ältere Lehrer, Reformpädagoge und Philosoph der Süddeutschen Bewegung Franz Seitz, mit dem Luise Rinser eine rege Korrespondenz in der Hitlerzeit führte. 81 Genau wie im Buch diente er für sie als Vertrauter, dem sie ihre Probleme mitteilen könnte. Zugleich öffnete er sie seine Seele in der Hoffnung, dass sie mit der Zeit etwas mehr zu ihm empfinden wird. Obwohl er die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen erkennt, leidet er unter dieser unerfüllten leidenschaftlichen Liebe. Das Gefühl steht in diesem Fall gegen den Verstand. Dieser Widerspruch verbindet beide – den Protagonisten Dr. Stein sowie seinen Modell Franz Seitz. Im zweiten NinaRoman kommt die männliche Gestalt Maurice vor, der als schwermütiger Opernsänger dargestellt ist. Hier lässt sich einige Gemeinsamkeiten mit Rinsers Ehemänner Horst Günther Schnell und Carl Orff betrachten. Es handelt sich darum, dass die beiden Genies waren und dass die Autorin in Abenteuer der Tugend eben die Künstlernatur verarbeitet. Außerdem widmet sie sich dahin der Problematik der künstlerischen Ehe. Abgesehen davon, dass sich die Autorin offensichtlich von ihnen

80 Ebd. 81 Vgl. ebd. S. 79. 62 inspirieren ließ, liegt es nahe zu vermuten, dass sie jemanden anderen als Modell für die Figur Maurice benutzte. José Sánchez de Murillo schreibt:

„Maurice ist Fritz Landshoff, Literat und tüchtiger Verleger, morphiumsüchtiger leidenschaftlicher Liebhaber, der sie die Ekstase der sexuellen Vereinigung hat auskosten lassen.“ 82

Zur Erklärung dieser Tatsache wird jenes Lebensteil der Autorin in Betracht gezogen, als sie Paris kennenlernte, d.h. in der Zeit der Veröffentlichung ihres ersten NinaRomans. In dieser Zeit erlebte sie mehrere Liebesabenteuer. Während aus dem Verhältnis zu dem Juristen Martin Flinker eine Freundschaft wurde, bedeutete für sie die Liebesbeziehung zu dem Literaten Fritz Landshoff eine Leidenschaft. Sie war von seiner leichtlebigen Welt fasziniert. Dieses Erlebnis drang in sie so tief ein, dass sie es in ihrem Werk zu verarbeiten versuchte.83 Gerade Fritz Landshoff wird demnach als Modell für die männliche Gestalt Maurice dienen. Sie werden von einer Sehnsucht gequält. Maurice leidet an Schwermütigkeit, während sein Vorbild von Morphium süchtig wurde. Beide aber finden die Befriedigung im Spiel. Bei Maurice geht es um eine Maske, die er vor den Zuschauern trägt. „Für Landshoff sind Spiel und der darauffolgende Liebesrausch die Krönung der Therapie.“ 84 Wie schon oben erwähnt wurde, findet sich im Buch eine getarnte Person mit den Initialen A. M. Nach Murillo bezeichnen sie den Benediktiner Dr. phil. Johannes Maria Hoeck. Diese Behauptung gründet sich auf den um vier Jahre später geschriebenen Roman von Luise Rinser Die vollkommene Freude , in dem diese Figur plötzlich in Erscheinung tritt.85 Johannes M. Hoeck war mit der Schriftstellerin eng befreundet, trotzdem bedeutete sie für ihn eine Störung in seinem Leben. Er verliebte sich nämlich in sie, obwohl er Mönch wurde und damit den Zölibat geschworen hatte.

„Er war hart zu seinen Mönchen. Auch zu sich selber. Auch zu mir. Aber nicht konsequent. Und diese Inkonsequenz wurde mein Leiden, und mein Leiden war das seine. […] Es war etwas Rebellisches in M.A., tief verborgen.“ 86

Luise Rinser hatte den Abt von Ettal sehr geschätzt und geliebt, weil er von einer „poetischen Aura“ 87 umgeben war. Diese besondere Ausstrahlung voller Macht und Unerreichbarkeit reizte die Dichterin. Die Spannung zwischen den beiden wurde immer mehr unerträglich. Sie

82 Ebd. 251. 83 Vgl. ebd. S. 252 f. 84 Ebd. S. 253. 85 Vgl. ebd. S. 273. 86 Ebd. S. 274. 87 Vgl. Ebd. S. 280. 63 hatten sich lieben gelernt, ohne sich zur sexuellen Ebene zu erniedrigen. Es war notwendig und ohnehin unmöglich für sie, sich zu trennen. Nicht zuletzt muss man betonen, dass der Abt für die Schriftstellerin eine verkörperte Religiosität vorstellte. Dieser beschriebene Konflikt zwischen Zölibat und Liebesverlangen wird literarisch im zweiten NinaBuch verarbeitet. Der Abt Hoeck wird hier als solches unerreichbare Ziel einer geheimnisvollen Liebe behandelt. In erster Linie muss man konstatieren, dass die Vorbilder für die Protagonisten Dr. Stein, Maurice und der Abt A. M. leicht identifizierbar sowieso nicht eindeutig sind und dass es sich um unmittelbar belegbare Angaben handelt. Erst in zweiter Linie kann die Aufmerksamkeit auf andere Modelle gerichtet werden, die nur als Vermutungen existieren können. Damit wird gemeint, dass sie lediglich durch einige charakteristische Eigenschaften verknüpft worden sein können. Dieser Sachverhalt soll nun an einem Fallbeispiel verdeutlicht werden:

„[…] ein Mädchen ist verlobt, lernt mich kennen, große Leidenschaft beiderseits, ich will sie an mich binden, und sie wird schwanger. Der Verlobte erfährt es von ihr, aber er will sie trotzdem nicht freigeben. Sie bleibt bei ihm. Das Kind gilt als seins.“ (N, S. 26 f.)

Das folgende Zitat illustriert die Situation der Hauptprotagonistin aus der Sicht von Alexander, der im Roman der wirkliche Vater von Ninas erstem Kind vorstellt. Der Verlobte ist selbstverständlich Percy Hall, für den kein Modell im Leben der Schriftstellerin vorhanden ist. Im Vergleich zu ihm lässt sich jedoch ein hypothetisches Bild für die Figur Alexander im Rinsers Leben zu finden. Man kann aber nur vermuten, ob dieses Modell mit dem Vater von Rinsers Sohn Stephan übereinstimmt. Die Schriftstellerin hat nämlich niemals seine Identität preisgegeben.

64

6. Zusammenfassung

In folgenden Abschnitten wird das bisher Gesagte in eine zusammenfassende Gesamtschau übergeführt, um die Ergebnisse der Untersuchung darzustellen. Die Magisterarbeit widmet sich der deutschen Schriftstellerin Luise Rinser, ihrer frühen Schaffensperiode und insbesondere den Bespiegelungen der Autorin in den vier ausgewählten Werken, und zwar in den Erzählungen Die gläsernen Ringe und Jan Lobel aus Warschau sowie in den NinaRomanen Mitte des Lebens und Abenteuer der Tugend . Auf den ersten Blick weisen sie nur einige Auffälligkeiten auf, aber nach einer ausführlichen Untersuchung erkennt man, dass sie viel mehr mit der Persönlichkeitsentwicklung der Autorin zusammenhängen, als man erwartet. Rinsers frühe Werke bestätigen, wie sie bedeutsam für das Verständnis der Autorin sind. Sie stellen eine Form der Verarbeitung ihrer Lebensgeschichte dar. Sie beinhalten bestimmte Elemente, aufgrund deren lässt sich leicht zum widersprüchlichen Denken der Autorin anzunähern.

„Bei ihr stand das Denken im Dienste des Lebens. Umkehr des Denkens bedeutete für sie: Wandlung des Menschen zum Guten hin.“ 88

Während sie sich beim Schreiben der ersten Erzählung von ihrer eigenen düsteren Kindheitsgeschichte inspirieren ließ, wirkt die Hauptfigur ihrer bekannten NinaRomane als zweite Luise Rinser. Als charakteristisches Merkmal dient dabei eindeutig die Zerrissenheit der Protagonistin. Tatsache, dass die Schriftstellerin ihre eigene Vergangenheit verzerrte, lässt sich betrachten als Fehltritt. Trotzdem sollte man sagen, dass jeder Fehler macht, was menschlich ist. Nicht zuletzt ist der Lebensweg eines Menschen mehr als die einzelnen Schritte. 89 Zusammenfassend kann man festhalten, dass das schönste Werk Luise Rinsers nicht beschrieben, sondern gelebt wurde, 90 weil sie sich selbst in Szene gesetzt hat. Daraus ergibt sich, dass ihr eigenes Leben als ein großes einziges Werk wirkt. Der Schluss resümiert also die Lebensgeschichte und Werkstatt der Autorin und zieht zum Fazit der Untersuchungen, warum Luise Rinser die bedeutende Rolle in der

88 DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, S. 421. 89 Vgl. ebd. S. 423. 90 LANGENHORST, Georg: Hans Rüdiger Schwab: Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 18.04.2014). 65

Literaturgeschichte spielt. Nicht nur die Autorin selbst, sondern auch aktuelle Themen und interessante Denkanstöße sind die Gründe, warum sich lohnt, ihre frühen Werke zu lesen. Schließlich lässt sich sagen, dass sie auf jeden Fall wert sind. Außerdem kann man Luise Rinser dank dem verwendeten Sprachstil, der vor allem das weibliche Publikum anspricht, zu den Erbauungsschriftstellerinnen zählen. Die vorliegende Darstellung hatte zum Ziel, auf SelbstSpiegelungen der Dichterin in ihrem frühen Werk zu zeigen und zu bestätigen, dass die Selbstinszenierung ein wichtiger Baustein für ihren Erfolg war. Sie versucht damit einen Beitrag zur RinserForschung zu leisten, um das Verständnis der prominenten Schriftstellerin dem Leser zu erleichtern.

66

7. Literaturverzeichnis 7.1. Primärliteratur

RINSER, Luise: Die gläsernen Ringe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1996.

RINSER, Luise: Jan Lobel aus Warschau. Erzählung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1981.

RINSER, Luise: Nina. Zwei Romane. Stuttgart: Evangelische Buchgemeinde, 1957.

7.2. Sekundärliteratur

BAUREITHEL, Ulrike: Luise Rinser: Das Abenteuer der Tugend. In: Der Tagesspiegel, Kultur, 2001. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 10.4.2014).

CZOIK, Dr. Peter: Luise Rinser. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 08.04.2014).

DE BRUYN, Günter: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1996.

DE MURILLO, José Sánchez: Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011.

HERLOßSOHN, Carl: Damen Conversations Lexikon. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 12.03.2014).

HINCK, Walter: Selbstannäherungen. Autobiographien im 20. Jahrhundert von Elias Canetti bis Marcel Reich-Ranicki. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag, 2004.

HOMANN, Ursula: Wer war Luise Rinser? [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 04.04.2014).

67

HURTH, Elisabeth: Vorbild oder Ärgernis? Luise Rinser in den Ambivalenzen ihres Lebens. In: Herder Korrespondenz – Monatshefte für Gesellschaft und Religion, 52011. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 01.02.2014).

JÜSSEN, Anne: Luise Rinser. Besuch bei einer alten Dame. In: abwasch – Das Frauenmagazin, Interview als Funkfeature, S.4647, 2002. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 12.02.2014).

KLEEBERG, Michael: Luise Rinsers Vergesslichkeit. Wie sich die prominente Nachkriegsautorin zur Widerständlerin stilisierte. In: Der Spiegel, 2/2011. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 05.04.2014).

KUCZYNSKI, Jürgen: Probleme (… Erfahrungen im Umgang mit dem eigenen Ich und Ansichten über die Kunst der Erinnerung) der Autobiographie. Berlin: AufbauVerlag, 1983.

KUSCHEL, KarlJosef: Mystik und Politik: Wandlungen einer Schriftstellerin. Zum 100. Geburtstag von Luise Rinser. S. 17. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 01.04.2014).

LANGENHORST, Georg: Hans Rüdiger Schwab: Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 18.04.2014).

LUISE RINSERSTIFTUNG: Vom Ursprung der Dichtung. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 13.02.2014).

REICHREINICKI, Marcel: Was spricht gegen Luise Rinser. In: Frankfurter Allgemeine, 2009. [Online] Zugänglich auf:

68 reichranicki/fragensiereichranickiwassprichtgegenluiserinser1845851.html> (Zugriff 01.02.2014).

RINSER, Christoph: War Luise Rinser eine Nationalsozialistin? Anmerkungen zu einem problematischen Sachverhalt. S. 14. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff 28.02.2014).

RÜSENBERG, Irmgard: Beispiegelungen des Selbst: Luise Rinsers Die gläsernen Ringe. S. 1216. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 16.02.2014.)

STARK, Florian: Luise Rinser fälschte ihre Lebensgeschichte. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 15.03.2014).

STOCK, Julia Trumpold: Verantwortung durch Erinnerung: Luise Rinsers autobiographisches Schreiben als Medium für die Nähe zu den Lesern. Dissertation, 2012. [Online] Zugänglich auf: (Zugriff: 18.04.2014).

69