Muellers Weg Ins Paradies Fredi Lerch
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Fredi Lerch · Muellers Weg ins Paradies Fredi Lerch MUELLERS WEG INS PARADIES Nonkonformismus im Bern der sechziger Jahre Rotpunktverlag Das vorliegende Buch bildet Fortsetzung und Abschluss des »Projekts NONkONFORM«, dessen erster Teil 1996 unter dem Titel »Begerts letzte Lektion« in der Reihe »WoZ im Rotpunktverlag« erschienen ist. Der Autor dankt der Stadt und dem Kanton Bern für die neuerliche finanzielle Unterstützung der Arbeit; Verlag und Autor danken zudem dem Kanton Bern und der Stadt Bern sowie der Burger- gemeinde Bern und der Pro Helvetia für Druckkostenbeiträge. Im Text verwendet wurden Zitate aus den Nachlässen von Walter Matthias Diggelmann, Friedrich Dürrenmatt (Dossier René E. Mueller), Hans Rudolf Hilty und Gertrud Wilker sowie aus dem Archiv des Berner Schriftsteller-Vereins, die alle im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA), Bern, liegen. Der Autor dankt den InhaberInnen der Urheberrechte und dem SLA für die Abdruckgenehmigungen. Der Autor bedankt sich bei all jenen, die das Projekt NONkONFORM mit Auskünften und Dokumenten gefördert haben, insbesondere aber beim Kollektiv der Wochen- Zeitung (WoZ), bei Beat Sterchi, Zeno Zürcher, Hanni Marti und Heidi Schmocker. Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Lerch, Fredi: Muellers Weg ins Paradies : Nonkonformismus im Bern der sechziger Jahre / Fredi Lerch. – Zürich : Rotpunktverl., 2001 ISBN 3-85869-218-2 © 2001 Rotpunktverlag, Zürich Alle Rechte vorbehalten. Bildmontage: Andi Gähwiler (Fotos: Norbert Janowsky und Sammlung Zeno Zürcher) Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe 1. Auflage Inhalt Muellers Ende . 9 DIE AUSRUFUNG DER NACHMODERNE (1961/1962) . 15 Der alte Indienfahrer: Muellers achtziger Jahre . 131 DER STREIT UM DEN GEISTIGEN NULLPUNKT (1962–1964) . 143 Der vogelfreie Dichter: Muellers siebziger Jahre . 255 DIE GARTENZWERGE PROBEN DEN AUFSTAND (1964–1966) . 271 Der trotzige Halbstarke: Muellers fünfziger Jahre . 433 UNRUHIGE ZEITEN IM BERNBIET (1967/1968) . 447 Der versorgte Unerziehbare: Muellers vierziger Jahre . 565 DIE BUNTE WELT DES WIDERSPRUCHS (1968–1970) . 577 Muellers Paradies . 705 ANHANG Anmerkungen . 711 Bibliografie . 779 Personenregister . 791 Bildnachweise . 803 BILDTEIL . I–XVI »In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.« (Walter Benjamin) Muellers Ende Am Nachmittag des 6. Februar 1991 beginnen sich die Angestellten des Hotels Neelakanta in Kovalam Sorgen zu machen. Sonst ist der hin- kende Europäer mit dem weissen Haar- und Bartgestrüpp von Zimmer 12A gewöhnlich gegen Mittag heruntergekommen und Richtung Strand davongetrottet. Heute hat man ihn nicht gesehen. Man ent- schliesst sich, die verriegelte Zimmertür aufzubrechen. Der Europäer liegt tot im Bett. Draussen vor dem Fenster die Brandung der Light House Beach, Touristenvolk unter Sonnenschirmen. Pech für den Mann: Das Hotelzimmer wäre noch bis zum 14. Februar zum Voraus bezahlt gewesen.1 Die »geliebte Tödin«, von der der Mann nicht nur geredet, sondern auch geschrieben hat, ist eine Woche zu früh gekom- men. Mag sein, er hat noch zu verhandeln versucht: »Ein Kurzes noch geliebte Fürstin, / du wirst sehn, / schenk mir noch einen Tag / noch eine Nacht / dann will ich lächelnd mit dir gehn.«2 Hat nichts genützt. Der Leichnam wurde in das Medical College von Trivandrum City überführt, in die benachbarte Hauptstadt des südindischen Staates Ke- rala.3 Im rechtsmedizinischen Institut führte man eine Obduktion durch und erstellte einen Bericht für die buchstabengläubigen Behör- den am anderen Ende der Welt, damit sie dort die Akten ordnungs- gemäss bereinigen könnten über ihren Müller, Ernst René, heimatbe- rechtigt in Boltigen, geboren in Bern am 3. Mai 1929, Sohn des Müller, Ernst und der Müller, Lina geborenen Lütschg. Eine Routineangelegen- heit für die Untersuchenden: kein Suizid, keine äusserlichen Verletzun- gen, die allenfalls auf einen Raubüberfall hinweisen würden – »natural cause«. Als Todesursache halten sie fest: »coronary occlusion«, Ver- schluss der verengten Herzkranzgefässe.4 In der schmeichelnden 9 Wärme der Nacht hat die Tödin sanft nach dem Herzen des Europäers gegriffen. »Leichter Abschied endlich / ohne Gepäck / lächelnd verrei- sen / mit der bleichen Geliebten.«5 Dann ab in den Kühlraum. Warten auf weitere Instruktionen. Wohin mit dem Toten? »Lasst mir meinen eigenen Tod«, hat er geschrieben6, und: »Nein! / Ich mag kein weisses Totenhemd / und keinen mit Messing beschlagenen Schrein, / will nicht in Nelken / und Rosen gebettet sein!«7 Aber ein Toter entscheidet nicht selber. Schon gar nicht einer, der zu Lebzeiten nichts anderes tat, als sich dagegen zu wehren, dass über ihn entschieden wird – von seiner Bevormundung am 2. August 19348 bis zu seiner endgültigen Wieder- bemündigung am 20. Dezember 1982.9 Diesmal wird alles gut: Die Be- hörden in Bern suchen Angehörige, finden schliesslich alte Bekannte, die bestätigen: Die billigste Lösung ist die, die der Tote sich gewünscht hätte, Bestattung vor Ort, kein Transfer in die Schweiz.10 Kehrte er in den letzten Jahren von seinen regelmässigen winterlichen Indienreisen zurück, hat er in Kloten jeweils gesagt, die Schweiz sei wirklich kein ar- mes Land, »aber ein bisschen ein armseliges«.11 Die Leiche des Europäers wird verbrannt, die Asche unter polizei- licher Aufsicht in den Fluss Trivandrum gestreut, einen Grabstein er- hält der Bestattete nicht, obschon er einmal bestimmt hat: »Sie sollen auf meinen Grabstein schreiben: ›Er lebte, bis er starb.‹ und ›lebte‹ sol- len sie zweimal unterstreichen.«12 Ein handschriftlicher Rapport über die Bestattung geht in die Schweiz, an das Departement für auswärtige Angelegenheiten, Sektion für konsularischen Schutz.13 Allenthalben kann danach das Dossier Müller, Ernst René endgültig geschlossen werden: in Polizeiarchiven, Gerichten und Regierungsstatthaltereien, in Erziehungsanstalten, Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken, in der Fürsorgedirektion und bei der Vormundschaftsverwaltung der Stadt Bern, bei der Krankenkasse Helvetia, im Sozialamt Amriswil und in Boltigen im Berner Oberland. Seither ist René E. Mueller frei, eine Hand voll Asche unterwegs im Ozean vor der Südspitze Indiens. »Jetzt soll meine Seele / weit draussen / im Meer versinken / und all mein Wissen / dass es schön war / mit ihr // Dann will ich kalt sein / wie Eis / 10 und über die Gletscher irren / als Frankenstein / dem die Liebe / mit Angst aufgewogen.«14 Mueller, geh noch nicht! Dein Wissen soll nicht untergehen, du poète maudit de Berne15, du Villon unserer Zeit16, du Ur-Beatnik mit dem mächtigen Bart17, du Antibürger, der gegen alles demonstriert hat, noch gegen sich selber, du Gammlerdichter, Tramper, Vor-68er-Hippie, du Blumenkind der Asphaltwüste18, Mischler und Schnorrer auf Leben und Tod. Du Herzensexistenzialist, Grenzgänger, Vagabund, selbst er- nannter Millionär der Zeit, Befreier der Freiheit, du Schalk, Schelm, Lacher und Kicherer vor dem Herrn19, du wortgewaltiger Potentaten- verächter und Frauenverehrer, du Schweizer Schriftsteller – wenn nicht der genialste, so doch der genitalste.20 Mueller, krakeelender Pil- lenfresser und Alkoholsäufer, du aktenkundig wieder und wieder de- nunzierter »infantiler, weichlicher und erblich belasteter Psychopath mit ausgesprochenem kompensatorischem Geltungsbedürfnis«21, du »arbeitsscheuer grossangeberischer und trunksüchtiger Mann«22, du »unverschämter, überheblicher Querulant«23, du falscher Hund, der, wenn er Geld brauchte, zweifellos noch die eigene Grossmutter ver- kauft hätte – und Geld brauchtest du immer. Bleib noch, du fulminanter Publikumsbeschimpfer in den Kellern, du Bürgerschreck in den Gassen der Altstadt Berns, du Projektionsfigur für alle Doch-dann-nicht-Ausge- stiegenen, du grösster Anekdotenkatalysator der Stadt seit Dällebach Kari, heimlich verehrtes Gegenbild zur biedermännischen Konformität, subproletarischer Ikarusmythos der halbstarken Kleinbürgersöhne, du ewiger Überflieger, Abstürzer und Unterwanderer, bleib! Bleib, noch leben ja deine Geschichten! Wer dabei war, spricht nicht von deinen Worten, sondern von deinen Taten – wie wenn du deine Poesie nicht geschrieben hättest, sondern gewesen wärst. Wie du von Beiz zu Beiz zogst als gefürchteter Meister des Borgs auf Lebens- zeit. Wie du erzählen konntest von deiner Zeit als Häftling in Witzwil oder von deinem Lagerfeuer auf dem Parkettboden der neu gemieteten Altstadtwohnung. Wie du nach Mitternacht vor die Berner Polizei- hauptwache am Waisenhausplatz zogst, um an der Spitze einer munte- 11 ren Schar Literaturbeflissener eine Dichterlesung zu halten; wie du weinflaschenschwingend gelesen hast und dein Publikum dich mit laut- starkem Applaus und Gejohle unterstützte; wie du schliesslich aus dem Garten der Hauptwache einen Strauss Rosen pflücktest und an das Ein- gangsportal der Polizei gepoltert hast, wie du dem Polizisten, der vor- sichtig öffnete, mit elegantem Schwung den Strauss überreichtest mit den Worten: »Rose für d’Schmier!«, wie du dann Einlass begehrtest, du habest für diese Nacht kein Bett zum Schlafen, und wie dich der Polizist bat: »Herr Müller, sit doch so guet und göht wyter« – wie dich die Stadt- polizei nicht mehr in ihren Zellen wollte, weil sie dich kannte von frü- heren Besuchen, weil sie wusste, dass du derart Radau machen konn- test, dass die anderen Völleriche in ihren Zellen erwachten und um Hilfe schrien, weil sie meinten, die Welt gehe unter.24 Mueller, bleib! Du mausetot? Du ein längst versunkner Asche- schleier im Ozean? Wers glaubt! Fragte doch