170 Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 5

Fréderic Longuet mit seiner Familie in Moskau, vor dem Marx-Engels-Museum, (Aufnahme 1963)

Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 5 171

Martine Dalmas, Rolf Hecker

Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau

Ein Anliegen in der Tätigkeit des Moskauer Marx-Engels-Instituts (MEI) bzw. der Nachfolgeeinrichtungen (IMEL, IML) war der (fast) kontinuierliche Kontakt zu den Mitgliedern der Familie Longuet, die in direkter Nachfolge von Karl und Jenny Marx und deren Tochter Jenny Longuet standen. Im Russländischen Archiv für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI) ist ein Dossier „Longuet“ überliefert, das 65 Dokumente umfasst, vor allem Briefe zwischen dem Moskauer Institut unter den Direktoren Rjazanov, Adoratskij, Mitin, Kružkov, Pospelov, Obiškin und Egorov und der Familie Longuet.1 Die Familienangehörigen haben dem Moskauer Institut bzw. der sowjetischen Parteiführung aus verschiedenen Anlässen einzelne Marx-Dokumente und persönliche Gegenstände aus dem bei ihnen überlieferten Marx- bzw. auch Engels-Nachlass übergeben. Es können einige Etappen in der Kommunikation zwischen dem Moskauer Institut und der Familie Longuet festgestellt werden:2 1928–31: Briefwechsel Rjazanovs mit Jean L. 1936–39: Verhandlungen des IMEL bezüglich des Erwerbs des Marx- Engels-Nachlasses von der SOPADE (beteiligt Jean L.); Kon- takt der Londoner Korrespondentin des IMEL Agnija Aleksan- drovna Majskaja zu Robert-Jean L.3 1948–53: Besuch von Edgar L. im IMEL und Übergabe von Materialien nach dessen Tod. 1960–63: Besuch von Marcel-Charles L. im IML Moskau, Besuch von Fréderic L. im IML Berlin und im IML Moskau und Übergabe von Dokumenten und Gegenständen.

1 Herzlicher Dank für die freundliche Unterstützung gebührt den Mitarbeitern des RGASPI Galina Golovina und Valerij Fomišev. Außerdem bedanken wir uns für die freundlichen Hinweise der Ururenkeltöchter Fréderique und Anne L.-Marx (). 2 Siehe Literaturnoe nasledstvo K. Marksa i F. Engel’sa. Istorija publikacii i izušenija v SSSR, Moskva 1969, S. 402/403 (fortan: Litnasledstvo). 3 Siehe Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941) (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 3), Hamburg 2001, S. 243–251 (fortan: Sonderband 3). 172 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Genealogie der Familie Longuet Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 173

Auch in den folgenden Jahren wurde der Kontakt zu den Longuets gepflegt. 1971 übergab aus Anlass der 100. Jahrestages der Pariser Kommune Marcel Charles L. in Paris an den stellvertretenden Direktor des IML Genadi Običkin einen ‚Schuhkarton’ mit Dokumenten und Fotos.4 1979 weilten Robert-Jean und Karl L. im Moskauer Zentralen Parteiarchiv (ZPA). Seitens des IML be- suchte die Mitarbeiterin des ZPA G. A. Judinkova mindestens zweimal (1979, 1980) die Familien Longuet in Paris. Anschließend (1980) war der wissen- schaftliche Mitarbeiter im Marx-Engels-Sektor des ZPA Boris Moiseevič Rudjak in Paris, der bei Karl und Simone L. die überlieferten Bücher ex libris Marx und Engels u.a. Dokumente in einer Liste erfasste. Das entsprach auch der vereinbarten Arbeitsteilung zwischen dem Moskauer und Berliner IML, wonach sich die Berliner Kollegen (hier vor allem Heinrich Gemkow) um die Nachfahren der Familie Engels kümmerten und die Moskauer um die Nach- fahren der Familie Marx.5 Simone L. ermöglichte Anfang der 1990er Jahre die erneute Durchsicht der bei ihr befindlichen Bücher für den Katalog aller überlieferten Bücher aus den Bibliotheken von Marx und Engels (MEGA² IV/32), in dem 1450 Exemplare verzeichnet sind, davon 22 Exemplare aus Paris.6 Zur Überlieferungsgeschichte der Marx-Dokumente in der Familie Longuet berichtete Robert-Jean L. Folgendes: „Unser Vater , seine Brü- der Edgar und Marcel erbten nach dem Tode der Großeltern eine ganze Men- ge Briefe, persönlicher Dokumente und sogar Möbel aus dem Nachlaß von . Mein Vater verfuhr damit folgendermaßen: Einiges übergab er in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen an das Moskauer Institut, so unter anderem die beiden Sessel aus dem Arbeitszimmer Karl Marx’ in der Mait- land Park Road. Andere Unterlagen übergab er auf Drängen Léon Blums der SPD. Und einiges blieb im Familienbesitz. Als der älteste Sohn erhielt ich einen Teil davon, den ich nach dem zweiten Weltkrieg selbst nach Moskau brachte und dem Institut für Marxismus- Leninismus als Geschenk übergab. Darunter befand sich die Korrespondenz meines Vaters mit Wilhelm Liebknecht, Eduard Bernstein und anderen sowie – wahrscheinlich das wertvollste Dokument – ein Brief Katayamas an Karl

4 Heinz Stern, Dieter Wolf: Das große Erbe. Eine historische Reportage um den literari- schen Nachlaß von Karl Marx und Friedrich Engels, Berlin 1972, S. 144f. (fortan: Das große Erbe). 5 Siehe Heinrich Gemkow: Vom mühseligen Suchen und glückhaften Finden. In: Vom mühseligen Suchen und glückhaften Finden. Rückblicke und Erlebnisse von Marx- Engels-Forschern und Historikern der Arbeiterbewegung. Kolloquium. Teil 1. Panko- wer Vorträge, hrsg. von „Helle Panke“ e.V., H. 54, Berlin 2003, S. 28. 6 Siehe MEGA² IV/32, S. 73. 174 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Marx. Der war auf eigentümlichem japanischem Seidenpapier geschrieben; Katayama teilte Marx darin mit, er habe nicht früher auf dessen Brief antwor- ten können, weil er ein Jahr im Gefängnis zubringen mußte.7 Marcel Charles wohnte bis zuletzt bei unseren [seinen – Verf.] Eltern. So ist es zu erklären, daß einige Dokumente, die der Vater als zutiefst private Er- innerungen nicht aus den Händen gab, nach dem Tode der Eltern auf meinen [seinen – Verf.] Bruder [Marcel L. – Verf.] übergingen. Und auch er mochte sich wohl von dem Schuhkarton mit den teuren Familienreliquien nicht tren- nen. Bis zu jenem Februar 1971. Aber was Marcel Charles an Professor Običkin übergab, war bestimmt das letzte, das sich noch im Besitz unserer Familie befand.“8 Diese Erinnerungen von Robert-Jean, die er 1971 gegenüber Journalisten des SED-Zentralorgans Neues Deutschland äußerte, sind offenbar nicht ganz präzis wiedergegeben. Sie bestätigen jedoch, dass sowohl Jean L., als auch Robert-Jean L., wie Edgar L. und Marcel-Charles L. bis 1971 weitgehend alle in ihrem Besitz befindlichen Marx-Dokumente und Erinnerungsstücke an das Moskauer IML übergeben haben. Darüber hinaus waren bzw. sind, wie be- reits erwähnt, noch einige Bücher mit Marginalien bei den Erben von Karl L. überliefert. Die Geschichte der Bekanntschaft des ersten Direktors des MEI und Be- gründers der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) David Rjazanov mit der Familie Longuet reicht in die Zeit seiner zweiten Emigration in West- europa (1907–1917) zurück.9 Diese Kontakte sind niemals abgebrochen und gewannen bei der Vorbereitung der MEGA immense Bedeutung, um eine hi- storisch-kritische und vollständige Ausgabe veröffentlichen zu können. Be- reits Anfang der 1920er Jahre gelang es Rjazanov, viele im Familienkreis L. befindliche Marx/Engels-Dokumente zu fotokopieren, andere wurden ihm unter dem Vorbehalt übergeben, dass ihre Veröffentlichung erst zu einem spä-

7 Es ist kein Brief Katayamas an Marx oder Engels bekannt. 8 Das große Erbe, S. 145f. 9 Siehe Jürgen Rojahn: Aus der Frühzeit der Marx-Engels-Forschung: Rjazanovs Studien in den Jahren 1907–1917 im Licht seiner Briefwechsel im IISG. In: MEGA-Studien 1996/1, Berlin 1996, S. 3–65, hier S. 27/28: Bei den Lafargues habe er acht Tage [Mai 1910] „gearbeitet (und gegessen!)“, er habe die Zeit genutzt, „alle Papiere durchzusehen und einen Inventar aufzustellen.“ […] „Das wichtigste ist eine komplette Sammlung al- ler Briefe Marx’s an Daniel’son.“ Auch eine Sammlung von Briefen von Marx an seine Frau und seine Tochter Tussy, die zusammen mit seinen Briefen an Jenny jr. (die ihm Longuet „zur Verfügung gestellt“ hatte) „einen interessanten Beitrag zur Biographie Marx’s insbesondere in den Jahren 1881 und 1882 bilden“, reservierte er für sich ([IISG, Kautsky-Nachlass] D XIX 304, 281). Weitere Besuche in Paris folgten, insbe- sondere nach dem Suizid der Lafargues im November 1911, siehe S. 37–39. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 175

Karl Marx mit Tochter Jenny L., 1869. Marx’ Enkel Jean L., 1880. teren Zeitpunkt erfolgen dürfe.10 Jedoch mit Erscheinen der ersten MEGA- Bände ab 1927 wurde es immer drängender, eine genaue und vollständige Übersicht zu erhalten.11 Rjazanovs Ansprechpartner war der älteste Marx- Enkel Jean L.

Rjazanov und Jean L. Der Briefwechsel zwischen Rjazanov und der Familie Longuet (hauptsächlich mit Jean L., Sohn von Jenny Marx und , Rechtsanwalt in Pa- ris, Redakteur der Nouvelle Revue Socialiste) erstreckt sich von Dezember 1928 bis Januar 1931. Die insgesamt 15 vorhandenen Briefe,12 von unter- schiedlicher Länge, alle in französischer Sprache (Rjazanovs Briefe sind in

10 Siehe Heinrich Gemkow, Rolf Hecker: Unbekannte Dokumente über Marx’ Sohn Fred- erick Demuth. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), H. 4, Berlin 1994, S. 43–59. 11 So wurde zunächst der Briefwechsel zwischen Marx und Engels in den MEGA1-Bänden III/1–4 (1929–31) ediert, geplant war, anschließend die Briefe von Marx und Engels an Dritte herauszugeben. Siehe Sonderband 3, S. 271. 12 Alle Briefe RGASPI, f. 71, op. 50, d. 157. 176 Martine Dalmas, Rolf Hecker

einem perfekten Französisch abgefasst!), benutzen zwar fast immer die etwas ‚strenge’ Anredeform „Citoyen ...“, sind aber immer in freundschaftlich- vertraulichem Ton verfasst und zeugen vor allem von der gemeinsamen Sorge um den Nachlass. Der erste Brief (10. Dezember 1928) enthält den Ausgangspunkt des Aus- tauschs. Auch wenn es sich hier in erster Linie um eine eher private Angele- genheit handelt – Rjazanov bittet Jean L. um Hilfe bei der Begleichung der Mietschulden von Achille Le Roy, einem ehemaligen Kommunarden (Rjaza- nov nennt ihn «ce brave communard») und Kampfgefährten von Charles L., Jeans Vater, der sich in einem Sanatorium in Odessa aufhält – wird die histo- rische Dimension nicht aus den Augen verloren: Rjazanov zitiert Le Roys Worte selbst, in dessen Pariser Wohnung „sich für die Geschichte des Kom- munismus wertvolle Dokumente befinden“.13 Die folgenden Briefe, die in re- gelmäßigen Abständen ausgetauscht werden, befassen sich direkter mit der Pflege von Marx’ Nachlass bzw. mit dem Erwerb verschiedener Dokumente. In seiner Antwort vom 10. Januar 1929 bestätigt zunächst Jean L. den Empfang des aus Moskau überwiesenen Betrags, versichert, dass er sich mit Le Roys Vermieter (den er als „Geier“14 bezeichnet!) in Verbindung gesetzt hat, um die Mietschulden zu begleichen, und verspricht, ihm zu schreiben, um ihn zu beruhigen. Anschließend verweist Jean L. auf die beiden Bände von Rjazanov, die nun in französischer Übersetzung bei den Editions Sociales vorliegen und außer Rjazanovs „sehr interessanten Moskauer Konferenzen“ einige Aufsätze über Marx im zweiten Band enthalten (u.a. von Engels, La- fargue, Plechanov und Liebknecht). Er betont Rjazanovs tiefgreifendes und treffendes psychologisches Porträt von Marx. Der Ton ist herzlich; am Schluss seines Briefes erwähnt er noch die Briefe von Marx an seine Mutter und seine Tanten, die in der Nouvelle Revue Socialiste veröffentlicht wur- den,15 von der er Rjazanov die entsprechenden Hefte zugeschickt hat. Rjazanov fühlt sich von Jean L.’s Urteil „geschmeichelt“ («je me sens flat- té par votre jugement bienveillant»), antwortet sofort am 19. Januar 1929, und lädt Longuet nach Moskau ein («pour voir le monument scientifique qu’on a élevé à la mémoire de votre grand-père»). Diese Einladung lehnt Jean L. je- doch ab (Brief vom 4. März 1929) – aus politischen Gründen. Er verweist auf die jüngsten Attacken des sowjetischen Regimes gegen die Arbeiter- und so-

13 Le Roy erwähnt seine Wohnung als «mon dernier asyle de Paris, dans lequel existent des documents précieux pour l’histoire du communisme». 14 Jean L. zitiert hier Le Roy und benutzt den Ausdruck «vautour auvergnat». 15 Jean L. benutzt übrigens für die meisten Briefe den Kopfbogen der Zeitschrift, die den Untertitel Revue du socialisme international trägt. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 177

zialistischen Parteien in ganz Europa, die nicht im Sinne der Lehre der gro- ßen Denker, insbesondere Marx’, sei- en, und erwähnt die Hoffnung aller Freunde der russischen Revolution auf baldige „normale oder gar brüderli- che“ Beziehungen zwischen der Sozia- listischen Internationale und Russland («je voudrais simplement vous dire comment les meilleurs et les plus désintéressés amis de la révolution russe souhaitent la fin de pareilles er- reurs»). In den folgenden Briefen wird die damalige Sachlage auf beiden Seiten sehr bedauert; Jean L. beharrt auf sei- nem Standpunkt, spricht von morali- schen und politischen Hindernissen, betont aber seine unerschütterliche Zuversicht (19. März 1929: «Je con- Jean L. mit Frau Anita und serve d’ailleurs invincible l’espérance Sohn Robert-Jean, 1905. qu’un jour – tôt ou tard – ces obstacles ces obstacles disparaîtront, mais il faut surtout compter sur les événements plus forts qu[e] la mauvaise volonté ou l’incompréhension des hommes»). Rjazanov bedauert es sehr, zumal die Einladung eine persönliche gewesen sei und sich an Jean L. als Enkel von Marx gerichtet habe. Hauptsächlich geht es aber in dem Briefwechsel ab März 1929 um den ei- gentlichen Nachlass von Marx, der entweder noch zu orten ist oder sich im Besitz der Familie Longuet befindet und den Rjazanov gern für sein Institut erwerben möchte. Rjazanov erwähnt am 9. März 1929 zunächst die Korre- spondenz von Raymond Wilmard, einem „leidenschaftlichen Propagandisten der Internationalen“, der seit 1871 mit Marx und Engels briefliche Kontakte hatte, später die von Jean L.’s Vater Charles L. sowie von (Lauras Mann, also Marx’ Schwiegersohn). Jean L. bestätigt (19. März 1929) die freundschaftliche, enge Beziehung, die er selbst mit dem inzwischen sehr alt gewordenen Wilmard weiter gepflegt hat, und unterstreicht die herzlichen Worte, mit denen dieser heute noch seine Freundschaftsbeziehungen zu der Familie erwähnt. Was die Jugendgedichte von Marx anbelangt, die Jean L. in 178 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Franz Mehrings Nachlass glaubte, schreibt Rjazanov (9. März 1929), dass sie sich dort leider nicht befinden, was jener sehr bedauert (19. März 1929: «En tout cas je ne les ai pas en ma possession et je ne m’explique pas qu’ils aient pu disparaître.»).16 In der weiteren Korrespondenz wird auch auf den Austausch von Bildern und Plastiken eingegangen. In einem kurzen Brief vom 16. Mai 1929 erinnert Rjazanov Jean L. an seine Bitte um ein Foto des Porträts von Jenny Marx. Ein Jahr später (20. Juli 1930) schickt Rjazanov ihm ein Foto von einem alten Öl- bild von Marx, das er aus Leningrad bekommen hat und sehr treffend findet («La ressemblance est bien attrappée»), mit der Bitte um seine Meinung. Er gratuliert gleichzeitig Longuet zu der Skulptur seines Sohns. Jean L. antwortet schon am 29. Juli,17 sein Brief umfasst zwei ganze Seiten: Er erwähnt zu- nächst die Reaktion seines Sohns Karl, der Marx „zusammengefallen“ («af- faissé») und „komisch angezogen“ («drôlement habillé») fand, stimmt aber mit Rjazanovs Urteil eines gewissen Realismus überein (zumal was den Hut und den Mantel angeht), meint, das Bild wäre wohl in Marx’ letzten Lebens- jahren entstanden, als dieser schon sehr krank war, und würde gern erfahren, wer der Maler ist. Im selben Brief erwähnt Jean L. noch einmal den Torso von Marx, den sein Sohn Karl geschaffen hat und der ihm besonders gelungen scheint («il n’y en a aucun qui me paraisse aussi puissant et aussi véridique»), und bietet ihn Rjazanov für das Moskauer Marx-Engels-Institut und evtl. auch für andere Orte in der UdSSR an («ne croyez-vous pas que ce buste de bronze aurait sa place à l’Institut Marx Engels et peut-être éventuellement sur d’autres points de l’URSS ?»). Rjazanov soll sich mit Marx’ Urenkel Karl L. direkt in Verbindung setzen. In seiner Antwort vom 26. Oktober 1930 vermutet Rjazanov, dass der Man- tel auf dem Ölbild der lange Überzieher ist, den Marx in seinen letzten Le- bensjahren trug, von dem im Briefwechsel mit Engels die Rede ist und der laut Clara Zetkin im Besitz von Lafargue war. Was den Torso von Karl L. angeht, sei der Erwerb von Reproduktionen durch die UdSSR nicht zulässig, aber sein Institut würde gern das Original kaufen und es in dem neu einge- richteten großen Marx-Engels-Kabinett aufstellen. Rjazanov formuliert im selben Brief außerdem eine zusätzliche Bitte an Jean L.: Es geht um eine Ko- pie von Marx’ Heiratsurkunde, die er in Kreuznach hat anfertigen lassen und die er nun durch den Berliner Korrespondenten des MEI Boris Ivanovič Niko-

16 Sie waren im Besitz von Marcel L. 17 Jean L. benutzt diesmal den Kopfbogen des Conseil Général de la Seine. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 179

laevskij18 fotografieren lassen möchte («ce texte, qui est fort intéressant»), wozu aber die Genehmigung eines Familienmitglieds nötig sei. Leider fehlt die Antwort von Longuet vom 5. November in der erhaltenen Korrespondenz. Am 2. Dezember bestätigt Rjazanov, dass er mit dem Preisvorschlag für den Torso einverstanden ist, vorausgesetzt das Institut behält alle Reproduktions- rechte (außer für Fotos). Abschließend bedankt er sich für das Schreiben Jean L.’s in Bezug auf die Heiratsurkunde von Marx. Die Antwort kommt diesmal vom Sohn Robert-Jean L., der als Jurist mit der Wahrung der Rechte und dem Verkauf der Werke seines Bruders Karl L. beauftragt ist. Er informiert in seinem Brief vom 13. Januar 1931 Rjazanov, dass das Karl-Marx-Haus in Trier schon einen Torso von Marx erworben hat19 und dass er bereit ist, dem Marx-Engels-Institut ein zweites Original zum sel- ben Preis (5000 F) anzubieten. Was die Rechte für die UdSSR angeht, so schlägt Robert-Jean L. ein ähnliches Verfahren vor wie mit Deutschland,20 wo der Erfolg der Werke seines Bruders groß sei, und erklärt sich bereit, mit ei- nem Vertreter des Moskauer Instituts in Paris zu verhandeln. In einem nicht abgesandten Briefentwurf an Robert-Jean L. vom 25. Januar 1931 – Rjazanov war inzwischen verhaftet worden – wird in einem distanzier- teren Ton mitgeteilt, dass das Institut nach wie vor am Erwerb eines Exem- plars des Torsos interessiert sei; da aber entgegen den ursprünglichen Vorstel- lungen schon mehrere Kopien dieses Torsos vorhanden seien und die Frage der Rechte nun also anders aussehe, habe die Sache keine Eile mehr und kön- ne später verhandelt werden. Damit brach der Briefwechsel ab, bevor der Kontakt Mitte der 1930er Jahre durch die neue Institutsleitung von Vladimir Adoratskij wieder aufgenommen wurde.

Der „Handel“ um den Marx-Engels-Nachlass Nach Rjazanovs Absetzung als Institutsdirektor waren die Verbindungen sei- tens des IMEL zu den Longuets bis zur Aufnahme der Verhandlungen über den Erwerb des Marx-Engels-Nachlasses vom Exilparteivorstand der SPD

18 Zur Biografie Nikolaevskijs siehe Sonderband 1, S. 50–54. 19 Siehe Jürgen Herres: Das Karl-Marx-Haus in Trier. 1729 – Heute, Trier 1993, S. 52–56. 20 Er macht eigentlich in dem erwähnten Brief vom 13. Januar 1931 einen doppelten Vors- chlag: «Je suis tout disposé à vous céder la reproduction de bronze pour l’URSS, moyennant un prix fixe, payé dans une banque française, plus un pourcentage sur cha- que buste que vous vendrez en Russie. […] Si pour une raison quelconque il est impos- sible de protéger les droits de reproduction, en RUSSIE, soviétique, j’abandonnerai l’idée du pourcentage et je vous vendrai le droit exclusif de reproduction pour la Russie pour un prix fixe que nous débattrons en commun.» 180 Martine Dalmas, Rolf Hecker

(SOPADE) unterbrochen.21 Das IMEL begann Anfang 1935 Erkundigungen über den Verbleib des Marx-Engels-Nachlasses einzuziehen. Mitte 1935 wur- de der Leiter des Zentralen Parteiarchivs German Aleksandroviš Tichomirnov beauftragt, Archivdokumente für das IMEL im Ausland zu erwerben. Er er- kundigte sich vor seiner Abreise bei Ernst Czóbel, welche Dokumente aus dem Marx-Engels-Nachlass im SPD-Archiv seinerzeit nicht fotokopiert wor- den sein könnten. Mit ziemlich ungenauen Kenntnissen über das bisherige Schicksal des Marx-Engels-Nachlasses, wie sich bald herausstellen sollte, rei- sten Mitte Juli 1935 Tichomirnov, der sich in Paris einfach „Genosse Her- mann“ nannte, und der Vorsitzende der Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (VOKS), Aleksandr Jakovlevič Arosev nach Paris, letzterer wahrscheinlich in direktem Auftrag Stalins.22 Während dieses Aufenthalts in Paris fanden auch Gespräche mit Jean L. statt, über die Tichomirnov berichtete. Nach seinem Eindruck sah er eine Chance, von ihm alle in dessen Besitz befindlichen Dokumente zu bekom- men, möglicherweise in Verbindung mit einer Reise in die Sowjetunion an- lässlich eines Marx-Jubiläums. Offenbar wurde auch über die Überführung von Marx’ sterblichen Überresten aus London nach Moskau gesprochen.23 Aufgrund der Bedeutung von Longuets Position in den weiteren Verhandlun- gen erwartete Tichomirnov „Direktiven“ aus dem IMEL. Nach dieser ersten Rekogniszierungsreise und der Berichterstattung in Moskau hielten sich Arosev und Tichomirnov, ausgestattet mit neuen Ver- handlungsdirektiven, im November/Dezember 1935 erneut in Paris auf. Sei- tens der SOPADE-Verhandlungsführer war unterdessen von Friedrich Adler ein Organisationskomitee für ein zu gründendes Forschungsinstitut zusam- mengerufen worden, dem Léon Blum, Alexander Bracke, Jean L., G. E. Mo- digliani und Fedor Il’ič Dan angehörten. Aus Prag über Zürich reisten Otto Wels, Siegmund Crummenerl und Rudolf Hilferding an; außerdem war Boris Ivanovič Nikolaevskij beteiligt. Diese Gruppe sollte die Verhandlungen über den Marx-Engels-Nachlass führen, die sich über das erste Halbjahr 1936 er- streckten, bis sie schließlich ganz scheiterten.

21 Im folgenden wird die Darstellung auf den Erwerb von Marx-Dokumenten von der Fa- milie Longuet begrenzt, ausführlicher über die Gespräche in Paris siehe Rolf Hecker: Die Verhandlungen über den Marx-Engels-Nachlaß 1935/36. Bisher unbekannte Do- kumente aus Moskauer Archiven. In: MEGA-Studien 1995/2, S. 3–25. 22 Bekannt ist die Resolution Stalins, den Ankauf des Dittmann-Archivs Arosev zu über- tragen (vgl. A. Šernobajev: V vichre veka, Moskva 1987, S. 174). Auch Arosevs Toch- ter, Natalja Aroseva, äußerte sich in ihren Erinnerungen ähnlich (vgl. N. Aroseva: Sled na zemle. Dokumental’naja povest’ ob otce, Moskva 1987, S. 232/233). 23 Siehe darüber Sonderband 3, S. 244–247. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 181

Blick in das Empfangszimmer der Familie Jean Longuet. Im Hintergrund rechts Marx’ Sessel; an den Wänden Fotos von Marx, Engels und Familienmitgliedern. (Foto aus dem RGASPI)

Als Erfolg dieser zweiten Reise konnten die Moskauer Emissäre am 25. Dezember 1935 den Abschluss eines Vertrags mit Wilhelm Dittmann über den Erwerb seines Archivs und der politischen Bibliothek in Zürich feiern. Arosev erhielt von Dittmann acht Koffer mit dessen Archivdokumenten und begab sich über Paris nach Moskau, wo er Anfang Januar 1936 eintraf. Im Januar 1936 bemühte sich die Korrespondentin des IMEL in Paris, Alix Guillain,24 einen Überblick über die Familiendokumente Longuets zu erhal- ten. Am 19. Januar berichtete sie darüber nach Moskau: „Es ist mir endlich gelungen, Einsicht in die Papiere Jean Longuets zu erhalten, und ich habe ge- stern die Angelegenheit zu einem, wie ich hoffe allerdings nur vorläufigen Abschluss gebracht. Die ursprünglich mit Jean Longuet selbst begonnenen Verhandlungen boten grosse und wie es zunächst scheinen musste, unüber- windliche Schwierigkeiten. Longuet behauptete immer wieder, dass er über- haupt nur einige Briefe besässe, und schien auch sonst ganz abgeneigt, der Sache näher zu treten. Mein ganzes Bestreben ging so zunächst dahin, über- haupt ein Inventar der sich in Longuets Besitz befindenden Papiere aufzustel- len. Doch war es gar nicht abzusehen, wie man überhaupt die verschiedenen

24 Zur Biografie Guillains siehe Sonderband 3, S. 410. 182 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Papiere zusammenbringen und in sie Einsicht erhalten könnte. Glücklicher- weise kam während der Verhandlungen, die ich mit Jean Longuet führte, ei- ner der Söhne hinzu, der, wie ich später erfuhr, viel geneigter war als sein Va- ter, der Angelegenheit näher zu treten. Er setzte seine Mutter in Kenntnis von meinen Absichten, und ich verdanke es dem Eifer und der Energie von Frau Longuet, dass etwas zustande gekommen ist.25 Sie durchsuchte das ganze Haus, Speicher, Keller usw. auf Familiendokumente hin. So kam denn schliesslich eine wertvolle Sammlung zustande, die an Sie abgeht. Natürlich habe ich Frau Longuet ermuntert, ihre Nachforschungen weiter fortzusetzen. Es scheint mir, dass nicht nur im Hause Jean Longuets, sondern auch bei den Brüdern Longuets sich noch manches wertvolle Material finden lassen müss- te. Ausserdem scheint es mir nicht ausgeschlossen, dass bei den Bekannten von Jean Longuet oder bei ihren Nachkommen sich noch andere Dokumente finden lassen könnten. So kommt es vor allem darauf an, dass ich meine Be- ziehungen zu Frau Longuet pflege und aufrechterhalte. Ich möchte daher auch alles vermeiden, was irgendwie einen Missklang in diesen Beziehungen her- vorrufen könnte. Es kommt vieles auf den guten Willen Frau Longuets an. Ihre Stellung ist bei den recht komplizierten Familienverhältnissen dabei recht schwierig. Sie hat vieles Misstrauen und viele sonstigen seelischen Wider- stände bei ihren Angehörigen und sonstigen Familienmitgliedern zu überwin- den. Es ist darum geboten, in dieser komplizerten Angelegenheit viel Takt zu beweisen. Dabei wäre vor allem wohl die Gefahr nicht so sehr, dass die ganze Sammlung oder was davon übrig bleibt, uns entginge, sondern dass einzelne Stücke einzeln verkauft oder gar verschenkt werden. Ich habe jetzt die Ver- mutung, dass jedenfalls einzelne Stücke sich bei allen möglichen Personen befinden, und es wird eine schwierige Aufgabe sein, für die ich eben ganz auf die Hilfe von Frau Longuet angewiesen bin, darüber Genaueres zu erfahren. Vorerst will ich sie aber nicht allzusehr drängen, sondern mich darauf be- schränken, mit ihr schriftlich und mündlich in Kontakt zu bleiben. Was nun den Nachlass oder die Nachlässe anbetrifft, so handelt es sich: 1. um den Nachlass von Charles und Jenny Longuet; 2. um den Nachlass von Paul und Laura Lafargue. Zweifelhaft bleibt nur bei den Ihnen übersandten Dokumenten die Provenienz einer umfangreichen Sammlung von grössten- teils an Marx gerichteten Briefen betreffs der französischen Übersetzung des Kapitals.

25 Im Marx-Engels-Museum wurde immer großer Wert darauf gelegt, dass Robert L. und seine Mutter Anita L. die Übergabe der Familienerbstücke ermöglichten. – Siehe Rüdi- ger Rätzke: „Zigarrenspitze nebst Manifest“. Von einem Besuch im Moskauer Marx- Engels-Museum. In: Berliner Zeitung, 28. Juli 1988, S. 9. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 183

Ein Ménagère aus der Familie Marx (Foto aus dem RGASPI)

Einer besonderen Erwähnung bedürfen noch die Briefe von Engels an La- fargue. In Ihrem Briefe […] stellen Sie eine Liste Ihnen bekannter Briefe von Engels an Lafargue auf und fragen gleichzeitig an, ob, wie Prof. Mayer in sei- nem Engelsbuch anzudeuten scheint, sich noch weitere Briefe aus den Jahren 1886–87 fänden. Ich glaube zunächst aus Ihrem Briefe entnehmen zu können, dass die von Ihnen erwähnten Briefe sich im Besitze Longuets befinden. Frau Longuet hat indessen bis jetzt keinen dieser Briefe auffinden können. Doch wird sie ihre Nachforschungen weiter fortsetzen und glaubt auch, dass sie sich noch auffinden lassen werden. Andrerseits finden Sie in meinem Inventar zwei Briefe von Engels an Lafargue aufgeführt, die in Ihrem Schreiben […] nicht erwähnt sind. So liesse sich also in Beantwortung Ihres Briefes sagen, dass ich ausser den von Ihnen erwähnten Briefen von keinem anderen Briefe aus den Jahren 1886–87 Kenntnis erhalten habe, dass sich aber zwei weitere Briefe datiert 11. III. 1884 und 10. IV. 1889 erhalten haben. Ich muss noch bemerken, dass ich bei der Abfassung des Inventars dauernd gestört wurde, da mir Frau Longuet kaum eine Minute Ruhe liess. Eine ver- besserte Inventarisierung, auf die ich nach erfolgtem Geschäftsabschluss ge- 184 Martine Dalmas, Rolf Hecker

rechnet hatte, schien andererseits nicht angängig, um die Angelegenheit nicht zu verzögern.“26 Das achtseitige Inventarverzeichnis erfasst 1. Briefe und Dokumente von Marx, darunter das 82seitige Manuskript von Marx’ Schrift Der 18. Brumai- re;27 2. Briefe und Dokumente von Engels; 3. Briefe von Marx’ Frau Jenny an die Kinder; 4. ein Brief von Frederick Demuth an Jean L. vom 10. April 1912;28 5. Korrespondenz von Paul Lafargue und Charles L.; 6. Dokumente und Notizen der Töchter von Marx; 7. Korrespondenz bezüglich der französi- schen Ausgabe des Kapitals aus den Jahren 1872–78.29 Außerdem konnte Guillain sieben Fotos und zwei Fotokopien von Ölbildern von Jenny Marx und deren Mutter, die im Atelier von Karl L. hingen, übersenden. Am 17. Ja- nuar 1936 ergänzte Guillain mit einem Brief nach Moskau diese Sammlung durch Fotos von der Marx-Maske und einer Marx-Büste, die Karl L. geschaf- fen hatte und die das IMEL erwerben könnte. Adoratskij setzte sich für den Erwerb dieser Kunstwerke in einem Schrei- ben an Stalin vom 29. Januar 1936 ein.30 Bei seinem Besuch in Paris im Früh- jahr sah er sich die Ölbilder im Atelier von Karl L. an und äußerte den Wunsch, diese anzukaufen. Die Frau von Jean L. konnte sich jedoch nicht da- zu entschließen. Deshalb sollten Kopien der Bilder angefertigt werden. Als Guillain doch die Chance sah, Madame L. umzustimmen, teilte sie am 14. Mai 1936 die Kaufsumme von 40.000 Franc nach Moskau mit. Weiter berich- tete sie: „Wie ich schon Genossen Adoratsky mitgeteilt habe, war ich be- strebt, mit Frau Longuet bei einem längeren Zusammensein in nähere Bezie- hung zu treten, um möglichst aus ihr alles herauszuholen, was für unsere Ziele dienlich sein kann. Zunächst handelte es sich da um die Briefe von Engels an Lafargue, die sich bei dem Bruder von Jean Longuet, Marcel Longuet befin- den, käuflich zu erwerben. Marcel Longuet, wie alle Mitglieder der Familie Longuet, ist ein schwieriger Fall. Er hüllt sich in ein gänzliches Schweigen und will niemanden zu sich lassen. Er ist augenblicklich wieder in Paris. Ich habe das feste Vertrauen, dass es nun endlich gelingen wird, trotz aller Schwierigkeiten bis zu ihm zu dringen, und dass sich dann die geschäftliche Angelegenheit ohne grosse Schwierigkeiten abwickeln wird.“31

26 RGASPI, f. 71, op. 50, d. 143. 27 Siehe MEGA² I/11, Apparat, S. 703/704; außerdem Rolf Hecker: Zur Eröffnung der Konferenz Klassen–Revolution–Demokratie. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. NF 2002, Hamburg 2003, S. 7–13. 28 Abgedruckt in: Gemkow/Hecker, a.a.O., S. 51–54. 29 Siehe MEGA² II/7, Apparat, Entstehung und Überlieferung, S. 713–731. 30 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 69. Zitiert in Hecker: Verhandlungen, a.a.O., S. 17/18. 31 RGASPI, f. 71, op. 50, d. 143. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 185

Neben dem Erwerb der Ölbilder ging es um weitere Erinnerungsstücke, wie aus einem Brief vom 31. Mai 1936 von Guillain hervorgeht: „Was die Sessel anbetrifft, so hat mir Frau Jean Longuet folgende neue Mitteilung gemacht: Der eine der beiden Sessel, der Sessel, in dem Marx gestorben ist, ist seither neu überzogen worden. Frau Longuet hat unterdessen auf ihrem Speicher den ursprünglichen Überzug gefunden. Ich suchte bei dieser Gelegenheit zu er- kunden, ob sie nun endlich bereit wäre, uns die beiden Sessel zu verkaufen, und zu welchem Preise. Zunächst erklärte sie ganz energisch, dass von einem Verkauf überhaupt nicht die Rede sein könnte. Nie würde sie sich von diesen kostbaren Familienstücken trennen. Schliesslich liess sie durchblicken, dass sie vielleicht jeden der beiden Sessel zum Preise von 50.000 frcs uns verkau- fen würde.“32 Guillain erreichte also von Jean L. die Übergabe einer großen Anzahl von Briefen und Dokumenten. Außerdem erwarb sie von Karl L. die Marx-Maske, während eine Kopie der Büste zu diesem Zeitpunkt nicht möglich wurde. Von Robert-Jean L. erhielt sie Marx’ Widmungsexemplar von Herr Vogt für Elea- nor33 und eine 23seitige Ausgabe des Kommunistischen Manifests. Ende 1937 endete ihre Korrespondententätigkeit für das IMEL, über die an anderer Stelle ausführlicher berichtet werden muss. Nach dem tödlichen Autounfall von Jean L. 1938 bemühte sich die Londo- ner Korrespondentin des IMEL Agnija Aleksandrovna Majskaja den Kontakt zur Familie Longuet in Paris wieder neu zu knüpfen. Sie erreichte 1939 all jenes, was praktisch von Guillain bereits vorbereitet worden war. Persönliche Gegenstände, wie der Arbeitsstuhl und der Sessel, Marx’ Portemonnaie und Mundstück sowie ein Medaillon mit Porträt und Haarlocke von Marx und ein Chiffonnier wechselten den Besitzer. Darüber hinaus erhielt sie von Robert- Jean L. Briefe, Notizbücher und einige Broschüren von Marx und Familien- mitgliedern.34 Mindestens ein Erbstück verblieb allerdings bei Robert-J. L., nämlich Marx’ Taschenuhr, die er von Wilhelm Wolff geerbt hatte und in der die Namen und Sterbedaten von Marx, Helena Demuth und Engels sowie die Namen Jean L. und Robert-Jean L. eingraviert sind. Eine Kopie der Uhr wur- de 1983 in Moskau angefertigt, das Original verblieb bei der Erbin Christine L., die sie zuletzt 1997 in Berlin präsentierte.35

32 Ebenda. 33 Siehe MEGA² I/18, Apparat, S. 686–692. 34 Ihre Tätigkeit wird im Sonderband 3, S. 243–252, gewürdigt. 35 Siehe Heinrich Gemkow: Karl Marx’ Taschenuhr – ihr Weg durch 130 Jahre. In: Bei- träge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, H. 4, 1998, S. 106–110. 186 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Das Vermächtnis von Edgar L. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das IMEL erneut die Ermittlung von Do- kumenten aus Marx’ Nachlass auf. Nachdem es noch Ende der 1930er Jahre gelungen war, einen Teil der bei Marx’ Enkel Jean L. überlieferten Devotio- nalien zu erhalten, konzentrierten sich nunmehr die Bemühungen auf den noch lebenden ältesten Enkel Edgar L. Vom 13. Februar bis 16. März 1948 besuchten der 68jährige und seine Frau Blanche Leningrad und Moskau. Am 29. Februar kündigte er seinen Besuch im IMEL an. Ihre Rückreise nach Paris unterbrachen sie für einige Tage in Polen. Als Gast des IMEL hatte Edgar L. in seinem Gepäck gewichtige Geschen- ke: einen Brief von Marx an seine Frau Jenny vom 23. September 187136 und vier Seiten eines Manuskripts mit einer Kritik an List.37 Weiterhin erbat er sich die Möglichkeit, Stalin persönlich das Original des Fotos von Marx mit seinen Töchtern und Engels zu übergeben.38 Von diesem Besuch waren Edgar L. und seine Frau sehr angetan, wie er in einem ausführlichen Brief am 12. Juli 1948 (also mit ausreichendem zeitlichen Abstand für eine Wertung) schildert. Dieser Brief trägt vor allem politischen Charakter. Edgar L. geht auf seine Sicht des Parteienverhältnisses in Frankreich ein, das vom Rückgang des Ein- flusses der Sozialistischen Partei – „leider nicht zu Gunsten der KP“ – geprägt und die zum „Agenten des amerikanischen Imperialismus“ geworden sei. Während dessen träume die Reaktion davon, ein neues Wahlsystem einzufüh- ren, um das Parlament von den 180 KP-Abgeordneten „zu säubern“. Er ver- weist dabei auf das Beispiel der Christdemokraten in Italien. Deshalb drückt er seine Hoffnung aus, dass sich die Werktätigen Frankreichs und das interna- tionale Proletariat stärker als der sich in seine Widersprüche verwickelte Ka- pitalismus und seine Apologeten erweisen mögen. Die Einigkeit des Proleta- riats in Osteuropa werde immer fester und Polen, die Tschechoslowakei, Ru- mänien und Ungarn werden eine solche Kraft darstellen, die den Bestrebun- gen des Westens Einhalt gebietet.39

36 In der „Spravka“ wird notiert, dass dieser Brief bisher unbekannt war (RGASPI, 1, 1, 3005). Siehe MEW 33, S. 286. 37 Dies Manuskript wurde erstmals in BzG, H. 3, 1972, veröffentlicht; siehe den Hinweis in MEGA² IV/2, Apparat, S. 794. 38 RGASPI, f. 71, op. 4, d. 325. – Ein Empfang durch Stalin konnte nicht nachgewiesen werden. 39 RGASPI, f. 71, op. 4, d. 36. – Auf diesen Brief folgte keine Antwort aus Moskau, wie Blanche L. später kritisierte. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 187

Edgar L. mit seiner Frau während des Besuches im IMEL mit Kružkov (l.), Obiškin (2. v.r.) und Tušunov (r.), 1948. In einem persönlichen Brief an Irina Bach bedankt sich Edgar L. für die liebevolle und aufmerksame Aufnahme in Moskau und teilt mit, dass er gern Dokumente über den Aufenthalt von Marx in Paris (1844–1845) hätte: Er sei nämlich mit einem Aufsatz beauftragt worden, für den er zu wenig Material habe («ma documentation manque de poids»). Im Januar 1951 erreichte den Direktor des IMEL Pospelov über das ZK der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) mit Kenntnis des Ersten Sekretärs Rákosi ein Schreiben von Leo Por an Ernst Czóbel vom 13. De- zember 1950.40 Darin teilt Por einige Überlegungen mit, wie nach dem Tod Edgar L.’s dessen Nachlass gesichert werden sollte. Por gab sich als intimer Kenner der Familienverhältnisse aus. Er ging da- von aus, dass lediglich der verstorbene Edgar L. einer Übergabe der Famili- endokumente an das IMEL positiv gegenübergestanden habe. Deshalb befän- den sich alle überlieferten Materialien in seinem Haus, damit man sie nicht auf anderem Wege „realisieren“ würde. Edgar L. sei in der Familie etwas „isoliert“ gewesen [bezieht sich offenbar auf seine politischen Überzeugungen – Verf.]. Er habe fünf [wirklich vier – Verf.] Kinder. Der ältere Sohn Charles L. sei ein „unpolitischer Händler“, der gegenüber den Eltern in einem eigenen Häuschen wohne. Der nächste Sohn Fréderic L. sei ein „unbedeutender

40 RGASPI, f. 71, op. 4, d. 325. Der Brief Pors ist in ungarischer Sprache abgefasst und es wurde eine russische Übersetzung beigelegt. 188 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Künstler“, der viel umherreise, ansonsten jedoch bei seinen Eltern wohne und sich nicht für die Arbeiterbewegung interessiere. Es sei nicht klar, ob möglicherweise die Söhne die Dokumente „verkaufen“ möchten, jedenfalls sei Eile bei der Klärung der Angelegenheit geboten. Por malt die schlechteste Möglichkeit aus: „Die Dokumente befinden sich in dem kleinen Arbeitszimmer Longuets in einem frei zugänglichen (nicht geheimen) Schrank in einem großen Papiersack in einer fürchterlichen Unordnung. Es ist möglich, dass sie einfach verschwinden, oder als überflüssige Papiere einfach vernichtet werden.“ Aus diesen Gründen solle ein bevollmächtigter Vertreter des IMEL schnell in Paris erscheinen. Falls dies nicht möglich sei, könnte das IMEL die Witwe bitten, ihm die Manuskripte auszuhändigen. Sie kenne ihn gut und sei über alle Probleme informiert. Falls er in Besitz dieses Nachlasses kommen würde, könnte er ihn sofort zur Aufbewahrung an Zoltan Szantó übergeben. Abschließend erwähnt Por ein Interview mit Edgar L. für die Zeitung Sza- bad Nép, in dem dieser bedauert habe, dass er so spät die wirkliche Rolle der Sozialdemokratie verstanden habe. Falls der Text dieses Interviews für die Klärung notwendig sei, schicke er ihn Czóbel sofort zu. Zur Situation des Briefempfängers sei hinzugefügt, dass Czóbel nach eini- gen Jahren der Verbannung in Sibirien 1947 nach Budapest kam und im dor- tigen Parteiverlag die Arbeit an der Herausgabe der ungarischen Marx- Engels-Werkausgabe aufnahm. Er hatte in dieser Zeit, zumal auch Adoratskij bereits verstorben war, keinen direkten Kontakt zum IMEL. Das Ableben Edgar L. am 12. Dezember 1950 löst im IMEL eine „Ketten- reaktion“ von Maßnahmen aus: Bereits am 15. Dezember wird über den Vor- sitzenden der außenpolitischen Kommission des ZK der KPdSU V. G. Gri- gor’rjan ein mit dem ZK-Sekretär M. A. Suslov abgestimmtes Beileidsschrei- ben an die Witwe über das ZK der KPF übermittelt.41 An den stellvertreten- den Außenminister der UdSSR (MfAA) A. E. Bogomolov wird am 16. Januar 1951 die Bitte gerichtet, den Mitarbeitern in der Pariser Botschaft den Auftrag zu erteilen, mit der Witwe Kontakt aufzunehmen und zu klären, welche Do- kumente aus Marx’ Nachlass sich in ihrem Besitz befinden und welche Mög- lichkeiten es für ihren Erwerb gibt.42 Kurze Zeit später (Ende Februar 1951), offenbar nach einem Hinweis aus dem MfAA, wendet sich Pospelov direkt an den Botschafter A. P. Pavlov. Er teilt darin mit, dass Edgar L. während seines Besuches in Moskau sein Vermächtnis mitgeteilt habe, wonach alle bei ihm

41 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 206. 42 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 209. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 189

verbliebenen Marx-Doku- mente dem Moskauer IMEL zur Verfügung gestellt wer- den sollen. Deshalb bitte er Pavlov darum, dass eine ge- naue Aufstellung vorge- nommen wird und die Be- dingungen der Übergabe ge- klärt werden.43 Pavlov über- mittelt durch Anschreiben des MfAA am 29. Mai 1951 eine Übersicht über die vor- handenen Dokumente und berichtet über die Situation in der Familie Longuet. Bei den vorhandenen Do- kumenten handelt es sich nach einer „flüchtigen“ Durchsicht u.a. um folgende: • drei Notizbücher von Fréderic und Robert-Jean L. am Marx-Grab, 1956. Marx (zwei von 1850 mit 200 bzw. 146 Seiten, eins von 1869 mit 100 Seiten); • 6 Briefe von Marx und ca. 60 Briefe an ihn, darunter von Bakunin vom 22. Dezember 1868;44 • etwa 230 Briefe der Familie Marx; • drei Notizbücher von Familienmitgliedern; • einige Briefe von Kautsky und Liebknecht und eine Reihe weiterer Doku- mente, die das Leben und Wirken von Marx und Engels betreffen. Alle Materialien befinden sich in einem „guten Zustand“, sind jedoch „nicht geordnet“. Die Mehrzahl der Dokumente hatten der 1949 verstorbene Marcel L. und seine Schwester Jenny L. besessen. Die Witwe Edgar L., Blan- che, sei bereit, alle bei ihr befindlichen Dokumente dem IML zu übergeben, jedoch unter der Bedingung, dass eine materielle Absicherung des Sohnes von Marcel L., Marcel-Charles L. und von Jenny L. gewährleistet werde. Weiter teilt Pavlov mit, dass die Witwe sehr verwundert darüber sei, dass die nach

43 RGASPI, f. 71, op. 4, d. 325. 44 RGASPI, f. 1, op. 1, d. 5596, veröffentlicht in: K. Marks i F. Engel’s i revoljucionnaja Rossija, Moskva 1967, S. 166/167. 190 Martine Dalmas, Rolf Hecker

ihrer Rückkehr aus der UdSSR an das IML gesandten Briefe unbeantwortet geblieben seien.45 Nach dieser Situationsklärung erstattet Pospelov am 30. Juni 1951 einen Bericht direkt an den Generalsekretär Stalin.46 Er fasst die Informationen Pav- lovs zusammen und schlussfolgert, dass aufgrund des „großen historischen Interesses“ ein Erwerb aller Dokumente wünschenswert wäre. Ausgehend da- von, dass ein Teil des Nachlasses den Geschwistern Edgar L.’s Marcel L.47 und Jenny L. gehört, die gemeinsam mit der Witwe in einem Haus wohnen, müssten alle Umstände beachtet werden. Blanche L. sei bereit, alle bei ihr verbliebenen Dokumente dem IMEL zu übergeben. Ihre Bedingung sei, dass die Regierung der UdSSR die materielle Sicherstellung der Schwester Edgar L.’s Jenny L. (69 Jahre) und des Sohnes von Marcel – Marcel-Charles L. (42 Jahre, „krank und physisch behindert“) übernehme, die bisher durch Edgar L. und Marcel L. gewährleistet war. Jetzt seien die beiden „Straßenbettler“, wie Pavlov mitgeteilt hätte. Deshalb bäte Blanche L. darum, beide möglichst in einem Sanatorium in der UdSSR aufzunehmen. D.h. im Sinne einer Kompen- sation für die Übergabe der Marx-Dokumente müssten beide in die UdSSR zum ständigen Wohnsitz eingeladen werden und Blanche L., die ebenfalls ohne Existenzmittel sei, müsste eine „Abfindung“ in Höhe von 4.000 Rubel in ausländischer Währung gezahlt werden. Kurz darauf, am 2. August 1951, bittet Pospelov den Abteilungsleiter für Westeuropa im MfAA A. G. Abramov, den Botschafter Pavlov klären zu las- sen, welche Möglichkeiten es in Paris gibt, um dem Urenkel Marcel-Charles L. und der Enkelin Jenny L. die notwendige ärztliche Unterstützung zu ge- währen und welche finanziellen Mittel dafür notwendig seien.48 An diesem Punkt geriet die Klärung der notwendigen Maßnahmen jedoch ins Stocken. Erst ein erneuter ausführlicher, siebenseitiger Bericht Pors an Czóbel vom Dezember 1951, dessen Übersetzung am 17. Januar 1952 erfolgte und der über das MfAA (Abteilungsleiter Balkanstaaten V. Val’kov) am 22. Januar 1952 an Pospelov gesandt wurde, rief die Angelegenheit in Erinnerung.49 Por stellt zunächst fest, dass nach der erfolgten Aufstellung aller Dokumente

45 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 208. 46 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 212. 47 Pospelov spricht vom Bruder Edgar L.’s, Marcel L., der jedoch bereits 1949 verstarb und dessen Nachlass sein einziger Sohn Marcel Charles L. antrat und der hier gemeint ist, wie auch aus dem weiteren Inhalt hervorgeht. 48 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 208. 49 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 211. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 191

Widmung von Marx an seine Tochter Laura in dem Buch The Poetical Works of Lord Byron, London 1855. durch einen Vertreter der sowjetischen Botschaft es seitens des IMEL keine weitere Reaktion gegeben habe. Por selbst besuche Frau Longuet von Zeit zu Zeit. Dabei habe sie ihm vor kurzem weitere im Schreibtisch ihres Mannes gefundene Briefe von Guesde, Lafargue u.a. gezeigt. Auf seine Frage, ob es möglicherweise noch weitere solche Funde geben könnte, habe sie sich an eine Kiste erinnert; er habe sie gebeten, diese einsehen zu dürfen. Darin befand sich eine große Menge wert- volles Material, u.a. der von Marx zusammengestellte Fragebogen betreffs der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse;50 der Beschluss über die Einberufung des Gründungskongresses der II. Internationale (mit den Unterschriften von Bebel, Liebknecht, Lafargue u.a.); eine größere Menge Briefe und einige wichtige Bücher sowie einige sehr persönliche Dinge, wie z.B. die drei Zeilen in der Handschrift von Edgar Marx an seine Mutter. Por schlug deshalb Frau Longuet vor, diese Materialien den Parteiorganen zu übergeben – die mit internationalem Charakter dem IMEL, die mit spezi- fisch französischem dem Archiv der KPF, womit sie einverstanden war und ihn damit beauftragte. Im Ergebnis übergab er einen Teil des Materials an das Archiv der KPF. Eines Tages habe Frau Longuet ihm vorgeschlagen, dass er sich selbst etwas aussuchen solle, aber er habe dankend abgelehnt. Daraufhin schickte sie ihm eine Originalfotografie von Marx, die Por mit diesem Brief an Czóbel dem Institut der Arbeiterbewegung Ungarns zur Verfügung stellte. Unter den erstgenannten Dokumenten waren u.a. zwei Fotos und die „Be- kenntnisse“ von Leo Frankel, die er ebenfalls seinem Brief beilegte.

50 Siehe Karl Marx: Questionnaire for Workers. In: MEGA² I/25, S. 199–207. 192 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Unter den Büchern befand sich das Widmungsexemplar von Marx des Bu- ches von Byron für seine Tochter Laura,51 das Por ebenfalls zu den für das IMEL bestimmten Materialien legte. Weiterhin informierte Por Czóbel darüber, dass auf der Suche nach weite- ren Dokumenten auch die Nachfahren der Familie Philips befragt werden soll- ten, es handele sich dabei um eine Enkelin von Marx’ Cousine Antoinette (Nanette) Ph., die unter dem Namen Schmidt in Deventer/Holland wohnen würde.52 Abschließend teilte Por mit, dass er gemeinsam mit einer jungen amerika- nischen Genossin, die in Paris wohnt, ein Buch über die drei Marx-Töchter schreiben möchte, deshalb stellt er eine Vielzahl von Fragen hinsichtlich des Verbleibs von deren Briefen.53 Eine Antwort Czóbels oder dem IMEL an Por ist nicht bekannt. Am 1. April 1952 wendet sich Pospelov erneut an Bogomolov und schil- dert ihm den Stand der „Ermittlungen“, da es nunmehr darum gehe, in wel- cher Weise die materiellen Bedürfnisse von Marcel-Charles L. in Paris zu be- friedigen seien (finanzielle Unterstützung, Wohnverhältnisse, ärztliche Be- treuung). Darüber hinaus sollte der Botschafter Pavlov erkunden, welche Kompensation Blanche L. für die Übergabe der Marx-Dokumente erwarte.54 Offenbar erfolgte im Verlauf des Jahres 1952 eine Vereinbarung – darüber sind bisher keine entsprechenden Unterlagen verfügbar – und die Übergabe der Dokumente. Am 4. März 1953 [! – Stalin verstarb am 5. März] berichtet Obiškin an den ZK-Sekretär N. A. Michajlov, dass im Dezember 1952 eine große Anzahl von Marx-Dokumenten im IMEL eingetroffen seien.55 Mit Ausnahme weniger

51 The Poetical Works of Lord Byron, London 1855; siehe RGASPI, f. 1. op. 1, d. 6832, allerdings wurde der Eingang des Buches im ZPA erst 1976 registriert. Siehe einige Verse von Lord Byron im Fragebogen-Album von Jenny Marx (Tochter) in: Izumi Omura, Valerij Fomičev, Rolf Hecker, Shunichi Kubo (Hg.): Familie Marx privat. Die Foto- und Fragebogen-Alben von Marx’ Töchtern Laura und Jenny. Eine kommentierte Faksimileausgabe, Berlin 2005, S. 366. 52 Siehe Jan Gielkens: Karl Marx und seine niederländischen Verwandten. Eine kommen- tierte Quellenedition, Trier 1999, S. 121 (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Trier, 50). 53 Siehe u.a. folgende Biografien: Olga Worobjowa, Irma Sinelnikowa: Die Töchter von Marx, Berlin 1963; C. Tsuzuki: The life of . A Socialist Tragedy, Oxford 1967; Harald Wessel: Tussy oder 25 Briefe über das sehr bewegte Leben von Eleanor Marx-Aveling, Leipzig 1974; Yvonne Kapp: Eleanor Marx. I: Family Life 1855–1883. II: The Crowded Years 1884–1898, 2 vol., London 1972, 1979; Die Töchter von Karl Marx. Unveröffentlichte Briefe, hrsg. v. Olga Meier, Köln 1981. 54 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 214. 55 RGASPI, f. 71, op. 3, d. 217. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 193

Dokumente, die im ZPA bereits als Fotokopie vorlagen, bzw. deren Texte in der ersten russischen Marx/Engels-Werkausgabe bereits veröffentlicht wur- den, seien sie bisher völlig unbekannt. Im einzelnen handelt es sich um fol- gende Dokumente: • 20 Marx-Dokumente aus der Zeit von 1860 bis 1880, darunter eine Reihe von Briefen und drei Notizbücher (eins mit Exzerpten betreffs Vogt, 173 Seiten;56 eins mit Exzerpten zu ökonomischen Fragen, 146 Seiten; eins mit Auszügen über Irland, 89 Seiten); • 77 Engels-Dokumente, zumeist Briefe aus der Zeit von 1880 bis 1890; • 59 Briefe an Marx von seiner Frau und den Töchtern; • 64 Briefe Dritter an Engels; • mehr als 140 Briefe von Marx-Familienmitgliedern; • etwa 40 Briefe von Persönlichkeiten der internationalen und französischen Arbeiterbewegung. Unter den übermittelten Briefen befinden sich einige aus den Jahren 1906 und 1909, die die Marx-Nachlass-Geschichte betreffen und die Laura Lafargue von Luise Kautsky erhielt bzw. an August Bebel und Eduard Bernstein schrieb.57

Marcel Charles L. und Fréderic L. in Moskau Nachdem es dem IML Anfang der 1950er Jahre nicht gelang, Marcel Charles L. zu einem Besuch der UdSSR resp. zu einem Sanatoriumsaufenthalt einzu- laden, wurde dies in einer Periode relativer Stabilität unter dem Ersten Sekre- tär Chruščev möglich. Marcel-Charles L. besucht Moskau in der Zeit vom 11. September bis 6. Oktober 1960. Am 12. September übergibt er dem IML fol- gende Materialien aus dem Familienbesitz: - 15 Briefe von Marx an Engels, an seine Frau Jenny, an Paul und Laura Lafargue, an Eleanor Marx, an Wilhelm Bracke und den französischen Politiker L. Bassot58 aus den Jahren 1856–1882; - das Jenny von Marx gewidmete Gedichtheft;59

56 Es könnte sich um ein Notizbuch von 1860 (RGASPI, f. 1, op. 1, d. 5578) handeln, des- sen Veröffentlichung in MEGA² IV/16 vorgesehen ist. 57 Obiškin legte die russische Übersetzung folgender Briefe bei: Luise Kautsky an Laura Lafargue, 25. August 1906, 13. September 1906; Laura Lafargue an August Bebel, An- fang Juli 1909, 15. Juli 1909; Laura Lafargue an Eduard Bernstein, etwa Mitte 1909. RGASPI, f. 71, op. 3, d. 217. Im einzelnen wird auf diese Briefe in einer gesonderten Publikation einzugehen sein. 58 Einziger in Moskau vorhandener Brief von Marx an Bassot vom 30. Oktober 1868 (RGASPI, f. 1, op. 1, d. 6117). Übersetzung in MEW 32, S. 577. 59 Siehe Karl Marx: Buch der Liebe. In: MEGA² I/1, S. 477–613. 194 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Marcel-Charles L. (l.) mit dem Leiter der Aufbewahrung im ZPA Andrej Il’iš Petrov und einer Dolmetscherin im Tresorraum, 1960. - ein Album von Jenny mit „Bekenntnissen“ von Marx und Familienmit- gliedern;60 - ein Fotoalbum von Laura Lafargue mit Aufnahmen von Marx, Famili- enmitgliedern und Freunden.61 In einem Bericht an das ZK der KPdSU hob der stellvertretende Direktor des IML N. Šatagin hervor, dass sich unter den genannten Dokumenten der Brief von Marx an Bracke vom 5. Mai 1875 mit seiner Kritik am Gothaer Programmentwurf befand.62 Darüber hinaus gehörten zu der Sammlung wei- tere Dokumente der Tätigkeit von Marx in der Internationalen Arbeiterasso- ziation (IAA). In dem übergebenen Konvolut waren folgende Dokumente von Engels ent- halten: - 44 Briefe von Engels an Paul und Laura Lafargue aus den Jahren 1867– 1895;

60 RGASPI, f. 1, op. 1, d. 6113. Die Faksimile des Albums der Bekenntnisse und des Fo- toalbums sind veröffentlicht in: Izumi Omura u.a. (Hg.): Familie Marx privat,.a.a.O. 61 RGASPI, f. 389, op. 1, d. 76. Siehe Rolf Hecker, Manfred Schöncke: Eine Fotografie von Helena Demuth? Zu Engels’ Reise nach Heidelberg 1875. In: Marx-Engels- Jahrbuch 2004, Berlin 2005, S. 205–218. 62 Siehe MEGA² I/25, S. 5–25. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 195

- Bemerkungen von Engels zur französischen Über- setzung des Manifests in der Zeitschrift L’Ère Nou- velle von 1894.63 Zu den übergebenen Famili- endokumenten gehörten: - 23 Briefe von Laura La- fargue an Engels; - 61 Briefe von Jenny L. an ihren Vater und ihre Mut- ter, an Eleanor Marx, Charles L. u.a.; - 15 Briefe von Eleanor Marx-Aveling an Engels und ihre Schwester Laura; - 29 Briefe von Paul Lafar- Fréderic, Robert-Jean und Paul L. im Museé gue an Engels. d’histoire de Montreuil-sous-Bois (Seine Saint- Denis), etwa 1963. Die Übergabe der Dokumente war mit der Bitte Marcel-Charles L.’s verbunden, ihm eine jährliche Rente von 10.000 Franc mit einer Laufzeit von zehn Jahren oder eine einmalige Kompensation in Höhe von 100.000 Franc auszuzahlen. Der Berichterstatter Šatagin verbindet in seinem Rapport damit eine „marktwirtschaftliche“ Rech- nung: „Entsprechend dem Handschriftenkatalog, herausgegeben von Nicolai Rauch in Genf 1959, kostet eine Handschriftenseite von Marx und Engels in Westeuropa 750 Schweizer Franken. Davon ausgehend stellen die von M. Longuet übergebenen 194 Seiten Dokumente von Marx und Engels einen Wert von 145.500 Schweizer Franken dar. Außerdem kann der Wert der 258 Seiten Familiendokumente mit 51.600 Schweizer Franken (ausgehend von 200 pro Seite) angegeben werden. Nach dieser Rechnung beträgt der Ge- samtwert 197.100 Schweizer Franken oder 224.300 französische Franc, d.h. mehr als doppelt soviel der Summe, die M. Ch. Longuet erbittet.“64 Am 19. November 1960 weist Šatagin den Leiter der Ersten Europaabtei- lung im MfAA, S. T. Bazarov, an, dass durch die Botschaft in Paris an Mar- cel-Charles L. 100.000 Franc ausgezahlt werden sollen (die Summe wird über

63 Siehe MEGA² I/30 und I/32. 64 RGASPI, f. 71, op. 4, d. 247. 196 Martine Dalmas, Rolf Hecker

die Außenhandelsbank an die Botschaft überwiesen).65 Einen ähnlich lauten- den Brief sendet er direkt an den Botschafter S. A. Vinogradov.66 Darüber hinaus teilt Šatagin dem „cher camarade Longuet“ mit, dass die Entscheidung über die Kompensation positiv ausgefallen ist und die Zahlung über die Bot- schaft erfolgen wird.67 Am 2. Dezember 1960 bestätigt Vinogradov an Šata- gin die erfolgte Auszahlung.68 Am 1. Dezember 1960 bedankt sich Marcel-Charles L.: «Cher Camarade Chataguin, Je vous adresse ainsi que ma femme mes meilleurs voeux pour cette Nouvelle Année, en vous remerciant très sincèrement de tout ce que l’Institut a fait pour moi, et en espérant vous revoir tous. Croyez bien, Cher Camarade, à mes sentiments dévoués. Marcel Ch. Longuet.» 69 Bereits im Mai des folgenden Jahres fragt Obiškin bei Botschafter Vino- gradov an, ob Marcel-Charles L. beabsichtige, Moskau einen erneuten Besuch abzustatten. Am 25. August 1961 trifft ein Brief von Marcel-Charles L. vom 16. August im IML ein. Darin erklärt er, dass der geplante Termin (3. Sep- tember) sich als sehr ungünstig erweise, denn zu dieser Zeit finde eine große Ausstellung statt und er fürchte sich wegen seines Gebrechens vor den großen Menschenmassen.70 Deswegen schlägt er vor, den Termin um zwei Wochen zu verschieben. Am 22. September schreibt er erneut, diesmal an den Genossen Obiškin, es gehe ihm in der letzten Zeit nicht sehr gut und er müsse nun diese Reise, bei der er vorgehabt habe, außer Moskau auch Leningrad bzw. die Krim zu besu- chen, leider wieder aufschieben.

Obwohl Fréderic L. 1956 bei der Einweihung der neuen Marx-Grabstätte in London anwesend war, rückte dieser Marx-Urenkel erst in den 1960er Jahren in die Aufmerksamkeit des Moskauer IML (offenbar immer unter Beachtung der Erbreihenfolge). Er war seit seinem 15. Lebensjahr mit Malstudien be- schäftigt, ihn reizten zunächst das Licht und Wasserlandschaften, später war er von den Impressionisten beeindruckt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolg- ten erste Ausstellungen: 1946 wurden 90 Werke in der Galerie Borghèse, Avenue des Champs-Élysées ausgestellt; 1948 Landschaften der Bretagne in

65 Ebenda. 66 Ebenda. 67 Ebenda. 68 Ebenda. 69 RGASPI, f. 71, op. 4, d. 248. 70 Er schreibt: «le journal L'Humanité explique le grand mouvement de monde que cela va occasionner, ce qui nous effraye un peu, vu mon état d'infirmité.» Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 197

der Galerie Tedesco, Avenue de Friedland; 1950 zum Thema Holland in der Galerie Henri Bénézit, Rue Miromemil. Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden – Höhepunkt war wohl 1962 eine im Moskauer Puškin-Museum ver- anstaltete Ausstellung von Landschaften der Seine, der Marne und der Bretagne mit 100 Werken, 13 Werke wurden anschließend durch das Museum erworben. Zur Eröffnung der Ausstellung weilte Fréderic L. in Moskau und besuchte das IML. Auf seine Bitte hin wurden ihm die im ZPA befindlichen Marx- Dokumente aus dem Longuet-Nachlass gezeigt und er war „tief beeindruckt von den guten Bedingungen, unter denen sie aufbewahrt werden“. Weiterhin wird in dem Bericht des stellvertretenden Direktors N. Matkovskij an Chruššev vom 7. April 1962 festgestellt, dass Fréderic L. zwei Originalfotos von Marx, zwei Bücher aus dessen Bibliothek sowie eine Gedenkmedaille, die Charles L. besaß, persönlich an den Ersten Sekretär überreichen möchte. Er meine, dass die Übergabe dieser Devotionalien eine große symbolische Bedeutung habe, weil Chruššev an der Spitze des Landes steht, „in dem prak- tisch die Ideen seines berühmten Urgroßvaters verwirklicht werden“. Leider habe Fréderic L. während des Aufenthalts von Chruščev in Paris nicht die Ge- legenheit gehabt, ihn zu treffen, was er nun gern nachholen möchte. Ab- schließend heißt es, dass Fréderic L. an seine „schwere materielle Situation“ erinnert hat. Der Erwerb der 13 Bilder durch das Museum stellte für ihn „kei- ne notwendige Hilfe“ dar.71 Es fand kein persönliches Treffen mit Chruščev statt, sondern mit dem ZK- Sekretär M. A. Suslov. Später übergab Chruščevs Enkel, ebenfalls Nikita Ser- geevič, zwei Erinnerungsstücke dem ZPA: ein Album mit Karikaturen aus der Zeit der Pariser Kommune, das seinem Großvater während des Besuches in Paris 1961 überreicht worden war, sowie das Buch Paul Lafargues „Le Détermi- nisme économique de Karl Marx“72 mit einer Widmung von Fréderic L.73 Ein Jahr später wurde Fréderic L. vom Kulturministerium und dem Künst- lerverband der UdSSR (sowie durch den ZK-Sekretär Suslov) zu einem Stu- dienaufenthalt eingeladen. Er unternahm in der Zeit vom 31. Juli bis 1. No- vember 1963 eine 13500 km lange Autoreise von Moskau zur Krim und zu- rück. Das Ergebnis waren 34 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen. Diese

71 RGASPI, Eingangsakte Fond 7. 72 Paul Lafargue: Le Determinisme economique de Karl Marx. Recherches sur l'origine et l'evolution des idees de justice, du bien, de l'ame et de Dieu. 1885.; deutsch: Der wirt- schaftliche Materialismus nach den Anschauungen von Karl Marx. Zürich 1886; rus- sisch: Ekonomičeskij determinizm Karla Marksa. Moskau 1923. 73 RGASPI, Eingangsakte Fond 7 (7. September 1984). 198 Martine Dalmas, Rolf Hecker

Fréderic L. mit seiner Frau zu Besuch im Berliner IML, mit dem Leiter der Marx- Engels-Abteilung Horst Merbach (r.) und den Mitarbeiterinnen Rosie Rudich und Ruth Stolz (v.l.), 1963 wurden unter der Schirmherrschaft des Botschafters Vinogradov vom 22. April bis 15. Mai 1964 in der Pariser Galerie du Passeur gezeigt. Während seines Aufenthalts im Moskauer IML im September 1963 über- gab Fréderic L. ein Album mit 126 Fotografien, das seiner Großmutter Jenny L. gehört hatte. Damit verband sich in der Folge ein historischer Irrtum, da die Porträts auf einigen Fotos Jenny Marx bzw. ihrer Tochter Jenny Marx-L. zu- geschrieben wurden, jedoch Gertrud Kugelmann und deren Tochter Franziska abbilden.74

74 Siehe Boris Rudjak: Ein Irrtum ist zu korrigieren. In: Marx-Engels-Jahrbuch 13, Berlin 1991, S. 320–328 (der Aufsatz erschien erstmals in russischer Sprache in Nauka i Žizn’, H. 12, 1988, S. 26–29, eine französische Übersetzung in Françoise Giroud: Jenny Marx ou la femme du diable, Paris 1992 (dt.: Trio Infernale oder das Leben der Jenny Marx, Weinheim, Berlin 1994). Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 199

Robert-Jean L. zu Besuch im Berliner IML mit dem Leiter der Marx-Engels-Abteilung Erich Kundel, 1976. Auf der Rückreise von diesem Studienaufenthalt war Fréderic L. für einige Tage Gast des Berliner IML.75 In einer Aktennotiz erfasste die Mitarbeiterin der Marx-Engels-Abteilung Ruth Stolz einige biografische Angaben von Longuet-Familienmitgliedern. Nach einem Vermerk beabsichtigte Fréderic L., dem Berliner IML „folgende Dinge“ zu senden resp. im Frühjahr 1964 mitzubringen: „1. Fotokopie eines Marx-Porträts im Profil. 2. Fotokopie eines Miniaturporträts der Braut Edgars von Westphalen (Bruder der Frau Jenny Marx). 3. Fotokopien von zwei Zeichnungen von Jenny Marx. 4. Familienalbum der Familie Marx mit einer Widmung von Frau Jenny Marx’ Hand [Fotokopie].

75 Möglicherweise unterbrachen sie ihre Reise in Berlin bereits auf der Hinreise nach Moskau. 200 Martine Dalmas, Rolf Hecker

5. 5 Briefe von Charles Longuet (Original).“76 Im Mai 1968 fand in Moskau zum 150. Geburtstag von Marx wahrschein- lich das letzte gemeinsame Treffen mit den Marx-Urenkeln, den Brüdern Ro- bert-Jean und Karl L., sowie ihren Cousins, den Brüdern Fréderic und Paul L. statt. Im September des gleiches Jahres weilte Robert-Jean L. mit seiner Frau für einen Monat in der UdSSR; sie besuchten Leningrad und Moskau und rei- sten anschließend durch Usbekistan. Bei dieser Gelegenheit übergab er im Marx-Engels-Museum ein Exzerptheft von Laura Lafargue, die Polizeiakte von Charles L. und 68 Briefe von Vertretern der internationalen Arbeiterbe- wegung an die Adresse seines Vaters Jean L. aus den Jahren 1899–1919, dar- unter z.B. 18 Briefe von Karl Kautsky, 11 Briefe von Luise Kautsky und drei Briefe von Eduard Bernstein.77

Das Finale Die Geschichte der Beziehungen des Moskauer IML zur Familie Longuet er- lebte sicherlich ihre Höhen und Tiefen, das Entscheidende scheint jedoch zu sein, dass das Institut und seine Vertreter für die Familie Longuet die Gewähr dafür boten, dass die von ihnen übergebenen Marx- und Engels-Dokumente sorgsam aufbewahrt werden und für die wissenschaftliche Forschung und seit Ende der 1960er Jahre für die Vorbereitung und die Herausgabe der zweiten MEGA zur Verfügung stehen. Abschließend soll nochmals der eingangs zitierte Hinweis von Robert-Jean L. aufgegriffen werden, der feststellte, dass bis 1971 alle im Besitz der Fami- lie Longuet befindlichen Marx- und Engels-Dokumente an das Moskauer IML übergeben worden seien. Allerdings zeigen die Eingangsbücher und Lis- ten des RGASPI, dass noch 1980 die Mitarbeiterin Judinkova von ihren be- reits erwähnten Dienstreisen weitere Dokumente aus Paris mitbrachte. Außer- dem hat die Familie auch andere Adressaten mit Dokumenten aus dem Fami- liennachlass bedacht, so u.a. in Paris das Institut für Sozialgeschichte Frank- reichs und das Institut für marxistische Forschungen der KPF.78

76 Aktennotiz von Ruth Stolz aus einem bei Richard Sperl befindlichem Dossier. Es war daran gedacht, mit diesen Dokumenten die im Aufbau befindliche Ausstellung über die Familie Marx im Geburtshaus von in Salzwedel zu bereichern. 77 A. Solov’ev an P. N. Fedoseev (Direktor des IML), 14. Januar 1969, O. Senekina: Dokladnaja zapiska, 14. Januar 1969, RGASPI, Eingangsakte Fond 7. 78 Espaces Marx, 64 Bd Auguste Blanqui, F-75013 Paris, www.espaces-marx.eu.org. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 201

Büchertisch anlässlich des Kongresses von „Marx Actuel“ in Paris, 30. 9. 2004 (siehe www. netx.u-paris10.fr/actuelmarx/index4.htm)

Über einen aufsehenerregenden Fund konnte Anfang 1984 berichtet wer- den: als Edgar L. 1938 Mitglied der KPF wurde, übergab er (fast) alle bei ihm verbliebenen Familiendokumente an Jacques Duclos für ein neues Museum. 1939 wurde diese Sammlung aus Montreuil vor der deutschen faschistischen Okkupation verbracht und irgendwo in einem Dorf bei Fontainebleau ver- steckt, wo sie nach 45 Jahren wieder auftauchten.79 Und wie durch den MEGA²-Band IV/32 dokumentiert wird, befinden sich Bücher wie auch eini-

79 Gerhard Leo: „Chally, wir fühlen uns sehr einsam ohne dich“. Briefe der Marx-Familie und von Friedrich Engels bei Paris entdeckt. In: Neues Deutschland (Berlin), 7./8. Janu- ar 1984, S. 11. 202 Martine Dalmas, Rolf Hecker

ge Gegenstände aus der Familie Marx noch heute bei den Erben der Familie Longuet in Paris. 1979 erschien in der DDR das Marx-Büchlein von Robert-Jean L. „Karl Marx – mein Urgroßvater“, in dem er Marx als „Mensch, seinen Charakter, seine innersten Gedanken, sein Familienleben“80 darzustellen versuchte. So fand die umfangreiche biografische Marx-Literatur ihre Bereicherung durch die persönliche Sicht des Autors. Robert-Jean L. besuchte in den 1970er Jah- ren mehrfach die DDR und war Gast im Berliner IML. Auch seine Frau Chri- stine war von den Begegnungen mit den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern beeindruckt.81 Zu einem Zweig der Familie L., nämlich zu Karl L. und seiner Frau Simo- ne, unterhielt das Moskauer Institut keine regelmäßigen Beziehungen, was aber nicht bedeutet, dass die Familie das historische Erbe, das mit dem Na- men Marx verbunden ist, nicht gepflegt hat. Nach Auskunft der beiden Töch- ter, Fréderique und Anne L. kamen „die politischen Überzeugungen von Karl L. in seinem persönlichen Leben und im künstlerischen Schaffen zum Aus- druck. Er war der einzige in der Familie, der rechtlichen Anspruch auf den Namen Marx erhoben hat und ihn in einem Verfahren beim französischen Staat in den Jahren 1964–1972 durchsetzte.“ Weiter erinnern die Töchter daran, dass er „während der Besatzungszeit durch Nazi-Deutschland aktiv am Widerstand teilgenommen hat und in seiner Pariser Wohnung und in seinem Atelier Sitzungen des Generalstabs der fran- zösischen militärischen Untergrundorganisation FFI (Forces françaises de l’intérieur) mit Maurice Kiegel-Valrimont abgehalten worden sind. Ende der 1950er Jahre hat er mit seiner Frau Simone Boisecq, die auch Bildhauerin ist, an Versammlungen zur Unterstützung der sich im Krieg befindenden Algerier teilgenommen. Später unterstützten sie die vietnamesische Befreiungsbewe- gung. Durch ihre Beteiligung an Ausstellungen zeigten beide ihre Solidarität mit den Kämpfern.“ Bezüglich der künstlerischen Arbeit erklären beide, dass die Werke von Karl L. „zu den wichtigsten in der Geschichte der Bildhauerei des 20. Jahr- hunderts zählen: vor dem Krieg erinnert seine bildliche Darstellung an Mail- lol, sie entwickelt sich dann zu einer einzigartigen Ausdrucksform, die an Ab- straktion grenzt. Unter den zahlreichen und unterschiedlichen Werken, die im Zusammenhang mit Geschichte und Politik stehen, zählen: zwei Torsos von

80 Robert-Jean Longuet: Karl Marx, mon arrière-grand-père, Paris 1977; deutsch: Karl Marx – mein Urgroßvater, Berlin 1979, S. 7. 81 Joachim Sonnenburg: Er sah die Ideen von Karl Marx Realität werden. Zum Ableben von Robert-Jean Longuet. In: Neues Deutschland (Berlin), 21./22. März 1987. Marx-Dokumente aus dem Longuet-Nachlass in Moskau 203

Simone und Karl L.-Marx

Marx in den dreißiger und sechziger Jahren (letzterer war in den 1970er Jah- ren auf dem Einband der Werke von Marx, die bei Editions Sociales heraus- gegeben wurden, abgebildet), ein Medaillon von Engels, ein Denkmal für die Widerstandskämpfer des Département Yonne (1945), ein Denkmal für die Widerstandskämpfer des Pariser Polizeipräsidiums (1946), ein Torso von Schoelcher 1948 zum 100. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei, ein Werk zur Ehre der Commune (1971), ein Denkmal für den ermordeten chilenischen Präsidenten Salvatore Allende (1974). Karl L. war ein äußerst diskreter Mensch, ein Künstler, der sich immer von seinen klaren Überzeugungen so- wie von seinem Empfinden hat leiten lassen.“ Die Töchter Karl L.’s leben ganz im Sinne ihrer Eltern, was sich vor allem in ihren wissenschaftlichen Arbeiten niederschlägt. Die ältere Tochter, Frédérique L., ist Dozentin für Ethnologie und arbeitet über die Moslems in der ehemaligen UdSSR, besonders im Kaukasus. Sie interessiert sich für die Entwicklung der Völker im Nordkaukasus seit der Zersplitterung der Sowjet- union, für das Wiederaufleben des Islams und für die radikalen Formen, die er in dieser Gegend annimmt. 2003 hat sie ein Buch über Tschetschenien und die bedrohte Zukunft dieses Volkes veröffentlicht. Die jüngere Tochter, Anne L., die Dozentin für Komparatistik ist, befasst sich in erster Linie mit Theater und ist auch als Dramaturgin und Regisseurin 204 Martine Dalmas, Rolf Hecker

tätig. Sie hat Kleist und Celan ins Französische übersetzt und drei Jahre das französische Kulturinstitut in Tübingen geleitet. Sie gibt eine deutsch- französische Reihe über Kunst und Philosophie heraus, die unter dem Titel „Les conférences du Divan“ steht. Neben regelmäßigen Veröffentlichungen über Literatur, Kunst und Psychoanalyse hat sie 1995 einen Text über den Krieg in Jugoslawien und über die Beziehung zum Fremden publiziert. Zur Zeit arbeitet sie an einer Theorie des Subjekts, die an eine lange philoso- phisch-politische Tradition anknüpft (Essays über Geschichte und Politik im Theater, im Roman, in der Malerei und der Poesie). Die MEGA², herausgegeben durch die Internationale Marx-Engels- Stiftung, wäre ohne die jahrelangen Bemühungen des Moskauer Instituts, aber vor allem durch das großzügige Entgegenkommen und die freundliche Unter- stützung der Familie Longuet um viele wichtige Dokumente ärmer. Für den kleinen Kreis der direkten Nachfahren der Familie Marx, wie aus der Genea- logie hervorgeht, kann es eine Genugtuung sein, dass diese Dokumente einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können und im RGASPI einen würdigen Aufbewahrungsort gefunden haben, wo sie sorgsam gepflegt werden.

Autoren: Prof. Dr. Martine Dalmas, Université Paris IV-Sorbonne, UFR d’Etudes Germaniques, 108, Bd Malesherbes, F-75850 Paris Cédex 17. Email: [email protected]

Prof. Dr. Rolf Hecker, Ribbecker Str. 3, D-10315 Berlin. Email: [email protected]