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12. NOVEMBER 2015 No 46 Die neue Bibliothek: Vom Büchermuseum zum Ort für Begegnungen WISSEN Seite 42 39

Märchenzahlen für Kyoto Ein besseres Messnetz statt falscher Berechnungen für Treibhausgase

Nun also auch Manipulationen beim Treib- Zeit für einen hausgas CO₂. Die neueste Enthüllung im VW-Skandal zeigt, welche kriminelle Energie Manager aufbringen, um den Umweltschutz systematisch zu umgehen. Und sie demons- triert, dass der Industrie bei der Angabe von Emissionswerten nicht zu trauen ist. Das ist ein Grundproblem in der Klima- politik. Denn die Treibhausgasbudgets ba- sieren auf Schätzungen der einzelnen Staaten und damit auch auf Angaben der Wirt- neuen Eid schaft. Wie viel Kohlendioxid, Methan und

Wie viel Gas entweicht aus den Schloten?

andere Treibhausgase tatsächlich in die At- mosphäre entweichen und den Klimawandel beschleunigen, wird nicht etwa gemessen, sondern rein statistisch ermittelt. Einmal im Jahr erstellen die Staaten eine Art Ökobilanz. Den Gesamtausstoß hierzulande errechnet das Umweltbundesamt in Dessau. Es ermit- telt, wie viel Energie und Müll die Deut- schen verbrauchen, wie viele Autos unter- wegs sind, wie viel Methan aus den Därmen deutscher Kühe entweicht. Das Ergebnis wird an die Vereinten Nationen gemeldet. Diese nationalen Emissionsrechnungen sind die Grundlage für das Kyoto-Abkommen. Damit ist die Fallhöhe klar: Die Berech- nung entscheidet darüber, ob der Klima- schutzvertrag eingehalten wird, ob über- haupt wirklich etwas gegen die Erderwär- mung getan wird. Doch Zweifel an den Emissionsberichten der Regierungen halten sich hartnäckig. Ärzte entscheiden nicht immer nach dem Wohl Schon länger vermuten Atmosphärenphysi- der Patienten, sondern häufiger nach ökonomischen Kriterien. ker, dass die Berechnungen hinten und vorne nicht stimmen. Zahlreiche Messungen an Dagegen gibt es ein Rezept VON HARRO ALBRECHT verschiedenen Orten der Erde belegen, dass teilweise deutlich mehr klimaschädliche Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen, erichte über mehr als 100 000 kleine Episode, wie sie sich in vielen Praxen ab- Gelöbnis, das den antiken Eid nach dem Zweiten Konflikt zwischen Arzt und Krankenhausverwal- als die Regierungen veröffentlichen. Bei vermeidbare Infektionen in spielt. Tagtäglich sehen sich Patienten mit Ange- Weltkrieg ablöste, ist im Kern auch schon fast 70 tung. Herausgekommen sind leicht verständliche Methan und dem hochwirksamen Schwefel- Krankenhäusern, voreilige Knie-, boten konfrontiert, von denen sie nicht wissen, ob Jahre alt. Es wäre also Zeit für einen neuen Eid, der Formeln wie: »Ich betreibe eine Medizin mit hexafluorid fanden die Forscher sogar grobe Hüft- und Rückenoperationen, sie ihrer Gesundheit dienen oder nur die Kasse des den Ärzten den Pfad weist und bei verunsicherten Augenmaß und empfehle oder ergreife keine Maß- Abweichungen. Erst vergangene Woche reihenweise Schmu bei Trans- Arztes füllen sollen. Patienten neues Vertrauen stiftet. nahmen, die nicht medizinisch indiziert sind.« meldete die New York Times, dass China bis plantationen – man könnte am »Ich spüre überall, wie die Ärzte unter ökono- Wer sich dem neuen Eid verpflichtet fühlt, kann zu 17 Prozent mehr Kohlendioxid ausstößt Ethos der Ärzte zweifeln. Beim Hippokrates wusste noch nichts von mischem Druck stehen«, sagt der belgische Ethiker eigentlich nicht mehr guten Gewissens Indivi- als angegeben. Das ist dieselbe Menge CO₂, einfachen Augenarztbesuch fängt es schon an. Ei- Individuellen Gesundheitsleistungen Jean-Pierre Wils, der auch deutsche Kranken- duelle Gesundheitsleistungen ohne medizinischen die Deutschland jedes Jahr emittiert. Bgentlich will man sich nur für eine neue Brille die häuser in ethischen Fragen beraten hat. Zusammen Mehrwert anbieten. Ebenso sollte die Eidesformel Ob die Werte der Staaten manipuliert Augen prüfen lassen. Aber schon im Warte zimmer Für gewöhnlich nehmen Patienten an, dass Ärzte mit einem Chirurgen, einer Wirtschaftswissen- verhindern, dass eine neue Hüfte implantiert wird, werden oder einfach nur Fehler bei der Be- überreicht die Sprechstundenhilfe ein Formular für auf höchstem ethischen Niveau handeln – und da- schaftlerin, einer Psychologin und einer Theologin wenn Abwarten, Sport oder Krankengymnastik rechnung passieren, ist am Ende einerlei. eine zusätzliche Individuelle Gesundheitsleistung, mit in ihrem Sinne. Schließlich gibt es den hippo- entwickelte er am Interdisziplinären Institut für die klügeren Lösungen sind. Die mehrfach belegten Falschmeldungen kurz IGeL. Die Frau Doktor wolle gern noch den kratischen Eid. Doch Zug um Zug, sagt der Frei- Ethik im Gesundheitswesen in Zürich einen Aber sollen nicht schon die Berufsordnungen zeigen: Es braucht ein unabhängiges Mess- Augeninnendruck überprüfen – und das koste burger Medizinethiker Giovanni Maio, würden neuen, zeitgemäßen Ärzteschwur (siehe Kasten der Ärzte und bestehenden Gesetze Fehlbehand- netz, um die tatsächlich emittierten Treib- leider extra. Was die Arzthelferin nicht sagt: Der die Ärzte die ihnen eigentlich fremde Logik der nächste Seite). »Die einzelnen Punkte spiegeln lungen weitgehend ausschließen? Das Embryonen- hausgase jedes einzelnen Landes zu ermitteln Gemeinsame Bundesausschuss erachtet den Test Ökonomie zu ihrer eigenen Logik machen. Von reale Situationen wider, in die Ärzte immer wieder schutzgesetz schützt Embryonen, das Patienten- – ein solches Netz strebt die EU für 2016 an. nicht als sinnvolle Routineuntersuchung. Und Fallpauschalen, Mengenausweitung und »Igeln« hineingeraten und in denen sie sich orientieren rechtegesetz schafft den Bedürfnissen von Patien- Entscheidend ist, dass die Angaben über- weil das Gremium darüber entscheidet, was die wusste der antike Hippokrates von Kos vor 2500 müssen«, sagt Wils. Der grunderneuerte Schweizer ten mehr Geltung, gerade ist ein Antikorruptions- prüfbar sind. Sonst ergeben die Verhand- Krankenkassen zahlen müssen, wird die Unter- Jahren noch nichts, deshalb sind seine Weisheiten Ärzteeid in achtzehn Punkten könnte als Leitstern gesetz in Arbeit, das die Bestechlichkeit im lungen über einen neuen Klimavertrag und

Abb.: Corbis [M]; kl. Fotos: Adam Mørk (o.); Alimdi.net Mørk (o.); Adam Corbis [M]; kl. Fotos: Abb.: suchung von diesen nicht übernommen. Eine heute nur sehr begrenzt nützlich. Und das Genfer und Argumentationshilfe dienen, zum Beispiel im Gesundheitswesen unterbinden soll. Und am jede eingesparte Tonne CO₂ keinen Sinn. Ob Auto, Kuh oder Schornstein: Man will Fortsetzung auf S. 40 wissen, was rauskommt. ANDREAS FREY

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Zeit für einen neuen Eid Fortsetzung von S. 39 glichene Work-Life-Balance, und viele wollen gehören dort nicht hinein. Die Reaktionen auf lieber angestellt sein, als eine eigene Praxis aktuelle Missstände machen einen Eid zwar grif- zu führen. Aus Berufenen sind immer mehr figer – aber auch vergänglicher. Andererseits vergangenen Freitag hat der Bundestag die »ge- durchschnittliche Arbeitnehmer geworden. stellt sich die Frage, ob eine Formel wie »Bei schäftsmäßige Sterbehilfe« per Gesetz verboten. Sich aufopfern für die Patienten, etwas für die meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand Doch ein Gesetz leistet etwas anderes als ein Kranken wagen und dann die Verantwortung gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst Eid. Es ist eine staatliche Rechtsnorm. Sie wird tragen, hat in diesem Lebenskonzept klare der Menschlichkeit zu stellen« im Genfer Gelöb- von außen in das Vertrauensverhältnis zwischen Grenzen. Die ärztliche Tätigkeit gewinnt mehr nis nicht zu pathetisch ist und gerade deshalb Arzt und Patient getragen. Zudem kann ein Para- den Charakter einer Dienstleistung (samt nicht mehr in die Zeit passt. graf im Strafgesetzbuch nicht die Dramatik einer Kleingedrucktem im Vertrag). Es bleibt die Herausforderung, den ethischen konkreten medizinischen Behandlung erfassen: Gleichzeitig wächst unter den Bürgern der Vorschlag für einen neuen Ärzte-Eid – Kanon – ob alt oder neu – wieder ins Bewusst- Ein Mensch in einer Notsituation begibt sich in Wunsch nach moralischer Integrität von Men- sein der Ärzte zu rücken. In der Nachkriegszeit die Hände eines anderen, fremden Menschen. Er schen in herausgehobener gesellschaftlicher Stel- ein Auszug waren feierliche Schwüre und Zeremonien an muss darauf vertrauen, dass sein Gegenüber fach- lung, seien es Ärzte, Banker oder Journalisten. den Universitäten verpönt. »Unter den Talaren – kompetent ist und moralisch integer. »Das ist Andere Gewerbe reagieren bereits auf diesen Muff von 1000 Jahren«, skandierte die 68er-Ge- eigentlich etwas Ungeheuerliches«, sagt Georg neuen Wunsch nach mehr professioneller Ethik. Ich gelobe, während der Ausübung • Ich begegne meinen Patienten neration. Die Studenten erhielten ihr Examens- Marckmann, Herausgeber des gerade erschienenen »Ich schwöre, dass ich bestrebt bin, das Vertrauen meiner ärztlichen Tätigkeit folgende ebenso wie meinen Kolleginnen zeugnis per Post zugeschickt, das Genfer Gelöb- Praxisbuchs Ethik in der Medizin. »Das ist so, als in den Finanzsektor zu erhalten und zu fördern«, Berufspflichten nach meiner Kraft und Kollegen immer mit Freund- nis verschwand als Präambel in der Musterberufs- würden Sie mit jemandem eine extrem schwierige sagen etwa niederländische Banker seit zwei und Fähigkeit zu respektieren und lichkeit und Respekt. Ich bin zu ordnung, in der die Bundesärztekammer das Klettertour wagen, den Sie nicht kennen.« Jahren, »so wahr mir Gott helfe.« Zeitungs - ihnen gemäß zu handeln: ihnen ehrlich und wahrhaftig. Verhalten gegenüber Patienten, Kollegen und redaktionen geben sich neue Verhaltenskodices. • Ich fördere die Gesundheits- Mitarbeitern regelt. Der gemeinsam abgelegte Schwur Die Mediziner dagegen bauen auf ein Gelöbnis, • Ich stelle die Sorge um die kompetenz meiner Patientinnen Doch die meisten Ärzte kennen weder die bleibt nachhaltig in Erinnerung das allenfalls noch schamhaft in den ärztlichen Behandlung meiner Patienten und Patienten. Musterberufsordnung noch die daraus abgeleite- Berufsordnungen aufscheint. und deren Interessen immer • Ich nehme mir für das Gespräch ten Berufsordnungen der Landesärztekammern Ein Eid ist etwas Intimeres als ein Gesetz. Er ist emo- Georg Marckmann, Medizinethiker an der voran, wende jeden Schaden von und für die menschliche oder gar das Genfer Gelöbnis. Die Frage ist, ob ein tionaler, persönlicher. Nicht der anonyme Staat LMU München, sieht ethischen Nachholbedarf ihnen ab und füge ihnen auch Begegnung mit den Patienten ärztlicher Eid nicht wieder seinen eigenen, hervor- diktiert die Richtschnur des Handelns, sondern der nicht nur wegen spektakulärer Verfehlungen, wie keinen solchen zu. (und mit ihren Angehörigen) die gehobenen Platz in der Öffentlichkeit bekommen Mediziner selbst. »Ich schwöre und rufe Apollon, den bei den Transplantationsskandalen, oder an- • Ich betrachte das Wohl erforderliche Zeit und spreche sollte. »Ich finde, dass an den Universitäten ein Arzt, und Asklepios und Hygieia und Panakeia und stehender Grundsatzfragen, wie in der Sterbehil- meiner Patienten als vorrangig, mit ihnen auf eine verständ liche ärztliches Gelöbnis mit einer feierlichen Veranstal- alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich fe. Viele Ärzte hätten den Blick dafür verloren, respektiere ihre Rechte und und angemessene Weise. tung durchaus wieder eingeführt werden sollte«, diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit dass ihr Alltag durchdrungen ist von ethischen helfe ihnen, informierte • Ich respektiere und wahre grund- sagt Bundesärztekammerpräsident Montgomery, und nach meiner Einsicht erfüllen werde«, riefen die Herausforderungen. »Es fängt mit der guten Auf- Entscheidungen zu treffen. sätzlich die Willensäußerungen »ich glaube, dass dies der Profanisierung unseres antiken Ärzte vor Zeugen. klärung des Patienten an«, sagt er. Und es ginge • Ich betreibe eine Medizin mit meiner Patienten. Berufsbildes entgegenwirken würde.« Der gemeinsame Schwur verpflichtet sie zur damit weiter, dass man auf die Wünsche des Augenmaß und empfehle oder • Ich setze die mir zur Verfügung Wahrheit und zum Tragen der Konsequenzen ihrer Patienten eingehe oder seine Privatsphäre wahre. ergreife keine Maßnahmen, die stehenden Ressourcen wirtschaft- Ärztliches Handeln sei selbstverständlich, Handlungen. Der Eid ist nachhaltiger, weil er das »Das allererste ethische Gebot aber ist, fachlich nicht medizinisch indiziert sind. lich, transparent und gerecht ein. heißt es aus Lübeck. Der Schwur sei unnötig Gewissen aktiviert und sozialen Druck aufbaut. tadellos zu diagnostizieren und zu behandeln«, • Ich instrumentalisiere meine • Ich nehme für die Zuweisung Das Gütesiegel stärkt den Zusammenhalt des sagt Marckmann. »Dazu gehört, dass man sich Patienten weder zu Karriere- und Überwei sung von Patienten Aber stand nicht der öffentliche Schwur für Korps- Berufsstandes und dient zur Abgrenzung gegen- regelmäßig fortbildet, dass man die verfügbare noch zu anderen Zwecken keine geldwerten Leistun gen geist? Passt so etwas noch in eine Zeit, in der Pa- über zwielichtiger Heilerkonkurrenz. Durch den Evidenz berücksichtigt, dass man lernt, allgemei- und sehe von allen Maßnahmen entgegen. tienten mit ihren Ärzten auf Augenhöhe diskutie- Eid könnten die Patienten darauf vertrauen, sagt ne Studien auf den Einzelfall herunterzu brechen.« ab, die nicht in einem direkten • Ich gehe keinen Vertrag ein, ren wollen? In den USA legen zwar 98 Prozent aller der Münchner Medizinethiker Georg Marck- Ebenso müssen Ärzte kritikfähig sein und mit Zusammenhang mit der der mich zu Leis tungsmengen, angehenden Ärzte mit großem Pomp unterschied- mann, dass der Arzt als Angehöriger eines Berufs- Fehlern vernünftig umgehen. Linderung ihrer Beschwerden, zu nicht indizierten Leistungen lichste medizinische Eide ab. Aber werden diese standes sich darauf verpflichtet hat, bestimmte Angesichts des bröckelnden Selbstverständnisses der Heilung ihrer Krankheit oder zu Leistungsunterlassungen Eide nicht ständig und folgenlos missachtet? Das moralische Grundsätze zu beherzigen. So gesehen, der Ärzte hat die Fachzeitschrift The Lancet vor ein oder der Verhütung einer nötigt. fragte jüngst der amerikanische Bioethiker Erich macht der medizinische Eid den Berufsstand des paar Jahren für eine »Charta der medizinischen Erkrankung stehen. Loewy und nannte Beispiele: Ärzte unterließen aus Arztes erst möglich. Er ist die Brücke, über die der Professionalität« geworben. Zu diesen Grundsätzen • Ich mute meinen Patienten Ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe Kostengründen notwendige Tests, Patienten wür- Patient getrost gehen kann. muss heute selbstverständlich auch ein verantwor- nichts zu, was ich auch meinen (Eidkommission) des schweizerischen den im Krankenhaus abgewiesen, weil ihnen das Dabei war der Medizinereid immer auch ein tungsvolles Handeln in wirtschaftlicher Hinsicht liebsten Nächsten oder mir selbst Instituts Dialog Ethik, einer Geld für die Behandlung fehle. Der deutsche Me- Abbild der aktuellen Herausforderungen und des gehören. Denn was einem Patienten zugutekommt, nicht zumuten würde. Non-Profit- Organisation in Zürich dizinethiker Georg Marckmann ist ebenfalls skep- Selbstverständnisses der Ärzteschaft. Im Laufe der fehlt vielleicht einem anderen. Immer teurere tisch: »Diese Eide werden nach außen schön vor- Jahrtausende wurden ärztliche Gelöbnisse immer medizinische Möglichkeiten sowie die alternde getragen, aber am Ende werden sie nicht gelebt.« wieder neu formuliert – vor allem dann, wenn die Gesellschaft strapazieren das Budget des Gesund- Zwar gibt es an vielen deutschen Universi- medizinische Zunft versagt hatte. Im originalen heitswesens. Jeden Tag müssen Ärzte auch ökono- täten inzwischen Ethikkurse, vom öffentlichen hippokratischen Eid war den Ärzten noch angera- mische Entscheidungen treffen, ohne sich freilich Schwur dagegen wollen manche Unis nichts wis- ten, chirurgische Eingriffe zu unterlassen: »Ich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen. »Ich sen. An der privaten Universität Witten/Herde- werde nicht schneiden, sogar Steinleidende nicht, setze die mir zur Verfügung stehenden Ressourcen cke zum Beispiel steht zwar auf den Campus- sondern werde das den Männern überlassen, die wirtschaftlich, transparent und gerecht ein«, heißt fahnen: »Zur Freiheit ermutigen, nach Wahrheit dieses Handwerk ausüben.« Operationen gingen es dazu im neuen schweizerischen Eid. streben, soziale Verantwortung fördern.« Ein öf- oft daneben, und das verdarb den Ruf. Routinemäßig überprüft der Weltärztebund fentliches Gelöbnis leisten die angehenden Ärzte Ähnlich begründet war der Spruch »Primum alle zehn Jahre, ob die grundlegenden Ethik- trotzdem nicht. »Ich bin der Auffassung, dass nil nocere« – »Zuerst einmal nicht schaden« –, auch dokumente wie das Genfer Gelöbnis oder die solche Bekenntnisse innere Einstellungen sind, heute noch der ethische Grundsatz, den die meis- Deklaration von Helsinki den gesellschaftlichen die immer wieder neu gelebt werden müssen«, ten Ärzte aus dem Studium erinnern. Im alten Entwicklungen noch gerecht werden. Sollte zwi- antwortet Prodekan Marzellus Hofmann auf Rom standen Ärzte im Ruf, nicht nur mit heilen- schen der Realität und dem ethischen Kodex eine Nachfrage. Entscheidend seien die Auseinander- den, sondern ebenso mit allerlei giftigen Substan- zu große Lücke klaffen, überarbeitet eine Kom- Foto: Manfred Thomas/Uni Münster; Abb.: Corbis [M] setzung und ständige Reflexion der ethischen zen zu hantieren. Bei mysteriösen oder prominen- mission die entsprechenden Stellen. Die Helsin- In Münster sprechen die Absolventen Basis des ärztlichen Berufes und die Bereitschaft, ten Sterbefällen gerieten sie oft als Todesengel in ki-Deklaration zur medizinischen Forschung nach dem Medizinstudium das sich selbst zu entwickeln. »Das aber ist ein lebens- Verdacht. Die Schadensverhütungsregel sollte die wurde 2013 unter deutscher Federführung gene- Genfer Gelöbnis. Grün ist die Farbe langer Prozess und keine einmalige Intervention.« Ärzte an ihre eigentliche Bestimmung erinnern. ralüberholt. Das Genfer Gelöbnis, das sich eher der Fakultät In Lübeck formuliert man es norddeutsch knap- Im 19. Jahrhundert wiederum dienten Eide auf den normalen medizinischen Alltag bezieht, per: »Ärztliches Handeln ist selbstverständlich. vor allem als berufsständisches Abgrenzungs- wäre ebenfalls bald an der Reihe. Dazu braucht es keinen Schwur.« instrument, weil allerlei Quacksalber und Scharla- Jean-Pierre Wils, der den neuen Schweizer Eid tane unwirksame Therapien anpriesen. Und Allzu konkret solle ein Ärzteeid nicht mitentwickelt hat, sieht das anders. »Eide müssen nachdem die Nationalsozialisten Menschen als formuliert sein, warnen die Kritiker abgelegt werden, sie können nicht in einer ver- Versuchsobjekte missbraucht hatten, formulierte Lust auf den Schwur stümmelten Form nur in den Standesverordnun- der Weltärztebund erst das Genfer Gelöbnis und Genau darum ging es bei einem Treffen des Welt- An welchen medizinischen Fakultäten die Studenten gen schamhaft genannt werden.« Ein Eid bleibt später die Deklaration von Helsinki, die ethische ärztebundes Mitte Oktober in Moskau. Funda- in einem Festakt ein ärztliches Gelöbnis ablegen lebloser Text, wenn er nicht mit anderen geschwo- Grundsätze für die medizinische Forschung am mentalen Änderungsbedarf habe man jedoch ren wird. Ein Schwur vor Publikum, das wissen Menschen vorgibt. nicht gesehen, sagt Frank Ulrich Montgomery, viele Gemeinschaften, bleibt besser in Erinnerung, Die aktuellen Herausforderungen sind der Präsident der deutschen Bundesärztekammer, schweißt die einzelnen Mitglieder einer Gruppe schwören keinen Eid steigende medizinische Bedarf bei begrenzten aber eine Kommission solle erforschen, ob es schwören einen Eid zusammen. »Ich schwöre, dass ich nach bestem Ressourcen, die Forderung nach mehr Patienten- Nachholbedarf im Detail gebe. Noch immer Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts ver- autonomie und die Zersplitterung des ärztlichen spiegeln sich im Genfer Gelöbnis etwa die Hie- schwiegen habe«, heißt es zum Beispiel vor Ge- Berufes. Der Arzt drohe zum »Fremdling in der rarchien der Medizin der sechziger Jahre wider. richt. Bundespräsidenten, Bundeskanzler und Medizin« zu werden, so formulierte es der Medi- Die Medizinschüler sollten ihre Lehrer ehren, Bundesminister legen feierlich den Amtseid ab. zinhistoriker Paul Unschuld. Nicht nur Betriebs- heißt es darin. Heute wird indes beklagt, dass Kiel Und auch viele Medizinstudenten wollen wirtschaftler, auch Molekularbiologen, Genetiker Professoren ihre Doktoranden für die eigene Kar- Greifswald heute wieder ein öffentliches Gelöbnis. In und Patienten machen ihm seine Entscheidungs- riere einspannen und damit den Doktortitel ent- Lübeck Rostock Deutschland hat sich nach ZEIT-Recherchen die freiheit streitig. Das wandelnde des Arztes in werten (ZEIT Nr. 39/15). »Wir wollen eine Dis- feierliche Verlesung eines Gelöbnisses an 17 von

ANZEIGE kussion anstoßen, ob nicht auch der Lehrer den 36 medizinischen Hochschulen durchgesetzt – Schüler wertschätzen sollte«, sagt Montgomery. oft auf Wunsch der angehenden Ärzte (siehe DER NEUE REISEKATALOG 2016 Der Schweizer Eid-Kommission geht dieser Grafik). »Die neue Generation sucht nach Halt, Prozess zu langsam. »Das ärztliche Handeln wird nach Orientierung«, sagt Bernhard Marschall, zunehmend durch patientenfremde Interessen Studiendekan der Medizinischen Fakultät korrumpiert«, schreibt Max Giger, ein Arbeits- Münster. Es ginge ihnen um eine Haltung, die Jetzt Hannover bestellen! gruppenmitglied, in der Schweizerischen Ärzte- Münster richtige Einstellung zur Profession. Und der Eid zeitung. Die Kommission fordert dringend Magdeburg bringe in dieser Hinsicht einfach mehr als das Essen Anpassungen, die auf die Entprofessionalisierung Göttingen bloße Erfassen von Regeln. Dass eine emotional Bochum und den Wandel der Gesundheit zum Handels- Witten/Herdecke Halle aufgeladene Feier Dünkel und Paternalismus för- Erfüllen Sie Ihre Reiseträume! gut reagieren. »Der verpflichtende Eid soll Düsseldorf dere, befürchtet er nicht. »Beim hippokratischen Einzigartige Orte, besondere Begegnungen, unvergessliche Ärztinnen und Ärzten helfen, ihre Berufsidentität Eid der Antike war das noch angelegt, in der Köln Momente: In unserem Reisekatalog 2016 haben wir viele zu stärken und das Berufsethos zu befolgen«, Marburg Jena modernen Form des Genfer Gelöbnisses kommt Bonn spannende Angebote für Sie zusammengestellt. Ob ferne wünschen sich die Autoren. das nicht mehr vor«, sagt Marschall. Kulturen, Wandern oder Radfahren, Städte-, Kultur- oder Aachen Gießen Musikreise – mit uns entdecken Sie, worauf es ankommt. Doch der Vorschlag der Schweizer, der im In Köln nehmen die angehenden Ärzte nun Hier bestellen: www.zeitreisen.zeit.de/katalog gesamten deutschsprachigen Raum verbreitet nach dem Physikum in einer feierlichen White- werden soll, stößt nicht überall auf Begeiste- Mainz Würzburg 53 % 47 Coat-Zeremonie ihre Kittel vom Dekanat entge- rung. Medizinethikern wie Urban Wiesing aus gen und legen nach dem letzten Staatsexamen das Anbieter: Zeitverlag GmbH & Co. KG Tübingen sind die Regeln zu konkret formu- Erlangen Genfer Gelöbnis ab. In Dresden versammeln sich liert, etwa wenn im Schweizer Ärzteeid ange- Homburg Heidelberg insgesamt 900 Teilnehmer zum Festakt, bei dem der Öffentlichkeit spiegelt diese Veränderung mahnt wird, dass ein Arzt für die Überweisung Regensburg Ärzte und Zahnärzte den Eid leisten. In Münster wider. Zwar genießen Ärzte in Umfragen noch von Patienten keine geldwerten Leistungen ent- findet seit 2002 für die 130 Jungmediziner eine Tübingen immer hohes Vertrauen. Doch überflüssige Ange- gegennehmen solle. Ein Eid solle einen ab strak- LMU München Feier statt, auf der vier Kommilitonen auf der bote wie die Individuellen Gesundheitsleistungen ten Rahmen für angemessene Verhaltensweisen Bühne im Scheinwerferkegel bei gedimmtem Saal- könnten das ändern. Nach einer Befragung des liefern und nicht Details behandeln, sagt auch Ulm licht stellvertretend für alle das Genfer Gelöbnis Freiburg Wissenschaftlichen Dienstes der Ortskranken- Georg Marckmann. TU München verlesen. Die Absolventen tragen zu diesem Anlass kassen fühlen sich ein Drittel der Patienten be- So haben sich nach dem Krieg im Kern vier auch wieder Talare mit grünen Krempen, in der drängt und wähnen ein »finanzielles Interesse« Grundsatzprinzipien guten ärztlichen Handelns Fakultätsfarbe also. Es seien noch welche aus hinter den IGeL-Offerten. herauskristallisiert: das Selbstbestimmungsrecht schwerem Tuch, wie Marschall betont, und nicht Die Zeiten, in denen sich Ärzte in Praxen des Patienten; das Prinzip der Schadensvermei- die Kunststoffimitate, wie sie gern in den USA ver- und Kliniken wie Halbgötter aufführten, sind dung; das Patientenwohl; und die soziale Ge- ZEIT-GRAFIK/Quelle: Eigenrecherche wendet würden. glücklicherweise vorbei. Damit wurde ihr Beruf rechtigkeit. Gesamtgesellschaftliche Fragen wie Manch älterer Dozent musste sich erst daran aber auch normaler, weniger besonders. Heute beispielsweise die aktuelle Debatte, ob Ärzte gewöhnen. Am Ende aber fanden sie es nicht pein- streiken Mediziner, sie fordern eine ausge- Menschen aktiv beim Suizid helfen dürfen, lich, sondern würdig.