James Baldwin Giovannis Zimmer Roman
Deutsch von Axel Kamm und Hans-Heinrich Wellmann
Mit einem persönlichen Nachwort von Moritz Scheper
Die ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher
Baldwin_Giovanni_CC14.indd 3 17.09.2015 09:10:39 Die »ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher« wird herausgegeben vom Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg.
Verlag der »ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher« ist die Eder & Bach GmbH, Kaiser-Ludwig-Platz 1, 80336 München.
Titel der Originalausgabe: »Giovanni‘s Room«
Copyright © 1956 by James Baldwin. Genehmigte Ausgabe durch den James Baldwin Estate
Copyright © der deutschen Übersetzung bei Rowohlt Verlag, 1958
ZEIT-Anhang: © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg 2015
Umschlaggestaltung: hilden_design, München Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-945386-09-5
Baldwin_Giovanni_CC14.indd 4 17.09.2015 09:10:39 Für Lucien
Baldwin_Giovanni_CC14.indd 5 17.09.2015 09:10:39 Ich bin Mensch, ich habe gelitten, ich war dabei Walt Whitman
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Ich stehe am Fenster dieses großen Hauses in Südfrank reich, während draußen die Nacht anbricht, die Nacht, die mich dem schrecklichsten Morgen meines Lebens entgegen führt. Ich halte ein Glas in der Hand, die Flasche ist in Reich weite. Ich betrachte mein Spiegelbild in der matt glänzenden Fensterscheibe: eine hochgewachsene Gestalt, schmal wie ein Pfeil, mit schimmerndem blonden Haar. Mein Gesicht unterscheidet sich in nichts von vielen anderen Gesichtern. Meine Vorfahren haben einen Kontinent erobert, sind über todesschwangere Ebenen vorgedrungen, bis sie an einen Ozean kamen, hinter dem, fern von Europa, eine dunklere Vergangenheit lag. Wenn der Morgen graut, bin ich vielleicht betrunken, aber das wird nichts ändern. Nach Paris werde ich auf jeden Fall fahren. Der Zug wird der Gleiche sein, die Menschen, die auf den harten Holzbänken der dritten Klasse Bequemlich keit und Würde miteinander zu vereinen suchen, werden die Gleichen sein, und ich werde der Gleiche sein. Wir wer den durch dieselben ländlichen Gegenden nach Norden fah ren, fort von den Olivenbäumen, dem Meer und der Pracht des sturmzerzausten südlichen Himmels, mitten hinein in den Dunst und Regen von Paris. Jemand wird mich auffor dern, sein Frühstücks brot mit ihm zu teilen, jemand wird mich zu einem Schluck Wein einladen, jemand wird mich um ein Streichholz bitten. Menschen werden durch die Gänge streifen, aus dem Fenster schauen, zu uns hereinstar ren. Auf jeder Station werden junge Rekruten in schlecht sitzenden braunen Uniformen die Abteiltür aufschieben
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 7 17.09.2015 09:10:39 und fragen: »Complet?« Wir alle werden nicken und dann, wenn sie weitergehen, wie Verschwörer lächeln. Zwei oder drei von ihnen werden sich schließlich vor unser Abteil stel len, mit lauter, rauer Stimme unflätige Bemerkungen aus tauschen und dabei ihre schauderhaften Militärzigaretten rauchen. Mein Gegenüber, ein junges Mädchen, das sehr enttäuscht ist, weil ich nicht mit ihr flirte, wird beim Anblick der Rek ruten neue Hoffnung schöpfen. Alles wird sein wie immer, nur ich werde diesmal stiller sein. Auch die Landschaft ist still heute Abend, die Landschaft, die ich durch mein Spiegel bild hindurch sehe. Das Haus steht auf einer Anhöhe am Rande eines kleinen Badeortes, der jetzt, vor dem Beginn der Saison, noch leer ist. Vom Fens ter aus kann man auf die Lichter im Ort hinabblicken und das Dröhnen der See hören. Hella und ich haben das Haus auf Fotografien hin vor ein paar Monaten in Paris gemietet. Nun ist Hella schon eine ganze Woche fort. Sie schwimmt auf hoher See, fährt zurück nach Amerika. Ich sehe sie vor mir: sehr elegant, hoch aufge richtet, glit zernd und lichtumflossen im Salon des Ozeanriesen, sie trinkt ein bisschen zu hastig, sie lacht und beob achtet die Männer. So war es auch, als ich sie in einer Bar in Saint- Germain-des-Prés kennenlernte. Sie trank und beobach tete. Mir gefiel das, und ich dachte, mit ihr zusammen zu sein, müsste Spaß machen. So fing es an, das war alles, was ich bei ihr suchte. Und sogar jetzt bin ich trotz allem nicht sicher, ob es mir mehr bedeutet hat als das. Ich bezweifle auch, dass es ihr jemals mehr bedeutet hat – jedenfalls nicht vor ihrer Reise nach Spani en. Dort, sich selbst und ihren Gedanken überlassen, hat sie sich vermutlich gefragt, ob das ewige Trinken und Männerbeobachten eigentlich das sei, was sie vom Leben erhoffe. Aber da war es zu spät: Ich
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 8 17.09.2015 09:10:39 war schon bei Giovanni. Bevor sie nach Spani en fuhr, hatte ich sie gebeten, mich zu heiraten; sie lachte darüber, und ich lachte auch, aber irgend wie machte das die Frage für mich nur noch schwerwie gender, und so ließ ich nicht locker, bis sie erklär te, sie müsse für eine Weile wegfahren und nach denken. Und hier, an ihrem letzten Abend, als ich sie zum letzten Mal sah, sagte ich ihr, während sie den Koffer pack te, dass ich sie einmal geliebt hätte, und ich glaubte auch selber daran. Aber habe ich sie je geliebt? Es war wohl die Erinne rung an unsere Nächte, die mich so sprechen ließ, die Erinnerung an die eigenartige Unschuld und Vertrautheit, an alles, was nie wiederkehren wird und was jene Näch- te so wunderbar machte, so losgelöst von allem Bisherigen und allem Kommenden, so endgültig losgelöst von meinem Leben, weil ich dabei nicht mehr als eine mecha nische Ver antwortung auf mich zu nehmen brauchte. Und es waren Nächte unter einem fremden Himmel – wir hatten nichts zu fürchten, weder neugierige Blicke noch Verbote oder Strafen. Gerade das wurde unser Verderben, denn nichts ist unerträglicher als die Freiheit, sobald man sie besitzt. Viel leicht wollte ich Hella nur deshalb heiraten, weil ich Gebor genheit suchte, einen Anker platz. Auch sie ließ sich wohl von diesem Wunsch leiten, als sie in Spanien beschloss, mei- ne Frau zu werden. Doch leider können sich die Menschen ihre Ankerplätze, ihre Liebhaber und Freunde ebenso wenig aussuchen, wie ihnen die Wahl ihrer Eltern freisteht. Das Leben schenkt sie und nimmt sie, und die große Schwierig keit liegt darin, zum Leben Ja zu sagen. Als ich Hella versicherte, dass ich sie geliebt hätte, dachte ich an jene Tage, da mir noch nichts Schreckliches, Unwi der rufliches gesche hen war, an die Zeit, als eine Affäre eben nur eine Affäre war. Ganz gleich, aber in wie vielen Betten ich
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 9 17.09.2015 09:10:39 bis zur Stunde meines Todes noch liegen werde – nach dieser Nacht, nach dem Morgen, der kommt, ist es für mich vor bei mit solchen knabenhaften, begeistert genossenen Affä ren, die, wenn man es recht bedenkt, nichts weiter sind als eine höhere oder zumindest anspruchsvolle Art der Mastur bation. Die Menschen sind zu verschieden, als dass man sie so leichthin behan deln könnte. Und ich bin zu mannig faltig, als dass man mir trauen könnte. Andernfalls wäre ich jetzt nicht allein in diesem Haus, würde Hella nicht auf hoher See schwimmen, wäre Giovanni nicht dazu verdammt, irgend wann in dieser Nacht auf der Guillotine zu sterben. Wenn es auch nichts mehr nützt, so bereue ich doch eine bestimmte Lüge unter all den vielen Lügen, die ich ausge spro chen, gelebt und geglaubt habe. Ich meine die Lüge, die ich Giovanni erzählte und die er mir nicht so recht glauben woll te: dass ich noch nie mit einem Jungen geschlafen hätte. Ich hatte es getan und mir geschwo ren, es nie wieder zu tun. In dem Bild meiner selbst, das ich vor Augen habe, liegt etwas seltsam Fantas ti sches: Nach einer wilden Flucht, die mich weit fort führte, bis über den Ozean, hat mich die Bulldog ge aber mals in meinem Garten gestellt – nur dass der Garten inzwi schen kleiner und die Bulldogge größer gewor den ist. Ich habe lange nicht mehr an diesen Jungen gedacht, doch heute Abend sehe ich ihn deutlich vor mir. Die Sache liegt Jahre zurück, ich ging damals noch zur Schule, und Joey war in meinem Alter, vielleicht etwas älter oder jünger als ich. Ein netter Junge, lebhaft, dunkelhaarig, stets zum Lachen aufgelegt. Eine Zeit lang war er mein bester Freund. Später war mir der Gedan ke, dass ein solcher Mensch mein bester Freund hatte sein können, Beweis genug für einen entsetz lichen Makel in mir. Also vergaß ich Joey. Aber heute Abend sehe ich ihn ganz deutlich vor mir.
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 10 17.09.2015 09:10:39 Es war Sommer, wir hatten Feri en. Joeys Eltern waren übers Wochenende fortgefahren, und ihr Haus, das in Brooklyn lag, nicht weit von Coney Island, gehörte uns beiden allein. Ich wohnte damals auch in Brooklyn, aller dings in einer besseren Gegend. Joey und ich lagen am Strand, schwam men ein bisschen, beobachteten die halbnackten Mädchen, die vorbeigingen, pfiffen hinter ihnen her und lachten. Hät- te eine von ihnen auf unsere Pfiffe reagiert, ich glaube, der Ozean wäre nicht tief genug gewe sen, unser Entset zen und unsere Scham zu verber gen. Aber die Mädchen schienen das zu spüren – vielleicht errie ten sie es aus unse rer Art zu pfei- fen –, und so igno rierten sie uns. Als die Sonne zu sinken begann, zogen wir unsere Sachen über die feuchte Badehose und schlenderten die Uferpromenade entlang. Zu Hause, beim Duschen hat es wohl angefangen. Ich erin nere mich jeden falls, dass mich ein nie gekann tes Gefühl überkam, als wir in dem kleinen, dampfigen Raum herum tollten und mit nassen Handtüchern aufeinander einschlu gen. Es war ein Gefühl, das auf eine geheim nisvolle, ziello se Weise mit Joey zu tun hatte. Ich weiß auch noch, wie sehr es mir wider strebte, mich anzu kleiden – damals schob ich das auf die Hitze. Schließlich zogen wir uns aber doch an, aßen aus dem Kühlschrank etwas Kaltes zum Abendbrot und tranken dazu eine Menge Bier. Dann gingen wir fort, wahrscheinlich ins Kino, denn ich finde keinen anderen Grund, aus dem wir das Haus hätten verlas sen sollen. Ich erinne re mich nur noch, dass wir durch die abendlichen tro pisch heißen Straßen von Brooklyn gingen, wo die Hitze aus dem Asphalt quoll und von den Mauern mit mörde rischer Gewalt zurückgeschleudert wurde, wo sämtliche Erwach senen der Welt unge kämmt und laut schwatzend vor den Haustüren hockten und sämtliche Kinder der Welt auf den
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 11 17.09.2015 09:10:39 Gehsteigen, im Rinnstein oder auf den Feuertreppen spiel ten. Ich hatte den Arm um Joeys Schultern gelegt und war sehr stolz, weil er mir mit dem Kopf nur bis zum Ohrläpp chen reichte. So spazier ten wir dahin, Joey riss schmutzi ge Witze, und wir lachten. Seltsam, dass ich heute zum ersten Mal nach so langer Zeit daran denke, wie wohl ich mich an jenem Abend fühlte, wie vernarrt ich in Joey war. Als wir zurückgingen, war es still auf den Straßen; auch wir waren still. In der Wohnung machten wir keinen Lärm, wir entkleide ten uns, müde, wie wir waren, in Joeys Zimmer und gingen zu Bett. Ich schlief gleich ein. Plötzlich – ich hat- te wohl schon länge re Zeit geschlafen – wachte ich auf. Das Licht brannte, und Joey untersuchte mit geradezu verbisse ner Sorgfalt das Kopfkissen. »Was ist los?« »Ich glaube, mich hat eine Wanze gebissen.« »Mensch, habt ihr hier Wanzen?« »Mir war jeden falls so, als hätte mich eine gebissen.« »Ist dir das vorher schon mal passiert?« »Nein.« »Na, dann schlaf weiter. Du träumst ja.« Er starrte mich mit offenem Mund an, seine dunklen Augen waren weit aufgerissen, als hätte er soeben zu seiner größten Verblüf fung entdeckt, dass ich Fachmann für Bett wanzen war. Ich musste lachen und packte ihn beim Kopf, wie ich das oft tat, wenn wir uns im Scherz oder im Ernst balgten. Doch als ich ihn diesmal berühr te, geschah etwas in ihm und in mir, was bewirkte, dass sich diese Berührung von jeder anderen unterschied, die er oder ich je erlebt hatten. Er wehrte sich auch nicht wie sonst, sondern blieb dort liegen, wo ich ihn hinge zogen hatte, an meiner Brust. Ich merkte, dass mein Herz schrecklich klopfte und dass Joey zitterte
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 12 17.09.2015 09:10:39 und dass es im Zimmer sehr hell, sehr warm war. Ich wollte mich bewegen, irgendeine scherzhafte Bemerkung machen, aber Joey murmelte etwas Unver ständliches, und ich beugte mich vor, um zu hören, was er sagte. Im gleichen Augenblick hob Joey den Kopf, und so kam es wie von unge fähr, dass wir uns küssten. Zum ersten Mal in meinem Leben fühl- te ich den Körper eines ande ren Wesens, nahm bewusst den Geruch eines ande ren Wesens wahr. Wir hielten uns in den Armen. Es war, als umfin gen meine Hände einen selte nen, zu Tode erschöpften Vogel, den ich wie durch ein Wunder gefunden hatte. Ich war sehr erschrocken und er sicher lich auch, und wir schlossen beide die Augen. Die schmerz hafte Deutlich keit, mit der ich mich daran erin nere, beweist mir, dass ich es nie verges sen habe. Noch jetzt spüre ich in mir eine schwache, eine furchtba re Regung von dem, was mich damals mit solcher Gewalt überfiel: eine große durs tige Leidenschaft, ein Zittern und Beben, ein so quälendes Verlangen, dass ich glaubte, mein Herz werde zerspringen. Doch aus dieser unerträglich beklemmenden Pein entstand das Entzücken, wir schenkten einander Entzücken in jener Nacht. Ein ganzes Leben, so schien mir, würde nicht aus reichen, das Liebesspiel mit Joey zu spielen. Aber das Leben war kurz, war begrenzt durch die Nacht – es endete am nächsten Morgen. Als ich aufwach te, schlief Joey noch fest, auf der Seite liegend, zusammengekrümmt wie ein Embryo, mit halb offenem Mund und geröteter Wange. Sein locki ges Haar verdunkelte das Kissen und verdeckte zur Hälfte die feuchte, runde Stirn; die langen Augenwimpern blinkten leicht in der Sommersonne. Wir waren beide nackt, das Laken, das wir als Decke benutz ten, hatte sich um unse re Füße gewunden. Joeys Körper, braun und verschwitzt, war die schönste Schöpfung, die ich je gese hen hat te. Schon
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 13 17.09.2015 09:10:39 streckte ich die Hand aus, um ihn zu wecken, doch irgend et was hemmte mich. Vielleicht zögerte ich, weil er so unschul dig, so vertrau ensvoll dalag, vielleicht auch, weil er so viel kleiner war als ich; mein eigener Körper erschien mir in die sem Moment plump und unge schlacht, und das in mir auf steigende Verlangen kam mir ungeheuerlich vor. Vor allem jedoch war es Angst, die mich zurückhielt. Wie ein Blitz durchzuckte es mich: Aber Joey ist ja ein Junge. Ich sah auf einmal die Kraft in seinen Schenkeln, seinen Armen, sei- nen locker geballten Fäusten. Die Kraft, die Verheißung, das Geheimnis dieses Körpers jagten mir Angst ein. Plötzlich erschien mir Joeys Leib wie die dunkle Öffnung zu einer Höhle, in der man mich foltern würde bis zum Wahnsinn, in der ich meine Männlichkeit einbü ßen würde. Und doch wollte ich dieses Geheimnis ergründen, diese Kraft spüren, diese Verheißung durch mich erfüllt sehen. Der Schweiß auf meinem Rücken kühlte ab. Ich schämte mich. Das Bett in seiner süßen Unordnung zeugte von Verderbtheit. Was würde wohl Joeys Mutter sagen, wenn sie die Laken sah? Dann dachte ich an meinen Vater, der außer mir niemanden auf der Welt hatte, denn meine Mutter war ja gestor ben, als ich noch klein war. Wieder tat sich in meiner Vorstellung die Höhle auf, finster, voll von Gerüchten, Verdächtigungen, schmutzigen Worten und halb gehörten, halb vergessenen, halb verstandenen Geschichten. In dieser Höhle liegt mei- ne Zukunft, dachte ich, und mir wurde angst und bange. Ich hätte weinen mögen, weinen vor Scham und Entsetzen, wei- nen vor Ratlo sigkeit, weil ich nicht begriff, wie so etwas pas sieren konnte, mir passieren konnte. Und ich fasste einen Entschluss. Ich stieg aus dem Bett, nahm eine kalte Dusche und zog mich an. Als Joey aufwachte, hatte ich das Früh stück schon fertig.
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 14 17.09.2015 09:10:39 Ich sagte ihm nichts von meinem Entschluss – das hätte meine Willenskraft gebrochen. Statt mit ihm gemeinsam zu frühstücken, trank ich nur eine Tasse Kaffee und ging dann unter irgendeinem Vorwand nach Hause. Meine Ausrede konnte Joey natür lich nicht täuschen, aber weder protes tierte er, noch drängte er mich zu bleiben; er ahnte ja nicht, dass ein Wort von ihm genügt hätte, mich umzustimmen. Ich, der ich ihn in jenem Sommer fast täglich gese hen hat te, besuchte ihn von nun an nicht mehr. Auch er ließ sich nicht bei mir blicken. Wäre er gekommen, so hätte mich das sehr glücklich gemacht, aber die Art meines Abschied neh mens hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, die keiner von uns aufzuhalten wusste. Als ich ihn zufäl lig gegen Ende der Sommerferien auf der Straße traf, erzählte ich ihm eine ganz und gar unwahre Geschichte von einem Mädchen, mit dem ich jetzt ginge, und als die Schule wieder begann, schloss ich mich einer Gruppe älterer und recht rüpelhafter Jungen an und war sehr garstig zu Joey. Und je trauriger er wurde, desto schlechter behan delte ich ihn. Eines Tages zog er fort, verließ unsere Gegend, unsere Schule, und ich sah ihn nie wieder. Vielleicht war jener Sommer der Beginn meiner Einsam keit und meiner wilden Flucht, die mich bis an dieses immer dunkler werdende Fenster geführt hat. Und doch – fängt man an, nach dem entscheidenden, dem kritischen Augenblick zu fahnden, dem Augenblick, der alle anderen veränderte, so gerät man unversehens in einen Irr garten, wo falsche Wegweiser und jäh sich schließende Türen einen immer wieder zur Umkehr zwingen. Gewiss, mei- ne Flucht könnte in jenem Sommer begonnen haben, aber das gibt mir noch keinen Aufschluss über den Ursprung des Dilemmas, das sich damals in Flucht auflöste. Die Antwort steht vor mir, einge schlossen in dem Spiegel bild, das ich im
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 15 17.09.2015 09:10:39 Fenster betrachte, während draußen die Nacht herabsinkt. Die Antwort ist bei mir ein Zimmer, sie war immer da, sie wird immer da sein, und doch ist sie mir ferner als die Hügel am fernen Horizont. Wir lebten damals in Brooklyn, wie ich schon sagte; wir hatten auch in San Francis co gelebt, wo ich gebo ren bin und wo meine Mutter begra ben liegt, und wir lebten eine Zeit lang in Seat tle und dann in New York – New York ist für mich Manhat tan. Später zogen wir von Brooklyn zurück nach New York, und als ich nach Frankreich ging, waren mein Vater und seine zweite Frau gerade nach Connecticut übergesiedelt. Damals stand ich natürlich längst auf eigenen Füßen und hatte eine Wohnung in den Sechziger Straßen der New Yorker East Side. Wir, das waren mein Vater, seine unverheiratete Schwes ter und ich. Meine Mutter starb, als ich fünf Jahre alt war. Ich kann mich kaum noch an sie erin nern, aber in meiner Kindheit erschien sie mir oft im Traum von Würmern zer fressen, mit Haaren, die spröde wie dürre Zweige und kalt wie Metall waren, und so presste sie mich mit aller Kraft an ihren Körper, einen faulenden, beängstigend weichen Körper, der sich, wenn ich mich schreiend und strampelnd wehrte, in einen Schlund verwan delte und mich leben dig zu verschlin gen drohte. Kamen dann mein Vater oder meine Tante ins Zimmer gestürzt, um zu sehen, was mich erschreckt hat te, so wagte ich nicht, ihnen diesen Traum zu beschreiben, der mir wie ein Verrat an meiner Mutter erschien. Ich sag te, ich hätte von einem Friedhof geträumt, und sie schlossen daraus, dass der Tod meiner Mutter mein seelisches Gleich gewicht gestört habe und dass ich ihr nachtrau erte. Wenn das zutrifft – was durchaus möglich ist –, dann trauere ich ihr heute noch nach.
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 16 17.09.2015 09:10:39 Zwischen meinem Vater und meiner Tante gab es oft Aus einandersetzungen, und obgleich ich meinen Verdacht nicht hätte begründen können, schien mir, dass ihre Streitig keiten stets mit meiner Mutter zusammen hin gen. Ich erin nere mich aus meiner frühen Kindheit, wie in dem großen Wohnzimmer unseres Hauses in San Francisco die Foto grafie meiner Mutter, für sich allein auf dem Kaminsims stehend, den ganzen Raum beherrsch te. Dieses Bild schien zu beweisen, in welchem Maße ihr Geist noch immer die Atmosphä re beeinflusste und uns alle in der Gewalt hat te. Ich erinne re mich auch an die dichten Schatten in den Ecken dieses Zimmers, in dem ich mich nie heimisch fühlte, und an meinen Vater, der im Lehnstuhl saß, vom goldgel ben Licht der Stehlampe umflos sen. Er las die Zeitung, und da das Blatt ihn meinen Blicken entzog, bemühte ich mich verzweifelt, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich reizte ihn dadurch mitun ter bis zur Weißglut, und die Folge war, dass ich unter Tränen aus dem Zimmer getragen wurde. Bisweilen saß mein Vater regungslos da, weit vorgebeugt, die Ellbo gen auf die Knie gestützt, und starrte auf das gro ße Fenster, hinter dem die tintenschwar ze Nacht stand. Ich fragte mich dann immer, woran er wohl denken mochte. Wenn ich sein Bild herauf beschwö re, trägt er stets einen ärmellosen grauen Pullover, hat die Krawatte gelockert, und das sandfar be ne Haar fällt in sein kanti ges, rotwangi ges Gesicht. Er gehörte zu den Menschen, die gern lachen und nicht so leicht in Harnisch gera ten, die aber, wenn die Wut sie packt, umso hefti ger aufbrausen – wie ein Feuer, das unvermu tet aus einem Spalt auflodert und im Hand umdrehen das ganze Haus verzehrt. Und Ellen, seine Schwester, etwas älter als er, etwas dun kelhaa ri ger, mit einem Gesicht und einer Figur, die im ers
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 17 17.09.2015 09:10:39 ten Stadium der Verhärtung stehen, immer zu auffällig ange zo gen, zu stark geschminkt und mit zu viel Schmuck behängt, der im Licht klirrt und glitzert, Ellen sitzt auf dem Sofa und liest; sie las sehr viel, alle Neuer scheinun gen, und sie ging sehr oft ins Kino. Oder sie strickt. Mir scheint, sie trug stets einen großen Beutel mit gefährlich hervor stehen den Strickna deln bei sich oder ein Buch oder beides. Was sie eigentlich strickte, weiß ich nicht. Ich nehme an, sie hat zumindest gelegentlich etwas für meinen Vater oder für mich gestrickt, aber erinnern kann ich mich nicht mehr daran, ebenso wenig wie an die Bücher, die sie las. Mir ist, als wäre es immer dassel be Buch gewe sen, als hätte sie immer an demsel ben Schal oder Pullo ver gear beitet in all den Jahren, die ich sie kannte. Manchmal – sehr selten – spielten sie und mein Vater Karten; manchmal unterhielten sie sich in freundlich neckendem Ton, doch das war gefähr lich, denn es endete meistens mit einem Streit. Hin und wieder kamen Gäste, und ich durfte zusehen, wie sie Cock tails tranken. Dann war mein Vater in seinem Element. Jun genhaft fröhlich ging er in dem überfüll ten Zimmer umher, versorgte die Gäste mit Drinks, lachte viel, behan delte die Männer wie seine Brüder und flirtete mit den Frauen. Oder nein, er flirtete nicht mit ihnen, sondern stolzierte wie ein Hahn vor ihnen auf und ab. Ellen ließ ihn nicht aus den Augen, als hätte sie Angst, er werde irgend et was Dummes anstel len; sie beob ach tete ihn und die Frauen und, jawohl, sie flirtete in einer befrem den den, auf die Nerven gehen den Art mit den Männern. Man stelle sie sich vor: unglaub lich aufgeputzt, der Mund röter als Blut, in einem Kleid, das entwe der die verkehrte Farbe hatte oder zu eng war oder zu jugend lich wirkte, das Cocktailglas so fest in der Hand, dass es jeden Augenblick zu zersplittern drohte, und dann diese
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 18 17.09.2015 09:10:39 Stimme, als ziehe man eine Rasierklin ge auf Glas ab. Ich fürchtete mich vor ihr. Ganz gleich, was sich im Wohnzimmer abspielte, meine Mutter sah zu. Sie blickte aus dem Bilder rah men, eine blas se, zarte Frau, blond, dunkel äu gig, mit hoher Stirn und einem weichen, nervö sen Mund. Aber irgendet was in der Art, wie ihre Augen im Kopf saßen und geradeaus schauten, irgend etwas kaum merklich Überlegenes und Wissendes um die Mundpartie verriet, dass sich unter dieser gespannten Zer brechlichkeit eine unbeugsame Kraft verbarg, die ebenso gefährlich, weil unerwartet war wie die Wutausbrüche mei- nes Vaters. Selten sprach mein Vater von ihr, und wenn, dann mit einem Gesicht, das sich auf geheim nis vol le Weise ver hüllte; er sprach von ihr nur als von meiner Mutter, und nach seinem Tonfall zu urteilen, hätte es ebenso gut seine eigene Mutter sein können. Ellen dagegen sprach oft von ihr und betonte stets, sie sei eine außergewöhnliche Frau gewesen. Ich verspürte Unbeha gen, wenn sie so redete, denn mir war, als hätte ich kein Recht, der Sohn einer solchen Mutter zu sein. Viele Jahre später – ich war bereits erwachsen – wollte ich meinen Vater dazu bringen, dass er mir von meiner Mut ter erzähl te. Ellen war damals schon tot, und er stand im Begriff, wieder zu heiraten. Er sprach genauso von meiner Mutter, wie Ellen von ihr gespro chen hatte, ja eigentlich so, als spräche er von Ellen. Ich war unge fähr dreizehn Jahre alt, als ich Zeuge eines Wortwechsels zwischen den beiden wurde. Sie hatten oft Streit miteinan der, aber an diesen erin nere ich mich beson ders deutlich, denn es drehte sich dabei um mich. Es war in der Nacht. Ich lag im oberen Stockwerk im Bett und schlief. Plötzlich weckte mich ein Geräusch auf der Stra ße: die Schritte meines heimkeh ren den Vaters. Klang und
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 19 17.09.2015 09:10:39 Rhythmus verrie ten mir, dass er leicht betrunken war, und ich weiß noch, dass ich in diesem Augenblick eine gewisse Ent täuschung, eine unerklärliche Traurigkeit empfand. Ich hatte ihn schon oft betrun ken gese hen und dabei nie dieses Gefühl gehabt – im Gegenteil, mein Vater konnte sehr charmant sein, wenn er betrun ken war –, doch in dieser Nacht hatte ich sofort den Eindruck von etwas Verabscheuungswürdigem. Ich hörte ihn herein kommen, und gleich darauf hörte ich Ellens Stimme. »Bist du noch nicht im Bett?«, fragte mein Vater. Er sprach freundlich und wollte offen bar eine Szene vermeiden, aber in seiner Stimme lag keine Herzlichkeit, nur mühsam unter drückte Erbitterung. »Ich bin aufge blieben«, erwi derte Ellen kalt, »weil dir end lich mal jemand klarma chen muss, was du deinem Sohn antust.« »Was tue ich meinem Sohn an?« Er war drauf und dran, noch mehr zu sagen, etwas Schreckliches, doch er beherrschte sich und sagte nur mit einer resignierten, trunkenen, ver zweifelten Ruhe: »Wovon redest du eigentlich, Ellen?« »Glaubst du wirklich«, fragte sie – ich war sicher, sie stand mitten im Zimmer, mit gefalteten Händen, aufrecht und unbeweglich –, »dass du die Art von Mann bist, die er sein sollte, wenn er erwachsen ist?« Und als mein Vater schwieg: »Er wird nämlich so langsam erwach sen. Was man von dir nicht behaupten kann.« »Geh schlafen, Ellen«, sagte mein Vater müde. Da sie über mich sprachen, hatte ich das Gefühl, ich müsste hinuntergehen und Ellen erklären, dass alles, was etwa zwi schen meinem Vater und mir nicht stimmte, ohne ihre Hil fe in Ordnung gebracht werden könnte. Und vielleicht – so seltsam es klingt – betrachtete ich ihre Worte als beleidigend
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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 20 17.09.2015 09:10:39 für mich, denn ich hatte ja zu ihr nie etwas gegen meinen Vater gesagt. Ich hörte ihn mit schweren, unsicheren Schritten auf die Treppe zugehen. »Bilde dir nur nicht ein, dass ich nicht weiß, wo du warst«, begann Ellen von Neuem. »Ich war aus … trinken …«, murmelte mein Vater. »Und jetzt möchte ich schlafen. Hast du was dagegen?« »Du bist wieder bei dieser Beatrice gewesen«, sagte Ellen. »Immer gehst du zu ihr, all dein Geld, all deine Männlichkeit und all deine Selbstachtung bleiben dort.« Es war ihr gelun gen, ihn aufzubringen. Er begann zu stammeln. »Wenn du glaubst … wenn du wirklich glaubst, dass ich hier stehe … stehe … stehe … um mit dir über mein Privatle ben, mein Privat le ben zu streiten, wenn du glaubst, ich werde darüber mit dir streiten, dann bist du nicht recht bei Trost.« »Dein Privatleben interessiert mich nicht im Gerings ten«, erwiderte Ellen. »Wenn ich mir Sorgen mache, dann bestimmt nicht um dich. Hier geht es nur darum, dass du der einzige Mensch bist, den David als Autorität anerkennt. Mich erkennt er nicht an. Und eine Mutter hat er ja nicht. Auf mich hört er nur, wenn er denkt, dass er dir damit einen Gefallen tut. Meinst du wirklich, dass es gut für ihn ist, wenn er dich immer betrun ken nach Hause kommen sieht? Und mach dir nichts vor«, fügte sie erregt hinzu, »er weiß ganz genau, wo du gewe sen bist. Rede dir bloß nicht ein, er wüsste nichts von deinen Weibern!« Damit hatte sie unrecht. Ich glaube kaum, dass ich damals schon von ihnen wusste – jedenfalls hatte ich nie darüber nachgedacht. Aber von da an dachte ich unauf hörlich darü ber nach. Ich konnte kaum noch an einer Frau vorbeigehen,
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