James Baldwin Giovannis Zimmer Roman

Deutsch von Axel Kamm und Hans-Heinrich Wellmann

Mit einem persönlichen Nachwort von Moritz Scheper

Die ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher

Baldwin_Giovanni_CC14.indd 3 17.09.2015 09:10:39 Die »ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher« wird herausgegeben vom Zeitverlag GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 .

Verlag der »ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher« ist die Eder & Bach GmbH, Kaiser-Ludwig-Platz 1, 80336 München.

Titel der Originalausgabe: »Giovanni‘s Room«

Copyright © 1956 by James Baldwin. Genehmigte Ausgabe durch den James Baldwin Estate

Copyright © der deutschen Übersetzung bei , 1958

ZEIT-Anhang: © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in

ISBN: 978-3-945386-09-5

Baldwin_Giovanni_CC14.indd 4 17.09.2015 09:10:39 Für Luc­ien

Baldwin_Giovanni_CC14.indd 5 17.09.2015 09:10:39 Ich bin Mensch, ich habe ge­lit­ten, ich war da­bei Walt Whit­man

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Ich ste­he am Fens­ter die­ses gro­ßen Hau­ses in Süd­frank­ reich, wäh­rend drau­ßen die Nacht an­bricht, die Nacht, die mich dem schreck­lichs­ten Mor­gen meines Le­bens ent­ge­gen­ führt. Ich halte ein Glas in der Hand, die Flasche­ ist in Reich­ weite. Ich be­trachte mein Spie­gel­ in der matt glän­zen­den Fens­ter­scheibe: ­eine hoch­ge­wach­se­ne Ge­stalt, schmal wie ein Pfeil, mit schim­mern­dem blonden­ Haar. Mein Ge­sicht un­ter­scheidet sich in nichts von vie­len an­de­ren Ge­sich­tern. Meine Vor­fah­ren ha­ben ­einen Kon­ti­nent er­o­bert, sind über to­des­schwan­ge­re Ebe­nen vor­ge­drun­gen, bis sie an ­einen Oze­an ka­men, hin­ter dem, fern von Eu­ro­pa, ­eine dunk­le­re Ver­gan­gen­heit lag. Wenn der Mor­gen graut, bin ich viel­leicht be­trun­ken, aber das wird nichts ändern.­ Nach ­ werde­ ich auf jeden­ Fall fah­ren. Der Zug wird der Gleiche sein, die Menschen,­ die auf den har­ten Holz­bän­ken der drit­ten Klas­se Be­quem­lich­ keit und Wür­de mit­einan­der zu ver­einen su­chen, wer­den die Gleichen sein, und ich werde­ der Gleiche sein. Wir wer­ den durch die­sel­ben länd­­lichen Ge­gen­den nach Nor­den fah­ ren, fort von den O­liven­bäu­men, dem Meer und der Pracht des sturm­zer­zaus­ten süd­­lichen Him­mels, mit­ten hi­nein in den Dunst und Re­gen von Pa­ris. Je­mand wird mich auf­for­ dern, sein Frühstücks­ ­brot mit ihm zu teilen, jemand­ wird mich zu einem­ Schluck Wein ein­la­den, jemand­ wird mich um ein Streich­holz bit­ten. Men­schen wer­den durch die ­Gän­ge streifen, aus dem Fens­ter schauen,­ zu uns he­rein­star­ ren. Auf je­der Sta­ti­on wer­den jun­ge Rek­ru­ten in schlecht sit­zen­den brau­nen Uni­for­men die Ab­teil­tür auf­schie­ben

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 7 17.09.2015 09:10:39 und ­fra­gen: »Comp­let?« Wir alle werden­ ni­cken und dann, wenn sie weiter­ge­hen, wie Ver­schwö­rer lächeln.­ Zwei oder drei von ih­nen wer­den sich schließ­lich vor un­ser Ab­teil stel­ len, mit lau­ter, rau­er Stim­me un­flä­ti­ge Be­mer­kun­gen aus­ tau­schen und da­bei ihre schau­der­haf­ten Mi­­litär­zi­ga­ret­ten rau­chen. Mein Ge­gen­über, ein jun­ges Mädchen,­ das sehr ent­täuscht ist, weil ich nicht mit ihr flir­te, wird beim An­blick der Rek­ ­ru­ten neue Hoffnung­ schöpfen.­ Alles­ wird sein wie im­mer, nur ich wer­de dies­mal stil­ler sein. Auch die Land­schaft ist still heute Abend, die Land­schaft, die ich durch mein Spiegel­ ­bild hindurch­ sehe. Das Haus steht auf ­einer An­hö­he am Ran­de ­eines kleinen Ba­de­or­tes, der jetzt, vor dem Be­ginn der Sai­son, noch leer ist. Vom Fens­ ter aus kann man auf die Lichter­ im Ort hi­nab­b­licken und das Dröh­nen der See hö­ren. Hel­la und ich ha­ben das Haus auf Fo­to­gra­fi­en hin vor ein paar Mo­na­ten in Pa­ris ge­mie­tet. Nun ist Hella­ schon eine­ ganze­ Woche­ fort. Sie schwimmt auf ho­her See, fährt zu­rück nach Ame­ri­ka. Ich sehe sie vor mir: sehr elegant,­ hoch aufge­ ­rich­tet, glit­ zernd und licht­um­flos­sen im Sa­lon des Oze­an­rie­sen, sie trinkt ein bisschen­ zu hastig,­ sie lacht und beob­ ­ach­tet die Män­ner. So war es auch, als ich sie in einer­ Bar in Saint- Ger­main-des-Prés ken­nen­lern­te. Sie trank und be­ob­ach­ te­te. Mir ge­fiel das, und ich dach­te, mit ihr zu­sam­men zu sein, müsste Spaß ma­chen. So fing es an, das war al­les, was ich bei ihr suchte.­ Und sogar­ jetzt bin ich trotz allem­ nicht si­cher, ob es mir mehr be­deu­tet hat als das. Ich be­zweif­le auch, dass es ihr je­mals mehr be­deu­tet hat – je­den­falls nicht vor ih­rer Reise nach Spani­ ­en. Dort, sich selbst und ihren­ Ge­dan­ken über­las­sen, hat sie sich ver­mut­lich ge­fragt, ob das ewi­ge Trin­ken und Män­ner­be­ob­ach­ten eigent­lich das sei, was sie vom Leben­ er­hof­fe. Aber da war es zu spät: Ich

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 8 17.09.2015 09:10:39 war schon bei Giovanni.­ Be­vor sie nach Spani­ ­en fuhr, hatte ich sie ge­be­ten, mich zu heira­ten; sie lachte da­rü­ber, und ich lachte auch, aber irgend­ ­wie machte das die Frage­ für mich nur noch schwerwie­ ­gen­der, und so ließ ich nicht locker,­ bis sie erklär­ ­te, sie müs­se für ­eine Weile weg­fah­ren und nach­ den­ken. Und hier, an ih­rem letz­ten Abend, als ich sie zum letz­ten Mal sah, sagte ich ihr, während­ sie den Koffer­ pack­ te, dass ich sie einmal­ ge­liebt hät­te, und ich glaubte auch sel­ber daran.­ Aber habe ich sie je ge­liebt? Es war wohl die Er­inne­ ­rung an un­se­re Nächte,­ die mich so spre­chen ließ, die Er­in­ne­rung an die eigen­ar­ti­ge Un­schuld und Ver­traut­heit, an al­les, was nie wie­der­keh­ren wird und was jene Näch- te so wun­der­bar mach­te, so los­ge­löst von al­lem Bis­he­ri­gen und al­lem Kom­men­den, so end­gül­tig los­ge­löst von meinem Le­ben, weil ich dabei­ nicht mehr als ­eine mecha­ ­ni­sche Ver­ ant­wor­tung auf mich zu neh­men brauchte.­ Und es wa­ren Nächte un­ter ­einem frem­den Him­mel – wir hatten­ nichts zu fürch­ten, we­der neu­gie­ri­ge B­licke noch Ver­bote oder Stra­fen. Ge­ra­de das wur­de un­ser Ver­der­ben, denn nichts ist un­er­träg­­licher als die Freiheit, so­bald man sie besitzt.­ Viel­ leicht wollte ich Hella­ nur deshalb­ heiraten,­ weil ich Gebor­ ­ gen­heit such­te, ­einen Anker­ ­platz. Auch sie ließ sich wohl von die­sem Wunsch leiten, als sie in Spa­ni­en be­schloss, mei- ne Frau zu werden.­ Doch leider können­ sich die Menschen­ ihre An­ker­plät­ze, ihre Lieb­ha­ber und Freun­de eben­so we­nig aus­su­chen, wie ih­nen die Wahl ih­rer El­tern freisteht. Das Le­ben schenkt sie und nimmt sie, und die gro­ße Schwierig­ ­ keit liegt darin,­ zum Le­ben Ja zu sa­gen. Als ich Hel­la ver­si­cher­te, dass ich sie geliebt­ hät­te, dachte ich an jene Tage, da mir noch nichts Schreckliches,­­ Unwi­ ­der­ ruf­­liches gesche­ ­hen war, an , als eine­ Af­fä­re eben nur ­eine Af­fä­re war. Ganz gleich, aber in wie vielen­ Betten­ ich

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 9 17.09.2015 09:10:39 bis zur Stun­de meines To­des noch lie­gen wer­de – nach die­ser Nacht, nach dem Mor­gen, der kommt, ist es für mich vor­ bei mit sol­chen kna­ben­haf­ten, be­geis­tert ge­nos­se­nen Af­fä­ ren, die, wenn man es recht bedenkt,­ nichts weiter sind als ­eine hö­he­re oder zu­min­dest an­spruchs­vol­le Art der Mas­tur­ ba­ti­on. Die Men­schen sind zu ver­schie­den, als dass man sie so leichthin­ behan­ ­deln könnte.­ Und ich bin zu mannig­ ­fal­tig, als dass man mir trauen­ könnte.­ An­dern­falls wäre ich jetzt nicht allein­ in diesem­ Haus, würde­ Hella­ nicht auf hoher­ See schwim­men, wäre Gio­vanni nicht dazu ver­dammt, ir­gend­ wann in die­ser Nacht auf der Guil­lo­ti­ne zu ster­ben. Wenn es auch nichts mehr nützt, so bereue­ ich doch eine­ bestimmte­ Lüge unter­ all den vielen­ Lü­gen, die ich ausge­ spro­ ­ chen, gelebt­ und geglaubt­ habe. Ich meine die Lüge, die ich Giovanni­ erzählte­ und die er mir nicht so recht glauben­ woll­ te: dass ich noch nie mit ­einem Jun­gen ge­schlafen­ hät­te. Ich hatte es getan­ und mir geschwo­ ren,­ es nie wieder­ zu tun. In dem Bild meiner selbst, das ich vor Au­gen habe, liegt et­was seltsam­ Fantas­ ti­ sches:­ Nach einer­ wilden­ Flucht, die mich weit fort führte,­ bis über den Ozean,­ hat mich die Bulldog­ ­ge aber­ mals in meinem Garten­ gestellt­ – nur dass der Garten­ inzwi­ ­ schen kleiner und die Bull­dog­ge größer­ gewor­ den­ ist. Ich habe lan­ge nicht mehr an die­sen Jungen­ gedacht,­ doch heute Abend sehe ich ihn deut­lich vor mir. Die Sa­che liegt Jah­re zurück,­ ich ging damals­ noch zur Schule,­ und Joey war in meinem Al­ter, vielleicht­ etwas­ älter­ oder jünger­ als ich. Ein net­ter Jun­ge, leb­haft, dun­kel­haa­rig, stets zum La­chen auf­ge­legt. Eine Zeit­ lang war er mein bes­ter Freund. Spä­ter war mir der Gedan­ ­ke, dass ein solcher­ Mensch mein bester­ Freund hatte sein kön­nen, Be­weis ge­nug für ­einen ent­setz­­ lichen Ma­kel in mir. Also vergaß­ ich Joey. Aber heute Abend sehe ich ihn ganz deut­lich vor mir.

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 10 17.09.2015 09:10:39 Es war Som­mer, wir hat­ten Feri­ ­en. Joeys­ Eltern­ waren­ übers Wo­chen­en­de fort­ge­fah­ren, und ihr Haus, das in Brook­lyn lag, nicht weit von Coney Island,­ ge­hörte uns beiden allein.­ Ich wohnte da­mals auch in Brook­lyn, aller­ ­dings in ­einer bes­se­ren Gegend.­ Joey und ich lagen­ am Strand, schwam­ men ein biss­chen, be­ob­ach­te­ten die halb­nack­ten Mäd­chen, die vor­beigin­gen, pfif­fen hin­ter ih­nen her und lach­ten. Hät- te ­eine von ih­nen auf un­se­re Pfif­fe re­a­giert, ich glau­be, der Oze­an wäre nicht tief genug­ gewe­ ­sen, unser­ Entset­ ­zen und un­se­re Scham zu verber­ ­gen. Aber die Mädchen­ schienen­ das zu spüren­ – vielleicht­ errie­ ­ten sie es aus unse­ ­rer Art zu pfei- fen –, und so igno­ ­rier­ten sie uns. Als die Sonne­ zu sinken­ be­gann, zo­gen wir un­se­re Sa­chen über die feuchte Ba­de­ho­se und schlen­der­ten die Ufer­pro­me­na­de ent­lang. Zu Hause,­ beim Du­schen hat es wohl an­ge­fan­gen. Ich er­in­ ne­re mich jeden­ ­falls, dass mich ein nie gekann­ ­tes Gefühl­ über­kam, als wir in dem kleinen, damp­fi­gen Raum he­rum­ toll­ten und mit nas­sen Hand­tü­chern auf­einan­der ein­schlu­ gen. Es war ein Gefühl,­ das auf eine­ geheim­ ­nis­vol­le, ziello­ ­se Weise mit Joey zu tun hat­te. Ich weiß auch noch, wie sehr es mir wider­ ­streb­te, mich anzu­ ­kleiden – damals­ schob ich das auf die Hitze.­ Schließlich­ zogen­ wir uns aber doch an, aßen aus dem Kühlschrank­ et­was Kal­tes zum Abendbrot­ und tranken­ dazu eine­ Menge­ Bier. Dann gingen­ wir fort, wahr­schein­lich ins Kino, denn ich fin­de keinen an­de­ren Grund, aus dem wir das Haus hät­ten verlas­ ­sen sollen.­ Ich er­inne­ ­re mich nur noch, dass wir durch die abend­­lichen tro­ pisch heißen Straßen­ von Brook­lyn gingen,­ wo die Hitze­ aus dem Asphalt­ quoll und von den Mau­ern mit mörde­ ­ri­scher Ge­walt zu­rück­ge­schleu­dert wur­de, wo sämt­­liche Er­wach­ se­nen der Welt unge­ ­kämmt und laut schwatzend­ vor den Haus­tü­ren hock­ten und sämt­­liche Kin­der der Welt auf den

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 11 17.09.2015 09:10:39 Geh­steigen, im Rinnstein­ oder auf den Feu­er­trep­pen spiel­ ten. Ich hatte den Arm um Jo­eys Schul­tern ge­legt und war sehr stolz, weil er mir mit dem Kopf nur bis zum Ohrläpp­ ­ chen reichte.­ So spazier­ ­ten wir dahin,­ Joey riss schmutzi­ ­ge Wit­ze, und wir lach­ten. Seltsam,­ dass ich heute zum ers­ten Mal nach so langer­ Zeit daran­ denke,­ wie wohl ich mich an je­nem Abend fühl­te, wie ver­narrt ich in Joey war. Als wir zu­rück­gin­gen, war es still auf den Straßen;­ auch wir wa­ren still. In der Wohnung­ mach­ten wir keinen Lärm, wir entkleide­ ­ten uns, müde, wie wir wa­ren, in Jo­eys Zimmer­ und gingen­ zu Bett. Ich schlief gleich ein. Plötzlich­ – ich hat- te wohl schon länge­ ­re Zeit ge­schla­fen – wachte ich auf. Das Licht brann­te, und Joey un­ter­suchte mit ge­ra­de­zu ver­bis­se­ ner Sorg­falt das Kopf­kis­sen. »Was ist los?« »Ich glau­be, mich hat ­eine Wan­ze ge­bis­sen.« »Mensch, habt ihr hier Wanzen?«­ »Mir war jeden­ ­falls so, als hätte mich ­eine ge­bis­sen.« »Ist dir das vor­her schon mal pas­siert?« »Nein.« »Na, dann schlaf weiter. Du träumst ja.« Er starrte mich mit of­fe­nem Mund an, seine dunk­len Au­gen wa­ren weit auf­ge­ris­sen, als hätte er so­e­ben zu seiner größ­ten Verblüf­ ­fung entdeckt,­ dass ich Fachmann­ für Bett­ wan­zen war. Ich musste la­chen und packte ihn beim Kopf, wie ich das oft tat, wenn wir uns im Scherz oder im Ernst balg­ten. Doch als ich ihn dies­mal berühr­ ­te, geschah­ etwas­ in ihm und in mir, was be­wirk­te, dass sich die­se Be­rüh­rung von je­der an­de­ren un­ter­schied, die er oder ich je er­lebt hat­ten. Er wehrte sich auch nicht wie sonst, sondern­ blieb dort liegen,­ wo ich ihn hinge­ ­zo­gen hat­te, an meiner Brust. Ich merkte,­ dass mein Herz schreck­lich klopfte und dass Joey zit­terte

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 12 17.09.2015 09:10:39 und dass es im Zimmer­ sehr hell, sehr warm war. Ich wollte mich be­we­gen, ir­gend­eine scherz­hafte Be­mer­kung ma­chen, aber Joey murmelte­ etwas­ Unver­ ­ständ­­liches, und ich beugte mich vor, um zu hö­ren, was er sag­te. Im gleichen Au­gen­blick hob Joey den Kopf, und so kam es wie von unge­ ­fähr, dass wir uns küss­ten. Zum ers­ten Mal in meinem Leben­ fühl- te ich den Kör­per eines­ ande­ ­ren Wesens,­ nahm be­wusst den Ge­ruch eines­ ande­ ­ren Wesens­ wahr. Wir hiel­ten uns in den Ar­men. Es war, als umfin­ ­gen meine Hände­ einen­ selte­ ­nen, zu Tode er­schöpf­ten Vogel,­ den ich wie durch ein Wun­der ge­fun­den hat­te. Ich war sehr er­schro­cken und er si­cher­ lich auch, und wir schlossen­ beide die Augen.­ Die schmerz­ hafte Deutlich­ ­keit, mit der ich mich daran­ erin­ ­ne­re, beweist­ mir, dass ich es nie verges­ ­sen habe. Noch jetzt spü­re ich in mir eine­ schwache,­ eine­ furchtba­ ­re Regung­ von dem, was mich da­mals mit sol­cher Ge­walt über­fiel: ­eine gro­ße durs­ ti­ge Leidenschaft,­ ein Zit­tern und Be­ben, ein so quä­len­des Ver­lan­gen, dass ich glaub­te, mein Herz wer­de zer­sprin­gen. Doch aus die­ser un­er­träg­lich be­klem­men­den Pein ent­stand das Ent­zü­cken, wir schenk­ten einan­der Ent­zü­cken in je­ner Nacht. Ein gan­zes Leben,­ so schien mir, würde­ nicht aus­ reichen, das Lie­bes­spiel mit Joey zu spielen.­ Aber das Le­ben war kurz, war be­grenzt durch die Nacht – es en­dete am nächsten­ Mor­gen. Als ich aufwach­ ­te, schlief Joey noch fest, auf der Seite lie­gend, zu­sam­men­ge­krümmt wie ein Emb­ryo, mit halb of­fe­nem Mund und ge­rö­te­ter Wan­ge. Sein locki­ ­ges Haar ver­dun­kelte das Kis­sen und ver­deckte zur Hälfte die feuch­te, run­de Stirn; die lan­gen Au­gen­wim­pern blink­ten leicht in der Som­mer­son­ne. Wir wa­ren beide nackt, das Laken,­ das wir als Decke­ benutz­ ­ten, hatte sich um unse­ ­ re Füße ge­wun­den. Jo­eys Kör­per, braun und ver­schwitzt, war die schönste Schöpfung,­ die ich je gese­ ­hen hat­ ­te. Schon

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 13 17.09.2015 09:10:39 streckte ich die Hand aus, um ihn zu wecken,­ doch irgend­ ­et­ was hemmte mich. Viel­leicht zö­gerte ich, weil er so un­schul­ dig, so vertrau­ ­ens­voll dalag,­ vielleicht­ auch, weil er so viel kleiner war als ich; mein eige­ner Kör­per er­schien mir in die­ sem Moment­ plump und unge­ ­schlacht, und das in mir auf­ steigen­de Ver­lan­gen kam mir un­ge­heu­er­lich vor. Vor al­lem je­doch war es Angst, die mich zu­rück­hielt. Wie ein Blitz durch­zuckte es mich: Aber Joey ist ja ein Jun­ge. Ich sah auf ein­mal die Kraft in seinen Schenkeln,­ seinen Ar­men, sei- nen lo­cker ge­ball­ten Fäusten.­ Die Kraft, die Verheißung,­ das Ge­heim­nis die­ses Kör­pers jag­ten mir Angst ein. Plötz­lich er­schien mir Joeys­ Leib wie die dunkle­ Öffnung­ zu einer­ Höh­le, in der man mich foltern­ würde­ bis zum Wahnsinn,­ in der ich meine Männ­lich­keit einbü­ ­ßen würde.­ Und doch wollte ich die­ses Ge­heim­nis er­grün­den, die­se Kraft spü­ren, die­se Ver­heißung durch mich erfüllt­ sehen.­ Der Schweiß auf meinem Rü­cken kühlte ab. Ich schämte mich. Das Bett in seiner sü­ßen Un­ord­nung zeugte von Ver­derbt­heit. Was wür­de wohl Jo­eys Mutter­ sagen,­ wenn sie die La­ken sah? Dann dachte ich an meinen Va­ter, der au­ßer mir nie­man­den auf der Welt hatte,­ denn meine Mutter­ war ja gestor­ ­ben, als ich noch klein war. Wie­der tat sich in meiner Vor­stel­lung die Höh­le auf, fins­ter, voll von Ge­rüch­ten, Ver­däch­ti­gun­gen, schmut­zi­gen Wor­ten und halb­ ge­hör­ten, halb­ ver­ges­se­nen, halb­ ver­stan­de­nen Ge­schich­ten. In die­ser ­Höh­le liegt mei- ne Zu­kunft, dachte ich, und mir wur­de angst und ban­ge. Ich hätte weinen mö­gen, weinen vor Scham und Ent­set­zen, wei- nen vor Ratlo­ ­sig­keit, weil ich nicht begriff,­ wie so etwas­ pas­ sie­ren konn­te, mir pas­sie­ren konn­te. Und ich fasste ­einen Ent­schluss. Ich stieg aus dem Bett, nahm ­eine kalte Dusche­ und zog mich an. Als Joey auf­wach­te, hatte ich das Früh­ stück schon fer­tig.

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 14 17.09.2015 09:10:39 Ich sagte ihm nichts von meinem Entschluss­ – das hätte meine Wil­lens­kraft ge­bro­chen. Statt mit ihm ge­mein­sam zu früh­stü­cken, trank ich nur eine­ Tas­se Kaf­fee und ging dann un­ter ir­gend­einem Vor­wand nach Hau­se. Meine Aus­re­de konnte Joey natür­ ­lich nicht täuschen,­ aber weder­ pro­tes­ tierte er, noch drängte er mich zu bleiben; er ahnte ja nicht, dass ein Wort von ihm ge­nügt hätte,­ mich um­zu­stim­men. Ich, der ich ihn in jenem­ Sommer­ fast täglich­ gese­ ­hen hat­ te, be­suchte ihn von nun an nicht mehr. Auch er ließ sich nicht bei mir b­licken. Wäre er ge­kom­men, so hätte mich das sehr glück­lich ge­macht, aber die Art meines Abschied­ ­neh­ mens hatte ­eine Ket­ten­re­ak­ti­on aus­ge­löst, die keiner von uns auf­zu­hal­ten wuss­te. Als ich ihn zufäl­ ­lig ge­gen Ende der Som­mer­fe­ri­en auf der Straße­ traf, erzählte­ ich ihm ­eine ganz und gar un­wah­re Ge­schichte von ­einem Mäd­chen, mit dem ich jetzt gin­ge, und als die Schu­le wie­der be­gann, schloss ich mich ­einer Grup­pe äl­te­rer und recht rü­pel­haf­ter Jun­gen an und war sehr gars­tig zu Joey. Und je trau­ri­ger er wur­de, desto­ schlech­ter behan­ ­delte ich ihn. Ei­nes Tages­ zog er fort, ver­ließ un­se­re Gegend,­ un­se­re Schule,­ und ich sah ihn nie wieder.­ Viel­leicht war jener­ Sommer­ der Beginn­ meiner Einsam­ ­ keit und meiner wil­den Flucht, die mich bis an die­ses im­mer dunk­ler wer­den­de Fens­ter ge­führt hat. Und doch – fängt man an, nach dem ent­scheiden­den, dem kri­ti­schen Au­gen­blick zu fahn­den, dem Au­gen­blick, der alle an­de­ren ver­än­der­te, so ge­rät man un­ver­se­hens in ­einen Irr­ gar­ten, wo fal­sche Weg­weiser und jäh sich schlie­ßen­de Tü­ren ­einen immer­ wieder­ zur Umkehr­ zwingen.­ Gewiss,­ mei- ne Flucht könnte in jenem­ Som­mer be­gon­nen ha­ben, aber das gibt mir noch keinen Aufschluss­ über den Ur­sprung des Di­lem­mas, das sich da­mals in Flucht auf­lös­te. Die Antwort­ steht vor mir, einge­ ­schlossen­ in dem Spiegel­ ­bild, das ich im

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 15 17.09.2015 09:10:39 Fens­ter be­trach­te, wäh­rend drau­ßen die Nacht he­rab­sinkt. Die Antwort­ ist bei mir ein Zim­mer, sie war im­mer da, sie wird im­mer da sein, und doch ist sie mir ferner­ als die Hü­gel am fer­nen Ho­ri­zont. Wir lebten­ damals­ in Brooklyn,­ wie ich schon sagte;­ wir hat­ten auch in San Francis­ ­co gelebt,­ wo ich gebo­ ­ren bin und wo meine Mutter­ begra­ ­ben liegt, und wir lebten­ eine­ Zeit­ lang in Seat­ ­tle und dann in New York – New York ist für mich Manhat­ ­tan. Später­ zogen­ wir von Brooklyn­ zurück­ nach New York, und als ich nach Frank­reich ging, waren­ mein Vater­ und seine zweite Frau ge­ra­de nach Con­nec­ti­cut über­ge­sie­delt. Da­mals stand ich na­tür­lich längst auf eige­nen Fü­ßen und hatte ­eine Wohnung­ in den Sech­zi­ger Stra­ßen der New Yor­ker East Side. Wir, das wa­ren mein Vater,­ seine un­ver­heira­tete Schwes­ ter und ich. Meine Mutter­ starb, als ich fünf Jahre­ alt war. Ich kann mich kaum noch an sie erin­ ­nern, aber in meiner Kind­heit er­schien sie mir oft im Traum von Wür­mern zer­ fres­sen, mit Haaren,­ die spröde­ wie dürre­ Zweige und kalt wie Me­tall wa­ren, und so presste sie mich mit al­ler Kraft an ih­ren Kör­per, ­einen fau­len­den, be­ängs­ti­gend weichen Kör­per, der sich, wenn ich mich schreiend und stram­pelnd wehr­te, in ­einen Schlund verwan­ ­delte und mich leben­ ­dig zu ver­schlin­ gen drohte.­ Kamen­ dann mein Vater­ oder meine Tante ins Zim­mer gestürzt,­ um zu sehen,­ was mich er­schreckt hat­ te, so wagte ich nicht, ih­nen die­sen Traum zu be­schreiben, der mir wie ein Verrat­ an meiner Mutter­ er­schien. Ich sag­ te, ich hätte von einem­ Fried­hof ge­träumt, und sie schlossen­ da­raus, dass der Tod meiner Mut­ter mein see­­lisches Gleich­ ge­wicht gestört­ habe und dass ich ihr nachtrau­ ­er­te. Wenn das zutrifft­ – was durchaus­ möglich­ ist –, dann traue­­re ich ihr heute noch nach.

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 16 17.09.2015 09:10:39 Zwischen­ meinem Va­ter und meiner Tante gab es oft Aus­ einan­der­set­zun­gen, und ob­gleich ich meinen Ver­dacht nicht hätte be­gründen­ kön­nen, schien mir, dass ihre Streitig­ keiten stets mit meiner Mut­ter zu­sammen­ hin­ gen.­ Ich er­in­ nere­ mich aus meiner frü­hen Kind­heit, wie in dem gro­ßen Wohn­zim­mer un­se­res Hau­ses in San Fran­cis­co die Fo­to­ grafie­ meiner Mut­ter, für sich al­lein auf dem Ka­minsims­ stehend,­ den ganzen­ Raum beherrsch­ te.­ Dieses­ Bild schien zu be­weisen, in wel­chem Maße ihr Geist noch immer­ die Atmosphä­ re­ be­einflusste­ und uns alle in der Gewalt­ hat­ te. Ich er­inne­ re­ mich auch an die dichten­ Schatten­ in den Ecken dieses­ Zimmers,­ in dem ich mich nie heimisch fühl­te, und an meinen Vater,­ der im Lehnstuhl­ saß, vom goldgel­ ­ ben Licht der Steh­lampe­ umflos­ sen.­ Er las die Zeitung, und da das Blatt ihn meinen B­licken entzog,­ bemühte­ ich mich ver­zweifelt, seine Auf­merk­sam­keit zu er­re­gen. Ich reizte ihn dadurch­ mitun­ ter­ bis zur Weißglut,­ und die Folge­ war, dass ich un­ter Tränen­ aus dem Zim­mer ge­tragen­ wur­de. Bis­weilen saß mein Va­ter re­gungs­los da, weit vor­ge­beugt, die Ellbo­ gen­ auf die Knie gestützt,­ und starrte auf das gro­ ße Fens­ter, hin­ter dem die tin­tenschwar­ ze­ Nacht stand. Ich fragte mich dann immer,­ woran­ er wohl denken­ mochte.­ Wenn ich sein Bild herauf­ ­beschwö­ re,­ trägt er stets einen­ är­mel­lo­sen grau­en Pul­lo­ver, hat die Kra­watte ge­lo­ckert, und das sandfar­ be­ ne­ Haar fällt in sein kanti­ ges,­ rot­wangi­ ­ ges Gesicht.­ Er gehörte­ zu den Menschen,­ die gern lachen­ und nicht so leicht in Harnisch­ gera­ ten,­ die aber, wenn die Wut sie packt, umso hefti­ ger­ auf­brausen­ – wie ein Feuer,­ das un­vermu­ tet­ aus ­einem Spalt auf­lodert­ und im Hand­ um­dre­hen das gan­ze Haus ver­zehrt. Und Ellen,­ seine Schwester,­ etwas­ älter­ als er, etwas­ dun­ kelhaa­ ri­ ger,­ mit ­einem Gesicht­ und ­einer Figur,­ die im ers­

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 17 17.09.2015 09:10:39 ten Sta­di­um der Ver­här­tung ste­hen, im­mer zu auf­fäl­lig ange­ zo­ gen,­ zu stark ge­schminkt und mit zu viel Schmuck behängt,­ der im Licht klirrt und glitzert,­ El­len sitzt auf dem Sofa und liest; sie las sehr viel, alle Neuer­ ­scheinun­ gen, und sie ging sehr oft ins Kino. Oder sie strickt. Mir scheint, sie trug stets einen­ gro­ßen Beu­tel mit ge­fährlich­ hervor­ ­stehen­ den­ Strickna­ deln­ bei sich oder ein Buch oder beides. Was sie eigentlich­ strickte,­ weiß ich nicht. Ich nehme­ an, sie hat zu­min­dest ge­le­gent­lich et­was für meinen Va­ter oder für mich ge­strickt, aber er­innern­ kann ich mich nicht mehr da­ran, eben­so we­nig wie an die Bü­cher, die sie las. Mir ist, als wäre es immer­ dassel­ be­ Buch gewe­ sen,­ als hätte sie immer­ an demsel­ ben­ Schal oder Pullo­ ver­ gear­ beitet­ in all den Jahren,­ die ich sie kannte.­ Manchmal­ – sehr selten­ – spiel­ten sie und mein Va­ter Kar­ten; manch­mal un­ter­hiel­ten sie sich in freund­lich ne­ckendem­ Ton, doch das war gefähr­ ­ lich, denn es endete­ meistens­ mit einem­ Streit. Hin und wieder­ kamen­ Gäste,­ und ich durfte zu­sehen,­ wie sie Cock­ tails tranken.­ Dann war mein Va­ter in seinem Element.­ Jun­ genhaft­ fröhlich­ ging er in dem überfüll­ ten­ Zimmer­ umher,­ ver­sorgte die Gäste mit Drinks, lachte viel, behan­ delte­ die Männer­ wie seine Brü­der und flir­tete mit den Frau­en. Oder nein, er flirtete­ nicht mit ihnen,­ son­dern stol­zierte wie ein Hahn vor ihnen­ auf und ab. Ellen­ ließ ihn nicht aus den Augen,­ als hätte sie Angst, er werde­ irgend­ et­ was­ Dummes­ anstel­ len;­ sie beob­ ach­ tete­ ihn und die Frauen­ und, ja­wohl, sie flirtete­ in einer­ befrem­ den­ den,­ auf die Nerven­ gehen­ ­ den Art mit den Män­nern. Man stelle­ sie sich vor: un­glaub­ lich auf­geputzt,­ der Mund röter­ als Blut, in ­einem Kleid, das entwe­ der­ die ver­kehrte Farbe­ hatte oder zu eng war oder zu jugend­ lich­ wirk­te, das Cock­tailglas­ so fest in der Hand, dass es je­den Au­gen­blick zu zer­split­tern droh­te, und dann ­die­se

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 18 17.09.2015 09:10:39 Stimme,­ als zie­he man ­eine Ra­sierklin­ ge­ auf Glas ab. Ich fürchtete­ mich vor ihr. Ganz gleich, was sich im Wohn­zimmer­ ab­spielte,­ meine Mutter­ sah zu. Sie blickte aus dem Bilder­ rah­ men,­ eine­ blas­ se, zarte Frau, blond, dunkel­ äu­ gig,­ mit hoher­ Stirn und einem­ weichen, nervö­ sen­ Mund. Aber ir­gendet­ was­ in der Art, wie ihre Au­gen im Kopf sa­ßen und ge­ra­de­aus schau­ten, ir­gend­ et­was kaum merk­lich Über­le­ge­nes und Wis­sen­des um die Mund­par­tie ver­riet, dass sich un­ter die­ser ge­spann­ten Zer­ brech­lich­keit ­eine un­beug­sa­me Kraft ver­barg, die eben­so ge­fähr­lich, weil un­er­war­tet war wie die Wut­aus­brü­che mei- nes Va­ters. Selten­ sprach mein Vater­ von ihr, und wenn, dann mit einem­ Gesicht,­ das sich auf geheim­ nis­ vol­ le­ Weise ver­ hüllte;­ er sprach von ihr nur als von meiner Mut­ter, und nach seinem Ton­fall zu urteilen,­ hätte es ebenso­ gut seine eigene­ Mutter­ sein kön­nen. El­len da­gegen­ sprach oft von ihr und be­tonte stets, sie sei ­eine au­ßer­ge­wöhn­­liche Frau ge­we­sen. Ich ver­spürte Un­beha­ gen,­ wenn sie so re­dete,­ denn mir war, als hätte ich kein Recht, der Sohn ­einer solchen­ Mutter­ zu sein. Vie­le Jah­re spä­ter – ich war bereits­ er­wach­sen – wollte ich meinen Va­ter dazu bringen,­ dass er mir von meiner Mut­ ter erzähl­ ­te. Ellen­ war da­mals schon tot, und er stand im Begriff,­ wie­der zu heira­ten. Er sprach ge­nau­so von meiner Mut­ter, wie Ellen­ von ihr gespro­ ­chen hatte,­ ja eigentlich­ so, als sprä­che er von El­len. Ich war unge­ ­fähr dreizehn Jahre­ alt, als ich Zeuge­ ­eines Wort­wech­sels zwi­schen den beiden wur­de. Sie hat­ten oft Streit miteinan­ der,­ aber an diesen­ erin­ ­ne­re ich mich beson­ ­ ders deut­lich, denn es drehte sich da­bei um mich. Es war in der Nacht. Ich lag im oberen­ Stockwerk­ im Bett und schlief. Plötz­lich weckte mich ein Geräusch­ auf der Stra­ ße: die Schritte meines heimkeh­ ren­ den­ Vaters.­ Klang und

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 19 17.09.2015 09:10:39 Rhythmus­ verrie­ ten­ mir, dass er leicht be­trunken­ war, und ich weiß noch, dass ich in diesem­ Au­genblick­ ­eine ge­wisse­ Ent­ täu­schung, ­eine un­er­klär­­liche Trau­rig­keit emp­fand. Ich hatte ihn schon oft betrun­ ken­ gese­ hen­ und dabei­ nie dieses­ Gefühl­ gehabt­ – im Ge­genteil,­ mein Vater­ konnte sehr char­mant sein, wenn er betrun­ ken­ war –, doch in die­ser Nacht hatte ich sofort­ den Ein­druck von et­was Ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gem. Ich hörte ihn herein­ ­kom­men, und gleich darauf­ hörte ich El­lens Stim­me. »Bist du noch nicht im Bett?«, fragte mein Vater.­ Er sprach freund­lich und wollte offen­ ­bar eine­ Szene­ vermeiden,­ aber in seiner Stim­me lag keine Herz­lich­keit, nur müh­sam unter­ ­ drückte Er­bit­te­rung. »Ich bin aufge­ ­blie­ben«, erwi­ ­derte El­len kalt, »weil dir end­ lich mal jemand­ klarma­ ­chen muss, was du deinem Sohn an­tust.« »Was tue ich meinem Sohn an?« Er war drauf und dran, noch mehr zu sagen,­ etwas­ Schreckliches,­­ doch er beherrschte­ sich und sagte nur mit einer­ re­sig­nier­ten, trun­ke­nen, ver­ zweifel­ten Ruhe: »Wo­von re­dest du eigent­lich, El­len?« »Glaubst du wirk­lich«, fragte sie – ich war si­cher, sie stand mit­ten im Zim­mer, mit ge­fal­te­ten Hän­den, auf­recht und un­be­weg­lich –, »dass du die Art von Mann bist, die er sein soll­te, wenn er er­wach­sen ist?« Und als mein Va­ter schwieg: »Er wird näm­lich so lang­sam erwach­ ­sen. Was man von dir nicht be­haup­ten kann.« »Geh schla­fen, El­len«, sagte mein Va­ter müde. Da sie über mich sprachen,­ hatte ich das Gefühl,­ ich müsste hi­nun­ter­ge­hen und El­len er­klä­ren, dass al­les, was etwa zwi­ schen meinem Va­ter und mir nicht stimm­te, ohne ihre Hil­ fe in Ordnung­ ge­bracht wer­den könn­te. Und vielleicht­ – so selt­sam es klingt – be­trach­tete ich ihre Worte als be­leidigend

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Baldwin_Giovanni_CC14.indd 20 17.09.2015 09:10:39 für mich, denn ich hatte ja zu ihr nie et­was gegen­ meinen Va­ter ge­sagt. Ich hörte ihn mit schwe­ren, un­si­che­ren Schrit­ten auf die Trep­pe zu­ge­hen. »Bil­de dir nur nicht ein, dass ich nicht weiß, wo du warst«, be­gann El­len von Neu­em. »Ich war aus … trinken­ …«, murmelte­ mein Vater.­ »Und jetzt möchte ich schlafen.­ Hast du was da­ge­gen?« »Du bist wie­der bei die­ser Be­a­tri­ce ge­we­sen«, sagte El­len. »Im­mer gehst du zu ihr, all dein Geld, all deine Männ­lich­keit und all deine Selbst­ach­tung bleiben dort.« Es war ihr gelun­ ­gen, ihn auf­zu­brin­gen. Er be­gann zu stam­meln. »Wenn du glaubst … wenn du wirk­lich glaubst, dass ich hier stehe­ … ste­he … ste­he … um mit dir über mein Pri­vatle­ ­ ben, mein Privat­ le­ ben­ zu streiten, wenn du glaubst, ich wer­de da­rü­ber mit dir streiten, dann bist du nicht recht bei Trost.« »Dein Pri­vat­le­ben in­te­res­siert mich nicht im Ge­rings­ ten«, er­wi­derte El­len. »Wenn ich mir Sor­gen ma­che, dann be­stimmt nicht um dich. Hier geht es nur da­rum, dass du der ein­zi­ge Mensch bist, den Da­vid als Au­to­ri­tät an­er­kennt. Mich er­kennt er nicht an. Und ­eine Mut­ter hat er ja nicht. Auf mich hört er nur, wenn er denkt, dass er dir da­mit ­einen Ge­fal­len tut. Meinst du wirklich,­ dass es gut für ihn ist, wenn er dich im­mer betrun­ ­ken nach Hau­se kommen­ sieht? Und mach dir nichts vor«, fügte sie erregt­ hin­zu, »er weiß ganz genau,­ wo du gewe­ ­sen bist. Rede dir bloß nicht ein, er wüsste nichts von deinen Weibern!« Da­mit hatte sie unrecht.­ Ich glaube­ kaum, dass ich damals­ schon von ih­nen wusste – je­den­falls hatte ich nie da­rü­ber nach­ge­dacht. Aber von da an dachte ich unauf­ ­hör­lich darü­ ­ ber nach. Ich konnte kaum noch an ­einer Frau vor­beige­hen,

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