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Geschichte der Landesärztekammer Hessen von 1876 bis 1956: Einblicke in ein Forschungsprojekt

Vorwort den ersten Jahren nach der Befreiung Ru- stürzendes hervor. Mitte 2016 wird die fe laut geworden, nun „endlich“ einen Untersuchung abgeschlossen sein. Der Auf Antrag von mehreren Delegierten Schlussstrich zu ziehen und sich wichtige- Deutsche Ärztetag 2015 in Hessen, in wurde auf der Delegiertenversammlung ren Themen, der Zukunft, zu zuwenden. am Main, ist Anlass, erste Zwi- am 15. März 2013 beschlossen, ein For- Diese Auffassung ist auch heute noch schenergebnisse vorzustellen. Die Zu- schungsprojekt zur „Darstellung der Ge- verbreitet. Ohne die Geschichte zu ken- sammenarbeit mit dem Forscherteam – schichte der Landesärztekammer Hes- nen, sind wir bei aktuellen Entscheidun- Prof. Benno Hafeneger, Marcus Velke sen vor dem Jahr 1956“ durchzuführen. gen oft hilflos und die Geschichte ist der (M.A.) und Lucas Frings (B.A.) – von der Im März 2014 genehmigte die Delegier- Schlüssel zum Verstehen der Gegenwart. Philipps-Universität Marburg ist kon- tenversammlung auf Antrag des Präsidi- Ohne das Wissen um die Vergangenheit struktiv und partnerschaftlich, sie ist ein ums die erforderlichen Mittel. wären die Art und die Ergebnisse der ak- Gewinn für die Beteiligten. der Vorgeschichte der Landes- tuellen Diskussionen in der deutschen Wir hoffen, dass diese Forschungsarbeit ärztekammer Hessen, die weit in das 19. Öffentlichkeit zum Beispiel über die Wür- für die Ärztekammer Hessen erfolgreich Jahrhundert zurückreicht, die vielen un- de des Menschen, über Sterbehilfe oder verläuft und vielleicht Beispiel und Anlass geklärten Fragen über die Zeit zwischen die Menschenrechte nicht denkbar. ist, in anderen Institutionen ähnliche Vor- 1933 und 1945 und dann der Zeit bis Die Landesärztekammer Hessen ist die haben zu initiieren. 1956 – dem Jahr der Gründung als „Kör- erste Kammer, die sich im Rahmen einer perschaft des Öffentlichen Rechts“ – wissenschaftlichen Studie mit ihrer Ver- Dr. med. Siegmund Drexler, wurden bisher nicht wissenschaftlich un- gangenheit befasst. Die ersten Ergebnis- Vorsitzender des Beirats des tersucht. Insbesondere für die Zeit zwi- se sind sehr ermutigend; sie bringen Forschungsprojektes „Geschichte der schen 1933 und 1945 waren bereits in Überraschendes, Irritierendes und Be- Landesärztekammer Hessen“

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Die Landesärztekammer Hessen erforscht ihre Vergangenheit

Die Landesärztekammer Hessen (LÄKH) Eine lange Geschichte seit 1876 sche Informationen wurden über den untersucht ihre Geschichte und hat eine „Reichsmedizinalkalender“ veröffentlicht. Forschungsgruppe der Philipps-Universi- Die Geschichte der organisierten Ärzte- tät Marburg mit diesem Vorhaben beauf- schaft, der Standesorganisationen und Ver- Ärztekammer und Ärzteblatt tragt. Das Projekt befasst sich zunächst tretung der ärztlichen Interessen sowie der Vor dem Hintergrund landesrechtlicher mit der langen Vorgeschichte der organi- Gesetzgebung – und damit auch der Ärz- Zuständigkeit erfolgte in der Weimarer sierten Ärzteschaft in Hessen und dann tekammern – reichen in die zweite Hälfte Republik in Hessen mit dem Gesetz vom im Schwerpunkt mit der Zeit des Natio- des 19. Jahrhunderts zurück. Zwei ausge- 15. Januar 1924 am 9. Juli 1924 die Grün- nalsozialismus und dem Zeitraum von wählte Zeiträume zeigen für Hessen wich- dung der „Hessischen Ärztekammer“ als 1945 bis zur Gründung der LÄKH im Jahr tige Etappen bis zum Ende der Weimarer öffentlich-rechtliche Berufsvertretung 1956. Republik. der hessischen Ärzte. Die Ärztekammer Die LÄKH ist die erste Kammer, die ihre hatte 20 gewählte Mitglieder. Erster Vor- Geschichte untersuchen und diesen Be- Ärztevereine und Zentralausschuss sitzender war bis 1928 der Geheime Sani- reich der Ärztepolitik, zu dem es bisher Vom 17. bis 19. Jahrhundert bestanden tätsrat Dr. med. Karl Habicht, ihm folgte kaum vergleichbare Studien gibt, auf- „Medizinalordnungen“, die als eine Mi- 1928 der Sanitätsrat Dr. med. Karl Brü- klären lässt. Die Laufzeit des For- schung aus Berufs- und Ärzteordnung an- ning. Der 1. Hessische Ärztetag fand vom schungsvorhabens ist auf zwei Jahre (1. gesehen werden können. Die Gründungs- 11. bis 13. September 1926 in Bad Nau- April 2014 bis 31. März 2016) angelegt zeit der ersten regionalen Ärztekammern heim statt. und mit ihm sind Prof. Dr. Benno Hafe- fällt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhun- Im Volksstaat Hessen gab es im Jahr 1925 neger, Marcus Velke (M.A.) und Lucas derts; der „Deutsche Ärztevereinsbund“ 16 ärztliche Kreisvereine, die sich im Frings (B.A.) befasst. Ein Beirat bei der wurde im Juli 1872 in gegründet. In „Aerztlichen Landesverein“ zusammenge- LÄKH begleitet unter Federführung von der Literatur finden sich gleichzeitig Hin- schlossen hatten. Dieser war mit der Ärz- Dr. med. Siegmund Drexler das Vorha- weise, dass dieser am 17. September 1873 tekammer eng verwoben, der Landesver- ben. in Wiesbaden gegründet worden sei. Mit ein hatte Vertreter bei den Ärztetagen und Die Forschungsgruppe sichtet umfängli- der Reform der staatlichen Medizinalorga- Habicht war zugleich Vorsitzender des ches historisches Quellenmaterial und nisation im Großherzogtum Hessen setzte „Hessischen ärztlichen Landesvereins“. die vorliegenden Publikationen und Be- auch in anderen Provinzen, wie in der preu- Im Jahr 1926 erschien das erste „Hessi- funde zur Medizin- und Ärztepolitik. Es ßischen Provinz Hessen-Nassau, der Pro- sche Ärzteblatt“ als offizielles Organ der ist eine produktive „Puzzlearbeit“, weil zess der Neuordnung ein. In der zweiten „Hessischen Ärztekammer“ und der ärztli- kein geschlossener Archivbestand vor- Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituierte chen Standesvereine und ärztlichen wirt- liegt und vorliegende Quellenmaterialien sich im Jahr 1876 der „Hessische ärztliche schaftlichen Verbände im Volksstaat Hes- bisher kaum erschlossen sind. In den fol- Zentralausschuß“ – eine Art Vorläufer der sen. Die Schriftleitung hatte zunächst Sa- genden Beiträgen werden einige ausge- heutigen Landesärztekammer. Die Wahl nitätsrat Dr. med. Karl Heil, ihm folgte Sa- wählte Befunde zu sieben Themenberei- der Delegierten bzw. Mitglieder erfolgte nitätsrat Dr. med. Friedrich Wilhelm Vogel chen kurz vorgestellt. Sie geben erste dafür bereits ab 1874 aus regionalen ärztli- und ab 1930 (mit dem Heft Nr. 4) Dr. Einblicke in mittlerweile umfassend re- chen Vereinen im Auftrag der damaligen med. Carl Oelemann. Zu den Themen ge- cherchiertes und vorliegendes Material, Obermedizinaldirektion. Ein Kernstück der hörten u. a. der „Kampf dem Alkohol“, die das in der abschließenden Publikation neuen Medizinalorganisation war die Grün- Bekämpfung von Geschlechtskrankhei- ausführlich aufgenommen und ausge- dung von ärztlichen Vereinen. Mit der Re- ten, die Impfdebatte; dann die Notverord- wertet wird. Die Beiträge beruhen im form und den ärztlichen Kreis- und Stadt- nungen am Ende der Weimarer Republik. Wesentlichen auf dem Nachlass von Dr. vereinen war die Absicht verbunden, die Beklagt wurden die „Not der Ärzte“ und med. Carl Oelemann, den Beständen des Mitwirkung der Ärzte beim öffentlichen die große Zahl der (arbeitslosen) Jungärz- Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Gesundheitsdienst – der „öffentlichen Ge- te aufgrund von zu vielen Medizin-Studi- weiter den Presseorganen der hessi- sundheitspflege“ – durchzusetzen und ihr enplätzen. Weitere Themen waren die schen Ärztekammern: dem „Hessischen eine Organisationsform zu geben. „Volksgesundheitspflege“ und die „deut- Ärzteblatt“ (1926–1933), der „West- Im Jahr 1891 erschien das „Korrespon- sche Sozial- und Rassenhygiene“. Neben deutschen Ärzte-Zeitung“ (1919–1933) denzblatt der ärztlichen Vereine des dem „Hessischen Ärzteblatt“ war die und dem „Ärzteblatt für Hessen“ Großherzogtums Hessen“, das bis 1920 1919 gegründete und bis 1933 erschei- (1934–1941). Wir verwenden die männ- zentrales Informationsorgan der hessi- nende „Westdeutsche Ärztezeitung für liche Schreibweise, weil die hier genann- schen Ärzteschaft war und dann einge- Standesfragen und soziale Medizin“ (als ten Akteure ausschließlich Ärzte waren; stellt wurde. Weiter wurden auf der Ebene Nachfolgeorgan der „Frankfurter Ärzte- wenn im Artikel die gesamte Ärzteschaft der Regierungsbezirke zahlreiche (jährli- Correspondenz“, die es ab 1910 gab) ein gemeint ist, sind Ärztinnen gleicherma- che) Mitgliederverzeichnisse der Ärzte- wichtiges Mitteilungs- und Informations- ßen eingeschlossen. vereine angelegt; ärztliche und medizini- organ der hessischen Ärzteschaft und

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auch der „Ärztekammer für die Provinz Hessen-Nassau“.

Die Ärztekammern in Hessen im Jahr 1933

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 voll- zogen die hessischen Ärztekammern eine grundlegende Umstrukturierung, moti- viert durch eine Mischung aus vorausei- lendem Gehorsam, Verteidigung der ärzt- lichen Standesinteressen, deutsch-völki- schen Überzeugungen und Anbiederung an den Nationalsozialismus. 1933 bestanden auf dem Gebiet des heuti- gen Bundeslandes Hessen zwei ärztliche Standesorganisationen, territorial aufge- teilt entsprechend dem Gebiet der preußi- schen Provinz Hessen-Nassau und des Volksstaates Hessen. Die „Ärztekammer für die Provinz Hessen-Nassau“ hatte ihren Sitz in Frankfurt/M. unter Vorsitz und Ge- schäftsführung von Dr. med. August de Die neu formierte Ärztekammer für den Volksstaat Hessen im Herbst 1933 (Quelle: Weckruf zum Bary, während die „Hessische Ärztekam- Volksgesundheitsdienst, Jg. 1 (1933), Seite 115) mer“ unter dem Vorsitz von Sanitätsrat Dr. med. Karl Brüning in Darmstadt residierte. Das Presseorgan der „Ärztekammer für 1933 die Vertretung durch bzw. die Über- weiter zu versehen, obwohl wir uns darüber die Provinz Hessen-Nassau“ war die weisung an jüdische Ärzte verboten. klar waren, daß auch in der Hessischen Aerz- „Westdeutsche Ärztezeitung“ unter tekammer eine Umstellung kommen müsse. Schriftleitung von Sanitätsrat Dr. med. Ju- Die Hessische Ärztekammer Gleichzeitig wurde mitgeteilt, dass der Vor- lius Hainebach; das Presseorgan der „Hes- Es gehörte nach der Machtübernahme zu sitzende der „Hessischen Ärztekammer“ sischen Ärztekammer“ war das „Hessi- den ersten Beschlüssen der „Hessischen Brüning und die Vorstandsmitglieder Sani- sche Ärzteblatt“, weiterhin mit Dr. med. Ärztekammer“ am 30. März 1933, den tätsrat Dr. med. Josef Höchstenbach und Carl Oelemann als Schriftleiter. hessischen Innenminister um die Anset- Dr. med. Alexander Büchner ihre Ämter Im Jahr 1933 waren zwischen 15 und 16 zung von Neuwahlen der Kammermitglie- niederlegen. Hintergrund für den Rücktritt Prozent aller Ärztinnen und Ärzte im da- der zu bitten. Der Vorsitzende Brüning bat waren wiederholte – auf die persönliche maligen Deutschen Reich – im Sinne der im selben Brief um personelle Änderungen Amtsführung zielende – Angriffe durch NS-Gesetze – jüdischer Abstammung; sie der Ärztekammer und bot an, einzelne den Bad Nauheimer Arzt Dr. med. Karl waren in den verschiedenen medizinischen Mitglieder zum „freiwilligen Rücktritt [zu] Barth gegen den Vorstand und den Schrift- Disziplinen unterschiedlich vertreten, un- veranlassen“. So wurde der jüdische Arzt leiter Oelemann im „Weckruf zum Volksge- ter den Pädiatern waren es zum Beispiel Sanitätsrat Dr. med. Alphons Fuld seines sundheitsdienst“, der Zeitschrift des „Na- über 50 Prozent. Vor dem Hintergrund der Amtes als stellvertretender Vorsitzender tionalsozialistischen Deutschen Ärztebun- NS-Rassegesetze und Verordnungen emi- der „Hessischen Ärztekammer“ enthoben. des“ (NSDÄB) des Gaues Hessen-Darm- grierten und flohen viele jüdische Ärztin- Das Innenministerium reagierte zunächst stadt. Oelemann wies im „Hessischen Ärz- nen und Ärzte; und bereits in den ersten nicht auf das Schreiben und die übrigen teblatt“ vom 15. August 1933 die Kritik sechs Jahren der NS-Herrschaft mussten Mitglieder blieben auf ihren Posten; dazu von Barth folgendermaßen zurück: neun von zehn ihren Beruf aufgeben. Sie hieß es im „Hessischen Ärzteblatt“ vom Solches Verhalten aus einem gesteigerten wurden seit April 1933 systematisch ent- 15. Juli 1933: Machtgefühl schädigt das Ansehen unseres rechtet und gedemütigt, verfolgt, depor- Bei der letzten Kammersitzung wurde der Be- Standes, schädigt die reinen Ziele des Na- tiert und viele wurden ermordet. So wurde schluß gefaßt, der Regierung vorzuschlagen, tionalsozialismus, entfremdet ihm wertvol- u.a. durch Verordnung vom 22. April 1933 die Kammer zu der ihr geeignet erscheinen- le Menschen und dient nicht dem Aufbau allen jüdischen und kommunistischen Ärz- den Zeit zwecks Neuwahl aufzulösen. Bis im deutschen Vaterlande. ten in Deutschland die Kassenzulassung jetzt ist darauf nichts erfolgt. Wir Unterfer- Am 29. Juli 1933 erließ der Ministerpräsi- entzogen. Zusätzlich hatten die einzelnen tigten haben es deshalb für unsere Pflicht ge- dent des Volksstaates Hessen das „Gesetz Ärztekammern sukzessive im Sommer halten, die uns anvertrauten Aemter auch über die Auflösung und Neubildung der Ärz-

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tekammer“, durch das alle Mitglieder der Ab Juni forderte die „Ärztekammer für die • 88,5 Prozent der hessischen Ärzte wa- Ärztekammer und ihre Stellvertreter ihrer Provinz Hessen-Nassau“ ihre Mitglieder ren Männer, 11,5 Prozent waren Frauen, Ämter enthoben wurden. Dr. med. Gott- auf, an Veranstaltungen zur Rassenpolitik • 63,9 Prozent waren Protestanten und fried Ende, „Kommissar für ärztliche Ange- teilzunehmen. Vor allem die Beiträge von 30,3 Prozent Katholiken; 5,8 Prozent legenheiten“ im Volksstaat Hessen, SA-Mit- Strebel schlugen in der Zeitschrift der gaben als Konfession u.a. deutschgläu- glied und bis dahin Herausgeber des „Weck- Standesorganisation einen rauen, aggres- big, gottgläubig oder konfessionslos an; ruf zum Volksgesundheitsdienst“, wurde die siven Ton an, den es so im „Hessischen einige machten keine Angabe, Aufgabe übertragen, die Mitglieder der Ärzteblatt“ im Jahr 1933 nicht gegeben • 53,2 Prozent aller Ärzte waren Mitglied „neuen Ärztekammer“ zu ernennen. hatte. Das gilt zum Beispiel für die Eintrei- in der NSDAP; nimmt man die NSDAP- Bei der Neustrukturierung bemühte man bung von Spenden für die SA: Anwärter hinzu, dann liegt die Quote sich um eine friedliche Beilegung des Kon- Es ist Pflicht eines jeden deutschen Arztes, bei 63,6 Prozent, fliktes. So wurde dem bisherigen Vorsitzen- die in jahrelangem opfervollem Kampf dem • 25,5 Prozent aller Ärzte waren Mitglied den Brüning für seine Arbeit gedankt und Führer treu ergebenen SA-Männer durch in der SA, die Widersacher Brüning, Oelemann und eine Geldspende zu unterstützen. (…) Ich • 5,3 Prozent aller Ärzte waren Mitglied Barth gaben eine gemeinsame Erklärung halte es für die verdammte Pflicht und in der SS (zum Vergleich: in Nieder- ab, in der sie ihre Streitigkeiten für beige- Schuldigkeit jedes Einzelnen, wenn er durch schlesien waren es 7,8 Prozent und im legt und beendet erklärten. Die „neue Ärz- Beteiligung an dieser Spende einen kleinen Rheinland 3,6 Prozent), tekammer“ wurde im „Hessischen Ärzte- Teil seiner Dankesschuld abträgt. • 38,1 Prozent aller Ärzte waren Mitglied blatt“ vom 01. September 1933 vorgestellt. im NSDÄB. Mit Oktober 1933 wurde das „Hessische Mitgliedschaften in Für die Mitgliedschaft in der NSDAP kann Ärzteblatt“ eingestellt und der „Weckruf NS-Organisationen konstatiert werden, dass sie in Hessen zum Volksgesundheitsdienst“ (Schriftlei- (wie in einigen anderen Ländern und Pro- tung: Dr. med. Karl Welcker) übernahm die Vorliegende Studien belegen den hohen vinzen) signifikant über dem Reichs- Funktion als offizielles Presseorgan der Kam- Organisationsgrad der deutschen Ärzte- durchschnitt gelegen hat. mer. Die Ärztekammer im Volksstaat Hessen schaft in den NS-Organisationen, sie ge- war damit „gleichgeschaltet“ und machte hörte zu den akademischen Berufsgrup- Gautagungen – Orte und Zeiten deutlich in welche Richtung sie zukünftig pen mit hohen Mitgliedschaftszahlen in der Propaganda agieren würde. Eine ihrer ersten Schritte war der NSDAP, der SA, der SS und im „Na- die Gründung einer „Abteilung für Erbge- tionalsozialistischen Deutschen Ärzte- Tagungen, Treffen, Fortbildungen, Schu- sundheits- und Rassenpflege“, deren Vorsitz bund“ (NSDÄB); auch in der HJ und im lungslager, Gautagungen und Massenver- der Rassehygieniker Dr. med. Heinrich Wil- NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahr- anstaltungen gehörten zu den Medien der helm Kranz aus Gießen übernahm. korps) waren zahlreiche Ärzte organi- (berufs-)politischen Einbindung der Ärzte siert. So waren nach der Studie von Mi- in den nationalsozialistischen Staat, in ei- Die Ärztekammer für die Provinz chael H. Kater1 – seine Auswertung er- ne „Medizin im Dienste des Führers“ und Hessen-Nassau folgte auf der Basis einer Stichprobe der mit „rassischer Verantwortung“. Sie hat- In der Provinz Hessen-Nassau erfolgte Reichsärztekartei – im Reichsdurch- ten neben anderen (fachlichen) Fortbil- nach der Machtübernahme die „Gleich- schnitt rund 45 Prozent der Ärzte Mit- dungen einen großen Stellenwert und schaltung“ reibungslos und wurde in nur glied der NSDAP. dienten der ideologischen (Selbst-)For- wenigen Monaten umgesetzt. Der Leiter Für Hessen bzw. die beiden Gaue Hessen- mierung der Ärzte und ihrer Berufsauffas- des „Hauptamtes für Volksgesundheit“, Nassau und Kurhessen liegen Karteikarten sung im Sinne der biologistisch-rassischen Dr. med. Gerhard Wagner (ab 1934 über 4.603 Ärzte vor, die wir statistisch Weltanschauung sowie der Durchsetzung Reichsärzteführer), setzte als „Kommis- auswerten. Sie sind Bestandteil einer Si- der Bevölkerungs-/Gesundheitspolitik sar für die ärztlichen Angelegenheiten“ cherheitsverfilmung der Reichsärztekar- und rassenpolitischen Gesetze (insbeson- Dr. med. Walter Strebel ein. Als erste tei, die im Bundesarchiv in aufbe- dere dem „Gesetz zur Verhütung erbkran- Maßnahme verkündete dieser am 10. wahrt wird und für die Auswertung digita- ken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933). Die Mai 1933 in der „Westdeutschen Ärzte- lisiert wurde. Die Verfilmung wurde unterschiedlichen Veranstaltungen wur- Zeitung“ die Absetzung des jüdischen reichsweit im Jahr 1944 vorgenommen den unter anderem von der Führerschule Schriftführers Hainebach und die Einset- und ist ein stets aktualisiertes Verzeichnis der deutschen Ärzteschaft in Alt-Rehse, zung von Dr. med. Ludwig Haßlauer. aller praktizierenden Ärzte. Die Dateikar- von ärztlichen Fortbildungsschulen (unter Am 24. Mai 1933 schrieb Strebel: ten enthalten Daten zu Bestallung, Ge- anderem in , Berlin, München) Die erste Nummer der Westdeutschen schlecht, Alter, Konfession, Fachrichtung, und in Hessen vor allem von den beiden Aerzte-Zeitung schicke ich hinaus in die Wohnort/Kammerbezirk und den Mit- Gauen Hessen-Nassau und Kurhessen an- Gefilde der Provinz Hessen-Nassau unter gliedschaften in NS-Organisationen. Erste geboten. Eingeladen wurde unter ande- nationalsozialistischer Flagge (...). Zahlen zeigen für Hessen: rem von den Vorsitzenden der Ärztekam-

1 Michael Kater: Ärzte als Hitlers Helfer. /Wien (2000)

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mern, den landesbezogenen Gliederun- gen des „Nationalsozialistischen Deut- schen Ärztebundes“ (NSDÄB) in den Gauen und Bezirken sowie den Gauäm- tern für Volksgesundheit; weiter von me- dizinischen Gesellschaften, den Ärztever- einen oder den Universitäten in Frank- furt/M., Gießen und Marburg.

Themen und Referenten Einige typische und wiederkehrende The- men und Referenten zeigen, wie die Ver- anstaltungen, Schulungen und Vorträge ausgerichtet waren: • Am 2. Juli 1933 gab es eine Kund- gebung des NSDÄB Gau Hessen-Nas- sau im Volksbildungsheim in Frank- furt/M. mit einem Vortrag zu „Arzt und Volk“. Referent war Dr. med. Wal- ter Groß, Reichsleiter des „Rassenpoli- tischen Amtes der NSDAP“ in Berlin. • Am 15. Juli 1933 luden der NS-Lehrer- Ankündigung einer Gautagung in Kassel vom Amt für Volksgesundheit (Quelle: Ärzteblatt für Hessen, Jg. 3 bund (Fachschaft Hochschullehrer) (1935), Seite 37) und der NSDÄB Gau Hessen-Nassau zu einem Vortrag über „Rassenpflege im Akteure Freizeit – Veranstaltungen völkischen Staat“ in der Aula der Uni- Auf der Gauebene wurde unter anderem der hessischen Ärzteschaft versität Frankfurt/M. ein. Referent war vom Vorsitzenden der „Hessischen Ärzte- Prof. Martin Staemmler, u.a. Mitheraus- kammer“ (dem SA-Sanitätsoberrat Dr. Unterhaltung oder Politik? geber von „Volk und Rasse“. med. Gottfried Ende), den Gauobmän- Die deutsche Ärzteschaft und auch die • Vom 6. bis 9. Dezember 1934 befassten nern des NSDÄB und zugleich Gauamtslei- beiden hessischen Ärztekammern orga- sich ein „Rassenhygienischer Fortbil- tern von Hessen-Nassau (Dr. med. Walter nisierten neben fachspezifischen und dungskurs für Ärzte“ und die Gautagung Strebel) und Kurhessen (Dr. med. Hans- parteipolitischen Vorträgen auch gesell- des NSDÄB Hessen-Nassau in Bad Nau- Heinrich Harrfeldt) sowie dem Leiter der schaftliche und gesellige Veranstaltun- heim mit den Themen „Rassenmischung „Ärztekammer für die Provinz Hessen- gen für ihre Mitglieder. Der Inhalt dieser und Rassenpathologie“, „Erbbiologi- Nassau“ und Gauamtsleiter des Amtes für Veranstaltungen bezog sich neben kul- sche Bestandsaufnahme“, „Ehebera- Volksgesundheit (Dr. med. Karl Heinz tureller Unterhaltung auch auf politi- tung“, „Arzt und Sterilisationsgesetz“, Behrens) eingeladen. Wiederholt wurde sche Meinungsbildung. So hatte der „Bevölkerungs- und Rassenpolitik“. Or- von diesen darauf hingewiesen, dass die „Nationalsozialistische Deutsche Ärzte- ganisiert wurde der Kurs von Dr.med. Teilnahme an den Vorträgen für alle Ärzte bund“ (NSDÄB) 1934 nach Wiesbaden Heinrich Wilhelm Kranz; Referenten wa- zu deren Pflicht gehöre. zu einer Ausstellung über alte und neue ren u. a. Dr. med. Groß, Prof. Otmar von Besonders aktiv waren in der Vortrags- Romantik oder auch zu Vorlesungen Verschuer und Dr. phil. Siegfried Koller und Fortbildungstätigkeit die beiden über die – mit NS-Deutungen versehe- (Kerckhoff-Institut, Bad Nauheim). Professoren Kranz und von Verschuer. ne – deutsche Kultur in Hessen-Nassau Weitere Schulungsthemen waren unter Kranz war stellvertretender Vorsitzen- eingeladen. Derartige Veranstaltungen anderen „Führerschulung und rassische der der „Hessischen Ärztekammer“ und hatten unterschiedliche Motive: Sie ziel- Auslese“, „Nordisches Erbgut“, “revolutio- hier Leiter der „Abteilung Erbgesund- ten auf den Geschmack des kultivierten näres Arzttum“ oder „Die politische Sen- heits- und Rassenpflege“ (zugleich war Bürgertums, zu dem ein Großteil der dung des Arztes“. Die „Erb- und Rassen- er Beauftragter für Rassen- und Bevölke- Ärzteschaft gehörte. Sie sollten zu- pflege“ war der Nukleus nationalsozialisti- rungspolitik bei der Gauleitung Hessen- gleich auch zur Akzeptanz von Termi- scher Gesundheitspolitik. Die hier abge- Nassau) sowie Leiter des „Instituts für nen außerhalb der Arbeitszeit beitra- druckte Einladung zu einer Gautagung Erb- und Rassenpflege“ (Universität Gie- gen, den kollegialen Zusammenhalt zeigt exemplarisch das Programm und die ßen). Verschuer hatte ab April 1935 den stärken und dienten der Propagierung Referenten einer Großveranstaltung. An Lehrstuhl für Erbbiologie und Rassenhy- politischer Botschaften. solchen Gautagungen haben immer meh- giene an der Universität Frankfurt/M. in- Zum Besuch von politischen Veranstaltun- rere Hundert, zum Teil auch mehrere Tau- ne; er war zugleich Leiter des erbbiologi- gen wurde wiederholt aufgerufen. So send Ärzte teilgenommen. schen Instituts. schrieb der Vorsitzende der Ärztekammer

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für die Provinz Hessen-Nassau, Dr. med. Walter Strebel, 1933 in der „Westdeut- schen Ärzte-Zeitung“: Nichtteilnahme an den vom NS-Aerzte- bund und ärztl. Prov. Verband Hessen-Nas- sau veranstalteten Kundgebungen muß ich als Interessenlosigkeit am Neuaufbau des deutschen Staates und Volkes ansehen. Ich erwarte von jedem deutschen Arzt, daß er diese Veranstaltungen besucht. Ärzte, die zur Kunstvernissage gingen, aber eine Woche später beim Vortrag über Rassenhygiene fehlten, machten sich bei den Leitern der Ärzteschaft und auch bei ihren ideologisch überzeugten Kollegen unbeliebt oder der Illoyalität verdächtig. Kulturelle Veranstaltungen sollten sozialen Druck erzeugen und auch zur Akzeptanz der neuen Machtverhält- nisse beitragen.

Feiern für die Einheit Eine feste Größe im Freizeitprogramm war das jährlich zu Fasching stattfin- dende „Kostümfest der deutschen Ärz- te“ im Frankfurter Zoogesellschafts- haus. Sein auch politischer Stellenwert lässt sich an den Einladungen und Be- richten im „Ärzteblatt für Hessen“ er- kennen. Es gehörte zu den Zielen dieses Festes, die Einheit der Ärzteschaft zu beschwören, die sich durch den Ausschluss der jüdischen Ärzte und das Nachrücken der Jungärzte in ihrer Zusammensetzung veränderte. Zu- gleich galt die Zusammenkunft auch der Selbstvergewisserung einer tragenden (berufs-)politischen Rolle der Ärzteschaft im NS-Staat. In der Nachbetrachtung des Kostümfestes im Jahr 1934 schrieb der Einladung zum Fest der deutschen Ärzte (Quelle: Ärzteblatt für Hessen, Jg. 4 (1936), Seite 27) Schriftleiter Dr. med. Ludwig Haßlauer im „Ärzteblatt für Hessen“: Das Fest der deutschen Aerzte am 17. Feb- Fachleute (...) haben ausgesagt, daß in die- rum ergeht an alle deutschen Aerzte die ruar 1934 war der willkommenste Auftakt sem Jahre noch kein Fest in Frankfurt a. M. Aufforderung, nicht vor dem Tore des für für die Begründung der großen ärztlichen so stimmungsvoll verlaufen ist. Alles war alle bestimmten Hauses stehen zu bleiben. Gemeinschaft, die wir brauchen und in die- auf Stimmung abgestellt. (...) Unsere erns- Regelmäßiger Besuch und rege Mitarbeit ser geselligen und gesellschaftlichen Auf- testen Vertreter tollten am tollsten. Verbrü- tut not im Sinne nationalsozialistischer machung für die vielen Kollegen, die im- derung wurde zwischen Provinz und Stadt Weltanschauung zum Dienste an des Vol- mer noch beiseite stehen, die beste Gele- geschlossen. kes Gesundheit. genheit zu zeigen, daß auch sie den Mit Blick auf das entstehende Ärztehaus Im Laufe der 1930er-Jahre ging die Zahl Wunsch und die Sehnsucht haben, mit Hessen-Nassau in Frankfurt/M. und zu- der Freizeitveranstaltungen zurück und in Jung und Alt der neuen Zeit in Berührung gleich metaphorisch schrieb Strebel der Kriegszeit wurden im „Ärzteblatt für zu kommen und fördernden Meinungsaus- 1934 weiter: Hessen“ keine eigenen Feste oder Ausstel- tausch zu pflegen. Das Fest der deutschen Aerzte ist gleichsam lungen mehr beworben. Regelmäßig an- Im Rückblick auf das Fest im Jahr 1935 als das Richtfest für den Umbau des Hauses gekündigt wurden nur noch fachspezifi- schrieb das „Ärzteblatt für Hessen“: der deutschen Aerzte aufzufassen. (...) Da- sche und parteipolitische Vorträge. Einzig

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im Jahr 1940 wird für das Kulturpro- Mit gebündelten Kräften wollte man sich schaft öffentlichen Rechts zog sich jedoch gramm der NS-Organisation „Kraft durch nicht nur gegen die amerikanischen Pläne bis in den November 1954 hin, als das Land Freude“ geworben: bezüglich der Ärztekammern zur Wehr Hessen die gesetzlichen Grundlagen für die Trotz des Ernstes der Zeit findet so die deut- setzen, sondern auch dem hessischen In- Einrichtung von solchen Körperschaften ge- sche Kultur im Rhein-Main-Gebiet eine be- nenministerium Paroli bieten, das sich schaffen hatte. Der Weg zur Gründung einer merkenswerte und vorbildliche Pflege. weitgehende Befugnisse in der Frage der hessischen Landesärztekammer in der von Niederlassung von Ärzten sichern wollte. der Ärzteschaft gewünschten Form war nun 1945 – „Stunde Null“ Erster Präsident der „Ärzteschaft Groß- möglich und im März 1956 nahm die neue der hessischen Ärzteschaft? Hessen“ war von Dezember 1945 bis Juli Kammer ihre Arbeit auf. 1946 der Leiter der Ärztekammer Kassel, Hatte nun die hessische Ärzteschaft 1945 Die frühe Nachkriegszeit Dr. med. Paul Hofmann, der während der ihre „Stunde Null“ erlebt? Die Antwort Folgt man der Selbstdarstellung der Ärzte- Novemberpogrome 1938 vorübergehend bleibt widersprüchlich, weil es trotz Entna- schaft Hessens, so nahm diese unverzüglich ins KZ Buchenwald verschleppt worden zifizierung weiterhin personelle Kontinuitä- nach Kriegsende die wichtige Aufgabe auf war – dem Quellenmaterial nach handelte ten in den Standesorganisationen gab. Die sich, die medizinische Versorgung der Be- es sich bei Hofmann um einen zum evange- Reichsärzteordnung von 1935 – so wurde völkerung unter katastrophalen Umständen lischen Glauben konvertierten deutschen argumentiert – sei ja schon in der Weima- aufrecht zu erhalten. Dabei hatte sie mit Juden. Interessant ist: In der heutigen Lan- rer Republik vorbereitet worden und müsse zahlreichen Problemen zu kämpfen – so desärztekammer ist Hofmanns Hinter- nur vom NS-Vokabular bereinigt werden. zum Beispiel mit der US-Militärregierung, grund als „rassisch verfolgter Christ“, wie Und auch die Euthanasie-Verbrechen des die Ärztekammern als Körperschaft des öf- er in einem Schreiben der „Hilfsstelle für NS-Staats wurden in eine Tradition gestellt, fentlichen Rechts abschaffen wollte, eine rassisch verfolgte Christen“ von 1948 ein- die weltweit schon lange vor 1933 Eutha- umfangreiche Entnazifizierung der Ärzte- gestuft wurde, weitgehend unbekannt. nasie und Sterilisierungen propagiert hatte. schaft veranlasste und damit aus ärztlicher Hofmann verfolgte ein eigenes Konzept zur Sicht nicht nur die medizinische Versorgung Neugestaltung der Kammerstrukturen. Sein Dr. med. Carl Oelemann der Bevölkerung gefährdete, sondern auch Ziel war die Schaffung einer „Ärzteschaft“, (1886 bis 1960) – Der zweite den medizinischen Notstand riskierte. die wie eine Gewerkschaft funktionieren Präsident der Ärzteschaft Die Warnung vor diesem Notstand findet und aus Ärztekammer und Kassenärztlicher in Hessen nach 1945 sich wiederholt im Nachlass von Dr. med. Vereinigung bestehen sollte. Weder bei den Carl Oelemann, dem zweiten Präsidenten ärztlichen Kollegen noch bei den zuständi- Ein idealer Präsident? der Ärzteschaft Hessens nach 1945. Stets gen hessischen Ministerien konnte er sich Wer den Eingangsbereich der Zentrale der lehnten es deren Funktionäre ab, die Verant- jedoch mit diesen Plänen durchsetzen. Im Landesärztekammer Hessen in Frank- wortung für die Folgen zu übernehmen, Juli 1946 legte Hofmann sein Amt nieder; furt/M. betritt, kann nur schwer das rechter wenn sie nicht ausreichend mit Autos, Reifen Nachfolger wurde Carl Oelemann. Hand über einer Sitzgruppe platzierte Foto- und Benzin, mit Genehmigungen zur Nut- portrait von Dr. med. Carl Oelemann, des zung alliierter D-Züge oder mit Sonntags- 1946–1956: Der lange Weg zur Landes- Präsidenten der Ärzteschaft (Groß-)Hes- und Nachtfahrtgenehmigungen ausgestattet ärztekammer Hessen sens von 1946–1956, übersehen. Ein gütig würden, um ihre Patienten versorgen oder Unter Oelemann bemühte sich die hessi- dreinblickender älterer Herr im Halbprofil, interzonale Treffen der westdeutschen Ärz- sche Ärzteschaft weiterhin darum, ein ei- geschmückt mit der 1956 an ihn verliehe- tekammern besuchen zu können. Aber auch genes hessisches Ärztegesetz zu errei- nen Paracelsus-Medaille, bietet sich dem die Ausstattung der Praxen und Kliniken mit chen, mit dem ihre Rechtsstellung gesi- Anblick des Betrachters dar, das Idealbild ei- Medikamenten und dem notwendigen Mate- chert würde. 1947 wurde in Bad Nauheim nes deutschen Arztes. Und für die Ärzte- rial zur Patientenversorgung gestaltete sich die „Arbeitsgemeinschaft Westdeutscher schaft des Jahres 1946 schien Oelemann in äußerst schwierig, ganz zu schweigen von Ärztekammern“ gegründet (die Vorläu- der Tat eine Idealbesetzung für den Posten der Frage, in welchen Räumlichkeiten man im ferorganisation der heutigen Bundesärz- des Präsidenten zu sein, auf dem er in den kriegszerstörten Deutschland praktizieren tekammer) und Oelemann zu deren Vor- Folgejahren federführend an der Entwick- sollte. Vor diesem Hintergrund ist es in der sitzenden gewählt. Mit der Arbeitsge- lung und Etablierung der Hessischen Ärzte- Tat ein Verdienst der hessischen Ärzteschaft, meinschaft wollte man die einheitliche kammer und der „Arbeitsgemeinschaft der dass die medizinische Versorgung aufrecht Neugründung von Kammerstrukturen auf Westdeutschen Ärztekammern“ beteiligt erhalten werden konnte. Bundesebene vorantreiben. Bad Nauheim war. Oelemann hatte schon vor 1933 Erfah- Schon im Dezember 1945 wurde zeit- wurde damit vorübergehend zur „Haupt- rungen als Standespolitiker sammeln kön- gleich mit der Errichtung des Landes stadt“ der westdeutschen Ärzteschaft. nen und galt als politisch unbelastet, da er Groß-Hessen (ab 1946 dann Hessen) die 1949 wurde eine „Landesärztekammer Hes- nicht der NSDAP oder einer ihrer Gliederun- groß-hessische Ärzteschaft gegründet. sen“ als eingetragener Verein gegründet, gen angehört hatte. Zugleich wurde er auch Ab 1946/47 wird diese in den Quellen als dem Oelemann ebenfalls als Präsident vor- von vielen als Opfer des NS-Regimes ange- Ärzteschaft/Ärztekammer oder auch als stand. Der Kampf für die Einrichtung einer sehen, da ihm 1933 wegen widerständigen Landesärztekammer Hessen bezeichnet. hessischen Landesärztekammer als Körper- Verhaltens die Schriftleitung des „Hessi-

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tung von belasteten und in die verbrecheri- sche NS-Politik involvierten Ärzten und setzte sich in mindestens einem Fall direkt bei der amerikanischen Militärregierung

Foto: Katja Möhrle Katja Foto: für Kollegen ein, die als Mitläufer des NS- Regimes eingestuft worden waren. 1948 bezeichnete er die Entnazifizierung als „Tragikomödie“, deren Ende ein Glück sei: Man hat leider den armen, kleinen Mitläu- fern im Anfang arg mitgespielt, während ei- ne grosse Anzahl Schuldiger jetzt durch die Maschen schlüpfen (...). Schon 1933 hatte Oelemann, noch als Schriftleiter des damaligen Hessischen Ärzte- Forschungen zur Geschichte, um die Gegenwart besser zu verstehen: Prof. Dr. Benno Hafeneger, Lucas blattes, von „reinen Zielen des Nationalsozia- Frings, Marcus Velke, Dr. med. Siegmund Drexler (von links) lismus“ gesprochen. 1946 ging er für eine Partei aus dem nationalkonservativ-rechtsra- dikalen Spektrum, die in ihrem Wahlpro- schen Ärzteblattes“ entzogen worden war. Die (medizinische) NS-Vergangenheit gramm um die Stimmen von Menschen warb, In einem Lebenslauf zum Militärfragebogen, in Hessen die wegen vermeintlich guter Ziele des Natio- den Oelemann nach 1945 auszufüllen hatte, Als Präsident der Ärzteschaft (Groß-)Hes- nalsozialismus der NSDAP beigetreten waren, stellte er seine widerständische Tätigkeit sens und Vorsitzender der Arbeitsgemein- in den Bad Nauheimer Stadtrat, während er mit folgenden Worten dar: schaft Westdeutscher Ärztekammern pfleg- sich zugleich im Einzelfall für als Mitläufer ein- Als 1933 nach der Machtergreifung der te Oelemann auch Korrespondenz und Um- gestufte ärztliche Kollegen einsetzte. Schriftleiter des Nationalsozialistischen Ärz- gang mit NS-belasteten Standespolitikern Zum jetzigen Zeitpunkt ist es sicherlich noch teblattes alle Einrichtungen und verdienten wie zum Beispiel Dr. med. Karl Haedenkamp zu früh, zu einer abschließenden Einschät- Ärzte der Weimarer Republik in gröbster Wei- (1889–1955), der seit 1947 in der Arbeits- zung Oelemanns zu kommen. Es deutet sich se angriff und mit Schmutz bewarf, habe ich gemeinschaft als Geschäftsführer in Bad jedoch aufgrund des Quellenmaterials an, in energischer Weise in dem damals noch von Nauheim aktiv war. Haedenkamp hatte als dass das bisherige von Oelemann sehr mir geleiteten Hessischen Ärzteblatt dagegen Schriftleiter des Deutschen Ärzteblattes ab facettenreich ist und korrigiert werden muss. protestiert, was ein Strafverfahren gegen 1933 antisemitische Artikel veröffentlicht, er mich zur Folge hatte. Ich wurde wegen Beleidi- war Leiter der Auslandsabteilung der Reichs- Prof. Dr. phil. Benno Hafeneger, gung der Partei angeklagt und vor einem Ge- ärztekammer und hatte die erste Audienz Marcus Velke, Lucas Frings richt nationalsozialistischer Ärzte unter Vor- der damaligen Führungskräfte der Ärzte- sitz des stellvertretenden Reichsärzteführers schaft bei Hitler mitorganisiert. Da er 1939 Titelbild: Repro im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt in Frankfurt (...) verhört. Man konnte mir je- wegen Differenzen mit dem Reichsärztefüh- doch nicht beikommen, sodass der Wunsch, rer Dr. med. Leonardo Conti aus der Reichs- Beirat mich ins KZ zu bringen, nicht in Erfüllung ärztekammer ausscheiden musste, galt auch des Forschungsprojektes ging. Ich bin auch in den folgenden Jahren Haedenkamp als Opfer des NS-Regimes. Die Dr. med. Siegmund Drexler (Vorsitzender) ständig in Kampfstellung gewesen (...) Eine eher großzügige Entnazifizierungspraxis in Dr. med. Alfred Möhrle Meldung für den nationalsozialistischen Ärz- der britischen Besatzungszone, in der Hae- Dr. med. Roland Kaiser tebund erfolgte nur, um den Kreisobmann die- denkamp sich 1945 aufgehalten hatte, tat Sabine Goldschmidt M.A. ses Ärzteverbandes, der zugleich Schriftleiter ein Übriges, um ihn schnell als rehabilitiert Olaf Bender des Nationalsozialistischen Ärzteblattes war, erscheinen zu lassen. 1948 holte ihn seine im eigenen Lager zu bekämpfen. Ich wurde Vergangenheit jedoch noch einmal ein, als selbstverständlich nicht aufgenommen (...). Dr. med. Paul Hofmann, der erste Präsident In der Zeit von 1946 bis 1948 engagierte der Ärzteschaft Groß-Hessens von Dezem- Impressum sich Oelemann in der Bad Nauheimer Lo- ber 1945 bis Juli 1946, die „Causa Haeden- Hessisches Ärzteblatt kalpolitik. Für die „Gruppe der Kurinteres- kamp“ im Beratungsausschuss der Arbeits- Herausgeber: Landesärztekammer Hessen sierten/Nationaldemokratische Partei gemeinschaft behandelt sehen wollte. Die Im Vogelsgesang 3, 60488 Frankfurt/M. (NDP)“ zog Oelemann in den dortigen Angelegenheit verlief jedoch im Sande, wo- Verantwortlicher Redakteur (i.S.d. Presse- Stadtrat ein und wurde deren Fraktions- bei Oelemann Hofmann brieflich darauf hin- rechts): Dr. med. Peter Zürner, vorsitzender. Die NDP gehörte – so die wies, dass doch zahlreiche Entlastungzeugen Mitglied des Präsidiums der LÄK Hessen Forschung zur Geschichte des Rechtsex- zugunsten Haedenkamps ausgesagt hätten. Verlag: Deutscher Ärzte-Verlag GmbH tremismus nach 1945 – zu den rechtsex- Oelemann beteiligte sich als Präsident der Dieselstraße 2, 50859 Köln tremen Splitterparteien in Hessen. Ärzteschaft (Groß-)Hessens an der Entlas-

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