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Die politische Nr. 371/Oktober 2000 Meinung

Die Wiederkehr des Gleichen – oder:Die Literatur entlässt ihre Kinder Schreiben im Herzen Europas

Wolf Scheller

Eigentlich war die Gelegenheit günstig. Da- Jahren nicht viel zu spüren. In der deutsch- mals, im deutschen Wendejahr 1989. Wir sprachigen Literatur, im Herzen Europas schreiben den vierten November: Bei den also, bewegen sich die Autoren keineswegs tausenden auf dem Alexanderplatz zu Ber- in den Sphären frommer Huldigung. Die lin brandet Beifall auf. Der alte Mann auf der fortschreitende Säkularisierung und auch Rednertribüne ähnelt dem blinden Teresias Banalisierung des kulturellen Umraums hat – und er ist sichtlich gerührt, als er in die win- die Schriftsteller als einstiges Personal der terkalte Luft ruft: „Es ist, als habe einer die Heilsgeschichte eher überflüssig gemacht, Fenster aufgestoßen nach all den Jahren zumindest aber hart an den Rand gedrängt. [. . .] von Dumpfheit und Mief, von Phrasen- Die Rolle des Repräsentanten – oder gar des gewäsch und bürokratischer Willkür, von moralischen Gewissens – können und wol- amtlicher Blindheit und Taubheit.“ Der len sie nicht spielen. Sie ist in der deutsch- Schriftsteller als Volkstribun auf der Rostra sprachigen Literatur übrigens nur ganz sel- der Politik. Stefan Heym, der greise Nestor ten zur Aufführung gelangt. Gerhart Haupt- der einstigen DDR-Literatur, meldet sich in mann und waren wohl die der Stunde des Aufbruchs, des Visionären Letzten, die sich in dieser Funktion einrich- zu Wort. Nach ihm sprechen , ten konnten, ohne freilich irgendein öffent- Heiner Müller, und Volker liches Amt anzustreben. Aber heute? Weder Braun. Als Unbefleckte, von keinerlei Makel in Deutschland noch in der Schweiz oder in entehrt, erscheinen sie den Demonstranten Österreich hat es nach dem Zweiten Welt- auf dem Alex als Künder einer neuen Zeit. krieg Fälle von ähnlicher Parallelität gege- Von hier und heute schien etwas Neues aus- ben. Wäre vielleicht ein zugehen, das durch jene zuerst vertreten in Amt und Würden am Wiener Ballhaus- wird, denen man die Kraft des Wortes und platz vorstellbar gewesen, ein moralische Glaubwürdigkeit am ehesten oder ein Dürrenmatt im Berner Regierungs- zumisst. Was für eine Chance. Die Schrift- amt – oder ein Heinrich Böll als Minister in steller als Repräsentanten und Stimme des Bonn? Das wäre wohl nur zum Trauerspiel Volkes. vor Flusslandschaft geraten. Schließlich, so argumentiert etwa Walter Dennoch hatte die Stimme dieser Schrift- Jens, gehört die Verteidigung der Moral zu steller Gewicht, und vielen gilt ihr Wort noch den vornehmen Aufgaben der Schriftsteller. heute als Ausdruck intellektueller Redlich- Doch von alledem war in den folgenden keit und moralischer Gewissenhaftigkeit.

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Diese Tradition, auch in der Teilhabe an der noch ihre Romane, zeigen sie nicht als eine politischen Debatte, setzen in Deutschland Pappsäulenheilige der Literatur, sondern vorrangig Autoren wie Günter Grass und als eine zutiefst österreichische Autorin, die fort. Grass begreift sich als ein ihre Hassliebe zu ihrem Land ständig pflegt engagierter Citoyen, als Verfassungspatriot. und runderneuert. Dieser Hass auf alles, was Walser hingegen hat dem Geist der Utopie man gemeinhin mit Austria verbindet, ist ge- abgeschworen und entdeckte im Dunst- wissermaßen der Steinbruch, aus dem sie kreis der heraufdämmernden Wende räubert, und zudem die wesentliche Kon- Deutschland und die deutsche Nation für dition für das Schreiben vieler österreichi- sich. Hatte sich der einstige DKP-Sympathi- scher Autoren – von Bernhard zu Peter sant damit als ein heimlicher Deutschnatio- Handke, von Peter Turrini zu Gerhard Roth. naler entlarvt, wie manche seiner ehemali- Was diese Autoren eint, ist nicht nur die gen Gefährten wähnten? Oder sprach da Angst, auf Dauer irgendwann dann doch nicht eher einer, der zur Unabhängigkeit sei- von ihren Landsleuten eingemeindet zu nes Urteilsvermögens zurückgekehrt war, werden, sondern der tief sitzende Ekel ge- ein Schriftsteller und Intellektueller, der genüber dem literarischen „Schimpfland sich mit der ihm eigenen Gabe des Nach- Österreich“. denkens in die politische Debatte der Ge- Eine gewisse Ausnahme bilden so unter- genwart einzumischen versuchte? schiedliche Autoren wie Christoph Rans- In der Schweiz ist die Situation anders. Zwar mayr oder der mit dem Büchner-Preis ge- sind die Zeiten von Frisch und Dürrenmatt ehrte Hans Carl Artmann. Ransmayr hat sich vorbei. Aber Autoren wie und nach Irland zurückgezogen, H. C. Artmann Kurt Marti haben – bei allem Ärger über die ist zu alt und zu krank, um sich noch mit unheilige Allianz von Politik, Armee und Elan an dieser Auseinandersetzung zu be- großem Geld – ihren deutschen „Kollegen“ teiligen. etwas Wesentliches voraus, nämlich das Ge- fühl: Das ist unser Land. In der gegenwärti- Abgekoppelte Ästhetik? gen Literatur der Bundesrepublik findet man diese Identifikation noch seltener als Freilich: Die Zeiten, in denen Fragen der li- vor der Wende. terarischen Ästhetik noch als brisant und hoch politisch verstanden wurden, sind vor- erst passé. Stattdessen wird beides sogleich „Literarisches Schimpfland“ voneinander getrennt. Der Treuhand-Ro- Doch nirgendwo im deutschsprachigen man Ein weites Feld von Günter Grass wurde Raum werden unliebsame Autoren so ange- erst gar nicht unter ästhetischen Gesichts- feindet und geschmäht, wie dies in Öster- punkten kritisiert. Anstößig war allein die reich seit den Anfängen der Haider-Bewe- These des Autors, dass die Wiedervereini- gung an der Tagesordnung ist. Keine Frage: gung Deutschlands zu schnell und unter Im Zentrum dieser wütenden Attacken steht Missachtung verfassungsrechtlicher Beden- mit einem Werk, das der ken erfolgt sei. Grass erging es hier wie mit Sehnsucht nach einer neuen Einfachheit seiner Rättin: Das literarische Element, die und Leichtigkeit des Schreibens entschie- eigentliche Leistung des Schriftstellers, den widerspricht. Ihre Theaterstücke, mehr zählte nicht. Er stand querköpfig mit seiner

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Kritik im Wege, also durfte er verrissen wer- Jahre beobachten lässt. Also die Wieder- den. Der Kritiker als Reißwolf. Auch das gab kehr des Erzählens, mehr als zwei Jahr- es. zehnte nach der „Exekution des Erzählers“ Ähnlich gelagert, wenn auch längst nicht so – so 1972 der Literaturtheoretiker Kurt Batt spektakulär, die Kritik an Walsers Roman aus der DDR? Darauf mit Ja, also mit einer aus dem Dschungel der hessischen Ministe- gewissen Eindeutigkeit, zu antworten fällt rialbürokratie Finks Krieg.„Dumpfdeutsche nicht leicht. Autoren der so genannten mitt- Fieberfantasien“ wurden da ausgemacht. leren Generation – wie etwa Kaum einer ging auf die erzählerische Kon- oder Botho Strauß – haben ihre fest kon- struktion ein, auf Walsers Kompositions- turierten Gemeinden, denen sie als dich- technik. In Deutschland werden Bücher tende Hohepriester ihren Zaubertrank in- solcher Autoren zunächst einmal politisch nerlichster Weltverzagtheit verabreichen. „gemessen“. Da wirkt der Ruf nach dem Um Anerkennungskämpfe brauchen sie „Wenderoman“, die Aufforderung an die sich längst nicht mehr zu kümmern, das deutschsprachigen Autoren, nun endlich überlassen sie jüngeren Autoren. Nur sind wieder Geschichten zu erzählen, die Leser Handke und Strauß nicht repräsentativ mit guten Storys aus dem bunten Leben zu für die Standards deutschsprachiger Litera- unterhalten, eher komisch. tur. Nehmen wir zum Beispiel die Schweiz, ih- ren deutschsprachigen Teil. Fachleute wie Geisteskämpfe als Show-down aus Zürich sagen: In der Aber das ist nicht ein Problem der Literatur, Schweiz gibt es besonders viele Schriftstel- sondern eines des Feuilletons, dessen große ler. Und das ist strukturell bedingt. Es wird Stunde spätestens mit den achtziger Jahren hier mehr geschrieben als in anderen Län- zu Ende ging, also mit dem Zeitalter Um- dern. Im Ernst aber kann man die literari- berto Ecos und Richard von Weizsäckers. sche Produktion der deutschsprachigen Seitdem macht sich eine gewisse intellektu- Schweiz der Größenordnung nach allen- elle Erschöpfung bemerkbar. Tauchen ir- falls mit der von Baden-Württemberg ver- gendwo am Horizont Ausläufer medien- gleichen, und da schneiden die Schweizer wirksamer Debatten auf, werden sogleich allerdings weitaus besser ab. die üblichen Verdächtigen unter den Woran aber liegt das? Haben die Schweizer Schriftstellern zur Aktualität befragt – und ein ursprünglicheres Verhältnis zu literari- die reagieren zumeist mit Pawlowschem Re- schen Ausdrucksweisen, eine tiefere flex. So geraten die Geisteskämpfe zum ritu- Sprachreflexion? Oder leiden sie vielleicht ellen Show-down der Vorleser und Vorkriti- intensiver an ihrer Existenz und drängen da- ker, von deren Clownerie und Klamauk- her heftiger zum literarischen Ausdruck? gehabe auch die Einschaltquote des „Lite- Und was – bitteschön – ist das spezifisch rarischen Quartetts“ profitiert. Schweizerische an dieser Literatur, an ihrer Dennoch ist die Literatur damit keineswegs Themenwahl, an Stil und Motivik? Alles nur abgeschafft. Aber ihr politischer Gestus ist aus dem Geist des Zürcher Stadtschreibers in den Hintergrund getreten, eine Entwick- ? Peter von Matt immerhin lung, die sich unisono in der deutschspra- hat gemeinsame Linien in Lebenslauf und chigen Literatur seit Ende der achtziger Texten einer Reihe von Schweizer Autoren

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ausgemacht. Er spricht von der „Zirkelexis- ratur nicht mehr heraus aus der Krise. Die tenz“ der Schweizer Schriftsteller. Aber die kommt und geht, wie sie will oder wie die Schweizer Literatur hat es nie gegeben. Im- Zeitläufte es diktieren. mer dominierte im Alpenstaat der Plural der Mögen da andere Unvernünftiges treiben, Literaturen, ganz zu schweigen von den Im- in Österreich wird vieles, das Meiste jeden- migranten, deren Literatur inzwischen zum falls, auf eigene Weise geregelt. Im Europa festen Bestand des Deutschschweizeri- der fünfzehn ist Austria wieder näher an den schen gehört. Also Namen wie Dante An- großen Nachbarn Deutschland herange- drea Franzetti, Friederike Kretzen, Christina rückt. Doch allzu enge Nachbarschaft muss Viragh, oder Erica Pe- nicht demonstriert werden, auch wenn dretti. Vielleicht ist doch etwas dran – an der in seiner berühm- These von der „Zirkelexistenz“. Immerhin ten Rede von 1927 an der Münchner Univer- steht es um den Ruf der Schweiz nicht mehr sität vom „geistigen Anhangen“ sprach. So so gut wie noch vor Jahren. Der Bankenstaat genau darf man das heute nicht nehmen. nähert sich da gefährlich Österreichs Aura. Die Nazi-Periode hat auch diesen Zusam- Von einer Nationalliteratur kann aber we- menhang zerstört. Geblieben ist auf beiden der in dem einen noch in dem anderen Fall Seiten die Erfahrung: Die Österreicher sind die Rede sein. Der gemeinsame Nenner ist eben doch anders. Das fängt bei den Intel- die deutsche Sprache, mehr nicht. lektuellen an, deren Entwicklung nach dem „Wenn man dem Leser entgegenkommt, Untergang des alten Habsburgerreiches kommt man ihm nicht entgegen.“ Dieser eine überaus kreative Phase erlebte. schöne Aphorismus von Christoph Geiser Schnitzler und Musil, Broch und Roth, Do- bezeichnet im Ungefähren die Position der derer und Canetti. Oder in der Philosophie: mittleren Generation unter den Schweizer Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein, Moritz Autoren. „Klangflut“, „Stauraum der Rede“ Schlick und die gesamte Wiener Schule. – man bewegt sich mit Lust an der Grenze Nach 1945 indes stellte sich im Unterschied des Sagbaren, das Ausrutschen auf dem Par- zu den zwanziger und dreißiger Jahren kett ist relativ ungefährlich, das gute Erzäh- schon die Frage, ob mit der politischen Iden- len zählt, nicht die Freude am Angriff und tität der Zweiten Republik auch eine eigen- schon gar nicht der politische Diskurs. Adolf ständige „österreichische Literatur“, eine ei- Muschg und Thomas Hürlimann mögen gene Intellektualität, entstanden war. hier die berühmte Ausnahmeerscheinung verkörpern, repräsentativ sind sie damit Reservat des Politischen aber keineswegs. Wiederkehr des Gleichen, als wäre nichts gewesen, heißt das: Die lite- Österreichs Literatur ist nirgendwo bekann- rarische Irreligiosität, der literarische Glau- ter als in Deutschland. Michael Scharang hat benszweifel, das Unbehagen in der Litera- dieser Umstand zu der treffenden Bemer- tur verdankt sich einer Verfallsgeschichte kung veranlasst: „Der absurde Auftritt Öster- der Literatur selbst? reichs als Vaterland der österreichischen Li- Es ist wahr: Die deutschsprachige Literatur teratur prolongiert zwangsläufig das Mandat hat in den fünfziger Jahren eine Blütezeit er- Deutschlands als deren Mutterland um wei- lebt. Aber seit 1968, so das einhellige Dik- tere hundert Jahre . . .“ Dabei verfügt der Al- tum der meisten Kritiker, kommt diese Lite- penstaat über ein beachtliches Reservoir

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von Autoren, deren Bedeutung unstrittig ist: deutendste Dramatikerin deutscher Spra- Neben Peter Handke und Thomas Bernhard che. Ihr Werk spiegelt das Unbehagen an ei- ist vor allem Elfriede Jelinek zu nennen, die ner Gesellschaft, deren Protagonisten mit daheim wenigstens ebenso unbeliebt ist wie bubenhaftem Trotz alles abzulehnen schei- seinerzeit Bernhard, ihrem Land ihrerseits nen, was irgendwie mit Literatur zu tun hat. in innigem Hass zugetan. Josef Haslinger Die gegenseitige Abneigung evoziert und und Gerhard Roth, Robert Schindel, Ernst verankert den Hass als Selbsthass und wird Herbeck und Milo Dor – die Liste namhaf- somit zum Spezifikum dieses Seitentriebs ter Schriftsteller ließe sich mühelos fortset- der deutschsprachigen Literatur. zen. Man denke nur an einen Sprachjong- leur wie , auch er ein Dichter, Magier und Wahrheitssucher mehr ein dialektischer Zauberer, ein Silben- stecher, der die weichzeichnende Literatur Politik oder Literatur? Das ist nicht die Alter- früh verlassen hat: lichtung / manche mei- native, der sich Autoren heute in der nen / lechts und rinks / kann man nicht / vel- Schweiz, in Österreich und in Deutschland wechsern. / werch ein illtum! gegenübersehen. Martin Walser und Günter Weil sich Österreichs Schriftsteller weitaus Grass – so verschieden beide auch sind –, heftiger an ihrer Heimat reiben als Schwei- in einem wichtigen Punkt stimmen sie über- zer und bundesdeutsche, hat das Politische ein: in der Ablehnung literarischer Kritik sich in den Texten behaupten können. Das nach Maßgabe politischer Verhaltenswei- offenbar macht sie für den deutschen Nach- sen. Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Oder barn auch so interessant, auch wenn sich – wie Botho Strauß formuliert hat: „Parado- daraus wiederum auf österreichischer Seite xerweise wäre gerade dies, auf dem Höhe- gelegentlich so etwas wie eine koloniale punkt der Unerheblichkeit seiner Existenz, Zwangsneurose ergibt. Vielleicht aber han- die Stunde des Dichters. Nichts könnte jetzt delt es sich bei Austria um ein Land, das so vorbildlicher wirken als die Begabung, mit unerkennbar ist wie das Antlitz seiner Lieb- seiner Zeit zu brechen und die Fesseln der lingskaiserin Sissi, die im Alter ihr Gesicht totalen Gegenwart zu sprengen.“ Da klingt stets hinter einem Fächer verbarg. Den der Ton vornehm und dunkel zugleich: Der Österreichern gilt es etwa als typisch preu- Dichter soll sich aus den Niederungen der ßische Unverschämtheit zu behaupten, in totalen Entmythologisierung des Schrei- Haider-Land stünden Zwerge heute auf den bens erneut erheben. Der Schriftsteller wie- Schultern von Riesen – immerhin ein litera- derum als Magier, der Dichter als Wahrheits- rischer Hinweis. „Österreich, das einzige sucher. Aber die Beschwörung solchen Au- Nachbarland der Welt . . .“ Oder wie - ßenseitertums bleibt die Sache weniger hard gesagt hat: „In Wien ist es im März noch Auserwählter. tiefer Winter. Ende Jänner sagen die Wiener Die anderen – Martin Walser an der Spitze, schon: Es ist Frühling, aber noch Ende März aber auch Urs Jaeggi, F. C. Delius oder Eva ist es tiefer Winter.“ Demski – schrieben viele ihrer Bücher aus War in den sechziger sozialkritischer Menschenfreundlichkeit. Jahren die lyrische Sprecherin einer ganzen Das war der Mainstream bis weit in die acht- Generation, so kann man diesen Platz heute ziger Jahre hinein, und noch ist nicht ent- nur Elfriede Jelinek zuweisen. Sie ist die be- schieden, ob das Erzählen sich wieder

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durchsetzen kann. Walsers jüngster Roman deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu- weist jedenfalls in diese Richtung. Der „Ro- gehörig sind. Stilprägende Nachfolger ha- man als die Geschichtsschreibung des All- ben sie nicht bekommen. tags“ (Walser) ist zum Erzählprogramm Vor 27 Jahren hat Böll als erster deutscher deutscher Wirklichkeit geworden. Walser Autor nach dem Krieg den Literaturnobel- steht mithin in deutlichem Gegensatz zu preis bekommen. Nelly Sachs, Canetti und Handke und Strauß, die Größe durch Ab- wären da in ähnlicher Pro- sonderung, Wesentlichkeit durch Einsam- portion zu nennen, ihnen gemeinsam war keit, Eigentlichkeit statt Zerstreuung als ihr aber „nur“ die Sprache, nicht die staatliche Programm projektieren. Der Erzähler vom Zugehörigkeit. Günter Grass ist also jetzt der Bodensee bleibt der Gegenwart und ihrer zweite Deutsche mit „Nobelwürden“, und Analyse verhaftet. Wo andere flinke und ein- es gibt nicht wenige, die der Ansicht sind, fache Antworten parat haben, dort beginnt er hätte diesen Preis schon viel früher be- Walser erst mit komplexen und komplizier- kommen müssen, etwa zu Beginn der sech- ten Fragen. Früher als andere hat Walser ziger Jahre, als der junge Mann aus Danzig eine kulturelle Einheit zwischen der Bun- mit dem gewaltigen Schnäuzer seinen Welt- desrepublik und der DDR gedacht. Ein „Kul- erfolg vom Glas zertrommelnden Gnom Os- turschutzgebiet“ ist die DDR für Walser nie kar Matzerath gelandet hatte. So viel ist rich- gewesen. Das hat ihn, den einstmals Linken, tig: Grass, der damals gerade auch dabei für viele in den Kreis der üblichen Verdäch- war, seine „Großfamilie“ aufzubauen, hätte tigen gestellt. Seinem Schreiben hat das das Geld gut gebrauchen können. Aber die nicht geschadet – im Gegenteil. Wie sich Geschichte verlief auch in diesem Fall an- überhaupt sagen lässt, dass in der deutsch- ders. Grass wurde zum Enfant terrible der sprachigen Gegenwartsliteratur das Strittige bundesdeutschen Literaturszene, avan- häufig die Lebhaftigkeit befördert. cierte zum personifizierten Feindbild im Über die Qualität der deutschsprachigen Adenauerstaat und entpuppte sich alsbald Gegenwartsliteratur wird immer wieder von als sozialdemokratischer Schönredner, der neuem gestritten. Allseits sei eine „globale fröhlich und unbeirrt sein „Ich rat euch, SPD Unfähigkeit zu erzählen“, eine grassierende zu wählen!“ in die Landschaft krähte. Ein „Talentschwäche“ zu beobachten, wie paar Jahrzehnte später – der Blechtromm- manche Kritiker behaupten. Daran mag ei- ler war inzwischen zum weltberühmten niges richtig sein, aber solche Massendiag- Autor geworden, dem Time eine Titel- nosen treffen nur das Ungefähre. Immerhin geschichte widmete – kletterte sein Hahn konstatieren nicht wenige auch eine Viel- vom Misthaufen herab. Grass trennte sich zahl empfehlenswerter Bücher. Eine lite- von seiner Partei, weil die Sozialdemokra- rarische Tendenz zum Guten oder Schlech- ten im Vorgriff auf eine große Koalition der ten lässt sich eindeutig jedenfalls nicht er- Kohlschen Asylgesetzgebung zugestimmt kennen. Freilich: Werke von Weltrang las- hatten. Gleichwohl aber blieb Grass dem sen sich in dieser Gegenwartsliteratur auch reformerischen Flügel der SPD bis heute nicht finden. Vergleiche mit der „guten al- verbunden. Der Dramatiker Heiner Müller ten Zeit“ helfen da nicht weiter. Blechtrom- meinte nach dem Zusammenbruch der mel, Gantenbein, Physiker, Gruppenbild mit DDR, eines der Ergebnisse ihrer Politik sei Dame – dies sind Titel, die der Blütezeit der die Trennung der Künstler von der Bevölke-

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rung durch Privilegien gewesen. Eine nen- im deutschsprachigen Raum ebenso unge- nenswerte Mehrheit der deutschsprachi- wöhnliche Doppelnatur hat Grass zu dem gen Autoren hat mit der Politik, mit dem gemacht, was er ist: ein Aufklärer und links- Staat, überhaupt nichts im Sinn. Die Gründe liberaler Widerspruchsgeist, unbequem, hierfür sind vielfältiger Natur. Die Fantasie störrisch oft und längst nicht immer auf an die Macht – das blieb auch in der Litera- der Höhe des wünschenswerten Informati- tur die Parole weit über das Revoltejahr 68 onsstandes, verquer mitunter, aber aufrich- hinaus. Andere, die vom Zusammenbruch tig und geradlinig, dem Einspruch ver- des kommunistischen Systems in Europa pflichtet, einer, der sich nicht zurück- oder überrascht wurden, sahen sich am Ende heraushalten will – und es auch nicht auch der eigenen Hoffnungen angelangt. kann. Ihre Fähigkeit als vermeintliche Seher und Auch Böll war – wie übrigens Max Frisch – Vorausdenker schien durch die Ereignisse ein durchaus parteiischer Intellektueller. diskreditiert. Am heftigsten artikulierte Natürlich fuhr ein mit dem Grass den inneren Zwiespalt. Er malte nicht Kanzler Brandt nach Warschau, und natür- nur das Schreckgespenst eines neuen lich reiste Helmut Schmidt in der Begleitung „Großdeutschlands“ an die Wand. Es war von Max Frisch nach China. Das aber waren das System insgesamt, gegen das er anre- die siebziger Jahre. Wer in der Literatur auf dete, das kapitalistische westliche System, sich hielt, äußerte sich gefragt oder unge- das ihm zuwider war und verdächtig er- fragt zu den verschiedensten Themen der schien. Enttäuschung auch hier. Die aktuellen Tagespolitik. Und die Medien Stimme von Günter Grass, dem einzigen le- spielten hoch erfreut mit, ständig auf der Su- benden deutschsprachigen Autor von Welt- che nach skandalträchtigen Formulierun- geltung, ist in ihrer Einsamkeit unüberhör- gen: hier Enzensberger, dort Peter Härtling bar. Sie ist lauter als seinerzeit die von Hein- oder Adolf Muschg, hier Martin Walser, dort rich Böll, der den eher leisen moralischen . Oberton pflegte. Der Homo politicus Grass – das ist jener Teil seiner Persönlichkeit, der Konsequenzen der Politisierung immer wieder den anderen Teil – den Schriftsteller – in den Abgrund zu ziehen Der rebellische Geist von 68 hatte also bis in droht. Viele seiner Kritiker stellen sich auf die Stuben der Dichter und Denker geweht. den Standpunkt, dass ein Künstler mit ei- Jetzt wurde Politik gemacht oder doch zu- nem solch ausgeprägten politischen Enga- mindest politisiert. Man trug links, fühlte gement kein guter Schriftsteller sein könne. sich am richtigen Platz, in der richtigen po- Und Grass selbst – er nahm es durch all die litischen Ecke. In den diversen Konventi- Jahre übel und verzieh es den Feuilletons keln von Schriftstellerverbänden und PEN- nie, wenn seine Bücher niedergemacht Klubs wurde nach dem Vorbild von Partei- wurden. Aber an Produktivität hat es bei kadern debattiert. Und diejenigen, die an ihm nie gemangelt. Erst diese Einheit aber den Sieg des Sozialismus glaubten, ließen – der politisch und gesellschaftlich sich sich im Westen von niemandem übertref- einmischende Intellektuelle einerseits und fen. Zweifler verstummten oder wurden als der Schriftsteller/Künstler auf der anderen irregeleitete Ungläubige denunziert. Wer Seite –, erst diese außergewöhnliche und nicht auf dem Boden der jeweils aktuellen

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Protestresolution stand, hatte kaum Aus- zelnen Menschen überhaupt nicht vorstel- sichten, sich Gehör zu verschaffen. Die Lite- len, sondern nur die Menschheit. Dagegen ratur, das Theater, die Kunst, die Philoso- denkt die Kunst, die Literatur nur das In- phie – alles war damals Politik. Doch der dividuum. Indes: Seit längerem wird da Geist, erst einmal aus der Flasche gefahren, von der freudlosen Lebensschwäche der wollte sich nicht mehr unter den Korken deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ge- zwingen lassen. Das konnte nur zu Enttäu- redet. Das hat sich debattenweise seit Ende schungen führen. Seit diesen Jahren spätes- der achtziger Jahre noch verstärkt, und häu- tens gilt moralisches Engagement als pro- fig genug gewinnt man den Eindruck, dass blematisch, wenn es sich mit der Literatur, diese Literatur immer noch mehr Format hat mit Fragen der Ästhetik verbindet. Als Prä- als ihre Kritiker oder Interpreten. Nach den zeptor hat der Schriftsteller in der deutsch- „politischen“ siebziger Jahren folgt jetzt der sprachigen Gegenwartsliteratur jedenfalls Ruf nach literarischen Neuprodukten mit ausgedient. Dennoch kann auf den sich frischem Glanz – etwa –, weg einmischenden Autor nicht verzichtet wer- von der vermeintlich hochgestochenen den. Das hat auch der Streit um die Walser- Langweilerliteratur der achtziger und neun- Bubis-Debatte gezeigt. Und es gibt weitere ziger Jahre. bedeutende Ausnahmen neben Günter Fest steht bei allem: Von einer besonderen Grass, der als streitender Intellektueller wie Strahlkraft oder Sogwirkung der deutschen als Schriftsteller längst zum Monument er- Gegenwartsliteratur kann nicht die Rede starrt ist. Man denke nur an Peter Handke, sein. Ob das an ihrem „Einschüchterungs- der auf dem Höhepunkt des Kosovo-Krie- gestus“ liegt, wie vor allem im angelsächsi- ges seine Niemandsbucht verließ und nach schen Raum gerne behauptet wird, bleibt mehreren Ausflügen an die Drina die serbi- offen. Nach vielerlei Irrungen und Wirrun- schen Schlächter gegen den Rest der Welt gen lässt sich Einheitlichkeit als Willensrich- verteidigte. Publikumsbeschimpfung auch tung der literarischen Formatierung nicht hier. ausmachen. Weder gibt es die deutsche Na- Die seit dem neunzehnten Jahrhundert be- tionalliteratur noch Tendenzen in diese klagte Wesensfremdheit von „Geist und Richtung. Vielfalt, Heterogenität, Buntheit Macht“ hat ein Autor wie Friedrich Dürren- und Experimentierfreude – das sind die au- matt auf die Frage zugespitzt: Wie verhält genfälligen Merkmale möglicher Gemein- sich das Denken zur Politik? Seine Antwort: samkeit im Spektrum dieser Literatur im Das politische Denken kann sich den ein- Herzen Europas.

Wesen der Bildung „Bildung ist eine Befähigung, das eigene Leben sinnerfüllt zu gestalten.“ (Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, am 13. September 2000 in Die Welt)

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