Schreiben Im Herzen Europas

Schreiben Im Herzen Europas

371_69_76_Scheller 21.09.2000 16:42 Uhr Seite 69 Die politische Nr. 371/Oktober 2000 Meinung Die Wiederkehr des Gleichen – oder:Die Literatur entlässt ihre Kinder Schreiben im Herzen Europas Wolf Scheller Eigentlich war die Gelegenheit günstig. Da- Jahren nicht viel zu spüren. In der deutsch- mals, im deutschen Wendejahr 1989. Wir sprachigen Literatur, im Herzen Europas schreiben den vierten November: Bei den also, bewegen sich die Autoren keineswegs tausenden auf dem Alexanderplatz zu Ber- in den Sphären frommer Huldigung. Die lin brandet Beifall auf. Der alte Mann auf der fortschreitende Säkularisierung und auch Rednertribüne ähnelt dem blinden Teresias Banalisierung des kulturellen Umraums hat – und er ist sichtlich gerührt, als er in die win- die Schriftsteller als einstiges Personal der terkalte Luft ruft: „Es ist, als habe einer die Heilsgeschichte eher überflüssig gemacht, Fenster aufgestoßen nach all den Jahren zumindest aber hart an den Rand gedrängt. [. .] von Dumpfheit und Mief, von Phrasen- Die Rolle des Repräsentanten – oder gar des gewäsch und bürokratischer Willkür, von moralischen Gewissens – können und wol- amtlicher Blindheit und Taubheit.“ Der len sie nicht spielen. Sie ist in der deutsch- Schriftsteller als Volkstribun auf der Rostra sprachigen Literatur übrigens nur ganz sel- der Politik. Stefan Heym, der greise Nestor ten zur Aufführung gelangt. Gerhart Haupt- der einstigen DDR-Literatur, meldet sich in mann und Thomas Mann waren wohl die der Stunde des Aufbruchs, des Visionären Letzten, die sich in dieser Funktion einrich- zu Wort. Nach ihm sprechen Christa Wolf, ten konnten, ohne freilich irgendein öffent- Heiner Müller, Christoph Hein und Volker liches Amt anzustreben. Aber heute? Weder Braun. Als Unbefleckte, von keinerlei Makel in Deutschland noch in der Schweiz oder in entehrt, erscheinen sie den Demonstranten Österreich hat es nach dem Zweiten Welt- auf dem Alex als Künder einer neuen Zeit. krieg Fälle von ähnlicher Parallelität gege- Von hier und heute schien etwas Neues aus- ben. Wäre vielleicht ein Thomas Bernhard zugehen, das durch jene zuerst vertreten in Amt und Würden am Wiener Ballhaus- wird, denen man die Kraft des Wortes und platz vorstellbar gewesen, ein Max Frisch moralische Glaubwürdigkeit am ehesten oder ein Dürrenmatt im Berner Regierungs- zumisst. Was für eine Chance. Die Schrift- amt – oder ein Heinrich Böll als Minister in steller als Repräsentanten und Stimme des Bonn? Das wäre wohl nur zum Trauerspiel Volkes. vor Flusslandschaft geraten. Schließlich, so argumentiert etwa Walter Dennoch hatte die Stimme dieser Schrift- Jens, gehört die Verteidigung der Moral zu steller Gewicht, und vielen gilt ihr Wort noch den vornehmen Aufgaben der Schriftsteller. heute als Ausdruck intellektueller Redlich- Doch von alledem war in den folgenden keit und moralischer Gewissenhaftigkeit. 69 371_69_76_Scheller 21.09.2000 16:42 Uhr Seite 70 Die politische Meinung Wolf Scheller Diese Tradition, auch in der Teilhabe an der noch ihre Romane, zeigen sie nicht als eine politischen Debatte, setzen in Deutschland Pappsäulenheilige der Literatur, sondern vorrangig Autoren wie Günter Grass und als eine zutiefst österreichische Autorin, die Martin Walser fort. Grass begreift sich als ein ihre Hassliebe zu ihrem Land ständig pflegt engagierter Citoyen, als Verfassungspatriot. und runderneuert. Dieser Hass auf alles, was Walser hingegen hat dem Geist der Utopie man gemeinhin mit Austria verbindet, ist ge- abgeschworen und entdeckte im Dunst- wissermaßen der Steinbruch, aus dem sie kreis der heraufdämmernden Wende räubert, und zudem die wesentliche Kon- Deutschland und die deutsche Nation für dition für das Schreiben vieler österreichi- sich. Hatte sich der einstige DKP-Sympathi- scher Autoren – von Bernhard zu Peter sant damit als ein heimlicher Deutschnatio- Handke, von Peter Turrini zu Gerhard Roth. naler entlarvt, wie manche seiner ehemali- Was diese Autoren eint, ist nicht nur die gen Gefährten wähnten? Oder sprach da Angst, auf Dauer irgendwann dann doch nicht eher einer, der zur Unabhängigkeit sei- von ihren Landsleuten eingemeindet zu nes Urteilsvermögens zurückgekehrt war, werden, sondern der tief sitzende Ekel ge- ein Schriftsteller und Intellektueller, der genüber dem literarischen „Schimpfland sich mit der ihm eigenen Gabe des Nach- Österreich“. denkens in die politische Debatte der Ge- Eine gewisse Ausnahme bilden so unter- genwart einzumischen versuchte? schiedliche Autoren wie Christoph Rans- In der Schweiz ist die Situation anders. Zwar mayr oder der mit dem Büchner-Preis ge- sind die Zeiten von Frisch und Dürrenmatt ehrte Hans Carl Artmann. Ransmayr hat sich vorbei. Aber Autoren wie Adolf Muschg und nach Irland zurückgezogen, H. C. Artmann Kurt Marti haben – bei allem Ärger über die ist zu alt und zu krank, um sich noch mit unheilige Allianz von Politik, Armee und Elan an dieser Auseinandersetzung zu be- großem Geld – ihren deutschen „Kollegen“ teiligen. etwas Wesentliches voraus, nämlich das Ge- fühl: Das ist unser Land. In der gegenwärti- Abgekoppelte Ästhetik? gen Literatur der Bundesrepublik findet man diese Identifikation noch seltener als Freilich: Die Zeiten, in denen Fragen der li- vor der Wende. terarischen Ästhetik noch als brisant und hoch politisch verstanden wurden, sind vor- erst passé. Stattdessen wird beides sogleich „Literarisches Schimpfland“ voneinander getrennt. Der Treuhand-Ro- Doch nirgendwo im deutschsprachigen man Ein weites Feld von Günter Grass wurde Raum werden unliebsame Autoren so ange- erst gar nicht unter ästhetischen Gesichts- feindet und geschmäht, wie dies in Öster- punkten kritisiert. Anstößig war allein die reich seit den Anfängen der Haider-Bewe- These des Autors, dass die Wiedervereini- gung an der Tagesordnung ist. Keine Frage: gung Deutschlands zu schnell und unter Im Zentrum dieser wütenden Attacken steht Missachtung verfassungsrechtlicher Beden- Elfriede Jelinek mit einem Werk, das der ken erfolgt sei. Grass erging es hier wie mit Sehnsucht nach einer neuen Einfachheit seiner Rättin: Das literarische Element, die und Leichtigkeit des Schreibens entschie- eigentliche Leistung des Schriftstellers, den widerspricht. Ihre Theaterstücke, mehr zählte nicht. Er stand querköpfig mit seiner 70 371_69_76_Scheller 21.09.2000 16:42 Uhr Seite 71 Die politische Schreiben im Herzen Europas Meinung Kritik im Wege, also durfte er verrissen wer- Jahre beobachten lässt. Also die Wieder- den. Der Kritiker als Reißwolf. Auch das gab kehr des Erzählens, mehr als zwei Jahr- es. zehnte nach der „Exekution des Erzählers“ Ähnlich gelagert, wenn auch längst nicht so – so 1972 der Literaturtheoretiker Kurt Batt spektakulär, die Kritik an Walsers Roman aus der DDR? Darauf mit Ja, also mit einer aus dem Dschungel der hessischen Ministe- gewissen Eindeutigkeit, zu antworten fällt rialbürokratie Finks Krieg.„Dumpfdeutsche nicht leicht. Autoren der so genannten mitt- Fieberfantasien“ wurden da ausgemacht. leren Generation – wie etwa Peter Handke Kaum einer ging auf die erzählerische Kon- oder Botho Strauß – haben ihre fest kon- struktion ein, auf Walsers Kompositions- turierten Gemeinden, denen sie als dich- technik. In Deutschland werden Bücher tende Hohepriester ihren Zaubertrank in- solcher Autoren zunächst einmal politisch nerlichster Weltverzagtheit verabreichen. „gemessen“. Da wirkt der Ruf nach dem Um Anerkennungskämpfe brauchen sie „Wenderoman“, die Aufforderung an die sich längst nicht mehr zu kümmern, das deutschsprachigen Autoren, nun endlich überlassen sie jüngeren Autoren. Nur sind wieder Geschichten zu erzählen, die Leser Handke und Strauß nicht repräsentativ mit guten Storys aus dem bunten Leben zu für die Standards deutschsprachiger Litera- unterhalten, eher komisch. tur. Nehmen wir zum Beispiel die Schweiz, ih- ren deutschsprachigen Teil. Fachleute wie Geisteskämpfe als Show-down Iso Camartin aus Zürich sagen: In der Aber das ist nicht ein Problem der Literatur, Schweiz gibt es besonders viele Schriftstel- sondern eines des Feuilletons, dessen große ler. Und das ist strukturell bedingt. Es wird Stunde spätestens mit den achtziger Jahren hier mehr geschrieben als in anderen Län- zu Ende ging, also mit dem Zeitalter Um- dern. Im Ernst aber kann man die literari- berto Ecos und Richard von Weizsäckers. sche Produktion der deutschsprachigen Seitdem macht sich eine gewisse intellektu- Schweiz der Größenordnung nach allen- elle Erschöpfung bemerkbar. Tauchen ir- falls mit der von Baden-Württemberg ver- gendwo am Horizont Ausläufer medien- gleichen, und da schneiden die Schweizer wirksamer Debatten auf, werden sogleich allerdings weitaus besser ab. die üblichen Verdächtigen unter den Woran aber liegt das? Haben die Schweizer Schriftstellern zur Aktualität befragt – und ein ursprünglicheres Verhältnis zu literari- die reagieren zumeist mit Pawlowschem Re- schen Ausdrucksweisen, eine tiefere flex. So geraten die Geisteskämpfe zum ritu- Sprachreflexion? Oder leiden sie vielleicht ellen Show-down der Vorleser und Vorkriti- intensiver an ihrer Existenz und drängen da- ker, von deren Clownerie und Klamauk- her heftiger zum literarischen Ausdruck? gehabe auch die Einschaltquote des „Lite- Und was – bitteschön – ist das spezifisch rarischen Quartetts“ profitiert. Schweizerische an dieser Literatur, an ihrer Dennoch ist die Literatur damit keineswegs Themenwahl, an Stil und Motivik? Alles nur abgeschafft. Aber ihr politischer Gestus ist aus dem Geist des Zürcher Stadtschreibers in den Hintergrund getreten, eine Entwick- Gottfried Keller? Peter von Matt immerhin lung, die sich

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