Aneignung Und Abgrenzung. Studien Zur Relativität Kultureller
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Sylvie Marchenoir (Dijon) Die kritische Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution oder Voraussetzungen einer Selbstbehauptung: Therese Forster-Huber (1764–1829) Therese Forster-Hubers Verbindung mit dem Naturforscher Georg Forster und dem Literaten Ludwig Ferdinand Huber, ihre Freundschaft und Feindschaft mit Karoline Schlegel-Schelling, ihre prominente Stellung im Cotta-Verlag als Mor- genblatt-Redakteurin und ihre Popularität als Erzählerin haben ihr einen zeit- genössischen und posthumen Ruf und Ruhm gesichert, sie jedoch zugleich in Polemiken verwickelt, die sich in der Wissenschaft bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt haben. Ludwig Geigers Biographie von 19011, die heute als unzulänglich betrachtet wird, blieb die einzige; die meisten Briefe von Therese sind lange unveröffentlicht geblieben; auch von den Erzählungen, Roma- nen, Reisebeschreibungen usw. gab es bis Anfang der 1990er Jahre keine neueren Ausgaben. Die Erfassung ihrer Schriften stand aus, ebenso wie eine wirkliche Bewertung ihrer Tätigkeit und ihrer Schriften. Das Interesse an feministischen Studien hat aber ab 1989 zur Neuausgabe der Werke und Briefe geführt und die Veröffentlichung von einigen Studien mit objektiveren biographischen Hinwei- sen erlaubt.2 1 Ludwig Geiger, Therese Huber 1764 bis 1829. Leben und Briefe einer deutschen Frau, Stutt- gart: Cotta 1901. 2 Therese Forster-Huber, Romane und Erzählungen [= Reprint], hrsg. von Magdalene Heuser, Hildesheim: Olms 1989 ff. (= Frühe Frauenliteratur in Deutschland. Hrsg. von Anita Runge). Therese Forster-Huber, Briefe, Bd. 1–9. Hrsg. von Magdalene Heuser und [ab Bd. 5] Petra Wulbusch, Tübingen: Niemeyer 1999 ff. Andrea Hahn (Hrsg.): Therese Huber. Die reinste Freiheitsliebe, die reinste Männerliebe: ein Lebensbild in Briefen und Erzählungen zwischen Aufklärung und Romantik. Berlin: Henssel 1989. Andrea Hahn, Bernhard Fischer (Hrsg.), „Alles von mir!“: Therese Huber (1764–1829), Schriftstellerin und Redakteurin. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1993. Magdalene Heuser, „Georg und Therese Forster – Aspekte einer gescheiterten Zusammen- arbeit“. In: Literarische Zusammenarbeit. Hrsg. von Bodo Plachta. Tübingen: Niemeyer 2001, S. 101–119. Carola Hilmes, „Georg Forster und Therese Huber: Eine Ehe in Briefen“. In: Das literari- sche Paar. Le couple littéraire. Intertextualität der Geschlechterdiskurse. Intertextualité et discours des sexes. Hrsg. von Gislinde Seybert. Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 111–135. Ulrike Bergmann, Die Mesalliance. Georg Forster: Weltumsegler, Therese Forster: Schrift- stellerin, Frankfurt am Main: Edition Büchergilde 2008. 11 Alle biographischen Studien betonen die Bedeutung der Französischen Revo- lution im Leben und im Werk von Therese Forster-Huber. Schon früh versuchte die junge Frau – sie war erst 25 Jahre alt, als die Revolution ausbrach –, sich revo- lutionäre Grundsätze anzueignen. Als Tochter eines aufgeklärten Göttinger Uni- versitätsprofessors, dann als Frau eines Revolutionärs in Mainz und schließlich als Frau eines liberalen Journalisten im Schweizer Exil erlebte sie die Revolution als einen begeisternden, wenngleich oft grausamen Alltag, aber auch ständig als einen Gegenstand der Reflexion und der Diskussion. Die kritische Auseinander- setzung mit der Französischen Revolution wurde zur Notwendigkeit sowohl im alltäglichen Leben als auch im Werk der jungen Autorin. Die wichtigsten Etappen der Auseinandersetzung entsprechen demnach verschiedenen Lebensphasen, die in der vorliegenden Studie kommentiert werden: 1. die Jugend in Göttingen vor der Französischen Revolution, die eine aufge- klärte Bildung aufweist; 2. die Ehe mit Georg Forster, die durch den Kampf um die individuelle Freiheit inmitten der Revolution gekennzeichnet ist; 3. die Ehe mit Ludwig Ferdinand Huber, die den Anfang einer literarischen Lauf- bahn im politischen Exil ermöglicht; 4. die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution im Werk durch die Veröffentlichung des ersten Romans Die Familie Seldorf. 1. Jugend in Göttingen: eine aufgeklärte Bildung vor der Französischen Revolution Therese Forster-Huber ist 1764 in Göttingen als Tochter des Altphilologen Chris- toph Gottlob Heyne geboren. In einem autobiographischen Zeugnis aus dem Jahre 1803, „Unsere Geschichte“ betitelt und nicht zur Veröffentlichung, wohl aber zur Lektüre für ihre Kinder bestimmt, schrieb sie über ihre eigene „trübe“ Kindheit: Ich war meiner Mutter Liebling gar nicht, ich war hässlich […] Bis in mein dreizehntes Jahr erinnere ich mich gar nicht, dass mir jemals wer gesagt hat, ich habe Verstand oder sei drollig […] Gegen meine Mutter hatte ich nie Zärtlichkeit, bald beleidigte sie meine Sinne, meinen Verstand, mein Gefühl.3 Therese Heyne hatte keine enge, herzliche Beziehung zu ihrer Mutter; sie erhob sogar bittere Vorwürfe gegen sie: die Mutter sei unhäuslich, liederlich, faul gewe- 3 Emil Geiger, Therese Huber 1764 bis 1829. Leben und Briefe einer deutschen Frau, Stuttgart: Cotta 1901, S. 2–3. 12 sen und habe Hausfreunde gehabt: „Sie war gar keine Hausfrau, wir wurden in Schmutz und Unordnung erzogen, in so einem Grade, dass Ungeziefer uns plagte, und wir weder ganze Hemden noch Schuhe hatten.“4 Therese war nicht fühllos und war sich der beschränkten häuslichen Verhältnisse bewusst, zum Beispiel wenn sie über den Tod ihrer Mutter (1775) bemerkte: Sie starb an der Schwindsucht, aber so unbeschreiblich beschränkt, unfein waren unsere häuslichen Verhältnisse, dass wir Kinder, der Knabe von vierzehneinhalb Jahren und wir beiden Mädchen, noch immer mit unseren beiden Eltern in einem Zimmer schliefen, und das bis in der Todesnacht unserer Mutter; man weckte uns eine halbe Stunde vor ihrem Tode nur auf.5 Solche Jugenderlebnisse führten nicht zu einer Mythisierung der Familie. Aber die Beziehung zu ihrer Stiefmutter Georgine Brandes (152–1834), die nur zwölf Jahre älter war als Therese Heyne, war dann herzlich und freundschaftlich. The- rese half ihr, acht jüngere Geschwister großzuziehen. Ihr Vater Christoph Gottlob Heyne übte großen Einfluss auf sie aus. Sie schrieb noch viel später 1810 an ihren Schweigersohn Emil von Herder über ihren Vater: „Er war mein Idol. Ich habe mich nie im Leben seiner geschämt, er war immer wie er sein sollte, milde, würdig in seinem Zorn, engelgütig.“6 Der Vater, der sich ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit und seinem Beruf widmete, verlangte unbedingten Gehorsam. Durch ihn hatte Therese jedoch die Gelegenheit, zu lesen und an Gesprächen mit Göttinger Gelehrten, Studenten und auswärtigen Besu- chern teilzunehmen, die im Hause verkehrten. Später drängte der Vater zur Ehe mit einem solchen Besucher, dem berühmten Naturforscher Georg Forster, und korrespondierte dann mit dem Schwiegersohn. In den schweren Zeiten ihrer Ehe mit Forster und in den politischen Krisenjahren versuchte Therese immer, ihren Vater zu verschonen und ihn nicht durch ihr Verhalten zu beunruhigen. Heyne verstarb erst 1812 (als Therese selbst schon 48 Jahre alt war und seit 27 Jahren das Elternhaus verlassen hatte). Bis zu dem Zeitpunkt genoss sie immer ein gewisses Ansehen als Tochter des Gelehrten Heyne – nicht als Witwe oder als eigenstän- dige Berufsschriftstellerin. Die große Vaterfigur als „Idol“ blieb also für Therese Forster-Huber, wie für die meisten Frauen des 19. Jahrhunderts bestimmend, und wurde dann auf den Ehemann und den Sohn projiziert. Die fiktionale Welt ihres Romans Die Familie Seldorf sollte später diese Bindung der Frau an den Vater und ihre Einbindung in die patriarchalische Familie problematisieren. Über ihre Erziehung und die Tatsache, dass die Kinder in diesem Profes- sorenhaus sich selbst überlassen waren, schrieb Therese Heyne: „Da über die 4 Geiger, S. 3. 5 Geiger, S. 6. 6 Geiger, S. 15. 13 Anwendung unserer Zeit gar keine Aufsicht war, bestand nun vom neunten Jahre an ungefähr meine Hauptbeschäftigung im Lesen der damals häufig werdenden Übersetzungen englischer Romane.“7 Sie hatte schon früh mit Schreiben ange- fangen: „Ich schrieb ebenso früh wie ich las, das heißt vom vierten Jahre an, aber dass ich entschieden Aufsätze machte, Briefe geschrieben hätte, weiß ich erst genau von meinem sechsten, das heißt im Jahr 70.“8 Die Grundlagen ihrer Bildung erhielt sie im Elternhaus in Göttingen, wo sie leichten Zugang zu den Beständen der väterlichen Bibliothek hatte, wovon sie reichlich Gebrauch machte. Sie war wesentlich Autodidaktin in dem Sinne, dass sie ihr Wissen aus Büchern schöpfte. Nach dem Tod der Mutter 1776 gab ihr Vater sie vorübergehend in ein französisches Pensionat in Hannover, wo sie im Haus von Georg Friedrich Bran- des, dem Vater ihrer Stiefmutter, wohnte. Über ihre Bildung schreibt sie 1816: Ich las, las, las und schwatzte mit meinem Vater, der mich über spekulative Gegenstände alles schwatzen ließ, las alles, was mir im Lesen vorgeführt wurde nur nichts als klassisches. Das langweilte mich […] Ich hörte Archäologie von meinem Vater sprechen, Naturgeschichte von Blumbach [= Johann Friedrich Blumenbach], Anatomie u Medizin von meinem Bruder [= Karl Heyne (1762–1796)], Politik Staatengeschichte von meinem Onkel Brandes − mit dem saß ich spät in der Nacht und ersannen Reden, die wir auf dem Schaffot halten wollten, wenn wir wie Algemoor sterben dürften.9 Sie besuchte also nur informellen Privatunterricht und keine echte Bildungs institution – abgesehen von den zwei Jahren in der französischen Pension in Han- nover, als ihr Vater wieder heiratete. Obwohl sie eine Autodidaktin war, übte sie später den Schriftstellerberuf aus und ihre literarische Tätigkeit