4. JEMEN

Michael Roes, Leeres Viertel Rub’ Al-Khali (1996)

Spielästhetik und Kriegerethos

I

Im Mai 1990 vereinigten sich die beiden Teile des Jemen, die aufgrund kolonia- ler Verhältnisse jahrhundertelang getrennt gewesen waren.1 Der Jemen ist die südöstliche Ecke der arabischen Halbinsel, grenzt im Süden an den Golf von Aden und im Westen an das Rote Meer. Bereits 1918 hatte der seit dem 16. Jahrhundert osmanisch regierte Nordjemen (mit der Hauptstadt Sana) seine Un- abhängigkeit erlangt; der Südjemen (mit der Hauptstadt Aden), seit dem 19. Jahrhundert Teil des britischen Kolonialreiches, erstritt seine Eigenständigkeit 1967, also fast fünfzig Jahre später. Der Nordjemen war, geographisch gesehen, zwar nur halb so groß wie der Südjemen, hatte aber ungefähr viermal so viele Einwohner. Zur Zeit seiner Vereinigung lebten im Jemen über zwölf Millionen Menschen. Der Nordjemen hatte – sieht man von den wenigen Großstädten ab – seine Stammesstrukturen und seine traditionalistisch-muslimische Kultur stärker beibehalten als der modernisiertere Süden, der sich 1967 eine marxistisch- sozialistische Regierung gab. Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen – Ölvor- kommen im Grenzgebiet – strebte man seit den 1970er Jahren eine Vereinigung der beiden Länder an, die dann im Mai 1990, also nach dem Ende des Kalten Krieges, erfolgte. Als aber im Südjemen weitere Ölfunde gemacht wurden, glaubte man dort, dass der Norden die Ölquellen für sich vereinnahmen werde. Man rechnete sich im Süden aus, dass sich Sezession und erneute Eigenständig- keit lohnen werde. Die Unterschiede in Kultur und Politik, Rivalitäten zwischen nord- und südjemenitischen Politikern und ihren Parteien sowie die versäumte Integration des Militärs, das im Großen und Ganzen geteilt geblieben war, sorg- ten für weitere Spannungen, die sich zwischen Herbst 1993 und Frühjahr 1994 in ersten Kämpfen zwischen Norden und Süden entluden, womit – wenn er auch noch nicht so genannt wurde – der Bürgerkrieg bereits ausgebrochen war. Den offiziellen Beginn des Bürgerkrieges zu datieren, ist nicht leicht; einige Darstel- lungen sprechen von Ende April, andere von Anfang Mai 1994. Als am 21. Mai

01 Joseph Kostiner, . The Tortuous Quest for Unity, 1990-1994 (London: The Royal Institute of International Affairs, 1996); Paul Dresch, A History of Modern Yemen (Cambridge und : Cambridge University Press, 2000); Hans Krech, Bewaffnete Konflikte im Süden der Arabi- schen Halbinsel. Der Dhofarkrieg 1965–75 im Sultanat Oman und der Bürgerkrieg im Jemen 1994 (Berlin: Köster, 1996). 210 III. VON DEN 1970ER ZU DEN 1990ER JAHREN

1994 der Süden offiziell seine Sezession erklärte, steigerten sich die bisher verein- zelten Kämpfe, die auch Zusammenstöße zwischen Stämmen und Zentralregie- rung involvierten, zu einem kurzen aber blutigen Bürgerkrieg, der bis Anfang Juli 1994 dauerte und über zehntausend Menschenleben forderte. Am 7. Juli 1994 endete der Bürgerkrieg mit dem Sieg der nordjemenitischen Truppen in Aden, wonach die Einheit des Landes wiederhergestellt wurde. Michael Roes’ Buch Leeres Viertel Rub’ Al-Khali2, das 1996 erschien, ist ein Doppelroman, der zwei Berichte in Tagebuchform enthält: den eines deutschen Forschungsreisenden der Goethezeit und den eines zeitgenössischen deutschen Wissenschaftlers. Beide Berichte handeln von Südarabien bzw. vom Jemen und sind kunstvoll aufeinander abgestimmt: der neuere befindet sich gleichsam im Dialog mit dem älteren, wobei der frühere dem neueren eine historische Tiefen- dimension verleiht und beide die Gegenwart des Vergangenen verdeutlichen. Fünf Jahre später hat Hans Christoph Buch in seinem Roman Kain und Abel in Afrika3 eine ähnliche Erzählstruktur gewählt. Während aber bei Buch der Unter- schied zwischen dem Erzähler aus der Gegenwart und demjenigen aus dem spä- ten 19. Jahrhundert ins Auge fällt als die Differenz zwischen einem kolonialen und einem postkolonialen Berichterstatter, hat Roes auf solche Entgegensetzun- gen verzichtet. Hat Buch für den hundert Jahre zurückliegenden Bericht die Form der Ich-Erzählung gewählt, von der sich der Du-Erzähler aus der Gegen- wart abhebt, ist das äußere Unterscheidungsmerkmal bei Roes die Schreibweise: Im aktuellen Tagebuch herrscht durchgehend die Kleinschreibung vor; die des Vorgängers aus dem späten 18. Jahrhundert ist konventionell. Buchs Richard Kandt ist eine fiktionalisierte historische Figur aus der deutschen Kolonialzeit; Alois Schnittke bei Roes dagegen eine erfundene Person, die aber von Ereignissen berichtet, die so oder ähnlich in Expeditionschroniken aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert aufgezeichnet wurden, und die der Autor als studierter Ethnologe am Schluss seines Romans bibliographisch anführt (LV 828-829). (Roes hatte als Fellow am Budapester Wissenschaftskolleg 1993/94 eine Forschungsreise in den

02 Michael Roes, Leeres Viertel Rub’ Al-Khali. Invention über das Spiel. Roman (München: btb, 1998). Nach dieser Ausgabe wird in der Folge in Klammern mit der Abkürzung „LV“ und fol- gender Seitenzahl zitiert. Das Buch erschien erstmals 1996 bei Gatza/ Eichborn in am Main. Vgl. auch: Alexander Honold, „Der ethnographische Roman am Ende des 20. Jahrhun- derts: Fichte und Roes“. In: Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globa- lisierung, hg. v. Paul Michael Lützeler (Tübingen: Stauffenburg, 2000), S. 71-95; Christoph Gellner, „Schriftstellerreisen in die islamische Welt: Elias Canetti, Hubert Fichte, Michael Roes“. In: Stimmen der Zeit 130.9 (2005): 623-637. Claudia Breger und Robert Tobin konzentrieren sich in ihren Aufsätzen auf den Aspekt der unterschiedlichen Geschlechterrollen in der arabischen und der westlichen Welt. Vgl. C.B., „Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes“. In: Räume der literarischen Postmoderne, S. 97-125; R.T., „Postmo- derne Männlichkeit: Michael Roes und Matthias Politycki“. In: Zeitschrift für Germanistik 12.2 (2002): 324-333. Zum Kontext sei ferner verwiesen auf den Überblicksaufsatz von Erk Grimm, „Divided Legacies: East German in the Middle East“. In: The Cultural After-Life of East : New Transnational Perspectives, hg. v. Leslie A. Adelson (Washington D.C.: Harry & Helen Gray Humanities Program Series, 2002), vol. 13, pp. 60-92. 03 Hans Christoph Buch, Kain und Abel in Afrika (Berlin: Volk und Welt, 2001).