Was bewegt uns (morgen?) Heute und knftige Mobilität auf dem Prfstand

Heft 2.2015

Informationen zur Raumentwicklung Inhalt Heft 2.2015

Seite

Christian Schlump Einfhrung I

Christian Schlump Intermodal, multimodal, supermodal? Aktuelle und knftige Mobilität unter der Lupe 91

Robert Schnduwe Schneller, weiter, nachhaltiger? Mobilitätsbiografen hochmobiler Menschen 101

Christian Muschwitz Intelligente ffentliche Mobilität im ländlichen Raum – Johannes Reimann von Skandinavien lernen! 115

Jens Schippl Einschätzungen zu koeffzienten Mobilitätszuknften – Markus Edelmann ein visionärer Blick auf die europäische Ebene 127 Maike Puhe Max Reichenbach

Annika Busch-Geertsema Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik? Eine kritische Thomas Klinger Auseinandersetzung mit Defziten und Chancen der deutschen Politik Martin Lanzendorf und Forschung zu Verkehr und Mobilität 143

Diskussion Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Forschung, Wissenschaft, Politik und Technik: Was knnen wir heute fr morgen tun? 159

Herausgeber Bundesinstitut fr Bau-, Stadt- Redaktionsschluss: 1. März 2015 und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt fr Bauwesen Die Beiträge werden von der Schriftleitung/ und Raumordnung (BBR) wissenschaftlichen Redaktion gezielt akquiriert. Der Herausgeber bernimmt keine Haftung fr Schriftleitung Harald Herrmann unaufgefordert eingesandte Manuskripte. Markus Eltges Die vom Autor vertretene Auffassung ist Robert Kaltenbrunner nicht unbedingt mit der des Herausgebers identisch. Wissenschaftliche Redaktion Christian Schlump Bezugsbedingungen: Jahresabonnement Redaktion Friederike Vogel 72,00 € (6 Hefte einschl. Register) zzgl. Ver- sandkosten (Inland: 10,80 €, Ausland: 19,80 €); Satz und Gestaltung Marion Kickartz Einzelheft 19,00 € (versandkostenfrei) – Preise incl. MwSt. Ihr Abonnement der Informationen zur Raumentwicklung hat eine Laufzeit von 12 Druck Bundesamt fr Bauwesen und Raumordnung aufeinander folgenden Monaten. Es verlängert sich um jeweils weitere 12 Monate, wenn es Verlag und Vertrieb Franz Steiner Verlag nicht spätestens 6 Wochen vor Ende der Lauf- Birkenwaldstraße 44 zeit schriftlich beim Verlag gekndigt wird. 70191 Stuttgart Siehe: www.bbsr.bund.de > Verffentlichungen Telefon +49 711 2582-0 > IzR Telefax +49 711 2582-390 [email protected] Nachdruck und Vervielfältigung: Alle Rechte vorbehalten und Buchhandel

ISSN 0303 – 2493 Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 I

Was bewegt uns (morgen?) Heutige und künftige Mobilität auf dem Prüfstand

Einführung Christian Schlump

Wir leben heute in einer hochmobilen Ge­ mit dem ICE der Deutschen Bahn tagtäglich sellschaft, in der fast jeder fast jeden Tag 400 Kilometer und mehr für den Arbeitsweg unterwegs ist. Dabei sind viele Trends zu zurückzulegen? Auf der einen Seite steht beobachten: Jungen Menschen geht es also der Status quo: Die aktuelle Situation, heute weniger um materiellen Besitz zur das Mobilitätsverhalten heute und die viel­ Darstellung des Status. Der Traum eines leicht vorherrschenden Defizite in einigen eigenen Autos als Geschenk zum 18. Ge­ Räumen. Auf der anderen Seite schauen wir burtstag rückt in den Hintergrund. Sie legen, nach vorne, in die Zukunft und fragen uns: zumindest in urbanen Räumen, weitaus Wie wird „das Morgen“? Was muss auf eu­ mehr Wert auf Flexibilität und Spontaneität ropäischer Ebene geschehen, um Mobilität bei der Wahl des passenden Verkehrsmit­ ökologischer und effizienter zu gestalten? tels. Gleichzeitig bleiben ältere Personen­ Wie müssen Erkenntnisse aus der Wissen­ gruppen, bzw. vielmehr die Generation, die schaft in politische Entscheidungen einflie­ mit dem Pkw aufgewachsen ist, immer län­ ßen, um anschließend sinnvoll in der Praxis ger auf vier Rädern mobil. Das Mobilitäts­ umgesetzt zu werden? verhalten der Deutschen hat sich verändert, und wird es auch weiterhin. Doch in welche Es wird derzeit viel darüber diskutiert, ge­ Richtung geht die Entwicklung? Welche schrieben und veröffentlicht, wie die Zu­ Planungskonzepte zur Verkehrssteuerung kunft in Stadt und Land aussehen könnte. und welche Mobilitätsdienstleistungen sind Der Begriff Smart City ist in aller Munde. sinnvoll und welche weniger? Wir fragen uns dann oft: Wird alles intelli­ gent, vernetzt, noch effizienter und irgend­ Hinsichtlich der Mobilitätsangebote sind wie auch „cooler“? Ist das selbstfahrende zwischen „Stadt und Land“, zwischen pros­ Auto wirklich die Zukunft, oder lenkt es perierenden Metropolen und peripheren nicht eher von den vorhanden Problemen Regionen gravierende Unterschiede festzu­ stellen, die sich ohne Entgegensteuern in wie dem Investitionsstau bei der Infrastruk­ den kommenden Jahren verschärfen wer­ tur des öffentlichen Verkehrs und de facto den. Die urbane Mobilität wird zusehends steigenden CO2-Emissionen im Verkehrs­ facettenreicher und intermodaler. In vielen sektor ab? Teilen des ländlichen Raums existieren da­ gegen enorme Herausforderungen, um mit Es ist interessant, wie vor Jahren bzw. Jahr­ dem ÖPNV wenigstens ein Grundangebot zehnten die Zukunft von Verkehr und Mo­ an Mobilität zu sichern. Es stellt sich die bilität in Film, Kunst und Wissenschaft dar­ Frage, wie diese auseinanderdriftenden gestellt wurde. Wir alle kennen die Visionen Trends erklärt werden können bzw. wie mit von den fliegenden Autos, die so nicht ein­ ihnen umgegangen werden kann: Welche getreten sind. Doch wer hätte vor 15 Jah­ Verkehrs- und Mobilitätskonzepte sind in ren gedacht, dass wir auf einem mobilen ländlichen Regionen, besonders vor dem Telefon, das wir in der Hosentasche bei uns Hintergrund des demografischen Wandels, tragen, die schnellste Route von A nach B Christian Schlump war bis März 2015 Projektleiter sinnvoll? Und was bewegt eigentlich Men­ angezeigt bekommen, das Carsharing Auto im BBSR – Referat I 5 schen dazu, z. B. in Köln zu wohnen und in reservieren können oder das Ticket für die (Verkehr und Umwelt) Frankfurt am Main zu arbeiten und deshalb U-Bahn in der fremden Stadt lösen? [email protected] II Christian Schlump: Einführung

Das Morgen ist vermutlich längst da: In der oftmals sehr direkt mit Mobilitätsange­ Science-Fiction-Filmkomödie „Zurück in boten zusammenhängen. die Zukunft II“ aus dem Jahr 1989 reist Mar­ ty McFly alias Michael J. Fox in die Zukunft. 2. Die Beiträge sollen sich mit den mög­ Dort gibt es dann Pizza, die die Mikrowel­ lichen künftigen Entwicklungen beschäf­ le in einer Sekunde zubereitet und schwe­ tigen, also einen Zukunftsbezug beinhal­ bende Hoverboards, also Skateboards ohne ten, wenngleich natürlich klar ist, dass Rollen, die mühelos über Wasser und Land die Entwicklungen der Vergangenheit hinweggleiten können. Diese Erfindungen bei der Gestaltung der Zukunft nicht sind in der Form noch nicht entwickelt.­ In­ ausgeblendet werden dürfen, vor allem teressant ist aber, dass die dort dargestellte im Verkehr, dessen Basis überwiegend Zukunft nicht etwa im nächsten Jahrhun­ langlebige und kostenintensive Infra­ dert spielt, sondern im Oktober 2015, also strukturen sind. „jetzt“. Die unterschiedliche institutionelle Her­ Das Gefühl, dass die vor Jahrzehnten for­ kunft der Autorinnen und Autoren gewähr­ mulierte Zukunft Realität geworden ist, be­ leistet einen Einblick in verschiedene Denk­ stätigt sich beim Lesen eines Artikels aus weisen und wissenschaftliche Ansätze – von der Zeitschrift Stadtbauwelt, der unter dem eher theoretisch orientiert bis stark praxis­ Titel „Zur Zukunft der Städte“ 1984 erschie­ bezogen. nen ist. Prof. Helmut Kromrey, der lange an der FU Berlin gelehrt und geforscht hat, Christian Schlump erläutert in seinem ein­ schreibt dort: leitenden thematischen Überblick zunächst die definitorischen Unterschiede zwischen „Eine Entwicklung hin zu einer künftigen den Begriffen Verkehr und Mobilität und Selbstbedienung von der Wohnstube aus geht dabei insbesondere auf die System-, könnte etwa zu folgender Situation führen: Personen- und Wegeeigenschaften von Mul­ zentrale Warenlagerung unabhängig von ti- und Intermodalität ein. Er beschreibt die einer Zuordnung zum Wohnstandort des regelmäßig bundesweit durchgeführten Kunden, Ladenzeit-unabhängige Aufgabe wissenschaftlichen Untersuchungen zum und Bestellung über Btx, EDV-unterstützte Mobilitätsverhalten und zur Entwicklung Zusammenstellung des Kundenpakets im des Verkehrs. Im zweiten Teil des Beitrags Warenlager, Abbuchung des Rechnungsbe­ wird skizziert, wie der Modal Split, das trages über Btx, tägliche Auslieferung der heißt die Verteilung des Verkehrsaufkom­ Bestellungen vom Warenlager an eine kun­ mens auf die verschiedenen Verkehrsmittel, dennahe Abholstelle.“ in Deutschland variiert. Von besonderem Interesse ist die Differenzierung nach Stadt- Prof. Kromrey hat somit das Onlineshop­ und Landbewohnern bzw. nach Alters­ ping des Versandhandels und die Zustel­ gruppen. Anschließend geht der Autor auf lung an Packstationen bereits vor 30 Jahren die Kräfte ein, denen die Mobilität in einer sehr anschaulich beschrieben. sich wandelnden Welt heute und in Zukunft ausgesetzt ist. Bei der Auswahl der Beteiligten dieses IzR-Heftes waren zwei Aspekte besonders Im zweiten Heftbeitrag zeigen Dr. Chri­ wichtig: stian Muschwitz und Johannes Reimann Möglichkeiten auf, durch flexible und 1. Die Beiträge sollen den räumlichen multifunktionelle Versorgungssysteme öf­ Bezug in den Fokus stellen: die euro­ fentliche Mobilität auch in ländlichen Re­ päische Ebene, die von so unterschied­ gionen zu sichern. Sie erläutern dabei die lichen Entwicklungen im Mobilitätsbe­ Ideengeschichte, die Rahmenbedingungen reich in ihren Mitgliedsstaaten geprägt und Wirkungen des ersten deutschen kom­ wird, die städtische Ebene mit ihren viel­ biBUS-Modellfalls, der in der brandenbur­ fältigen inter- und multimodalen Mög­ gischen Uckermark umgesetzt wurde. Die lichkeiten und den ländlichen Raum, der Autoren verdeutlichen Potenziale intelli­ in Deutschland nicht erst seit gestern zu genter und flexibler Angebote des ÖPNV in kämpfen hat hinsichtlich der erstrebten ländlichen Räumen. gleichwertigen Lebensverhältnisse, die Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 III

Inwiefern sinkende Mobilitätskosten und ein. Sie betonen, dass sich zwar in der Wis­ schrumpfende Raumwiderstände in den senschaft gegenwärtig der Übergang von letzten Jahrzehnten ein stetiges Anwachsen einer überwiegend ingenieurwissenschaft­ der individuellen Aktionsräume ermögli­ lich und ökonomisch geprägten Verkehrs­ chten, untersucht Robert Schönduwe in forschung hin zu einer transdisziplinären seinem Artikel „Schneller, weiter, nachhal­ Mobilitätsforschung vollzieht, in der Politik tiger? Mobilitätsbiografien hochmobiler dieser Wandel bisher allerdings noch nicht Menschen“. Dabei ordnet er zunächst das zu erkennen ist. Diese sei immer noch sehr distanzintensive Leben in der zweiten Mo­ infrastruktur- und technologiegetrieben. derne ein und beschreibt anschließend die Der Autorin und den Autoren gelingt es, aus Multioptionalität und Mobilität als Folge ihrer Bestandsaufnahme und Defizitanalyse von Entgrenzungsprozessen. Im Rahmen fünf visionäre und zukunftsweisende Hand­ einer retrospektiven Befragung hat Schön­ lungserfordernisse zur Etablierung einer in­ duwe Daten von 745 Personen erhoben, die novativen Politik und Forschung zu Verkehr in mindestens einem der letzten zehn Jahre und Mobilität abzuleiten. hochmobil waren. Diese Personen konn­ Die Autorinnen und Autoren der Heftartikel ten dann in einem weiteren Schritt drei hatten am 3. November 2014 im Rahmen verschiedene Typen (radaffine Multimoda­ einer fachöffentlichen Veranstaltung im le, ÖV-affine Multimodale und Pkw-affine Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raum­ Multimodale) zugeordnet und bestimmte forschung (BBSR) in Bonn die Möglichkeit, Verhaltensweisen herausgearbeitet werden. ihre jeweiligen Ideen, Forschungen und Beiträge mit ca. 50 Expertinnen und Exper­ Mit der Transformation des Verkehrssy­ ten unterschiedlichster Institutionen, Ver­ stems zu mehr Nachhaltigkeit und/oder bände, Wissenschaften und Behörden zu Ökoeffizienz, wird sich auch auf Europä­ diskutieren. Erstmalig war also dem interes­ ischer Ebene beschäftigt. Ausgangspunkt sierten Fachpublikum die Möglichkeit ge­ für den Beitrag der Wissenschaftlerin und geben, ein IzR-Heft kennenzulernen bevor Wissenschaftler Jens Schippl, Markus Edel­ es gedruckt wurde und in gewisser Form mann, Maike Puhe und Max Reichenbach sogar inhaltlich mitzulenken. Die Vielzahl vom Institut für Technikfolgenabschätzung der vertretenen Disziplinen machte deut­ und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher lich, aus wie vielen Blickwinkeln Mobili­ Institut für Technologie (KIT) war ein Pro­ täts- und Verkehrsthemen betrachtet und jekt, das für das STOA*-Board des europä­ erforscht werden. Dabei ergaben sich im ischen Parlaments durchgeführt wurde. Rahmen von angeregten Diskussionen kon­ Dabei wurden drei verschiedene Szenarien struktive Hinweise, viele Fragen und Ant­ entworfen, die Wege zu einem öko-effizi­ worten sowie fachlich qualifizierter Input. enteren Europa im Verkehrssektor beschrei­ Dies steigerte noch einmal die Qualität der ben. In einem weiteren Schritt konnten Artikel, bereicherte diese Ausgabe der IzR diese Szenarien nun mit Wissenschaftlern und ermöglichte den Autorinnen und Auto­ unterschiedlicher Herkunft diskutiert und ren die jeweiligen Heftbeiträge der Fachkol­ von diesen bewertet werden. Dabei wurde leginnen und -kollegen in den Zusammen­ herausgearbeitet, welche Szenarien und hang des eigenen Artikels zu stellen. Die einzelnen Bausteine aus den Szenarien für Veranstaltung wurde mit einer Podiumsdis­ die Zukunft erstrebenswert bzw. realisier­ kussion beendet, die unter dem Motto „Mo­ bar erscheinen. Die Aussagen ermöglichen bilität und Verkehr im Spannungsfeld von das Ableiten von Handlungsoptionen und Forschung, Wissenschaft, Politik und Tech­ Umsetzungshemmnissen hinsichtlich der nik: Was können wir heute für morgen tun?“ Gestaltung eines öko-effizienten Verkehrs­ stand. Die ausführliche Dokumentation­ der systems. Podiumsdiskussion findet sich am Ende * Science and Technology Wenn Annika Busch-Geertsema, Thomas dieses Heftes. Options Assessment Klinger und Prof. Martin Lanzendorf fra­ gen „Wo bleibt eigentlich die Mobilitäts­ politik?“, verlassen sie in ihrem Beitrag die räumliche Ebene und gehen auf die Inter­ dependenzen zwischen der deutschen Poli­ tik und Forschung zu Verkehr und Mobilität Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 83

Intermodal, multimodal, supermodal? Christian Schlump Aktuelle und künftige Mobilität unter der Lupe

Seit einigen Jahren wird in unterschiedlichen Kontexten immer häufiger von „Mobilität“ statt von „Verkehr“ geschrieben und gesprochen. Begriffe wie multimodale Mobilität, Mo- bilitätsdienstleister, integrierte und nachhaltige Mobilität oder gar Mobilitätsgesellschaft lösen scheinbar in die Jahre gekommene und eingestaubt klingende Bezeichnungen wie Verkehrsunternehmen oder Verkehrsplanung ab. Es sei jedoch betont, dass eine Differen- zierung der Bezeichnungen notwendig ist, denn Mobilität ist nicht gleich Verkehr oder um- gekehrt. In diesem einleitenden Artikel soll zunächst eine Einordnung bzw. Definition der grundlegenden Begrifflichkeiten gegeben werden (Kapitel 1). Anschließend wird das aktu- elle Mobilitätsverhalten in der Stadt und auf dem Land, von jungen und älteren Menschen holzschnittartig erläutert (weitaus differenziertere Analysen finden sich in den folgenden Heftartikeln – Verweise befinden sich an den entsprechenden Stellen im Text). Dabei wird nicht nur ein Überblick über den aktuellen Stand, also den Status quo gegeben, sondern es werden auch die Herausforderungen benannt, die neben der (Verkehrs-)Politik, der Wis- senschaft und Forschung, den Planerinnen und Planern auch jeden einzelnen beschäfti- gen. Welche innovativen Mobilitätsangebote heute schon möglich bzw. in Zukunft denkbar sind, ist dann Inhalt des letzten Kapitels.

1 Mobilität und Verkehr – wovon sprechen wir da eigentlich?

Mobilität ≠ Verkehr Fortbewegungsmittel, Infrastrukturen und Verkehr ist das Sichtbarwerden von räum­ Technik ausgerichtet, wohingegen Mobilität licher Mobilität, von Raumüberwindung, bei den Menschen und ihren Bedürfnissen egal ob von Personen, Gütern, Kapital, ansetzt (Schindler et al. 2009: 112). Räum­ Nachrichten oder Daten. Verkehr, als tech­ liche Mobilität1 wird als Möglichkeit und nische Voraussetzung und Folge von Mobili­ Bereitschaft zur Bewegung verstanden, die tät, ist mit Ortsveränderung gleichzusetzen. sich dann im Verkehr als realisierte Mobili­ Diese messen wir mit bestimmten Bezugs­ tät ausdrückt: Der Weg einer Person von A größen, wie z. B. der Verkehrsleistung und nach B wird zurückgelegt. dem Verkehrsaufkommen (teilweise auch bezeichnet als Verkehrsstärke) (Gather et al. Mobilität kann auch als „Wesensmerkmal Christian Schlump 2008: 24f.). von Lebenswirklichkeit“ (Wilde 2014: 372ff.) [email protected] interpretiert werden, als „sinnliche Tätig­ Der Begriff Mobilität hingegen ist, im Ver­ keit“ (ebd.) (ich genieße es, durch die Berge Dipl.-Geogr. Christian Schlump gleich zu Verkehr, deutlich weiter gefasst zu wandern und den Blick schweifen zu las­ war Projektleiter im BBSR- Referat I 5 (Verkehr und und meint viel mehr als die bloße sichtbare sen) oder als „Faktor körperlichen Wohlbe­ Umwelt). Urbane Mobilität, Raumüberwindung von A nach B. Mobilität findens“ (ebd.) (ich fahre Fahrrad, um mich Stadt- und Regionalver­ kehr, setzt direkt beim Individuum an mit seinen fit zu halten) verstanden werden. Sie ist da­ Flächenhaushalts­politik sowie Bedürfnissen sowie Aktivitäten. Bei Mobili­ mit nicht nur Mittel zum Zweck, sondern energetische Quartierskonzepte tät geht es somit, anders als beim Verkehr, gleicht dem Ausspruch „der Weg ist das waren seine Forschungsschwer- punkte. Seit März 2015 ist er nicht um Ortsveränderungen per se, son­ Ziel“. Mobilität ist aber natürlich auch eine Referent im Bundesministe- dern um Beweglichkeit, Bewegung und Be­ tagtäglich notwendige „Übergangshand­ rium für Verkehr und digitale wegendes. Dies gilt nicht nur für jeden Ein­ lung“ (ebd.), um den Raum zu überwinden Infrastruktur (BMVI) in Berlin und zelnen, sondern auch gesellschaftlich. „Der und an verschiedenen Orten verschiedenen beschäftigt sich dort thematisch Begriff Mobilität bezeichnet sowohl die Be­ Tätigkeiten nachzugehen. Geschäfte wollen u. a. mit Mobilitätssicherung und Daseinsvorsorge in ländlichen reitschaft und Fähigkeit zur Bewegung als erreicht werden, ebenso wie Freizeit-, Ver­ Regionen. Der hier abgedruckte auch die Bewegung selbst“ (Wegener 2009: sorgungs- und Bildungseinrichtungen oder Artikel ist im Rahmen der Tätig- 777). Das heißt, der Begriff Verkehr ist auf Kulturbetriebe. keiten für das BBSR entstanden. Christian Schlump: 84 Intermodal, multimodal, supermodal? Aktuelle und künftige Mobilität unter der Lupe

Für die Politik gilt Mobilität als eine zen­ lenwert von Mobilität in unserer heutigen trale Voraussetzung für wirtschaftliches Gesellschaft und macht deutlich, dass Mo­ Wachstum, Beschäftigung und Teilhabe bilität sowohl in der Stadt als auch auf dem des Einzelnen am gesellschaftlichen Leben Land und für alle Menschen, egal ob jung (BMVI 28.01.2015). Es stellt sich allerdings oder alt, arm oder reich, von essentieller die Frage, ob steigende Mobilität per se gut Bedeutung ist. und wünschenswert ist. Ist anhaltendes Wirtschaftswachstum tatsächlich nur mit Inter- und Multimodalität steigendem Verkehrsaufkommen zu errei­ chen? Artikelüberschriften wie „Schneller, Statistisch gesehen ist in Deutschland jede höher, weiter, irrer“2, „Der Wahnsinn des Person täglich 79 Minuten unterwegs und Pendelns“3 und „Immer mobil, immer im legt dabei in 3,4 Wegen 39 Kilometer zu­ Stress?“4 machen deutlich, dass mehr Mo­ rück (BMVBS 2010: 4). Die Unterwegszeiten bilität, und schließlich auch mehr Verkehr, sind in den letzten Jahren relativ konstant nicht immer und nicht unbedingt zu mehr geblieben, die zurückgelegte Strecke ist al­ Lebenszufriedenheit bzw. -qualität beitra­ lerdings angestiegen, was eine Erhöhung gen. Denn Mobilität kann neben Flexibilität der durchschnittlichen Verkehrsleistung be­ und Bewegung, neben sinnlicher Erfahrung deutet. Wie hoch die Verkehrsleistung bezo­ und körperlicher Betätigung auch Stress gen auf einzelne Personen sein kann, zeigt (1) bedeuten und oft viel Unmut hervorrufen – Schönduwe in diesem Band. Neben einer räumlichen so z.B. im Berufsverkehr, im Stau oder bei Mobilität kennen wir außer- dem noch geistige, soziale unvorhersehbaren längeren Reisezeiten. Unsere Wege legen wir mit unterschied­ oder berufliche Ausprägungen Ob Mobilität unbedingte Voraussetzung lichen Verkehrsmitteln zurück, die wir mal derselben, die aber genauso wie residenzielle Mobilität, für wirtschaftliches Wachstum ist, ist auch kombinieren und mal variieren – die Fach­ d. h. Wohnsitzveränderungen in der Wissenschaft umstritten. So ist nach welt spricht von Multi- und Intermodalität. bzw. Wanderungen sowie der Knoflacher (2014: 28) „die Zunahme der Diese beiden Begriffe werden auch als Mo­ Güter- und Wirtschaftsverkehr an dieser Stelle nicht weiter durchschnittlichen Weglängen im vergan­ bilitätskonzepte bezeichnet und mit Blick vertieft werden sollen. genen Jahrhundert nicht ein Ausdruck des auf System-, Personen- und Wegeeigen­

(2) technischen Fortschritts oder der Mobili­ schaften im Personenverkehr verwendet. http://www.sueddeutsche.de/ tätserhöhung, sondern ein Indikator für das Sie erklären, ob ein Weg lediglich mit einem kultur/gesellschaft-im-wandel- schneller-hoeher-weiter- Versagen der Wirtschafts- und Siedlungslo­ einzigen Verkehrsmittel zurückgelegt wird, irrer-1.430966 gistik.“ oder ob es zu Kombinationen bzw. Variati­ onen kommt. Eine gute Übersicht bietet die (3) http://www.wiwo.de/erfolg/beruf/ Zusammenfassend lässt sich allerdings zu­ Tabelle 1. mobilitaet-der-wahnsinn-des- mindest formulieren: „Mobilität wird als pendelns/8918380.html wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe (4) an der Gesellschaft und einer befriedigen­ http://wila-arbeitsmarkt.de/files/ biku_2013_50_immer_mobil. den Lebensqualität gesehen“ (Wilde 2014: pdf 373). Dieser Satz unterstreicht den Stel­ Abbildung 1 Multi- und intermodales Verkehrsverhalten

Tabelle 1 Inter- und Multimodalität als System-, Personen- oder Wegeeigenschaft im Personenverkehr

Verkehrssystem Person Weg/Wegkette Multimodalität Es besteht die Möglich- Variiert Verkehrsmittel Verkehrsmittel werden (Variation) keit, Verkehrsmittel zu über unterschiedliche innerhalb einer Wege- variieren Wege und Wegeketten kette variiert Intermodalität Es besteht die Möglich- Kombiniert Verkehrs- Verkehrsmittel werden (Kombination) keit, Verkehrsmittel zu mittel innerhalb eines innerhalb einer Ortsver- kombinieren Weges änderung kombiniert Monomodalität Es besteht keine Mög- Variiert bzw. kombiniert Für die Ortsverände- lichkeit zur Verkehrs- keine Verkehrsmittel rung wird genau ein mittelvariation bzw. Verkehrsmittel genutzt -kombination

Quelle: Beckmann u.a. 2003 (zitiert nach Chlond 2013, 274) Quelle: BBSR 2014: 8 Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 85

An einem konkreten Beispiel bedeutet dies: MiD. Die letzte Befragungswelle hat 2012 Wenn wir morgens aus dem Haus gehen, bzw. 2013 stattgefunden. mit dem Fahrrad zur S-Bahn-Haltestelle fahren, dort die Bahn nehmen und den Die Entwicklung des Einwohnerverkehrs restlichen Weg zur Arbeit wiederum zu Fuß speziell in Städten wird seit über 40 Jah­ zurücklegen, sind wir auf dieser Strecke in­ ren von der Verkehrswissenschaftlichen termodal unterwegs. Wenn wir am nächs­ Fakultät an der Technischen Universität ten Tag dieselbe Strecke in Gänze mit dem Dresden analysiert, die insgesamt zehn­ Auto fahren, verhalten wir uns insgesamt te Erhebungsrunde fand 2013 statt. Die gesehen multimodal (siehe Abb. 1). SrV-Zeitreihe (System repräsentativer Ver­ kehrsbefragungen) wird von immer mehr Die bundesweite Mobilität unter der Lupe Städten beauftragt und ausgewertet, um – MiD, SrV und Co. als wissenschaftliche wissenschaftlich fundierte Aussagen für Datengrundlagen die künftige Verkehrs- und Stadtplanung zu nutzen. Ausgewählte Ergebnisse werden in Um das Mobilitätsverhalten der Bundesbür­ Kurzform im zweiten Abschnitt dieses Bei­ ger wissenschaftlich zu untersuchen und zu trags vorgestellt. analysieren, werden seit Jahrzehnten regel­ mäßig Forschungsstudien durchgeführt. Neben den drei großen, regelmäßig durch­ Unter dem Namen KONTIV (kontinuier­ geführten Studien existieren noch viele liche Erhebung zum Verkehrsverhalten) weitere Umfragen, Forschungsarbeiten und fanden in den Jahren 1976, 1982 und 1989 wissenschaftliche Analysen, die sich teil­ bundesweite Befragungen zum alltäglichen weise mit sehr expliziten Zielgruppen bzw. Verkehrsverhalten statt. 2002 und 2008 wur­ Fragestellungen beschäftigen, oder auch den sie unter dem Namen MiD (Mobilität von verschiedenen Lobbyverbänden fi­ in Deutschland) mit teilweise verändertem nanziert und kommuniziert werden. Dabei Forschungsdesign fortgeführt. Die Daten wird sowohl quantitativ als auch qualitativ dienen auf der einen Seite als Basis für die gearbeitet, u.a. mit Wegeprotokollen, Mo­ Verkehrsplanung in der Bundesrepublik, auf bilitätstagebüchern, Interviews oder GPS- der anderen Seite aber auch für weiterfüh­ Tracking5. rende wissenschaftliche Untersuchungen zur Personen- und Haushaltsmobilität. Eine Aktualisierung bereitet das Bundesministe­ 2 Unterwegs in Deutschland – rium für Verkehr und digitale Infrastruktur Der Status quo und die Heraus- (BMVI) für die Jahre 2015 bzw. 2016 vor. Bei forderungen der MiD werden jedes Mal aufs Neue an­ dere Personen befragt, es handelt sich also Natürlich variiert der Modal Split, also die um eine Querschnittserhebung. Um aber Verteilung des Verkehrsaufkommens auf auch Veränderungen im Mobilitätsverhal­ verschiedene Verkehrsmittel, in Deutsch­ ten im Lebensverlauf bzw. in longitudinaler land erheblich. Differenziert wird meist Perspektive abbilden zu können, müssen nach MIV (motorisierter Individualver­ Panelstudien, also Langzeit- und Längs­ kehr), ÖV (öffentlicher Verkehr), Fahrrad- (5) So erforscht z. B. das InnoZ schnittanalysen durchgeführt werden. und Fußverkehr. Weitere kleinteiligere aus Berlin im Projekt „WiMobil Beim Deutschen Mobilitätspanel (MOP) Unterscheidungen sind dabei ebenfalls – Wirkungen von E-Carsharing Systemen auf Mobilität und ist dies seit über 20 Jahren der Fall: Die möglich (z. B. Mitfahrer im MIV oder Schie­ Umwelt in urbanen Räumen“, ausgewählten Personen werden drei Jahre nenpersonennahverkehr (SPNV) etc.). Be­ das vom Bundesministerium hintereinander gebeten, an der Erhebung sonders große Unterschiede gibt es zwi­ für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) teilzunehmen. Im Rahmen eines Rotations­ schen ländlichen Regionen und städtischen finanziert wird, aktuell die Wir- panels werden dann die Personen, die das Metropolen, aber auch zwischen jungen kungen von E-Carsharing- Systemen auf Mobilität und Panel jährlich verlassen, durch neue Per­ und älteren Menschen bzw. zwischen Per- Umwelt in urbanen Räumen. sonen ersetzt. Dadurch ermöglichen sich sonengruppen mit stark überdurchschnitt­ Dabei wird ein GPS-Tracking eingesetzt, das von einem web- präzisere Rückschlüsse auf Veränderungen lichem und stark unterdurchschnittlichem basierten Fragebogen unter- im individuellen Mobilitätsverhalten. We­ Haushaltsnettoeinkommen. stützt wird (www.innoz-tracks.de). gen des deutlich höheren Aufwands dieser Erhebungstechnik ist allerdings die Anzahl der Befragten deutlich geringer als bei der Christian Schlump: 86 Intermodal, multimodal, supermodal? Aktuelle und künftige Mobilität unter der Lupe

…in der Stadt und auf dem Land… prägen. Darüber hinaus gibt es einen mit­ tel- bis langfristigen Trend zu einer zuneh­ Die aktuelle Renaissance der Städte war vor menden Fahrradnutzung bezogen auf die 30 oder 40 Jahren noch kein großes Thema. Fahrleistung. Zeitgleich nimmt die Pkw- Damals haben z. B. junge Familien eher im Verfügbarkeit bei den unter 35-Jährigen suburbanen Raum im Eigenheim gewohnt, langsam ab, vor allem in Städten, wohin­ waren auf den (bzw. teilweise die) eigenen gegen die über 60-Jährigen häufiger über Pkw angewiesen, um zur Arbeit zu kommen einen Führerschein und Pkw-Zugriff verfü­ oder einzukaufen. Die räumliche Disper­ gen als dieselbe Altersklasse vor einigen Jah­ sion und die funktionale Trennung vieler ren – ein klarer Kohorteneffekt, der als Folge Daseinsgrundfunktionen (Wohnen, Arbei­ der Automobilisierung der Gesellschaft in ten, sich bilden, sich versorgen etc.) führte den vergangenen Jahrzehnten auch heute zu einem steigenden Verkehrsaufkommen noch Auswirkungen zeigt (siehe auch Do­ und einer steigenden Verkehrsleistung. kumentation der Podiumsdiskus­sion vom 3. Suburbane Räume und die Einfamilien­ November 2014, in diesem Band der letzte häuser im Grünen gibt es zwar heute auch Beitrag). Laut SrV-Städtepegel ist allerdings (6) Da die letzte MiD-Umfrage noch, doch ist vermehrt ein Rückzug in die der Anteil der Personen in Haushalten ohne bereits sieben Jahre zurückliegt Städte festzustellen, insbesondere bei der Pkw von 23 auf 21 % gesunken. und die nächsten bundesweiten Ergebnisse dieser Studie erst Personengruppe zwischen 20 und 35, aber im kommenden Jahr veröffent- auch bei älteren Menschen, die in urbanen Interessant ist die unterschiedliche Ver­ licht werden, werden hier mit Blick auf quantitative Aussagen Räumen die Versorgungsstrukturen mit kehrsmittelwahl von Personen in Abhängig­ zur Mobilität in Deutschland weitaus kürzeren Wegen und auch ohne ei­ keit von der Größe des Wohnortes. Wie in die jüngsten Ergebnisse des genen PKW erreichen können (BBSR 2012). Abbildung 2 zu erkennen ist, Deutschen Mobilitätspanels und der SrV sowie einer • steigt die ÖV-Nutzung mit zunehmender aktuellen forsa-Studie heran- Die Daten der letzten Jahre6 (Quellen für gezogen. Stadtgröße, die folgenden Zahlen sind die SrV-Daten, • ist die Nutzung eines eigenen Pkw umso (7) d. h. Ahrens 10.11.2014 und die Daten des Bei dieser Studie wurden wahrscheinlicher, je kleiner die Kommu­ Deutschen Mobilitätspanels, d. h. BMVI insgesamt 4 004 Bundesbür- ne ist, ger ab 18 Jahre zum Thema 2014c) zeigen, dass vor allem in städtisch Mobilität und Kosten befragt. geprägten Räumen bei den unter 35-Jäh­ • wird das Taxi im urbanen Raum wesent­ Auftraggeber waren die Allianz lich häufiger genutzt als in Dörfern und pro Schiene e.V., der Allgemei- rigen in der Summe der Umweltverbund ne Deutsche Fahrrad Club e.V., gewinnt, d. h. dass überwiegend die öf­ kleinen Städten und der Bundesverband CarSharing e.V. und der Bundesverband fentlichen Verkehrsmittel, das Fahrrad und • zeigt sich Carsharing zwar grundsätzlich der Verbraucherzentrale e.V. das Zufußgehen das Mobilitätsverhalten immer noch eher als „Nischenprodukt“, in großen Städten mit über 500 000 Ein­ wohnern geben aber immerhin bereits Abbildung 2 ca. 10 % der Befragten an, in den ver­ Anteil der Personen mit Nutzung verschiedener Verkehrsmittel innerhalb gangenen 12 Monaten dieses Angebot der letzten zwölf Monate in Prozent nach Größe der Kommune genutzt zu haben. in % 100 Vor allem in den urbanen Räumen Deutsch­ 90 lands zeigen sich in den vergangenen zehn 80 bis 15 Jahren interessante Veränderungen 70 im Verkehrs- und Mobilitätsverhalten. Zwi­ 60 schen 2002 und 2012 sank beispielsweise 50 mit Blick auf das Verkehrsaufkommen der 40 30 Anteil des MIV am Modal Split von ca. 57 % 20 auf 54 %. Gleichzeitig stieg der Anteil des 10 öffentlichen Verkehrs von 9 % auf fast 12 % 0 an, der des Fahrradverkehrs von 9 % auf unter 5 000 5 000 bis 20 000 bis 100 000 bis über 500 000 gut 13 % (Zumkeller et al. 2002 und BMVI 20 000 100 000 500 000 2014c). Nach Schelewsky (2013) lässt sich Anzahl Einwohner die Dynamik der Veränderungen auf dem eigenes Auto ÖV Fahrrad Taxi Motorrad Carsharing Mobilitätsmarkt im urbanen Raum auf ein neues gesellschaftliches Verständnis von 7 Quelle: Eigene Darstellung nach forsa 2014 Mobilität zurückführen, das geprägt ist von Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 87

einem neuen Pragmatismus. Das Selbstver­ Abbildung 3 ständnis der Automobilindustrie hat sich Nutzungshäufigkeit verschiedener Verkehrsmittel in Prozent (Es haben in den vergangenen 12 Monaten die folgenden Verkehrsmittel genutzt) in Teilbereichen geändert, man bezeichnet sich heute lieber als „Mobilitätsdienstleis­ in % 100 ter“ und bietet neben dem Kernprodukt immer mehr integrierte Angebote (car2go, 90 DriveNow oder Citroën Multicity eCar­ 80 sharing) an und natürlich haben die tech­ 70 nologischen Entwicklungen ihren Teil dazu 60 beigetragen, dass neue Mobilitätskonzepte ermöglicht und vernetzt wurden (Smart­ 50 phone-Apps, GPS-Tracking, Echtzeit-Live­ 40 verfolgungen etc.) (Schelewsky 2013). 30 Neben der Digitalisierung vieler Lebensbe­ 20 reiche spielen auch ein stärker ausgeprägtes Umweltbewusstsein, postmaterialistische 10 Werthaltungen, sozio-ökonomische Verän­ 0 derungen und nicht zuletzt grundsätzlich 18 bis 29-Jährige 30 bis 44-Jährige 45 bis 59-Jährige 60 und älter Alter steigende Mobilitätskosten eine Rolle für eigenes Auto ÖV Fahrrad Taxi Motorrad Carsharing diese Entwicklungen (Schelewsky 2013). Quelle: Eigene Darstellung nach forsa 2014 Doch nicht überall zeigen sich diese Verän­ derungen: Sowohl quantitative Erhebungen Das Deutsche Mobilitätspanel zeigt folgende langfristige (forsa, MiD) als auch qualitative Unter­ Entwicklungen auf: suchungen (z. B. Wilde 2014) bestätigen die Tendenz älterer Menschen, eher den MIV Tabelle 2 und den öffentlichen Verkehr zu nutzen, als Trends der Verkehrsmittelwahl mit dem Fahrrad zu fahren oder zu Fuß zu Mobilitätskenngröße bzw. Verkehrsmittel Personengruppe und Trend gehen. Dieses Verhalten ist im ländlichen Pkw-Verfügbarkeit und Führerscheinbesitz Jüngere (bis 35 Jahre): langsame Abnahme bzw. dünner besiedelten Raum in Deutsch­ Ältere (älter als 60 Jahre): langsame Zunahme land stärker ausgeprägt als in urbanen Zen­ Verkehrsaufkommen Jüngere (bis 35 Jahre): Abnahme tren, wo die Wege kürzer sind und die Orte Ältere (älter als 60 Jahre): Stabilität zur Erfüllung der Daseinsgrundfunktionen Verkehrsleistung Jüngere (bis 35 Jahre): Stabilität näher beieinander liegen. Ältere (älter als 60 Jahre): Stabilität Zu Fuß Jüngere (bis 35 Jahre): Stabil bis langsame Abnahme …jung und alt… Ältere (älter als 60 Jahre): deutliche Abnahme

Fahrrad Jugendliche (bis 17 Jahre): langsame Bei der Differenzierung nach Altersgruppen Abnahme zeigen sich – unabhängig von Raumkatego­ Jüngere (18–35 Jahre): langsame Zunahme rien – noch weitere Trends (siehe Abb. 3). Ältere (älter als 60 Jahre): langsame Zunahme Das eigene Auto dominiert als überwiegen­ Motorisierter Individualverkehr Jugendliche (bis 17 Jahre): sehr langsame Zunahme des Verkehrsmittel in den Altersgruppen 30 Jüngere (18–35 Jahre): Abnahme bis 59 Jahre. Die Carsharingnutzung nimmt Ältere (älter als 60 Jahre): langsame Zunahme mit dem Alter ab, ebenso die Nutzung des Öffentlicher Verkehr Jüngere (bis 35 Jahre): (langsame) Zunahme öffentlichen Verkehrs, die sich jedoch in Ältere (älter als 60 Jahre): langsame Abnahme der jungen Altersgruppe 18 bis 29 Jahre mit Quelle: Eigene Darstellung nach BMVI 2014c: 15f. über 85 % auf einem sehr hohen Niveau be­ findet. Zudem sind langfristige Entwicklun­ gen in Tabelle 2 zusammengefasst. nen, die die heutige und sicherlich auch künftige Mobilität in Deutschland determi­ Natürlich bieten SrV, MOP und weitere nieren (siehe folgender Abschnitt). Abzu­ wissenschaftliche Studien noch wesentlich warten bleibt zudem, zu welchen Erkennt­ mehr und differenziertere Ergebnisse, als nissen die Neuauflage der MiD (2015 bzw. die an dieser Stelle skizzierten. Dieser ein­ 2016) kommen wird, die dann besonders leitende Artikel möchte hier ausschließlich gut die Entwicklungen 2002–2008–2016 die „großen“ und sichtbaren Trends nen­ darstellen werden. Christian Schlump: 88 Intermodal, multimodal, supermodal? Aktuelle und künftige Mobilität unter der Lupe

3 Mobilität im Spannungsfeld fentlichem Verkehr und Carsharing positive einer sich wandelnden Welt Wirkungen entfalten kann (BMVI 2014b). Ergänzende oder vielleicht sogar notwen­ Heute… dige Voraussetzung für diese Entwicklun­ gen von flexiblen, nutzerfreundlichen und Bereits aus heutiger Sicht ist klar: Das Rad integrierten Mobilitätsdienstleistungen muss nicht neu erfunden werden, um die waren und sind die Informations- und Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen und Kommunikationstechnologien (kurz: IuK), gleichzeitig Umwelt und Ressourcen zu die über Smartphone-Apps, Echtzeitver­ schützen sowie Lebensqualität in Städten folgung und Wegeführung das Aufbrechen und auf dem Land zu wahren. Doch das von Alltagsroutinen ermöglicht haben. Mit Rad muss zumindest modifiziert werden. Smartphone-Apps wird heute Mobilität ge­ Wie dies gelingen kann, sehen wir in An­ plant und organisiert – sie verzeichnen in sätzen schon heute. Sauter-Servaes und den letzten Jahren einen immer größeren Rammler (2013: 38) sprechen von „innova­ Funktionsumfang. Waren sie anfangs ledig­ tiven urbanen Mobilitätsdienstleistungen“, lich Fahrplanauskunft oder Schlossöffner die die bisher technischen Lösungen in für das öffentliche Leihfahrrad, so sind sie Form von Maßnahmen zu Effizienzsteige­ heute hoch komplex (Fahrkartenbuchung, rung oder auch Nutzung alternativer Kraft­ Preis- und Reisezeitvergleich verschiedener stoffe ablösen und organisatorische Lö­ Transportmittel etc.), sodass sogar teilweise sungspfade wählen, die gemeinschaftliche nur noch ein Bruchteil der zur Verfügung Konsummöglichkeiten schaffen. Teilweise stehenden Funktionen genutzt werden. Die wird von einer neuen „Wir-Kultur“ gespro­ Entwicklung der Apps geht nicht mehr nur chen und dem daraus folgenden „Verge­ von Verkehrsunternehmen aus, sondern zu­ meinschaftungsbedürfnis“ (zukunftsInsti­ nehmend von kleinen Start-ups, die „ziel­ tut 27.01.2015). Die Vorteile liegen auf der orientierte Lösungen“ entwickeln (vgl. forsa Hand: Besitz, der zwar auf der einen Seite 2014). Wert und Eigentum darstellt, auf der ande­ ren Seite aber auch stark mit Verantwortung, Die strikte Differenzierung zwischen Indi­ Kosten und Verbindlichkeiten einhergeht, vidual- und öffentlichem Verkehr ist also ist nicht mehr unbedingte Voraussetzung verwischt. Ehemals ausschließlich indi­ für Mobilität und Verkehr. Vielmehr kann viduell genutzte Verkehrsmittel wurden durch den Gebrauch von gemeinschaftlich kollektiviert und so der (Smartphone-be­ genutzten Verkehrsmitteln („nutzen statt sitzenden) Öffentlichkeit im öffentlichen besitzen“) eine neue Flexibilität und Spon­ Raum zur Verfügung gestellt, was zu einer taneität geschaffen werden, bei der nicht neuen Form von Verkehrsmittel führt: den der kurzfristige Verkaufsprozess eines Autos, öffentlichen Individual-Verkehrsmitteln Fahrrads oder Motorrads im Vordergrund (ÖIV). Diese neuen Mobilitätsformen und steht, sondern durch einen längerfristigen -dienstleistungen (BBSR 2014), können im Dienstleistungsprozess ersetzt wird, der besten Fall den eigenen Pkw substituieren, von Mobilitätsdienstleistern wie z. B. Car­ wenn die Zugangsbarrieren niedrig sind sharing-Unternehmen und auch den kom­ und eine hohe Akzeptanz vorhanden ist. Es munalen Verkehrsunternehmen offeriert ist wie ein sich selbst verstärkender Prozess: wird. Daraus entsteht eine immer breitere Je mehr sich neue Mobilitätsformen durch­ Produktpalette, mit Bausteinen wie z. B. setzen und je mehr sie von den Bewohnern für die Allgemeinheit zugängliche­ Fahrrä­ akzeptiert werden, desto präsenter werden der, die flexibel ausgeliehen und abgestellt sie im Stadtbild und desto eher werden sie werden können und Car­sharing-Angebote, genutzt. Dies lockt dann wiederum neue die mittlerweile nicht mehr ausschließlich Nutzer an und sorgt für eine noch stärkere stationsgebunden sind oder lange im Vor­ Akzeptanz. aus reserviert werden müssen. So werden öffentliche Fahrradverleihsysteme auch als Wie bereits angesprochen, ist das Mobili­ Teil einer modernen kommunalen Mobi­ tätsverhalten abhängig von der Raumstruk­ litätsstrategie gesehen, die insbesondere tur. Oft heißt es, dass neue Mobilitätsfor­ durch die integrierte Verknüpfung (hin­ men und -dienstleistungen ausschließlich sichtlich der Standorte aber auch in Bezug in Metropolen angenommen werden und auf die Ticket- und Tarifstruktur) mit öf­ finanzierbar sind. Jedoch ist das Aufrecht­ Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 89

erhalten der öffentlichen Verkehrsangebote daseinsvorsorge.de) geschaffen. In diesem im ländlichen Raum vor dem Hintergrund MORO-Forschungsfeld (Modellvorhaben der demografischen Entwicklungen und der der Raumordnung), das vom BMVI finan­ Daseinsvorsorge eine besonders dringende ziert und vom Bundesinstitut für Bau-, Aufgabe (siehe auch Muschwitz und Rei­ Stadt- und Raumforschung (BBSR) betreut mann in diesem Band). wird, wurde zunächst die Entwicklung ei­ ner Regionalstrategie zur Sicherung der Sicherlich sind die potenziellen Nutzerzah­ Daseinsvorsorge in 21 ausgewählten Mo­ len in Städten für Carsharing und Fahrrad­ dellregionen gefördert. Zudem wurden in verleihsysteme höher. Doch auch für den zwei Phasen Pilotprojekte gefördert. Die ländlichen Raum gibt es bereits heute kluge Pilotprojekte der zweiten Phase aus dem Ideen, um die Mobilität der Bewohnerin­ Schwerpunktthema Mobilität zeigt die nen und Bewohner zu erhalten, ohne aus­ nachfolgende Tabelle. schließlich auf den eigenen Pkw angewie­ sen zu sein. Modellprojekte, die mittelfristig Im Vordergrund der geförderten Projekte auch auf andere Regionen in Deutschland stehen zum einen die Koordination und übertragen werden könnten, werden etwa gemeinsame Nutzung von ohnehin vor­ im Rahmen des Aktionsprogramms regi­ handenen Ressourcen, z. B. in Form von lo­ onale Daseinsvorsorge (www.regionale- kalen Mitfahrgelegenheiten. Zum anderen

Tabelle 3 Pilotprojekte der zweiten Umsetzungsphase des MORO Aktionsprogramms regionale Daseinsvorsorge mit Schwerpunkt Verkehr/Mobilität

Modellregion Pilotprojekt Phase II Ziele Vorgehen Erste Ergebnisse SPESSART Mobilitätsnetz Spessart – der • Sicherung der Mobilität für die • Maßnahmen zur Optimierung u.a. regional Einstieg zum Umstieg Generationen auch außerhalb des ÖPNV-Linien- und • Entwicklung von Organisations- der Siedlungs- und Verkehrs- Bedarfsverkehrs strukturen für die Integration hauptachsen • Alternative Bedienformen in privater Fahrten sowie für den interkommunaler Zusammen- ehrenamtlichen Fahrdienst arbeit „Bürger fahren Bürger“ • Integration des MIV

Mitte Mobilitätsressourcen- u.a. • Erhebung der Fahrzeug- • Bedarfserhebung und Niedersachsen management Mitte • Nutzung un- oder untergenutzter kapazitäten, Ermittlung der Fahr- Skizzierung konkreter Mobilitäts- Niedersachsen (MOREMA) (halb)öffentlicher Fahrzeug- ziele, Entwicklung einer Plattform angebote kapazitäten zur Vermittlung zwischen • Identifizierung der rechtlich- • Vermittlung bereits vorhandener Ressourcen und Nachfragern administrativen Fragestellungen Fahrzeugressourcen durch ein • Klärung rechtlicher Rahmen- • Erstes Umsetzungsprojekt: Mobilitätsressourcen- bedingungen Schwimmbadbus in Rehburg- Management • Entwicklung eines Betreiber- Loccum (Feuerwehrwagen wird modells in Sommermonaten als Zubringer zum Schwimmbad eingesetzt)

Oberes Elbtal/ Gemeindeflitzer – nachhaltige • Initiierung eines nieder- 1. Machbarkeitsstudie • Bedarfs- und Angebotsanalyse Osterzgebirge und flexible Mobilität im schwelligen, bürgernahen und 2. Umsetzung • Routenvorschläge zur Anbindung Osterzgebirge flexiblen Mobilitätssystems • Gründung Mobilitätsnetzwerk aller Ortsteile • Anbindung kleiner Ortsteile an • Umsetzung Mobilitätssystem • Akteursabstimmung die Hauptachsen des ÖV • Monitoring und Evaluation • Zentrale Herausforderungen: • Akzeptanz und Finanzierung

Saale- ecoMOBIL – Mobilität neu • Nutzung eines mit Biogas • Nutzungskonzept entwickeln und • Fahrzeug wurde angeschafft Holzland-Kreis denken betriebenen Fahrzeugs als alter- rechtliche Rahmenbedingungen (VW Caddy) natives, flexibles Mobilitäts- prüfen • Neun Vereine (Sport, Soziales, angebot unter Einbindung • Fahrzeug anschaffen, Ehren- Senioren, Schulen) mit ca. ehrenamtlicher Fahrer amtler gewinnen, Buchungsportal 1 000 Mitgliedern nutzen das implementieren Angebot • Öffentlichkeitsarbeit

Vogelsberg- E-Mobilität im Vogelsbergkreis v.a. • Auswahl der drei Umsetzungs- • Konzept wurde sehr stark kreis – neue Wege der Mobilität • Erhöhung der Mobilität bzw. standorte beteiligungsorientiert erarbeitet Erreichbarkeit durch „Hol- und • Seit Herbst 2014 Erprobung und • Integration in bestehende Bringservice“, angebunden an Umsetzung Strukturen und Ausrichtung auf Nachbarschaftshilfeverein • Projektbegleitende Evaluation breite und intensive Nutzung als • Erprobung E-Carsharing im Kernpunkte der Konzeption ländlichen Raum • Kostentransparenz und gemein- schaftliche Kommunikation und Verantwortung

Quelle: BMVI 2014a Christian Schlump: 90 Intermodal, multimodal, supermodal? Aktuelle und künftige Mobilität unter der Lupe

werden aber auch neue Ressourcen in Form das Momentum dieses lange gewachsenen von Fahrzeugen beschafft, die dann wiede­ Systems aus Infrastrukturen, Institutionen, rum einer großen Anzahl von Personen zur Interessen, Gewohnheiten, Leidenschaften, Verfügung gestellt werden. Dies ist z. B. im Ansprüchen und Lebensstilen nicht von Vogelsbergkreis der Fall. Dort wurden drei heute auf morgen abgebremst oder auch E-Carsharingfahrzeuge angeschafft, die nun nur zu einer Richtungsänderung veranlasst an verschiedenen Standorten ausgeliehen werden kann“ (ebd.: 18). So schätzen es werden können und gleichzeitig mit einem Canzler und Knie (2015) als realistisch ein, Hol- und Bringservice kombiniert wurden, bis zum Jahr 2020 eine Million annähernd

der so auch Mobilität sichert für Menschen, CO2-freie Automobile und ein attraktives die nicht selbst fahren können oder wollen. Angebot des öffentlichen Verkehrs zu schaf­ Bei allen innovativen Entwicklungen und fen – allerdings nur unter der Prämisse, neuen Angeboten, bei der Nutzung vorhan­ dass sich eine „Allianz der Willigen“ (ebd.: dener Ressourcen und der intelligenten Ver­ 10) findet und bildet, die heute und jetzt knüpfung gilt allerdings, dass sie sich „nicht die richtigen Entscheidungen trifft und die nur an gut verdienende technologieaffi­ Weichen für die Transformation stellt. ne Kreise richten“ (Herget und Hunsicker 2014: 65) dürfen, sondern auch diejenigen Es geht wohl – wie so oft – um den richti­ ohne Smartphone, Internet und mit gerin­ gen Mix: das sieht auch die EU Kommission­ gerem Einkommen einschließen sollen. mit ihrer Kampagne „Do the Right Mix“ so. Die über das Intelligent Energy Europe …und in Zukunft? Programme finanzierte Projekt unterstützt nicht-technische Handlungen im Bereich Interessant sind Überlegungen, wie die zu­ von Energieeffizienz und erneuerbaren künftige Mobilität aussehen kann, die die Energien. Die Kampagne hat sich zum Ziel Besonderheiten der Stadtstrukturen, die gesetzt, die Vorteile eines Mix der Verkehrs­ Entwicklungen im ländlichen Raum und mittel zu kommunizieren und zu promo­ zugleich auch die unterschiedlichen Le­ ten. Dabei will sie im Rahmen der 18 euro­ bensstile und -phasen ihrer Bewohner be­ paweiten Initiativen für nachhaltige urbane rücksichtigt. Mobilität darauf aufmerksam machen, dass durch die richtige Wahl des Verkehrsmit­ Unstrittig ist sicherlich, dass eine steigende tels Gesundheitsförderung, Geld sparen Verkehrsleistung, d. h. mehr zurückgeleg­ und Umwelt schützen gleichzeitig mög­ te Kilometer je Person, nicht automatisch lich ist (www.dotherightmix.eu). Schippl et gleichzusetzen ist mit verbesserter Mobilität al. (2015 in diesem Heft) erläutern dazu in (Würdemann 2014). Mobilität ist zwar von ihrem Artikel eindrücklich, welche Mobi­ fundamentaler Bedeutung für die Ökono­ litätszukünfte in Form von Szenarien auf mie und den privaten Lebensstil jedes Ein­ EU-Ebene von Experten und Stakeholdern zelnen, jedoch sind Produkt- und Ressour­ als wünschenswert und umsetzbar einge­ cenintensität eine enorme Herausforderung schätzt werden. an die Zukunft. Rammler (2014) spricht davon, dass es angesichts der wachsenden In vielen deutschen Großstädten sind die Weltbevölkerung und knapper werdenden Kapazitäten des öffentlichen Verkehrs und Ressourcen nur eine Möglichkeit gibt: die auch die der Straßen längst an ihren Gren­ Schubumkehr. Diese könne gelingen durch zen angekommen – der Investitionsstau bei das Zusammenspiel von innovativen Tech­ der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur ist nologien, klugen ökonomischen Strategien enorm. Ein erster Lichtblick ist erkennbar: und einer veränderten politischen Kultur Die Deutsche Bahn AG wird zwischen 2015 (Rammler 2014: 15). Dieses Umlenken des und 2019 insgesamt 17 000 km Schienen, Schubes entgegen der eingeschlagenen 8 700 Weichen und mindestens 875 Brü­ Bewegungsrichtung und somit die grund­ cken erneuern. Dafür werden über die neue sätzliche Änderung der Mobilität bzw. des Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung Mobilitätsverhaltens etc. müsse aber als­ (LuFV II) 28 Mrd. Euro bereitgestellt (BMVI bald eingeleitet werden, damit die Wir­ 12.01.2015). Im Vergleich zur LuFV ist dies kung rechtzeitig eintritt: „Übertragen auf eine deutliche Aufstockung: Während die komplexen Systeme der Mobilitätswelt der ersten Laufzeit 2009–2012 haben die Quelle: www.dotherightmix.eu ist unschwer nachvollziehbar, dass auch Eisenbahninfrastrukturunternehmen jähr­ Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 91

lich Bundesmittel in Höhe von 2,5 Mrd. Für die Gestaltung zukünftiger Mobilität ist Euro erhalten (Eisenbahn-Bundesamt die Verkehrspolitik unerlässlich (siehe auch 21.05.2014). Das hilft den vielen kommunal Busch-Geertsema et al. in diesem Band). betriebenen Verkehrsanlagen allerdings we­ Sie „ist – ob gewollt oder nicht – gelebte nig. Nachhaltigkeitspolitik: Die Gewährleistung von finanzierbarer Mobilität ist ein soziales Im Bereich des öffentlichen Individualver­ Gebot, die Aufrechterhaltung einer funkti­ kehrs wird Carsharing bis 2020 voraussicht­ onsfähigen Infrastruktur ein ökonomisches lich ein fester Bestandteil zeitgemäßer Mo­ Gebot und die Reduzierung der negativen bilität. Laut Prognosen wird sich die Zahl Effekte auf Mensch, Umwelt und Natur ein von heute rund einer Million Nutzer min­ ökologisches Gebot“ (UBA 2014). Dazu ist destens verdoppeln, möglicherweise aber es nötig, die Integration nicht nur zu pos­ auch auf bis zu drei Millionen anwachsen, tulieren, sondern auch zu leben und zwar je nachdem welche begünstigenden Ent­ hinsichtlich der politischen Ebenen sowie wicklungen durch Politik, Vernetzungen räumlich, modal, sektoral und der wissen­ unterschiedlicher Anbieter oder auch z. B. schaftlichen Disziplinen (UBA 2014). Corporate Carsharing (Nutzung von Fir­ menfuhrparks durch Mitarbeiter) stattfin­ den (TÜV Rheinland, FSP, BBE Automotive 2015). Christian Schlump: 92 Intermodal, multimodal, supermodal? Aktuelle und künftige Mobilität unter der Lupe

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Schneller, weiter, nachhaltiger? Robert Schönduwe Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen

Der moderne Mensch ist flexibel und mobil. Sinkende Mobilitätskosten und schrumpfende Raumwiderstände ermöglichten in den letzten Jahrzehnten ein stetiges Anwachsen indi­ vidueller Aktionsräume. Egal ob Fernbeziehung, das Pendeln an einen weit entfernten Ar­ beitsplatz oder ein berufsbedingter Zweitwohnsitz: Mittlerweile ist der berufliche und pri­ vate Alltag für bestimmte Bevölkerungsgruppen nur noch mittels regelmäßiger Fernreisen zu bewältigen. Diverse gesellschaftliche Prozesse haben verkehrsinduzierende Wirkungen. Die Dynamik dieser Prozesse ist jedoch nur ansatzweise verstanden und kann mit vorhan­ denen Daten nur unzureichend quantifiziert werden. Dabei wäre es sehr wichtig, zu hinter­ fragen, inwiefern Hochmobile als Mobilitätspioniere angesehen werden können, deren Han­ deln Hinweise auf die zukünftige Entwicklung der Mobilität und des Verkehrsgeschehens liefern. Im vorliegenden Artikel werden retrospektiv erhobene Verlaufsdaten genutzt, um einen Einblick in Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen zu vermitteln. Es wird ge­ zeigt, dass insbesondere für jüngere Hochmobile die situationsangepasste Verkehrsmittel­ wahl eine wichtige Strategie zur Bewältigung des hochmobilen Alltags darstellt.

1 Distanzintensives Leben haltsumzüge über längere Distanzen rück- in der zweiten Moderne läufig sind (Schneider und Mail 2008). Auf gesellschaftlicher Ebene zeigen sich Aus- Die Welt scheint in den letzten 100 Jahren wirkungen auf die räumliche Struktur sozi- kleiner geworden zu sein. Infrastrukturaus- aler Netze, partnerschaftlicher Beziehungen bau, neue Technologien und vergleichswei- und Familienstrukturen. Es entstehen neue, se niedrige Mobilitätskosten ließen indivi- distanzintensive Haushalts- und Lebens- duelle Möglichkeitsräume stetig anwachsen formen. Die Ausweitung der räumlichen (Grübler 1990). In den letzten Jahren be- Verteilung sozialer Kontakte lässt sich auch schleunigt die Digitalisierung den Alltag in der steigenden Bedeutung des Freizeit- noch stärker. Moderne Informations- und verkehrs ablesen (Lanzendorf 2001). Denn Kommunikationsmedien erlauben eine ef- Freizeitmobilität dient vor allem dazu, so- fizientere Organisation individueller Mobi- ziale Kontakte zu pflegen, ist „sozialer Kitt“ lität. Möglichkeitsräume wachsen dadurch der Gesellschaft. noch weiter an. Während mahnende Stim- men auf negative Folgen des Verkehrs für Im Durchschnitt legen Personen in Natur, Umwelt und soziale Beziehungen Deutschland pro Jahr ca. 20 000 km zurück verweisen, betonen andere den Gewinn (BMVBS et al. 2010). Dieser Mittelwert ver- an Freiheit und Flexibilität. Insbesondere birgt jedoch die Asymmetrie der Verteilung berufsbezogene Mobilität wird als funda- der Verkehrsleistungen. Eine relativ klei- mentaler Katalysator der Konstruktion und ne Personengruppe nutzt exzessiv die neu Reproduktion einer globalen, wissensba- entstandenen Möglichkeiten. Es wird ge- sierten Ökonomie angesehen. schätzt, dass weniger als 10 % der Bevölke- Dipl.-Geogr. Robert Schönduwe rung für mehr als 50 % der zurückgelegten [email protected] In Deutschland ist derzeit jeder fünfte Voll- Distanzen verantwortlich sind (Last et al. zeiterwerbstätige aus beruflichen Gründen 2003). Da hochmobile Personen in großen Seine Forschungsschwerpunkte sind sozialwissenschaftliche mobil (Schneider et al. 2008). Ein wichti- Verkehrserhebungen systematisch unterre- Ansätze der Verkehrs- und ges Anliegen nationaler und europäischer präsentiert sind, lassen sich diese Personen Mobilitätstforschung sowie Politik ist die Förderung beruflich moti- bisher nur ungenau charakterisieren. Noch speziell die Mobilität hoch- vierter, räumlicher Mobilität, um den He- weniger ist über die zeitliche Entwicklung mobiler und multilokal lebender rausforderungen begegnen zu können, die der Lebenskontexte hochmobiler Personen Menschen. sich aus der Globalisierung ergeben. Dabei bekannt. Es kann jedoch davon ausgegan- Innovationszentrum für steigt der Anteil von Berufspendlern und gen werden, dass nicht allein Mitglieder Mobilität und gesellschaftlichen Fernbeziehungen stetig an, während Haus- einer transnationalen Elite distanzintensi- Wandel GmbH Robert Schönduwe: 94 Schneller, weiter, nachhaltiger? Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen

ve Lebensstile pflegen. Vielmehr sind die der Folgen relevant. Infolge unterschied- Alltagsstrukturen ganz unterschiedlicher licher gesellschaftlicher Entwicklungen Bevölkerungsgruppen geprägt von der Am- wurden Bedingungen für eine individuelle bivalenz des Zwangs zur hohen Mobilität Multioptionalität als eine Art „Grundrecht und dem Wunsch nach einem hochmobilen auf Abwechslung“ (Heine et al. 2001:26) Leben. geschaffen. Mobilität ist wichtiger Teil­ aspekt dieser Multioptionalität und umfasst Sind Hochmobile eine Art Mobilitäts­ längst mehr als nur die Raumüberwindung. pioniere und gibt das Verkehrshandeln Mobilität ist vielmehr von weitreichender dieser Gruppe Hinweise auf die Entwick- gesellschaftlicher Relevanz. Die folgende lung von Mobilität und Verkehr in den Betrachtung der Folgen von Entgrenzungs- kommenden Jahrzehnten? Um diese Frage prozessen soll auf Ursachen gesteigerter beantworten zu können, ist es zunächst Mobilitätsbedürfnisse hinweisen und den notwendig, Ursachen für die Entwicklung Ausblick auf zukünftige Entwicklungen er- distanzintensiver Lebensformen zu be- möglichen. schreiben (vgl. Abschnitt 2). Neben den Ursachen sind konkrete Informationen zum Verkehrshandeln hochmobiler Men- 2.1 Revolutionen der Erreichbarkeit schen relevant. Wie werden die gesteigerten Mobilitätsbedürfnisse realisiert? Spielt das Moderne Gesellschaften sind verkehrsinten- Auto dabei nach wie vor eine herausragen- sive Gesellschaften. Dabei ist es fast zu einer de Rolle oder ist die situationsangepasste Art Klischee geworden, von einer „schrump- Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel fenden Welt“ zu sprechen (Budd und Hub- der Schlüssel für ein hochmobiles Leben? bard 2010), in der die Entwicklung neuer Diesen Fragen wird in Abschnitt 3 nachge- Technologien zur „Raumvernichtung durch gangen. In Abschnitt 4 werden ein Ausblick Reisezeitverkürzung“ (Schivelbusch 1979) gewagt und schließlich Grenzen individuel- führte. Insbesondere im Zuge der Massen­ ler Möglichkeitsräume benannt. motorisierung ging diese Entwicklung im beeindruckenden Tempo vonstatten (Schäfer et al. 2009). Dabei wurden Sied- 2 Multioptionalität und Mobilität lungsstrukturen geschaffen, die sich weit als Folge von Entgrenzungs- über die Grenzen der Städte ausdehnen. prozessen

In den vergangenen Jahrzehnten führte ein Verkehrstechnologien und ­infrastrukturen insgesamt gesteigertes Wohlstandsniveau in den Industriestaaten zur Ausdifferen- Eine erste Phase dieser „Revolution“ wurde zierung unterschiedlichster Lebensformen maßgeblich von zwei zentralen Ikonen ge- und zu einem tiefgreifenden gesellschaft­ prägt: Dem Automobil und dem Flugzeug. lichen Wandel. Dabei verloren institutiona­ Während das Automobil und die Massen- lisierte Unterscheidungen, gesellschaftliche motorisierung ganze Landschaften ver- Standards und Normen sowie Rollen­ änderten, ermöglichte das Flugzeug ganz systeme an Einfluss (Beck und Lau 2004:16). neue Betrachtungsweisen von Raum und Die Gültigkeit traditioneller „Basisselbstver- Zeit (Adey 2010). Globalisierung würde ständlichkeiten der Lebensführung“ (Beck ohne den Luftverkehr schlichtweg nicht 1983) wurde vielerorts infrage gestellt. Eine möglich sein. wiederkehrende Konstante in Beschreibun- gen von Gegenwartsgesellschaften ist dem- entsprechend eine Entgrenzungsmetapher Informations­ und (Huchler 2012). Der Begriff Entgrenzung Kommunikationstechnologien kann dabei als eine Art definitorische Klam- mer verstanden werden. Pluralisierung, Mit der Digitalisierung und dem Eintritt in Transnationalisierung und Individualisie- die Informationsgesellschaft scheint nun rung sind Facetten von Entgrenzungspro- ein neuer Wendepunkt erreicht (Schmitz zessen. In einer Betrachtung distanzinten- 2001, Lyons 2015). Zukünftig sind Neuord- siver Lebensformen werden diese Prozesse nungen vor allem durch Informations- und aufgrund vielfältiger mobilitätsinduzieren- Kommunikationstechnologien zu erwarten, Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 95

die den Zugang zu alternativen Mobilitäts- tät verstehen zu können, müssen diese ge- dienstleistungen erleichtern (Schelewsky sellschaftlichen Aspekte und individuellen 2013) und gleichzeitig auch mobilitäts­ Entscheidungen näher betrachtet werden, induzierende Wirkungen zeigen werden denn: „[…] people do not only travel within (Lenz 2011). Während in den 1990er-Jahren infrastructure but also within social struc- noch gemutmaßt wurde, dass Verkehr durch ture” (Frei 2012: 1). den Einsatz von Kommunikationstechno- logien vermieden werden könnte (Köhler 1993), hat sich mittlerweile die Erkenntnis Soziale Kontakte in durchgesetzt, dass neue Kommunikations- einer geschrumpften Welt technologien auch zu einem Anwachsen der Verkehrsströme beitragen. Die raum-zeitlichen Strukturen einer „ge- schrumpften Welt“ haben Veränderungen der Strukturen sozialer Netze ermöglicht. Kosten der Raumüberwindung Die Revolutionen der Erreichbarkeit führten zu einer flächendeckenden Erschließung Der Infrastrukturausbau und ein gestiege- des Raumes und damit zum Aufbrechen nes allgemeines Wohlstandsniveau führten der Nachbarschaft als primärer sozialräum- zu einer starken Reduktion der individu- licher Bezugsebene (Holz-Rau und Scheiner ellen relativen Kosten der Raumüberwin- 2005). Soziale Netze können nun selektiver dung (Axhausen 2003). Gleichzeitig stiegen und damit räumlich disperser gestaltet jedoch auch die externen Kosten: Lärm, werden. Der entstehenden „sozialen Zer- Umweltverschmutzung, Emissionsproble- siedelung“ (Ohnmacht 2009: 213) ist ein me, Flächenkonkurrenz und Verkehrstote großes mobilitätsinduzierendes Potenzial sind nur einige der negativen Folgen der zuzuschreiben. Denn ein nicht unbeträcht- gestiegenen Verkehrsleistungen (Becker et licher Anteil der Verkehrsleistung entsteht, al. 2012). Obwohl sich in immer stärkerem weil Individuen soziale Kontakte aufsuchen Maße ein breites Bewusstsein für diese ne- oder mit anderen Personen Aktivitäten aus- gativen Folgen entwickelt, ist keine Abnah- führen (Lanzendorf 2001). me der Verkehrsleistungen zu erkennen. Vielmehr ist ein folgenreiches Dilemma entstanden, denn eine Einschränkung des Partnerschaftliche Lebensformen Verkehrs wäre fast zwangsläufig mit einer und Familie Einschränkung individueller Freiheitsgra- de verbunden. Eine Beschränkung, die nur Was für soziale Kontakte im Allgemeinen Wenige wollen und die häufig strukturell gilt, trifft auch für partnerschaftliche Le- auch gar nicht im Bereich des Möglichen bensformen und Familien zu. Empirische liegt. Denn das Eigenheim im Grünen ist Studien belegen eine Pluralisierung der gekauft und muss noch abbezahlt werden - partnerschaftlichen Lebensformen in west- monetär und durch lange Arbeitswege. Das europäischen Staaten (Klein et al. 2002, Netzwerk von Freunden und Verwandten ist Brüderl und Klein 2003, Beck und Beck- über das ganze Land verstreut, berufliche Gernsheim 2011). Dabei zeigt sich keines- Mobilität wird von Vielen als Notwendigkeit falls die Tendenz der Auflösung partner- angesehen. schaftlicher Lebensformen, vielmehr wird eine Zunahme der Bindungsbereitschaft festgestellt (Klein 1999). Diese Bindungsbe- 2.2 Entgrenzung der Lebensführung reitschaft wird aber verstärkt in nicht tra- ditionellen Formen gelebt (Peuckert 2008). Der Infrastrukturausbau und die Entwick- Wie insbesondere an unterschiedlichen lung neuer Technologien führten zu einer Ausprägungen des „Living-apart-together“ Schrumpfung des Raumes und einer Aus- (LAT) gezeigt werden kann, sind einige weitung individueller Möglichkeitsräume. dieser neuen Formen partnerschaftlichen Gepaart mit gesellschaftlichen Prozessen Zusammenlebens wiederum mit erhöhten der Entstrukturierung schrieben sich diese Mobilitätsanforderungen verbunden. Änderungen tief in Alltagsstrukturen, Struk- turen sozialer Bindungen und Erwartungen an individuelle Biografien ein. Um Mobili- Robert Schönduwe: 96 Schneller, weiter, nachhaltiger? Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen

Bastelbiografie Alltag sind vielfältig: Projektbesprechungen und Schulungen müssen aufgesucht, Kun- Zunehmende Individualisierung und sich den besucht, Produktsupport angeboten, dadurch eröffnende Handlungsalternativen Projekte akquiriert, an Messen und Kon- führen zu einer „Biografisierung“ (Fuchs- ferenzen teilgenommen werden. Zudem Heinritz 2009) der Lebensführung und da- legen Arbeitnehmer teilweise bereits auf mit auch zu einer De-Standardisierung von dem Weg von der Wohnung zur Arbeit gro- Lebensläufen. Entgrenzungsprozesse und ße Distanzen zurück. Für viele ist berufliche daraus resultierende soziale und räumliche Mobilität Teil eines bewusst gewählten Le- Mobilität verändern nicht nur Lebensla- bensstils, der Karrierepfade ebnet und ein gen, sondern auch Lebenswege. Endogene abwechslungsreiches Berufsleben mit sich (z. B. Lebensstile) und exogene (z. B. der bringt. In vielen Branchen werden Fern- Arbeitsmarkt) Faktoren ermöglichen und reisen schlicht als selbstverständlicher Teil erzwingen eine ständige Neuorientierung, des Arbeitslebens angesehen (Kreutzer und die nicht zuletzt auf der Ebene der Biografie Roth 2006). Spuren hinterlässt (Berger 1996). Unbeant- wortet blieb bisher, wie sich die Projektion des Lebensverlaufs auf die Verkehrsleistun- Spezialisierung und Differenzierung gen einzelner Akteure auswirkt. Gerade im Hinblick auf die genannten Änderungen der Arbeitnehmer in bestimmten Wirtschafts- Strukturen sozialer Netze kann jedoch ein branchen, in denen Spezialisierung und induziertes Anwachsen der Verkehrsleis- Differenzierung eine besonders große tungen vermutet werden. Mit jedem Projekt Rolle spielen, sehen sich besonders stark wächst die Chance der Aneignung neuer mit Mobilitätsanforderungen konfrontiert. Lebensmittelpunkte an ständig wechseln- Häufig genannt werden Hochqualifizierte den Orten. Dabei werden ständig neue so- in wissenschaftlichen Einrichtungen, Ar- ziale Kontakte geknüpft. Um Kontakte zu beitnehmer in kreativen Berufen, im Be- pflegen, sind mehr oder weniger regelmäßi- reich von Unternehmensberatungen und ge Besuche notwendig, was letztlich ein An- Berufen der Informations- und Kommuni- wachsen individueller Verkehrsleistungen kationstechnologie (Pelizäus-Hoffmeister mit sich bringt (Frändberg 2008). Zudem 2001, Bonß et al. 2004, Axtner et al. 2006, werden Fernreisen als Teil von Berufs-, Bil- Nadler 2013). Höhere berufliche Positio- dungs- und Freizeitbiografien vorausgesetzt nen mit entsprechend überdurchschnitt- und nicht hinterfragt (Frändberg 2006). Be- lichem Einkommen werden ebenfalls als zogen auf räumliche Mobilität könnte sich Indikator für hohe Mobilitätsanforderun- das „Basteln“ an der eigenen Biografie auch gen benannt. Da der Anteil von Männern dahingehend äußern, dass hohe Mobilität in diesen Positionen besonders hoch ist, nicht mehr primär im mittleren Lebens- sind diese insgesamt überdurchschnitt- alter – der „rush hour of life“ (Friedrichs lich häufig beruflich mobil (Frändberg und 1990) – zu beobachten ist. Vielmehr könnte, Vilhelmson 2003). Zukünftig könnte sich gezwungenermaßen oder weil man sich die dies jedoch ändern, denn gerade die zuneh- Freiheit nehmen kann, auch in höherem Al- mende Arbeitsmarktbeteiligung und stei- ter ein hochmobiles Leben angestrebt wer- gende berufliche Qualifizierung von Frauen den. wird als ein weiterer einflussreicher mobi- litätsinduzierender Faktor genannt (Pazy et al. 1996). Arbeitsplätze für hochspeziali- 2.3 Entgrenzung der Arbeitswelt sierte Fachkräfte sind häufig räumlich sehr selektiv verteilt. Entsprechend ergeben sich Der Arbeitsmarkt und ein beruflich indu- besonders starke Mobilitätsanforderungen, zierter Zwang zur Flexibilität sind nach wenn die Entscheidung für Kombinationen Meinung vieler Autoren die stärksten Mo- von Wohn- und Arbeitsorten in partner- toren von Entgrenzungsprozessen und ge- schaftlichen Beziehungen getroffen werden stiegener Mobilität in der zweiten Moderne müssen. (Sennet 1998, Schneider et al. 2002). Kon- krete Gründe für Mobilität im beruflichen Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 97

Subjektivierung, Flexibilisierung maßgeblich mit beeinflussen (Reuschke und Zeitsouveränität 2010).Größere Distanzen zwischen Arbeits- und Wohnort werden erst dann in Kauf ge- Berufliche Spezialisierung wird flankiert nommen, wenn die Möglichkeit zur selbst- von der Subjektivierung von Arbeit (Klee- organisierten Arbeitszeitgestaltung besteht. mann et al. 2003). Das eigene Handeln im Denn nur so können die zeitlichen Anfor- Unternehmen muss immer stärker selbst- derungen von Arbeit, Familie und Haushalt verantwortlich organisiert werden. Dies gilt in Einklang gebracht werden. auch in Branchen, in denen Spezialisierung weniger wichtig und auch die Arbeitszeit- gestaltung weniger flexibel ist. Als Beispiel 2.4 Ostentative Mobilität kann hier das Gesundheits- und Sozialwe- sen genannt werden (Reuschke 2010:112). Insbesondere in Studien zur berufsbezo- Insgesamt bewirkt die Subjektivierung ein genen Mobilität wird überwiegend die Be- Aufbrechen und eine höhere Beweglichkeit deutung von Mobilitätsimperativen betont. von Strukturen, was sich letztlich auch in In der Arbeitswelt dient ein hohes Maß an erhöhter Mobilität niederschlagen kann. Mobilität in gewissem Sinn der „Inszenie- Befördert werden diese Subjektivierungs- rung von Individualität und Darstellung prozesse durch vielfältige Änderungen be- des subjektiven Arbeitsvermögens“ (Kes- trieblicher Organisationsstrukturen. Was selring und Vogl 2010:36). Hohe Mobilität sich bspw. in einer steigenden Zahl von ist jedoch keineswegs allein Ergebnis nor- Firmen mit mehreren Standorten, Interna- mativer Zwänge. Vielmehr scheinen post- tionalisierung der Märkte und zunehmen- moderne Gesellschaften vollständig vom der Kooperationen unterschiedlicher Fir- „Mobilitätshype“ (Voß 2010) durchdrun- men zeigt. Die entstehenden veränderten gen. Mobilität ist oft beklagter Teil des Pro- Firmen- und Auftragsstrukturen fördern blems, aber auch wenig reflektierter Teil der Subjektivierungsprozesse und beeinflussen Lösung. Insbesondere aus der Perspektive ebenfalls beruflich bedingte Mobilitätsan- der Nachhaltigkeit entstehen dabei parado- forderungen (Aguilera 2008). xe Situationen, wenn z. B. der europäische Arbeitnehmer Entschleunigung beim Wan- Zunehmende Flexibilisierung zeigt sich be- dern in Nepal sucht oder Yoga-Kurse in In- reits beim Berufsstart, wenn der Übergang dien von den Mobilitätsanforderungen des von Bildungsinstitutionen ins Erwerbs­ Alltags entlasten sollen. Mobilität ist Mittel leben von Praktika und anderen prekären der Distinktion und zwar nicht nur für die- Beschäftigungsformen gekennzeichnet ist jenigen, die den individuellen Erfolg in der (Kramer und Langhoff 2012). Ein zeitlich Arbeitswelt fast beiläufig dadurch belegen, flexibleres Arbeiten wird nicht zuletzt durch dass sie in Paris, London, New York oder „technisch erzeugte Unmittelbarkeiten“ anderen symbolträchtigen Orten auf einer (Kesselring und Vogl 2010:34) erleichtert. bedeutenden Konferenz, in der neuen Au- Neue IK-Technologien ermöglichen die ßenstelle der Firma oder im Rahmen eines Synchronizität von Handlungen, unabhän- wichtigen Projektes tätig sind. Nahezu jedes gig von räumlicher Kopräsenz. Dabei zeigt Mitglied postmoderner Gesellschaften be- sich sehr deutlich, dass trotz zunehmender dient sich dieser Symbolkraft von Mobilität. Möglichkeiten virtueller Kommunikation Selbst diejenigen, die Mobilitätsimperative und virtueller Kopräsenz die Bedürfnisse der Arbeitswelt und gleich das gesamte da- nach Face-to-face-Kontakten unverändert hinterstehende Wirtschaftssystem grund- sind (Urry 2004). legend ablehnen, wollen dies nicht nur in der Heimatstadt, sondern auch vor Ort in Zeitsouveränität, hergestellt durch ent- Genua, Göteborg und Quebec zeigen. sprechende Freiheitsgrade in der Arbeits- zeitgestaltung und -organisation, ist eine weitere wichtige Grundvoraussetzung für ein hochmobiles Leben. So können Home- office-Regelungen die Entscheidung für ein hochmobiles (und multilokales) Leben Robert Schönduwe: 98 Schneller, weiter, nachhaltiger? Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen

3 Bedeutung und Entwicklung und Mobilitätsforschung. Hochmobile sind distanzintensiver Lebensformen in Erhebungen systematisch untererfasst. Zudem werden in repräsentativen Erhe- Zwar wurde dem Phänomen sich auswei- bungen nur einzelne Facetten distanzinten- tender Aktionsräume und daraus resul- siver Lebensformen erfasst, wie im Folgen- tierender distanzintensiver Lebensweisen den am Beispiel der Entwicklung der Zahl in den letzten Jahren vermehrte Aufmerk- der Fernpendler gezeigt wird. samkeit gewidmet, es fehlen jedoch bisher Definitionen, die Angaben zu konkreten Abgrenzungskriterien liefern. Werden kon- Entwicklung des Anteils der Fernpendler krete Werte genannt, so stellen diese meist in Deutschland einen relationalen Bezug zu Durchschnitts- werten von Gesamtpopulationen her. Die In der amtlichen Statistik werden Perso- Werte beziehen sich dabei jeweils auf be- nen, deren Wohn- und Arbeitsort mindes- stimmte Zeiträume. Meist werden Distan- tens 50 km voneinander entfernt sind, als zen oder die Anzahl von Reisen in einem Fernpendler bezeichnet (Vogt et al. 2001). Zeitraum von einem Jahr betrachtet. Dieser Fernpendler sind eine Teilgruppe hochmo- Vorgehensweise wird auch hier gefolgt. Als biler Menschen. Sowohl im Mikrozensus als Hochmobile werden Personen bezeichnet, auch im Sozioökonomischen Panel (SOEP) die im Vergleich zum Durchschnitt der Be- werden repräsentative Zeitreihendaten zum völkerung innerhalb eines Jahres überpro- Anteil dieser speziellen Teilgruppe erhoben. portional große Distanzen zurücklegten. Als Dabei zeigt sich im Mikrozensus ein Anstieg Richtwert wird die doppelte durchschnitt- des Fernpendleranteils in den 1980er- und liche Verkehrsleistung pro Person und Jahr 1990er-Jahren (vgl. Tab. 1). Seit der Jahrtau- angesetzt. In Deutschland beträgt dieser sendwende stagniert der Anteil bei ca. 5 % Wert ca. 20 000 km (BMVBS et al. 2010). Da- der Erwerbstätigen. In der letzten Erhebung mit gelten Personen, die ca. 40 000 km im im Jahr 2012 ist sogar ein sinkender Anteil Jahr zurücklegen als hochmobil. Um diesen zu verzeichnen. Auch im SOEP lassen sich Wert in einer empirischen Erhebung ope- die beschriebene Entwicklung steigen- rationalisieren zu können, wird neben den der Fernpendleranteile bis zum Ende der zurückgelegten Distanzen auch die Anzahl 1990er-Jahre und eine sich anschließende von Reisen im Fernverkehr berücksichtigt. Stagnation bei ca. 5 % nachweisen. Dies ist sinnvoll, da Personen, die häufig Fernreisen unternehmen, über Kenntnis- Eine Abschätzung der Entwicklung des An- se und Routinen in der Nutzung entspre- teils hochmobiler Menschen auf Basis die- chender Verkehrsmittel verfügen. Es wird ser Daten ist jedoch problematisch. Zum angenommen, dass diese Personen eine einen, weil Fernpendler nur eine mögliche Mobilitätskompetenz entwickeln, die sie Ausprägung eines hochmobilen Alltags dazu befähigt, schnell größere Distanzen darstellen. Zum anderen können Einflüsse überwinden zu können und die dabei auch des Erhebungsverfahrens vermutet wer- in der Lage sind, routiniert auf eventuell den. Beispielsweise ist im Mikrozensus der auftretende Störungen zu reagieren. Nicht Anteil der Befragten, die keine Angabe zur berücksichtigt werden Personen, bei denen Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort die Raumüberwindung den Kern der beruf- machten, im Vergleich der Jahre 2008 und lichen Tätigkeit ausmacht. Damit werden 2012 von 4,1 % auf 12,4 % gestiegen. Hier Angestellte in Unternehmen des Personen- könnten Selektivitätsanalysen tieferen Ein- verkehrs wie Busfahrer und Piloten sowie blick in Gründe für die Verweigerung geben Arbeitnehmer in der Logistikbranche wie und Schätzungen zum Anteil der Fernpend- Fernfahrer ausgeschlossen. ler unter den Verweigerern erlauben. Zwei- tens steigt die Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland seit Jahren an. Im Vergleich zu 3.1 Problem der Quantifizierung des 2008 gingen im Jahr 2012 1,4 Mio. Erwerbs- Anteils hochmobiler Menschen tätige mehr einer bezahlten Tätigkeit nach. Es kann vermutet werden, dass ein Großteil Die Erfassung von Daten zum Verkehrshan- dieser Stellen im Niedriglohn- oder Teilzeit- deln hochmobiler Menschen gehört zu den sektor entstanden ist. Bereiche, in denen bisher ungelösten Problemen der Verkehrs- die Entfernungen zwischen Wohn- und Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 99

Tabelle 1 Entwicklung des Fernpendleranteils in Deutschland

Mikrozensus1 1978 1980 1982 1985 1991 1994 1996 2000 2004 2008 2012 Anzahl Erwerbstätiger (in 1 000) 26 021 26 874 26 774 26 626 37 445 – – 36 604 35 659 38 734 40 161 Anzahl Personen mit Angaben zum Arbeitsweg (in 1 000) 26 021 26 874 26 774 26 626 34 051 31 719 31 719 32 109 31 377 33 141 33 990 Anzahl Fernpendler (in 1 000) 413 459 479 710 1 066 983 1 249 1 434 1 491 1 498 1 490 Anteil Fernpendler (in %) 1,6 1,7 1,8 2,7 3,1 3,1 3,9 4,5 4,8 4,3 3,8 SOEP 2,3 1985 1990 1995 1997 2000 bis 2009 3 Anzahl der Befragten (Erwerbstätige, gewichtet, in 1 000) 5 061 4 528 4 519 4 445 – Anteil Fernpendler (in %) 2,6 3,2 5,0 6,6 5,3

1 Statistisches Bundesamt (versch. Jg.): Fachserie 1, Reihe 4.1.2; eigene Berechnungen 2 Vogt et al. (2001) – Angaben für die Jahre 1985 bis 1997 beziehen sich nur auf die alten Bundesländer, ohne Berlin 3 Pfaff (2012) – aggregierte Angabe für den Zeitraum 2000 – 2009

Arbeitsplatz aufgrund der hohen Transakti- dabei betont und es wird auf den Zusam- onskosten eher gering sein dürften. Als drit- menhang zwischen langfristigen Bindun- te Ursache könnte vermutet werden, dass gen an den Wohnort, den Arbeitsplatz, den sich mittlerweile andere Formen berufs- Besitz von Mobilitätsressourcen und dem bezogener Mobilität als Alternativen zum alltäglichen Verkehrshandeln verwiesen. Fernpendeln etabliert haben, die vom Mik- Diese Herangehensweise erweist sich als rozensus nicht erfasst werden. Dies würde ideal für eine Betrachtung distanzintensiver bedeuten, dass die Erhebungsinstrumente Lebensformen. Denn schließlich ist davon nicht die notwendige Sensibilität für gesell- auszugehen, dass gerade hochmobile Men- schaftliche Entwicklungen aufweisen. schen häufig mit biografischen Umbrüchen konfrontiert sind und hohe Mobilitätsan- forderungen eine stetige Anpassung von 3.2 Mobilitätsbiografien hochmobiler Mobilitätsstrategien erforderlich macht. Menschen. Vom Querschnitt zum Längsschnitt Retrospektive Erhebung von Längsschnitt­ Um die individuelle Dynamik hochmobi- daten ler Lebensweisen analysieren und Rück- schlüsse auf gesellschaftliche Entwicklun- Die im Folgenden verwendeten Daten wur- gen ziehen zu können, ist es notwendig, den mittels retrospektiver Befragung erho- eine Längsschnittperspektive zu wählen. ben. Die Teilnehmer waren dabei aufgefor- Querschnittsdaten erlauben nur einen sehr dert, Fragen zu einem Zeitraum von zehn eingeschränkten Einblick in Ursache-Wir- Jahren (2002 – 2011) zu beantworten. Dabei kungsbeziehungen. In der Verkehrs- und wurden Lebensverlaufskalender verwendet. Mobilitätsforschung wurde dies bereits vor Diese erwiesen sich in zahlreichen Studien einiger Zeit erkannt. Insbesondere mo- als geeignete Instrumente, um die Erinne- bilitätsbiografische Konzepte haben seit rungsleistung der Befragten zu verbessern dem Ende der 1990er-Jahre eine beachtli- (Belli et al. 2009). In der Verkehrs- und che Konjunktur erfahren. Diese Konzep- Mobilitätsforschung wurden diese jedoch te stellen die Zeitdimension individueller bisher nur vereinzelt eingesetzt (Schoendu- Entscheidungen und Handlungen in den we et al. 2015). An der Befragung nahmen Mittelpunkt der Theoriebildung. Die Pro- insgesamt 745 Personen teil, die jeweils in zesshaftigkeit des Mobilitätshandelns wird mindestens einem Jahr hochmobil waren. Robert Schönduwe: 100 Schneller, weiter, nachhaltiger? Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen

Die Befragung richtete sich an hochmobile hen, offen für die Optimierung alltäglicher Personen aus Deutschland. Diese wurden Mobilität jenseits festgelegter automobiler über Foren, Mobilitätsportale, E-Mail-Ver- Pfade sind. Zudem sind Hochmobile auf- teiler und direkt an Bahnhöfen rekrutiert. grund vielfältiger Mobilitätserfahrungen in unterschiedlichen, zeitlich und räumlich sehr heterogenen Situationen möglicher- 3.3 Hochmobil, multimodal und weise besonders anpassungsfähig und des- nachhaltig? halb besonders häufig inter- und multimo- dal unterwegs. In urbanen Räumen deutet sich im Ver- kehrsbereich ein Wandel in der Angebots- und Nachfragelandschaft an, der noch Operationalisierung mono­ und multi­ vor wenigen Jahren zwar herbeigesehnt, modaler Verkehrsmittelwahl aber im Grunde nicht für möglich gehal- ten wurde. Menschen nutzen seltener aus- Anhand von Angaben zur üblichen Ver- schließlich den Pkw und greifen vielmehr kehrsmittelwahl wurde für jedes Erhe- situationsangepasst auf ein geeignetes Ver- bungsjahr eine Variable zur mono- und kehrsmittel zurück (Lanzendorf und Schön- multimodalen Verkehrsmittelnutzung er- duwe 2013). Es kann vermutet werden, dass stellt. Die Vorgehensweise wird durch Abbil- gerade hochmobile Menschen, die beson- dung 1 illustriert. Die Befragten sollten für ders stark im Spannungsfeld beruflicher jedes Erhebungsjahr angeben, in welcher und sozialer Mobilitätsanforderungen ste- Intensität sie im Alltag das Fahrrad, den ÖV und den Pkw nutzten. Die zur Auswahl stehenden Kategorien lauteten „täglich“, Abbildung 1 Erstellung der Variable zur mono- und multimodalen üblichen Verkehrsmit- „ein bis dreimal die Woche“, „ein- bis drei- telnutzung (dargestellt am Beispiel eines Befragten im Zeitraum 2002–2011) mal im Monat“, „seltener“ und „(fast) nie“. Diese Angaben wurden zusammengefasst und in Sequenzmusteranalysen ausgewer- Übliche VM-Nutzung tet. Mono- und multimodale Verkehrsmit- telnutzung wurden dabei folgendermaßen Übliche Nutzung Pkw operationalisiert: Wurde ein Verkehrsmittel mindestens wöchentlich genutzt, so wurde 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 es bei der Erstellung der Variable berück- täglich sichtigt. Es wurden insgesamt acht Katego- 1–3 / Wo rien gebildet: Monomodale Rad-, Pkw- und 1–3 / Mo ÖV-Nutzung, multimodale ÖV- und Rad- seltener nutzung, multimodale ÖV- und Pkw-Nut- (fast) nie zung, multimodale Rad- und Pkw-Nutzung sowie multimodale Rad-, Pkw- und ÖV- Übliche Nutzung Rad Nutzung. Die achte Kategorie umfasst Er- 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 hebungsjahre, in denen keine dieser Zuord- nungen möglich war. Diese Vorgehensweise täglich orientiert sich am etablierten Verfahren zur 1–3 / Wo 1–3 / Mo Abgrenzung von mono- und multimodaler seltener Verkehrsmittelwahl (von der Ruhren et al. (fast) nie 2005).

Übliche Nutzung ÖV Multi­ und monomodale Verkehrsmittel­ 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 nutzung im zeitlichen Verlauf täglich 1–3 / Wo Abbildung 1 illustriert die Vorgehensweise 1–3 / Mo an einem Beispiel. Der Befragte zeigte im seltener Zeitraum 2002 bis 2004 aufgrund der Nut- (fast) nie zung von Pkw und ÖV eine multimodale Verkehrsmittelwahl. Im Zeitraum 2005 bis Quelle: eigene Darstellung 2007 war der Befragte ebenfalls multimodal Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 101

unterwegs. Jedoch erhöhte sich in diesem Abbildung 2 Zeitraum die Radnutzung und er wurde der Übliche Verkehrsmittelnutzung nach Alter der Befragten Kategorie „Rad, ÖV und Pkw“ zugeordnet. (n = 7 450 Personenjahre) Im Jahr 2008 nutzte der Befragte haupt- 100 % sächlich den Pkw, war dementsprechend monomodaler Pkw-Nutzer. Im Jahr 2009 80 % wurde für kein Verkehrsmittel mindestens die Kategorie “ein bis dreimal die Woche“ 60 % angegeben, entsprechend wurde hier die Kategorie “keine Angabe“ ausgewählt. In den Jahren 2010 und 2011 war der Befragte 40 % schließlich hauptsächlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und wurde ent- 20 % sprechend der Kategorie “monomodal ÖV“ Anteil übliche Verkehrsmittelnutzung zugeordnet. 0 % 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Die Auswertung der üblichen Verkehrsmit- Alter der Befragten telnutzung nach dem Alter der Befragten zeigt, dass der Anteil der Befragten, die mo- keine Angabe Monomodal ÖV Pkw und ÖV Rad und ÖV nomodal unterwegs sind, praktisch über Monomodal Rad Monomodal Pkw Pkw und Rad Pkw, ÖV und Rad die gesamte betrachtete Alterspanne nie Quelle: eigene Darstellung unter 40 % sinkt (vgl. Abb. 2). Bei Befrag- ten ab ca. 30 Jahren steigt dabei der Anteil der monomodalen Pkw-Nutzung stark an. Der Anteil der Befragten, die hauptsächlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs modale (3,09) und ÖV-Affine (3,75) und sind (Monomodal ÖV), sinkt hingegen. eine hohe Persistenz in der Gruppe der Multimodales Verkehrsverhalten zeigt sich Pkw-affinen Multimodalen (1,88). vor allem in den jungen Alterskohorten. Ab einem Alter von ca. 35 Jahren überwiegt die Befragte im Cluster radaffine Multimodale monomodale Verkehrsmittelnutzung. Be- (42,6 %; n = 317) waren im Alltag überwie- sonders hoch ist der Anteil der Befragten, gend multimodal unterwegs und nutzten die überwiegend den Pkw nutzen (Mono- dabei das Fahrrad als wichtige Mobili- modal Pkw). tätsoption. Zudem gehören diesem Cluster Befragte an, die als monomodale Radfahrer Die Analyse der Verkehrsmittelnutzung im identifiziert wurden. Der Anteil von Befrag- zeitlichen Verlauf wurde mittels Sequenz- ten in diesem Cluster, die ÖV und Fahr- musteranalysen und anschließender Clus- rad kombinierten, ist mit ca. 40 % höher, teranalyse durchgeführt (Stegmann et al. als der Anteil von Befragten, die sowohl 2013). Auf diese Weise wurden Gruppen mit das Fahrrad als auch den Pkw mindestens ähnlichem Verhalten identifiziert. Es wur- wöchentlich nutzten (ca. 20 %) (vgl. Abb. 3). den drei in sich homogene und voneinander Weitere 20 % in diesem Cluster nutzten so- gut unterscheidbare Typen von Übergangs- wohl ÖV und Fahrrad als auch den Pkw. verläufen gebildet. Die Cluster wurden als radaffine Multimodale, ÖV-affine und Dem Cluster ÖV-affine Multimodale Pkw-affine Monomodale bezeichnet. Die (32,8 %; n = 244) wurden Befragte zugeord- Güte der Clusterlösung ist als befriedigend net, die häufig öffentliche Verkehrsmittel zu bezeichnen. Der Silhouette-Koeffizient nutzten, diese auch mit dem MIV kombi- nimmt einen Wert von 0,33 an. Bezogen auf nierten, aber nur in geringer Intensität ein die einzelnen Cluster zeigen die Silhouette- Fahrrad nutzten. Der Anteil der Befragten in Koeffizienten eine sehr gute Abgrenzung diesem Cluster, die ÖV und MIV kombinie- der Gruppe der Pkw-affinen Multimodalen ren, ist mit durchschnittlich ca. 20 % etwa (0,82) und eine befriedigende Abgrenzung gleich groß wie der Anteil monomodaler der Gruppen radaffine Multimodale (0,21) ÖV-Nutzer. Befragte im Cluster Pkw-affine und ÖV-Affine (0,13). Die Turbulenz-Koef- Monomodale (24,6 %; n = 184) änderten die fizienten verweisen auf sehr dynamische übliche Verkehrsmittelwahl im gesamten Verläufe in den Gruppen radaffine Multi- Erhebungszeitraum nur sehr selten. Insge- Robert Schönduwe: 102 Schneller, weiter, nachhaltiger? Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen

Abbildung 3 Übliche Verkehrsmittelnutzung im Erhebungszeitraum (Sequenzdexplot) Typ 1: radaffine Multimodale Typ 2: ÖV-affinine Multimodale (n=317) (n=244)

300

200 200

100 100

0 0 2002 2004 2006 2008 2010 2002 2004 2006 2008 2010

Typ 3: Pkw-affine Monomodale Mobilitätsressourcen (n=184) 200 keine Angabe Monomodal Rad Monomodal ÖV Monomodal Pkw 100 Pkw und ÖV Pkw und Rad Rad und ÖV 0 Pkw, ÖV und Rad

2002 2004 2006 2008 2010

Quelle: eigene Darstellung

samt scheinen Pkw-affine Monomodale am affine Multimodale nicht wesentlich (vgl. stärksten auf ein Verkehrsmittel festgelegt. Tab. 2). Radaffine Multimodale nutzen et- was häufiger Mobilitätsdienstleistungen wie Car- und Bikesharing, haben jedoch Charakterisierung der Cluster zur üblichen seltener eine Bahncard100 und lebten in Verkehrsmittelnutzung durchschnittlich längeren Zeiträumen in autolosen Haushalten. In den bivariaten Charakterisierungen der Cluster zur üblichen Verkehrsmittelnut- Befragte im Cluster Pkw-affine Monomo- zung zeigt sich zunächst, dass radaffine dale unterscheiden sich stärker von den Multimodale und ÖV-affine Multimodale beiden anderen Clustern. Sie sind über- insgesamt eine sehr ähnliche Merkmals- wiegend männlich, leben zu einem höhe- verteilung aufweisen (vgl. Tab. 2). Radaffi- ren Anteil im Wohneigentum, sind häufiger ne Multimodale haben jedoch im Durch- verheiratet und können über hohe Einkom- schnitt geringere Einkommen, arbeiten zu men verfügen. Das Bildungsniveau der Be- einem höheren Anteil in flexibler Berufstä- fragten im Cluster Pkw-affine Monomodale tigkeit und sind zu einem höheren Anteil ist im Durchschnitt geringer als bei den an- im Bereich Forschung und Bildung tätig. deren Clustern. Hier ist ein starker Altersef- Die übrigen Charakteristika zeigen keine fekt zu vermuten. Befragte im Cluster Pkw- wesentlichen Unterschiede zwischen die- affine Monomodale haben entsprechend sen beiden Clustern. Auch hinsichtlich des das höchste Durchschnittsalter. Pkw-affine Verkehrsmittelbesitzes unterscheiden sich Monomodale sind zudem mit den höchsten die Cluster radaffine Multimodale und ÖV- beruflichen Mobilitätsanforderungen kon- Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 103

Tabelle 2 Beschreibung der Cluster zur üblichen Verkehrsmittelnutzung (Bivariat)

Cluster 1 Cluster 2 Cluster 3 radaffine Multimodale ÖV-affine Multimodale Pkw-affine Monomodale (n=316) (n=244) (n=184) ∑3 M n M n M n Männlich 67,3 64,9 205 63,9 156 76,1 140 Wohneigentum 28,2 20,5 65 24,2 59 46,7 86 Hohes Bildungsniveau 68,7 76,3 242 70,9 173 52,7 97 Flexible Berufstätigkeit 29,8 35,6 113 26,6 65 23,9 44 Verheiratet 32,2 25,9 82 28,3 69 48,4 89 Im gesamten Zeitraum ledig 13,0 11,0 35 14,8 36 14,1 26 Einkommen bis 3 000 38,8 46,8 133 38,3 85 25,3 41 3 001 bis 5 000 Euro 36,2 35,9 102 36,5 81 36,4 59 ab 5 000 Euro 25,0 17,3 49 25,2 56 38,3 62 ∑3 M SD M SD M SD Alter 37,7 36,2 8,7 36,0 10,2 42,4 Anzahl Kinder 0,40 0,43 0,85 0,27 0,65 0,52 0,91 Anzahl Trennungen1 0,50 0,53 0,75 0,53 0,79 0,40 0,70 Anzahl Arbeitsorte1 3,1 3,0 1,82 3,1 2,04 3,2 1,83 Anzahl Umzüge 2,4 2,9 2,68 2,5 2,25 1,5 1,59 Dauer Zweitwohnsitz2 2,1 2,3 2,97 1,9 2,85 1,9 2,96 Steigendes Einkommen1 3,8 3,4 2,75 3,7 2,97 4,4 3,43 Sinkendes Einkommen 0,85 0,79 1,45 0,73 1,26 1,1 1,81 ∑3 M SD M SD M SD ÖV-Abo1 3,8 4,5 4,05 5,4 3,81 ,51 1,46 Bahncardbesitz1 4,7 5,8 3,95 4,9 3,84 2,3 3,61 Besitz einer Bahncard 1001 0,50 0,46 1,64 0,87 2,36 0,09 0,798 CS-Nutzung1 0,77 1,2 2,47 0,79 2,10 0,07 0,39 Bikesharing-Nutzung1 0,62 1,1 2,27 0,41 1,19 0,14 0,92 MFG-Nutzung1 1,4 1,2 2,40 0,41 1,48 Autoloser Haushalt1 3,2 4,6 4,22 3,5 4,10 0,22 1,04 Vielfliegerstatus1 1,4 1,5 2,91 2,0 3,29 3,1 4,17 Dauer hochmobile Phase 5,7 4,8 3,53 5,2 3,49 7,7 3,16

Weiß hinterlegt sind die Cluster mit den jeweils höchsten Werten Fett gedruckt sind signifikante Unterschiede (bezogen auf Gruppenzugehörigkeit (1) vs. keine Gruppenzugehörigkeit (0) (p < 0,05); Variablen mit nominalem Skalenniveau = Pearson-Chi2-Test (zweiseitig); Variablen mit metrischen Skalenniveau = Mann-Whitney-U-Test (zweiseitig) M = Mittelwert; SD = Standardabweichung 1 Anzahl der Ereignisse im Zeitraum 2002 bis 2011 2 Anzahl der Jahre mit einem Zweitwohnsitz 2002 bis 2011 3 Werte im gesamten Sample

frontiert. Sie sind insgesamt sehr stark auf bei nutzen sie situationsangepasst die zur den Pkw fixiert und waren die durchschnitt- Verfügung stehenden Verkehrsmittel. Dem lich längste Zeit in einer hochmobilen Pha- nachhaltigen, multimodalen Verkehrshan- se. Zudem waren die Zeiträume, in denen deln im Alltag stehen dabei jedoch große Befragte einen Vielfliegerstatus hatten, in Distanzen im Fernverkehr gegenüber. diesem Cluster ebenfalls durchschnittlich am längsten.

Insgesamt deuten die hier präsentierten Er- gebnisse darauf hin, dass junge, räumlich und sozial ungebundene Menschen im All- tag häufig multimodal unterwegs sind. Da- Robert Schönduwe: 104 Schneller, weiter, nachhaltiger? Mobilitätsbiografien hochmobiler Menschen

4 Fazit

Die beschriebenen gesellschaftlichen Pro- in einigen Zielgruppen seine funktiona- zesse und empirischen Erkenntnisse legen le Hoheit mittlerweile eingebüßt und eine nahe, dass distanzintensive Lebensformen kleine, aber hochmobile Minderheit zieht in Gegenwartsgesellschaften eine zuneh- inzwischen andere, schnellere, flexiblere mend wichtige Rolle spielen. Dieser These Arten der Fortbewegung vor? Müsste sich stehen andere Befunde gegenüber, die von dies nicht auch in den Statistiken abzeich- einer Stagnation der Verkehrsnachfrage nen? Vielleicht nicht, beispielsweise dann, ausgehen. Seit dem Ende der 1990er Jah- wenn eine banale Erkenntnis zutreffend ist: re zeichnet sich in Deutschland und auch „frequent travelers are less likely to be at in anderen Staaten eine Sättigung der Ver- home to answer a questionnaire” (Axhau- kehrsnachfrage ab (Chlond et al. 2002). sen et al. 2003:V). Verlässliche Aussagen zur Vor allem die Pkw-Nutzung sei insgesamt Bedeutung gesellschaftlicher Trends lassen rückläufig (Metz 2013, Goodwin und Van sich nur ableiten, wenn geeignete Daten- Dender 2013). In Visionen einer postfos- grundlagen zur Verfügung stehen. Neben silen Mobilität der Zukunft werden diese der Verwendung neuer Methoden zur Erhe- Entwicklungen aufgegriffen und gezeigt, bung raumbezogener Daten, wie bspw. dem welche Mobilität nach dem Auto zu erwar- GPS-Tracking, sollte zukünftig vor allem der ten ist (Dennis und Urry 2009, Schindler Analyse von Längsschnittdaten stärkere Be- und Held 2009). Eine Option wird in die- achtung geschenkt werden. sen Beschreibungen jedoch meist verges- sen: Vielleicht sind die Menschen schlicht deshalb weniger mit dem Pkw unterwegs, weil andere Verkehrsmittel oder Mobilitäts- dienstleistungen mittlerweile eine höhere Flexibilität bieten. Vielleicht hat der Pkw Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 105

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Intelligente öffentliche Mobilität im Christian Muschwitz ländlichen Raum – von Skandinavien lernen! Johannes Reimann

Demografische und wirtschaftsstrukturelle Veränderungen verschärfen die Disparitäten zwischen urbanen und ländlichen Regionen. Die anhaltende, altersselektive Abwanderung aus peripheren Gebieten lässt eine stark alternde, individualökonomisch und gesundheit- lich eingeschränkte Bevölkerung zurück, die auf die durch Kostenremanenz immer teu- rere Infrastruktur noch stärker angewiesen sein wird als bisher. Der Spin Down ländlicher Regionen lässt sich dabei jedoch nicht durch ein unerschütterliches Vertrauen auf zukunftsfähige individuelle Automobilität aufhalten. Auch eine Generaldebatte über die kostenbegründete Exklusion von Teilräumen tut der traditionell ansässigen Bevölkerung Unrecht. Stattdessen praktizieren einige europäische Länder schon immer die Prinzipien flexibler und multifunktionaler Versorgungssysteme, so beispielsweise die kombinierte Beförderung von Personen und Gütern im öffentlichen Verkehr, die auch in deutschen Regionen zur Stabilisierung und Vernetzung von Strukturen, Prozessen und Akteuren führen können. Der Beitrag erläutert die Ideengeschichte, die Rahmen- bedingungen und Wirkungen des ersten deutschen kombiBUS-Modellfalls und wirft einen Blick auf die zukünftigen Potenziale intelligenter und flexibler Angebote des öffentlichen Personenverkehrs in ländlichen Räumen. Dr. rer. pol. Christian Muschwitz [email protected] [email protected] Johannes Reimann Der demografische Strukturwandel wirft Keim (2006: 36ff) charakterisiert den Pro- [email protected] bereits heute, insbesondere in dispers zess der Peripherisierung mit einer immer Dr. rer. pol. Christian besiedelten, ländlichen Kulissen Deutsch- stärker fragmentierten Siedlungsstruktur, Muschwitz ist seit 15 Jahren lands, Fragen in Bezug auf Versorgung und damit einhergehend immer größeren Dis- als Projektleiter in raumbezo- Erreichbarkeit auf und stellt damit das tanzen zwischen Quellen und Zielen, einer genen Planungs-, Forschungs- räumliche Solidarprinzip zunehmend in immer schwierigeren Erreichbarkeit von und Beratungsprojekten auf Frage. Horst Köhler, Bundespräsident a. D., Zentren sowie einem erhöhten Erhaltungs- allen räumlichen Ebenen tätig – von der Dorf­erneuerung bis tat dies im Jahr 2004 mit entsprechender aufwand von Infrastrukturen. Schlüsselbe- zur europäischen Raument- Prominenz. Seitdem flackert die Diskussi- griff für letzteres ist die Kostenremanenz. wicklung. Er hat Erfahrungen in on, wieviel Unterstützung sich die deutsche Heinze (2007: 23) zitiert das Prinzip „hal- den Bereichen Kommune, Büro, Gesellschaft für ländlich-disperse Regionen bierte Dichte, verdoppelte Kosten“ – auf- Forschung und Lehre. Aktuell leisten kann bzw. will, immer wieder auf. grund hoher Fixkosten, der Unteilbarkeit führt er als Vertretungsprofessor die Geschäfte des Lehrstuhls Der damalige Direktor der Stiftung Bauhaus und benötigten Mindestgröße von Infra- Raumentwicklung und Landes- Dessau erregte 2013 Aufsehen mit einem strukturen sowie einzuhaltender techni- planung an der Universität Trier. Buch über bürgerschaftlich getragene Ver- scher Standards und Vorschriften sinkt bei sorgungsstrukturen in ländlichen Regionen geringerer Einwohnerzahl zwar die Auslas- Dipl.-Geogr. Johannes (Faber/Oswalt 2013). Weniger der konzep- tung, die Kosten aber sinken nicht. Reimann ist Experte für das Thema Intermodalität. Seine tionelle Ansatz als vielmehr die zugrunde- Forschungsschwerpunkte sind liegende Hypothese gerieten in die kontro- Radverkehr und ÖPNV. Aktuell verse Diskussion: Staatlich gewährleistete Spin Down ländlicher Regionen arbeitet er im Auftrag des Daseinsvorsorge könne in strukturschwa- unvermeidlich? Bundesverkehrsministe- chen Räumen nicht mehr im selben Um- riums an der „Grundlagen- untersuchung zur Situation des fang wie bisher aufrechterhalten werden. Natürlich kann so argumentiert werden, Radverkehrs in Deutschland“ Die individuellen Entscheidungen für eine aber ist dies nicht, angesichts der Dich- Herr Reimann ist am deutsch- Ansiedlung oder ein Verbleiben in dünn ten in den betroffenen ländlichen Räumen landweit erstmaligem Start des besiedelten ländlichen Regionen dürften Deutschlands, eine sehr eigenwillige The- kombiBUS in der kombiBUS nicht zulasten der Allgemeinheit sanktio- se? Die am dünnsten besiedelten Gebiete Gruppe beteiligt. niert werden, indem für wenige Menschen Deutschlands befinden sich in Mecklen- raumkom Institut für teure Infrastrukturen aufrechterhalten wür- burg-Vorpommern, das als Ganzes eine Raumentwicklung und den (Machowecz 2013: o. S.). Dichte von 69 Einwohnern je Quadratkilo- Kommunikation Christian Muschwitz, Johannes Reimann: 108 Intelligente öffentliche Mobilität im ländlichen Raum – von Skandinavien lernen!

meter aufweist, der Landkreis Ludwigslust- zunächst diejenigen abwandern, die noch Parchim hat 45 Einwohner je Quadratkilo- wahlfrei im räumlichen Sinne sind. Dane- meter. Auch in Westdeutschland existieren ben wird es aber immer auch die Menschen einzelne Regionen, beispielsweise die geben, die nicht abwandern können oder Verbandsgemeinde Prüm in der Eifel mit wollen. Warum wird diesen Menschen die 45 Einwohnern je Quadratkilometer. Zum Solidarität aufgekündigt? Welchen Fehler Vergleich: Die Provinz Norrbotten in Nord- hat jemand begangen, der in Petersdorf, schweden hat eine Dichte von nur sieben einer Gemeinde im Osten des Landkrei- Einwohnern je Quadratkilometer, der ge- ses Mecklenburgische Seenplatte, geboren samte Landesteil Norrland nur fünf. Ganz wurde, dort gearbeitet hat und nun im Al- Finnland hat eine Einwohnerdichte von ter dort einfach weiterleben möchte? In- gerade einmal 16 Einwohnern je Quadrat- sofern wohnt dieser Diskussion auch eine kilometer. Dennoch wird eine ähnliche Dis- ethisch-moralische Dimension inne. Und kussion in Schweden oder Finnland nicht so verwundert es nicht, dass Mecklenburg- geführt. Bereist man diese Länder bzw. die- Vorpommerns Verkehrsminister Christian se jeweiligen Landesteile, stellt man über- Pegel bei Antritt seines Amtes als Vorsit- rascht fest, dass die Daseinsvorsorge hier zender der Länderverkehrsministerkonfe- sehr gut funktioniert und die Versorgungs- renz davor warnte, große Teile ländlicher standards recht hoch sind und kaum einen Regionen bewusst aus der Versorgungsket- Unterschied zu den dichter besiedelten Ge- te auszuschließen, und beispielsweise für bieten erkennen lassen. Dies ist möglich, logistische Prozesse wie etwa die Haustür- weil sowohl die Schweden als auch die Fin- zustellung von Post und Paketsendungen nen statt über Rückzug aus den Standards zeitig neue Lösungsansätze forderte (DVZ lieber über intelligente Versorgungslösun- 2014). gen nachdenken. Die Debatte verleiht einer Entwicklung Weshalb wird also nicht auch bei uns so Ausdruck, die auf Prozessen wie den demo- agiert? Die gegenwärtige Diskussion über grafischen Wandel, wirtschaftsstrukturellen Leistungseinschränkungen und Standard- Veränderungen und veränderten Formen reduzierung für die betroffenen Regionen des Zusammenlebens basieren. Solche ge- wird jedenfalls das Problem eher noch ver- sellschaftlichen Umwälzungen prägen ak- schärfen. Denn wenn die Menschen den tuell und auch künftig anhaltend in hohem Spin Down bewusst wahrnehmen, werden Maße die Landschaft.

Abbildung 1 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, Brandenburg und dem Landkreis Uckermark von 1995 bis 2030 im Vergleich 105 %

Bevölkerun 100 % gvora rusbe echn ung 2008, Var Bundesrepublik iante 6- W1

Bevölkeru ngsprogn ose 2011 Brandenburg 90 %

80 % Landkreis Uckermark

70 % ZENSUS Bevöl kerungs pro gnose 2011

60 %

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030

1995

Quelle: eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 109

Weniger, älter, ärmer tete ländliche Regionen – noch knapp über derjenigen in Kernstädten (Bundesinstitut Der demografische Wandel umfasst insge- für Bevölkerungsforschung, 2013: 1). Den- samt und besonders in strukturschwachen noch ergibt sich die natürliche Alterung Teilräumen sowohl eine quantitative als aus dem Umstand, dass aktuell jede Kin- auch eine qualitative Problemkomponen- dergeneration um ein Drittel kleiner ist als te. Über die stets zuallererst rezipierte Ver- die Elterngeneration. Dies wird zusätzlich änderungsdimension Schrumpfung hinaus verstärkt durch die Altersselektivität der – je nach Szenario wird Deutschland bis Abwanderungen und lässt eine rapide al- zum Jahr 2060 zwischen 15 und 20 % sei- ternde Einwohnerschaft zurück. Wiederum ner Einwohnerzahl verlieren – wird auch im Beispielgebiet Landkreis Uckermark die zu erwartende starke Alterung der Be- werden die Altersgruppen unter drei Jah- völkerung die Strukturen und Systeme des ren sowie 20 bis unter 45 Jahren am stärks- Zusammenlebens künftig besonders her- ten schrumpfen, die Altersgruppe der ab ausfordern (vgl. Statistisches Bundesamt, 65-jährigen dagegen wird als einzige bis 2009: 5). Mehr als jede dritte in Deutsch- zum Jahr 2030 wachsen (vgl. Abb. 2). land lebende Person wird im Jahr 2060 das 65. Lebensjahr überschritten haben (ebd.). Nahezu jeder vierte Erwerbstätige in Die Schrumpfung vollzieht sich in den Teil- Deutschland verdient mittlerweile einen räumen mit unterschiedlichen Geschwin- Lohn unterhalb des bundesweiten Durch- digkeiten. Beispielsweise verringert sich die schnitts (IAB, 2013: 1). Die Reallöhne san- Bevölkerung im Bundesland Brandenburg ken zuletzt. Daneben lassen eine allgemein relativ schneller als die in der Bundesre- steigende Lebenserwartung, die Absenkung publik. Der peripher gelegene Teilraum des Rentenniveaus, eine geringe Verbrei- Landkreis Uckermark innerhalb des Landes tung privater Vorsorgemaßnahmen und der Brandenburg wiederum weist eine noch in Kürze gehäufte Renteneintritt von Men- deutlich drastischere Bevölkerungsabnah- schen mit mehrfach gebrochenen Erwerbs- me auf (vgl. Abb. 1). biografien – u. a. wegen Langzeitarbeits- losigkeit, Teilzeitbeschäftigung, Minijob, Auch die Alterung schreitet in den einzel- geringem Lohnniveau, Elternzeit – einen nen Regionen in unterschiedlichem Tempo Anstieg der Altersarmut erwarten (Stilling, voran. Zwar liegt die Geburtenziffer ländli- 2015: o. S.). Den sinkenden Einkommen auf cher Räume – darunter aber auch verdich- der einen Seite stehen steigende Kosten für

Abbildung 2 Prognostizierte Veränderung der Altersstruktur im Landkreis Uckermark 2009 bis 2030

ab 65 Jahre

45 bis unter 65 Jahre

20 bis unter 45 Jahre

15 bis unter 20 Jahre

10 bis unter 15 Jahre

3 bis unter 10 Jahre

unter 3 Jahre

-60% -50% -40% -30% -20% -10% 0% +10% +20% +30% +40% +50% +60% Quelle: eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes Christian Muschwitz, Johannes Reimann: 110 Intelligente öffentliche Mobilität im ländlichen Raum – von Skandinavien lernen!

Mobilität auf der anderen Seite gegenüber. kleinteiligen Strukturen besondere Bedeu- Ob der Anteil der Ausgaben für Verkehr an tung haben, werden entweder assimiliert allen Konsumausgaben mit 14 % dauerhaft oder müssen aufgeben (IÖW 2005: 36). stabil bleiben kann, so wie es in den ver- gangenen zwanzig Jahren der Fall gewesen Diese sich weiter vergrößernde räumli- ist (Deutscher , 2012: 2), steht che Diskrepanz zwischen Standorten der infrage. Immer weniger Menschen werden Versorgungsangebote und den Lebensräu- sich aber die stetige Teuerung der Mobilität men der ländlichen Bevölkerung erzeugt (vgl. etwa Sommer 2010) leisten können, in zunehmend Raumwiderstände und damit unteren Einkommensgruppen ist der Anteil die Notwendigkeit zur Raumüberwindung. der Ausgaben für Verkehr schon jetzt gerin- Zumindest marktwirtschaftliche Akteure ger (Deutscher Bundestag, 2012: 2). würden diese am liebsten den Nachfragern anlasten. Öffentliche Debatten ringen um die Frage, ob dies ein gerechter Weg ist. Es Konzentration und Raumüberwindung sei jedoch anzumerken, dass die sozialen und ökonomischen Realitäten, wie eben Dabei ist Mobilität eine Fähigkeit, die in gezeigt, einem solchen Paradigma sehr bald zunehmendem Maße für die Teilnahme am die Basis entziehen dürften. Denn nur die- Wirtschaftsleben und für die gesellschaft- jenigen, die sich in der Gegenwart bewusst liche Teilhabe eine Voraussetzung bildet. für eine Ansiedlung auf dem Land entschei- Denn die Orte, an denen wirtschaftlicher, den, genießen überhaupt die Wahlfreiheit sozialer und kultureller Austausch stattfin- zwischen verschiedenen Standorten, vor det, werden weniger. Einrichtungen ziehen allem unter Berücksichtigung der aktuel- sich aus der Fläche zurück. Allgemeinbil- len wie zukünftigen Raumüberwindungs- dende Schulen rücken hier häufig als ers- kosten. Gerade aber die stark alternde Be- te in die Aufmerksamkeit. Im Bundesland völkerung in ländlichen Gebieten ist dort Brandenburg werden die Entfernungen traditionell verwurzelt, trägt sich wegen der zwischen Schule und Wohnstandort durch emotionalen Beheimatung nicht mit einem Schulschließungen länger, im Maximum Wanderungsgedanken oder wäre ökono- sind Kinder durchaus zweieinhalb Stun- misch – nicht zuletzt auch aufgrund des den am Tag unterwegs (Berlin Institut o.J.: rapiden Wertverfalls ländlicher Immobilien 9). Der Mangel an Fachärzten in ländlichen (vgl. Berlin Institut, 2011: 26) – gar nicht Regionen erfährt in Wellen zwar ein medi- in der Lage zu einem späten Wechsel des al übersteigertes Echo. Doch schon jetzt Lebensmittelpunkts aus eigener Kraft. übernehmen vielfach ländliche Kranken- häuser einen wesentlichen Teil der ambu- lanten Versorgung. Aufgrund der subopti- Gehen oder Bleiben malen Wirtschaftlichkeit solcher Häuser ist mittelfristig mit einer Marktbereinigung, Die Wanderungsabsichten und tatsächlich das bedeutet mit Schließungen und Fusio- stattfindenden Wanderungen treten in an- nen zu rechnen. (BDO, 2014: 8). Neumeier deren Altersgruppen dafür verstärkt auf. (2013: 58) weist zudem für Apotheken in Ländliche Regionen verlieren durch an- ländlichen Regionen eine schlechtere Er- haltend negative Salden vor allem jüngere reichbarkeit und größere Entfernung zu Bevölkerung an die Verdichtungs- und Bal- Wohnstandorten nach als in den anderen lungsräume. Standortvorteile wie ein höhe- Raumkategorien. Auch die mittlere Entfer- res Angebot an Ausbildungsmöglichkeiten nung zum Arbeitsplatz wird in einer exem- und an Arbeitsplätzen, an Freizeitmöglich- plarischen Studie für das Bundesland Sach- keiten und kulturellen Einrichtungen wir- sen in ländlichen Räumen am höchsten ken hier als Pullfaktoren. Dieser Abfluss eingeschätzt (LfULG 2013: 26). Der Lebens- von Humankapital bildet dabei ein zusätz- mitteleinzelhandel unterliegt bereits seit liches Glied in der Verkettung ungünstiger längerer Zeit einem Konzentrationsprozess, Faktoren, das gleichzeitig wiederum an die der sich sowohl in einer räumlichen Kon- Ursache anknüpft und aus einem sukzessi- traktion als auch in einer Monopolisierung ven Wirkungspfad einen hermeneutischen ausprägt. Große Anbieter können Skalenef- Kreislauf macht: die berüchtigte Abwärts- fekte für sich nutzen, kleine Ladengeschäf- spirale, mit der der fortschreitende Nieder- te, die für eine wohnortnahe Versorgung in gang strukturschwacher, ländlicher Regio- Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 111

Abbildung 3 nen begründet wird. In der Tat scheint das Prinzip der Abwärtsspirale in ländlichen Regionen Wechselspiel aus Faktoren, die gleichzeitig als Determinanten wie als Resultanten der Geburten- Einkommens- Entwicklung auftreten, bei unveränderten rückgang verringerung Rahmenbedingungen nur zwei mögliche VERSORGUNGSANGEBOTE Ausgänge zuzulassen: Entweder entleert Schrumpfung Nachfrage- Rückzug aus sich eine Region bis zuletzt, oder eine rest- und Alterung einbruch der Fläche liche verbleibende Bevölkerung verharrt in Zurückgezogenheit (vgl. Abb. 3). Verringerung Versorungs- der Auslastung defizite Weil die Zunahme der Raumwiderstände Konzentration, Erreichbarkeits- Steigerung der kurz- und mittelfristig aber nicht umkehr- Streichung defizite Mobilitätskosten bar ist, sollte staatliche Daseinsvorsorge INFRASTRUKTUR künftig nicht nur über Qualität und Menge Selektivität v.a. junge Menschen Anhaltende Attraktivitäts- von Versorgungsleistungen nachdenken, Abwanderung verlust sondern verstärkt auch über deren räum- Mobilitäts- liche Zugänglichkeit. Gängige Modelle verzicht zur Berechnung von Erreichbarkeiten ge- hen klassischerweise von einer kaum be- Gesellschaftliche grenzten Mobilität der Nachfrager aus, die Exklusion mit Blick auf den Automobilisierungsgrad Quelle: eigene Darstellung grundsätzlich als gegeben angenommen wird. Die beschriebenen ökonomischen Zwänge, aber auch gesundheitliche Ein- schränkungen älterer Menschen lassen die These von der automobilen Zukunft des ländlichen Gebieten nur ein Drittel bzw. gut ländlichen Raums (vgl. Canzler/Knie 2007: die Hälfte der städtischen Werte (15 % An- 31ff) aber zunehmend fraglich erschei- teil an den Wegen bzw. 22 % Anteil an der nen. Erst der räumliche, dann der soziale Verkehrsleistung) (Follmer et al. 2010: 45). Ausschluss sind die Folge; ein wenig wün- Daran die wahre Bedeutung öffentlicher schenswertes Ergebnis. Um die Abwärts- Mobilitätsangebote zu bemessen, wäre zu spirale in ländlichen Räumen zumindest kurz gegriffen und blendete den künftig zu aufzuhalten, ist also eine Stärkung der erwartenden Bedarf an öffentlicher Mobi- Mobilität und Versorgungsmöglichkeiten lität, aber auch deren noch ungenutzten der Einwohnerschaft unabhängig vom Au- Potenziale aus. tomobil notwendig und sollte zunehmend als Schlüssel der Daseinsvorsorge begriffen werden. Aufgaben öffentlicher Mobilitätsangebote

Öffentlicher Verkehr Mobilitätsangebote, ob öffentlich oder pri- als Schlüsselinfrastruktur vat, haben die Aufgabe, Verbindungen her- zustellen, und zwar zwischen Quellorten Bis entsprechende öffentliche Mobilitäts- wie Wohnstandorten oder Arbeitsstätten systeme ihre Aufgaben effektiv und besten- einerseits und den Orten wirtschaftlichen, falls wirtschaftlich erfüllen können, sind sozialen und kulturellen Lebens anderer- aber noch weitgehende Anpassungen er- seits. Wo der eigene Wohnort bestimmte forderlich. Denn beispielsweise der Öffent­ Funktionen nicht mehr zur Verfügung stel- liche Personenverkehr bleibt in Deutsch- len kann, ist nach dem System der zentralen land bislang weit unter seinen Potenzialen. Orte eine Ausrichtung auf den nächstgele- Die ohnehin geringen Anteile am Wegeauf- genen Ort der nächsthöheren Hierarchie- kommen und an der Verkehrsleistung stel- stufe anzustreben. Das Bundesinstitut für len sich im Vergleich zwischen Kernstadt Bau-, Stadt- und Raumforschung analy- und ländlichen Kreisen noch einmal deut- siert im Rahmen der laufenden Raum- lich abgeschwächter dar: Mit 5 % Anteil an beobachtung beispielsweise die Fahrzeit allen Wegen bzw. 13 % Anteil an der Ver- zum nächsten Mittel- und Oberzentrum kehrsleistung erreichen Bus und Bahn in mit dem Öffentlichen Verkehr (Wehmeier/ Christian Muschwitz, Johannes Reimann: 112 Intelligente öffentliche Mobilität im ländlichen Raum – von Skandinavien lernen!

Koch, 2010). Diese Relationen werden mit (MIL 2013: 15). Brög (2008: 13) stellt aller- Schienenverbindungen und landes- bzw. dings fest, dass grundsätzlich jede zweite regional bedeutenden Buslinien bedient. Person nicht über reale ÖPNV-Optionen als Alternative zum eigenen Pkw informiert ist Die Mikroerschließung wird bisher sowohl und dass außerdem sämtliche Alternativen von Planern als auch von Verkehrsunter- zum eigenen Pkw mit einem schlechteren nehmen und Aufgabenträgern zu selten Image behaftet sind. Vielfach umfasst das bedacht. Die Nahverkehrspläne ländlicher Selbstverständnis ländlicher Busunterneh- Kreise sehen oft einen Haltestellen-Ein- men beispielsweise nicht einmal eine eige- zugsbereich von mehr als sechshundert ne Marketing-Abteilung. Metern im Radius vor. Dabei wird regel- mäßig nicht berücksichtigt, dass die reale Die Qualität des ländlichen ÖPNV und das Entfernung zwischen Quelle und Halte- allgemeine Kenntnisniveau darüber stehen stelle bzw. Haltestelle und Ziel keinesfalls in direkter Wechselwirkung mit der indivi- der Luftlinie entspricht, sondern durch duellen Wohnstandortwahl. Neben einem Gebäudestrukturen, Straßenführungen und guten Angebot an Arbeitsplätzen gehört die selbst durch Hindernisse auf dem Fußweg Mobilitätsausstattung einer Region zu den wesentlich länger sein dürfte. Wer aber zu- wesentlichen Haltefaktoren für Jugendliche. nächst einen Kilometer bis zur Haltestelle Steigende Spritpreise und Unterhaltskosten laufen und nach erfolgter Fahrt ab der Aus- sowie ein gleichzeitig noch relativ geringes stiegshaltestelle einen weiteren Kilometer Einkommen halten aber viele davon ab, bis zum Ziel zurücklegen muss, kommt sich einen eigenen PKW zuzulegen. Spätes- dem Öffentlichen Nahverkehr als Kunde tens hier wird die Unverzichtbarkeit eines möglicherweise langfristig abhanden. Vor guten ÖPNV-Angebotes deutlich. Jugendli- allem ältere Menschen sind wesentlich sen- che machen ihre Wanderungsentscheidung sibler gegenüber längeren Distanzen. Eine zu einem großen Teil davon abhängig, ob Tür-zu-Tür-Bedienung wird in Konkurrenz ihnen am Wohnort ausreichende Mobili- zum Automobil niemals hergestellt werden tätsoptionen sowohl für Ausbildung und können. Dennoch zeigen erfolgreiche Orts- Beruf als auch in der Freizeit zur Verfügung und Stadtbussysteme einen Gleichschritt stehen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtent- zwischen Erhöhung der Haltestellendichte wicklung Berlin 2010: 19ff). und Zunahme der Fahrgastzahlen.

Diese lässt sich weiterhin noch verstärken, ÖPNV mit Optimierungsbedarf indem Verkehrsunternehmen ihr Angebot auf alle potenziellen Nutzergruppen aus- Doch es scheint zunächst, als könne der richten. Es gilt, die überbordende Domi- Öffentliche Verkehr die entsprechend er- nanz der Schülerbeförderung in ländlichen forderliche Qualität nicht aus eigener Kraft Räumen abzutragen. Denn je höher deren herstellen. Im Juni 2009 haben der Deut- Anteil, desto verwundbarer ist der ÖPNV sche Städtetag und der Verband Deutscher auf dem Land für mengenmäßige Verän- Verkehrsunternehmen eine gemeinsame derungen. Die am stärksten schrumpfende Studie vorgestellt, die den Finanzbedarf Kundengruppe bilden in strukturschwa- im Öffentlichen Verkehr bis 2025 prognos- chen Regionen aber eben die Schüler. tiziert. Darin wird eine Steigerung der er- forderlichen Mittel vorausgesagt und vor Der Öffentliche Personennahverkehr in massiven Fehlbeträgen durch das Auslau- Deutschland leidet zudem unter einem fen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- Bedeutungsdefizit. Der vergleichswei- setzes (GVFK) nach dem Jahr 2019 gewarnt se geringe Anteil am Verkehrsgeschehen (vgl. VDV 2009). Heinze (2009: 515) kommt spiegelt nicht nur die Qualität der Ange- allerdings zu dem völlig gegensätzlichen bote, sondern auch deren mangelhafte Ergebnis, dass die bisherigen Mittel unter Wahrnehmung wider. Eine Befragung älte- bestimmten Voraussetzungen – etwa flexib- rer Menschen in den brandenburgischen le Verwendungsmöglichkeiten, Beendigung Landkreisen Uckermark und Oder-Spree er- der Investitionslastigkeit der Förderung, gab als häufigste Gründe für die Nichtnut- unternehmerisches Denken in den Ver- zung des ÖPNV eine prinzipielle Ablehnung kehrsunternehmen oder auch integrierte bzw. sein nicht bedarfsgerechtes Angebot Betrachtung des ÖPNV als Gesamtsystem Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 113

– durchaus genügen könnten. Laut einem deutliches Potenzial zur Effizienzsteigerung Diskussionspapier beträgt der Anteil der – eine von drei Strategien, die Muschwitz öffentlichen Hand an der Finanzierung des und Monheim (2002: 55ff) bereits im Jahr ÖPNV mindestens zwei Drittel (UBA 2003: 2002 als Problemlösung für Infrastrukturen 11). Bereits seit Jahren monieren Experten, unter Schrumpfungsbedingungen zusam- dass sich die Finanzierung des ÖPNV jeg- mengefasst haben. Der zweite Ansatz zielt licher objektiven Überprüfbarkeit entzieht: darauf ab, anpassbare Infrastrukturelemen- „Der ordnungsrechtliche Rahmen und die te zu flexibilisieren. Im Öffentlichen Per- Vielzahl der vorhandenen Finanzierungs- sonennahverkehr sind bedarfsgesteuerte regelungen des ÖPNV in den Bundes- und Bedienformen für nachfrageschwache Räu- Ländergesetzen sind derart komplex und me mittlerweile etabliert: Flexible Einsatz- intransparent, dass nur noch Fachleute in zeiten und flexible Bediengebiete sollen der Lage sind, die Finanzströme vollständig die Fix- und Betriebskosten verringern, um zu überblicken.“ (ebd.: 10). Bracher (2004: insgesamt die Kosten je Beförderungsfall 11) und andere sprechen in diesem Zusam- zu senken (vgl. BMVBS, 2009). Diese Ange- menhang von einem System der „Spaghet- botsformen nutzen den Umstand, dass sie ti-Finanzierung“, weil die Förderung des im Gegensatz zu leitungsgebundenen Inf- ÖPNV sich aus vielen einzelnen, kleinteili- rastrukturen auch teilbar sind. gen Zahlungsströmen zusammensetzt.

Die jahrzehntelange Konzentration der Ver- Kombinierte Transporte kehrsunternehmen auf die Akquise von För- dermitteln statt auf die Optimierung ihres Die Multifunktion, das dritte Optimie- Angebots (Borcherding/Hartwig/Karl, 2010: rungsprinzip, ist im Bereich Öffentlicher 45) hat zu vielfacher Fehlsteuerung geführt. Personenverkehr so alt wie das Transport- Auch falsche Investitionsanreize durch ge- mittel selbst. Schon zu Zeiten der Post- setzliche Bestimmungen schlugen sich in kutschen und der Kraftpost, also bis in die einer weit an der Nachfrage vorbei gehen- Mitte des 20. Jahrhunderts hinein, wurden den Ressourcenplanung nieder. Die struk- Gepäck und Post mitgeführt, so viel wie turelle Überdimensionierung der Fahrzeug- möglich. Dieses Grundprinzip wird vor al- flotten ist ein Beispiel dafür: Nur zwei bis lem in nordeuropäischen Ländern seitdem 5 % aller Fahrzeuge der dem Verband Deut- ununterbrochen erfolgreich angewandt: scher Verkehrsunternehmen angehörenden Die Unterauslastung von Kapazitäten im Busverkehrsbetriebe zählen zur Größen- Linienpersonenverkehr wird durch einen klasse der Midi- oder Minibusse (vgl. VDV, ergänzenden Transport von Gütern kom- 2014: 37). Vor allem ländliche Verkehrsun- pensiert. So kann ein nicht voll besetzter ternehmen müssen sich zunehmend dem Linienbus Frachtraumkapazitäten bereit- Ineffizienz-Vorwurf stellen. Wenn die lokale stellen, um Güter entgeltlich zu trans- Presse sich aber über Busse mokiert, die in der Hauptsache „heiße Luft“ statt Fahrgäste befördern, liegt dies noch nicht so sehr an einer unzureichenden Netz- und Taktpla- nung, sondern meist zuallererst an einem schlichten Mangel alternativer Fahrzeuge. Denn nicht die erwartbaren Fahrgastzah- len, sondern die erzielbaren Förderquoten determinierten bislang die Beschaffung und Erneuerung des Fuhrparks – und die ließen sich mit zunehmender Fahrzeug­ größe maximieren.

Hier wie auch im wettbewerblichen Aus- schreibungsverfahren, in einer Optimie- rung der Bedienmodalitäten (Takte, Netze, Abbau von Parallelfahrten) sowie in der Aufweichung bestimmter Praktiken, wie Kombinierte Transporte skandinavischer Busunternehmen als übliche Tätigkeit etwa dem Stammfahrerprinzip, besteht also Foto: kombiBUS Gruppe Christian Muschwitz, Johannes Reimann: 114 Intelligente öffentliche Mobilität im ländlichen Raum – von Skandinavien lernen!

lang der Re-Import der Multifunktionalisie- rung aus Skandinavien, wenn sich auch die finanziellen und mengenmäßigen Umfän- ge noch deutlich unterscheiden. Während finnische und schwedische Verkehrsbetrie- be mit der Güterbeförderung erhebliche Umsatzanteile erwirtschaften, bleiben die finanziellen Effekte in der Uckermark zu- nächst noch überschaubar. Der Neuanfang ist schwer, das hat auch historische Grün- de. In Skandinavien ist der Transport ohne Unterbrechung im Personenverkehr integ- riert, Güterbeförderung ist dort traditionell Bestandteil des Öffentlichen Verkehrs. In Deutschland haben sich beide Zweige da- gegen auseinander entwickelt. Heute ist der Erste kombinierte Beförderungsfahrt der UVG im September 2012 Gütertransport enorm kleinteilig und viele Foto: kombiBUS Gruppe Akteure spielen hier eine Rolle. Keiner von ihnen hat nennenswerte Erfahrungen mit dem Bereich des Öffentlichen Verkehrs und umgekehrt besitzen Verkehrsunternehmen portieren. In dünn besiedelten Regionen nur selten Logistikerfahrungen. Anderer- Skandinaviens, teilweise aber auch in den seits spielen auch die unterschiedlichen dortigen urbanen Räumen, operiert ein lan- Siedlungsstrukturen und -entwicklungen desweit erfolgreiches Kombibus-Angebot. eine Rolle. Skandinavische Länder müssen Ursprünglich waren solche Kombi-Dienste schon seit Beginn der Moderne mit gerin- auch in Deutschland weit verbreitet, vor ger Bevölkerungsdichte umgehen, sie sind allem durch den Einsatz der Postbusse als die geringen Dichten gewohnt und suchen Personenbeförderer sowie Post-, Paket- und stets nach Optimierungen. In manchen generellem Waren- und Gütertransporteur. Regionen finden sich außerdem Achsen, Genauso handelte lange Zeit auch die ehe- hervorgerufen durch die teilweise sehr be- malige Deutsche Bundesbahn, jetzt Deut- stimmende Topografie, an denen die Sied- sche Bahn AG, die an Personenzügen nach lungsschwerpunkte wie Perlen auf einer Bedarf Waggons für Gepäck und Postsen- Kette aufgereiht sind. Das vergrößert die dungen mitführen konnte. Ein interessanter Bündelungswirkung von Linienverkehren Nebenbefund ist, dass im Flugpassagierver- unmittelbar – und machte eine Dispersion kehr ebenfalls das Prinzip der so genannten und Atomisierung von räumlichen Struk- „Belly Cargo“ auch heute absolut üblicher turen und Austauschprozessen, wie sie in Standard ist, denn der Transportraum ist Deutschland unter Bedingungen des Wirt- kostbar und es wird stets nach Möglich­ schafts- wie Bevölkerungswachstums statt- keiten gesucht, diesen zu vermarkten. fanden, unwirtschaftlich.

Nun kehrt dieses Multifunktionalisie- rungsprinzip, also die Kombination von Perspektiven einer Aufgaben- Personen- und Güterbeförderung, nach erweiterung des ländlichen ÖPNV Deutschland zurück. Die Uckermärkische Verkehrsgesellschaft (UVG) erreichte im Das Projekt kombiBUS in der Uckermark hat Rahmen eines durch das Bundesinnenmi- den für die Bundesrepublik wichtigen und nisterium geförderten Projekts die Imple- nötigen Nachweis der Machbarkeit kom- mentierung und Erprobung von Fracht- binierter Personen- und Güterbeförderung transporten in Linienbussen. Im September erbracht. Allein die Tatsache, dass seit dem 2012 erfolgte nach einjähriger Vorlaufzeit die 6. September 2012 jährlich mehr als 100 Jungfernfahrt. Seitdem befördern die Busse Gütertransporte durchgeführt werden und der UVG neben ihren Fahrgästen regelmä- dass dies ohne Komplikationen und zur Zu- ßig auch Lebensmittelkisten, Pakete und friedenheit der Versender und der Fahrgäs- das Gepäck von Touristen, die freihändig te stattfindet, belegt die Praxistauglichkeit durch den Landkreis wandern. Damit ge- des Prinzips. Alle rechtlichen, technischen Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 115

und organisatorischen Voraussetzungen und ein hohes Angebotsniveau bei mo- sind erfüllt; mehr noch: sie mussten nicht deratem Aufwand herstellen. Gleichzeitig umständlich hergestellt werden. Der bun- weist seine Strategie der Knoten und Ach- desweit geltende Rechtsrahmen baut keine sen eine starke Verwandtschaft zu den Lo- generellen Hindernisse für die kombinier- giken des Güterverkehrs auf und erleichtert te Beförderung von Personen und Gütern potenziellen Nutzern der Linienbusse für auf; Einschränkungen erfährt, zumindest die Güterbeförderung damit den Einstieg. theoretisch, nur der Umfang dieser Tätig- Schließlich denken die Gütertransportun- keit, und zwar durch die brandenburgische ternehmen in „Hub and Spoke“-Logiken. Kommunalverfassung: Denn die UVG ist Bei der Befassung mit dem Projekt und der ein kommunales Unternehmen und solche Schnittstelle zur Gütertransportwirtschaft, dürfen nur in bestimmten Umfang abseits den Kurier-Express-Dienstleistern (KEP), ihrer Kernaufgabe wirtschaftlich tätig wer- konnte dann auch die Sorge der Konkur- den. Die UVG als Betreiber des Angebots renz weitgehend entkräftet werden. Die bringt durch ihren Unternehmenszweck, meisten KEP-Dienstleister lieben die letzte die Personenbeförderung, zudem die für Meile nicht sonderlich. Dies gilt umso mehr kombiBUS notwendige Ausstattung mit: im ländlichen Raum. Denn hier ist der Auf- Busnetz und -takte, Haltestellen, Fahrzeuge wand überdurchschnittlich hoch. Wird ih- und Personal. Die nötigen Anpassungen bei nen diese Strecke zu vernünftigen Kondi- unternehmensinternen Abläufen konnten tionen abgenommen, dann, das zeigt der geleistet werden, der Fahrbetrieb und die Blick nach Finnland oder Schweden, sprin- Integration von Gütertransporten verliefen gen sie voll auf das Prinzip kombiBUS an. reibungslos. Die Frage nach der Übertragbarkeit ist längst nicht mehr nur theoretisch. Im Ko- Verbreitung einer Idee alitionsvertrag der neuen Landesregierung Brandenburg wird das Prinzip als Beitrag Limitiert wird die Übertragung des Prinzips zur ländlichen Nahversorgung gewürdigt auf andere Regionen von zwei Faktoren: und die Absicht bekundet, bis zu vier weite- Erstens muss in jedem Bundesland genau re Projekte zu initiieren. Im November 2014 einmal, jeweils beim ersten Anwendungs- kündigte außerdem der thüringische Ver- fall, die rechtliche Lage hinsichtlich der kehrsbetrieb KomBus GmbH an, die neue wirtschaftlichen Betätigung kommunaler Aufgabe einzuführen. Unternehmen geprüft werden. Generell gilt allerdings, dass eine kombiBUS-Tätigkeit im Umfang einer Randnutzung weniger be- kombiBUS als Impuls denklich sein dürfte. Um zukünftig Volumi- für die Regionalentwicklung na wie beispielsweise in Skandinavien er- reichen zu können, ist längerfristig gesehen Die kombinierte Beförderung von Perso- dann allerdings eine Anpassung solcher nen und Gütern im Linienverkehr bildet kommunalwirtschaftlichen Schranken von- keinen Selbstzweck. Sie dient einzig der nöten. Zweitens bedingen Leistungsfähig- Stabilisierung des öffentlichen Personen- keit und Innovativität des durchführenden verkehrsangebots und muss sich diesem Verkehrsunternehmens klar den Output. auch unterordnen. kombiBUS funktioniert Denn das Unternehmen bildet auf allen als Strategie, um auch bei steigendem Fi- Ebenen das Integrationsmoment für die nanzierungsdruck auf den ÖPNV die skiz- neue Aufgabe. Es muss Kontakte zwischen zierten Mobilitätsfunktionen erfüllen zu potenziellen Versendern und deren Emp- können. Sie bilden somit den klaren Kon- fängern herstellen, die technischen Abläu- trapunkt zur ansonsten verbreiteten Logik fe sicherstellen und schließlich auch die der Angebotsreduzierung. Doch über die- betroffenen und zuständigen Akteure ein- ses ÖV-strategische Ziel hinaus zeigte die binden. Drittens empfiehlt sich – nicht als Einführung des kombiBUS im Landkreis Voraussetzung, aber als Katalysator – einen Uckermark weitere positive Effekte, die in Integralen Taktfahrplan (ITF) im Bedienge- diesem Ausmaß nicht vorhersehbar waren. biet des Busunternehmens zu etablieren, Der Öffentliche Personenverkehr eignet wenn noch nicht vorhanden. Denn der sich in Kooperation mit innovativen und ITF kann wirksam Ineffizienzen aufdecken aktiven Partnern als Struktur für die mo- Christian Muschwitz, Johannes Reimann: 116 Intelligente öffentliche Mobilität im ländlichen Raum – von Skandinavien lernen!

bile Versorgung mit Waren; mehr noch: Es Waren innerhalb des Landkreises Ucker- wurden Warenströme neu erzeugt, die zu- mark mittels kombiBUS gebündelt und an- vor aufgrund zu geringer Mengen auf der schließend von einem Partnerunternehmen Anbieterseite nicht denkbar gewesen wa- mit LKW nach Berlin transportiert. Dadurch ren. Damit fiel eine wichtige Hürde für den vergrößert sich der Absatzmarkt regionaler Marktzugang. Denn in ländlichen Regionen Produzenten. wirken sich Großhandelsstrukturen bei schrumpfendem Absatzpotenzial schnell negativ auf das Versorgungsangebot aus. In Und die Zukunft? der Vergangenheit wanderten Einrichtun- gen zur Versorgung mit Waren des täglichen kombiBUS hat mehr Potenzial als auf den Bedarfs deshalb vielfach ab, statt sich zu ersten Blick erkennbar. Vordergründig kann flexibilisieren. das Prinzip die Einnahmenseite des ÖV ver- ändern. Daneben kann der ÖV so aber auch Mit den so genannten Dorfläden existiert zur Standardsicherung der Daseinsvorsorge schon länger ein Konzept, das genau die- beitragen, indem regionale Kreisläufe ge- se Flexibilisierung leisten will. Doch auch schlossen und endogene Reserven aktiviert hier greifen Bindungen an Mindestabsatz- werden. Außerdem werden Arbeitsplätze mengen viel zu früh. Der kombiBUS bringt geschaffen, in der Uckermark z. B. im Be- Voraussetzungen mit, diesen Ansatz neu reich der Dorfläden. Zudem werden, wie zu beleben, indem er weniger die Waren das Beispiel zeigt, das Berufsbild der Bus- aus dem Großhandel und stattdessen die fahrer aufgewertet und ihre Arbeitsplätze Produkte regionaler Erzeuger anliefert. Au- gesichert. Eine Facette die dabei automa- ßerdem kann er werktäglich Kleinmengen tisch entsteht, ist die Aufrechterhaltung ei- liefern, das macht ihn zum idealen Partner ner ÖPNV-Basisqualität, so dass der ÖPNV für den ländlichen Einzelhandel. Der Bahn- weiterhin Reichweite und Einzugegebiete hof Warnitz bietet dafür ein Beispiel: Er hält vergrößert. In den angesprochenen Kulis- als touristischer Informationspunkt auch sen ist das keineswegs banal. So gut wie Lebensmittel vor, die mit Linienbussen an- alle Infrastrukturen, egal ob Arztpraxen, kommen. Obwohl eigentlich primär als An- Apotheken, Geschäfte, Kultureinrichtun- laufstelle für Touristen eingerichtet, nutzen gen, Bildungseinrichtungen oder auch auch Einwohner immer häufiger den Shop Freizeiteinrichtungen, sind in der Fläche für ihren Einkauf. Auf der anderen Seite funktionieren Dorfläden als Annahmestel- le für Paket-Sendungen, die wiederum der kombiBUS aufnimmt und an ihre Bestim- mungsorte befördert. Selbst eine Kooperati- on mit einem städtischen Einkaufszentrum, in welcher der Busverkehr die Lieferaufgabe für die Partnergeschäfte übernimmt, kam im Rahmen des kombiBUS-Projekts in der Uckermark zustande.

Die Wirtschaftsakteure vor Ort beginnen auch selbstständig zu kombinieren: Sie stellen sich auf die neue Möglichkeit der taggleichen Transporte von Kleinstmengen ein und entdecken deren Bedeutung für das eigene Geschäft. Touristiker erfinden neue Produkte, darunter Wanderangebo- te ohne Gepäck, regionale Picknickkörbe und die Bestellmöglichkeit für regionale Kulinaria, etwa Frühstücksangebote für Übernachtungsbetriebe, die in kleinen, kundenfreundlichen Mengen vom Erzeuger Die Potenziale des Kombibus-Prinzips reichen versandt und mit dem Linienbus ausgelie- bis zum Sperrgut fert werden. Seit Januar 2014 werden zudem Foto: kombiBUS Gruppe Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 117

auf die Funktionsfähigkeit dieser beiden der gesamte taggleiche Transport mit dem Faktoren angewiesen. In einer alternden System Kombibus erledigt, dazu gehören Gesellschaft, die sich individuelle Mobilität auch so sensible Güter wie Blutkonserven. immer weniger leisten kann, ist ein funk- In Nordschweden, in Luleå (Provinz Norr- tionierender ÖV somit ein entscheidender botten), wird ein ganzer IKEA-Standort mit Faktor. dem System Kombibus bedient. In Finn- land geht in den ländlichsten Teilen die Weiter gedacht und nach Skandinavien ge- Variabilität der Kombination soweit, dass schaut, ist das aber erst der Anfang. Kommt manche Busse nur 15 Sitzplätze haben, das Modell erst einmal in Fahrt, lassen sich weil dies dort für die Nachfrage ausreicht, auch größere Einnahmen aus dem Trans- dafür der Rest des Busses aber aus Fracht- portgeschäft erwarten. Damit ergeben sich raum besteht. Skandinavien zeigt also, dass Freiräume, den ÖV auch deutlich aufzuwer- die öffentliche Mobilität mit diesem Prinzip ten, sowohl in der Frequenz als auch in der eine Menge im ländlichen Raum bewirken Qualität und in der Preisgestaltung. Damit kann, und die Uckermark beweist, dass das wiederum sichern diese neuen Standards Prinzip auch in Deutschland funktioniert. dann eine Lebensqualität, die den Ab- Nun kommt es darauf an, dass auch andere stand zu urbanen Räumen sehr klein wer- ländliche Kulissen die Vorteile sehen und den lässt. In Finnland wird beispielsweise mitmachen.

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Einschätzungen zu ökoeffizienten Jens Schippl Markus Edelmann Mobilitätszukünften – ein visionärer Blick Maike Puhe auf die europäische Ebene Max Reichenbach

Seit vielen Jahren werden zahlreiche, ganz unterschiedliche Ansätze für eine Verbesserung der Ökoeffizienz im Verkehrsbereich diskutiert. Allerdings scheint es nach wie vor verschie- dene Ansichten darüber zu geben, wie sich solch eine Transformation des Verkehrssystems gestalten lässt. Vor diesem Hintergrund will der vorliegende Artikel dazu beitragen, gang- bare Wege zu einem öko-effizienteren Verkehrssystem aufzuzeigen. Ausgangspunkt ist ein Projekt, das unter dem Titel „Eco-efficient transport“ für das STOA1-Panel des europäischen Parlaments durchgeführt wurde. Anhand dreier Szenarien werden unterschiedliche Wege zu einem öko-effizienteren europäischen Verkehrssystem skizziert. Die Ergebnisse von Sze- narien sind stark von den Annahmen abhängig, welche in die Konstruktion der Szenarien eingeflossen sind. Vor diesem Hintergrund wurde besonderer Wert darauf gelegt, die Szena- rien so zu gestalten, dass sie transparent und nachvollziehbar sind. Die Szenarien und ihre Bausteine (Annahmen) wurden zunächst mit Stakeholdern im Rahmen eines Workshops diskutiert, der mittels eines Fragebogens vorbereitet wurde. In Ergänzung zum STOA-Pro- jekt wurde der Fragebogen zusätzlich von 40 Wissenschaftlern ausgefüllt. Ziel war es, ein besseres Bild zu bekommen, ob und aus welchen Gründen verschiedene Stakeholder und Wissenschaftler die Szenarien bzw. ihre Bausteine für erstrebenswert und für realisierbar halten. Aus den Ergebnissen lassen sich Handlungsoptionen zur Gestaltung eines ökoef- fizienten Verkehrssystems ableiten und im Hinblick auf ihre Relevanz, ihre Umsetzbarkeit und ihre Wünschbarkeit diskutieren. Die Ergebnisse zeigen, dass es durchaus Ansätze gibt, bei denen unter den Stakeholdern und Wissenschaftlern breite Einigkeit hinsichtlich der Wünschbarkeit und der Umsetzbarkeit existiert.

1 Einleitung Dipl.-Geogr. Jens Schippl [email protected] Ein gut funktionierendes Verkehrssystem me der Krisenjahre 2008 und 2009 zeigt der ist eine zentrale Voraussetzung für wirt­ Verkehrsbereich seit Jahren stabile Wachs­ M.A. Geogr. und Neuere und schaftlichen Wohlstand und eine hohe Le­ tumsraten (CEC 2014). Viele Prognosen Neueste Geschichte bensqualität in modernen Gesellschaften. gehen davon aus, dass zumindest der Gü­ Markus Edelmann Verkehr ist dementsprechend ein wichtiges terverkehr in der EU zukünftig weiter stark [email protected]

Thema auf allen politischen Ebenen, gerade wächst (CEC, 2013, OECD/International Dipl.-Geogr. Maike Puhe auch in Europa, wo es um das Zusammen­ Transport Forum 2013). Beim Personenver­ [email protected] wachsen der Länder und Regionen sowie kehr gibt es dagegen vermehrt Anzeichen, um die Verbesserung der Lebensbedingun­ die auf eine Stagnation der Nachfrage nach B. Sc. Geogr. und M.A. gen in ganz Europa geht. Dabei sind die physischer Mobilität hinweisen (vgl. Good­ and Sc. in Sustainable Development Einflussmöglichkeiten der europäischen win 2012, Kuhnimhof/Zumkeller/Chlound Max Reichenbach Ebene auf die verschiedenen Bereiche des 2013). Dennoch kann auch hier ein weiteres [email protected] Verkehrssystems (Stadtverkehr, Langstre­ Wachstum der zurückgelegten Personen­ ckenverkehr, Güterverkehr etc.) zwar un­ kilometer nicht ausgeschlossen werden. Das Alle Autoren sind wissenschaft- terschiedlich aber meist nicht unerheblich. in Kapitel 2 dieses Beitrags genannte Refe­ liche Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Handlungsbedarf ist ohne Zweifel vorhan­ renzszenario geht von einer Wachstums­rate Systemanalyse (ITAS). den. Aus mehreren Gründen erscheint eine von 0,6 % zwischen 2010 und 2050 beim Das ITAS ist eine Forschungs- Verbesserung der Ökoeffizienz des Ver­ Personenverkehrsaufkommen und von einrichtung des Karlsruher kehrssektors als dringlich. 1,8 % beim Güterverkehrsaufkommen aus. Instituts für Technologie (KIT) und die größte wissenschaft- liche Einrichtung in Deutsch- Das Verkehrssystem ist mit zahlreichen He­ Das Verkehrssystem stößt zum einen in land, die sich in Theorie und rausforderungen konfrontiert, die sich in vielen Bereichen an Kapazitätsgrenzen – Praxis mit Technikfolgen- Zukunft noch zu verschärfen drohen, wenn zumindest während der Stoßzeiten. Schät­ abschätzung (TA) und System- aktuelle Trends weiter laufen. Mit Ausnah­ zungen beziffern durch Staus entstehende analyse befasst. Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 120 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

Kosten in der EU auf eine Summe in der Elektromobilität eine wünschenswerte Ent­ Größenordnung von 1 % (Christidis 2012) wicklung für ein ressourcenschonenderes oder 1,8 % (CE Delft/Infras/ISI 2011) des und dadurch nachhaltigeres Verkehrssys­ Bruttosozialprodukts. Zum anderen geht tem, während andere argumentieren, dass Mobilität oft mit erheblichen negativen die Elektromobilität Verkehrsprobleme wie Auswirkungen auf Mensch und Umwelt Staus und Flächenverbrauch nicht lösen einher und reduziert damit paradoxerwei­ kann. Auch hinsichtlich der Realisierbarkeit se wieder Lebensqualität und Wohlstand. von Elektromobilität gibt es unterschied­ Genannt seien hier die Emissionen von liche Meinungen: Für viele Experten sind Lärm, Schadstoffen und klimarelevanten rein batteriebetriebene Elektrofahrzeuge Gasen, der immense Flächenverbrauch so­ die Lösung für den zukünftigen Individual­ wie Zerschneidungseffekte in natürlichen verkehr. Dagegen hat sich im Jahr 2014 mit und anthropogen-urbanen Lebensräumen. Toyota der größte Automobilhersteller von Über den Ausstoß von klimarelevanten Ga­ den rein batteriebetriebenen Fahrzeugen sen (vornehmlich CO2) trägt der Verkehrs­ offiziell verabschiedet und sieht nunmehr sektor in Europa rund 20 % (EEA 2014) zum in der Kombination aus Wasserstoff und Klimawandel bei. Eng verbunden mit den Brennstoffzelle die umweltfreundliche und Emissionen ist die bisher ungebrochene ressourcenschonende Antriebstechnologie Abhängigkeit des Verkehrssektors vom Erd­ der Zukunft. öl, einer derzeit zwar im Vergleich zu den Vorjahren wieder günstigeren, aber den­ Genau diese Kontroversen greift der vor­ noch endlichen Ressource. liegende Beitrag auf. Er zeigt die Einschät­ zung von Experten sowohl hinsichtlich der Um zu einem ressourcenschonenderen und Wünschbarkeit als auch der Machbarkeit wettbewerbsfähigeren Verkehrssystem zu unterschiedlicher Ansätze auf. Mittels Sze­ kommen, hat die Europäische Kommission narien und einer Konsultation von Stake­ in ihrem Weißbuch aus dem Jahr 2011 zehn holdern und Wissenschaftlern ergibt sich konkrete Ziele formuliert (CEC 2011). Dazu ein besseres Bild der Relevanz, der Umset­ gehören z. B. der Verzicht auf die Nutzung zungschancen und der gesellschaftlichen von „mit konventionellem Kraftstoff betrie­ Unterstützung für verschiedene Optionen benen Pkw“ im Stadtverkehr bis 2050, oder und Entwicklungen im Verkehrssystem. Die die Verlagerung von 50 % des Straßengüter­ Ansätze, die von vielen übereinstimmend verkehrs über 300 km Distanz auf andere als wünschenswert und machbar einge­ Verkehrsträger wie Eisenbahn- oder Schiffs­ schätzt werden, sollten sich besonders eig­ verkehr bis 2050. Generell fordert das Weiß­ nen, um die zukünftige Ökoeffizienz des buch eine deutliche Erhöhung der Energie­ Verkehrssystems zu verbessern. Die Ergeb­ effizienz und eine signifikante Reduktion nisse zeichnen so gangbare Wege zu einem der klimarelevanten Emissionen. So sollen ökoeffizienteren europäischen Verkehrs­ die CO2-Emissionen des Verkehrssektors bis system vor. 2050 um 60 % reduziert werden (Bezugsjahr 1990). Ein ambitioniertes Ziel, auf das wir Ausgangspunkt ist das Projekt „Eco-Effici­ im vorliegenden Beitrag noch mehrfach zu­ ent Transport“, das in den Jahren 2011 bis (1) rückkommen. 2013 für das STOA (Science and Techno­ STOA ist die Abkürzung von Science and Technology logy Option Assessment)-Panel des euro­ Options Assessment. Vgl. Für eine weitere Erhöhung der Ökoeffizienz päischen Parlaments von den Autoren am http://www.europarl.europa.eu/ im Mobilitätsbereich werden viele, teilwei­ KIT2 durchgeführt wurde (Schippl/Edel­ stoa/. Die Autoren danken dem STOA-Panel für die Förderung se sehr unterschiedliche Ansätze diskutiert mann/Puhe/Reichenbach 2013). In die­ des Projekts „Eco-effcient oder auch in manchen Regionen bereits sem Projekt wurde auch auf Wunsch des transport“. umgesetzt (vgl. Schade/Krail 2012, Schippl/ STOA-Panels das Konzept der Ökoeffizienz (2) Edelmann/Puhe/Reichenbach 2013). Die verwendet, weil es sich im Vergleich zu Das Projekt wurde vom Institut für Technikfolgenabschätzung Diskussionen über die Potenziale dieser „Nachhaltigkeit“ durch einen stärkeren und und Systemanalyse (ITAS) am Ansätze zeigen, dass Politiker aber auch klareren Fokus auf Ressourcenverbrauch Karlsruher Institut für Techno- Fachleute die Realisierbarkeit der verschie­ auszeichnet (die Kapazität der Atmosphä­ logie (KIT) durchgeführt. Für den in Kapitel 3 beschriebenen denen Optionen ganz unterschiedlich ein­ re, CO2 aufzunehmen ist dabei ebenfalls Stakeholder-Workshop wurde schätzen. Zudem ist es oft strittig, welche als Ressource aufzufassen). Vielfach wird über einen Unterauftrag das Danish Board of Technology Lösung als erstrebenswert bzw. wünschens­ Ökoeffizienz verstanden als Entkopplung (DBT) einbezogen. wert betrachtet wird. Für manche ist die des Ressourcenverbrauchs von den (wirt­ Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 121

schaftlichen) Aktivitäten, die erforderlich die Ergebnisse wichtig sind, sondern be­ sind, um menschliche Bedürfnisse zu be­ sonders auch die Annahmen, die den Sze­ friedigen (EEA 1999, WBCSD 2000). Daran narien zugrunde liegen und von denen die anschließend verstehen wir eine Erhöhung Ergebnisse abhängig sind. Vor diesem Hin­ der Ökoeffizienz als eine Reduzierung des tergrund wurde besonderer Wert darauf ge­ ökologischen Fußabdrucks aus der Sum­ legt, die Szenarien so zu gestalten, dass die me aller in einem Bezugsraum erbrachten zugrunde liegenden Annahmen transparent Mobilitätsleistungen. Mobilität muss damit und nachvollziehbar sind. In der in Kapi­ nicht mit Verkehr gleichgesetzt werden – es tel 3 skizzierten Expertenkonsultation wur­ geht nicht in erster Linie um die Beförde­ den einige dieser Annahmen von Experten rung von Personen und Gütern, sondern hinsichtlich ihrer Wünschbarkeit, Machbar­ um die Befriedigung menschlicher Bedürf­ keit und anderer Parameter abgeschätzt. Im nisse und um das Ermöglichen einer hohen Rahmen des STOA Projekts wurden dabei Lebensqualität. In diesem Beitrag werden ausschließlich Interessenvertreter (Stake­ wir Ökoeffizienz auf den Energieverbrauch holder; vgl. Kapitel 3.1) einbezogen, der und vor allem auf die Emissionen von CO2 vorliegende Beitrag stützt sich aber auch reduzieren.3 auf eine zusätzlich durchgeführte Konsul­ tation von Wissenschaftlern aus akademi­ Dieses breit ausgelegte Verständnis von schen Einrichtungen (vgl. Kapitel 3.2). In Ökoeffizienz bietet drei Strategien, um die Kapitel 4 werden die Ergebnisse diskutiert. Ökoeffizienz des Verkehrssystems zu erhö­ Kapitel 5 dient einer Reflektion der Metho­ hen: de und geht dabei auch auf die besondere 1. Technische Substitution: dabei werden Rolle der Szenarien ein. im Wesentlichen die Verkehrsmittel mit saubereren Technologien ausgerüstet, also z. B.: Elektrofahrzeuge substituieren 2 Die STOA-Szenarien Verbrennungsmotoren. Die Mobilitäts­ muster ändern sich dabei nicht wesent­ Als Ausgangpunkt und Rahmung für die lich – die Nutzer oder Güter legen die mündliche und schriftliche Diskussion mit gleichen Wege mit den gleichen, aber den Experten wurden verschiedene Szena­ saubereren Verkehrsmitteln zurück. rien entwickelt. Diese Szenarien bestehen aus einem narrativen Teil, der eine Reihe 2. Verkehrsverlagerung (Modal Shift): Hier von Annahmen für das europäische Ver­ werden Fahrten auf ökoeffizientere Ver­ kehrssystem im Jahr 2050 skizziert. Diese kehrsmittel verlagert, also z. B. vom „Storylines“ wurden mit dem Verkehrsmo­ Lkw auf die Schiene oder vom Auto aufs dell ASTRA4 quantifiziert, wobei bei dieser Fahrrad. Es ändert sich die Verkehrsmit­ Kalkulation besonders interessierte, inwie­ telwahl – die Nutzer oder Güter legen die weit die unterschiedlichen Szenarien das gleichen Wege zurück, tun dies aber mit EU-Ziel einer 60-prozentigen Reduktion ökoeffizienteren Verkehrsmitteln. der CO2-Emissionen erreichen (Schippl et al. 2013). Es sei darauf hingewiesen, dass 3. Reduktion der physischen Mobilität: Hier Straßenverkehr, Eisenbahn und Schifffahrt werden Fahrten vermieden, z. B. Tele­ im Mittelpunkt standen. Luftverkehr wurde working anstatt pendeln oder es werden mitberechnet, war aber bewusst nicht Ge­ Wege verkürzt, z. B. durch die bauliche genstand des Projekts. Mischung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufmöglichkeiten. Es ändert sich das Für alle Szenarien (außer für das Referenz­ Verkehrsziel und/oder die Quelle – die szenario) wurde zunächst ein gemeinsamer Nutzer befriedigen ihre Bedürfnisse mit Rahmen an Grundannahmen festgelegt. So weniger oder mit kürzeren Wegen. gehen alle Szenarien von einem recht star­ ken technischen Fortschritt in den nächsten (3) Im Projekt wurden auch andere Diese drei Strategien dienen als Grundras­ Jahrzehnten aus, der dann in den drei Sze­ Aspekte zumindest qualitativ ter für die Entwicklung von Szenarien öko­ narien im jeweiligen Kontext variiert wurde behandelt, was hier aufgrund der gebotenen Kürze nicht effizienter Verkehrszukünften (Kapitel 2) (vgl. Abb. 1). Dieser Rahmen an Grundan­ möglich ist. und für die Experten-Konsultation (Kapi­ nahmen wurde als „Advanced Framework (4) tel 3). Entscheidende Überlegung für dieses Scenario“ (AFS) bezeichnet und erscheint Vgl. Schade 2008, Schade/ Projekt war, dass bei Szenarien nicht nur in den vorliegenden Auswertungen (vgl. Krail 2012. Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 122 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

Abb. 2 bis 5) als eigenständiges Szenario ne­ lativ hoch und pendelt sich bis 2050 bei ca. ben dem Referenzszenario (REF, „business 200 US-Dollar pro Barrel (US$/b) ein. as usual“), das aus dem Projekt GHG Trans­ PoRD stammt (Schade/Krail 2012) und mit Im Verkehrsbereich koppelt sich die Ent­ dem gleichen Modell und den gleichen Pa­ wicklung des Verkehrsvolumens im Per­ rametern wie die STOA-Szenarien berech­ sonenverkehr vom Wirtschaftswachstum net wurde. Innerhalb dieses gemeinsamen ab. Das gilt allerdings nicht für den Wirt­ Rahmens des AFS, der technisch und öko­ schaftsverkehr, der weiterhin durch starkes nomisch eher optimistische Entwicklungen Wachstum geprägt ist. Die Verkehrsnach­ enthält, wurden dann drei unterschiedliche frage ist aber auch im Personenverkehr „Extremszenarien“ skizziert, die den drei höher als heute, was u.a. am wachsenden eingangs erwähnten Strategien folgen, die Anteil älterer, aber immer noch recht akti­ eine Erhöhung der Ökoeffizienz des Ver­ ver Menschen in Europa liegt. Generell ist kehrssystems ermöglichen können (Abb. 1). insbesondere in Städten die Bereitschaft Zudem wurde eine Kombination der drei für eine sehr flexible und multimodale Ver­ Szenarien berechnet. kehrsmittelwahl deutlich höher als heute. Basis dafür ist ein hoher Grad an vernetzten und immer und überall verfügbaren Infor­ Das technik-optimistische Rahmen- mations- und Kommunikationstechnolo­ szenario (AFS) gien (IuK). In allen europäischen Städten wird eine CO2-bezogene Maut eingeführt. Im AFS wird ein im Vergleich zu heute et­ Ebenso wird auf allen Autobahnen und Na­ was schnellerer technischer Fortschritt tionalstraßen ein einheitliches Mautsystem angenommen, der mit einem stetigen, betrieben. Schienenverkehr und Schifffahrt moderaten Wachstum des Bruttoinlands­ sowie deren Integration werden durch In­ produkts (+1,7 %) einhergeht. In Politik frastrukturinvestitionen gestärkt. Die Si­ und Gesellschaft werden Maßnahmen, die mulation dieses Szenarios mit ASTRA ergab technischen Fortschritt ermöglichen bzw. eine starke Reduktion der CO2-Emissionen, unterstützen, breit akzeptiert (z. B. Subven­ die vor allem auf Effizienzgewinne zurück tionen für umweltfreundliche Technologien, zu führen ist (vgl. Abb. 2). Der Modal Split öffentliche Förderung großer Demonstrati­ und die Mobilitätsnachfrage ändern sich onsprojekte). In mehreren Bereichen stellen nicht wesentlich (Abb. 4 und Abb. 5). Auf­ sich internationale Wettbewerbsvorteile ein; grund der stark gestiegenen Effizienz und diese offensichtliche Verbindung zwischen der damit reduzierten Kosten gewinnt der Ökoeffizienz und Wettbewerbsfähigkeit­ er­ Pkw-Verkehr im Vergleich zum Referenz­ leichtert ein in vielerlei Hinsicht innovati­ szenario sogar noch Marktanteile (Abb. 4). onsfreundliches Klima in Europa. Eine Art Die Infrastrukturen für alternative Antriebe „Green New Deal” kennzeichnet die euro­ werden im AFS bis 2050 ausgebaut; den­ päische Wirtschaft. Das betrifft insbeson­ noch ist die Wettbewerbsfähigkeit alterna­ dere auch den Energiesektor, wo der Anteil tiver Antriebe immer noch eingeschränkt Erneuerbarer Energien schnell und stetig (vgl. Abb. 3). steigt. Der Ölpreis bleibt aufgrund zurück­ gehender Investitionen in die Förderung re­ Szenario I: Fokus auf sauberere Antriebs- technologien

Abbildung 1 In diesem Szenario wird noch mehr als Überblick über die Szenarien im AFS in Forschung und Technologieent­

Referenzszenario aus dem Projekt GHG-TransPoRD wicklung investiert und von einem extrem REF („business as usual“) starken technischen Fortschritt bei alterna­ AFS Technik-optimistisches Rahmenszenario (Advanced framework scenario) tiven Antriebstechnologien ausgegangen. I Szenario I AFS + extreme technische Substitution Die Kosten für Batterie- und Brennstoff­ II Szenario II AFS + deutliche Verkehrsverlagerung zellenfahrzeuge können erheblich redu­ ziert werden. Dazu kommen Regelungen, III Szenario III AFS + extreme Reduktion physischer Mobilität die alternativen Antrieben Wettbewerbs­ Full Vollszenario AFS + I + II + III vorteile verschaffen, wie erhebliche Steu­ Quelle: eigene Darstellung ererleichterungen und sehr hohe direkte Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 123

Subventionen beim Kauf. Wichtig ist, dass ist der im Vergleich zur Szenario I geringere die Regelungen aufgrund einer extrem in­ technologische Fortschritt. novationsfreundlichen Stimmung auch von der Gesellschaft akzeptiert werden. So ist Ebenfalls eine wichtige Rolle spielen in es möglich, ab 2040 fossile Kraftstoffe im Szenario II nicht nur die besseren In­ Pkw-Bereich ganz zu verbieten. In Städten frastrukturen, sondern ganz besonders mit mehr als 100 000 Einwohnern sind auch auch ein besserer Service im Öffentlichen für den Güterverkehr nur noch Null-Emis­ Personennahverkehr (ÖPNV). Gerade in sionsfahrzeuge erlaubt. Die Fortschritte im urbanen Zentren ist es üblich, verschie­ Bereich Leichtbau gehen noch über die im dene Verkehrsträger zu kombinieren. Car- AFS getroffenen Annahmen hinaus. Das sharing wird breit genutzt und ist eng mit Energiesystem ist durch einen hohen Anteil den Angeboten des ÖPNV verzahnt. In den Erneuerbarer Energien geprägt. meisten Städten gibt es verschiedene Vari­ anten von Carsharing. Teilweise verbreitet Die Simulationen ergeben den erwarteten sich die Vollautomatisierung des Pkw. Aller­ hohen Anteil alternativer Antriebe in Sze­ dings dürfen bis 2050 nur zertifizierte Flot­ nario I (Abb. 3). Insgesamt ist der Ener­ tenbetreiber (oft ÖPNV-Unternehmen und gieverbrauch des Verkehrssektors ähnlich Taxiunternehmen), die eng mit Versiche­ hoch wie im AFS, allerdings sind die CO2- rungsunternehmen und technischen Über­ Emissionen deutlich niedriger: 75 % niedri­ wachungsdiensten zusammenarbeiten, au­ ger als im Referenzszenario aus dem Projekt tonom fahrende Fahrzeuge anbieten. Diese GHG TransPoRD (REF) und 68 % niedriger Fahrzeuge dürfen mit maximal 35 km/h als 1990. Letzteres bedeutet, dass in dieser fahren und deshalb nur in urbanen Be­ Simulation das 60 %-Reduktionsziel des reichen eingesetzt werden. Besonders zur Weißbuchs Verkehr für CO2 klar erreicht Überbrückung der sogenannten „letzten wird (Abb. 2). Dabei ist aber zu beachten, Meile“ erfreuen sich diese Fahrzeuge zu­ dass die Emissionen, die bei der Bereitstel­ nehmender Beliebtheit. Insgesamt fällt lung von Elektrizität und Wasserstoff ent­ die Verkehrsverlagerung in der Simulation stehen, nicht in den Berechnungen berück­ nicht so stark aus, wie es die Annahmen sichtigt sind. Wirklich ökoeffizient kann der erwarten lassen. Das liegt auch daran, dass Verkehrssektor in diesem Szenario also nur das verwendete Modell für eine Situation dann sein, wenn auch der Energiesektor kalibriet wurde, in welcher der straßenge­ weitgehend emissionsfrei arbeitet. bundene Verkehr – wie heute – das Mobi­ litätssystem dominiert. Die Berechnungen können also als eher konservative Schät­ Szenario II: Fokus auf Verkehrs- zung betrachtet werden. verlagerung

In Szenario II fließt ein Großteil der ver­ Szenario III: Fokus auf Reduktion kehrsbezogenen Investitionen in den Aus­ des Wachstums physischer Mobilität bau von Infrastrukturen für den öffentlichen Verkehr sowie den Schienengüterverkehr In Szenario III liegt der Schwerpunkt auf und den Gütertransport auf dem Wasser. der dritten Option zur Erhöhung der Öko­ Das entspricht der Grundphilosophie von effizienz des Verkehrssystems: die extre­ Szenario II, nämlich eine Verlagerung von me Reduzierung der physischen Mobilität Autoverkehr und straßengebundenem Gü­ im Vergleich zum REF-Szenario. Wichtige terverkehr auf umweltfreundlichere Ver­ Treiber sind hier zunächst die hohen Ener­ kehrsträger zu erzielen. Wie die Abbildung 2 giekosten. Dabei wird ein Ölpreis von zeigt, lässt sich auch in diesem Szenario das 300 US$/b angenommen. So entsteht ein Ziel, den CO2-Ausstoß um 60 % zu reduzie­ starker Anreiz, Fahrten zu verkürzen oder, ren, erreichen. Da auch hier rein fossil be­ wenn möglich, entsprechende Bedürfnis­ triebene Fahrzeuge ab 2040 verboten wer­ se virtuell zu erledigen. Dementsprechend den, stellt sich ebenfalls ein hoher Anteil wird davon ausgegangen, dass sich einer­ alternativer Antriebe ein (Abb. 3). Allerdings seits durch extreme Virtualisierung, also spielen Verbrennungsmotoren über die Hy­ durch Nutzung von Optionen wie Telear­ bridantriebe und die Biokraftstoffe immer beit, Videokonferenzen, Webinars, Online- noch eine wichtige Rolle. Ein Grund dafür Shopping etc., viele Wege vermeiden lassen. Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 124 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

Abbildung 2 Abbildung 3 Entwicklung der CO2-Emissionen in den STOA-Szenarien Zusammensetzung der europäischen Pkw-Flotte in den STOA-Szenarien 2050

in % 120 2010 = 102 100 90 100 80 70 80 60 50 60 40

40 30 Index 1990=100 Index 20 20 10 0 0 REF AFS I II III Full 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 Brennstoffzelle rein batterieelektrisch Hybrid Biokraftstoff REF AFS I II III Full Flüssiggas (LPG) Erdgas (CNG) Diesel Benzin

Abbildung 4 Abbildung 5 Modal Split für den Personenverkehr in den STOA-Szenarien Verkehrsnachfrage in den STOA-Szenarien 2050 2050

in % 100 10 000

90 9 000

80 8 000 70 7 000 60 6 000 50 5 000

40 tkm) pkm bzw. den 4 000 30 3 000

20 (Milliar 2 000 10 1 000 onen kilometer) Pers nun gsgrundlage: 0 0 REF AFS I II III Full REF AFS I II III Full (Berech Fahrrad & zu Fuß Flugzeug Bahn Bus Auto Personenverkehrsnachfrage Güterverkehrsnachfrage

Quellen für Abbildung 2 bis 5: Eigene Darstellung, Daten aus Schippl et al. 2013

Andererseits führen die Stadtentwicklungs- 3 Einschätzungen der Szenarien und Bauleitplanung über die konsequente durch Stakeholder und Wissen- Umsetzung von Konzepten wie der „Stadt schaftler der kurzen Wege“ zu einer Reduktion der Wegelängen. Zudem wird von einer Re- Wie der vorhergehende Abschnitt verdeut­ regionalisierung vieler Wirtschaftskreisläu­ licht hat, basieren die Szenarien trotz eini­ fe ausgegangen, wodurch sich das Güter­ ger bewusst gewählter Gemeinsam­keiten verkehrsvolumen erheblich reduziert. Die auf sehr unterschiedlichen Annahmen, die Orte der Produktion und des Konsums von für die unterschiedlichen Ausprägungen Gütern rücken näher zusammen. Die Ge­ verantwortlich sind. Die Komplexität des schwindigkeit technischen Fortschritts ist Verkehrssystems impliziert eine Vielfalt hier nicht allzu hoch. Alternative Antriebe möglicher Entwicklungen, sodass die ge­ kommen deshalb auch nicht so stark in den troffenen Annahmen immer mit einem ge­ Markt (Abb. 3). Dennoch erreicht aufgrund wissen Grad an Unsicherheit einhergehen der starken Reduktion des physischen Ver­ (Schippl/Fleischer 2012). Zudem kann es kehrs (Abb. 5) auch die Simulation dieses unterschiedliche Ansichten geben, ob ein Szenarios das 60 %-Reduktionsziel der EU Szenario wünschenswert ist. für CO2 (Abb. 2). Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 125

Im weiteren Projektverlauf wurden diese den bisherigen Diskursen in der Literatur verschiedenen Ansichten herausgefiltert. und in politischen Dokumenten ein gewis­ Dazu wurden aus den drei Szenarien ins­ ses Maß an Kontroverse ergeben. gesamt 14 Thesen extrahiert, die wichtige Annahmen aus den drei Szenarien aufgrei­ Die Szenarien und die ihnen zugrunde fen (vgl. Abb. 6). Zudem wurde der in Abbil­ liegenden Annahmen wurden zunächst dung 7 dargestellte Fragebogen entwickelt, in einem Workshop mit Stakeholdern und mit dem die 14 Thesen von Stakeholdern einigen Parlamentariern des Europapar­ und von Wissenschaftlern aus akademi­ laments diskutiert, dessen Ergebnisse im schen Einrichtungen bewertet wurden. Abschnitt 3.1 zusammengefasst sind. Der Grundsätzlich enthalten die Szenarien eine Schwerpunkt lag dabei auf der Diskussion Vielzahl von Annahmen, sodass aus Grün­ der Szenarien selbst, der Fragebogen dien­ den der Praktikabilität eine Auswahl zu te hier nur der Vorbereitung und besseren treffen war, die sich an folgenden Kriterien Fokussierung des Workshops auf kritische orientierte: Es war wichtig, dass die Thesen Punkte. In einem zweiten Schritt wurde bereits in Literatur und Praxis diskutiert der Fragebogen zu den 14 Thesen von Ver­ werden und nicht als „phantasiegeleitet“ kehrswissenschaftlern aus akademischen bezeichnet werden konnten. Gleichzeitig Einrichtungen ausgefüllt. Diese Ergebnisse sollten sie sich auf innovative Technologien sind in Abschnitt 3.2 zusammengefasst. bzw. Ansätze beziehen, die noch nicht voll­ ständig etabliert sind. Zudem sollte sich aus

Abbildung 6 Die 14 Thesen für die Konsultation von Stakeholdern und Wissenschaftlern

mainly relevant for Theses scenario...  Half of the road based freight transport (tkm) in the EU will be carried out by alternative propulsion (e.g. by hydrogen, gas, or biofuels). I  More than half of the passenger cars sold per year will be battery electric vehicles with driving ranges of 400–500 km. I  Only local zero emission (tank-to-wheel) passenger vehicles will be allowed in European cities of more than 100.000 inhabitants. I  In Europe, half of the passenger kilometres travelled by car will be made using full autonomous driving system. This allows driving without human assistance as the car keeps the road and navigates on its own. II (I)  An interoperable electronic ticketing application for public transport will be available all over Europe. This will enable users enable users to use the same means of payment for different modes and services (including conventional public transport and e.g. bike-sharing, car-sharing). II  In Europe, public transport, cycling (including e-bikes) and walking will have a modal share of 75 % in urban areas of more than 100.000 inhabitants. II (III)  An interoperable road charging system on the trans-European road network will implemented in all EU states, taking account of the external costs of air pollution, noise pollution and congestion. II  A sophisticated EU regulatory framework (e.g. loan guarantee schemes, risk facility funds, creation of additional revenue streams) will make infrastructure investments more attractive to the private sector. That way, private capital will bear half the EU infrastructure development costs. II  Common technical, administrative and legal standards will be identical in the European rail net- work. This will operators to seamlessly run trains across Europe. II  The freight transport volume (tkm) on inland waterways will increase by 50 % (compared to 2012). II  In waterborne transport, operational improvements (e.g. speed reduction, autopilot upgrade) and new technologies (e.g. alternative propul- sion systems, propeller design, auxillary use of wind power) will lead to a reduction of greenhouse gas emissions by 50 % (compared to 2012). I  Widerspread application of tele-x (tele-working, tele-shopping, video-conferencing, etc.) will lead to a reduction of transport-related greenhouse gas emissions by 25 % (compared to 2012). III  A trend of regionalisation (driver by e.g. transport costs, sociental values and related policies) will lead to a stronger spatial concentration of production and consumption of goods and services. III  Underground transport systems (urban freight tubes) will be implemented and used for more than half of the urban goods distribution in larger European agglomerations (> 500.000 inhabitants). II

Quelle: Schippl et al. 2013 Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 126 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

Abbildung 7 Fragebogen für die Konsultation von Stakeholdern und Wissenschaftlern

Theses XY: (Text of the thesis)

a) How would you assess your own expertise concerning this thesis?  I do research and publish in this field  I have only focal or generalized knowledge in this field  I am working in this field / following the  I have no knowledge in this field professional discourse

b) In which period would you expect this development to become true?  2010–2015  2021–2030  Later than 2050  I don‘t know  2016–2020  2031–2050  Not realistic at all

c) Which of the following factors could impede this development? (multiple answers possible)  Financial barriers  Lack of societal acceptance  Capacity limit of infrastructures  Uncoordinated institutional actions/responsibilities  Ongoing technical problems that need to be solved  Differing interests of involved stakeholders (e.g. politicians, industry, NGOs)  Lack of government-funded research and development  Lack of entrepreneurial vision  European and/or national legislation/regulation  Lack of political vision  I don‘t know

d) Is this development desirable?  Very undesirable  Undesirable  Desirable  Very desirable  I don‘t know

e) Reaching this development would have the following impacts: (each row requires an answer) negative positive both po- no impact I don‘t impact impact sitive and know negative impact Growth of European economies      Labour and employment      Assessibility of the transport system      Reduction of congestion levels      Modal shift towards more resource-efficient transport      modes Reduction of transport volumens      Improvement of human health      Biodiversity      Reduced use of fossil fuels (oil/gas)      Reduced use of other nonrenewable resources      Reduction of greenhouse gas emissions      other/comments:

Quelle: Schippl et al. 2013

3.1 Der Stakeholder-Workshop

Der eintägige Workshop mit Stakeholdern vier Mitglieder des EU Parlaments (vgl. wurde im Januar 2013 in Brüssel durchge­ Schippl et al. 2013). führt. Insgesamt nahmen 21 Interessenver­ treter aus verschiedenen gesellschaftlichen Ziel des Workshops war es, Rückmeldun­ bzw. wirtschaftlichen Bereichen an dem gen zu den einzelnen Szenarien zu erhal­ Workshop teil, dazu zeitweise noch ten und zu verstehen, welche Entwicklun­ Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 127

gen, Technologien und Konzepte von den um machbare Umsetzungspfade besser zu Stakeholdern als wünschenswert bzw. als verstehen. Ausgehend von den Thesen zu realisierbar erachtet werden. Zur Vorberei­ Szenario I wurde die Rolle von Technologie tung wurde einige Wochen vor dem Work­ (und damit auch von europäischer Tech­ shop der Fragebogen mit den 14 Thesen an nologiepolitik) für den Verkehrsbereich zu die Teilnehmer verschickt. Anders als bei einem zentralen Thema des Workshops. der Wissenschaftler-Befragung (vgl. Kapitel Es wurde mehrfach und an verschiedenen 3.2) wurde der Fragebogen lediglich als Vor­ Stellen betont, dass Technologie ein wich­ bereitung für den Workshop verwendet. Er tiger, aber nicht der einzige Faktor europä­ ermöglichte einen ersten Einblick in kon­ ischer Verkehrspolitik sein sollte. Als we­ troverse Standpunkte und diente dazu, den sentliches Element zukünftiger politischer Workshop zu fokussieren. Eine Woche vor Aktivitäten und Programme wurde die Beginn des Workshops erhielten die Teil­ Optimierung von bestehenden Systemen nehmer zudem eine Teilnehmerliste, ein und Infrastrukturen gefordert, vor allem in Programm sowie eine kurze Zusammen­ Hinblick auf Benutzerfreundlichkeit, Ma­ fassung der drei Szenarien. Die Teilnehmer nagement, Informationsflüsse und Koope­ wurden um fünf Tische gruppiert, wobei rationen. Damit sind bereits einige zentrale darauf geachtet wurde, dass an jedem Tisch Elemente aus Szenario II angesprochen. ein breites Spektrum unterschiedlicher In­ teressensvertreter zugegen war. Szenario II wurde von einem Großteil der Stakeholder als das realistischste und at­ In Bezug auf Szenario I wurde im Workshop traktivste Szenario bewertet. Eine Verkehrs­ argumentiert, dass die skizzierten tech­ verlagerung wurde weitegehend als sinn­ nischen Entwicklungen nicht unbedingt voll erachtet. In welchem Ausmaß diese ex ­trem wären. Anhand verschiedener Bei­ im europäischen Kontext realisierbar sei, spiele wurde betont, dass einige der Tech­ schätzen die Stakeholder unterschiedlich nologien, die in den Szenarien beschrie­ ein. Sie betonten, dass für eine relevante ben sind, bereits weit entwickelt seien, Verkehrsverlagerung wie z. B. in These 6 aber in Bezug auf eine Markteinführung (Umweltverbund dominiert Stadtverkehr) und -durchdringung zum einen noch viele ein klarer politische Wille und die Bereit­ technische-ökonomische Defizite im Wege schaft für Investitionen in die Infrastruktur wären, zum anderen aber auch noch einige erforderlich seien. Insbesondere in Bezug Unsicherheiten bestünden (beispielswei­ auf Radverkehrspolitik wurde betont, dass se Elektromobilität). Viele Unsicherheiten vielerorts die politische Vision fehle, den bezögen sich auch auf nicht-technische äußerst ökoeffizienten Ansatz einer radver­ Aspekte, wie (Verkehrs-)Planungsfragen, le­ kehrsfreundlichen Politik mit Leben zu fül­ gislative, regulative und ökonomische Un­ len. Als wesentliches Hindernis für die Ziele sicherheiten, aber auch auf Ungewissheit aus Szenario II wurden die unterschiedli­ in Bezug auf Wünsche, Ansprüche und Ge­ chen Strategien der Mitgliedsstaaten gese­ wohnheiten der Nutzer und professioneller hen, die zu oft Vorrang vor EU Strategien Akteure. Vor allem die Industrievertreter besäßen. Schließlich seien beispielsweise betonten, dass aufgrund des Nebeneinan­ die Vorgaben aus dem Weißbuch Verkehr ders verschiedener Technologien (bspw. mehr eine politische Botschaft, als eine Wasserstoff, E-­Mobilität, Verbrennungs­ auf konkrete Koordination ausgerichtete motor) und der damit verbundenen Unsi­ Handlungsanweisung. Die Prioritäten der cherheiten größere Kapitalentscheidungen einzelnen Mitgliedsstaaten bei Investitio­ von Investoren zurück gehalten würden. nen in den Infrastrukturausbau seien oft zu Gleichzeitig sahen die Stakeholder bei der unterschiedlich und zu wenig abgestimmt. Entwicklung und Verbreitung alternativer So legen einige Mitgliedsstaaten derzeit ih­ Antriebstechnologien vor allem die Indus­ ren Fokus auf den Ausbau ihres Straßenver­ trie am Zuge, während die Politik effektive kehrsnetzes, während andere den Ausbau und europaweit gut koordinierte Rahmen­ ihres Schienennetzes vorantreiben. Gera­ bedingungen in Form von Anreizen und de auch für die erfolgreiche Umsetzung Regelungen schaffen müsse. Hier wurde von Szenario II wurde die Servicequalität abermals betont, dass weiteres Wissen über als Ergänzung zu technologischen Innova­ Marktmechanismen­ und Verkehrsverhalten tionen als wichtiges Thema erachtet. Aus mit den jeweiligen Dynamiken nötig sei, dem Fragebogen ging hervor, dass unko­ Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 128 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

Abbildung 8 Überblick über die Ergebnisse der Befragung von Wissenschaftlern 00 % 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 one full column width = 1 width column full one one full column width = 100 % one full column width = 100 % 05 0 201 5 202 0 203 0 205 0 ss ing value) 2012 – 2016 – 2021 – 2031 – than 2 Later at all realistic Not I know don't (mi Very undesirable Undesirable Desirable Very desirable I don't know (missing value) Which of the following factors could impede this development? (multiple choice) Financial barriers Capacity limit of infrastructures Ongoing technical problems that need to be solved Lack of government-funded research and development Lack of entrepreneurial vision Lack of political vision Lack of societal acceptance Uncoordinated institutional actions/responsibilities Differing interests of involved stakeholders European and/or national legislation/regulation I don't know (missing values for all factors) Quelle: eigene Darstellung Thesis In which period would you this development expect to become true? (single choice) Is this development desirable? (single choice) Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 129

ordinierte institutionelle Handlungen der welche Rolle die unterschiedlichen Ver­ Erreichung vieler Ziele im Wege stünden kehrsmittel dabei spielen. (z. B. der Realisierung eines europäischen E-Ticketsystems). Mobilitätsmanagement Insgesamt verständigten sich die Stakehol­ wurde mehrfach als attraktiver und realisti­ der darauf, dass Szenario II, durchaus in scher Weg benannt, die Ziele aus Szenario II Kombination mit einigen Ansätzen des Mo­ zu erreichen. Es zeigte sich allerdings deut­ bilitätsmanagements aus Szenario III, das lich, dass die unterschiedlichen Teilnehmer wahrscheinlichste und robusteste Szenario auch unterschiedliche Auffassungen und darstellt. Die Elemente aus Szenario I wur­ Erwartungen über die konkrete Umsetzung den eher als notwendige aber nicht hinrei­ eines effektiven Mobilitätsmanagements chende Voraussetzung für die Erfüllung der hatten. Ziele in Szenario II angesehen. Als größte Herausforderungen wurden der Ausbau Die größten Vorbehalte zeigten sich ge­ und die Finanzierung der Infrastruktur, ef­ genüber Szenario III: Einige Stakeholder fizienteres Management und Koordination fürchteten, dass die hier skizzierten Ent­ der verschiedenen Verkehrsträger und die wicklungen zu geringeren wirtschaftlichen unabdingbaren Verhaltensänderungen aus­ Aktivitäten führen. Im Hinblick auf The­ gemacht. Als Voraussetzung für die Erfül­ se 12 (Virtualisierung) wurde von einigen lung dieser Herausforderungen sahen die befürchtet, dass sich Menschen bei einer zu Stakeholder die öffentliche Finanzierung starken Verlagerung auf Onlinedienste und und Subventionspolitik, die Attraktivität -services im täglichen Leben nicht mehr des öffentlichen Verkehrs sowie die Errei­ begegnen und damit der gesellschaftliche chung gemeinsamer Standards. Die EU als Zusammenhalt nicht gewährleistet werden Institution solle sich dabei auch stärker auf könne. Die Idee von mehr Regionalisierung die Umsetzung ihrer Strategien fokussieren, (These 13) brachte starke Kontroversen her­ da bisher eher eine Kluft zwischen politi­ vor. Einige Stakeholder betonten, dass ein schen Entscheidungen und deren Realisie­ Mehr an Regionalisierung verschiedenen, rung bestünde. mit der Globalisierung in Zusammenhang stehenden Trends entgegenstünde. So z. B. der Zunahme von internationalen Koope­ 3.2 Wissenschaftliche Einschätzungen rationen, der Diversität von Arbeitsmodel­ der Szenarien len, Onlineshopping oder dem verstärkten Wunsch nach Fernreisen. Außerdem stün­ Im Sommer 2013 wurde der Fragebogen den einige der Bausteine konträr zu der mit den 14 Thesen zu möglichen zukünfti­ Idee des Europäischen Binnenmarktes, der gen Entwicklungen im Verkehrsbereich an den freien Verkehr von Personen, Waren, ca. 150 Wissenschaftler aus akademischen Dienstleistungen und Kapital garantiert. Ei­ Einrichtungen verschickt. Dabei wurde nige Stakeholder betonten, dass nur durch darauf geachtet, dass sich zu allen im Fra­ steigende Transportkosten die Bausteine gebogen angesprochenen Themen meh­ aus Szenario III realisiert werden könnten. rere Wissenschaftler mit entsprechender Andere meinten wiederum, dass sich die Expertise im Sample befanden. 40 ausge­ Mentalität der Menschen ändern müsse. füllte Fragebogen kamen zurück, was einer Ob dies möglich und wünschenswert ist, zufriedenstellenden Rücklaufquote von wurde sehr unterschiedlich eingeschätzt. ca. 27 % entspricht. Die Ergebnisse (vgl. Auf jeden Fall müssten aber die Bedürfnis­ Abb. 8) werden in diesem Kapitel vorge­ se und Wünsche der Menschen besser er­ stellt, unterteilt nach den Szenarien, denen forscht werden, nicht nur in ihrer Rolle als die Thesen jeweils vornehmlich zugeordnet Konsumenten, also bei der Verkehrsmittel­ werden können. wahl, sondern auch hinsichtlich ihrer Rolle als Bürger oder Anwohner und ihrer damit verbundenen, eher allgemeineren Vorstel­ Szenario I: Thesen 1–3 und 11 lung von einer attraktiven Infrastrukturge­ staltung (vgl. Puhe, Schippl 2014). Beispiel­ Diese vier Thesen beziehen sich vornehm­ weise geht es darum, was die Bürger unter lich auf technische Entwicklungen (The­ einer lebenswerten Stadt verstehen und sen 1, 2 und 11) sowie auf eine teils eng Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 130 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

mit diesen verknüpfte Regulierung (These wichtigste Hemmnisse werden fast durch­ 3). Hinsichtlich der Umsetzbarkeit schät­ weg technische und/oder finanzielle Grün­ zen bei These 1 (alternative Antriebe im de genannt. Grundsätzlich sind das Berei­ Güterstraßenverkehr) etwas weniger als die che, in denen Industrie und Dienstleistern Hälfte und bei These 2 (hohe Reichweiten eine zentrale Rolle als handelnde Akteure von batterieelektrischen Fahrzeugen) etwas zukommt. Allerdings gibt es nach Einschät­ mehr als die Hälfte der Befragten, dass die zung der Wissenschaftler doch bei fast allen skizzierten Fortschritte im Bereich alterna­ fünf Thesen auch signifikante Hemmnisse tiver Antriebe bis 2050 realisiert werden. in den Bereichen Koordination, politische Allerdings hält jeder fünfte der Wissen­ Steuerung und gesellschaftliche Akzeptanz. schaftler die Annahme in These 2 für unrea­ Blickt man auf die Abschätzung der Auswir­ listisch, dass die hohe Marktdurchdringung kungen der jeweiligen Entwicklungen, so von Elektrofahrzeugen (BEVs) mit Reich­ fällt auf, dass bei allen vier Thesen die Wis­ weiten um 400 bis 500 km je wahr wird. senschaftler deutliche Verbesserungen der Hinsichtlich der Einführung einer Zugangs­ Öko-Effizienz im Falle einer Realisierung beschränkung in urbanen Bereichen für erwarten. Besonders der Effekt auf die Re­ Pkw, welche die Hürde lokaler Emissions­ duktion der Treibhausgasemissionen wird freiheit nicht erfüllen (These 3), zeigt sich oft als hoch eingeschätzt. die Mehrheit der Experten skeptisch. 40% glauben nicht, dass solch eine Beschrän­ kung bis 2050 umsetzbar ist. Zugleich Szenario II: Thesen 4–10 und 14 werden diese drei Thesen (1, 2 und 3) von vielen Wissenschaftlern als wünschenswert Bei den Thesen 4–10 und 14 geht es vor al­ oder sehr wünschenswert eingestuft, wobei lem um Entwicklungen, die koordiniertes es jeweils auch abweichende Meinungen (politisches) Handeln einer Vielzahl von Ak­ gibt. Ähnlich verhält es sich bei These 11 teuren (Thesen 1–9) und/oder (insbesonde­ (ökoeffiziente Antriebe für Schiffe), wobei re öffentliche) Investitionen in In­frastruktur sich hier nur etwa die Hälfte der Experten (Thesen 10, 14) erfordern. These 4 stellt aufgrund eigener Vorkenntnisse zu einer eine besondere Entwicklung dar. Aussage in der Lage sah. Die Thesen 5 (E-Tickets) und 7 (Straßen­ Hinsichtlich der Faktoren, die einer Realisie­ nutzungsgebühren) werden als wünschens­ rung im Wege stehen, spielen bei allen fünf wert oder sehr wünschenswert angesehen Thesen finanzielle Gründe sowie technische (jeweils über 80 %), und auch die Mach­ Hindernisse eine wichtige Rolle. Aber auch barkeit dieser beiden Thesen wird als hoch organisatorische und Koordinationsfragen angesehen. Als verbleibende Hürden wer­ werden häufig als relevant eingestuft. Bei den insbesondere mangelnde politische These 3 wird darüber hinaus dem Mangel Weitsicht, unkoordiniertes Handeln und an gesellschaftlicher Akzeptanz eine gro­ divergierende Interessenlagen genannt. ße Bedeutung beigemessen. Bezüglich der Auch die Thesen 6 (Umweltverbund domi­ möglichen Auswirkungen (Abb. 7, Frage e; niert Stadtverkehr) und 9 (Standardisierung nicht in Abb. 8 dargestellt) schätzen die im Bahnbereich) werden als wünschens­ meisten der 40 Wissenschaftler die Umwelt­ wert oder sehr wünschenswert angesehen wirkungen der Thesen 1, 2, 3 und 11 als sehr (jeweils über 75 %), allerdings wird ihre positiv ein. Häufig wird von Verbesserungen Umsetzbarkeit kritischer eingeschätzt. Bei für die menschliche Gesundheit, von einer These 6 wird mangelnde politische Weit­ Reduktion des Verbrauchs fossiler Kraftstof­ sicht am häufigsten als Hürde genannt, bei fe sowie von einer Reduktion von Treibhaus­ These 9 unkoordiniertes institutionelles gasemissionen ausgegangen. Handeln und divergierende Interessen der involvierten Stakeholder. Bei den Thesen 8 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die aus­ (Infrastrukturfinanzierungsmechanismen) gewählten Bausteine von Szenario I häufig und 10 (Wachstum Güterschifffahrt) ist die als wünschenswert oder sehr wünschens­ Wünschbarkeit strittiger, hinzu kommt eine wert eingeschätzt werden. Hinsichtlich der stärkere Unsicherheit der Befragten, die Machbarkeit bis 2050 ergibt sich aber ein hier häufig keine Aussagen treffen konnten deutlich uneinheitlicheres Gesamtbild. Als („I don’t know.“). Auch für die Umsetzbar­ Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 131

keit zeigt sich hier nur ein unklares Bild. Die von Stau und durch einfacheren Zugang These 14 (urbane Gütertunnel) gleicht ei­ zum Verkehrssystem. Nur ein Fünftel der nem Sonderfall, da hier schon die Wünsch­ Wissenschaftler rechnet aber mit einer Re­ barkeit sehr kontrovers ausfällt und die duktion der Treibhausgase. Machbarkeit von mehr als der Hälfte der Befragten grundsätzlich in Frage gestellt wird. Als Hürde wird hier am häufigsten die Szenario III: Thesen 12 und 13 Finanzierung genannt. Deutliche Diskre­ panz gab es auch beim autonomen Fahren Die Thesen 12 (Virtualisierung) und 13 (Re­ (These 4). Gut 40 % sehen diese These bis gionalisierung) werden von den Befragten 2050 als realisierbar. Nur knapp die Hälfte als wenig realistisch angesehen, bei These der Befragten betrachtet autonomes Fah­ 13 kommt ein hohes Maß an Unsicherheit ren allerdings als wünschenswert oder sehr hinzu (30 % „I don’t know.). Dennoch hal­ wünschenswert. ten fast 70 % These 12 für wünschenswert oder sehr wünschenswert. Bei These 13 ist Insgesamt zeigt dieses Thesencluster als das Bild weniger eindeutig (erneut viel Un­ häufigste Hemmnisse jene, die sich auf sicherheit), aber auch diese These wird von mangelnde politische Weitsicht, unko­ über der Hälfte als wünschenswert oder ordiniertes Handeln und divergierende sehr wünschenswert eingestuft. Stakeholderinteressen beziehen. Für die Thesen 6 und 7 wird zusätzlich fehlende Technische oder wirtschaftliche Probleme gesellschaftliche Akzeptanz angenommen, werden für diese beiden Thesen kaum als sicherlich wegen der damit in Zusammen­ Hürde genannt. Bei These 12 fällt die häu­ hang gebrachten Restriktionen bzw. höhe­ fige Nennung mangelnder gesellschaftli­ ren Kosten für Autofahrer und straßenge­ cher Akzeptanz auf, bei These 13 werden bundenen Güterverkehr. Dass technische besonders mangelnde politische Weitsicht, Hürden im Vergleich zu den Thesen aus divergierende Interessen und ebenfalls Szenario I deutlich weniger genannt wer­ mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz ge­ den, ist angesichts des Gegenstands der nannt. Allgemein werden für die Thesen 12 Thesen nachvollziehbar. Allerdings wird und 13 viele positive Auswirkungen auf im Vergleich zu Szenario I auch ökonomi­ das Verkehrssystem (z. B. Staubelastung) schen Hemmnissen für die Thesen des Sze­ und Umweltauswirkungen des Verkehrs narios II weniger Bedeutung beigemessen. gesehen. Allerdings ergibt sich kein ganz Insgesamt werden für die hier behandel­ einheitliches Bild; manche der Befragten ten Thesen wenig negative Auswirkungen sehen auch negative Auswirkungen. Am erwartet, aber eine Vielzahl positiver Aus­ strittigsten sind die ökonomischen Auswir­ wirkungen auf Gesellschaft und Umwelt. kungen der These 13, wo öfters auch ne­ Positive Auswirkungen erwarten die Wis­ gative Auswirkungen auf das Wirtschafts­ senschaftler vor allem auf den Modal Shift wachstum und den Arbeitsmarkt gesehen hin zum Umweltverbund (bei These 5 und werden. These 7), verringerte Staubelastung (bei These 6 und bei These 7) sowie Zugäng­ lichkeit des Verkehrssystems, verbesserte 4 Zusammenfassung und menschliche Gesundheit, Verringerung von Diskussion der Ergebnisse Treibhausgasemissionen und Verbrauch fossiler Kraftstoffe. Allerdings werden auch Ein Blick auf die in Kapitel 2 beschriebe­ negative Auswirkungen erwartet, so z. B. nen Szenarien zeigt, dass sich für alle drei von These 7 auf die Zugänglichkeit des Ver­ Strategien (technische Substitution, Ver­ kehrssystems, stärker jedoch von These 8 lagerung, Vermeidung,) eine Entwicklung (Infrastrukturfinanzierungsmechanismen), der CO2-Emissionen errechnen lässt, wel­ die ein weiteres starkes Verkehrswachstum che das EU Ziel einer 60 % Reduktion bis fördern kann, mit den entsprechenden Um­ zum Jahr 2050 erfüllt. Das ist insofern be­ weltfolgen etc. Wenig eindeutig ist das Bild merkenswert, als die Szenarien trotz der bei These 4 zum autonomen Fahren. Die gemeinsamen optimistischen technik-öko­ Hälfte der Wissenschaftler sieht auch hier nomischen Ausgangsprämissen sehr unter­ positive Auswirkungen durch die Reduktion­ schiedliche Schwerpunkte setzten. Der Er­ Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 132 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

folg von Szenario I ist letztlich stark davon III, u.a. mit der Begründung, dass eine so abhängig, dass die Bereitstellung von Elek­ starke Reduktion physischer Mobilität einer trizität und Wasserstoff auf Basis sauberer positiven wirtschaftlichen Entwicklung zu Energie erfolgt. Szenario II und besonders sehr entgegenstehe. Es lässt sich festhal­ III implementieren auch Maßnahmen, die ten, dass Szenario II nicht nur wegen der unabhängig von den Entwicklungen im Verkehrsverlagerungsstrategie übereinstim­ Energiesystem Erfolge bringen könnten, al­ mend favorisiert wurde, sondern auch weil lerdings sind hier teilweise erhebliche Ver­ es insgesamt breiter angelegt ist als Szena­ haltensänderungen der Nutzer bzw. Kun­ rio I und zudem anschlussfähig für weitere den erforderlich. Maßnahmenpakete.

In der Diskussion mit den Stakeholdern Bei der schriftlichen Befragung der Wissen­ wurde explizit auf die Szenarien mit ih­ schaftler wurden die 14 Thesen hinsicht­ ren zugrunde liegenden Strategien ein­ lich Umsetzbarkeit und Wünschbarkeit be­ gegangen, wobei die drei Strategien auf wertet, die Szenarien selbst standen dabei sehr unterschiedliche Resonanz stießen. nicht direkt zur Debatte (sie wurden in der Das Projektteam war überrascht, dass die Einleitung zum Fragebogen als Hintergrund in Szenario I skizzierten technischen Ent­ für die Thesenauswahl erwähnt). Ein Blick wicklungen grundsätzlich als nicht be­ auf die Antworten der 40 Wissenschaftler sonders extrem eingeschätzt wurden. Mit zeigt, dass diese grundsätzlich mit den Re­ großer Übereinstimmung stellten die Sta­ aktionen und Argumenten der Interessen­ keholder fest, dass dieser rein technische vertreter übereinstimmen. Die stark auf die Lösungsweg zwar notwendig, aber keines­ Entwicklung und Verbreitung alternativer wegs hinreichend wäre, um eine wirkliche Antriebe ausgerichteten Thesen aus dem Transformation zu einem öko-effizienteren Szenario I werden häufig als recht wün­ Verkehrssystem zu ermöglichen. Es zeigte schenswert eingeschätzt, während die Um­ sich bei fast allen Stakeholdern eine gewis­ setzbarkeit kritischer gesehen wird. Passend se Skepsis hinsichtlich einer als wünschens­ zu den Aussagen der Stakeholder, werden wert eingeschätzten aber nicht einfach um­ die Umsetzungshemmnisse häufiger im setzbaren Marktdurchdringung alternativer technisch-ökonomischen Bereich gesehen. Antriebe in den Bereichen Personen- und Allerdings spielen sowohl politische und Güterverkehr. koordinative Faktoren als auch Akzeptanz­ aspekte bei einigen Thesen eine wichtige So ergab sich die klare und vielleicht in ihrer Rolle, aber insgesamt doch deutlich weniger Deutlichkeit ebenfalls etwas über­raschende als bei den Thesen zu Szenario II. Bei den Präferenz der Stakeholder für Szenario II. Thesen zu Szenario II fallen insbesondere Sicherlich lag das auch daran, dass es in zwei Thesen auf, bei denen politische und Szenario II nicht nur um Verkehrsverlage­ koordinative Faktoren sowie Akzeptanzas­ rung ging, sondern schon durch die tech­ pekte als Haupthemmnisse gesehen wer­ nik-optimistischen Grundannahmen eine den, obwohl sie eine sehr hohe Bewertung recht dynamische Entwicklung bei den al­ hinsichtlich Umsetzbarkeit und Wünsch­ ternativen Antrieben angenommen wird. barkeit erhalten haben: E-Tickets (These 5) Dennoch zeigt sich eine breite Zustimmung und Straßennutzungsgebühren (These 7). für eine Strategie der Verkehrsverlagerung. Die beiden Szenario III zugeordneten The­ Gleichzeitig wurde dafür plädiert, Maß­ sen werden von den Wissenschaftlern als nahmen eines Mobilitätsmanagements, wenig realistisch eingeschätzt. das neben der Verkehrsmittelwahl auch die Verkehrserzeugung und die Länge der Wege Auch unter recht „günstigen“ Annahmen adressiert (wie in Szenario III angedeutet), hinsichtlich des technologischen Fort­ in Szenario II zu integrieren und so einen schritts und der ökonomischen Rahmen­ „idealen“ Transformationspfad vorzuzeich­ bedingungen mit stetig moderatem Wirt­ nen. Allerdings zeigten die Reaktionen auf schaftswachstum bei hohen Preisen für Szenario III, dass die konkrete Ausgestal­ fossile Energieträger, erscheint es schwie­ tung eines Mobilitätsmanagements zu zahl­ rig, die EU Ziele für CO2-Reduktion und die reichen Kontroversen führte. Dazu kommt Transformation zu einem öko-effizienteren die weitreichende Ablehnung von Szenario Verkehrssystems zu erreichen. So lässt sich Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 133

festhalten, dass ausgehend von Szenario II 5 Zur Einordnung der Ergebnisse ein gangbarer Weg zu einem öko-effizien­ ten Mobilitätssystem vorgezeichnet werden Abschließend soll eine Reflektion der ver­ kann, der aber bei der konkreten Umset­ wendeten Methoden zu einer besseren zung wieder Kontroversen erwarten lässt. Einordnung der Ergebnisse beitragen. Wie Eine Fokussierung auf alternative Antriebs­ in vielen anderen Studien wird in diesem technologien reicht nicht aus, um eine deut­ Beitrag mit Szenarien und deren quanti­ liche Transformation des Verkehrssystems tativer Modellierung gearbeitet. Allerdings zu mehr Ökoeffizienz zu gewährleisten. Im stehen in anderen Studien die Modellie­ Bereich technischer Fortschritt zeigen viele rungen meist am Ende der Analyse, auf Ergebnisse sowohl der Interessenvertreter Basis umfangreicher Recherchen wird bei­ als auch der Wissenschaftler die große Be­ spielweise versucht, die Wirkung von poli­ deutung von IuK Technologien auf, u. a. als tischen Maßnahmen möglichst gut zu ver­ Grundlage für ein effizientes Mobilitätsma­ stehen (vgl. z. B. Petersen/Enei/Hansen/ nagement. IuK wird auch zukünftig ein dy­ Larrea 2009; Schade/Krail 2012, Skinner namisches Feld bleiben. Dies betrifft direkt et al. 2010;). Solche Analysen bieten ohne die Nutzen, die einige der neuen Angebote Zweifel sehr wichtige Orientierungen, sto­ inzwischen verstärkt annehmen (Online ßen aber wegen der hohen Komplexität des Tickets, Carsharing etc.). Ein besseres Ver­ Verkehrssystem und der damit verbunde­ ständnis der Dynamiken bei den Nutzer­ nen Unsicherheiten über zukünftige Ent­ präferenzen wurde generell als wichtiges wicklungen auch immer wieder an Gren­ Forschungsfeld identifiziert. zen. Im vorliegenden Beitrag werden die Szenarien und Modellierungen weniger als Trotzdem bleiben zahlreiche Unsicher­ Ergebnis selbst, sondern vor allem als Input heiten hinsichtlich der Umsetzbarkeit für die Konsultation von Stakeholdern und aber auch hinsichtlich der Wirkung vie­ Wissenschaftlern verstanden. Die quanti­ ler Maßnahmen. Nicht zuletzt mit diesen tative Illustration der Szenarien dient der Unsicherheiten hängt die insgesamt doch groben Orientierung, hier interessiert also ebenso eindeutige wie starke Präferenz für der Output. Dabei geht es weniger um die Szenario II zusammen. Dieses Szenario bie­ genauen Ergebnisse, sondern mehr um die tet mehr Flexibilität und Variabilität. Dabei Größenordnung in der sich mögliche Ver­ geht es gar nicht nur um Unsicherheiten bei änderungen bewegen, um die Zusammen­ der Entwicklung und bei der Wirkung von hänge zwischen einzelnen Parametern und neuen Technologien im engeren Sinne; viel­ die Unterschiede zwischen den Szenarien. fach sind es Fragen der Koordination zwi­ Wie bei allen Szenarien, hängen auch hier schen relevanten Akteuren, die als Hemm­ die Berechnungen von den zugrunde lie­ nis erachtet werden. Da zeigt sich auf der genden Annahmen ab. Diese Annahmen einen Seite, wie schwierig es sein kann, stecken, für alle Szenarien gleich, in der Entscheidungen zu treffen bzw. Strategien Konfiguration des Modells ASTRA. Zum an­ durchzusetzen; auf der anderen Seite kann deren stecken die Annahmen, also der In­ dieser Befund aber auch positiv bewertet put, in den Storylines, die als Grundlage für werden; so handelt es sich hier doch um die Szenarien dienen. Letztlich ist es diese Handlungsfelder, welche die Politik unmit­ Zusammenstellung von Annahmen, die die telbar angehen könnte, ohne allzu sehr von Ergebnisse der Szenarien prägt. nicht oder kaum beinflussbaren Faktoren (z. B. Fortschritte bei der Performance oder Wie eingangs erwähnt, sollten diese zentra­ bei den Kosten von neuen Technologien) len Annahmen mit Experten diskutiert wer­ abhängig zu sein. Die gute Nachricht also: den. Die Unterscheidung zwischen Mach­ Die Politik verfügt grundsätzlich über eine barkeit und Wünschbarkeit erwies sich Reihe von Optionen, um eine Transformati­ dabei als hilfreicher Strukturierungsansatz on hin zu einem ökoeffizienteren Verkehrs­ für die Diskussion und für die Befragung. system voran zu treiben. Dies gilt auch für Sicherlich ist zu berücksichtigen, dass man die europäische Ebene, der für länderüber­ dazu neigt, wünschbare Dinge auch eher greifende, integrative Ansätze eine beson­ als machbar einzuschätzen; es bleibt offen, dere Bedeutung zukommt. ob einige der Befragten bewusst oder unbe­ wusst so oder andersherum geleitet waren. Jens Schippl, Markus Edelmann, Maike Puhe, Max Reichenbach: 134 Einschätzungen zu ökoeffizienten Mobilitätszukünften

Dennoch: Die Methode hilft, Kontroversen schen Faktoren liegen, sondern gerade auch und Konsens aufzuzeigen, und Ursachen bei der Koordination zwischen Akteuren, dafür zu benennen. Für die politische Ebene der politischen Steuerung und der Akzep­ ist es schließlich wichtig, ob die Ursachen tanz. Hier lassen sich politische Handlungs­ für Kontroversen eher im politischen, im spielräume aufzeigen, die für die europäi­ sozialen, im ökonomischen oder im techni­ sche Ebene relevant sind. Wie diese dann im schen Bereich liegen; oder ob gar die positi­ Einzelnen auszugestalten sind, kann nicht ve Wirkung eines Ansatzes bezweifelt wird. im Rahmen des hier gewählten, sehr breit angelegten Ansatzes verfolgt werden. Die So ist eben deutlich geworden, dass bei Ergebnisse sollten aber eine hilfreiche Ori­ zahlreichen vielversprechenden Ansätzen entierung für detailliertere Umsetzungsstra­ die Hemmnisse für ein Vorwärtskommen tegien und für weitere Forschungen geben. weniger bei technischen und rein ökonomi­

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Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik? Annika Busch-Geertsema Thomas Klinger Eine kritische Auseinandersetzung mit Defiziten und Martin Lanzendorf Chancen der deutschen Politik und Forschung zu Verkehr und Mobilität

Die Digitalisierung des Alltags und der Produktion, der demografische Wandel, neue ge- sellschaftliche Werte oder Klima- und Ressourcenpolitik sind nur einige der großen sozi- alen Herausforderungen, denen sich die deutsche Verkehrspolitik und -forschung bislang nur ungenügend stellen. In der Wissenschaft vollzieht sich gegenwärtig der Übergang von

einer überwiegend ingenieurswissenschaftlich und ökonomisch geprägten Verkehrsfor- Dipl.-Geogr. schung hin zu einer transdisziplinären Mobilitätsforschung, wenn auch langsam und Annika Busch-Geertsema bislang noch ohne eine angemessene Institutionalisierung von Forschungskapazitäten. In arbeitet seit 2010 in der Arbeits- der Politik dagegen ist der Übergang von einer infrastruktur- und technologiegetriebenen gruppe Mobilitätsforschung am Verkehrs- hin zu einer innovativen, umfassenden Mobilitätspolitik noch nicht erkennbar. Institut für Humangeografie der Goethe-Universität Frankfurt. Grundlegend für den nötigen Wandel hin zu einer innovativen Mobilitätspolitik und -for- Sie beschäftigt sich u. a. mit schung sind ein Verständnis von Mobilität als Querschnittsthema der Politik, eine neue Veränderungen von Mobilitäts- Mobilitätsforschungsinitiative zur Schaffung adäquater Wissensgrundlagen, die Formu- verhalten in der Längsschnitt- lierung einer Mobilitätsstrategie sowie die Bereitschaft, Neues in Experimenten zu wagen perspektive, der Schnittstelle und umzusetzen. zwischen Psychologie und Geografie in der Mobilitäts- forschung, den Entwicklungen im Radverkehr und mit 1 Rahmenbedingungen und Heraus- 1984) ein deutlich pragmatischeres Verhält- deutscher Verkehrspolitik. forderungen im Politikfeld Mobilität nis zum Automobil (Kuhnimhof et al. 2012). busch-geertsema@ Das Leitprinzip „Nutzen statt Besitzen“, das geo.uni-frankfurt.de

Aktuell unterliegen gesellschaftliche Struk- bis vor einigen Jahren fast ausschließlich Dipl.-Geogr. Thomas Klinger turen umfassenden und teils sehr dyna- von einer kleinen, ökologisch engagierten ist seit 2009 Wissenschaftlicher mischen Veränderungen und Umbrüchen, Bevölkerungsgruppe vertreten wurde, er- Mitarbeiter in der AG Mobilitäts- die erheblichen Einfluss auf die raum- reicht hinsichtlich der Pkw-Nutzung zuneh- forschung am Institut für zeitliche Organisation des Verkehrsgesche- mend breitere Bevölkerungsschichten. Humangeografie der Goethe- Universität Frankfurt am Main. hens haben und weitreichende Folgen Seine Forschungsinteressen für Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt Der demografische Wandel verändert zu- beziehen sich auf das Wechsel- nach sich ziehen können. Wichtigster gleich unsere Sozialstruktur. Wir werden spiel objektiver und subjektiver Treiber hinter diesen sich beschleunigen- weniger, bunter und älter, so dass spezifi- Einflussfaktoren des individu- den Veränderungen ist wohl die zuneh- sche Mobilitätslösungen notwendig schei- ellen Mobilitätsverhaltens sowie auf die Interdependenzen von mende Digitalisierung des Alltags und nen (Haustein et al. 2013). Die Aufrecht- Wohn- und Alltagsmobilität. der Ökonomie. Neben der zunehmenden erhaltung der Grundversorgung in dünn [email protected] Verbreitung neuer Informations- und Kom- besiedelten Regionen (vgl. Muschwitz 2015 munikationstechnologien sowie neuer Ver- in diesem Band) oder die Gestaltung von Prof. Dr. Martin Lanzendorf kehrstechnologien erklärt sich daraus auch spezifischen Angeboten für ältere Men- ist seit 2008 Professor für Mobilitätsforschung am Institut die wachsende Popularität neuer Mobili- schen (Kasper 2007) sind nur zwei zentrale für Humangeografie der tätsdienstleistungen, wie z. B. Car-, Bike- Aufgaben in diesem Bereich. Goethe-Universität Frankfurt sharing oder Mitfahrdiensten, welche ohne a.M. Seine Forschungsschwer- die Nutzung mobiler Kommunikationsme- Neben der natürlichen Bevölkerungsent- punkte sind: Erklärungen zur dien nicht in der heutigen Form denkbar wicklung verändert sich auch die räumliche Veränderung des Verkehrshan- delns im Längsschnitt, Sied- wären. Verteilung. Nach Jahrzehnten der Suburba- lungsstrukturen und Mobilität nisierung wird dieser Prozess ergänzt von sowie Evaluation von Mobilitäts- Aber auch ein gesellschaftlicher Wertewan- Tendenzen der Reurbanisierung, die etwa management. del ist kaum noch zu übersehen, der in die für den Öffentlichen Nahverkehr in wach- lanzendorf@ voranschreitende Pluralisierung von Le- senden Metropolen wie Hamburg oder geo.uni-frankfurt.de bens- und Mobilitätsstilen eingebettet ist. Frankfurt am Main neue Chancen und He- Institut für Humangeografie Junge Erwachsene in Städten entwickeln im rausforderungen mit sich bringen (BMVBS Goethe-Universität Vergleich zu früheren Generationen (Sachs 2012). Frankfurt a.M. Annika Busch-Geertsema, Thomas Klinger, Martin Lanzendorf: 136 Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik?

Dynamik des Verkehrshandelns

Dynamik des Megatrends Wirkungen Verkehrshandelns

Neue gesellschaftliche Herausforderungen in Stadt und Land

Digitalisierung, Wertewandel, Demographischer Wandel, Pluralisierung der Lebensstile, Reurbanisierung, ... raum-zeitliche Umwelt und soziale Global sich verändernde Strukturen Rahmenbedingungen Verkehrsgenese Klimawandel, Globalisierung, neue Soziales Technologien, Ressourcenknappheit, ... individuelles Veränderungen der Politiklandschaft Handeln Knappheit kommunaler Finanzmittel, Ökonomie Finanzierungslücken beim Erhalt und Neubau von Verkehrsinfrastrukturen, Neoliberalisierung, Privatisierung, ...

Quelle: eigene Darstellung

Auch globale Umweltveränderungen und zugleich mehrere miteinander konkur- die Knappheit fossiler Ressourcen verän- rierende Ziele – z. B. als Technologie för- dern die Rahmenbedingungen deutscher dernde Industriepolitik oder als Klima- Verkehrspolitik. Die Folgen des Klimawan- schutzpolitik –, deren Widersprüchlichkeit dels, dessen anthropogene Ursachen wis- thematisiert und abgebaut werden muss. senschaftlich nachgewiesen sind (IPCC Auch vollzieht sich Politik immer seltener 2014), werden zunehmend spürbar und er- als linearer Prozess, bei dem eine Regie- höhen den politischen Druck, die drei Prin- rung gemäß dem Wählerwillen Entschei- zipien nachhaltiger Verkehrsplanung im dungen trifft, die von der nachgeordneten Sinne einer Vermeidung, Verlagerung und Verwaltung umgesetzt werden. Stattdessen Verbesserung von Verkehrsleistungen zu- wird in komplexen Governance-Prozessen künftig ernster zu nehmen. Auch wenn die eine Vielzahl von öffentlichen und priva- Endlichkeit fossiler Ressourcen – auf denen ten Akteuren einbezogen (Bandelow et al. das heutige Verkehrssystem quasi alleine 2015). Darüber­ hinaus sind auch im offi- basiert – durch das Aufkommen von ris- ziellen, parlamentarischen Politikbetrieb kanten und umweltpolitisch fragwürdigen neue Parteien und Koalitionen mit jeweils Fördermethoden wie dem Fracking noch eigenen Zielen anzutreffen. So ist gerade herausgezögert wird, so ist es dennoch mit Spannung zu verfolgen, wie sich die unausweichlich, dass wir in den nächsten Landesverkehrspolitik in Baden-Württem- Jahren „Peak Oil“, also das globale Erdöl- berg und Hessen unter grüner Federfüh- Fördermaximum, erreichen werden, wenn rung ausgestaltet. Gerade in Baden-Würt- wir es nicht schon erreicht haben (Schind- temberg zeigt sich die grüne Handschrift ler/Held 2009). Trotz dieser erwarteten Ein- bereits im veränderten Zuschnitt des Ver- schränkungen nimmt der Verkehrsaufwand kehrsministeriums, in der Schaffung von weltweit weiterhin zu. Dazu tragen auch die Abteilungen und Referaten zu Themen wie vergleichsweise niedrigen Raumüberwin- Nachhaltiger Mobilität oder Rad- und Fuß- dungskosten im globalen Verkehrsmarkt verkehr, kommunalen Verkehrskonzepten bei, so dass gerade im Bereich des Güter- und Bürgerbeteiligungsverfahren sowie in verkehrs auch Transporte, die unter Nach- der Umschichtung von Mitteln des Lan- haltigkeitsgesichtspunkten unsinnig sind, desgemeindeverkehrsfinanzierungsgeset- ökonomisch lohnenswert erscheinen. zes zugunsten des Umweltverbundes. Ob Baden-Württemberg dagegen künftig als Wie und von wem werden also politische „Pionierland für nachhaltige Mobilität“ Entscheidungen angestoßen und organi- (MVI 2012, S. 3) bezeichnet werden kann, siert? Verkehrspolitik verfolgt in der Regel wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 137

Mit Blick auf die genannten Probleme, auch hinsichtlich ihrer Wechselwirkungen mit denen die Organisation von Verkehr mit raum- und infrastrukturellen, aber auch und Mobilität in den kommenden Jahren politischen und gesellschaftlichen Rah- zwangsläufig konfrontiert sein wird, drängt menbedingungen verstanden und analy- sich der Eindruck auf, dass diese Heraus- siert werden (Busch-Geertsema et al. 2015). forderungen von der Verkehrspolitik nur Die zentralen Themen der Mobilitätsfor- zaghaft und mitunter unzureichend aufge- schung lassen sich dabei zunächst in theo- griffen werden. Die meisten der skizzier- riegestützte Grundlagenforschung sowie in ten Phänomene sind alles andere als neu. gegenstands- und anwendungsorientierte Welche Strukturen des politischen Systems Forschung untergliedern, die im Folgenden stehen also ihrer zügigen Bearbeitung ent- auszugsweise und sicher nicht umfänglich gegenstehen? Viele Politikerinnen und skizziert werden. Politiker möchten offenbar den Umgang mit den teilweise unbequemen Wahrhei- 2.1 Themen der theoriegestützten ten so erträglich wie möglich gestalten. In Grundlagenforschung diesem Zusammenhang sind etwa die be- wusste und unbewusste Verdrängung und Die Mobilitätsverhaltensforschung hat in Verzögerung relevanter Diskussionen, die hohem Maße vom Import psychologischer unverhältnismäßige Betonung positiver und soziologischer Handlungs- und Verhal- Teilaspekte oder die Beschränkung auf Ab- tenstheorien profitiert. So hat etwa die The- sichtserklärungen zu nennen. Um die ge- orie des geplanten Verhaltens (Ajzen 1991) schilderten Defizite besser verstehen und in zahlreichen vor allem psychologischen letztlich beheben zu können, ist deshalb Studien zur Mobilitätsforschung Anwen- zunächst eine Auseinandersetzung mit den dung gefunden (für eine Übersicht siehe Themen aktueller Verkehrs- und Mobilitäts- Haustein/Hunecke 2013). Eine verwandte forschung hilfreich. Forschungsperspektive geht der Frage nach, inwieweit Mobilitätsverhalten bewusst und intentional vollzogen wird oder aber von 2 Transdisziplinäre Mobilitätsfor- Routinen und Automatismen durchzogen schung: Ausrichtung und Themen ist (Verplanken et al. 2008; Klöckner/Ver- planken 2013). Auch geografische Arbeiten Ein Paradigmenwechsel wie er in der Ver- haben die automatisierte Wiederholung kehrspolitik noch aussteht, d. h. eine Er- bestimmter Verhaltensweisen aufgegriffen gänzung von ökonomischen und tech- und in das Konzept der Mobilitätsbiogra- nologischen Perspektiven und Zielen um fien integriert (Lanzendorf 2003; Scheiner ganzheitliche Konzepte, zeigt sich in der 2007). Alltägliches Mobilitätsverhalten ver- Wissenschaft bereits seit den 1990er Jahren. läuft folglich über lange Zeiträume hinweg Die traditionelle Verkehrsforschung befass- routinisiert. Kommt es allerdings zu Schlüs- te sich aus angebotsorientierter Perspektive selereignissen, wie z. B. der Geburt eines vorrangig mit der Bereitstellung von infra- Kindes oder dem Start ins Berufsleben, wer- strukturellen Kapazitäten und der entspre- den eingeübte Routinen überprüft und ggf. chenden Lenkung der Verkehrsnachfrage, angepasst. Auch die während einer Lebens- wobei ein besonderes Augenmerk auf dem phase gleichbleibenden Rahmenbedin- Autoverkehr lag. Als Leitdisziplinen galten gungen, etwa in der Kindheit und Jugend, dabei lange Zeit die Ingenieurs- und Wirt- können als Sozialisationsprozesse zur Aus- schaftswissenschaften. Die inzwischen ver- bildung und Stabilisierung bestimmter Mo- änderte Terminologie von der Verkehrs- zur bilitätsmuster beitragen (Baslington 2008). Mobilitätsforschung, steht für erweiterte Forschungsinhalte und die Hinzunahme Sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung sozialwissenschaftlicher Disziplinen und betrachtet neben individuellen Entschei- Methoden. Der Fokus liegt dabei auf dem dungsprozessen auch die soziale Differen- alltäglichen Mobilitätsverhalten und den zierung mobilitätsbezogener Einstellungen ihm vorgelagerten Bedürfnissen, Motivati- und Verhaltensweisen. So wie der Lebens- onen und Handlungsoptionen. Es stehen stil neben der statusbezogenen Differen- also nicht mehr die realisierten Verkehrs- zierung auch Werte- und Identitätsbezüge mengen im Vordergrund, sondern individu- berücksichtigt, hat sich dies auch in der elle Entscheidungsprozesse, die weiterhin Mobilitätsstilforschung etabliert. Dabei Annika Busch-Geertsema, Thomas Klinger, Martin Lanzendorf: 138 Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik?

werden Personen hinsichtlich ihres Mobi- sozial-ökologischer Forschung entstande- litätsverhaltens und ihrer diesbezüglichen ne Konzept städtischer Mobilitätskulturen Einstellungen in vergleichsweise homo- (Götz/Deffner 2009; Klinger et al. 2013) ob- gene Gruppen eingeteilt (Götz et al. 2003; jektive Gegebenheiten wie Siedlungs- und Hunecke 2000). Es wird deutlich, dass die Infrastrukturen mit den kollektiven Lebens- Nutzung eines bestimmten Verkehrsmittels stilmustern und Mobilitätsorientierungen auf sehr unterschiedlichen Einstellungs- der Einwohnerinnen und Einwohner einer mustern basieren kann und die entspre- Stadt zusammen. chenden Mobilitätsstilgruppen ggf. völlig unterschiedliche Bedürfnisse und Anfor- Auch mit Blick auf die methodischen derungen an ein Mobilitätsangebot aufwei- Grundlagen einer zeitgemäßen Mobilitäts- sen. Das Spektrum reicht dabei von eher forschung ist eine Integration von Ansät- pragmatischen Zugängen, z. B. in Form von zen zu verzeichnen, die zuvor eher mar- rationalen Kosten-Nutzen-Abwägungen, bis ginalisiert wurden. Besonders qualitative hin zu in hohem Maße emotionalen und Studien können hier gegenüber standardi- symbolisch aufgeladenen Bindungen zu be- sierten Erhebungen mehr Informationen stimmten Mobilitätsformen, wenn etwa der generieren, etwa hinsichtlich der Art und Sportwagen nicht aufgrund seiner Funkti- Weise, mit der Mobilität und Fortbewegung onalität, sondern (auch) als Statussymbol Sinn und Bedeutung zugeschrieben werden angeschafft wird. (z. B. Deffner 2009, Franke 2001, Heine et al. 2001, Wilde 2014). Künftig sollte ein beson- Die Konzentration auf subjektive Entschei- deres Augenmerk darauf gelegt werden, wie dungsprozesse kann jedoch nicht darüber quantitative und qualitative Ansätze stärker hinwegtäuschen, dass auch strukturelle aufeinander bezogen und in gemeinsamen Rahmenbedingungen die individuellen Projekten miteinander kombiniert werden Handlungsspielräume in wesentlichem können. Maß (mit-)bestimmen. Dabei können so- wohl raum- und siedlungsstrukturelle Ge- Nichtsdestotrotz sieht sich auch die quan- gebenheiten als auch sozioökonomische titative Mobilitätsforschung mit neuen Strukturen und gesellschaftliche Normen Entwicklungen und Herausforderungen und Konventionen eine Rolle spielen. Integ- konfrontiert. Es besteht Konsens darüber, rative Forschungskonzepte sowie inter- und dass Querschnittserhebungen nicht aus- transdisziplinäre Herangehensweisen kön- reichen, um Dynamiken und Brüche des nen helfen, diese gegenseitige Durchdrin- Mobilitätsverhaltens angemessen abbil- gung von individuellen Handlungen und den zu können (Krizek 2000), weshalb die strukturellen Bezügen zu verstehen. Gefragt längsschnittbasierte Erfassung des Mobili- sind hier sowohl ingenieurs-, planungs- und tätsverhaltens deutlich ausgebaut werden wirtschaftswissenschaftliche Perspektiven, sollte. Des Weiteren eröffnen sich als Folge mit ihrem Blick auf Siedlungsstrukturen von deutlich erhöhten Prozessorleistun- und Verkehrssysteme bzw. das volkswirt- gen und Speicherkapazitäten komplexere schaftliche Verhältnis von Nutzen und Kos- Analyse- und Modellierungsmöglichkeiten ten, als auch die Sozialwissenschaften mit wie etwa im Bereich der Multi-Agenten- ihrem vertieften Verständnis für individu- Simulation (Ciari et al. 2014). Auch mit der elle Entscheidungsprozesse. Insbesondere weltweiten Vernetzung und Verknüpfung die angelsächsische Mobilitäts- und Ver- unterschiedlichster Datensätze ergeben kehrsforschung fordert derzeit die integra- sich neue Chancen und Herausforderungen tive und holistische Konzeptualisierung von für die quantitative Mobilitätsforschung. Mobilität und Verkehr (Curl/Davison 2014; Während einerseits im Zusammenhang mit Ferreira et al. 2014). Bestehende Graben- der Big Data-Diskussion die Nutzungs- und kämpfe zwischen ingenieurswissenschaft- Erklärungspotenziale von Methoden wie licher Verkehrsforschung und sozialwis- GPS-Tracking, Web-Scraping und Open- senschaftlicher Mobilitätsforschung (Kutter Data-Projekten bei weitem noch nicht aus- 2010; Scheiner 2013), sollten einem diszipli- geschöpft sind, stellen sich weiterhin drän- nübergreifenden Dialog nicht entgegenste- gende Fragen hinsichtlich der Qualität der hen. Zahlreiche aktuelle Konzepte und The- Daten und des Datenschutzes. orien spiegeln diesen integrativen Ansatz bereits wider. So führt etwa das im Kontext Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 139

Um außerdem zu verstehen, warum ver- Betrachtung des Fußverkehrs ist dagegen kehrspolitische Akteure bestimmte gesell- immer noch stark ausbaufähig. schaftliche Entwicklungen und wissen- schaftliche Erkenntnisse häufig nur zaghaft Hinsichtlich der Verkehrsmittelnutzung und verzögert aufgreifen (vgl. Abschnitt 1), finden multimodale, d. h. verkehrsmittel- ist weiterhin eine vertiefte Analyse der übergreifende Verhaltensweisen verstärktes entsprechenden politischen Prozesse und Interesse in der Forschungslandschaft. Bei Akteursnetzwerke notwendig. Ausschlag- jungen Erwachsenen in urbanen Räumen gebend sind dabei die Besonderheiten des ist eine rückläufige Autoorientierung fest- Politikfeldes „Mobilität und Verkehr“ im zustellen. Dies geht einher mit einer situ- Vergleich zu anderen politischen Aufgaben ativ wechselnden Nutzung verschiedener (Bandelow et al. 2015; Meyer 2015). So wei- Verkehrsmittel (Kuhnimhof et al. 2012). sen Vertreterinnen und Vertreter der poli- Dabei kann die sporadische Nutzung des tikwissenschaftlichen Forschungsarbeiten Autos, z. B. unter Rückgriff auf Carsharing- darauf hin, dass die Verkehrspolitik für den Angebote, von Bedeutung sein. Das starke Parteienwettbewerb eine untergeordnete Wachstum dieser Angebote sowie von wei- Rolle spiele und daher kaum durch werte- teren Mobilitätsdienstleistungen wie Mit- und ideologiebezogene Debatten vorstruk- nahmediensten (z. B. flinc) oder mobilen turiert werde. Stattdessen würden verkehrs- Apps zur spontanen Buchung (z. B. myta- politische Entscheidungen besonders häufig xi, E-ticketing) und Kombination von Ver- durch die Vergabe von wissenschaftlichen kehrsmitteln (z. B. moovel, Qixxit), gibt der Gutachten ausgelagert. Die oft fehlende multimodalen Ausgestaltung des Verkehrs- Vernetzung der hinzugezogenen Expertin- systems angebotsseitig weitere Impulse, die nen und Experten sowie die starke Einge- überwiegend aus der Privatwirtschaft kom- bundenheit in die Systeme der horizontalen men. Neben diesen strukturellen Verände- und vertikalen Gewaltenteilung seien weite- rungen betrachtet die wissenschaftliche Be- re Herausforderungen für die verkehrspoli- gleitforschung die Auswirkungen konkreter tische Entscheidungsfindung (Bandelow/ Interventionsmaßnahmen hinsichtlich des Kundolf 2011). Entsprechend gewinnt die Mobilitätsverhaltens. Von Interesse sind Analyse der Struktur und Veränderung von hierbei oft Maßnahmen des kommunalen, relevanten Akteursnetzwerken an Bedeu- betrieblichen und schulischen Mobilitäts- tung (Dörry/Decoville 2013). Gleichzeitig managements (Stiewe/Reutter 2012). Um können politische Entscheidungs- und Ver- relevante Zielgruppen für derartige Pro- waltungsstrukturen bemerkenswert starke gramme zu identifizieren, ist es außerdem Beharrungstendenzen und Pfadabhängig- wichtig, das Mobilitätsverhalten von einzel- keiten aufweisen (Low/Astle 2009), die es nen Bevölkerungsgruppen besser zu verste- ebenfalls besser zu verstehen gilt. hen. Hierzu zählen etwa Heranwachsende (Schönduwe/Bock/Deibel 2012), ältere 2.2 Themen der gegenstands- und Menschen (Kasper 2007), Familien (Herget anwendungsorientieren Forschung 2013), Frauen und Männer im Vergleich (Scheiner 2014) sowie Menschen mit hoch- Neue Forschungsthemen und insgesamt mobilen und multilokalen Lebensweisen eine hohe Dynamik kennzeichnen aktuell (Schönduwe 2015 in diesem Band; Reusch- die gegenstandsbezogene und angewand- ke 2010). te Forschung zu Verkehrs- und Mobilitäts- themen. So rückt die lange vernachlässigte Auch klassische Themen wie die Wechsel- Nahmobilität immer häufiger in den Fokus wirkungen zwischen Siedlungs- und Ver- aktueller Studien. Dies betrifft etwa die Ty- kehrsstrukturen bilden den Rahmen für pologisierung des Radfahrens und Zu-Fuß- innovative Forschungsprojekte. So ist etwa Gehens in der Stadt (Deffner 2009), den die Frage, inwieweit das Mobilitätsverhal- derzeitigen Fahrradboom in deutschen Me- ten von siedlungsstrukturellen Gegebenhei- tropolen (Lanzendorf/ Busch-Geertsema ten vorbestimmt wird oder aber umgekehrt 2014), den Erfolg von Pedelecs (UBA 2014a) sich Personen im Zuge der Wohnortwahl und Leihradsystemen (Monheim et al. 2011) in diejenigen Raumkategorien, die ihren oder die Einführung von Shared Space- Verkehrsmittelpräferenzen am ehesten ent- Konzepten in deutschen Städten (Gerlach/ sprechen, im Sinne einer „residential self- Ortlepp/Voss 2009). Die wissenschaftliche selection“ quasi selbst einsortieren, Ge- Annika Busch-Geertsema, Thomas Klinger, Martin Lanzendorf: 140 Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik?

genstand einer äußerst lebendigen Debatte wendungsorientierte Grundlagenforschung (Cao/ Mokhtarian/ Handy 2009). und experimentelle Entwicklung von tech- nischen Lösungen wurden bis Mitte 2011 Auch die Entwicklung und Verbreitung Projekte im Umfang von über einer Milli- neuer Verkehrstechnologien (z. B. Elektro- arde Euro bewilligt (Deutscher Bundestag mobilität, Fahrerassistenzsysteme, Autono- 2011, S. 4), um Deutschland als „Leitmarkt mes Fahren, Informations- und Kommuni- für Elektromobilität“ zu entwickeln und kationstechnologien) geben nach wie vor somit „die Führungsrolle der Wissenschaft Anlass für wissenschaftliche Kontroversen sowie der Automobil- und Zulieferindust- (Canzler/Knie 2009; Fraedrich/Lenz 2014; rie zu behaupten“ und „im internationalen Lenz 2011). Neben der ingenieurswissen- Wettbewerb zu bestehen“ (Die Bundes­ schaftlichen Konstruktion und Weiterent- regierung 2009, S. 46). wicklung solcher Technologien steht aus so- zialwissenschaftlicher Sicht vor allem deren Nutzungs- und Veränderungspotenzial so- 3 Verkehrspolitik und deren wie der Abgleich mit den Bedürfnissen der Verwaltung: Defizite aus Sicht Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteil- der Mobilitätsforschung nehmer im Mittelpunkt der Betrachtung. Das erwähnte kurzfristige und flüchtige Viele der geschilderten Forschungsaufga- Interesse politischer Akteure an Ergebnis- ben sind nur mit inter- und transdiszipli- sen aktueller Mobilitätsforschung ist nicht nären Perspektiven sinnvoll zu bearbeiten, zuletzt in der Logik politischen Handelns etwa wenn komplexe quantitative Modellie- begründet. Verkehrspolitik orientiert sich rungserfordernisse mit sozialwissenschaftli- allzu oft an Wahlerfolg und Legislaturperi- cher Theoriebildung verknüpft werden sol- oden, was zwangsläufig zu einer gewissen len. Auch wenn es selbstverständlich sein Kurzsichtigkeit und einer Präferenz von sollte, müssen sich Wissenschaftlerinnen schnellen Lösungen führt. Folgerichtig wer- und Wissenschaftler viel mehr als bisher den statt der tatsächlichen Ursachen häufig langfristig und ernsthaft mit zunächst frem- lediglich die Symptome bearbeitet. Insbe- den Sicht- und Herangehensweisen ausei- sondere populäre, greifbare und sichtbare nandersetzen und die eigenen Positionen Maßnahmen wie der Bau neuer Infrastruk- in Frage stellen. Derartige Prozesse kön- tur oder die Entwicklung von Verkehrstech- nen anstrengend und aufreibend sein und nologien gelten als Erfolg, wohingegen tat- daher von professioneller Moderation und sächliche und dauerhafte Veränderungen Mediation profitieren. Im aktuellen Wis- nur selten von der Politik selbst angestoßen senschaftsbetrieb sind Karrierewege und werden. So drückt die starke Infrastruktur- Publikationspraktiken immer noch über- orientierung der deutschen Verkehrspolitik wiegend disziplinär organisiert, so dass das eine Haltung aus, die ausschließlich in ge- von der Sache zu begrüßende Publizieren wohnten Bahnen denkt und einen System- in fachfremden oder interdisziplinär aus- wechsel, der auf einer flächenhaften und gerichteten Zeitschriften für das berufliche zielstrebigen Vermeidung und Verlagerung Fortkommen nicht unbedingt hilfreich ist. von Verkehr basiert, gar nicht in Betracht Erschwert werden entsprechende Vorhaben zieht. Stattdessen setzt man einseitig auf außerdem durch die zunehmende Abhän- die Absenkung von Raumwiderständen gigkeit von Drittmitteln, deren Vergabe nur und die Erweiterung von infrastrukturellen selten interdisziplinär ausgerichtet ist. Kapazitäten, insbesondere im Bereich des Straßenbaus. Auch wenn derartige Maßnah- Die Umsetzung eines inhaltlich konsis- men im Einzelfall sinnvoll sein mögen, füh- tenten und dauerhaft ausgerichteten For- ren sie in der Summe zu einem sich selbst schungsprogramms scheitert zudem häufig verstärkenden Zirkelschluss von Straßen- daran, dass Forschungsthemen immer häu- bau, entfernungsintensiven Lebens- und figer angelehnt an tagespolitische Trends Wirtschaftsweisen sowie einer erneuten In- ausgewählt werden. Bestes Beispiel hierfür frastrukturüberlastung und Stauproblema- ist die kurzfristig erfolgte und konzeptionell tik (Kagermeier 2011: 1053). Begleitet wird nur unzureichend hinterlegte Konzentra­ diese bauliche und planerische Fixierung tion von Forschungsgeldern auf den Be- durch entsprechende Denk- und Entschei- reich der Elektromobilität. Für deren an- dungsstrukturen. Man gewinnt den Ein- Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 141

druck, dass unabhängig von der konkreten und die Handlungserfordernisse vor Ort, Problemstellung, der Bau neuer Infrastruk- wobei ignoriert wird, dass die übergeord- tur immer die zuerst und häufig die einzi- neten Ebenen hierbei Impulsgeber sein ge in Erwägung gezogene Lösung darstellt. und wichtige Koordinierungsaufgaben Unweigerlich kommt einem dabei das Bild übernehmen könnten und sollten. Diese vom Hammer, mit dem auch Schrauben Argumentation dient Bund und Ländern eingeschlagen werden, in den Sinn. Dies ist etwa dazu, keine Verantwortung für die insofern schade, als dass der Schraubenzie- kommunale Radverkehrsförderung über- her ja bereit liegt, etwa in Form des vielfäl- nehmen zu müssen, wohingegen dies im tigen Instrumentariums des Mobilitätsma- Bereich der Technologieförderung, etwa nagements. für die ebenfalls nahräumlich ausgeprägte Elektromobilität, nicht zu gelten scheint. Die Interaktion zwischen den verschie- denen Hierarchieebenen im politischen Die Förder- und Finanzierungspolitik ist System Deutschlands und die damit ein- weiterhin vor allem deshalb problematisch, hergehende Verfügungs- und Entschei- weil sie für bestimmte Investitionsbereiche, dungsgewalt sind strukturelle Ursachen für wie den Bau von Straßen- und Bahninfra- diese Verfahrensweisen. Auffällig ist, dass struktur, auf standardisierte Bewertungs- gerade auf kommunaler Ebene innovative verfahren zurückgreifen kann, während für und kreative Ideen entwickelt werden, wo- Maßnahmen der Rad- und Fußförderung bei die Städte und Gemeinden für deren oder des Mobilitätsmanagements müh- Realisierung meist auf die „goldenen Zügel“ same und wenig verbindliche Einzelfall- der Landes- und Bundespolitik angewie- entscheidungen ausgehandelt und auf ei- sen sind. Dies umfasst neben der Finan- nen bürokratischen Weg gebracht werden zierung oft auch die Ausgestaltung solcher müssen. Es ist somit deutlich aufwändiger Projekte wie es etwa deutlich wurde, als und deshalb vielleicht auch unbeliebter, das hessische Verkehrsministerium im Jahr die zuletzt genannten Maßnahmen über- 2012 seine Zusage für die versuchsweise haupt durchzuführen. Diese volkswirt- Einführung eines nächtlichen Tempolimits schaftlichen Bewertungsverfahren zeigen, von 30 km/h auf innerörtlichen Haupt- wie pfadabhängig und träge verkehrspoli- straßen in Frankfurt am Main verweigerte tische Entscheidungsprozesse sind (Meyer (Frankfurter Rundschau 2012). Dieses Bei- 2015), was dazu führt, dass Politik und Ver- spiel verdeutlicht auch, dass gerade auf der waltung aktuelle Themen nicht aufgreifen kommunalen Ebene immer wieder mutige, und überholt werden von sich zunehmend wirklichkeitsnahe und politisch motivierte beschleunigenden gesellschaftlichen Ent- Entscheidungen getroffen werden, die zei- wicklungen, wie z. B. dem Trend zur Mul- gen, das Verkehrspolitik nicht grundsätzlich timodalität. Die impulsgebenden und vor von Technokratie und Expertenmeinun- allem lenkenden Akteure dieses Wandels gen gekennzeichnet sein muss (Bandelow/ Kundolf 2011 und Abschnitt 2).

Interessant ist auch, dass der Mechanismus der „goldenen Zügel“ oft nur selektiv funk­ tioniert. Während Infrastruktur für Fuß- und Radverkehr sowie nicht-investive Maß- nahmen meist von der Kommune selbst gezahlt werden müssen, gilt das nicht für die Stadtautobahn oder die Bundesstraße im Stadtgebiet, obwohl auch hier vorrangig lokale Verkehre abgewickelt werden. Beson- ders augenfällig wird diese Fehlstellung des politischen Systems mit Blick auf prestige- trächtige Großprojekte wie Regionalflug- häfen oder unterirdische Bahnhöfe. Folge- richtig wird die finanzielle Unterstützung für andere kommunale Projekte verweigert, häufig unter Verweis auf die Kompetenz One-Way-Carsharing Foto: Daimler Annika Busch-Geertsema, Thomas Klinger, Martin Lanzendorf: 142 Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik?

von Mobilitätssystemen sind nicht staatli- Eine nachhaltige, konsistente sowie stra- cher Natur. Der Markt wird von verschie- tegie- und zielorientierte Mobilitätspolitik denen Akteuren wie etwa Tochterfirmen scheitert demnach allzu häufig an Interes- großer Automobilkonzerne (z. B. car2go, sen, die außerhalb des eigentlichen Poli- drivenow), kleinen Start-up-Unternehmen tikfeldes liegen sowie an dem macht- und (z. B. flinc), aber auch Wohnungsbau- parteipolitischen Kalkül der beteiligten Ak- und Energieversorgungsunternehmen (z. B. teure. ABGnova und Mainova als Mehrheitsteilha- ber des Carsharing-Anbieters book’n’drive) beherrscht, deren Grundlage nicht etwa 4 Mobilität als Gegenstand eine zu leistende Daseinsvorsorge, sondern der Wissenschaftsförderung vielmehr betriebswirtschaftliche Berech- nungen sind. Die geschilderte einseitige Ausrichtung der deutschen Verkehrspolitik ist nicht zuletzt Die ungleiche Behandlung der einzelnen deswegen so ärgerlich, weil die entspre- Verkehrsmittel, die die einzelnen Verkehrs- chenden wissenschaftlichen Erkenntnisse träger separat betrachtet, wird dem System- in einigen Bereichen ja bereits vorliegen. und Querschnittscharakter von Mobilität Diese fehlende Integration von Forschungs- nicht gerecht. Inzwischen führen zahlreiche ergebnissen in die Handlungsstrategien der Hybridformen wie Carsharing oder Mit- Politik zeigt, dass der Ergebnistransfer ver- nahmedienste dazu, dass tradierte Gren- besserungswürdig ist. Es ist ratsam, dass zen wie etwa die zwischen öffentlichen und dabei sowohl die wissenschaftlichen als privaten Verkehren zunehmend verblas- auch die politischen Akteure ihr Handeln sen, so dass die verkehrsmittelspezifische hinterfragen. Offenbar gelingt es uns Mobi- Trennung nicht mehr zeitgemäß ist. Die litätsforscherinnen und Mobilitätsforschern in­stitutionelle Verankerung von Verkehrs- zu selten, unsere Forschungsergebnisse all- politik in Deutschland spiegelt allerdings gemeinverständlich und umsetzungsorien- nach wie vor die separate Betrachtungswei- tiert aufzubereiten, der interdisziplinären se wider. Die Verteilung der Zuständigkeit Fachöffentlichkeit zur Debatte zu stellen auf verschiedene Ministerien hat zur Folge, und gezielt in die Politik hereinzutragen dass ressortübergreifende Handlungser- (Würdemann 2014). Umgekehrt bringen fordernisse nicht oder oft zu spät erkannt politische Entscheidungsträgerinnen und werden. Es ist daher offensichtlich, dass der Entscheidungsträger nicht immer die nö- Verwaltungszuschnitt auch die inhaltliche tige Geduld und Bereitschaft auf, um sich Ausrichtung von Verkehrspolitik beeinflusst mit wissenschaftlichen Handlungsempfeh- und die Eigeninteressen der einzelnen Ins- lungen auseinanderzusetzen. titutionen und Ressorts einer konsistenten und zielgerichteten Mobilitätspolitik entge- Dass Forschung und Praxis auch gemein- genstehen können. Diese Problematik zeigt sam an einem Strang ziehen können, zeigt sich gerade auch in der Arbeitsweise kom- der Rückblick auf die breit angelegte Mo- munaler Straßenverkehrsbehörden, die die bilitätsforschungsinitiative, die Ende der einzelnen Verkehrsträger weiterhin sehr oft 1990er Jahre vom Bundesforschungsmi- getrennt voneinander betrachtet. nisterium unter dem Titel „Mobilität und Verkehr besser verstehen“ initiiert und ko- Die geschilderte Einseitigkeit verkehrs­ ordiniert wurde (Hautzinger et al. 1997). Zu politischer Programme, die sich in der Bei- den Verdiensten dieser Initiative gehört es, behaltung von nicht zeitgemäßen Regelun- dass im Gegensatz zu zahlreichen Vorgän- gen manifestiert, wird durch intransparente gerprogrammen nicht die bloße Förderung Lobby- und Subventionspolitik unter Aus- von Verkehrstechnologie im Vordergrund schluss der Öffentlichkeit begünstigt. Pend- stand, sondern die Verkehrsvermeidung, lerpauschale, Dienstwagenprivileg und das die Verbesserung der Effizienz sowie die fehlende Tempolimit auf deutschen Auto- Reduktion unerwünschter Folgen des Ver- bahnen sind Beispiele, die aus Sicht einer kehrs. Damit fanden die gesellschaftlichen nachhaltigen Mobilitätspolitik nicht sinnvoll Bedingungen des Verkehrs und folglich die sind, weil sie die dominante Stellung der pri- Sozialwissenschaften Eingang in die Initi- vaten Pkw-Nutzung weiter verfestigen. ative (Knie 2007). Leider hat die Initiative Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 143

nach dem Auslaufen der angestoßenen For- Dresden kein Institut, das nicht einer ein- schungsprojekte bis heute keine Fortset- zelnen traditionellen Fachdisziplin zuge- zung gefunden. Aufgebaute Kompetenzen ordnet ist. Ähnlich wie auch schon für die wurden nicht weiterentwickelt, Kollegin- Verkehrspolitik und die inhaltliche Ausrich- nen und Kollegen haben sich anderen For- tung der Mobilitätsforschung festgestellt, schungsthemen zugewandt oder die Wis- kann auch die institutionalisierte Verkehrs- senschaft endgültig verlassen. Vorstöße zur und Mobilitätsforschung nicht den gesell- Wiederaufnahme der Initiative (Knie et al. schaftlichen Herausforderungen genügen. 2011, SPD-Fraktion im Deutschen Bundes- Darüber hinaus wird mit der Konsolidie- tag 2012) sind bisher ohne Erfolg geblieben. rung oder Kürzung der Grundausstattung für Forschung und Lehre ein allgemeines Die Forschungsförderung zum Themenfeld Problem aktueller Wissenschaftsförderung Verkehr und Mobilität wird, ähnlich wie auch im Bereich der Mobilitätsforschung jene zu verkehrspolitischen Maßnahmen wirksam. Entsprechend ergibt sich eine er- (Abschnitt 3), durch tagespolitische Trends höhte Abhängigkeit von Drittmitteln und beeinflusst, wie nicht zuletzt auch das be- damit wiederum von externen und ggf. reits erwähnte Beispiel der Elektromobili- lobbybezogenen und tagespolitisch be- tät (Abschnitt 2) zeigt. Die Diskussion zum einflussten Vorgaben. Damit soll nicht in Erhebungsdesign der letzten Auflage der Abrede gestellt werden, dass Drittmittel- deutschlandweiten Erhebung zum Mobi- forschung ihre Berechtigung hat und auch litätsverhalten „Mobilität in Deutschland nachhaltig und strategisch ausgerichtet 2008“ ist ebenfalls ein Beleg dafür. Das Ein- sein kann. Doch soll schon herausgestellt fügen neuer Fragen wird hier sinnvoller- werden, dass universitäre Forschung Frei- weise immer kritisch mit dem benötigten räume benötigt, um unabhängig von aktu- Mehraufwand, wie etwa der Länge des Fra- ellen Moden übergeordnete Konzepte und gebogens, abgewägt. So ist bisher die aus Theorien zu entwickeln, die dann wiede- Sicht der sozialwissenschaftlichen Mobili- rum als Inspirationsquelle für empirische tätsforschung dringend benötigte Abfrage und angewandte Projekte dienen können. von mobilitätsbezogenen Einstellungsmus- tern nicht erfolgt, wohingegen eine Frage Insgesamt ergibt sich also ein heterogenes zur Helmnutzung von Radfahrerinnen und und von konzeptionellen Brüchen gekenn- Radfahrern Eingang in die Erhebung gefun- zeichnetes Bild der Wissenschaftsförderung den hat. Die „Helm-Pflicht“-Debatte wird im Bereich „Mobilität und Verkehr“. Viel- zwar politisch kontrovers diskutiert, ihre versprechende Ansätze wie die Mobilitäts- Bedeutung für eine langfristig und strate- forschungsinitiative der späten 1990er Jah- gisch angelegten Mobilitätsforschung und re wurden nicht konsequent weitergeführt, -politik ist dagegen doch eher marginal. sodass ein institutionalisiertes Grundgerüst in der Forschungslandschaft weitgehend Letztlich ist eine wichtige Ursache für die fehlt und stattdessen eine kleinteilige, re- fehlende Kontinuität konsistenter und stra- lativ zusammenhangslose und vorwiegend tegisch ausgerichteter Mobilitätsforschung tagespolitischen Trends folgende Projekt- und die wachsende Abhängigkeit von ta- förderung existiert. Die problemadäquate gesaktuellen Schwankungen in der fehlen- und systematische Förderung von Mobili- den institutionellen Verankerung der Mobi- tätsforschung ist dabei – auch infolge mi- litätsforschung zu suchen. Im Bereich der nisterieller Wechsel von Zuständigkeiten – außeruniversitären Forschung gibt es ne- phasenweise aus dem Blick geraten. ben dem Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raum- fahrt in Berlin so gut wie keine Institute, die 5 Fazit: Handlungserfordernisse sich disziplinenübergreifend mit Verkehr und Mobilität beschäftigen. Auch an den Aus der bisherigen Bestandsaufnahme und Hochschulen gibt es nur wenige große In- Defizitanalyse leiten wir folgende Hand- stitute, von denen die meisten den Ingeni- lungserfordernisse und Vorschläge zur Eta- eurs- und Wirtschaftswissenschaften zuge- blierung einer innovativen Politik und For- ordnet sind. Ohnehin gibt es mit Ausnahme schung zu Verkehr und Mobilität ab. der Fakultät für Verkehrswesen an der TU Annika Busch-Geertsema, Thomas Klinger, Martin Lanzendorf: 144 Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik?

Handlungsempfehlung 1: eine Schlüssel- oder Türöffnerfunktion. Bis Mobilität als Querschnittsthema begreifen und entsprechend handeln dahin ist der intensive Austausch zwischen den Institutionen unabdingbar und sollte Eine Weiterentwicklung der Verkehrs- hin intensiviert werden. zu einer zeitgemäßen Mobilitätspolitik ist unserer Ansicht nach dringend geboten. Erkenntnisse der Mobilitätsforschung kön- Darunter verstehen wir, dass die individu- nen helfen, zukünftige Herausforderun- ellen Motive, Zwänge und Handlungslo- gen zu bewältigen, wenn sie systematisch giken aller Verkehrsteilnehmerinnen und und konsequent in politische Maßnahmen Verkehrsteilnehmer vermehrt in die Ge- überführt werden. Mobilitätsmanagement staltung politischer Programme einbezo- ist dabei eine zentrale infrastrukturunab- gen werden und geeignete Maßnahmen hängige, verkehrsmittelübergreifende und zunehmend mit einer kontinuierlichen und nachfrageorientierte Handlungsstrategie proaktiven Beteiligung der Bürgerinnen zur Gestaltung einer nachhaltigen Mobi- und Bürger einhergehen, und zwar derart, litätskultur. Dazu gehört auch die Identifi- dass die beteiligten Personen auf die Ge- kation von Situationen und Zeitpunkten, staltung des Planungsprozesses tatsächlich die eine politisch motivierte Beeinflussung Einfluss nehmen können. Was geschieht, des Mobilitätsverhaltens besonders aus- wenn der Einbezug der Bevölkerung nicht sichtsreich erscheinen lassen. Beispiele für ernst genommen wird, zeigt prototypisch Maßnahmen, denen ein solches Selbstver- der Konflikt um Stuttgart 21, der letztlich ständnis zugrunde liegt, sind kommunales auch aus Sicht der Entscheidungsträge- Neubürgermarketing, Maßnahmenpakete rinnen und Entscheidungsträger finanziell für junge Familien und verschiedene Bil- und politisch kostspieliger wurde als es der dungsangebote. Auch die bewusste Ausei- Fall gewesen wäre, wenn der Bürgerwille nandersetzung mit und Weiterentwicklung frühzeitig als vollwertige Stimme anerkannt von multimodalen Nachfrage- und Ange- worden wäre. botsstrukturen (Abschnitt 1) sollte Kernbe- standteil einer Strategie sein, die Mobilität Angesichts der notwendigen Anpassungen als Querschnittsthema ernst nimmt. an den Klimawandel und die Endlichkeit fossiler Ressourcen, plädieren wir außer- Handlungsempfehlung 2: dem für eine klare normative Ausrichtung Institutionalisierung der Mobilitäts­ der Mobilitätspolitik mit einer nachhalti- forschung gen Zielrichtung, die entsprechend offen Wir sind überzeugt davon, dass eine dauer- und verlässlich nach außen vertreten wird. hafte und verlässliche Institutionalisierung Dieses Selbstverständnis besteht für uns der Mobilitätsforschung an Hochschulen in einer Haltung, die sich der spezifischen und im außeruniversitären Bereich geboten Bedürfnisse von Privatpersonen und Unter- ist, um einerseits das Mobilitätsgeschehen nehmen annimmt, aber zugleich auch Ver- in seiner ganzen Breite erfassen zu kön- kehr – inklusive der damit verbundenen un- nen und andererseits eine kontinuierliche erwünschten Nebenwirkungen – reduziert. Sicherung und Weitergabe von Ergebnis- Insofern steht eine neue Mobilitätspolitik sen an Planung und Politik gewährleisten schon in der grundsätzlichen Herangehens- zu können. Entsprechend sollte der Auf- weise im Gegensatz zur angebotsorientier- bau entsprechender Forschungszentren ten Verkehrspolitik. Der Querschnittscha- bzw. die Weiterentwicklung bestehender rakter einer neuen Mobilitätspolitik sollte in Institute alle mit Mobilität und Verkehr be- einer ressort- und ministerienübergreifen- fassten Disziplinen berücksichtigen sowie den Bündelung von Zuständigkeiten Aus- Praxispartner bereits frühzeitig in die Ar- druck finden, da Mobilität Auswirkungen beit einbinden. Als Vorbild für eine solche auf nahezu alle anderen Lebens- und Po- Institutionalisierungsstrategie kann das litikbereiche ausübt. Sie ist Grundlage des Konzept der Transport Research Centres Wirtschaftssystems und Arbeitsmarktes, sie aus Großbritannien dienen. So arbeiten in kann Menschen verbinden und trennen, sie Lancaster (Centre for Mobilities Research), kann Umwelt ent- und noch häufiger be- Bristol (Centre for Transport and Society), lasten sowie Gesundheit fördern oder ein- Leeds (Institute for Transport Studies) und schränken und übernimmt somit vielfach Oxford (Transport Studies Unit) große, in- Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 145

terdisziplinär zusammengestellte Teams an Handlungsempfehlung 4: Strategische Forschungsförderung zukunftsweisenden Fragen der aktuellen Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Forderungen nach einer Ausweitung der Forschungsförderung in Zeiten begrenzter Handlungsempfehlung 3: öffentlicher Mittel stehen in Konkurrenz zu Neuauflage einer Mobilitätsforschungs- anderen gesellschaftlichen Aufgaben und initiative sind nicht ohne weiteres zu erfüllen. Auf- Ergänzend zu ihrer institutionell-organisa- grund der erwähnten Schlüsselfunktion von torischen Verankerung sollte eine zeitgemä- Mobilität und Verkehr ist diese Forderung ße Mobilitätsforschung auch hinsichtlich trotzdem berechtigt, da die zu erwartenden ihrer inhaltlichen Ausrichtung erneuert und Ergebnisse eben auch für zahlreiche ande- zukunftssicher gemacht werden. Hierzu ist re Gesellschaftsbereiche grundlegend sind. ein langfristig ausgerichtetes Arbeitspro- Zudem erscheint es dringend geboten, dass gramm notwendig, das die kontinuierliche sich die Zuwendungspolitik stärker an den und ganzheitliche Bearbeitung der Themen gesellschaftlichen Herausforderungen und gewährleistet, die für die Gestaltung von den inhaltlichen Schwerpunkten aktueller Mobilität und Verkehr, aber auch für die Mobilitätsforschung ausrichtet. Organisation von Gesellschaft insgesamt zentral sind (Abschnitt 1), – das entspre- Hierzu müssen strategischen Förder- chende kreative und intellektuelle Potenzial schwerpunkte zur Ausrichtung aktueller ist ja vorhanden. Ein Blick in die Tagungs- Mobilitätsforschung verlässlich und trans- programme von Nachwuchsforen wie dem parent festgelegt werden. Die konkrete interdisziplinären Pegasus-Netzwerk für Ausgestaltung und Fortschreibung ent- Mobilitäts- und Verkehrsforschung (www. sprechender Forschungsprogramme muss pegasus-netzwerk.de) oder dem Jungen Fo- allerdings auf Änderungen gesellschaftli- rum der Akademie für Raumforschung und cher Rahmenbedingungen weiterhin flexi- Landesplanung (www.arl-net.de/projekte/ bel reagieren können. Die kontinuierliche jufo) macht deutlich, dass die dort behan- und iterative Rückkopplung mit der Wis- delten Themen äußerst vielfältig sind und senschaft und weiteren gesellschaftlichen mit kreativen Methoden und zu gleichen Akteuren ist dabei unverzichtbar, sodass Teilen von Frauen und Männern erarbeitet innerhalb der strategischen Grundausrich- werden. Nach einem solchen Forschungs- tung Anpassungsfähigkeit und Flexibilität profil hat man in den letzten Jahrzehnten bestehen bleiben und nicht neue Pfadab- meist vergeblich suchen müssen. Daher hängigkeiten entstehen. ist eine engagierte und verantwortungsbe- wusste Forschungsförderung aufgefordert, Handlungsempfehlung 5: die sich hier andeutende Innovationskraft Experimente wagen zu erkennen und durch das Aufzeigen von adäquaten Karrierewegen auch langfristig Um die angestrebte Flexibilisierung auch zu erhalten. im Kontext von verkehrspolitischen und

Bonn, Breite Straße vorher: Pkw-Parkplatz nach Umwandlung: Außengastronomie Fotos: Saskia Schäfer Annika Busch-Geertsema, Thomas Klinger, Martin Lanzendorf: 146 Wo bleibt eigentlich die Mobilitätspolitik?

-planerischen Maßnahmen erreichen zu genommen werden (UBA 2014b), die als können, haben einzelne Städte gute Erfah- zentraler Orientierungsrahmen für jegli- rungen mit der versuchsweisen Umsetzung che Maßnahmen und Mittelzuwendungen sammeln können, im Falle von Bonn etwa fungiert. Diese strategischen Ziele sind mit Umwandlung von Pkw-Parkplätzen, die nur dann sinnvoll zu erreichen, wenn alle zunächst versuchsweise der Außengastro- potenziellen Lösungen für ein verkehr- nomie zur Verfügung gestellt wurden (Ge- liches Problem ergebnisoffen und nach- neral-Anzeiger 2015). Maßnahmen, denen vollziehbar geprüft werden. Die bis heute aufgrund der Skepsis von betroffenen Ak- praktizierte Trennung in standardisierte teuren ansonsten keine Realisierungschan- Bewertungs- und Vergabeverfahren für in- cen eingeräumt würden, können auf diese frastrukturelle Investitionen einerseits und Weise zumindest temporär eingeführt wer- die mühsame Einzelfallprüfung für ande- den. Die ergebnisoffene und transparente re Maßnahmen muss aufgehoben werden. Evaluation solcher Maßnahmen ist dabei Damit einher geht die Aufhebung oder in der Lage, Kritiker zu überzeugen und so Abschwächung der Zweckbindung ver- eine dauerhafte Implementierung einzulei- kehrlicher Investitionen zugunsten einer ten und umgekehrt nicht sinnvolle Maß- problem- und situationsspezifischen Mit- nahmen rechtzeitig zu verhindern. Bund telverwendung, sodass etwa die Einführung und Länder können solche Planungsprozes- eines kommunalen Mobilitätsmanage- se verstärkt anregen und unterstützen, etwa ments und der Ausbau der Stadtautobahn durch eine Intensivierung und Ausweitung als Lösungsansätze gleichberechtigt geprüft von experimentell angelegten Förderpro- und ggf. verwirklicht werden können. Dies grammen wie z. B. dem Modellversuch zu geht einher mit einer ernstgemeinten Um- innovativen öffentlichen Leihradsystemen setzung des Subsidiaritätsprinzips, sodass im Forschungsfeld des Experimentellen Bund und Länder mehr Geld an die Kom- Wohnungs- und Städtebaus (ExWoSt). munen weiterleiten, damit diese eigen- ständig und situationsbezogen über diese Handlungsempfehlung 6: Mittel verfügen können. Hierzu ist eine Mobilitätsstrategie und Reform der Mittel- systematische Anpassung und Flexibili- vergabe für verkehrspolitische Maßnahmen sierung bestehender Finanzierungsinstru- Die Ausweitung des möglichen Maß- mente und -mechanismen notwendig. nahmenspektrums gilt auch für die Ver- kehrspolitik insgesamt. Die systematische Worauf warten? Förderung von Maßnahmen des Mobilitäts- managements ist längst überfällig. Gleich- Wir sind uns bewusst, dass die hier formu- zeitig ist die aktuelle Schwerpunktverschie- lierten Forderungen weitgehend und um- bung weg vom Straßenneubau und hin zu fassend sind, glauben aber, dass ein derart Erhalt und Wartung konsequent weiter- visionärer und zukunftsweisender Denkan- zuführen und zu intensivieren. Auch der satz anhand der zu bewältigenden Heraus- Rückbau von überdimensionierten oder forderungen angemessen und notwendig schwach nachgefragten Straßenverbindun- ist. Wir freuen uns daher auf die Diskussi- gen sollte nicht länger ein Tabuthema sein. on und Umsetzung unseres Vorschlags zu Die Grundsätze sollten in eine konsistente einer Reform der deutschen Politik und und verlässliche Mobilitätsstrategie auf- Forschung zu Verkehr und Mobilität.

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Einladungsflyer für die Veranstaltung: Was bewegt uns (morgen?) Diskussion: Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Forschung, Wissenschaft, Politik 150 und Technik: Was können wir heute für morgen tun?

Programm und Referenten Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 151

Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Diskussion

Forschung, Wissenschaft, Politik und Technik: Transkription: Christian Schlump Was können wir heute für morgen tun? Fotos: Andreas Kuebart

Die Autorinnen und Autoren der Heftartikel hatten am 3. November 2014 im Rahmen einer fachöffentlichen Veranstaltung im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumordnung (BBSR) in Bonn die Möglichkeit, ihre jeweiligen Ideen, Forschungen und Beiträge mit ca. 50 Expertin- nen und Experten unterschiedlichster Institutionen, Verbände, Wissenschaften und Behörden zu diskutieren. Erstmalig war also dem interessierten Fachpublikum die Möglichkeit gegeben, ein IzR-Heft kennenzulernen, bevor es gedruckt wurde und in gewisser Form sogar inhaltlich mitzulenken.

Moderator (Dr. Daniel Hinkeldein, Projekt- Forschung gut beschrieben: In vielen Län- manager im InnoZ Berlin): Wir haben dern werden Stadtbahnsysteme evolutio- eben im letzten Beitrag von Frau Busch- när, d. h. hier eine Linie, dort eine Linie, Geertsema von der Goethe-Universität aufgebaut. In Frankreich allerdings hat man Frankfurt gehört, dass die Politik der For- es revolutionär gemacht, dort sind kon- schung eigentlich gar nicht so richtig zuhört. zeptionell durchdachte, systematisch und Woran liegt es, dass die Politik die Wissen- städtebaulich integrierte Systeme gebaut schaft nicht hört? worden. Ich wünsche mir, dass man diesen Transferprozess auch bei uns schneller hin- Thomas Klinger: bekommen kann. Die hier im Raum anwesenden­ Vertre- Moderator: Herr Muschwitz, dann direkt die ter aus dem politi- Frage an Sie: Was muss getan werden und schen Umfeld haben was müsste passieren, damit der kombiBUS unsere Vorschläge ja schnell, effizient und effektiv in die Fläche schon einmal sehr geht? konstruktiv aufge- nommen. Und ich Christian Muschwitz: glaube, dass nicht Pragmatisch, aus Pro- einzelne Personen jektsicht, würde ich bzw. pauschal „die Politik“ nicht zuhört, sagen, es müssen ers- sondern dass Strukturen, Trägheiten, Pfa- tens die Kommunal- dabhängigkeiten, die Frau Busch-Geertse- verfassungen in den ma in ihrem Vortrag „Wo bleibt eigentlich Ländern überprüft die Mobilitätspolitik?“ (siehe Beitrag in die- und hier und dort viel- sem Heft) dargestellt hat, zu der heutigen Si- leicht etwas gelockert tuation geführt haben. Es gibt Erkenntnisse, werden, so wie das in die in bestimmten Regionen funktionieren, Brandenburg vorbildlich gemacht wurde. so z. B. der kombiBUS1 in der Uckermark. Und zweitens müssen wir auch einmal die Warum ist der kombiBUS aber noch nicht Europäische Kommission daran erinnern, in 20, 50 oder 100 anderen dünnbesiedelten dass nicht jede Art von Querfinanzierung Regionen angekommen? Warum dauert so sofort böse und schlimm ist. In Schweden ein Transferprozess so lange? Wenn wir uns wurde das elegant gelöst, denn die Fir- (1) z. B. in Frankreich umsehen, wie dort Stadt- ma, die die kombinierten Personen- und www.kombibus.de bahnsysteme aufgebaut werden: Dort sind Gütertransporte mit Bussen dort betreibt, (2) in den letzten 20 Jahren 30 oder 40 Systeme hat eine zweite Ausgründung, das ist Buss- Kleinheitz, Christopher, 2010: neu errichtet worden – komplette Systeme! gods (www.bussgods.se). Sie erledigen die Einführungsstrategien für Angebotsverbesserungen im 2 Christopher Kleinheitz hat das in seiner entsprechenden Transportgeschäfte und Öffentlichen Verkehr, Köln. Diskussion: Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Forschung, Wissenschaft, Politik 152 und Technik: Was können wir heute für morgen tun?

die Gewinne, die dort erwirtschaftet wer- Christian Muschwitz: Horst Köhler hatte den, fließen den Regionen zu. Von dort das vor über zehn Jahren, zu Beginn seiner geht das Geld dann wieder in den öffentli- Amtszeit als Bundespräsident, auch ein- chen Verkehr. Das ist natürlich ein sehr ge- mal grundsätzlich so in Frage gestellt. Ich schickter Schlenker. Einfacher wäre es, das denke aber erstens, dass der Gleichwer- Geld aus dem Bereich direkt in den ÖV zu tigkeitsgrundsatz nie so gemeint war, dass investieren. Ich kann da nichts Böses dran wir die exakt gleichen Lebensbedingungen erkennen, zumal wir jetzt die Beobachtung in der Uckermark vorfinden wie in Berlin- machen, dass fast alle am Markt befind- Mitte. Aber wenn wir uns andererseits vom lichen KEP-Dienstleister (Kurier-Express- Gleichwertigkeitsgrundsatz verabschieden, Paket-Dienstleister) sagen, diese letzte was passiert denn dann? Dann werden wir Meile sei für sie sowieso hinderlich. Inso- erleben, dass diejenigen, die noch können, fern könnte man – da bin ich ziemlich si- früher oder später abwandern. Doch es wird cher – mit einer einfachen Regelung schnell immer eine Restbevölkerung geben, die auch recht weit kommen. Dann sind auch nicht geht oder die auch nicht gehen kann. die beiden Kardinalprobleme, die das Pro- Was machen wir dann mit diesen Personen? jekt sicherlich hat, ganz schnell gelöst. An- Gilt dann für die beispielsweise, dass, wenn schließend muss natürlich – und das kön- sie die 112 rufen, nicht mehr innerhalb nen wir nicht ärztlich verordnen – in der von 15 –20 Minuten die Feuerwehr da ist, Szene möglichst schnell eine gewisse Initi- weil das zu teuer ist? Wo fangen wir an? Wo ative funktionieren, und da bin ich ehrlich hören wir auf? Wo ziehen wir die Grenze? gesagt ein bisschen skeptisch. Ich glaube, Wir planen ja auch bei jedem öffentlichen dass insbesondere die westdeutschen Ku- Gebäude, sagen wir einmal für nur 1 % der lissen im ÖV-Bereich noch weit davon ent- Bewohner, Rampen und Aufzüge ein. War- fernt sind, sich ein komplett anderes Rezept um? zu überlegen. In Rheinland-Pfalz z. B. wird die Meinung vertreten, dass am besten al- Wir können an dieser Stelle die grundsätz- les nach althergebrachtem Muster eigenbe- liche Solidardiskussion in unserer Gesell- triebswirtschaftlich laufen sollte und wenn schaft anfangen, aber ich halte dies für das nicht funktioniert, dann sollen die sehr gefährlich. Das wird vermutlich nicht Menschen sich selbst etwas organisieren, zu einem guten Ende führen. Entweder wir z. B. durch Bürgerbusse. Das kann es nicht haben eine solidarische Gesellschaft – dann sein. gilt die aber auch insgesamt – oder eben nicht. Dann müssten wir allerdings auch Moderator: Wenn man sich die BBSR- fragen, wo in Berlin hören wir auf? Welche Publikat­ionen anschaut, z. B. die Verkehrs- Randbezirke nehmen wir noch mit rein? fläche je Einwohner und wenn wir dort die roten Bereiche mit sehr, sehr geringen Robert Schönduwe: Einwohnerzahlen je Verkehrsfläche sehen, Vielleicht sollten auch dann könnte man den Spieß auch um­ die angewandten For- drehen und fragen: Warum soll eigentlich schungsmethoden auf jemand, der in der Stadt lebt und auch alle den Prüfstand gestellt Nachteile in Kauf nimmt, mit seinen Steu- werden. Das Berlin- ern quer­finanzieren, dass sich ein ande- Institut hat sich bspw. rer ein großes Haus an der Oder mit Blick auf Kreisebene ein- in die Landschaft leisten kann? Wir haben mal jeden einzelnen doch schon 1994 Abschied genommen Ort und jedes einzelne Dorf angeschaut. von der Einheitlichkeit hin zu einer Gleich- Dabei entsteht eine ganz andere Sicht auf wertigkeit (Artikel 72 Absatz 2 GG). Da die großen roten und blauen Flächen auf könnte man nun provokativ sagen: Wenn den BBSR-Karten. Denn innerhalb dieser ihr auf dem Land leben wollt, habt ihr da- großen roten Fläche gibt es zahlreiche rote von einen Nutzen. Dann tragt bitte auch die aber auch viele blaue Punkte. Man könnte Kosten. nun einmal genauer untersuchen, warum es denn neben dem roten Ort, in dem der jüngste Einwohner 60 Jahre alt ist, auch ei- nen blauen Ort gibt, der gut funktioniert. Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 153

Möglicherweise könnte dieser Perspektiv- Moderator: Unsere Werte sollten ja idealer- wechsel andere Herangehensweisen zur weise auch in die Normen einfließen. Wir Problemlösung eröffnen. haben jetzt sehr stark für gängige Normen plädiert. Gibt es etwas bei dem Sie, Herr Die genannte Studie zeigt aber vor allem Schippl, aus der Szenario-Perspektive sa- einen anderen, wichtigen Aspekt, der heu- gen: „Das ist wertvoll in 15 Jahren“? Ist das te in den Vorträgen bereits mehrfach an- dann immer noch Nachhaltigkeit? Gibt es klang: Die Autoren haben es geschafft, ein dazu aus ihrem Forschungshintergrund Evi- bestimmtes Thema sehr gut zu kommuni- denzen? zieren. Ich habe sofort verstanden, was sie sagen wollten, es war sofort schlüssig. Viel- Jens Schippl: leicht muss Wissenschaft neue Kommuni- Es ist grundsätzlich kationswege und -formen überdenken, um so, dass bei der Be- Ergebnisse wirklich breit zu streuen und ei- schäftigung mit der nen stärkeren Effekt zu haben.3 Zukunft im Rahmen von Szenarien relativ Moderator: Jetzt gibt es aber ja einen grund- lange viel Wert dar- sätzlichen Unterschied zwischen dem, was auf gelegt wurde, die man grundsätzlich an Werten postuliert und möglichen zukünfti- dem, wie man Werte in Normen übersetzt. gen technologischen Was wir gerade besprechen, ist die Frage, und ökonomischen Verhältnisse zu variie- ob sich unsere Normen den sich wandeln- ren. Man hat recht wenig Zeit darauf ver- den Individuen, wandelnden Lebensformen wendet, den gesellschaftlichen Rahmen zu und sich wandelnden Trends in unserer Ge- verändern, d.h. verschiedene gesellschaftli- sellschaft anpassen müssen. Warum sollte che Entwicklungen mit in den Blick zu neh- man nicht auch einmal eine Normendis- men. Und dazu würde natürlich auch die kussion führen, bei Beibehaltung der ideo- Überlegung gehören – das haben wir aller- logischen Vision, dass die Werte bestehen dings bisher auch noch nicht gemacht –, ob bleiben? Nachhaltigkeit bzw. die Vorstellung, die wir mit Nachhaltigkeit verbinden, tatsächlich Christian Muschwitz: Darüber kann ich 2030 oder 2040 noch aktuell ist. Oder ist es nicht unterschiedliche Positionen entwi- vielleicht die Wettbewerbsfähigkeit, die die ckeln, weil das eine ganz zentrale, grund- Nachhaltigkeit etwas in den Schatten stellt, sätzliche, ethische Frage ist: Bis zu welchem so wie es sich im aktuellen White-Paper der Maße sind wir innerhalb der Bundesrepub- EU4 andeutet, das ja auch schon „Fahrplan lik Deutschland räumlich integrativ solida- zu einem einheitlichen europäischen Ver- risch und wo geben wir das auf? Alleine die kehrsraum – Hin zu einem wettbewerbs- Androhung von Aufgabe führt ja dazu, dass orientierten und ressourcenschonenden wir Räume komplett abhängen. Das heißt, Verkehrssystem“ heißt. Egal, ob das jetzt wir erreichen im Zweifelsfall sogar das Ge- gut oder schlecht ist, gewinnt der Punkt genteil von dem, was wir wollen. Wir haben Wettbewerbsorientierung mit Sicherheit an tatsächlich schon heute Orte, wo der jüngs- Bedeutung. Und wenn es so weiter geht, ist te Bewohner bald im Rentenalter ist, was vorstellbar, dass dies Auswirkungen hat auf können die dafür? An welcher Stelle sagen die Art, wie Verkehrspolitik gesteuert wird (3) wir den Leuten, ihr habt jetzt nicht mehr und wie Werte gesetzt werden. Aus meiner Die Studie „Die Zukunft der mit der Solidarität der Bundesrepublik Dörfer“ vom Berlin-Institut für Sicht wäre es sehr interessant einmal zu Bevölkerung und Entwicklung Deutschland zu rechnen? Und was machen überlegen, welche Veränderungspotenzi- aus dem Jahre 2011 finden Sie wir dann mit denen? Das ist dann ähnlich ale sich nach heutigem Wertesystem zum hier: http://www.berlin-institut. org/fileadmin/user_upload/Do- wie nach der Wende mit den großen und Positiven bzw. Negativen auftun, wenn man erfer_2011/Die_Zukunft_der_ schmerzhaften Projekten im Stadtumbau. stärkere Veränderungen zentraler gesell- Doerfer_Webversion.pdf

Jetzt müssen wir einen kompletten buy-out schaftlicher Paradigmen und Normen in (4) der entsprechenden Kulissen bewerkstelli- Szenarien durchspielt. Das ist noch etwas http://ec.europa.eu/transport/ gen, wenn wir diese Räume abhängen. Wer themes/strategies/doc/2011_ anderes als die Werte auf der individuellen white_paper/white_paper_ soll das denn bezahlen? Das geht doch gar Ebene, auch wenn sie zusammenhängen. com(2011)_144_de.pdf nicht und ist überdies weder notwendig noch sinnvoll. Diskussion: Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Forschung, Wissenschaft, Politik 154 und Technik: Was können wir heute für morgen tun?

Moderator: Aus unternehmerischer Sicht würde ich ganz provokativ behaupten, dass und zum Stichwort Wettbewerbsfähigkeit ein Appell in Richtung Verkehrsvermeidung sind die sogenannten Hochmobilen ja eine oder -verlagerung wenig zielführend sein sehr interessante Zielgruppe, absolute A- wird, sondern primär technologische Inno- Kunden. Herr Schönduwe, wie können die vationen Lösungsbeiträge liefern werden. A-Kunden aller Verkehrsbetriebe und auch vielleicht das Bundesministerium für Verkehr Christian Muschwitz: Sehen Sie, und jetzt und digitale Infrastruktur (BMVI) glücklich könnte ich fragen, warum sollen denn die gemacht werden? Was kann getan werden, braven Leute, die auf dem Land leben und damit die Nutzer noch bessere Mobilitätser- keine Erasmus-Kinder bekommen haben, lebnisse haben? eigentlich dafür sorgen, dass die hochin- tellektuelle Elite aus unseren Ballungsräu- Robert Schönduwe: Es gibt viele Anknüp- men ihre Mobilitätsbedürfnisse befriedigen fungspunkte, an denen man ansetzen kann, kann? Das ist die Kehrseite von solchen Dis- um die Hochmobilen als Kunden zu gewin- kussionen, und deshalb würde ich dieses nen. Die Digitalisierung bietet z. B. mit Si- Fass erst gar nicht aufmachen. Warum bau- cherheit viele Möglichkeiten, aber konkret en wir denn für 10% der Menschen, die 40% möchte ich da gar nichts nennen. Das wäre des Verkehrs induzieren, eine milliarden- dann tatsächlich etwas, was ich an die For- schwere Infrastruktur? Das macht die EU schung zurückgeben möchte. Das ist genau sogar institutionalisiert, von oben herab, der Punkt: Wir haben angefangen aufzuzei- mit TINA (Transport Infrastructure Needs gen, dass es dort eine Gruppe gibt, die man Assessment in Central and Eastern Europe) betrachten sollte – langfristig und tieferge- und TEN (Transeuropäische Netze), wäh- hend – um den Hebel an der richtigen Stelle rend tatsächlich aber 90 % des Verkehrs- anzusetzen. aufkommens im Regional- und Nahverkehr stattfinden. Sie merken bei dieser Diskussi- Moderator: Umgekehrt gefragt und offen on, hier wird das Eis teilweise sehr glatt. gesprochen: Hochmobile sind ja vielleicht auch „Umweltschweine“. Was kann man Moderator: Und umgkehrt, warum sollte tun, um Verkehrsverlagerung, -vermeidung jemand in Pasewalk dieselben Steuern be- und -verbesserung effizient und effektiv auf zahlen, wenn er nicht auch dieselbe Infra- diese Menschen anzuwenden? Denn wenn struktur geboten bekommt? Wenn wir einen man die „knacken“ würde, hätte man mit ganz kurzen Ausflug in den Gesundheits- einer einzigen Zielgruppe vielleicht 50 % un- bereich machen: Es werden im ländlichen serer Probleme mit hoher Verkehrsleistung Raum in Ostdeutschland psychotherapeu- und den Folgen gelöst. Gibt es dazu Ideen? tische Praxen neu ausgeschrieben und ich weiß von mehreren Psychotherapeuten, Robert Schönduwe: Es haben sich soziale dass sie innerhalb des ersten Tages der In- Strukturen gebildet, die sich in der Fläche betriebnahme ihrer Praxis in diesen Städten stark ausgebreitet haben und die Mobilität in den neuen Bundesländern ausgebucht bzw. Verkehr induzieren. Ein schönes Bei- waren. Innerhalb eines Tages, mit Hilfe ei- spiel konnte man vor einiger Zeit in der Süd- ner Daumennagelgroßen Anzeige auf dem deutschen Zeitung unter der Überschrift jeweiligen Anzeigenmarkt! Da sieht man den „Eine Million ‚Erasmus-Babys5‘“ lesen. Mit enormen Druck auf dem Land und dann Erasmus-Babys sind Kinder gemeint, die kann man sich umgekehrt jetzt als des Teu- aus Partnerschaften von Erasmus-Studen- fels Anwalt fragen, warum sollen diese Men- ten entstanden sind. Und natürlich wollen schen sämtliche Beiträge zahlen wie Stadt- die Großeltern die Enkelkinder besuchen, bewohner? Man könnte ihnen ja auch die da wollen die Schwiegereltern besucht wer- Steuern streichen oder halbieren. den usw. – das induziert Verkehr. Das ist nur ein Beispiel für gesellschaftliche Strukturen, Jens Schippl: Ich finde die Diskussion ex- mit denen wir es heute zu tun haben, die emplarisch. Wir müssen aufpassen, wenn (5) http://www.sueddeutsche.de/ Mobilität induzieren und von denen wir wir gegenüber der Politik kommunizieren, bildung/bilanz-zum- aber bisher nur wenig wissen. Das indivi- dass wir eine Bringschuld von unserer Sei- austauschprogramm-fuer- studenten-eine-million- duelle Handeln ist sehr stark durch diese te haben und wir müssen deutlich machen, erasmus-babys-1.2141763 sozialen Strukturen vorgeprägt. Deshalb welche Fragen wir eigentlich beantworten Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 155

können und welche Fragen eine institutio- Martin Randelhoff: nalisierte Form von Förderung benötigen. Natürlich sollten sich Ich bin mir nicht sicher, ob die Verkehrsfor- quantitative und qua- schung sich da nicht selbst auch noch opti- litative Forschungs- mieren und da noch etwas herausarbeiten methoden immer könnte. ergänzen. Die rei- ne Aggregation von Wir sehen zurzeit, dass wir da an ganz un- Ist-Daten reicht für terschiedlichen Enden ziehen und da wird eine Zukunftsprog- es immer schwer sein, das große Bild im nose und die Gestal- Blick zu halten. Wir unterscheiden ger- tung von Netzen und schlussendlich von ne, wenn wir uns mit Veränderungen und Stadt- und Raumstrukturen natürlich nicht Transformationen von Systemen wie den aus. Es geht ja bei den durch Handys und Energie- oder Verkehrssystemen beschäfti- Smartphones gewonnenen Daten vielmehr gen, drei verschiedene Formen von Wissen: darum, dass dies ein Werkzeug, also ein Ele- Wir haben erstens das Orientierungswissen, ment im gesamten Bündel von Planungs- das ist das, was wir gerade diskutieren. „Was tools ist, das wir in den nächsten Jahren will die Gesellschaft eigentlich und wo will an die Hand bekommen. Das rein isolierte sie hin?“ Dazu gehören auch Szenarien als Berechnen von Daten gibt uns nur den gro- Methode. Dann zweitens das Systemwis- ben Weg vor. Handlungsoptionen, mit de- sen, das auf ein hinreichendes Verständnis nen wir etwas anfangen können, erhalten des Verkehrssystems abzielt (z. B. techni- wir erst, wenn soziale und ökonomische sche Entwicklungen und ihre Bedingungen, Hintergründe interpretiert werden. Das Anwendungsmöglichkeiten, Akteurskons- heißt, wir müssen sehr genau hinschauen, tellationen und Interessen etc.). Die dritte welche Daten aggregiert werden, von wel- Kategorie betrifft Handlungswissen, also chen Menschen sie gesammelt werden und praktisches Wissen darüber, wie sich Maß- welche sozialen und ökonomischen Hinter- nahmen umsetzen lassen. gründe zu beachten sind.

Wenn ich in der Terminologie und im länd- Beim autonomen Fahren sind natürlich lichen Raum bleibe, dann stelle ich mir Haftungsfragen und versicherungsrechtli- zwei wesentliche Fragen, die nur indirekt che Fragen ein elementarer Bestandteil der zusammenhängen. Dass autonomes Fah- gesamten Diskussion. Zum einen denke ren im ländlichen Raum von der Kostensei- ich, dass die politisch gut vernetzte Auto- te her sinnvoll sein kann, habe ich verstan- mobilindustrie Triebfeder sein sollte, da sie den. Aber ist es nicht gerade dort wegen der da die größte Möglichkeit hat einzuwirken. haftungsrechtlichen Fragen auch besonders Die Vereinten Nationen haben erstaunli- schwer umzusetzen? (Handlungswissen) cherweise schon im Mai 2014 auf Vorschlag der Finnen die Wiener Straßenverkehrskon- Zum besseren Systemverständnis noch eine vention angepasst, obwohl prognostiziert Frage zu den im Vortrag erläuterten Studi- wurde, dass dies fünf Jahre dauern wird. en, die Bewegungsdaten von Handys er- Die ganzen anderen Anpassungen von mitteln: Besteht da nicht die Gefahr in eine Richtlinien und versicherungstechnische Art „predict and provide“ Planung reinzu- Fragen usw. werden durch Interessen von geraten? Das würde bedeuten, dass man Dritten motiviert. Aus meiner Sicht haben da, wo sich viele Bewegungen aufzeichnen sowohl die Automobilindustrie als auch die lassen, weitere Verkehrskapazitäten schafft Versicherungswirtschaft ein großes Inter- – was wiederum zu noch mehr Bewegun- esse daran und das sind beides Player, die gen führen kann. Verpassen wir nicht Mög- relativ großen Einfluss auf politische Ent- lichkeiten und Chancen für so etwas wie scheidungsträger haben. Ich vermute, es Mobilitätsmanagement, wenn wir nur auf werden heute schon Diskussionen geführt. Smartphone-Datenströme schauen und die qualitative Forschung vergessen? Jens Schippl: Für mich bleibt die Frage, warum es sich gerade im ländlichen Raum anbieten würde, autonomes Fahren einzu- führen. Diskussion: Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Forschung, Wissenschaft, Politik 156 und Technik: Was können wir heute für morgen tun?

Martin Randelhoff: Fahren nicht auch Ängste? Das Steuer hat Ich wollte in meinem Vortrag klarstellen, man ja normalerweise selbst in der Hand, dass der ÖPNV im ländlichen Raum auf- im Auto kann man sich ausleben, da kann grund der geringen Bevölkerungsdichte man selbst beschleunigen. Was gibt es dort wirtschaftlich gesehen schwieriger zu be- für Anpassungsprozesse? Ich glaube bzw. treiben ist als in Ballungsräumen. Wenn das ist auch meine Kritik, dass die Technik- man sich die Kostenstrukturen im ÖPNV orientierung und die technischen Lösungen anschaut, sieht man, dass die Personalkos- erst einmal immer sehr große Popularität ten einen sehr großen Anteil einnehmen. und vielleicht auch Priorität genießen, aus Durch automatisierte Fahrzeuge könnte ich verschiedenen Gründen: Dahinter stehen diese Kostenanteile senken und dies wäre Interessen, mit denen sich Geld verdienen eine Möglichkeit, den ÖPNV im ländlichen lässt, aber vielleicht auch eine Art Bequem- Raum wirtschaftlicher zu gestalten bzw. lichkeit. Wir hatten heute mehrfach das überhaupt zu erhalten. Es spricht natürlich Thema Elektromobilität angesprochen. Und nichts dagegen, die gleichen Schritte im In- vielleicht ändert es sich gerade, aber lange dividualverkehr zu gehen. Zeit war der Blick auf Elektromobilität der, dass man einfach den Antrieb ändert und Christian Muschwitz: Da möchte ich jetzt dann ist alles gut und wir machen alles so natürlich noch einmal den kombiBUS weiter wie bisher, einfach weiter Auto fah- (www.kombibus.de) in Erinnerung rufen, ren. Ich glaube, dass es so einfach nicht ist. den ich hier vorgestellt habe. Die Beispie- Man muss sowohl auf der Verhaltensebene le aus Skandinavien zeigen, dass man bei als auch auf der Planungs- und Politikebene Bevölkerungsdichten von fünf Einwohnern integriert denken, indem man jetzt schaut, je Quadratkilometer ÖPNV so rentierlich welche Forschung wir brauchen. Natürlich machen kann, dass man über finanzielle ist es wichtig, dass Forschung oder zumin- Probleme hinsichtlich Personalkosten nicht dest ein Teil von Forschung in die Praxis hi- reden muss. Das ist der eine Weg. Der an- neinwirkt. Ich glaube aber umgekehrt, dass dere Weg ist sicherlich eine technische Lö- es genauso gut und wichtig ist, Konzepte zu sung – autonomer Betrieb. Vorsichtig ge- entwickeln, die eine Maßstabs- und Abs- sprochen ist mir beides zunächst einmal traktionsebene höher angesiedelt sind. Ich gleich recht, wenn es hilft die Mobilität im rede jetzt nicht von abgehobenen, gesell- Raum zu erhalten. Und wir haben Kulissen schaftstheoretischen Paradigmen, aber von in Deutschland, wo wir kurz davor stehen, gegenstandsbezogenen Theorien, die dann den ÖV komplett zu verlieren. Von daher ist wiederum als Inspirationsquelle für ganz es das Ergebnis, was am Ende zählt, nicht viele Praxisanwendungen dienen können. unbedingt der Weg. Zum Beispiel das Konzept der Mobilitäts- biografien, was in der sozialwissenschaft- Thomas Klinger: Ich würde gerne noch lichen Mobilitätsforschung in den letzten einmal die Bringschuld der Wissenschaft Jahren immer stärker kommt. Ein ganz ein- erläutern. Es wurde angesprochen, dass faches Prinzip: Mobilitätsverhalten ist ganz die Wissenschaft ihre Ergebnisse auch auf stark ritualisiert und es gibt lange Phasen im bestimmten Wegen kommunizieren muss, Leben, in denen die Alltagsmobilität buch- um für die Gesellschaft verständlich und stäblich eingefahren ist und nicht großartig relevant zu bleiben. Zudem wurde gefragt, hinterfragt wird. Ich überlege nicht jeden welche Art von Forschung wir überhaupt Morgen aufs Neue, ob ich nun das Fahr- brauchen und welche institutionalisiert rad oder den Bus zur Arbeit oder Universi- werden sollte. tät nehme. Doch dann gibt es biografische Umbruchsmomente verschiedener Art, wie Martin Randelhoff hat die Teilantwort im z. B. Umzüge, die Geburt eines Kindes oder Prinzip schon gegeben. Denn die Technik- den Jobwechsel, in denen eben jene Rou- forschung im Bereich Digitalisierung und tinen hinterfragt werden und die Chance autonomes Fahren muss integriert gedacht für Verhaltensänderungen vergleichsweise werden mit dem Blick auf das Individuum hoch ist. Das ist jetzt erstmal ein einfaches und den Fragen nach Bedürfnissen. Was Konzept. Aber wenn man diese Denkweise wird überhaupt angenommen an digita- und dieses Modell als Dach nimmt, kann len Angeboten? Gibt es beim autonomen man ganz viel ableiten und sich dann Ge- Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 157

danken darüber machen, wie diese Um- bilden zu können. In Deutschland hat man bruchsereignisse funktionieren und wie in der letzten MiD6 als neue Frage die Frage ich politische und verkehrspolitische Maß- zur Helmnutzung beim Fahrradfahren hin- nahmen gestalten muss, um in diesen Um- zugefügt. Das mag politisch vielleicht auch bruchssituationen Ziele zu erreichen. Zum gerade situativ ein Thema gewesen sein. Beispiel durch Neubürgermarketing für Aus Forschungssicht, aus konzeptioneller, umziehende Personen und Angebote für lang andauernder strategischer Sicht glau- Paare, die gerade Kinder bekommen. Ich be ich jedoch, dass Fragen zu Einstellungen kann auch in den langen Sozialisationspha- deutlich wichtiger wären. sen wie der Kindheit und Jugend ansetzen. Ich möchte deutlich machen, dass wir so- Moderator: Haben Sie untereinander noch wohl die Praxis als auch die konzeptionelle Fragen – vielleicht auch mit Bezug auf die Grundlagenarbeit brauchen. Dafür werden eben gehörten Vorträge – bevor wir uns (kreative) Freiräume benötigt, unabhängig dem Plenum zuwenden? von Drittmitteln. Christian Muschwitz: Herr Schippl, was Moderator: Ich fühle mich gerade daran mir bei den von Ihnen vorgestellten Szena- erinnert, dass letztens ein Ruck durch die rien gefehlt hat, wäre vielleicht ein norma- Deutsche Bahn gegangen ist. Das ist zwar tives Szenario. Was für eine Zukunft möch- eine große Maschine und fast niemand ten wir in Bezug auf Mobilität ansteuern spürt es, wenn es darin ruckt. Doch es sind und wie könnten wir dahin kommen? Wel- Manager aus der Strategieabteilung und che Weichen müssen dann wie gestellt wer- vom Fernverkehr an große Universitäten den? Wir haben momentan in ganz Afrika gefahren. Allerdings nicht an deutsche Uni- so viele Autos wie in Nordrhein-Westfalen. versitäten, sondern an die UC Berkeley, und Wir haben über eine Milliarde Chinesen haben sich inspirieren lassen von dem, was und über eine Milliarde Inder. Nehmen wir dort an universitärem Wissen generiert wur- doch einmal an, die wollen auch alle auto- de und dann in Start-Ups umgesetzt wur- mobil werden, so wie wir. Was machen wir de. Sie sagen jetzt, wir brauchen Theorie- denn, wenn die das alle nach und nach re- wissen und aus diesem Theoriewissen wird alisieren? Ich glaube, dann haben wir nicht dann Handlungswissen. Wenn nun dieses nur das Problem mit dem Öl, selbst wenn riesige Unternehmen Deutsche Bahn, das die Amerikaner fracken was das Zeug hält. ja vielleicht so deutsch ist wie kein zweites Sondern wir bekommen wahrscheinlich Unternehmen in der Bundesrepublik, ausge- grundsätzliche Probleme mit den Ressour- rechnet in die USA schaut, dann kann man cen überhaupt. Wir sind in der komfor- sich fragen, ob dies auf eine andere Art und tablen Situation, dass Deutschland eines Weise empfängergerecht theoretisiert und in der Hochtechnologieländer überhaupt ist. die Praxis umgesetzt werden muss? Können wir uns auch eine Mobilität des 21. Jahrhunderts überlegen, mit ganz wenig Thomas Klinger: Meine Beobachtung ist, Hochmobilen, vielleicht aber mit ganz viel dass man in den USA, aber auch in europä- öffentlichem Verkehr? Das geht ein biss- ischen Staaten wie den Niederlanden oder chen in Richtung Ihres Szenarios 3, das ja in Skandinavien, weiter ist. Dort ist Verhal- die Brüsseler Kollegen abgelehnt haben. tensforschung viel stärker etabliert, genauso Verständlich, wenn Sie in Brüssel mit Men- wie Policy-Forschung. Das sind anerkannte schen sprechen, dann kommen die immer Gebiete an Forschungszentren in Großbri- von weit her. Wenn die jetzt über ihre ei- tannien oder eben den Niederlanden z. B. gene Zukunft richten sollen und wir sagen an der TU Delft und der TU Eindhoven. „Oh das mit der Hochmobilität geht nicht Da gibt es genau diese Perspektive mit Pa- mehr“, dann ist das für diese Menschen ein neluntersuchungen, auch mit Blick auf die Problem. Das kann ich aus politischer Sicht Forschungsförderung übrigens. In einigen schon sehr gut verstehen. Aber könnte man Ländern werden in den nationalen Haus- nicht auch einmal so ein Szenario denken haltsbefragungen und in Paneluntersu- und dann sagen, wo kommen wir denn hin, chungen zur Mobilität bereits Einstellungen wenn wir das einmal zu Ende denken? Und (6) Mobilität in Deutschland http:// abgefragt, um genau diesen vorgelagerten dann mal überlegen, welche Weichen kann www.mobilitaet-in-deutschland. Entscheidungsprozess der Bedürfnisse ab- man überhaupt noch stellen, ist das über- de Diskussion: Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Forschung, Wissenschaft, Politik 158 und Technik: Was können wir heute für morgen tun?

haupt noch realistisch, oder schaffen wir ben, was getan werden kann, damit sich das das schon gar nicht mehr? Verhalten ändert?

Jens Schippl: Wir haben tatsächlich auch Thomas Klinger: Es gibt diverse Vorbild- für das Europäische Parlament einmal ein projekte wie z. B. das Neubürgermarketing normatives Szenario entworfen, allerdings in der Stadt München. In einer „Evaluati- ging es da um Langstreckenverkehr, bei onsstudie des Münchner Dialogmarketings dem wir von vorneherein direkt bestimmte für Neubürger“ von Prof. Dr. Sebastian Ziele festgelegt haben. Die Problematik, die Bamberg von der Fachhochschule Biele- Sie angesprochen haben, geht ja darüber feld7 wird das erläutert. 300 Personen, die hinaus. Da geht es dann wirklich um ethi- neu in die Stadt gezogen sind, haben ein sche Grundfragen, was hochspannend ist kostenloses Wochenticket und eine um- und die Frage aufwirft, wen man da eigent- fangreiche Information zum ÖPNV bekom- lich miteinbezieht. Man könnte sich einmal men. 300 Personen in der Kontrollgruppe mit allen relevanten Gruppen zusammen- haben das nicht bekommen. Etwas später zusetzen und zu überlegen, was z. B. ein wurden beide Gruppen wieder befragt und idealer Motorisierungsgrad wäre. Oder wel- die Interventionsgruppe zeigt eine gut 7 % chen Pkw-Besitz-Grad pro 1 000 Einwoh- höhere ÖPNV-Nutzung. Daraufhin hat die ner wir im Jahr 2030, 2040 bzw. 2050 haben Stadt München gesagt, es lohne sich, je- möchten. Was können wir uns vorstellen? des Jahr eine Million Euro in die Hand zu Ein „Einfrieren“ des heutigen Bestandes? nehmen. Rein monetär lohnt es sich, weil Vermutlich nicht. Oder eher ein „anything es auch eine Form der Wirtschaftspolitik goes“ – ein Laufenlassen? Das Ergebnis ist, also mit schwarzer Null. Und nicht zu wird aus meiner Sicht irgendwo dazwi- vergessen die ganzen weiteren Effekte für schen liegen. Man könnte natürlich auch die Umwelt, die Gesellschaft usw. Diese An- über Entwicklungs- und Schwellenländer sätze würde ich systematisch denken. Wir diskutieren. Wie viele Autos „gönnen“ wir haben vom „an das Auto gefesselt sein“ ge- China oder Ghana? Es ist eine Herkulesauf- sprochen. Ich glaube, wir sind auch gefes- gabe zu überlegen, welche Personen und selt an Routinen. Aber bei Umbruchsmo- Gremien man einbindet. In China sind es menten, wenn Sie z. B. nicht mehr täglich aktuell nicht mehr als 60 oder 70 Fahrzeu- zur Arbeit fahren müssen, weil Sie in den ge pro 1 000 Einwohner. Wenn man das mal Ruhestand gehen, kann die Politik Ange- mit Faktor zehn rechnet, bei einer Milliarde bote machen. So auch beim Patenticket- Menschen wird klar, wo die Herausforde- Projekt8 für den öffent­lichen Nahverkehr in rungen liegen. Köln: Ältere Menschen, die bereits ÖPNV- affin sind, haben andere Menschen, die ge- rade in den Ruhestand gegangen sind und Das Publikum erhält die Möglichkeit Fragen vielleicht 20, 30 oder 40 Jahre lang Auto ge- zu stellen und Anmerkungen zu machen. fahren sind, ganz praktisch an das System öffentlicher Nahverkehr herangeführt. Wir Publikumsmeldung 1: Ich habe mit Inter- haben einen Autoführerschein, wir haben esse das Feld der Mobilitätsforschung und Fahrradführerscheine für Kinder und dann das Konzept der Mobilitätsbiografien zur müssen wir vielleicht einigen Menschen Kenntnis genommen. Meine Alterskohorte auch beibringen, wie so ein Fahrkartenau- wurde geprägt durch die Nutzung des Auto- tomat funktioniert. Das lässt man sich von mobils. Wir sind sozusagen gefesselt. … Gleichaltrigen eher erklären als von jeman- dem, der die Augen rollt und sagt „Ey, du Zwischenrufe aus dem Publikum: „Sie kön- weißt nicht, wie man so einen Automaten (7) nen nichts dafür?!“ „Wer ist wir?“ „Welches bedient, oder was“? Das sind jetzt nur zwei Bamberg, Sebastian; Heller, Alter?“ Beispiele um die Forschungsergebnisse zu Joachim; Heipp, Gunnar; Nallinger, Sabine, 2008: Mobilitätsbiografien und Umbruchsereig- Multimodales Marketing für …Wenn wir nun daran denken den Modal- nissen systematisch in die Praxis umzuset- Münchner Neubürger. In: Internationales Verkehrswesen, Split zu verändern: Welche Chancen sehen zen. Die Stadt München macht das jetzt 60. Jg. (3), S. 73–76. Sie, diese Mobilitätsbiografien aufzubre- sukzessive und schafft viele Angebote für chen und durch anwendungsorientierte solche Umbruchsmomente, das klappt gut. (8) www.patenticket.de Forschung der Politik Empfehlungen zu ge- Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 159

Jens Schippl: Ich möchte das unterstreichen. 1990er Jahre. Und nun kommen die Um-

Alles, was wir nicht durch Technik schaffen, weltgesetze, die CO2-Einsparungsziele usw., und das ist einfach eine Substitution von die hauptsächlich mit technischen Möglich- alter und neuer Technik, muss mit einer keiten erreicht werden sollen und nicht mit Verhaltensänderung in irgendeiner Form Verhaltenslösungen. Dazu fehlt der Politik einhergehen, das ist ein ganz, ganz ent- der Mut. Wenn ich die Diskussion hier ver- scheidender Baustein für zukünftige Mobi- folgt habe, gibt es dann im ländlichen Raum litätspolitik. Die Forschung war in den letz- die Frage nach Gleichwertigkeit der Lebens- ten Jahren sehr stark auf der Angebotsseite bedingungen; soll der Staat da eingreifen? unterwegs. Vielleicht braucht es noch etwas Aber auf der anderen Seite die Weltmeister Zeit, bis Forschungserkenntnisse tatsächlich der Mobilität. Die Politik identifiziert zurzeit in Handlungsempfehlungen umgemünzt Wirtschaftswachstum immer noch mit Ver- werden können. Aber sinnvoll wird es sein, kehrswachstum. Das heißt, wenn Verkehr denn wir haben ja schon einige Anzeichen wächst, dann wächst auch die Wirtschaft dafür, dass sich das Mobilitätsverhalten und das ist gut. Das ist ein Paradigma, was und die Präferenzen von jungen Erwachse- man ändern müsste. Das heißt, man muss nen, zumindest vorrübergehend, zu ändern sich diese Gemengelage einmal anschauen scheinen. Wie weit das anhält, wissen wir und die Politik tut sich unglaublich schwer, nicht, aber es sind Entwicklungen, die hat die Dinge umzusetzen, die Sie hier zum Teil vor 10 –15 Jahren noch niemand kommen sinnvollerweise vorschlagen. sehen. Ich denke, da fehlen uns tatsächlich noch Langzeitstudien, die beantworten, wie Wie sieht Politikberatung aus? Im Minis- sich entsprechende Personengruppen wei- terium gibt es einen wissenschaftlichen terentwickeln. Nutzbare Potenziale um Ver- Beirat, der ständig Stellungnahmen abgibt. haltensänderungen zu stärken sind definitiv Ich denke, das Problem der Verkehrspolitik vorhanden. Das heißt ja nicht, dass man die ist einfach die Umklammerung von vie- Leute überreden oder zwingen muss, ein len, vielen Ansprüchen. Gerechtigkeit, Fi- anderes Verkehrsmittel zu nutzen. Es geht ja nanzierung, die eben nicht da ist, wo man auch darum, dass man die Angebote so ge- möglicherweise auch heilige Kühe schlach- staltet, dass sie auf die Bedürfnisprofile von ten muss, wo eben die Gleichwertigkeit der den entsprechenden Gruppen optimiert Lebensverhältnisse nicht mehr gesichert sind, das ist ja der erste Schritt. werden kann. Dass man auch die Automo- bilindustrie nicht mehr so fördern kann Publikumsmeldung 2: Was mir in der Dis- oder Elektromobilität. Das sind alles unge- kussion ein bisschen zu kurz kommt ist: löste Fragen. Verkehrspolitik ist zu einem großen Anteil Wirtschaftspolitik. Weswegen wird Elektro- Und dann müssen Sie sich noch einmal mobilität gefördert? Weswegen wird die Di- die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gitalisierung des Verkehrs vorangetrieben? ansehen, haben Sie da irgendwo gesehen, Es gibt andere Länder, wie die Niederlande dass umweltzerstörende Elemente zu ei- oder Österreich, die haben keine so ausge- nem Minus im Kapitalstrom führen? Nein! prägte Automobilindustrie wie Deutsch- land. Die können natürlich anders agieren. Thomas Klinger: Dann müsste die Rech- Der letzte große Aufschrei mit Blick auf die nung geändert werden! Verkehrspolitik war Mitte der 1960er Jahre, „Traffic in Towns“ von Professor Sir Colin D Fortsetzung Publikumsmeldung 2: Ja, die Buchanan. Unser Gemeindeverkehrsfinan- Rechnung müsste geändert werden. Das zierungsgesetz (GVFG) baut im Endeffekt ist natürlich eine ganz andere Spielwiese darauf auf. Was diskutieren wir zurzeit poli- der Ökonomie, die ganzen Nebeneffekte tisch? Die Entkopplung von Bund und Län- des Verkehrs. In unseren Städten werden dern. Das GVFG läuft 2019 aus. Das heißt, die NOx-Werte ständig überschritten. Wie wir überlassen es den Ländern, die Prioritä- sieht denn da die ökonomische Rechnung ten zu setzen. zu aus? Verkehrspolitik ist gefangen von solchen Dingen. Und was sagt man dem Auf der anderen Seite haben wir das Um- Verkehrsminister? Befreie dich daraus?! Der weltthema, den Gipfel in Rio Anfang der Verkehrsminister will in vier Jahren wieder- Diskussion: Mobilität und Verkehr im Spannungsfeld von Forschung, Wissenschaft, Politik 160 und Technik: Was können wir heute für morgen tun?

gewählt werden. Der muss also das Heute Jens Schippl: In den letzten Jahren wurde lösen, nicht das Übermorgen. zu Recht wieder die aktuelle Förderpolitik diskutiert. Im urbanen Bereich gibt es bei Publikumsmeldung 3: Wir haben heute den Städten einige, die immer wieder in viel über ländliche Räume und Verkehre EU-Projekten oder in Projekten auf nationa- in Großstädten gehört, aber dazwischen ler Ebene auftreten, z. B. sind Kopenhagen, gibt es ja eine ganze Reihe an Klein- und Münster, Freiburg und Graz in zig europäi- Mittelstädten in Deutschland. Hat die For- schen Projekten drin. Was in der Tat fehlt, ist schung da auch Hinweise zu? Was können zu verhindern, dass die ganzen Klein- und solche Klein- und Mittelstädte machen, um Mittelstädte durchs Förder-Raster fallen. Verkehr nachhaltiger und zukunftsfähiger In kleineren Verwaltungen sind oftmals gar zu gestalten? Oder anders: Wie können sie nicht die Kapazitäten vorhanden, um diese überhaupt was machen bei diesen ganzen ganzen Antragsverfahren mitzumachen. Da räumlichen Verflechtungen und den insti- müsste man sich tatsächlich etwas überle- tutionellen Grenzen? gen, wie man es durch gezielte Förderpoli- tik schafft, dass man nicht nur die großen Christian Muschwitz: Klein- und Mittel- Champions mit ins Boot holt, sondern auch städte sind ja üblicherweise landauf, land- die, die normalerweise durch das Raster ab in größere Zusammenhänge eingebun- fallen. Das ist auch im Moment in der Eu- den. Wir haben in der Uckermark, wo der ropäischen Kommission in der Diskussion. kombiBUS betrieben wird, auch eine ganze Die hat das Problem auch schon gesehen. Reihe von Klein- und Mittelstädten dabei Es gibt 806 Städte in Europa (alle mit mehr und man kann versuchen, diese in solche als 50 000 Ew. auf einer bestimmten Fläche) Kontexte miteinzubinden. Die können aber und es ist doch ein relativ kleiner Anteil, der durchaus auch versuchen, etwas Eigenes zu immer wieder von den Fördertöpfen profi- machen. Wir haben einmal für Saarburg, tiert. Die anderen fallen alle durch, obwohl eine kleine Stadt in Rheinland-Pfalz an der das doch eigentlich die sind, in denen sich Grenze zu Luxemburg, versucht, ein City- die großen Veränderungen abspielen müs- bussystem zu rechnen, auf ehrenamtlicher sen. Doch auch wenn man die Förderpolitik Basis als einen Mix aus Bürgerbus und Re- anpasst, wird es vermutlich lange dauern, gelverkehr. Da musste man dann sagen, es bis sich tatsächlich etwas verändert. wird jemand gebraucht, der das koordiniert und der hauptamtlich beschäftigt werden Publikumsmeldung 4: Ich bin ehrenamt- muss. Dann können sie auch gleich einen lich aktiv im kommunalen Mobilitätsma- Busfahrer einstellen und dann haben sie nagement und merke trotz meines wis- jemanden, der das verlässlich macht. Trotz- senschaftlichen Hintergrunds: Wir wissen dem ist eine ganze Reihe von Ansätzen viel über die Verhaltens- und Verkehrsfor- auch für Klein- und Mittelstädte vorhan- schung, und doch ist es unglaublich schwer den. Aber es kommt immer darauf an, in dieses Wissen umzusetzen. Verkehr sind Sie welchem Bereich wir uns befinden: Im Ab- und das bin ich und alle um uns herum. strombereich von Metropolregionen haben „Was bewegt uns“ – auch im übertragenen diese Städte andere Chancen als mitten in Sinne gedacht – in Zukunft? Warum bewe- Mecklenburg-Vorpommern oder in der Ei- gen wir uns so, wie wir es tun, obwohl wir fel. Mein Plädoyer ist allerdings: Wir dürfen wissen, dass wir so Manches anders tun keine dieser Kulissen aufgeben, warum soll- sollten? Es wurde gesagt, dass der Großteil ten wir auch? Wie gesagt, wir haben immer des Verkehrs Alltagswege sind, kurze Wege, noch 40 Einwohner/km², die Skandinavier das fehlt mir ein bisschen in all der Be- liegen bei zwölf oder fünf Einwohner/km². trachtung. Sie hatten erwähnt, dass wir in Ich kann die Hysterie, die in dieser Gleich- der Verkehrsforschung in der Vergangenheit wertigkeitsdebatte drinsteckt, nicht richtig immer sehr stark von der Angebotsplanung verstehen. Die kann ich nur dem bundes- ausgegangen sind, aber die Nachfrager deutschen Kontext geschuldet sehen, inter- müssen wir ja auch mitnehmen. Und das national macht das keinen Sinn, denn mehr passiert mir viel zu wenig und ich bin da als die Hälfte der Fläche der EU gehört zu auch relativ ratlos, auch in meiner prakti- den ländlichen Kategorien, hier leben mehr schen Arbeit. als 25 % der Bevölkerung. Informationen zur Raumentwicklung Heft 2.2015 161

Martin Randelhoff: Ich persönlich glaube sich doch nur mit irgendwelchen Bürgern an den Bottom-Up-Ansatz. Wenn wir im an, wenn man Straßen umgestaltet oder kommunalen Bereich mehr Verständnis den Busfahrplan verändert. Das will man und einen Bewusstseinswandel schaffen, auf der Ebene nicht, obwohl man kein Be- dann wird das auch in den höhergelager- rufspolitiker ist. Dieses Problem pflanzt ten Ebenen klappen. Die Bundesanstalt sich immer weiter nach oben fort. Und ich für Straßenwesen (BASt) und der Verband glaube, wir werden es nicht ohne großen Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) Knall schaffen. Ich glaube, wenn es nicht haben versucht, eine Art Ausbildungspro- wirklich weh tut, wird kein Mensch, weder gramm für Kommunen und kommuna- Politiker noch normaler Bürger, den Zwang le Vertreter zu entwickeln, für Städte mit und den Drang haben, da wirklich etwas zu 10 000 bis 50 000 Einwohnern. Wir hatten verändern. Ich glaube wir haben uns in ein wirklich Probleme, denn bei Kommunen System begeben, was sehr bequem für uns bis 30 000 Einwohner gibt es oft keinen alle ist, was sich ja so ein bisschen selbst er- Verantwortlichen mehr für Verkehr, da ist nährt. Es werden Forschungsgelder verteilt, keiner mehr da! Da wird dann ein Ingeni- hier wird noch ein bisschen eigene Politik eurbüro beauftragt und dann macht der und da noch ein bisschen Wirtschaftsför- Stadtrat die Vorlage selber oder ein Refe- derung gemacht, das spielt aber gar keine rent, der nicht im Verkehrsbereich ausge- Rolle! Denn ich denke, das System hat sich bildet ist. Wenn es in den Kommunen doch so gut im Gleichgewicht eingependelt, dass noch jemanden gibt, dann fehlen meistens es von außen einen Knall braucht, damit die Mittel um so etwas durchzuführen bzw. es in Bewegung kommt. Ich fürchte, wir die Kommunalpolitiker interessiert es nicht. werden diesen Moment in 20 bis 30 Jahren Verkehrspolitik ist auf kommunaler Ebe- tatsächlich erleben. Es wird mir jetzt schon ne ein Stiefkind, das ist uninteressant und wehtun, aber ich sehe wirklich noch keinen „unsexy“, das will keiner machen. Man legt zu großen Anpassungsdruck.