A. HASSENSTEIN / BONGARTS / BONGARTS A. HASSENSTEIN Skiflieger auf dem Absprungbalken in Harrachov: „Nur froh, wenn alle wieder heil unten sind“

Das liegt daran, dass Skifliegen die ver- SKIFLIEGEN schärfte Version von Skispringen ist; die Athleten sind doppelt so lange in der Luft, und Bodenkontakt haben sie erst wieder Mit schlotternden Knien nach 200 statt nach 130 Metern. Beim Ski- fliegen ist die Schanze höher, die Anlauf- Bei der verschärften Version des Skispringens leiden spur länger, der Luftwiderstand größer und die Aerodynamik wichtiger. Es ist unge- die Athleten unter Angst und Dauerstress. Dennoch werden fähr so, als wechsele man vom Tretboot in immer spektakulärere Schanzen geplant. eine Rennyacht. Die Springer stoßen beim Skifliegen an heoretisch ist die Sache ziemlich ein- mit einem Papierfähnchen wedelt, hüpft die Grenzen des menschlich Machbaren. fach. Der Skispringer marschiert auf Schmitt mit gequälter Miene in die Spur. Als Trainer, sagt Betreuer Rudi Tusch vom Tdie Flugschanze und setzt sich auf So kennt man ihn nicht. Eigentlich hat Deutschen Skiverband, sei man „nur froh, ein gepolstertes Brett. Irgendwann stößt er er Nerven wie Stahlseile. Er ist Deutsch- wenn alle wieder heil unten sind“. sich in die Anlaufspur, gleitet abwärts, und lands bester Skispringer, hat 25 Weltcup- Kein Wunder, denn die Männer katapul- wenn er den Schanzentisch erreicht hat, Siege errungen und wurde vergangenen tieren sich etwa in Harrachov bei Tempo 105 schnellt er in die Luft wie ein Pfeil. Dann Montag zum zweiten Mal Weltmeister. in die Luft und landen sieben Sekunden segelt er ins Tal, und das Publikum ruft: Aber dreimal im Winter leiden sein Selbst- später mit 130 Stundenkilometern, Auto- „Ziiieh!“ bewusstsein und die Fähigkeit, seine Ge- bahnrichtgeschwindigkeit. Sie überwinden Praktisch ist der Vorgang etwas kompli- fühle zu kontrollieren – beim Skifliegen auf zwei dünnen Latten 160 Höhenmeter zierter. steht auf der mäch- schlottern dem Schanzenkönig regelmäßig und kämpfen in der Luft gegen den Reflex, tigen Schanze im tschechischen Harrachov die Knie. sich zusammenzurollen wie ein Embryo. und sieht aus, als habe er sich verirrt. Der Für den Kopf heißt das Charmeur, der selbst bittere Niederlagen Dauerstress. Skiflieger ste- gnadenlos wegzulächeln vermag, ist schmal hen psychisch so unter und blass und schaut sorgenvoll in die Tie- Druck wie Formel-1-Piloten, fe. Unten, fast einen halben Kilometer weit die über einen Hochge- weg, steht klein wie ein Würfel das Studio schwindigkeitskurs rasen. von RTL. Schmitt fühlt sich „muttersee- Das Unterbewusstsein, so lenallein, wie im Weltall“. Die Gesichts- haben Forscher der Univer- muskeln zucken, der Puls rast. Martin sität Innsbruck festgestellt, Schmitt hat Angst. kann die Flut optischer Rei- Als er sich auf den Absprungbalken ze kaum noch verarbeiten, hockt, wirkt es, als müsse er seinen Kopf das Nervensystem wird über- aufs Schafott legen. Er tastet die Bindung strapaziert. Und die Springer an seinen Skiern ab und zerrt am Helm. geraten teilweise in einen ka- Immer wieder zupft Schmitt an der Brille. tabolen Zustand, in dem sie Er atmet schwer. Sein Blick klebt jetzt an

Wolfgang Steiert; der Trainer steht auf ei- DPA * Am 19. Februar mit Adam Malysz bei ner Tribüne an der Schanzenkante. Als er Skisprung-Weltmeister Schmitt (r.)*: „Wie im Weltall“ der Siegerehrung im finnischen Lahti.

der spiegel 9/2001 157 Sport sich nicht mehr regenerieren Löffler, Startnummer 36, mit können. „Ich mache am Tag drei dem Sessellift zum Schanzen- Sprünge“, sagt Martin Schmitt, turm. „und abends falle ich völlig ka- Weil Skiflieger vor Aufregung putt ins Bett.“ unter verstärktem Harndrang Am kommenden Wochenen- leiden, so genannter Angst-Diu- de wird es wieder so sein. Dann rese, stinkt es dort oben in eini- trifft sich die Elite zum zweiten gen Ecken wie auf einem Bahn- von drei Weltcup-Skifliegen hofsklo. Fünf Springer ha- der Saison auf der 202 Meter ho- ben sich in einem kleinen Raum, hen Heini-Klopfer-Schanze in der mit Teppich ausgelegt ist, . zusammengerottet und warten Das Martyrium beginnt be- auf ihren Einsatz. Jeder hat sei- reits zwei Tage früher. Denn ne Art, mit der Nervosität um- schon 48 Stunden vor dem zugehen. Wettkampf gerät der Hormon- Der Österreicher Martin Höll-

haushalt der Sportler in einen / BONGARTS A. HASSENSTEIN warth bekreuzigt sich. Der Slo- Ausnahmezustand. Die Neben- Athlet Löffler (r.) mit Kollegen im Warteraum: „Schmaler Grat“ wene Jure Radelj, der immer nieren produzieren so viel Ad- erst den linken und dann den renalin, dass die Normwert-Obergrenze bis wie sie in perfekter Körperhaltung fliegen rechten Schuh anzieht, spuckt andauernd um das Vierfache überschritten wird – wie und im Telemark-Stil landen. „Solche auf den Boden. Und Löffler, der immer bei Menschen in Todesangst. Weil das auf Selbstbefehle und formelhaften Vorgaben möglichst spät den Turm erklimmt, guckt Dauer zu einer Störung der koordinativen lindern die Erwartungsangst“, sagt Frester. wortlos aus dem Fenster. Fähigkeiten führen kann, bewegen sich die „Es ist Verdrängung ohne Ende“, sagt Es gibt Springer, die rauchen, um Druck Schanzenpiloten „auf einem relativ schma- Frank Löffler vom SC Oberstdorf. abzubauen, andere klemmen sich zur Be- len Grat zwischen Erfolg und Misserfolg“, Eine Stunde vor seinem ersten Sprung ruhigung Tabak unter die Lippe. Und es sagt Ludwig Geiger, Leitender Arzt am in Harrachov beginnt Löffler mit dem zwei- gibt welche, die einfach wieder vom Turm Olympiastützpunkt Berchtesgaden. ten Teil der Flugvorbereitung. Er steht hinunterklettern. Der frühere Skisprung- Die Angst der Springer ist kein Zeichen Wolfgang Steiert gegenüber, geht in die Weltmeister Dieter Thoma hat das so ge- von Feigheit, sondern ein Schutzmecha- Hocke und springt dem Trainer mit einem macht, Jens Weißflog ebenfalls. nismus. Zwar wachsen Skispringer in ihre mächtigen Satz über den Kopf in die hoch- Weißflog stürzte 1983 in Harrachov. Eine Aufgabe hinein, erst mit kleinen Sprün- gestreckten Arme. Löffler liegt in der Windböe erwischte ihn in der Luft und gen, dann mit mittleren, immer weiter, und Horizontalen, steif wie eine Eisenstange. drückte sein rechtes Bein nach unten. Er irgendwann bilden sich Synapsen im Ge- Steiert ist zufrieden: „Sehr gut. So ist es prallte kopfüber auf und musste mit schwe- hirn, die automatisierte Handlungsabläufe richtig.“ ren Hüft- und Nierenprellungen ins Kran- ermöglichen. Doch Skifliegen, für Bundes- Der Absprung ist der wichtigste Teil des kenhaus eingeliefert werden. Danach geriet trainer Reinhard Heß „das Nonplusultra Wettkampfs. Daher dürfe er den Springer Weißflog förmlich in Panik, wenn er auf unseres Sports“, ist kaum zu trainieren. während so einer Imitationsübung auf kei- eine große Schanze steigen musste. Um Es gibt auf der Welt nur sechs dieser nen Fall verunsichern, sagt Steiert. „Sonst das Trauma zu überwinden, ging er in die Mammutschanzen, und sie werden wegen haut es ihn später auf die Waffel, und ich Berge zum Klettern. „Der Blick von einem der hohen Kosten nur selten präpariert. bin schuld.“ Kurze Zeit später fährt Frank Felsgrat in die Tiefe brachte mir den Mut Luftwirbel, wie sie auf dem Bakken in zurück“, sagt Weißflog. oder am Kulm in Österreich wir- Höher, schneller, weiter Wenn Springer vom Himmel fallen, blei- ken, sind daher für die Springer quasi un- Oberstdorfer Schanzen im Vergleich ben Narben zurück. Und zwar im Kopf. bekannt. aus Hinterzarten erlebte Aber beim Skifliegen kann schon der Heini-Klopfer-Schanze gleich beim ersten Skiflug seiner Karrie- kleinste Fehler verheerende Folgen haben. Gesamthöhe: 202 m re eine Bruchlandung. Auch Jahre da- Im Februar vergangenen Jahres wuchtete Turmhöhe: 72 m nach verspürt er, obwohl amtierender Ski- sich der Russe Artur Chamidullin in Vi- Anlauflänge: 113 m flug-Weltmeister, vor einem Wettbewerb kersund einen Wimpernschlag zu früh vom Absprungtempo: ca. 101 km/h „Schmetterlinge im Bauch“. Schanzenrekord: 209 m Schanzentisch. Er lag zu steil in der Luft, (1998, Dieter Thoma, Dabei versucht Bundestrainer Heß seine musste korrigieren, verlor die Spannung Deutschland) Schützlinge auf die Extremsituation Ski- im Ski. Wie eine Puppe fiel er zu Boden, fliegen vorzubereiten. Er trainiert mit ih- schlug mit dem Kopf auf und rutschte be- Skiflug nen Konzentrationsfähigkeit und Koordi- wusstlos den Hang hinunter. nation in ermüdetem Zustand. Dazu müs- Das Geheimnis eines guten Flugs liegt sen Hannawald und Schmitt schon mal jenseits des technischen Erklärungsvermö- nach einem kräftezehrenden Fußballspiel gens. Entscheidend ist, dass sich der Sprin- ein paar Runden im Kart-Auto drehen. ger sicher fühlt. „Positives Denken ist über- Die Athleten lernen so „neue Gren- lebenswichtig“, sagt der Sportpsychologe Skisprung zen“ kennen, sagt Heß. Rolf Frester, der zehn Jahre lang Olympia- Ob sie auch nur annähernd sieger Jens Weißflog betreute. Denn bei Schattenberg-Schanze simulieren können, was Stress, erklärt er, würden die Athleten als Gesamthöhe: 137 m sie beim Sprung erstes ihr Bewegungsgefühl einbüßen. Turmhöhe: 43 m Deshalb fangen sie zwei bis drei Stunden Anlauflänge: 93 m vor dem ersten Durchgang an, sich selbst Absprungtempo: ca. 91 km/h Mut zu machen, indem sie den bevorste- Schanzenrekord: 133 m henden Sprung vor dem inneren Auge ab- (2000, Martin Schmitt, laufen lassen. Die Sportler stellen sich vor, Deutschland) Schanzentisch

160 der spiegel 9/2001 von einer Monsterschanze erwartet, scheint fraglich. „Es ist ein abartiges Ge- fühl, wenn es bei einem Flug vor dir immer flacher wird“, sagt Dieter Thoma. „Bei der Landung denkst du, es treibt dir die Knie- scheibe aus der Hose, und nachher schwitzt du und zitterst am ganzen Körper. Es ist gigantisch.“ Erfunden wurde das Skifliegen im slo- wenischen Planica. Im Herbst 1933 bauten der Eisläufer Stanko Bloudek und der In- genieur Iván-Jáne¢ Ro¢mán dort eine ge- waltige Sprungschanze. Bei der Eröffnung drückte der Norweger Birger Ruud erst bei 92 Metern die Bretter in den Schnee. Im März 1936 übersprang Sepp Bradl aus Bi- schofshofen als erster Mensch die 100-Me- ter-Marke. „Das war kein Skispringen mehr“, entfuhr es Bloudek damals, „das war Skifliegen.“ Inzwischen liegt der Welt- rekord, aufgestellt vom Österreicher An- dreas Goldberger, bei 225 Metern. „Dieser Sport hat eine absolute Grenz- belastung erreicht“, sagt der deutsche Teamarzt Ernst Jakob. „Schon bei einem Probesprung muss der Athlet 100 Prozent geben. Er kann nicht wie ein Hochspringer die Latte mal tiefer legen.“ A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN Skiflieger in Harrachov „Es ist gigantisch“

Pläne für neue, gewaltigere Schanzen gibt es trotzdem. Im finnischen Kuopio beispielsweise wollen die Bauherren den Turm in ein Hotel integrieren, und die Anlaufspur soll mitten durch ein Restau- rant führen. Die Zuschauer mögen das in- novativ finden oder auch spektakulär – für die Springer muss es eine Beleidigung sein. Skifliegen sei, „als wenn du aus dem zehnten Stock springst und froh bist, dass du überlebt hast“, sagt Martin Höllwarth. Nach einem Skifliegen, bekennt Sven Hannawald, sei er so erschöpft, da wolle er „nichts mehr sehen, nicht mehr sprechen“. „Die Interessenten an noch größeren Schanzen sollten sich mal auf den Ab- sprungbalken setzen“, sagt Martin Schmitt. Sie sollten „nach unten schauen und über- legen, wem sie das zumuten wollen“. Aber solche Einwände will keiner hören. Am Holmenkollen bei Oslo stehen schon die Bagger bereit. Dort soll eine Flug- schanze gebaut werden, die Sprünge bis zu 250 Meter ermöglicht. Maik Großekathöfer der spiegel 9/2001 161