Nachrufe & Lobreden

Kurt Hübner

Inhalt

Seite Moritz Rinke Die Welt geht unter – ………………………………………………………. 1 Ulrich Seidler Was wären Zadek und Stein ohne ihn? – Berliner Zeitung ………. 5 Günther Rühle Ein Theatermann – Neue Zürcher Zeitung …………………………………. 7 Peter von Becker Der Herausforderer – Der Tagesspiegel ……………………………………….. 9 Esther Slevogt Der Schmied der Talente – taz.die tageszeitung …………………………. 12 Günther Rühle Der Theatertäter -Tagesspiegel 14 Hildegard Wenner Kurt Hübner – Theaterleiter und Talentsucher – DLF ………………… 18 Johannes Bruggaier „Langweilig – bis Kurt Hübner kam!“ - MK – kreiszeitung.de …… 21 Dietmar N. Schmidt Laudatio auf Kurt Hübner - Peter-Weiss-Preis 2002 ………………… 26 Kurt Hübner Forderung für alle Zeit ……………………………………………………………………. 35

Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner

Bühne

Die Welt geht unter

Zum Tod von Kurt Hübner, der für das deutsche Theater mehr bewirkt hat als jeder andere.

Von Moritz Rinke

30. August 2007 - Quelle: DIE ZEIT, 30.08.2007 Nr. 36

Als ich ihn 1984 kennenlernte, war ich 17. Ich ging ins Wintermärchen der Bremer Shakespeare Company, wo die Mutter meiner ersten Freundin als Sekretärin arbeitete. Im Foyer stand ein Mann mit übergeworfenem blauem Pullover, einem riesigen Hemdkragen, die Brille ziemlich weit vorne auf der Nase, die ihn berühmt machte. Die Mutter der Freundin flüsterte: "Das ist er, Hübner, der Hübner!"

Von diesem Hübner hatte ich schon mindestens zehn Jahre in meinem Elternhaus gehört. Meine Mutter ließ keine Aufführung aus der Hübner-Zeit in Bremen aus, und ein Freund meiner Eltern, Hans Kresnik, hatte mehrmals bei uns auf diesen Hübner angestoßen, ohne den er, wie er sagte, wahrscheinlich noch heute in Köln Gemüsekisten schleppen würde.

Ich schlich mich an diesen Mann heran und sagte: "Wenn Sie wirklich der Hübner sind, dann möchte ich Ihnen sagen, dass auch ich irgendwann einmal zum Theater will. Guten Abend." Er senkte seinen Kopf, sodass er nun ganz über die Ränder der Brille sah mit so leuchtenden und prüfenden Augen, als müsste jeden Moment das Klacken eines Röntgengerätes einsetzen. Dann sagte er: "Bur, ich rate ab."

Der große Hübner riet vom Theater ab. In der folgenden Viertelstunde hörte ich zum ersten Mal eine Hübner-Rede. Eine Rede über die ungeheure Idiotie des Theaters und das um sich greifenden "Tralala" und "Firlefanz". Je komplizierter und wahnwitziger die Welt werde, so Hübner, umso idiotischer und schwachsinniger werde das Theater in seinem Tralala und Firlefanz, während die Wahrhaftigkeit, die Sachkenntnis und Könnerschaft immer mehr herabsänken, sodass bald alles absolut verkommen sei, das Theater, das Kino, das Fernsehen sowieso, die Zeitungen auch, das Feuilleton, lauter Frechheiten und Dummheiten, man könnte auch sagen Tralala, außerdem werde die Welt sowieso untergehen, das prophezeie er, denn alle Auspizien deuteten darauf hin, dass der Untergang so einer Welt bevorstehe. Hübner endete, ging ins Wintermärchen, und ich entschied, vielleicht doch nicht zum Theater zu gehen.

Fünf Jahre später, 1989, bewarb ich mich für die Regieklasse von Jürgen Flimm an der Hamburger Hochschule für Darstellende Kunst. Das Prüfungsthema war Peter Steins Bremer Torquato Tasso von 1969, da war ich schon zwei, hatte aber

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Steins Inszenierung trotzdem nicht gesehen, sondern musste auf ein Video zurückgreifen. , der über diese berühmte Aufführung mit , und Edith Clever geschrieben hatte, sprach von einer Inszenierung, die den Text auf die Herrschaftsform seiner Entstehungszeit prüfte und sie dann auf 1969 übertrug; die Theatermacher, so sah es wohl Stein, waren selbst Angestellte einer auf Kunstbefriedigung ausgerichteten Gesellschaft, die das Theater nur als Dekor ihrer Wohlstandsfassade betrachtete. Man sprach von "Emotionalclowns" auf der Bühne und hörte von Krächen zwischen Hübner, dem Theaterdirektor, und seinen jungen Angestellten, denn Stein zog danach aus Bremen weg und gründete die Schaubühne in .

Ich rief Hübner in München an, wohin er nach seiner Intendanz an der Freien Volksbühne Berlin gezogen war, um dort, mittlerweile Ehrenprofessor, Falkenberg-Schüler zu unterrichten. Hübner war erst unwirsch, was man denn zum Tasso und zum Theater überhaupt noch sagen solle, spürte aber meine Hartnäckigkeit (darin war er wohl sehr deutsch, er liebte das Insistieren), und dann fing er wieder an: Es war die zweite große Hübner-Rede, diesmal 90 Minuten, Ferngespräch, und damals gab es noch keine Anbieter wie Otelo.

Hübner sprach über , diesen wunderbaren Demagogen mit seinen Mitbestimmungsreden, die ihn, Hübner, zur Weißglut brachten, weil er ja den Fortbestand des Theaters sichern musste. Er habe Stein in München aus einem Vietnamkriegs-Disput mit den Kammerspielen losgeeist, und das war dann der Dank. Er sprach über Zadek, der einen Skandal nach dem anderen fabrizierte, die er, Hübner, alle ausbaden musste: Onanie-Szenen in Frühlings Erwachen von Wedekind, ein brennendes Theater in Ulm, wo Hübner zuerst Intendant war, sogar Morddrohungen von Pastoren! Er berichtete über den "Bremer Stil", einen Begriff, den die Zeitschrift Theater heute geprägt hatte, um das Hübner-Theater von Stein, Zadek, Grüber, Minks, Kresnik, Palitzsch, Herrmann, Wonder, Rose, , Ganz, Lampe, Clever, Rehm, Hoger, Buhre, Carstensen und so weiter zu beschreiben, das Hübner aber als einzige Stillosigkeit empfand, weil da ja jeder in eine andere Richtung rannte und Zadek sogar in 17 verschiedene gleichzeitig. Dann sprach er noch von Günther Rühle, der ihn einen "Menschensammler" nannte und seine Nase rühmte. Von Neuenfels, den er für die Volksbühne gewann, über Minetti, Heinz Hilpert, Heinrich Koch, Lothar Müthel, Jeßner, Noelte, Shakespeare, Kleist, den Zweiten Weltkrieg, Bismarck, Michelangelo, Vivaldi, Platon – und am Ende prophezeite er mir, dass im Übrigen die Welt untergehe, alle Auspizien stünden auf Untergang, es sei ganz egal, ob ich meine Prüfung bei Flimm bestehe oder nicht bestehe. Dann legte er auf.

In der Prüfung schrieb ich, dass Steins zugegebenermaßen interessante Aufführung die gesellschaftliche Relevanz von Theater infrage stellte, aber Hübner müsse man auch verstehen, er konnte dieses ewige Diskutieren nicht dulden, außerdem hatte Hübner ihn ja auch aus dem Vietnamkriegs-Disput in München gerettet, und das war jetzt wohl der Dank. Dann schrieb ich noch über Zadek, Käthe Dorsch, Bismarck, Platon und dass ich als Erstes dieses berühmte Stück von Karl Kraus inszenieren möchte, weil die Welt eventuell bald untergeht. Ich fiel durch.

Ein paar Jahre später wurde Kurt Hübner mit dem Fritz-Kortner-Preis ausgezeichnet, den Theater heute vergibt. Die Redaktion bat mich, Hübner zu interviewen, und ich interviewte ihn in Montefino, seinem Sommersitz in den

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Abruzzen, genau vor dem Berg, auf dem man Mussolini festgesetzt hatte. Dort im Garten, auf einem Komposthaufen, hörte ich die dritte Hübner-Rede, sie dauerte ungefähr 48 Stunden und begann mit dem Satz "Was soll ich noch sagen?" und endete mit jener Prophezeiung und dem Satz "Bur, ich rate ab!".

Das Gespräch hörte sich später auf Tonband an wie der Monolog einer Figur von Thomas Bernhard. Ein grandioser, böser, auch manischer, sich wiederholender, aber rhythmischer Monolog über die ganze Welt. Nur, und das unterschied Hübner von einer Bernhard-Figur: neugieriger! Neugieriger auf das Neue, das von ihm noch nicht Durchdrungene. Bernhards grandiose Herren haben mit der Welt abgeschlossen, haben sich im Ekel abgewendet von ihr, eine Rolle, die Hübner auch immer wieder gerne spielte, aber in Wahrheit war er über die Bernhard-Welt hinausgegangen, weil ihn seine Neugierde immer wieder nach vorne trieb.

Einmal auf einem Geburtstag, es war der 84., da fiel in der Runde das Wort "Oxymoron", und keiner wusste die genaue Übersetzung. Es war typisch für Hübner, dass er plötzlich aufstand, den Duden holte und vorlas: "Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe, z. B. 'bittersüß' oder 'Eile mit Weile'". An diesem Abend dachte ich, dass Hübner wohl am besten mit einem solchen Oxymoron zu beschreiben wäre, im Sinne von wissend- unwissend, fertig mit sich und der Welt, aber ebenso neugierig: laut und bernhardisch in seinem Urteil über das Vergangene, jedoch so wach und hörend für das Neue. Laut-leise. Schroff-sanft. Polternd-zärtlich, alt-jung.

Alt-jung, das war er. Kurt Hübner, geboren 1916 in , reiste noch bis vor einiger Zeit durch die Lande, um Regietalente aufzuspüren und sie mit einem Bensheimer Förderpreis auszuzeichnen. Als der von Hübner entdeckte 70 Jahre alt und ein Fest in Berlin gegeben wurde, sagte Hübner mit der Begründung ab, er müsse nach Bad Schwanstein reisen, um sich dort eine Studioproduktion von jungen Leuten anzugucken, Zadek sei ja schon entdeckt.

Am 30. Oktober saßen wir, Hübner, sein Lebensgefährte Hans-Jürgen Punte, seine Tochter und ein paar Freunde zum letzten Mal zusammen und feierten Hübners 90. Geburtstag. Ich kam etwas zu spät, und als ich die Münchner Wohnung am Harras betrat, fluchte Hübner gerade über das idiotische Theater. Hübner war nun neunzig, aber seine große alte Liebe schien noch nicht abgeschlossen zu sein. Und wenn ich heute auf zwanzig Jahre zurückblicke, in denen ich Hübner erlebte, dann war diese Liebe niemals abgeschlossen, weil Hübner das Theater von Jahr zu Jahr für noch idiotischer hielt.

Nun ist dieser so besondere Mann, dem das deutsche Theater fast alles zu verdanken hat, am 21. August in München gestorben. Und ich hoffte insgeheim und war überzeugt, dass er den Weltuntergang noch miterleben würde.

Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er so schön in seinem ewig blauen Pullover und dem weißen Haar. Es war einen Tag nach seinem Geburtstag, und er begleitete mich, wie er das immer machte, zum Fahrstuhl. "Bis bald", sagte ich. "Ja, ja, ja, nun weg mit dir, und ruf mal an, wenn du in Berlin angekommen bist", die klaren Augen leuchteten wieder und strahlten so vertraut und prüfend über den Rand der Brille in den Fahrstuhl hinein.

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Der Dramatiker Moritz Rinke , 40, hat bei Rowohlt soeben das Theaterstück Die letzten Tage von Burgund veröffentlicht. Im Herbst kommt die Verfilmung seines Schauspiels Republik Vineta ins Kino

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Was wären Zadek und Stein ohne ihn?

Der Theaterintendant Kurt Hübner ist 90-jährig verstorben

Von Ulrich Seidler - 24.08.2007

Vor 20 Jahren hat er sein Amt als Theaterintendant niedergelegt. Seine größte Zeit - es war wohl auch die größte Zeit des westdeutschen Theaters überhaupt - liegt nun schon 40 Jahre zurück. Am Dienstag ist der Theaterermöglicher Kurt Hübner 90-jährig gestorben.

In den 60er-Jahren leitete er das Theater in Bremen. Da keimten in derselben Saatschale solche Regiemammutbäume wie Peter Zadek, Peter Stein, Klaus Michael Grüber und Rainer Werner Fassbinder; es spielten die späteren Stars Bruno Ganz, Vadim Glowna, Jutta Lampe, Edith Clever, Traugott Buhre oder Hannelore Hoger. Die Theaterkritik reiste an und verbreitete - weil sie so schnell keine Begriffe für diese neue Art Theater fand - raunend das Diktum vom "Bremer Stil".Kurt Hübner selbst hat es später treffender die "Bremer Stillosigkeit" genannt. Denn das entscheidende dieser Theaterzeit war ihr experimentierfreudig-revolutionärer Ansatz.

Und Revolution hat nun einmal weniger mit Stil zu tun als mit dessen Abschaffung. Dazu kam, dass Zadek, Stein, Fassbinder und Grüber, aber auch der Bühnenbildner Wilfried Minks und Jürgen Rose Künstlerpersönlichkeiten waren, die - kaum entdeckt - schon auf der Suche nach der eigenen Ausdruckskraft waren und dabei sehr unterschiedliche Wege gingen. Manche brauchten ziemlich bald ein eigenes Theater, um sich verwirklichen - Peter Stein bekam 1970 die Schaubühne in Berlin, Peter Zadek ging zwei Jahre später nach Bochum.

Auch Kurt Hübner führte Regie, aber dafür allein würde er vielleicht nicht in die Theatergeschichte eingehen. Bruno Ganz war Anfang 20, als Hübner ihn auf Empfehlung von Zadek vom Krankenbett aus nach Bremen engagierte und kurz danach als besetzte. Ganz schreibt in dem Erinnerungsbuch "Kurt Hübner. Von der Leidenschaft eines Theatermenschen", das der vor wenigen Tagen ebenfalls gestorbene Kulturmanager und Theaterexperte Dietmar N. Schmidt zum 90. Geburtstag von Hübner herausbrachte: "Ich war noch nicht sehr weit, es war gerade, als das Fleisch anfing zu schmelzen." Das "allzu feste Fleisch", wie es bei Hamlet heißt.

Ganz beschreibt Hübners Inszenierungsmethode, die nicht unbedingt geeignet scheint, einen jungen Schauspieler für seine Figur und eine Bühnensituation zu öffnen: Hübner soll während der Vorstellung im ersten Rang hinter Glas mit zwei Lichtern hantiert haben. "Ein grünes, das heißt: Ja, mach mal weiter, und ein rotes, das bedeutet: Das ist ziemlich katastrophal."Bruno Ganz' Hamlet fand Hübner wohl zumindest zwischendurch rotlichtwürdig, wie ein Brief an den Schauspieler verrät: "Lieber Ganz, Ihr Hamlet vom Montag hat mit Shakespeares Hamlet nicht das Geringste zu tun. Auf der Bühne zeigte sich ein leerer, strohdreschender, engagementloser, humorloser, sentimentaler Hohlkopf." So

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner schlimm kann es dann aber doch nicht gewesen sein, denn ein Jahr später setzte Hübner Ganz schon der nächsten Herausforderung aus und ließ ihn Macbeth spielen.

Gut zehn Jahre blieb Hübner in Bremen, und er nutzte die Zeit, um die Bürger, aber vor allem die um ihre Bürger besorgte Politik, namentlich den Kulturbeauftragten Moritz Thape, zu beunruhigen. Es grenzte an ein kleines Wunder, dass Kurt Hübners bis 1970 laufender Vertrag um drei Jahre verlängert wurde. Doch offenbar wussten die Stadtväter nicht, was für einen Glücksgriff sie mit dem Ensemblevater getan hatten. Das Klima kühlte sich weiter ab, so sehr, dass auch das Publikum Hübner nicht zu einer weiteren Vertragsverlängerung veranlassen konnte.

Auch über 7 000 Unterschriften hielten ihn nicht in Bremen; mit der Spielzeit 1973/1974 ging er als Intendant an die Freie Volksbühne in Berlin. Was kein sehr glücklicher Schritt war. Der Etat in Berlin reichte für einen Repertoirebetrieb der Freien Volksbühne nicht aus. Gerade in der Ensemblearbeit aber bestand die Qualität von Hübner, der Talente nicht nur entdeckte, sondern, wie Zadek einmal sagte, "erfand". Für die Förderung von Talenten aber ist in einem Gastspielbetrieb kein Raum.

Der Ensemblevater, der mit manchmal wohl auch streitlustiger Autorität für die Familie sorgte, war zum Theaterveranstalter geworden. Hübner vermochte jedoch einige seiner Bremer Leute für Gastinszenierungen nach Berlin zu holen, und es gelangen ihm noch so einige Paukenschläge wie Grübers Faust- Inszenierung mit Bernhard Minetti oder die von Thomas Schulte-Michels inszenierte Auschwitz-Revue nach Peter Weiss' "Die Ermittlung".1986, mit knapp 70 Jahren, verabschiedete sich der Intendant Kurt Hübner vom Theater, er arbeitete von nun an frei als Regisseur und trat ab und zu als Schauspieler auf. Für seinen Nachfolger, den jungen Regisseur Hans Neuenfels, hatte der Senat dann doch das für den Ensemblebetrieb nötige Geld, aber auch das ist ja schon eine Weile wieder Geschichte.

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Zum Tod von Kurt Hübner

Ein Theatermann

Von Günther Rühle – 24.8.2007

Theaterleiter gelten als Arbeiter im Weinberg der Künste. Sie haben aber ein Amt voller Plagen. Nur wenige kommen zu nachwirkendem Ruhm. Kurt Hübner war einer von ihnen. Er war ein Mannsbild. Keins von der zarten Sorte, sondern eher: ein brennender Mensch. Ein Woller mit unzerstörbarem Enthusiasmus, schnell erregbar im Gespräch, neugierig auf das, was im Kopf anderer sich bewegte, kritisch und empfindsam bei künstlerischen Gegenständen. Gern sprach er ein deutliches Wort. Seine Stimme war mächtig, seine Erfahrung gross, sein Mut beträchtlich, seine Lebenskraft anscheinend unausschöpfbar; im Streit fühlte er sich wohl. Mit achtzig gehörte er noch immer zu den motorischen Kräften im Theater.

Nachkriegsjahre

Das deutsche Theater nach dem Krieg wäre anders geworden ohne ihn; ohne seine Leidenschaften, seine Fähigkeiten, Menschen um sich zu sammeln, ihre Talente zu erspüren, sie ein- und auch durchzusetzen, Kräfte zu bündeln und den sich erneuernden Phantasien in der Kunst eine Bühne zu geben. Die Spur von Kurt Hübners Arbeit ist unverloren. – Was im Theater möglich ist: Er wurde alles in einem. Er kam zurück aus dem Krieg; aus den Stuben des Rundfunks drängte er auf die Bühne (in Berlin hatten ihn noch Akteure wie Werner Krauss und Käthe Dorsch zum Spielen entzündet). Er ging ans Hamburger Schauspielhaus, wurde Regieassistent, avancierte in Hannover zum Regisseur, zum Chefdramaturgen dort und dann in Stuttgart und wurde schliesslich Intendant. So hat er den ganzen Kursus durchschmarutzt, wie die anderen Grossen in diesem Jahrhundert, wie Reinhardt, wie Jessner, wie Gründgens, wie Hilpert.

Die Rolle des Intendanten wurde auch ihm zur Rolle seines Lebens. Schliesslich war er Professor obendrein: Was er wusste von den Geheimnissen und Tücken, den Mühen und Glückseligkeiten des Theaters, gab er weiter an Jüngere. Tatort München: Falckenbergschule.

Was ist die Leistung seines Lebens? Nicht die Summe der Rollen, die er spielte. Auch nicht die Summe seiner Inszenierungen, obwohl einige höchster Beachtung wert waren. Etwa: sein «Hamlet» in Bremen. Eine Inszenierung auf kahlem, hohem Podest, nüchtern, aber intensiv, ein erster Spielplatz für noch unbekannte Leute: für Bruno Ganz, Peter Hallwachs und andere. Oder: «Macbeth», ein dunkel-buntes Szenario; oder: «Peer Gynt» mit Michael König, eine Grundlegung für Peter Steins spätere grosse Arbeit in Berlin. Der Regisseur in Kurt Hübner wurde da getragen von dem, was er selbst schon entzündet hatte. Zuerst als Intendant in Ulm, wo er jene jungen Leute um sich sammelte, die später grosse Namen trugen: Peter Zadek, den Regisseur, der mit Behans «Geisel»

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Furore machte; den Bühnenbildner Wilfried Minks, der die zeitgenössische bildende Kunst in seine Raumphantasie aufnahm und den Stil der Hübnerschen Bühnen prägte; , der Brechts Erbe aus der frisch vermauerten DDR trug; dazu die jungen Schauspieler, die er mitnahm, als der Ruf nach Bremen kam.

Der Bremer Stil

Bremen war Hübners hohe Zeit. Der Bremer Stil wurde ein Begriff: neues Sehen der Stücke, freches, unverstelltes Spielen aus jugendlichen Impulsen, nichts mehr von illusionierendem Theater; die These war: Theater ist Kunstwelt, die Realität des Theaters ist das Theater. Das Programm, von Zadek reizbar instrumentiert, zog die kommenden Kräfte an: den aus München vertriebenen jungen Peter Stein, der unter Hübners Patronage «Kabale und Liebe» und den dann epochemachenden «Tasso» inszenierte. Zugleich erschienen hier: Klaus Michael Grüber, später Rainer Werner Fassbinder. Hübners Haus wurde ein Haus der Talente, der Grundlegungen. Es hielt sich fern vom politischen, vom Thesentheater; aber das Theater in Bremen wirkte in seinem verstörenden Kunstanspruch politisch, weil es die Phantasie für Theater, für die Instrumentation neuer Bilder entzündete, verklebte Wände öffnete. Hier wuchsen die kommenden Schauspieler auf: mit Bruno Ganz auch Edith Clever, Jutta Lampe, Michael König, Walter Rehm, Margit Carstensen, Hannelore Hoger; und prägende Bühnenbildner wie Jürgen Rose und Karl Ernst Herrmann. Um Hübners Theater entstand produktive Turbulenz. Er lebte in einem Gemisch aus Hass und Bewunderung. Ein Störenfried, der – schliesslich vertrieben – doch Ehrenbürger seiner Bühne wurde.

Hübners Intendanz an der Freien Volksbühne in Berlin – noch einmal zwölf Jahre, von 1973 an – war, unter noch ungünstigeren und widrigeren Bedingungen, das Nachspiel. Sie hatte noch grosse Höhen: Peter Zadeks Inszenierung von «Ghetto», Grübers «Sechs Personen suchen einen Autor» und sein «Faust» mit Minetti. Alles in allem ist das genug, um diesem Inspirator der Künste seinen Platz in der Geschichte des neueren Theaters zu sichern. Kurt Hübner gehörte zu seinen besten Geistern; er blieb eine Bezugsfigur für die Jungen. Die Erinnerung an die zwei kühnsten Jahrzehnte des neueren deutschen Theaters trug er um sich wie einen Mantel. Wie erst jetzt bekannt wurde, starb er am letzten Dienstag mit 90 Jahren in München.

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Kurt Hübner Der Herausforderer

Ein Menschenfischer und Künstlerkönig, so hat er die Bühne geprägt. Zum Tod des großen Theatermannes Kurt Hübner.

Von Peter von Becker – 23.08.2007

Alles außer Brecht und Kortner ist Hübner. Das deutsche Theater heute gründet auf Kurt Hübner. Erst kamen nach 1945 die Emigranten als Wiederanreger, Brecht im Osten, Fritz Kortner im Westen. Und natürlich gab es den Glanz nochmal von Gustaf Gründgens, der freilich schon ein Abglanz war. Doch das wirklich Neue im Theater, das etwas ganz Anderes, etwas Zwiespältigeres, in sich Zerrisseneres und darin Menschenwahreres zeigte, das hat dieser Kurt Hübner als größter Menschenfischer und Künstleraufspürer der zweiten, letzten Jahrhunderthälfte befördert, befeuert, beflügelt.

Am vergangenen Dienstag, so hören wir jetzt, ist er in München gestorben, fast 91 Jahre alt. So wird dieser Sommer 2007 als Sommer der großen Toten des Films und der Bühne in die Annalen eingehen. Diese Theaterferien dauern für manche, die am liebsten wie Charlie Chaplins Doppelgänger im „Limelight“ geendet wären, nun eine Ewigkeit.

Kurt Hübner hatte schon eine Weile nicht mehr inszeniert. Doch war er, doch ist er, als im vergangenen Oktober die Theaterwelt seinen 90. Geburtstag gefeiert hat, noch immer präsent gewesen. Oft leibhaftig im Zuschauerraum, oft in Gesprächen, im Geist, wo er denn weht, allemal. Denn so viele hat er entdeckt, hat sie werden lassen und hat sie, sagen wir’s in seinem Fall mal bewusst so zackig: gemacht. Aus Talent wurde unter seiner strengen, mitreißenden Hand oft Genie, aus der Provinz eine Metropole.

Als Hübner 1959 die Intendanz des Theaters in Ulm übernahm und 1962 die Leitung der Bremer Bühnen, da wurden und wuchsen mit ihm: die Regisseure Peter Zadek und Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Rainer Werner Fassbinder, Peter Palitzsch, Johannes Schaaf, Hans Neuenfels und Johann Kresnik; die Schauspieler(innen) Bruno Ganz, Traugott Buhre, Vladim Glowna, Walter Schmidinger, Edith Clever, Jutta Lampe, Hannelore Hoger, Judy Winter und die Bühnenbildner Wilfried Minks, Karl-Ernst Herrmann, Jürgen Rose und Erich Wonder. Und viele, viele mehr. Später übernahm er für 13 Jahre die West-Berliner Freie Volksbühne, und als er dort zu seinem Abschied 1986 Calderons „Das Leben ist Traum“ inszenierte, war sein Hauptdarsteller, der gefangene Prinz, ein sehr junger Mann namens Martin Wuttke.

Einmal, in Bremen 1965, inszenierte Hübner „Hamlet“, und sein damaliger Prinz hieß Bruno Ganz, ein noch völlig unbekannter 24-jähriger Schweizer, der dem regieführenden Intendanten in dessen Schlafzimmer vorgesprochen hatte. Hübner lag mit einer Grippe im Bett, aber Peter Zadek hatte den jungen Mann empfohlen – der Hübner damals nicht überzeugte. Und nach der dritten Bremer

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„Hamlet“-Vorstellung wütete Hübner gegen seinen Protagonisten und gab’s ihm auch schriftlich: „Auf der Bühne zeigte sich ein leerer, strohdreschender, humorloser, sentimentaler Hohlkopf!“

Bruno Ganz schwärmt von dieser Geschichte bis heute. Weil sie Hübner offenbart, wie er war. Manchmal ein zorniger Gott, der auch vom Schnürboden, dem Theaterhimmel, herabschrie und sein Theater oft sehr lauthals dirigierte. Oder kommandierte. Selbst in den heißesten 68-er Zeiten ließ dieser Hübner andere durchaus wissen, dass er mal Oberleutnant und Ritterkreuzträger war, allerdings, da ließ er freilich keinen Zweifel: „Als Jungscher, bei den Scheißnazis!“

Kurt Hübner hatte als geborener Hamburger ein unverkennbar norddeutsches Naturell. Aber mit einer unstillbaren Südenssehnsucht, und im Sommer gehörte er zu den frühesten Mitgliedern der Toskana-Fraktion. Bis zum Ende blieb er immer straff und schlank, gekleidet in italienischen Stoff und mit Budapester Schuhen; die Stimme etwas spöttisch nasal, im Tonfall leicht mit der seines Lieblingsregisseurs Peter Zadek zu verwechseln. Doch das Besondere im Äußeren waren seine Augen. Eisblau, unheimlich blitzend und durchdringend, geradewegs Suchscheinwerfer. Die ersten Signale seiner Neugier auf andere. Aufs Andere.

Der hanseatische Beamtensohn wollte schon früh ausbrechen ins Abenteuer. Einer wie er wäre früher wohl Seefahrer und Entdecker fremder Erdteile geworden. Jetzt blieb ihm nur die Kunst, und 1938 soll ihn auf der Berliner Schauspielschule der Staatstheaterintendant und Hyperschauspieler Gustaf Gründgens persönlich entdeckt haben. Bisweilen hat Hübner tatsächlich selber gespielt, 1990 im Kino zum Beispiel einen deutschen Unternehmer. In Loriots „Pappa ante Portas“. Dieser Ketzer und Theaterpapst.

Trotz eigener Schauspielerei und eigener Inszenierungen, die es wie sein Bremer „Hamlet“ auch zum Berliner Theatertreffen schafften, bleibt seine Lebensleistung doch das Entdecken, Erfinden und Ermöglichen: als Intendant. Einen Bruno Ganz, so jung in der Hamlet-Rolle, hatte er gewagt, obwohl Hübner, der ja tatsächlich aus der Gründgens-Schule kam, der neue, oft fast private Ton der jungen Akteure und Regisseure oft gegen seinen erlernten Geschmack ging. Aber sein Wagemut und sein musischer Instinkt machten ihn immer zum Verbündeten der Künstler. Und so öffnete er dem jungen, aus dem englischen Exil zurückgekehrten Peter Zadek die Bühne für einen ganz frischen, wilden, scheinbar unkultivierten, weil aus gegebenen Formen ausbrechenden Shakespeare. Bis hin zum Bremer „Maß für Maß“ in Jeans und in der für alle Nordlichter schier skandalösen Jargonübersetzung des bayerischen Dramatikers Martin Sperr. Hübner ermöglichte so: wirklich zeitgenössisches Theater, selbst unterm Signum der Klassiker. Und in den Inszenierungen Zadeks schuf der Bühnenbildner Wilfried Minks ganz neue Szenen ohne stilisierende Kulissen. Stattdessen wurden die Räume offen, hell, fast leer und manchmal nur mit Bild- Zitaten aus dem Film und der Pop-Art geziert. Ein Vietnamkriegs-Comic von Roy Lichtenstein begleitete plötzlich Schillers „Räuber“, das war damals eine Revolution.

Die neu gegründete Zeitschrift „Theater heute“ hieß eine Zeit lang nur „Bremen heute“, denn das war: das Theater heute. Und es strahlte aus, auch in die DDR,

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner nach West- und Osteuropa, und in Bremen, mit dem Ensemble von Peter Steins legendärem „Torquato Tasso“, entstand auch die bald noch berühmtere Berliner Schaubühne.

Am Ende war Kurt Hübner dann beides: Revolutionär und Traditionalist. So wäre er wieder eine Herausforderung. Auch für das Theater heute.

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Kurt Hübner ist tot Der Schmied der Talente

Von Esther Slevogt – 25.08.2007

Als Bremen die Hauptstadt des deutschen Theaters war: Kurt Hübner, der Intendant, der viele später große Regisseure und Schauspieler entdeckte, starb mit 91 Jahren.

Er war einer der ganz Großen des westdeutschen Nachkriegstheaters: Kurt Hübner, der bedeutende Intendant des Bremer Theaters in den 60er-Jahren. Zuletzt hatte man ihn im vergangenen Oktober aus Anlass seines 90. Geburtstags quer durch die Feuilletons gefeiert: als Ermöglicher und Begründer der westdeutschen Theatermoderne. Als wagemutigen und hellsichtigen Wiederaufforster der verwüsteten deutschen Theaterlandschaft nach dem Krieg. Er entdeckte junge Regisseure wie Peter Zadek, Peter Stein, Peter Palitzsch, Hans Neuenfels oder Rainer Werner Fassbinder, förderte Schauspieler wie Edith Clever, Bruno Ganz oder Hannelore Hoger und die Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann, Erich Wonder oder Wilfried Minks. Hübner machte ein Credo zur Bremer Marke: das Theater müsse ein offener Raum sein, wo Stoffe und Stücke auf Augenhöhe mit der Gegenwart verhandelt werden.

So kam es zu Zadeks legendären Inszenierungen: ein wilder Shakespeare, "Maß für Maß" mit Schauspielern in Jeans, die Slang statt gepflegtes Literaturdeutsch sprachen. Ein "Räuber" vor Roy-Liechtenstein-Kulisse, der den Geist der Anti- Vietnam-Demonstrationen, aber auch den diskreten RAF-Charme vorwegnahm. Hübner ließ den vom Ostberliner BE kommenden Peter Palitzsch Brecht inszenieren, als Brecht im Westen noch als Kommunist verpönt und seine Stücke boykottiert wurden. An Hübners Bremer Theater entstand schließlich Peter Steins berühmter "Tasso", formierte sich die Gruppe, aus der in Berlin die Schaubühne hervorgehen sollte.

Man kann sich in Zeiten, wo ein Theaterskandal inzwischen eher ein Marketinginstrument als das Ergebnis revolutionärer ästhetischer Positionen ist, kaum noch vorstellen, was für erdrutschhafte Erschütterungen damals von Bremen ausgegangen sind. Dass für ein Jahrzehnt lang diese brave Hansestadt einmal eine deutsche Theatermetropole gewesen ist.

Der 1916 in Hamburg geborene Hübner war gelernter Schauspieler. Nach dem Krieg, an dem er als Offizier teilnahm, versucht sich Hübner zunächst als Journalist und Rundfunksprecher, landet dann aber doch schnell wieder beim Theater - als Regisseur und Dramaturg in Hannover, Freiburg, Göttingen und Stuttgart. 1959 wird er Intendant des Theaters in Ulm und macht aus dem Provinztheater schnell eine wichtige Talentschmiede. 1963 dann der Wechsel nach Bremen, zehn Jahre später an die Freie Volksbühne in Berlin (West). Seit 1986 hat Hübner nur noch wenig inszeniert. Gelegentlich war er im Film zu sehen, zu Beispiel in Loriots "Pappa ante Portas", wo er einen veritablen deutschen Unternehmer spielt. Am Dienstag starb der große Theatermann, den

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner der legendäre Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft einmal einen "Rattenfänger für Talente" genannt hat.

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Kultur Der Theatertäter

Er erfand die zeitgenössische Bühne: Heute wird Kurt Hübner 90 Jahre alt

Von Günther Rühle

Kurt Hübner rühmen? Man kommt in Verwirrung. War er nicht Intendant des Theaters im letzten Jahrhundert – vor dem das heutige flieht? Des Theaters von früher? Man könnte ihn heute, spätestens morgen wieder gebrauchen. Seine Gegenwärtigkeit ist immer noch stark. Man trifft auf ein Mannsbild, weißhaarumloht, stattlich. Die Augen noch immer neugierwach, die Stimme raumdurchdringend, Erinnerungen ballend, Begründungen setzend. Nie hat dieser Mann das Theater verlassen, noch immer scheidet er das Mögliche von Unmöglichen, donnert seine Wahrheiten, gibt lustvoll und leibhaftig den Räsoneur, wie man ihn aus alten Stücken kennt. Sein Ächzen und alle Gebrechlichkeit ist geheuchelt, weil seine Lebenskraft all seine Stimmungen überrollt.

Noch immer ist er zugetan dem „Prinzip Jugend“; seit Jahren hob und hebt er – (von Elmar Goerden bis Sebastian Schug) junge Talente der Regie ins Licht und gibt ihnen (in Bensheim) den Genieklaps mit auf den Weg. Aus dem Prinzip ist herausgewachsen, was er für das ganze deutsche Theater getan hat. Mit der jungen Mannschaft, die er um sich versammelte, hat er das Theater gerüttelt, in Bewegung gebracht, ihm neues Personal zugeführt, ihm Mut gemacht, ein Beispiel gegeben.

Es war ein dramatischer Weg. Er führte weg vom Theater der Wiederaufbauzeit, der Rückgriffe, der großen Figuren, der imposanten Gemälde dramatischer Literatur und neuromantischer Empfindsamkeiten. Es war ein Weg in noch unbekanntes Gebiet, voll von Abenteuern der Fantasie. Er war gesäumt mit Turbulenzen, wie sie gefährlich sich zeigen, wenn die gewohnte Bilderwelt, wenn die eingeübten Begriffe von Ehrfurcht, Schönheit, Takt, Tradition, von „Werktreue“ und Sittlichkeit, kurz: die Konventionen verworfen werden und der Geist des Theaters aus der täglichen Fron des

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Vorstellungenmachens hervortritt. Nämlich: die Lust, sich Bilder neuer Art und neuen Inhalts zu erdenken, sie in Spiel zu verwandeln, damit die Gegenwart sich am Alten erkennen und sich über das Neue erregen kann.

Vergnügen und Erschrecken waren in Hübners Theater oft nah beieinander. Verschreckt und erregt spannte man auf das, was auf der Bühne geschehen werde. Das Vergnügen kam aus den Einfällen, von den frischen Schauspielern, den in Gang gesetzten Empfindungen, und aus der Lust, bei etwas dabei zu sein, das es nur in dieser Stunde gab und doch Geschichte machte. Das waren Geburtsstunden.

Was müssen Intendanten sein? Menschensammler, dann Inspiratoren, Wegweiser, Kritiker, Mutmacher und Durchhalter: Energiebündel, dauernd gesprächs- und begründungsbereit. Hübner konnte das alles. Und alles begann 1959 in Ulm, als der Schauspieler und Dramaturg Hübner dort Intendant wurde. Da wies er vor, was er mit wem wagen und wollen konnte. Hier erschien Peter Zadek und machte Furore mit der „Geisel“ von Behan, und der Frischling Wilfried Minks begann, seine erstaunlichen Bühnen zu bauen und die Erfindungen aus der Bildenden Kunst mit der Darstellenden zu kopulieren. Peter Palitzsch, Brechts Schüler aus Ostberlin, durfte hier Brecht vorführen, und als er nach dem Mauerbau – „Verräter“ riefen sie von drüben – mit Hübners Hilfe in Ulm blieb und den „Prozeß der Jeanne d’Arc“ zu Ende inszenierte, war das das Signal, dass der ausgerufene Boykott für Brecht keine Chance hatte. Ulm, das war die Stammzelle des Kommenden. Als man 1962 Hübner und diese Mannschaft nach Bremen rief, hoffte man auf tüchtige Praktiker und brave Könner. Es kamen Um- und Neudenker, Leute, die aus ihrem privaten Antrieb ein ästhetisches Erlebnis mit öffentlicher Bedeutung entwickelten. Stück und Stück, sicher im Gefühl, aber nicht wissend, wohin man ging. Das Abenteuer war getrieben von großer Arbeitslust. In Bremen gewann sich Peter Zadek seine forcierte und bis heute dauernde Kraft. Durch Hübner bekam Peter Stein – nach seinen frühen Münchner Geniestreichen – mit „Kabale und Liebe“ und dem berühmt gewordenen „Tasso“ seine klassische Bewährung; der philosophische Brüter Klaus Michael Grüber erschien hier zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne; der brennende Hans Neuenfels offenbarte seine Imaginationskraft. Hans Hollmann, , Hans Kresnik – der sich seinem provozierenden Tanztheater verschrieb - junge Bühnenbildner wie Jürgen Rose, Karl Ernst Herrmann, der später der Schaubühne ihr Gesicht gab, Erich Wonder: All das war Bremer Wuchs.

Kein anderes Theater hat in jenen unruhigen Jahren so viele junge Leute aus der Anonymität in die Beachtung, gar zu Ruhm gebracht. Bruno Ganz

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner gewann gleich mit seiner ersten Rolle als Hamlet sich seine Zukunft; Jutta Lampe, Edith Clever wurden hier zu sich selbst gebracht, Michael König, Margit Carstensen, Rolf Becker, Hannelore Hoger, Vadim Glowna, Werner Rehm.

Theater sind zuallererst Menschenhäuser. Das Bremer Theater war es. In Bremer erlebte man auch wieder, dass das Theater noch immer ein Hauptort ist für unser bildnerisches Denken. Wie oft wurde hier das Bild der Bühne zu einem Inbild in uns selbst. Angefangen von Zadeks „Held Henry“, der Shakespeares Heldenfigur mit den Fußballhelden von heute kopulierte, bis zu den radikalen Vorgängen in „Maß für Maß“, das den Regisseur selbst und auch die Sprache des Theaters veränderte, weil die Körpergebärde nicht mehr Ausdruck des Wortes war, sondern seine Absicht enthüllte. Hübners „Hamlet“ stellte das dunkle Geschehen in helles, gleißendes Licht, Steins Inszenierung des „Tasso“ verwandelte für eine ganze Epoche den dramaturgischen Blick auf die alten Stücke in einen Blick in ihre verborgenen Inhalte. In Fassbinders langsam zelebriertem Goldoni’schen „Kaffeehaus“ spiegelte sich der Wildwestfilm als Abbild unserer Gesellschaft. Mancher, der dabei war, sieht noch vor sich Klaus Michael Grüber, stumm in seiner Sandgrube unter den Regenbogen aus Neonlicht, ein stiller Prospero, und Bernhard Minetti im schon aufgerissenen Haus, das den Abbruch der Hübnerschen Ära unfreiwillig symbolisierte, mit Krapps Tonbändern seiner Vergangenheit nachhorchend. Unter den Erfindungen der Bremer Jahre war die einer neuen Bildersprache nicht die geringste. Steins Schaubühne wurde ihr Erbe. Deren Geschichte ist ohne die Vorgeschichte im Hübnerschen Theater nicht zu denken.

Hart traf diesen Intendanten, als Peter Stein mit seinen ersten Schauspielern ins eigene Leben davonzog. Er schickte Grüber und Kresnik in die Lücke, lockte Wilfried Minks in die Regie. Und wagte auch die Veränderung der Oper mit den Erfahrungen, die man auf der Schaubühne gemacht hatte. Manch einer wünscht heute, dabei gewesen zu sein.

All das in den aufgeregten, sich politisch definierenden sechziger und frühen siebziger Jahren: Hübners Theater war Teil dieses erregten Prozesses, aber es bediente ihn nicht mit Ideologismen, nicht mit Kunstverweigerung, mit direkten politisierenden Aktionen. Hübners Politik bestand im Entwickeln und Durchsetzen von Kunst, das auch eine Übung und Behauptung von Freiheit ist. Im beharrlichen Bremen erfuhr man am Widerstand gegen diese Arbeit, wie die gesellschaftliche Wirkung ästhetischer Prozesse politische Energien mobilisiert. Sie trafen ihn hart, als der Senat trotz des inzwischen erlangten Ruhms den Vertrag nicht

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner verlängerte. Es war Zerstörung eines produktiven Arbeitszusammenhangs.

Als Hübner daraufhin die Freie Volksbühne in Berlin übernahm, veränderten sich nicht sein Impuls, aber die Bedingungen. Ohne festes Ensemble, ohne wechselnden Spielplan war nichts aufzubauen. Es waren noch einmal zwölf Jahre, in harter Konkurrenz zu Lietzaus Schiller- Theater, zur Schaubühne. Doch gelang dem Sammler und Inspirator Hübner immer wieder das Außerordentliche. Grübers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und „Sechs Personen suchen einen Autor“, sein „Faust“ mit Minetti, Zadeks „Ghetto“. Und er gewann Noelte für Berlin zurück, für Gerhart Hauptmann. „Die Ratten“, „Die Wildente“. Da sah er schon, dass auch Bewahrung der Menschenkunst auf dem Theater Zukunftsarbeit sei.

Immer wieder haben die von ihm auf den Weg gebrachten Inszenierungen den Gang des Theaters definiert. In der Geschichte des Theaters zählen die Theatertäter. Sie stiften Form, Bewusstsein und Zukunft. Zu ihnen gehört Kurt Hübner. Die Theatermacher wesen in ihrem Schatten.

Günther Rühle, geb. 1924, leitete von 1985 bis 1989 das Schauspiel und war zuvor Feuilletonchef der „FAZ“. Anfang der neunziger Jahre war Rühle Kulturressortleiter des Tagesspiegel. Er ist u. a. Herausgeber der Werke von Alfred Kerr und Marieluise Fleißer.– Am 12. November erhält Kurt Hübner die Ehrenmitgliedschaft der Akademie der Künste Berlin. In der Matinee am Pariser Platz diskutiert Hübner mit Michael Thalheimer. Traugott Buhre liest ein Dramolett von Moritz Rinke.

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Vor 100 Jahren geboren

Kurt Hübner – Theaterleiter und Talentsucher

30.10.2016 - Von Hildegard Wenner

Ob Peter Zadek, Peter Stein oder Rainer Werner Fassbinder - viele der späteren Großen und Größten der deutschsprachigen Bühnen wurden als junge Talente von Kurt Hübner entdeckt und engagiert. Der Theatermacher, der als Intendant in Ulm, Bremen und dann in Berlin arbeitete, wurde heute vor 100 Jahren in Hamburg geboren.

,,Ich bin stolz darauf, dass ich so viele Menschen entdeckt habe, die für das lebendige Theater eine große Rolle gespielt haben und immer noch spielen."

Der Königsmacher läuft stets Gefahr, hinter seinen Königen, zu verschwinden. Es sei denn, es sind zu viele, als dass sich einer in den Vordergrund schieben könnte.

Der Intendant Kurt Hübner hatte an jedem Finger zehn Könige: Regisseure, Bühnenbildner, Schauspielerinnen.

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„Diese Neugier auf Menschen, diese Neugier auf neue Wahrheiten und neue ästhetische Formen, neue Ausdrucksmittel hat mich zu diesen Leuten geführt."

Da war zum Beispiel ein gewisser Peter Zadek, eben aus dem englischen Exil zurück und vom erhabenen deutschen Stadttheater kein bisschen beeindruckt. Den ließ Kurt Hübner, seit 1959 Intendant in Ulm, Brendan Behans „Geisel" als große Sause in Szene setzen, im Bühnenbild von Wilfried Minks, noch so ein unbeschriebenes Blatt. Die Stadt wurde zur - wenn auch despektierlichen - Donaumetropole, zumindest in den Feuilletons.

„Wir haben damals noch ungeheure Tabuverletzungen gemacht, und deshalb haben wir auch so viel Beunruhigung im Publikum geschafft. Wir haben die Leute an ihren wunden Punkten gefasst."

Arbeiten am Bühnen-Dreamteam

Bremen wollte auch Theatergeschichte schreiben und lockte Hübner samt Entourage an den Goetheplatz. Ab 1962 strickte der neue Generalintendant dort weiter am Bühnen-Dreamteam: fand und förderte Regisseure wie Peter Stein, Rainer Werner Fassbinder, Hans Neuenfels, Klaus Michael Grüber - die Bühnenbildner Karl Ernst Hermann, Erich Wonder, Jürgen Rose, Minks, der in Bremen auch als Regisseur debütierte - und Schauspieler:

„Fangen wir bei den Frauen an: Die Lampe und die Clever, und nehmen wir Namen wie Bruno Ganz oder Vadim Glowna oder Schedewy."

Bevor es aber nur noch um „die anderen" geht: Hübner führte auch selbst Regie. Seinen „Hamlet", Bruno Ganz, ließ er auf der Bühne „sein", dahinter aber eher „nicht sein":

,,Lieber Ganz, Ihr Hamlet hat mit Shakespeares Hamlet nicht das Geringste zu tun. Auf der Bühne zeigte sich ein leerer, strohdreschender, engagementloser, humorloser, sentimentaler Holzkopf."

Schrieb er dem Anfang zwanzigjährigen Schauspieler nach der Vorstellung. Die Inszenierung wurde dennoch zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Geboren am 30. Oktober 1916 in Hamburg, landete Kurt Hübner- nach dem Abitur und kurzer Schauspielerausbildung - als Kriegsberichterstatter an den diversen Fronten des zweiten Weltkriegs. Nach 1945 pendelte er zunächst zwischen Radio und Theater: Er war zum Beispiel Hörspielchef im NDR, Dramaturg und Regisseur an diversen westdeutschen Bühnen. Als Intendant war der Patriarch Hübner mit den viel zitierten stahlblauen

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Augen und dem knarzigen Ton überhaupt kein Freund noch so zaghafter Mitbestimmungsmodelle der 60er-Jahre. Aber er wusste auch, dass diese „Verrückten" ihn mit ihrer Kunst überholen würden. Dass er sie entdeckt hatte, war ihm Vergnügen genug.

Nach elf Spielzeiten von Bremen nach Berlin

„Es ist immer das Wesentliche bei mir gewesen, auch in Bremen, dass ich die verschiedensten Individualitäten an dem Theater versammelte und dadurch entstanden diese neuen Impulse, die haben sich ja alle gegenseitig befruchtet."

Der „Bremer Stil" war im Kern eine Operation am offenen klassischen Stoff. Statt Bühnenweihspiel mit bedeutungsschwerer Deko und Insignien, die der „Bildungsbürger" mühelos zu entziffern gewohnt war, erlebte das Publikum, das zusehens jünger wurde, Schillers „Räuber" Maschinenpistolen-bewehrt oder einen ,,Torquato Tasso" mit ganz heutigem Herrschaftsdiskurs.

Modernes Regietheater? Hübner selbst nannte es „Bremer Stillosigkeit".

„Es gab kein Programm. Was Programm war, ergab sich aus den Menschen und unserem Widerstand gegen das Herkömmliche."

In der Freien und Hansestadt Bremen heißen die politischen Entscheidungsträger Senatoren, das klingt weiser, als es manchmal ist und führte in diesem Fall zum Ende der ästhetischen Revolution. Trotz Demos und 7.000 Unterschriften für den Intendanten wechselte Hübner 1973 nach elf Spielzeiten an die Freie Volksbühne Berlin - ohne festes Ensemble. ,,Seine Leute", Zadek, Grüber oder Fassbinder, kamen nun als Gastregisseure ins Haus; Peter Stein residierte als Nachbar an der Berliner Schaubühne.

Nachdem Hübner den Chefsessel 1986 Hans Neuenfels überlassen hatte, verzweifelte er zunehmend am „Betrieb". ,,Firlefanz und Trallala" wurden ihm Lieblingsbegriffe für das Theater, vom Regieführen und Spielen wollte er aber nicht ganz lassen. Und auch nicht vom Königsmachen. Den Nachwuchs für den erlauchten Eysoldt-Ring suchte und prämierte er bis zu seinem Tod am 21. August 2007. Inzwischen trägt dieser Förderpreis seinen Namen.

Und in Bremen gibt es nicht nur einen Hübner-Preis: auch einen Kurt- Hübner-Platz.

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Generalintendant Michael Börgerding und Zeitzeuge Franz Gauker über die große Zeit des Bremer Theaters „Langweilig – bis Kurt Hübner kam!“

Jetzt schießen sie wieder: Wilfried Minks‘ legendäres Bühnenbild zur „Räuber“-Inszenierung 1966 schmückt zurzeit die Glasfassade des Theaterfoyers Bremen – 28.05.2013 - Von Johannes Bruggaier

Als das Beste am „Bremer Stil“ definierte Kurt Hübner einmal den Umstand, dass es ihn „gar nicht gegeben“ habe. Dafür mutet die derzeitige Würdigung am ganz schön umfangreich an.

Zeitzeugen berichten im Foyer über die legendäre Hübner-Ära von 1962 bis 1973, als das Haus mit Regisseuren wie Peter Zadek und Peter Stein sowie Schauspielern wie Bruno Ganz oder Edith Clever Geschichte schrieb. Und am kommenden Freitag feiert das Stück „War da was? Die Hübner Jahre“ Premiere.

Aus Anlass dieses Gedenkens haben wir mit zwei Persönlichkeiten gesprochen, die mit der Bremer Bühne verbunden sind: Michael Börgerding, aktueller Generalintendant am Theater Bremen, sowie Franz Gauker. Der ehemalige Zollbeamte hatte nach Hübners unwürdiger Verabschiedung durch den Bremer Senat dessen Nachlass vor der Vernichtung gerettet. Nach Jahrzehnten der Aufbewahrung in seinem Bremer Haus lagern die Dokumente nun unter dem Namen „Sammlung Franz Gauker“ in der Berliner Akademie der Künste.

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Herr Gauker, Sie sind auf dem Weg hierher am Schauspielhaus vorbeigekommen. Ist Ihnen da etwas aufgefallen?

Gauker: Was sollte mir aufgefallen sein?

Die Fassade ziert ein großes Bild: Es zeigt einen Heckenschützen mit Gewehr im Anschlag. Darüber steht: „Crak! Crak! Crak!“

Gauker: Ah, das ist das berühmte Plakat, mit dem Herr Thape 1973 für Hübners Nachfolger warb: doppelseitig in allen deutschsprachigen Illustrierten.

Und es war eigentlich das Bühnenbild zur wohl bekanntesten Produktion dieser Zeit: Peter Zadeks Inszenierung von Schillers „Räubern“ 1966. Als der Kultursenator Moritz Thape (SPD) Hübner rauswarf und dessen Label zur Werbung für den Nachfolger missbrauchte: Da mussten Sie die Dokumente dieser Ära aus den Mülltonnen retten. Heute wird Hübner gefeiert. Was ist in der Zwischenzeit passiert?

Gauker: Ach, über Hübners Qualitäten waren sich schon damals viele in der Stadt im Klaren. Nur Thape und sein Behördenchef Eberhard Lutze1 waren anderer Meinung. Und die Vergangenheit des Letzteren ist ja bekannt.

Nämlich?

Gauker: Er hatte sich in der NS-Zeit dadurch hervorgetan, dass er den Krakauer Marienaltar „heim ins Reich“ holte. Laut dem späteren Kultursenator Horst Werner Franke war sein Name noch im Jahr 1973 auf einer polnischen Kriegsverbrecherliste zu finden.

Herr Börgerding, Theater ist eine flüchtige Kunst. Können Sie beschreiben, wie sich die Hübner-Ära auf die heutige Bühnenästhetik auswirkt?

Börgerding: Vor dieser Zeit war Theater auf die Übersetzung von Texten fokussiert. Bei Hübner erhielt die Inszenierung einen eigenen Wert: Es handelt sich um den Beginn der Regie.

1 Siehe: DER SPIEGEL vom 28.10.1968 -Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d- 45949956.html

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Den hätte ich schon bei Max Reinhardt zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermutet.

Börgerding: Das ist richtig. Aber im Faschismus war diese Tradition der Regie und des Epischen Theaters abgebrochen. Wenn Sie heute Tonaufnahmen von Schauspielern aus den fünfziger Jahren abspielen: Da hören Sie den gehobenen Ton, wie er im Dritten Reich geprägt worden war. Als jüdischer Emigrant, der erst nach dem Krieg nach Deutschland kam, war Peter Zadek davon unbelastet.

Warum musste man dafür auf Peter Zadek warten? Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Bremer „Räubern“ lagen immerhin 21 Jahre!

Börgerding: Schauen Sie sich nur die Ereignisse in der Gruppe 47 an, als ein jüdischer Schriftsteller wie Paul Celan auf völliges Unverständnis stieß. Der ganze Duktus war einfach noch lange vom Faschismus geprägt. Hinzu kam, dass viele traumatische Erlebnisse nicht verarbeitet wurden. Wenn man das berücksichtigt, sind 21 Jahre keine lange Zeit.

Herr Gauker, Sie sind damals als junger Mann von Ihren Eltern ins Theater geschleppt worden.

Gauker: Ich fand es richtig langweilig – bis Kurt Hübner kam! Der Grund für den Wandel ist schwer zu beschreiben, weil es mehr ein Gefühl war als eine rationale Erkenntis. Man spürte plötzlich, dass Theater Spaß machen kann.

Für den viel beschworenen „Bremer Stil“, gelten Zadeks „Räuber“ als Sinnbild…

Börgerding: Dabei war er später gar nicht mehr so stolz auf diese Inszenierung. Er hatte sich darüber geärgert, dass sie so stark von Wilfried Minks‘ Bühnenbild und den sehr auffälligen Kostümen dominiert wurde. Das widersprach eigentlich Peter Zadeks Stil, der möglichst psychologisch nackte Menschen auf der Bühne sehen wollte. Was aber bei den „Räubern“ damals so ungeheuerlich wirkte, war der Aufbruch der Jugend: ein Aufbruch, der auch ins Bösartige umschlägt. Diese Kraft schien regelrecht aus dem Nichts zu kommen.

Das Bühnenbild von Minks war völlig autonom: ein Wendepunkt?

Börgerding: Ob es ein Wendepunkt war, vermag ich nicht seriös einzuschätzen: gut möglich, dass es vorher schon Inszenierungen mit vergleichbaren Bühnenbildern gab. Aber die Übertragung von Kunst auf

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner die Bühne war durchaus ein wesentlicher Aspekt dieser Zeit. Bühnenbildner waren vorher ja sehr funktionell: Da wurden im Dienste der Mechanik eines Stücks drei Wände und eine Tür hingestellt. Minks dagegen hat die Pop-Art mit dem Text konfrontiert.

Nach Peter Zadeks „Räubern“ hatte Peter Stein mit „Torquato Tasso“ Aufsehen erregt. In einer Kritik ist von „Respektlosigkeit gegenüber dem Klassiker“ und „Zerhackstückeln“ des Textes die Rede. Heute schimpft Stein auf die jungen Regisseure, die keinen Respekt mehr vor dem Text hätten. Wie erklären Sie sich das?

Börgerding: Von außen betrachtet nimmt hier jemand einen Weg vom Sturm und Drang zur Klassik für sich in Anspruch. Allerdings ist Stein jemand, der von einem Moment auf den anderen Gegensätzliches behaupten kann: Gerade noch ist er der Museumsdirektor der Theaterszene, gleich gibt er auch schon den Vorkämpfer für die Regie.

Gauker: Die Entwicklung von Sturm und Drang zur Klassik trifft auch auf Hübner zu. Seine eigenen Inszenierungen aus der frühen Zeit in Bremen waren kaum von Zadeks Arbeiten zu unterscheiden. Später dann wurde er immer klassischer. Was den „Tasso“ betrifft, so habe ich ihn damals als überschätzt empfunden: Steins Inszenierung von „Kabale und Liebe“ war viel interessanter.

Börgerding: Dieser „Tasso“ war immer noch von einer sehr geschlossenen Form geprägt. Die Interpretation findet da eher in den Spielweisen statt als in einer Technik des „Zerhackstückelns“, wie es heute vielleicht bei Frank Castorf zu finden ist.

Zu Steins Unbehagen gehört auch die These, dass zu Hübners Zeiten wenigstens noch eine Konvention herrschte, an der man sich reiben konnte – anders als heute.

Börgerding: Das ist der Preis einer ausdifferenzierten Gesellschaft, die alle Möglichkeiten des Ausdrucks toleriert. Diesen Zustand nehme ich als Vorteil wahr, und die verbreitete Sehnsucht nach einer Kunst, die alles verändert, ist mir suspekt.

Herr Gauker, Ihr letzter Theaterbesuch ist eine Weile her. Kann vor Ihrem Urteil ein Nachfolger Kurt Hübners überhaupt Gnade finden?

Gauker: Hübners Nachfolger, Peter Stoltzenberg, hatte natürlich ein schweres Erbe. Er wurde runtergemacht.

Börgerding: Dabei war er es, der George Tabori nach Bremen holte!

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Gauker: Ja, aber dessen „Hungerkünstler“ wurde vom neuen Kultursenator Franke als „Psychoscheiß“ bezeichnet. Auch ich war auf Konfrontation eingestellt. Heute muss ich sagen: Ihm ist damals Unrecht geschehen.

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DIETMAR N. SCHMIDT LAUDATIO AUF KURT HÜBNER ZUR VERLEIHUNG DES PETER WEISS-PREISES 2000

Herr Oberbürgermeister, liebwerte Damen und Herren, lieber, hochverehrter Kurt Hübner!

In den Unterlagen, die der Jury für die entscheidende Sitzung zugereicht wurden, fand sich auch ein Text aus dem Munzinger-Archiv, in dem bekanntlich die Biographien und Lebensleistungen großer Künstler aufgeführt werden:

»Kurt Ludwig Hans Hübner wurde am 30. Oktober 1916 in Hamburg geboren. Nach dem Abitur am Christianeum in Altona besuchte er die Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin. Der Krieg unterbrach jedoch seine Ausbildung. Und als Reporter, Nachrichtensprecher für Radio Hamburg begann 1946 für Hübner die Rückkehr ins zivile Dasein.« Was das schon heißen mag bei einem Theaterleben. Was es bei diesem Theatermenschen bedeutet hat, das zivile Dasein, will ich erzählen - mit zwei Zitaten vorweg. Das erste ist von Peter Zadek:

»Der Kurt brüllte andauernd. Meine erste Erinnerung, ein andauerndes Geschrei. Bis ich dahinterkam, dass im Theater auch darin eine sinnvolle Möglichkeit steckt für Kommunikation, für eine andauernde heftige Bewegung anstatt der leisetreterischen Intrigen. Er kann halt schwache Menschen nicht ertragen.«

Wie schade, wie gut, dass Peter Zadek hier heute nicht an meiner Stelle steht. Das zweite Zitat, ganz ähnlich, ganz anders, stammt von

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Hannelore Hoger, die als Schauspielerin bei Kurt Hübner in Ulm groß geworden ist:

»Der Hübner hat eine Lust daran gehabt, den Menschen Feuer zu machen, er hat gezündelt im Theater, und er hat so Wärme, Lebendigkeit erzeugt.«

Die eigene Herkunft prädestinierte ihn eher nicht fürs Theater, auch wenn er, fragt man ihn, sich daheim, in einer Beamten-, Lehrer- und Kaufmannsfamilie, als respektloser Faxenmacher fühlte. Mit dem Glück allerdings, das ein großer Künstler schon mal zur Legendenbildung braucht, kam er eines Abends von der Front so spät ins Akademietheater Wien, dass er sein Marschgepäck nirgends mehr sonst als beim Bühnenpförtner ablegen konnte. Und als er es nachher, es gab Ibsens Gespenster, wieder holen wollte, stand plötzlich vor ihm die Hauptdarstellerin, Frau Alving, Käthe Dorsch - und die Heftigkeit, Leidenschaft, mit der er ihr und ihrer Darstellung einer Lebenslüge sofort seine Bewunderung zum Ausdruck brachte, entschied sein Schicksal.

Um der großen Dame die Illusion nicht zu rauben, mitten im Krieg einen einfachen Soldaten mit einer Theaterrolle erschüttert zu haben, verriet ihr der junge Hübner nicht, dass er selbst dem Theater zustrebte. Und hatte für die erste Zeit nach dem Krieg eine für so viel Leidenschaft und Bewunderung dankbare Fürsprecherin gefunden. Zum ersten Engagement, ans Landestheater Hannover, hat Käthe Dorsch ihm geholfen. Was ihn freilich nicht darin beflügelt hat, sich bei der weiteren Gestaltung seiner Karriere weiter aufs Lügen zu verlegen. Im Gegenteil: Seinem Ruf, besonders laut, direkt, ehrlich zu sein, hat die erste Lüge nicht geschadet - und das am Theater, wo bekanntlich noch mehr gelogen wird als im wirklichen Leben. Tatsächlich ist, was ihn so glücklich zum Theater brachte und eher anekdotisch wirkt, ein Teil seiner künstlerischen Vitalität: die Respektlosigkeit einerseits und andererseits die Fähigkeit, leidenschaftlich zu bewundern. Eine nicht ganz gewöhnliche Mischung.

Richtig entdeckt hat diesen Schauspieler, Regisseur und Dramaturgen Hübner nach einem halben Dutzend weiterer Stationen ein Kritiker, der Stuttgarter Theaterkritiker und Theaterwissenschaftler Siegfried Melchinger, dem unter anderem die Gründung der Zeitschrift Theater heute mit zu danken ist. Melchinger empfahl den inzwischen zweiundvierzigjährigen, heute gerade doppelt so alten Kurt Hübner als Intendanten dem Gemeinderat in Ulm, an einen wahrlich theatergeschichtsträchtigen Ort tief in der sogenannten Provinz.

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In Ulm gab es damals zwar mit der Hochschule für Gestaltung ein berühmtes Institut zeitgenössischer Inspiration und mit dem Studio f des Verlegers Kurt Fried eine beachtliche Sammlung moderner Kunst. Aber das Theater, noch behelfsmäßig untergebracht seinerzeit, hielt sich wie damals fast überall an eine gesicherte, gesittete, staubbedeckte Tradition. An der die Bildung und das bürgerliche Repräsentationsbedürfnis samt der Risikozulage namens Subvention grundlegend und für die Geschichte des deutschen Stadttheaters durchaus beispielhaft waren.

Hier war es, wo sich 1640, mitten im Dreißigjährigen Krieg, erstmals eine deutsche Stadt eine feste Bühne schuf, sie einbauen ließ erst in die Stallung eines Waisenhauses, dann in eine Scheune; historisch prominent als sogenannte Furttenbach-Bühne (so hieß der Architekt) mit drehbaren Prismen für die Bebilderung der Schauplätze, mit dreifach gestaffelten Gassen und einem Graben fürs Orchester vorn sowie mit einem Graben hinten für durchziehende, durchzuziehende Schiffe, Wagen und dergleichen. Weil damals in der Freien Reichsstadt Ulm Jahr um Jahr die Stände des schwäbischen Kreises tagten, musste ihnen schließlich auch kulturell etwas geboten werden. Stadtwerbung wie heute.

Nachdem im Lauf der Jahrhunderte allerlei Privatleute, Kavaliere und Pferdehändler Pächter dieses Etablissements geworden waren, Krieg und Brand einige Neubauten oder Umzüge unter anderem in einen Kornstadl und in einen Kuhstall verursacht hatten und nachdem die Subvention seitens der Stadt, erstmals 1830, immer wieder erst dann genehmigt wurde, wenn wieder einmal ein Theaterdirektor bankrott und durchgebrannt war oder sich umgebracht hatte, übernahm also Kurt Hübner 1959 die altehrwürdige Institution: in einem Mädchengymnasium, dessen Turnsaal zum Theater geworden war. In so beengten Verhältnissen noch auf viele Jahre hin, dass Solisten, die rechts abgingen und links rasch wieder auftreten sollten, nicht etwa hinter der Bühne herum, sondern über eine Hübner-Leiter genannte Hühner-Leiter unter ihr hindurch auf die andere Seite sich bemühen mussten. Was das beim schnellen Seitenwechsel ganzer Opernchöre bedeutete, kann man sich ungefähr vorstellen.

Und ausgerechnet hier, bei solchen - von politischer Provinzialität und Repräsentationsbedürfnissen kompensierten - Zuständen, hat sich das deutsche Stadttheater unter Kurt Hübner aufgemacht, ein anderes zu werden. Hier in Ulm hat sich das Wunder ereignet, das man die Regeneration, die Wiederbelebung des Theaters nennen kann. Dies aber nicht, weil Hübner mit einem bestimmten, festen Programm ankam,

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner einem umwerfend originellen Spielplan oder mit revolutionären stilistischen Vorsätzen. In Ulm zeigte sich vielmehr, was im Theater Temperament und Gründlichkeit, Leidenschaft und Unvoreingenommenheit leisten können; bei höchst unterschiedlichen Charakteren und Theaterauffassungen von Leuten, die von diesem Intendanten geholt und zusammengebracht und in den engen Verhältnissen zu kaum noch vorstellbarem Einsatz getrieben wurden.

Es war wohl vorab die von Hübner geprägte gemeinsame Stimmungslage, das Klima, die das Theater so bedeutend, so wirkungsvoll machten. Nach Ulm aus London zog der Regisseur Peter Zadek zu Kurt Hübner um - und räumte mit zeitgemäßem Witz und bildungsbürgerlich unbelasteter Direktheit auf der deutschen Schaubühne, die sich seit Schiller immer noch oder hauptsächlich idealistisch als moralische Anstalt verstand, so realistisch wie gründlich auf. Und für Ulm, für Zadek wie für sich und die vielen anderen bald neugierig angezogenen Begabungen fand Kurt Hübner einen Bühnenbildner, einen Raumgestalter, der gerade sein erstes Engagement in Pforzheim hinter sich hatte und der von da an bis heute die bildnerische Kraft der Bühne zu prägen wusste: Wilfried Minks.

Durch Wilfried Minks wurde das Theater Schauplatz einer lebhaften zeitgenössischen Phantasie, mit Entwürfen, die den Texten Raum und Widerstand gaben; oft mit Zitaten aus der Natur und der Kulturgeschichte, aus Pop- und Op-art, Umwelt und Reklame. Gartenzwerge und Barockengel, Sand und Schilf, Neonlicht und Motorräder - eine Vielfalt des Materials und der Beziehungen, die das Theater wieder selbstbewusst gemacht haben in seinem Verhältnis zur Literatur.

Und zu Hübner stieß Peter Palitzsch, Brechts Schüler und bedeutendster Mitarbeiter aus Ostberlin, der im Westen blieb, als ihn der Bau der Mauer während einer Ulmer Gastinszenierung von Brechts Prozess der Jeanne d'Arc zu Rauen 1432 überraschte, und dessen weitere Arbeit mit den Stücken Brechts es gegen den schärfer werdenden Antikommunismus zu verteidigen galt. In einer Zeit der Ausgrenzung und des Boykotts politischen Theaters hatten Palitzsch und andere in Kurt Hübner ihren Freund, ihren Partner; war ausgerechnet die kleine, konservative Stadt Ulm für Liberalität und Kunstverstand ein Asyl.

In Ulm unter Hübner, durch Zadek und Palitzsch und Minks, Jürgen Rose und Johannes Schaaf oder wie sie alle hießen, begann ein Prozess, in dem das deutsche Stadttheater sich zugleich ästhetisch wie politisch emanzipierte: frisch und konzentriert auf seine jeweils aktuelle, neu

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner entdeckte Dramaturgie und sinnliche Wahrheit hin. Und in Ulm erwies sich, dass die alte Institution Stadttheater so viel Unbekümmertheit und Aktualitätsbewusstsein doch aushalten, zur Wiederbelebung immer wieder gut gebrauchen kann.

Kennengelernt haben wir uns dort; das heißt, er noch nicht mich, aber ich ihn: vor vierzig Jahren im Nebel und Gerempel am Ende einer Ulmer Premiere im vormaligen Turnsaal eines Mädchengymnasiums. Unter Hübners Leitung inszenierten damals Peter Zadek und Wilfried Minks Brendan Behans Geisel, die Aufführung wurde berühmt als Provokation wie keine zweite - und war doch nichts anderes als eine Panne der Technik. Es ließ sich die Nebelmaschine, behelfsmäßig installiert im Behelfsquartier, plötzlich nicht mehr beherrschen. Doch, wie es so geht, nicht wahr: Den Ruf, im Theater provozieren zu wollen aus Lust nur an der Provokation, wurde Kurt Hübner mit seinen Leuten lange nicht los.

Das Ulmer Wunder hat sich in Bremen wiederholt, als Kurt Hübner für elf Jahre, von 1962 bis 1973, dorthin wechselte, in eine bis dahin eher theaterfeindliche Stadt und in ein Theater, das Theater am Goetheplatz, in dem sich bei vergleichsweise niedrigem Etat alle Künstler bei schlechten akustischen Verhältnissen und schlechten Sichtlinien vor einem überalterten Publikum zusammendrängten. Hier aber wurde geradezu epochal, in weit größerem Umfang und mit entschieden größerer Wirkungskraft fortgesetzt, was in Ulm begann.

Von der Regeneration des deutschen Stadttheaters in Bremen, bald die Bremer Schule genannt, hat kaum ein deutsches Theater unserer Zeit, hat kaum ein bedeutender Theatermensch noch heute nicht profitiert. Das Theater erlaubte sich viel seinerzeit, und manchmal erlaubte es sich vielleicht auch zu viel, eines aber bei Kurt Hübner nie: museal zu sein, nichts weiter zu sein als ein Museum mehr oder minder respektgebietender Kunststücke. In Bremen seinerzeit brach es entschlossen auf aus Konvention und Beschaulichkeit, auf aus Literatur- und Bildungs- und Moralgläubigkeit - es wurde so entdeckungsfreudig wie unbequem. Und das hat auch jetzt weniger mit bestimmten Programmen als mit bestimmten Personen zu tun - mit einer ihnen bei Hübner gemeinsamen Neugier auf zeitgenössische Entdeckungen; einer Arbeitsmoral, die nichts ungeprüft, kein Drama und kein Requisit, übernahm. Kräftige, heftige Begabungen.

Zu den Leuten, die aus Ulm nach Bremen mitkamen, stieß der junge Rainer Werner Fassbinder, eine Entdeckung Hübners am Münchner >anti- theater<, und Fassbinder baute mit Minks in Bremen erst einmal, man

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner denke, ein Kino am Bahndamm zu einem Studiotheater um. Bevor er hier, der später so bedeutende Filmemacher, als Theaterregisseur und Theaterautor mit dem Mordsstück von der Bremer Freiheit begann. Eine Mutprobe gleich auch für Kurt Hübner. Und zu ihm kam, aus Mailand von Giorgio Strehler her, der noch ganz unbekannte Klaus Michael Grüber, dem mit dem Sturm gleich die vielleicht schönste, reichste, märchenhafteste Shakespeare-Inszenierung jener Jahre gelang. Zwischen Bananenschalen inszenierte er dann am Ende der Ära mit Bernhard Minetti als Krapp Das Letzte Band Becketts.

Ein Intendant wie ein Magnet, so grob, so laut, so ehrlich zu Künstlern er auch sein konnte. Es war wohl die seltene Begabung, die eigenen künstlerischen Fähigkeiten uneitel zurückzustellen auf der Suche nach dem größeren Talent, die ihn als Spürnase des deutschen Theaters, als Talententdecker, Scout so unvergleichlich, so erfolgreich machte. Und als Mentor des Bensheimer Regieförderpreises noch immer macht; man muss das erleben, wie er dabei noch heute leidenschaftlich bewundert oder verwirft - und mit der übergroßen Gier der Theater nach Talenten der Theaterregie seine eigene Aufgabe auch selbstkritisch betrachtet.

Dabei war er, von seinen auch heute noch gelegentlich zu beobachtenden schauspielerischen Qualitäten mal abgesehen, auch selbst als Regisseur nicht ohne starkes Vermögen. Lessing und Schiller, dessen republikanische Stücke Don Carlos und Fiesco, kamen ihm gelegen. Aber ich erinnere mich gern auch an Shakespeares Kunst der Zähmung in Martin Sperrs Übersetzung unter Kurt Hübners Regie oder an seine offenkundige musikalische Begabung bei einer Bremer Elektra von Richard Strauss.

Opern inszenierte bei Hübner auch der junge Götz Friedrich, Meisterschüler Walter Felsensteins aus Ostberlin, und in Hübners Ballett brach sich, eine große Entwicklung für sich, das Tanztheater Johann Kresniks Bahn - machte mit den konsum- und gesellschaftskritischen Attacken von der Schwanensee-AG zur Jesus-GmbH Furore. Ein Ärgernis für Ballettomanen und zugleich doch auch eine Erneuerung der Tradition des Expressionismus im Tanz.

Schließlich kam, während Minks eine ganze Schule bedeutender Bühnenbildner nach sich zog - von Karl-Ernst Herrmann über Thomas Richter-Forgach und Klaus Gelhaar zu Erich Wonder, im Wechsel zu Peter Zadek und neben Alfred Kirchner, der sein Talent auch für die leichte musikalische Muse entdeckte - schließlich kam zu Kurt Hübner aus München Peter Stein und inszenierte nach den politisch agitatorischen

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Lehrjahren dort nun hier die Klassiker hochpolitisch, jugendlich und anspruchsvoll: Schillers Kabale und Liebe und den Tasso Goethes dann, den Dichter, den Künstler als ausgestellten Emotionalclown einer abgefeimt liberal-selbstüberzeugten, allgegenwärtig- bundesrepublikanischen Gesellschaft. Ein Ereignis, das Theaterereignis auf lange Jahre hin. Und es brachen zu Hübner nach Bremen die stärksten jungen schauspielerischen Talente auf. Michael König und Edith Clever, Jutta Lampe und Bruno Ganz, um nur einige zu nennen. Ja, es spielten bei ihm schon Margit Carstensen und Traugott Buhre, Mechthild Grossmann, Friedhelm Ptok und Vadim Glowna, Hans Peter Hallwachs und Klaus Höhne, Walter Schmidinger und Fritz Schediwy, Werner Rehm und Katharina Tüschen, Kurt Raab und Judy Winter - und, mit der Bitte um Nachsicht, gewiss auch der eine oder die andere, die heute zur Feier ihres einstigen Intendanten hier sind und die ich jetzt nicht mit aufgezählt habe.

Von den Regisseuren kamen zu ihm auch Hans Hollmann, Rolf Becker zeitweise Oberspielleiter, Eberhard Fechner, Kai Braak und Hans Neuenfels. Wer eigentlich von den lange tonangebenden, heute fünfzig- bis siebzigjährigen Theatermenschen war denn bei Kurt Hübner nicht? Kurz: Ob Theatermacher, Theaterspieler, ja oder auch Theaterkritiker, die Bremer Freiheit, >Bremer Stil< genannt, hat uns doch alle mitgerissen, wofür Kurt Hübner selbst, kein Freund solcher oder irgendwelcher Zuordnungen, den viel schöneren Begriff von der >Bremer Stillosigkeit< erfand.

Das Entscheidende war allerdings die gemeinsame Abkehr von aller Überfrachtung, Moral und Ideologie, sei sie symbolischer oder psychologischer Art; war die gemeinsame Untersuchungsmethode in spielerischer Lust am szenischen und mimischen Experiment: Teil der erklärten Absicht, mit der Brechung von Illusion und Illustration in der Künstlichkeit der Theaterwelt den wahren, radikalen Ausdruck menschlicher Wahrheit, unserer Realität zu entdecken.

Es ist das, was die Ulmer und Bremer Ästhetik mit den Forderungen von Adolphe Appia und Edward Gordon Craig verband. Mit Theaterpraktikern und Theatertheoretikern, die aus dem Widerstand gegen dekorativen Realismus und Naturalismus heraus um und kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende schon für die Befreiung des Kunstwerks Theater vom Joch der Literatur, der Malerei und Musik eintraten. Naheliegend, hier auch auf den Expressionismus Leopold Jessners in den frühen zwanziger Jahren zu verweisen, wie überhaupt Jessners elfjährige Leitung des Berliner Staatstheaters manche Parallelen, ästhetische,

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner personelle und kulturpolitische, zur elfjährigen Bremer Arbeit Kurt Hübners zeigt.

Es kann dabei jedoch nicht unterschlagen werden, dass damals das öffentliche Theater bei uns insgesamt in eine erste Krise der Legitimation geriet, dass es bis zum Beginn der siebziger Jahre rund fünfzehn Prozent seiner Besucher verlor; in Bremen anfangs noch um ein Mehrfaches mehr. Es dauerte einige Jahre und brauchte das ganz ungewöhnliche Maß an Ausdauer, Selbstbewusstsein und Überzeugungskraft Hübners, das durchzustehen gegen den Widerstand von außen, gegen die Ungeduld und den Populismus der Politik. Wobei auch die Anstrengungen seiner Zeit am Bremer Theater, mit allerlei wirksamen Ideen gegenzusteuern und vorab ein jüngeres Publikum zu gewinnen, beispielhaft wurden. Es war wohl hier, dass die dramaturgische Disziplin der Öffentlichkeitsarbeit zum Durchbruch und zur Geltung kam. Für das Theater wie für die künftige Theaterausbildung ein wichtiger Vorgang.

Doch Undank ist der Welt Lohn. Über 1973 hinaus verlängerte der Bremer Senat den Vertrag Kurt Hübners nicht. In einem Brief, der just an dem Tag zu ihm kam, an dem im Magazin Der Stern eine doppelseitige Anzeige der Freien Hansestadt Bremen erschien. Mit einer Abbildung aus den Schillerschen Räubern von Peter Zadek und Wilfried Minks über dem Werbetext: »Bremen hat Deutschlands heißestes Theater.« So doppelzüngig können Kulturpolitiker sein. Und während Hübner für weitere dreizehn Intendantenjahre an die Freie Volksbühne nach Berlin überwechselte und in einem En-Suite-Betrieb noch immer mit höchster Risikobereitschaft zum Beispiel mit Rudolf Noelte und weiter mit Klaus Michael Grüber arbeitete, wurde aus der deutschen Theaterhauptstadt Bremen wieder Provinz.

Ein Lebenswerk. Das Lebenswerk eines Theatermenschen, eines Theatermenschensammlers und Intendanten, das seinesgleichen sucht im 20. Jahrhundert, solche Größen wie Hilpert oder Piscator, Kortner und Gründgens schon mitgerechnet. Bei virulenter Nachwirkung - in der Vitalität seiner Mitmacher, Schüler und Erben. Was freilich heißt, dass wir heute im Namen von Peter Weiss keinen ehren, dessen Werk in sich ruht; dessen Leben für das Theater vielmehr nachwirkt, lebendig ist in Vielen und dessen Haltung auch so etwas wie eine Garantie ist für die Erhaltung, für die Lebenskraft der Kunstform Theater.

In der Begründung für diesen Preis steht auch das geschrieben: Als Intendant in Ulm, in Bremen und noch in Berlin hat Kurt Hübner ein Exempel gegeben für die Widersetzlichkeit des Künstlers in seiner Zeit,

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner für Streitkultur und Unbeugsamkeit gegen Politik und Öffentlichkeit, wenn es darauf ankam. Und er hat so das Theater, beispielgebend für unsere Jahre erst recht, behauptet als Forum der Auseinandersetzung wie niemand sonst in Jahrzehnten.

Staubbedeckt einst, voller >Firlefanz< jetzt (sein Lieblingsschimpfwort), ist unser Theater, der so komplizierte, oft fast immobil erscheinende Betrieb, ja vielleicht bald nur bei so viel Temperament und Entschiedenheit noch weiterzubewegen, wie Kurt Hübner sie uns vorgelebt hat. Die Form ist die Botschaft - ist in seinem Fall die Botschaft auch seines starken Charakters. Und sehr bequem war, ist dieser Charakter freilich nicht. Selbst die Liebeserklärungen bestätigen es.

Bei all der Begeisterungsfähigkeit - skeptisch, kritisch und gründlich, ungemütlich blieb er immer, Scheu vor Auseinandersetzungen hatte er nie. er suchte sie geradezu, er konnte nicht leben ohne sie. Wenn normale Theaterdirektoren lieber die Konflikte herunterspielen, stürzte er sich nicht ungern in sie hinein. Wenn andere schnelle Kompromisse finden, wich er ihnen so lange wie möglich aus. Der liebenswerte, oft schockierende Mangel an Anpassungswilligkeit machte diesen Kurt Hübner zur großen Ausnahme. Und vielleicht war ja auch die Bereitschaft zum Risiko nach innen und außen das Geheimnis seiner Kraft, seiner Anziehungskraft auf die unterschiedlichsten, sensiblen und extremen Talente.

So groß, mag sein, die Verluste schon sind an Kulturgeschmack, Leidenschaftlichkeit, Radikalität, Aktualität im Alltag unseres Theaters - am Lebenswerk Kurt Hübners, an seiner Eigenwilligkeit hat sich gezeigt, welcher Art die Kräfte sind, die das Theater erhalten, es regenerieren und wiederbeleben können. Ich gratuliere - mit herzlichem Dank.

Dietmar N. Schmidt (1938-2007) war ein deutscher Kulturmanager, Theaterkritiker, Autor und Regisseur insbesondere von Dokumentarfilmen über kulturelle Themen. Bekannt geworden ist er mit seinem Engagement für eine Kunst, die sich jenseits von Mainstream und Event bewegt. Schmidt war Mitbegründer von international bedeutsamen kulturellen Initiativen.

Autor von Kurt Hübner. Von der Leidenschaft eines Theatermenschen. Henschel, Leipzig 2006.

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KURT HÜBNER FORDERUNG FÜR ALLE ZEIT

Eine Geschichte der Theaterintendanten zu schreiben hieße gleichzeitig, die Geschichte der menschlichen Narrheit festhalten, gespiegelt in den Tragödien und Komödien der Leute, deren Trachten darauf gerichtet war, sie darzustellen und auszubeuten. Es würde eine Geschichte von Künstlern, Scharlatanen und Geschäftemachern werden, von Leuten, die vieles andere auch hätten machen können, um zu leben, und von solchen, die nur dies eine tun konnten, einfach deshalb, weil es allein ihrem Talent entsprach. Wenige von ihnen starben, wie es so schön heißt, hochgeehrt, viele in miserablen Umständen.

Die Geschichte der Theaterdirektoren zeigt, womöglich drastischer als jede andere, die Launenhaftigkeit der Menschheit, die Vergänglichkeit des Erfolges und die Unberechenbarkeit der Zeiten. Jede Veränderung im politischen Gefüge, oft von nur klein personeller Art, jede finanzielle Labilität, jede Marotte des Publikums, jede Laune seiner Stars, jedes nachlassende Wohlwollen - aus welchem Lager auch immer und wodurch auch immer verursacht - gefährden die Stellung des Prinzipals. Die Strukturen des Theaters haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt, nur in der Position des Theaterleiters besteht, in welcher Metamorphose diese Persönlichkeit auch in Erscheinung tritt, eine sonderbare Kontinuität. Die Geschichte des Theaters als Institution, man mag sie nachlesen wo man will, stellt sich dar als eine endlose Wanderung von Krise zu Krise. Immer scheint das Theater im letzten Akt angelangt zu sein. Es stolpert von einer Not in die andere, Leichen liegen auf dem Wege, aber die Institution bleibt.

Ohne Seelsorge geht es ja nicht, und wenn Freuds intelligenter Satz richtig ist, dass der Mensch die Kunst brauche, um zu einer Versöhnung mit sich selbst zu gelangen, dann geht es nicht ohne Theater, demzufolge auch nicht ohne Prinzipale. Aber wie? Offenbar wird das Verhältnis des Theaters zu der Wirklichkeit, in der wir leben, immer anachronistischer. Der Prozess

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner der Mechanisierung, der Arbeitszeitverkürzung, der Ausdehnung der Freizeit stellt die Institution vor Probleme, die sie erschüttern.

Opportunistisches Denken - getarnt hinter Scheinbekenntnissen zum Primat des Geistigen und Künstlerischen - bricht mit Macht in die Bereiche einer Institution ein, deren Bedeutung genau im Gegenteil dessen liegt, dem sie sich zu unterwerfen von allen Seiten gedrängt wird: der Konfektionierung. Es scheint ja auch ohne die weitgespannten Ansprüche zu gehen, ohne das allmähliche Herausschälen des Endgültigen, ohne die größte Genauigkeit. Die Fürsprecher einer Normierung der Kunst mehren sich, obwohl sich doch hier nur wenig normieren lässt.

Bei der Betrachtung dessen, was das Theater heute leistet, erkennen wir tatsächlich, dass die Verwirklichung solchen Normierungsdenkens weitgehend schon vollzogen wird. Die Fixigkeit, mit der Kunst produziert wird, indem man sich beispielsweise auf das verlässt, womit der Schauspieler erfahrungsgemäß -ankommt, entspricht derjenigen auf anderen Gebieten. Ich meine nicht die Herstellung von Gebrauchsgütern des materiellen Bedarfs, ich meine die allgemeine Fixigkeit der Herstellung von Gütern für den geistigen Konsum. Diejenigen Institutionen, deren Sinn zu einem nicht geringen Teil darin liegt, den Einfrierungsprozess der geistigen Anlagen des Menschen zu verhindern, Funk und insbesondere das Fernsehen, rutschen notgedrungen immer tiefer in ein paradoxes Wechselspiel hinein. Der Bedarf an geistiger Konsumware wird immer größer, je mehr der Wahnvorstellung nachgegeben wird, es käme lediglich darauf an, ihn quantitativ zu befriedigen. Unter der Voraussetzung, daß Erzeugnisse künstlerischer Art schon als solche Qualitätserzeugnisse seien, erhöht man sie quantitativ weit über die Grenze des künstlerisch Produzierbaren.

Gewiss, es gibt kaum einen Verantwortlichen, der diesen Teufelskreis nicht sieht, aber nur außerordentlich wenige wagen es, dem fatalen Mechanismus mit einem Veto zu begegnen. Immer mehr triumphiert der Markt, das heißt, der Bedarf. Jammernd gibt man nach und produziert, und immer weiter entfernen sich die Erzeugnisse von dem, was sie sein sollten: unbestechliche Vergegenwärtigungen des Menschen, wie er ist, die phantasievolle und originelle Darstellung dessen, was er aus seinen Anlagen zu entwickeln vermag, oder - überhaupt und allgemein - ein Beispiel von der Unerschöpflichkeit der schöpferischen Kräfte, die der Mensch, wenn er bereit ist, sich ihrer bewusst zu werden, besitzt.

Die zum Wesen des Theaters gehörende Forderung nach Qualität hat nun einmal ihre unbarmherzigen Seiten. Zwar, diejenigen Regisseure, die fertige Lösungen mitbringen und deren Arbeit weitgehend im Hindrillen auf diese liegt, haben für das, was mit einem Unterton der Verlegenheit, Gebrauchstheater. genannt wird, ihre durchaus schätzbare Bedeutung;

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Nachrufe & Lobreden auf Kurt Hübner jedoch ist das Fassadenaufreißen, um Wahrheiten, die unsere Betroffenheit auslösen, bloßzulegen, keine Angelegenheit patenter Arbeitsmethoden. Die Schwierigkeiten einer weitgehend an unberechenbare Faktoren gekoppelten künstlerischen Arbeit sind ein tragendes Moment in dem Entstehungsprozess fast jeder mehr als durchschnittlichen Aufführung geworden. Alle wirklichen Theaterleute wissen natürlich, dass es im künstlerischen Schaffen ein hohes Maß an Unvoraussehbarem gibt; die Entwicklung jedoch zielt darauf hin, diese Tatsache zu negieren. Der heute sich ausbreitende neue Götzendienst der Anbetung von Normen lässt sich mit der Normenfeindlichkeit des künstlerischen Prozesses nicht mehr in Einklang bringen.

So steht der Intendant immer häufiger im Schnittpunkt immer härterer Gegensätze. Natürlich kapituliert kein echter Prinzipal vor diesen Fakten, die ihn in eine unnatürliche Rotation - zu allem anderen dazu - versetzen. Er verhandelt gleichzeitig mit seinen Mäzenen, soll heißen, den öffentlichen Rechtsträgern, um Verständnis für seine Forderungen durchzusetzen, und mit seinen Künstlern, nach denen der Markt schnappt, um immer kompliziertere Engagementsbedingungen auszuklügeln; er beobachtet die Proben, jagt durch die Märkte, sucht Stücke, arbeitet mit Schriftstellern, entwirft Spielpläne, krempelt um, weil der Hauptdarsteller erkrankt ist oder der Gast absagen musste oder weil irgendwas innerhalb des Normenkorsetts katastrophale Folgen hat - die Inszenierung verschoben werden muss. Oder, oder, oder ...

Für industrielle Erzeugnisse mag es vorstellbar sein, dass Qualität auch bei geringster menschlicher Arbeitsleistung auf dem Wege der Automatisierung erzielt werden kann. Das Theater, dessen ganzes Wesen der Automatisierung widerspricht, wird niemals nennenswert von dieser Möglichkeit profitieren können. Der Prinzipal eines Theaters soll heute also einen Apparat funktionsfähig erhalten, in dem die Widersprüche sich immer rascher potenzieren. Die Öffentlichkeit will von diesen Schwierigkeiten selbstverständlich nichts wissen. Wenn es auch ohne Zweifel einem großen Teil des Publikums, und leider auch vielen sogenannten Zuständigen, gleichgültig ist, ob eine Leistung eine hohe künstlerische Qualität aufweist, so ist es das doch wenigstens nicht dem wirklich sachverständigen Publikum und nicht einem Teil der Kritik, die über die Leistungen zu Gericht sitzt. Geschickte Prinzipale können sich hier mit Geschicklichkeit über viele Notstände so hinwegmogeln, dass alles als gar nicht so schlimm, ja vielleicht sogar als doch noch recht repräsentativ erscheint. Der wahre Künstler aber ist in der Regel das Gegenteil von einem Schwindler. Kunst erfordert Unbedingtheit, und es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass eine aufrichtige künstlerische Leistung nicht ermogelt werden kann.

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Noch scheint es bequemer zu sein, quantitativen Ansprüchen zu genügen, als neue Wege zu suchen, die das Theater grundsätzlich aus der Konfektion der Zeit herausheben. In einem Land, 'in dem sich die Opposition genauso gern saturiert wie die Macht, in dem man sich gern regt, aber nicht als Suchender, sondern als Selbstzufriedener, in dem man die Kultur pflegt, aber weniger um der Erkenntnis willen als wegen der Repräsentation, in dem man beachtliche Summen investiert, aber weniger mit dem Ziel, zu Leistungen zu gelangen, als um seine Pflicht zu tun, erscheint das verständlich. Hierzulande ist es schon ein Risiko, das unbequeme Problem überhaupt anzusprechen. Es anzupacken ist Sache von Verwegenen. Sollten sie es aber deshalb nicht tun?

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Kein Mensch hat in den vergangenen Jahrzehnten mehr für das deutschsprachige Theater bewirkt als Kurt Hübner PETER ZADEK