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Sendung vom 03.01.2000

Prof. Dr. Ivan Nagel Intendant, Dramaturg, Kritiker und Schriftsteller im Gespräch mit Stephan Pauly

Pauly: Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu Alpha- Forum. Zu Gast ist heute Professor Ivan Nagel. Er ist Theaterintendant, Dramaturg, Kritiker, Festivalerfinder und -leiter, Entdecker von jungen Theatertalenten, emeritierter Professor aus und nicht zuletzt natürlich glänzender Essayist und Schriftsteller. Herr Professor Nagel, Sie haben 1999 den Fritz-Kortner-Preis bekommen und Sie haben in Ihrer Rede bei der Verleihung gesagt, der innere Antrieb für alle diese Berufe in und um das Theater herum war und ist, Künstlern zu danken und von Künstlern zu lernen. Daraus spricht innige Nähe zur Kunst und zu Künstlern, aber auch Freiheit und Distanz. Nagel: Ich glaube ganz einfach, dass ich in meinem Leben einigen großen Menschen begegnet bin. Und in meinen ersten 20, 30 Jahren waren das natürlich ältere Leute als ich. Mein Lehrer an der Universität war Theodor W. Adorno. Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann war es wahrscheinlich so, dass ich überhaupt nur wegen Adorno nach Deutschland gekommen bin, um bei ihm in zu studieren. Die nächste große Erfahrung, der nächste große Lehrer, war Fritz Kortner an den Münchner Kammerspielen. Eine spätere große Erfahrung - da waren wir dann allerdings vom Alter her schon fast gleich alt – war sicherlich . Pauly: Sie haben eine Ihrer ersten großen und konzentrierten Theatererfahrungen in Zürich am Schauspielhaus gemacht: Sie haben dort große Schauspieler und Schauspielerinnen erlebt wie z. B. die Giehse, wie Maria Becker oder Will Quadflieg. Wie sind Sie denn eigentlich in die Schweiz gekommen, denn geboren sind Sie ja in Ungarn? Nagel: Ich bin geboren und aufgewachsen in Ungarn. Ich habe dort auch diese beiden grässlichen letzten zwei Kriegsjahre durchgemacht. Meine Familie, und damit auch ich, wurde verfolgt: Ich lebte zu der Zeit mit falschen Papieren, d. h., ich hatte eine gefälschte Identität und einen gefälschten Namen. Das ist etwas, das einem Kind sehr viel ausmacht, denn Kinder hängen nun einmal an Namen und an Worten, als ob sie die Sache selbst wären. Wenn man selbst anders heißen will, dann bedeutet das, dass es einen eigentlich nicht geben dürfte: dass es Ivan Nagel nicht geben darf, sondern stattdessen Ferenc Kiss geben muss. Das ist etwas, das man mit 13 Jahren nicht versteht, aber doch sehr stark empfindet. Diese schlimmen Jahre habe ich also ebenso in Ungarn verbracht wie diese drei wunderbaren Nachkriegsjahre, als sich das Land plötzlich öffnete, als Georg Lukács aus Moskau zurückkam und aus Amerika Otto Klemperer als Generalmusikdirektor der Budapester Oper zu uns kam. Das heißt, meine großen musikalischen und philosophischen Erlebnisse fingen schon damals im Alter von 14 bis 17 Jahren an. Pauly: Waren in der Zeit die Kunst und die Musik, das Aufwachsen mit Büchern und Klavierauszügen von Mozart so etwas wie eine Gegenwelt? Nagel: Ja, sicher. Das war vor allem nicht nur bei mir, sondern in ganz Europa so: Da bildete sich ein Musikstil heraus - vor allem auch ein Mozartstil -, der Trost war. Das war eine Versicherung, dass es auch noch etwas anderes gibt als dieses Grässliche, das wir in Europa alle auf die eine oder andere Art und Weise erlebt hatten. Ich glaube, dass dieser heute auf uns beinahe schon ein wenig affektiert wirkende Mozartstil der höchsten Verfeinerung und Vergeistigung wirklich ein Versuch war, ein Gegengewicht und eine Sicherheit zu finden, dass es auch noch etwas anderes gibt. Für meine Kindheit war Musik daher ganz bestimmt sehr entscheidend. Sie war sicherlich auch Zuflucht und wohl schon ein wenig schuld daran, dass ich dann, als ich selbst Kunst machte, d. h. Kunst für andere Menschen ermöglichte, deswegen die Kunst immer noch zu stark als Zuflucht, als Bildungsparadies eines bürgerlichen Daseins sah und nicht wie die wirklichen Künstler das Machen daran erlebte. Es dauerte Jahre, bis sich das bei mir änderte. Ich musste bei großen Künstlern wirklich in die Schule gehen - bei Kortner und auch bei Zadek oder Wilfried Minks, dem großen Bühnenbildner –, um begreifen zu können, dass die Kunst manchmal fast etwas Bäuerliches, etwas Handwerkliches und etwas mit Machen und mit sich Ausdrücken zu tun hat, und eben nicht mit dieser Zuflucht zum Schöneren. Pauly: Sie haben die Kunst dann auch professionell nicht als Macher begonnen, wie Sie sagen, sondern zunächst als kritischer Zuschauer. Sie haben bei Adorno Philosophie studiert: Adorno hat Sie in die "Studienstiftung des Deutschen Volkes" gebracht, weil er Ihnen ein Zeugnis ausgestellt hat, in dem er Sie als philosophische Begabung lobte und zugleich aber auch bemerkte – und da irrte er –, dass Sie dagegen gefeit seien, in die journalistische Zunft zu gehen. Denn Sie waren keineswegs dagegen gefeit, weil Sie ja zunächst einmal Kritiker geworden sind. Nagel: Ich glaube, ich war ein sehr unjournalistischer Journalist, wenn man das so ausdrücken darf. Damals hatte man, was man heute nur noch bei ganz wenigen Zeitungen und Zeitschriften hat, eine ziemliche Freiheit zu explizieren, was man dachte. Man musste im Gegensatz zu heute nicht immer daran denken, wie man es so kurz fasst, dass es der Leser überfliegen kann, und wie man es so einfach sagt, dass der Leser damit keine Schwierigkeiten hat: weder in der Phantasie sich vorzustellen, was da eigentlich gemeint sei, noch bei seiner gedanklichen Arbeit. Es war eigentlich schon ein Privileg, damals Theaterkritiker zu sein. Pauly: War Fritz Kortner eine Art von Bekehrung zur Praxis und vielleicht auch der Anstoß weg von der Außensicht und hin zur Innensicht und zum Verständnis von Theater, zur inneren Genese, wie Theaterarbeit eigentlich funktioniert? Nagel: Gehen wir doch in der zeitlichen Ebene noch ein wenig zurück. Ich bin 1948 mit 17 Jahren allein und ohne die Familie, die in Ungarn bleiben musste, aus Ungarn herausgegangen, weil 1948 das Jahr war, in dem sich die Grenzen in Europa schlossen. Ich wollte ganz einfach nicht umsonst Englisch, Französisch und Deutsch gelernt haben: Ich wollte das auch benützen können, ich wollte die Welt sehen. Ich bin also einsam aus Ungarn weggegangen und nach Zürich gekommen. Ich hatte das Glück, dass meine Eltern ein bisschen Geld für mich hatten sammeln können, sodass ich dort wenigstens noch das Abitur ruhig, d. h. finanziell abgesichert, absolvieren konnte. Danach bin ich nach Deutschland gegangen: Meine Familie hat es nicht so richtig verstanden, warum ich gerade nach Deutschland ging. Ich ging deshalb dorthin, weil mich diese große deutsche Literatur um das Jahr 1800 herum - Kleist und vor allem Hölderlin – so sehr fasziniert hat. Diese Literatur war für mich das Wichtigste: Das, was sich damals in Deutschland parallel zur Französischen Revolution ereignet hatte. Diese Zeit um 1800 herum, diese große Wende und diese große Krise des europäischen Bewusstseins ist auch bis heute ein Thema für mich geblieben. Ich kam also nach Frankfurt, um bei Adorno zu studieren. In diese Zeit fiel auch Adornos Hilfe, die mir das Studium überhaupt erst ermöglicht hat. Ich glaube, ich war der erste Staatenlose, der damals von der "Studienstiftung" aufgenommen worden ist. Ich hatte daher ein verhältnismäßig schönes und auch langes Studium in Frankfurt, bis ich mir sagte: "Jetzt muss ich anfangen, etwas zu machen." Pauly: Wenn man nun versucht, diesen Sprung zu erläutern: Wie hat sich denn Ihre Sicht auf das Theater verändert, als Sie dann später Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen geworden sind? Was haben Sie von Fritz Kortner gelernt, wie hat sich Ihre Theatersicht, Ihre Erlebnisweise und Ihre Lesart von Stücken geändert? Nagel: Ich habe das schon angedeutet: Meine erste Periode als Kritiker war zu sehr von dieser Idee der Schönheit als Gegenwelt, als Bildungswelt, als Zuflucht geprägt. Bei Kortner erlebte ich mit der ungeheuren Monumentalität und Suggestivität dieser Person zum ersten Mal, was Machen heißt: und zwar nicht Machen als Macher, denn davon gab es an den Münchner Kammerspielen auch damals schon einige, sondern Machen als ganz großer genialer Künstler. Seine Arbeit war von einer ungeheuren Faszination für die Schauspieler und auch für den Dramaturgen, der dabeisaß. Das hat mich wirklich ein für alle Mal geprägt. Das hat mich auch darin geprägt, wie ich Stücke gelesen habe. Ich habe immer schon irrsinnig viel gelesen: Ich hatte schon mit viereinhalb Jahren lesen gelernt, weil es mich geärgert hat, dass mein zweieinhalb Jahre älterer Bruder etwas konnte, was ich nicht konnte. Von da an habe ich wirklich so intensiv gelesen, dass ich dabei nichts mehr hörte oder gesehen hätte, was sich um mich herum abspielte. Trotzdem war es jedoch so, dass ich dabei das Theater auf eine konventionelle und verschönte und auch routinierte Art und Weise betrachtet habe: Das heißt, man erwartete von Tragödien, dass sie einen traurig erschüttern und keinesfalls komisch sind – so wie die Menschen im wirklichen Leben ja auch sehr komisch sein können, selbst wenn ihnen etwas Schreckliches zustößt. Von Komödien erwartete man wiederum einen wunderbaren und schönen Schluss und Anmut und Wortgeklingel. All das habe ich bei Kortner verlernen müssen. Sei es in der Komödie wie in "Leonce und Lena" oder in "Was ihr wollt" – zwei wunderbaren Aufführungen an den Münchner Kammerspielen – oder in den Tragödien wie "Richard III." oder "Othello": Kortner hat jeweils auch in der Komödie das Tragische, das Erschreckende, sehen wollen und in der Tragödie das Komische, das Hinfällige, das Lächerliche, das Erbärmliche des Menschen. Pauly: Wie ist das Verhältnis von Schauspieler und Regisseur bzw. wie sollte es sein? Können Sie das erklären? Das ist, soll und muss sicherlich von Fall zu Fall verschieden sein. Sie selbst haben ja mit sehr vielen großen Regisseuren gearbeitet wie z. B. Peter Zadek, , Luc Bondy, und Sie haben auch viele junge Talente entdeckt, die Sie von deren Regieassistenz bis zu ersten eigenen Regiearbeiten geführt haben. Was ist Ihrer Meinung nach der Kern in der Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler? Was muss da stattfinden? Nagel: Sie haben Recht, es ist jedes Mal anders. Natürlich hängt das auch sehr stark von der Qualität des Regisseurs und des Schauspielers ab. Gute Schauspieler suchen mit einer ungeheuren Verbissenheit nach dem richtigen Partner, weil sie wissen, wie viel er ihnen geben kann und muss. Trotzdem lässt sich aber doch auch etwas Allgemeines sagen. Der eine Punkt ist, dass dieses Verhältnis vor allem an den kritischen Stellen oft auch etwas vom Verhältnis des Psychiaters zu seinem Patienten hat. Das heißt, es ist so, wie das Freud beschrieben hat, denn es baut sich auch im Theater etwas auf, was Freud Übertragung genannt hat: Es baut sich eine Art von Abhängigkeit des Schauspielers gegenüber dem Regisseur auf, der die Autoritätsperson darstellt und dann dementsprechend auf diesen instinktiven und gar nicht lenkbaren Widerstand trifft. Wie man aus diesem widersprüchlichen Doppelverhältnis, das, wie gesagt, ziemlich genau nach Freuds Beschreibung dem Verhältnis zwischen Psychiater und Patient entspricht, Kunst und auch Freiheit und Unabhängigkeit entwickelt, ist ein Reifeprozess, der tatsächlich dem einer gelungenen Analyse zu vergleichen ist. Der Schauspieler erfährt gleichzeitig etwas über die Rolle und über sich: Er wird daher in der jeweiligen Rolle durch den geschriebenen Text nicht gebundener, sondern auch persönlich freier. Und das ist bzw. kann ein wunderbarer Vorgang sein. Pauly: Das zeugt doch von dieser präzisen Beobachtungsgabe, die Sie auszeichnet. Sie sind 1971 Intendant am Hamburger Schauspielhaus geworden: Sie waren der erste Intendant seit 1900, der weder Regisseur noch Schauspieler war. Sie waren tatsächlich Ihr Leben lang kein Intendant, der auch inszeniert hat und damit die Häuser in doppelter Weise geprägt hätte, nämlich szenisch und ästhetisch. Stattdessen waren Sie ein Intendant, ohne Regie zu führen: Wie haben Sie denn da Ihre Rolle verstanden? Wie war Ihr Selbstverständnis in der Beobachtung, Vorbereitung und Begleitung des Arbeitsprozesses? Nagel: Sie haben das ja schon gemerkt: Für mich ist der Regisseur die zentrale Figur im heutigen, vor allem im guten Theater. Weil das meiner Ansicht nach so ist, gab es für mich natürlich schon auch die Versuchung, ebenfalls einmal selbst Regie zu machen. Als Intendant könnte man sich ja mit so vielen Regiearbeiten betrauen, wie man nur will. Pauly: ...und mit so vielen guten Schauspielern versehen, wie man sie hat oder bekommen möchte. Nagel: Ich habe dieser Versuchung jedoch immer widerstanden. Denn ich habe Folgendes gemerkt: Ich besitze die Begabung, aus schrecklichen und verfahrenen Probensituationen und aus Krisen heraus sozusagen als Notregisseur ein Stück relativ erfolgreich zur Premiere zu führen. Das musste ich in meiner ersten Hamburger Zeit, als das Haus von Krisen geschüttelt und vom Publikum entleert war, einige Male machen. Das waren Stücke, bei denen die Schauspieler nicht mehr mitgezogen haben, bei denen der Regisseur versagt hat oder ratlos geworden ist. Solche Stücke habe ich dann zu Ende inszeniert. Aber das waren doch immer konventionelle Inszenierungen. Das heißt, ich konnte nichts Neues und Kreatives in diese Aufführungen mit hineinbringen: Ich konnte sie stattdessen nur in Ordnung bringen. Das reicht aber nicht, denn ein Regisseur muss eine ganze Welt erfinden können und nicht nur - was vielleicht bei meiner Beteiligung an den Proben, bei meiner Funktion als Ratgeber von Regisseuren meine Begabung ist – erahnen, was die Aufführung eigentlich will und was man aus den bisherigen Probenarbeiten herauslesen kann, um dann auf die Fehler und die Lücken hinzuweisen und zu versuchen, den Schauspielern noch einmal etwas Zusätzliches zu geben, was im Probenprozess bisher noch nicht entstanden war. Aber das sind eben doch zwei wirklich völlig verschiedene Sachen, und ein Gebrauchsregisseur, der ganz ordentliche Aufführungen abliefert, wollte ich wirklich nicht sein. Lieber wollte ich es großen, genialen Regisseuren und den besten Schauspielern, die ich nur irgendwie sammeln konnte, ermöglichen, zusammen ungewöhnliche Arbeiten zustande zu bringen. Pauly: Als ein solcher Ermöglicher standen Sie als Intendant natürlich auch im Kreuzfeuer der Kritik: Man hat Ihnen damals in z. B. eine Linkslastigkeit des Spielplanes angekreidet. Letztlich sind Sie dann nach sieben Jahren - Sie waren so lange in Hamburg Intendant wie kein zweiter vor oder nach Ihnen -- an einem Finanzskandal gescheitert: Sie hatten den Etat überzogen. War das eigentlich ein finanzieller oder eher ein politischer Skandal? Nagel: Nun ja, ich hatte den Etat, wenn ich mich richtig erinnere, um 50000 oder 100000 Mark überzogen. Das heißt, um ungefähr 0,7 Prozent des Gesamtetats. Das ist eigentlich schon die Antwort auf Ihre Frage. Denn diese Summe mutet doch einigermaßen lächerlich an. Meine prominenten Kollegen später und auch schon damals haben es unter drei, vier Millionen Mark Mehrausgaben eigentlich nie gemacht: Wenn sie schon Mehrausgaben gemacht haben, dann aber tüchtig und sichtbar. Schließlich war das ja manchmal sogar so etwas wie eine Erpressungsmethode von Seiten eines erfolgreichen Theaters, endlich einmal höhere Subventionen zu erhalten: So hatte das damals z. B. die Schaubühne in Berlin in ihren besten, ersten, heroischen Jahren praktiziert. Man hat mit Bewusstsein den Etat um eine Million überzogen, um dann im nächsten Jahr diese Million für immer im Etat zugeschlagen zu bekommen. In Hamburg war das damals sicherlich eine politische Kampagne im Hinblick auf meine Person. Man kann sich heute vielleicht nicht mehr so richtig vorstellen, wie stark damals die Kategorien des "Kalten Krieges", der damals am kältesten, also am heftigsten gewesen ist, ins Geistige und auch ins Künstlerische übertragen worden sind. Hamburg hatte damals eine ausschließlich von Springer besessene und auch gelenkte Presse. Es gab daneben nur noch die "Morgenpost", die den Gewerkschaften gehörte, die mit großen Unglücksgefühlen versuchten, daraus eine zweite und schlechtere "Bildzeitung" zu machen. Das heißt, in der Presse war auf niemanden Verlass. Auf die SPD war noch weniger Verlass: Sie hatte in der Hamburger Bürgerschaft – so heißt das Hamburger Parlament – zunächst fast und dann tatsächlich die absolute Mehrheit. Auf sie war jedoch noch weniger Verlass, weil dort in kulturpolitischen Fragen eine große Spießigkeit herrschte. Das heißt, ich konnte mich eher auf den Koalitionspartner FDP verlassen, der aber so schwach war, dass er ständig, und das hat dann am Schluss auch diese Katastrophe ausgelöst, wenigen Stimmen und einer seltenen guten Schlagzeile in der Springerpresse nachlaufen musste. Pauly: Das heißt, Sie sind damals in die politischen Querelen hineingeraten und mussten nach einer, wie Sie sagen, relativ geringen Überziehung des Etats dafür auch büßen. Blicken Sie denn heute versöhnt nach Hamburg zurück? Nagel: Nein, nicht versöhnt, sondern mit der größten Freude. Ich glaube, dass das wirklich die intensivste Zeit in meinem Leben gewesen ist. Das war die Zeit zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr, in der man ja glaubt, dass das, was man macht, das Einzige ist, was eines Menschenlebens und eines vollen Einsatzes würdig ist. Ich dachte damals tatsächlich, dass das Theater das Allerwichtigste in der Welt sei. Dieser mein Glaube wurde dann allerdings etwas erschüttert, als ich nach meiner Rückkehr aus New York für ein Jahr am Wissenschaftskolleg in Berlin war. In New York war ich zwei Jahre lang Kulturberichterstatter der FAZ: Das waren diese zwei Jahre, die der Hamburger Intendanz gefolgt waren. Als ich aus New York zurückkam, wusste ich, dass ich ein Jahr später in Stuttgart wieder Theater machen würde. In dieser Situation war mein alter Lehrer und wunderbarer Freund Peter Wapnewski bereit, mich für ein Jahr – damit der Übergang zwischen New York und Stuttgart nicht allzu hart wurde – am Wissenschaftskolleg in Berlin zu beherbergen. In dieser Zeit schrieb ich mein erstes Buch: Es handelte über Mozarts späte Opern und trug den Titel "Autonomie und Gnade". Das Buch ist zumindest nach meinem Geschmack so gut geraten, dass ich plötzlich wusste, dass ich noch eine Alternative habe. Pauly: Diese Wechsel sind ja doch erstaunlich. Wenn Sie vom Theater sprechen und sagen, dass Sie damals ganz überzeugt davon waren, dann spürt man doch Ihre Leidenschaft für dieses Metier. Aber dann gingen Sie plötzlich nach New York und haben einen ganz radikalen Wechsel vollzogen. Sie machten keine Theaterarbeit mehr, sondern wurden Kulturkorrespondent und lernten diese fremde Stadt und dieses fremde Land USA kennen. Schnitte und Wechsel haben überhaupt Ihr Leben geprägt. Nagel: Ja, ich glaube, ich bin nirgends länger als sieben Jahre geblieben. Das ist wohl eine ganz gute und runde Zeit: So lange dauerte meine Zeit als Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen, so lange war meine Intendanz in Hamburg. Die Zwischenperioden als Journalist oder als Kritiker waren immer sehr viel kürzer. Ich brauchte ganz einfach immer wieder solche Erholungsperioden, ich brauchte auch eine Zeitspanne, in der ich über das nachdenken konnte, was ich in diesen sieben Jahren gemacht habe, als ich mich teilweise auch ganz blind in die Sachen hineingewühlt hatte. Ich brauchte auch Zeit, um mir ausdenken zu können, was ich denn eigentlich als Nächstes machen sollte. Pauly: Was haben Sie in New York gesehen? Was war das Wichtigste, was Sie sich im Hinblick auf die Kunst angeeignet haben und was Ihnen sozusagen die Augen geöffnet hat? Nagel: Ich muss zuerst einmal etwas dazu sagen, warum ich überhaupt aus Hamburg weg und nach New York gegangen war. Ich hatte nach sieben Jahren in Hamburg wirklich das Gefühl – das war von diesen politischen Konflikten völlig unabhängig –, dass ich nicht mehr Tag und Nacht behaupten kann, dass ich anderen Leuten etwas gebe, weil ich in diesen sieben Jahren ja kaum Zeit hatte, selbst etwas aufnehmen zu können. Ich führte daraufhin mit Joachim Fest von der FAZ ein Gespräch, das von seiner Seite aus mit der größten Freundlichkeit, Klugheit und Liberalität geführt wurde. In diesem Gespräch empfahl er mir, ich sollte als Kulturkorrespondent doch nach Moskau gehen, denn das sei für mich bestimmt der interessanteste Ort. Ich hätte dabei nicht nur Kulturkorrespondent für die Sowjetunion, sondern für Osteuropa sein sollen. Er hatte natürlich Recht, aber: Nach den großen Konflikten in Hamburg, nach diesen politischen Schwierigkeiten, hatte ich überhaupt keine Lust darauf, dass ich dann, wenn ich nur zwei wahrheitsgetreue und d. h. gute und große Stücke über das Moskauer Leben und die dortige Kultur abgeliefert habe, ständig damit hätte rechnen müssen, dass man meine sämtlichen Telefongespräche abhört. Wo ich auch hingegangen wäre - ich tauche z. B. sehr gerne im städtische Leben unter –, wären mir zwei oder drei Geheimpolizisten an den Fersen gehangen. Deshalb habe ich Fest gebeten, nach New York gehen zu können. Das waren dann wirklich zwei fabelhafte Jahre. Denn dort ist wirklich ständig neue Kunst produziert worden. Dies galt freilich weniger für das Theater, denn das Theater war fast schon untergegangen nach den großen Zeiten der späten sechziger Jahre, als wirklich die Avantgarde z. B. mit dem "Living Theater" von New York aus in die ganze Welt gewirkt hatte. Als ich dorthin kam, war dieses Off-Off-Broadway-Theater schon ziemlich kaputt oder durch Kommerzialisierung bereits untergegangen. Pauly: Sie fanden dort sicherlich zeitgenössische Literatur und Tanz als hauptsächliche Kunstformen vor. Nagel: Ja, auch Literatur, aber der Tanz war fast schon die Hauptgattung. Die Amerikaner sind an sich eigentlich eh ziemlich nonverbal. Ich hatte z. B. auch Schwierigkeiten, mich in New York in der Kneipe zurechtzufinden. Denn wenn ich drei ganze zusammenhängende Sätze sagte - meist mit einem viel zu starken englischen Akzent –, dann blickten mich die Leute häufig recht verachtungsvoll an. Denn die Amerikaner reden manchmal unheimlich dicht und pointiert, aber verwenden dabei selten mehr als drei Worte, die ihre Haltung zu etwas Bestimmten ausdrücken. Diese kompakte nonverbale Art der amerikanischen Kommunikation habe ich nicht wirklich beherrscht. Aber das ist wahrscheinlich ein Grund dafür, warum in den USA der Tanz und die bildende Kunst im 20. Jahrhundert eine so unerhörte und so unerwartete Wirkung entfaltet haben. Das waren die eigentlich zentralen Künste in den USA im 20. Jahrhundert – und da habe ich in New York im Hinblick auf die bildende Kunst und den Tanz doch einiges gelernt. Pauly: Sie kamen dann zurück nach Deutschland und gingen an das Wissenschaftskolleg in Berlin. Dort, in diesem Jahr, haben Sie diesen Essay "Autonomie und Gnade" über Mozarts späte Opern verfasst. Wenn ich das richtig sehe, dann ist das der Versuch, Mozarts sieben große Opern sowohl in einen weltgeschichtlichen wie auch in einen geistesgeschichtlichen Kontext einzuordnen und diese beiden Kontexte sich gegenseitig interpretieren zu lassen. Die zentralen Begriffe lauten dabei Autonomie und Gnade. Wie siedeln Sie diese Begriffe an, und was hat das mit Mozart zu tun? Nagel: Ich sah bei Mozart eine Zeit des großen Wechsels, der großen Wandlung. Autonomie und Gnade sind schon auch, aber eben nicht nur entgegengesetzte Begriffe. Die Gnade kam ja zunächst einmal immer von oben und widersprach insoweit selbstverständlich der Autonomie des einzelnen Menschen. Ob das nun göttliche oder fürstliche Gnade war: Die Gnade setzt voraus, dass es eine Spannung gibt zwischen dem einen, einzelnen Oberen und den vielen Unteren. Bei Mozart kommt dagegen vor allem in seinen drei wunderbaren italienischen Opern die Individualität, die Unabhängigkeit, sozusagen die ganze innerweltliche Freiheit des Menschen zum ersten Mal zur Sprache, d. h. zur Musik. Für mich war das aber auch ein Punkt, an dem ich versucht habe, das Element der Gnade zu fassen, das bei ihm in die Oper - in diese innerweltlichen Verhältnisse – einsickert und sich dieser anverwandelt. Denken Sie dabei doch nur an die "Entführung aus dem Serail": Die Oper endet zwar mit einem Akt der Gnade gegenüber "Bassa Selim", aber diese Gnade wird doch auch verdient und geradezu erzwungen durch die Autonomie, durch die Freiheit, durch die Wahl von Constanze in ihrem Satz "Mit dir will ich sterben!": Das ist die Tat eines Einzelnen. Auch in diesem wunderbaren Finale in "Figaros Hochzeit" passiert das: Es ist ein Akt der Gnade, den die Gräfin dem Grafen im Moment der tiefsten Krise und Erniedrigung zuteil werden lässt. Auch die Musik ist eine Musik der Gnade: Das erleben wir jedes Mal, wenn wir große Musik von Mozart hören. Das Entscheidende ist dabei jedoch, dass diese Gnade bei Mozart in die Menschen und die menschlichen Verhältnisse hineingewandert ist. Das macht eben, wie ich glaube, die Schönheit von Mozarts Musik aus. Pauly: Ich würde gerne noch einmal auf den philosophischen und geistesgeschichtlichen Kontext zu sprechen kommen. Ich hatte den Eindruck, dass das Bild dieser Zeit, das in diesem Essay zum Ausdruck kommt, Folgendes bedeutet: Das, was in der Französischen Revolution für alle hätte aufbrechen können, nämlich Freiheit und Autonomie, scheiterte, blieb Utopie und wanderte in das Schöne. Es fand dort seinen Ort z. B. in Goethes Sprachkunst, in Mozarts Opern, in der Sehnsucht Schuberts oder im Pathos von Beethovens "Fidelio". Bleibt diese Idee, die, wie Sie sagen, damals in diesem Lichtspalt gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufgebrochen ist, Utopie? Gewinnt sie im Schönen und in der Kunst ihre Kraft bis heute? Nagel: "Bis heute", Ihre Frage endete mit diesen beiden Worten: Es macht mir wahnsinnige Schwierigkeiten und bereitet mir auch Schmerzen, auf diese Frage mit Ja zu antworten. Mir gefällt die heutige Situation nicht: Man nimmt den Schwund des Individuums gerade im Namen des Liberalismus in Kauf. Seit den letzten fünf, sechs Jahren, vielleicht aber auch schon seit den letzten 15 Jahren leben wir meiner Ansicht nach in einer fürchterlichen Welt. Damit meine ich noch nicht einmal dieses namenlose Elend des größten Teils der Menschheit. Nein, ich meine in dem Fall die geistige Situation der Privilegierten, ich meine damit uns. Das Paradox, das im Augenblick gerade geschieht, ist wirklich das größte und wüsteste, das man sich überhaupt nur vorstellen kann. Gerade im Namen des amerikanischen Wirtschaftsindividualismus und sozusagen im Namen des alten Mandeville'schen Glaubens - je größer die Anarchie der individuellen Bestrebungen, umso besser addiert sich das zu einer idealen Gesellschaft – geschieht die völlige Zerstörung des Individuums. Die Zerstörung des Individuums geschieht gerade durch Wirtschaftsindividualismus, durch den Liberalismus: In deren Namen sind wir dabei, die Möglichkeiten der Individualität und die geistige Entfaltung der Individualität vollkommen auszugrenzen und auf soziale und menschliche Verantwortung zu verzichten. Dies alles geschieht im Namen der Globalisierung: oder wie auch immer man das nennt, welche ideologischen Phrasen man zur Verschleierung dieses Sachverhalts auch immer dafür verwenden mag. Pauly: Hat denn das Theater an dieser Stelle überhaupt noch so etwas wie eine humanisierende Kraft? Trauen Sie das dem Theater zu? Nagel: Da die Verhältnisse so kompliziert sind, geht auch das nicht so einfach. Das Theater – genauso wie die Philosophie und alle anderen geistigen Kräfte – muss manchmal mit genau der gleichen Verzweiflung wie eine Fliege zwischen zwei Glaswänden hin und her hetzen und immer wieder mit dem Kopf gegen die Glaswand stoßen, um zu versuchen, etwas Unordnung in diese Ordnung zu bringen, die einen immer mehr erstickt. Auch hier ist es so, dass diese Ordnung, die einen immer weiter einengt, mit dem Argument der größten Befreiung operiert: nämlich mit der Globalisierung der Welt als eines einzigen freien Marktes. Wenn ich sehe, wie heute in der Politik - und dabei vor allem und besonders stark von amerikanischer Seite aus – z. B. bei den Unterstützungsversprechen für Russland oder andere osteuropäische Staaten davon gesprochen wird, dass es dafür eine Bedingung gibt, nämlich Demokratie und Marktwirtschaft einzuführen, dann bin ich doch ziemlich pessimistisch. Das heißt nämlich, dass die Demokratie gar keine ist. Wenn man schon die Demokratie einführt, dann sollen die Leute doch in Gottes Namen selbst bestimmen dürfen, in welcher Art von Wirtschaftsform sie leben wollen. Aber darum geht es in der Realität ja gar nicht, denn die Demokratie ist nur noch Putz für die Marktwirtschaft geworden: Sie ist nur eine Schminke. Pauly: Man versteht also, dass das Theater für Sie am Brennpunkt der gesellschaftlichen, politischen und, wie man heute sagt, auch globalen Fragen stehen muss. Für Stuttgart, wo Sie nach dem Jahr in Berlin Intendant am Württembergischen Staatsschauspiel wurden, haben Sie damals einen Spielplan entworfen, der unter dem Stichwort "Theater der Realität" gelaufen ist. Sie haben Zeitgenossen gespielt und zunächst einmal so etwas wie eine Klassikersperre verhängt. Nagel: Nun ja, ich habe diese "Klassikersperre" auch deshalb verhängt, weil es eben nicht so einfach ist, Klassiker gut zu machen. Das heißt, um sich an diesen großen und größten Geistern und Schriftstellern messen zu können, braucht man doch einige Voraussetzungen. Und eine jede Theateraufführung eines Klassikers sollte in der Tat ein Sich-Messen mit Molière, mit Mozart usw. sein. Denn das Ganze ist ja nicht nur ein Dienen, nein, man ist da schon auch in der Beweissituation zu zeigen, ob man dem überhaupt gewachsen ist. Ich war also der Meinung, dass es zunächst einmal wichtiger ist, eine Vielfalt zu entwickeln und den Blick auf das Zeitgenössische zu werfen, als von vornherein mit dem Anspruch aufzutreten: "Wir können das! Wir sind Shakespeare gewachsen." Das war wirklich – von heute aus gesehen – eine Übergangsentscheidung. Aber da war schon auch noch etwas anderes mit dabei. Selbst in den Zeiten der großen sozialen, ideologischen und kritischen Theatererneuerung an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer unter Peter Stein zu Beginn der siebziger Jahre war ich dafür, dass es für das Theater auch noch eine Alternative geben sollte, nämlich ein Theater des frechen, des erkundenden Blicks auf die Realität, das auch gleichzeitig ein Theater der Phantasie ist. Das heißt, es ging mir darum, dass das Theater nicht zu einem Ort der ideologischen Ordnung wird, in dem die Dinge in Ordnung gebracht werden. Nein, es geht darum, die tatsächliche Unordnung in der Wirklichkeit aufzudecken und mit der Unordnung der Bühne dieser schlechten Ordnung der Wirklichkeit entgegentreten zu können. Das sah ich schon in meiner Hamburger Zeit als Aufgabe des Theaters an. Deshalb habe ich damals auch schon mit dem jungen Savary gearbeitet und dann vor allem mit Peter Zadek. Pauly: Was haben Sie denn bei Peter Zadek gelernt? Sie haben ja soeben davon gesprochen, die ganzen Prätentionen zunächst einmal wegzulassen und sich für Erfahrungen und eigenes Wissen durchlässig zu machen: Dafür steht sicherlich Peter Zadek z. B. mit seinem Epoche machenden "Othello" in Hamburg. Was war Ihnen denn das Wichtigste an Peter Zadeks Theater? Nagel: Dass er gesegnet mit einem englischen Skeptizismus nicht von Gemeinplätzen und Ideologien und auch nicht von noch so richtigen Begriffen ausging, sondern zunächst einmal von einem Blick auf die Wirklichkeit. Sicher, die "Wirklichkeit" ist zunächst auch nur eine Phrase, ein Gemeinplatz: Er jedenfalls ist auf die Sachen selbst losgegangen, die man normalerweise nicht wahrhaben will. Das betraf z. B. die Sexualität: Das war ein Thema, das damals, als er in Bremen "Maß für Maß" inszenierte, wirklich noch ein Tabuthema war. Er hat in diesem Stück von Shakespeare diese Tabuisierung der Erotik entdeckt: in einem Stück, das vom Terror gegen den Sexus handelt. Deshalb hat er damals "Maß für Maß" gemacht. Er hat dann in der Zeit, in der er bei mir gearbeitet hat, nicht nur im "Othello" dasjenige entdeckt, was den Zuschauer irritierte, wogegen der Zuschauer Dämme und Wälle aufgebaut hatte. Er tat dies aber nicht nur im "Othello", sondern meinetwegen auch in Ibsens "Wildente". Er zeigte nämlich auf, wie schädlich es ist, wenn man nicht von den Menschen ausgeht und ihnen dabei zuschaut, was sie eigentlich tun, wie sie leben, was sie machen müssen, um überleben zu können, sondern von vorgefassten moralischen Entscheidungen und Ideen. Das ist ja an sich auch das Thema von Ibsens "Wildente", und das hat Zadek mit einer großen Kraft und Schönheit herauspräpariert: sicherlich mit der Hilfe von großartigen Schauspielern wie Rehberg und Wildgruber oder Christa Berndl und Eva Matthes. Pauly: Es geht Ihnen also um das Aufbrechen von Realität und um den Versuch zu verstehen, es geht um die ästhetische Arbeit und um die Theaterarbeit auf der Bühne. Im Jahr 1987 wurden Ihnen parallel drei unglaubliche Angebote unterbreitet: Sie hätten in Stuttgart die Intendanz fortführen können, es wurde Ihnen erneut die Intendanz in Hamburg angeboten, und zugleich wurde in Berlin eine Professur für Sie eingerichtet. Sie haben sich dann zunächst einmal von der konkreten Theaterarbeit verabschiedet und sind nach Berlin in die akademische, die schreibende, die lehrende Existenz gegangen. Nagel: Es war schon so, dass das ursprünglich nicht als "zunächst", sondern schon als "endgültig" gedacht war: Als ich in Hamburg absagte, habe ich nicht nur zunächst einmal, sondern dieser Art von Arbeit endgültig abgesagt. Ich habe das so gemacht, obwohl ich dieses Theater in Hamburg, also das Schauspielhaus, wirklich liebe und obwohl mich Peter Zadek, der zu der Zeit Intendant war, als seinen Nachfolger gewünscht hat. Er hatte das sicherlich auch deshalb gewünscht, um in Hamburg weiterarbeiten zu können. Ich hatte also wirklich endgültig abgesagt. Dass dann später trotzdem noch dieser Salzburger Versuch kam, habe ich zu dem Zeitpunkt keinesfalls voraussehen können. Ich habe die Aufgabe in Salzburg auch nur deshalb angenommen, weil dort die Situation wirklich eine ganz andere ist als diejenige, von der ich mich im Theater hatte verabschieden wollen. Als ich die Möglichkeit hatte, wieder Intendant des Schauspielhauses in Hamburg zu werden, hatte ich folgenden Eindruck: In meiner ersten Intendanz konnte ich 80 Prozent meiner Arbeit der Kunst widmen, während nur 20 Prozent meiner Arbeitskraft durch die Verwaltung, die Administration, die Finanzen aufgebraucht wurden. Nach meiner Rückkehr aus Amerika und dann während meiner Intendanz in Stuttgart bekam ich jedoch den Eindruck, dass sich dieses Verhältnis leider vollkommen ins Gegenteil verkehrt hatte. Ich hatte aber keine Lust, mit 80 Prozent meiner Arbeitskraft daran zu arbeiten, dass man die Schauspieler überhaupt zusammenhält, dass man ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit gibt: durch Überredung, durch Tricks usw. Und ich hatte überhaupt keine Lust darauf, dass man über die Hälfte seiner Zeit damit verbringen muss, mit dem Betriebsrat darüber zu verhandeln, ob er nicht doch bereit ist, die theaterfeindlichen, die theaterfremden arbeitsrechtlichen Vorschriften gegen theaterfreundliche Richtlinien einzutauschen. Pauly: In Salzburg waren Sie da freier und konnten auch konzentrierter arbeiten. Nicht gestreckt über eine ganze Spielzeit, sondern fokussiert auf wenige Wochen mussten, durften, konnten Sie ein konzentriertes Programm anbieten. Dieses Programm im Gefolge und zusammen mit Gérard Mortier bedeutete auf der einen Seite Erneuerung. Auf der anderen Seite hieß es aber auch Erfindung, denn Sie luden Dichterinnen und Dichter als Gäste für das Literaturprogramm ein. Sie haben z. B. Elfriede Jelinek nach Salzburg geholt, gelockt, verführt, indem Sie ihr Vertrauen geschenkt haben. Wie war da genau die Situation? Nagel: Da habe ich wieder einen nationalen Skandal ausgelöst, der noch intensiver war als sämtliche Hamburger Reibungen. Denn Österreich ist ein kleines Land und vermutlich deshalb mit einer besonderen Neigung zur Intrige, aber auch mit einem seltsam konservativen und über die Kriege geretteten Nationalgefühl ausgestattet, mit dem man nur sehr schwer fertig wird. Trotzdem ist natürlich Salzburg paradiesisch im Hinblick auf all das, was ich soeben erwähnt habe. Dort kann man fast zu 100 Prozent an Kunst denken und versuchen, Kunst zu realisieren. Ich sage, dass es nur fast 100 Prozent sind, weil man erst allmählich Folgendes entdeckt. Man hat zwar nicht mit dem Betriebsrat, nicht mit der Technik, nicht mit der Administration seine Schwierigkeiten: Das funktioniert alles sehr schön und vor allem auch die Arbeit mit Künstlern funktioniert wunderbar, denn die Künstler wissen, dass sie nur für zwei Monate nach Salzburg kommen. Daher sind sie in diesen zwei Monaten auch wirklich ganz da, ohne dabei noch etwas anderes im Kopf zu haben. Nein, das funktioniert alles wunderbar. Es ist stattdessen der große Anteil von Intrigen, der einen in der künstlerischen Arbeit behindert. Ich will das gar nicht in Prozenten ausdrücken, denn man würde damit den Leuten, die diese Intrigen spinnen, zu viel Ehre erweisen: Man sollte sich darüber in der Öffentlichkeit nicht in der Weise äußern. Stattdessen ist es besser, sich selbst im Geheimen Gedanken darüber zu machen, was dort alles im Geheimen geschieht. Das war auch der eigentliche Grund, warum ich meine Arbeit in Salzburg nicht mehr weiter fortgesetzt habe. Pauly: Sie haben gesagt, dass aus Gesundheitsgründen und nach einer doch erfüllten Theaterbiografie diese Intrigen den Kampf und die notwendige Energie nicht mehr wert und lohnend seien. Zudem fiel Ihre Vorbereitungszeit für Salzburg ja auch zusammen mit Ihrer Emeritierung in Berlin. Jetzt sind Sie frei, jetzt haben Sie Zeit: Was spielen Sie denn jetzt auf dem Klavier, wenn Sie spielen? Nagel: Oh, sehr viel Mozart. In der letzten Zeit aber auch immer mehr Bach. Ich bin frei: Ja, das kann man so sagen und das klingt auch besser, als wenn ich sagen würde, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben "arbeitslos" sei. Ich hoffe aber schon, dass ich noch zu schriftstellerischen Projekten komme: Dann würde ich mich wieder wie bei meinen bisherigen Büchern mit einem Gebiet zu beschäftigen versuchen, das nicht von vornherein vorgegeben ist. Das heißt, ich habe noch nie ein Buch über das Theater an sich geschrieben. Ich habe sicherlich einzelne Reden, Kritiken und Essays von mir in zwei Büchlein gesammelt: einmal über Kortner, Zadek und Stein und später mit Benjamin Henrichs zusammen über vier jüngere großartige Regisseure. Aber ich habe eigentlich nie ein theoretisches Theaterbuch geschrieben. Bisher war es immer so: Wenn ich ein Buch geschrieben habe, dann habe ich es über etwas geschrieben, wovon ich an sich wenig verstehe. Das heißt, ich habe z. B. über Mozarts Opern geschrieben, obwohl ich kein Musikwissenschaftler bin. Die letzen beiden Bücher habe ich zum einen geschrieben über eine Skulptur von Dannecker, die zeitgeschichtlich und auch künstlerisch an einem bedeutenden Punkt steht und zum anderen über die beiden Majas von Goya, also über die bekleidete und über die nackte. Das heißt, ich wollte etwas lernen. Ich habe dieses Buch über die "Ariadne" von Dannecker auch deshalb geschrieben, weil ich über den Klassizismus und über die griechische Mythologie zu wenig wusste. Deswegen konnte ich wirklich mit gutem Gewissen zwei Jahre in den Bibliotheken verbringen, um dort den kleinsten historischen und mythologischen Details nachzugehen. Ich habe immens viel gelernt dabei. Goya z. B. verdanke ich es, dass ich nicht nur Ungarisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch kann, sondern mittlerweile mindestens als Lesender und Zuhörender auch einigermaßen Spanisch. Dazu sind solche Bücher gut. Pauly: Da Sie ja mit einer unglaublichen Vielfalt von Horizonten, Reflexionen und Welten umgehen können - Sie kennen sicherlich diesen Slogan, diesen Spruch des Bühnenvereins: "Theater muss sein". Stimmt das Ihrer Meinung nach? Nagel: Nein, nichts muss sein, wenn die großen Impulse, Substanzen, Inhalte wegfallen. Theater nur noch so zu machen, wie das momentan hauptsächlich in New York geschieht, halte ich für falsch: Dort wird Theater hauptsächlich nur noch deshalb gemacht, damit die wohlhabenden Geschäftsleute einen Grund haben, von Long Island, wo sie wohnen, in die Stadt hineinzufahren, um sich dort im Theater zweieinhalb Stunden lang – eine Aufführung dort darf wirklich nicht länger sein – den Bauch kitzeln zu lassen, bis sie endlich lachen. So etwas färbt auch auf den Theaterstil ab: Das macht das Theater überflüssig. Pauly: Sie dagegen stehen mit Ihrer ganzen Biografie dafür ein, dass das Theater gerade nicht überflüssig wird. Ivan Nagel, wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch. Sie haben gesagt, Künstlern zu danken und von Künstlern zu lernen, sei der Antrieb gewesen für Ihre Berufe, für Ihren Antrieb, Theater zu machen: Wir danken Ihnen für Ihre Kunst, über Theater, über Kunst kunstvoll sprechen zu können und so die Menschen dazu zu verführen und dafür Interesse zu wecken. Alles Gute für Ihre Zukunft, danke Professor Ivan Nagel. Ihnen, meine Damen und Herren, vielen Dank fürs Zusehen bei Alpha-Forum.

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