Thorsten Wiederhold · Gerhard – eine Karriere Nationalsozialismus in Nordhessen Schriften zur regionalen Zeitgeschichte Herausgegeben vom Fachbereich Erziehungswissenschaft/ Humanwissenschaften der Universität Gesamthochschule Kassel Redaktion: Dietfrid Krause-Vilmar Band 20

Zum Autor: Thorsten Wiederhold, geboren 1973 in Hofgeismar/ Hessen, studierte an der Universität Kassel für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Geschichte und Sport, z.Zt. ist er Referendar am Studienseminar II in Kassel.

II Thorsten Wiederhold – eine Karriere

Ein Wirtschaftsführer im Dienste des Nationalsozialismus

V E R L A G WINFRIED JENIOR

III 1. Auflage 2003 © Verlag Winfried Jenior Lassallestr. 15, D-34119 Kassel Tel.: 0561-7391621, Fax 0561-774148 e-mail: [email protected] http://www.jenior.de

ISBN: 3-934377-98-X ISSN: 0175-1840

Einbandgestaltung: Stephan von Borstel Druck: Druckwerkstatt Bräuning und Rudert, Espenau Printed in

IV Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Dietfrid Krause-Vilmar IX

Einleitung

Einführung in die Thematik 1

Problemeingrenzung und Methode 6 Forschungsstand und Quellenlage Forschungsstand 10 Quellenlage 12 Literatur 18

Zur Person Gerhard Fieseler bis 1933 Jugendliche Begeisterung für die aufkommende Fliegerei 22 Jagdflieger im Ersten Weltkrieg 23 Der Kunstflieger Gerhard Fieseler 24 Der Einstieg in das Flugzeugbaugeschäft 28

Zur Bedeutung und Entwicklung der Luftfahrtindustrie in Deutschland während der Weimarer Republik und des Dritten Reiches Zur Situation der Flugzeugindustrie vor 1933 31 Wirtschaftlicher Aufschwung der Luftfahrtindustrie nach 1933 34 Die Abhängigkeit der Luftfahrtindustrie von der Rüstungspolitik des nationalsozialistischen Regimes 38 Ergebnisse 41

Der Aufstieg der Fieseler-Werke zum Großunternehmen Die wirtschaftliche Etablierung des Unternehmens 44 Die Entwicklung zum Großbetrieb 48

V Zum Verhältnis zwischen Gerhard Fieseler und dem RLM 56 Exkurs: Zur Finanzierung der Luftfahrtindustrie im Dritten Reich 57 Die Finanzierung der Fieseler-Werke 62 Die Verhandlungen zur Umgründung der Firma 65 Ergebnisse 72

Rechtliche Grundlagen der Arbeitsverhältnisse in den Fieseler-Werken 75 Betriebliche Sozialpolitik im Dritten Reich 76 Die innerbetriebliche Herrschaftsordnung im Fieseler-Werk 90 Ergebnisse 94

Betriebsführer eines „Nationalsozialistischen Musterbetriebes“ 95 Der „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ 97 Die Ernennung der Fieseler-Werke zum „National- sozialistischen Musterbetrieb“ 110 Weitere Auszeichnungen der Fieseler-Werke und die Ernennung zum „Kriegs-Musterbetrieb“ 119 „Das Ziel ist Leistungssteigerung“ – Die Betriebsge- meinschaft im Fieseler-Werk Die Fieseler-Zeitschrift 121 Betriebsappelle, Werkschar und Betriebs-Obmann 132 Soziale Einrichtungen 143 Die Fieseler-Siedlung 152 Arbeitsbedingungen im Werk 153 Steigerung der Arbeitsleistung durch „Leistungsüber- wachung“ und „Unzufriedenenbetreuung“ Das System der Unzufriedenenbetreuung 157 Das System der Leistungsüberwachung 164

VI Produktions- und Arbeitsverhältnisse in den „Gerhard Fieseler Werken“ während des Zweiten Weltkrieges 169 Arbeiter des Fieseler-Werks werden in den Krieg eingezogen 171 Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte im Fieseler-Werk 178 Zur Zwangsverpflichtung ausländischer Arbeiter im Dritten Reich 178 Zwangsarbeiter im Fieseler-Werk 188 Aus der Sicht Gerhard Fieselers und seiner Anwälte 192 Aus der Sicht von Zwangsarbeitern 195 Eine Rede des Betriebsdirektors Freyer über den Einsatz von Zwangsarbeitern 201 Die Absetzung Gerhard Fieselers als Verantwortlicher für die Produktion in den Fieseler-Werken 205 Der ehemalige Staatssekretär und Generalinspekteur der , , über Fieseler 211 Gründe für eine verzögerte Flugzeugproduktion in den Fieseler-Werken während des Krieges 213 Zur Entwicklung der „V1“ 219

Gerhard Fieselers Verhältnis zum Nationalsozialismus Der Eintritt Fieselers in die NSDAP 222 Die Ernennung Gerhard Fieselers zum Wehrwirtschafts- führer und NSFK-Standartenführer 226 Gerhard Fieselers Aufrufe zur Pflichterfüllung im Krieg 233 Eine Rede Fieselers anlässlich der Auszeichnung des Betriebes mit einem Leistungsabzeichen der DAF 238 Gerhard Fieseler – ein Widersacher des national- sozialistischen Systems? Die Darstellung der Anwälte Fieselers im Spruchkammerverfahren 240 Ergebnisse 244

VII Gerhard Fieseler – ein Nutznießer des Dritten Reiches? 247 Probleme der Rekonstruktion 250 Einblicke in die Einkommens- und Vermögens- verhältnisse Gerhard Fieselers 252

Zum Werdegang Gerhard Fieselers nach 1945 257 Gerhard Fieseler muss sich vor der Spruchkammer verantworten Zur Entnazifizierungspolitik in Hessen 261 Zum Spruchkammerverfahren Gerhard Fieselers 274 Biografische Skizze Gerhard Fieselers nach 1950 285

Schlussbetrachtung 287

Anhang Lagebericht der GFW an das Rüstungskommando Wilhelmshöhe, Bremelbachstraße, vom 9.11.1943 über die durch Feindeinwirkung entstandene Lage 292 Leistungsübersicht, erstellt am 8.11.1944 (Geheime Kommandosache) 294 Vorbesprechung über Fieseler im Sonderzug am 14. März 1944 296 Besprechung mit der Firma Fieseler im Sonderzug am 15. März 1944 298 Urteilsbegründung der Spruchkammer 306

Quellen- und Literaturverzeichnis 308

Bildnachweis 319

Abkürzungsverzeichnis 320

Dank 321

VIII Vorwort

Thorsten Wiederholds Studie rückt mit Gerhard Fieseler einen der regionalen Wirtschaftsführer in den Blickpunkt des Interesses. Im Ersten Weltkrieg als Kampfflieger erfolgreich, in der Weimarer Zeit als Kunstflieger weltbekannt geworden, baute Fieseler sich ab 1933 im Schulterschluss mit dem von Hermann Göring geführten Reichsluftfahrtministerium in Kassel ein Rüstungsimperium auf, das zeitweise mehr als 10.000 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäf- tigte. Die Fieseler Werke lieferten für den Krieg nicht nur den „Fie- seler Storch“ und den Jagdflieger „Me 109“, sondern arbeiteten auch an der Entwicklung der V1. Tausende, überwiegend aus den Niederlanden stammende, Zwangsarbeiter wurden in den drei Kas- seler Werken des Unternehmens beschäftigt. Mehrere Jahre hinter- einander erhielt das Unternehmen die Auszeichnung als „National- sozialistischer Musterbetrieb“ bzw. als „Nationalsozialistischer Kriegsmusterbetrieb“. Gerhard Fieseler, ohne Zweifel eine Person der regionalen Zeitge- schichte, hat auch nach Krieg und NS-Herrschaft bis zu seinem Tod im Jahre 1987 in Kassel noch Spuren hinterlassen: Eine Siedlung trug seinen Namen, ebenfalls ein Pokal für Kunstflieger, den er stiftete, und am Ort besteht eine Gerhard-Fieseler-Stiftung. Gesellschaftlich gehörte er zu jenen, die immer „oben“ bleiben. Es erstaunt und befremdet zugleich, dass er sich nach 1945 als Ver- folgter und Gegner des Nationalsozialismus präsentierte und dass er in allen Ehren in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutsch- land zurückkehren konnte, während manch andere wirklich Ver- folgte aus den Lagern und Strafbataillonen erhebliche Schwierig- keiten hatten, ihren Rentenanspruch, ihre Entschädigung oder ih- ren Wiedergutmachungsantrag durchzusetzen. Wenn man die lo- kalen Zeitungen durchsieht, kann man nicht den Eindruck gewin- nen, dass seine Nähe zum Nationalsozialismus nach dessen Sturz seine Reputation in Kassel beeinträchtigt hat. Hängt es mit dieser seiner „Reputation“ zusammen, dass eine kritische Auseinander- setzung mit der Rolle Fieselers in der Nazizeit unseres Wissens bis- her nicht stattgefunden hat? Fast scheint es so, als sei sein hohes Engagement im NS-Staat in Kassel tabuiert. In jedem Fall ist eine eingehende Untersuchung Fieselers und sei- nes Unternehmens überfällig. Thorsten Wiederhold geht der Bio- graphie Fieselers und seines Unternehmens von der Weimarer Zeit

IX bis in die 80er Jahre der Bundesrepublik gründlich und quellen- orientiert nach und bezieht die übergreifende Fachliteratur zur Flugzeugindustrie, zur Göring’schen Luftfahrtpolitik, zur Ge- schichte der sogenannten NS-Musterbetriebe, zur betrieblichen So- zialpolitik im Hitler-Staat, insbesondere jedoch zur Stellung Fie- selers und seines Unternehmens zum nationalsozialistischen Herr- schaftssystem nach. Präzise weist er den realen Kern der ideologi- schen Überhöhung der Fieseler Werke als „sozialer“ Musterbetrieb nach: die ungebremste Ausschöpfung menschlicher Arbeitskraft, die vollständige Indienstnahme menschlichen Lebens ausschließ- lich für Zwecke der Verwertung im Arbeitsprozess. Ausführlich geht der Autor auf Fieselers Verteidigung im Entnazifizierungsverfahren ein. Seine Darstellung und diejenige seiner Anwälte, die letztlich zur vollkommenen Entlastung Fieselers von allen Anschuldigun- gen führten, werden Punkt für Punkt wiedergegeben und im ein- zelnen sorgfältig geprüft sowie kritisch untersucht. Thorsten Wiederhold eröffnet mit seiner Studie zu Gerhard Fieseler für die Schriftenreihe „Nationalsozialismus in Nordhessen“ insofern Neuland, als mit den Kasseler Fieseler Werken zum ersten Male unternehmens- und betriebsgeschichtliche Fragen näher ins Blickfeld treten. In den bisherigen Untersuchungen ging es über- wiegend um die Lebens- und Leidensgeschichte der vom NS-Staat verfolgten oder ermordeten Menschen. Es wurden Zeugnisse von ihnen und über sie zu bewahren gesucht. Ob es sich um Berichte ehemaliger niederländischer Zwangsarbeiter zum Lager Schäfer- bergI oder um solche ehemaliger ungarischer Zwangsarbeiterinnen in der Munitionsfabrik HirschhagenII handelte, um Briefe von nach Israel oder in die USA emigrierten SchülerinnenIII, um Lebensbilder [Bad] Arolser JudenIV oder um die Briefe Kurt FinkensteinsV – im- mer war das Motiv vorhanden, Spuren zu sichern, Lebensge-

I Klaus Mosch-Wicke, Schäferberg. Ein Henschel-Lager für ausländische Zwangsar- beiter. 2. berichtigte Aufl. Kassel 1985. II Dieter Vaupel, Das Außenkommando Hessisch Lichtenau des Konzentrationsla- gers Buchenwald 1944/45. Kassel 1984. III Dietrich Heither, Wolfgang Matthäus, Bernd Pieper, Als jüdische Schülerin entlas- sen. Erinnerungen und Dokumente zur Geschichte der Heinrich-Schütz-Schule. 2. erweiterte und korrigierte Auflage. Kassel 1987. IV Michael Winkelmann, „Auf einmal sind sie weggemacht“. Lebensbilder Arolser Ju- den im 20. Jahrhundert. Kassel 1992. V Kurt Finkenstein, Briefe aus der Haft 1935-1943. Herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Dietfrid Krause-Vilmar. Mitarbeit: Susanne Schneider. Kassel 2001.

X schichte zu dokumentieren, um sie dem Vergessen zu entreißen, auf das die Verfolger zielten. Wiederholds sorgfältig recherchierte Studie ist ein Beitrag zu den Mächtigen und Trägern des NS-Regimes, wobei der Autor dem be- sonderen Charakter des nationalsozialistischen Engagements Fie- selers differenziert und abwägend nachgeht. Fieseler war gewiss kein „Parteimensch“, auch kein Ideologe, kein Funktionär, kein NS- Politiker wie der Waldecker Fürst JosiasVI – und doch hat er das Herrschaftssystem ungebrochen gestärkt und hoch gehalten. Was also war er? Mitläufer? Nutznießer? Karrierist?

Kassel, im September 2003

Dietfrid Krause-Vilmar

VI Anke Schmeling; Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont – Der politische Weg eines hohen SS-Führers. 2. Aufl. Kassel 1998.

XI Gerhard Fieseler über sein Selbstverständnis als Betriebsführer

Gerhard Fieseler während des Betriebsappells am 27. 10. 1938 „Ich habe Ihnen, Gauobmann Köhler, am 27. Oktober vorigen Jahres anläßlich eines Betriebsappelles die Meldung gemacht, daß unsere Betriebsgemeinschaft bis zum letzten und bis zur letzten Frau bereit ist, ihre Pflicht zu erfüllen und heute, nach 7 Monaten Krieg, melde ich Ihnen, mein Reichsorganisationsleiter, daß unsere Betriebsgemeinschaft ihre Pflicht erfüllt hat und dies auch weiterhin tun wird. Kameraden! Ihr alle wißt, daß ich mich als Betriebsführer mit euch verbunden fühle. Daß ich für euch denke und fühle, daß eure Sorgen meine Sorgen sind. Das ist meine selbstverständliche Pflicht und meine Aufgabe als nationalsozialistischer Betriebsfüh- rer. Ihr kennt diese meine Denkungsweise und meine Einstellung und weil ihr sie kennt, deshalb weiß ich, daß ich mich in jeder Lage und in jeder Situation auf Euch verlassen kann. Mein Reichsorganisationsleiter, ich kann Ihnen versichern, daß sich unsere Betriebs- gemeinschaft der gewaltigen Größe unserer Zeit bewußt ist und deshalb kann ich Ih- nen mit ruhigem Gewissen vor meiner gesammelten Gefolgschaft die Erklärung abge- ben, daß ich die persönliche Bürgschaft übernehme für den Geist unserer Gemein- schaft und daß ich dafür gerade stehe, daß bei uns immer und überall der Wille zur Leistung und zu höchster Einsatzbereitschaft vorhanden ist. Und nun frage ich Euch, kann ich als Euer Betriebsführer diese Bürgschaft übernehmen?“ Auf diese Frage hin erhob sich ein vieltausendfaches „Ja“-Rufen, eine einzige Zu- stimmung und persönliche Vertrauenserklärung der Gefolgschaft an ihren Betriebs- führer, die die Gäste sichtlich beeindruckte. (Gerhard Fieseler in einer Ansprache vor seiner Belegschaft anlässlich des Besuchs von Reichsorgani- sationsleiter Robert Ley am 4. April 1940 in den „Gerhard Fieseler Werken“ [Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1940, S. 3 u. 4])

XII Einleitung Einführung in die Thematik „Immer strebte ich nur ein Ziel, den Erfolg, an.“1 Diese Aussage trifft Gerhard Fieseler in seinen Memoiren rückblickend auf seine Tätig- keit als Flugzeugbauer. Bewusst oder unbewusst charakterisiert er mit dieser Bemerkung zutreffend seine Karriere als Unternehmer. Diese war gekennzeichnet durch einen rasanten Aufstieg seiner Firma von einem handwerklichen Kleinbetrieb mit einem Mitarbei- terstamm von etwa 30 Personen Anfang der 30er Jahre zu einem rüstungswirtschaftlich bedeutenden Betrieb mit einer Belegschaft von etwa 5500 Arbeitern2 und Angestellten zu Kriegsbeginn. Das in Kassel ansässige Unternehmen erlangte durch die Entwicklung und Fertigung von Flugzeugen internationale Bekanntheit und An- erkennung. Insbesondere die Konstruktion der Fi 156 im Jahre 1936, des ersten langsam fliegenden Flugzeuges der Welt (51 km/h), das unter dem Namen „Fieseler Storch“ bekannt wurde und eine bahnbrechende Entwicklung der damaligen Zeit darstellte, trug zu dem Ansehen der Firma bei. Mit dem Namen „Fieseler“ verbindet sich jedoch nicht nur die Be- deutung und das Renommee eines Flugzeugbauers, sondern auch der Weltruf eines Kunstfliegers. Gerhard Fieseler gehörte in der Zeit von 1927 bis 1934 dem Kreis der berühmtesten Kunstflieger an. Er nahm an zahlreichen Schauflügen und Kunstflugwettbewerben im In- und Ausland teil und konnte mehrere nationale und internatio- nale Meistertitel gewinnen. Höhepunkt und Abschluss seines Kunstfliegerlebens stellte der Gewinn der Weltmeisterschaft am 10. Juni 1934 in vor etwa 150.000 Zuschauern dar. In Deutsch- land berichteten die Zeitungen in vielen Artikeln über diesen Sieg und feierten Fieseler als nationalen Helden.3

1 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel. Der Erbauer des Fieseler Storch und der V1 erzählt sein Leben, München 1979, S. 234. Die in den Anmerkun- gen genannten Arbeiten und Artikel werden im Literaturverzeichnis aufgenom- men. Sämtliche Zitate dieser Arbeit folgen der alten Rechtschreibung, Texther- vorhebungen folgen dem Original. 2 Der Begriff „Arbeiter“ wird im Folgenden nicht im Sinne einer Unterscheidung zur Gruppe der Angestellten gebraucht, es sei denn, dass sich aus dem Zu- sammenhang etwas anderes ergibt. Mit Arbeiter sind in dieser Arbeit sämtliche Personen gemeint, die ihre Arbeitskraft gegen den Erhalt von Lohn oder Gehalt zur Verfügung stellen. 3 Vgl. Kasseler Post Nr. 157 v. 11.6.1934. Dort heißt es: „Deutschlands großer Triumph im Kunstflug: Fieseler ist Kunstflugweltmeister! [...] daß Deutschland

1 Die Erfolge als Kunstflieger bildeten den Grundstein für seine Kar- riere als Flugzeugbauer. Die aus den Kunst- und Schauflügen her- vorgegangenen Preisgelder ermöglichten ihm im Jahre 1930 den Kauf eines kleinen Handwerkbetriebes zur Herstellung von Segel- flugzeugen in Ihringshausen bei Kassel und somit den Einstieg in das Flugzeugbaugeschäft. Fortan konstruierte und produzierte die Fieseler-Firma zunächst Segelflugzeuge für das In- und Ausland, 1932 begann sie mit der Entwicklung von Motorflugzeugen. Grund dieser Entscheidung war nach Angaben Fieselers die durch die Weltwirtschaftskrise ausgelöste, sich zunehmend verschärfende wirtschaftliche Situation in Deutschland.4 Sie wirkte sich negativ auf den Absatz seiner hergestellten Segelflugzeuge aus, so dass die weitere Produktion für ihn ein Verlustgeschäft bedeutet hätte. Obwohl durch wirtschaftliche Probleme in ihrer Existenz bedroht, war die Firma dennoch in der Lage, einige Motorflugzeuge zu ent- wickeln und zu bauen. Vor allem das Sportflugzeug mit der Typen- bezeichnung „F5“ war eine ausgereifte Konstruktion und weckte das Interesse mehrerer privater Kunden. Es wurde eine geringe Anzahl von Aufträgen erteilt, wodurch das Unternehmen sich fi- nanziell stabilisieren konnte. Bedeutender war jedoch infolge der erfolgreichen Entwicklung eines Motorsportflugzeuges die Aufnah- me des Betriebes in den „Reichsverband der Deutschen Luftfahrt- industrie“5 um die Jahreswende 1932/33. Als Mitglied dieses Ver- bandes konnte Fieseler mit staatlichen Aufträgen bzw. Subventio- nen rechnen. Den wirtschaftlichen Durchbruch erreichte die Firma nach 1933. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte sie sich innerhalb weniger Jahre zu einem bedeutenden Großunternehmen. Dem Betrieb ge- hörten 1935 bereits 500 und Ende 1938 schon 5.300 Mitarbeiter an. Das Unternehmen gliederte sich seit 1936 in drei Werke mit Standorten in Kassel-Bettenhausen und in Kassel-Waldau.6 Die

unbestritten die Führung im Kunstflug besitzt.“ Vgl. auch Kasseler Post Nr. 158 v. 12.6.1934. Hier wird der Empfang Fieselers auf dem Flugplatz Kassel- Waldau nach seiner Rückkehr aus Paris beschrieben. 4 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 167-169. 5 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe. The Reich Air Ministry and the German Aircraft Industry 1919-39, Lincoln and London 1976, S. 198 u. 199. Homze beschreibt hier die Aufgaben und Organisation des Verbandes. 6 Zur Entwicklung der Beschäftigungszahlen vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg, Bd. II (maschinenschriftliche wissen- schaftliche Hausarbeit, Kassel 1981), S. 97 ff. u. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 270 (Aussage Goebel). Der kaufmännische Direktor des Fie-

2 Firma hatte jedoch nicht nur wirtschaftlichen Erfolg aufzuweisen. Im Zuge der Vergrößerung war in Zusammenarbeit mit der „Deut- schen Arbeitsfront“ (DAF) ein System von sozialen und gemein- schaftsstiftenden Einrichtungen sowie der sozialen Betreuung für die Mitarbeiter eingerichtet worden. Aufgrund einer „beispielhaften innerbetrieblichen Sozialpolitik“, als deren Initiator und Förderer sich Gerhard Fieseler stets sah, wurde das Fieseler-Werk im Jahre 1938 zum „Nationalsozialistischen Musterbetrieb“ ernannt. Das noch in heutiger Zeit jährlich stattfindende Treffen ehemaliger Ar- beiter der Fieseler-Werke ist ein Zeugnis dafür, wie tiefgreifend die Betriebspolitik wirkte und wie hoch der Identifizierungsgrad der Belegschaft mit der Firma war.7 Der außergewöhnliche Aufstieg des Unternehmens wurde vor allem durch eine enge Zusammenarbeit mit dem „Reichsluftfahrtministe- rium“ (RLM) unter der Leitung Hermann Görings, hochdekorierter Jagdflieger des Ersten Weltkrieges, alter Kampfgenosse Hitlers und seit dem 30. Januar 1933 Preuß. Ministerpräsident und Reichsmi- nister ohne Geschäftsbereich, ermöglicht.8 Dieses Ministerium, das nur wenige Monate nach Aufnahme der Regierungsgeschäfte durch die Nationalsozialisten am 5. Mai 1933 neu eingerichtet worden war, vergab an die Fieseler-Werke staatlich finanzierte Aufträge, die in den folgenden Jahren immer größere Ausmaße annahmen.9 Ne- ben der Aufgabe, Flugzeugmodelle für die Luftwaffe zu entwickeln, wurde die Firma vor allem damit beauftragt, Flugzeugtypen anderer Firmen in Lizenz herzustellen. Die hierfür notwendige Vergröße- rung des Unternehmens sowie die Neuanschaffung von Geräten und Maschinen wurde seitens des RLM und somit durch den Staat in Form von langfristigen und zinsgünstigen Krediten finanziert. Während des Zweiten Weltkrieges kam es zu drastischen Verände- rungen im Arbeits- und Produktionsprozess. Aufgrund des im Dritten Reich bestehenden und mit Beginn des Zweiten Weltkrieges sich verschärfenden Arbeitskräftemangels wurden ab 1940 auslän-

seler-Betriebes gibt an, bei seinem Eintritt in die Firma im Jahre 1935 habe diese etwa 500 Beschäftigte gehabt. 7 Diese Feststellung geht aus einem Interview vom 10.1.2001 mit einem ehemali- gen Lehrling der Fieseler-Werke, Herrn B., hervor. 8 Vgl. Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939: Unternehmerisches Entscheidungshandeln im Kontext na- tionalsozialistischer Luftrüstung, Bremen 2000, S. 48. 9 Auf die Auftragslage und die von der Firma produzierten Flugzeuge wird im Verlauf dieser Arbeit noch eingegangen.

3 dische Arbeiter aus verschiedenen west- und osteuropäischen Län- dern im Werk eingesetzt, um die seitens des RLM geforderten Pro- duktionsziele erfüllen zu können. Die Anzahl der Zwangsarbeiter stieg bis zum Ende des Krieges auf mehrere Tausend an und ihr Anteil an der Gesamtbelegschaft betrug etwa 50 bis 60 Prozent.10 Der zunehmende Einsatz ausländischer Arbeiter führte nicht zu- letzt aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen zu einem tiefgrei- fenden Wandel in der Fieseler-Betriebspolitik. Weitere erhebliche Auswirkungen bzw. Beeinträchtigungen auf die Fertigung hatten alliierte Flugzeugangriffe, deren Ziel die Fieseler- Werke insbesondere im fortgeschrittenen Stadium des Krieges im- mer wieder waren. Infolge starker Zerstörungen von Teilen des Be- triebes durch Bombeneinwirkung und der permanenten Gefahr weiterer Angriffe wurde die Produktion auf Anweisung des Rü- stungsministeriums ab Herbst 1944 auf verschiedene Orte Nord- hessens und zum Teil auch nach Thüringen verlagert.11 Zuletzt wurde an 63 Ausweichstellen produziert. Trotz dieser widrigen Um- stände konnte die Produktionszahl an fertiggestellten Flugzeugen dennoch ständig gesteigert werden und erreichte Ende des Jahres 1944 ihren höchsten Stand.12 Bereits einige Monate vorher, im März 1944, wurde Gerhard Fie- seler als Verantwortlicher für die Produktion der „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ vom RLM abgesetzt und durch einen kommissari- schen Leiter, seinen stellvertretenden Betriebsführer Karl Thalau, ersetzt. Begründet wurde dieser Schritt mit dem Zurückbleiben der Produktion hinter der seitens des RLM geforderten Anzahl von Jagdflugzeugen.13 Fortan hatte sich Fieseler den Beschlüssen und Weisungen des eingesetzten Kommissars zu fügen und allenfalls noch eine beratende Funktion. Gerhard Fieseler wurden aufgrund seiner Leistungen als Kunstflie- ger und seiner Tätigkeit als Flugzeugbauer stets Anerkennung ge- zollt und seine Persönlichkeit genoss in der Wahrnehmung der Öf- fentlichkeit zeit seines Lebens hohes Ansehen. Dieses Renommee

10 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 101. 11 Vgl. ebd., S. 91 ff. 12 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 115 (Anklageschrift der Spruchkammer) u. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 79-86. 13 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 115 (Anklageschrift der Spruchkammer) u. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 139-141 (Schreiben des RLM u. des Reichsinnenministeriums).

4 reicht bis in die Gegenwart und wurde durch die Gründung der „Gerhard Fieseler Stiftung“ im Jahre 1980 nachhaltig gefestigt. In ihr ging ein Großteil des Vermögens der Firma „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ auf, die bis in das Jahr 1968 existierte. In der Darstellung der zeitgenössischen Presse und laut den Aus- führungen Gerhard Fieselers in dessen Memoiren war sein Leben untrennbar mit der Fliegerei verbunden. Bereits als Jugendlicher begeisterte er sich für Flugzeuge und konstruierte erste eigene Mo- delle. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich als Freiwilliger zu der noch im Aufbau befindlichen Fliegertruppe und wurde einer der erfolgreichsten Jagdflieger. Daran knüpfte seine Karriere als Kunstflieger und Flugzeugbauer an. In Zeitungsartikeln nach 1945 wird die Bedeutung Fieselers vor allem in der eines Flugpioniers gesehen. Anlässlich des 100-jährigen Jahrestages seines Geburts- tages titelte beispielsweise die „Hessische Niedersächsische Allge- meine Zeitung“ (HNA): „Gerhard Fieseler – die Fliegerei war sein Leben“.14 Im weiteren Verlauf des Textes heißt es: „Er gilt als einer der ideenreichsten Flugzeugkonstrukteure und erwarb sich mit sei- nem `Storch´ einen legendären Ruf. ... Die Stadt [Kassel, d.V.] fand bis heute keinen Weg, an ihn zu erinnern.“15 Neben seinen Leistungen als Flugzeugkonstrukteur wurden auch seine charakterlichen Eigenschaften hervorgehoben. In einem Zei- tungsartikel aus dem Jahr 1956 wird er als ein allzeit aufrechter Mann beschrieben, der stets seiner Art treu geblieben ist und in seinem Leben mit zahlreichen Schicksalsschlägen wie Absetzung, Internierung und Reparationen nach dem Krieg zu kämpfen hatte: „Ob Sprengkommandos, Spruchkammer, Treuhänder und andere mehr – sie leisten ganze Arbeit.“16 Eine kritische Betrachtung seines Wirkens als Flugzeugbauer und Betriebsführer wurde bisher fast völlig ausgeklammert.17

14 Hessische Niedersächsische Allgemeine Zeitung Nr. 15 v. 14.4.1996. 15 Ebd. 16 Kasseler Post Nr. 89 v. 16.4.1956. 17 Ausnahme sind folgende Artikel einer lokalen Zeitschrift: 1) Fieseler Legende. Ein Reichswirtschaftsführer rehabilitiert sich, in Statt- zeitung Nr. 145/1988, S. 53-55 (ohne Angabe des Verfassers). 2) Adamski, Peter: Mutation, in Stattzeitung Nr. 165/1989 (Beilage „Statt- zeitung Extra“), S. 4. u. 5.

5 Problemeingrenzung und Methode Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Gerhard Fieseler für seine Tätigkeit als Betriebsführer eines rüstungswirtschaftlich be- deutenden Flugzeugbauunternehmens im Rahmen der Entnazifi- zierung vor der Kasseler Spruchkammer zu verantworten. Am 2. Februar 1948 erhob der hessische „Minister für politische Befrei- ung“ in mehreren Punkten Anklage gegen ihn.18 Neben seiner Mit- gliedschaft in der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpar- tei“ (NSDAP) und der Bekleidung des Amtes als Standartenführer im „Nationalsozialistischen Fliegerkorps“ (NSFK)19 sowie als Wehr- wirtschaftsführer waren vor allem zwei Aspekte Gegenstand der Verhandlung. Zum einen wurde der Frage nachgegangen, inwiefern Fieseler an einer Stärkung des nationalsozialistischen Regimes durch persönlichen, aktiven Einsatz, insbesondere durch Aufrufe in der Fieseler-Werkszeitschrift und dem Bau von Jagdflugzeugen beteiligt war. Zum anderen wurde der Vorwurf erhoben, dass Fie- seler Betriebsführer eines Werks gewesen sei, bei dem eine interes- sengemeinschaftliche Führung durch das Deutsche Reich vorgele- gen habe, und er im besonderen Maße Nutznießer dieser Zusam- menarbeit gewesen sei. Nach insgesamt sieben Verhandlungstagen, die sich über einen Zeitraum von acht Monaten hingezogen hatten und an denen zahl-

18 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 114-117 (Anklageschrift der Spruchkammer). Als Befreiungsminister in Hessen war zu diesem Zeitpunkt Gottlob Binder eingesetzt, als Oberster Kläger fungierte seit der Jahreswende 1947/48 Hans-Joachim Oppenheimer, vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizie- rung in Hessen 1945-1954. Vergangenheitspolitik in der Nachkriegszeit, Wies- baden 1999 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, Bd. 66), S. 195 u. 203. 19 Vgl. Dreßen, Willi: Nationalsozialistisches Fliegerkorps (NSFK), in: Benz, W., Graml. H. u. Weiß, Hermann (Hg): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Mün- chen 31998, S. 609. Das NSFK war eine von Hitler am 17.4.1937 gegründete luftsportliche Kampforganisation zur Sicherung eines fachlich gut geschulten Nachwuchses für die deutsche Luftwaffe. Vgl. auch Köhler, Karl u. Hummel, Karl-Heinz: Die Organisation der Luftwaffe 1933-1939, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Handbuch zur deutschen Militärgeschichte, Band 4, Abschnitt VII: Wehrmacht und National- sozialismus, München 1979, S. 501-579, hier S. 549. Das NSFK war keine Gliederung oder Institution der NSDAP, sondern eine Körperschaft des öffentli- chen Rechts. Sie war aus dem „Deutschen Luftsport Verein“ (DLV) hervorge- gangen und dem Reichsminister der Luftfahrt unterstellt. Ihre organisatorische Gliederung und Dienstgradabzeichen waren eng an die Parteigliederungen an- gelehnt. Das NSFK verstand sich ausdrücklich als politischer Kampfverband.

6 reiche Zeugen angehört worden waren, verkündete die Spruch- kammer am 28. Januar 1949 schließlich ihr Urteil: Gerhard Fie- seler wurde in die Gruppe der Entlasteten eingestuft.20 Diesem Freispruch lag folgendes Argumentationsschema zugrunde: Nach Auffassung der Spruchkammer ergab die Beweisaufnahme, dass Gerhard Fieseler als Flugzeugbauer in der Hauptsache mit eigenen Mitteln ein bestehendes kleineres Werk übernommen und zu einem Betrieb von Weltgeltung emporgeführt habe. Unter dem Regime der Nationalsozialisten sei dieses Werk in das „Fahrwasser der natio- nalsozialistischen Machtpolitik geraten, d.h., das RLM verstand es durch gewisse Maßnahmen, [...] entscheidenden Einfluß zu gewin- nen. Der Betroffene [Gerhard Fieseler, d.V.] selbst wurde im Verlauf der Entwicklung ein Spielball dieser Maßnahmen.“21 Er sei zwar seit 1933 nominelles Mitglied der NSDAP gewesen, aber dennoch habe er den Nationalsozialismus durch verschiedene Handlungen aktiv bekämpft. Beispielsweise habe er defätistische Bemerkungen über Hitler geäußert, politisch verfolgte Personen gedeckt und durch sein Verhalten eine geringere Produktion von Kriegsflugzeugen in seinem Werk bewirkt, als es den Forderungen des RLM entsprach. Des Weiteren wurde eine Nutznießerschaft Fieselers, die anhand seiner Einkommensverhältnisse untersucht worden war, durch die Zusammenarbeit mit dem RLM verneint. Die Spruchkammer betonte, das Einkommen sei in den Jahren nach 1933 nur unwesentlich höher gewesen als in den Jahren vor 1933 und habe entsprechend seinen Aufgaben und Leistungen, vor allem auch auf sozialem Gebiet, in einem gerechten Verhältnis gestan- den. Ein Vergleich dieser Urteilsbegründung mit dem Plädoyer der An- wälte Fieselers weist enge Parallelen im Erklärungsmuster auf. Im Resümee stellen die Verteidiger Fieselers über dessen Tätigkeit als Flugzeugbauer fest, „ [...], daß das Leben Fieselers während des 3. Reiches in einem ständigen Kampf gegen Unrecht und Wahnsinn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bestanden hat und daß die Folge davon war, daß ihm sein Werk, so wie er es geschaffen hat, entwunden wurde, was schließlich so weit ging, daß er selbst im Fieseler Werk nichts mehr zu sagen hatte, daß seine Gesundheit sich verschlechterte im Kampf gegen den Nationalsozialismus und daß er

20 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 69 (Urteil der Spruchkam- mer). 21 Ebd., Bl. 70 (Urteil der Spruchkammer).

7 nur darauf warten mußte, wann der nächste Schlag gegen ihn aus- geführt wurde.“22 Sowohl die Argumentation der Anwälte als auch die Darstellung der Karriere Fieselers, wie sie im Urteil der Spruchkammer ge- zeichnet wurde, prägten entscheidend dessen Bild als Flugzeug- bauer in der Öffentlichkeit nach 1945. Dies spiegelt sich u.a. in zahlreichen Zeitungsartikeln, die fast ausschließlich seine Leistun- gen im Bereich der Luftfahrt hervorheben, aber auch in der Würdi- gung seiner Verdienste durch politische Persönlichkeiten, wider.23 Gefestigt wird diese Perzeption über seine Karriere als Unterneh- mer darüber hinaus durch Fieseler selbst, indem er in seinen Me- moiren den rasanten Aufstieg seiner Firma ebenfalls mit der Zu- sammenarbeit und dem stetig anwachsenden Einfluss des RLM begründet, der von seiner Seite in dieser Form nicht gewollt, aber dennoch unausweichlich gewesen sei.24 Zentraler Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Rekonstrukti- on der Karriere Gerhard Fieselers als Flugzeugbauer. In diesem Kontext sollen insbesondere Ursachen und Zusammenhänge, die die Entwicklung von einem handwerklichen Kleinbetrieb zu einem rüstungswirtschaftlich wichtigen Großunternehmen in nur wenigen Jahren ermöglichten, untersucht sowie die Bedeutung und die Verantwortung Gerhard Fieselers, die er in seiner Funktion als Betriebsführer und somit als maßgeblicher Entscheidungsträger

22 Vgl. ebd., Bl. 100 (Schreiben der Anwälte Fieselers an die Berufungskammer). 23 Vgl. Hessische Nachrichten Nr. 88 v. 16.4.1971. Der damalige Kasseler Ober- bürgermeister Dr. Karl Branner drückte anlässlich Fieselers Geburtstag seinen Dank gegenüber diesem für dessen Leistungen und sein jahrzehntelanges Wir- ken in und für Kassel aus. Auch der spätere Oberbürgermeister Hans Eichel sendete Fieseler persönliche Geburtstagsglückwünsche und war Trauergast auf dessen Beerdigung, die mit militärischen Ehren stattfand. Dies geht aus einem Interview mit der ehemaligen Sekretärin Fieselers hervor, die von Anfang der 50er Jahre bis zu seinem Tod für ihn arbeitete. Darüber hinaus sollte Gerhard Fieseler Anfang der 80er Jahre für den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagen werden. Dies geht aus der schriftlichen Begrün- dung für die Anforderung der Spruchkammerakten durch den Regierungsprä- sidenten Kassels hervor, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019 beiliegende An- forderung des Regierungspräsidiums Kassel v. 27.7.1981. 24 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 234-236. Vgl. auch HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 114r. In der Anklageschrift wird seitens des Öffentlichen Klägers dieser Argumentation zum Teil Folge ge- leistet.

8 während des außerordentlichen Expansionsprozesses besaß, erar- beitet werden. Konträr zur Urteilsbegründung der Spruchkammer und den Darle- gungen Fieselers in dessen Memoiren wird hier die Frage unter- sucht, inwiefern die Entwicklung der Fieseler-Werke zu einem be- deutenden Großbetrieb ohne die Zusammenarbeit und Hilfe des RLM nicht nur unmöglich gewesen wäre, sondern von Fieseler bis zu einem bestimmten Grad gewollt war und von ihm gefördert wur- de. Hiervon ausgehend ergeben sich mehrere Fragen. War Gerhard Fieseler in der Rüstungspolitik des RLM lediglich Befehlsempfänger ohne eigene Entscheidungsgewalt? Hatte er die Produktion von Kriegsflugzeugen tatsächlich bewusst zu behindern gesucht, um dadurch den Nationalsozialismus zu bekämpfen? Inwiefern erwei- sen sich die Darstellungen nach 1945 über die Rolle Gerhard Fie- selers als Flugzeugbauer und Großunternehmer, wie sie u.a. von der Spruchkammer oder der Presse vorgenommen wurden, als wahrheitsgetreu oder müssen in den Bereich der Legendenbildung eingeordnet werden? In dieser Arbeit wird von einer opportunistischen Haltung Fieselers gegenüber dem nationalsozialistischen Regime ausgegangen. In diesem Zusammenhang sei auf die Entwicklung der Flugbombe Fi 103 (V1) durch die Fieseler-Werke hingewiesen, auf die Fieseler in seinen Memoiren nicht ohne Stolz zurückschaut.25 Als Angriffs- waffe konzipiert und in einer Stückzahl von mehreren tausend her- gestellt, hatte diese sog. „Vergeltungswaffe“ zwar keine kriegsent- scheidende Wirkung, aber das Ziel, ausländische Städte zu zerstö- ren und Terror unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, verfehlte sie nicht. Ein weiterer Aspekt dieser Arbeit wird somit die Frage nach den persönlichen Beweggründen Fieselers sein, die ihn zu der Kooperation mit dem RLM veranlassten. Handelte er wirklich aus- schließlich aus staatlichem Zwang ohne jeglichen Entscheidungs- spielraum? Dieser Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass Fieseler die Zusammenarbeit mit dem RLM als eine Chance begriff, sein Werk mit Hilfe staatlicher Finanzierung auszubauen und dieses durch lukrative Staats- bzw. Rüstungsaufträge, die eine beachtli- che Gewinnspanne beinhalteten, finanziell abzusichern. Im Be- wusstsein dieses sich ihm bietenden Nutzens war eine Kooperation mit dem RLM durchaus erstrebenswert.

25 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 258-268, ins- besondere S. 267.

9 Eine Annäherung an das gestellte Thema deutet auf eine Abhän- gigkeit des Werdegangs Gerhard Fieselers als Flugzeugbauer vom RLM und im weiteren Sinne von der Rüstungspolitik der National- sozialisten hin. Diese Verbindung muss als Kernpunkt der Karriere gesehen werden. Um die genannten Thesen und Fragen zu unter- suchen, bedarf es einer näheren Betrachtung dieses Verhältnisses. In chronologischer Vorgehensweise soll die Entwicklung der Firma von 1930 bis 1945 dargestellt werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Zeit nach 1933. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die vom RLM getroffenen Maßnahmen zur Einflussnahme auf die Fieseler-Werke sowie die wirtschaftlichen Interessen Fie- selers, die sich für ihn als Besitzer und Geschäftsführer eines Rü- stungsbetriebes ergaben. Ferner soll ein Einblick in die Arbeits- und Produktionsverhältnisse des Unternehmens unter Berück- sichtigung der Sozialpolitik des Dritten Reiches gegeben werden. Zur Einordnung der Entwicklung der Firma im historischen Kon- text wird die Bedeutung der Flugzeugindustrie vor und nach 1933 beschrieben. Auch scheint eine biografische Skizze Gerhard Fie- selers als Jagd- und Kunstflieger sinnvoll, da während dieser Zeit seine Verbindung zur Fliegerei maßgeblich begründet wurde. Eine kurze Betrachtung des Werdegangs Gerhard Fieselers nach 1945, insbesondere hinsichtlich seines Entnazifizierungsverfahrens, soll die Untersuchung seiner Unternehmertätigkeit abschließen. In methodischer Hinsicht werden zur genannten Vorgehensweise vor allem die Ergebnisse und protokollierten Aussagen des Spruchkammerverfahrens analysiert. Gegenstand der Untersu- chung sind darüber hinaus die Berichte der Rüstungsinspektion des Wehrkreises IX (Kassel), Fieselers Schilderungen in seinen Memoiren, zeitgenössische Zeitungsartikel sowie die Fieseler- Werkszeitschrift. Des Weiteren werden Beiträge aus der Sekundär- literatur zur Stellung, Entwicklung und Finanzierung der Rü- stungsindustrie, und in diesem Fall speziell der Flugzeugindustrie, unter dem Nationalsozialismus sowie Veröffentlichungen zur Sozi- alpolitik des Dritten Reiches herangezogen.

Forschungsstand und Quellenlage Forschungsstand Wird von den Untersuchungen der Spruchkammer der Jahre 1947 bis 1949 abgesehen, so wurde eine eingehendere Betrachtung und Darstellung der Karriere Gerhard Fieselers als Flugzeugbauer aus-

10 schließlich von ihm selbst durch die Veröffentlichung seiner Auto- biografie geleistet.26 Diese ist jedoch mit Vorbehalt zu betrachten. Die Tendenz einer allzu einseitigen Schilderung der Ursachen und Zusammenhänge seiner Tätigkeit als Flugzeugbauer ist klar er- kennbar. Folgt man seiner Argumentation, lag sein Interesse einzig in dem Bau von Flugzeugen, das er aus der seit seiner Jugend be- stehenden Begeisterung für die Fliegerei ableitet. Hierdurch be- gründet er auch die Zusammenarbeit mit dem RLM und die Pro- duktion von Kriegsflugzeugen. Eine selbstkritische Einschätzung erfolgt nicht, vielmehr schwingt in seinen Schilderungen stets eine Rechtfertigung für sein Handeln und Wirken mit. Dennoch bietet diese Autobiografie einen guten Überblick über die einzelnen Sta- tionen seines Lebens. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Fieseler-Firma verfasste Adalbert Norden eine Broschüre mit dem Titel: „Das Herz muss dabei sein. Der Flieger Gerhard Fieseler und sein Werk“, die im Mai 1941 erschien.27 Sie war von Fieseler in Auftrag gegeben worden und sollte an jeden Betriebsangehörigen verteilt werden. Norden beschreibt die Entwicklung des Werks unter auffallend überzoge- ner Herausstellung und Würdigung der Person Fieselers als Flieger und fürsorglichen Betriebsführer. In weiten Teilen glorifiziert er geradezu seine Leistungen. Bemerkenswert in diesem Zusammen- hang ist die Aussage von Heinz Schade, dem ehemaligen Leiter des Generalsekretariats28 im Fieseler-Werk, über die Entstehung dieser Schrift: „Auf die Herausstellung seiner Persönlichkeit legte er [Ger- hard Fieseler, d.V.] außerordentlichen Wert. Ich habe an der Werks- broschüre `Das Herz muß dabei sein´ mitgearbeitet und weiß, daß etwa ein Jahr lang Herr Norden, Herr Thalau, Herr Dr. Goebel und

26 Erwähnt seien an dieser Stelle außerdem die Artikel: Fieseler Legende. Ein Reichswirtschaftsführer rehabilitiert sich [wie Anmerkung 17] u. Adamski, Pe- ter: Mutation [wie Anmerkung 17]. Die Zeitschriftenartikel sind Ausdruck einer überaus kritischen Betrachtung der Tätigkeit Fieselers als Flugzeugbauer im Dritten Reich. 27 Norden, Adalbert: Das Herz muß dabei sein. Der Flieger Gerhard Fieseler und sein Werk, Kassel 1941. An dieser Broschüre arbeiteten anscheinend noch an- dere Personen mit (siehe nachfolgendes Zitat). 28 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 283r Aussage Schade zur Funktion des Generalsekretariats: „Ich leitete das Generalsekretariat genannte Büro des Betriebsführers, dem einzelne Abteilungen angehörten: Werbeabteilung, Werkszeitschrift, Werksbücherei, Werkfunk, Betriebswirtschaftliche Abteilung, die Abteilung Versicherung, Steuerwesen und kleinere Abteilungen. Im ganzen waren es späterhin etwa 200 Menschen.“

11 ich gearbeitet haben, bis das Werk den Schliff hatte, der Herrn Fie- seler vorschwebte, d. h. bis die Verdienste des Herrn Fieseler um die Firma Fieseler in der ihm geeignet erscheinenden richtigen Form sti- lisiert waren. Herr Fieseler hat sich um derartige Dinge ganz unge- wöhnlich intensiv gekümmert. Er hat das Manuskript selbst sehr stark überarbeitet.“ 29 Insofern ist diese Broschüre eher kritisch zu bewerten und für den Gegenstand dieser Arbeit weniger von Be- deutung. Einen weiteren Einblick in die Firmengeschichte gibt die Examens- arbeit von Erich Bölling, der die Entwicklung der Firma anhand der Aufzeichnungen der Kriegstagebücher der Kasseler Rüstungsin- spektion skizziert.30 Diese Abhandlung, die auf Unterlagen aus dem Bundesarchiv/Militärarchiv (BA/MA) Freiburg basiert, liefert wert- volle Daten und detaillierte Angaben bezüglich der Entwicklung der Firma, etwa hinsichtlich der Produktionsverhältnisse und der Grö- ße der Belegschaft, sowie eine Übersicht über die Anzahl und Ty- pen der hergestellten Flugzeuge. Obwohl seine Arbeit nicht veröf- fentlicht wurde, ist sie in das Stadtarchiv Kassel aufgenommen worden und für jeden Benutzer zugänglich.

Quellenlage Ein Firmenarchiv, das als Quellengrundlage in Betracht käme, exi- stiert nach Angabe der „Gerhard Fieseler Stiftung“ nicht. Die Stif- tung verwaltet nur einen Teil des Nachlasses Gerhard Fieselers. Hierzu zählen u.a. seine Orden, zeitgenössische Zeitungsartikel bezüglich seiner Kunstfliegerkarriere und mehrere Fotoalben, die Aufnahmen vom Fieseler-Werk, von verschiedenen Fieseler- Flugzeugtypen und von seiner Unternehmerlaufbahn als Flugzeug- bauer enthalten. Fotos über den Privatmann Fieseler oder hin- sichtlich seiner Tätigkeit als Betriebsführer, die ihn in Verbindung mit nationalsozialistischer Symbolik (Hakenkreuz, Hitlergruß, NSDAP-Parteiabzeichen, Hitlerbild) oder hohen NS-Persönlich- keiten zeigen, beispielsweise bei Betriebsappellen oder bei Werks- besichtungen durch NS-Funktionäre, wurden dem Verfasser aller-

29 Ebd., Bl. 284r. 30 Bölling, Erich: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6]. Diese Arbeit ist im Stadtarchiv unter der Signatur III EB 18 archiviert. Bölling untersucht die Kriegstagebücher der Rüstungsinspektion und des Rüstungskommandos des Wehrkreises IX, Kassel. Diese sind im Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg unter den Signaturen RW 21-30 (Rüstungskommando) u. RW 20-9 (Rüstungs- inspektion) eingeordnet, vgl. ebd. Bd. I, S. 2a.

12 dings lediglich zur Einsicht in der Stiftung und nicht für Publikati- onszwecke zur Verfügung gestellt. Obwohl zahlreiche dieser Bilder bereits in der Fieseler-Zeitschrift verwendet wurden und damit der Öffentlichkeit zugänglich sind, besteht nach Ansicht der Stiftung durch die Veröffentlichung solcher Fotos die Gefahr einer einseiti- gen Darstellung bzw. Wahrnehmung der Person Fieselers als Na- tionalsozialist, die nicht der „objektiven Wahrheit“ entspreche und somit dem Namen und Ansehen Gerhard Fieselers schade.31 Über weitere private Hinterlassenschaften Fieselers konnte die Stiftung keine Auskunft geben. Als Hauptquelle zur Erschließung des Themas kommen daher die Akten des Spruchkammerverfahrens in Betracht, die im Hessi- schen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden (HHStAW) aufbewahrt wer- den.32 Sie umfassen mehrere hundert maschinenschriftlich be- schriebene Blätter (Originale und Durchschläge), die gebunden in verschiedenen Kartons aufbewahrt werden. Eine Übersicht hier- über in Form eines Inhaltsverzeichnisses liegt nicht vor. Bei einer näheren Betrachtung weisen die Bestände eine Unterteilung in drei Bände auf.33 Bedeutsam für diese Arbeit sind insbesondere die Bände I, 1 bis I, 3. Der Band I, 1 hat im wesentlichen die Vorbereitungen der Spruch- kammer zum Verfahren, die Anklageschrift, die Verteidigungsplä- doyers der Anwälte Fieselers und verschiedene Aussagen von Zeu- gen zum Inhalt. Darunter befinden sich u.a. ein Protokoll der Be- fragung des ehemaligen Staatssekretärs und Leiters des RLM, Ge- neralluftzeugmeister Erhard Milch34, und eine Anfrage beim „Berlin

31 Diese Auskünfte gehen aus einem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der „Gerhard Fieseler Stiftung“, Herrn Angermann, hervor. 32 Die Akten werden im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden unter der Signatur HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I-III geführt. 33 Auf den ersten Blick erscheinen die Unterlagen ungeordnet und verwirrend. Die einzelnen Blätter wurden weitgehend in chronologischer Reihenfolge – vermut- lich noch durch die Spruchkammerbehörde – in die einzelnen Bände eingeord- net. Diese werden im Folgenden beim Zitieren mit Bd. I,1; I,2; I,3; II u. III angegeben. Obwohl die meisten Blätter beidseitig beschrieben sind, ist bei der fortlaufenden Seitennummerierung der Akten, die handschriftlich mit roter Farbe vorgenommen wurde, eine Seitenzahl jeweils nur auf der Vorderseite vor- handen. Entsprechend werden bei Zitaten die Rückseiten stets mit einem zu- sätzlichem r angegeben. Bei den Bänden II und III handelt es sich jeweils um die während des Spruchkammerverfahrens verwendeten Handakten. 34 Vgl. Köhler, Karl u. Hummel, Karl-Heinz: Die Organisation der Luftwaffe 1933- 1939 [wie Anm. 19], S. 510, 511, 536 u. 537. Erhard Milch (geb. am 30. März 1892, gest. 25. Jan. 1972) war seit dem 1.5.1933 Staatssekretär im RLM, seit

13 Document Center“ bezüglich des Verhältnisses Gerhard Fieselers zum Nationalsozialismus. Der Band I, 2 enthält vor allem die Protokolle der mündlichen Ver- handlungen vom 26.5., 28.5., 2.6., 10.6. und 6.7. des Jahres 1948. Darüber hinaus sind als aufschlussreiche Unterlagen über die Vermögensverhältnisse Fieselers und der Firma nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Bilanzgutachten überliefert, die im Auftrag des hessischen „Landesamtes für Vermögenskontrolle und Wieder- gutmachung“ aufgestellt worden waren. Der Band I, 3 umfasst neben den Protokollen der Verhandlungsta- ge vom 24.1, 25.1., 26.1., und 28.1. des Jahres 1949 auch das Urteil der Spruchkammer vom 28. Januar 1949 und Dokumente über das daraufhin eingeleitete Berufungsverfahren durch den Öf- fentlichen Kläger. In einem zweiten Abschnitt dieses Bandes sind die von Gerhard Fieseler der Spruchkammer übergebenen eides- stattlichen Erklärungen alphabetisch nach den Namen geordnet. Dem Band III ist als Anlage eine Betriebsordnung der Fieseler- Werke vom Oktober 1939 beigefügt, die einen Einblick in die in- nerbetriebliche Struktur gewährt und die Aufgaben und Ziele des Betriebes genau definiert. Insgesamt enthalten die Akten der Spruchkammer wichtige Schriftstücke, Untersuchungen und Zeugenaussagen, die sich mit der Karriere Fieselers sowie seiner Stellung im Betrieb und seiner Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Der Informationsgehalt dieser Unterlagen gestaltet sich jedoch sehr komplex und ergibt zunächst kein klares Bild über die Tätigkeit Fieselers als Flugzeugbauer. Auffällig ist, dass in manchen Fällen die Angaben von Zeugen zu bestimmten Ereignissen voneinander abweichen oder widersprüchlich sind.35 Ein sorgsamer und abwä- gender Umgang mit den Quellen ist somit erforderlich. Im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden lagern ferner Akten des „Landes- amtes für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung“, die die Person Fieseler betreffen.36 Hierunter befindet sich auch der Be-

dem 1.2.1939 Staatsekretär der Luftfahrt und Generalinspekteur der Luftwaffe. Nach dem Tod Udets ab dem 19.11.1941 auch Generalluftzeugmeister. Am 31.1.1945 wurde Milch von seinem Posten abberufen. 35 Zudem sind die meisten Zeugen von Gerhard Fieseler selbst im Zuge seiner intensiven Vorbereitungen auf das Spruchkammerverfahren genannt worden, um ihn von den Vorwürfen zu entlasten. 36 Diese Akten sind im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden unter der Signatur Abt. 519/1, Nr. 53-68 archiviert.

14 richt eines Wirtschaftsprüfers über den Vermögensstatus der Fie- seler-Firma nach 1945. Er wurde in den Jahren 1948/49 angefer- tigt und ist insofern von Bedeutung, als er ausführlich den Werde- gang und die Verwaltung des Unternehmens nach dem Ende des Krieges beschreibt.37 Weitere Quellen liegen im BA Berlin38 und im BA/MA Freiburg39 vor. Es handelt sich hierbei um Schriftverkehr zwischen dem RLM und den Fieseler-Werken, der sich im wesentlichen mit techni- schen Fragen der in der Firma hergestellten Flugzeuge befasst. Für diese Arbeit von Belang aus dem Militärarchiv Freiburg ist insbe- sondere die Mitschrift der Besprechung des „Stabes Saur“ mit Fie- seler bezüglich der Absetzung Fieselers im Sonderzug im März 1944 und eine betriebsinterne Leistungsübersicht der Jahre 1941 bis 1944 in Form einer tabellarischen Auflistung. Von Bedeutung sind des Weiteren verschiedene Akten und Unter- lagen der „Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialis- mus in Nordhessen“.40 Diese Einrichtung, die der Universi- tät/Gesamthochschule Kassel zugehörig ist, verfügt u.a. über die fast vollständige Ausgabe der Fieseler-Werkszeitschrift der Jahr-

37 Vgl. HHStAW Abt. 519/1, Nr. 57 Diplom-Kaufmann Rudolf Falk: Bericht über die Ordnungsprüfung und Aufstellung eines Status auf den 21.6.1948 der Ger- hard Fieseler Werke GmbH Kassel-Bettenhausen (im Folgenden „Bericht des Wirtschaftsprüfers Rudolf Falk“ zitiert). 38 Im Bundesarchiv in Berlin sind die Akten unter folgenden Signaturen archi- viert: Bestand R 3901 „Reichsarbeitsministerium“: Akte 1356 (Wohnungsbau- und Siedlungsvorhaben für reichswichtige Betriebe der Luftfahrt mit Hinweisen auf die Fieseler Firma) und Bestand R 3 „Reichsministerium für Rüstung und Kriegswirtschaft“: Aktenband 3059 (Serien- und Reparaturübersichten 1941-44 / Baumuster FW 190). Diese Akten wurden vom Verfasser nicht eingesehen. 39 Im Bundesarchiv/Militärarchiv in Freiburg sind die Akten unter folgenden Signaturen archiviert: RL3/3, 69, 181, 249, 373, 523, 561, 1090, 1119, 1120, 1277, 1655, 1790, 2594, 2630, 3656, 3660, 4224, 4416, 4417, 4471, 4740, 4861, 4862, 4889, 4890 (Schriftverkehr zwischen dem Technischen Amt des RLM und dem Fieseler-Werk). 40 In der Informationsstelle sind die entsprechenden Akten unter dem Stichwort „Fieseler“ archiviert und über ein Computerprogramm zugänglich. Es gibt einen Privatbestand von Prof. Dr. Krause-Vilmar und einen Bestand, der zu der In- formationsstelle gehört. Beide sind über die Informationsstelle zugänglich. Al- lerdings sind nicht alle dort befindlichen Unterlagen bezüglich Fieseler mit Ak- tennummern versehen. So existiert eine „lose Blattsammlung“, die u.a. Recher- chen von Gert Meyer über das Thema Fieseler enthält. Diese Unterlagen werden in einer Mappe aufbewahrt (im Folgenden „Sammlung Gerhard Fieseler Werke“ genannt).

15 gänge 1938 bis 1944.41 Die Zeitung gibt einen guten Einblick in das betriebliche Leben der Firma und enthält darüber hinaus Re- den und Aufrufe Gerhard Fieselers, die einen Eindruck über des- sen Verhältnis zum Nationalsozialismus vermitteln. Als bedeuten- des Dokument ist zudem in diesem Archiv eine Kopie der Rede des ehemaligen Betriebsdirektors der Fieseler-Werke, Richard Freyer, über den „Einsatz von Fremdarbeitern in der deutschen Wirtschaft“ erfasst.42 Sie wurde vor Vertretern anderer Firmen gehalten und gewährt interessante Aufschlüsse über die Arbeits- und Lebensver- hältnisse der in den Fieseler-Werken zwangsverpflichteten Arbeiter. Diese Rede stellt in der Forschung zwar kein Novum dar, da sie bereits in dem mehrbändigen Werk „Deutschland im Zweiten Welt- krieg“43 Erwähnung findet, und Ulrich Herbert in seinem Buch über „Politik und Praxis des Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegs- wirtschaft des Dritten Reiches“44 ebenfalls auf diese hinweist, je- doch wird sie jeweils nur in kurzen Auszügen wiedergegeben, so dass sich der Verfasser dieser Arbeit auf die ihm vorliegende kom- plette Rede stützt. Bedeutungsvoll im Zusammenhang mit der Zwangsarbeiterthema- tik ist auch eine Sammlung der Informationsstelle von über 100 Briefen ehemaliger niederländischer Zwangsarbeiter, die in Kassel eingesetzt waren und von denen ein Großteil in den Fieseler- Werken arbeitete. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen sind wichtige Zeugnisse über das System der Zwangsarbeit bei Fieseler und an- deren Kasseler Rüstungsbetrieben. Herr Prof. Dr. Krause-Vilmar, unter dessen Leitung das Archiv steht, erhielt diese Briefe nach

41 Ein Vergleich mit einzelnen Fieseler-Zeitschriften, die im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden archiviert sind, ergab, dass das Heft Nr. 4/1943 (September- Dezember) in der gebundenen Ausgabe fehlt. 42 Vgl. Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen, Bestand Krause-Vilmar, Akten-Nr. 994 (Rede Freyers über den Einsatz von Zwangsarbeitern). 43 Schumann, Wolfgang unter der Mitarbeit von Bleyer, Wolfgang (Autorenkollek- tiv) (Hrsg.): Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Band 4. Das Scheitern der faschistischen Defensivstrategie an der deutsch-sowjetischen Front (August bis Ende 1943), Köln 1981, S. 489 ff. Hiernach war die Rede im Zentralen Staats- archiv der DDR (ZstA), Potsdam, Film Nr. 4184, Vortrag Freyers im Junkers- werk Kassel-Bettenhausen am 22.6.1943, archiviert. Ebenfalls verwendet wird die Rede in dem Buch: Eichholtz, Dietrich: Geschichte der deutschen Kriegs- wirtschaft 1939-1945. Band II: 1941-1943, Berlin 1985 (Forschungen zur Wirt- schaftsgeschichte, Bd. 1), S. 272 und 281 ff. 44 Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999, S. 324 u. 325.

16 einem Zeitungsaufruf Mitte der 80er Jahre. Auszüge aus diesen sind in einer von Gunnar Richter verfassten Dokumentation mit dem Titel „Niederländische Zwangsarbeiter während des 2. Welt- krieges in Kassel“ enthalten, die Anfang des Jahres 2001 veröffent- licht wurde.45 Im Rahmen der Forschungsarbeit wurden auch zwei Interviews mit Zeitzeugen geführt, die ein Bild über das Leben Gerhard Fieselers und die Arbeitsverhältnisse in den Fieseler-Werken vermitteln. Bei den Interviewpartnern handelt es sich zum einen um die Chefse- kretärin Fieselers, die seit Anfang der 50er Jahre bis zu seinem Tod für ihn gearbeitet hat, und zum anderen um einen ehemaligen Lehrling des Unternehmens.46 Erwähnt sei zum Abschluss eine umfangreiche Auswahl zeitgenös- sischer Zeitungsartikel zur Person Gerhard Fieseler aus dem Stadtarchiv Kassel.47 Sie dokumentieren seinen Lebensweg von Beginn seiner Kunstfliegerkarriere seit Mitte der 20er Jahre, seine Tätigkeit als Flugzeugbauer und seinen Werdegang nach dem Krieg bis in die heutige Zeit. Anhand dieser Artikel kann zugleich die Wahrnehmung der Person Fieselers in der Öffentlichkeit nachge- zeichnet werden.48

45 Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter während des 2. Weltkrieges in Kassel, Kassel 2001. 46 Das Interview mit der Sekretärin Fieselers und späteren Kuratoriumsvorsitzen- den der Gerhard Fieseler Stiftung, fand am 22.6.2001 bei ihr zu Hause statt, nachdem im Vorfeld ein Gesprächstermin vereinbart worden war. Während der Unterredung, die etwa eine Stunde dauerte, wurden seitens des Verfassers handschriftliche Notizen gemacht. Frau L. konnte vor allem Angaben über die Entwicklung der Gerhard Fieseler GmbH ab etwa dem Jahr 1950 bis zur Grün- dung der Stiftung machen. Das Gespräch mit dem ehemaligen Lehrling, Herrn B., fand im Rahmen einer Arbeit über die Fieseler-Werke für die Chronik Lohfeldens statt. Es wurde am 11.1.2001 im Rathaus der Gemeinde Lohfelden geführt. Anwesend bei dem In- terview war darüber hinaus Susanne Schmidt-Osterberg. Sie war mit der Er- stellung der Chronik beauftragt und vermittelte das Gespräch. Hierüber liegen ebenfalls handschriftliche Notizen vor. 47 Die Mappe mit den Zeitungsartikeln ist im Stadtarchiv unter der Signatur S1/1097 archiviert. 48 In diesem Zusammenhang ist auch der Bestand des Archivs der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen Zeitung (HNA) von Bedeutung. Dort sind in ei- ner Mappe die in dieser Zeitung erschienenen Artikel bezüglich der Person Ger- hard Fieseler gesammelt worden. Sie geben einen guten Überblick über das Le- ben Fieselers nach 1945.

17 Literatur Über die Person Fieseler sind einige Aussagen in den Memoiren von Antonius Raab enthalten.49 Raab hatte zusammen mit Kurt Kat- zenstein im Jahre 1925 in Kassel-Waldau die Raab-Katzenstein- Flugzeugwerke GmbH gegründet, bei der Fieseler für kurze Zeit Anteilseigner und als Fluglehrer tätig war. Fast erscheint es, als seien diese Memoiren als Antwort auf Fieselers Biografie erschie- nen, da Raab in einigen Punkten Bezug auf Fieselers Darstellungen nimmt und ihn teilweise hart angreift. Eine neuere Abhandlung über den Flugzeugbauer Fieseler und seinen Werdegang im Dritten Reich, die vom Verfasser dieser Arbeit stammt, enthält die Chronik über Lohfelden.50 Des Weiteren sei auf einen kurzen Beitrag in dem Buch „Volksgemeinschaft und Volksfeinde“ von Jörg Kammler und Dietfrid Krause-Vilmar hingewiesen.51 Zur Situation der Luftfahrtindustrie in Deutschland zum Grün- dungszeitpunkt der Firma Fieseler sowie deren Wandel und Ent- wicklung zur bedeutenden Rüstungsindustrie im Dritten Reich ist neben der sehr ausführlichen Dissertation von Wolfgang Geh- risch52 auf das im Auftrag des Militärgeschichtlichen For- schungsamtes erstellte und von Horst Boog herausgegebene Buch „Luftkriegführung im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Ver- gleich“ zu verweisen.53 Vor allem der Beitrag von Boelcke ist für

49 Raab, Antonius: Raab fliegt. Erinnerungen eines Flugpioniers, Hamburg 1984. 50 Wiederhold, Thorsten: Ein „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ – Die Ger- hard Fieseler Werke, in: Gemeindevorstand der Gemeinde Lohfelden (Hg.): Streifzüge durch 900 Jahre Ortsgeschichte. Crumbach und Ochshausen 1102- 2002, Gudensberg-Gleichen 2001, S. 218-225. 51 Kammler, Jörg u. Krause-Vilmar, Dietfrid: Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945. Eine Dokumentation. Band 1, Kassel 1984, S. 390/391 u. 428-431. 52 Gehrisch, Wolfgang: Die Entwicklung der Luftfahrtindustrie im imperialisti- schen Deutschland bis 1945, oec. Diss. Berlin-Ost 1974 (masch.). Wie der Titel und der Erscheinungsort bereits vermuten lassen, ist diese Dissertation der Tradition der marxistischen Geschichtsschreibung zuzuordnen. Gehrisch ver- folgt bei der Untersuchung seines Themas die These, dass bei der immensen Aufrüstungspolitik nach 1933 eine enge Verflechtung von Wirtschaft und Staat bestanden hat und die Wirtschaft in Erwartung hoher Profite die treibende Kraft bei der Aufrüstung war. Vgl. hierzu Schabel, Ralf: Die Illusion der Wun- derwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rü- stungspolitik des Dritten Reiches, München 1994 (Beiträge zur Militärge- schichte Bd. 35), S. 107. 53 Boog, Horst (Hrsg.): Luftkriegsführung im Zweiten Weltkrieg. Ein internationa- ler Vergleich, Herford/Bonn 1993 (Vorträge zur Militärgeschichte Bd. 12).

18 diese Arbeit von Bedeutung; 54 u.a. enthielt sie Hinweise zur Person Fieseler. Andere Historiker auf diesem Gebiet, wie beispielsweise Bagel-Bohlan55, beschäftigen sich allgemein mit der Rüstungswirt- schaft bzw. der Rüstungspolitik und behandeln die Flugzeugindu- strie nur als Teilaspekt ihrer Forschung oder sie beschreiben, wie Karl-Heinz Völker56, vor allem die technischen Entwicklungen der Luftfahrtindustrie. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Ralf Schabel57 und insbesondere von Edward L. Homze58, auf dessen Forschungsergebnisse andere Geschichtswis- senschaftler immer wieder zurückgreifen. Sie sind insofern auch für das Thema dieser Arbeit von Bedeutung, da sie die Interdepen- denz von Militär, Politik und Rüstung untersuchen und die Profit- bildung in der Luftfahrtindustrie, die sich durch Rüstungsaufträge des nationalsozialistischen Regimes ergab, näher beleuchten. Auf- grund des verwandten thematischen Schwerpunkts sei als bedeu- tende Arbeit und Vergleichsstudie zum vorliegenden Buch die ver- öffentlichte Dissertation von Hartmut Prophanken mit dem Titel „Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939: Unternehmerisches Entscheidungshandeln im Kontext nationalso- zialistischer Luftrüstung“ angeführt.59 Prophanken beschreibt den Aufstieg der Weser-Flugzeug-GmbH zum Großunternehmen mit wertvollen Untersuchungen und Darstellungen zum politischen Kontext sowie zur Finanzierung der erheblichen Kapazitätsaus- weitung in der Luftfahrtindustrie nach 1933. Zwischen dem Wer- degang der Weser-Flugzeugbau GmbH und den Fieseler-Werken deuten sich sichtbare Parallelen an. Um die betriebliche Sozialpolitik der Fieseler-Werke im zeitlichen Kontext einordnen zu können, ist als grundlegendes Werk das

54 Boelcke, Willi A.: Stimulation und Verhalten von Unternehmen der deutschen Luftrüstungsindustrie während der Aufrüstungs- und Kriegsphase, in: ebd., S. 81-111. 55 Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen 1936-1939, Koblenz/Bonn 1975 (Beiträge zur Wehrforschung Bd. XXIV). 56 Völker, Karl-Heinz: Die Deutsche Luftwaffe 1933–1939. Aufbau, Führung und Rüstung der Luftwaffe sowie die Entwicklung der deutschen Luftkriegstheorie, Stuttgart 1967 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte Bd. 8). 57 Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 107. Schabel gibt auch einen guten Überblick über den Forschungsstand und der zu diesem Themengebiet erschienen Literatur, vgl. ebd., S. 27-33. 58 Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5]. 59 Vgl. Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8].

19 Buch „Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft“60 von Thimothy W. Mason zu nennen. Neben einer Einführung über Ziele und Wesen der Sozialpolitik im Dritten Reich enthält es zahlreiche Quellen zu dieser Thematik. Als neuere Arbeiten hierzu, auch hinsichtlich der Sozialpolitik im Dritten Reich, wurden seitens des Verfassers ins- besondere Bücher und Aufsätze von Marie Luise Recker61, Matthias Frese62, Wolfgang Spohn63 und Andreas Kranig64 herangezogen. Neben den bereits oben erwähnten Quellen zum Arbeitseinsatz ausländischer Zwangsarbeiter in den Fieseler-Werken existieren für den Raum Kassel mehrere regionalgeschichtliche Arbeiten zu die- sem Thema, das gut erforscht ist. Hinzuweisen ist neben dem Buch „Ausländische Zwangsarbeiter in Kassel 1940-1945“65 von Ewald, Hollmann und Schmidt insbesondere auf einen Beitrag von Krau- se-Vilmar im zweiten Band des Buches „Volksgemeinschaft und Volksfeinde“66, der zugleich den Rahmen des Arbeitseinsatzes aus- ländischer Arbeiter im Deutschen Reich, wie beispielsweise Metho- den der Zwangsrekrutierung oder Behandlung der Zwangsarbeiter, beleuchtet. Als Standardwerk zur Zwangsarbeiterpolitik im Dritten

60 Mason, Timothy W: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universi- tät Berlin, Bd. 22). 61 Recker, Marie-Luise: Zwischen sozialer Befriedung und materieller Ausbeutung. Lohn- und Arbeitsbedingungen im Zeiten Weltkrieg ,in: Michalka, Wolfgang: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanzen, München 1989, S. 430-444; dies.: Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Welt- krieg, München 1985 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 29). 62 Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933- 1939, Paderborn 1991. 63 Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft. Die rechtliche und institutionelle Regelung der Arbeitsbeziehungen im NS-Staat, Berlin 1987. 64 Kranig, Andreas: Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik unter dem Nationalsozialismus, in: Bracher, K.-D., Funke, M. u. Jacobsen, Hans- Adolf (Hrsg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 21993 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bil- dung: Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 314), S. 135-152. 65 Ewald, Th., Hollmann, Ch. U. Schmidt, Heidrun: Ausländische Zwangsarbeiter in Kassel 1940-1945, Kassel 1988. 66 Krause-Vilmar, Dietfrid: Ausländische Zwangsarbeiter in der Kasseler Rü- stungsindustrie (1940-1945), in: Frenz, W., Kammler, J. und Krause-Vilmar, Dietfrid (Hrsg.): Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945. Band 2: Studien, Fuldabrück 1987 (Kasseler Quellen und Studien, Schriftenreihe des Magistrats der Stadt Kassel, Bd. 7), S. 388-414.

20 Reich ist das Buch von Ulrich Herbert „Fremdarbeiter“67 anzuge- ben. Bezüglich der Entnazifizierungspolitik in Hessen, der in diesem Buch ein gesondertes Kapitel gewidmet ist, liegt mit der Arbeit von Armin Schuster „Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954“68 ein solides Werk über Chronologie, Praxis und Probleme der Entnazifi- zierung vor. Auf dieser Grundlage lässt sich das Spruchkammer- verfahren von Gerhard Fieseler sehr gut nachvollziehen und es in Bezug zur Zeit setzen. Ebenfalls grundlegend und bedeutungsvoll ist die Arbeit von Lutz Niethammer mit dem Titel „Die Mitläuferfa- brik“69. Wesentliche Dokumente und Quellen finden sich in dem Buch „Entnazifizierung“70 von Clemens Vollnhals.

67 Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44]. 68 Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18]. 69 Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bay- erns, Berlin/Bonn 1982 (Zuerst erschienen unter dem Titel: Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt a. M. 1972). 70 Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabili- tierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991.

21 Zur Person Gerhard Fieseler bis 193371 In diesem Kapitel erfolgt eine kurze Beschreibung des Werdegangs Gerhard Fieselers von seiner Jugend bis zu den Anfängen seiner Tätigkeit als Flugzeugbauer. In dieser Phase seines Lebens ist seine Verbindung zur Fliegerei begründet, die aus seiner frühen Begeis- terung für Flugzeuge hervorging und durch seine Erfahrungen als Jagdflieger gefestigt wurde. Dieser Zeitabschnitt, an den sich seine Karriere als Unternehmer nahtlos anschloss, war prägend für sei- nen persönlichen aber auch beruflichen Werdegang.

Jugendliche Begeisterung für die aufkommende Fliegerei Gerhard Fieseler wurde am 15. April 1896 als ältester Sohn von 11 Kindern der Familie in Glesch am Rhein geboren.72 Sein Vater war Buchdrucker und besaß einen kleinen Betrieb, in dem Fieseler während seiner Kindheit durch Ausführung verschiedener Hilfstä- tigkeiten mitarbeiten musste. Nach eigener Aussage waren die El- tern sehr streng und unbedingter Gehorsam galt als Selbstver- ständlichkeit. Während der Vater, der streng katholisch war, im Umgang mit Gerhard Fieseler impulsiv und inkonsequent war, stellte die Mutter den ruhenden Pol der Familie dar, die nicht unge- recht handelte.73 Fieseler besuchte bis 1910 die Volksschule (Mittelschule) und machte danach, ganz im Sinne des Vaters, eine vierjährige Ausbil- dung im elterlichen Geschäft. Für den Besuch des Gymnasiums konnte die Familie kein Geld aufbringen, jedoch bildete sich Fie- seler mit Hilfe eines Schulfreundes in seiner Freizeit weiter. Schon während seiner Schulzeit galt sein Interesse der zu jener Zeit noch in der Entwicklungsphase befindlichen Fliegerei. Er besorgte sich diesbezüglich Literatur, verfolgte die Flugversuche verschiedener Piloten und baute mit zwölf Jahren erste eigene Flugzeugmodelle. Als besonderes Erlebnis schildert Fieseler seinen ersten mit eige-

71 Die meisten Informationen zu diesem Kapitel wurden aus seinen Memoiren entnommen, vgl. Fieseler Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1]. Ande- re ausführliche Biografien zu seinem Leben sind dem Verfasser nicht bekannt. 72 Die Anzahl der Geschwister wurde einem Schreiben des Anwalts Fieselers ent- nommen, in dem der Lebenslauf Fieselers kurz beschrieben ist. Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 154. 73 Vgl. Fieseler Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 24.

22 nen Augen mitverfolgten Flug im Jahre 1912, der ihn zu dem Ent- schluss veranlasste, selbst Flieger zu werden.74

Jagdflieger im Ersten Weltkrieg Mit Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich Gerhard Fieseler 18-jährig als Kriegsfreiwilliger zur Fliegertruppe. Aufgrund man- gelnder Ausbildungsplätze in der noch jungen Fliegerabteilung wurde er jedoch zunächst zurück- gestellt. Nach er- neuter Bewerbung durchlief er zu- nächst eine infan- teristische Ausbil- dung und arbeitete als Flugzeugmon- teurhelfer, bevor er Anfang des Jahres 1915 mit der fliege- rischen Ausbildung Gerhard Fieseler neben einem von ihm abgeschossenen Flugzeug begann. Trotz eines Absturzes bei der Feldpilotenprüfung, die komplizierte Knochen- brüche und einen langen Aufenthalt im Lazarett zur Folge hatte, konnte Fieseler seine Ausbildung erfolgreich abschließen. Ab Sommer 1916 wurde er als Artillerie- und Aufklärungsflieger an der Front und ab 1917, inzwischen zum Unteroffizier befördert, als Jagdflieger an der Balkanfront in Mazedonien eingesetzt. Dort er- rang er insgesamt 21 Luftsiege75, ohne dass sein Flugzeug selbst einen Maschinengewehrtreffer erhielt. Aufgrund dieser Erfolge be- kam er den Beinamen „Tiger von Mazedonien“. Es folgte die Beför- derung zum Offizier und ihm wurde wegen Tapferkeit vor dem Feind der sog. „Unteroffizier-Pour le Mérite“ verliehen, der mit ei-

74 Vgl. Fieseler Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 34. „In einer wahren Hochstimmung, wie ich sie noch nie erlebt hatte, faßte ich den Plan, Flie- ger zu werden.“ 75 Diese Angabe wurde der „Festschrift zum 100. Geburtstag von Gerhard Fie- seler“ entnommen, (Unterlage der Fieseler Stiftung). Fieseler selbst gibt in sei- nen Memoiren keine genaue Zahl an. Nur am Rande werden etwa 20 Luftsiege erwähnt, vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 71.

23 nem lebenslangen Ehrensold verbunden war.76 Seine Erfolge und sein Ansehen als Jagdflieger wurden immer wieder im Zusammen- hang mit Darstellungen über seine Person hervorgehoben. Insbe- sondere während des Dritten Reiches wurde sein Ruf als „gefürch- teter Tiger von Mazedonien“ durch Zeitungsartikel, die eine ehema- lige Flugschülerin Fieselers, Vera von Bissing, verfasst hatte, ent- sprechend aufbereitet und Fieseler als Kriegsheld glorifiziert.77

Der Kunstflieger Gerhard Fieseler Nach Ende des Ersten Weltkrieges arbeitete Fieseler für kurze Zeit wieder im Betrieb seines Vaters. Doch zunehmende Spannungen und Streitigkeiten mit diesem über Fragen der Betriebsführung bewogen Gerhard Fieseler im Jahre 1919 zum Aufbau einer eige- nen Buchdruckerei in Eschweiler, der zwei Jahre später noch eine Papierwarenfabrik angegliedert wurde. Trotz seiner Aufgaben im eigenen Betrieb, die ihn zeitlich stark beanspruchten, interessierte sich Fieseler weiterhin für die Fliege- rei und verfolgte die Entwicklung des Fluggeschehens in Deutsch- land, insbesondere die des Kunstfluges. Angeregt durch die Kunst- flüge des ehemaligen Jagdfliegers Ernst Udet78 entschloss er sich,

76 In der Einleitung wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Schilderungen Fieselers in seinen Memoiren mit Vorsicht zu betrachten sind. Er verliert sich häufig in verklärter Selbstdarstellung. Hier einige Beispiele: „Trotz meines Kampfes gegen die Übermacht hatte ich mein Ziel, die Prüfung zum Einjährigen, nicht aus den Augen verloren“, Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 90; „Und niemand wußte besser als ich, wie groß die militärische Übermacht unserer Gegner war“, ebd., S. 95; „Griff ich aber an, nahm der ganze Verband Reißaus“, ebd., S. 90. 77 Vgl. hierzu stellvertretend: Kurhessische Landeszeitung Nr. 302 v. 28./29. Dezember 1935. Unter der Überschrift „Der Tiger fliegt. Aus dem Leben des Kriegs- und Kunstfliegers berichtet“ beschreibt Vera von Bissing, eine ehemalige Flugschülerin Fieselers, seine Laufbahn als Kampf- und Kunstflieger. Annä- hernd identisch wurde der gleiche Artikel 1952 in der Kasseler Post abgedruckt. Hier lautet die Überschrift: „Fieseler, der Tiger von Mazedonien. Fast abergläu- bische Angst vor der Maschine mit dem weißen fliegenden F“, vgl. Kasseler Post Nr. 100 v. 30.4. u. 1.5.1952 u. Kasseler Post Nr. 101 v. 3. u. 4.5.1952. Aus- führliche Berichte über seine Zeit als Kampfflieger sind auch in der Fieseler- Zeitschrift enthalten, ebenfalls von Vera von Bissing verfasst. Vgl. Fieseler- Zeitschrift Nr. 1/1938, S. 2-4; Nr. 2/1938, S. 2-4 u. Nr. 3/1938, S. 7 u. 8. 78 Vgl. Köhler, Karl u. Hummel, Karl-Heinz: Die Organisation der Luftwaffe 1933- 1939 [wie Anmerkung 19], S. 532 u. 537. (geb. am 26.4.1896 in Frankfurt a. M., gest. am 17.11.1941 in Berlin, Selbstmord) war mit 62 Luftsie- gen zweiterfolgreichster Jagdflieger des Ersten Weltkrieges. Am 1. Juni 1935

24 in das zivile Fluggeschäft einzusteigen.79 Er verpachtete seine Buchdruckerei in Eschweiler und stieg im Frühjahr 1926 als Teil- haber in die in Kassel ansässige „Raab-Katzenstein-Flugzeugwerke GmbH“ ein, indem er 20 Prozent der Gesellschaftsanteile erwarb.80 Die „Raab-Katzenstein-Flugzeugwerke GmbH“ waren von Anatole Gobiet, Kurt Katzenstein und Antonius Raab in Kassel 1925 ge- gründet worden. Bezüglich der Teilhaberschaft Fieselers bemerkt Raab in seinen Erinnerungen, dass dieser seinen Anteil von den Erben eines verstorbenen Teilhabers, Max Meyer aus Berlin, er- worben habe und nicht von der Firma selbst. Außerdem habe sein Anteil lediglich 2.000 Reichsmark (RM) und nicht, wie von Fieseler behauptet, 20 Prozent betragen.81 „Das ist einer der vielen Irrtümer, die Fieseler unterlaufen sind.“82

trat er als Oberst in die Luftwaffe ein, am 1. Oktober des gleichen Jahres wurde er zum Inspekteur der Jagd- und Sturzkampfflieger ernannt. Am 9. Juni 1936 wurde er Chef des Technischen Amtes im RLM und 1939 zum Generalluft- zeugmeister befördert. Damit war er sowohl für die Entwicklung und Erprobung von Geräten und Waffen als auch für die Beschaffung und Ausrüstung der Luftwaffe zuständig. Göring und Hitler gaben ihm die Schuld für das Scheitern der Luftschlacht um England. Infolge der auf ihn einwirkenden Schwierigkeiten in der Luftrüstung und der Einsicht, diesen nicht gewachsen zu sein, nahm Udet sich das Leben. 79 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 107. 80 Vgl. hierzu und zur Gründung dieser Firma Raab, Antonius: Raab fliegt. Erin- nerungen [wie Anm. 49], S. 69. Weitere Aussagen zu Fieseler macht Raab auf den S. 96, 100 ff., 108 u. 111 ff. Während des Spruchkammerverfahrens äußert sich Anatole Gobiet in einem Brief zu Gerhard Fieseler u. der Entwicklung seiner Firma, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 334-336 u. 343. 81 Raab schreibt in seinem Buch: „Fieseler gibt in seinen Memoiren an, daß er als GmbH-Anteil 45.000,- Mark eingezahlt habe“, vgl. Raab, Antonius: Raab fliegt. Erinnerungen [wie Anm. 49], S. 69. Diese Zahl kann vom Autor nach Durch- sicht der Memoiren nicht bestätigt werden. Fieseler nennt seinen Anteil in Höhe von 20 Prozent (vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 108. Möglicherweise entsprechen diese 20 Prozent den 45.000 RM. 82 Raab, Antonius: Raab fliegt. Erinnerungen [wie Anm. 49], S. 69. Die Antipathie in Raabs Erinnerungen gegenüber Fieseler sind unverkennbar. An anderer Stelle schreibt Raab: „Also beide Männer [gemeint sind Kurt Katzenstein und Antonius Raab, d.V.], die Fieseler bei seiner Entwicklung zum Kunstflieger sehr gefördert hatten, galten als tot; so konnten die Nazis und mit ihnen Fieseler er- zählen, was ihnen paßte. [...] Natürlich brauchte die Reichswehr den Flugplatz nicht. Sie hatten uns verjagt, damit der Weg für die neuen Fieselerwerke geebnet war. Fieseler übernahm später den Platz mit der von uns bezahlten Fliegerschul- baracke und die beiden Fabrikhallen, nebst kompletter Spritzanlage und Moto- renprüfstand [...]. Fieseler profitierte davon, und die neuen Fieselerwerke fanden alles vor, was eine Flugzeugfabrik braucht, aufgebaut und bezahlt von den Ra-

25 Der Aufgabenbereich Fieselers in der Firma Raab-Katzenstein um- fasste die Tätigkeit als Fluglehrer, die Teilnahme an Schau- und Rundflügen sowie die Organisation von Flugtagen, z.B. zu Ostern des Jahres 1927 in Kassel. Als besondere Attraktion wollte Fieseler hier den ersten Schleppversuch der Welt durchführen, d.h. ein Segelflugzeug sollte von einem Motorflugzeug gezogen werden. Die- ser Versuch gelang zwar, jedoch entbrannte zwischen Fieseler und Raab ein Streit darüber, wer die Idee für diesen Schleppversuch gehabt hatte. Raab schreibt in seinen Erinnerungen, dass der erste erfolgreiche Schleppversuch bereits einige Wochen vor dem Flugtag nach einer Idee von Anthony Fokker von ihm und Katzenstein durchgeführt und als Patent angemeldet worden war.83 „Als aber das deutsche Militär 1938 [...] die Lastensegler-Flotte zu bauen be- gann, entdeckten plötzlich drei Männer, daß sie die eigentlichen Er- finder seien. [...] Fieseler schreibt sich den ersten Flug mit Espenlaub im Anhänger zu und auch Dittmar behauptet, daß er den ersten Schleppflug durchgeführt habe. Dies entspricht nicht der Wahrheit, aber Fälschen war im Dritten Reich Staatsmethode, wenn es darum ging, Hitler-Gegner zu desavouieren. [...] Espenlaub und Fieseler haben sich gestritten, wer von ihnen als erster die Idee des Schlep- pens hatte. Wahr ist: Keiner von beiden. Fokker hatte sich die Idee bereits 1912 patentieren lassen. Fieseler strengte gegen Espenlaub deshalb einen Prozeß an; er meinte, auch dieses Primat gebühre ihm [...]. Fieseler hat den Prozeß verloren.“84 U.a. wegen der Streitfrage um den Schleppversuch kam es zum Zerwürfnis zwischen Raab und Fieseler. Fieseler schied daraufhin aus der Firma aus. Als Gegenleistung für seine Anteile an der GmbH erhielt Fieseler von den Raab-Katzenstein-Flugzeugwerken ein nach seinen Vorstellungen gebautes Flugzeug, die „Tiger- schwalbe“. Fortan widmete sich Fieseler ausschließlich seiner Tätigkeit als Kunstflieger. Bereits im Sommer 1927 konnte er einen ersten Er- folg im Kunstflug erzielen. Er gewann einen nationalen Wettbewerb

Ka-Werken [Raab-Katzenstein, d.V.]. Fieseler nutzte die Gelegenheit aus, die be- sten Techniker und den Meisterbestand [..] für sich zu gewinnen“, vgl. ebd., S. 100 u. 108. 83 Vgl. ebd., S. 91-101. Zur Darstellung Fieselers hierzu vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 110. 84 Raab, Antonius: Raab fliegt. Erinnerungen [wie Anm. 49], S. 96. Ein amtlicher Nachweis über die Patentanmeldung des Schleppversuchs von Raab- Katzenstein ist auf S. 93 abgebildet.

26 in Essen und triumphierte über die damals bekannten deutschen Kunstflieger, wie z.B. Ernst Udet. Sein Bekanntheitsgrad stieg in- nerhalb kurzer Zeit immens an. Schon einige Wochen später wurde Fieseler bei einem Flugtag auf dem Tempelhofer Flughafen in Ber- lin als die Hauptattraktion angekündigt. Von diesem Zeitpunkt an war er vor allem in den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Kunst- flieger fast jedes Wochenende unterwegs, um an Flugtagen seine Flugkünste zu präsentieren. Für kurze Zeit war er auch von der Firma Junkers engagiert worden, um die Piloten, die dem Flugzeug- unternehmen angehörten, für den Erwerb der Fluglizenz im Kunst- flug zu schulen. Als einer der ersten deutschen Kunstflieger nahm er an internatio- nalen Wettbewerben und Schauflügen im europäischen Ausland teil, wie z.B. in der Schweiz, in den Niederlanden, in Italien und Frankreich. Während seiner Karriere als Kunstflieger wurde Fie- seler fünfmal deutscher Meister, zweimal Europa- und einmal Weltmeister. Mit dem zuletzt genannten Titel schloss er seine Kunstfliegerlaufbahn im Sommer 1934 ab. Gerhard Fieseler begei- sterte das Publikum, das zum Teil aus mehreren 10.000 Zuschau- ern bestand, vor allem durch die mathematische Genauigkeit sei- nes Flugstils und der Erfindung immer neuer Kunstflugfiguren, wie z.B. den „Looping nach vorn“.

Gerhard Fieseler nach seiner Rückkehr als Welt- meister in Kassel (von rechts nach links: Staatsrat Karl Weinrich, Gerhard Fieseler mit Frau und Tochter, Gauge- schäftsführer Bürckel und Gaupopagandaleiter Ger- land)

27 Neben Ruhm, den Gerhard Fieseler als Kunstflieger erlangte, si- cherte ihm die Kunstfliegerei ein hohes Einkommen. Dieses setzte sich aus Preisgeldern und Honoraren für seine Flugvorführungen zusammen. Nach eigener Aussage war er zu dem damaligen Zeit- punkt, ab 1930, der bestbezahlte Flieger der Welt.85 Sein Honorar für eine zehnminütige Flugschau betrug zwischen 5.000 und 10.000 RM.86 Insgesamt verdiente Gerhard Fieseler während seiner Zeit als Kunstflieger (von 1928 bis 1934) 505.000 RM.87 Dieses Kapital war der Grundstock für seinen Einstieg in das Flugzeug- baugeschäft.

Der Einstieg in das Flugzeugbaugeschäft Noch während seiner Tätigkeit als Kunstflieger fasste Gerhard Fie- seler den Entschluss, Flugzeuge herzustellen. Am 1. April 1930 kaufte er mit Hilfe seiner gewonnen Preisgelder die Firma „Fritz Ackermann Segelflugzeugbau“ in Ihringshausen bei Kassel, der etwa 30 Mitarbeiter angehörten. Nach eigenen Angaben sah Fie- seler durch den Kauf die Möglichkeit, sich eine neue Existenz auf- zubauen, von der er nach Ende seiner Zeit als Kunstflieger leben könnte. „Ich war mir klar darüber, dass ich meine Kunstfliegerei nicht mein ganzes Leben betreiben könne. [...] Ich habe den Betrieb gekauft mit dem Gedanken, dass ich in dem Winterhalbjahr etwas zu tun hatte und zum anderen auch für späterhin etwas zu haben, dem ich meine Kraft widmen konnte.“88 Unter dem Namen „Segel-Flugzeugbau Kassel Inhaber: G. Fieseler“ begann der Betrieb mit der Produktion von Segelflugzeugen.89 Fie- seler versuchte durch rationellen Serienbau oder durch das sog.

85 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 165. 86 Vgl. ebd. u. Hessische Niedersächsische Allgemeine Zeitung Nr. 15 v. 14.4.1996. 87 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 116r (Anklageschrift der Spruchkammer). 88 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 256 (Aussage Fieseler). 89 Vgl. Bestand „Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen“, Sammlung Gerhard Fieseler Werke: zwei von Fieseler ausgestellte Arbeitszeugnisse vom 16.8.1930 und vom 20.6.1932. Auf dem Briefkopf des Schreibens vom 16.8.1930 steht: „Segel-Flugzeugbau Kassel Inhaber: G. Fie- seler. Segelflugzeuge, Leichtflugzeuge, Versuchsbau. Ausführung nach eigenen und gegebenen Konstruktionen. Lizenzbau sämtlicher Typen der Rhön- Rositten-Gesellschaft“. In dem Schreiben vom 20.6.1932 wird der Firmenname mit „Fieseler-Flugzeugbau Kassel“ angegeben. Die Firma produzierte seit 1931 unter diesem Namen.

28 Baukastensystem, bei dem die einzelnen Flugzeugteile durch seine Firma vorgefertigt wurden und nur noch zusammengesetzt werden mussten, den Kaufpreis seiner Segelflugzeuge für die Kunden rela- tiv günstig zu gestalten. Ein Großteil der Segelflugzeuge wurde an Interessenten in das Ausland geliefert. Dazu Gerhard Fieseler: „ [...] von dieser Produktion gingen 80% ins Ausland, an Privatleute aber auch an Regierungsstellen. Die Segelfliegerei war im Ausland unbe- kannt. In Deutschland wurde sie durch den Versailler Vertrag erfun- den. [...] so sind einmal 30 Flugzeuge nach Amerika verkauft wor- den, ja sogar nach China wurden sie verkauft.“90 Insgesamt entwickelte sich das Geschäft jedoch nicht gemäß den Erwartungen Gerhard Fieselers. Trotz der Exporte und dem Inter- esse einiger deutscher Segelflieger war die Auftragslage zu gering, als dass die Firma ohne die ständige Subvention mit privaten Gel- dern Fieselers hätte existieren können. Das Gehalt für seine Ar- beiter finanzierte er in der Hauptsache durch seine Kunstflugakti- vitäten. Trotzdem musste er wegen Auftragsmangel immer wieder Mitarbeiter entlassen.91 Fieseler sagte während seines Spruch- kammerverfahrens hierzu aus, die Verbindlichkeiten seien immer höher gestiegen, und er habe einige 100.000 RM in das Geschäft investiert.92 Dies veranlasste ihn 1932 zu dem Entschluss, mit der Herstellung von Motorflugzeugen in seinem Betrieb zu beginnen. „In Ihringshausen war bereits mit dem Bau von Motorflugzeugen angefangen worden. Ich wurde veranlasst dazu durch den Boykott des Auslandes gegen jede deutsche Ware. Die ausländischen Auf- träge fielen in 1932 fort.“93 Den ersten Auftrag erteilte Gerhard Fieseler selbst, indem er seine Konstrukteure mit dem Bau eines neuen Kunstflugzeuges für ihn betraute. Im April 1932 war dieses Flugzeug, die „F 2 Tiger“ als Einzelmodell fertiggestellt worden. Weitere Entwicklungen waren die „F 3 Wespe“, ein für eine Zigarettenfirma zu Werbezwecken her-

90 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, I, 2, Bl. 256. 91 Dies geht u.a. aus zwei Schreiben Fieselers an einen seiner Arbeiter hervor. Vgl. zwei von Fieseler ausgestellte Arbeitszeugnisse [siehe Anm. 85]. Gerhard Fie- seler schrieb am 16.8.1930: „Die Entlassung erfolgt wegen Arbeitsmangel und ich behalte mir vor, ihn im Bedarfsfalle wieder einzustellen“. Am 20.6.1932 be- scheinigte er dem gleichen Arbeiter: „Ich bescheinige hiermit, dass der Mechani- ker C. Z. die Arbeit vorläufig niederlegen muss und heute wegen Arbeitsmangel entlassen wurde.“ 92 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 256 u. 272 (Aussage Fie- seler). 93 Ebd., Bl. 256 (Aussage Fieseler).

29 gestelltes zweimotoriges schwanzloses Deltaflugzeug, das sich je- doch als Fehlkonstruktion erwies, sowie Sportflugzeuge vom Typ „F 4“ und „F 5“.94 Letztere wurde im Herbst 1932 konstruiert.

94 Zu den einzelnen Flugzeugtypen vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 175-179.

30 Zur Bedeutung und Entwicklung der Luftfahrtindustrie in Deutschland während der Weimarer Republik und des Dritten Reiches Um den Werdegang der Firma Fieseler im historischen Kontext einordnen zu können, wird auf den folgenden Seiten die Situation der deutschen Luftfahrtindustrie zum Zeitpunkt der Fieseler- Werksgründung bzw. mit Aufnahme des Motorflugzeugbaus im Unternehmen und die Entwicklung der Flugzeugindustrie nach der sog. „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten beschrieben. An- hand dieser Übersicht soll verdeutlicht werden, welche wirtschaftli- che Perspektive für die Fieseler-Firma in der Gründungszeit be- stand und welche sich für diese nach 1933 unter dem NS-Regime ergab.

Zur Situation der Flugzeugindustrie vor 1933 Die Lage der Flugzeugindustrie vor 1933 bewertet Schabel folgen- dermaßen: „Vor der Machtergreifung Hitlers war die deutsche Luft- fahrtindustrie ein Wirtschaftszweig von verschwindend geringer Be- deutung gewesen.“95 In der Weimarer Republik war die Entwick- lung der Flugzeugindustrie zunächst durch den am 10. Januar 1920 in Kraft getretenen Versailler Friedensvertrag bestimmt. In Konsequenz des von Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieges war es verboten, militärische Flugzeuge zu bauen und bis auf we- nige Ausnahmen auch zu nutzen. Die Herstellung von Zivilflugzeu- gen wurde erst nach Aufhebung eines ebenfalls generellen Verbots ab dem 5. Mai 1922 erlaubt, allerdings unter Auflagen mit starken technischen Einschränkungen, die weit unter dem internationalen Standard lagen. Einige Firmen unterliefen jedoch diese Bestim- mungen, indem sie in das Ausland gingen. Insbesondere die „Deutsch-Russische-Flugzeugbau-Gemeinschaft“ kam den Flug- zeugbauern zu Hilfe.96 So wurde beispielsweise am 15. März 1922 die Firma Junkers unter verdecktem Namen vom Reichswehrmini-

95 Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 103. Vgl. zu diesem Kapitel auch insbesondere Boelcke, Willi: Stimulation und Verhalten von Unternehmen der deutschen Luftrüstungsindustrie [wie Anm. 54], S. 81- 111. Boelcke beschreibt die Situation der deutschen Flugzeugindustrie an Bei- spielen verschiedener Firmen. 96 Vgl. Bontrup, Heinz-J. u. Zdrowomyslaw: Die deutsche Rüstungsindustrie. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Ein Handbuch, Heilbronn 1988, S. 97. Den Weg ins Ausland gingen z.B. Ernst und Claudius Dornier.

31 sterium mit dem Bau von Flugzeugen in der Sowjetunion beauf- tragt. Mittelpunkt der deutschen Flugzeugerprobung und Flie- gerausbildung war dort das Flugzentrum Lipzek, das 1924 einge- richtet worden war und seinen Betrieb im Sommer 1925 aufge- nommen hatte.97 Mit dem Pariser Flugabkommen vom 21. Mai 1926 änderte sich die Situation für die Flugzeugindustrie in Deutschland. Für zivile Zwecke durften wieder Flugzeuge ohne beschränkende Vorschriften hergestellt werden, auch wenn weiterhin die Interalliierte Militär- Kontroll-Kommission bis 1927 die Entwicklung in der Luftfahrt überwachte. Das Wegfallen des Produktionsverbotes führte in Deutschland zu einem „stürmischen“ Aufschwung in der Flugzeug- branche, „herrschte in Deutschland ein heute kaum vorstellbares Luftfahrtfieber, eine Technikeuphorie, wie sie gewöhnlich Pionierzei- ten neuer Hochtechnik eigen zu sein pflegte. Diese Flugbegeisterten meinten, den Himmel auf Erden aufzutun“.98 Zur Stellung der Luftfahrtindustrie in der Zeit vor 1926 schreibt Homze: „The years from 1918 to 1926 were extremely difficult ones for the German aircraft industry. The treaty restrictions, rampant inflation, and the chaotic political situation made normal business virtually impossible. Fokker, Pfalz, Gotha and Friedrichshafen, active firms during the war, closed. [...] and the few companies left had to develop branch offices abroad, diversify production, or establish air- lines to use their products.“99 Während der Weimarer Republik wurde die Flugzeugindustrie stark subventioniert. In den Jahren von 1926 bis 1932 flossen insgesamt 321.220.845 RM an staatlicher Unterstützung.100 Hintergrund der hohen finanziellen Zuwendungen war die immer größer werdende militärische Bedeutung von Flugzeugen, die sich im Ersten Welt- krieg bereits angedeutet hatte. Obwohl der Reichswehr offiziell die

97 Vgl. Köhler, Karl u. Hummel, Karl-Heinz: Die Organisation der Luftwaffe 1933- 1939 [wie Anmerkung 19], S. 501 u. 503 sowie Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 20-22. Hintergrund dieser Einrichtung war der Ver- trag von Rapallo vom April 1922, woraus die Erlaubnis resultierte, einige mili- tärische Einrichtungen auf sowjetischen Territorium aufzubauen. Lipezk hatte mehr Bedeutung im Sinne einer Versuchs- und Testanstalt als militärische Trainingsbasis. Sie wurde mit jährlich 3 Millionen RM unterstützt. Im Sommer 1933 wurde sie geschlossen. 98 Boelcke, Willi: Stimulation und Verhalten von Unternehmen der deutschen Luftrüstungsindustrie [wie Anm. 54], S. 81. 99 Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 10 u. 11. 100 Vgl. ebd., S. 29 u. 31.

32 Aufstellung einer Luftwaffe als Waffengattung nicht erlaubt war, sollte zumindest die technische Entwicklung von Flugzeugen durch die zivile Luftfahrtindustrie gewährleistet werden, um diese nach Aufhebung des Verbots zu einem späteren Zeitpunkt für militäri- sche Zwecke nutzen zu können. Die Subventionen halfen dem In- dustriezweig, die Krisenjahre der Weltwirtschaftskrise, von dem dieser Ende der zwanziger Jahre erfasst wurde, zu überstehen, auch wenn viele Unternehmen ihre Existenz aufgeben mussten.101 Die nachfolgend angeführten Zahlen sind kennzeichnend für die Lage der Luftfahrtindustrie gegen Ende der Weimarer Republik. Anfang des Jahres 1933 gab es in der Flugzeugbranche insgesamt 14 Firmen mit 3988 Beschäftigten, wobei in dieser Zahl die Arbei- ter der Flugmotorenhersteller schon berücksichtigt sind.102 1931 wurden lediglich 13 und 1932 36 Flugzeuge in Deutschland produ- ziert. Der Wert der Exportgüter der Flugzeugindustrie sank von 20 Millionen RM des Jahres 1930 auf 4 Millionen RM im Jahre 1933.103 Alle deutschen Flugzeugfirmen wie Heinkel, Focke-Wulf, Dornier oder Fieseler waren kleine und kleinste Privatunternehmen. „Ihre Besitzer waren oft zugleich Flugzeugkonstrukteure, die eifersüchtig über die Unabhängigkeit ihres Unternehmens wachten.“104 Ausnah- me war die Firma Junkers, die mit einer Belegschaft von mehr als 1000 Beschäftigten sich auf größere Aufträge einrichten konnte. Bei aller Begeisterung für flugtechnische Rekorde und fliegerische Pioniertaten verbarg sich ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf unter den Unternehmen, welche aus einer Art Gründerrausch her- vorgegangen waren und vom Optimismus ehemaliger Kriegsflieger getragen wurden.105 „Man scheute kaum Risiken. Um sich einen Markt aufzubauen, setzte man auf bewährte oder sich plötzlich auf- tuende Verbindungen. Errungene Flugpreise und eingestellte Rekor- de erwiesen sich als ausgezeichnetes Werbemittel, die betriebene

101 Vgl. Bontrup, Heinz-J. u. Zdrowomyslaw: Die deutsche Rüstungsindustrie [wie Anm. 96], S. 99. Die Autoren beziffern die Anzahl der Flugzeugfirmen 1926 auf 16. Diese sank innerhalb weniger Jahre um die Hälfte. 102 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 103. 103 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 204. 104 Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 103. 105 Boelcke, Willi: Stimulation und Verhalten von Unternehmen der deutschen Luftrüstungsindustrie [wie Anm. 54], S. 81.

33 Kunstfliegerei nicht selten als wichtiges Finanzierungsinstru- ment.“106 In den meisten Fällen herrschten noch Fertigungsstandards wie im Ersten Weltkrieg. Die mittelständischen Unternehmen besaßen mangels Aufträgen keine großen fabrikatorischen Anlagen oder um- fassende Verwaltungsapparate; bestenfalls Kleinserienaufträge wa- ren möglich. Flugzeugmodelle waren relativ schnell konstruiert und gebaut. Diese Flugzeuge waren weder besonders groß noch verfüg- ten sie über einen starken Motor oder optimale Standardformen. „Es waren häufig nur Versuchsapparate, die der schöpferischen Phantasie der Konstrukteure keine Grenzen setzten und es wohl vertrugen, sie noch nach Handskizzen zu bauen.“107 Beispielsweise baute Heinkel Anfang der 30er Jahre fast ausschließlich noch stoffbespannte Doppeldecker mit Stahlrohrrumpf und Holzflügeln.

Wirtschaftlicher Aufschwung der Luftfahrtindustrie nach 1933 Mit der „Machtübernahme“ Anfang 1933 trat eine Konjunkturbele- bung in der Flugzeugindustrie ein. Vor allem in den Jahren von 1933 bis 1936 kam es unter der Herrschaft der Nationalsozialisten zu einem erheblichen Aufschwung. Mit großer Energie wurde der Ausbau der industriellen Anlagen und die Erweiterung der Kapa- zitäten vorangetrieben. Zu diesem Zweck wurden bestehende Wer- ke vergrößert, Tochterfirmen gegründet und neue Produktionsanla- gen errichtet. Auch drängten branchenferne Unternehmen, die nicht dem „Reichsverband der Deutschen Luftfahrtindustrie“ ange- hörten, in Erwartung lukrativer Rüstungsaufträge auf den Markt. Zu diesen Firmen gehörten z.B. die Henschel-Flugzeugwerke A.G., die als Tochtergesellschaft der Henschelwerke aus Kassel in Berlin- Schönefeld und mit weiteren Zweigniederlassungen in Berlin- Johannisthal und Wildau gegründet wurde; des Weiteren Blohm und Voss und die Weser Flugzeugbau GmbH aus der Werftindu- strie, die Gothaer Waggonfabrik AG sowie die Luftfahrtabteilung der Mühlenbau und Industrie-Aktiengesellschaft (MIAG) und noch andere.108 Zu den Neugründungen zählten z.B. die AGO-Flug-

106 Ebd., S. 82. 107 Ebd. Lediglich Junkers und Dornier besaßen aufgrund ihrer durch Spezialisie- rung erfahrenen Kenntnisse eine weltweit anerkannte führende Position. 108 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 104. Weitere Firmen waren die Siebel-Flugzeugwerke GmbH, eine Abspaltung von Klemm, und die Allgemeine Transportanlagen-Gesellschaft (ATG) des Flick-Konzerns.

34 zeugbauwerke in Oschersleben oder die Bayerische Waggon- und Flugzeugwerke in Fürth.109 Im Oktober 1935 umfasste die deutsche Luftfahrtindustrie bereits 21 Firmen für die Flugzeugzellen- und 7 für die Motorenherstel- lung.110 Drei Jahre später gehörten ihr insgesamt 36 Firmen an, die im engeren Sinne an der Flugzeugproduktion beteiligt waren.111 Der Reichsverband der Deutschen Luftfahrtindustrie unterteilte die Firmen 1938 in vier Gruppen:112 Gruppe eins beinhaltete die Flug- zeugzellenhersteller mit 24 Firmen und weiteren 16 im Bereich der Reparatur. Der Gruppe zwei, Flugmotorenherstellung, gehörten 12 Firmen an und weitere zwei waren für Reparaturen zuständig. Die dritte Gruppe bestand aus Zulieferungsfirmen, die wichtige Ausrü- stungsgegenstände wie z.B. Propeller herstellten. Sie umfasste 42 Firmen. Die vierte Gruppe wurde lediglich aus zwei Betrieben ge- bildet, die ebenfalls Zuliefererbetriebe waren, aber nur zum Teil für die Flugzeugindustrie produzierten. Die Produktionsfläche nahm von 30.000 m2 des Jahres 1933 auf 231.000 m2 im Jahre 1935 und schließlich auf 1.001.000 m2 in 1938 zu.113 Die enorme Expansion wird anhand der Zunahme der Beschäftigungszahlen ebenfalls deutlich. Waren Anfang 1933 knapp 4000 Personen in der Flugzeugindustrie beschäftigt, so wa- ren es im Oktober desselben Jahres schon etwa 11.500, im Februar 1934 20.000 und zu Beginn des Jahres 1935 53.000 Personen.114 Diese Zahl vervierfachte sich auf 230.000 im Jahre 1937 und 1939

109 Vgl. Völker, Karl-Heinz: Die Deutsche Luftwaffe [wie Anm. 56], S. 135. Weitere Neugründungen waren das Flugzeugwerk Mannheim-Neuostheim und der Flugzeugbau der Howald-Werke in Kiel. 110 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 108, Bontrup, Heinz-J. u. Zdrowomyslaw: Die deutsche Rüstungsindustrie [wie Anm. 96], S. 128 u. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen [wie Anm. 55], S. 93 sowie Völker, Karl-Heinz: Die Deutsche Luftwaffe [wie Anm. 56], S. 135. Bagel-Bohlan nennt für das Jahr 1935 bereits 36 Firmen, die in der Luftfahrtindustrie tätig sind, Völker hingegen nur 14 bedeutende Firmen. Am zuverlässigsten scheint die Angabe von Homze, da er die einzelnen Firmen in einer Tabelle aufschlüsselt. 111 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 185, 186 u. 198. 112 Vgl. ebd., S. 198. 113 Vgl. ebd., S. 107. Hiernach entwickelte sich die Produktionsfläche wie folgt: 1. Mai 1933: 30.000 m2, 1. Mai 1934: 120.000 m2, 1. Mai 1935: 231.000 m2, 1. Mai 1936: 450.000 m2, 1. Mai 1937: 720.000 m2, 1. Mai 1938: 1.001.000 m2. 114 Vgl. ebd., S. 93 u. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitun- gen [wie Anm. 55], S. 93.

35 arbeiteten insgesamt 325.000 Beschäftigte in der Luftfahrtindu- strie. Die Zahl der hergestellten Flugzeuge stieg vom April des Jahres 1933 kontinuierlich an. Eine Übersicht über die deutsche Flug- zeugproduktion gibt die nachstehende Tabelle.

Die deutsche Flugzeugproduktion 1931-1944:115

Jahr Hergestellte Jahr Hergestellte Flugzeuge Flugzeuge

1931 13 1938 5235 1932 36 1939 8295 1933 368 1940 10826 1934 1968 1941 11776 1935 3183 1942 15556 1936 5112 1943 25527 1937 5606 1944 39807

Die Zahlen unterstreichen den wirtschaftlichen Aufschwung der Luftfahrtindustrie. Die Produktion von Flugzeugen hatte sich von 1933 bis 1936 um das 15-fache gesteigert, allein der Produktions- anstieg des Jahres 1935 betrug 80 Prozent und 1936 60 Prozent.116 Im Vergleich zum Mai des Jahres 1933, als die Flugzeugindustrie nach Angaben des statistischen Reichsamtes den 97. Platz in der Rangfolge der Industriebranchen einnahm – gemessen am Netto- wert der Produktion – stand sie 1936 bereits an 14. Stelle.117 Mit einem Wert von 527 Millionen RM hatte sie einen Anteil von 1,6 Prozent an der gesamten Industrieproduktion.118 „Its total produc- tion was 15 times greater than in 1933, while that for German in-

115 Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 104. 116 Vgl. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen [wie Anm. 55], S. 93. Die Zahlen beziehen sich auf den Produktionsindex des jeweiligen Vorjahres. Nach 1937 kam es zu einer leichten Stagnation in der Produktion von Flugzeugen. Grund hierfür waren zum einen der Mangel an Rohstoffen wie Stahl, Eisen und insbesondere Aluminium und zum anderen die Einführung der Flugzeuge der „zweiten Generation“, wie z.B. die Me 109 von der Firma Messerschmidt, die eine Umstellung in der Produktion zur Folge hatte. 117 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 73. 118 Vgl. ebd. Diese Zahl bezieht sich ebenfalls auf das Jahr 1936.

36 dustry as a whole had increased 1.9 times in the same period. Even the automobile industry, which was 7 times larger in 1933, was overtaken by the middle of 1936, when the aircraft industry claimed 124,878 employees compared to the automobile industry´s 118,148.“119 Die aufstrebende Flugzeugindustrie wuchs zur neuen Leitindustrie heran und veränderte die Hierarchie im Gefüge der verschiedenen Industriezweige. Innerhalb der Rüstungsindustrie bildete sie die geschlossenste Branche und beschäftigte mit allen Zulieferbetrie- ben etwa zwei Millionen Menschen.120 Diese Entwicklung war ein Resultat der außerordentlichen Rüstungspolitik des nationalsozia- listischen Regimes. Allerdings wurde der staatlich initiierte Rüstungsboom nach 1933 nicht von allen Flugzeugbauern mit Begeisterung aufgenommen. Trotz des lukrativen Geschäfts, das hohe Profite versprach, muss- ten die NS-Führung die Unternehmer mit „Geld und guten Worten erst dafür gewinnen, Bedenken zerstreuen, Widerstrebende unter Druck setzen und gegebenenfalls private Unternehmer durch den Staat als Unternehmer ersetzen“.121 Die deutschen Flugzeugher- steller, die aufgrund ihres mittelständischen Leistungsvermögens bisher allenfalls in der Lage waren, Kleinserien zu produzieren, sahen sich nun der Forderung ausgesetzt, eine Unternehmensex- pansion durchzuführen, die über Jahre eine Bindung von Kräften und Kapital bedeutete und mit erheblichen Staatseingriffen in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit verbunden war, die die Dimensionen der bisherigen Größenordnungen sprengten.122 Ins- besondere wurden Befürchtungen hinsichtlich der zukünftigen Auslastung der vergrößerten Kapazitäten und somit der Wirt- schaftlichkeit der Betriebe geäußert. Darüber hinaus kann nicht von einer besonderen Motivation der Flugzeugbauer zur Unterstützung des NS-Regimes ausgegangen werden. Nach Boelcke erwiesen sich die Flugzeugbauer nicht als außerordentliche Anhänger und Förderer der braunen Machtha- ber.123 Zwar gehörten sie nach 1933 formell der Partei Hitlers an, jedoch „paßte parteipolitisches Engagement gewöhnlich nicht in ihre

119 Ebd. 120 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 110 u. 111. 121 Boelcke, Willi: Stimulation und Verhalten von Unternehmen der deutschen Luftrüstungsindustrie [wie Anm. 54], S. 87. 122 Vgl. hierzu ebd., S. 87. 123 Vgl. ebd. Der „Fall Fieseler“ bleibt noch zu untersuchen.

37 Lebens- und Arbeitswelt“.124 Die meisten Flugzeugbauer ent- stammten nicht aus etablierten, großbürgerlichen Industriefamili- en, sondern hatten sich ihren Aufstieg selbst erarbeitet. „Einige waren unermüdliche Erfinder mit wenig Geschäftssinn, andere zeichneten sich durch außerordentliche Geschäftstüchtigkeit aus, fast alle waren auslandserfahren.“125

Die Abhängigkeit der Luftfahrtindustrie von der Rüstungspolitik des nationalsozialistischen Regimes „More than any other, the aircraft industry was a child of the Nazis. Like its counterparts elsewhere, it was completely dependent on public spending. Despite the pious pleading of the Nazis about main- taining private ownership, the aircraft industry was controlled, di- rected, and financed by the government to a degree unparalleled by any other major industry.“126 Diese Aussage von Homze trifft den Kern der Situation der deutschen Flugzeugindustrie während des Dritten Reiches und deutet zugleich deren Bedeutung als politi- sches Machtmittel des nationalsozialistischen Regimes an.127 Schon kurz nach Aufnahme der Regierungsgeschäfte durch die Nationalsozialisten kam es am 5. Mai 1933 zur Gründung des RLM als oberster Reichsbehörde für die Luftfahrt unter der Führung von Göring.128 Nach Prophanken lag der Aufbau der Luftwaffe und der

124 Ebd. Ausnahme ist Willy , der über Beziehungen zu hohen Krei- sen der Partei und SS verfügte. 125 Ebd. 126 Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 73. 127 Vgl. ebd., S. 50 u. 51. Homze weist darüber hinaus auf die Verbindung zwi- schen Führungspersönlichkeiten des nationalsozialistischen Regimes und der Fliegerei hin: „Hitler`s ascension to political power in January 1933 introduced a new and dynamic note into aerial rearmament. The Nazi movement, a youthful one, had grown up in the air age. [...] Even among the top leaders of the Nazi movement there were a number of fliers, including Rudolf Heß, first secretary of the party, a former wartime flier and glider enthusiast, and, of course, Hermann Göring, number two man in the movement and the famed last commander of Baron von Richthofen`s Jagdgeschwader 1.“ [...] attested to Hitler`s interest and confidence in aviation as well as his well-known fascination with technology. [...] Hitler did have a keen appreciation of the geopolitical capabilities of the air- plane.“ 128 Vgl. Köhler, Karl u. Hummel, Karl-Heinz: Die Organisation der Luftwaffe 1933- 1939 [wie Anm. 19], S. 509. Das RLM war aus dem erst am 30. Januar 1933 gegründeten Reichskommissariat für die Luftfahrt hervorgegangen. Am 15. Mai traten alle Offiziere, die sich in dem Reichsheer und in der Reichsmarine ge- danklich mit Fragen der fliegerischen Planung, Ausbildung und Ausrüstung

38 zivilen deutschen Fliegerei ab 1933 in den Händen von lediglich einigen hundert Personen. „An zentralen Entscheidungen war eine Gruppe von nur wenigen Dutzend Männern beteiligt, die sich zum allergrößten Teil aus dem Ersten Weltkrieg und aus den Pionierjah- ren des Luftverkehrs 1920 bis 1933 persönlich kannten. Diese Gruppe war durch ein kompliziertes Geflecht von Freundschaften und Animositäten sowie Solidaritäts- und Abhängigkeitsverhältnis- sen strukturiert. Zu dieser `Gemeinde der Flieger´ konnten sich im Laufe der Jahre nur wenige Außenstehende aufgrund ihrer Qualifi- kationen und beruflichen Leistungen Zutritt verschaffen.“129 Der Ge- schäftsbereich des Ministeriums umfasste die Aufgaben des Rei- ches in der Luftfahrt und vertrat sowohl zivile als auch militärische Interessen. In letzterer Hinsicht war sie zunächst dem Reichs- wehrminister unterstellt. „Das Reichsluftfahrtministerium war zu- gleich oberste Kommandobehörde für die nun aufzustellenden militä- rischen Verbände, aber auch Spitze der zivilen Luftfahrt, es schloß den Wetterdienst ein, bestimmte die Entwicklung von Waffen und Gerät und beeinflußte auf diese Weise auch die Luftrüstung und die Fertigung der Industrie.“130 Diese frühe, kurz nach der „Machtübernahme“ erfolgte Organisati- on einer zentralen Reichsbehörde für die deutsche Luftfahrt, an deren Spitze mit Göring ein führender Nationalsozialist und enger Vertrauter Hitlers stand, hatte als Ziel die Schaffung einer starken Luftwaffe, die als außenpolitisches Instrument bzw. Druckmittel eingesetzt werden sollte. Für die militärische Führung wurde die Aussicht auf eine strategische Luftkriegsführung wieder aktuell. Das europäische Ausland, das sich über die Bedeutung einer Luft- waffe bewusst war, musste bereits seit einem frühen Zeitpunkt in der Geschichte des Dritten Reiches davon ausgehen, dass Deutschland militärisch aufrüsten und die Luftrüstung in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Faktor sein würde. Schabel geht sogar einen Schritt weiter, indem er die Luftrüstung einem „Primat der Außenpolitik“ unterstellt und sie als Grundlage für Hitlers au-

befasst hatten, aus dem Befehlsbereich des Reichswehrministers heraus und wurden dem Reichsminister der Luftfahrt unterstellt. 129 Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 51. 130 Köhler, Karl u. Hummel, Karl-Heinz: Die Organisation der Luftwaffe 1933-1939 [wie Anm. 19], S. 510.

39 ßenpolitisches Programm der gewaltsamen Schaffung von Lebens- raum in einem rasseideologisch begründeten Krieg einordnet.131 Aufgrund des Versailler Vertrages war die Aufstellung von Luftwaf- fenverbänden weiterhin verboten. So wurde bis zum März 1935 zunächst eine geheime, eine „getarnte“ sog. „Risikoluftflotte“132 auf- gebaut. Nach einer Planungszwischenphase eines 1000-Flugzeug- programms bis 1934 sah die weitere Planung des RLM ein Flug- zeugbeschaffungsprogramm unter dem Namen „Rheinland“ von etwa 4000 Flugzeugen bis zum 31. September 1935 vor.133 In den folgenden Jahren stellte das RLM immer höhere Forderungen. Im Herbst 1938 beschloss Hitler eine Verfünffachung der Luftstreit- kräfte innerhalb kürzester Zeit, um für einen möglichen Krieg ge- gen England gerüstet zu sein. Allerdings erwies sich diese Forde- rung, die in einem gewaltigen Fertigungsprogramm durchgeführt werden sollte und etwa 60 Milliarden RM gekostet hätte, u.a. wegen zu geringer Rohstoffkapazitäten, insbesondere von Aluminium und Flugbenzin, als nicht realisierbar. Die großen Rüstungsprogramme des RLM begründeten den Auf- schwung der Luftfahrtindustrie nach 1933. Der Kapazitätsausbau dieses Industriezweiges war notwendig, um die Programme des RLM erfüllen zu können. Im großen Umfang mussten neue Be- triebsstätten geschaffen, alte Fabriken stark vergrößert und neue Zuliefererbetriebe gewonnen werden. Zugleich erklären sich hier- durch der Strukturwandel in der gesamtdeutschen Industrie und der hohe Industrialisierungsgrad der Flugzeugindustrie, der durch die Förderung der Rüstungsindustrie mit der Betonung auf die Rüstungsendfertigung durch die nationalsozialistische Politik her- vorgerufen wurde.134

131 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 114. 132 Vgl. Völker, Karl-Heinz: Die Deutsche Luftwaffe [wie Anm. 56], S. 29 Fußnote 34 u. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen [wie Anm. 55], S. 91. Im Mai 1933 hatte der Verkehrsleiter der Deutschen Lufthan- sa, Hauptmann a.D. Dr. Knauss, dem Staatssekretär der Luftfahrt E. Milch ei- ne Denkschrift über die politische und militärische Bedeutung einer selbst- ständigen Luftwaffe vorgelegt. In der Denkschrift war vor allem der Risikofaktor herausgearbeitet worden, den eine deutsche operative Luftwaffe für die Gegner Deutschlands darstellen würde. Seitdem erschien der Begriff „Risiko-Luftflotte“ in den einschlägigen Unterlagen des RLM. In dieser Aufbauphase lautete das Motto „Quantität vor Qualität“. Ein bedingt brauchbares Gerät war besser als gar kein Gerät und so sah das Flugzeugbeschaffungsprogramm zunächst auch die Übernahme sog. „Behelfsbomber“ vor. 133 Vgl. Völker, Karl-Heinz: Die Deutsche Luftwaffe [wie Anm. 56], S. 79. 134 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 110 u.111.

40 Allein für die Jahre von 1934 bis 1939 werden die Ausgaben für die Luftwaffe auf etwa 17 Milliarden RM geschätzt, wobei der größte Teil für die Beschaffung von Flugzeugen ausgegeben wurde.135 Während des Zweiten Weltkrieges war die Luftfahrtindustrie die einzige Wirtschaftsgruppe, die zu 100 Prozent für den militärischen Bereich produzierte und überflügelte hinsichtlich der Rüstungs- endfertigung sogar die Munitionshersteller und somit die Chemie- und Schwerindustrie.136

Ergebnisse Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Flugzeugindustrie vollständig von den staatlichen Aufträgen des RLM abhängig war. „Die Luftfahrtindustrie konnte schon wegen ihrer geringen Kapital- ausstattung 1933 keine große selbständige Rolle spielen. Sie wurde mit Staatskapital gesättigt und zu einem willfährigen Instrument in den Händen Görings und seiner Technokraten im RLM umfunktio- niert.“137 Als sog. „dritte Reserve“ im Luftverteidigungskonzept wur- de sie so weit ausgebaut, um sowohl den ständig steigenden An- sprüchen des RLM zu genügen als auch im Falle eines Krieges, diese schnell auf eine gesteigerte Kriegsproduktion umstellen zu können.138 Die erzwungene Zusammenarbeit mit dem RLM als ein- zigem „Kunden“ der Flugzeugindustrie war für die Firmen mit zahl- reichen Vorschriften und Eingriffen verbunden. Die Luftfahrtindu- striellen waren sich durchaus der Tatsache bewusst, dass durch den erzwungenen Ausbau ihrer Betriebe Überkapazitäten geschaf- fen und sie zur unwirtschaftlichen Betriebsführung gezwungen wurden.139 Eine Verstaatlichung der Unternehmen wurde jedoch von der nationalsozialistischen Regierung vermieden, um die Pri-

135 Vgl. ebd., S. 110. 136 Vgl. ebd., S. 107 u. 111. Die Aussage bezieht sich auf den Gesamtwert der Produktion. 137 Ebd., S. 114. 138 Vgl. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen [wie Anm. 55], S. 92. Als erste Reserve galt die aktive Luftwaffe und als zweite das eingela- gerte Ersatzmaterial. 139 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 113 u. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen [wie Anm. 55], S. 95. Auch ein Angestellter Fieselers sagte in dem Spruchkammerverfahren aus, dass die Kapazitäten der Fieseler-Werke vor Kriegsbeginn nicht ausge- schöpft waren, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 262r (Aussage Harald Müller-Lüth).

41 vatinitiative und den Konkurrenzkampf der Betriebe auf dem Ge- biet technischer Innovationen aufrechtzuerhalten.140 Allerdings drohte Göring in einer Rede im Juli 1938 auf seinem Jagdsitz in Karinhall vor den versammelten Industriellen der Luft- fahrtbranche, bei der auch Gerhard Fieseler anwesend war, er würde sofort Zwangsmaßnahmen einleiten, wenn eine Firma nicht den Anforderungen des RLM entspreche. „Ich würde heute keine Sekunde, aber auch keine Sekunde zögern - ich habe das auch auf einem anderen Gebiet bewiesen -, um sofort einzugreifen und dem Betreffenden augenblicklich seinen ganzen Laden abzunehmen, von dem ich das Gefühl hätte, er kapiert es nicht, er sieht nur den Klo- settdeckelhorizont seines eigenen Betriebes und sieht nicht darüber hinaus. Der Mann versündigt sich, der Mann muß weg. Mit einem Federstrich würde er sein Geschäft und seinen Besitz los. Aber wie gesagt, ich bin sehr glücklich - das möchte ich noch einmal feststel- len -, daß die Luftfahrtindustrie in ganz großem Maße Leistungen hinter sich gebracht hat.“141 Das Lob, das in der Rede Görings zum Ausdruck kommt, ist zu- gleich ein Zeugnis von der Anpassung der Flugzeugindustriellen an die nationalsozialistische Herrschaft, um, wie Schabel meint, we- nigstens den Einfluss auf die eigene Firma zu wahren.142 Zu dem Zeitpunkt, als Gerhard Fieseler mit dem Motorflugzeugbau begann, war die Luftfahrtindustrie an einem Tiefpunkt angelangt und die Aussicht, sich in diesem Industriezweig zu etablieren, rela-

140 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 112. Nur die Firmen Arado und Junkers waren staatlich. Die Steuerung der Produktion bei den einzelnen Firmen oblag jedoch immer dem RLM. Diese vergab auch die Li- zenzproduktion zur Herstellung von Flugzeugen. 141 Rede Hermann Görings am 8. Juli 1938, zitiert nach: ebd., S. 113. Vgl. auch Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 157. In dieser Rede erläuterte Göring auch die Vorteile für die Luftfahrtindustrie: „Once Germany won the war, she would be the leading power in the world; the world markets would belong to her, and she would be rich. But first, Göring said, you have to take some risks and put up your stakes.“ 142 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 113. Nach Prophanken waren durchaus nicht alle Flugzeugfabrikanten mit der Entwick- lung in der Luftfahrtindustrie einverstanden. So sahen beispielsweise Focke aber auch Junkers in der Flugzeugproduktion vor allem ein Mittel, um ihre Forschung zu finanzieren. Unternehmer wie Heinkel und Klemm vertraten hin- gegen einen Herr-im-Haus-Standpunkt und waren nicht ohne Not bereit, un- ternehmerische Kompetenzen an das RLM abzugeben, vgl. Prophanken, Hart- mut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 66.

42 tiv gering. Die Lage änderte sich schlagartig mit dem Regierungs- wechsel Anfang 1933. Der durch die Rüstungspolitik der national- sozialistischen Regierung ausgelöste Aufschwung in der Flugzeug- branche fällt dabei zeitlich mit dem Aufstieg des Fieseler-Werks zusammen. Es bleibt somit in den nächsten Schritten zu untersu- chen, inwiefern die Firma Fieseler in einer Abhängigkeit vom RLM stand und der Aufbau der Firma durch das Ministerium begünstigt wurde.

43 Der Aufstieg der Fieseler-Werke zum Großunternehmen In diesem Abschnitt wird der wirtschaftliche Werdegang des Fie- seler-Unternehmens von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Welt- krieges dargestellt. Von besonderem Interesse sind in diesem Zu- sammenhang das Verhältnis zwischen dem RLM und den Fieseler- Werken sowie Prozesse und Faktoren, die die Entwicklung von ei- nem Kleinbetrieb zu einem bedeutenden Industriebetrieb begün- stigten.

Die wirtschaftliche Etablierung des Unternehmens Mit der Konstruktion des Sportflugzeuges vom Typ „F 5“ im Herbst 1932 erlangte die Fieseler-Firma Aufmerksamkeit und erste Aner- kennung in der Flugzeugbranche. Eine Anzahl von privaten Aufträ- gen für dieses Flugzeug, die durch Anzahlung zum Teil bereits vor- finanziert worden waren, ermöglichten ab Juni 1933 die Produkti- on der „F 5“ in kleinen Serien. Um diese realisieren zu können, musste Gerhard Fieseler seinen Betrieb ausbauen. Die Belegschaft wurde um das drei- bis vierfache auf etwa 200 Arbeiter vergrößert, und die Fertigung im Oktober 1933 nach Kassel-Bettenhausen in die leerstehenden Räume der ehemaligen „Deutschen Werke“, einer früheren Munitionsfabrik, verlagert.143 Fieseler übernahm einige Techniker und Meister der Raab-Katzenstein-Flugzeugwerke und konnte bereits vorhandene Einrichtungen am Flugplatz Waldau, wie Spritzanlage oder Motorenprüfstand, die von dieser Firma auf- gebaut und finanziert worden waren, nutzen.144 Ende 1933 kam Fieseler zum ersten Mal mit dem RLM in Kon- takt.145 Die Firma wurde aufgefordert, für den Europa-Rundflug146

143 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1938, S. 8. 144 Vgl. Raab, Antonius: Raab fliegt. Erinnerungen [wie Anm. 49], S. 111. Ende des Jahres 1930 wurde der Firma Raab-Katzenstein-Flugzeugbau unter einem Vorwand die Erlaubnis entzogen, den Flugplatz für ihre Zwecke weiterhin zu nutzen. Der Flugplatz gehörte offiziell der Reichswehr. Sie gab an, diesen wieder in eigener Sache nutzen zu wollen. Die Firma musste aus diesem Grund ihren Sitz nach Krefeld verlegen. Raab wirft Fieseler vor, er habe diese Situation be- wusst ausgenutzt. 145 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 256 (Aussage Fieseler). Vgl. auch Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 185 u. Fie- seler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 130. 146 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 130. Der Europarundflug wurde 1934 zum vierten Mal durchgeführt. Er diente zur Entwicklung und Erprobung klei- ner Reiseflugzeuge. Er bestand aus einer mehrere Tage dauernden technischen

44 des Jahres 1934 ein Flugzeug zu konstruieren und zu bauen. Zur Durchführung dieses Entwicklungsauftrages erhielt Fieseler erst- malig Vorschüsse vom RLM. Als Ergebnis des Auftrages fertigte der Betrieb fünf Flugzeuge vom Typ „Fi 97“, einem kleinen, viersitzigen Reiseflugzeug. Diese nahmen an dem international besetzten Wett- bewerb teil und belegten am Ende Plätze unter den ersten zehn. Infolge des guten Abschneidens erhielten die Fieseler-Werke 1934 weitere Aufträge vom RLM. Sie sollten in größeren Serien Schul- flugzeuge der Firma Heinkel und Klemm in Lizenz herstellen. 1934 wurden etwa 100 bis 120 Schulflugzeuge bei Fieseler produziert, der Gesamtumfang des Auftrages belief sich auf etwa 1000 Flug- zeuge.147 Bedingt durch diesen ersten Großserienauftrag war ein weiterer, erheblicher Ausbau des Betriebes und die Anschaffung neuer Maschinen notwendig. Beides wurde ebenfalls durch das RLM finanziert. Die Lizenzaufträge von 1934 waren somit der An- lass für die Umstellung des Unternehmens in einen Industriebe- trieb. Dies wird u.a. auch anhand der Beschäftigungszahlen deut- lich. Gegenüber etwa 150 Mitarbeitern des Jahres 1933 waren 1935 schon 500 Personen bei Fieseler beschäftigt. Die finanzielle Unterstützung seitens des RLM wurde an die Bedin- gung geknüpft, dass Gerhard Fieseler seine Firma in eine GmbH überführen musste.148 Fieseler entsprach dieser Forderung und gründete die „Fieseler-Flugzeugbaufirma GmbH“.149 Es handelte sich hierbei um eine Familien-GmbH, d. h. nur Gerhard Fieseler und seine Frau waren zu diesem Zeitpunkt Gesellschafter. Die Be- triebsleitung setzte sich aus mehreren Personen zusammen, die verschiedene Aufgabenbereiche betreuten. Es gab einen techni- schen Direktor, einen kaufmännischen Direktor und einen Be-

Vorprüfung der Flugzeuge und einem abschließenden Streckenflug von 10.000 Kilometern über Europa und Nordafrika. 147 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 298. Die Zahlen berufen sich auf die Aussage von Gerhard Fieseler und dem späteren 3. Geschäftsführer der Gerhard-Fieseler-Werke, Dr. Tobias Goebel. Verglichen mit späteren Produkti- onszahlen scheinen diese etwas zu hoch zu sein. Von der Firma Heinkel wur- den folgende Typen hergestellt: H 46, H 42 (jeweils in Serien von zwölf) und H 51. Von Klemm wurde der Typ KL 35 produziert. 148 Vgl. ebd., Bl. 256r (Aussage Fieseler). 149 Die Umgründung kann nicht genau datiert werden. Nach Aussage Fieselers ist der damalige Gesellschaftsvertrag bei einem Feuer im Werksbunker, wo die Do- kumente lagerten, nach 1945 verbrannt, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 256r.

45 triebsdirektor. Gerhard Fieseler selbst hatte die Stellung eines Be- triebsführers.150 Bereits zu diesem Zeitpunkt, mit Beginn der Produktion von Schulungsflugzeugen, stand die Firma Fieseler in einem engen Ab- hängigkeitsverhältnis zum RLM und war im Aufrüstungsprozess der deutschen Luftwaffe involviert, obwohl Gerhard Fieseler diese Tatsache während seines Spruchkammerverfahrens bestritt: „In 1934/35 war von Rüstung keine Rede. Bei mir, in meinem Betrieb wurde jedenfalls nicht gerüstet.“151 Realistischer schätzte sein kaufmännischer Direktor, Dr. Tobias Goebel, die Lage von damals ein: „Die Einschaltung in die Rüstung war ja bereits getan durch den Bau der Schulflugzeuge.“152 In dem Flugzeugbeschaffungspro- gramm des RLM bis 1935 war die Hälfte aller Flugzeuge zu Schu- lungszwecken vorgesehen, da für den Aufbau und die Konsolidie- rung der Luftwaffe eine entsprechend Anzahl von Piloten ausgebil- det werden mussten. Hierfür wurden auch die vom Fieseler-Werk produzierten Flugzeuge der Firma Heinkel und Klemm benötigt.153 Während des Spruchkammerverfahrens gab Gerhard Fieseler zwei Gründe zu Protokoll, die ihn zu der Annahme der Lizenzaufträge veranlasst hatten. Hiernach übte der Staat einen solchen Druck auf ihn aus, der ihm keine andere Wahl ließ, als die Aufträge an- zunehmen. Des Weiteren sah er in der Zusammenarbeit mit dem Ministerium die Sicherheit gegeben, seiner Belegschaft auf längere Sicht Beschäftigung zu garantieren. „ [...] Das Interesse, die Leute zu beschäftigen. Ohne Aufträge hatten wir ja keine Arbeit für die Leute. [...] Es gab für mich nur zwei Möglichkeiten, entweder die Auf- träge durchzuführen oder ich ging in ein KZ.“154

150 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. III Anlage Betriebsordnung, S. 2. Nach dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20.1.1934 war dies der offizielle Titel eines Firmenleiters, vgl. Herrmann, Monika: Arbeitsordnungs- gesetz, in: Benz, W., Graml, H. u. Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des Na- tionalsozialismus [wie Anm. 19], S. 372. Im Kapitel „Rechtliche Grundlagen der Arbeitsverhältnisse in den Fieseler-Werken“ dieser Arbeit wird noch auf die Stellung eines „Betriebsführers“ eingegangen. 151 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 256r. 152 Ebd., Bl. 271r. 153 Vgl. auch ebd., Bl. 270 (Aussage Goebel). Dort heißt es: „Die Maschinen wurden an Flugschulen abgeliefert.“ 154 Ebd., Bl. 301. Die angebliche Androhung, aufgrund mangelnder Kooperations- bereitschaft gegenüber dem RLM möglicherweise in ein Konzentrationslager eingewiesen zu werden, entspricht weniger den Tatsachen als vielmehr dem Versuch Fieselers, seine Verantwortung, der Rüstungspolitik der Nationalsozia- listen gedient zu haben, vor der Spruchkammer abzuschwächen. Auch das

46 Neben der Aufgabe, Lizenzaufträge auszuführen, wurde der Betrieb als „Entwicklungsfirma“ eingeschaltet und im Jahre 1935 mit der Konstruktion eines Sturzkampfbombers beauftragt.155 Das Kon- struktionsbüro von Fieseler, das damals etwa 60 Personen um- fasste, entwickelte daraufhin nach dem Vorbild eines von Udet aus den USA importierten Flugzeuges die „Fi 98“, das die Eigenschaften eines Sturzkampfbombers besaß. Dieses Flugzeug stürzte jedoch kurz nach Fertigstellung bei einem der ersten Testflüge ab und die weitere Entwicklung wurde vom RLM gestoppt. Hinsichtlich dieser Flugzeugkonstruktion war Gerhard Fieseler während der Spruch- kammerverhandlungen ebenfalls der festen Überzeugung, dass sein Betrieb nicht zu einer Militarisierung und Aufrüstung Deutschlands beigetragen hätte. „Das war keine Angriffswaffe, es war ein einsitziger Stuka, mit dem man eine Bombe abwerfen konn- te. Das kann man übrigens mit jedem einsitzigen Flugzeug ma- chen.“156 Wie Fieseler gab auch sein kaufmännischer Direktor Dr. Goebel nach 1945 vor, er sei sich 1935 nicht bewusst gewesen, für eine Rüstungsfirma im Dienste des RLM zu arbeiten. Goebel war am 6. Februar 1935 in die Firma eingetreten und sagte im Spruchkam- merverfahren Fieselers aus, Gerhard Fieseler wollte einen Betrieb mit etwa 1000 Beschäftigten aufbauen und Sportflugzeuge für den europäischen Markt produzieren.157 „Es war doch sicher, daß, wenn Fieseler Flugzeuge herausbrachte, dann konnte er sie auch in Europa absetzen [...] Nein, wir wollten den Storch bauen. Das war die Tendenz, die uns vorschwebte. Sich dagegen zu wehren, daß wir nebenbei vom Reich ausgenutzt wurden, war aussichtslos.“158 Noch im gleichen Jahr, nachdem die Entwicklung eines Sturz- kampfbombers im Fieseler-Werk eingestellt worden war, erhielt die Firma einen neuen Auftrag. Sie sollte ein Flugzeug konstruieren, das mit geringer Geschwindigkeit fliegen und auf fast jedem Unter- grund auf kurze Distanz starten oder landen konnte. Als Ergebnis präsentierte das Unternehmen ein halbes Jahr später die „Fi 156“,

nachfolgende Zitat ist in dieser Absicht einzuordnen. Zugleich ist die Aussage Fieselers ein Hinweis darauf, dass er durchaus einen tieferen Einblick in das „Terrorregime“ hatte. 155 Vgl. ebd., Bl. 299 (Aussage Fieseler) u. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 185. 156 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 299. 157 Vgl. ebd., Bl. 299r. 158 Ebd., Bl. 299 u. 299r.

47 die unter dem Namen „Fieseler Storch“ bekannt wurde. Mit diesem Flugzeug erlangte die Firma Weltgeltung.

Ein Fieseler-Storch als Sanitätsflugzeug der Luftwaffe

Die Entwicklung zum Großbetrieb Ab 1936 begann die Serienproduktion der Fi 156 im Werk in Kas- sel-Bettenhausen, wodurch die Lizenzherstellung von Schulflug- zeugen abgelöst wurde. Doch schon kurze Zeit später erfolgte der nächste Lizenzauftrag durch das RLM. Das Unternehmen wurde beauftragt, ein Jagdflugzeug der Firma Messerschmidt aus Augs- burg, die Me 109, herzustellen.159 Die Erfüllung dieser Aufgabe bei gleichzeitiger Beibehaltung der Serienproduktion des Fieseler Storchs bedeutete eine enorme Um- strukturierung des Unternehmens. Zunächst wurde die Produkti-

159 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 77: Die Me 109 (vorher Bf 109) war mit 30.573 hergestellten Flugzeugen das am meist pro- duzierte im Zweiten Weltkrieg. Weiterhin war die Firma Fieseler mit Eigenent- wicklungen beschäftigt bzw. vom RLM beauftragt. Hierzu zählen die Fi 99 („Jung-Tiger“), ein zweisitziges Sport- und Reiseflugzeug, im Jahre 1937 die Fi 253 („Fieseler Spatz“), ein zweisitziges Schul- und Reiseflugzeug, im Jahre 1938 die Fi 168 (ein Verbindungs- und Erdkampfflugzeug), 1939 die Fi 333, ein Transportflugzeug (nur Modell), im Jahre 1940 die Fi 256 („Neu-Storch“), ein fünfsitziges Verbindungs- und Reiseflugzeug und die Fi 167, ein Mehrzweck- flugzeug, das u.a. für den Einsatz von Flugzeugträgern vorgesehen war. Vgl. hierzu Fotoalben der „Gerhard Fieseler Stiftung“, Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1940, S. 6 u. 7 u. Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1939, S. 12-14.

48 onsfläche erweitert. In der Nähe des Flugplatz in Kassel-Waldau wurde ein zweites Werk und direkt am Flugplatz ein Montagewerk gebaut. Beide Produktionsstätten wurden innerhalb kürzester Zeit errichtet und bereits 15 Monate nach dem Geländekauf in Waldau war die erste „Me 109“ fertiggestellt.160 Gerhard Fieseler war somit ab 1937 Betriebsführer eines Unternehmens, das sich in drei Wer- ke gliederte: dem Stammwerk (Werk I) in Kassel-Bettenhausen, dem Werk II in Kassel-Waldau und dem Montagewerk (Werk III) direkt am Flugplatz Kassel-Waldau. Neben der Vergrößerung der Produktionsfläche mussten zur Durchführung des Auftrages auch eine entsprechende Anzahl qua- lifizierter Facharbeiter eingestellt werden. Dies stellte ein besonde- res Problem dar, das die gesamte Flugzeugbranche betraf, denn es herrschte ein ausgeprägter Mangel an Fachkräften. Die Ursache hierfür lag in der geringen Bedeutung der Luftfahrtindustrie wäh- rend der Weimarer Republik, so dass kaum Ausbildungsarbeit ge- leistet worden war.161 Nach Aussage von Fieseler war es bereits zu Beginn der Serienfertigung und der Aufnahme von Staatsaufträgen schwierig, geeignete Arbeitskräfte im Kasseler Raum zu finden.162 Deshalb wurden die Arbeiter zunächst aus der weiteren Umgebung Kassels und später aus dem gesamten Deutschen Reich angewor- ben. In der Fieseler-Zeitschrift heißt es diesbezüglich: „Seit Mona- ten herrscht auf dem Arbeitsmarkt ein Mangel an Fachkräften aller Art, hauptsächlich an Metallarbeitern [...] Um diesen notwendigen Einsatz von Metallfachkräften in der genügenden Anzahl und mit den ausreichenden handwerklichen Kenntnissen stets bereit zu ha- ben, ist unserem Werk eine Ausbildungswerkstatt angegliedert wor- den. Die für diese Ausbildung in Frage kommenden Männer werden außer von Arbeitsämtern unseres Landesarbeitsamtbereiches aus den Bezirken Aachen, Koblenz-Trier und Saarpfalz herangeholt. Auch ist ein Transport tüchtiger Fachkräfte aus unseren neuen Gau- en der Ostmark eingetroffen.“163 Die angeworbenen Arbeiter wurden in werkseigenen Gemeinschaftslagern untergebracht und in der Ausbildungswerkstatt in Kursen, die sich über einen Zeitraum von etwa 2 Wochen erstreckten, fachlich geschult. Hierdurch sollten die

160 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 223. 161 Vgl. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen [wie Anm. 55], S. 97. 162 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 223. 163 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/1938, S. 16.

49 zumeist aus anderen Arbeitsbranchen stammenden Männer mit dem Metallflugzeugbau vertraut gemacht werden. Die Zahl der Betriebsangehörigen stieg von etwa 500 Mitarbeitern des Jahres 1935 auf 5308 im Oktober 1938 an.164 Von 3447 Ar- beitskräften, die vom Arbeitsamt für den Einsatz bei Fieseler vorge- sehen waren, wurden 2691 in den Jahren von 1935 bis 1941 über- nommen.165 Die Belegschaft setzte sich aufgrund des Mangels an Facharbeitern zu einem Großteil aus angelernten und ungelernten Arbeitern zusammen. Im Jahre 1940 gliederte sich die Belegschaft in ihrer Beschäftigungsstruktur wie folgt: 63 Prozent der Arbeiter- schaft waren gelernte Facharbeiter, 24 Prozent angelernte und 12 Prozent ungelernte Arbeiter.166 Etwa 27 Prozent der Gesamtbeleg- schaft waren Angestellte, die vor allem im Entwicklungsbereich der Firma tätig waren. Um den Mangel an vor allem technischen Facharbeitern zu verrin- gern, verfasste der Betrieb 1938 eine Denkschrift, in der die Er- richtung einer Lehranstalt zur Sicherung des technischen Nach- wuchses gefordert wurde.167 In diesem Zusammenhang sollten auch durch Schulungen in sog. „Erwachsenenkursen“ Vorarbeiter und Lehrgesellen zu Werkmeistern, Teilkonstrukteuren, Betrieb- stechnikern und Fertigungsvorarbeitern ausgebildet werden.168 In diesem Sinne wurde die `Technische Abteilung´ des RLM aktiv und übernahm wesentliche Funktionen der Industrie bei der Ausbil- dung von Lehrlingen und Arbeitern. Es wurde das Ziel verfolgt, das durch den Produktionsanstieg in der Luftfahrtindustrie entstande- ne Missverhältnis von qualifizierten Facharbeitern und ungelernten Kräften zu relativieren.169

164 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 97 u. Hom- ze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 185. Homze gibt die Zahl der Beschäftigten im Oktober 1938 mit 5548 an. 165 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 97. Die Arbeiter wurden von Fieseler beim Arbeitsamt angefordert und daraufhin zuge- wiesen. 166 Vgl. ebd., S. 99. 167 Vgl. ebd., S. 100. 168 Vgl. ebd. 169 Vgl. Bagel-Bohlan, Anja E.: Hitlers industrielle Kriegsvorbereitungen [wie Anm. 55], S. 97 u. 98. Vgl. auch Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 100. Seiner Schilderung zufolge waren die Aus- und Fortbildungs- maßnahmen in der Luftfahrtindustrie auf die Denkschrift des Fieseler- Betriebes zurückzuführen.

50 Im Fieseler-Werk wurde zur Behebung dieses Problems im Novem- ber 1938 ein sog. „Berufserziehungswerk“ eingerichtet.170 Den Mit- arbeitern des Betriebes wurden in verschiedenen Bereichen ko- stenlose Schulungs- und Fortbildungskurse angeboten, die mei- stens im Anschluss eines Arbeitstages, zum Teil aber auch wäh- rend der Arbeitszeit stattfanden. Sie wurden von hauptamtlichen Lehrkräften geleitet, die über entsprechende Praxiserfahrung ver- fügten und ihr Wissen an die Lernenden weitergeben konnten. Mit dem sprunghaften Anstieg der Zahl der Arbeiter im Fieseler- Werk war darüber hinaus das Problem verbunden, dass in Kassel nicht genügend Wohnungen vorhanden waren, um diese unterzu- bringen. Diese Problematik des Wohnungsmangels betraf ebenfalls die gesamte Flugzeugbranche, insbesondere aber die Firmen, die in strukturschwachen Gegenden angesiedelt waren. Aus diesem Grund wurde ein Wohnungsbauprogramm initialisiert, das vom RLM geleitet und finanziert wurde.171 Die Firma Fieseler errichtete in einem ersten Bauprojekt in den Jahren 1936 und 1937 zwischen Bettenhausen und Ochshausen zwei Siedlungen, die Wohnungen für insgesamt 341 Familien boten. 1937 und 1939 wurden zwei weitere Siedlungsabschnitte in Crumbach und Waldau fertigge- stellt.172 Das Beispiel des Wohnungsbauprogramms zeigt, dass das Unter- nehmen Fieseler sich nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht durch den Ausbau der Kapazitäten, der Vergrößerung der Belegschaft

170 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/1938, S. 1-3. In dieser Ausgabe werden Funk- tionen und Aufgaben des Berufserziehungswerks genau beschrieben (Gliede- rung, Lehrpläne, Ziele). 171 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 195. Homze gibt an, dass 1935 7000 Wohnungen errichtet worden waren und von 1936 bis 1938 jährlich weitere 8000 gebaut wurden. Trotzdem reichten diese Wohnun- gen bei weitem nicht aus. „By the end of 1938 the shortage of housing for work- ers was so critical that the RLM concluded that expansion of the aircraft industry could take place only where labor was already available.“ Als Vorbild im Woh- nungsbauprogramm fungierte ein von der Firma Junkers entworfenes Modell. 172 Crumbach und Ochshausen gehören zu der heutigen Gemeinde Lohfelden. Die Entwicklung beider Dörfer zur Gemeinde Lohfelden begann mit der Ansiedelung des Fieseler-Werks in der Gemarkung Ochshausen und dem Bau von Wohn- häusern für angeworbene Fieseler-Arbeitskräfte. Beide Dörfer wurden am 1. Juni 1941 zwangsweise zusammengeschlossen. Vgl. hierzu: Ackermann, Tho- mas: Die städtebauliche Entwicklung der Gemeinde Lohfelden, in: Gemeinde- vorstand der Gemeinde Lohfelden (Hg.): Streifzüge durch 900 Jahre Ortsge- schichte [wie Anm. 50], S. 253-262, hier S. 253. Bettenhausen und Waldau sind Stadtteile von Kassel.

51 und einer erheblichen Steigerung der Flugzeugproduktion zu einem Großbetrieb entwickelt hatte. Kennzeichnend für den Aufstieg war ebenso der Aufbau einer umfassenden innerbetrieblichen Sozial- und Fürsorgepolitik auf den Gebieten des Gesundheitswesens, der Siedlungs- und Wohnungsbaubeschaffung sowie der innerbetrieb- lichen Sport- und Freizeitgestaltung. Die sozialen Einrichtungen, die durch zahlreiche haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter betreut wurden, sind ein Resultat der neuen, nationalsozialistischen Be- triebspolitik, die erhebliche Auswirkungen auf die Betriebsstruktur hatte.173 Die Entwicklung zu einem wichtigen Rüstungsbetrieb bedingte darüber hinaus die Einhaltung besonderer Geheimhaltungsbe- stimmungen in Bezug auf die Produktion. Zu diesem Zweck wurde eine Werkschutzabteilung aufgestellt, besondere Fragebögen bei der Einstellung ausgegeben sowie Personalkontrollen und Ausweis- verkehr eingerichtet.174 In verschiedenen Ausgaben der Werkszeit- schrift und in der Betriebsordnung wurde ausdrücklich auf die Abwehr von Spionage hingewiesen bzw. mit entsprechenden Kon- sequenzen gedroht, wenn sich ein Mitarbeiter der Spionage betä- tigte.175 Sowohl das große Engagement auf sozialem Gebiet als auch die Abwehrmaßnahmen sind ein Beleg für den Wandel der Firma in ihrer Bedeutung gegenüber ihren Anfängen im Motorflugzeugbau. Spätestens 1938 hatte sich das Unternehmen mit Gerhard Fieseler als Betriebsführer an der Spitze als industrieller Großbetrieb eta- bliert und war zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor und Ar- beitgeber in der Region Kassel geworden. Der außerordentliche Werdegang der Firma war durch das RLM ab dem Jahr 1933

173 Auf die Sozialpolitik des Dritten Reiches wird noch im Verlauf dieser Arbeit eingegangen (vgl. Kapitel „Betriebsführer eines Nationalsozialistischen Muster- betriebes“ dieser Arbeit). 174 Zu den Fragebögen vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 302 (Aus- sage Goebel). Fieseler Arbeiter mussten ab 1938 verschiedene Fragebögen ausfüllen: einen Personalfragebogen, einen sog. Mob-Fragebogen bezüglich des Wehrverhältnisses und einen Abwehr-Fragebogen. Der zuletzt genannte Frage- bogen wurde von einem Abwehrbeauftragten ausgearbeitet und war auch für die Geheime Staatspolizei einsichtig. Jeder Betriebsangehörige musste diesen Bogen ausfüllen. Wenn z.B. jemand der Kommunistischen Partei angehört hatte, wurde der Betreffende nicht eingestellt. 175 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. III Anlage Betriebsordnung, S. 8 ff. „Schutz- und Ordnungsvorschriften“ u. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 145; Nr. 7/1938, S. 170 u. Nr. 10/1938, S. 9.

52 durch zunehmend größere Aufträge ständig forciert worden. Im Oktober 1938 hatte die Produktion der Fieseler-Firma einen Anteil von 3,8 Prozent an der Gesamtproduktion von Flugzeugen in Deutschland.176 Zu diesem Zeitpunkt waren die Kapazitäten jedoch noch nicht ausgeschöpft. Erst während des Krieges führte eine weitere Produktionssteigerung zu einer Auslastung des Betrie- bes.177 Die Ausdehnung der Firma hatte zugleich zu einer beträchtlichen Verschuldung geführt.178 Verbunden mit einem fachlichen Absin- ken der Qualität der Belegschaft und der ungenutzten Kapazitäten bewegte sich die Firma nach dem Ende der Expansion in einem Bereich, der am Rande der Rentabilität lag. Dieses Problem war symptomatisch für die Luftfahrtindustrie. Schabel bemerkt in die- sem Zusammenhang: „Dabei sahen die Unternehmer sehr wohl, daß sie zu unwirtschaftlicher Bauweise, Überkapazitäten und Abhängig- keit von der Luftwaffenkonjunktur gezwungen wurden. Im Februar 1937 beschwerte sich beispielsweise Fritz W. Seiler von den Bayeri- schen Flugzeugwerken über den `Zwang zur unwirtschaftlichen Be- triebsführung in der Luftfahrtindustrie´“.179 Mit Beginn der Errichtung der Werke II und III bemühte sich das RLM, seinen Einfluss auf das Unternehmen durch Umwandlung der gewährten Darlehen und Vorschüsse in Gesellschaftsanteile der GmbH zu festigen. Das Ministerium drängte Gerhard Fieseler zu einer Umgründung der Familien-GmbH. Nach langen Verhand- lungen zwischen Fieseler und dem RLM, die sich über drei Jahre hinzogen, wurde schließlich dem Druck des RLM nachgegeben. Mit Wirkung vom 1. April 1939 wurde die Firma umgegründet und in die „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ umbenannt.180 Neben Gerhard Fieseler und seiner Frau war das RLM und somit der Staat neuer Gesellschafter der GmbH. Dieser besaß mit 52 Prozent eine knappe

176 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 185. Zum Ver- gleich: Junkers hatte einen Anteil von 17,7 %, Henschel von 7,5 %, Focke-Wulf von 5,8 % und AGO von 2,4 %. 177 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 115 (Anklageschrift der Spruchkammer). Dort sind die Produktionszahlen von hergestellten Flugzeugen während des Krieges aufgelistet. Vgl. auch Bölling, Ernst: Die Kasseler Rü- stungsindustrie [wie Anm. 6], S. 78 ff. 178 Näheres zur finanziellen Situation der Firma im Kapitel „Das Verhältnis zwi- schen Gerhard Fieseler und dem RLM“ dieser Arbeit. 179 Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 113. 180 Vgl. Gesellschaftsvertrag vom 3. April 1939 (Dokument der Gerhard Fieseler Stiftung).

53 Mehrheit der Anteile. Als Geschäftsführer wurden Gerhard Fieseler, sein Stellvertreter Karl Thalau und Dr. Tobias Goebel, der zu- gleich kaufmännischer Berater war, be- nannt.181 Ihnen oblag die Firmenleitung. In dieser Funktion bezogen sie ein vom RLM bestimmtes Gehalt. Neben der Geschäfts- führung gab es noch einen Beirat, der aus fünf Personen bestand.182 Zwei von diesen wurden von den Fieseler-Werken und drei vom RLM gestellt. Die Gerhard Fieseler Werke wurden zunächst durch einen Herrn Stellvertretender Betriebsfüh- rer Prof. Dr. Karl Thalau Wolff von der Commerzbank und Oscar Henschel vertreten. Nachdem Henschel nach einiger Zeit ausge- schieden war, wurde ein Herr von Eschwege sein Nachfolger.183 Dieser Beirat wurde vom RLM dazu benutzt, auf die Betriebsfüh- rung der Fieseler-Werke Einfluss zu nehmen und wurde von der Geschäftsleitung als sehr störend empfunden. „Das Kommando dieses Beirats war für die Geschäftsleitung nicht angenehm, weil sie andauernd in die Geschäfte hineinredeten.“184

181 Vgl. ebd. Auf die Verhandlungen zur Umgründung der Firma und die Frage, inwiefern das RLM Druck auf Fieseler ausübte, wird im folgenden Kapitel aus- führlich eingegangen. 182 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 271 (Aussage Goebel). 183 Vgl. ebd. (Aussage Goebel). Nachdem Gerhard Fieseler 1941 durch den Rück- kauf von Anteilen vom RLM die Mehrheit am Gesellschaftsanteil der GmbH zu- rückerworben hatte, erlangte die Firma mit drei Personen auch die Majorität in diesem Beirat. Zu diesem zählte u.a. Oscar Henschel. Dieser hatte 1925 die Leitung der Lokomotivfabrik Henschel und Sohn in Kassel übernommen. Trotz Erweiterung der Produktionspalette um Busse und Lastwagen geriet das Un- ternehmen während der Weltwirtschaftskrise in große Schwierigkeiten. Erst im Jahre 1933 begann mit Rüstungsaufträgen der Nationalsozialisten der Auf- schwung. Die Firma war insbesondere im Panzerbau tätig, stieg aber auch in den Bereich der Flugzeugproduktion ein. 1942 musste Henschel die Firmen- leitung an General Stieler von Heydekampf abgeben, behielt jedoch den Vorsitz des Gesamtkonzerns. Nach dem Krieg wurde er von 1946 bis 1949 von den Amerikanern interniert, im Entnazifizierungsverfahren verurteilte ihn die Spruchkammer lediglich zu 2000 Mark Geldstrafe. 1953 erhielt Henschel die goldene Plakette der Stadt Kassel, 1955 das große Bundesverdienstkreuz. Vgl. zu diesen Angaben Kammler, Jörg u. Krause-Vilmar, Dietfrid: Volksgemein- schaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945 [wie Anm. 51], S. 386. Über die Per- sonen Wolff und von Eschwege liegen dem Autor keine Informationen vor. 184 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 271. (Aussage Goebel).

54 Nicht zuletzt die Umgründung der Firma im Jahre 1939 und die Bildung des Beirats deuten an, wie verwoben das Verhältnis zwi- schen den Fieseler-Werken und dem RLM im Laufe der Zeit gewor- den war. Ab 1933 konnte das Ministerium seinen Einfluss zuneh- mend vergrößern und bestimmte maßgeblich die Geschäfte und somit die Entwicklung des Betriebes. Im nächsten Kapitel wird das Verhältnis zwischen dem RLM und der Firma Fieseler näher unter- sucht. Im Vordergrund steht die Frage nach der Abhängigkeit Ger- hard Fieselers vom RLM.

55 Zum Verhältnis zwischen Gerhard Fieseler und dem RLM Im Verlauf des Spruchkammerverfahrens wurde von Fieseler und anderen Zeugen wiederholt betont, dass die enorme Expansion der Firma allein vom RLM und seinen umfang- reichen Aufträgen, die ein immer größeres Ausmaß annahmen, bestimmt worden war. Um die Programme erfüllen zu können, sei die Vergrößerung des Betriebes notwendig geworden und die Firma in der Folge davon in ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis geraten. Ein Auszug aus der Aussage des kaufmännischen Direktors Goebel, der maßgeblich für die Geschäftsführung des Unternehmens verantwortlich war, verdeut- licht diese Sichtweise: „Das Maß der Erwei- Kaufmännischer Direktor terung wurde bestimmt durch die uns aufer- Dr. Heinrich Tobias Goebel legten Programme des RLM. Die Programme steigerten sich immer mehr, dadurch war auch die Erweiterung bedingt. Wir selbst hatten das Bestreben, so klein wie möglich zu bleiben. [...] Nachdem aber nun einmal die Programme angelaufen waren, war es nicht mehr möglich zu sagen, wir wollen nicht mehr. Klemm, der das gewagt hat, ist gerade am KZ vorbei gekommen und nachher hat er es doch gemacht. Bei uns war es so, daß, weil wir darinnen waren, nicht mehr aufhören konnten. Wir haben uns gesträubt und haben dem Ministerium gegenüber immer wieder den Standpunkt vertreten, daß wir Herr im eigenen Hause bleiben wollten. Wir wollten auf keinen Fall, daß das Reich uns überfremdete. Später haben wir uns gegen diese Überfremdung nicht mehr wehren können.“185 Auf die Frage des Vorsitzenden der Spruchkammer, warum die Firma aus dem Geschäft mit dem RLM nicht ausgestiegen sei, nachdem absehbar war, dass die Aufträge des RLM für Gerhard Fieseler eine Abhängigkeit vom Ministerium bedeuteten, gab der Direktor folgende Antwort: „Herr Fieseler hat, als diese Finanzie- rung begann, einen Sicherungs-Übereignungsvertrag mit dem RLM abschließen müssen. Dadurch wurde zu Gunsten des Reiches alles außer den Gebäuden übertragen.“186

185 Ebd., Bl. 270 (Aussage Goebel). 186 Ebd.

56 Nach dieser Aussage war der Sicherungs-Übereignungsvertrag das bestimmende Moment in dem Verhältnis zwischen Gerhard Fieseler und dem RLM. Fieseler hatte diesen als Sicherheit für die Finanzie- rung des Ausbaus seiner Firma gegenüber dem Ministerium mit Gründung der „Gerhard Fieseler Flugzeugbau GmbH“ im Jahre 1934 eingehen müssen. Er wurde in der Folgezeit vom RLM als eine Art Knebelvertrag benutzt, um Fieseler zur Annahme größer werdender Aufträge und der Expansion seines Unternehmens zu zwingen. Hätte er den Forderungen nicht entsprochen, drohte ihm der Verlust seines Firmenvermögens.187 Um Aufschluss über das finanzielle Abhängigkeitsverhältnis von Gerhard Fieseler zu erhalten, wird dies im nächsten Abschnitt an- hand von konkreten Zahlen und den Modalitäten der Finanzierung durch das RLM rekonstruiert. Zum Vergleich der Situation von Fieseler mit anderen Firmen der Flugzeugbranche werden zuvor in einem kurzen Kapitel die Maßnahmen beschrieben, die das RLM zur Investition in die Luftfahrtindustrie und damit indirekt in die Rüstung ergriffen hatte.

Exkurs: Zur Finanzierung der Luftfahrtindustrie im Dritten Reich188 Nachdem im Frühjahr 1933 das nationalsozialistische Regime die ersten Rüstungsaufträge an die Luftfahrtindustrie erteilt hatte, benötigten die einzelnen Firmen vor allem Kapital zur Vergröße- rung ihrer Produktionskapazitäten. Mit eigenen Mitteln konnte die Flugzeugindustrie die geplante Ausdehnung nicht verwirklichen, da die Kapitaldecke der noch kleinen Branche viel zu gering war. Als Kapitalgeber kam somit nur der Staat in Frage: „Starting in 1933, it was obvious that the impetus for rapid expansion would have to come mainly from the government. German private capital was reluc- tant to invest in such risky enterprises and the chance of outside capital coming into the Reich was negligible.“189 Zur Finanzierung der geheimen Rüstungsaufträge und damit zu- gleich der Luftfahrtindustrie wurde am 1. April 1933 eine selbst- ständige Kasse für Ausgaben für geheime Zwecke geschaffen, die

187 Siehe Kapitel „Die Finanzierung der Fieseler-Werke“ dieser Arbeit. 188 Die Ausführungen folgen weitestgehend der Darstellung von Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 87-92. Vgl. hierzu auch Prophhanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeug-GmbH 1933-1939, S. 153-159. 189 Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 88.

57 direkt dem Reichsminister der Luftfahrt unterstand.190 Diese Ein- richtung war im Einvernehmen mit dem Reichsfinanzminister, Graf Schwerin von Krosigk, erfolgt, der auch die benötigten Gelder zur Verfügung stellte. Anfang 1933 gab es seitens der Regierung Überlegungen, einige Flugzeugfirmen durch entsprechende Investitionen zu verstaatli- chen. Vor allem aus ideologischen Gründen wurde diese Idee je- doch aufgegeben. Ziel des RLM war die Zusammenarbeit mit Pri- vatunternehmen, um diese für seine Rüstungspolitik einzuspan- nen. In zwei Fällen wurde die Verstaatlichung dennoch durchge- führt: Zum einen bei der Firma Arado-Flugzeugwerke und zum anderen bei der Firma Junkers, dem größten Konzern der Flug- zeugindustrie. Beide Beispiele beweisen, dass die Nationalsoziali- sten den Schritt der Enteignung nicht scheuten. Bei der Firma Arado wurde der gewährte Kredit in Höhe von 1,5 Millionen RM vom RLM einfach in Firmenkapital umgewandelt und ein neuer Vorstand eingesetzt. Hugo Junkers, Firmeninhaber der Firma Jun- kers, wurde unter Hausarrest gestellt und ultimativ aufgefordert, seine Patente und Firmenanteile an das Deutsche Reich zu ver- kaufen. Junkers, geprägt durch schlechte Erfahrungen mit der Reichswehr während der Weimarer Republik, konnte die völlige Übernahme seiner Firma noch hinauszögern, jedoch nach seinem Tod im Frühjahr 1935 wurde die Firma im April des gleichen Jah- res verstaatlicht und zum größten und modernsten Unternehmen der Luftfahrtindustrie ausgebaut.191 Die Möglichkeit der Verstaatli- chung wurde seitens des RLM als subtile Drohung gegenüber den

190 Vgl. Völker, Karl-Heinz: Die Deutsche Luftwaffe [wie Anm. 56], S. 24 u. Irving, David: Die Tragödie der deutschen Luftwaffe. Aus den Akten und Erinnerungen von Feldmarschall Milch, Frankfurt a. M. u. Berlin 31971, S. 66. 191 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 112. Pro- phanken schreibt zu dem Fall Junkers: „Junkers, der Mitglied der liberalen Deutschen Staatspartei war und der sich öffentlich als Pazifist profiliert hatte, wurde vom RLM Ende Mai/Anfang Juni 1933 unter massiven Drohungen zur Ab- tretung seiner Patentrechte und zur Übertragung aller Schutzrechte auf die Firma Ifa (Junkers Flugzeugwerke AG) gezwungen. Drei Monate später nötigte das RLM Junkers unter Androhung eines Landesverratsprozesses, die Mehrheit der Anteile an seinen Firmen Ifa und Jumo (Junkers Motorenbau GmbH) an den Staat abzu- treten, wobei der vom RLM beauftragte Staatsanwalt Lämmler, der die Enteig- nung betrieb, sich der berüchtigten Reichstagsbrandverordnung bediente, um Junkers auszuschalten. Mit großer Brutalität wurde Junkers am 18. Oktober 1933 in einer Nacht- und Nebelaktion die Unterschrift unter die Abtretungs- urkunde abgepreßt [...], vgl. Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 70.

58 Luftfahrtindustriellen stets aufrecht erhalten. In erster Linie sollten die Firmen aber durch Sättigung von Kapital willfährig gemacht werden. „In aircraft manufacturing as with other sectors of the econ- omy, expansion provided a golden opportunity for the Nazis to seize control.“192 Die Maßnahmen, die das RLM zur Finanzierung der Luftfahrtindust- rie initialisierte, waren vielfältiger Art. In einer ersten Phase ge- währte das Ministerium Hilfen in Form von Abschreibungsgaranti- en und Zinszusicherungen, um die Investitionen von privatem Ka- pital bzw. privaten Bankkrediten zu fördern. Dieses Verfahren al- leine reichte jedoch nicht aus, um den Aufbau der Luftfahrtindu- strie zu gewährleisten. Aus diesem Grund gewährte der Staat zins- freie Investitionszwischenkredite, deren Rückzahlung oder Um- schuldung bis zur Fertigstellung eines Werks oder Durchführung eines Auftrages offen blieb. „Beginning on a rather modest scale, this system pumped nearly 600 millions RM into aviation before the war.“193 Die Abwicklung der Kreditgeschäfte erfolgte seit 1934 im Auftrag des RLM über die Luftfahrt-Kontor GmbH. Diese Gesellschaft, de- ren Kapital im Besitz des Deutschen Reiches war, hatte sich zu- nächst mit der Verwaltung von Anlagen auf dem Gebiet der Ver- kehrsluftfahrt befasst, übernahm aber nun die Funktion einer Bank.194 Ursprünglich mit einem Kapital von 20.000 RM ausge- stattet, wurde dies bis 1938 auf 70 Millionen RM aufgestockt, und die GmbH 1940 in eine Aktiengesellschaft mit dem Namen „Bank der deutschen Luftfahrt“ (Aero-Bank) umgewandelt. Ihre Aufgabe bestand in der Finanzierung der Luftfahrtindustrie.195

192 Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 68. 193 Ebd., S. 88. 194 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 109. 195 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 88 u. 89: „In 1940 all these firms were reorganized into a joint-stock bank called the Bank der Deutschen Luftfahrt A.G., or Aero-Bank, with a capital of 150 million RM. The house bank of the aviation industry, it generated investment funds, which other banks were reluctant to do; spread risks among the aircraft firms; extended long- term credit at low interest rates; and provided the usual banking services. By 1944 the Aero-Bank had become a giant, controlling 859.6 million RM of the 1,094.8 million RM of working capital of the fifty-three joint-stock companies en- gaged in aircraft production. It had a majority of the stock holdings of fifty-one of the fifty-three companies and owned 90 percent of thirty-two, the largest of which was Junkers with a listing of 260 million RM.“

59 Neben der Luftfahrtkontor-GmbH existierten als Tochterfirmen noch die Luftfahrtanlagen-GmbH, die die Finanzierung für Grund- stücke, Gebäude und Maschinen ab einem Wert von 5 Millionen RM verwaltete, und die Luftfahrtbedarf-GmbH.196 Die Kapitalinve- stitionen der Luftfahrtkontor-GmbH in die Luftfahrtindustrie waren so hoch, dass die Anteile von Eigenkapital und Fremdkapital bei den meisten Firmen in keinem rechten Verhältnis mehr zueinander standen und zu einer beträchtlichen Überschuldung geführt hat- ten. Aus diesem Grund wurden zur Konsolidierung der Unterneh- men die Investitionszwischenkredite in Beteiligungen des RLM um- gewandelt. Die Betriebe erhielten dabei die Option, die Reichsbetei- ligung zu einem späteren Zeitpunkt zurückzuerwerben.197 Bei die- sen Umgründungen wurde durch einen sog. „Kapitalschnitt“ (auch Kap.-Schnitt) ein erheblicher Teil der Schulden erlassen. Der Ka- pitalschnitt beinhaltete beispielsweise Beihilfen für nicht produkti- ve Baukosten, die durch die Berücksichtigung von Luftschutzmaß- nahmen entstanden waren.198 Diese wurden gegen die unverzinsli- chen Investitionskredite aufgerechnet.199 Die Luftfahrtanlagen-GmbH errichtete und finanzierte nach ent- sprechenden vertraglichen Vereinbarungen zwischen dem RLM und der jeweiligen Firma ganze Werke zu Rüstungszwecken. Die Gelder hierfür wurden einerseits durch Kredite der Aero-Bank und ande- rerseits durch unmittelbare Reichsgelder bereitgestellt. Die neuen Anlagen wurden nach Fertigstellung entweder komplett mit ma- schineller Einrichtung oder nur zum Teil, d. h. Gebäude oder Ma- schinen, an die Unternehmen verpachtet.200 In beiden Fällen er- hielten die Firmen Optionen für den späteren Erwerb der ganzen Anlage. Beispiele für diese Verfahrensweise sind die Errichtung der

196 Vgl. ebd., S. 88. 197 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 110. 198 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 91: „The selection of new plant sites and construction of factory buildings illustrate the welter of fac- tors involved. The military insisted that new plants should be located in secluded areas well removed from the borders, away from prominent landmarks, reasona- bly far from urban areas or other possible targets, and widely dispersed. The fac- tory management wanted just the opposite, preferring locations where the eco- nomic infrastructure (transportation system, energy sources, and manpower) could easily support the new plant.“ 199 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 110. 200 Im Falle einer Teilverpachtung übernahm die Firma durch Aufnahme eines Investitionszwischenkredits die Finanzierung von Gebäuden oder Maschinen und war rechtlich gesehen Eigentümer.

60 Produktionsanlagen der Firma Heinkel in Oranienburg, der Firma Dornier in Wismar sowie der Werke II und III des Fieseler- Unternehmens.201 In allen drei Fällen trugen die neuen Anlagen nur noch der Form halber den Firmennamen, waren aber tatsäch- lich unter der Regie des RLM vollkommen staatlich finanziert wor- den. Neben die Investitionszwischenkredite traten als weitere Finanzie- rungsmöglichkeit die sog. „Mob.-Kredite“, die auf einen Plan des Reichswirtschaftsministers zurückgingen. Hiernach sollten an Stelle der direkten Finanzierung durch öffentliche Mittel Bankkre- dite treten, für die das Deutsche Reich eine 90-prozentige Bürg- schaft übernahm.202 Auf unterzeichnete Verträge leistete das RLM Vorauszahlungen oder in manchen Fällen auch außerordentliche Zahlungen, wie z.B. das sog. „Architektenhonorar“, das dem Firmeninhaber mehr oder weniger zur freien Verfügung stand.203 Die meisten Firmen erhiel- ten größere Anzahlungen. Sie betrugen 15 Prozent der entstehen- den Produktionskosten für größere und 30 Prozent für kleinere Firmen. Homze schreibt hierzu: „This was of great assistance to most firms, since they did not have to borrow money while waiting for payment and could, in fact, finance needed expansion from on- going contracts.“204 In diesem Zusammenhang muss berücksichtigt werden, dass sich die Vorauszahlungen auf einen Kostenfaktor bezogen, der zu Be- ginn einer Produktion berechnet wurde. Die endgültigen Produkti- onskosten einer Auftragsserie ergaben sich erst nach Ende der Durchführung und wurden von den Firmen in der Regel höher be- wertet als vorher angenommen. Die Firmeninhaber nahmen die Staatsaufträge zum Anlass, ihre Betriebe über das für einen Auf- trag notwendige Maß hinaus mit Maschinen, Personal und Material ausrüsten und finanzieren zu lassen. Über diese Art der Finanzie- rung wurden indirekt Überkapazitäten geschaffen, die vom RLM stillschweigend vor dem Hintergrund geduldet wurden, diese im Falle einer Kriegsmobilmachung nutzen zu können.

201 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 110. Das Beispiel des Fieseler Werks wird im nächsten Abschnitt erläutert. 202 Vgl. ebd. 203 Vgl. Kapitel „Exkurs: Zur Finanzierung der Luftfahrtindustrie im Dritten Reich“ dieser Arbeit. 204 Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 89.

61 Eine genaue Aussage über die Höhe der Investitionen des Dritten Reichs in die Luftrüstung kann nicht getroffen werden. Neben den bereits oben erwähnten 17 Milliarden RM beziffert Homze die Aus- gaben von vor dem Krieg auf etwa 5 Milliarden RM und die Beteili- gung des Reiches an der Flugzeugindustrie auf etwa 80 Prozent. „Partial records of Reich investment in the aircraft industry indicate that 211,000,000 RM was invested in fiscal year 1934-35, 500,000,000 RM in 1935, and 980,000,000 RM in 1936. Assuming a rate of one billion for 1937, 1938, and 1939, it is quite possible that before the war started the Reich had 5 billion RM invested in the industry.“ 205 Die erläuterten Maßnahmen zur Kapitalbeschaffung, die die Luft- fahrtindustrie für ihre Expansion benötigte und die außerordentli- che Höhe der Investitionen seitens des Dritten Reiches, der als ein- ziger Kapitalgeber in Frage kam, bestätigen die Abhängigkeit der Flugzeugindustrie vom nationalsozialistischen Staat. Dem RLM war es über die gewährten Kredite möglich, maßgeblichen Einfluss auf die Unternehmen zu nehmen. Im nächsten Abschnitt soll dieser Prozess anhand der Fieseler-Firma nachgezeichnet werden.

Die Finanzierung der Fieseler-Werke Die ersten finanziellen Mittel vom RLM erhielt Fieseler 1933/34 mit dem Auftrag, ein Flugzeug für den Europa-Rundflug zu konstruie- ren. Es handelt sich hierbei um Vorschüsse in Höhe von 40.000 und 50.000 RM.206 Weitere Zahlungen erfolgten im Zusammenhang mit der Serienherstellung der Schulflugzeuge. Diese wurden benö- tigt, um die Werksanlage in Bettenhausen für diesen Serienauftrag entsprechend zu vergrößern und auszustatten. Die Gelder wurden Gerhard Fieseler in Form von Darlehen zur Verfügung gestellt. Über die Gesamtsumme der bis 1936 gewährten staatlichen Kre- dite sagte Fieseler aus: „In 1936 waren 5 Millionen an Darlehen vom Staat investiert, in den Deutschen Werken war ich wie in Ihrings- hausen zunächst als Mieter.“207 Als Voraussetzung für die Investitionen hatte das RLM bereits 1934 die Umgründung der Privatfirma Fieselers in eine GmbH und die Unterzeichnung eines Sicherungs-Übereignungsvertrages als Si-

205 Ebd., S. 260. 206 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 256r (Aussage Fieseler). 207 Ebd.

62 cherheit für die Kredite verlangt. Gesellschafter der neu gegründe- ten GmbH waren Gerhard Fieseler und seine Frau. Ihre Kapital- einlage betrug 300.000 RM, wovon 255.000 RM auf ihn und 45.000 RM auf Helene Fieseler entfielen.208 Bei dem Vertrag mit dem RLM handelte es sich um einen sog. „General-Sicherungsübereignungs- vertrag“. Durch ihn wurden sämtliche beweglichen Gegenstände, sowie Material und auch alles im Bau befindliche Material dem RLM übereignet. Goebel hierzu: „Das RLM war damit Eigentümer sämtlicher Dinge im Fieseler Werk, soweit sie nicht mit dem Grund und Boden fest verbunden waren. [...] D. h., wenn Material oder Ma- schinen angeschafft wurden für die Fieseler Werke, dann gehörten diese bereits beim Kauf dem Reich.“209 Durch diesen Vertrag bestand die theoretische Möglichkeit, dass die Kredite seitens des RLM gekündigt werden konnten und da- durch Fieseler seinen Besitz bis auf das Grundstück und die Ge- bäude verlieren würde. Gerhard Fieseler bemerkte rückblickend auf diese Bindung mit dem RLM: „Das war wirtschaftlich mein To- desurteil. Denn nun hatte ich weiter nichts zu sagen. [...] Programme kamen nun und die konnte ich nicht finanzieren.“210 Fieseler begründet somit die Entwicklung seines Betriebes ab 1934 mit der Abhängigkeit vom RLM, die aufgrund des Sicherungs- Übereignungsvertrages bestanden habe. Der Vertrag sei vom Mini- sterium als Knebelvertrag missbraucht worden. An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass Fieseler zu- nächst durchaus die Hoffnung und die Vorstellung hatte, durch die Zusammenarbeit mit dem RLM seinen Betrieb durch staatliche Finanzierung ausbauen zu lassen und damit seine wirtschaftliche Position innerhalb der Flugzeugbranche zu stärken. Die Staatsauf- träge bedeuteten ein sicheres Geschäft mit garantierter Auftragsla- ge und Bezahlung der produzierten Flugzeuge. Vor dem Hinter- grund der eher negativen Erfahrungen im Luftfahrtgeschäft zu Be- ginn seiner Karriere als Flugzeugbauer, die mit der Konjunktur- schwäche der Branche zusammenhing, mögen diese lukrativen Geschäftsaussichten ein Grund für seine Kooperation mit dem RLM gewesen sein. Fieseler äußerte hierzu: „Für uns lag keine Ver- anlassung vor, einen Auftrag abzulehnen. Ich wollte mich nicht un-

208 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 114r (Klageschrift der Spruchkammer). 209 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 300. 210 Ebd., Bl. 256r.

63 bedingt unbeliebt machen. [...] Der Staatsauftrag ist schon immer der sicherste gewesen. Ich konnte nicht wissen, dass ich es mit solchen Leuten zu tun hatte. Dr. Hubertus211 kam zu mir und sagte, dass wir den Sicherungs-Übereignungsvertrag schließen müßten. Selbstver- ständlich habe ich mir damals Gedanken darüber gemacht, auch darüber wie die Dinge nun weiter gehen sollten. Wir hatten damals einen Auftragsbestand von RM 100.000 – 150.000. Ich habe mir gesagt, wenn wir einige Jahre fleißig arbeiten, dann muss ich nach und nach die Darlehen zurückzahlen können. Damals haben wir RM 500.000 verdient, das waren in 5 Jahren 1 Million Reingewinn. Ich hätte die Darlehen also hübsch zurückzahlen können. Dadurch aber, dass das RLM mit immer größeren Programmen kam, waren meine Vorstellungen falsch. [...] Ich hatte auch keinen Anlaß zum Mißtrau- en.“212 Die Finanzierung durch das RLM erfolgte in folgender Form.213 War ein Auftrag erteilt worden, berechnete die Fieseler-Firma zusam- men mit einem Vertreter des RLM die Kosten des vorliegenden Pro- gramms bezüglich Materialanschaffung, Lohnkosten und anderen notwendigen Ausgaben. Auf dieser Grundlage wurde ein Finanzie- rungsplan aufgestellt. Lief das Programm beispielsweise über neun Monate, wurden ein neuntel der Materialanschaffungskosten und die weiteren Ausgaben für den anstehenden Monat berechnet. Die Vorauszahlungen richteten sich nun nach der Anzahl der Besuche des Vertreters des RLM in der Firma. Reiste er insgesamt dreimal nach Kassel, wurde die berechnete Zahl mal drei genommen und der entsprechende Betrag als Vorschuss gezahlt. Ein zweiter Teil der Finanzierung war die sog. Anlagenfinanzierung. Sie bezog sich auf die Anschaffung erforderlicher Maschinen und Geräte. Im Vor- feld der Produktion musste der Betrieb dem RLM mitteilen, welche Anlagen sie zur Durchführung des Auftrages benötigte. Die dazu nötige Summe wurde in Form von täglich fällig werdenden Geldern bereitgestellt. Mit der Erweiterung des Unternehmens um die Werke II und III und der Aufnahme der Serienherstellung von Jagdflugzeugen nahm auch die Verschuldung des Fieseler-Werks zu. Bis zur zwei- ten Umgründung im Jahre 1939 betrug diese bezüglich der Anla-

211 Zur Person Hubertus konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. 212 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 270r, 271r u. 272. 213 Vgl. ebd., Bl. 270. Die Beschreibung der Finanzierung lehnt sich an die Aussa- ge des kaufmännischen Direktors Dr. Goebel an.

64 genfinanzierung 14 Millionen RM.214 Hinzu kamen die Kosten für die Produktionsfinanzierung und weitere Verbindlichkeiten wie z.B. das RLM-Siedlungsdarlehen für den Bau der Fieseler-Siedlung und „sonstige“ RLM-Schulden.215

Die Verhandlungen zur Umgründung der Firma Vor dem Hintergrund dieser finanziellen Entwicklung nahm das RLM mit Gerhard Fieseler bereits im März 1936 Gespräche auf, aus denen hervorgeht, dass seitens des RLM eine Kapitalerhöhung der GmbH gewünscht wurde, um die Firma Fieseler für die ge- plante Erweiterung auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen. Das RLM plante, die bisher zinslos gewährten Darlehen für Investi- tionszwecke in nicht genau angegebener Höhe in Gesellschaftsan- teile umzuwandeln und eine deutliche Mehrheit gegenüber Fieseler aufzubauen, wobei das bisherige Kapital der „Fieseler-Flugzeugbau GmbH“ angerechnet werden sollte. Gleichzeitig sollte Gerhard Fie- seler in einem zweiten Vertrag ein Optionsrecht auf die GmbH- Anteile des RLM gewährt werden. Des Weiteren wünschte das RLM eine Gewinnbeteiligung an der Firma und die Gründung eines Bei- rats, deren Mitglieder vom RLM und der Firma Fieseler bestimmt werden. Sog. Sondergewinne sollten Fieseler überlassen werden.216 Auch sollten durch das RLM Abschreibungsgarantien gewährt wer- den, die es Fieseler ermöglichen würden, Bankkredite aufzuneh- men. Auf dieser Basis wurden in der Folgezeit von beiden Seiten Vor- schläge unterbreitet, wie der in Aussicht genommene neue GmbH- Vertrag gestaltet sein sollte. Die Verhandlungen erstreckten sich dabei auf mehrere Jahre und erst im Frühjahr 1939 kam es zu einem Vertragsabschluss. Dieser Prozess war im Auftrag von Fie- seler 1941 durch seinen Sekretär Schade schriftlich dokumentiert worden. Die entsprechende Aufzeichnung übergab dieser der

214 Vgl. ebd., Bl. 270r (Aussage Goebel). 215 Vgl. ebd., Bl. 270r (Aussage Goebel) u. Bl. 459. Hier ist eine Abschrift der Ab- schlussbilanz von 1942 und 1943 überliefert. Auf der Seite der Passiva sind unter Punkt V. Verbindlichkeiten folgende Posten aufgeführt: Verbindlichkeiten an das RLM und Aerobank: RLM-Materialanzahlungen, RLM-Leistungsan- zahlungen, RLM-Siedlungsdarlehen, sonstige RLM-Schulden, Investierungs- darlehen der Aerobank, LAG-Schulden. 216 Vgl. ebd., Bl. 463 (Finanzbericht Schade). Zu den Sondergewinnen vgl. Anmer- kung 183 dieser Arbeit. Sie sollten Fieseler ermöglichen, die Anteile des RLM zurückzuerwerben.

65 Spruchkammer.217 Der Bericht ist sehr detailliert und gibt einen guten Überblick über die geführten Verhandlungen zwischen dem RLM und der Firma Fieseler. Am Rande sei bemerkt, dass die Her- ausgabe der Finanzgeschichte während des Spruchkammerverfah- rens, durch seinen ehemaligen Sekretär, Fieseler sichtlich unange- nehm war. Er nannte Schade wegen der Übergabe des Schrift- stücks öffentlich einen „Verräter“!218 Das RLM verfolgte während der Gespräche das Ziel, durch einen neuen Vertrag möglichst großen Einfluss auf die Fieseler-Werke zu erreichen und den von Gerhard Fieseler möglichst gering zu halten. Aus diesem Grund wurde vom Ministerium stets eine hohe Kapi- talaufstockung der GmbH verlangt, die es Fieseler unmöglich ma- chen sollte, die Majorität trotz Optionsvertrag zurückzuerlangen. Demgegenüber war das Bestreben der Fieseler-Firma, die Kapital- erhöhung möglichst gering zu halten, um die Mehrheit in der Ge- sellschaft wiedererlangen zu können oder sogar die gesamten GmbH-Anteile zu erwerben. Zu diesem Zweck hätten Gerhard Fie- seler gesondert zufließende Einnahmen ermöglicht werden müssen, die zum Kauf der GmbH-Anteile genutzt werden könnten.219 Am 26. Oktober 1936 legte das RLM einen ersten Vertragsentwurf vor. In diesem wurden die bisherigen Aufwendungen für die ent- standenen Anlagen auf rund 10 Millionen RM beziffert, die der „Fieseler Flugzeugbau GmbH“ vom Reich als Zwischenkredit zur Verfügung gestellt worden waren.220 Es wurde geplant, das Kapital der Firma von 300.000 RM auf 6 Millionen RM zu erhöhen, wobei

217 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 285 (Aussage Schade). 218 Vgl. ebd., Bl. 301. Wörtlich sagte Fieseler: „Ich habe in 1941 diesen Auftrag gegeben. Es war das Geheimste, was ein Werk hatte. Und nun kommt so ein Ver- räter her und übergibt so eine geheime Sache.“ 219 Vgl. ebd., Bl. 464 (Finanzbericht Schade). Folgende Möglichkeiten der Gewinn- beteiligung werden aufgelistet: 1. Gewinnbeteiligung in Höhe von 5 Prozent 2. 50 Prozent der Lizenzeinnahmen 3. Eine Prämie, die in gleicher Höhe wie die Lizenz beim Nachbau eigener Entwicklungen im eigenen Werk gewährt wird 4. 50 Prozent der Einnahmen aus Patenten 5. 50 Prozent der Einnahmen aus Neuerungen und Ideen, die nach persönli- chen Angaben und unter persönlicher Mitarbeit von Fieseler entstehen 6. Gewisse Differenzbeträge, die sich ergeben aus den vom RLM genehmigten Festpreisen und den tatsächlichen Entstehungspreisen der Firma 220 Zu diesem Zeitpunkt war der Bau der Werke II und III erst im Anfangsstadium. Die Kredite wurden somit fast ausschließlich für den Ausbau des Werks I und der dort ausgeführten Aufträge verwendet.

66 Gerhard Fieseler seinen Anteil in der gleichen Höhe weiterhin be- halten sollte. Der andere Anteilseigner wäre das RLM mit 5,7 Mil- lionen RM. Die ausstehende Differenz von 4 Millionen RM sollte vom Staat weiter zwischenfinanziert werden. Gegenüber diesem Entwurf wurden seitens Fieselers folgende Än- derungsvorschläge unterbreitet. Die Investitionen für den Aufbau des bisherigen Werks sollten gegenüber 10 Millionen RM auf 6,5 Millionen RM festgesetzt werden. Aus den Unterlagen geht aller- dings nicht hervor, wo die restlichen 3,5 Millionen RM verblie- ben.221 Die geführten Verhandlungen lassen vermuten, dass der Fehlbetrag, der für Fieseler einen enormen Erlass seiner Schulden bedeuteten, vom RLM stillschweigend geduldet und kalkuliert wur- de, so lange der Ausbau der Produktionskapazitäten – ganz im Sinne des RLM - gewährleistet wurde. Von diesen 6,5 Millionen RM sollten 3,5 Millionen RM als Kapital der GmbH ausgewiesen werden und die restlichen 3 Millionen RM vom Deutschen Reich zwischen- finanziert werden. Gegen Ende des Jahres 1936 setzte sich Goebel, der kaufmänni- sche Direktor von Fieseler, mit der Frage auseinander, welche Möglichkeiten bestanden, die in der Bauphase befindlichen Werke II und III der Fieseler-Firma anzugliedern. Es sollten sowohl die Interessen des RLM als auch von Fieseler gleichermaßen berück- sichtigt werden. Gegenüber der Forderung des Ministeriums, diese Werke in die neue GmbH aufzunehmen, unterbreitete er den Vor- schlag, die Werke II und III als Reichsgesellschaft zu belassen und diese, d. h. Grund und Gebäude mit fest eingebauten Anlagen, an die neue Gesellschaft zu verpachten.222 „Wir hatten in den Ver- handlungen mit Herrn Tscheikat223 den Vorschlag des RLM mit 8 Millionen in die neue Gesellschaft einzusteigen, abgelehnt. Herr Fie- seler stand auf dem Standpunkt, er wolle Herr im eigenen Haus bleiben. Er wollte Schul- und Sportflugzeuge bauen. Er wollte auch keine Werke untergeschoben bekommen, die er gar nicht wollte. Wir

221 Die in den Aufzeichnungen des Sekretärs genannten 6,5 Millionen RM entspre- chen etwa den von Fieseler genannten Schulden in Höhe von 5 Millionen. 222 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 114r u. 115 (Anklageschrift der Spruchkammer) sowie HHSTAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 465 (Finanzbericht Schade). 223 Der Name „Tscheikat“ wurde vom Protokollanten falsch wiedergegeben. Der Name wird richtig Cejka geschrieben. Gemeint ist Alois Cejka, ein Ministerial- beamter im RLM, der Abteilungschef für Finanzen und Verträge war, vgl. Irving, David: Die Tragödie der deutschen Luftwaffe [wie Anm. 190], S. 189 u. 199.

67 haben immer wieder gesagt, die Werke II und III wollen wir gar nicht. Herr Tscheikat hat dann wohl eingesehen, dass wir nicht woll- ten.“224 In einer Aktennotiz vom 4. April 1937 wurde dieser Plan dem zuständigen Vertretern im RLM mitgeteilt. Etwa zur gleichen Zeit nahm das Unternehmen mit verschiedenen Banken Verhandlungen auf, um die Frage einer Kreditgewährung zu klären. Die Firma sah vor, mit einem privaten Kredit eine weite- re Schuldenlast beim RLM zu vermeiden.225 Die Commerzbank und die Dresdner Bank erklärten sich bereit, einen Kredit in Höhe von 3,5 bis 4 Millionen RM gegen Abschreibungsgarantien des RLM zu gewähren. Ende 1937 wurden erstmalig Gespräche über einen sog. „Mob.- Schnitt“ (auch „Kapital-Schnitt“) geführt.226 Zu diesem Zweck fand im RLM am 21. Dezember 1937 ein Treffen sämtlicher kaufmänni- scher Leiter der Luftfahrtindustrie statt. Das RLM gab zu erken- nen, die Anlagewerte der Firmen um 30 bis 40 Prozent zu ermäßi- gen, „um dadurch die Möglichkeit einer Verzinsung und Amortisation aus der Friedenskapazität zu haben.“227 Anfang 1939 kam es schließlich zu konkreten Vertragsentwürfen bezüglich der Umgründung. Am 6. Februar 1939 wurde von der Firma Fieseler in einem offiziellen Schreiben an das RLM ein aus- gearbeiteter Vorschlag unterbreitet. Dieser Konzeption zufolge sollte in der neu zu gründenden Gesellschaft ein Kapital von 3,5 Millionen eingebracht werden, wovon 2,1 Millionen RM auf das Ministerium und 1,4 Millionen RM auf Gerhard Fieseler entfielen. Der Anteil Fieselers setzte sich aus dem Gesellschaftskapital der Firma in Höhe von 300.000 RM und aller bis zu diesem Zeitpunkt ausgewiesenen Gewinne der alten GmbH in Höhe von 1,1 Millionen RM zusammen.228 Zu der neuen Gesellschaft sollten nur das Werk I und die im Besitz der „Fieseler Flugzeugbau GmbH“ befindlichen Maschinen und Einrichtungen der Werke II und III gehören. Grund

224 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 300 (Aussage Goebel). In seinen Memoiren beschreibt Fieseler die Situation im übrigen anders: „[...] kam es zu folgendem Vertrag: Abgabe der Majorität meiner GmbH-Anteile und der komplet- ten Werke 2 und 3 an den Staat. Die Unterzeichnung dieser für mich miserablen Regelung [...]“ , vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 235. 225 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 465 (Finanzbericht Schade). 226 Vgl. S. 49 dieser Arbeit. 227 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 467 (Finanzbericht Schade). 228 Vgl. ebd., Bl. 306r (Aussage Goebel). Der Reingewinn ergab sich aus dem Zeit- raum von 1934 bis zum 1. April 1939.

68 und Gebäude der Werke II und III gingen in Reichsbesitz über und sollten an die Firma Fieseler verpachtet werden. Die Kosten für die Errichtung dieser Gebäude, die Fieseler zunächst durch Aufnahme weiterer Kredite beim RLM finanziert hatte, würden dadurch von seiner Gesamtverschuldung in Höhe von 14 Millionen RM abgezo- gen, so dass eine geringere Restschuld verblieb.229 Nach diesem Plan würde die neue Gesellschaft zunächst mit einem Kapital von 20.000 RM gegründet werden. An ihr wären Helene Fieseler mit einer Einlage in Höhe von 2000 RM, Gerhard Fieseler mit 6000 RM und das Luftfahrtkontor mit 12.000 RM beteiligt. In diese Gesellschaft würde daraufhin die alte Firma Fieselers, die „Fieseler Flugzeugbau GmbH“, eingebracht und gleichzeitig die ausstehenden Forderungen des RLM in GmbH-Anteile umgewan- delt sowie das Stammkapital auf 3,5 Millionen RM erhöht werden. Die Investitionsrestschuld des Fieseler-Unternehmens betrage nach dem sog. Mob.-Schnitt nur noch 3,7 Millionen RM.230 Von diesen würden nach Abzug der 2,1 Millionen RM, die in Gesellschaftsan- teile des RLM umgewandelt werden, nur 1,6 Millionen RM verblei- ben. Diese könnten aus laufenden Abschreibungen, die jährlich in Höhe von 750.000 RM anfallen, getilgt werden. Die von Fieseler zu zahlenden Steuern, die bei der Umgründung für die Beteiligten Parteien in Höhe von 930.000 RM entstehen, sollten mittels des

229 Vgl. ebd., fol 468. In einem Schreiben vom 20.1.1939 an das Luftfahrtkontor wurden die Gesamtschulden der Firma auf 14,5 Millionen RM beziffert. Hiervon waren Anfang Januar 2 Millionen RM zurückgezahlt worden. Auf die verblei- benden 12,5 Millionen wurde ein Kapitalschnitt für das Werk I in Höhe von 2.340.000 RM angerechnet, so dass eine Restschuld von etwa 10 Millionen RM verblieb. Von diesen 10 Millionen Investitionen entfielen etwa 6,5 Millionen RM auf die Werke II und III und etwa 3,5 Millionen RM auf das Werk I. Vgl. hierzu auch: HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 114r u. 115 (Anklageschrift der Spruchkammer) sowie HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 271 (Aussage Goebel). 230 Die Restschuld bezieht sich auf das Stammwerk in Kassel-Bettenhausen. Nach Aussage von Goebel wurden für das gesamte Werk 2.143.000 RM abgezogen. „Das ist im einzelnen berechnet worden für Kanalisation, Strassen, Hallen, teil- weise für Maschinen. Es war eine Aufstellung, die ein ganzes Buch umfasste, um zu dem Kap.-Schnitt zu kommen. Das war für alle drei Werke, das RLM hat das also auch für seine eigenen Werke gemacht“, vgl. HHSTAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 306r u. 307. Für die Werke II und III. wurde nach dem Fi- nanzbericht von Schade insgesamt 1,7 Millionen RM abgezogen, vgl. ebd., Bl. 469.

69 vereinbarten sog. „Architektenhonorars“, das vom RLM gezahlt würde, abgegolten werden.231 Bei der neuen Firma hätte das RLM bezüglich der Gesellschafts- anteile eine Mehrheit von 60 Prozent gegenüber 40 Prozent von Gerhard Fieseler. Der abzuschließende Vertrag sollte jedoch mit einem Optionsvertrag verbunden sein. Hierdurch sollte Fieseler der Erwerb der Reichsanteile zu einem späteren Zeitpunkt garantiert werden. Der Optionsvertrag ging auf die Anfänge der Verhandlun- gen im Jahr 1936 zurück, als das RLM geplant hatte, eine wesent- lich höhere Kapitalerhöhung vorzunehmen. Laut Aussage Goebels war dies der Grund, warum das Ministerium den Optionsvertrag aufrecht erhielt, obwohl nach der vorliegenden Konzeption nun eine reale Chance für Fieseler bestand, die Majorität der GmbH zurückzuerlangen.232 „Herr Tscheikat vertrat uns gegenüber den Standpunkt, daß er gar kein Reichswerk wollte. Er konnte bei 8 Mil- lionen nicht den Optionsvertrag anbieten und dann etwa bei 3,5 Mil- lionen diesen nicht mehr gewähren. Er konnte also dies Anerbieten nun nicht mehr zurückziehen. Infolgedessen mußte er uns den Opti- onsvertrag geben. [...] Das RLM wollte offiziell keinen Reichsbetrieb, sondern es wollte die Betriebe in den Händen der Privatleute lassen, denn es wußte, daß unter der Leitung von Privatpersonen mehr ge- schaffen wurde als unter der Leitung einer Behörde. Auf der einen Seite mußte das RLM einsehen, daß es nun nicht mehr anders konn- te und das es dem Optionsvertrag zustimmen mußte. An der Tatsa- che, daß Herr Fieseler etwa Soldat wurde,233 lag dem Herrn Tschei- kat gar nichts.“234

231 Vgl. ebd., Bl. 307r. Nach Aussage von Goebel sei zwar von einem Architekten- honorar gesprochen, jedoch nicht gezahlt worden. Es habe sich lediglich um ei- nen Vorschlag gehandelt. In dem Finanzbericht von Schade heißt es: „In einer Besprechung, die Dr. Goebel am 8.6.1939 mit Dr. Nowak [vom RLM, d.V.] hatte, wird erklärt, daß durch die Kapitalfestsetzung das Architektenhonorar abgegol- ten sei“, ebd. Bl. 470. Das sog. Architektenhonorar ist somit in einer bestimm- ten Form angerechnet worden. 232 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 132 (Optionsvertrag). Der Optionsvertrag sah eine Möglichkeit des Erwerbs von Anteilen zu festen Kursen vor: Im ersten Jahr zu 100 Prozent, in den nächsten 3 Jahren zu 110 Prozent und in den folgenden 3 Jahren zu 115 Prozent und bis zum 31.12.1949 zu 120 Prozent. Nach Ablauf dieser Frist kann eine Verlängerung der Option in Erwä- gung gezogen werden. 233 Fieseler hatte in 1941 angeboten, durch Auszahlung seines Anteils die GmbH ganz dem Reich zu überlassen und sich freiwillig an die Front zu melden. Die Ernsthaftigkeit dieses Angebots ist jedoch zweifelhaft. 234 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 301 (Aussage Goebel).

70 Der Vertragsentwurf der Firma Fieseler vom Februar 1939 wurde schließlich seitens des RLM angenommen. Am 1. April 1939 wurde gemäß diesem Entwurf die neue Firma „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ mit einem Kapital von 20.000 RM gegründet.235 Am 6. April wurde dem Finanzamt mitgeteilt, dass die „Fieseler Flugzeugbau GmbH“ mit ihren gesamten Vermögenswerten (allen Aktiva und Passiva) auf die neue GmbH übertragen werden soll.236 Zugleich wurde das Stammkapital von Gerhard Fieseler von 20.000 RM auf 1,4 Millionen RM erhöht.237 Am 19. Juli 1939 erfolgte eine weitere Aufstockung des Kapitals durch das RLM auf insgesamt 3,5 Millio- nen RM. Darüber hinaus sah die Firma vor, einen größeren Kredit bei der Commerzbank aufzunehmen, um gegenüber dem RLM un- abhängiger zu sein. Der Abschluss des Optionsvertrages, mit dem Gerhard Fieseler der Erwerb der Anteile des RLM an der GmbH zugesichert wurde, erfolgte am 2. August 1939.238 Im Oktober des Jahres 1940 machte Gerhard Fieseler von seinem Optionsrecht Gebrauch. Durch Aufnahme eines privaten Bankkre- dits, für welchen seine GmbH-Anteile und sein Privatvermögen als Sicherheit dienten, kaufte er Anteile in Höhe von 400.000 RM.239 Hierdurch stockte er seinen Gesellschaftsanteil von 1,4 Millionen RM auf 1,8 Millionen RM auf, während sich der des RLM von 2,1 Millionen RM auf 1,7 Millionen verringerte. Fieseler erhielt somit die Majorität in Höhe von 51 Prozent an der „Gerhard Fieseler Flugzeug Werke GmbH“. Der kaufmännische Direktor von Fieseler bemerkte hierzu: „Damit hatte er [Fieseler, d.V.] die Majorität und das erreicht was wir wollten, nämlich Herr im eigenen Hause zu bleiben. Er mußte das tun, wollten wir nicht vollkommen überfremdet werden.“240 Das RLM, das mit einer Inanspruchnahme des Optionsrechtes an- scheinend nicht gerechnet hatte, wollte zunächst dieses Geschäft

235 Vgl. HHStAW Abt. 519/1, Nr. 57 Bericht des Wirtschaftsprüfers Rudolf Falk, S. 1. Hiernach war die Gründung der neuen GmbH – mit Verweis auf das Han- delsregister in Kassel, Abt. B, Nr. 1042 – bereits am 18. Februar 1939 vollzogen worden. 236 Die alte Firma, Fieseler-Flugzeugbau GmbH, wurde bei der Umgründung jedoch offiziell nicht aus dem Handelsregister genommen. Vgl. HHSTAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 470 (Finanzbericht Schade). 237 An dem Anteil von 1,4 Millionen RM waren Gerhard Fieseler mit 1.355.000 RM und Helene Fieseler mit 45.000 RM beteiligt. 238 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 132 (Optionsvertrag). 239 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 470 (Finanzbericht Schade). 240 Ebd., Bl. 270r.

71 nicht anerkennen. Es kam zu weiteren Verhandlungen, die sich über ein weiteres Jahr hinzogen und bei denen seitens des RLM neue Umgründungsvorschläge eingebracht wurden. Erst das Vor- sprechen Gerhard Fieselers beim zuständigem Staatssekretär Er- hard Milch bewirkte ein Einlenken. Milch verlangte einen detail- lierten Bericht über diesen Fall. Nachdem er diesen erhalten hatte, gab er seine Einwilligung zu dem Geschäft. Die Kapitalumschich- tung zu Gunsten Fieselers wurde rechtskräftig. Die Zustimmung teilte Milch in einem persönlichen Brief an Fieseler mit. In dem Schreiben vom 22. Dezember 1941 heißt es:

„Lieber Herr Fieseler! Auf Ihr Schreiben vom 16. Dezember 1941 teile ich Ihnen mit, daß das RLM die mit Ihnen geschlossenen Verträge, wie Ihnen gegenüber wiederholt betont worden ist, achten wird. Da Sie glauben, die Vor- schläge des RLM nicht annehmen zu können, wird das Amt von wei- teren Erörterungen der beiderseitigen Vorschläge absehen. Ich kann Ihnen zu meiner Freude versichern, daß irgendwelche per- sönlichen Momente bei den mit Ihnen geführten Verhandlungen kei- ne Rolle gespielt haben. Bei allen Verhandlungen und den Ihnen gemachten Vorschlägen haben ausschließlich sachliche Erwägungen im Vordergrund gestanden. Die von Ihnen angebotene Ablösung Ihrer Kapitalbeteiligung an der Gerhard Fieseler G.m.b.H. kommt nicht in Betracht. Mit den besten Wünschen für die Feiertage bin ich mit Heil Hitler

Ihr sehr ergebener gez. Milch“ 241

Ergebnisse Nach der Schilderung der Finanzierung der Firma Fieseler bis zur Umgründung im Jahre 1939 bzw. bis zur Wahrnehmung des Opti- onsvertrages bleibt die Frage, welche Erkenntnisse hieraus gezogen werden können. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die Rekon- struktion der finanziellen Situation des Unternehmens sich äußerst schwierig gestaltet. Sie beruht neben der einzigen schriftlichen Zu-

241 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 133.

72 sammenfassung des ehemaligen Sekretärs Fieselers, die eine gute Übersicht darzustellen scheint, ausschließlich auf verschiedenen Aussagen, die während des Spruchkammerverfahrens gemacht wurden. Diese sind zum Teil gegensätzlich242 oder in bestimmten Punkten sehr vage243 formuliert. Konkrete Zahlen oder Fakten wer- den nur in wenigen Fällen übereinstimmend genannt. Trotz dieser Umstände können dennoch einige wichtige Schlussfolgerungen bezüglich des Verhältnisses zwischen dem RLM und der Fieseler- Firma gezogen werden. Der Sicherungs-Übereignungsvertrag, den Fieseler mit Gründung der „Gerhard Fieseler Flugzeugbau GmbH“ gegenüber dem RLM abgeschlossen hatte, kann insofern als ein vom Ministerium be- nutzter Knebelvertrag gewertet werden, weil er sich auf das ge- samte Firmenvermögen bezog. Der daraus resultierende Zwang zur Vergrößerung des Unternehmens und der Durchführung größer werdender Aufträge sowie die damit eintretende höhere Verschul- dung beim RLM zeigen Parallelen zu Werdegängen anderer Firmen der Luftfahrtindustrie während dieser Zeit. Wie Fieseler durch ei- gene Aussagen bestätigte, glaubte er aber gleichzeitig, ein kalku- lierbares Risiko eingegangen zu sein und hegte anscheinend die Hoffnung, einen Ausbau seines Werks mit staatlichen Mitteln fi- nanzieren zu können.244 In dieser Hinsicht war die Zusammenar- beit mit dem Staat, der eine sichere Auftragslage gewährte, in den ersten Jahren zumindest nicht ungewollt. Das Bestreben des RLM, die gewährten Kredite in Millionenhöhe in Gesellschaftsanteile umwandeln zu wollen, war kein ungewöhnli- cher Vorgang in der damaligen Flugzeugbranche. Auffallend in die- sem Zusammenhang ist die Dauer der zu diesem Zweck geführten Verhandlungen zwischen dem Ministerium und Fieseler, die einen Zeitraum von drei Jahren umfassten. Dieser resultierte zu einem großen Maß aus Fieselers Verhandlungstaktik. Er verstand es, durch das Einbringen von Vorschlägen eine eigene Position zu be- stimmen und seine Interessen in einem gewissen Rahmen zu wah- ren. Es blieb ihm also durchaus ein Verhandlungsspielraum trotz der Abhängigkeit vom RLM, die durch die hohe Verschuldung und den Sicherungs-Übereignungsvertrag gegeben war.

242 Als Beispiel sei auf die offene Frage hingewiesen, ob Fieseler ein „Architekten- honorar“ erhielt oder nicht. 243 Z.B. im Hinblick auf die Höhe des Mob.-Schnitts, der an der Firma Fieseler vorgenommen worden war. 244 Vgl. seine Aussage auf S. 44 dieser Arbeit.

73 Fieseler erfuhr durch den sog. Mob.-Schnitt und das sog. Archi- tektenhonorar eine erhebliche Minderung seiner Schulden. Im Er- gebnis wurde durch die Umgründung der Firma im April 1939, die letztlich eine Umgründung der RLM-Kredite in GmbH-Anteile dar- stellte, Fieseler von seinen Schulden beim Ministerium zum Groß- teil entlastet. Der Sicherungs-Übereignungsvertrag fiel ebenfalls fort. Das mittlerweile großzügig ausgebaute Werk I in Bettenhau- sen war nun rechtmäßiger Besitz der „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ mit Gerhard Fieseler als Geschäfts- und Betriebsführer an der Spitze. Die GmbH wurde zwar anfangs durch das RLM, das einen höheren Gesellschaftsanteil besaß, dominiert, aber Fieseler konnte nach weiteren Verhandlungen durch die Wahrnehmung seines Optionsrechts im Oktober 1940 die Mehrheit des Kapitals erlangen. Damit hatte er das angestrebte Ziel, „Herr im eigenen Haus zu bleiben“ erreicht.245 Das RLM, das mit dieser Entwicklung offensichtlich nicht gerechnet hatte, unterließ schließlich weitere Maßnahmen, wie z.B. eine erneute Kapitalaufstockung, um größe- ren Einfluss auf die Firma zu nehmen. Das Unternehmen blieb jedoch in der Verpflichtung, für das RLM Flugzeuge zu produzie- ren. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll untersucht werden, inwiefern die Erfüllung der Forderungen des RLM auf persönliches Engage- ment Gerhard Fieseler in seiner Position als Betriebsführer eines „Nationalsozialistischen Musterbetriebes“ zurückzuführen war, und er durch sein Handeln das NS-Regime stärkte.

245 Vgl. S. 47 dieser Arbeit, Zitat Goebel.

74 Rechtliche Grundlagen der Arbeitsverhältnisse im Fieseler-Werk Mit Aufnahme der Produktion in den neu errichteten Werken II und III trat eine Veränderung in der Betriebspolitik des Fieseler- Unternehmens ein. In Konsequenz der rasanten Vergrößerung der Firma und der damit verbundenen Ausdehnung der Belegschaft auf mehrere tausend Personen war es Ziel der neuen Betriebspoli- tik, sowohl ein engeres Verhältnis zwischen Gerhard Fieseler und seinen Betriebsangehörigen zu begründen als auch die Arbeitslei- stung bzw. -moral der Arbeiter und Angestellten mittels sozialer Einrichtungen und einer angenehmen Gestaltung des Arbeitsum- feldes zu steigern. Mit der Ernennung der Firma zum „Nationalso- zialistischen Musterbetrieb“246 im Frühjahr 1938 wurde dieser be- trieblichen Sozialpolitik seitens des NS-Regimes Anerkennung ge- zollt. Bezeichnenderweise wird noch im Urteil der Spruchkammer in diesem Zusammenhang – ohne die ideologischen Gesichtspunkte der Fieseler-Betriebspolitik zu hinterfragen – von „vorbildlichen“ Leistungen Gerhard Fieselers gesprochen.247 Im Folgenden wird die Sozialpolitik des Dritten Reiches und ihre Auswirkung auf das Fie- seler-Werk näher untersucht.

Die Fieseler-Betriebsge- meinschaft während des Betriebsappells im Okto- ber 1938

246 Hierauf wird im Kapitel „Betriebsführer eines Nationalsozialistischen Muster- betriebes“ dieser Arbeit noch eingegangen. 247 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 70r (Urteilsbegründung der Spruchkammer).

75 Betriebliche Sozialpolitik im Dritten Reich In der nationalsozialistischen Terminologie wurde Gerhard Fieseler als „Betriebsführer“ und die Fieseler-Werksbelegschaft als „Gefolg- schaft“ bezeichnet. Hiermit sollte die Verbundenheit zwischen Ar- beitgeber und Arbeitnehmer zum Ausdruck gebracht werden. Zu- sammen bildeten sie eine stilisierte Gemeinschaft, in der es nach nationalsozialistischer Ideologie keine sozial- bzw. klassengesell- schaftlich motivierte Interessensgegensätze geben durfte. Dies be- deutete jedoch keineswegs, dass seitens des NS-Regimes die in der Realität bestehende Ungleichheit von Arbeiterschaft und Industri- ellen geleugnet wurde. Die Existenz sozialer und wirtschaftlicher Gegensätze wurde als dynamisches Element der Gesellschaftsent- wicklung im Dritten Reich anerkannt, deren Überwindung durch Bildung einer alles umfassenden Volksgemeinschaft das ausdrück- liche Ziel des nationalsozialistischen Gesellschaftsplans war.248 Bereits in dem Aufruf der Reichsregierung an das deutsche Volk vom 1. Februar 1933 wurde dieser Intention Ausdruck verliehen: „So wird es die nationale Regierung als ihre oberste und erste Auf- gabe ansehen, die geistige und willensmäßige Einheit unseres Vol- kes wieder herzustellen. [...] Wir Männer dieser Regierung fühlen uns vor der deutschen Geschichte verantwortlich für die Wiederherstel- lung eines geordneten Volkskörpers und damit für die endgültige Überwindung des Klassenwahnsinns und Klassenkampfes. Nicht einen Stand sehen wir, sondern das deutsche Volk, die Millionen

248 Vgl. Bons, Joachim: Nationalsozialismus und Arbeiterfrage. Zu den Motiven, Inhalten und Wirkungsgründen nationalsozialistischer Arbeiterpolitik vor 1933, Pfaffenweiler 1995 (Studien und Materialien zum Rechtsextremismus, Bd. 4), S. 95 ff. Bons betont ebenfalls, dass die Existenz sozialer und wirtschaftlicher Ge- gensätze durch den Nationalsozialismus nicht geleugnet wurde. Sie galten ihm als grundsätzlich naturhaft gegeben und reflektierten die individuellen Unter- schiede der Menschen, die im Interesse aller Beteiligten (der Volksgemeinschaft) und der gesamten Nation jedoch ausgleichbar waren. Die Überwindung des die Nation und die Wirtschaft schädigenden Klassenkampfes sollte auf Grundlage beiderseitigen Einvernehmens, einer gütlichen Einigung erfolgen. Die Formel hierzu lautete: „Wenn man jedem Teil das zuerkennt, was ihm zukommt und als Maßstab dafür die Leistung bewertet.“ (Der Angriff vom 8.1.1931, zitiert nach ebd., S. 96). Oder anders gesagt: Jedem das Seine (dem deutschen Arbeiter was des deutschen Arbeiters und dem deutschen Unternehmer, was des deutschen Unternehmers), so die soziale Kampfparole, mit der das NS-System die soziale Frage durch Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit lösen wollte. Vgl. hierzu auch Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 9. Spohn spricht in diesem Zusammenhang von der Überwindung der anerkannten Klassen- und somit Interessengegensätze.

76 seiner Bauern, Bürger und Arbeiter, die entweder gemeinsam die Sorgen dieser Zeit überwinden werden oder ihnen sonst gemeinsam unterliegen.“249 Allerdings hatte der Begriff „Gemeinschaft“ auf- grund seiner primär ideologisch-funktionalen Ausrichtung eine negative Akzentuierung. Gemeinschaft im nationalsozialistischen Sinne bedeutete, die deutsche Bevölkerung auf die NS-Ideologie einzuschwören und sie der totalen Kontrolle von Staat und Partei zu unterwerfen. Für das NS-Regime war die Verwirklichung der Volksgemeinschaft insofern von zentraler Bedeutung, weil sie den entscheidenden Ga- rant für die Absicherung der diktatorischen Macht darstellte. Kra- nig betont in diesem Zusammenhang, dass es den Nationalsoziali- sten in ihrer Sozialpolitik programmatisch weniger um eigentlich sozialpolitische Zielvorstellungen ging, sondern diese den zentralen politischen Zielen untergeordnet wurden.250 „Beherrschend war im Inneren die Formierung der Bevölkerung im Freund-Feind-Denken, die Ausgrenzung und Eliminierung der politischen Gegner des Natio- nalsozialismus (insbesondere die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeitnehmerschaft) und der jüdischen und son- stigen rassistisch verfolgten Bevölkerungsgruppen.“251 Trotz ver- schiedener sozialpolitischer Verbesserungen durch das NS-Regime, wie z.B. die mit stark propagandistischem Hintergrund erfolgte Deklarierung des 1. Mai als „Tag der nationalen Arbeit“ im Jahre 1933 oder das Einführen weiterer bezahlter Arbeitstage auf Drän- gen der Deutschen Arbeitsfront (DAF)252 im Jahre 1938, darf des- halb nicht übersehen werden, dass vordergründig immer das Ziel

249 Aufruf der Reichsregierung an das deutsche Volk vom 1. Februar 1933, zitiert nach: Wollstein, Günter (Hg.): Quellen zur deutschen Innenpolitik 1933-1939, Darmstadt 2001 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe, Bd. XXXIII), S. 30-34, hier S. 32 u. 33/34. 250 Vgl. Kranig, Andreas: Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik un- ter dem Nationalsozialismus [wie Anm. 64], S. 138. 251 Ebd. 252 Vgl. Recker, Marie-Luise: Deutsche Arbeitsfront (DAF), in: Benz, W., Graml. H. u. Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus [wie Anm. 19], S. 418 u. 419. DAF ist die Abkürzung für „Deutsch Arbeitsfront“. Am 10.5.1933 als angeschlossener Verband der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei gegründet, war sie der Verband aller „schaffenden Deutschen“ und hatte etwa 23 Millionen Mitglieder. Näheres hierzu im Kapitel „Betriebsführer eines Nationalsozialistischen Musterbetriebes“ dieser Arbeit.

77 der Stabilisierung des NS-Systems verfolgt wurde.253 Ein Beleg für den absoluten Willen der Nationalsozialisten zur rücksichtslosen Verwirklichung ihrer Ziele, war das Einhergehen der NS- Sozialpolitik mit Rechtsbrüchen und Gewalttaten, die sich auch auf anderen Gebieten als charakteristisch für die Politik des NS- Systems erweisen. Hiervon zeugen zahlreiche Beispiele. Zu nennen sind in diesem Kontext u.a. für die Zeit der Herrschaftssicherung des NS-Regimes die gewaltsame Zerschlagung der Gewerkschaften und die Ausschaltung der nationalsozialistischen „Linken“ um Ernst Röhm im Jahre 1934 sowie die Zwangsrekrutierung und Ausbeutung ausländischer Arbeiter bis hin zu der Verwirklichung der Strategie „Vernichtung durch Arbeit“ in den Konzentrationsla- gern während des Zweiten Weltkrieges.254 Arbeitnehmer, die sich gegenüber dem NS-System als nicht „gefolgschaftstreu“ erwiesen oder nur in den Verdacht der Untreue gerieten, waren der ständi- gen Gefahr ausgesetzt, durch entsprechende Maßnahmen gemaß- regelt zu werden. Hierzu zählten neben der Einführung innerbe- trieblicher Überwachungs- und Bespitzelungsinstitutionen, die meist in engem Kontakt mit der Gestapo arbeiteten, die zwangswei- se Dienstverpflichtung von Arbeitern, polizei- oder strafgerichtliche Verfolgung, die Einberufung in die Wehrmacht oder die Einweisung in Arbeitserziehungs- und Konzentrationslager. Diese Verfahren waren gängige Methoden der NS-Herrschaftspraxis, die auch in den Fieseler-Werken ihre Anwendung fanden.255 Eine Problematik der nationalsozialistischen Sozialpolitik bestand darin, das Zusammenspiel zwischen Arbeitnehmern und Industrie, um deren Unterstützung sich die Nationalsozialisten bereits vor 1933 bemüht hatten und auf die sie im Rahmen ihrer außenpoliti- schen Ziele – insbesondere im Hinblick auf Aufrüstung und Vorbe- reitung des Krieges zur Revision der Folgen des Ersten Weltkrieges und Gewinnung von Lebensraum im Osten – angewiesen waren, so zu gestalten, dass beide Seiten zufriedengestellt werden, keine Un-

253 Vgl. Kranig, Andreas: Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik un- ter dem Nationalsozialismus [wie Anm. 64], S. 138. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Leistungen der Organisationen „Kraft durch Freude“ (KdF) und Schönheit der Arbeit als Unterorganisation der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) hingewiesen. Vgl. hierzu Kapitel „Das Ziel ist Leistungssteigerung – Die Be- triebsgemeinschaft im Fieseler-Werk“ dieser Arbeit. 254 Vgl. ebd. 255 Vgl. Kapitel „Steigerung der Arbeitsleistung durch Leistungsüberwachung und Unzufriedenenbetreuung“ dieser Arbeit.

78 zufriedenheit aufbrach und dadurch keine latente Gefahr für das NS-Herrschaftssystem bestand. So hätte einerseits ein Fortbeste- hen von unabhängigen Arbeitnehmerorganisationen neben der Gefährdung des NS-Systems insbesondere zu Reibungspunkten mit der Wirtschaft geführt und damit den Aufrüstungsprozess ge- stört oder sogar unmöglich gemacht. Auf der anderen Seite hätten zu große Eingriffe in die Grundstruktur von Arbeit und Wirtschaft ebenfalls Probleme und Verzögerungen bei der Realisierung der übergeordneten nationalsozialistischen Zielsetzungen bedeutet. Die Lösung dieser Problematik, einerseits die Produktionsziele der Rü- stungs- und Kriegswirtschaft zu erreichen und andererseits, die Arbeitnehmer nicht durch zu hohe Anforderungen zu demoralisie- ren, erwies sich als eine ständige Gratwanderung. Die Realisierung der Aufrüstung war das beherrschende Motiv, das die Nationalso- zialisten in ihren sozialpolitischen Entscheidungen dominierte und nicht eigenständige sozialpolitische Vorstellungen zum Wohle des Arbeiters. Aus nationalsozialistischer Sicht schien ein Ausweg aus der oben beschriebenen Problematik mit der Begründung der sog. „Betriebs- gemeinschaft“ gefunden worden zu sein. In Anlehnung an die sozial- und gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen der Nationalsoziali- sten mit der ideologisch überhöhten Idee der Volksgemeinschaft als Mittelpunkt wurde mit der Betriebsgemeinschaft auf betrieblicher Ebene dem Bestreben der NS-Führung entsprochen, einen engeren Kontakt zwischen Betriebsführern und Betriebsangehörigen zu konstituieren. Arbeitnehmer und Arbeitgeber wurden hierdurch über die im Arbeitsleben angelegten Interessengegensätze hinweg zu einer Einheit zusammengefasst, die sich im Kampf mit den in- neren und äußeren Feinden zu bewähren hatte.256 Mason bezeich- net die Betriebsgemeinschaft in arbeitsrechtlicher, sozialpolitischer und ideologischer Hinsicht als Kern der neuen Ordnung zur Ausge- staltung der Arbeitsbeziehungen im Dritten Reich.257 Rechtlich ge- sehen basierte sie auf dem „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (AOG) vom 20. Januar 1934, „eines der umfassendsten und konsequentesten Texte nationalsozialistischer Gesetzgebung, ein Gesetz jedoch, das von der Ideologie und den Organisationen der

256 Vgl. Kranig, Andreas: Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik un- ter dem Nationalsozialismus [wie Anm. 64], S. 139. 257 Vgl. Mason, Timothy W: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 41.

79 Bewegung kaum direkt beeinflusst wurde.“258 Das AOG bildete die Grundlage der betrieblichen Arbeits- und Sozialpolitik im Dritten Reich. Die Intention dieses Gesetzes lag jedoch weniger in der posi- tiven Bestimmung der jeweiligen Rechte und Pflichten von Unter- nehmer und Beschäftigten, als in der Beantwortung der Frage nach einer verbindlichen Ordnung, wie sich zukünftig die Zusammenar- beit zwischen Unternehmer und Mitarbeitern gestalten sollte.259 Innerhalb der Betriebsgemeinschaft herrschte eine strenge Hierar- chie. An ihrer Spitze stand gemäß dem „Führerprinzip“ der Unter- nehmer als „Betriebsführer“. Die Betriebsangehörigen hatten ihm als seine „Gefolgschaft“ Treue und Gehorsam zu leisten. Dieses Verhältnis wird im § 2 AOG entsprechend verankert. Dort heißt es: „(1) Der Führer des Betriebes entscheidet der Gefolgschaft gegenüber in allen betrieblichen Angelegenheiten, soweit sie durch dieses Ge- setz geregelt werden. (2) Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten“260 Mit dieser auf „Treue und Fürsorge“ beruhen- den Gemeinschaft war nach nationalsozialistischer Ansicht „mit der rein materialistischen Auffassung der Beziehungen zwischen Arbeit- gebern und Arbeitnehmern gebrochen und das Arbeitsverhältnis auf eine neue Ebene gestellt worden.“261 Nach Interpretation der DAF waren mit dem durch das AOG verliehenen Führungsrecht an den Betriebsführer desgleichen besondere fachliche und moralische Anforderungen gestellt, die, an das Verantwortungsbewusstsein und die Ehre des Unternehmers appellierend, dessen Machtspiel- raum zugleich Grenzen setzten: „Führer sein heißt, Wegbereiter, Vorkämpfer, Vorbild sein, heißt Kameradschaft über Gemeinschaft pflegen, Menschen erziehen und formen und bessern, heißt vorwärts wollen, nicht rückwärts schauen. (...) Das aber ist ganz etwas ande- res als Herrentum und Herrendünkel. Nicht Schimpfworte, Gepolter,

258 Ebd. Zur Entstehung und Auswirkung des AOG vgl. ebd., S. 30-45, insbeson- dere S. 39 ff.; Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 9-125 u. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 93 ff., zur Rolle und zum Einfluss der Industrie S. 100 ff. 259 Vgl. Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 15. 260 § 2 AOG, zitiert nach: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 1. Teilband: 1933-1939 (Ausgewählte Quellen zur deut- schen Geschichte der Neuzeit, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. XXXIX), S. 46. 261 Seldte, Franz: Sozialpolitik im Dritten Reich 1933-1938, München/Berlin 1939, S. 17.

80 Rücksichtslosigkeit, nicht kühle Reserve, Hochmut, Unnahbarkeit und Standesrücksichten eingebildeter `Herren´ schaffen die Gemein- schaft in den Betrieben, sondern nur wahres Führertum, gepaart mit einem gütigen und warmen Herzen für jeden einzelnen Volksgenos- sen und Mitarbeiter.“262 Mit diesem Zitat wird neben der ideologi- schen Verbundenheit des Betriebsführers mit dem Nationalsozia- lismus zugleich der Auffassung vom neuen Bild des Unternehmers im NS-Staat Ausdruck verliehen, das von einer starken „sozialisti- schen“263 Komponente geprägt war. Bons bemerkt hierzu treffend: „Im nationalsozialistischen Unternehmerideal verbanden sich deut- lich die Merkmale eines strikt zweckrational kalkulierenden und handelnden Wirtschaftsführers mit den Eigenschaften eines sozial befriedenden und motivierenden Gefolgschaftsführers, die unüber-

262 Arbeitertum (Amtliches Organ der Deutschen Arbeitsfront) F. 15 vom 1. No- vember 1934, S. 28, zitiert nach: Heuel, Eberhard: Der umworbene Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter im Nationalsozialismus 1933-1935, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 507. 263 An dieser Stelle sei auf die nationalsozialistische Prägung des Begriffs „Sozia- lismus“ hingewiesen. Vgl. hierzu Bons, Joachim: Nationalsozialismus und Ar- beiterfrage [wie Anm. 248], S. 152 ff. In der nationalsozialistischen Ideologie findet sich der Begriff des „nationalen Sozialismus“, der sich scharf gegen den marxistischen Sozialismus abgrenzt. Im Gegensatz zum marxistischen Sozia- lismus, der nach Auffassung des Nationalsozialismus die Klassen gegeneinan- der aufhetze, führt der nationalsozialistische Sozialismus die Klassen zusam- men und formt das Volk zu einer unlösbaren „Blutsgemeinschaft“. Die im NSDAP-Schrifttum im Kontext der Beschreibung des „nationalen Sozialismus“ genannten sozial-materiellen Aspekte hatten zum Ziel, die sozialen Verhältnisse so zu gestalten, dass sie den deutschen Arbeiter wieder fest an die Nation ban- den und ihm das Bewusstein gaben, für eine bessere Zukunft zu streben und wenn nötig, in letzter Konsequenz auch dafür zu kämpfen. Der „Völkische Be- obachter“ definierte: „Sozialismus läßt sich nicht von Angst, Mitleid oder Humani- tät leiten, sondern Sozialismus ist die staatspolitische Notwendigkeit der Wieder- eingliederung des Arbeiterstandes in die Volksgemeinschaft.“ (Völkischer Beob- achter vom 7.10.1931, zitiert nach ebd., S. 155). Das Schicksal jedes einzelnen wurde unlösbar mit der Volksgemeinschaft verbunden und der Staat sorgte dafür, dass jeder Volksgenosse seinen zugewiesenen Platz erhielt. Sozialist konnte sowohl Betriebsführer als auch Arbeiter sein. Nach Bons läßt sich hier- aus der Kernpunkt des nationalen Sozialismus ableiten, demnach Staat und Nation ihrerseits von jedem Deutschen Pflichterfüllung an seinem naturgegebe- nen Platz und freiwillige Unterordnung unter die berufenen Führer und die ge- meinsamen Zielsetzungen erwarten oder einfordern konnte. In der Fieseler- Zeitschrift heißt es in einem Zitat Leys bezüglich des Begriffs Sozialismus: „So- zialismus ist nicht die Sache kollektiver Verträge, überhaupt ist der Sozialismus keine Sache von Verträgen. Sozialismus ist eine Sache der Ehre, der Anständig- keit und der ordentlichen Gesinnung.“ (zitiert nach Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 24)

81 sehbar sozialpatriarchalische Züge trugen. Erst eine derart `soziale Wirtschaftsführung´ schuf, nach Überzeugung der NSDAP, die be- trieblichen Grundlagen für eine durchschlagende Hebung der Pro- duktion im Interesse aller Beteiligten [...].“264 Diese Aussage Bons wird durch eine Rede von Reichsamtleiter der DAF, Hupfauer, ge- stützt, in welcher er die Führungsqualitäten eines Betriebsführers an bestimmte Voraussetzungen knüpft: „Eine erhöhte Verpflichtung trägt aber innerhalb der Gemeinschaft immer der Führer. So muß sich insbesondere der deutsche Betriebsführer in einer solchen ge- meinschaftsverpflichtenden Einstellung auszeichnen. Er muß durch die Tat beweisen, daß er seine neuen Aufgaben, Führer von Men- schen zu sein, auch wirklich würdig erfüllt. Sie darf sich nicht nur in der kaufmännischen Leitung seines Betriebes erschöpfen, sie muß ihre schönste Seite in der kameradschaftlichen Betreuung der Men- schen haben, die bereit sind, seiner Führung zu folgen. Ich bin der Meinung, daß der nationalsozialistische Betriebsführer, wie ihn die Partei erstrebt und sieht, in Wirklichkeit der in Charakter, Gesinnung und Leistung Beste seines Betriebes sein muß. Es müßte eigentlich so sein, daß er – der Betriebsführer – der wirkliche Garant eines nationalsozialistischen Betriebslebens ist, d. h. es müßte so sein, daß er – was gar nicht durchführbar ist – auch zugleich der politi- sche Obmann der Partei wäre. Wenn wir das erreicht hätten, könn- ten wir sagen, der Betriebsführer ist seiner Aufgabe, Menschen zu führen, endgültig würdig [...] Wenn sie als gesinnungstreue Betriebsführer mit uns als wirklich fanatische Kämpfer der nationalsozialistischen Revolution gehen, dann glaube ich, daß der Wille des Führers bald erreicht wird, dann glaube ich, dann wird in Europa ein gesunder deutscher Arbeits- block entstehen, der dieses Europa und damit die Welt beherrschen wird.“265 Zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Betriebs- gemeinschaft wurde im § 5 AOG die Bildung eines Vertrauenrates festgesetzt. „Dem Führer des Betriebes mit in der Regel mindestens zwanzig Beschäftigten treten aus der Gefolgschaft Vertrauensmän- ner beratend zur Seite. Sie bilden mit ihm und unter seiner Leitung den Vertrauensrat des Betriebes.“266 Dieser als Zugeständnis an die

264 Bons, Joachim: Nationalsozialismus und Arbeiterfrage [wie Anm. 248], S. 69. 265 Zitiert nach: Mason, Timothy W: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 497 u. 498. 266 § 5 (1) AOG, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 46 u. 47.

82 Arbeitnehmer gedachte Passus des AOG, mit dem scheinbar der Forderung nach einer Interessensvertretung der Gefolgschaft ge- genüber dem Betriebsführer Rechnung getragen werden sollte, war vordergründig aus propagandistischen Gründen zur Befriedung der Arbeiterschaft im Zuge der Neuordnung der Arbeitsverhältnisse aufgenommen worden, ohne jedoch einen wirklichen sozialpoliti- schen Zweck zu Gunsten der Arbeiter zu erfüllen. Hiermit wurde das Betriebsrätegesetz von 1920, das den Belegschaften in größe- ren Betrieben Mitspracherecht gegenüber den Arbeitgebern in per- sonellen und sozialen Angelegenheiten, insbesondere auch bei Kündigungen, eingeräumt hatte, aufgehoben. Als eine Vertretung der Beschäftigten im Sinne eines traditionellen Betriebsrates mit entsprechenden Befugnissen gegenüber dem Arbeitgeber kann der Vertrauensrat nicht angesehen werden. Beispielsweise heißt es in der Fieseler-Zeitschrift: „Der Vertrauensrat dagegen ist kein direktes politisches Organ. Er ist unter keinen Umständen mit dem früheren Betriebsrat aus der Systemzeit zu vergleichen, der ein einseitiger Interessenvertreter war. In dem Wort Vertrauensrat liegt ja eigentlich schon das Geheimnis. Das Geheimnis des Vertrauens. Vertrauen ist alles. Gibt es denn etwas Schöneres als in dem herrlichen Bewusst- sein zu leben, Vertrauen zu haben zu einem Menschen, zu einer Idee, nie allein zu sein, alles gemeinsam zu tragen?“267 Als oberste Pflicht wurde dem Vertrauensrat demnach auferlegt, „das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Betriebsgemeinschaft zu vertiefen“.268 In seiner Funktion hatte dieser tatsächlich lediglich eine beratende Aufgabe in sozialpolitischen Angelegenheiten. Damit waren u.a. Maßnahmen gemeint, „die der Verbesserung der Ar- beitsleistung, der Gestaltung und Durchführung der allgemeinen Arbeitsbedingungen, insbesondere der Betriebsordnung, der Durch- führung und Verbesserung des Betriebsschutzes, der Stärkung der Verbundenheit aller Betriebsangehörigen untereinander und dem Betriebe und dem Wohle aller Glieder der Gemeinschaft dienen.“269 Während der Betriebsführer automatisch dem Vertrauensrat ange- hörte und zugleich dessen Vorsitzender war, wurden die restlichen Mitglieder per Listenwahl von der Gefolgschaft gewählt, wobei die Liste vorher vom Betriebsführer und dem Obmann der Nationalso-

267 Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1941, S. 13 u.14. 268 § 6 (1) AOG, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 47. 269 § 6 (2) AOG, in: ebd.

83 zialistischen Betriebszellen-Organisation (NSBO) ausgearbeitet wurde.270 Andere als diese Einheitslisten waren nicht zulässig. Als Kandidat konnte nur aufgestellt werden, wer bestimmte Kriterien erfüllte. Darunter zählte u.a. als Bedingung die Mitgliedschaft in der DAF und die Gewähr, jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten.271 Entsprechend dieser Verordnung setzte sich auch der Fieseler-Vertrauensrat aus besonders systemtreuen Ge- folgschaftsmitgliedern zusammen. In der Fieseler-Zeitschrift Nr. 2 1938 wurden dessen Angehörigen mittels Foto und kurzer Be- schreibung ihrer Aufgaben im Werk vorgestellt.272 Durch die Ab- lichtung der einzelnen Personen in ihrer Uniform wurde die enge Verbundenheit zum Nationalsozialismus hervorgehoben. Mit dem Wilhelm Stahlhut und seinem Nachfolger Hans Keßler gehörtem dem Vertrauensrat zugleich zwei DAF-Betriebsfunktionäre an, die sich als besonders linientreue National- sozialisten erwiesen. Im Ergebnis war der Vertrauensrat nur zusammen mit dem Be- triebsführer in einem eng begrenzten Rah- men handlungsfähig, wobei sich sein „sozi- alpolitisches“ Handlungsfeld auf die aus Arbeitnehmersicht eher belanglose Aufgabe der Festigung bzw. Stärkung der Betriebs- gemeinschaft beschränkte. Betriebsobmann Wilhelm Stahlhut Mit der Gesetzgebung des AOG kam deut- lich zum Ausdruck, wer in den Betrieben das Sagen haben sollte. Hinter der Ideologie Hitlers, durch die Betriebsgemeinschaft den Prozess des Zueinanderführens der „künstlichen Klassen“ inner- halb des Volkes zu erreichen, stand der Anspruch der Industriel- len, endlich wieder „Herr im eigenen Hause“ zu sein.273 Mason be- merkt hierzu: „Ganz gleich, ob die Verwirklichung der Betriebsge- meinschaft durch die persönliche Einwirkung des Betriebsführers im kleinen Maßstab oder aber in der großen Firma durch die kostspieli- gen Raffinessen des Personal-Management gesichert werden sollte,

270 Vgl. § 9 AOG, in: ebd. 271 Vgl. § 8 AOG, in: ebd. 272 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1938, S. 12 u. 13. 273 Vgl. Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 42.

84 setzte sie doch in beiden Fällen die Vormachtstellung des Herrn-im- Hause voraus.“274 Der Betriebsführer war durch das AOG mit umfassender Wei- sungsbefugnis ausgestattet worden, die durch ein Mitspracherecht seitens der Arbeitnehmer nicht mehr eingeschränkt war. Als einzi- ge Auflage wurde dem Unternehmer die Bedingung auferlegt, dass seine Tätigkeit dem Gemeinwohl dienen müsse und stets an diesem gebunden sei. Zu seiner Kontrolle fungierten die „Reichstreuhän- der275 der Arbeit“. Bei den Treuhändern der Arbeit handelte es sich um Reichsbeamte mit eigener staatlicher Verwaltungseinrichtung, zu deren obersten und zugleich allgemeinen Aufgaben laut § 19 AOG die „Erhaltung des Arbeitsfriedens“ zählte.276 Reichstreuhän- der betreuten zunächst einzelne Wirtschaftsgebiete, später wurden sie auch in ganzen Wirtschaftszweigen eingesetzt. Offiziell unter- standen sie dem Reichsarbeitsminister, allerdings wurden die Richtlinien ihrer Tätigkeit mit dem Reichswirtschaftsminister abge- stimmt. Nach Kranig versuchte das NS-Regime mit der als Kontroll- instanz gedachten Einrichtung auf die Arbeitnehmer den Eindruck zu erwecken, dass deren Abhängigkeit aufgrund der gemeinsam verfolgten übergeordneten Zielsetzungen der Volksgemeinschaft gerechtfertigt sei und deshalb auch die Arbeitgeberseite in gleicher

274 Ebd., S. 44. 275 Die Treuhänder der Arbeit führten ab 1. April 1937 die Bezeichnung Reichstreu- händer der Arbeit, vgl. Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksge- meinschaft [wie Anm. 63], S. 94, Anmerkung 92. In dieser Arbeit werden beide Begriffe verwendet, ohne damit einen bestimmten Zeitabschnitt zu verbinden. 276 Zu näheren Informationen der Treuhänder der Arbeit vgl. ebd., S. 274 ff. Diese waren zunächst auf Basis des „Gesetzes über Treuhänder der Arbeit“ vom 19. Mai 1933 kommissarisch als „Hüter der Arbeitsverfassung“, in dem sich „Wille und Autorität des Staates“ verkörperte, eingesetzt worden; ihre umfassende Re- gelung fand diese Einrichtung schließlich mit dem AOG, vgl. ebd., S. 274. Zur Stellung und zu den Aufgaben vgl. Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, zweiter Abschnitt: Treuhänder der Arbeit, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 50-53. Mason umschreibt die Aufgaben der Treuhänder wie folgt: „Das Treuhänderamt war als eine Art sozialpolitische Letztinstanz gedacht, dessen gesetzlich verankerte Aufgaben allein darin bestanden, angekündigte Massenentlassungen von Arbei- tern auf ihre Notwendigkeit hin zu überprüfen, die Einhaltung der Mindestar- beitsbedingungen zu überwachen, wie sie in den vom neuen Regime übernom- men Tarifverträgen festgelegt waren, und diese allmählich zu überarbeiten und als Tarifordnungen neu zu erlassen, die Bildung und Geschäftsführung der Ver- trauensräte zu kontrollieren und die Reichsregierung laufend über die sozialpoli- tische Entwicklung zu informieren“, vgl. Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 42.

85 Weise entsprechend in die Pflicht genommen werde. In der Realität wurde aber eine bewusste Zurückhaltung seitens der Treuhänder gegenüber der Industrie geübt, da aus ideologischen Gesichts- punkten eine dauerhafte und somit gesinnungsmäßige Aufhebung der Klassengegensätze nur durch die Betriebsgemeinschaft selbst erwachsen konnte und nicht durch eine umfassende staatliche Kontroll- und Ordnungstätigkeit. Die Reichstreuhänder verfügten ohnehin nur in begrenztem Maße über entsprechende Sanktions- maßnahmen, um Fehlverhalten zu ahnden. Von der zu diesem Zweck vorgesehenen Strafbestimmung des § 22 AOG wurde nur selten Gebrauch gemacht. Kam es beispielsweise aufgrund von Lohnsenkungen durch den Unternehmer zur „Störung des Arbeits- friedens“ und somit zum Einschreiten der Treuhänder, begnügten sich diese in der Regel mit der Wiederherstellung der Löhne gemäß den vorgeschriebenen Tarifen, sahen jedoch von weiteren Schritten gegenüber dem Betriebsführer, etwa einer Strafanzeige, ab.277 Auch bezüglich der Einhaltung der Arbeitsdisziplin in Betrieben spielten die Treuhänder mit ihren Kraft AOG verliehenen Sanktionsmög- lichkeiten eine eher untergeordnete Rolle. Vor allem der Betriebs- führer selbst war für Ruhe und Ordnung in seinem Unternehmen verantwortlich. Seine Straf- und Disziplinargewalt über die Gefolg- schaft war so weitreichend, dass sie zur Unterbindung individueller Disziplinlosigkeit ausreichte.278 Für kollektive Aktionen war ohne- hin nicht der Arbeitgeber oder der Treuhänder, sondern die Gestapo zuständig.279 In innere Angelegenheiten der Betriebsge- meinschaft sollten somit die Reichstreuhänder möglichst selten und die DAF überhaupt nicht eingreifen. Nach Spohn ging die größte disziplinierende Wirkung jedoch nicht vom Unternehmer oder den staatlichen Stellen aus, vielmehr be- herrschte die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes die Arbeiter und machte sie dem Diktat des Betriebsführers weitgehend gefü- gig.280 Mason hebt ebenfalls den Zusammenhang zwischen der durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten Massenarbeitslosigkeit in Deutschland Anfang der 30er Jahre und dem „erfolgreichen“

277 Vgl. Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 338. 278 Vgl. hierzu . § 27 u. § 28 AOG, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 53 u. 54. 279 Vgl. Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 339. 280 Vgl. ebd.

86 Konzept der Betriebsgemeinschaft hervor. „Die Massenarbeitslosig- keit war es auch, die es den Gewerkschaften unmöglich machte, den politischen Überfall abzuwehren, der den Arbeitgebern eine perma- nente und ungeteilte Beherrschung des Arbeitsmarkts zu garantieren schien. Die totale Betriebsgemeinschaft hat dort ihre beste Lebens- chance, wo der Arbeiter jeden Tag Angst vor der Entlassung haben muß oder die Anstellung als Befreiung aus jahrelanger Verelendung, aus Hunger und Not erfährt.“281 Um der vermeintlichen Überwachung der Arbeitgeber durch die Reichstreuhänder Nachdruck zu verleihen, wurde als weitere In- stitution eine neue Gerichtsbarkeit gegründet, die sog. „soziale Eh- rengerichtsbarkeit“. Untersuchungs- und Anklagebehörde dieses Gerichts waren die Treuhänder der Arbeit. Allerdings diente diese Ehrengerichtsbarkeit nicht – wie man vermuten könnte – dem Schutz des in seiner Ehre verletzten Arbeitnehmers bzw. in den seltensten Fällen dem Schutz des Arbeitgebers. Vielmehr sollte hiermit die Durchsetzung der auf der Betriebsgemeinschaft beru- henden Pflichten und Ziele gewährleistet werden. „Da die Ehrenge- richtsbarkeit die Erfüllung der aus der Betriebsgemeinschaft ent- springenden Pflichten sichern will, so unterstehen ihr nur, grund- sätzlich aber auch alle Angehörigen der Betriebsgemeinschaft.“282 Und zum Zweck und Wesen der Ehrengerichtsbarkeit wurde aus- geführt: „Aufgabe des Staates ist es, alle Beteiligten zu dieser Ge- sinnung [gemeint ist die Gemeinschaftsgesinnung, d.V.] zu erziehen, grobe Verstöße gegen sie aber zu bekämpfen. Ein wesentliches Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe ist die soziale Ehrengerichtsbarkeit. Sie bezweckt also die Erziehung aller Betriebsangehörigen zu ehrenhaf- ter sozialer Gesinnung. [...] Rechtlich ist die soziale Ehrengerichts- barkeit eine Art staatlicher Disziplinargerichtsbarkeit.“283 Der Begriff „soziale Ehre“ war somit ein Ausdruck dessen, inwiefern Betriebsangehörige zu der Erfüllung der sich durch die Betriebs- gemeinschaft ergebenden Aufgaben beitrugen. Dies bedeutete je- doch nichts anderes, als dass der „Betriebsangehörige in stetem Bewußtsein seine volle Kraft dem Dienst des Betriebes zu wid-

281 Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 45. 282 Hueck, Alfred: Deutsches Arbeitsrecht. Ein Grundriss, Berlin 1938, S. 208. Hueck definiert hier auch den Kreis der Betroffenen im einzelnen. 283 Ebd., S. 206.

87 men“284 und „durch seine Arbeit die Betriebszwecke zu fördern“285 hatte. „Ehrenhaft ist der, der seine ihm obliegende Pflicht zur Arbeit nach bestem Können und Vermögen an seinem ihm zugewiesenen Platz erfüllt, der sich seiner Stellung und der ihr entsprechenden Achtung durch sein Verhalten würdig erweist und sich aus seiner ihm auferlegten Verantwortlichkeit stets dem Betrieb widmet und dem Gemeinwohl unterordnet.“286 Ehrwidrig hingegen handelte derjenige, der den „sich aus seiner Stellung im Arbeitsleben ergebenden Pflichten nicht nachkommt“287. Demnach galten Verletzungen der durch die Betriebsgemeinschaft begründeten sozialen Pflichten als Verstöße gegen die soziale Eh- re.288 Bestraft wurden aber lediglich sog. „gröbliche“ Vergehen. Hierzu zählten beispielsweise die böswillige Ausnutzung der Ar- beitskraft von Gefolgschaftsmitgliedern durch den Betriebsführer, Störung des Arbeitsfriedens durch Verhetzung von Gefolgschafts- mitgliedern durch andere oder wiederholt unbegründete Anträge an den Treuhänder durch Betriebsangehörige.289 Die ehrengericht-

284 Pridat-Guzatis, Heinz-Gert: Berufsständisches Strafrecht, Berlin 1937, S. 41, zitiert nach: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 99. 285 Hueck, A., Nipperdey, H.-C. u. Dietz, Rolf: Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit und Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben mit der Verordnung über die Lohngestaltung und der Kriegswirt- schaftsverordnung (Kriegslöhne). Kommentar, München/Berlin 41943, hier Vorbemerkung 4 und 2 zu „soziale Ehrengerichtsbarkeit“, zitiert nach: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 99. 286 Meystre, Fritz: Allgemeine Sozialpolitik, München 1934 (Heerschild-Schriften- reihe „Das Recht der Deutschen Arbeit“, Heft 6), S. 66. Vgl. hierzu auch § 35 AOG, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialge- schichte [wie Anm. 246], S. 56. 287 Hueck, A., Nipperdey, H.-C. u. Dietz, Rolf: Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit und Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben mit der Verordnung über die Lohngestaltung und der Kriegswirt- schaftsverordnung (Kriegslöhne). Kommentar, München/Berlin 41943, hier Vorbemerkung 4 und 2 zu „soziale Ehrengerichtsbarkeit“, zitiert nach: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft [wie Anm. 63], S. 99. 288 Vgl. § 36 AOG, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 56. Im § 35 werden zunächst allgemeine Regeln über die Pflichten genannt, die die soziale Ehre umfasst. „Es handelt sich um Mitgliedschaftspflichten, die aus der Betriebsgemeinschaft entspringen und die begrifflich von den aus dem Einzelarbeitsverhältnis sich ergebenden Pflichten unterschieden werden können, wenn sie sich auch inhaltlich vielfach decken“, Hueck, Alfred: Deutsches Arbeitsrecht [wie Anm. 282], S. 208. 289 Vgl. § 36 AOG, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 56.

88 lichten Strafen reichten von Verwarnung, Verweis, Ordnungsstrafe bis hin zur Aberkennung der Befähigung zum Betriebsführer oder zum Vertrauensmann und der Entfernung vom Arbeitsplatz.290 Mit der sozialen Ehrengerichtsbarkeit wurde noch einmal die her- ausragende Bedeutung der Betriebsgemeinschaft als Kern der be- trieblichen Sozialordnung im Dritten Reich herausgehoben und ihr zentraler Stellenwert rechtlich untermauert. Die Betriebsgemein- schaft sollte hierdurch geschützt und Handlungen, die der be- triebsgemeinschaftlichen Leistung schaden würden, abgewendet werden. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der Betrieb als „Urzelle des sozialpolitischen Aufbaus“291 im NS-Staat eine wichtige gesell- schaftspolitische Funktion zu erfüllen hatte. „Der Betrieb ist eine Einheit. Echte Betriebsführung kann nicht allein mehr die Synthese zwischen menschlicher Eigengesetzlichkeit und betrieblicher Be- dingtheit darstellen, sondern sie muß vielmehr die Formung des Be- triebes zur organischen Einheit, zur Einheit im geistigen Sinne durch- führen. Damit wird der Betrieb das Abbild und Sinnbild des natio- nalsozialistischen Staates im Kleinen. Mit anderen Worten: Der Be- trieb ist kein technisch rationales Gebilde mehr, sondern eine leben- dige, stark symbolhaltige, geistespolitisch geprägte Einheit, die ihren letzten Sinn im Staate hat“, heißt es in einer zeitgenössischen Stel- lungnahme.292 In den folgenden Kapiteln soll der Frage nachgegangen werden, welche Relevanz die NS-Sozialpolitik für die Fieseler-Werke hatte bzw. inwiefern sich diese auch auf die innerbetriebliche Gemein- schaft auswirkte.

290 Vgl. § 38 AOG, in: ebd., S. 57. Beamte und Soldaten unterlagen nicht der so- zialen Ehrengerichtsbarkeit, vgl. § 36 (2) AOG, in: ebd., S. 56. 291 Krause, Arthur Bernhard: Die Arbeitsverfassung im neuen Reich. Gemeinver- ständliche systematische Darstellung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit für die Praxis, Stuttgart/Berlin 1934, S. 18. 292 Starcke, Gerhard: Die Deutsche Arbeitsfront. Eine Darstellung über Zweck, Leistungen und Ziele, Berlin 1940, S. 75. In einer anderen Darstellung heißt es: „Der Betrieb ist im nationalsozialistischen Staat nicht mehr nur eine private Ver- anstaltung, sondern ein lebendiges Glied der sozialen und wirtschaftlichen Kräf- teordnung und als solches teilhaftiger Organismus des ganzheitlichen Organis- mus Volk und Staat“, in: Rössler, Felix: Der Führer des Betriebes, Jena 1935, S. 42, zitiert nach: Spohn, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und innerbetriebliche Herrschaft, in: Sachse, H., Siegel, T., Spode, H. u. Spohn, Wolfgang: Angst, Be- lohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialis- mus, Opladen 1982 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 41), S. 140-208, hier S. 142.

89 Die innerbetriebliche Herrschaftsordnung im Fieseler-Werk Einen interessanten Einblick in die innerbetriebliche Organisation der „Gerhard Fieseler Werke“ sowie die Aufgaben des Betriebsfüh- rers und seiner „Gefolgschaft“ bietet die Betriebsordnung des Fie- seler-Werks. Ihr Erlass geht auf § 26 AOG zurück. Dort heißt es: „In jedem Betriebe, in dem in der Regel mindestens zwanzig Ange- stellte und Arbeiter beschäftigt sind, ist vom Führer des Betriebes eine Betriebsordnung für die Gefolgschaft des Betriebes (§ 1) schrift- lich zu erlassen.“293 Im AOG war darüber hinaus festgelegt, welche Bestimmungen und Regelungen in der Betriebsordnung aufzu- nehmen waren. So musste diese u.a. Arbeitszeit und Pausen re- geln, Zeitpunkt und Art der Gewährung des Arbeitsentgeltes festle- gen, Bestimmungen über die Art, Höhe und Einziehung von Bußen vorsehen und Gründe für eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses auch ohne Einhaltung der Kündigungsfrist beinhalten.294 Das Recht zur Verhängung von Bußen durch den Betriebsführer wurde darüber hinaus in einem gesonderten Paragraphen thematisiert. In § 28 AOG war festgelegt: „Die Verhängung von Bußen gegen die Beschäftigten ist nur wegen Verstoßes gegen die Ordnung oder die Sicherheit des Betriebes zulässig [...] Die Verhängung von Bußen erfolgt durch den Führer des Betriebes oder eine von ihm beauftragte Person nach Beratung im Vertrauensrat (§ 6), wenn ein solcher vor- handen ist.“295 Mit dieser Bestimmung wurde das Recht und die Stellung des Betriebsführers unterstrichen, als maßgebliche In- stanz und Schlichter bei internen Streitigkeiten tätig zu werden und zunächst nicht außerbetriebliche Stellen mit einzubeziehen. Bevor die Betriebsordnung durch die Unterzeichnung Gerhard Fie- selers in Kraft trat, musste sie im Vertrauensrat beraten und vom Reichstreuhänder der Arbeit genehmigt werden. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Änderungen vorgenommen, aber es ist davon auszugehen, dass sie im Kern ihrer Bestimmungen Bestand hatte, und sich die Modifikationen lediglich auf Tarifordnungen oder ähn- liches bezogen.296

293 § 26 AOG, in: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 53. 294 Vgl. § 27 AOG, in: ebd., S. 53 u. 54. 295 Vgl. § 28 (1) u. (2) AOG, in: ebd., S. 54. 296 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1938, S. 9 u. 10. Die hier vorliegende Fassung trat am 1. Oktober 1938 in Kraft und ersetzte die Betriebsordnung vom 1.5.1936 bzw. 1.1.1937, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. III Anlage

90 Im ersten Abschnitt der Betriebsordnung, der insgesamt fünf Arti- kel umfasst, wird die Organisation des Betriebes beschrieben. Darin enthalten sind genaue Angaben über die Aufgaben des Un- ternehmens sowie des Betriebsführers, der Vorgesetzten, des Ver- trauensrates und der Gefolgschaft.

In Artikel 1 heißt es: „Der Betrieb dient dem deutschen Volke, seiner Wirtschaft und Wehrmacht. In ihm bilden Betriebsführer und Gefolgschaft eine Ge- meinschaft, die sich die Erfüllung dieser Aufgabe zum Ziel gesetzt hat. Die Betriebsordnung ist das Bekenntnis aller Gefolgschaftsmitglieder zur nationalsozialistischen Volksordnung; sie stellt das Gesetz des Betriebes dar. Sie bestimmt die Anteilnahme des einzelnen Gefolgschaftsmitgliedes am betrieblichen Leben. Wer sie nicht befolgt, zeigt damit den Willen, der Betriebsgemeinschaft seine Mitarbeit zu versagen und ist nicht würdig, ihr anzugehören.“297 Bereits die ersten Sätze der Betriebsordnung verleihen der Ver- pflichtung der Firma Ausdruck, als Rüstungsbetrieb für das Deut- sche Reich und somit für die Politik des nationalsozialistischen Regimes tätig zu sein. Zwischen dem Betriebsführer und der Beleg- schaft wurde ein außerordentlich enges Verhältnis begründet. Es basierte im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie auf einem ausgeprägten Führer- und Treueprinzip und wurde durch die Be- triebsordnung bestimmt. Diese war somit gleichfalls Ausdruck der nationalsozialistischen Weltanschauung. Sie regelte in diesem Ver- ständnis das betriebliche Leben und schrieb vor, wer zur Betriebs- gemeinschaft gehörte und wer nicht. In Artikel 2 der Betriebsordnung wird die Funktion des Betriebs- führers erläutert. Neben der Verpflichtung, volkswirtschaftliche Werte zu schaffen, wird insbesondere die soziale Fürsorgepflicht des Betriebsführers um seine Belegschaft hervorgehoben. „Der Be- triebsführer ist dem Staat für die Erfüllung der Aufgaben des Betrie- bes und für das Wohl der ihm anvertrauten Gefolgschaft verantwort- lich. Hieraus ergibt sich für ihn die Verpflichtung, mit seinem Betrieb

Betriebsordnung, S. 38. Vgl. hierzu auch Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/12/1939, S. 3. 297 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. III Anlage Betriebsordnung, S. 5.

91 hohe volkswirtschaftliche Werte zu schaffen und ständig für die Be- lange seiner Gefolgschaft besorgt zu sein“298 Zur Erfüllung dieses Auftrages soll der Betriebsführer nach Artikel 3 Vorgesetzte einsetzen, die durch Fachkenntnisse und entspre- chendes soziales Verantwortungsbewusstsein hierfür geeignet sind.299 Innerhalb ihres Aufgabengebietes haben diese für die Ge- staltung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu sorgen und die Anordnungen des Betriebsführers umzusetzen. Darüber hinaus seien sie für die persönliche und fachliche Förderung bzw. Weiter- bildung der ihnen anvertrauten Gefolgschaftsmitglieder verant- wortlich. In Artikel 5 wird noch einmal ausführlich auf die Stellung der „Ge- folgschaft“ innerhalb des Betriebes eingegangen: „Gemeinsam mit dem Betriebsführer dient die Gefolgschaft den Betriebsaufgaben und damit dem allgemeinen Nutzen von Volk und Staat.“300 Neben der Auflistung von Ansprüchen und Rechten, wie z.B. die Benutzung der sozialen Einrichtungen, die Beförderung bei entsprechender Leistung und die Möglichkeit, bei Wünschen oder Beschwerden den Betriebsführer als letzte Instanz anzusprechen, waren die Betriebs- angehörigen mit zahlreichen Verpflichtungen behaftet. An erster Stelle wird „die Pflicht zur Treue gegen den Betriebsführer und seine Mitarbeiter und zur Leistung bester Arbeit“ genannt.301 In insgesamt acht weiteren Punkten werden die Anforderungen an die Gefolg- schaft formuliert. Im Ergebnis beinhalten sie alle das Postulat nach Gehorsam, nach Einbringung in die Gemeinschaft und nach Enga- gement jedes einzelnen in den betrieblichen Fort- und Ausbil- dungskursen. Durch die einzelnen Artikel des ersten Abschnitts war der Fieseler- Betrieb in seinem Wesen bezüglich Aufbau, Organisation und Auf- gaben definiert. In weiteren Punkten beschäftigt sich die Betriebs- ordnung mit Bestimmungen zum Schutz und zur Ordnung der Firma, zum Ein- und Austritt in das Arbeitsverhältnis, zur Arbeits- zeit und zu Lohn- und Gehaltszahlungen.302 Die Betriebsordnung regelte das Arbeitsverhältnis der Belegschaft bis ins Detail und war Grundlage eines eigenen betrieblichen Lebens. Ziel war es, die Ge- folgschaft mit dem Betriebsführer und dem Fieseler-Betrieb zu ei-

298 Ebd. 299 Vgl. ebd. 300 Ebd., S. 6. 301 Vgl. ebd., S. 7. 302 Vgl. ebd., S. 3 (Inhaltsverzeichnis).

92 ner Einheit verschmelzen zu lassen. Auf die Bedeutung der Be- triebsordnung für die Belegschaft wies Gerhard Fieseler während des Betriebsappells am 27. Oktober 1939 ausdrücklich hin: „Es scheint mir bei dieser Gelegenheit angebracht, jedes Gefolgschafts- mitglied daran zu erinnern, dass unsere Betriebsordnung überhaupt die Grundlage des Vertragsverhältnisses zwischen einem jeden ein- zelnen von Ihnen und der Firma darstellt. Ich betrachte es als eine Selbstverständlichkeit, daß jeder die Betriebsordnung des Werkes liest, dem er zugehört und in dem er das Höchste, was der Mensch besitzt, seine Arbeit, gefunden hat und wo er darüber hinaus auch sein Brot verdient“.303 Innerhalb der Betriebsgemeinschaft herrschte eine klar gegliederte Hierarchie, die durch Strukturen nach militärischem Vorbild ge- kennzeichnet war. Die Betriebsordnung weist dabei einen ambiva- lenten Charakter auf. Auf der einen Seite gewährte sie Schutz und soziale Integration, sofern sich der Betriebsordnung untergeordnet wurde. Auf der anderen Seite definiert sie genau, wer zur Gemein- schaft gehören sollte und drohte mit Ausschluss aus dieser oder mit Strafe, falls jemand gegen die Ordnung verstieß oder sie nicht beachtete. Insbesondere auf eine politisch korrekte Einstellung des Arbeitnehmers wurde geachtet. Dies wird beispielsweise durch Ar- tikel 13 „Einstellung und Kündigung“ deutlich. Als Gründe zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses werden folgende drei zuerst genannt: 304 a) Bei nationaler Unzuverlässigkeit und offenkundigem Verstoß gegen die nationalsozialistische Weltanschauung und Wirt- schaftsauffassung, die durch die zuständige Partei- und Staatsdienststellen festgestellt sein müssen. b) Bei Ausschluß aus der DAF aus disziplinären oder ehrenrühri- gen Gründen c) Bei groben Verstößen gegen die Pflicht der Kameradschaft oder gegen die Betriebsordnung

Auftretende Probleme oder Beschwerden von Mitarbeitern sollten nach Möglichkeit – ganz im Sinne des AOG – stets innerbetrieblich geregelt werden und nicht nach außen dringen. Auf dieses Prinzip wird in der Betriebsordnung ebenfalls ausdrücklich hingewiesen:

303 Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/12/1939, S. 3. 304 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019 Bd. III Anlage Betriebsordnung, S. 15.

93 „Es ist oberster Grundsatz, daß alle Betriebsangelegenheiten inner- halb des Betriebes geordnet werden. Vor Anrufung außerbetriebli- cher Stellen muß die Entscheidung des Betriebsführers vorliegen.“305 Um die Ordnung innerhalb der Betriebsgemeinschaft aufrechtzu- erhalten, hatte der Betriebsführer die bereits oben angesprochene Möglichkeit, nach Rücksprache mit dem Vertrauensrat, Bußen festzulegen. „Sie sollen nur bei Verstößen gegen den Kamerad- schaftsgeist, gegen die Sicherheit des Betriebes und vor allen Dingen gegen die Vorschriften der Betriebsordnung verhängt werden. Dieje- nige Gemeinschaft ist gut, in der Bußen selten sind.“306 Als Bußar- ten kamen schriftlicher Verweis, Verweis durch den Betriebsführer vor dem Vertrauensrat und Geldbußen in Betracht.

Ergebnisse Die Stellung Gerhard Fieselers als Betriebsführer war durch die Betriebsordnung ideologisch untermauert worden und folglich aus dem Verständnis der nationalsozialistischen Weltanschauung defi- niert. Das Konzept des Betriebsführers, wie es im „Gesetz zur Ord- nung der nationalen Arbeit“ als wesentlicher Bestandteil herausge- arbeitet worden war, bedeutete nicht nur ideologisch sondern auch faktisch eine Aufwertung des innerbetrieblichen Unternehmersta- tus gegenüber der Belegschaft.307 Durch die ihm zugeordnete Rolle als „Führer“ einer Gefolgschaft, der gegenüber er eine ausgespro- chene Fürsorgepflicht zu erfüllen hatte, ging sein Tätigkeitsfeld über das Maß eines Firmenchefs im herkömmlichen Verständnis hinaus. Inwiefern sich Gerhard Fieseler dieses Auftrags annahm, bleibt noch zu untersuchen. Die straffe Ausrichtung seines Betrie- bes nach dem Führer- und Gefolgschaftsprinzip dürfte für ihn zu- mindest eine einfachere und effektivere Betriebsführung bedeutet haben. Die in der Betriebsordnung erlassenen Bestimmungen und angesprochenen Maßnahmen fanden schließlich in der alltäglichen Praxis des Fieseler-Werks ihre Umsetzung, gerade in dem Bereich der Sozialpolitik. Auf diesen Aspekt soll in den folgenden Punkten näher eingegangen werden.

305 Ebd., S. 6. 306 Ebd., S. 37. 307 Vgl. Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit. Anpassungsbereitschaft und Eigeninteresse von Unternehmern in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft 1936- 1945, Passau 1994, S. 7.

94 Betriebsführer eines „Nationalsozialistischen Musterbetriebes“ Am 30. April 1938 wurde die „Gerhard Fieseler Flugzeugbau GmbH“ als erster Betrieb im Gau Kurhessen zum „Nationalsoziali- stischen Musterbetrieb“ ernannt. Als Auszeichnung erhielt sie die „Goldene Fahne“ der DAF, die in einem feierlichen Rahmen in der Staatsoper in Berlin überreicht wurde. Aufgrund einer Erkrankung Gerhard Fieselers reisten der stellvertretende Betriebsführer Tha- lau und der Betriebsobmann Stahlhut zur Entgegennahme der Ehrung nach Berlin. Bei diesem Festakt waren zahlreiche hohe nationalsozialistische Funktionäre anwesend, u.a. Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der Stellvertreter Adolf Hitlers, Rudolf Heß, Reichsorganisationsleiter Dr. Ley, Reichswirtschaftsminister Funk und andere.308 Der 30. April war bewusst ausgewählt worden, da- mit die ausgezeichneten Firmen am 1. Mai, dem Tag der Nationalen Arbeit, unter der neuen Fahne zum Appell antreten konnten.

Die Fieseler-Werkschar trat am 1. Mai 1938 unter der „Goldenen Fahne“ auf dem Fried- richsplatz in Kassel zum Appell an

308 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 126.

95 Der „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ Die Verleihung des Titels „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ erfolgte im Rahmen des „Leistungskampfes der deutschen Betrie- be“. Dies war ein von der DAF seit 1936/37 jährlich veranstalteter Wettbewerb um die „Bestgestaltung der Arbeitsplätze und -be- dingungen.“309 Neben innerbetrieblichen Wettbewerben, wie z.B. den sog. Unfallverhütungskampagnen, der Förderung des Betriebs- sport oder der Volksgesundheit – diese wurden im Fieseler-Betrieb ebenfalls mit großem Engagement organisiert – waren der „Leistungs- kampf der Betriebe“ und der zunächst für Jugendliche organisierte „Reichsberufswettkampf“310 als regelmäßig durchgeführte Maß- nahmen die bedeutendsten Veranstaltungen der DAF-Betriebs- politik.311 Beide Wettkämpfe basierten auf einem grundlegenden Strukturprinzip der NS-Betriebspolitik bzw. der NS-Politik allge- mein: dem Wettbewerb, verstanden als permanenter Anreiz zur Leistungssteigerung. Vordergründig wurden hierdurch Arbeitneh- mer oder einzelne Gruppen durch bewusst geschaffene Konkur- renzsituationen scheinbar aus der solidarischen Betriebsgemein- schaft herausgehoben, obwohl es auf Grundlage der NS-Ideologie eigentlich keine Individualisierung bzw. kein individuelles Lei- stungsstreben – egal in welchen Bereichen – geben durfte. Letztlich

309 Vgl. Herrmann, Monika: Leistungskampf der deutschen Betriebe, in: Benz, W., Graml. H. u. Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus [wie Anm. 19], S. 567. 310 Der Reichsberufswettkampf sollte die Arbeiterschaft für die nationalsozialisti- sche Leistungsoffensive organisieren. Er wurde seit 1934 jährlich von der DAF und der Reichsjugendführung für Jugendliche organisiert, ab 1938 wurden aber auch Erwachsene zugelassen. Jeweils im März und April wurden nach einheitlichen Richtlinien auf Betriebs-, Kreis-, Gau- und Reichsebene berufsbe- zogene Ausscheidungswettkämpfe durchgeführt, deren Sieger am 1. Mai öffent- lich geehrt wurden. Der Reichsberufswettkampf fand unter den Arbeitnehmern großen Zuspruch, vgl. Heuel, Eberhard: Der umworbene Stand [wie Anm. 262], S. 409 ff. 311 Vgl. zu dieser Thematik insbesondere Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Drit- ten Reich“ [wie Anm. 62], S. 411-434, ders.: Vom „NS-Musterbetrieb“ zum „Kriegs-Musterbetrieb“. Zum Verhältnis von Deutscher Arbeitsfront und Groß- industrie 1936-1944, in: Michalka, Wolfgang: Der Zweite Weltkrieg [wie Anm. 61], S. 382-401 u. Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad: der „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ 1937-1939, in: Peukert, D. u. Reu- lecke, Jürgen (Hrsg.): Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, S. 245-269. An den oben genannten Wettbewerben beteiligten sich die Fieseler-Werke ebenfalls mit gro- ßem Engagement.

96 war jedoch das Ziel dieser Strategie des permanenten Aktionismus, eine stärkere Bindung des einzelnen an die Betriebsgemeinschaft zu erwirken. Einsatz und Leistungssteigerung dienten schließlich der Stärkung der Volksgemeinschaft und beides wurde als solches seitens des NS-Regimes entsprechend propagiert. „Dies galt sowohl beim Berufswettkampf für die Beschäftigten, als auch beim Leistungs- kampf, mit dem die Unternehmer von der Deutschen Arbeitsfront in das Wettbewerbssystem eingebunden werden sollten.“312 Der Leistungskampf der Betriebe hatte zum Ziel, das soziale Enga- gement der einzelnen Firmen auf den Gebieten der Aus- und Fort- bildung, des Arbeitsschutzes, der Verpflegung, der Unterkunft und ähnlichem zu fördern. Bereits 1934/35 hatte die DAF erste Kon- zeptionen hierfür entwickelt und im Kontext mit dem Reichsbe- rufswettkampf einen „sozialen Wettbewerb, der natürlich auch ein wirtschaftlicher sein wird“, angekündigt.313 Mit der von Hitler auf Drängen Leys am 29. August 1936 unterschriebenen Verfügung wurde dieser Plan in die Realität umgesetzt und zu einem Wett- kampf der Betriebe aufgerufen: „Betrieben, in denen der Gedanke der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft im Sinne des Ge- setzes zur Ordnung der nationalen Arbeit und im Geiste der Deut- schen Arbeitsfront vom Führer des Betriebes und seiner Gefolgschaft auf das vollkommenste verwirklicht ist, kann die Auszeichnung `Na- tionalsozialistischer Musterbetrieb´, verliehen werden.“314 In diesem Aufruf kommt deutlich der ursprüngliche Gedanke des Leistungs- kampfes zum Ausdruck, der sich in dem Bestreben nach weltan-

312 Frese, Matthias: Vom „NS-Musterbetrieb“ zum „Kriegs-Musterbetrieb“ [wie Anm. 311], S. 382. 313 Aussage Robert Leys, zitiert nach: Sozialistischer Wettbewerb in Musterbetrie- ben, in: Der Angriff Nr. 83/1935, zitiert nach: Frese, Matthias: Vom „NS- Musterbetrieb“ zum „Kriegs-Musterbetrieb“ [wie Anm. 311], S. 383. 314 Fundamente des Sieges. Die Gesamtarbeit der Deutschen Arbeitsfront von 1933 bis 1940, Berlin 21941, S. 7, zitiert nach: Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad [wie Anm. 311], S. 250. Nach Reulecke ist der Zeitpunkt des Aufrufs im Zusammenhang mit der Durchführung des Vierjahresplans zu se- hen, der die deutsche Wirtschaft und das deutsche Volk auf den Krieg vorbe- reiten sollte. Hitler hatte ihn wenige Tage zuvor in einer Denkschrift entworfen und am 9. September auf dem Parteitag in Nürnberg verkündet. Der Wettbe- werb „Leistungskampf der Betriebe“ sollte der innerbetrieblichen Sozialpolitik einen Anstoß verleihen, um den Arbeitnehmern im Zuge der zu erwartenden steigenden Arbeitsbelastung einen entsprechenden Ausgleich bzw. Erholung am Arbeitsplatz zu ermöglichen, vgl. ebd. Vgl. hierzu auch Smelser, Ronald: Robert Ley: Hitlers Mann an der „Arbeitsfront“. Eine Biographie, Paderborn 1989 (Aus dem Amerikanischen übertragen von Karl und Heidi Nicolai), S. 195.

97 schaulicher Schulung und politischer Beeinflussung der Arbeit- nehmer widerspiegelt. Entsprechend heißt es in den Durchfüh- rungsbestimmungen und Richtlinien des Leistungswettkampfes: „Aus der Erkenntnis der grundsätzlichen Umgestaltung [der deut- schen Wirtschaft, d.V.] [...] muß sich auf der richtigen charakterlichen und gesinnungsmäßigen Grundlage eine positive Einstellung zur nationalsozialistischen Bewegung ergeben: [...] Festzustellen ist da- her: Nimmt der Betriebsführer selbst an Gemeinschaftsschulungen teil? Erleichtert er den Betriebsangehörigen die Teilnahme an der Schulung durch Vergütung des Lohnausfalls, Vergütung von Fahrt- kosten und ähnliche Maßnahmen? Der Betrieb, der ausgezeichnet werden will und werden soll, muß durch eine ständige enge Füh- lungnahme mit der nationalsozialistischen Bewegung unter Beweis stellen, daß er die Ziele des Führers und seiner Bewegung zu seinen eigenen gemacht hat.“315 Ziel des Leistungskampfes war es somit zunächst, die bisher noch nicht geglückte politische Durchdrin- gung der Betriebe mit Hilfe der Unternehmer zu vollziehen. Schon bald kam es aber zu einer Verschiebung der Zielsetzungen. Mit dem Wettbewerb „Leistungskampf der Betriebe“ war der DAF neben dem Reichsberufswettkampf ein weiteres und zudem weit- aus stärkeres Machtmittel zur Verfügung gestellt worden, um auf diejenigen Bereiche der Unternehmen Einfluss zu nehmen, die ihr bisher verschlossen waren. Ley bemerkte hierzu rückblickend im Jahre 1944: „Da wir keine Verordnungen staatlicher Art und keine Gesetze hatten, mußten wir uns andere Machtmittel und Einfluß- möglichkeiten besorgen. So kam ich auf den Wettkampfgedanken. Ich wäre wohl nie auf den Wettkampfgedanken gekommen. Ich hätte wahrscheinlich alles mit Paragraphen geordnet, hätte eine Verfü- gung nach der anderen hinausgejagt.“316 Bereits wenige Tage nach der öffentlichen Verkündung des Leistungskampfes durch Hitler formulierte Ley die Bedeutung dieses Wettbewerbes mit folgenden Worten: „Damit stellen wir die Betriebe unter unsere Anforderungen, schaffen ein neues und wirksames Mittel, um den Totalitätsan-

315 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopa- de)1938, S. 1268 (im folgenden Sopade-Bericht abgekürzt). Wie im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu lesen sein wird, traten in den Folgejahren Forderun- gen nach wirtschaftlicher Leistungssteigerung in den Vordergrund. 316 Reichhardt, Hans-Joachim: Die Deutsche Arbeitsfront. Ein Beitrag zur Ge- schichte des nationalsozialistischen Deutschlands und zur Struktur des totali- tären Herrschaftssystem (ungedruckte Dissertation), Berlin 1956, S.15, zitiert nach: Smelser, Ronald: Robert Ley [wie Anm. 314], S. 194.

98 spruch der Deutschen Arbeitsfront durchzusetzen und jeden Betrieb mit nationalsozialistischer Gesinnung zu erfüllen. Der Führer hat uns eine ungeheure Waffe sozialpolitischer Art in die Hand gegeben – wir wissen sie anzuwenden.“317 Obwohl der Arbeitsfront als Aufgabe das Ziel „der Erziehung aller im Arbeitsleben stehenden Deutschen zur nationalsozialistischen Gesinnung“ und damit insbesondere die „Schulung der Menschen“ gewährt worden war – so der Wortlaut des Abkommens318 zur Rolle der DAF Ende November 1933 – blieb ihr eine Zuständigkeit in der Gestaltung der materiellen Arbeits- und Sozialpolitik des Dritten Reiches, beispielsweise hinsichtlich des Arbeitsrechts, der Arbeits-, Betriebs- oder Tarifordnung, verwehrt. Dieser Zurückweisung wur- de mit folgender Aussage Ausdruck verliehen: „Nach dem Willen unseres Führers Adolf Hitler ist die Deutsche Arbeitsfront nicht die Stätte, wo die materiellen Fragen des täglichen Arbeitslebens ent- schieden, die natürlichen Unterschiede der Interessen der einzelnen Arbeitsmenschen aufeinander abgestimmt werden.“319 Entspre- chend wurde der DAF auch im Gesetzestext des AOG mit der Be- ratung in Arbeits- und Tariffragen als einziger Zuständigkeitsbe- reich lediglich eine randständige Funktion zuerkannt und ihr eine klare Rechtsgrundlage im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechts versagt.320

317 Ley in „Der Angriff“ vom 7.9.1936, zitiert nach: Mason, Thimothy W.: Sozialpo- litik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977, S. 249. 318 Zitiert nach: Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 40 u. 41. Dieses Abkommen war, wie Mason es formuliert, einer der ersten innenpolitischen Verträge zwischen Gruppierungen, die traditionell gegensätzliche Interessen verfolgten. Unterschrieben wurde diese Übereinkunft von Ley, Seldte (Reichsarbeitsminister), Schmitt (Reichswirtschaftsminister) und Keppler (Beauftragter „des Führers“ für Wirtschaftsfragen). Es handelt sich hierbei um einen in der öffentlichen Presse nicht veröffentlich- ten „Aufruf an alle schaffenden Deutschen“ vom 27.11.1933, in dem die künfti- ge Auflösung der eigenständigen Gesamtverbände der Arbeitnehmer zugunsten einer unterschiedslosen Einheitsmitgliedschaft von Arbeitgebern und Arbeit- nehmern in der DAF proklamiert, vgl. Broszat, Martin: Der Staat Hitlers, Mün- chen 141995, S. 192. 319 Auszug aus dem oben genannten Aufruf, zitiert nach Broszat, Martin: Der Staat Hitlers [wie Anm. 318], S. 192. 320 Im Rahmen dieser Arbeit soll diese Problematik nicht weiter vertieft werden. Einen Überblick über diese Thematik gibt Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 89-99 u. Broszat, Martin: Der Staat Hitlers [wie Anm. 318], S. 180-207.

99 Mit dem Abkommen vom November 1933 war der zukünftige Auf- gabenbereich der Arbeitsfront richtungsweisend bestimmt worden. Das Tätigkeitsfeld wurde auf sozialpolitische Maßnahmen außer- halb der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik beschränkt. Im Gegenzug zu diesem Kompromiss, der für die DAF eine Niederlage in ihrem machtpolitischen Kompetenzstreben auf dem Gebiet der Arbeitsgestaltung bedeutete, war ihr bereits wenige Tage vorher, am 17. November, die Bekanntgabe der Gründung der Freizeitor- ganisation „Kraft durch Freude“ zugestanden worden. Zudem sah sich der aus dem Zusammenschluss verschiedener Industriellen- verbände hervorgegangene „Reichsstand der Deutschen Industrie“ unter Führung des Industriellen von Krupp von Bohlen und Hal- bach nach Klärung des Aufgabenkreises der Arbeitsfront dazu be- reit, schon am 28.11. die deutschen Unternehmer zum Beitritt in die DAF aufzurufen und sie zur freudigen Mitarbeit an einer wah- ren Volksgemeinschaft zu ermuntern.321 Trotz dieser für die DAF negativen Entwicklung um die Jahreswen- de 1933/34 versuchte die Organisation in der Folgezeit, ihre Kom- petenzen auf dem gesamten Gebiet der Sozialpolitik auszudehnen, auch wenn eine planmäßige Ausweitung ihres Einflusses auf die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Industrie bis Herbst 1936 ausblieb. Auffällig ist, dass sich die Arbeitsfront wäh- rend dieser Zeit zu einem eigenständigen Verband mit Sonderinter- essen und zunehmend zu einer Vertretung zur Durchsetzung der Arbeitnehmerinteressen entwickelte, obwohl sie ursprünglich als Gemeinschaftsorganisation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern konzipiert worden war.322 So heißt es in der von Ley erarbeiteten und von Hitler unterzeichneten „Verordnung des Führers über We- sen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront“ vom 24. Oktober 1934 u.a.: „Die Deutsche Arbeitsfront hat die Aufgabe, zwischen den berechtig- ten Interessen aller Beteiligten jenen Ausgleich zu finden, der den nationalsozialistischen Grundsätzen entspricht und die Anzahl der Fälle einschränkt, die nach dem Gesetze vom 20. Januar 1934 zur Entscheidung allein den zuständigen staatlichen Organen zu über- weisen sind. Die für diesen Ausgleich notwendige Vertretung aller Beteiligten ist ausschließlich Sache der Deutschen Arbeitsfront. Die Bildung anderer Organisationen oder ihre Betätigung auf diesem

321 Vgl. Broszat, Martin: Der Staat Hitlers [wie Anm.318], S. 193. 322 Näheres zu dieser Entwicklung in: Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 90 ff.

100 Gebiet ist unzulässig.“323 Nicht nur, dass diese Verordnung im deutlichem Gegensatz zum AOG stand, die vagen, aber zugleich kaum verhüllt formulierten Ansprüche der DAF führten zu einer Kontroverse mit der Wirtschaft und den zuständigen Reichsmini- stern. Insbesondere Schacht (Reichswirtschaftsminister) sah in der Rechtsunsicherheit und dem Expansionsbestreben der DAF eine Gefahr für die Wirtschaftsordnung und die Aufrüstung des Dritten Reiches.324 Es trat die Befürchtung auf, die DAF würde sich zu einer Gewerkschaft mit ungeheurer Dynamik entwickeln. In einer weiteren Übereinkunft zwischen Ley, Schacht und Seldte (Reichsarbeitsminister) im März 1935, der sog. Leipziger Vereinba- rung, wurde der Versuch unternommen, diese Kompetenzstreitig- keiten zu regeln.325 Obwohl Ley hier ebenfalls keinen direkten Durchbruch erzielen konnte, erwiesen sich für die DAF die infolge dieser Gespräche begründeten lokalen Arbeitsausschüsse bzw. die in jedem Treuhänderbezirk eingerichteten Arbeits- und Wirt- schaftsräte zur Beratung von sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen als langfristig von Vorteil. Diese Gremien, in denen Be- triebsführer bzw. Wirtschaftskammer und DAF-Funktionäre pari- tätisch vertreten waren, wurden unter Regie der DAF reichsweit aufgezogen und erlangten zunehmend als Mittel der Arbeitsfront Bedeutung, deren Vorstellung vom „nationalsozialistischen Ge- wohnheitsrecht“326 in der betrieblichen Sozialpolitik durchzusetzen. Entgegen der Abmachung, sich in der Hauptsache mit weltan- schaulichen Fragen zu beschäftigen, nahm die DAF über diese Ausschüsse immer größer werdenden Einfluss auf Fragen der Ar- beitsbedingungen der Industrie, wie z.B. Mutterschutz, Dauer des

323 § 7 der Verordnung über Wesen und Ziel der DAF, zitiert nach: Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte [wie Anm. 246], S. 72. Bei dieser Verordnung handelt es sich um den letzten und gleichzeitig erfolglosen Versuch, die mit dem AOG dem Staat übertragene materielle Ar- beits- und Lohnpolitik doch noch in die Hände der DAF zu bekommen. Zweifel- haft ist die Rechtsgültigkeit dieser Führerverordnung, da sie ohne Gegenzeich- nung des zuständigen Reichsministers (Heß hätte die Verordnung als Entwurf vorgelegt werden müssen) erlassen und auch nicht im Reichsgesetzblatt veröf- fentlicht wurde. 324 Vgl. Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 91. 325 Näheres hierzu ebd., S. 91 u. 92. 326 Nach Hitlers Vorstellung sollte die DAF darum bemüht sein, „Gewohnheits- recht“ zu schaffen und so für die Einhaltung nationalsozialistischer Normen im gesetzesfreien Raum des gesellschaftlichen Verkehrs Sorge zu tragen, vgl. ebd. S. 90.

101 Urlaubes, Bezahlung der Feiertage, Unterstützung im Krankheits- fall usw. Bis zur Verkündung des Vierjahresplans im September 1936 hatte sich die Arbeitsfront im Sinne einer ideologisch ver- standenen Überwindung der Klassengegensätze und einer angebli- chen Steigerung der Produktivität zum Verfechter verbesserter Le- bens- und Arbeitsbedingungen in der Industrie entwickelt.327 Im Rahmen der forcierten Aufrüstung, die mit dem Vierjahresplan beschlossen worden war, wurde nun der „Leistungskampf der Be- triebe“ von Ley als notwendiges Mittel zur Straffung der Sozialpoli- tik begründet. Die DAF behielt sich für diesen Wettbewerb sowohl das Recht zum Vorschlag der Betriebe als auch die Erarbeitung der Kriterien und der Verfahrensvorschriften für die Auszeichnung vor. Nach Leys Beurteilungsgrundsätzen musste ein teilnehmendes Unternehmen in diesem Zusammenhang nicht nur bestimmten Prüfsteinen zur Sicherung der sozialen Leistungen, also hinsicht- lich der „Schönheit der Arbeit“, der Freizeitorganisationen, der Be- rufsausbildung oder der Verwirklichung der Betriebsgemeinschaft entsprechen, DAF-Betriebswalter in ihrer Arbeit unterstützen und die Bildung von Werkscharen unterstützen, sondern darüber hin- aus auch die Umsetzung technischer, betriebs- und volkswirt- schaftlicher Grundsätze gemäß der politischen Führung gegenüber der DAF unter Beweis stellen. Hierdurch versprach sich die Ar- beitsfront eine ungeheure Qualitäts- und Produktionssteigerung und eine Ausrichtung der gesamten Wirtschaft im nationalsoziali- stischen Sinne.328 Der für den Wettkampf aufgestellte Forderungs- katalog mit zahlreichen Details ging folglich in seinen Bestimmun- gen weit über den Bereich der bloßen Beurteilung sozialpolitischer Leistungen hinaus. Vielmehr bezog er auch rein betriebswirtschaft- liche Aspekte wie das jeweilige Engagement für die Wehrhaftma- chung und die Erfüllung des Vierjahresplanes, die Leistungen im Bereiche der Devisenbeschaffung, der Ausfuhrsteigerung usw. mit ein.329 Das Konzept „Leistungskampf der Betriebe“ war innerhalb des NS- Herrschaftssystems nicht unumstritten. Der Plan der DAF stieß auf

327 Vgl. ebd., S. 94. 328 Vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 420. Allerdings waren die zu prüfenden Kriterien so hoch, dass eine restlose Erfül- lung kaum möglich war und aus diesem Grund keine zwingende Voraussetzung für eine Auszeichnung war. 329 Vgl. Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad [wie Anm. 311], S. 251.

102 erbitterten Widerstand einiger Reichsminister, insbesondere des Reichswirtschaftsministers Schacht, der Organisation der gewerbli- chen Wirtschaft und verschiedener Gauleitungen, die sich von dem zielgerichteten Vorgehen der DAF übergangen fühlten, ihre Kom- petenzen eingeschränkt sahen und dagegen protestierten. Zudem kamen starke Zweifel auf, ob die Arbeitsfront über ausreichende Kenntnisse zur Beurteilung betriebswirtschaftlicher Fragen verfüge und der Leistungskampf überhaupt für den Vierjahresplan von Nutzen sei. Vielmehr trat die Sorge auf, dass durch Fehlleitung von Kapital für soziale Maßnahmen in den Betrieben und Streitigkeiten um Kompetenzen der Vierjahresplan und somit die Aufrüstung Deutschlands beeinträchtigt werde könnte. Der Unmut und Wider- stand gegen den Leistungskampf äußert sich u.a. im folgenden Schreiben des Reichs- und Preußischen Wirtschaftsministers. „Ich halte die Durchführung des Betriebswettkampfes auf Grund der Ver- fügung des Führers vom 29.8.1936 im gegenwärtigen Zeitpunkt für unmöglich. Die Durchführung des Vierjahresplans und die Aufrüstung verlangen bereits den restlosen Einsatz der gesamten Wirtschaft und damit jedes einzelnen Betriebes. Gerade deshalb muß jetzt unter allen Umständen vermieden werden, daß die Betriebe durch neue Anforderungen, die eine Durchführung des Betriebswettkampfes notwendig mit sich bringen würde, von den vordringlichen, beson- ders staatspolitisch bedeutsamen Aufgaben abgelenkt werden.“330 In weiteren Eingaben an Göring als Verantwortlichem zur Durch- führung des Vierjahresplans und Heß warnten sowohl Mansfeld, Ministerialdirektor im Reichsarbeitsministerium, als auch Schacht vor der Gefährdung des Vierjahresplans und insbesondere vor dem beabsichtigten Zugriff der DAF auf die sozialpolitischen und wirtschaftlichen Belange der Betriebe.331 Da es in der Folgezeit zu keiner Einigung mit Ley kam, verbot Schacht im Februar 1937 sogar öffentlichen Betrieben und Verwaltungen sowie aus öffentli- chen Geldern finanzierten Firmen und allen Rüstungsunterneh- men, am Leistungskampf teilzunehmen.332 Göring enthielt sich

330 Schreiben des Reichs- und Preußischen Wirtschaftsministers an die Geschäfts- gruppe Devisen beim Beauftragten für den Vierjahresplan vom 24. Februar 1937, zitiert nach: Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 479 (Dok. 64). 331 Vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 422. 332 Dieses Verbot wiederholte er am 5. August 1937, als der zweite Durchgang des Leistungskampfes angelaufen war. Es sollte aufrechterhalten bleiben, solange nicht die von Göring bestimmte Mitwirkung der Organisation der gewerblichen

103 lange Zeit einer Stellungnahme. Erst nachdem die Auswahl von den auszuzeichnenden Betrieben bereits weit fortgeschritten war, gab er dem Drängen Leys nach und rief am 4. April 1937 alle Be- triebe zur „freudigen“ Teilnahme am Leistungskampf auf, so dass am 30. April 1937 die ersten 30 Unternehmen zu „NS-Muster- betrieben“ prämiert werden konnten.333 Obwohl sich die Befürch- tung, der Leistungskampf würde Betriebe und insbesondere Rüs- tungsunternehmen dazu animieren, Kapital für soziale Belange zu Lasten der Produktion zu verwenden, nicht bestätigte, blieben die Spannungen zwischen der DAF und den betroffenen Ministerien in den folgenden Jahren bestehen. Fragt man nach der Bedeutung des Leistungskampfes auf betrieb- licher Ebene und seiner seitens der DAF stets propagierten Rele- vanz zur Verbesserung sozialpolitischer Leistungen, insbesondere der angeblichen Förderung des nationalsozialistischen Betriebsge- meinschaftslebens, so müssen die diesbezüglichen Darstellungen der Arbeitsfront über „NS-Musterbetriebe“ und Wettkampfergebnis- se, u.a. in der DAF-Zeitschrift „Arbeitertum“, eher kritisch be- trachtet werden. Aus Sicht der Unternehmer dürfte ein Grund zur Teilnahme am Wettbewerb die berechtigte Hoffnung gewesen sein, infolge der Auszeichnung, mit der Betriebe beispielsweise bei Aus- schreibungen für sich werben durften, Staatsaufträge zu erhalten und von nationalsozialistischen Dienststellen bevorzugt behandelt zu werden.334 Das folgende zusammenfassende Urteil dürfte eine zutreffende Beschreibung der Bedeutsamkeit des Leistungskamp- fes darstellen: „Der durch die DAF [...] eingeführte Leistungskampf der Betriebe findet bei den Arbeitgebern und Arbeitnehmern geteilte

Wirtschaft bei der Prüfung der Betriebe gewährleistet sei. Im Herbst 1937 kam es zu einem entsprechenden Abkommen, vgl. Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad [wie Anm. 311], S. 253. 333 Unter den ausgezeichneten Betrieben von 1937 befand sich mit dem Bochumer Verein für Gussstahlfabrikation nur ein Unternehmen aus dem Bereich der Rü- stungsindustrie. Diese Auszeichnung beruhte nicht zuletzt auf der Initiative des Vorstandsvorsitzenden Walter Borbet, eines engagierten Nationalsozialisten und Förderers der DAF, und dem Bestreben der Arbeitsfront, wenigstens ein Unter- nehmen aus dieser Branche für ihren Leistungskampf vorweisen zu können, vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 423. 334 So heißt es beispielsweise im Sopade-Bericht: „Von den Maggiwerken in Singen wird berichtet, daß die Betriebsleitung sich darum beworben habe, zum Muster- betrieb erklärt zu werden, aber damit kein Erfolg hatte. Der Sozialberater des Be- triebes, Herr Neuert, soll über dieses Resultat sehr erregt gewesen sein, da die Erklärung des Betriebes zum Musterbetrieb eine gute Propaganda für die Maggi- Erzeugnisse gewesen wäre“, vgl. Sopade-Bericht 1937, S. 1284.

104 Aufnahme. Während Betriebe, die mit Staatsaufträgen beschäftigt sind, von selbst alles mögliche tun, um den Anordnungen der DAF- Walter gerecht zu werden, wird in anderen Betrieben, die nur Privat- aufträge haben, nur das Notwendigste durchgeführt, um so den Be- lästigungen der DAF zu entgehen.“335 Daneben gab es eine Anzahl von Betrieben, die nicht mittels des Leistungskampfes um die Gunst des NS-Regimes werben mussten, weil sie als grundstoffver- arbeitendes oder rüstungswichtiges Unternehmen ohnehin von den Nationalsozialisten umworben wurden. Vor allem Vertreter der Großindustrie lehnten die Einsichtnahme in betriebswirtschaftliche Daten ab und sperrten sich trotz zunehmenden politischen und propagandistischen Drucks gegen die Teilnahme am Leistungs- kampf. Noch kritischer heißt es in folgender Stellungnahme: „Die Unternehmer sind davon nicht erbaut, weil sie für hygienische und sonstige Verbesserungen Aufwendungen machen müssen. Nur die Nazi-Vertrauensräte glaubten bei dieser Gelegenheit, endlich die Weisheiten an den Mann bringen zu können, die ihnen auf Kursen und anderen Veranstaltungen eingetrichtert worden sind.“336 Die Arbeitnehmerschaft stand dem „Leistungskampf der Betriebe“ ebenfalls verhalten gegenüber. Für sie bedeutete der Wettbewerb in erster Linie eine verstärkte Leistungsanforderung, der im Ergebnis weder höhere Löhne noch eine günstigere Regelung der Arbeitszeit zur Folge hatte. Gerade diese Aspekte aber, die eine bessere mate- rielle Absicherung betrafen, interessierten die Arbeiter weitaus mehr als die Verleihung der „Goldenen Fahne“ und die damit scheinbare Realisierung der Betriebsgemeinschaft als Ausdruck angeblicher sozialer Gerechtigkeit, wie sie seitens der Nationalso- zialisten propagiert wurde. Wenngleich einzelne soziale Verbesse- rungen in den Betrieben durchaus gern angenommen wurden, sa- hen sich die Beschäftigten andererseits nunmehr doppeltem Druck von Unternehmer und DAF ausgesetzt, wenn beispielsweise die Höhe der Bummelschichten und des Ausschusses für den Erhalt einer Auszeichnung entscheidend wurde.337 „Die Löhne blieben ein- gefroren, oft wurden Akkordsätze herabgesetzt und Arbeitszeiten durch Betriebsappelle, Schulungen und `freiwillige´ Dienste erheblich verlängert. Der Ruf, man wolle keine goldene Fahne, sondern besse-

335 Sopade-Bericht 1938, S. 1270. 336 Sopade-Bericht 1937, S. 1283. 337 Vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 433 u. 434.

105 re Löhne – von den Nationalsozialisten als Relikt marxistischen Klassenkampfdenkens diffamiert – dürfte wohl dem Denken der meisten Arbeiter entsprochen haben.“338 Und an anderer Stelle heißt es im Sopade-Bericht: „Das [die „Goldene Fahne“, d.V.] ist die Aus- zeichnung, durch die sie [die Betriebe, d.V.] der allgemeinen Bevölke- rung immer wieder kenntlich gemacht werden. An und für sich aber ist diese Auszeichnung überflüssig, denn die Gefolgschaften dieser Betriebe sind sowieso durch ihr schlechtes Aussehen genügend ge- kennzeichnet. Die größte Schinderei, die es jemals gab, läßt sich nicht mit der vergleichen, die in den sogenannten Musterbetrieben anzutreffen ist. Da werden die Arbeiter zu Höchstleistungen ange- trieben, damit der Betrieb die Auszeichnung `Musterbetrieb´ erhält, und ist die Höchstleistung erreicht, werden die Akkordsätze ermä- ßigt, so daß die Höchstleistung durch diesen unerhörten Betrug an den Arbeitern zur Regelleistung wird. Daß die Arbeiter darüber em- pört sind und zur härtesten Kritik am Regime sich hinreißen lassen, ist selbstverständlich [...]“339 Um diejenigen Betriebsgemeinschaften, die nicht die Begeisterung für den Leistungskampf aufbrachten, dennoch zur Teilnahme an diesem Wettbewerb zu bewegen, agierte die DAF mit großem Propa- gandaaufwand und mit Drohungen sowie politischem und ökono- mischem Druck. „Ein Beauftragter der DAF war erschienen und erklärte nach einführenden Worten des Betriebsführers die Aufgaben im Leistungskampf. Die ganze Rede war eine Propaganda für den Vierjahresplan. Dieser könne nur durchgeführt werden, wenn die Arbeiter gemeinsam mit dem Betriebsführer Opfer bringen und vor allen Dingen bei ihrer Arbeit höchst rationell und sparsam unter Ausnützung aller Hilfsmittel verfahren. Die Folge dieser Rede war, daß das Antreibersystem im Betrieb noch mehr ausgebaut wurde. Richtig ist, daß auch die Betriebsleitung unter eine strengere Kon- trolle genommen wird. Das Ganze läuft auf eine stärkere Einmi- schung in die Betriebe hinaus.“340 Die von der Arbeitsfront festgelegten Bewertungskriterien im Leis- tungskampf bezogen sich u.a. auf die Arbeitsplatzgestaltung, die Unfallverhütung, die Freizeitorganisationen oder die Berufsausbil- dung. Der Anforderungskatalog wurde jedoch ständig verfeinert,

338 Vgl. Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad [wie Anm. 311], S. 257. 339 Sopade-Bericht 1938, S. 1080. 340 Sopade-Bericht 1937, S. 1283.

106 wobei es zu einer Verschiebung der zu prüfenden Aspekte kam. Während beim Leistungskampf 1936/37 noch sozialpolitische Leis- tungen für die Betriebsgemeinschaft im Vordergrund standen, rückten bereits beim folgenden Durchgang 1937/38 die Verwirkli- chung sozialer Maßnahmen mit dem Ziel der Leistungssteigerung des Betriebes im Rahmen der Steigerung der gesamten Volkswirt- schaft in den Vordergrund. Und beim Leistungskampf von 1940/41 wurden als grundlegende Bewertungsmaßstäbe schließlich Ar- beitsdisziplin, die Zahl der Bummelschichten, ein voll ausgebildeter Zellenapparat der DAF, die Werkscharen und höchstmögliche Leis- tung genannt.341 Ein weiterer, offenkundiger Beleg dafür, dass der Leistungskampf ausschließlich als Mittel der Leistungssteigerung gedacht war, ist der propagierte Leitgrundsatz, unter den der Lei- stungskampf des Jahres 1938/39 gestellt wurde. Während im Vorjahr noch sozialpolitische Verbesserungen in den Betrieben unter starker Betonung „Schönheit der Arbeit“ ausschlaggebend für eine Ernennung waren, sollten nach Vorgabe Leys 1939 nur diejenigen Firmen ausgezeichnet werden, die technisch gut einge- richtet waren und mit der geringsten Zahl an Arbeitskräften die bestmögliche Leistung erzielten.342 Entsprechend unterstrich der Beauftragte für die Durchführung des Leistungskampfes, Reichs- der DAF, Dr. Hupfauer, es dürfe in diesem Jahr kein Pfennig vergeudet werden und die sozialen Leistungen der einzel- nen Betriebe müssten einer klaren Steuerung unterliegen.343 Neben den allgemein zu erfüllenden Bewertungskriterien verlieh die DAF seit dem 1. Mai 1937 zusätzlich sog. Leistungsabzeichen für „vorbildliche Gesundheitsfürsorge“, „vorbildliche Berufserzie-

341 Vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 425. In einer zeitgenössischen Schrift heißt es diesbezüglich: „Viel wichtiger ist es, daß das Gefolgschaftsmitglied das Gefühl hat, daß in dem Betrieb, in dem es arbeitet, wirklich alles mit dem Maßstab der Gerechtigkeit gemessen wird. Wir haben dann auch eine Erklärung dafür, daß in Betrieben, in denen die materielle Lage der Gefolgschaften alles andere als rosig ist, wirkliche Betriebsgemeinschaft herrscht, weil eben die Gefolgschaft weiß, daß sich der Betriebsführer schwere Sorgen darum macht, jedem seiner Gefolgschaftsmitglieder den Arbeitsplatz zu erhalten, und daß das wenige, was der Betrieb abwirft, wirklich gerecht verteilt wird. Im übrigen werden im Leistungskampf nur diejenigen Sozialleistungen ge- wertet, die in ihrem Effekt leistungssteigernd sind“, vgl. Starcke, Gerhard: Die Deutsche Arbeitsfront [wie Anm. 292], S. 128 u. 129. 342 Vgl. Sopade-Bericht 1938, S. 1077 u. 1078. 343 Vgl. ebd.

107 hung“344, „Wohnungsbau“ und „soziale Werksfürsorge“ sowie in den Gauen sog. Gaudiplome für „hervorragende Leistungen“, „vor- bildliche Förderung von Kraft durch Freude (KdF)“345, „vorbildliche Sorge um die Volksgesundheit“ und „vorbildliche Heimstätten und Wohnungen“. Diese Auszeichnungen wurden von der Arbeitsfront als Vorbedingung für die Ernennung zum „NS-Musterbetrieb“ fest- gelegt, auch wenn sie auf Einwand Schachts nur noch als „Orien- tierungen“ bezeichnet werden durften.346 Unternehmen, die am „Leistungskampf der Betriebe“ teilnehmen wollten, mussten sich zunächst formal für die Auszeichnung „NS- Musterbetrieb“ bei der DAF-Gauwaltung bewerben. Die folgende Begutachtung und Auswahl des Betriebes verlief nach einem relativ gleichbleibenden Muster.347 In einem ersten Schritt mussten die Firmen einen Fragebogen der DAF zur Art des Betriebes, Zusam- mensetzung der Belegschaft und Mitgliedschaften in NS- Organisationen ausfüllen. Im Anschluss daran erfolgte die erste

344 Das Leistungsabzeichen für vorbildliche Berufserziehung wurde bereits seit dem Jahre 1934 vergeben. 345 Vgl. Recker, Marie-Luise: Kraft durch Freude (KdF), in: Benz, W., Graml. H. u. Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus [wie Anm. 19], S. 550 u. 551. KdF war eine Unterorganisation der DAF. Sie war die populärste und massenwirksamste Organisation des NS-Regimes. Im Rahmen ihrer Akti- vitäten bot sie ein umfangreiches kulturelles und touristisches Freizeitpro- gramm. Besonders bekannt wurde KdF durch ihre Reiseprogramme für die Ar- beiterschaft nach Madeira, an die italienische Küste und nach Norwegen (Kreuzfahrten). 346 Trotzdem stellte Ley die Leistungsabzeichen weiterhin als zwingende Vorausset- zung für die Ernennung zum Musterbetrieb dar; in der Praxis der Titelvergabe spielten sie indes keine Rolle. Neben der oben genannten Funktion sollten Lei- stungsabzeichen und Gaudiplom der Integration kleinerer oder finanzschwä- cherer Betriebe (im Juni 1938 kam das Leistungsabzeichen für vorbildliche Kleinbetriebe hinzu) dienen, um ihnen eine Auszeichnung nicht von vornherein als unmöglich erscheinen zu lassen. Darüber hinaus wollte die DAF das vor- handene Bestreben nach Auszeichnungen fördern, ohne jedoch den Wettkampf durch eine zu hohe Anzahl von „NS-Musterbetrieben“ in seinem Ansehen zu schmälern. In den Jahren 1937 bis 1939 wurden insgesamt 1716 Leistungsab- zeichen vergeben, vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 425 u. 426. Vgl. auch Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1938, S. 3. 347 Vgl. hierzu Frese, Matthias: Vom „NS-Musterbetrieb“ zum „Kriegs-Muster- betrieb“ [wie Anm. 311], S. 388 ff. Frese bemerkt, dass der Leistungskampf 1936/37 trotz des detaillierten Forderungskatalogs noch recht improvisiert und im Ergebnis nicht gesichert war. Dagegen besaß der Leistungskampf 1937/38 bereits einen geplanten und strukturierten Charakter. Zum Ablauf des Lei- stungskampfes vgl. auch Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahn- rad [wie Anm. 311], S. 263 u. 264.

108 Begutachtung. Die DAF traf anhand ihrer Kriterien, der Stellung- nahme des Treuhänders und des Kreis- oder der NSDAP eine Vorauswahl. Betriebe, die zu diesem Kreis gehör- ten, wurden dann auf Grundlage von Gutachten der Industrie- und Handelskammern hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Zuverlässig- und Würdigkeit überprüft. 348 Diejenigen, die von der Kammer ei- nen negativen Entscheid erhielten, schieden aus dem Wettbewerb aus. Die übrigen wurden in Abhängigkeit von den jeweiligen Gau- Obmännern unter dem Aspekt der „ihnen würdig erscheinenden Betriebe“ dem Gauleiter für das Gau-Diplom vorgeschlagen und konnten somit am Wettbewerb auf Reichsebene teilnehmen. In letzter Instanz entschied schließlich die DAF-Zentrale, welches die- ser mit dem Gau-Diplom prämierten Unternehmen den Titel „NS- Musterbetrieb“ erhielt. Infolge dieses Ablaufs und der daran gebundenen Recherchen wurden zahlreiche Unterlagen und Erkenntnisse über die Lage in den Betrieben, sowohl über die wirtschaftliche als auch die soziale Leistungsbereitschaft, zusammengetragen. Diese Informationen beinhalteten ebenfalls Urteile über die politische Einstellung der Unternehmer. Diese „reichten von der Feststellung, das Verhältnis eines Betriebsleiters zu seiner Gefolgschaft sei das denkbar idealste, über die bereits bedenkliche Information, ein bestimmter Inhaber sei zu sehr noch ein Mann der längst überwundenen Welt und halte mit Starrsinn älterer Leute noch zu gerne an Altem fest, bis hin zur Er- klärung, [...] ein Unternehmer sei politisch als Gegner unserer Bewe- gung und des nationalsozialistischen Staates zu betrachten.“349 In diesem Kontext wurden kritische Äußerungen oder Bemerkungen genauso vermerkt wie die Weigerung, Hitlerreden im Werk zu übertragen, an NS-Feiertagen Flaggen zu hissen oder das Fernblei- ben von Pflichtveranstaltungen der NS-Organisationen. Diese In- formationen waren insofern von Bedeutung, als die Mitgliedschaft des Betriebsführers in der NSDAP oder der Organisationsgrad der

348 Die Auswahl der „NS-Musterbetriebe“ fiel somit nicht einzig in die Kompetenz der DAF. Aufgrund der Forderung Schachts kam es im Herbst 1937 zu einem Abkommen zwischen der Arbeitsfront und den beteiligten Ministerien, welches jedoch von Ley als ein Entgegenkommen an Schacht dargestellt wurde, vgl. Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad [wie Anm. 311], S. 254. Ein entsprechendes Schreiben Schachts an die Reichswirtschaftskammer vom 5. August 1937, das die Problematik beschreibt, ist abgedruckt in: Sopade- Bericht 1937, S. 1282. 349 Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad [wie Anm. 311], S. 264.

109 Gefolgschaft in NS-Organisationen ausschlaggebend für eine Aus- zeichnung sein konnte.

Die Ernennung der Fieseler-Werke zum „Nationalsozialistischen Mu- sterbetrieb“ Das Fieseler-Werk war am 5. Februar 1938 mit dem Leistungsab- zeichen für vorbildliche Berufserziehung prämiert worden und da- durch zur weiteren Teil- nahme am Wettbewerb „Lei- stungskampf der Betriebe“ berechtigt.350 Bereits die Verleihung des Leistungs- abzeichens wurde mit einem innerbetrieblichen Festakt mit Flaggenzeremoniell, Marschmusik und einer Ansprache Gerhard Fie- selers vor geladenen Ehren- gästen sowie den Lehrlingen des Unternehmens gefeiert. Zu den Gästen zählten u.a. Leistungsabzeichen „Nationalsozialistischer Mu- sterbetrieb“ der Gerhard Fieseler Werke. Gauleiter Staatsrat Karl Weinrich, Gauobmann Herbert Köhler, Regierungspräsident von Monbart, der Kommandeur der Wehrwirtschaftsinspektion Gene- ralmajor Stieler von Hueydekampf, der Präsident der Industrie- und Handelskammer Dr. Rudolf Braun und weitere Vertreter von NS-Organisationen und städtischen Gremien.351 Dieser Personen- kreis ist zugleich ein Spiegel der beteiligten Behörden und Kom- missionen, die an der Auswahl der „NS-Musterbetriebe“ mitwirk-

350 Vgl. ebd, S. 262 ff. In den darauffolgenden Jahren erhielt das Fieseler Werk weitere Auszeichnungen: 1. Mai 1940: Gau-Diplom für soziale Einrichtungen (vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/1938, S. 154 u. 155); Leistungsabzeichen für vorbildliche Sorge um die Volksgesundheit (vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1943, S. 3); Anerkennung des Betriebssports durch das Sportamt KDF (vgl. Fieseler- Zeitschrift Nr. 6/7/1941, S. 5); Ernennung zum Kriegsmusterbetrieb (vgl. Fie- seler-Zeitschrift Nr. 3/1943, S. 14). 351 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1938, S. 3. Als weitere Gäste werden hier ge- nannt: Major Dehle, Platte, Standartenführer Marquardt, Standar- tenführer Masurat, Standartenführer Poremba, Gauwerkscharführer Roßberg, Vertreter der städtischen Berufsschule, des Arbeitsamtes, der Arbeitsfront, der Parteigliederungen und Vertreter der Presse.

110 ten. In seiner Rede sprach Fieseler dem Leiter der DAF seinen aus- drücklichen Dank für diese „hohe“ Auszeichnung aus, bevor er auf allgemeinpolitische Themen und die Bedeutung der Lehrlinge im NS-Staat einging.352 Die Ernennung des Fieseler-Werks zum „NS-Musterbetrieb“ erfolgte schließlich nach erfolgreich bestandener Prüfung der von der DAF aufgestellten Kriterien. Am 30. April 1938 empfing Rudolf Heß stellvertretend für Hitler die Abordnungen der einzelnen Firmen in Berlin und nahm die Auszeichnungen vor. Als äußeres Zeichen der Anerkennung durften die Betriebe fortan die „Goldene Fahne“ der DAF führen, eine Hakenkreuzfahne, bei der der weiße Kreis mit einem goldenen Zahnrad umrahmt war.353 Am Leistungskampf des Jahres 1937/38 hatten 80.559 Betriebe teilgenommen. Von diesen wurden 73 Firmen zum „NS-Musterbetrieb“ ernannt.354 Die ausge- zeichneten Betriebe trugen den Titel offiziell für ein Jahr, wurden aber in der Regel in den darauffolgenden Jahren bestätigt. Im Jah- re 1940 gab es insgesamt 297 „NS-Musterbetriebe“ im Deutschen Reich. Das Fieseler-Werk erhielt die Auszeichnung vier Jahre in Folge. Der Festakt in der Berliner Staatsoper wurde zugleich dazu be- nutzt, die Bedeutung dieser Ernennung hervorzuheben und die auserwählten Firmen nachdrücklich auf die nationalsozialistische Weltanschauung einzuschwören. Reichsamtsleiter Dr. Hupfauer führte hierzu aus: „Betriebe, in denen der Gedanke der nationalso- zialistischen Betriebsgemeinschaft auf das vollkommenste verwirk- licht ist, erhalten vom Führer die Auszeichnung nationalsozialisti- scher Musterbetrieb. Lebenshaltung und Lebenssicherung unseres deutschen Volkes verlangen die höchstmögliche Produktionsleistung, verlangen damit auch den höchstmöglichen Krafteinsatz eines jeden Schaffenden höher zu setzen, jedoch weniger, damit der einzelne länger lebt, sondern, damit er vor allen Dingen länger arbeitsfähig [!, d.V.] ist.“355 Und Rudolf Heß gab in einer Rede bekannt: „Das

352 Auszüge aus dieser Rede auf S. 201 u. 202 dieser Arbeit 353 Um die Auszeichnung hervorzuheben, fand sich dieses Zeichen u.a. auch ein- gearbeitet auf dem Briefpapier des Fieseler-Unternehmens wieder. 354 Die Zahlen wurden entnommen aus: Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Drit- ten Reich“ [wie Anm. 62], S. 431. Im Jahre 1938 gab es insgesamt 103 „NS- Musterbetriebe“. Im Leistungskampf 1938/39 nahmen 164.239 und 1939/40 272.763 Unternehmen teil. 1939 erhielten 99 Betriebe die begehrte Auszeich- nung. Vgl. hierzu auch Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/5/1941, S. 3. 355 Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 126.

111 Wunder des Werdens unserer neuen Wehrmacht war nur möglich dank der gewaltigen Arbeitsleistung, die das deutsche Volk in weni- gen Jahren vollbrachte, deren höchster Ausdruck unsere Armeen mit ihren Geschützen, Tanks, Flaks, Flugzeugen und Kampfschiffe unse- rer Marine sind. [...] Im großen wie im kleinen werden wir die sozia- len Errungenschaften weiter ausbauen, werden wir weiter immer mehr Betriebe zu Musterbetrieben umgestalten. Als Symbol des ge- meinsamen Schaffens und der sozialistischen Verbundenheit unse- res Volkes feiern wir morgen den 1. Mai. An seinem Vorabend wer- den zum Symbol des sozialen Fortschritts diese Fahnen den Muster- betrieben des Jahres 1937/38 überreicht. Es sind Fahnen, die dem Siegeszug des deutschen Sozialismus voranleuchten.“356 Bezeichnenderweise brachte Hupfauer mit seinen Worten bereits im Jahre 1938 deutlich zum Ausdruck, dass mit dem Leistungs- kampf der Betriebe weniger – wie Heß es darstellte – der „Siegeszug des deutschen Sozialismus“ eingeläutet werden sollte, sondern hierdurch eine kaum verhüllte Leistungstreiberei zur Erfüllung des Vierjahresplanes etabliert wurde.

Überreichung der „Goldenen Fahne“ am 30. April 1938 durch Rudolf Heß an die Gerhard Fieseler Werke, vertreten durch den stellv. Be- triebsführer Karl Thalau und Be- triebsobmann Wilhelm Stahlhut

356 Ebd., S. 127.

112 Noch schärfer formulierte Hupfauer es 1939. „Es gehe nicht darum, irgendwie wohltätig zu sein, sondern einzig und allein um das Ziel, den Arbeiter einsatzfähig zu halten, damit sein persönlicher Lei- stungseinsatz zur größtmöglichen Leistung führt.“357 Noch am gleichen Tag der Ernennung flogen Thalau und Stahlhut, die die Ehrung entgegengenommen hatten, nach Kassel zurück, um am Abend die Auszeichnung während der alljährlich stattfin- denden Feier des Betriebes zum 1. Mai der Fieseler-Gefolgschaft zu präsentieren. Zu diesem Zweck fand eine Veranstaltung in der Kasseler Stadthalle statt. Neben einem Großteil der Belegschaft waren zahlreiche Ehrengäste aus Partei, staatlichen Behörden und der Wehrmacht gegenwärtig. In dem mit Hakenkreuzfahnen ge- schmückten Saal wurde unter den zum Hitler-Gruß erhobenen Armen aller Anwesenden und unter musikalischer Begleitung die „Goldene Fahne“ zeremoniell hineingetragen.358 Diese Insze- nierung sollte demonstrieren, welch hohes Ansehen und wel- cher Stolz mit der Ernennung verbunden war. In einer anschließenden Rede Thalaus, der den aus gesund- heitlichen Gründen abwesenden Gerhard Fieseler vertrat, ver- säumte es dieser nicht, die Er- nennung zum „NS-Musterbe- trieb“ im Rahmen der Feier zum „Tag der Nationalen Arbeit“ pro- pagandistisch in Szene zu setzen und die Geschlossenheit der Fie- seler-Betriebsgemeinschaft ge- genüber dem NS-System zu be- schwören. In seiner Ansprache betonte er, der 1. Mai sei zum einen jetzt und immer eine Mahnung an das Unglück – so Die „Goldene Fahne“ der Gerhard Fieseler Werke

357 Hupfauer, Th.: Im neuen Leistungskampf der Betriebe, in: Der Vierjahresplan (3. Jg.) 1939, S. 866, zitiert nach: Reulecke, Jürgen: Die Fahne mit dem golde- nen Zahnrad [wie Anm. 311], S. 269. 358 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 128 u. 129.

113 seine Worte –, das durch Hader und innere Zwietracht noch immer über das deutsche Volk gekommen war, zum anderen aber auch ein Gelöbnis, es zu solcher Zerrissenheit in Klassen, Stände und Parteien nie mehr kommen zu lassen. Nachdem er einige Betriebs- angehörige für ihre über fünfjährige treue Gefolgschaft gegenüber dem Betriebsführer mit einem Bild Gerhard Fieselers sowie der silbernen Fieseler-Nadel geehrt und damit noch einmal den Cha- rakter der Betriebsgemeinschaft hervorgehoben hatte, ging er schließlich gegen Ende seiner Rede auf die Bedeutung der Aus- zeichnung zum „NS-Musterbetrieb“ ein. „Unsere Entwicklung als wahrer nationalsozialistischer Betrieb wird fortan besonders beach- tet werden. Bei allem, was wir künftig tun und lassen, muß jeder Einzelne von uns sich nun fragen: Darfst oder mußt Du das als An- gehöriger eines nationalsozialistischen Musterbetriebes? Wir wollen so handeln, wie es der Führer von uns als deutschen Arbeitern er- wartet, dann wird es gut sein. Unserem Führer Adolf Hitler, dem Schöpfer und Einiger des großdeutschen Vaterlandes, ein dreifaches: Sieg Heil!“359

Gerhard Fieseler indes überbrachte seine Glückwünsche an die Gefolgschaft in einem kurzen Telegramm. Dies enthielt folgende Botschaft:

„Meiner Gefolgschaft zur Maifeier 1938 herzlichen Gruß und Dank für Eure Mitarbeit. Es fällt mir besonders schwer, heute am Ehrentag unseres Werkes nicht in Ihrer Mitte sein zu können. So spreche ich Ihnen auf diesem Wege meine Glückwünsche zur hohen Auszeich- nung und die Zuversicht zu weiterer kameradschaftlicher Zusam- menarbeit aus.“360

Bereits in der kurze Zeit später erschienenen Maiausgabe der Fie- seler-Zeitschrift äußerte er sich in einem Aufruf ausführlicher:

„An meine Gefolgschaft! Mit großer Freude kann ich heute meinen Gefolgschaftsmitgliedern bekannt geben, daß unser Werk vom Führer und Reichskanzler an- lässlich des diesjährigen Feiertages der Nationalen Arbeit zum „Na- tionalsozialistischen Musterbetrieb“ erklärt wurde. [...] Mit Stolz er-

359 Ebd., S. 129. 360 Ebd., S. 128.

114 füllt es mich, daß wir damit der erste Betrieb des Gaues Kurhessen sind, der diesen Ehrennamen trägt. Bei aller berechtigten Freude über den errungenen Erfolg wollen wir diese Auszeichnung aber nicht als Abschluß und Krönung unseres Strebens auffassen, son- dern als eine Verpflichtung, die uns zu weiterem Arbeiten in dem bisherigen Geiste anspornen und befähigen soll. (...) Dann werden uns neue Erfolge nicht versagt bleiben und wir alle werden auch in Zukunft – gleichgültig, ob wir am Schraubstock oder am Schreibtisch, am Reißbrett oder sonst wo unsere Pflicht tun – stolz auf unsere ge- meinsame Arbeit für unseren Führer und unser großdeutsches Va- terland blicken können! Heil Hitler! gez. Fieseler“ 361

Beim ersten Betriebsappell nach der Auszeichnung am 27. Oktober 1938 bekräftigte Gerhard Fieseler seinen in diesem Aufruf zum Ausdruck gebrachten Willen, der sozialen Verpflichtung in seiner Stellung als Betriebsführer nachkommen zu wollen. Er erklärte in seiner Rede: „Nach diesem Erfolg – nach der Ernennung zum Mus- terbetrieb – fühle ich mich als Betriebsführer geradezu verpflichtet, nun Besseres, Größeres – noch nie Dagewesenes auf sozialem Ge- biet zu leisten.“362 Die Äußerungen Gerhard Fieselers lassen annehmen, dass er sich der durch die Betriebsordnung auferlegten Rolle als Betriebsführer und der damit verbundenen Aufgaben durchaus annahm. Auch während des Spruchkammerverfahrens und in seinen Memoiren betonte er immer wieder seine Bemühungen und seinen scheinba- ren Einsatz für das soziale Wohlergehen seiner Belegschaft. Dabei scheute er sich nicht, historische Tatsachen zu verfälschen und diese zu seinem Vorteil zu beschönigen. So heißt es in einem Schreiben seiner Anwälte an die Spruchkammer: „Die NSDAP hatte seinen Betrieb zum Musterbetrieb erklärt und ihm sogar [!, d.V.] die Goldene Fahne verehrt. Die sozialen Massnahmen waren aber be- reits getroffen, bevor die Partei mit ihren Wünschen kam. [...] alle seine sozialen Maßnahmen waren sogar gegen die Wünsche der Partei geschehen“363 Und noch in seinen Memoiren bemerkt Fie-

361 Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 1. 362 Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, Innenseite des Titelblattes. 363 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 33. Vgl. auch ebd., Bl. 28, 28r u. 34 (Schreiben der Anwälte)

115 seler: „Ich hatte meine eigenen Vorstellungen vom Sozialismus und seiner Verwirklichung. Die neuen Machthaber bezeichneten sich als Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei. Aber wie dieser na- tionale Sozialismus für den deutschen Arbeiter aussehen sollte, war unklar. Ich bemerkte schon: Die DAF strebte lediglich höhere Löhne an. [...] Ich strebte eine dauerhafte innere Zufriedenheit bei meinen Leuten an. [...] Mein [!, d.V.] soziales Programm begann mit der Er- richtung von zwei Gesundheitshäusern, in jedem Werk eins. Der Philosoph Schopenhauer sagte schon: neun Zehntel unseres Glücks beruhen allein auf der Gesundheit.“364 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der unkritische und unreflektierte Umgang Gerhard Fieselers mit Quellen und Aufzeichnungen, die seinen Memoiren zugrundeliegen. Mit der Verwendung des an sich unpo- litischen Zitates von Schopenhauer bediente er sich derselben Phrase, die bereits in der Fieseler-Zeitschrift propagandistisch be- nutzt worden war.365 Durch die Verleihung der „Goldenen Fahne“ fand Gerhard Fieseler Bestätigung für sein Handeln und für seine Verantwortung als Be- triebsführer gegenüber „seiner Gefolgschaft“. Gegenüber seiner Belegschaft bekundete er offen seinen Stolz auf die Entwicklung der Firma in den letzten Jahren, die ohne eine harmonische Zu- sammenarbeit innerhalb der Betriebsgemeinschaft – ganz im Sinne der Betriebsordnung – nicht möglich gewesen wäre. „Ich will zuge- ben, daß ich für meine Gefolgschaftsmitglieder und meine Mitarbeiter kein bequemer Betriebsführer bin, – aber Sie wissen auch, daß ich ein gerechter Betriebsführer bin. Und da muß ich sagen: Gewiß, der Weg war steil und schwer zu gehen. Aber, was wir in dieser kurzen Zeit hinter uns gebracht haben, das ist schon so viel, dass wir alle, die wir mitgearbeitet haben, mit Recht auf unsere Firma stolz sein dürfen. Alle, die an diesem großen Aufbauwerk mitgeholfen haben, – die ihre Pflicht taten: – ich danke Euch für Euren Fleiß und für Eure Treue! Ich gebe als Betriebsführer in allen Dingen die Marschroute an und fälle die Entscheidungen. Aber das ist mir nur möglich durch die enge, verständnisvolle und harmonische – ich möchte sagen ka- meradschaftliche – Zusammenarbeit, die in unserer Firma so ist, wie vielleicht in keinem anderen Industrie-Unternehmen. Und dieses Zie- hen an einem Strang ist gerade das, was einem arbeitsamen Men- schen Freude macht.

364 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 228. 365 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1939, S. 4.

116 Wenn man zurückdenkt – nur 5 Jahre – wenn man sich der Mühe einmal unterzieht und sich vorstellt, wie es denn damals in Deutschland aussah, – muß man da nicht demütig zu diesem gewal- tigen Werk aufblicken? Ist es nicht schön, zu sehen, wie ein Volk, das so zerschlagen und zerbrochen am Boden lag, nun in ein paar Jahren zu einer solchen Größe emporgestiegen ist?“366 Diese Worte Gerhard Fieselers entstammen ebenfalls seiner Rede zum Betriebsappell im Oktober 1938. Er nahm diesen als Anlass, die Entwicklung der Firma der letzten fünf Jahre zu resümieren und die in dieser Zeit geschaffenen Einrichtungen auf sozialem Gebiet, die zu der Auszeichnung „Nationalsozialistischer Muster- betrieb“ geführt hatten, hervorzuheben. Darf man seinen Worten Glauben schenken, so wertete er die Verleihung der „Goldenen Fahne“ als einen Erfolg seiner Bemühungen und der Zusammen- arbeit mit seiner Belegschaft. Gleichzeitig sah er darin einen Ab- schluss des rasanten Aufstiegs seines Betriebes seit 1933 und den Ansporn, weitere Leistungen zu vollbringen. Dies sei jedoch nur möglich, wenn die ganze Gefolgschaft ihn in seinen Bestrebungen unterstütze.367 Bemerkenswert sind die Abschlussworte seiner Rede, mit denen er seinem Willen, gegenüber dem Deutschen Reich seine Pflicht zu erfüllen, Nachdruck verlieh und der Person Adolf Hitler huldigte: „Ich möchte diesen Appell nicht schließen, ohne die feierliche Erklä- rung abzugeben: Führer, – hier steht eine Betriebsgemeinschaft ge- schlossen zum Appell angetreten. – Wir sind bereit, unsere Pflicht weiter zu tun, – jeder an seinem Platz. Wir sind bereit, weiter zu ar- beiten und weiter zu streben für unser großes, wieder stark gewor- denes Vaterland! Unserem Führer Adolf Hitler ein dreifaches Sieg Heil!“368 Die Auszeichnung zum „NS-Musterbetrieb“ nahm Gerhard Fieseler immer wieder zum Anlass, um die Belegschaft zur pflichtbewussten Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermahnen. In diesem Zusammenhang hob er hervor, dass die Anerkennung zum Musterbetrieb und die damit verbundenen sozialen Vorzüge im wesentlichen von einer „mustergültigen“ Gefolgschaft abhängig sei. Damit war jedoch nichts anderes als die Forderung nach absoluter Leistungsbereit- schaft gemeint. In diesem Sinne richtete Fieseler beispielsweise

366 Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 5. 367 Vgl. ebd., S. 2. 368 Ebd., S. 5.

117 beim ersten Frauen-Betriebsappell am 20. Juni 1940 seinen Aufruf an die Frauen seines Werks. In der Fieseler-Zeitschrift wurde seine Ansprache wiedergegeben: „Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, unterzog er [Gerhard Fieseler, d.V.] anschließend den Be- griff `Nationalsozialistischer Musterbetrieb´ einer näheren Betrach- tung: In einem Musterbetrieb soll unter anderem die Fürsorge für die Gefolgschaftsmitglieder mustergültig sein. Die Anlagen des Werkes müssen gepflegt, die Arbeitsplätze hell, sauber und geordnet sein [...] Man meint manchmal, daß die Gefolgschaft, das heißt also das ein- zelne Gefolgschaftsmitglied, nur der Nutznießer in einem Musterbe- trieb wäre, ohne viel eigenes dazu zu tun, das Werk dagegen dem einzelnen eine mustergültige Behandlung zukommen lasse. Die Auf- fassung ist natürlich vollkommen irrig [!, d.V.]. [...] jedes einzelne Gefolgschaftsmitglied, ob Mann oder Frau, muß in Bezug auf Leis- tung, äußere und innere Haltung und Dienstauffassung mustergültig sein. [...] Jedes Gefolgschaftsmitglied, ob Frau oder Mann, muß seine Pflicht erfüllen, wie es sich für einen Musterbetrieb gehört und wie es jetzt besonders im Kriege eine Selbstverständlichkeit ist. [...] Verste- hen sie uns, wenn wir darauf achten, daß jeder an seinem Arbeits- platz seine volle Kraft einsetzt.“369 Ähnlich wie in Reden von Ley oder Hupfauer bekundete Fieseler in seinem Vortrag unzweideutig, dass die sozialen Einrichtungen in seinem Werk nicht ursächlich aus Wohltätigkeit gegenüber der Belegschaft eingerichtet worden waren, sondern in erster Linie der Erhaltung und Steigerung der Arbeitsleistung dienten. Für diese Zielsetzung war ihm mit der Auszeichnung seines Werks zum „NS- Musterbetrieb“ ein geeignetes (Druck-)Mittel in die Hand gegeben worden, um die Leistungsbereitschaft seiner Gefolgschaft aufrecht- zuerhalten bzw. weiter zu erhöhen. Zum Schluss seiner Ansprache erfolgte wie bei allen übrigen offizi- ellen Reden Gerhard Fieselers vor Betriebsangehörigen der Aufruf zum gemeinsamen Schaffen an der Heimatfront: „Kameradinnen, sind wir uns darüber klar, daß sich das deutsche Volk in seinem größten Ringen befindet. [...] Unsere Soldaten haben seit der Offensi- ve gezeigt, daß kein Soldat der Welt auch nur annähernd an ihre Tüchtigkeit und unerhörte Tapferkeit heranreicht. Zeigen wir hier in der inneren Front, daß auch wir unser Bestes hergeben wollen und stehe so jeder auf seinem Arbeitsplatz, wie man es von ihm erwartet. Wir, als die Front der Heimat, wollen einmal von der Geschichte be-

369 Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/1940, S. 5.

118 stätigt haben, daß unser Führer den Sieg an unsere Fahnen heften konnte, weil seine Soldaten die besten und mutigsten waren und weil die innere Front geholfen und die Voraussetzungen zum Sieg geschaffen hat. Sieg Heil!“370

Weitere Auszeichnungen der Fieseler-Werke und die Ernennung zum „Kriegs-Musterbetrieb“ In den Folgejahren konnte das Fieseler-Werk neben der Ernennung zum „NS-Musterbetrieb“ und der Verleihung des Leistungsabzei- chens für vorbildliche Berufserziehung weitere Auszeichnungen erlangen. Hierzu zählte u.a. das „Gau-Diplom für hervorragende Leistungen“, das am 17. Juni 1938 der Firma, ebenfalls noch im Rahmen des Leistungskampfes der deutschen Betriebe 1937/38, verliehen wurde.371 Anlässlich der zweiten Tagung der Gauarbeits- kammer Kurhessen, die im Staatstheater Kassel stattfand, wurden neben dem Fieseler-Werk weitere 51 kurhessische Betriebe durch Gauleiter Weinrich mit einem Gau-Diplom gewürdigt. Anschließend fuhren die Tagungsteilnehmer, darunter zahlreiche geladene Gäste aus Partei, Staat und Wehrmacht, auf Einladung der Gauarbeits- kammer in die Gerhard-Fieseler-Werke, um diese zu besichtigen. Der stellvertretende Betriebsführer Thalau, der die Gäste in Ver- tretung des erkrankten Fieseler empfing, betonte in seiner Begrü- ßungsrede, dass die bisher geschaffenen Einrichtungen nur einen Anfang darstellten und der Betrieb mit der Erklärung zum „NS- Musterbetrieb“ und der Auszeichnung des Gau-Diploms die Ver- pflichtung übernommen habe, es in jeder Weise noch besser zu machen als zuvor.372 Als weitere Auszeichnungen des Fieseler- Werks sind das Leistungsabzeichen für vorbildliche Sorge um die Volksgesundheit am 1. Mai 1940 und die Anerkennung des Werks- betriebssports durch das Sportamt der NS-Gemeinschaft KdF im April 1941 zu nennen.373

370 Ebd. 371 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/1938, S. 154 u. 155. Neben dem Fieseler-Werk erhielten reichsweit 1661 weitere Unternehmen das Gau-Diplom für hervorra- gende Leistungen. 372 Vgl. ebd., S. 154. 373 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/7/1941, S. 5 u. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1943, S. 3. In der zuletzt angegebenen Ausgabe wird zudem verkündet, dass der Betrieb sowohl das Leistungsabzeichen für vorbildliche Berufserziehung, das dem Werk am 5. Februar 1938 in Bronze verliehen worden war, als auch das Leistungsab-

119 Eine besondere Auszeichnung stellt die Ernennung zum „Kriegs- Musterbetrieb“ dar, die die Firma jeweils in den Jahren 1942 und 1943 erhielt.374 Dem Betrieb wurde dieser Titel für vorbildlichen Leistungseinsatz und hervorragende Fertigungsergebnisse durch den Reichsminister für Bewaffnung und Munition und Reichsorganisationsleiter Ley verliehen. Mit der Einrichtung dieser Auszeichnung sollte das im Leistungskampf verfolgte Ziel der Ra- tionalisierung und Leistungssteigerung in den Unternehmen weiter angezogen werden. Mehr als bisher trat die reine Erhöhung der Produktionskapazitäten in den Vordergrund. „Die Auszeichnung Kriegs-Musterbetrieb kann folgerichtig nur der Betrieb erhalten, der zu den Produktionsbesten seines Fertigungszweiges gehört und des- sen Produktion vom Standpunkt der Kriegsführung eine Bedeutung zukommt.“375 Diese Wandlung war nicht zuletzt auf Speer zurück- zuführen, der im Februar 1942 allein mit sämtlichen Fragen der Leistungssteigerung beauftragt worden war.376 „Wurde der jährliche Leistungskampf um die Auszeichnung als `NS-Musterbetrieb´ unter dem alten Schwerpunkt Sozialeinrichtungen weitergeführt, so stan- den bei der während des gesamten Jahres und von der DAF maß- geblich beeinflußten Auszeichnung `Kriegs-Musterbetrieb´ als Kriteri- en hohe Produktion, Rationalisierung, Arbeitskräfteeinsparung, ge- ringe Unfall- und Krankenziffern, keine Bummelanten, ein betriebli- ches Vorschlagswesen, die Schulung der Vorgesetzten, Leistungsan- reize durch Aufstiegschancen, Verbesserungen in den Betriebsorga- nisationen, Frauen- und Jugendlichenbeschäftigung sowie die So- zialbetreuung, die als eine Form sozialer Kontrolle und Disziplinie- rung beschrieben wurde, im Mittelpunkt.“377 Berichte in der Fieseler- Werkszeitschrift belegen eindrucksvoll, wie groß die Anstrengungen

zeichen für vorbildliche Sorge um die Volksgesundheit, das dem Werk am 1. Mai 1940 in Bronze verliehen worden war, nun beide in Silber erhielt. 374 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1943, S. 14. In der Fieseler-Zeitschrift ist bezüg- lich der Auszeichnung des Jahres 1943 nur eine kurze Notiz zu vernehmen, die Ernennung zum „Kriegsmusterbetrieb“ im Jahre 1942 ist nicht vermerkt. 375 Schreiben des Wehrkreisbeauftragten XIII des Reichsministers für Bewaffnung und Munition, Gauamtsleiter Frank, bezüglich der „Richtlinien über die Verlei- hung der Auszeichnung „Kriegs-Musterbetrieb“ vom 30. Juni 1942, zitiert nach: Siegel, Tilla: Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der Arbeit“, Opladen 1989 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftli- che Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 57), S. 116. 376 Vgl. Frese, Matthias: Vom „NS-Musterbetrieb“ zum „Kriegs-Musterbetrieb“ [wie Anm. 311], S. 389. 377 Ebd.

120 des Unternehmens unter ihrem Betriebsführer Gerhard Fieseler waren, sich auf jedem einzelnen der genannten Gebiete gemäß den geforderten Normen, also „mustergültig“ zu engagieren. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Schilderungen in Fieselers Memoiren, in denen dieser stets bemüht ist, sich selbst als Schöpfer der in- nerbetrieblichen Einrichtungen – zum Wohle der Belegschaft – her- vorzuheben, mehr als unglaubwürdig und unverständlich. Im fol- genden Kapitel wird auf die einzelnen innerbetrieblichen Maßnah- men näher eingegangen.

„Das Ziel ist Leistungssteigerung“378 – Die Betriebsgemeinschaft im Fieseler-Werk Die Fieseler-Zeitschrift Ein wichtiges Instrument, um den Gemeinschaftssinn der Fieseler- Belegschaft zu festigen, war die „Fieseler-Zeitschrift“379. Die Werks- zeitschrift informierte die Arbeiter in Wort und Bild stets über Ent- wicklungen und aktuelle Nachrichten aus dem Werk. Insofern kann sie als das „Sprachrohr“ des Betriebes bezeichnet werden. Dem heutigen Betrachter gibt sie einen Überblick über die sozialen Einrichtungen und Maßnahmen sowie eine Einsicht in das betrieb- liche Leben des Fieseler-Werks und erweist sich in dieser Hinsicht als eine bedeutendende Quelle. Die Institution einer Werkszeitschrift im Fieseler-Werk stellte im Vergleich mit anderen Industrieunternehmen des Deutschen Rei- ches keine Ausnahme dar. Wie die folgenden Zahlen belegen, nahm deren Anzahl während der Zeit des Dritten Reiches stetig zu: Exi- stierten im Januar 1936 230 Werkszeitungen, so stieg diese Zahl bis Mitte Januar des Jahres 1938 bereits auf 326 an. Ende 1939 bestanden etwa 470 und Mitte 1941 schließlich 641 Werkszeitun- gen. 380

378 So die Überschrift eines Aufsatzes in der Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1942, S. 3. 379 Der offizielle Titel der Zeitschrift lautete: „Fieseler-Zeitschrift. Werkszeitschrift für die Gefolgschaft der Fieseler Flugzeugbau G.m.b.H. Kassel“, ab Mai 1939 entsprechend „ ... der Gerhard Fieseler Werke G.m.b.H. Kassel“. 380 Zu den Zahlen vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 410. In einem Artikel in der Fieseler-Zeitschrift wird die Zahl der vom Presseamt der DAF beeinflussten Werkszeitschriften auf 410 im Frühjahr 1938 beziffert. Diese haben eine Auflage von 2,8 Millionen Exemplaren.

121 Das Konzept der Werkszeitschriften basiert im wesentlichen auf Plänen des „Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung“, das 1933 als „Deutsches Institut für nationalsozialistische techni- sche Arbeitsschulung“ (DINTA) in die DAF eingegliedert wurde. De- ren Überlegungen und Vorarbeiten zu den Werkszeitschriften wur- den schließlich von der Arbeitsfront ebenfalls übernommen.381 Sollten Werkszeitschriften vordergründig als Mittel zur Überwin- dung des Gegensatzes zwischen Arbeiter und Unternehmer sowie als Bindeglied zwischen Betrieb und Feierabend dienen, muss die eigentliche Intention allerdings im Rahmen der Förderung der qua- litativen und quantitativen Leistungssteigerung gesehen werden. Die DAF beanspruchte aufgrund ihres nationalsozialistischen Er- ziehungsauftrags die Eingliederung sämtlicher Werkszeitungen in das DAF-Pressesystem. Die Unternehmen sollten die Werkszeit- schriften zwar weiterhin finanzieren, um diese kostenlos an jeden Betriebsangehörigen verteilen zu können, jedoch gab die DAF die Vorgabe, dass nichts abgedruckt werden dürfe, was den national- sozialistischen Grundsätzen bzw. denen der DAF widerspreche.382 Um ihrer Forderung nach mehr Einfluss auf die Werkszeitungen Nachdruck zu verleihen, erließ die DAF die Regelung, dass die ver- antwortlichen Schriftleiter bzw. Redakteure der Firmen zugleich Mitglied der Arbeitsfront und damit vorrangig gegenüber ihrer Or- ganisation und nicht der Unternehmensführung weisungsgebun- den sein sollten. Diese Maßgaben führten in der Folgezeit immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Unternehmen und der DAF, insbesondere bei Firmen aus dem Bereich der Schwerin- dustrie, die eine lange Werkszeitungstradition aufweisen konn- ten.383 Diese Betriebe wollten ihre Selbstständigkeit bewahren, d.h. sowohl über die Schriftwalter als auch die Inhalte selbst bestim- men, und sperrten sich gegen den augenscheinlichen Totalitätsan- spruch der DAF. In einer Einigung zwischen der Reichsgruppe In-

381 Näheres zur DINTA ebd., S. 252 ff. Am 1. Oktober 1935 ging das DINTA in der DAF auf. Nicht alle Werkszeitungen waren dem DINTA-Werkszeitungssystem angeschlossen, jedoch stellte das DINTA-System mit 75 Werkszeitungen und einer monatlichen Auflage von ca. 1 Million Exemplaren die größte und vor al- lem straff organisierte Werkspresse dar. 382 Die Bearbeiter waren als DAF-Betriebsfunktionäre gegenüber den DAF- Betriebsobmännern, die für die Inhalte zuständig waren, weisungsgebunden, vgl. ebd. S. 405. 383 Hierzu zählte z.B. Krupp (seit 1910), Hapag (seit 1901) und AEG (seit 1908). Nach dem Weltkrieg folgten u.a. Bosch, Osram, Zeiß und Daimler, vgl. Fieseler- Zeitschrift Nr. 2/1943, S. 3.

122 dustrie und der Arbeitsfront im Jahre 1936 wurde schließlich ver- einbart, dass die Schriftwalter von der Betriebsführung im Einver- nehmen mit dem DAF-Presseamt aus der Belegschaft ausgewählt werden sollten. Die Werkszeitschriften erhielten die Auflage, die Arbeitnehmer zur Betriebsgemeinschaft zu erziehen und die Arbeit der DAF sowie ihrer Unterorganisationen darzustellen. Tagespoliti- sche Themen und Anzeigen durften die Zeitungen nicht enthalten. Zudem war jede Neugründung einer Werkszeitung ab diesem Zeit- punkt von der Genehmigung der DAF und der Reichspressekam- mer abhängig. Die inhaltliche Konzeption der verschiedenen Werkszeitschriften war trotz individueller Nuancen von einem einheitlichen Muster geprägt.384 Ein Schwerpunkt der Berichte, der sich auch in der Fieseler-Zeitschrift dokumentieren lässt, lag in der Hervorhebung der DAF-Arbeit, ihrer Organisationen und Initiativen, insbesondere hinsichtlich der Werksfürsorge und des Siedlungswesens. Darüber hinaus war seitens der DAF vorgegeben, dass ein Teil des Inhalts Artikeln vorbehalten sein sollte, die sich mit Themen bezüglich der Entwicklungen in Politik und Wirtschaft sowie mit Fragen arbeits- ethischer und allgemein betriebstechnischer Art auseinandersetz- ten. Daneben sollte die Zeitschrift Beiträge enthalten, die den be- trieblichen Alltag widerspiegelten, z.B. werkspezifische Vorgänge, das Ausbildungswesen oder die Geschichte des Betriebes beschrie- ben und betriebliche Veranstaltungen, Termine, lokale Ereignisse sowie unterhaltsame Neuigkeiten bekannt gaben. Zu diesem Zweck war die Mitarbeit von Betriebsangehörigen erwünscht. In diesem Sinne wurden auch Aufrufe in der Fieseler-Zeitschrift geschaltet: „Wer hat Lust an unserer Fieseler-Zeitung mitzuarbeiten? Jeder ist willkommen, der etwas wirklich Wertvolles zu sagen hat. Dabei kommt es weniger auf die Form als auf den Inhalt an. [...] Also, wer macht mit? Erwünscht sind u.a. Reiseschilderungen mit oder ohne Fotos, Witze in Wort und Bild (aber ohne Bärte), Rätsel und Gedichte. Aber alles muß selbst verfaßt sein!“385 Meist beschränkten sich sol- che Beiträge von Werksangehörigen, die nicht in leitender Position waren, entweder auf oben angegebene Bereiche oder auf praktische Ratschläge für Haus- und Garten- bzw. Heimarbeit. Einzelne Le-

384 Zur folgenden Darstellung über Inhalt der Werkszeitungen vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 405 u.406. 385 Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1938, S. 21. Vgl. auch Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1943, S. 3 u. 4 Artikel: „5 Jahre FZ“. Hier wird ebenfalls zur Mitarbeit an der Fieseler- Zeitschrift aufgerufen.

123 serbriefe von Gefolgschaftsmitgliedern, die abgedruckt wurden, sollten in erster Linie den Lesern die Anteilnahme der Belegschaft am betrieblichen Leben suggerieren. Die Fieseler-Zeitschrift erschien erstmals im Januar 1938. In ei- nem Vorwort der ersten Ausgabe erläutert Gerhard Fieseler den Sinn der Zeitschrift: „Ich entschloß mich zur Herausgabe dieser Werkszeitung, weil bei dem größer gewordenen Betrieb die persönli- che Fühlungnahme zwischen meiner Gefolgschaft und mir, sowie zwischen den einzelnen Arbeitskameraden untereinander immer schwieriger wird. [...] Sie hat einen tieferen Sinn und dient einem ungleich höheren Zweck. Unsere neue Werkszeitung soll uns als vor- nehmste und wichtigste Aufgabe diesen höheren Sinn und Zweck unserer Arbeit vermitteln. Sie soll die Freude an unserem gemeinsa- men Schaffen pflegen und fördern und damit dem Geist der Be- triebsgemeinschaft dienen. Darüber hinaus sollen diese Blätter zei- gen, was wir gemeinschaftlich erarbeitet haben; sie sollen die Lei- stungen des Einzelnen sichtbar machen und auf diese Weise in je- dem, der zu unserer Gefolgschaft gehört, den Stolz darüber erwek- ken, daß er gerade Mitglied unseres Betriebes ist und er durch den Einsatz seines Könnens persönlich dazu beiträgt, das Ansehen und den Erfolg unserer Betriebsgemeinschaft, die wiederum nur dem Volksganzen dient, zu fördern. [...] Möge unsere neue Werkszeitung uns dabei helfen und uns eine Quelle der Kameradschaft und der Betriebsverbundenheit sein!“386 Fieseler schreibt der Zeitschrift somit eine der Betriebsgemein- schaft förderliche Funktion zu. Diese Zielsetzung wird in einem Artikel der Zeitung unterstrichen: „Die Deutsche Arbeitsfront, deren Initiative wir, wie überall in unserem Berufsleben, auch auf dem Gebiet der Werkszeitschriften sehr viel verdanken, hat für diese den Grundsatz aufgestellt: Aus dem Betrieb – für den Betrieb. [...] Sie schöpft ihre Themen und ihre Kraft aus der Betriebsgemeinschaft Gerhard Fieseler Werke.“387 Um ihren Zweck zu erfüllen, d. h., da- mit die in der Zeitschrift enthaltenen Mitteilungen auch jeden er- reichten, wurde diese in einer genügend hohen Anzahl gedruckt, um an jeden Mitarbeiter kostenlos verteilt zu werden. Die Zeitung erschien zunächst monatlich, aber bereits 1939 wurde sie auf zehn Ausgaben pro Jahr reduziert. Infolge der sich einstellenden Papier- knappheit während des Krieges wurde sie ab 1942 nur noch vier-

386 Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1938, S. 1. 387 Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1943, S. 4.

124 teljährlich herausgegeben und mit der Ausgabe Nr. 4/1943 wurde die Publikation schließlich eingestellt.388 Bei der inhaltlichen Gestaltung der Zeitung war die Redaktion der Fieseler-Zeitschrift stets darum bemüht, möglichst betriebsbezoge- ne Artikel zu verwenden. Damit folgte sie einer allgemeinen Ten- denz der meisten anderen Werkszeitschriften, möglichst nahe am betrieblichen Alltag geschriebene Beiträge zu veröffentlichen. Auch politische Themen oder Berichte über NS-Organisationen, wie z.B. über die Arbeit der DAF, Erläuterungen über die Aufgaben der Werkschar oder Reisereportagen von Fahrten mit der Organisation KdF wurden nach Möglichkeit an Beispielen aus dem eigenen Werk dargestellt. Ein Schwerpunkt der Berichterstattung lag in der Her- ausstellung der „sozialen Errungenschaften“ des Werks. Insbeson- dere im Zusammenhang mit der Verleihung von Leistungsabzei- chen und der Ernennung zum „NS-Musterbetrieb“ wurde immer wieder auf entsprechende Einrichtungen wie beispielsweise Ge- sundheitsfürsorge, Ausbildungswesen, vorbildliche Werkstätten und Gestaltung des Arbeitsplatzes („Schönheit der Arbeit“), Woh- nungsfürsorge oder Feierabend- und Freizeitgestaltung hingewie- sen. Obwohl diese sozialen Verbesserungen eindeutig auf Initiati- ven der DAF zurückzuführen waren, wurden sie seitens der Fie- seler-Zeitschrift ursächlich als Leistungen des „Fieseler-Werks“ und insbesondere als persönliche Leistungen des Betriebsführers Gerhard Fieseler hervorgehoben. Er galt als der eigentliche Initia- tor. Hiermit sollte die soziale Fürsorge Fieselers um seine Gefolg- schaft unterstrichen werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Fieseler-Zeitschrift nicht auch über die DAF-Politik berichtete und auf deren Unterstützung durch das Fieseler-Werk verwies. So heißt es beispielsweise in einer Ausgabe bezüglich der Frage „Wa- rum wir NS-Musterbetrieb wurden“ eindeutig „Wir fördern „Kraft durch Freude“, und in einer anderen Nummer werden „Die Leis- tungen der Deutschen Arbeitsfront“ herausgestellt.389 Dem Bestreben nach einer betriebsnahen Berichterstattung, mit der letztlich das Ziel einer stärkeren Verbundenheit zwischen dem einzelnen Werksangehörigen und dem Betrieb bzw. der Betriebs-

388 Die letzte Ausgabe Nr. 4/1943 erschien erst am 6. Januar 1944, weil zunächst der zuständige Verlag in Kassel und kurze Zeit später der Ausweichverlag in durch Fliegerangriffe zerstört wurden. 389 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 4 u. 5 u. Nr. 4/1938, S. 3 u. 4. Ferner zählten zu den Berichten über die DAF Artikel wie „Schönheit der Arbeit – Ver- pflichtung für alle“, „Von unserer KdF-Kasse“, „Unsere Betriebsordnung“.

125 gemeinschaft verfolgt wurde, sollte vor allem dadurch Rechnung getragen werden, dass Beiträge über das „Fieseler-Betriebsleben“ verfasst wurden. Dieses „Betriebsleben“ muss allerdings in einem weiteren Sinne gedeutet werden. Es endete im Verständnis der Be- triebsleitung nicht mit Beendigung des Arbeitstages, sondern er- streckte sich auch auf das außerbetriebliche Leben der Beleg- schaft, den Feierabend- und Freizeitbereich. Diesbezüglich enthielt die Fieseler-Zeitschrift u.a. Familiennachrichten wie Eheschließun- gen und Beileidsbekundungen, Ratschläge für das alltägliche Le- ben, z.B. Artikel zum sparsamen Umgang mit dem verdienten Geld, die gesunde Zubereitung von Mahlzeiten oder das Sammeln von Kräutern und Tips für eine gesunde Lebensführung. Kurze Ge- dichte, Witze oder „Geschichten bzw. Unterhaltsames aus dem Le- ben“ und Hinweise auf lokale kulturelle Veranstaltungen oder Aus- flugsziele zählten ebenfalls zu diesem Bereich. Daneben wurden Informationen veröffentlicht, die sich unmittelbar auf innerbetriebliche The- men bezogen. Diese um- fassten u.a. Artikel über die sozialen Einrichtungen, den Sport- und Gesundheitsbe- reich, über die Karriere Gerhard Fieselers als Jagd- und Kunstflieger, über die Firmengeschichte, techni- sche Beiträge über werksei- gene Flugzeugkonstruktio- nen und spezielle Verar- beitungsmethoden im Werk bis hin zu Prämierungen von Verbesserungsvorschlä- gen. Besonders ausführlich wurde sich dem Unfall- schutz gewidmet, in dessen Rahmen Hallenwettbewerbe Titelblatt einer Fieseler-Zeitschrift: Wettbewerb der Hallen unter dem Motto „Runter mit „Runter mit der Unfallzahl“

126 mit den Unfallzahlen“, die sog. „Unfallverhütungskampagnen“, durchgeführt wurden.390 Mit diesem Themenspektrum versuchte die Fieseler-Zeitschrift, alle Betriebsangehörigen anzusprechen und ihre Anteilnahme an der Fieseler-Betriebsgemeinschaft zu erreichen. Ein auffälliges Merk- mal der Berichterstattung ist die permanente Aufforderung an den Leser, sich in einer der betriebsinternen Organisationen wie Werk- schar oder einer Betriebssportgruppe zu engagieren und damit aktiv zur Gefolgschaft beizutragen. Insbesondere mit der Darstel- lung und Hervorhebung werkseigener Leistungen und Errungen- schaften sollte auf die Belegschaft eingewirkt werden.391 Die eher betriebsbezogene Berichterstattung der Fieseler-Zeitschrift kann allerdings nicht über ihre grundsätzlich nationalsozialisti- schen Inhalte und die Verbreitung nationalsozialistischer Propa- ganda hinwegtäuschen. Bereits der Vermerk im Impressum „Her- ausgegeben im Einvernehmen mit dem Presseamt der DAF“ weist auf die Linientreue der Zeitung hin. Eine politische Färbung der Berichte im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie ist letztlich deutlich erkennbar. Im Vordergrund stand die weltanschauliche Indoktrination, die Erziehung des einzelnen zur Betriebs- und Lei- stungsgemeinschaft, wodurch die Betriebsangehörigen für den NS- Staat gewonnen werden sollten. Stets wurde die Aufmerksamkeit des Lesers auf seine „oberste“ Pflicht, die Leistungserfüllung, ge- lenkt. Die während des Spruchkammerverfahrens getätigte Aussa- ge Gerhard Fieselers, im Vergleich zu anderen Werkszeitschriften hätte die Fieseler-Zeitschrift nur wenig Politisches enthalten, ist schlichtweg unwahr. „Pflichterfüllung“, „Leistungsbereitschaft“ und die stilisierte „Betriebsgemeinschaft“ waren immer wiederkehrende Phrasen in der Zeitschrift, der Ansporn zu immer höherer Leistung, der mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verstärkt wurde, das lei- tende Motiv. Die folgende Auswahl von Überschriften, die jeweils zugleich die Intention des nachfolgenden Textes erkennen lassen, sollen einen Eindruck hiervon vermitteln:

390 Vgl. hierzu u.a. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1939, S. 3-6, Nr. 3/1942 S. 4 u. 5, Nr. 1/1943, S. 23. Die Kampagne „Kampf dem Unfall“ ist dem übergeordneten Ziel der Leistungssteigerung zuzuordnen. 391 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 282 (Aussage des verantwort- lichen Hauptschriftleiters Walter Donnerstag).

127 „Wir und der Vierjahresplan“392 „Ist Dir klar, was Du am Vierjahresplan mithelfen kannst?“393 „Schönheit der Arbeit – Verpflichtung für alle“394 „Hier spricht unsere Betriebszelle“395 „Jeder einzelne ist verantwortlich für den Sieg“396 „Glaube – Wille – Einsatzbereitschaft“397 „Die innere Front – die Front im Werk“398 „Wir sind dem Führer verschworen“399 „Betriebliches Führertum“400 „Dem besten Führer die beste Gefolgschaft“401 „Durch Arbeit zum Sieg“402

Aufrufe, Texte und auffällig platzierte Zitate von NS-Persönlich- keiten, die zentral vom DAF-Presseamt redigiert wurden, waren weitere Ansätze, mit denen versucht wurde, die Leistungsbereit- schaft der Belegschaft aufrechtzuerhalten und die Betriebsgemein- schaft im Fieseler-Werk zu stärken.403 Die gleichen Zielsetzungen wurden mit ausführlichen Darstellungen der feierlich durchge- führten Betriebsappelle verfolgt, wodurch insbesondere die Ver- bundenheit zwischen Gerhard Fieseler und der Gefolgschaft zum Ausdruck gebracht werden sollte. „Kopf an Kopf stand die Gefolg- schaft, um ihren Betriebsführer zu hören. Dazwischen Maschinen, Rohrleitungen, Werkbänke, die dem Bild des Ganzen den Ton der Arbeit und der Pflicht gaben. Und dann erschien der Betriebsführer. Nicht im bürgerlichen schwarzen Anzug oder dergleichen, sondern im

392 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/1938, S. 149. 393 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1939, S. 16. 394 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1938, S. 18. 395 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1939, S. 17. 396 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1940, S. 3 u. 4 397 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 3. 398 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/1939, S. 5. 399 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 4. 400 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 9/1940, S. 2 u. 3. 401 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 8/1940, S. 3 u. 4. 402 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1943, S. 12 u. 13. 403 Als Beispiele seien genannt: eine Ansprache Görings vom 9. September 1940 (vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1940, S. 2), ein Bericht mit dem Titel „Unser Führer“ von Robert Ley (vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1943, S. 2 u. 3), Rede des Gauberufswalter Pg. Boeck zum Thema „Menschenführung im Betrieb“ und „Betriebliches Führertum“ (vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/1940, S. 2 u. Nr. 9/1940, S. 2 u. 3) sowie zahlreiche Zitate von Hitler, Ley und anderen NS- Persönlichkeiten.

128 einfachen blauen Werkscharkleid. Vor ihm Werkscharmänner. Das war kein zufälliges äußeres Bild gleicher Kleidung, das war Symbol und Sinnbild kameradschaftlicher Verbundenheit zwischen Führer und Gefolgschaft schlechthin. Nichts ist eine Gemeinschaft ohne den Führer. Er allein zeichnet den Weg – den Weg, der zum Aufstieg führt, der aber auch zum Niedergang führen kann. Straff muß seine Führung sein, zielbewußt, mit einem Wort: autoritär. [...] Betriebsfüh- rer und Gefolgschaft – was damit gemeint ist, scheint kaum eine Grenze zu haben: schlechthin ein Lebensprinzip.“404 Besonderen Stellenwert wurde in diesem Kontext den Ansprachen Fieselers eingeräumt, die er während der Betriebsappelle vor seiner „Gefolgschaft“ gehalten hatte. Diese wurden in Auszügen wiederge- geben, wobei darauf geachtet wurde, in erster Linie solche Ab- schnitte zu zitieren, in denen Fieseler die Belegschaft zur Pflicht- erfüllung ermahnte. So heißt es in einer Ausgabe der Fieseler- Zeitschrift im Jahre 1943: „Gerade diese Überlegungen müssen jedem einsichtigen deutschen Gefolgschaftsmitglied beweisen, sagte Gerhard Fieseler, wie sehr es heutzutage darauf ankommt, daß wir Deutschen unsere Pflicht bis zum äußersten tun. Und wenn möglich noch etwas mehr. [...] Aus diesem Grund habe ich mich gezwungen gefühlt, erklärte der Betriebsführer wörtlich, einige ganz unbelehrba- re Gefolgschaftsmitglieder, die absolut nicht einsehen wollen, daß es im Krieg die verdammte Pflicht jedes Deutschen ist, sich mit seiner ganzen Kraft einzusetzen, dadurch auf den rechten Weg zurückzu- führen, daß ich ihnen keine Weihnachtsgratifikation auszahlen ließ. [...] Der Betriebsführer schloß den Appell mit einer ernsten Mahnung an alle, den Kopf hochzutragen, sich zusammenzunehmen und alle Kraft auf den Sieg zu konzentrieren, der diesmal uns gehören wird.“405 Im Zeichen des von Goebbels ausgerufenen „totalen Krieges“ wur- den die Mahnungen in der Fieseler-Zeitschrift an die Betriebsange- hörigen immer massiver, ihrer Pflicht am Arbeitsplatz nachzukom- men und ihre Leistung für den „Endsieg“ zu steigern. Selbst An- drohungen mit ernsthaften Konsequenzen für jene Arbeiter, die in den Augen der Betriebsführung nicht die entsprechende Arbeitslei- stung erbrachten, wurden nun offen ausgesprochen: „Es ist eigent-

404 Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 6 u. 7. Gerhard Fieseler war zum 1. April 1938 von der Reichswerkscharführung zum Hauptwerkscharführer in seinem Werk ernannt worden, vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 24. 405 Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1943, S. 12 u. 13.

129 lich unglaublich, daß es im fünften Kriegsjahr überhaupt noch Men- schen gibt, die scheinbar nicht wissen, daß unsere Arbeit nur dem Zweck dient, diesen Krieg um Sein oder Nichtsein siegreich zu been- den. [...] Also, wer den Krieg verkürzen will und den baldigen Sieg wünscht, der arbeitet. Der arbeitet auch dann, wenn er wirklich ein- mal Grund zum Meckern hat. Den besonders Schlauen aber, die nur lächeln, wenn sie so etwas lesen oder hören, kann gesagt werden, daß für die Unverbesserlichen, diese wenigen Schädlinge, etwas kommen wird, was sie nicht erwarten. Sie werden ihren Lohn für ihr Verhalten bekommen, das wissen wir aus zuverlässiger Quelle [!,d.V.], und das soll ihnen hier auch einmal gesagt sein. Und das sollen auch alle die Arbeitskameraden wissen, die sich immer wun- dern, daß gegen solche Elemente noch nichts Ernsthaftes unter- nommen wurde.“406 Die Veröffentlichung von Aufrufen Gerhard Fieselers zu besonderen Feiertagen, wie beispielsweise Neujahr, Hitlers Geburtstag oder dem „Tag der nationalen Arbeit“, war eine weitere Strategie, auf die Belegschaft propagandistisch einzuwirken. Ein Beispiel hierfür ist ein von Fieseler unterzeichneter Aufruf anlässlich der Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938. Er lautet:

„An meine Gefolgschaft! Ein Volk, ein Reich, ein Führer! – Wie oft haben wir in den letzten Wochen vor den Lautsprechern gesessen und diesen begeisterten Ruf gehört! Wie haben unsere Herzen mitgeschwungen in großer innerer Freude, diese Tage erleben zu dürfen! Nun gilt es, unsere Gesinnung, unsere Treue und Dankbarkeit für den Führer durch die Tat unter Beweis zu stellen! Nur noch wenige Tage trennen uns von jenem historischen Ereignis, mit dem wir der ganzen Welt zeigen werden, daß alle Deut- schen unter einem Führer stehen wollen! Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass jeder Angehörige unseres Werkes am 10. April seine Staatsbürgerpflicht erfüllt. Nicht nur, weil das Dritte Reich uns Arbeit und Brot gegeben hat, sondern weil wir wissen, was wir als gute Deutsche unserem Vaterland und dem Führer schuldig sind. Darum bekenne ein jeder freudig durch Abga- be seiner Ja-Stimme: Ein Volk, ein Reich, ein Führer! gez. Fieseler“407

406 Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1943, S. 16. 407 Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1938, S. 1.

130 Zu seiner Entlastung berief sich Fieseler nach dem Krieg vor der Spruchkammer auf das Argument, dass die meisten politischen Themen in der Zeitschrift auf Veranlassung bzw. Druck der DAF hätten veröffentlicht werden müssen. „Lediglich“ Aufrufe an die Belegschaft zu besonderen nationalen Anlässen seien von ihm per- sönlich unterschrieben worden.408 Einer der verantwortlichen Schriftleiter, Walter Donnerstag, bemerkte hierzu: „Es mussten in der Zeit auch gelegentlich ausserbetriebliche Themen behandelt werden, z.B. beim Geburtstag Adolf Hitlers. Sonst ist mir nicht be- kannt, dass Abhandlungen von Fieseler erschienen sind. [...] Er hat sie selbst nicht geschrieben, ich habe diese Aufrufe geschrieben, die mit der Unterschrift Fieselers veröffentlicht wurden.“409 Auf die Frage des Spruchkammervorsitzenden, ob ihm Gerhard Fieseler Richtli- nien zur Verfassung der Aufrufe vorgeschrieben hätte, antwortete Donnerstag: „Ja. Er hat sehr genau gesagt, was geschrieben wer- den sollte, er hatte alle Manuskripte – ganz gleich welcher Art – zu Hause durchgelesen und seine Wünsche geäußert. Es waren Wün- sche aller möglichen Art, die sich auf Inhalt und Ausdruck bezogen. [...] Das trifft für alle Aufrufe zu, die den Namen Fieseler tragen und von mir verfasst wurden.“410 Diese Aussage wird von einem anderen Schriftleiter, Otto Großjohann, bestätigt: „Fieseler hat die Fieseler Zeitung sehr genau zensiert. Kein Aufsatz ging durch, den Fieseler nicht genau durchlas.“411 In der Fieseler-Zeitschrift heißt es ent- sprechend: „[...] es gereicht uns zur Freude, dies festzustellen: der Betriebsführer kennt ihre verbindende und aufbauende Stellung in- nerhalb unseres Werkes. Er ist es, der sie in großen Zügen auf die Betriebsgemeinschaft ausrichtet, der sich nicht scheut, die Manu- skripte mit nach Hause zu nehmen und sich und uns immer wieder die Frage vorlegt: Dienen wir mit unserer FZ, nützen wir mit unseren Aufsätzen wirklich der Betriebsgemeinschaft und damit der Volks- gemeinschaft und allen Arbeitskameraden und -kameradinnen?“412

408 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 116r (Anklageschrift der Spruchkammer) u. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 282r (Aussage Donnerstag). Auf das Verhältnis von Gerhard Fieseler zum Nationalsozialismus wird im Kapitel VIII dieser Arbeit eingegangen. 409 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 282r. 410 Ebd. 411 Ebd., Bl. 321. 412 Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1943, S. 4. Vgl. auch Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/1938, S. 6. Hier heißt es: „Dankbar gedenkt die Schriftleitung in diesem Zusammen- hang des großen Interesses, das unser Betriebsführer immer wieder der F.-Z.

131 Über Resonanz der Fieseler-Zeitschrift und ihre Wirkung auf die Belegschaft kann indes keine eindeutige Aussage getroffen werden. Die Auflagenzahl der Zeitung kann in diesem Zusammenhang kein Indiz sein, da die Zeitung kostenlos verteilt wurde.413 Darf man allerdings einem Bericht der Fieseler-Zeitschrift Glauben schenken, so wurde das Erscheinen der Werkszeitschrift immer wieder „mit Freuden“ begrüßt und den Schriftleitern für ihre Bemühungen seitens der Betriebsangehörigen Anerkennung gezollt. Dies „be- weist, daß wir auf dem richtigen Wege sind.“414

Betriebsappelle, Werkschar und Betriebsobmann Betriebsappelle gehörten, wie in den meisten deutschen Betrieben, zu einer festen Einrichtung des Fieseler-Werks, die mehrmals im Jahr stattfanden. Mit ihre Hilfe sollte vor allem die enge Verbun- denheit zwischen Betriebsführer und Gefolgschaft zum Ausdruck gebracht werden. In der Fieseler-Zeitschrift heißt es zu Sinn und Zweck der Betriebsappelle: „Wir wissen, daß Betriebsleben Gemein- schaftsleben bedeutet und daß Betriebsangehörige Glieder dieser Gemeinschaft sind. Das verpflichtet und bedeutet Verantwortung. Denn: Unsere Betriebsgemeinschaft stellt eine Lebenszelle des deut- schen Wirtschaftssystems dar, und dieser Lebenszelle der Wirt- schaft dient unserer Arbeit. Diese kann wiederum nichts anderes sein als Zusammenarbeit für ein höheres, für ein höchstes Ziel: die Volksgemeinschaft. [...] Je inniger in der Betriebsgemeinschaft die geistige Verbindung und der Meinungsaustausch zwischen Führer und Gefolgschaft ist, desto besser sind die Voraussetzungen einer kraftvollen Führung. Um diesen intimen Kontakt herzustellen, bedarf es keiner Lautsprecher, keiner Sitzungen und Diskussionen – es be- darf dazu eines offenen, vertrauensvollen Zwiegespräches [!, d.V.]. Denn der Betrieb hat als lebendiges Gemeinwesen nicht nur Herz und Hirn, sondern auch Ohren und einen Mund. Was liegt näher, als daß der verantwortungsbewußte Betriebsführer als Mund dieser Gemeinschaft von Zeit zu Zeit den Kontakt feierlich erneuert und der Gefolgschaft die Leistungen und Erfolge, aber auch die Sorgen und Nöte des Betriebes näher bringt? Es ist ein prächtiges äußeres Zei-

widmet, die ihr Entstehen ja auch ganz seiner persönlichen Initiative verdankt. Er ist in Rat und Tat ihr erster Mitarbeiter.“ 413 Frese weist auf diesen Zusammenhang hin, vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 411. 414 Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/11/1940, S. 7.

132 chen der Verbundenheit aller im Betrieb Tätigen, wenn diese Aus- sprache da stattfindet, wo die Arbeit am eindrucksvollsten regiert: am Arbeitsplatz, zwischen Maschinen, in der Werkhalle.“415 Nach ursprünglichen Vorstellungen der DAF sollten Betriebsap- pelle jeden Tag bei Arbeitsbeginn und wenn möglich auch zum Be- triebsschluss stattfinden und dadurch die Kontroll- und Stechuh- ren ersetzen, die als „diktatorisches Element“ charakterisiert wur- den und als Sinnbild der Rationalisierung und moderner Betriebs- führung galten.416 Durch Einführung von Betriebsappellen wollten die Nationalsozialisten den Bruch im Arbeitsleben mit der Zeit vor 1933 hervorheben. Ferner sollten Betriebsappelle u.a. anlässlich festlicher Betriebsveranstaltungen, Werksbesichtigungen durch hohe NS-Funktionäre oder der Verkündung neuer DAF-Initiativen, z.B. der Eröffnung des Wettbewerbs „Leistungskampf der Betriebe“, durchgeführt werden. Allerdings konnte die DAF ihr originäres Konzept der Appelle trotz massiver Propaganda und Mahnungen gegenüber den Betriebsfüh- rungen nicht durchsetzen. Als ablehnende Gründe wurden seitens der Betriebsleitungen vor allem entstehende Kosten durch Ausfall- zeiten der Arbeiter, insbesondere bei Firmen mit Schichtsystem, und die organisatorischen Nachteile bei Abschaffung der Stechuh- ren genannt. Ley rückte deshalb bereits Ende 1934 von seinen Ma- ximalforderungen ab. Statt dessen erklärte die DAF, dass sie den Firmen bezüglich der Betriebsappelle keine verbindlichen Vor- schriften mehr machen wolle. Großbetrieben wurde lediglich der Vorschlag unterbreitet, einen Betriebsappell pro Monat einzurichten. Erst mit der Einführung des Wettbewerbs „Leistungskampf der Betriebe“ konnte die Arbeitsfront ihre diesbezügliche Position wie- der stärken, da ein Kriterium zur Verleihung der „Goldenen Fahne“ die Anzahl der durchgeführten Betriebsappelle war. Sofern diese nicht den Arbeitsalltag beeinträchtigten, führten viele Unterneh- men aber auch von sich aus Appelle ein, da diese ein geeignetes „militärisches“ Mittel waren, den Betriebsalltag straffer zu organi- sieren. Im Ergebnis war jedoch die praktische Durchführung der Betriebsappelle von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich und wich häufig von den Vorgaben der Arbeitsfront ab. In seiner gesamten äußeren Form und Organisation erinnert der Betriebsappell an Vorbilder, die dem militärischen Bereich ent-

415 Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 6. 416 Vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 367.

133 stammen. Am Beispiel des Fieseler-Werks lässt sich dies gut ver- deutlichen. Der Appell war geprägt von Flaggenparade (Haken- kreuzfahnen und „Goldene Fahne“) und vom Antreten der unifor- mierten Werkschar in militärischer Formation. Diese flankierte das erhöhte Rednerpult, von wo der Betriebsführer oder NS- Funktionäre, wie beispielsweise der Betriebsobmann oder der Gau- obmann, ihre Ansprache an die Betriebsangehörigen richteten. Gerhard Fieseler trat meistens ebenfalls in Uniform vor seine Be- legschaft. Mit dieser Inszenierung sollte zugleich Gehorsam und Disziplin der Gefolgschaft anerzogen werden, auch wenn diese Ab- sicht seitens der DAF öffentlich zurückgewiesen wurde.417 Nach Heuel galten Betriebsappelle als Erlebnisform der prokla- mierten Betriebsgemeinschaft, in der sie ihre Wahrheit beweisen und die Gemeinschaft praktisch eingeübt werden sollte.418 Als we- sentliches Element gehörten demnach zum Appell als ideologischer Wirkungsform das Zusammentreffen sämtlicher Betriebsangehöri- gen, also Lohnarbeiter genauso wie Abteilungsleiter, Meister und Betriebsführer. Hierdurch sollte die Wirklichkeit sozialer Herrschaft ohne Klassenunterschiede, wie sie vom NS-Regime propagiert wer- den, auch erlebt werden. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass der Betriebsappell, als ursächlich militärisches Ritual auf das Unternehmen übertragen, nicht eine auf Freiwilligkeit basierende, sondern ein zwangsweise Zusammenkunft darstellte. Zwar wurde der Appell von den Nationalsozialisten als eine Handlungsform ge- lungener Gemeinschaftlichkeit, als geschlossene Ordnung inter- pretiert, jedoch war er im Ergebnis eine Demonstration der real existierenden Herrschaftsverhältnisse: Die Gefolgschaft war vor dem „Führer“ des Betriebes angetreten, um von diesem Weisungen entgegenzunehmen. Ordnung und Disziplin, Befehl und Gehorsam wurden hierdurch als grundlegende Strukturen im Arbeitsprozess unterstrichen. Zentraler Gegenstand der Reden Gerhard Fieselers während der Betriebsappelle war die betont offenkundige Darstellung der Erfolge und Probleme bei der Produktion sowie der sozialen Errungen- schaften des Betriebes. Diese Art Rechenschaftsbericht sollte den Anschein erwecken, dass betriebswirtschaftliche Entscheidungen und Kalkulation stets im Interesse aller Betriebsangehörigen er-

417 Vgl. ebd. 418 Vgl. Heuel, Eberhard: Der umworbene Stand [wie Anm. 262], S. 556.

134 folgten. Gleichzeitig wurde der Gefolgschaft jedoch vor Augen ge- führt, dass die zukünftige Entwicklung des Unternehmens in ho- hem Maße von der „bereitwilligen“ Leistung aller Arbeiter abhängig sei. Zielsetzung war es, durch die Offenheit der Berichterstattung ein Vertrauensverhältnis zwischen Betriebsführer und Gefolgschaft zu konstituieren, das schließlich zur Identifikation der Betriebsan- gehörigen mit ihrem Betrieb beitragen und zugleich eine Unterord- nung der Arbeiter unter den wirtschaftlichen Betriebszweck und den damit angeblich verbundenen Sachzwängen, wie z.B. dem ver- ordneten Niedriglohn, erwirken sollte. „Zu Beginn seiner Rede be- grüßte unser Betriebsführer zunächst die erschienenen Gäste und gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß auch für sie als Werksfremde ein Betriebsappell im Reiche Adolf Hitlers ein Erlebnis sein möge. Dann wandte er sich seiner Gefolgschaft zu, die Kopf an Kopf die riesige Halle füllte. Nachdem er einen kurzen Rückblick über das politische Geschehen dieses Herbstes geworfen hatte, begrüßte er die seit dem letzten Betriebsappell im März neu eingetretenen Ge- folgschaftsmitglieder als neue Arbeitskameraden und –kameradin- nen. Nachdem wir nun Musterbetrieb geworden seien, bedeute das bei allem berechtigten Stolze nicht, daß wir die Hände in den Schoß legen und das Weiterstreben nun den Anderen überlassen würden. Im Gegenteil: Die Zukunft solle und werde noch größere Taten auf sozialem Gebiete sehen als die Vergangenheit. Dies sei aber nur möglich, wenn die ganze Gefolgschaft ihn in seinen Bestrebungen unterstütze. [...] Immer wieder findet man Leute [...], die gar nicht begreifen und scheinbar auch gar nicht begreifen wollen, daß in je- dem Unternehmen für eine bestimmte Geldausgabe eine bestimmte Menge Arbeit geleistet sein muß. [...] Heute wird alles das von staat- lichen Organen geleitet und überwacht. Und der Führer selbst hat die Richtlinien gegeben, indem er erklärte: Höhere Löhne und Gehäl- ter nur bei höherer Arbeitsleistung. Auf unseren Betrieb angewendet, heißt das: Bauen wir unsere Flugzeuge in weniger Stunden und mit weniger Unkosten, dann können unsere Gefolgschaftsmitglieder mehr verdienen“419 Mit Ermahnungen zur Pflichterfüllung, Beispielen schlechter Ar- beitsauffassung und Lobeshymnen auf die „fühlbare“ Kamerad- schaft im Fieseler-Werk, die nach den Worten Gerhard Fieselers durch das Verhalten einiger „ganz Schlauer“ nicht getrübt werden könne, versuchte der Betriebsführer die Betriebsgemeinschaft in

419 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 2 u. 3.

135 seinem Werk zu gehorsamer Gefolgschaft anzuspornen. Über die Resonanz dieser Betriebsappelle bei den Betriebsangehörigen des Fieseler-Werks kann nichts ausgesagt werden. Einer allgemeinen Beurteilung nach Frese folgend, fanden diese Appelle bei den Be- legschaften kaum Zustimmung. „So berichten einerseits die SOPADE, die in der Emigration befindliche SPD, und andererseits die Gestapo in einer Reihe von Betriebsanalysen, daß zahlreiche Arbeit- nehmer den Appellen fernblieben oder nur unter Androhung von Zwangsmaßnahmen bis hin zur Entlassung teilnahmen. Selbst wenn die Unternehmen die ausfallende oder zusätzliche Arbeitszeit be- zahlten, zeigten die Beschäftigten wenig Interesse.“420 In Abhängig- keit von der Anzahl der durchgeführten Betriebsappelle mag es jedoch Unterschiede von Betrieb zu Betrieb gegeben haben. In den Fieseler-Werken wurden ein bis zwei Betriebsappelle pro Jahr durchgeführt.421 Diese Tatsache berechtigt zu der Annahme, dass Fieseler nur dann Appelle einberief, wenn diese inhaltlich ausge- füllt werden konnten, meist mit einem Rückblick über die Leistun- gen des vergangenen Jahres, um so die propagandistische Wirkung zu erhalten. Neben den Betriebsappellen wurden jedoch noch Ap- pelle zu besonderen Anlässen durchgeführt, an denen aber nicht immer alle Betriebsangehörigen teilnehmen mussten. Zu nennen sind in diesem Kontext u.a. ein Betriebsappell anlässlich des Be- suchs von Reichorganisationsleiter Ley am 4. April 1940, ein Frau- en-Betriebsappell, die Appelle anlässlich der Feier zum „Tag der nationalen Arbeit“ am 1. Mai und zum Kriegsbeginn am 1. Septem- ber 1939 sowie mehrere Betriebssport- und Unterführerappelle.422 Letztere dienten dazu, die „Unterführer“ des Werks, beispielsweise Meister oder Abteilungsleiter, über ihre Führungsaufgaben im Be-

420 Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 369. 421 Die Angaben basieren auf Berichten aus dem Verfasser vorliegenden Exempla- ren der Fieseler-Zeitschrift. Hiernach wurden 1938 zwei Betriebsappelle, 1939 und 1942 jeweils ein Betriebsappell durchgeführt. 422 Vgl. hierzu u.a. 1. Mai (Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1939, S. 6), Frauen- Betriebsappell (Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/1940, S. 4 u. 5.), Besuch Leys (Fie- seler-Zeitschrift Nr. 5/1940, S. 3-5), Betriebssportappell (Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/11/1940, S. 14 u. Nr. 7/8/1938, S. 1), Unterführerappell (Fieseler- Zeitschrift Nr. 4/5/1941, S. 13 u. 14), Kriegsbeginn 1939 (Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 3 ff.). Darüber hinaus wurden Appelle einberufen, um beispielsweise über den Feld- zug in Russland zu informieren. So z.B. am 25. und 26.9.1941 im Werk I und II, ebenfalls unter Anwesenheit Gerhard Fieselers (Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 10-12/1941, S. 8.

136 trieb zu unterrichten und Aufklärungsarbeit über Stellung des Vertrauensrates und der politischen Arbeit des Betriebsobmanns zu leisten.423

Gerhard Fieseler begrüßte am 4. April 1940 Reichsor- ganisationsleiter Robert Ley in seinem Werk

Abnahme des Appells (von rechts nach links: Ley, Gauob- mann Köhler, Be- triebsführer Gerhard Fieseler, Betriebsob- mann Keßler und Gauleiter Karl Wein- rich)

423 Vgl. hierzu u.a. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/5/1941, S. 13 u. 14.

137 Besondere Bedeutung wurde den Lehrlingsverpflichtungen und den Lehrlingsfreisprechungen sowie den Reichjugendappellen gewidmet. Die Jugend galt als Garant für die zukunftspolitische Gestaltung und Erhaltung des Dritten Reiches, und die Nationalsozialisten waren bemüht, die Jugendlichen mit allen Mitteln in diese Rolle hinein- wachsen zu lassen. Hierzu zählten auch die oben genannten Veranstaltungen, mit denen auf die Jugendlichen indok- trinär eingewirkt werden sollte. Im Fieseler-Werk ver- sammelten sich an- Lehrlingsfreisprechung im Herbst 1942; rechts Betriebsobmann Keßler lässlich der Lehr- lingsverpflichtung und -freisprechung die Jugendlichen zu einem feierlichen Appell im Kameradschaftshaus. Ähnlich wie beim Be- triebsappell bildeten Flaggenparade und Musik des Werkorchesters den Rahmen, empfangen wurden sie von der Betriebsführung und dem Betriebsobmann. „Die Veranstaltung begann mit einem schmet- ternden Fanfarenstoß unseres Werkblasorchesters. Ein Wort von Dr. Ley leitete über zu einer kurzen Ansprache des Lehrherrn Dr. Banz- haf. [...] Die Jugend, so sagte Dr. Banzhaf, hat nicht nach Rechten zu fragen, sie kennt vor allem Pflichten. Wichtig ist allein, eine gegebene Aufgabe mit dem ganzen persönlichen Einsatz zu erfüllen. [...] Der Betriebsjugendwalter bat den Betriebsobmann, die Freisprechung vorzunehmen. Die Fahne der DAF senkte sich, der Sprecher der Lehrlinge empfing symbolisch für alle seine Kameraden den Hand- schlag.“424 Zum Reichsjugendappell wurden die Jugendlichen des Werks ebenfalls gemeinschaftlich versammelt. Um dem feierlichen Anlass Ausdruck zu verleihen, war als Kleiderordnung das Anlegen der HJ-Uniform vorgegeben. Nach einer Begrüßung durch den Be- triebsführer oder seinen Stellvertreter Thalau erfolgte im Anschluss die Anhörung der über alle Reichssender übertragenen Ansprache

424 Ebd., S. 13.

138 des Leiters des Jugendamtes der DAF, Oberbannführer Schröder, im Gemeinschaftsempfang.425 Beendet wurde der Appell mit einem Antritt vor dem Kameradschaftshaus. „In ihren schneidigen HJ- Uniformen und schmucken BDM-Trachten boten sie ein ebenso prächtiges wie seltenes Bild.“426

Appell der Fieseler-Betriebsjugend Bei betrieblichen Festveranstaltungen war das Bild stets von dem Aufmarsch uniformierter Betriebsangehöriger geprägt. Diese Män- ner gehörten der Fieseler-Werkschar an. Diese Einrichtung ver- stand sich als die maßgebliche politische Organisation – die Elite- truppe des Betriebes – und Zentrale der DAF-Arbeit im Fieseler- Werk. Im September 1934 von Ley ins Leben gerufen, sollten Werk- scharen die in einer Firma arbeitenden Angehörigen der NSDAP oder anderer NS-Organisationen erfassen und im Unternehmen kulturelle Aufgaben und weltanschauliche Schulung überneh- men.427 Die Fieseler-Werkschar wurde im Sommer 1936 gegründet. Sie bestand zunächst aus einer Gruppe, wurde jedoch später um eine zweite Werkschar erweitert. In mehreren Artikeln der Fieseler- Zeitschrift wird sich ihrer Funktion gewidmet. So heißt es in einem Bericht von Werkschar-Rottenführer Th. Kolbe: „Es ist heute kein Betrieb mehr ohne diese Garde denkbar, denn die Werkschar ist der Träger des nationalsozialistischen Gedankengutes im Betrieb, sie ist

425 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1939, S. 7 u. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/5/1941, S. 13. 426 Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1939, S. 7. 427 Vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 441.

139 der Stoßtrupp des Dritten Reiches. Sie ist die Gemeinschaft junger, gläubiger und einsatzbereiter Idealisten, die sich auf Gedeih und Verderb der Sache des Führers und vor allen Dingen der Deutschen Arbeitsfront innerhalb unserer Betriebsgemeinschaft verschrieben fühlen. Um es mit einem Wort zu sagen: Die Werkschar ist die SA des Betriebes.“428 Die auf Ley zurückgehende Bezeichnung „Stoßtrupp des Dritten Reiches“ entsprach jedoch kaum der Realität. Der Aufbau der Werkscharen in den Betrieben verlief bis 1936 nur zögerlich. Ende des Jahres 1936 bestanden reichsweit lediglich 1.400 Werkscharen mit rund 40.000 Mitgliedern.429 Mit der Ausweitung ihrer sozialpo- litischen Aktivitäten organisierte die Arbeitsfront ab 1937 die Werkscharen neu und definierte ihren Aufgabenbereich genauer. Erst hiernach kam es zu verstärktem Zulauf. Nach eigenen Anga- ben der Arbeitsfront existierten im Oktober 1939 schließlich 9.143 Werkscharen mit etwa 300.000 Mitgliedern. Jedoch wurde das an- gestrebte Ziel, zehn Prozent der jeweiligen Belegschaften in die Werkschar aufzunehmen, nur in Ausnahmefällen erreicht. Zudem wiesen die Werkscharen eine hohe Fluktuationsrate ihrer Mitglie- der auf, die nicht zuletzt auf den eintönigen Dienst, der sich auf militärischen Drill begrenzte, und die zeitliche Beanspruchung zu- rückzuführen war. Die DAF erhoffte sich über die Werkschar als „politische Kampf- truppe“ mehr Einfluss in den Betrieben sowie eine bessere ideologi- sche Ausrichtung und Kontrolle über die DAF-Betriebswalter zu erhalten. Zudem bot Ley den Betriebsführern an, mit Hilfe der Werkschar auftretende Störungen im Betrieb augenblicklich zu beseitigen. Allerdings war dieses Aufgabenfeld bereits von SD und Gestapo besetzt worden, die auch DAF und Werkschar intensiv observierten. Die Werkschar im Fieseler-Werk gliederte sich nach einem von der DAF vorgegebenen einheitlichen Muster in einen Werktrupp und einen Stoßtrupp.430 Der Werktrupp bildete den Stamm der Werk- schar und unterstand direkt dem Betriebsobmann. Er umfasste sämtliche Zellen- und Blockobmänner, Walter und Warte. Die Auf- gabe des Werktrupps bestand insbesondere in der „politischen Be-

428 Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1938, S. 22. 429 Diese und nachfolgende Zahlen aus Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 443. 430 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Fieseler-Zeitschrift Nr. 9/1939, S. 12.

140 treuung“ der Gefolgschaft. Zu diesem Zweck war der Betrieb in einzelne Zellen und Blocks untergliedert, die jeweils in dem Zu- ständigkeitsbereich eines zugeteilten Werkscharangehörigen lagen. Der Stoßtrupp wurde als die „aktive“ Werkschar bezeichnet. Ge- führt wurde er von einem Stoßtruppführer, dem wiederum drei Truppführer und ein Werkscharmeister helfend zur Seite standen. Waren in einem Betrieb mehr als ein Stoßtrupp vorhanden, so wurde ein Hauptstoßtruppführer ernannt, der den Stoßtrupps vor- stand. Jeder Stoßtrupp wurde noch einmal in drei Arbeitsgruppen unterteilt:

Arbeitsgruppe für Berufserziehung Angehörige dieser Gruppe bekamen in regelmäßigen Dienststunden Richtlinien und Ausbildung durch den Be- triebsberufswalter, der seine Anweisungen direkt von der DAF erhielt.

Arbeitsgruppe für Volksgesundheit Mitglieder des Werkschar-Gesundheitstrupps erhielten eine Ausbildung durch den Betriebsarzt und die SA-Sanitäts- gruppe. Sie wurden bei Notfällen (Unfall oder Krankheit) eingesetzt.

Arbeitsgruppe „Kraft durch Freude“ Die Aufgabe dieser Gruppe bestand im wesentlichen in der Gestaltung und Ausschmückung von Betriebsappellen (Kampflieder singen, Sprechchöre o. ä.) sowie im Einsatz in der Freizeit- und Feierabendgestaltung und der Pflege des Werks im Sinne von „Schönheit der Arbeit“.

Wie die Arbeitsgruppe Berufserziehung unterstanden die anderen beiden Gruppen bezüglich der Schulung ebenfalls einem speziellen DAF-Betriebsfunktionär, dem Gesundheitswalter bzw. dem KDF- Wart. Der regelmäßig durchgeführte Werkschardienst war in erster Linie durch weltanschauliche Schulung und soldatische Ausbildung wie Exerzieren und militärischen Ordnungsdienst geprägt. Ehre, Treue, Kameradschaft, Leistung und Gehorsam waren die leitenden Prin- zipien, nach denen die Werkschar ausgerichtet war. „Die Werk- scharen waren daher der offenkundige Ausdruck allgemeiner Milita- risierung der Betriebe im Zuge der Aufrüstung. Ihren besonderen

141 Ausdruck fand die nationalsozialistische Ausrichtung 1939 in der Unterstellung der Werkscharen unter die Partei und der Ernennung der Werkscharmänner zu politischen Leitern der NSDAP.“431 Letzt- lich war die Werkschar für die DAF die wichtigste Organisations- form im Betrieb, um die durch das AOG festgelegte Vormachtstel- lung des Betriebsführers im Unternehmen zu unterlaufen.432 Dem Betriebsobmann, der zugleich oberster Werkscharführer war, wurde seitens der DAF eine bedeutende Position zugewiesen. Dem- nach war seine Stellung innerhalb des Betriebes direkt unter der des Betriebsführers anzusiedeln. Zur genaueren Beschreibung sei- nes Aufgabenfeldes wurden gerne militärische Vergleiche herange- zogen: „Der Betriebsführer ist der Hauptmann, der Betriebsobmann der Feldwebel der Betriebe, hat Dr. Ley einmal gesagt und damit das Verhältnis zwischen beiden treffend charakterisiert. Der Feld- webel übt und exerziert mit der Mannschaft, während der Haupt- mann über dem ganzen steht.“433 Wesentlich zurückhaltender defi- nierte Gerhard Fieseler die Kompetenzen des Betriebsobmannes, indem er diesen als Mittler zwischen den Anforderungen des Be- triebes und denen der DAF bezeichnete. Gleichzeitig wies er dem Betriebsobmann eine nicht leicht zu lösende Aufgabe zu, die jedoch innerhalb des Fieseler-Werks bisher immer im beiderseitigen Ein- vernehmen erfolgt sei.434 Aus den beiden Erklärungen wird das oben erwähnte Kompetenzgerangel um innerbetriebliche Führung und Aufgabenbereiche zwischen Betriebsführer und DAF ersicht- lich. Entscheidend in diesem Zusammenhang war, dass der Be- triebsobmann als DAF-Betriebsfunktionär nicht der staatlichen, sondern der Kontrolle der Partei unterstand und somit außerhalb des Einflussbereiches des Betriebsführers stand. In einer späteren Ausgabe der Fieseler-Zeitschrift umriss Betriebsobmann Keßler persönlich noch einmal sein Wirkungsfeld: „Der Betriebsobmann als Beauftragter der Partei mit seinen Zellen- und Blockmännern hat das politische Geschehen und die sozialen Belange im Betrieb zu überwachen und ist dafür verantwortlich, daß politisch unsaubere, asoziale Elemente aus der Betriebsgemeinschaft ausgemerzt und zur Strecke gebracht werden.“435

431 Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 445. 432 Vgl. ebd., S. 448. 433 Fieseler-Zeitschrift Nr. 9/1939, S. 12. 434 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/5/1941, S. 14. 435 Ebd., S. 13.

142 Der offen ausgesprochene Anspruch Keßlers, alle Betriebsangehö- rigen auf „Linie zu bringen“, zeugt von seiner machtvollen Stellung als politischer Funktionär, „verdächtige“ Gefolgschaftsmitglieder zu belangen und aus der Betriebsgemeinschaft auszustoßen. Wenngleich das Verhältnis zwi- schen Betriebsführer und Betriebsobmann in der Folgezeit rechtlich ungeklärt und damit auch angespannt blieb, ist die ständige Be- mühung des Betriebsobmanns um Einfluss- nahme auf die Betriebsangehörigen, bei- spielsweise durch Redebeiträge bei Be- triebsappellen oder durch Engagement bei Lehrlingsverpflichtungen, ein Beleg für das Bestreben der DAF, diesen als organisatori- schen Mittelpunkt der Betriebsarbeit und somit als einflussreiche, systemtreue Füh- rungsposition neben dem Betriebsführer im Fieseler-Werk zu etablieren.436 Betriebsobmann Hans Keßler

Soziale Einrichtungen Bereits die Betriebsordnung des Fieseler-Werks widmete sich in einem eigenen Abschnitt den Sozial- und Fürsorgeeinrichtungen des Betriebes. Hierdurch wurde der Verpflichtung des Betriebsfüh- rers Ausdruck verliehen, sich für das soziale Wohlergehen der Be- legschaft einzusetzen. „Das Ziel ist Leistungssteigerung durch eine mustergültige soziale Gestaltung des Betriebes. [...] Die Sorge des Betriebsführers wird sich auf den gesamten Lebenskreis eines jeden Gefolgschaftsmitgliedes erstrecken; er wacht über dessen gesund- heitliche, wirtschaftliche und kulturelle Betreuung durch seine Be- auftragten. Betriebsärzte, soziale Betriebsarbeiterinnen, Freizeitge- stalter, Sport- und KdF-Warte sind insbesondere seine haupt- und ehrenamtlichen .“437 In den folgenden Artikeln wurden die sozialen Fürsorgeeinrichtungen im einzelnen aufgeführt. Sie um-

436 Vgl. Frese, Matthias: Betriebspolitik im „Dritten Reich“ [wie Anm. 62], S. 447. Ende der 30er Jahre hatten sich die Zielsetzungen bei der gesetzlichen Veran- kerung der Betriebsobmänner umgekehrt. Die DAF legt keinen besonderen Wert mehr auf rechtlichen Schutz, während Reichsregierung und Industrie die Betriebsobmänner mit den Vertrauensmännern rechtlich gleichstellen wollten. Ziel war es, die Betriebsfunktionäre der DAF durch Eingliederung in das AOG zu disziplinieren. 437 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. III Anlage Betriebsordnung, S. 30 u. 31.

143 fassten folgende Bereiche: Gesundheitsführung (Artikel 38), Frau- en- und Mütterschutz (Artikel 39), Erholung (Artikel 40), Werkspargemeinschaft und wirtschaftliche Betreuung (Artikel 41), Rechtsbetreuung (Artikel 42), Berufliche und fachliche Förderung (Artikel 43), Kulturelle Betreuung (Artikel 44), Arbeitspausen und Kameradschaftshäuser (Artikel 45), Altersversorgung (Artikel 46), Siedlung (Artikel 47) und Förderung der Eheschließung und der Geburtenfreudigkeit (Artikel 48). Mit der Verankerung der sozialen Einrichtungen in der Betriebsordnung sollte vor allem auch die Sorge Gerhard Fieselers um seine Gefolgschaft hervorgehoben und damit die Idee der Betriebsgemeinschaft gestärkt werden. Häufig beschränkten sich die Artikel in ihren Ausführungen auf propa- gandistische Anpreisung der Institutionen. Einige Auszüge ver- deutlichen diese Absicht:438

Artikel 44: „Es wird ihm jedoch durch die Firma die Möglichkeit gegeben, sich auf künstlerischem oder wissenschaftlichem Gebiet weiterzubilden. [...] Durch alle diese Einrichtungen, insbesondere durch die Zusam- menarbeit mit den Organisationen der DAF, ist die Teilnahme an allen völkischen Kulturgütern jedem ermöglicht.“

Artikel 45: „Konzerte während der Arbeitspausen, schöne gärtnerische Anlagen, Ruhewiesen, Bänke und Kameradschaftshäuser bieten alle Möglich- keiten, die Pausen angenehm zu gestalten. Gegen geringes Entgelt werden warme Mahlzeiten bereitgestellt, bei deren Zusammenset- zung die Erkenntnisse der neuzeitlichen Ernährungslehre weitge- hendst berücksichtigt [...] werden.“

Artikel 46: „Die Betriebsgemeinschaft soll von jedem Gefolgschaftsmitglied als die Grundlage seines Lebensschicksals angesehen werden.“

Artikel 47: „Die Fieseler-Siedlung fördert gesundes und betriebsnahes Woh- nen.“

438 Folgende Beispiele aus ebd., S. 33-36.

144 Anlässlich der Ernennung zum „Nationalsozialistischen Musterbe- trieb“ im Jahre 1938 wurde den Lesern in der Maiausgabe des glei- chen Jahres in einem Artikel mit dem Titel: „Warum wir National- sozialistischer Musterbetrieb wurden“ eine Übersicht über die so- ziale Arbeit und Fürsorge des Betriebes gegeben.439 Nach den Wor- ten Gerhard Fieselers waren ihm Maßnahmen zur Gesundheitsför- derung besonders wichtig. „Als Betriebsführer muß ich mich mit vielen Problemen beschäftigen. Eines der schönsten – aber auch das am schwersten zu lösende – ist zweifellos eine sog. Gesundheitsfüh- rung der gesamten Betriebsgemeinschaft.“440 Diese Äußerung Fie- selers darf jedoch nicht über die eigentliche Zielsetzung einer sys- tematischen Gesundheitspolitik im Fieseler-Werk hinwegtäuschen. Vorrangiges Ziel war es, im Rahmen des Vierjahresplans vor allem die Leistungskraft der Betriebsangehörigen zu erhalten bzw. zu steigern. Diese Absicht wurde auch immer wieder in der Fieseler- Zeitschrift betont: „Es ist in unserer F-Z zum wiederholten Male klar und scharf umrissen worden, was mit dieser nationalsozialistischen [!, d.V.] Gesundheitsführung gemeint ist [...] Der Werks-arzt soll und will der stets hilfs- und einsatzbereite Berater und Betreuer in ge- sundheitlichen Fragen sein und Gegenstand der Beratung sollen nicht allein und nicht in erster Linie ausgebildete Endzustände krankhafter Veränderungen oder gar nur Unfälle sein, sondern mehr und mehr soll es das sein, was den Sinn der positiven Gesundheits- führung ausmacht: `Was habe ich zu tun oder zu lassen, um gesund zu bleiben? Was schadet meiner Leistungsfähigkeit und wodurch kann ich sie steigern?´ Erhaltung und Hebung der Gesundheit und Leistungssteigerung, sie sind die sittlichen Pflichten eines jeden dem Volksganzen gegenüber und eine Dankesbezeugung zugleich für Mühe und Kostenaufwand des Betriebsführers.“441 Zu dem oben genannten Zweck wurden zwei Gesundheitshäuser gebaut und eingerichtet. Das erste wurde am 1. April 1938 im Werk I eröffnet, ein weiteres im Jahre 1939 im Werk II fertiggestellt. In diesen Gebäuden waren Arztzimmer, Verbandsstelle, ein Solari- um (Sonnenraum) und eine nach kneippschen Gesichtspunkten konzipierte Badeanstalt untergebracht. Geleitet wurde die Gesund- heitsbetreuung zunächst vom Betriebsarzt Dr. Kühnen und seit dem 1. Dezember 1938 von Dr. Mehren. Dieser wurde unterstützt

439 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 3-21. 440 Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 4. 441 Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1939, S. 2 u. 3.

145 Fieseler-Betriebsjugend vor dem Gesundheits- haus durch Assistenzärzte, Zahnärzte und weitere hauptamtliche Hilfs- kräfte sowie den Werkschar-Gesundheitstrupp. Vom Werksarzt fachlich geschult wurde dieser „Stoßtrupp“ im gesamten Betrieb eingesetzt. Seine Aufgaben bestanden darin, die Fieseler- Mitarbeiter über die Möglichkeiten des Gesundheitsdienstes zu informieren, den Arzt in Notfällen zu benachrichtigen und gegebe- nenfalls die Inanspruchnahme der Betriebswarte zu vermitteln. Die Betreuung kranker Personen beschränkte sich nicht auf Mitar- beiter des Fieseler-Werks, sondern schloss die Familienmitglieder mit ein.442 Die Badeanstalt und das Solarium stand allen „Gefolg- schaftsmitgliedern“ nach der Arbeit und Patienten mit akuten Be- schwerden auch während der Arbeitszeit zur Verfügung. Als lang- fristiges Ziel wurde angestrebt, durch Vorsorgemaßnahmen die Fieseler-Belegschaft gesund zu erhalten und die Zahl der Krank- meldungen zu verringern. Gerhard Fieseler sagte hierzu: „Das Pro- blem der Gesundheitsführung besteht nicht darin, den Kranken ge- sund zu machen, sondern den Gesunden nicht krank werden zu lassen.“443 So konnten z.B. gesundheitlich schwächere Mitarbeiter während der Arbeitszeit im Gesundheitshaus eine Badekur machen und im Winter wurden dort jeweils Gruppen von 20 Personen be- treut.444 Zunächst wurden die Mitarbeiter in den Badekabinen be-

442 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/3/1940, S. 6 u.7. 443 Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 4. 444 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 229 u. 230.

146 handelt, um hiernach unter der Anleitung eines Bademeisters im Solarium eine halbe Stunde lang körperliche Übungen durchzufüh- ren.

Fieseler-Betriebsangehörige bei der Behandlung im Gesundheitshaus

Die Gesundheitsfürsorge in dem Betrieb wurde kontinuierlich und systematisch ausgebaut. Einen Höhepunkt bildete die Einrichtung einer Sektionskrankenkasse im Unternehmen, die am 2. Januar 1939 unter dem Namen „Allgemeine Ortskrankenkasse für den Stadtkreis Kassel Sektion Fieseler-Flugzeugbau“ ihr Büro eröffne- te.445 Versicherungsträger blieb weiterhin die AOK, jedoch konnten Betriebsangehörige fortan ihre Geschäfte direkt im Werk abwickeln. Darüber hinaus waren mit dieser Einrichtung günstigere Beitrags- sätze und verbesserte Leistungen gegenüber den Mitgliedern ver- bunden. Die ursprüngliche Zielsetzung, die Eröffnung einer werkseigenen Krankenkasse, war durch eine Verordnung des Reichsarbeitsministers vom 10. Oktober 1934 untersagt worden.446 Die präventiven Maßnahmen zur Gesunderhaltung beschränkten sich indes nicht ausschließlich auf Behandlungen im Gesund- heitshaus. Auf Veranlassung des Werksarztes wurde beispielsweise an Lackierer und Lehrlinge kostenlos Milch ausgegeben, die Werksküche um die Einrichtung einer Diätküche erweitert, und einzelne Mitarbeiter wurden in Kuren oder auf KdF-Reisen ge- schickt. Im Stundenplan der Lehrlinge waren während ihrer Ar-

445 In der Ausgabe Nr. 7/1938, S. 171 wird die Sektionskrankenkasse bereits für den 1. September 1938 angekündigt. 446 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1939, S. 4.

147 beitszeit Unterbrechungen zur Durchführung von Ausgleichssport vorgesehen. „Leibesübungen aller Art sorgen dafür, daß das Pro- gramm der Ausbildung nicht einseitig wird und ein Ausgleich zur Werkstatt-Tätigkeit geschaffen wird. So finden gymnastische Übun- gen, Leichtathletik und Ballspiele hinreichend im Stundenplan Be- rücksichtigung.“447 Darüber hinaus wurde die Betriebsgemeinschaft dazu angehalten, aus eigener Initiative etwas für die körperliche Ertüchtigung zu tun. Eigens hierfür wurde eine „Betriebssportgemeinschaft“ ins Leben gerufen, für deren Leitung ein hauptamtlicher KdF- und Betriebsportwart448 eingestellt wurde. Ziel war es, die Betriebsge- meinschaft durch „Sportgemeinschaft“ zu festigen und eine allge- meine Steigerung der Leistungsfähigkeit zu erzielen. Die Vorausset- zungen für die Durchführung des Betriebssports ermöglichte ge- mäß den DAF-Vorgaben weitgehend die Firma. Diese finanzierte die erforderlichen Sportgeräte, die Platz- und Schwimmbadmieten so- wie die Sportkleidung der Lehrlinge, und es wurden geeignete „Ge- folgschaftsmitglieder“ zu Übungsleiterlehrgängen entsandt. Die Teilnahme am Betriebssport erfolgte häufig auf Verordnung des Betriebsarztes, der die Mitarbeiter auf Grundlage der Einstellungs- bzw. Betriebsuntersuchungen den einzelnen Sportarten zuwies. Der Betriebssport umfasste ein breites Angebot, das im Laufe der Zeit erweitert wurde. Im Jahre 1941 bestanden folgende Abteilun- gen: Neben Handball, Fußball und Leichtathletik wurden Fechten, Frauengymnastik, Schwimmen, Boxen, Schwerathletik, Sport- schießen, Tischtennis, Faustball, Skifahren und Schach angebo- ten.449 1942 kamen Kegeln, Kunstradfahren und eine Breitensport- gruppe unter dem Namen „Fröhliche Körperschule“ hinzu. In den populären Sportarten wie Fußball, Handball oder Schach wurden Freundschaftsspiele gegen andere Firmenmannschaften und Verei- ne durchgeführt. Um ihre Forderungen im Bereich Betriebssport durchzusetzen, erfolgte auf Anlass des Amtes KdF die jährliche Durchführung der bereits erwähnten Betriebssportappelle. Hierzu ein Aufruf Leys in der Fieseler-Zeitschrift:

447 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 20, Beschreibung des Ausbildungslehr- plans. 448 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/1938, S. 19. 449 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/8/1939, S. 2 u. 3 u. Nr. 6/7/1941, S. 4 u. 5.

148 „Verfügung des Reichsorganisationsleiters zum Sportappell der Betriebe Die Gesunderhaltung und körperliche Ertüchtigung des schaffenden deutschen Menschen zählt zu den vordringlichsten Aufgaben der Deutschen Arbeitsfront. Als eines der wirksamsten und zugleich schönsten Mittel zur Lösung dieser Aufgabe haben im Wirkungsbereich der Deutschen Arbeits- front die Leibesübungen lebhafteste Förderung erfahren. Darum be- grüße ich freudig den Vorschlag des Reichssportführers von Tschammer und Osten, die deutschen Betriebe in jedem Jahr zu ei- nem

Sportappell der Betriebe aufzurufen. Dieser Sportappell soll eine machtvolle Kundgebung für den Gedan- ken der Leibeserziehung sein und auch den letzen Volksgenossen im Betriebe dem Sport aus freiem Willen und Wunsch zuführen. Die körperlichen Prüfungen haben einen Überblick über die körperli- che und gesundheitliche Verfassung der Schaffenden in den Betrie- ben zu vermitteln. Sie berühren den offiziellen Wettkampf des deut- schen Sports, der in der Hand des NS-Reichsbundes für Leibes- übungen liegt, in keiner Weise. Die Leitung des Sportappells liegt in den Händen des Reichssport- führers. Die Durchführung wird dem Sportamt der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ übertragen. Ich erwarte, daß sich die deut- schen Betriebe restlos an diesem Sportappell beteiligen und damit für das Ziel des Reichssportführers – Ein Volk in Leibesübungen – einen wesentlichen Beitrag leisten. gez. Dr. Ley Reichsorganisationsleiter der NSDAP“450

In der gleichen Ausgabe schloss sich Betriebsführer Gerhard Fie- seler dem Aufruf Leys an und forderte seine Gefolgschaftsmitglieder zur Teilnahme auf:

„ [...] Die Stellung unseres Werkes als `Nationalsozialistischer Mu- sterbetrieb´ verlangt, daß wir auch in der Gesunderhaltung und kör- perlichen Ertüchtigung unserer Gefolgschaft mit an der Spitze mar-

450 Fieseler Zeitschrift Nr. 7/1939, Rückseite Titelseite.

149 schieren. Das setzt voraus, daß alle Gefolgschaftsmitglieder, die bisher sportlicher Betätigung noch fernstanden, für die Idee der Lei- besübungen gewonnen werden und als äußeres Zeichen dafür sich am ´Sportappell der Betriebe´ beteiligen. Es werden von den Teilnehmern keine wettkampfmäßigen Leistun- gen erwartet; jeder soll lediglich durch Ausführung von leichten Aus- gleichsübungen, die den einzelnen Altersstufen angepaßt und jedem möglich sind, seinen guten Willen zur eigenen Gesundheits- und Lei- stungssteigerung zeigen. [...] Ich wünsche und erwarte daher, daß meine männlichen [!, d.V.] Ge- folgschaftsmitglieder, soweit sie nicht auf Grund eines ärztlichen Attestes vom Sport befreit sind, vollzählig an diesem `Sportappell der Betriebe 1939´ teilnehmen, damit das Endergebnis für unser Werk zu einem vollen Erfolg wird. Fieseler“451

Deutlich kommt in diesem Aufruf die eigentliche Zielsetzung der Fieseler-Werke, die mit einer „erfolgreichen“ Teilnahme am Sport- appell in Verbindung stand, zum Ausdruck: sich als „Nationalso- zialistischer Musterbetrieb“ zu bewähren. In diesem Sinne wurde schließlich auch nach dem „Sommersporttag der Betriebe“ 1940, bei dem mehrere Kasseler Betriebe gegeneinander antraten, seitens der Fieseler-Zeitschrift die Hoffnung ausgesprochen, im Ergebnis einen sehr guten Platz in der Reichsbewertung zu belegen.452 Um dieses Ziel zu erreichen, kam es vor allem darauf an, eine hervorra- gende gemeinschaftliche Leistung des Betriebes zu bieten. Nicht die Leistung des einzelnen stand im Vordergrund, sondern in Anleh- nung an das Ideal der Volksgemeinschaft die der Betriebsgemein- schaft, in der individuelles Leistungsstreben auszuschließen war. Zwar wurde mit dem Wettbewerb „Sportappell der Betriebe“ eine Art Konkurrenzsituation geschaffen, entsprechend jedoch dem zu Grunde liegenden Gedanken, „Ein Volk in Leibesübungen“ zu ver- wirklichen, „wird [...] damit eine solch große Erfassung von Volksge- nossen auf dem Gebiet der Leibesübungen erfolgen, wie es bisher durch keine andere Maßnahme erreicht werden konnte.“453 Folgende drei Kriterien wurden zur Bewertung eines teilnehmenden Betrie- bes herangezogen: (I) „Wettbewerb des guten Willens“, d. h., dass

451 Ebd., S. 1. 452 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/11/1940, S. 14. 453 Fieseler-Zeitschrift Nr. 9/1938, S. 213.

150 überhaupt Betriebsangehörige einen Bezug zum Sport aufbauen, (II) die sportliche Leistung der Mannschaften und (III) die Größe der Betriebssportgemeinschaft. Beim Appell orientierte man sich in den durchzuführenden Sportarten am SA-Sportabzeichen. Somit stan- den leichtathletische Disziplinen und wehrsportliche Übungen, u.a. Handgranatenweitwurf, im Vordergrund. Über den Sport hinaus wurden insbesondere im Bereich „Feier- abend- und Freizeitgestaltung“ Anstrengungen unternommen, um die Belegschaft mit der Firma enger zu einer Gemeinschaft ver- schmelzen zu lassen. In der Fieseler-Zeitschrift wurden die einzel- nen Freizeitmöglichkeiten immer wieder vorgestellt und den Mitar- beitern geradezu angepriesen. In der Aprilausgabe des Jahres 1938 ist unter der Rubrik „Freizeitgestaltung“ zu lesen: „Wir schaffen auch dem letzten Gefolgschaftsmitglied Gelegenheit, am Genuß der geistig-kulturellen Schätze unseres Volkes teilnehmen zu können.“454 Hiermit waren von der DAF bzw. von ihrem Amt KdF organisierte Freizeitarrangements gemeint, wozu insbesondere Besuche kultu- reller Veranstaltungen wie Theater- und Musikvorführungen, re- gelmäßig durchgeführte Fortbildungskurse und Vorträge, Kame- radschaftsabende und Betriebsausflüge, die Einrichtung einer Werksbücherei, einer Foto- und Filmabteilung sowie einer Flug- zeugmodellbaugruppe zählten. Im musischen Bereich wurde durch die Gründung einer Singgemeinschaft, eines Blas- und Streichor- chesters, einer Mundharmonikagemeinschaft und einer Theater- Laienspielgruppe ebenfalls um die Mitgliedschaft von „Gefolg- schaftsmitgliedern“ geworben. Als zutreffend kann nachfolgender Kommentar in der Fieseler-Zeitschrift gewertet werden: „Die Anteil- nahme unseres Betriebes an seinen Gefolgschaftsmitgliedern hört nicht im Werksbereich auf, sondern reicht weiter.“455 Im Spätsommer 1939 wurde das soziale Engagement des Betriebes durch die Einführung einer sogenannten „systematischen Sozial- betreuung“ ausgeweitet.456 Hierdurch sollte schließlich jeder Ar- beiter erfasst und der Kontrolle des Werkes unterworfen werden.457

454 Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 6. 455 Ebd. 456 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 7. 457 Vgl. hierzu Kapitel „Das System der Unzufriedenenbetreuung“

151 Die Fieseler-Siedlung In regelmäßigen Abständen wurde in der Fieseler-Zeitschrift aus dem Leben in der Fieseler-Werkssiedlung berichtet, die im Zuge der schnellen Vergrößerung des Betriebes und der damit verbundenen Anwerbung von Fachkräften errichtet worden war.458 In einem er- sten Bauprojekt waren zwischen Bettenhausen und Ochshausen zwei große Siedlungen errichtet worden, die Wohnungen für insge- samt 341 Familien boten. Sie konnten in den Jahren 1936 und 1937 bezogen werden. 1938 und 1939 wurden zwei weitere Sied- lungsabschnitte in Crumbach und Waldau gebaut. Den Werksan- gehörigen standen verschiedene Häusertypen zur Auswahl. Es gab sog. Geschosswohnungen in Zweifamilienhäusern, Eigenheime, Einfamilienhäuser und reine Siedlerstellen. Für leitende Direktoren wurden gesondert Häuser gebaut. Die Vergabe von Einfamilien- häusern und Siedlerstellen war mit der Erfüllung bestimmter Vor- aussetzungen bzw. Bedingungen verbunden. Wohnhäuser waren ausschließlich Werkmeistern und Ingenieuren vorbehalten und

Blick in die Fieseler- Siedlung (Bäumer- straße/ Ecke Schrö- derplatz)

458 Nähere Informationen zur Fieseler-Siedlung in Fieseler-Zeitschrift Nr. 5 1938, S. 8-11.

152 Bewerber für die „reinen Siedlerstellen“ mussten im Vorfeld den Nachweis ihrer „Siedlungsfähigkeit“ erbringen.459 Zu diesem Zweck wurde eine ärztliche Untersuchung durchgeführt, in der geprüft wurde, ob die entsprechenden Bewerber „erbgesund“ seien. Darü- ber hinaus sollten die Ehefrauen aus ländlichen Gegenden kom- men und Erfahrung in den Bereichen der Feldbewirtschaftung und Viehzucht haben. Die meisten Grundstücke waren so angelegt, dass die Bewohner der Siedlungen zumindest die Möglichkeit be- saßen, in einer eigenen Gartenfläche Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anzubauen oder sogar eine geringe Anzahl von Klein- tieren wie Hasen oder Hühner zu halten. Nach den Worten von A. Bolender sollten die Siedler ihre Verbun- denheit zu Boden und Scholle wiederfinden.460 Begründet wurde dieses Postulat damit, „daß gerade das Erleben des ganzen Natur- geschehens auf eigener Scholle dem Menschen die rechte Verbin- dung und Liebe zum Boden und Vaterland gibt und dem Staat den Bürger sichert, wie er ihn braucht zur Erhaltung des Volkes.“461 Durch den Bau der Siedlungen in den ländlichen Vororten Kassels sollte vor allem auch eine gesunde und kinderfreundliche Erzie- hung gewährleistet werden. „Gesunde Kinder sollen in unseren Siedlungen aufwachsen“,462 lautete die Forderung. Zur Unterstüt- zung der im Fieseler-Werk arbeitenden Eltern wurde zudem ein werkseigener Kindergarten eingerichtet, wo die Kinder während der Arbeitszeit betreut wurden.

Arbeitsbedingungen im Werk Die Einrichtungen und Veranstaltungen der Firma Fieseler auf den Gebieten der Freizeit, der Kultur und des Sports sind ein Spiegel der geförderten Maßnahmen bzw. Aktivitäten der nationalsozialisti- schen Organisation KdF, eine Unterorganisation der DAF. Ziel die- ser Organisation war es, durch ein umfangreiches kulturelles und touristisches Freizeitprogramm, das von Theateraufführungen und Konzerten über Kunstausstellungen und Vorträgen bis zu Reisen innerhalb Deutschlands und in verschiedene Länder Europas reichte, die „Volksgemeinschaft“ zu stärken sowie die Entspannung und die Regeneration der Arbeitskräfte zu unterstützen und damit

459 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 9. 460 Fieseler-Zeitschrift Nr. 8/1938, S. 186. 461 Ebd., S. 187. 462 Ebd., S. 186.

153 gleichzeitig die Arbeits- und Produktionsleistungen zu erhöhen. In diesem Rahmen sind auch die baulichen Maßnahmen zu sehen, die bei der Erweiterung des Betriebes berücksichtigt worden waren. Gefördert vom Amt „Schönheit der Arbeit“, das wiederum der Or- ganisation KdF untergeordnet war, sollte durch eine ansprechende Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsbedingungen das Leistungsvermögen der Belegschaft verbessert werden.463 Die Fie- seler-Zeitschrift beschreibt die Arbeitsbedingungen im Fieseler- Werk wie folgt: „Deshalb sind unsere sämtlichen Neubauten nicht nur betriebstechnisch zweckmäßig, sondern auch vom architektoni- schen und künstlerischen Standpunkt aus als schön zu bezeichnen. [...] Für eine unserer großen Empfangshallen hat der Kasseler Bild- hauer Paul Haeßler eine Adler-Skulptur in Stein geschlagen, eine andere Empfangshalle schmücken die Büsten des Führers und des Generalfeldmarschalls Göring. [...] Die Wege innerhalb des Betriebes sowie sämtliche Zufahrtswege sind mit sauberen Straßendecken versehen, z. T. asphaltiert. Saubere Höfe, künstlerische Eingänge, Liegewiesen, Grünflächen [...] vervollständigen das neuzeitliche und zweckmäßige äußere Bild unserer Werkanlagen. [...] Unsere Neubau- ten wurden daher unter ganz besonders reicher Verwendung von Glas errichtet. Selbstverständlich sind sämtliche Gebäude gut be- und entlüftbar. Werksanlagen, in denen erhöhte Staubentwicklung auftritt, werden künstlich entstaubt und klimatisiert. [...] Sämtliche sanitären Anlagen, insbesondere in unseren Neubauten, sind vor- bildlich.“464 Für die Versorgung der Arbeiter und Angestellten mit warmen Mahlzeiten und anderen Lebensmitteln wurden zwei Kamerad- schaftshäuser gebaut. Körper und Geist sollten in den Arbeitspau- sen hier ihre notwendige Erfrischung finden.465 Zugleich dienten sie – wie alle anderen Einrichtungen – der Stärkung des Zusam- mengehörigkeitsgefühls der Belegschaft und der Verbundenheit mit dem Betrieb.466 Im Hinblick auf den Mangel an Facharbeitern in der Flugzeugbran- che legte das Werk besonderen Wert auf die Lehrlingsausbildung,

463 Vgl. Recker, Marie-Luise: Schönheit der Arbeit, in: Benz, W., Graml. H. u. Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus [wie Anm. 19], S. 714. 464 Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 4 u. 5. 465 Vgl. ebd., S. 5. 466 Zu diesem Zweck gab es sogar eine Fieseler Schallplatte, auf der der „Gerhard Fieseler Marsch“ und der „Gerhard Fieseler Werkschar Marsch“ aufgenommen waren, vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 148.

154 um den eigenen Nachwuchs zu sichern.467 Zu diesem Zweck wur- den großzügig angelegte Lehrwerkstätten eingerichtet, die mit mo- dernen Geräten und Maschinen ausgestattet waren. Zudem wurde innerhalb des Unternehmens eine Werkberufsschule gegründet. Die Lehrzeit der Lehrlinge betrug vier Jahre und unterlag strengen Regeln. Ein ehemaliger Auszubildender der Fieseler-Werke berich- tet: „Vor allem wir Lehrlinge waren, man kann sagen, militärisch organisiert. Wir wurden mittags zum Essen in die Kantine geführt und abends bis zum Werkausgang. Wenn jemand während der Arbeitszeit auf Toilette ging, mußte er sich abmel- den und es wurde auf einer Karte ver- merkt.“468 Voraussetzung zur Aufnah- me als Lehrling war die Zugehörigkeit zur Hitlerjugend sowie der Abschluss der Volksschule.469 Für die in dem Bereich der Ausbildung geleistete Ar- beit wurde der Betrieb bereits im Fe- bruar 1938 mit dem Leistungsabzei- chen der DAF als anerkannte Berufs- erziehungsstätte ausgezeichnet. Er- gänzt wurde die Lehrlingsausbildung des Fieseler-Betriebes durch das Leistungsabzeichen der DAF für ebenfalls werkseigene „Berufserzie- vorbildliche Berufserziehung. Verlie- hen am 5. Februar 1938 an die hungswerk“, um durch Fortbildungs- „Gerhard Fieseler Werke“. maßnahmen den Mangel an Fachkräf- ten zu entschärfen. Insgesamt kann von einer hohen Motivation der meisten Beschäf- tigten der Fieseler-Werke und einem hohen Identifizierungsgrad mit Produkt und Werk ausgegangen werden. Beides stand allerdings nicht so sehr in Relation zum Lohnniveau, über das Prophanken bemerkt: „Es ist also unzutreffend, pauschalisierend vom hohen

467 Die Förderung des Nachwuchses, um den Mangel an Facharbeitern zu behe- ben, war eine allgemeine Zielsetzung des NS-Systems. Reichsarbeitsminister Seldte bemerkt hierzu: „Die Unterlassungssünden der Vergangenheit, die wir in dem gegenwärtigen Facharbeitermangel erkennen, will das Dritte Reich nicht wiederholen. Deshalb sieht es in der Lenkung und beruflichen Förderung des Nachwuchses eine besonders wichtige Aufgabe“, vgl. Seldte, Franz: Sozialpolitik im Dritten Reich [wie Anm. 261], S. 73. 468 Interview mit Herrn B. vom 11.1.2001. 469 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1938, S. 19.

155 Lohnniveau der Flugzeugbauer in der NS-Zeit zu sprechen; diese Aussage ist nur zutreffend für Gelernte, die Stücklohn erhielten. Die Löhne an ländlichen Standorten waren ebenfalls deutlich niedri- ger.“470 Vielmehr zählte sich der Flugzeugbauer als ausgesproche- ner Facharbeiter wegen seines hohen Qualifikationsniveaus zur Elite der Arbeiterschaft. Phrophanken hierzu: „Aufgrund des anhal- tenden Rüstungsbooms erschienen die Arbeitsplätze auf Dauer gesi- chert. Nach Jahren der Krise – und einem Leben nahe dem Exis- tenzminimum – waren nun, so schien es, für die Facharbeiter ambi- tiösere Lebensperspektiven realisierbar geworden, wenn auch das private Konsumniveau 1938/39 noch bescheiden war. Die national- sozialistische Betriebsgemeinschaftspropaganda wurde teils akzep- tiert, teils ignoriert, die ständige berufliche Überbelastung aufgrund des permanenten Facharbeitermangels als kaum abänderlich hinge- nommen.“471 Anhand der Darstellung der sozialen Einrichtungen wird deutlich, wie groß das Engagement des Fieseler-Unternehmens auf den von der DAF geförderten Gebieten zur Verbesserung der Arbeitsbedin- gungen und damit der Arbeitsleistung der Belegschaft war. Ger- hard Fieseler, der sich stets in der Rolle des fürsorglichen Be- triebsführer präsentierte, setzte die Richtlinien der DAF vorbildlich um, stellte sich aber selber als der Initiator der sozialen Maßnah- men und Einrichtungen dar.472 Die Firma hatte sich im nationalso- zialistischen System zum Vorzeigebetrieb entwickelt. Die Förderung der Organisationen wie DAF und KdF sind kennzeichnend für die Bindung der Firma an die nationalsozialistische Weltanschauung und deutet auf die Linientreue des Unternehmens, insbesondere aber auch Gerhard Fieselers hin. Die betriebliche Sozialpolitik wurde vordergründig zum Wohl der Belegschaft propagiert. Ziel der Einrichtungen und Aktivitäten war es jedoch, die Arbeitsleistung des einzelnen zu steigern. In dieser Hinsicht gab es weitere Bestre-

470 Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 135. Prophanken zeigt hier das Lohnniveau am Beispiel der Weser-Flugzeug-GmbH. 471 Ebd., S. 137. 472 Vgl. hierzu u.a. die Rede Gerhard Fieselers beim Betriebsappell am 27. Oktober 1938 in: Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 2-5: „Ich kann wohl alles mögliche veranlassen [...] Ich kann Werksärzte, Bademeister, Sportwarte und Fürsorge- rinnen einstellen. Ich kann erhöhte Sozialzulagen bezahlen, Schmutzzu- lagen...“ oder das Schreiben des Anwalts Fieselers zum Auftakt des Spruch- kammerverfahrens, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 33.

156 bungen seitens Gerhard Fieseler und der Direktion des Betriebes. Sie sollen im nächsten Punkt erläutert werden.

Steigerung der Arbeitsleistung durch „Leistungsüberwachung“ und „Unzufriedenenbetreuung“ Nicht alle Einrichtungen des Unternehmens wurden von der Beleg- schaft ohne weiteres als gerecht empfunden und akzeptiert. Hierzu gehörten die sog. „Unzufriedenenbetreuung“ – die auch als „syste- matische Sozialbetreuung“ bezeichnet wurde – und die „Leistungs- überwachung“. Beide Systeme, die direkt Gerhard Fieseler unter- standen, dienten dazu, Informationen über Arbeitsleistungen und -einstellungen der einzelnen Betriebsangehörigen sowie über un- zufriedene Mitarbeiter zu erlangen. Basierend auf dieser Grundlage wurden besonders pflichtbewusste und fleißige Arbeiter ermittelt und für ihre Leistungen von Gerhard Fieseler ausgezeichnet. Viele Mitarbeiter fühlten sich durch diese Einrichtungen überwacht, auch wenn in der Fieseler-Zeitschrift immer wieder betont wurde, dass die Betriebsführung lediglich Gedanken, Probleme und Wün- sche der Betriebsgefolgschaft besser kennen lernen wollte.473

Das System der Unzufriedenenbetreuung Durch die Einführung einer „systematischen Sozialbetreuung“ im Spätsommer 1939, die in der Folgezeit den Namen „Unzufriedenen- betreuung“ erhielt, sollte dem „sozialen“ Engagement des Betriebes eine noch weiterführende Dimension verliehen werden.474 Zwar seien die Sozialmaßnahmen in den Fieseler-Werken mit kaum ei- nem anderen Betrieb zu vergleichen, aber „trotz dieser umfangrei- chen und vielseitigen Fürsorge gibt es doch noch Fälle, die uner- kannt bleiben und nun in ihrer Auswirkung vielen Gefolgschaftsmit- gliedern die Freude an ihrer Arbeit nehmen und die für Gefolgschaft wie auch Allgemeinheit dringend erforderliche Leistungssteigerung verhindern.“475 Mit Hilfe der Unzufriedenenbetreuung sollten Mit- arbeiter, die sich ungerecht behandelt fühlten oder persönliche

473 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1942, S. 3 u. Nr. 3/1943, S. 6. 474 Das genaue Datum der Einführung der Systeme kann leider nicht festgestellt werden. In der Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 7 wird von der kurz zuvor eingerichteten Sozialbetreuung gesprochen und in der vierten Ausgabe der Fie- seler-Zeitschrift des Jahres 1942 wird angegeben, dass beide Einrichtungen seit 3 Jahren bestanden hätten, vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1942, S. 3. 475 Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 7

157 Probleme aufwiesen, ermittelt und nach Möglichkeit durch das Ergreifen entsprechender Maßnahmen zufrieden gestellt werden. „Oft sind es Kleinigkeiten, denen man schnell abhelfen kann; es können aber auch andere, vielfach persönliche Dinge sein, die seine Arbeitsfreudigkeit und positive Einstellung zu seiner Arbeit und sei- ner Betriebsgemeinschaft beeinflussen. Wir denken hier besonders an Gefolgschaftsmitglieder, die keine oder keine geeignete Wohnung [...] haben, [...] seit langem sich mit Schulden herumplagen oder von einem Vorgesetzten sich falsch behandelt glauben. Es gibt auch Ge- folgschaftsangehörige, die der Meinung sind, für ihre Arbeit einen höheren Verdienst oder einen längeren Urlaub beanspruchen zu dür- fen oder daß die Freigabe unberechtigt verweigert wurde. Auch kön- nen Krankheitsfälle in der Familie eine gewisse Notlage schaffen, und viele andere Gründe mehr können die Stimmung beeinflus- sen.“476 Trotz der in diesem Text hervorgehobenen positiven Aspekte der Sozialbetreuung darf allerdings nicht darüber hinweggesehen wer- den, dass ursächlich nicht der Wille zur Fürsorge für den Einzel- nen für die „sozialen“ Einrichtungen im Fieseler-Werk – und hier speziell der Unzufriedenenbetreuung – maßgeblich war, sondern das Ziel einer höchstmöglichen Leistung der Betriebsgemeinschaft. Weiter heißt es in dem Artikel: „[...] er [Gerhard Fieseler, d.V.] ist interessiert daran, alle diese Fälle zu kennen, in denen ein Gefolg- schaftsmitglied in seiner ganz persönlichen Einstellung zu Werk und Betriebsgemeinschaft mißverstanden, nicht richtig behandelt oder falsch eingesetzt zu sein glaubt. Wenn der Betriebsführer derartige Fälle kennt, hat er einen guten Maßstab für die Stimmung im Betrieb und eine Handhabe für Abhilfe. Viele Fälle sind auch oft in der Per- son und der Veranlagung des Gefolgschaftsmitgliedes selbst be- gründet; dann ist Abhilfe nicht immer möglich.“477 Schade, der Sekretär Fieselers, bemerkt in einem Aufsatz mit der Überschrift „Das Ziel ist Leistungssteigerung“ zu dieser Einrich- tung: „Hand in Hand mit der Leistungsbeurteilung geht die Unzu- friedenenbetreuung, eine soziale Einrichtung, wie sie bis heute kein anderer Betrieb außer uns aufweisen kann. Auch sie ist durch per- sönliche Initiative unseres Betriebsführers ins Leben gerufen worden und hat sich in den vergangenen 3 Jahren unendlich bewährt.“478

476 Ebd. 477 Ebd. 478 Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1942, S. 3.

158 Und der Betriebsdirektor Freyer sagte vor der Spruchkammer aus: „Ich selbst habe mit dem Betroffenen [Gerhard Fieseler, d.V.] dieses System der Leistungsbeurteilung – genannt Unzufriedenenbetreuung – entwickelt. Der Betroffene war der eigentliche Veranlasser dieser Betreuung.“479 Die Feststellung unzufriedener Mitarbeiter erfolgte dabei auf zwei Wegen. Betreffende Werksangehörige besaßen zunächst die Mög- lichkeit, sich aus eigener Initiative bei ihren betrieblichen Vorge- setzten zu melden. Konnte dieser keine zufriedenstellende Ent- scheidung herbeiführen, bestand die Möglichkeit, die Beschwerde oder das Problem dem Vertrauensmann vorzutragen. Konnte dieser ebenfalls nicht weiterhelfen, wurde der Betriebsobmann einge- schaltet, der in jedem Fall eine Meldung an den Betriebsführer machte.480 Wer hingegen seine Unzufriedenheit aus Angst vor mög- lichen negativen Konsequenzen verschwieg oder nur im Kreis sei- ner Kollegen zum Ausdruck brachte, wurde durch seinen Unter- führer, sobald dieser davon erfuhr, ohne vorherige Rücksprache gemeldet.481 Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, die einzelnen Instanzen zu überspringen und sich direkt an Gerhard Fieseler zu wenden. Während des Betriebsappells am 27. Oktober 1939 be- tonte dieser: „Jedem, der eine berechtigte Beschwerde hat, steht der direkte Weg zu mir offen. Ich beschäftige mich mit jedem an mich gerichteten Brief. Je kürzer dieser Brief, desto besser und schneller wird die Erledigung sein. Jeder, der auf dem vorgeschriebenen Dienstweg nicht zu seinem vermeintlichen Recht kommt, soll und muß sich bei mir persönlich beschweren.“482 In den meisten Beschwerdefällen, sofern sie nicht durch den Vor- gesetzten direkt befriedigt werden konnten, nahmen Mitarbeiter der Sozialabteilung Kontakt mit der betreffenden Person auf, um die Gründe der Unzufriedenheit herauszufinden und der Person weite- re Hilfe anzubieten.483 Bezeichnenderweise wurde die Sozialabtei- lung und die Unzufriedenenbetreuung ab 1941 von dem Be-

479 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I,3, Bl. 59r. 480 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1943, S. 6 (Artikel: „Jetzt langt`s mir aber“). 481 Vgl. hierzu das Kapitel „Das System der Leistungsüberwachung“ dieser Arbeit. Der Unterführer musste auf dem Leistungsbogen vermerken, ob sein Unterge- bener unzufrieden war. Vgl. hierzu auch Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1942, S. 10. 482 Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/12/1939, S. 2. 483 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 7 u. Nr. 3/1943, S. 13. Im Jahre 1939 waren zunächst zwei Hauptamtliche und 5 ehrenamtliche Sozialarbeiter für die einzelnen Abteilungen berufen worden.

159 triebsobmann Keßler geleitet, einem Mann, der sich als Werk- scharführer auf „Gedeih und Verderb“ dem Nationalsozialismus verschrieben hatte.484 Als Vertreter der DAF hatte er im Betrieb die Funktion, die Umsetzung der weltanschaulichen und politischen Zielsetzungen zu überwachen und war folglich dem nationalsoziali- stischen Regime besonders eng verbunden.485 Fieseler bemerkte über Keßler: „Keßler hat mir gegenüber immer wieder diese Dinge vorgebracht, z.B. daß dieser oder jener den Hitlergruß verweigert hätte.“486 Obwohl im Spruchkammerverfahren bestritten wurde, Keßler habe die ihm anvertrauten Einrichtungen dazu benutzt, um regimekritische Betriebsangehörige ausfindig zu machen und aus dem Werk zu entfernen, ist jedoch in der Realität von dem Ge- brauch der Sozialabteilung in diesem Sinne auszugehen. Inwiefern Fieseler davon Kenntnis hatte, kann nicht genau gesagt werden.487 In Fieselers Spruchkammerverfahren wurde nur ein Fall bekannt, der die Kontrolle der politischen Einstellung der Arbeiter durch den Einsatz von Spitzeln belegt und in den Keßler verwickelt war. Dies geht aus der Aussage des ehemaligen Betriebsangehörigen Robert Jäckel hervor, der am 14. November 1941 von der Gestapo verhaf- tet worden war. Ihm wurde zur Last gelegt, er habe im Fieseler- Werk in Gesprächen unerlaubte Äußerungen gemacht, die gegen die nationalsozialistischen Interessen gerichtet seien. Des Weiteren wurde ihm vorgehalten, er stamme aus einer Familie, die traditio- nell sozialdemokratisch eingestellt sei. Die Äußerungen Jäckels waren von einem Spitzel weitergegeben worden, und auf Veranlas- sung des Betriebsobmanns Keßler erfolgte die Verhaftung.488 Jäk- kel wurde vom Oberlandesgericht zu sechs Jahren Gefängnis ver- urteilt. Bereits vor der Verhaftung war Jäckel trotz bestandener

484 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 59 (Aussage Kersting u. Fie- seler) u. Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1942, S. 20. Keßler übernahm die Sozialab- teilung am 1.4.1942. 485 Zu der von der Spruchkammer ausgesprochenen Vermutung, Keßler habe die Unzufriedenenbetreuung zur politischen Überwachung missbraucht, bemerkt Fieseler, die Sozialabteilung habe Keßler nur personell unterstanden, nicht sachlich, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 59. 486 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 278. 487 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 278. Fieseler schreibt, dass es neben der wirtschaftlichen Kontrolle auch eine politische Überwachung gegeben hätte. 488 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 277 u. 277r (Aussage Jäckel). In einem Spruchkammerverfahren gegen Keßler ist diese Schuld festgestellt worden.

160 Prüfung die Aufnahme ins Konstruktionsbüro mit einem von Fie- seler unterzeichneten schriftlichen Bescheid abgelehnt worden. Als Begründung wurde angegeben, er würde nicht der NSDAP angehö- ren.489 Im Spruchkammerverfahren stritt Fieseler die Kenntnis die- ses Falles ab und machte seinen ehemaligen Stellvertreter Thalau in seiner Funktion als Abwehrbeauftragten der Firma hierfür ver- antwortlich.490 Laut Bestimmung der Betriebsordnung hatte ein Betriebsangehöri- ger, dessen Problem oder Anliegen intern nicht gelöst werden konnte, erst nach der Entscheidung des Betriebsführers das Recht, sich an außerbetriebliche Stellen zu wenden. Zu diesem Zweck wurde ihm ein Schriftstück ausgehändigt, das ihm bescheinigte, dass innerhalb des Betriebes für das Problem des Betreffenden keine Lösung gefunden worden war. Zur Reichweite der Unzufriedenenbetreuung sagte der Betriebsdi- rektor, Richard Freyer, aus: „Die Unzufriedenenbetreuung gipfelte darin, dass sich jeder Vorgesetzte um seine Leute kümmern musste, um Wohnungen, Familienverhältnisse, Arbeitsplatz, Lohnfragen usw. Es wurden Sozialfürsorger eingestellt, die kümmerten sich um die Erfüllung bzw. Abstellung der sozialen Mängel.“491 Zu den ergriffe- nen Maßnahmen gehörten u.a. Versetzungen von Mitarbeitern in andere Abteilungen. Freyer bemerkt hierzu: „Es blieb dann immer noch ein kleiner Teil übrig, der listenmäßig durchgesiebt wurde, d. h. sie wurden versetzt und an Arbeitsplätze gebracht, wo man sie zu- frieden stellte.“492 Keinen Aufschluss liefern die Akten darüber, inwiefern Versetzungen gegen den Willen der betreffenden Arbeits- kräfte vorgenommen wurden, um diese besser überwachen zu

489 Vgl. ebd., Bl. 278 (Aussage Jäckel). 490 Vgl. ebd., Bl. 277r u. 278 (Aussage Fieseler). Fieseler äußerte zu dem Fall Jäk- kel, er sei während des genannten Zeitraums für etwa ein dreiviertel Jahr nicht in Kassel gewesen. Er habe erst ein Jahr später von der Verhaftung erfahren, nachdem er Thalau danach befragt habe. Dieser habe ihm geantwortet, er sei als Abwehrchef für diese Dinge zuständig und würde in diesen Fällen nicht Fie- seler sondern dem Generalkommando unterstehen. Weiter sagte Fieseler, dass Keßler von ihm die strikte Anordnung gehabt habe, alle politischen Meldungen zunächst an ihn weiterzuleiten. Soweit er mit Keßler zusammengearbeitet habe, sei es zu keinen Meldungen an Stellen außerhalb des Werks gekommen. Keßler sei ein Mensch, der ihn charakterlich enttäuscht habe. Zu Entlassungen von Arbeitern aus dem Fieseler-Werk aus politischen Grün- den kam es bereits 1937, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 58r (Aussage Bohne). 491 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 264r u. 265. 492 Ebd., Bl. 265 (Aussage Freyer).

161 können. Ebenfalls wird nichts darüber ausgesagt, ob unzufriedene Arbeiter an staatliche Stellen übergeben wurden. Im schriftlichen Protokoll des Spruchkammerverfahrens gibt es diesbezüglich nur wenige Angaben. Auf die Aussage des Vorsitzenden der Spruch- kammer: „Es hat in ihrem Werk Unzufriedene gegeben, die bei der Gestapo und im Zuchthaus gelandet sind“, antwortete Freyer: „Ich habe nur von einem Fall gehört, von einer Anzahl Leute aus der Werkzeugmacherei. Ein weiterer Fall ist mir nicht bekannt. Das war Sache des Abwehrdienstes.“493 Ausländische Arbeitskräfte hingegen, die während des Krieges im Fieseler-Werk eingesetzt und ebenfalls der Leistungsüberwachung unterstellt worden waren, wurden bei unwilliger Arbeitsweise oder Verstößen gegen die Betriebsordnung der Gestapo gemeldet und in manchen Fällen auch unter Arrest gestellt.494 Im Fieseler-Werk gab es spezielle Räume, sog. Arrestzellen, in denen u.a. auch diese „Ar- beitsunwilligen“ festgehalten wurden. Es handelt sich hierbei um das sog. „Edeka-Gebäude“, in dem der Werkschutz seine Aufent- haltsräume hatte.495 Neben der Betreuung von Betriebsangehörigen mit Problemen ge- hörte zu den Aufgaben der Sozialbetreuer auch die Fürsorge für kranke Betriebsangehörige durch Hausbesuche. Obwohl diese Ab- sicht von Gerhard Fieseler abgewiegelt wurde, sollte unter dem Deckmantel dieser scheinbaren Fürsorge im Rahmen einer ver- schärften Krankenkontrolle dem „Krankfeiern“ und der „Bummelei“ entgegengewirkt werden, um die Arbeitsleistung der Belegschaft nicht zu mindern. Das Ansteigen von Krankheitsfällen, insbesonde- re bei Frauen, war eine allgemeine Erscheinung in der Rüstungsin- dustrie, die sich nicht auf das Fieseler-Werk beschränkte und im Falle der weiblichen Beschäftigten nicht zuletzt eine Reaktion auf die aufgebürdete Arbeitsleistung und Doppelbelastung darstellte. In einem Bericht der Kasseler Rüstungsinspektion heißt es hierzu: „Die Arbeitsleistung fällt vielfach infolge Krankmeldungen, Bummel- schichten usw.; dadurch wird auch die Arbeitslust der anderen Ge- folgschaftsmitglieder beeinträchtigt.“496 In einem Unterführerappell

493 Vgl. ebd. 494 Vgl. ebd., Bl. 280r (Aussage Baumann). 495 Vgl. ebd., Bl. 261 (Aussage Müller-Lüth) u. Bl. 280r (Aussage Baumann). 496 Bericht der Kasseler Rüstungsinspektion vom 13.7.1940, zitiert nach: Kamm- ler, Jörg: Widerstand und Verfolgung – illegale Arbeiterbewegung, sozialistische Solidargemeinschaft und das Verhältnis der Arbeiterschaft zum NS-Regime, in: Frenz, W., Kammler, J. und Krause-Vilmar, Dietfrid (Hrsg.): Volksgemeinschaft

162 nahm Fieseler zu dieser Problematik Stellung: „Bekanntlich muß man in solchen Fällen schon am zweiten Tag des Fehlens den vom Arzt unterschriebenen Krankenschein oder ein ärztliches Attest beim Gefolgschaftsamt einreichen. Ebenso bekannt ist in der letzten Zeit geworden, daß Arbeitskameraden, die gefehlt hatten, bereits nach drei Tagen zur Nachuntersuchung beim Vertrauensarzt aufgefordert wurden.“497 Zwar würde diese Regelung bei vielen Betriebsangehö- rigen auf Unverständnis stoßen, da sie sich zu Unrecht dem Ver- dacht des unberechtigten Fernbleibens bezichtigt fühlten, „sie werden meine Maßnahme aber verstehen und sogar begrüßen, [...] wenn ich deren Erfolg nenne. Seit ihrer Einführung, also in einem knappen halben Jahr, hat sich der Krankenstand bei den Männern um nahezu die Hälfte, bei den Frauen sogar um weit über die Hälfte gesenkt! Und das nicht etwa, weil damals Winter war und jetzt Sommer ist, nein: schon im Winter, kurze Zeit nachdem ich die ge- schilderten Anordnungen getroffen hatte, trat ein ganz gewaltiger Rückgang der wegen Krankheit Fehlenden ein. Glauben Sie, daß das am Wetter lag? Nein, meine Arbeitskameraden und -kameradinnen, das lag an etwas anderem, eben daran, daß es leider immer noch Menschen gibt, die nicht das notwendige Verantwortungsgefühl ge- genüber der Volksgemeinschaft besitzen. Vor diesen muß ich das Werk, muß ich meine Gefolgschaft schützen, denn für jeden, der fehlt, müssen Sie ja mitarbeiten, mehr arbeiten; und das geht doch nicht an, daß jemand auf Ihre Kosten faulenzt, bummelt und krank feiert.“498 Bezugnehmend zur Aufgabe der Sozialhelfer betonte Gerhard Fie- seler mit Nachdruck, diese hätten nicht die Aufgabe von Kranken- kontrolleuren. Die Hausbesuche, die nach den Worten Fieselers möglichst bei jedem [!, d.V.] Erkrankten erfolgten, seien eine reine fürsorgliche Maßnahme seitens des Werks, da gerade die Dienst- verpflichteten häufig alleine in Kassel wohnten und keine andere Hilfe in Anspruch nehmen könnten. „Und dies ist auch heute noch die Hauptaufgabe der Sozialhelfer, den kranken Gefolgschaftsmit- gliedern und deren Familien mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“499 Zum Schluss seiner Ausführungen konnte Fieseler aber dennoch nicht den Vorteil dieses Systems, das ihm eine Kontrolle der wirk-

und Volksfeinde. Kassel 1933-1945. Band 2 [wie Anm. 66], S. 325-387, hier S. 386. 497 Fieseler-Zeitschrift Nr. Nr. 3/1943, S. 13. 498 Ebd. 499 Ebd.

163 lich Kranken ermöglichte, und damit die eigentliche Absicht dieser Besuche verhehlen: „Die Sozialhelfer kommen also, um zu helfen, wo Hilfe in Krankheitsfällen gebraucht wird. Geht aus ihren Berich- ten, zu denen sie verpflichtet sind, allerdings hervor, daß ein Gefolg- schaftsmitglied die Firma täuscht und hintergeht, indem es bummelt, dann werden diese Meldungen selbstverständlich ausgewertet.“500

Das System der Leistungsüberwachung Ergänzend zur Unzufriedenenbetreuung war die innerbetriebliche Leistungsüberwachung eingerichtet worden, um Informationen über jeden einzelnen bezüglich Arbeitsleistung und Persönlich- keitswerten wie Führung, Dienstauffassung, Pünktlichkeit, Ein- satzbereitschaft, Zuverlässigkeit usw. zu erhalten.501 Dieses System war so aufgebaut, dass jeder Mitarbeiter mittels eines Prüfungsbo- gens erfasst und bewertet wurde. Die Bewertung erfolgte durch die jeweiligen Unterführer. Sie waren dazu angehalten, auf diesen Prüfungsbogen der jeweiligen Person Noten von 1 bis 6 in Hinsicht auf die oben genannten Kriterien zu vergeben. In der letzten Spalte mussten sie schließlich noch angeben, ob der Betreffende unzu- frieden sei.502 Die Leistungsüberwachung diente einzig dem Ziel, die Arbeitsgesamtleistung des Betriebes zu steigern. In einem Arti- kel der Fieseler-Zeitschrift wird der Sinn der Beurteilung erläutert: „Wenn ein Meister die Leistungen seiner Abteilung steigern will, muß er wissen, was er von seinen Mitarbeitern zu halten hat, wie sie ein- zuschätzen, zu beurteilen sind. Und dazu muß er sich eingehend mit ihnen beschäftigen, ihre Leistungen ständig überwachen und ihre Persönlichkeitswerte kennen. Erst die schriftliche Fixierung gibt ih- nen letzte Klarheit [...] Dem einzelnen Gefolgschaftsmitglied aber kann es nur lieb sein, wenn sein Vorgesetzter sich derart eingehend Gedanken über ihn macht, denn jeder möchte doch genau nach sei- nem Wert erkannt und eingesetzt werden [...] .503 Später wurden die Leistungsbogen modifiziert und eine Rangliste eingeführt. Der Leistungsstärkste sollte an erster Stelle, der Lei- stungsschwächste an letzter Stelle genannt werden.504 Die Beur-

500 Ebd. 501 Ebd., S. 6. 502 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 232. 503 Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1943, S. 13. 504 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 233. Nach den Worten Fieselers wurden die Leistungsbogen von den meisten Unterführern nur widerwillig ausgefüllt. „Fast alle Unterführer füllten die verhaßten Fragebögen so

164 teilten erhielten selbst keinen Einblick in die geführte Kartei, je- doch waren die Unterführer verpflichtet, die Betriebsangehörigen über deren Leistung zu informieren und gegebenenfalls bei nicht zufriedenstellender Arbeitsleistung zu ermahnen. Die meisten Un- terführer waren im Zuge der Vergrößerung der Firma in eine lei- tende Position befördert worden und viele von ihnen besaßen nur wenig Erfahrung auf dem Gebiet der Leistungseinschätzung. Aus diesem Grund leistete der Betrieb hierin „Aufklärungsarbeit“ durch entsprechende Aufsätze in der Fieseler-Zeitschrift und Vorträge in den monatlich stattfindenden Unterführerappellen.505 Die Appelle waren verpflichtend für alle Betriebsangehörige, die eine leitende Position bekleideten. An ihnen nahmen etwa 150 bis 200 Unterfüh- rer teil. Geleitet wurden sie von Fieseler selbst oder seinem Stell- vertreter Thalau. Inhaltlich wurden in diesen Sitzungen Richtlinien über die Erfüllung anstehender Produktionsaufträge und über die „Menschenführung“ im Betrieb erläutert sowie fachliche Vorträge gehalten.506 Über die Bedeutung der Appelle sagte Müller-Lüth aus: „In den Unterführerappellen hat er [Gerhard Fieseler, d.V.] appelliert an den Willen des einzelnen Unterführers in seiner Abteilung dafür zu sorgen, dass die Leistung höher geschraubt wird und darüber hinaus hat er versucht, durch Prämien eine höhere Leistungsfähig- keit oder eine Steigerung der Arbeitsfähigkeit zu erreichen.“507 Mit der Leistungsüberwachung war darüber hinaus ein Prämiensys- tem verbunden. „Gefolgschaftsmitglieder“ mit stetig guten Leistun- gen sollten für ihr Engagement ausgezeichnet werden. Gerhard Fieseler äußerte hierzu: „Wir wollen mit Hilfe der Leistungsüberwa- chung die Besten erkennen und herausfinden, um sie mit allen Mit- teln, die uns heute zur Verfügung stehen, belohnen und betreuen zu können. Die Beurteilungen sind weiter die Grundlage für eine gerech- te Verteilung der Kriegsverdienstkreuze und sonstige Auszeichnun- gen, sie geben Ausschlag bei Gewährung von Lohnerhöhungen in-

aus, daß sie kein Risiko aber auch keine Schwierigkeiten zu erwarten hatten. Sie stuften fast alle ihre Leute mit mittleren Werten ein, also mit Noten von 2-4. Auf diese Weise war die Angelegenheit einfach und schnell erledigt.“ 505 Zu den Unterführerappellen vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 260 u. 260r (Aussage Müller-Lüth). Zu dem System Leistungsüberwachung vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1943, S. 3-5 u. Nr. 4/1942, S. 3, 7 u. 8. 506 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 260 (Aussage Müller-Lüth). Infolge der Zerstörung von Teilen des Werks fanden in 1944 kaum noch Appelle statt. 507 Ebd., Bl. 262.

165 nerhalb heute gezogener Grenzen.“508 Des Weiteren sollten nach den Worten Fieselers die sozialen Einrichtungen des Werks und „alles andere“ vor allem diesen Mitarbeitern zur Verfügung stehen: „Sie werden damit vor den übrigen Gefolgschaftsmitgliedern hervor- gehoben. Alle Einrichtungen, die wir hier im Werk haben, stehen Ihnen in erster Linie zur Verfügung, ob es sich nun um Kurverschickung oder irgendwelche Sonderzuteilungen handelt [...] .“509 In einem feierlichen Rahmen im kleinen Kreis wurde den betreffen- den Werksangehörigen als Zeichen der Anerkennung eine Leis- tungsurkunde überreicht. Sie enthielt folgenden Text: „Durch die von Ihnen bewiesene Einsatzbereitschaft und Ihre Leis- tungen haben Sie, mein Gefolgschaftsmitglied A. R., sich ganz be- sonders ausgezeichnet. Dafür spreche ich Ihnen meinen Dank und meine Anerkennung aus. Als äußeres Zeichen meiner Freude über Ihren Einsatz überreiche ich Ihnen diese Urkunde. Sie soll Ihnen eine bleibende Erinnerung daran sein, daß Sie im Lebenskampf unseres Volkes mitgeholfen haben, die Waffen für unsere siegreichen Flieger zu schmieden, und dabei Ihre Pflicht in vorbildlicher Weise erfüllten. gez. Fieseler“510 Im Gegenzug wurde auf diejenigen Betriebsangehörigen, denen die betrieblichen Vorgesetzten eine schlechte Arbeitsleistung beschei- nigten, durch Androhung von Konsequenzen Druck ausgeübt. Fie- seler bemerkt hierzu: „Die Beurteilung zeigt uns aber auch die Schlechten und gibt uns die Möglichkeit, wenn nötig, geeignete Maß- nahmen gegen sie zu ergreifen.“511 Was Fieseler konkret mit „geeig- nete Maßnahmen“ meinte, bleibt unklar. Aufschluss hierüber könnte eine Besprechung der Wehrwirtschaftsführer512 des Kasse-

508 Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1943, S. 14. Wie die Unzufriedenenbetreuung und die Leistungsüberwachung war auch das Prämiensystem eine eigene Einrichtung der Fieseler-Werke, die auf persönliche Initiative von Gerhard Fieseler zurück- zuführen ist. Die DAF war hierin nicht involviert, jedoch unterstützte sie das System später, vgl. ebd., S. 14. Nach den Berichten der Fieseler-Zeitschrift wurden erstmalig am 7. September 1942 insgesamt 43 und am 22. Juli 1943 weitere 41 Betriebsangehörige ausgezeichnet, vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1942, S. 2 u. 3 u. Nr. 3/1943, S. 6. Am 5. Februar 1942 wurden 21 Unter- führer ausgezeichnet, vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1943, S. 5. 509 Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1942, S. 3. Vgl. auch Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1943, S. 6. 510 Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1942, S. 3. 511 Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1943, S. 14. 512 Gerhard Fieseler ist im Dezember 1937 zum Wehrwirtschaftsführer ernannt worden. Zur Bedeutung eines Wehrwirtschaftsführers vgl. das Kapitel „Die Er-

166 ler Bereichs mit dem Rüstungskommando Kassel vom 6. Dezember 1940 geben. Gemeinsam mit der Firma Henschel aus Kassel unter- breitete Gerhard Fieseler den Vorschlag, Arbeitskräfte mit entspre- chend schlechter Leistung an das Rüstungskommando zu melden, welches diese anderweitig verwenden sollte. „Geplant ist: Unbotmä- ßige männliche Arbeitskräfte in Steinbrüchen etc. einzusetzen, wäh- rend renitente weibliche Arbeitskräfte nach Hess.-Lichtenau513 dienstverpflichtet werden sollen, wobei Stenotypistinnen nicht aus- genommen werden.“514 Ob und inwieweit dieser Plan Fieselers tatsächlich in die Realität umgesetzt wurde, ist nicht bestätigt. Er verdeutlicht jedoch, wie die zuvor zitierte Aussage von ihm, dass eine erhöhte Arbeitsleistung der Betriebsangehörigen nicht nur durch die Bereitstellung sozialer Einrichtungen und Maßnahmen erreicht werden sollte, sondern auch durch eine größtmögliche Kontrolle der Belegschaft. Zu die- sem Zweck waren die Unzufriedenenbetreuung und die Leistungs- überwachung von Fieseler im Werk eingeschaltet.515 Nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“ sollte die Leistungsbereitschaft der Belegschaft auch unter den widrigen Umständen des Krieges aufrechterhalten werden: Werksangehörigen mit guten Leistungen wurde als Belohnung die alleinige Inanspruchnahme der sozialen Einrichtungen in Aussicht gestellt; Leistungsschwächeren hingegen wurde der Vollzug massiver Konsequenzen in der dargestellten Form angedroht. Hieraus leitet sich die Frage ab, ob Fieseler beide Einrichtungen aus rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten oder aus ideolo- gisch motivierten Gründen instituierte. Waren ihm die Systeme lediglich Mittel zum Zweck, um in ergebener Pflichterfüllung ge- genüber dem nationalsozialistischen Regime die Aufträge erfüllen zu können? Um hierüber näheren Aufschluss zu erhalten, soll in

nennung Gerhard Fieselers zum Wehrwirtschaftsführer und NSFK-Standarten- führer“ dieser Arbeit. 513 Gemeint ist hiermit eine Fabrik zur Herstellung von Sprengstoff, die sich in der Nähe von Hessisch-Lichtenau, in dem Ort Hirschhagen, befand. Vgl. hierzu Kö- nig, Wolfram u. Schneider, Ulrich: Sprengstoff aus Hirschhagen. Vergangenheit und Gegenwart einer Munitionsfabrik, Kassel 21987 (Nationalsozialismus in Nordhessen. Schriften zur regionalen Zeitgeschichte, Heft 8). 514 BA/MA Freiburg, RW 21-30/6 Anlage 6, S. 5 v. 11.12.1940, zitiert nach: Böl- ling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 105. 515 Noch in seinen Memoiren beschreibt Fieseler nicht ohne Stolz die von ihm eingerichteten Systeme, vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 232 u. 233.

167 den nächsten Schritten die Entwicklung der Firma während des Krieges und das Verhältnis Gerhard Fieselers zum Nationalsozia- lismus untersucht werden. Gegenstand der Untersuchung im enge- ren Sinne ist, ob Fieseler in seiner Stellung als Betriebsführer eines Rüstungsbetriebes durch entsprechende Maßnahmen oder beson- deres persönliches Engagement das nationalsozialistische Regime stärkte.

168 Produktions- und Arbeitsverhältnisse in den „Gerhard Fieseler Werken“ während des Zweiten Weltkrieges Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges kam es zu einschneidenden Veränderungen im Arbeits- und Produktionsprozess der „Gerhard Fieseler Werke“, die durch mehrere Faktoren hervorgerufen wur- den. Die Aufträge des RLM, das mit Beginn des Krieges einen stei- genden Bedarf an Kampfflugzeugen hatte, gestalteten sich zuneh- mend umfangreicher für die Firma. Gleichzeitig wurde das Fieseler- Unternehmen mit dem Problem konfrontiert, dass immer mehr Betriebsangehörige in die Wehrmacht eingezogen wurden. Um die geforderten Produktionsziele nicht zu gefährden, wurden vermehrt Frauen beschäftigt, Arbeitskräfte anderer Firmen dienstverpflichtet und ab 1940 Zwangsar- beiter aus dem vom Deutschen Reich besetz- ten europäischen Aus- land eingesetzt.516 Zudem wurde aufgrund der ge- stiegenen Anforderungen die Arbeitszeit bereits im September 1939 von acht auf zehn Stunden täglich und 1944 noch einmal auf zwölf Stunden erhöht.517 Dennoch herrschte trotz dieser Maßnahmen wäh- rend des Krieges ein aus- gesprochener Arbeits- kräftemangel, vor allem an Facharbeitern, der die Produktion erheblich be- einträchtigte.518 In einem Bericht der „Gerhard Fie- seler Werke“ an das RLM vom Frühjahr 1940 heißt Plakat der Fieseler-Werke in einer Sonderbeilage der Kurhessischen Landeszeitung vom 22./23.3. 1941

516 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 100, 101, 105 u. 106. 517 Vgl. ebd., S. 104. 518 Vgl. ebd., S. 103.

169 es diesbezüglich, dass Fieseler jegliche Schuld von sich weise, falls bei der Lieferung Probleme auftreten sollten oder die Programme nicht erfüllt werden könnten, da bereits im Dezember 1939 mehr- fach bei der Rüstungsinspektion auf den Personalmangel hingewie- sen worden sei.519 Um die Produktion termingerecht einhalten zu können, sei die Zahl der Überstunden vom Januar bis April 1940 von 13.000 auf 39.000 gestiegen. Die Werksangehörigen arbeiteten zu diesem Zeitpunkt 200 Monatsstunden und darüber, zum Teil 60 Stunden pro Woche. „Dies ist aber nach Ansicht der Firma nur bis zu 4 Wochen aufrechtzuerhalten, da dann die Leistung einbricht, mehr krank gefeiert wird oder von der Arbeit fern geblieben wird (Erfahrungen aus der Spannungszeit Herbst 1938).“520 Eine zusätzliche Verschärfung der Arbeits- und Produktionsbedin- gungen trat ein, als durch gezielte alliierte Bombenangriffe ein Großteil des Unternehmens, insbesondere das Stammwerk in Bet- tenhausen, zerstört wurde. Infolgedessen und wegen der perma- nenten Gefahr weiterer Angriffe wurde auf Anweisung des Rüs- tungsministeriums die Produktion und die Fertigung des Fieseler-

Propagandaplakat aus der Fieseler-Zeitschrift („Je schneller das Tempo unserer Produk- tion, um so schneller der Sieg!“)

519 Vgl. BA/MA Freiburg, RL 3/523 (Schreiben der GFW vom 11.5.1940 an die Rüstungsinspektion des Wehrkeises IX). 520 Ebd.

170 Werks auf verschiedene Orte Nordhessens und nach Thüringen teilverlagert. Ein weiteres Problem, das sich hemmend auf die Pro- duktion auswirkte, ergab sich aus den sich mehrmals ändernden Aufträgen des RLM bezüglich der herzustellenden Flugzeugtypen. Sie erforderte jeweils eine Um- und Neueinstellung des Produkti- onsprozesses innerhalb des Unternehmens und führte zu Verzöge- rungen.

Arbeiter des Fieseler-Werks werden in den Krieg eingezogen Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden dem Fieseler-Betrieb zunehmend Arbeitskräfte aufgrund ihres Einberufungsbescheides in die Wehrmacht entzogen. Die Firma versuchte, der Einziehung ihrer Arbeiter in die Armee weitgehend entgegenzuwirken, indem sie dagegen Protest einlegte. Sie begründete diesen mit der Unab- kömmlichkeit der Betriebsangehörigen, ohne die das Soll der kriegswichtigen Produktion von Flugzeugen nicht aufrechterhalten werden könne. Mit dieser Strategie war der Betrieb zum Teil erfolg- reich. Es konnten z.B. einige Arbeiter, die bereits zur Einberufung vorgesehen waren, durch den Einspruch Fieselers im Unternehmen verbleiben. Des Weiteren erfolgte im April 1941 ein Bescheid der „Kommission zur Feststellung umsetzbarer Arbeitskräfte“, dass dem Fieseler-Betrieb keine Arbeitskräfte entzogen werden dürften, wenn auch der angemeldete Bedarf der Firma an zusätzlichen Ar- beitern gekürzt würde.521 Einen vollständigen Schutz von Werks- angehörigen vor dem Einzug zum Kriegdienst konnte die Firma jedoch nicht durchsetzen. Im April 1940 wurden beispielsweise 400 Fieseler-Arbeiter eingezogen. Nach Auffassung des Arbeitsamtes sollte dies aber nicht zu Fertigungsstörungen bei Fieseler führen, da durch Stilllegung anderer Betriebe genügend Arbeitskräfte mit- tels „Dienstverpflichtung“ für das Werk zur Verfügung stehen wür- den.522 Göring persönlich hatte im Februar 1940 eine erste Umstellungs- und Stilllegungsaktion im zivilen Bereich zu Gunsten der Rü- stungswirtschaft verfügt, die allerdings auf heftigen Widerstand seitens der zivilen Wirtschaft stieß und nicht den gewünschten

521 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 101. 522 Vgl. ebd., S. 102.

171 Erfolg brachte.523 Bereits vor Kriegsbeginn waren im Dritten Reich durch entsprechende Gesetze Weichen zu einer verbesserten Kon- trolle und Lenkung der Arbeitskräfte im Hinblick auf einen Kriegs- fall gestellt worden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ vom 22. Juni 1938 zu nennen, die von Göring erlassen wurde: „Damit für besonders be- deutsame Aufgaben [...] rechtzeitig die benötigten Arbeitskräfte be- reitgestellt werden können, muß die Möglichkeit geschaffen werden, vorübergehend auch auf anderweit gebundene Arbeitskräfte zurück- zugreifen. Auf Grund der Verordnung zur Durchführung des Vierjah- resplans [...] bestimme ich daher folgendes: § 1: Deutsche Staatsangehörige können vom Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für eine begrenzte Zeit verpflichtet werden, auf einem ihnen zuge- wiesenen Arbeitsplatz Dienste zu leisten oder sich einer bestimmten beruflichen Ausbildung zu unterziehen.“524 Nach dem 1. September 1939 stützte man sich im wesentlichen auf die bereits vorhandenen legislativen und administrativen Maßnah- men der Friedensjahre, die nun erweitert bzw. verschärft wur- den.525 Zu erwähnen ist in diesem Kontext u.a. die Verordnung zur Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 1. September 1939, mittels der eine direkte Steuerung des Arbeitsmarktes erwirkt wer- den sollte. Hierdurch war sowohl eine Kündigung des Arbeitsver- hältnisses als auch eine Neueinstellung von Arbeitern nur im Ein- vernehmen mit dem Arbeitsamt erlaubt. „Mit dieser Verordnung und mit dem (bereits seit dem Sommer 1938 auf Teilarbeitsmärkten praktizierten) Mittel der Dienstverpflichtung waren die Kontrollin- strumente geschaffen worden, die eine lückenlose Steuerung des Arbeitskräfteeinsatzes ermöglichen sollten.“526 Zielsetzung des NS-

523 Müller, Rolf-Dieter: Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, in: Bracher, K.-D., Funke, M. u. Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.): Deutschland 1933- 1945 [wie Anm. 64], S. 357-376, hier S. 361 u. 362. 524 Zitiert nach: Mason, Thimothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft [wie Anm. 60], S. 110. In einer „Anordnung zur Durchführung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ vom 29. Juni 1938 gewährleistete der Präsident der Reichsanstalt für Arbeits- vermittlung und Arbeitslosenversicherung, Dr. Syrup, die Durchführung der Verordnung Görings. 525 Vgl. Recker, Marie-Luise: Zwischen sozialer Befriedung und materieller Aus- beutung [wie Anm. 61], S. 431. 526 Ebd.

172 Regimes war es, mit Hilfe dieser zentralen Lenkung die „Heimat- front“, die wesentliche Voraussetzung für den eigentlichen Waffen- krieg und somit die militärische Leistungskraft sein würde, zu sta- bilisieren. Der Fieseler-Betrieb stand der Dienstverpflichtung von Arbeitern aus anderen Bezirken zunächst ablehnend gegenüber. Es wurde das Argument vorgebracht, „daß die von außerhalb zugezogenen Arbeitskräfte unwillig seien und die übrige Belegschaft durch Unzu- friedenheit störten.“527 Letztlich konnte sich die Firma aber nicht gegen die Zuweisungen sperren, da sie zur Erfüllung der Forderun- gen des RLM die Arbeitskräfte dringend benötigte. Der ehemalige Leiter der Personalabteilung von Fieseler, Harald Müller-Lüth, be- merkte hierzu: „Das Werk hat damals schon darunter gelitten, daß erhebliche Abzüge von Facharbeitern zur Wehrmacht erfolgt sind und daß mit den vorhandenen Arbeitskräften in der Zeit, in der das Werk in der Lage gewesen ist, Maschinen herzustellen, es nicht möglich war [gemeint ist eine Produktionssteigerung, d.V.], insofern eine Steigerung der Leistung des einzelnen.“528 Parallel zur Dienstverpflichtung von Arbeitskräften aus anderen Bezirken erfolgte ab 1940 der massive Einsatz von Frauen im Fie- seler-Werk, um dem Arbeitermangel entgegenzuwirken. Vor allem die Minister der technischen Bereiche und die Wirtschaftsführer der Wehrmacht drängten auf die totale Mobilmachung der Frauen in der Rüstung, während Parteiideologen dieser Maßnahme ver- haltener begegneten. Innerhalb der NS-Ideologie und der sich dar- aus ableitenden NS-Bevölkerungspolitik war eine strikte Rollen- verteilung vorgesehen. Während Männer im völkischen Staat die Aufgabe des Arbeiters und Ernährers zu erfüllen hatten, wurde der Frau ihrer „natürlichen Berufung“ folgend die Rolle der Gefährtin, der rassereinen Erbträgerin, der Mutter und Erzieherin aufer- legt.529 Vor diesem Hintergrund herrschten im NS-Staat starke

527 BA/MA Freiburg, RW 21-30/4, S. 32 v. 13.6.1940, zitiert nach: Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 105. 528 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I,2, Bl. 262r. Müller Lüth war seit Oktober 1941 bei Fieseler beschäftigt. Er war bis 1942 Leiter des Angestellten- Personalbüros und ab 1942 Leiter der Personalstelle. 529 Näheres hierzu: Thalmann, Rita R.: Zwischen Mutterkreuz und Rüstungsbe- trieb: Zur Rolle der Frau im Dritten Reich, in: Bracher, K.-D., Funke, M. u. Ja- cobsen, Hans-Adolf (Hrsg.): Deutschland 1933-1945 [wie Anm. 64], S. 198-217. Vgl. auch Sachse, Carola: Hausarbeit im Betrieb. Betriebliche Sozialarbeit unter dem Nationalsozialismus, in: Sachse, H., Siegel, T., Spode, H. u. Spohn, Wolf- gang: Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung [wie Anm. 278], S. 209-274.

173 Vorbehalte hinsichtlich der Frauenarbeit in der Industrie. Infolge- dessen blieb eine Heranziehung von Frauen zur Behebung des Ar- beitskräftemangels bis Kriegsbeginn aus. Selbst unmittelbar nach Kriegseintritt blieben weitergehende Zwangsverpflichtungen, als sie mit dem „Pflichtjahr für Mädchen“ im Jahre 1935 für Jugendliche eingeführt und 1939 erweitert worden waren, wegen der Befürch- tung, dies würde negative Stimmung gegen das Regime bewirken, vorläufig aus.530 Erst nachdem sich mit der Niederlage deutscher Truppen vor Stalingrad im Winter 1942/43 eine Wende des Zwei- ten Weltkrieges deutlich abzuzeichnen begann, erwog das NS- Regime ernsthafte Maßnahmen, um die nicht erwerbstätigen Frau- en als noch einzig bestehende deutsche Arbeitskraftreserve zu mo- bilisieren und erließ am 27. Januar 1943 eine allgemeine Melde- pflicht.531 Diese erwies sich allerdings aufgrund zahlreicher Aus- nahmen als nicht sehr effektiv. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die NS-Führung aber vorrangig auf Propaganda gesetzt, um Frauen zur Arbeit in der Industrie zu ver- anlassen. Zielgruppe waren in erster Linie die unverheirateten 17- bis 25-jährigen Frauen. Hitler appellierte mehrmals an die nicht berufstätigen Frauen, sich den Millionen „Volksgenossinnen“ anzu- schließen, die bereits im Arbeitsprozess stünden oder ihren „Eh- rendienst für das Vaterland“ leisteten.532 Der gewünschte Erfolg blieb jedoch aus. Die Anzahl berufstätiger Frauen ging sogar im ersten Kriegshalbjahr um 400.000 zurück. „Die angesprochenen Frauen reagierten – so es sich um Soldatenfrauen handelte – abwei-

530 Erst am 29. Juli 1941 wurde ein Gesetz verabschiedet, dessen Anwendungsbe- stimmungen einen Kriegshilfsdienst von sechs Monaten zusätzlich zum halb- jährigen Landjahr für diejenigen vorsah, die noch nicht in einem kriegswichti- gen Bereich arbeiteten. Im Oktober folgte die Einführung des Kriegsdienstes, jedoch ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Kriegswirtschaft, vgl. ebd., S. 210. Im Dezember 1935 wurde das Pflichtjahr in der Haus- und Landwirtschaft für solche Mädchen obligatorisch, die einen Beruf in der nicht rüstungsrelevanten Industrie, im Büro oder im kaufmännischen Bereich ergreifen wollten. Am 1. Januar 1939 wurde das Pflichtjahr auf alle unter 25jährigen ausgedehnt, vgl. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 54. 531 Die Meldepflichtverordnung galt für alle nicht berufstätigen Männer (16-65 Jahre) und Frauen (17-45 Jahre). Nach ihren Durchführungsbestimmungen hatten sich die Betroffenen beim Arbeitsamt zu melden, vgl. Kranig, Andreas: Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 47), S. 130 ff. 532 Vgl. Thalmann, Rita R.: Zwischen Mutterkreuz und Rüstungsbetrieb [wie Anm. 529], S. 210 u. 211.

174 send. Sie waren nicht geneigt, ihren Unterhaltszuschuß für eine mühsame, schlecht bezahlte Arbeit aufzugeben.“533 Darüber hinaus bestand für viele das Primat der Versorgung der Familie, so dass eine hohe Anzahl nur unregelmäßig bzw. gar nicht zur Arbeit er- schien oder die Vorladung zum Arbeitsdienst ignorierte. Diese Ent- wicklung lässt sich auch am Beispiel Kassels dokumentieren: „Es war daher wenig überraschend, daß – wie die Kasseler Rüstungsin- spektion feststellte – die `freiwillige Meldung von Frauen zur Ar- beitsleistung ungenügend sei´. Schon zu Kriegsbeginn stießen die Behörden und Betriebe sowohl bei Anwerbung wie auch bei der Be- schäftigung von Frauen auf größte Schwierigkeiten: `Von 8000 um- ständlich über die Volkskartei ermittelten Frauen waren nur 8 ein- satzbereit. Die Frauen sind schwer an ihren Arbeitsplätzen zu hal- ten, da soziale Maßnahmen (sogenannte Waschtage, freie Nachmit- tage, Halbtagsbeschäftigung usw.) in vielen Betrieben nicht durchge- führt werden können´.“534Die abschreckend schlechten Arbeitsbe- dingungen in den Ziegeleien, Keramik- und Rüstungsbetrieben, in denen Frauen vor allem eingesetzt werden sollten, waren ein weite- rer Grund für die mehrheitlich ablehnende Haltung zum Arbeits- einsatz.535 Frauen fühlten sich in vielen Fällen ausgenutzt und diskriminiert. Im Fieseler-Werk wurden weibliche Arbeitskräfte zunächst als Werkshelferinnen eingesetzt, die als Hilfskräfte bei „einfachen Ar- beitsvorgängen ohne besondere Anforderungen“ beteiligt wurden. Erst nach Kriegsbeginn sollten Frauen auch in komplexere Ar- beitsprozesse einbezogen werden. Hierfür richtete der Betrieb eine Frauen-Ausbildungswerkstatt ein. „Während der Einschulungszeit wird festgestellt, für welche Arbeitstechniken sie besonders veran- lagt ist. Daneben gibt es eine psychologische Eignungsprüfung [...]. Diese Untersuchungen liefern wichtige Aufschlüsse darüber, ob die Frau für gleichförmige oder für wechselnde Arbeiten eingesetzt wer- den kann; ob sie über eine geschickte Hand, über Fingerspitzenge- fühl verfügt, ob sie Einfühlung in neuartige Verhältnisse, Sinn für Ordnung usw. besitzt.“536

533 Ebd., S. 210. 534 Berichte der Kasseler Rüstungsinspektion vom 13.7.1940, zitiert nach Kamm- ler, Jörg: Widerstand und Verfolgung [wie Anm. 496], S. 386. 535 Vgl. Thalmann, Rita R.: Zwischen Mutterkreuz und Rüstungsbetrieb [wie Anm. 529], S. 208. 536 Fieseler-Zeitschrift Nr. 7/1940, S. 6.

175 Nach Schulung in der Ausbildungswerkstatt und ärztlicher Unter- suchung wurden die Frauen auf verschiedene Arbeitsplätze verteilt. Eingesetzt wurden sie als Revolverdreherin, Fräserinnen, Bohrer- innen, Schweißerinnen sowie bei leichten Blech- und Nietarbeiten und in den Bereichen Elektromontage, Tischlerei, Sattlerei, Lackie- rerei, „kurzum überall da beschäftigt, wo sie auf Grund ihrer gesam- ten körperlichen, praktischen und seelisch-geistigen Veranlagung zur besten Entfaltung ihrer Leistungsmöglichkeiten kommen kann.“537 Für eine effektivere Arbeitsgestaltung wurden sogar einzelne Ar- beitsvorgänge, die von Frauen besonders gut durchgeführt werden konnten, aus dem Produktionsprozess herausgelöst und verschie- dene Werkzeuge der Handgröße und Körperkraft von Frauen ange- passt. Um der stets im Vordergrund stehenden „sozialen Fürsorge“ gerecht zu werden, wurden Frauen gewisse Vorzüge zugesprochen. „Den Werkerinnen, die einen Haushalt zu versorgen haben, gewäh- ren wir auf Wunsch alle vierzehn Tage einen freien Sonnabend. Wei- ter nimmt unser Werkkindergarten unseren berufstätigen Frauen die Sorge um die Betreuung ihrer Kinder ab.“538

Frauen in der Ausbildungswerkstatt in den Fieseler-Werken um die Jahreswende 1942/43

537 Ebd. 538 Ebd., S. 7.

176 Auch im Fieseler-Werk wurde nicht auf propagandistische Maß- nahmen verzichtet, um Frauen in die „Leistungsgemeinschaft“ zu integrieren. Hierzu diente beispielsweise der Frauen-Betriebsappell am 20. Juni 1940, um die Arbeiterinnen auf die Betriebsgemein- schaft einzuschwören. In der Fieseler-Zeitschrift heißt es diesbe- züglich: „Dann betrat unsere soziale Betriebsarbeiterin, Frl. Schrö- der, das rechts und links von den Fahnenabordnungen unserer Werkscharmänner flankierte Rednerpult, um den Appell einzuleiten. Unter anderem führte sie aus: [...] `Wir sind nicht Einzelmenschen, die allein stehen und nur für sich da sind. Wir alle stehen in einer großen Arbeits- und damit in einer großen Schicksalsgemeinschaft, die fest zueinander steht, für einander einsteht und gemeinsam an einer großen Aufgabe schafft. [...] Seht Euch die Wochenschau an, dann werdet Ihr erkennen, daß man nicht zu viel von Euch verlangt. Ihr werdet sehen, daß alle unsere Arbeit wenig ist gegen die Taten, die unsere Truppen draußen vollbringen. Große Zeiten fordern große Menschen. Laßt uns dieser Zeit würdig sein!´ Auf die eindringlichen Ausführungen antworteten die Zuhörerinnen mit lautem Beifall, der sich verstärkte, als unser Betriebsführer das Wort ergriff: [...] `Sie stehen heute neben dem Mann am Arbeitsplatz, um uns beim Bau von Militär- und Kriegsflugzeugen zu helfen. Sie gehören damit zu der Front der Heimat und diese Heimatfront, die innere Front, ist genau so wichtig, wie die Front draußen vor dem Feind. [...] Und ich möchte ausdrücklich feststellen, daß wir ohne die Hilfe der Frau gar nicht in der Lage wären, unsere Aufgaben zu er- füllen´.“539 Interessanterweise wird bei diesem Appell zugleich die Funktion der sog. „Sozialhelferinnen“ deutlich. Hinter dieser neutralen Be- zeichnung verbargen sich „linientreue Kameradinnen“, die sich im Rahmen ihres Aufgabenfeldes (u.a. Kranken- und Unzufriedenen- betreuung) im Fieseler-Werk vor allem für eine gesinnungsmäßige Ausrichtung der Belegschaft einsetzten. Während der Einsatz von Frauen in den „Gerhard Fieseler Werken“ anscheinend als Erfolg gewertet wurde, erwies sich diese Maßnahme zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels insgesamt auf Reichs- ebene als Mißerfolg. Sicherlich gab es auch systemtreue und vor- bildliche Arbeiterinnen, tendenziell war die Einsatzbereitschaft von

539 Ebd., S. 4.

177 Frauen aber eher zweifelhaft und unzureichend.540 Aus diesem Grund konkretisierten sich bereits ab 1940 Überlegungen, für den Arbeitseinsatz auf sog. Fremdarbeiter zurückzugreifen.

Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte im Fieseler-Werk

Zur Zwangsverpflichtung ausländischer Arbeiter im Dritten Reich541 „Der nationalsozialistische Ausländereinsatz zwischen 1939 und 1945 stellt den größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Ver- wendung von ausländischen Arbeitskräften in der Geschichte seit dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar.“542 Obwohl der Ausländereinsatz von der NS-Führung vor Kriegsbeginn weder ge- plant noch in irgendeiner Weise vorbereitet worden war, waren im August 1944 etwa 7,6 Millionen Zivilarbeiter und Kriegsgefangene im Deutschen Reich als im Arbeitseinsatz beschäftigt gemeldet.543

540 Vgl. Thalmann, Rita R.: Zwischen Mutterkreuz und Rüstungsbetrieb [wie Anm. 529], S. 211. 541 Im Rahmen dieser Arbeit kann im Folgenden lediglich ein kurzer Überblick über Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ während des Zweiten Welt- krieges gegeben werden. Für weitergehende Information zu dieser Thematik bietet sich das Buch von Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44] an. Ein weiteren guten Einblick allgemein und insbesondere für den Raum Kassel bie- tet ein Aufsatz von Krause-Vilmar, Dietfrid: Ausländische Zwangsarbeiter in der Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 66]. Ferner sei bezüglich lokaler For- schungen zum Thema Zwangsarbeiter im Kasseler Raum folgende Literatur ge- nannt: Ewald, Th., Hollmann, Ch. U. Schmidt, Heidrun: Ausländische Zwangs- arbeiter in Kassel 1940-1945 [wie Anm. 65]; Mosch-Wicke, Klaus: Schäferberg. Ein Henschel-Lager für ausländische Zwangsarbeiter, Kassel 21985 (National- sozialismus in Nordhessen. Schriften zur regionalen Zeitgeschichte, Heft 1); Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45] u. Wieleba, Sophie: Die Fremdarbeiter in Crumbach und Ochshausen während des Zweiten Weltkrieges, in: Gemeindevorstand der Gemeinde Lohfelden (Hg.): Streifzüge durch 900 Jahre Ortsgeschichte [wie Anm. 50], S. 212-217. 542 Herbert, Ulrich: „Ausländer-Einsatz“ in der deutschen Kriegswirtschaft, in: Studt, Christoph (Hg.): Das Dritte Reich. Ein Lesebuch zur deutschen Ge- schichte 1933-1945, München 41998, S. 241-247, hier S. 241. 543 Die Zahlen sind entnommen aus: Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 314-316. Von insgesamt 7.651.970 ausländischen Beschäftigten waren 5.721.883 Zivilarbeiter und 1.930.087 Kriegsgefangene. Bemerkenswert ist der Anteil der Frauen bei den ausländischen Zivilarbeitern. Ihre Anzahl betrug 1.924.912 und damit ein Drittel der zivilen ausländischen Arbeitskräfte. Diese Frauen kamen überwiegend aus dem Osten (87 Prozent). 1944 arbeiteten mehr Ostarbeiterinnen in Deutschland als zivile männliche und weibliche Arbeits- kräfte aus Belgien, Frankreich und Holland zusammen.

178 Zu dieser Zahl müssen zusätzlich ca. 500.000 überwiegend aus- ländische KZ-Häftlinge hinzugerechnet werden. Damit waren zu diesem Zeitpunkt 26,5 Prozent aller in der Wirtschaft beschäftigten Arbeiter Ausländer, die zum größten Teil zwangsweise zur Arbeit im Dritten Reich verpflichtet worden waren. In der rüstungswichtigen Industrie lag der Prozentsatz sogar bei einem Drittel aller Beschäf- tigten. Damit trugen die ausländischen Zwangsarbeiter entschei- dend dazu bei, dass der Krieg von deutscher Seite überhaupt fort- gesetzt werden konnte. In Kassel als einer der „Rüstungsschmieden“ des Dritten Reiches, so Krause-Vilmar, waren ab dem Jahre 1940 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie eingesetzt.544 1944 betrug die Zahl ausländischer Arbeiter in Kassel etwa 30.000545, jeder zweite Rüstungsarbeiter in Kassel war Ausländer. Neben großen Massenlagern, die in Barackenbauweise erstellt worden waren, dienten mehr als 200 kleinere Lager und Unterkünfte wie Säle von Gastwirtschaften, leerstehende Fabrikhallen oder Schulen als Wohnlager. Die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte setzte sofort mit Be- ginn des Krieges ein. Infolge des Sieges der deutschen Wehrmacht über Polen kam es bereits kurze Zeit später trotz rasse- und si- cherheitspolitischer Vorbehalte des NS-Regimes zur Verpflichtung polnischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter. Diese wurden vor- nehmlich im landwirtschaftlichen Bereich eingesetzt, um hier die größten Lücken zu schließen. Bezeichnenderweise war bereits zwei Tage nach dem militärischen Überfall auf Polen das erste deutsche Arbeitsamt in der oberschlesischen Kreisstadt Rybnik eingerichtet worden.546 An die Tradition der Beschäftigung polnischer Landar- beiter in Deutschland anknüpfend, kam es zu massiven Anwer- bungskampagnen polnischer Arbeiter durch Beamten des Reichs- arbeitsamtes, die aber schon bald in immer zwanghaftere Maß- nahmen übergingen und „seit dem Frühjahr 1940 in eine regelrech-

544 Vgl. Krause-Vilmar, Dietfrid: Ausländische Zwangsarbeiter in der Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 66], S. 388. 545 Genauere Angaben bei Kammler, Jörg: Widerstand und Verfolgung [wie Anm. 496], S. 384. 546 Vgl. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 77. Zunächst hatten die Landesarbeitsämter seit dem Frühjahr 1939 entlang der polnischen Grenze Auffangstellen errichtet, um die illegal nach Deutschland kommenden polni- schen Landarbeiter zu registrieren und mit Papieren auszustatten. Die Beamte dieser Arbeitsämter zogen quasi im Tross der Wehrmacht mit nach Polen.

179 te Menschenjagd im sog. Generalgouvernement mündete, wo mit jahrgangsweisen Dienstverpflichtungen, kollektiven Repressionen, Razzien, Umstellungen von Kinos, Schulen oder Kirchen Arbeitskräf- te eingefangen wurden.“547 Mit den militärischen Erfolgen im Frühjahr und Sommer 1940 er- gaben sich für das NS-Regime neue, aussichtsreiche Perspektiven, Fremdarbeiter aus dem west- und nördlichen Europa für den Ar- beitsdienst heranzuziehen. Bereits während des Frankreichfeldzu- ges wurden erste französische und britische Kriegsgefangene in Stammlager nach Deutschland gebracht und von dort auf Arbeits- stellen im Reich verteilt. Nach den Erfahrungen mit den polnischen Kriegsgefangenen Ende 1939 war dieser Arbeitseinsatz bereits gut vorbereitet und verlief nahezu reibungslos. Anfang Juli 1940 waren bereits 200.000 Gefangene in Deutschland zur Arbeit eingesetzt, Mitte August waren es 600.000 und Ende Oktober schon 1,2 Mil- lionen.548 Aufgrund der schnellen Siege über Frankreich, Holland, Belgien und Norwegen verfügte das Deutsche Reich scheinbar über ein ausreichendes Potenzial an Arbeitskräften, auf das es jeder Zeit zurückgreifen konnte. Infolgedessen schien das Problem des Ar- beitermangels in quantitativer Hinsicht gebannt und ein Großteil der Kriegsgefangenen der oben genannten Länder wurde entlassen, selbst eine Million der rund zwei Millionen gefangengesetzten fran- zösischen Soldaten erhielten ihre Freiheit wieder. Entsprechend extensiv wurde zunächst die im Herbst 1940 begonnene Aktion zur Anwerbung ziviler Arbeitskräfte in Frankreich, Belgien und den Niederlanden betrieben. Beispielsweise arbeiteten bis April 1941 lediglich 25.000 und bis September 1941 knapp 50.000 französi- sche Zivilarbeiter in Deutschland.549 Insgesamt betrug die Zahl ziviler Arbeitskräfte aus dem Westen, Süden und Südosten Euro- pas im Oktober 1941 743.257. Eine tendenzielle Abkehr von der Politik des „Ausländereinsatzes“ bedeutete dies allerdings nicht. Eine Entlassung der im deutschen Reich beschäftigten Ausländer war in wirtschaftlicher Hinsicht kaum möglich und hätte einen Produktionseinbruch insbesondere in der Landwirtschaft bedeutet. Im Zuge der Blitzkriegseuphorie wurde zudem an langfristigen Strategien gefeilt, die Arbeitskraft deutscher Arbeiter zukünftig

547 Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 242 u. 243. 548 Vgl. ebd., S. 111. 549 Vgl. ebd., S. 114.

180 durch Ausländer zu schonen. „`Im Großraum können deutsche Ar- beiter in Zukunft nur für hochwertige und bestbezahlte Arbeit, die den höchsten Lebensstandard ermöglicht, angesetzt werden´, wäh- rend die Randvölker den Rest zu übernehmen hätten. Für die Pro- duktion in Deutschland müsse man `bei der industriellen Produktion Europas die Rosinen herauspicken, wir werden nur solche Produkte, zu denen Intelligenz, Geschicklichkeit und der Fleiß des deutschen Arbeiters notwendig sind, hier betreiben´.“550 Eine veränderte Lage trat im Herbst/Winter 1941 ein, als das Vor- dringen deutscher Truppen vor Moskau ins Stocken geriet und sich ein Scheitern der Blitzkriegstrategie im Rußlandfeldzug abzeichne- te. Dies bedeutete, dass sich die deutsche Rüstungswirtschaft auf einen länger andauernden Krieg einstellen und ihre Kapazitäten entsprechend erhöhen musste. Diese Situation verschärfte sich insofern, als mit der erwarteten Rückführung von Soldaten in die Wirtschaft nicht zu rechnen war und die Einberufung von Be- triebsangehörigen nun auch Firmen traf, die vorher ihre Arbeiter wegen kriegswichtiger Produktion als unabkömmlich vor der Ein- ziehung hatten schützen können. Zur Lösung des akuten Arbeits- kräfteproblems setzten intensivere Bemühungen um die Ver- pflichtung von Arbeitern vor allem aus den westeuropäischen Län- dern ein, da diese gegenüber „Ostarbeitern“ als fachlich besser qualifiziert galten und darüber hinaus für ihren Einsatz keine ras- senideologisch begründeten Absonderungsprinzipien erforderlich waren. Die Anwerbepraxis in den einzelnen Ländern wurde deut- lich verschärft. Die Maßnahmen der deutschen Behörden reichten von Kürzung der Unterstützungsleistungen über schärfere Polizei- maßnahmen bis hin zur Einrichtung eines Zwangsarbeitsdienstes, in dessen Rahmen eine Dienstverpflichtung von Männern und Frauen in die deutsche Wirtschaft eingeführt wurde.551 Die weitrei- chenden Zwangsmaßnahmen des von Hitler am 21. März 1942 ernannten „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, des von Thüringen, Fritz Sauckel, erwirkten zwar in einer ersten Phase die Verschickung Tausender von Franzosen, Belgier Niederländer und Angehöriger anderer Nationen, das hochgesteckte Ziel, mehr als 5 Millionen Fremdarbeiter in das Reich zu bringen,

550 Ebd., S. 113. Es handelt sich hierbei um eine Erklärung Hans Kehrls im Sep- tember 1940, die von Herbert wiedergegeben wird. 551 Vgl. Recker, Marie-Luise: Zwischen sozialer Befriedung und materieller Aus- beutung [wie Anm. 61], S. 435.

181 scheiterte jedoch.552 Nach ersten Erfolgen fielen seit Sommer 1943 die Anwerbungszahlen deutlich zurück. Grund hierfür waren nicht zuletzt die harten Werbemethoden, die den Widerstand der Bevöl- kerung gegen die Zwangsverpflichtung stärkten.553 Sauckel selbst gestand Ende 1943 ein: „Aus Frankreich sind der deutschen Rü- stung von Januar bis Juli 1943 391.000, von August bis Dezember 1943 nur noch 26.000 Kräfte trotz aller Bemühungen des GBA554 zugeführt worden. Diese Zahlen zeigten, daß Frankreich als Ein- zugsgebiet für den deutschen Rüstungseinsatz praktisch erloschen ist. Das gleiche gilt für Belgien.“555 Eine wirksame Entlastung der durch fehlende Arbeitskräfte in der Industrie entstandenen Lücken konnte somit nur noch durch Ein- satz von Arbeitern aus der Sowjetunion erbracht werden.556 Die Verpflichtung sowjetischer Kriegsgefangener oder Zivilarbeiter im Deutschen Reich war allerdings aus ideologischen und sicherheits- politischen Gründen vor dem Krieg von Parteispitze, Reichssicher- heitshauptamt und SS ausdrücklich ausgeschlossen worden. Erst mit der veränderten Kriegslage Ende des Jahres 1941 und dem daraus resultierenden Druck auf die Wirtschaft trat ein Wandel in dieser Haltung ein. Nach ersten Anfragen einzelner Rüstungsbe- triebe aus dem Ruhrgebiet bezüglich des Einsatzes russischer Kriegsgefangener kam es Anfang Oktober 1941 zu konkreten For- derungen des Wirtschaftsrüstungsamtes an Göring: „Die Befriedi- gung des vorliegenden Kräftebedarfs ist daher ohne Zuführung rus- sischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter unmöglich [...] Die bisher gemachten Erfahrungen haben gezeigt, daß sowohl unter den russi- schen Kriegsgefangenen als unter den ukrainischen Zivilarbeitern eine erhebliche Reserve an Fachkräften zur Verfügung steht.“557

552 Vgl. ebd., S. 434. 553 Zudem wurden zunehmend Aufträge von deutschen Firmen in westeuropäische Länder verlegt, verbunden mit einer Bestandsgarantie für die Belegschaften der entsprechend „geschützten“ Firmen, vgl. ebd., S. 435. 554 Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz 555 Sauckel an Hitler in einem Schreiben vom 20.12.1943, zitiert nach: Krause- Vilmar, Dietfrid: Ausländische Zwangsarbeiter in der Kasseler Rüstungsindu- strie [wie Anm. 66], S. 390. 556 Die Anzahl deutscher Arbeitskräfte war zwischen Mai 1940 und Mai 1941 um 1.685.000 Personen gesunken, die Zahl der beschäftigten deutschen Frauen nahm um mehr als 200.000 ab. Dem standen im September mehr als 2,6 Mil- lionen offener Stellen gegenüber, davon allein eine halbe Million im Bereich der Landwirtschaft, 50.000 beim Bergbau, 300.000 im Metallbereich und 140.000 beim Bau, vgl. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 158 u. 159. 557 Ebd., S. 162.

182 Hieraus leitete sich die Forderung nach Einsatz russischer Kriegs- gefangener im Kolonneneinsatz und die Anwerbung ukrainischer Zivilarbeiter auch für den Untertagebau ab. Als Reaktion hierauf erfolgte bereits am 14. Oktober eine Lockerung der Isolierungsbe- stimmungen für russische Gefangene durch das Oberkommando der Wehrmacht, und Hitler verfügte am 31. Oktober per Führerer- lass, dass diese durch einen Großeinsatz für die Bedürfnisse der Kriegswirtschaft gegen angemessene Ernährung und geringer Ent- lohnung zur „bescheidenen“ Versorgung des täglichen Lebens mit Genussmitteln weitgehend „ausgenutzt“ werden sollten.558 Hier- durch sollte der Arbeitskräftemangel, der zu „einem immer gefahr- drohenderen Hemmnis für die künftige deutsche Kriegs- und Rüs- tungswirtschaft“ wurde, abgewendet werden.559 Auch Richtlinien hinsichtlich Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie z.B. Unterbrin- gung in schwer bewachten Lagern, Hungerrationen an Lebensmit- teln oder unzureichende Arbeitskleidung sowie Bestimmungen zu Sicherheitsmaßnahmen wurden schon festgelegt und ließen bereits zu diesem Zeitpunkt die zukünftige Brutalität und rigorose Aus- nutzung der russischen Arbeitskräfte zum Ausdruck kommen.560 Ende 1941 stand allerdings die Mehrzahl russischer Kriegsgefan- gener für einen Arbeitseinsatz in Deutschland nicht mehr zur Ver- fügung.561 Von den etwa 3,3 Millionen Kriegsgefangenen kamen bis März 1942 nur 160.000 zum Einsatz. Mehr als die Hälfte der 3,3 Millionen kamen aufgrund lebensunwürdiger Bedingungen in den Massenlagern, wo sie ihrem Schicksal weitgehend selbst überlas- sen wurden, durch Verhungern, Erfrierungen, Erschöpfung oder Erschießungen ums Leben.562 Aus diesem Grund setzte bereits Anfang 1942 die Rekrutierung sowjetischer Zivilarbeiter im großen Stil ein. Sauckel führte über den Arbeitseinsatz sowjetischer Zivil- arbeiter aus: „Es ist daher unumgänglich notwendig, die in den er- oberten sowjetischen Gebieten vorhandenen Menschenreserven voll auszuschöpfen. Gelingt es nicht, die benötigten Arbeitskräfte auf

558 Vgl. ebd., S. 163. 559 Erlass des Chefs des OKW/WFSt/L (unterzeichnet von Keitel) vom 31.10.1941, zitiert nach: ebd. 560 Vgl. Recker, Marie-Luise: Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Welt- krieg [wie Anm. 61], S. 163. 561 Vgl. hierzu Herbert, Ulrich: Europa und der Reichseinsatz. Ausländische Zivil- arbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 11. 562 Vgl. ebd. Bis Kriegsende starben von insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen 3,5 Millionen in deutschem Gewahrsam.

183 freiwilliger Grundlage zu gewinnen, so muß unverzüglich zur Aushe- bung derselben bzw. zur Zwangsverpflichtung geschritten werden. Neben den schon vorhandenen, noch in den besetzten Gebieten be- findlichen Kriegsgefangenen, gilt es also vor allem Zivil- und Fachar- beiter und -arbeiterinnen aus den Sowjetgebieten vom 15. Lebens- jahr ab für den deutschen Arbeitseinsatz zu mobilisieren. [...] Alle diese Menschen müssen so ernährt, untergebracht und behan- delt werden, daß sie bei denkbar sparsamstem Einsatz die größt- mögliche Leistung hervorbringen. [...] Die Arbeitskraft dieser Leute muß in größtem Maße ausgenutzt werden. [...] Ich bitte, dabei zu bedenken, daß auch eine Maschine nur das zu leisten vermag, was ich ihr an Treibstoff, Schmieröl und Pflege zur Verfügung stelle. Wie- viel Voraussetzungen aber muß ich beim Menschen, auch wenn er primitiver Art und Rasse ist, gegenüber einer Maschine berücksichti- gen [...].“563 Die polizeiliche Behandlung bzw. das Ansehen der im Deutschen Reich eingesetzten ausländischen Arbeitskräfte richtete sich nach Zugehörigkeit der Nationalität und war durch Differenzierung und Abstufung gekennzeichnet. Zahlreiche Erlasse und Verordnungen suchten die Kennzeichnungspflicht der Polen und sowjetischen Arbeiter, die Kenntlichmachung der Fremdarbeiter aus dem We- sten, den Umgang mit Kriegsgefangenen allgemein, das Problem der Unterbringung und viele andere Fragen zu regeln.564 Hierbei spielten sowohl rassische als auch sicherheitspolitische Überlegun- gen eine gleichberechtigte Rolle. In einem geheimen Runderlass Himmlers vom 7. Dezember 1942 an die Stapoleitstellen wurden die Maßnahmen zur „Gefahrenabwehr beim Ausländereinsatz“ und die Stellung der ausländischen Arbeitskräfte in Deutschland grundlegend dargestellt.565 Demnach waren aus sicherheitspolizei-

563 Programm von Fritz Sauckel vom 20. April 1942, zitiert nach: Kühnl, Reinhard: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 21977 (Kleine Bi- bliothek. Politik, Wissenschaft, Zukunft, Bd. 62), S. 363 u. 364. 564 Vgl. Krause-Vilmar, Dietfrid: Ausländische Zwangsarbeiter in der Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 66], S. 394. 565 Bereits am 14. Januar 1941, vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, kam ein Erlass des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) heraus, der die oben angesprochenen Aspekte ordnen sollte. Demnach wurden „Arbeitnehmer ger- manischer Abstammung“ (Niederländer, Dänen, Norweger, Flamen) und „fremdvölkische Arbeitnehmer“ (Franzosen, Wallonen sowie Arbeiter verschie- dener Nationalitäten, die vorher in Nordfrankreich gearbeitet hatten, darunter Polen, Tschechen, Jugoslawen, Slowaken, Italiener usw.) unterschieden, „was das Durcheinander komplett machte“. Zudem bestanden noch eigene Behand-

184 lichen Aspekten eine „volkstumsmäßige“ Unterscheidung der aus- ländischen Arbeiter notwendig, da volkspolitische Gefahren nur von nicht-stammesgleichen Völkern drohen konnten.566 Himmler unterteilte die Ausländer in vier Gruppen, wobei die Reihenfolge zugleich der Rangfolge ihrer Stellung entsprach.567

Gruppe A Zu dieser Gruppe gehörten Italiener, die aufgrund des Bündnisses Italiens mit dem Deutschen Reich bis zum Sturz Mussolinis im Jahre 1943 eine privilegierte Behandlung genossen. Beschwerden von italienischer Seite, die der Kampfgemeinschaft abträglich seien, sollten vermieden werden.

Gruppe B Hierzu zählten Angehörige „germanischer“ Völker, wie Flamen, Norweger, Dänen oder Holländer. Ziel war es, diese Gruppe für den Gedanken des großgermanischen Reiches und somit der Zusam- mengehörigkeit aller germanischen Völker zu gewinnen. Mit ihnen sollte ein Umgang in „gewinnender“ Belehrung erfolgen.

Gruppe C In diese Gruppe kamen Angehörige „nicht-germanischer“ Völker, die allerdings mit Deutschland verbündet oder aufgrund kultureller und gesamteuropäischer Bedeutung verbunden waren, wie z.B. Slowaken, Kroaten, Rumänen, Bulgaren, Ungarn, Spanier oder Franzosen. Arbeitskräfte dieser Gruppe „müssen durch eine ver- ständnisvolle und gerechte Behandlung erkennen, daß sie als Ange- hörige einer im werdenden neuen Europa geachteten Nation betrach- tet werden.“568

lungsvorschriften für drei Gruppen von Polen (Kriegsgefangene, Zivilarbeiter aus Polen und Nordfrankreich. Der Erlass bestimmte, dass „germanische“ und „fremdvölkische“ Arbeiter in Zukunft getrennt untergebracht werden sollten, wobei „germanische“ Arbeitskräfte auch in Privatquartieren wohnen durften, vgl. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 116. 566 Vgl. Krause-Vilmar, Dietfrid: Ausländische Zwangsarbeiter in der Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 66], S. 394. 567 Folgende Gruppeneinteilung nach ebd. 568 Ebd., S. 394.

185 Gruppe D In diese Gruppe fielen Angehörige „nicht-germanisch-slawischer Völker“, die unter der unmittelbaren Hoheitsgewalt des Deutschen Reiches lebten: Protektoratsangehörige, Serben, Slowenen, Arbeits- kräfte aus dem Baltikum, Polen, fremdvölkische Arbeitskräfte nicht-polnischen Volkstums aus dem Generalgouvernement und den eingegliederten Ostgebieten, die sogenannten Ostarbeiter. Die- ser Gruppe angehörige Arbeitskräfte sollten besonders straff ge- führt und einer besonders strengen Disziplin unterworfen werden.

Generell sollte eine scharfe Trennung nach Nationalitäten in den Unterkünften und am Arbeitsplatz sowie die Unterbringung in Ge- meinschaftslagern, die häufig in Barackenbauweise errichtet wur- den, erfolgen. Hatten zunächst polnische Arbeitskräfte, die durch die sog. „Polenerlasse“ im März 1940 außerhalb jeglicher arbeits- rechtlicher Bestimmungen gestellt worden waren, die unterste Stufe dieser Rangfolge gebildet, so nahmen diesen Platz bald die sowjetischen Zwangsarbeiter ein. Wie für die Polen bestand für diese ebenfalls eine besondere Kennzeichnungspflicht als „Ostar- beiter“, und wie die Polen standen sie außerhalb der deutschen Arbeitsordnung. Aus diesem Grund galten für sie auch nicht die arbeitsrechtlichen Bestimmungen, vielmehr wurde für sie ein zweites Sonderarbeitsrecht geschaffen. Als ein Beispiel sei die „Ostarbeitersteuer“ genannt, die im Januar 1942 im Rahmen der Ostarbeitererlasse eingeführt wurde.569 Die Ostarbeitersteuer ging davon aus, dass ein sowjetischer Arbeiter vom Grundsatz den glei- chen Lohn wie ein deutscher erhielt, der allerdings so hoch mit Steuern belegt wurde, dass am Ende nicht mehr als 50,- RM pro Monat übrig blieb, wovon allerdings noch Verpflegung und Unter- kunft bezahlt werden musste.570 Ostarbeiter erhielten auch keine Zulagen oder Zuschläge, beispielsweise für Mehrarbeit; sie wurden nur nach tatsächlich geleisteten Stunden bezahlt. Oftmals wurde der auszuzahlende Lohn in sog. „Lagergeld“ ausgezahlt, das nur in

569 Ab 1943 wurde sie als Ostarbeiterabgabe bezeichnet. Diese Abgabe war eine Steuer, die der Unternehmer zu zahlen hatte. Sie sollte verhindern, dass die sowjetischen Arbeiter zu „billig“ wurden, und es somit für den Betriebsführer lukrativer werden würde, deutsche Arbeiter zu entlassen, um sowjetische Ar- beitskräfte einzustellen. 570 Vgl. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 199.

186 der Werkskantine oder bestimmten Geschäften seine Gültigkeit hatte.571 Sowohl polnische als auch sowjetische Arbeiter wurden aufgrund der bestehenden Bestimmungen auf ein billiges, unter schlechten Arbeitsbedingungen und an unattraktiven bzw. gesundheitsschäd- lichen Arbeitsplätzen einsetzbares, minderwertiges Arbeitskräftere- servoir herabgewürdigt, das zudem einem repressiven Sonderrecht unterlag, welches eine polizeiliche Kontrolle und Überwachung auch nach Arbeitsschluss umfasste. Herbert betont jedoch, dass die Lage der sowjetischen Zwangsarbeiter von Betrieb zu Betrieb und von Lager zu Lager sehr unterschiedlich sein konnte.572 Auch spiegelt die staatliche Differenzierung in der Behandlung der aus- ländischen Arbeitskräfte nicht die Praxis am Arbeitsplatz und das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den Ausländern wider. Hier setzte sich in der Folgezeit mehr und mehr eine Art grundständigen „Volksempfindens“ durch, das sich nach Tradition und Gewohnheit, Vorurteil und Mentalitätsunterschieden richtete und im Laufe der Zeit eine eigene Einteilung bzw. Hierarchie zur Konsequenz hatte.573 Dänische, holländische oder auch französi- sche Zivilarbeiter standen den deutschen Beschäftigten meist nä- her als sowjetische Zwangsarbeiter. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass ausländische Arbeitskräfte außerhalb der Betriebsgemeinschaft standen und somit nicht die sich hieraus ergebenden „Vorteile“ genossen. Diese waren aus- schließlich den deutschen Arbeitern vorbehalten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der „fremdvölkischen“ Arbeitskräfte wurden vom NS-Regime je nach Herkunftsland unterschiedlich gestaltet, waren jedoch in der Regel nicht mit denen deutscher Arbeitnehmer vergleichbar. Nur Arbeitern aus verbündeten Staaten, die sich frei- willig zum Arbeitseinsatz meldeten oder Arbeitskräften, die laut Bestimmung des NS-Systems aus „arisch“ geltenden Bevölkerun- gen stammten, wurden Arbeitsbedingungen versprochen – meist jedoch nicht eingehalten –, die denjenigen deutscher Arbeiter ent- sprachen. Somit wurden die Zwangsarbeiter, vor allem die polni- schen und sowjetischen, als Menschen zweiter Klasse behandelt.

571 Vgl. ebd., S. 201. 572 Vgl. Herbert, Ulrich: „Ausländer-Einsatz“ in der deutschen Kriegswirtschaft [wie Anm. 542], S. 245. 573 Vgl. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter [wie Anm. 44], S. 116.

187 Zwangsarbeiter im Fieseler-Werk Obwohl die Firma vorerst die Einstellung ausländischer Arbeits- kräfte ebenfalls aus Gründen drohender Unzufriedenheit innerhalb der Stammbelegschaft ablehnte, wurden den Fieseler-Werken schließlich vom Arbeitsamt Ende des Jahres 1940 87 polnische Fremdarbeiter zugewiesen und im Produktionsprozess einge- setzt.574 Fieseler schreibt in diesem Zusammenhang in seinen Me- moiren: „Schon 1940 hatte die Zuweisung polnischer Arbeiter be- gonnen, die durch die Kriegsfolgen im eigenen Land keine Existenz fanden.“575 Fieseler war nicht der einzige Unternehmer, der dem Einsatz ausländischer Arbeiter kritisch gegenüberstand. Die mei- sten Unternehmer hatten sich zunächst gegen die Zuweisung von Zwangsarbeitern gewehrt, vor allem produktionstechnische und betriebswirtschaftliche Argumente sprachen gegen eine Durch- mischung der Belegschaft mit leistungsschwachen und ungelern- ten Fremdarbeitern.576 Allerdings ließ der spürbare Arbeitskräf- temangel die betriebspolitischen und moralischen Bedenken rasch geringer werden, so dass sich eine schrittweise Verstrickung der meisten Betriebe in das verbrecherische Zwangsarbeitersystem des Dritten Reiches vollzog. Kaum ein Unternehmensvorstand, Be- triebsführer oder Meister im Rüstungsbereich war nicht in irgend- einer Form hierin involviert.577 Ein Schreiben des technischen Di- rektors für die Fertigung, Dr. Walter Banzhaf, an das RLM vom 8. Februar 1943 unterstreicht die dringende Notwendigkeit, fehlende Arbeitskräfte im Fieseler-Werk zu ersetzen, zeigt aber zugleich auch die Routine, die man mittlerweile bei der Anforderung von bzw. im Um- gang mit ausländischen Arbeitskräften anscheinend gewonnen hatte: „Nachdem bereits im Dezember die Zuweisung von Arbeitskräften stark abgesunken war, ist im Januar so gut wie kein Zugang zu ver- zeichnen, da nur 7 männliche und 2 weibliche Ausländer hinzuge- kommen sind. Dabei sind 5 Ausländer wegen Krankheit oder Vollun- tauglichkeit ausgeschieden. Das Gesamtbild der Personallage bei den Gerhard Fieseler Werken hat sich erheblich verschlechtert. Es stehen insgesamt 180 Abgän-

574 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 100 u. 101. Die ablehnende Haltung wird vom Betriebsdirektor Freyer bestätigt, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I,2, Bl. 265r. 575 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 277. 576 Vgl. Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 31. 577 Vgl. ebd.

188 gen 55 Zugänge gegenüber, es sind also 125 Arbeitskräfte weniger als im Vormonat, ohne dass der Zuweisungsrückstand vom Dezem- ber sowie die Neuanforderungen im Januar nur teilweise gedeckt wurden. Nach Einführung der Neuregelung über Arbeitskräfteanforderungen, die die Sonderausschußleiter je Gerät dem Industrierat jeweils bis zum 15. eines Monats einreichen müssen, entsteht eine weitere Lük- ke, da die zwischenzeitlich gegebenen Anforderungen nicht aner- kannt wurden und als erste Bedarfsanforderung bestenfalls die für den Monat März gegebene Berücksichtigung findet. Durch die inzwischen weiter erfolgten Abgänge, insbesondere durch Einziehungen, entsteht ein erheblicher Zuweisungsrückstand als Sofortbedarf. Die notwendige Schulung in der AW [Ausbildungs- werkstatt, d.V.] schiebt die Einsatzmöglichkeit noch weiter hin- aus.“578 Über die Gesamtzahl der während des Zweiten Weltkrieges bei Fie- seler beschäftigten Zwangsarbeiter liegen verschiedene Angaben vor. Fieseler geht in seinen Memoiren von insgesamt 6.000 auslän- dischen Arbeitskräften gegen Ende des Krieges aus.579 Bei einer von der Spruchkammer angegebenen Gesamtbeschäftigungsanzahl von etwa 10.000 Personen in den Fieseler-Werken um die Jahres- wende 1944/45 stimmt diese Angabe annähernd mit der Aussage des ehemaligen Betriebsdirektors Freyer überein, der den Anteil der Zwangsarbeiter an der Gesamtbelegschaft auf 40 bis 50 Prozent schätzt.580 Ausgehend von Angaben in den Protokollen der Kriegstagebücher nimmt Bölling hingegen eine niedrigere Zahl der Gesamtbelegschaft an, etwa 7.000 Beschäftigte, und bewertet die von Fieseler angegebene Zahl von 6.000 Fremdarbeitern als zu hoch.581 In einer Leistungsübersicht, die vom Fieseler-Betrieb am

578 BA/MA Freiburg, RL 3/1119, Bl. 81 (Schreiben Banzhaf an das RLM vom 8.2.1943; Monatsbericht des Leiters des Sonderausschusses F11 für Januar 1943). 579 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 276 u. 277. Hiernach betrug der Anteil der Zwangsarbeiter an der Gesamtbelegschaft etwa 60-70 Prozent. 580 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 265r. Die Zahl von 10.000 Beschäftigten wird vom Vorsitzenden der Spruchkammer genannt. 581 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 97 u. 98. Für den Zeitraum des Zweiten Weltkrieges liegt eine Übersicht über die Anzahl der Gesamtbeschäftigten in der Produktion nur bis zum September 1944 vor (vgl. BA/MA Freiburg RL3/1277). Die Zahlen der zugewiesenen Arbeitskräfte sind zum Teil bekannt (vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie

189 8. November 1944 erstellt worden ist, wird die Gesamtzahl der Lohnempfänger (Produktion und Unproduktion) für den Monat September des Jahres 1944 schließlich mit 7.430 angegeben.582 Diese Zahl schließt die ausländischen Arbeitskräfte vermutlich mit ein. Ein Anteil der Zwangsarbeiter in Höhe von mindestens 50 Pro- zent an der Fieseler-Belegschaft gegen Ende des Krieges scheint letztlich realistisch. Ein Großteil der ausländischen Arbeiter wurde der Firma mit der Aufnahme in das sog. „Jägerprogramm“ zugewiesen. So sollten nach den Angaben der Protokolle der Rüstungsindustrie der Fie- seler-Betrieb für den Monat Juli des Jahres 1944 2.500 Arbeits- kräfte erhalten.583 Von diesen Arbeitern trafen bis zum 14. Juli 1944 insgesamt 1.166 bei Fieseler ein. Es waren vor allem auslän- dische Arbeitskräfte, „gutes Material, überwiegend Holzarbeiter, die schon im Flugzeugbau tätig waren.“584 Weitere 2.000 Arbeiter soll- ten durch Freimachung von Arbeitskräften aus anderen Betrieben dem Fieseler-Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.585 Bei einem Großteil der in den Fieseler-Werken eingesetzten Zwangsarbeiter handelt es sich um Niederländer. Etwa 1.200 von ihnen arbeiteten dort.586 Des Weiteren wurden Männer und Frauen aus Polen, Belgien, der Ukraine sowie Kriegsgefangene aus der UdSSR und Italien zur Arbeit bei Fieseler zwangsverpflichtet.587 Die Unterbringung der Zwangsarbeiter erfolgte in verschiedenen La-

Anm. 6], S. 97). Erschwerend kommt hinzu, dass mit Einsetzen der Verlage- rung des Betriebes auf verschiedene Orte aus diesen ebenfalls Arbeiter heran- gezogen wurden. Angaben über die Zahl dieser Beschäftigten liegen nach Böl- ling ebenfalls nur bruchstückhaft vor (vgl. ebd., S. 98). Bölling selbst geht nach Angaben der Protokolle der Kriegstagebücher von ca. 6000 Arbeitern Ende des Jahres 1944 aus, die in der Produktion und Fertigung tätig waren. Hinzu rech- net er mit dem prozentualen Faktor von 1940 (27 Prozent) den Anteil der Ange- stellten und kommt auf eine Zahl von insgesamt 7800 Beschäftigten. Der Anteil der Angestellten scheint ihm jedoch zu hoch zu sein. Aus diesem Grund schätzt er die Zahl der Gesamtbelegschaft auf etwa 7000. Rechnet man das mobilisierte Personal aus den Orten der verlagerten Produktionsstätten hinzu, so wird die Zahl von 10.000 jedoch annähernd erreicht. 582 Vgl. BA/MA Freiburg RL3/1277. 583 Vgl. ebd., S. 103. 584 BA/MA Freiburg RW 21-30/18 Anlage 13, S. 2 v. 15.7.1944, zitiert nach: Böl- ling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 103. 585 Vgl. ebd. 586 Vgl. Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45], S. 24. 587 Vgl. Unterlagen der „Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen“, Bestand Krause-Vilmar, Akten-Nr. 994 (Rede Freyers über den Einsatz von Zwangsarbeitern), S. 2.

190 gern, die Bestandteil des Fieseler-Betriebes waren.588 Zu den größ- ten, die in der Nähe der Hauptstandorte des Werks in Bettenhau- sen und Waldau errichtet wurden, gehörten das Lager „Waldau“589 an der Umgehungsstraße in Waldau, das Lager „Wartheland“590 in Bettenhausen und das Lager „Fernsicht“ in Lohfelden.591 Nicht immer waren die Arbeiter getrennt nach Nationalität einquartiert. Über das Lager „Fernsicht“ liegen nähere Angaben vor.592 Hier wa- ren ausländische Arbeitskräfte aus verschiedenen Nationen unter- gebracht, u.a. Arbeiter aus der Sowjetunion, aus Polen, Italien, Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei, der Schweiz und den Niederlanden. Für den Zeitraum zwischen April 1944 und April 1945 werden insgesamt 1573 ausländische Arbeitskräfte für dieses Lager angegeben. Für den Zeitraum vom Oktober 1942 bis Oktober 1943 bestand in der Fuldatalstraße 32 (Ortsteil Wolfsanger in Kassel) ein Gemein- schaftslager für etwa 210 französische Arbeiter des Fieseler-Werks, die im Jahre 1943 nach Hessisch Lichtenau verlegt wurden.593 Die Verlegung dieser französischen Arbeitskräfte deutet an, dass mit Einsetzen der Verlagerungstätigkeit der Produktion auf verschiede-

588 Im Folgenden werden die Lager genannt, in denen nach gesicherter Quellenlage Zwangsarbeiter der Fieseler-Werke untergebracht waren. Darüber hinaus mö- gen weitere Lager bestanden haben, die jedoch dem Autor zum jetzigen Zeit- punkt nicht bekannt sind. 589 Nach Aussage A. van Deutekom, ein ehemaliger niederländischer Zwangsar- beiter, waren im Lager Waldau Franzosen, Belgier, Holländer und einige besser gestellte Polen untergebracht, vgl. Informationsstelle zur Geschichte des Natio- nalsozialismus in Nordhessen. Briefe und Zeugnisse von Niederländern in Kas- sel in der Zeit 1940-1945. Biographische Sammlung, N 109. 590 Das Lager „Wartheland“ war nach Aussage van Deutekoms den „Ostarbeitern“ vorbehalten, vgl. ebd. 591 Vgl. hierzu: Nachgewiesene Wohnlager und Arbeitskommandos für ausländi- sche Zwangsarbeiter in der Stadt Kassel 1940-1945. Ein vorläufiges Zwischen- ergebnis (internes Exemplar), zusammengestellt von Prof. Dr. Krause-Vilmar unter Mitarbeit von Jürgen Raabe, Kassel 1990, S. 22 u. 26 (Bestand: Informa- tionsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen); Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45], S. 17 u. 18; Wieleba, Sophie: Die Fremdarbeiter in Crumbach und Ochshausen während des Zweiten Weltkrieges [wie Anm. 541], S. 214 ff. u. Pitzschke, Angela: Fremdarbeiter und ausländische Kriegsgefangene, in: Gemeindevorstand Lohfelden (Hg.): Drei Dörfer – ein Ort: Lohfelden – Geschichte und Geschichten, Lohfelden 1996, S. 291-196, hier S. 293. 592 Vgl. Pitzschke, Angela: Fremdarbeiter und ausländische Kriegsgefangene [wie Anm. 591], S. 293. 593 Vgl. nachgewiesene Wohnlager und Arbeitskommandos für ausländische Zwangsarbeiter in der Stadt Kassel 1940-1945 [wie Anm. 591], S. 8.

191 ne Standorte, Fieseler-Zwangsarbeiter zu den einzelnen Orten mit ausquartiert wurden. Dies wird vom Betreuer der „Ostarbeiter- Lager“, Wendelin Jungkind, durch seine Aussage vor der Spruch- kammer bestätigt. Demnach unterstanden folgende Lager seiner Kontrolle: Kassel, Eschwege, Mönchehof, Hessisch Lichtenau, Roth- westen und Frankenberg.594 Aus seinen Worten schließend waren diese Ostarbeiter getrennt von anderen Nationalitäten unterge- bracht.

Aus der Sicht Gerhard Fieselers und seiner Anwälte Im Spruchkammerverfahren gingen die Anwälte Fieselers auf die Zwangsarbeiterpolitik im Fieseler-Werk ein und nahmen zu dem Verhältnis zwischen Gerhard Fieseler und den ausländischen Ar- beitern wie folgt Stellung: „Unberechtigt ist auch der Gedanke, daß der Betroffene [Gerhard Fieseler, d.V.] die Aufrüstung für die Beherrschung fremder Völker, ihre Ausnutzung oder Verschleppung gefördert hat. Das Gegenteil ist der Fall. Er hat sich längere Zeit mit Erfolg dagegen gewehrt, Aus- länder in seinem Werk überhaupt zu beschäftigen, weil er die Zwangsverschleppung und Sklaverei mißbilligte. [...] Die ersten Ar- beiter aus dem Ausland, die er schließlich einstellen mußte, waren Polen. Bei ihrer Einstellung erhielt die Firma auch Behandlungsvor- schriften. Danach sollten die Polen schlecht behandelt werden, schlechtes Essen erhalten, zu schweren Arbeiten herangezogen und notfalls mit dem Knüppel geschlagen werden. Der Betroffene war über diese Anordnung aufs schwerste empört, verbot sofort und nachdrücklich ihre Anwendung, erklärte sie für Wahnsinn und er- klärte auch, die Verantwortung für die Nichtdurchführung zu über- nehmen. Er kontrollierte persönlich die Unterkunft, besuchte die Ausländer dort und bei ihrer Arbeit, erkundigte sich nach ihren Sor- gen. Er kostete persönlich das Essen an Ort und Stelle und führte eine Essenkontrolle ein. [...] Er tat alles, um das Los dieser Menschen zu erleichtern. [...] Der Betroffene war auch bei seinen ausländischen Arbeitern allgemein beliebt, sie grüßten ihn freundlich, sprachen ihn an, luden ihn sogar zu ihren Festen ein, an denen er auch teilnahm, wie er ihnen auch selbst einmal eine Weihnachtsfeier ausrichtete und auf dieser zu ihnen sprach. Diese Fürsorge geschah nicht, um

594 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 276 (Aussage Jungkind).

192 mit Zuckerbrot größtmögliche Leistungen aus den Ausländern her- auszuholen.“595 Seinen Einsatz und seine Bemühungen für die Zwangsarbeiter hebt Fieseler auch in seinen Memoiren hervor: „So, wie ich mich um die Belange meiner eigenen Leute kümmerte, bemühte ich mich nun auch um die Arbeitsplätze und Unterkünfte der Fremdarbeiter. Bald kannte ich ihre Sorgen und Nöte, und es dauerte nicht lange, bis ich ihr Vertrauen besaß.“596 Darüber hinaus habe sich Fieseler insbe- sondere für eine anständige Behandlung der Zwangsarbeiter durch die Deutschen eingesetzt, da es immer wieder zu Übergriffen sei- tens der Unterführer kam.597 Die Darstellungen Fieselers und sei- ner Anwälte werden von verschiedenen Zeugen im Spruchkammer- verfahren bestätigt, z.B. von dem ehemaligen Betriebsdirektor Freyer: „Wer arbeiten soll […] der muß vor allen Dingen auch gut essen, schlafen und wohnen. Das galt besonders auch für die Aus- länder, auf die wurde das System [Unzufriedenenbetreuung, d.V.] auch angewandt.“598 Auch der Leiter der Ausländerküche Keim und der Betreuer der russischen Zwangsarbeiter, Wendelin Jung- kind, bescheinigten Fieseler ein fürsorgliches Verhalten. „Ich mußte die Beschwerden der einzelnen Ausländer Herrn Fieseler melden. Er hat sich dann persönlich eingesetzt, um das zu bereinigen, z.B. wenn die Lager nicht in Ordnung waren, oder das Essen nicht gut war usw. Das alles mußte ich melden und der hat sich dann persön- lich eingesetzt, um diese Sachen zu klären. [...] Ich habe täglich das Essen kontrolliert und dabei habe ich die Beschwerden von den Ausländern angenommen und das Herrn Fieseler gemeldet.“599 Und bezüglich des Essens der russischen Zwangsarbeiter sagte Jung- kind aus: „Das Essen war gut, sie hatten 3 mal in der Woche Fleisch, dasselbe Fleisch, was die Bevölkerung auch hatte. [...] Ich war in allen Lagern. Es kam auch mal vor, daß das Essen später

595 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 30, 32 u. 33. 596 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 277. Weitere Aus- führungen zu seiner Fürsorge um die Zwangsarbeiter auf den Seiten 277-280, 282 u. 283 597 Vgl. ebd., S. 278-280. Ein ehemaliger niederländischer Zwangsarbeiter, A. Wittemann, bestätigt Misshandlungen seitens der Unterführer: „Ich mußte dann zur Hauptleitung kommen, ich meine, es ist Herr Lange oder Langer gewesen. Er hat mich total zusammengeschlagen, mich getreten,“ vgl. Brief von A. Wittemann vom 13.4.1986, zitiert nach: Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45], S. 29. 598 Zur Aussage Freyer vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 265. 599 Ebd., Bl. 275 (Aussage Jungkind). Zur Aussage Keim vgl. ebd., Bl. 268r u. 269.

193 ankam, das habe ich dann auch Herrn Fieseler gemeldet. Er war dann sehr aufgeregt und ich mußte feststellen, woran das lag und ihm das melden. Die Lagerführer waren nicht sehr erfreut darüber, daß ich immer dahin kam. [...] Das [Essen, d.V.] wurde in Lohfelden gekocht und in Behältern in die Lager gebracht. Das war eine extra Küche für die Ausländer.“600 Hinsichtlich der Bemühungen Gerhard Fieselers, die Zwangsar- beiter mit ausreichendem und gutem Essen zu versorgen, können durchaus Zweifel erhoben werden, ob diese aus angeblich rein für- sorglichen Beweggründen erfolgten. Bereits seit dem Frühjahr 1943 wurden seitens des NS-Systems Anstrengungen unternommen, durch eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der „Ostarbeiter“ deren Arbeitsleistung zu erhöhen, um so den Mangel an Arbeitskräften durch höhere Produktivität auszugleichen.601 Als sich infolge des Rückzugs deutscher Verbände im Osten auch die Arbeiterrekrutierung aus der Sowjetunion seit Anfang 1944 zu- nehmend erschöpfte und somit die durch weitere Einberufungen immer größer werdenden Lücken bei den Arbeitskräften nicht mehr ausgefüllt werden konnten, wurden seitens des Regimes die Maß- nahmen zur Erhaltung von Leben und Arbeitskraft der fremdvölki- schen Arbeiter verstärkt. Dies geschah jedoch nicht aus humanitä- ren, sondern im Rahmen des „totalen“ Krieges aus rein kriegs- und rüstungswirtschaftlichen Gründen.602 Ein Beleg hierfür ist eine Äußerung Himmlers im Oktober 1943, die zugleich kennzeichnend für die Brutalität des Zwangsarbeitersystems ist: „Wir haben da- mals die Masse Mensch nicht so gewertet, wie wir sie heute als Roh- stoff, als Arbeitskraft, werten, was letzten Endes, wenn ich an Gene- rationen denke, nicht schade ist, was aber heute wegen des Verlu- stes der Arbeitskräfte bedauerlich ist.“603 Die Bemühungen um aus- reichende Ernährung der Ausländer im Fieseler-Werk ist ebenfalls der Zielsetzung unterzuordnen, deren Arbeitskraft aufrechtzuer- halten, zumal der Betrieb unter akutem Arbeitskräftemangel litt und Gefahr lief, die geforderten Programme des RLM nicht erfüllen zu können.

600 Ebd., Bl. 275 u. 275r. 601 Vgl. Recker, Marie-Luise: Zwischen sozialer Befriedung und materieller Aus- beutung [wie Anm. 61], S. 431. 602 Vgl. Kranig, Andreas: Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik un- ter dem Nationalsozialismus [wie Anm. 64], S. 152. 603 Zitiert nach: ebd.

194 Allerdings waren die Anstrengungen um eine bessere Versorgung kein Garant, dass diese auch wirklich eine Verbesserung der Er- nährungslage im Werk zur Folge hatte. Dies geht aus einem Bericht des Betriebsleiters vom Abschnitt B 17, Herrn Ganz, vom 10. Oktober 1944 hervor. Dort heißt es: „Die Verpflegung der Ausländer in B 17 klappt immer noch nicht. Am Montag, den 9.10.1944, war für 32 Wer- ker der Nachtschicht kein Mittagessen bereitgestellt. Da auch die Kalt- verpflegung für den Abend ganz ausfiel, d. h. verspätet um 21 Uhr im Lager einging, hatte auch die gesamte Nachtschicht kein Essen. Die Tagschicht am 10.10. ist zu 30% nicht zur Arbeit angetreten, da die Kaltverpflegung um 9 Uhr noch nicht ausgegeben war. Bei der Auskämmung des Lagers wurden ca. 60 Mann festgestellt, die die Arbeit nicht aufnahmen, weil sie angeblich einen Tag nichts zu essen hatten und daher nicht in der Lage waren, zu arbeiten.604 Die Auf- teilung der Verpflegungsportionen bringt für die Lagerleitung un- überwindliche Schwierigkeiten, da es an Personal fehlt. Für 700 Ausländer stehen mit den Lagerführern 2 Mann zur Verfügung, die die Kaltportionen zurichten und zuteilen sollen. Abhilfe muß hier sofort geschaffen werden, da durch diesen Vorfall wiederum der Fertigung Hunderte von Arbeitsstunden verloren gingen, die für die Einhaltung der Lieferforderung fehlen.“605

Aus der Sicht von Zwangsarbeitern Die Schilderungen Fieselers und seiner Anwälte stehen im deutli- chen Gegensatz zu den Aussagen ehemaliger niederländischer Zwangsarbeiter, die in den Fieseler-Werken arbeiteten. Anhand von schriftlichen Berichten niederländischer Arbeiter, die während des Zweiten Weltkrieges zur Arbeit nach Kassel zwangsverpflichtet worden waren und von denen ein Großteil bei Fieseler eingesetzt worden war, lassen sich die Arbeitsverhältnisse in dem Flugzeug- werk und die Lebensbedingungen gut rekonstruieren.606 Im Fol-

604 Ein niederländischer Arbeiter berichtet hierzu: „[...] Daraufhin kamen einige Werkschutzleute ins Lager und brüllten, daß wir aus den Zimmern kommen soll- ten, und fragten nach den Betreuern. Wir drei wurden zum Betriebsführer Ganz mitgenommen. Er drohte uns zu bestrafen und an die Polizei auszuliefern. Wir haben mit ihm gesprochen und ihm die Ursache des Streiks mitgeteilt [...]“, zitiert nach: Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45], S. 20. 605 Zitiert nach. ebd. 606 In der Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen sind über 100 Briefe und Zeugnisse ehemaliger niederländischer Zwangsarbei- ter aus Kassel archiviert, die Herr Prof. Dr. Krause-Vilmar Mitte der 80er Jahre

195 genden werden einige ihrer Aussagen in Auszügen wiedergegeben. Zunächst sei der Vorgang der Arbeitsverpflichtung eines Niederlän- ders, exemplarisch für viele andere, dargestellt. Der ehemalige Zwangsarbeiter der Fieseler-Werke, G. den Hoed, schreibt hierzu: „Das war das Arbeitsamt von Rotterdam und Frauda. Ich arbeitete damals an einem Bauprojekt von etwa 1500 Wohnungen in Rotter- dam. 1942 kamen Leute vom Arbeitsamt und von der Polizei auf die Baustelle und alle Junggesellen, die 18 Jahre oder älter waren, mußten sich melden auf dem Arbeitsamt in der Stadt, in der sie ge- meldet waren. [...] da bekam ich zu hören, daß ich arbeiten mußte in Kassel bei der Firma Henschel. Ich bin dann im Oktober 1942 durch Leute vom Arbeitsamt und der Polizei zum Zug gebracht worden. Abends um 19.00 Uhr bin ich von zu Hause weggegangen und zwei Tage später waren wir in Kassel. Es war ungefähr 2.00 Uhr nach- mittags, als wir in Kassel ankamen. Damals wurde uns mitgeteilt, daß wir nicht zu der Firma Henschel kommen, sondern nach Fieseler gebracht werden sollten, um dort zu arbeiten. Wir mußten uns auf- stellen in Viererreihen, und dann sollten wir mit unseren Koffern vom Bahnhof nach Waldau laufen. Dort wurden wir in Baracken unter- gebracht, die noch gar nicht fertig waren, aber wir mußten doch schon rein. Wir sollten sogar selbst unsere Strohsäcke auffüllen, denn die sollten ja als Bett dienen. Dann sollten wir in ein Lager in Bettenhausen – Wartheland.“607 Die Zwangsarbeiter wurden in den bereits erwähnten abgegrenzten Lagern untergebracht. Sie lebten in Baracken mit primitivsten sa- nitären Einrichtungen und unter entwürdigenden Bedingungen. Nur wenige, meist hochspezialisierte Arbeiter, wohnten in Privat- unterkünften. Hinzu kam eine schlechte Ernährung. Das Essen bzw. die Lebensmittel wurden mittels eines Verpflegungsheftes mit Gutscheinen genau zugeteilt. Die Verpflegung war einseitig und für einen arbeitenden Menschen mit 60 bis 72 Arbeitsstunden pro Wo- che nicht ausreichend. Im Werk wurden die Zwangsarbeiter als untergeordnete „Ausländer“ angesehen und entsprechend behan- delt. Häufig gab es gewalttätige Übergriffe. Nur in wenigen Fällen

erhielt (Briefe und Zeugnisse von Niederländern in Kassel in der Zeit 1940- 1945. Biographische Sammlung). Sie wurden von Gunnar Richter in dem be- reits erwähnten Heft mit dem Titel: Niederländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45] aufgearbeitet und hierin zum Teil veröffentlicht. 607 Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen: Briefe und Zeugnisse von Niederländern in Kassel in der Zeit 1940-1945. Bio- graphische Sammlung, N 139.

196 entwickelten sich freundschaftliche Kontakte zu deutschen Arbei- tern. Zudem waren die Fremdarbeiter einem umfangreichen Kon- troll- und Strafsystem ausgesetzt. „Die Überwachung und Bestra- fung wurde von der jeweiligen Lagerleitung, den Lageraufsehern und in den Firmen vom Werkschutz durchgeführt.“608 Bei den Lagerauf- sehern und den Wachmannschaften der Lager handelte es sich ebenfalls um deutsche Angestellte der Fieseler-Werke.609 Über et- waige Misshandlungen der Wachmannschaften gegenüber russi- schen Zwangsarbeiter sagte der Betreuer der Ostarbeiter, Jung- kind, aus: „Das [Beschwerden über Misshandlungen, d.V.] habe ich nicht bekommen. Wenn sie mal langsam waren, wurden sie getreten und gestoßen.“610 Der Niederländer G. den Hoed weiß genaueres von den Traktierungen durch die Wachmannschaften zu berichten: „Dann mußten wir alle uns sehr viel Geschrei anhören. Es gab auch Prügelei. Wir wurden also mit viel Geschrei und Prügelei aus den Baracken rausgetrieben im Winter, wo es ja nun sehr kalt war und dann mußtest du warten, bis du dran warst, um deinen Kleider- schrank zu öffnen und eben auch andere Dinge zeigen, die in dem Schrank drin waren, denn sie kontrollierten, ob Du vielleicht Waffen o. ä. aus der Fabrik entwendet hattest. [...] Der Lagerkommandant [in Lohfelden, d.V.] hieß Lindemann oder ähnlich. Es gab schon eine bestimmte Strafe. Man mußte dann in den Bunker hinein ohne Essen und Trinken und saß dann dort ein bis zwei Tage im Dunkeln, je nach Verbrechen.“611 Um die ausländischen Arbeitskräfte einzuschüchtern und sie vor Vergehen gegen das Gesetz abzuschrecken, war man auf deutscher Seite sogar dazu bereit, mittels Mord ein Exempel zu statuieren. „Was mir immer noch in Erinnerung geblieben ist, waren die Leute in der SA. Vier Russen haben sie erhängt, und wir sollten uns das an- gucken. Die Russen hatten nur ein paar Kartoffeln gestohlen, und dafür mußten sie sterben.“612 Dieses Beispiel verdeutlicht noch einmal mit aller Deutlichkeit, welcher Brutalität innerhalb des Zwangsarbeitersystems insbesondere „Ostarbeiter“ hilflos ausge-

608 Vgl. Richter, Gunnar: Niederländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45], S. 33. 609 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 275r (Aussage Jungkind). 610 Ebd. 611 Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen: Briefe und Zeugnisse von Niederländern in Kassel in der Zeit 1940-1945. Bio- graphische Sammlung, N 139. 612 Ebd.

197 liefert waren. Schon bei geringfügigen Vergehen liefen diese Men- schen Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Einen guten Einblick über den Aufbau des Lagers Waldau gibt der Niederländer und ehemalige Zwangsverpflichtete van Deutekom: „Das Lager ist in 1943 bewohnt worden, war dann ganz neu soweit es die Baracken betrifft. Waschbaracken gab es zu dieser Zeit noch nicht. Es standen ein paar Wasserhähne im Freien. Fußwege waren noch nicht da. Sie können verstehen, was das für eine Schlammgru- be wurde, wenn sich da ein paar hundert Menschen versuchten zu waschen. Die Waschbaracken und Toiletten gab es erst ein paar Monate später. Und dann noch nur ein 20 oder 30 Stück Kaltwas- serhähne, Duschen waren überhaupt nicht da. Jede 4. oder 5. Ba- racke hatten eine Waschbaracke und Toilette [...] und dann gab es Läuse und wie. Da hat man auch etwas für gefunden. Regelmässig mußte das ganze Lager entlaust werden. Die Entlausungsanstalt ist heute immer noch da und zwar an der Nürnbergerstrasse und ist heute ein Jugendheim (beim früheren Gaswerk den Wahlebach ent- lang). Es gab also Wohnbaracken, Wasch- und Toilettenbaracken, eine Kantine, Postbaracke, und ein Unterkommen für die Lagerlei- tung.“613 Die folgenden Schilderungen ehemaliger niederländischer Zwangs- arbeiter der Fieseler-Werke unterstreichen die erniedrigenden Be- dingungen des Arbeitseinsatzes. „Gewohnt haben wir in Holzbaracken mit Betten zwei übereinander, Schränke, Tische und Schemel. Später gab es in Waldau auch einen Ofen, aber zu wenig Kohlen und Holz. Das mußte organisiert wer- den. [...] Anfangs gab es eine Toilette; eine offene Grube mit einem Brett, worauf man sitzen mußte. Abscheulich. Später gab es eine Baracke mit Toiletten, das heißt, im Betonboden waren Löcher ge- macht und man mußte in die Knie sinken. Morgens wurden die Toi- letten sauber gemacht, aber abends war kein Licht da, mit dem Er- folg, daß man schiß, wo man stand, und die Toiletten waren nicht mehr zu gebrauchen. [...] Das Essen war so schlecht, daß ich manchmal nicht mehr in den Eßsaal ging (obwohl man Hunger hatte) und nur das Brot aß (wenn noch etwas da war) und dasjenige, was ich abends in der Stadt bekommen konnte. [...] Einmal am Sonntag war eine Versammlung im Eßraum. Da kamen hohe Vertreter von

613 Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen: Briefe und Zeugnisse von Niederländern in Kassel in der Zeit 1940-1945. Bio- graphische Sammlung, N 109.

198 Fieseler und der Arbeitsfront. Schöne Worte wurden gesprochen. Wir Holländer seien prima Leute, gute Arbeiter usw. Darum sollten wir ab heute auch gut ernährt werden. Und tatsächlich bekamen wir den Tag gutes Essen: Kartoffeln, Gemüse und Fleisch. Leider nur den Tag. Weiterhin gab es wieder Kohl- und Rasierklingensuppe (Schnittbohnen).“614

Ein anderer ehemaliger Zwangsarbeiter schreibt: „Als ich im April 1984 in Kassel war – ich war auch u.a. in Wil- helmshöhe – erfuhr ich, daß Gerhard Fieseler noch am Leben sei. Aber als ich bei seiner Villa ankam, daß er sich in der Schweiz oder in Österreich aufhalten würde. Ich hätte dann schon was unternom- men, wenn er dort gewesen wäre und wenn ich die Gelegenheit da- zu gehabt hätte. Es ging eben um den Hunger und die Entbehrun- gen, die ich durchgemacht habe. Es geht mir nicht um das Geld, sondern um irgendeine Geste.“615

Nach diesen Aussagen, die sich inhaltlich mit zahlreichen Berich- ten weiterer niederländischer Zwangsarbeiter decken, können die von Fieseler angegebenen Maßnahmen zur Verbesserung der Ar- beits- und Lebensverhältnisse der ausländischen Arbeiter, die von ihm zum Teil persönlich durchgeführt worden sein sollen, nicht bestätigt werden. Die Darstellungen in den Briefen der Niederlän- der lassen annehmen, dass es sich bei der sozialen Betätigung Fie- selers vermutlich um einzelne Aktionen handelte, deren Auswir- kungen sehr begrenzt waren und nur wenige ausländische Arbeiter erreichten. In den Unterlagen der Spruchkammerakte sind Hinweise enthal- ten, die auf ein Bemühen Fieselers um die Zwangsarbeiter vor al- lem nach seiner kommissarischen Ablösung als Verantwortlicher für die Flugzeugproduktion im März 1944 hindeuten. Beispielswei- se erklären die Anwälte Fieselers: „[...] fortan [nach seiner Ablösung, d.V.] lebte nunmehr Fieseler nur noch seiner Lieblingsaufgabe: der sozialen Betreuung seiner Werksangehörigen und vor allem der Pfle- ge und Hilfe der Ausländer.“616 Des Weiteren wurde der Schriftleiter der Fieseler-Zeitschrift, Otto Großjohann, im Juni 1944 von Fie-

614 Brief von A. van Rosmalen vom 17.9.1988, zitiert nach: Richter, Gunnar: Nie- derländische Zwangsarbeiter [wie Anm. 45], S. 18 u. 19. 615 Brief von Jac. Walraven vom 13.4.1986, zitiert nach: ebd., S. 6. 616 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 166.

199 seler beauftragt, einen Bericht über „Arbeit und Unterbringung der Fremdarbeiter im Werk“ zu schreiben.617 In diesem Zusammen- hang recherchierte Großjohann über die Arbeitsbedingungen und die Lebensverhältnisse in den Lagern und berichtete Fieseler dar- über. Er meldete auch Übergriffe deutscher Arbeiter auf Ausländer. Fieseler selbst schreibt in seiner Biografie: „Nun [ab Frühjahr 1944, d.V.] widmete ich mich fast ausschließlich den Interessen der 6000 mehr oder weniger rechtlosen ausländischen Arbeiter. [...] Im Rah- men des Möglichen sorgte ich für gute Verpflegung, Unterkunft und, was besonders wichtig war, für anständige Behandlung. Denn im- mer wieder hörte ich bei meinen Besuchen, daß manche Vorarbeiter an den wehrlosen Ausländern ihre Machtgelüste ausließen. [...] So störte es mich nach einiger Zeit nicht einmal mehr, daß ich in meiner Firma ausgeschieden war, und fand Befriedigung in der Betreuung der Fremdarbeiter.“618 Dem Argument, die Beweggründe Fieselers für eine verstärkte Be- treuung der Zwangsarbeiter seien in seiner menschlichen Fürsor- gepflicht – wie es von den Anwälten und ihm selbst betont wurde – zu suchen, steht eine mögliche andere Erklärung gegenüber. Fie- seler selbst hebt in seinen Memoiren hervor, er sei sich über die Aussichtslosigkeit des Krieges und den Konsequenzen der Nieder- lage Deutschlands ab 1944 bewusst gewesen. „Damals [1944, d.V.] war ich mir bewußt, daß nach diesen fast fünf unmenschlichen Kriegsjahren die Sieger ihre Rache wesentlich mehr auskosten wür- den als nach dem Ersten Weltkrieg. [...] Ich mochte mir kaum vor- stellen, was jetzt mit uns verhaßten Deutschen geschehen würde.“619 Über eine Unterredung im Jahre 1944 mit einem Vorarbeiter, der Zwangsarbeiter misshandelt hatte, bemerkt er: „Ich versuchte ihn

617 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 319-322. Warum Fieseler diesen Auftrag gab, bleibt unklar. In diesem Zusammenhang meldete Großjohann Gerhard Fieseler Übergriffe von deutschen Betriebsangehörigen auf Zwangsar- beiter, obwohl dies laut Anordnung verboten worden war. Fieseler erkannte die vorgetragenen Argumente Großjohanns an, sagte aber, so etwas könne auf- grund der Zensur der DAF nicht geschrieben werden. Großjohann wurde kurze Zeit später vom Werkschutz – angeblich auf Veranlassung Fieselers – verhört und aus dem Werk entlassen. 618 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 277, 278 u. 279. Der Betriebsdirektor Freyer bestätigt vor der Spruchkammer, dass Fieseler nach seiner Ablösung im Frühjahr 1944 über produktionstechnische Angele- genheiten keine Entscheidungsgewalt mehr hatte und sich ausschließlich der sozialen Betreuung widmete, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 265 u. 265r. 619 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 279.

200 zu überzeugen, appellierte an seine Vernunft, seine Menschlichkeit, wies schließlich auf die Folgen seines Tuns hin, falls – rein theore- tisch natürlich – der Krieg verloren ginge.“620 Eine kritische Betrachtung seiner Mutmaßungen über die Folgen einer deutschen Kriegsniederlage lässt die Frage aufkommen, ob Gerhard Fieseler sich wirklich aus Gründen der Achtung der Men- schenwürde für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedin- gungen der Zwangsarbeiter einsetzen wollte oder aus Angst vor der alliierten Siegerjustiz nach dem Krieg. Insbesondere der Appell an den Vorarbeiter erweckt den Anschein, Fieseler wollte sich im Be- wusstsein möglicher Konsequenzen, die er als Betriebsführer und somit als Mitverantwortlicher für die Beschäftigung von Zwangsar- beitern nach Kriegsende zu erwarten hätte, verstärkt für die aus- ländischen Arbeitskräfte einsetzen und sich einen guten Leumund verschaffen.

Eine Rede des Betriebsdirektors Freyer über den Einsatz von Zwangsarbeitern Ein weiterer Hinweis, dass Gerhard Fieseler in den ersten Kriegs- jahren über den Einsatz von Zwangsarbeitern durchaus eine ande- re Auffassung hatte, als von ihm und seinen Anwälten nach dem Krieg dargestellt, bietet eine Rede seines Betriebsdirektors Freyer. Am 22. Juni 1943 hielt dieser vor Vertretern verschiedener Firmen auf einer Luftwaffenindustriebesprechung in den Junkers Flug- zeug- und Motorenwerke A.G. Motorenbau im Werk Kassel- Bettenhausen einen Vortrag über das Thema: „Der Einsatz der Ausländer in der deutschen Rüstungsindustrie“.621 Freyer erläutert hierin u.a. die Voraussetzungen und die Bedingungen für den er- folgreichen Einsatz von Zwangsarbeitern sowie die Auswirkungen

620 Ebd., S. 280. 621 Vgl. Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen, Bestand Krause-Vilmar, Akten-Nr. 994. Über die Bedeutung der Rede schreibt Krause-Vilmar in einer Anmerkung auf S. 1: „Die Rede Freyers präsentiert jah- relange Erfahrungen in einem großen Rüstungsbetrieb in Kassel mit dem Auslän- dereinsatz und enthält programmatische Vorstellungen. Die Rede ist u.a. auch deshalb wertvoll, weil es ein internes Dokument ist. Freyer berät sozusagen an- dere Betriebsführer, er teilt kollegial Erfahrungen mit. Die Rede enthält viele in- teressante einzelne Informationen zur Behandlung der Ausländer in den Kasseler Fieseler Werken, zum Denken Freyers und ihm nahestehender industrieller Krei- se, zur Militarisierung des industriellen Einsatzes, zum Zwangscharakter der ausländischen Arbeit, zur unbefragten Zusammenarbeit mit der Geheimen Staatspolizei und anderes mehr.“

201 und Folgerungen für die Industrie. Er stützt sich dabei auf die Er- fahrungen, die im Fieseler-Werk im Umgang mit Zwangsarbeitern gemacht worden waren. In der Rede ist eine klare Tendenz zu erkennen, in den Zwangsar- beitern einen kostengünstigen Arbeitsfaktor mit hohem betriebs- wirtschaftlichen Nutzen zu sehen. Freyer bestätigt eingangs seines Referats die zunächst ablehnende Haltung des Fieseler-Betriebes gegenüber der Aufnahme von Fremdarbeitern. Die Gründe, die er hierfür nennt, lagen allerdings nicht in der Missbilligung und der Verachtung der Zwangsverpflichtung von Ausländern, sondern in den Bedenken und dem Vorbehalt, diese würden keine ausreichende Arbeitsleistung erfüllen. „Man kann das auch verstehen, wenn man sich das Bild ins Gedächtnis zu- rückruft, welche Menschen aus fremden Be- rufen und in welchem Zustande bei uns lan- deten: Polen aller möglichen Berufe, kaum je ein Metallarbeiter dabei, Frauen aus der Landwirtschaft der Krim und der Ukraine, barfuß, nur mit dem Notwendigsten versehen. Niemals hätte man zu diesem Zeitpunkt an einen erfolgreichen Einsatz dieser Kräfte ge- glaubt.“622 Nach den Worten Freyers zer- Betriebsdirektor Richard Freyer schlugen sich diese Zweifel seitens der Be- triebsleitung jedoch schnell. Es wurden die vielversprechenden Möglichkeiten und Vorteile der Beschäftigung von Zwangsarbeitern erkannt, und der Betrieb bemühte sich um die Aufnahme weiterer ausländischer Arbeiter.623 Im weiteren Verlauf seines Vortrages geht er auf die seitens des Betriebes getroffenen Maßnahmen zur Unterbringung und zum Arbeitseinsatz im Betrieb ein. Er hebt die Bedeutung einer ange- messenen Verpflegung und Unterkunft hervor, macht aber zugleich darauf aufmerksam, diesbezüglich zwischen den Ansprüchen der Fremdarbeiter aus dem „Osten“ und aus dem „Westen“ zu unter- scheiden. Des Weiteren sei die Durchführung hygienischer Maß- nahmen und Gesundheitsüberprüfungen notwendig, um eine Übertragung von Krankheiten auf deutsche Arbeiter zu vermeiden. Um die Arbeitsleistung der Zwangsarbeiter zu steigern, wurden

622 Ebd., S. 2. 623 Vgl. ebd., S. 2 u. 3.

202 diese wie die deutschen Betriebsangehörigen einer Leistungsbeur- teilung unterzogen. Den Besten wurde die Aussicht auf Belohnung in Form von Zuteilungen von Sonderrationen oder ähnlichem ge- währt, während den schlechter bewerteten Zwangsarbeitern schwe- re Arbeit im Steinbruch oder in einer Munitionsfabrik oder sogar die „Entfernung“ aus dem Werk drohte.624 Auch Geldstrafen, Lohn- entzug, Herabsetzung von Essensrationen oder die Androhung von Überstunden seien geeignete Maßnahmen, um betreffende Fremd- arbeiter zu einer produktiveren Arbeitsleistung zu bewegen.625 „Wo es notwendig ist, darf sich auch in bestimmten Fällen der Betrieb selbst helfen, um sich durchzusetzen. Wir haben Fälle erlebt, daß beim Einsatz widerspenstiger Holländer eine Besserung dieser Ele- mente nur erzielt werden konnte nach einem kürzeren oder längeren Aufenthalt in einem abgeschlossenen Raum mit einigen handfesten deutschen Gefolgschaftsmitgliedern zusammen [!, d.V.].“626 Gegen Ende seiner Rede zieht Freyer ein Resümee über die Vorteile des Einsatzes von Zwangsarbeitern in den Fieseler-Werken. Seiner Einschätzung zufolge überwiegen diese klar die möglichen Nach- teile, die die Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften in sich birgt. Wörtlich führt Freyer aus: „Der größte Vorteil der Ausländerbeschäftigung gegenüber dem frü- heren Zustand der Beschäftigung im deutschen Werke liegt darin, daß wir nur Befehle zu erteilen brauchen, kein Widerspruch erfolgt, kein Verhandeln nötig ist und ungemein viel Zeit für produktive Ar- beit der Unterführer hierdurch gewonnen wird. Der Ausländer ist sofort zur Stelle, wenn er für Überstunden und Sonntagseinsatz be- nötigt wird. Es sind Kräfte vorhanden für das End- und Beladen von Waggons auch außerhalb der Arbeitszeit, und was solche Vorteile mehr sind. Der Unterführer, welcher früher einen großen Teil seiner Zeit mit Personalangelegenheiten verbrachte, hat mit dem Einsatz der Ausländer auf einmal ruckartig wieder Zeit bekommen für tech- nische und organisatorische Probleme und Arbeiten. Streitigkeiten unter Ausländern wegen der Arbeitszuteilung erfolgen nie, weil die

624 Vgl. ebd., S. 7. Diese Androhung von Strafversetzungen in Steinbrüche oder in eine Munitionsfabrik bestätigt im übrigen den von Fieseler gemachten Vor- schlag, sog. renitenten Arbeitskräften diese Arbeit aufzubürden (vgl. S. 76 die- ser Arbeit). 625 Vgl. Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen, Bestand Krause-Vilmar, Akten-Nr. 994, S. 8. u. 9. 626 Ebd., S. 7.

203 Arbeit widerspruchslos auszuführen ist. Viel überflüssige Schwatz- zeit ist in Fortfall gekommen und eine nahezu 100%ige Anwesenheit des Ausländers am Arbeitsplatz der Fall. Selbst die Abortzeit mit 10 Minuten wird kontrolliert, überwacht und bei Übertretung bestraft. Der Arbeitsbeginn ist pünktlich, da die Ausländer zum großen Teil abgeholt werden; Fehlzeiten wegen Besorgungen auf Behörden und in den Geschäften kommen kaum in Frage. Der Arbeitszeitanteil ist im Ganzen ein größerer als bei deutschen Gefolgschaftsmitgliedern. Die Entlastung deutscher Männer an gesundheitsschädlichen Plät- zen, wie Spritzlackiererei, Sandstrahlerei, Eloxalbad, Glühbad und anderen ist eingetreten und von erheblichem Wert. [...] Der Deutsche hat sich mit dem Ausländereinsatz zum ersten Male in einem riesi- gen Umfange die Tätigkeit von Hilfsvölkern zu eigen und zu nutzen gemacht und daraus große Lehren gezogen und Erfahrungen ge- sammelt. Es wird schon gut sein, schon während, spätestens nach [!, d.V.] dem Kriege, diesen ganzen Erfahrungsschatz an berufener Stelle zu sammeln. Die Kriegsaufgabe des Ausländereinsatzes in der deutschen Rüstungsindustrie, anfangs ein Experiment, wurde ein voller Erfolg.“627 Den größten Nachteil hingegen sieht Freyer in der Gefährdung der Volksgesundheit aufgrund der Unhygiene der Ausländer. Allerdings sei „die Verlausung der Ostarbeiter durchaus kein Vorrecht dieser Menschen, sondern es wurden bei den Westländern ähnliche, oft sehr krasse Erscheinungen beobachtet.“628 Vor dem Hintergrund dieser Aussagen und den Berichten der nie- derländischen Zwangsarbeiter scheinen die Behauptungen Fie- selers, den Einsatz von Zwangsarbeitern aus menschlichen Grün- den abgelehnt und sich für ihre Belange eingesetzt zu haben, eher unglaubwürdig – zumindest für den Zeitraum bis zum Frühjahr 1944. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass interessanter- weise Richard Freyer von Fieseler selbst in seinem Spruchkammer- verfahren als Entlastungszeuge, auch hinsichtlich der Beschäfti- gung von Zwangsarbeitern, angegeben und auf dessen Veranlas- sung auch angehört wurde.629 Freyer bestätigte in seiner Aussage die Fürsorge Fieselers um die Fremdarbeiter.

627 Ebd., S. 13, 14 u. 17. 628 Ebd., S. 14. 629 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 28r (Schreiben der Anwälte) u. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 265 (Aussage Freyer).

204 Nach den Worten der Anwälte Fieselers kann von einer engen Zu- sammenarbeit bzw. Verhältnis zwischen Freyer und Fieseler in Be- zug auf die Ausarbeitung der Bedingungen für den Arbeitseinsatz und der Unterbringung der ausländischen Arbeitskräfte ausgegan- gen werden. „Der Betriebsdirektor, Zeuge Freyer, dem die Leute [die Zwangsarbeiter, d.V.] unterstellt waren, erhielt vom Betroffenen [Gerhard Fieseler, d.V.] genaueste Anweisungen über ihre Behand- lung und ihren Einsatz.“630 Hieraus lässt sich die Vermutung schließen, dass Gerhard Fieseler über die in der Rede Freyers geschilderten Arbeits- und Lebensbe- dingungen der Zwangsarbeiter nicht nur Bescheid wusste, sondern auch für sie verantwortlich war. Die Kenntnis Fieselers über das Referat Freyers vor Vertretern der Industrie ist ebenfalls anzuneh- men. Dieser Vortrag, der dem Zweck der Weitergabe von gesam- melten Erfahrungen über den Einsatz von Zwangsarbeitern diente, ist ein Beleg für eine gezielte und bewusste Ausnutzung der Ar- beitsleistung von Zwangsarbeitern in den Fieseler-Werken.

Die Absetzung Gerhard Fieselers als Verantwortlichem für die Pro- duktion in den Fieseler-Werken Mit einem Einschreiben des RLM vom 2. März 1944, das vom Ge- neralluftzeugmeister Erhard Milch unterzeichnet ist, wurde dem bis zu diesem Zeitpunkt stellvertretenden Betriebsführer Thalau mit sofortiger Wirkung die kommissarische Leitung der „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ übertragen.631 Gerhard Fieseler behielt le- diglich nominell seine Stellung als Betriebsführer. Als Begründung wurde in diesem Brief angegeben, der Fieseler-Betrieb sei in der Produktion von Jagdflugzeugen im Rahmen der dringend notwen- digen Jägerausbringung in den letzten Monaten den geforderten Zahlen nicht nachgekommen. Die von Fieseler vorgebrachten Ar- gumente und Entschuldigungen für die Verzögerungen könnten nicht anerkannt werden. Aus diesem Grund erfolge nach den Vor- schriften des Reichsleitungsgesetzes632 die Einsetzung Thalaus als Kommissar des Deutschen Reiches. Er sei fortan für die Einhal-

630 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 32 (Schreiben der Anwälte). 631 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 139 (Schreiben Milch). Am gleichen Tag fand zwischen Fieseler und Milch ein Gespräch statt, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 143 (Aussage Milch). 632 Näheres zum „Reichsleitungsgesetz“ siehe nachfolgendes Zitat.

205 tung der geforderten Lieferprogramme seitens des RLM alleine ver- antwortlich. In einem weiteren Schritt wurden am 31. März 1944 die „Gerhard Fieseler Werke“ vom Reichsminister des Inneren als sog. Bedarfs- stelle dem Reichsminister der Luftfahrt zur Verfügung gestellt.633 Hiermit war das Unternehmen in das sog. „Jägerprogramm“ aufge- nommen.634 In einem Schreiben des Reichsministers des Inneren vom 31. März 1944 heißt es: „Das Oberkommando der Wehrmacht hat im Einvernehmen mit dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung und dem Generalbevollmächtigten für die Wirt- schaft gemäß § 2 Abs. 2 des Reichsleistungsgesetzes vom 1.9.1939 (RGBl. I S. 1645) dem Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehls- haber der Luftwaffe als Bedarfstelle zu § 3a dieses Gesetzes in ei- nem Einzelfall bestimmt, nämlich zur Inanspruchnahme der genann- ten Fertigungsstätten der Firma Gerhard-Fieseler-Werke GmbH in Kassel einschließlich der an die genannte Firma von der Luftfahrt- anlagen-GmbH, Berlin, verpachteten Fertigungsstätten in Kassel,

633 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 115 (Anklageschrift der Spruchkammer) u. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 140 u. 141 (Schreiben Innenministerium). In diesem Zusammenhang erhebt Fieseler in seinen Memoiren den Vorwurf gegen Thalau, dieser habe schon lange die Herr- schaft über die Firma angestrebt, vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Him- mel [wie Anm. 1], S. 274. 634 Zu der Entstehung und den Aufgaben des sog. „Jägerprogramms“ und „Jäger- stabes“ vgl. Milward, Alan S.: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939-1945, Stutt- gart 1966 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Nr. 12), S. 125 ff. Der Jägerstab, der am 1. März 1944 gegründet wurde, war aus einem privaten Übereinkommen zwischen dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer, und Milch, dem Staatsekretär der Luftfahrt und Gene- ralinspekteur der Luftwaffe (Stellvertreter Görings) entstanden. Dies geschah zunächst ohne Wissen von Hitler und Göring. Offizieller Chef des Stabes war Speer, Milch sein Stellvertreter; wirklich geleitet wurde dieser jedoch von Otto Saur, dem Chef des Technischen Amtes im Ministerium und Stellvertreter Speers. Einziges Ziel des Jägerstabes war die Erhöhung der Produktionszahlen von Jagdflugzeugen. Entsprechende Richtlinien wurden auf der Führerkonfe- renz vom 5. März 1944 festgelegt. Zu den getroffenen Maßnahmen gehörten u.a. die Einführung der 72-Stundenwoche, Verbesserung der Arbeitsbedingun- gen durch Lebensmittelzulagen und Verteilung von Kleidungsstücken, der Ver- lagerung von Teilen der Produktion in unterirdische Fabrikanlagen und weitere Aktionen. Als effektiv erwiesen sich Saurs mitternächtliche Besuche mit dem sog. „Saur-Zug“, der die Werksleiter zu „Aufmunterungsgesprächen“ zusam- menholte und sie dann später auf entlegenen Bahnstationen wieder absetzte. Sie bewirkten, dass die vorgegebenen Maßnahmen in den einzelnen Firmen energisch umgesetzt wurden.

206 Bettenhausen und Waldau, und zwar für eine vorübergehende Zeit, längstens aber auf Kriegsdauer. [...]“635 Dieser Beschlagnahmung war ein Treffen Fieselers und seiner Di- rektoren mit dem Chef des Jägerstabes, Otto Saur636, vorausgegan- gen. Am 15. März 1944 war die Fieseler-Betriebsleitung zu den AGO-Flugzeugwerken nach Oschersleben beordert worden, wo mit dem Jägerstab in einem Sonderzug eine Besprechung stattfand.637 Bereits im Vorfeld hatte Saur gegenüber seinem Stab zu verstehen gegeben, dass er Gerhard Fieseler die Leitung seiner Firma entzie- hen wolle. In einer internen Vorbesprechung des Jägerstabes in der Nacht vom 14. auf den 15. März 1944 gab zunächst der Werksbe- auftragte Sachse einen Überblick über die Produktionsverhältnisse der Fieseler-Firma und führte als Grund für die Nichterfüllung der geforderten Programme die mangelnde Leistung der Belegschaft an. „Die Verhältnisse, die ich bei der Firma Fieseler vorgefunden habe, sind wirklich katastrophal. Die Firma Fieseler macht mit ihrer ge- samten Belegschaft mit Ausnahme der Nachtschichten um ½ 5 Schluß und fängt um ½ 7 an. Ich habe sofort die 72stündige Arbeits- zeit gefordert.“638 Die Haltung der übrigen anwesenden Personen gegenüber Gerhard Fieseler war ebenfalls äußerst negativ geprägt. Beispielsweise konstatierte der Vertreter des RLM, Karl Frydag639, er würde Fieseler bei der morgigen Besprechung zu Hause lassen, „weil er keine Ahnung hat.“640 Saur entgegnete hierauf: „Grade, weil er dauernd die Leitung hemmt und hineinredet, werde ich mir erlau-

635 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 140 u. 141. Das Schreiben wurde an folgende Stellen versendet: Dem Reichsminister der Luftfahrt und Oberbe- fehlshaber der Luftwaffe – Industriewirtschaftsamt – z. Hd. Ministerial-Direktor Cejka; dem Regierungspräsidenten Kassels z. Hd. Oberregierungsrat Dr. Eich- horn und dem Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin – Hauptpla- nungsamt. 636 Vgl. Weiß, Hermann (Hg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frank- furt a. M. 21998, S. 395 u. 396. Saur, Karl-Otto (geb. 16.2.1902, gest. 28.7.1966), Ministerialbeamter im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion. 637 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 271-273. 638 BA/MA Freiburg, RL 3/3 (Vorbesprechung über Fieseler im Sonderzug), Bl. 1122. 639 Karl Frydag war seit 1943 als Generaldirektor der Heinkel-Werke eingesetzt worden, nachdem Ernst Heinkel im Rahmen einer unternehmensorganisatori- schen Umwandlung seiner Firma in eine Aktiengesellschaft auf den Posten ei- nes Aufsichtsratsvorsitzenden abgeschoben worden war, vgl. Erker, Paul: Indu- strie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 63. 640 BA/MA Freiburg, RL 3/3 (Vorbesprechung über Fieseler im Sonderzug), Bl. 1124.

207 ben, gegen Herrn Fieseler vorzugehen. Ich habe Dinge gehört, die mir Grund geben, endlich mit solchen Leuten aufzuräumen.“641 Die Besprechung zwischen dem Jägerstab und der Fieseler- Firmenleitung fand schließlich am nächsten Tag um die Mittagszeit statt und dauerte nur etwa 25 Minuten. Sowohl Sauer als auch Vertreter des RLM und der Rüstungsinspektion drängten Gerhard Fieseler, als Betriebsführer zurückzutreten und Thalau, der ohne- hin schon die kommissarische Verantwortung der Produktion trug, damit die alleinige Führung des Werks zu überlassen. Saur hierzu: „Ich möchte in diesem vorliegenden Fall diesen Weg nun wirklich vorschlagen, und ich möchte an den Betriebsführer des Werkes, Herrn Fieseler, die Bitte richten, sich mit Herrn Thalau darüber zu unterhalten. Meines Erachtens ist der richtige Weg der, die Konse- quenzen zu ziehen und Herrn Thalau zum Führer des Betriebes zu machen, während Herr Fieseler sich für die Aufgaben zur Verfügung stellt, die speziell ihm liegen. [...] Ich möchte deshalb die Frage an Herrn Fieseler richten, ob er nicht die Möglichkeit sieht, von seiner Seite aus eine totale Lösung herbeizuführen. Das wäre m. E. die rich- tige Entwirrung der Dinge. Denn nebeneinander einen Betriebsführer und einen Kommissar zu haben, ist falsch.“642 Seitens Saurs und der Angehörigen seines Stabes wurde die Befürchtung ausgespro- chen, bei der bestehenden Regelung mit Thalau als Kommissar und Fieseler als Betriebsführer an der Spitze der Firma könnte es zukünftig bezüglich der Leitung des Werks zu Uneinigkeiten zwi- schen beiden kommen, was wiederum negative Konsequenzen für die Produktion hätte. Sachse brachte diese Problematik schließlich offen zum Ausdruck und bezog eindeutig Stellung: „Es hat keinen Zweck, wie Sie [gemeint ist Saur, d.V.] ausführten, neben dem Be- triebsführer noch einen Kommissar zu haben. Herr Feldmarschall Milch hat aber am 1. März Herrn Prof. Thalau als Kommissar einge- setzt. Es ist vollkommen klar, daß, wenn Herr Thalau Anordnungen trifft, Herr Fieseler womöglich nicht damit einig geht. [...] Aus diesem Grunde habe ich mich auch mit Prof. Thalau eingehend darüber un- terhalten und wollte nun eine Klärung haben: ist er nur Kommissar oder nicht? Ist Thalau Betriebsführer oder Herr Fieseler. Da muß man klipp und klar Bescheid wissen, was los ist: halte ich mich an Herrn Fieseler als Betriebsführer oder Herrn Thalau als Kommis-

641 Ebd. 642 Ebd., Bl. 1128 u. 1129.

208 sar.“643 Auch Frydag sprach sich für eine eindeutige Lösung aus: „Und wenn ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen Rat geben darf, Herr Fieseler, dann würde ich als Betriebsführer zurücktreten und Herr Thalau zum Betriebsführer machen. Dann ist das ganze Kommissariat und jeder Dualismus zu Ende.“644 In erster Linie Fieseler, aber auch Thalau selbst, sperrten sich ge- gen den Vorschlag, Thalau als neuen Betriebsführer einzusetzen. Als Argument führte Fieseler an, dass Thalau schon seit Jahren für die Produktion allein verantwortlich und zu diesem Zweck mit ent- sprechenden Kompetenzen ausgestattet worden sei. Bisher habe diese Zusammenarbeit ohne Probleme funktioniert. Zwar räumte er ein, als Betriebsführer sofort zurücktreten zu wollen, wenn er wüsste, „daß damit der Sache gedient ist“, aber der Rückgang der Produktion sei schließlich nicht sein Verschulden, sondern haupt- sächlich auf den massiven Bombenangriff auf Kassel im Oktober 1943 zurückführen.645 Entgegen der Darstellung in seinen Memoiren, in denen Fieseler Saur als einen kleinen, dicken Choleriker, einen mit dem Ritter- kreuz des Verdienstkreuzes am Halse ausgezeichneten Tyrannen bezeichnete, der mit hochrotem Kopf und lauter Stimme die leiten- den Angestellten der AGO-Flugzeugwerke zusammenschrie, schien er im Jahre 1944 von den angewandten Maßnahmen Saurs noch angetan.646 „Ich möchte klarstellen, daß ich nur eins kenne: das ist die Sache. Ich selber bin zwei Jahre krank gewesen, weil ich gese- hen habe, wie es in der Luftfahrtindustrie aussieht. Das werden die Herren bestätigen. Und dieser Ton, den ich heute morgen erstmalig gehört habe, erfreut mich. [gemeint ist das Auftreten Saurs vor AGO- Mitarbeitern, d.V.] Es ist das, was ich bisher vermisst habe.[!, d.V.] Ich habe Herrn Sachse vorgestern noch gesagt: jetzt endlich geht es los.“647 Ob diese Aussage tatsächlich der Überzeugung Fieselers entsprach oder es sich lediglich um eine Schmeichelei gegenüber Saur handelte, um seine Stellung als Betriebsführer zu behalten, kann nicht nachvollzogen werden. Bemerkenswert ist jedoch die

643 Ebd., Bl. 1130. 644 Ebd., Bl. 1131. Auch General Vorwald votierte für Herrn Thalau als Betriebs- führer und der Rüstungsinspekteur (vermutlich aus Kassel) sprach sich eben- falls für eine eindeutige Lösung aus, vgl. ebd., Bl. 1132 u. 1133. 645 Ebd., Bl. 1131. 646 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 270. 647 BA/MA Freiburg, RL 3/3 (Vorbesprechung über Fieseler im Sonderzug), Bl. 1129.

209 auffallende Diskrepanz zwischen seiner Haltung 1944 und der späteren Darstellung in seiner Biografie. Hinsichtlich der Frage, ob Thalau als neuer Betriebsführer der Fie- seler-Werke eingesetzt werden sollte, wurde während der Unterre- dung im Sonderzug keine Entscheidung mehr getroffen. Zunächst blieben die alten Verhältnisse bestehen: Fieseler war – zumindest formell – weiterhin Betriebsführer und Thalau als Kommissar für die Produktion verantwortlich. Saur hierzu: „Ich glaube, daß es keinen Sinn hat, in diesem Kreis über die Dinge weiter zu diskutie- ren. Ich entscheide heute in keiner Richtung. Ich appelliere aber an Sie, Herr Prof. Thalau, und an Sie, Herr Fieseler, daß mir unter allen Umständen die Einheit in der Führung des Werkes gewahrt wird. Die Verantwortung für sämtliche Fragen der Fertigung hat Herr Thalau. Er ist in meinen Augen der Betriebsführer, dem Gesetze nach sind Sie es. Sie müssen sich so lange als absolut eingespannt betrachten, bis die Dinge einer endgültigen Klärung entgegengeführt werden.“648 Von Gerhard Fieseler und seinen Anwälten wurde die „Absetzung“, die de facto eigentlich nicht erfolgte, als ein Beweis seines Wider- standes gegen den Nationalsozialismus angeführt. Die Verteidiger hoben hervor, dass insbesondere die beiden ministeriellen Verfü- gungen ein Zeichen für Fieselers ablehnende Haltung gegenüber der Politik des Regimes gewesen seien. „Anfang 1944 konnte das RLM den ständigen Kampf mit dem Betroffenen [Gerhard Fieseler, d.V.] mit einem Sieg beenden.“649 In einem anderen Schreiben der Anwälte heißt es: „Daneben aber schwebte nunmehr [nach der Ab- setzung, d.V.] über ihm ständig die begründete Sorge um die Sicher- heit seiner Person; war er doch [...] als Saboteur und Defaitist ge- brandmarkt und damit der Gruppe derer eingereiht, die die Gestapo suchte und die man im KZ lebend niemals wiederfand.“650 Die Vorwürfe der Sabotage und des Defätismus gegen Fieseler wer- den auf einen gewissen Fliegeroberstabsingenieur namens Derdau zurückgeführt. Dieser war vom RLM als Bauaufsichtsleiter in den Fieseler-Werken eingesetzt, um die Flugzeugproduktion zu überwa- chen.651 Nach Angaben der Anwälte Fieselers habe Derdau bereits im Jahre 1943 einen Bericht beim RLM mit dem Hinweis einge-

648 Ebd., Bl. 1135. 649 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 26 (Schreiben der Anwälte). 650 Ebd., Bl. 166 (Schreiben der Anwälte). 651 Zur Funktion von Bauaufsichtsleitern vgl. Köhler, Karl u. Hummel, Karl-Heinz: Die Organisation der Luftwaffe 1933-1939 [wie Anm. 19], S. 552 u. 553.

210 reicht, Gerhard Fieseler würde nicht seine volle Energie für die Erfüllung der geforderten Programme einsetzen.652 Als Beleg für diese Aussage legte Fieseler der Spruchkammer die Produktions- zahlen von Jagdflugzeugen seiner Firma vor. Ihnen ist eine außer- ordentliche Steigerung in der Fertigstellung von Flugzeugen nach dem Ausscheiden Fieselers im Jahre 1944 als Verantwortlichem zu entnehmen. Diesen Zahlen zufolge wurden seit Beginn der Produk- tion von Jagdmaschinen bis zum Sommer 1941 etwa 700 Flugzeu- ge vom Typ Me 109, von April 1942 bis Februar 1944 ca. 650 vom Typ FW 190 und nach der Absetzung Fieselers vom März 1944 bis zum Kriegsende noch einmal 1650 FW 190 hergestellt.653 Demnach hatte eine Steigerung der Produktion in dem Unternehmen unter der Leitung Thalaus innerhalb eines Jahres in Höhe von etwa 400 Prozent stattgefunden. Die Darstellung, Fieseler sei aufgrund seines Widerstandes gegen das nationalsozialistische System abgesetzt worden, ist bis in die heutige Zeit vielfach aufgegriffen und in stilisierter Form in ver- schiedenen Zeitungsartikeln wiedergeben worden. So heißt es bei- spielsweise in einem Artikel der Kasseler Post vom 16. April 1956: „Aber nach dem Tod seines Freundes Udet nehmen die Spannungen mit der Führung immer mehr zu, und Anfang 1944 ist es soweit, dass Gerhard Fieseler in seinem eigenen Werk nichts mehr zu sagen hat. Ein vom Reich bestimmter Kommissar übernimmt die Leitung.“654 Allerdings lassen das Protokoll der Sitzung im Sonderzug, die Aus- sagen des ehemaligen Generalluftzeugmeisters Milch und die Re- konstruktion der Produktionsverhältnisse im Fieseler-Werk wäh- rend des Zweiten Weltkrieges Zweifel an dieser Darlegung aufkom- men. Im Folgenden wird auf die Gründe, die zur Absetzung Fie- selers führten, näher eingegangen.

Der ehemalige Staatssekretär und Generalinspekteur der Luftwaffe, Erhard Milch, über Fieseler Um die von Fieseler und seinen Anwälten vorgebrachten Argu- mente bezüglich der „Absetzung“ Fieselers zu überprüfen, wurde auf Veranlassung der Spruchkammer die verantwortliche Person

652 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 26 (Schreiben der Anwälte) u. Bl. 74 (Schreiben der Spruchkammer). 653 Vgl. ebd., Bl. 96 (Aussage Fieseler) u. Bl. 115 (Anklageschrift der Spruchkam- mer). 654 Kasseler Post Nr. 89 v. 16.4.1956.

211 für diesen Vorgang, Erhard Milch, verhört.655 Seiner Aussage zufol- ge lagen für die Ablösung rein sachliche Gründe vor. Fieseler sei bereits in der Zeit vor 1944 vom „Technischen Amt“ des RLM wegen einer zu geringen Produktionsleistung ermahnt worden. „Nach meiner Erinnerung geht es zurück auf die Klagen meines Amtes, die mir gesagt haben, wir müssen jetzt mit Ihnen darüber reden. [...] Er kam nicht mehr da raus, die Produktion klappte nicht. Er konnte sein Programm nicht halten und hatte dauernd Entschuldigungen, die von uns nicht als stichhaltig angesprochen waren. Wir wußten nicht, woran das lag.“656 Eine offene defätistische Haltung Fieselers wird von Milch verneint. Die Absetzung Fieselers sei weder eine persön- liche Zurückweisung gewesen noch aus politisch-ideologisch moti- vierten Gründen erfolgt. Auch habe sie keine Auswirkung auf seine Besitzverhältnisse an der Firma gehabt oder andere Nachteile für Fieseler mit sich gebracht. Die Einsetzung Thalaus sei vielmehr eine mit Fieseler am 2. März 1944 abgesprochene Maßnahme ge- wesen. „Ich sah darin keine persönliche Maßregelung. Sondern eine normale Sache, wie es in solchen Fällen ja immer ist. Er wurde nach Möglichkeit persönlich geschont. Es lag für mich kein Grund vor, ihm einen Stein in den Weg zu legen.“657 In diesem Kontext verwies Milch auf den Fall des Flugzeugkonstrukteurs und Firmenbesitzers Willy Messerschmidt. Als sich das von ihm entwickelte Flugzeug Me 210, wovon Teile auch bei Fieseler produziert worden waren, als Fehlkonstruktion erwies, und die bereits angelaufene Produktion dieses Typs im April 1942 gestoppt wurde, geriet die Firma in eine Krise und konnte die Luftwaffenforderungen nicht mehr erfüllen.658 Milch drohte daraufhin ebenfalls mit der Einsetzung eines Kom- missars. Letztlich musste Messerschmidt die Firmenleitung abge- ben und behielt nur den technischen Bereich unter sich.659 Dieses Beispiel zeigt, dass Fieseler nicht der einzige war, der durch einen

655 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 143-148. Die Vernehmung fand am 6. Februar 1944 statt. Die nachfolgenden Ausführungen folgen der Aussage Milchs. 656 Ebd., Bl. 145. 657 Ebd., Bl. 147 (Aussage Milch). 658 Vgl. Schabel, Ralf: Die Illusion der Wunderwaffen [wie Anm. 52], S. 144. 659 Vgl. ebd. Ein weiteres Beispiel für die Einsetzung eines Kommissars durch das RLM ist die Firma V.D.M, die Propeller herstellte. Nachdem diese um 20 Prozent im Liefersoll zurückgeblieben war, wurden die Direktoren ebenfalls durch einen Kommissar ersetzt. Auch der Generaldirektor von Junkers, Koppenberg, wurde von Milch entlassen, als der Bomber des Typs Ju 288 nicht schnell genug in Serienfertigung ging.

212 Kommissar ersetzt wurde, weil die Produktionszahlen des RLM nicht erfüllt worden waren. Schabel schreibt hierzu: „Trotz aller Möglichkeiten zur Selbstverantwortung der Industrie griffen die Machthaber der Luftwaffenführung durch, wenn sie ihre Interessen gefährdet sahen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht hierbei nicht darum, die Unternehmer der Luftfahrtindustrie im Sinne einer Apologie als Verfolgte des Nazi-Regimes darzustellen. Die Luftfahrtindustriellen machten sich durchaus als Komplizen des Dritten Reiches durch die Ausbeutung zahlloser Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge schuldig. Messerschmitt selbst schrieb an den Kom- mandanten des Konzentrationsslagers Dachau, um KZ-Häftlinge für das Werk Augsburg zu bekommen [...] Die genannten Direktoren der Luftfahrtindustrie waren ja auch nicht entlassen worden, weil sie Widerstand geleistet oder sich kritisch über den Kurs des Dritten Reiches ausgelassen hätten, sondern weil sie den Anforderungen nach hohen Produktionsergebnissen nicht genügen konnten.“660 Interessant ist noch eine abschließende Bemerkung Milchs über Thalaus neues Aufgabengebiet. Hinsichtlich seiner Verantwortung, die dieser ab März 1944 in den Fieseler-Werken übernahm, urteilt der ehemalige Generalluftzeugmeister: „Es ist für Thalau ja kein Vergnügen gewesen. 1944 hat keiner mehr von denen einen Ehrgeiz gehabt. Das war für ihn nur eine Belastung.“661 Fieseler hingegen hatte außer dem Verlust der Zuständigkeit für die Produktion, die nach den Worten Milchs keine angenehme Aufgabe mehr war, kei- ne weiteren Konsequenzen durch seine Absetzung hinnehmen müssen.

Gründe für eine verzögerte Flugzeugproduktion in den Fieseler- Werken während des Krieges Anhaltspunkte darüber, inwiefern es vor 1944 zu Verzögerungen in der Lieferung von Flugzeugen seitens der „Gerhard Fieseler Werke“ kam und ob Gerhard Fieseler dafür verantwortlich war, sind in den Protokollen der Rüstungsinspektion des Wehrbereiches IX (Kassel) enthalten. Anhand dieser Aufzeichnungen können die Produktion des Unternehmens und die aufgetretenen Störfaktoren rekonstru- iert werden. Ihren Berichten zufolge kristallisieren sich neben dem permanenten Arbeitskräftemangel im wesentlichen zwei Bedingun-

660 Ebd., S. 145. 661 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 148.

213 gen heraus, durch die der Produktionsprozess beeinträchtigt wor- den war. Einer der Gründe waren die sich mehrmals ändernden Aufträge des RLM bezüglich der herzustellenden Flugzeugtypen oder Bauteile. Sie bedingten jeweils eine Umstellung bzw. neue Einstellung des Produktionsablaufes innerhalb des Betriebes. Mit Beginn des Krieges war das Unternehmen mit der Herstellung des Fieseler Storchs und der Lizenzfertigung des Jagdflugzeuges Me 109 der Firma Messerschmitt beschäftigt. Neben der Endmon- tage dieses Flugzeuges erfolgte die Fertigung von Vorratsteilen und Ersatzteilen, außerdem wurden Reparaturen durchgeführt.662 An- fang 1941 erhielten die Fieseler-Werke einen neuen Auftrag. Sie sollten Gruppen von Flugzeugteilen für die Me 210, auch eine Li- zenzfertigung der Firma Messerschmitt, herstellen.663 Aus diesem Grund wurde die Endmontage der Me 109 ab Juli 1941 nicht mehr durchgeführt. Alle weiteren Aufträge diesen Typ betreffend, wie Ersatzteillieferung oder ähnliches, wurden ebenfalls stillgelegt.664 Im Juli 1941 waren die Fieseler-Werke in der Produktion wie folgt ausgelastet:665 - 45 Prozent mit der Fertigung für die Fi 156 - 20 Prozent mit der Fertigung für die Me 210 - 15 Prozent mit der Fertigung für die Me 109 - 20 Prozent mit der Ersatzteilfertigung, Reparaturen und Export Hinsichtlich der Aufnahme der Produktion von Teilen der Me 210 im Fieseler-Betrieb kam es seitens des RLM und der Firma Messer- schmitt zu Vorwürfen, Fieseler bliebe in der Planung zur Umstel- lung auf dieses Flugzeugmuster zurück. Die mangelnde Arbeitsvor- bereitung durch die Firma führe zu Störungen in der Montage.666 Mit Wirkung vom 31. Dezember 1942 wurde die Einzelteilfertigung der Me 210 bei Fieseler eingestellt.667 Die Firma erhielt als Fol- geauftrag die Anweisung zur Herstellung des Jagdflugzeuges FW 190 der Firma Focke Wulf Flugzeugbau GmbH aus Bremen. Fast die gesamten Kapazitäten sollten für die Fertigung dieses Flug- zeugtyps genutzt werden. So wurde die Produktion des Fieseler Storchs weitgehend an eine Firma in Paris abgegeben, in Kassel

662 Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 82. 663 Vgl. ebd., S. 83. 664 Vgl. ebd. 665 Vgl. ebd., S. 82. 666 Vgl. ebd., S. 83. 667 Vgl. ebd., S. 84.

214 sollten nur noch 15 Fi 156 im Monat gebaut werden.668 Die erste FW 190 konnte erst am 17. Dezember 1943 fertiggestellt werden.669 Dies bedeutete einen Fertigungsausfall von 140 Flugzeugen gegen- über dem geforderten Soll vom RLM. Während des gesamten Pro- duktionsprozesses dieses Flugzeugtyps traten immer wieder Schwierigkeiten auf. Sie wurden hervorgerufen durch Änderungen der Baumuster, Umstellung auf neue Motoren und durch Verzöge- rungen in der Zulieferung von Bauteilen anderer Firmen.670 Ein weiterer Grund für Fertigungsstörungen in den Fieseler- Werken waren die Zerstörungen von Produktionsstätten infolge von Bombenangriffen alliierter Flugzeugverbände. Bereits im Jahre 1940 kam es zu ersten Angriffen auf die Fieseler-Werke, deren Ausmaß an Beschädigungen jedoch relativ gering war.671 Erste schwere Schäden erlitt die Firma im Spätsommer 1943 durch eine Serie von gezielten Angriffen, die das Stammwerk in Bettenhausen stark zerstörten.672 Trotzdem konnte das Fieseler-Werk nach den Worten Thalaus ihre Produktion zunächst noch aufrechterhalten. „Wir haben über den Sommer des vergangenen Jahres [1943, d.V.] bis weit über die Tage des 28. und 30. Juli, wo beide Male Kassel durch die Angriffe so schwer getroffen wurde, unser Monatspro- gramm für Storch und 190 [gemeint ist das Modell FW 190, d.V.] mit 50% überliefert und bis November in voller Höhe gehalten. Wir konn- ten dann nicht mehr liefern, weil unsere Materialien abgestoppt wurden und wir hermetisch abgeschlossen waren. Auf diesen Zu- stand habe ich hingewiesen in meinem Lagebericht vom November, und es ist, von uns gesehen, nichts darauf erfolgt. Ich habe voraus- gesagt: es wird sich in den nächsten Monaten ein Einbruch ergeben, weil die maßgebenden Stellen nichts dazu getan haben. Die Berichte habe ich ans RLM übersandt.“673

668 Vgl. ebd. Bei der Firma in Paris handelt es sich um: Fa. Aeroplanes Morane- Saulnier, SA de Constructions Aeronautiques, Puteaux/Seine, 3, rue Voltaire, Paris (vgl. BA/MA Freiburg, RL 3/1119). Die übrige Fertigung des Fieseler Storchs wurde im November 1943 nach Budweis in das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren (heutige Tschechische Republik), verlegt, vgl. ebd., S. 91. 669 Vgl. ebd., S. 85. 670 Vgl. ebd. 671 Vgl. ebd., S. 88. Aufgrund der Angriffe wurde im September 1940 ein Schein- flugplatz mit Flugzeugattrappen als „Werk IV“ errichtet. 672 Vgl. ebd., S. 88 u. 89. Die Angriffe erfolgten am 28.7., am 30.7. u. am 3.10.1943. 673 BA/MA Freiburg, RL 3/3, Bl. 1134.

215 Von dem schweren Angriff auf die Stadt Kassel in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943 blieb das Fieseler-Werk zwar unbe- rührt, jedoch ging infolge des Ausfalls von Versorgungsmaßnah- men und des Fernbleibens ausgebombter Arbeitskräfte die Pro- duktion auf 40 Prozent zurück.674 In einem Lagebericht der Ger- hard-Fieseler-Werke an das Rüstungskommando vom 9. November 1943 werden die Auswirkungen der Bombardierung vom 22. Okto- ber für den Fieseler-Betrieb deutlich.675 Dort heißt es, dass bis zu diesem Zeitpunkt 2.984 „Gefolgschaftsmitglieder“ und 2.000 Aus- länder ihre Arbeit wieder aufgenommen haben, während 1.453 deutsche Arbeiter und 304 ausländische Arbeitskräfte noch fehlen. Insgesamt seien bisher 34 deutsche „Gefolgschaftsmitglieder“ als tot festgestellt worden und weitere 12 seien vermisst, wobei ange- nommen werde, dass sich diese Zahlen noch wesentlich erhöhen werden. 630 Betriebsangehörige seien „total“ und 800 teilweise bombengeschädigt; aber auch hier sei von einer noch höheren Zahl auszugehen. Während der Besprechung mit dem Stab Saur im Sonderzug bei Oschersleben ging Gerhard Fieseler auf diesen Sachverhalt ein: „Seit Kassel am Boden liegt, ist keiner der maßgebenden Herren dagewesen. Wir haben 1500 Menschen gehabt, die 5 bis 6 Wochen nicht zur Arbeit erschienen sind, und wir haben die übrigen 100 Menschen, die die Arbeit niedergelegt haben, zur Anzeige gebracht. Der Treuhänder der Arbeit lehnt jede Verfolgung ab. Unter diesen Umständen soll es mir einer vormachen, Betriebsführer zu sein.“676 Und Sachse, der seit Anfang März 1944 als Werks- bzw. Sonderbe- auftragter Speers im Fieseler-Werk eingesetzt war, bemerkte im Rahmen dieser Besprechung: „Da kann man der Firma Fieseler kei- nen Vorwurf daraus machen. Fest steht, daß die Kasseler Stellen sehr viel nach dem Angriff geschaffen haben, daß aber auch sehr viel gesündigt worden ist, und namentlich hinsichtlich der Arbeits- einsatzfrage ließ die Sache viel zu wünschen übrig. Bis heute sind die Leute, die in Banken und großen Firmen waren und zum Teil total ausgebombt sind, nirgends erfasst. Wir haben viele Leute in Kassel, die nach Thüringen gegangen sind. Wir wollten die Leute

674 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 89. 675 BA/MA Freiburg, RL 3/1119, Bl. 51 ff. (Lagebericht der GFW an das Rüstungs- kommando Wilhelmshöhe, Bremelbachstraße, vom 9.11.1943 über die durch Feindeinwirkung entstandene Lage). 676 BA/MA Freiburg, RL 3/3 (Besprechung mit der Firma Fieseler im Sonderzug am 15. März 1944), Bl. 1131.

216 bestrafen lassen. Es ist nichts darauf gekommen. Es sollte ein Kon- zentrationslager [!, d.V.] eingerichtet werden, ein früheres Stalagla- ger. Aber auf den ersten, der da hinein soll, warten wir noch. Daraus können wir Fieseler keinen Vorwurf machen.“677 Insbesondere die letzte Aussage Sachses dokumentiert, zu welchen rigorosen Mitteln man bereit war, um die Leistungsbereitschaft der Belegschaft auch unter den widrigsten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Aufgrund der Angriffe konnte die Firma Fieseler ihr vom RLM auf- erlegtes Lieferprogramm nicht einhalten. Das RLM gab deshalb den Befehl, die Produktion auf verschiedene Orte zu verlagern, nur die Endmontage sollte weitgehend im Werk in Waldau verbleiben.678 Bis zum Juli 1944 war die Verlagerung der Fieseler-Werke weitge- hend abgeschlossen.679 Zuletzt wurde auf 63 Ausweichstellen pro- duziert, wovon die meisten in Nordhessen lagen, einige wenige aber auch in Thüringen.680 Das schwerste Bombardement auf das Un- ternehmen erfolgte am 19. April 1944, ein weiteres am 22. Septem- ber 1944.681 Infolge der bereits in weiten Teilen erfolgten Verlage- rung der Produktion wurde die Fertigung von Flugzeugen aber kaum beeinträchtigt. Aus den dargelegten Gründen wird deutlich, dass die eingetretenen Verzögerungen in der Flugzeugherstellung nicht auf bewusste Handlungen von Gerhard Fieseler zurückzuführen sind, sondern die Folge von Umstellungen im Produktionsprozess innerhalb der Firma und Luftangriffen der Alliierten waren. Anhand der Produk- tionszahlen der Fieseler-Werke Anfang des Jahres 1944, die weit unter dem geforderten Liefersoll lagen, scheint die Entscheidung aus der Sicht Milchs gerechtfertigt, Gerhard Fieseler durch einen Kommissar abzulösen.

677 BA/MA Freiburg, RL 3/3 (Besprechung mit der Firma Fieseler im Sonderzug am 15. März 1944), Bl. 1134. 678 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 91 ff. 679 Vgl. ebd. 680 Vgl. ebd., S. 92 u. 93 sowie HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 303 (Aussage Goebel). 681 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 89 u. 90.

217 In den Monaten Februar bis August 1944 stellte die Firma folgende Anzahl von Flugzeugen des Typs FW 190 her:682 Februar : 42 (Soll: 100) März : 80 (Soll: 120) April : 83 (Soll: 125) Mai : 100 (Soll: keine Angabe) Juni : 111 (Soll: keine Angabe) Juli : 182 (Soll: 180) August : 202 (Soll: 200) Auffällig ist die enorme Steigerung der Produktion, die ab März 1944 einsetzte. Ermöglicht wurde sie durch die Aufnahme des Werks in das „Jägerprogramm“. In diesem Rahmen erhielten die Fieseler-Werke neben den bereits erwähnten Zuweisungen von Ar- beitskräften auch andere Mittel, wie z.B. Lkws für Transportzwek- ke. Thalau wurde von Saur aufgefordert, alles anzufordern, was das Werk für die Einhaltung des Programms benötigte: „Es liegt an Ihnen, die Voraussetzungen anzumelden, die erfüllt werden müssen. Je früher, desto besser. Geben Sie sofort Ihre Liste Herrn Frydag ab. Melden Sie jetzt noch, wenn Sie irgendwelche Forderungen haben in bezug auf Arbeiter, Energie, Transport, Werkzeug usw. usw., und geben Sie das alles heute abend durch Kurier nach Dessau. Ich er- warte, daß Sie das Menschenmögliche herausholen“683 Goebel, der kaufmännische Direktor Fieselers, führte in Fieselers Entnazifizierungsverfahren hierzu aus: „Bis Februar 1944 war die Luftwaffen-Rüstung nicht Todt und Speer unterstellt, sondern Milch. Erst Feb. 1944 hat der berühmte Stab Saur die Luftwaffen-Rüstung mit übernommen. Und von dem Zeitpunkt an wurde Wind in die Ho- sen gemacht, wie das der Werksbeauftragte sagte. Damit standen uns auch die Mittel zur Verfügung, die Speer zur Verfügung standen. Alles was die Luftwaffe brauchte, wurde mit allen Mitteln herbeige- schafft. Während uns früher Lkws nur beschränkt zur Verfügung standen, wurden plötzlich 120 Lkws zu uns kommandiert, die dafür sorgten, dass der Transport funktionierte. Es wurden uns dann so- gar noch größere Mengen von Lkws zur Verfügung gestellt, so daß damit durch die Übernahme von Speer eine vollkommene Umstellung

682 Vgl. ebd., S. 85. 683 BA/MA Freiburg, RL 3/3 (Besprechung mit der Firma Fieseler im Sonderzug am 15. März 1944), Bl. 1138.

218 erfolgte. Durch diese Möglichkeit ist die Mehrproduktion gelun- gen.“684 Des Weiteren wurden an die Belegschaft als Ansporn für eine bes- sere Arbeitsleistung Sonderrationen an Lebens- und Genussmit- teln, sog. „Speerzulagen“, verteilt. Dies waren z.B. Schokolade, Öl- sardinen, Tee, Zigaretten, Alkohol und Bohnenkaffee. Auch Klei- dungsstücke wurden ausgegeben. Eigens hierfür war ein Lager eingerichtet worden, das dem Sonderbeauftragten Speers, Sachse, unterstand.685 Er nahm auch die Verteilungen im Werk vor.

Zur Entwicklung der „V1“ Zum Abschluss dieses Kapitels sei noch eine besondere technische Entwicklung der Fieseler-Werke erwähnt, die ab Mitte des Jahres 1944 zum Einsatz kam und in ihrer Wirkung große Zerstörungen verursachte.686 Es handelt sich um die Fi 103, eine führerlos flie- gende Flügelbombe, die auch als sog. Vergeltungswaffe, „V1“, be- zeichnet wird. Unter dem Eindruck sich häufender englischer Bombenangriffe auf deutsche Städte seit dem Frühjahr 1942 ver- langte Hitler als militärische Antwort auf diese Einflüge Terroran- griffe gegen englische Städte.687 Aufgrund der mangelnden Operati- onsmöglichkeiten der Flugzeugbomber der deutschen Luftwaffe über England, die u.a. auf die deutliche Luftüberlegenheit der Roy- al Air Force zurückzuführen war, schien die Verwendung einer Flügelbombe eine zweckmäßige und durchführbare Erfüllung der Forderung Hitlers zu sein.688 Der Antrieb für einen solchen Flugkörper war bereits von der Firma Argus Motoren GmbH aus Berlin zu Beginn des Jahres 1942 ent- wickelt worden.689 Die Aufgabe zur Konstruktion einer entspre- chenden Flugbombenzelle wurde der Fieseler-Firma in Verantwor- tung des Flugzeugingenieurs Robert Lusser erteilt. Bereits im Ja- nuar 1942 beschäftigte sich Lusser mit der Entwicklung einer ent- sprechenden Flugbombe, bevor die Fieseler-Werke am 5. Juni 1942

684 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 303r. 685 Vgl. ebd., Bl. 268 (Aussage Ebinghaus) u. Bl. 303r (Aussage Goebel). 686 Vgl. Hölsken, Heinz Dieter: Die V-Waffen. Entstehung – Propaganda – Kriegs- einsatz, Stuttgart 1984 (Studien zur Zeitgeschichte Bd. 27), S. 70 u.132. 687 Vgl. ebd., S. 34. Mit dem Angriff auf Lübeck Ende März 1942 wurde mit dem systematischen Bombardement deutscher Städte begonnen. 688 Vgl. ebd. 689 Vgl. ebd., S. 33 u. 34.

219 den offiziellen Auftrag vom RLM zur Herstellung eines „Fernge- schosses in Flugzeugform“ erhielten.690 Die Entwicklung der Fi 103 durch den Fieseler-Betrieb ist ein Hin- weis darauf, dass Gerhard Fieseler durchaus den Aufträgen und Forderungen des RLM aufgeschlossen gegenüberstand und wider- spricht der Behauptung, er habe aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet. Vielmehr offenbart sie ein gewisses Engagement Fieselers, die Rüstungspolitik des nationalsozialisti- schen Systems für den Krieg zu unterstützen. Als reine Angriffs- waffe konzipiert, sollte mit der Fi 103 England und vor allem Lon- don als Großstadt beschossen werden.691 Ziel ihres Einsatzes war die Verbreitung von Terror und Schrecken unter der Zivilbevölke- rung, um dadurch eine Wende in der sich abzeichnenden Niederla- ge Deutschlands im Krieg, insbesondere nach der Landung der Alliierten in Frankreich im Juni 1944, zu erwirken. Die Frage, wie weit der persönliche Einsatz Gerhard Fieselers in der Entwicklung der Fi 103 reichte, ist schwer zu beantworten. Sie wurde im Spruchkammerverfahren völlig ausgeklammert. Einen möglichen Anhaltspunkt enthält die Arbeit von Hölsken. Seiner Angabe zufol- ge klinkte Gerhard Fieseler persönlich bei den ersten Flugerpro- bungen der Flugbombenzelle Anfang Dezember 1942 auf der Insel Usedom einen Prototyp der Fi 103 von einem Flugzeug aus, um das Flugverhalten zu messen.692 In seinen Memoiren bestätigt Fieseler Besuche seinerseits in der Raketenversuchsanstalt in Peenemünde, die dem Zweck dienten, sich von der Flugfähigkeit der Flugbombe zu überzeugen.693 Im Hinblick auf die Planung und Konstruktion der Fi 103 beschreibt er sich in erster Linie als einen interessierten Beobachter und sieht sich in der Rolle eines Beraters zu Lusser.694

690 Vgl. Bölling, Ernst: Die Kasseler Rüstungsindustrie [wie Anm. 6], S. 80. Vgl. auch Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 252. Fieseler führt die Entwicklung der Fi 103 vor allem auf seine Initiative und die Lussers zurück, indem sie das RLM von der Durchführbarkeit des Projekts überzeug- ten. Hölsken gibt an, dass Milch erst am 19. Juni 1942 auf einer Sitzung mit Vertretern von Argus und Fieseler stellvertretend für das RLM entschied, dass der Entwicklung und Produktion des Flugkörpers im Rahmen der Flugzeugher- stellung höchste Priorität gegeben werden sollte, vgl. Hölsken, Heinz Dieter: Die V-Waffen [wie Anm. 686], S. 35. 691 Hölsken, Heinz Dieter: Die V-Waffen [wie Anm. 686], S. 132. 692 Vgl. ebd., S. 38 693 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 261. 694 Vgl. ebd., S. 253 u. 254. Die Fieseler-Werke produzierten nach Darstellung Fieselers etwa 500 V1- Geschosse auf dem Militärflugplatz Rothwesten bei Kas- sel, vgl. ebd., S. 262.

220 Dieser pries die Bedeutung des Projekts bei einer RLM-Be- sprechung am 17./18. Juni 1943 geradezu an: „Der Kraftstoffbe- darf ist im Vergleich zum Bombenflugzeug wesentlich geringer [...] Außerdem wird an Stelle von hochwertigem Flugbenzin das schlech- teste Benzin verwendet, das nicht einmal für Autos brauchbar ist. Da kein Jagdschutz benötigt wird, fallen auch die hierbei unver- meidlichen Verluste an Besatzung und Flugzeugen weg. Der Einsatz ist nahezu bei jedem Wetter, bei Tag und Nacht, im Sommer und Winter möglich, lediglich an den wenigen Vereisungstagen müssen die Einsätze unterbleiben. Zur Fertigung des Gerätes können fast ausschließlich Ausländer und Frauen eingesetzt werden. Hochwerti- ge Facharbeiter sind nur in einem sehr geringen Prozentsatz nö- tig.“695

Die Darstellung Fieselers über die Entstehung und die Leistung der Fi 103 lassen erkennen, dass es sich für ihn hierbei um ein Presti- geobjekt handelte, auf das er nicht ohne Stolz zurückblickt. Er weist beispielsweise auf die potenzielle militärische Bedeutung der Flugbombe für Deutschland im Zweiten Weltkrieg hin, wenn in der Entwicklungsphase seitens des Staates mehr Mittel zur Verfügung gestellt worden und die Fi 103 dadurch früher zum Einsatz ge- kommen wäre. „Als die Alliierten in Frankreich festen Fuß gefaßt hatten, konnte die V1 keine kriegsentscheidende Rolle mehr spielen. [...] Unsere Fi 103 wäre bestimmt sechs oder mehr Monate früher fertig gewesen, hätten nur 20 Prozent der A4-Kapazität696 zur Verfü- gung gestanden. Aber nicht nur das: Die Flugbombe hätte in Ruhe und mit einer vernünftigen Planung viel präziser gebaut werden können.“697 Diese Überzeugung unterstreicht er mit einem Zitat des ehemaligen amerikanischen Oberbefehlshabers Eisenhower und dem Hinweis, die Fi 103 sei der Vorläufer der amerikanischen Marschbombe Cruisemissile gewesen.

695 Zitiert nach Hölsken, Heinz Dieter: Die V-Waffen [wie Anm. 686], S. 48. Eine Kopie des Vortrags Lussers ist auch im BA/MA Freiburg archiviert: RL3/69 (Vermerk über die Besprechung des Generals der Luftwaffe Generalltn. v. Axt- helm, Oberstltn. i. G. Diesing, beim Herrn Reichsmarschall, vom 17.6.1943 [Geheime Kommandosache]) 696 Gemeint ist hiermit das Fernwaffenprojekt des Heeres, aus dem eine Rakete mit der Bezeichnung A4 hervorging, die auch als „V2“ bekannt ist. Nähere Angaben hierzu in ebd., u.a. S. 9. 697 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 267.

221 Gerhard Fieselers Verhältnis zum Nationalsozialismus Die bisherige Betrachtung der Tätigkeit Gerhard Fieselers als Flug- zeugbauer verdeutlicht, dass seine Karriere auf eine enge Zusam- menarbeit mit dem RLM gegründet war, und die Flugzeugprodukti- on seines Unternehmens der Rüstungspolitik des nationalsoziali- stischen Regimes diente. Darüber hinaus weisen verschiedene Handlungen und Äußerungen Fieselers als Betriebsführer auf eine Verstrickung seiner Person in das nationalsozialistische System hin. Weitere Indizien, die eine entsprechende These befürworten, sind seine Parteizugehörigkeit zur NSDAP und die Bekleidung der Ehrenämter eines Wehrwirtschaftsführers und eines NSFK- Standartenführers (später NSFK-Oberführer). Eine eingehende Untersuchung des Verhältnisses Gerhard Fieselers zum National- sozialismus scheint aus den genannten Gründen sinnvoll. Einen Zugang zu dieser Thematik bieten die während des Entnazifizie- rungsverfahrens durchgeführten Ermittlungen der Spruchkammer und die in diesem Rahmen getroffenen Aussagen Fieselers bzw. die bereits erwähnten Angaben seiner Anwälte.

Der Eintritt Fieselers in die NSDAP Ein erstes Anzeichen für eine engere Beziehung Gerhard Fieselers zum Nationalsozialismus ist sein Eintritt in die NSDAP. Bereits wenige Monate nach der sog. „Machtergreifung“, zu einem Zeit- punkt, als die Expansion seines Werks einsetzte, wurde er am 1. Mai 1933 Mitglied der Partei.698 Von den Anwälten Fieselers wurde diesem Beitritt allerdings keine große Bedeutung zugemessen. Das Gegenteil ist der Fall. In ihrem Plädoyer an die Spruchkammer schreiben sie: „Er war als Industrieller wie auch Privatmann mit der Partei nicht mehr als nominell verbunden. [...] Privat stand der Be- troffene der Partei anfänglich kühl und uninteressiert gegenüber, bald jedoch gegnerisch.“699 Zur Bekräftigung dieser Darstellung wurde die Aussage des Zeugen Eberhardt angegeben, nach der Fieseler bereits 1934 gegenüber diesem geäußert haben soll, „daß die Nazis wohl die größten Lumpen seien.“700 Als Gerhard Fieseler

698 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1 Bl. 117 (Anklageschrift der Spruchkammer). 699 Ebd., Bl. 26 u. 26r (Schreiben der Anwälte). 700 Ebd., Bl. 27 (Schreiben der Anwälte).

222 während des Verfahrens von dem Vorsitzenden der Spruchkammer hierauf angesprochen wurde, musste er diese Erklärung allerdings relativieren. Er bemerkte: „Was eben vorgebracht wird, ist vollkom- men richtig. Man kann nicht 1933 eintreten und ein Jahr später sagt man, es sind die größten Lumpen. Dazu ist ergänzend etwas zu sa- gen. [...] Bei den rund 200 Erklärungen [die im Vorfeld des Verfah- rens von Zeugen eidesstattlich gegeben worden waren, d.V.] sind drei, auf die ich mich nicht entsinnen kann. Es ist kaum zu erklären, aber es ist tatsächlich so. Mir sagte einer, du hast mir gesagt, ich soll nicht der Partei beitreten, ich kann mich nicht darauf entsinnen, ge- nau wie auf die Äußerung in dem Schreiben des Herrn Eber- hardt.“701 Nach Darlegung der Verteidiger war der Beitritt zur Partei letztlich auf das Drängen eines Bekannten, des Zahnarztes Dr. Kreis, zu- rückzuführen und unter dem Eindruck des Ermächtigungsgeset- zes, das von den Nationalsozialisten erlassen wurde, erfolgt. Diese sehr bedeckt gehaltene Begründung der Anwälte zur Mitgliedschaft Fieselers wurde von ihm selbst während der mündlichen Ver- handlung näher erläutert. Fieseler erklärte, bereits seit 1928 auf- grund seines Bekanntheitsgrades als Kunstflieger von mehreren Personen, darunter Dr. Kreis, aufgefordert worden zu sein, Partei- mitglied zu werden. Er habe dies jedoch immer strikt abgelehnt. „Meine Antwort war immer, ich will nichts mit Politik zu tun haben. Ich kann mir nicht erlauben, Mitglied einer politischen Partei zu sein und Mitglied der NSDAP schon gar nicht.“702 Die Entscheidung, der Partei im Jahre 1933 dennoch beizutreten, sei schließlich auf eige- nen Wunsch und unabhängig von anderen erfolgt. Als Grund hierfür gab er die in seinen Augen bedrückende wirtschaftliche und politische Situation Deutschlands an. „Das war in erster Linie die wirtschaftliche Zeit vor 1933, auch meine wirtschaftliche und per- sönliche Lage. [...] Die damaligen Verhältnisse überhaupt. Wir hatten über 30 Parteien. Ich konnte als gut gekleideter Mann nicht durch die Altstadt gehen. Ich sah keine Besserung [...].“703 Des Weiteren brachte Fieseler zum Ausdruck, er habe zu diesem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, an einem Punkt angekommen zu sein, an dem man sich politisch entscheiden müsse: „Entweder die NSDAP oder der

701 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 257r. 702 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 257. 703 Ebd.

223 Kommunismus. Ich sagte mir, wenn ich mich entscheiden muß, dann wähle ich Hitler.“704 Den entscheidenden Ausschlag für seinen Entschluss zum Partei- eintritt war seiner Aussage zufolge das Ergebnis der Reichstags- wahl vom 5. März 1933 zugunsten der NSDAP und der Erlass des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933. Beide Ereignisse hät- ten für ihn eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sowohl weite Teile der Bevölkerung als auch der Reichstagsabgeordneten hinter Hitler standen.705 Verstärkt wurde diese Empfindung durch die Begeisterung des deutschen Volkes während der Feiern und Kund- gebungen anlässlich des „Tages zur Nationalen Arbeit“ am 1. Mai 1933. Unter dem Eindruck dieser politischen Entwicklung im Frühjahr 1933 sei in ihm das Gefühl bzw. das Verlangen hervorge- rufen worden, nicht länger außerhalb der nationalsozialistischen Bewegung stehen zu wollen.706 Wörtlich sagte Fieseler: [...] überall wo ich hinkam, habe ich festgestellt, daß Hitler im Ausland das größte Ansehen genoß. [...] Ich erinnere an den 1. Mai 1933, ich war gerade in Berlin, es war ein Sturm. Ich kam dann nach Kassel und hörte, daß es hier genauso war. Hitler genoß auch im Ausland das größte Ansehen. Diese Erscheinungen und das Ergebnis der Reichs- tagswahl ließ ich auf mich einwirken, und diese waren auch aus- schlaggebend dafür, daß ich dann sagte, schön, ich melde mich an, das scheint alles in schönster Ordnung zu sein und warum soll ich nun länger abseits stehen. Ohne dieses Ergebnis im Reichstag im März 1933 wäre ich niemals in die Partei eingetreten. Die Reichs- tagswahl hat ausschließlich dazu beigetragen. Ich hatte vor dem, also bis Ende 1932, mehr pazifistische Einstellungen. Ich wollte von keiner Partei etwas wissen.“707 Zugleich betonte Fieseler, habe es aber durchaus Gründe für ihn gegeben, mit Zurückhaltung der neuen Regierung zu begegnen. So war ihm die Person Hitler, der er während einer Wahlkampfkund- gebung im Jahre 1932 in Kassel begegnet war, „persönlich unange- nehm“ und er sah in der Diskriminierung der Juden ein Un- recht.708 „Ich habe mir gesagt, wenn meine Menschenkenntnis mich

704 Ebd., Bl. 258r. 705 Vgl. ebd., Bl. 257r u. 258r (Aussage Fieseler). 706 Vgl. hierzu auch Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 178. 707 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 258r. 708 Vgl. ebd., Bl. 257r u. 258r (Aussage Fieseler). Hierzu auch Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 178 u. 182.

224 nicht trügt, dann kann ich mir vorstellen, daß das nicht gut tut.“709 Dies hielt ihn freilich nicht davon ab, trotzdem in die Partei einzu- treten. Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus charakterisierte Fieseler folgendermaßen: „Die Antipathie war wohl insofern, wenn ich Unrecht sah, war ich ein Gegner. Aber ich war politisch kein [!, d.V.] Gegner des Staates oder der Partei.“710 Eine grundsätzliche Veränderung in dem Verhältnis zum National- sozialismus trat nach seinen Worten bei ihm erst mit Beginn des Krieges ein: „Eine Wandlung wurde im Jahre 1939 herbeigeführt und zwar bei der sog. Reichstagsrede711. Hitler habe ich als einen Hasardeur bezeichnet, habe ihn Ende 1940 als Verbrecher erklärt und habe dies nicht nur gedacht, sondern habe das auch jedem ge- sagt, der es hören wollte. Aber bis zum Kriegsanfang habe ich immer noch geglaubt, daß alles in bester Ordnung sei. Ich war dabei in keiner schlechten Gesellschaft, das ganze Ausland hat das ja ge- glaubt. Churchill und Eden. Der ehemalige englische König kam 1937 und machte Hitler einen Besuch. Wie kann dann ich als kleines Parteimitglied auf die Idee kommen, daß das nicht in Ordnung ist und daß Hitler ein Verbrecher ist. Das kann von mir kein Mensch annehmen, daß ich das wissen sollte. Ich habe niemals geglaubt, daß Hitler selbst den Befehl gegeben hat, gegen Juden vorzuge- hen.“712 Nach diesen Aussagen lagen für Fieseler somit zwei Beweggründe vor, 1933 der NSDAP beizutreten. Zum einen war es die Hoffnung auf eine Besserung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland, die gleichzeitig mit der Angst vor einer kommunistischen Herr- schaft verbunden war. Zum anderen begründet er seinen Eintritt mit der allgemeinen nationalen Begeisterungswelle für Hitler und seine Partei im Frühjahr 1933.

709 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 258r. 710 Ebd., Bl. 258. 711 Gemeint ist die Reichstagsrede Hitlers am 1. September 1939. 712 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 258.

225 Die Ernennung Gerhard Fieselers zum Wehrwirtschaftsführer und NSFK-Standartenführer Neben seiner Mitgliedschaft in der NSDAP bestand darüber hinaus eine formelle Bindung zwischen ihm und dem nationalsozialisti- schen System aufgrund seiner Er- nennung zum Wehrwirtschaftsfüh- rer durch Hermann Göring und durch den NSFK-Korpsführer, Ge- neralleutnant Christiansen, zum NSFK-Standartenführer (1940 er- folgte die Beförderung durch Göring zum NSFK-Oberführer). Beide Eh- rentitel wurden ihm im Dezember 1937 verliehen und drücken die Anerkennung des nationalsoziali- stischen Regimes für sein Engage- ment und seine Leistungen als Flugzeugbauer und Betriebsführer NSFK-Standartenführer Gerhard Fieseler aus.713 Wehrwirtschaftsführer waren meist Betriebsführer und Unterneh- mer, die Betriebe der Rüstungsindustrie oder andere kriegswichtige Unternehmen leiteten. Innerhalb der Betriebe waren diese mit be- sonderen Vollmachten ausgestattet, um eine termin- und quali- tätsgerechte Lieferung ihrer Produkte garantieren zu können. Bei- spielsweise konnten sie im Bedarfsfall Nachtarbeit anordnen oder Versetzungen von Belegschaftsangehörigen vornehmen, ohne die zuständigen Behörden um Genehmigung zu fragen.714 In einem

713 Am 10. Dezember 1937 wurde Fieseler von Göring zum Wehrwirtschaftsführer ernannt (vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1938, S. 8). Im Rahmen eines Besuches des Korpsführers des NSFK, Generalleutnant Christiansen, im Dezember 1937 wurde er von diesem in Anerkennung seiner großen Verdienste zum NSFK- Standartenführer und von Göring am 20. April 1940 zum NSFK-Oberführer er- nannt, vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1938, S. 19 und Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1940, S. 2. Im Rahmen der Entnazifizierung gab Fieseler in dem amtlichen Meldebogen an, bereits seit 1938 NSFK-Oberführer gewesen zu sein, HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 2. 714 Vgl. Kammer, H. u. Bartsch, Elisabeth: Lexikon Nationalsozialismus. Begriffe, Organisationen und Institutionen, Hamburg 21999, S. 284. Ab 1939 erhielten Wehrwirtschaftsführer ein besonderes Abzeichen, das an der linken Brustseite des Jacketts getragen werden konnte. Während des Zweiten Weltkrieges waren

226 zeitgenössischen Artikel der Kasseler Post heißt es über die Be- deutung eines Wehrwirtschaftsführers: „Der Reichskriegsminister und die Oberbefehlshaber der drei Wehr- machtsteile können deutsche Staatsbürger, die sich an dem materi- ellen Aufbau der Wehrmacht besondere Verdienste erworben haben oder erwerben, zu Wehrwirtschaftsführern ernennen. In dieser Er- nennung kommt gleichzeitig die freiwillige Mitarbeit der Wirtschaft an allen Aufgaben der Landesverteidigung zum Ausdruck, entsprun- gen aus der wehrwirtschaftlichen Gesinnung und aus der Verpflich- tung jedes einzelnen an die Wehrmacht. Mit der Ernennung zum Wehrwirtschaftsführer verpflichten sich die- se Persönlichkeiten im besonderen Maße zu einem Treue-Verhältnis zum Staat und zur Wehrmacht. Auch im Ausland sind teilweise der- artige Verbindungen zwischen Wehr- und Wirtschaft üblich gewor- den. In erster Linie ist diese Ehrung und Verpflichtung für Führer der deutschen Wirtschaft vorgesehen, die durch hervorragende Leistun- gen die materielle Bereitschaft der Wehrmacht fördern.“715 Bis Ende des Krieges wurden etwa 400 Personen zu Wehrwirt- schaftsführern ernannt.716 Folgt man der Darstellung der Kasseler Post, so handelt es sich bei diesem Personenkreis aus der Perspek- tive des NS-Systems um die Unternehmerelite des Dritten Reiches, die als Trägergruppe der NS-Rüstungswirtschaft fungierte und sich durch besonders weltanschauliche Zuverlässigkeit auszeichnete. In diesem Sinne waren diese geehrten Persönlichkeiten nach dem Krieg aus der Sicht der amerikanischen Militärregierung auch der Gruppe der „Schuldigen“ zuzuordnen. Allerdings lässt sich bei nä- herer Betrachtung dieser Ehrentitel nicht als pauschales Bewer- tungskriterium heranziehen. „Die Verleihung des Wehrwirtschafts- führer-Titels erfolgte oft zufällig und zum Teil auch gegen den Willen der betroffenen Unternehmensführer.“717 Zudem muss unterschie- den werden, ob die ausgezeichneten Wehrwirtschaftsführer – abge- sehen vom nominellen Titel – aus der privaten oder verstaatlichten Wirtschaft stammten, z.B. in der Flugzeugbranche zwischen den Fieseler-Werken und dem Junkers-Konzern, und ob es sich um Repräsentanten der neuen „NS-Wirtschaftseliten“ handelte, denen

die Wehrwirtschaftsführer uk-gestellt, d.h. vom Wehrdienst freigestellt (weil un- abkömmlich). Für Betriebsangehörige konnten sie ebenfalls uk-Stellungen be- fürworten. 715 Kasseler Post Nr. 344 v. 15.12.1937. 716 Vgl. Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 9. 717 Ebd.

227 das NS-System soziale Aufstiegschancen bot, oder um alteingeses- sene Wirtschaftseliten wie Ernst Heinkel oder August Thyssen, die aber ebenfalls das Angebot beträchtlicher Expansionsmöglichkeiten im Dritten Reich für sich zu nutzen vermochten.718 Einem nach 1945 entstandenen Bericht von General Georg Tho- mas719 zufolge, der von 1934 bis 1943 Leiter des Wehrwirtschafts- und Rüstungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW) war und unter dessen Führung die Idee eines Wehrwirtschaftsfüh- rerkorps entwickelt wurde, können Wehrwirtschaftsführer in zwei Gruppen unterschieden werden: jene, die von der Wehrmacht und diejenigen, die vom Reichswirtschaftsministerium ernannt wur- den.720 Zu der ursprünglichen Intention eines Wehrwirtschaftsfüh- rerkorps, wie es 1935 geplant wurde, schreibt Thomas: „Wehrwirt- schaftsführer are member of the economic staff – Wehrwirtschafts- stab. As far as I remember, the organization was established in 1935, in order to have a counterweight against the NSBDT and the Gauwirtschaftsberater – NS economic advisors on Gau level – becau- se these two setups tried their best to indoctrinate Germany’s eco- nomic rise and rearmament with a political propaganda campaign. The NSBDT also tried to force all businessmen and industrialists to join it. This propaganda, which was spread by Gauleiters, Gauwirt- schaftsberaters, and the NSBDT, was incompatible with the views of the staff of economic warfare – Wehrwirtschaftsstab. To oppose Nazi propaganda, the first Wehrwirtschaftsführer were appointed. They were nominated Wehrwirtschaftsführer of their own firms, and had to see to it that in their firms only Wehrmacht views and not Nazi propaganda were spread. Wehrwirtschaftsführer took special cour- ses where they were informed about the actual economic situation in Germany and the rest of the world, to enable them to take a stand against Nazi-propaganda.

718 Vgl. ebd. 719 Bezüglich des Lebensweges von Thomas sowie seiner militärischen Laufbahn vgl. Thomas, Georg: Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft (1918-1943/45) (herausgegeben von Wolfgang Birkenfeld), Boppard 1966 (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 14), S. 1 ff. 720 Vgl. OMGUS-Bericht, FINAD 2/173/6 vom 25.3.1946 (General Georg Thomas über Organisation und Status der Wehrwirtschaftsführer), in: Erker, Paul: In- dustrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 96-103. Zur Mobilisierung der deutschen Wirtschaft für den Krieg und der Rolle Georg Thomas in seinem Amt vgl. einführend Müller, Rolf-Dieter: Die Mobilisierung der Wirtschaft für den Krieg – eine Aufgabe der Armee? Wehrmacht und Wirtschaft 1933, in: Michal- ka, Wolfgang: Der Zweite Weltkrieg [wie Anm. 61], S. 349-362.

228 At the same time, these Wehrwirtschaftsführer were advisors of mili- tary agencies, such as Waffenämter and Wehrwirtschaftsinspekto- ren – arsenals and inspecting boards of the staff for economic warfa- re – in all technical and economic questions. In case of a war, they should be instaffed as supervisors in war plants, in price-control committees, as advisors to and organizers of an amplified staff of Wehrwirtschaftsführers.“721 An anderer Stelle bemerkt Thomas: „Es sollte ein Stamm von be- sonders geeigneten Wirtschaftsführern geschaffen werden, die in ein bestimmtes militärisches Verhältnis und zur Verfügung der mit der wirtschaftlichen Mobilmachung beauftragten wehrwirtschaftlichen Dienststellen des Reichskriegsministeriums gestellt wurden. Diese Wirtschaftsführer sollten durch eine planmäßige Ausbildung und enge Zusammenarbeit die Vertrauensmänner in der Wirtschaft und die Träger der wehrwirtschaftlichen Idee gegenüber ihren Berufska- meraden werden. [...] Als Wehrwirtschaftsführer sollten nicht nur Betriebsführer, sondern auch Persönlichkeiten ausgewählt werden, die sich für den Gedanken der Landesverteidigung besonders inter- essierten und die in der Lage waren, bereits im Frieden in der Vorbe- reitung der Mobilmachung tatkräftig mitzuarbeiten.“722 Allerdings änderte sich die Rolle der Wehrwirtschaftsführer im Laufe der Jah- re, insbesondere nach Beginn des Krieges, beträchtlich. Weiter heißt es im OMGUS-Bericht: „The organization of the Wehrwirt- schaftsführer underwent, in the course of the Hitler times, a complete change in its internal setup, as well as ist functions. Originating in an active formation against the NSDAP, it gradually developed du- ring the war – as all other organizations developed into an instru- ment of the NSDAP. [...] In 1942, all war plants and with them all Wehrwirtschaftsführer were concentrated under Speer’s state de- partment. Thus the NSDAP gained complete power over the Wehr- wirtschaftsführer-organization.“ Die Ernennung zum Wehrwirtschaftsführer sollte auf Vorschlag der Wehrwirtschaftsinspektionen durch den Wehrwirtschaftsstab im OKW erfolgen und für Kriegs- und lebenswichtige Firmen durch

721 OMGUS-Bericht, FINAD 2/173/6 vom 25.3.1946 (General Georg Thomas über Organisation und Status der Wehrwirtschaftsführer), zitiert nach: Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 96 u. 97. 722 Thomas, Georg: Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft (1918-1943/45) [wie Anm. 719], S. 108 u. 109. Das Wehrwirtschaftsführer- Korps wurde im März 1935 auf Grundlage des Hilfsbeamtengesetzes geschaf- fen. Siehe auch Anmerkung 721.

229 das Reichswirtschaftsministerium nach Rücksprache mit dem Wehrwirtschaftsstab. Allerdings wurde dieser Grundsatz bald auf- geweicht. Zum einen nahm das Reichswirtschaftsministerium für sich in Anspruch, auch Personen außerhalb der Rüstungsindustrie zu Wehrwirtschaftsführern zu ernennen und zum anderen wurde seitens der NSDAP die Forderung erhoben, ein Mitbestimmungs- recht bei der Vergabe des Titels zu erhalten. Thomas betont, dass der Titel seitens der Wehrmacht zunächst unabhängig von Partei- zugehörigkeit oder besonderer Linientreue gegenüber dem System vergeben wurde. Diese Tatsache führte allerdings bereits ab dem Jahre 1937 zum Konflikt mit Gauleitern und Gauwirtschaftsbera- tern, die die Forderung aufstellten, nur von der NSDAP und dem Sicherheitsdienst (SD) überprüfte Personen zu Wehrwirtschaftsfüh- rern zu ernennen. Auch Thomas wurde in diese Auseinandersetz- ung hineingezogen, da er infolge der Nichtbeachtung dieser Order bei Göring angeprangert wurde. „The latter decided that in the futu- re, all Wehrwirtschaftsführer, prior to their appointment, were to be screened by their Gauleiter an the SD. It was, however, not necessa- ry, that the candidate was a member of the NSDAP. As a result, many disagreements arose between the Wehrmacht and party agen- cies because the Wehrmacht appointed their men by their technicial abilities, whereas the party often judged them only by political stan- dards.“723 Noch im Jahre 1942 schien diese Kompetenzstreitigkeiten zwischen Wehrmacht und Partei nicht beigelegt. Dies geht aus einer Verfü- gung der Partei-Kanzlei vom 23. Juli 1942 betreffend der politi- schen Beurteilung bei der Ernennung von Wehrwirtschaftsführern hervor. „Die Überprüfung von Vorschlägen für die Ernennung zu Wehrwirtschaftsführern war bisher nicht einheitlich geregelt. Mit Recht führten die Gauleiter darüber Klage, daß ihr Einverständnis bzw. eine politische Beurteilung durch die Partei vor der Ernennung eines Wehrwirtschaftsführers nicht eingeholt werden mußte; daher wurden in vielen Fällen Personen zu Wehrwirtschaftsführern beru- fen, die in keiner Weise den an sie in politischer Hinsicht zu stellen- den Anforderungen entsprachen. Die gleichen Mängel wurden vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD festgestellt. Der offenkundi- gen Mängel wegen wurde das bisherige Verfahren geändert; zukünf-

723 OMGUS-Bericht, FINAD 2/173/6 vom 25.3.1946 (General Georg Thomas über Organisation und Status der Wehrwirtschaftsführer), zitiert nach: Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 97.

230 tig werden in jedem Falle über Personen, die zur Ernennung als Wehrwirtschaftsführer vorgesehen sind, vom Reichswirtschaftsmini- sterium und von den Wehrmachtsdienststellen die politische Beur- teilung bei den zuständigen Gauleitern und die erforderlichen si- cherheitspolizeilichen Auskünfte beim Chef der Sicherheitspolizei und des SD eingeholt werden.“724

Im Rückblick können nach Thomas drei verschiedene Gruppen von Wehrwirtschaftsführern unterschieden werden, die, nach unter- schiedlichen Kriterien ausgesucht, den Titel erhielten:

„Until 1938: He who had an eminent technical or economic knowledge, a calm character, and moderate political views. No allegiance to Nazi objectives nor Nazi ideas were required.

1938 to 1942: Principally the same qualifications were required, but, additionally, the candidate had to be screened by SD agents and the Gauleiter.

After 1942: Some who had proved their eminent technical or economic abilities, some who held outstanding posi- tions in the German war-industry, and, last but not least, those who were extremely active in propaga- ting the German war-effort. All had to undergo a political screening by the NSDAP.“725

Aufgrund dieser Differenzierung, nach der Gerhard Fieseler der Gruppe I zuzuordnen wäre, scheint der Hinweis der Anwälte Fie- selers im Spruchkammerverfahren unter Berufung auf das Befrei- ungsgesetz gerechtfertigt, dass Fieseler zu dem Kreis der Wehrwirt- schaftsführer gehöre, der den Titel lediglich wegen seiner Tätigkeit als Flugzeughersteller erhielt, ohne jedoch zugleich dem NS-System

724 OMGUS-Bericht, FINAD 2/173/5 (Verfügung der Partei-Kanzlei vom 23.7.1942 betreffend Anforderung von politischen Beurteilungen bei der Ernennung von Wehrwirtschaftsführern), zitiert nach: Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS- Zeit [wie Anm. 307], S. 95. 725 OMGUS-Bericht, FINAD 2/173/6 vom 25.3.1946 (General Georg Thomas über Organisation und Status der Wehrwirtschaftsführer), zitiert nach: Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 98.

231 besonders verbunden zu sein.726 Allerdings kann letzterer Sachver- halt auch nicht ausgeschlossen werden. Im Falle Fieseler liegt zu- dem eine Besonderheit vor, da er weder von der Wehrmacht noch vom Reichswirtschaftsministerium seine Ernennung erhielt, son- dern von Göring. Hierzu heißt es in einem Bericht der amerikani- schen Militärregierung: „Wehrwirtschaftsführer were appointed for the first time in March 1935 on the initiative of the Chief of the Wirt- schaftsstab of the Army. At about the same time, the Air Minister and the Commander in Chief of the German Airforce, Goering, ap- pointed a number of personalities in the German aircraft industry Wehrwirtschaftsführer. They swore allegiance [!, d.V.] to the `Füh- rer´.“727 Nach dieser Aussage schien zwischen den Wehrwirt- schaftsführern der Flugzeugindustrie und dem NS-System ein be- sonderes Treue- oder Loyalitätsverhältnis begründet worden zu sein. Neben Gerhard Fieseler werden in diesem Dokument weitere 23 Namen genannt, die Mitte/Ende der 30er zu Wehrwirtschafts- führern ernannt wurden, u.a. Claudius Dornier, Ernst Heinkel, Wilhelm Messerschmidt, Kurt Tank und Friedrich Wilhelm Sie- bel.728 Aus den Fieseler-Werken erhielten einige Jahre später noch zwei weitere leitende Angehörige den ehrenvollen Titel. Am 20. April 1940 wurden Karl Thalau und Tobias Goebel – vermutlich ebenfalls durch Göring – zu Wehrwirtschaftsführern ernannt, also zu einem Zeitpunkt, als die politische Loyalität gegenüber dem NS-Regime als ein maßgebliches Kriterium in den Vordergrund gerückt war.729 Damit stellte das Fieseler-Werk drei der zehn Wehrwirtschaftsfüh- rer des Bereichs Kassels.730 Der Titel „Wehrwirtschaftsführer“ avancierte zum Ehrentitel und der mit ihm erzielte Erfolg in der Wirtschaft war größer als vom Wehrwirtschaftsstab erwartet. Die zum Wehrwirtschaftsführer er-

726 Vgl. hierzu das Kapitel „Gerhard Fieseler – ein Widersacher des nationalsoziali- stischen Systems? Die Darstellung der Anwälte Fieselers im Spruchkammer- verfahren“ (insbesondere S. 205) dieser Arbeit. 727 OMGUS-Bericht, FINAD 2/173/5 vom 19. April 1946 (Bericht der Legal Advice Branch der amerikanischen Militärregierung über den Status der Wehrwirt- schaftsführer, zitiert nach: Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 102. 728 Vgl. ebd. 729 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1940, S. 2. 730 Frenz, Wilhelm: NS-Wirtschaftspolitik und die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung (1933-1939), in: Frenz, W., Kammler, J. und Krause-Vilmar, Diet- frid (Hrsg.): Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945. Band 2 [wie Anm. 66], S. 255-290, hier S. 271.

232 nannten Industrieführer fühlten sich mit den ihnen übertragenen Aufgaben in der Regel eng verbunden und versuchten, ihrem Titel Ehre zu machen.731 „Seitens der Industrie wurde die Gründung ei- nes Wehrwirtschaftsführer-Korps ganz besonders begrüßt; einmal aus sachlichen Gründen, weil nur bei entsprechender Auswahl und Ausbildung der Betriebsführer das Anlaufen der Betriebe gesichert war, dann aus persönlichen Gründen, weil auf diese Art und Weise das Drückebergertum im Kriege ausgeschaltet wurde und den Be- trieben im Frieden ein geordneter Aufbau des Mob-Führertums mög- lich war, und endlich aus disziplinären und psychologischen Grün- den, weil nur so die Autorität des Betriebsführers im Kriege den notwendigen Rückhalt im Betrieb erhielt.“732 Ausgehend von den bisherigen Erklärungen Fieselers, die eine grundlegend aufgeschlossene Haltung zum Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen, darf die Vermutung angenommen werden, dass er der Verleihung der beiden Titel nicht ablehnend gegenüber- stand, sondern diese von ihm zu diesem Zeitpunkt als persönliche Ehrung und Bestätigung seiner Tätigkeit als Flugzeugbauer und Betriebsführer aufgefasst wurden. Zugleich reflektieren die Ernen- nungen, insbesondere zum Wehrwirtschaftsführer, seine Bereit- schaft, sich in die Dienste der Rüstungspolitik des Deutschen Rei- ches zu stellen. Im Folgenden soll das Hauptaugenmerk auf verschiedene Reden und Aufrufe Gerhard Fieselers gelegt werden, mit denen er seine Gefolgschaft zur Pflichterfüllung im Fieseler-Werk aufrief.

Gerhard Fieselers Aufrufe zur Pflichterfüllung im Krieg In der Oktoberausgabe des Jahres 1939 der Fieseler-Zeitschrift wird berichtet, wie im Fieseler-Betrieb die Nachricht vom Beginn des Krieges mitgeteilt wurde.733 Hierzu wurden am 1. September 1939, dem Tag, als deutsche Verbände Polen angriffen und damit den Zweiten Weltkrieg entfesselten, die gesamte Belegschaft des Werks I in der Halle 29 versammelt. Im Gemeinschaftsempfang wurde dort ab 1000 Uhr über Lautsprecher die Reichstagssitzung in Berlin und die Rede Adolf Hitlers zum Kriegsbeginn übertragen.

731 Vgl. Thomas, Georg: Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft (1918-1943/45) [wie Anm. 719], S. 109. 732 Ebd. 733 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1939, S. 1 ff.

233 Nach Schilderung der Fieseler-Zeitschrift wurden die Erklärungen Hitlers, das Diktat von Versailles könne für Deutschland niemals Gesetz sein und eine derartige Behandlung durch Polen sei nicht tragbar, von den Betriebsangehörigen genauso mit großem Beifall aufgenommen wie von den Reichstagsabgeordneten.734 In dieser Form wurde eine große Anzahl der Arbeiter über den Eintritt Deutschlands in den Kriegszustand informiert. Der Be- triebsführer Gerhard Fieseler hielt zu diesem Zeitpunkt keine Rede an die Belegschaft. Erst in der erwähnten Oktoberausgabe der Fie- seler-Zeitschrift erfolgte ein Aufruf an die Betriebsangehörigen. Der Text lautete:

„An meine Gefolgschaft! Deutschland befindet sich im Kampf! Gegen Ungerechtigkeit und Gewalttat, gegen britische Überheblichkeit und Herausforderung. Das Deutschland des Jahres 1939 ist nicht mehr das Deutschland von 1914. Heute haben wir einen Führer und eine nationalsozialisti- sche Regierung, denen wir uns in allertiefstem Vertrauen mit Leib und Seele verschrieben und verpflichtet fühlen. Polen liegt am Boden. Danzig und der Korridor sind wieder unser. Deutsches Land ist wieder mit deutschem Land untrennbar verbun- den, der untragbare Zustand im Osten bereinigt. Große Dankesschuld haben wir abzutragen. Wir wollen es durch treue Pflichterfüllung für unseren Führer und unser Vaterland tun. Der Führer hat es selbst ausgesprochen: ‚Wenn der Soldat an der Front kämpft, soll niemand im Kriege verdienen; wenn der Soldat an der Front fällt, soll sich niemand zu Hause seiner Pflicht entziehen. Wer sich diesen Geboten entzieht, hat nicht damit zu rechnen, daß die Volksgemeinschaft auch auf ihn eine Rücksicht nimmt.‘ Kriegszeiten verlangen besondere Maßnahmen. Alles ist geschehen, was für das Wohl und die Sicherheit meiner Gefolgschaft geschehen konnte. Darüber hinaus helfe ich jedem, der wirklich unverschuldet in Not geraten ist. Eine harte kämpferische Zeit ist angebrochen, die in uns eine festgefügte, von Vertrauen tief durchdrungene Betriebs- gemeinschaft vorfindet. Uns hilft nur Glaube und Arbeit. Für die Ewig-Unzufriedenen, Zweifler und Selbstsüchtige, die nur an sich denken und nicht an das Überragende, das unsere große Zeit erfor- dert, ist heute kein Platz. Sie sind nicht wert, zu unserer Gemein- schaft zu gehören. Die uns durch die Notzeiten auferlegten kleinen

734 Vgl. ebd., S. 4.

234 Opfer an Altgewohntem machen uns stolz und schmieden uns nur noch enger zusammen. Nur Schwächlinge sind mutlos und verzagt! Wir aber sind bereit zu ernster und stiller Pflichterfüllung, kom- me, was da wolle. Wir sind bereit, zu gehorchen in blindem Vertrauen. Wir sind bereit und entschlossen zu äußerstem Einsatz bis zum endgültigen Sieg! gez. Fieseler“735

Dieser Aufruf stellt ein klares Bekenntnis Fieselers zum National- sozialismus dar. Zugleich rechtfertigt er den Angriff Deutschlands auf Polen und fordert die „Gefolgschaft“ dazu auf, durch treue Pflichterfüllung ein siegreiches Ende des Krieges zu ermöglichen. Obwohl der Aufruf mit der Unterschrift Fieselers versehen ist, sei an dieser Stelle noch einmal auf die Behauptung Fieselers hinge- wiesen, er sei von der DAF und anderen nationalsozialistischen Stellen zur Veröffentlichung solcher Texte gezwungen worden. Er selbst habe in diesem Zusammenhang keinen Artikel für die Fie- seler-Zeitschrift verfasst, sondern sie seien von den Schriftleitern der Fieseler-Zeitschrift geschrieben worden, und er habe sie ledig- lich überarbeitet.736 In einer Rede anlässlich des Betriebsappells am 27. Oktober 1939 erläuterte Fieseler nochmals mit eigenen Worten die Aufgaben und Ziele, die die Betriebsgemeinschaft im Krieg zu erfüllen hatte. In dieser Hinsicht gleicht die Ansprache dem Inhalt des oben zitierten Aufrufs. Sie ist in Teilen in der Fieseler-Zeitschrift abgedruckt und gibt einen Eindruck über die Haltung Fieselers gegenüber der Kriegspolitik des Deutschen Reiches. Hier einige Auszüge:

„Viele unserer Arbeitskameraden sind heute nicht unter uns; sie folgten dem Befehl des Führers, der sie zu den Fahnen rief. Und viele von Euch hätten auch lieber die Arbeit niedergelegt, um an der Front mitkämpfen zu können. Aber es ist vom Führer befohlen, daß jeder an seinem Platz zu bleiben hat, wo er steht. Nicht die Wünsche des einzelnen sind maßgebend, sondern einzig und allein das Wohl des Staates. [...] Wir sind hiergeblieben auf unseren Posten, um das Schwert für unsere Kameraden an der Front zu schmieden. Als An-

735 Ebd., S. 2. 736 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 282r (Aussage Donnerstag).

235 gehörige der Deutschen Luftfahrtindustrie sind wir ein Teil unserer Luftwaffe, und wir fühlen uns ihr mit Stolz verbunden. [...] Diese Tatsache [Fieseler meint das erhöhte Pflichtbewußtsein der Betriebsangehörigen seit Beginn des Krieges, d.V.] macht mir große Freude und war ein Beweis für mich, daß in unserer Betriebsge- meinschaft ohne besonderen Hinweis die Größe der Zeit erkannt wurde. Meine Gefolgschaft hat durch diese äußere Haltung gezeigt, daß sie weiß, um was es heute geht. Mit gutem Gewissen kann ich Ihnen, Gauobmann Köhler, die Mel- dung machen, daß unsere Betriebsgemeinschaft bis zum letzten Mann und bis zur letzten Frau bereit ist, ihre Pflicht zu erfüllen, mag da nun kommen was will. Wir stehen noch vor einem großen Kampf, der auch unsere Betriebs- gemeinschaft irgendwie mit erfassen wird. Diesem Kampf kann das deutsche Volk nicht aus dem Wege gehen und es will dies auch gar nicht. Denn es handelt sich für uns um nichts Geringeres als um unser Recht zum Leben. In Versailles hat man uns für immer ver- sklaven wollen. Der Führer hat uns befreit aus dem Joch der Herren Engländer und Genossen. Den Schandvertrag hat er zerrissen und ihnen Stück für Stück vor die Füße geworfen. Nun sieht man mit nei- dischen und haßerfüllten Augen auf unseren steten und in der Ge- schichte einzig dastehenden Aufstieg. Da man es mit allen Mitteln verhüten will, daß dieser Aufstieg weiterschreitet, hat man uns den Krieg erklärt, obschon ihnen persönlich ein Krieg höchst unsympa- thisch ist. Warum kommen die Herren an der Westfront nicht und greifen uns an? Man hoffte, uns einkreisen und wieder aushungern zu können. Das ist ihnen nicht gelungen und wird ihnen nicht gelin- gen! Nun hoffen sie vielleicht, uns durch einen langen Krieg mürbe machen zu können. Aber der Führer wird sie schon zu stellen wis- sen. Der Führer wird entscheiden, ob in Zukunft unser Volk in Ruhe arbeiten und leben kann oder ob es weiter zusehen muß, wie die Herren Engländer allein über die Reichtümer dieser Welt bestimmen, die sie sich zusammengeräubert haben. Arbeitskameraden! Seien wir uns bewußt, daß wir in einer großen geschichtlichen Zeit leben, zeigen wir uns in dieser großen Zeit wür- dig, indem wir in Einsicht die Opfer tragen, die nun einmal ein Krieg mit sich bringt. [...] Wenn Millionen deutscher Frontsoldaten sich sagen müssen: Es ist nicht wichtig, daß wir leben, wichtig ist, daß Deutschland lebt, dann müssen wir uns sagen: Es ist nicht wichtig, daß es uns gut geht und

236 daß wir Unbequemlichkeit ertragen müssen, wichtig ist, daß wir möglichst viele Flugzeuge für unsere Luftfahrt bauen.“737

In dieser Rede ging Gerhard Fieseler in seinen Ausführungen weit über das Maß innerbetrieblicher Angelegenheiten hinaus. Einge- hend widmet er sich der außenpolitischen Situation Deutschlands. Der „Führer“ Adolf Hitler wird von ihm als der Befreier Deutsch- lands aus der Unterdrückung der Engländer glorifiziert, dem Aus- land wirft er Neid und Missgunst vor. Mit einer Sprache und Argu- menten, die beide den Tenor des nationalsozialistischen Regimes widerspiegeln, versuchte er, die Belegschaft auf die Anforderungen des Krieges einzuschwören. Sichtlich mit kämpferischer Haltung und optimistisch sah er am Anfang des Krieges der Zukunft entge- gen. Es stellt sich die Frage, inwiefern der Inhalt seiner Erläuterungen tatsächlich der politischen Überzeugung Fieselers entsprach. In einem Schreiben der Anwälte Fieselers an die Spruchkammer wird zu den Betriebsappellen Stellung genommen. Dass seine Reden als eine Handlung zur Stärkung und Verherrlichung des Nationalso- zialismus beigetragen haben, und er damit die Kriegspolitik Deutschlands unterstützte, wurde von den Verteidigern zurückge- wiesen. Sie verfassten folgenden Text: „Es ist ja bereits nachgewiesen, wie wenig der Betroffene mit Partei und Staat einig gegangen ist, wie er vielmehr gegen sie angekämpft hat, bis er zur Strecke gebracht war. Wohl brachte es seine Stellung als Betriebsführer mit sich, daß er zu seinen Werksangehörigen in Betriebsappellen oder durch die Werkszeitschrift sprechen mußte. Hierbei mußte er Rücksicht nehmen auf die Tatsache, daß ein großer Teil der Werksangehörigen der NSDAP angehörte oder ihr nahe stand oder auch darauf, daß hohe Parteileute anwesend waren. Die Grundlinie aller seiner Ausführungen ging dahin, daß jeder zum Schutz der an der Front stehenden Brüder seiner Arbeitspflicht ge- nügen müßte. Es war das eine Haltung, die jeder Unternehmer von seinen Werksangehörigen in Deutschland wie auch im Ausland übli- cherweise forderte und zu fordern berechtigt ist.“738

737 Fieseler-Zeitschrift Nr. 11/12/1939, S. 2,3 u. 4. 738 HHSTAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 28r u. 29. Interessanterweise gestehen die Anwälte Fieselers mit dieser Aussage die Autorenschaft Fieselers ein.

237 Eine Rede Fieselers anlässlich der Auszeichnung des Betriebes mit einem Leistungsabzeichen der DAF Eine positive Einstellung Gerhard Fieselers gegenüber dem Natio- nalsozialismus wurde bereits vor Beginn des Krieges durch eine Rede bekräftigt, die er anlässlich der Auszeichnung seines Betrie- bes mit dem Leistungsabzeichen der DAF für vorbildliche Berufser- ziehung am 5. Februar 1938 hielt. Neben dem Dank, den er in sei- ner Ansprache für die Würdigung seines Betriebes zum Ausdruck brachte, nahm Fieseler vor hohen Vertretern aus Politik und Wirt- schaft sowie Teilen der Belegschaft auch Stellung zu der politi- schen und wirtschaftlichen Situation Deutschlands. In seinen Er- läuterungen bezieht er dabei offen Stellung für die Politik des na- tionalsozialistischen Regimes, indem er u.a. die Leistungen Adolf Hitlers für den Aufstieg des deutschen Volkes seit 1933 heraushebt und würdigt. Bezeichnend an der Rede Fieselers ist darüber hinaus eine auffällig nationalistisch gefärbte Sprache und die Verwendung entsprechender Phrasen. So propagiert er beispielsweise den deut- schen Heldenmut im Ersten Weltkrieg und spricht vom Blut der Vorfahren und dem ewigen Deutschland. Um einen Eindruck von dem Vortrag Fieselers zu erhalten, wird dieser im Folgenden in Auszügen wiedergegeben:

„Und Ihr, meine lieben Jungens [gemeint sind die Lehrlinge, d.V.], denkt immer daran, daß Ihr nur Dank der Errichtung unseres neuen Deutschland durch unseren Führer in der Lage seid, in einer solch schönen und vollkommenen Werkstatt lernen zu können. [...] Die Vor- sehung hat nun einmal die einzelnen Völker mit den verschiedens-ten Gütern und Gaben bedacht. – Die einen haben reichen, fruchtbaren Boden, die anderen Rohstoffe in Hülle und Fülle, wieder andere rie- sige Kolonien. Nur Deutschland mit seinem engen Raum für über 60 Millionen Menschen scheint der liebe Herrgott vergessen zu haben. Und doch sind wir das reichste Volk der Welt, denn wir haben et- was, was kein anderes Land besitzt und auch niemals besitzen kann: den deutschen arbeitsamen und tüchtigen Menschen. Jenen eigenartigen Menschen, der im Kriege über 4 Jahre lang gegen eine ganze Welt standhalten konnte, geworden aus dem Blut seiner Vor- fahren, die auch nur eine Parole kannten: Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten. So wurden wir ein Soldatenvolk, so wurden wir das Volk des Handwerks, das überall da, wo auf der Welt etwas gelei- stet wurde, vertreten ist. [...] Wir hatten den besten Soldaten der

238 Welt. Das hat das deutsche Volk im Weltkrieg unter Beweis gestellt, wie es vorher noch nie ein Volk bewiesen hat und beweisen konnte. [...] Dieser Ruf, den der deutsche Soldat sich trotz größter Not und trotz Hunger-Blockade mit seinem Blut erkämpft hat, wird noch be- stehen, wenn wir schon lange nicht mehr leben. Und so wird der deutsche Soldat auch wieder der beste der Welt sein, wenn es ein- mal gilt, unser Vaterland verteidigen zu müssen. [...]

Wir wollen uns nicht von den anderen vorschreiben lassen, was wir zu tun und zu lassen haben. Wir wollen nicht auf alle Zeiten von den anderen abhängig sein. Wir wollen ein führendes Volk sein. Wir wollen auch einen Platz an der Sonne haben! Das sind nicht meine Gedanken. Diese Gedanken hat unser Führer in seinen Reden wie- derholt ausgesprochen und uns selbst das Ziel klar und deutlich gezeigt. Und wenn unser Herrgott uns nicht mit irdischen Gütern gesegnet hat, wenn wir viel zu wenig Naturschätze und keine Kolo- nien haben, aber trotzdem das vom Führer gesteckte Ziel erreichen wollen, dann gibt es für uns nur einen einzigen Weg. Und diesen Weg gehen heißt: Mehr leisten und mehr können als die Anderen! [...] Ihr, meine Jungens, müßt mehr können als z.B. die französische, englische oder die Jugend irgendeines anderen Landes. [...] Aber nicht die handwerkliche Fertigkeit allein genügt, nicht das Geldver- dienen ist das Wichtigste, sondern die innere Wandlung, der un- beugsame Wille und die Sehnsucht, durch die persönliche Tüchtig- keit an unserem großen ewigen Deutschland mit aufbauen zu wol- len.

Wenn wir nur einige Jahre zurückblicken und betrachten, was aus unserem Deutschland in diesen paar Jahren geworden ist, aus die- sem zerrissenen, ohnmächtig am Boden liegenden Land, wenn man diese Fortschritte auf allen Gebieten sieht, wenn man beobachtet, wie jeder einzelne Volksgenosse sich innerlich immer mehr wandelt und immer mehr mitzieht, dann muß man unendlich stolz und froh sein, an einem solch gigantischen Werk mitarbeiten zu dürfen. Gebe Gott, daß uns der Mann erhalten bleibt, dem wir das alles zu verdanken haben, und durch dessen Kraft und göttliche Begnadung unser Deutschland geeinigt und zum Aufstieg geführt wird. Heil Hitler!“739

739 Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1938, S. 4 u. 5.

239 Im Ergebnis der bisherigen Darstellung kann die These aufgestellt werden, dass der Nationalsozialismus durchaus der politischen Überzeugung Gerhard Fieselers entsprach. Sie wird gestützt durch die bisherigen Aussagen Fieselers, durch die Tatsache seiner Mit- gliedschaft in der Partei, der Verleihung von Ehrentiteln durch das nationalsozialistische Regime sowie seiner Reden vor der Beleg- schaft seines Betriebes.740

Gerhard Fieseler – ein Widersacher des nationalsozialistischen Systems? Die Darstellung der Anwälte Fieselers im Spruchkammerverfahren Im Gegensatz zur oben genannten These steht die Beweisführung der Rechtsanwälte Fieselers, die diese im Rahmen des Spruch- kammerverfahrens zur seiner Entlastung vorlegten. Sie sprechen ihn frei von einem Handeln, das der nationalsozialistischen Ideolo- gie entsprochen oder das Regime in irgendeiner Form gestützt hät- te. Ihrer Argumentation zufolge war Fieseler sogar unter Gefähr- dung seiner eigenen Sicherheit ein aktiver Bekämpfer der Partei und des Systems gewesen und habe hierdurch persönliche Nach- teile erlitten.741 Als Beleg für die ablehnende Haltung Fieselers ge- genüber dem Nationalsozialismus wurden u.a. folgende Gründe angegeben. „Er [Gerhard Fieseler, d.V.] trug kein Parteiabzeichen, legte auch die NSFK-Uniform sehr selten an. [...] Keine Parteizeitung kam ihm ins Haus, solange es in Kassel neben der KLZ [„Kurhessi- sche Landeszeitung“742, d.V.] noch andere Zeitungen gab. Kein Bild von Hitler oder Göring oder von anderen Nazigrößen hing in seinem Haus. In seinem Haus gab es keinen Hitlergruß. [...] Im Werk durfte auch keine Politik gemacht werden, es gab dort auch keinen Stür- merkasten. Es wurde nicht nach Parteimitgliedschaft gefragt, es wurden keine Pgs. [Parteimitglieder, d.V.] vorgezogen oder Nichtpgs. benachteiligt. Im Gegenteil, der Betroffene hat manchen deshalb, weil er politisch verfolgt war, in seinem Werk eingestellt und ge- schützt. [...] Als der Krieg ausbrach, nannte er Hitler einen Hasar-

740 Erinnert sei an dieser Stelle auch an die Aufrufe Fieselers in der Werkszeit- schrift anlässlich des Anschlusses von Österreich an Deutschland und des Be- ginns des Zweiten Weltkrieges. 741 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 34 (Schreiben der Anwälte). 742 Die „Kurhessische Landeszeitung“ war das Verbreitungsblatt der Nationalsozia- listen im Gau Kurhessen.

240 deur. Schon in 1941 bezeichnete er in einem Gespräch mit dem Zeu- gen Manns Hitler als Verbrecher und Göring als Despoten.“743 In Bezug auf seine Ernennungen zum NSFK-Standarten- bzw. Oberführer wurde darauf hingewiesen, dass diese nur ehrenhalber erfolgt seien. Er habe weder Befehlsgewalt noch Dienstbefugnisse gehabt. Er sei noch nicht einmal ordentliches, sondern nur för- derndes Mitglied gewesen.744 Auch die Verleihung des Titels eines Wehrwirtschaftsführers könne nach Auffassung der Anwälte Fieselers nicht als belastendes Mo- ment angeführt werden. Nach dem Befreiungsgesetz würden nur diejenigen, die nach dem 1. Januar 1942 zum Wehrwirtschaftsfüh- rer ernannt worden waren, in die Gruppe I (Hauptschuldige) und diejenigen, die vor 1942 direkt vom Reichswirtschaftsminister die- sen Titel erhalten hatten, in die Gruppe II (Belastete) eingestuft werden. Somit sei Gerhard Fieseler von diesem Gesetz nicht be- troffen, da er bereits 1937 durch Hermann Göring in dessen Funk- tion als Oberbefehlshaber der Luftwaffe zum Wehrwirtschaftsführer ernannt worden war.745 Die Gewährung von Schutz für Verfolgte und Gegner des National- sozialismus wurde als ein weiterer Beweis für den Widerstand Fie- selers gegen das System angeführt.746 In diesem Zusammenhang wurde der ehemalige jüdische Kaufmann Wilhelm David aus Gre- benstein bei Kassel als Zeuge angegeben. Aufgrund Davids Gesuch um Hilfe hatte Fieseler im Jahre 1936 diesem ein von ihm unter- zeichnetes Schriftstück mit einer erfundenen Anordnung von Ru- dolf Heß ausgestellt, die David als Inhaber der goldenen Tapfer- keitsmedaille aus dem Ersten Weltkrieg vor Übergriffen der Natio- nalsozialisten bewahren sollte.747 Das Schreiben enthielt folgenden Inhalt: „Es wird hiermit bescheinigt, daß laut Anordnung des Stell- vertreters des Führers Rudolf Heß gegen den Inhaber dieses Schrei- bens, Herrn Wilhelm David, aus Grebenstein keinerlei Geschäfts-

743 Ebd., Bl. 26r u. 27. Die in dem Schreiben angegebenen zahlreichen Gründe, die eine antinationalsozialistische Haltung Fieselers belegen sollen, sind von Zeu- gen eidesstattlich bezeugt. 744 Vgl. ebd., Bl. 30r (Schreiben der Anwälte). 745 Vgl. hierzu ebd., Bl. 30 u. 30r (Schreiben der Anwälte). 746 Vgl. ebd., Bl. 30r, 31 u. 31r (Schreiben der Anwälte). Hier werden Namen jüdi- scher Personen genannt, die Fieseler wissentlich in seinem Betrieb angestellt haben soll, um diese vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen. 747 Vgl. ebd., Bl. 31 (Schreiben der Anwälte), HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 290 (Aussage David) u. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 215 ff.

241 boykott oder sonstigen für ihn nachteiligen Maßnahmen unternom- men werden dürfen, da der Genannte Ritter des Preußischen Golde- nen Militär-Verdienst-Kreuzes ist.“748 Ob der Brief Fieselers, der selbst Inhaber dieser hohen Militärauszeichnung war, tatsächlich eine Sicherheit für David bedeutete, kann nicht genau gesagt wer- den. Laut Aussage Davids hängte er die Bescheinigung in das Schaufenster seines Schuh- und Textilwarengeschäfts aus und ließ sich vom Bürgermeister in Grebenstein Kopien anfertigen.749 Infol- gedessen kamen weiterhin Kunden zu ihm und er konnte den Handel aufrechterhalten. Einen dauerhaften Schutz vor den Ver- nichtungsplänen der Nationalsozialisten gegenüber den Juden bot dieses Dokument allerdings nicht.750 Am 22. Juni 1939 musste David mit seiner Familie Grebenstein verlassen.751 Sie zogen nach Breslau, wo sie möglicherweise Verwandte hatten. Von dort wurden sie später in das Konzentrationslager Theresienstadt752 deportiert, das die Familie überleben konnte. Nach dem Krieg kehrte diese zunächst nach Grebenstein zurück, wo sie auch wieder ihr Ge- schäft eröffnete, am 27. Januar 1952 erfolgte jedoch die Auswan- derung nach Los Angeles in den USA. Einer der beweiskräftigtsen Nachweise für den aktiven Widerstand Fieselers gegen den Nationalsozialismus war aus Sicht der Anwälte

748 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 11. 749 Die Anfertigung der Kopien wurde von dem ehemaligen Bürgermeister Greben- steins Gerhard bestätigt, vgl. ebd., Bl. 27. 750 Vgl. hierzu und den folgenden Angaben Dorhs, Michael: Nachbarn, die keiner mehr kennt, in: Kreisausschuss des Landkreises Kassel (Hg.): Jahrbuch `98, S. 120 u. 121. 751 Neben dem zunehmenden Terror gegenüber der jüdischen Bevölkerung dürfte insbesondere das infolge der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 erlas- sene Gesetz vom 1. Januar 1939, das allen Juden das Betreiben von Einzel- handelsgeschäften sowie das Anbieten von Waren und gewerblichen Leistungen auf Märkten untersagte, David zum Verlassen Grebensteins veranlasst haben. Vorausgegangen war diesem Gesetz die „Verordnung zur Ausschaltung der Ju- den aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938. Vgl. hierzu Benz, Wolfgang: Geschichte des Dritten Reiches, München 2000, S. 148. 752 Ab 1941 diente die nordböhmische Stadt als Ghetto für Juden aus dem Pro- tektorat Böhmen und Mähren. Der Situation nach ein KZ, unter dem Komman- do der SS, außen bewacht von tschechischer Gendarmerie, war der Ort Durch- gangsstation und Umschlagplatz für jüdische Menschen in andere KZ`s. Den ab Juni 1942 über 40.000 deportierten deutschen Juden wurde die Illusion vor- getäuscht, es handele sich um ein Privilegiertenghetto, das Prominenten und Bevorzugten vorbehalten sei. Alten Menschen wurde in „Heimeinkaufsverträ- gen“ ein geruhsames Altersdomizil und Pflege im Krankheitsfall vorgegaukelt, vgl. Benz, Wolfgang: Der Holocaust, München 41999, S. 81 ff.

242 Fieselers mit der Ablösung Gerhard Fieselers in seiner Verantwor- tung durch einen Kommissar, seinem Stellvertreter Thalau, im März 1944, gegeben. Dieser Schritt seitens des RLM sei in Konse- quenz der bewussten Verzögerung der Produktion der Jagdflugzeu- ge erfolgt. Ursächlich hierfür verantwortlich sei Gerhard Fieseler gewesen, der durch diese Handlung das NS-System habe schwä- chen wollen. Erst nach seiner Absetzung sei es zu einer erhebli- chen Produktionssteigerung gekommen. „Besonders hingewiesen sei auf die Einsetzung des Kommissars und letztlich auf die Be- schlagnahme des ganzen Werks. Die Maßnahmen erfolgten, weil das Werk schuldhaft die vorgeschriebene Anzahl Jäger nicht herausge- bracht habe und das Werk unter Führung des Betroffenen nicht ge- nügend schlagkräftig sei. Es ist dies zwar ein hervorragender Be- weis dafür, daß der Betroffene der Politik des RLM und der Partei nicht genügte, daß er ein Nazi nach dem Wunsche von Partei und Staat nicht war und deshalb zur Strecke gebracht werden mußte.“753 In einem anderen Schreiben der Anwälte heißt es: „Die zur Stüt- zung der Gewaltherrschaft nach der Auffassung der damaligen Machthaber unbedingt erforderliche Produktion rangierte bei ihm soweit unter ferner liefen, daß sie bei den Unterführerbesprechungen von ihm niemals auch nur erwähnt wurde. Er hat dadurch seine Pflicht gegenüber dem nationalsozialistischen Staat bewußt und grob vernachlässigt.“754 Hinsichtlich des Einsatzes von ausländischen Arbeitskräften im Fieseler-Werk wurde das Verhalten Fieselers gegenüber diesen ebenfalls als entlastendes Moment genannt. Die Anwälte argumen- tierten, er habe die Zuweisung von Zwangsarbeitern abgelehnt und sei zur Einstellung gezwungen worden. Vor allem nach seiner Ablö- sung als Betriebsführer habe er sich der sozialen Betreuung, Pflege und Hilfe der Ausländer gewidmet.755

753 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 33r (Schreiben der Anwälte). 754 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 96r u. 97. 755 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 32 u. 165 (Schreiben der Anwälte).

243 Ergebnisse Bei einer kritischen Betrachtung der von den Anwälten genannten Argumente stellt sich die Frage, inwiefern diese den Beweis für eine ablehnende Einstellung Gerhard Fieselers oder sogar dessen Wi- derstand gegen das nationalsozialistische System erbringen. Wer- den sie den zuvor dargelegten Erklärungen Fieselers, die eine grundlegende politische Überzeugung vom Nationalsozialismus ausdrücken, und seinen mehrfachen Ehrungen durch das Regime gegenübergestellt, scheint die Beweisführung zur Entlastung Fie- selers im Ergebnis überzogen und eher unglaubwürdig. Sie muss vielmehr dem Bestreben der Verteidiger zugeordnet werden, eine Verurteilung Fieselers durch die Spruchkammer verhindern zu wollen. Die zu diesem Zweck vorgetragenen zahlreichen Begründungen führen jedoch zu der Annahme, Fieseler nicht als einen Exponen- ten der nationalsozialistischen Ideologie einzuordnen. Beispielswei- se war er, der Geste gegenüber dem Juden Wilhelm David nach zu urteilen, kein Antisemit. Trotz seiner prinzipiellen Aufgeschlossen- heit gegenüber dem Nationalsozialismus nahm Fieseler anschei- nend durch das Regime verübtes Unrecht gegen Juden oder andere Personen im Einzelfall wahr und zeigte im Falle Davids Initiative zur Hilfe. Zu einer ernsthaften Hinterfragung des Systems oder einer Abwendung von diesem bewogen ihn solche Erlebnisse aller- dings nicht. Es bleibt somit Raum für die Frage, inwiefern sich Fie- seler durch opportunistisches Verhalten gegenüber dem Regime einen Nutzen hinsichtlich seiner Karriere als Flugzeugbauer ver- sprach. Damit hätte er dem Verhaltensmuster einem Großteil deut- scher Industrieeliten der Rüstungs- und Kriegswirtschaft entspro- chen, wie Erker in seiner Arbeit herausstellt.756 Nach der „Machter- greifung“ der NSDAP war trotz anfänglicher Bedenken eine hohe Bereitschaft der Industriellen zu vernehmen, sich mit dem NS- System zu arrangieren und sich diesem anzupassen. Einer der Gründe hierfür lag darin, dass die neue nationalsozialistische Wirt- schaftsordnung das privatwirtschaftliche Eigentum kaum berührte und die Position des Betriebsführers außerordentlich gestärkt wur- de. Zudem eröffnete die massiv forcierte Rüstungspolitik des NS- Regimes den Unternehmern Möglichkeiten in ungeahntem Ausma- ße, die Produktion zu steigern, neue Technologien zu entwickeln

756 Vgl. hierzu Erker, Paul: Industrie-Eliten in der NS-Zeit [wie Anm. 307], S. 7 ff.

244 und hohe Gewinne einzustreichen. Ein Sachverhalt, der sich aus- gesprochen förderlich auf die Integration der Wirtschaft in das NS- System auswirkte. Eine weitere anschauliche und – um es vorsichtig zu formulieren – möglicherweise zutreffende Charakterisierung des Verhältnisses Gerhard Fieselers zum Nationalsozialismus stellt die Einschätzung des ehemaligen Gauleiters von Kurhessen, Karl Weinrich, dar. Die- ser bescheinigte Fieseler im Spruchkammerverfahren ebenfalls ein eher zurückhaltendes Engagement in der NSDAP, bestätigte aber zugleich eine grundsätzliche politische Übereinstimmung Fieselers mit der Partei und dem nationalsozialistischen Staat: „Der Betrof- fene war Parteigenosse. Ich habe immer wieder die Erfahrung ma- chen müssen, daß viele Menschen, die ich früher als 150%ige Nazis kannte, vor der Spruchkammer eine Haltung einnahmen, die jam- mernswert war. Die Menschen, die zur Partei kamen, wußten, was sie taten. Sie haben sich dies vorher wohlweislich überlegt [...] Ich erkläre öffentlich, daß ich auf das, was ich war, stolz bin und auch heute hierfür vollauf gerade stehe. Es sind ein paar verschwindend wenige, die heute für alles gerade stehen. Hierzu zähle ich auch den Betroffenen. Ich muß sagen, daß der Betroffene manchmal gewissen Ärger bereitete, weil die Ortsgruppe Bettenhausen Veranlassung gab, mich über ihn zu beschweren. Ich habe dem Betroffenen diese Beschwerde zukommen lassen und mit ihm mündlich hierüber ge- sprochen. Ich traf dann den Entscheid, daß man den Betroffenen ungeschoren lassen sollte. [...]. Ich weiß, daß der Betroffene ein Mann war, der wußte, was er tat. [...] Der Betroffene war, wenn man so sagen will, ein flaues Parteimitglied [...] Ich kann den Betroffenen nicht als Gegner der Partei bezeichnen. Es kann sein, daß der Betrof- fene manche Maßnahmen der Partei getadelt hat.“757 Bezüglich der von Fieseler vorgeblich geübten Kritik an Göring und Hitler be- merkte Weinrich einschränkend: „Wenn ich eine Person kritisiere, so kritisiere ich nur diese, nicht aber das Regime als solches.“758 Über das Verhältnis zwischen Weinrich und Fieseler kann nur we- nig ausgesagt werden. In seinen Memoiren schreibt Fieseler, er habe mit Weinrich lautstarke Auseinandersetzungen über Perso-

757 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 60 u. 60r. In den Hessischen Nachrichten Nr. 20 v. 25.1.1949 wird Weinrich wie folgt zitiert: „Fieseler war zwar ein flauer Parteigenosse, und er hat mir viel Schwierigkeiten bereitet, aber ich glaube nicht, daß er so unehrlich gewesen wäre, in der NSDAP zu bleiben, wenn es seiner Weltanschauung nicht entsprochen hätte.“ 758 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 60r.

245 nalfragen in seinem Büro gehabt: „So brachte der Gauobmann der DAF den Fall Ziegler aufgebauscht und mit falschen Behauptungen vor den allgewaltigen Gauleiter und Staatsrat Weinrich. Dieser schlug mit der Faust auf den Tisch und erklärte sich bereit, endlich dem frechen Fieseler einmal zu zeigen, wer zu bestimmen habe. [...] Als Weinrich brüllte, brüllte ich zurück. [...] Nach einem steifen und formellen Abschied zog der Gauleiter mit seinen Braunhemden ab.“759 Die Streitigkeiten werden von Goebel im Spruchkammer- verfahren bestätigt.760 Goebel sagte aus, dass Weinrich zwei- bis dreimal im Werk gewesen sei, u.a. zu offiziellen innerbetrieblichen Veranstaltungen wie beispielsweise Theateraufführungen. Es sind allerdings in den Unterlagen der „Gerhard Fieseler Stiftung“ Fotos überliefert, die Weinrich und Fieseler in einem vertrauteren Ver- hältnis zeigen. Am 11. Februar 1939 – vermutlich Karneval – fand bei Fieseler ein „Bayerischer Abend“ in geselliger Runde statt, bei der auch Weinrich – leger in bayerischer Tracht gekleidet und sichtlich amüsiert – anwesend war.761

759 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 226 u. 227. 760 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 297r. 761 Vgl. Fotos im Ordner der Gerhard Fieseler Stiftung.

246 Gerhard Fieseler – ein Nutznießer des Dritten Reiches? Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus konnte die Luftfahrt- industrie wie andere Industriezweige enorme Profite durch die Rü- stungsaufträge der Regierung erzielen. Als Beispiel für die außeror- dentlich hohen Gewinne führt Homze die Firma Messerschmitt an. Dieses Unternehmen war 1933 mit einem Kapital von 400.000 RM gegründet worden und am Ende des Krieges umfasste das Vermö- gen und alle Kapitalanlagen 106.001.000 RM. „Growth of that magnitude in twelve years even during a world war must constitute a record in the annals of modern German business history.“762 Verantwortlich für die profitablen Geschäfte der Flugzeugbranche war insbesondere die Preispolitik des RLM. Bis 1939 gab es keine festgelegten Einheitspreise für die einzelnen Flugzeugtypen. Dies hatte zur Folge, dass einzelne Firmen, obwohl sie dasselbe Flug- zeugmuster in Lizenz fertigten, unterschiedliche Kosten für die Produktion veranschlagen und hohe Gewinnspannen einkalkulie- ren konnten.763 Das Ministerium war zwar bemüht, die Profite nicht höher als um 6 bis 10 Prozent steigen zu lassen, jedoch wur- de dieses Bestreben von der Luftfahrtindustrie oftmals unterlaufen. Homze hierzu: „The many changes in production programs, the need for expansion capital, the bewildering variety of development costs […] made it easy for them to disguise their profits.”764 Vor dem Hin- tergrund solcher Gewinnmöglichkeiten erfüllten die Unternehmen ohne Bedenken die Forderungen des RLM, das dringend Flugzeuge für die im Aufbau befindliche Luftwaffe benötigte, und wurden zu gut funktionierenden Rädchen im System. Auch nach der Umstel- lung der bisher üblichen Richtpreise mit kleinem garantierten Ge- winn auf ein Festpreissystem durch das RLM konnten bei konse-

762 Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 196. Prophanken beschreibt den Gewinn für die Firma Weserflug am Beispiel der Produktion des Ju 87-Sturzkampfbombers: ,,Mit dem Großserieneinsatz dieses Musters erreichte die Weserflug 1939 nicht nur einen Jahresumsatz von etwa 60 Mio. RM, sondern der Flugzeugbau brachte nun auch ganz substantielle Gewinne ein. 1939 und 1940 wurden, wenn Feilcke sich richtig erinnert, `Dividenden von 4 bis zu 6 % ausgeschüttet´. Ein echtes `Return of Investment´ schien sich nun abzuzeichnen”, vgl. Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 172 763 Vgl. Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 202. Homze nennt hier einige Beispiele. Erst in 1938/39 näherte man sich unter der Lei- tung des ehemaligen Generalluftzeugmeisters Ernst Udet einer sog. Festpreis- politik, vgl. ebd., S. 200 ff. 764 Ebd., S. 200.

247 quenter Rationalisierung der Serienfertigung erhebliche Profite er- zielt werden.765 Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Konjunktur der Luft- fahrtindustrie durch den hohen Bedarf an Kriegsflugzeugen weiter angetrieben. Ihren Höhepunkt erreichte sie Mitte des Jahres 1944, als ein Umsatzwert von monatlich 1,4 Milliarden RM erreicht wur- de.766 Die hierbei anfallenden Gewinne waren u.a. auch eine Folge der Reduzierung von Lohnkosten durch den hemmungslosen Ein- satz von Zwangsarbeitern und Häftlingen aus Konzentrationslagern. In Anbetracht der erläuterten Profitspannen der Flugzeugbranche im Dritten Reich, wovon ein erheblicher Teil auf die leitenden An- gestellten der Luftfahrtunternehmen transferiert wurde,767 darf der Verdacht angenommen werden, dass Gerhard Fieseler ebenfalls erhebliche Gewinne durch die Geschäfte mit dem RLM verbuchen konnte. Bereits die außergewöhnliche Expansion des Fieseler- Werks, die ausschließlich durch hohe staatliche Kapitalinvestitio- nen ermöglicht worden war, ist ein Beleg für die gewinnbringende Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich.768 Der Ausbau der Firma wurde komplett vom RLM durch die Vergabe von zinsfreien Anlei- hen und der Gewährung massiver Subventionen, wie z.B. dem „Kapital-Schnitt“ zur Verringerung der Schulden oder der Zahlung eines sog. „Architektenhonorars“ finanziert. Gerade Gerhard Fie- seler ist ein Beispiel für die Inanspruchnahme solcher Investitions- hilfen durch den Staat. Wie die meisten anderen Firmen dieses Wirtschaftszweiges besaß auch er kein eigenes Kapital zum Ausbau seines Unternehmens und war auf die Mittel des RLM angewiesen. Freilich ging er dabei nur ein geringes Risiko ein, schließlich war

765 Vgl. Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 172. Gleichzeitig wirft Prophanken die Frage auf, inwieweit Unternehmensgewinn in der staatlich gelenkten NS-Wirtschaft überhaupt Bedeutung zukam, zumal seit Beginn des Krieges Teile des Profits auf sog. „Gewinnabführkonten“ eingefroren blieben, also nicht von den Gesell- schaftern angeeignet werden konnten, vgl. ebd., S. 176. 766 Vgl. Bontrup, Heinz-J. u. Zdrowomyslaw: Die deutsche Rüstungsindustrie [wie Anm. 96], S. 113. Zum Vergleich: Der Umsatzwert der Munitionserzeugung lag zum gleichen Zeitpunkt monatlich bei knapp 750 Millionen RM und der Wert der Panzer und Waffen je bei 250 Millionen RM. 767 Vgl. Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 177. Als Beispiel führt Prophanken das Ge- halt eines Hauptabteilungsleiters bei Focke-Wulf an, das 2 500 RM betrug – et- wa das Achtfache eines Facharbeitergehalts. 768 Vgl. hierzu die Kapitel „Die Finanzierung der Fieseler-Werke“ und „Die Ver- handlungen zur Umgründung der Firma“ dieser Arbeit.

248 das Dritte Reich der Garant für eine sichere Auftragslage und pro- fitbringender Geschäfte, die eine Rückzahlung der Kredite ermög- licht hätten.769 Trotzdem wurde Gerhard Fieseler von dem Vorwurf, Nutznießer des Nationalsozialismus gewesen zu sein, durch die Spruchkammer freigesprochen. In der Urteilsbegründung heißt es diesbezüglich, die Einnahmen Fieselers nach 1933 seien vergleichbar mit seinem Einkommen vor diesem Zeitpunkt.770 „Der Betroffene hatte von 1928/34 einschließlich ein Gesamt-Netto-Einkommen von RM 505.000,-, woraus sich pro Jahr ein Durchschnittseinkommen von RM 72.100,- ergibt. Demgegenüber steht von 1935/44 ein Gesamt- Netto-Einkommen von RM 665.000,- mit einem jährlichen Durch- schnitt von RM 66.500,-.“771 Die in den Unterlagen der Spruchkammerakte enthaltenen Anga- ben über die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens und zur Gewinnbeteiligung Fieselers an der Firma lassen jedoch eher Zweifel an der Urteilsbegründung der Spruchkammer aufkommen. Der Öffentliche Kläger im Spruchkammerverfahren erhob gegen diese Darstellung ebenfalls Einwände. In einem Schreiben an die Berufungskammer Kassel vom 28. Februar 1949 bemerkt er: Die Kammer verneint in ihrer Entscheidung das Bestehen einer Nutznießerschaft, da das Einkommen des Betroffenen [Gerhard Fie- seler, d.V.] in den Jahren nach 1933 nur unwesentlich höher gewe- sen ist als in den Jahren vor 1933. Sie hat dabei außer Acht gelas- sen, daß das Vermögen des Betroffenen einen sehr erheblichen Zu- wachs erfahren hat und daß bei günstigem Ausgang des Krieges der Betroffene mit einem Vermögen von nahezu 10.000.000 RM [!, d.V.] zu rechnen gehabt hätte. Sie hat dabei ferner außer Acht gelassen, daß der Betroffene die erstrebten 52 % der Anteile an der Fieseler GmbH auch erreichte.“772 Angesichts der beiden vorliegenden gegensätzlichen Aussagen scheint die Frage, inwiefern Gerhard Fieseler von der Kooperation und den Geschäften mit dem RLM profitierte, nicht eindeutig ge-

769 Vgl. zu dieser Aussage Homze, Edward L.: Arming the Luftwaffe [wie Anm. 5], S. 196. 770 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 70r (Urteil der Spruchkam- mer). 771 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 116r (Anklageschrift der Spruch- kammer). 772 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 77 (Schreiben des Öffentlichen Klägers an die Berufungskammer).

249 klärt worden zu sein. Eine nähere Betrachtung der wirtschaftlichen Entwicklung der Firma und der daraus resultierenden Einkommen und Gewinne Fieselers ist daher erforderlich.

Probleme der Rekonstruktion Eine Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung des Unter- nehmens und der Einnahmen Fieselers seit 1933 gestaltet sich aufgrund fehlender oder unvollständiger Unterlagen der Firmen- buchhaltung sehr schwierig.773 Aus den Aussagen des ehemaligen Geschäftsführers Goebel und den nach dem Krieg eingesetzten Treuhändern Rust und Battenberg geht hervor, dass ein Großteil der Bestände entweder von einer Kommission der amerikanischen Besatzungsmacht beschlagnahmt worden oder auf unerklärliche Weise abhanden gekommen ist.774 Hierzu die Aussage Battenberg: „Ich stellte am 17.8. wegen Differenzen meinen Posten als Treuhän- der der Fieseler Werke zur Verfügung, mußte jedoch nach 4 Tagen auf Anordnung der Militär-Regierung die Treuhänderschaft wieder übernehmen. Innerhalb dieser 4 Tage verschwanden die gesamten Buchungsunterlagen der Fieseler Werke. Während dieser 4 Tage war Herr Rust als Treuhänder der Fieseler Werke tätig.“775 Weitere Ak- ten, die im Bunker des Werks I eingelagert waren, wurden nach Schilderung Fieselers durch einen Brand nach Kriegsende ver- nichtet oder fielen Plünderungen zum Opfer.776 Inwiefern eine Ab- sicht vorlag, Informationen über die finanziellen Verhältnisse des Betriebes bewusst zu verschleiern, kann nicht gesagt werden.777

773 Vgl. hierzu auch Hessische Nachrichten Nr. 22 v. 27.1.1949. Unter der Über- schrift „Fieseler Bilanzen unauffindbar“ wird das Verschwinden der Unterlagen ebenfalls beschrieben. 774 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 62, 65 u. 65r (Aussagen Battenberg u. Rust). Ein Teil der Buchhaltungsunterlagen war gegen Ende des Krieges ebenfalls aus dem Werk in Bettenhausen ausgelagert worden. Z.B. be- fand sich die Hauptbuchhaltung im Kreis Homberg, weitere Bestände wurden in der Gaststätte „Zum letzten Heller“ in der Nähe von Hannoversch Münden aufbewahrt. Die zuletzt genannten Akten waren nach Kriegsende in das Werk nach Kassel zurückgebracht worden. 775 Ebd., Bl. 65r. 776 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 256r. 777 Vgl. hierzu HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 65r (Aussage Rust) „Es ist von keiner Seite irgendein Versuch unternommen worden, irgendetwas der Fieseler Werke zu verschleiern. Es ist niemand an mich herangetreten, irgend- welche Unterlagen zu vernichten.“ Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Unterlagen über das persönliche Konto Gerhard Fieselers ebenfalls nicht mehr vorhanden sind.

250 Angaben über die Vermögensverhältnisse der Fieseler-Werke, der erwirtschafteten Gewinne und die Einnahmen Gerhard Fieselers bis 1945 stützen sich aufgrund der spärlichen Quellen vor allem auf die Aussage des ehemaligen kaufmännischen Beraters und Geschäftsführers Goebel.778 Des Weiteren ist ein Jahresabschluss der Firma zum 31. Dezember 1943 mit Vergleichszahlen zu 1942 überliefert.779 Eine Übersicht über das Firmenvermögen nach 1945 bieten ver- schiedene Bilanzgutachten. Sie wurden im Auftrag des „Hessischen Landesamtes für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung“ zur Feststellung des noch vorhandenen Firmenwertes und der Ab- wicklung ausstehender Forderungen an das Unternehmen durch- geführt.780 Angaben über das private Kapital und das Besitztum Gerhard Fieselers können einer Vermögensaufstellung entnommen werden, die durch den Treuhänder Alfred Lingnau781 im Rahmen des Spruchkammerverfahrens angefertigt worden war. Dieses Ver-

778 Vgl. HHSTAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 269r-272 u. 296r-308 sowie HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 62, 62r u. 65-66. 779 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3 Anlage „Bilanz der Gerhard Fie- seler Werke GmbH für das Geschäftsjahr 1943 mit Vergleichszahlen des Vor- jahres“. Diese Bilanz wurde nach dem Krieg von der „Deutschen Revisions- und Treuhand-AG“ aus Berlin geprüft. Allerdings waren GmbHs bis 1969 nicht zur Offenlegung ihrer Betriebsgeheimnisse verpflichtet, vgl. Prophanken, Hartmut: Gründung und Ausbau der Weser-Flugzeugbau GmbH 1933-1939 [wie Anm. 8], S. 174. 780 Einen Überblick über die verschiedenen aufgestellten Bilanzen gibt ein Schrei- ben der Abwicklungsstelle der Gerhard Fieseler Werke vom 3. Juni 1948, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 347. Für diese Arbeit lagen fol- gende Unterlagen vor: I. Aufstellung einer Bilanz durch die „Westdeutsche Wirtschafts- und Treu- hand GmbH“ zum 30. Juni und 1. Juli 1947, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 348 ff. II. Die Auflistung der privaten Vermögensverhältnisse Gerhard Fieselers durch den Treuhänder Alfred Lingnau in einer Anlage des Schreibens vom 3. Juni 1948, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 354 ff. III. HHStAW Abt. 519/1, Nr. 57 Bericht des Wirtschaftsprüfers Rudolf Falk. Diese Darstellung, die ebenfalls im Auftrag des Hessischen Landesamtes für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung durchgeführt wurde, ent- hält darüber hinaus detaillierte Informationen über die Entwicklung und die Verwaltung der Firma nach dem Ende des Krieges. Auch ist in der An- lage XVI eine Übersicht über die erhaltenen Buchhaltungsunterlagen aus der Zeit vor 1945 enthalten. 781 Vgl. HHStAW Abt. 519/1, Nr. 57 Bericht des Wirtschaftsprüfers Rudolf Falk, S. 7. Lingnau wurde nach Rust und Battenberg am 23. Juli 1947 vom Amt für Vermögenskontrolle in Kassel als Treuhänder der Gerhard Fieseler Werke GmbH eingesetzt.

251 zeichnis ist der einzige Anhaltspunkt, der einen möglichen Auf- schluss darüber erbringen könnte, ob Fieseler sein Vermögen durch seine Tätigkeit als Flugzeugbauer erheblich vermehren konnte und somit ein Nutznießer des Dritten Reiches war.782 Insgesamt ergibt sich aus den Unterlagen der Spruchkammer für den Betrachter ein sehr komplexes und häufig unklares Bild über die Vermögensverhältnisse Gerhard Fieselers. Dies gilt insbesonde- re für die Zeit nach dem Krieg. Für einen Laien ohne entsprechen- de Kenntnisse der damaligen Rechtslage oder betriebswirtschaftli- cher Zusammenhänge ist eine Auswertung der genannten Quellen kaum zu leisten. Eine eingehendere Untersuchung, als sie im Rahmen dieser Arbeit geleistet werden kann, wäre daher notwendig.

Einblicke in die Einkommens- und Vermögensverhältnisse Gerhard Fieselers Trotz der erläuterten Schwierigkeiten kann anhand der Unterlagen der Spruchkammerakte ein Einblick in die wirtschaftliche Ent- wicklung der Firma und die Einkommensverhältnisse Fieselers gegeben werden. Erste Anzeichen, die auf eine außerordentliche Profitspanne des Fieseler-Unternehmens hinweisen, sind die Um- satzzahlen. Seit 1933 stiegen diese kontinuierlich an und erreich- ten ihren Höhepunkt im Jahre 1944. Sie sind zugleich ein Zeugnis für die enorme Expansion des Betriebes unter dem nationalsoziali- stischen Regime. Für die einzelnen Jahre betrugen die Umsätze:783

1936/37 : 13 Mio. RM 1937/38 : 18 Mio. RM 1938/39 : 31 Mio. RM Rest 1939 : 31 Mio. RM 1940 : 37 Mio. RM 1941 : 43-45 Mio. RM 1942 : 59 Mio. RM 1943 : 69 Mio. RM 1944 : 100 Mio. RM

782 Aufgrund von Plünderungen, dem hohen Grad der Zerstörung, zu leistender Reparationszahlungen und schwebender Rechtsstreitigkeiten konnten zum Zeitpunkt des Spruchkammerverfahrens über den Wert und die weitere Exi- stenz der Firma keine Angaben gemacht werden. 783 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 270r (Aussage Goebel). Bei den Zahlen handelt es sich um gerundete Werte.

252 Für das Geschäftsjahr 1936 wurde ein Bruttogewinn von 600.000 RM ausgewiesen, der bis 1943 auf 6,7 Millionen RM progressiv anwuchs.784 Laut Aussage von Goebel belief sich der Reingewinn der Familien-GmbH von 1934 bis zur Umgründung im Jahre 1939 auf 1,1 Millionen RM.785 Dieser wurde vollständig als Kapitaleinlage bei der Gründung der „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ in diese Gesellschaft eingebracht.786 Die Verwendung der erwirtschafteten Gewinne nach 1939, z.B. für 1940 800.000 RM, ist hingegen unklar.787 Die Protokolle der Spruchkammer geben hierüber keinen genauen Aufschluss. Ledig- lich Schade, der Sekretär Fieselers, bestätigt gegenüber dem Vor- sitzenden der Spruchkammer, dass die Erträge der Firma nach den Verhältnissen der Anteile zwischen dem RLM und Gerhard Fieseler aufgeteilt wurden. „[...] aber diese Einzelheiten hat die Hauptbuch- haltung geregelt.“788 Fieseler erhielt hiernach auch nach dem Zu- sammenschluss mit dem RLM ab dem Geschäftsjahr 1939 im vol- len Umfang die ihm zustehenden Gewinne gutgeschrieben. Inwie- fern er diese als Rücklage in der Firma beließ oder auf ein Privat- konto verbuchte, kann nicht gesagt werden. Neben den Überschüssen bezog Fieseler ab 1934 vom RLM ein Ge- halt als Geschäftsführer in Höhe von 48.000 RM jährlich. Goebel hierzu: „Dieses Gehalt beruht auf einer Festsetzung des RLM. [...] Das RLM hat erklärt: In jedem Werk setze ich das Gehalt des ersten Geschäftsführers fest, und diesen festgesetzten Preis verrechne ich mit in die Unkosten, die ich auch vergüte.“789 Darüber hinaus erhielt Fieseler ab 1939 weitere festgelegte Gratifikationen in Form von Tantiemen und Dividenden. Die Dividende belief sich auf eine Summe in Höhe von 8 Prozent seiner Kapitaleinlage und die Tan- tieme war auf 20.000 RM jährlich festgesetzt. Goebel bemerkte in

784 Vgl. ebd., Bl. 306 (Aussage des Vorsitzenden). Für das Geschäftsjahr 1944 wurde keine Bilanz mehr erstellt. Hierzu die Aussage Goebel: „Sauermann war Prokurist der Fieseler Werke. Sauermann hat 1945 versucht, den Abschluß per 31.12.1944 mit einigen Leuten der Buchhaltung fertigzustellen. Ich sagte Sauer- mann, daß das Finanzamt keinen Wert auf den Abschluß einer Bilanz legen würde und er deshalb die Bilanz nicht fertigzustellen brauche“, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 65. 785 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 306r (Aussage Goebel). 786 Vgl. ebd., Bl. 270r (Aussage Goebel) u. Bl. 285r (Aussage Schade). 787 Vgl. ebd., Bl. 306r (Aussage Goebel). Es handelt sich hierbei um den Reinge- winn. 788 Ebd., Bl. 285r (Aussage Schade). 789 Ebd., Bl. 307.

253 diesem Zusammenhang: „Nach der Umgründung blieb das Gehalt unverändert, es sind ihr dann aber noch für die Jahre 1939, 1940, 1941 und 1942 je 20.000 RM Tantieme zugeflossen. [...] [Sonst, d.V.] keine weiteren Bezüge, lediglich die Dividende aus den Geschäftsan- teilen. Das waren von 1939 bis 1942 8% aus seiner Kapitalanla- ge.“790 Bei diesen Einnahmen handelte es sich vermutlich um die- jenigen Sonderbezüge, die Gerhard Fieseler vom RLM bei der Gründung der gemeinsamen GmbH vertraglich zugesprochen wor- den waren. Hierdurch sollte ihm die Möglichkeit gegeben werden, die Anteile des RLM zurückkaufen zu können.791 Eine Aufstellung des Geschäftsführergehalts Gerhard Fieselers verdeutlicht die einzelnen Einnahmen. Für das Jahr 1943 setzte es sich aus folgenden Positionen zusammen:792 48.000 RM Gehalt 40.000 RM Tantieme für 2 Jahre 288.000 RM Dividenden für 2 Jahre (jeweils 8 Prozent von 1,8 Millionen RM Kapitaleinlage) ______zusammen: 376.000 RM Nach Goebel betrug das Einkommen von 1935 bis 1945 nach Ab- zug der Steuern lediglich 714.000 RM, wobei in dieser Angabe an- scheinend die Gewinne aus der Firma nicht berücksichtigt wurden. Die Zuwendungen, die Gerhard Fieseler vom RLM erhielt, waren dabei nicht nur finanzieller Art, sondern er erhielt auch andere Vergünstigungen. Ein Beispiel hierfür ist seine Villa in Kassel in der Kurhausstraße 9. Ursprünglich vom RLM finanziert und in einer der besten Wohngegenden errichtet, ging sie später mit einer Hypothek, die etwa der Hälfte der Baukosten entsprach, in den Besitz von Fieseler über. Goebel sagte hierzu aus: „Das Haus in der Kurhausstraße wurde in den Jahren 1937/39 von der Firma Zahn gebaut, es kostete 120.000 - 130.000 RM. [...] Es

790 Ebd. Vgl. hierzu auch ebd., Bl. 285r (Aussage Schade). Auf die Frage des Vor- sitzenden, ob die Gerhard Fieseler zustehenden Gewinnanteile als Tantieme be- zeichnet worden waren, antwortet Schade. „Nein. Er bekam außer dem Gehalt einen bestimmten Prozentsatz des Gewinnes als Tantieme gut geschrieben, als Privatmann [...].“ 791 Vgl. ebd., Bl. 464 (Finanzbericht Schade). In den Verhandlungen zwischen dem RLM und den Fieseler Werken wurden diese Einnahmemöglichkeiten seitens der Firma als eine Bedingung für das Zusammengehen mit dem RLM genannt. 792 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 62 (Aussage Fieseler).

254 hatte einen Einheitswert von RM 68.000. Wir haben von der Fa. für die Herren Direktoren Häuser gebaut. Der Beauftragte des Reiches Tscheika verlangte, daß das Haus von Fieseler übernommen wurde. Fieseler wollte das Haus gar nicht übernehmen. Herr Fieseler hatte auch gar kein Geld, das Haus zu kaufen. Tscheika sagte aber zu, daß der Betrag, der nicht bezahlt werden konnte, als Hypothek auf dem Haus stehen bleiben könne. Im Grundbuch wurde das Haus auf den Namen Gerhard Fieseler umgebucht, ohne daß eine Bezahlung stattfand. Die Hypotheken wurden mitübernommen.“793 Erst nach dem Krieg wurde am 31. Dezember 1947 die Hypothek, die nunmehr nur noch mit 34.000 RM angegeben wurde, mit zu- rückgezahlten Steuerguthaben getilgt.794 Die erläuterten Einnahmen Gerhard Fieselers aus der GmbH, die ihm als Anteilseigner und Geschäftsführer in Form von Gewinnen, Gehalt und Sonderzuwendungen zuflossen, sind ein Beleg für die lukrative Zusammenarbeit und die profitablen Geschäfte mit dem RLM. Sie deuten zugleich auf eine erhebliche Zunahme des priva- ten Vermögens Fieselers hin. Ohne den hohen Bedarf des national- sozialistischen Regimes an Flugzeugen und die Kooperation Fie- selers mit dem RLM, das durch Bereitstellung von Kapital und mit Hilfe von freigebigen Subventionen den Aufbau des Unternehmens überhaupt erst ermöglicht hatte, wären derartige finanzielle Profite und andere Privilegien nicht realisierbar gewesen. Insofern kann durchaus gerechtfertigt von einer Nutznießerschaft Fieselers am Dritten Reich gesprochen werden. Einschränkend sei bemerkt, dass aus den Untersuchungen der privaten Besitzverhältnisse nach 1945 durch die Spruchkammer keine Hinweise auf eingegangene Zahlungen oder den Verbleib von größeren Vermögen hervorgingen. Nach einem Verzeichnis der Vermögenswerte vom 20. Juni 1948 bestand das Eigentum im we- sentlichen aus seiner Villa in Kassel, einem Haus in Eschweiler, geringen Bankguthaben und ausstehenden Gehaltsforderungen als Geschäftsführer an die „Gerhard Fieseler Werke“. Seine Anteile an der Gesellschaft wurden mit null bewertet.795

793 Ebd., Bl. 62 u. 62r. Vgl. hierzu auch HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 354 ff. Hier ist das Privatvermögen Fieselers aufgeführt. Auf S. 355 wird der ehemalige Einheitswert mit 69.000 RM angegeben. Die Hypothek bei der Lan- deskreditkasse betrug 45.000 RM. 794 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 354 (Schreiben des Treuhän- ders Lingnau). 795 Vgl. ebd., Bl. 457. Vgl. auch ebd., Bl. 354 ff.

255 Inwiefern Fieseler einen finanziellen Nutzen aus der weiterhin exi- stenten Gesellschaft erzielen würde, war zu dem Zeitpunkt des Spruchkammerverfahrens nicht absehbar.796 Aufgrund ausstehen- der Forderungen von Firmen aus Warenlieferungen, Kreditschul- den bei Banken und nicht mehr geleisteter Zahlungen des RLM zum Ende des Krieges ergab sich eine Verschuldung der GmbH in mehrfacher Millionenhöhe.797 Der Wert der Gesellschaft gründete sich vor allem noch auf dem im Besitz befindlichen Firmengelände des Werks I, verschiedenen Gebäuden und Immobilien, darunter „10 Grundstücke mit Häusern in der besten Wohnlage Kassels“.798 Trotz der krassen Überschuldung des Unternehmens wurde an- scheinend eine Liquidierung zur Befriedigung der Schulden nicht durchgeführt. Nachdem Gerhard Fieseler von der Spruchkammer in der Gruppe der Entlasteten eingestuft und auch das Berufungs- verfahren eingestellt worden war, begann er in 1950 mit dem teil- weisen Aufbau des zerstörten Werks I in Bettenhausen und der Produktion von Aluminiumfenstern. Die Gesellschaftsanteile des RLM an der „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ waren von der Bun- desrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches übernommen worden. Diese konnte Fieseler schließlich mit Erlösen aus dem Verkauf von Teilen des Firmengeländes zurückerwer- ben.799 Damit war er alleiniger Inhaber der Gesellschaft, die ihm als Grundlage zum Neuaufbau einer großbürgerlichen Existenz diente.

796 Vgl. ebd., Bl. 453 (Schreiben des Treuhänders Lingnau an die Spruchkammer). 797 Vgl. ebd., Bl. 315r Aussage Lingnau. Hiernach standen 4,6 Millionen RM auf der Aktivseite rund 53 Millionen RM auf der Passivseite gegenüber. Vgl. auch ebd., Bl. 347 ff. (Bilanzgutachten zum 30.6. bzw. 1.7.1947), Bl. 453 (Schreiben des Treuhänders Lingnau an die Spruchkammer) und HHStAW Abt. 519/1, Nr.57 Bericht des Wirtschaftsprüfers Rudolf Falk. 798 Vgl. HHStAW Abt. 519/1, Nr. 57 Bericht des Wirtschaftsprüfers Rudolf Falk, S. 11. Es handelt sich hierbei um Häuser, die für Direktoren und leitende Ange- stellte gebaut worden waren. Die Werke II und III gehörten nicht zu dem Anla- gevermögen der Gesellschaft, sondern waren vom Deutschen Reich an die Fir- ma verpachtet worden. Bereits mit Wirkung vom 1. April 1945 war der Pacht- vertrag seitens der GmbH gekündigt worden, vgl. ebd., S. 9. 799 Nach Aussage der Sekretärin Fieselers, Frau L., in einem Interview vom 22.6.2001, kaufte Fieseler die Anteile von der staatlichen „Gesellschaft für In- dustriegrundstücke“ zurück. Zur Finanzierung dieses Geschäfts verkaufte er Teile des Werksgrundstücks an die in Bettenhausen ansässigen Firmen Spinn- faser AG und AEG. Vgl. auch Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 298.

256 Zum Werdegang Gerhard Fieselers nach 1945 Zu dem Zeitpunkt des Einmarsches amerikanischer Truppen in Kassel Anfang April 1945 hielt sich Gerhard Fieseler nach eigenen Angaben auf dem Gut eines Freundes bei Grebenstein in der Nähe von Kassel auf.800 Zuvor hatte er bereits als Vorsorge für die Zeit der Besetzung Lebensmittel, Zigaretten und eine hohe Summe an Bargeld auf dem Boden seines Hauses in der Kurhausstraße ver- steckt. Fieseler hierzu: „Ich hatte Autoreifen auf dem Boden ver- steckt gehalten, das waren die Reifen von meinem Auto, die die Amerikaner sonst weggeholt hätten. Ich habe RM 100.000 in bar versteckt, auch Lebensmittel waren darunter. Ich wollte das Letzte noch retten. Ich hatte 5 Haussuchungen über mich ergehen lassen müssen.“801 Am 31. Mai des Jahres 1945 wurde Gerhard Fieseler während der Registrierung an einer Kasseler Meldestelle verhaftet und von der amerikanischen Besatzungsmacht zunächst in einem Lager bei Schwarzenborn (Mittelhessen) und ab Februar 1946 in einem Lager bei Darmstadt für ein Jahr interniert.802 Laut den Schilderungen in seinen Memoiren soll der Grund seiner Verhaftung seine Beklei- dung der Ehrenämter im NSFK gewesen sein.803 Bei dem Lager in Darmstadt handelt es sich um das größte Internierungslager der US-Zone.804 Obwohl die Amerikaner die Bedingungen des Lagers als zufriedenstellend bezeichneten, galt dieses Lager als das schlechteste der gesamten US-Zone. „Die Internierten lebten in Zel- ten, die größtenteils beschädigt oder wasserdurchlässig waren. Zweistöckige Holzkojen dienten als Betten. Die Unterbringung ent- sprach somit primitivster Art.“805 Lediglich die Versorgung war, wenngleich wenig abwechslungsreich, mit 1.700 Kalorien gegen- über der der restlichen Bevölkerung zufriedenstellend. Hintergrund der Internierung Gerhard Fieselers war der sog. „Automatische

800 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 304r. 801 Ebd., Bl. 289r. 802 Vgl. ebd., Bl. 304r (Aussage Fieseler). Vgl. auch Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 288. 803 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 291. 804 Vgl. hierzu Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 239 ff. Das Internierungslager bei Darmstadt mit einer anfängli- chen Stärke von 23.000 Personen entstand durch Zusammenfassung aller hes- sischen Camps seit dem 16. Februar 1945. 805 Ebd., S. 240. Nach Schuster wurde das Darmstädter Internierungslager zum Brennpunkt vielfältiger Probleme.

257 Arrest“, der von den Amerikanern seit der Besetzung durchgeführt wurde.806 Die Festsetzung bestimmter deutscher Personenkreise war von amerikanischer Seite bereits im April 1944 geplant wor- den. Zu diesem Zweck wurden unter Mithilfe deutscher Emigran- ten sog. schwarze und graue Listen erstellt, die den Zugriff auf ge- fährliche und potentiell unzuverlässig Deutsche erleichtern soll- ten.807 Mit dem Ende der Kriegshandlungen bzw. sofort nach der Besetzung begannen in allen Teilen der US-Zone unverzüglich die Verhaftungen. Die Betroffenen können in zwei Gruppen unterglie- dert werden. Einerseits wurden Personen festgesetzt, die wegen Kriegsverbrechen beschuldigt wurden, insbesondere KZ-Personal und Mitglieder der nationalsozialistischen Sicherheitspolizei, aber auch Zeugen von NS-Verbrechen, die nicht freiwillig aussagen wollten. Andererseits, und dies betraf den weitaus größeren Teil der Internierten, wurden Personen verhaftet, die nach Vermutung der Amerikaner die Sicherheit und Einrichtungen ihrer Truppen ge- fährden könnten. Hierzu gehörten u.a. alle Gestapo- und SD- Angehörige, politische Leiter einschließlich Kreishauptstellen- und , Führer und Unterführer der allgemeinen SS und Waffen-SS sowie führende Ministerial- und andere hohe politische Beamte. Nationalsozialisten und Sympathisanten in wichtigen Stellungen auf Reichs- und Gauebene in öffentlichen und wirt- schaftlichen Organisationen zählten ebenfalls zu diesem Kreis.808 Wiederholt erfolgten allerdings auch willkürliche Festnahmen. Im Zeitraum von März bis Juni 1945 wurden 15.799 Personen inter- niert, bis Anfang August waren es bereits etwa 80.000.809 Insge- samt betrug die Zahl der Inhaftierten ca. 120.000. Der eigentliche Grund des „Automatischen Arrests“, amerikanische Truppen vor eventuellen nationalsozialistischen Untergrundgruppen zu schüt- zen, wurde bald gegenstandslos, jedoch hatte das weder eine Auf- hebung noch eine Lockerung der Bestimmungen zur Folge. Durch

806 Vgl. hierzu ebd., S. 246 ff. Die folgenden Ausführungen beruhen auf Schusters Arbeit. 807 Vgl. hierzu auch Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik [wie Anm. 69]. 808 Vgl. hierzu ebd., S. 62 u. 63. Der Automatische Arrest erstreckte sich auf Per- sonenkreise, die auf Grundlage einer frühen Fassung der grundlegenden ame- rikanischen Besatzungsdirektive JCS 1067 definiert wurden. Darunter zählten u.a. alle Mitglieder der SS, Führer der Waffen-SS, höhere Führer der SA und der Polizei, alle Angehörigen der politischen Polizei, der Gestapo und des SD; führende Ministerial- und andere hohe politische Beamte. 809 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 247 u. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 10.

258 die seit dem Sommer 1945 eingesetzten Überprüfungsausschüsse reduzierte sich zwar in kurzer Zeit die Anzahl der in der US-Zone Inhaftierten, allerdings mussten bis zum Frühsommer 1947, als die hessischen Stellen formell die Verantwortung für das Internie- rungslager Darmstadt übernahmen, vielfach Personen, die eigent- lich nicht unter die Kriterien des „Automatischen Arrests“ fielen und auch Unschuldige im Lager Darmstadt neben schwerbelaste- ten Nationalsozialisten ausharren.810 In seinen Memoiren zählt sich Gerhard Fieseler ebenfalls zu dem Kreis der zu unrecht Inhaftierten. Voller Verachtung gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht schildert er die Zeit seiner In- ternierung. Ist seine Kritik an den Lebensbedingungen in den La- gern durchaus noch nachvollziehbar, sind jedoch einige seiner Ar- gumente und Beispiele, mit denen er seinen Standpunkt zu recht- fertigen sucht, nicht nur historisch zweifelhaft, sondern lassen den Leser wegen ihrer Aussagequalität besonders aufmerken: „Die nie- derträchtige Behandlung hatte mich so mitgenommen, daß ich nur den Wunsch hatte, tot umzufallen. Zu meiner Überraschung fiel ich jedoch nicht um, es wurde mir nicht einmal übel, im Gegenteil. Ich fühlte eine neue seelische Kraft, ich war plötzlich losgelöst von dem, was um mich herum geschah. Fast gleichzeitig stieg in mir ein Gefühl der Verachtung und des Hasses hoch. [...] Außerdem gab es die gefürchtete, mit Stacheldraht gesondert einge- faßte Baracke 27, in die man prominente Parteileute, Angehörige der Gestapo und Denunzierte auf kleinstem Raum mit zusätzlicher Be- wachung eingesperrt hatte. Hier saß beispielsweise auch einer der Söhne des letzten deutschen Kaisers, der gutmütige August Wilhelm `Auwi´811 genannt, aus dem man einen SA-Gruppenführer gemacht hatte. [!, d.V.] [...]

810 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 247 u. 248. Zusätzliche Komplikationen traten mit Inkrafttreten des Geset- zes Nr. 8 und des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Milita- rismus auf, da sich ihre Bestimmungen mit denen des „Automatischen Arrests“ überschnitten. 811 Zur Person August Wilhelms vgl. Weiß, Hermann (Hg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich [wie Anm. 636], S. 24 u. Gutsche, Willibald: Ein Kaiser im Exil. Der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. in Holland. Eine kritische Biogra- phie, Marburg 1991, S. 108 u. 130 ff. Folgende Ausführung folgt den Angaben Gutsches. August Wilhelm, Prinz von Preußen, der jüngste Sohn Kaiser Wil- helm II., hatte bereits 1926 mit Billigung seines Vaters am NSDAP-Parteitag in Weimar teilgenommen. 1928 erfolgte der Beitritt zur SA, in der er später den Rang eines SA-Obergruppenfühers erhielt, und 1930 der Eintritt in die NSDAP.

259 Ich hörte, was andere an Unmenschlichkeiten erlebt und mitgemacht hatten. Ein Oberleutnant der Waffen-SS, der aus einem Gefange- nenlager in Remagen eingeliefert wurde, versicherte mir, daß die Amerikaner dort jeden zweiten SS-Offizier erschossen hätten. 20 Jahre später konnte man lesen, daß hier ein Irrtum vorgelegen habe. [...] Langsam stellten wir eine Wandlung in der Gesinnung unserer Be- wacher fest. Wohl mußten wir über Großlautsprecher die Nürnberger Urteile anhören, die mit Recht ebensowenig zu tun hatten wie unsere Strafgefangenschaft, [...] Ich hatte die Vernehmungsmethoden bereits zur Genüge kennenge- lernt und machte mich in Begleitung eines Postens deshalb mit ge- mischten Gefühlen auf den weg. Um so erstaunter war ich , als ich mich einem freundlichen jungen Herrn gegenüber sah [...] Sein Deutsch war so einwandfrei und seine Ausdrucksweise so gewandt, daß es sich nur um einen in Deutschland aufgewachsenen Juden handeln konnte. Vergeblich versuchte er eine Unterhaltung in Gang zu bringen [...] Offensichtlich verstand mein Gegenüber meine Situa- tion und spürte meine Ablehnung, vielleicht meine Verachtung.“812 Wie Fieseler empfanden viele Internierte die Haft als ein Akt der Rache und der Willkür der Sieger und begegneten auch den neuen hessischen Institutionen hinsichtlich der Entnazifizierung mit Ab- lehnung, fühlten sie sich doch zu den zu unrecht Verfolgten. Eugen Kogon bemerkt hierzu: „Ein Schuldbewußtsein haben die wenig-

Für die Nationalsozialisten war er insbesondere vor der „Machtergreifung“ von Bedeutung, da er als Sympathiewerber in monarchistisch-konservativen Krei- sen fungierte. Dies dürfte der einzige Grund für eine Kooperation der NS- Bewegung mit den Hohenzollern gewesen sein. Der im Exil lebende Kaiser und seine Familie hingegen verbanden mit der Zusammenarbeit der Nationalsoziali- sten zunächst die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Deutschland und damit die Wiedererrichtung der Hohenzollerndynastie. Seitens der NS-Führung wurde diese Hoffnung durch entsprechende Zusicherungen, sie werde sich für die Re- stauration der Hohenzollernmonarchie einsetzen, geschürt, obwohl ein ernst- hafter Plan in dieser Hinsicht seitens der Nationalsozialisten niemals bestanden haben dürfte. Lediglich das Ziel, entsprechende konservative Kreise für die NSDAP zu gewinnen, trieb die NS-Bewegung zur Zusammenarbeit. Besonderes Engagement für die Nazi-Partei zeigte hierbei aus dem Hause Hohenzollern Au- gust Wilhelm, der bei mehreren NSDAP-Kundgebungen als Redner auftrat, u.a. zusammen mit Roland Freisler in Kassel im Oktober 1931 (vgl. hierzu Bericht der „Neuen Arbeiter-Zeitung“ v. 23.10.1933, in: Gesamthochschule Kassel, For- schungsstelle „Kassel in der Zeit des Nationalsozialismus“ (Hg.): Die Zerschla- gung der Freien Gewerkschaften in Kassel 1933. Bilder-Dokumente-Kommen- tare. Katalog zur Ausstellung, Kassel 1983, S. 10. 812 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 286-291.

260 sten.“813 Benz spricht in diesem Zusammenhang von einer lasten- den Hypothek für den Demokratieanspruch.814 Nachdem die mut- maßlichen Hauptverantwortlichen ausgesondert worden waren, sahen die in den Lagern der US-Zone auf ihre Entnazifizierung Wartenden nicht den rechten Zweck ihrer Festsetzung, zumal für viele das schleppende und unsystematische Prozedere ihrer Über- prüfung keinen Sinn ergab. „[...] das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, förderte die Läuterung kaum.“815 Nach einem Jahr Internie- rung wurde Gerhard Fieseler im Frühjahr 1946 – ohnmächtig, ent- ehrt und beleidigt, wie er sich selbst beschreibt – aus dem Lager bei Darmstadt entlassen.816

Gerhard Fieseler muss sich vor der Spruchkammer verantworten

Zur Entnazifizierungspolitik in Hessen „Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nazismus zu vernichten und die Garantie dafür zu schaffen, daß Deutschland nie wieder in der Lage sein wird, den Weltfrieden zu brechen; [...] alle Kriegsverbrecher einer gerechten und schnellen Bestrafung zuzuführen; [...] die Nazi-Partei, die nazistischen Gesetze, Organisationen und Einrichtungen vom Erdboden zu tilgen; alle na- zistischen und militärischen Einflüsse aus öffentlichen Einrichtun- gen, dem Kultur- und Wirtschaftsleben des deutschen Volkes zu ent- fernen. Nur dann, wenn Nazismus und Militarismus ausgerottet sind, besteht für das deutsche Volk Hoffnung auf eine würdige Exis- tenz und auf einen Platz in der Gemeinschaft der Nationen.“817 Mit dieser Erklärung vereinbarten die alliierten Siegermächte auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 übereinstimmend, dass Deutschland nicht nur militärisch besiegt und entmachtet, son- dern darüber hinaus auch der Nationalsozialismus durch tiefgrei-

813 Kogon, Eugen: Der Kampf um die Gerechtigkeit, in: Frankfurter Hefte 2/1947, S. 377, zitiert nach: Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945- 1954 [wie Anm. 18], S. 252. 814 Benz, Wolfgang: Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier- Zonen-Deutschland, München 31994 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), S. 180. 815 Ebd. 816 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 291. 817 Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Jalta vom 3. bis 11. Februar 1945 (Auszug), zitiert nach: Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung. [wie Anm. 70], S. 96-98.

261 fende strukturelle, personelle und mentale Veränderungen ausge- rottet werden sollte.818 Gehörte die Aufhebung nationalsozialisti- scher Gesetze und die Auflösung von NS-Organisationen per De- kret zu den einfacher durchzuführenden Maßnahmen der Militär- regierungen im Nachkriegsdeutschland, gestaltete sich die Frage nach Festlegung, Umgang und Bestrafung betroffener Personen als deutlich komplexer. Einig waren sich die Alliierten darin, alle Ver- antwortlichen für die Kriegs- und NS-Verbrechen mittels straf- rechtlicher Prozesse, wie sie u.a. im Einzelfall vor dem Internatio- nalen Militärgerichtshof in Nürnberg durchgeführt wurden, zu be- strafen.819 Hiervon zu unterscheiden ist die politische Säuberung. „Sie ist ein machtpolitisches Mittel zur Etablierung einer neuen Füh- rungsschicht.“820 Aufgrund dieser zweckrationalen Zielsetzung, der Entscheidung darüber, welchem Personenkreis aufgrund ihrer po- litischen Vergangenheit die Mitwirkung an dem neu aufzubauen- den Staat versagt werden soll, war die politische Säuberung nicht der traditionellen Justiz unterzuordnen, sondern ihre Durchfüh- rung an politische Zweckmäßigkeit und politische Moral gebunden. In dem besetzten Deutschland fiel die politische Säuberung zu- nächst in den Aufgabenbereich der von den Alliierten eingesetzten Militärregierungen. Auf der Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945, auf der die Siegermächte letzte gemeinsame Entscheidungen über die Nachkriegsentwicklung und eine grund- sätzliche Behandlung Deutschlands vereinbarten, erhielt das Be- streben nach politischer Säuberung den Namen „Denazification“.821 Dahinter verbarg sich eine Reihe von Forderungen, wie der Natio- nalsozialismus in Deutschland zerschlagen werden sollte: Auflö- sung der NSDAP und ihrer Organisationen, die Aufhebung nazisti- scher Gesetze, Verurteilung von Kriegsverbechern und Verhaftung von Parteiführern, einflussreichen Nazianhängern und Leitern na- zistischer Organisationen sowie die Entfernung aller Personen aus öffentlichen Ämtern und leitender Personen der Privatwirtschaft,

818 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 14. 819 Daneben gab es weitere Verfahren vor anderen Militär- und Sondergerichten der Alliierten, aber auch deutsche Spruchgerichtsverfahren in der britischen Zone und die, wenn auch erst spät einsetzende Ahndung nationalsozialistischer Straftaten durch deutsche Justizbehörden, vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Ent- nazifizierung [wie Anm. 70], S. 8. 820 Ebd. 821 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 17.

262 die mehr als nominell der Partei verbunden waren oder den alliier- ten Zielen feindlich gegenüberstehen.822 „Die Entnazifizierung war als politischer Reinigungsprozeß konzipiert, der als Bestandteil der Demokratisierung Vorbedingung und Rehabilitierung Deutschlands sein sollte.“823 Allerdings dauerte es noch bis zum Januar 1946, bis der Kontrollrat eine konkrete Entnazifizierungsdirektive verab- schiedete, aber auch nach dem Erlass dieser Direktive wurde die Entnazifizierung, die in den verschiedenen Zonen zu diesem Zeit- punkt längst angelaufen war, nicht einheitlich durchgeführt.824 Die ersten Maßnahmen der politischen Säuberung durch die alli- ierten Verbände setzte noch während der Kampfhandlungen ein. Maßgeblich für die Vorgehensweise amerikanischer Verbände war die Besatzungsdirektive JCS 1067, die im Vorfeld mehreren Ände- rungen unterzogen worden war und ihre Endfassung am 26. April 1945 erhielt. Insbesondere unter Vorstoß des US-Finanzministers Morgenthau hatte sie eine wesentliche Verschärfung hinsichtlich der Entlassungsrichtlinien erfahren.825 Sie schrieb die Entlassung

822 Vgl. Amtliche Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945, in: Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 107. 823 Benz, Wolfgang: Potsdam 1945 [wie Anm. 814], S. 171. 824 Zur Bedeutung der Entnazifizierung vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizie- rung [wie Anm. 70], S. 9. In der sowjetischen Zone hatte die Entnazifizierung zwar eine wichtige, für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Muster jedoch eine untergeordnete Rolle. In den westlichen Zonen blieb sie – abgesehen von der Politik der Umerziehung zur Demokratie – im wesentlichen auf eine politische Personalsäuberung beschränkt. Während sie für die amerikanische Militärregierung einen wichtigen Punkt ihrer Besat- zungspolitik darstellte, erlangte sie in der französischen und britischen Zone nicht diese Bedeutung. 825 Im Zusammenhang mit der Planung der Landung alliierter Streitkräfte in der Normandie hatte es zwischen den britischen und amerikanischen Offizieren zä- he Verhandlungen über die Frage der Vorgehensweise bei der Entnazifizierung gegeben. Unter Zeitdruck wurde schließlich am 15. August 1944 ein „Handbook of Military Government of Germany“ als Kompendium für die Besatzungsoffizie- re erstellt, das erstmalig in der Fassung vom 15. Dezember 1944 in einer Aufla- ge von 6000 Exemplaren an die amerikanischen Truppen ausgeliefert wurde. Dies wurde durch weitere Direktiven erweitert. Am 14. Juli 1945 wurde das gemeinsame britisch-amerikanische Oberkommando SHAEF aufgelöst und auf amerikanischer Seite durch USFET ersetzt, vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifi- zierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 15 u. 16. Zur Politik und zu den Plänen Morgenthaus vgl. Greiner, Bernd: Die Morgenthau-Legende. Zur Ge- schichte eines umstrittenen Plans, Hbg. 1995. Fieseler nimmt in seinen Memoi- ren ebenfalls Bezug auf den sog. Morgenthau-Plan, von dem nach seinen Wor- ten „mit wenigen Ausnahmen alle im Lande anwesenden Amerikaner beseelt waren“, vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 291.

263 aller aktiven Nationalsozialisten vor und beschränkte die politische Säuberung nicht mehr auf Personen in Schlüsselstellungen im Verwaltungsbereich. Während der mobilen Phase war die Verfah- rensweise nicht nur innerhalb der alliierten Kampftruppen unter- schiedlich geprägt, selbst in der vorrückenden amerikanischen Armee gab es unterschiedliche Handlungsmaßnahmen bei der er- sten Entfernung politisch Belasteter. Sie wurden hervorgerufen durch Koordinationsmängel, schnelles Wechseln der kämpfenden Truppe und die Selbstherrlichkeit mancher örtlicher Militärkom- mandanten, die in ihrem Befehlsbereich ohne Kontrolle und Ver- bindung zu benachbarten Gebieten regierten.826 In der Regel be- schränkte sich die „Säuberung“ in den ersten Besatzungswochen auf die Entlassung der Verwaltungsspitzen wie Bürgermeister, Landräte und Behördenleiter. Die örtlichen Kommandanten gingen hierbei meist nach freiem Ermessen vor, wobei Fehlentscheidungen und mehrfache Wechsel bei der Neubesetzung der Ämter zu An- laufschwierigkeiten beim Aufbau der Besatzungsherrschaft führ- ten.827 Hieran schloss die Phase des „Automatischen Arrests“ an, in dessen Rahmen eine große Entlassungs- und Verhaftungswelle erfolgte. Erst mit der USFET-Direktive828 vom 7. Juli 1945 wurde die Grundlage für ein geordneteres Vorgehen in der US-Zone ge- schaffen. Mittels eines Fragebogens mit insgesamt 131 Einzelfra- gen, die einen genauen Einblick in Lebenslauf und politische Ver- gangenheit gewährten, sollten Inhaber von Führungspositionen überprüft werden. Ergab sich bei der schematischen Überprüfung der Fragebogen, dass der Betroffene mehr als nur nominell mit der NSDAP verbunden war, so sah die Direktive die sofortige Entlas- sung vor, ohne Rücksicht auf personellen Ersatz oder Berücksich- tigung von Rechtsansprüchen.829 Hierunter fielen u.a. alle Mitglie-

826 Vgl. hierzu ebd., S. 18 ff. u. Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik [wie Anm. 69], S. 140. 827 Vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 10. 828 Am 14. Juli 1945 wurde das gemeinsame britisch-amerikanische Oberkom- mando SHAEF aufgelöst und auf amerikanischer Seite durch USFET ersetzt, vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 15, 16 u. 23. 829 Die Überprüften wurden in fünf Kategorien unterteilt: (1) Mandatory removal (unbedingt entlassungspflichtig), (2) Discretionary Removal, Adverse Recom- mandation (bedingt entlassungspflichtig – Entlassung vorgeschlagen), (3) Dis- cretionary Removal, No Adverse Recommandation (bedingt entlassungspflichtig, gegen Weiterbeschäftigung bestehen keine Bedenken), (4) No Evidence of Nazi Activity (kein Beweis für nationalsozialistische Betätigung), (5) Evidence of Anti-

264 der der NSDAP, die vor dem 1. Mai 1937 in die Partei eingetreten waren. Zur Auswertung der Fragebögen wurden in den örtlichen Militärregierungen sog. Special Branches eingerichtet, die Entlas- sungsverfügung fiel weiterhin in die Kompetenz des Offiziers der jeweiligen Militärregierungs-Abteilung. Nachdem die 7. US-Armee die Hoheit über den Western Military District, worunter auch Hes- sen fiel, übernommen hatte, prüften seit dem 24. Juli zudem CIC- Teams830 die bei den Special Branches eingereichten Fragebögen und gingen Kreis für Kreis vor. Die Direktive vom 7. Juli zeigte ihre Wirkung. So ging beispielsweise bis zum 15. August 1945 der An- teil von NS-Parteigängern im Frankfurter Landesarbeitsamt, ge- messen an der Gesamtbelegschaft, von 53,8 auf 22,6 Prozent, im Arbeitsamt von 34,5 auf 13,3 Prozent, in der Ortskrankenkasse von 35,3 auf 11,2 Prozent und im Versorgungsamt von 48,4 auf 15,5 Prozent zurück.831 Das verschärfte Vorgehen der amerikani- schen Militärbehörde mit dem Ziel einer raschen politischen Säu- berung erfolgte nicht zuletzt auf Druck der amerikanischen Öffent- lichkeit, die auf eine konsequente Bestrafung aller Nationalsozialis- ten drängte. Das schematische Verfahren rief allerdings auf deut- scher Seite bei allen politischen Gruppierungen Widerspruch her- vor, war doch aufgrund der zahlreichen Entlassungen aus den Be- hörden die Arbeit der deutschen Verwaltungen kaum aufrechtzu- erhalten.832 Eine Beteiligung deutscher Stellen an der Entnazifizie- rung, mit deren Hilfe beispielsweise die Zuverlässigkeit der in der Verwaltung dringend benötigten Personen hätte gewährleistet wer- den können, wurde zu diesem Zeitpunkt von den USA jedoch – in erster Linie unter dem leitenden Aspekt der Kollektivschuldthese – noch abgelehnt. Eine Ausweitung und zugleich weitere Verschärfung der politischen Säuberung erfolgte mit Erlass des Militärgesetzes Nr. 8 am 26. September 1945, wodurch die Entnazifizierung auf alle Bereiche der Wirtschaft ausgedehnt wurde.833 Bereits im Vorfeld hatte es Bemühungen gegeben, in diesem Bereich aktiver zu werden. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang die sog. „Augsburger Metz-

Nazi-Activity (Beweis für antinationalsozialistische Betätigung), vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 24. 830 Counter Intelligence Corps. 831 Zahlen entnommen aus Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945- 1954 [wie Anm. 18], S. 26. 832 Beispiele hierfür in ebd., S. 29. 833 Vgl. hierzu ebd., S. 38 ff.

265 gerdirektive“ vom 15. August 1945. Sie bedeutete eine Ausweitung der Entnazifizierung auf Handwerk und Industrie und wurde auf die gesamte US-Zone angewendet.834 Als Erfassungskriterium galt sowohl die Stellung des Betroffenen in der Gesellschaft als auch der Bekanntheits- und Einflussgrad. Nach dieser Direktive waren mehr als nominelle Parteimitglieder sofort zu entlassen und bei Firmeninhabern war der Besitz unter Kontrolle der Military Go- vernment Property Control zu stellen. Bei dem Gesetz Nr. 8 prägte folgender Kernsatz die Bestimmung: „Die Beschäftigung eines Mitgliedes der NSDAP oder einer der ihr angeschlossenen Organisationen in geschäftlichen Unternehmungen aller Art in einer beaufsichtigenden oder leitenden Stellung oder in irgendeiner anderen Stellung als der eines gewöhnlichen Arbeiters ist gesetzwidrig; [...]“835 Hiernach mussten alle ehemaligen Mitglie- der der NSDAP und ihrer angeschlossenen Organisationen mit ei- ner Entlassung oder zumindest einer Rückstufung in „gewöhnli- che“ Arbeit rechnen. Zudem drohte in Verbindung mit Gesetz Nr. 52 Unternehmern und Selbstständigen die Sperre ihres Vermö- gens. Folge dieses Gesetzes war, dass aufgrund der undifferenzier- ten Entlassungsbestimmungen in Hessen mancherorts das wirt- schaftliche Leben zum Erliegen kam. Beispielsweise sei es einem Bericht der örtlichen Militärregierung vom 14. Oktober 1945 zufol- ge in Kassel trotz intensiver Bemühungen zu Störungen des Wirt- schaftsbetriebes gekommen.836 Dennoch wurde dieses Gesetz von deutscher Seite, auch von Gegnern der Entnazifizierung, als Fort- schritt bezeichnet. Erstmalig wurde den Betroffenen ein Wider- spruchsrecht eingeräumt.837 In einer Ergänzungsbestimmung des Gesetzes Nr. 8, der Regulation Nr. 1, wurde darüber hinaus die Beteiligung deutscher Stellen bei den Revisionsverfahren in einem eng gesteckten Rahmen festgelegt. Diese Prüfungsausschüsse konnten nach einer an der Strafprozessordnung orientierten Be-

834 Vgl. ebd., S. 30. 835 Artikel 1 des Gesetzes Nr. 8 der amerikanischen Militärregierung vom 26. Sep- tember 1945, zitiert nach: Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 100. 836 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 41. Als weitere Beispiele seien Frankfurt, wo aufgrund des Gesetzes bis Ende September 6.583 Personen entlassen, und Wetzlar, wo 3.500 betroffen waren, genannt. 837 Vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 13. Vorausset- zung für einen Einspruch war der Nachweis, dass man der NSDAP oder ande- ren NS-Organisationen nur nominell angehört hatte.

266 weisaufnahme die Einsprüche begutachteten, die letzte Entschei- dung blieb allerdings weiterhin den örtlichen Militärregierungen überlassen. Auch kam den Unternehmern selbst eine entscheiden- de Rolle beim Aufspüren ehemaliger Nationalsozialisten zu, da sie ihren Betrieb nur dann weiterführen durften, wenn sich keine Parteimitglieder in führenden Positionen befanden.838 Nach Erlass dieses Gesetzes wurde von amerikanischen Stellen die Zuversicht der Deutschen registriert, dass die Entnazifizierung mit deutscher Beteiligung nun gerechter verlaufen würde. Eine Schlüsselstellung nahmen in diesem Zusammenhang in Hessen die Industrie- und Handelskammern ein, die schon im Vorfeld Kontakte mit den örtli- chen Militärbehörden geknüpft hatten. Sie hatten Einfluss auf die neukonstituierte hessische Landesregierung und waren wesentlich an der Ausformulierung der hessischen Ausführungsverordnung des Gesetzes Nr. 8 beteiligt.839 Trotz der auf dem Gesetz Nr. 8 beruhenden Entwicklung der Ent- nazifizierungspolitik, diese in einem einheitlicheren gesetzlichen Rahmen verlaufen zu lassen und zudem deutsche Stellen mitein- zubeziehen, blieben in dieser Frage die örtlichen Militärregierungen immer noch die entscheidenden und tonangebenden Instanzen. Dies war einer der Gründe, warum an der amerikanischen Entna- zifizierungspraxis, die bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend durch ein uneinheitliches und oft widersprüchliches Vorgehen gekenn- zeichnet war und in zahlreichen Gebieten die Verwaltungsapparate bis an den Rand eines Zusammenbruches geführt hatte, zuneh- mend schärfere Kritik von deutscher Seite geübt wurde. Aus Sicht der hessischen Landesregierung reichten die bisherigen Maßnah- men und Regelungen weder aus noch hatten sie eine zufrieden- stellende Situation herbeigeführt. So blieben beispielsweise Förde- rer des NS-Systems aus der Wirtschaft, die der NSDAP nicht als Mitglied angehörten, von den bisherigen Bestimmungen unberührt. Aus diesem Grunde drängte die hessische Landesregierung auf

838 Vgl. Artikel 2 u. 3 des Gesetzes Nr. 8, in: ebd., S. 101. 839 Die hessische Landesregierung (durch die Proklamation General Eisenhowers vom 19.9.1945 wurden die Länder Groß-Hessen, Württemberg-Baden und Bay- ern gebildet; am 16. Oktober wurde die erste hessische Nachkriegsregierung unter Karl Geiler eingesetzt) verabschiedete die „Verordnung über die politische Bereinigung der gewerblichen Wirtschaft nach dem Gesetz Nr. 8 und zur 1. Ausführungsverordnung der Militärregierung Deutschland, Amerikanische Zo- ne, zur politischen Bereinigung der gewerblichen Wirtschaft“ erst am 10. No- vember 1945, vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 45 u. 46.

267 eine deutsche, länderübergreifende und alle Gesellschaftsschichten ergreifende einheitliche Lösung der Entnazifizierung.840 Die Grundlage hierfür wurde mit dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalismus und Militarismus“ geschaffen, das am 5. März 1946 für die US-Zone erlassen wurde.841 Dieses Gesetz, dem langwierige Verhandlungen vorausgegangen waren und das auf einer bayeri- schen Gesetzesvorlage basierte, bildete fortan die rechtliche Grundlage für die politische Säuberung in Hessen. Zugleich ging die Durchführung der Entnazifizierung hiermit in deutsche Hände über, auch wenn die Oberaufsicht bei der amerikanischen Militär- regierung blieb. In Artikel 1 wird die grundlegende Intention formuliert, die mit dem neuen Gesetz im Rahmen der Entnazifizierung verfolgt werden sollte. Dort heißt es: „Zur Befreiung unseres Volkes von Nationalso- zialismus und Militarismus und zur Sicherung dauernder Grundla- gen eines deutschen demokratischen Staatslebens im Frieden mit der Welt werden alle, die die nationalsozialistische Gewaltherrschaft aktiv unterstützt oder sich durch Verstöße gegen die Grundsätze der Gerechtigkeit und Menschlichkeit oder durch eigensüchtige Ausnut- zung der dadurch geschaffenen Zustände verantwortlich gemacht haben, von der Einflußnahme auf das öffentliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben ausgeschlossen und zur Wiedergutmachung verpflichtet. [...]“842 Ein prinzipieller Unterschied zu den vorange- gangenen Bestimmungen der amerikanischen Militärregierung be- stand darin, dass mit dem Befreiungsgesetz ein differenzierterer Überprüfungsmechanismus einsetzte, der alle Gesellschafts-

840 Vgl. ebd., S. 57. Obwohl die Direktiven des Sommers 1945 tendenziell auf die Entfernung von NSDAP-Mitgliedern in allen Bereichen zielten, konzentrierte sich in der Praxis die Säuberung auf den öffentlichen Dienst. Bis Ende März 1946 waren 1,26 Millionen von 1,39 Millionen Fragebogen von den Special- Branches ausgewertet. Hiervon stammten 50 Prozent von Bewerbern aus dem öffentlichen Dienst, 29 Prozent aus dem Handel, dem Handwerk und der Indu- strie, 21 Prozent aus anderen Bereichen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren 139.996 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst und 68.568 Beschäftigte aus Handel, Gewerbe und Industrie in der US-Zone entlassen worden, vgl. Volln- hals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 13 u. 14. 841 Zur Vorgeschichte und den politischen Rahmenbedingungen vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 58 ff. Die- ses Gesetz trat mit einigen Änderungen Mitte 1947 auch in der französischen Zone in Kraft und wurde zum Vorbild einer neuen Regelung in der britischen Zone, vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 16. 842 Artikel 1 des Gesetzes Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Mi- litarismus vom 5. März 1946 (Auszug), zitiert nach: ebd., S. 262 u. 263.

268 schichten erreichen sollte. „Die Beurteilung des Einzelnen erfolgt in gerechter Abwägung der individuellen Verantwortlichkeit und der tatsächlichen Gesamthaltung [...] Äußere Merkmale wie die Zugehö- rigkeit zur NSDAP, einer ihrer Gliederungen oder einer sonstigen NS- Organisation sind nach diesem Gesetz für sich allein nicht entschei- dend für den Grad der Verantwortlichkeit. Sie können zwar wichtige Beweise für die Gesamthaltung sein, können aber durch Gegenbe- weise ganz oder teilweise entkräftet werden.“843 Grundlage für die Überprüfung bildete nach Artikel 3 Befreiungsgesetz die Erfassung der in der amerikanischen Zone lebenden Bevölkerung mittels ei- nes Meldebogens, den jeder Deutsche über 18 Jahren auszufüllen hatte.844 Auf Grund dieser Formalangaben der vom Gesetz betrof- fenen Personen erfolgte eine vorläufige Einordnung in ein fünfglied- riges Schema. Dieses sah folgende Gruppen vor: I. Hauptschuldige, II. Belastete (NS-Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), III. Minder- belastete, IV. Mitläufer und V. Entlastete.845 Während zu den Hauptschuldigen u.a. leitende Mitarbeiter und Führungskräfte des Reichssicherheitshauptamtes, der SS und alle Angehörigen der Gestapo sowie Amtsträger der Partei und der NS-Organisationen bis zur Kreisebene gehörten, zählten zu den Belasteten generell alle unteren Ränge der NS-Organisationen und schließlich alle NSDAP- Mitglieder, die vor dem 1. Mai 1937 in die Partei eingetreten waren. Alle, die gemäß ihren eigenen Angaben als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft wurden, mussten vor Beginn des eigentlichen Spruchkammerverfahrens ihren Arbeitsplatz räumen – lediglich eine Beschäftigung in gewöhnlicher Arbeit war erlaubt – und ihr Vermögen wurde gesperrt und unter treuhänderische Verwaltung gestellt.846 Erfolgte beim Abschluss des Spruchkammerverfahrens die Einordnung in eine der Gruppen I bis IV, so zog dies Sühne-

843 Artikel 2 des Gesetzes Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Mi- litarismus vom 5. März 1946 (Auszug), zitiert nach ebd., S. 263. 844 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 85. Um das Ausfüllen der Meldebögen zu gewährleisten, wurden Lebensmit- telkarten nur noch gegen Quittung über Abgabe der Fragebögen ausgegeben und eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an das Einreichen des Meldebogens geknüpft. 845 Vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 18. Neben der Gruppe V (Entlastete) entstand bei Durchführung des Befreiungsgesetzes die Gruppe der „Nichtbetroffenen“, welche ohne Einleitung eines Verfahrens als unbelastet galten. 846 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 85.

269 maßnahmen nach sich, die per Gesetz vordefiniert waren. Haupt- schuldigen und Belasteten drohten u.a. Arbeitslageraufenthalt, der komplette oder teilweise Einzug des Vermögens, Aufenthaltsre- striktionen, polizeiliche Meldepflicht, der Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts oder die Aberkennung von Konzessionen, Be- rechtigungen und Approbationen.847 Die Entscheidung über die Einstufung der Betroffenen in die ein- zelnen Gruppen und über die Höhe der Strafe wurde von den Spruchkammern getroffen. Es handelte sich hierbei um Laienge- richte, die sich aus Vorsitzenden, Beisitzern und öffentlichen Klä- gern zusammensetzten. In Hessen wurden insgesamt 110 Spruch- kammern und 8 Berufungskammern eingerichtet. Sie waren das maßgebende Element des Entnazifizierungssystems auf Basis des Befreiungsgesetzes. Gemessen an ihrer Aufgabe gestaltete sich die Personalrekrutierung zur adäquaten Besetzung der Spruchkam- mern äußerst problematisch. Die Personen, die sich für diese Ar- beit zur Verfügung stellten, kamen aus den verschiedensten Be- rufszweigen und mussten einen einwandfreien politischen Lebens- lauf vorweisen können.848 „Nur“ ein überzeugter Antifaschist zu sein reichte nicht aus, um in diese Gremien berufen zu werden. Das hessische Befreiungsministerium bediente sich in dieser Per- sonalfrage vor allem der Unterstützung der politischen Parteien. Dem Urteil der Spruchkammer ging eine Verhandlung mit festge- legten Verfahrensregeln zur Erforschung der Wahrheit, Verneh- mungen auch unter Eid und dem Anspruch des Betroffenen (Ange- klagten) auf Rechtsbeistand voraus. Die Beweislast, d. h. die Wi- derlegung der Schuldvermutung, lag bei diesen Verfahren entgegen dem traditionellen Strafrecht bei den Betroffenen. Allerdings erwies sich dieser Sachverhalt in der Praxis kaum zum Nachteil der Be- troffenen, da der politische Säuberungswille bald in der Masse der Bagatellfälle unterging.849 In Hessen waren bis Ende Oktober 1949 von insgesamt 3.222.922 Meldebogenpflichtigen lediglich 934.938 vom Befreiungsgesetz betroffen und nur 416 wurden in die Gruppe

847 Vgl. ebd., S. 86. 848 Trotz einiger Versuche des Befreiungsministeriums, die Spruchkammern aus- schließlich mit Juristen zu besetzen, war dieser Vorschlag weder in der öffentli- chen Meinung konsensfähig noch als Ausdruck der politischen Säuberung er- wünscht, vgl. ebd., S. 342. Allerdings musste den Berufungskammern ein zum Richteramt befähigter Richter vorsitzen, vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazi- fizierung [wie Anm. 70], S. 18. 849 Vgl. ebd., S. 20.

270 der Hauptschuldigen eingestuft.850 133.722 Betroffene hingegen wurden als Mitläufer eingeordnet und bei 663.273 Personen wurde das Verfahren eingestellt bzw. eine Amnestie erteilt. Die Zahlen belegen die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die sich im Laufe der Entnazifizierung in Hessen ergab. Es erfolgte eine gleichmäßige Herabstufung derart, dass alle als Mitläufer Verdäch- tigen leer ausgingen und die den Gruppen I und II Zugeordneten entweder als Mitläufer erklärt oder amnestiert wurden. Die bloße Formalbelastung spielte kaum eine Rolle.851 Niethammer prägte in diesem Zusammenhang für die Entnazifizierungspolitik den Begriff der „Mitläuferfabrik“. „Jenseits aller bloßer formaler Organisations- merkmale kamen die Kammern in Ansehung des persönlichen Ver- haltens der Betroffenen zu dem Schluß, daß über 95 % der Funktio- näre und qualifizierten Mitglieder der NS-Organisationen nicht die nationalsozialistische Gewaltherrschaft aktiv unterstützt hätten und nicht verantwortlich seien. In der Sprache der Generalklauseln des Artikel 2 BefrG sahen sie in gerechter Abwägung der individuellen Verantwortung und der tatsächlichen Gesamthaltung äußere Orga- nisationsmerkmale nicht nur als für sich allein nicht entscheidend für den Grad der Verantwortlichkeit, sondern überhaupt als irrele- vant an. Sie haben vielmehr die Amnestien und Verfahrenserleichte- rungen voll ausgeschöpft und fast alle verbliebenen Fälle letztendlich als Mitläufer abgetan.“852 Ein belastendes Problem der Entnazifizierung ergab sich aus der Masse der zu überprüfenden Meldebogen. Die Auswertung dieser Bogen blockierte über Monate den Spruchkammerapparat. Dieser arbeitete zwar hinsichtlich der Benachrichtigung der vom Befrei- ungsgesetz Nicht-Betroffenen mit Nachdruck, jedoch war die Be- wältigung der eigentlichen Entnazifizierung zunächst von bürokra- tischem Leerlauf bestimmt.853 Durch die Arbeitslast der Kammern

850 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 368. Die Zahl der vom Befreiungsgesetz Betroffenen gliedert sich wie folgt. Aktivisten 5.350, Minderbelastete 28.208, Mitläufer 133.722, Entlastete 5.279, Amnestien/eingestellt aus sonstigen Gründen 663.273, Sühnebescheide 117680, noch nicht entschiedene Spruchkammerverfahren 3.157, noch nicht entschiedene Berufungskammerverfahren 2.749. 851 Vgl. Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik [wie Anm. 69], S. 617. 852 Ebd., S. 620. 853 Entlastung brachte die Jugendamnestie vom August 1946, die ab Jahrgang 1919 griff, und die Mitte 1947 in Kraft tretende Weihnachtsamnestie, die bis 1949 zur Einstellung von 2,8 Millionen Verfahren führten, vgl. Vollnhals, Cle- mens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 21.

271 war es nur in Ausnahmefällen möglich, etwas wie die Würdigung der Gesamtpersönlichkeit vorzunehmen.854 Zudem konnten Be- troffene eine erneute Verhandlung erzwingen, wenn sie sich falsch beurteilt fühlten. Diese Regelung bedeutete einen Vorteil für Be- troffene im Sinne einer günstigeren Entscheidung, da die Spruch- kammern die Verfahren nicht anders in absehbarer Zeit abzuwik- keln vermochten.855 Benz bemerkt in diesem Kontext: „Einwände gegen das Spruchkammersystem gab es zuhauf. Beklagenswert war der schleppende Gang der Verhandlungen, der die Aktivisten und tatsächlichen Nazis begünstigte, weil deren Fälle zuletzt behandelt wurden. Als streng gerichtet wurde, waren nämlich die Harmloseren an der Reihe. Der Elan, die Reste des Nationalsozialismus auszu- kehren, die politische Säuberung zu vollziehen, war spätestens ab Frühjahr 1948 dahin, als die schlimmen Nazis zur Entnazifizierung kamen. Die Besatzungsmacht lockerte die Kontrollen, und um die Sache abzuschließen, wurden sogar Schnellverfahren eingerichtet, und im Zeichen des Kalten Krieges hatte sich der Straf- und Diskri- minierungsgedanke verflüchtigt. Ein anderer Vorwurf war quasi sys- temimmanent, er richtete sich gegen das grassierende Denunzian- tentum und gegen Korruption, Scheinheiligkeit und Persilschein- hamsterei. Schließlich war die Spruchkammer als Instanz zur Ge- sinnungsprüfung vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus gesehen ein zweifelhaftes Instrument.“856 Im Zeichen des sich verhärtenden Ost-West-Konflikts und des da- raus resultierenden Interesses der USA an einer ideologischen Westintegration der Länder der westlichen Besatzungszone, drängte die amerikanische Militärregierung auf Anweisung Wa- shingtons mit Beginn des Jahres 1948 auf einen baldigen Ab- schluss der Entnazifizierung.857 Es wurde befürchtet, das Befrei- ungsgesetz sei zu schematisch angelegt und gefährde dadurch den Wiederaufbau. Vorausgegangen war bereits im Oktober 1947 das von deutscher Seite forcierte erste Änderungsgesetz zum Befrei- ungsgesetz, um die Verfahren zu beschleunigen. Hierdurch wurde u.a. ein Großteil kleinerer Amtsträger durch einen finanziellen

854 Vgl. Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik [wie Anm. 69], S. 658. 855 Vgl. ebd. 856 Benz, Wolfgang: Potsdam 1945 [wie Anm. 814], S. 181 u. 182. 857 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 162 ff. Ein weiterer einfließender Faktor war die Tatsache, dass in der sowje- tischen Besatzungszone die Entnazifizierung Ende Februar für beendet erklärt wurde.

272 Sühnebescheid vom Beschäftigungsverbot befreit und für mut- maßliche NS-Aktivisten die Einstufung als Mitläufer ermöglicht.858 Während das erste Änderungsgesetz noch wenig Auswirkung auf eine beschleunigte Entnazifizierungspraxis zeigte, hatte das zweite Änderungsgesetz vom 25. März 1948 eine weitaus weitreichendere Bedeutung. Verantwortlich für eine Neuausrichtung der Entnazifi- zierungspolitik waren diesmal die Amerikaner. Dieses Gesetz, das auf Widerstand der beteiligten deutschen Stellen stieß, erlaubte mit geringen Ausnahmen die Einstufung aller Belasteten (Gruppe II) im Schnellverfahren zu Mitläufern und beschränkte das Beschäfti- gungsverbot auf verurteilte Hauptschuldige.859 „Damit blieb das Befreiungsgesetz formell in Kraft, wirkte sich aber wie eine Amnestie für Schwerbelastete aus, zumal die Militärregierung die Überwa- chung der Spruchkammerbescheide gänzlich einstellte.“860 Entsprechend des Kurswechsels in der Entnazifizierungspolitik begann man in Hessen am 1. Juli 1948 offiziell mit dem Abbau der Spruchkammern. Schließlich wurde mit dem Ende der allgemeinen Spruchkammertätigkeit im Herbst 1948 eine klare Zäsur vollzogen, obwohl die Entnazifizierung in Hessen noch längst nicht abge- schlossen war.861 Von ehemals 110 Spruchkammern blieben ledig- lich acht Nachfolgekammern bestehen, ab Dezember 1949 verblie- ben zwei sog. Zentralspruch- und Berufungskammern mit Sitz in Frankfurt und Kassel, welche die noch offenen Verfahren in zwei- stelliger Höhe zu bewältigen suchten.862 Einhergehend mit dem Abbau der Spruchkammern verlief die formale Beendigung der Entnazifizierung, die in mehreren Etappen erfolgte. Mit insgesamt drei Gesetzen zum Abschluss der Entnazifizierung in Hessen – das letzte wurde im Oktober 1954 erlassen – wurde das Ziel einer gesi- cherten Abwicklung der Entnazifizierung verfolgt. Sie sollten ge- währleisten, dass die Entnazifizierung nicht völlig ausgeblendet werden würde.863

858 Vgl. ebd., S. 158 ff. 859 Vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 23. 860 Ebd. 861 Vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 343 u. 344. Die Statistik zum 31. Oktober 1948 wies insgesamt 7.493 Ver- fahren der ersten Instanz und 6.678 Berufungsverfahren als unerledigt aus. 862 Zum 1. April 1950 wurde die Zentralspruchkammer Nord geschlossen, ihre Zuständigkeit ging auf die Frankfurter Zentralspruchkammer über, vgl. ebd., S. 370. 863 Mit dem ersten Gesetz zum Abschluss der Entnazifizierung in Hessen vom Sommer 1949 wurden die Verfahren auf Hauptschuldige und Belastete be-

273 Im Ergebnis erwies sich die auf das Befreiungsgesetz gestützte Entnazifizierung als großzügige Rehabilitierungsmaschinerie. Die Urteile der Spruchkammern fielen in den meisten Fällen äußerst milde aus, häufig wurde den Betroffenen das Recht des vielfach beschworenen politischen Irrtums eingeräumt.864 Mit zunehmen- dem zeitlichen Abstand verstärkte sich die Tendenz, Hauptbelas- tete und Aktivisten in der Einordnung der Gruppen herunterzu- stufen. Mit Richtungsänderung im Jahre 1948, der die Planungen zu einem baldigen Ende der Entnazifizierung vorantrieb, wurde diese schließlich endgültig diskreditiert.

Zum Spruchkammerverfahren Gerhard Fieselers Nach seiner Entlassung aus der Internierung im Mai 1946 began- nen bald die Untersuchungen der Spruchkammer für sein Entna- zifizierungsverfahren. Am 4. Juni 1946 füllte Gerhard Fieseler auf- grund des „Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ den amtlichen Meldebogen aus. Infolge seiner Anga- ben erfolgte am 5. März 1947 zunächst die formelle Einstufung Fieselers in Gruppe I der Hauptschuldigen.865 Anfang Februar 1948 erhob der Minister für politische Befreiung als öffentlicher Kläger offiziell Anklage gegen Gerhard Fieseler, die mündlichen Verhand- lungen begannen allerdings erst im Juni.866 Damit wurde das Spruchkammerverfahren Fieselers zu einem Zeitpunkt eröffnet, als die Planungen bezüglich eines gesicherten Abschlusses der Entna- zifizierung in Hessen bereits vorangetrieben wurden und ein Ende der Verfahren absehbar war. Diejenige Entnazifizierungsarbeit, die bis dato noch nicht erledigt worden war, sollte in wenigen Wochen zum Ende gebracht werden. In diesem Kontext erwies sich insbe- sondere das zweite Änderungsgesetz zum Befreiungsgesetz vom

schränkt. Im Oktober 1951 folgte das zweite und im Oktober 1954 das dritte Abschlussgesetz, welche die Sühnemaßnahmen weiter einschränkten. In den Folgejahren bestand die Gnadenvollmacht des Ministerpräsidenten als weiteres Regulierungsinstrument, die Sühnemaßnahmen aufzuheben oder abzumildern, vgl. ebd., S. 364, 365 u. 414. 864 Vgl. Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung [wie Anm. 70], S. 22. 865 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 1, Bl. 2 u. 4. 866 Als Befreiungsminister in Hessen war zu diesem Zeitpunkt Gottlob Binder eingesetzt, als Oberster Kläger fungierte seit der Jahreswende 1947/48 Hans- Joachim Oppenheimer, vgl. Schuster, Armin: Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954 [wie Anm. 18], S. 195 u. 203.

274 März 1948 als Schlupfloch für viele Hauptschuldige, um den Be- stimmungen der Entnazifizierung zu entgehen. Bis zur Eröffnung seines Verfahrens hatte Gerhard Fieseler die Zeit intensiv genutzt, um sich auf seine Verhandlung vor der Spruch- kammer vorzubereiten. Im Wiesbadener Hauptstaatsarchiv sind über 120 eidesstattliche Erklärungen, sog. „Persilscheine“, archi- viert, die Gerhard Fieseler zu seiner Entlastung zusammengetragen hatte.867 Fieseler bemerkt in seinen Memoiren hierzu: „Ich hatte unzählige Stunden aufgewandt, um mit über 100 eidesstattlichen Erklärungen seriöser Zeugen zu beweisen, daß ich ein anständiger Mensch sei, der nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen oder an- dere geschädigt habe.“868 Ein einwandfreies politisches Verhalten wurde ihm u.a. von seiner ehemaligen Frau Leny Fieseler beschei- nigt, die ihn bis zur „Machtergreifung“ als „ausgesprochenen Pazifi- sten“ bezeichnete, der sich trotz seines Eintritts in die NSDAP nie um Parteiangelegenheiten gekümmert habe.869 Weitere Nachweise einer antinationalsozialistischen Einstellung testierten ihm einige Bekannte, auch Aussagen ehemaliger niederländischer Zwangsar- beiter befanden sich darunter.870 Über das Verhältnis zwischen diesen Personen und Fieseler, inwiefern es sich um Freunde oder lediglich weitläufige Bekannte handelte, kann keine Aussage ge- troffen werden. Die meisten eidesstattlichen Erklärungen erhielt Fieseler indes von ehemaligen Angestellten und Arbeitern der Fieseler-Werke. Fie- selers Behauptung, es handele sich gemeinhin um glaubhafte Er- klärungen vertrauenswürdiger Personen, kann durchaus in Zweifel gezogen werden. So zählen zu diesen Aussagen auch jene ehemali- ger DAF-Betriebsfunktionäre. Zu nennen sind in diesem Zusam- menhang Valentin Ibler, der ab August 1944 kommissarischer Be- triebsobmann war, Fritz Kersting, ein ehemaliges führendes Werk- scharmitglied und Betreuer der Sozialabteilung sowie Hans Keßler, der lange Jahre Betriebsobmann in den Fieseler-Werken war.871

867 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3. 868 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 294. 869 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 17. 870 Vgl. ebd., Bl. 12 (Erklärung Carl Eberhard, Bankdirektor Mitteldeutsche Cre- ditbank), Bl. 37 (Erklärung Prof. Robert Heger, Musiker), Bl. 61 (Richard Kotz, Operndirektor), Bl. 91 (Dirk Molenaar, ehemaliger niederländischer Zwangsar- beiter), Bl. 122 (Prof. Dr. Ulbrich, Generalintendant) u. Bl. 125 (A. Zylstra, ehemaliger niederländischer Zwangsarbeiter). 871 Ebd., Bl. 42, 50 ff. u. 62 ff.

275 Als weiteres Beispiel fragwürdiger Bestätigungen für Fieselers an- gebliche antinationalsozialistische Haltung sei neben der eides- stattlichen Erklärung des ehemaligen Betriebsdirektors Freyer, der noch einige Jahre zuvor eine Grundsatzrede über den lohnenden Einsatz der Zwangsarbeiter in der deutschen Industrie gehalten hatte, die Aussage des früheren kaufmännischen Direktors und Geschäftsführers Tobias Goebel genannt. Dieser gab in einem Schreiben vom 28. Februar 1947 an, dass Gerhard Fieseler trotz mehrmaliger Aufforderungen des Gauleiters Weinrich in den Jah- ren 1936 und 1937, ihn wegen antinazistischer Haltung zu entlas- sen, dieser Anweisung nicht nachgekommen sei. Wörtlich schreibt Goebel: „[...] daß ich in meiner Position nicht weiter belassen werden könnte, weil ich antinazistisch eingestellt sei und weil ich außerdem Hoheitsträger der Partei, die mit mir wegen Arbeiterfragen hätten verhandeln wollen, längere Zeit hätte warten lassen. [...] Etwa ein Jahr später ist der Gauleiter mit dem gleichen Wunsch wiederum an Herrn Fieseler herangetreten, und Herr Fieseler hat energisch abge- lehnt und ihm erklärt, daß er sich vor die Leute, die im Werk arbei- ten, stelle, wenn sie im Werk ihre Pflicht tun. Wenn der Gauleiter der Meinung wäre, daß hier Änderungen in der Leitung des Werkes vor- genommen werden müßten, dann müßte er ihn, Fieseler, vorher be- seitigen.“872 In seinen Memoiren bestätigt Fieseler die antinational- sozialistische Haltung Goebels: „Von Anfang an war er ein radikaler Hitler-Gegner gewesen und nie in die Partei eingetreten. Im Dritten Reich war es für mich eine schwierige Aufgabe gewesen, ihn durch- zulavieren.“873 Dem heutigen Betrachter bietet sich allerdings zu- mindest formal ein anderes Bild von Goebel hinsichtlich seiner politischen Überzeugung im Dritten Reich. So ist der „radikale Hit- ler-Gegner“ einer der wenigen, die sich in der Betriebsordnung mit dem Parteiabzeichen der NSDAP am Revers haben ablichten las- sen.874 Ein Sachverhalt, der Goebel eindeutig als Parteimitglied ausweist. Darüber hinaus wurde dieser im April 1940 zum Wehr- wirtschaftsführer ernannt.875 Der Verleihung dieses Titels ging eine Überprüfung der politischen Haltung voraus. Hätte diese als Er- gebnis eine antinazistische Haltung Goebels ergeben, wäre ihm dieser Ehrentitel mit Sicherheit nicht verliehen worden.

872 Ebd., Bl. 36. 873 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 284. 874 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. III Anlage Betriebsordnung. 875 Vgl. Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1940, S. 2.

276 Inhaltlich wurden in diesen Erklärungen, die die Grundlage für die Plädoyers der Anwälte Fieselers im Spruchkammerverfahren bilde- ten, immer wieder die gleichen Punkte angesprochen: Gerhard Fie- seler habe offen seine Abneigung gegenüber der NSDAP gezeigt, er habe Hitler und Göring als Verbrecher bezeichnet, sich um die Unterbringung und das Essen der Zwangsarbeiter bemüht, und er habe weder eine Hakenkreuzfahne oder ein Bild einer Parteiper- sönlichkeit bei sich zu Hause aufgehängt noch sei die „Kurhessi- sche Landeszeitung“ abonniert worden. Besonders hervorgehoben wurde stets seine soziale Fürsorge im Werk, die bei dem Zeugen Fritz Kersting in Würdigung des „Betriebsführer Fieseler als Sozia- list“ – so seine Überschrift seiner eidesstattlichen Erklärung – in der pathetisch anmutenden Formel aufging: „Ein Mensch wollte Menschen helfen und hat geholfen“.876 Auffällig an der im Juni beginnenden Spruchkammerverhandlung ist die Haltung Fieselers zu den erhobenen Vorwürfen gegen ihn. Zu keiner Zeit gestand er im geringsten ein, während des Dritten Reiches in seinem Verhalten Fehler begangen zu haben oder ließ er Zweifel an seiner Unschuld aufkommen. Das Gegenteil war der Fall. Er sah sich in seiner Eigenschaft als Flugzeugbauer für die Verwirklichung der Ziele des nationalsozialistischen Regimes miss- braucht und fühlte sich in dem gegen ihn eingeleiteten Spruch- kammerverfahren zu unrecht angeklagt: „Hier steht nur einer, der rechtlos ist, und der bin ich. Ich bin politisch verfolgt, sonst niemand in diesem Raum. Mich darf man hier beleidigen, mir kann man nach- sagen, daß ich Gelder unterschlagen hätte. Das stelle ich hier fest.“877 Das Bestreben Fieselers, den Prozess gegen sich abzuwenden, hielt ihn nicht einmal davon ab, den Vorsitzenden der Spruchkammer, Oberregierungsrat Theodor Hüpeden878, zu denunzieren. Zu Beginn

876 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 51. 877 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 312. 878 Zur Person Hüpeden vgl. Hessische Nachrichten Nr. 74 v. 31.3.1959. Hüpeden wurde am 25.8.1887 geboren und verstarb am 27.3.1959. Nach dem Ende des Krieges bemühte er sich um den Aufbau der Gewerkschaften und der SPD. Des Weiteren wurde er mit der Errichtung der Spruchkammer in Kassel betraut. Er war Abgeordneter des ersten Nachkriegsparlaments und von 1952 bis 1956 Fraktionsvorsitzender der SPD in der Stadtverordnetenversammlung Kassels. Vgl. auch Lengemann, Jochen: Bürgerrepräsentation und Stadtregierung in Kassel 1835-1996. Band 1: Einführung, Übersichten und Index der städtischen Mandats- und Amtsträger, Marburg 1996 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 60, 1), S. 359 u. 467.

277 des fünften Verhandlungstages, am 6. Juli 1948, erhob Fieseler in einem schriftlichen Antrag gegen Hüpeden den Vorwurf, dieser ha- be sich nach seiner Entlassung aus der Landesversicherungsan- stalt im Jahre 1933 dem nationalsozialistischen Regime angebie- dert und sogar ein Gnadengesuch an Hitler geschrieben, um seine Wiedereinstellung zu erwirken. Eine entsprechende Aussage würde ihm in eidesstattlicher Form vorliegen.879 „Es ist mir von glaubwür- diger Seite und dazu in Form eidesstattlicher Versicherung bekannt geworden, daß der Vorsitzer dieser Kammer, der unter Hitler wegen politischer Unzuverlässigkeit mit Pension entlassen wurde, nach seiner Dienstentlassung in vielen Schriftsätzen und Gesuchen ver- sucht hat, seine frühere Stellung als Amtmann bei der Landesversi- cherungsanstalt wieder zu erhalten. [...] In diesen Gesuchen wollte der Herr Vorsitzer dieser Kammer den Nachweis erbringen, daß er kein Gegner des 3. Reiches sei, daß sich vielmehr seine politischen Ansichten mit denen des 3. Reiches weitgehend decken würden.“880 Zur Aushändigung der entsprechenden Erklärungen war Gerhard Fieseler jedoch zunächst nicht bereit. Als Bedingung hierfür knüpfte er eine Stellungnahme Hüpedens über diese Vorwürfe. „Wenn Sie erklären, daß die eidesstattlichen Erklärungen falsch sind, bekommen Sie diese Erklärungen, vorher nicht.“881 Folgt man der Darstellung Fieselers in seiner Biografie, basiert sei- ne Erklärung auf Informationen, die er während der Internierung von einem gewissen Hermann Abele, „einem jungen sympathischen Mann“882, erhalten hatte. Fieseler in seinen Memoiren hierzu: „Mit Abele verstand ich mich schon, als wir das erste Mal auf einen Lkw verladen wurden. [...] Wegen religiöser Zweifel verließ Abele mit 21 Jahren die Klosterschule und setzte von nun an seine Kraft für die Ziele der NSDAP ein. [...] Bereits mit 28 war ihm die Leitung der Kas- seler Landesversicherungsanstalt übertragen worden. Sein Vorgän- ger war ein Amtmann Hüpeden gewesen [...] Nichts lag näher, als mir nun zu erzählen, was Abele durch das Studium der Hüpeden-

879 Vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 318 ff. u. Bl. 332a-d (schrift- liche Erklärung Fieselers u. Gegenerklärung der Spruchkammer). Auch gegen den Beisitzer der Spruchkammer Zahnwetzer erhob Fieseler den Vorwurf der Befangenheit, da dieser gegenüber der Gerard Fieseler-Werke GmbH eine aus- stehende Geldforderung habe und hierdurch ein besonderes Interesse verfolge, Fieseler zu verurteilen. Vgl. auch Fieseler Legende. Ein Reichswirtschaftsführer rehabilitiert sich [wie Anmerkung 17]. 880 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 332b. 881 Ebd., Bl. 318r. 882 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 287.

278 Akte wußte.“883 Hüpeden hingegen vermutete als Urheber dieser Information einen gewissen Herrn Leck. „Herr Fieseler hat die Dinge aufgegriffen, die Herr Leck in einer Versammlung bekanntgegeben hat.“884 Dieser Verdacht wurde von Fieseler allerdings energisch abgestritten.885 Als Hintergrundinformation der niederträchtigen Anschuldigung Fieselers sollte man wissen, dass Hüpeden aufgrund seiner Mitglied- schaft in der SPD und dem Internationalen Sozialistischen Kampf- bund (ISK)886 mit endgültigem Bescheid des Reichsarbeitsministers im Frühjahr 1934 ohne vollen Pensionsanspruch durch die Natio- nalsozialisten aus seinem Amt entfernt worden war. Er emigrierte 1936 in die Niederlande, wurde dort von der Wehrmacht 1940 ver- haftet und wegen Hochverrats zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Noch am gleichen Tag, an dem Fieseler seine Vorwürfe mündlich vor der Spruchkammer vorgetragen hatte, reagierte diese mit einem Schreiben, um den Sachverhalt zu klären. Hinsichtlich der Bezich- tigung der vermeintlichen Anbiederung Hüpedens an das national- sozialistische Regime nahm sie diesen in Schutz und lehnte den

883 Ebd., S. 287 u. 288. 884 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 318r. 885 Vgl. ebd. Fieseler sagte aus: „Ich kenne Herrn Leck nicht und habe ihn auch noch nicht gesehen. Ich würde von Herrn Leck auch keine Unterlagen annehmen, da ist er mir viel zu jung dazu. Ich verbitte mir überhaupt, mich im Zusammenhang mit Herrn Leck zu nennen.“ 886 Der ISK gehörte dem Komplex des „sozialistischen Widerstandes“ an, der neben der SPD und den Freien Gewerkschaften auch andere sozialistische Gruppen umfasste. Der ISK war mit seiner spezifischen Ideologie eine der eigenartigsten linken Zwischengruppen. Seine Entstehungsgeschichte reicht in die Auseinan- dersetzungen innerhalb der deutschen Jugendbewegung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Herausragende Persönlichkeit und Gründer des ISK war der an der Göttinger Universität lehrende Philosophieprofessor Leonhard Nelson. Der Bund verstand sich als eigene Partei (Kaderpartei). Seine politische Arbeit konzentrierte sich insbesondere auf die Gewerkschaften sowie auf die Freidenkerorganisationen, den Arbeiter-Abstinentenbund und andere Kulturor- ganisationen der Arbeiterbewegung. Die Zentrale des ISK lag in Göttingen. Es gab aber zahlreiche Zellen in großen und mittleren Städten in ganz Deutsch- land. Am Ende der Weimarer Republik zählte der ISK 32 ordentliche Ortsverei- ne mit mehreren hundert aktiven Mitgliedern, vgl. hierzu Mehringer, Hartmut: Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), in: Benz, Wolfgang u. Pehle, Walter H.: Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt am Main 21994, S. 232 u. 233. Vgl. hierzu auch Kammler, Jörg: Zur historischen Ausgangslage des Arbeiterwiderstandes: Die Kasseler Arbeiterbewegung vor 1933, in: Frenz, W., Kammler, J. und Krause-Vilmar, Dietfrid (Hrsg.): Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945. Band 2 [wie Anm. 66], S. 291-324, hier S. 316- 318.

279 Antrag Fieselers ab, ihn wegen Befangenheit als Vorsitzenden im laufenden Verfahren zu entlassen. In der schriftlichen Mitteilung der Spruchkammer heißt es: „Nach der Dienstentlassung sind von dem Vorsitzenden keinerlei Schriftsätze an das Reichsarbeitsministe- rium oder ihm nachgeordnete Behörden gerichtet worden, in welchen versucht wurde, die verlorene Stellung wieder zu erhalten. Ein Gna- dengesuch an Adolf Hitler ist zu keiner Zeit von dem Vorsitzenden geschrieben worden. Der Vorsitzende hat sich bis zur Entscheidung über seine Entlassung mit dem durch einen Kasseler Anwalt geleiste- ten Beistand gegen die Behauptung gewehrt, er sei Kommunist, Par- teibuchbeamter, Marxist und andere Behauptungen, die aufgestellt worden waren, um seine Rechtlosmachung zu erreichen und ihm die nach altem Beamtenrecht wohl erworbenen Rechte zu rauben. [...] Die Kammer beschloß unter dem Vorsitz des als Beisitzer fungierenden 2. Vorsitzenden Dr. Hatzfeld und in Abwesenheit des Vorsitzenden der Hauptkammer ORR Hüpeden, dem Antrag des Betroffenen, den Vor- sitzenden als befangen abzulehnen, nicht stattzugeben.“887 Obwohl sich Fieselers Absicht, Hüpeden durch Denunziation zum Rücktritt zu bewegen, somit zunächst nicht erfüllte, bewirkte er zumindest durch seine Vorgehensweise, dass sein Verfahren nach diesem Verhandlungstag über einen längeren Zeitraum ausgesetzt wurde. Erst im Januar 1949 kam es erneut zu Verhandlungen vor der Spruchkammer. Zwischenzeitlich wandte sich Hüpeden per- sönlich an den Präsidenten der Spruch- und Berufungskammer Kassel. In einem Schreiben vom 27. Dezember 1948 erklärte er: „Der Betroffene hat zu Beginn der Sitzung am 6.7. d. J. eine Erklä- rung abgegeben, in welcher er mit unwahren Behauptungen meine Eignung als Verhandlungsführer in seinem Verfahren in Zweifel zog. Er behauptete, ich hätte in den Jahren nach 1933 Anbiederungsver- suche bei der NSDAP gemacht. Diese Behauptung war auf die glei- che eidesstattliche Erklärung gestützt, die der damalige Vorsitzende des Deutschen Blocks888 am 28.6. d. J. in einer öffentlichen Ver-

887 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 332d (Erklärung der Spruch- kammer). 888 Bei dem „Deutschen Block“ (DB) handelt es sich um eine rechtsextremistische, ideologisch nie einheitliche, im wesentlichen jedoch völkische Partei. Die zentral prägende Person des DB war der „Reichsvorsitzende“ Karl Meißner. Die Partei entstand im Jahre 1947 als Abspaltung der Fraktion der „Wirtschaftlichen Auf- bau-Vereinigung“ im bayerischen Landtag und war dort bis 1950 mit Abgeord- neten vertreten. Darüber hinaus versuchte der DB seine Aktivitäten zunächst auf die anderen Länder der US-Zone und später auch auf die übrigen westli- chen Besatzungszonen auszudehnen. Für den Stadt- und Landkreis Kassel ge-

280 sammlung zu seinen gegen mich gerichteten persönlichen Angriffen benutzte. Gegen diesen Vorsitzenden des Deutschen Blocks habe ich Beleidigungsanklage angestrengt. Das Verfahren ist noch nicht be- endet. Der Betroffene Fieseler ist auf meine Veranlassung in diesem Verfahren als Zeuge aufgetreten und hat sich erlaubt, bei seiner Zeugenaussage abermals sehr scharfe persönliche Angriffe gegen mich zu richten [!, d.V.], in welchen er auch zum Ausdruck brachte, daß ich gegen ihn und andere Rüstungsdirektoren im Spruchkam- merverfahren mit subjektiver Schärfe vorgegangen sei. Ich möchte jetzt nicht durch Beibehaltung des Vorsitzes in seinem Verfahren dem Betroffenen Fieseler die Handhabe zu der Behauptung geben, ich wollte ihn in diesem Verfahren die gemachten Äußerungen ent- gelten lassen. Ich empfehle Ihnen daher die Bestellung eines ande- ren Vorsitzenden und schlage Herrn Hatzfeld vor [...]“889 Damit hatte Gerhard Fieseler doch noch sein Ziel erreicht. Aufgrund dieser An- schuldigungen trat Hüpeden als Vorsitzender der Spruchkammer zurück, um den Vorwurf der Befangenheit zu vermeiden.890 Am 24. Januar 1949 übernahm Karl Hatzfeld den Vorsitz. Nicht ohne stolz bemerkt Fieseler in seinen Memoiren: „Hüpeden trat nicht mehr in Erscheinung. Seine Verhandlung gegen mich war die letzte.“891 Gegen das Urteil der Spruchkammer vom 28. Januar 1949, das Gerhard Fieseler von den erhobenen Anschuldigungen freisprach und ihn in die Gruppe der Entlasteten einstufte, legte der Öffentli-

lang es dem DB nur vorübergehend, für den Zeitraum vom 1. März bis zum 1. Oktober, eine Berechtigungslizenz zu erhalten. Bei den Gemeindewahlen in Kassel vom 25. April 1948 erhielt der DB 5.957 Stimmen und stellte nach die- sem Ergebnis fünf Stadträte. Ihre Mitglieder rekrutierte die Partei vor allem aus ehemaligen NS-Anhängern, insbesondere aus vormaligen HJ-Mitgliedern und -Funktionären. Viele ihrer Mitglieder waren kleine und mittelständische Unter- nehmer. In der Anfangsphase lag ein Schwerpunkt der Arbeit des DB in der Rehabilitierung ehemaliger NS-Aktivisten, insbesondere durch Bekämpfung der Entnazifizierungspolitik. Vgl. hierzu Schmollinger, Hans W.: Der Deutsche Block, in: Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundes- republik Deutschland 1945-1980. Sonderausgabe Band 2: CSU bis DSU, Opla- den 1983 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 38), S. 807-847. 889 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 4 u. 4r. 890 In einem Schreiben vom 20.12.1948 hatte sich Hüpeden zwar noch den weite- ren Vorsitz in der Verhandlung vorbehalten, allerdings übernahm der bisherige stellvertretende Vorsitzende Dr. Karl Hatzfeld ab dem 24. Januar 1949 den Vorsitz der Spruchkammer, vgl. HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 34 (Schreiben der Spruchkammer) u. Bl. 57 (Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 24. Januar 1949). 891 Vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 296.

281 che Kläger zwar Berufung ein, jedoch wurde das Verfahren mit Bescheid vom 9. Januar 1950 eingestellt.892 Der Kläger hatte die Einordnung Fieselers in die Gruppe der Minderbelasteten gefordert. Damit fiel er unter das neu erlassene Gesetz vom 30. November 1949, nach dem die Verfahren zur politischen Befreiung nicht mehr fortgeführt wurden, sofern nicht eine Einreihung in die Gruppe I (Hauptschuldige) oder II (Belastete) beantragt war. In dem Schreiben des Öffentlichen Klägers heißt es: „Es wird Ihnen auf Antrag bescheinigt, daß das gegen Sie eingeleitete Spruchkammer- verfahren gemäß Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus v. 5.3.46 auf Grund der Vorschriften des §5 des Geset- zes zum Abschluß der politischen Befreiung in Hessen vom 30.11.49 (GVBL. Nr. 43 v. 2.12.49) nicht mehr fortgeführt wird.“893 Dass sowohl dieses Urteil, das nicht zuletzt auf das infame Ver- halten Gerhard Fieselers zurückzuführen war, als auch andere Fälle der Entnazifizierung durchaus nicht dem Rechtsempfinden des Spruchkammerpersonals entsprach, zeigt eine bemerkenswerte Niederschrift des späteren Präsidenten des Landgerichts Kassel und Vizepräsidenten des hessischen Staatsgerichthofes, Erich Le- winskis894, vom 3. Dezember 1948. In diesem Schreiben beklagt er

892 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 76-77 (Schreiben des Öffentlichen Klägers an die Berufungskammer). 893 Ebd. (ohne Angabe einer Seitennummer) Mitteilung des Ersten Öffentlichen Klägers bei der Zentralberufungskammer Hessen-Nord an Gerhard Fieseler vom 9.1.1950. Diesem Bescheid ging ein Antrag des Anwalts von Gerhard Fieseler voraus, vgl. ebd. (ohne Angabe einer Seitennummer) Schreiben des Rechtsan- walts Karl Vogt vom 9.1.1950 an die Zentralspruchkammer Nord. 894 Dr. Erich Lewinski wurde 1899 im ostpreußischen Goldap geboren und kam nach Studium der Staats- und Rechtswissenschaften als promovierter Jurist 1922 nach Kassel. Hier zählte zu seinen Freunden u.a. Theodor Hüpeden, der ihn mit dem ISK um Leonhard Nelson bekannt machte. Als erfolgreicher Anwalt war Erich Lewinski entschiedener Gegner des Nationalsozialismus; insbesonde- re Roland Freisler, ebenfalls Anwalt und damals noch Abgeordneter der NSDAP in Kassel, wurde zum Intimfeind. 1933 emigrierte die Familie zunächst in die Schweiz, später nach Paris. Im Jahre 1940 wurden alle deutschen Emigranten interniert, was die Trennung von Erich Lewinski von seiner Frau zur Folge hatte. Nach Flucht aus den Lagern kamen beide in Montauban, dem Auffangla- ger für Flüchtlinge aus ganz Europa, wieder zusammen. Von dort gingen sie schließlich nach New York. 1947 kehrte das Ehepaar nach Kassel zurück. Erich Lewinski hatte entscheidenden Anteil am Aufbau der hessischen Justiz. Darüber hinaus engagierten sich er und seine Frau für das Staatstheater, ge- hörten zu den Wiederbegründern des Kasseler Kunstvereins und der Volksbüh- ne und zählen neben Arnold Bode zu den Mitinitiatoren der documenta. Lewin- ski starb am 16.2.1956. Die Angaben folgen Adamski, Peter: Biographische Skizze Erich Lewinskis, in: Initiative ´Erich Lewinski erinnern` und Ge-

282 die oftmals unüberwindlichen Schwierigkeiten der Spruchkam- merarbeit und die damit häufig verbundene Machtlosigkeit, sogar in Fällen offensichtlicher Anhängerschaft und Begünstigung des Nationalsozialismus, die objektive Wahrheit aufgrund von Gegen- darstellungen, die durch zahlreiche, angeblich glaubhafte, eides- stattliche Erklärungen gestützt werden, zu ergründen und somit eine Schuld nachzuweisen. Im Folgenden sollen einige Auszüge aus Lewinskis Aufzeichnungen, in denen auch der Fall Fieseler zur Sprache kommt, wiedergegeben werden: „In welcher verzweiflungs- voll tragischen Situation wir heute schon wieder in Deutschland le- ben, ist mir nie so klar geworden, seit meiner Rückkehr nach Deutschland vor 20 Monaten, wie heute. Ich will versuchen, es nie- derzuschreiben – vielleicht hilft das, mir mein etwas gestörtes Gleichgewicht wieder auszubalancieren. [...] Wir sind erst 3 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nazismus, wir sind nach Deutsch- land zurückgekehrt in der Hoffnung, daran mithelfen zu können, daß sich diese Dinge nicht wiederholen können, die so unaussprechliches Elend über die Welt gebracht haben und die heute noch den weitaus größten Teil der Menschheit mit Abscheu erfüllen, wenn man von den Deutschen spricht. Mitunter glauben wir, daß wir im kleinen Rahmen ein bißchen Saat aussähen können, daß hier und da ein kleines Pflänzchen keimt. [...] Ich glaube an einige Menschen und ich glaube an die Möglichkeiten in den Menschen zum Guten. [...] Aber dann kommen doch gelegentlich solche Seiten, wie ich sie dieser Tage er- lebe, wo alles, was man tut, so völlig sinnlos und fast völlig hoff- nungslos erscheint. In dem Prozeß [...] ist, wie ich schon sagte, die Atmosphäre herunterziehend und deprimierend, diese Atmosphäre des Sichwiederaufreckens der alten Nazis, das weit über das Maß des Verteidigens hinausgehende Sichidentifizieren der Verteidigung mit den – ich will nicht sagen Ideen der Nazi-Angeklagten, aber de- ren Versuch, alles, was damals geschah als verhältnismäßig harm- los hinzustellen, ja belanglos. Gewiß werden mitunter die großen Worte laut, wie sehr man die furchtbaren Greuel von damals verur- teile, wie schrecklich das alles gewesen sei, was anderswo geschah. Nur wenige haben den Mut und die Verantwortung, ihren Mandan- ten eindeutig zu sagen, was für eine Schande die Feigheit sei, mit der sie um ihre Taten herumgingen, sie abstritten. Und noch weniger

schichtswerkstatt am Friedrichsgymnasium: Steine können reden. Erinne- rungszeichen für Herta und Erich Lewinski, Kassel 1997, S. 7 u. 8.

283 Anwälte haben die Courage, dann auf so ein Mandat zu verzichten. Und was da so sehr bedrückend ist: wenn man mit einem von ihnen das mal ganz klar besprechen würde, so würde man ungefähr das- selbe hören, womit so viele Leute ihre Zugehörigkeit zu der NSDAP entschuldigen: die Familie, die Rücksicht auf das tägliche Brot. Die das gestehen würden, wären dann noch die besseren. [...] Eine der Ursachen für dieses Verhalten [gemeint ist die Denunzie- rung von Belastungszeugen, d.V.] liegt sicher in der unglücklichen Art, mit der die Denazifizierungsverfahren von oft sehr inkompeten- ten Vorsitzenden durchgeführt wurden, diese Verfahren, in denen die Verteidiger geradezu darauf gestoßen wurden, solche Methoden sich anzugewöhnen und so – freiwillig oder unfreiwillig – statt der Denazifikation, der Renazifikation zu dienen. Dazu kommt, daß selbst bei den besten unter den Richtern und Staatsanwälten eine Art falscher Objektivität angewandt wird [...]. Ich frage mich – und diese Betroffenen – oft, wie sie sich verhalten würden, wenn etwa die Kommunisten die Greuel begangen hätten, heute auf der Ankla- gebank säßen und von ehemaligen Angehörigen der „besseren“ Kreise statt von linken Arbeitern belastet würden. Die Antwort ist klar – zum Verzweifeln klar. Steuern wir schon wieder mit der Justiz in der Richtung, in der sie ab 1920 ging? Es scheint so. Die Lage ist hier in meinem Wirkungs- kreis offenbar noch besser als in vielen anderen Gegenden in Deutschland. Solche Dinge werden mir nun in einem Augenblick wieder deutlich, in dem ich schon niedergezogen bin durch andere Vorkommnisse: durch das freche und unverschämte Auftreten des Flugzeugindustri- ellen Fieseler gegen Zuckmayer und seinen „Teufels General“. Dieser Bombenbauer kämpft mittels jeden Mittels, einschließl. der wenn- gleich juristisch nicht faßbaren Bestechung eines jungen Spruch- kammerangestellten, der den Vorsitzenden fälschlicherweise bei dem rechten „Deutschen Block“ und Revolverjournalisten denunzie- ren muß, um seine Entlastung im Spruchkammerverfahren, da er ja immer „dagegen“ war, was ihn nicht hinderte, an Bombern bis zum Schluß Millionen zu verdienen. Aber er darf sich heute schon wieder in der Öffentlichkeit hinstellen und Zuckmayer in verleumderischer Weise bezichtigen, um ´Geld´ zu machen ein Konjunkturstück ge-

284 schrieben zu haben, das angeblich den deutschen Namen in der Welt herunterziehe.“895 Biografische Skizze Gerhard Fieselers nach 1950 Die Vermögenswerte der „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ wurden seit dem 16. Oktober 1945 von verschiedenen Treuhändern ver- waltet und waren, unter Kontrolle der amerikanischen Militärbe- hörde, für Fieseler nicht zugänglich.896 Erst nachdem auch das Berufungsverfahren gegen ihn eingestellt worden war, erhielt Fie- seler Anfang des Jahres 1950 wieder Zugriff hierauf.897 In der Fol- gezeit führte er zahlreiche Prozesse – u.a. verklagte er den zuletzt tätig gewesenen Treuhänder Lingnau –, da seiner Meinung nach Material und Gegenstände im Rahmen der Abwicklung der Firma zu Unrecht oder unter Wert verkauft worden waren.898 Auf dem Gelände des ehemaligen Werks I in Bettenhausen nahm Fieseler im Jahre 1951 mit der weiterhin existiernden Gesellschaft

895 Informationsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in Nordhessen, Be- stand Krause-Vilmar, Akten-Nr. 2890 (Nachlass Erich Lewinski: Tagebuchnoti- zen – Strafsache Sempf u.a., Bd. III). Den „Fall“ Zuckmayer greift Fieseler auch in seinen Memoiren auf. Dort heißt es: „Carl Zuckmayer schrieb während des Krieges in den USA, wo er in der Emigration lebte, das Theaterstück „Des Teufels General“. Jede Stadt bemühte sich, dieses Drama möglichst bald nach dem Zu- sammenbruch auf provisorisch hergerichteten Bühnen aufzuführen. In Kassel kündigte eine Zeitungsanzeige der neu gegründeten „Friedensgesellschaft“ eine öffentliche Diskussion über Zuckmayers Werk an. [...] Die Diskussionsredner machten auf mich einen geradezu kümmerlichen Eindruck. Vor dem Einmarsch der Amerikaner hätten sie es nicht gewagt, auch nur den Mund aufzumachen. Nun aber redeten sie in großspuriger Art über Begebenheiten, die sie nicht ken- nen konnten, und stellten die Tatsachen auf den Kopf. Mit erstaunlicher Selbst- verständlichkeit wurde von allen Rednern die von Zuckmayer dargestellte Figur des General Harras mit Udet identifiziert. Ich konnte nicht länger zuhören, melde- te mich zu Wort und stellte klar, das der Zuckmayerische General Harras mit dem Leben und Sterben von Udet überhaupt nichts zu tun habe. Ich stellte mich vor Udet und legte dar, daß die von Zuckmayer erdichtete Handlung unter Hitler unmöglich gewesen wäre“, Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 242 u. 243. 896 Vgl. HHStAW Abt. 519/1, Nr. 57 Bericht des Wirtschaftsprüfers Rudolf Falk, S. 3 ff. Hier ist eine Übersicht über die eingesetzten Treuhänder und deren Tätig- keit gegeben. 897 Vgl. HHStAW Abt. 519/1, Nr. 61 (ohne Angabe einer Seitennummer) Schreiben des Landesamtes für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung vom 1.4.1950. Das Firmenvermögen blieb anscheinend zunächst weiterhin gesperrt, da ein Teil der Firma Reichsvermögen darstellte. Der Sachverhalt ist unklar. 898 Vgl. u.a. HHStAW Abt. 519/1 Nr. 53, 59 u.60. In diesen Akten sind zahlreiche Unterlagen zu verschiedenen Prozessen enthalten, u.a. auch eine Klage gegen Lingnau.

285 „Gerhard Fieseler Werke GmbH“ noch einmal die Produktion auf.899 Mit einem Mitarbeiterstamm von etwa 100 Personen stellte er Alu- miniumfenster her. Daneben fertigte er Kleinmöbel und Beleuch- tungskörper nach eigenen Entwürfen und betrieb in seiner Villa in der Kurhausstraße ein Hotel. 1958 stellte er seine gewerbliche Tä- tigkeit mit der Firma ein, das Hotel wurde 1966 geschlossen. Im Jahre 1969 wandelte Gerhard Fieseler die GmbH in eine Personen- gesellschaft um. Das ihm hierdurch zugefallene Vermögen brachte er schließlich vollständig in die von ihm im Jahre 1980 ins Leben gerufene „Gerhard Fieseler Stiftung“ ein, deren Sitz noch heute auf dem ehemaligen Firmengelände ist. Dem Flugsport blieb Gerhard Fieseler auch nach 1945 verbunden. Er beteiligte sich an Deutschlandflügen und gab dem Kunstflug als Juryvorsitzender neue Impulse.900 Darüber hinaus stiftete er 1983 den „Gerhard-Fieseler-Pokal“. Diese Trophäe sollte nach Fieselers Vorstellungen in einem international besetzten Wettbewerb, der durch den Deutschen Aero-Club in Erinnerung an die Bedeutung der Kasseler Flugzeugwerke auf dem Flugplatz Kassel-Calden aus- getragen werden sollte, ausgeflogen werden. Seinen Lebensabend verbrachte Gerhard Fieseler u.a. in Königstein im Taunus, in Ascona in der Schweiz und in den letzten Jahren in Kassel. Er verstarb am 1. September 1987 und wurde nach seinem festgelegten Wunsch als Pour le Mérite-Träger mit allen militäri- schen Ehren auf dem Hauptfriedhof in Kassel beigesetzt.

899 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 296 ff., das Interview mit Frau L. vom 22.6.2001 u. „Festschrift zum 100. Geburtstag von Gerhard Fieseler“ (Unterlage der Gerhard Fieseler Stiftung). 900 Vgl. Hessische Niedersächsische Allgemeine Zeitung v. 15.4.1971.

286 Schlussbetrachtung Gerhard Fieseler gründete seine Flugzeugbaufirma zu einem Zeit- punkt, als die Luftfahrtindustrie in Deutschland eine verschwin- dend geringe wirtschaftliche Bedeutung hatte und die Existenz der meisten dieser Branche angehörigen Unternehmen sehr unsicher war. Der Fieseler-Betrieb stellte in diesem Zusammenhang keine Ausnahme dar. Auch dieser war von der Rezession betroffen und bewegte sich bis 1933 stets am Rande des Konkurses. In Anbe- tracht dieser Tatsache ist es mehr als fraglich, ob sich das Unter- nehmen ohne den machtpolitischen Wechsel nach 1933 und der daraufhin einsetzenden massiven Unterstützung der Flugzeugin- dustrie durch das nationalsozialistische Regime im Rahmen der Aufrüstung Deutschlands in gleicher Weise zu einem Großbetrieb, wie es bis 1939 erfolgte, hätte entwickeln oder sich überhaupt hätte etablieren können. Für Gerhard Fieseler bot sich erst durch die Zusammenarbeit mit dem RLM die Möglichkeit, sein Werk wirtschaftlich abzusichern und darüber hinaus zu einem Großunternehmen auszubauen. Be- achtenswert sind die enormen Kapitalinvestitionen, die Fieseler seitens des Staates für die Expansion seines Betriebes erhielt. Er selbst musste hierfür kein eigenes Kapital aufbringen oder private Bankkredite aufnehmen. Alles wurde vom Dritten Reich vor dem Hintergrund, die Produktionskapazitäten der Luftfahrtindustrie für Rüstungszwecke auszudehnen, durch zinsfreie Anleihen finanziert. Die vom RLM vergebenen Fertigungsprogramme waren gleichzeitig die Garantie für eine sichere und gewinnbringende Auftragslage. Die Firma Fieseler ist ein Paradebeispiel für die Politik des RLM, Unternehmen der Flugzeugbranche mit Kapital zu sättigen und hierdurch für ihre Zwecke willfährig zu machen. Dabei kann der Darstellung Fieselers, er sei aufgrund eines Siche- rungsübereignungsvertrages, den er als Gegenleistung für die ge- währten Darlehen eingehen musste, an die Weisungen des RLM gebunden gewesen und habe deshalb deren Forderungen erfüllen müssen, nur bedingt Folge geleistet werden. Sicherlich wurde durch diesen Vertrag ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zwi- schen der Firma und dem Ministerium begründet. Aber Fieseler selbst gab im Spruchkammerverfahren zu erkennen, dass er die Zusammenarbeit mit dem RLM als Chance begriff, sein Unterneh- men mit staatlicher Finanzierung ausbauen zu können. Die ge- währten Kredite wollte er, so sein damaliger Plan, mittels der er-

287 zielten Gewinne aus den Staatsaufträgen zurückzahlen. Vor diesem Hintergrund kann nicht von einer einseitigen Ausnutzung durch das RLM gesprochen werden. Vielmehr bestätigt sich die These einer Kooperationsbereitschaft Fieselers gegenüber dem Ministeri- um, um in den Genuss der staatlichen Förderung zu kommen. Die Untersuchungen dieser Arbeit lassen sogar den Schluss einer überaus positiven Einstellung Fieselers gegenüber dem Ausbau seines Betriebes zu einem Großunternehmen zu. Diese Annahme wird durch die Aussage von Dr. Heinz Schade, dem ehemaligen Leiter des Fieseler-Zentralbüros, bekräftigt. Er urteilt über die Kar- riere Gerhard Fieselers als Flugzeugbauer: „Ich glaube, daß die Entwicklung der Fieseler Werke Herrn Fieseler zumindest nicht un- angenehm war. Ich glaube aber nicht, daß er gerade unter dem Na- tionalsozialismus ein Großindustrieller zu werden wünschte, der Ton liegt auf dem Großindustriellen. Herr Fieseler hat auf diesem Gebiet Ehrgeiz gehabt. [...] Fieseler wollte nach meiner Überzeugung Besit- zer und Führer eines großen Werkes sein oder werden.“901 Diese Einschätzung charakterisiert im Kern die Haltung Gerhard Fieselers bezüglich des Aufstiegs seiner Firma zu einem Großun- ternehmen. Sie entspricht im wesentlichen auch dem Ergebnis dieser Arbeit. Allerdings muss das von Schade angedeutete Ver- hältnis Fieselers zum Nationalsozialismus differenzierter betrachtet werden. Schon kurze Zeit nach der Konsolidierung des nationalso- zialistischen Regimes kam es zu einer Anbiederung Fieselers an das System, indem er am 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat. Grund hierfür dürfte insbesondere seine Hoffnung auf lukrative Aufträge durch die neue Regierung gewesen sein. Bemerkenswert ist der Zeitpunkt seiner Parteimitgliedschaft. Bis zum Mai hatte es bereits öffentliche Übergriffe und Denunziationen der nationalsozialistischen Machthaber gegen sog. „Volksfeinde“ gegeben, wie z.B. der reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933, die auch für Fieseler offensichtlich gewesen sein müssen. Trotzdem hatte er anscheinend keine moralischen Beden- ken oder Skrupel, seinen Betrieb mit Unterstützung der national- sozialistischen Regierung im Rahmen der Wiederaufrüstung Deutschlands zu einem großen Industrieunternehmen aufzubauen und sich in die Dienste ihrer Rüstungspolitik zu stellen. Die Aufrufe Fieselers in der Fieseler-Zeitschrift und seine Reden anlässlich der Betriebsappelle lassen sogar mehr als nur eine op-

901 HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 2, Bl. 284, 284r u. 285.

288 portunistische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus an- nehmen. Sie zeugen von einer grundlegenden politisch-weltan- schaulichen Übereinstimmung mit dem Regime, zu dem er sich hingezogen fühlte. Zwar nahm er begangenes Unrecht und Gewalt- verbrechen des Systems im Falle des Juden David aus Grebenstein wahr, jedoch änderte dies nichts an seiner prinzipiellen Willigkeit, den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat durch seine Rüs- tungsproduktion zu unterstützen. Tatsächlich erfüllte Gerhard Fieseler die an ihn vergebenen Aufträ- ge und Aufgaben durch das RLM mit großer Zufriedenheit des Staates. Nicht zuletzt die Ernennung der Fieseler-Werke zum „Na- tionalsozialistischen Musterbetrieb“ und die Verleihung des Titels eines „Wehrwirtschaftsführers“ an Gerhard Fieseler sind Ergebnis und Ausdruck seiner Bereitschaft, dem System als Flugzeugbauer uneingeschränkt zu dienen, sei es aus Profitstreben oder politi- scher Überzeugung. Beachtlich in diesem Kontext ist die Energie Fieselers, die er als Betriebsführer für die Umsetzung innerbetrieblicher Maßnahmen verwendete, um die Leistungsbereitschaft der Belegschaft zu stei- gern und aufrechtzuerhalten. Neben seinem Engagement auf den von der DAF und dem RLM geförderten sozialen Gebieten unter- nahm er eigene Anstrengungen, die Arbeitseffizienz der „Betriebs- gemeinschaft“ per „Leistungsüberwachung“, „Unzufriedenenbetreu- ung“ und unter Androhung massiver Konsequenzen zu erhöhen. Selbst während des Zweiten Weltkrieges ist die Entschlossenheit bzw. das Bestreben Fieselers zu vernehmen, die Produktionsziele des RLM zu erfüllen und damit die Kriegsrüstung zu unterstützen. Spätestens mit dem gewaltigen Einsatz von Zwangsarbeitern in den Fieseler-Werken und der Entwicklung der V1 als Angriffs- und Ter- rorwaffe machte Gerhard Fieseler sich zum Komplizen an den Ver- brechen des Dritten Reiches. Beides erfolgte zumindest mit seiner stillschweigenden Duldung. Bezeichnend ist das Verhalten Fieselers während des Spruchkam- merverfahrens. Mit Arroganz, Uneinsichtigkeit und demonstrativer Selbstsicherheit reagierte der ehemalige Flugzeugbauer und Be- triebsführer auf die ihm zur Last gelegten Vorwürfe und wies jede Schuld von sich. Darüber hinaus scheute er sich nicht einmal da- vor, Zeugen, die gegen ihn aussagten, zu verunglimpfen und den Vorsitzenden der Kammer öffentlich zu denunzieren. Letztlich wurde der Prozess nicht mit entschiedener Konsequenz zu Ende geführt, was jedoch u.a. auf die Umstände der zu diesem

289 Zeitpunkt bereits zum Abschluss drängenden Entnazifizierung zu- rückzuführen ist. Das Urteil der Spruchkammer entspricht kaum den auch damals schon bekannten Tatsachen und ist in seiner Begründung nicht zu akzeptieren. Zu sehr wird sich an die Dar- stellungen Fieselers und seiner Anwälte angelehnt, werden bela- stende Sachverhalte beschönigt oder einfach außer Acht gelassen. Im Ergebnis konstituierte sich die eingangs beschriebene Legende, Gerhard Fieseler sei ein fürsorglicher Betriebsführer gewesen, der als Flugzeugbauer von dem nationalsozialistischen Regime ausge- nutzt worden sei und infolge seines aktiven Widerstandes gegen das System harte Schicksalsschläge habe hinnehmen müssen. Diese stilisierte Darstellung findet sich vor allem auch in seinen Memoiren wieder. Seine Autobiografie ist in der Akzentuierung ih- rer Zusammenhänge keineswegs der Versuch einer historisch mög- lichst exakten Darstellung seiner Lebensbilanz im selbstkritischen Rückblick auf sein Wirken als Flieger und Flugzeugbauer. Weder in seinem Spruchkammerverfahren noch in seiner 30 Jahre später erschienenen Biografie nimmt Gerhard Fieseler die Chance wahr, Distanz zwischen sich und der Zeit des Nationalsozialismus zu schaffen und seine Rolle im NS-System ernsthaft und glaubwürdig aufzuarbeiten. Statt dessen erhob er sogar den Vorwurf, er sei zu Unrecht von den alliierten Siegermächten nach dem Krieg verhaftet und interniert worden, weil diese ausschließlich und ohne Differen- zierung nach der damals gängigen Prämisse gehandelt hätten: „Je- der Deutsche hat dem Verbrecher Hitler gedient oder geholfen“. Da- mit bestimmte Fieseler für sich die denkbar trivialste und zugleich unglaubwürdigste Form, sich jeglicher Verantwortung zu entzie- hen.902 Fieselers konstruiertes Selbstbildnis eines deutschen Pa- trioten und patriarchalischen Betriebsführers, der lediglich in Sor- ge um sein Vaterland und die Arbeiter seines Unternehmens seine Pflicht erfüllen wollte, ist äußerst fragwürdig und korrekturbedürf- tig. Ohne die Hilfe der Nationalsozialisten hätte Gerhard Fieseler seine Projekte nicht verwirklichen können. Bereitwillig stellte er sich in die Dienste des NS-Regimes, ohne seine, vielleicht sogar bewusst gewollte, zentrale Position als Unternehmerpersönlichkeit und gefährlicher Erfüllungsgehilfe der nazistischen Kriegspolitik zu reflektieren. Fieseler stellt in seiner Anpassungsbereitschaft unter den Industrieeliten durchaus keinen Einzelfall dar, was allerdings keineswegs eine Rechtfertigung für sein persönliches Verhalten

902 Fieseler, Gerhard: Meine Bahn am Himmel [wie Anm. 1], S. 282.

290 sein kann und ihn von seiner Verantwortlichkeit entbindet. Aus der Tatsache des frühen Eintritts Fieselers in die NSDAP ist der mögli- che Rückschluss zu ziehen, dass er – wie andere Unternehmer – dem Anschein der Konformität der wirtschaftspolitischen Ziele des NS-Systems mit den betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen der Industriellen unterlag, wodurch sich ihm bis dahin ungeahnte Möglichkeiten der Produktionssteigerung und der Einstreichung von Gewinnen boten. Hierin offenbart sich jedoch eine fatale Unter- schätzung des Regimes. Infolge der engen Zusammenarbeit Fie- selers mit den Nationalsozialisten wurde seine Firma von Anfang an unumgänglich in die Aufrüstungspolitik des Dritten Reiches eingeflochten und insbesondere durch die Bereitstellung von Gel- dern durch das Dritte Reich in ihrer Unternehmensstruktur zu- nehmend ausgehöhlt und in ihrer Existenz an das NS-Regime ge- bunden. Angesichts dieser Realität setzten schließlich bei Fieseler Bemühungen ein, bei bedenkenloser Aufrechterhaltung der Rü- stungsanstrengungen die eigene Position im Werk zu stärken und gleichzeitig den Einfluss von NS-Stellen zu mindern. In der öffentlichen Meinung wird bis in die Gegenwart vorrangig an dem Bild Gerhard Fieselers als Kunstflieger, Flugpionier und er- folgreichem Flugzeugbauer festgehalten. Zahlreiche Zeitungsarti- kel, die ausschließlich diese Leistungen hervorheben, und nicht zuletzt die feierliche Beisetzung Fieselers als Pour le Mérite-Träger mit militärischen Ehren unter der Anwesenheit prominenter Gäste sind ein Beleg hierfür. „Er lebt in Schöpfung und Leistung weiter“903, hieß es auf der Trauerfeier und nahm damit auch Bezug auf die „Gerhard Fieseler Stiftung“, die die Bewahrung des Namens Ger- hard Fieseler zu einer ihrer Aufgaben zählt. Seine Verstrickungen in das nationalsozialistische System durch seine Tätigkeit als Flug- zeugbauer und Betriebsführer werden hingegen aus seinem Leben ausgeklammert und sind aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit weitgehend verdrängt.

903 Hessische Niedersächsische Allgemeine Zeitung Nr. 209 v. 9.9.1987.

291 Anhang

Lagebericht der GFW an das Rüstungskommando Wilhelmshöhe, Bremelbachstraße, vom 9.11.1943 über die durch Feindeinwirkung entstandene Lage (Quelle: BA/MA Freiburg, RL 3/1119, Bl. 51 ff)

1) Gefolgschaftsmitglieder Die Zahl der anwesenden deutschen G.M. ist in der Berichtszeit von 2.440 auf 2.984 gestiegen. Nicht gemeldet haben sich bisher immer noch 1.453. Die Zahl der anwesenden Ausländer beträgt 2.000 gegenüber ei- nem Soll von 2.304, zuzüglich vorhandener italienischer Militärin- ternierter 369 und russischen Kriegsgefangenen 11. Die Zahl der fehlenden Ausländer beträgt 304 (138 Kranke, 5 im Urlaub er- krankt, 67 im Urlaub, 16 in Haft, 78 flüchtig) Die Zahl der als tot festgestellten deutschen G.M. hat sich von 20 auf 34 erhöht. Vermißt werden noch weiterhin 12. Wie im Vorbe- richt bereits angegeben, werden sich diese Zahlen wesentlich erhö- hen, da mit Sicherheit eine größere Zahl von Toten in der oben an- gegebenen Fehlzahl enthalten sein wird.

2) Unterbringungsmöglichkeiten Die Zahl der total bombengeschädigten G.M. ist von 518 auf 630 gestiegen, die Zahl der teilweise geschädigten von 666 auf 800. Als nicht geschädigt sind bisher 1554 G.M. festgestellt. Auch hier ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Zahl der bombengeschädigten G.M. sich noch wesentlich erhöht. In Bezug auf die Unterbringung der bombengeschädigten G.M. in Werksnähe bzw. zumutbaren Entfernungen ist aufgrund einer Zu- sage des Kreisobmanns der DAF die Möglichkeit gegeben, in Hes- sisch-Lichtenau 500 Deutsche in Sammellagern unterzubringen. Ferner ist aufgrund einer Absprache mit dem Rüstungsobmann IXa, Herrn Dr. Braun, in Aussicht genommen, das im Aufbau be- findliche Lager in Lohfelden, welches ursprünglich für die Unter- bringung von ausländischen Arbeitern vorgesehen war, nunmehr für obdachlose deutsche G.M. zu verwenden. Die ausländischen Arbeiter sollen dann in frei gewordenen Fabrikanlagen in Kassel, die entsprechend hergerichtet werden müßten, untergebracht wer-

292 den. Wir weisen darauf hin, daß zu diesem Zweck die erforderli- chen Küchenanlagen rechtzeitig mit geplant werden müssen.

3) Katastropheneinsatz von G.M. Im Gegensatz zu den Anordnungen des Herrn Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion Speer, haben die örtlichen Partei- dienststellen und deren angeschlossene Gliederungen in vielen Fällen Einsatzbefehle für G.M., die als Schlüssel- oder Fachkräfte bei uns beschäftigt sind, zum Katastropheneinsatz gegeben. Wir verweisen hierzu auf unsere beiden Schreiben vom 8.11. und 9.11. in gleicher Angelegenheit an das Rüstungskommando. In Anbetracht des Fehlens zahlreicher G.M. und der Notwendigkeit, in solchen Katastrophenzeiten die Ausländer besonders scharf zu überwachen, ist der Abzug solcher Schlüssel- und Fachkräfte u. E. nicht tragbar. Da hier offensichtlich eine Nichtunterrichtung oder Nichtbefolgung an sich bekannter Weisungen der örtlichen Parteidienststellen und deren Gliederungen vorliegt, bitten wir das Rüstungskommando, entsprechende Schritte zu unternehmen.

7) Verlagerung Um die wichtigsten Teile unserer Produktion vor einer Totalbe- schädigung durch Feindeinwirkung zu schützen, haben wir uns entschlossen, weitgehende Verlagerungen vorzunehmen, die im einzelnen mit den Rüstungsdienststellen bereits besprochen wor- den sind. In Aussicht genommen ist: eine teilweise Verlagerung unserer Betriebe zum Flugplatz Kassel-Rothwesten, dessen Abgabe in dem von uns vorgeschlagenen Umfang durch den Generalstab des Herrn Reichsministers der Luftfahrt an uns verfügt worden ist, ferner eine teilweise Verlagerung der mechanischen Fertigung an einen dritten Ort

8) Zusammenfassung Nach wie vor ist die wichtigste Sorge die der Heranschaffung der fehlenden produktiven Güter. Nachdem, wie zu unserem Bedauern festzustellen ist, die hierfür maßgeblichen Dienststellen versagt haben, muß sich unsere Aufgabe darauf beschränken, durch Ein- satz einer erhöhten Zahl von Kurieren die Engpaßteile heranzu- schaffen, um die entscheidende Produktionslücke notdürftig zu überbrücken.

293 Leistungsübersicht, erstellt am 8.11.1944 (Geheime Komman- dosache) (Quelle: BA/MA Freiburg, RL3/1277)

1941: Anzahl der Flugzeuge 5344716557614344255041 36

Geleistete prod. Stunden ------397 412 424 436 428 366 in 1000 Lohnempfänger Prod. u. Unprod. ------3630 3700 3700 3720 3800 3853

Monat 123456 7 8 9 101112

Bf 109 = 154, Fi 156 = 428, KL 35 = 1, Fi 167 = 7 u. 43 Reparatur Bf 109 Gesamt: 590 (zuzüglich 80 Maschinen Me 210 ohne Triebwerk und Fertigmontage)

1942: Anzahl der Flugzeuge424044305055546770716385

Geleistete prod. Stunden 404 380 375 352 375 375 432 472 455 412 393 440 in 1000 Lohnempfänger Prod. u. 3630 3660 3640 3520 3605 3615 3495 3486 3536 3031 3221 3397 Unprod. Monat 1234567 89101112

Fi 156 = 501; Fi 167 = 5; Fw 190 = 165; Fi 103 = 6 u. 17 Reparatur Bf 109 Gesamt: 671

294 1943: Anzahl der Flugzeuge 101 147 94 97 96 95 116 107 119 75 23 26

Geleistete prod. Stunden 488 516 530 355 455 479 478 368 429 291 240 280 in 1000 Lohnempfänger Prod. u. 3815 4132 3845 4042 4206 4284 4379 4276 4370 4420 4745 4853 Unprod. Monat 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Fi 156 = 480; Fw 190 = 562; Fi 103 = 53; Fi 256 = 1 Gesamt: 1096

1944: Anzahl der Flugzeuge 72 43 80 88 95 103 180 202 159 124 ------

Geleistete prod. Stunden 362 348 480 421 470 603 801 960 934 ------in 1000 Lohnempfänger Prod. u. 4810 4790 4743 5008 5060 5720 6867 7296 7430 ------Unprod. Monat 123456789101112

Fi 156; Fw 190; Fi 256 Gesamt: 1146

Bombenangriffe auf das Werk: 1943: 28.7., 30.7., 3.10., 22.10. 1944: 19.4., 22.9., 27.9., 28.9., 2.10., 7.10., 18.10.

295 Vorbesprechung über Fieseler im Sonderzug am 14. März 1944 (23.05-23.15 Uhr) (Quelle: BA/MA Freiburg, RL 3/3, Bl. 1122-1125) Saur: Wir müssen hier noch über Fieseler sprechen. Ich habe Ihnen heute morgen schon gesagt, daß bei Fieseler die Dinge nicht so klap- pen, wie ich es gewünscht habe. Ich habe deshalb den Werksbeauf- tragten, Herrn Sachse, gebeten, hierherzukommen und uns einen Überblick zu geben. Sachse: Die Verhältnisse, die ich bei der Firma Fieseler vorgefunden habe, sind wirklich katastrophal. Die Firma Fieseler macht mit ihrer gesamten Belegschaft mit Ausnahme der Nachtschichten um halb fünf Schluß und fängt um halb sieben an. Ich habe sofort die 72stündige Arbeitszeit gefordert. Der Einkauf macht um halb fünf Uhr Schluß, und ich habe von dem Geschäftsführer, dem Direktor Thalau, verlangt, daß der Einkauf bis 6 Uhr und ebenso die gesam- ten Büros auch bis 6 Uhr arbeiten. Daraufhin bat er mich, ob es nicht möglich wäre, am Mittwoch langsamer zu treten, damit die Leute einmal früher nach Hause gehen können, weil sie bisher den Mittwoch überhaupt schon früh Schluß gemacht hätten; die Leute wollten auch einmal ins Kino oder Theater gehen. Als ich das hörte, war ich erschüttert, wo doch auf der anderen Seite die Forderung vorliegt: Jäger, Jäger und nochmals Jäger. Die Firma Fieseler hat, wie mir von dem Betriebsführer gemeldet wurde, Herrn Feldmarschall Milch für diesen Monat 60 Maschinen und für die nächsten Monate 70 Maschinen zugesagt. Ich habe, kurz nachdem ich eintrat, die Vorbereitungen getroffen und bin jetzt auf 68 Maschinen, die garantiert kommen. Herr Saur verlangte heute morgen 75 Maschinen. Es ist jetzt bei der 190 schon wieder eine Än- derung bei dem Fieseler Werk durchgeführt, und zwar kommt bei der Ausführung A8 ein vollkommen neuer Rumpf in Frage. Der erste Rumpf ist heute fertiggestellt worden. Die Maschine wird am 1. auf dem Flugplatz sein. Es ist nicht möglich, in der alten Ausführung, in der Ausführung A7 weiter zu liefern, weil schon alles abgestoppt ist, d. h. es sind keine Materialien usw. mehr da. Wir hätten die 75 mit dem alten Typ erreicht, wenn die Materialien da gewesen wären. Jetzt kommt die neue Ausführung. Sie ist erst ziemlich spät von Herrn Steinbach freigegeben worden. Es ist mir von Herrn Fieseler gesagt worden, die Konstrukteure seien da nicht mitgekommen. Es sind aber ungefähr 500 Gruppen, die noch beschafft werden müs- sen. Ein großer Teil ist bereits untergebracht. Es fehlen jetzt nur noch einige. Ich hoffe, daß ich auch die in kurzer Zeit sicherstellen kann. Ich möchte bemerken, daß ich die Aufgabe bei Fieseler erst

296 Ende voriger Woche übernommen habe. 75 Maschinen fordern Sie, Herr Saur. Die Firma Fieseler erklärt: das ist nicht möglich. Ich kann es nicht entscheiden. Ich bitte die Herren vom RLM, sich dazu zu äußern. Diesing: Was ist an dem Rumpf an Änderungen vorgesehen? Sachse: Es ist ein vollkommen neuer Rumpf. Alpers: Es handelt sich um den Einbau schwerer Waffen. Diesing: Soviel ich weiß, wird der Rumpf nur um eine gewisse Zahl von Zentimetern verlängert. Frydag: Es ist ein kurzes Zwischenstück, das eingebaut wird. Das macht in den Einzelteilen eine Menge Arbeit. Diesing: Dadurch wird doch nicht der ganze Rumpf geändert. (Sachse legt eine Skizze vor, zu der Alpers Erläuterungen gibt. Die erste Ausführung der neuen Typen A8 sei heute in Vormontage ge- gangen.) Frydag: Wieviel A8 stehen in diesem Monat an? Sachse: 7 Stück. Alpers: 120 sollen es nach dem Programm sein. Diesing: Das Werk ist nicht angeschlagen. Es ist kein Grund, daß es nicht produzieren kann. Es liegt nur daran, daß die Belegschaft dau- ernd nicht hinkommt. Saur: Morgen sind wir in Oschersleben. Da werden die Herren von Fieseler bei AGO sein, und zwar Herr Fieseler selbst und Herr Thalau und die verantwortlichen Herren der Werksleitung, und wir werden dann eine gemeinsame Besprechung durchführen. Die Herren brin- gen ihre Bauleute und Maschinenleute und andere Fachleute mit, damit wir die Voraussetzungen klären, wie wir zu 80 Maschinen kommen. Frydag: Ich würde Herrn Fieseler zu Hause lassen, weil er keine Ah- nung hat. Saur: Gerade, weil er dauernd die Leitung hemmt und hineinredet, werde ich mir erlauben, gegen Herrn Fieseler vorzugehen. Ich habe Dinge gehört, die mir Grund geben, endlich mit solchen Leuten auf- zuräumen. Sachse: Bei Herrn Fieseler steht in erster Linie die soziale Betreuung seines Werkes, während er von den Fertigungsmöglichkeiten nichts weiß. Herr Thalau, der jetzt als Kommissar eingesetzt ist, hat einen schweren Kampf gegen Herrn Fieseler. Saur: Also, die Gemeinschaftssitzung findet in Oschersleben statt. Das Programm für Fieseler muß lauten: 80 Stück. Schluß!

297 Besprechung mit der Firma Fieseler im Sonderzug am 15. März 1944 (1340 bis 1405 Uhr) (Quelle: BA/MA Freiburg, RL 3/3, Bl. 1126-1138)

Saur: Meine Herren! Wir beginnen mit der Zwischensitzung, die wir hier im Zuge eingeschaltet haben, um über die Probleme bei der Firma Fieseler zu sprechen. Ich bitte zunächst den Werksbeauftrag- ten. Sachse: Ich habe bereits gestern gesagt, daß bei der Firma Fieseler die Arbeitszeit eine sehr kurze ist, daß um halb fünf der größte Teil der Belegschaft das Werk verläßt, und die Büros ebenfalls um halb fünf Uhr Schluß machen. Zweitens wurde die bisherige Verlagerung der mechanischen Werkstätten nur in kleinstem Maße durchgeführt. Die anderen Verlagerungen starten ab heute früh. Herr Wegener hat al- les freigegeben. Sonstige Schwierigkeiten hinsichtlich Transportge- stellung, Lebensmitteln und dergleichen sind nicht da. Es ist bis jetzt alles klargegangen seit meiner Anwesenheit. Herr Prof. Thalau ist ja von Herrn Feldmarschall Milch als Kommissar für die Jägerfer- tigung eingesetzt. Auf der anderen Seite ist Herr Fieseler Betriebs- führer. Ich weiß nicht, wie sich das mal auswirkt. Ich würde bitten, Herrn Prof. Thalau darüber zu hören. Thalau: Ich habe bereits den Auftrag von Herrn Fieseler gehabt, für die Produktion verantwortlich zu sein. Das ist schon seit etwa 3 bis 4 Jahren der Fall. Mit der Begründung, daß die Firma ihre Pflicht nicht getan habe in der Ablieferung der letzten Monate, wurde vom Feldmarschall Milch an mich der Auftrag erteilt, kommissarisch die Fertigung der Jäger, d. h. das Jägerprogramm, durchzuführen. Da- mit ändert sich intern nichts an meiner bisherigen Vollmacht. Es ist die Frage, ob es notwendig ist, daß sich daran etwas ändert. Herr Fieseler als Betriebsführer hat den Sektor, der außerhalb der Ferti- gung liegt. Insbesondere hat Herr Fieseler es übernommen, sich um die sozialen Probleme des Werkes zu bekümmern, Fragen, die in der soeben abgeschlossenen Besprechung ebenfalls zur Sprache kamen. Es ist allenfalls die Frage zu stellen, ob sich aus dieser Beauftragung meiner Person Schwierigkeiten ergeben könnten, wenn ich anderer Meinung werden würde als Herr Fieseler. Ich habe mich darüber mit Herrn Fieseler gestern morgen ausgesprochen. Herr Fieseler be- fürchtet diese Schwierigkeiten nicht. Ich habe ihm gesagt: falls Schwierigkeiten auftreten würden, wäre es richtiger, wenn ich nur als Kommissar die Tätigkeit ausübte und meine Position als stell- vertretender Geschäftsführer für die Dauer meiner Kommissartätig- keit niederlegen würde, so daß ich dann auch dort eingreifen könnte, wo Herr Fieseler anderer Meinung wäre. Bis zu diesem Zeitpunkt war

298 unsere Unterhaltung gediehen. Es ist die Frage, wieweit ich meinen Auftrag auffassen soll. Saur: Ich möchte einmal Gelegenheit nehmen, ganz grundsätzlich hierzu zu sprechen. Ich bin persönlich ein Gegner von Kommissaren, weil ein Kommissar normalerweise zwar viele Rechte, aber keine Pflichten hat, und zwar Pflichten auch dem Gesetze nach. Wir müß- ten eigentlich in einem Führerstaat, in einem Staat, in dem wir ins- besondere die Selbstverantwortung der deutschen Industrie heraus- stellen, bemüht bleiben, unter allen Umständen zu versuchen, daß die Industrie in sich mit ihren Führungsproblemen fertig wird. Wird sie nicht fertig, gibt es meines Erachtens immer nur eine Lösung: daß ein sofortiger Wechsel in der Betriebsführung eintritt. Wir haben leider schon viele negative Erfahrungen in dieser Bezie- hung gemacht, wenn man immer wieder neben die vorhandenen Insti- tutionen, die mit allen ihren Rechten und Pflichten versagt haben, neue stellt, ohne die alten irgendwie zu beseitigen oder dafür zu sor- gen, daß die von ihnen gemachten Schwierigkeiten nun auch end- gültig abgestellt werden. Ich möchte in diesem vorliegenden Fall die- sen Weg nun wirklich vorschlagen, und ich möchte an den Be- triebsführer des Werkes, Herrn Fieseler, die Bitte richten, sich mit Herrn Thalau darüber zu unterhalten. Meines Erachtens ist der richtige Weg der, die Konsequenzen zu ziehen und Herrn Thalau zum Führer des Betriebes zu machen, während Herr Fieseler sich für die Aufgaben zur Verfügung stellt, die speziell ihm liegen. Meine Herren! Ich habe gerade vorgestern ausdrücklich gesagt, wie ich zu diesen Dingen stehe, wenn man jemand absetzen muß. Wenn man jemanden absetzen muß, ist das eigentlich gar nicht so sehr ein Vorwurf gegen den Mann, den man absetzt, sondern gegen sich sel- ber. Denn dann hat man einen falschen eingesetzt. Da kann man sich ja täuschen. Es ist aber noch lange nicht gesagt, daß, wenn ein Mann in seiner Aufgabe versagt, insbesondere dann, wenn man ihn selbst eingesetzt hat und glaubt, er kann es meistern, obwohl er die Voraussetzungen dazu nicht mitbringt, daß dieser Mann schlecht ist, sondern er ist zunächst ungeeignet für diese Aufgabe. Ich kann mir vorstellen und weiß das aus Erfahrung in sehr vielen Fällen, daß Männer, die an einer Stelle nicht die Eignung besessen haben, weil sie da vorläufig falsch eingesetzt waren, an einer anderen Stelle ab- solut gut sind, zum Teil sogar übermäßig Gutes Leisten. Ich möchte deshalb die Bitte an Herrn Fieseler richten, ob er nicht die Möglichkeit sieht, von seiner Seite aus eine totale Lösung herbei- zuführen. Das wäre m. E. die richtige Entwirrung der Dinge. Denn nebeneinander einen Betriebsführer und einen Kommissar zu haben, ist falsch.

299 Fieseler: Ich kann mich nur den Worten anschließen, die Herr Thalau zum Ausdruck gebracht hat: bis heute haben wir keinerlei Schwie- rigkeiten gehabt. Es ist mir bisher persönlich noch nicht der Vorwurf gemacht worden, und der kann mich nicht treffen, weil ich für die Produktion nur in zweiter Linie verantwortlich bin. Herr Thalau ist seit 3 bis 4 Jahren mir gegenüber verantwortlich. Er hat jede Voll- macht, und aus dem Munde von Herrn Thalau haben wir gehört, daß diese Vollmachten vollkommen ausgereicht haben. Saur: Herr Fieseler, Sie sind also der Ansicht, daß Sie Betriebsführer bleiben und Herr Thalau Kommissar ist? Fieseler: Ich möchte klarstellen, daß ich nur eins kenne: das ist die Sache. Ich selber bin zwei Jahre krank gewesen, weil ich gesehen habe, wie es in der Luftfahrtindustrie aussieht. Das werden die Her- ren bestätigen. Und dieser Ton, den ich heute morgen erstmalig ge- hört habe, erfreut mich. Es ist das, was ich bisher vermißt habe. Ich habe Herrn Sachse vorgestern noch gesagt: jetzt endlich geht es los. Und ich weiß nicht, ob Herr Sachse bereits fähig ist, ein Urteil über den Betrieb abzugeben. Ich bin am Sonntag mit ihm durch die größte Halle gegangen. Ich habe ihm andauernd gesagt: wenn Sie ei- nen Mann sehen, der steht und nichts tut, dann bitte ich, ihn mir zu zeigen. Er hat auch nicht einen von 700 Leuten angetroffen, der her- umgestanden hat. Wenn man mir nun heute den Vorwurf macht, ich sei kein Betriebsführer, so muß ich bitten, daß die Herren, die den Vorwurf machen, nach Kassel kommen und sich das Werk ansehen. Bis heute war seit dem Großangriff, wo rund 10.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, in Kassel noch niemand vom Luftfahrtministeri- um in meinem Werk mit Ausnahme von einem Bauleiter. Saur: Ich bitte Herrn Sachse, in aller Offenheit dazu zu sprechen. Sachse: Es hat keinen Zweck, wie sie ausführten, neben dem Be- triebsführer noch einen Kommissar zu haben. Herr Feldmarschall Milch hat aber am 1. März Herrn Prof. Thalau als Kommissar einge- setzt. Es ist vollkommen klar, daß, wenn Herr Thalau Anordnungen trifft, Herr Fieseler womöglich nicht damit einig geht. Es ist auch klar, daß er sie in verschiedenen Punkten vielleicht ganz anders er- ledigt haben will, weil er sich vielleicht sagt: du kannst das nicht. Aus diesem Grunde habe ich mich auch mit Prof. Thalau eingehend darüber unterhalten und wollte nun eine Klärung haben: ist er nur Kommissar oder nicht? Ist Thalau Betriebsführer oder Herr Fieseler. Da muß man klipp und klar Bescheid wissen, was los ist: halte ich mich an Herrn Fieseler als Betriebsführer oder Herrn Thalau als Kommissar. Ich sitze praktisch zwischen zwei Stühlen. Im übrigen ist bereits gestern abend zu dem Punkt von den Herren des RLM Stellung genommen worden.

300 Frydag: Herr Fieseler, ich habe Ihr Werk gesehen. Ich habe von der Dis- ziplin Ihres Werkes und der Wahrung der sozialen Belange in Ihrem Werk einen hervorragenden Eindruck. Das nehme ich vorweg. Trotz- dem, Herr Fieseler, stehe ich jetzt auf dem Standpunkt, nachdem Herr Thalau als Kommissar eingesetzt ist: das kann nicht gut gehen. Und wenn ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen Rat geben darf, Herr Fieseler, dann würde ich als Betriebsführer zurücktreten und Herrn Thalau zum Betriebsführer machen. Dann ist das ganze Kommissariat und jeder Dualismus zu Ende. Fieseler: Wenn ich wüßte, daß der Sache damit gedient ist, sofort. Frydag: Es ist der Sache damit gedient. Fieseler: Ich bin anderer Meinung, und ich darf zwischenschalten, daß auch meine Herren anderer Meinung sind. Frydag: Ich gebe nur meine Ansicht wieder. Fieseler: Sie waren vor einem Jahr in Kassel. Seit Kassel am Boden liegt, ist keiner der maßgebenden Herren da gewesen – Frydag: Das gebe ich zu. Fieseler: – Wir haben 1500 Menschen gehabt, die 5 bis 6 Wochen nicht zur Arbeit erschienen sind, und wir haben die übrigen 100 Menschen, die die Arbeit niedergelegt haben, zur Anzeige gebracht. Der Treuhänder der Arbeit lehnt jede Verfolgung ab. Unter diesen Umständen soll es mir einer vormachen, Betriebsführer zu sein. Frydag: Darum handelt es sich nicht. Es besteht das Faktum, daß Prof. Thalau zum Kommissar ernannt worden ist. Fieseler: Vollkommen gegen meinen Willen! Frydag: Ich bin bei Ihnen gewesen, als seinerzeit ein Programm- einbruch erfolgt war, und habe mich bei Ihnen praktisch über diese Dinge nur mit Prof. Thalau unterhalten können. Fieseler: Weil er verantwortlich ist für die Produktion. Frydag: Sie wußten damals nicht, wie die Produktion stand. Fieseler: Ich war krank und bin erst seit 6 Wochen wieder arbeitsfähig und stehe seit dieser Zeit morgens am Eingang des Werkes, um die Arbeiter zu begrüßen, die zu spät kommen. Fragen Sie Herrn Thalau. Thalau: Das stimmt! Frydag: Ich habe vorweggenommen, daß Ihr Werk in sozialer Bezie- hung sehr gut geführt ist, daß tatsächlich dort keine Bummelei ist. Fieseler: Wenn keiner bummelt, dann wird gearbeitet, und das wollen wir ja. Frydag: Aber wenn Thalau für die Produktion verantwortlich ist, und sie betreuen die anderen Sachen, dann gibt es bestimmt Reibereien. Fieseler: Nein, zwischen klugen und anständigen Menschen gibt es das nicht, und ich behaupte, daß ich einer bin, und behaupte das

301 auch von Thalau. Zwischen anständigen Menschen gibt es nur die Sache. Saur: Dann bitte ich Herrn General Vorwald. Vorwald: Ich bin mir völlig klar, daß die Einsetzung von Prof. Thalau als Kommissar praktisch an dem Zustand, wie er gewesen ist, nichts geändert hat, und daß ich auch für eine glatte Lösung bin, und daß Herr Thalau die Betriebsführung bekommt. Rüstungsinspekteur: Ich habe, seit ich Inspekteur bin, in technischer und betrieblicher Beziehung nur mit Herrn Thalau zu tun, und ich kenne Herrn Fieseler nur als einen Menschen mit uranständigem Charakter, der das Beste will, das möchte ich besonders betonen. Ich glaube bestimmt, daß sich eine Lösung finden läßt. Ich muß al- lerdings auch zugeben, daß eine Lösung gefunden werden muß, die eindeutig ist. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Diesing: Ich bin erst seit 6 Wochen als Planungsamtschef da. Mir ist in dieser Zeit verschiedentlich über das Werk Kassel etwas gesagt worden, und zwar in der Form, daß Kassel sein Programm nicht ein- hält. Das wurde zurückgeführt – ich kann das nicht beurteilen – auf den Bombenangriff. Ich war in dem Glauben, daß dieser Angriff das Werk unmittelbar betroffen hatte – Fieseler: Wir haben zweimal die gesamten Arbeitsvorbereitungen bis auf das letzte Blatt verloren. Diesing: – Es wurde dann nach dem, was ich gehört habe, immer wie- der festgestellt, daß die Menschen nicht zurückkommen ins Werk wegen der Bombenangriffe, und es ist in irgendeiner allerdings nicht deutlich präzisierten Form der Vorwurf gemacht worden, daß die Werksleitung nicht energisch genug gewesen sei, die Leute zurück- zuholen, oder daß vielleicht die Voraussetzungen dafür nicht da wa- ren. Das wurde aber nie genauer präzisiert. Ich kann es nicht amt- lich als feste Erfahrungstatsache feststellen, sondern für mich war die Tatsache nur die, daß das Werk die Zahl nicht erbracht hat, was auf den Bombenangriff auf Kassel und darauf zurückgeführt wurde, daß die Arbeiter nicht ins Werk zurückgekommen sind. Sachse: Da kann man der Firma Fieseler keinen Vorwurf daraus ma- chen. Fest steht, daß die Kasseler Stellen sehr viel nach dem Angriff geschaffen haben, daß aber auch sehr viel gesündigt worden ist, und namentlich hinsichtlich der Arbeitseinsatzfrage ließ die Sache viel zu wünschen übrig. Bis heute sind die Leute, die in Banken und großen Firmen waren und zum Teil total ausgebombt sind, nirgends erfaßt. Wir haben viele Leute in Kassel, die nach Thüringen gegangen sind. Wir wollten die Leute bestrafen lassen. Es ist nichts darauf gekom- men. Es sollte ein Konzentrationslager eingerichtet werden, ein frü-

302 heres Stalaglager. Aber auf den ersten, der da hinein soll, warten wir noch. Daraus können wir Fieseler keinen Vorwurf machen. Thalau: Wir haben über den Sommer des vergangenen Jahres bis weit über die Tage des 28. und 30. Juli, wo beide Male Kassel durch die Angriffe so schwer getroffen wurde, unser Monatsprogramm für Storch und 190 mit 50 % überliefert und bis November in voller Hö- he gehalten. Wir konnten dann nicht mehr liefern, weil unsere Mate- rialien abgestoppt wurden und wir hermetisch abgeschlossen waren. Auf diesen Zustand habe ich hingewiesen in meinem Lagebericht vom November, und es ist, von uns gesehen, nichts darauf erfolgt. Ich habe vorausgesagt: es wird sich in den nächsten Monaten ein Einbruch ergeben, weil die maßgebenden Stellen nichts dazu getan haben. Die Berichte habe ich ans RLM übersandt. Saur: Ich glaube, daß es keinen Sinn hat, in diesem Kreise über die Dinge weiter zu diskutieren. Ich entscheide heute in keiner Rich- tung. Ich appelliere aber an Sie, Herr Prof. Thalau, und an Sie, Herr Fieseler, daß mir unter allen Umständen die Einheit in der Führung des Werkes gewahrt wird. Die Verantwortung für sämtliche Fragen der Fertigung hat Herr Thalau. Er ist in meinen Augen der Be- triebsführer, dem Gesetze nach sind Sie es. Sie müssen sich so lange als absolut eingespannt betrachten, bis die Dinge einer endgültigen Klärung entgegengeführt werden. Ich verlange aber, daß diese Klä- rung in kurzer Zeit erfolgt. Denn dies ist keine Lösung, sondern ein Kompromiß, der vorläufig nicht durch eine Sofortentscheidung in ir- gendeiner Form gelöst werden kann. Ich wäre dankbar, wenn die Herren, der Rüstungsinspekteur, der Werksbeauftragte und von sei- ten der Führung der Hauptausschußleiter und der verantwortliche Amtschef, Herr Vorwald, sich dieser Dinge eingehend annehmen würden und mir in Kürze einen Vorschlag für eine endgültige Lösung machen würden. Ich möchte das Werk bitten, das, was die Herren heute morgen gehört haben hinsichtlich des Werkes Oschersleben, zu beherzigen. Ich muß von Ihnen verlangen, wesentlich mehr her- auszuholen wie bisher und dazu beizutragen, das neue Programm so rasch wie möglich zu erfüllen. Denn der Ernst der Situation ist so, daß es letzten Endes gerade auf die 2 oder 3 oder 5 oder 100 Ma- schinen ankommt, die wir noch zusätzlich hätten bringen können, wenn wir wirklich das Letzte herausgeholt hätten. Wenn jeder nach dieser Devise arbeitet, zweifle ich nicht, daß die Maschinen da sein werden. Handeln Sie danach, alles andere ist Nebensache, die Zahl der Maschinen ist allein entscheidend. Sachse: Sie verlangen in diesem Monat 80 Maschinen. Ich bitte, dazu Stellung zu nehmen, Herr Thalau.

303 Thalau: 68 sind noch übrig aus der alten Ausführung. Darüber hin- aus müssen wir den Anschluß an die Ausführung A8 finden. Saur: Es ist behauptet worden, diese Ausführung hätte einen voll- kommen neuen Rumpf. Stimmt das? Thalau: Das nicht. Aber es sind zahlreiche Änderungen daran, 500 neue Gruppen. Die Unterlagen sind nicht zu dem Termin gekommen, zu dem wir sie nötig hatten. Saur: Können Sie den Anschluß der 12 Maschinen gewährleisten? Thalau: Wir können gewährleisten, daß die ersten 7 Maschinen der Ausführung A 8 in den ersten Apriltagen zur Ausführung kommen, und daß wir sie nachliefern. Saur: Das hat keinen Sinn. Wir machen uns hier kein Theater vor. Es kommt darauf an, [was] die Truppe abholen kann am 30. März. Thalau: Das sind 68 Maschinen. Saur: Das ist eine absolut ungenügende Leistung. Ich verstehe nicht, daß Sie nicht von sich aus sagen, hier kann mehr gemacht werden. (Zuruf: Die Arbeitszeit erhöhen!) Thalau: Es ist mit der Arbeitszeit nicht zu machen. Es handelt sich darum, daß die Teile, die noch fehlen, herankommen. Frydag: Geben Sie mir die Liste. Saur: Welche Voraussetzungen sind dazu nötig? Thalau: Ich halte es für unmöglich, im März diese 18 Maschinen ab- zuliefern. Ich darf darauf hinweisen, daß – Saur: Ich wäre vorsichtig mit dem Wort „unmöglich“. Ich werde sol- chen Sachen sonst sehr scharf nachgehen. Thalau: Ich kann versprechen, daß wir unser Möglichstes tun werden. Ich habe 3 Kinder und erwarte ein viertes und weiß genau, um was es geht. Wenn irgendwo die Überzeugung da ist, daß es sich um die Jäger dreht und um nichts anderes, dann in unserer Firma. Wir ha- ben zwei Jahre lang den Mund aufgemacht, und man hat uns nicht gehört. Fieseler: Die Berichte, die wir eingereicht haben, bis zum Minister Himmler, habe ich persönlich geschrieben, weil ich aufgefordert wurde, meine Meinung zu sagen. Bis heute ist keine Antwort darauf gekommen. Ich bin zum Gauleiter gegangen und habe ihm gesagt, was los ist. Ich habe einen Bericht von 6 Seiten gemacht. Man hat nicht geantwortet. Die Dinge liegen da. Saur: Welche Möglichkeiten sehen Sie, um 80 zu erreichen? Fieseler: Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Wenn Herr Thalau, der drinsteht, erklärt [es geht nicht], dann wäre ich charakterlos, wenn ich sagte: es geht. Ich kann nur sagen, daß wir das Menschenmögliche tun, und daß wir mit unserer Gefolgschaft heute machen können, was wir wollen. Es ist nicht ein Mann, der

304 erklärt, er tue nicht mit. Die Leute arbeiten, bis sie umfallen. Ich ha- be ohne einen Pfennig angefangen. Wir waren 11 Kinder zu Hause. Und wenn ich dieses Werk hingestellt habe, dann scheint es doch ir- gendwie einen Grund zu haben, daß das möglich war. Dann scheint das kein Nichtskönner zu sein, der das fertiggebracht hat, der 7 Jah- re lang jeden Sonntag geflogen ist, um das Geld zusammenzuholen. Saur: Herr Thalau, es bleibt dabei, daß die Forderung von 80 Maschi- nen dem Werk auferlegt ist. Es liegt an Ihnen, die Voraussetzungen anzumelden, die erfüllt werden müssen. Je früher, desto besser. Ge- ben Sie sofort Ihre Liste Herrn Frydag ab. Melden Sie jetzt noch, wenn Sie irgendwelche Forderungen haben in Bezug auf Arbeiter, Energie, Transport, Werkzeug usw. usw., und geben Sie das alles heute abend durch Kurier nach Dessau. Ich erwarte, daß Sie das Menschenmögliche herausholen. Ich danke Ihnen, meine Herren.

305 Urteilsbegründung der Spruchkammer (Quelle: HHStAW Abt. 520/K-Z Nr. 3019, Bd. I, 3, Bl. 70)

Der 1896 geborene Betroffene war einfaches Mitglied der NSDAP. Er war weiterhin Mitglied des NSFK im Rang eines Oberführers ehrenhal- ber; er wurde vom Reichsluftfahrtministerium im Jahre 1937 zum Wehrwirtschaftsführer ernannt. Der Betroffene ist auf Grund dieser Tatsachen formell Hauptschuldiger im Sinne des Gesetzes. Die Beweisaufnahme ergab, daß der Betroffene als Flugzeugbauer in der Hauptsache mit eigenen Mitteln ein bestehendes kleineres Werk übernommen und zu einem Betrieb von Weltgeltung emporgeführt hat. Dieses Werk geriet nach der sogenannten Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in das Fahrwasser der nationalsozialistischen Machtpolitik, d. h., das RLM verstand es durch gewisse Maßnahmen, die im Verlauf der Verhandlungen eingehend erörtert wurden, ent- scheidenden Einfluß zu gewinnen. Der Betroffene selbst wurde im Verlauf dieser Entwicklung ein Spielball dieser Maßnahmen; es gelang, das Werk und damit die Produktionsgestaltung seiner Entscheidung zu entziehen. Zu bemerken ist, daß zum Zeitpunkt der „Machtüber- nahme“ das Werk als gesund und schuldenfrei dastand. Im einzelnen ergab die Beweisaufnahme folgendes: Der Betroffene wurde auf Grund seiner bekannten Verdienste im Luftfahrtwesen – Meisterschaften im Kunstflug – zum NSFK-Ober- führer ehrenhalber ernannt. In Hinsicht auf die Bedeutung, die den Fieseler-Werken im Rahmen der Wiederaufrüstung von Seiten des RLM beigelegt wurde, erfolgte auch seine Ernennung zum Wehrwirt- schaftsführer. Nach Auffassung der Kammer ist es belanglos, aus wel- chen Gründen der Betroffene 1933 Mitglied der NSDAP wurde. Dieser Eintritt geschah ohne Zweifel freiwillig. Die Beweisaufnahme ergab, daß der Betroffene zu jeder Zeit gegenüber politisch Andersdenkenden und rassisch Verfolgten, wie auch ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen sich menschlich und schlicht einwandfrei verhalten hat. Frühzeitig zeigte sich, daß der Betroffene durch eine Reihe von Handlungen den Nationalsozialis[mus] aktiv bekämpft hat. Er hat nicht nur einem größeren Personenkreis gegenüber Äußerungen, wie etwa „Hitler ist ein Verbrecher“, getan, sondern er hat darüber hinaus in Einzelfällen Handlungen begangen, die, wie die Beweisaufnahme ergab, geeignet waren, den Bestand des nat. soz. Regimes zu gefähr- den. Hierher gehört beispielsweise die durch den jüdischen Zeugen David, Grebenstein, nachgewiesene Ausstellung einer von dem Betrof- fenen mit dem Namen des „Stellvertreters des Führers“ Heß gefälsch- ten Bescheinigung, die diesen Zeugen vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus schützen sollte und auch geschützt hat. Der Be-

306 troffene hat außerdem nachgewiesenermaßen systematisch jüdische Mitarbeiter in sein Werk gezogen und für die Vernichtung der für Ar- beitsfront, Gestapo und ähnliche Stellen bestimmte Personen absicht- lich mit vollem Bewußtsein in seinem Werk arbeiten lassen. Durch sein Verhalten bewirkte er, daß die Produktion an Kriegsflugzeugen nicht den Umfang annahm, den sich die nat. soz. Kriegsführung er- hofft hatte. In diesem Zusammenhang wurden ihm Defaitismus und Sabotage von seitens des RLM und seines Beauftragten vorgeworfen. Die Kammer prüfte eingehend die Frage einer evtl. Nutznießerschaft. Sie gelangte auf Grund der Beweisaufnahme, insbesondere auf Grund des umfangreichen, hier vorliegenden Zahlenmaterials zu der Überzeu- gung, daß eine Nutznießerschaft dem Betroffenen nicht zur Last gelegt werden kann, da sein Einkommen in den Jahren nach 1933 nur un- wesentlich höher gewesen ist, als in den Jahren vor 1933. Das von ihm erzielte Einkommen steht nach Auffassung der Kammer in einem durchaus gerechtfertigten Verhältnis zu seinen Aufgaben und Leistun- gen. So hat der Betroffene insbesondere auf sozialem Gebiet vorbildlich für seine Belegschaft, gleichgültig ob es sich um In- oder Ausländer handelte, gesorgt. Auf Grund der Beweisaufnahme sah die Kammer die Widerlegung der präsumtiven Einstufung des Betroffenen als Hauptschuldigen als er- bracht an. Sie verneinte weiterhin, daß der Betroffene als Aktivist im Sinne des Art. 7 I Ziff. 1 und 2 BefrG. anzusehen ist. Die Kammer ist der Auffassung, daß die in der „Fieseler-Zeitung“ enthaltenen Aufrufe unter Zwang und in Hinsicht auf die gegebenen Verhältnisse entstan- den sind. Sie gelangte zu der Überzeugung, daß der Betroffene ent- sprechend Art. 13 BefrG. nur ein formelles Mitglied der NSDAP gewe- sen ist, und daß er auf Grund der durch die Beweisaufnahme er- brachten Tatsachen entsprechend dem Maß seiner Kräfte aktiven Wi- derstand gegen die nat. soz. Gewaltherrschaft geleistet hat. Die Kam- mer vertritt die Auffassung, daß die dadurch erlittenen Nachteile er- heblicher Art sind. So wurde insbesondere durch die Zeugenaussage des Arztes des Betroffenen, Dr. Rohrbach, nachgewiesen, daß ein be- stehendes Herzleiden sich erheblich verschlechtert hat. Das Werk des Betroffenen wurde auf Grund seiner produktionshemmenden Haltung Anfang des Jahres 1944 durch das RLM beschlagnahmt. Die Ver- schlechterung des bestehenden Herzleidens trat unmittelbar nach der Beschlagnahme und Kaltstellung des Betroffenen durch einen Kom- missar ein. Die Bestimmungen des Art. 13 BefrG. sind damit in vollem Umfang erfüllt und der Betroffene war, wie gesehen, zu entlasten. Die Entlastung hatte zur Folge, daß die Kosten des Verfahrens in vollem Umfang der Staatskasse aufzuerlegen waren.

307 Quellen- und Literaturverzeichnis

Unveröffentlichte Quellen

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Gerhard Fieseler Stiftung, Lilienthalstraße 3, Kassel-Bettenhausen Diverse Fotos und Unterlagen, gesammelt in mehreren Alben.

Interviews Gesprächsnotizen des Verfassers von einem Interview mit einem ehemaligen Lehrling der Gerhard Fieseler Werke GmbH, Herrn B., vom 11.1.2001. Gesprächsnotizen des Verfassers von einem Interview mit der ehemaligen Chefsekretärin Gerhard Fieselers (nach 1945) und späteren Kuratoriumsvorsitzenden der Gerhard Fieseler Stiftung vom 22.6.2001.

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309 Wollstein, Günter (Hg.): Quellen zur deutschen Innenpolitik 1933-1939, Darmstadt 2001 (Ausgewählte Quellen zur deut- schen Geschichte der Neuzeit, Freiherr vom Stein Gedächt- nisausgabe, Bd. XXXIII).

Zeitungsartikel Hessische Nachrichten Nr. 20 vom 25.1.1949; Nr. 22 vom 27.1.1949; Nr. 74 vom 31.3.1959; Nr. 88 vom 16.4.1971. Hessische Niedersächsische Allgemeine Zeitung Nr. 209 vom 9.9.1987; Nr. 15 vom 14.4.1996, Nr. 87 vom 15.4. 1971 Kasseler Post Nr. 158 vom 12.6.1934; Nr. 344 vom 15.12.1937; Nr. 100 vom 30.4. u. 1.5.1952; Nr. 101 vom 3. u. 4.5.1952; Nr. 89 vom 16.4.1956. Kurhessische Landeszeitung Nr. 302 vom 28./29. Dezember 1935.

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317 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herr- schaft, Bonn 21993 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung: Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 314), S. 198-217. Thomas, Georg: Geschichte der deutschen Wehr- und Rüs- tungswirtschaft (1918-1943/45) (herausgegeben von Wolf- gang Birkenfeld), Boppard 1966 (Schriften des Bundesar- chivs, Bd. 14). Völker, Karl-Heinz: Die Deutsche Luftwaffe 1933 - 1939. Aufbau, Führung und Rüstung der Luftwaffe sowie die Entwicklung der deutschen Luftkriegstheorie, Stuttgart 1967 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 8). Vollnhals, Clemens (Hg.): Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991. Weiß, Hermann: Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 21998. Wieleba, Sophie: Die Fremdarbeiter in Crumbach und Ochshau- sen während des Zweiten Weltkrieges, in: Gemeindevorstand der Gemeinde Lohfelden (Hg.): Streifzüge durch 900 Jahre Ortsgeschichte. Crumbach und Ochshausen 1102-2002, Gudensberg-Gleichen 2001.

318 Bildnachweis

Titelseite: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1941, S. 18. S. XII: Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938, S. 1. S. 23: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1942, S. 13. S. 27: Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1938, S. 5. S. 48: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1941, S. 18. S. 54: Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1938, S. 7. S. 56: Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1938, S. 9. S. 75: Fieseler-Zeitschrift Nr. 12/1938 (Titelseite). S. 84: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1938, S. 12. S. 95: Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 126 S. 110: Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1940, S. 2. S. 112: Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1938, S. 3. S. 113: Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1939 (Titelseite). S. 126: Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1942 (Titelseite). S. 137a: Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1940, S. 1. S. 137b: Fieseler-Zeitschrift Nr. 5/1940 (Titelseite). S. 138: Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1942, S. 21. S. 139: Fieseler-Zeitschrift Nr. 6/1939, S. 7. S. 143: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1938, S. 13. S. 146: Fieseler-Zeitschrift Nr. 4/1940, S. 7. S. 147: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1939, S. 1. S. 152: Fieseler-Zeitschrift Nr. 1/1942, S. 4. S. 155: Fieseler-Zeitschrift Nr. 3/1938, S. 3. S. 169: Kammler, Jörg und Krause-Vilmar, Dietfrid: Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945 (Band 1). Eine Dokumentation, Kassel 1984, S. 429. S. 170: Fieseler Zeitschrift Nr. 6/1940, S. 5. S. 176: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1943, S. 5. S. 202: Fieseler-Zeitschrift Nr. 10/1938, S. 8. S. 226: Fieseler-Zeitschrift Nr. 2/1938, S. 19.

319 Abkürzungsverzeichnis

BA/MA Bundesarchiv/Militärarchiv BefrG Befreiungsgesetz Bl. Blatt CIC Counter Intelligence Corps DAF Deutsche Arbeitsfront DLV Deutscher Luftsport Verband d.V. der Verfasser Fi Fieseler FW Focke-Wulf GFW Gerhard-Fieseler-Werke G. M. Gefolgschaftsmitglieder HHStAW Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ISK Internationaler Sozialistischer Kampfbund KdF Kraft durch Freude KZ Konzentrationslager Me Messerschmitt Mio. Millionen NSBOT Nationalsozialistischer Bund deutscher Techniker NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSFK Nationalsozialistisches Fliegerkorps OKW Oberkommando der Wehrmacht OMGUS Office of Military Government of the United States (Oberste Militärregierung Deutschland) RLM Reichsluftfahrtministerium RM Reichsmark SA SD Sicherheitsdienst SHAEF Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Forces SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS USFET United States Forces European Theater

320 Dank

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete und erweiterte Fassung einer Staatsexamensarbeit, die im Oktober 2001 an der Universität Kassel im Fachbereich Geschichte eingereicht wurde. Den Anstoß zur Erweiterung dieser Arbeit zwecks Veröffentlichung gab Prof. Dr. Krause-Vilmar. Ihm gilt der ausdrückliche Dank des Verfassers. Ohne seine Unterstützung und ohne seine zahlreichen hilfreichen Gespräche und Hinweise zur inhaltlichen Gestaltung wäre dieses Projekt nicht realisierbar gewesen. Mein weiterer Dank gilt Eber- hard Mey, der auf Basis der ursprünglichen Fassung ebenfalls wertvolle Vorschläge und Anregungen sowohl für die inhaltliche Konzeption als auch die weitere Vorgehensweise gab. Stephan von Borstel danke ich für die Gestaltung des Einbandes und Winfried Jenior für die mühsame Arbeit des Lektors, die Herstellung des druckfähigen Manuskripts und die Publikation in seinem Verlag. Abschließend gilt mein Dank meiner Familie, insbesondere meinen Eltern, die mir das Studium ermöglichten und mir stets ihre für- sorgliche Hilfe zukommen ließen und Claudia Schunkert für ihre verständnisvolle und geduldige Unterstützung.

Kassel, im September 2003 Thorsten Wiederhold

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