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John Murph: Vom Soundtrack einer Bewegung

Wolf Kampmann: Die Globalisierung des – Chance oder Falle?

Richard Williams: Von den Townships an die Themse

John L. Walters: Die Neuerfindung des Jazz-Klaviertrios: The Necks

Michael Watts: A Home For Heroes: David Bowie in Berlin

Felix Klopotek: Improvisation als Werk

Nadin Deventer: Talking ’bout my Generation I wish I knew how it would feel to be free

And I wish I knew how It would feel to be free I wish I could break All the chains holdin’ me I wish I could say All the things that I should say

Say ‘em loud say ‘em clear For the whole ‘round world to hear I wish I could share All the love that’s in my heart Remove all the doubts That keep us apart

I wish you could know What it means to be me Then you’d see and agree That every man should be free

Von Dr. Billy Taylor (1954), aufgenommen von Nina Simone (1967) Willkommen beim Jazzfest Berlin 2015

In diesem Jahr startet das Jazzfest Berlin in das zweite der Trompeter Ambrose Akinmusire vertreten die un­ halbe Jahrhundert seines Bestehens mit der Frage: gebrochene Vitalität der afroamerikanischen Tradition. Was ist Jazz heute und wohin geht seine Reise? Das Und als Mini-Festival im Festival angelegt sind die Programm des diesjährigen Festivals soll die konti­ Auftritte des Giovanni Guidi Trio, des Julia Kadel Trio nuierliche Entwicklung einer Musik widerspiegeln, und von Plaistow, die zeigen, wie unerschöpflich die deren Einfluss zunehmend weit über die eigenen Möglichkeiten des Piano-Bass-­Drums-Formats in den Grenzen hinweg zu spüren ist und deren Interpret*­ Händen junger Musiker*innen sind. innen eines gemeinsam haben: den Wunsch, weiter zu kommen. Schon Joachim-Ernst Berendt, der Gründungskurator des Festivals, hat die zunehmend internationale Jazz hat viele Facetten, und der Impuls zur Vorwärts­ Ausrichtung des Jazz erkannt. In diesem Jahr stellen bewegung ist einer davon. Das Festivalprogramm wir den armenischen Pianisten Tigran Hamasyan, für 2015 präsentiert Künstler*innen aus unterschied­ den puerto-ricanischen Saxofonisten Miguel Zenón lichen Generationen und 30 Nationen, die eines und das australische Improvisationstrio The Necks miteinander verbindet: Sie alle sind künstlerisch per­ vor, letzteres wird in einer ungewöhnlichen Umge­ manent in Bewegung. Sie zeigen, dass der Jazz im bung auftreten. Grunde kein Stil ist, und auch keine Abfolge verschie­ dener Stile, sondern eher eine innere Einstellung – Unser Engagement für eine engere Anbindung des ein „spirit“. Festivals an die kreativen Szenen in den aufblühenden – ehemals Ost-Berliner – Bezirken findet seinen Aus­ Wir freuen uns, drei herausragende Bandleader zu druck in den Auftritten zweier ausgesprochen ex­ präsentieren, die sich nicht auf ihren vergangenen perimentierfreudiger großer Ensembles. Das von Erfolgen ausruhen – obwohl sie mehrere Jahrzehnte Musiker*­innen der Berliner Echtzeitmusik-Bewegung Musikgeschichte verkörpern. Charles Lloyd wird „Wild gegründete Splitter Orchester wird ein neues Werk Man Dance“ vorstellen, eine neue Suite, für die er sein des gefeierten amerikanischen Komponisten George Quartett um griechische und ungarische Musiker Lewis aufführen. Das Ensemble Diwan der Kontinente erweitert hat. Irische Folk-Melodien inspirierten Keith vereint in Berlin lebende Musiker*innen vieler Nationen, Tippetts „The Nine Dances of Patrick O’Gonogon“, einige von ihnen spielen auf traditionellen Instru­ das er für sein Oktett komponierte. Und -­ menten. Sie werden Stücke präsentieren, die eigens Moholo, den das europäische Publikum vor 50 Jahren für dieses Konzert geschrieben wurden. Diese beiden kennenlernte, als er und seine Blue Notes auf der Uraufführungen bergen ein gewisses Risiko, sowohl Flucht vor dem Apartheid-Regime hierher kamen, für die Musiker*innen als auch für das Publikum. tritt gemeinsam mit begabten Musikern der jüngeren Aber Jazz ohne Entdeckergeist wäre eben niemals Generation auf. wirklich Jazz!

Geschichte und Tradition des Jazz bilden das Funda­ ment einer Zukunft, die den jüngeren Musiker*innen Richard Williams Thomas Oberender unseres Programms gehört. Gleichsam als Symbol Künstlerischer Leiter Intendant für Fortschritt und Kontinuität kann man den Auftritt Jazzfest Berlin Berliner Festspiele von Vincent Peirani sehen: Der junge französische Akkordeonist trat im vergangenen Jahr beim Jazz­ fest Berlin in der Band von Daniel Humair auf, der seinerseits 1964 schon beim allerersten Festival in Berlin dabei war. Die Sängerin Cécile McLorin Salvant und

Jazzfest Berlin March on Washington, 28. August 1963 mit Martin Luther King, Jr. © Wikimedia Commons

Musiker wie Ambrose Akinmusire, Matana Roberts und Robert Glasper stellen sich den Turbulenzen des schwarzen Amerika Vom Soundtrack einer

Bewegung Von John Murph

ls Dr. Martin Luther King, Jr. im gewalttätigem Widerstand begleitet, Taylor, , Charles Mingus Jahr 1964 das Geleitwort für die Ungerechtigkeiten gegen schwarze und Sonny Rollins erkannten die sozio­ die ersten Berliner Jazztage Amerikaner zu beseitigen. Das Geleitwort politische Kraft ihrer musikalischen schrieb, zeigte er auf, dass der entstand ein Jahr nach Kings messia­ Stimmen und prägten mit mitreißen­ AJazz die vielfachen sozialen Ungerech­ nischer „I Have a Dream“-Rede, die er den Liedern wie „Mississippi Goddam“, tigkeiten thematisiert, die vor allem während der als „March on Washington“ „Malcolm, Malcolm, Semper Malcolm“ schwarze Amerikaner betrafen. Durch in die Geschichte eingegangenen poli­ und „I wish I knew how it would feel to diese lyrische Beschwörung Dr. Kings tischen Großkundgebung am Lincoln be free“ den Soundtrack der Bürger­ wurden die Festivalbesucher aufgefor­ Memorial hielt und die zum „Civil Rights rechtsbewegung von Mitte der 1950er dert, die Auftritte von Miles Davis, Act“, dem Bürgerrechtsgesetz von 1964, bis Ende der 1960er. Coleman Hawkins, George Russell und führte. Das Geleitwort ging auch den Sister Rosetta Tharpe nicht nur zu Protestmärschen „Selma to Montgo­ Auch fünf Jahrzehnte später ringt das genießen, sondern die Musiker auch mery“ voraus, die – trotz schrecklicher schwarze Amerika noch immer um Ge­ als Menschen wahrzunehmen und ihren Ereignisse wie dem „Bloody Sunday“ – rechtigkeit. Und obwohl Genres wie Wert über die reine Unterhaltung hin­ den „Voting Rights Act“, das Wahlrechts­ Hip-Hop, Rock und R&B mittlerweile aus anzuerkennen. gesetz von 1965, zur Folge hatten. in den Vereinigten Staaten und inter­ national populärer sind als der Jazz, In den Vereinigten Staaten gab es Mitte Jazzmusiker und Jazzmusikerinnen verleihen Jazzmusiker wie der Pianist der 1960er Jahre Bemühungen, oft von wie Max Roach, Nina Simone, Billy Robert Glasper, die Saxofonistin Matana

4 „Der Jazz spricht vom Leben. Der Blues erzählt die Geschichten der schweren Seiten des Lebens, und wenn Sie kurz nachdenken, werden Sie erkennen, dass sie beide die schwierigsten Realitäten des Lebens nehmen und sie in Musik fassen. So entsteht neue Hoffnung, ein Gefühl des Triumphes. Diese Musik triumphiert.“ Martin Luther King, Jr., Geleitwort für die ersten Berliner Jazztage 1964

Roberts und die Trompeter Ambrose Anderson und Sandra Bland. Unter­ Widerhall im Akinmusire, Christian Scott und Terence dessen gewann #BlackLivesMatter zeit­genössischen Jazz Blanchard unverdrossen ihrer Frustration an Bedeutung. Die Bewegung formali­ Das Feuer, aus dem die #BlackLives­ und ihren Ansichten über Rassenfra­ sierte ihren Kampf gegen die aggressive Matter-Bewegung ihre Kraft bezieht, gen und andere soziale Missstände Aus­ Kriminalisierung schwarzer Menschen, ist auch in neueren Jazz-Kompositionen druck. Diese Musiker und einige ihrer forderte Reformen des Polizei- und zu spüren, wie zum Beispiel in Akin­ Kollegen prägen den Soundtrack von Gefängniswesens und umfassende musires „My Name is Oscar“ und „Roll­ #BlackLivesMatter, einer Protestbe­ Rechenschaft von Polizisten, die ohne call for Those Absent“. „My Name is wegung des frühen 21. Jahrhunderts. Not Staatsbürger töten. Außerdem Oscar“ ist auf seinem Album „When verlangt sie, dass örtliche Exekutiv­ the Heart Emerges Glistening“ aus organe nicht mehr von der Regierung dem Jahr 2011 zu finden, eine Spoken-­ #BlackLivesMatter der Vereinigten Staaten mit Militär­ Word-Exkursion in Jazzmanier, ange­ Diese Bewegung wurde von Alicia Garza, waffen versorgt und die Finanzierung trieben von den schneidenden Poly­ Special Projects Director bei der in New der Polizei zugunsten von Investitionen rhythmen des Schlagzeugers Justin York ansässigen National Domestic in bessere Wohnverhältnisse, Beschäf­ Brown, die Schüsse und tätliche Angriffe Workers Alliance, Patrisse Cullors, tigung und Bildung in verarmten Ge­ evozieren. Anstatt wie sonst Trompete Leiterin der Initiative Dignity and Power meinden reduziert werden. #Black­ zu spielen, spricht Akinmusire hier Sätze Now mit Sitz in Los Angeles, und Opal LivesMatter positioniert sich als wie „I am you“, „Don’t shoot“ und „We Tometi, geschäftsführende Leiterin de­zentralisierte, überparteiliche Basis­ are the same“ – Sätze, die die Erschie­ der Kampagne Black Alliance for Just bewegung mit 26 Ortsgruppen und ßung des unbewaffneten 22-jährigen Immigration in Oakland, Kalifornien, weltweitem Anschluss an gleichge­ Schwarzen Oscar Grant II heraufbe­ ins Leben gerufen. Zunächst brachten sinnte Organisationen. Durch strate­ schwören. Grant wurde 2009 in Oakland, sie einen Hashtag in den sozialen gische politische Interventionen, zu­ Kalifornien, von Johannes Mehserle, Medien in Umlauf, um gegen den Frei­ nächst auf kommunaler Ebene, in einem Beamten der Bay Area Rapid spruch für den Wachmann George jüngster Zeit aber auch mit nationaler Transport Police, getötet, nachdem er Zimmerman im Juli 2013 zu protestie­ Präsenz, will die Bewegung sicherstel­ mit einigen Freunden an einer U-Bahn­ ren, der des Mordes mit bedingtem len, dass ihre soziopolitischen Anliegen station festgenommen worden war. Vorsatz angeklagt war, weil er in San­ im Präsidentschaftswahlkampf 2016 Mehserle wurde der fahrlässigen Tötung ford, Florida, den unbewaffneten 17-­­ zu unumgänglichen Wahlkampfthe­ für schuldig gesprochen, nicht aber jährigen Afroamerikaner Trayvon men werden. So unterbrachen Mitglie­ wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz Martin erschossen hatte. Weltweite der bereits Wahlreden von Bewerbern im und Totschlags. Aufmerksamkeit erhielt #BlackLives­ Rahmen der Wahlkampf­nominierung Matter jedoch erst im August 2014, als der demokratischen Partei, wie zum „Rollcall for Those Absent“ erschien in Ferguson, einer Stadt im Bundesstaat Beispiel die von Hillary Clinton, Bernie auf Akinmusires jüngstem Album aus Missouri, massive Proteste und Unruhen Sanders und Martin O’Malley. dem Jahr 2014, „the imagined savior ausbrachen: Darren Wilson, ein 28- is far easier to paint“. Wiederum als ­jähriger weißer Polizist hatte den un­ ie seit langem schwelende Ver­ Spoken-Word-Stück und ebenso er­ bewaffneten afroamerikanischen bitterung und die Dringlichkeit, nüchternd wie „My Name is Oscar“, 18-jährigen Teenager Michael Brown die #BlackLivesMatter antrei­ zählt in dieser Komposition das junge erschossen, nachdem dieser eine ben, werden in der Losung der Mädchen Muna Blake die Namen von Schachtel Zigarillos gestohlen hatte. DBewegung zutreffend ausgedrückt. Menschen auf, die von der Polizei getö­ Einige Monate später entschied sich Anders als frühere Epigramme wie „I tet wurden. Akinmusire und Sam Harris ein Großes Geschworenengericht in Have a Dream“ oder „The Audacity unterlegen Munas unschuldig klingende St. Louis gegen eine Anklage Wilsons of Hope“ ist „Black Lives Matter“ auf Stimme mit langgezogenen melan­ wegen Mordes. unmissverständliche Weise prägnant cholischen Keyboard-Akkorden. Akin­ und bedeutet genau das, was es aus­ musires beeindruckende Diskografie In der Folge kam es mit erbarmungs­ drückt: Das Leben schwarzer Men­ enthält zahlreiche ähnliche Komposi­ loser Regelmäßigkeit zu ähnlichen schen zählt. Dieser Slogan ist ähnlich tionen, so zum Beispiel „M.I.S.T.A.G. Vorfällen zwischen Polizisten und un­ unerschrocken wie der Titel von Max (My Inappropriate Soundtrack to a bewaffneten schwarzen Menschen, Roachs Albumklassiker von 1960, Genocide)” und „Ceaseless Inexhaus­ darunter John Crawford III, Eric Garner, „We Insist!“ tible Child (Cyntoia Brown)“. Er sieht es Tamir Rice, Freddie Gray, Tanisha als seine Pflicht als Künstler an, durch

Jazzfest Berlin seine Arbeiten auf soziopolitische Ver­ (Stephen Bruner), der Sänger Bilal „BlackLivesMatter“ lautet, ohne dies änderungen hinzuwirken. „Ich hätte und die Produzenten Terrace Martin explizit formulieren zu müssen. gerne den Luxus oder die Willenskraft, und Flying Lotus (Steven Ellison). Der als perfekter Menschenfreund ein Jazzeinfluss auf „To Pimp a Butterfly“ Die Ansichten von #BlackLivesMatter Ding zu machen, bei dem Rasse keine wird in dem Stück „For Free? (Interlude)“ sind in zahlreichen neueren Jazzkom­ Rolle mehr spielt. Aber das, was ich besonders deutlich, einer vernichten­ positionen wiederzufinden, darunter jeden Tag erlebe, erlaubt mir diesen den Anklage der historischen und „Breathless“, ein Stück des Trompeters Luxus leider nicht“, erklärt Akinmusire, noch immer andauernden Unterdrü­ Terence Blanchard, auf dem sein Sohn der in Oakland aufwuchs. „Deshalb ckung der Schwarzen, eingefangen in JRei Oliver die Hoffnung auf Freiheit bin ich dazu gezwungen, meine Musik Lamars maschinengewehrschnellen in einem Umfeld der Unterdrückung aus der Perspektive eines jungen Reimen, in denen es um sexuelle Ob­ preist. Oder „I Can’t Breathe“ von dem afro­amerikanischen Großstädters zu jektivierung, wirtschaftliche Entmün­ Bassisten Marcus Miller, ein mitreißendes schreiben. Das ist etwas ganz Spezi­ digung und die Kultur der Zuhälterei Afro-Jazz-Electronica-Funk-Workout. fisches und Besonderes.“ geht, alles auf einem schneidenden Hier verficht Chuck D., der Frontmann Post-Hardbop-Arrangement. „Ich von Public Enemy, ganz ähnliche Über­ nteressanterweise ist auf der finde, Kendrick und seine Leute tun zeugungen. Beide Stücke beschwören neuesten Platte von Robert genau das, was auch andere schwarze die Worte herauf, die Eric Garner sagte, Glasper, „Covered“, ein Titel Künstler tun sollten, vor allem, wenn bevor er im Würgegriff des Polizisten namens „I’m Dying of Thirst“ zu sie im Rampenlicht stehen“, sagt Daniel Pantaleo aus Staten Island starb, Ifinden, der Akinmusires „Rollcall for Akinmusire. „Er hat sein erstes Album der mit einer ganzen Phalanx von Poli­ Those Absent“ zu spiegeln scheint. Es 2011 herausgebracht und alle fingen zeibeamten unterwegs war. ist die Jazzbearbeitung eines Hip-Hop- an, sich für ihn zu interessieren. Und Titels von Kendrick Lamar und klingt was macht er jetzt? Er redet über m 3. Dezember 2014, als das weniger streng als das Original und die Dinge, die in der schwarzen Große Geschworenengericht als Akinmusires Stück. Glasper unter­ Community passieren. Das trifft ge­ von Staten Island entschied, legt die Musik mit einer beruhigenden nau den Punkt.“ Pantaleo nicht des Mordes an­ Melodie und einem geschmeidigen Azuklagen, verlieh Matana Roberts im Sambarhythmus. Dies konterkariert Wenn „To Pimp a Butterfly“ die passende Brooklyner Konzertsaal Roulette Inter­ er dadurch, dass er seinen sechsjähri­ Musik für eine Keilerei am Samstag­ medium ihrem Zorn in einer eindring­ gen Sohn Riley und seine Freunde eine abend ist, dann erscheint Kamasi lichen einstündigen Multimedia-Arbeit Litanei der Namen schwarzer Ameri­ Washingtons Debüt „The Epic“, das aus namens „Black Lives Matter/All Lives kaner lesen lässt, die von Polizisten drei CDs besteht und ausgesprochen Matter“ Ausdruck. Roberts leitete ein getötet wurden. Viele von ihnen positiv aufgenommen wurde, als das Quartett, das neben ihr selbst aus dem werden auch in „Rollcall for Those für den sonntäglichen Kirchgang ge­ Gitarristen Liberty Ellman, dem Schlag­ Absent“ erwähnt. eignete Gegenstück, zumal Washingtons zeuger Ches Smith und dem Bassisten Kevin Tkacz bestand. Sie entwickelte klagende, „The most vital contemporary music searches for ways schmelzende Altsaxofo­ to articulate new responses to the dramas of social nimprovisationen und gleichsam bildgewaltige change. Technological shifts and upheavals in how to Klanglandschaften mit ­Klarinette, Loop-­ make, how to show, how to hear with clarity, how to Pedal, Tonbandgerät und ­einer aufziehbaren remember, how to move around, how to maintain poise Küchen­uhr. Bald danach in a world gone crazy with commercial and informa­ brachte sie ein weiteres eindrucksvolles und tional delirium.” düsteres Stück heraus: „My Death Must Mean David Toop in „Haunted Weather – Music, Silence and Memory“ Something More: Ju­ stice for Eric Garner Aber die vielleicht stärkste Stellung­ Hintergrundorchestrierung aus Gesang and Michael Brown“, bei dem die nahme des Jazz dieses Jahres, die die und Streichern – vermischt mit schwung­ Bassistin Mechell Ndegeocello, die gesamte Wut und unruhige Energie vollen modalen Grooves und erlösenden Lyrikerin Staceyann Chin und der DJ von #BlackLivesMatter zusammen­ Tenorsaxofonimprovisationen – den Jahi Sundance Lake mitwirkten. fasste, kam in Gestalt eines Hip-Hop- Hörer an die komplexe Schönheit und Albums daher: Kendrick Lamars „To den musikalischen Einfallsreichtum Der grausame Tod des 25-jährigen Pimp a Butterfly“. Sowohl Akinmusire des schwarzen Amerika erinnert. Auf Freddie Gray, der im April 2015 im Ge­ als auch Glasper trugen zu diesem „The Epic“ bringt Washington geschickt wahrsam der Polizei von Baltimore in Album bei, genauso wie weitere Jazz­ die hoffnungsvolle Musik von Ikonen Maryland Rückenmarksverletzungen honoratioren oder Musiker, die die Schule wie Pharaoh Sanders, Horace Tapscott, erlitt, prägt ein von Robert Glasper des Jazz durchlaufen haben, so zum Mary Lou Williams, Marvin Gaye und produziertes und von der R&B-Sängerin Beispiel der Tenorsaxofonist Kamasi Curtis Mayfield zu einer schlüssigen Jazmine Sullivan gesungenes Remake Washington, der Bassist Thundercat Aussage zusammen, die ganz klar des Randy Newman-Stücks „Baltimore“,

6 Demonstration in New York City, 24. November 2014 © CC BY-SA 3.0, Foto: The All-Nite Images

das auf dem Album „Nina Revisited: Großteil der kulturellen Information, hohen Preis für ihre entschiedenen A Tribute to Nina Simone“ zu finden ist. die die junge Generation weltweit ver­ Äußerungen zahlen mussten. Glasper produzierte auch eine um­ mittelt bekommt, keinen großen werfende Modern Jazz-Version von Nährwert hat.“„Ich bin im Ninth Und dabei sollte man die ohnehin schon „Young, Gifted & Black“, auf der die Ward von New Orleans aufgewachsen unsichere Situation der heutigen Musik­ glühende Stimme von Lalah Hathaway und jeder, der schon einmal dort war, industrie nicht vergessen, gerade im zu hören ist und der Rapper Common kann bestätigen, dass es dort wie in Bereich des Jazz. „Bei vielen Künstlern sich über die tödlichen Auseinander­ der dritten Welt zugeht“, fährt Scott geht es ums Überleben“, beobachtet setzungen in Ferguson, Staten Island fort. „Wegen dieser Umstände, durch Ambrose Akinmusire. „Und in diesem und Baltimore auslässt. falsche Zuteilung von Mitteln und Zustand produziert man nicht unbedingt weil sie keinen Zugang zu wichtigen das, was ich für die beste und hoch­ Ressourcen haben, werden viele Men­ wertigste Kunst halte. Ich weiß nicht, Die Situation der Künstler schen zu einem Leben gezwungen, das ob dies besonders für die Jazz-Szene „Liberation Over Gangsterism“, ein sie nicht führen würden, wenn sie gilt. Aber ich finde, dass Künstler im Instrumentalstück auf dem in diesem eine Wahl hätten. Es ist eine kompli­ Allgemeinen und schwarze Künstler Jahr erschienenen Album „Stretch zierte Dynamik.“ im Besonderen weniger über sich selbst Music“ des Trompeters Christian Scott, und mehr über das reden sollten, was das in seiner Emotionalität und The­ ie möglichst große Verbreitung in der Welt vor sich geht. Das haben alle matik Washingtons „The Epic“ sehr auf künstlerischer Ebene ist für Künstler getan, die ich respektiere. Aber ähnelt, bezieht sich zwar nicht direkt die Jazzmusiker, die sich mit den sie haben auch alle den Preis dafür auf #BlackLivesMatter, vermittelt Problemen und der Motivation bezahlt. Dazu müssen wir bereit sein.“ aber ein Bewusstsein für die beunru­ Dder #BlackLivesMatter-Bewegung be­ higende Situation an urbanen Brenn­ schäftigen, zu einem immer wieder­ punkten. Scott möchte mit seinem Titel kehrenden Thema geworden. Viele von Der Musikjournalist und DJ John Murph lebt und arbeitet in Washington, D.C. Er schreibt nicht nahelegen, dass er von oben ihnen finden, dass sie keine andere für „JazzTimes“, „DownBeat“, „JazzWise“, herab eine Botschaft verkünden will. Wahl haben, als das Thema aufzugrei­ das „Atlantic Monthly“, die „Washington Post“ „Ich bin niemand, der sich solch ein­ fen, auch wenn sie damit Gefahr laufen, und weitere Publikationen. facher Rückschlüsse bedient, dass von den Medien und der Musikindustrie schlechte Dinge als Nebenprodukte des Mainstream ausgeschlossen zu dessen passieren, was wir im Fernsehen werden. Diese Sorgen sind nicht unbe­ Das Ambrose Akinmusire Quartet oder im Kino sehen oder was wir in gründet, wenn man bedenkt, dass Iko­ tritt gemeinsam mit Theo Bleckmann Musikstücken hören. Aber letztlich nen wie Roach, Simone, Rollins, Abby am 8. November um 19:00 Uhr im müssen wir ehrlich sagen, dass ein Lincoln und Billie Holiday mitunter einen Haus der Berliner Festspiele auf.

Jazzfest Berlin Die Globalisierung des Jazz – Von Wolf Kampmann Chance oder Falle?

The King & Carter Jazzing Orchestra © The Robert Runyon Photograph Collection, courtesy of The Center for American History, The University of Texas at Austin

azz ist eine häufig gebrauchte das ist, was sie kurz zuvor noch nicht zu tun. Aber was ist Jazz dann? Bis Vokabel, und doch steht sie für gewesen ist. vor wenigen Jahrzehnten konnte man viel Unterschiedliches, teilweise sich noch darauf einigen, dass Jazz sogar Gegensätzliches, einander Jazz ist immer dann spannend, wenn eine genuin amerikanische Musik ist. JAusschließendes. Jeder glaubt zu wissen, er in der Gegenwart Tradition und Avant­ Die Linien, die auf geradem Weg von was der jeweils andere meint, wenn garde vereint. Reine Revivals, von denen der Marching Band in New Orleans, er von Jazz spricht, und doch stimmen es nicht wenige gibt, verharren in der dem Ragtime in St. Louis und den Va­ kaum zwei Auffassungen über die Be­ Vergangenheit und verlieren den An­ rietés in Chicago und New York zu deutung von Jazz überein. Das ist glei­ schluss an die Lebenswirklichkeit ihrer Free und Electric Jazz geführt haben, chermaßen eine der größten Schwächen Zuhörer. Die meisten Versuche, sich über waren in beide Richtungen stringent und Stärken des Jazz. Denn die Viel­ den Kanon hinwegzusetzen, ohne in und nachvollziehbar. falt seiner Auslegungen hält den Jazz irgendeiner Form die Tradition zu berück­ lebendig und erlaubt immer wieder neue sichtigen, versickern wiederum früher Das heißt nicht, dass der Jazz nicht seit Spielarten. Jazz ist die einzige Musik­ oder später in struktureller Apologetik. jeher für außeramerikanische Idiome form, die zu jedem Zeitpunkt immer Auch das hat wenig mit Lebensgeist offen gewesen ist. Schon in grauer Vorzeit

8 hat sich auf dem Congo Square in New zum Jazz made in USA war der Manou­ und Harry Miller angesiedelt, Fela Kuti Orleans aus verschiedenen afrikani­ che Jazz von Django Reinhardt und leistete mit seinem Afrobeat dem Pan­ schen Elementen der afroamerikanische Stéphane Grappelli. Wie sich herausstel­ afrikanismus Vorschub, Keith Jarrett Stil herausgebildet. Für den Ragtime len sollte, als Ellington Reinhardt in die machte vor, dass ein erfolgreicher ebenso wie für das Stride Piano war die USA holte, war er in keiner Weise zum amerikanischer Jazz-Musiker unter klassische europäische Klaviertradition dortigen Jazzgeschehen kompatibel. europäischen Parametern eine ganz wichtig, für den Jazz in New Orleans andere Musik zu machen in der Lage der unablässige Zuzug vor allem italieni­ Es kann kein Zweifel darüber bestehen, ist als im Mutterland des Jazz. Es war scher Musiker. Duke Ellington orientierte dass der europäische Jazz in den ersten immer noch Jazz, hatte aber die ameri­ sich an Maurice Ravel und Claude De­ Jahrzehnten nach dem Zweiten Welt­ kanische Hegemonie abgeschüttelt. bussy, Benny Goodman ließ Paul Hin­ krieg von amerikanischen Musikern Vielleicht war es eine Kollateralfolge der demith und Béla Bartók für sich dominiert wurde. Paris wurde von ganzen unumkehrbaren Tatsache, dass der Rock schreiben, und Woody Herman beauf­ Scharen New Yorker Jazzmusiker heim­ dem Jazz einige seiner Kernkompetenzen tragte Igor Strawinsky mit dem „Ebony gesucht, die dort den Bebop zu neuen wie Improvisation und soziale Teilhabe Concerto“. Der Bebop erschloss die ka­ Blüten trieben. Kenny Clarke, Bud abgeluchst hatte und es auch den Jazz­ ribische Musik, der weitete Powell, Don Byas und Dexter Gordon sind musikern aus der ganzen Welt gelang, seinen Fundus nach Afrika und Indien nur die Bekanntesten unter denen, die den engen Kanon zu überwinden. aus, der Jazzrock basierte auf Errungen­ sich dauerhaft an der Seine niederlie­ schaften der britischen Rock-Szene. ßen. Die Europäer formierten sich und Der Jazz wurde global. Gruppen wie Jazz war von Anfang an und zu allen lernten, blieben aber vorerst Zaungäste. Codona mit dem in Europa lebenden Zeiten die globalste Musikform der Welt. Seltsamerweise hielt es jene Europäer, Amerikaner , dem Brasilianer denen ein eigenständiger Ton bescheinigt Naná Vasconcelos und dem in Indien Doch so paradox das klingen mag, bis wurde, nicht in ihrer Heimat, sondern geschulten Collin Walcott, das Trio des 1970 fand diese Globalisierung nur auf sie gingen nach Amerika, wie die Bei­ Norwegers Jan Garbarek mit dem amerikanischem Boden statt. Im Rest spiele Jutta Hipp, Joe Zawinul, George Amerikaner Charlie Haden und dem der Welt wurde eifrig nachgespielt, was Mraz, Gábor Szabó, Karl Berger, Attila Brasilianer Egberto Gismonti, die Band aus Amerika vorgegeben wurde. Es gab Zoller oder Krzysztof Komeda belegen. des Norwegers Terje Rypdal, des Ameri­ zwar Jazz in Europa, aber keinen euro­ Und so war es kein Wunder, dass das kaners Jack DeJohnette und des Tsche­ päischen Jazz. erste originär europäische Jazz-Album chen Miroslav Vitous, nicht zuletzt das von einem Amerikaner aufgenommen europäische Quartett Keith Jarretts Die Begeisterung der Europäer für wurde. Art Farmer war es, der auf „From wären kurz zuvor noch undenkbar gewe­ amerikanischen Jazz setzte gleich Sweden With Love“ erstmals ein ganzes sen. Was uns heute selbstverständlich nach dem Ersten Weltkrieg ein. James Album mit Jazzinterpretationen von erscheint, war damals einer der größten Reese Europe hinterließ mit dem Or­ Folklore, made in Europe, veröffentlichte. Wandlungsprozesse der Jazz-Geschichte. chester der Harlem Hellfighters in Frankreich einen bleibenden Eindruck. rst Ende der 1960er Jahre setzte Die Globalisierung des Jazz war über Nicht nur in Frankreich, auch in jene Entwicklung ein, die wir einen langen Zeitraum errungen worden Deutschland, England und der Sowjet­ heute als Globalisierung des und erschloss dem Jazz eine Unmenge union setzte eine regelrechte Jazz-­ Jazz wahrnehmen. In Ländern regionaler Idiome. Man denke nur an Euphorie ein. Zahlreiche amerikanische Ewie Großbritannien, den Niederlan­ den Balkan-Boom Ende der 1990er Musiker wie Sidney Bechet oder Coleman den, der Schweiz, Polen, Norwegen Jahre oder an die stilistische Vielfalt Hawkins ließen sich in Europa nieder. und der Bundesrepublik Deutschland, der Radical Jewish Culture. Die ersten gemeinsamen Auftritt von wenig später auch in der DDR und schwarzen und weißen Jazz-Musikern Frankreich hatten sich nationale Jazz-­ osgelöst vom Jazz hat der Begriff nach 1900 fanden nicht etwa in den USA, Biotope herausgebildet, die den Jazz Globalisierung indes längst seinen sondern in Deutschland statt. Einen ge­ um völlig neue Ansätze bereicherten. positiven Beigeschmack verloren. nuinen deutschen, englischen, franzö­ In den 1970er Jahren machte der Be­ Kritisch betrachtet ist Globalisie­ sischen oder russischen Jazz gab es je­ griff Folklore Imaginaire die Runde. In Lrung die weltweite Gewinnoptimierung doch nicht. Der einzige, wenn auch nicht London hatte sich eine südafrikanische der Eliten auf Kosten derer, die an der als solcher angelegte, Gegenentwurf Enklave um Chris McGregor, Louis Moholo mondialen Ausweitung der Märkte

Jazzfest Berlin ökonomisch und sozial nicht parti­ zipieren können. Flüchtlingsströme, wie wir sie zur Zeit weltweit erleben, sind die ebenso unkalkulierte wie unausweichliche Folge. Abschot­ tungserscheinungen ebenfalls. Jazz war in seinen innovativen Phasen niemals die Musik der Eliten, und doch beobachten wir beide Tenden­ zen auch im Jazz.

Was das Migrationsmoment betrifft, ist das ja gar nicht schlecht. Jazz­ musiker waren schon zu allen Zeiten Nomaden. Sie haben ihre Zelte im­ mer dort aufgeschlagen, wo sie die besten Arbeitsbedingungen fanden. Von New Orleans ging’s nach Chi­ cago, von dort nach New York und immer so weiter. Nie zuvor war es so leicht, sich auf globaler Ebene auszutauschen, wie in den Zeiten von Billig-Airlines und Internet. Eine Szene wird nicht mehr dadurch cha­ rakterisiert, dass Musiker zu einem bestimmten Zeitpunkt unter ver­ gleichbaren sozialen und kulturellen Bedingungen aufwachsen, sondern von der vorübergehenden Infrastruk­ tur eines Ortes. Das bringt den Vor­ teil mit sich, dass ein Musiker nicht mehr unweigerlich in eine bestimmte Tradition oder Haltung hineinwächst, sondern einen viel souveräneren Zu­ griff auf seinen frei gewählten künst­ lerischen Kontext hat.

er Jazz-Hype in Berlin kurz nach der Jahrtausendwende war ein gutes Beispiel für eine solche Entwicklung. In Berlin dass Musiker aus der ganzen Welt in das Geld, spätestens ab 2010 stiegen Dgab es eine hohe Dichte an Clubs, Berlin andockten. Doch anders als in Berlin die Mieten genauso rasant Labels, Festivals und Vernetzungen Paris in den 1950er Jahren blieb Berlin wie in jeder anderen Metropole. Für fünf zur Kunst- und Theaterwelt bei ver­ ein Durchlauferhitzer. Da viele Musiker kurze Jahre war die deutsche Haupt­ gleichsweise geringen Lebenshaltungs­ nur für kurze Zeit an der Spree blieben, stadt der Migrationsmittelpunkt kosten. Wohn- und Arbeitsraum war prägte sich eine Art Berliner Jazz-­ des weltweiten Jazz und danach immer­ im direkten Vergleich zu New York, Diaspora aus, die sich über sämtliche hin noch das virtuelle Synonym für London oder Paris dermaßen günstig, Kontinente verteilte. Der Kunst folgte wirtschaftliche und künstlerische

10 Unabhängigkeit um 1970 wahrnehmen konnten, hat und Jazz wird in den USA nun mal als einer stilistisch das weit weniger zu tun als mit einem genuin amerikanische Musik angese­ vielfältigen und handfesten Verdrängungswettbewerb. hen. Didaktische Ansätze helfen da nach allen Seiten kaum weiter. offenen Szene, das Indem sich der europäische Markt in mit der Wirklichkeit Netzwerken organisiert und diese mit Die Herausforderung der Zukunft muss jedoch nichts mehr zunehmendem Erfolg die Festivals be­ darin bestehen, über alle Kontinente gemein hatte. stücken, schotten sie sich gegen Mit­ und Nischen einen organischen Ausgleich bewerber aus Übersee ab. Einfach aus­ zwischen Globalisierung und Individuali­ Natürlich nimmt gedrückt läuft es nach den Schema: sierung des Jazz zu finden. Um Miss­ über Soundcloud, „Nimmst du einen von meinen Musikern, verständnissen vorzubeugen, die admi­ YouTube, Facebook nehme ich einen von deinen, und nimmst nistrative Arbeit für und mit dem Jazz-­ und andere Portale du zwei von mir, dann nehme ich eben musiker ist gut und wichtig. Wir müssen die Sichtbarkeit des auch zwei von dir“. Unter globalisierten nur aufpassen, dass sich die europäi­ individuellen Jazz­ Bedingungen entsteht ein kontrollierter schen Jazz-Netzwerke nicht in ein in­ musikers im Ver­ europäischer Jazz-Binnenmarkt, der groß formelles Kartell verwandeln, das gleich zum analogen genug ist, um sich selbst zu genügen. andere außen vor lässt. Andernfalls wären Zeitalter erheblich Qualitätsstandards kann man aber nur die Folgen für den Jazz unabsehbar. zu. Die Kehrseite im weltweiten Austausch genügen. der Medaille ist, dass seine Chancen, in o widersprüchlich die ersten Wolf Kampmann lebt als freier Autor und Jazzjournalist in Berlin. der ständig konzen­ Globalisierungsversuche auf trisch zunehmenden amerikanischem Boden vor Masse an Informa­ 1970 waren, so paradox ist die tionen überhaupt SGrundtendenz des gegenwärtigen noch wahrgenom­ Jazzmarktes, sei es auf Tonträgern oder men zu werden, pro­ in der Live-Szene. Der transatlantische portional zu seiner Jazzgraben war seit 45 Jahren nicht mehr Sichtbarkeit ab­ so groß und unüberwindbar wie gegen­ nehmen. Die Funk­ wärtig. Speziell auf dem deutschen tion der Visualisie­ Musik-Markt wird das amerikanische rung übernehmen Jazz-Geschehen kaum noch abgebildet. für ihn Exportbüros, Die großen Jazz-Labels wie Blue Note, Netzwerke und Concorde oder Impulse definieren sich, Showcase-Festivals, von bestimmten Speerspitzen des Jazz die den jeweiligen abgesehen, hauptsächlich über mittel­ Musiker meist aus mäßigen Adult Rock, die Independent­- nationaler oder loka­ Jazz-Szene, die an beiden Küsten so ler Perspektive eher lebendig ist wie lange nicht mehr, als Klienten wahr­ findet indes kaum noch den Weg ins nehmen, denn als künstlerische Per­ europäische Bewusstsein. sönlichkeit. Es gilt, die eigene Klientel gegen die Konkurrenz am Markt in Dabei ist es wenig hilfreich, darauf zu Stellung zu bringen. Mit einem gesun­ verweisen, dass der amerikanische den Austausch vergleichbarer Idiome Markt sich ja auch nicht an europäi­ unter den Auswahlkriterien von Qualität, schem Jazz orientiert. Die amerikani­ Originalität und Attraktivität, wie wir sche Kultur hat seit jeher ein anderes das beim ersten Globalisierungsschub Verhältnis zu den eigenen Wurzeln,

Jazzfest Berlin Von den Townships an die Themse Wie der südafrikanische Jazz im Dschungel der europäischen Jazzmusik überlebte: Von den Blue Notes zum Louis Moholo-Moholo Quartet

Von Richard Williams

ls die ersten Generationen euro­ Dizzy Gillespie und Horace Silver ge­ doch war dies für sie nur der Ausgangs­ päischer Musiker lernten, hörten. Das Umfeld, in dem sie auf­ punkt des musikalischen Wegs, den Jazzmusik zu spielen, wurde wuchsen, sorgte jedoch dafür, dass sie verfolgen wollten. von ihnen keine große Origina­ ihre Musik schon während der Nach­ Alität erwartet. Sie beglückwünschten ahmungsphase unweigerlich von ganz Mit ihrer erfrischenden Rohheit und sich schon, wenn es ihnen gelang, die eigenen, besonderen Aromen durch­ der Bereitschaft, konventionelle einzelnen Elemente dieser musikalischen zogen war. Sie waren mit Kwela groß Strukturen und Tonalitäten zu dehnen Ausdrucksweise so zu verinnerlichen, geworden, einem fröhlich-melodischen und zu beugen, schienen sie auf einer dass sie ihre amerikanischen Idole er­ Straßenmusikstil, der auf Penny Whistles Wellenlänge mit dem zu liegen, was folgreich kopieren konnten. Sobald bei gespielt wurde, mit der vom Swing be­ Charles Mingus ein paar Jahre zuvor einem europäischen Musiker irgendeine einflussten Tanzmusik Mbaqanga und auf Alben wie „Tijuana Moods“ und originäre und anhaltende stilistische mit den Liedern, die man in den Kirchen „Blues & Roots“ ausprobiert hatte. Trotz Individualität zu erkennen war, wurde ihrer Townships sang. Und während seiner umfassenden musikalischen diese gleich einem spezifischen Aspekt ihre amerikanischen Zeitgenossen im Ausbildung war Mingus dazu überge­ seiner ethnischen Herkunft zugeschrie­ Modern Jazz nach einer neuen Verbin­ gangen, seinen Musikern ihre individu­ ben: Django Reinhardts Sinti-Wurzeln dung mit afrikanischen Rhythmen ellen Stimmen nach Gehör beizubringen, zum Beispiel oder Joe Harriotts jamai­ suchten, war diesen Musikern die afri­ da er glaubte, der Verzicht auf nieder­ kanischer Herkunft. Doch erst der kanische Polyrhythmik schon in die geschriebene Partituren würde sie Auftritt der südafrikanischen Blue Notes Wiege gelegt worden. ermutigen, die aus den allerersten beim Jazz á Juan Jazzfestival in Antibes Anfängen des Jazz bekannte Art von im Jahr 1964 brachte den Europäern ieser einzigartige Klang war spontanem Zusammenspiel neu auf­ den Gedanken nahe, dass die ästheti­ also von Anbeginn an da, wie leben zu lassen. Doch mit ihrem voll­ schen Grenzen des Jazz nicht zwangs­ man auf den Aufnahmen, die kommen neuartigen Gespür für Into­ läufig von Amerikanern definiert McGregor 1963 mit seiner ersten nation und Rhythmik unterschieden werden mussten und sein künstleri­ DBigband produzierte, ebenso hören die Blue Notes sich von allen amerika­ sches Klima durchaus je nach geo­ kann wie auf jenen, die die Blue Notes nischen Vorgängern. grafischem Ursprung variieren durfte. selbst ein Jahr später einspielten, kurz bevor sie ins Exil gingen. Als ohnehin Sie kamen von überall aus Südafrika – Bei ihrem Auftritt in Antibes waren die schon virtuose Anhänger einer neuen Pukwana aus Port Elizabeth, Moyake Blue Notes eine sechsköpfige Band. Ihr Jazzbewegung mit Hauptsitz in New vom Ostkap, Feza aus der Provinz erfahrenstes Mitglied war der 31-jährige York ließen sie erahnen, dass sie etwas Natal, Dyani aus East London und Tenorsaxofonist Nikele „Nick“ Moyake. ganz eigenes zu bieten hatten: Euro­ McGregor, der die Band de facto leitete, Die anderen Musiker waren der 19 Jahre päischen Ohren offenbarte sich das aus der Transkei –, aber ihre ersten alte Trompeter , der zunächst am markantesten in der gemeinsamen Konzerte gaben sie in 26-jährige Altsaxofonist , emotionalen Freigiebigkeit und Offen­ Moholos Geburtsstadt Kapstadt. Die der 27-jährige Pianist Chris McGregor, heit ihres Spiels. Obwohl ihre technische Umstände hätten kaum schwieriger der 17 Jahre alte Bassist Johnny Mbizo Fertigkeit unumstritten war, schien sein können, wurden sie doch auf­ Dyani und der 24-jährige Schlagzeuger ihnen die Präzision, die die meisten grund ihrer unterschiedlichen ethni­ Louis Moholo. Wie ihre europäischen Europäer für einen unabdingbaren schen Herkunft (McGregor war weiß, Zeitgenossen hatten sie zu Beginn ihrer Bestandteil einer echten Jazzgröße die anderen schwarz) sofort zur Ziel­ Karrieren ihre Vorbilder kopiert, zu denen hielten, gar nicht so wichtig zu sein. scheibe von Gesetzen wie zum Beispiel Charlie Parker, Thelonious Monk, Sie spielten technisch mehr als souverän, dem „Reservation of Separate Amenities

12 Act”, dem „Native Laws Amendment öffentliche Auftritte unmöglich ge­ sie regelmäßig vor einem kleinen, Act” und dem „Group Areas Amend­ macht hatten. Die britische Musiker­ aber sehr engagierten Publikum spielen ment Act”, die – vom Apartheid-Regime gewerkschaft, eher darum bemüht, konnten: den Little Theatre Club in mit dem Ziel der Rassentrennung ent­ die kurzfristigen Interessen ihrer Mit­ Covent Garden, der von dem Schlag­ wickelt – alle in den 1950er Jahren in glieder zu vertreten, als die Chancen zeuger John Stevens betrieben wurde, Kraft traten. Wenn sie auf der Suche wachsenden kulturellen Reichtums und Ronnie Scotts Old Place, der ein nach Arbeit durch Südafrika reisten und zu fördern, gestand den Blue Notes erst paar Straßen entfernt in Chinatown in ihrem schrottreifen VW-Kombi von nach den satzungsgemäßen zwölf lag. In diesem Umfeld wurden Künst­ einem Auftritt zum nächsten fuhren, Monaten Wartezeit die Mitgliedschaft ler ermutigt, sich mit anderen aus­ mussten sie „der Polizei immer einen zu und setzte damit unabsichtlich zutauschen und in neuen Formationen Schritt voraus sein”, so Chris McGregors genau die Restriktionen fort, wegen zu musizieren. In der ungezwungenen Frau Maxine. derer die Künstler aus ihrer Heimat ge­ Atmosphäre dieser Laboratorien hör­ flohen waren. Eines der wenigen Kon­ ten auch junge britische Musiker, n Europa würden sie Zuflucht fin­ zerte, die sie spielen konnten, gaben wie der Pianist und der den, stellten sie sich vor, würden sie in einem Pub namens Duke Of York, Saxofonist , die Blue Notes herzlich willkommen geheißen der mitten in London und passender­ aus nächster Nähe und gingen künst­ und ungehindert ihren Lebens­ weise direkt gegenüber dem Haupt­ lerische Beziehungen ein, die ihre Karri­ Iunterhalt bestreiten können. Ganz so quartier des sich im Exil befindenden eren prägen sollten. McGregor stellte war es dann nicht. Nach ihrem Auf­ Afrikanischen Nationalkongresses lag. eine Bigband zusammen, in der neben tritt beim Festival verbrachten sie noch Trotz aller Schwierigkeiten begann ihre den Südafrikanern einige britische einige Tage in Antibes und gaben auf Anwesenheit in London, sich stark auf Musiker spielten – wobei der allzu große der Straße Konzerte. Auf Anregung von eine neue Generation junger britischer Aufwand diesem sehr ambitionierten Dollar Brand (dem später als Abdullah Musiker auszuwirken, die auf die un­ Projekt schon bald ein Ende setzen sollte. Ibrahim bekannten Pianisten), der gewöhnliche Wärme und Dringlichkeit Südafrika 1962 mit dem tourenden ihrer Art, Jazz zu spielen, ansprachen. Die gleichen wirtschaftlichen Faktoren Ensemble des Musicals „King Kong“ zwangen nach einer Weile auch den verlassen und sich in der Schweiz Die südafrikanischen Künstler selbst Kern der Gruppe, sich in unterschied­ niedergelassen hatte, zogen sie nach mussten allerdings einen weiteren Ent­ liche Richtungen zu orientieren. Feza Zürich. Brand sicherte ihnen gelegent­ wicklungsschritt vollzie­ liche Auftritte im Zürcher Africana Club hen. Im Jahr 1966 waren und dem Blue Note in Genf, während die Auftrittsgelegenheiten sie den Winter über gemeinsam im in Großbritannien rar Keller eines Studentenwohnheims gesät. Sie wurden jedoch lebten. Aus dieser Zeit gibt es eine An­ eingeladen, im berühm­ ekdote über eine unangenehme Begeg­ ten Montmartre Club in nung von Moyake mit Wayne Shorter Kopenhagen zu spielen, bei einer Party von Brand, zu der dieser wo schon Musiker wie die Blue Notes und die Mitglieder des , Archie Shepp Miles Davis Quintets eingeladen hatte. und Albert Ayler zu Gast Die Begegnung endete damit, dass gewesen waren. Durch Moyake Shorter vorwarf, nichts zu die Begegnung mit dem spielen, was er selbst nicht schon vor­ „New Thing“, wie die her gespielt habe. Jazz-A­ vantgarde der 60er Jahre auch genannt Als die Band im darauffolgenden Früh­ wurde, erweiterten sich jahr weiterzog, war Moyake schwer die musikalischen erkrankt und kehrte nach Südafrika Grenzen der Südafrika­ zurück. In London, ihrem nächsten ner. Das erlaubte ihnen, Ziel, hatte man ihnen ein zweiwöchiges ihre ohnehin schon stark Engagement in Ronnie Scotts Club an­ vokalisierten instrumenta­ geboten. Dort stießen sie auf enormes len Klänge und ihre leiden­ Interesse bei Kritikern und Zuhörern, schaftliche Extrover­ die allein schon der Gedanke erstaunte, tiertheit, die mit einer dass Südafrikaner überhaupt Jazz besonderen Begabung spielten. Auch die gemeinsame Sprache für eine sehnsuchtsvolle und die Tatsache, dass es hier eine Emotionalität einherging, Gemeinschaft südafrikanischer Ein­ voll auszuschöpfen. wanderer gab, überzeugten sie davon, dass sie in London bleiben sollten. it dieser neuen Perspektive Die Behörden waren jedoch nicht ge­ kehrten sie nach neigt, sie als Geflüchtete aus einem Un­ London zurück terdrückerstaat anzuerkennen, dessen Mund fanden bald zwei rassistische Gesetze ihnen gemeinsame Auftrittsorte, an denen

Jazzfest Berlin bei ihrem ersten Konzert in Ronnie Scott’s Club, London, 26. April 1965: Louis Moholo, Dudu Pukwana, Mongezi Feza, , Chris McGregor © John Goldblatt

heiratete eine Dänin und zog wieder Malcolm Griffiths und Nick Evans und Soloalben von mit, dem nach Kopenhagen. Dyani und Moholo anderen Musikern aus der Gegend. Mitbegründer von Soft Machine. gründeten mit dem amerikanischen Schon bei ihrem allerersten Konzert Sopran­saxofonisten und dem in der Notre Dame Hall am Leicester Und dann verschwanden sie, einer nach italienischen Trompeter ein Square, dessen Erlös Chris dem Afrika­ dem anderen. Moyake starb 1969 in Quartett. Sie traten zunächst in Italien, nischen Nationalkongress (ANC) Südafrika. Beer zog nach Ibiza, wo er dann in Argentinien auf, wo die beiden spendete, war klar, dass dieses große bis heute Boote baut. Feza starb 1975, Südafrikaner in Buenos Aires für einige Ensemble eines der außergewöhn­ woraufhin Wyatt erklärte, dass er sich Monate strandeten, bis es McGregor lichsten und spannendsten in der ge­ nicht vorstellen könne, ohne seinen schließlich gelang, sie nach London zu­ samten Geschichte des Jazz werden Freund je wieder ein Album zu produ­ rückzuholen. Ihre Rückkehr kam gerade würde. Die Musiker entwickelten in bril­ zieren. Der Bassist Harry Miller, der in zur rechten Zeit für eine Wiedervereini­ lanter Weise die Ellingtonsche Tradition den späten 60er Jahren aus Kapstadt gung der Blue Notes, bei der Ronnie weiter und ließen dabei Raum für den nach London gezogen und häufig für Beer Moyakes Platz einnahm. Sie nahmen Expressionismus der Avantgarde – wie Dyani eingesprungen war, starb 1983, mit dem Produzenten Joe Boyd (der vor es beispielsweise das Publikum bei drei Jahre später gefolgt von Dyani selbst allem für seine Arbeit im Folk-Rock, zum einem Konzert in der Philharmonie im sowie 1990 von McGregor und Pukwana. Beispiel mit Fairport Convention, Nick Rahmen der Berliner Jazztage 1971 er­ So ist von der ursprünglichen Besetzung Drake und der Incredible String Band, be­ leben konnte. Dieses Mal verhalf ein nur noch Moholo am Leben und in der kannt ist) das Album „Very Urgent“ auf. Plattenvertrag bei dem renommierten Lage, die Tradition aufrechtzuerhalten. Label RCA der Band zu andauerndem Noch immer leitet er verschiedene m Juni 1970 stellte McGregor Erfolg. Auch die anderen Mitglieder der Bands, arbeitet mit alten und neuen seine Bigband unter dem Namen Blue Notes setzten ihre Arbeit in neuen Freunden zusammen und spielt weiter­ wieder Formationen fort: Pukwana gründete hin einige der vertrauten Stücke, wie zusammen, mit den Saxofonisten die Bands Zila und , Dyani die zum Beispiel Fezas „You Ain’t Gonna IParker, und Alan Skidmore, Gruppe Witchdoctor’s Son und Moholo Know Me ’Cos You Think You Know Me” Marc Charig am Kornett, den Posaunisten Viva La Black. Feza arbeitete an den oder Pukwanas hinreißende Ballade

14 „B My Dear”, und auch mit über siebzig Wheeler und andere Kompositionen Als Enrico Rava die Blue Notes 1964 in Jahren versteht er es noch immer, das der Blue Notes, die sie im Jahr 1992 erst­ Antibes zum ersten Mal hörte, bei ihrem Publikum in seinen Bann zu ziehen und mals aufgenommen hatten. ersten Auftritt außerhalb Südafrikas, seine Mitspieler mit einem einzigen Peit­ war er „genauso überwältigt wie beim schenknall in Höchstform zu versetzen. er Saxofonist Julian Argüelles, Konzert des Miles Davis Quintets mit Jüngere Generationen haben das Wesen Gründungsmitglied der Loose Tony Williams im Jahr davor. So etwas ihres Jazzstils ins 21. Jahrhundert Tubes, veröffentlichte in die­ hatte ich noch nie gehört.“ Die „Reinheit überliefert. Loose Tubes, eine in den sem Jahr ein Album mit dem und Originalität“ der Musik, wie er sie 1980er Jahren von jungen Musikern in DTitel „Let It Be Told“, auf dem seine später beschrieb, fesselten ihn vom London gegründete und stark von den Arrangements von Stücken von Pukwana, ersten Moment an. Diese Eigenschaften Blue Notes beeinflusste Band, fand in McGregor, Feza, Dyani, finden durch die Jahre hindurch noch diesem Sommer für eine Konzertreihe und Miriam Makeba für die Frankfurter immer ungemindert ihren Widerhall, als und ein neues Album wieder zusammen. HR-Bigband zu finden sind. Die Musik strahlendes und inspirierendes Vermächt­ Ihr Pianist und Komponist Django Bates der südafrikanischen Exilanten, so nis für all jene, die genau hinhören. gab seine Liebe zum Geist der südafri­ Argüelles, „hielt immer wunderbar die kanischen Musiker an seine Studenten Balance aus zugänglichen, melodischen am Rytmisk Musikkonservatorium in und groovenden Elementen und an­ Richard Williams lebt als Musikjournalist in London. Seit 2015 ist er Künstlerischer Leiter Kopenhagen, der Londoner Royal Aca­ spruchsvollen, ein bisschen verrückten. des Jazzfest Berlin. demy of Music und der Hochschule der Man konnte einerseits die Townships Künste in Bern weiter. Das Dedication heraushören und auf der anderen Seite Orchestra, in dem einige der ursprüngli­ den Free Jazz. Auch als sie sich dem chen Mitglieder von Brotherhood of Free Jazz annäherten, blieben sie den­ Breath spielen, trat 2014 wieder gemein­ noch zugänglich. Vielleicht konnten Sun sam in London auf und präsentierte Ra und Mingus das auch, aber die Musik Das Louis Moholo-Moholo Quartet einem neuen Publikum Arrangements der Blue Notes hatte einen ganz eigenen tritt am 8. November um 19:00 Uhr von Tippett, Mike Westbrook, Kenny Charakter und großen Einfluss.“ im Haus der Berliner Festspiele auf.

Jazzfest Berlin Programm Jazzfest Berlin 2015

Freitag, 16. Oktober Donnerstag, 5. November Freitag, 6. November

Haus der Berliner Festspiele Haus der Berliner Festspiele / Kassenhalle Haus der Berliner Festspiele / Kassenhalle 19:00 Uhr 18:00–18:30 Uhr 17:30 Uhr Presse und Publikumsgespräch Künstlergespräch mit Émile Parisien und Albert-Mangelsdorff-Preis 2015 Auftaktkonzert Julia Kadel, Moderation: Nadin Deventer Preisträger: Achim Kaufmann Julia Kadel piano Verliehen von der Union Deutscher Alexander Hawkins piano Haus der Berliner Festspiele / Große Bühne Jazzmusiker e.V. 19:00 Uhr Award Ceremony and Splitter Orchester / George Lewis Award Winner’s Concert Creative Construction Set™ (2015, UA) grünen mit Unterstützung von initiative neue musik e.V. Liz Allbee trumpet Achim Kaufmann piano Boris Baltschun electronics Robert Landfermann bass Burkhard Beins percussion Christian Lillinger drums Anthea Caddy cello Anat Cohavi clarinet Werner Dafeldecker double bass Haus der Berliner Festspiele / Große Bühne Mario De Vega electronics 20:00 Uhr Axel Dörner trumpet The Keith Tippett Octet Kai Fagaschinski clarinet The Nine Dances Of Patrick O’Gonogon Robin Hayward tuba Fulvio Sigurta trumpet, flugelhorn Steve Heather percussion Sam Mayne alto saxophone, Chris Heenan bass clarinet soprano saxophone, flute George Lewis trombone, electronics James Gardiner-Bateman alto saxophone Magda Moyas clavinet Kieran McCloud trombone Matthias Müller trombone Richard Foote trombone Andrea Neumann inside piano Tom McCredie double bass Morten J. Olsen percussion Peter Fairclough percussion, drums Simon J. Phillips piano Keith Tippett piano, composition Julia Reidy guitar Guest: Julie Tippetts lyrics and vocals to Ignaz Schick turntables, objects “The Dance of Her Returning” Michael Thieke clarinet Clayton Thomas double bass Miguel Zenón Quartet Sabine Vogel flutes Identities Are Changeable Biliana Voutchkova violin Henry Cole drums Marta Zapparoli field recordings, tapes Hans Glawischnig double bass Kassian Troyer sound engineer Louis Perdomo piano Miguel Zenón saxophone Cécile McLorin Salvant Quartet Aaron Diehl piano Lawrence Leathers drums Paul Sikivie double bass A-Trane Cécile McLorin Salvant vocals 21:30 Uhr Giovanni Guidi Trio Vincent Peirani Giovanni Guidi piano Living Being João Lobo drums Julien Herné double bass Thomas Morgan double bass Émile Parisien saxophone Tony Paeleman fender rhodes Vincent Peirani accordion Haus der Berliner Festspiele / Seitenbühne Yoann Serra drums 23:30 Uhr Lumen Drones Ørjan Haaland drums A-Trane Nils Økland violin 21:30 Uhr Per Steinar Lie guitar Julia Kadel Trio Julia Kadel piano, composition Steffen Roth drums Karl-Erik Enkelmann double bass

16 Samstag, 7. November Sonntag, 8. November

Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche A-Trane Akademie der Künste / Hanseatenweg 15:00 Uhr 21:30 Uhr 16:00 Uhr The Necks Plaistow Dylan Howe’s Subterraneans Chris Abrahams organ Johann Bourquenez piano New Designs on Bowie’s Berlin Tony Buck drums Vincent Ruiz double bass Dylan Howe drums Lloyd Swanton double bass Cyril Bondi drums Dave Whitford double bass Ross Stanley piano Steve Lodder synthesizers Haus der Berliner Festspiele / Seitenbühne James Allsopp tenor saxophone Haus der Berliner Festspiele 23:00 Uhr 17:30 Uhr Laura Jurd’s Dinosaur Haus der Berliner Festspiele / Kassenhalle Film Conor Chaplin e-bass 18:00–18:30 Uhr Charles Lloyd: Arrows Into Infinity Corrie Dick drums Künstlergespräch mit Cymin Samawatie (USA 2012, 113 min) Elliot Galvin piano und Alexander Hawkins With Charles Lloyd, Herbie Hancock, Laura Jurd trumpet Moderation: Nadin Deventer Jack DeJohnette, Robbie Robertson, Jason Moran et al. Dorothy Darr, Jeffery Morse director and producer Haus der Berliner Festspiele / Große Bühne Charles Lloyd music 19:00 Uhr Diwan der Kontinente Haus der Berliner Festspiele / Große Bühne Sveta Kundish vocals 20:00 Uhr Defne Sahin vocals Tigran Hamasyan Trio Cymin Samawatie vocals, composition Tigran Hamasyan piano Mari Sawada violin Arthur Hnatek drums Martin Stegner viola Sam Minaie double bass Boram Lie cello Demetrios Karamintzas oboe Charles Lloyd Ralf Schwarz double bass Wild Man Dance Project Lars Zander bass clarinet, electronics Charles Lloyd tenor saxophone Ketan Bhatti drums, electronics, composition Gerald Clayton piano Joss Turnbull tombak, percussion, electronics Joe Sanders double bass Christian Weidner saxophone, duduk Eric Harland drums Hilary Jeffery trombone Socratis Sinopoulos lyra Tilmann Dehnhard bass flutes, electronics Miklós Lukács cimbalom Niko Meinhold piano, guzheng Sabrina Ma marimba, vibraphone Naoko Kikuchi koto Vladiswar Nadishana ney, duduk, hulusi Akademie der Künste / Hanseatenweg Wu Wei sheng 21:00 Uhr Bassem Alkhouri kanun Paal Nilssen-Love / Large Unit Matthias Kurth oud, guitar Thomas Johansson cornet, flugelhorn Mohamad Fityan ney, kawala Mats Äleklint trombone Julie Kjær alto saxophone, flute Louis Moholo-Moholo Quartet Klaus Ellerhusen Holm alto saxophone, John Edwards double bass baritone saxophone, clarinet Alexander Hawkins piano Åke Holmlander tuba Louis Moholo-Moholo drums Ketil Gutvik guitar Jason Yarde saxophones Tommi Keränen turntables, electronics Jon Rune Strøm e-bass, double bass Ambrose Akinmusire Quartet + Christian Meaas Svendsen e-bass, Theo Bleckmann double bass Ambrose Akinmusire trumpet Andreas Wildhagen drums, percussion Theo Bleckmann vocals Paal Nilssen-Love drums, percussion, Justin Brown drums composition Sam Harris double bass Harish Raghavan piano

Jazzfest Berlin Die Neuerfindung des Jazz-Klaviertrios: The Necks

The Necks © Holimage

as australische Trio The Necks Schlagzeug. Dieser Grundansatz wurde verstarben die großen Solisten und besteht aus Tony Buck, Lloyd seit den 1940ern von Ensembles unter der Bandleader des klassischen Jazz, oder Swanton und Chris Abrahams Leitung von Teddy Wilson, Bud Powell, sie zogen sich zurück. In neuen Strö­ und ist alles andere als ein Thelonious Monk, Oscar Peterson, Marian mungen – Fusion, Smooth Jazz, freier DRepertoire-Ensemble, wie zum Beispiel McPartland und Bill Evans entwickelt. Improvisation, neoklassischem Modern ein klassisches Orchester, eine Rock­ Und nun spielen The Necks hier bei einem Jazz, Acid und postmodernem Jazz – band, die ihre Hits herunterspielt, oder Jazzfestival, das über die Jahre schon wurde entweder mit größeren Ensem­ eine Jazz-Gruppe, die Standards inter­ viele der großen Klaviertrios zu Gast bles oder einem einzelnen Künstler pretiert. Aber auch innerhalb der Kate­ hatte und zweifellos künftig viele weitere gearbeitet, oder sie waren eher an der gorie der „kreativen“ Musiker ohne präsentieren wird. Der Auftritt von The Technologie orientiert. Das Klaviertrio festes Repertoire nehmen sie eine Necks hier beim Jazzfest Berlin 2015 – stand vorübergehend im Schatten. Sonderrolle ein. Schließlich spielen wo unter anderem auch die Trios von auch die innovativsten Interpreten von Giovanni Guidi, Julia Kadel und Tigran In den Nachkriegsjahren wurden zahl­ zeitgenössischer E-Musik, Improvisation Hamasyan spielen werden – bietet An­ lose neue Tasteninstrumente entwickelt, und progressivem Jazz strukturierte lass, die Rolle der australischen Gruppe so zum Beispiel Hammond-Orgel, Stücke, die sich jeden Tag und bei je­ innerhalb der zeitgenössischen Jazz­ Clavinet, Rhodes-Piano, Moog-Syn­ dem Auftritt weitgehend gleich an­ szene sowie die Entwicklung der Kunst thesizer, Prophet, DX7, Yamaha CS80, hören. The Necks dagegen sind nur in des Klaviertrios näher zu betrachten. Instrumente der Firmen Oberheim, ihrer Unberechenbarkeit berechenbar Korg, Roland usw. und viele verschiedene und darin, dass sie ihren eigenen Regeln enn man die Entwicklung des analoge, digitale und Sample-Synthesi­ folgen – Regeln, die ihnen in ihrem Musi­ Jazz in den letzten Jahren ver­ zer. Zusammen bescherten diese neuen zieren ein unübertroffenes Maß an folgt hat, wird man bemerkt Geräte der Musik eine völlig neue Klang­ Freiheit erlauben. haben, dass das Klaviertrio, palette, die in den 60ern und 70ern von Wein Format, das sich jeglichen Trends Künstlern von Ray Charles bis Joe An der Oberfläche teilen sie viele Merk­ widersetzt und immer wieder dem Zawinul, Herbie Hancock und Larry male der so beständigen Form des Mainstream verweigert hat, wieder Young verwendet wurde. Für Musiker Jazz-Klaviertrios mit seiner traditionellen zu neuer Bedeutung gekommen ist. und Bandleader war diese neue Ge­ Besetzung aus Klavier, Kontrabass und In den späten 1960er und 70er Jahren neration von Tasteninstrumenten eine

18 langersehnte Lösung für die Probleme, abgewandt. Bei seinen sorgfältig kons­ großen Klaviertrios der Vergangenheit. die ihnen auf Tourneen die unzuverläs­ truierten Alben und Konzerten mit Während respektierte Vertreter des sigen und schlecht gepflegten Klaviere Gary Peacock und Jack DeJohnette – Genres wie Abdullah Ibrahim, McCoy der Veranstaltungsorte bereiteten. egal, ob sie frei improvisierten oder Tyner, Ahmad Jamal, Paul Bley und Allerdings löste die Allgegenwart von sich auf Jazz-Standards bezogen – war Martial Solal von dem neu erwachten elektronischen Keyboards und Faux frischer und inspirierender Klaviertrio-­ Interesse profitierten, wurde es gleich­ Pianos bald eine Sehnsucht nach dem Jazz zu hören, Teil einer Tradition, die zeitig von neuen Bands bereichert und Klang eines „richtigen Klaviers“ aus. sich bis auf die Arbeit von Bill Evans belebt. Neue Zuhörerschaften und Genau zu diesem Zeitpunkt wurde man mit Scott LaFaro und Paul Motian An­ Möglichkeiten für das Klaviertrio als sich in der Welt der klassischen Musik fang der 1960er zurückverfolgen ließ. Kunstform wurden so entwickelt. darüber klar, dass digitale Aufnahme­ verfahren, die vom Boom der CD in den rad Mehlau sicherte sich mit Ein weiterer Strang in der Wiederbe­ 80ern angetrieben wurden, die dynami­ seiner Albumreihe „The Art of lebung des Klaviertrios war das Auf­ sche Bandbreite und Feinheit der Klang­ the Trio“ einen festen Platz im treten von Trios, die von Komponisten farben dieses Instruments in einem bisher Wiederaufleben des Genres in geleitet werden und die sich der zeit- ungekannten Maße einfangen konnten. Bden 90ern. In den letzten zehn Jahren genössischen­ Rockmusik, dem Post- wurden viele Vertreter dieser Form ent­ Rock und der modernen E-Musik zu­ Eine neue Generation von Pianisten und deckt oder wiederentdeckt, darunter gehörig fühlen. Darunter sind E.S.T. (das Klaviertrios betrat die Bühne und streb­ Marcin Wasilewski in Polen, Jef Neve in Esbjörn Svensson Trio, dessen glanzvolle te, vielleicht inspiriert von Keith Jarrett, Belgien, Brian Kellock in Schottland, Karriere 2008 durch den Unfalltod mit einem Gefühl moralischer Über­ Emil Viklický in der Tschechischen Svenssons jäh beendet wurde), Bad Plus, legenheit nach der „reinen“ Kunst des Republik, Michael Wollny und Julia Christoph Stiefel, das Neil Cowley Trio, Jazztrios. Jarrett, der Hohepriester der Hülsmann in Deutschland und Fred das Tord Gustavsen Trio, Phronesis (unter akustischen Klaviermusik, hatte sich Hersch, , Geri Allen und der Leitung des dänischen Bassisten bekanntlich nach Jahren des Ringens Kenny Barron in den Vereinigten Staaten. Jasper Høiby), das Trio des aus Arme­ mit unkooperativen elektrischen Inst­ Jason Morans Bandwagon beschritt nien stammenden Pianisten Tigran rumenten, die er während seiner Zeit entschieden zeitgenössische Wege Hamasayan und die englische Band mit Miles Davis spielte, von diesen und verneigte sich gleichzeitig vor den mit dem niedlichen Namen GoGo

Jazzfest Berlin Penguin (die ihre Karriere mit einem zusammenhängendes Stück. Eine Sound und einer Atmosphäre begannen, musikalische und emotionale Logik die sehr an E.S.T. erinnerte, seitdem verbindet jede einzelne Note mit der aber erhebliche Souveränität erlangten). nächsten, und so stellen die letzten Dieser Ansatz, bei dem die intellek­ Minuten des Konzerts das unver­ tuelle und kompositorische Sorgfalt, die meidliche Fazit seiner allerersten das akustische Piano verlangt, eine Töne dar. Dabei wäre es schwierig, gesunde Beziehung mit der gemein­ dies mit dem normalen Vokabular samen Improvisation eingeht, durch der Jazz-, Rock- oder Klassikkritik zu die die Musik unbestreitbar Jazz beschreiben: Phrasen wie „hypnotische bleibt, hat viele weitere Bands her­ Riffs“, „virtuose Soli“ und „tosende vorgebracht, die nicht im engeren Crescendi“ erscheinen zu banal, um Sinne Klaviertrios sind. zu beschreiben, was The Necks bei einem Konzert tun. Die Musik ent­ inige dieser Bands haben be­ steht direkt aus der Meisterschaft achtliche Karrieren und überra­ der Spieler, aus ihren Beziehungen zu schend umfangreiche Fange­ ihren Instrumenten und zueinander. meinden aufgebaut. Ein frühes Sie ist post-elektronisch, post-­digital EBeispiel für dieses Phänomen ist Medeski (dabei mit der perfekten Dauer für Martin & Wood (1991 gegründet), ein eine CD), und doch grundlegend äußerst originelles Trio, deren beharrliche akustisch. Auf jedem Album von The Tourneen ihnen eine riesige Anhänger­ Necks entsteht eine ganz eigene schaft innerhalb der amerikanischen Klangwelt, groß genug, dass andere „Jam Band“-Szene verschaffte. MMW Bands ganze Karrieren daraus konst­ weisen oft auf Duke Ellingtons Album ruiert hätten. Ihr Debütalbum „Sex“ „Money Jungle“ aus dem Jahr 1963 als (1989) kommt in einem lockeren wichtige Inspiration hin: Der komposi­ Trab daher und fesselt und entspannt torische Schwung und die kampflustige den Hörer gleichermaßen. Mit seinen Energie dieses Einzelprojekts (ein Trio eingängigen Riffs und Hooks klingt aus Ellington, Charles Mingus und Max das Album wie eine Hitsingle, die Roach) machen dieses Album zu einem sich einfach nicht an die Drei-Minuten-­ interessanten Vorläufer der von Kom­ Regel gehalten hat. „Hanging ponisten geleiteten Trios wie E.S.T. Gardens“ (1989) erschien ebenfalls Außerdem wäre auch der Einfluss von wie eine ausgesprochen kommerziell Ahmad Jamal zu nennen, dessen Musik erfolgreiche Platte und verhalf The „Quay“ und „Raab“ (2002) – Aufnahmen in den 1950ern Miles Davis stark beein­ Necks beinahe zu einem Vertrag mit von drei Konzerten in ihrem Heimatland flusste, und der heute mit 85 Jahren Universal Music (das Geschäft platzte und einem in Österreich – ist als Ein­ noch immer aktiv ist. letztlich, und damit bleibt über dieser führung in ihre Arbeit besonders gut

„Wenn ich mit einer Gruppe spiele, muss ich selbstverständlich Rücksichten nehmen, denn niemand von diesen Musikern kann ahnen, was mir in den Sinn kommt – vielleicht die Tonart zu wechseln oder den Rhythmus zu verändern. Da bedarf es wirklich eines ge­ meinsamen Bezuges, damit eine musikalische Einheit entsteht. Dabei muss die innere Freiheit keineswegs auf der Strecke bleiben. Es verstärkt sie sogar.“ Bill Evans

Aber keines dieser Trios, ob alt, jung, Periode ihrer Karriere ein spannendes geeignet. Natürlich klingt keiner dieser oder irgendwo dazwischen, ist auch Fragezeichen stehen). vier Tracks wie „Sex“ oder „Piano, Bass, nur im Entferntesten so wie The Necks. Drums“ (1998) oder wie einer der an­ Ein Auftritt der drei Australier besteht Einige ihrer Alben sind Live-Aufnahmen, deren Bestandteile des Sets. Stattdessen üblicherweise aus einer kontinuier­ und zusammengenommen geben sie hört man, wie sich etwas innerhalb lichen Improvisation von etwa einer einen wunderbaren Eindruck von der der Zeit und des auditiven Raums Stunde. Irgendwie fangen sie aus der Vitalität und Vielseitigkeit ihrer Auf­ entfaltet, aus unendlichen kreativen Stille vor dem Beginn ihrer Musik tritte. Ein Set von vier CDs mit den Abwandlungen von … Klavier, Bass eine Idee ein und spinnen daraus ein Titeln „Aethenaeum“, „Homebush“, und Schlagzeug.

20 enn man nicht der Jazz-Konnotation Liebhaber der sogenannten Krautrock-Bands zeitgenössischen Musik von Jazz-Klavier­ der Instrumentierung folgt, könnte (Can, Faust etc.) genauso begeistert wie trios, die man grob als (a) Musik in der man die Musik von The Necks irgend­ die jüngeren Fans von elektronisch gene­ Tradition von Bill Evans und (b) Erben von wo im breiten Spektrum des Mini­ rierter Trance-Musik. „Money Jungle“ einordnen kann. Aber viel­ Wmalismus einordnen – genauso nah an den leicht bildet sich künftig ein dritter Strang he­ Skulpturen von Donald Judd und der Archi­ Es ist kaum vorstellbar, dass The Necks raus: Klavier­trios, die in der neuen Traditi­ tektur von John Pawson wie an der Musik etwa eine Live-Nachbildung von „Drive By“ on der ehrlichen, kompromisslosen von Steve Reich. Eine Art „Materialgerechtig­ oder „Chemist“ (2006) spielen – genauso Konzerte von The Necks arbeiten. keit“ definiert den Klang, und die Reinheit wenig, wie man sich vorstellen könnte, des „Spiels für eine Stunde“ erinnert an An­ dass die Band, mit der Miles Davis in den leitungen und Ermahnungen, wie sie in den 1970ern gespielt hat, „In a Silent Way“ John L. Walters ist Herausgeber von „Eye“, einer internationalen Zeitschrift für grafisches Design, Arbeiten von Konzeptkünstlern wie Sol nachspielt (übrigens hat Bassist Lloyd und schreibt für „The Guardian“ über Musik. Er ge­ LeWitt, John Cage, Tom Phillips und John Swanton genau dieses Album als eine der hörte den Bands Landscape und Zyklus an, war Mit­ White zu finden sind. Gelegentlich haben The Originalinspirationen von The Necks be­ begründer des Audiojournals „Unknown Public“ und Necks schon kürzere Stücke gespielt, dies ge­ zeichnet). Ihre Beherrschung des Aufnahme­ hat Aufnahmen für das Michael Gibbs Orchestra, Swans Way und andere produziert. schah aber vor allem aus praktischen studios beeindruckt besonders, weil sie sich Gründen: Für den Soundtrack zu „The Boys“ durch große Zurückhaltung auszeichnet. (1998) wurden kurze Tracks benötigt und die Ihre Live-Auftritte sind standortspezifisch: Dauer der beiden 21-minütigen Stücke auf Die Musiker reagieren auf die Resonanz, „Mindset“ (2011) wurde gewählt, damit sie den Hall und die Schwingungen von Wänden, auf beide Seiten ihrer ersten Vinyl-Veröffent­ Boden und Decken der Spielorte. Die Studio­ lichung passten. Und doch gleichen die alben könnte man dementsprechend als Aufnahmeverfahren der Studioalben von standort-mimetisch beschreiben: Sie er­ The Necks eher der Rockmusik als denen schaffen einen alternativen Klangraum im des Jazz oder der E-Musik. „Drive By“ (2011) Innern der Kopfhörer oder der Lautsprecher ist eine Studioaufnahme mit zahlreichen des Zuhörers. übereinandergelegten Spuren und einem akribisch detaillierten letzten Mix, aus dem Meiner Ansicht nach steht die Musik von The The Necks treten am 7. November sich ein ekstatisches Hörerlebnis entwickelt. Necks für sich allein. Sie schwebt angenehm um 15:00 Uhr in der Kaiser-­Wilhelm- Es ist leicht zu verstehen, warum dieses Werk frei von den beiden Hauptsträngen der Gedächtnis-Kirche auf.

Jazzfest Berlin A Home For Heroes: David Bowie

In Berlin Von Michael Watts

eit Oktober 1950 schlägt die Hamburg, angemessen wäre. Bowie Ausschweifungen des Rockstar-Daseins Friedensglocke des Schöneberger hielt sich zwar kaum drei Jahre in der bis an ihre Grenzen ausgekostet. Rathauses jeden Tag um zwölf Stadt auf, aber hier wurde er wieder Uhr mittags und an Weihnach­ gesund und transformierte seinen Ruf Dünn wie ein Skelett und nahezu psy­ Sten und Silvester noch einmal um Mit­ als Künstler, indem er alles in Frage chotisch kam er in Berlin an – als Folge ternacht. Die Glocke war ein Geschenk stellte, was er in den fünf Jahren seines seiner Kokainsucht, seiner Besessenheit der Amerikaner, gedacht als Anerken­ ausufernden Ruhms geschaffen hatte. vom Okkulten und der Essstörungen, nung für die Bewohner West-Berlins in Seine Berliner Alben „Low“ und „Heroes“ an denen er seit seinen Tagen als Ziggy ihrem Kampf gegen den Kommunismus. waren verstörend, depressiv, verwei­ Stardust litt (zu dieser Zeit war ich ein­ Heute erschallt sie in Straßen, in denen gerten sich trotzig jeglicher Theatralik mal dabei, wie seine damalige Ehefrau einst Albert Einstein, Billy Wilder und und stellten stark programmierte Angie ihn löffelweise mit Complan Helmut Newton wohnten, in denen Funk-Rhythmen neben atmosphärische fütterte, einem Nährgetränk für Inva­ Christopher Isherwood seine Berliner Tongedichte und die repetitiven deut­ liden). Er war nach der Trennung von Geschichten schrieb und Alfred Lion, schen Elektronika von Neu! und Cluster. mehreren Managern finanziell am Gründer von Blue Note Records, mit Ende und durch die sich abzeichnende einer lebensentscheidenden Leiden­ Teil einer kanonischen Trilogie, die mit Scheidung emotional erschöpft. Außer­ schaft für Jazz aufwuchs. Auch Marlene dem Album „Lodger“ ihren Abschluss dem musste er für seinen kleinen Sohn Dietrich wurde hier geboren und beer­ fand (welches genau genommen in der sorgen. Eine gewisse Ironie liegt darin, digt, und einer der Hauptdarsteller in Schweiz aufgenommen wurde), de­ dass er sich mit Berlin eine Stadt aus­ ihrem allerletzten Film „Schöner Gigolo, monstrieren sie Bowies instinktive Bega­ suchte, die ganz eigene Probleme hatte: armer Gigolo“ lebte ebenfalls in Schöne­ bung dafür, neue Ideen, Einflüsse und Wegen mangelnder Industrie war die berg: ein getriebener junger Engländer, Partner zusammenzubringen und etwas Stadt pleite, sie war von Ost-Berlin der aus Los Angeles an die Spree ge­ völlig Eigenes, Unverwechselbares und durch die Mauer und von Westdeutsch­ kommen war und hier eine unerwartete immer Cooles zu entwickeln. Die Ver­ land durch eine Entfernung von 180 Zuflucht vor den Trümmern seines öffentlichung von „Low“ polarisierte km getrennt, lebte von Subventionen Ruhms fand. und beeinflusste die Rockmusik ähnlich der bundesdeutschen Regierung und wie „Le Sacre du Printemps“ die Welt war nur über Transitstrecken durch die Dass David Bowie im Herbst 1976 Ber­ der Klassik; das Album festigte seinen DDR zu erreichen. lin als Wohnort auserkor, gehört heute Einfluss auf die kulturelle Vorstellungs­ so sehr zur Ikonografie der Stadt und kraft dieses Jahrzehnts. Das größte Aber genau dieser Außenseiterstatus ist ein so fester Bestandteil touristi­ Wunder ist jedoch die Tatsache, machte Berlin vor allem für Künstler scher Routen, dass eigentlich eine dass es diese Alben überhaupt gibt, so attraktiv: Die Bewohner waren vom Dramatisierung im Stile von „Backbeat“, denn als Bowie nach Deutschland Militärdienst befreit, es gab einen an­ einem Film über die Zeit der Beatles in flüchtete, hatte er die zerstörerischen archischen Aktivismus, man konnte billig

22 A Home For Heroes: David Bowie

In Berlin Hauptstraße 155, 1978 © Esther Friedman

wohnen und leben, und besonders Neu­ sympathisch. Er war in die anerkannte führte, und im Travestieclub der Trans­ ankömmlinge fanden die Paranoia Heroin-Hauptstadt Europas gekom­ sexuellen Romy Haag, Ecke Welser- des Kalten Krieges spannend. Bowie, men, um sich von seiner eigenen, und Fuggerstraße. Haag, die „Königin der geradezu unersättlich Geschichte ganz besonderen Sucht zu befreien. des Underground“, als Edouard Frans und Kunst studierte, empfand vor allem Die beiden Künstler waren vorher in Verbaarsschott in den Niederlanden ge­ den dunklen Sog der Weimarer Repub­ Frankreich gewesen, wo sie an „The boren, wurde Bowies Berliner Geliebte. lik und der Nazizeit als Quellen für seine Idiot“ arbeiteten, einer Platte, die Iggys künstlerische Arbeit. Anfang 1976 hatte Renaissance einleitete und eine Art Tagsüber radelten die Freunde durch er zur Vermarktung seines Albums Schablone nicht nur für „Lust for Life“ die Stadt, besuchten Galerien und das „Station to Station“ die Figur des Thin darstellte, das Album, das er in Berlin Brücke-Museum, wo Bowie die Gemälde White Duke aus den Stummfilmen des mit Bowie schuf, sondern auch für von Erich Heckel und Ernst Ludwig deutschen Expressionismus entlehnt „Low“ und „Heroes“. Kirchner bewunderte. Manchmal und damit einen Übermenschen er­ schmuggelten sie sich nach Ost-Berlin schaffen. Dessen fehlgeleiteter Flirt Iggy hat ihre Lebensweise während der oder trieben sich im Anderen Ufer her­ mit dem Faschismus legte seinen ersten Wochen in Berlin einmal so be­ um, dem schwulen Café in der Nähe Kritikern den Eindruck nahe, dass Bowie schrieben: „Zwei Tage lang Exzess um ihres Hauses. In „Where Are We Now?“, sich in einem unkontrollierten Sturz­ der alten Zeiten willen, zwei weitere Bowies vor kurzem erschienener auto­ flug befand. Tage zur Erholung und dann blieben biografischer Single über diese Zeit, noch drei Tage für alles andere.“ Es erinnert er sich wehmütig: „Sitting in ielleicht als Resultat derselben war vielleicht nicht gerade ein Entzug, the Dschungel / On Nürnberger Strasse / Lust an der Mythologisierung außer wenn man einen Ersatz von A man lost in time / Near KaDeWe / seiner selbst führte er nun ein Drogen durch Alkohol als Therapie gelten Just walking the dead.“ Das Stück ist „normales“ Leben in einem un­ lässt. Aber Berlin, die Stadt, die alles ein Liebesbrief an die Stadt, die ihn Vauffälligen Wohnhaus in Schöneberg, schonmal gesehen hatte, schenkte rettete, geschrieben von einem 68-jäh­ Hauptstraße 155. Unter seinen wenigen ihnen Unabhängigkeit und eine ange­ rigen Mann, der heute wohlhabend Vertrauten war sein „Mädchen für alles“ nehme Anonymität. Zwanglos gekleidet und zurückgezogen in New York lebt – Coco Schwab, die Angie, von der er und doch erkennbar, bewegten sie sich aber mehr noch erinnert es an eine getrennt lebte, als „Torwächterin und frei in den Bars und Restaurants der Klage um sein entschwundenes, jün­ Meuchelmörderin“ beschrieb, und sein Künstler: Oft waren sie im Exil in Kreuz­ geres Ich. „Er ist alt geworden“, sagte Freund und Schützling Iggy Pop, der berg und in der Paris Bar in der Nähe Romy Haag, als sie es hörte. „Naja, wir Proto-­Punksänger der Stooges. Iggy des Bahnhofs Zoo anzutreffen, in der werden alle alt.“ galt als Inbegriff des Draufgängers, Diskothek Dschungel, zu deren Stamm­ ein Caliban des Rock’n’Roll, war aber kunden ein Mädchen gehörte, das eine Die Alben, die er in dieser Zeit auf­ privat außerordentlich belesen und zahme Ratte an einer Kette mit sich nahm, wurden dagegen nie alt. Sie

Jazzfest Berlin In krassem Gegensatz hierzu steht das schon fast unanständige Tempo, in dem er die Alben aufnahm, mit Un­ terstützung seiner bewährten ameri­ kanischen Rhythmusgruppe. Diese bestand aus dem Schlagzeuger Dennis Davis, dem Bassisten George Murray und seinem Gitarristen Carlos Alomar, der – genauso wichtig – auch musikali­ scher Leiter war. Der Produzent Tony Visconti war mit einem Eventide Harmonizer ausgestattet, der die Ton­ höhe des Schlagzeugs ver­änderte. In­ tellektueller Input kam von dem expe­ rimentellen britischen Komponisten Brian Eno. Bowie arbeitete nach einem ungewöhnlichen Prinzip: Erst legte er in rasantem Tempo die Rhythmusspuren fest, bevor er, Alomar und Gastmusiker, wie zum Beispiel der Gitarrist Robert Fripp, zusätzliche Klänge darüberlegten, die Eno mit seinem EMS Synthi A be­ arbeitete. Erst zum Schluss kamen Text, Gesang und Hauptmelodien, die „Bedeutung“ des Lieds.

ie Aufnahmen fanden im Hansa-­ Tonstudio an der Köthener Straße nahe dem Potsdamer Platz statt. In diesem Gebäude mit neo­ Dklassischen Säulen liegt ein großer Kon­ zertsaal mit einer Holzkassettendecke, in dem einst SS-Offiziere Bälle feierten. Dieser Meistersaal wurde schließlich zu Studio 2, der legendären „Hall by the Wall“; aus einem Fenster im Kontroll­ raum konnte man die ostdeutschen Grenzwächter beobachten. Von diesem Fenster aus sah Bowie den verheirate­ ten Visconti verbotenerweise in inniger Umarmung mit einer Background-­ Sängerin. Dieser Augenblick gab den Impuls zu „Heroes“, seiner strahlenden erscheinen heute kaum weniger außer­ Jahr auch im Martin-Gropius-Bau zu Hymne über zum Scheitern verdammte gewöhnlich als vor 40 Jahren, zur Zeit sehen war. Die Stimmung auf „Low“ Liebe, die Geschichte zweier hoffnungs­ ihres aufsehenerregenden Erscheinens, war klaustrophob, die Lieder frag­ los Liebender, die sich im Schatten die­ als sie die Fans provozierten, Bowie-­ mentarisch und indirekt; mitunter ses Symbols der geteilten Stadt küssen. Skeptikern Respekt abnötigten und erinnerten sie an den psychisch labi­ seine Plattenfirma in Panik versetzten. len Syd Barrett, der eine frühe Inspi­ Angetrieben von scharfen, aggressiven Verschwunden waren die aufgedonner­ ration Bowies gewesen war. Sie be­ Gitarren, ist „Heroes“ musikalisch ten, sexuell ambigen Multimedia-­ schreiben Bowies entnervten weitaus lebendiger als „Low“, auch Figuren wie Ziggy Stardust und Aladdin Zustand: „You’re such a wonderful wenn die Texte genauso schmerzvoll Sane, deren fantastische Frisuren person / But you got problems“, heißt sind. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch und Kostüme heute in einer Ausstellung es im selbstzerfleischenden Refrain die Aufmerksamkeit der Kritiker weg um die Welt reisen, die im vergangenen von „Breaking Glass“. von Bowies Liedern und hin zu den

24 grüblerischen, getragenen Instrumen­ owes Quintett wird am 8. No­ wer wird ihn wohl in dem Film über talstücken verlagert, die auf den vember nachmittags in der seine Berliner Abenteuer spielen? Es B-Seiten beider Alben zu finden sind: Akademie der Künste auftreten gibt bereits Gerüchte über eine deutsch-­ atmosphärische Musik, die den Ko-­ und dabei alte Rückprojektio­ britische Produktion, die auf „Starman“ Komponisten Brian Eno erahnen lässt Hnen aus dem Berlin der 1970er ver­ basieren soll, einer Biografie des briti­ und doch verlangt, im Mittelpunkt zu wenden. Viele Wahrzeichen dieser schen Autors Paul Trynka – der Arbeits­ stehen und nicht etwa als Hintergrund­ Zeit sind heute verschwunden oder titel ist „Lust for Life“. musik gehört zu werden. Mit diesen verändert, darunter das Hansa-Studio Stücken hatte niemand gerechnet und 2, dessen berühmtes Fenster zuge­ Bowie hat die Bedeutung der Berliner sie hätten für einen großen Star wie mauert wurde. Iggy Pop beklagt die Trilogie stets betont. „Es gab nichts, Bowie einem Rock’n’Roll-Selbstmord Veränderungen in der Stadt: „Die das wie diese Alben klang“, sagte er der gleichkommen können. Außerdem sind Mauer war wunderschön“, erinnert Zeitschrift „Uncut“: „Nichts anderes sie wahrscheinlich entstanden, weil er sich. „Sie schuf eine wunderbare kam auch nur ansatzweise an sie heran. Bowie zu dieser Zeit nicht in der Lage Insel, genauso wie Vulkane Inseln im Es ist eigentlich egal, ob ich je wieder war, Ideen für Songs durchzuhalten, Meer erschaffen.“ Er hatte in Berlin ein Album mache. Mein ganzes Dasein vor allem bei „Low“. Und doch verlegte eine Frau kennengelernt und war dort liegt in diesen dreien.“ Wenn also Dylan Bowies neue Synthesizer-Musik abrupt geblieben, lange nachdem Bowie Howe die ersten Töne von „Warszawa“ den Schwerpunkt der Rockmusik von die Stadt verlassen hatte, um auf in einer Version für ein Publikum des der Gitarre auf die Keyboards und stellte dem Broadway „The Elephant Man“ 21. Jahrhunderts spielt, können wir da­ damit die Weichen für eine ganze Gene­ zu spielen. Heute ist er einer der DJs rauf hoffen, dass ihr ursprünglicher ration erfolgreicher Musiker wie Human auf BBC Radio 6. Im vergangenen Geist wieder erscheint, und wünschen, League und Gary Numan. Sogar der Oktober hielt er die alljährliche John dass all die alten Dudes sich wieder Komponist Philip Glass erwies den Stü­ Peel-­Vorlesung des Senders. Ihr Titel jung fühlen werden, für einen Tag. cken in seinen Symphonien Nr. 1 und 4 lautete „Free Music in a Capitalist seine Ehrerbietung. Society“ (Freie Musik in einer kapita­ listischen Gesellschaft). Der Autor und Redakteur Michael Watts lebt in London. Während seiner Arbeit für den Die Kraft von Stücken wie „Warszawa“, „Melody Maker“ beobachtete er Leben und „Weeping Wall“ und „Art Decade“ Nachdem er seine Arbeit an dem Film Arbeit David Bowies aus nächster Nähe. (auf „Low“) oder „Moss Garden“ und mit Marlene Dietrich (der sich als to­ „Neuköln“ (auf „Heroes“) klingt noch taler Misserfolg erweisen sollte) im Früh­ heute nach. Sie gehören zu den Instru­ jahr 1978 beendet hatte, begann Bowie, mentalstücken Bowies, die auf einem sich von Berlin zu lösen. Er arbeitete bei der künstlerisch erfolgreichsten bri­ „Lodger“ wieder mit Eno und Visconti tischen Jazzalben des vergangenen zusammen, aber es wurde offensicht­ Jahres bearbeitet wurden. „Subterra­ lich, dass die Chemie zwischen ihnen nean: New Designs on Bowie‘s Berlin“ nicht mehr so war wie zuvor. Seit eini­ ist ein Werk des Schlagzeugers und gen Jahren schon hat er kein echtes Quintett-Leiters Dylan Howe, der über Interview mehr gegeben. In den 90er-­ seine Adaptionen sagt, sie wären so, Jahren trat er gemeinsam mit Lord als „spiele das John Coltrane Quartet in Gowrie, dem früheren Minister für die einem Raumschiff“. Howe war auf der Künste unter Margaret Thatcher, der Suche nach Modellen für Elektronika Redaktionsleitung der Zeitschrift ohne Percussion, als er auf diese Platten „Modern Painters“ bei und veröffent­ aus seiner Kindheit stieß und sie für lichte seine eigenen Interviews mit robust genug hielt, eine radikale Inter­ zeitgenössischen Künstlern wie Damien pretation auszuhalten. „Das Wichtigste Hirst und Julian Schnabel. Danach ist es, die Musik durcheinander zu war er in „Basquiat“ zu sehen, Schnabels bringen, sie aufzureißen, etwas zu wa­ in der Kunstwelt angesiedeltem gen“, sagt er: „Denn nichts ist schlimmer Film über den unglückseligen Maler als eine Nachbildung.“ Bowie erklärte Jean-Michel Basquiat. Er stellte darin sich mit einem Link von seiner Website ziemlich überzeugend Basquiats zu der CD einverstanden. Mentor Andy Warhol dar und trug dabei Warhols echte Perücke, Brille Dylan Howe’s Subterraneans treten und Jackett, allesamt Leihgaben des am 8. November um 16:00 Uhr in Warhol-Museums in Pittsburgh. Aber der Akademie der Künste auf.

Jazzfest Berlin Improvisation

als Werk Von Felix Klopotek

Derek Bailey, 2004 in Barcelona © Jake Walters

unst ohne Werk“, so lautete Formel eingeprägt haben: war sie doch so charmant spröde, so arrogant un­ einst eine griffige Formel, um in der 1987 erschienenen deutschen prätentiös, dass wir alle gar nicht das Wesen der Improvisation, Übersetzung der Untertitel eines anders konnten als ihn zur Ikone der „ das schwierige, flüchtige, schlicht „Musikalische Improvisation“ freien Musik zu erheben. Kmehrdeutige, ambivalente, auf den betitelten Buchs, das von Punkt zu bringen. Wer sich schon stammt (1930–2005). Und der musste Allerdings lautet der Untertitel aus­ länger mit Improvisierter Musik es wissen. Bailey hat die zeitgenössi­ schließlich in der deutschen Übersetz­ (schnodderig: Improv), Free Jazz, Echt­ sche Improvisation in der Musik erfun­ ung so, er ist eine kleine Eigenmächtig­ zeitmusik – oder wie immer der jeweils den – neben ein paar Dutzend anderen. keit des Verlags oder der Übersetzer, im aktuelle Name lauten mag – ausein­ Aber der Gitarrist aus Sheffield war im englischen Original (1980) heißt das andergesetzt hat, dem wird sich diese Auftreten wie im Spiel so lakonisch, Buch einfach: „Improvisation, its nature

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and practice in music“. Auf einen illegitime, ästhetisch minderwertige vergleichbar und ordnet sie, in einer Werks- oder vielmehr Antiwerksbegriff Praxis systematisch missversteht. Verkehrung des ursprünglichen Verhält­ wollte Bailey gar nicht heraus. Sein Historisch gesehen ist Bailey natürlich nisses, der Improvisation – muss man Buch ist keine systematische Abhand­ im Recht. Die extrem positive Beset­ vielleicht sogar sagen: der IDEE der lung, sondern folgt einer Reihe von zung, die der Begriff der Improvisation Improvisation? – unter. Damit wird Interviews, die er mit Musikern aus in der Musik erfahren hat, ist eine junge ganz offensichtlich ein Werkbegriff den unterschiedlichsten Bereichen – Entwicklung, vielleicht fünfzehn Jahre nolens volens eingeführt, ein Maßstab – Jazz und Blues, Flamenco und rituelle alt, und sie ist hoffentlich noch lange und sei er auch noch so mythisch, ethnische Musiken, Barockmusik und nicht abgeschlossen. Trotzdem unter­ noch so uneinholbar – zur Bewertung eben auch Improv – geführt hatte, läuft Bailey ein Fehler, der zwar musika­ von gelungenen und weniger gelun­ später wurde daraus ein mehrteiliger lisch keine Auswirkungen Dokumentarfilm für die BBC (auf You­ hat, weil im Zweifelsfall Tube zu finden). die Musik immer klüger ist Improvisierte Musik als der Diskurs über sie – s ging Bailey um zweierlei. Er es war Cecil Taylor, der Improv demonstrierte, dass Improvisa­ schon Anfang der 60er Momentmusik tion in all diesen Traditionen ein Jahre sinngemäß davon zentraler Aspekt des Musikma­ sprach, die Missverständ­ Echtzeitmusik Echens ist, vielleicht sogar der Kern: nisse beim Reden über Improvisation verstanden als die Fähig­ Musik einfach dadurch zu instant composing keit, abseits von fixiertem Notenma­ überwinden, indem man terial zu Entscheidungen zu gelangen, so lange weiterspielt, bis es Neue Improvisationsmusik die spontan und in der Regel kollektiv nichts mehr zu sagen gibt –, Intuitive Musik getroffen werden und die eine Musik der aber charakteristisch erst lebendig machen, ihren Reichtum ist und den Diskurs über Freie Musik an Möglichkeiten auszudrücken in der Musik betrifft. Hier wird’s Lage sind. Improvisation, das wird schon interessant, denn der Dis­ Free Jazz in dieser knappen Wiedergabe der In­ kurs ist kein freies Wechsel­ tention Baileys klar, ist demnach kein spiel der Rede und Gegen­ Non-Idiomatische Improvisation Wert an sich, sie ist etwas Abgeleitetes rede, sondern institutionell und umgekehrt: hat als Voraussetzung materialisiert. Darauf zielte Bailey doch genen Improvisationen. Zwar lässt den unreglementierten Strom musika­ ab: die Institutionen – Veranstaltungs­ sich dieses Werk nicht in konventio­ lischer Kreativität. Alle Musiker, mit orte, Festivals, Labels, Kulturämter – zu neller musikalischer Notation „ver­ denen Bailey sprach, haben improvisiert verändern,nicht zuletzt um bessere Arbeits- ewigen“, dafür aber auf Tonträgern und konnten ihre Musik nur spielen, und Präsentationsbedingungen für die und natürlich in etlichen Statements. weil sie improvisieren; aber die we­ sich explizit als Improvisatoren ver­ Und wenn jemand ein solches Werk ge­ nigsten Musiker hätten sich als Im­ stehenden Musiker zu erstreiten. schaffen hat, dann doch Bailey! Auf provisatoren – oder gar Improvisatoren weit über hundert LPs und CDs ist es sans phrase – verstanden. Worin besteht nun der Fehler? Kurz ge­ dokumentiert, eine Musik, die eine ab­ sagt darin, die Improvisation als etwas solut klare Sprache spricht, deren Tabus Bailey ist aber nicht nur Dokumenta­ klar Umrissenes zu fixieren und sie so und Idiosynkrasien schnell zu begrei­ rist, sondern taucht – im Film stärker herauszulösen aus dem Strom der Spiel­ fen sind. Wer mit Derek Bailey Musik noch als im Buch – als Erzähler, als eigen­ freude. Improvisation, die als ein Ver­ gemacht hat, hat mit Derek Bailey ständiges Subjekt auf, und als solcher hältnis zu begreifen ist: zu den Mit­ Musik gemacht – und nicht umgekehrt. ist er der Fürsprecher der Improvisation. musikern, zum Instrument, zu den Er weist auf die Geringschätzung der eigenen Gefühlen und Gedanken Aber, wie gesagt, der missverständliche Improvisation durch die Plattenprodu­ während des Spielens, zu den Zuhörern, Untertitel „Kunst ohne Werk“, stammt zenten und Labels hin, die in einem wird damit zu einer mythischen Subs­ ja gar nicht von ihm, und Baileys bornierten Musikverständnis wurzelt, tanz. Diese macht unterschiedlichsten Abstraktion, die unterschiedlichen das Improvisation als handwerklich Musiken in diesem Punkt recht rüde improvisatorischen Prozesse zu einem

Jazzfest Berlin Begriff der Improvisation zu verdich­ Tatsache, dass Baileys bevorzugte Gi­ noch fortsetzen. Innerhalb kurzer Zeit ten, war in hohem Maße diskursiv stra­ tarre eine 1963er Gibson „ES 175“ war, kursierte dermaßen viel musikalisches tegisch zu verstehen. Dennoch haben womit von vornherein ein bestimmter Material, waren dermaßen viele neue sich immer wieder Improvisatoren, vie­ Klang gesetzt ist. Aber die Anwendung Stimmen zu entdecken, dass eine le unmittelbar von Bailey inspiriert, der Regeln, ihre Realisierung ergibt sich dichte Verflechtung und ein perma­ aufgemacht, eine möglichst reine aus der Art und Weise des Zusam­ nenter Austausch die Folge waren. improvisierte Musik zu spielen. Bailey menspiels. Dabei kann der Ausgangs­ Alles war greifbar, jeder war an­ schuf dafür einst das Wort „non-idio­ punkt einer Entwicklung durchaus im sprechbar, alle wollten mit allen spie­ matisch“, gemeint war eine Musik, Widerspruch zu seinem Anfang ste­ len (naja, zumindest der Tendenz die nicht eine Widerspiegelung von ihr hen. Soll heißen: Ein guter Dirigent und nach). Diese Beschleunigung und vorgelagerten Bildern ist, sondern sich ein inspiriertes Orchester können eine Durchmischung gab es in den 70ern befreit hat von Klischees, also: Bruckner-­Sinfonie so spielen, wie sie noch nicht, was damals Vernetzung Druckvorlagen, und ihre eigenen Re­ noch nie vorher gespielt worden ist war, war das allmähliche Zusammen­ geln im spontanen Zusammenspiel (was auf einen gewissen improvisa­ wachsen eines Haufens gemeinsam schafft. Diese Antiregel hatte für Bailey torischen Prozess in der Erarbeitung Verschworener, ein durchaus hermeti­ sein Leben lang Bestand – und wurde des Stückes verweist); und umgekehrt scher, familiärer Vorgang. Davon dadurch zu einer positiven Bestimmung: kann ein Meeting von der freien Im­ kann heute keine Rede mehr sein. provisation verpflichte­ Das impliziert, dass die jeweiligen mu­ ten Musikern in lang­ sikalischen Sprachformen, das Reper­ weiligen Formalismen toire an Gesten, die angeeignete musi­ und gegenseitiger Mit­ kalische Technik dis­ponibel geworden teilungsarmut erstarren sind: Alles kommt in den globalen (was auf eine gewisse Mix. Verdinglichung schlie­ ßen lässt). amit wird klar, dass diese Formen und Gesten Bestandteile von be­ Der ebenso alte wie ständigen musikalischen Neu­ künstliche oder, um zusammensetzungen sind – oder nochmal an Bailey zu Dum das Fremdwort zu benutzen: von erinnern, politische Kompositionen. Die Improvisationen Streit zwischen Impro­ vergangener Zeiten werden als Material – visation und Komposi­ musikalisches wie habituelles – ange­ tion hat sich in noch eignet, weil sie heutzutage universell ganz anderer Hinsicht verfügbar sind. Was einst undenkbar erledigt. Und das viel oder allenfalls Ausdruck einfallslosen gründlicher als alle Epigonentums war, ist heute selbst­ klugen Erörterungen verständlicher Bestandteil der Impro­ theoretischer Natur es visation: die Adaption von Stilen und könnten: durch schiere, Haltungen. Dadurch entstehen Formen­ nun ja, Substanzüber­ repertoire und Kanon, die, wie um­ flutung. In den letzten stritten auch immer, der Improvisierten 15, 20 Jahren erlebten Musik fixe Ausprägungen verleihen. wir einen noch nie da Der Unterschied zwischen Komposition gewesenen Strom von und Improvisation wird auch auf dieser Veröffentlichungen mit Ebene hinfällig. freier Musik: Klassiker, Bailey klingt wie Bailey. Er selber obskure Perlen der Vergangenheit, hatte auch keine Scheu davor, Kon­ aktuelle Einspielungen … mittlerwei­ Felix Klopotek, geboren 1974, lebt und arbeitet in Köln. Er beschäftigt sich seit über zwanzig zerte als wahlweise Erarbeitung le scheint alles auch auf den einschlä­ Jahren als Autor mit Improvisierter Musik, lange (Kollektiv­auftritte) oder Präsentation gigen Blogs und via YouTube greifbar Jahre auch als Veranstalter und Plattenpro­ (Soloauftritte) musikalischer Ideen zu sein. Hintergrund ist die Entstehung duzent. Arbeitet derzeit an einer Anthologie, die zu charakterisieren. Diese Ideen sind neuer Szenen: In Chicago und New York Leben und Werk des ukrainischen Revolutionärs Roman Rosdolsky gewidmet ist. offen­­­sichtlich nicht identisch mit konnte man in der zweiten Hälfte der der Praxis der Improvisation. Was ist 90er Jahre das Comeback des klassi­ Mittel, was Zweck? schen Free Jazz bestaunen; in London erwiesen sich die alten Helden Derek ie Rätselfragen lösen sich auf, Bailey oder Evan Parker als engagierte wenn man von einem Verhältnis Vorbilder für zahlreiche junge Musiker; und eben nicht von einer Subs­ in Berlin, sowieso eine Hauptstadt des tanz ausgeht. Musikmachen ist Free Jazz, wuchs mit der Echtzeit­ Dsoziale Praxis. In so einem Verhältnis musik-Szene ein ganz eigenständi­ kann – und muss – es fixe Regeln geben, ger Zweig der Improvisation, ähnliches etwa das Bluesschema, das Auftreten geschah auch in Köln und Wien … die eines Dirigenten oder die banale Aufzählung der Städte ließe sich immer

28 Talking ’bout my Generation Zusammenschlüsse – Erfindertum – Burnout ... & dann noch die Sache mit den Frauen Illustration: Alex Bodea

ls vor zehn Jahren die jazz­ ahead! gegründet wurde, war das durchaus ungewöhnlich: eine Messe in Bremen, ein glo­ Abaler Marktplatz, Konferenzen, Messe­ stände, Vorträge, show cases und dichtes Musikprogramm – und das im Jazz? Dieser vermeintlich eingeschwo­ renen Gemeinschaft von Individualist*­ innen und Liebhaber*innen schräger Musik, die sich doch in verrauchten Kellerclubs nach selbstgewählten Codes bei Rotwein fachsimpelnd zu ihrer Musik verhalten und das Tages­ licht scheuen? Tatsächlich aber steht die Gründung der jazzahead! im Jahr 2006 auch für ein neues Selbstver­ Berlin ist ein weiteres sichtbares Indiz Dieses vollzog in den letzten zehn Jahren ständnis der europäischen Jazzszene. dieses Bewusstseins für die Notwendig­ einen veritablen Paradigmenwechsel keit kollektiven Handelns, indem sie und wandelte sich sukzessive von einem Zusammenschlüsse die Bedürfnisse der Akteur*innen aus „geschlossenen Club Gleichgesinnter“ Um dem Wildwuchs im Nachwuchs­ verschiedenen Sektoren und Disziplinen zu einer europäischen, offenen Dachor­ bereich und den Strukturdefiziten im in Berlin bündelt und in der Verteilungs­ ganisation, die zum Ziel hat, den Europa der Regionen Herr oder Frau debatte um öffentliche Gelder als deren kreativen Veranstaltungssektor eines zu werden, organisiert sich die Szene Sprachrohr fungiert. erweiterten Europas in seiner Heteroge­ neu und schafft sich eigene Struktu­ nität und Vielfalt zu repräsentieren. ren. Nicht zuletzt hat die Möglichkeit, So ist es nicht verwunderlich, dass in So zählte das europe jazz network im flächendeckend in Europa Jazz stu­ diesem Klima auch die Union Deut­ Jahr 2005 noch 44 Mitglieder aus 16 dieren zu können, in den letzten zwei scher Jazzmusiker (UDJ) nach vielen Ländern, zehn Jahre später, im Au­ Jahrzehnten einen regelrechten Ver­ Jahren des Stillstands quasi aus Berliner gust 2015, sind es bereits 105 Mit­ netzungsboom in Europa ausgelöst. Küchenrunden heraus reanimiert wurde: glieder unterschiedlichster Couleur Bis 2012 zählte die schon fast in Ver­ aus 31 Ländern. Woher rührt dieses relativ neue Kollek­ gessenheit geratene Interessenvertre­ tivbewusstein? Die Pianistin Julia tung der in Deutschland lebenden Erfindertum Hülsmann sieht einen wesentlichen Jazzmusiker*innen noch etwa 150 Der Kollektivgedanke steht auch bei Grund in einer deutlich anders gearteten Mitglieder, inzwischen sind es immer­ zahlreichen Neugründungen im Ver­ Jazzsozialisation: Das vielbeschworene hin 573. Dem jüngsten Aufruf der UDJ anstaltungsbereich seit der Jahrtausend­ Einzelkämpfertum der 1990er Jahre zur Beteiligung an der „Jazzstudie 2015“ wende verstärkt im Fokus. Europaweit weiche heutzutage bereits in der Aus­ zur Erfassung der Einkommensver­ kann man beobachten, dass sich in den bildung der jungen Jazzmusiker*innen hältnisse und Arbeitsrealitäten der Mu­ Städten junge Musiker*innen unter­ einem wachsenden Bewusstsein für siker*innen sind 2000 Teilnehmer*innen schiedlicher stilistischer Ausrichtung Vernetzung und Vermarktung. Auch gefolgt. „Kollektive Zusammen­­­schlüsse in Kollektiven in der Größe von ca. 10 seien ihr im Laufe ihrer Karriere die zur Verbesserung der eigenen Situation Personen zusammentun. Gegenseitige direkten Auswirkungen politischer Ent­ sind in der politischen Arbeit unver­ Unterstützung, die Notwendigkeit zur scheidungen auf ihre eigenen Arbeits­ zichtbar,’’ so Jonas Pirzer, Geschäfts­ Selbstorganisation und Vermarktung bedingungen immer bewusster ge­ führer der UDJ. und nicht zuletzt auch ideelle Werte worden. Nikolaus Neuser, Vorsitzender wie selbstbestimmtes Handeln und der im Jahr 2012 gegründeten IG Jazz Als positiver Indikator für ein Zusam­ Vertrauen sind hier die Hauptmotivati­ in Berlin, erkennt ebenfalls eine zu­ menrücken innerhalb der Szene kann on. Die Kollektive schaffen Freiräume nehmende Politisierung der Musiker*in­ die Entwicklung des 1986 gegründeten und Sichtbarkeit und sind als Impuls­ nen und Jazzakteur*innen. Die Grün­ europäischen Veranstalternetzwerks geber und Knotenpunkte innerhalb dung der Koalition der Freien Szene in europe jazz network gesehen werden. der Szene wichtig. Sie rufen ihre eigenen

Jazzfest Berlin Ausnahmen schwierigsten Produktions­ bedingen ausgeliefert. Sie stoßen schnell an ihre Leistungsgrenzen, da sie als einzelne nicht nur Geld akqui­ rieren, Produktionen konzipieren, managen und vermarkten müssen, sondern oft auch als Musiker*innen aktiv sind. Das jazzwerkruhr, die Ber­ liner Festivals XJAZZ oder A L’ARME sind weitere Beispiele für den Grün­ dergeist einer jüngeren Generation. Sie stoßen mit ihren Formaten in eine Lücke vor, aber auch sie haben keine realistische Aussicht auf mehrjährige, adäquate öffentliche Förderung und somit auf Verankerung in der Öffent­ lichkeit und Professionalisierung.

Diese prekären Rahmenbedingungen der heutigen Zeit machen einen der größten Unterschiede zu den 70er und Festivals, Konzertreihen und Platten­ ls Antwort auf Strukturdefizite 80er Jahren aus, die als besonders labels ins Leben und vernetzen sich in Europa präsentieren meistens produktive Gründerjahre in die Jazz­ europaweit untereinander. Prominen­ regionale oder nationale Orga­ geschichte eingingen. Zahlreiche Grün­ te Vertreter der ersten Generation im nisationen die eigene jüngere dungen international renommierter deutschsprachigen Raum sind z.B. das AMusikerszene in zahlreichen show-case-­ Festivals und Clubs stießen damals auf 2009 gegründete Kölner KLAENG Festivals. Aus diesem Kontext ragt das fruchtbaren Boden und konnten sich Kollektiv, die 2004 ins Leben gerufene 12points-Festival der improvised music auch dank zuverlässiger, kontinuier­ Jazzwerkstatt Wien oder aber auch company aus Dublin hervor, weil es in licher öffentlicher Förderung zu nam­ das Jazzkollektiv Berlin, gegründet 2007. seiner Konzeption europäisch grenz­ haften Institutionen ihrer Branche überschreitend ausgerichtet ist. Es prä­ weiterentwickeln. Die neoliberale Eine wichtige Rolle als innovative Kraft sentiert jährlich 12 junge Bands aus 12 Wende auch in der Kulturpolitik, die und Vernetzungsplattform für Musiker*­ Ländern und bringt eine Delegation inter­ Förderung von Kultur nach marktwirt­ innen spielen in der Jazzwelt aber nationaler Expert*innen über mehrere schaftlichen Gesichtspunkten, hat zu nach wie vor auch Großformationen Tage mit diesen jungen Musiker*­innen einer rückläufigen Entwicklung in der im klassischen Sinne. Auch sie sind zusammen. Andere europäische Projekte dauerhaften Förderung geführt. Das oftmals selbstorganisiert. Charis­ sind mehrjährige multinationale Koope­ bekommen die Freien Szenen besonders matische und visionäre Köpfe aus rationsnetzwerke, Zusammenschlüsse hart zu spüren, da zuverlässige Struk­ der Szene treiben sie an – das Kollektiv kleinerer lokaler oder regionaler Initia­ turförderungen zunehmend durch be­ erschafft dabei einen ganz eigenen tiven wie z.B. jazzplays­­europe, umlaut fristete Projektförderungen ersetzt Klangkosmos. Aber wie hält man oder aber das europäische traveling wurden und werden. Umso essentieller derartige Projekte in Ermangelung Festival-Format match & fuse aus Lon­ ist die Solidarität und der Dialog auf nachhaltiger Ensembleförderung im don. Sie touren mit ihren innovativen Augenhöhe zwischen den etablierten, Jazzbereich in Deutschland am Leben? Kollaborationen und Veranstaltungs­ großen Flaggschiffen der Szene und Als Beispiel können hier zwei Ensemble­ formaten in ganz Europa und öffnen den innovativen neuen Kräften, sowie giganten dienen, die sich auch dank damit jungen Musiker*innen wie Ver­ die Anerkennung ihrer Bedeutung des unermüdlichen Einsatzes ihrer anstalter*innen gleichermaßen auch für eine erfolgreiche Vernetzung und Bandleader seit einigen Jahren be­ Türen nach Europa. Weiterentwicklung der gesamten Szene haupten können. So sorgt mit the dorf in Europa. seit 2006 eine über 20-köpfige Forma­ Burnout tion aus dem Ruhrgebiet um den Band­ Die Relevanz der genannten Projekte ... & dann noch die Sache leader Jan Klare für Furore, die nicht ist nicht nur für die Szene, sondern mit den Frauen nur ihr eigenes Plattenlabel gegründet auch kulturpolitisch betrachtet enorm, Jazzmusik war/ist Männermusik, so hat, sondern auch immer wieder neue da sie unverzichtbare Basisarbeit eine weitverbreitete These. „Nicht nur Projekte ins Leben ruft wie zum Bei­ leisten. Künstlerszenen sind nach wie waren die meisten der stilbildenden spiel ihr Festival Dorffeste. In ähnlicher vor zumeist lokal oder regional aufge­ Musiker männlichen Geschlechts, auch Weise agiert ebenfalls seit 2006 Daniel stellt. Ihnen ein Gesicht zu geben und seine Ästhetik und sein soziales Um­ Glatzels Berliner Andromeda Mega sie auch überregional und international feld waren männlich besetzt‘‘ – so die Express Orchestra, das durch sein zu vernetzen, ist vor allem für die einleitenden Worte zur Konferenz Festival Kosmotage sich und anderen Musiker*innen existentiell, denn sie „Gender and Identity in Jazz“ des Musiker*innen eine Präsentations­ müssen sich national wie international Jazzinstituts Darmstadt. Die Frage möglichkeit schafft. bewegen können. Trotz mehrjähriger allerdings ist, ob dieses Bild tatsäch­ erfolgreicher Tätigkeit sind diese neu­ lich nur der Erinnerung an eine ver­ en Initiativen allerdings mit wenigen gangene und überwundene Zeit

30 entspringt? Der Frauenanteil unter Jazzwelt im Jahr 2015 prägen. Da reiht Einzelgängertum weichen auch in der Musiker*­innen, Journalist*innen, Pro­ sich der professionelle Jazzbereich in Jazzszene zunehmend einem Kollektiv­ duzent*innen und Veranstalter*innen den breiten Kanon der Kulturlandschaft bewusstsein, einem offenen und kre­ ist in den letzten Jahren deutlich ge­ ein. Auch wenn es ein verstärktes Be­ ativen Miteinander. Nichtsdestotrotz stiegen. Aus Studien geht sogar hervor, wusstsein für die Gender-Balance-­ wird die Schere im Kulturbereich zwi­ dass insgesamt weit mehr Frauen als Problematik geben mag, folgen den schen den hoch professionell aufgestell­ Männer im europäischen Kulturbereich Worten immer noch nur sehr schleppend ten Institutionen und dem Prekariat beschäftigt sind. Schlüsselpositionen oder gar nicht Taten. Dieser Umstand der Freien Szenen immer größer. An hingegen sind nach wie vor über­ wirkt sich wiederum sehr deutlich auf dieser Stelle ist die Politik gefordert, wiegend oder ausschließlich männlich die Programme der Jazz-Festivals und auch den Macher*innen, den Kreativ­ besetzt; seien es Redakteursstellen im -Clubs aus. Eine Quotenregelung würde kräften, Künstler*innen und Kurator*­ öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder sicherlich auch den Musikerinnen den innen der Jazzszene die notwendigen in den Printmedien, leitende Positionen Weg auf die kleinen und großen Bühnen Rahmenbedingungen zu bieten, um bei namhaften Festivals, Clubs oder Europas flächendeckend erleichtern, ihre Kunst, ihre Strukturen und Projekte Plattenlabels. Gleiches gilt für den meint auch Lisa Löfgren von Jazz wachsen zu lassen. Schließlich sind akademischen Bereich. Mit Ausnahme Svensk in Stockholm. es diese vielen kleinen Initiativen, des Faches Gesang sind es fast aus­ die diametral zu allgemeinen gesell­ schließlich Männer, die Professuren s geht aber auch anders: und Dozenturen im Instrumentalbe­ Nachdem die Anzahl der Vor­ reich in den Jazzabteilungen der deut­ standsmitglieder erhöht und schen Musikhochschulen innehaben. die Rotationsmodalitäten Sie sind es auch, die als Lehrer, Ge­ Eseiner Vorstandsmitglieder beim stalter, Reporter, Festivalmacher, europe jazz network überarbeitet Musiker und Entscheider die öffentli­ wurden, stieg auch der Frauenanteil im che Wahrnehmung des Jazz und die Vorstand von noch 10% in 2005 auf 40% seit 2012. Bei der UDJ verhält es sich ähnlich: bis 2012 verzeichnete sie fünf Frauen in ihren Reihen, drei Jahre später sind es bei 571 Mitgliedern immer­ hin 99. Konsequenterweise spiegelt sich das auch hier in der Zusammen­ setzung des Vorstandes wider, der um schaftlichen Entwicklungen einen Raum vier auf sieben Sitze erweitert wurde für internationalen Austausch, Krea­ und nach Julia Hülsmann und Angelika tivität und Begegnung schaffen und Niescier im Jahr 2012 nun mit Alexandra im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Zu­ Lehmler und Silke Eberhard erstmalig kunft Europas mitgestalten. in der Geschichte der UDJ auch weiblich besetzt ist. Frauen tauchen mittler­ And last but not least: weile endlich auch in Musikerkollektiven Wenn nun sogar schon Teenager*innen auf, wie die jüngste Kollektivgeneration mit einem Shitstorm auf devote Flirt­ mit dem KIM Kollektiv in Berlin, Jazz­ tipps eines sehr bekannten Jugend­ kollektiv Leipzig oder Impakt in Köln magazins reagieren, dann wird diese zeigt. Den Stand der aktuellen Debatte nachwachsende Frauengeneration ver­ brachte der Kulturjournalist Steffen mutlich auch eines Tages die männli­ Greiner unlängst am Tresen im Disko­ chen Bastionen der Kultur- und Musik­ garten auf den Punkt: „Eine Frau mag landschaft stürmen. Und dann ist – zwar die Regierungsgeschicke dieses frei nach Laurie Penny – die Zeit der Landes leiten, aber Saxofon spielt hier Trostpreise für Frauen wirklich vorbei. immer noch der Mann.“

Zurück zur jazzahead! Nadin Deventer ist seit 10 Jahren als Kuratorin, Projektleiterin und Autorin europaweit tätig. Im Kontext dieser eben skizzierten Ent­ Sie leitete von 2007–2015 u.a. das jazzwerkruhr wicklung und Situation erscheint sie im Ruhrgebiet und ist seit drei Jahren Mitglied als Branchentreff und Begegnungs­ im Vorstand des europe jazz network. Zur Zeit plattform für Jazzakteure aus aller koordiniert sie das Jazzfest Berlin. Welt wichtig, so kontrovers sie auch immer wieder innerhalb der Szenen diskutiert wird. Gerade in Zeiten des ge­ sellschaftlichen Wandels, in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Krisen sind Begegnungen, das Schmieden von internationalen Allianzen, der Aus­ tausch und das Zusammenrücken elementar. Platzhirschverhalten und

Jazzfest Berlin Tickets

Eintrittspreise Ticket Prices Kasse Box Office Haus der Berliner Festspiele Haus der Berliner Festspiele Große Bühne: 55 45 35 25 15 € Schaperstraße 24 Seitenbühne: 15 € 10719 Berlin A-Trane 15 € Mo–Sa 14:00–18:00 Uhr Akademie der Künste 15 € Abendkasse jeweils eine Stunde vor Vorstellungsbeginn Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche 15 € Evening Box office one hour prior to the beginning Ermäßigte Karten nach Verfügbarkeit an der Abendkasse. of each event. Reduced tickets at the evening box office subject to availability. Martin-Gropius-Bau Niederkirchnerstraße 7 Wahlabonnement Subscription 10963 Berlin Großes Abonnement Mi–Mo 10:00–18:30 Uhr 8 Konzerte Ihrer Wahl 20 % Ermäßigung 8 concerts 20 % Reduction Online Kleines Abonnement www.berlinerfestspiele.de 4 Konzerte Ihrer Wahl 10% Ermäßigung Gebühr 2 € pro Bestellvorgang 4 concerts 10 % Reduction Handling fee 2 € per order Die Zahl der verfügbaren Abonnements ist begrenzt. Vom Wahlabonnement ausgenommen ist das A-Trane. Telefon The number of available subscriptions is limited. +49 30 254 89 100 A-Trane concerts are excluded from subscriptions. Mo–Fr 10:00–18:00 Uhr Gebühr 3 € pro Bestellvorgang Handling fee 3 € per order

Karten erhalten Sie auch an den bekannten Vorverkaufskassen Tickets are also available at any advance booking services

Unter Beteiligung von ARD und Deutschlandradio Gremium: Matthias Brückner, MDR / Ulf Drechsel, RBB / Stefan Gerdes, NDR / Bernd Hoffmann, WDR / Günter Hottmann, HR / Julia Neupert, SWR / Gabi Szarvas, SR / Harald Rehmann, DLF / Arne Schumacher, RB, (Sprecher) / Roland Spiegel, BR / Matthias Wegner, DKultur / Günther Huesmann, SWR

Wir danken unseren Partnern und Sponsoren:

Das Jazzfest Berlin ist Mitglied des Europe Jazz Networks

Impressum

Künstlerischer Leiter: Richard Williams Veranstalter Berliner Festspiele Festivalkoordination: Nadin Deventer (Ltg.), Berliner Festspiele Schaperstraße 24 Hélène Philippot Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen 10719 Berlin Technische Leitung: Andreas Weidmann, Thomas Pix des Bundes in Berlin GmbH T +49 30 254 89 0 Ton: Audio design (Ingo Haasch), Manfred Tiesler, Gefördert durch die Beauftragte www.berlinerfestspiele.de Axel Kriegel der Bundesregierung für Kultur und Medien Abonnieren Sie den Newsletter Licht: Carsten Meyer Intendant: Dr. Thomas Oberender der Berliner Festspiele. Spielstattenleitung & Künstlerbetreuung: Kaufmannische Geschäftsführung: Besuchen Sie den Blog der Berliner Festspiele: Mata Krischna, Karsten Neßler, Franz-Michael Rohm Charlotte Sieben blog.berlinerfestspiele.de Redaktion: Dr. Barbara Barthelmes, Christina Tilmann (Ltg.), Jochen Werner Presse: Patricia Hofmann Grafik: Ta-Trung, Berlin Da es in einigen Fällen nicht möglich war, die Inhaber der Bildrechte zu ermitteln, bitten wir, Übersetzerin: Elena Krüskemper etwaige Ansprüche bei uns geltend zu machen. Herstellung: Henke Pressedruck In some cases it was not possible to establish copyright owners. In such instances, please contact us with any claims.